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Full text of "Ost und West: illustrierte Monatsschrift für modernes Judentum"

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Congrtgatioii 

Southf ield, Michigan 
tothe 

^bbi Morri^dler 

Judaica Collection 
ofthe 

^Tifver^itygfMichigaTi 

Libraries 







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OST UND WEST 

Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum 



Herausgegeben und redigiert 

von 

Leo Winz 



SIEBENTER JAHRGANG 



BERLIN 

VERLAG OST UND WEST LEO WINZ 
1907. 



/ 



\Wa|{,|-^4" 



VI 



INHALT DES SIEBENTEN JAHRGANGES 



4i 

Kr 



AUFSAETZE. 



Almoni, Dr., S., Moritz Steinschneider 

Almoni, Von der jüdischen Aus- 
wanderung 

B., Ein jüdisches Künstlerpaar in Russ- 
land 

Ben-Uri, Jettchen Gebert 

Berliner, Professor, A., Aus vergilbten 
Papieren 

Beinfeld, Dr., S., Ost und West in 
der jüdischen Wanderung .... 

— , Kleinere jüdische Sprachgebiete. . 

— , Jüdische Organisation in der Dias- 
pora 

— , Erinnerungen an Chajim Steinthal 

— , Die Organisation der Verteidigung 

Coralnik, A., Schalom Asch als 
Dramatiker 

Donat, Adolph, Neues von Lesser Ury 

— , Hugo Reinhold 

Eberhard, Die inakkabäische Er- 
oberung im Lichte der Aus- 
grabungen 

Eliaschoff. Dr., S. J. Abramowitz. . 

Eschelbacher, Dr., Max, Aus dem 
Leben der Lehranstalt 

Geiger, Professor, Dr, Ludwig, 
Der Lehranstalt für Wissenschaft 
des Judentums 

Goldmann, Dr., Felix, Das Kura- 
torium der Lehranstalt 

Hallgarten, Charles, L., Der 
Kollektant 

Hermann, Georg, Isaak Lewithan 

Hirschberg, Leopold, Dr., Der 
poetisch verherrlichte Mose> 
Mendelssohn Vi 11 

Jacchia, Piero, Henryk Glicenstein . 

Joseph, Dr., Max, Die Dozenten der 
Lehranstalt um 1890 

Kellnir, L, Der chassidische Ossian . 

Klausner, M. A., Das Jahr 1006 (Ein 

Rückblick) 

— , Vererbte Uebersetzungsfehler . . . 
— . Dr. Philipp Kroner. Ein Nachruf . 
— , Der Aufstand in Rumänien . . . 
-, Die Lösung der judenfrage . . . 
Klein. D. G., Professor, Abraham 

Geiger als Lehrer 

Kutna, CL, Emmanuel Hannaux . . . 
- . Jüdische Künstler in Paris . . . 

, I ucien L^vy-Dhurmer 

Leven, Xarciss, Die Tätigkeit der 

Jewi: h Colonisation Association . . Vlll 



Heft Spalte 

III 181-186 

VII 469-472 

VII 465—468 
II 103—108 

VII 427-432 

IV 217—222 
VI 359-362 

X 605-610 

XI 703-708 

XII 737-742 

VII 459-466 

IV 223 - 224 

X 609-614 



XII 751-758 
X 633-644 

XI 711-717 



XI 689-694 
XI 683-688 

III 145-148 

IV 241-246 



IX 549-554 
III 155-166 

XI 697-702 
II 111-114 

I 1-10 
II 115-130 
II 129-130 

V 293-300 
X 629-634 

XI 693-698 

I 13-15 

II 85-04 

V 301-306 

_IX 493-504 



Leven, Philidor, Dr., Benno Elkan . 
Lin, Josef, Die ostjüdische Presse . . 
— , Die jüdische Presse in Oesterreich 
Longi, P. A., Die zweite Duma . . 

M , Dr , Jamaika 

Meiseis, Samuel, Jung- Hebräische 

Lyrik I 

— , Jung-Hebräische Lyrik II . . . . 

— , Moderne Jargonlyrik 

— , Heine im Hebräischen 

Münz, Bernhard, Jakob Freudcnihal 
Nossig, Dr., Alfred, Ausstellung 

jüdischer Künstler 

Perles, Rosalie, Die russischen 

Juden in Königsberg i. Pr. . . . 
Reiner, Dr., Julius, Die Sendung 

Muhameds 

Rohatyn, Dr., B., Das jüdische 

Sprichwörterbuch 

Rosenzweig, Adolf, Dr., Aus den 

Kinderjahren der ,, Lehranstalt für 

die Wissenschaft des Judentums" 
Saphra, B., Berthold Auerbach . . * 
Scheinhaus, Leon, Aus den alten 

Gemeinden I 

— , Aus den alten Gemeinden II . . 
Steif, Dr., Max, Einiges über den ge- 
schichtlichen Begriff des Amhaarez 
Struck, Hermann, Einige Worte über 

den »Bezalel« 

— , Ernst Josephson VIII 

Tobias, A., Neues von den Falaschas 
Viator, Vom VIII Zionistenkongress VIII 
Völlers. Prof. Dr., K., Was mich 

zur Hochschule führte 

Wo lf,Js.,JüdischeJugendwehr in England VIII 
Wolff, A., Das auserwählte Volk . . 

Z, Th., Zabludowski 

Zepler, Bogumil, Dr., Ignaz Brüll 
Zlocisti, Dr. med. Theodor, Zwei 

Aerzte VIII 



Heft Spalte 

VI 363—364 

V 317-322 
VU 431-440 

IV 269-272 

III 177-182 

IV 225-232 

V 307-314 
VI 369—386 

XII 779-787 
VII 425-428 

XII 743-752 
I 27-34 
I 35-44 

XII 759-768 



XI 719-^724 
n 73-84 

IV 259-2()4 
VI 399—40? 

III 147— 15e 

I 21-2(. 
IX 505-512 

IV 231— 23S 
-IX 525 -53C 

XI 709-710 
•IX 529-532 

II 95-102 
I 9-12 

X 625-628 

IX 555-562 



Ein jüdischer Liederabend . . . 

Daniel Osiris 

Eine Erinnerung 

Jedide Ilmim 

Nathan iel Sichel 

Die Lehranstalt für die Wissenschaft 

des Judentums 

Der Neubau der Lehranstalt für die 
Wissenschaft des Judentums . . . 



I 71-72 
III 1S5-185 
VI 357—360 
VI 405— 40r) 
VII 441-444 
t 
XI 677-^8^ 



XI 715-72« 



«n 



ERZAEHLUNGEN etc. 



Aismann, D., Eine Missetat . . . . 
Bar-Ami, Aus der jüdischen Sagen- 
* und Märchenwelt: 

a) Die Macht des Gesanges 

b) Der Chassid und die Räuber 

c) Das Totenhed 

d) Die Nachtigall 

— , Aus der jüdischen Sagen- und 

Märchenwelt: 

Der König und seine vier Söhne . 
Konopnicka, Maria, Der Pogrom (I) 

. (11) 

. m 



Heft Spalte 
VII 443-458 



;» 



I 15-20 



V 325-328 

II 108—110 

II 191-1Q6 

IV 263-270 



Meiseis, S., Aus Benjamins Cheder- 
jahren 

Menkes, Hermann, Die Sänger . . 

Rabbi nowicz, A. S., Verblasste Ge- 
stalten 

Schapire, Anna, Meine Tante Chane VIII 

Scholem Alechem, Beim Doktor. . 
-, Die Miiitärgestellung 

Skorra, Thekla: Judenporzellan . . 

Zlocisti, Hulda, Prinzessin Goldhaar 
(aus dem Englischen) 



Heft Spalte 

I 43-54 
XII 760-780 

X 615-624 
-IX 513-526 

V 313-318 
VI 391-398 

IV 241-260 
III 167—176 



GEDICHTE. 



Htft Spalte 

Huldschiner, Richard, Die Tochter 

Jephia. Ein dramatisches Gedicht VIII— IX 533-548 
Jehuda ha-Levi, Abschiedsverse 

(Uebersetzt von Emil Cohn) ... VI 385-388 



Klausner, M. A. 

Ein biblisches Trinklied 

M. A., K., Gebet 

Meiseis, Samuel, Ein Traum 



Heft 



Spalte 



. VIIl-lX 511 512 
I 12 

I 53—54 



Der Fuhrmann und die Eisenbahn 

Der Rebbe 

Psalm 42, Musik von Hirsch Liwschitz 
Das Lied von dem Bart ...... 



MUSIK. 

Heft Spalte Heft Spalte 

X 645—646 Oi! Jossei mit dem Fiedel VI 389—392 

I 19-20 Das Pekele VIII -IX 563-566 

III 1S7— 190 mWo Du hingehst" (Musik von 

IV 239-240 Bogumil Zepler) V 321 -326 



ILLUSTRATIONEN, 



^NACH GEMAELDEN, ORIGINAL- 

ZEICHNUNGEN, RADIERUNGEN 

UND SKULPTUREN. 

Adler, Jules, Auf dem Boulevard 

Antokolski, M., Judenkopf .... 

Becker, Benno, Landschaft .... 

Browne, H., Jüdische Schule in Tanger 

Conrad, L., Höre Israel 

Daunesteter, Helene, Arsene 
(Selbstportrait) 

--/Frau des Gesandten Motono . . . 

— , Trotzköpf eh en 

— , Im Spiegel 

— , Miss Hartoy 

— , Frau Mouromtzeff 

Dclacroix, Eugene, Jüdische Hoch- 
zeit in Marokko 

Elkan. B. , Grabmal »Auferstehung". 
Detail • 

Grabmal »Auferstehung« .... 

Portraiibtiste des Dr. Müser . . . 

Flötenspieler 

Portraitbüste des Zeichners Pascin 

Brahms Impression 

Die Eltern des Künstlers .... 



Heft Spalte 



XII 


776 


XII 


762 


XII 


766 


X 653- 


-654 


XII 


755 


11 


107 


11 


110 


II 


111 


11 


112 


11 


113 


11 


114 


X 657- 


-658 


VI 363- 


-364 


VI 363- 


-364 


VI 


365 


VI 


366 


VI 


369 


VI 


369 


Vi 


373 



Elkan, B., Knabe 

— , Portraitmedaille des Grossherzo^s 

von Baden 

Frank, Emanuel L, Der Hafen von 

London 

Glicenstein, Henryk, Selbstportrait 
— , Bar-Kochba 

t *t »I 

t *t M • • 

— , Portraitbüste des Gabriel d'Annunzio 
— , Portraitbüste des Pianisten Mu/io 

Hanozowski 

— , II Domani 

— Die Vorkämpfer 

Gottlieb, M., Judith 

Hannaux, Em., Poet und Sirene . . 

— , Mme Coralie Cahen 

— -, Baronin James Rothschild . . . 
Hasselberg, P. Ernst Josephson , . VIII 
Hirszenberg, S., Die Verbannung: . 

Israels, Jozef, Notsignal 

— , Lebensabend 

— , Freude und Sorge 

— , Portrait 

— , Die Nachbarn 



M»-fT 

VI 
VI 



375 
376 



XII 781—782 
III 155—156 
III 157 -LS8 
III 150-160 
111 161—162 
111 163 

III 164 

m 160 

lll 169-170 

XII 779-780 

1 13-14 

I 15 

\ 18 

-j> 5C"->-D0h 

Xll 751 - 752 

XII 743- TM 

Xll 745— 74f. 

XII 747-748 

Xll 747 

Xn 749 7^)1) 



Heft Spalte 

larav Sandor, Phrync ^^^ '^^^ 

J^Iephson. Ernst, Der ZJegenhirt . VIII-IX 505- 506 

- Der spanische Tanz VIII— IX 

Frau Hilma Marcus y,!!!""!^ 

Renholm, VIII-IX 



Die Mutter des Künstlers .... 

.Tante" 

Frau Nennie of Geijerstam . . . 

Frau Göthilda Fürstenberg . . . 

Jeannette Frau Rubenson .... 

Spanischer Zwerg .... 
Kaufmann, J., Am Versohnungstag . 

— , Trauer um den Toten 

Koschell, M., Abigail vor David . . 
Krestin, L., Verbotene Lektüre . . . 
Le Brun, Jephta und seine Tochter . 
Lecomte duNouy, Sabbatnachmittag 

in einer ludengasse zu Marokko 
Lenbach, Franz von, Jgnaz Brüll . 
Levy, Henry, Bleistiftzeichnung . . 
L6vyi M. B., Interieurs aus der Bretagne 

Lesser, Ury, Moses 

L6vy-Dhurmer, L, Der Richter . . 

-, Bettler in Spanien 

— , Die Blinden von Tanger . . . . 

— , Georges Rodenbach 

— , Die Mutter 

- , Der Denker 

Lewithan, Isaak, Der Wald . . 

— , Heuschober 

-, Studie 



vin-ix 

VIII-IX 
VIII-IX 
VIII -IX 
VIII-IX 
VIII-IX 
XII 
XII 



507 
510 
511 
514 
515 
518 
519 
522 
523 
773-774 
787 



im 



— , Herbst 

— , Abend 

-. Studie 

— , Herbst 

— , Trüber Tag 

— , Dorf 

-, Studie • • 

-, Herbst 

Mayer, Constant, Die Waise . 

— , Froh im Sinn 

— , Die Näherin 

Minkowski, M., Heimatlos . . 
Moyse, E., Jüdische Hochzeit 

Mittelalter 

— , Das Ausheben der Thora . . 

Mundlsk, Regina, Studie . . 

— , Jüdischer Knabe aus Polen . 

—, Zur neuen Heimat .... 

~, Die ^bsthändlerin Vi II -IX 503-504 

Pastern ik, L, Nach dem Progrom 

Pavill, i:, Grossvater und Enkelin 
-, Im Park Monceau 

-, Auf der Place de la Bastille . . 

Peyrc, R Gh., Zärtlichkeit . . . 

— . Opfer an Venus 

»^il-rhowski, L, Unterwegs . . . 

Pisbaro, C. Undschaft .... 

k»ortacls. J , Jifdin aus Tanger . , 

— , ji'idin aus Tetuan 



XII 781-782 

XII 769—770 

VIII-IX 547-548 

X 649-650 

X 626 

XII 750 

XII 777 

XII 742 

V 301 -302 

V 3o3 

V 305-306 

V 308 

V 310 

V 311—312 
IV 235 
IV 238 
IV 241—242 
IV 243—244 
IV 246 
IV 246 
IV 247—248 
IV 249-250 

• IV 251-252 

IV 254 

IV 255-256 

IV 257—258 

II 103 

II 105 

II 106 

XII 767 

II 85-86 

II 87 

IV 219 

IV 222 

V 297-298 



Hetf Spalte 

Reinhold, Hugo, Frau Dr. Edmund 

Meyer 

— , Prof., Dr. Bernhard, Geh Med Rat 

- , Lesende Mönche 

-, Kinder, um ein Vögelchen trauernd 
Reinhold, Hugo, Jonas Osbom . . 
— , Dr. Ludwig Bamberger .... 
— , Versuchung 

— , Der vierte Stand 

— , Jeremias 

— , Ausverkauft 

— , Schnitterin 

— , Affe, einen Schädel betrachtend . 

— , Am Wege 

Sichel, Nathaniel, Mignon . . . 

— , Judith 

— , Uarda 

— , Die Bettlerin vom Pont des Arts . 

— , Esther 

— , Die Mädchen von Tanger . . . 

— , Miriam 

— , Valcska 

Simoni, G., Jüdische Konzert in 

Marokko XIIl-IX 570-571 

Solomon J. Solomon, Die Familie 
des Künstlers 

Solomon, Simeon, Abraham und Isaac 

Spiro, Eugen, Portrait des Schrift- 
stellers B • • 

Ury, Lesser, David im Gebet . . . 

— , Die Sintflut 

— , Moses 

Wagner, Büste einer jungen Jüdin 

Weissmann, Jaques, Portrait der 
Madame X 

— , Portrait des Herrn C M. Gariel . 

Worms, Jules, Bekanntmachung . . 

— , Beim Einkauf 

— , Vordem Richter 



XII 758 

II 99-100 

II 101-102 

II 101 — 102 



II 
II 

XII 

XII 

X 
X 



91 
94 

753—754 

763 

661 
662 



X 


611 


X 


öU 


X 


613 


X 


613 


X 


613 


X 


614 


X 


615 


X 


616 


X 


617 


X 


618 


X 617- 


-618 


X 


619 


X 


622 


VII 433- 


-434 


VII 437- 


-438 


VII 441- 


-442 


VII 


442 


VII 


446 


Vll 449 


-450 


VII 453 


-454 


XII 


783 



Xll 


771 


XII 


776 


XII 


786 


IV 223- 


-224 


IV 225- 


-226 


XII 741- 


-742 


Xll 


775 


II 


89 


II 


90 


II 


95 


II 


9>. 


II 


98 



„BEZALEL". 
Schüler, Schülerinnen und Personal des 

Bezalel / 

Muster für Teppiche im jüdischen Stil 
Gipsmodelle „ » « 

Muster für dekorative Buchstabenver- 
bindungen auf Teppichen .... 
Boris Schatz im Kreise seiner Schüler 
Obere Klasse. Zeichnen nach der Natur 
Arbeiten der Schüler der oberen Klasse 
Beim Zeichnen von Pflanzen .... 
Die Gipsgiesserei-Abteilung des Bezalel 
Beim Stilisieren der Pflanzen .... 

Im Garten des Bezalel 

Teppich-Abteilung 

VERSCHIEDENES. 

Das neue Gebäude der Lehranstalt für 
die Wissenschaft des Judentums in 
Berlin 



21 -22 
23-24 
25-26 

25—26 
'29-30 
31 
34 
35 
38 
39 
41-42 
43 



67-68 



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Hfft 

VERSCHIEDENES. 

Bar-Mizwa-Unterricht II 

Die Synagoge von Kingston .... III 

Die jüdische Familie Motta in Kingston 
auf Jamaika, die 5 Mitglieder durch 
das Erdbeben verloren hat . . . III 

Der Jordan V 

Rothschildschule in Jenisalem .... V 

„ M »» Haremspiele . V 

II ft tt Lea als 

trauernde Tochter Zion .... V 

Soldatenspiele im Park VI 

Turnen am Rundlauf in der Turnhalle VI 

IV. Klasse der Taubstummen-Schule 

mit dem Lehrer VI 

Wüstenpolizist V 

Sprachübung in der II. Klasse ... VI 

Der Artikulationsunterricht in der 

untersten Klasse VI 

Szene aus: »Der Gott der Rache« von 

Schalom Asch VII 

Szene aus: »Der Gott der Rache" von 

Schalom Asch VII 

Gruppe jüdischer Auswanderer, die unter 
Leitung der J. T. O. am 7. Juni mit 
Dampfer «Cassel« des Nord- 
deutschen Lloyd in Bremen nach 
Galveston expediert worden sind . VII 

Gruppe aus dem Zeltlager der jüdischen 

Jugendwehr in England .... VlII/lX 

Gruppe aus dem Zeltlager der Judischen 

Jugendwehr in England .... VIII/IX 

Verkleinerung des Original-Titels von 
•Moses Mendelsohn der Weise und 
der Mensch* VIII/IX 

Gruppe der derzeitigen Hörer der 
•Lehranstalt für die Wissenschaft 
des Judentums" XI 

Neubau der Lehranstalt für die Wissen- 
schaft des Judentums" XI 

PORTRAITS. 

Abramowitz, S. J X 633 

d'Annunzio, Gabriel III 

Back, Dr., Rabb XI 

Baerwald, Dr. H.| III 211 

Bamberger, Dr., Ludwig X 

Baneth, Dr XI 

Barol, Dr XI 

Bernfeld, Dr XI 

Bernhard, Geh. Med.-Rat, I^of., Dr. . X 

Blumenthal, Dr , Rabb XI 

Brandon, Isaac III 

Briill, Ignaz X 

Buber, Salomon I 

Cahen, Coralie, Mme I 

Cassel, Dr., David XI 

Cohen, Herrmann, Prof. Dr., Geh. Reg.-Rat X 1 ()80 

Cordora, Charles de III 

Darmesteter, Helena, Arsene .... II 

"Elbogen, Dr., J XI 



Spaljc 

83-84 
175 



177- 178 
342 
346 
347 

350 
404 
404 

406 
354 
406 

406 

459- 660 

461—462 



469-470 
531- 532 
531-532 

549-550 

714 
718 



625 
137 



-634 
163 
709 

-212 
614 
702 
710 
706 
611 
708 
180 
626 

-138 
15 
700 
()90 
179 
108 
701 



Heft 

Feilchenfeld, Rabb., Dr ; vil 

Feuchel, Jul ; . \y 

Frank, Rabb,, Dr m 

Franke, Dr., P. F. xi 

Fränkel, B., Geh. Med.-Rat Prof. ... X 

Freudenthal, Jacob vil 

Freund, Rabb., Dr \ 

Fürstenberg, Göthilda ....... VIII— IX 

Galliner, Rabb., Dr., J xi 

Gariel, CM ji 

Geiger, Abraham xi 

Geiger, Prof., Dr., Ludwig xi 

Geijerstam, Nennie, Frau vill— IX 

Glicenstein, Henryk m 

Goldberger, L. M, Geh. Kommerzienrat XI 

Gottheil, Prof., Rieh xi 

Grossherzog von Baden. Portraitmedaille VI 

Hannaux, Em. i 

Hanozowski, Muzio m 

Hartoy, Miss \[ 

Hirsch, Prof., E. G., Prediger .... XI 

Hochfeld, Rabb., Dr xi 

Joseph, Rabb., Dr xi 

Josephson, Ernst VIII— IX 

Kaminka, A.,- Dr xi 

Kalischer, Rabb., Dr xi 

Kamionska-Klara, Brun VII 

Kamionski, Oskar . , vil 

Klein, Prof., Dr., Oberrabb XI 

Kroner, Philipp, Dr n 

Lazarus, Geheimrat, Prof., M X 

Levy, Gotth vil 

Lewithan, Isaak iv 

Lewy, Israel, Dr xi 

Lilienthal, Justizrat xi 

Low, Oberrabbiner, Dr XI 

Lucas, Dr., Rabb xi 

Marcus, Hilma, Frau VIll-IX 

Maretzki, Dr iv 

Maybaum, Prof., Dr xi 

Mendel, Prof., Dr., E V/Ii-IX 

Mercado, C. de * . . . . 11 1 

Meyer, Moritz, Stadtrat • \i 

Meyer, Frau Dr. Edmund X 

Mordecai, L M m 

Motono, Frau ii 

Motta, Dr., A. C lij 

Mouromtzeff, Frau li 

Mudahy, Jacob \\\ 

Müller, Dr., Josef xi 

Dr. Müser V|, 

Neumann, Dr ix 

Neumann, San.-Rat, Dr., S X 

Neumark, Rabb., Dr Xi 

Nöther, Emil VI 

Oppenheim, Rabb., Dr., G XI 

Oppert, Prof., Dr., Gustav .... M 

Osbom, Jonas X 

Oschinsky, Th '/ 

Osiris, Daniel II 

Pascin \ 1 

Philippson, L. Dr.,- Rabb a( 



Spalte 

487 

289—290 

213-214 
699 
612 
428 
69—70 
519 
710 
90 

695—696 
688 
518 
155 
685 
711 
-376 
13-14 
165 
114 
711 
708 
708 
506 
711 
710 
467 
466 
709 
130 
682 
485 
242 

699—700 
705 
711 
707 
510 
290 

701-702 
562 
180 
f)R4 
611 
ISO 
110 
180 
114 
180 
700 
365 
708 
681 
708 
486 
712 
686 
613 

> 7^338 
186 
369 

6S 1-682 



Plotke, Rechtsanwalt XI 70t) 

Poznanski, Dr., S., Rabb Xi 707 

Rtnholm VIIl 511 

Rosenzweig, Rabbiner, Dr XI 720 

Rothschild, James, Baronin 1 18 

Rubenson, Jeanr'itte, Frau VIII -IX 522 

Salvendi, Dr IV 289-290 

Samuel, Dr., Rabb XI 710 

Sdigsohn, justizrat XI 687 

Senator, H., Geh. Medizinalrat, Prüf.,Dr. VIII IX 555-556 

Sichel,;Nathaniel VII 442 

Simon, Louis, Geh. Komm Rat . . . Xi 683 

Stcinthal,'Chajim XI 702 

Simon, Ida, Frau XI 684 



Simon, justizrat, Hermann, Veit . . . 

Steinschneider, Moritz 

Schiff, Jacob. H 

Schechter, Prof., Salomon 

Schreiner, Dr., Martin 

Timendorf er, justizrat 

Vogelstein, Dr., Herrn., Rabb 

Walter, Rabb., Dr 

Warburg, Professor, Dr., Otto. . . .VIII 
Warschauer, Dr., M., Rabb. ..... 

Weiss, Max 

Wolffsohn, David VIII- 

Yahuda, Dr 

Zabludowski, Prof., Dr 



Heft 


Spahf 


XI 


686 


lU 


182 


II 


140 


XI 


712 


XI 


699 


IV 


290 


XI 


710 


XI 


709 


-IX 


530 


^1 


708 


XI 


687 


-IX 525 


-526 


XI 


702 


l 


IT 



MITTEILUNGEN AUS DEM DEUTSCHEN BUREAU DER ALLIANCE 

ISRAELITE UNIVERSELLE. 



AUFSAETZE. 



Heft 

Die Knabenschulen der Alliance in 

Mogador (Marokko) ...... I 

Die Knabenschule der Alliance in Bagdad I 

Das Schulwerk der Alliance in Saloniki I 

Bekanntmachung '. . 11 

Die Lage der Juden in Persien ... II 

Salomon Buber II 

Jacob H. Schiff II 

Die Kreditgenossenschaften in Galizien II 
Die vierte Tagung der Deutschen 
Conferenzgemeinschaft der All. Isr. 
Univ. am 19. Februar 1907 in 

Frankfurt a. M III 

Die Israeliten in Tripolis III 

Dr. Hermann Baerwald III 

Rabb. Dr. Frank, Cöln III 

Die Israeliten Rumäniens IV 

Die Vorkommnisse in Rumänien ... IV 

Die A. I. U. und die persischen Juden IV 

Jubiläumsfeier der Logen IV 

Bezirksrabb. Dr. Salvendi, Dürkheim . IV 

Das Schul- und Lehriingswerk der A. I. U. V 

Theodor Oschinsky V 

Mein Aufenthalt in Palästina von 

Th. Oschinsky V 

Das rumänische Hilfswerk VI 

Das Ackerbauwerk VI 

Russische Versuche in Bulgarien ... VI 



Spalte 

5'i— 58 
59-64 
63-66 
131—132 
133—136 
137—140 
139-142 
141 — 144 



197—204 
205-210 
209—212 
211-214 
273-286 
285-286 
285-288 
289-290 
289 - 292 
329—336 
337—338 

337-354 
407—410 
409-418 
417-422 



Heft 
Die General-Versainmlung der Berliner 

Mitglieder der A. I. U VII 

Der Jahresbericht des Central-Comites 

der A. I. U. für 1906 . . . . . VII 

Zwei Veteranen der A. I. U VII 

Das Unterstützungswerk der Alliance in 

Casablanca VlII-IX 

Die israelitische Gemeinde in Kachan . VIII— IX 

Aus anderen Gemeinden Persiens . . VIIl— IX 
Trauerrede an der Bahre Theodor 

Oschinskys VIII-IX 

Die Jahreswende X 

Das Unterstützungswerk der Alliance in 

Marokko • X 

Aufruf für die marokkanischen Glaubens- 
genossen X 

Briefe aus Arabien X 

Schulbericht aus Bagdad X 

Die Israeliten in Persien X 

An die Lehranstalt für die Wissenschaft 

des Judentums XI 

Das Unterstülzungswerk der Alliance 

in Marokko XI 

Die Juden von Marokko XI 

Erklärung XII 

Achad Haam über das Schulwerk 

der A. I. U XII 

Das Hilfswerk der Alliance in Marokko XII 



spalte 
473-484 

483-486 
485 488 

567—572 
573-586 
587—596 

595-600 
647-648 

651—664 

665-668 
671-674 
673-674 
675 - 676 

725-726 

725—728 
729 - 734 
789-796 

795-796 
799—800 



NOTIZEN. 

Heft I. Vorträge über die A. I. U. justizraf Dr. Hermann Veit Simon. — Rabb. Dr. Freund, Göriitz. — Jacob 
H. Schiff, New York. — Handelsminister Oscar S. Strauss, New York. — Neue immerwährende Mitglieder 
in Berlin und Breslau. 

Heft II. Salomon Buber. — Das Lokal-Comit6 der A. I. U. in Köln. — Neue immei*währende Mitglieder in Frankfurt a. M. 



1. 



Heft in. 

Heft IV. 
Heft V. 

Heft VI. 



Heft VII. 



Heft VI 11 



Heft X. 
Heft XI. 
Heft XII. 



Neue immerwährende Mitglieder in Berlin. — Rabb. Dr. Freund, Görlitz. — Rabb. Dr. Salvendi. — Das 
50jährige Jubiläum des Norddeutschen Lloyd. — Die A. I. U. in Mannheim. 

Die A. I. U. in Frankfurt a. M. - Die A. I. U. in Pleschen (Posen). 

Die Tätigkeit der A. I. U. in Jerusalem. ~ Die Vorkommnisse in Rumänien. — Spenden für Rumänien. — 
Sitzung des Bezirks-Comitfe Nürnberg. 

Gedenktafel. — Eine Sitzung des Berliner Lokal-Comit^s der A. I. U. — Das Lokal-Comit^ der A. I. U. in 
Mainz. — Das Lokal-Comit6 der A. l. U. in Darmstadt. — Spenden für Rumänien. — Neue immerwährende 
Mitglieder in Berlin. 

Rabb. Dr. Feilchenfeld, Posen. — Das rumänische Hilfswerk. — Spenden für Rumänien. — Deutscher Unter- 
richt in Constantinopel. — Eine Sitzung des Lokal-Comit^s der A. I. U. in Wiesbaden. — Das Lokal-Comit^ 
der A. I. U. in Königsberg i. Pr. — Aufruf an die Mitglieder der A. I. U. 

— IX. 'Hilfstätigkeit der A. l. U. in Marokko und Russland. — Die amerikanische Einwanderungskommission. — 
Die AUiance-Schulen in Tunis. — Lokal-Comit^ Worms. — Neues Lokal-Comite Kiel. - Nachtrag zum Jahres- 
bericht der A. I. U. für 1006. — Ein Urteil über das Alliancewerk in Persien. 

Spenden-Verzeichnis. — Neue immerwährende Mitglieder in Berlin. 

Spenden-Verzeichnis. — Lokal-Comite Berlin. 

Sammlung für die marokkanischen Glaubensgenossen. — Expedition nach Abessinien. — Landes-Comit^ für 
das Grossherzogtum Baden, — Die A. l. U. in Karlsruhe i. B. — Gedenktafel. 



ILLUSTRATIONEN. 



Heft 

Alliagice Knabenschule in Bagdad . . V 

„ 6.-12. Klasse V 
„ 1.-5. Klasse V 

V 
„ Riwka Nuriel in Bagdad V 
Allianc« Knabenschule in Beirut . . V 
Die Alhance-Mädchenschule in Tanger 

IV. Klasse / VlII-IX 569-^570 



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11 



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Spalte 

330—331 
330—331 
331—332 
331-J32 
333-334 
343 



Heft 



Spalte 



Die Alliance-Mädchenschule in Tanger 

in, Klasse VIII-IX 569-570 

Pilgerfahrt von Zöglingen der Hand- 
werkerschule 5. Jahrgangs nach 
Jerusalem VIII— IX 573-574 

Die Alliance-Mädchenschule in Bagdad VIII— IX 575 

„ „ -Knabenschule „ „ VIII— IX 576 

Die Alliance-Knabenschule in Jaffa . VIII-IX 581—582 




Verantwortlich für die Redaktion: Chefredakteur Leo Winz, Berlin W. 15, Knesebeckstr. 48/49. 
Verlag Ost und West, Leo Winz, Berlin $.42. - Druck von Beyer & ßoehme, Berlin S. 42, Wasserthorstrasse 50. 



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ILLUSTRIERTE MONATSSCHRIR 



V 



FÜR DAS GESAMTE JUDENTUM 



Herausgegeben und redigiert 



von 



LEO WINZ. 



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Alle Rechte vorbehalten. 



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Heft]. 



Januar 1907. 



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VII. Jahrg. 



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An unsere Leser! 

Titel und Register zum vorigen Jahrgange sind vorliegendem Hefte beigegeben, mit dem 
V siebente Jahrgang unserer Zeitschrift beginnt. 

Soweit nichts Gegenteiliges mitgeteilt wird, werden wir das Abonnement der seitherigen 
Abonnenten als verlängert betrachten, 

Verlag und Redaktion von „OST und WESV. 



DAS JAHR 1906. 

Ein Rüci<blici<. 
Von M. A. Klausner. 



Das Schicksal hat uns nicht verwöhnt. Wenn 
uns ein Jahr kein besonderes Leid gebracht hat, 
so sprechen wir voller Dank von einem freund- 
lichen Wandel des Geschicks, so sehen wir bereits 
die Morgenröte jener friedlichen Zeit, von der 
unsere Propheten gesprochen haben. Denn der 
Geist der Propheten, die in Sturm und Not 
nicht verzagten und selbst unter der Geissei des 
Unheils den Sieg der Gerechtigkeit in Gottes 
Namen vorschauend verkündeten, dieser Geist 
des unverwüstlichen Optimismus lebt auch in 
uns, wie er überhaupt das Leben unserer Ge- 
meinschaft erhalten hat. 

»Die Geschichte", sagt Hegel, »ist der 
Fortschritt der Menschheit im Bewusstsein der 
Freiheit." Unsere Geschichte ist der Fort- 
schritt der Menschlichkeit und Gerechtigkeit, wie 
unsere Religion im wesentlichen die Offenbarung 
des Rechts ist, des Rechtes aller Kreatur unter- 
einander und vor dem Schöpfer selbst. Dass 
dieser Fortschritt zur Gerechtigkeit so langsam 
ist, können wir beklagen doch kann das unsem 



Stolz darüber nicht mindern, dass der Fortschritt 
unserer Gemeinschaft ein Vorbild ist für den 
Fortschritt der Menschheit und Menschlichkeit, 
dass in unserm Schicksal sich „der Fortschritt der 
Menschheit im Bewusstsein der Freiheit" spiegelt. 
Wenn ein Rückschlag in unserer Freiheit unser 
Empfinden auf das tiefste schmerzlich erschüttert, 
so beklagen wir zugleich das gemeine Mensöh- 
heitslos. Finden wir dabei kein Mitgefühl bei 
unsem Menschenbrüdern — so ist das schlimmer 
für diese als für uns, und wir haben keinen 
Grund, die Erbarmungslosen zu beneiden. 

w Nicht ein Einzelner ist wider uns aufge- 
standen, uns zu verderben, sondern von Ge- 
schlecht zu Geschlecht erhoben sich Hasser, uns 
zu vernichten; doch der heilige Gott rettete uns 
aus ihrer Hand." Diese Worte, die wir am 
Passahabend sprechen, enthalten unsere Leidens- 
geschichte; sie bezeugen, dass Gerechtigkeit und 
Menschenliebe den Sieg noch nicht errungen 
haben; sie bezeugen zugleich unserer Väter und 
unsere Zuversicht in den Gott-Retter, der uns 



M. A. Klausner: Das Jahr 1906. 



bis auf diesen Tag erhalten hat. Diese Zuversicht 
ist die Grundlage unseres von den Propheten 
ererbten Optimismus. 

Dieser prophetische Optimismus soll uns 
niemals verlassen, auch in dem Augenjjlick nicht, 
da wir schmerzergriffen der Vorkommnisse ge- 
denken, die den Legionen unserer Märtyrer neue 
Scharen zugeführt haben. Der Schauplatz der 
grausamen Verfolgungen unserer Glaubensge- 
nossen ist der Teil Russlands, der nach seiner 
geographischen Lage zum europäischen Russland 
gerechnet wird, der aber von europäischer, von 
menschlicher Gesittung weltenfern ist. Nicht ein 
in Unwissenheit verkommener und durch seine 
ungezügelten Leidenschaften in Taten der Wut 
sich ergehender Pöbel hat in Siedlic und an 
anderen Orten zu Raub und Mord, zur Ab- 
schlachtung Unschuldiger sich vereinigt — viel 
Schlimmeres ist geschehen : die geordneten Träger 
der Staatsgewalt haben den Pöbel zu jenen Ge- 
walttaten planvoll angestiftet! Die Beugung der 
Gerechtigkeit wurde zur Staatsmaxime gemacht. 
Taten der Unmenschlichkeit gaben sich für 
Staatsrettertum aus! Man muss weit, sehr weit 
zurückgehen, um in der Weltgeschichte Blätter 
zu finden, die von ähnlichem Gräuel berichten. 

Russland ist revolutioniert, das ganze Russ- 
land. Keine Bevölkerungsschicht, die nicht der 
Regierung gegenüber voller Abscheu und Ver- 
achtung wäre. Selbstverständlich teilt die jüdische 
Bevölkerung Russlands diese Stimmung der Um- 
gebung. Es wäre wider die Natur, wenn es 
anders wäre. Niemand würde es glauben, wollte 
man sagen, dass der Bevölkerungsausschnitt im 
russischen Reich, der von der Regierung am 
meisten gelitten hat, jenen Abscheu und jene Ver- 
achtung nicht teilte. Und wäre das Unglaubliche, 
das Widernatürliche wahr, man würde dafür 
keine andere Erklärung haben, als dass die lange 
Unterdrückung die Gequälten moralisch und 
geistig bis zur Widerstands- und Willens- und 
Hoffnungslosigkeit erdrückt und zermorscht habe. 
Gewiss lag das in der Absicht der Gewalthaber, 
der Pobedonoszew und Genossen. Doch vor 
diesem äussersten Unglück unverdienter Schande 
sind unsere russischen Brüder bewahrt geblieben. 
Gut und Freiheit hat man ihnen genommen — 
der männliche Mut war in ihnen unvertilglich. 
Nicht gern und erst in äusserster Not haben sie 
zu den Waffen gegriffen, im Verein mit ihren 
andersgläubigen Landsgenossen. Sie sind ein 
leidgewohntes Geschlecht. Wenn sie gleichwohl 



sich empörten und Gewalt der Vergewaltigung 
entgegenstellten, so ist damit allein bewiesen, 
dass die Qual unerträglich geworden war, dass 
das Leben eingesetzt werden musste, damit das 
Leben gewonnen werde. Dass unsere inter- 
nationalen nationalistischen Feinde unseren russi- 
schen Brüdern die Notwehr zum Verbrechen an- 
rechneten, sie als berufsmässige Revolutionäre 
ausgaben, ist selbstverständlich. Dieselben Ver- 
ketzerer der Juden hätten mit Hohn und Ver- 
achtung von eben diesen russischen Juden ge- 
sprochen, wenn die jüdischen russischen Männer 
teilnahmlose Zeugen der Revolution geblieben 
wären und untätig zugeschaut hätten, wie andere 
ihnen Befreiung zu bringen sich bemühten. Jene 
internationalen nationalistischen Feinde der Juden- 
heit sind die Gesinnungsgenossen, die Helfer, die 
mitschuldigen Kronzeugen der Massenverbrechen, 
die unter Duldung der amtlichen russischen Re- 
gierung von der amtlichen russischen Neben- 
regierung im vorigen Jahr ebenso wie in dem 
voraufgegangenen verübt worden sind. 

Der Witz der russischen Pogrom - Politiker 
ist so dürftig, dass überall nach dem gleichen 
Schema verfahren wurde, das durchsichtig ist für 
jeden, der nicht freiwillig blind und darum un- 
heilbar blind ist: An einem Ort ist ein Polizei- 
vorsteher, der die Juden nicht unmenschlich be- 
handelt und dafür von den jüdischen Einwohnern 
geliebt, verehrt, gepriesen, gesegnet wird. Der 
Polizeivorsteher fällt von Mörderhand. Der Mörder 
wird nicht entdeckt: Die kriminalistische Frage 
wcui bono?" würde den Verdacht auf die Amts- 
genossen des Ermordeten leiten, die an seiner 
Menschlichkeit den Juden gegenüber Anstoss ge- 
nommen hatten, weil sie durch den gerechten 
Mann gehindert waren, nach ihrer Laune Er- 
pressungen, Gewalttaten, Räubereien zu begehen. 
Diese Amtsgenossen spielen sich als tiefergriffene 
Freunde, als die berufenen „Rächer" des Er- 
schlagenen auf, und ihr beleidigtes Freundes- 
gefühl wendet sich gegen die Juden, die ihren 
Helfer und Beschützer erschlagen haben sollen. 
„Gebt den Mörder heraus!" — diese Forderung 
ergeht an die Juden, die nicht antworten dürfen, 
wo sie den Mörder vermuten, auch nicht sagen 
dürfen, dass es Sache der Polizei sei, den Mörder 
zu finden. Die Forderung, die unerfüllbar ist, 
wird nicht erfüllt, und der Pogrom beginnt — 
Die einzige Variante, die man sich gestattet, be- 
steht darin, dass in einer Stadt, die zu vier Fünfteln 
jüdische Einwohner hat, deren Revolutionäre also 



M. A. Klausner: Das Jahr 1906. 



aller Wahrscheinlichkeit nach zu vier Fünfteln 
Juden sind, von dem Polizei- oder Militär- 
gewaltigen die Juden zur Auslieferung der Re- 
volutionäre, der Bombenwerfer bei Strafe des 
Pogroms aufgefordert werden. Natürlich kennen 
die Juden die Revolutionäre ihres Glaubens nicht, 
so wenig wie die Christen die Revolutionäre ihres 
Glaubens kennen. Doch die Christen werden 
mit der analogen unsinnigen Forderung nicht 
behelligt, die nur den Juden gegenüber vor- 
kommt, und Vorwand und Ankündigung des 
Pogroms bildet, des staatsretterischen Terrorismus, 
der als nicht unwillkommene Nebenwirkung noch 
Beute bringt 

In den letzten Monaten des vergangenen 
Jahres ist eine gewisse Ruhe eingetreten, hat man 
von Ausschreitungen in den schlimmsten Formen 
nicht gehört. Leider haben wir keinen Grund, 
das einem Erschrecken der russischen Gewalt- 
haber vor ihrem eigenen Werk zuzuschreiben, 
dem erwachenden Gewissen oder der sich regen- 
den Reue. ~ Eine Anleihe ist gewiss in Sicht, und 
zu den Vorbereitungen hierfür gehört wenigstens 
der Anschein der ' Ruhe, das Unterbleiben der 
gröblichsten Ausschreitungen. Dass die Ver- 
folgungspause zu so gelegener Zeit eintritt, ist 
ein weiterer Beweis für den Zusammenhang 
zwischen Regierung und Pogromveranstaltung. 

Dass den Pogroms ein gewaltiger Aus- 
wanderungsdrang folgte, ist selbstverständlich. 
Die Bewegung der Auswanderungsziffer im ver- 
gangenen Jahr legt Zeugnis davon ab. Die 
wirtschaftlichen Verhältnisse hätten in Russland 
eine starke Auswanderung nicht bedingt. Sie 
war auch in den ersten Monaten des Jahres 
gering. Der Pogrom von Bialystok Hess sie 
plötzlich anschwellen. Dann trat Verebbung ein, 
bis die Reihe der neuen Pogroms, in Siedlic ein- 
geleitet, neue Flut brachte. 

Dass die jüdischen Wohlfahrts-Organisationen, 
die Alliance Isradite Universelle mit den Seh wester- 
Instituten voran, für die Notleidenden schnell mit 
reicher Hilfe sorgten, dass sie namentlich im Ge- 
folge der Jewish Colonisation Association die Aus- 
wanderer-Unterstützung mit Mitteln versah, soll 
an dieser Stelle nicht näher dargelegt werden. 
Auch von dem Auswanderungs - Problem und 
seinen Einzelheiten kann hier nicht ausführlich 
die Rede sein. Nur von der Auswanderungsnot 
haben wir hier zu sprechen, insbesondere von 
dem Teil der Auswanderungsnot, die in den den 
Auswanderern bereiteten Schwierigkeiten besteht. 



Die Hauptzufluchtslande der russischen 
jüdischen Auswanderer sind England und nament- 
lich Amerika. Es ist offenkundig, dass die Lohn- 
ansprüche der russischen jüdischen Auswanderer, 
ebenso wie ihr ganzer Standard of life hinter den 
Lohnansprüchen und der Lebenshaltung der ein- 
geborenen Arbeiter in den genannten Ländern 
zum Teil erheblich zurückstehen. Daraus ergibt 
sich, wenigstens für eine Uebergangszeit, ein 
Lohndruck, gegen den die Betroffenen begreif- 
licherweise sich zu wehren suchen. Auch die nicht 
unmittelbar Betroffenen haben ein unzweifelhaftes 
Recht, eine Herabsetzung der einmal gewonnenen 
Lebenshaltung der arbeitenden Bevölkerung des 
Landes oder eines Teiles dieser Bevölkerung als 
eine Schädigung anzusehen und demgemäss zu 
bekämpfen. Es ist daher erklärlich — wenngleich 
im Hinblick auf die Gesamtlage und auf die 
Ursachen der russischen Auswanderung nicht 
unbedingt zu billigen und in Bezug auf die 
Folgen jedenfalls zu beklagen — dass England 
wie Amerika begonnen haben, zur Verhütung 
der unwillkommenen Nebenwirkungen der plötzlich 
gesteigerten Einwanderung die Einwanderung 
selbst durch erschwerende Bedingungen aufzu- 
halten. Es wäre nicht richtig, hinter diesen Be- 
strebungen durchaus antisemitische Neigungen zu 
vermuten, und noch weniger klug, solche un- 
richtige Vermutung in der Form anklagender 
Behauptung zu lautem Ausdruck zu bringen. 
Nicht alles, was uns missbehagt und uns schadet, 
ist darum antisemitisch. Es ist am Ende ver- 
ständlich, wenn man um das eigene Leiden in 
des Reiches Untergang weint, es kann aber nicht 
gebilligt werden, wenn man in allgemeiner Be- 
drängnis nur für das eigene Leiden Empfindung 
hegt und zeigt. Jüdisch ist das jedenfalls nicht 
Die Auswanderungsbeschränkungen in England 
und Amerika treffen unsere russischen Glaubens- 
brüder vielfach hart, ihre Tendenz aber richtet 
sich nicht ausschliesslich oder vorzugsweise gegen 
diese. Wir haben vielmehr dankbar und rühmend 
anzuerkennen, dass englische und amerikanische 
Grossherzigkeit sich unsem russischen Brüdern 
gegenüber im grossen und ganzen nicht verleugnet 
hat, dass politische und religiöse Verfolgung für 
unsere Brüder nach wie vor einen Freipass bildet 
in jenen gastlichen Landen. Das schliesst nicht 
aus, dass gewisse Strömungen vorhanden sind, 
die sich namentlich gegen die Zusammenballung 
jüdischer Einwanderer richten. Nur soll man 
nicht vergessen, dass wir selbst solche Zusammen- 



M. A. Klausner: Das Jahr 1906. 



8 



ballung nicht wünschen, dass wir lieber sehen 
würden, unsere russischen Glaubensgenossen 
Hessen sich nicht der Mehrzahl nach gerade in 
Newyork oder sonst im Osten nieder, wo ihrer be- 
reits fast eine Million zusammen ist. Fast hat es 
den Anschein, als ob eben dieses Gedränge die 
Flüchtlinge aus dem russischen Ansiedelungsgebiet 
heimatlich anmutet. So begreiflieh das ist, so 
sprechen doch triftige Gründe dafür, dass man 
vorsichtig für eine bessere Verteilung sorgt, schon 
damit die Zuwandernden durch die Fülle nicht 
selbst einander Licht und Luft nehmen, damit 
sie schneller dem äusseren Landesbrauch in 
Sprache und Kleidung und in mancher 
guten Gewöhnung sich anpassen können. Einst- 
weilen haben wir Ursache, mit Freude zu sehen, 
wie das russische Gefängnis sich allmählich 
entleert Im vergangenen Jahr sind viele Zehn- 
tausende unserer Glaubensgenossen aus dem 
Lande der Knechtschaft in Lande der Freiheit 
übergesiedelt, sich selbst und ihren neuen Mit- 
bürgern zum dauernden Segen. Das Aufnahme- 
gebiet hat sich kürzlich wesentlich erweitert Süd- 
amerika hungert förmlich nach Menschen und hat 
seine Pforten weit aufgetan. Die mit der Alliance 
Isra^lite Universelle durch Personalunion ver- 
bundene Jewisch Colonisation Association und 
verwandte Institutionen in England, Amerika 
und auf dem europäischen Kontinent haben in 
der Stille vorgearbeitet Das Ergebnis wird erst 
in einer späteren Zeit zu Tage treten. Heute 
genüge, so viel zu sagen, dass seit den Zeiten 
der Völkerwanderung nicht solche Massen von 
Land zu Land sich gewälzt haben, wie jetzt über 
das Meer geführt werden. 

Der grösste Reichtum eines Landes besteht 
in seinen arbeitskräftigen und arbeitswilligen Be- 
wohnern. Das weiss man in England wie in 
Amerika, und deswegen ist vorläufig nicht zu 
besorgen, dass jene Länder sich der Zuwanderung 
solcher Elemente verschliessen werden, besonders 
dann nicht, wenn die oben erwähnten Verteilungs- 
Massnahmen Erfolg haben. Erschwerungen freilich 
sind möglich und beinahe wahrscheinlich. Doch 
die Gründe dafür sind nicht in feindseliger Ge- 
sinnung zu suchen, sondern in Erwägungen 
wirtschaftspolitischer Art, denen eine subjektive 
Berechtigung innerhalb gewisser Grenzen nicht 
abzusprechen ist Noch ist die Dillingham-Bill 
in den gesetzgebenden Körperschaften der Union 
nicht durchberaten. Aber auch der angenommene 
Dillingham-Antrag würde den Weg nach Amerika 
nicht versperren. 



Mit tiefem Bedauern müssen wir feststellen, 
dass Deutschland zu den Staaten gehört, die sich 
den russischen, namentlich jüdischen Flüchtlingen 
gegenüber am wenigsten freundlich zeigen. Wir 
haben es hier mit einer Erbschaft aus der Bismarck- 
Puttkamerschen Zeit zu tun. Im Jahre 1885 
begann — unter dem Vorgeben notwendiger 
Abwehr der Repolonisierungsgefahr — die Aera 
der Massenausweisungen Fremdbürtiger, d. h. 
der russischbürtigen Personen. Viele tausende 
mussten damals das Vaterland ihrer Wahl ver- 
lassen, dessen Leiter gleichzeitig die Pforte der 
Naturalisierung durch Verwaltungsverfügung fast 
unpassierbar machten. Zehn Jahre später bot die 
Gewerbezählung den Vorwand zur Erneuerung 
der harten Massregel. Man hatte kein Auge 
dafür, dass die Verjagung des betriebsamen 
Fleisses unersetzlichen Schaden anrichtete, dass 
mit dem anspruchslosen Arbeiter die Industrie 
selbst auszuwandern anfing. Als man die Wirkung 
merkte, war es zu spät, namentlich weil man auch 
dann nur Ausnahmen zuzulassen sich entschliessen 
konnte. Immerhin hörte die Massenverjagung 
allmählich auf, zum Teil, weil nicht viel mehr übrig 
geblieben war, was verjagt werden konnte, zum 
Teil, weil man sich zur Milde bekehrt hatte — nicht 
aus Menschlichkeit, sondern aus berechtigtem 
Eigennutz. Im abgelaufenen Jahr verursachte die 
russische Pogrom-Politik die panikartige Flucht 
der russisch-jüdischen Bevölkerung, die sich natur- 
gemäss zunächst nach Deutschland wandte. Und 
auf der Stelle setzte die Ausweisungs-Politik ein. 
Der Grundsatz wurde aufgestellt, dass die 
russischen Juden in Deutschland nicht zu dulden 
seien. Für die Pogrom-Flüchtlinge gab es in 
Deutschland kein Gastrecht. Gerade der Staat, 
der national unter allen der geschlossenste, 
einheitlichste ist, erklärte sich unfähig, fremde 
Elemente zu vertragen, nicht einmal solche, deren 
Anhänglichkeit an Deutschland sich durch das 
Festhalten an deutscher Sprache durch Jahr- 
hunderte bewährt hatte. Zu Zehntausenden 
müssen alljährlich fremdbürtige Arbeiter zur 
billigen Arbeit in Deutschland geworben werden, 
grosse geschlossene polnische Kolonien sind da- 
durch in Deutschland entstanden und bis zum 
Westen vorgedrungen — aber der Jude aus dem 
Osten kann nicht geduldet werden! Die jüdische 
biblische Satzung — «dasselbe Gesetz und das 
nämliche Recht sollen gelten für dich und für 
den Fremden" — hat für unser Land heute 
noch immer keine Geltung. Alle Vorstellungen 
hiergegen sind vergeblich gewesen. Doch Billig- 



M. A. Klausner: Das Jahr 1906. 



10 



keit verlangt die Anerkennung, dass die harte 
Anschauung eine milde und menschliche Praxis 
gefunden hat 

Der Sieg der Gerechtigkeit für uns Juden 
ist fem, aber nicht unerreichbar. Frankreich 
beweist es. Dort hat die Gerechtigkeit durch 
Sühne früherer Schuld schönen Triumph gefeiert. 
Der Hauptmann Dreyfus, den Fälschung und 
Meineid zum Verräter an seinem Vaterlande 
stempeln wollten, ist vollständig rehabilitiert und 
als Major wieder in die Reihen des Heeres ein- 
gestellt worden. Man hat gesagt, dass täglich 
und allerorten Justizirrtümer vorkämen, und dass 
es ärgerlich auffallen müsse, wenn die ganze 
Judenheit sich erregte, weil das nicht seltene 
Unglück einmal einen Juden getroffen. Wer das 
sagt, verkennt die Wahrheit gröblich. Gewiss sind 
Justizirrtümer häufig. Aber in dem Fall Dreyfus 
hat kein Justizirrtum vorgelegen, sondern ein 
vorbedachter, planvoll ersonnener Justizmord, 
doppelt verrucht, weil er von der Gerechtigkeit 
das Gewand entlehnt hatte. Und nicht dem um 
Ehre und Freiheit Betrogenen allein galt der An- 
schlag, sondern der Gefangene auf der Teufels- 



insel sollte ein Brandmal und Schandmal sein 
für die ganze Glaubensgemeinschaft, der er an- 
gehörte. Darum erhob sich für ihn die Ge- 
rechtigkeit selbst, die der meineidgeborene 
Richterspruch hatte erwürgen wollen; darum er- 
hob sich für ihn die Gemeinschaft, als deren 
Spezimen der Gemarterte auf der Teufelsinsel 
litt und wundervoll ausharrte. Die Gerechtigkeit 
hat gesiegt Picquart, der nahe daran war, 
Dreyfus' Schicksal teilen zu müssen, ist Kriegs- 
minister geworden, weil er Zeuge und Bekenner 
und Verteidiger der Schuldlosigkeit gegen 
Meineid und Fälschung gewesen, und Emile 
Zolas sterblichen Resten haben sich die Tore des 
Pantheon aufgetan. Nicht dem Schriftsteller, nein, 
dem Verteidiger der Gerechtigkeit ist diese Ehre 
zuteil geworden, die das französische Volk ehrt. 
wDie Wahrheit ist unterwegs", hatte er verkündet 
— er hat nicht mehr erlebt, sie am Ziel zu sehen. 
Wir aber haben sie in diesem Falle am Ziel 
gesehen. Warum sollten wir verzagen, dass auch 
das Reich der Gerechtigkeit kommt? Die Pro- 
pheten haben es geschaut, und wir hoffen ihm 
entgegen. 



ZABLUDOWSKI. 

Von Th. Z. 



Nachdruck verboten. 



Es ist sicher falsch, weil eine blinde Ein- 
seitigkeit die Fülle der Komponenten sich nicht zur 
Wahrnehmung zu bringen vermag, — es ist sicher 
falsch, dass der Mensch nur ein Produkt seiner 
Zeit sei. Die Zeit schaflflb nicht den Menschen; 
sie findet nur ihren Widerschein im Menschen. 
Wie etwa die Landschaft Stimmung und Charakter 
wandelt im wechselnden Lichte der Sonne. Im 
ewigen Schatten des dichten, von breitem Kronen- 
geäst überdachten Urwaldes weiten sich nur Ab- 
stufungen des Dunkels. Auf blumiger Wiese aber 
schreitet die Seele der Stunden. So gibt es 
Menschen, in deren offener, nicht verschatteter 
Art sich die Zeit spiegelt. 

Zabludowski war solch ein Mensch. 

Folgen wir den pewundenen Wegen seiner 
Entwickelung bis zur Höhe empor, so sinken die 
Schranken des Individuellen. 

Wh- schreiten nur den Pfad entlang, den die 
Geschichte unseres Volkes sich durch die letzten 
fönfeig Jahre geschlagen. 

Zabludowski wurde in Bialystok geboren. In 
der Enge, in der Qual und in dem Frieden des 
Ghettos wuchs seine Jugend empor, von dem guten 
Geiste unserer Ahnen, unserer Lehrer genährt. Aber 
seine Sehnsucht strebte aus dem niedrigen Holzbau 



des*Beth-Hamidrasch hinaus, so sehr er es auch 
sein ganzes Lebenlang als seine stille Heimat 
liebte. Nach schweren Kämpfen fand er den Weg 
in das Gymnasium und in die kaiserlich russische 
Militärakademie zu Petersburg. Er wurde in den 
Sanitätsdienst der russischen Armee gestellt und 
rückte im Krieg gegen die Türkei 1877 — 1878 zum 
Regimentsarzt des Donschen Kosakenregiments 
No. 3() auf, wo bei der Belagerung von Plewna, 
dem Übergang über den Balkan und später im 
Lazarett zu Adrianopel seine medizinischen Kennt- 
nisse und seine Menschenliebe den Leidenden Segen 
brachten. Damals lernte ihn Ernst v. Bergmann 
kennen und verehren. Die Freundschaft knüpfte 
ein Band um diese beiden Männer, das nur der Tod 
lösen konnte. 

Als Bergmann von Dorpat nach Berlin berufen 
wurde zum Leiter der chirurgischen Universitäts- 
klinik zu Berlin, suchte er Zabludowski an sich zu 
fesseln. Zabludowski hatte, von der russischen 
Regierung zur weiteren Ausbildung ins Ausland, 
nach Wien, London, Paris und Amsterdam geschickt, 
die Massage kennen gelernt, — ein von der 
medizinischen Wissenschaft durch viele Jahrhunderte 
vernachlässigtes Gebiet, auf dem sich Kurpfuscher 
und klobige Heilgehilfen tummeln. Ein gründlich 



Th. Z.: Zabludowski. 



durchgebildeter Physiologe, erhob er die rohe kraft er eine Zukimft der Grösse und des Siemes 

Methode za einer Kunst, weitete er die Naivität erhoffte. Mit besonderer Liebe hing er an der 

pfuscherischer Anschauung zu sicher fundierter hebräischen Sprache, die er in vollkommener 

Wissenschaft aas. Meisterschaft beherrschte. In dem Safa berurah, 

Es ist ein Zeugnis des weiten Blickes v. Berg- einem hebräischen Sprachklub \d Berlin, erwies er 



manns, dessen siebzigsten Qe- 
bnrtstag am 16. Dezember 
die Kultnrmenschheit gefeiert 
hat, daas er der fortge- 
schrittensten medizinischen Dis- 
ziplin, der Chirurgie, die Massage 
nutzbar gemacht hat. Er schuf 
Zabludowski in Berlin ein Ar- 
beitsfeld, auf dem er vorbild- 
lich für Taosende voc Ärzten 
aller Völker und heilbringend 
für die Leidenden wirken konnte. 
Uud die Anerkennung blieb 
nicht aus : Er wurde zum 
Professor ernannt nnd zum Di- 
rektor eines Massageinstitutes, 
das die preassische Hegierung 
eigens für ihn einrichtete und 
der Berliner Uni versität an - 
gliederte. 

Aber alle Ehrung machte 
den schlichten Mann nur eifriger. 
Sie könnt« ihn nicht aus dem 
Geleise drängen. Er blieb, was 
ei' war: ein emsiger Gelehrter 
von tiefem , schöpferischem 
Fleisse , ein milder Lehrer , 
ein edler Helfer der Kranken, ein treuer Berater 
allen, die seinen klugen Rat erbaten — und ein 
guter Jude. Selbst eine Zierde für das Judentum, 
hat er allzeit mit Stolz auf seine Abstammung 
hingewiesen. Er hatte eine Vergangenheit. 

Seine Verlegenheit wurzelte in seinem 
jüdischen A''olkstum, von dessen ewig-junger Trieb- 



Prof. Dr. Zabludowaki. 



sich oft als eiu tüchtiger De- 
batter. Die hebräische Sprache 
war ihm lebendig, und ihre 
Pflege und ihre W'eiterent- 
wickelnng waren ihm hohes 
Ideal. Und alle Regeneration 
seines Volltes sah er nur er- 
stehen aus der ^Medei-geburt 
der so undankbar verstossenen 
und treulos Aerscharrten Sprache 
der Propheten. 

Der mühselige A\eg aus 
dem Ghetto zur europäischen 
Zivilisation führte ihn nicht 
aus dejn Judentum heraus , 
sondern zu einer freieren Ent- 
faltuuR jüdischer Kraft und 
jüdischen Erkenntnisdranges. 
Spross eines alten Rabbiner- 
geschlechtes, hat er ein neues 
Gebiet beackert mit den er- 
erbten Gaben. Er kannte 
die Quellen seiner Kraft — 
und blieb dankbar. Der undank- 
bare Apostel wird immer treu- 
los sein gegen sein Volk und 
alle, denen sich sein Parasiten- 
tum anhängt. Treue aber ist immer Dankbarkeit. 
Aus diesem Empfloden heraus war Zabludowski 
dem Judentum treu, — weil er nie ^ergass, dass 
er seinem Stamme sittlichen Ernst und arbeitsfrohe 
Spannkraft dankte. j 

An seinem Grabe stand auch der Genius des 
jüdischen Volkes und — weinte. 



Gebet. 



Valer des Ueltenallsl 
kehre und Satzungen halt du gegeben, 
Kedit und 6ereditlehelt riefst du Ins [leben 
Fahre uns, Vater des Weltenalls, 
Deiner Getreuen Sdiaar! 

Sdiapfer 



Deiner Seireuen Sdiaar 
Beugt [ldi In Demul vor deinem Seridite, 
Blldtt mit Verlangen hinauf zu dem (ildile. 
Das du enlzQndet der treuen Sdiaar 
Kelftgen Israels. 



Bater du Ssraelsl Sdiipfer des Erdenballs, Ende und Untergang 

Ball uns geleilet durdi Walten und Wogen, Bolt uns In udterlldi gütigem Walten Kemmeii In Cwighelt nidit deinem Volke, 

Ball uns zu Kdmpfem der Wahthell erzogen: Durdi der Sohrhunderte Drangial erhalten. Dem du eTldilenlt In des Stnal Uolhe; 

Huldigend prellet didi Ssrael, Bannft von uns, Sdidpfer des Srdenbalis, lllmmeT droht Ende und Unleigang 

Sdiöpfer des Cidenballsl Ende und Untergang. Dem, der zum Berren Iteht. 



Wer zu dem Herren Itetit, 
Wandeil In EUIuaters labendem Sdiallen, 
3hn kann nicht Sorge nodilHahe ermatten.- 
Die Ihr In Cteue zum Berren Iteht, 
Stimmt an das Danhgebet! 



BSr unfer Danhgebet! 
Was uns dein ewiger Wille beldileden. 
Dient uns zum Beil, es lel Krieg oder frieden. 
Bär und ethir unler Danhgebet. 
Vater des Weltenalls! 



EMiWANUEL HANNAUX. 

Ein bescheidener Mann, i 
ein Schsffender in stiller Bi 
Hannaux, der Gestalter rei: 

Menschlichkeit. „Ich liebe ) 
die Kunst, ich liebe das 
Nackte", ist sein ganzes 

Programm, nnd dieser Liebe t 

gibt er bildnerischen Ans- t 

druck. So geht er gfraden i- 

Sinnes der Schönheit nach, h 

voll Ehrerbietung vor der t 

Natnr, fromm und beherzt h 

in seiner Liebe. Das Län- r 

temde, Veredelnde, das dem i- 

Nackten innewohnt, ist bei n 

ihm noch tiefer «irksam *- 

durch Schwermut und Ver- n 

sonnenheit, die wie ein i. 

Poesiehauch ans tiefver- >• 

senkter Seele her^-or- ;, 

dringen. Der Menschenleib it 

ist ein Zeugnis vom Adel des n 

Lebens, und die Menschen- d 

seele ist dichterische An- o 

dacht; nns aber mahnt « 

es zur Weltfrommheit. n 

Des Menschen nackte il 

Herrlichkeit schafft Han- n 

naux, von hellenischem L 

Geist, hellenischer Dich- n 

inng angezogen, klar und i- 

formen rein. Fem von g 

Grübelei und Tiefsinn, !- 

ohne Vieldeutigkeit und h 

gedankliche Beziehung .sind r 

seine Gebilde; nur der Sinnt i- 
heit sind ihnen eigen, Ansi 

mittein sie kunstgemäss, que' b 

Klarheit. Und dieser Griei e 
Jude, beimisch und eingewurzelt im Judentum. An Zustand lichkeit und regsame Spannkraft geben einen 

solchen Männern leidet die Judenheit "en künstlerischen Kontrast, 

bitteren Mangel, an Menschen mit un- ifte durchziehen fühlbar ein 

befangener Sinnenanscbauung und mit mdes Dasein ; der Körper lagert, 

Treue, die natürlich und unbedacht ist, Schwere gebannt, nnd die 

nicht In nnd dekorativ, nicht Pro- e Lebensform verhüllt ein viel- 

granim gma. irlangen nach Bewegung. Sie 

Seil ge hat das nicht behindert. ich halbwach in den Händen 

In seine itstadt Metz, aus der auch tern; sie rühren aü die Leier 

seine Fj nmt, die als Professor der ■ wie nach Klängen langend; sie 

Mathem linem Pariser Lyzeum wirkt, en Krug in mattem Tasten 

stehen in verschiedenen Kirchen Bildwerke und sind von Spiel und Reg- 

von seiner Hand. Von Mgr. Dupont des leseelt (Poet und Sirene), gehen 

Lorges, dem Bischof von Metz, den die llen auf und nieder, kommen 
Juden von Met^ im deutsch ■ fr anziisischen «le tvenenschlag aus sinnendem Traumes- 
Kriege als Deputierten aufstellten, hat er Em. Hannaux. dasein. 



AUS DER JUEDISCHEN SAGEN- UND MAERCHENWELT. 



Von 

Die folgenden Sagen sind von mir vor mehreren 
Jahren nach dem Vortrage eines chassidischen Märchen- 
erzählers aufgezeichnet worden. Die vorangehende Ein- 
leitung bildet gleichsam ein Präludium und spiegelt trefflich 
die naive und zugleich von einem gewissen mystischen 
Schwung beseelte Anschauungsweise der Chassidim wieder. 
Die Uebertragung ins Hochdeutsche schliesst sich möglichst 
wortgetreu dem Original an. 

Die Macht des Gesanges. 
Es ist allgemein bekannt, dass das schönste Qeschenk, 
das der Mensch von Qolt erhielt, in der Fähigkeit besteht, 
alles, was seine Seele bedrückt, aus sich herauszusingen. 
In alten, sehr alten Zeiten, kurz nach Erschaffung der 
Welt, konnten alle Tiere singen, wie davon in den heiligen 
Büchern geschrieben steht. Alle sangen sie, ein jedes auf 
seine Art, ein Lied zu Ehren Gottes. Doch als später die 
Welt verdorben wurde und sogar die Tiere sündigten, und 
Oott die Sintflut über die Welt kommen liess, wurde die 
Gabe des Singens- den Tieren genommen, und nur den 
Menschen und manchen Vögeln belassen. Heutzutage 
können die Tiere nur brüllen, heulen, bellen und quaken, 
manche können auch das nicht. Aber singen? Wer kann 
singen! Nur der Mensch allein und die Vögel ein wenig. 
Denn die Vögel sind von allen Geschöpfen die reinsten 
und Oott am angenehmsten. Und wozu singen die Vögel? 



EM. HANNAUX 

Mme. Coralie Cahen. 

(Maiioa de fitivgt, Neu[l1y.) 



Gott -zum Preis singen sie, wenn der Frühling kommt, 
wenn der Tag erwacht, oder wenn der Abend sinkt. Und 
wozu hat Oott den Vögeln die I^higkeit zum Singen be- 
lassen? Damit der Mensch sich an ihnen ein Bebpiel 
nimmt. So wie sie weder trunkene, noch gottlose, noch 
unzüchtige Lieder singen, ebenso sollst du, Mensch, solches 
auch nicht singen. Nur wenn du eine Bitte an Oott hast, 
oder ihm danken willst, oder wenn es dir traurig in der 
Seele ist, so singe, und sogleich wird es dir leichter werden. 
Das Singen gottloser Lieder ist nämlich eine grosse Sünde, 
und es harren schwere Strafen darauf in der anderen Welt. 
Der Mensch aber ist von Natur sehr ausgelassen, und wenn 
man ihn auf der anderen Welt fragt; warum hast du sünd- 
hafte Lieder gesungen? — so möchte er wohl antworlen: 
wenn ich gehabt hätte dort an jemand ein Beispiel zu 
nehmen, so würde ich wohl keine sündhaften Lieder ge- 
sungen haben. Aber jetzt, da die singenden Vögel da sind, 
was kann er für eine Ausrede haben? 

Mit dem Gesang kann der Mensch beim Himmel die 
höchste Onade sich ausbitlen, und wie gross die Macht des 
Gesanges wider die bösen Engel ist, ist ja bekannt. Aber 
auch über böse Menschen hat der Gesang eine grosse Gewall. 
Manche Menschen haben eine hohe Seele, die sich 
l>eim Singen zu Gott erhebt und bei ihm bleibt; solch ein 
Mensch erleidet weder die Qualen des Todes noch die der 
Hölle. Ein jeder weiss, dass es solch eine Seele war, die 
jener Chassid hatte, der am Jam-Kipur beim Beten vor dem 
Altar sein Leben beschloss. Er war Chasan und stand am 
Jom-Kipur vor dem Altar in der Synagoge und sang gerade 
den Psalm: »Aus den Tiefen ruf ich zu dir, o Gott", und 
allen griff es ans Herz, so wunderschön sang er. Das ganze 
Volk weinte, und die Weiber droben, wie das schon ihre 
Gewohnheit ist, jammerten laut wie die kleinen Kinder, 
Indessen fängt der Gesang an immer leiser und leiser zu 
werden, bis er endlich ganz verstummt. Sie dachten, der 
Chasan sei ermüdet und möchte eine Weile ausruhen, er 
atwr stand noch immer schweigend da. Endlich tritt jemand 
zu ihm heran, zupft ihn am Aermel und sagtr .Nu, alle 
Leute warten." Er aber war leblos, wie der Altar, bei dem 
er stand. Jetzt eisl merkten sie, dass die Seele nicht mehr 
in ihm war. Gott hatte sie beim Singen zu sich gewürdigt. 
Doch wie gross die Macht des Gesanges ist, sogar über 
böse Menschen, und was für Sünden es auf dieser Welt 
gibt, das will ich euch erzählen. 

Der Chassid und die RAuber. 
War einmal ein Chassid, der sehr schön zu singen ver- 
stand. Eines Tages ging er, wie gewöhnlich, zum Rebbe 
auf den Sabbalh, und es traf sich, dass er sich in einem 
dichten Wald verirrte. Er ging und ging und konnte keinen 
Ausgang finden. Und in dem Walde hausten Räuber. 
Diese ütwrfielen unsem Chassid, schlugen ihn in Ketten und 
wollten ihn umbringen. Als er sah, dass der Tod nahe 
war, fing er an über sein Leben und seine Sünden nach- 
zudenken, um die Gnade des Schöpfers auf seine Seele 
herabzuflehen. So lag er da, bis der Abend sank. Inzwischen 
erinnerte er sich, dass es gerade Freitag war, da alle Welt 
in den Synagogen versammelt ist, um zu beten und Lieder 
zu Gott zu singen, und nun wetzten die Mörder ihre Messer, 
mit denen sie ihm den Garaus machen wolhen. Er flehte 
sie also an, ihn noch ein Stündchen am Leben zu lassen, 



Bar-Ami: Aus der jüdischen Sagen- und Märchenwelt. 



damit er Zeit hätte, sein Gebet zu verrichten, wie Gott 
geboten, denn er wollte nicht ohne Gebet aus dieser Well 
scheiden. Die Räuber lachten ihn aus, aber um Possen zu 
treiben und ihn zu verhöhnen, lösten sie seine Fesseln, 
stellten sich im Kreise um ihn herum, und er musste sich 
in die Mitle stellen, um nicht entfliehen zu können. Da er 
wusste, dass dies das letzte Mal sei, dass er auf dieser Welt 
beten konnte, nahm er all seine Kralt zusammen, und als 
er die Sabl)athlieder zu singen anfing, sang er und sang 
ohne Aufhören; die Verzfickung übermannte ihn immer 
mehr, sodass er am Ende die ganze Welt ringsum und auch 
seinen nahen Tod vergass. Den Räubern aber drang der 
Gesang in die verhärteten Herzen und zerknirschte sie so 
sehr, dass sie nicht länger an sich halten konnten. Sic 
fielen ihm zu Füssen und fingen an, ihn um Verzeihung zu 
bitten. Er aber sprach zu ihnen; .Nicht mich, nicht mich, 
sondern Qolt müsst ihr um Verzeihung bitten.' Dann 
führte er sie zum Rebbe, dieser bekehrte sie und sie 
wurden fromme Leute. 

Als Busse für ihre schweren Sünden legte ihnen der 
Rebbe auf, dass sie mehrere Jahre ein unstetes Wanderfeben 
fnhrlen, nie zweimal an demselben Ort übernachteten, nie 
um ein Almosen oder einen Bissen Brot baten, sondern 
schweigend bei der Türe standen, wartend, bis die Hausfrau 
selber ihnen etwas verabreichen würde. 
Das Totenlled. 

In einer fernen Stadt war einmal ein grosser Herr, 
Dieser grosse Herr war von Natur nicht böse, aber wenn 
einmal der böse Geist in ihn fuhr, konnte ift" die schlimmsten 
Dinge von der Welt anstellen. Einmal kam ihm ijer 
Gedanke in den Kopf, alle Juden, die in seiner Stadt 
wohnten, umzubringen. Er lässt sie also in den Kerker 
werfen und spricht zu ihnen: -Hier werdet ihr ein paar 
Tage brummen, bis ich Galgen in genügender Anzahl für 
euch aufgerichtet hat)e.* 

.Wir müssen alle sterben; aber nach unserem Ende 
wird niemand sein, der über unsere Seelen das „El mole 
rachamim" singen wird. Erbarme dich über unsere und 
Deine eigene Seele und lasse den Gesang uns jetzt 
anstimmen. Bei Gott wird das gerade so lieb sein, wie 
wenn Du es nach unserem Tode sängst!" So sagten sie zu 



EM. HANNAUX PARIS. 

Baronin Jamea Rothschild. 

(Hospital Picpui, Piris.) 

aber war so süss, wie die einer Nachtigall, und Augen 
hatte er, die leuchteten wie die Sterne am Himmel. Man 
nannte ihn allgemein die Nachtigall. Wenn man sagte: 

die Nachtigall wird an diesem oder diesem Sabbath beim 



19 



Bar- Ami: Aus der jüdischen Sagen- und Märchenwelt. 



20 



barg, spähten ihn gleich ihre Häscher aus, und hörten nicht 
auf ihn weiter zu verfolgen. Seiner Vaterstadt aber drohte 
sie in ihrem Zorn, dass, wenn ihn die Juden nicht ausliefern 
würden, so würden sie alle bis auf den letzten Mann aus- 
gerottet werden. 

Was blieb nun dem armen Knaben übrig? So oder 
so, er war verloren. Wollte er nicht eine schwere Sünde 
auf seine Seele nehmen, so geerdete er das Leben so 
vieler Menschen. Er betete also zu Qott, dass er ihm seine 



Gaben nähme, die die Menschen zu solch schrecklichen 
Sünden verleiteten und über andere Verderben zu bringen 
drohten. Und Gott erhörte seine Bitte und nahm ihm die 
Stimme aus der Kehle und das Licht aus den Augen. Seit- 
her vernahm kein Mensch mehr einen Laut von seinen 
Lippen. Stumm und blind irrte der ehemalige Sänger, der 
Gott und Menschen mit seinem Singen erfreute, den Bettel- 
stab in der Hand, von Dorf zu Dorf und von Stadt zu 
Stadt. Und das alles um ein Weib. 



Aus der Sammlung LEO WINZ. 

Lebhaft. 

, . 1 , 
(ffiSANO 



DER REBBE. 

(Jüdische Volksmelodie.) 

Nachdruck verboten. 



Begleitung von ARNO NADEL. 




• ^ t^^ » ^^^P f 



KLAVIER. 



Der Reb-be, der Reb-be, der hei-li - ge Mann, der is doch a m'-cha - jehi) far • 




I i j) i^ ,h ii > j^ ' 



ihm is doch die gan-ze Welt die f?an-ze Welt a frei - e. Un - ser Reb-be, un-ser Sgu-le^) 





rij)j)>JU'i'^^ j^'i>j^;>j j 



macht doch meif-sim^jgor a-fu-le, seid ihm me-sa-me-ach!^)Hu-le^)Be-rltan-zeSchme-rl mitdemReb-besKe-ach*) 




Der Rebbe, der Rebbe, der heilige Mann, 

er ist doch gor achijess'^) 

To nemt sehe Brüder zu Kapetzkes^) 

Macht un sehe keine sshijes^) 

Unser Rebbe, unser Sgule, etc. 



Der Rebbe, der Rebbe, der heilige Mann, 
er trinkt doch uns lechajim, *<>) 
lechajim, lechajim trinkt er uns 
und kehrt arein keflajim ^^) 
unser Re1»be, unser Sgule, etc. 



1) Mechajeh = Wonne. ^) Sgule = Schatz. ^} Meifsim = Wunder. ♦) Messameach = Freut euch. 
•'">) Hule = Sei lustig. «) Keach = Kraft. 7) Achijess = Wonne. ») Kapetzkes = Schluck. ») Sshijes = Verzögerung. 
^^) Lechajim = Zum Leben. »M Keflajim = Doppelten Schluck. 



r sraitvoiistea, wu-tscDaititcDen AQtneoe oeraaDt. seizeo. UDne aurcn irgenaweicne scDWiengKeiien 



23 Hermann Struck: Einige Worte fiber den .Bezalel°. 24 

sich abhalten za lassen, gebt dieser prachtvolle kostümierten Jerasalemer Joden. Ein Teil dieser 

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l Material hier in 

fien wurde; jede 

j ab von starkem 

! Peise modellieren 

< tem Erlolg. Das 

1 tndimn der Natnr 

I geschulte KSn- 

] nen wendet sieb 

( inderDekora- 

I tivklasse dem 

Stilisieren der pa- 



< Fauna nnd Flora 
' zn; eine reich- 

< haltige S^nm- 
i lung TOD Insek- 
1 ten, Vögeln nnd 

anderen Tieren, 
die verschieden- 
I artigsteoBlnmen 

] und Blätter nnd 

1 endlich die In- 

i teressanten und 

1 zahlreicheuAuti- 

quitäteuscbStze 
1 des Bez^el- 

I museums geben 

I immer wech- 

selnde Anregung 
zu dekorativen 
( Versuchen. Die 

Juden Palästinas 
bringen diesem 
1 Moseam das leb- 

hafteste Tnter - 
I esse entg^;en 

I und schenken 

ihm gern und 
j freudig alles, 

j was an wert- 

t votlem Alter- 

j tfimem sieb vor- 

I findet. Ausser 

I dem „Messias" 

] von G-licenstein 

I und einem Oel- 

i gemälde Max 

I !t bereits viele 

1 men und Bücher 

1 Tbliche Themata, 

i benkt, in dess«i 

lurch einen allge- 
( ^richteten Aufruf 

j diese einzig da- 

1 it werden. 

ZuKuuiuguu Lieureru uuuin.u»i.t;rzt;u:iiueruHua)$Buuui;L. auuiiuuii^cu r uuu ix ^eigcii unS die SchQler 

Auf Abb. Ill sehen wir sie mitten in der beim Zeichnen und Stilisieren von PflanzeD, 

Arbeit; sie zeichnen und malen Köpfe und halbe während wir an den Wänden die eigenartigen 

Ftgaren nach dem lebenden Modell, einem farbig Erfolge ihres eifrigeu Strebens erblicken. Besonders 



Hermann Struck; Einige Worte über den .Bezalel'. 



merkwürdig sind als 
erster ADfang eines 
„neneD palSstineD* 
siscbea Stils" die 
reizvollen dekorati- 
ven Bachstabenver- 
bioduDgen, die zom 
Teil schon vollendet schöne Ornamente darstellen 
(Abbildnogen Vni, IX). 

Diese neu heif^estellten Entwürfe werden stets 
EOgleich der TeppichknÜpFereiabteilmig zur Äns- 
führung ftbergeben. Es unterliegt keinem Zweifel, 
dass die in so origineller Weise entstehen- 
den Teppiche zur Ansschmäckang von Synagogen 
oder Wohnränmeo wohlhabender Juden ein viel- 
b^ehrter Handelsartikel sein werden. Bereits liegt 
das Ersuchen eines bedeutenden englischen Handels- 
hauses vor, ihm den AJleinverkaof der Bezalel- 
Teppiche för England nnd Irland zu überlassen. ^ 

In der Präparandie erhalten acht Jerasalemer 
Schüler, deren schönes Talent nur durch den Bezalel 
^geregt ans Tageslicht kam, Unterriebt im Zeichnen. 

Die Gipsgiesserei- Abteilang bietet den 
angehenden Bildhauern Gelegenheit, ihre Tonmodelle 
in Gips nmzoformen; ausserdem erlernen hier sechs 
Schüler die Gipsgiesserei als spezielles Handwerk, 
nicht ohne gleichzeitig Kenntnisse im Zeichneu zu 
erwerben. Einer dieser Schüler hat eine Giesserei 
in Jerusalem eröffnet, wo er Reliefansichten des 
belügen Landes und typische Charakterköpfe nach 
den von den Schülern verfertigten Modellen in Gips 
herstellt. Auch diese Tatsache, dass nach wenigen 
Monaten bereits ein Schüler 
nnserer Anstalt die Möglichkeit 
taaü, sich in einem ganz neuen 
Fach von seiner Hände Arbeit zn 
ernähren, spricht für die segens- 
reiche Wirksamkeit des Bezalel. 

Fünfundzwanzig Schüler — 
meistens Handwerker — er- 
balten in der 
Abendschule 
den unentbehr- 
lichen Zeichen- 



J33S11 



Unterricht Hier sehen 
wir anf derselben 
Bat denVaternebeu 
seinem jungen Sohne 
sitzen , beide in 
heissem Bemühen be- 
strebt, ihr Können zu 
bereichem nnd so ihr Handwerk auf eine höhere Stufe 
zu heben ; hier ist auch so manches schöne Talent ent- 
deckt worden, das sonst keinen Weg zum Licht ge- 
funden hätte! — Am lä:. Mai 1906 wurde die 
Teppich-Abteilung eröffnet, an die eine Färberei 
und Spinnerei angegliedert wurden. 400 Frauen, 
Witwen, Waisen und Kinder von armen Eltern 
meldeten sich aus freiem Antrieb für diese Arbeit; 
und schweren Herzens musste unser Boris Schatz 
355 von ihnen wegen Mangel an Platz zurückweisen. 
45 Schülerinnen arbeiten nun in dieser wichtigen 
Abteilung, kopieren die für ihre Arbeit nötigen 
Zeichnungen und helfen bei der Vorbereitung der 
gemalten Teppichmnster. Alle Schülerinnen arbeiten 
mit grösster Freude und hingebendem Fleiss, sodass 
fast eine jede von ihnen bereits imstande war, einen 
klemen Teppich in persischer Technik anzufertigen. 
Sie erlernen gleichzeitig auch das Spinnen der 
fiir die Teppiche zu verwendenden Wolle, und es be- 
steht die Absicht, späterhin die Frauen, welche ctie 
Teppichkntipferei nicht erlernen können, die Spinnerei 
zu lehren nnd ihnen Spinnräder auf Abzahlung in 
ihre Hänser zu liefern. Auf diese Weise können sich 
auch alte und schwache Frauen ihr Brot verdienen. 
Da das lernende Element dieser einzigartigen 
Schnle ans den verschiedensten 
Gemeinden und Sprachgebieten 
stammt, so hat man den Versuch ge- 
macht, das Hebräische als Einheits- 
sprache einzuführen. Da der hebrä- 
ische Sprachkurs zahlreich be- 
sucht ist, SD werden wohl bald die 
meisten Schäler und Lehrer des 
Bezalel sich in 
der Sprache der 
Väter verstän- 
digen können. 




Muster für dekorative BucIistaben-VerbindungeD aut Teppichen. 
Komponiert von Herrn Davidof. (Beute;. Abbiidune ix.) 



27 



28 



V. ^ DIE RUSSISCHEN JUDEN 

VonRosal 

Im letzten Jahrgang von „Ost nnd West"*) er- 
schien ein Artikel: „Die rassischen Juden in 
Dentschland** von Fabius Schach. Der Verfasser, 
der die soziale, kaltnrelle und moralische Lage der 
russischen Juden in Deutschland zu skizzieren suchte, 
führte flir seine Zwecke die deutschen Städte auf, in 
denen sich eine grössere Anzahl russischer Juden auf- 
hält. Dabei ist aber gerade die Stadt übergangen, 
die schon ihrer geographischen Lage wegen vor 
allen anderen hätte genannt werden müssen. Der 
Artikel, der sonst eingehend die einschlägigen Ver- 
hältnisse darlegt, liefert von neuem den Beweis, dass 
es ausserhalb Königsbergs völlig unbekannt ist, welch 
grosse. und schwierige Aufgabe gerade dieser Stadt 
durch die fort und fort einströmenden jüdisch-russischen 
Nachbarn zufällt» und in wie mustergültiger Art sie 
dieser Aufgabe gerecht wird. 

In einem im März 1904 hier in Königsberg ge- 
haltenen Vortrag, der unter dem Titel „Zwischen Ost 
und West" auch im Druck erschienen ist, wurde von 
mir der A^ersuch gemacht, eine Schilderung dieser A^er- 
hältnisse zu geben. Das alles hier noch einmal zu 
wiederholen, wäre also überflüssig. Da aber dort 
grösstenteils nur von den russischen Krankenzügen 
berichtet wird, die unablässig in Königsberg ein- und 
ausgehen, so soll heate nur näher ausgeführt werden, 
was ausserdem die Stadt und die jüdische Gemeinde 
Königsberg für die russischen Juden bedeutet, und 
umgekehrt. 

Wenn man mit ansieht, wie unablässig hier für 
die unglücklichen Glaubensbrüder geschafift, gespendet, 
gearbeitet wird, welche ungeheure Anforderungen diese 
an die Geduld und den Opfersinn der Einzelnen wie der 
Gesamtheit stellen, da hier dem ersten Anprall des aus 
Kussland herüberkommenden Elends begegnet werden 
muss, so kann man sich ungefähr eine Vorstellung davon 
machen, wie verblüffend damals jener ominöse Perl- 
mann unterzeichnete Brief, der die ganze deutsche und 
russische Presse durchlief, auf die betreffenden hiesigen 
Kreise gewirkt hat. Haben doch alle über den Brief 
laut gewordenen Aeusserungen bewiesen, dass er als 
Ausdruck der hier allgemein herrschenden Gesinnung 
angesehen wurde. 

Das also soll das einzige sein, was ausserhalb 
Königsbergs von hier verlautet I Darauf soll sich das 
Urteil gründen, das über die Behandlung der Unglück- 
lichsten unter den Unglücklichen von selten unserer 
Gemeinde in der Welt gefällt wird ! Dazu opfert man 
Geld und Gut, Kraft und Zeit, dazu arbeitet man Tag 
und Nacht, um als grausam und unmenschlich dazu- 
stehen und geschmäht und verspottet zu werden! 
Dieses famose Aktenstück verdiente nicht einmal er- 
wähnt zu werden, wenn es nicht so weite Kreise 

*) Seite 719-7?0. 



IN KOENIGSBERG I. PR. 



V 



Nachdruck vei1>otea. 



ie'Perlcs. 

^geEO§em Jiätte, dass es sogar im preussisdien Landtag 
besprochen wurde und im russischen Regierungsanzeiger 
in Uebersetzung abgedruckt war. Natürlich — das 
gab ja Wasser auf die Mühle aller Judenfeinde. Lassen 
wir den Brief ruhen und wenden wir uns den wirk- 
lichen Tatsachen zu. 

In Königsberg gibt es eine grosse russische Kolonie, 
von der genau das Gegenteil dessen zu sagen ist, was 
Fabius Schach von den im Ausland lebenden russischen 
Juden sagt. Die hier lebenden Russen sind nicht ent- 
wurzelt, sondern haben hier auf deutschem Boden feste 
Wurzel gefasst; sie tragen keine innere Tragik mit 
sich herum, sondern schätzen sich glücklich — jetzt 
mehr als je zuvor — allen Schrecken ihres früheren 
Wohnsitzes entronnen zu sein und den Segen eines 
ruhigen, gesicherten Daseins zu geniessen. Die Eltern 
sonnen sich förmlich in der ungestörten, stetigen Aus- 
bildung ihrer Kinder, die in den Schulen sehr oft den 
deutschen Mitschülern den Rang ablaufen. Die Kinder, 
sobald sie Urteil und Denkkraft gewonnen haben, 
danken es ihren Eltern, dass diese rechtzeitig vorgesorgt 
und den Kindern alles Unglück, alles Ungemach ihrer 
russischen Heimat erspart haben. 

Die hier angesiedelte russische Kolonie bildet ftlr 
die Stadt und damit auch für den Staat ein wichtiges 
Element. In kommerzieller Beziehung haben die hiesigen 
Russen eine grosse Bedeutung erlangt, da russische 
Kommissionäre den Handel nach und von Russland ver- 
mitteln und für den Austausch der Erzeugnisse der 
beiden hier aneinander grenzenden Länder als ganz 
unentbehrlich sich erwiesen haben. Daher entstand 
in den Jahren 1887 und 88, als politische Weisheit 
die Massenausweisungen verfügte, eine sehr fühlbare 
Verminderung des allgemeinen Wohlstandes in Stadt 
und Gemeinde. Jn manchen Stadtteilen, wo die Russen 
zumeist gewohnt hatten, konnte man nach den Aus- 
weisungen sogar ein Fallen der Mietspreise konstatieren, 
und die Nachwirkungen sind bis auf den heutigen Tag 
noch nicht ganz überwunden. Als mehrere Jahre 
später noch einmal eine ähnliche Massregel drohte, 
wandte sich die Vertretung der Kaufmannschaft mit 
einer Eingabe an die Regierung, in der dargelegt wurde, 
welche Schädigung dem Handel mit der Ausweisung 
dieser Kommissionäre zugefügt würde, und die Aus- 
weisung unterblieb. 

Am meisten aber bedeutet die russische Kolonie 
für die hiesige jüdische Gemeinde. Es ist wohl nicht 
zuviel gesagt, wenn man die Mitglieder dieser Kolonie 
als die Hauptträger wirklich jüdischen Lebens und 
jüdischen Wissens bezeichnet. Sie haben ihre eigene 
Synagoge, die frühere Gemeindesynagoge, die ihnen 
mietweise von der Gemeinde überlassen ist. In dieser 
Synagoge ist alles ganz nach altem Ritus eingerichtet, 
und die Kosten des Gottesdienstes werden von den opfer- 



RosalJe Perles: Die russisclien Juden in Königsberg. 



Boris Schatz im Kreiae seiner Schüler. 

tBeiild, Abbildung II.) 



freudigen, zum Teil sehr frommen MitglieJern allein 
getragen. Trotzdem fällt es ihnen nicht ein, sich von 
der Hauptgemeinde zu trennen, wie oft und wie dringend 
es ihnen aoth von dem Häuflein Orthodoxer, das sich 
losgetrennt hat, nahegelegt werden mag. Sie sind ebeu 
im Scbril'ttum viel za bewandert, um sich in diesem 
Punkte heeinflussen zu lassen nnd wider besseres Wissen 
zu handeln. Lieber (ragen sie die doppelten Lasten. 
Uebrigens sind sie auch ihrer Bedeutung angemessen 
in der Verwaliun? der Synagogen-Gemeinde 

Wie aber diese zu ruhigem Wohlstand i 

russischen Juden hier für ihre armen, nng i 

Landaleute sorgen, das macht ihnen am mel: 
Waren es bis vor wenigen Jahren grösstenteils nur 
Kranke, die von der nahen russischen Grenze hier ein- 
kehrten, um in den hicsi:.'en Kliniken Heilung zu 
suchen, so sind jet^t ebenso viele Auswanderer, Flücht- 
linge, Leute hinzugekommen, die eilends den heissen 
Boden der Heimat verlassen haben und zum Teil noch 
nicht wissen, wo ihr fluchtiger Fu«s Ruhe finden wird. 
Wenn es nach Fabius Schach Liebe ist, was diese 
Leute brauchen — hier finden sie Liebe, werktätige 
Litbe. 

Es vei'dient Bewunderang, bis zu welchem Grade 
die Aulopferung geht, mit der jedem von den Tausenden 
l>e^ige.<prungen wird. Da gibt es manche hier schon 
eingebürgerte Herren, die überhaupt nicht zur Ruhe 
kommen, die trotz ihrer Wohlhabenheit nicht wissen. 



wie ein ruhiger, behaglicher Tag aussieht. Tag und 
Nacht, förmlich gehetzt, suchen sie die tausend form igen 
Anliegen ihrer geqn31ten Landsleute zu befriedigen, 
jede Stunde stellt neue Ansprüche an ihre Zeit, ihre 
Kraft, ihre Kassel 

Ist ein schwieriger Fall nach unendlicher Mühe 
erledigt, kommt schon ein neuer, noch schwieligerer. 
Wer vermag es zu schildern, das vielgestaltige Elend, 
dai sich ergibt aus I^ieg, Revolution, Flucht nnd Ver- 
folgung. 

Auch im nahen Seebade Cranz, wohin die Familien 
zur Erholung gehen, wird keine Rast geschenkt Der 
russischen Kolonne der Wohlhabenden folgen die 
Kolonnen der Elenden, dir Siechen, der armen Kranken. 
Neue Aibeit, neue Hilfsaktionen, neue Geldopfer. 

Man nimmt sich hier nicht nur dieser Armen an, 
sondern es ist ihnen auch ihr gewohntes religiöses 
Leben, der Kultus, dessen sie bedürfen, dargeboten. 
Die Synagoge der russischen Gemeinde nimmt sie auf, 
andere kleine Betstuben, sogar ein Chassidim-Stübel 
können sie nach ihrer Wahl, ihrem Geschmack und 
ihrer Gewohnheit besuchen. 

Ausser dem Hilfsverein für kranke russische 
Israeliten, dessen grossartige Leis'nngen in dem oben 
genannten Vortrag „Zwischen Ost und West" ein- 
gehend geschildert sind, wurden in der letzten Zeit 
neue Organisationen notwendig, die hier noch knrz be- 
handelt werden sollen. Im vorigen Wintei', als der 



Rosalie Perles: Die russischen Juden in Königsberg. 



Obere Klasse. Zeichnen nach der Natur. 

(BeialcL Abbildung III.) 



Strom der Flüchtlinge und Auswanderer unter den 
Schrecken der damaligen Yerfolguneen immer atSrker 
anschwoll, faasten mehrere junge Leute vom Verein 
jüdischer Studenten den Entschlnss, den Auswanderern 
bei der Durchfahrt durch KQuIgsberg etwas Liebes zu 
erweisen und ihnen Erfrischungen zu reichen, zumal 
die Armen während der ganzen Reise nirgends den 
Waggon verlassen dürfen. Bald fand sich auch eine 
Anzahl Damen, die den Studenten bei der Be- 
speisung der Auswanderer, die manche Nacht nach 
Hunderten zählten, zur Seite standen. Der Aus- 
wandererzug, der jede Nacht zwischen 12 und 1 Uhr 
hier ankommt, hat 25 Minuten Aufenthalt. In dieser 
Zeit wurde den Insassen zu Türe« und Fenstern der 
Waggons die Erft^chnngen hineingereicht. Wie wohl 
tat den vor Kälte Erstarrten der huisse Tee, wie froh 
waren sie, für die Kinder Milch in Flaschen für 
die Weiterreise zu erhalten; am meisten aber stärkte 
sie das Bewusstsein, dass es auch in der Fremde 
liebende Herzen gibt, die der Heimatlosen sich an- 
nehmen. 

Im Sommer wurde einstweilen der Dienst ein- 
gest«llt, um in der knlten Jahreszeit wieder auf- 
genommen 7.\i werden. Fast gl ei cb zeitig wurde ein 
zweites Hilfswerk in Angriff genommen. Das 
„Schutzkomitee für Auswanderer" hat hier seit 
längerer Zelt eine Herberte für die Aus wand ei er 
errichtet, die wegen Krankheit, meiit Augenleiden, 
nicht befördert werden und hier in Königsberg 
ihre Heilung abwarten. Es stellte sich aber heraus, 
dass ohne eine regelmässige Bespeisung in der Herberge 
selbst die Insassen dem Hunger preisgegeben waren, 
und daher die Heilung dieser entkräfteten Menschen, 



1er, sich end- 
esichts dieser 
ide unterzog 
i von Frauen 
er bei dem 
er Bahn mit 
Jer Mühe, in 
i Bespeisung 
die Hand zu 
r lOOMSnner, 
der erhalten 
Sssigen Mahl- 
igen geringen 
ler Teil dieser 
er zum ernten 
den Kindern 
fissig reichen 
ine Tischzeit 
ten kennen. 
lie daheim am 

, woher sie am 

nächsten Tage die paar Pfennige 
bekommen würden, um das not- 
wendigste zum Leben kaufen 
SU können. Jetzt wird ihnen dreimal am Tage der 
Ti^ch gedeckt. Wie einfach das Mahl auch sein mag, 
es ist doch gesunde und regelmässige Nahrung. 

Manche TragOdie spielt sich hier in der Herberge 
ab. Wenn nach langen, bangen Wochen und Monaten 
endlich der ersehnte Moment kommt, in dem der Arzt 
die erlösende Bescheinigung „zur Weiterreise geheut 
entlassen" dem Patienten ausgehändigt, macht die Familie 
sich reisefertig, flUirt bis nach Hamburg, Bremen oder 
einer anderen Hafenstadt, — um sofort die Reise wieder 
zurück zu machen, weil in der Eontrollstation der Arzt 
anderer Meinung war und die Heilung noch nicht für 
vollständig erkläit. Ja, von Amerika kommen nicht 
selten die Unglücklichen wieder zurück. Man Hess sie 
nicht landen, weil ein Kind vielleicht noch Narben hat 
von einer ausgeheilten Granulöse. Was ist damit alles 
verloren! Geld und Gut, die ganze Habe, Mut und 
Hoffnung. Wo wird man nun die Mittel zum Leben, 
wo ein zweites Mal die grosse Summe hernehmen zur 
Reise, zur Ueberfahrt! Der Familienvater hat ja in der 
neuen Welt so lange und so schwer gearbeitet und sich 
das Notwendigste versagt, um für die Familie die 
Schiffdkarten zu erschwingen; die Freude auf das 
Wiedersehen hat ihm die Kraft dazu gegeben. Und 
nun? Ein junges Madchen, das noch heute in der 
Herberge lebt, ging vor zwei Jahren mit Elt«rn und 
Geschwistern nach Amerika. Dort angekommen, wurde 
das jüngste Kind augenkrank befunden und nicht 
durchgelassen. Vater, Mutter und Geschwister wurden 
gelandet, das Kind aber musste zurück und die älteste 
Schwester musste es begleiten. VAa ganzes Jahr lebten 
die beiden Geschivister in der Herberge. Das Augen- 
leiden des Kindes stellte sich aber schliesslich als 



Rosalie Perles: Die russischen Juden in Königsberg. 



unheilbar heraus, und der 
Schwester blieh nichta Bhrts, 
sls allein nach Amerika zu 
reisen nnd das Kind nach 
Rossland jsa Verwandten zu 
geben. Bai der Ankunft in 
Amerika wurde die Tochter 
von den Eltern mit Freuden 
begrOsst. Doch ala sie das 
Schiff verlassen will, kon- 
statiert der untersuchende 
Arzt hei dem Mädchen Granu- 
löse, und sie musste zum 
zveiten Male die Heise zu- 
rauk machen — eine tragische 
Heldin. 

Was das Verhatten der 
deutschen Juden Königsbergs 
gegen ihre russischen Glau- 
bensgenossen betrifft, Sü konnte 
wohl auch hier, vielleicht noch 
mehr als anderswo, behauptet 
werden, dass im allgemeinen 
die beiden Klassen wie Oel 
und Wasser sich von einander 

trennten. Jetzt aber beginnt das anders zu werden. 
Angesichts der furchtbaren Ereignisse, die sich in den 
russische ' ' ' ' ' ' ten Jahre abgespielt 

haben, k ^s, als sich mit den 

Verfolgt! klären. Hat frQher 

der dent cbränkt, wie Fabins 

Schach 1 ede persönliche Be- 

rübmng :iden, so beginnt er 

etxt, aa ine Zeit und Kraft 

in den I :tlder zu stellen, um 

an dem beiten, oder doch 

wenigste iderung ihrer namen- 

losen Le 

Ge» die Jugend beider 

Klassen ^r Belehrung sowohl 

wie za i eit. Sie erwärmen 

sich in für ihr Judentum, 

Alle Bio« , ihr Jadentun zu 

Eliren zt ;tinen zu lernen, die 

hebraisd I die eignen Heilig- 

tQmer hoch zu halten. So erfüllen sich die Träger der 



Arbeiten der SctiQler der oberen Klasse. 

(Bcialtl. Abbllduni IV.} 



Zukunft mit einem neuen, vorher nicht gekannten Geist, 
so entwickeln sie sich nicht mehr wie frUher zu halben, 
in ihrem Innnem zerrissenen Xamenjuden, sondern zu 
harmonischen, mit sioh selbst einigen, stolzen Bekennem 
ihres Glaubens. 

Hier in Königsberg, wo in die jüdische Gemeinde 
eine so grosse Russen gemeinde eingepflanzt ist, hier kann 
mans mit Händen greifen, aus welcher Quelle dem 
deutschen Judentum neue Lebenssäfte zuströmen, hier 
siebt man gleichsam die Adern, durch die ihm frisches 
Blut zugefiihrt wird. 

Verzweifeln wir also nicht an der Zukunft des 
Judentums, wenn auch alle Schrecken von aussen toben, 
und wenn auch von innen, wie hier in Königsberg, von 
manchem att-adligen jüdischen Stammbaum die Zweige 
abfallen oder längst abgefallen sind. Ein neuer Frühling 
erzeugt neues, frisch pulsierendes Leben. An Stelle 
eines welken Baumes kommt ein ganzer Wald mit 
frischen Säften, für alles Abgestorbene eine lebendige 
Wiedergeburt, ein neues zukunftsreiches Leben. 




DIE SENDUNO MUHAMMEDS. 

Von Dr. Julius Reiner. 



Nachdruclc vcrtiolen. 



Unter den Propheten, die einen hervor- 
ragenden Anteil an der Entwicklung der Mensch- 
heit haben, kann man zwei typische Richtungen 
erkennen, Richtungen, die nicht immer scharf 
von einander sich abheben, die aber zuweilen 
einen nicht zu verkennenden Gegensatz bilden. 
Die Vertreter der einen Richtung könnte man die 
»Moralisten ", die der anderen die „Politiker' 
nennen. Für die einen ist das ethische, für die 
änderen das politische Problem die Rechtfertigung 
ihrer Sendung. Dass der Politiker seine Absichten 
und Wünsche mit der Ethik verquickt, und der 
Moralist zuweilen zur Politik seine Zuflucht 
nehmen muss, um seinen Ideen eine grössere 
Durchschlagskraft zu verschaffen, kann man 
leicht bei einem Vergleich der beiden typischen 
Richtungen erkennen. 

Die Propheten Israels waren in erster Reihe 
Moralisten. Sie kämpften für die höchsten Ideen 
der Menschheit. Gerechtigkeit ist der Grund- 
ton ihrer Predigten, und wenn sie ab und zu 
auf das politische Gebiet sich begeben, so ge- 
schieht es nur, um ihren Ideen mehr Nachdruck 
zu verschaffen. 



Etwas günstiger stellt sich 
dieses Problem bei den nPoIi- 
tikem" unter den Propheten, 
Bei ihnen ist ihre persönliche 
Stellungnahme zur Frage des 
Zusammenhanges zwischen 
Tugend und Lohn, Laster und 
Strafe, etwas durchsichtiger. 
Diese Propheten kämpften für 
durchaus greifbare und zu- 
weilen auch sehr selbstsüchtige 
Ideen, Da sie als gewandte 
und erfahrene Politiker das 
Menschenherz gut kannten, ver- 
brämten sie ihre politischen 
Absichten mit moralischen und 
religiösen Elementen. Auf diese 
Weise konnten sie ihres Er- 
folges sicherer sein. 

Die Moralisten unter den 
Propheten drohten mit Strafen 
mit dem Feinde, der das Land 
verwüsten und die Einwohner 
zu Gefangenen machen wird. 
Nicht immer folgte die Strafe 
sofort auf die Uebertretung der Gebote der /üoral. 
Viel besser waren die Politiker unter den Propheten 
gestellt, die den Willen des Volkes unter Hin- 
weis auf göttliche und jenseitige Belohnung sich 
botmässig machen konnten und für den Ausfall 
der Strafe nicht verantwortlich waren. 

Von diesem Gesichtspunkt aus wollen wir 
hier die Sendung Muhammeds betrachten; kein 
anderer Prophet eignet sich besser dazu. Denn 
Judentum und Christentum hängen zu sehr ge- 
schichtlich und inhaltlich zusammen und stehen 
dem Westeuropäer viel zu nahe, als dass wir 
unbefangen an ihnen Kritik üben könnten. Ein- 
drücke der Kindheit, der Erziehung, äussere Rück- 
sichtnahme auf die liebgewordenen Vorstellungen 
unserer Mitmenschen, der rings um uns tobende 
Kampf der Parteien und die persönliche Zu- 
gehörigkeit zu einer dieser Religionen lassen ein 
unbefangenes Urteil kaum aufkommen. Man 
mag noch so sehr objektiv sein wollen, man wird 
unwillküriich parteiisch. Dazu gesellt sich noch 
als erschwerendes Moment die Mangelhaftigkeit 
der uns überlieferten geschichtlichen Tatsachen. 
Das Leben Moses, der Propheten, Jesus ist uns 



37 



Dr. Julius Reiner; Die Sendung Muhammeds. 



nur sehr wenig bekannt, die 
vorhandenen Quellen reichen 
zu einem getreuen Lebensbild 
nicht aus. 

Bei dem Stifter der muham- 
medanisclien Religion liegen die 
Dinge anders. Wir treten mit 
ungetrübtem Blick an die reich- 
lich vorhandenen und historisch 
beglaubigten Tatsachen seines 
Lebens heran, und da uns der 
Islam als Rehgion fernsteht, so 
können wir das Wesen seiner 
Offenbarung objektiv behandein, 
ohne Gefahr zu laufen, das 
religiöse Empfinden der Leser 
zu verletzen. 

Muhammed ist der einzige 
Religionsstifter, dessen Entwicke- 
lungsgeschichte sich Schritt für 
Schritt an der Hand durchaus 
glaubwürdiger Dokumente ver- 
folgen lässt. Wo der heutige 
Muhammedaner im Leben seines 
Propheten das Werk Gottes be- 
wundert, da sehen wir Menschen- 
werk; der Islam erscheint uns — 
historischen Tatsachen betrachtet 
Produkt eines religiösen Schwärmers und ziel- 
bewussten Gesetzgebers und Politikers, der für 
die Bedürfnisse seines Volkes eine Religion zu 
bilden bestrebt war. 

Wir wissen, dass der Prophet Muhammed 
epileptische und hysterische Anfälle hatte, die 
durch seine asketische Lebensweise noch gesteigert 
wurden. Zeitgenossen beschreiben uns diese An- 
fälle mit übereinstimmender Genauigkeit. Seine 
Lippen und seine Zunge zitterten , die Augen 
verdrehten sich, der Kopf bewegte sich willenlos. 
Bei heftigerer Anwandlung fiel Muhammed wie 
trunken zu Boden, rot im Gesicht, mit Schweiss- 
tropfen auf der Stirn, unter starken Atmungs- 
beschwerden; «er schnaufte wie ein Kamel" heisst 
es bei einem Berichterstatter. Mit diesen Anfällen 
trafen seine Inspirationen zusammen. Er hat sie 
als Besuche eines Engels gedeutet und war, gleich 
nachdem er sich erholt hatte, darauf bedacht, den 
Inhalt seiner religiösen Träume als göttliche 
Offenbarungen zu verkünden. 

Die psychischen Symptome dieser Krankheit, 
die noch heute den dunkelsten Winkel der 
Medizin bildet, sind für die Entstehungsgeschichte 



Die Glpsglesserel-AbteiluDg des BezaleL 



im Lichte der 
— als das 



der religiösen Offenbarung bei Muhammed von 
äusserster Bedeutung. Diese Symptome sind je 
nach dem Bildungsgrad und der Individualität 
des Patienten und je nach dem Milieu, in dem 
er sich befindet, verschieden. Muhammed, der 
für religiöse Fragen sich frühzeitig interessierte, 
hat bei seinen Anfällen Bilder gesehen und Dinge 
gehört, die aus den Elementen des religiösen 
Lebens zusammengesetzt waren. 

Allerdings ist es jetzt sehr schwer festzustellen, 
inwiefern Muhammed bei der Verkündung seiner 
Lehre nur das schwache Werkzeug seiner über- 
spannten Phantasie war, die ihm Offenbarungen 
vortäuschte, oder ob er aus schlauer Berechnung 
zu diesem Hilfsmittel seine Zuflucht nahm, um 
seine göttliche Sendung glaubwürdiger erscheinen 
zu lassen. Mit anderen Worten: war Muhammed 
ein betrogener, leichtgläubiger, religiösen Wahn- 
vorstellungen wirklich anheimgefallener kranker 
Mensch, oder war er ein kluger Diplomat, der 
zu diesem heiligen Betrug seine Zuflucht 
nahm, um einer guten Sache, der Einführung 
eines gereinigten Gottesglaubens, zu dienen, 
und um aus den wilden arabischen Beduinen- 
stämmen eine einheitliche politische Macht zu 
bilden? 



Dr. Julius Reiner: Die Sendung Muhammeds. 



40 



Wir glauben nicht fehlzugehen, wenn wir 
beiden Elementen eine mehr oder weniger gleich- 
massige Rolle im Leben Muhammeds zuweisen. 
Die leichte Erregbarkeit seiner Phantasie, die 
durch hysterische Anfälle (hysteria muscularis) 
noch gesteigert wurde, hat ihn für Visionen ge- 
stimmt, die er in nüchternen Stunden nur als 
die Folgen seiner Krankheit angesehen haben 
mag. Andererseits aber mag er im gesunden 
Zustand diese Visionen als das wirksamste 
Moment bei der Geltendmachung seiner neuen 
Lehre betrachtet haben, umsomehr, als er von 
seinen nahen Verwandten dazu ermuntert wurde. 

Ursprünglich mag im Geiste Muhammeds 
selbst diese Scheidung stark und klar vorhanden 
gewesen sein, er mag sich seiner künstlichen 
Hilfsmittel, der Visionen und vermeintlichen 
Offenbarungen, bewusst gewesen sein; er berief 
sich auf sie, um seine eigene Person vor der 
göttlichen Allgewalt zurücktreten zu lassen und 
sich nur als ein willenloses Werkzeug in den 
Händen Allahs hinzustellen: aber im Lauf der 
Zeit wird er wohl selbst diese Scheidung auf- 
gegeben haben — und eben davon hängt die 
Beurteilung Muhammeds wesentlich ab. Wieviel 
auf Klugheit und Berechnung und wieviel auf 
seine Krankheit zurückzuführen ist, was das 



Werk der Vernunft oder was der mensch- 
lichen Schwäche zuzuschreiben ist, wird 
sich, so wesentlich auch dieser Punkt ist, nie 
genau feststellen lassen. 

Muhammed wussfe, dass er als Mensch 
unter Menschen nie die Autorität erlangen könne, 
die dazu nötig ist, um einer Lehre, die von der 
bestehenden abweicht, allgemeine Geltung zu ver- 
schaffen. Er musste daher auf den Willen Gottes 
sich berufen, der ihn inspirierte. Mit neuen 
Lehren und Gesetzen konnte ja jeder auftreten. 
Aber die neuen Lehren waren der Annahme 
nicht sicher, auch wenn sie sich durch innere 
Vorzüge empfahlen. Dazu bedarf es einer 
Autorität, einer Gewalt Da solche Autorität und 
Gewalt Mohammed bei seinem ersten Auftreten 
noch nicht zur Verfügung stand und nur unter 
Hinweis auf den göttlichen Willen zu gewinnen 
war, so blieb Mohammed nichts anderes übrig, 
als sich für den Gesandten Gottes auszugeben. 
Nur auf diese Weise konnte er sich Gehör ver- 
schaffen. Wie sehr Muhammed der Nachahmer 
derer war, denen er es nachtun wollte, seiner 
Vorgänger — denn er war kein selbstständiger 
Denker — geht aus einem Vei;gleich des Korans 
mit der Bibel hervor. Ganze Kapitel sind aus der 
Bibel entlehnt. Die Art, wie sich Muhammed 
von Gott inspirieren lässt, ist 
der Bibel fast wörtlich ent- 
nommen. , Waren Begabung 
und Kenntnis bei ihm mangel- 
haft, so ist sein Wille, der mit 
geringen Mitteln Grosses zu 
erzielen verstand, desto höher 
anzuschlagen. 

Man darf aber nicht denken, 
dass die Araber, denen er seine 
Lehren vortrug, so ganz leicht- 
gläubig waren. Sie überhäuften 
ihn mit Spott und machten oft 
recht gelungene Witze über den 
neuen Propheten, der genau so 
wie sie ass und trank und 
für schöne Weiber schwärmte. 
Muhammed war aber zu sehr 
von seiner eigenen Mission 
durchdrungen und von der 
Überlegenheit des Monotheis- 
mus über den Götzendienst 
seiner Mitbürger überzeugt. Er 
wusste, dass nur ein gemein- 
sames religiöses Band imstande 



Dr. hiliiii Reiner: Die Sendung Muliammeds, 



ist, die einander bekämpfenden Stämme, von denen 
jeder seinen eigenen Götzen diente, zu einigen und 
Ihnen eine Überlegenheit zu verschaffen, die den 
Nachbarn bald gefährlich werden sollte. Er wurde 
nicht müde, auf Gott sich zu berufen, himmlische 
Strafen anzudrohen und göttliche Belohnung zu 
verheissen. 

Allmähhch gewann er einen kleinen Anhang, 
der vielleicht an seine göttliche Sendung gamicht 
glaubte, der aber sich sagte, dass der Mann doch 
ganz recht habe. Sie lernten einsehen, dass Ge- 
rechtigkeit besser sei als Ungerechtigkeit, denn 
sie diene allen gleichmässig und gewähre den 
Schwachen Schutz. 

Auch die äusseren sozialen Verhältnisse kamen 
dem Propheten zu Hiife. Er verstand es, die Armen 
für seine Lehre zu gewinnen, denn er verlangte 
im Namen Gottes, dass man barmherzig sein solle, 
dass man die Hungrigen speise und die Nackten 
kleide. So wuchs sein Anhang im I-auf der Zeit; 
aber auch die Gegner nahmen zu, denn der 
Einfluss Muhammeds beunruhigte sie. Sie wollten 
die neue Lehre annehmen, aber sie verlangten. 



dass ihnen Muhammed seine göttliche Sendung 
durch ein Wunder beweise. „Wirke ein Wunder, 
und wir wollen dir glauben!" sprachen sie zu ihm. 

Muhammed fragte, was für ein Wunder man 
verlange. 

„Verwandle den Hügel von Safa in Gold", 
war die Antwort 

Der Engel Gabriel, den Muhammed zur Aus- 
führung dieses alchem istischen Zauberstückes 
angerufen hatten soll, Hess vergebens auf sich 
warten. Erneuerte Angriffe auf Muhammed folgten. 
Man schrie ihm entgegen: „Er ist nur abgelernt 
oder verrückt" (Sure 44). 

Für Muhammed gab es kein Zurück mehr. 
Er verfolgte den einmal eingeschlagenen Weg, 
trotzdem sein Leben dabei bedroht war. Das 
Bewusstsein sefner guten Absicht hiess ihn nicht 
rasten, und seine Klugheit gab ihm oft gute Rat- 
schläge ein. 

Er verstand es, zwei angesehene und reiche 
Bürger aus Mekka, Abu Bekr und Omar, für 
seine Pläne zu gewinnen. Um das Band mit 
diesen zu befestigen, heiratete er die neunjährige 



43 



Dr. Julius Reinen Die Sendung Muhammeds. 



Tochter Abu Bekrs. Ohne 
diese zwei Persönlichkeiten; 
die dem Propheten mit Rat 
und Tat beistanden, wäre 
der Islam gewiss nicht über 
die ereten Anfänge ahn - 
hcher Versuche, neue Reli- 
gionen zu stiften, hirtaus- 
gekommen. Von nun an 
wächst die Macht und das 
Ansehen des Propheten. 
Sein Anhang ist sogar so 
stark, dass er auf die gewalt- 
same Ausbreitung seiner 
Lehre sich einlassen kann. 
Die Aussicht auf Beute mag 
nicht wenig beigetragen 
haben, den Mut seiner 
Anhänger zu steigern. Mu- 
hammed offent)arte näm- 
lich im Namen Gottes, dass 
die Beute gleichmässig 
unter die Kämpfenden ver- 
teilt werden solle. Das war kein geringer An- 
sporn für so manchen armen Teufel, dem übrigens 
der Prophet neben den irdischen Gütern für die 
Teilnahme am heiligen Krieg - so nannte 
Muhammed seine Raubzüge — noch himmlische 
Freuden in Aussicht stellte. 

Der Veriauf der Ausbreitung des Islams 
kann hier als bekannt vorausgesetzt werden. 
Keine Religion hat in ihren Anfängen so viel 
Menschenleben gekostet, wie der Islam. 

In der anderen Hälfte seiner prophetischen 
Laufbahn war Muhammed von seiner göttlichen 
Sendung weniger überzeugt, als in der ersten. 
Er sah, dass das Schwert viel wirksamer sich 
erwies, als die Berufung auf Gott, auf den sich 
ja auch seine Gegner zu berufen pflegten. Trotz 
der Verdienste, die man dem Stifter des Islam 
nicht aberkennen kann, ersdieint er als Mensch 



und Prophet in etwas unklarem Licht. Seine 
geistige und moralische Physiognomie war weit 
entfernt von jener Reinheit und Selbstlosigkeit, 
die wir von einem Religionsstifter zu verlangen 
pflegen. Mit dem Massstab seiner grossen Vor- 
gänger unter den Religionsstiftem gemessen, 
erscheint uns der Prophet von Mekka ver- 
schwindend klein, das Allzu mensch liehe haftet 
zu sehr an ihm. Er hat auf dem Gebiet der 
Religion keinen einzigen Gedanken hervorge- 
bracht, der nicht schon früher bekannt gewesen 
wäre. Vom Standpunkt der Theologie betrachtet, 
ist der Islam ein ziemlich schwacher eklektischer 
Versuch, und der Stifter selbst hat sogar nicht 
immer im Sinne seiner eigenen Vorschriften gelebt 
Und dies ist es in erster Reihe, was die Person 
Muhammeds in weitem Abstand von den anderen 
Religionsstiftem zeigt 



AUS BENJAMINS CHEDERJAHREN. 

Eine Skizze aus dem Osten. — Von S. Meiseis. 



Benjamin hiess er, aber seine Eltern nannten ihn, 
ihren Einzigen, ihren Liebling, liebkosend und ver- 
zärtelnd iMuniu". Sie sprachen diesen Namen in 
polnisch verweichlichtem Akzent aus. Tiefempfundene 
Liebe, Elleniliet>e, die sich zuweilen in den kleinsten 
Dingen äussert, lag in dieser Namensnennung; inner- 
liche Zärtlichkeit, die schon im zarten Kinderberzen 



ein Cefiihl von Würde und selbstbewusster Wert- 
schätzung erweckte. 

Benjamin war in einem polnischen Dorfe geboren. 
Sein Vater, der Gutspäcbter Saul Glück, war ein 
reicher Mann, vielleicht der reichste Mann im Dorfe, 
ohne dass er dadurch den Neid oder die Missgunst 
der Bauersleute irgendwie erregte. Alle wussten es. 



45 



S. Meiseis: Aus Benjamins Chederjahren. 



46 



der Jude Saul hat sich redlich gemüht, unermüdlich 
gearbeitet und sich ehrlich den Groschen erworben. 
Dabei gewann er sich durch wahren Edelmut und 
stets bereite Opferwilligkeit die Herzen aller. Die 
Bauern nannten ihn nicht anders als^unser Saul"; 
sie verziehen ihm sogar sein Judentum. Saul Qück 
war kein Dorf Jude von gewöhnlichem Schlage; er 
repräsentierte vielmehr das, was man im Osten ein 
„Vaterskind* nennt. Er verfügte über eine sogenannte 
jüdisch-bürgerliche Gelehrsamkeit, die aus einiger 
Kenntnis der Bibel und des agadischen Teiles des 
Talmud besteht. Selbstverständlich wollte Saul seinen 
einzigen Sohn auf eine höhere Stufe der Gelehrsam- 
keit bringen. Benjamin sollte überhaupt kein Dorf- 
jude bleiben. Er sollte nach der nahegelegenen 
Stadt, wo das Thoralemen noch fleissig getrieben 
wird, und wenn nicht Rabbiner so doch wenigstens 
ein thorakundiger Stadtjude werden. 

Um Benjamin für die Stadt mit genügenden 
Kenntnissen vorzubereiten, wurde auch frühzeitig ge- 
sorgt. Ein tüchtiger Lehrer wurde ins Haus genommen. 
Dieser unterwies Benjamin in der Bibel, mitunter auch 
im Talmud. 

Die ersten Studienjahre Benjamins brachten dem 
Vater eine arge Enttäuschung. Benjamins aufgeweckter 
Geist, der an allem, was im Dorfe vorging, reges 
Interesse nahm, zeigte für das Buchstabens tudtum 
nicht die geringsten Anlagen. Sein Vergnügen war, 
draussen auf dem Felde zu weilen, den Bauern bei 
der Arbeit zuzusehen, selbst hinter dem Pfluge zu 
gehen, oder im Grase unter schattigen Bäumen zu 
Hegen und — zu grübeln. Am meisten aber 
liebte er den Sonnenaufgang, „das Hervorkriechen 
der Sonne aus ihrem Futteral", wie er selbst eme 
altjüdische Redensart nachzuplappern pflegte. Oft 
schlich er heimlich in frühester Morgenstunde aus 
dem Hause, legte einige Kilometer zu Fuss zurück, 
um einen nächst der Dorfschule befindlichen ziemlich 
steilen Hügel zu erklettern, von wo aus er den Auf- 
gang des blutigroten Feuerballs besser betrachten 
konnte. Dabei kamen ihm die merkwürdigsten Ge- 
danken. ,Ja, die Sonne ist gut, zugleich auch 
schlecht. Sie trocknet die Wäsche und schwärzt 
das Gesicht. Wenn keine Sonne wäre, wir würden 
beim Feuer die Wäsche trocknen und durch Petroleum- 
lampen die Finsternis erhellen . . . Aber der Sonnen- 
aufgang ist schön . . . die Sonne macht den Tag — 
ich liebe sie." 

Benjamin liebte zu fragen, und hatte er keinen, 
mit dem er sich unterhalten konnte, so fragte er sich 
selbst. Fand er einmal im Gezweige der Bäume 
oder auf einem Stammstrunk ein Taubennest, so 
stand er stundenlang dabei und beobachtete das 
Treiben der kleinköpfigen Vögel. Wie sie glucksten 
und girrten und herumhüpften und mit den Köpf- 
chen nickten 1 Der Lehrer hatte es ihm einmal 
erzählt, dass in den heiligen Büchern die Juden mit 
den Tauben verglichen werden. Ob sie wohl auch 
frommgläubig sind wie die Juden? Dass sie auch 
jedesmal auswandern I — Sind sie vielleicht auch im 
Golus? . . . Den Störchen war Benjamin ein ge- 
schworener Feind. Diese boshaften Störche! Sie 



töten ihre schwächlichen Jungen, weil sie nicht fliegen 
können ... Sie glauben wohl an keinen Gott, denn 
wer an Gott glaubt, kann nicht boshaft sein. Auch 
der kleine Mieczyslaw, des Schlachzizen Söhnchen, 
glaubt an keinen Gott; er ist ja boshaft, schlägt ihn 
oft ohne Grund mit seiner kleinen Reitpeitsche und 
hetzt die Hunde wider ihn. 

So hatte unser kleiner Naturphilosöph im Freien 
vollauf Beschäftigung. Sein Studium ging daher wie 
ein schwerbelasteter Wagen. Der Vater war verdriess- 
lich, die Mutter geärgert, der Lehrer unzufrieden, 
allein er war der „Einzige", man durfte mit ihm 
nicht strenge verfahren. — Es wird sich ändern, 
tröstete sich der Vater, 's wird sich ändern, sobald 
er nach der Stadt kommt. Dort, in der Talmud- 
schule, mit so vielen Jüngern zusammen, wird erst in ihm 
der richtige Sinn filrs „Lernen" erwachen. — Und Saul 
wartete auf den glücklichen Augenblick, da er seinen 
Benjamin nach dem „Sitz der Thora" bringen werde . . . 

Wie vorauszusehen war, wurde Benjamin bald 
zu einem Onkel in die Stadt geschickt, damit er 
dort sich zu einem „Gelehrten in Israel" heranbilde. 
Der erste Eindruck, den die Stadt auf Benjamin 
machte, war mächtig. Wie berauscht taumelte er 
die Strassen entlang. Schon das Gehen auf dem 
glatten, steinernen Pflaster versetzte ihn in eine 
sonderbare Bangigkeit. Bald ging er auf den Fuss- 
spitzen, den Boden kaum berührend, bald scharrte 
er mit den Füssen, wie einer, der zum ersten Mal 
auf dem Glatteis geht. Es dünkte ihm, als ob er 
stolpern oder ausgleiten müsste. Das Klingeln 
der Fahrräder, das Rollen der Wagen verwirrte 
ihn förmlich. Die drei- bis vierstöckigen Häuser 
erifichienen ihm wie Kolosse; die Turmuhr min- 
destens so hoch wie der Turm zu Babel, von 
dem er bereits wusste. Wenn er ganz oben stünde 
und die Hand ausstrecken dürfte, er würde ja 
sicherlich ein Loch in den Himmel bohren können! 
Die Macht des Neuen wirkte stark auf ihn. Er ver- 
gass den in der Nähe der Dorfschule befindlichen 
Hügel, auf dem er oft den Sonnenaufgang erwartete; 
er vergass Flur und Feld, ja, selbst die sittenreinen 
Täubchen, die stets mit den Köpfchen nickten, und 
die boshaften Störche, die an keinen Gott glaubten. 
Eine neue Welt erschloss sich ihm; ein neues wechsel- 
reiches Bild der Natur eröfihete sich seinen staunenden 
Blicken. Der hohe königliche Zamek, der Schloss- 
berg mit seiner alten, verfallenen Ruine, die von ent- 
schwundener Pracht kündet, der gelblich-grüne San, 
der in einem graziösen Strombett sanft dahinfliesst, 
boten ihm ein Aequivalent für sein verlorenes 
Paradies. Auf den Höhen des Schlossberges, an den 
sogenannten Drei Kreuzen, fand er einen Punkt, von 
dem aus er das ganze weite herrliche Panorama des 
Stadt- Weichbildes überblicken konnte. 

Rasch war die schöne Zeit zu Ende, wo Benjamin 
die Stadt und ihr Getriebe, die Häuser und die 
Menschen, die Turmuhr und das Rathaus, den Fluss 
und die Berge, bewundem durfte. Schon am dritten 
Tage nach seiner Ankunft musste er in die viel- 
gerühmte — Talmudschule. 



47 



S. Meiseis: Aus Benjamins Chederjahren. 



48 



In der Talmudschule sass Reb Mendel auf dem 
Katheder. Vor ihm ein aufgeschlagener Foliant. 
Reb Mendel war ein langer, hochstämmiger Mann 
mit einem länglichen Kopf, bleichen Wangen und 
kleinen matten, von vielem Nachtwachen geröteten 
Augen. Hinter dem sammetnen fettigen Käppchen, 
das mit dem Kopfe wie verwachsen war, lugten 
einige weisse Härchen hervor. An beiden Schläfen 
trug er herabhängende, gekräuselte Haarlöckchen, 
die bei jeder Bewegung in fast gleichmässigem Tempo 
hin und her baumelten. Eine lange Habichtnase, 
ein spitzes weissgelbes Bärtchen, verliehen seinem 
Gesichte einen Zug von Urkomischem. Wirkte auch 
sein Aeusseres nicht besonders wohltuend, so verstand 
er es dafür, den SchtUem durch seine eigenartige 
Lehrweise einen geradezu ästhetischen Genuss zu ver- 
schaffen. Er besass eine grosse Fertigkeit im Er- 
klären, Erläutern, Plausibelmachen. Jede Hebung 
oder Senkung des Tonfalls, jedes Stampfen mit dem 
Fusse, jede Handbewegung trug zum näheren Ver- 
ständnis des gelernten Gegenstandes bei. Es war 
kein trockenes Lernen; es lag vielmehr Sang und 
Klang, Feuer und Verve, ein Schwelgen und ein 
Hochgenuss darin. 

Jeden neuen Schüler empfing Reb Mendel mit 
folgender stereot)rpen Ansprache: „Weisst du, mein 
Kind, zu welchem Zwecke du zu mir gekommen 
bist? Nu, um Thora zu lernen. Das Thoralemen 
ist ein heiliges Studium, und jeder Jude ist verpflichtet, 
sich in die Lehre Tag und Nacht zu vertiefen. Das 
Thoralemen ist das Lebenselement der Juden, wie 
das Wasser den Fischen. Der listige Fuchs spricht 
zu den Fischen : Kommt ans Trockene, da ist Sonne, 
da ist Leben . . . Die Dummen gehorchen, verlassen 
ihr Lebenselement, kommen ans Trockene und 
— krepieren. Die Klugen bleiben im Wasser und 
leben und sind munter . . . Wisse mein Sohn, seit 
der Zerstörung des heiligen Tempels ist Gott nichts 
so lieb auf dieser Welt als die vier Ellen der 
Halacha." 

Eine Art Erleuchtung überkam Benjamin bei 
diesen Worten. Er verstand sie nicht ganz, aber 
dieses Geheimnisvolle verlieh ihnen den Stempel der 
Erhabenheit und der verschleierten Wahrheit. Bisher 
hat er instinktiv geglaubt, Leben heisst „Sehen", nun 
wird es ihm in feierlicher Weise klargelegt, dass 
Leben „Lernen" heisse . . . Und dass Reb Mendel 
recht hatte, das bewies die stattliche Schülerzahl, die 
durch einen muntern Singsang und lebhaftes Gestikulieren 
ein lebendiges Lernen und lernendes Leben bekundete. 
Bisher hat er geglaubt, dass das Schönste, was Gott 
geschaffen, der Sonnenaufgang sei mit seinen purpurnen 
Streifen und rotschimmemdem Becken, die schattigen 
Bäume und die plätschernden Quellen, — und nun 
wird ihm erzählt, Gott sei nichts wertvoller als die 
vier Ellen der Halacha. Was die vier Ellen der 
Halacha sind, das wusste er zwar nicht, aber eben 
weil er es nicht wusste, glaubte er daran . . . 

Allein Mendel Hess ihm nicht viel Zeit zum 
Nachdenken. Benjamin wurde schleunigst den anderen 
Schülern eingereiht. Im Trällern des Lernens wurde 
fortgefahren. Sie begannen eben einen neuen Traktat, 



der von gefundenen und geliehenen Sachen handelt. 
Mendel explizierte: „Weim zwei — sagen wir Rüben 
und Simon — ein Elleid, das sie gefunden haben, 
halten; Rüben sagt: ich hab's gefunden, und Simon 
sagt: ich hab's gefunden; Rüben sagt: es gehört mir, 
und Simon sagt: es gehört mir — so muss jeder 
einzelne von ihnen schwören, dass er zumindest auf 
die Hälfte dieses Kleides Anspruch erheben kann, 
und sie — teilen ..." 

Dieser eine Rechtsfall wurde mit den hierzu 
nötigen Kommentaren einigemal erläutert und wieder- 
holt. Nicht nach festgesetzten trocknen Paragraphen, 
zu deren Verständnis wenig Beweglichkeit des Geistes 
erforderlich ist, wurde dieses an sich seltene jus 
occupandi behandelt. Weniger das Gesetz als der 
Geist des Gesetzes bildete den Gegenstand der Unter- 
suchung. Die kleinen Rechtsgelehrten leierten und 
sangen diese Rechtsvorschriften in einer recht selt- 
samen Weise. Es lag Poesie in dieser gesungenen 
Jurisprudenz. 

Benjamin befand sich wie im Traume. Wohl 
hatte er noch im Dorfe bei seinem Lehrer etwas von 
diesem Studium zu hören bekommen, aber dieses 
Leiern und Singen waren ihm so eigenartig fremd, 
dabei so autheitemd lustig, dass er an die singenden 
Engel denken musste, von denen einmal Dimitri, 
der klügste der Bauern im Dorfe, erzählte. Dem 
Dimitri war nämlich seine kleine Marischa gestorben. 
Er kam auf das Feld, wo seine älteren Kinder 
arbeiteten, und sagte: „Marischa ist gestorben. Aber 
betrübt euch nicht. Sie hat's gut. Sie war jung. 
Ihre Seele war rein, rein wie das Wasser und durch- 
sichtig wie das Glas. Eine solche Seele kommt 
gerad' in den Himmel und wird zu einem singenden 
Engel und leuchtet wie ein Stern. Viele Sterne, die 
wir des Nachts sehen, sind solche Kinderseelen. Wir 
sehen ihren Glanz, aber wir hören nicht ihren Gesang." 
An diese Engel dachte Benjamin. — Wie gross er- 
schienen ihm die Kollegen; wie winzig kam er selbst 
sich vor . . . Ein Gefühl des Neides regte sich in 
ihm ... Je lauter die Töne der Lernenden an sein 
Ohr schlugen, je mehr ihr Lerneifer sich steigerte, 
desto mächtiger wurde in ihm das Verlangen, ihnen 
zu gleichen. Fast unbewusst stimmte er mit ein in 
ihren Akkord; er „lernte". 



In der Schule Mendels war es seither Brauch, 
dass die Schüler jeden Donnerstag Abend zum 
Repetieren, dem sogenannten „Cbasem", zusammen- 
kamen und die ganze Nacht beim Wiederholen des 
die Woche hindurch gelernten Abschnittes zubrachten. 
Dieses Nachtstudium war nicht obligatorisch; die 
Fleissigen kamen, die minder Fleissigen zogen es vor, 
in den Armen des Schlafes auszuruhen, und mit der 
Entscheidung der schwierigen Rechtsfrage, ob der 
gefundene Mantel dem Rüben oder dem Simon zu- 
zusprechen sei, bis Freitag zu warten. Mendel selbst 
dozierte nicht an diesen Abenden. Er schnarchte 
in dem anstossenden dunklen Alkoven, um, wie er 
selbst sagte, durch seine Abwesenheit die Kinder 
zum selbständigen Denken anzuleiten. 



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S. Meiseis: Aus Benjamins Chederjahren. 



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In dem Schulzimmer wurde nicht nur fleissig 
gelerot, sondern auch, namentlich in der Abwesen- 
heit des Rebbe, manch Schabernack gespielt und 
manche Allotria getrieben, Da wurde ein Junge von 
seinen Kollegen auf den Tisch gespannt und tüchtig 
durchgeprügelt, weil er angeblich etwas vor dem 
Lehrer geschwatzt haben sollte. Schlief einer ein, so 
befestigten sie den Zipfel seines Kaftans an den 
Stuhl, und als er erwachte, und sich recken und 
strecken wollte, fiel er mit grossem Gepolter zu 
Boden. Da gab es ein helles Gelächter. Einem 
andern stopften sie die Nase voll mit Schnupftabak, 
dass er kräftig niesste und mit Todesschrecken auf- 
sprang. Einer krähte wie ein Hahn, ein zweiter pfifi 
wie ein Vogel, ein dritter erzählte gar drollige und 
zugleich schauerliche Geschichten. Wieder ein anderer 
setzte die Mütze des Lehrers auf, steckte eine lange 
Pfeife in den Mund, verzog das Gesicht und suchte 
Sprache und Minen Reb Mendels nachzuahmen. An 
diesen Abenden nannten sie sich auch nicht bei ihren 
üblichen Rufhamen ; jeder besass einen Spitznamen, 
der ein besonderes Merkmal an seiner Person heraus- 
strich. So hiess der eine der „Rothaarige", der andere 
der „Rundbäuchige-', der dritte der „Fetzenkopf" und 
ähnliche Kosenamen. Auch Benjamin wurde ein nom 
de guerre beigelegt: der „Dorfjunge". 

Der „Dorfjunge" — das sollte mancherlei be- 
deuten. Zunächst seine Minderwertigkeit den 
städtischen Jungen gegenüber. Der Dorijunge durfte 
sich nicht viel herausnehmen; musste schweigen, 
wenn die andern sprachen, und spielte im allgemeinen 
unter den Schülern eine untergeordnete Rolle. Seinen 
Fragen, mochten sie noch so vernünftig sein, wurde 
mit einer gewissen Geringschätzung begegnet. In 
seinen Antworten glaubte man immer etwas Lächer- 
liches, Dummes, zu finden. Allein Benjamin begrifi 
die Bedeutung dieses Spitznamens nicht; er Hess ihn 
daher kalt. 

An dem ersten Donnerstag Abend, an dem 
Benjamin sich an dem Wiederholungsunterricht be- 
teiligte, trug der „Rundbäuchige", sonst Jossei 
Scblite genannt, die erste Mischna aus dem Traktate 
„die mittlere Pforte" vor: 

„Wenn zwei — sagen wir Rüben und Simon — 
ein Kleid, das sie gefunden haben, halten; Rüben 
sagt: ich hab*s gefunden, und Simon sagt: ich hab's 
gefunden; Rüben sagt: es gehört mir, und Simon 
sagt: es gehört mir — so muss jeder von ihnen 
schwören, dass er zumindest auf die Hälfte dieses 
Kleides Anspruch erheben kann, und sie — teilen." 

— Das versteh ich nicht, versuchte Benjamin 
nach längerem Zaudern seinen Kollegen zu inter- 
pellieren. Wenn zwei einen Mantel finden, soll ihn 
der bekommen, der ärmer ist. Wenn ich im Dorfe 
mit Stasch, Dimitri seinem Sohne, einen Mantel ge- 
funden hätte, ich würde mir gesagt haben, mein 
Vater ist reich, er kann mir einen machen lassen, 
und Dimitri ist arm, und behält Stasch den ge- 
fundenen nicht, so kriegt er auqh keinen. 

— Was? Was sagt der Dorfjunge? höhnte der 
Rothaarige und machte hinter Benjamins Rücken 
eine lange Nase. 



— Was ein Dortjunge überhaupt fragen kann? 
kicherte der Fetzenkopf. 

— Du Fetzenkopf, schnauzte ihn der Rothaarige 
an und versetzte ihm dabei mit seinem EUbogen 
einen wuchtigen Rippenstoss, du solltest überhaupt 
nicht mitreden. Was verstehst du davon? Du hast 
ja Fetzen im Kopfe. 

Alle Kinder lachten. 

— Aber er hat doch recht, meinte einer, der 
mit Fetzenkopf auf gutem Fusse stand. Kommt so 
einer aus dem Dorfe her, bringt er gleich seinen 
Baueraschädel mit . . . 

— Und das Beispiel, das er anfuhrt 1 sprach ein 
anderer. Was hat Dimitri mit dem Talmud zu 
schaffen? . . . 

Allein der Rundbäuchige bewahrte in solchen 
Momenten die Ruhe und den Ernst eines Vortragenden. 
— Ja, Benjamin, sagte er gelassen, du hast recht. 
Was würdest du aber tun, wenn sie beide reich sind? — 

— Dann brauchen sie ihn beide nicht, antwortete 
Benjamin, ohne viel zu überlegen. Dann sollen sie 
den Mantel einem Armen schenken. 

— Verschenken, das ist gut, lachten einige. 

— Ja, wenn sie aber beide arm sind, was dann? 
sprach wieder der Rundbäuchige und setzte sich in 
Positur. 

— Ja, was dann? was dann? hüpften einige mut- 
willige Bengel. 

Benjamin war im ersten Augenblick wie ge- 
schlagen. Beschämt Hess er seinen Kopf hangen, 
um den herausfordernden verächtlichen Blicken seiner 
Mitschüler nicht zu begegnen. Jedoch wie ein 
Kämpfender, der sich nicht so leicht besiegt geben 
will, wagte er sich mit einer Gegenfrage hervor: Nu, 
was haben sie denn davon, wenn sie den Mantel 
zerschneiden? — 

— Zerschneiden I sprang der Rothaarige trium- 
phierend auf. Was sagt' ich, der Dortjunge versteht 
nichts, was er lernt. Zerschneiden? was für Unsinn. 
Sie verkaufen ihn und teilen mit dem Gelde. 

Benjamin war besiegt. Endgültig. Alle Kinder 
lachten so geringschätzend, so verächtlich. Eine 
mühsam unterdrückte Träne glänzte in Benjamins 
Auge. Er bedauerte, in die Arena getreten zu sein, 
die Disputation heraufbeschworen zu haben. Waren 
ihm doch seine Kollegen an talmudischen Kennt- 
nissen weit überlegen I Nun galt es durch ein rasches 
Hinüberlenken auf ein anderes Thema der Sache 
eine andere Wendung zu geben. 

— Ich schäme mich gamicht, dass ich es nicht 
wusste, sagte Benjamin mit einer zaghaft zitternden 
Stimme. Woher sollte ich auch? Im Dorfe gibt's 
so vieles zu sehen, dass einem die Lust zum Lernen 
vergeht . . . 

— Im Dorfe gibt*s vieles zu sehen? lachte 
Feiwisch Narr laut auf. Das ist nicht schlecht. 
Kartoffel graben kann man im Dorfe, aber zu sehen 
gibt's gar nichts. 

— Da hast du, schrie der Rothaarige, der hat 
auch schon das Wort. Feiwisch Narr, du selbst 
solltest lieber Kartoffel graben, als hier sitzen. 



51 



S. Mdsels: Aus Benjamins Chedeijahren. 



52 



— Na, Rothaariger, hat der Esel Bileams sein 
Maul geöffnet? versetzte Fei wisch trotzig. 

— Warte, der Esel Bileams drückt dich bald 
an die Wand, dass dir Hören und Sehen vergehen, 
schrie erbost der Rothaarige. 

— Auch mir ein Heldl lachte Feiwisch und 
rückte dem Rothaarigen immer näher. Vielleicht 
willst du dich mit mir schlagen, da zeig' ich dir 
bald, wer älter ist. 

— Nu, komm heran, wenn du Mut hastl 
forderte ihn der Rothaarige auf. 

Er reckte sich wie em kleiner Athlet. Sein Gesicht 
nahm eine seinen Haaren ähnliche Farbe an. Auf seiner 
Stirn zeigte sich eine bläuliche Ader. Seine Fäuste 
ballten sich. Als jedoch Feiwisch meikte, dass es 
ernst zu werden begann, rückte er allmählich ab. 

— Mir passt es gar nicht, mich mit dir zu 
schlagen, sprach er mit schlecht verhehlter Furcht, 
und verkroch sich dabei in einen Winkel. 

— Wie es sich verkriecht, das Hasenfüsschen, 
triumphierte der Rothaarige. 

— Ruhig, Jungen! gab Jossei Schute das 
Kommando. Macht keinen Lärm und hört auf zu 
zanken 1 Wenn der Rebbe erwacht, so kriegt ihr 
eine Tracht Prügel, dass euch diese Nacht ewig in 
Erinnerung bleibt. 

Die Schüler, die infolge des drohenden Zwei- 
kampfes zwischen dem Rothaarigen und Feiwisch 
Narr in eine animierte Stimmung geraten waren, 
zogen sich zurück und nahmen wieder ihre Plätze 
vor den aufgeschlagenen Folianten ein. Jossei 
Schites Verweis war von Erfolg, denn er erfreute 
sich — seiner „Gelehrsamkeit" wegen — einer ton- 
angebenden Stellung unter seinen Genossen. 

— Erzähl doch mal, was du im Dorfe gesehen, 
wendete sich Jossei, nachdem die Ruhe wiederher- 
gesteUt war, an den ratlos stehenden Benjamin. 

— Den Sonnenaufgang, antwortete Benjamin 
mit vibrierender Stimme. 

Aus der Eoke des Zimmers hörte man ein leises 
Kichern. 

— Oj wei, grosse Sachen. Das kann man auch in 
der Stadt sehen. 

-— Hast du's denn schon mal gesehen, Wölwel? 
fragte ein grüner Junge den Spottenden. 

— Hab ich's denn gesagt? Man kann ihn sehen, 
sagt' ich, wenn man morgens früh aufsteht. Ich steh 
morgens nicht früh auf Wozu brauch ich's sehen? 

— Es ist doch so schön . . . erwiderte Benjamin. 

— So schön, wiederholte Wölwel, den Kopf 
hin und her wiegend. Habt ihr schon einmal gehört, 
dass die Sonne schön ist? 

— Ich hab' schon gehört, meinte der Rot- 
haarige, dass der Mond schön ist. Mein Vater kommt 
manchmal nach der Neumondweihe nach Hause und 
erzählt voUer Freude, dass der Mond schön war. 
Aber von einer schönen Sonne kann wirklich nur 
ein DoHjunge sprechen. 

— Auch ein Dienstmädchen, ergänzte Wölwel, 
unsere Magd singt immer ein Lied: 

Der Tag war hell, die Sonne schien schön. 
Da kam mein Geliebter zu mir zu gehn. 



— Kusch, du Hund! brauste plötzlich der 
Fetzenkopf auf. Das fehlte noch, solche Lieder in 
einem Schulhause singen. Und dann, wie kommst 
du dazu, solche Lieder zu hören? Darf man 'ne 
Frauenstimme hören? 

— Man darf nicht, man darf nicht, bestätigte 
der Rundbäuchige. 

— Warte, das muss ich dem Rebben nachsagen, 
drohte der Fetzenkopf. 

— Was soll ich tun? verteidigte sich Wölwel, 
sie singt so laut, soll ich mir die Ohren stopfen? 

Und Benjamin war es, als käme er von einer 
heissen Dusche unter eine kalte. Eine Art von 
SchamgeHihl, von Reue regte sich in seinem Innern, 
Er kam sich so dumm vor, so sündhaft; sündhaft, 
weil er dumm war. Wie oft hatte ihn die Sonne 
schön gedäucht, wie oft hatte er ihren Feuerglanz 
bewundert, wie oft hatte er Bauemmädchen singen, 
hören, dem Gesänge der Schnitterinnen gelauscht I — 
'ne Frauenstimme hören, das sei doch nicht statt- 
haft ; der Fetzenkopf hat's gesagt, der Rundbäuchige 
bestätigt, wahrscheinlich steht's geschrieben, und was 
geschrieben steht — so sagte ja Reb Mendel — 
ist heilig . . . 

Im Schulzimmer trat eine kurze Pause ein. 
Jossei Schlite war anscheinend neugierig, etwas 
mehr von den Sehenswürdigkeiten im Dorfe zu er- 
fahren, denn er forderte den bleichen und zitternden 
Benjamin wiederholt auf, seine Berichterstattung 
fortzusetzen. 

— Ich könnte euch, begann Benjamin, viele 
hübsche Geschichten von den Störchen erzählen, 
wie sie ihr Nest auf dem grossen Wagenrad bauen, 
das auf dem Scheunendach Uegt, wie sie Beute her- 
beischleppen und ihre Jungen füttern. Es sind recht 
niedliche Vögel, aber sie glauben an keinen Gott! 

— Hört mal, was der Dorfjunge zu sagen wagt, 
unterbrach ihn der Rothaarige. 

— Heisst eine Frechheit, schrie Feiwisch Narr. 

— Eine Gottlosigkeit, meinte ein anderer. 

— Alles, was lebt, selbst das, was nicht lebt, 
glaubt an einen Gott, erklärte der Rundbäuchige. 

— Du, Dorf junge, weisst du, wie der Storch 
hebräisch heisst? sprach eine quietschende Stimme 
dazwischen. 

— Wissen wird er 's, nach dem Schalet, raste 
der Rothaarige, wenn anders es ihm Michailow oder 
Pawel gesagt haben . . . 

— „Chassida" heisst er, dass heisst „der Fromme'S 
quietschte wieder die Stimme. Sie werden schon ge- 
wusst haben, warum sie ihn so nannten. 

Selbst Jossei Schlite schien diesmal auf Seite 
der Opposition zu stehen. 

— Dieses Wort dari nicht ungestraft bleiben, 
hetzte der Rothaarige, 'rauf mit ihm! 

— 'raui mit ihm! ertönte es gleichzeitig aus 
mehreren Kehlen. 

Sie machten sich an ihn heran, zerrten und 
schleppten ihn, spannten ihn auf den Tisch, zupften 
und kniffen ihn, schnellten ihm in die Nase und 



53 



S. Meiseis: Aus Benjamins Chederjahren. 



54 



verabreichten ihm eine beträchtliche Anzahl Prügel, so 
dass er in — ein lautes Weinen ausbrach. 

Wie aus der Erde wuchs plötzlich Reb Mendel 
in schmutzigem Schlafhemde und Unterbeinkleide aus. 
„Was macht ihr, Bengel? Nennt ihr das — 
Lernen — — r Wie steht geschrieben? Moses sagte: 
Roscho, Bösewicht, weshalb schlägst du deinen 
Freund! - *• Das letzte Wort elektrisierte alle 
Schüler. Sie wurden wie gelähmt. Sie schämten 
sich ihrer bösen Tat ... An dieses Wort Moses 
dachten sie gar nicht . . . Mendel bestrafte diesmal 
die Missetäter nicht, sondern hielt ihnen eine Moral- 
predigt. Hieraut schickte er sie nach Hause, zumal 



da es bereits zu dämmern anfmg. Benjamin war der 
letzte, der das Schulhaus verliess. 

Mit schwerem Herzen und wehen Gliedern 
schlenderte er durch die menschenleeren Strassen der 
Stadt. Er ging nicht nach der Wohnung seines 
Onkels, sondern lenkte seine müden Schritte über 
den Quai dem Scblossberge zu . . . Als er ihn er- 
klettert hatte, setzte er sich in das taufeuchte Gras. 
Die ersten purpurnen Streifen des Sonnenaufgangs 
zeigten sich auf dem Horihontlfe ... Er wendete 
seinen Blick von diesem Himmelspunkt . . . vergrub 
sein Gesicht . . . und — weinte . » . 



ein Traum. 



nad)6ruch verboten. 



Id) träumt - id) wäre in eURe|d)iös Canben, 
Wo Sreil)eit unb 6ered)tigheit fid) fanöen 
Unb eine Rrone um öie CDenfd)en wanben 
Von Cieb unb treu. 

Id) \q\) bie Sreil)eit auf bem Z\)vone fi^en, 
ein Diabem auf \\)xem Raupte bilden, 
Unb Red)t unb Ciebe bienten \\)x als Stufen 
Im l)ol)en Amt. 

Unb Jonnverwanbt war \\)x gered)tes Walten: 
Sie liefe bie Cebensheime frei entfalten; 
Sie fpenbef Cid)t ben jungen wie ben fllten 
In gleid)em CDafe. 

Der Bafe entwid), ber 3wift fanb l)ier ein enbe, 
Vereint, verbrübert waren alle Stänbe, 
Die lang ent3weiten reid)ten fid) bie Bänbe . . . 
Id) freute mid). 

Id) ham ja aus bem {d)aurig finftern Horben, 
Wo Cagesarbeit ijt bas CDen{d)enmorben, 
Das Canb burd)3iel)en bejtienwilbe Borben, 
Des Böfen Brut. 

Wo Bäd)e fliegen von ben vielen Tränen, 
Wo Srauen jammern unb bie CDänner ftöl)nen 
Unb jebe Brujt burd)tobt ein mäd)tig Sel)nen 
nad) Cid)t, nad) Cid)t . . . 

Dod) l)ier ift Sriebe, l)ier ifts gut 3u wol)nen; 
Wo Sreil)eit tl)ront, ba mufe aud) CDilbe tl)ronen, 
Bier wirb ber Starhe wol)l ben Sd)wad)en fd)onen, 
Wie Jid)'s gebül)rt. 

CI)arlottenburg. 



Von biefer Stelle werb id) aud) nid)t weid)en, 
Bier {oll bie Wanberung x\)x enb erreid)en, 
Unb meinen Wanberftab, bes eienbs 3eid)en, 
Begrab id) l)ier . . . 

nBe, Alter, auf! Id) müfet eud) {onft beftrafen. 
In biejem Parh ift nid)t erlaubt 3U fd)lafen, 
Bier ift für l)ergelaufne frembe Shlaven 
Rein nad)tafYl! - 

l\)x feib ein Srember, mübe fd)on vom Wanbern? - 
Bier ift hein pia^ für eud) - fud)t einen anbern; 
\\)x bauert mid), bod) müfet x\)x fd)leunigft wanbern 
3ur Stobt l)inaus!** 

So wed^te mid) ein (Dann vor CDörgengrauen. 
Id) fal) il)n an unb wollt bem Blid^ nid)t trauen, 
Id) mufete immer wieber auf \\)n fd)auen. 
Den (Dann bes Red)ts. 

Da griffen nad) bem Wanberftab bie Bänbe, 
Unb weiter ging es, weiter ol)ne enbe. 
6ott ein3ig weife, ob je bas Cos fid) wenbe 
Des Wanbersmanns. 

Id) bleib ja ftets ber wanbernbe Oefelle, 
6el)e^t, gejagt von jebes Baufes Sd)welle, 
Der Bli^e 3iel, ein Spielball jeber Welle, 
Das Ceiben felbft. 

Id) träumt - id) wäre in ei=Refd)ibs Canben, 
Wo Sreil)eit unb 6ered)tigheit fid) fanben . . . 
Dod) als ber junge Zqq haum war erftanben. 
Verflog ber Craum. - 

Samuel CDeifels. 



55 



56 



MITTEILUNGEN AUS DEM DEUTSCHEN BUREAU 
DER ALLIANCE ISRAELITE UNIVERSELLE. 



(Berlin N. 24, Oranienburgerstr. 42/43 I). r 



DIE KNABENSCHULEN DER ALLIANCE IN MOGADOR (MAROKKO). 



Aus dem Bericht des Direktors Nahon. 



Nachdruck verboten. 



Mogador ist eine junge Stadt. Sie ist im 18. Jahr- 
hundert entstanden, ein Ergebnis der bemerkenswerten 
neueren Erscheinung, dass die marokkanischen Völker- 
schaften von der Küste angezogen werden. Jahrhunderte- 
lang war das anders, hüllte sich Marokko in Geheimnis, 
richtete es seine ganze Tätigkeit auf das Innere des 
Landes, fern von den Blicken der Fremden. Gleich den 
muselmanischen Familien, die alles darauf einrichten, dass 
sie von aussen nicht gesehen noch gehört werden sollen, 
die verlassene Strassen vorziehen und hinter weiten, 
schweigsamen Vorhöfen leben, öffnete Marokko nach dem 
Meere zu nur unbedeutende Häfen, hatte es an seiner 
langgestreckten atlantischen Küste nur leblose, ärmliche 
Weiler. Die grossen Städte — Fez, Marakesch, Meknös, 
Tarudant — hielten Reichtum und Leben von der Küste 
fem. Doch ein Umschwung erschüttert allmählich das 
Gleichgewicht der Dinge und treibt die Massen zum 
Meere hin. Erschöpft und blutlos durch eine jahr- 
hundertelange Absperrung, drängt sich die Menge zum 
Meeresufer, um frische Luft zu schöpfen und den an- 
kommenden Fremden die Hand zu reichen. Unaufhörliche 
Zuwanderung erhöht die Wichtigkeit aller Häfen auf 
Kosten des flachen Landes und der alten Städte. 

Die Israeliten, durch ihr Missgeschick, ihr Temperament 
und ihre Geschichte empfindlicher für die kommenden 
sozialen Umgestaltungen, stehen bei diesem Meeresdrang 
in erster Reihe. Die Gemeinden des Küstenbezirks 
nehmen täglich zu. Die Zeit kann nicht fem sein, da 
die jüdischen Gemeinden von Tanger, Gasablanca, Mogador 
20 000 Seelen und darüber zählen werden. 

Die Gemeinde Mogador erhält ihren Zuwachs nament- 
lich aus der Provinz Sus. In physischer Beziehung sind 
die Israeliten dieses Bezirks von ihren nördlichen Glaubens- 
genossen sehr verschieden. Brauner, unklarer Teint, 
langer Schädel, Ausdruck von Schüchternheit, wie er 
wilden Völkerschaften eigentümlich ist — das sind die 
charakteristischen Züge. Eine gelehrige, geschmeidige, 
ausdauemde, kluge Rasse, fehlt ihnen jene Feinheit der 
Manieren, jene Fröhlichkeit und Ungebundenheit, die man 
im Norden findet Talmudische Traditionen haben sie 
gar nicht. Bei ihnen hat es nicht, wie in Meknes, Fez, 
Rabat, Tetuan, eine lange Geschlechterfolge von Rabbinen 
und scharfsinnigen theologischen Denkern gegeben. 
Jüdische Wissenschaft hat bei ihnen keine Pflege erfahren. 
Wenigstens ist keine Spur davon durch diese Einwanderang 
in die junge Gemeinde Mogador gekommen. Die Zu- 
wanderer hatten kein anderes Bedürfnis, als ihren Unter- 
halt zu gewinnen, ein freieres L^ben als an ihrem 



Geburtsort zu fuhren. Für die Einrichtung von „ Jeschibot" 
nach nordischem Muster hatten sie weder die moralische 
Ruhe noch die Mittel. Die jetzt hierher kommen, ver- 
langen vor allem Brot und haben keinen Gedanken an 
Greistesarbeii 

So hat sich eine Bevölkemng gebildet, die fast 
jeder intellectuellen Regsamkeit entbehrt. Dabei sind 
die Gestalten blutlos. Die Gesichter sprechen von un- 
genügender Emährang. Es begreift sich, dass das 
erschöpfte Gehim mehr als die elementarsten Vor* 
Stellungen aufzunehmen sich weigert. Besserer Emährangs- 
zustand ist die Vorbedingung höherer Kultur. 

Unsere Zöglinge sind zumeist nicht arbeitsam. Sie 
kommen aus Gehorsam zur Schule, ohne Neigung für 
den Unterricht Ihre Haltung ist gut. Ausserordentliche 
Anstrengungen, sie an Sauberkeit zu gewöhnen, haben 
erst geringen Erfolg gehabt. Gegen eingewurzelte 
Gewöhnungen, die aus dem Boden der Armut, des 
grössten Wohnungselends, des Mangels an Seife, Kamm 
und Schwamm emporgewachsen sind, ist schwer ankämpfen. 
Augenkrankheiten sind selten, allerhand Hautkrankheiten 
häuflg. Man tut das Mögliche, um die Uebel zu beseitigen. 

In den letzten Jahren hat sich die Schule sehr gut 
entwickelt. Vor 12 Jahren zählte sie 60—80, vor fünf 
Jahren 140, gegenwärtig 310 Schüler, von denen 250 die 
Klassen mit Ausdauer durchmachen. 

Freie Speisung. Etwa die halbe Zahl der Schüler, 
140, erhält Freitisch. Man erkennt hieraus die herrschende 
Armut. Seit dem 24. April sind 165 bis 180 neue Gäste 
hinzugekommen, da auf Anordnung der Alliance alle 
bedürftigen Kinder, sie mögen eine Schule besuchen oder 
nicht, eingeladen sind, an derMittagsmahlzeitteilzunebmen. 
Diese Verfügung des Central-Comitees ist mit begreiflicher 
Begeisterung aufgenommen worden. Fleisch ist zu teuer, 
als dass es den jungen Gästen so oft dargeboten werden 
könnte. Oft bat es an Brot gemangelt, weil Kom und 
Mehl phantastische Preise hatten. Reis wurde als Ersatz 
gereicht und hat vortreffliche Dienste getan, obwohl 
seltsamerweise die Kinder den Reis nicht sehr lieben. 
Es würde sich empfehlen, in die Speisekarte Kichererbsen 
und Linsen einzufügen, die man in Gasablanca zu erträg- 
lichem Preis erstehen könnte Bedauerlicherweise sind 
die Spenden für diesen Freitisch sehr gering. 

Unterricht. Ich habe eingangs die Gründe für 
die gegenwärtige Apathie der Judenschaft von Mogador 
dargelegt. Ein weiterer Gmnd, der den Fortechritt 
unserer Jugend aufhält, besteht in der Armut ihres 
Jargons, der aus entstellten und fast unverständlichen 



57 



Mitteilungen der Alliance Isra^lite Universelle: Die Knabenschulen der Alliance in Mogador (Marokko). 



58 



arabischen, hebräischen, spanischen Worten zusammen- 
gesetzt ist und nur ein sehr geringes, abwechselungsloses 
Vokabularium hat. Wer das Unglück hat, einen solchen 
Dialekt als Muttersprache zu sprechen, hat die grössten 
Schwierigkeiten, zu europäischen Gedanken durch- 
zudringen. Das Milieu muss den unterrichtlichen An- 
strengungen zu Hilfe kommen, um wenigstens bei den 
jüngeren Leuten die Fessel des Jargons zu sprengen« 
In Mogador, wo die europäische Kolonie unbedeutend 
ist, kein Gegenstand, kein Gebäude, kein Zeichen das 
Auge des Kindes trifft, nichts zur Beobachtung reizt und 
die Bequemlichkeit überlieferter Formeln stört, wird die 
den Schulen obliegende Last erdrückend. Die Schule nimmt 
abnorme Wesen auf, deren Ohr sie erst bilden, deren 
Sprachwerkzeuge sie erst modeln, deren Geist sie erst an 
Worte und Bezeichnungen gewöhnen muss, die für die 
Kinder ohne Urbild in der Wirklichkeit sind. Das be- 
dingt einen ungeheuren Zeit- und Kräfteverlust. Die 
Fortschritte zeugen von einem sehr kleinen Teil der 
Mühen, die Lehrer und Schüler aufwenden müssen. Ich 
betrachte es als ein Glück, dass ich lange Zeit in ähn- 
licher Umgebung unterrichtet habe und dadurch gerüstet 
bin, die Anstrengungen richtig zu schätzen und dem 
guten Willen Gerechtigkeit angedeihen zu lassen. 

Zu den Ursachen iür die Langsamkeit in der 
Besserung der ökonomischen Lage der Gemeinde gehört die 
mangelnde Eignung der jungen Leute zur Auswanderung. 
OhneKenntnis des Spanischen sind sie für den Lebenskampf 
in Südamerika nicht geschickt. An uns ist es, diese 
Lücken auszufüllen. Das Spanische muss in unser Schul- 
programm aufgenommen werden, zum mindesten für die 
I. und 2. Klasse; alle unsere Schüler müssten dahin 
gebracht werden, mit 13 oder 14 Jahren spanisch zu 
sprechen. Es ist Zeit, diese fruchtbare Bevölkerung, die 
hier für ihre Tatkraft kein Feld findet, die von Hunger 
und Krankheit dezimiert wird, nach den freien Ländern 
Amerikas zu lenken. Wenn wir unseren hiesigen 
Zöglingen die Sprache beibringen, die sie in Argentinien, 
in Peru, in Venezuela brauchen, so bereiten wir ihre 
Auswanderung dorthin vor. Die hierfür nötigen Auf- 
wendungen wären vortrefflich angelegt. Die jungen Leute 
sind es, die auswandern müssen. Für sie vor allem ist 
der spanische Unterricht einzurichten. Der Abend- 
nnterricht muss deshalb in betreff dieser Sprache weiten 
Baum einnehmen, und alle Sorgfalt ist darauf zu richten^ 
dass die jungen Leute fliessend und leicht sprechen 
können. Ich denke deshalb eine Anzahl Stunden in den 
Abendklassen auch der Belehrung über amerikanische 
Verhältnisse zu widmen, die Geographie, die Ein- 
wanderungsbezirke, die politischen Einrichtungen, die 
Hilfsquellen Amerikas, die Beschäftigung, die man dort 
findet, die Lebensführung, die man dort beobachten muss, 
die Kosten der Reise, die Wegrichtungen, die hygienischen 
Vorkehrungen. Der befreiende Auszug muss rationell 
torbereitet werden. Man muss die Intelligenzen derart 



beeinflussen, dass ein formlicher Drang nach den trans- 
ozeanischen Republiken entsteht Bis zu dem vielleicht 
noch fernen Zeitpunkt der Erschliessung Marokkos für 
europäische Tätigkeit ist das das einzige Mittel, die 
Frage des Elends in diesen Landen zu lösen. 

Schlussfolgerung. Man könnte unsere Marokka- 
nischen Schulen in zwei Kategorien sondern: 

1. Die Schulen mit vollem Betrieb, die schon 
mächtige Wurzeln geschlagen haben, deren • Früchte 
unter unseren Augen zur Reife gelangen, und deren 
Boden die für die wirtschaftliche Emanzipation und für 
die geistige Entwickelung günstigen Kräfte enthält. 

2. Die im Ausbau begriffenen Schulen, die 
noch keine Fühlung mit den Gemeinden haben, in deren 
Umgebung das Erdreich noch nicht locker genug ist, 
um der jungen Pflanze Nahrung und Ausbreitung zu 
gewähren, die ihre Organe geduldig bearbeiten, sich 
wappnen und üben, um zur Blüthe bereit zu sein, so- 
bald die erforderliche Wärme und Arbeitskraft sich 
einstellen. 

Die Schule von Mogador gehört zur zweiten 
Kategorie. Sie macht in der Gemeinde noch den Ein- 
druck eines fremdartigen Körpers ; unserö Glaubens- 
genossen haben grosse Achtung vor ihr und erwarten 
ihre Leistungen, aber sie sind von ihrer Unentbehrlich- 
keit durchaus nicht überzeugt. Trotzdem einige frühere 
Zöglinge vermöge ihrer hier gewonnenen Ausbildung 
ihren Lebensunterhalt verdienen, ist bei den Juden von 
Magador die Ueberzeugung noch nicht durchgedrungen, 
dass der Unterricht zum Wohlleben, jedenfalls zu un- 
abhängiger und würdiger Tätigkeit führen kann. Und 
da im Lande der arabische Jargon vollständig zur 
Verständigung ausreicht, könnte die Schule ver- 
schwinden, ohne etwas anderes als oberflächliches Be- 
dauern zu hinterlassen. 

Der Schülerbestand unserer Schule war lange Zelt 
sehr beschränkt, ihre Tätigkeit ist durch keine 
Mädchenschule unterstützt worden, so dass ihr Eindruck 
auf die Gemeinde nicht sehr tief hat sein können. 
Trotz aller unserer Bemühungen werden sich die An- 
sichten unserer Glaubensgenossen nicht ändern bis zu 
dem Tage, wo eine stark europäische Kolonie sich in 
Mogador gebildet haben wird und junge Leute in 
grosser Zahl 'für wohlbezahlte Stellungen verlangt 
werden, und die soziale und wirtschaftliche Ueberlegen- 
heit des Mannes, „der lesen kann^, sichtbar, greifbar 
geworden sein wird. Bis dahin besteht unsere Aufgabe 
darin, nichts zu vernachlässigen, damit vom ersten Be- 
ginn des Anzeichens einer wirtschaftlichen Hebung ' 
dies für aller Augen unmittelbar offenbar wird. Die 
Schule bereitet sich für ihre künftige Aufgabe vor. 
Seit 3—4 Jahren ist sie beträchtlich gewachsen, und 
mit der Schule in Mellah verdoppelt sie ihre Tätigkeit! 
Sie gewöhnt die Gemeinde daran, ihre Opfer für das 
Erziehungswerk zu steigern. 



5y 



60 



DIE KNABENSCHULE DER ALUANGE IN BAGDAD. 

(Inspektionsbericht des Herrn Ni^go.) 



Unterricht. Im Winter und im Frühling wird 
der Unterricht vor- und nachmittags gegeben. Sobj.ld 
jedoch die starke Sommerhitze einsetzt, ist die Arbeit 
am Nachmittag unmöglich. Man beginnt dann morgens 
in aller Frühe und hört mittags auf. Während meines 
Besuchs stellte ich in den Klassen um 7 Uhr morgens 
33 0, mittags 44 o fest. Bei 33 o fühlt man sich noch 
recht behaglich, da die Luft beinahe ohne alle Feuchtig- 
keit ist, richtiger, die Luft hat auch bei höchster 
Temperatur einen Feuchtigkeitsgehalt, der weit unter 
dem Sättigungsgrade bleibt. 

Folgende Sprachen werden in der Schule zu Bag- 
dad gelehrt: Französisch, Englisch, Hebräisch, Arabisch, 
Türkisch. 

Im allgemeinen sei bemerkt, dass die israelitische 
Bevölkerung Bagdads ausserordentlich intelligent ist. 
Die Mühe der Lehrer wird durch erstaunliche Erfolge 
belohnt. Die Schüler sind von Natur rege, arbeitsam, 
wissbegierig. Die Disziplin macht keinerlei Schwierig- 
keit. In der Klasse herrscht stets vollkommene Ord- 
nung, und auf dem Hofe, während der Pause, hört man 
kaum einen Schrei. Ich finde diese Kinder für ihr 
Alter zu ruhig und zu vernünftig; ich wünschte sie 
mir etwas lärmender, bewegter, sie müssten sich in den 
Pausen jugendlichen Belustigungen hingeben. 

Wenn ich nun sämtliche Lehrgegenstände mustere, 
so kann ich erklären, dass ich in allem und jedem 
Fortschritte konstatiere, dass ich überall, in allen 
Klassen, sehr befriedigende Antworten erhielt. 

Unterricht im Englischen finden wir in den neun 
oberen Klassen. Herr Albala hat dieser Sprache mit 
Ihrer Zustimmung grösseren Platz eingeräumt als 
seine Vorgänger. Sie ist für die israelitische Be- 
völkerung Bagdads von wesentlicher Bedeutung. Die 
Handelsbeziehungen Mesopotamiens mit Indien, Aegypten, 
Grossbritannien sind viel wichtiger als die mit Frank- 
reich und Oesterreich. Diesem Handelsverkehr und der 
Kenntjiis des Englischen verdanken viele ehemalige 
Zöglinge der Schule ihre Wohlhabenheit; viele von 
ihnen haben sich die Rechtschaffenheit. und peinliche 
Ehrenhaftigkeit des englischen Grosskaufmanns an- 
geeignet. 

Ich bin nicht kompetent genug, um über die Fort- 
schritte der Schüler im Englischen zu urteilen, aber 
ich beziehe mich auf den englischen Generalkonsul 
Major Ramsey, der während meiner Inspektion der 
Schule einen Besuch abstattete. Er begnügte sich nicht 
damit, die vorliegenden Hefte zu prüfen, sondern liess 
nach eigenem Diktat schreiben, wobei viele Schüler 
keinen Fehler machten. Er war von den Fortschritten sehr 
befriedigt und hat nur die Aussprache der allerjüngsten, 
die einen Inländer zum Lehrer haben, bemängelt. Man 
weiss, dass eine gut« englische Aussprache nicht so 



Nachdruck verboten. 

leicht ZU erwerben ist, insbesondere ftlr den, der ein 
englisches Land noch nicht besucht hat. 

Arabisch wird in allen Klassen gelehrt, und 
überall, weil es die Landessprache ist, mit Erfolg, den 
schlechten Methoden zum Trotz, die die Lehrer noch 
anzuwenden pflegen. 

Türkisch ist nur in den oberen Klassen Lehr- 
gegenstand. 

Im Hebräischen werden ausgezeichnete Resultate 
erzielt. Es ist beinahe wieder zur Umgangssprache ge- 
worden, die jeder versteht. Bagdad ist die Stadt der 
Schreiber. Unweit von Bagdad liegt das Grab Esras, und 
in Bagdad werden in grosser Zahl Pentateuchrollen an- 
gefertigt, die in alle Länder gehen. Alle Kinder, die 
jüngsten wie die ältesten, lesen hebräisch korrekt und 
deutlich. Im Nu gelangt man — auch dank der Ver- 
wandtschaft mit der arabischen Sprache — zum Ver- 
stehen und Uebersetzen. Das Bibelstudium, das in ge- 
wissen Gegenden oft zu Gunsten des Talmud vernach- 
lässigt wurde, steht hier sehr in Ehren. In jeder 
Klasse wird an den 6 Wochentagen je ein Stück 
Pentateuch (der Wochenabschnitt) oder ein Stück aus 
den Propheten durchgenommen. Dieser Unterricht mag 
vielleicht ein wenig mechanisch gestaltet, noch allzu- 
w^enig von modernen Methoden beeinflusst sein; aber 
er gibt nichtsdestoweniger infolge vieler Wieder- 
holungen und wegen der Liebe, die man ihm widmet, 
gute Resultate. 

Der erste Rabbiner der Schule, Ghacham Hezkel, 
bemüht sich bereits, seinen Schülern die Grammatik 
methodisch beizubringen; bis jetzt beschränkt sich 
dies auf die Konjugation der Zeitwörter. Das ist wenig, 
aber immerhin ein Fortschritt. 

Speisungen. Man speist täglich unentgeltlich 
574 arme Zöglinge, davon 484 Knaben und 90 Mädchen. 
Die Kosten beziffern sich auf m3hr als 5000 fr. jähr- 
lich, wovon 1000 fr. von der Alliance beigesteuert 
werden. Der Gemeindepräsident Meir Elias gewährt 
einen jährlichen Beitrag von 1380 fr. Der Rest geht 
zu Lasten der Stadt. Herr Albala hat diesen Zuschuss 
beim Rat der Stadt erwirkt. 

Die reichen Familien pflegen zu jeder feierlichen 
Gelegenheit, wie zu Feiertagen, Hochzeiten, Jahi'zeiten, 
den Armen und den Schülern der Talmud Tora Mahl- 
zeiten zu schicken. Herr Albala hat es durchgesetzt, 
dass auch die armen Zöglinge unserer Schulen hierbei 
nicht leer ausgehen. 

Auf dem täglichen Speisezettel stehen Brot mit 
Gemüse oder Reis oder Eier oder Früchte (Gurken, 
Wassermelonen, Melonen, Trauben, Pfirsiche, Aepfel, 
Datteln) oder Speise (Halva). 



61 



Mitteilungen der Alliance Israeli te Universelle: Die Knabenschule der AUiance in Bagdad 



62 



Das Hilfowcrk ist gut organisiert und wird 
ordnungsgemäss überwacht. 

Gewerbliche Ausbildung. Die Ftlrsorge er- 
streckt sich auf 20 Lehrlinge, nämlich: 4 Setzer, 
8 Tischler, 3 Kupferschmiede, 1 Schneider, 4 Grob- 
schmtede. 

Zu den Kosten steuert die Alliance 1400 fr., die 
Anglo-Jewish Association 400 fr. bei. Die gezahlten Löhne 
werden den Lehrlingen erst am Ende der Lehrzeit zur 
Beschaffung von Werkzeug ausgehändigt und sind 
verpflichtungsgemäss zurückzuzahlen, wenn von dem 
Greld kein guter Gebrauch gemacht wiid. Ausser 
einer gestempelten Quittung, die diese Verpflichtung 
enthält, fordert Herr Albala noch, dass ein Bürge die 
Quittung gegenzeichnet. 

Ich habe die meisten dieser Lehrlinge besucht und 
festgestellt, dass sie mit Eifer arbeiten, und dass ihre 
Meister mit ihnen zufrieden sind. Nach Beendigung 
der Lehrzeit verdienen sie als Arbeiter 0,50 bis 1 fr. 
den Tag. Die Bezüge bleiben hier gering, solange 
einer nicht selbst Meister ist. 

Das LehrUngswerk ist im allgemeinen nur schwach 
entwickelt, wird jedoch gut überwacht und bat jedenfalls 
bessere Ergebnisse aufzuweisen, als ich z. B. in Alcppo 
gesehen habe. 

Die Lehrlinge erhalten Kleidung auf Kosten des 
Hilfswerks und speisen täglich unentgeltlich in der 
Schule. Abendkurse gibt ihnen regelmässig der Lehrer, 
dem ihre Ueberwachung anvertraut ist. 

Bibliothek. Die Schulbibliothek ist wie auch das 
ganze Schulmaterial in sehr gutem Zustand. Die Schüler 

« 

haben an der Lektüre Geschmack. Die Bibliothek ent- 
hält viele französische und englische Bücher. Die 
erstereu sind von der Alliance gesandt, die letzteren von 
der Anglo Jewish Association, die hierfür die Zinsen 
eines von Silar Sassoon gestifteten Legats zur Ver- 
fügung hat. 

Die Schüler haben auch unter sich eine kleine 
^Brüderschaft^ zum Ankauf von Büchern gebildet. Sie 
geben für die Lektüre jedes Buches 1 Sou. Von den 
80 angesammelten Beträgen wurden im letzten Jahre 
250Bände modemer Schriftsteller, Z.B.Balzac und Alexandre 
Dnmas, angeschafft. Alle Bücher der Bibliothek sind ge- 
bunden und gut gehalten. 

Schulgebäude. Die Bagdad er Schule macht der 
AUlauce und den Israeliten Ehre. Nicht nur Unterricht 
und Disziplin, auch die Räumlichkeiten sind vortrefflich. 
Das Schulgebäude, von einem weiten Hof umgeben, 
besteht aus 4 Einzelhäusern. 

1. Der Zentralbau inmitten des Hofes, von allen 
Seiten beleuchtet und durchlüftet, mit einer Galerie rings 
herum, die den Sonnenstrahlen den direkten Zutritt zu 
den Klassenzimmern verwehrt und den Schülern als 
Erholungsraum dient Das Haus umfasst 6 geräumige 
Zimmer über einem Erdgeschoss, das man hierzulande 
Serdab nennt. Dies Erdgeschoss ist ein einheitlicher 



sehr schöner Kaum mit Säulen und Gewölben — letztere 
nach Landessitte mit Backs !:einverzierungen verkleidet. 
Bis vor kurzem diente es als Speisesaal. Man ist seit 
einigen Monaten daran, es in eine Synagoge umzuwandeln, 
die die schönste in gans Bagdad sein wird. Das Haus 
trägt den Namen David Sassoous, der 1869 das Kapital 
zum Bau gestiftet hat. Au der Wand ist der Name des 
Wohltäters und das Datum der Erbauung eingraviert. 

2. Der Anbau „Meuachem Daniel", durch Herrn 
Z^mach enichti t, nach Osten gelegen, mit 2 grossen 
Klassenzimmern im Erdgeschoss und einem Bureauraum 
im ersten Stockwerk. 

3. Das Empfangsgebäude, — nahe der westlichen 
Pforte. Es enthält unter anderm die Bibliothek. 

4. Der neue Anbau, der gegenwärtig errichtet wird, 
nach Norden gelegen, — dies ist für Bagdad die beste Lage. 
Er wird 6 Klassenzimmer aufweisen, je 3 im Erdgeschoss 
und im ersten Stockwerk. Die Baukosten werden sich 
auf 300 Pfund belaufen. An 180 türkische Pfund sind 
bereits am Platze und durch Herrn Albala gesammelt. 

Alle Gebäude sind in bestem Zustand. Die Wände 
erhalten alle 6 Monate Kalkanstrich. Der ganze weite 
Hof wird täglich gekehrt und reichlich besprengt. 
Klassenzimmer, Galerien und nicht zuletzt die Kloset- 
anlage im Hofe blitzen von Sauberkeit Grade in diesem 
heissen Lande ist es von Wichtigkeit, dass den Schülern 
täglich ein gutes Muster für Ordnung und Reinlichkeit 
gegeben wird. 

Die Schule entliielt im letzten Jahr 12 Klassen- 
zimmer. Durch den Neubau wird die Zahl auf 18 
erhöht. Herr Albala fand bei seinem Amtsautritt 405 
Schüler vor. Jetzt sind es 529, und mit Hilfe der neuen 
Räume wird es die Schule auf 750 Schüler bringen 
können. 

Endergebnis. Die Schule in Bagdad, die 
erste, die die Alliance im Orient gegründet hat, 
ist ein gutes Institut. Es ist die schönste Schule 
im Irak. Die Muhammedaner und die Christen 
erkennen es gleicherweise an. Sie hat sich langsam 
aufsteigend entwickelt und hat noch eine grosse 
Zukunft vor sich, sie wird noch weit grössere 
Verhältnisse annehmen können. Sie hat zu einem 
sehr grossen Teil zu dem wirtschaftlichen Auf- 
blühen der israelitischen Gemeinde in Bagdad bei- 
getragen. Dank der allgemeinen, durch die Schule 
vermittelten Bildung, dem Unterricht im Französi- 
schen und vor allem im Englischen waren die 
ersten Schüler, die die Bänke der Schule verliessen, 
in der Lage, in die Fremde zu wandern, ihren 
Interessenkreis, ihren Handel auszudehnen, und ge- 
laugten dazu, solide Handelshäuser zu begründen 
und ihr Glück zu machen. Die Eröfl&iung der 
Schule hat einige Jahre vor der Fertigstellung des 
Kanals von Suez stattgefunden, die ersten aus- 



63 



Mitteilungen der Alliance Isra^lite Universelle: Die Knabenschule der Alliance in Bagdad. 



64 



gebildeten Zöglinge der Schale konnten daher bereits 
aus der Ausdehnung, die der Bagdader Handel durch 
den neuen Kanal erfuhr, Nutzen ziehen. 

Die kommerziellen Beziehungen zu Europa, 
Ägypten, Indien und Persien haben sich vervielfacht. 
Man hat die Bemerkung gemacht, dass die Kauf- 
leute, die ihre Geschäfte auf englischen Bezugs- 
quellen basierten, weit mehr Gewinn erzielten, 
als die, die nur mit französischen oder öster- 
reichischen Häusern zu tun hatten. Einzelne kamen 
üi wenigen Jahren zu Vermögen. Man kann sagen, 
dass unsre Glaubensgenossen zur Zeit den gesamten 
Handel in Händen haben. Diesen blühenden Stand 
der Gemeinde darf man gewiss nicht der Schule 
allein zuschreiben. Die angeborenen Eigenschaften 
der Bevölkerung sind mit in Anschlag zu bringen. 
Der Bagdader Jude ist tatkräftig; ein Mann der 
Ordnung, der seine Bücher bestens zu führen pflegt ; 
die doppelte Buchführung hat sich früh in sämtlichen 
Geschäftshäusern eingebürgert. Ausserdem ist er 
sehr sparsam, gibt weit weniger aus, als er das 
Jahr hindurch einnimmt. Die Reichsten in Bagdad 
fahren mit dieser Methode noch immer fort; 



Luxus, Komfort, selbst die einfachste Behaglich- 
keit der Wohnung, des Mobiliars, der Kleidung 
liegen ihnen fem. 

Bei Einzelnen unter den Wohlhabenden sieht 
man wohl schon das Gefühl der Solidarität im 
Keimen begriffen. Sie hegen den Wunsch, ihren 
Mitbürgern zu nützen, und helfen die Werke der 
Wohltätigkeit, der Schulen, der Talmudtora zur 
Entfaltung bringen. Aber noch ist diese Sinnes- 
art kein Allgemeingut. An dem Direktor der Schule 
liegt es, sie zu verbreiten, zu entwickeln. Dann 
wird man in Bagdad mit den Mitteln der Bevölkerung 
selbst die schönsten Unternehmungen schaffen können. 

Was mir bei diesem Schuluntemehmen in Bagdad 
noch gefällt, das ist die Tatsache, dass es stufen- 
weise fortgeschritten ist, dass mehrere Direktoren, 
die einander ablösten, durchaus von demselben Geist 
beseelt waren. Zemach trat in die Fusstapfen 
Danons, und Albala hat nur das eine Ziel vor Augen : 
das Erbe seiner Vorgänger zu mehren. Dies ist 
nachahmenswert. Nur die Kontinuität aller An- 
strengungen verbürgt den Erfolg guter Unter- 
nehmungen. 



DAS SCHULWERK DER ALLIANCE IN SALONIKI. 

Aus einem Inspektionsbericht des Herrn S. Benedict. 



Saloniki, November 1906. 

Saloniki zählt unter allen Städten des Orients die 
meisten Juden, 70 bis 75000 unter 120000 Einwohnern. 
Mehr noch als selbst Jerusalem ist Saloniki eine jüdische 
Stadt Am Sonnabend ruht jeder Handel, die Läden 
sind geschlossen, auch die der NichtJuden; die Schiffe 
können weder landen noch ausreisen, denn die Schauer- 
leute sind alle Juden. In den übrigen Städten des 
Orients bemühen sich unsere Glaubensgenossen, sich die 
Landessprache anzueignen; hier hingegen waren die 
Griechen, die Türken darauf bedacht, den jüdisch- 
spanischen Dialekt zu erlernen. Das Jüdisch-Spanische 
ist beinahe die Amtssprache von Saloniki geworden. 
Die Salonikier Juden, ein rastlos tätiger Menschenschlag, 
haben einige Erwerbszweige völlig mit Beschlag belegt. 

Die Gemeinde von Saloniki ist nicht arm. Ich 
sah sehr wenig Bedürftige — Bettler, von denen doch 
die Städte des Orients wimmeln, fast garnicht. Sehr 
wenig Arme werden auf Gemeindekosten unterhalten; 
auch diese Armen sind nicht Bettler im eigentlichen Sinne, 
sondern Gelegenheits- Notleidende, denen man Beihilfe 
zur Miete gibt oder zum Passahfest Mazzot spendet. 

Schon aus der Höhe des in unsern Anstalten und 
in den Privatschulen entrichteten Schulgeldes erhellt, 
dass die grosse Mehrheit der Israeliten von Saloniki 
zwar nicht reich, aber doch wohlhabend ist; selbst die, 
die man mit Unrecht als arm bezeichnet, zahlen durch- 
schnittlich an Schulgeld zwei Piaster die Woche. Das 
Schulgeld der Knaben bringt uns sicher beinahe 
20000 Francs, die Mädchenschule etwa ebensoviel. 

Die Behauptung, dass Saloniki eine arme Gemeinde 
ist, ist also falsch. Ich lege Wert darauf, dies zu 
Beginn meines Berichts testzustellen. 



Nachdruck verboten 

Der Bahnhofsbeamte, bei dem ich mein Billet löse, 
ist ein ehemaliger Zögling unsrer Schule; der Zoll- 
beamte, der meinen Koffer durchsucht oder vielmehr 
nicht durchsucht, ging gleichfalls aus unsrer Schule 
hervor; der Kondukteur, der mein Billet locht, dankt 
seinen Posten dem Unterricht, den er bei uns erhielt. 
Meine beiden Reisebegleiter sprechen voll dankbarer 
Erinnerung von ihren AUiance-Lehrern; der eine hat 
sich als Möbelfabrikant in Konstantinopel niedergelassen 
und beschäftigt fünf von unseren Lehrlingen in seiner 
Werkstatt; der andere ist Modewarenhändler zu Ueskub, 
er fährt zum Einkauf nach Wien. Ich könnte noch 
viele Personen aufzählen, denen ich begegnet bin und 
die uns alles verdanken. Ich will jedoch nur noch 
feststellen, dass die 27 Zöglinge der Knabenschule, 
die in diesem Jahre die Schule verliessen, alle in 
Stellung gebracht sind und bereits mehr oder weniger 
verdienen. 

Nach dieser langen Vorrede will ich Ihnen nun 
gleich sa?en, dass Ihr ganzes Unternehmen in Saloniki 
vortrefflich gediehen ist. Die eigentlichen Schulen, das 
Asyl, die Volkskurse, die Gewerbeschule, das Lehrlings- 
werk, sie alle sind gut entwickelt und w^eisen schätzens- 
werte Fortschi-itte auf. Für alle unsre Lehrer habe 
ich nur Worte der Anerkennung. Die erzielten Re- 
sultate sind, wie ich mich überzeugen konnte, beinahe 
wunderbar. Saloniki besitzt heute eine gebildete, 
arbeitsame Generation, die sich ihrer sozialen Pflichten 
wohl bewusst ist. Der Boden, auf dem wir gearbeitet haben, 
war allerdings besonders fruchtbar. Die Israeliten von 
Saloniki sind im allgemeine von schönem Wuchs und 
lebhafter Intelligenz. Man sieht hier nicht jene ge- 
bückten Jammergestalten. Der Salonikier Jude ist eher 



65 



Mitteilungen der Alliance Israelite Universelle: Das Schulwerk der Alliance in Saloniki. 



66 



einmal etwas übermütig, er fühlt sich als Herr des 
Platzes: Saloniki gehört ihm. 

Die aus unsem Anstalten entlassenen jungen Leute 
nehmen in den Bankhäusern, den Läden, in der öffentlichen 
Verwaltung die ersten Stellungen' ein. Auf den zahl- 
reichen Eisenbahnlinien, die ich benutzte, traf ich bei- 
nahe auf jeder Station ein oder zwei oder mehr jüdische 
Beamte. Viele Schüler setzten die auf der Schulbank 
begonnenen Studien fort; zahlreich sind die Aerzte und 
Rechtsanwälte, die ihre erste Erziehung den Schulen 
von Saloniki verdanken. 

Die Knabenschule, vor 33 Jahren begründet, 
zählt zu unsem besten Schöpfungen. Sie erfreute sich 
stets, und grösstenteils mit Recht, eines ausgezeichneten 
Rufes. Die Schule ist ein wahrer „Turm von Babel. ^ 
Ausser Hebräisch, Deutsch, Französisch, Türkisch unter- 
richtet man Englisch, Italienisch, Griechisch. Natürlich 
lernen die Kinder nicht alle sieben Sprachen auf einmal. 
Der deutsche Unterricht ist in den bewährten Händen 
des Herrn Neftel. 

Das Lehrlingswerk. Saloniki gehört zu den 
Städten, in denen das Lehrlingswerk gut giidiehen ist 
Hier kennt man nicht die häufig unüberwindbare 
Schwierigkeit, die darin liegt, dass für die Zöglinge 
keine ordentlichen Lehrmeister zu finden sind. Die 
Mehrzahl der Handwerksmeister in Saloniki sind Juden. 

Ehemalige Lehrlinge. Ich sah in t>iner Werk- 
statt zwei ehemalige Tischlerlehrlinge, der eine verdient 
4 Frcs., der andere sy^ täglich, was für Saloniki ein 
sehr schöner Verdienst ist; in einer andern Werkstatt 
verdienen fünl Tischler je 3 Frcs. täglich; in einer 
Steinmetzerei verdienen sechs ehemalige Lehrlinge 
Frcs. 2,50 bis 1,75; in einer Teppichweberei zwei ^- 
beiter Frcs. 2. Einer nnserer ehemaligen Tischler- 
lehrlinge, der sich etabliert hat, verdient wöchentlich 
Frcs. 20. Rührend ist, dass sein Vater nun bei ihm 
als Lehrling arbeitet. Ein anderer Tischlermeister, des- 
gleichen zwei Tischlergesellen, verdienen Frcs. 2,50 bis 
1,60 täglich; zwei Ofensetzer 1,50 und 1,25; sechs 
Stuhlmacher 2 bis 3 Frcs.; ein Klempner 6 Frcs. 
wöchentlich; sechs Posamentiere 10 bis 23 Frcs. 
wöchentlich; zwei Koflermacher 8 Frcs. wöchentlich; 
ein Tischler, der seit 27 Jahren sein Handwerk betreibt, 
verdient 1500 Frcs. im Jahr; zwei Bürstenbinder, der eine 
von ihnen Meister, verdienen 50 bezw .1 1 Frcs. wöchentlich. 

Ich besuchte die Werkstatt Nahmias, wo mehr als 
35 Tischler, alles Juden, beschäftigt sind. Unter ihnen 
finden sich 12 ehomalige Lehrlinge, die 1,25 bis 3 Frcs. 
täglich verdienen. Unter diesen zwölfen ist ein Holz- 
bildhauer von Ihrer Gewerbeschule in Jerusalem mit 
einem täglichen Verdienst von 3 Frcs. Endlich besuchte 
ich zwei ehemalige Setzerlehrlinge; sie verdienen heute 
8 und 12 Frcs. wöchentlich. 



Ich habe selbstverständlich nur den kleinf^ten Teil 
Ihrer ehemaligen Lehrlinge aufsuchen können. Alle, die 
ich sah, sind mit ihrer Lage zufrieden und segnen die 
Alliance, die sie einen Beruf erlernen Hess, der sie und 
ihre Familien anständig ernährt. 

Gegenwärtige Lehrlinge. Es sind an Zahl 54, 
davon 23 Tischler, 7 Schmiede, 5 Steinmetze, 3 Teppich- 
weber, 3 Posamentiere. 3 Stuhlmacher, 3 Dentisten, 
2 Setzer, 1 Kupferschmied, 1 Koffirmacher, 1 Mützen- 
macher, 1 Schumacher und 1 Goldschmied. Alle diese 
Lehrlinge erhalten ausnahmslos einen wöchentlichen 
Lohn von 2 bis 8 Frcs. 

Die Lehrlinge nehmen regelmässig an den Abend- 
kursen teil, die in bester Art von zwei unsrer Lehrer 
abgehalten werden. Sie erhalten ausserdem Mittagessen, 
das uns etwa 0,15 Frcs. pro Lehrling und Mahlzeit kostet. 

Die Gewerbeschule. Diese Schule ist die popu- 
lärste in Saloniki, die Schule, auf die Saloniki am meisten 
stolz isi Die vornehmsten Damen, jüdische wie 
muhammedanische, besorgen sich bei uns Korsett und 
Kostüm. Ein Korsett wird mit Frcs. 40 bis 50 bezahlt, 
die Anfertigung einer Hube mit Frcs. 50 bis 60, was 
für Saloniki recht beträchtlich ist; man kann dennoch 
der Nachfrage nicht genügen. Der Vorwurf, dass die 
Schule ihrer Kundschs^ zu hohe Preise berechne, trifft 
sie nicht allzu schwer; man bedenke, dass mit Hilfe der 
Einkünfte der Ateliers nicht weniger als 300 junge 
Mädchen ihre Ausbildung erhalten. Wäre nicht die hohe 
Miete von 5200 Frcs. aufzubringen, so würde die Ge- 
werbeschule nicht nur sich selbst, sondern auch die 
andern Anstalten erhalten. 

Vereinigungen. Sowohl die ehemaligen Zöglinge 
der Knaben- wie der Mädchenschule haben sich zu 
Vereinigungen zusammengetan. Beide Vereine leisten 
dem Werk der Alliance grosse Dienste, durch Ein- 
sammlung von Jahresbeiträgen, durch Propaganda, durch 
Subventionen, die sie den Volkskursen und sogar 
den auswärtigen Schulen in Ueskub und in Serres 
widmen. 

Schlussbemerkungen. Unser Werk in Saloniki 
ist in jeder Hinsicht gut, die Resultate sind beträchtlich. 
Die Saat wurde vieUeicht ein wenig zu langsam aus- 
gestreut, die Ernte aber ist reichlich. Wer das Saloniki 
vor 30 Jahren gekannt hat und mit dem heutigen 
Saloniki vergleicht, muss wahrnehmen, dass hier eine 
wahrhafte Revolution sich abgespielt hat Die israelitische 
Gemeinde, ja die Stadt selbst hat dch von Grund auf 
verändert Man höre die Männer von 40 bis 50 Jahren 
über die Alliance. und über ihre wohltätige zivilisatorische 
Wirksamkeit sprechen. Man höre, mit welcher Be- 
geisterung die jungen Leute, die eben die Schulbank 
verlassen, die „heilige*^ Alliance preisen der sie ihr 
Glück verdanken. 



Berlin. Der Wunsch, mit den Mitgliedern der 
Alliance Liraelite Univer-elle in immer nähere Beziehung 
zu treten und durch Aufklärung über das Wirken und 
die Ziele der A. L ü. dieser immer neue Freunde zu 
gewinnen, hat das Präsidium der Deutschen Conferenz- 
Gemeinschaft veranlasst, Versammlungen zu veranstalten, 
in denen über die A.L U.Vorträge gebalten wurden. Es ge- 
schah dies, abgesehen von den Vororten von Berlin, in 
Eberswalde, Grünberg in Schi., Würzburg, Stuttgart, 
Lissa 1. P., Frankfurt a. M., Wongrowitz, Grätz, Mur. 
Goslin, Schokken, Ostrowo, Schrimm, Schildberg, 
Ra witsch, Memel, Insterburg, Erfurt, Gotha, Tilsit, 
Filehne, Alienstein, Seh wetz. Die Vorti-agenden — die 



Herren M. A. Klausner, Dr. Friedländer, Dr. Markus, 
A. Jacoby — fanden überall für ihre Ausführungen leb- 
haftes Interesse. Nicht selten riefen ihre Darlegungen 
Ueberraschung hervor. Denn wenn die Alliance auch über- 
all mit ehrender Anerkennunsr und mit höchster Achtung 
genant wird, so hatte sich doch vielfach die genauere 
Kenntnis von dem weltumfassenden Wirken der Alliance, 
von ihrer ausdauernden Fürsorge und von dem Reichtum der 
Mittel, die sie unseren bedrängten Glaubensbrüdem in aller 
Welt zur Verfügung stellt, verflüchtigt. Die Geräuschlosig- 
keit, mit der die Alliance ihre Taten verrichtet, hat zur 
Folge gehabt, dass man vielfach andere Organisationen 
für die eigentlichen Urheber dessen Welt, was in Wirk- 



Miliei!i:ngen der AUiance Isra^lite Universelle. 



Ijchkeit von d^r Ällianc« aiisgegang'en und geleist«t 
war. Man nahm die Aufklürnng mit herzlicher 
»eude entgegen. Das jüngere Geschlecht erfuhr 
mit Gennstnung, das» die von den Vätern begonnene 
Arbeit nicht unterbrochen, üondern mit ebenso stillem 
wie großem Eifer fortcesetzt worden ist. In den Vor- 
trägen wurde auch rühmend der Jewish Colonisation 
Association gedacht, die durch Personalunion mit der 



Alliance verbunden ist und innerhalb der allgemeinen 
Aufgabe die besondere RieBenarbeit versieht, die Aus- 
wanderung aus Russland grosszügig zu organisieren. End- 
lich wurde betont, dass die Alliance Israelit« Universelle 
es für ihre Pflicht hült, allen nationalistischen Bestrebungen 
gegenüber den universellen Charakter zu unterstreichen, 
und nicht zuzulassen, dass das jüdische Hilfswerk 
zerrissen und durch nationale Teilung entkräftet wird. 



Berlin. Am 18. Dezember v J. feierte unser 
Mitglied Justizrat Dr. Hermann Veit Simon das 
Fest der silbernen Hochzeit, Dem her vorragenden. luristen 
und tj-euen Glaubensgenossen wurden ans diesem Anlass 
die herzlichsten Bekundungen zuteil. Aach das Präsi- 
dium der DeutMchen Co nf er enz- Gemeinschaft fand sich 



die folgenden 



mit einer Glückwunschadresse 
Wortlaut hatte: 

„Hochverehrter Herr .Tustizrat! 

8ie feiern haute ein Familien- 
fest, das Pest der Silbernen 
Hochzeit. 

Wir bitten um die Erlaubnis, 
wir fordern ea als unser 
Frenn desrecht, mit Ihnen und 
Ihrer verehrten Frau Ge- 
mahlin uns zu freuen, mit 
Ihnen beiden den Tag als 
einen Fest und Freudentag 
zu begehen. 

Wir haben Gelegenheit 
gehabt, Ihr öffentliches und 
Ihr stilles Wirken zu beo- 
bachten — wir haben gesehen, 
wie Sie in Ihrem ehrenvollen 
Berut zu immer höherem An- 
sehen gelangten, wie Sie 
durch Gaben des Geistes und 
ernstes wissenschaftliches 
Streben zu einer Zierde Ihres 
Standes wurden. 

Wir sind einander be- 
gegnet bei Ihrer steten Be- 
reitwilligkeit, Ihr persön- 
liches Können in den Dienst 
unserer Glaubensgemein- 
schaft und der dieser Gemein- 
schaft gewidmeten Werke zu 
stellen. Mit freudiger Be- 
wunderung und mit herz- 
innigem Stolz haben wir 
wahrgenommen, wie Sie in 
der Fülle der Arbeit immer 
Müsse fanden für die Förde- 
rung und Hebung der Juden- 
heit, die mit ungeteilter Anerkennung auf 
blickt, wie Sie mit durchdringendem, 
richtiger Liebe geborenem Verständnis 
KrtflUung grosser, auf Gegenwart und Zukunft 
zugleich gerichteter Aufgaben sich beteiligt<'n. 

Auf das Grosse hat Ihr Streben sich gerichtet. 



Wo immer das Hecht der Judenheit in Frage 
kam, wo es werktätiges Eingreifen galt und wuch- 
tige Verteidigung mit den Waffen des Geistes 
und Wissens — da waren Sie zur Stelle, ein 
rüstiger und gerüsteter Kämpfer. Und für Ihre 
Liebe zu unserer Gemeinschaft hat es nichts 
Kleines, nichts Unbedeutendes gegeben. 

Wir haben kein Mandat, im Namen der Juden- 
heit zu reden. Aber wir 
sind sicher, im Sinne der 
deutschen Judenheit zu 
handein, wenn wir den 
heutigen Tag als Anlass 
benutzen, mit unseren GIQck- 
wünschen Ihnen, unserem 
hochgeschätzten Mitglied , 
den Ausdruck tiefgefühlter 
Anerkennung, Verehrung 
und Liebe darzubringen. 

Genehmigen Sie, hoch- 
verehrt«r Herr Justizrat, 
unsere Grüsse und die 
Versicherung unserer ver- 
ehrungavollen Ergebenheit," 
.Tustizrat Dr. Hermann Veit 
Simon gehört einer Reibe bedeu- 
tender judischer Organisationen an, 
so auch det: Lehranstalt für die 
Wissenschaft des Judentums, Hier 
wurde er im .Jahre 1904 in das 
Kuratorium gewählt, dessen Vor- 
sitzender er seit Beginn, des Jahres 
1906 ist. Von Uebernahme dieser 
Tätigkeit an war es sein Be- 
streben, der Lehranstalt ein eigenes 
Heim zu gründen, würdig der 
grossen Aufgabe, die die Lehr- 
anstalt in der Judenheit zu er- 
füllen bat Sein Wunsch konnte, 
dank der Munifizenz hochherziger 
Glaubensgenossen, zur Erfüllung 
gelangen. Im Herbst dieses Jahres 
Das neue Gebäude der Uhramtalt für die '"''■'' '" ^e"" Artilleriestrasse der 
Prachtbau der Lehranstalt seine 
Tore denen öffnen, die dereinst 
Lehrer in Israel sein und Gottes 
Wort künden wollen. Bei dem innigen Zusammen- 
hang, der zwischen den erzieherischen Tendenzen der 
Alliance Israelite Universelle und allen Kulturwerken 
in unserer Glaubensgemeinschaft besteht, glauben wir 
der bildlichen Darstellung des Lehranstaltsgebäudes 
in diesen Spalten einen Raum anweisen zu dürfen. 



Wisaenachaft des Judentums in Berlin. 



I auf- 



Uörlits. Herr Rabbiner Dr. Freund, einer der 
Senioren der Alliance Israelite Universelle und seit 35 
.lahren ihr eifriger, pftichtgetreuerund sorglicher Vertreter, 
hat am 30. Dezember v. J. sein fünfzigjähriges 
Jubiläum als Rabbiner der Synagogengemeinde Görlitz 
gefeiert. Das Central-Comite in Paris und das Prä- 
sidium der Deutschen Conferenz- Gemeinschaft haben dem 



um die Sache der Alliance hochverdienten Manne, der 
von seiner Gemeinde geliebt und auf Händen getragen 
wird, der seine Gemeinde selbst erzogen hat, Glück- 
wunsch ad re.ssen überreichen lassen. 

Rabbiner Dr. Freund steht im 78, Lebensjahre, 
Er Ist am 3. August 182« in der Posenschen Stadt 
Schmiegel geboren, wo sein "\'ater ein allseitig angesehener 



Mitleilungen der Alliance Israelile Universelle. 



Kaufmann war. Seine M " ' " ' ' - ■'■ 

Sklower an, die in BreaU 
heute noch bestehende „äkl 
aoBgeatattet hat. Im Jahi 
Liasa, wo er nach einjährig 
die ÜataritäUprilfung beata 
Eltern ond der eigenen 1> 
sich dem Rabbinerbemf. In 
wo damals Talmndgelehrti 
grossem Ruf lebten, gern 
talmudischen Unterricht, n 
lieh bei dem Dajan Reb 
Hamburger. Von Lisaa 
Freund zum Besuch der Univ 
nach Brealan. Hier hOi 
Philosophie bei Professor B 
exegetische Vorlesungen üb 
Alte Testament bei den 
fessoren Movers und Midde 
arabisch und syrisch bei dt 
fessoren Bernstein und Schm 
Dabei wurden die Talmudi 
unter Leitung der bedeut« 
Gelehrten, u. A. des s] 
Ostrowoer Rabbiners Dr. Fr 
fortgesetzt. Das Rabbiners 
war damals noch nicht e; 
Rabbiner Dr. Geiger nahi 
des jungen Kandidaten an, 
unserem Jubilar des Dr. 
nachmaligen Rabbiners in 
und des Dr. Friedeberg, sj 
Rabbiners in Tilsit. Dr. 
hielt Vorlesungen über jl 
Literatur, nahm mit den 
Männern die judischen philo 
hielt sie zu homiletischen Uet 
promovierte Freund in B 
handelte („de rebus die i 

stehungstage. Er veröffentlichte darin zum ersten Mal 
den Text eines in den Universitätsbibliotheken von 
Breslau und Leyden vorhandenen Manuscripts mit la- 
teinischer üebersetanng und zahlreichen Anmerkungen 
über die judische Autfassung vom Leben nach dem 
Tode und von der Auferstehung. Noch vor der Pro- 
motion hatte Freund die Stelle eines ersten Lehrers an 



1 

Breslau-Liegnitz-und dem Vorstand vieler gemeinnütziger 
Vereine an. Dass er treues Mitglied, ein Freund und 
Förderer der Alliance Israelite Universelle seit 32 Jahren 
ist, haben wir bereits ei-wähnt. 

Der 30. Dezember war fllr Dr. Freund und für 
seine Freunde und für die Gemeinde Görlitz ein Fest- 
und Ehrentag. 



Berlin. Der grosse Philanthi'op .Jacob H.Schiff 
in New York, 965, 5th Avenue, feiert am 10. Januar 
d. J. den sechzigsten Geburtstag. Ehrungen aus der 
ganzen Welt werden ihm an diesem Tage verdienter- 
massen zuteil werden. Wir entbieten dem Förderer 
aller gi'ossen humanitären Werke, dem treuen und 
unerschrockenen Glaubensgeiiossen herzinnigen Glück- 
wunsch und glanbensbrüderlicben Gruss, 

Pu-ia. Herr Oscar S. Strans hat infolge seiner 
Ernennung zum Handelsminister der Vereinigten Staaten 
seineDemission als Mitglied des Üentral-Comitä der A.I.U. 



gegeben. Das Central- Com ite hat beschlossen, an Herrn 
Straus für die wirksame Tätigkeit, die er stets zu- 
gunsten der Alliance, sowie überhaupt zugunsten alter 
Werke allgemein jMischen Interesses entfaltet hat, ein 
Dankschreiben zu richten. 



Neue immerwährende Mitglieder: 

Berlin: Einanuel Bergmann, italisch reib<>r.'<tras'< 

Atft-cil Ci>lin, Behrenstrasse 48. 
Breslau: Israel Sachs, Hnfchen Strasse 97. 



Alk' für das Berliner Lokal-Comit^ der A. l. ü. und fiii- das Deutsche Bureau der A. I. )'. Ucstimmten 
Gfldsendimgen beliebe iiiiin an den Schatzmeister 

Herrn Benno Braun in Firma Joelsohn & Brfinn, Berlin C.19, Hausvoigteiplatz 12 

/u ikdressicren, eventuell diircli Heiehsbank-Girokont« den Herreu Joelsohn & HrOnn zu (Ibenveisen. 



71 



72 



EIN JUEDISCHER LIEDERABEND. 

Am 10. Dezember fand im Festsaal der Gesellschaft der Freunde der erste Vortragsabend des 
neu gegründeten Vereins zur Förderung jüdischer Kunst statt. Dem längst totgesagten jüdischen 
Volkslied galt die erste Darbietung. Es war ein ganzer Erfolg. Das grosse Auditorium gab dankbaren 
Beifsdl. Und alle Zeitungen der Hauptstadt brachten anerkennende Besprechungen. — Wir blicken mit 
Liebe und freudiger Grenugtuung auf die Arbeit des jungen Vereines; dient sie doch einem Gedanken, 
für den „Ost und West" seit sechs Jahren unter Opfern und Mühsal gekämpft hat. — In einem 
der nächsten Hefte werden wir über die Bestrebungen des Vereins eine eigene Studie bringen. Heute 
beschränken wir uns darauf, nur das Programm des ersten Abends zu geben, das in Wahrheit ein 
— Programm ist! 

Den einleitenden Vortrag über „die G^eschichte, die Quellen und die psychologischen Charaktere 
des jüdischen Volksliedes" hielt Dr. med. Theodor Zlocisti. Die musikalischen Erläuterungen zu 
den Einzelstücken gab der bekannte Komponist Dr. Bogumil Zepler, dessen hingebungsvolle Arbeit 
die Durchlühmng des Programms in erster Reihe ermöglicht hat. 

Es folgten dann: 

I. Volkslied massiges. 7. Berühmte jüdische Melodie aus Wilna 

1. Die Fähre Volkslie.l "*"" ^*- lodern. 

2. Der Vater an sein Kind M. ßeimel 

3. Das Pekele Volkslied Hl- Kunstmusik. 

. o . Herr Michael Magidsohn. ^p^.^^ „^^ Oper) unter Benutzung jüdischer Motive 

4. Seimsucht nach Jerusalem v olkshed , '^ ^ ^ * 

5. Zwei Wiegenlieder a) Volkslied l. ^War ein kleines stilles Haus" . . . J. Rothstoin 

b) aus „Sulamith" (loldfaden 2. Arie a. d. Op. „Der Brautmarkt zu Hira" B Zepler 

Fräulein Bella Zlotnicka. Herr Michael Magidsohn. 

ß. „Wer es kann afn Fiddele spieln" . . . Volkslied 3. Arie a. d. Op. „Die Makkabäer" . . . Rubinstein 

7. Alef Beiss Volkslied (für Solo und Chor) 

S. Ratseilied Volkslied 4. Wo du hingehst B. Zepler 

Fraulein Vera Goldberg. Fräulein Vera Goldberg. 

5. Arie der Sulamith a. d. Op. „Die Königin 
IIa. Liturgische Hausmus'ik. von Saba" (für Solo und Chor) . . Goldmark 

(Hebräisch) 

1. Hin Szeidergesanff (Passah) IV. Volksliedmässiges. 

2. Ein Freitag- Abendgesang (S'miraus) (Heiteres und Chassidische Melodien) 

Herr Michael Magidsohn« ,, , . 

3. Ein Freitag- Abendgesang 1- "Her nur du schein Meidele" Volkslied 

4. Eine alte Neujahrmelodie (Melech eljaun) 2. „Geh ich mer spazieren" Volkslied 

Fräulein Bella Zlotnicka. 3- „L.oif zu mir" . Goldfaden 

Fräulein Vera Goldberg. 
IIb. Alte jüdische Melodien ^- Zwei kleine Lieder: A alte Kasche — 

for Violine und Fishor.onium ,es.t.t , BalfatttTebbe „n.l .Ion Chassidin. l . 'tSd 

5. Sefardische Melodie 6. Der Rebbe Volkslied 

G. Drei alte Weisen Herr Michael Magidsohn. 

Die Mehrzahl der Lieder stararate aus der Sammlung Leo Winz (Ost und West). 

t i • ' 

iRseratenaRnabme nur durcD RaaseitSfeill ff UOflkr Jl* di. in Berlin und deren Tilialen. 

AbonaemenUprelt für da« Jahr in DeuttchUnd und Oesterrelch Mark 7,— (Luxusausgabe Mark 14,—), für das Ausland Mark 8—, 

(Luxusausgabe Mark t6). 

für Russland ganzjihrllch 4 Rubel. BlDzelhefte k ss Kdp. 

„^„^ . Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandes, durch alle Postflmter des Deutschen -_ 

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Redaktion: Berlin NW. 33» Altonaerstr. 36» 



Verantwortlicher Redakteur: Leo Winz, Berlin, Altonaerstr. 36. - Verlag Ost und West, Berlin W. 8. 

Druck von Haasenstein & Vogler A. O., Berlin S. 42, Wasserthorstr. 50. 



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ILLUSTRIERTE MONATSSCHRIFT 



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FÜR DAS GESAMTE JUDENTUM 



Herausgegeben und redigiert 



von 



LEO WINZ. 



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Alle Rechte vorbehalteiL. 



Heft 2. Febrnar 1907. 



YII. Jahrg. 



BERTHOLD AUERBACH. 

Zur 25. Wiederkehr seines Sterbetages. 

Von B. Saphra. 



Ncchdnick verboten. 



Als ganz junger Mensch bekam ich in einem 
weltabgel^;en^ Winkel einmal ein Bnch in fremd- 
sprachlicher Uebersetzung zur Sand, das den Titel 
trug „Im Palast und in der Hütte". Es war dies 
der Boman „Auf der Höhe" von Berthold Auerbach. 
Der Verfasser war schon tot, ich aber hörte damals 
zum ersten Mal seinen Namen. Als ich das Buch 
zu Ende gelesen hatte und hinauslief in die Felder, um 
des mächtigen Eindruckes Herr zu werden, sagte ich 
mir: das muss ein Jude geschrieben haben. In dem 
Buch kam kein einziger Jude vor, es spielte in einem 
vom judischen Leben himmelweiten Milieu: im Königs- 
palast und in der Bauemhütte. Gleichwohl schwebte 
aber dem Ganzen etwas Jüdisches, undefinierbar, aber 
deutlich fühlbar. Die Idee der menschlichen 
Verantwortlichkeit, dass man seine Schuld nicht 
dmrch den Tod, sondern durch ein reines Leben 
sühnen müsse und könne, die kräftige und 
unverwüstliche Weltfreude, die lächelnde, ver- 
zeihende Milde und Nachsicht, die humorvolle 
Geringschätzung irdischer Pracht und Grösse, 
tönten in meinen Ohren wie ein fernes, aber 
deutliches Echo biblischer und talmudischer 
Sprüche : War das nicht irgend ein verkappter Rabbi, 
der in das Gewand des Eomanschreibers geschlüpft? 
Am stärksten hatte es mir Irma angetan. Diese 
Irma war meine erste Liebe, das MMchen meiner 
Enabenträume. Und dann jener Mann, dem ewige 
Blindheit droht, und der noch vorher die Welt 
durchstreift, um sich an der Schönheit der Menschen 
und der Dinge sattzusehen. Ich war fest über- 
zeugt, dass das nur von einem Juden geschrieben 
sein konnte. Und wie einst Gutzkow „erschrak", 
als er erfuhr, dass Börne — denkt euch, bitte, 
Börne in eigener Person — ein Jude sei, so war 
ich fireudig überrascht und bewegt, als ich erfuhr, 



dass meine Ahnung mich nicht getäuscht hatte 
Er hatte sogar zwei Romane aus dem jüdischen 
Leben geschrieben und war dabei einer der an- 
gesehensten und einflussreichsten deutschen Schritt- 
steller gewesen. 

Erst später, viel später lernte ich Berthold 
Auerbach als Juden kennen, aus seinen Briefen an 
semen Vetter Dr. Jakob Auerbach, dessen wunder- 
schöne Bibelübersetzung m Deutschland so populär 
geworden ist. Es ist dies eine eigenartige Brief- 
sammlung, die sich über mehr als fünfzig Jahre 
erstreckt und nur selten ein paar Tage lang ruhte. 
Ein Tagebuch, voll von intimen Bekenntnissen, voll 
von persönlichen Erlebnissen, ein wahres Spiegelbild 
vom innersten Wesen des Schreibers. Auerbach 
hatte diese Briefe, wenigstens in den Anfängen, 
sicherlich nicht für die Oeffentlichkeit bestimmt. 
Er legte nur in die Hände des geliebten Jugend- 
freundes eine „Generalbeichte" ab, berichtete ihm 
getreulich von allem, was ihn betraf und was ihn 
innerlich bewegte; er wollte, wie er sich ausdrückte, 
bei ihm „in künftigen alten Tagen ein Erinnerungs- 
mal seines Lebens wiederfinden". Diese von Jakob 
Auerbach herausgegebenen Briefe sind eines der 
lesenswertesten Bücher, gleichwohl sind sie unter 
allen Büchern Berthold Auerbachs das am wenigsten 
beachtete. Das Buch ist nämlich „zu jüdisch'*; 
Grund genug, um von Juden nicht gelesen zu 
werden, und von Christen — erst recht nicht. 
Jüdisch sind nun freilich alle Bücher Auerbachs, 
am jüdischsten die, die gar nicht von Juden 
handeln. Aber sie sind es sozusagen latent, unbe- 
wusst. Es ist rührend, wie Auerbach, der ein 
glühender Verehrer Spinozas war, sich einbildet, in 
seinen Erzählungen „konsequent" die spinozistisehe 
Weltanschauung durchzuführen, während er nur dns^ 



75 



B. Saphra: Berthold Auerbach. 



76 



ivas an dieser Weltanschauung jüdisch ist, konsequent 
durchfuhrt. Denn nichts eignet sich wohl weniger 
zur kfinstlerjschen Darstellung als der Spinozismus 
mit seiner tiefen Gedankenblässe und Blutleere. 
Und die Gestalt Spinozas selber, wie sie, von 
Auerbachs Meisterhand gezeichnet (in dem gleich- 
namigen Roman), auf den Leser einen unauäösch- 
liehen, unverisresslichen Eindruck macht, ist gar 
nicht der richtige Spinoza. Will man dessen Urbild 
finden, so muss man es unter den Weisen des 
Talmud suchen oder unter den jüdischen Rabbinern 
des Mittelalters. Auerbach hat von dem Antlitz 
seines Helden alle historischen Flecke weggewischt 
und es mit einer fast überirdischen Aureole umgeben, 
aber ein künstlerisch veredeltes Bild der bewegten 
Zeit Spinozas hat er nicht geboten. Namentlich 
hinderte ihn sein rationalistischer und aufklärerischer 
Standpunkt, den Gegnern Spinozas gerecht zu werden, 
in ihre Motive tiefer einzudringen und zu erfassen, 
zu ergründen, was in ihren Seelen vorging. Hier 
hinderte der G^sinnungsmensch den Künstler und 
trübte sein Verständnis. Künstlerisch ungleich 
höher steht „Dichter und Kaufmann*', ein Meister- 
werk psychologischer Kleinmalerei, ein vollendetes 
Zeitgemälde der Mendelssohnschen Epoche. Es ist 
ein edles, tiefes und trotz des vielen Traurigen, das 
es enthält, doch so heiteres Buch, dass man es heute, 
Sechsundsechzig Jahre nach Erscheinen, mit wahrer 
Wonne und grossem Nutzen lesen wird. Ausser 
diesen beiden Romanen plante Auerbach noch eine 
ErzUilung aus dem jüdischen Leben „Schuliach 
Mizwah" und einen grossangelegten Roman „Wir 
Juden". Keines von beiden ist zur AusführuDg 
gelangt. Wer aber Auerbach als Juden, seine 
jüdische Seele kennen lernen will, der muss 
in seinen Briefen an den Vetter blättern. 
Dort findet man ein unbewusst und ungewollt ent- 
worfenes Selbstkonterfei, das festgehalten zu werden 
verdient. Berthold (eigentlich Moses Baruch) Auer- 
bach war „in einer lustigen Purimnacht" am 
28. Februar 1812 in Nordstetten in Württemberg 
geboren. Er bezeichnete sich selber als die Verbindung 
von zwei verschiedenen, aber verwandten geistigen 
Elementen: „Der leichtlebige, lustige Musikant von 
mütterlicher und der ernst vomelune grüblerische 
Rabbi von väterlicher Seite, seltsam gemischt." Es 
war eine kinderreiche, in sehr ärmlichen Verhält- 
nissen lebende Familie, der Auerbach entstammte. 
Die Eltern bemühten sich, dem begabten und auf- 
geweckten Knaben eine gute Erziehung zu geben. 
Nach Vollendung seines 13. Lebensjahres konnte er 
sich auf die damals in Hechingen existierende 
Jeschiba begeben. Zwei Jahre darauf finden wir 
ihn an der talmndischen Hochschule zu Karlsruhe; 
dann bezog er das Gymnasium in Stuttgart. All- 
mählich wandte sich sein Sinn vom Talmudstudium 
ab. Die Art, in der damals dieses Studium in 
Deutschland betrieben wurde, konnte seinem auf das 
Plastische, Klare und Lichtvolle gerichteten Sinn 
auf die Dauer nicht behagen. So ist es denn kein 
Wunder, dass der Neunzehnjährige die naseweisen 
und leichtfertigeD Worte schrieb: „Der jüdische 



Korau, Talmud genannt, ist nicht wert, dass im 
19. Jahrhundert ein talentvoller Jüngling sich ledig- 
lich mit ihm befasst — ein Buch, in dem die er- 
habenste Moral neben dem gemeinstai Sophisma 
steht." Er konnte nicht ahnen, dass wenige Jahr- 
zehnte darauf zahlreiche begabte christliche 
Jünglinge den „jüdischen Koran" fiir wichtig genug 
halten würden, um mit der grössten Mühe in ihn 
einzudringen. Dass er die hohe kulturelle Bedeutung 
einer wissenschaftlichen Erforschung des Talmud 
verkannte, ist jedoch viel verzeihBcher als der 
billige Vorwurf von der Nachbarschaft der höchsten 
Moral mit dem „gemeinsten Sophisma''. In allen 
Schriften alter Kulturepochen, im Zend-Avesta, in 
den Veden, in den Reden Buddhas bei Piaton, und 
bei den griechischen Tragikern findet sich immer 
das Ewige dicht bei dem Vergänglichen; also die 
erhabenste Moral neben dem, was uns, durch den 
Nebel der Zeiten betrachtet, als „gemeines Sophisma" 
erscheint, und das im genetischen Zusammenhange 
zu verstehen eben Angabe einer universellen Be- 
trachtung ist. Aber trotz dieser abfälligen Aeusserung 
über den Talmud war Auerbach doch von seinem 
Geist zu sehr imprägniert, besonders waren in 
seinem Geiste die wunder\^ollen Bilder und Sen- 
tenzen der Haggada haften geblieben — unbewusst 
vielleicht — und sie kehren oft in seinen Schriften 
und Briefen wieder. Etwas blieb immer von der 
Theologie an ihm hangen, und es zog ihn immer 
wieder zu ihr hin. 

Auerbach studierte in Tübingen und in Heidel- 
berg. Als Mitglied der Burschenschaft geriet er in 
Untersuchung und musste wegen des Verbrechens, 
die Einigung Deutschlands anzustreben, zwei Monate 
auf dem Hohenasperg, dem „har haggeboa", wie 
er ihn scherzend airf hebräisch nennt, brummen, 
weshalb er auch nicht zum Examen zugelassen 
wurde. Er hatte sich mittlerweile sehr erfolgreich 
als Schriftsteller versucht. Er hatte eine Geschichte 
Friedrichs des Grossen veröffentlicht, dann einen 
umfangreichen Aufsatz über die Juden und die 
neueste Literatur. Im Jahre 1837 enstand sem 
„Spinoza" und drei Jahre darauf „Dichter und 
Kaufmann'', lieber den Spinoza schreibt er: „Du 
kannst es kaum erfassen, welche Seligkeit ich bei 
der Abfassung dieses Buches genoss. Und doch 
fehlte mir oft, ja meist, der nervus rerum. Wochen- 
lang habe ich keinen Heller in der Tasche. Von 
Familien- und persönlichen Verhältnissen belastet, 
zog ich mich in meine Arbeit zurück und vergass 
alles", üeber „Dichter und Kaufmann" schreibt 
er: „Oft, wenn sich mein einsames Innere mit Ge- 
stalten füllte, die sich vor mir und in mir bewegten, 
da schwebte ich im seligsten Aether, und alles, was 
ich davon festgebannt, ist leider nicht der volle Klang 
dessen, was in meiner Seele t^nte. Das Buch ist 
ein Lebensabschnitt von mir**. 

Im Jahre 1890 bewarb sich Auerbach um eine 
Predigerstelle am „Tempel" zu Hamburg. „Aber 
das Schicksal wollte nicht, dass ich noch zur Ruhe 
komme. Es war das letzte va banque, dass ich der 
Theologie zurief, sie schüttelte den Kopt. Gut." 



77 



B. Saphra: Berthold Auerbach. 



78 



Die Gremeindegewaltigen von Hamburg bewiesen 
damals ebensoviel Geschmack und Verständnis, wie 
jene, die seinerzeit Zunz und Graetz nicht als 
Prediger akzeptieren wollten. Und ebenso wie jene 
vollbrachten sie unbewusst ein gutes Werk. 

Auerbach widmete sich fortab gänzlich der 
Literatur. 184:3 erschienen seine ersten 12 „Dorf- 
geschichten", die seinen Dichterruhm begründeten 
und in die weitesten Kreise der Gebildeten 
trugen. Es war ein gänzlich neuer Ton, den er in 
die Literatur hineinbrachte. Man kann sagen, dass 
Auerbach den Landmann für die deutsche Literatur 
entdeckte. Es ist erstaunlich, wie dieser Talmud- 
jünger, der Sohn eines jüdischen Chasan und Enkel 
eines £abbiners, tief in die Seele des schwarzwälder 
Bauern einzudringen vermochte, wie wunderbar er 
seine Leiden und Freuden, sein Sehnen und Hoflfen, 
seinen Glauben und sein Zweifeln begriflf, wie 
treflnich er es verstand, das rein Menschliche in 
ihm herauszufühlen und künstlerisch zu gestalten. 
Hierin war nicht allein der künstlerische Instinkt, 
sondern auch die grosse und echte Menschenliebe, 
von der Auerbach beseelt war, seine Führerin, die 
ihm das Innere dieser Kleinen und Geringen im 
Volke erschloss. Anatole Leroy-Beaulieu, unter 
den Franzosen einer der besten Kenner der deutschen 
Literatur, ruft in seinem Buche ,, Israel chez les 
nations^ neidvoll aus: „Dass unsere Bauern in 
Frankreich nicht ihren Auerbach gehabt haben! 
Ich glaube nicht, dass Deutschland viele deutschere 
und gesündere Schriftsteller besitzt". Der Dorf- 
geschichte blieb Anerbach zeitlebens treu. Ihr er- 
Mschender Erdgeruch durchduftet auch seine 
grossen Romane aus der „höheren" Gesellschaft, 
wie „Auf der Höhe", ,,Das Landhaus am Rhein" 
u. a., die zu den meistgelesenen belletristischen 
Schriften in Deutschland gehörten. Er wandte 
sich aber auch unmittelbar an das Volk in zahl- 
reichen meisterhaft geschriebenen Volkserzählungen, 
Kalendern, Abhandlungen, während er selber auf 
den Höhen des philosophischen Gedankens wandelte 
und eine Uebersetzung sämtlicher Werke Spinozas 
(1846) lieferte. 

In demselben Jahr war es ihm gegönnt, ein 
geliebtes Mädchen heimzuführen. Im November 
dieses Jahres schrieb er aus Breslau an Jakob 
Auerbach : „Ich liebe und werde geliebt. Ich war 
am vergangenen Abend spät hier angekommen, 
mein erster Ausgaug Samstags morgens war in den 
Tempel, wo ich kurz vor der Predigt ankam. Ich 
las mit einem fremden Manne gemeinsam den Ge- 
sang vor der Predigt, und das war die erste An- 
näherung zu dem Mann, der mir ein neues Leben 
wahrte, meine Auguste ist seine Tochter. Nach 
beendigtem Gottesdienste ging ich weg, und auf der 
Strasse sah ich ein Mädchen, wir sahen uns zwei- 
mal unwillkürlich nach einander um. Das war 
meine Auguste, die ebenfalls aus dem Gottesdienste 
kam". Es war ihm nur kurzes Eheglück be- 
schieden, denn seine geliebte Frau starb im April 
1848 nach der Geburt eines Sohnes. „Mir ist die 
Welt zerlallen", schreibt er an den Freund, offenbar 



mit einer Reminiszenz an ein schönes talmudisches 
Wort. Einige Jahre darauf heiratete Auerbach 
Nina Landesmann, die Schwester des bekannten 
Hieronymus Lorm. Auerbach kehrte häufig in der 
Erinnerung zu seiner ersten Frau zurück, be- 
suchte immer wieder ihr Grab und gab seinem 
nicht versiegenden Schmerz in den Briefen an den 
Freund erschütternden Ausdruck. 

In den nächsten Jahren finden wir ihn in Wien, 
dann in Dresden. Sein Ruhm stieg immer höher. 
Er verkehrte mit den erlesensten und bedeutendsten 
Menschen seiner Zeit. Lebhaft interessierte er sich 
fiir alle jüdischen Fragen, schloss sich den be- 
deutenden jüdischen (belehrten an, und mit so 
manchem von ihnen verband ihn innige Freundschaft, 
so mit Jakob Bemays, Abraham Geiger, Steinthal, 
Moritz Lazarus. Beim König Max von Bayern 
stand er in hoher Gunst, die er dazu benutzte, um 
dem Dichter Otto Ludwig eine Pension zu ver- 
schaffen. Dabei gedenkt er in einem Briefe 
an seinen Freund des — übrigens nicht richtig 
zitierten — talmudischen Wortes: „Wer für seinen 
Nächsten betet, der wird für sich auch er- 
hört", und fugt hinzu: „Mir fallen jetzt oft jüdische 
Sprüche ein, vidleicht hat es den psychologischen 
Grund, weil ich jetzt mehr als je in die Ver- 
gangenheit hinabsteige". Ueber eine Unterhaltung 
mit dem freisinnigen Hofjprediger Schwarz in Gotha- 
schreibt er: „Ueber das Verharren im Judentum 
sprach er sich brav und ganz in unserem Sinne 
aus, dass es Aufgabe sei, das rein Menschliche als 
solches zu zeigen, das an keine Konfessionsform 
gebunden ist". Das Sukkothfest 1860 verlebte er 
in seinem Geburtsort Nordstetten. „Ich war sehr 
vergnügt hier", schreibt er, „und als ich in der 
Synagoge war und nach vielen Jahren zum ersten 
Mal wieder birchath geschem mit den Melodien 
n'eines seligen Vaters hörte, da konnte ich mich 
des Weioens nicht enthalten". 

Bald darauf übersiedelte er nach Berlin. Sein 
Ruhm verschaffte ihm dort Zutritt zu den höchsten 
Kreisen. Der damalige Ministerpräsident Fürst von 
Hohenzollern und der Hof erwiesen ihm viel Freund- 
lichkeit. Königin Augusta ernannte ihn zu ihrem 
Vorleser. Das erregte natürlich vielfachen Neid, 
namentlich in Junkerkreisen. Die Kreuzzeitung 
nannte Auerbach einmal „den Hofjuden". Auerbach 
bekannte sich stets mit Nachdruck zum Judentum. 
Er nahm lebhaften Anteil am jüdischen öffentlichen 
Leben. 

Ueber das Pessachfest 1867 schreibt er: „Ich 
hatte Prof. Bemays versprochen, mit ihm den Seder 
zu halten. Wir gingen zu seii\er Cousine. Alles 
war nach strengem Ritus mit alten goldenen Bechern 
bereit, und Bernays, der nicht singen konnte, freute 
sich meines Auerbachschen Familienerbes. Nun aber 
brachten mir die alten Worte und Melodien ein Stück 
Jugend zurück. Ich sprach das Mah nischtanah . . . 
Bemays bemerkte, dass kein nachlebender und tätiger 
Volksstamm eine so weit hinausreichende geschicht- 
liche Tatsache hat . . . Tief ergriff mich die Be- 
merkung, dass wir Juden schon einmal in Spanien 



79 



B. Saphra: Berthold Auerbach. 



80 



ganzr frei waren und wieder zurückgeworfen wurden. 
Könnte das noch einöiai so sein in der Geschichte?" 
Aber nicht bloss an dem Schicksal der Juden 
seines Vaterlandes, sondern auch der in fremden 
Ländern nahm Auerbach regen Antail. Er jubelte, 
als im ungarischen Reichstage 1867 das Gesetz über 
die bürgerliche Gleichstellung der Juden ohne De- 
batte einstimmig angenommen wurde. „Das ist doch 
etwas, was wir nicht zu erleben glaubten, dass unser 
heisses und schweres Drängen so zum Einmaleins 
der Humanität geworden; wer will da sagen, man 
dürfe am Sieg des reinen Gedankens zu irgend einer 
Zeit verzweifeln?"* . . . Ein Jahrzehnt darauf sollte 
sich die bittere Enttäuschung bei ihm einstellen. 
Als im Jahre 1867 in Rumänien Judenverfol- 
gungen veranstaltet wurden, hatte Auerbach die Ab- 
sicht, zusammen mit Moses Montefiore nach Bukarest 
zu reisen. Der Plan kam jedoch nicht zur Ausführung. 
Als sich im Jahre 1868 die Gräuel erneuerten, ver- 
wendete sich Auerbach beim damaligen Fürsten, 
jetzigen König Karol von Rumänien, für die Be- 
drängten im Namen der Menschlichkeit und Gerech- 
tigkeit. Der Vater des Fürsten, der ehemalige 
preussische Ministerpräsident, ein Freund und Ver- 
ehrer Auerbachs, richtete darauf an diesen einen 
Brief, der nachher in der Neuen Freien Presse ab- 
gedruckt wurde und den wir weiter unten veröflFent- 
. liehen. Interessant ist, dass der Vater des von den 
Rumänen zu ihrem Fürsten erkorenen Hohenzollern sich 
auf die kurz zuvor in Böhmen stattgefundenen Juden- 
hetzen hinausredet und andeutet, dass, was für 
Oesterreich recht, flir Rumänien billig sein kann. 
Schlägst du deinen Juden, so schlage ich meinen 
Juden ! 

Mittlerweile hatte der Antisemitismus in Deutsch- 
land sich zu regen begonnen. Auf leisen Sohlen trat 
er zuerst auf, in ästhetisch -philosophischen Ge- 
wändern, im Menuett-Schritt, mit wichtigen, würde- 
vollen Gesten. Auerbach mit seinem feinen Emp- 
finden witterte, dass etwas Unbekanntes, Drohendes 
herannahte, und bange Ahnungen klingen oft aus 
seinen Briefen an den Freund. Eine der frühesten 
Aeusserungen des neuerwachenden Judenhasses noch 
vor dem Kriege war die berüchtigte Broschüre Richard 
Wagners „Das Judentum in der Musik." Mit grosser 
Bitterkeit äusserte sich Auerbach darüber. Er 
empfand Aerger und zugleich eine Art von Schaden- 
freude, weil Felix Mendelssohn „als Inkarnation der 
Judenmusik" von Wagner hingestellt wurde, der- 
selbe Mendelssohn, den Auerbach nicht leiden konnte, 
„ weil er einmal bei ihm eine entschiedene Abwendung 
von allem, was die Juden betrifft, fand.** Aber 
das und Aehnliches waren nur sanfte Präludien zu 
dem grossen Hallali, das mitte der siebziger Jahre 
gegen die Juden erscholl. Auerbach war erstaunt 
und entsetzt zugleich. „Rätselhaft ist mir der 
neuerwachte furor teutonicus gegen die Juden. Ich 
möchte die Grundquelle finden. Besteht sie vielleicht 
darin, dass das Selbstgefühl der Deutschen jetzt er- 
wacht ist? Aber der Judenhass war ja auch schon in 
den Zeiten der Unterdrückung und besonders in der 
Reaktion von 1812—1830. Wo steckt es also?^ An 



ihn persönlich, ebensowenig wie an andere geistig 
hochstehende Juden wagte sich der Hass noch nicht 
heran, aber er litt für andere. „Ich wollte heute 
arbeiten," schrieb er 1879, „da lese ich in der 
Zeitung, dass ein Prozess vor Gericht verhandelt 
wird i gegen die Juden, die ein Christenmädchen 
getötet und ihm für Ostern das Blut abgezapft 
haben sollen. Das steht so da, und nun soll ich 
eine Dichtung zu Papier bringen, um ein ethisches 
Motiv zum Aastrag zu bringen. Ich }^m so ausser 
mir und weiss doch nicht, wo hinaus. Ich habe 
eine in allen Zeitungen zu veröffentlichende Erklärung 
abgefasst. Ja, da gehe ich in Zorn, Erbitterung und 
Wehmut mutlos umher und es steigert das Entsetzliche 
noch, dass ich voraussehe, wie Hunderte und Tausende 
die Zeitungsnotiz beiseite legen ... Ich weiss, wie 
ich damals bei der Damaskuögeschichte wochenlang 
nicht schlafen konnte. Eine tiefe Lebensverachtung, 
eine Verzweiflung an aller Geistesarbeit und Zorn 
über den Mangel an Solidarität lässt mich kaum 
die Feder fuhren . . . Was haben wir von Jugend 
an gelitten von den Kindern derer, die Hexen und 
Ketzer verbrannten. . ." Es klmgt wie der Aufschrei 
eines tiefverwundeten Herzens Von ähnlichen 
Jammertönen ist es voll in seinen Briefen bis au 
sein Lebensende. Man kann sagen, dass der 
Antisemitismus Auerbachs letzte Jahre vergiftet 
und ihm schliesslich den Todesstoss versetzt hat. 
Wir spätgeborenen, die wir um so vieles abgehärteter 
sind als Auerbach und seine Generation, wir, deren 
Jugendtiäume nicht von den holden Schattenbildern 
einer seligen Völkerliebe umgaukelt waren, können 
die ganze Tiefe dieses Schmerzes nur nachempfinden. 
Er verfolgt mit überempfindlicher Reizbarkeit alle 
Aeusserungen gegen und für die Juden - Er ist zu 
Tode betrübt über die „Petition an Bismark gegen 
die Juden" (1880) und jauchzt himmelhoch als „die 
besten Männer, an ihrer Spitze Forckenbeck und 
Mommsen, die Infamie der Antisemiten brandmarken." 
Aber einige Tage darauf stöhnt er wieder: „Vergebens 
gelebt und gearbeitet! Das ist der zermalmende 
Eindruck der zweitägigen Judendebatte im Ab- 
geordnetenhause. Erbitterung über die entsetzliche 
Tatsache, dass solche Roheit, solche Verlogenheit 
und solcher Hass noch möglich sind." Und einige 
Monate darauf fühlte er sich wieder „wie neubelebt" 
infolge von Virchows und Richters Auftreten gegen 
die Judenhetze. Es liegt etwas unendlich Tragisches 
in dem Gedanken, dass dieser feinfühlige und leicht 
verletzbare Edelmensch im Grunde iür die wirklichen 
oder vermeintlichen Sünden anderer leidet. Das 
war eben der Fluch des Antisemitismus, dass 
er die Edelsten und Vornehmsten in ihrer 
tiefsten Seele traf und verwundete, während 
er die, die ihn angefacht, völlig ungeschoren Hess. 
„Was hörte man im Abgeordnetenhaus?" ruft 
Auerbach. ,.Die Börse und wieder die Börse. 
Sind denn wir anderen seit Moses Mendelssohn nicht 
auch da?" Und an den SchriAstellerkongress in 
Wien erwiderte er auf sein Begrüssungsschreibeu, 
seit dem Ausbruch des Antisemitismus begreife er die 
Sage von dem Manne, der in einer Nacht alt wurde. 



81 



B. Saphra: Berthold Auerbach. 



82 



Im März 1881 wurde er ins Schloss zur Kaiserin 
Augusta und deren Schwiegersohn, dem Grossherzog 
von Baden gebeten. Man sprach von dem blutigen 
Attentat auf den Kaiser Alexander von Russland. 
Auerbach bemerkte, die Art, ,wie die Judenhetze 
m Deutschland unablässig betrieben werde, sei 
auch ein Werfen von Dynamithomben. Die Kaiserin 
und der Grossherzog sprachen ihm Trost zu und 
äusserten die Meinung, der Antisemitismus sei 
eine vorübergehende Erscheinung. Einige Monate 
. darauf entrissen ihm die Greueltaten in Südruss- 
land folgenden Schmerzensruf: „Die Gemeinheit, 
die sich bei uns in Deutschland breit macht, zeigt 
sich in Russland gleich brutal als Raub und Mord. 
Und wenn ich daran denke, wieviel hundert Juden 
dort jetzt gemordet und geschlagen sind, so blutet 
mir das Herz, und es erscheint mir als eine Hart- 
herzigkeit, dass wir da draussen uns vergnügen, 
Kunstgenüsse und alles haben, und dort ist Jammer 

und Wehgeschrei Wie ein grausames Rätsel 

stellt sich die Erneuerung der gräulichen Gemeinheit 
dar . . . Der Verstand steht einem still, aber das 
Hei-z will nicht still stehen." 

Es war ein grosses, edles Herz, das zehn 
Monate darauf still stand für ewig, weit unten 
in Cannes, auf fremder Erde, 30 T^^e bevor 
Auerbach seinen 70. Geburtstag begehen konnte, 
auf den er sich wie ein Kind gefreut haben mochte. 
Wie ein Kind, — denn er hatte bei aller tiefen 
Lebenserfahrung, bei aller grossen und umfassenden 
Weisheit und scharfen durchdringenden Menschen- 
kenntnis sein gan7es Leben lang etwas Kindliches, 
naiv Herzliches und Schlichtes Er beurteilte alle 
die zahlreichen Menschen, mit denen er zusammen- 
traf, genau und treffend, kannte ihre Fehler und 
Schwächen, liebte sie aber, so wie sie waren, und 
empfand wie ein Kind das brennende Bedürfnis, 
von allen peliebt und bewundert zu werden. Daher 
seine Empfänglichkeit für Lob. Aber er war 
vollkommen frei von Hochmut, für den er „gar kein 
Talent hatte ^, und ebenso frei von Neid. Er war 
es, der Göttfried Keller nicht nur zum Schaffen an- 
regte, sondern ihn auch auf den Schild hob und ihm 
den Weg zur Anerkennung bahnte und, als sein 
eigner Stern schon im Erblassen war, ihm noch 
einen ermunternden Gruss zurief. All die Bitter- 
keit, die ihm in den letzten Lebensjahren beschieden 
war, galt nicht seiner Pei*son, sondern dem Stamm, 
dem er entsprossen, zu dem er sich allezeit laut 
und freudig bekannte. 



Ein Brief des FQrsten von Hohenzollernt Vaters des 
Königs Card von Rumänien» an Bertliold Auerbach» 
betreffend die Judenverfolgungen in Rumänien» i868. 



„Verehrter Freund! 

Schon längst würde ich Ihre 
Briefe beantwortet haben, wenn ich nicht 
zeit eingehende Recherchen gepflogen 
die sehr allarmierenden Gerüchte wegen 
in der Moldau usw. mir Gewissheit 
Diese Gewissheit liegt mir in vollem 



inhaltsschweren 
in der Zwischen- 
hätte, um über 
Judenverfolgung 

zu verschaffen. 
Masse jetzt vor. 



Älein Sohn ist tief verletzt über die Tatsache, dass ihm 
solche Willkür-Akte im entferntesten nur zugemutet 
werden könnten. Er und seine Regierung leugnen auf 
das bestimmteste, dass irgendwo ein so schändlicher 
Missbrauch gegen die Juden vorgewaltet habe, und sie 
führen die Entstehung und Verbreitung solcher ge- 
hässiger, aller Zivilisation Hohn sprechender Aus- 
streuungen auf ausserhalb Kumäniens liegende, sehr 
feindselige, mit perfider Absichtlichkeit gepflegte Intri- 
gen zurück. 

Da es nun aber doch in der Möglichkeit liegen 
könnte, dass terroristische Massregeln von untergeord- 
neten Organen platzgegrififen haben, so hat sich mein 
Sohn entschlossen, eventuelle Vorkommnisse an Ort 
und Stelle persönlich zu untersuchen und die vielleicht 
irgend einem Partei-Interesse dienstbaren Schuldigen 
mit rücksichtsloser Strenge behandeln zu lassen. Durch 
diesen Akt identifiziert er sich mit Anschauungen der 
Humanität und zeigt öffentlich, dass er die Niedertracht, 
wo er sie auch finden möge, entschieden zu bekämpfen 
und auszurotten bestrebt ist. Seine Geistes- und 
Herzensbildung sowie sein ganzer Erziehungslauf sind 
mir Bürge dafiir. 

An Rumänien darf überhaupt jetzt noch nicht der 
Mafsstab europäischer Kultur gelegt werden. Alle 
Bestandteile der dortigen Bevölkerung, inklusive Juden, 
befinden sich heute noch in einer Verfassung, die durch 
jene der Grenzländer natürlich bedingt ist. Es ist 
einerseits der dieses Land von etwas frischen sieben- 
bürgischen Elementen scheidende Karpathenwall — 
andererseits ist es der unvermeidliche Kontakt mit tief 
gesunkenen russischen und türkischen Zuständen, was 
einer nach unseren Begriffen kräftig moralischen Auf- 
raffung hindernd im Wege steht. Ein Menschenleben 
wird nicht ausreichen, die Besserung zu ermöglichen; 
aber es kann doch meinem Sohne beschieden bleiben, 
den Keimen einer hoffnungsvolleren Entwickelung nicht 
fremd geblieben zu sein. ... 

Es schneidet mir oft tief ins Herz hinein, wenn 
ich Beurteilungen, Ansichten und Aussprüche lese, die 
auf ganz falsche und gehässige Voraussetzungen sich 
gründen. 

Die unrichtigste aller Voraussetzungen gipfelt in 
der Annahme, dass meines Sohnes Regierungsergreifung 
in den Donau türstentümern im Zusammenhange mit der 
Waffnung Preussens gegen Oesterreich gestanden. 
Meines Sohnes Ankunft auf rumänischem Boden fand 
statt, nicht weil die Kriegseinleitungen gegen Oester- 
reich schon im vollen Zuge waren, sondern obgleich 
dieselben im Stadium des Beginnes skh befanden. Die 
so scharf und so oft hervorgehobene Inkognito-Reise 
durch Oesterreich lag in der Natur der Sache, und 
dass sie gelungen, beweist, dass sie mit Geschick voll- 
führt worden. Die Veranlassung derselben war nicht 
in Oesterreich zu suchen, sondern in Rumänien, da es 
galt, ein fait accompU zu schaffen. Hierbei ist ein 
jeder sich selb-jt der Nächste. Meines Sohnes politisches 
Glaubensbekenntnis ist durchaus nicht gegen Oester- 
reich gerichtet, von welchem allein — niemals aber 
von Russland und der Türkei — zivilisatorische Ein- 
flüsse zu erwarten sind. Will ihm aber der Drang 
der österreichischen Rumänen nach einer nationalen 
Stammeseinigung vorgeworfen werden, so beweist dies 
nichts anderes aU absichtliche Verkennung. Mein Sohn 
hat mit der inneren Ordnung und Kräftigung genug 
zu schaffen, — er wird sich gewi'«s leichtsinnigerweise 
keine auswärtige Komplikation auf den Hals laden. 

Dass die „Neue Freie Presse" überhaupt für das 
Bojarentum plädieren kann, iNt der auffallendste Wider- 
spruch in ihrer i)olitischen Haltung; dass sie aber an 



83 B, Sa?lira: Berthold Auerbach. • 84 

Preussen kein gutes Haar lässt, darin liegt ein von „Nachschrilt. A propoa „Nene freie Pi'ease" fällt 

mir verstandenes und nicht verurteiltes System. mir eben noch bei: Hat jemand im Winter 1866 der 

Das ist, verehrt«r Freund, eine recht lange Epistel österreichischen Regierang einen Vorwurf ans der sehr 

geworden — ein Attentat auf Ihre so koitbare Zeit, exzessiven, gewalttätigiin Judenverfolgung in BShmen 

Die schönste Rache, welche Sie nehmen kOnnten, wftre gemacht? niemand. — Wohl aber waren diese wilden 

die,, dass Sie mir einen doppelt so langen Brief schrieben. Exzesse ein Mafsstab für den Bildungsstandpunkt der 

Von Osttr- und FrUhlings-Empfindungen will ich tscbecbiscbeu BerClkernng. Es dauerte ziemlich lange, 

schweigen, nur so viel will ich sagen, dass es mich bis die Regierung dieser Ausschreitungen Herr wnrde. 

hinausdrängt, und zwar zunächst wegen meines lahmen — TJpd Böhmen ist doch ein anders politisch organi- 

Fusses in ein Bad. Trotz aller schwäbischen Preussen- siertes Land, als die Moldau ist. Nur Überalt gleiches 

fresserei zieht es mich nach Wildbad in den Schwarz- Mass und ich gebe mich znfrieden. 

wald. Nun Gott befohlen ! Berlin war unserem Wiedersehen nicht günstig; 

In aller Frenndsch*ft und innieer Hochachtung ^\ "'*'=>» eine reine Unmöglichkeit, aus der Tagesanf- 

. ^ TL . V El j ?abe ein Stückchen Zeit herauszuschneiden, das ich 

Btet5 Ihr treu ergebener Freuad Jt,„^„ ^ä^t^ „.ij„g„ ^^^^^^ ^^ Rhein geht es besser!!!" 

Düsseldorf, 19. April 1868. Hohenzollem." 



Bar-Mizwa-Unterricht. 



JL'EDISCHE HOCHZEIT IM MITTELALTER. 



JUEDISCHE KUEN5TLER IN PARIS. 

Von G. Kiitna. 



Uebernll in Paris stobst man auf Pracht und 
N'ot, auf Glanz des Rciclitums und Bitternis der 
Armut Ungescliieden ist beides neben einander, 
diirclizielit in Wecliscl und Wandel das scliäumeude, 
brandende l'ariser Leben. So ist es ancli in der 
KUnstlersciiaft, und so ists unter den judisclien 
Künstlern. In feingestiramte Atelienäume tritt man, 
in denen kilnstlerischer Sinn und perstioliclier Ge- 
sctimaek erlesen anmuten; und in BoUenlücher 
kommt man, wo nichts da ist von Schmuek und 
Wohnliclikeit, nur harrende Hoffnung. 

Viele solche gibt es. Man steigt liohe Treppen 
liinauf, windet sicii durch enge, dumpfe Korridore, 
tappt sich an den Tllren vorbei und gelangt in einen 
verlorenen, trüben Raum- Doit sitzt ein junger 
Mensch in der dürftigen Helle, schickt seine Träume 
hinaus in die Ferne und blickt durch enge Raum- 
Spalten über die Dilclier der Weltstadt, Und er 
malt oder mcisselt. 

Wie ist ea schün in diesen Dachstuben, wie 
ist es traurig dort. An den Wänden hängen Akt- 
zeicIiQungcn, ein niedriges IJett steht in der Ecke, 
am Fenster steht das Gestell, kahle Winkel inen 



in dem Raum, ein bleiches Jlenschengesicht wandelt 
darin. Das ist des Kunstschtllers unwirtliches Ob- 
dach. Tritt er hinaus und schaut den Glanz, die 
reiche Kultur, den bestrickondeu Geschmack, Kunst 
nnd Geist, GlOck und Wirrnis, schaut die grosse 
Welt Paris; dann weiten sich die Augen, es weitet 
sich die Seele und all ihi-e Sehnsucht, all ihre 
Schwingen. Vollgetränkt davon geht er in seine 
Dachstube hinauf, fiebert nach Schaffen und vei^isst 
die Enge. 

Fragend, wartend, ausschauend ist sein Dasein. 
Der Ehrgeiz glüht, Bangigkeit unl Zweifel um- 
schauern die Stirn, und seines Lebens Schicksal 
spinnt. 

l'nsagbar stille Stunden gibt es dort oben. 
Niemals in der Ferne vergisst man den Hauch, der 
dort gewellt, da ein solch junger M;nsch von seiner 
Heimat und Not gcspiochon, lois und dämnierstiil, ' 
All* einer Stadt im weiten Kussland war er ge- 
kommen, doit gab CS niclits von Kunst, nur ein 
Denkmal Kalharinas II. Zu d:esem zog es un 1 
lockte CS ihn; er zeichnete danach, immer aufs 
neue, und befragte es, was Kunst sei. Ein Anderer 



G. Kiiina: Jüdische Künstler in Paris. 



E. MOVSE. 



DAS AUSHEBEN DER THORA. 



erzählt, wie er die Juden malen wollte in seiner 
Heimat in Odessa, die Juden in ihrer besten und 
wahrsten CbarakteristUi, in der Andacht des Gebets. 
Doch da stürzen sich Eiferer auf ihn, er wolle den 
Glauben verraten und die Synagoge beflecken, und 
beschädigen ihm sein Bild. So lebten sie in der 
kunstfremden Welt und harrten in Sehnsucht nach 
Kunst. In Paris gibt es dann Kunst und Lehre 
in Pulle, doch keinen Bissen Brot. So versuchen 
sies mit allerlei, malen Bildchen fQr Kinemato- 
graphen, 15 Soos die Meterlänge, maclien Retouchen 
von Photographien filr 3 Fr. den Tag, malen billige 
Theaterdekorationen und derlei mehr. AVährend 
der Anfänger bange die ersten Schritte tut, muss 
er fabrikmässige Schnellarbeit liefern, um nur das 
Notwendigste zu verdienen. „Und trotz alledem, 
.Juden bleiben nicht akademisch; ich arbeite nicht 
nach den Lehrern, sondern wie ich fflhle," So 
endet die Erzählung von Not und Soi^e mit dem 
Ausdruck selbstgewissen Vertrauens, 

Langsam ringen sie sich durch, suchen eigene 
Wege zu gehen und mögen lieber stillos sein als 



schulmässig; bis sie eines Tages in der Oeffentlichkeit 
stehen und sich einen Kreis gewinnen. So gewann 
sich Aronson eiaea Namen, auf deA in dieser 
Zeitschrift mehrfach hingewiesen wurde. Eine 
eigene Note unter den Malern beginnt der aus 
Odessa stammende EliePavill zu bekunden, der 
trotz seiner Lehrer in der Acad^mie Julian eine 
angesprochene Begabung für impressionistische 
Malweise an den Tag legte. Er hat lebendig accen- 
tut^te Farbe ohne Buntheit, gltlckliche Baiun- 
wirkung, und gibt innerhalb der Impression die 
Gesamtwirkung, das „enveloppement" des Natur- 
bildos. Seine kecke Art, Lichter aufzusetzen, ist 
manchmal unvermittelt, aber von lebendiger Natur- 
wirkung; in wechselnder Bewegung der Fliehen ist 
der Raum im Kreise festgehalten und doch ins Weit« 
strebend. Das Bild ans dem Park Monceau 
bat tpielerische Reize in einen anziehenden Mittel- 
punkt zentralisiert, gute Lichtwirkungen inmitten 
einer heiter grOnenden Natur; „Grossvater und 
Enkelin" sprechende Büdhaftigkeit und natür- 
liches Leben; beim „Basti Uenplatz" gewinnt 
alles — ähnlich wie bei Jules Adler — einen um- 
fassenden Einheitszug, in dem Strasse, Menschen 
und Atmosphäre sich zu dem einen düsteren Phä- 
nomen verdichten. EUe Pavill hat die Förderung 
von Männern wie Wereschtschagin, Graf Tolstoi in 
Petersburg, Bemstamm in Paris gefunden, seine 
Bilder sind in die Galerien des Qrafen Stembock- 
Fermor in Petersburg, des Baron Günzhurg in Kiew, 
Charles Ephrussis in Paris u. a. gelangt. Wenn 
seine Begabung weitere Forderung findet, kann sich 
dieser jüdische Künstler auf dem Gebiete der Licht- 
malerei zu hervorragender Bedeutung entwickeln. 
Den jüdiachen Künstlern französischer Herkunft 
sind diese doppelten Nute derer aus dem Osten 
erspart. Sie leben ungeschieden in der französischen 
Kultur, betätigen sich frei und werden sogar bei 
kirchlichen Aufträgen herangezogen, wie seinerzeit 
H. L^vy bei den Fresken des Pantheon und E. 
Lövy bei denen der Trinite. Sie fühlen sich meist 
als Söhne ihres Geburtslandes, wollen nichts von 
einem „esprit juif" wissen, wie dies der sonst 
geschmackvolle H. Caro-Delvaille tnt, oder mOgen 
gar nicht an irgend eine Art Judentum erinnert 
werden. Doch auch die andem sind von franzö- 
sischem Geiste genährt und entwickeln die Vorzüge 
der französischen Kunst: liebenswürdige Auffassung, 
leichtflüssigen Vortrag, gelällige Charakteristik, 
vibrierenden Reiz, bestrickende Natürlichkeit. Nach 
dieser Richtung hin ist Jacques Weismann eine 
gut veranlagte junge Kraft. Seine Pastelle finden 



O. Kutna; Jüdische Künstler in Paris. 



mit ihrer noblen Nonclialance m d feinen Abtönung 
viel Beifall. Das Portrait C. M. Gariel's von 
der Acadämie de M^decine (Salon d'automne 1905) 
ist treffend, eindringlich und trotz des Momentanen 
der Charakteristik durchaus vesenhaft; das Damen- 
Portrait zeigt sehr fein die Mischung von frei- 
mütiger Gefallsucht, aparter Sinnlichkeit und leiser 
Sentimentalität, die dem franzOsiscbea Weibe den 
rätselhaften Frauenreiz verleiht. Französische Grazie 
mit zarter sinniger Seelenstimmung ist auch den 
plastischen Werken des jungen Parisers ßaphaei 
Charles Peyre eigen. Leise Düfte liegen auf 
diesen zarten, träumerisch seligen Gestalten, lieblich 
entfalten sich die knospenden Körper, von edlen 
Linien und schmiegsamen Flächen umrahmt. Ein 
feiner Schleier ist Ober ilires Lebens Freudigkeit 
gebreitet, und süss verhalten blüht ihr Dasein im 
Räume, wie Wiesenblumen, die das Mor^enlicht 
erwarten. Seine Gnippen „Zärtlichkeit" {Salon 
1906) und „Opfer an Venus" (Salon 1900) — 
von der Stadt Paris flir einen Offenl liehen Platz an- 
gekauft—sind von edler Poesie und eminent dekorativ. 
Bei der weiblichen Kflnstlerscbaft findet sich 
dieser graziöse Stil recht häufig vertreten. Die aus 
Odessa gebürtige Pastellmalerin Emilie Landau, 
die auch einer Damenscbule für Pastellmalerei vor- 
steht, sucht in weiblichen Portraits und in Dai- 



JACQUES WEISMANN 

Portrait des Herrn C. 



JACQUES WEISSMANN 

Portrait der Madame X. 



Stellung des Nacken die Wirkung des Charme zu 
erreichen. Mit liebenswürdiger Einfachheit ver- 
bunden, erscheint dies in den Portraits von Helena 
Darmesteter, der Witwe des Romanisten Arsene 
Darmesteter von der Sorbonne. Das Portrait der 
Prau des japanischen Botschafters in Peters- 
burg (Salon 1904), das ihrer Schwester, Miss 
Hartog, haben solche Qualitäten. 

Von den jüdischen Künstlern, die innerhalb 
der modernen französischen Kunst eine hervor- 
ragende Bedeutung haben, war bereits in besonderen 
Artikeln in dieser Zeitschrift die Rede, und wird 
im weiteren noch die Rede sein; in dem Zu- 
sammenhang einer allgemeinen Würdigung gebührt 
das Interesse neben den jungen Stiebenden den 
Veteranen der Kunst, deren Erfolge in der Ver- 
gangenheit liegen, ohne dass sie in der Gegenwart 
untätig geworden wären. Sie begannen in einer 
Zeit zu schaffen, in der das Publikum sich an das 
Gegeuständlielie im Kunstwerk hielt und Anekdo- 
tisches, Sittenbildliches, Genreszenen in anziehender 
Ausfhhrlichkcit sehen mochte. Solchem Geiste des 
Zeitalters liclien diese Künstler ihre Schaffenskraft. 



C. Kulna: Jüdische Künstler 



R. CH. PEYRE. 



ZAERTLICHKEIT. 



Anf dem Gebiet der siltenbilJlieticn Scliil- 
deruQg hat Jules Worms eine iciclie Lebens- 
tätigkeit liinter sicli. Seine Domäne ist Spanien, 
das Land der malerischen Trachten, des romantischen 
Volkslebens und strahlenden Sonnenlichts. Seine 
Werke muten wie Romanzen an, dem T.cben 
der Strasse, den stillen, trilumerischcn Ei;ken 
abgelauscht. Im Jalir 1862 machte er seine erste 
Reise dahin, dann zog es ilm immer Mieder in 
diese alten Stildte, die wie im Halbschlaf dahcgen, 
von ritterltclier Vergangenheit träumend. Und immer 
brachte er eine reiche Ernte nach Hans, gewann 
mit seinen Malwerken die Medaillen in Salon und 
wurde nach der Ausstellung 1876 Ehrenlcgionär. 
Die französische Kritik rühmte die Reinheit seiner 
Zeichnung, den einfachen, ungezwungenen KHVkt, 
die Harmonie der Bildeinheit und die tiefe „Sehn- 
sucht nach Wahrhaftigkeit," Wie er die anek- 
dotischen Einzelheiten zur Einheit verknüpft, wie 
er das Zufällige der Gesamtwirkung einordnet, zeigt 
innerhalb der erzülilerischen Malknnst eine gesunde 
sinnlich bihhieiischc Kraft und fiischen 1 luiijor. 



So ist etwa in der „Sensationellen Bekanntmachung" 
allerlei anekdotische Kleinmalerei eingestreut, und 
man hat doch ein ungestörtes bildhaftes Zentrum. 
' Da steht der Barbier mit seinem eingeseiften Kunden 
vor dem Laden, die schöne Wirtin blickt aus dem 
Fenster der lioteria, ein Pfaffe spi-iclit auf eine 
Dame ein, ein Schwarzer sinnt vor sich hin, ein 
Hündchen bellt und anderes mehr, und d''ch 
eint sich alles im Gesichtsfeld zn dem Ausrufer 
und der lauschenden Hörerschaf*,: man vernimmt ilie 
langgezogene Neuigkeit, sieht die neugierig angelockte 
Zuhörerschaft und ihre bewegten Silhouetten, vom 
Sonnenlicht umspielt. Dieselben QualitElten zeigen 
die homoristischen Szenen: „Vor. dem Richter", 
„Ballkönigin" und andere seiner Arbeiten. Jules 
Worms hat neben seinen Darstellungen aus Spanien 
auch mit seinen Illustrationen zu den „Contes de 
Voltaire" (Edition Lechevalier 1869) und mit seinen 
Zeichnungen für die Bibelausgabe Lahure's viel 
Beifall gefunden. 

Ein verwandtes Gebiet kultiviert Constant 
Mayer. Seine Malwerke sind von weicher lyrischer 
Sentimentalität, durch dichterische Stimmung und 
menschenfreundlichen Humor ansprechend. Diese 
Bilder in der Art der Düsseldorfer kamen dem 
Zeitgeschmack entgegen nnd bi-achten ihrem Schöpfer 
vollen Erfolg. Mayer gingim Jahr 1865 nacli Amerika, 
wurde dort eine BerUhmheit und ein wohlhabender 
Mann. Dies dankteer seinem Bilde: der Trost. Als 
er es malle — es war 12 : 10 Fuss gross — musste 
er es in seinem kleinen Zimmer einrollen, weil er 
über keinen entsprechenden Raum verfßgtö. Ais 
es ihn zum Tagesgespräch gemacht hatte und die 
Leute sich in den Stüdten dazu drängten, wurde er 
der bevorzugte Maler der amerikanischen Elite. Das 
Bild stellt einen Kranken dar, der den Trostworten 
der Krankenschwester lauscht; den verbundenen 
Kopf ans Kissen gelehnt, hört er, wie sie mit 
leiser Eindringlichkeit, die Hand bekräftigend er- 
hoben, die Worte der Bibel liest, während der Raum 
in einsamer Stille daliegt nnd draussen die Hohen 
den Himmel umsäumen. Bald nach seinem ersten 
Elfolg fand er auch in der Heimat Anerkennung: 
er wurde im Jahr 1869 fllr sein „Rencontre" 
Ritter der Ehrenlegion. Es stellte ein Zusammen- 
treffen zweier Brüder dar, die einander im amerika- 
nisehenKriegiroJahrel863alsGegnerentgegcntrateo. 
Heute lebt Constant Mayer in seinem schönen 
Atelier in Paris, arbeitel und ist wohlgemut, übt 
mit jugendlicher Elastizität und weltmännischei' 
Eleganz Gastfreundschaft und bekennt sich zur 
Lebensfreude mit dem Ausspruch : „ Die Ein- 



93 



O. Kuina: Jüdische Kfmstler in f^aris. 



samkett und die Dunkelheit sind meioe beiden 
Schrecken/' 

Anders Eduard Moyse, der Maler des religiös-. 
zeremonJalen Lebens der Juden. Still resigniert 
lebt er in seiner Zurttckgezogenheit und denkt alter 
Zeiten und äitten. Lauter Erinnerung weht durch 
sein Heim, wo alles lautlos, säuberlich, preziSs 
Bild und Stimmung der Vergangenheit wahrt. M{(be1, 
Bilder und alles Gerät altmodisci', fein gediegen, 
wie in einer jadischen Familie von ehedem; gelreu- 
liche Vergangenheit, unberührt in Entlegenheil. 
Uni er erzählt von jener Zeit, von seiner Zeit; 
wie er in seiner Vaterstadt Nancy die Zeremonien 
geübt, wie er täj^lich zweimal zur Synagc^e ge- 
gangen und wie die Juden damals geglaubt und 
gebetet haben. „Ich kenne das alles recht gut, ich 
bin auch der einzige, der diese Dinge malt (Älphons 
Lävy behandelt sie in der graphischen Kunst, s. 
„Ost und West" V. Jahrg. No. 5); hier in Paris 
gibt es ja nicht die richtigen Modelle; die Juden 
ans dem Osten sind nicht gut geeignet, sie sind 
nachlässig und armselig, aber das echte, natürliche, 
gUnbig-jOdische Wesen fehlt ilinen." Das gerade 
gibt den Darstellungen von Moyse das Weihe- 
volle, Erhebende, dass das Zeremonielle nicht als 
Formsache, nicht als äusserer Habitus nnd aufs 
Interessante, ÄussergewObnliche hin gestaltet ist, 
sondern dass alle religiöse FormQbung von religiösem 
GefUhl durchzittert ist, dass andächtige, trostvolle 
Regangen durch die Seele gehen und der Mensch 
darin sichtbar wird, innerlich, gesammelt, in frommer 
Demut. Immer sind die Äugen treu versonnen, 
die Gesten zart und zärtlich, und das Wesen in 
Gebet. Ein Mann hebt die Tliora aus der Lade, 
und zwei stehen neben ihm als Ehrengeleite des 
heiligen Buchs. Ernste Weihe liegt auf ihnen, in 
versenkter Innerlichkeit empfangen sie Glaubens- 
trost, und Gewissheit ist in ihrer Seele. So wenden 
sie sich zur Gemeinde, Vorbeter und Rabbi, und 
alle sind gegenwärtig in gläubiger Ämlacht Ein 
Mann hebt die Thora in die Höhe nach der Vor- 
lesung, und wieder ist in di-m engen Ausschnitt 
das halblaute Beten, die Anilaclitsstimmung der 
Gemeinde fühlbar. Die rQckschauende Empfindungs- 
weise des Künstlers lässt ihn weiti-r zurückgreifen 
in die Geschichte und die Judenheit schildern, als 
die Undnldsamkeit des Mittelalters ihr Zu.«ammen- 
leben noch abgeschlossener, enj^er, einheitlicher 
machte. In seiner „Jüdischen Hochzeit" (Salon 
1901) ist diese starke Gefüldseinheit der Versam- 
melten ausgedrückt. Das Brautpaar neigt sich er- 
gebenen Gemüts, und in der teilnehmenden Gemeinde 



R. CH. PEYRE. 



OPFER AN VENUS. 



wird alles Resonanz des Priestersegens aus dem 
Munde des Rabbi. Diese menschlich fromme Stim- 
mung haben auch die andrren Werke seiner Hand, 
bti denen es sich nicht direkt um ein Zeremonial 
handelt Eine „Talmuddiskussion" im Atelier 
des Künstlers zeigt einen Juden in vergeistigter 
Unterhaltung, in edler Typik ideal aufgefasste 
Wirklichkeit. Ein „Jude aus Jerusalem", für den 
nächsten Salon bestimmt, hat dekorative Qualität 
mit starker Betonung des Farbigen. Die Karben- 
gebung hat bei Moyse etwas höchst Simples, das 
Oi^ganisclie wirkt schwach, fast symbolisi'h nur, 
das RaumgerQhl ist matt. Aber das Gegenständliche 
ist rein nnd stimmungsvoll zum Vortrag gebracht 
und weckt auf dem Umwe^'e einer Teilnahme des 
Gemüts den Eindruck einwandsfreier Waiirhaftigkeit, 
Nicht so gut wirken seine Darstellungen ans dem 
Anwaltsleben; sie erscheinen zu sehr in neutraler 
Idealität, sind ins Allgemeine verschönt und haben 
etwas von jener frommen Meditation, die bei den 
religiösen Bildern ein solch schönes Zeugnis 
sind für die Seelenfrommheit dieses jüdischen 
Künstlers. 



DAS AUSERWAEHLTE VOLK. 

Von A. Wolff, London. 



Du glanbst gewiss, dass ich von den Joden 
reden will. Aber du irrst dich, mein Freund. Ich 
meine die — Engländer. Jawohl! Diese nur sind 
das anserwählte Volk. Freilich als „anserwählt" 
fühlt sich jedes Volk io jener Epoche seiner 
Entwickelung, da ung'ebrochene Jngeudkraft und 
Tatendrang ihm störmisch durch die Glieder 
brausen. Gleich wie der Ginzelwunsch in derselben 
Epoche seines Lebens sich so zu sagen als der 
Mittelpunkt der Welt fUblt and alles anf sich 
bezieht. Uud das ist sein gutes Recht. Die Aos- 
erwähltheit ist dann ja nur der theologische Aus- 
druck ffir das GefBhl der eignen Wichtigkeit, von 
dem jedes lebenskräftipe Individuum, solange es 
nicht euttäuscht ist, erfillU zu sein pflegt. Aber 
das Bewnsstsein der Anserwähltheit kann in einem 
Volke an^b in den Epochen des Niederganges 
entstehen, als trotzige Bejahung des Willens zum 
Leben den Schl^en des Schicksals gegenüber. 
So hat z. B. die romantische Poesie Polens in der 
ersten Hälfte des 1 9. Jahrhunderts die polnische 
Nation in einem gewissen Sinne als die auserwählte 
bezeichnet, indem sie ihr eine besondere, einzigartige, 
nur durch unsägliche Leiden za erfüllende Mission 
innerhalb des Völkerkreises zuschrieb. Aber auch 
manche kleine NatJönchen, so u. a die Rumänen, 
betrachten sich als auserwähit, wie man aus ihren 
Naiionalliedem ersehen kann. Männer wie Dostojewski 
und Tnlstoy betrachten die Küssen als das auser- 
wählte Volk. Wenn Chamberlain die Germanen als 



NKhdrack verboten. 

aiiserwähltes Volk proklamiert, hat das einen 
andern Sinn, nämlich den, dass dieser Titel 
ihnen das Recht gibt, alle anderen Völker, 
namentlich die Romanen nnd Semiten, „in die 
Berge zu verdrängen" und auszurotten. Keinem 
Volke aber wurde der Anspruch ant „Auserwähl theit" 
so furchtbar verübelt, wie den Juden, obgleich 
dieser Anspruch sich in alter Zeit eigentlich auf 
die jüdische Lehre bezog, die nach dem bekannten 
Prophetenworte das „Licht der Völker" werden 
sollte. In späteren Zeiten nahm dieses Epitheton 
einen tragischen, märtyreihaft - tragischen Bei- 
geschmack an nnd bildete einen unschuldigen Trost 
in Zeiten bitterster Not. Nirgends aber wie bei 
den Engländern hat sich das Gefühl der eignen 
Supeiiorität und .Auserwähltheit" zn einer förmlichen 
Theorie krystaüisiert, die ins einzelne durchgeführt 
und in allen Punkten begründet, znr Unterstützung 
nnd Rechtfertigung der praktischen Politik dient. 
Ja mehr noch, die Söhne Albions leiten ihr „Erst- 
gebnrtsrecht," ihren Anspruch anf den Titel des 
„auserwählten Voltes* von der Bibel her, indem sie 
sich als die Erben des Volkes Israel ausgeben. 
Es existiert über diesen Gegenstand in englischer 
Spracheeine ganzeLiteraturvon seltsamen und inihrer 
Art witzigen und spitzfindigen Interpretationen der 
Worte der Bibel, namentlich gewisser Propheten- 
stellen, von denen es sich verlohnt, einige hierher- 



ULES WORMS. 



Unter den heraldischen Emblemen im Wappen des 
vereinigten Königreiches 
Grossbritannien befindet 
sich auch ein Löwe und 
ein Einhorn. Das ist nun 
das vereinigte Wappen der 
Königreiche Jehuda und 
Ephraim (Israel). Ersteres 
vergleicht nämlich Hichah 
{V. 7) mit einem Jungen 
Leu unter den Tieren des 
Waldes;" von Ephraim 
aber sagt Denterominm 33, 
17, er sei ähnlich dem erst- 
geborenen Stier und habe 
ein Geweih wie ein Ein- 
horn. Braucht man da noch 
eines kräftigeren Beweises, 
dass die Bibel an nichts 
anderes, als an Gross- 
britannieii dachte? Doch 
BRKANNTMACHUNO. muss hier bemerkt werden, 



A. Wolff, London: Das auscncählte Volk. 



JULES WORMS. 



BErM EINKAUF. 



dass jenes Einhorn keineswegs so einwandfrei ist, wie 
der Löwe nnd der Stier, denn das Wort „Reem", das 
sieb in der Bibel findet, wird Terschiedentlich gedeutet. 
Wenn Jesajas an mebreren Stellen von den 
„Inseln des Ozeans" spricht, und Jereniias dem 
„Laude im Norden" eine grosse Zukunft vcrbelsst, 
konnten sie etwas anderes 
im Sinne haben als dos 
britische Inselreich, das 
im hohen Norden gelegen 
ist? „Der Ort ist mir 
zn enge, weiclie, damit 
ich mich ansiedeln kann" 
ruft England mit eiuem 
Zitat nach Jesajas {49, 20), 
der also vor dritthalb- 
tansend Jahren voraus- 
gesagt hat, dass von 
den „Inseln des Ozeans" 
ein Volk ausgehen, „das 
sich hber die ganze Erde 
verbreiten und sie in 
Besitz nehmen werde." 
Dass aber Jesajas sogar 
in Kolonisationspolitik, au 
eme Flotte ersten Ranges 
wie auch an aMkaoischo 
Gold- und Diamantenfelder jULts WORMS. 



dachte, geht ja unwiderleglich aus jener Stelle in 
in seinem Buche (60, 9) hervor, wo er ruft: „Mir 
werden die Bewohner der Inseln vertrauen und die 
Schiffe von Tharschisch werden an der Spitze ein- 
herachwimmen, ihre Söhne werden sie aus der Feme 
bringen und ihr Gold und Silber zugleich." Hier 
ist offenbar die Bede von einem Volke von Seeleuten 
nnd Kolonisatoren, das Handel treibt und eine 
Industrie besitzt, aber zugleich kriegerisch und 
erobemngslnstig ist. Natürlich kann kein anderes 
als das englische Volk gemeint sein. 

Und wer anders erfüllt so gewissenhaft des 
Jesajas Weissagung oder Wunsch (49. 8), „auf dass 
du das Land aufrichtest nnd verödete Erbtümer 
besiedelst?" Dartim kann sich auch einzig auf 
England die Prophezeiung des Ezechiel beziehen 
(37. 16) wonach die Tharschischfiotte berufen ist, 
dermaleinst „die Invasion des Barbarenstammes Gog 
vom heiligen Lande abzuwehren." Ein reiches Erbe 
von Prophezeiungen und Weissagungen bat den 
Eagländem unser Erzvater Jakob in dem Segen 
(Genesis 48—49) hinterlassen, den er den Söhneu 
allen und seinen Enkeln Ephraim und Manasse 
spendete: „Er lagert wie ein Löwe, wer wagt 
es, ihn zu wecken?" „Das Szepter entsinkt nicht den 
Händen Jehudas und ihm gebährt der Gehorsam der 
Völker." „Sein wird die Fülle der Nationen sein". 
AU das verkfkndet die unvergleichliche rasche Aus- 
breitung der anglosächsischen Basse, das Anwachsen 
ihrer Macht und Unabhängigkeit in der Welt. 

Als im Jahre 1878 eine Deputation kanadischer 



VOR DEM RICHTER 



A. Wclff. London : Das auserwahlte Volk. 



E. PAVILL. 



GROSSVATER UND ENKELIN. 



FranzosCQ bei dem Getieralgouvenieur Marquis ot 
Lome erschien nad von ihm gewisse Koiizessioneo 
zugunsten der fraozösiscbeD Nationalität forderte, 
erhielt sie von dem Vertreter der britischen Ge- 
walt folg:endes zur Antwort: „Wir Engländer 
herrschen über Franzosen in Kanada und auf 
Hanritins, über Spanier auf Trinidad und Gibraltar, 
über Italiener auf Malta, über Deutsche auf Helgo- 
land, über Holländer in Südafrika, über Chinesen 
in ihrem eigenen Vaterlande, über Araber in Asien, 
über Griechen auf Cypem, — ohne die zahllosen 
Millionen von Asiaten anderer Stämme zu erwähnen. 
Aber wo in der ganzen Welt pibt es den kleinsten 
Streifen Landes, wo englisch sprechende Menschen 
unter fremder Herrschaft lebt«n oder den Gesetzen 
eines fremden Gebieters gehorchten?" Also sprach 
Marquis of Lome. Wie heisst es nun im h. Buche 
Mosis (Ifj,6)y „Du wirst ßber viele Naiionen 
herrschen, keine aber wird dir gebieten". Eine 
andere Weissagung . in demselben Verse lautet: 
,.Du wirst vielen Nationen leihen, bei keiner aber 
wirst dn entleihen." Das könnte sich freilich auch 
auf Frankreich beziehen, das die halbe Welt zu 
Schuldnern hat. Aber weder England noch Frank- 
reich denkt daran, die mit diesem Segen verknQpfte 
Forderung zu erfüllen: „Jedes siebente Jahr sollst 
du einen Schuldenerlass einführen. . . . Erlassen 
muss jeder Gläubige das Geld, das er seinem 
Nächsten geborgt". Es ist nicht bekannt geworden. 



dass jemand in England 
an.die VoUstreckmig dieser 
Vorschrift gedacht hätte. 
„Dein Geschlecht wird 
die Pfort«n seiner Feinde 
besitzen", sprach Gott 
zu Abraham nach der 
Opferung Isaacs. Der 
erste beste jüdische Kom- 
mentator etwas älteren Da- 
tums wird gern klarmachen, 
dass dieses Wort besagen 
wolle: „Jeder Israelit, der 
seinen Willen dem Willen 
Gottes unterordnet, werde 
zum Lohn dafür die Herr- 
schaft über alle Eingänge 
erhalten, durch die der 
ewige Feind, der Jezer- 
hara , der Satan , der 
böse Geist, sich in die 
Seele der Menschen einzu- 
schleichen sucht, lun sie 
in seine Gewalt zu be- 
kommen. Nicht so der praktische Engländer; für 
ihn bedeuten die „feindlichen Pforten" . . . Kohlen- 
stationen, Inseln, befestigte Punkte, die er auf der 
ganzen Welt besitzt, in solcher X.age, dass sie die 
Eingänge zu ganzen Eeichen, Ozeanen, Weltteilen 
beherrschen, z. B. Gibraltar, Portsaid, Aden (Bftb 
el Maudeb), Weihaiwei- Kann da jemand Doch 
zweifeln, dass das britische Volk der Erbe aller 
dem Volke Israel verkündeten Weissagungen ist? . . , 
Noch eine Aehnlichkeit mit Israel weist Eng- 
land auf: Es feiert nämlich den Sabbath (das 
heisst natürlich den Sonntag) beinahe ebenso rigoros 
und ebenso solenn wie die Juden. Und dadurch 
zeichnet es sich vor allen anderen Völkern aus. 
Israel — das ist also Engl^d. 

Vor einigen Jahren veranstaltete der Moming 
Herald, eines der angesehendsten Londoner Tages- 
blätter eine öffentliche Diskussion über diese Frage. 
Eines der Mitglieder des hohen anglikanischen 
Klubs nahm das Wort zu folgenden Ausführungen: 
„Das von den Propheten angekündigte grosse und 
mächtige Reich muss in materiellem und nicht 
bloss in geistigem Sinne verstanden werden. Wenn 
aber nicht wir Engländer dieses Reich sind, wenn 
nicht wir es sind, die in der ganzen Welt unsere 
Kraft anspannen, um die Pläne der Vorsehung zu 
verwirklichen, wer ist es denn sonst? Alle Israel 
gegebenen Verheissungen von Allmacht, Reichtnm, 
Kolonisation, Grösse und Glück, (die, wie gesagt. 



101 



A. Wolff, London; Das auserwähltc Volk. 



im rein materiellen Sinne 
zn verstehen sinil, oiclit 
im spirituellen, wie es der 
Talmod und die späteren 
jüdischen Kommentatoren 
tun), haben sich an uns 
verwirklicht. Wir sind die 
Zeugen Gottes, welche die 
Weltbefeehren. Wirsenden 
Millionen nach allen Him- 
melsgegenden aas, wie das 
demVolkelsrael verheissen 
ward. Wenn wir nicht 
Israel wären, so hätten 
wir es nicht nötig, für diese 
Dinge za arbeiten. Was 
mich aohetrifiFt, so bin ich 
äberzengt, dass wir Is- 
rael sind, und in dieser 
ÜberzeavQQg gewährt es 
mir nnr eine grosse Gtenog- 
tnnng, dass wir von allen 
kontinentalen Mächten ge- e. pavill. 
hasst werden." . . Die eng- 
lische Nation nimmt für sich auch eine andere Ver- 
heissung in Anspruch, die da lautet: (Oen.18.18) «Und 
Abraham wird sich in ein grosses mid mächtiges 
Volk veizweijren, und alle Nationen der Erde werden 
sich mit ihm segnen." Doch darf man diese Identität 
zwischen England and Israel nicht nur bildlich, 
sondern physiologisch im eigentlichen Sinne ver- 
stehen. Die anglosächsische Rasse soll nämlich 
(Cbamberlain, verhülle dein Haupt!) die eigeut- 
liche hebräische Kasse darstellen. Erst im Jahre 
1892 erschien in Philadelphia bei Spangler ein Buch 



IM PARK MONCEAU. 

unter dem Titel: „Anglo-Israet and the jewish 
Problem. The ten lost tribes of Israel found and 
identified in the Anglo-Saxon Bace.* by Tb. 
Bosling Hewlett B. A. (Anglo - Israel und das 
jüdische Problem. Die zehn Stämme Israels 
gefunden und mit der angelsächsischen .Rasse 
identifiziert). Das ist nicht neu. In England 
existiert seit Jahren eine British Israel Associaton, 
die vermittelst der von ihr herausgegebenen 
Zeitschriften The Banner of Israel und The Cove- 
nant People, wie auch des Handbuchs British 
Israel Tmk, das in 
15 000 Exemplaren ver- 
breitet wird — die An- 
sicht propagiert, dass die 
verlorenen 10 Stämme 
Israels die E^^änder 
sind. Jene 10 Stämme 
sind bekanntlich unanf- 
üodbar vom Erdboden ver- 
schwunden. Wo sind sie 
hin-' Die Bibel erzählt, 
sie wären hinler den 
Euphrat vertrieben wor- 
den. Aber warum sollten 
sie nicht von dort nach 
Britannien gelangt sein 
können? 

AUF DER PLACE DE LA BASTILLE. 



JETTCHEN OEBERT.') 

Von Ben-Uri. 



Nicb druck v 



Tagelang schwebt einem ibr Bild vor, man geht 
umher und denkt an dies Menschenkind, das so schön 
ist wie ein Maieutag, frisch und licht und hold ver* 
sonnen. Man sieht die „samtig glänzenden" Augen, 
die verschwiegen umherirren im stummen Leid, den 
herrlichen Leib und die blattke Seele, Ober die sich das 
Frösteln legt, das starre Frösteb. 

Armes Jetteben. So sagt man vor sich hin, wenn 
man strassenwärts gebt durch die vielköpfige Menge; 
so spricht man vor sich, wenn man im Kreise von 
Menschen sitzt, und dann siunen die FVauen und sagen : 
das arme Jettchen! 

Voller Leibbartigkeit sehen wir die Gestalt, wahr, 
greifbar und sinntäUig, nnverrllckbar in der Reaiitfit; 
und doch von Traum und Hauch umgeben, von Schleiern 
nmhQllt, wundersam und ganz Erstaunlicfakeit, wie 
Menscbenseelen, Afenscbenwesen sihd. So sehen wir 
Jettchen und ihren Kreis in Georg Hermanns 
herrlichem Roman. 

So sehen wir sie, ausgestaltet in der Wirklicbkeit, 
traumgeboren im Dichterland; sehen sie bangend und 
tiefbeglUckt, staunenden Auges und zitternden Herzene. 

Und man wird ein besserer Mensch dabei. Ich 
war innerlich arm, sah oberflSchlich ins Leben and 
ging an Menachen und Schicksalen gleichmlitig vorbei. 



Da las ich „Jettchen Gebort", und ich fand meine 
Ehrfurcht wieder; und man kann nicht anders denn 
glauben, so mOsse es allen geben. Dies aber ist ein 
nntrOglich Zeichen, dass man ein Kunstwerk erlebt hat. 

Es ist schwer, etwas darüber zu sagen, was man 
eine Kritik, ein fachmännisches Diteil nennen könnte. 
Man ist so voll Dankbarkeit, und wenn man dank- 
bar ist, wird man leicht trivial, und das darf bei diesem 
Buch nicht geschehen; dena es ist Leben. Das blufat 
und träumt, wächst und spinnt und fängt Farben in 
der Sonne, wie das Leben selbst. Man sieht den Tag 
und die Dämmerung, in Raum und Saum regt sichs, 
Hintergründe steigen bildhatt herauf und wetten sich 
tief und fern; laut und leis rUhren Menschen an ein* 
ander, Menschenlose wandeln sich, Kobolde kichern, 
und Jettchens samtene Augen blicken in unsäglicher 
Traner daraus. 

Alles ist Weben darin, lebendiges Keimen, Reifen 
ond Welken; das Naturdasein gewinnt Sprache, wird 
des Sinnes voll und unserem Wesen verbrfldert, und 
bleibt doch wahrhafte Natnr, warzelhaft vegetativ. In 
jeder Zeile ist das starke KnnstgefUhl zu spüren, das 
Hermanns Kunstkritiken so nach gestaltend lebensvoll 
machen, und zugleich der Xaturatem, die eiadringllche 
sachliche Sinnlichkeit, die aller Kunst anschauung letzter 
(juell ist. Innerlichkeit und Erdenfülie. 

Wir werden in die Natur hinausgeführt^ ein 
KrQhling und ein Sommer lacht und ranscht und bangt 
um uns her, wir ^ehen das Sprossen und Wachsen und 
den Wandet des Lichts, gehen verhaltenen Atems mit, 
gehen der Jahreswende zu in der Natnr nnd Jettchens 
Dasein. 

Es Hesse sich ja die Anmerkung machen, die Ver- 
äinnlichung der Vorstellungen sei zuweilen zu stark, 
die Materialisation der Din^e zu üppig, und die reine 
Stofflichkeit sei mitunter zu lose Aber die Erlebnisse 
gespannt Aber dazu muss man sich kritisch gegen- 
übergestellt haben, sonst wird man es nicht gewahr, 
E^ ist ja Fülle der Sinnenwelt und quellendes Leben, 
da gibt efl eben Ranken und Reiser, die weit hinaus- 
spriessen nnd alle Ecken überfluten. Und das ist von 
soviel Humor und Helligkeit duicüleuchtet, dass es uns 
wegsam genug ist: und zieht un.s an und lockt uns 
weiter. 

Wir werden hineingezoL'pn in Handlung und Zu- 
Ntändlichkeit, hangen und bansen dai-in, als forme und 
bilde das Buch un.s selber und gebe uns Gepräge und 
letzte Bestimmung. Ein Lauschen en-teht in uns. und 
wir wähnen uns zu schauen, lauschend wir und ofTen- 
bai-ond das Lehen. Die bildnerische Kraft «-streckt 



roNSTANT MAN'Ei;, 



I .I.-(lcl.on Cobcrt. 
1, Kti'Ti Flpisrhol Ä 



Korn 



Ben-Uri ; Jettchen Qebert 



CONSTANT MAVER. FEDERZEICHNUNG. 

Froh Im Sinn. 



prieater Aroo in den Mund legt. I>arch die Abwesenheit 
einer Tendenz sowohl wie gedanklicher Kleinmalerei be- 
kommt aber die Schilderung etwas Aufrechtes, Sieghaftes, 
VoUgttttiges. Die -Tuden sind da Menschen, sie gebärden 
sich niuht scheu und vergrämt, nicht seltsam und frem d 
artig,sondern ^adeans und anbeirrtmenachlich. Sie reden 
nicht viel von ihrem Judentum und äben nicht viel 
davon, aber es ist ihnen ein Erbe, das sie makellos 
erhalten wollen, und Onkel Jason, der geistreiche 
Skeptiker, äussert zu seinem christlichen Freunde, 
Jettuhens Liebsten: „Uosere Familie hat den Stolz, dass 
wir eben als Juden hier angesehen und geachtet sind. 
Wenn mein Yat«r sich und uns hätte taufen lassen 
wollen, wie ihm Sfter als einmal nahegelegt worden ist, 
wir hiessen vielleicht hente von Oebert und wären 
Offiziere und Räte bei der Regierung. Und dass wir 
das Dicht getan haben und nicht zn Kreuze gekrochen 
sind und in keiner Weise unsere Gesinnung verkauft 
haben — nicht so und nicht so — das ist nnser Stolz." 
Das ist gewiss kein bi^sonderes Verdienst, ce ist 
nicht anders denkbar für den, der Charakter hat. 
Aber die Gebert£ haben diesen Cliarakter; sonst sind 
sie freidenkerisch, aufrecht, selbstbewusst und haben die 
Bäuberliche Behaglichkeit des vonnUrzlichen BUrgertums 
und eine selbstfreudige Noblesse, Die hat .Tettchen vor 



sich auf uns mit; wir werden bildsam und fUblen, 
wie ein formendes Werden durch unsere Seele zieht. 

Ein Menschenkind geht an uns vorfiber, schön 
erwachsen in gleichroässigem Lichte des Tages, voll 
frischer Reife und geborgener, ruhiger Tiefe. Das ist 
.lettchen. Und andere sind da nm sie, ganz menschlich 
wie wir selbst. Die leben und sinnen, lieben sie und ver- 
wunden ihre Seele, schmücken sie mit Kostbarkeiten 
und werden ihr Schicksal. Dass sie Juden sind, gibt nur 
dem Relief eigenartige Profilierung und Beleuchtong; 
in mätiger Transparenz schimmert es durch und zeigt 
das Menschliche von eigentümlichem Ornament umgeben, 
schnörkelhaft zuweilen, aber immer überzeugend und 
regsamen Lebens voll. 

Man könnte bedauern, dass des Dichters Verhältnis 
zu seinem jildis(;hen Milieu nicht inniger, persünlicher 
ist, dass es mehr ein iisthe tisch es als ein herzliches ist. 
Man könnte wünschen, dass die künstlerische Wahrheit 
weniger die pei-sönlichen GemUisvvallungen ausgeschieden 
hätte, dass aus der objektiven Lebensfülle mehr per- 
sönliches Liebesbekeuntnis heraus 7.u fühlen ^väre. Damit 
aber -hätle die Dichtung mehr nnmittelbare Innigkeit 
des Tones wohl, aber sie wäre nicht so schön und reif 
als Kunstwerk. Dass der Dichter die Behandlung 
reUgiös -geistiger Dinge vermeidet, scheint seinen Grund 
in der Unkenntnis dieser Seite des Judentums zu hüben, 

was man auch daraus schliessen kann, dass er einen Aus- CONSTANT MAYF.R. 
sprach Moses in völlig verunstalteter Form dem Hohen- Di 



Ben Uli: jettchen Gebert. 



loe 



allen, sie Uiiie)t 
noch am melst«n 
dem alt«ii Gebert, 
dem Hofjuwelier, 
der „stocksteif 
nnd stolz in sein 

Schlatzimmer 
(ring und voran 
der Diener mit 
einem dick en Band 
des Athenäums io 
der eifien und 
einem silbernen 
Leuchter mit einer 
hohen Kerze in 

der anderen 
Hand — ". Dem 
ist Jettchen am 
ähnlichsten, sie 
hat „dieselbe Sin- 
neafeinheit und 
dieselbe Leben s- 
stärke." 

Und doch kommt 

das Unglück Über 

.Tettchen. Die 

vjippe ist stSrker. 

Die Jacobys ans 

' Bentächen haben 

sich in die Fa- 

Helena Arsfene Darmesteter mil'e eingenistet 

(Seibsiportraii) Und nagen still 



und schleichen und saugen latA Sippenart. Onkel 
Saloroon, Jettdiens Kährvater, hat die Sinnesfeinheit 
verloren, Onkel Jason hat keine Lebensstärke, nnd 
Onkel Eli, das prächtige, knorrige Männchen, ist uralt. 
Da Jettchen den Dr. Küssling liebt, den 8chacht«men, 
linkischen, .mittellosen Dichter, den blonden Christen 
und Träumer, da lassen die Frauen den Nefien JulJna 
kommen und spinnen ihre Netze. Die Geberts werden 
überredet und umgarnt, werden willfährig oder machte 
los. Jettchen wird durch mild und kosend knechtende 
Familien Zärtlichkeit mürbe gemacht and kann nicht 
mehr nein sagen. So wird sie die Braut des kleinen, 
dickleibigen Julius Jacoby aus Bentschen, gebt betinbt 
nmher und schweigt Wenn er sie mit seinen dicken 
kurzen Fingern berührt, durchzuckt es sie eisig, des 
Nachts kommen rote Spinnen und umfangen mit langen 
Fäden ihren Leib, Onkel Salomon sieht sie in stummer 
Reue fragend an, sie kUsst ihren Liebsten vor dem 
Hochzeltstag in wildem Weh und schweigt und schweigt. 
Sie sagt sich, man esse nirgends umsonst zwaneigJahre 
fremdes Brot, nun mllsse sie die Rechnung bezahlen, 
wie es in ihres Onkels Hanse Sitte. Sie wird Julius 
Jacjbys Weib; der kUsst sie und sagt ihr, „dass er so 
glücklich wäre, und zum Geschäft hätt« er auch Zu- 
trauen"; dann sitzt sie im Brantschmuck als reiche 
Biaut, hört lustige Reden schwirren und fühlt Julius 
Jacobys kurzfingerige Hand. Da geht sie heimlich, des 
Geliebten Bild im Herzen, die Treppe hinab, in die 

kalte Finsternis hinaus 

Das ist Jettchen Geberts Geschiebte, auf die nach 
einer Andeutung im SiAtasawort die Geschichte von 
Jetteben Jacoby folgen soll. 



DER POGROM. 

Von Maria Konopnicka. — Aus dem Polnischen. 



Im Gässchen herrschte seit gestern eine gewisse 
Unruhe, Der alte*Mendel wundert sich, stopfe öfter 
als gewöhnlich sein kurzes Pfeifchen und guckt durchs 
Fenster. All diese Leute hatte er hier noch nicht 
gesehen Wohin gehen sie? Wozu halten sie Arbeiter 
auf, die zu dem Bauplatz eilen, wo das Fundament 
unter das neue Haus gegraben wiid ? Woher 
kommen alle diese in Lumpen gekleideten Ga.ssen- 
jungen? Wozu sjiähen sie in den Torgängen herum? 
Woher haben sie das Geld, um zu Fünfen in die 
Schänke zu gehen? 

Der alte Mendel schüttelt das Haupt, indem er 
an dem staik gekrümmten Weichsel tschibuk saugt. Kr 
kennt es so gut, dieses stille Gässchen, seine 
Physioi^nomie, seine Stimmen, seine Pulsschlage. 

Und wie sollte Mendel Gdnnski es nicht kennen, 
da er sit^benundzwanzig Jahre in der nämlichen 
Stube, hinler dem nämlkhen Fenster seine Buchbinder- 
werkstätte b.it; Über ein Vierteljahrhundert steht er 
in seiner l,eders<rfiUrze da, jeden Tag, und während 



NKbdruck veibolea. 

seine nervige, trockene, jetzt schon etwas zitternde 
Hand die Holzschraube der Presse lenkt, blicken 
seine Augen unter den grauen, überhängenden, dichten 
Brauen in diese Gasse, die in der grossen Stadt 
gleichsam eine besondere, in sich abgeschlossene 
Welt bildet. 

Men<lel weiss alles, alles was man mit scharfem 
Auge rechts und links wahrnehmen, was das Ohr 
rechts und links erhorchen, was man in langen 
Stunden mit dem Verstand ausdenken kann, während 
das Hämmerchen sich auf dem Brett hören lässt, und 
die Papierbogen, sich in saubere Bände fügend, 
rascheln. 

Und ihn kennen alle hier. Ein Fremder lässt 
sich nur selten blicken; man ist hier untereinander 
wie Genossen desselben Hauses. 

Der alte kahlköp6ge Uhrmacher von gegenüber 
ruft ihm jeden Morgen im Sommer einen Gruss zu 
und beginnt ein Gespräch über Bismarck; der 
schwindsüchtige Seildreher befestigt an seiner Tür- 



Maria Konopnicka; Da* Progrom. 



klinke die lange Hanfsträhne, die er 
dem halb dunklen Hausfiur dreht. Jeden Abend, 
wenn's dunkelt, zeigt sich der dUrre Student von 
drüben, steckt den Kopf mit dem langen Halse durch 
die halbgeöffnete TUr und borgt sich die Talgkerze 
aus, die er gleich zurückzubringen verspricht, da er 
nur ein StQndcben schreiben will. Die Hökerin reicht 
ihm durchs Fenster zuweilen einen schwarzen Reitich, 
den sie für einige bunte Papierschnitzel eintauscht, 
woraus sich ihre Buben die Drachen fertigen, mit denen 
sie die ganze Gasse unsicher machen. Das Söhnchen des 
Hauswirts sitzt in seiner Werkstatie ganze Stunden 
und wartet, bis Mendel seine Papiersoldaten auf Pappe 
klebt, und bewundert unterdessen den grossen Griff 
der Scheere, wiegt den Hammer in seiner Hand und 
steckt die Nase in die KleisteitöpTe hinein. Alles dies 
zusammen bildet eine gewisse warme, traute 
Atmosphähre herzlichen, gegenseitigen Wohlwollens. 
Und dA alte Mendel fühlt sie auf seinem typischen, 
in Arbeit und Sorgert verwelkten Antlitz. 

Sein Haar ist stark ergraut und der lange Bart 
ist milchweiss. Bisweilen verkriecht sich zwar die 
eingefallene Brust unter dem abgetragenen Kafian, und 
der gekrümmte Rücken will sich fast niemals gerade 
richten; aber das sind Kleinigkeiten, solange nur 
Beine und Augen dienen und die Kräfte der Hand 
nicht versagen. Wenn das Asihma ihm den Atem 
raubt und in dem gebeugten Rücken die Knochen 
schmerten, dann stopft sich der alte Mendel sein 
Ffeichen mit Tabak voll, und indem er raucht, ruht 
«r ein wenig aus. Sein Tabak ist nicht besonders 
fein, aber er gibt einen so schönen grauen Rauch. 
Dieser Rauch hat noch die ganz besondere Eigen- 
schaft, dass Mendel in ihm verschiedene endegene 
Dinge sieht, und auch solche, die längst vergangen sind. 

In diesem Ranch sieht Mendel Resa, seine Frau, 
an deren Seite er dreissig glückliche Jahre verlebt, 
und seine Söhne, die sieb, um Biot zu suchen, in 
die Welt verstreut haben, gleich Blättern, die der 
Wind einhetjagt, und die Kinder dieser Söhne — 
und allerlei Kummer, Fi enden und Sorgen. Am 
längsten aber schwebt vor seinem geistigen Auge 
die Gestalt der jüngsten Tochter l.eah, die so ftüh 
aus dem Leben scheiden musste und von der ihm nur 
ein einziger Knabe zurückbüeb. Sobald der alte 
Mendel sein Pfeifchen entzündet, kommt ein leises 
Mutmein von seinen Lippen. Und in dem Masse, 
als die Rancbknäuel dichter werden und vor ihm 
Bilder auftauchen, die niemals mehr Wirklichkeit 
werden, wird dieses Murmeln immer stärker, bis es 
sich zu einem wehmütigen Seufzen erhebt. Auch diese 
Menschenseele hat ihre Trauer und ihr Sehnen, die 
sie durch Arbeit zum Schweigen bringt. 

Unterdessen kommt die Nachbarin und brmgt 
in der einen Hand ein Töpfchen Brühe, in dem 
aufgeweichte Stückchen vertrockneten Weissbrodes 
schwimmen, in der anderen einen zugedeckten Teller 
mit Fleiith und Gemüse. Der ahe Mendel nimmt 
die Gegenstände in die Hand; aber er macht sieb 
nicht sogleich an das Essen, sondern wartet. Er 
wartet nicht lange. So bald die zweite Stunde schlägt. 



öffnet sich 
dte Tür mit 
grossem Ge- 
räusch, und 

herein 
' stürmt ein 

kleiner 
Gymnasiast 

in grauer, 
auf die Zu- 
kunft be- 
rechneter 
Schüler, 
uniform, die 
Mütze aufs 
Hinterhaupt 

geschoben, 

mit einem 

Tornister 
auf den 

Scbultcin. 

Ein etwa . 
zehnjähriger 
Knabe, der 

von der 
Mutter, der 

jüngsten 

Tochter 

Mendels, die 

braunen 

Augen mit 

dem 

goldigen 

Schimmer 

geerbt hat 

und die 

langen, 

schwarzen 

Wimpem 

und den 
kleinen Mund, vom Grossvater aber die Adlernase und 
die hohe Stirn, Klein und schmächtig, erscheint der 
Knabe noch kleiner und noch schmächtiger, wenn er 
den Mantel ablegt und in der ScbU'erbluse mit dem 
breiten Ledergürtel bleibt. Der Grossvater lebt in 
steter Angst um. ihn. Die durchsichtige Hautfarbe 
des Knaben, sein fortwährender Husten, seine 
schmächtige Brust und die schmalen Schultern er- 
wecken im Alten unaufhörliche Sorge. Deshalb legt 
er ihm die besten Bissen auf den Teller, und wenn 
er gegessen hat, klopft er ihm auf den Arm und 
eifert /.um Spiel mit den Kindern auf dem engen 
Hof an. 

Aber der Knabe lässt sich nur selten dazu be- 
reden. Die Lektionen quälen ihn, die schwere Uniform, 
das Sitzen in aer Schule, der weite Weg, der Tornister 
erschöpfen seine zarten Kräfte Auf morgen hat er 
eine Menge Aufgaben. Im Gehen schleppt er die 
Füs^ nach, und selbst wenn er lacht, blicken seine 
braunen Augen schwermütig drein. 

[Sd.liiss fülKt-) 



HELENA ARSENE DARMESTETER PARIS 
Frau des Gesandten Motono. 



DER CHASSIDISCHE OSSIAN. 

Von L Kellner. 



NaFhdnicIi vcibolen. 



Wie anders Kolt man das llnfassbare fassen, wenn 
nicht niittela des Verwandten und Aehnlichen, wie anders 
soll man das Un darstellbare darstellen, wenn nicht dnrch 
Gleichnis und Ebenbild? Kin seltsames, ganz eiirenartiges 
Bach liegt vor mir: „Die Üeschichte des Rabbi Nach- 
mann. Ihm nacherzählt von Martin Buber" (Literarische 
Anstalt KQtten and Loening, Frankfurt a. M. IQOQ). 
Die zarten Flämmchen, die ans dem siebenzinkigen 
Leucht«r aaf dem Titelblatte ecnporstreben, schmelzen 
sachte die Eiskruste vom Herzen des Betrachters weg, 
und man ist im tiefsten Innern erschüttert. Und wie 
ich mich in die Worte des geheirania vollen Buches ver- 
tiefe, fliessen die Buchstaben in einander, und das 
-schimmernde Auge sieht die eigene, längst verschiedene 
■tagend vorsieh, nicht alsschrecliendes Gespenst, sondern 
als verklärte, als eine hiromiische Vision. Die seelenvolle 
Sprache klingt mir so verti-aut, und doch habe ich sie 
nie in diesem Wohllaut vernommen; die Gestalten 
kamen mir so bekannt vor, und doch habe ich sie nie 
in solchem Glänze gesehen! 

„Es gibt Menschen, die die Worte des Gebetes zn 
sprechen vermögen in Wahrheit, also dass die Worte 
leuchten wie ein Edelstein, der aas sich selbst lenchtet. 
Und es gibt Menschen, deren Worte nur wie ein Fenster 
sind, das kein Licht aus sich selbst hat, das dem Licht 
nur Eingang gibt und aas ihm erstrahlt." — 

„Man kann Gott mit dem bösen Triebe dienen, 
wenn man sPin Enth'ennpn und swne begehrende 



HKI.fiNA ARSFNK DARMESTFrER 
Trotzköpfchen. 



Glut zu Gott 
lenkt. Und 
ohne bösen 
Trieb ist kein 
vollkomme- 
ner Dienst.'' 
„Es gibt 
Steine wie 
Seelen, die 
sind hinge- 
worfen auf 
den Strassen. 
Aber wenn 

einst die 
neneuHäuser 
gebaut wer- 
den, dann 
fügt man 
ihnen die hei- 
ligen Steine 

Diese tief- 
sinnigen Aus- 
sprüche habe 
ich in jungen 
.Tahren von 

meiner 
chassidisshen HELENA ARSENE DARMESTETER PARIS. 
Umgebung 
gehört und im Spiegel, 

doch nicht 
gehört; denn 

was ich damals aus dem Munde meiner frommen Ver- 
wandten vernahm, klang wie faselndes Nachsprechen 
von BHeberpbantasien, hier aber werde ich an llöhme, 
Swedenborg, Blake, Novalis, Emerson erinnert. 

Und vollends die Emählungen! Wie roh, wie plump 
waren die Wunder, die man uns im Namen des Baalschem 
auftischte: Alles lief aaf unendlich 'win/.ige Kniffe, 
auf gemeine Taschenspielerkünsle hinaus. Und hier! 
Rin neuer Märchenhort tut sich vor uns auf, nicht für 
Kinder an Jahren, sondern für Männer, dia im Alt«r 
nocb nicht die Sehnsucht nach der Traumwelt der ersten 
Lebensjahre verloren haben, ein Mürchenhort von einer 
Herrlichkeit, einer seelischen Schönheit, neben der alle 
Pracht dei' indischen, persischen und arabischen Phantasie 
wie der Moi'genste.rn vor der Sonne vei-blasst. 

Von den aecJis Geschichten, die Buber dem Rabbi 
Xachmunu nacherzählt, ist nicht eine dei' andern gleich, 
weder im Schauplatz, noch in den handelnden Personen, 
noch auch im geistigen Gehalt; aber den mystischen 
Grundgedanken haben sie alle gemein, die Geschichte 
vom Meister des debetes drückt ihn in unz"eideatiger 
Weise aus 

Als das g] o'ise W etter die Krde heimgesucht und 
ihre Essenzen leiniditet hatte, veruneinigten sich die 
Scharen dei Menschen und kamen in Streit miteinander 
um den binn des Leben-" Und jede Schar ging ihres 
\Ve„e-! ein Volk zu sein für sich und sich einen 
J^Önig nach ihret ^leinung zu erwählen. Und auch 
wir die wir erkannt hatten, dass einzi;^ die Weisheit 
Ziel and Grund alles Bestandes ist, taten also und 
zogen Über die Filichen dei' Erde, um den Weisen 



. Kellner: Der chassidische Ossian. 



HELENA ARSENE DARMESTETER PARIS, 



(Schwf 



und Wissao- 
den KQ Sa- 
chen, der un- 
ser Herr sein 
sollte. So 
trafen wir 
auf einen, 
der sass da 
mit zurUck- 
eeworfenem 
Hanpt« und 
schaate zu 
den Sternen. 
Da fragten 

wir ihn: 
„Bist du der 
Weise , der 

die Welt 
weiss , also 
dass seinem 
Ange kein 
duokler Rest 
standhält, vor 
Beioera For- 
schen keine 
Bahn sich 
verliert, sei- 
nem Gedan- 
ken die Ele- 
mente za- 
lanfen wie 
die Sohafe 



ist es, d^ss der englische Dichter William Blake 
(1757 — 1827) sich in mehr ab einem Ausspruche eng 

mit der chassidiseben Mystik berührt! Freude und 
Lachen ist ihm ein Gottesdienst, gen an wie denCbassidim'); 
der Trieb, das Döse, die Sinnlichkeit ist ihm gleichwertig 
mit dem Guten, wenn nicht wertvoller-), und Rabbi 
Nacbmann lehrt: Ohne hösen Trieb ist kein vollkommener 
Dienst. ... Es ist übrigens kein Zufall, dass M. Buber 
seinen Rabbi Nachmann und U. Richter ihren William 
Blake gleichKeitig za neuem Leben erweckten. Wir 
sind alle ein klein wenig mit Logik und Wissenschaft 
Überfüttert, ein klein wenie verstandesmilde und sehnen 
uns nauh Traum und Vision. Dieser Stimmung, die an 
die Zeit Hamanns und des jungen Herder erinnert, an 
die Zeit, da Üssian aus dem keltischen Zwielicht auf- 
tauchte and als Offenbarung erschien, kommt Bober 
mit seinem vranderschönen Buche entgegen. Und er 
dürfte seinem Rabbi ähnliche Dienste geleistet haben, 
wie dei' einst ganz mit Unrecht geschmäbte Macpberson 
sie seinem Oisin erwies. Wenn Rabbi Nachmann nur 
der zehnte Teil des Erfolges beschieden ist, der Ossian 
im achtzehnten Jahrhundert zufiel, dann erleben wir 
noch das Wunder, dass das Aschenbrödel der Kultur, 
die chassidische Mystik, sich in eine Prinzessin verwandelt. 

') Hdene lücht-T, WilÜaNi Blake, Strassliurgl906. S.äl. 
-) Das. 6(i. 



dem Ruf des 
Hirten?" Er antwortete: „Ich weiss um das Leben der 
Sterne; so weiss ich die Welt." Aber wir sprachen: „Und 
wenn das Leben Uber dieSteme kommt am Tage der Erneu- 
erung und sie in Stücke schlägt — was weisst du dann?" 
Da schwieg er und gab uns keine Antwort. Und weiter 
trafen wir auf einen, der lag am Strande and schaute 
in das Meer, and wir taten unsre Frage. Er sagte: 
„Ich weiss um das Leben des Meeres; so weiss ich die 
Welt." Da (ragten wir ihn: „Und wenn die Sonne das 
Meer trinkt am Tage der Wende — was weisst du 
dann?" Daraaf schwieg auch er, and wir zogen weiter. 
Sc trafen wir manchen Weisen in seinem Schauen, nnd 
eines jeden Weisheit zerschellte an unserer Frage. 
Einmai aber erblickten wir auf unserem Wege einen 
alten Mann, der sass auf einem Stein, und seine Augen 
waren weit und schauend offen, aber auf kein Ding 
oder Wesen im Raum vor ihm gerichtet, sondern es 
war ein Schauen, das in sich selbst beschlossen and 
umfriedet war. Ihn fra^rten wir: ,,Bist du der Weise, 
der die Welt weiss?-' Da sah er auf zu uns und sprach: 
„Ich weiss um eine Seele. Und sie ist das Fir- 
mament, das Niemand zerbrechen kann" So 
neigten wir uns vor ihm und baten ihn, unser König 

zu sein 

Die SelbstheiTlichkeit der Seele allem Sichtbaren, 
allem Erschaffenen geffenüber, die Seele als der Ur- 
qoell allens Seins. — Diese Grundanschauiing hat 
Rabbi Nachmann mit den Upanischads und aller 
Mystik gemein. Ob wohl ein äusserer Zusammenhan? 
zwischen dem polnischen Rabbi und den christlichen 
Mystikern besteht? Nach Allem, was wir von der 
Wandei-ung der Ideen wissen, mikhte man e.s annehmen; 
aber wo sind die Brücken, die von einem Höhnie zu 
einem Itabbi Xarhmann führen'/ Und wie er.itaiinlicii 



ISAAK R05EMANN. 

Frau Mouromtzefl 



VERERBTE UEBERSETZUNOS-FEHLER. 

Von M. A. Klausner. 



üebersetzungen sind wie die Frauen: die 
treuen sind nicht scliön, die schönen nicht treu. 

Der Vergleich ist frivol, aber immer ooch 
nicht so absprechend wie das italienisclie Sprich- 
wort „tradattore — traäitore", das den Uebersetzer 
einen Verräter nennt. 

In Wirklichkeit hat schon mancher Ueber- 
setzer Verrat geübt Zumeist nicht aus bOsem 
Willen, sondern aus Mangel an Verständnis oder 
auch aus Flüchtigkeit. 

Man sollte glauben, dass der b^^ngene 
Fehler bald erkannt und beseitigt werden müsste; 
denn es finden sich immer und immer Gelehrte, 
die zu der Quelle zurDckkehren und sich nicht mit 
der Uebersetzung begnügen. Doch das gibt keiue 
Gewähr. Die Korrektur greift selten durch — 
der einmal eingefUlirte Irrtum hat onQberwindlieh 
zfthes Leben, selbst da, wo die Wahrheit das herz- 
lichste Interesse finden, ihre Aufdeckung innige 
Freude erwecken sollte, selbst da, wo eifrige Ge- 
müter an dem Irrtum, den sie för Walirheit halten, 
AnstoSB nehmen und die neue Erklärung froh be- 



im folgenden will ich eine Reihe solcher 
Uebersetzungsfehler anführen, die zumeist schon 
sehr hohes Alter haben. FQr einige von ihnen 
habe ich die Richtigsten ung gefunden, für die Mehr- 
zahl danke ich die bessere Erkenntnis meinem 
Vater Bernhard Wolf Klausner, dessen scharf- 
sinnige Gelehrsamkeit es nicht verschmähte, schon 
dem "Kinde sich mitteilend zu offenbaren. 

Wir alle haben in der Jugend von den Sans- 
culotten gehört, den schlimmen Konigsfeinden, die 
den Thron der Bourbonen stürzten und in ihrem 
Frevelmut Gott für abgesetzt erklärten. Wenn wir 
nun fragten, was denn das Wort Sans-Culotten be- 
deute, so erhielten wir den Bescheid : ,, Ohnehosen". 
Wir konnten uns keine rechte Vorstellung von den 
bösen Gesellen machen, die ihre Feindseligkeit 
j, gegen Brauch und 
Verzicht auf das un- 
er gesitteten Mensch- 
l)rachteo und in ihrer 
it durch ihre Nackt- 
efUhl trotzten. Die 
blieb haften. Mit 
ler Jugend sprachen 
ten, und verdammten 



Nicbdruck verbottn. 

mit aufrichtigem Abscheu die „Ohnehosen".' Erst 
in späteren Jahren belehrten uns Bilder von den 
Revolutionskämpfen, die auf der einen Seite die 
treuen Anhänger des Hofes, auf der anderen Seite 
die ungestümen Rechtsforderer zeigten, dass wohl 
jene zu den Wadenstrümpfen sich mit den zier- 
lichen Kniehosen begnügten, aber diese die Beine 
in ihrer ganzen Länge ungefähr so umhüllten, wie 
wir heute noch zu tun pfiegen. Jetzt waren wir 
anch so weit, dass wir aus dem Lexikon erfahren 
konnten, Culotten seien nielit Hosen schlechthin, 
sondern Kniehosen, während Sans-Culotten die ge- 
nannt wurden, die kein hQfisches Kleid trugen, 
vielmehr in langen Hosen einhergingen. Die „Ohne- 
hosen" waren also eigentlich ,,Ijanghosen", das ist 
ungefähr das Gegenteil von dem, wofür die unge- 
schickte Uebersetzung des Wortes Sans-Culotten 
sie hatte gelten lassen. — Ich glaube aber, dass 
das jüngere Geschlecht dnrcli den nämlichen Ueber- 
8et2ungsfehier in den nämÜclien Irrtum gebracht 
worden ist, wie wir, und dass es gleich uns erst 
nach Jahren zur Korrektur seiner Vor^^tellung ge> 
kommen ist. Das ist gerade kein UnglQck. Doch 
würde es gewiss nichts schaden, wenn wir die 
Sans-Culotten in unserer Sprache nicht mehr Ohne- 
hosen, sondern Langhosen zu nennen uns gewohnten. 

Zu den Erscheinungen, mit denen die Welt- 
literatur die ganze Welt bekannt gemacht hat, ge- 
hört des Dom Miguel Cervantes de la Saavedra 
Don Quijote de la Mancha. Dass er bei uns seit 
Ludwig Tieck der „sinnreiche" Junker genannt 
wird, während er der ,, phantasiereiche" heissen 
sollte, mag noch angehen. Ueberaus wunderlich 
aber ist, dass er bei uns zum „Ritter von der 
traurigen Gestalt" werden und dass er diese Be- 
zeichnung behalten konnte, obwohl sein ganzes 
Wesen gegen sie förmlich schreit. Zahllose Maler 
haben Don Qaijote gezeichnet — keinem ist es 
eingefallen, keinem ist es niOglich gewesen, ihm im 
Bilde eine traurige Gestalt zu geben. Lang und 
hager ist Don Quijote, „brandmagcr" wie der 
Idealtypns des Spaniei-s, aber seine Gestalt ist edel. 

In Wahrheit hat der spanische Dichter seinem 
Helden den Ekelnamen gar nicht geu:eben, den der 
deutsche Uebersetzer dem fahrenden Ritter ange- 
dichtet hat. Don Quijole ist bei Cervantes nicht 
der „Bitter von der traurigen Gestalt", sondern 
der „Ritter mit dem traurigen Gesicht." El 



117 



AL A. Klausner: Vererbte Uebersetzungsfehler. 



118 



Caballero de la triste figura heisst es im spani- 
schen Text, und das spanische Wort figura kann 
zwar Gestalt bedeuten, heisst aber in der Regel 
Gresicht. Die blosse Zulässigkeit der Uebersetzung 
„Gesicht" statt „Gestalt" wQrde förmlich zwingen, 
in diesem Fall die zulässige Uebersetzung für die 
allein mögliche zu halten. Zum Ueberfluss gibt 
CJeryantes selbst ganz ausführlich an, bei welcher 
Gelegenheit und aus welchem besonderen Anlass 
der Knappe iSancho Pansa dazu gekommen ist, 
seinem Herrn den Beinamen des „Ritters mit dem 
traurigen Gesicht" zu geben. Im 18. Kapitel wird 
das Abenteuer von Don Quijotes Angriff auf eine 
Hammelheerde erzählt, das dem Ritter üble Be- 
handlung von Seiten der ergrimmten Hirten eintrug, 
ihm das Antlitz zerschlug und zerschund und ihn 
um einen Teil seiner Zähne brachte. Unmittelbar 
nach diesem Ereignis, dessen körperliche und 
seelische Einwirkungen noch sichtbar waren, hält 
Don Quijote einen Leichenzug an, wirft einen 
jungen angehenden Theologen vom Pferd, so dass 
er einen Schenkel bricht, und erklärt es für seine 
Au%abe, Recht an Stelle des Unrechts zu setzen 
und Missetaten zu bestrafen. Dass im vorliegenden 
Fall sein Eifer Schaden angerichtet habe, hebe 
seine Gerechtigkeitsmission nicht auf, müsse viel- 
mehr als eine Fügung hingenommen werden. Dann 
empfiehlt er den Verletzten der Fürsorge Sancho 
Pansas, der nach Erfüllung seines Auftrages sagt : 
„Will vielleicht jemand wissen, wer der Tapfere 
gewesen, der Euch so zugerichtet hat, so möge 
Eure Gnaden erwidern: der berühmte Don 
Quijote de la Mancha ist es gewesen, der sich 
auch el Caballero de la Triste Figura nennt." 
Der junge Theologe zog wortlos von dannen; 
Don Quijote aber fragte Sancho, was ihn gerade 
in diesem Augenblick bestimmt habe, seinen Herrn 
den Caballero de la Triste Figura zu nennen. 

„Ich will es Euch sagen, entgegnete Sancho: 
Bei dem Licht der Fackel, die der Unglücks- 
mensch da bei sich hatte, habe ich Euch ein 
Weilchen angesehen, und Eure Gnaden hat 
wahrhaftig seit kurzem das übelste Gesicht 
(Figura), das ich je erblickt habe, wovon die 
Ursache entweder die Einwirkung dieses 
Kampfes oder das Fehlen der Backen- 
und Vorderzähne sein mag." „Das 
ist es nicht, versetzte Don Quijote. Sondern 
der gelehrte Mann, dessen Aufgabe es sein 
soll, die Geschichte meiner Heldentaten zu 
schreiben, wird gemeint haben, dass es gut 
sei, ich nähme irgend einen Beinamen an, 



wie es alle früheren Ritter getan haben, die 
sich der Ritter „mit dem glühenden Schwert" 
oder „mit dem Einhorn" oder „mit dem 
Fräulein" oder der Ritter „mit der Sonne" 
oder der Ritter „mit dem Greif* oder der 
„Todesritter" genannt und mit diesen Namen 
Ruhm über das ganze Erdenrund gewonnen 
haben. Darum, sage ich, hat mein künftiger 
Geschichtsschreiber, jener Gelehrte, auf deine 
Zunge das Wort gelegt und dir den Ge- 
danken eingegeben, mich den Caballero de la 
Triste Figura zu heissen, wie ich mich von 
heute an für alle Zukunft zu nennen beab- 
sichtige. Und damit dieser Name besser zu 
mir passe, will ich bei erster Gelegenheit auf 
meinen Schild ein sehr trauriges Gesicht 
(figura) malen lassen." - - „Nicht nötig, Herr, 
Zeit und Geld fllr die Herstellung solchen 
Gesichtes (figura) zu verschwenden, sagte 
Sancho. Eure Gnaden braucht nur das eigne 
Antlitz (rostro) aufzudecken und zu zeigen; 
dann wird man Euch ohne Schild und Bild 
den „de la Triste Figura" nennen. Glaubt 
mir, dass ich die Wahrheit spreche und es 
nicht zum Spass sage: die Augen und die 
fehlenden Zähne machen Euch ein so übles 
Gesicht (cara), dass man die traurige Malerei 
sehr wohl entbehren kann." 
Es ist unmöglich, hiemach zu bestreiten, dass 
Don Quvjote bei uns Deutschen zu Unrecht zum 
Ritter von der traurigen Gestalt gemacht worden 
ist — nur bei uns Deutschen, die wir uns doch 
rühmen dürfen, die besten Uebersetzungen der 
Welt geliefert zu haben, hat er den Missnamen, 
während die Engländer ihn richtig the knight of 
the rueful countenance nennen — es ist ebenso 
unmöglich, zu bestreiten, dass es unsinnig gewesen 
ist, den Uebersetzungsfehler zu übernehmen. Und 
doch zweifle ich, dass die Korrektur angenommen 
werden wird. Die „ti-aurige Gestalt" ist eine blöde 
Verirrung — aber sie lebt, und Wahi*scheinlichkeit 
spricht dafür, dass sie Leben behält. 



* 



Im 14. Satz des ersten Abschnitts der „Sprüche 
der Väter" wird als Aeusserung Hillels angeführt: 

üH) "^itf :no ^0^9^ ^j^5» ^ ^ ^ vif r» 0«^ 

Das heisst nach der üblichen Uebersetzung: 
„Wenn ich nicht für mich bin — wer ist für mich? 
und bin ich für mich — was bin ich? und wenn 
nicht sofort auf wann?" 



119 



M. A. Klausner: VererbtalUcbersetzungsfehlCT. | 



120 



Die Uebersetzung ist wortgetreu und tadellos. 
Doch der SIdu will mir nicht eiolenchten. So wie 
er hier lautet, empfleblt der Spruch in seinem ersten 
Teil — „wenn ich nicht für mich hin, wer ist för 
mich?" — Selbstvertrauen und Selbsthilfe. Da- 
gegen ist nichts einzuwenden. Nur dass gerade 
von Hillel, dem Urbild der Bescheidenheit, Demut 
und Geduld, die Empfehlung ausgehen soll, ist 
mir unwahrscheinlich. Hätte es Sehammai gesagt, 
der eifervolle Manq, der seinem Scharfsinn ver- 
hingehen. Doch zu 
t, das g^en seinen 
0er zweite Teil des 
■ mich, was bin ich?" 
»Ischen Anschauungen 
t Bescheidenheit. Nur 
dem ersten nicht ver- 
hebt ihn auf. Das 
el konnte den ersten 
ichtigkeit des Selbst- 
fe durch den zweiten 
lervortreten zu lassen, 
der dritte Teil des 
jfort;, auf wann?" — 
I Teil gibt dann llber- 
an nicht zu gewalt- 
!ht DÜnmt Die Uber- 
Bgungen gehen dahin, 
trauen und Selbsthilfe 
.ufschub sich geltend 
r praktisch sein und 
lung hinaus kommen: 
,t vertraut 

haut, 
d gebaut." 

Me Lebensweisheit — 
t, ganz und gar nicht, 
nimmt, dass in dem 
eine Abkürzung des 
ng des zweiten Buch- 
st die ^Uebersetzung: 
ich ist — wer ist 
,t für mich ist — 
licht sofort ^ auf 

ganz in Hillelschem 
Gottvei-trauen, jetzt 
hat: üass man alles 
vertrauen, sich Gott 
ttes Beistand keinen 
fort — auf wann?") 
In dieser Deutung 



enthält der Spruch die judische £thik, wie Hillel 
sie verstand und übte und lehrte. 

Die Kürzung aber, die hier vorausgesetzt wird, 
kommt tatsächlich auch sonst vor. In den Ge- 
beten des E>aubhtlttenfestes, bei den Hoschanoth, 
findet sich der Refrain: : «i nyip>1n in; 'JJJ Hier 
sind die beiden ersten Worte Abkürzungen des 
Gottesnamens, das erste Wort genau die Ab- 
kürzung, die in dem Hillelschen Spruch vorkommt. 

Die Gleichnisse in denen Jesu zu reden liebte, 
seine Parabeln und Bilder sind uns vertraut, weil 
die Redeweise, die hinter seine Tage zurückreicht, 
sich bei den Ostlichen „Maggidim" bis in unsere 
Zeit erhalten hat Manche von diesen Gleichnissen 
— und gerade die bekanntesten ~ sind uns ent- 
stellt überliefert. Die Evangelisten Matthäus und 
Lucas berichten Übereinstimmend als einen Ausspruch 
Jesus: „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein 
Nadelöhr gehe, denn dass ein Eeicher ins Reich 
Gottes komme." Beide lassen auch übereinstimmend 
den Satz vorausgehen : „Ein Reicher wird schwerlich 
ins Himmelreich . kommen." Der Evangelist Marcus 
bringt den nämlichen Bericht, der aber mit dem 
letzterwähnten Satz endet, während sich bei ihm 
jener weitergehende, die Himmelreichsaussicht des 
Reichen vollkommen leugnende Scblusssatz nicht 
findet. 

Schon immer ist das Bild vom Kamel und 
dem Nadelohr als unschlüssig und verfehlt auf- 
gefallen. Das Gleichnis hinkt über Gebühr, es 
enthält gewaltsame NebeneiaanderstelluDgeo, es 
maugelt ihm an dem sinnßHIigen und überzeugenden 
Parallelismus, der die Kraft des Gleichnisses und 
seinen rednerischen Wert ausmacht. Das Kamel 
geht allerdings durch kein Nadelohr — es hat aber 
auch garnicbt den Wunsch hindurchzugehen, und 
nichts berechtigt zu der Vermutung, dass es einen 
solchen Wunsch haben könnte. Der Reiche dagegen 
hat ganz gewiss den Wunsch, nach den Sussigkeiten 
dieser Erde auch die Seligkeiten des Paradieses zu 
kosten. Es ist darum im höchsten Grade wahr- 
scheiolich, was- von anderer Seite als Vermutung 
ausgesprochen ist, dass im griechischen Text xa[i.i>.o>; 
statt xaiJL7i>.oi; — das Ubei-baupt auch kamilos aus- 
gesprochen wurde — zu lesen ist. Dann heisst es: 
„Elier geht ein Tau durch ein Nadelöhr, denn dass 
ein Reicher ins Reich Gottes komme." Jetzt ist 
das Bild genau und das Gleiciinis vortrefflich. Von 
dem Tan als einem überstarken b'aden kann man 
sich vorstellen, dass es durch ein Nadelöhr geben 
will, und dass uiir filr seinen Umfang das ent- 



121 



M. A. Klausner: Vererbte Uebersetzungsfehler. 



122 



sprechend grosse Nadelöhr sich nicht leicht finden 
mag. Dann ist die Schwierigkeit für den Reichen, 
in das Beich Gottes zu kommen, sinnfällig gemacht, 
die Möglichkeit aber nicht völlig geleugnet. Dann 
bringt das Gleichnis die jüdische Anschauung zum 
klaren Ausdruck, dass die Versuchungen des Reich- 
tums grösser sind als die Versuchungen der Armut. 
Jetzt begreift man auch, warum der Evangelist 
Markos lieber den ganzen Schlusssatz weggelassen 
hat. Die Korrektur fiel ibm nicht ein, oder war 
ihm fremd, und die Entstellung wollte er nicht 
übernehmen, weil er sie als solche erkannte. Für 
die ganze spätere Zeit aber, bis zu unseren Tagen 
und wohl auch für unabsehbare weitere Zeit ist 
die Richtigstellung vergeblich gewesen. Es bleibt 
bei dem Gleichnis vom Kamel und dem Nadelöhr, 
und fast möchte man wirklich glauben, dass eher 
ein Kamel durch ein Nadelöhr, geht, denn dass die 
Welt auf einen einmal recipierten Fehler verzichtet. 
Es wird auch bei dem anderen Fehler sein 
Bewenden behalten, der sich in das Gleichnis vom 
Splitter und Balken eingeschlichen hat. Die Evan- 
gelisten Matthäus und Lucas haben es überliefert 
und Luther gibt es wie folgt wieder: 

„Denn mit welcherlei Gericht ihr richtet, 
werdet ihr gerichtet werden ; und mit welcher- 
lei Mass ihr messet, wird euch gemessen 
werden. Was siebest du aber den Splitter in 
deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr 
des Balkens in deinem Auge? Oder wie 
darfst du sagen zu deinem Bruder: „Halt, 
ich will dir den Splitter aus deinem Auge 
ziehen?" Und siehe, ein Balken ist in deinem 
Auge. Du Heuchler, ziehe am ersten den 
Balken aus deinem Auge; danach besiehe, 
wie du den Splitter aus deines Bruders Auge 
ziehest." 

Bei allem schuldigen Respekt vor der Ueber- 
lieferung wird man dQch sagen müssen, dass die 
Vorstellung vom „Balken im Auge" eine unmögliche 
Vorstellung und darum das Bild recht unglücklich 
ist Welche Dimensionen man in Gedanken dem 
Auge und dem Balken geben mag, immer wird der 
Balken grösser sein als das Auge, und immer wird 
die Phantasie sich weigern, ein Menschenauge vor- 
auszusetzen, in dem ein Balken stecken kann. Und 
wenn selbst das Undenkbare denkbar wäre, wenn 
die Einbildungskraft die natürliche Ordnung so 
sehr verkehren könnte, so würde man sich sagen: 
dass es die erstaunlichste Selbstlosigkeit beweist, 
wenn jemand, der im eigenen Auge einen Balken 
hat, noch Sinn dafür hätte, im Auge des anderen 



einen Splitter zu bemerken, und die Neigung ftlhlte, 
den anderen von diesem Splitter zu befreien. Frei- 
lich wären • Balken und Splitter hier nur Sinn- 
bilder oder Symbole von Sünden und Fehlem. Doch 
das hebt die Bedingung für ein gutes Gleichnis 
nicht auf, sinnfällig zu sein und ohne Schwierig- 
keiten auf seine übertragene Bedeutung hinzuleiten. 

Liest man aber im hebräischen Text statt »^^P 
— Balken - ^^P — Spinn web — so lautet die angeführte 
Stelle in deutscher Uebertragung : „Was siebest du 
den Splitter in deines Bruders Auge und wirst 
nicht gewahr des Spinnwebs in deinem Auge? 
Oder wie darfst du sagen zu deinem Bruder: 
Halt, Ich will dir den Splitter aus deinem Auge 
ziehen? Und siehe, em Spinnweb ist in deinem 
Auge. Du Heuchler, nimm am ersten das Spinn- 
web aus deinem Auge ; danach besiehe, wie du den 
Splitter aus deines Bruders Auge ziehest." 

Das Gleichnis ist nun tadellos, jeder Teil des 
Bildes ist treffend und hat überzeugende Kraft. 
Wer richten will, soll zunächst sich selbst prüfen, 
die Klarheit des eigenen Blicks feststellen, damit 
er nicht in die Lage komme, dem Bruder als Fehler 
anzurechnen, was in Wahrheit ein Fehler des 
eigenen Sehvermögens ist. Man soll zunächst 
darauf achten, ob man nicht ein Spinnweb, einen 
Schleier vor seinem Auge hat und deshalb einen 
Mangel bei dem Bruder voraussetzt, während in 
Wirklichkeit ein Schleier, ein Spinnweb die eigene 
Wahrnehmungsfähigkeit beeinträchtigt und irreführt. 
Erst sorge man für Reinheit des eigenen Auges, 
für Unbefangenheit des eigenen Urteils, ehe man 
sich zum Richter über Mängel des Bruders auf- 
wirft, ehe man sich zum „Splitterrichter" macht. 



Viermal kommt in der Bibel die Wortfügung 
If^X ^r© oder Op^] ^^-HO vor. Wir begegnen ihr 
zuerst im 12. Satz des 11. Kapitels im Buch 
der Richter, sodann im 10. Satz des 16. Kapitels 
im 2. Buch Samuel, femer im 22. Satz des 
19. Kapitels desselben Buches, endlich im 18. Satz 
des 17. Kapitels im 1. Buch der Könige. Luther 
abersetzt an allen vier Stellen: ^was habe ich mit 
dir (bezw. mit euch) zu schaffen?" oder in will- 
kürlicher Umstellung: „was hast du mit mir zu 
schaffen?** In allen vier Fällen streitet der Zu- 
sammenhang des Textes mit dieser Übersetzung, 
die von allen Späteren übernommen worden ist, und 
giebt keinen Sinn. Die Luthersche Übertragung 
knüpft an die buchstäbliche Bedeutung .,was ist 
mir und dir (euch)?** an und legt sie in der an 



123 



M. A. Klausner: Vererbte Uebersetzungsfehler. 



124 



gegebenen Weise aus. Die rhetorische Frage 
„was ist mir und dir (euch)?" setzt eine Ver- 
neinung voraus und lehnt eine Gemeinschaft des 
Willens zwischen dem Fragenden und dem Be- 
fragten ab. 

Sehen wir nun die einzelnen Stellen an: Der 
Gileaditer Jephta, zum Haupt des Volkes in 
Gilead gewählt, schickt Boten zum König der 
Söhne Ammons mit der Frage : „vJ ''rHO dass 
du mein Land mit Krieg überziehst?'' - Es bedarf 
kaum einer näheren Darlegung, dass es an einem 
logischen Zusammenhang fehlt, wenn man die ersten 
Worte mit „was habe ich mit dir zu schaffen?'* 
Qbersetzt. Denn der Kriegszug der Am moniter ist 
eine dem Jephta bekannte Tatsache, und nur der 
Grund des Kriegszugs erscheint dem Jephta fraglich 
oder unberechtigt. Nach der Ursache des Kri^es 
forscht Jephta. Der Ammoniterkönig versteht 
auch Jephtas Worte m diesem Sinne; er zählt 
die Gründe auf, die ihn zum Krieg bestimmt haben. 
Jephta erkennt an, dass er sachgemässen Bescheid 
erhalten hat, denn er führt die Erörterung fort und 
sucht in einer zweiten Botschaft den Kriegsvorwand 
des Ammoniterkönigs als hinfällig nachzuweisen. 
Die erste Botschaft Jephtas hat somit den Sinn 
— der mit dem Wortlaut in Einklang steht — 
„Wie soll ich das verstehen, dass du mein Land 
mit Krieg überziehst?" 

Die beiden Stellen im 2. Buch Samuel erzählen 
zwei Vorgänge, die miteinander in Zusammenhang 
stehen. König David war vor seinem aufrühre- 
rischen Sohn Absalom geflohen. Der Fliehende 
wird von einem Nachkommen Sauls, Schim'i, mit 
Schmähreden und Steinwürfen angefallen. Einen 
Bluthund nennt Schim'i den König David, den 
gerechte Vergeltung für das vergossene Blut des 
Hauses Saul treffe. Des Königs Schwestersohn 
Abischjg ist empört über den „toten Hund", der 
den König zu schmähen wagt, und erbittet die 
Erlaubnis, ihm den Kopf abzureissen. König David 
erwidert: jp'?r} ^/'•'^9, ihr Kinder Zerujas? Lasst 
ihn fluchen! Gott hat ihm gesagt, er solle David 
fluchen — wer mag ihn nun fragen: „warum tust 
du also?" . . . Nachdem König David den Auf- 
stand niedergeworfen hatte, kehrte er desselben 
Weges zurück. Dem Siegreichen naht an der 
gleichen Stelle Schim'i mit demütiger Abbitte. 
Abischaj greift dem König mit zornvoUer Rede 
vor: Soll darum Schim'i nicht sterben, der Gottes 
Gesalbtem geflucht hat? Doch David: „THQ 
D?7], ihr Kinder Zerujas? Wollt ihr mir heute 
zum Versucher werden? Soll heutigen Tages ein 



Mann in Israel sterben, da ich weiss, dass ich 
heute wieder König über Israel geworden bin!" 

In dieser Erzählung gibt an beiden Stellen 
die Übersetzung der hebräisch angeführten Worte 
mit „was habe ich mit euch zu schaffen?** keinen 
Sinn. König David weiss, was er mit seinen 
Sciiwesterkindern zu schaffen hat, die ihn auf der 
Flucht verteidigen, die ihm die Krone zurück- 
gewonnen haben, die eine ihm zugefügte Beleidigung 
rächen wollen. Er lehnt nur die Ruche ab — das 
eine Mal unter dem Hinweis darauf, dass der 
Spross aus dem Hause Saul zu Schmähreden 
berechtigt erscheine neben Absalpm, der dem 
eigenen Vater nach Thron und Leben trachtet — 
das andere Mal unter Hinweis darauf, dass der 
Tag seines erneuten Königtums nicht durch ein 
Strafgericht verdunkelt werden dürfe. Darum 
lautet seine Rede: „Wie soll ich das verstehen, 
ihr Kinder Zerujas? Lassi ihn fluchen! Gott hat 
ihm den Fluch aufgetragen . . .*' „Wie soll ich 
das verstehen, ihr Kinder Zerujas? Wollt ihr mir 
heute zum Versucher werden? Soll Blut fliessen 
an dem Tage, da ich wieder König geworden bini" 

In den Worten D??) vH© liegt also keines- 
wegs die schroffe Zurückweisung, die aus der Luther- 
sehen deutschen Uebertragung spricht, sondern eine 
belehrende und vermahnende Ablehnung. Das gilt 
für alle drei Stellen. 

Wir kommen zur vierten Stelle im 1. Buch 
der Könige: Der Prophet Klia hat sich auf Gottes 
Geheiss nach Zarpat bei Zidon begeben und von 
einer Witwe für die Dauer der grossen Trockenheit 
Obdach und Nahrung verlangte Die Witwe stellt 
ihren ganzen Vorrat, eine Hand voll Mehl und 
einen kleinen Rest Oel, zur Verfügung des Gottes- 
mannes. Mehl aber und Oel gingen nicht zu Ende, 
obwohl der Prophet, die Witwe und ihr Sohn 
dauernd davon nahmen. Der Sohn der Witwe er- 
krankte so schwer, dass l^ein Hauch mehr in ihm 
war. Da sprach die Witwe zu Elia: „ vJ ^7"*"^ 
Mann Gottes? Bist Du zu mir gekommen, dass 
meiner Sünde gedacht werde und mein Sohn sterbe?** 

Da die Witwe den Propheten Elia als „Mann 
Gottes" anredet, so kann sie unmöglich in einem 
Athera zu ihm sagen, wie sie nach Luther und den 
Späteren tun soll: „Was habe ich mit dir zu 
schaffen!** Ihre Worte lauten vielmehr: „Wie soll 
ich das verstehen, Mann Gottes, dass, während du 
zu mir gekommen bist, meiner Sünde gedacht wird 
und mein Sohn stirbt!** 



125 



M. A. Klausner: Vererbte Ueberselzungsfehler. 



126 



Ich bin wohl zu der Annahme berechtigt, dass 
die Redewendung „was habe ich mit dir zu 
schaffen?*' in der Erinnerung der meisten lebendig 
ist nicht aus den vier oben angeführten Stellen der 
Heiligen Schrift, sondeni aus dem vierten Satz des 
2. Kapitels im Evangelium Johannes, aus der Er- 
zählung von der Hochzeit zu Cana. Jesu und seine 
Jünger waren zur Hochzeit geladen, auch seine 
Mutter war da. Als es an Wein gebrach, sprach 
die Mutter Jesus zu ihm: Sie haben nicht Wein. 
Jesu antwortete ihr; „Weib, was habe ich mit dir 
zu schaffen?" 

Die christlichen Ausleger haben unendliche 
Mühe gehabt, diese Worte so umzudeuten, dass sie 
ihren für das schlichte menschliche Gefühl pein- 
lichen Charakter verloren. Jesu, so sagten sie, 
erscheine in dem Evangelium Johannes ganz und 
gar als Gottessohn und Gott und lehne deshalb mit 
beinahe schroffer Entschiedenheit alle menschlichen 
Beziehungen, alle Verwandtschaft des Fleisches, 
selbst der Mutter* gegenüber, ab. — Man kann diese 
Auslegung vom christlichen Standpunkt aus gelten 
lassen, so lange sie notwendig ist. Aber auch der 
gläubige und fromme Christ wird dieser Notwendig- 
keit gern überhoben sein und vielleicht mit einer 
gewissen inneren Befreiung vernehmen, dass sich 
eine Deutung bietet, die mit der sonstigen mensch- 
liehen Erscheinung Jesus besser in Einklang ist. 
Auch wir Juden, denen Jesu ein jüdischer Mann 
ist, können uns dessen mit voller Unbefangenheit 
freuen. Denn es kann uns, für die der Hinweis 
auf Jesus Gottesbewusstsein naturgt^mäss keine 
überzeugende Kraft hat, nur willkommen sein, 
wenn der meistbekannte jüdische Mann keinen 
Widerspruch zeigt zu der jüdischen Anschauung 
und Erziehung, die Ehrfurcht vor Vater und Mutter 
als oberstes sittliches Gesetz, als das erste Gebot 
hinstellt, „das Verheissung hat". 

Der griechische Text der nach der Luther- 
schen Uebersetzung angeführten Stelle im Evan- 
gelium Johannes lautet: „Ti £|jlo'. xai aoi, ^üva».?-* — 
Man erkennt unschwer, dass das nicht griechisch, 
sondern buchstäblich aus dem Hebräischen über- 
setzt ist und in der Urspmche gelautet hat:^?*nö 
•*^^ '«J7J — Nach den oben gemachten Da- 
legungen heisst das in richtiger deutscher Teber- 
tragung: „Wie soll ich das verstehen, 
Fraue!" 

Das ist eine durchaus ehrerbietige Anrede, 
wie sie dem Sohn der Mutter gegenüber nach 
menschlicher Auffassung geziemt. So kann Jesu 
zu seiner Mutter gesprochen haben, so musserzu 



ihr gesprochen haben. Denn nach dem Zeugnis 
des Evangeilisten Jobannes hat Maria sich durch* 
aus nicht verletzt gefühlt, vielmehr aus der rheto- 
rischen Frage des Sohnes, der die Worte angefügt 
waren — „meine Stunde ist noch nicht ge- 
kommen*' — , die gehorsame Zustimmung ver- 
ständnisvoll herausgehört. Spricht sie doch alsbald 
zu den Dienern: „Was er euch sagen wir^ 
das tut!** 

Damit wäre dieser Luthersche Uebersetzungs- 
irrtum aufgeklärt. Wenn ich bei der Richtigstellung 
noch verweile, so geschieht es, weil sie auch 
sonst einiges Licht verbreitet. 

Von dem Evangelium Johannes hat man an- 
genommen, dass es ursprünglich griechisch nieder- 
geschrieben worden sei, während die anderen Evan- 
gelien in griechischen üebersetzungen aus dem 
Hebräischen überliefert worden sind, und dass seine 
Abfassung spätestens auf das Jahr 150 der üblichen 
Zeitr chnung falle. Jene eine Redewendung nun, 
die absolut nicht original-griechisch, sondern buch- 
stäblich aus dem Hebräischen übertragen ist, lässt 
erkennen, dass es einen hebräischen Urtext auoh 
für das Evangelium Johannes, zum mindesten für 
einzelne Teile, g^eben hat, und dass zwischen der 
Abfassung des hebräischen Urtextes und der Her- 
stellung der giiechischen Uebersetzung ein langer 
Zeitraum gelegen hat. Der Zeitraum muss hin- 
reichend lang gewesen sein, um erklärlich zu 
machen, dass sogar für den zweisprachigen Mann, 
den Uebersetzer des Evangeliums Johannes, eine 
nach viermaligem Voikommen in den biblischen 
Schriften als landläufig anzusehende Redefigur dem 
Verständnis eotschwinden konnte. Wäre das nicht 
der Fall, so hätte die griechische Uebersetzung 
den Sinn des v» ^^'"'^ wiedergegeben und nicht 
völlig ungriechiscli "' i'io» xal aol gelautet. Die 
Frist aber, die den Sinn der hebräischen Rede- 
wendung in Vergessenheit brachte, kann — 
schätzungsweise — nicht viel unter hundert Jahre 
betragen haben, und damit rückt der Verfasser der 
hebräischen Urschrift des Evangeliums Johannes, 
wenigstens einzelner Teile, aus dem .Jahr 150 in 
das Jahr oO, d.i. in die Zeitgenossenschaft Jesus. 



Ich erbitte zum Schluss die Aufmerksamheit 
für nachstehende Uebersetzung der ersten 14 Sätze 
des 20. Kapitels im ersten Buch Moses. Ich gebe 
sie nicht ohne Zagen, weil sie von uralter Ueber- 
liefeuing — wenn auch nur in der Einkleidung 



127 



M. A. Klausner: Vererbte Uebersetzungsfehler. 



128 



und in Aeusserlichkeiten, nicht in Kern und 
Wesen — abweicht und vertraut gewordene Vor- 
stellungen etwas umgestaltet. Wäre ich nicht der 
üeberzeugung, dass die Umgestaltung der Weihe 
und Würde des heiligen Textes keinen Eintrag 
tut, so hätte ich mich vielleicht nicht zur Ver- 
öffentlichung der Auslegung entschlossen: 

„Nach diesen Begebenheiten versuchte 
Gott den Abraham. Er rief ihn: Abraham! 
— Hier bin ich, er\\dderte dieser. — Und 
Gott: Nimm deinen einzigen geliebten Sohn 
Isaak, gehe in das Land Morijah und bringe 
ihn dort zu dem Opfer hinauf auf einen 
der Berge, den ich dir anzeigen werde. — 
Abraham erhob sich am Morgen, sattelte 
seinen Esel, nahm zwei Diener mit sich und 
seinen Sohn Isaak, spaltete Opferholz und 
machte sich nach dem Ort auf, den Gott ihm 
bezeichnet hatte. Am dritten Tage erblickte 
Abraham, der sein Auge erhob, den Ort von 
ferne. Er sprach zu den' Dienern: Bleibt 
ihr hier mit dem Esel. Ich gehe mit dem 
Knaben dorthin, um anzubeten, dann kehren 
wir zu euch zurück. — Abraham nahm das 
Opferholz, legte es seinem Sohn Isaak auf 
und nahm Feuer und Schlachtmesser in seine 
Hand. Dann schritten sie mitsammen fort. — 
Isaak redete seinen Vater Abraham an: 
Mein Vater! — Und dieser: Hier bin ich, 
mein Sohn. — Isaak darauf: Feuer und Holz 
sind da, wo ist das Opferlamm? — Abraham 
erwiderte: Mein Sohn, Gott wird sich das 
Opferlamm ersehen. — Danach schritten sie 
beide fürbass und gelangten an den Ort, den 
Gott dem Abraham bezeichnet hatte. Dort 
errichtete Abraham den Altar, ordnete das 
Holz, band seinen Sohn Isaak und legte ihn 
auf den Altar über das Holz. Dann streckte 
Abraham seine Hand aus uid ergriff das 
Messer, um seinen Sohn zu schlachten. Da 
rief Gottes Engel vom Himmel: Abraham! 
Abraham! — Und dieser: Hier bin ich. — 
Der Engel sprach: Strecke deine Hand nicht 
nach dem Knaben aus und tue ihm nichts! 
Jetzt weiss ich, dass du gottes fürchtig bist, 
da du den einzigen Sohn mir nicht verweigert 
hast. — Abraham erhob seine Augen, blickte 
um sich, und siehe: hinter ihm hatte sich 
ein Widder mit seinen Hörnern in die Hecke 
verwickelt. Zu diesem schritt Abraham, er- 
griff ihn und brachte ihn als Opfer dar an 
seines Sohnes statt. Abraham gab dem Ort 



den Namen „Gott ersieht", und bis zum 
heutigen Tage heisst der Ort: auf dem Berge 
Gottes wird ersehen.*' 

Ich habe mich genau an den Urtext gehalten; 
meine Uebersetzung weicht von der üblichen 
nur in dem einzigen Satze ab, der durch Sperr- 
druck hervorgehoben ist. Nach der allgemeinen 
Auffassung erhält Abraham von Gott den Befehl, 
seinen Sohn als Opfer darzubringen, während 
ich der Meinung bin, dass der Befehl nur sagt, 
Abraham solle SQJnen Sohn zu dem Opfer auf den 
Berg hinaufbringen. 

Dies scheint mir logischer. 

Die grammatische Zulässigkeit meiner Deutung 
ist ausser Zweifel. »V^l 'f^??? kann ebenso gut 
heissen: führe, bringe ihn zum Opfer hin, wie: 
bringe ihn als Opfer dar. Der. Zusammenhang aber 
spricht für meine Auffassung. 

Die Erzählung beginnt mit der Angabe, dass 
Gott den Abraham „versuchte". Die „Versuchung" 
kann nicht wohl darin bestehen, dass erprobt 
werden solle, ob Abraham .einem direkten Gottes- 
befehl, der ihm tiefschmerzlich sein musste, gehor- 
samen würde. Für den Sterblichen, dem die Gnade 
zuteil geworden ist, mit dem AUmächtigen gleich- 
sam von Angesicht zu Angesicht zu sprechen, ist 
es kaum ein Verdienst, dass er einem Befehl nach- 
kommt, dessen Erfüllung gar nicht von seinem 
Willen abhängt, dessen Erfüllung sich vielmehr 
unter allen Umständen erzwingt. Abrahams Gottes- 
furcht zeigt sich darin, dass er ohne jedes Be- 
sinnen und Zögern einen blos vermuteten Gottes- 
befehl auszuführen bereit ist, obwohl die Aus- 
führung ihn mit der Vernichtung aller seiner 
Zukunftshoffnungen bedroht und ihm das Liebste 
nimmt, das er auf Erden hat. Abraham erhält 
den Befehl, seinen Sohn zu einem Opfer hinzu- 
führen an einen Ort im Lande Morijah, den Gott 
ihm zeigen wird. Er fragt nicht, er ge- 
horcht. Er erwartet, dass Gott an Ort und Stelle 
das Opfer ersehen wird. So sagt er seinem Sohn. 
Freilich wäre dem Knaben gegenüber die Ver- 
schleierung der Wahrheit eine pia fraus gewesen; 
aber auch die pia fraus will zu Abrahams ganzer 
Erschemung nicht passen. Noch kurz vor dem 
Ziel der Wanderung denkt Abraham nicht an eine 
Opferung seines Sohnes. Man müsste Um sonst 
einer zweiten Unwahrheit den Dienern gegenüber 
zeihen, die er seine und seines Sohnes Rückkehr 
abwarten heisst. Abraham glaubt wirklich, wie 
er Isaak versichert, Gott werde sich das Opferlamm 
ersehen. Erst als er an der Opferstätte nach Er- 



M. A. Klausner: Vererbte Uebersetziingsfehler. 



richtaog des Altars kein Lebewesen ausser seinem 
Sohn erblickt, vermutet er in diesem das ersehene 
Opfer, und er ist bereit, den Sohn in Erfüllung 
des vermuteten Gottesbefehls hinzugeben. Das 
war die Versuchung, und diese Versuchung hat 
er bestanden. Jetzt erfolgt die Interveation des 
GottesoDgela, jetzt erblickt auch Abraham den mit 
den Hörnern in die Hecke veretrickten Widder 
und erkennt in ihm das Opfer, das Gott sich er- 
sehen hat. Auch jetzt noch halt er daran fest, 
dass er nichts als natQrlichen Gehorsam getlbt hat, 
und nennt den Ort nach der Bestätigung seiner 
Zuversicht: Gott ersieht. Hätte Abraham die 
Diener und den Knaben absichtlich getäuscltt, so 



wäre darin ein Zweifel an Gottes Berechtigung zu dem 
Opferbefehl zum Ausdruck gekommen, und das wäre 
schon ein Zweifel an Gott sei 



Niclit aus Freude an Neuerungen, nicht aus 
Geschmack an Ueberrasehungen habe ich dieser 
Darlegung Worte geliehen, sondern weil ich glaube, 
dass die Schrift durch jede bessere Einsicht nur 
gewinnen kann. 

DieGesamtheit meiner AusHthrungen aber bildet, 
glaube ich, einen Beweis dafür, dass die prüfende 
Rückkehr zn den Quellen immer wieder frische 
Aufschlüsse bringt und dämm immer wieder not- 
wendig ist. 



DR. PHILIPP KRONER. 

Ein Nachruf von M. A. Klausner, 



Am 2. Januar d. J. ist in Berlin der Rabbiner und 
Schulmann Dr. Philipp Kroner geslorben. Mit seinen 
73 Jahren hatte er die Schwelle des Qreisenalters über- 
schritten. Doch aufrecht und kräftig war er bis zuletzt ge- 
blieben, arbeitsfähig und arbeitsfroh, voller eifrigen Menschen- 
liebe — ein echter Jude, an dem kein Falsch zu finden. 

„Ich will euch Hirten senden 
nach _ meinem Herzen." Dieses 
Propheten wort war als Text der 
Rede zu Grunde gelegt, die am 
4. Januar gehalten wunie, als die 
Verwandten und Freunde den Ver- 
ewigten zur letzten Ruhe geleiteten. 
Rabbiner Dr. Emil Cohn tiätle für 
die Grabrede keinen pa^n deren 
Spruch finden können. Ein Hirte 
nach dem Herzen der grossen 
Propheten Israels ist Dr. Kroner 
gewesen, vom Beginn seines Amts- 
wirkens an bis an sein sanftes 
Ende. 

In früher Jugend schon auf sich 
gestellt, hat er sich selbst zur Selbst- 
losigkeit erzogen und in dieser vor- 
nehmsten Tugend sich geübt, die 
Quell und Inbegriff aller Menschen- 
liebe ist. Sein ganzes bewusstes 
Leben war fortgesetzte Betätigung 
einer Menschenlieoe, die durch keine 
üble Erfahrung, durch keinen Un- 
dank sich erschöpfen oder auch nur 
ermüden liess. Sein Glaube an die 
Menschheit und an die Menschen 
grenzte an Aberglauben. Für bösen 
wiüen fehlte ihm das Veretändnis — 
er glaubte nicht an ihn. Sein kind- 
liches Herz war voll von jener 
Weisheit des Himmels, die kein Arg 
kennt. Darum waren vor allem die 
Kinder ihm zugetan. Sie fühlten, dass in ihm ein kindliches, 
Vinderrcines Gemüt lebte, Damm war er auch der geborene 
Pädagoge. Ungehorsam ihm gegenüber gehörte einfach zu 
den unmöglichlieiten. 

Und dieser friedfertigste der Menschen konnte in 
heiligen Zorn geraten; Jene Bewegung, die eine Schmach 
unserer Zeit ist, rief ihn zur Apologetik, in der er sein 



PbUipp 

Deutsch -Kroni 
It. In Berlin ii 



vieiseiliges und umfangreiches Wissen, seine scharfe Logik 
in den Dienst der Wahrheit stellte. 

Seine Homiletik hatte eigenartigen Reiz. Seine 

Predigten waren kura und eindringlich. Sie schmeichelten 

sich durch ihre Form dem Ohr des Hörers ein und sättigten 

zugleich das Herz, dem sie Nahrung gaben. Wer offenen 

Herzens seinen Worten lauschte, 

der trug dauernde Erinnerung 

davon, dem blieb dauernder Gewinn 

zurück. 

Das Lehramt versah er in meister- 
licher Weise. Ihm war gegeben, die 
Herzen der Juijend und ihren Ver- 
stand au fzuschli essen. Was er den 
Kindern sagte, ging nicht über ihren 
Horizont, und enthielt doch auch 
schon Keime der Belehrung für die 
wmmenden Tage der Reife. Und 
Sias er den Jünglingen vortrug, die 
doch mit Begeisterung um ihn 
krängten, das tiatte üSerzeugende, 
mitreissende Kraft. Der Glaube in 
ihm schuf Gläubige. Er predigte 
ihnen nicht Religion, er lebte sie 
vor ihren Augen, ein Vorbild, das 
zur Vereehrung und Nacheiferung 
zwang. 

Ein Schüler Diesterwegs ist Dr. 
Philipp Krön er gewesen. Er hat, 
was jener gelehrt, zur Tat gemacht. 
Nicht blos in der Schule, nicht blos 
in seinem Hause, sondern in seiner 
ganzen Lebensführung. Sein Herz 
jauchzte, wenn er loben durfte; es 
|f^j_._ war ihm Erquiekung, Anerkennung 

c am n oktobtr 1S33, auszusprechen. Anderen helfen, war 

m 3, Jjausf 1907. Seine Freude. Er half mit Rat und 

Tat jedem, der sich an ihn wandte, 
jedem, den er hilfsbedürftig fand. 
Und für die Hilfe, die er brachte, wusste er aufnehtigen 
Dank. Klugen Ral erteilte er, ohne seine Ueberlegenheit 
fühlbar zu machen; seine Troslesworte waren eine Auf- 
richtung, denn aus echtem, innerem Mitgefühl waren sie 
geschöpft. 

Philipp Kroner, reine. Seele, fahre wohl! 



131 



132 



MITTEILUNGEN AUS DEM DEUTSCHEN BUREAU 
DER ALLIANCE ISRAELITE UNIVERSELLE. 

(Berlin N. 24, Oranienburgerstr. 42/43 I). i 



BEKANNTMACHUNG. 

Vierte regelmässige Jahressitzung der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft 

der ALLI AN C E I S RAELITE U N I VE RS E LLE. 

Das Präsidium der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft hat an deren Mitglieder die Einladung 
zur vierten regelmässigen Jahressitzung erlassen, die 

am 19» Februar 1907 in FRANKFURT A. M» 

— Bes[inn: Vormittags 9V2 l^hr — 
im Saal der Frankfurt-Loge, Eschersheimer Landstrasse 27, stattfinden wird. 

Die am 13. Februar 1906 festgestellten Satzungen der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft 
der A. 1. U. enthalten folgende Bestimmungen: 

Im § 1. Jedes deutsche Mitglied des Central -Comit^s der A. I. U. ist Mitglied der Deutschen 

Conferenz-Gemeinschaft. 
Im § 2. Die Deutsche Conferenz-Gemeinschaft beschliesst über die an die Centrale nach Paris zu 

richtenden Anträge. 
Im § 8. Tagungen der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft beruft der Vorsitzende, so oft er es für 
erforderlich hält, und mindestens alljährlich einmal die regelmässige Jahressitzung innerhalb 
der vier ersten Monate des Kalenderjahres nach Berlin oder anderswohin in Deutschland. 
Auf den Tagungen können sich die Mitglieder durch ein anderes Mitglied der 
Deutschen Conferenz-Gemeinschaft, oder durch ein Mitglied des Lokal-Comites, dem sie 
zugehören, auf Grund schriftlicher, dem Vorsitzenden einzureichender Vollmacht vertreten 
lassen. Ausserdem ist der Vofsitzende befugt, die Mitglieder des Lokal -Comit^s des 
Platzes, an dem die Tagung stattfindet, einzuladen. Diese Eingeladenen haben das Rechtr 
sich an den Verhandlungen beratend zu beteiligen. 
Im § 9. In der regelmässigen Jahrestagung unterbreitet der Vorsitzende den Rechenschafts- und 
Arbeitsbericht über das abgelaufene Jahr, sowie den Arbeitsplan für das neue Jahr. 
Die Bestimmung des Ortes für die vierte regelmässige Jahrestagung der Deutschen Conferenz- 
Gemeinschaft hat das Präsidium den Mitgliedern der D. C. G. selbst überlassen, die sich in grosser 
Mehrheit für Frankfurt am Main entschieden haben. 

Die Mitglieder des Frankfurter Lokal-Comit6s werden auf Grund des §8 der Satzungen zu 
der vierten regelmässigen Jahrestagung eingeladen. 



2. 
3. 
4. 
5. 



Die Tagesordnung ist wie folgt festgesetzt: 

1. Rechenschafts- und Arbeitsbericht des Präsidiums für das Jahr 1906 und Arbeitsplan für 

das Jahr 1907. (§ 9 der Satzungen.) 

Bericht der Mitglieder über ihre Bezirke. 

Ausbau der Organisation der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft und Anträge. 

Beschlussfassung über die an die Centrale nach Paris zu richtenden Anträge (§ 2 der Satzungen). 

Die Stellung der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft zu anderen jüdischen Organisationen 

im Inlande und jüdische Tagesfragen. 
6. Unvorhergesehenes. 

§ 9 der Satzungen sieht vor: 

;,Den regelmässigen Jahressitzungen der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft soll 
möglichst ein Alliance-Tag angegliedert werden, zu dem alle Vertreter der deutschen 
Bezirks- und Lokal-Comites einberufen werden und alle Mitglieder der Alliance Zutritt haben". 
Das Präsidium hat beschlossen, den Alliance-Tag diesmal in Berlin stattfinden zu lassen, 
möglichst im Anschluss an die Generalversammlung des Berliner Lokal-Comites, die bis zum I.Juli einzu- 
berufen ist. Nähere Mitteilungen über diesen Alliance-Tag, zu dem alle Vertreter der deutschen Bezirks- und 
Lokalcomites einberufen werden, und alle Mitglieder der Alliance Zutritt haben, werden rechtzeitig erfolgen. 

BERLIN, 18. Januar 1907. Der Vorsitzende: L. M. Goldberger, Geheimer Kommerzienrat. 



133 



134 



DIE LAGE DER JUDEN IN PERSIEN. 

Spezialbericht für die AUiance Isra^Iite Universelle von S. Galfon. 



Nachdruck verboten* 



Ispahan, 28. Oktober 1906. 

Bei dem unbeschreiblichen Zustand von Anarchie, 
in dem das ganze Land lebt, das der Gier der 
negierenden, der Habsucht und Bestechlichkeit der 
Priester ohne Gnade tiberliefert ist, können wir zu- 
frieden sein, dass unser Ansehen nicht noch schlimmeren 
Schaden gelitten hat. Persien befindet sich zur Zeit 
an einem Wendepunkt seiner Geschichte. Die von den 
Einwohnern der Hauptstadt erlangte Einrichtung eines 
Parlaments bleibt für die Provinzbewohner ein toter 
Buchstabe. Sie können nicht begreifen, dass der Schah 
es leichten Herzens tiber sich gewinnt, etwas von den 
Vorrechten seiner Autokratie aufzugeben und seine 
Taten einer Volkskontrole zu unterwerfen. Das per- 
sische Volk ist feige, furchtsam, sehr langsam im Fort- 
schritt, und daran gewöhnt, das Knie zu beugen; es 
ist deshalb noch nicht so weit, sich von dem Joch er- 
erbter Dienstbarkeit betreien zu wollen. In der Be- 
sorgnis, dass das aufgeklärte Volk schliesslich des 
vexatorischen Expressungssystems müde werden möchte, 
wenn es nach dem Beispiel der Einwohner Teherans 
sich belehren lässt und ihre Herrschaft zu bestreiten 
oder selbst abzuwerfen versucht, bemühen sich die 
Priester, das Uebel mit der Wurzel auszureissen. Sie 
haben neue drakonische Gesetze erlassen, alle ver- 
gessenen Verordnungen wieder hervorgesucht, die 
Fasten, die Bass- und Trauertage (Taziels) verviel- 
fältigt, als ob der Weltuntergang drohte. Um die 
gläubigen und kindlichen Gemüter der Menge noch 
mehr zu schrecken und sie in das Dunkel der Un- 
wissenheit zurückzudrängen, halten die Oberpriester in 
den Moscheen drohende Predigten, die die Blitze Allahs 
und die vollständige Vernichtung auf alle herab- 
beschwören, die die ungläubigen protestantischen und 
judischen Schulen besuchen. Diese Drohungen haben 
bereits gewirkt. Die Oscof- Schule der englischen 
Missionare, die den Zweck verfolgt, unter den Moha- 
medanem Propaganda zu machen, hat aus Mangel an 
Schülern geschlossen werden müssen. 

Von den 22 Schülern, die im letzten Jahr unsere 
Knabenschule besucht haben, sind uns nur 6 oder 7 
geblieben, die übrigen haben uns verlassen, um den 
Priestern zu gehorchen. Mehr als alle andern empfinden 
unsere Glaubensgenossen den Rückschlag des wieder- 
erwachten Fanatismus. Jeden Tag sind sie neuen 
Quälereien ausgesetzt. Ein Muschtehed hat sich grosse 
Berühmtheit erworben, weil er den Mohamedanern ver- 
bot, den Juden Trauben zu verkaufen Die Djedids 
(Convertiten) machen jetzt schon gemeinschaftliche 
Sache mit den Priestern. Unter deren Schutz kommen 
sie plötzlich überall zum Vorschein und reklaniieren 
Anteile von märchenhaften Erbschaften. Die Lage 
wird sehr kritisch. Ich bin fortwährend auf dem qui- 
vive, um den Eventualitäten zuvorzukommen. Ich habe 
sehr unangenehme Zeiten durchzumachen, und muss mit 
meiner Person eintreten, um die verworrenen An- 
gelegenheiten der Gemeinde zu gutem Ende zu führen. 
Um Unterstützung zu gewinnen und um sie im Notfall 
auf meiner Seite zu haben, habe ich bei den einfluss- 
reichsten Priestern eine Besuchsrunde gemacht. 

Was ich eben erzählt habe, bezieht sich nur auf 
die beiden letztverflossenen Monate. Aber im allgemeinen 
hat während des vergangenen Jahres unser Einfluss 
heilsame Ergebnisse für unsere Glaubensgenossen gehabt. 
Xicht nur in Ispahan, sondern auch in Schiras und in 



Golpaygan ist unser Einfluss wohltätig gewesen. Als 
unsere Glaubensgenossen in Schiras im letzten Jahr 
soviel Ungemach und Verfolgungen erleiden mussten, 
haben wir hier daran gearbeitet, sie aus der Gefangen- 
schaft zu befreien, in der sie über ein halbes Jahr 
haben aushalten müssen. Wir haben einen eigen- 
händigen Brief des Grosspriesters von Ispahan, Agha 
Nadjafi, erlangt, in dem er unsere bedrückten Glaubens- 
genossen dem Wohlwollen seines Kollegen in Schiras, 
Agha Mirza Ibrahim, empfiehlt. Etwas Aehnliches war 
bis jetzt in Persien noch nicht vorgekommen: dass ein 
einflussreicher und fanatischer Priester die „unreinen'' 
Juden protegiert hätte. Andererseits hat auch Se. Hoheit 
Zil Essultan, der Gouverneur von Ispahan, uns die 
wärmsten Empfehlungsbriefe an die Behörden in Schiras 
gegeben. Dieser gleichzeitige Schutz von hoher geist- 
licher und weltlicher Stelle hat sehr \iel zur Befreiung 
unserer Glaubensgenossen in Schiras beigetragen. 

In der 15 Kilometer von Ispahan belegenen Stadt 
Golpaygan haben die Djedids unseren Glaubensgenossen 
das Leben schwer gemacht. Durch unsere guten Be- 
ziehungen und durch direkte Intervention beim Minister 
des Auswärtigen in Teheran haben wir erreicht, dass 
die Urheber der Unruhen bestraft wurden — sie wurden 
nach Suitanabad verbannt. Das hat allen jenen die 
Lust benommen, die unseren Glaubensgenossen neue 
Unannehmlichkeiten bereiten wollten. 

In Ispahan selbst hat unser Schulwerk gute Fort- 
schritte gemacht. Mehrere von der ersten Stunde an 
unseren Schulen feindlich gesinnte Personen haben 
ihren alten Irrtum eingesehen und kamen zu uns, 
amende honorable zu leisten. Ihre Neutralität ist uns 
jetzt eine wertvolle Hilfe. 

In den leider sehr häufigen Streitigkeiten der Juden 
untereinander sind wir die versöhnenden Schiedsrichter 
gewesen und haben das gute Einvernehmen wiederher- 
gestellt; damit ist vielfach die Veranlassung zu Miss- 
gunst und Rache aus der Welt geschafft worden. 

Das Judenviertel verwandelt sich von Tag zu Tag, 
und unsere Glaubensgenossen ebenfalls. Früher ver- 
mieden sie alle Verlautbarungen ihi*er Existenz, schlichen 
an den Häusermauern entlang, um unbemerkt vorbei- 
zukommen, lebten in Kellern, damit man ihre Häuser 
nicht erkannte, feierten ihre Hochzeiten bei Nacht, um 
den Mohamedanem nicht durch ihre Freude zu miss- 
fallen, kleideten sich in schmutzige Lumpen, damit man 
ihr Vermögen nicht argwöhnte, demütigten und duckten 
sich, damit man sie vergass und in ihren Löchern 
vegetieren Hess. Heute ist die Lage eine ganz andere. 
Seitdem unsere Schulen bestehen und der in ihrer Mitte 
lebende Direktor ihnen Beistand und Schutz verleiht, 
haben die Juden Selb/jtvertrauen gewonnen, ihre Häuser 
erheben sich schön, bequem und sauber; sie kleiden sich 
gut, eröffnen zahlreiche Geschäfte im europäischen Viertel 
und haben Läden in den grossen Handel sbazaren der Stadt; 
sie importieren und exportieren und haben Beziehungen 
zu den anderen Städten Persiens, sogar zum Ausland. 
Nicht nur in den wohlhabenden Häusern, auch in den 
Hütten der Armen fängt ein besseres Leben an. Mit 
einem Wort: in den Herzen unserer vordem so sehr 
zu beklagenden Glaubensgenossen wird die Hoffnung 
wieder neu geboren. 

Nach dem Urteil aller Welt zeigen unsere Schulen 
schon jetzt die besten Erfolge: jedenfalls nimmt ihr 
guter Ruf immer weiter zu, trotz des verdummenden 



135 



S. Galfon: Die Lage der Juden in Persien. 



136 



Fanatismus der Menge und der nervenzerrüttenden 
Scherereien der Priester. Einige Beispiele mögen 
davon überzeugen. 

Die Tombacs-Gesellschaft verlangte von mir einen 
Schüler, der gut französisch und persisch verstand, und 
ich beeilte mich natürtich, diesen Wunsch zu erfüllen. 
Durch sein geschäftUdies Verständnis und besonders 
durch sein Anpassupgsvennögen wird er bald die 
Kollegen überflügelt haben, die schon länger als er im 
Dienst der Gesellschaft stehen. Obgleich er erst vor 
knapp vier Monaten engagiert worden, verdient der 
junge Mann schon 90 Francs monatlich. 

Ein armes junges Mädchen aus unserer ersten 
Klasse gibt im Harem (Enderum) des Gouverneurs 
Unterricht im Französischen. So etwas ist bis jetzt 
noch nicht vorgekommen. Zweimal wöchentlich schickt 
Se. Hoheit der Gouverneur seinen Wagen ins Juden- 
viertel und lässt die arme Lehrerin mit ihrer Mutter 
abholen, damit sie im Palast des Gouverneurs Unter- 
richt erteilen kann. 

Unsere Schule verdankt ihr Vorwärtskommen 
ihrer praktischen Unterrichtsmethode. Schüler, die 
drei bis vier Jahre die mohamedanischen oder die 
Missionsschulen besucht haben, sind nicht im Stande, 
englisch zu sprechen oder zu verstehen, während die 
Erfolge unserer Schulen sehr schnell zu Tage treten. 
Es ist ein wahres Vergnügen, unsere Schüler während 
der Unterrichtspausen französisch plaudern zu hören. 
Während des Unterrichts hören sie nicht auf, ihren 
Lehrern verständige Fragen zu stellen, die das Er- 
wachen ihres Geistes und ihr rasches Aufifassungs- 
vermögen beweisen. Mehr als das eigentliche Lehren 
im buchstäblichen Sinne haben wir uns die Hebung 
unserer Glaubensgenossen zum Ziel gesetzt, die Neu- 
schafl^ung der Familie durch Hygiene und Reinlichkeit, 
die Uebung einer rechtschaffenen Moral und reinere 
Sitten, die Weckung des Selbstgefühls und eine weniger 
materielle Auffassung des Lebens. Gerade den Kind.TU 
müssen wir die Keime dieser Grundsätze einimpfen, 
damit die von ihnen zu bildende Generation besser 
werde als die vorhergegangenen. 

Bei den Mädchen bestehen die Kurse aus Plaudereien 
über Familie, Hygiene, Kindererziehung, gute Haltung 
und saubere Häuslichkeit. Viele Stunden werden mit 
Näharbeiten, Stickereien und def Fabrikation von 
Ghives ausgefüllt. Die überall in Persien öbliche 
lächerliche Kleidung, die so grosse Aehnlichkeit mit 
dem Kostüm der Tänzerinnen in den Konzert - Hallen 
hat, wird allmählich durch den langen und einfachen 
Rock der Europäerinnen verdrängt. Die täglich vor- 
genommene Sauberkeitsinspektion ermöglicht uns, die 
hautkranken Kinder herauszufinden und sie zu heilen. 
Tatsächlich wird die Zahl dieser Kranken von Tag zu Tag 
geringer, dank der strengen Methode, dass äJlen Schülern 
gleich massig die Haare ganz kurz geschor^il werden. 

Von allen Lehrgegenständen interessieren unsere 
Schüler die exakten Wissenschaften und die Geographie 
am meisten. Die sehr elementaren wissenschaftlichen 
Vorstellungen zerstören allmählich manchen lächerlichen 
Aberglauben: die Furcht vor den Dämonen, den Glauben 
an die Wunderwerke der Zauberkunst, der Karten- 



leger, der Chiromantie und aller occulten Wissen-. 
Schäften, die so grosse Gewalt über die Gemüter der 
Perser üben. Wir benutzen jede Gelegenheit, unsere 
Schüler von der Wesenlosigkeit der mancherlei aber- 
gläubischen Vorstellungen zu überzeugen, die bei 
unsern Glaubensgenossen Geltung haben, und ihnen 
beizubringen, dass man in Krankheitsfällen uhd bei 
Verletzungen anstatt eines Nekromanten einen euro- 
päischen Arzt zu Hilfe rufen muss. 

Die Geographie interessiert die Kinder noch weit 
mehr. Da die meisten Schüler Ispahan noch nicht ver- 
lassen haben, weder das Meer noch Schiffe noch Eisen« 
bahnen kennen, haben alle nur den einen Wunsch: 
alles zu sehen; und bis sie in die Lage kommeu, ihre 
Träume zu verwirklichen, wollen sie wenigstens davon 
sprechen hören. Ihre sehr berechtigte Neugier kennt 
keine Grenzen. Sie befragen uns fortwährend über die 
zivilisierten Länder, die von ihrem Vaterland so ver- 
schieden sind. Ich ermutige ihren Wunsch, Persien 
verlassen zu wollen, denn in unserem Viertel ist die 
jüdische Bevölkerung viel zu dicht. Ihr Elend kommt 
von ihrer grossen Zahl. Ganze Familien leben in herz- 
brechender Enge in einem einzigen Raum ohne Luft 
und Licht. Die Familien sind nicht selten, die nach 
wiederholter Vermehrung immer noch dasselbe einzige 
Stübchen bewohnen. Unglücklicherweise kann die 
jüdische Kolonie sich nicht in grösserer Entfernung von 
ihrem jetzigen Viertel ausdehnen und enti^'ickeln. denn 
sie ist von allen Seiten von übelwollenden Mohamedanem 
umgeben, die missgünstig auf den neuen Aufschwung 
sehen, den unsere Glaubensbrüder zur Verbesserung 
ihres Loses genommen haben. 

Für die mohamedanischen Kinder, die unsere 
Knabenschule besuchen, habe ich ausser den gewöhn- 
lichen Lehrstunden eine arabische Klasse eingerichtet. 
Ich benutze meine Kenntnisse in dieser Sprache, jeden 
Freitag selbst Unterricht zu erteilen. Dadurch bringe 
ich unsere Schule besser zur Geltung, denn das 
Arabische i>t die Religionssprache der Perser. 

Jeden Tag konstatiere ich mit Vergnügen die 
Fortschritte, die unsere männlichen und weiblichen 
L«»hrlinge in ihren verschiedenen Handwerken machen. 
Abgesehen davon, dass ihre Gesundheit sich durch das 
Handhaben der Werkreuge gekräftigt hat, bemerke ich, 
dass sie mit ausgesprochen gutem Willen und mit allen 
möglichen Mitteln bemüht sind, auch die feinsten Hand- 
griffe ihres Metiers zu erlernen. Ich habe die Hoffnung, 
dass ihre Zukunft durch die Ausübung ihrer Berufe 
gesichert ibt. Wenn sie ihre Lehrzeit beendet haben , 
werden sie ihren Lebensunterhalt bequem und anständig 
verdienen können. 

Auch die Stickerinnen, Näherinnen und Ghives- 
Arbeiterinnen sind mit grossem Eifer in Tätigkeit, und 
ihre Arbeiten sind wegen ihres guten Geschmacks, ihrer 
Feinheit und vollendeten Ausführung sehr geschätzt. 

loh resümiere mich: Das vergangene Jahr ist für 
unsere Tätigkeit in Ispahan ein gutes Jahr gewesen. 
Nach aussen ist es uns gelungen, unsere Glaubens- 
genossen aus schwierigen Verlegenheiten zu ziehen, 
dank den freundlichen Beziehungen, die wir mit den 
Behörden und den Xotabeln der Stadt unterhalten. 



(Der Vertrauensmann der A. 



SALOMON BUBER. 

. U. in Leraberg, am 23, Januar 1907 i 



Wieder hat der Tod in die Reihen der AVissen- 
Schaft des Jadentums eioe Lticke gerissen und 
eineo Mann dahingerafft, der niclit ersetzt werden 
wird. Salomon Buber, der nach einem arbeits- 
voUen und au mannigfaltigen Erfolgen reichen 
Leben in dem Lohen Alter von 80 Jahren von 
uns geschieden ist, stand ein volles halbes Jahr- 
hundert unter den emsigen Arbeitisrn im Wein- 
garten der judischen Literatur. Kr entstammte 
einer wohlhabenden, an- 
gesehenen Kaufmann-s- 
familie in Lemberg, in 
der es, wie zu jener Zeit 
in dieser Klasse allge- 
mein Qblich war, die der 
geschäftlichen Arbeit ab- 
gerungene Mnsse der 
Schriftgelehrsamkeit za 
widmen, Salomon Bubers 
Jagend fiel in eine Zeit, 
als die Sturm- und Drang- 
periode der Haskala, von 
der er tlbrigeos unmittel- 
bar fast garnicht berührt 
wurde, bereits ausgetobt 
hatte. Aber von dem 
Geist, der die Zeit be- 
herrschte, mosste auch 
er notwendig einen Hauch 
verspQreD. So kam es, 
dass er, anstatt sich in 
dem Labyrinth des Pilpul 
und der ritualistisehen 
Diskusaionen zu verirren, 
für die wissenschaftliche 

Forschung Vorliebe 
fasste. Als er im Jahr 
]H56 mit seiner ersten 
Arbeit, einer Biographie 
des Eliah Bachur, de- 

btttierte, war Nachman Salomon 

Krochmai seit fdnfzelm 

Jahren tot und Rappoport schon lange auf 
dem Pr^er Kabbinatsstubl fcslgeeist. tSalonion 
Buber gedachte nicht, die Rolle eines Dilet- 
tanten zu spielen. Er vertiefte sich mit 
)iraazem Ernst und vielem Flciss in die 
Wissenschaft. 1865 veröffentlichte er Glossen zu 
den Responsen der Gaonim, und drei Jahre 
später begründete er seinen Ruf durch dia Publi- 
kation der sog. Fesikta des Rav Kaliana, eines der 
wichtigsten aggadischen Midrasch werke, einer un- 
iimg&nglichen Quelle zur Literatiirgescliiclite der 
Juden Palästinas im 4. .Jahrliundert, eigentlicli die 
älteste Aggadakompilation, an die sich die tausend- 
jährige Kerie dieser Literaturgattung anschliesst, 
ein Werk, das bis dahin in seiner Totalität der 
Oeffeotlichkeit nicht zugänglicii war. Nun stammt 
diese Pesikta freilicli gar nicht von Kav Kahana, 



Nachdruck verboten. 
I 80. Lebensjahr gestorben.) 

wie Buber im deutschen Titel seiner Edition an- 
gibt, sondern der Name ist eine Abkürzung von 
Rabbi Abba bai- Kabana, von dem ein Ausspruch 
die Sammlung ursprüngliph einleitete. Aber das 
tat dem grossen, allgemein anerkannten Verdienst 
des Herausgebeis keinen Eintmg. Buber hatte 
sich vier äusserst seltene Handschriften verschafft, 
die Lesarten mit peinlicher Genauigkeit verglichen, 
dem Text eine sehr lange Einleitung vorausge- 
schickt, in der er alle 
möglichen Hypothesen 
über Entstehnngszeit, 
Komposition und Be- 
ziehungen des Werkes zu- 
sammentrug, alle Stellen 
verzeichnete, wo sein 
Midrasch erwähnt, ziüeit 
oder nur berDhit wurde, 
und begleitete ihn mit 

einem anafohrlichen 
Kommentar, der tlber die 
geringsten Minutiositäten 
sich mit Genauigkeit er- 
geht. Dieser Methode 
blieb Salomon Bubcr sein 
ganzes Leben treu. Fast 
jedes zweite Jahr brachte 
von ihm die Edition 
irgend eines anderen 
verloren geglaubten Mi- 
drasch, eines Midrasch- 
fragments, eines Kom- 
mentars oder Superkom- 
mentars, nach derselben 

Methode bearbeitet. 
Grosses Verdienst erwarb 
er sich durch die Aus- 
gabe des tJr-Thanchuma 
{WilnalS85). Erstellte 
seine sehr bedeutenden 
Buber. materiellen Mittel in den 

Dienst der Wissenschaft 
und vollbraclile das, was sonst überall nur mit 
reichen Ressourcen ausgerüstete gelehrte Körper- 
schaften zu unternehmen pflegen. Er durchstöberte 
alle Bibliotheken nach Handschriften, beschäftigte 
zahlreiche Kopisten, scheute auch keine Opfer, 
wo es galt, die Manuskripte selber in Augen- 
schein zu nehmen, arbeitete unermüdlich und rast- 
los, selbst im hohen Alter, da er schon schwer 
leidend war, jeden Tag von '* Uhr morgens ab. 
(Dabei war er ein G rosskau fmann, Chef einer be- 
deutenden, prosperierenden Firma. Auch war ei' 
lange Jahre der Vertrauensmann der .Mliance 
Israölite Universelle, deren Werke er mit hin- 
gebendem Eifer förderte.) Unverdrossen brachte 
er eine grosse Reihe älterer und jüngerer Midrasch- 
werke an den Tag. Da ist der Lekach Tov, Sifiö 
dcaggadetha, Midiasch Tchillim, Midrasch Samue 



139 Mitteilungen der Alliance Israelite Universelle: Salomon Buber. 140 

Midrascli Miscble, Sdidrasch Ä^gada, Midrascli er mit ausscliliesslicher Liebe, so dass fUr ilio 

Suta, Midrasch £:chah, Jalkut Hammakhiri und zuletzt der Begriff Literatur fast mit dem 

viele, viele andere. Bubers PublikatioDen bilden eines alten noch nicht publizierten Midrasch iden- 

zusammen 26 oder 28 Bände, eine imponierende tisch wurde.. Es kam ihm seltsam vor, dass die 

Ernte. Dabei war Salomon Buber nicht ehrgeizig. Leute Gedichte, Dramen, Romane, philosophische 

Er langte nicht nach den Lorbeeren eines Abraham und naturwissenschaftliche Bücher schrieben, 

Epstein, J. H. Weiss, Fränkel, Theodor, Friedmann, während noch so viele unedierte Midraschim im 

Bacher, die diese ganze Literatur als eine Reihe Dämmer der Bibliotheken schlummern. Anderer- 

von Dokumenten entschwuudeneD Geisteslebens be- seits war er in wissenschaftlicher Hinsicht von 

trachteten, deren Text sie mit ungeheurem Scharf- unerscliöpflicher Freigebigkeit und stets bereit, 

sinn durchforschten, um auf ihm die Kulturgeschicbt« Jedem, der auf seinem Gebiet mitarbeiten wollte, 

verschollener Zeiten wieder aufzubauen. Buber mit seinem Rat und seiner Erfahrung beizustehen, 

zog es vor, die verschiedenen Hypothesen und alle Wer seine Werke nur dem Namen nach kannte 

Lesarten, die er auftreiben konnte, nebeneinander und ihm näher trat, war erstaunt, auf einem ver- 

zu stellen und es dem Leser zu ttberlassen, die gleichsweise so engen Gebiet solche Fülle von 

zu wählen, die ihm am meisten zusagte. Er Gelehrsamkeit und positivem Wissen anzutreffen, 

betrachtete es als seine Aufgabe, mit Gewissen- und musste inne werden, dass Fleiss, Emsigkeit 

haftigkeit und genauester Sachkunde Bausteine und Hingabe imstande sind, der Kleinheit selbst 

zosammenzutr^en, die mühsamste Vorarbeit filr innere Grösse zu verleihen. Aus seinem Gebiet trat 

einen späteren Bau zu leisten, dessen Ausfuhrung er nur selten heraus. Noch im vorletzten Jahr er- 

er anderen ermSglichte und neidlos Uberliess. freute er alle Verehrer Raschis durch Herausgabe 

Auch die Bearbeitung des so überaus reiclien des ,S6fer Haorah", eines den Namen des grossen 

linguistischen Stoffes, den seine Publikationen boten, Kommentators tragenden Sammelwerkes, das bisher 

ttberliess er anderen, wie z.B. Kohut, Jastrow, nurausExzerptenbekannt war. Nun ist er selber hin- 

FUrst, Kraus. Es. war nicht seine Schuld, wenn gegangen dorthin, wo Raschi seit acht Jahrhunderten 

die genannten Männer oft eigene Wege gingen, weilt. Er ist hingegangen, „alt und satt an Tagen" 

Ihn störte und kümmerte das nicht, er war un- wie die Patriarchen der Bibel, und lässt hier unten 

ermQdlich. Das von ihm erwählte Gebiet liebte keinen zurück, der seinen Platz ausfüllen würde. 



JACOB H. SCHIFF. 



Nichdnick verboten. 



In der vorigen Nummer haben wir unserem groscenameri- Bankhaus in den amerikanischen Eisenbahnangel egenheiten 
kanischen Glaubensgenossen Jacob H.Schiff zum tO. Januar, bald eine führendeStcllung erlanete. Er war dielreibende Kraft 

seinemÖO.Geburtstag, unseren bei der Reorganisation der 

Glückwunsch dargebracht. Union ftcific-Bahn und 

Heute zeigen wir unseren führte sie in glänzender Weise 

Lesern den Derühnitcn Philan- durch. Ausser der Ver- 

ihropen im Bilde. waltung dieser Bahn gehört 

Er ist in Frankfurt a. M. ge- Schiff auch derjenigen der 

boren, wo seine Familie seit Baltimore and Ohio, der 

dem 14. Jahrhundert ansässig Norfolk Western, der Pennsyl- 

jst und sich wachsenden An- vania, der Chicago Bulington 

sehens erfreut liat. Nachdem and Quincy-Bahn an, und 

er — wir folgen hier den An- seine Firma übt die Kontrolle 

^ben eines zuverlässigen Be- über ein gewalt igesEisenbahn- 

richlerstatters — die zu jener netz aus. Bei vielen her- 

Zeit allgemein übliche Real- vorragenden amerikanischen 

Schulbildung genossen und Eisenbahn- Geschäften hat 

seine kaufmännische Lehrzeit Schiff eine massgebende 

in der Tuchhandlung Moses Stellung eingenommen, so 

Amschel durchgemacht hatte, auch Sei dem bekannten 

King er achzehnjährig nach Kampf um die Northern 

New-York, wo er bei einer Pacific-Aktien, uud seiner 

Brokerfirma Frank & Gans ein- Mässigung war es zu danken, 

trat. Nach zweijähriger Tälig- dass dem New-Vorker Markte 

keit gründete er 1867 das Bank- damals eine schwere Kata- 

haus Budge Schiff & Co., das sirophe erspart blieb. Für 

im Jahre 1873 wieder auf- die Unterbringung der ja- 

gelöst wurde. Schiff weille panischen Kriegsanleihen hat 

dann einige Zeit in Europa, hat Schiff mit seinem Hause 

wo er viele wertvolle Be- eine ausschlaggebende Tälig- 

zfehungen anknüpfte. Nach keit enlwickelt und hat im 

Amerika zurückgekehrt, trat ' vorigen Jahre auf Einladung 

ernm [.Januar ]675als Teil- des Kaisers von Japan das 

haberin dasangeseheneNew- Land bereist, — "" ~'' 

VorkerBankhausKuhnLöb& '" '" ' 
Co. ein, in dem er bald die 

' ''ende Persönlich keit wurde. hat Schiff eifrig und erfolg- 

lem Wirken war es vor- reich für die so schwer 

;endzudanken,dassdieses Jacob H. Schiff. bedrückten russischen Juden 



f 



141 



Mitteilungen der Altiancc Israelite Universelle: Jacob H. Schiff. 



142 



gewirkt, wie er sich stets als Philantrop grossen Stils be- 
währt Die wichtigsten jüdischen Stiftungen New- Yorks sind 
ihm zu danken, und bei zahlreichen Wohltätigkeitsanstalten 
in Ncw-York ist er mit seinen Mitteln und seiner Art)eitskraft 
tätig. In den Werken hilfsbereiter Menschenliebe ist sein 
Haus für alle Notleidenden ohne Unterschied des Glaubens 
und der Nation geöffnet. Je reicher er wurde, umsomehr 
liess er die Armen und Dürftigen an seinem Reichtum teil- 
nehmen. Auch für wissenschaftliche und künstlerische Inter- 
essen hat er stets ein weit geöffnetes Haus. So hat er, ab- 
gcsdien von anderen grossen Leistungen, einen eigenen Lehr- 
stuhl für Sozialwissenschaften an der Kolumbus-Universität 



errichtet und audi für Verbreitung der hebräischen Literatur 
in Amerika viel getan. Jacob H. Schiff war immer ein treuer 
Sohn und hat sich seinen Geschwistern gegenübem zu allen 
Zeiten den warmen Familiensinn bewahrt, wie er auch in- 
mitten der anstrengendsten und aufreibendsten Geschäfte sich 
immer Herz und Gemüt für die Familie im wahrsten Sinne 
des Wortes bewahrte. Ein gutes, warmes Herz, ein feines, 
tiefes Gemüt, sind die charakteristischen Eigenschaften des 
energischen Mannes der Tat. 

Herr Jacob H. Schiff ist der Bruder unseres hoch- 
verehrten Mitgliedes in der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft 
Herrn Philipp Schiff in Frankfurt a. M. 



DIE KREDITGENOSSENSCHAFTEN IN OALIZIEN. 

Ein Hilfswerk der J. C A. 



Die Jewish Colonisation Association — ihr 
Präsident ist zugleich der Präsident des Central - 
Comitös der Alliance Isra61ite Universelle — ver- 
waltet und verwendet ihre grossen Mittel mit vor- 
sQhauender Klugheit. Sie hat ihre Aufgabe dahin auf- 
gefasst, dass sie nicht das Elend fristen und dadurch 
verewigen, sondern es bekämpfen und durch Schaflang 
selbstständiger wirtschaftlicher Existenzen beseitigen 



Nachdruck verboten. 

amtlich in die Direktion einzutreten. Dehnt sich 
die Tätigkeit der Kreditgenossenschaft aus, so ge- 
währt die J. C. A. ihr weitere Mittel als Darlehen 
zu massigem Zinsfuss. 

Von 10 Kreditgenossenschaften — die in 
Husiatyn und Brzczany sind erst später gegründet 
— liegen Jahresberichte pro 1905 vor, aus denen 
wir die nachfolgende Tabelle zusammenstellen: 



Kreditgenossenschaften der J. C. A. 

Stand am 31. Dezember 1905. 



« 


Mitglieder 


Anteile 


Darlehou 


Spareinlagen 


Reservefonds 


Gewi 


im pro 1905 






Kr. 


Kr. 


Kr. 




Kr. 




Kr. 


Brody . ' . . 


974 


16920 


69 750.80 


52 686.07 




3 884.65 




172.91 


Burstyn . . 


240 


8420 


22277.- 


14000.— 




280.— 




16.38 


Koloroea . . 


1895 


30880 


142 760 50 


111680.09 




16 262.63 




1355.55 


Rxeszow . . . 


775 


14220 


67 664.74 


54 169.87 




4 275.26 




546.32 


Sambor . . . 


370 


10090 


39 903.80 


14000. 




1 707.81 




241.24 


Stanislau . . . 


820 


14190 


72 189.88 


59 020.24 




5 125.90 




100.49 


Taraow . . . 


643 


12 830 


60 817.41 


49 685.71 




3 394.10 




667.37 


Tamopol . . . 


290 


10 940 


40 734 80 


34000. 




584.25 




— 


Zloczow . . 


226 


8 910 


27 117.90 


19000.- 




450.13 


« 


— 


Zaleszczyki . 


416 


10150 


34 310.40 


22 155.21 




3953.83 




690.27 




6649 


Kr. 137 550.— 


Kr. 577 527.23 


Kr. 430 397.19 


Kr. 


39 918.65 


Kr. 


3 790.53 



soll. Indem die J. C. A. zu freier Selbsttätigkeit 
anregt, strebt sie dahin, den wirtschaftlich rück- 
ständigen Teil der ihrer Obsorge überwiesenen 
jüdischen Bevölkerung auf die eigenen Füsse zu 
stellen, Selbstvertrauen in den Gemütern derer zu 
wecken, die sonst gewöhnt waren, im „Schnorren** 
die einzige angemessene Betätigung des Gott- 
vertrauens zu sehen. In aller Stille hat sie in 
Galizien Kredit-Genossenschaften für den 
Kleinhandel und das Kleingewerbe geschaffen, 
deren Zahl im Laufe weniger Jahre auf 12 ge- 
stiegen ist. Der Gründungsvorgang war überall 
der nämliche : Die J. C A. zeichnete 6000 Kronen 
Anteilscheine und gab ein unverziusliches Darlehen 
von 14 000 Kronen, nachdem sie vorher durch ihre 
Vertrauensmänner angesehene Personen des Platzes 
dazu bewogen hatte, durch Uebemahme von Anteil- 
sdieinen das Werk zu unterstützen und ehren- 



Von diesen zehn galizischen Kreditgenossen- 
schaften haben drei, die in Kolomea, Stanislau und 
Tarnow, bereits sieben Geschäftsjahre hinter sich, die 
von Brody, Rzeszow und Zalesczyki fünf Geschäfts- 
jahre. Die Kreditgenossenschaft von Sambor hat 
zwei Jahre, die von Bursztyn, Tamopol und Zloczow 
haben erst ein Geschäftsjahr hinter sich. Die Zahl 
der Mitglieder, bei den jüngsten Genossenschaften 
224 — 226—290, belief sich Anfang vorigen Jahres 
bei den ältesten auf 643 — 820 — 1895, bei allen 
10 Genossenschaftskassen auf zusammen 6649. In 
fünf Kassen war die Zahl der Mitglieder vom 
1. Januar 1905 bis 1. Januar 1906 um 894 ge- 
stiegen, in einem einzigen (Tarnow) war ein kleiner 
Rückgang, von 650 auf 643, eingetreten. Inner- 
halb desselben Jahres hatten sich, wie bereits er- 
wähnt, drei neue Kassen mit 756 Mitgliedern ge- 
bildet, sodass in der genannten Zeit 1643 Mit- 



143 



Mitteilungen der Alliance I^raelite Universelle: Die Kreditgenossenschaften in Oilicjen. 



144 



glieder (1650 ~7) sich neu dem Genossenscliafts- 
wesen angeschlossen haben. Die Anteilscheine der 
zehn Genossenschaften, über je 10 Kronen lautend, 
betragen zusammen 137750 Kronen, wovon 6O0OO 
Kronen der J, C. A. gehören. Ausserdem sind 
von den 430 377,19 Kronen mehr als 400 000 
Kronen Darlehen der J. C A. an die Genossen- 
schaften. Mit diesen Mitteln war es den Genossen- 
schaften möglich , im Jahr 1905 insgesamt 
997752 Kronen an 5596 Parteien zu verleihen. 
Das geringste Darlehen schwankte von 35 bis 50, 
das höchste von 300 bis 800 Kronen, der Durch- 
schnitt war 178,30 Kronen. Bezeichnend fttr die 
ganze Geschäftsgebarung und fUr die Solidität und 
Ehrlichkeit der Genossenschaftsmitglieder ist der 
Umstand, dass die Genossenschaftsleitungen wohl 
hier und da über mangelhafte Pünktlichkeit in der 
Innehaltung der Rückzahlungstermine zu klagen 
hattep, dass aber wirkliche Ausfälle fast gar nicht 
vorkamen. Man darf jedoch nicht glauben, dass dieses 
günstige Ergebnis durch besonders strenge Aus- 
wahl unter den Darlehnssuchem erreicht worden 
ist. Wenn beispielsweite in Kolomea von 2257 
Kreditgesuchen nur 225 abgelehnt worden sind, 
so spricht das nicht tür übergrosse Peinlichkeit. 
Man kann nicht sagen, dass die galizischen Kredit- 



genossenschaften der J. C. A. qUt blendenden Ge- 
winnen arbeiten. Durchaus n|obt. Das sollen sie 
aber auch garnicht. Keine von ihnen bat im letzten 
Geschäftsjahr ein Defizit gebabt — das ist alles, 
was man verlangen kann. DuegfaD sind überall 
die Reserven so reichlich wie möjj|fiio|i bedacht. Und 
noch ein Umstand ist benjerkeflswert: die Ver- 
waltung ist die denkbar biUIgite, 

Dass die Jewish Golonlßatlpo Association zu 
diesem Werk Kapital hergegabeo hat, ist nicht der 
springendePunkt. Das Bedeutsamste uodAnerkennens- 
werteste ist, dass sie gerade an d^r Kleinarbeit sich zu 
beteiligen nicht verschmäht bat, ißW sie imGegenteil in 
fortgesetzt steigendem Masse beniüht gewesen ist, zu 
solcher rettenden Kleinarbeit iojpaer mehr Personen 
heranzuziehen. Nicht alle Mitglieder der galizischen 
Kreditgenossenschaften der J. 0, A. sind gerettete, 
neu aufgerichtete wirtschaftliehe Existenzen, aber 
Tausende sind durch dies^ Kreditgenossenschaften 
tatsächlich zu Selbständigjceit und Selbstvertrauen 
erzogen worden. Und das Wf rk ist noch nicht an 
seinem Ende, noch nicht af|f seiner Höbe. Im 
Gegenteil. Die bisherigen I^elstungen stellen eher 
A'^ersuche dar, deren glückliobes Gelingen den Weg 
zu weiterem Fortschreiten weist. 



Berlin. Anlässlich des Ablebens unseres gelehrten 
Freundes Salomon Buber hatte der Präsident der 
Deutschen Conferenz-Gemeinschaft der Alliance Israelite 
Universelle an die Hinterbliebenen ein herzliches Bei- 
leidschreiben gerichtet. Darauf ist folgende Antwort 
eingegangen : 

Lemberg, 6. Januar 1907. 

An die verehrliche Deutsche Conferenz-Gemeinschaft 
der Alliance Israelite Universelle 

Berlin. 

Wollen Sie den Ausdruck unseres herzlichen 
Dankes für die Teilnahme, die Sie uns anlässlich 
des Hinscheidens unseres unvergesslichen Familien- 
oberhauptes, des Herrn Salomo Buber, erwiesen 
haben, entgegennehmen. Ihre Worte haben uns in 
unserm tiefen Schmerze einen kostbaren Trost ge- 



spendet und werden yon uns allezeit in dankbarer 
Erinnerung bewahrt werden. 

FUr die trauernde Familie 
Carl Buber. 

Cöln. Am 6. Januar hat sich hier ein Lokal- 
Comit6 der A. I. U. f^bildet, das sich später zu einem 
Bezirks-Comitö erweitern soll. Eiijßtweilen besteht das 
Comite aus den H^Ten Rabbiner Dr. Frank (Vor- 
sitzender), Stadtverordneter Louis Eliel (stellvertr. 
Vorsitzender), B. Fellchen feld (Schriftführer), Emil 
Blumenau (Schat2;m0ister), Dr. med. B. Auerbach, 
Justizrat Dr. Callmann und Simon Rosenberg. 

Frankfurt •• M* Die immerwährende Mitglied- 
schaft der A. l,\J. hat Frau Jakob Sichel, Eschen- 
heimer Anlage 31 erworben. 



Alle für das Berliner Lokal -Comite der A. 1. U. und für das peutsche Bureau der A. I. U. bestimmten 
Geldsendungen beliebe man an den Schatzmeister 

Herrn Benno Braun in Firma Joelsohn & Brfinn, Berlin C. 19, Hausvoigteiplatz 1 2 



zu adressieren, eventueU durch Reichsbank-Girokon o der Firma Joelsohi & Brunn zu überweisen. 



MM^^n* 



^M^^^i«» 



Inmaunamiahffle nur durch l)jia$en$tein ff Uogler B. 6. in Berlin und deren lilialen. 

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Verantwortlicher Redakteur: Leo Winz, Berlin, Alton^rstr. 36. - Verlan Ost und West, Berlin W.8. 

Druck von Haasenstein & Vogler A. O., Berlin S. 42, wasserthorstr. 50. 




ILLUSTRIERTE MONATSSCHRIFT 



FÜR DAS GESAMTE JUDENTUM 



Herausgegeben und redigiert 

von 

LEO WINZ. 



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Alle Rechte vorbehalten. 



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Heft 3. März 1907. TIL Jahrg. 



DER KOLLEKTANT. 

Von Charles L. Hallgarten (Frankfurt a. M.). 



Nacbdnick verboten. 



Vor einiger Zeit empfii^ ich einen Brief nach- 
stehenden Inhaltes: 

„Bei den Vereinen, bei denen Sie und 
Ihre Frennde an der Spitze stehen, sollten 
Sie doch dahin wirken, dass folgender Missstand 
grBndlich beseitigt werde: Durch Trägheit oder 
Indolenz der Colporteure oder deren mangelhafte 
Instruktion werden die Sammellisten immer und 
immer wieder nur einer beschränkten Anzahl von 
Leuten vorgelegt, von denen man weiss, dass sie 
geben, während die weitaus grössere Zahl unserer 
Mitbürger, die sich in Verhältnissen befindet, 
die ihr das Geben ebenfalls erlauben (ich meine 
nämlich den Mittelstand), ganz und gar unbehelligt 
bleibt. — Viele davon brauchten nur aus dem In- 
differentismus au%erüttelt zu werden, um an den 
humanitären Werken aktiv teilzunehmen. Ich glaube 
hier nach allen Seiten eine dankenswerte Anregung 
gegeben zu haben. ^ 

Ich möchte nun das bewährte Mittel der 
Öffentlichkeit erproben, um eine „dankenswerte 
Anregung" zu geben, wie man den Indif- 
ferentismus im Spendengeben aufrütteln könne. 
Dass die KoUektanten immer an denselben Türen 
anklopfen, ist doch sehr begreiflich. Zunächst 
werden sie sich stets an die wenden, von 
denen sie etwas zu erwarten haben. Daneben 
machen sie auch viele erfolglose Oänge, und mein 
Korrespondent weiss nicht, wie oft der Kollektant 
abgewiesen wird. — Dieser lässt sich die Mühe 
nicht verdriessen, besucht auch solche wieder, die 
ihm schon einmal eine Gabe verweigert haben, 
imd verfolgt jede Spur, um möglichst neue Kunden 



zu erwerben. — Es ist sein (Geschäft, und da er 
von der Kollekte Prozente erhält, so giebt er sich 
schon im eigepen Interesse die grOsste Mühe, den 
Betrag seiner Kollekte durch Heranziehung neuer 
Geber zu vermehren. 

Dass der Kollekta^nt denen, an die er sich 
wendet, Moral predige,« sie an ihre Pflicht mahne, 
das ist wohl kaum von ihm zu erwarten. Einem 
jeden ist auch schon so oft gepredigt worden, 
Geben sei seliger denn Nehmen, dass diese Wahrheit 
einer eigenen Propaganda kaum noch bedarf. Und 
die Aufgabe der KoUektanten kann es sicherlich 
nicht sein, die Gewissen zu erwecken, die sich 
solchen Lehren verschliessen. Dass er kommt und 
wieder kommt, das wirkt ohne Zweifel bei einigen ; 
denn steter Tropfen höhlt den Stein. — Allein eine 
würdige Aufgabe wäre es, die Menschen zum 
Geben zu erziehen. Einer der grössten Philan- 
thropen in New-York wirkt seit den letzten Jahren ' 
mit aller Macht nach dieser Blchtung, da er erkannt 
hat, dass die Erziehung zum Geben ebenso eine 
Pflicht ist, wie das Selbstgeben. Am meisten 
wirkt er durch sein Beispiel, und die Erfolge, die 
er erzielt, sind auch wohl zumeist dem Beispiel, 
das er gibt, zu verdanken, wenn sie auch ver- 
hältnismässig gering sind. Der Ereis der Geber 
ist überall klein, und auch für Frankfurt 
stimmt, was mir erst kürzlich ein geistreicher 
Philanthrop in Paris gesagt hat: „Ce sont toujours 
les memes qui se fönt tuer." 

In einem Punkte hat mein Korrespondent 
Unrecht. Er will, dass der Kollektant sich an den 
Mittelstand wende, an den „armen" Mittelstand, 



147 



Charles L. Hallgarten, Frankfurt a. M. : Der Kollektant. 



148 



dessen sich heute so viele politische Parteien an- 
nehmen. Eh^r mochte ich betonen, mftsste man 
sich noch weit dringlicher an die vielen Reichen 
wenden, die geben können, aber nicht geben 
wollen. Wie oft hört man nachgerade in 
diesen Kreisen die Worte: „Ich gebe prin- 
zipiell nichts!" In Encland besteht die Sitte, 
dass die Geistlichen einmal im Jahre einen charity 
sermon (Wohltätigkeitspredigt) halten. Der geist- 
reiche Dean Swift hielt einst eine solche Predigt 
mit den wenigen Worten : „He who gives to the poor 
lends to the Lord. If you'like the secnrity, down 
with the dust" (wer dem Armen gibt, leihet dem 
Herrn. Wenn Euch die Sicherheit genügend erscheint, 
heraus mit dem Plunder!) und verliess die Kanzel. 



Das ist ungefähr das Gleiche, was der Kollektant 
zu bieten hat, wenn er seine Sammelliste vorlegt. 
Durch lange Reden, durch persönliche Einwirkung 
kann er nichts erreichen. Wie oft, wenn ich selbst 
sammeln sollte, habe ich an die Worte gedacht, 
die Bulwer sei^ßm Schauspiel „Money" als Motto 
vorangesetzt hat: 

,/T is a very fihe world that we live in 

To lend or to spend or to give in; 

But to heg or to borrow or get a mans* own 

'T is the very worst world that ever was known." 

„'S ist 'ne schöne Welt, in der wir leben, 
Zum Verleihn, zum Schenken, zum Geldausgeben; 
Doch zum Bettehi, zum Borgen, zum Fordern von Geld — 
Da ist es eine abscheuliche Welt!" 



EINIGES ÜBER DEN GESCHICHTLICHEN BEGRIFF DES AMHAAREZ. 



Von Dr* Max Steif; 



Nachdruck verboten. 



Gibt es SO bald ein zweites Volk wie das 
jüdische, das sein neu erlangtes Volkstum vor allem 
dadurch bekundet, dass es am Sinai Lehren und 
Gebote entgegengenommen? Findet sich so leicht 
ein zweiter Volksführer wie Mose, der, anstatt 
das ihm anvertraute Volk zuallererst mit den Regeln 
der Kriegskunst vertraut zu machen, es kampf- 
bereit und sclilagfertig zu halten gegen die Unzahl 
von Feinden, die es rings umlauerte, „vom Morgen 
bis Abend ^ unermddlich tätig ist, es auszurüsten 
mit den Waffen des Geistes und des Wissens? 
Wahrlich, da ist es keine Uebertreibung, wenn von 
Israel gesagt wird, dass es allein ein „weises und 
verständiges Volk" genannt zu werden verdiene. 
Und wenn wir finden, wie später aller Tadel und 
aller Hohn der Propheten sich zumeist dagegen ge- 
richtet, weil das Volk dieses Wissen geringzu- 
schätzen begann, wenn wir erfahren, dass es wieder 
ein grosser Schriftgelehrter, Esra, gewesen, an 
dessen Namen sich die Neugründung des zweiten 
jüdischen Staatswesens knüpfte, dann wird man zu- 
freben müssen, dass das Wissen nirgends eine solche 
Wertschätzung gefunden, wie innerhalb des jüdi- 
schen Volkes. — Bildung und Wissen war zumeist 
allein entscheidend für den Rang, den jemand im 
alten Israel und auch späterhin eingenommen, und 
nichts mag hierfür bezeichnender sein als jene 
talmudi^che Entsclieidung, derzufolge einem Rastard 
der Vorrang selbst vor dem Hoiiepriester gebühre, wo- 
fern jener diesen an Bildung überrage. (Horioth 13a). 

Die Tatsache von der holten Wertschätzung 
des Wissens und die Geringschätzung der Un- 
bildung ist also schon in eine sehr frühe Zeit zu- 
rückzudatieren. Etwas anderes ist es hingegen 
mit den verschiedenerlei hebräischen Bezeichnungen 
für den Gebildeten und Ungebildeten; namentlich 
hat jenes Wort, das wie kein zweites den 
Ignoranten im jüdischen Wissen kennzeichnet, 
das Wort Amhaarez, seme besondere Geschichte, 



die darlegen kann, wie Worte ursprünglich ganz 
harmloser Natur im Laufe der Zeit zu einer omi- 
nösen Nebenbedeutung gelangen. 

Wortwörtlich nichts anderes als jj,Volk des 
Landes" bezeiclmend, erscheint der Amhaarez 
neben dieser Ursprungsbedeutung schon in der 
Bibel als eine besondere Klasse von Leuten, als 
misera plebs contribuens, oder als der gewöhnliche 
Mann idiotes, im Gegensatze zu dem eine Würde 
oder ein Amt Bekleidenden (vgl. III. B. M. 4, 27, 
Ez. 33, 2). Hier involviert diese Bezeichnung noch 
lange nicht die Bedeutung des Unwissenden, denn 
in der Bibel finden sich hierfür eine Reihe anderer 
Ausdrücke, wie z. B. isch-baar (4, 92, 7) kethil, 
pethi (Spr. I. 5, 22, VII. 6 u, a. m.) vor. — 

Die Entwicklung des Städtewesens zur Zeit 
des zweiten Tempels hatte mehr als früher, wo der 
Staat im ganzen und grossen ein ackerbautrei- 
bender gewesen, in der Landbevölkerung eine be- 
sonders differenzierte Klasse geschaffen, der in 
dem damaligen Schrifttum die Gesamtbezeichnung 
Amhaarez beigelegt wurde. Nichts wäre nun natür- 
licher gewesen, als dass infolge der Entfernung 
vom Zentrum der Gesetzesforschung eine immer 
mehr Überhandnehmende Unwissenheit bei diesem 
Amhaarez hätte Platz greifen müssen. Und doch 
geht aus den, auch diese Zeit Verhältnisse schon 
berührenden Mischnahangaben so viel hervor, dass das 
charakteristische Merkmal des Amhaarez keines- 
wegs völlige Unkenntnis des Gesetzes gewesen, 
sondern nur eine laxere Beobachtung gewisser reli- 
giöser Vorschriften, namentlich ein leichtfertiges Sich- 
hinwegsetzen über gewisse zu leistende Abgaben, 
Zehnten, und schliesslich eine geringere Observanz 
der auch in bestimmten Laienkreisen oft streng 
eingehaltenen levitischen Reinheitsgesetze. Dies 
hatte zur Folge, dass sich nach und nach streng 
abgeschlossene Vereinigungen Gleichgesinnter, sog. 
„Genossenschaften" (Chaberim), herausbildeten. 



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Dr. Max Steif: Einiges über den geschichtlichen Begriff des Amhaarez. 



150 



die, wenn auch ihrem eigentlichen Wesen und 
ihrer Bedeutung nach bis heute unerkannt, sich 
gerade die Pflege der von dem Amhaarez. so sehr 
vernachlässigten religiösen Bräuche zur Aufgabe 
stellten und behufs ihrer besseren Einhaltung 
jeden engeren Verkehr mit dem Amhaarez ver- 
pönten. Wohl hat in jtlngster Zeit Professor 
Dr. Bttchler (der galiläische Amhaarez des 2. Jahr- 
hunderts, Xlll. Jahresberichts der isr. theol. Lehr- 
anstalt in Wien 1906) in instruktiver Weise den 
Nachweis geführt, dass es sich hier um eine spe- 
zielle Menschenklasse, um den Köhen- Amhaarez 
in Galiläa und ebenso in seinem Widerpart um den 
Chaber-Köhen handle; aber so grosse Wahrschein- 
lichkeit diese Hypothese in sich schliesst, sie be- 
weist nicht, dass die Nichtbeobachtung der Rein- 
heitsgesetze gerade aus purer Ignoranz geschah. 
Denn wenn es dem Amhaarez durchaus nicht be- 
nommen war, durch blosse Uebeinahme der Pflich- 
ten jener Genossenschaft selbst gleichfalls ein 
Chaber zu werden (Toss. Demai II, 3), so lässt 
sich daraus der Schluss ziehen, dass er in allen 
übrigen Dingen, mithin auch in der Gesetzeskenntnis, 
nicht weit hinter dem Chaber zurükstand. Es war 
also, wie gesagt, mehr sein un frommer Lebens- 
wandel, der Anstoss erregte, ein Vorurteil, das der 
Amhaarez schwer zu bannen vermochte, dessen Nach- 
barschaft darum selbst bei äusserem frommen Gehaben 
man womöglich meiden sollte. (Sabbat 63 a). Denn 
so lautet ein alter Ausspruch der Mischnah (Pirke 
Aboth II, 5): kein Amhaarez kann ein Chassid 
sein. Vielleicht ist indessen in diesem Satze eine 
versteckte Spitze gegen die Sekte der Essäer zu 
suchen, die, wie bekannt, zumeist in Dörfern 
lebten und wahre Frömmigkeit einzig in dem völligen 
Zurückziehen von dem lauten Treiben der Städte 
wie in asketischen Uebungen erblickten. Noch 
mehr wäre dies aus einer anderen Stelle ersicht- 
lich (Pirke Aboth V, 10), die es als Merkmal des 
Amhaarez bezeichnet, es im Munde zu führen: was 
mir gehört, gehört dir, und was dir gehört, gehört 
mir — ein Grundsatz, der in der Gütergemein- 
schaft der Essäer seinen prägnanten Ausdruck 
fand. — Auch im Tahnud findet sich eine ganze 
Reihe verschiedener Ansichten, denen zufolge der 
Amhaarez alles andere denn als Ungelehrter gelten 
kann. Da meint beispielsweise R. Elieser (Bera- 
chot 47 b), der wäre ein Amhaarez zu nennen, 
der nicht täglich früh und abends das Sch'ma 
spreche; ein anderer, R. Josna: der keine Gebet- 
riemen anlege; ein dritter, Ben Asai: der keine 
Schaufäden trage; ein vierter: der seine Kinder 
ohneThorakenntnis heranwachsen lasse; und schliess- 
lich ein fünfter: der wohl selbst die Lehre 
studiere, sich aber im praktischen Leben nicht 
den Bestimmungen — der Lehrer füge. Nament- 
lich aus dieser letzten Ansicht ginge klar und 
deutlich hervor, dass auch zu Beginn des talmudi- 
schen Zeitalters der Begriff Amhaarez mit dem des 
Unwissenden noch nicht identisch war. Und wenn 
auch die Bedeutung der „Bote-Kenessioth" der 
Amhaarez (Aboth III, 4) als Lehrhäuser noch 



nicht so fest steht, wie manche annehmen, so gibt 
es auch noch andere Stellen, die uns vom gelehrten 
Amhaarez erzählen, deren Unterweisung ein Chaber 
aufgesucht (Toss. Demai 11, 8, vgl. dagegen Büch- 
lers Jahresbericht S. 181, Note 3), oder von solchen, 
denen man gewisse Streitfälle, freilich nicht ohne 
Verwahrung einiger Schriftgelehrten, vorlegte 
(Gittin 88 b). Was hingegen gerade um diese 
Zeit zutage tritt, ist die keineswegs wohlwollende, 
ja mitunter direkt feindselige und hasserftillte Ge- 
sinnung, die von Seiten des Amhaarez dem Ge- 
lehrtenstande und umgekehrt von diesem dem 
Amhaarez entgegengebracht wurde. Gewisse Forscher 
über die Entstehungszeit des Christentums, wie 
Schürer, haben in diesem Gegensatz eine Bestä- 
tigung jener gespannten Beziehungen finden wollen, 
wie sie die Evangelien als zwischen den Pharisäern 
und den ersten Anhängern der christlichen Lehre 
bestehend schildern, und haben darum dem Amhaarez 
ihre besonderen Sympathien zugewandt Auch 
Priedländer (Religiöse Bewegungen innerhalb des 
Judentums im Zeitalter Jesu, Berlin, Georg Rehner 
1905) wandelt zum Teil in ihren Spuren, und 
erklärt sich zu der Ansicht, dass namentlich seit 
den Makkabäersiegen ein grosser Teil der Volks- 
masse, der sog. Amhaarez, beeinflusst durch den 
hellenistisch universalistischen Geist, dem die sog. 
Weisheitslehrer in den Apokryphen und sonstigen 
apokalyptischen Schriften Ausdruck verliehen, sich 
in einen unüberbrückbaren Gegensatz zu den Pha- 
lisäem d. h. den gesetzestreuen und nationalistisch 
Gesinnten im Volke stellte und infolgedessen von 
diesen verachtet, gehasst und verfolgt wurde. Aber 
zugegeben, dass der Einfluss der apokalyptischen 
Weisheitsschriften auf einen Bruchteil des jüdischen 
Volkes von einiger Bedeutung gewesen, es will 
doch nicht recht einleuchten, dass einzig aus dem 
Grunde und weil „die Pharisäer ihm schwere und 
unerträgliche (?) Bürden auf den Hals legen wollten" 
(S. 88) er vom „unversöhnlichsten Hass** gegen 
diese erfüllt worden und darum mit den schärfsten 
Waffen sie bekämpfte. — Um diesen klaffenden 
Gegensatz zwischen beiden zu verstehen, muss man 
sich vielmehr jene Zustände vergegenwärtigen, wie 
sie knapp vor dem Untergang des zweiten jüdischen 
Staatswesens geherrscht haben: Die immer mehr 
zunehmende Kriegsnot hatte nämlich zu jener Zeit 
die Landbevölkerung, die zuerst dem Vor- 
dringen der Römer weichen musste, in grossen 
Massen nach Jerusalem getrieben, und wie selbst- 
verständlich waren diese Desperados, die ihr Hab 
und Gut eingebüsst und darum nichts mehr zu 
verlieren hatten, Anhänger derer unter den 
verschiedenen Parteien geworden, für den 
äussersten Widerstand gegen den verhassten Römer, 
für den Kampf bis zum letzten Atemzuge waren. — 
Dieser gegenüber stand die sog. Friadenspartei, 
die bei der Aussichtslosigkeit jeden Widerstandes 
für einen friedlichen Vergleich, selbst mit Ver- 
lust staatlicher Selbständigkeit, eintraten. Es 
ist bekannt, dass zu dieser Partei auch einfluss- 
reiche Gesetzeslehrer, darunter nicht in letzter Linie 



151 



Dr. Max Steif: ' Einiges über den geschichtlichen B^iff des Amhaarez. 



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R. Jochanan b. Sakkai, zählten. Als dann in der 
Tat das Unvermeidliche eingetreten, das Heiligtum 
und Jerusalem eingeäschert worden, und man die 
Gesetzeslehrer ruhig, als ob sich nichts geändert 
hätte, im Lehrhaus zu Jabneh ihren Studien ob- 
liegeti sah, da sammelte sich in den Patrioten, 
zu denen eben jene Landbevölkerung das grösste 
Kontingent stellte, ein versteckter Groll gegen die, 
die man jetzt nachträglich als feige Verräter an- 
sehen musste, als Egoisten, die nur an sich selbst 
und nicht an das allgemeine Wohl gedacht. — Es 
war also ursprünglich mehr ein Hass aus politi- 
scher Gegensätzlichkeit, der noch nicht jede Hoff- 
nung auf Wiedervergeltung aufgegeben, und, weil 
diese bei den führenden Geistern auf so wenig 
Teilnahme stiess, naturgemäss sich steigern musste. 
(Vgl. Rosenthal. Vier apokryphiscbe Schriften. 
S. 25). Nur so lassen sich jene Stellen im Talmud 
verstehen, wo beispielsweise ein R. Akiba, ein 
Mann, durchglüht von nationaler Gesinnung, er- 
klärte: als ich noch ein Amhaarez gewesen, da 
hasste ich die Gelehrten so sehr, dass ich sie hätte 
in Stücke reissen mögen. (Pess. 4:3b). Oder: wenn 
sie ubser nicht bedürfen würden, würden sie (die 
Amhaarez) uns ohne weiteres ermorden. (Meg. 28 a). 

Später geriet die eigentliche Ursache nach und 
nach in Vergessenheit, während die feindselige Ge- 
sinnung selbst von Zeit zu Zeit immer wieder 
hervortrat. Da stellte man es dann als eine Schande 
hin, an Gastgelagen in Gesellschaft eines Amhaarez 
\ teilzunehmen (Berachoth 43 b), widerriet auf das 
energischste, seine Tochter einem Amhaarez zur 
Frau zu geben (Pess. 43 b), untersagte es, ihm Heil- 
mittel zu verabfolgen (Sota 43 a), und ächtete ihn 
für die Gerichtsbarkeit der Synagoge wie des Lehr- 
hauses. — Was aus allen diesen Fällen für uns 
hervorgeht, ist, dass, mag auch bei dem Amhaarez 
dieser Zeit keine hervorragende oder nur geringe 
Gesetzeskenntnis gefanden werden, er damals 
dennoch noch nicht als das Prototyp der Unwissen- 
heit gegolten. 

Erst folgende, einer etwas späteren Zeit ent- 
stammende Anekdote Hesse erkennen, dass unter 
dem Amhaarez auch der Unwissende und Unge- 
bildete verstanden wurde. Tn Baba Bathra 8 a 
wird uns von Rabbi, dem Redaktor der Mischnah, 
erzählt, er habe während emer Hungersnot seine 
eigenen Getreidekammem für den allgemeinen Be- 
darf geöffnet, jedoch mit dem Vorbehalt, dass nur 
der Zutritt haben sollte, der genügend Bescheid 
wisse, sei es in Bibel, Mischnah oder Agada; hin- 
gegen sollte ein Amhaarez unerbittlich zurückge- 
wiesen werden. Man kennt es, wie dabei Rabbi 
der Missgriff unterläuft, einen seiner besten Schüler, 
R. Jonathan Sohn Amrams, der es verschmälit, 
solchermassen Vorteil aus seinem Wissen zu ziehen, 
abzuweisen, und, später von seinem Sohn über den 
Irrtum aufgeklärt, seine harte Verfügung zurück- 
gezogen. — Von dieser Zeit behält der Amhaarez 
diese seine geringschätzige Nebenbedeutung bei, 
in welchem Sinne wir ihm auch in den babylo- 
nischen Lehrhäusem begegnen. Merkwürdiger- 



weise war auch dort in Babylonien, wenngleich 
aus anderer Ursache und bei weitem nicht so ge- 
hässiger* Natur, das Verhältnis zwischen Amhaarez 
und Gelehrten ebenfalls zeitweilig gespannt. 
Weil nämlich diese hier eine Art Patrizier- 
kaste bildeten, „die ihre eigenen Interessen gegen- 
seitig schützten und wahrten**, sich z. B. das Pri- 
vilegium einräumten, ihre Produkte am Markte 
zuerst vor den Uebrigen verkaufen zu dürfen, um 
einen höheren Preis zu erzielen, erregten sie ge- 
legentlichen Spott seitens des Amhaarez gegen sich, 
die zuweilen in wegwerfendem Tone „von diesen 
Gelehrten da*' redeten. Man konnte Aeusser- 
ungen vernehmen wie: „was nützen uns diese Ge- 
lehrten, sie treiben die Gelehrsamkeit nur zu ihrem 
eigenen Vorteil**. Oder: „Wozu brauchen wir diese 
Gelehrten, sie können uns weder Raben erlauben, 
noch Tauben verbieten.** (Synhedrin 9 ® b). Dr.Ham- 
burß:er will hier die Spuren einer dem Karäertum 
vorausgegangenen Richtung erblicken; vgl. Winter 
und Wünsche II, S. 68). — Doch dauerte dieses 
unleidliche Verhältnis keineswegs lange. Der Adel 
der Gesinnung, die leuchtenden Charaktereigen- 
schaften der meisten Gelehrten Hess ba)d alle ohne 
Unterschied mit vollster Ehrerbietung zu ihnen 
emporschauen. Und es darf mehr als eine blosse 
Redensart gelten, wenn es an einer Stelle im Talmud 
heisst: Der Gelehrte erscheint in den Augen des 
Amhaarez gleich einem goldenen Gefäss (Synh. 52 a). 
Freilich unterlässt die Stelle nicht, sofort hinzu- 
zufügen: Wenn er sich allzuviel mit ihm abgibt, 
dann wird er gleich einem silbernen Gefäss ange- 
sehen, und zieht der Gelehrte gar irgend einen 
Vorteil von dem Amhaarez, dann sinkt er bei ihm 
zum irdenen Gefäss herab. 

Mit der Zeit wich hier wie dort die früher 
so feindselige Gesinnung zwischen beiden einer zu- 
sehends freundschaftlichen Annäherung, wovon 
neben anderen folgender Satz (Baba mezia 85 a) 
zeugen kann: Wer den Sohn eines Amhaarez Thora 
lehrt, dem zu Liebe hebt Gott selbst ein schweres 
Verhängnis auf. Ebenso verlangten es Männer 
wie z. B. R. Seira, dass man dem Amhaarez nur 
freundlich und wohlwollend entgegenkommen möge, 
denn dadurch erfahre die Lehre selbst eine För- 
derung, indem jene dann ihre Söhne zu Gelehrten 
erziehen. — Auch gewisse Vorrechte, früher nur den 
Gelehrten eingeräumt, wurden ihnen jetzt gleichfalls 
bereitwilligst zugestanden: bei Gericht wies mm 
ihnen ebenso wie den Gelehrten einen Platz zum 
Sitzen an (Schebuoth 30 b), und bei voreilig ge- 
leisteten Gelübden wurden die früher gegen sie 
erlassenen Erschwerungen aufgehoben (Nedarim 20 a). 
Auf besondere Veranlassung eines Gesetzeslehrers, 
Resch-Lakisch, sollte sogar für das Wohl des 
Amhaarez gebetet werden; denn, so meinte er, wie 
der Weinstock seine Blätter nötig hätte, so seien auch 
die Gelehrten auf jene angewiesen. (Chullin 92 a). 
In der Tat erreichte ein solches Entgegenkommen 
bald, dass sich namentlich am Sabbat das Lehrhaus 
mit ihnen füllte, woselbst sie andächtig den popu- 
lären Lehrvorträgen lauschten. — Ein Vertrauen 



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Dr. Max Steif: Einiges über den geschichtlichen Begriff des Amhaarez. 



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freilieh besonderer Art, das dem Amhaarez ent- 
gegengebracht wurde, Hesse sich aus dem Rat- 
schlage ersehen, den man dem Gelehrten gab, sich 
bei der Brautschau einen Amhaarez als Berater 
mitzunehmen, damit ihm, dem Gelehrten, viellßicht 
bei seiner vom Vielwissen herrührenden Zerstreut- 
heit (also schon damals gab es den Typus des zer- 
streuten Professors!) bei der Hochzeit keine andere 
an Stelle seiner Auserwählten unterschoben werde. 
(Baba bathra 168a). So gut sich indessen der 
Amhaarez auf die Frauen im Allgemeinen verstehe, 
so sei damit noch nicht ausgeschlossen, dass er selbst 
eine Art Pantoffelheld sei, wie dies (Berachoth 61a) 
an der historischen Figur des Monauah, des Vaters 
Simsons, und in dem Mann der Prophetin Deborah 
(Tana debe Elia rabba IX) nachgewiesen wird. 

Was die nachtalmudische Zeit betrifft, so 
wechselt jetzt die Anschauung bezüglich des 
Amhaarez wohl nicht mehr dem Wesen, sondern 
höchstens dem Grade nach, wie. ja auch das 
Prädikat eines Gelehrten in den verschiedenen Zeit- 
läufen eine verschiedene Schätzung erfuhr. Aus 
den jeweiligen Anforderungen, die an den Gebildeten 
gestellt wurden, lässt sich nun unschwer der Rück- 
schluss ziehen, wer damals als Amhaarez betrachtet 
wurde. In der spanischen Blütezeit bis Maimonides 
(gest. 1204) hiess hauptsächlich der gelehrt, der 
neben dem Talmud auch in den profanen Wissen- 
schaften wie Grammatik, Poetik, Philosophie, 
Mathematfe, Astronomie und Medizin bewandert 
war. (vergl. Buch Heilung der Seelen von R. Josef 
C. Juda, Aknin, 12. Jahrhundert.) Von Interesse 
ist hier ein Schreiben des grossen- Maimonides an 
einen gewissen Josef ben Gaber in Bagdad, der 
sich selbst anklagte, em Amhaarez zu sein, „weil 
er nur den arabisch geschriebenen Commentar 
Maimimis zur Mischnah aber nicht den hebräisch 
abgefassten „Jad hachasaka" zu lesen vermöge", 
worauf ihn jener beruhigt, sich deswegen noch 
keineswegs für einen Amhaarez zu betrachten, 
sondern weiterhin als seinen „geliebten Schüler"; 
„denn ein jeder sei es, wer auch nur einen Vers 
oder eine Halacha zu lernen wünsche.*' 

Eine wissensfeindliche Strömung tritt in der 
nachmaimunischen Zeit ein, und man gilt schon für 
gelehrt, wenn man in den verschlungenen Gängen 
des Talmud bewandert ist. Selbst Unwissenheit 
in der Grammatik tut dem Ehrennamen eines 
Gelehrten keinerlei Abbruch, „denn alle die, die 
sich geistig beschäftigen, haben ein^ Abneigung 
gegen die Grammatik", wie Profiat Duran in seinem 
Maasse Efod (1391) nicht ohne gewissen Spott 
bemerkt. Noch weniger wurde von ihnen Metrik 
oder elegante Diktion verlangt, und es erschien 
mibep^reiflich, wieso man in früheren Zeiten dies 
als Bedingung für den Namen eines Gelehrten habe 
aufstellen können, (vgl. Güdemann, Geschichte des 
Erziehungswesens in Spanien Note 1). Konnte es 
sonach Wunder nehmen, wenn man jetzt den als 
einen Amhaarez hinstellte, der, mochte er auch in 
allen übrigen Wissenschaften zu Hausq sein, das 
talnradische Studium vernachlässigte, und wenn in 



emem Brief Alfachars (13. Jahrhundert) religions- 
philosophische Werke als Fabeleien bezeichnet 
wurden, gut genug für den Amhaarez? So wurde 
nach und nach die Kenntnis des Talmud und der 
verschiedenen Dezisoren allein zum ausschlaggebenden 
Moment für den Titel eines Gelehrten, und je mehr 
die ganze nun kommende Zeitrichtung dahm ging, 
jede ein2elne Lebensäusserung der religiösen Norm 
unterzustellen, desto häufiger traf den der Vorwurf 
der Unbildung, der sich hier auch nur die geringste 
Blosse gab. Da wird in einem Besponsum des 
R. Isak b. Schescheth (zuletzt Rabbiner in Algier 
gefl. 1^8) an Chajim Galipaa über die grosse 
Masse von Amehaarez geklagt, die sich damit 
begnügen, bloss am ersten Abend des Laubhütten- 
festes den Kidduschspruch in einer Sukkah zu beten 
oder von andern zu hören, und sonst während des 
ganzen übrigen Festes ausserhalb der Laubhütte 
zu speisen. Ein vielleicht zu dunkel gehaltenes 
Büd der Zustände seiner Zeit entwirft uns Salomo 
Alämi um die Mitte des 15. Jahrhunderts in seinem 
Iggereth Mnssar: Am allerschlimmsten aber ist es, 
dass es heute leichtfertige Buben ^bt, die nicht 
einmal auf eine gründliche Bildung hinweisen können 
und nur auf grund einiger Brocken griechisch, 
die sie sich angeeignet, sich unterfangen, die 
jüdische Üeberlieferung zu verhöhnen und die Gebote 
verächtlich zu machen. Es trägt dies am meisten 
dazu bei, dass die grosse Masse die jüdische 
Wissenschaft verachtet und. sich von ihr abwendet. 
Versammelt man sich, um einen Vortrag zu hören, so 
schlummern die Vornehmen, die Andern unterhalten 
sich laut und stören den Redner durch ihr ungezogenes 
Geräusch." — Bekannt ist ferner, dass sich R. 
Meir b. Baruch Halevi (um 1375) veranlasst sah, 
den Morenutitel für den rabbinische Funktionen 
Ausübenden einzuführen, weil um diese Zeit der 
traurigen äusseren Verhältnisse in Deutschland 
und Oestereich ein arger Rückgang im Talmud- 
studium eingetreten war, und Unberufene oder 
Halbwisser aus Mangel an besseren Kräften die 
Stellung von Rabbinern einnahmen, (vgl. Grätz Vlll. 
S. 16.). Und wenn gelegentlich in früherer Zeit 
Samuel Hanagid seinen Spott in einer Satyre über 
die ausgegossen, die sich unrechtmässig als 
Gelehrte ausgaben, „als wenn Schaufäsen, langer 
Bart und Hut den Mann zum Lehrhaus-Meister 
machten," so wendet sich R. Meir Eisenstadt (st. 
1744) in einem Responsura (II. 152.) gegen die Un- 
würdigen, die mit Geld ihre hohen Stellungen er- 
kaufen, und gleich bei deren Antritt sich in weisse 
Gewänder kleiden, als würden sie jenen heiligen 
Männern früherer Zeiten gleichen, die sich voll 
inniger Glaubens wärme darein hüllten." 
Aber mochte auch der Amhaarez seines geringen 
jüdischen Wissens halber für sozial minderwertig^ 
betrachtet und darum zumeist von den verschie- 
denerlei Ehrenstellen ausgeschlossen bleiben (vgl. 
Resp. des R. Menachem Krochmal 1648 Landes- 
rabbiner von Nikolsburg), mochte ihm seit jeher 
(Derech-Erez sutta 9. Jhrdt.) mit mehr oder minder 
Berechtigung jedes bessere Gefühl für Anstand 



Dr. Max Steif: Einiges über den geschichtlichen Begriff des Arahaarez. 



und Sitte abgesprochen werden, er hat doch zu 
allen ZeiteD hoch Ober dem UDgebüdetea der ausser- 
judischen Kreise gestanden. In den Tagen dunkelsten 
Mittelalters, wo es mitunter selbst Fürsten nicht 
unerhebliche Mühe verursachte, den eigenen Namen 
zu unterfertigen, hat der Amhaarez im engen Ghetto 
in hebräischen Lettern leseb und sclireiben 
gekonnt. Es gab auch eine besondere Am- 
haarezliteratur, d. h. Werke in jüdisch-deutscher 
Uundart für Ungelehrte, Frauen und Kinder. 
Hierher gehörte unter anderem der Josippon 
(entstanden im 10. Jhrdt. in Italien), eine 
verschlechterte volkstllraliche Bearbeitung des 



Josephus Flavius, später das im Anfang des 
17. Jahrhunderts entstandene Deutsch -Chnmesch, 
Zeen^-Reenah von Jacob b- Isak Janow ans 
Polen, euie populäre Bibelerklärung, untermischt 
mit zahlreichen talmudischen Sagen und Legenden. 
Aber auch eine ganze Beihe ausserjudischer 
Dichtungen und Erzählungen fand auf eigenartigen 
Umwegen in diesen Teil jüdisclier Literatur 
Eingang, so dass man nicht ohne gewisse Be- 
rechtigung behaupten darf, dass der Amhaarez 
indirekt zum Pfleger nnd Erhalter mancher schon für 
verloren gehaltenen deutscher Literaturerzeugnisae 
geworden ist. 



HENRYK GLICENSTEIN. 

Von Piero Jacchia (Rom). Nichdmck veibown. 

üeuryk GlicensteiD, über deu wir oachfolgeod den ongluckliclie Hand den Sockel omgeben hat. Auch die 
Artikel eines hervorragenden römiBcheu Publizisten Ter- fremden Beschaaer ringsiun haben wir vergesseu; das 
öftbntlicben, ist den Leaem dieses Blati»s kein neuer Ilame. äleicbgültige der Welt rauscht irgendwo in der Feme. 
Sie kennen die merkwürdigu OescMchte seines Lebens. Wir Wo Religion ist, da w61bt sieb das Gottesbaas. Gleich- 
wohl mSchteu wir dem Werk 
am liebsten in der geheim- 



halten es wiederholt unter- 
nommen, durch Reproduk- 
tionen eine Anschaunng 
seiner Ennst zu vermitteln. 
Aber heute, wo wir den 
Werken des jnngen Meisters 
im Eunstealon Schalte selbst 
gegenüberstehen, glauben 
wir ihm snm ersten Hate zu 
begegnen. Welche pboto- 
graphische Nachbildung 
wäre auch im Stande, einen 
Begriff von der Grösse dieses 
Schlafenden Messias zn 
geben, von der Wucht und 
EoloBsalität seiner aber- 
meuschlichen Formen. Das 
merkwürdige dabei ist, dass 
dieser Eindruck des ganz 
Ungebenren nicht durch 
besonders überraschende 
Dimensionen hervurgerufen 
wird; wie an der Sphinx, 
die sich io einem der Nacfa- 
barsäle befindet, machen wir 
die Erfahrung, dass Grässo 
eine innere Eigenschaft ist. 

Wir begegnen zuweilen Selbstportrait. 

Bildwerken von ungeheuren (Zerchnun«) 

Maassen, und sie wirken 

klein; und hier haben wir anderthalb der natürlichen Grösse, 
und die Illusion des Ueberweltlichen wird erzeugt. Eine 
Tempelstille umgibt dieses religiöse Bildwerk, religiös iu 
einem neuen Sinne. Was kümmert uns die bemalte Lein- 
wand an den Wänden, das grüne Gestrüpp, mit dem eine 



HENRYK OI.iCENSTEIN 



nisvollen Tiefe eines Grab- 
gewölbes oder auf der freien 
Weit» des Gottesackers be- 
gegnen. — Viel stärker leidet 
unter den unglücklichen 
Banmverbältniseen der Bar 
Eochb a, das andere Haupt- 
werk Glicenst<nns. EinSprin- 
ger braucht Raum vor sich, 
ein Bildwerk von heroischen 
Formen einen erhabenen 
Standpunkt; hier ruht es anl 
einer umgestürzten, flachen 
und schmalen, nicht einmal 
verkleideten Eiste, eigentlich 
ein wenig schamlos ange- 
stellt; eingezwängt zwischen 
Plastiken von zum Teil ent- 
motigendem Dilettantismus, 
im Bücken eine Treppe, vor 
den Füssen der Eingang 
tarn Kacbbarsaal. Es hat 
übrigens seinen Beiz, die 
kleine Treppe hinter der 
Figur hinabzusteigen und 
die federnde Eraft und gio- 
'"«■) sammelte Energie des zu 

Sprang und Schlag in Einem 
Ausholenden (die Midraschstolie lautet: er springt auf 
eine Ueile und schlägt auf eine Meile) an dem Muskel- 
spiel iji'ür Bein und Bücken za geniessen. Bekannt, 
und do>h nicht bekannt aus der Abbildung ist uns der 
Jüngling: mit dem Stab über der Schulter (bei Schalte 



Piero Jacchia, Rom: Hentyk Olicenslein. 



158 



al* OedipOB bezviclinet), den der König tob Italien 
anf der rSmischen laternationaleii AtuptellaBg 1906 er- 
woiboo hat; der zu gerade Stab Ton damals, der in 
Broms fast den Kindrack einee Speeres machte, ist 
mittlerweile durch einen echten krummen Stecken oder 
Knoti^astock, 
i^endwo auf 
der Wander- 
schaft an 
einem Erenz- 
dom abge- 
schnitten, er- 
setzt worden. 
Aach die rüh- 
rende Fignr 
der kleinen, 
in ihrer Ver- 

laasenheit 
eingeschlafe- 
nenMando- 
linistin ha- 
ben wir&fiber 

abzubilden 
gesucht; wie- 
der mtiBsen 
wir sagen: 
welche Ee- 

produktion 
kann eine 

VorBtelluDg 
Ton dem Li- 
nienspiel nnd 
der lieblichen 
Traner diese 
Gestalt ver- 
schaffen'. Ab- 
gösse dieses 
kleinen Ju- 
wels ist in 
Besitz des 
lirafen Stro- 
ganoff in 
Rom, des Ba- 
rons Botfa- 
Schild in Pa- 
ris und an- 
derer Pri- 
Tater in Lon- 
don, Paris, 
Berlin, Leip- 
zig nnd an- 
derwärts. Unter den neuen Kleinbronzen bemerken wir ein 
BOrschlein, das spreiibeinig auf einem Eckstein sitzt, ein 
so naives StQck Leben, wie es nur auf italischem Boden und 
u der göttlichen Nackheit des Südens wächst; die edle, 
fast tragisch anmutende Brunnenfigur eines Wasserträgers, 

der den Schlauch über der Schulter in ein nicht ange- 



HENRVK GLICENSTEIN 



doutetes Becken entleert; nnd eine wondersohöne weih- 
liehe Brunnenfigur: ein nacktes Mädchen in schener, 
spröder Balttmg sitzend, mit der Rechten fängt de die 
Pülle des nach vorne flutenden Haares auf und scheint 
sich zugleich gegen die Sonne zu beschirmen; der Sockel 
mit den Tier 
Tier- und 
Mensehen- 
maikes an 
den Ecken, 
die mit dem 
Unterkiefer 
in Brnnnen- 
schalen Über- 
gehen, ist 
eine känstle- 
rische Tat 
Endlich die 
Gruppe der 
drei Vorläu- 
fer der ruB- 
sischen Frei- 
heit, der Stu- 
dent zwischen 
dem Bauer 
und dem Ar- 
beiter. Doch 
dieses Werk 

bedörfte 
einer eigenen 
' Abhandlung. 
Ein echter 
Glicenstein 
ist auch das 
grosse Flach- 
relief eine^ 
Narzise, ans- 
serordentlich 

malerisch 
und reizvoll 
in die Land- 
schaft binein- 
kom paniert; 
der Knabe 
träumt, auf 
den Hirten- 
stab gelehnt, 

melancho- 
lisch in den 
Spiegel eines 
Quells, der 
durch das Hotiv des trinkenden Hundes sichtbar gemacht 
wird. Von den sechs ausgestellten Bftstnn endlich mögen 
die einen dem genialen Porträt Gabriele d'ÄnDnnzios den 
Vorrang geben, andere der Büste des Dr. Ludwig Mond, 
die ein Pariser Kritiker eine herknlamsche Ausgrabung 
genannt hat; wir berorzogen gegen alles andere die 



ROM. 



Piero Jacchia, Rom : Henryk OlicenGtein. 



HENRYK GLICENSTEIN Bar-Kochba. ROM, 

(„Er IBar-Kochbal sptinüi auf eini' Meile lind schlägt nul ,:iin; .Meile.- — Midruth-Haha.) 

BüBte des Dichtere HeiDzelmaon, eines slaTiBchSD rührender GeeantF vom Menschen leide wirkt. — Doch 

FreiheitEsäDt^ers nnd MenschenapoBtets, bo gütig, so lassen wir Jacchia das Wort. Kleine Ungeiiauigkeiteii 

kindlich, so rfihrend schwermutfoll. so schmalbrÜBtig ; des biograpbiechcn Berichts mögen wir gern übsr- 

1 gross in der Form anter dem Schleier einer dunkel- sehen oder ans Eigenem ergänzen, gegenüber der leb- 

Hweren Patina, dass dieses Wirk selbst wie ein haften Vergegenw&rtigiiag, die die künstlerische wie 



• Piero Jacchia, Rom: Henryk Oliceiisteiil. 



HENRYK 0I.ICENSTE1N Bar-Kochba. ROM. 

(.Er IBir-Kochba) spriiisl auf ^Ine Meile und ^chlägi ant «Ine Meile." ~ Mldrisch-Raba.) 

menschliche Persönlichkeit des jttdiachen Meisters er- lieber JahretsitzuDg am i. Mai l^OÖ Glicuuiiteiii elireiid 

ftbrt. Das Bchliesslicbe Urteil fallt, wie das unsere, erwähnte für seine Arbeiten, „die sich durch bcsonileru 

iQBanunen mit den Worten des Kunstreferenten tUr die Frische auszeichnen nnd bisweilen an die besten Wi'rku 

Äkadtmie der Wissenschaften in Krakau, der in Teier- der italienischen Renaissauce gemahnen". U. 



Piero Jaccliia, Rom: Henryk Olicenslein, ' 



HENRYK GLICENSTEIN 



ROM. 



Portraitbflste desGabriel d'Anniinzio. 



^Kinst sagte 
mau, daas die 
Juden keiae 
Be^igiiDg 
zur bilden- 
deo Kunst 
hätten. Und 

es schien 
wahr, denn 
neben einen 

Phidias, 
Parrbasius, 
Michelanfielo 
und Raffael 
hatten sie 
keinen Na- 
men 7.a 
Stullen. Der 

Geist der 
Itelisrion, der 
wie bekannt 
die «ichtiR- 
ste Quelle der 
Inspiration, 
wenn nicht 
der eigent- 
liche Schöp- 

iA- der 
Künste war, 
war bei ihnen 
wie der Glut- 
wind der 
Wüste, der 
die Scholle 
unft^chtbar 
macht, dass 
keine Blume mehr dort spriessen kann. Die HeUgioni die 
fast Ffthigkeiten der Juden absorbierte und ihnen 
verbot, die eifernde Gottheit darzustellen, war der 
Grund, dass der kUnstlerbcbe Keim niemals darch die 
Bertthrnng mit anderen Knlturen befruchtet werden und 
sich entwickeln konnte. 

Erst in allerjUngster Zeit, Hand in Hand mit 
der Anpassung der -luden an die modernen Existenz- 
bedingungen, treten bei ihnen eine Reihe von Künstlern, 
glänzende Namen, hervor. Russland hatte seinen 
Antokolsky, Holland seinen Israels, Amerika seinen 
Ezekiel, Deutschtand seinen Liebermann, Italien 
seinen Arturo Rieti, in dessen Pas teil geinätden 
die Besucher der derzeitigen Mailänder Ausstetiune eine 
tiefe Originalität und eine suggestive Ausdruckskraft be- 
wundem, und Polen endlich hatseinenHenryk Glicen- 
stein, von dem ich heute den Lesern erzählen will. 
Aach Henryk Glicenstein hat in Mailand einige 
Arbeiten ausgestellt, vor denen das Publikum stehen 
bleibt nicht wissend, ob es mehr die Technik be- 
wundern oder über den philosophischen Gehalt nach- 
sinnen soll. In der Btlste d' Annunzio's lebt förm- 
lich die Seele des Dichters, die der Künstler ihr ein- 
zuhauchen verstand. Ein grösseres Lob wüaste ich 
nicht Die S p h i n \ , eine Gruppe in weissem und 
schwarzem Marmor, ist weit entfernt von, der üblichen 
Auffassung des udipus- Mysteriums, üeber einem zurück- 
gebogenen, vielleicht schon toten menschlichen Körper 
kauert ein Tier mit Tiegerleib und Frauenkopf, und 
seine Krallen dringen schon in die schöne männliche 
Brost. .Die Opalaugen, unter einem kühn geschwungenen 
Branenpaar, starren ins Leere mit einem Ausdruck 
vnischer Wildheit. Der schöne Kopf der Sphinx wie 
r beiden Leiber, der Mensch in der mSden und resig- 



nierten Erschöpfung des Todes, und das Ungeheuer, 
eine Verkörperung des „Vae victis!" sind wunderbar 
modelliert. Von dem Meisterwerk Glicensteins, der Ko- 
lossatstatue des Messias, kann ich nicht sprechen ohne 
vorher noch einige Worte über das Leben des Kiinatlera 
zu sagen, der in diesem Gedicht von Erz den Akt seinei' 
Befreiung vollendet hat. 

Henryk Glicenstein ist als Sohn armer Eltern in 
einem weltverlassenen, fast ausschliesslich ron -luden 
bewohnten Dorf im unglücklichen Russbchpolen geboren- 
Sein Vater wollte ihn zum Rabbiner machen, aber der 
-lUngling, der schon in sich das Feuer des Gentes 
spUrte, widersetzte sich. Gegen den väterlichen Willen 
besuchte er statt der jUdisoben Schule die russische 
Ortsschule, und zum Aergemis der ganzen Gemeinde 
modellierte er in Ton. Er hatte noch als Kind 
ohne Lehrer angefangen, aber bald fühlte er, dass er 
in dieser engen and elenden Welt verkümmern müsse. 
Das Leiden seiner Glaubensgenossen und des ganzen 
russischen Volkes hatte ihn dann tief ergrlfTen. Er floh 
aus dem Vaterhaus und unter den bärtesten Lebens- 
prüfungen bereitete sich seine wahrhaft heroische Seele 
vor, um ihr künstlerisches Ideal siegreich durchzusetzen. 

Man muss den Künstler selbst die Geschichte seiner 
-lugend erzählen hören, wie er von seiner Mission 
spricht in dieseiu seinem etwas dunklen und symbolischen, 
beflügelten und poetischen Stil, der an den der heiligen 
Schiiften erinnert. Man muss seine Angen erglühen sehen 
von lohender Flamme, seine kleine Gestalt, wie sie fast 
geheimnisvoll beseelt ist,, um zu verstehen, was der Glaube 
ist, und welche enorme schöpferische Kraft der besitzt. 

Erst dann, wenn man an das tausendjährige Elend 
des jüdischen Volkes denkt und an die feierliche 
Verheissung der Propheten — denen es in aller Herren 
Länder gleichen Glauben bewahrt,trotz der Verfolgungen, 



HENRYK GLICENSTEIN ROM. 

Portraitbüste des Pianiitcn Muzio Hanozowski, 



Piero Jacchia, Rom; Henryk Glicenstdn. 



di» ihoen seit Jahrhunderten widersprechen — an die 
VerhMBSiinfr eines Erlösers, der Israel befreien nnd auf 
Etd^n das Reich der Gerechtigkeit gründen wird, erst 
daDn kann man die Knnst von Glicensteln bearteileu, 
«eil man erst datin in ihr innerstes Wesen eindringt. 

Glicenstein fUlilt sich als Jade in jeder innersten 
Fiber: als Jade d. h. als ein Wesen, das kaam weniger 
als ein Sklave yerachtet nnd von dem menschlichen 
Terkehr aoagescblossen ist, weil es der Liebling Gottes 
ist. Die ganze Seele seines Stammes ist aof ihn nieder- 
gestiefren, gequält von seiner Angst nnd seinem Schmerz, 
mit seinem Glauben, seiner Hoffnnngund seiner Erwai tang, 
damit er sie hinaussinge in Strophen von Marmor nnd 
Erz mit aller Wahrheit and ICr^ft seiner Verzweifiang. 

Glicenstein bt ein philosophischer Bildhauer, abei- 
ein Pessimist Der griisst« Teil seiner Flgaren ist 
traurig. Ich weise hier nur im Flog auf die grÖ3.-<ten hin. 

In der Gruppe Maternita IaI nur eine lächelnde 
Figur. Die Mniter ist düster und nachdenklich im 
Gesichtsausdruck, und ihr grSsster Sohn zu ihrer Seite 
betrachtet auch schon das Leben ernst. Ein Orpheus, 
der ermattet und weinend* über die Leier zebeugt ist, 
kSnnte auch „Verzweifiang" beissen. Ein B^aTo« stellt 
Kain dar, wie er im Begriff, den Körper des er- 
schlagenen Abel aufzuheben, die schreckliche Erscheinung 
des Todes hat, der durch sein Werk in die Welt ge- 
kommen, nnd stellt die Frage: „Du bist alfo der Tod?" 
Die Gruppe erinnert mich an die Worte Kalos in dem 
Mystetium von Byron. 

Das Mysterium ist eine kleine Statne, von der 
man schwören möchte, dass sie in Tanagra wieder- 
gefunden sei. Sie ist ein wahres Juwel. Ein junger 
Wanderer bleibt auf seinem Wege nachdenklich vor 
einer unverständlichen Erscheinung stehen. 

Glicenstein ist Pessimist, auch wenn er den Hero- 
ismus verewigt. Er versteht nicht den triumphierenden 
Krieger darzustellen. Sein Held ist zum Untergang 
bestimmt und ist sich dessen bewusst. Daher legt sich 
anf sein männliches and energisches Gesicht ein kaum 
bemerkbarer Schatten von Traurigkeit, llieses Werk 
ist der Bar Kochba, der steh durch seine Tapfetkeit 
im Kampf gegen die lUmer berUbmt gemacht hat. Er 
ist dargestellt in dem Aagenblick, da er auf einen 
Felsen springt, um von da seine Pfeile gegea den 
Feind zu schiessen. Der Meoücb ist hier, entgegen 
den Klassikern nnd allen Theorien Lessings, im 
Augenblick der höchsten Kraftanstrengnng aufgenommen, 
während alle seine Muskelenergie und seelische Auf- 
merksamkeit auf die Tat konzentriert sind. Eine 
Rötelskizze an der Wand seines Ateliers zeigt uns, wie 
der Künstler den Sprung des Helden an dem des Leo- 
parden studiert hatte. Die Figur hat etwas Dämonisches. 

Ich übergehe der Kürze halber, wenn auch nur 
schweren Herzens, die (ihrem Umfang nach) kleineren 
Arbeiten, die alle eine besondere Würdigung verdienten. 
EU sind Porträts, Basreliefs, Brunnenskizzen mit Fratzen 
and Satyren etc. Ich kenne endlich zum dritten ein in 
Hailand ausgestelltes Werk, den Messias. Anf ihn 
hat der Künstler die höchste Anstrengung gewandt und 
•eine ganze Seele hineingelegt. Er gesteht selbst, dass 
er schwerlich etwas besseres wird schaffen können. 

Diese Statue stellt das jüdische Volk in seiner 
Jetzigen Verelendung (man bedenke, dass der Künstler 
aus Polen ist) und doch im Ruhm seiner Zukunft dar. 
Bs lat mit einem Wort die „bewusste Erwartung". 

Der wie unter ein Joch gebeugte Kopf, die dUstere 
Stirn sagen, was er ist. Die geballte Faust anf dem 



HENRYK GLICENSTEIN ROM. 

n Domani. 

Knie zeigt den bartniLckigen Willen zur Znkunft an. 
Er scheint zu sagen: „Und er wird doch kommen". 
Das Hom, das er in der Linken hält, ist ein Sinnbild 
der glorreichen Auferstehung. 

Diese Statue ist erhaben. Sie steht da, gewaltig 
sitzend wie die ägyptischen Kolo.'ue und der Mose von 
Michdangelo. Es sind die einzigen Werke, mit denen man 
sie vergleichen kann. Dieser titanische Körper ist wahr- 
haft aus Muskeln andNerven gemacht. Man spürt förmlich 
das Gewicht des Fleisches. Das ist der „Sinn der Materie". 

Sie wäre nach meiner Meinung würdig, unter der 
Kuppel des Pantheon zu stehen, vielmehr würde erst da 
ihre ganze Bedeutung verstanden werden. Sie steht 
dem „Denker" von Rodln nicht nach. 

Doch ach, wer weiss, in welcher amerikanischen 
Gallerie sie enden wird?" 

(Aus „La Vita", Roma, 4. Ottobre 1906, ObersetEt 
von F. P) 



167 



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PRINZESSIN GOLDHAAR. 

Aus dem Englischt n übertragen von Hulda Zlocisti.*) 



Nachdruck verboten. 



Es war einmal ein alter frommer Mniin, der war 
fiehr, sehr reich. Er hatte nur einen einzigen Sohn, 
namens Jochanan. Dieser Jochanan hatte ein schönes 
und frommes Weib. Als sein Vater im Sterben lag, 
rief er seinen Sohn zu sich und ermahnte ihn, sich mit 
der Lehre Gottes zu besctiäftigen und fort und fort 
Werke der Liebe und Barmherzigkeit zu üben. All 
seinen Reichtum hinterliess er ihm und dann sprach er 
zu ihm also: ..Wenn die Tage der Trauer um mich 
vorüber sind, geh hinaus auf die Gasse und warte, bis 
Du einen Mann des AVeges kommen siehst, der seine 
Ware auf dem Markte v erkaufen will, kauf ihm die Ware 
ab, nimm sie mit Dir nach Hause und behüte sie wol". 

Bald darauf st^irb der alte Mann und wurde mit 
allen Ehren begraben. Dreissig Tage trauerte sein 
Sohn um ihn; und dann gedachte er der Weisung seines 
Vaters und ging hinaus auf die Strasse, wie ihm 
geheissen ward. Dort setzte er sich nieder. Da kam 
ein Mann des Weges, der ein schönes Gefäss trug. 
Jochanan fragte ihn, ob er das Gefäss verkaufen wolle. 
„Ja", antwortete jener. „Wie viel verlangst Du dafür?** 
„Hundert Goldstücke**, sagte der Mann. „Gib es mir 
für sechzig", sagte Joehanan. Der Mann weitrerte sich 
und setzte sdinen Weg fort. Da erinnerte sich Jochanan 
des Wunsches seines frommen Vaters und rief dem 
Manne nach: „Gib mir das Gefäss, hier hast Du die 
hundert Goldstücke, die Du verlangt hast.** Da ant- 
wortete der Mann: „Wenn Du mir zweihundert Gold- 
stücke zahlen willst, werde ich Dir da'« Gefäss geben; 
wenn nicht, so gehe ich meines Weges.** Da sagte 
Jochanan: „Ich will Dir nicht mehr geben als die 
hundert Goldstücke, die Du selbst verlangt hast.** Da 
ging der Mann weiter. Jochanan aber glaubte, dass er 
den Gegenstand kaufen müsse, um seines Vaters Weisung 
zu erfüllen, und lief hinter ihm drein und sagte: „Bier 
hast Du die zweihundert Goldstücke, die Du verlangst." 
Der Mann antwortete: „Wenn Du e& zufrieden bist, 
mir tausend Goldstücke zu geben, sollst Du das Gefäss 
haben; wenn nicht, so muss ich gehen.** Da nun 
Jochanan sah, dass der Mann jedes mal. da er ihn 
zurückrief, immer mehr verlangte, so zahlte er die 
tausend Goldstücke, um sich nicht gegen den Vater zu 
versündigen, und nahm dasGefäjss mit nach Hause und 
und stellte es beiseite. Manchmal versuchte er, es zu 
öffnen, aber vergebens. Am PaMsah- Abend, jils er und 
sein frommes Weib sich zu Tische setzten, um den 
ersten Seder- Abend zu feiern, bat er seine Frau, sie 
möge das Gefäsa, dass er gekauft habe, herbeiholen und 
es zu Ehren des Festes auf den Tisch stellen. Die 
fromme Frau tat also. Jetzt versuchte Jochanan wieder 
es zu öffnen und siehe: es gelang. In dem grösseren 
Gefäss fand er noch ein kleineres. Und als er das 
kleine Gefäss öffnete, fand er darin einen kleinen 
Skofpion. Da erschraken die beiden Leute gar sehr. 

*) Nach einer aus dem hebräischen Manuskript her- 

f;e8tellten Übersetzung von Dr. Gaster (Folk-Lore. 1906). 
)er Originaltext befindet sich in der Bodleiana und ent- 
stammt augenscheinlich dem 12. Jahrhundert. Dem hebrä- 
ischen Text (etwa 100 Märchen enthaltend) ist ein 
hebräisch - altfranzösisches Glossarium angefflgt. Dieses 
Manuskript stellt aber auch nicht die erste Niederschrift 
der Märchen dar, sondern ein grosser Teil, darunter auch 
das hier wieder gegebene, finden sich schon in einem dem 
5. Jahrhundert entstammenden Manuskript, das in Palästina 

feschrieben wurde und sich im Besitze des Dr. Gaster 
efindet. Eine neuere Bearbeitung, die durch Fortlassung 
aller religiösen Momente verwässert ist, findet sich bruch- 
stückweise in dem „Maassebnch" wieder. 



Jochanan aber fasste Mut, nahm den Skorpion heraas 
und gab ihm zu fressen. Er wand si^h um Jochanans 
Hals und umarmte und küsste ihn. Und als er gesättigt 
waa-, kroch er wieder zurück in das kleine Gefäss. 
Jochanan verschloss es und stellte es wieder in das 
grössere Gefäss hinein, worin es zuvor gestanden. Dann 
sprach er zu seinem Weibe: „Mein Vater bat mich 
wohl nicht lunsonst, also zu tun. Wir sollen den 
Skorpion füttern und grossziehen und acht geben, was 
darau:* wird.** Sie fütterten ihn nun jeden Tag, so dass 
er wuchs und bald nicht mehr in das kleine Gefäss 
hineinschlüpfen konnte. Da setzten sie ihn in das 
grössere; aber der Skorpion wuchs und wuchs und 
wurde so gross, dass man einen besonderen Platz 
fiXr ihn schaffen musste. Und Jochanans Reichtum 
ward immer kleiner, denn der Skorpion frass alles, was 
sie besassen, bis er so ungeheuer gross ward, dass er 
nicht mehr in das Haus, ja nicht mehr in den Hof 
hinein konnte. Und er wu<^s immer noch, bis er wie 
ein riesiger Berg anzusehen war. 

Als Jochanan nun gar nichts mehr besass, was er 
ihm zu fressen geben konnte, weinte er und sprach zu 
seiner Frau: „Was sollen wir nur tun, um ihn mit 
Nahrung zu versorgen? Nichts ist uns geblieben. 
Alles was wir besassen, hat er verschlungen.** Sein 
Weib riet ihm, sein Gewand zu verkaufen. Auch sie 
wollte am nächsten Tage ihr Kleid veikaufen, um dem 
Skorpion Nahrung zu geben. So taten sie auch. Nun 
aber hatten sie nichts mehr. Und Jochanan warf sich 
nieder vor Gott und sprach: „Du weisst es, o Herr, 
dass ich alles hingegeben liabe, um den Wunsch meines 
Vaters zu erfüllen und dass mir nichts, gar nichts 
mehr geblieben ist. Entl^ülle es mir, wozu ist der 
Skorpion nütze, den ich ^ossgezogen habe, und was soll 
daraus werden ?** Da öffnete der Skorpion seinen Mund 
und sprach: „Gott hat Dein Gebet erhört und hat mir 
erlaubt, zu Dir zu sprechen. Ich weiss, dass Du alles 
für mich getan hast, was Du nur konntest, und dass 
Du mir nichts von Deinem Besitztum vorenthalten hast. 
Nun dafür darfst Du einen Wunsch aussprechen, den 
ich Dir erfüllen will.** Und Jochanan sprach: „Lehre 
mich denn alle Sprachen der Welt.** Das tat er und 
Jochanan konnte nun verstehen die Sprache aller Tiere, 
Vögel und Vierfüssler und alle Sprachen der Welt. 
Und der Skorpion sprach weiter: „Lass auch Dein 
frommes Weib, die sich so viel Mühe mit mir gab, und 
die so voller Eiter war, mich zu bedienen, lass auch sie 
einen Wunsch aussprechen, den ich ihr erfüllen will." 
Die Frau sagte: „0 mein Herr, gib mir genug, um 
mich, meinen Mann und mein Haus zu erhalten.** 
„Folge mir,** sagte der Skorpion, „und bringe Wagen, 
Pferde und Esel und alle Tiere, die Du hast, mit Dir. 
Ich will sie mit Silber und Gold, mit Edelsteinen und 
Perlen beladen.** Sie folgten ihm, und er brachte sie in 
einen Wald. Der hiess Bai. Sie drangen in die Tiefe 
dieses Waldes ein. Der Skorpion stiess einen lauten 
Pfiff aus, und da erschienen vor ihm alle wildeiy' Tiere 
der Welt und Schlangen und Skorpione. Ein jedes von 
ihnen brachte ein Geschenk von Silber und Goldi Edel- 
steinen und Perlen und warf es vor ihm nieder, wie 
ein Volk seinem Könige Geschenke darbringt. / 

Und der Skorpion sprach zu Jochanan und/seinem 
Weibe: „Gehet und füllet Eure Säcke und jWagen, 
füllet alles, was ihr habet, auf dass Ihr Überftuss von 
allem haben möget.** Das taten sie. Und t^ochanan 
sprach zu dem Skorpion: „Sei mir nicht böse, /wenn ich 
Dich bitte, mir zu sagen, wer Du bist und ^»ohe^ Du 



Prinzessin Qokihaa 



HENRYK OLICENSTEIN. 



Die Vorkämpfer. 



ROM. 



kommst." Er antwortete: „Ich biu der Sohn Adam«. 
Während eines Zeltraums von tausend Jahren bin ich 
immer kleiner and kleiner geworden nnd während der 
nächsten tanaend Jahre bin ich allmählich gewachsen. 
Auf mich erstreckte sich das Gebot nicht: „Am Tage, 
da Dn davon issest, mnsst Da sterben"." Und Jocbanan 
sagte: „Da Du der Sohn Adams bist, so segne mich." 
Da sprach er: „Möire Gott Dich von den Leiden be- 
freien, die über Dich kommen werden." Und Jochanan 
erschrak und wollte wissen, was das für Leiden sein 
wurden, die über ihn kommen sollten. Aber der Skorpion 
antwortete ihm nicht mehr und entschwand seinen 
Blicken. Und Jochanan kehrte in sein Haus zurUck 
als ein reicher nnd weiser Mann, und es gab niemand, 
der ihm an Weisheit gleichkam. 

Auch der KiSnig des Landes horte von seiner 
grossen Weisheit and liess ihn zu sich rufen, um 
einige schwierige Fragen zu beantworten. Und er fand, 
dass er ausserordentlich geschickt und wohl bewandert 
in allem war. Darum liebte ihn der König mehr als 
alle andern weisen Männer. Nnn war dei' König noch 
nicht verheiratet. Und so kamen eines Tages seine 
Ratgeber zu ihm und sprachen: ^Es kann Dir nicht 
Wohlgefallen, so weiter zu leben, ohne einen Erben, der 
Dir auf dem Throne folgen soll. Denn wenn Du stirhst, 
wird iatf Königreich ohne einen Erben bleiben nnd an 



einen EVemdeu fallen, weil Du keinen Sohn nnd Nach- 
folger haben wirst. Darum lass in allen Provinzen 
Deines Reiches nach einem schönen Mädchen suchen, 
auf dass Du sie zur Frau nähmest '' Aber der König 
wollte nicht aut sie hören. Sie kamen jedoch noch 
einmal und ein drittes und viertes Slal, bis er sagte: 
„Out, wenn ihr durchaus haben wollt, dass ich heiraten 
soll, so gebt jnir drei Tage Zeit, dann will ich Euch 
antworten, ob es recht ist zu heiraten oder nicht." Des 
waren .sie zufrieden. Am zweiten Tage sasa der KSnig 
in tiefem Nachdenken in seinem königlichen Garten. 
Da flog ein Rabe auf ihn zu und liess auf seine Knie 
ein sehr schönes, goldenes Haar fallen, welches er in 
seinen Füssen getragen hatte. Dieses Haar reichte der 
KSnig am dritten Tage seinen Ratgebern hin nnd 
sprach: „Ihr wollt, dass ich heirate. Gut, ich bin es 
zufrieden. Wenn ihr mir die Frau bringen könnt, der 
dieses Haar gehört, .so will ich sie heiraten. Wenn Ihr 
sie aber nicht findet, so seid Ihr des Todes." „Gib uns 
drei Tage Zeit, um uns zu beraten," saften sie nnd 
der KSnig gewährte sie ihnen. Nun kamen tie zusammen 
ond dachten nach, was wohl zu tun sei. Und sie er- 
kannten, dass es niemand ausser Jochanan gäbe, der 
dass vollbringen könnte, was der König verlangte; denn 
er kannte alle Sprachen und seinesgleichen war ini 
ganzen Lande nicht zu finden. So kamen sie atn 



171 



Prinzessin Goldhaar. 



172 



(Mtten Tage zum König und sprachen: „Da lebt ein 
weiser Mann in Deinem Königreich; Jochanan heisst er. 
Er kennt alle Sprachen der Welt und er ist der einzige, 
der vollbringen kann, was Du verlangst.** Und da 
schickte der König nach ihm. 

Inzwischen geschah es, dass über Jochanans Haus 
der Grelehrsamkeit ein Vogel flog und schrie: „Möge- 
Dich, Jochanan, Gott befreien von den Leiden, die über 
Dich kommen werden.** Als Jochanan das hörte, er- 
schrak er sehr; denn mit den gleichen Worten hatte 
ihn ja der Skorpion gesegnet. Und die Diener des 
Königs kamen zu Jochanan und sprachen: „Auf, komm 
zum König! £r hat nach Dir geschickt.** Jochanan 
zitterte gar sehr. Er stand auf, ging zum König und 
warf sich vor ihm nieder. Und der König sprach zu 
ihm: „Ich weiss, dass Du sehr klug und weise bist und 
alle Sprachen der Welt verstehst. Nun wünsche ich 
eine Frau zu nehmen, weil das Gesetz des Landes es 
dem König verbietet, ohne Frau und ohne Kinder zu 
bleiben. Darum ziehe aus und bringe mir die Frau, 
der dieses Haar gehört Ein Rabe hat es mir gebracht. 
Ich weiss, dass es einer Frau gehört, und diese Frau 
begehre ich.** Und Jochanan antwortete: „Niemals hat 
ein Köni^, ein Prinz, ein Fürst oder ein Herscher einen 
solchien Wunsch ausgesprochen, wie Du es tust; eine 
Frau zu suchen, der ein Haar in Deiner Hand ^hört.** 
Da sprach der König „Willst Du sie mir nicht brin^ren, 
80 werde ich Dir und Deinem ganzen Volke die Köpfe 
abschlagen lassen.** Und Jochanan sagte: „Nun so gib 
mir drei Jahre Zeit, sie zu suchen und Dir zuzuführen.'' 
Die Frist wurde ihm gewährt. Und er eilte sofort 
nach Hause, rief seine Frau und seine Familie herbei 
und erzählte ihnen, was sich zugetragen. Und sie 
weinten alle miteinander über sein Jjeid. Er aber ging, 
begleitet von den Segenswür sehen seiner Frau und 
seiner Kinder, in der Richtung nach dem Walde Hai; 
denn er sagte sich: „Vielleicht treffe ich doch zufällig 
den Skorpion, den ich grossgezogen habe.'* Mit sich 
nahm er drei Laib Brot und zehn Goldstücke. Er drang 
in die Tiefe des Waldes ein und traf einen riesengrossen 
Hund, desgleichen er noch nie gesehen. Die Tiere 
dieses Waldes waren nicht wie andere Tiere und von 
ungeheurer Grösse. Der Hund schrie und heulte: 
„Gott hat mich so riesig gross und so verschieden von 
allen anderen Tieren geschaffen, damit ich nicht genug 
Nahrung finden kann für mein Bedürfnis; denn „eine 
Handvoll wird den Löwen nicht sättigen**. Wenn ich 
so klein wäre wie andere Hunde, könnte ich mich mit 
wenigem begnügen und gut für mich sorgen. Hast Du 
mich geschaffen, auf das ich Hungers sterbe?** Und 
Jochanan sprach: „Gott hat Dich nicht geschaffen, um 
Hungers zu sterben; denn seine Gnade waltet über 
allen seinen Geschöpfen. Nimm einen dieser Laibe und 
iss!** Das tat der Hund und dann sprach er: „Möge 
Gott Dich befreien von aller Art Leiden, die über Dich 
kommen werden, und möge er mir gnädig sein, dass ich 
Dir vergelten kann die Speise, die Du mir gereicht 
und die Güte, die Du mir erwiesen.** Jochanan zog 
weiter und traf auf seinem Wege einen ungeheuren 
Raben, desgleichen er noch nie gesehen hatte. Auch er 
schrie und jammerte wie der Hund. Und Jochanan gab 
ihm den zweiten Brotlaib. Der Rabe aber segnete ihn 
mit denselben Worten, mit denen ihn der Hund gesegnet 
hatte. Jochanan zog weiter, und als er am Rande des 
Waldes ankam, sah er einen Fluss vor sich. Er ging 
auf ihn zu, Hess sich an seinem Ufer nieder, ass von 
dem dritten Brote, das ihm noch geblieben war, und 
trank etwas Wasser dazu. Ihm gegenüber sass ein 
Fischer. Der sprach zu ihm: „Möchtest Du den Fisch 
kaufen, den ich gefangen habe?** Er antwortete: „Ja.** 



„Willst Du mir dafür die zehn Goldstücke geben, die Du 
in Deinem Beutel haat?** — „Wer sagte Dir, dass ich 
zehn Goldstücke in meinem Beutel habe?** — ,Kein 
anderer als Gott selbst,** erwiederte der Fischer. Und 
Jochanan gab ihm die zehn Goldstücke. Als der Fischer 
aber das Netz öffnete, fand er darin einen sehr schönen, 
grossen Fisch, der hundert Goldstücke wert war. Und 
er ärgerte sich fürchterlich über den Handel, den 
Jochanan gemacht hatte, und warf ihm den Fisch vor 
die Füsse. Der Fisch aber streckte sich vor Jochanan 
aus und sprach zu ihm: „Du weisst, mein Herr, dass 
ich zu gross bin, als dass Du mich tragen könntest, und 
selbst wenn Du mich essen wolltest, hättest Du an 
einem kleinen Stück von mir reichlich genug. Tu daher, 
was gerecht und gpit ist, und wirf mich wieder in den 
Fluss, aus dem ich gekommen bin, und mit Gottes Hilfe 
werde ich Dir das Geld zurückgeben, das Du für midi 
gezahlt hast. Möge Gott mit Dir sein und Dich be- 
freien von allen Leiden, die über Dich kommen werden, 
und möge er mir gnädig sein, aut dass ich Dir die 
Güte vergelten kann, die Du mir erwiesen hast** Bei 
diesen Worten warf Jochanan den Fisch wieder ins 
Wasser zurück. Als der Fischer das sah, ärgerte er sich 
und sprach: „Warum wirfst Du den Fisch in den Fluss 
zurück? Du hast töricht gehandelt; denn er war 
hundert Geldstücke wert.** Jochanan antwortete: „Ich 
tat es, weil es in der heiligen Schrift heisst: „Und 
seine Gnade waltet über allen seinen Geschöpfen**.** 
Er stand auf und ging am Ufer des Flusses entlang. 
Da sah er am andern Ufer eine schöne Stadt liegen. 
Vor den Toren der Stadt standen zwei Frauen. Eine 
davon war die Königin der Stadt, die schönste Frau im 
ganzen Lande. Die andere war ihre Kammerfrau. Zu 
ihr sprach die Königin: „Sieh jenen armen Mann am 
andern Ufer des Flusses. Er kommt zu mir und will 
mich mit sich nehmen, damit ich einen König beirate, 
dessen Bosheit ohne gleichen ist. Er hat mich nie 
gesehen, noch je etwas von mir gehört; aber ein Rabe 
nahm ein Haar von meinem Haupte und brachte es üim. 
Und da schickte er diesen braven Mann zu mir. Ich 
werde mit ihm gehen müssen, wenn er mir drei 
Wünsche erfüllen kann, die ich ihm nennen werde. 
Geh zu dem Bootsmann und sag ihm, dass er den Mann 
herüberhole.** Und so brachte ihn der Bootsmann vor 
die Königin. Jochanan trat vor sie hin und verneigte 
sich vor ihr. Sie erwiederte seinen Gruss und sprach 
zu ihm: „Sei mir willkommen! Woher kommst Du und 
wohin gehst Du?** Da antwortete er: „Ich komme aus 
fernen Landen, und ich suche eine Frau, deren Haar 
dem Haar gleicht, das ich bei mir trage.** „Bleib einen 
Monat bei uns," sagte sie, „und wir werden Dir geben, 
was Du suchst.** Und er blieb bei ihr. Als der Monat 
um war, kam Jochanan zur Königin und sprach: „Sag 
mir, ob ich in Deinem Lande finden kann, was i(£ 
suche.** ^Ja,** sagte sie, „ich, die ich hier vor Dir 
stehe, bin die Frau, die Du suchst. Siehe: mein Haar 
ist das gleiche wie das, was Du bei Dir trägst. Wisse 
nun, dass ich mit Dir gehen will. Zuvor aber musst 
Da mir drei Wünsche erfüllen.** Und Jochanan sprach: 
„Lege mir keine Hindemisse in den Weg. Wisse, 
wenn ich Dich nicht in vier Monaten zum König 
bringe, so müssen alle sterben, die von meinem Volke 
noch geblieben sind.*" Sie aber sprach: „Ich habe zwei 
Eimer; und ich wünsche, dass Du mir einen mit dem 
Wasser der Hölle, den andern mit Wasser aus dem 
Garten Eden füllen sollst.** Da weinte Jochanan und 
sprach; „Wer könnte das wohl tun?** Und sie ant- 
wortete: „Wenn Du es nicht kannst, so will ich nicht 
mit Dir gehen.** »Nun, dann bringe mir die beiden 
Eimer und ich werde tun, was ich kann.** Man brachte 



173 



Wnzessin Ooldhaar. 



174 



sie ihm und er ging sogleich über den Fluss und 
wanderte fort, bis er zum Walde Hai kam. Dort setzte 
er sich nieder, weinte bitterlich und betete aus der 
Tiefe seiner Seele: „Möge es Dir, o Gott, gefallen, mir 
den Raben zu senden, dem ich mein Brot gab und der 
mir versprach, mir meine Güte zu vergelten!'' Der 
Rabe kam, Hess sich neben ihm nieder und sprach : 
„Hier bin ich, um zu tun nach Deinem Geheiss ** Da 
nahm Jochanan die Eimer, hing sie dem Raben um den 
Hals und sagte: „Bring mir einen von diesen Eimern 
gefüllt mit Wasser aus dem Garten Eden und den 
andern mit dem Wasser derHölle.^ „Ich will tun, was 
Du verlangst,^ sprfush der Rabe und flog davon. Er 
kam nach der Hölle und tauchte einen Eimer in den 
Fiuss und füllte ihn mit dem Wasser der Hölle. Aber 
das Wasser war kochend heiss, und man konnte den 
Finger nicht hineinstecken, ohne ihn zu verbiühvn, und 
wäre Gottes Gnade nicht mit dem Raben gewesen, so 
wäre er ganz verbrannt. Von da flosr er zu dem 
Flusie, der mitten durch den Garten Eden fliesst, und 
füllte mit seinem Wasser den anderen Eimer. Dann 
tauchte der Rabe selbst sich in das Wasser und wusch 
seinen Körper und er ward geheilt von den Brand- 
wunden, die er durch das Wasser der Hölle bekommen 
hatte. Nun nahm er die Eimer auf, flog zu Jochanan 
und sprach zu ihm: „Siehe, mein Herr, ich habe getan, 
vrie Du es mir geheissen.^ Und Jochanan nahm die 
Eimer und brachte sie der Königin Er sprach: „Sieh, 
o Königin, die Eimer, gefüllt mit dem Wasser des 
Gartens Eden und dem Wasser der Hölle, ^ie Du es 
gewünscht.*^ Als die Königin ihm die Eimer abnahm, 
sah sie das Wasser an und erkannte, dass das Wasser 
der Hölle sehr heiss und übelriechend war, während 
das Wasser aus dem Garten Eden sehr kühl war und 
nach köstlichen Spezereien duftete. Da war die 
Königin sehr froh darüber und sprach: „Nun musst 
Du mir noch einen Wunsch erfilllen. Vor fünfund- 
zwanzifiT Jahren starb mein Vater und gab mir den 
Ring von seinem Finger. Darin war ein so kostbarer 
Edelstein, wie es in der ganzen Welt nicht seines- 
gleichen gibt. Eines Tages ging ich nun am Flusse 
spazieren und da flel mir der Ring vom Finger in den 
Fluss hinein. Meine Diener suchten ihn, leiteten das 
Wasser des Flusses ab und konnten ihn doch nicht 
finden. Wenn Du ihn mir bringen kannst, so werde 
ich mit Dir gehen." Aber Jochanan sprach: ^Wie ist 
es möglich, jetzt etwas wiederzuflnden, was vor fünf- 
undzwanzig Jahren verloren gegangen ist?** Die 
Königin antwortete: „Kannst Du ihn mir nicht bringen, 
so werde ich nicht mit Dir gehen." Nun ging 
Jochanan am Flussufer entlang, bis er zu der Stelle 
kam, an der er einst den Fisch hineingeworfen, den er 
dem Fischer abgekauft hatte. Dort setzte er sich 
nieder und weinte und betete. Während er noch 
betete, kam der Fisch herbei und sprach: „0, mein 
Herr! Ich bin bereit Deinen Wunsch zu erfüllen. Ich 
weiss, was Du suchst und Gott weiss, dass das, was 
Du suchst, nicht in meinem Besitz ist; aber ich kenne 
den Fisch, der ihn nahm und noch besitzt und ich will 
ihn vor Leviathan anklagen, dem ich die Geschiente 
erzählen muss.** Nun ging der Fisch zu Leviathan 
und sprach: „Am Flussufer sitzt ein guter Mann . . .** 
und erzählte ihm alles, was er wusste. Da sprach 
Leviathan: „Geh hin zu jenem Fisch und frage ihn, ob 
er weiss, wo der Ring ist, und um deinetwillen werde 
ich dafür sorgen, dass er ihn dem Eigentümer zurück- 
gibt." So ging er nun zu dem Fisch und führte ihn 
vor Leviathan, der also zu ihm sprach: „Du hast einen 
Ring, den Du zu der und der Zeit gefunden und auf- 
genommen hast. Gib ihn diesem Fisch, damit er ihn 



dem frommen Mann bringe, der am Flussufer steht. 
Sein ganzes Volk ist vom Kummer gebeugt wegen 
dieses Ringes/' Der Fisch gab nun dem andern Fisch 
den Ring und dieser brachte ihn Jochanan. Aber als 
der Fisch ihn aus seinem Munde auf den Boden spie, 
schnappte ein riesiges Schwein danach, verschlang ihn 
und verschwand. Und Jochanan weinte und klagte in 
der Betrübnis seines Herzens. „Wehe, wehe mirl^ 
schrie er laut. Auch der Fisch war sehr betrübt und 
sprach: „Ich habe nicht mehr die Macht, Dir jetzt noch 
den Ring wiederzubringen. Aber möge Gott Dein 
Gebet erhören und Dich aus der Not zur Freiheit 
führen." Damit verschwand der Fisch. Und Jochanan 
sprach: ,0 Herr, möge es Dir gefallen, mir den Hund 
zuzuschicken, damit ich mit ihm ausziehe, d s Schwein 
zu suchen und, wenn es mösrlich ist, auch zu finden." 
Während er noch so sprach, kam derselbe Hund an 
und sagte: „Teurer, ich habe Deinen Wunsch und Dein 
Gebet schon erlüllt; denn ich tiaf das Schwein, das Dir 
den Ring wegnahm. Ich riss es in Stücke und nahm 
ihm die Eingeweide heraus. Da liegen si^ auf der 
Erde. Komm, ich will Dich zu dem Ort führen, damit 
Du die Eingeweide öffnest und den Ring darin findest.*^ 
Jochanan ging mit ihm und sie kamen zu dem toten 
Schwein. Er öffnete die Eingeweide und fand den 
Ring darin. Nun nahm er ihn an sich und ging frohen 
Herzens seines Weges. Der Hund verschwand. Und 
Jochanan kam zur Königin und brachte ihr den Ring. 
Als sie ihn sab, freute sie sich gar sehr und küshte 
ihn. Und Jochanan sprach: „Da Gott den Weg ge- 
segnet hat, den er mich geschickt, so lass uns jetzt 
zusammen hingehen nach meinem Lande, nach meiner 
Stadt. Ich habe vollbracht, was Du verlangst ; tue nun 
auch Du, was Du versprochen und lass uns nicht 
zögern." Und sie antwortete: „Da Gott es so gefügt 
hat, kann ich nicht anders und muss mit Dir gehen, 
wohin Du mich bringen willst." Sie brachen nun auf 
und kamen wieder in das Land des Königs, der ihn 
ausgesandt hatte. Als der König von ihrer Ankunft 
hörte, zog er ihnen mit seinem ganzen Gefolge ent- 
gegen und geleitete sie zu seinem Palaste. Als sie 
dort ankamen, erfuhr Jochanan, dass seine Frau 
gestorben, seine Söhne gefangen genommen und alles 
dessen beraubt worden waren, was sie besessen hatten: 
denn die Ratgeber des Königs, die ihn beneideten, 
hatten sein ganzes Besitztum geplündert und seine 
Söhne in die Gefangenschaft geführt. Als Jochanan 
das hörte, ward er sehr traurig und weinte und weh- 
klagte um seine Frau und seine Söhne. 

Die Söhne aber waren sehr froh, als sie hörten, 
dass ihr Vater zurückgekehrt war. Sie kamen zu ihm 
und erzählten ihm von allem Ungemach, das sie be- 
troffen hatte. Er befreite sie nun, und sie blieben bei 
ihm. Er wurde vom Könige geliebt und geehrt, weil 
er ihm eine sehr schöne Frau gebracht hatte, wie ihres- 
gleichen im ganzen Königreich nicht zu finden war. 
Nun wollte der König sie auch gleich heiraten und sie 
zum Traualtar führen. Sie aber sprach: „In meinem 
Lande ist es nicht Sitte, jemand gleich zu heiraten, 
der eben zum ersten Mal zu uns spricht. Gib mir 
zwölf Monat Zeit." Der König fügte sich ihrem Wunsche 
und versprach, alles zu tun, was sie verlangte. Und 
.Jochanan ward sehr geliebt von dem König und der 
Königin, so dass der König den Ring von seinem 
Finger nahm, ihn ihm darreichte und ihn zum obersten 
Beamten in seinem Palaste, zum Verwalter seines 
ganzen Gutes ernannte. Deswegen wurden die Rat- 
geber des Königs wieder neidisch und sprachen zn 
einander: „Wenn wir nicht beschliessen, diesen Mann 
zu erschlagen, wird er an uns Rache nehmen lür alles 



Prinzessin Ooldhaar, 



BQse, was wir ihm und seinen Sötiaen getan haben. " 
So lauerten sie Ibro eines Tages auf, scblneen ilin zn 
Boden und rissen Ihn In Stftclie, Glied nm Glied. Ab 
die Nachricht, dass Jochanan erschlagen und vou seinen 
MSrdem in Stücke geriitsen war, zum Könige IcHm, 
war dieser und die K (In igln gar sehr betrUbt. 
Und die Königin xprach: „Führe mich zu dem Ort, wo 
seine zerstreuten Gliedmassen liegen." Sie lUhrten sie 
hin. Und die EBnigin sammelte die Gliedmassen und 
fUgte sie aneiDander, wie nie zusammengehörten. Und 
nie nahm ihren Hing und als sie die Wunden mit dem 
Stein berührte, wachsen die Knochen und Muskeln 
wieder zusammen, denn eine seltsame Kraft lag in dem 
Ringe. Dann nahm sie Wasser ans dem Garten Eden, 
wusch damit seine Haut, so dass sie geheilt wurde und 
dass er das Aussehen eines scheinen JUngltnga erhielt. 
Dann kniete sie nieder, presste ihren Mond auf den 
seinen und küsst« ihn. Und sie betete zu Gott und er 
gab ihm auch die Seele wieder, so dass er wieder 
lebendig wurde, sich erhob and auf seinen Füssen 
wandelte. 

Ais das Volk sah, dass sie T^te beieben konnte, 
wunderte es sich Über alle Massen. Und der König 
sagte: „Lasst uns ausziehen und einen Krieg mit dem 
Nachbarvolke beginnen. Falle ich in der Schlacht, so 
wird sie kommen und mich wieder ins Leben rufen." 
Und der König zog aus mit seinem Gefolge und seinen 
.Soldaten, am einen andern König zu bekämpfen. Sie 



stellten sich in einer langen SchlachtUnte auf. Aber 
der König, seine fHlrsten und seine Diener wurdfen 
getötet I>a kamen die königlichen Katgeber zu ifcr 
Königin und sprachen zu ihr: ,.Komm and belebe den 
König und seine Getreuen, denn sie sind vom Schwefte 
erschlagen." Und sie ging zusammen mit Jochaokn 
zu dem Orte, wo die Erschlagenen lagen, and tat 
ihnen, was sie Jochanan zuerst getan hatte. Aber daAn 
nahm sie statt des Wassers aus dem Garten Edta 
solches au3 der Hülle und besprengte sie damit, wora&f 
sie sogleich alle ta Asche verbrannt waren. Dann 
sagte sie: „Siehe die Wunder Gottes; denn nicht mein 
ist die Kunst zu töten und zu beleben. Gott ist M, 
der tätet und belebet, der Wunden schlägt and heilt, 
der erniedrigt und erhöht. £a gefiel ihm nicht, dieie 
bö^en Menschen zu beleben, wie er diesen guten Mann 
wiederbelebt hat. Ich kann nur seinem Willen ge- 
horchen." Dann kehrten sie nach Hause zurück und 
das Königreich blieb ohne König, bis das Volk seine 
Blicke auf .Tochanan richtete und ihn zum König machte, 
denn alle, die ihm nach dem Leben tracbteten, waren 
nun tot. Und sie gaben ibm auch die schöne Frau 
zum Weibe. Sie lebten miteinander in Fiiede und 
Freude viele, viele .Tabre und bekamen Söhne und 
Töchter. 

So kann man a^ch hier sagen; „Wirf Dein Brot 
ins Wasser; wenn die Zeit kommt, wirst I>u es 
wieder finden." (Eccles. XI.) 



Die Synagoge in Kingston. 

Zerstört durcli da«! Erdbeben, 



Die jüdische Familie Motta in Kingston aaf Jamaika, die fUnf Mitglieder 
durch das Erdbeben verloren hat. 



JAMAIKA. 



Die furchtbare Katastrophe, die über das 
bliUiende Kingston, die schöne Haupt- and Hafen* 
Stadt von Jamaika, hereingebrochen, hat auch unter 
der j&dischen Bevölkenuig eine entsetzlich hohe 
Zahl von OpfeiB gefordert. In der langen Liste 
der verwundeten und getötet«n Juden liest man die 
Namen der hervorragendsten Gemeindemitglieder; 
am schwersten aber wurde die sehr angesehene 
Familie Motta getroffen, die den Tod vod 
fünf Aagehörigeu zu beklagen hat- Es war 
für die Temnglückteu Juden verhängnisvoll, 
dass die ErderschQttenmg und die Feuers- 
bronst zuerst und ain heftigsten dort watete, 
wo die meisten von ihnen ihre Berufstätigkeit ans- 
fibten, nämlich in dem am Haien gelegenen 



Handelsviertel, der City von Kingston. In < 
Stadtteil befand sich auch das nun vollständig 
vernichtete Gottesbaas, die vereinigte (amalgamated), 
ursprünglich sephardische Synagoge. Als sie 
nämlich erbaut wurde, besass Princess Street nebst 
Umgebung noch zahlreiche Privathänser, deren 
Wohnungen w^en der Nähe des Geschäftsbetriebes 
von den jüdischen Kaufleuten besonders bevorzugt 
waren. Ällmäbllch aber mussten diese Gebäude 
weichen und den Riesenspeichem und Handels- 
palästen Platz machen, und schliesslich stand der' 
stille Tempel einsam inmitten des lärmenden Treibens 
der Hafenstadt. Seine Gründer waren Sephardim, 
die seit jeher an Zahl und Einfluss die Aschkanasini 
im Lande weit übertrafen. 



179 



180 



Die ersten jüdischen 
Ansiedler kameD nach Ja- 
maika auf der Flacht vor 
der spanischen Inquisition. 
Hier fand ihr lebhafter Geist 
nnd ihre rege Energie ein 



Faniilientradition 
denen jedoch ihre sepbar- 
dische Abstammung allein 
binreicbendeu Stolz verlieh, 
om ihre aschkäDasischen 
Bräder als Jaden zweiter 



Charles de Cordora. 

Beim Erdbeben auf Jamaika 
schwer verwundet. 

IVachtbares Feld der Be- 
tätigung. Gleichwohl hielten 
sie in ihrer fast sprichwört- 
lich gewordenen Treue die 
Beziehungen zum Lande 
ihrer Geburt aufrecht und lockten immer neue 
.Stamme^enossen aus Spanien und I'ortugal nach 
der freien lusel im Oaraibischeii Meere. Dieso 
Jüdischen Flüchtlinge wur- 
den die Ahnen des nunmehr 
alt gewordenen, vornehmen 
und wohlhabenden jüdischen 
Adels von Kingston. Es 
gibt B'amilien im Lande, die 



C. de Mercado. 

Leiler der Jutlenheit in Kingsion 



Isaac Brandon, Kingston. 

Beim Erdbeben auf latnaika 

schwer verwundet. 

Ordnung zu betrachten und 
zu verachten. So kannte 
beispielsweise ein Sephardi 
kanm einen grosseren 
Schimpf und ein schlimmeres 
Unglück, als wenn ein Mitglied seiner Familie den 
Sohn resp. die Tochter eines Äschkauasi heiratete. 
Nach einer alten Überlieferung pflegten die Bluts- 
verwandten eines solchen 
„abtrünnigen" Yabid, der 
eine Tedesca heimführte, 
sieben Tage zu trauern, — 
als wäre er geslorbeii. 
Die Aschkanasim hatten 



L. M. Mordecai, Kingston. 

Beim Erdbeben getötet. 

iliien Stammbaum bis ins 
15. .lahrhiindeit nachweisen 
kiinneu. Es gab aber (und 
^bt auch jetzt noclii vii^le 
»ipanisclie tiud iiortiigifsische 
.luden, die zwar keine 



Jacob Mudahy. 

|ji; hervorragendes Mitglied der Kmu^li 
(jenieinde. 



Dr. A. C. Motta, Kingston. 

Beim Erdbeben gelötet. 

sich ihrerseits zu einer 
eigenen Gemeinde (Germau 
Community) miteigener Syna- 
goge zusammengeschlossen. 
Eine Feindschaft zwischen 
den bi'iden jiidischen Kürper- 



Schäften gab es im übrigen Dicht, sie betractit«ten ein- 
ander als gleichgiltige Freunde und hatten nur so viele 
gemeinsame Beröhnii^;spaokte wie etwa Katholiken 
and Protestanten. Erfrenlicberweise wurde durch 
das Verdienst des alten Herrn de Cordova diesem 
QQwfirdigen Zostaade ein Ende bereitet. Er und 
seine Familie haben schon vor Jahrzehnten dea 
Wahn bekämpft, als sei die Ehe mit einer Tedesca 
«in Unglück oder ein Terhreefaen; mau begann 
allmählich brüderliche Verbindungen zn knüpfen, 
und endlich kam es Vorjahren zn einer vollstäadigen 
Verschmelzung der beiden Gremeinden. Die Asch- 



kanasim verliesseu ilire Synagt^ and siedelten in 
das alte Gkttteshaus der Sephardim über, das seit- 
dem die Bezeichnung Amalgamated Synagogue 
führte. Hau einigste sieb dahin, dass die sephardisdie 
Anssprache des Hebräischen beibehalten, d^^^ 
die Form des Gottesdienstes nach aschkanasischem 
Brauche modifiziert wurde. 

Nun ist die Synagoge in Schutt und Asche 
verwandelt. Mö^e der neu zn errichtende Tempel 
im gleichen Sinne wie der alte „amalgamated", 
d. h. ein Symbol jüdischer E^inigkeit sein. Dr. M. 



MORITZ STEINSCHNEIDER. 

Von Dr. S, Almoni. 



Das jädische Volk, das seit jeher eine warme 
Verehrung fUr sein nationales und religiases Schrift- 
tom hegte, zeigte auch fröhzeitig Sinn und Ver- 
stibidnis für die bibliographische Wissenschaft. 
Moritz Steinschneider, der am 24. Januar im Alter 
von über neunzig Jatuen beim- 
gegangen ist, war seit Jahr- 
zehnten als der grösste und 
bedeutendste hebräische Bihlio- 
tcraph anerkannt und i^efeiert. 
Diesen Ruhm verdiente er un- 
streitig. Aber er war nicht der 
Einzige und auch Dicht der Erste 
auf diesem Gebiet , und der 
jüngst verstorbene Gelehrte, dem 
die wissenschaftliche Objektivi- 
tät immer so hoch stand, würde 
es gewiss nicht geduldet haben, 
dass man das Vt^rdienst seiner 
Vorgänger , seiner zeitgünossi- 
scben Mitarbeiter und der 
jüngeren Gelehrten nicht ge- 
nügend anerkenne. Was Stein- 
schneider zu dem hervorragend- 
sten hebräischen Bibliographen 
machte , das war die seltene 
Vereinigune aller Eigenschafteu, 
die man bei den anderen Biblio- 
graphen nur vereinzelt findet. 
Wie bei den anderen wissen- 
schaftlichen Disziplinen ist es 
auch bei der hebräischen Biblio- 
graphie denkbar, dass ein von einem Gelehrten 
unlemommenes Werk gleichzeitig vou mehreren 
gefördert und durch sie zum Abschluas gebracht 
wird. Und tatsächlich ist Steinschneider mit 
seinem Unternehmen zu einer Zeit anfgelreten, als 
die hebräische Bibliographie sozusagen hoch iu der 
Mode stand. Man braucht nur die zwölf Jahr- 
gäoiie des „Orient", oder richtiger seiner „Literatur- 
blatt" benannten wissenschaftlichen Beilage ilH4() 
bis 1851) durchzublättern, um zu sehen, welches 



Moritz Steinschneider. 



Interesse mau in den Kreisen der Fachgelehrten 
seit der Begründung der Wissenschaft des Juden- 
tums der Bücheriiuude entgegenbrachte. Hiblio- 
graphen waren sie fast alle, die ersten Begründer 
der Wissenschaft des Judentums; Happoport, 
Zunz, Luzzatto, Schorr, Fürst, 
David und Selig (Paulus) Cassel 
usw. Steinschneider überragt 
sie alle auf diesem Grebiet nur 
dadurch, dass er alle seine 
Krälte, seinen Scharfsinn, seine 
Kombinations^abe und seine 
Ausdauer in den Dienst dieser 
Wissenschaft stellte. Büchertitel 
and Autorennamen waren für ihn 
nicht Schall und Ranch, sondern 
Denksteine des schöpferischen 
Geistes des jüdischen Volkes 
und Bausteine für <'essen Kultur- 
geschichte. 

Die hebräische Bibliographie 
haben Jüdische uud christliche 
Forscher noch vor Steinschneider 
begründet. Unter den jüdischen 
Bibliographen war zweifellos der 
bedeutendste Ch. J D. Asulai, 
dessen hundertster Sterbetag im 
nächsten Monat in Erinnerung 
gebracht zu werden verdient. Es 
war dies ein einenartiger Mann, 
einer durch ihre Gfelehrsamkeit 
berühmten sephardischen Familie 
entstammend, der aus Palästina nach Eiuvpa kam 
und in verschiedenen Ländern öffentliche nnl private 
Bibliotheken durchstöberte, um die hebräische 
Bibliographie wissenschaftlich zu fördern. Unter 
den christlichen Gelehrten, die sich mit der Er- 
forschung des hebräischen Schrifltnms eineehend 
befassten, ragten zwei Männer hervor: der deutsche 
J. Ch. Wolf und der Italiener de Rossi, der zuletzt- 
genannte von einer jüdischen Familie abstammend. 
Diese drei Männer, die so ziemlich zu einer Zeit 



183 



Dr. S. Almoni: Moritz Steinschneider. 



184 



lebten (Wolf hat seinen j&dischen Fax^hgenossen 
Asnlai persönlich gekannt nnd sehr geschätzt), 
hsU)en in der hebräischen Bibliographie wertvolles 
geleistet. Indess^ haften ihren Arbeiten grosse 
Mängel an, die freilich auch die Mängel ihrer Zeit 
wareü. Steinschneider hatte gegen sie den Vorzog, 
dass er zu eioer Zeit lebte, wo die j&dische 
Geschichte aus ihrem Dunkel gef&hrt und wissen- 
schaftlich erforscht war. 

Die hebräische Bibliographie hatte nämlich in 
den fr&heren Jahrhunderten dasselbe Missgeschick 
erfiahren, wie die jüdische Geschichte. Grätz 
bemerkt sehr zutreffend, dass der jüdischen Ge- 
schichte vordem beide Augen fehlten: Orts- und 
Zeitbestimmung. Von vielen Begebenheiten wusste 
man nichts. Das war aber nicht das Schlimmste, 
da man das fehlende durch neue Forschungen 
ei^änzen konnte. Viel irreführender war es, dass 
manche bekannten Ereignisse in eine falsche Zdt 
oder an eine falsche Stelle verlegt wurden. Alles 
war durcheinandergeworfen. Es hielt sehr schwer, 
die Irrtümer, die so festgewurzelt waren, zu be- 
richtigen. Aehnliches geschah auch mit der 
hebräischen Bibliographie. Autoren, die zu ver- 
schiedenen Zeiten nnd in verschiedenen Landau 
gelebt hatten, zumal wenn sie gleiche od^ tim- 
Uche Na^en führten, wurden im Lauf d^r Zeit 
mit einander verwechselt; ebenso erging es den 
Büchertiteln. Die Flüchtigkeit der Abschreiber, 
die merkwürdigen Schickste, die jüdische Bücher 
oft erfuhren, die ewii^e Unruhe in der sich jüdische 
Bücherbesitzer früherer Jahrhunderte befs^den, die 
Furcht vor der Zensur und den Denun^ationen, 
die häufigen Bücherkonfiskationen — all dieses 
trug reichlich dazu bei, die hebräische Bücher- 
kunde zu einem Knäuel von Irrtümern und Miss- 
verständnissen zu machen. Es kam nicht selten 
vor, dass durch irgend einen Zufall ein handschrift- 
licher Kodex aus verschiedenen Bücherteilen zu- 
sammengesetzt war, die miteinander in nur losem 
Zusammenhang standen. Sie gehörten verschiedenen 
Autoren an. In früherer Zeit war es nicht un- 
möglich, dass ein solches Buch kritiklos gedruckt 
und in die Welt geschickt wurde. 

Als der Sinn für wissenschaftliche Ord- 
nung der hebräischen Bücherschätze erwachte, 
war es nicht leicht, den Knäuel zu entwirren, die 
hebräischen Bücher von dem Schimmel zu befreien, 
der sich auf sie im Lauf der Jahrhunderte ge- 
lagert hatte. Wolf hat für sein bibliographisches 
Buch in erster Reihe die berühmte Oppenhein^ische 
Büchersammlung benutzt, die damals in Hannover 
verpfändet war. Sie enthielt seltene Drucke und 
auch viele Handschriften. Schon die Bücher biblio- 
graphisch zu ordnen, war gewiss ein verdienstvolles 
Werk. Aber von einem christlichen Gelehrten, der 
sich immerhin nur schwer in den Text dieser 
Schriften hineinlesen konnte, durfte man nicht 
verlangen, dass er alle Fehler vermeide, die sich 
durch falsche Vermerke auf den Büchertiteln er- 
gaben. Noch weniger konnte er Irrtümer authellen, 
die aus falschen Zusammenstellungen verschiedener 



Hefte oder Bücherteile entstanden waren. Dasselbe 
lässt sich auch von de Bossi sagen, der namentlich 
italienische Bibliotheken benutzte, so auch die be-; 
rühmte Foa'sche, die die seltensten und inhalt- 
lich wertvollsten Handschriften, zum Teil tausend 
Jahr alte Autogramme, umfasste, später aber, lun 
die Zeit der itäienischen Freiheitskämpfe, bis bvS 
wenige Nummern. Valoren ging. Asnlai war ein 
bedeutender jüdischer Gtelehj^r, der wohl sehr gut 
in den von ihm beschriebenen Büchern Bescheid 
wusste. Aber ihm fehlten die materiellen und 
wissenschaftlichen Mittel, um die Bibliographie 
kritisch zu behandeln. Auch beschrieb er nur einen 
geringen Bruchteil des hebräische, Schrilttums. 

Steinsdineider vereinigte bei seltener Begabung 
die umfassende Gelehrsamkeit Asulais mit der wissen- 
schaftlichen Akribie seiner christlichen Vorgänger. 
Dazu kam noch seine gründliche Kenntnis mehrerer 
semitischer Idiome. Eüie grosse Bolle spielten un- 
zweifelhaft in seinen gelehrten Forschungen die 
modernen Komunikationsmittel, durch die allein es 
ihm möglich wurde, an fremden Orten vorhandene 
Büchersammlungen entweder selbst zu besichtigeai, 
oder sie bibliographisch durch andere verwerten 
zu Isssen. Es wäre eine unangebrachte Schmeichelei, 
wollte man behaupten, dass alle bibliographischen 
Arbeiten Steinschneiders frei von Fehlem und 
Irrtümern seien. Grerade sein Hauptwerk, der 
grosse lateinisch geschriebene Katalog der Bodleiana 
hat solche Mängel in nicht kleiner Zahl aufzu- 
weisen. Aber das verrinn? ert die Bedeutung Stein- 
schneiders nicht im geringsten. Vor il^ und 
neben ihm hat keiner die hebräische Bibliographie 
so vollständig beherrscht und so umfassend behandelt. 

Das merkwürdigste ist aber, dass die Arbeiten 
Steinschneiders, die ihm zu solcher Berühn*theit 
verhalfen, nicht einmal die bedeutendsten von ihm 
waren. Es erging ihm darin wie seinem von ihm 
mit Becht bewunderten Freund Leopold Zunz, 
der ebenfalls durch ein grosses Buch berühmt 
wurde, das nicht sein grösstes war. Steinschneiders 
kulturgeschichtliche Forschungen sind von einer 
Bedeutung, die man in einem Nekrolog nicht er- 
schöpfend behandeln kann. Was er zu der Geschichte 
der Philosophie, der Mathematik, der Astronomie, der 
Medizin usw. beigetragen hat, ist bekannt genug. 
Er schrieb über Bücher verschiedener Sprachen 
und in verschiedenen Sprachen. Was er über den 
innigen Zusammenhang zwischen der altklassischen 
und der arabisch- jüdischen Kultur für wertvolles 
Material znsammeng«*tragen hat, das allein würde 
genüsen, ihm ein ruhmvolles Blatt in der Geschichte 
der Wissenschaft zu sichern. 

Moritz Steinschneider war ein eigenartiger 
Gelehrter, ein Mann, der auch in seiner Persönlichkeit 
überaus interessant war. Man hat oft behauptet, 
dass seine Gelehrsamkeit vom Leben losgelöst sei. 
Für die Gegenwart, ftlr das moderne Leben und 
seine Anforderungen habe er wenig Verständnis 
gezeigt. Indessen muss man in Betracht ziehen, 
dass er stets seinen Stolz darin setzte, nur für die 
Wissenschaft und für Wenige zu schreiben. Ein 



185 



Dr. S. Almoni: Moritz Steinschneider. 



^t«s Bach war für Um dut eiii solches, das in 
einer Auflage von höchstens dreihundert Exemplaren 
gedruckt wurde. Das Thema seiner Forschungen 
eignet sieb tatsächlich nicht direkt selbst Gtc ge- 
bildete Laien. Und das konnte er weder verstehen 
noch ertraeen, dass andere die von ihm herbeiee- 
schafiten knltnrgeschichtlichen Bausteine zn hohen 
und luftigen Gebäuden, allen zugänglich, benutzten. 
Hätte er es gekonnt, so würde er dies yerhindert 
haben. Ich kann das Wort nicht unterdrücken; 
es war dies ein unjüdischer Zug in seinem Wesen. 
Denn bei Juden pjüt es stets als das grösste Ver- 
dienst, die Schätze des menschlichen Wissens frei- 
^big zu verteilen, und im Talmud wird der 
am beftigHten getadelt, der sein Wissen für sich 
behält oder nur wenigen mitteilen will. 

Aber glücklicherweise ist auch dieses Ideal 



Steinschneiders, die Wissenschaft sorgf^tig vor 
den Augen nicht EJngevreihter zu verbergen, nicht 
verwirklicht worden Er hat für das jüdische Volk 
mehr geleistet, als in seiner Absicht lag. Er hat 
sich oft im Leben über die Unberufenen beklagt, 
die sich in die Wissenschaft des Judentums ver- 
liefen. Dies mag in manchen Fällen bedauerlich 
sein, aber der Wissenschaft hat es nicht geschadet. 
Wenn die Kenntnis des Judentums, wie wir hoffen, 
dereinst, sei es in der ersten Quelle, oder durch Popu- 
larisierung, allen Juden eigen sein wird, so wird man 
auch Steinschneiders nnsterbliche Leistungen zu wür- 
digen verstehn, trotzdem er dies gar nii-ht wollte. 
Was jüdische GJelehrte und Forscher auf dem (Je- 
biet des Judentums geschahen haben, ist der 
geistigen Kraft des jüdischen Volkes entnommen 
und gehört fBa- immer der jftdischen Gesamtheit an. 



DANIEL OSIRIS. 



Am 4. Februar starb zu Paris im Alter von 
82 Jahren der Offizier der EhrenlegiOD Daniel Osirla 
Iffla. O&iris ~ er pflegte sich nicht mit seinem 
Familiennamen zu nennen — war der Sohn eines 
jüdischen Kaufmann^ in Bordeaux und 
kam im Alter von 14 Jahren nach 
Paris, wo er im Kontor eines Bank- 
geschäfts seine finanzielle Karriere 
begann. Er gelangte sehr rasch zn 
grossem Beichtom, der ihm die 
Mifglicbkeit gab, schon hei Lehzeiten 
philanrhropiscbe Werke von be - 
wundemawerter Art zu stiften. Er 
war nicht nur ein faodiherziger Wohl- 
tater der leidenden, sondern auch ein 
verständniavolter Wohltäter der „ge- 
Diessenden" Menschheit. Er war nicht 
nur ein Erbauer von KrankenMusem, 
sondern — in erster Linie — ein 
tatkräftiger Förderer der Künste und 
Wissenschaften. Seine Vaterstadt 
schmückte er mit üffentUchen Brunnen, Daniel 

der Stadt Nancy schenkte er eine 
Statue der Jungfrau von Orleans. Jüngst noch be- 
dachte er die Stadt Paris mit einem Standbild Mnrrets, 
das vor dem Th^ätre Fran^aia aufgestellt worden ist. 
Im Jahre 1889 stiftete er ans Anlass der Pariser Welt- 
ausstellung einen Preis von 100 000 Franks für das 
wertvollste Werk anf dem Gebiete der Knnst, der 
Wissenschaft oder der Industrie; 1900 stiftete er einen 
neuen Preis von 100 000 Franks ftlr die Dützlichste 



wissenschaftliche Entdeckung. Die ersten Empfönger 

dieses Preises waren der verstorbene Professor Curie 

für die Entdeckung des Radiums und Brandly, der 

Erfinder der drahtlosen Telegraphie. Im Jahre ^90b 

schenkte er dem Staate das Schloss 

Atalmaison, die frühere Residenz der 

Kaiserin Josefine. Noch viele andere 

grossartige Stiftungen sind dauernd 

mit dem Namen Osiris verknttpfL 

Sein Steckenpferd aber bildete 
gleichsam das Erbauen von Synagogen. 
Hierbei verfuhr er streng nach dem 
Prinzip, nur für den äusseren Bau zu 
sorgen, die innere Einrichtung and die 
Ausschmückung der Qottesbänser übei- 
liess er den Gemeinden. 

Trotz seines unermesslicben Reich- 
tums verschmälite Osiris für seine Person 
jeden Luxus, ja selbst manche Bequem- 
lichkeiten, auf die sogar der „bessere 
Mittelstand" nicht verzichten würde. 
Osins. jj-y^ (^ jjg Ausschmückung seiner 

letzten Ruhestätte gab er eine 
grössere Somme her. An seiner Familiengruft anf 
der judischen Abteilung des Hontmartre-Friedhofs Hess 
er eine Marmomachbildnng des „Moses" von Michel 
Angelo anbringen. Später erschien Ihm der Marmor 
an diesem Orie nicht passend, und er ersetzt« Ihn durch 
eine Kopie aas Bronze. Das MarmorstandbUd aber 
schenkte er der Alllance Israelite universelle 
für ihr Lehrerseminar, in deren Garten es jetzt steht. 



187 



ISS 



PSALM 42 



Nachdruck verboten. 



Andante con moto. 



Hirsch Liwschitz. 



SOPRAN. 



TENOR. 




ORGEL 
od. 

HARMONIUM. 



4^^ 



^ 




Wie der Hirsch schrei 



et nach fri-schem Was 



te 



^ 




Wie der Hirsdi schrei- 




semprelegaiö 



i.rii urrirrM^ii '; [ i;f^^[i' -^ ;i 



X£ 



r f r 



cresc. 




zu dir o 

cresc. 



et nach fri «schein Was 



^jM j|J Jiq-Hp if^ JM> r ^ 



ser. 



so schrei-et mei . no See - le 



ZQ dir 




T 



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a ieinpo er esc 




Gott, zu dir o Gott, zu dir 



\^ rl- c^jguif^p^ 



o Gott. Wann 'wer- de ich da . hin kom - men, dassich 

cresc. 

W - 



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Gott, zu dir o Gott, zu dir o 



Gott. 



Wann wer- de ich da - hin 




h ^i i 'J J | J> 1^ 



P=f==F-=Pf 



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I 



180 



190 





>i U\G J j 



Ooi-tes An 



ge •Sicht sdiao 



ps 




^ 



e. schau • e? 



kom - men, das ich Got-tes An 



ge... sieht schau 



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l'i'''V;,^^ii^ 




Wann werde ich da-hin kom - men,das8 ich. Got-tes An - gesicht,wanxiwer-de ich da -hin 



f'i)7' i .«' i: 




[f^ I ni "r 



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wer -de ich da-hin kom • men»dass ich 

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Got • tes, Got • tes An • ge • sieht, An- 



men^dass ich 



(' n i r '^iiJW f l rH.J i 







v^ 



191 



192 



DER POGROM. 

Von Maria Konopnicka. — Aus dem Polnischen. 



Nachdruck verboten. 



IL 



Nach dem Mittagessen macht sich der Kleine 
an die Arbeit, indem er aus dem Tornister seine 
Bücher und Hefte hervorholt, während der Alte an 
seinen Arbeitstisch geht. Obgleich das Kind sich 
still verhält und nur mit halblautem Fltlstem seine 
Lektionen wiederholt, scheint dem alten Buchbinder 
doch etwas bei der Arbeit hinderlich zu sein. Jedes- 
mal wendet er den Kopf, um den Knaben anzusehen, 
und obgleich er nur die Hand auszustrecken braucht, 
um Kleister zu haben, macht er doch absichtlich einen 
Umweg um die ganze Länge der Stube, um unter- 
wegs den Enkel in die bleichen Wangen zu kneifen, 
•der ihm das kurzgeschorene, weiche und dichte 
Haar zu streicheln. Der Knabe ist offenbar an diese 
Liebkosungen gewöhnt, denn er unterbricht weder 
sein eifriges Murmeln, noch die wiegenden Bewegungen. 
Und der Grossvater ist damit sehr zufrieden ; leise auf- 
tretend kehrt er auf seinen Platz beim Arbeitstisch 
zurück. 

Am Freitag vor Abend ändert sich die Szene; 
der Kleine lernt beim Fenster, indem er sich müh- 
selig auf seinem Sessel hin- und herwiegt, auf dem 
Tischchen li^t ein weisses Tischtuch, und die Nach- 
barin bringt Fische, Nudeln mit Brühe und eine fette, 
eben vom Bäcker abgeholte, hübsch gebräunte Ente. 
Ein Zinnleucbter von seltsamer Form erhellt die Stube 
mid verleiht ihr ein feierliches, testliches Aussehen. 

Der alte Mendel hat einen etwas abgetragenen, 
aber noch immer schönen schwarzen Kaftan an, 
mit breitem Gürtel darüber, in den er mit einem 
wonnigen Gefühl seine abgearbeiteten Hände steckt. 
Ein Käppchen bedeckt sein graues Haar, und das 
Knistern der neuen Stiefel mit Schäften erfüllt den 
Kaum mit einem gewissen heiteren Geräusch. So- 
bald der Tisch angerichtet ist, wäscht sich der 
Knabe, kämmt sein Haar, das wie ein Maulwurfs- 
vliess aussehende Haar auf dem kleinen, länglichen 
Köpfchen, knöpft sich einen frischen Kragen und 
frische Manschetten an, und die Hände auf dem 
Rücken gekreuzt steht er da, ernst und gerade auf- 
gerichtet, während der Grossvater nach dem Tales 
(Gebetmantel) und Gebetbuch langt. 

Eine Weile später erklingen die Töne eines 
hellen Singsangs. Der alte Jude betet. Seine Stimme 
durchläuft alle Tonfalle, von den tiefsten Lagen bis 
zu den höchsten, die sich zu einem Stöhnen und 
inbrünstigen Klagen erheben, voll leidenschaftlicher, 
flehender schluchzender Akzente. Unter dem Ein- 
druck dieses Gesanges empfindet der kleine Gymnasiast 
einen nervösen Schauer, sein bleiches Gesichtchen 
wird noch bleicher, seine grossen Augen werden 
übermässig weit, bald schliessen sie sich und, füllen 
sich mit Tränen; er blickt auf den Grossvater wie 
gebannt, und ein spasmatisches Gähnen öffnet sein 
Mund. Zum Glück schlägt der Alte das grosse 
Gebetbuch zu und beginnt mit einem Segensspruch 
'««? Sabbatmahl. 



Im Sommer kam es einmal vor, dass die Burschen 
vom benachbarten Schlosser und Schuster sich vor 
dem geöffneten Fenster des alten Buchbinders ver- 
sammelten, in die von dem Samstagslicht erhellte 
Stube guckten und über das Gebet des Juden höhnten 
und schlechte Scherze trieben. Li diesem Augenblick 
ging der alte Pfarrer vorbei, er blickte flüchtig ins 
Fenster, und als er den betenden Juden sah, der so 
wehmütig zu seinem Gott rief, lüftete er ehrfürchtig 
den Hut. Die Burschen liefen davon, wie vom 
Winde auseinandergejagt, und seither war kein Fall 
mehr vorgekommen, wo der Friede der armen Be- 
hausimg gestört worden wäre. 

Erst vorgestern . . . 

Eigen tlichwarauchvorgestemnichts vorgekommen. 
Nur der Kleine kam aus der Schule ohne Mütze, 
keuchend, wie ein gehetzter Hase. Anfangs wollte 
er nichts* sagen. Erst nach langer Inquirirung kam 
es heraus, dass ihn ein zerlumpter Gassenbube unter- 
wegs „Judl . . Jud!*' angebrüllt hatte; daher sei 
er davongelaufen, habe die Mütze verloren und nicht 
gewagt zurückzukehren, um sie zu suchen. 

Eine 2k)meswelle stieg in das Gesicht Mendel's. 
Er richtete sich empor, als sei er plötzlich gewachsen, 
spuckte aus, dann fasste er den Knaben hart bei 
der Schulter, schob ihn zum Tisch und verzehrte 
schweigend das Mahl. 

Nach dem Mittagessen kehrte der Alte nicht zu 
seinem Arbeitstisch zurück, stopte keine Pfeife, 
sondern ging im Zimmer auf und nieder. Auch der 
Kleine machte sich nicht ans Lernen, sondern be- 
trachtete den Gross vater mit erschrockenen Augen. 
Noch nie hatte er ihn so zornig gesehen. 

„Höre, Du!" brachte endlich Mendel hervor, 
indem er vor seinen Enkel sich aufpflanzte. „Als 
ich Dich, eine kleine Waise, zu mir nahm, und Dich 
erzog und hegte und pflegte, und Dir Mutter und 
Wärterin vertrat, so habe ich das nicht deswegen 
getan, damit Du ein Dummkopf würdest. Und als 
ich Dich' lernen Hess, und Dir Bücher kaufte, so 
habe ich das auch nicht dazu getan, damit Du 
dumm bleibst. Und Du wächst ganz dumm heran ^ 
und hast kein Fünkchen Klugheit in Dir. Wenn 
Du ein Fünckchen Klugheit in Dir hättest, würdest 
Du Dich nicht schämen, nicht weinen und nicht 
davonlaufen, wenn man Dir auf der Strasse „Jud'!" 
zuruft. Und wenn Du darüber weinst, davonläufst 
und mir noch dazu eine so schöne Mütze verlierst, 
die fünf polnische Gulden weniger sechs Groschen 
in baarem Gelde kostet, na, so bist Du mir ganz 
dumm, und die Schulen, die Bücher, das Lernen, 
Alles nützt zu nichts". 

Er holte Athem und hub dann wieder zu 
sprechen an. 

„Nun, was ist das: Jud'? Nu! was heisst: Jud'r" 
sagte er schon mit etwas sanfterer Stimme. „Du 
bist in dieser Stadt geboren, bist also kein Fremder, 



193 



Maria Konopnicka: Der Progrom. 



194 



gehörst hierher, bist ein hiesiger, hast ein Recht, 
diese Stadt zu lieben, so lange Du redlich bleibst. 
Du hast Dich dessen nicht zu schämen, dass Du 
Jude bist. Wenn Du Dich schämst, dass Du Jude 
bist, so hältst IDu Dich selber für niedrig, nur weil 
Du Jude bist, nu, wie kannst Du dann für diese Stadt 
etwas Gutes tun, in der Du geboren bist? Wie 
kannst Du diese Stadt lieben? Nu? . . ." 

Er verschluckte sich und blieb wieder vor dem 
Knaben stehen. Jetzt aber schaute er auf sein er- 
schrockenes Gesichtchen mit einer gewissen Rührung. 
Er legte die Hand auf sein Haupt und rief mit Nachdruck : 

„Ein redlicher Jude bleiben, das ist eine schöne 
Sache! Merk' Dir das! Und jetzt gehe lernen, damit 
Du aufhörst, dumm zu sein; und eine Mütze werde 
ich Dir schon kaufen, Du brauchst deshalb nicht zu 
weinen, das ist eine Dummheit." 

Der Kleine küsste dem Grossvater die Hand 
und ging an die Arbeit. Den Alten aber hatte die 
Sache doch mehr aufgeregt, als er vor dem Kleinen 
entdecken wollte. Denn er ging im Zimmer auf und 
ab, ohne die angefangene dringende Arbeit zu voll- 
enden, spuckte jedesmal in den Winkeln aus, als 
hätte er etwas Bitteres verschluckt. Er hatte auch 
über Nacht diese Bitternis noch nicht verdaut, denn 
am Morgen erhob er sich noch gebückter und mehr 
gealtert, als sonst. Als der Kleine sich die Riemen 
seines Tornisters befestigte und zur Schule ging, stand 
er lange noch am Fenster und sah ihm unruhig nach. 

Diese Unruhe verliess ihn auch während der 
Arbeit nicht. Oefter als gewöhnlich, offenbar im 
Zustande einer Gereiztheit, stopfte er das kurze 
Pfeifchen und blickte argwöhnisch in diese Gasse, 
die er so lange nnd so gründlich kannte. Und 
vielleicht war eben diese seine Gereiztheit schuld, 
das ihm ihre Bewegung und das rege Treiben anders 
als gewöhnlich vorkamen. 

Aber als der Kleine aus der Schule fröhlich 
heimkam, weil er eine gute Zensur bekommen, und 
belustigt über die neue Mütze, die ihm über die 
Stirn fiel, vergass der Alte ganz alle seine Phantasie- 
gebilde und, sei es für sich selber, oder um dem 
Kleinen eine Freude zu machen, begann er bei der 
Arbeit zu pfeifen, wie in den Zeiten der Jugend. 

Nach dem Mittagessen kam der ewig nach 
Bisam riechende Dependent hereingestürzt, um sich 
seine zusammengenähten Akten zu holen. 

In der Stube war es schon dunkel, als durch 
die niedrige Tür der dicke Uhrmacher im aschgrauen 
Havelock sich hineindrängte, den er immer um diese 
Stunde trug. 

„Haben Sie Neues gehört?** frug er, indem er 
sich auf den Rand des Tisches setzte, an dem der 
Knabe studirte. 

„Nu,* versetzte Mendel, „was gehen mich 
Neuigkeiten an? Ist es eine gute Neuigkeit, wird sie 
gut bleiben, auch wenn sie nicht mehr eine Neuig- 
keit ist; ist sie böse, was nützt es mir zu wissen!* 

„Es heisst, dass man die Juden schlagen soll,* 
rief der beleibte Uhrmacher, indem er den Fuss mit 
dem ausgeschnittenen Schiüi und der Stahlspange 
hin und her wiegte. 



Der alte Mendel zwinkerte einige Male nervös mit 
den Augen, ein plötzliches Beben zuckte um seinen 
Mund. Bald aber hatte er sich wieder in seiner 
Gewalt und im Tone jovialer Gutmütigkeit sprach er: 

„Juden? Welche Juden? Was flir Juden wiU man 
schlagen? Die Diebe, oder solche, die den Leuten 
Böses tun, unterwegs die Reisenden berauben, die 
den Armen die Haut herabziehen, warum nicht? 
Ich selber werde hingehen und sie schlagen!* 



.Aber nein!" lachte der Uhrmacher. 



.Alle 



Juden! . . ." 

In den grauen Augensternen Mendel's flammte 
ein plötzlicher Glanz auf. Er dämpfte ihn durch 
die halb gesenkten Wimpern und mit gekünstelter 
Gleichgültigkeit sprach er: 

„Nu, warum sollen alle Juden geschlagen werden?* 

„Wieso, warum?* erwiderte der Uhrmacher frei- 
müthig. „Darum, weil sie Juden sind!* 

„So?" sagte Mendel, indem er halb seine grauen 
Augen schloss: „Warum gehen die Leute nicht in 
den Wald, um die Birken und die Tannen zu schlagen, 
weil sie Birken und Tannen sind? . . .* 

„Ha, ha!* lachte der Uhrmacher. „Jeder Jude 
hat seine Axisflüchte. Aber, lieber Freund, diese 
Birken und diese Tannen sind ja unser, in unserem 
Walde, auf unserem Grund und Boden aufgewachsen.* 

In Mendel brauste es auf, dass er sich ver- 
schluckte. Er beugte sich leicht zu seinem Gegner 
hinüber und blickte ihm tief in die Augen. 

„Nun, und ich, wo bin ich aufgewachsen? Aus 
welchem JBoden heraus bin ich aufgesprosst? Wie 
lange kennen Sie mich schon? Siebenundzwanzig 
Jahre kennen Sie mich! Bin ich ich etwa hierher 
gekommen, wie man in ein Wirtshaus kommt. Wie 
Einer, der isst, zecht und nicht bezahlt? Nein, ich 
bin nicht wie in ein Wirtshaus hier eingekehrt. Ich 
bin in dieser Stadt aufgewachsen wie die Birke im 
Walde. Habe hier mein Brod gegessen > das ist 
wahr. Hab' auch Wasser getrunken, auch wahr. 
Aber für mein Brod und Wasser habe ich bezahlt! 
Womit habe ich bezahlt? Wollen Sie wissen, womit 
ich bezahlt habe?" 

Er streckte seine beiden abgearbeiteten, trockenen 
und nervigen Hände vor sieh aus. 

„Nu," sagte er mit einer plötzlichen Wallung, 
„mit diesen fünf Fingern habe ich bezahlt! Sehen 
Sie diese Hände?* 

Wieder beugte er sich herab xmd fuchtelte mit seinen 
mageren Händen vor dem Gesichte des Uhrmachers. 

„Diese Hände haben das Brod und das Wasser 
nicht unverdient zu den Lippen geführt. Diese 
Hände sind krumm geworden vom Messer, von den 
Zangen, der Schraube und dem Hammer. Ich habe 
mit diesen Händen flir jeden Bissen Brod und für 
jeden Schluck Wasser bezahlt, die ich verzehrt. Ich 
habe auch noch diese Augen hinzugelegt, die nicht 
mehr gut sehen wollen, und diesen Rücken, der sich 
nicht mehr gerade strecken will, und die Füsse, die 
mich nicht mehr tragen wollen!* 

Der Uhrmacher hörte teilnahmslos tu, während 
er mit seiner Uhrkette spielte. Der Jude erhitzte 
sich vom Reden noch mehr. 



ff 



195 



Maria Könopnicka: Der Progrom. 



196 



„Nu, wo ist meine Bezahlung? Sie ist in der 
Schule bei den Kindern, bei den jungen Herren und 
Fräuleins, die in den Büchern studieren und in den 
Heften schreiben, die ich mit meinen Händen da 
gebunden habe. In der Kirche ist sie, wenn die 
Leute mit meinen Büchern dorthin gehen. Nu, 
meine Bezahlung ist in der Hand des gnädigen Herrn 
Pfarrers, dem ich auch seine Bücher einbinde, leben 
und gesund sein soll erl" 

Hier lüftete er das Käppchen, dann fügte er 
hinzu: 

„Meine Bezahlung ist in guten Händen!^ 

^Dass sind blosse Redensarten, ** erwiderte der 
Uhrmacher diplomatisch, „aber Jude bleibt immer 
Jude«. 

Neue Funken erglühten in den Augen des alten 
Buchbinders. 

„Nu, was denn soll er sein? Ein Deutscher soll 
er sein, ein Franzose soll er sein? Vielleicht soll er 
gar ein Pferd sein? Zum Himd nämlich hat man 
ihn längst schon gemacht! Verstehen Sie das?^ 

„Nicht um das handelt es sich," rief der Uhr- 
macher pathetisch, „es handelt sich darum, dass der 
Jude kein Fremder sein soll". 

„So, darum handelt es sich," versetzte der 
Jude, indem er sich zurückneigte und die Ellen- 
bogen an sich zog. „Nu, so hätten Sie doch gleich 
sprechen sollen. Das ist einmal ein gescheidtes 
"Wort. Wissen Sie, ich höre sehr gern ein gescheidtes 
Wort Ein gescheidtes Wort ist dem Menschen wie 
Vater und Mutter. Um ein gescheidtes Wort zu 
hören, möchte ich eine Meile weit gehen. Das 
nährt mich, wie das litbe Brod. Wenn ich ein 
reicher Mann wäre, ein Banquier z. B., so möchte 
ich für jedes geicheidte einen Dukaten geben. Sie 
sagen, der Jude soll nicht fremd sein? Nu, das sage 
ich ja auch. Er soll nicht ein Fremder sein. 
Warum soll er fremd sein, er gehört ja hierher. 
Glauben Sie, dass, wenn der Regen fällt, er den 
Juden nicht durchnässt, weil er fremd ist? Oder 
glauben Sie, dass, wenn hier der Wind weht, er 
dem Juden keinen Sand in die Augen streut, weil 
er hier fremd ist. Oder glauben Sie, dass, wenn hier 
der Ziegel vom Dache fällt, der Jude verschont 
bleibt, weil er fremd ist? Nu, da muss ich Ihnen 
aber sagen, dass er ihn nicht verschont, und auch 
der Wind nicht, und auch der Regen nicht. Sehen 
Sie mein Haar und meinen Bart? Sie sind graul 
Was bedeutet das? Das bedeutet, dass sie vielerlei 
Dinge gesehen und bewahrt haben. Sie haben 
grosse Feuer, grosse Brände und scharfe Blitze ge- 
sehen, die auf diese Stadt niederzuckten, aber das, 
dass die Juden verschont geblieben wären, das haben 
sie nicht gesehen. Nu, und wenn die Nacht über 
diese Stadt kommt, so scheint auch für die Juden 
keine Sonne." 

Er holte tief und schwer Atem. 

Er streichelte wiederholt seinen weissen Bart, 
dachte ein wenig nach, dann hub er an: 

„Entschuldigen Sie, Herr Nachbar, wer hat es 
-'.agt, das man die Juden schlagen soll? Ich wollte. 



bevor Sie das Kind wegschickten, nicht fragen, um 
es, Gott behüte, nicht zu erschrecken, denn das ist 
ein sehr zartes Kind, aber jetzt frage ich Sie 
darüber." 

Er lächelte einschmeichelnd, herzgewinnend, und 
seine grossen Augen blickten mit ängstlicher Neu- 
gierde drein. 

Der Uhrmacher, den die früheren Ausführungen 
des Juden etwas aus der Fassung gebracht hatten, 
ftihlte sofort seine Ueberlegenheit. 

„Man sagt . . .»" brummte er nachlässig, indem 
er die Lippen blähte. 

„Nu, wer sagt?" fragte der Jude und seine Augen 
gewannen einen scharfen, stechenden Ausdruck. 

„Menschen sagen ..." brummte der Gefragte 
in demselben Tone. 

Der alte Jude sprang plötzlich ^wei Schritte 
zurück mit einer Geschicklichkeit, die niemand bei 
ihm vermutet hätte. Sein Blick brannte, die Lippen 
bebten, der Kopf hob und senkte sich. 

„Menschen? . . . Menschen sagen das? ..." 
fragte er mit zischender Stimme, immer höhere 
Töne greifend. 

„Menschen?" 

Bei jedem Worte bückte er sich mehr und 
mehr, so dass er fast zu sitzen kam. 

Der Uhrmacher blickte fragend drein, spielte 
mit seiner Ubrkette und schaukelte den elegant 
beschuhten Fuss hin und her. Er bedachte jedoch, 
dass diese Haltung des Juden ihm gegenübar un- 
passend und lächerlich war. 

„Was wundert Sie das so?" fragte er kühl. 

Aber der alte Bachbinder hatte sich schon be- 
ruhigt. * Er blickte um sich, stemmte die Arme 
in die Hüften, hob das Kinn empor und schloss 
die Augen. 

„Sie irren sich!" rief er. „Menschen sagen 
das nicht. Das sagt der Schnaps, das sagt die 
Schänke, das sagt die Bosheit und die Dummheit, 
das sagt der böse Wind, der weht!" 

Er erhob die Hand und machte eine ven^chtungs- 
volle Bewegung. 

„Sie können ruhig schlafen. Ich werde auch 
ruhig schlafen und mein Kind auch. Unsere Stadt 
hat schon viel Trauriges erlebt, viel Dunkelheit und 
viel Unglück ist über sie gekommen, aber das war 
npch in unserer Stadt nicht, dass die Menschen sich 
in ihr beissen sollten, wie die Hunde. Was das aa- 
betriflft, so können Sie ruhig sein." 

Er biss die Lippen zusammen und griff nach 
dem schweren Zinnleuchter, als wollte er dem Gast 
hinausleuchten. Dieser g4itt vom Tisch herunter, 
wickelte sich in seinen Havelock, schob sich den 
Hut zurecht, der ihm auf den Nacken herunter- 
gerutscht war, sagte kurz: „Guten Abend!" und ent- 
fernte sich. 

Der Jude trat von der Tür zurück, stellte den 
Leuchter auf den Tisch, dann schritt er auf den 
Zehen zum Alkoven, schob den Vorhang beiseite 
und horchte. (Schluss folgt) 



107 



198 



MITTEILUNGEN AUS DEM DEUTSCHEN BUREAU 
DER ALLIANCE ISRAELITE UNIVERSELLE. CZZ 

(Berlin N. 24, Oranienburgerstr. 42/43 1). 



1 



r 



DIE VIERTE TAGUNG DER DEUTSCHEN CONFERENZ- 
GEMEINSCHAFT DER ALLIANCE ISRAELITE UNIVERSELLE 



am IQ. Februar 1907 

Zum 18. Febrnar, dem Vorabend der Vierten 
regelmässigen Jahressitzung der Deutschen Con- 
ferenz-Gemeinschaft der Alliance Israölite Universelle, 
hatte Herr Charles L. Hallgarten die Mitglieder 
der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft, die bereits 
vor der Tagung in Frankfurt eingetroffen waren, 
und alle in der Judenheit Frankfurts in vorderster 
Reihe stehenden Männer in sein gastliches Haus 
eingeladen. Es war eine überaus stattliche Ver- 
sammlung, die sich dort zusammenfand — es 
fehlte kaum ein Name von Bedeutung aus unserer 
Glaubensgemeinschaft in der Mainstadt. Herr 
Hallgarten hiess die Erschienenen mit herzlichen 
Worten willkommen. Dem Dank der Gäste gab 
der Präsident der Deutschen Conferenz-Gemein- 
schaft Herr Geheimrat Goldberger-ßerlin Ausdruck. 
Die Alliance Isra^lite Universelle, sagteer, sei 
kein Hilfsverein der deutschen Juden und 
kein Hilfsverein der französischen Juden. 
Wir Juden in Deutschland sind gute Deutsche, die 
Juden in Frankreich gute Franzosen; wir Juden 
stehen keiner Glaubensgemeinschaft nach in natio- 
nalem Zugehörigkeitsgefühl und patriotischem Em- 
pfinden. In dei: Alliance Israelite Universelle 
aber sind wir nur Juden, ohne nationale Fär- 
bung, ohne nationalistische Tendenzen, einzig 
bestrebt, für die Gleichstellung und den mora- 
lischen Fortschritt unserer Glaubensgenossen 
zu arbeiten und denen, die als Juden leiden, wirk= 
same Hilfe zu bringen. Für uns in der Alliance gibt 
es nur einen Bekenntnisruf: „Schema Israel," und 
auf <}iesen Ruf nur die eine Antwort: „Hinneni," 
— hier bin ich ! — sobald es gilt, Hilfe zu bringen. 

Im Verlauf des Abends sprachen noch die 
Herren Dr. Frank-Köln, Feinstein- Königsberg, 
Schlesinger-Frankfurt a. M., Dr. Blau-Frank- 
furt a. M. Bis tief in die Nacht blieb man bei- 
sammen — ein harmonisches Präludium für die 
Verhandlungen des folgenden Tages. 

Am 19. morgens 9^2 Uhr begannen diese Ver- 
handlungen unter dem Vorsitz der Herren Geheimrat 
Goldberger und Charles L. Hallgarten in einem 
Saal der Frankfiirt-Loge. Die Beratungen währten, 
mit einer geringen Pause, bis zum späten Abend. 



in Frankfurt a. M. 

Vor Eintritt in die Tagesordnung verlas der 
Vorsitzende drei Zuschriften, die bei den Zuhörern 
freudigste Stimmung erweckten. Der Ehrenpräsident 
des Berliner Lokal-Comites der A. I. U. und Mit- 
glied des Pariser Central-Comitös, Herr Sanitäts- 
rat Dr. Neu mann, entschuldigte sein Fernbleiben 
von der Tagung mit der Rücksicht auf sein Alter 
und seinen Gesundheitszustand und knüpfte daran 
die besten Wünsche für ein treues und er- 
folgreiches Arbeiten der deutschen Juden im 
Sinne der unvergänglichen Prinzipien unserer 
lediglich universellen Alliance." 

Herr I. M. Bielefeld aus Mannheim, der 
Nestor der Deutschen C'Onferenz- Gemeinschaft, 
hatte an den Vorsitzenden des Frankfurter Lokal- 
Comit^s der ALU, Herrn Theodor Schlesinger, 
folgendes geschrieben: 

Da ich durch die gütige Vermittlung meines 
lieben Freundes Herrn Charles L. H^lgarten, 
und Ihr freundliches Entgegenkommen die Ehre 
haben werde, Sie bei der morgenden Versamm- 
lung der A. 1. U., wenn auch leider nur schrift- 
lich, als meinen Vertreter begrüssen zu dürfen, 
so erlaube ich mir schon heute die ergebene 
Bitte, die vereinigten Herren auch in meinem 
Namen, da ich als 94:jähriger wohl der älteste 
sein werde, herzlich zu begrüssen und den 
Wunsch auszusprechen, dass dem gemeinschaft- 
lichen Streben ein voller Erfolg zur Ehre der 
Alliance und das ganzen Judentums beschieden 
werde. 

Es sind 40 Jahre vergangen, seit ich im 
Mai 1867 das erste Comit6 in Havre gegründet 
habe. Unmittelbar nach dem Kriege 70/71 
habe ich in Mannheim, wohin ich meinen Wohn- 
sitz wieder verlegt hatte, mit voller Kraft an 
dem Wachstum der Alliance Israelite Universelle 
und mit glücklichem Erfolg gearbeitet und das 
noch heute bestehende Landescomit6 für das Gross- 
herzogtum Baden mit seinen Filialen gegründet. 

Ich fühle meine Kraft zum Schreiben 
schwinden und muss schliessen. 

Nehmen Sie meinen herzlichen Dank für 
Ihre Bemühungen für mich und meine Ent- 
schuldigung für den so leeren Brief. Alters- 
schwäche in Kopf und Hand muss mich ent- 
schuldigen. Empfehlen Sie mich gefl. den 
Herren Präsidenten. 



199 Mitteilungen der Alliance Isra^Iite Universelle: Die vierte Tagung der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft etc. 200. 



Der ganze Brief ist von Herrn Bielefeld eigen- 
händig geschrieben. 

Von dem Präsideuten des Pariser Centrai- 
Comitte der A. l. U. Herrn Narcisse Leven 
war folgender Brief eingegangen : 

Cher President! 

Je suis vraiment touch6 de votre iusistance 
k me faire venir k Francfort et regette d'en 
etre empechö par rinclßmence de la saison et 
surtout par T^tat de sant6 de nia femme, qu'un 
accident, heureusement 16ger, retient au lit. 

Veuillez, je vous prie, dire aux raembres de 
la r6union, comme j'aurais ^t6 heureux de me 
trouver au milieu ü'eux pour les remercier de 
ce qu'ils out fait et etudier avec eux ce qui 
reste k faire'pour le d^veloppement de T Alliance 
en AUemagne. Je leur souhaite de röussir ä 
donner un nouvel essort k notre grande 
Institution qui, pour avoir un demi si^cle 
d'existence environ, n'a pas vieilli, et reste 
roalgrä tout ce qui a 616 tent6 k cöt6 d'elle, 
plus que Jamals nöcessaire au maintien de 
l'unit6 dans l'action pour le bien de nos 
coröligionnaires 

Votre bien d6vou6 

N. Leven. 
Paris, le 14 fövrier 1907. 

Verehrter Herr Präsident! 

Ich bin innig gerührt von der Dringlichkeit 
Ihrer Einladung nach Frankfurt und bedaure, 
dass ich durch die Untrunst der Jahreszeit und 
namentlich durch den Gesundheitszustand meiner 
Frau, die ein glücklicherweise leichter Unfall 
an das ßett fesselt, gehindert bin, der Ein- 
ladung zu folgen. 

Haben Sie die Güte, ich bitte Sie darum, 
den Mitgliedern der Deutschen Conferenz- 
Gemeinschaft zu sagen, wie glücklich es mich 
gemacht hätte, mich in ihrer Mitte zu befinden, 
um ihnen den Dank für alles auszusprechen, 
was sie getan haben, und mit ihnen zu prüfen, 
was tür die Entwickelung der Alliance in 
Deutschland noch zu geschehen hat. Ich 
wünsche der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft, 
dass es ihr gelingen möge, neuen Aufschwung 
unserer grossen Gemeinschaft zu geben, die 
nach einem Dasein von fast einem halben Jahr- 
hundert nicht gealtert hat und trotz allem, was 
neben ihr versucht worden ist, mehr denn je 
notwendig ist zur Erhaltung einheitlicher 
Tätigkeit für das Wohl unserer Glaubens- 
genossen. 

Ebenfalls von dem Präsidenten des Central- 
ComitÄs von Paris war nachstehendes Telegramm 
gelangt: 

Le comit6 central me Charge de vous adresser 
ainsi qn'a nos excellents coUögues de la Deutsche 



Conferenz - Gemeinschaft affectueux sentiments. 
H est convaincu que vos döliberations con- 
stitueront une nouvelle ätape dans la marche 
eu avant de TAlliance pour le plus grand bien 
d« Judaisme. Leven. 

Das Central- Comitö beauftragt mich, für 
Sie und unsere ausgezeichneten Kollegen von 
der Deutschen Conferenz - Gemeinschaft der 
Vermittler seiner freundschaftlichen G^ftlhle zu 
sein. Das Central-Comit6 ist überzeugt, dass 
tbre Beratungen einen neuen Ausgangspunkt 
bilden werden ftir das Fortschreiten der Alliance 
zum Wohl der Judenheit. Leven. 

Die telegraphischen Antworten auf diese Kund- 
gebungen lauteten in der gleichen Beihenfolge: 

Sanitätsrat Dr. Neumann -Berlin. 

Dem Ehrenpräsidenten des Berliner Lokal- 
Comitös, dem hochverehrten Kollegen entbietet 
für seinen freundlichen Gruss in herzlicher 
Gesinnung sgemeinscbaft innigen Dank die zur 
vierten Tagung vereinigte 

Deutsche Conferenz-Gemeinschaft der 
Alliance Isra61ite Universelle 

Goldberger. Hallgarten . 

Herrn I. M. Bielefeld -Mannheim. 

Ihrem würdigen Nestor bringt mit dem 
Wunsch, dass ihm die Zahl der Jahre der 
Patriarchen in Frische und Rüstigkeit beschieden 
sein möge, verehrungsvollen dankenden Gruss 
die zur vierten Tagung vereinigte 

Deutsche Conferenz -Gemeinschaft der 
Alliance Isra^lite Universelle 

Goldberger. Hallgarten. 

„Präsident Narcisse Leven Paris. 

Die Mitglieder der Deutschen Conferenz- 
Gemeinschaft bringen bei Beginn ihrer vierten 
Tagung in Frankfurt a./Main dem hochver- 
dienten Präsidenten des Central -Comit6 ver- 
ehrungsvollen Gruss und den Ausdruck herzlicher 
Zugehörigkeit dar. Sie danken aufrichtig tür 
die guten und treuen Wünsche in dem lieben 
Brief vom 14. Februar und in dem Begrüssungs- 
telegramm, das allgemeine freudige Stimmung 
erweckt hat. 

Die Vorsitzenden 

Goldberger. Hallgarten. " 

Hiemach trat die Versammlung in die Tages- 
ordnung ein, die folgendermassen lautete: 

1. Rechenschafts- imd Arbeitsbericht des Prä- 
sidiums ftir das Jahr 1906 und Arbeitsplan 
füi^ 1907. (§ 9 der Satzungen.) 

2. Bericht der Mitglieder über ihre Bezirke. 

3. Ausbau der Organisation der Deutschen 
Conferenz-Gtemeinschaft und Anträge. 



201 Mitteilungen der Alliance Israelite Universelle: Die vierte Tagung der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft etc 202 



4. Beschlassfassapg Über die bxl die Centrale 
nach Paris zu richtenden Anträge. (§ 2 der 
Satzungen.) 

5. Die Stellung der Deutschen Conferenz-Ge- 
meioschaft zu anderen jüdischen Organi- 
sationen im Tnlande, und jüdischen Tagesfragen. 

6. Unvorhergesehenes. 

Der Vorsitzende, Herr Geheimrat Goldb erger, 
erstattete den Rechenschafts- und Arbeitsbericht für 
1906. Der Bericht konstatierte das Aul^blühen der 
Alliance in allen Teilen Deutschlands, die Erweiterung 
«les gesamten Arbeitsfeldes und die Ausgestaltung 
der Täiigkeit im Geiste der Stifter. Der von 
dem Herrn Vorsitzenden entwickelte, an die seit- 
herige umfassende Tätigkeit sich anschliessende 
Arbeitsplan für das Jahr 1907 fand allseitige Zu- 
stimmung. In dem Bericht des Präsidenten, wie in 
den Berichten der Mityliedertiber ihre Bezirke 
(Punkt 2 der T.-O ) wurde mit vorbehaltloser Aner- 
kennung des Organs der Deutschen Conferenz-Ge- 
meinschaft, der Monatsschrift „Ost und West"* ge- 
dacht. Es herrschte nur eine Stimme darüber, 
dass durch diese Monatsschrift ein ausgezeichnetes 
Mittel gewonnen sei, nicht blos dauernde Be- 
ziehungen zwischen der Deutschen Conferenz- 
Gemeinschaft und allen ihren Mitgliedern zu unter- 
halten, nicht blos die Mitglieder der Alliance fort- 
gesetzt über alle Vorgänge in den Werken und in 
dem Wirken der Alliance in Kenntnis zu setzen, 
sondern gleichzeitig in jedes jüdische Haus Deutsc V 
lands und des deul sehen Sprachgebiets Kunde zu 
tragen von dem, was auf irgend einem Felde 
geistigen jüdischen Lebens sich regt. Durch die 
Verbreitung, die die Deutsche Conferenz-Gemeinschaft 
ihrer Monatsschrift gibt, macht sie aus ihr, gjinz 
im Sinne der Alliance, ein eigenes literarisches Schul- 
werk für Erwachsene. Und wiederum geschieht 
es im Geiste und nach den Gewohnheiten der Alliance, 
dass sie dieses Schulwerk nicht abhängig macht 
von Beitragsieistungen, dass sie ihr Blatt in jedes 
Hau«< schickt, ohne besondere Beiträge, ohne 
materi^Blle Ge^^euleistungen dafür zu fordern, zu- 
frieden, dass sie jüdisches Wissen und Wissen 
vom Judentum verbreitet, dass sie Gemeinsinn weckt 
und hebt, und mehr und mehr die Gemeinbürgschaft: 
zur Wirklichkeit macht, die in dem Wahlspruch 
der Alliance Israölite Universelle sich ausdrückt: 
„Ganz Israel bürgt für einander." 

Zu dem dritten Gegenstand der Tagesordnung 
wurde ein von den Vorsitzenden vorbereiteter 
Antrag angenommen, der in seinem wesentlichen 
Teil nachstehenden Wortlaut hat: 



„Die Deutsche Conferenz-Gemeinschaft, die 
den Wunsch hat, die Einheitlichkeit der A. I. U. 
zu festigen und dem Gedanken und den Zielen 
der A. L U. noch besser als bisher zu dienen, 
erklärt es flir notwendig, 

dass spätestens vom 1. Januar 1908 ab — 
unbeschadet der Satzungen der A. I. U. und 
unbeschadet der Beziehungen zwischen den 
deutschen Bezirks- oder Landes- Comit^ und 
ihren Lokal-Comit6s — alle deutschen Bezirks- 
oder Landes- und Lokal-Comit6s ihre Ein- 
nahmen an Beiträgen und Spenden, ihre Abrech* 
nungen, nach Abzug der notwendigen Kosten, 
und ihre Berichte dem Deutschen Bureau in 
Berlin übermitteln, das die Weitergabe und 
die Weitermeldnng an das Central-Comitä nach 
Paris übernimmt. Dem Deutschen Bureau 
liegt die Versendung aller Drucksachen an 
die Einzelmitglieder wie an die einzelnen 
Comit6s ob. Jedes Bezirks- bezw. Landes- 
und Lokal-Comit^ soll berechtigt sein, von 
dem Deutschen Bureau ein gewisses Mass an 
Leistungen schriftlicher Arbeiten für die 
Förderung der Organisation und Propaganda 
oder Beihilfe hierzu für ihre Bezirke zu ver- 
langen, und das Deutsche Bureau soll ver- 
pflichtet sein, diesen Anforderungen nach 
Kräften nachzukommen.^ 

Ferner wurden — vierter Gegenstand der 
Tagesordnung — folgende Anträge der Vorsitzenden 
angenommen: 

„DieDeutscheConferenz-Gemeinschaft spricht 
die Elrwartung aus, 

1. dass das Central-Comit6 der A. L U. seinen 

Beschluss vom 24. Oktober 1906, nämlich : 

Zöglinge der Ecole Normal« in Paris 
zum Erlernen der deutschen Sprache 
nach Deutschland zu schicken 

möglichst bald — nach vorheriger Ver- 
ständigung mit dem Präsidium der D. G.-(^ 
über die Art der Ausführung — verwirk- 
lichen wird; 

2. dass das Central-Comitö der A. I. U. mit dem 
Präsidium der D. C.-G. eine Vereinbarung 
trifft, die die Ausbildung einiger Alliance- 
schullehrer in Deutschland zum nahen 
Ziele hat; 

3. dass das Central-Comite der A. I. U. dem 
Präsidium der D. C.-G. ein Vorschlags- 
recht für die an den Allianceschulen anzu- 
stellenden Lehrer der deutschen Sprache 
einräumt ; 

4. dass an den hierftir geeigneten Alliance- 
schulen in Marokko deutscher Sprach- 
unterricht eingeftihrt wird und hierbei 



T 

203 Mitteilungen der AUiancc Israclite Universelle: Die vierte Tagung der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft etc. 204 



erstmalig das Alinea 3 vorhergesehene Vor- 
schlagsrecht in Geltung tritt* 

Bei dem fänften Gegenstand der Tagesordnung 
kam die Deutsche Conferenz-Gemeinschaft auf Antrag 
der Vorsitzenden zu folgendem Beschluss: 

„Die Deutsche Conferenz-Gemeinschaft der 
A. I U. hält daran fest, unter Wahrung ihrer 
Selbständigkeit und Würde mit allen jüdischen 
Hilfsorganisationen in Deutschland in freund- 
lichem Einvernehmen zu bleiben. Sie beauftragt 
ihr Präsidium, für die angemessene Fortführung 
bereits bestehender oder die Anbahnung neuer 
Zusammenarbeit mit jenen Organisationen die 
erforderlichen Verabredungen zu treffen, und er- 
mächtigt ihr Präsidium, die hierbei nötigen 
Massnahmen Namens der Deutschen Conferenz- 
Gemeinschaft anzuordnen." 

Die Vorsitzenden wurden von der Deutschen 
Conferenz-Gemeinschaft beauftragt, von allen vor- 
stehenden Beschlüssen dem Central-Comit6 in Paris 
Kenntnis zu geben. 

Bei jedem einzelnen der bisher erwähnten 
Punkte der Tagesordnung gab der Vorsitzende 
eingehenden Bericht über die voraufgegangenen 
Beratungen und über die mit dem Central-Comit6 
in Paris gepflogenen Verbandlungen. Es ver- 
dient besonders hervorgehoben zu werden, dass 
alle Anträge mit Stimmenöinhelligkeit gefasst 
worden sind, dass die ganzen Beratungen einen voll- 
ständigen Zusammenklang aller Anschauungen 
ergaben, einen Zusammenklang, der nur 
möglich war durch die Ueberzeugung, die sich 
allen Teilnehmern aufdrängte, dass jeder Einzeltie 
ohne Ausnahme das gleiche Ziel im Auge hatte, 
und dass die Ueberzengung unbedingtes Gemeingut 
wurde, die in der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft 
und dem Deutschen Bureau geschaffene Organi- 
sation sei für die Pflege der Alliance Israclite 
Universelle, ihre Erhaltung und ihre gedeihliche 
Ausbildung das beste Mittel. Mit herzlicher An- 
erkennung muss hervorgehoben werden, dass Herr 
Bezirksrabbiner Dr. Salvendi-Dürkheim mit vor- 
bildlicher Bereitwilligkeit und Selbstentäusserung — 
nachdem er im Verlauf der Tagung die Ueber- 
zeugung gewonnen hatte, dass seine Comit6s nirgend 
besser aufgehoben sein könnten als bei dem Deutschen 
Bureau, für das er den Segen des Hinunels er- 
flehte — spontan die Erklärung abgab, dass er mit 
Ende des laufenden Jahres alle seine Gomit^s dem 
Deutschen Bureau überweise. — Damit ein äusseres 
Zeichen die Erinnerung an die langjährige Tätig- 
keit des Dr. Salvendi festhalte, wird den Corait6s, 
die bisher Dr. Salvendische Comit6s gewesen sind, 



auch in den späteren Berichten diese Bezeichnung 
erhalten bleiben. Die gleiche freudige Zustimmung 
erwarb sich durch die gleiche Erklärung Herr 
Rabbiner Dr. Frank- Cöln. Beiden hochverdienten 
Mitgliedern wurde wärmster Dank ausgesprochen. 

Die Tagung fand ihren Abschluss in einem 
prächtigen Festbankett, das das Frankfurter Lokal- 
Comitö den Teilnehmern veranstaltet hatte. Auch 
diesem Festbankett wohnten die hervorragendsten 
Mitglieder der Jüdischen Gemeinde von Frank- 
furt am Main bei. Viele geistvolle Trinksprüche 
wurden ausgebracht, in launiger und ernster Rede 
ergingen sich Meister des Worts. Die Herren 
Rabbiner Dr. Rosenthal- Breslau, Rabbiner Dr. 
Porges-Leipzig,Feinstei.n- Königsberg, Theodor 
Schlesinger- Frankfurt a. M., orfreuten die Hörer 
bald durch sinnige, bald durch heitere Betrachtungen. 
Herr Rabbiner Dr. Horowitz fand stürmischen 
Beifall, als er im Namen des Frankfurter Lokal- 
Comites des Hilfsverems der Deutschen Juden ein 
Hoch der Alliance Israölite Universelle brachte, 
zu deren ältesten Mitglieüern er selbst gehört. 
Er erzählte von dem siebenarmigen Leuchter in 
der Stiftshütte, dessen Lichtei', der Ueberlieferung 
zufolge, von Westen her angezün«let wurden. Vom 
Westen sei das Licht der Alliance aufgegangen, 
ein Licht der Befieiung für die bedrängten Teile 
der Judenheit, und dieses Licht werde leuchten bis 
an das Ende der Dinge. 

Die Beratungen haben den harmonischsten 
Verlauf genommen, zur aufrichtigen Befriedigung 
aller Teilnehmer und in voller Erfüllung der 
Wünsche, die sie von aussen her begrüsst und 
begleitet hatten. 

Der Tag von Frankfurt wird allen Teilnehmern 
unver^esslich in der Erinnerung haften. Stärker 
denn je ist das stolze Werk der Alliance Israclite 
Universelle und ihrer Deutschen Conferenz-Gemein- 
schaft gefestigt, zum Segen för die gesamte Glaubens- 
gemeinschaft. 



* 



:i« 



Zu allseiliger Befriedigung wurde während der 
Tagung festgestellt, dass die Anhängerschaft der 
A.iliance in Deutschland während des letzten Jahres 
eine Zunahme erfahren hat wie noch nie zuvor, 
dass die Zahl ihrer Mitglieder grösser ist als sie 
je gewesen, weit grösser als irgend eine jüdische 
Vereinigung besessc i hat oder besitzt. Man war 
einig darin, immer und überall den universellen 
Charakter der Alliance und ihre Einheitlichkeit zu 
betonen. 



205 



206 



DIE ISRAELITEN IN TRIPOLIS. Nachdrudc verboten. 

Spezialbericht an die Alliance Israelite Universelle von N. Slousch, Lehrer an der Sorbonne. 



Am 16. Augast 1906 imtemahm ich einen 
dreiwöchigen Ausflug in das tripolitanische Djebel. 
Diese Reise, die durch Sand wüste führt, ist im 
Sommer besonders gefährlich; doch konnte ich die 
einzige Gelegenheit nicht entschlüpfen lassen, die 
sich mir zum Besuch der Gebiete des alten Libyen 
bot, die reich sind an jüdischen Erinnerungen und 
wo sich mehrere jüdische Niederlassungen, noch 
von keines europäischen Glaubensgenossen Auge 
geschaut, in unverändertem vorgeschichtlichen Zu- 
stand befinden. 

Nach zweitägigem Kamelritt gelangte ich in 
das gebirgige Grebiet der Höhlenbewohner von 
Gharian. Ein seltsamer Anblick, diese fruchtbaren 
Hügel und Täler, in denen, abgesehen von einigen 
Eoinen und Moscheen, sich keine Spur menschlicher 
Wohnungen über den Erdboden erhebt, wo die 
Toten über der Erde liegen, die Lebenden in 
Höhlen sich aufhalten, die das Auge kaum zu ent- 
decken vermag! Gharian, von Troglodjrten be- 
wohnt, hat eine grosse Zahl muselmanischer Dörfer, 
wenn man diesen Namen den nackten Anhöhungen 
von roter Erde geben kann, bei denen nichts auf 
die Anwesenheit menschlicher Wesen deutet. Von 
Zeit zu Zeit entdeckt das geübte Auge zwischen 
Oliven- und Feigenbäumen, zur Seite einer Moschee 
oder neben Ruinen am Abhang eines Hügels Löcher, 
die durch ihre Gestalt meist an Kellertüren er- 
innern. Eine kleine hölzerne Pforte öfl&iet sich vor 
dem Reisenden, und er ist in einer Art dunkler 
Galerie, die abwärts führt und die man erst durch 
Gewöhnung ungefährdet durchschreiten lernt. In 
einem Abstand von etwa 15 bis 20 Meter stösst 
man auf einen Hof, der durch von oben einfcdlende 
Lichtstrahlen schwach erhellt ist. Dieser Raum 
geht dem Centralhof vorauf und dient zu- 
weÜOT den israelitischen Schmieden als Werkstatt. 
Man steigt immer weiter hinab und gelangt auf 
einen viereckigen unterirdischen Hof, der vergleichs- 
weise hell ist, weil durch ein Stück Himmel, das 
man durch einen Ausschnitt von 10 bis 12 Meter 
Durchmesser sehen kann. Dieser Hof, ein förm- 
licher Abgrund, ist der Zentralsitz, zugleich Küche 
und Fabrik. Die einzelnen Gemächer sind in 
Umfassungsmauern gegrabene Aushöhlungen, die 
ihr Licht vom Hof aus erhalten. Man erstickt dort 
gerade nicht, aber der Reisende fühlt sich unbe- 
haglich, während die Eingeborenen der Meinung 
sind, dass das unterirdische Leben naturg^näss 



und sogar bequem sei. Die Synagoge des Dorfes 
Beni-Abbas ist gleichfalls unterirdisch angelegt, 
doch ist der Zugang offen und leicht, das Dach 
überragt sogar um etwas den Erdboden, In Ti- 
grena hat man eben einen Synagogenbau beendet, 
der sich ganz über die Erde erhebt. 

So habe ich zwei vollständig jüdische Dörfer 
und zwei unterirdische Niederlassungsgruppen un- 
serer Glaubensgenossen geftmden. Das eine Dorf, 
unter dem Namen Yehud-Abbas bekannt, liegt 
der Wüste, die nach Tripolis fuhrt, am nächsten. 
Das Dorf zählt in sechs unterirdischen Höfen 
24D Einwohner und hat eine Synagoge, deren 
Dach kaum über den Erdboden ragt. Die Bewohner 
sind die letzten Überlebenden einer vormals zahl- 
reichen, durch Pest aufgeriebenen Bevölkerung. 
Männer und Frauen stellen einen schönen Typ dar, 
den die Höhlenluft nicht verderbt hat. In den 
Höhlen arbeiten alle Juden. In der Jahreszeit, die 
der Feldarbeit vorausgeht, sind sie Schmiede, 
dann sind sie Feldarbeiter und während der Brach- 
zeit wandernde Kaufleute, die das ganze Land 
durchziehen. Viele von ihnen fabrizieren einen 
Dattelschnaps, die Frauen weben für die Einge- 
borenen, arbeiten in den Feldern und an den 
Fruchtbäumen. Manche Juden von Gharian be- 
schäftigen sich überdies mit der Fabrikation von 
Holzschuhen. 

Bei der allgemeinen Unwissenheit hat mau 
nur wenige örtliche Überlieferungen bewahrt. 
Die Schochtira und die Talmud -Tora -Lehrer sind 
von tiefer Unbildung. In der Talmud -Tora von 
Beni-Abbas sind 16 Schüler, in der von Tigrena 40. 
Bemerkenswert ist, dass man in der Synagoge 
„Piutira" singt, die anderwärts unbekannt sind 
und deren Verfasser aus dem Troglodytenlande 
stammen. Als Nahrung dient den Höhlenbewohnern 
Gerstenbrod, Feigen und Datteln. Aus diesen be- 
reiten sie einen Schnaps, dem sie auch selbst nur 
allzusehr zusprechen. Ihre Lieblingsspeise ist ein 
aus Gerste und Öl hergestelltes Gtemisch, das sie 
mit den Fingern, ohne Gabel oder Löffel, zum 
Munde führen. 

Fast jeder Jude hat einen Esel, den am Sab- 
bat die Araber ohne weiteres in Anspruch nehmen, 
indem sie sagen: „wenn der Jude seinen Tag ver- 
liert, so ist das kein Grund, dass das Vieh das- 
selbe tut." Solche Ungeniertheit findet man nicht 
blos bei den Troglodyten. Die überaus fanatischen 



207 



Mitteilungen der Alliance Israelite Universelle: Die Israeliten in Tripolis. 



208 



und faulen arabischen Nachbarn ersparen dieser 
fleissigen, arbeitsamen Bevölkerung auch sonst 
nicht Schädigungen aller Art. Die Synagoge, ein 
altes nnd verehrtes Heiligtum, wäre beinahe" unter 
dem Vorwand zerstört worden, dass sie einer 
Moschee zu nahe stehe. Erst der urkundliche 
Nachweis, dass die Synagoge 600 Jahre vor der 
Moschee gebaut worden, gab dem türkischen Ver- 
waltungschef die Möglichkeit, die Synagoge zu er- 
halten. Den grössten Kummer bereiteten die Araber 
dadurch, dass sie den Friedhof beackerten, auf 
dem die irdischen Reste einer langen Ahnenreihe 
der Israeliten ruhen. 

Drei und eine halbe Stunde von Beul Abbas liegt 
malerisch das Dorf Tigrena, das in etwa 20 Höhlen 
650 jüdische Einwohner hat. Die wirtschaftlichen 
Verhältnisse sind hier wie dort die nämlichen, aber 
die Beziehungen ^u den Eingeborenen scheinen mir 
in Tigrena erträglicher. Das Dorf hat zwei Sy- 
nagogen, deren eine unter der Erde, und eine 
Talmud-Tora-Schule, in der die Kinder fast nichts 
lernen. Der einzige des Hebräischen kundige Mann 
hier ist der Chacham Baschi der troglodytischen 
Judenschaft, Rabbi Kalifa Hadschai. Gleich den 
Rabbinern des Mittelalters und einer Reihe von 
Vorfahren übt der Chacham die ärztliche Kunst 
aus. Kalifa ist ein schöner Mann, der ausgezeichnet 
hebräisch spricht. Er gab mir eine handschriftliche 
Sammlung von „Piutim", von denen er einen Teil 
selbst verfasst hat. Er ist der wahrhafte Spross 
des jüdisch -arabischen Mittelalters. 

Die wirtschaftliche Lage der Juden im Tro- 
glodytengebiet ist überaus unsicher. Die ganze 
Existenz der Juden hängt von dem guten Willen 
der arabischen Kundschaft ab. Die Bezahlung der 
Schmiede und anderen Handwerker besteht in dem 
geldarmen Lande fast aussc^iesslich in Naturalien : 
so und so viel Mass Gerste, Feigen oder Oliven, 
nach dem Ausfall der Ernte. Selbst Ackerbauer, 
sieht der Jude, ohne Einspruch zu wagen, wie die 
arabischen Nachbarn sich der Erstlinge seiner 
Olivenbäume, des Ertrages seiner Äcker bemäch- 
tigen, die in der weiten Ausdehnung der musel- 
manischen Felder sich verlieren. Ein unterneh- 
mender Hausierer, der bis nach Fezzan vordringt, 
ist er allen Nachstellungen und Demütigungen aus- 
gesetzt, die die Phantasie des muselmanischen 
Mittelalters hat ersinnen können. Als türkischer 
Untertan hat er die Wehrsteuer selbst da zu ent- 
richten, wo die Muselmanen Militärdienste nicht zu 
leisten brauchen, und von den Vorteilen der otto- 
manischen Justiz und der ottomanischen Gesetze 



hat er keine Nutzniessung. Eine freundschaftliche 
Intervention bei den aufgeklärten Behörden von 
Tripolis, um den Juden eine gerechtere Verteilung 
der Steuern und des Landbesitzes zu sichern, der 
im Innern niedrigen Preis hat, J^würde die wirt- 
schaftliche Lage dieser arbeitsamen Bevölkerung 
wesentlich bessern, die abermals beweist, bis zu 
welchem Grade unsere Rasse sich jeder Umgebung 
und jeder sozialen Lage anzupassen vermag. Was 
die moralische Lage betrifft, so würde genügen, 
einen guten Hebräisch-Lehrer zu schicken, der hin- 
reichend zivilisiert ist, um sich mit den Behörden 
ins Vernehmen setzen zu können. Schön dadurch 
würde die gesellschaftliche Stellung der Juden im 
Troglodytenlande sehr gehoben werden. 

Eine Tagesreise trennt Djebel Gharian von 
Djebel Iffi^on. Dieses 2ählt noch drei israelitische 
Dörfer : El Ksir, El Meanien und Dissir mit einer 
Gesamtbevölkerung von etwa 2000 Seelen. Wenn 
die Juden der erstgenannten Provinz Höhlen be- 
wohnen, so suchen die der anderen Provinz auf 
Bei^bhängen Schutz, wo ihre Wohnungen an die 
versteckten und schwer zugänglichen Dörfer der 
Berber erinnern. Diese interessante jüdische Be- 
völkerung hat ihre Sitten und Ueberlieferungen und 
sogar eine seltsame Ait hebräischen Dialekts be- 
wahrt. Die letzten Ueberlebenden einer zahlreichen 
jüdischen Bevölkerung, deren zahllpsen Spuren man 
durch das ganze weite Gebiet des Djebel Nefussi 
begegnet, steUen die Juden von Iffren einen der 
schönsten, stattlichsten Menschentypen dar, die zu 
sehen mir je vergönnt gewesen. Die Frauen be- 
sonders, in eine Art gefluteten bunten Tuchs ge- 
kleidet, fallen durch die Weisse der Haut, die 
Schlankheit des Wuchses, die Regelmässigkeit der 
Züge auf. Ihre soziale Lage gleicht fast der der 
Männer. Wenn die Frau, gleich der Tochter des 
alten Juda, Leinen und Gürtel webt, Korn mahlt; 
so hat sie dafür auch das Recht, an der Seite des 
Mannes zu speisen und sich in die Gesellschaft 
der Männer zu mischen. 

Die Ehen werden in der Nähe der Brunnen 
geschlossen, dort wo die jungen Mädchen Wasser 
schöpfen. Ich habe manche anmutige Rebekka von 
Djebel gesehen, dicht am Brunnen, von den jungen 
Burschen des Dorfes umgeben. 

Die Gewerbe unserer Glaubensgenossen hier 
sind ungefähr die nämlichen, wie bei den Juden 
von Gharian, Nach Ansicht der türkischen Be- 
hörden sind in dieser Gegend, die durch die aus- 
nehmende Faulheit ihrer Bewohner ruiniert worden, 
die Juden das einzige arbeitsame, schaffende El^: 



V r* 



209 



Mitteilungen der Alliance Israäite Universelle: Die Israeliten in Tripolis. 



210 



ment, allein imstande, sogar die benachbarten 
Mnselmanen znr Arbeit anzuregen. Das gilt bis 
an das äusserste Ende von Djebel Nefussi, wohin 
immer die jüdischen Eaufleute, die Schnapsfabri- 
kanten (deren beste Kunden die Jaden selbst sind) 
and Schmackhändler dringen. 

Die Beziehungen zwischen Juden und Berbern 
sind besser als die zwischen Juden und Arabern. 
Bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts würden 
die Juden als Sklaven betrachtet. Die Türkei be- 
seitigte diese erniedrigende Einrichtung, hat aber 
noch nicht Zeit gehabt, die moralischen Erniedri- 
gungen zu unterdrücken, deneA die Juden von 
Seiten ihrer arabischen Nachbarn ausgesetzt sind. 
Ein Beispiel von hundert: Der Bezirksrabbiner 
macht eine Beise nach Nalut Eingeborene zvringen 
ihn, von seinem Maultier abzusteigen, weil ein 
Jude in Gegenwart von Muselmanen nicht auf einem 
Sattel sitzen dari Wollte der Rabbiner wagen, 
sidi zu beklagen, so wäre er in Gefahr, alle Seinigen 
von den Arabern umgebracht zu sehen. Die ver- 
ehrtesten Heiligtümer, die ältesten Friedhöfe werden 
von den Muselmanen entweiht; auf dem Felde 
nehmen die Araber ohne Bedenken den Ernteertrag 
ihrer jüdischen Nachbarn in Anspruch. Die oberen 
Behörden haben guten Willen, aber die Einzelheiten 
entgehen ihnen. 

DjebellJSren, ehemals Sitz gelehrtester Rabbiner, 
ist gänzlich in Verfall. Ein Vertreter der Alliance 
könnte das materielle und soziale Niveau dieser 
int^essanten jüdischen Gruppe heben. 

Indem ich den Spuren der alten jüdischen 
Einrichtungen folgte, kam ich nach Djebel Nefussa. 
Alte Synagogen, Friedhöfe, die in die entferntesten 
Zeiten zurückreichen, halbzerstörte jüdische Städte 



zeugen von dem überwiegenden Einfluss, den der 
Judaismus auf dieses bisher den Europäern un- 
bekannte Gebiet ausgeübt hat. In den letzten 
Jahren haben die Türken Djebel vollständig 
pazifiziert, und unsere Glaubensgenossen fangen an, 
sich von neuem in den Ortschaften niederzulassen, 
aus denen ihre Vorfahren haben weichen müssen. 
Vor allem aber täte eine Intervention bei den 
türkischen Behörden dahin not, dass den Abkömm- 
lingen der vormaligen eingeborenen Juden alle 
Heiligtümer und Friedhöfe, die heute noch vorhanden 
sind und von den örtlichen Traditionen und von 
den Eingeborenen selbst als solche an mehr als 
50 Stellen bezeichnet werden, zurückgegeben werden. 

Nach dreitägigem Wüstenmarsch verweilte ich 
in der Küstenstadt Zauia, die etwa 800 unserer 
Glaubensgenossen ^schliesst. Ihre soziale Lage 
lässt zu wünschen übrig. Die fanatische Be- 
völkerung der Oase erspart den jüdischen Nachbarn 
keine Bedrückung. 

Bei meiner Rückkehr nach Tripolis hatte ich 
zweimal Gelegenheit, den oberen Behörden zu 
schildern, wie ich die Juden der Oasen gefunden 
habe. Ich freue mich, dass ich bei den leitenden 
Männern die freundlichsten Absichten hinsichtlich 
unserer Glaubensgenossen gefunden habe. Man hat 
mir die Versicherung gegeben, dass ein Rundschreiben 
an die Ortsbehörden ei gehen wird, dass sie die 
Eingeborenen an Rechtsverletzungen gegenüber den 
Juden hindern sollen. Unter allen Umständen 
erwarten die Aufsichtsbehörden, dass die nahe bevor- 
stehende Einrichtung von Katasterämteni den Be- 
sitzungen und den Ernteerzeugnissen der Juden im 
Innern des Landes wirksameren Schutz verschaffen 
wird. 



DR. HERMANN BAERWALD. 

Ehrenmitglied des Central-Comitfe der A. I. U. 
Ein Erinnerungsblatt 



Nachdhick verboten. 



In der Nacht zum 9. Februar 1907 ist, hochbetagt, in 
Frankfurt a. Main Doktor Hermann Baerwald ge- 
storben. So lange Rüstigkeit in ihm wohnte — und er 
hatte das Glück, weit über die Grenze des biblischen 
Lebensalters hinaus Rüstigkeit und geistige Regsamkeit 
sich zu wahren — war er Mitglied des C^ntral-Comites 
and somit Mitglied der Deutschen Conferenz-Gemein- 
Schaft der Alliance Isra^lite Universelle. Erst der 
TSjährigc erkannte in seiner Pflichttreue und in seinem 
Arbeitseifer, dass die Last der Tage ihm die Möglich- 
keit nehme, im gewohnten Umfang für die Alliance 
tätig zu sein. Diese Erkenntnis, die sein Pflichtbe- 
wusstsein ihm eingab, bestimmte ihn, aus dem Central- 
Comite auszuscheiden, das ihn in Anerkennung seiner 
Verdienste zum Ehrenmitglied machte. 



Hermann Baerwald war am 7. November 1828 
in Nakel in der Provinz Posen geboren. Sein Vater 
war ein Mann von vielseitiger Bildung und hohem 
Streben, seine Mutter eine Frau von vorbildlicher Güte 
und Herzensreinheit. Der patriarchalische Geist, der 
in dem Eltemhause gewaltet hat, ist von dauerndem 
Einfluss auf Hermann Baerwald geblieben. Den Jugend- 
unterricht genoss Hermann Baerwald im wesentlichen 
auf dem Elisabethgymnasium in Breslau, das er 1850 
mit dem Zeugnis der Reife verliess. Die Ereignisse der 
Revolutionszeit und das Bestreben, die Begebenheiten 
des Tages aus der Kenntnis der vaterländischen Ver- 
gangenheit zu verstehen, führten ihn zum Studium der 
Geschichte. Schon als junger Student lieferte er in 
Breslau eine wissenschaftliche Preisarbeit. In Berlin 



j.' ^ 



Mitteilungen der Alliance laraflite Universelle: Dr. Hennann Baerwald. 



zn den vei-tranten SchUlem Kankeü, dessen 
Persönlichkeit und Aoffassnnf^ oachlialtigst^n Ein- 
druck aaf ihn ausübten. Im Jahr 1855 erwarb er 
mit einer Äbhandlang fiber „Die Erwählang König 
Rudolfe L von Habsburg" den Doktorgrad. Später 
schrieb er eine Abhandlang „Zar Charakteristik nnd 
Kritik aiittelalterlicher FormelbUcher" nnd eine Unter- 
suchnog tlber das „Baamgarten- 
berger Fonaelbntdi''. Sein Wansch 
war es gewesen, nach Ablegnng 
der Lebramtsprüfnng in den staat- 
lichen höheren Schaldienst einza- 
treten. Die Anschanongen der 
prenssischen Regierung nnd na- 
mentlich der preojsischen Schal- 
behtirden in der zweiten Hälfte 
der fBnfziger Jahre machte das 
fttr den glaobenatreaen Juden 
anmöglich, trotz vorzuglicher 
Prüfangszeugnisse , trotz der 
wärmsten Empfehlungen Rankes. 
Er warde nicht einmal zur Ab- 
leistung des Probejahrs an einer 
höheren Lehranstalt zugelassen. 
Er begab sich nach Wien, wo 
er seine Stadien fortsetzte und im 
Hause des Prenssischen Consuls 
Moritz Ritter von Goldschmidt als 
Lehrer t&tig war. Die Frncfat 
der Wiener Jahre war eine Reihe 
von Forschungen zur mittelalter- 
lichen Geschichte. Seine Schriften 
fonden allgemeine Anerkennung; 
eine von ihnen wurde in den 
Berichten der Wiener Akademie 
veröffettlicbt und trug dem jnngen 
Gelehrten die österreichische goldene Medaille für Kunst- 
nnd Wissenschaft ein — aber die UniverHitätslanfbahn 
blieb selbstverständlich dem Juden verschlossen. 

Bei Anbruch der neuen Aera in Preussen kehrte 
Baerwald in die Heimat zurück. Im Vertrauen auf 
die Verheissungen der Verfassung hoffte er, jetzt hier 
eine Lehrtätigkeit ausüben zu können. Doch die 
Verwaltungspraxis war die alte geblieben. Baerwald 
entschloss sich deshalb, in den Schuldienst der Berliner 



Dr. Hermann Baerwald. 



Jüdischen Gemeinde einzutreten. Er wirkte ISngere 
Zeit au der damals einzigen Berliner Religionsscbnle 
nnd am Lehrerseminar als Lehrer. Enge Beziehungen 
verbanden ihn mit Michael Sachs, einige Freundschaft 
verknüpfte ihn mit Eduard Laaker. Seine ausgezeich- 
neten Charaktereigenschaften, seine ungewöhnliche 
pfidagogische Belähigang veranlassten im Jahre 1868 die 
Berufung Baerwalds als Direktor 
des Fhilanthropin in Franktort 
a. Main, unter seiner Leitung 
wurde dieses Institut zu einer 
neunklassigen Reabchule ausge- 
baut Dass er grosse und mannig- 
fache Schwierigkeiten zu über- 
winden hatte, nicht zum wenigsten 
Schwierigkeiten, die ihm von den 
' Behörden bereitet waren, bedarf 
keiner Ausführung. Eh- Ober- 
wand sie alle. Ueber SO Jahre 
hat er an der Spitze der Anst&lt 
gestanden, die unter ihm an 
SchiilerzE^ an Ansdien nnd an 
wohltatigen Stiftungen für Lehrer 
und Schüler stetig zunahm. 

Hermann Baerwald bat zu 
den BegrOndeni des national- 
liberalen Wahlvereins gehört. 
Aber nicht in seiner politischen 
Tätigkeit lag seine hauptsäch- 
liche Stärke. Humanität war sein 
ganzes Sinnen und sein ganzes 
Leben, und darum gehörte er zur 
Alliance Isra^lite Universelle, Seit 
Anfang der siebziger Jahre stand 
er an der Spitze des Frankfurter 
Lokal-Comit^s, war er als Mit- 
glied des Cential-Comiies für die Sache der Alliance 
Tsraelite Universelle mit heiligem Eifer tätig. Sein 
herzliches Inteiease an diesem grossen Institut hat 
er bis in die letzten Tage seines Lehens bewahrt und 
bekundet. 

Die Alliance Israelite Universelle wird dem hoch- 
vei-dtenten Freunde ehrendes Andenben allezeit bewahren. 
Wir fuhren unseren Lesern das Bildnis des Ver- 
ewigten vor Augen. 



RABBINER DR. FRANK-COELN. 

(Mit Bildnis.) 



Wenn die verdientesten Mitglieder der Alliance 
laraälite Universelle genannt werden, so wird auch der 
Name des Rabbiners Dr. Frank-Cöln genannt, der seit 
1876, d. i. seit seiner Uebemahme des Babbinats von 
Cöln, dem Central-Comitä der Alliance angehört, und 
in dieser langen Zeit an allen Arbeiten der Körperschaft 
den treuesten Anteil genommen bat Als in dem ge- 
nannten Jahre die Constantinopeler Konferenz den Anläse 
bot für die von dem Central-Comitä der Alliance nach 
Paris bernfene Zusammenkunft europäiscber nnd ameri- 
kanischer Juden, in der Schritte zugunsten der Israeliten 
des Orients beraten werden sollten, war Frank-Cöln 
unter den Delegieiten. Wenige Jahre später war er es, 
dem anf Wunsch des Pariser Central - Comitäs die 
Nachfolgerschaft des unvergessenen Rabbiners Dr. 
Laudsberg- Liegnitz übertragen wurde. Dr. Frank hat 

deutsche Uebersetzung und den Versand der 



Nicbdnick verboten, 

Berichte der Alliirace für Deutschland und das Aueland 
au erster Stelle besorgt nnd iKÜte die übrige Arbeit 
piit Theodor Oschinsk; -Breslau und anderen Fflhreni 
der Alliance, die heute noch in vorderster Reihe tätig 
sind. All der Renaissance der A. J. A. in Deutschland 
ist Dr. Frank mit tätig. 

Ür. Frank, in Ond-Beyerland (Holland) geboren, 
besuchte das Gymnasium in Amhem , danach das 
jüdisch -theo logische Seminar und die Universität in 
Breslau. Er war hier ein LiehlingsschDler des Seminai- 
direktors Frankel, dessen behräische Korrespondenz er 
zumeist besorgte. Grätz, Bemays, Joel, Znckennann 
hatteu auf seineu Bildungfigang wesentlichen Ginfluss. 
Sein erstes Rabbineramt bekleidete er (1868 bis 1878) 
in Saaz in Böhmen, das nächste (1873 bis 1876) in Linz 
an der Donau, seit 1876 steht er in Cöln an der Spitze 
des Rabbinats. Hier hat er sich seit mehr als einem 



Mitteilungen der Alliance Israäite Universelle: Rabbiner Dr. Frank-Cöln. 



Henschenalter Tonüglich bemflht, den frieden unter den 
Konfeetnonen za erhalten Sein vortrefflicbes Einrer- 
nehmen mit den katholiscben Kirchenbehörden — bis 
bioanf zu dem Kardinal - Erzbücbof 
Fiseber — kam ihm hierbei in Hilte. 
Tatsächlich hat sich in der C51ner 
DiSzeae der Antisemitismus nur spora- 
disch gezeigt Ein Teil des Verdienstes 
hieran gebührt Herrn Dr. Frank, seiner 
Klugheit und seinem Takt 

Hit welchem Eifer Dr. Frank die 
Wecknug religiösen Lebens sich ange- 
legen sein Hess, zeigt schon der äussere 
Umstand, doss er während seines 
rabbiniechen Wiikens 34 Synagogen — 
zumeist in Bbeinland und Westtalen — 
einweihte. Dass er allen jädischen 
Wohltätigkeitsanetalten in Cöln als 
Torstandsmiiglied angehört, ist selbst- 
Terständlicb. Auch sitzt er im Kura- 
loriam des „Israelitischen Asyls für 
Kranke und Alterfschwache", ist Hit- 
begrflnder des „Cölner Vereins für ent- 
lusene Strafgefangene" nnd versieht Rabbiner Dr. 
die Funktionen als Strsfanstaltsgeist- 
lieber. Das jädiscbe Waisenhaus in 
Cöln, dessen Statoten die behördliche Genehmi- 
gung gefunden haben, ist ganz und gar sem 
Werk, das Ergebnis langjähriger, mahevoller Arbeit. 



Dem gemeiitjfidiBcben IntOTesse gehörte seine fördernde 
Teilnahme auf jedem Gebiet Er ist zweiter Vor- 
siteender des „Verbandes der Vereine für Jüdische 
Geschichte und Literatur, Vorsitzender 
und Ehrenmitglied des CÖlner Lite- 
rat nrrereineg, Bhreumitgliiid des Ver- 
eins der Lehrer Rheinlands und 
Westfalras , fOr dessen Fcnsions - 
kasse er in den letzten 7 Jahren 
grosse Summen gesammelt bat 
Gelehrte Abhandluotren hat er in 
der FrankelscLen Uonataschiift ver- 
öffentlicht 

Bin freundlicher Zufall fQgte es, 
dssB Herrn Dr. Frank gerade am 
29. Januar 1907, an welchem Tage 
er genau 31 Jalire rabbinischer Tätig- 
keit in Cöln -geübt hatte, von dem 
Vertreter der Regierung der Kote Adler- 
ordc-n IV. Klasse überreicht wurde „als 
Anerkennung für patriotisches Wirken 
and stets betätigte Vaterlandsliebe, 
für Ausübung der Seelsorge und das 
Franlc-Cöln. 8^^ Bemühen, Verträglichkeit und 
Harmonie unter den verschiedenen 
KonfeBBionen zu fordern." 
Dr. Frank gehört dem Vorstand der Deutschen 
Conferenz-Qemeinschaft an, zu dessen werktätigsten Mit- 
gliedern wir ihn mit aFtfnchtigst^r Genugtuung zählen. 



Neue immerwährende Mitglieder: 

Berlin: Komnierzienrat J. Dannenbaum, Direktor der 

Preussischon Pfandbriefbank, Vossstrasae 1 und Herr 

Louis M. Bamberger, Berlin, Königin Augustastr. 40. 



"'" Berlin. Auf die GlQckwOnacbe zu dem 5() jährigen 
AmtsiubiliUim des verdienstvollen Mitgliedes und Vertreters 
der Ä. 1. U. in Görlitz Herrn Rabbiner Ilr. Freund ist 
der Deutschen Conierenz - Gemeinschalt nachstehendes 
Schreiben zugegangen: 

„Görlitz, 24. -lanuar 1907. 
Vielen herzlichen Dank fOr Ihre GIDckwUnsche 
zu meinem 50jährigen Amtajubiläum und die mich 
hochehrenden Worte, mit denen Sie dieselben 
begleitet haben. 

Unter den vielen mich nur zu sehr ehrenden 
Anerkennungen, die mir an dem Tage wurden, 
haben mir Ihre Worte besonders wohlgetan, Sie 
haben mich darin prinnert, dass ich schon vor melir 
als 30 Jahren es mit Freuden erfaast habe, mich in 
den Dienst einer so segensreichen Tätigkeit zu 
Stellen, wie sie die Alliance weit über die Grenzen 
unseres Vaterlandes, ja nnseres Erdteils übt. 

Möge Ihrem so segensreichen Wirken zur Ehre 
unseres Judentums, zum Heile von Tausenden unserer 
Qlaubensbrflder Gottes Segen und der Erfolg, der 
Ihnen der schönste Dank sein wird, nimmer lehlen. 
Mir wird es eine Ehre sein, in dem Dienst 
einer von Ihnen so wirksam vertretenen Sache 
zu stehen 

Acbtimgsvoll und ei^ebenst 
Rabb. Dr. Freund." 



Berlin. \)io Vorsitzenden der Deutschen Oonferenz- 
tiemeinschait haben am 28. Januar an Herrn Bezirks- 
rabbiner S B 1 V e Q d i nachstehendes Schreiben gerichtet : 



^Hochgeehrter Herr Bezirks rabb iner! . 

Wir kommen als verspätete Gratulanten — 
aber nicht durch unsere Schuld. Ihre Bescheiden- 
heit ist es, die unsere Säumnis veranlasst hat. Erst 
aus einem Zeitungsinserat haben wir, und auch das 
nur zuFalldweise, erfahren, dass am 18. Januar Ihr 
70. Geburtstag war. 

Wir bitten Sie, unsere herzlichsten GlOck- 
wQnache entgegenzunehmen und bei diesem Anlass 
den AusdrucK unserer freudigsten Anerkennung für 
die Dienste, die Sie der Alliance Isra61ite Universelle 
seit langen Jahren erwiesen haben. 

Sei Ihnen frChliches, gesundes, rüstiges Alter 
bis zu der Zahl der Patriarchenjahre besciiiedenl 

Ihre aufrii'.htig und verchrungsvoll ergebenen 

Die Vorsitzenden 

gez. Goldberger. Hallgarten. " 



Berlin. Der „Norddeutsche Lloyd", der in 
dankenswertester Weise für die jüdischen Auswanderer 
in Bremen und anderwärts F Urse rge- Einrieb tan geo, in 
der Hauptsache auf Veranlassung nnd Anweisung des 
Generaldirektors Wiegand, getroffen hat, feierte am 
20. Februar das fünfzigjährige Jubiläum seines Bestehens. 
Das Präsidium der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft 
hat aus diesem Anlass am genannten Tage an Herrn 
Generaldirektor Wiegand in Bremen nachstehendes 
Glückwunschtelegramm gerichtet: 

Zu dem Jubiläum des Norddeutacben Lloyd, 
das zu einem Festtag Deutschen Unternefamungü- 
gei->te3 nicht zum wenigsten durch Ihren Weit- 
blick und Ihre organisatorische Grouziigigkeit 
geworden, bringen wir Ihnen die herzlichsten 



215 



Mitteilungen der AUiance Israelite Universelle. 



216 



Glückwünsche zugleich mit unserem Dank tOr 
die menschenfi'eundliche türsorgende Teilnahme, 
die Sie unseren notleidenden bedrängten Schutz- 
befohlenen zuzuwenden nie aufgehört haben. 

Das Präsidium der Deutschen Conferenz- 
Gemeinschsrft der Alliance Israelite Universelle. 

Goldberger. Hallgarten. 



Hannheim. Die Anhängerschaft der A. I. U. 
im Grossherzogtum Baden mehi t sich von Tag zu Tag 
In hohem Masse machen sich hierbei verdient die 
Herren: Max Wimpfheimer in Karlsruhe, Dr. 
jur. Günzburger in Oflfenbach, Rieh. Schlössin- 
gar in Heidelberg, Gabr. Bloch in Eichstetten, 
Rabbiner Dr. Löwenstein in Mosbach a. N., Jonas 
Biedermann in Garlingen, Bezlrksäitester Jos. 
Nordmann in Börrach, Jul. Kaufmann in Baden- 
ber<r, Alfred Burger in Freiburg i. B. 



Alle für das Berliner Lokal -Comlt^ der A. I. U. und für das Deutsche Bureau der A. I. U. bestimmten 
Geldsendungen beliebe man an den Schatzmeister 

Herrn Benno Braun in Firma Joelsohn & Brfinn» Berlin C. 19, Hausvoigteiplatz 1 2 

zu adressieren, eventuell durch Reichsbank-Girokonto der Firma Joelsohn & BrOnn zu überweisen. 



nT3 m D'-sij: 




htrt^ fe 



Noch liegt Feld und Flur, Berg und Tal mit Schnee bedeckt, man zieht es immer noch vor, sich im trauten wohldurchwärmten Zimmer 
aufzuhalten, statt sich den eisig kalten Nordwind ins Gesicht peitschen zu lassen und doch werden die jfidischen Geister durch eine kurze Kalendemotiz 
an die Vorboten des sich langsam nahenden Lenzes gemahnt „Chamischo-ossor-bischwat" lautet diese einfache Kalenderliemerkung. Die Natur hat 
ihr erstes Werk zur Erneuerung des Erdbodens vcllbracht Die Bäume beginnen neue Säfte in sich aufzunehmen. — Langsam, fast unmerklich beginnt 
die Natur ihr Winterkleid von sich zu schütteln. Die Nächte werden kürzer und die Tage länger und kaum haben wir uns vorgesehen, steht die Purimzeit 
vor unseren Türen. — „Purim", dies zweisilbige, jedoch für die jüdische Geschichte so vielbcdeutende Wort, welch herrlich schöne Jugenderinnerungen 
zaubert es mir vor mein geistiges Auge! Ich sehe mich am frühen Morgen an der Hand meines lieben Vaters aus der Synagoge — wo die Megilla 
vorgelesen wurde — nach nause g[ekommen, nehme in aller Eile meinen Morgenimbiss zu mir, um ja nur das Zusammenstellen des «.Schlach-monauss" 
nicht zu versäumen. Mit welch wichtiger Umsicht wurde da das verschiedene Gebäck auf die dazu bestimmten Teller gelegt; es hiess da aufpassen, 
um ein Vermischen der milchigen und fleischigen Backwaren zu vermeiden. Unwillkürlich muss ich zwischen der, ich möchte sagen, »Schwerfälligkeit«' 
der damaligen Zeit und dem sich heute auch in dieser Beziehung zeigenden Fortschritt, eine Parallele ziehen. Wollte man früher ein schmaclmaftt6 
Gebäck bereiten, hiess es entweder mit Butter, also milchig, oder mit animalischen Fetten -- dann fleischig — backen. Wie anders und bequemer hat 
es heute die jüdische Küche, zumal seitdem es der Sana-Gesellschaft m. b. H., Cleve nach vielen Versuchen gelungen ist, .rTomor* zu fabrizieren, das 
sich in so kurzer Zeit einen Weltruf eroberte. Dieses »Tomor- ist, was ja auch schon der Name »Tomor* (Palma) sagt, ein aus dem Fette der Kokos- 
nuss hergestelltes Produkt, welches der Naturtnitter sowohl in Bezug auf Geschmack, Aussehen und Atoma vollkommen ebenbürtig ist, dabei den 
unschätzbaren Vorteil hat, dass es sowohl für Milch- als auch für Fleischspeisen verwendet werden darf und wird dieses »Tomor« unter ständiger 
Aufsicht und Leitung eines von Sr. Ehrwürden Herrn Rabbiner Dr. B. Wolf in Köln angestellten streng religiösen Beamten hergestellt. — (Uebcr das 
Nähere, Tomor betiYffend, gestatte ich mir auf das in der heutigen Nummer veröffentlichte Inserat hinzuweisen.) Möge sich selbst der strengste Jehudi 
mit ruhigem Gewissen das mit Tomor bereitete Gebäck, speziell die unentt)ehrlichen «Hamans" sowohl bei milchigen als 
recht guf munden lassen. 



Is auch bei fleischigen Mihlzeiten 



Stuttaartor LebentvertlolieruiiitlMiiik «. G. (Alt« Stuttgarter). Die neuen Anträge auf Todesfallversicherungen sind im Jahre 1906 wieder 
um mehr als 3 Millionen Mk. gegen das Vorjahr gestiegen. Es wurden eingereicht: 9883 Anträge über Mk. 68,124,3«) Versicherungssumme (gegen 
9382 Anträfe über Mk. 65,072,500 im Jahre 1905). Neu abgeschlossen wurden 7676 Versicherungen über Mk. 53,613,625 Kapital (gegen 7538 Versicherungen 
über Mk, 53,165,580 im Vorjahr). Nach Abzug der durdi Tod, Ablauf imd Verfall ausge^iedenen Versicherungen verblieb ein Heinznwachs von 
4784 Policen mit Mk. 34,802,980 Versicherungssumme (im Vorjahr: 4642 Policen mit Mk. 34,992,455). Der vorzeitige Abgang durch Kündigung und 
Verfall betrug 0,81 % der im Jahre 1906 auf den Todesfall versichert gewesenen Summen. Der Abgang durch Tod ist wiederum hinter dem des Vor- 
jahres zurückjfseblieben : es wurden nur Mk, 8,075,796 fällig gegen Mk. 8,249,070 im Vorjahr ; die aussergewöhnlich niedrige Sterblichkeit des Jahres 1905 
ist also im Berichtsjahre noch übertroffen; was für den Ausfall des Jahresüberschusses von sehr günstigem Einflüsse sein wird. — Einschliesslich des 
noch vorhandenen Bestands an Aussteuerversicherungen, die die Bank seit 1904 nicht mehr abschliesst, war Ende 1906 ein Gesamtversicherungsbestand 
von 125,990 Policen mit Mk. 780,683,206 Versicherungssumme vorhanden. 

Dm erste Marttelegrtffliii. Vor kurzem ging die Nachricht durch die Zeitungen, dass auf einer atlantischen Station für drahtlose Tele- 
graphie jede Nacht um dieselbe Zeit ein geheimnisvolles Signal eintreffe in Form eines „8". Man vermutete einen Verständigungsversuch der Mars- 
bewohner. Die Vermutung hat sich jetzt bestätigt. Das erste Marstelegramm ist eingetroffen und entziffert worden. Es .besteht aus 2 Worten und 
lautet „Salem Aleikum". (Anmerkung. E>ie Marsbewohner scheinen demnach auch Freunde einer guten Zigarette zu sein.) 

Ein rotig zarter, reiner Teint: Die menschliche Gesichtshaut besteht bekannUich aus kleinen Zellen, die in den unteren Schichten weich 
und durchsichtig sind, oben Bber abblätttern, nachdem sie zu Schuppen eingetrocknet sind. Sobald dieser Vorgsmg merklich wird, erscheint die Ober- 
flädie hart, schwielig, verliert ihre Durchsichtigkeit, es ergel>en sich jene Erscheinungen, die man gemeinhin einen schlechten, unreinen Teint 
nennt Tritt gar eine Verstopfung der Talgdrüsen hinzu, so führt die Reizung zur Bildung von Pusteln. Knötchen. Finnen. Mitessern. Diesem 
Uebel wirkt allein die von der F^rma Bergminn ft Comp, in Radebeul-Oresilen hergestellte 8te6kenpferd-Lillenmil6h*S|elfe (Sohiitxmarfce : Steeken- 
pferd) entgegen. Die Seife ist von völlig neutraler Beschaffenheit, und der Zasatz von Borax bewirkt eine schnelle und beinahe unmerkliche Abstossung 
der unreinen Ot)erhaut und erweist sich somit bei einer dauernden Anwendung als unbedingt zuverlässiges Mittel zur Erhaltung einet rotlgen, 
zarten und reinen Teints. Die 8te6kenpferd-Ullenmllch-8elfe ist in den meisten Apotheken, Drogerien und ParfümerieK ä Stück 50 Pfg. zu haben. 



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litmateitaiiitaMne nur durcb l)aa$eil$teill Sf Uogkr J\. 6. in Berlin nnd deren Jilialen. 

Aboanementtprelft für das Jahr In DeutschlaDd und Oeatcrrelch Mark 7»— (LtuLusausgabe Mark 149—)« ffir das Analaod Mark S— , 

(LtULttaanagabe Mark 16). 
ffir Rtttalaod gaazjihrllch 4 Rubel. Elnzalliefte k 35 Kop. 

. - .-_ Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandes, durch alle Postämter des Deutschen ^^.^ 

■ Reiches unter No. 5785 a der Postzeitungsliste und durch die Expedition dieser Zeitschrift " — "^ 

Anzeigen Mk. /. — die viergespcUtene NonparetUezeile, grössere Anzeigen nach Tarif, bei Wiederholungen Rabatt. 



Adresse fDr die gescli&ftliolie Korrespondenz: Verlag „Ost und West'', Berlin W. 8, Leipzigerstr 31-32. 

Redaktion: Berlin NW. 23» Altonaerstr. 36. 



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Verantwortlicher Redakteur: Leo Winz, Berlin, Altonaerstr. 36. - Verlag Ost und West, Berlin W.8. 

Druck von Haasenstein & Vogler A. O., Berlin S. 42, Wasserthorstr. 50. 




ILLUSTRIERTE MONATSSCHRIFT 



FÜR DAS GESAMTE JUDENTUM 



Herausgegeben und redigiert 



von 



LEO WINZ. 



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Alle Rechte vorbehalten. 

yn. Jahrg. 



Heft 4. 



April 1907. 



^*^^^^m0t^k0>^m0^^^0^^^^^f^)^^04 



ri^M^k^Vt^ 



N»^^ m^»^^^»^i^i^^ m m ^>0 



a»MM¥>^'^^i^^^**»M>^^*>^ 



OST UND WEST IN DER JUEDISCHEN WANDERUNO. 

Von Dr. S. Bernfeld. 



Wenn man die Geschichte des jüdischen Volkes 
betrachtet, so hat man beinahe den Eindruck, als 
ob es in dessen Natuf und Wesen gelegen hätte, 
stets von Ost nach West* and von West nach 
Ost zu pendeln. In der uralten Zeit, die man 
als das Morgengrauen in der jüdischen Geschichte 
bezeichnen darf, sehen wir die israelitischen Stämme 
von den Ländern des Euphrat nach Kanaan 
wandern. Einige Jahrhunderte später beginnt die 
Rückwanderung nach Mesopotamien und Babylonien. 
Nahezu ein ganzes Jahrtausend erhielt sich dann 
im jüdischen Volke das Hin- und Her wandern 
zwischen Ost und West, wobei sich merk- 
würdigerweise im Laufe der Zeit zwischen der 
Judenheit im Osten und der im Westen dieselben 
kulturellen und sozialen Gegensätze ausbildeten wie 
in der Gegenwart. Im babylonischen Talmud ist 
es eine fast stereotype Redensart, über diese oder 
jene babylonische Lelirmeinung oder dialektische 
Spitzfindigkeit ^habe man im Westen gelacht". 
Trotz der engsten Beziehungen zwischen der baby- 
lonischen und palästinensischen Judenheit flogen 
doch immer von hüben und drüben spitze Be- 
merkungen, Witze und oft auch offenener Tadel 
gegeneinander. Im Osten, wo damals der Schwer- 
punkt des jüdischen Volkes war, ärgerte man sich 
oft über die wegwerfende Art und Weise, in der 
man zu Palästina über die Juden in Babylonien 
zu urteilen pfl^te. Aus diesem Grunde sahen 
viele die Wanderung von Babylonien nach Pa- 
lästina nicht gern, und ein berühmter Lehrer ver- 
sti^ sich sogar zu der Behauptung, es sei dies 
sündhaft, da die Juden in der babylonischen Ver- 
bannung so lange zu verbleiben hätten, bis sie. 
Gott selbst nach ihrer palästinischen Heimat zu- 
rückführen würde. 

In der neueren Geschichte der Juden spielt 
ebenfalls die Wanderung von Westen nach dem 
Osten und zurück eine bedeutsame Rolle. Als 



Ntcbdruck verboten. 

durch das römische Weltreich das europäische 
Abendland allmählich erschlossen wurde, wanderten 
die Juden zuerst westwärts, dann aber infolge ver- 
schiedener Ereignisse wieder nach dem Osten. 
Eine merkwürdige Episode in der jüdischen iGe- 
schichte bilden die Vorgänge gegen Ende des 15. 
Jahrhunderts. Zwei grosse Gruppen von jüdischen 
Ansiedelungen, wo die Juden seit einem Jahr- 
tausend feste Wurzel gefasst hatten, wurden ge- 
waltsam zerstört. Die Juden in Deutschland 
mussten allmählich ihre alte Heimat verlassen und 
wandten sich nach Polen. Um dieselbe Zeit 
kam auf der pyrenäischen Halbinsel die schreck- 
liche* Katastrophe über die dortigen Juden, und 
auch sie mussten sich eine neue Heimstätte suchen. 
Was geschah nun ? Während die deutschen Juden 
vom Westen nach dem Nordosten zogen, suchten 
die meisten spanischen und portugisischen Juden 
vom äussersten Westen eine Ruhestätte in dem 
europäischen Südosten, das damals unter der Herr- 
schaft der aufgeklärten und toleranten Osmanen 
stand. Nur ein kleiner Teil dieser Flüchtlinge fand 
in Italien und später auch in Holland Aufnahme. 
Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, als in 
Polen und den damaligen russischen Provinzen 
des grossen Polenreiches die schrecklichen Juden- 
metzeleien stattfanden, begann wieder eine stete 
Rückwanderung der dt^utschen Juden nadi dem 
Westen. Diese Rückwanderung, die im Laufe 
eines Viertel-Jahrtausends verschiedene Zielpunkte 
gefunden hat, ist in der letzten Zeit zu einer 
grossartigen Emigration nach Amerika geworden. 
Es ist somit kein Zweifel, dass wir es gegenwärtig 
mit einer grosse Dimensionen annehmenden Wande- 
rung der Juden nach der westlichen Halbkugel 
zu tun haben. Ueber die kulturgeschichtlichen 
Einzelheiten dieser ewigen Wanderung des jüdischen 
Volkes Hesse sich ein interessantes Buch schreiben. 
Denn dadurch hat sieh dieses Volk eigenartig ent- 



21« 



Dr. S. Bemfcld: Ost und West in der jüdischen Wanderung. 



wickelt, national und kosmopolitisch ziigleicli. Und 
nicht nur das, die Kulturgeschiclite der Menschheit 
ist von dieser Ersclieinnng dberall und zu allen 
Zeiten stark beeinflusst. Die Spuren des jüdischen 
(leistea sind bei allen Völkern zu finden, selbst 
bei solchen, die süt Jahrhunderten alle Gemein- 
schaft mit dem jfldischen Volk aurgegeben zu haben 
glauben. Am merkvOrdigsten aber ist das 
sprachliche Problem der Juden. 

Als die israelitischen Stämme aus dem Morgen- 
lande erobernd in Kanaan eindrangen, sprachen sie 
zweifellos aramäisch, die Sprache ihres Heimat- 
landes. Das Hebräische, die Sprache Kanaans, 
haben sie von den unterworfenen Stämmen tlber- 
nommen und sie zu ihrer nationalen Sprache ge- 
macht, in der sie das niedergelegt haben, was für 
ewige Zeiten das geistige Merkmal des judischen 
Volkes und dessen Bedeutung In der Weltgeschiclite 
bilden wird. Die kanaitische Sprache ist somit zu 
einer israelitischen geworden, zu einer, die von der 
Bevölkerung, die sie einst gesprochen, losgelöst 
wurde und mit der kulturellen Entwicklung des 
jüdischen Volkes aufs innigste verknüpft ist. Nach- 
dem aber die Juden in dieser Sprache alles nieder- 
gelegt hatten, was ihre geistige schöpferische Kraft 
zu bieten hatte, kehrten sie zu ihrer ehemaligen 
Muttersprache zurück, zu der aramäischen. Auch 
in dieser Sprache schaf das Volk manches hervor- 
ragende Geistesprodukt, und obwohl die Juden 
dieses Idiom mit mehreren anderen Volkei-u in 
Vordeidsien teil'— "• ■'"—'■ 
eine merkwUrdij 
der Umstände d: 
nur als Volks 
ratursprache de 
blieben. Wir hai 
Ahnung davon, \ 
liehen aramäisc 
diese Sprache 
und literariscli 
haben. Denn dJ 
literarischen D» 
aramäischen 1 
ihrem Inhalt nai 
ihnen werden 



lieb Dinge 
behandelt, die 
das Juden- 
tam betreffen. 
Man muss 

annehmen, -^ 
dass dadurch ^ 
die Sprache 
lexikalisch, 
d. h. in 
ihrem Wort- 
schatz UDd 
auch in ihren 
l'^ormen vieles 

llbernommen hat. Wir haben ; ' 

also diese Sprache nur in der Rr.oiNA MUNDT.aK- 



Uestalt, in der sie sich bei den Juden entwickelt 
hat. — Dass die Juden auf ihrer tausendjährigen 
Wanderung an verschiedenen Orten verschiedene 
Sprachen angenommen und in der Folge diesen 
Sprachen den Stempel ihres geistigen Lebens und 
Schaffens aufgedrückt haben, ist ja bekannt. Ein 
Stück jüdischen Kultu'lebens ist aufbewahrt in der 
griechischen Sprache, in der syiischen, anibischon 
und persischen. Von den neueren Sprachen 
spielen die de;itsche und spanische im Leben der 
Juden die grössle Rolle. Für absehbare Zeit kann 
man sogar behaupten, dass abgesehen von einigen 
kleinen Sprachgebieten , die Juden sich in eine 
grossere deutsche und eine kleinere spanische Hälfte 
teilen. E^s sielit so aus, als ob das Volk, das 
bereits so viele Spraclien gelernt und wieder ver- 
gessen hat, nunmehr bei diesen beiden genannten 
bleiben will, die so innig mit seiner Geschichte im 
letzten Jahrtausend zusammenhängen. Ein Irrtum 
ist es, wenn man glaubt, dass alle deutsch- oder 
jUdisclideutsch sprechenden Juden von denen ab- 
stammen, die vor Jahrhunderten die deutsehe 
Heimat verlassen ranssten und in der Fremde die 
nun einmal angenommene Muttersprache in mhrender 
Anhänglichkeit wahrten. So viele Juden sind gar 
nicht von Deutschland nach Polen eingewandert. 
Tatsächlich haben die deutschen Einwanderer 
im Osten und im Nordosten zahlreiche jüdische 
Gemeinden voi-gefunden , die ihr slavisehes 
Idiom sprachen. Da ihnen aber die deutschen 
...j-_ i...i.y^gj| Hbeiiegcn waren, 
ingte die deutsche 
xllmäbtleh die slavl- 
jüdischon Emigranten 
mit in dtr P<enide 
unter sich die deut- 
:he erhalten, sondern 
ihr andere Sprach- 
abert. Dasselbe gilt 
lie spanisch redenden 
Südosten von Europa, 
rika, in Egypten, in 
Syrien und 
Kteinasien. 
Bevor die 
jjrosseWau- 
/ierung von 
der pyrenäi- 
<*' .sehen Halb- 

, insel begon- 

I nen hatte, 
' |v' j-^ab es in 
P r t*-' den genann- 
/ teil Län- 

dern grosse 
Gemeinden, 
in denen 
slavisch, 
i,'riccliisch 
h gesprochen wnrdc. 
Diese Sprachen wurden erst im 
STUDIF. Laufe der Zeit nach und nach ver- 



221 



Dr. S. Bernftld: Ost und Wrsi in der jüdischen Waiideratig. 



(liiLiit^t, wobei sicil kleine Reätu bis auf den houligen 
'l'äg erbiolten, in mänclien Gemeinden aber neben 
der spanisdien aucb die frülieie Sprache nocli gilt. 
Allerdings darf man nicht annehmen, dass die Aus- 
wanderer aus Spanien und Portu^^al, die man auf 
etwa 300000 schätzte, diese Eroberung auf dem 
sprachlichen Gebiet vollzogen hätten. Etwa zwei 
Jahrhunderte hindurch erhielten sie von iJirer ehe- 
maligen Heimat dadurch Zuzug, dass viele, die zuerst 
als Schfiinehristen in Spanien und in Portugal 
zurückgeblieben waren, dort doch nicht bleiben 
konnten und sie' " " ' " 

maligen Leidensg 
Was sieb jetzt v 
voilzielit, dass 
polnische , und 
die sieh in der □ 
massen eingeburgt 
nach üire in der 
bliebenen Verwarn 
zu sich kommen 
damals mit 
den spanisch- 
jüdischen 
Emigranten. 
Nur dieser 
Zu2ug, der 
zwei Jahr- 
hunderte an- 
hielt, ermög- 
lichte ilmeii, 
alte griechi- 
sche, slavi- '_- 
sehe oder ar^- -' 
bische Ge- j 
meinden all- 
mählicli zu 

romaniaieren. 

Auf eine 
volkspsycho- 
logisch merk- 
würdige Er- : 

scheinung 
mochte ich 
noch hinwei- 
sen. FOr die _; 
deutsch re- 
dendenJuden -z 
ist die deut- 
sche Sprache ^' 
einfach die — 
.jüdische'' ^' 
geworden, _'; 
worüber nur -_ 
N&rren spot- -7^ 
ten können. j 
Auch die spa- ^ 
nifichen Ju- 
den bezeich- 
nen die von 
ihnen ge- 
sprochene j^^^,,^^ munDLAK. 



spanische Mundart als ^uda'ismo". Bekwntlich 
ist ein Teil des hebräischen Wortschatzes in 
den judisch-deutscben Dialekt eingedrungen. Auch 
der jadisL-h-spaniscbe Dialekt enthält manche 
hebräische Worte, aber bei weitem nicht in dem 
Umfang wie der jüdisch-deutsche. Wie kommt das? 
Bei den deutschen Juden war das geistige Leben 
viel tiefer in alle Volksschichten eingedrungen, alle 
strebten danach, das hebräische Schrifttum zu 
kennen, in dem sie lebten und geistige Körung 
fanden. Was sie diesem Schrifttum entnalimen, trugen 
• _ ,.._.. ■_ .i._ ' -•Jg^,e Umgangs- 

kanot, dass sie 
Vorstellungen 
die Bezeich- 
len entnahmen, 
men diese nicht 
iseben Massen 
kfassen in den 
t voran waren. 
Juden hiogegen 
standen die 
Dinge guiz 
anders. Auch 
in der besten 
Zeit blieb 
die Kenntnis 
des hebräi- 
schen Schrifl- 
inms auf den 
engen Kreis 
der Gebilde- 
ten und Ge- 
lehrten be- 
schränkt. Die 
unteren Mas- 
sen wnssten 
nicht viel da- 
von. Oaaber 
das Spanische 
als Kuttur- 
sprache sich 
froher ent- 
wickelte als 
das Deutsche, 
so brauchten 
ilie Juden in 
ihrem Kul- 
turleben 
nicht so oft 
ihre Zuflucht 
zu dem he- 
bi'äischen zn 
nehmen. Auf 
diese Weise 
hat sich die 
jddisch-deut- 
scbe Mundart 
viel judischer 
entwickelt als 
die jüdisch- 
JUEDISCHER KNABE AUS POLEN, spanische. 



NEUES VON LESSER URY. 



Nicbdruck vtriiatcn. 



Es ist etwa elf Jabre her, seit Lesser Ury zum 
erstemnale sein „JerOBalem" aa3:^tellte. Damals scbrieb 
Oskar Bie: „Ich bin glücklieb, bei dieser Oelegenbeit 
einmal meine ganze grenzenlose BewandemDg der 
Urysühen Kunst aussprechen und belegen zu kflnnen. 
Denn Uryj Werk ist nicht nur sein Meisterwerk, es 
L^t ein Meisterwerk der gesamten modernen Kunst, es 
ist ein kunstgescbichtlicbea Bild . . ." Seit damals 
sind elf Jahre vergangen, seit damals ist Lesser Ury 
ins Kiesen hafte gewachsen, seit damals hat Lesser Ury 
eine ganze grosse Galerie von Heisterwerken empor- 
gebaut. 

Nun hat er fUr seine Qaterie, die leider noch nicht 
Gemeingut des Volkes geworden, zwei neue Werke 
hervorgezau- 
bert: ein 
grosses Ge- 
mälde „Sin^ 



Hut", ein 

kleineres 
„David im 

Gebet". 
Zwei Werke 

höchster 
Menschbeits- 
knnst. Hau 
steht vor die- 
ser „Sintflot" 
wie vor einem 
' PhSnomen, 
schüttelt sii^ 
vielleicht vor 
Grauen, fBb- 

lend, dass 

hier ein 
Meister die 
Tra'gik des 

Lebens in 
bisher aner- 
hörter Weise 
dargestellt, 

blossgelegt LESSER URY David im Gebet, 

und in all 
ihren mor- 
denden Wirkungen fürmlichverkürpert hat Man schüttelt 
sich vor Grauen . . . Aas den ungeheuren nebligen 
Wassern, deren blendend weisse Wellen hoch empor- 
scblageo, ragt ein mächtiger Felsen auf: die letzte Zu- 
fludit der letzten drei Urmenschen. I-Jiner von ihnen, der 
^ mittlere, stürzt eben in die Fluten, im letzten Momente 
noch den rechten Fuss um eine Felskante klammernd. 
Schon aber werfen sich die'Wasser über den Körper . . der 
Tod ist da . . , Und während er gierig an dem Manne 
sangt, mit seinen Wassern in Mund und Augen dringt, 
ringen die beiden Mitmenschen noch um das nackte 
Leben . . . Muskeln und Sehnen spannen sich: Ein 
furchtbarer Kampf letzter Kräfte mit dem tötenden 
Element. Man sieht, wie der eine 7«n beiden, ein 
knorriger Kerl, mit rötlich schimmerndem Haar, die 
rechte Hand um den Felsen schlingt and mit den 
starken Fingern der Linken ein höher strebendes Stück 
des Felsens packt, während dfr rechte Fuss gegen 



einen Block sich wuchtig stemmt. Wie da der Kopt 
sich im Nacken dreht, wie da die Augen tierisch wild 
zur Seite blitzten, als spritzte ihm schon der weisse 
Gischt entgegen 1 Und d;inn der andere von jenen dem 
Tode Geweihten: der liegt platt vom Felsen hernieder, 
Hinterkopf und Rücken an ein and erpressend, mit beiden 
Händen Übermenschlich die Zacken umspannend, vahrend 
die Füsse schon von einem langsam sich abbröckelnden 
Block, auf dem sie vor Sekunden noch fest g«mht 
haben, langsam hernieder gleiten . . . Man empfindet: 
im nächster Augenblick schrumpft auch die Kraft 
dieses Menschen in nichts zusammen. Denn von oben 
herab drücken die schwergranen Wolken, drücken die 
schwergraaen Itegenmassen auf die braunen Felsen nieder, 
bullen ihn 
ein, hallen 
die mensch- 
lichen Körper 



ein, 

sie schauem, 
und aus der 
Tiefe brau- 
sen schon die 
weissenWas- 
ser höher 
empor und 
ringeln sich 
wie weisse 

Schlangen 
um die Ffisse 

der Men- 
schen . . 

Ein grauen- 
haftes, aber 
grandioses 
^aospiel ! 
Und wie 
Lesser üry 
hier, von dem 
m&chtigen 
Vorwurf des 
Gemäldes ab- 
gesehen, die 
Technik an 
.lieh meistert, ist wunderbar, üry, der Aktmaler, der 
vor einem Viert«ljabrhundert beim berühmten Portaels 
in Brüssel den ersten Preis im Aktmalen errungen, zeigt 
sich hier in seiner vollendetsten Kunst. Und gleich un- 
übertrefflich ist, wie Ury, der farbenfrohe Meister des 
blauen Gardasees, das graue Meer hinmalte in seiner 
endlosen Weite, seinen seltsamen Sturmspiegelungen. 
Und neben diesem gewaltig- düsteren Bilde das 
Werk der reinsten, hellsten Andacht: „David im Gebet." 
Ans dem sonngebräuiiten Knaben köpfe blicken die 
dunklen Augen verklflrt zum Himmel empor, der mit 
weichen weissen Wolken bedeckt ist. Nur da und 
dort lugt ein Streifen Blau, ein Streifen Grün hervor. 
Und seitwärts ' von dem betenden Jaden st«ht Goliath 
da, zu einer schattenhaften Erscheinung zusammenge- 
schrumpft, als hätte den Riesen schon der Anblick des 
Betenden niedergezwungen. 

Berlin, Adolph Donath. 



BERLIN. 



JUNO-HEBRAEISCHE LYRIK. 

Von Samitel Meiseis (Charlotten bürg). 



Nicbdnick «tfboun. 



Den grossen Zeitraam von dem gläDzendeo 
DreigestirD, den Dichterförsten Jehada Halevy, 
IbD Esra nnd Ben Oabirol bis in die Aera Mendels- 
sohns and Docb weit darüber hinaus kann man mit 
Recht als die dichterlose Zeit im Jndentnme be- 
Eeicbnen. Die QueUen der jüdischen Lyrik waren 
versiegt; Die Zionsharfen schienen zerschlagen, 
ihre Saiten geborsten. Kein Laut war hörbar, 
selbst die alten K]a<;etöne verhallten, otine das 
leiseste Echo zu wecken. Es war eine Zeit der 
annmschränktfn Herrschaft des Geistes, der jedes 
Geföhl verstnramen macht. Stellten sich manchmal 
innere Geföhlsregnngen ein, lohten manchnial im 
Herzen die FlamoieD der Be^eisternng anf, so sachte 
mau sie weniger dnrch eigene lyrischen Ergüsse 
als durch bereits vorhandene ältere zum Ausdruck 
zu bringen. Uan kümmerte sich wenig darnm, 
ob diese alten Klänge zu den neuen Zeitstimmnngen 
passten. Und schliesslich muss man nicht immer 
io Schmerzen und Leiden poetische Tränen ver- 
giessen. Es lässt sich auch 
in schlichter Prosa weinen 
und wehklagen . . . 

Erst in den Zeiten der 
Emanzipatiunsbestrebangen 
der Juden, besonders aber 
in der darauffolgenden Anf- 
klärungsperiode erstand dem 
Judentum eine Anzahl von 
hebräischen Dichtern, die 
im bekannten Mnsivstil oder 
in der Form der sogenannten 
.Pijutim" ihre Lieder und 
Hymnen sangen. Allein diese 
Dichter waren keine Lyriker 
im eigentlichen Sinne; ihre 
Dichtungen boten ein Ge- 
misch von philosophischen 
Bebachtangen und mora- 
lischen Sentenzen, sprühen- 
dem Wortwitz und trockenem 
Humor, schwülstigen Phra- 
sen und gereimter Prosa. 
Reine Gefühlseiyüsse waren 
ihaen fVemd. Jedes Diu^f 
lief bei ihnen auf die Moral 
hinans, die ihnen der In- 
begriff alles Schöoen war. 
Da sie eine grosse Vorliebe 
fürs Lehrhafte besassen, be- 
vorzugten sie das didak- 
tische Gedicht. Diese Be- 
vorzugung derLehi^edichts- 
gattane hat sich bei den 
hebräischen Dichtem bis 
Ende der achtziger Jahre 
des neunzehnten Jahr- 
, handerts erhalten. Aus 
diesem Grunde haben sie LESSER URY 



auch aus allen Literaturen nur das herßberge- 
Dommen, was lehrhaft, moralisch, tendenziös war. 
Sie liebten das Schweriälline and Gedankenreiche. 
Für die Reize einer leichtbeschwingten Mase ging 
ihnen das Verständnis ab. Die tiefgründigen, mit 
metaphysischen Gedanken durchwebten Gedichte 
Schillers sagten ihnen mehr zu als die sanft dahin- 
äiessenden Klänge der Goetheschen Poesie oder die 
tänzelnde Lyrik Heiuricb Heines, Schiller war 
auch der erste deutsche Dichter, von dem eine 
grössere Auswahl von Gedichten in hebräischer 
Uebersetznog erschienen ist, 

Dazamal wurde in der jüdischen Poetenschule 
mit der poetischen Lizenz insofern Missbrauch 
getrieben, als jeder, der hebräisch schreiben nnd 
reimen konnte, für sich die Lizenz beanspruchte, 
zu dichten. Da gab es neben einigen wirklichen 
Poeten viele Reimschmiede in Israel. Jeder Stuben- 
gelehrte, der Studien oblag, die von der Dichtkunst 
weltenweit entfernt sind, betrieb das Handwerk der 



Die Sintflut. 



221 



Samuel Meiseis, Charlottenburg: Junghebräische Lyrik, 



228 



Reimschmiedeknnst als Nebenbeschäftagung. Es ist 
cbarakteristiscb, dass damals fast kein einziges Buch 
in hebräischer Sprache — mochte es ein Buch ttber 
hebräische Synonymik oder eine Konkordanz, ein 
Lehrbuch der Geographie oder ein Leitfaden der 
Greschichte sein — ohne einleitendes Gedicht in 
die Welt gesetzt wurde. Dieser Brauch hat sich 
dermassen eingebürgert, dass eine gereimte Ein- 
leitung unerlässlich notwendig wurde zu jedem 
Buch. War das Werk ein Orißinal oder eine 
üebersetzung — das Gedicht als Geleitwort durfte 
unter keinen Umständen fehlen ... In den meisten 
Fällen war dieses Gredicht ein Hymnus auf die 
hebräische Sprache, in der „Adam und Eva, lust- 
wandelnd im Garten Eden, sich verständigten, in 
der Gott vom Sinai zu seinem Volke sprach, 
in der die gotterfiillten E^opheten Strafreden 
hielten und in der der Sänger auf dem Throne 
seine herrlichen Psalmen saug*. Oder es war 
eine Elegie auf den Niedergang der hebräischen 
Sprache, die wie „eine Witwe dasitzt, von ihren 
Kindern verlassen" . . . 

Freilich hat die jüdische Literatur dieser 
Epoche einige Dichter zu verzeichneu, in deren 
Dichtungen der Puls einer warmen Empfindung zu 
vernehmen ist. Sie meisterten die hebräische 
Sprache mit einer Virtuosität, die jedem Kenner 
Bewunderung abringt. Mit grosser Kunstfertigkeit 
wendeten sie in ihrep Gedichten das Bibel wort an, 
in dieser Weise, dass es in seiner alten Form einen 
neuen Gedanken erhielt. Sie waren Meister des 
Wohles; sie schufen keine neuen Worte für die 
neuen Begriffe, sondern sie besassen ein fein- 
entwickeltes Sprachgefühl, das sie befähigte, den 
vorhandenen hebräischen Wortschatz auszubeuten 
und dem Bibelwort, je nach seiner Stellung im 
Satzgefüge, einen neuen Sinn zu geben. Dass dieses 
strikte Festhalten am Stil der Bibel zuweilen den 
dichterischen Schwung hemmte und in ein leeres 
Wortgeklimper ausartete, ist erklärlich. Aber auch 
Dichter sind Kinder ihrer Zeit. Wie das Juden- 
tum, namentlich im Osten, zu jener Zeit nur nach 
dem Buchstaben lebte, so dichteten seine Poeten 
nach dem, was geschrieben stand — nämlich: frei 
nach der Bibel. Sie schöpften den Stoff zu ihren 
Dichtungen nicht aus ihrer Brust, aus dem vollen 
Menschenleben, aus der grossen weiten freien Natur, 
sondern — aus der Bibel. Den Zauber des Früh- 
lings, das Malerische einer herrlichea Landschaft, 
das Bauschen der Flüsse, das Säuseln der Winde, das 
Jubilieren der Nachtigallen — all dies sahen sie nicht 
und hörten sie nicht, sondern lasen es aus der Bibel 
heraus. Das Ergebnis: alle ihre Frühlingslieder waren 
in Reime gebrachte Bruchstücke aus den Psalmen und 
dem Hohenliede; alle ihre Landschaft sbilder hatten 
ein palästinensisches Aussehen; alle ihre Metaphern 
waren biblisch. Bei jedem Sonnenaufgang ginp: die 
Sonne heraus „wie ein Bräutigam aus seiner 
Kammer, frohlockend wie ein Held, die Bahn zu 
durchlaufen"; im eisigen Norden sass der Bauer 
„friedlich unter dem Schatten seines Feigenbaumes"; 
^id wo die Rebe nie geglüht, kelterten die Winzer 



Weintrauben in den Keltern und sangen ein Heidod- 
lied. Bezeichnend waren auch ihire Liebeslieder. 
Da hiess jede Geliebte Sulamith und eine glich der 
andern wie ein Tropfen Wasser dem zweiten: die 
Augen waren wie die Teiche zu Hebron am Tor 
Bethrabbim, das Haar wie eine Herde Ziegen, 
gelagert am Berge Gilead, die Zähne, wie eine 
Herde Schafe, die aus der Schwemme kommen die 
Brüste wie zwei junge Behzwillinge, die unter 
Rosen weiden, der Hals wie em elfenbeinerner 
Turm, das Haupt wie der Karmel — also alles 
genau nach Muster der Sulamith im Hohenliede 
Salomos. Li vielen Fällen brachte die Schluss- 
strophe des Liebesliedes eine Enttäuschung, denn 
es stellte sich heraus, dass die vom Dichter an* 
geschwärmte Dame gar kein Wesen von Fleisch 
und Blut war, auch keine schaumgeborene Meeres- 
göttin, sondern die lichtgeborene „Haskala" (Auf- 
klärung), die Tochter des Himmels, die die Finsternis 
bekämpft und den Menschengeist erleuchtet . . . 
Erst mit dem Dichter-Trifolium Adam Leben- 
sohn, seinem leider früh verstorbenen Sohn Micha 
Josef Lebensohn und Juda Leib Grordon beginnt 
eine neue Epoche in der hebräischen Poesie im 
besonderen und in der jüdischen Poesie überhaupt. 
Sie bilden die Vorläufer der modernen hebräischen 
Lyrik, obwohl die moderne Dichterschule an diese 
Meister sehr wenig anlehnt. Die hebräische Lyrik 
berührt jetzt ganz andere Saiten und entlockt 
diesen ganz andere Töne, als man fi^er zu hören 
gewohnt war. Etwas Melodisches und Wäch- 
klingendes tönt aus ihren Gedichten heraus. Jedes 
Gedicht ist aus der Zeit heraus gedichtet, aus dem 
Born des frisch sprudelnden Lebens geschöpft 

* * * 
Die führende Rolle unter den junghebräischen 
Lyrikern hat Chaim Nachman Bialik, ein starkes 
Talent von grosser dichterischer Kraft und von 
unerschöpflicher Sprachgewalt. Bialik steht am 
Scheidewege, zwischen zwei Epochen, wo er sich 
mit den jüngsten alten und den ältesten jungen 
hebräischeu Lyrikern berührt. Er beginnt als 
Epigone Juda Leib Gordons und wächst sich all- 
mählich zum Vorläufer vieler jungem Talente aus. 
Also halb Jünger, halb Meister; kein ganz modemer 
hebräischer Dichter, aber einer, der sich moder- 
nisierte, um schliesslich seinen Nachfolgern den 
Weg zur Moderne zu zeigen. Bialik hat eine grad- 
linige spontane natürliche Entwicklung durchge- 
macht; er hat viele Hemmnisse überwunden, sich 
durch manche Hindemisse durchgerungen, aber 
ohne Schwingübungen und Kunstsprünge. Diese 
Tatsache verdient um so eher der Erwähnung, als 
Bialik vom Beth-ha-midrasch den Schritt zum 
Paraas untemahm. Viele vor ihm sind gleichfalls 
aus dem Beth-ha-midrasch zu des Dichters Berges- 
höhen gestiegen. Aber Bialik ist den Weg ge- 
gangen, jene sind gesprungen. Jeder Beth-ha- 
midrasch-Jünger ist m der Regel zu seinem eigenen 
Schaden ein Voltigeur. Bialik war es nicht. Schon 
dieser natürliche Entwicklungsgang zeigt ihn als 
Modernen. 



229 



Samuel Meiseis, Charlottenburg: Junghebräische Lyrik. 



230 



Zwei Epochen lassen sich schon jetzt in 
Bialiks dichterischem Schaffen unterscheiden. Die 
eine bedeutet den Abschied vom Beth-ha-midrasch, 
die andere den Eintritt ins Leben. Dieser Ueber- 
gang vollzieht sich ohne Katastrophe und hinter- 
lässt keinen Zwiespalt in der Natur des Dichters. 
Seine Brust wird dadurch nicht zum Wohnsitz der 
männiglich bekannten „zwei Seelen". Es ist eine 
grosse Dichterseele, von Natur aus mit einer reichen 
Entwicklungsmöglichkeit ausgestattet, sodass man 
bereits am Ausgangspunkt das ferne Endziel sehen 
konnte. Ein stetes Vorwärtsgehen, ein immer- 
währendes Aufwärtssteigen .... Wollte ich die 
bis jetzt in vier Bänden vorliegenden lyrischen 
Gesänge Bialiks mit einem Schlagworte kennzeichnen, 
ich würde sie „Der Gang zum Licht* nennen. 
Sein erstes Gedicht schildert emen melancholisch 
düstern Herbsttag, wo alles in Nebelschleier ge- 
hüllt ist und ewige Finsternis den Himmel umlagert; 
in seinen letzten gedruckten Gedichten badet er 
in Sonnenstrahlen und kann sich nicht satt baden 
und ruft aus: „Mehr Licht, o Gott des Lichts, 
gib Licht!« 

Der Abschied vom Beth-ha-midrasch fiel dem 
Dichter schwer. Es war ein Abschied unter Tränen, 
ein Abschied voller Rührseeligkeit von dei Stätte, 
wo er seine Jugend zwischen kahlen Wänden und 
dickleibigen vergilbten Folianten hinwelken sah. 
Immer wieder wirft der Dichter einen Blick nach 
dem Beth-ha-midrasch, dem Grabe seiner Jugend. 
Er sehnt sich manchmal zurück nach dem alten 
melancholischen Lehrhaus, nach dem alten welt- 
fremden Talmudstudium mii seiner Kasuistik und 
nach dem monotonen Singsang. Er entdeckt nach- 
träglich Lichtspuren in dieser fahlen Düsterkeit, 
Poesie m dem prosaischen Talmudstudium. Gleich- 
zeitig überkommt ihn ein glühender Zorn ob dem 
Dahinschwinden der Jugendjahre ohne Schönheit, 
ohne Frühlingsluft und Sonnenschein« Aus dieser 
Doppelstimmung heraus sind die formvollendeten 
Gedichte ^Der Fleissige**, „An der Schwelle des 
Lehrhauses'' entstanden. Namentlich jenes ist ein 
Gedicht von kulturhistorischem Wert, eine Apo- 
theose auf den Talmudjünger und seinen Heroismus, 
zugleich eine Anklage gegen die Yerknöcheruog im 
IBuchstabenkult. Der Dichter schildert den ganzen 
Lebensjammer des Bachurs, der in den Tiefen des 
Talmud seine Jugend ertränkt, der das Wort der 
jüdischen Schriftgelehrten: ^Brot und Salz und 
Brunnenwasser und hartes Lager und — Thora- 
Studium" zur Wahrheit macht. Oft denkt der 
Dichter zurück an . seine Kampfgenossen, die .mit 
der Waffe des dialektisch scharf zugespitzten Worts 
kämpften, deren ganzes Jugendleben ein Wortgefecht 
war; oft wähnt er ihre schmelzend traurigen Stimmen 
zu vernehmen, und seiner tiefempfindenden Brust 
entringt sich der Seufzer: 



Nur ein Bachur, der das düstere Beth-ha-midrasch- 
Leben mitgemacht hatte wie Bialik, konnte das Ba- 
churimwesen so ergreifend und so plastisch malen. 
Voraussichtlich ist Bialik der letzte Dichter, den 
das Beth-ha-midrasch der neuhebräischen Literatur 
geschenkt hat. Denn die Gtoluthspezies der Bachurim 
ist im Aussterben. Die Nachfolger Bialiks kommen 
ans ganz anderen Kreisen als dem Beth-ha-midrasch. 
Und dieser letzte Bachur-Dichter hat das altjüdische 
Lehrhaus und den Bachur in herrlichen Liedern 
verewigt Im „Fleissigen" lebt, wie ein hebräischer 
Kritiker treffend bemerkt, der Bachur unsterblich im 
Gesänge, noch bevor er im Leben untergegangen ist. 

Der Eintritt ins Leben, das erste Atmen in 
der freien Natur, das erste Sichsätligen mit Schön- 
heit und Blumenduft — geschieht vom Dichter mit 
einer gewissen „talmudischen" Weihe, ja mit einer 
gewissen Traurigkeit. Tiefe Schwermut atmen die 
ersten Gedichte von Bialiks zweiter, reiferen Periode. 
Der Dichter hat zwar das alte Lehrhaus verlassen, 
aber er scheint einige vergilbte Schriften als Talis- 
mane mit sich zu fiihren. Er kann noch nicht die 
„Flügel des Gtesanges'* ganz frei bewegen, denn 
sie sind noch immer von Talnmdfolianten belastet. 
Bialik tritt in die schöne freie Natur, und Buch- 
staben schwirren vor seinen Augen . . . Das Ähren- 
feld, die Wölkchen am Himmel, die Tannen im 
Walde — sie sind Buchstaben einer himmlischen 
Schrift, die er liest und mit Kommentaren versieht. 
Die ganze Natur wird ihm zum Talmudfolianten 
oder zu einem mystischen Werke der Kabbala. . . 
Er lässt die Schönheit der Natur nicht unmittelbar 
auf sich einwirken, er trägt vielmehr seine innere 
Stinmiung auf sie über. Er denkt mehr in sie hin- 
ein als er aus ihr herausfühlt. . . Der Dichter fUhlt 
sich mitunter fremd mitten m der Natur, wie wenn 
er nicht so recht hingehörte. Ist er nicht seit 
Jahrhunderten durch die Grausamkeit der Menschen 
der Natur entfremdet worden? Ist Mutter Erde 
auch seine Mutter? Darf er den Duft der Blumen 
atmen, die er nicht gepflanzt? sein Auge am herr- 
lichen Anblick des mat^ldnen Aehrenfeldes weiden, 
das er nicht bebaut ? Solche Gedanken überkommen 
ihn „Im Felde«. 

Hin aufs Feld! Dort stehen Hütten in des Friedens ewger 

Weihe, 
In den Hütten leben Menschen, gottgeliebte, sorgenfreie, 
Sehen ihrer Arbeit Segen, wie er wächst von Tag zu Tage — 
Ach, und dort klagt meine Sehnsucht manche wilde Sehn- 
suchtsklage. 

Hin aufs Feld! die heiigen Stimmen im Getreide will ich 

hören, 
Tnd den Wind, wenn er vorüberhuscht, das hohe Rohr 

zu stören, 
Und im Feld das leise Brodeln und im Berg das tief<» 

Gähren. 
Tnd warum die Köpfchen rühren, vollo, flaumige, die Ähren. 



Und denk ich an ihre Stimme, die stöhnte 
Wie Ächzen Erschlagncr in Mittemachtsstunde, 
Dann schreit es in mir: Gott, du Gerechter, 
Weshalb gehn denn all diese Kräfte zugrunde? 



Ins Getreide will ich schleichen, niederkauem, mich ver- 
stecken. 

In die gelbe Hut mich tauchen, dass mich ihre Wellen 

decken. 



231 



Samuel Meiseis, Charlottenburg: Junjghebräische Lyrik. 



232 



Drüben schweigt der Wald; mich schauerte, Waldes- 
schweigen zu belauschen 
Und die Bäume, wie sie Träume tiefgeheimer Nächte 

tauschen. 

Hin zur Erde will ich fallen, mein Gesicht darin verschmiegen 
Und mit einer bittem Frage weinend ihr im Schosse lieffen. 
„Sag mir, liebe Mutter Erde, warum tränkt nicht voller 

Gnaden 
Deine Brust auch meine arme Seele, krank und mühbeladen?" 

Keine Antwort — zu des Berges Saum ist Sonnenblut 

ergossen. 
Ich von Wand und Wand der hohen Ähren wonnevoll 

umschlossen, 
Ganz umwallt, umballt von Schatten, die auf mich her- 

niedersinken^ 
Schreit ich, Himmel mir zu Häupten, Korn zur Rechten, 

Korn zur Linken. 



Vor des Feldes lichter, froher Majestät, ein Bettler steh ich, 
Und wie nackt ich bin und elend, erst zu dieser Stunde 

seh ich. 
Meine Hände nicht, ihr Aehren, schulen euch in Müh und 

Walten, 
Meine Kraft hat nicht gesät hier, ich nicht werde Ernte 

halten. 

War es Schweiss von meiner Arbeit, der den schwarzen 

Boden trän'«te? 
Mein Gebet, dem sich der Himmel gnädig wies und Regen 

schenkte? 
Ihr gedieht, doch nicht um mein Herz, meine Augen nicht 

zu rühren — 
Ach, so wird nicht meiner Lieder Jubel euch zur Scheune 

führen. 

(üebersetzt von Bernhard Fuchs.) 

In diesem Gedichte zeigt sich Bialiks Meister- 
schaft in der Naturmalerei Zum wahren Künstler 
entfaltet er sich in seinen spätem Gedichten „Friih- 
lingswehen", „Mysterien der Nacht", „Morgen- 
geister", „Sommerlieder". Sein stimmungsreiches 
Gedicht „Licht" dürfte in der neuhebiäischen Lite- 
ratur den Rang einnehmen, den Schillers Spazier- 
gang in der deutschen Literatur einnimmt. Auch 
eine Reihe von sinnigen Balladen hat Bialik ge- 
dichtet, darunter die „Zwerge der Nacht*, eine 
Wichtelmännchengeschichte, düe sich anmutig liest 
wie Goethes „Hochzeitslied**. Nur in seinen 
Liebesgedichten, von denen bisher im ganzen 
sieben erschienen sind, kommt er über die 



Mittelmässigkeit nicht hinaus. Allerdings üanden 
auch diese Gedichte in den hebräisch lesenden 
Kreisen viel Anerkennung, und em bedeutender 
hebräischer Kritiker scheute sich nicht, zu erklären, 
dass Bialiks Liebeslied „Ein Brief lein schrieb sie 
mir" nicht seinesgleichen in der ganzen Weltliteratur 
fände. — Was Wunder? Waren doch die echten 
gefühlvollen Liebeslieder bis jetzt so rar in der 
neuhebräischen Literatur! Und aUes Neue liebt 
man zu überschätzen. Im deutschen Dichterwald, 
wo die Nachtigallen Goethe und Heine ihre Liebes- 
lieder sangen, würde man Bialiks Liebeslieder doch 
etwas niedriger bewerten. 

Soll ich noch vom Dichter-Propheten Bialik 
sprechen? — Nach den Judenmetzeleien in Kischi- 
new hat Bialik drei Gedichte, richtiger prophetische 
Strafreden unter dem Gesamttitel „Von den Ge- 
dichten des Zorns" veröffentlicht. Das sind Lieder 
des grossen Zorns, wie sie keine zweite Literatur 
aufzuweisen hat, aufweisen kann. Diese Lieder 
hat die Volksseele gedichtet, die seit Jahrtausenden 
gemarterte, in Blut getränkte jüdische Volks- 
seele. . . Keines Malers Pinsel hätte die schreck- 
lichen Szenen des Judenmassakers in Kischinew 
so plastisch darzustellen vermocht, wie Bialik 
sie in diesen Gedichten schildert Und doch ist 
er hier weder Künstler, noch Maler noch Dichter, 
sondern Prophet. Der Prophet, dessen Stimme wie 
ein Donner dahinroUt, weit hinter die Berge, und 
alles, was lebt und nicht lebt, mitreisst, aufrüttelt, 
aufpeitscht, dass es jammert und wehklagt ob der 
Schmach unserer Zeit. Ein moderner Prophet, 
der nicht, von dem göttlichen Strahl geblendet, zu 
Boden fällt und sein Gesicht verbirgt, der vielmehr 
eine erschütternde Klage hinausschleudert darüber, 
dass Gott sein Volk verlassen, gegen das Volk, das 
die Makkabäer hatte und sich wie das Vieh ab- 
schlachten lässt, gegen die menschliche Gesellschaft, 
gegen die Gerechtigkeit selbst. 

Gerechtigkeit, bist du kein Schein — so lass dich sehn! 

Wird aber erst, nachdem ich spurlos bin vernichtet, 

Dein Thron hienieden wieder aufgerichtet, 

So soll dein Thron verflucht in Trümmer gehn! 

Der Himmel soll im Frevelfrass verschwinden! 

Und ihr, Barbaren, lebt in euern Sünden, 

Und wascht in unserm Blut sie rein! 

(Schluss folgt.) 



NEUES VON DEN FALASCHAS. 

Von A. Tobias. 



Nachdruck verboten. 



Weit unten im subtropischen Afrika, im alten 
Aethiopien, dem heutigen Abessinien, lebt uns 
seit unvordenklichen Zeiten ein Bruderstamm, 
von dem wir bis gegen das Ende des 18. Jahr- 
hunderts gar nichts gewusst hatten: die Palaschas 
oder die schwarzen Juden. Erst um jene Zeit 
brachten europäische Reisende, die bis nach 
Abessinien vordrangen, die Kunde von der Existenz 
jüdischer Gemeinden in diesem Lande, doch waren 
ihre Nachrichten derart von Wahrheit und Dichtung 
gemischt, dass man sich kein klares Bild von dem 



Gegenstand machen konnte. Aber das Interesse der 
europäischen Judenheit war geweckt, und diese hat 
seither mehreremale versucht, sich mit den Juden 
im Reiche des Negus in Verbindung zu setzen. 
Im Jahre 1829 hat Louis Marcus im Journal 
Asiatique alle bis dahin bekannt gewordenen Nach- 
richten tlber die Falaschas gesammelt und auf Grund 
derselben ihre Geschichte zu konstruieren unter- 
nommen. Später bemühte sich S. D. Luzattos 
leider allzufrüh verstorbener Sohn Oh6v-Ger 
(Philoxene), mit den abessinischen Juden in direkten 



233 



A. Tobias: Neues von den Falaschas. 



234 



\ 



Verkehr zu treten. Die Mittel zu einer so kost- 
spieligen und bescliwerlicben Reise batte er natürlich 
nicht. Aber der französische Reisende Äntoine 
d'Abbadie, der eine Forschungsreise nach Abessinien 
antrat, nahm einen Brief an die Falaschas von dem 
genannten jungen Gelehrten mit und brachte in der 
Tat eine Antwort von ihrem religiösen Oberhaupt 
Abba Isaak nach Europa, die im Jahre 1851 
m vielen jüdischen Zeitungen veröffentlicht wurde. 
Das erregte zugleich die Aufmerksamkeit der 
protestantischen Missionare, und da diese bereits 
früher im Lande tätig waren, so erwirkten sie beim 
Negus die Erlaubnis, die Falaschas zu bekehren. 
Sie stiessen auf grossen Widerstand, aber ein 
merkwürdiges Zusammentreffen kam ihnen zu Hilfe. 
Die Falaschas hatten gehört, dass in Jerusalem 
Juden existierten, andererseits erzählten ihnen die 
Missionare von der Ankunft des Messias. All das 
versetzte sie in helle Begeisterung, und dem Trieb 
eines naiven Glaubens folgend, verliessen sie in 
grossen Massen ihr Heimatland und machten . sich 
auf gen Norden bis Tigr6, von wo aus sie nach 
Palästina zu gelangen hofften. Natürlich fanden 
sie, anstatt des Weges nach Jerusalem, nur Not 
und Elend. Von Krankheiten und Hunger dezimiert, 
verzichteten sie endlich auf das Unternehmen, 
Tausende von ihnen gingen zugrunde, der Rest 
trat den Heimweg an. Diese Nottage machten sich 
die Missionare zunutze, und mit Hilfe der Be- 
hörden, die auf die Unglücklichen eine Pression 
ausübten, machten sie eine grosse Anzahl Falaschas 
ihrem väterlichen Glauben abtrünnig. Schon glaubte 
die Mission, wenigstens im Herzen von Afrika über 
das Judentum zu triumphieren, als die Alliance 
Isra^lite Universelle auf Betreiben des genialen 
Pariser Orientalisten Joseph Hal6vy sich ins 
Mittel legte. Dieser wurde nämlich von der Alliance 
beauftragt, die Falaschas aufzusuchen, einen Kontakt 
zwischen der europäischen Judenheit und ihnen 
herzustellen und ihre religiösen, moralischen und 
sozialen Zustände zu erforschen. Die im Jahre 1868 
in Abessinien ausgebrochenen inneren Wirren und 
Büi^erkriege machten es Hal6vy unmöglich, seinen 
Plan in vollem Masse auszuführen, aber die Er- 
gebnisse seiner Bemühungen waren wenigstens in 
rein wissenschaftlicher Hinsicht sehr erfreulich. 
Wir verdanken ihm zwei wichtige Schriften über 
die Falaschas „Priferes des Falachas" (1877) und 
„Gommandements du Sabbath" (1902). Alles was 
bisher über die Sitten, Bräuche und Satzungen der 
abessinischen Juden bekannt geworden, versuchte 
der rühmlich bekannte Forscher Abraham Epstein 
in seiner scharfsinnigen und eindringenden Weise 
für die Geschichte der Halacha ^u verwerten. 
Mittlerweile war über die Falaschas unsägliche Not 
gekommen, infolge der obengenannten Wirren waren 
Hunger und Pest ausgebrochen und hatten Tausende 
von ihnen hingerafft. Die Derwische hatten viele 
von ihnen in Gefangenschaft geführt und zu Sklaven 
gemacht. Dabei hatten die Missionare sich wieder 
an sie herangemacht. In den leitenden Elreisen 
der Alliance glaubte man, es wäre schon zu spät, 
um ihnen irgendwie zu Hilfe zu kommen. Nur der 



greise Joseph Hal6vy verzweifelte nicht und war 
sogar bereit, eine zweite Reise nach Abessinien 
anzutreten. Doch sein hohes Alter hinderte ihn 
daran. Er bemühte sich aber, einige seiner Schüler 
mit den notieren Kenntnissen auszurüsten und für 
eine solche Forschungsreise vorzubereiten. Auch 
der Chacham der Karaiten von Kairo, Herr Schabti 
Eiiah Mangubi, versuchte, sich mit. den Falaschas 
in Verbindung zu setzen, indem er durch Ver- 
mittelung koptischer Priester den abessinischen 
Geistlichen Briefe für die Falaschas zukommen 
lassen wollte. Allein die abessinischen Priester 
unterschlugen die Briefe. Erst als jüdische Offiziere 
der italienischen Armee, die Erythräa besetzte, 
nach Europa die Kunde dringen liesseö, dass noch 
sehr zahlreiche Falaschas dem jüdischen Glauben 
treu geblieben sind, entschloss sich die Alliance 
zu einer erneuten Aktion. Da hatte ein gewisser 
Herr Rappoport, der eine Lustreise nach Aegypten 
als eine hochwichtige wissenschaftliche Mission aus- 
geben wollte, in allen jüdischen Zeitungen aus- 
posaunen lassen, die Alliance habe ihn mit der 
Aufgabe betraut, die Falaschas zu erforsclien. Der 
genannte Herr, dem alle Qualitäten für ein solches 
Unternehmen fehlten, blieb denn auch in Kairo 
stecken und machte keinen Schritt weiter. • Nun 
rüstete Baron Edmund von Rothschild einen jungen 
Orientalisten, Herrn Jaques Faltlovitch, einen 
Schüler Joseph Halövys, zu einer Reise nach 
Abessinien aus, und der vorläufige Bericht über 
die Ergebnisse dieser Forschungsreise liegt uns vor.*) 

Herr Jaques Faltlovitch hat im Jahre 1904 
das Reich des Negus nach allen Richtungen durch- 
streift, ist mit sehr zahlreichen Falaschas m Be- 
rührung gekommen, hat viele ihrer Gemeinden be- 
sucht, linguistische, ethnographische und historische 
Studien gemacht und viele Manuskripte liturgischen, 
folkloristischen und historischen Inhaltes mitgebrachte 
Auf Grund seiner Studien und Sammlungen gedenkt 
er ein umfangreiches Werk über die Falaschas zu 
veröffentlichen, auf das man wohl sehr gespannt 
sein darf. In dem vorliegenden Bericht bietet er 
eine Schilderung seiner Reise und entwirft in grossen 
Umrissen ein Bild von dem Leben und dem Treiben 
dieses so wenig bekannten Zweiges der israelitischen 
Volksfamilie. 

Die ersten Falaschas traf er in Axum. Sie 
wollten ihm anfangs nicht glauben, dass er Jude 
sei. Alle Europäer, welche zu uns kommen, sagten 
sie, nennen sich Juden, aber alle predigen am Ende 
das Christentum. Im übrigen, fügten sie hinzu, 
dürfte es wohl in der Welt überhaupt keine Juden 
mehr geben. Vor etwa 40 Jahren sei ein Weisser 
zu ihnen gekommen, der sich Josief nannte (gemeint 
ist Joseph Hal6vy), der habe ihnen von den Juden 
in Europa erzählt und ihnen versprochen, sich für 
sie bei ihren Brüdern zu verwenden, die eine grosse 
Gesellschaft zur Förderung des Unterrichts ge- 
gründet hätten, auf dass man ihnen Lehrer sende, 



*) Notes d'un voyage chez les Falachas. Rapport 
pr4sent6 a M. le Baron Edmond de Rothschild par Jaques 
FaYtlovitch. Paris. Emest Leroux, editeur. 



235 



A.Tobias: Neues von den Falaschas. 



236 



die sie in der Lehre Mosis tmterricliten sollteo. 
Nan hätte jener Josief seither nichts von eich 
hOren lassen. FaUlovitch hatte Mühe, sie zu Ober- 
zeagen, dass er Jude sei und als Abgesandter eben 
jener Gesellschaft zu ihnen komme. Scbliesslich 
gewann er ihr Vertrauen in dem Masse, dass sie 
ihm zwei junge Stammesgenossen, Getie Jeremias 
und Taamrat EinmaDuel, Uberantwortetea, die er 
mit nach Paris nahm, wo sie als Lehrer ausgebildet 
werden sollen, um dann in ihrer Heimat zu wirken. 
Die Falaschas in Amhara sprechen das 
Amarifia, in Tigrö das Tigritla. Den Kuarefla- 
Dialekt, welcher von Halevy und andern Forschem 
als ihre ursprQngliche Nationalsprache bezeichaet 
wird, sprechen ausserhalb der Provinz Kuara nur 
hier und da noch Greise und Gelehrte. Die 
hebräische Sprache ist ihnen gänzlich unbekannt 
und sie wissen nicht einmal, dass mau sich ihrer 
noch irgendwo bedient. Sie behaupten, der jüdischen 
Rasse anzugehören und von Abraham, Isaak und 
.lakob abzustammen. Ihre afrikaDische, mehr oder 
weoiger schwarze Hautfarbe scheint dem zu wider- 



'=AAK LEWITHAN. 



sprechen. Aber die Feinheit ihrer Züge, der 
intelligente Gesichtsansdnick und schliesslich der 
kräftisre Widerstand, den sie der Aufsangnngskraft 
ihrer Umgebuug seit Jahrtausenden entgegensetzten, 
scheinen jedoch ihre Ansprüche zu rechtfertigen. 
Den Adel ihier Abkunft bezeugen Übrigeos auch 
ihre Nachbarn, Christen, Muhammedaner und Heiden, 
die ihnen deswegen einen grossen Respekt ent- 
gegenbringen. 

Ihre Religion ist ein modifizierter und ent- 
stellter Mosaismus. Obgleich ihnen die mündliche 
Lehre unbekannt ist, so beobachten sie doch einige 
rabbinische Vorschriften. In ihrer Mitte existieren 
weder religiöse, noch Klassenunterschiede. Der 
„Kahen" (Priester) und der „Deblera" (Lehrer) 
erwerben iliren Lebensunterhalt durch Arbeit, wie 
die anderen. Manchmal nur empfangen sie einen 
Lohn für den Unterricht, den sie der Jugend er- 
teilen. Denn nichts liegt den Falaschas 
mehr am Herzen, als der Unterricht ihrer 
Kinder. Die Debteras versammeln bei sich die 
kleinen Kinder, denen sie Elementarunterricht er- 
teilen und die Bibel in der Oheez-Sprache 
lehren, die sie in das lokale Idiom über- 
setzen. Der Kahen ergänzt diesen Unter- 
richt durch -das Lehren von Gebeten 
und religiösen Hymnen. Die Gebete sind 
erfüllt von einer tiefen Frömmigkeit 
und einem lebendigen (ilauben an eine 
bessere Zukunft Israels und der ganzen 
Menschheit. Sie erhoffen die Rückkehr 
nach Jerusalem, die Wiederherstellung 
der jüdischen Nationalität im Zusammen- 
hange mit dem Anbruch des ewigen 
Friedens. Zum Beten vereinigen sie 
sich in Synagogen oder in Privathäusern. 
Am Schabuothfest versammeln sie sich 
unter freiem Himmel auf einem Hügel 
zur Erinnerung au die Gesetzgebung 
am Sinai. 

Den Sabbat beobachten sie sehr 
strenge. Sie halten alle unsere religiösen 
Feate mit Ausnahme von Chanukka und 
Purim. Ihr Kalender weicht nur wenig 
von dem unserigen ab. Sie kennen auch 
die Fastt^e zur Erinnerung an die Zer- 
Störung .Terusalems, aber sie fasten am 
9 Thamus und am 17. Ab. Am Jörn 
Kippur fasten sogar Kinder von 8 Jahren. 
Die besonders Frommen fasten am Mon- 
tag und Donnerstag jeder Woche. Von 
den Tieropfern, die sie ehemals prakti- 
zierten, hat sich bei ihnen nur der Brauch 
eriialten, am Passahabend ein Lamm zu 
schlachten. ■ ^An verschiedenen Trauer- 
tagen schlachten sie ebenfalls ein Tier, 
was sie als Opfer betrachten. Die 
Reinigungsgesetze werden bei ihnen sehr 
rigoros beobachtet. Die Cireumcision 
wird an beiden Geschlechtern voliftlhrt 
(ein Brauch, der sich bekanntlich bei 
manchen afrikanischen Völkerschaften 
DER WALD, findet). Weder Polygamie noch Kon- 



A. Tobias: Neues von den f^laschas. 



kubinat wird ^datdet. Die 
Frauen sind den Männern 
völlig gleichgestellt, werden 
weder im Hause einge- 
scblosseo, noch geben sie 
versclileiertaus. Hie nehmen 
teil an den Versammlungen 
der Männer, diskutieren mit 
ihnen über alle öffentlichen 
Fragen und arbeiten mit 
ihnen zusammen. 

Am Pesach nähren sieb 
die Falasetias von unge- 
säuertem Brot und vermeiden 
alle gegobrenen Getränke. 
Beim Schlachten der Tiere 
beobachten sie ein anderes 
Ritual, als das unserige, 
aber sie entfernen ebenso 
strenge das Blut aus dem 
Fleisch, auch essen sie es 
nicht roh, was sie vor der 
Taenia behdtet, an der die 
meisten anderen Abessinier 
leiden. Vor nnd nach dem 
Essen waschen sie sich die 
Hände und sprechen ein 
Gebet. In der Kleidung '^'^^'^ LEWlTHAN. 
onterscbeiden sie sich nicht 

von der übrigen Bevölkerung. Sie sind stets bar- 
haupt, sogar in der Synagoge, nur der Kahen ti-ägt 
einen wel'isen Turban. Sie achten sehr auf die 
Reinlichkeit der Kleider, sogar bei der Arbeit. 
An Sabbaten und Festtagen ziehen sie ihre besten 
Kleider an, die Frauen legen Schmuck an. 

Die Falaschas liefern ihrem Lande fast sämt- 
liche Handwerker. Sie sind Bauern, Schmiede, 
Maarer, Baumeister, Elbenliolzscbnitzer, Weber, 
Töpfer u. s. w. Ehemals war der Ackerbau ihre 
Hauptbeschäftigung, aber etwa vor einem halben 
. Jahrhundert wurden ihnen ihre Ländereien ge- 
nommen und sie zu Farmern herabgedrückt, die 
fQr andere arbeiten. Ihre Beschäftigungen bringen 
sie in fortwährende Berohning mit der christlichen 
Bevölkerung, die an sich von jedem Religionshass 
fem ist. Nur die fremden Missionare und der 
heimische unwissende Klerus setzen ihnen zu. 
Hierbei werden die Unterdrücker von den Behörden 
wacker unterstutzt, die die Falaschas ausbeuten 
and missbandeln nnd, um der christlichen Bauern- 
schaft zu schmeicheln, sie zwingen, Kirchen zu 
bauen, am Sabbat zu arbeiten und sogar verbotene 
Speisen zu geniessen. Dennocli, versichert FaYt- 
lovitch, habe er sich selber ßberzeugt, dass un- 
zählige längst getaufte Falaschas sich danach sehnen, 
zu ihrer Mutterreligion zurückzukehren, sich mit 
der eingeborenen Bevölkerung nicht vermischen 
wollen, und die Hoffnung nicht aufgeben, dass eine 
bessere Zukunft für sie anbrechen werde. 



HEUSCHOBER. 

Doch nicht allein diese staunenswerte Wider- 
standsfähigkeit zeichnet sie aus. Sie überragen 
ihre ümsrebung durch Intelligenz, Tatkraft und 
BildungsiUhigkeit, was alle Forschungsreisende, und 
sogar die Missionare anerkennen. Faltlovitch rühmt 
besonders ihren grossen Wissensdrang und den 
Eifer, mit dem sie bemUht sind, sieb zu r^enieren, 
aus dem Sumpf afrikanischer Barbarei nnd Un- 
wissenheit sich zu erheben, in den eine tausend- 
jährige Abgeschlossenheit sie versenkt hat. Sie 
■anterscheiden sich dadurch vorteilhaft von den ein- 
geborenen Abessiniem, die sich jeglichem Bildungs- 
bestreben widersetzen und in ihrer naiven Un- 
wissenheit auf die europäische Zivilisation herab- 
schauen, über der sie sich unendlich erhaben dOnken. 

Von den zahlreichen mitgebrachten Manuskripten 
veröffentlicht FaHlovitch eine Legende über den Tod 
Mosis, eine interessante Variante der auch bei uns 
in vielen Fassungen bekannten Sage*) über das 
Hinscheiden unseres Religionsstifters, 

Zum Schlüsse gibt der Verfasser der Hoffnung 
Ausdruck, dass die europäischen Juden sich ihrer 
vergessenen afrikanischen Bruder energisch annehmen 
werden, die berufen sind, im schwarzen Erdteil die 
Pioniere europäischer Kultur zu werden. 



•) Mota Mus6 (Li 
traduit en h^breu et eii hnaq: 
d'extraits arabes, par Jaqiiea 



de MoTse). Texte Ethiopiou 
■3 atinot^ et accorapMin''' 
FartloviUih, Paris. l*aiil 



239 



240 



DAS LIED VON DEM BART. 

(Nach einer jüdischen Volksmelodie.) 



Mitgeteilt von Dr. GÖTZ, Berlin. 

Langsam. 



Nachdruck verboten. 



Bearbeitet von ARNO NADEL. 




ru. ^ZiA A^^^ ^rwfoA Aa <r» Pill ta _il'a «TA . fv^H tinA hobt slch doft R<^h 



Ihr seid dodi awad-de in Pul- ta - we ge-wen 







Con ped 




L^JuLjL ^fPtH^^-f^^ JU » i ) Jg 



Go-del ge-sehn Es is mei Mann e Char-pe and Leid! Me sofft von ehm, er is ge- 




woF-den Tcrscheit Es is mei Mann e Char-pe und Leid ! 



^P^^^ 



me-sogt von ctun er is ge-worden verschalt 




Ihr seid doch awadde in Pultawa gewen 
Und hot sich dort Reb Godel gesehn. 
Es is mei Mann. E Charpe^) un Leid! 
Me sogt von ehm, er is geworden verscheid. 

Me sogt, er geht ganz korz gekleidt, 
Nach goischkischer-) Mode obgeneiht, 
Un geiht ohne Hittl alle Teg; 
Und wos er tut, sogt er, me megl 

Er sogt: me megl Dos is die Zore,^) 
Doss er hot gelernt e Blättl Gemore^) 
Und wos er tut, sogt er: me meg! — 
Und kummt herob vom jiddischen Weg. 



Es hot sich auch schon emol getroffen, 
Doss er hot 'das Kriasschma^ ganz verschloffen. 
Und hat sich zu spet zum Dawnen^) gestelt, 
Das lange „Wehu Rachum"^) \)?X er gor verfeit! 

E Fraind vun em hot mir vertraut auf Nemones^) 
Sei Bärtt steiht schon in grosse Sakones;^) 
Er tut sich — - Ba'awaunes^^) — schon demit Schemen 
Und tracht, em gor erunterzunemen. 

Mit asoi e Mann is me doch nor verloren, 
Me versindigt mit ehm sich all seine Johren, 
Un uf jenner Welt hot mer nur Bisjaunes;")] 
Da mus me vergelten mit seine Auwaunes. ^^) 



Ir geiht doch awadde nach Pultawa zurück, 
Durch Eich kann ich hoben noch e Stickele Glick; 
Sogt mei Mann, ich, sei Weib, ich bet: 
Er soll mir schicken balde dem Get.^^) 



') E Charpc = eine Schande. ») Goischkischer = nichtjüdischer. *) Zone = ünglflcW. *) Gemore = Talmud. ^) Kriasschma = Abend-Bcbet. 
•^i Dawnen = Beten. ') „Wehu-Rachum" = ein an bestimmten Tagen zu verrichtendes Gebet ^) Nemones = im Vertrauen. ") Sakones = Gefahr. 

^") Ba'awauness = o Sunde. ") Bisjaunes = Verachtung. '^ Auwaunes = Sünden. ") Get = Scheidebrief. 



ISAAK LEWITHAN. 



ISAAK LEWITHAN. 

Von Georg Hermann. 



Ob dieser Satz, den ich hier gleich erwähnen werde, 
auch in Mathers „kleiner franzSsiscber Malerei" sich 
findet — — fcenug, ich habe ihn in eineir. Vortrag 
Über dasselbe Tema ans seinem Mnnde gebCrt, nnd er 
wird ebenso wie mir, manchem anderen wieder ins 
Gedächtnis gekommen sein jetzt vor der Ansstelinng 
rassischer Kflnstler, die wir bei Schnlte sahen. Duich 
das ganze 19. Jahrhundert, sagt Mut her, sind die 
Franzosen Führer aaf dem Gebiet der Malerei gewesen. 
Jede Neuerang in der stets vorwärtsschreitenden Ver- 
bildlichung ist von ihnen aasgegangen. Ebeoso wie sie 
die grösste Summe starker Neuerer und Pfadfinder ihr 
eigen nennen kann. Aber es scheint, 
als ob die zeugende Kraft auf dem 
Gebiet der Malerei in Frankreich 
im Abnehmen und Schwinden be- 
griffen ist, und vielleicht wird im 
20. Jahrhundert ein neues Volk, 
das mit neuen und ungekannten, 
vorerst sich kaum seiner seibat be- 
wossten Kräften auf den Plan tritt, 
in der Malerei die Führerschaft 
übPTnehraen. Dieses Volk mit 
seiner Barbarei, mit seinen unge- 
zählten Millionen, die zur Knltur 
empordringen, und die doch 
wieder den engen Zusammenhang 
mit der Natui' besitzen, alle 
Rauheit und Härte, alle Kraft 



Nachdruck veibotco 
und alle Sehnsncht der Erde In sich tragen — das 
russische Volk wird vielleicht bestimmt sein, für 
die Zukunft der Kunst die Fttbrer, die Pioniere nnd 
die grossen starken Begabungen zu geben. 

Dieser Satz, damals kaum mehr als eine geistreiche 
und paradoxe Prophezeiung, scheint doch mehr Wahr- 
heitsmöglich ketten in sich zu tragen, als man im ersten 
Augenblick glauben mochte. Denn ohne Zweifel, diese 
russischen Künstler, wie man sie jetit sah, in einer 
wohl geschickten, aber sicherlich völlig unzulänglichen 
Zusammenstellung, zeigten eine solche Summe von reg- 
samen Koloristen, eine solche Fülle von Kraft und 
Originalität in den Persönlich- 
keiten, eine solche Bodenständig- 
keit und Wurzel fest igkeit, soviel 
Werden, als ob die Wort« Mulhers 
schon daran wären, sich zu be- 
wahrheilen. Und einer der boden- 
ständigsten Kiin:^tler, die Kussland 
je hervorgebracht hat, ist Isaak 
Lewithan. Vor sieben Jahren ist 
er gestorben. Nicht so jung, dass 
man sagen künnte, er hätte seine 
Höbe nicht erreicht, nicht so alt, 
dass man sagen könnte, er hätte sich 
wohl schwerlich weiter entwickelt. 
Das Aufie der Maler bat sich in- 
dessen gewandelt, die Farbe ist 
Isaak Lewithan. heller und lichtvoller geworden. 



Georg Hermann: Isaak Lewithan. 



ISAAK LEWITHAN. 



STUDIE. 



aber das erscheint nur als eioe Aenaserlichkeit. 
Die Empfindung f(lr die Seele der Landschaft, 
die Liebe zur Scholle, die Liebe ZQr Luft nnd zu 
den SchQnheiten des Himmels, sie hat sich indessen 
nicht gewandelt und ist indessen nicht stäricer 
^worden. Mehr oder weniger Heilseben, das ist eine 
Modesacbe, eine Sache der Erziehung und dea Fort- 
fichreitens; das andere ist eine Sache der Stärke der 
Begabung nod der Innigkeit de^ künstlerischen EmpHn- 
dens; das andere ist eine Sache des Temperamente, 
der Freude an den Dingen nnd der Liebe znr Schönheit 
dieser Welt, die sich uns vor allem in dem Heimatboden 
verkörpert. Man möchte sagen, dass in den Landschaften 
Lewitbans das Natnrempfinden eines TurgeniefT steckt. 
Das sind die Felder, die Birkenhaine, die Feldwege, 
der Reichtum der Ernten, die Ajmseligkeit der Dörfer, 
die versandeten, versinterMn Tümpel und Flussläufe 
aus dem „Tagebuch eines Jägers." Und da» ist die Liebe 
zur Erde, der festen schweren Scholle, eine Liebe, die sich 
gleichsam niederwirft und den Boden küsst, und die 
nicht milde wird, ewig das Lied zu singen von der 
Fruchtbarkeit und Zeugungskraft der Erde und von der 
Tiefe und Durchsichtigkeit der weiten windzerrissenen 
Himmel, die sich über sie spannen. Lewithan hat Herbst- 
foilder gemalt mit Birken, die wie gelbe Flammen lodern, 
und einer Buntscheckigkeit ferner Waldlinien, dass 
wir an ein Feuerwerk glauben. AU das in einer 
Malerei, die so fest, ölig, schwer und saftig ist, als 
hätte er gleichsam Erde in seine Farben hineingerieben; 
und doch haben seine Bilder trotz leachtender Farben 
eine so unerhörte Tonschönheit, dass man sie neben 
die besten Landschaften der Fontainebleaner stellen 



kann, — ja dass sie fast an Schönheit des Silbergraus, 
das alle Farben bindet, über sie hinaus gehen. Neben 
dem Wurzelfesten und Bodenständigen lebt in alten 
Werken Lewitbans jener seltsame Zug von Melancholie, 
der ja die Eigenheit der russischen Volksseele und der 
russischen Landschaft ist. Diese Melancholie schwebt 
Über den ganz einfachen Formen einer Landschaft und 
sie ist der hellen Klarheit eines lichten Herbsttages 
ebenso eigen, wie dem aufgehenden Mond an schwülen 
Sommerabenden über ruhigen Wassern und weiten 
Stoppelfeldern, auf denen die Pilze der riesigen Heu- 
schober stehen. Wir Fremden haben bei Russland den 
Gedanken der Einsamkeit nnd den Gedanken an riesige 
sich spannende Flächen, das GefQhl von etwas unerhört 
Grossräumigen, von dem der Einzelne doch nur einen 
kleinen Winkel, eine Einsamkeit und Ewigkeit für sich 
umspannen kann. Und nie mehr vor russischen Bildern 
wird diese Empfindung wieder so stark In uns Fremden 
geweckt, wie hier vor den Arbeiten Lewitbans. Diese 
Bilder sind in Natur nicht gross, manche sogar viel- 
leicht nur 30 zu 30 cm, und doch — welche unendlichen 
Räume — das gnnze unendliche Russland scheint in 
die engen Rahmen gespannt zu sein. Und mit welchen 
einfachen Mitteln ist da der Raum nachgeschafTen. 
Die Landschaft scheint ungegliedert und verliert sich 
doch in endlosen Weiten. Fast nirgend sind es Mittel 
der Perspektive, Überall ist es die Farbe und die feinen 
Veränderungen der zitternden Luftschicht vor den Dingen, 
welche den Kaum zum Ausdrack bringen. Dieser 
Künstler ist mit einer Feinheit für alle Schwankungen 
der Farbe und Helligkeit begabt, wie wir sie kaum 
wieder ti-elTen, es sei denn vielleicht bei holländischen 



245 Georg Hermann: Isaak Lewilhan. 246 

Marin eioalern. Man sehe ntir 

dielichtdurchtränktenHiramel, 

die wilden oder g&nz zarten 

Wolke nformationen anf seinen 

Gemälden — nod nie eine 

Wand, nie eine Kulisse, 

sondern immer Tiefe darin, 

immer wieder neue Lnft- 

schichten bis zu dem zag- 
haften Bild des aufgehenden 

Mondes, der niedrig über 

dem Horizont hänet Ein 

starkes Temperament, sagt« 

ich schon, lebt in all diesen 

Bildern und doch ist das 

Temperament überall durch 

die Kunst gebändigt und 

hat nirgends Kntgleisungen. 

Und diese Bilder hier mit 

dem unerhörten Feinsinn im 

Erhaschen der Färb- und 

Tonwerte scheinen manch- 
mal fast kleinlich und 

ingBtlich und haben fast ,g^^^ lEWITHAN. HERBST. 

immer im Bildsinne etwas 

Abpolut-Fertiges, etwas 

schier Alt meisterliches. Bielmpression.dieauf demhalben Feinmaler nennt, sondern von einer unerhörten Breite 

Wege stehen bleibt, eben der Impression zu Liebe, nm den und Frische, aber keines seiner Bilder macht — das 

Eindrnk des Un mittelbaren nicht zu stören, schien der wollte ich sagen — den Eindmk des Gewollten und 

Kunst eines Lewithan fremd. Man verstehe mich nicht des Experiments, sondern alle rufen sie den Eindruck 

falsch. Er ist deswegen keinesweg das, was man einen des Crewordenen in uns hervor. 

Man sagt, dass die 
Juden kein Naturempfinden 
haben. Nun dieser Maler 
— der ein Jude war — 
hat vieleicht^ das stärkst« 
Naturempfinden, den stärksten 
Landschaftssinn, der sich je 
in einem rassischen KOnstler 
offenbart hat. Man sagt 
ferner, dass die luden Kos- 
mopoliten sind und heimat- 
los wären, dass sie Fremde 
blieben in dem Volk, das 
sie in sich aufgenommen 
hat. Nun die Eigenart der 
russischen Seele mit ihren Rät- 
seln und ihrem seh wer mutigen 
Lyrismus , ihrer Wurzel- 
ständigkeit, und ihrer in- 
brünstigen Liebe zur Scholle, 
sie haben sich wohl in 
keinem russischen Maler 
stärker offenbart, wie in 

ISAAK LEWITHAN. ABEND, diesem jüdischen Künstler. 



JUDENPORZELLAN. 

Von Thekla Skorra. 



Iq der Stube meiner Urgrossmutter als 

t&aie ich wieder den Weg zurück, den lange ver- 
schütteten zur Kinderzeitl Ein üchaeeliauch von 
frischgewaschenen Mullgardinen; als wartete dort 
hinter einer langverschlossenen Tdr noch immer 
ein altes, faltiges Gesicht, in dem nur die Augen 
noch so jnng waren unter der perlengesticktsn 
SahbatmQtze ; als horte Ich noch ihre grossen Filz- 
schuhe aber die peinlich weissgescheuerten Dielen 

schlurfen in der Stube meiner Urgrossmutter 

stand tief hinten in der Schrankecke eine alte Tasse. 

Immer wenn ich sie in kindlicher Neugier 
hervorzog und fragte: „Grossmutter, warum trinkst 
du nie aus dieser?" kam es leise, abwehrend: 
„Lass stehn, mein Kind, 's schmeckt salzig draus, 
sind zu viel Thränen drin gewesen!" 

Und ich wendete erstaunt die Tasse nach allen 
Seiten. Es war ein feines StDck, klar und durch- 
sichtig, mit bunten Strenbiumen eines längst ver- 
gangenen Geschmacks gemustert. Eine schwebende 
Frauengestalt inmitten, die all diese Blüten über 
den Erdball streut. „Humanite" stand in goldenen 
Lettern darunter. Nur ivaren die Blumen alle 
etwas schief und verzerrt aufgetr^en, nur zeigte 
der Rand allerlei fehlerhafte Risse und Erhöhungen. 
(K. P. M.) Der hlaue Stempel war noch deutlich 
sichtbar; daneben in grellem Gelbrot: {J. P.) 

„Qrossmutter, was bedeutet das?" „Das be- 
deutet, — dass deine Väter und Matter Erniedrigte 



Nichdmck vertioicn. 

gewesen sind und Qetretne. Dass die Scherben 
von tausend und abertausend solcher Tassen nnd 
Töpfe uns haben geschnitten in die Füss, bis wir 
sind aufgestiegen zn ein wenig Lieht und Luft 
Das bedeutet, dass das Wort „humanitö" hier drauf, 
Menschlichkeit heissen sies, ist gewesen gelogen 
und getrogen. Denn was, ist der Jud kein Mensch? 
Und haben sie uns nicht behandelt schlimmer als 
das Vieh? Wenn der Bauer seine Kuh melkt, so 
sorgt er auch dafür, dass sie hat 'n Stall und 
hat zu fressen. Uns haben sie immer nur gemelkt 
und gemelkt und haben uns dafdr noch weggezogen 
das Dach dberm Kopf. J. P. das beisst „.Tuden- 
porzellan**. Ja, ja, „Judenporzellan 1" — Dann 
schwieg sie, als hätte sie mir dummem Kind schon 
zn viel ge8Bg:t. 

Jahre vergingen. Mich hatten sie in die Höhe 
gestreckt aber der Urahne aufrechte Gestalt kaum 
merklich zu beugen vermocht. Ihre schwarzen 
Äugen, die auch jetzt noch jung blitzten, sahen, 
dass meine leuchtender geworden und tiefer nach 
den Dingen forschten, als zuvor. 

Geheimnisvoll in dem alten Schrank hauchten 
all die vergilbten Päckchen stärker den Duft der 
Vergangenheit. Jetzt durfte ich auch die kleine 
Schachtel unter der alten Tasse hervorziehen. Aus 
verblichenen, mattblonden Haaren, die einen breiten, 
silberweijsen Streifen zeigten, war darin mit Gold- 
perlen kunstvoll ein seltsamer Blumenstrauss ge- 



^K LEWITHAN. 



Thekia Skorra: Juden porzellan. 



ISA AK LEWITHAN. 



flochten; sorgfältig auf Goldpapier uater ein Glas 
geklebt 

Fragend sab ich ^ur Ahne hinüber. Beim 
Zurückstellen fesselte mich doch wieder das J.P. 
der Tasse. ^ JudenporztiUan ? Da mßsscn unter 
den Juden doch schon recht geschickte Leute ge- 
wesen sein damals, dass sie so scbOne Sachen 
machen konnten?" Da flog ein bitteres Lächeln 
über das verwitterte Gesicht, 

„Machen? Ach nein, machen durften die 
Juden kein Porzellan : auch anderes nicht, keinerlei 
Handwerk oder Fabrikation. Das hatten sie sich 
schSn ausgedacht, die Andern. Wer etwas schaffen 
kann, etwas anfertigen, und wftrens auch nur ge- 
meine Tische und Stuhle aus grobem Holz, der 
fllhlt ja Macht in sich wachsen, Menschenmacht. 
Der kann ja weiter gehn um die Erde und sich 
frei machen, er wird ttberall sein willkommen. 
Und der Jud, der musste dableiben. Eingepfercht 
in Schmutz und Schlamm, aber im Lande bleiben. 
Von wem hätte man sonst nehmen sollen all das 
viele Geld, zu machen froh die Andern? Und 
darum musste der Jude handeln, immer nur 
handeln — Schacherjuden haben sie uns dann ge- 
heissen. Judenporzcllan — Komm, mein Mädele, 
setz dich nieder zum Babele, dass sie dir kann 
erzählen alles, was sicli hat zugetragen mit der 
Tasse, als dein Babele selber noch ist gewesen ein 
kleines, dummes Mädchen 

Sieh, damals iiat regiert hier ein Künig, den 



sie haben geheissen den grossen Friedrich. Du 
wirst wissen besser als ich, wie sein Ruhm hat 
geleuchtet über alle Länder, und er hat viel ge- 
sprochen das Wort „humanitä", was heisst: Mensch- 
lichkeit, aber die Juden muss wohl auch er nicht 
haben gerechnet zu den Menschen. Sind wir doch 
selbst unter seinem gestrengen Vater nicht gewesen 
so geknechtet und getreten wie unter ihm. 

Er hat geführt viele Kriege. Du hast gelernt 
in der Schule, mein Kind, wie er hat gesiegt und 
gesiegt und gemacht Preussen gross und mächtig. 
Aber sie haben dir nicht ges^t, dass er dazu hat 
ausgepresst den Schweiss von deinem unglücklichen 
Volk bis auf den letzten Tropfen. Aber Geld 
ist nur Geld. 

Was ist gewesen das schlimmste, dass wir 
nicht hüben gekonnt stolz sein und siegesiroh mit 
den andern, weil Preussens Ehre ist worden erkauft 
mit unserer Schmach und unserer Demtltigung." 

Grossmutter sah in meine heissen Augen und 
bebenden Lippen und hielt plötzlich ein: „Gelt, 
dein Babele ist worden geschwätzig; was vergiftet 
sie dein junges Herz mit lang vermodertem Hassen! 
Nur eins, weil du so oft hast gefragt — wo ein 
jüdisch Kind hat wollen heiraten, jeder jüdische 
Hausvater, ob arm. ob reich, hat mtissi'n kaufen 
vom Staat für 3t)0 Taler Porzellan, zu führen fort 
ins Ausland. Man hat natürlich ge^'eben alles. 
was ist gewesen fehlerhaft und keiner liat wollen 
brauchen. 



Thekta Skorra; Judenporzeltan. 



Das Schimpfliche dran aber — wie man stellt 
auf Fallen, dass die Ratten und die Maus nicht 
sollen mehr werden; so hat von den Juden immer 
nur bekommen das älteste Kind das Recht, sich zu 
veilieiraten uod zu gründen eine Familie." 

„Aber, Grossmutter, die Andern? Und die 
Andern?" fragte ich ängstlich. Mir war auf ein- 
mal, als mtlsse ich hinaus auf die Sti'asse, um 
wieder frei atmen zu können. 

„Die haben eben gerausst verziehten auf alles 
Leben — oder wandern aus nach Amerika. Ja, 
ja, ihr seid schon aufgewachsen unter Gottes Sonne; 
und eure Väter haben weit aufgerissen die Fenster, 
dass ihr sollt nicht mehr spüren die Stickluft, 
worin unsere Jugend ist worden erwürgt, 

Kinder, — Kinder, die anderem Volk sind 
wie ein Segen, wir haben mttssen ansehn mit 
trübem Blick schon bei der Geburt das zweite und 
dritte. So haben auch meine Eltern damals ge- 
dankt dem lieben Gott, dass er ihnen hat geschenkt 
nur zwei Söhne. Als Stutze für die Mutter haben 
sie zugenommen ein verwaistes Mädchen. 

War einer toten Muhme Kind, arm und ver- 
lassen; aber ein fröhliches, feines Geschöpf, und 
wie ein lichter Sonnenscliein in unserm Hause. 
Alle haben sie lieb gehabt. Am Cieisten aber mein 
Bruder Samuel, der jüngere. Ich selbst bin erst 
fünfzehn Jahre nach ihm, als die Muttei- schon 



wie unsere Stammmutter Sara, an keinen Kinder- 
segen mehr glauben mochte, den Eltern ins 
Haus geflogen. Sie aber war Samuel eine 
Schwester, eine Gespielin; und bald sollt« sie ihm 
mehr sein.. 

Die Eltern sahn es und freuten sich — und 
bangten. Sie wussten ja, dass keine ihm »ine 
reichere Mit^ft zubringen konnte, als sie mit ihrem 
goldoen, treuen Herzen, mit ihren geschickten 
Händen, die der Mutter in dem kleinen Geschäft 
halfen und über alles im Hause hinglitten wie ein 
leiser, duft'ger Segen. 

Wie eine fremde Biüte schien sie, lichter und 
zarter, als meist die Töchter unsres Volks. Aber 
Hannah hiess sie, und eine Channah, eine Gerechte, 
war sie. Wozu aber sollte alles frommen? War 
doch Samuel das zweite Kind. Der Aelteste hat 
bald gefreit. 

Gar ärmlich wars in meinem Vaterhaus. Der 
Vater ist nicht gewesen einer, der hat können 
handeln nnd prachem. Ein ernster, gelehrter 
Mann, der hat gesessen Tag und Nacht lernen 
über den frommen Büchern; dem der Glaube der 
Väter und ihre Lehre über alles ging. 

Wenig verstand er von der Welt draussen. 
So blieb sein Hab und Gut gar gering. Um so 
mehr aber wuchs das Ansehn, das er in der Ge- 
meinde genoss. Entscheiden musste er in allen 
Streitsachen, und sein Aus- 
spruch galt ilmen wie Gottes 
Wort. 

In Samuel war des Vaters 
Geist, nur dass er wilder 
war und lebendiger. So 
trieb's ihn bald fort aus der 
Enge, in diegrosse Preussen- 
stadt hin, nach Berlin. 

Am meisten um Hannahs 
willen. Er hat gespürt, dass 
er nicht mehr könnt' leben 
als Bruder neben ihr, und 
hat doch als Zweitgeborner 
geseh'n keinen Weg, zu 
machen Hannah zu seinem 
Weibe. 

Hat auch gefunden gleich 
eine Anstellung bei einem 
generalprivilegierten Schutz- 
juden ; so durfte er dort 
bleiben. Wenn anders, 
hätten sie ihn g^agt aus 
dem Tor. 

Lange haben dann die 
Eltern nichts gehört von 
ihm. Ist nicht gewesen mit 
dem schreiben wie heut'. 
Ein Brief hat gekostet an 
die zwei Taler und hat ge- 
braucht viele Wochen. 

Dann ist er noch einmal 
gekommen Zu den grossen 
. Feiertagen. Wie heut denk 



253 



Tbekia Skoira: Judenporzellan. 



ich noch, was l^r ein 
goldDer Herbst. Ais wir 
haben gesessen Laubhütten 
draussen, haben noch ge- 
biaht Roseo. 

Alle haben geschaut 
auf Samuel, der ist ge- 
gangen einher, als ob er 
nicht mehr passt in seine 
Kleider, aufrecht wie 
keiner im Ort Hanna hat 
geseh'n mit glückseligeren 
Äugen noch auf ihn, als 
je zuvor, und ihr Lachen 
ist im Haus berumge- 
Sprüngen wie ein Glöck- 
chen von Silber. 

Auch er ist gewesen 
noch lieber mit ihr und 
inniger. Nur manchmal 
hat er sie angeschaut wie 
bange von der Seite, als 
mOcbt' er sie wohl etwas 
fragen wollen und finde 
doch kein Herz. 

Am Jomkippur dann, 
als sie haben gesungen 
das oralte, herzerschüt- 
ternde „kolnidrei" , ist 
Samuel plötzlich gelaufen 
ans der Betsctanl, gleich 
als ob ihm w&r nicht gnt. 
Nur ich kleines Mädchen 
damals, was hat noch nicht 
dttrfen mit hinein, hab' gesehu, wie er sich hat 
draussen gelehnt in eine Ecke, den weissen Gebet- 
mantel ttber's Gesiebt gezogen, und der starke Mann 
hat geschluchzt wie ein Kind. 

Am andern Tag schon ist er fort. Seine 
Geschäfte wären dringlich. Wie er schon als 
Knabe hat nie gemacht viel Worte, hat er auch 
jetzt auf alle Fragen nur gesagt, es gehe ihm 
nicht übel, er verdiene, was er brauche. 

Um jene Zeit wars, als ein neuer König ins 
Land kam. Und der Jammer um ihrer jüngeren 
Kinder zerstörtes Leben hat nicht lassen ruhn all 
die Väter und Mütter, bis sie haben erwirkt von 
ihm, auch das zweite Kind verheiraten zn dürfen. 
Mit vielen, vielen Opfern, — solln haben bezahlt 
, die Gemeinden an die 70(X)0 Taler, — und mit neuer 
Schmach and Knechtung. Nur eine davon ist 
wieder gewesen die Porzellanabnabme. Diesmal 
om 500 Taler. 500 Taler — eine grosse, grosse 
Summe damals. Vieler ganzes Vermögen und schier 
anerschwinglich den Armen. 

Und doch haben sie alle aufgejauchzt: ihre 
Arbeit, ihr letzter Schweiss, aber ein Lichtstrabi 
doch in ihrer Kinder Leben. So hat auch der 
Vater an jenem Tage, da das neue Recht verkündet 
wnrde, dankbar erhoben die Augen zum Himmel. 
Die Mutter hat Hannah zu sich genifeu und ihr 
gelegt segnend die Hände auf den lichten Scheitel : 



JSAAK LEWITHAN. 



DORF. 

„Hannah, nun ganz mein Kind, non doppelt mein 
Kind." 

Nun ging's an ein Zusammenraffen und Sparen. 
Es langte nicht, noch nicht zum Drilleil lanite es. 
Entbehrungen, Soi^n, wie leicht getragen für die, 
die einpm sind die liebsten Menschen auf der Welt. 
Und alle, die ganze Gemeinde half. Jeder lieh 
mit Freuden sein Teil- 

Siud doch zu jener Zeit gewesen die Juden 
in Solidarverhaftung dem Staate. Wo ist gewesen 
irgend ein Böser unter ihnen, was hat bietrogen 
einen Christen oder benachteiligt: immer hat ge- 
troffen die Strafe die ganze Gemeinde. Warum 
sollten sie nicht da auch in Freuden einstehn, alle 
für einen. Und für ihren Dajon noch dazu, für 
ihren selbslgewählten Richter. 

Als wieder der Herbst kam und zum dritten 
Mal der Tag sich jäiiren sollte, an dem zuvor 
Samuel heimgekommen: da hatte die Mutter alles 
beisammen, endlich. 

Der Vater ging umher mit Lächeln und einer 
stillen Feierlichkeit Für meine Kindemeugier 
war's eine schöne Zeit, da täjjlich von weit her 
Fuhrleute kamen, die grosse Kisten ablieferten und 
öfiheten. Ich durfte der Mutter auspacken helfen. 
Der Vater schalt zwar ein wenig, wozu, es müsste 
ja doch alles weitergeschickt werden in ferne 
Länder. 



255 



Thekia Skorra: Judenporzellan. 



Die Mutter aber hatte eine kiodiscbe Freude 
an all dem bunten Zeug, das sie in einer entfernten 
Kammer alles gar zierlich aufbaute. Dorthin wollte 
sie Samuel mit seiner Hannab fiibren, dass der 
Ueberraschte könnt' übersehn mit einem Blick sein 
ganzes Glücli, das die Eltern so trenlfch hatten 
ersorgt nnd erdarbt für ihre Kinder. 

Obenanf baute sie zwei köstliche bemalte 
Tassen. Die durften dableiben. Daraus sollte beim 
Hochzeitsschmaus das Brautpaar trinken. So war 
alles wohl vorbereitet and schon Wochen zuvor 
ein Brief an Samuel abgegangen, dass man ihn 
sicher erwarte. 

Da reiste eines Tags ein fremder Wanderrabbi 
durch 's Städtchen. Immer sonst waren solche 
zuerst zum Vater ins Hans getreten. Der wartete 
heute ganz besonders, da jener sollte sein gekommen 
TOn Berlin und ilim wohl Kunde geben konnte von 
Samuel, der noch immer Hess warten anf Antwort. 

Ungeduldig harrten wir alle des Gastes. Da 
Hess jener, ein frommer und, gelehrter Mann, aber 
von einem finsteren, eifervollen Geiste, dem Vater 
dnrch einen Gemeindeboten sagen, es täte Ihm 
leid, aber er könne nie wieder da-** Hans eines 
. solchen Mannes betreten. 

Der Vater fasste sich an die Stirn, an die 
Ohren. Was? Was sollte das? Ihm? War jener 
krank im Verstände ? Dann ist eingetreten der 
Alteste der Gemeinde zum Vater und hat lang und 
schonend auf ihn eingeredet. Hat auch lassen 
rufen den ältesten Bruder, die Mutter und Hannah. 

Ich drückte mich allein drausseu wie ein er- 
schrockenes Hahnchen an die Tür. Da — auf ein- 



mal hörte ich drinnen Hannah einen Schrei ans- 
stossen, so jammervoll, so hoffnungslos elend, dass 
der Ton davon mir ist nachgegangen mein ganzes 
Leben. 

Dann erhob sich ein Weinen und Wehklagen 
Im ganzen Haus, wie um ein Gestorbenes. Man 
hing Tücher vor die Fenster, und in dem Stübchen, 
das einst Samuel hatte bewohnt, brannte 8 Tage 
lanir die Sterbelampe Dort sassen in trostlosem 
Schweigen alle auf niederen Holzschemeln. 

Danach, als der Vater ^rad wieder Ist im 
Haus herumgegangen, aber wie Einer, den man 
hat geschlagen mit der Axt vor den Kopf, und er 
kann sich noch nicht besinnen, ist gekommen ein 
dickes Schreiben. Der Vater hats gerad anf dem 
Hof dem Boten abgenommen. Wie er sieht drauf, 
's ist Samuels Hand: ists auf einmal, als föngt 
alles nm ihn an sich zu drefao. 

Der liebe Gott hat mich behütet, dass ich nie 
im Leben wieder hab gesehn einen Menschen so 
sich verändern. Dnnkelrot schoss das Blut in sein 
Gesicht, sonst still nnd weiss vom Lernen. Die 
Augen schienen zu qaetlen heraus. Der Brief ist 
geflogen auf den Hof. Die Hände, die sich haben 
gekrampft zur Fanst, griffen den nächsten Feld- 
stein von der Erde. Als ob er mOcht sein rasend, 
schlug er damit herum in der Luft, gleich als war 
da vor ihm Samuel, and er könnt ihn steinigen. 

Dann mit einem Ruck, als war ihm gekommen 
ein Gedanke, relsst er auf die Tür jener Kammer, 
zuvor der Matter geheiligte Preudenstelle, wo Ist 
Innen gestanden das Porzellan, da — einen Stein, 
noch einen, — fort bis alles in Scherben, In 



Thekia Sitorra: Judenporzellan. 



ISA AK LEWITHAN. 



HERBST. 



Tiütnirer. Alles io ciaer Miiiate, eh noch jemand 
hat kOnnen hindern. 

Als die Untter ist hinzugekommen, bat er schon 
gelegen filr tot, nicht mächtig seiner Sinne, auf 
der Erde. 

Grossmutter schwieg. Noch heute, nach so 
langer Zeit, schien ihr die Erinnenrng den Atem 
za raaben. Nach einer Weile erst wagte ich ein 
scböchternes: »Und dann, Orossmutter, nachher?" 
Als käme ihr Geist ans weiten, weiten Fernen 
wieder; Von da ab ist unser Leben gewesen zer- 
stört. Der Vater hat gesessen gelähmt an Geist 
and Körper auf dem Lehnstuhl. „Und der Brief? 
Was stand denn in dem Brief?* 

„Da hat gestanden von Einem, der ist anf- 
g'estiegsn ans Veraast erring und Teraclitong seiner 
Herkanft zu Wissen und Ansebo. Von Einem, der 
ist geworden ein Studierter und bald schon kann 
anfrücken im Staat za Ansehn nnd WUrden, Dass 
sein entes Glück ihn hat finden lassen einen Reichen, 
der hat erkannt Samuels Geist nnd hat ihm gegeben 
alles mit vollen Händen, zu machen aus sich, was 
hat in ihm gelegen von Kindheit an. — Ich weiss 
Dicht, ob bat wirklich in ihm gelesen von Kindheit 
%a so viel Schurkerei; jedenfalls bat daheim niemand 
]avoii gemerkt. 

Ist ja nur gewesen eine Bedingung dabei. 
"fichts Grosses, i wo! Dem Juden „Samuel" hätt 
latElrlich alles Geld seines Beschützers nicht köDoeo 
fiaen die Türen. Aber dem Christ gewordenen 
Siegfried", dem haben sich anfgetan die Schranken. 
üt 'ner Hand voll Wasser haben sie abgewaschen 



allen Schimpf von einer Welt von Feinden; haben 
ihm gegeben in einem Augenblirk, wo er hat ab- 
geschworen die Jahrtausend alte Lehr, alle Zu- 
verlässigkeit und Gewissenhaftigkeit, die dem Jud 
Samuel hätt gemangelt bis an sein End 

Ist doch sein Beschützer selbst gewesen solch 
ein Getaufter. Der ganze Brief war gerichtet an 
Hannah, den Eltern bat er sich nicht getraut zu 
schreiben. Sie hat sollen sein Für&prach sein bei 
denen. Und ob sie ihn noch lieb habe wie einst, 
trotz allem. Er hätte in der ganzen, grossen Stadt 
nicht eine gefunden wie sie In all der Zeit hätt 
ihr Bild doch gestanden liebt .and ungetrübt in 
seinem Herzen. Nur eines, sie musste natürlich 
aacb lernen glauben an seinen Glauben und lernen 
vergessen alles, was ist gewesen bis daher. Was 
Hannah in jener Nacht, da sie allein wachend bei 
dem kranken Vater sass. gekämpft und durchlebt: 
Das weiss nur der liebe Gott droben, ders bat 
eingezeichnet in* das Buch der Gerechtigkeit. — 
Die Menschen aber sahen von da ab anf Hannahs 
jungem Scheitel einen Streifen silberweissen Haars, 
mitten über's Haupt gehend, glpicbwie der Riss, 
der ist geganzen von nun ab durch ibr Leben." 

Stumm nickend zog Grossmntter noch einmal 
die alte Glasschacbtel hervor mit dem verblichenen 
Haarbuket, auf dem mir's plötzlich zu leuchten 
schien und zn flimmern, gleich dem Glorienschein 
alter Heilgenbilder. 

„Die Sonne war untergegangen von da ab in 
unserm stillen Hans. Die Sot^e nnd Bitternis ist 
getreten ein durch alle Türen. AV^ar doch auch 



259 



Thekla Skorra: Jijdenporzellan. 



260 



worden verloren alles Geld für das Porzellan in 
einem Augenblick durch die wütige Tat des Vaters. 
Aber der Mensch ist stärker, als ein Pferd, mein 
Kind; er zieht weiter seinen Karm, auch wenn's 
ist geworden dunkel um ihn her. So hat Hannah 
noch Jahre der Mutter abgenommen alle Sorge und 
Pflege für dep Vater, der sich hat nie wieder 
erholt. 

Erst als sie ihn haben getragen hinaus, ist 
Hannah geworden an Körper immer weniger; gleich 
als ob sie nun nicht mehr hätt nötig ihre Kräfte, 
die sie haben verlassen von Tag zu Tag schneller. 
War ich doch inzwischen gewachsen heran, an 
Hannahs Vorbild geschickt und tüchtig, zu werden 
der Mutter eine Stütze. In unsem Armen ist sie 
dann gestorben. Auszehrung, haben gesagt die 
Aerzte, was rafft sehr schnell hin den Menschen, 
wenn er ist kaum 24 Jahre." 

,,Und Samuel, Grossmutter, hat er sie nie 
wieder gesehn?" 

„Nein, niemals wieder. — Einmal hat er 
geschickt einen feinen Herrn, zu sagen, dass er 
hätte erlangt Titel und Würden und stände hoch 
in Ansehn und Mächtigkeit. Und dass er wolle 
sorgen für alles, so viel nur möchten brauchen 
die Eltern. Die aber haben gesagt, dass sie wüssten 
von keinem zweiten Sohn mehr. Ihr Sohn Samuel, 
der wäre längst gestorben. Ob sie ihm sollten 
zeigen das Grab, das man hat ihm gegraben^ 



draussen vor der Stadt, auf dem guten Ort. Und 
haben in kein Wiedersehn gewilligt, auch nicht 
auf dem Totenbett." — 

Grossmutter schwi^- Wie Flügelrauschen der 
Vergangenheit schwirrte es über unseren Häuptern, 
und es zog dabin durch die kleine Stube der Hauch 
eines grossen Schicksals. Jetzt sah auch ich es 
quellen aus dem matten Goldglanz der alten Tasse, 
die allein einst der Vernichtung entgangen, eine 
epdlose Salzflut von Tränen eines gehetzten Volkes. 

Und (loch: Oft im Leben, wenn ich den Boden 
heissgesuchter Erkenntnis unter den Füssen 
schwanken fühlte, alle Stützen aus Denken und 
Wissen der sehnsüchtig klammernden Seele zu 
brechen schienen: dann schritt der Urahne auf- 
rechte Gestalt, die mehr als 90 Lebensjahre nicht 
zu beugen vermocht, an meinem Geist vorüber. 
Ich sah die weissen Haare der. Voreltern flattern 
im Schicksalssturm ; ehern und wurzelstark aber 
die Füsse, hineingewachsen in eine jahrtausendalte 
Ueberlieferung. 

Von aussen geschändet, beschimpft und ge- 
treten: doch heilig hielten sie und unbesudelt ikres 
Herzens Hassen und liieben bis ans Ende. 

Ghettomauern um sie her, Finsternis und 
Elend — und dock eine Heiipat. Und doch in 
den paar Schuh breit Erde Saum genug, dass 
jeder Wurzeln schlagen konnte, die stark hielten 
fürs Leben. 



AUS DEN ALTEN GEMEINDEN, 

Von Leon Scheinhaus-Memel. 



Nachdruck verboten. 



I. 

Schwere Lasten der Gemeinde. 

Ein Stück Mittelalter ist nachträglich auch 
den Juden m Polen nicht erspart geblieben. Die 
Kosakenaufstände und die schwedischen Kriege in 
polnischen Gebieten brachten eine fürchterliche Ver- 
armung über die Juden. Die Nachwirkung jener 
Schreckenszeit auf das Schicksal der polnisch- 
litauischen jüdischen Gemeinden ersieht man deut- 
lich aus nachstehender Schilderung der Steuer- 
Verhältnisse, die die litauischen Juden so gewaltig 
belastet zeigen. Ich entnehme die Daten dem ge- 
schichtlichen russischen Werk „Litauische Juden" 
(ed. Petersburg 1883) p. 8—15, von Professor 
Berschadsky. 

Seit Ende des 17. Jahrhunderts waren die 
Juden genötigt, unaufhörlich Anleihen zu machen, 
bald bei weltlichen Personen, bald bei verschie- 
denen Kollegien und Stiftungen. Die Anleihen der 
zweiten Gattung waren gewöhnlich auf unbe- 
stimmte Zeit (ohne Fristbegrenzung) abgeschlossen 
und unter Verpfändung des Gemeindegutes; auf 
diese Weise befand sich zum grössten Teil das 
Hab und Gut der jüdischen Gemeinden im Unter- 
pfand auf unbestimmte Frist. 

In der Mitte des 18. Jahrhunderts erweisen 
sich die litauischen jüdischen Gemeinden als 



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zahlungsunfähige Schuldner. Als die vom Land- 
tag eingesetzte Kommission im Jahre 1766 zur 
Liquidatien der jüdischen Schulden sich anschickte, 
handelte es sich um folgende Summen: 

Die Gemeinde (Kahal) Wilna (5316 Seelen) schuldete 

722,800 poln. Gulden 

„ Brest (3175 Seelen) schuldete 

. 222,720 poln. Gulden 

„ Grodno (2418 Seelen) schuldete 

386,571 poln. Gulden 
„ Pinsk (1277 Seelen) schuldete 

309,140 poln. Gulden 

Zur Tilgung dieser Schulden verfügten die 
Gemeinden über ganz unbedeutende Mittel. So 
betrug das jährliche Einkommen der Gemeinde 
(Kahal) Wilna 34000 poln. Gld., das von Brest 
31200, von Grodno 21000 und das von Pinsk 
37 500. Diese Einkünfte setzten sich hauptsäch- 
lich aus diversen indirekten Steuern zusammen, 
z. B. von der Akzise, aus dem Handel mit Salz, 
Tabak, Heringen, Teer und anderen Waren, aus 
Abgaben von jüdischen Handwerkern, einem Prozent- 
satz von jeder Mitgift, dem dritten Mass von Mühlen, 
die bei der Gemeinde verpachtet waren, der Steuer 
von Schankwirtschaften, von Bierbrauereien, Fleisch- 
verkauf und von ähnlichem Gewerbebetrieb in 
jüdischen Händen. Aus diesen Quellen mussten 



61 



Leon Scheinhaus-Memel: Aus den alten Gemeinden. 



262 



or allen Dingen die Staatssteuern gedeckt werden, 
. a. die sogenannte „Gibema" d. h. die Abgabe 
ur Erhaltung des Militärs, die Kopfsteuer ohne 
usnahme für die Armen u. s. w. Aus diesen 
litteln wurde auch das Gehalt fQr die unmittelbare 
ehörde, die die jüdischen Angelegenheiten führt, 
ifgebracht. In Wiina erhielt dieser Beamte 780 
ulden und Naturallieferungen für seinen Gebrauch 
s Fleisch, Fische, Gewürze und dergleichen. Die 
ersorgung der Truppen des GrossfOrstentums 
itauen, während ihrer Bewegung innerhalb des 
ebietes der jüdischen Gemeinden, mit verschie- 
men unentbehrlichen Gegenständen, wie Lichte, 
apier, Siegellack, Butter, Fleisch, Fische, geschah 
eichfalls auf Kosten des jüdischen Gemeinwesens. 
US denselben Gemeindeeinkünften wurden selbst- 
trständlich dem Rabbiner, den Dajonim und den 
ideren besoldeten Mitgliedern der Gemeinde- Ver- 
giltung die Gehälter gezahlt. Ebenso wurden aus 
r gleichen Quelle sämtliche unvorhergesehene 
isgaben bestritten. 

Kommt der päpstliche Nuntius in die Stadt, 
überreicht ihm die Gemeinde „einen Zuckerhut"; 
3 nämlichen Kosten macht sich die Gemeinde bei 
igrüssung anderer Gäste, je nach deren Rang und 
ürde Ziehen die allierten Truppen (die russi- 
hen) in die Stadt ein, so hat die jüdische Ge- 
binde auch für diese Ausgaben zu machen; Holz, 
cht, Kohlen, Fleisch, Fische und Vorkost aller 
rt zu leisten, die Ofenheizer in den Quartieren 
r Befehlshaber zu stellen, das Geld zu wechseln 
d dabei den Schaden an Kursdifferenzen tragen, 
jld zur Rekognoszierung der flüchtig gewordenen 
Idaten zu geben u. s. w. Im Jahre 1767 hat 
5 Wilnaer jüdische Gemeinde während der An- 
isenheit der russischen Truppen im Laufe von 
Wochen 2959 poln. Gulden fttr die Truppen 
rausgabt, ün Jahre darauf 9786 p. G. 

Sendet der Magistrat Gesandte zum Landtag 
) schlimmen Projekten, zur Einschränkung der 
chte der Juden, so ziemt es sich für die jüdische 
meinde, gleichfalls Deputierte zu entsenden, um 
(1 Gang der Sache zu folgen und entsprechende 
ssregeln zu unternehmen. Im Jahre 1667 hat 

Wilnaer Gemeinde hierauf 1056, im Jahre 
)8 2059 poln. Gld. ausgegeben. 

Zuweilen musste der Rabbiner zum obersten 
imten für die jüdischen Angelegenheiten reisen, 
l solche Reisen waren allerdings kostspielig; im 
ire 1788, ist die Reise des Rabbiners Abel nach 
swisch zu Fürsten Radzivil, Woyewoden von 
Ina, auf 690 Gulden gekommen. Zuweilen 
5ste das gesamte Gemeindekollegium „in corpore" 
sen in Gemeindeangelegenheiten unternehmen, 
[it nur nach dem nahegelegenen Sitz der vor- 
dtzten Behörde sondern auch nach der Residenz. 

z. B. musste im Jahre 1767 der gesamte 

Inaer Gemeindevorstand nach Warschau reisen. 

Ober die unerträglichen Lasten und Ungerechtig- 

:en Klage zu führen; diese Reise hat 1800 Gld. 

ostet. 



Es gab auch Ausgaben aus anderen Gründen: 
In die Stadt werden Juden zugestellt, die irgend 
welcher Vergehen angeklagt sind; — ihr voll- 
ständiger Unterhalt im Geßngnis und alles andere 
geschieht auf Rechnung der jüdischen Gemeinde. 
Das Gericht erkennt die Unschuld der Angeklagten 
und spricht sie frei, die Gerichtskosten aber legt 
es der jüdischen Gemeinde zur Last. — Nahe bei 
der Stadt werden drei ermordete Juden gefunden. 
Auf der Suche nach den Mördern lassen die Juden 
irrtümlich zwei Edelleute und einen Soldaten ver- 
haften. Gleich darauf werden die wirklichen 
Mörder entdeckt. Da fangen die irrtümlich Ver- 
hafteten einen Gerichtshandel wegen dieses Irrtums 
an. Das litauische Tribunal ordnet dafür die Ein- 
sperrung des gesamten Gemeindekollegiums wie des 
Rabbiners und seiner Gehilfen an. Sie müssen 
nun „die guten Dienste" verschiedener Personen 
suchen, um einen gütlichen Vergleich zu bewirken. 
Mit grosser Mühe gelingt es, eine Aussöhnung zu 
stiften. Den unschuldig Angeklagten werden in 
bar und in Waren 4000 Gulden gezahlt, ihren 
Freunden, d. h. den Edelleuten und Offizieren noch 
1300 Gulden vergütet, insgesamt also 5300 Gulden. 
Damit war es aber nicht abgetan: Die ergrififenen 
wirklichen Mörder sitzen 14 Monate in Unter- 
suchungshaft, und ihre Verpflegung geschieht auf 
Kosten der jüdischen Gemeinde. Schliesslich ent- 
scheidet das Gericht den Prozess und verurteilt 
die Mörder, — wiederum Unkosten — und zuletzt 
noch das Begräbnis der Mörder — insgesamt etwa 
900 Gulden zu Lasten der jüdischen Gemeinde, 
so dass dieser Prozess allein die Gemeinde mehr 
als 6000 Gulden gekostet hat. 

Die Taten der Barmherzigkeit sind selbstver- 
ständlich von der Gemeindekasse geübt worden: 
Bald kauft die Gemeinde einen Schuldner vom 
Gefängnis los, bald sonst jemand, der aus irgend 
einem Grunde festgenommen worden ist. Die 
grössten Beträge verwendete die Gemeinde zum 
Loskauf Minderjähriger, kleiner Kinder aus dem 
Gefängnis, die durch Schulden ihrer Väter in nicht- 
jüdische Hände geraten sind. Milde Gaben werden 
von der Gemeinde armen Juden, einheimischen und 
durchreisenden, zu allen Zeiten verabreicht. 

Derartige, sehr bedeutende Ausgaben forderten 
einerseits, dass in den Händen der Gemeinde- 
verwaltung stets bare Summen in Bereitschaft 
waren, andererseits erlaubte der hohe Betrag 
dieser Ausgaben nur in seltenen Fällen die An- 
sammlung von Mitteln. 

Unter solchen Umständen wäre es keinem 
Finanzmann der Welt möglich gewesen, einen 
einigermassen befriedigenden Etatsvoranschlag auf- 
zustellen. Daher wachsen die Schulden der jüdischen 
Gemeinden rapid, mit diesem Wachstum nehmen 
die vielfältigen Ausgaben zu; das System der 
speziell jüdischen Gemeindeabgaben wird überdies 
mehr und mehr zum Nachteil geändert; eine Steuer 
nach der anderen wird verpachtet, indirekte Ab- 
gaben erhalten eine übermässige Entwickelung, 



263 



Leon Scheinhaus-Memel : Aus den alten Gemeinden. 



264 



und für den jüdischen Armen wird das Leben 
ungemein schwer, geradezu unerträglich ; alle unent- 
behrlichen Gegenstände als Fleisch, Fisch und 
überhaupt sämtliche Lebensmittel können nur \ron den 
von der Gemeinde bestellten Pächtern bezogen werden ; 
das Recht des Handels mit den meistens erträg- 
lichen Artikeb war mit hohen Abgaben verbunden 
und gehörte ausschliesslich den Hausbesitzern, der 
Handel mit einzelnen Waren war überhaupt 
Monopol der Gemeinde. Sogar das Recht der 
Freizügigkeit war mitunter sehr beschränkt, jeder 
Neuangesiedelte musste eine grosse oder kleine 
Summe für das Niederlassungsrecht („cheskath 
Jischuw") entrichten. 

Während so das Recht des Umzuges von einem 
Ort zum andern fbr den armen Juden aufs äusserste 
beschränkt war, während die Ausübung des Berufs 
selbst innerhalb der eigenen Gemeinde erschwert 
genug war, nicht nur durch hohe Gewerbeabgaben, 
sondern noch mehr durch kleinliche händelsuchende 
Kontrollen, waren die Steuerpflichten eines jeden 
Juden gegenüber der Gemeinde am Ende des 
18. Jahrhunderts über alles Mass gestiegen. Es 
gab keine Möglichkeit der ungeheuren üeberbür- 
dung zu entgehen, und die Bürde wurde dadurch 
noch drückender, dass die wohlhabenden Steuer- 
zahler sich das Vorrecht erworben hatten, ausser- 
halb des Gemeinderayons wohnen zu dürfen, und 
nunmehr als nicht zur Gemeinde gehörig nicht zu 
deren Lasten herangezogen werden konnten. 



Soweit Prof. Berschadsky, gestützt auf Quellen- 
nachweise aus amtlichen Gemeindeakten und archäo- 
graphischen Archiven. 

Alle diese Kalamitäten waren eine Folge 
der polnischen Misswirtschaft, die nach dem Jahr- 
zehnt des Schreckens 1648—58 sich aufgetan 
hatte. Erst mit der Eroberung der Provinzen 
durch Russland sind nach und nach geordnete 
Verhältnisse eingetreten, namentlich durch das 
Organisationsgesetz Alexanders I. vom 9. De- 
zember 1804. 

Doch selbst unter der Ungunst der polnischen 
Konfliktzeit war das jüdische Gemeindewesen nach 
innen von ruhmvoller Lebendigkeit, wie das 
folgende Kapitel zeigen soll. Wie früher in 
Mitteleuropa*), so war es auch in Litauen die 
musterhafte Ordnung des inneren Gemeinwesens, 
die bei allen äusseren ungeordneten und bedrän- 
genden Verhältnissen einen Halt bot. Ein Ver- 
dienst des herrschenden Gemeindesinns ist es, der 
den Bedrängten Erholung und Sammlung ihrer 
idealen Bestrebungen ermöglichte, dass die Juden 
nicht ganz unter den Bürden und Lasten erdrückt 
wurden, dass sie vielmehr gegen alle äusseren 
Drangsale Widerstandskraft aus ihrem inneren 
Leben gewannen. (Schluss folgt.) 



*) Verffl. einen Aufsatz : „Zum jüdischen Synagogen- 
und Gemeindeleben im Mittelalter " Israelitische Wocnen- 
schrift, wissenschaftliche ßeilage, Februar 1899. 



DER POGROM. 

Von Maria Konopnicka. — Aus dem Polnischen. 

(Schluss.) 



Nichdruck verboten. 



Aus dem Innern kam das üebei hafte, heisere, 
ungleichmässige Atemholen des Kindes. Eine kleine 
Lampe mit grünlichem Glaskörper brannte auf dem 
Nachttischchen. Der Alte trat an das Bett und 
blickte unruhig forschend in das Gesicht des Kindes. 
So stand er eine Weile, indem er den Atem anhielt, 
dann entrang sich ein Seufzer seiner Brust ; er schlich 
sich leise aus dem Alkoven, Hess sich schwer aut 
den Stuhl sinken, stützte die Arme auf die Kniee 
und schüttelte das graue Haupt. 

Er war gebückt und sah aus, als wäre er um 
zehn Jahre gealtert. Seine Lippen bewegten sich 
tonlos, die Brust keuchte schwer, und die Augen 
waren auf den Boden geheftet. Die dünne Kerze 
im Zinnleuchter brannte zischend nieder. 



Am nächsten Morgen erwachte die schmale 
Gasse still und ruhig wie gewöhnlich. Schon früh- 
zeitig stand Mendel Gdanski in seiner Lederschürze 
beim. Arbeitstisch. Seine grosse Schere knirschte 
eifrig mit hartem Ton am Papier, die bis zur letzten 
Windung herabgedrehte Schraube kreischte, das 



schmale lange Messer blitzte in der Morgensonne 
mit seiner abgewetzten Klinge, die Papierstreifen 
fielen geräuschlos nach rechts und nach links zu 
Boden hinunter. Der alte Buchbinder arbeitete 
fieberhaft angestrengt. Sein welkes, tiefgefurchtes 
Gesicht verriet eine schlaflos verbrachte Nacht. Erst 
als er den leichten Kafifee getrunken hatte, den ihm 
die Nachbarin gebracht, wurde ihm etwas frischer zu 
Mute, er stopfte sich das Pfeifchen und ging, den 
Enkel zu wecken. 

Der Knabe hatte seltsamerweise verschlafen. 
Bis in die späte Nachtstunde hatte er sich aui^ 
seinem Lager hin- und hergewälzt, jetzt schlief er 
einen ruhigen, stillen Schlaf. Der schmale Sonnen- 
strahl, der durch die Oeffnung im roten Vorhang in 
den Alkoven drang, glitt über seine Augen, seine 
Lippen und seine zarte, entblösste Brust, bald wieder 
entzündete er in den weichen, dunklen Haaren und 
den langen gesenkten Wimpern goldige, flimmernde 
Fünkchen. 

Der Alte blickte den Knaben liebevoll an. Seine 
Stirn glättete sich, der Mund öffnete sich, und in 
den Augen erschien ein eigentümlicher Glanz. Dann 



!65 



Maria Konopnicka: Der Progrom. 



266 



achte er ein leises, glückliches Lachen, zog aus der 
pfeife eine grosse Rauchwolke, bückte sich und blies 
ie dem Knaben unter die Nase. Der Kleine hustete, 
afTte sich auf, öffnete weit seine Goldaugen und be- 
ann sie mit den beiden mageren Fäustchen, zu reiben. 
)r hatte es jetzt sehr eilig und war ausser Fassung. 
)ine der Aufgaben war unbeendet geblieben, Bücher 
nd Hefre lagen ungeordnet auf dem Tische herum. 
Ir vermochte nicht den Kaffee zu Ende zu trinken, 
och das belegte Biödchen für die Pause mit sich 
11 nehmen, sondern griff nach dem Tornister, un- 
ewiss, ob er sich nicht verspäten würde. Als er 
ber, mit der Bluse auf dem Arm, der Tür zuschritt, 
urde diese hastig aufgerissen, und der magere Student 
Dm Dachstübchen stiess den Kleinen zuvück in's 
immer. 

„Flieh', man schlägt die Juden!" 

Er war offenbar sehr aufgeregt. Sein blatter- 
arbiges, langes Gesicht schien sich noch zu verlängern 
nd war förmlich wüst. Er bebte vor Wut am 
anzen Körper und seine grauen Augen sprühten 
ornesfunken. Der erschrockene Knabe prallte bis 
im Tisch zurück und Hess Bluse und Tornister 
Jlen. 

Der Alte war starr. Doch bald gewann er die 
assung wieder, sein Gesicht war feuerrot. Mit einem 
atz stand er beim Studenten. 

„Was heisst das, fliehen? . . . Wohin soll er 
eben? . . . Warum hat er zu fliehen? Hat er, Gott 
shüte, etwas gestohlen, dass er fliehen soll? . . . 
der wohnt er nicht in seinem eigenen Zimmer? . . . 
t er etwa bei fremden Leuten? ... Er ist da in 
inem Hause! In seiner Wohnung! ... Er hat, 
oitlob, bei Niemandem gestohlen ... Er geht zur 
:hule, er braucht nicht zu fliehen!" 

Er sprang auf den bei der Tür stehenden 
udenten zu, gebückt, zusammengekauert, zischend 
id fauchend, während sein weisser Bart zitterte. 

„Ganz, wie Sie wollen!" versetzte der Student, 
ch habe gewarnt ..." 

Und er wollte sich zurückziehen, aber der alte 
ichbinder hielt ihn am Rockschosse fest. 

„Wie ich will? Was ist das für eine Rede? 
ie ich will? Ich will meine Ruhe haben. Ich will 
Ruhe mein Stückchen Brod verzehren, fUr das 
1 aibeitel Ich will diese Waise erziehen, diesen 
laben, damit er ein Mensch sei und Niemand auf 
1 spucke, da er nichts verschuldet hat. Ich will, 
ss weder mir noch einem Anderen Unrecht ge- 
lehe, sondern dass Gerechtigkeit sei, damit die 
ansehen Gott fürchten . . . Das will ich. Und 
^hen will ich nicht. Ich bin in dieser Stadt ge- 
ren, habe in diesem Hause Kinder gehabt und 
emandem was zu Leide getan. Ich besitze hier 
5ine Werkstätte . . ." 

Er war noch nicht zu Ende, als von der Biegung 
r Strasse ein dumpfes Getümmel vernehmbar wurde, 
B von einem aus der Feme vorbeiziehenden Sturm. 
1 plötzlicher Krampf lief über das Gesicht des 
identen, ein halblauter Fluch kam von seinen 
iamnaengedrückten Zähnen. 



Der alte Buchbinder schwieg, richtete sich 
gerade empor, streckte seinen dürren Hals vor und 
horchte eine Weile. Der Tumult näherte sich rasch. 
Man konnte jetzt ein langgezogenes Pfeifen vernehmen. 
Lachen, Rufe, Ausbrüche von Geschrei, Weinen und 
Jammern. In der kleinen Gasse kochte es förmlich. 
Man versperrte die Haustore, verrammelte die Gewölbe, 
die Einen liefen direkt in den Tumult hinein, die 
Anderen liefen vor ihm davon. 

Plötzlich begann der kleine Knabe laut zu 
schluchzen. Der Student warf die Türe ins Schloss 
und verschwand im Öden Hof räum. 

Der alte Jude lachte; er schien weder das 
Schluchzen des erschrockenen Knaben, noch die 
Entfernung des Studenten zu bemerken. Sein Blick 
war gleichsam nach Innen gekehrt, die Unterlippe 
gesenkt. Trotz der Lederschürze konnte man das 
Zittern seiner Brust wahrnehmen, das Gesicht wurde 
abwechselnd rot, braun und gelb, dann wieder bleich 
wie Kreide. Er sah aus, wie von einem Pfeil getroffen. 
Nur noch eine Weile und dieser morsche, müde Leib 
würde zusammenbrechen. 

Immer deudicher, immer näher kam der Lärm 
heran und ergoss sich endlich in die Öde Gasse mit 
wildem Schreien, Heulen, Pfeifen, Lachen, Fluchen 
und Toben. Heisere, trunkene Stimmen verschwammen 
in eins mit dem höllischtn Quieken halberwachsener 
Burschen. Die Luft schien taumelig von diesem Tosen 
des Pöbels. Eine tierische Zügellosigkeit umfasste 
die Strasse, raste, tummelte sich, wälzte sich von der 
einen Exke zur anderen, wild, betäubend. Das 
Knacken zerbrochener Fensterläden, das Krachen 
gewalzter Fässer, das Klirren eingeworfener Scheiben, 
das Rasseln geschleuderter Steine, das Knirschen von 
Eisenstangen schienen Anteil zu nehmen aii diesen 
scheuslichen Scenen. Wie Flocken dicht fallenden 
Schnees wirbelten in der Luft die Federn umher, die 
aus den zerrissenen Kissen und Betten kamen. Nur 
noch einige armselige Kramläden trennten Mendel's 
Stube von der einer Lawine gleich sich heranwälzen- 
den Menge. Der Knabe hörte auf zu schluchzen, und 
zitternd wie im Fieber, schmiegte er sich an den Alten. 
Seine grossen dunklen Augen wurden noch dunkler 
und erglänzten düster in dem bleichen Gesichtchen. 
Es war seltsam. Dieses Anschmiegen des Kindes 
und die nahe Gefahr ermunterten den Alten und 
rüttelten ihn auf. Er legte die Hand auf den Kopf 
des Enkels, holte tief Atem, und obgleich sein Gesiebt 
bleich war, wie eine Oblate, kehrte doch in seine Augen 
Feuer und Leben wieder ein. 

In den Hausflur stürzten einige Frauen herein. 
Die Frau des Seildrehers mit dem Kind auf dem 
Arm, die Portiersfrau, die Höckerin. 

„Fort von iiier, Mendel !" schrie die Portiers- 
frau schon von der Schwelle. „Gehen Sie ihnen aus 
den Augen. Ich w.erde hier sogleich ein Heiligenbild 
oder ein Kreuz ans Fenster stellen. In anderen 
Stuben ist das schon geschehen. — Dorthin gehen 
sie auch nicht !^ 

„Sie fasste den Knaben bei der Hand:" 
„Fort Jakob, verstecke dich im Alkoven!** 



267 



Maria Konopnicka: Der Progrom. 



268 



Sie umringten die Beiden, als wollten sie sie mit 
ihren Leibern schützen, drängten sie zum roten Vorhang 
hin. Sie kannten diesen Juden solange schon, er 
war ein gefälliger, guter Mensch. Nach den Frauen 
kamen andere Einwohner des kleinen Hauses, die 
Stube füllte sich mit Menschen. 

Der alte Mendel stütze die eine Hand schwer 
auf den Arm des Kindes und mit der anderen wehrte 
er die Frauen ab. Dieser eine Augenblick hatte ihm 
die volle Geistesgegenwart wiedergegeben. 

„Lasst ab, liebe Frauen!" sagte er mit seiner 
harten, wie Glockenton klingenden Stimme. „Lasst 
abl Ich danke Euch, dass Ihr mir Euer Heiligtum 
geben wolltet, um mich zu retten. Aber ich will kein 
kein Kreuz in mein Fenster stellen. Ich will mich nicht 
schämen, dass ich Jude bin. Ich will mich nicht 
fürchten. Wenn sie keine Barmherzigkeit in sich 
haben, wenn sie Anderen Unrecht zufügen wollen, 
dann sind sie keine Christen, und so werden sie sich 
auch um kein Kreuz kümmern, um kein Heiligenbild. 
Das sind keine Menschen mehr, sondern wilde Bestien. 
Wenn sie aber noch Menschen sind, wenn sie noch 
etwas Christentum im Herzen haben, so wird das 
graue Haupt eines alten Mannes und das imschuldige 
Kind ihnen auch heilig sein." 

„Komm, Jakob!" 

Und er zog den Kleinen nach sich, trotz der 
heftigen Proteste der Anwesenden, trat an das 
Fenster, riss seine beiden Flügel • auf und stand da 
mit geöffnetem Kaftan, in der Lederschürze, mit 
dem zitternden weissen Bart, das Haupt hoch er- 
hoben, während der kleine Gymnasiast sich an ihn 
schmiegte, dessen grosse Augen sich immer weiter 
öffneten und auf die heulende Menge gerichtet 
waren. '* 

Der Anblick war so ergreifend, dass die Frauen 
zu schluchzen begannen. 

Der Pöbel auf der Strasse bemerkte sofort den 
am Fenster stehenden Juden, Hess die paar Kram- 
laden unberührt und wälzte sich auf ihn zu. 

Dieser heroische Mut des Greises, dieser stumme 
Appell an die Gefühle der Menschlichkeit wurde von 
der Masse Air Hohn und herausfordernde Beleidigung 
gehalten. Hier suchte man nicht mehr, ob es ein 
Fass Essig oder Spiritus zum Hinauswälzen gab, einen 
Pack Waren zum Vernichten, ein Federbett zum 2^r- 
reissen, oder ein Korb Eier zum Zerstampfen; die 
wilde Begierde zum Wehetun, der blinde Instinkt der 
Grausamkeit erwachte, der im einzelnen Individuum 
schlummert. 

Sie waren noch nicht beim Fenster, als ein aus 
der Mitte der Menge geworfener Stein den Knaben 
am Kopfe traf. Der Kleine schrie auf, die Frauen 
umringten ihn. Der Alte Hess seinen Arm los, blickte 
sich nicht einmal um, sondern erhob beide Hände 
über die Köpfe der heulenden Menge, sein BHck 
ward starr und mit bleichen Lippen flüsterte er: 

„Adonai, Adonail" — — und grosse Tränen 
liefen über sein gefurchtes Gesicht. 

In diesem Augenblicke war er ein wahrer ,,Gaon", 
dass heisst hoch, erhaben. 



Als die ersten Reihen das Fenster erreicht hatten, 
fanden sie ein unerwartetes Hindernis in der Person 
des langen Studenten aus dem Dachstübchen. 

Mit wirrem Haar, mit aufgeknöpfter Uniform 
stand er hinter dem Fenster, die Arme ausgebreitet^ 
die Fäuste geballt, die Beine wie ein geöffneter 
Zirkel auseinandergespreizt. Er war so hoch, dass 
er beinahe die Hälfte des Fensters mit seinem Körper 
deckte. Zorn, Scham, Verachtung, Mitleid machte 
seine entblösste Brust stürmisch; Wogen zuckten 
wie Flammen über sein schwarzes, blatternarbiges 
Gesicht. . . . 

„Fort von da!" knurrten grimmig die ersten an, 
die heranliefen. „Zuerst müsst Ihr an mich heran- 
kommen, einer und der andere, Ihr Lumpengesindel, 
Strolche, Gassenbuben!" 

Er zitterte am ganzen Leibe und konnte nicht 
einmal die volle Stimme aus der Brust herausbringen, 
so würgte ihm der Zorn. Seine kleinen, grauen 
Augen schössen Funken. 

In diesem Augenblick war er schön wie 
ApoUo . . . 

Einige der Nüchternen aus der Bande begannen 
sich zurückzuziehen. Die Gestalt des Jünglings und 
seine Worte hatten sie mit ihrer Gewalt getroffen. 
Der. Student benutzte den Augenblick, sprang in das 
Innere, stiess Mendel von dannen und pflanzte sich 
seiner ganzen Länge nach am Fenster auf. Die 
Menge zog an diesem Fenster mit dumpfen Murren 
vorüber: Hohnrufe, Bedrohungen, Lärm und Flüche 
folgten diesem Zug; dann entfernte sich das Getümmel, 
wurde immer stiller, bis es zu einem im deutlichen, 
in der Ferne verstummenden Brausen herabsank. 

An jenem Abend lernte Niemand beim Tisch 
und Niemand arbeitete in der Werkstätte. Hinter 
dem Vorhang drang aus dem Alkoven von Zeit zu 
Zeit das stille Stöhnen des Kindes, sonst herrschte 
hier vollständige Ruhe. Wäre nicht die eingeschlagene 
Scheibe am Fenster, man hätte den Sturm nicht 
ahnen können, der da am Morgen vorübergerast war. 

Im Alkoven, hinter dem roten Vorhang lag der 
Knabe mit verbundenem Kopfe. Eine grüne Lampe 
brannte neben ihm, der Student sass am Bettrand 
und hielt die Hand des Kleinen. 

Der Student hatte jetzt sein gewöhnliches, 
blatternarbiges Gesicht; nur in seinen Augen glomm 
das nicht ganz erloschene Feuer, das aus der Tiefe 
der Seele kam. Es sass schweigend, mit gefurchter 
Siim, zornig, und warf von Zfit zu Zeit unruhige 
Blicke nach dem dunklen Winkel des Alkoven. In 
diesem Winkel sass Mendel Gdanski regungslos, ohne 
einen Ton vernehmen zu lassen. Zusammengekauert, 
die Arme auf die Knie gestemmt, das Gesicht in 
die Hände verborgen, sass er hier so seit Mittag, 
von dem Moment ab, da er sich überzeugte, dass 
dem Kinde keine ernstliche Gefahr drohte. 

Die Regungslosigkeit und das Schweigen des alten 
Buchbinders machten den Studenten ungeduldig. 

„Lieber Herr Mendel!" brummte er schliesslich, 
„kriechen Sie doch endlich aus ihrem Winkel hervor. 
Halten Sie Trauer nach einem Toten, oder was, zum 



269 



Maria Konopnicka: Der Progrom. 



270 



Teufel? Etwas Hitze, sonst nichts. Der Kleine kann 
nach einer Woche zur Schule gehen, wenn nur die 
Haut wieder etwas zusammenwächst. Sie hahen sich 
so in den Winkel gesetzt, als wäre Ihnen jemand 
gestorben.*' 

Der alte Jude schwieg. 

Erst nach einer Weile erhob er den Kopf und 
rief mit vor Leidenschaft bebender Stimme: 

„Sie fragen, ob ich Totentrauer halte? Nu, ja, 
das tue ich. Ich trauere in Sack und Asche, denn 
ich habe einen grossen Schmerz und eine grosse 
Bitternis in der Seele . . .*' 



Er schwieg und verbarg wieder das Gesicht in 
die Hände. Die kleine, grüne Lampe beleuchtete 
sein Antlitz eigenartig, fast gespensterhaft. Der 
kranke Knabe stöhnte einmal über das andere, und 
wieder herrschte Schweigen. 

Mendel Gdanski erhob nochmals das Haupt 
und rief durch die tiefe Stille: 

„Sie sagten, niemand sei mir gestorben? Nu, 
mir ist das abgestorben, womit ich geboren ward, 
womit ich siebenundsechzig Jahre gelebt habe, womit 
ich zu sterben hoffte . . . 

In mir ist das Herz für diese Stadt gestorben . . .** 



DIE ZWEITE DUiVlA. 

(Brief aus Petersburg.! 



Die zweite Duma ist versammelt. Alle Hoff- 
lungen Rußlands sind jetzt auf das Schicksal der 
ussischen Duma konzentriert. Die Optimisten hoffen, 
lie weitere Umgestaltung Rußlands auf parlamenta- 
•ischem Wege herbeiführen zu können, ohne jene 
ichrecklichen Zusammenstöße, durch die das ganze 
^and im Laufe von zwei Jahren von Blut überströmt 
Verden war; die Pessimisten erwarten keinen fried- 
Ichen Ausgang und glauben, daß die Bureaukratie 
uch weiter hartnäckig bleiben und den Unter- 
ang des Landes und des Monarchen riskieren wird, 
m nur ihre Selbstherrschaft behalten zu können. 
^s ist schwer vorauszusagen, was uns die nächste 
iukunft bringen wird, weil vieles von Hofintriguen 
nd persönlichen Einflüssen aWiängig ist. 

Die jüdische Bevölkerung ist mehr am fried- 
chen Gange des parlamentarischen Lebens inter- 
?siert, als alle anderen Bürger, da jede revo- 
itionäre Bewegung sich als ein viel schwereres Ver- 
ängnis für das Schicksal der Juden erweist. Im 
ahre 1905 wurde der Höhepunkt der Revolution 
urch eine ganze Reihe der blutigsten Pogrome be- 
jichnet, die alle Schreckenstaten des Mittelalters 
bersteigen. 

Leider verspricht die Zusammensetzung der 
Veiten Duma ihr wenig Hoffnung auf dauernde 
xistenz. Die Repressivakte der Regierung haben 
veifelsohne eine stärkere Erbitterung im Volke 
jrvorgerufen, das als Ausdruck seines Protestes viele 
adikale in die Duma geschickt hat: Sozialderao- 
•aten und Sozialrevolutionäre. Die Partei der 
adetten (die konstitutionell-demokratische), die eine 
mäßigte Opposition darstellt, hatte diesmal keinen 
starken Erfolg; statt 185 Stimmen, die sie in der 
sten Duma besaß, verfügt sie jetzt über etwa 
O Stimmen. Bedeutend verstärkt haben sich die 
chten Parteien. Außer den Oktobristen (Frei- 
•nservativ) sind noch in der Duma etwa 70 
jaktionäre, Anhänger des absoluten Regimes. Diese 
'uppe ist noch besonders charakterisert durch ihren 
itisemitismus. Der Hauptvertreter der reaktionären 
irtei ist der bekannte Paneolaky Kruschewan, der 
•ganisator des Kischinewer Pogroms. Da die 
positiodellen Elemente in der Duma über mehr 
. zwei Drittel aller Abgeordneten verfügen, so haben 



die Reaktionäre von vornherein die Absicht, auf ob- 
struktivem Wege oder durch Skandale die Duma 
arbeitsunfähig zu machen, um ihre baldige Auf- 
lösung zu erzwingen. Dagegen beginnen jetzt die 
Radikalen, die noch im vorigen Jahre die Duma 
boykottiert haben, oder sich bemühten, sie zu 
sprengen, deren Existenz zu schätzen, und sie werden 
sich voraussichtlich einer äußerst vorsichtigen und 
loyalen Taktik befleißigen. 

Die Zahl der jüdischen Deputierten ist äußerst 
unbedeutend — im ganzen drei Personen: Jakob 
Schapiro, ein Kaufmann mit höherer Bildung aus 
Kurland, der Advokat Abramsohn aus Koneno, und 
der Bergingenieur Lasar Rabinowitsch aus dem 
Gouvernement Ekaterinoslaw. Diese drei Personen 
gehören der gemäßigten Opposition an als Mitglieder 
der Kadettenpartei. Im politischen, gesellschaft- 
lichen, wie auch im jüdischen Leben waren sie bis 
jetzt wenig bekannt. 

Über die geringe Zahl der jüdischen Deputierten 
war die jüdische Bevölkerung sehr betrübt, obwohl 
die Juden auch in der vorigen Duma statt der ihnen 
im Verhältnis zur Zahl der Bevölkerung (4,16 pCt.) 
zukommenden 24 Abgeordneten deren nur 12 be- 
saßen. Unter diesen waren wenigstens einige Persön- 
lichkeiten, deren hervorragende Betätigung dem 
jüdischen Publikum bekannt war; andererseits war 
die Zahl der Antisemiten, die in der Duma die Juden 
provozieren konnten, weit geringer. 

Alle Bemühungen der jüdischen Deputierten 
waren auf die baldige Durchführung des Gesetzes 
der Gleichberechtigung aller Bürger gerichtet. In 
diesem Jahre wird die jüdische Frage, wahrscheinlich 
gleich zu Anfang, erörtert werden, aber nicht von 
den Juden, sondern von den Antisemiten ä la 
Kruschewan und Purischkewitsch, etwa im Genre 
der Ahlwardt und Pückler. Wer wird Antwort 
geben auf alle Verleumdungen und Lügen, die von 
der Dumatribüne auf die Köpfe der Juden fallen 
werden ? Diese Frage ist es, die jetzt die russischen 
Juden am meisten beunruhigt. In allen Schichten 
der jüdischen Gesellschaft und in der Presse wird als 
Hauptthema die Frage nach den Ursachen des Rück- 
ganges der Juden bei den letzten Wahlen erörtert. 

Die letzten Wahlen enttäuschten viele Illusionen, 



271 



P. A. Longi: Die zweite Duma. 



272 



die sich bei den Juden in der Revolutionszeit fest- 
gesetzt hatten. So behaupteten die revolutionären 
Parteien unter den Juden stets, daß die Ansiedlungs- 
gebiete inbezug auf die politische Entwicklung die erste 
Stelle unter den übrigen Gouvernements des inneren 
Rußlands einnehmen. Tatsächlich erwies sich das 
Gegenteil als richtig. Im Ansiedlungsgebiet waren 
in den allermeisten Fällen die Bauern sowohl, als 
auch die städtische Bevölkerung reaktionär. Am 
revolutionärsten erwiesen sich die Gouvernements 
im Osten Rußlands, wo es überhaupt keine jüdische 
Bevölkerung gibt. Allerdings bleibt für die Juden 
ein Trost übrig: daß die Regierung auf Grund solcher 
sichtbaren Tatsachen jetzt nicht mehr den Juden 
die Schuld an der Revolution wird zuschreiben 
können, wie sie es bis jetzt getan hat. Dieser Trost 
ist jedoch nicht bedeutend, da die Antisemiten sich 
nicht scheuen werden, eine neue Beschuldigung zu 
erfinden. 

Der Rückgang der Progressisten in den An- 
siedlungsgebieten kann teilweise durch den nationalen 
Antagonismus zwischen den Russen einerseits, den 
Polen und Juden andererseits, erklärt werden. 

Von diesem Antogonismus machte die Ad- 
ministration und die Geistüchkeit Gebrauch, um 
die Befreiungsbewegung in den Augen der un- 
wissenden Bevölkerung zu diskreditieren, und die 
ganze Revolution als einzige Tat der Juden zu er- 
klären. 

Nach dem russischen Wahlsystem wählt jede 
von den drei Kurien der Gutsbesitzer, Städter und 
Bauern zuerst ihre Wahlmänner. Diese kommen zu 
einer Gouvemementsversammlung zusammen und 
wählen gemeinschaftlich 6 bis 15 Deputierte, die dem 
ganzen Gouvernement seiner Bevölkerung gemäß zu- 
kommen. Die meisten Wähler besitzen die Juden 
unter den Städtern, und sie können ihre Deputierten 
durchbringen, wenn sie sich mit der Bauemkurie 
gegen die Gutsbesitzer vereinigen, oder mit den 
Gutsbesitzern gegen die Bauern. 

Als die Juden in die letzte Wahlkampagne ein- 
traten, hegten sie die vöHig falsche Ansicht, daß die 
Bauern sich oppositionell verhalten müssen, da in 
der Duma die Frage über die Verteilung des Bodens 
unter die Bauern gelöst werden muß. Deshalb haben 
die Juden, die die Majorität in den Städten des 
AnSiedlungsgebietes bildeten, sich in diesem Jahr 
von einem Block mit der Gutsbesitzerkurie überall 
zurückgehalten, und sich bemüht, sich mit der Bauem- 
kurie zu vereinigen. Das Resultat war, daß in den 
meisten Gouvernements sich ein Teil der reaktionären 
Gutsbesitzer mit den Bauern vereinigte und 
reaktionäre Wahlen durchführte. Die Juden aber, 
und in manchen Orten auch die konstitutionellen 
Polen fielen bei den Wahlen ganz durch. Nur in 
einem Gouvernement, in Kiew, erwiesen sich die 
Bauern als konstitutionell, aber auch hier verhinderten 
sie die Wahl eines jüdischen Deputierten. Die 
prinzipielle Absage, sich mit der Gutsbesitzerkurie 



zu vereinigen, führte dazu, daß die Juden jegliche 
Bedeutung bei den Wahlen verloren, und zur Wahl 
der Reaktionäre und Antisemiten in einigen 
Gouvernements verhalfen, wie z. B. in den 
Gouvernements Witebsk und Mohileff. 

Noch mehr aber schadeten den Juden die inneren 
Zwistigkeiten, der Kampf der verschiedenen jüdischen 
Parteien untereinander. Im vorigen Jahre haben die 
radikalen sozialdemokratischen Parteien (wie der 
Bund) die Duma boykottiert, und die parteilosen 
Massen und die Bourgeoisie fügten sich den Direktiven 
der Vereinigung zur Erlangung der Vollberechtigung 
der Juden und arbeiteten soüdarisch. Dieses Jahr 
bemühte sich der Bund dort, wo er keine Kandidaten * 
hatte, den jüdischen Block in den Städten aus- 
einander zu sprengen, indem er irgend eine Klassen- 
politik dort durchführen wollte, wo der Erfolg von 
einer vollen Solidarität der ganzen jüdischen Be- 
völkerung abhängig war. Dem Bund kamen die 
Gründer der jüdischen Volksgruppe in Petersburg 
zu Hilfe. Sie verkündeten kurz vor den Wahlen dem 
Zionismus den Krieg. Es begann ein vernichtender 
Kampf, dei: alle Kräfte und Mittel verschlang. Die Ini- 
tiatoren der Volksgruppe lähmten durch ihren 
Einfluß auch die ganze Tätigkeit der Vereinigung, 
imd deshalb spielten sie dieses Mal überhaupt keine 
Rolle. Diese Zwistigkeiten führten in einigen Orten 
zu äußerst traurigen Ergebnissen. Zum Beispiel 
konnte es gelingen, in Kischineff auch durch eine 
wenig bedeutende Agitation die Wahl des bekannten 
Antisemiten Kruschewan zu verhindern. Während 
hier nichts unternommen wurde, wurde in den anderen 
Gouvernements wie in Wolynien, Minsk, zehntausende 
für den Kampf der jüdischen Parteien untereinander 
ausgegeben. Mit der Agitation unter den Bauern 
in dem Ansiedlungsgebiet beschäftigte sich fast nie- 
mand, weil die revolutionären Parteien, durch die 
Schuld des Bundes, ihre Aufmerksamkeit im Kampfe 
mit den jüdischen Komitees vergeudeten und weiter 
nichts taten. 

Der Sieg der Reaktionären in dem größten Tei 1 
des Ansiedlungsgebietes, wie auch der Rückgang der 
jüdischen Kandidaten, dürften wohl als warnendes 
Zeichen den jüdischen revolutionären Parteien dienen, 
die sich als Ziel nicht die Agitation unter den Bauern, 
sondern den Kampf mit der jüdischen Bourgeoisie 
gestellt haben, und auch den vielen jüdischen Leitern 
in Petersburg, die in diesem wichtigen Augenblick 
den politischen Kampf als Mittel gebrauchten, um 
ihre Abrechnung mit den Parteien im Judentum 
herbeizuführen. Es bleibt nur die Hoffnung übrig, 
daß die bittere Lektion, die uns durch die letzten 
Wahlen erteilt wurde, die Parteizersplitterung zum 
Teil beseitigen wird, die jetzt in Rußland, wie zu 
allen Zeiten auf jede europäische gesellschaftliche 
Tätigkeit, zerstörend wirkt. 

Petersburg, den 17. März 1907. 

P. A. Long i. 



3 



274 



MITTEILUNGEN AUS DEM DEUTSCHEN BUREAU 
DER ALLIANCE ISRAELITE UNIVERSELLE. CII 



1 (Berlin N. 24, Oranienburgerstr. 42/43 1). r 



DIE ISRAELITEN RUiVlAENIENS. 



Nacbdruck verboten. 



Ein Korrespondent der ^Alliance Israälite 
liverselle* richtet an das Central-Comit6 nach- 
übenden mteressanten Bericht über die Lage der 
raeliten in Rumänien: 

Das Jahr 1906 hat gleich dem voraufgegangenen 
acklicherweise kein neues Gesetz erstehen sehen, 
s die Lage der Israeliten in Kumänien weiter 
Schwert hätte. Es hat immer mehr den Anschein, 
> ob die Gewalthaber in Rumänien die Ent- 
ckelung der Ereignisse in Russland abwarteten, 
eichwohl glauben unterrichtete Männer, dass die 
heinbare Ruhe nur ein Vorläufer abermaliger 
isnahmebestimmungen ist, die im Schatten der 
nisteriellen Kanzleien vorbereitet werden. Die 
immung hinter den parlamentarischen Kulissen 

nichts weniger als ermutigend. Der Eifer, der 
rt herrscht, ist kein günstiges Vorzeichen, und 
r fragen uns nicht ohne Besorgnis, ob nicht 
natoren und Deputierte nicht noch drakonischere 
lenfeindliche Massregeln planen, als die bereits 

Kraft gesetzt worden sind. Denn der Hass 
pen alles, was Jude heisst, hat noch nichts von 
ner Nachhaltigkeit verloren. Die Kluft, die 
iroänen und Israeliten scheidet, scheint sich in 
mselben Mass zu erweitem, in dem die materielle 
ge des Landes sich verbessert. Das Gegenteil 
xe verständlicher und logischer gewesen. Haben 
m die Israeliten durch ihre kommerziellen und 
[ustriellen Fähigkeiten nicht zur Festigung des 
nänischen Kredits und zur Verbesserung der 
"tschaftlichen Lage des Landes beigetragen? 

Der Landwirtschaftstrust. Das ist die auf 
• Tagesordnung stehende Frage, die allerlei 
berraschungen ffir die Zukunft birgt. 

Den Juden Rumäniens ist, wie man weiss, der 
sverb von Landbesitz verboten. Die freien Be- 
e sind ihnen verschlossen. Zum Rechtsanwalts- 
nd werden sie nicht zugelassen. Im Heer endet 
3 Laufbahn beim Unteroffizier. Zu den Handels- 
amem haben sie keinen Zutritt. Von den 
tmischen Verbänden werden sie zurückgewiesen. 

dfirfen keine Apotheken aufmachen, an öffent- 
len Ausschreibungen dürfen sie sich nicht be- 
igen. Jede amtliche Verwaltung lehnt sie ab. 
1 den Fabriken werden sie femgehalten. Der 
idel im Umherziehen und der Branntweinverkauf 
l ihnen untersagt. — Durften die Israeliten unter 
;hen Umständen in untätiger Resignation ver- 
ren? Schon macht man ihnen die mangelnde 
nnng ffir den Landbau zum Vorwurf. Sei es 
angeborenem Betätigungsdrang, sei es zur Be- 
ipfong des Vorurteils, das sie als untüchtig zur 
darbeit bezeichnet, haben zahlreiche moldauische 



Israeliten Land gepachtet und dadurch eine be- 
trächtliche Steigerung der Pachtraten bewirkt. 
Man sollte meinen, die Bojaren, die Grundbesitzer 
mttssten von den grossen Gewinnen, die sie da- 
durch erzielten, befriedigt sein. Dem ist nicht so. 
Man lese, was die ,9Rivista idealista" vom Oktober 
schreibt: 

„Wer zwingt unsere Grundbesitzer ihre Ländereien 
an Fischer*) und Genossen zu verpachten? Erzwingen 
denn diese die Pachtung mit bewaffneter Hand? Gewiss 
nicht. Warum nehmen die Besitzer sie als Pächter? 
Weil jene habgierig sind und weil diese die ver- 
lockendsten Preise bieten. Darum vergessen unsere 
Bojaren die öffentlichen Erörterungen der Presse über 
die Gefabren des sogenannten Landwirtschafts-Trusts 
und überantworten ihre Güter den Fischer und Genossen. 
Das tun die Konservativen, das tun die Liberalen, das 
tun die Junimisten. Von dem Augenblick an, da ^vir 
mit Eifer, Freude und Begeisterung ihre erhöhten und 
übertriebenen Preise annehmen, steht es uns nicht mehr 
an, gegen die Fischer und Genossen zu schreien. Wir 
werden das Recht hierzu erst haben, wenn wir jede 
Verhandlung mit ihnen ablehnen. So lange wir ihr 
Geld nehmen, ziemt es uns besser, zu schweigen und, 
unser Gewissen befragend, zu gestehen, dass wir Elende 
sind. Das Wort ist hart, aber gerecht.** 

Der „Prozentul" vom 28. Oktober schreibt: 

„Wir begreifen nicht, warum der Feldzug seit 
einiger Zeit ausschliesslich gegen den Trust der Land- 
wirte gerichtet ist, warum man diesen Trust als die 
alleinige Ursache der Uebel hinstellen will, unter denen 
die Landbevölkerung leidet. Die Verwirrung, die man 
jüngst in dieser Beziehung angerichtet hat, ist wahr- 
haft beunruhigend. Heute sind die Dinge soweit ge- 
diehen, dass, wenn man von einer Verbesserung der 
Lage der Bauern spricht, man die wahren Ursachen 
ihres Elends aus den Augen verliert. Man setzt alles 
auf Rechnung des Landwirtetrusts, als ob alles 
rumänische Land von den Trusts beschlagnahmt 
wäre! . . . Wir wiederholen die Frage: war die Lage 
der bäuerlichisn Bevölkerung vor den Trusts, die etwa 
ein Dutzend Jahre alt sind, besser? und glaubt irgend 
wer, dass dipse Lage sich bessern würde, wenn die 
Trusts verschwinden? Wir sind sicher, dass niemand 
die Frage bejahen wird.** 

Trotz dieser Vorstellungen sind es die Gross- 
grundbesitzer, die in allen Tonarten in ihren Press- 
organen verlangen, dass ein Gesetz den „Fremden" 
die Pachtung von Land verbiete. Das würde den 
Ruin mancher jüdischer Besitzer herbeiführen, die 
sich auf derartige Unternehmungen eingelassen 
haben. Es ist zweifelhaft, ob die gegenwärtige 
Regierung selbst die Initiative zu einer derartigen 

*) Fischer heissen die reichsten jüdischen Pächter 
in Rumänien. 



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275 



Mitteilungen der Alliance Isra^lite Universelle: Die Israeliten Rumäniens. 



276 



Massnahme ergreift; aber es ist sicher, dass die 
jüdischen Pächter indirekt getroffen würden durch 
die strenge Anwendung des Gesetzes über die 
Landpolizei, das den „Fremden^ den Aufenthalt 
auf dem Lande verbietet. In der Tat hat nach 
Be^nn der parlamentarischen Herbstsession an- 
lässlich der Debatte über die königliche Botschaft 
der Senator Condrescu die Regierung wegen der 
schwächlichen Haltung der Minister gegenüber den 
„Fremden" in den läncUichen Gemeinden interpelliert. 
Hier ist der Bericht über die Debatte nach dem 
„Moniteur Officiel*: 

„Senator Condrescu: M. H., das Gesetz sagt 
deutlich, dass die Fremden in den Landgemeinden sich 
nur auf Grund einer Ermächtigung des Gemeinderats 
niederlassen diirfen. Trotz der Befehle der Regierung 
ist dieses Gesetz nicht beachtet worden, sind zum Un- 
glück für unsere Landbevölkerung unsere Dörfer von 
Juden überschwemmt. Denn wenn der Jude ein Gut 
gepachtet hat, bringt er ganze Familien seiner Glaubens- 
genossen mit sich. 

Senator Stefanescu: Der Fehler liegt bei den 
Eigentümern. 

Senator Condrescu: Sie haben Recht. Ich sage 
es mit Schmerz : wir Rumänen überlassen unsere Güter 
in die Hände der Juden. Was in den Landgemeinden 
vorgeht, ist ein wahres Unglück. Hier ein Beispiel: 
Zum Bahnhof Todircui, in dessen Nähe ich wohne, 
sind Juden gekommen und haben 92 Waggons mit 
Feldfrüchten beladen, während d»e rumänischen Pächter 
und Besitzer nicht einen einzigen Sack hatten . . . 
Ich wende mich an Sie, Herr Premierminister, der Sie 
der reichste Grundbesitzer Rumäniens sind, der Sie 
wissen, was wohlerworbener Reichtum bedeutet: Die 
rumänischen Pächter und Eigentümer besitzen im Durch- 
schnitt 200—300 falci,*) während jeder Jude über 
20 000 falci verfügt. Wo ist da das Verhältnis? . . . 
Die Juden ziehen Tag und Nacht durch die Dörfer 
und bemächtigen sich des Besitztums der anderen, oder 
beschäftigen sich mit Gewerben, die allein die „Jidden^ 
verstehen. Ich sage nicht mehr. Ich beschränke mich, 
Ihnen eine Andeutung zu geben, Herr Premierminister, 
und bitte Sie, dringliche Massregeln zu ergreifen und 
die Präfekten zur Vertreibung der Fremden aus den 
Landgemeinden aufzufordern. 

Ministerpräsident Cantacuzenu: Der Herr Senator 
Condrescu darf überzeugt sein, dass die Regierung von 
den gleichen Gefühlen beseelt ist, wie er. Die An- 
führungen des Herrn Senators sind leider wahr, und 
die Regierung wird alle Massregeln zur Bekämpfung 
des Uebels treffen. (Beifall.)" 

In Gemässheit dieser Erkläruug hat Herr 
Cantacuzenu, der auch Minister des Ifinem ist, an 
die Präfekten ein Rundschreiben gerichtet, worin 
es heisst, dass „alle Fremden" unter Beachtung 
der in dem Gesetz vorgesehenen Bedingungen die 
Niederlassungsgenehmigung bei den Kommunalräten, 
bei der Präfektur und bei dem Ministerium nach- 
suchen müssen. Wer diese Vorschriften nicht er- 
füllt, wird ausgewiesen und in die Städte zurück- 
geschickt. 

In seiner Dezembernummer schreibt der 
„Agrarul*, das Organ der Grossgrundbesitzer: 



♦) 1 falcc = 14,82 Quadratmeter. 



„Wir sind glüoklich, das man endlich etwas tut. 
Wir freuen uns zu sehen, dass der Chef der Regierung 
Kenntnis hat von der Art, in der das delikateste aller 
Gesetze angewendet worden ist Wir hoffen, dass die 
Massnahmen, die er ergreifen wird, seiner Erwartung 
und der unseren entsprechen werden.** 

Am 15./28. Dezember schneidet Herr Condrescu 
die Frage vor dem Senat wieder an und behauptet, 
dass die ministeriellen Weisungen nicht genau be- 
folgt worden sind. Er verliest einen Brief, in dem 
ein Priester ihm eine Landgemeinde des Bukarester 
Bezirks bezeichnet, wo sich eben „Fremde** mit 
Zustimmung der Ortsverwaltung niedergelasseji 
hätten. Herr Condrescu schliesst daraus, dass die 
Unterbeamten sich von dem Gold der auf dem 
Lande ansässigen Juden bestechen lassen, und 
fordert die Regierung auf, strenge Massregeln zu 
ergreifen „gegen die fremden Pächter, die die 
Staatsgüter und die der Privaten zum Schaden der 
ländlichen Bevölkerung monopolisiert und eine 
wachsende Verarmung der einheimischen Bevölke- 
rung herbeigeführt haben " In der nämlichen 
Sitzung dankt der Unterrichtsminister Dissescu im 
Namen der Regierung Herrn Condrescu für die An- 
gabe dieses bestimmten Falles und verspricht 
äusserste Strenge gegen die schuldigen Beamten. 
Er fugt hinzu : „Was die Frage der Güterverpachtung 
angeht, so ist es unsere Pflicht, die Güter nicht 
mehr den Fremden zu geben. Die Regierung wird 
Anordnungen in diesem Sinne erlassen." Schliesslich 
erklärt Herr Condrescu, dass er nach den Feiertagen 
einen Gesetzentwurf über die Pachtfrage ein- 
bringen wird. 

Ausweisungen. Mittlerweile werden die 
Ausweisungen, namentlich in dem Bezirk von 
Botosany, immer zahlreicher. Niemand findet in ' 
den Augen des Präfekten Yasescu Gnade. Ein 
typischer Fall sei angeführt: Calinesti ist ein 
Weiler, der früher von dem Dorf Bucecea losgelöst 
war und jüngst ihm wieder angegliedert worden 
ist. Moscu Abramowici aus Bucecea hatte sich in 
Calinesti zu einer Zeit niedergelassen, in der der 
Weiler nicht zu dem Dorf gehörte. Er hatte im 
Jahr 1901 die behördliche Genehmigung erhalten. 
Kürzlich schrieb ihm Herr Vasescu vor, die gesetz- 
lichen Schritte zur Erneuerung seiner Aufenthalts- 
erlaubnis zu tun. Abramowici tat das Erforderliche, 
an dem Erfolg seiner Bemühungen nicht zweifelnd. 
War doch sein Vater Awram einer der Gründer 
von Bucecea, hatte er doch selbst in dem vierten 
Jäger bat aillon gedient! Abramowici erhielt auch von 
der Gemeinde ein gutes Führungszeugnis und eine 
zweite Bescheinigung, in der ihm bestätigt wurde, 
dass er persönliches Vermögen besitze. Ein drittes 
Zeugnis sagte, dass er niemals bestraft worden 
sei. Der Kommunalrat genehmigte die Erneuerung 
der Niederlassungserlaubnis, aber der Präfekt 
annullierte diese Entscheidung. Abramowici wendet 
sich dem Gesetze gemäss an den Minister des 
Innern und erstreitet einen günstigen Bescheid. 
Doch man machte ihm neue Schwierigkeiten. Calinesti 
ist jetzt wieder zu dem Dorf Bucecea gehörig, und 
deshalb muss Abramowici abermals um eine Ge- 



Mitteilungen der Alliance Isra^lite Universelle: Die Israeliten Rumäniens. 



278 



thmigoDg emkommen. Diesmal verweigert auf 
3fehl des Präfekten der KommuDalrat die 6e- 
hmigung. Zum zweiten Mal wird der Minister 
gerufen, dessen Entscheidung sich verzögert, 
ittler weile wird Abramowici aufgefordert, den 
1 zu verlassen. Er geht nach Bukarest, um die 
nisterielle Entscheidung zu beschleunifiren. 
ährend seiner Abwesenheit erbricht die Orts- 
hörde auf Befehl des Präfekten die Schlösser der 
)ramowicischen Wohnung, wirft das Hausgerät 
f die Strasse, schafft es auf Wagen und schickt 
nach Bucecea. 

Derartige kleine Polizeiakte werden von dem 
mmütigen Präfekten von Botosany täglich ange- 
Intjt 

Welche Ueberraschungen uns das beginnende 
iir bringen kann, wird man aus nachstehender 
usserung der „Sentinela" vom 3. Dezember ent- 
imen: 

„Um der verfluchten jüdischen Lepra zu entgehen, 
sich wie eine Siindflut von Heuschrecken auf unserer 
ter Erbe niedergelassen hat, haben wir uns zur An- 
idung aller gesetzlich erlaubten und nicht erlaubten 
tel entschlossen . . . Um unsere Länder zu befreien, 
er verletztes Recht wiederzugewinnen, uns von der 
flachten Sklaverei der Juden zu erlösen, werden 

nicht Kugeln noch Tod, nicht unsere Regierung 
1 irgend eine Macht der Erde fürchten. Das soll 
I wi:isen!" 

Hier noch einige Zeilen, die der frühere liberale 
errichtsminister Haret als Antwort auf einen 
schlag des gegenwärtigen Finanzministers Take 
escu zu Gunsten einer mit Unterstützung fremder 
Litauen gegründeten Landbank niedergeschrieben 

„Herr Jonescu überantwortet den Bauer auf Gnade 
Ungnade den fremden Bankiers, die einzig auf 
nun von Dividenden bedacht sein werden. Die 
ien der Bank des Herrn Jonescu werden in den 
den das früheren Maire von London (Sir Marcus 
uel) sein, der mit der gewohnten Frechheit seiner 
je in den Augenblicken der Sittherheit vor Gefahren 
r Land insultiert hat. Aktionäre werden sein 
shi Fischer und Genossen, die sich unserer Land- 
r bemächtigt haben. Diese Aktionäre werden von 
ts wegen die Herren des Landes sein, wie sie es 
its tätsächlich sind. Das ist das Mittel, das Herr 
3 Jonescu ersonnen bat, um den Artikel 7 zu 
räften." 

Wenn die fahrenden Klassen der Bevölkerung 
le Geflihle gegenüber den Juden hegen, kann 
sich dann verwundem, dass das Volk selbst 
unseren Glaubensgenossen gegenüber zuweilen 
Llich zeigt? Im Verlauf des Jahres hat man 
Q können, wie die Professoren Cuza, Jorda 
andere mehr, Rundreisen im Lande veranstalteten, 
«rem Katheder herab in ihren Vorträgen zum 
nhass anzustacheln. Natürlich durchtränken 
die Studierenden mit den Hassgefühlen ihrer 
er und setzen die ihnen eingeimpften Theorien 
ie Praxis um. Auf diese Weise hat die 
erende Jugend von Bukarest eine Gesellschaft 
eher Damen, die den Saal des Athenäums ge- 
t nnd die Schauspieler des Nationaltheaters 



engagiert hatte, gezwungen, eine Wohltätigkeits- 
vorstellnng abzusagen. Es verdient dabei bemerkt 
zu werden, dass das Athenäum auf Grund einer 
öffentlichen Sammlung entstanden ist, an der die 
Juden sich in hervorragendem Masse beteiligt haben, 
wie sie auch jetzt wieder sehr beträchtlich zu 
einem Kapital zuschiessen, das zur Errichtung eines 
Blindeninstituts bestimmt ist, obwohl es kaum 
einem Zweifel unterliegt., dass Blmde jüdischen 
Glaubens zu diesem Etablissement ebensowenig 
Zutritt haben werden, wie zu den meisten Kranken- 
häusern. 

Es scheint übrigens, als ob selbst das Leben 
der Juden in den Augen der Landesjustiz keinen 
Wert hätte, und als ob die Greschworenengerichte 
den Grundsatz aufstellen wollten, dass jedem an 
einem Juden begangenen Mord die Freisprechung 
des Mörders folgen müsse. Im Verlauf des Jahres 
1906 haben vier derartige Verdikte sogar die 
Rumänen selbst in Staunen versetzt. In Podul- 
Turcului wurde eine jüdische Familie ermordet; 
alle Angeklagten wurden freigesprochen. In Bur- 
dnjeni fällt eine andere Familie unter dem Messer 
der Mörder, die man entdeckt. Die Geschworenen 
sprechen die Mörder frei. In Braila wird Mendel, 
Schwiegersohn des grossen Exporteurs Halfon, von 
einem seiner Arbeiter ermordet, der für einen Un- 
fall eme Entschädigung von 100000 Frs. verlangt 
hatte. Mendel ist Jude. Der Mörder wird frei- 
gesprochen. In Galatz prozessiert der Pächter 
Leibowici wegen der Pacht. Ehe noch die Gerichte 
gesprochen haben, verpachtet der Beisitzer sein 
Gut an den Eumänen Winkler. Dieser will auf 
der Stelle die Pacht antreten. Leibowici macht 
seinen Kontrakt geltend. Wincler schiesst den 
jüdischen Pächter mit dem Revolver nieder. Die 
Jury spricht ihn frei. Wenige Tage später gibt 
die Zivilkammer in dem Prozess Leibowicis gegen 
den Besitzer ihr Urteil dahin ab, dass der Besitzer 
rechtswidrig sein Gut an Wincler verpachtet habe, 
und dass der mit Leibowici abgeschlossene Pacht- 
vertrag bis 1916 Geltung habe! 

Jubiläums - Ausstellung. Die Israeliten 
des ganzen Landes haben Wert darauf gelegt, an 
den Festen und öffentlichen Kundgebungen anläss- 
lich der vierzigjährigen Regierungsfeier des Königs 
teilzunehmen. Eine jüdische Abordnung stellte sich 
am 12. Mai im Palais ein und überreichte dem 
König eine Adresse, die folgenden Satz enthielt: 
„Die Grösse dieses Landes, dessen Bürger wir 
unter Euerer Majestät Regierung mit Stolz sind, 
ist auch unsere Grösse. Das Glück, das die 
glänzende und ruhmreiche Herrschaft unseres ersten 
Königs verbreitet hat, hat sich gleichmässig und 
in Fülle auf alle Kinder Rumäniens und auf uns 
ergossen." Bei dieser Gelegenheit erkannte der 
König huldvoll an, dass „die Naturalisationen 
schwer zu erreichen wären." Das war alles. Und 
doch hätte der König sich leicht überzeugen können, 
dass das Gedeihen Rumäniens und die erzielten 
Fortschritte zum guten Teil der Intelligenz und der 
Arbeit seiner jüdischen Untertanen zu danken 



— J '. ... 



279 



Mitteilungen der Alliance Isra^lite Universelle: Die Israeliten Rumäniens. 



280 



sind. Wie aber sogar solche Geister, die sich auf- 
geklärt uennen, den Anteil der Juden an dem 
Erfolg der Ausstellung beurteilen, mö^en nach- 
stehende Zeilen zeigen, die dem amtlichen Aus- 
stellungskatalog, veröffentlicht unter dem Patronat 
des Generalkommissars Dr. Istrati, entnommen sind: 

„ ... In der demografischen Lage des Landes 
besteht die beunruhigendste Erscheinung in der Invasion 
des jüdischen Elementes aus Polen, Galizien und Uussland. 
Mit einer fast beispiellosen Duldsamkeit haben die Rumänen 
seit den ältesten Zeiten alle Konfessionen unter sich 
zugelassen. Wenn sie in verschiedenen Verträgen sich 
gegen die Niederlassung der Mohamedauer gewendet 
haben, so gehört das der Vergangenheit an und beruht 
auf politischen Erwägungen. Abgesehen hiervon, hat 
jedes andere Bekenntnis, selbst das der Schismatiker, 
die aus Uussland vertrieben waren, in Rumänien volle 
Freiheit genossen. Die Rumänen haben sich nie wegen 
des Seelenheiles anderer beunruhigt. Doch jetzt ersteht 
eine grosse Gefahr: Die Juden, anderwärts verfolgt 
oder übel angesehen, haben begonnen, das rumänische 
Land zu überschwemmen. Sie zuerst haben den Rumänen 
eine deutliche Vorstellung von dem gegeben, was man 
konfessionelle Missachtung nennen könnte. Denn mit 
Ausnahme derer, die aus dem Abendland kamen, haben 
die aus dem Orient und dem Norden eingewanderten 
Juden eine Atmosphäre des religiösen Fanatismus mit- 
gebracht, würdig der Ghettos, eines Fanatismus, den 
wir niemals gekannt hatten. Während Protestanten, 
Katholiken und russische Sektierer unbemerkt bleiben, 
während der muselmanische Muezzin friedlich seine 
Melo4icn über die Kirchen weg ertönen lässt, haben 
die Juden allein das Gefühl einer unsinnigen kon- 
fessionellen Feindseligkeit mitgebracht. Ihr bizarres 
Kostüm, ihre Schläfenlocken, ihre Feiertage mit den 
strengen Ruhegeboten, ihre Schächtriten (das von Christen 
verkaufte Fleisch wird als' unrein betrachtet), alle ihre 
Besonderheiten im täglichen Leben haben die Rumänen 
dahin gebracht, nicht eine Religions-, sondern eine Rassen- 
frage vor sich zu sehen. Den bündigsten Beweis hierfür 
findet man in dem Mangel jeder Familienbeziehung zu 
den Rumänen. Eheschliessungen zwischen diesen beiden 
Volkselementen bilden eine seltene Ausnahme; der Jude 
und die Jüdin, die der Synagoge untreu werden, setzen 
sich ernsten Unannehmlichkeiten aus. Dieses fremde, 
nicht assimilierbare, auch intellektuell uns nicht ver- 
wandte Element bildet für die organische Entwickelung 
des rumänischen Staates ein um so schwierigeres Problem, 
als der konfessionelle Partikularismus sich auch auf den 
wirtschaftlichen Kampf überträgt in einem Wettbewerb, 
der sich nicht wie im übrigen Europa von Individuum 
zu Individuum, sondern von Rasse zu Rasse abspielt. 
Ehe man noch in der ökonomischen Welt etwas wie 
einen Trust gesehen hatte, haben wir den kleinen, aber 
undurchbrechlichen Trust der Juden in den einzelnen 
Städten gegenüber dem Handel und dem Gewerbe der 
Rumänen gesehen. Jetzt stehen wir grossen landwirt- 
schaftlichen Trusts gegenüber; und obwohl die Flut 
der Einwanderung unaufhörlich steigt, giebt es bei uns 
keine antisemitische Partei." 

Auswanderung. — Die Nationalisten des 
Landes berufen sich bekanntlich, um ihre Lieblings- 
theorien zu unterstützen, auf die unaufhörliche 
Vermehrung der jüdischen Bevölkerunjr, die sie 
auf 700 000 Seelen schätzen. Die offizielle Statistik 
beweist jedoch, dass kaum eine Viertelmillion 
Israeliten in Rumänien verblieben ist. Zudem 



nimmt die Auswanderungsbew^ung ihren Fortgang. 
Der ^Moniteur Oflficiel" vom 13. August 1906 steUt 
fest, dass laut den Eintragungen beim Sicherheits- 
dienst des Ministeriums des Innern von 1899 bis 
1904 nach Amerika 42 968 Juden abgereist sind. 

Im Jahr 1906 belief sich die Zahl der Aus- 
wanderer auf 3406. Eechnet man hinzu die 
Zahl der Personen, die ohne Pass oder nur mit 
dem sogenannten gewöhnlichen Beisepass das Land 
verlassen haben, so stellt sich nach dem Moniteur 
die Gesamtzahl der in 6 Jahren Abgewanderten 
auf 55 000. Hierzu vergleiche man nun — immer 
nach den Angaben desselben Organs — die Ab- 
nahme der Geburten: 

8994 in 1901 

8696 „ 1902 

8221 „ 1903 

8137 „ 1904 

7710 „ 1905 

Infolge der russischen Pogrome flüchteten 
einige jüdische Familien nach Rumänien. Zur 
Stunde haben diese Familien das Land wieder 
verlassen; was die antisemitische Presse nicht 
hindert, der Verwaltung vorzuwerfen, sie hätte 
eine wahrhafte Invasion geschehen lassen Aber 
aus einer besonderen Statistik des Ministeriums des 
Innern erhellt, dass von 3222 russischen Israeliten, 
die seit Januar 1905 nach Rumänien gekommen 
sind, 2196 das Land bereits verlassen haben. Es 
verblieben 1026. Und auch diese Zuzügler haben 
sich im Lauf des Jahres 1906 nach Argentinien 
eingeschifft. Sonach beschränkt sich die behauptete 
Invasion auf einige Dutzend Individuen. 

Handel. Laut einer für 1905 — 1906 auf- 
gestellten amtlichen Statistik gibt es in Rumänien 
136 674 Handeltreibende aUer Gattungen und 
Kategorien, nämlich 101 779 Rumänen, 22 667 Juden 
und 12 226 verschiedener Nationalität. Nur in 
einigen Bezirken überschreitet die Zahl der jüdischen 
Handeltreibenden die der rumänischen, nämlich in 
den folgenden: 

Israelitische Christliche 
Handeltreibende: 

Bacau zählt . . 1582 und 1465. 



Botosami 

Covorului 

Dorohoi 

Folticeni 

Jassy 

Neamtz 

Roman 

Suceava 

Vaslui 



n 



n 



» 



« 



n 



j? 



>? 






2359 
1377 
2227 

878 
3404 
1572 

934 
1269 

859 



905 
1226 
783 
587 
836 
836 
566 
539 
541 



Die grösste Zahl von Handeltreibenden weist 
der Bezirk Dlov (Bukarest) auf, nämlich 43 510, 
davon 1534 Juden. 

Im VeHauf der letzten 10 Jahre stieg die 
Zahl der rumänischen Handeltreibenden von 68 785 
auf 101779; die Zahl der jüdischen Handel- 
treibenden verminderte sich demgegenüber merklich 
(ungefähr 24 000 in 1896 und 22 667 in 1905). 



281 



Mitteilungen der Alliance Isra^lite Universelle: Die Israeliten Rumäniens. 



282 



Dem Handel im Umherziehen ist von neuem 
1er Krieg erklärt. Das zeigen beispielsweise einige 
^ikel aas einem Gesetzentwarf, den der Präsident 
1er Jassyer Handelskammer Scherban verfasst hat. 
t\^ie ersichtlich, zielt dieser Gesetzesvorschlag auf 
lie Unterdrückung der kleinen Ortsmärkte: 

Art 5. Der Hausierhandel mit Waren, gleichviel 
welcher Herkunft, ist auf den grossen Märkten und 
idiglich während ihrer Dauer den Personen gestattet, 
ie einen Erlaubnisschein der Handelskammer besitzen, 
od deren Firma mindestens 5 Jahre alt ist. 

Art 6. Dem Antrag auf Gewährung einer VoU- 
lacht zar Ausübung des Haasierbandels muss eine 
enaue Bilanz^ über Soll und Haben des Antragstellers 
od der Nachweis über Entrichtung sämtlicher schuldigen 
teaem beigefügt sein. 

Die Handelskammer kann nach Prüfung die Voll- 
acht gewähren oder verweigern. 

Art. 7. Die Vollmacht soll verweigert werden: 

a) den Miadei;jährigen: 

b) den mit ansteckenden Krankheiten behafteten 
Personen; 

c) denen, die wegen eines Verbrechens, Diebstahls, 
Betrugs, Vertrauensmissbrauchs, Bankerotts, 
Schmuggels verurteilt sind, und auch den 
Kaufleuten, deren Wechsel ein oder mehrere 
Mal protestiert wurden. 

Der Kassationshof hat für die Rechtsprechung 
züglich des Hausierhandels die folgenden Hin- 
jise gegeben: 

„Artikel 1 des Gesetzes bestimmt, dass der Hausier- 
ndel jedweder Art in den Stadtgemeinden mit Aus- 
lime der vorgesehenen Fälle vollkommen untersagt 

Nach dem Wortlaut des zweiten Artikel 5 ist unter 
usierhandel jeder Handel zu verstehen, der von Haus 
Hans, von Ort zu Ort, an ungedeckten Plätzen, in 
den, Höfen, Hausfluren usw. betrieben wird. Infolge- 
sen muss der Handel der „Zaraf" (Wechsler), der 
1 auf den Strassen, Plätzen, überhaupt unter freiem 
nmel abspielt, d. h. im Wettbewerb mit den Ge- 
äften der Bankiers in den Bankhäusern, nach dem 
st und dem Buchstaben des Gesetzes als verbotener 
isierhandel betrachtet werden.*^ 

Diese Entscheidung trifft hunderte von jüdi- 
en Wechslern. 

Gewerbe. — Im November machte der 
nänenminister seine Ministerkollegen durch Rund- 
reiben nachdrücklich darauf aufmerksam, dass 

Art. 95, 141 und 146 des G^werbegesetzes 
ramänischen Handwerker sich besonderer Vor- 
ite erfreuen sollen. Der Domänenminister ver- 
$t insbesondere auf folgende Punkte: 

1 . Die Eumänen sollen bei jeder Unternehmung 
• Lieferang, die den Betrag von 50 000 Francs 
t überschreitet, selbst dbun den Zuschlag er- 
3n, wenn ihre Forderung um 5 % höher ist 
iie ihrer Mitbewerber. 

2 bei den staatlichen Submissionen haben die 
laischen gesetzlich bestätigten Handwerker- 
inignogen nur die Hälfte der durch das Gesetz 
'derten Kaution zu erlegen. 
3. _ Bei der Ausführung staatlicher Aufträge 

Liiefemngen sind iausschliesslich rumänische 
iter zu verwenden. 



Nach einer neuen, von der Zentral-Begiemng 
veröffentlichten Statistik verteilen sich die Hand- 
werker in Eumänien wie folgt: 







Rumänen 


Fremde 


Juden 




Kreis 


• 






1. 


Cnyova 


= 6410 


5236 


507 


2. 


Pitesti 


= 4485 


1822 


202 


3. 


Ploesti 


= 7435 


2202 


713 


4. 


Bucarest 


= 14848 


8068 


3691 


5. 


Braüa 


= 3030 


1598 


785 


6. 


Galatz 


= 2660 


1204 


1823 


7. 


Focsani 


= 1510 


426 


1887 


8. 


Jassy 


- 2180 


1125 


3048 


9. 


Botosani 


= 1129 


475 


3199 


10. 


Constanza 


= 2162 


1623 


204 



Zusammen 45849 23779 16059 

Die grösste Zahl von Handwerkern nmfasst 
demnach der Kreis Bukarest (Ufov, Jalomitza, 
Vlaschca), nämlich 26 607, die sich nach Bezirken 
wie folgt verteilen: 

Bezirk Rumänen Fremde Juden 



Bukarest = 22183: 


U513 


7050 


3620 


Jalomnitza = 2695 : 


2121 


532 


42 


llVlaschca = 1729: 


1214 


486 


29 


• 


• 

Nach Branchen gliedern sich die Handwerker 


im Kreise Bukarest wie 


folgt: 










Rumänen 


Fremde 


Juden 


1. 


Tischler. . . . 


. 1255 


728 


171 


2. 


Klempner . . . 


357 


174 


591 


3. 


Zimraerleute . . 


642 


187 


1 


4. 


Maurer .... 


109 


852 


314 


5. 


Matratzenmacher 


444 


203 


246 


6. 


Mechaniker . . 


409 


401 


52 


7. 


Schuhmacher . . 


. 2369 


1345 


225 


8. 


Barbiere . . . 


624 


143 


64 


9. 


Graveure, Bildhauei 


• 200 


247 


90 


10. 


Schneider . . . 


. 1028 


511 


1599 


11. 


Gerber 


142 


224 


5 


12. 


Stellmacher . . . 


830 


1192 


42 


13. 


Konditoren . . . 


187 


79 


5 


14. 


Buchdrucker . . . 


1077 


180 


166 


15. 


Bäcker 


450 


472 


36 


16. 


Sattler 


81 


108 


93 


17. 


Lederarbeiter . . . 


291 




""" 


18. 


Verschiedene . . . 


348 


82 


5 



Naturalisationen 



Um seine Naturalisation 



zu erreichen, muss ein rumänischer Jude tausend 
erniedrigende Schritte tun und znweilen bis zu 
20 Jahren warten, ehe sein Gesuch die Prüfung 
durchgemacht hat Meist ist überdies das Ergebnis 
negativ. Der einzuschlagende Geschäftsgang ist 
dermassen beschwerlich, dass nur einzelne Bevor- 
zugte sich dazu entschliessen, ihr Glück zu ver- 
suchen. Die Kammer selbst hat in ihrer ausser- 
ordentlichen Sitzung im Jahre 1906 mit Rücksicht 
auf die systematische Obstruktion seitens der 
Mehrheit der Abgeordneten das Reglement folgender- 
massen abändern zu mtlssen geglaubt: 

1. Der Naturalisationsbewerber braucht nicht 
mehr wie vordem jedes Jahr eine neue Erklärung ein- 
zureichen. Der Bericht der Kommission behält für die 
späteren Sessionen Gültigkeit. 



283 



Mitteilungen der Alliance Isradite Universelle: Die Israeliten Rumäniens 



284 



2. Den Vorrang auf der Tagesordnung erhält der 
Bewerber, dessen Mutter oder dessen Frau Rumänin ist. 

d. Ein Prioritätsrecht wi^d auch den Söhnen der 
Naturalisierten zugebilligt (die 'vor der Naturalii^ation 
des Vaters geborenen Kinder werden als Fremde be- 
trachtet) nnd die sie betreffende Abstimmung erfolgt 
durch Aulstehen und Sitzenbleiben. 

In der Session, die vom November 1905 bis 
zum Mai 1906 währte, genehmigte die Abgeordneten- 
kammer 23, dar Senat 51 Natnralisationsgesuche. 
Nur 10 Israeliten sind endgiltif? durch beide Kammern 
zugelassen worden, die Herren: Dr. Sigler, 
J. J. Benvenisti, J. Lupus, I.-B. Brociner, 
M. Athias, A. Benaker, J. Bottenberg, A. Lorenz, 
D. Salomon und S.-A. Berger. 

Die Üobrudscha. Es ist die Rede davon, 
den Bewohnern der Dobrudscha die politischen 
ßechte zu verleihen. Eine Kommission studiert 
dieses Problem, und die Presse wirft die Frage 
auf, ob die Israeliten, die in der annektierten 
Provinz wohnen, die gleichen Rechte erhalten werden 
wie ihre Mitbttrger. Inzwischen hat der Kassations- 
hof den Satz angestellt, dass von Rechtswegen 
durch die Annexion derDobru^lscha die ottomanischen 
Untertanen, die sich dort im Jahre 1877 befanden, 
Rumänen geworden sind. Ein Mitglied dieses 
Gerichtshofes macht hierzu im „Curierul Judiciar" 
die folgenden Bemerkungen: 

„DieAnnexion eines Territoriums bringt den Erwerb 
oder auch den Verlust der Nationalität mit sich. So 
wurden die Bewohner der Dobrudscha, die am 11. 
April 1877 ottomanische Untertanen waren, Rumänen 
(Art. 3 des Gesetzes vom 9. März 1880), wie ander- 
seits die Rumänen Bessarabiens aufhörten es zu sein 
und Russen wurden. Wenn das Gesetz betreffend 
die Organisation der Dobrudscha die Bewohner der 
Dobrudscha zu Rumänen stempelte, so erhebt sich die 
Frage: Was versteht der Gesetzgeber unter diesem 
Ausdruck ? 

Vor allem ist es nicht zweifelhaft, dass die Fremden, 
die im Augenblick der Annexion in der Dobrudscha 
weilten, nicht Rumänen geworden sind. Also konnten 
die nichtnaturalLsierten, aber in Rumänien geborenen 
Israeliten durch die Wirkung der Annexion nicht 
rumänische Bürger werden, obgleich sie um diese Zeit 
in der Dobrudscha ihren Wohnsitz hatten. Rumänen 
konnten nur die Bürger des türkischen Reiches werden, 
d. h. die Mohamedaner. Da es jedoch in diesem Reich 
auch andere Einwohner („Ungläubige") gibt: griechische, 
bulgarische, serbische, armenische, lipowanische u. a. 
ottomanische Untertanen (auch solche rumänischen Ur- 
sprungs), so ist zu ergründen, ob diese Einwohner, die 
sich im Augenblick der Annexion in der Dobrudscha 
befanden, Rumänen geworden sind. Die Frage auf- 
werfen heisst sie lösen. Der Kassationshof entscheidet 
mit Recht dahin, dass diese Einwohner Rumänen ge- 
worden sind; er begreift unter der im Gesetz von 1880 
angewandten Bezeichnung „Bürger" alle Untertanen, 
die sich unter der ottomanischen Herrschaft befanden; 
denn, — wie der hohe Gerichtshof sehr gut bemerkt, — 
wenn es anders wäre, so würden unter den Einwohnern 
der Dobruscha nur die Bekenner der mohammedanischen 
Religion Rumänen geworden sein, was in keinem Falle 
aufrecht erhalten werden könnte. Auch die „Ungläu- 
bigen", d. h. nichtmohammedanischen Einwohner sind 
in gewissem Masse ottomanische Bürger. 



Was nunmehr die Frage betrifft, über die der 
Gerichtshot sich zu äussern hat, so ist von dem Antrag- 
steller, mag er immerhin Israelit sein, der Beweis er- 
bracht worden, dass er im Augenblick der Annexion 
der Dobrudscha kein Fremder war, sondern ottomanischer 
Untertan. Demgemäss wurde er infolge der Annexion 
Rumäne." 

Schulangelegenheiten. Die Eltern israeli- 
tischer Schüler hatten in diesem Jahr für die 
Prüfungen ihrer Kinder höhere Lasten zu tragen 
als in den voraufgegangenen Jahren. Die Zahl 
der von der regulären Abgabe teilweise befreiten 
Kandidaten war winzig gering. Viele bereits be- 
willigte Dispense wurden von dem Minister des 
öffentlichen Unterrichts Vladescu im letzten Augen- 
blick unter dem Vorwand zurückgezogen, der 
Vorstand der Schulkasse (in die die Prüfungsabgaben 
fliessen) habe Widerspruch erhoben. 

Die rumänische Presse bespricht einen neuen 
Gesetzesentwurf betreffend den Privatunterricht. 
Der Entwurf sieht unter anderen Bestimmungen 
vor, dass Privatschulen werden genehmigt werden 
können : 

1. Wenn die Lehrer wenigstens 10 Jahre lang 
praktisch tätig gewesen, und wenn sie Zeugnisse der 
literarischen oder der naturwissenschaftlichen Fakultät 
besitzen; 

2. wenn die Gehälter der Lehrer der vom Minister 
fetzusetzenden Norm entsprechen; 

3. wenn das Lehrprogramm in allen Punkten 
mit dem der S taatsschulen übereinstimmt. |f^v. 

Ganz wie der iG^esetzesvorschlag des ehemaligen 
Ministers Earet, zielt auch der neue darauf hin, 
den Privatschulen, folglich auch den jüdischen 
Schulen, rumänische Lehrer aufzuzwingen. Das 
wäre eine weitere Unbilligkeit zu allen früheren. 
Als ob die Existenzbedingungen unserer Schul- 
institute denen dieRegiemnj^ immer unerträglichere 
Verpflichtungen auferlegt — nicht bereits genügend 
heikel wären! In der letzten Zeit war jede israelitische 
Schule genötigt, zum Ueberfluss einen militärischen 
Erzieher anzustellen, der vom Schulinspektor vor- 
geschlagen wird und mit dem von diesem fest- 
gesetzten Betrage zu besolden ist. 

Zum Schluss seien einige die Schulen be- 
treffenden Ziffern mitgeteilt: 

Der Staat unterhält 63 Lyceen, Gymnasien 
und Mädchen - Mittelschulen. Privatmittelschulen 
mit dem staatlichen Lehrprogramm gibt es 64, 
desgleichen mit besonderem Programm 48. Die 
ersteren zählen 1066 Lehrer, die letzteren 1297, 
davon 980 Rumänen und 317 Fremde. Die staat- 
lichen Mittelschulen werden von 15 000 Schülern 
besucht, die privaten Mittelschulen von etwa 6000. 
Li 64 Schulen mit staatlichem Programm verteilen 
sich die Schüler wie folgt : Orthodoxe 2917; Katho- 
liken 83; Protestanten 20; Juden 867; Ver- 
schiedene 12. 

Private Elementarschulen mit besonderem 
Programm gibt es 77 mit 10 526 Schülern, davon : 
3172 Orthodoxe, 1324Katholiken, 1260 Protestanten, 
4729 Israeliten und 41 verschiedener Konfession. 
Die privaten Elementarschulen mit staatlichem Lehr- 



285 



Mitteilungen der Alliance Isra^Kte Universelle: Die Israeliten Rumäniens. 



286 



plan belaufen sich auf 155 mit 11733 Schülern, 
davon: 1645 Orthodoxe, 1442 Katholiken, 282 Pro- 
testanten, 8352 Israeliten und 12 verschiedener 
Konfession. Es gibt ausserdem 7 6 konfessionelle Asyle 
mit 2658 israelitischen Schalem und 136 Schülern 
anderer Konfession, femer 23 Kindergärten. In 
den privaten Elementarschulen beträgt die Zahl der 
Leh^r 1058, davon 433 Rumänen und 625 Fremde. 
Bukarest umfasst 58 Institute besonderen 
Charakters, 2 konfessionelle Asyle, 11 Kinder- 
gärten, 45 Elementarschulen mit dem staatlichen 
Lehrplan, 15 mit eigenem Lehrplan, 28 Mittel- 
schulen mit dem staatlichen und 20 mit eigenem 
Lehrplan. Jassy zählt 21 Privatinstitute, 36 konfes- 
sioneUe Asyle, 81 Elementar-, 12 Mittelschulen, 
1 Eindergarten. Die Gesamtzahl der Schüler aller 
privaten Elementar- und Mittelschulen beträgt 



29 630; davon sind orthodox 8000, kathoüsch 3000, 
protestantisch 1600, jüdisch 16800 und ver- 
schiedenen Bekenntnisses 230. 

Bumänien und Bulgarien. Im Monat 
November verbot die bulgmsche Regierung den 
russischen Flüchtlingen und einigen romanischen 
Juden den Zutritt zum Fürstentum. Zur Wieder- 
vergeltung verschloss Bumänien seine Grenzen den 
bulgarischen Juden. Welch schwere Störungen 
durch diese Massregeln in den Handelsbeziehungen 
zwischen Untertanen der beiden Länder hervor- 
gemfen wurden, kann man sich leicht vorstellen. 
Noch sind sie nicht beseitigt. Die bulgarische 
Begierung hat ihre Verfügung zurückgenommen, 
die mmänische hingegen beeilt sich nicht, hrer- 
seits den entsprechenden Schritt zu tun. 



Die Torkommnisse in Rumänien. In ver- 
.schiedenen Beziiken Rnmäniens haben die wüsten 
Hetzereien, von denen in dem oben mitgeteilten Bericht 
an die Alliance Isra^lite Universelle die Rede gewesen 
ist, die traurigen Früchte getragen. Auch hat die 
Auspowerung der rumänischen Bauern durch die 
rumänischen Bojaren eine revolutionäre Bewegung 
hervorgeruten. Diese Bewegung richtet sich in der 
Hauptsache gegen die rumänischen Grossgrundbesitzer, 
die den rumänischen Bauer aufs äusserste bedrücken. 
Selbstverständlich macht die Aufstandsbewegung nicht 
gerade vor den jüdischen Türen halt, und so ist es 
erklärlich, dass auch die Juden 'n den betreffenden 
Bezirken zu leiden haben. Den antisemitischen Hetz- 
aposteln ist es hier und da gelungen, die bäuerliche 
Bewegung in das antisemitische Fahrwasser zu leiten. 
Doch das sind nur Ausnahmeerscheinungen. In der 
Hauptsache ist die rumänische Bauernbewegung gegen 
Bedrückung durch die Grossgrundbesitzer gerichtet. 
Die heuchlerischen Klagen über den „Landwirtschafbs- 
Trust**, von dem in dem obigen Bericht an die Alliance 
so viel die Rede ist, waren im vorhinein darauf be- 



rechnet, die Bauemnot in einen Zusammenhang mit den 
Juden Rumäniens zu bringen, denen doch sogar der 
Aufenthalt auf dem flachen Lande in jeder Weise er- 
schwert wird. Die jüdischen Pächter mussten diesem 
Zweck dienen. Dass man gleichzeitig den Bojaren 
Vorwürfe machte, weil sie jüdische Pächter und von 
diesen hohe Pacht nahmen, war lediglich ein Mittel, für 
die neue Judenhetze einen populären Vor wand zu finden. 
In Rumänien braucht es nun kaum eines Vorwandes, 
um eine Judenverfolgung hervorzurufen, und die 
hungernden Bauern warteten keine wiederholte Ein« 
ladung ab, sich an Juden und jüdischem Eigentum zu 
vergreifen. Doch der rumänische Bauernaufstand ist 
ein regelrechter Hungeraufstand gegen die Misswirt- 
schaft der Bojaren, und der antisemitische Anstrich ist 
äusserüches Beiwerk. Leider wird die Not unserer 
Glaubensgenossen in Rumänien hierdurch nicht geringer. 
Selbstverständlich haben die Alliance Iraelite UniverseUe 
und die Jewish Colonisatiun Association durch ihre Ver- 
treter in Rumänien ohne Verzug dafür gesorgt, dass 
den jüdischen Flüchtlinsen und den am Ort ihrer Nieder- 
lassung geschädigten Juden Hilfe zuteil werde. 



DIE ALLIANCE ISRAELITE UNIVERSELLE UND 

DIE PERSISCHEN JUDEN. 



Der Präsident der Alliance Israölite Universelle, 
Herr Narcisse Leven, hat am 12. Februar an den 
französischen Minister des Auswärtigen nach- 
stehendes Schreiben gerichtet: 

Herr Minister! 

Wir haben die Ehre, Ihre wohlwollende 
Aufmerksamkeit auf die Lage hinzulenken, die 
unseren Glaubensgenossen in Ispahan bereitet 
worden ist. Ein Telegramm, das wir soeben von 
dem Direktor unserer Schulen in dieser Stadt 
erhalten haben, meldet uns, dass die Geistlichkeit 
die Juden gezwungen hat, sich zum Tragen 
xmterscheidender Gewänder und zum Verzicht 
auf den Handel im Umherziehen zu verpflichten. 



Zu jeder Zeit haben die Vertreter Frankreichs 
in Persien sich bemüht, die Israeliten gegen 
ähnliche Angriffe auf ihre Menschenwürde in 
Schutz zu nehmen, und die Intervention der 
französischen Vertretung bei der Regierung des 
Schah ist stets wirksam gewesen und mit Ent- 
gegenkommen aufgenommen worden. Wir würden 
Ihnen zu tiefer Dankbarkeit verbunden sein, 
wenn Sie die Güte haben wollten, möglichst auf 
telegraphischem Wege der französischen Gesandt- 
schaft in Teheran aufzugeben, dass sie bei den haupt- 
städtischen Behörden die Rücknahme der gegen 
die Israeliten von Ispahan erlassenen Befehle 
erwirke. Wir richten diesen Apell an Ihren 
Geist der Menschlichkeit und des Liberalismus 



287 Mitteilungen der Alliance Isra^lite Universelle: Die AUiance Isra^lite Universelle und die persischen Juden. 2S 



und sind überzeugt, dass Sie diesen durch Ge- 
währung unseres Ersuchens aufs neue beweisen 
werden. 

Genehmigen Sie, Herr Minister, die Ver- 
sicherung unserer Hochachtung. 

Der Präsident 
Narcisse Leven. 

Hierauf ist folgende Antwort an Herrn Leven 
gelangt: 

REPUBLIQUE FRANCAISE. 
Ministere des 



affaires etrangeres 



Paris, den 18. Februar 1907. 



Geehrter Herr! 

Durch einen Brief vom 12. Februar haben Sie 
die Güte gehabt, mein^ Aufmerksamkeit auf ge- 
wisse Verfolgungen zu lenken, denen Ilire 
Glaubensgenossen in Ispahan von seilen der Orts- 
geistlichkeit dieser Stadt ausgesetzt werden. In 
diesem Schreiben drückten Sie mir zugleich den 
Wunsch aus, dass die Gesandschaft der Republik 
in Teheran bei den hauptstädtischen Behörden auf 
die Rücknahme der gegen die Israeliten von 
Ispahan erlassenen Verfügungen wirke. 

Ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, dass 
ich soeben unserm Gesandten in Persien tele-' 
graphisch die Weisung habe zugehen lassen, er 
möchte in dem von Ihnen angegebenen Sinne 
bei der Regierung des Schah die erforderliche 
Schritte tun, die, wie ich hoffe, wirksam sein 
werden und im übrigen dem Geist der Menschlich- 
keit und des Liberalismus der Regierung der 



Republik entsprechen, an den Sie neuerding» 
appelliert haben. 

Empfangen Sie, geehrter Herr, die Ver- 
sicherung meiner ausgezeichneten Hochachtung. 

S. Pichon. 

Der Präsident der Alliance Israölite Univer- 
selle hat darauf von dem französischen Gesandten 
in Teheran nachstehenden Brief erhalten: 

Französische Gesandtschaft -p, , i^o w u tn/vrr 

in Persien. Teheran, 23. Februar 1907. 

Herr Präsident! 

Ich habe das Telegramm empfangen, das Sie 
am 11. d. M. an mich wegen der Bedrückungen 
gerichtet haben, denen die israelitische Gemeinde 
von Ispahan ausgesetzt gewesen ist. 

Ich bin sofort bei Sadi Azam vorstellig ge- 
worden, der deswegen alsbald ein Telegramm an 
den Gouverneur von Ispahan geschickt hat. Ich 
hoffe, dass die gegenwärtigen Schwierigkeiten 
sich nicht allzu lange ausdehnen werden. Nach 
den von dem englischen Konsulat .eingezogenen 
Erkundigungen soll in Ispahan die Agitation 
unter den Mollahs abermals zunehmen, die den 
Juden das Recht zum Verkauf von Wein und 
Branntwein und zum Handel im Umherziehen 
bestreiten wollen. 

Genehmigen Sie, Herr Präsident, die Ver- 
sicherung meiner ausgezeichneten Hochachtung. 

L. Descos. 
An den Präsidenten 
der Alliance Isra^lite Universelle 

35 rue de Tr^vise 

Paris. 



BULGARIEN. 



Gelegentlich des Hinscheidens der Prinzessin 
Klementine, Mutter des Fürsten Ferdinand von 
Bulgarien, hat das Central - Comit^ der Alliance 
Isra^lite Universelle an den Fürsten ein Beileids- 
Schreiben gerichtet, auf das folgende telegraphische 
Antwort eingegangen ist: 

Vienne, 28. Fövrier 1907. 

Particulierement touch^ des condoleances que 
vous m'offrez au nom du Comife Central de 
l'Alliance Isra^lite Universelle ainsi que de 
Texpression de vos sentiments de gratitude envers 
les Id^s de tolerance et de justice que j'ai 



toujours eu a coeur de mettre en pratique, je 
vous adresse, a vous et aux membres du Comite 
Central, mes plus sinceras remercimints. 

Ferdinand. 

(Tief gerührt durch die Beileidsbezeugung, 
die Sie mir namens des Central -Comit^s der 
Alhance Isra^lite Universelle übermitteln, wie 
durch den Ausdruck Ihrer Dankbarkeit gegenüber 
den Ideen der Toleranz und Gerechtigkeit, deren 
Verwirklichung mir stets am Herzen gelegen 
hat, sage ich Ihnen, wie den Mitgliedern des 
CentralComitös meinen aufrichtigsten Dank.) 



Druckfehler-Berichtigung. In unserer aus 
Mannheim datierten Mitteilung Seite 216 der vorigen 
Nummer sind eine Anzahl Druckfehler: Unser ver- 
dienter Kollege Dr. jr. Günzburger ist in Offenburg 
und nicht in Offenbach tätig, sein Heidelberger College 
heisst nicht Schlössingar, sondein Schlössinger, unser 
Freund Jonas Biedermann ist iü Gailingen» nicht 
Garlingen, Herr Bezirksältester Josef Nordmann ist 
in Lörrach, nicht in Börrach, Herr Julius Kaufmann 
nicht in Badenberg, sondern in Ladenburg tätig. — Da 



wir einmal bei den Druckfehlern sind, so woDen wir 

noch bemerken, dass auf Seite 212 Zeile 4 von oben 

nicht „einige" sondern „innige" Freundschaft zu lesen ist. 

* ^ * 

Berlchfs-Ergänzung. Herr Babbiner Dr. Frank 
bittet uns, das P) otokoll der letzten Tagunpr der Deutschen 
Conferenz-Gemeinschatt in Frankfurt a. M. dahin zu er- 
gänzen, dass er die Erklärung abgegeben hat, er werde 
vom 1. Januar 1908 an seine Tätigkeit in Alliance- 
Angelegenheiten auf die Rheinprovitt^ beschränken. 



HERMANN STRUCK OELOEMAHI.D 

Grootpräsident 
Justizrat Dr. Timendorfer. 



PAULA LEVI :OE[.QEMAELDF_ 

Groaapraaident Julius Feuchcl. 



HEfiMANN STRUCK OELQEMAEl.DE. 

GrouprSsident 



Sanititsrat Dr. Haretxki. 



JUBILAEUMSFEIER DER LOOEN. 



Am 17. März haben die Gro5slog:en lör Deutschland 
und die Deutsche Reicbs-Loge daa Fest ihres 25jährl^n 
Bestehens ^feiert. Die Deutsche Conferenz- Gemein- 
schaft der AJliance Isra^lite Universelle hat an dem 
Jabiläam der beiden wUrdis^en und hochverdienten 
Logen den herzltcbEten Anteil ^nommen und durch 
eine von Herrn Rabbiner Dt. Weisse geführte Depu- 
tation die innigen GlfickwUnsche der Alliance Israi'ltte 
Universelle zum Ausdruck bringen lassen. Unter 
dem 19. März er. hat die Gros^-loge an die Deutsche 
Conferenz-Gemeinschaft der Alliance Israi^lite Universelle 
nachstehendes Schreiben gerichtet: 

„Sehr geehrte Herren! 
Es ist uns eine angenehme Pflicht, Ihnen 
herzlichst zu danken fQr die Entsendnng Ihrer 
werten Vertreter zu unserer Jubiläumsfeier am 
17. d. M. und zu versichern, dass diese Ihre 
Entsendung von uns als eine besondere Aus- 



Nacbdnick verbolen. 
Zeichnung angesehen wird. Wenn der Yeilanf 
der Peter ein so würdiger gewesen, und auf alle 
Anwesenden einen tiefen Eihdrack gemacht hat, 
so hat hierzu Ihre Vertretung sehr wesentlich 
beigetragen, dpnn hierdurch ist so recht zum 
Ausdruck gekommen, wie unsere Ziele auch von 
Ihnen gewürdigt und anerkannt werden. Wir 
werden es zu allen Ziiiten als unsere Aufgabe 
enichtcn, soweit unsere Kräfte reithen, auch Ihre 
Bestrebungen zu fordern, und wir werden uns 
aufrichtig freoen, wenn wir in die Lage kommen 
werden, diese unsere Versicherung zu betätigen. 
Mit vorzuglicher Hochachtung 
Grossloge fttr Deutschland VIII V. 0. ». H. 
gez. Timendorfer, D. Wolff, 

Präsident. SekretSr." 

Auch die Reichaloge hat in ähnlictier Weise ihrem 
Dank Ausdruck gegeben. 



BEZIRKS-RABBINER DR. SALVENDI-DUERKHEIM. »«.„,. „,^„ 

Grösser als der Geber selbst ist, wer zum Geben persiinlich und brieillich sie mahnen, als ein Apostel 
veranlasst. — Sagt dieses hebräische Sprichwurt di<' der Mildtätigkeit sie an ihre Wohl tnnspfli cht ei- 

Wahrheit, so darf l>r. Sulvendi für sieh in An- Innern and dem erwachenden Willen zur Hilfe die 
Spruch nehmen, vor allen Philanthropen genannt zu rechten Wege weisen. Sein unermüdlifhes Mühen wiir 

werden. Denn unzählige Hände nicht vergeblich. Als er vor jetzt 

hat er geöffnet, dass sie dem Be- mehr denn vierzig .Tahren nncli 

dürftigen Gaben darreichten. Wie DUrkheim kam, ourfasste sein 

mit einem Zanberstab berührte er Bezirksrabbinat 36 Gemeinden, 

die Herzen, und sie ttten sich weit eine stattliche Zahl. Doch diese 

anf in lebendigem Mitgefühl, und 31 Gemeinden zusammen sind klein 

das Mitgefühl setzte sich in im Vergleich zu der Riesen - 

lebendige Hilfsbereitschaft um. gemeinde der Wohltäter, die er in 

Kleine Gaben und grosse flogen allen Teilen des Deutschen lleiches 

durch ihn zosannmen und bil- nnd Ober dessen Grenzen hinaus 

deten einen starken Strom des herangezogen, zur Hilfs Willigkeit 

Wohltuns, der werktätigen Bruder- erzogen, zu einer Armee von 

liebe. Dabei sass er nicht an Kämpfern gegen jede Art von Not 

einem der mächtigen Centren geworben, gewonnen und nnter 

des Verkehrs, wo die Menge seine Fahne gewöhnt hat. 

der Menschen und -die Fülle des Die Pflege der Wohltätigkeit 

Reichtums beieinander wohnen. war sein Lebenswerk, die Aufgabe, 

Nein, abseits von der viellw- der er sich roil eisernem Fleiss 

wanderten Heerstrasse, im stillen widmete, der er mit unvergleich- 

pfälzischen DUrkheim hatte er sein lieber Hingebung oblag. In den 

Galehrtenheim aufgeschlagen. Die Dienst dieses Leben.iwerkes stellte 

Menschen kamen nicht zu ihm — er ein ungewöhnliches oiT^anisa- 

er musste zu dpp Menschen gehen, Dr. SalvendUDfirkheim. torisches Talent. Mit tadelloser 



291 



Mitteilungen der Alliance Israelite Universelle: Bezirks-Rabbiner Dr. Salvendi-Dürkheini. 



292 



Uebersichtlichkeit, in der kein Kaufmann ihn hätte tiber- 
bieten können, legte er Rechenschaft über jeden Eingang 
und seine besondere Bestimmung, sowie über die Verwen- 
dung. Die Spender hatten die Möglichkeit, ihren Beitrag 
zu verfolgen, bis er in seinen Zweck aufgegangen war. 
Und die Zwecke waren mannigfachster Art, dem Willen 
der Geber entsprechend. Freilich fügte sich oft der 
Wille des Gebers nach dem Willen dessen, der die 
Gabe veranlasst hatte, nach dem Willen Salvendis. 
Für Tausende war Dr. Salvendi der Mittler und Leiter 
bei der Erfüllung der Pflicht der Bruderliebe. Sein 
pietätvolles Herz war dem alten Heimatlande der Judenheit 
in unzerstörbarer Anhänglichkeit zugewandt, und das 
machte ihn zum Führer der ungezählten Gesinnungs- und 
Gefühlsgenossen. Ein Appell, der ans dem Heiligen 
Lande kam, begegnete schon um seines Ursprungs 
willen bei ihm zustimmendem Willen, und diesen über- 
trug er auf die grosse Gemeinde seiner Mithelfer. 

Es konnte gar nicht anders sein, als dass ein so 
gearteter Mann zur Alliance Israelite Universlle ge- 
hörte. Er musste ihr beitreten, denn er fand bei ihr 
die Erfüllung des eigenen Strebens, die weltumfassende 
Verwirklichung der Wünsche, die er im eigenen Herzen 
hegte. Einen grossen Teil seines Lebenswerkes hat 
er im Dienst der Alliance Israelite Universelle ver- 
richtet, dem Werk der Alliance einen grossen Teil des 
Ertrages gewidmet. Von Dürkheim in der Pfalz aus 
hat Bezirksrabbiner T)r. Salvendi über eine Million 
Mark, genau — bei dem musterhaften Verwalter kann 



man den Pfennig angeben — Mark 1036476.— für 
Wohltätigkeits- und Wohl fahrtsz wecke gesammelt. 
Davon waren Mark 228620.— für die Alliance 
Israelite Universelle, Mark 118000. — füi* ein Waisen- 
haus in Jerusalem, Mark 100000,— für eine Kolonie- 
Stiftung in Palästina, Mark 46800.— für den palästi- 
nischen Hilfsverein Lemaan Zion, Mark 41900. — ' für 
Armen Wohnungen in Jerusalem bestimmt. 

Diese grosse Tätigkeit hat Dr. Salvendi in be- 
scheidener Stille ausgeübt, ohne mit seiner Person je 
Jiervorzutreten. Doch die ADiance Israelite Universelle, 
in deren Central- Com ite er Sitz und Stimme hat, wusste 
stets, was sie an ihm besass. Sie wusste, dass des 
Mannes ganzes Herz ihr gehörte, weil es der Judenheit 
gehörte. Und in der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft, 
deren Mitglied er als Mitglied des Central-Comites ist, 
hat er noch jüngst in Frankfurt am Main erfahren, 
welches grosse Mass von Anerkennung und Verehrung 
ihm gezollt wird. 

Dr. Salvendi ist am 10. Januar 1837 in Waag- 
Neustadtl in Ungarn geboren. Dort sowie auf den 
Jeschiboth in Pressburg, Leipnik und Nikolsburg in 
Mähren lag er gründlichen Talmudstudien ob, auf der 
Universität Breslau studierte er 1858 bis 1862 Philo- 
sophie. Er erlangte den Doktorgrad durch eine Disser- 
tation über „Josef Kimchi und seine Werke**. Im 
April 1864 kam er als Rabbiner nach Bereut in West- 
preussen. Seit Dezember 1866 amtiert er als Bezirks- 
rabbiner in Dürkheim. — Ad centum et viginti annos ! 



Frankfurt a« M. Unser verehrliches Mitglied 
Herr Willy Stern hat dem hiesigen Lokal-Comite 
der Alliance Israelite Universelle eine Spende von 
1000 Mark übermittelt. 

Pleschen hi Posen. In der Gemeinde Plescben 
hat sich ein neues Ortskomitee für die Alliance Israelite 



Universelle gebildet. An der Spitze steht der Gemeinde- 
vorstand Herr Hermann Rosenbaum. Der jeweilige 
Vorsteher der Gemeinde ist laut Vorstandsbeschluss der 
Vertreter der Alliance. Unser immerwährendes Mit- 
glied Herr Salo Geliert unterstüzt Herrn Rosenbaum 
in dankenswei ter Weise. 



Die verehrlichen Mitgliedery die auf regelmässige und pünktliche Zustellung 

unseres Organs Wert legen, werden ersucht, Aenderungen ihrer Postadresse unver^ 

ztt^lich dem deutschen Bureau der A. L U., Berlin N. 24, Oranienburgerstrasse 42/43 
mitzuteilen. 



Alle für das Berliner Lokal -Comit6 der A* 1. U* und für das Deutsche Bureau der A. I. U. bestimmten 
Geldsendungen beliebe man an den Schatzmeister 

Herrn Benno Braun in Firma Joelsohn & BrOnn, Berlin C. 19, Hausvoigteiplatz 1 2 

zu adressieren, eventuell durch Reichsbank-Girokonto der Firma Joelsohn & BrOnn zu überweisen. 

Unter den soliden und bekanntesten Zigarrengeschkften Berlins sei dasjenige der Firma H. L. Rennert, Unter den Linden 54/55 
hiermit bestens empfohlen, dasselbe wurde im Jahre 1849 gegründet und wird von Herrn Paul Rennert, dem Sohn des Begründers, unter den vom 
Vater eingeführten, streng reellen Prinzipien geleitet. Genannte Firma unterhält in Hamburger und Bremer Marken der bekanntesten Fabrikanten, 
sowie in echten Importen jeder Preislage, ein wohlassortiertes Lager, sodass jedem Qeschmack Rechnung getragen wird. Durch den directen Verkehr 
mit der Havanna ist die Firma Rennert in der Lage, in echten Importen selbst die ventöhntesten Ansprüche zu befriedigen, hierbei dürfte es Fein- 
schmeckern mit besonders verwöhnten Gaumen rn erfahren von Interesse sein, dass sich eine Marke, genannt ..Calixto Lorez", auf Lager befindet, 
wovon die teuerste pro tausend 10,000 Mark, also pro Stück 10 Mark kostet. Aber auch in Zigaretten unterhält genannte Firma alle türkischen, 
egytischen und russischen Marken, sowie ihre eigenen Fabrikate in allen Preislagen vorrätig. Schliesslich sei erwähnt, dass Preislisten auf Wunsch 
gratis und franko von der Firma H. L. Rennert, Unter den Linden 54/55, versandt wcnien. 



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InseratenaRnabne nur aurcb l)j|jl$eil$tein ff UOfller J\. 6. in Berlin nna aeren Jlliakn. 

Abonnemcattprclt f&r da* Jahr In D«utschland uad 0«»tarrelch Mark 7,— (Laxosaatgabe Mark 14,—)« für da* Ausland Mark 8—, 

(Lnznsausf ab« Mark 16). 
für RuMland ffanxjihrllch 4 Rubel. EInzelhefta k 35 Kop. 

.V ..,- .-^ Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandes, durch alle Postämter des Deutschen «..^ 

■ Reiches unter No. 5786 a der Postzeitungsliste und durch die Expedition dieser Zeitschrift. ' ^'•~^ 

Anzeigen Mk. /.— die viergespaltene NonpareiUezeHe, grössere Anzeigen nach Tarif, bei Wiederholungen Rabatt. 

Adresse für die geschäftliche Korrespondenz: Verlag „Ost und West'*, Berlin W. 8, Leipzigerstr. 31-32. 



Redaktion: Berlin W. 15» Knesebeckstr. 4S/49. 



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Verantwortlicher Redakteur: Leo Winz, Berlin W. 15, Kncsebeckstr. 48/49. - Verlag Ost und West, Berlin W.8. 

Druck von Haasenstein & Vogler A. O., Berlin S. 42, Wasserthorstr. 50. 



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reicbo Buch. Pt. Mk. 1,10 
Prclil. intli. V(l«l 4 Ct., 

UlKlt-PlMWltl IW. 



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■ituigs-lD6iianseii » d« Nibe a.. Ai«,udap).<Mf 
QDd Pension "^ *'*' /•»•«'••'»^«k^ 



WelD0Foaabandlung 



I J. Bourdonnay, St. Avold (uthr.) 

! T|)ezialMt : Oar. echt. Rotwein zu K. 60, TD bis tOD Pf. pro Liirr; 



TPolfi A Calmberg 

Anstalt f. kflnttl. Mineralwaascr aus destill. Wasser 
■UelvtoUwM« S*. 4-$- Tclc»k«M VI, W. 

Fpiseliquell 

Herrorragendes Tafel- u. Gesundbeitswasser 
•t IbMbra Mk. 1,- aiU. Fl. 

Trauben >/VKousseux (»ikohourei) 

M Pluck» Mk. ■,- Mkl. n. 



DerHaonnisl 

611 HVmtäiaittlW maiatl an oerforgc, tie bo« |on(l to» 
Stbm beS «Injdntn In un(ttem 3tllall(T I»nnjel*nM. Ifl, tat Kttft 
8(Ult »an flutn Orile^unfl tbrtai 4aaDlb>af |c^ rnrntg QtadilunB 
td)enlcn. ouf tetni 9Ua(*( unb faufitn ginotnidacl. «ItlBuna 
unB nudjtue »Icl mtt)c Wttt lesttn. bei 
icnben. Iclt^lcnartallunajumllr^t [auTtn 
lta|il4<>iir au) bae etlttmau« [tiefte btbo 
XawtB llcDcn bei IQien SRobtfclfuitn 
fnatiatlflttfldt HnlorbcTungtii an Ibrt 
Qaomucb^. adilcn laum bei bunf) 
tnitalt VMiiali Infolge iingeftblttitr 
ftoDimn^ninfl gerittenen f aan — 
Amra mdndi .bic Wege' Itrre« 
fauplljaaree buid) tbien Voibltr aufi 
üben lidlen ju Unnen. 

BtdJiiitnHvtntIrnimT, bic 

flct) bttlei Tdiben! Selbtl bei eineneni 
SSrften' imb Rommjeug tinb Sn 
ftettungcn btlni !tri(eur. tIebcriTilguit- 
gen Don OHitraotnanldmen biu<b bie 
Don Itovl t,u Hopt nonbentbCR $Anbc 
eine ßete anjunebmtnbc (Bemifi^lt! Sa 
aid)t ber TiiUt jii gebcnhn. In bcncn n 
«tue ffiotÄuiifl ber 8op|baul In ben | 
den JHKtn (üt iiüttB M't mo Staub, 
unb £4lniibllbuu[|cn utttic bei bill 

lalf^H ftaare nnb anbercr lUnllllc^cr „ „„,„ „„„. 

flBil l^ie üBenbe Xaitgteil an bra 9aain>urje1n uiiallbcnl 

mat ist xwar rtcbt ptlilicb kerihn.iDenn iiibiiinbtisiaicb» 

gugenb unb reiferen ga^rt Vlibtunfleii auf bcm i^aaiboben ^H) bcnieilbac 
machen, iveitii pl Galtet) bic befkn Dopt' unb Vaillgaaic auüfaUen unb unau|^ 
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dasfininilflnel olein Krankheiten, 
dlePrsncnea hlrelclier Nlsserfoüe! 

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gabren graue (aare (14 eifAntfenb breit ma^en. — üntangS geringe 
lltfn*(n, Ne ob« bod) ben Bhiin ja^lrelHet «tiflenjrn ^rbtttüftrcn. 

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banaler SktSbel' pompbatt angepileten 
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fialb nue nalürlf^e ftraitlgungg* unb 
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Flittir's Hurwoml-DiliFiing 

geboten inelbcn. Xao 4>rät>nrül ift ulel)i ueu. sä \]t naii inbri' 
laiiger iBiffralcbolt lieber »tbelt ielt längerer ;l(li In Bet Srloatpratu ]nii 
|ebrnll"l'i'l^"i ftiliilae eipiobl, iPDiüber eirrlNeibrlMiiiadiieti ooiliegen. ^e 
belli. Bei eiiBIi* letne» ©aataiiBlull inll ffrlolg btiampteu tpIU, ober belku 
Rabllopl iiotb iiti^t uOUlg abgtftorbeue Oaanruiaeln jelgt, lenbe 14 meine 

Ratschläge zwanglos und hostenlos! 




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_T*Pi>l«h«, Oardlnaii, PolaUr- 

■ BtSb«!, B*n«B, BUUrdi, Tk- 

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laUSTRIERTE MONATSSCHRIFT 



V 



FÜR DAS GESAMTE JUDENTUM 



Herausgegeben und redigiert 

von 

LEO WINZ. 



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Alle Rechte ▼orbehalten. 

Heft 5. Mai 1907. TH. Jahrg. 



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MW 



DER AUFSTAND IN RUMAENIEN. 

Von M. A. Klausner. 



Nachdruck verboten. 



Rumänien liegt zwar in „Halbasien^, aber 
immerhin an der Grenze des europäischen Kultur- 
und Verkehrsgebietes, so dass man annehmen dürfte, 
die dortigen Vorgänge, die sich am lichten Tage 
abspielen, könnten kein Geheimnis bilden. Neueste 
Erfahrungen jedoch zeigen, dass man von Rumänien 
ans mit Erfolg den Versuch machen kann, den 
europäischen Zeitungsleser auch über die Natur 
soldier Vorkommnisse zu täuschen, die sich in aller 
Oeffentlichkeit vorbereitet haben, in aller Oeffent- 
lichkeit erörtert worden sind. 

Der rumänische Bauernaufstand, der jetzt mit 
Waffengewalt niedergeschlagen worden ist, hat in 
Rumänien nicht überrascht. Man hat dort sein 
Werden und Heraufziehen beobachtet, hat in Senat 
und Kammer von ihm gesprochen, und selbstver- 
ständlich hat man nach Landesbrauch den Versuch 
gemacht, die Schuld an den Zuständen, die die 
bäuerliche Bevölkerung zu Raub und Gewalttat 
trieben, den „Juden" zuzuweisen — die in einem 
grossen Teil Rumäniens gamicht in ländlichen Ge- 
meinden wohnen, in ganz Rumänien keinen Grund- 
besitz erwerben dürfen, sogar als Gutspächter nur 
ausnahmsweise zugelassen werden. Ohne jede Ver- 
schleierung, erkennbar für jeden, der nicht frei- 
willig auf den Gebrauch von Augen und Ohren 
verzichtete, verhandelte man in den gesetzgebenden 
Körperschaften Rumäniens darüber, wie man die 
grossgrundbesitzende Bojarenschaft von dem Vor- 
wurf, den rumänischen Bauer zur Verzweiflung 
und zu Verzweiflungstaten getrieben zu haben, be- 
freien und den „Juden", den „Fremden" als Prügel- 



knaben einschieben könne. Aus den Reihen der 
Lehrer und der Zöglinge der Hochschulen zogen 
Wanderprediger aus, die dem Bauer eänreden wollten, 
alle Bedrängnis schreibe sich von den Juden hei*, 
und eine Judenverfolgung nach bessarabischem 
Muster sei das gegebene Mittel, den Bauer aus 
seiner Not zu eriösen. Der Jüdische Pächter" 
habe alles Unheil verschuldet, denn — der jüdische 
Pächter zahle hohe Pacht, und es liege auf der 
Hand, dass hohe Pachtraten der Landwirtschaft 
verderblich seien. Ganz leise wurde das Zuge- 
ständnis gemacht, die Bojaren hätten insofern einen 
Anteil an dem bösen Verhängnis, als sie die hohen 
Angebote der jüdischen Pächter nicht zurückwiesen. 
Aber auch für diese Sünde seien die Juden ver- 
antwortlich, die die Bojaren durch schnödes Geld 
verlockt und erkauft hätten. 

Die Unwahrhaftigkeit dieser Behauptungen 
war selbst für den rumänischen Bauer zu deutlich. 
Er liess sich nicht auf die „Juden" ablenken, 
sondern machte die bojarische Misswirtschaft durch 
seinen Hungeraufstand europakundig. 

Nur unter den westeuropäischen Juden fanden 
die Bojaren Gläubige, nur unter den westeuro- 
päischen Juden gab es naive Gemüter, die der 
bojarischen Vorspiegelung trauten, das Märchen 
von einer neuen Judenverfolgung in Rumänien 
nacherzählten, und damit die Arbeit der Bojaren 
nach deren Wunsch taten. 

Freilich gab es insofern mildernde Umstände, 
als man in Rumänien Judenverfolgungen nicht für 
unmöglich oder auch nur für unwahrscheinlich 



295 



M. A. Klausner: Der Aufstand in Rumänien. 



296 



halten kann, und als der tatsächlich ausgebrochene 
Bauernaufstand weder vor jQdischen Läden noch 
vor den Häusern jüdischer Pächter respektvoll 
Halt machte, so wenig wie vor den Besitzungen 
des Königs Carol und der rumänischen Grossbojaren. 

Trotzdem ist die Täuschung fast unbegreiflicli. 
Die »Alliance Isra6lite Universelle" hatte aus 
Rumänien während der ganzen Vorbereitungszeit 
des Aufstandes ausführliche und zuverlässige Be- 
richte, die auch in der Aprilnummer dieses Blattes 
veröffentlicht worden sind. Wer unterrichtet sein 
wollte, der war es. Auch hatte die Alliance im 
Verein mit der Israelitischen Alliance in Wien, 
ihrem Schwesterinstitut, alle erforderlichen Vor- 
kehrungen getroffen, nicht minder die Aufmerksam- 
keit derer, die es anging, auf die kommenden 
Dinge gelenkt. Es bedurfte nicht der Erfahrungen, 
die sie in fast halbhundertjähriger Tätigkeit ge- 
sammelt hatte, damit sie sich sage: bei dem bevor- 
stehenden Sturm werde es an Schädigungen jüdischen 
Eigentums über den prozentualen Anteil hinaus 
nicht fehlen, während bei der demnächstigen Ent- 
schädigung die Juden Rumäniens kaum auf 
ihren vollen Anteil kommen würden. Sie sah 
auch eine Pluchtbewegung der Bedrohten voraus 
und traf in der Stillle ihre Vorkehrungen. Sie 
mobilisierte ihre Vertrauensmänner in Rumänien 
und in den Grenzstaaten, namentlich in den bul- 
garischen und österreichischen Grenzorten — 
übrigens unter wohlwollendster Unterstützung und 
Förderung von Seiten der österreichischen und 
bulgarischen Behörden, die sofort die sonst geltenden 
Vorschriften über die Grenzsperre aufhoben — und 
als das Unheil da war, war auch schon die Hilfe 
zur Hand, waren die Gelder für die augenblickliche 
Hilfe angewiesen, die Mittel zur weiteren Hilfe 
schon bereit 

Bei alledem wurde klugerweise kein Wort 
von einer Judenverfolgung verlautet. Denn es gab 
keine Judenverfolgung in Rumänien im eigentlichen 
Sinne, es gab nur eine allgemeine Landeskalamität, 
unter der die Juden mit der übrigen Bevölkerung 
zu leiden hatten! Das ändert an der Tatsache 
nichts, dass in Rumänien die Juden seit dreissig 
Jahren bedrückt und, entgegen feierlich vor Europa 
abgegebenem Versprechen, von den natürlichsten 
Rechten ausgeschlossen, durch ein System von gesetz- 
geberischen Chikanen der unwürdigsten Behand- 
lung planvoll unterworfen werden. Nur eben jetzt 
war der Aufstand nicht gegen die Juden, sondern 
gegen die Bojaren gerichtet, und diesen Bedrückern 
der Juden half man, leistete man, unwissentlich 



natürlich, Dienste, indem man die rumänischen 
Juden als die Zielpunkte und damit, wenigstens in 
gewissem Sinne, als die Anlassgeber des Aufstandes 
hinstellte. 

Gewiss ist der rumänische Bauernaufstand ein 
Zeugnis rumänischer Misswirtschaft» Auf jüdischer 
Seite hatte man aber nicht das geringste Interesse 
— nur auf bojarischer Seite hatte man es und 
machte daraus auch kein Hehl — die falsche Vor- 
stellung zu unterstützen, dass der Bauernaufstand 
in Rumänien der Ausdruck der Feindseligkeit sei, 
den die bäuerliche Bevölkerung gegen die ru- 
mänischen Juden empfinde. Unser Interesse ver- 
langte vielmehr, dass wir vor Europa wiederholten 
und laut verkündeten, was die Bojaren in Senat 
und Deputiertenkammer, wo sie „unter sich" waren, 
unumwunden eingestanden hatten. Unsere Sache 
war es, die Signatarmächte des Berliner Vertrages 
darauf hinzuweisen, dass die Bedrohung der öffent- 
lichen Ordnung in Rumänien mit eine Folge ist 
des fortgesetzten Rechtsbruchs, dessen Opfer unsere 
Glaubensgenossen seit einem Menschenalter sind. 
Die nämliche Politik ist es, die in Rumänien die 
Judenbedrückung und die Bauembedrückung ge- 
zeitigt hat, derselbe Faden wird in dem einen wie 
in dem anderen Falle gesponnen, derselbe Faden 
und dieselbe Nummer. Es wäre vielleicht nicht 
einmal unbedingt nötig gewesen, die Signatar- 
mächte des Berliner Vertrages ausdrücklich anzu- 
gehen. Denn diesen ist die Entwickelung der 
rumänischen Verhältnisse durch ihre Gesandten be- 
kannt, ebenso bekannt wie der Alliance Isra^lite 
Universelle. Unter allen Umständen ist das jetzt 
der Fall. 

Dass für unsere geschädigten rumänischen 
Glaubensgenossen alles irgend Erforderliche ge- 
schieht, ist selbstverständlich. Dafür sind die 
Hilfsorganisationen da, vor allem die Alliance 
Israölite Universelle, die für jeden ersten Anprall 
in jedem Augenblick gerüstet und bereit ist. Ihre 
Mobilmachungspläne sind immer fertig. Um so 
weniger ist es erforderlich, nervöse Hast zu zeigen 
und in noch so wohlgemeintem Eifer Alarmrufe 
auszustossen, die Aufregung ohne Not verbreiten 
undStöruDg in die vorhandene Hilfsorganisation tragen. 
Wir sind, Gott sei es geklagt, in der Notwendigkeit, 
uns für schlimme Fälle gerüstet zu halten, für weit 
schlimmere, als deren Schauplatz Rumänien jüngst 
gewesen ist. Wir müssen, Gott sei es geklagt, 
immer an Möglichkeiten denken, die uns zwingen 
können, unsere begünstigteren Glaubensgenossen 
alle aufzurufen zu einem Landsturm der Wohltätig- 



REOrNA MUNDLAK. Zur DCueii Heimat. ORIOINAL-ZEICHNUNQ. 



"ir 



299 



M. A. Klausner: Der Aufstand In Rumänien. 



300 



keit, wo nicht mehr Spenden genügen, wo es der 
Opfer bedarf. Fttr diese Möglichkeiten — deren 
Verwirklichung nns dauernd femgehalten sein 
mag — müssen wir das letzte Aufgebot aufsparen. 
Sonst handeln wir unklug wie jener Führer, der 
durch blinden Alarm die Wachsamkeit seiner 
Scharen nicht schärfte, sondern einschläferte, so 
dass der ernste Alarm die Ruhenden nicht weckte- 

Auch der Apparat des politischen Appells 
will nur mit Auswahl und unter vorsichtigster Ab- 
wägung, aller Rücksichten in Bewegung gesetzt 
sein. Der blinde Eifer — auch der von gutem 
Herzen eingegebene — kann Schaden stiften und 
stiftet ihn. Wer auf diesem Gebiet improvisieren 
will, bringt es im besten Falle zu einer unfrei- 
willigen Persiflage des Posatums, in der Regel 
sogar zu schlimmerem Erfolg. Die schmerzvoll- 
überlegene Posa-Pose vor einer innerlich ergriffenen 
Versammlung mag ja für manches Gemüt unwider- 
stehlichen Reiz haben — den Erfahrenen wird sie 
nicht in Versuchung führen. 

Bereit sein, ist Alles. 

Wir müssen bereit sein. Doch dazu gehört 
in erster Reihe, dass wir uns ruhig-nüchternes 
urteil wahren, dass wir nicht in die Lärmtrompete 
stossen, bloss weil unsere Feinde es wünschen. 

Die AUiance Isra61ite Universelle hat zu ihren 
vielen Verdiensten sich ein neues Verdienst er- 
worben, indem sie die bojarischen Irreführungs- 
versuche durchschaute und vereitelte. Ihr ist es 
auch zu danken, dass unverztlglich gehörigen Ortes 
bekannt wurde, wie das neue rumänische Ministerium, 
in dieser Beziehung mit dem vorigen vollkommen 

• 

gesinnungseinig, die Folgen des Au&tandes zu aber- 
maligem Rechtsbruch, zu abermaliger vexatorischer 
Rechtsverktlrzung gegenüber unseren Glaubens- 
genossen zu missbrauchen begonnen hat. Man weiss, 
unter welchen Erschwerungen den Juden Rumäniens 
gestattet wird, in ländlichen Bezirken sich nieder- 
zulassen. Vor den aufständischen Bauern sind 
begreiflicherweise unsere Glaubensgenossen — 



übrigens mit der christlichen Bevölkerung — geflohen. 
Nach Niederwerfung des Aufstandes kehrten sie 
in ihre zerstörten Wohnungen zurück. Hier aber 
mussten sie erfahren, dass ihre Flucht als Aufgeben 
des Niederlassungsortes anzusehen sei, und sie 
deshalb ihr Niederlassungsrecht verloren hätten! 
In Vaslui allein sind hundert jüdische Familien 
von dieser Justizverhöhnung im Namen des 
Präfekten betroffen worden! 

Jüdische rumänische Soldaten haben den 
Bauernaufstand niederwerfen helfen. Hier ein Bei- 
spiel, welchen Dank diese jüdischen Soldaten bei 
der mit ihrem Beistand geretteten Regierung finden : 

Bocia Avramescu, in Rumänien von rumänischen 
Eltern geboren, Unteroffizier der Reserve, wurde 
ausgewiesen, weil er angeblich bei einem Delikt 
beteiligt war, und über die Grenze abgeschoben. 
Der Gerechtigkeit der Richter vertrauend, kehrte 
er nach Bukarest zurück und stellte sich in Haft. 
Das Gericht erster Instanz sprach ihn mit der 
Begründung frei, dass ein rumänischer Untertan, 
welches Vergehen er sich auch habe zu Schulden 
kommen lassen, nicht des Landes verwiesen werden- 
könne. Der Staatsanwalt brachte die Sache vor 
den Apellhof, und dieser verurteilte Avramescu zu 
dreimonatlichem Gefängnis wegen Bannbruchs und zu 
erneuter Ausweisung. Jetzt schwebt die Angelegen- 
heit vor dem obersten Gericht, das das Urteil 
zweiter Instanz nur unter Verleugnung des von ihm 
früher erlassenen Spruchs, jede Ausweisung eines 
rumänischen Untertanen sei gesetzwidrig, bestätigen 
könnte. — Einzig von der Aufmerksamkeit Europas 
kann die Wirkung erhofft werden, dass sich der oberste 
Gerichtshof Rumäniens seiner eigenen frilheren Ent- 
scheidung erinnert 

Es ist begreiflich, dass sich unter solchen 
Umständen in der jüdischen Bevölkerung Rumäniens 
erneuter Auswanderungsdrang regt. — Unsere Leser 
werden mit Befriedigung hören, dass die Jewish 
Oolonisation Association die ganze Sorge für die Aus- 
wanderung zu übernehmen sich bereit erklärt hat. 




j 



1.. LfeW-DHURMER 



LUCIEN LEW-DHURMER 

Von O. Kulna. 



Voll frisclier Tatenlust, uiiboirrl in seinem Selbst- 
vtTtrauen, sieht Levy-Dhurnier in der Pariser Kiinsller- 
schaft, wie ein gesunder junger Sproß. Kritik und 
Publikum haben ihm viel Beifall und Wohlwollen ge- 
zeigt, das hat ihn ermutigt, beschwingt, hat seine 
Schaffensfreude gestärkt. Die Persönlichkeit und die 
Kunst L^vy-Dhurmers sind danach angetan, daU sie 
/tistimmung fördert. Diese gesellige, liebenswürdige 
Natur und die geschmackvolle, harmonisierende Kunst 
verlangen nach freundschaftlicher Berührung der Außen- 
welt. Haltung und Redeweise des Mannes, wie Kolorit 
und FoPmbehandlung seiner Malerei sind so beschaffen, 
als bieten sie jedermann freundschaftlichen Gruß und 
Händedruck. Nichts Einsiedlerisches, Grüblerisches 
darin, alles bietet sich sinnfällig dar, trägt die Zeichen 
des Gemeingefühis und macht die Geste der Gastlich- 
keit. Die feinste Qualität in den Werken ist eine frei- 
heitliche, ungezwungene Allgemeingültigkeit. 



Revolutionäre Neuheit, Umwertung der Form 
findet sich in seinem Werke nicht; man bleibt auf ver- 
trautem Boden, kann jenen Harmonien des Daseins 
lauschen, die unmittelbar auf unsere Sinne wirken und 
Wohlgefallen erwecken. Dem Impressionismus steht er 
ganz fem, er malt nicht die Erscheinung um ihrer Form- 
wirkung willen, sondern ,,um durch sie etwas auszu- 
drücken, als Maler die Dinge betrachtend, doch nicht 
als Maler allein". Eher kann man Anklänge an die 
Kunst der Vergangenheit bei ihm finden, die, mit 
modernem Geiste geziert, voll feinen Reizes sind. So 
hat seine Farbe und Charakteristik etwas von dem 
delikaten Charme Lionardos, an dessen leis bestrickendes 
Lächeln und vielsinnigen, rätselhaften Augenglanz 
mancher Kopf erinnert. 

Das kann man an dem Porträt Georges 
Rodenbachl im Luxemboui^ ersehen. In rätsel- 
hafter Symbolik steigt der Kopf aus der BildflScIn- 



O. Kutna: Lwcien Lfvy-Dhurmer. 



304 



heraus, fein^innt« Realität spiegelt sich darin, nahe 
lind bertihrbar, und lockt uns doch ins Ferne, zu des 
Menschendaseins Unergründlichkeiten. Voll Sprache 
und Klarheit scheint die Menschlichkeit zu uns herüber 
und ist doch verschwieffen und unerkannt, in welten- 
rcmem Neuland. Das stille Stadtbild umschließt den 
Hintergrund, Hoimstälten träumen darin, die Straßen 
sind in Stille versenkt und halten den At«in an. Daraus 
blickt der feine Dichterkopf, fragend und sinnend, als 
ziehen die Mysterien seiner Dichtei^elt an seinem 
Sehfeld vorüber. Die geistige Feinheit, die Mischung von 
Reserve und Offenheit im Ausdruck, das leise Vibrieren 
iu den etilen Formen erinnern an Köpfe Lionardos, die 
delikate Schwermut, die skeptische Mystik geben den 
/Qgen moderne Charakteristik innerhalb eigenartiger 
Raumillusion. 

Diese feine Analyse des Menschlichen, in der das 
Wesen vielgestaltig und doch in Einheitlichkeit erschaut 
ist, läQt das Vertraute und Phänomenale in reizvollem 
Widerspruch sichtbar werden, wie „Gesten aus alten 
/.eiten, die in der Haltung des Alltags regsam geblieben 
nnd in der täglichen Berufsarbeit weiterdauem". Das 
Geistreiche und Gemütvolle verbindet sich darin, Witz 
und Sentiment tauchen ineinander und geben dem Bilde 
die geistvoll dichterische Qualität, die der Franzose so 
liebt. Die Kritik rühmte daher seiner Kunst nach, sie 
^■el■eine ebensoviel Realität wie Traum, soviel Wahriieit 



I.KVY-DHURMER 

BctUcr in Spanien. 



wie Phantasie und gebe allem poetischen Dasein 
malerische Wirkung. 

In dem Oeuvre Lö^-y-Dhurmers sind die Spuren dw 
Entwicklung erkennbar, die er durchgemacht hat und 
die bei seinem offenen Sinn für Weite und Wandel des 
Lebens noch lange nicht ihr Ende gefunden hat. In der 
Ausstellung in der Galerie Petit 1896, durch die er 
das Interesse der Öffentlichkeit auf sich zog, zeigte er 
liebenswürdigen Geschmack, abgetönten Realismus mit 
einer Neigung zum Kunstgeist Italiens und zu der 
Strömung literarischer Mysilk jener Zeit, in der „alle 
Schönheit eingefaßt war von Mysterien". Dann kamen 
wieder Reisen nach Nord und Süd, das Seemannsleben 
der Holländer, die Märchenpracht Venedigs, das träge 
Volkselend in Spanion, die Sonnenglut und das Sklaven- 
dasoin afrikanischer Gestade wirkten auf seine Phantasie 
ein, und zuletzt gab die Dreyfus- Affäre seinem ganzen 
Schaffen die bewußt gestaltende Richtung. Die Leiden- 
schaften, die da aufgewühlt wurden, die Schmach und 
die Erlösung des Rechts ergriffen ihn stark, und seine 
Kunst bekam inneriiche, tiefernste Züge, den Ausdruck 
sozialen Empfindens. So schafft er heute unter Beein- 
flussung dieser Gesinnung, der menschlich-sozialen 
Gefühle, „für alle die da leiden". Und die Klärung, zu 
der das künstlerische Element und das soziale Palhos 
in seiner Kunst gelangen, werden seineReife bekunden. 

Da sind seine „B l^i n d e n von Tanger" 
im Luxemboui^. An sich ist die Fassung skizzenhaft, es 
sind lauter Formen in der Fläche und keine hinreissende 
Raumwirkung. Aber gerade darin liegt eine gewisse 
.Steigerung; in diesem losen Ausschnitt, ohne greifbare 
örtlichkeit, in der zufälligen .Anordnung ist eine starke 
Eindringlichkeit. Die ganze Bildfläche ist gefüllt, die 
Formen fließen ins Breite, und eben darum liegt auf dem 
ganzen Bilde die Tragik, auf der ganzen Bildflache Blind- 
heil. Keine Helligkeit dringt aus noch ein, alles spricht 
von Blindheit. Eine dumpfe Einheit bilden diese drei, 
die verschiedene Individualität tritt zurück, in gleichem 
Daseinselend sind sie eins und dieselbe Blindheit liegt 
auf allen dreien. Es sind zwei Mauren und ein Jude und 
docli'sind sie dieselben, „das Unglück hat sie geeint", sagt 
der Künstler. Wie ein Bündel Elend sind sie da, heraus- 
gc^ften von irgendwoher, wo's mehrgibt. Allesdeutet 
auf dieses mehr, pbt Hintergründe und erschreckende 
Weite. So entstehen von der inneren Wirkung 
aus Raumversenkung und Zusammenhänge nach außen 
hin imd trotz der skizzenhaften Fassung ist eine weitaus 
greifende Perspektive darin und tragische Allgemeinheit. 

Von ähnlicher Wirkung sind die „D e 1 1 1 e r in 
.S p a n i e n". Der ganze Winkel ist Betteln, als eine 
Mauer st«hen sie da, bettelnd ; wie verankert sind sie in 
der Ecke, seit langer Zeit dahin gebannt und können 
nimmer daraus. Die Wirkung der Formen ist zeratück'l, 
die Lichtverteilung dissonierend und trotzdem sind sie 
einheitlich geschlossene Massen. Zusammengeballt zu 
einem wirren Haufen, sind sie vom Bildraum eingepreßt : 
keine Gestalt kann sich entwickeln, nur lauerndes Ver- 
langen dringt daraus. Blicken und Tasten und aus- . 
gestreckte Hände, starre, welke Hände, die nur zum 
Betteln laugen. Die regen sich automalisch und der 
Blick folgt stumpf und stierend ; darin leben sie, sind 
sie Lehen, im übrigen wio Falloi)st aus den» Weg ge- 



O. Kutna: Luden Levy-Dhurnier 



L L^VY-DHURMER 



Die Blinden von Tanger. 

(MuKC du Luicnibourg.) 



scharrt. Der eine gleich einem verdurstenden Hund, der 
zv>-eite hager, wie ein morscher Stamm, die anderen wie 
irgend ein nächtliches Gewimmer und alle~von Fäulnis 
angefreeeen bis auf den letzten Rest. 

Nicht ohne Beeinträchtigung durch diese Be- 
handlung des Bildraumes ist die Wirkung hei der 
„Mutter". Auch hier ist die Bildgrenze gelöst, die 
Peripherie des Daseins nach außen verlegt; aber es ist 
doch keine Weite darin, weil das Pathos stärker ist als 
der Natureindruck. Die Einfachheit ist nicht absichtlits 
genug, die großzügige Form nicht schlechthin organisch, 
die weiträumige Körpcrhchkeit zu heroisch gesteigerl. 
Mütterlichkeit, Schwermut und Versonnenheit gehen 
wohl davon aus, wie eine dunkle Wolke steigt's in die 
Bildhöhe und beschattet uns eine sinnende Weile. Man 
denkt an Millet, dessen Formgefühl und Lebensan- 
schauung hier ihren Einfluß geübt haben ; aber die tiefe, 
allseitige Femwirkung Mitlcts fehlt, der Eindruck ist 
nach vorn zu beengt ein Betrachtender ist vorausgesetzt. 

Im vei^angenen Jahre wurde L6vy-Dhurmer durch 
einen Staatsauftrag Gelegenheit gegeben, sein Können 
auf dem Gebiete der Monumentalmalerei zu betätigen; 
und er löste seine Aufgabe in dem Bilde ,,D e r 
Richter" für das Palais de J ustice in origineller und 
wirkungsvoller Weise. Der Richter sitzt da, sinnend, 
grübelnd nach Recht und Gerechtigkeit suchend, ganz 
Geist, ganz Ergriffenheit, ganz Schauer. Er soll Reiht 
sprechen, soll allen gerecht werden und soll Schick.sal 



sein für vieles Volk, Leid und Leidenschaft umgeben ihn- 
Unschuld und Verbrechen, Not und Zwang umkreisen 
seinen Richteistuhl, Augen und Seelen sind seines 
Spruches gewärtig. Da halt er inne und blickt, von 
Bangen durchzittert, nach dem rechten Weg in der 
Möglichkeiten unendlicher Falle. Alles Licht strahlt 
über ihm, und doch blickt er in Dunkel und Wirrnis und 
bebt vor dem eigenen Spruch. Die Hand liegt auf dem 
Buche des Rechts, daß ist seine einzige Stütze ; doch das 
Gesetz ist begrenzt, durch bestimmt« Prägung beengt, 
das Leben aber ist unendlich, unübersehbar wechselvoll. 
Darum grübelt der Richter über das Gesetz hinaus, und 
das Volk harrt um ihn in gespannter Erwartung. 
Dumpf drängen sie heran und gellende Rufe ertönen; 
Verzweifelnde ringen die Hände, Diebsvolk und Apachen 
drohen voll Haß. Daraus sondern sich Einzelgestallen 
und beleben in stärkerer Helligkeit die Silhouette der 
Masse. Ein Weib verschränkt keck die Arme und wartet 
in überlegenem Rechlsbewußtsein auf den Entscheid; 
ein alter Skeptiker blickt in ironischer Gleichgültigkeit 
um sich, eine junge Mutter sinnt sorgenvoll vor sich ihn, 
ein Knabe schaut mit fragendem Rindesblick auf, und 
das Kind am Boden spielt nichlsahriend mit der Puppe. 
Die Typen und das Gebahren echt gallisch, echt 
pariserisch; alles dem Leben der Straße entnommen, 
unmittelbare Wirklichkeit und doch visionSr, voll 
trivialer Züge im einzelnen und als ganzes doch 
dichterisch verklärt, von idealem Hauch durchtränk!. 



JUNO-HEBRAEISCHE LYRIK. 

Von Samuel Meiseis. 



Nicbdnick TCftwtei 



Eine ganz neue Note brachte in die nenbebrälsche 
Literatur Sani Tscheroichow&ki. Ein Scböoheits- 
anbeter. Ein Jnde-HelleDe. Der erste hebräische 
Lyriker, der mit Bacchus herumtollt, mit Aphrodite 
liebäogelt nnd Apollo seine Haldi^n^n darbringe. 
Aber beileibe kein Jude-Grieche, ähnlich den Jaden- 
Oriechen zu Zeilen der HasmoLäer. Jene helleni- 
sierten das Judeotuni, er jodatsiert das Hellenentnm. 
— Karz, ein durch das Judentum wohltuend ge- 
dämpfter Heilentsmns ; ein Schönheitshult ohne 
überschüssige Ans^iel&ssenheit aad znr Entartung 
führende Ausschweifung ... So gibt sieb ans 
Tschemichowski- In einem reizenden Gedicht 
„Vor einer Apollo-Statue" finden wir eine Art Yon 
Olanbensbekenntnis des Dichters. „Ich kam zu 
dir, du in Vergessenheit geratener Gatt, du Gntt 
der Vorzeit, der die stürmischen Leidenschaften 
jugendfrischer Menschenkioder beherrscht. Ich kam 
zu dir, ich der Jude, der einen ewigen Kampf mit 
dir gef&brt. Vor deiner Statue, dem Symbol des 
I,eb<>uslichtes, sinke ich hin; ich knie vor dem 
Leben, der Kraft, der Schönheit, vor allen 
Herrlichkeiten der Natur!-* . . . Leben, Kraft, und 
Schönheit, das sind die GOtter Tscbemichowskis. 
Er \ergOttert die Natur und verherrlicht das Leben. 
Statt des Gottes der Geister betet er an den Gott 
dos Herzens. 



Und dieser Naturanbeter geniesst die Schön- 
heiten der Natur und besingt sie. Der Sang ist 
ibm gegeben. Er singt „wie der Vogel singt." 
Kr sucht keine Mysterien in der Natur; er ist kein 
Sterndeuter; er belauscht nicht die Geheimnisse, 
die die Winde einander zuraunen, er hört nicht die 
Märchen, die die Wellen einander erzählen. Die 



I.. LE\'V-DHL-R.MF-R 



Georgea Rodenbach. 



Natur, wie er sie sieht und wo er sie siebt, sei 
es in den malerischen Gegenden der Krim, sei es 
in der herrliclieu Umgebung am Neckarfiusse, das 
ist sem Sloff. Er matt die Natur in abgetönten 
Farben unl besingt sie in schmelzendem Kythmns 
und klangvollem Heim. Als Beispiel möchte ich 
hier sein stimmnngsToUes Gedicht „Der Abend" 
anführen : 

Von des Berges ROcken 

Dunkle Schatten mcken, 
Wälzen Dämm erstreiten in die Silberflut«n, 

Und die Hasel trfiuineD, 

Mond esst ramon säumen 
Ihre Gipfel mit schimmernd weissen Glnten. 

Sterne um die Hügel — 

Zephirs sanfte PJQgel 
Hört man, rauschend durch des Baches Felsenritzen, 

Leis am Schilf erklingen . . . 

Sieh — mit mächtgen f"chwio(ten 
Fliegt der Adler aufwärts zu den Holkeaaitzen. 

Freilich, dieses Gedicht erinnert an Mattbissons 
Abendlandschaft 



In der modernen deutschen Lyrik ist die 
Matthissonsche „Naturempfindelei" ein — wie der 
allgemeine Ansdnick lautet — Überwundener Stand- 
punkt. In der junghebräischen Lyrik ffingt sie 
erst an, und Tchernichowski ist der erste, der 
dieser Empflndnngsart in einer „glUchlicben Wahl 
harmonierender Bilder" Ausdruck leiht. Tschemi- 
chowski braucht sich dessen nicht zu schämen. 
Kfin Geringerer als Schiller hat das Naturempfindeu 
Matthissous und seine Naturgemälde gepiiesen. 

Tächernichowskis Lehrmeisterin ist die Natur. 
Er verschmäht es, sich nach dem traditionellen 
Brauch seiner Slammesgenossen aus den weiss- 
schwarzen Weisheitsqnellen die Lehren 
fürs Leben zu schöpfen. Man lernt 
das Leben, indem man es lebt, aber 
nicht, indem man es studiert. Ein mdir 
vernünftiger als poetischer Standpunkt. 
Aber er lässt sich in Poesie umsetzen. 
Tschnichowskis Lebensbejahung ent 
quillt einem starken Willen zum Leben, 
einem angeborenen Bedürfnis nach 
Schönheit und Kraft. Es ist eine Lust 
zu sehen, wie dieser jüdische Apollu- 
Verehrer sich frei und bew^^ch 
hemmtummelt anf Flur und Feld, Htm 
und Höh, überall lebengeniessend. Er 
lässt nicht die Kümmernisse des Alltags 
die reiueu Quellen seiner Heiterkeit 
trüben. Der Schmerz beugt ihn eben- 
sowenic: wie ihn der Lebensgenuss ver- 
weichlicht. Immer aufrecht, immer 
PARIS elastisch. Und wenn Augenblicke kom- 
men, wo auch seine Seele trauert und 
aurh in seiner Brust Wunden brennen. 



Samuel Metseis: Junghebräische Lyrik. 



weil er Hoffnungen wie Rosen im Winter welken 
sieht, da fllidilet er in Uie Anne seiuer Lebr- 
meisterin, da siiclit er jenen Ort auf. 

Wo wild braus ende Wellen an mfiuhtge Felsen schlagen 
Und er ruit selbstbewusst ans: 

Ich miisa mich seh Urnen, 

Seh ich wie die Felsen der Wellen spotten 

Und Stolz die Häupter tr;^en. 

TscheniicIinwRki liebt <]a<i Goldiand der Jiig:end, 
das Lachen des FriÜilinüs mehr iih die glühenden 
AuKeu seiner Geliebten, die zoweileu si-ine Seele 
versengen, mehr als da.s Läclielu rosi-uiotei Lippen, 
die miiunter süsses Gift verabreichen, nud wie ein 
Gebet klinijeu seiue „Sehusüchte." 

Geht mir meine Jupend wieder 
Und des Ooldbnds Featpreloge 
Und die I^eit der frohen Lit-der 
Und des Kindes Uuschuldugel 

entfacht die gluhnden Funken, 
Die die ?lianta»ie bi^lehet, 
Daas sie wieder, färbe nt ranken, 

Zauberträume um mich webet 

Gebt die Zeit mir ohne Porpo, 
Mo ich Wimdeimärchen kannte, 
Wo mich nni'h kein glühend Auge — 
Sondern FrOliÜngssonne brannte. 

Seine Liebeslieder sind leidenschaftlich gemessen 
— mau »löchie fast sagen, von einer kenschen 
Ao^elasseuheit. In der eisten Zeit dpj*JHirciidlichen l l£vy-DHURMER 
Liebesraiiscbes äbenvu<'hert seine l'hantasie. Damalt 
er das BiM seiner Geliebten nach uUzii bekanntem - 
Muster. I 'as Allerbeste iiml Alleiscliönste, das er in der 
grossen Schö|ilun(r votflndet. muss ihr als Sihmnck 
dienen: ein Kütidel Mundscheiuslrnlilen, eine l'o-'is 
weisse- Noidtiebt, ein Qnnntnm Rosendnft; dnrchrührt 
mit Morjreniöte, ein Gementrsel von peclimben- 
schwai'zer N.icht nnd hellichiem T»ig — hll das in die 
ricbtigM Grenzen verteilt, eivibt, wie zu erwarten 
war, ein übeiirdisches \Veseu. 



Sieh. Berge und Tftler der Morgen erhellt, 

In Bluten gebettet ist ringsum das Feld. 

Die Weizentiaat dehnt sitii — ein träumendes Meet, - 

Das Zweikorn das reckt sich so stolz und so hehr. 

Und Winde, gelinde, 

Bewegen et leis 
Und du bist so mutlos, mein TäubchonI . 



Und wie ein himmlisch Wesen, das Erdenkinder dauern. 
Wie t-ine Edenbblume in faib-'tireichsier BlOic 
Erschienst du mir — In Furclit und Wonneschauern 
Verhallt' mein Antlitz ioh und — kniete 

Znm Glück für den Dichter und die neu- 
hebräisulie Lyrik ist diese Schwünnerei rasch ver- 
schwunden. Tscheniichowski bat sich zum Meister 
des Uiuneiresantres cnipoivescliwnniien l'ic Liebes- 
lieder „Ueiueu Namen Ira^e ich auf FlUgeln des 
Gesanges", „Von allen ßluinen im Giiiten", 
„LiebcsbotPu", „An iliijnm" üben durch ihre 
Einfachheit und Innigkeit einen unwidersfehiiclieD 
Zauber ans. Ein Gedieht, diis die Eiugi-nart 
Tschei'uicbowskis am bcsteu kennzeichnet, möge 
hier in deutscher Uebertiaguug Platz finden: 

„Und dn . . .■' 
Unendliche WOlbimg in schimmernder Pracht 
Das mßi'litige WeltuU umzAnnet. umdacht; 
Unendlich das Liiltitieer, hl anfärben nnd klar. 
Drin segelt dir Vftgel Irohsingeude Schar. 

Und Himmclbläne 

Spiegelt der Bach — 
Und du bist so traurig, mein Täubchen! 



Per Li'ben^nif mächtig und (reui)iij e.__ 
jier Lobeusquell muRchet durch Felder 
Die niUmclein schlfli-fen erquickenden T. 



Auf dem Gebiete der llalladc ist TFchernowski 
in der jnn^fliobiüischcn Litenitiir geradezu balm- 
brecliend Kr weiss doo richtigen Ton zu tnffen 
und behandelt jlldiselie nie niclitjllilische Stoffe 
mit gleielier Virtuosität. Seine ttalluden zeichnen 
sii-li dnrch eine pii^nante Ausdruckswcise, einen 
feingegliedeilen Slrophonban und im allgemeinen 
durch eine mehr deut-che als liebraische Form- 
gebung aus. — Täcliernicliowski ist anch ein 
ausgezeichneter Uebeisetzer ans fremden Spiarhen. 
Er hat (Jediclite von Anakieon, Longfeltow, Rubelt 
Bums, Slielley. Alfred de Jlusset, Richard Dehniel 
u. a. in.s Ilebräisclie tlbeiiragen. Mei^teihaft ist 
seine Ueliersetzung des bik^innten Goet besehen 
Liedes „Ueber allen Gipfelu". Dieses Lied ist 



Samuel Mcisels; ■Jiingliebräische Lyrik 



bereits mehrfach ins Hebräische (Ibertragen worden, 
aber die EJebersetzung Tschernichowskis kommt dcu 
Original am nächsten. 



O'i wenn Du wundersam ruiisdio^it. 
Versteh' ich das Wisiiei-jreheimnis 
eiuer Fin-herzwpige, 



Dieses Wort Goethes hat bis vor kurzem in 
in der neuhebräischen Literatur weni^ Anklang 
^funden. Was ist Liebe? Tändelei. Ein ei-nster 
Mann ist nur ein Philosoph, ein Weisheitsliebcndsr. 
Und als die allerjOngste Generation, an Goollie 
und Heine gestärkt, Liebesweisen za dichten anfing, 
entstand — eine Pressfeltde. Zuerst wurdo die 
Frage aufgeworfen, ob man Dichter sein könne 
ohne Liebe? Die einen bejahten, die andern ver- 
neinten, und stürzten sich beide ins Unrecltt. Ein 
angesehener hebräischer Sctiriftsteller wollle die 
Liebe aus der modernen Poesie ausgeschaltot wissen, 
weil dieses Gefühl, so mächtig es anch 
im Menschen ist, sich fdr die Poesie 
(iberiebt, ja weil die Liebe seit dem 
Hohenliede bis auf Heine bereits die 
ganze Skala der GefuhlstOne erscliSpft 
hätte ; es sei jetzt nicht mehr gut möglicli, 
nach dieser Richtung irgend etwas neues 
hinzuzudichten . . . Diese Pressfehde 
ist charakteristisch. Das ist noch ein 
Ueberbleibsel der alten Beth-ha-midiasch- 
Methode, selbst reine GefUblsmomente 
und Fragen der Aesthetik mit einer 
strengen Logik begründen zu wollen. 

Die eigentlichen Liebessänger in der 
neuhebr^schen Literatur sind 1. L. Ferez 
und A. Liboschitzki. Perez ist ein 
stimmungsreicher Poet, der die Gabe 
besitzt, für die geheimsten Seelenvor- 
gänge die richtigen Klangwerte zu finden. 
Der Grundzug seiner Poesie ist geheime 
Weiimut, die wie stille Andaclit ihre 
Seufzer in die Luft haucht, Auch ein 
Hauch von Mystik durchweht sie. Mit 
sieiner kleinen Gedichtsammlung „Der 
Liebespsalter" tritt er als der Schöpfer 
des hebräischen Liedes auf, indem er 
zeigt, wie man seiner dichterischen 
Empfindung den entsprechenden musi- 
kalisch -rythmischen Wortklang verleiiit. 
Aus diesem BUchlein hat vor einigen 
.Jahren Herr Moritz Zobel den Lieder- 
Zyklus Die Palme ins Deutsche übersetzt. 
Ich zitiere daraus die folgenden drei 
Lieder : 

Suhooe mein, Palme, 
Mütterlich milde, 
Armseliger Flüchtling hin iili, 

'Tags zehrte die Sonne an mir, 
.^henda nunmeiir erschijpft. 
Such' ich die Hast deines Schiittens. 

Matt ist meine ^ccle, mutt 

lind Dir zu Füssen 
Leg' ich mein glühend Ihiiiiit. 



I'ein Schatten, Palme, liirgt Ziiiiher! 

An l>eiaeni saftgrünen titamtn 
^ fliH-indet mein Ungemach hin. 

Mein Hera hegt Iriedvolle Klarheit, 
Alle Wunden verharrsehen, 

l'iid trauiimchöne Jiigendlioflniuig 
Knvai'ht. schwingt sich empor - 



Safr' mh*. o Palirie; 

Wer ist der l>ichtstial»I. 
I'ci' Wolkenüöre durchriss 

Und eindrang in deine Zweiger 
Ist wirklich der Moi^en schon da 

Odei' hat dich der Mond bloss boj;! 
Oder ist's gar der Jdnglings träum 
■Der an die llerzkainnier pocht V 



. LfA'V-DlIl'R.MER 



313 



Samuel Meiseis: Junghebräische Lyrik. 



314 



Liboschitzki ahmt mit nicht geringem Geschick 
Heinrieh Heine nach und verpflanzt somit den 
graziösen Stil, den einfachen Strophenbau und den 
melodischen Reim in die neuhebräische L3rrik. 
tlierin liegt Liboschitzkis Stärke. Er ist ent- 
schieden ein schätzenswertes Talent, für die neu- 
hebräische Literatur doppelt wert, und man tut 
ihm Unrecht, wenn man ihn zu verkleinem sucht. 
Es hat sich in letzter Zeit in der hebräischen 
Literatur eine kleine Partei gebildet, die jede Nach- 
ahmung verpönt. Das bekundet wenig Ver- 
ständnis för die Entwicklung einer Literatur. Die 
Nachahmung ist lör eine Literatur, die sich im 
Anfangsstadium ihrer Entwicklung befindet, eine 
Notwendigkeit. In der deutschen Literatur ist der 
Kampf gegen die Nachahmung erst mit Lessing 
aufgenommen worden. Die junghebräische Literatur 
ist noch nicht so weit, sie hat noch keinen Lessing 
hervorgebracht. Und im Grunde genommen ist 
die höchstentwickelte Literatur nicht frei von 
Nachahmungen. Wie Handelsbeziehungen gibts 



auch (ieistesbeziehungen zwischen den Völkerrf. 
Auch geistige Werte, die ich in meiner Heimat 
nicht finde, müssen von draussen importiert werden. 
Abgrenzung ist kulturhemmend auf jedem Gebiet. 



* 



* 



Von andern altem und jungem neuhebrä- 
ischen Lyrikern wären zu erwähnen : David Frisch- 
mann, ein Einsamer, der nur mit „dem Qott in 
seinem Herzen" durch die Welt wandert. — S. 
L. Gordon, ein Verskünstler, der Kraltausdrücke 
liebt urtd harte Reime bevorzugt. Einer aus der 
allen Schule, der sich mit jedem Tage verjüngt. 
-- Jakob Kohen und J L. Boruchovitz, Jünger 
Bialiks, die ihrem Meister Ehre machen. — S. 
Schneeur, ein nicht ungewöhnliches Talent, dessen 
Gedichte sich durch Einfachheit und Anmut aus- 
zeichnen. — Ausser diesen ist noch eine Reihe 
von junghebräisclien Lyrikern vorhanden, die teils 
einige Striche über, teils aber auch unter der 
Mittelraässigkeit stehen. 



BEIM DOKTOR. Nachdruck verboten 

Monolog von Scholem Alechem. — Dem Jüdisch-Deutschen nachgebildet von Samuel Meiseis. 



Hören Sie mir nur zu, Herr Doktor, ich bitte Sie 
darum. Meine zerrültele (Gesundheit spricht aus mir. 
Aber davon später. Meine zerrüttete Gesundheit ist 
oben eine ganz besondere Sache, und ich werde Sie auf- 
klären, wie sie gekommen ist, wie sie entstanden ist, 
und worin sie besteht. Aber das ist nicht der Zweek 
meines Redens; der Zweck meines Redens ist, daß Sie 
mir zuhören. — Nicht jeder Doktor will dem Kranken 
zuhören, nicht jeder läßt zu sich reden. Vorhanden 
Doktoren, große Doktoren — ein reines Unglück ! — 
die lassen gar nicht zu sich reden. Die verstehen nur 
den Puls zu fühlen, auf die Uhr zu sehen, ein Rezept 
zu verschreiben, und sich für die Visite bezahlen zu 
lassen. Nu, bezahlen, — meinetwegen, es verlangt 
doch keiner umsonst — aber nicht zu sich reden lassen, 

das ist schrecklich Von Ihnen, Herr Doktor, 

hörte ich sagen, Sie sind noch ein junger Doktor, und 
nicht wie die anderen Doktoren .... Auf einen 
Rubel mehr oder weniger, sagt man, kommts Ihnen 
nicht an, wie den anderen Doktoren. Deswegen, sag 
ich, bin ich auch zu Ihnen gekommen, um mich mit 
Ihnen zu beraten wegen meines Magens. Ich bin, 
wie Sie mich sehen, ein Mensch mit einem Magen. 
An sich ist das noch nicht sonderbares. Nach der Weis- 
heit der „Doktorei" hat ja jeder Mensch einen Magen. 
Nur ist es eine ganz andere Sache, wenn der Magen 
wirkhch ein Magen ist; wenn aber der Magen gar 
kein Magen ist, wozu nützt das Leben? — — — 
Werden Sie wahrscheinlich antworten mit dem be- 
kannten Spruch unserer lalmudischen Weisen: ,,Du 
bist gezwungen, zu leben." Nu, diesen Spruch kenne 
ich auch ohne Sie, das brauchen Sie mir nicht zu sagen. 
Was ich weiß, weiß ich eben .... Ich rede nur 
von dem, daß der Mensch, solange er lebt, nicht sterben 
will. Die Wahrheit gesprochen: ich selbst fürehte 
mich nicht im geringsten vor dem Tod, denn erstens 



habe ich bereits die sechzig übei'schritten, und zweitens 
bin ich von Natur aus so ein Mensch, dem leben und 
sterben dei'selbe Jontew*) ist, das heißt, leben ist 
selbstvei*ständlich gescheiter als sterben ..... 
Welcher Mensch will denn sterben ? Überhaupt ein 
Jüd ? Überhaupt ein Vater von elf Kindern, sollen 
gesund sein, und einer Frau dazu! Zwar die dritte 
Frau, aber doch eine Frau . . . Kurz, ich will Sie 
nicht lange aufhalten. Ich bin ein Kamenetzer, das 
heißt, ich stamme nicht aus Kamenetz selbst, aber 
aus einem Städtchen unweit Kamenetz. Bin ich ein 
Kamenetzer, soweit wäre die Sache noch kein großes 
Unglück, bin ich aber noch dazu ein Jüd, ein Mühlen- 
besitzer . . . Ich halte eine Mühle, das heißt, die Mühle 
hält mich. Denn, wie heisst es: ist man mal hinein- 
gekrochen, so muß man darin liegen bleiben. Es hilft 
nichts. Es ist — verstehen Sie mich — ein Rad, und 
das Rad dreht sich. Bedenken Sie selbst: für den 
Weizen muß man zahlen, und das Mehl muß man auf 
Kredit liefern! Aber, wie gesagt, das geniert mich 
weniger. Hat man noch dazu mit ungeschlachten 
Menschen zu tun, mit Frauenzimmern .... Lieben 
Sie etwa die Frauenzimmer? Na, ich danke, ver- 
suchen Sie es nur, mit ihnen einmal abzurechnen, da 
werden Sie was schönes zu hören kriegen: Was 
heißt? Wofür dies? Wofür jenes? Bald ist das 
Mehl schwarz, bald war das Weißbrot nicht schmack- 
haft genug .... Versuchen Sie es mal, sich zu ver- 
teidigen : Trage ich die Schuld ? Wahrscheinlich war 
der Ofen schlecht geheizt, wahrscheinlich habt Ihr 
schlechte Hefe hineingegeben, wahrscheinlich habt 
Ihr nasses Holz in den Ofen gesteckt — da überfallen 
sie einen wie die Räuber, schimpfen und fluchen und 
schwören, daß sie euch nächstes Mal das Brot an deri 



*) Keiertatr. 



315 



Scholem Alechem: ßeim Doktor. 



316 



Kopf werfen .... Nun, ich frage Sie, ist es etwa an- 
genehm, wenn einem so ein Laib Brot an den Kopf 
fliegt? Das sind, wie gesagt, meine Endät€ul- Kunden. 
Glauben Sie etwa, daß meine Engros-Kunden besser 
sind? 1, bewahre! Die sind auch nicht besser! An- 
fangs, wenn der Kunde sich einen Kredit verschaffen 
möchte, ist er weich wie Butter, hat tausenderlei 
Schmeicheleien und Komplimente zur Hand; kaum 
aber rückt der Zahlungstermin heran, da ist er nicht 
wiederzuerkennen. Da führt er ganz andere Redens- 
arten: Die Ware sei zu spät geliefert worden, die Säcke 
seien halb zerrissen gewesen, und das Mehl verdiente 
gar nicht den Namen Mehl .... Solche Sachen er- 
zählt er Ihnen, — achtzehn Fehler und siebenund- 
zwanzig Ausflüchte .... „Und Geld?" — Geld, 
sagt er, schickt eine Rechnung! Schickt man eine 
Rechnung, sagt er: „Morgen!" Kommt man morgen 
— „übermorgen!" Da fängt man an zu drohen. 
Schließlich kommt es zu einer Pfändung. Kommt 
man pfänden, gehört alles der Frau. Jetzt geh und tu 
ihm was! .... Nu, frage ich Sie, bei solchen Geschäften, 
wie soll man keinen „Magen" haben ? Nicht umsonst 
sagt mir meine Frau — sie ist bei mir nicht die erste, 
die dritte ist sie, und die tlritte Frau ist doch, wie man 
sagt, die Sonne, im September, aber ^vx)n sich weisen 
kann man sie doch nicht, doch eine Frau. — Also meine 
Frau sagt mir immer: „Chajim, laß die Geschäfte! 
Laß das Mehlgeschäft, sollen deine Feinde schon Mehl- 
geschäfte haben! soll die Mühle verbrannt werden! 
werde ich wenigstens wissen, daß du lebst auf der Welt. 
Was für Leben ist das ? Laufst herum wie ein Wilder, 
kein Schabbes, kein Jontew, kein Weib, kein Kind . . . 
Was hast du von deinem Leben? Wofür laufst du? 
Wozu laufst du ? . . . . " Eigentlich weiß ich selbst 
nicht, wozu ich den ganzen Tag in der Stadt herum- 
laufe .... Es ist halt so eine alte Gewohnheit bei mir. 
Glauben Sie etwa, man hat was von dieser ewigen 

Lauferei ? ' — Leid hat man, und Ärgernisse und 

Kränkungen und Aufregungen und Gott weiß was 
alles noch ! . . . . Aber ich bin nun einmal so ein Mensch, 
der jedes Geschäft, das sich ihm darbietet, in die Hand 
nimmt. Für mich existiert nämhch kein schlechter 
Schnaps. Ein Handel mit Säcken — meinet- 
wegen; mit Holz — meinetwegen ; mit Eisen — meinet- 
wegen .... Sie glauben wahrscheinlich, Herr Doktor, 
ich habe außer der Mühle keine Geschäfte mehr ? Da 
befinden Sie sich aber stark im Irrtum. Wie Sie mich 
sehen, handle ich auch mit Waldungen, zusammen 
mit einem anderen, heißt es. Außerdem bin ich auch 
am „Akzis" beteiligt. Ich wünsche Ihnen, das jeden 
Monat zu verdienen — Schlechtes wünsch ich Ihnen 
osser*) — was ich^an diesem Geschäft jährlich 
verliere. Sie werden wahrscheinlich fragen: wozu 
brauche ich das? Nu, soll sich „Kohol" ärgern! Wie 
Sie mich sehen, bin ich ein großer Draufgänger. Wo 
es gilt, einen Sieg zu erringen, kann meinetwegen die 
ganze Stadt zugrunde gehen und ganz „Kohol" be- 
graben werden — ich muß das meinige ausführen! Ich 
bin eigentlich, wie Sie mich sehen, von Natur aus 
kein schlechter Mensch, nur „kapriziös", heißt es. 
Versuchen Sie es mal, mich zu beleidigen, meine Ehre 
anzutasten, so sind Sie mit Ihrem Leben nicht sicher! . . 

*/ bestimmt nicht. 



Was kann ich machen? Es ist so ein Blut in mir. 
Nerven, sagen sie, die Doktoren nämlich, und dies, 
sagen sie, steht auch mit meinem Magen im Zu- 
sammenhange .... Zwar der einfache Menschen- 
verstand kann das nicht begreifen; es ist auch, ver- 
zeihen Sie, ein wenig Unsinn darin. Denn was haben 
die Nerven mit dem Magen zu schaffen? Nerven 
sind Nerven, und Magen ist Magen. Wo sind die 
Nerven? Und wo ist der Magen? Die Nerven sind 
doch, nicht wahr? nicht weit vom Gehirn . . . .Und 
der Magen wo ist? . . . . Von den Nerven bis zum 
Magen — na, ich danke — eine schöne Strecke! Aber 
sie, die Doktoren, mein ich, sagen, daß mein „Magen'* 
kommt von den Nerven . . . Meinetwegen, soll sein 
so ... . Augenblick nur, ich bin bald zu Ende. Wozu 
die Eir? Warten Sie doch noch eine Sekunde! Ich 
will Ihnen doch alles „akkurat" erzählen, damit Sie 
dann sagen, wie ich zu diesem Unglück, meinem Magen 
nämlich, gekommen bin .... V ellecht kommt es 
daher, weil ich so ein unstetes Leben habe, weil ich 
nie zu Hause bin. Ich schwör Ihnen — 's ist eine 
Schande zu sagen -^ daß, wenn ich bei mir zu Hause 
bin, so bin ich doch nicht zu Hause. Ich wollte, daß' 
Sie mal in meine Wohnung einen Blick tun. Ein Schiff 
ohne Ruder! Tag und Nacht ein Getümmel und Getöse, 
Gott soll hüten! Ist leicht gesagt, unbeschrien 
elf Kinder! Das eine ißt, das andere trinkt, das dritte 
betet, das vierte schläft, das sechste frißt Ku3hen, 
das siebente einen Hering. Wer kann das alles auf- 
zählen? Zwischen solchem Kleinkram, unbeschrien, 
gibts, wie gesagt, ein Zanken und Streiten, ein wirres 
Durcheinander, daß man am liebsten in die Welt laufen 
möchte. Und weshalb, meinen Sie, ist ein solches 
Getobe und Getöse in meinem Hause ? Nur weil ich 
keine Zeit habe. Hätte ich Zeit, da war es selbst- 
verständlich anders. Sie, meine Frau nämlich, ist un- 
beschrien sehr eine gute Frau; das heißt, sie^ist nicht so 
gut, aber sie ist sehr weichherzig, und weiß nicht, wie 
mit Kindern umzugehen. Das heißt, schimpfen kann 
sie, tadeln, schelten, Ohrfeigen austeilen, aber was 
nützt es ? Doch eine Mutter ! und was eine Mutter ist, 
ist noch lange kein Vater .... Ein Vater, das ist 
ganz was anderes, der kann prügeln, und das auf der 
richtigen Stelle .... Ich erinnere mich noch jetzt, 
wie mich mein Vater zu prügeln pflegte .... Ihr 
Vater hat S e wahrscheinlich auch geprügelt. Nu, 
nein, er hat Sie nicht geprügelt! .... Glauben Sie 
etwa, es wäre für Sie besser gewesen, wenn Sie nicht 
geprügelt worden wären? I, bewahre! Das tut den 

Kindern ganz gut. Wozu die Eil' ? Ich 

bin bald fertig. Ich erzähl Ihnen das doch nicht 
umsonst! Der Zweck meines Redens ist, daß Sie ver- 
stehen sollen die Art, wie ich lebe. Glauben Sie, daß 
ich weiß, wie viel ich in meinem Vermögen habe? 
Keine Spur! Möglich, daß ich reich bin, sehr reich, 
und möglich — unter uns gesprochen, Sie crzählens 
doch niemand — daß ich gar nichts besitze. Wie soll 
ich denn das wissen ? Jeden Tag kommt etwas anderes, 
bald dies, bald jenes .... Ob man kann oder nicht, 
das ist ganz egal — Mitgift geben den Kindern muB 

man ! Ist leicht gesagt, wenn Gott segnet mit 

Töchtern, und erwachsenen dazu! Nu, versuchen Sie 
es mal mit drei erwachsenen Töchtern, unbeschrien« 
alle unter die Chuppe zu führen, da werden wir gleick 



317 



Scholem Alechem: Beim Doktor. 



318 



sehen, ob Sie werden sich zuhause eine Stunde auf- 
halten können! Jetzt verstehen Sie schon, weshalb 
ich den ganzen Tag auf der Gaß herumlaufe. Und 
was hat man davon ? Bald erkältet man sich, bald ißt 
man etwas, was schwer zu verdauen ist — und auf 

diese Weise bekomm! man einen „Magen" 

Ein Stück Masel*) hab ich doch, daß ich von Natur aus 
kein kränklicher Mensch bin; im Gegenteil, von Jugend 
auf gut gepflegt .... Daß ich so spindeldürr und ein- 
getrocknet aussehe, darauf brauchen Sie nicht zu 
schauen. Die Geschäfte haben mich so gemacht, und 
beiläufig entstamme ich einer solchen Familie. Ich 
hatte etliche Brüder, die, mir zu langem Jahren, auch 
so schmächtig gewachsen waren wie ich. Nichts- 
destoweniger bin ich, wie Sie mich sehen, immer ein 
gesunder Mensch gewesen; ich hab nicht gewußt von 
einem Magen, und von einem Doktor und von ähn- 
lichen Unglücken .... Wenn es nur so weiter 

gegangen wäre! Aber seit einer Zeit hab ich 

angefangen, mich mit Arzneien zu füttern: Pillen, 
Pulver, Kräuter. — Jeder Doktor kam mit einer andern 
Erfindung; der eine sagte: Diät, das heißt, wenig essen; 
der zweite sagte: im Gegenteil, viel essen! Wahr- 
scheinlich gehörte dieser Doktor selbst zu den Leuten, 
die viel essen können. So sind ja die Doktoren : was sie 
selbst gerne haben, das verordnen sie dem Kranken . . . 
Einfach meschupge zu werden! Der eine Doktor sagte: 
viel gehen, das heißt, verstehen Sie mich, ^hen ohne 
Zweck, ohne Ziel, Spazieren, heißt es ... . Kommt 
der zweite Doktor und sagt: Sie müssen im Bett liegen 
and Ruhe haben. Und nun geh und unterscheide, wer 
von beiden der größere Chamer**) ist? — Was brauchen 
Sie mehr? Da war ein Doktor, der fütterte mich ein 
ganzes Jahr mit Pillen .... Geh ich zum andern; 
sagt er: diese Pillen, Gott soll Sie hüten, das ist für 
Sie Gift .... Und er verschreibt mir ein Pulver, 
ein gelbes Pulver war es. Sie werden doch wissen, was 
für ein Pulver das war! Ich komme mit diesem Pulver 
zu einem dritten Doktor, schüttet er das Pulver aus, 
zerreißt das Rezept und verschreibt mir Kräuter. 
Was für Kräuter, glauben Sie, waren das? Bitter 
wie Galle! Nu, Sie kennen sich denken, gebenscht 
hab ich diesen Doktor nicht für seine Kräuter .... 
Und was war das Ende von alledem? Ich komm 
wieder zu jenem Doktor, zum ersten, heißt es, der mich 
ein Jahr lang mit Pillen gefüttert hat, und erzähl' 
ihm die Geschichte von den bittem Kräutern, die 
mir das Leben verbittern. Da springt er auf voll Zorn 
und lärmt und schreit: „Ich hab doch Ihnen ver- 
schrieben, sagt er, Pillen, und wozu laufen Sie wie 
ein Verrückter von emem Doktor zum andern!" 

♦) Glück. *♦) Esel. 



Darauf sag' ich: „Scha! Nur ruhig! Was schreien 
Sie? Wir sind doch hier nicht auf einem Jahrmarkt! 
Einen Kontrakt haben wir auch nicht gegenseitig 
imterschrieben. Ich kann gehen, wohin ich will, 
und jener Doktor braucht auch zu leben, er hat auch 
Weib und Kind! . . . ." Da gings aber erst los. 
Er, der Doktor, ^'urde rot wie Feuer, als ob ich 
ihm Gott weiß was gesagt hätte .... Kurz, er bat 
mich, daß ich wieder zu jenem Doktor gehen soD. 
Da sag ich: „Eizes*) brauch ich nicht; wenn ich 
werde wollen, werde ich von selbst hingehen" . . . Ich 
nehm und leg ihm hin einen Rubel. Glauben Sie 
etwa, daß er mir den Rubel vor die Füße geschmissen 
hat? Keine Spur! Rubel lieben sie, die Doktoren 
nämlich, Rubel heben sie mehr als uns arme Menschen. 
Daß sie sich zum Beispiel hinsetzen, um dem Kranken 
zuzuhören, wie sichs gebührt — das gibts einfach bei 
ihnen nicht. Sie lassen kein überflüssiges Wort zu 
sich reden .... Da war ich erst unlängst bd einem 
Doktor — er ist. ein Bekannter von Ihnen, den Namen 
will ich nicht nSmen — wie ich hereinkomme, läßt 
er mich keine zwei Worte aussprechen, sondern er 
befiehlt mir, mit Respekt zu melden, „ausziehen!'* 
Nu, ausziehen ist ausziehen. Was ist? Er will, 
sagt er, „hören" .... Willst hören? sag ich. Sehr 
gut! Hör mir nur zu, ich bin bereit, dir alles zu er- 
zählen . . . . Aber der läßt mich nicht zu Wort kommen, 
er tappt hier und klopft dort. Nu, sag ich, wozu 
tappst du, und wozu klopfst du? Nein, sagt er, ich 

hab keine Zeit, mit Ihnen zu debattieren. 

Eine neue Mode geworden, daß die Doktoren keine 

Zeit haben! Was? Sie haben auch keine 

2^it? Na, hören Sie, was ich Ihnen sagen werde: 
wenn Sie, ein junger Doktor, so jung anfangen, keine 
Zeit zu haben, dann bekommen Sie nie eine „Praxis" . . 
Sie brauchen nicht aufgeregt zu werden. Ich verlange 
nicht von Ihnen umsonst .... Ich bin gar nicht so 
ein Jüd, der, Gott behüte, etwas umsonst verlangen 
soll. Und wenn Sie mir auch nicht bis zum Schluß 
haben zuhören wollen, so hat eins mit dem andern 
nichts zu tun. Für eine Visite muß bezahlt werden . . . 
Was? Sie wollen nicht annehmen? .... Zwingen 
werde ich Sie nicht. Zu solchen Sachen zwingt man 
nicht . . . .Wahrscheinlich haben Sie auch so, wovon 
zu leben .... Wahrscheinlich leben Sie von 
Renten .... Soll Ihnen Gott geben, daß Ihr 
Kapital wachsen soll, wachsen und wachsen, warum 
denn nicht? Soll Ihnen Gott helfen .... Adieu! 
Nehmen Sie mirs nicht übel, daß ich Ihre Zeit ein 
wenig in Anspruch genommen habe .... Darauf 
sind Sie ja ein Doktor .... 

*) Ratschläge. 



DIE OSTJUEDISCHE PRESSE. 

Von Josef Lin. 



Nachdruck metlNMen 



In der Presse der östlichen Judenheit sind im 
letzten Halbjahrzehnt größere Umgestaltungen vor sich 
gegangen. Das wichtigste Moment dabei ist das Auf- 
treten der Jargonpresse, die in der kurzen Zeitspanne 
eine erstaunliche Ausdehnung und Verbreitung ge- 
funden hat. Bis zu Beginn dieses Jahrhunderts be- 



herrschte das Hebräische fast ausschUeßhch die ost- 
jüdische Zeitungswelt. Die neuhebräische Presse, 
deren Geschichte seit dem Entstehen der hebräischen 
Wochenschrift „Hamagid" in Lyck, im Jahre 1858, 
datiert, tibte einen großen Einfluß aus auf die Er- 
ziehung und geistige Entwicklung der jungen Ghetto- 



319 



Josef Lin: Die ostjüdische Presse. 



320 



generation. Die Eigentümlichkeit dieser Presse war, 
daß sie in hohem Maße literarischen, zum 
Teil sogar wissenschaftlichen Charakter trug. 
So hatten die Mathematik und die Naturwissenschaften 
einen ständigen Platz in der von Ch. S. Slonimsky 
begründeten, zuerst in Berlin und dann in Warschau 
erschienenen hebräischen Wochenschrift „Hazephirah". 
Wie rege zu jener Zeit das Interesse des hebräischen 
Lesepublikums für die genannton Wissenschaften war, 
geht daraus hervor, daß in der erwähnten Zeitschrift 
selbst der Briefkasten der Redaktion von mathe- 
matischen Lehrsätzen und geometrischen Figuren aus- 
gefüllt wurde. Einen mehr IHerarischen Charakter 
trug die von Zederbaum in Odessa begründete, dann 
in Petersburg erschienene hebräische Zeitung 
„Hamehz", die erst vor ein paar Jahren, nach 
44 jährigem Bestehen, eingegangen ist. In dieser 
Zeitung wiederspiegelte sich die Kulturgeschichte der 
russischen Judenheit während der letzten Generation. 
Von hervorragender Bedeutung war auch die vom 
genialen Publizisten und Romansdfcriftsteller Peter 
Smolensky in Wien herausgegebene hebräische Monats- 
schrift „Haschachar", die während ihres 12 jährigen 
Bestehens zur Entwicklung und Entfaltung der 
Renaissance in der Ostjudenheit sehr viel beitrug. Die 
neuhebräische Presse war im damaligen Stadium eine 
Aufklärungs- und Kampfespresse. Sie 
kämpfte nach zwei Fronten: gegen den starren 
Dogmatismus und Konservatismus einerseits, 
und gegen die Ass'mlaton der „Abtrünnigen" 
andererseits. Wie die neuhehräische Literatur 
überhaupt in ihrer ersten Epoche eine Kampfes- 
literatur im angedeuteten Sinne war. Das Künst- 
lerische trat vor der Tendenz zurück. Sowohl 
Presse wie Literatur waren von einer leidenschaftlichen 
Begeisterung getragen. Ihre Wu'kung war auf einen 
verhältnismäßig nicht großen Kreis beschränkt, sie 
war jedoch sehr intensiv. Ihre Leser waren ihre An- 
hänger, die für sie und mit ihnen kämpften. Die 
hebräischen Zeitungen führten anfangs ein sehr schweres 
Dasein und konnten nur durch die größten An- 
strengungen und Opfer der Herausgeber und selbst 
der Schriftsteller existieren. Nicht selten mußte ein 
Schriftsteller einem Redakteur zu den Kosten für den 
Abdruck seiner Arbeiten beitragen. Berufsschrift- 
steller, die von ihrer literarischen Tätigkeit leben 
konnten, gab es so gut wie gar nicht. Man suchte 
auch gar nicht materielle Vorteile dabei. Die Literatur 
war ein „heiliger Tempel", und die Schriftsteller die 

Priester darin das hat sich nun geändert. Die 

ostjüdische Presse hat inzwischen an Ausdehnung 
sehr viel zugenommen, ihre Wirkung hat jedoch an 
Intensivilät abgenommen» Sie hat sich zum Realismus 
entwickelt, und nähert sich mehr und mehr dem Wesen 
der westeuropäischen Presse. 

Vorangeht die seit einigen Jahren in Petersburg 
erscheinende jargonische Tageszeitung „Der Fraind", 
ein ernstes, besonnenes Blatt, das nicht bloß in der 
jüdischen Masse, sondern auch in weiten Kreisen der 
Intelligenz beliebt und verbreitet ist. Besonders 
gut ist sein publizistischer und informativer Teil. 
Das literarische Element in ihm ist in der letzten Zeit 
zurückgegangen. Ein gediegenes literarisches Blatt 



ist die in Wilna ^eit zwei Jahren erscheinende 
jargonische Wochenschrift „Das Jüdische Volk", das 
Organ der russischen Zionisten. Dort trifft man die 
Dichter Schneier, Asch, Reisen, Hirschbein, Frug, 
Perez usw. Dieses Blatt ist jedoch in der jüdischen 
Masse wenig verbreitet, und nimmt im allgemeinen 
nicht den ihm nach seiner literarischen Bedeutung 
gebührenden Platz ein. Es mag daran liegen, daß 
die zionistische Partei in Rußland, deren Organ es ist, 
in der letzten Zeit infolge der politischen Unruhe im 
Lande sehr geschwächt worden ist. Viel verbreiteter 
sind die in Warschau erscheinenden territorialistischen 
Ja/*gonblätter, das Tageblatt und das „Jüdische 
Wochenblatt". Das erste erscheint in einer Auflage 
von über 60 000 Exemplaren und heißt das „Kopeken- 
Blätt'l", weil es für eine Kopeke pro Nununer verkauft 
wird. Zu den ständigen feuilletonis tischen Mitarbeitern 
dieser Wochenschrift gehört auch der sehr begabte 
Satyriker und Kritiker David Frischmann. Das 
Thema der meisten seiner jetzigen mit ätzender Satyre 
geschriebenen Arbeiten sind die Segnungen der 
russischen „Freiheit" und „Konstitution". — 

Den territorialistischen Standpunkt vertritt auch 
das in Wilna erscheinende Wochenblatt „Die Jüdische 
Wirklichkeit", das Organ der sogen. „Poale Zion-* 
Territorialisten". Dieses Blatt trägt einen populären 
Charakter und hat nicht den gehässigen Ton mancher 
Parteiblätter, wie er z. B. in der „Volkszeitung", det 
ebenfalls in Wilna erscheinenden jargonischen Tages- 
zeitung, zu finden ist. Diese Zeitung, die das Organ 
des „Bundes" ist, zeichnet sich durch parteiische 
Engherzigkeit und Dogmatik, durch Beschimpfung 
und Verachtung anderer Parteien und Richtungen 
aus. Viel vornehmer, mannigfaltiger und inhaltsreicher 
ist die gleichfalls in Wilna erschemende Halbmonats- 
schrift „Volksstimme", das Organ der sogenannten 
„Seimisten", die nach der Schaffung einer jüdischen 
Nationalversammlung in Rußland streben. Die „Volks- 
stimme", zu deren Hauptmitarbeitem auch der hoch- 
gebildete und begabte Chajim Shitlowsky gehört, ist — 
abgesehen von der New- Yorker „Zukunft" — das 
gediegenste Jargonblatt der Gegenwart. 

Alle diese Blätter sind ein Produkt der letzten 
Jahre und zum größten Teile nach der Aufhebung der 
Preßzensur in Rußland entstanden. Das rege Leben 
in der Jargonpresse zeugt vom politischen und geistigen 
Erwachen der jüdischen Masse. Zu bedauern ist nur 
die Parteizersplitterung, die sich auch in der Presse, 
besonders in der jargonischen, widerspiegelt. Die 
beiden hebräischen Blätter, die jetzt noch in Rußland 
erscheinen, die Tageszeitung „Hasman" in Wilna 
und die Monatsschrift „Haschiloah" in Odessa, ver- 
treten den Standpunkt der gemeinsamen Zusammen- 
gehörigkeit der Gesamtjudenheit. Der „Hasman" 
ist ein ernstes, umfang- und inhaltsreiches Blatt, zu 
dessen ständigen Mitarbeitern auch N. Sokolow, der 
eigentliche Schöpfer der modernen hebräischen 
Journalistik gehört. Der „Haschiloah" wurde vor 
etwa zehn Jahren vom bekannten Publizisten Achad- 
ha'am begründet. Jetzt wird er vom eifrigen An- 
hänger Achad-ha'am's Josef Klausner und vom be- 
deutendsten hebräischen Dichter Ch. N. Bjalik 
redigiert. Der „Haschiloah" gehört zu den besten 



.321 



Josef ün: Die ostjüdische Presse. 



322 



Erzeugnissen der neuhebräischeh 'Literatur und 
ftresse. 

Von den in Rußland erscheinenden jüdischen 
Blättern in anderen Sprachen seien erwähnt die Wochen- 
schriften „Jewrejski Golos" in Odessa, das russische 
Organ der territorialistischen Partei; der „Ras'swjet" 
in Petersburg, das russische Organ der Zionisten; 
„Swobada i Rawenstwö", das Organ der die Emanzi- 
pation der Juden in Rußland erstrebenden „jüdischen 
Vplksgruppe", an deren Spitze der bekannte frühere 
Duma- Abgeordnete Winawer steht; das zionistische 



„Zycie Zydowskie" und die „Israeliia" — beide in 
Warschau. Außerdem erscheinen noch in Westeuropa 
zwei hebräische Zeitschriften, die eigentlich auch für 
das Lesepublikum in Rußland bestimmt sind; Die 
von Sokolow redigierte Wochenschrift „Ha'olafn" in 
Köln und die dekadentisch gefärbte, schöngeistige 
Monatsschrift „Hameorer" in London. 

Wir sehen somit, daß die russische Judenheit jetzt 
über eine vielseitige und mannigfaltige Presse verfügt, 
die ein Beweis ihrer geistigen Regsamkeit und ihres 
kulturellen Reifens ist. 



„wo DU HINGEHST . . ." 

(aus Buch Ruth). 

Fraulein Vera Goldberg gewidmet 

Eigentum von OST UND WEST. AUe Rtcbte voibetiaiten. Komp. von BOOUMIL ZEPLER. 

■ Andante, (in einem freien reettnttvarttgen Zeitmass). 

OESANO. 



HARMONIUM. 





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'1^ P ^ff^ 



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hin -gehst, 



auch ich hingehn 



nd wo du bleibst, da 



blei-beauch ich! 





ff,^'Clr~ptn^TM l ^l■l^'^'■l'M(1|1l^FPFll p^ ^J*J'^J'^^''J' Pfr'^'T ' 

*^ stirbst-liUsterbft &Dch ichmidwo du ruhest däwillandi ich be^raien sein, so mö-ge . der 



*-* to-muss - ninss w»-schom e-to - weir Kau-ja-a - sse ^ 



325 



Wo du hingehst. 



326 







bleibst,. 



da blei-be ooch ich, da blei-be, c 



ich auch! 




T=m 



lin, o-lin, S-Iin, lo - iin! -. 




AUS DER JUEDISCHEN SAGEN- UND MAERCHENWELT. 

Von Bar-ami. 



Der König und seine vier Sohne. 

In einem fernf^n, fernen Lande war einmal ein 
König y d»»r hatte vier Söhne. Als er alt wurde und 
ftthlte, dass ihm kein langes Leben mehr beschieden 
war, Hess er seine Söhne um sich versammeln und 
«prach zu ihnen Folirendes: 

, Meine lieben Kinder, Ihr sehet, dass ich nicht 
mehr junir bin, meine Z»*it i-t bald absr^laufen, nicht 
lan^e dauert's noch und ich werde geiufen. Wenn ich 
nicht mehr hier bin, fürchte ich, könnten Streit und 
Hader unter Eu<*h entstehen, wer m^-ine Krone und 
mein Reich eib^n solle. Seht, um dem vor/.ubeuiren , 
iiabe ich beschlossen, Euch auf die Probe zu stellen, 
wer der Tüchtitr>te ist. Ihr sollt alle vier in die Welt 
hinaus, ein jeder nach einer anderen Kichtung, ein 
Jahr lang sollt Ihr umherwandern, allerlei Menschen 



Nachdruck verboten. 

und Dinge sehen und Euch durchschlagen, so ffut Ihr's 
könnt. Daheim Ut ein Jeder schön, sagt ein Sprich- 
wort. Das ist keine Kunst, geschickt und tUchtig 
zu sein, wenn Einer beim Vater hinteim Of^n sitzt 
und es warm hat. Versuchtft's mal aber drau?>sen, wie es 
Euch ergehen wird B»'S'-er ein Narr, der gewandert 
ist, als ein Kluger, der immer zuhause sitzt. Wer von 
Euch also nach einem Jahre zurückkommt und mittler- 
weile die grösste Sieire^at vollbra«-hr hat, der soll mein 
Königieich erben. Gold und Edelsteine irebe ich einem 
Jeden von p]uch, so viel er tragen kann, doch dürfet 
Ihr von diesen Schätzen nur in der äusseraten Not 
Gebrauch machen." 

Gesagt, getan. Man sattelte den vier Prinzen die 
besten Pferde. Dann nahmen sie sich alles Nötige mit 
und zogen hinaus in die weite Welt, ein jeder nach 



327 



Bar-ami: Aus der jüdischen Sagen- und Märchenwelt. 



328 



einer anderen Richtung, wie es der alte König an- 
befohlen httre. 

Ein Jiihr lansr Hessen die vier Prinzen nichts von 
sich hö'en, und den alten Vater fing om schon an zu 
gereuen^ dass er Peine Kinder >o in die Fremde hinaus- 
gejagt hatie, denn er dnchre bfi sich, Gott weiss was 
ihnen wid»*rf.ihien sein kann. Aber ^ei*a«le als d ir Tag 
ihr>*8 AbschiJ'des sit-h jJihite, treffen sie «He vier, jeder 
aus ein»'r anderen Weltiregt^nd kommend, im Vaterhause 
ein. Nun könnt ihr euch ja selber die l'^ietide des alren 
Königs ausmalen, al^ er wieder die Kiiider um sich 
beisammen hatte; er firnr an, sie auszufrageUi wie es 
ihnen ergangen war all die lan«re Zeit. 

Der älteste trat vor und erzählte, was ihm passiert 
war: • 

. «T^h wanderte und wanderte lange Zeit, kam durch 
viele Städte und Länder und en pausierte mir nichts 
besonderes. Endlich traf ich ein« Stadt, die soeben 
abgebrannt war, die Menschen jimmeiten und klagten, 
das» sie alles verloren hatten und wussten nicht, was 
aie anfangen sollten. Da gab ich ihnen alle meine 
Schätze hin, und da ich ein Baumeister bin** — ihr 
mÜHst nähmliuh wissen, da^s ein je«ler Sohn des Königs 
immer ireeiid ein Handwerk erlernen mu^s, um >ich in 
der äussersten Not, wenn er sein Heifh verliert, redlich 
ernähren zu können; und dann versteht erdadun-h, wie 
es unter gewissen Leuren zugeht, versteht ihre Sorgen 
und was sie alles anstellen müssen, um leben zu 
kennen; daher wird er ni«-ht hoichmütiir und weiss, wie 
er die Leute zu richten hat, wenn sie zu ihm kommen. 
Der älteste war also Baumeister, er irab den Abgebranuten 
all sein Uold und seinem E<lelsteine und baute ihnen die 
Stadt wieder auf. Dann wollten sie ihn noch zum König 
aufnehmen und baten und flehten ihn an, er .solle bei 
ihnen bleiben. Aber er wollte just sein väterliches 
Keich erben, daher widerstand 6r ihren Bitten und eilte 
nach Hause, um z'im richrigen Termine einzutreffen. 

So erzählte der älteste Sohn, der Vater aber sprach: 
• „Das hast du gut gema«'ht, m^in S*'hn, Nun wollen 
wir hören, wie es deinen Bri'ulern ergangen i>t." 

Der Zweitälteste Sohn trat vor und erzählte: 

^Ich wander' e und wan«lerte lange Zeit kam durch 
versciiiedene Städte und Länder und iidr war nichts 
besonciei-es pausiert. Endlich gelang es mir, meinen 
ärgsten Feind zu besiegen. Einmal kam ich nändich 
in eine fei*ne Stadt, da herrschre gi*osser Jubel. Ich 
frasTte, w'as di los wäre, und man erklärte mir, heute 
solle der neue König cekrönt werden. Ich fragte: Wie 
heisst denn euer KöoIl'? Da nannte man mir den 
Namen meines ärgsten Feindes, der mir das Schlimmste 
in der Welt zugeiligt hatte. Ich finir an, den Leuren 
zuzureden: Solch' einen Köniir habt Ihr bekommen? 
Der ist ja garnicht wü dig, König z-i sein, UMd noch 
der&rleichen mehr, sagte ich, was endlich dem neu- 
gewählten König zu Ohren kam. Er Hess mich rufen 
und stellte mich zur Rede, ich aber forderte ihn zum 
Zweikampfe heraus, besiesrte ihn und so musste er be- 
schämt das Feld iäum»'n, gerade an dem Tage, der sein 
Freudentag werden sollte. Die Bew^ohner der Stadt 
wollten mich als König aufnehmen, aber ich wollte das 
Reich meines Vaters erben, daher beeilte ich mich, um 
richtig zum Termin anzulangen." 

„Und was habt Ihr vollbracht?" sagte der König zu 
seinen beiden jünirsten Söhnen. 

Der dritte irat vor unJ säurte: „^lein Herr Vater 
und König", mir ist lel«ler während der gjinzen Wan'ler- 
schatt nichts pa>siert. wo ich Gel-»irenheit gehabt hätte, 
meine Kraft zu berätigen und eine Siegestat zu voll- 
^-nnsren. Ich bringe nichts, ich komme, wie ich ge- 
n bin." 



Doch die Anderen fingen an, ihm zuzureden, er 
möge nur alles er/ählen. was ihm passiert wäre, auch 
das kleinste Ereignis s(dle er nicht versch «zeigen, dann 
werde man schon sehen. Der Dritte besann .sich ^eine 
Zeit lang und schliesslich erzählte er tollendes: 

„Einmal tfihrte mich mein Weg an einem tteten 
Wasser vorbei, ich sah hin und bemerkte, dass dicht 
am ül'er ein Mensch schlief. Das Ufer war steil, ^ und 
der Schlafende brauchte sich nur umzuwenden,! um 
hineinzufallen, dann war er unrettbar verloren, ienn 
dort war das Wasser gerade am tiefsten. Ich eilte 
hinzu, und ihr könnt euch leicht meine Ueberraschung 
ausmalen, als ich sah, d<iss der Schlafende mein ärgster 
Feind war, der mir das Schlimm.ste in der Welt zu- 
gefügt hatte. Der Je/.er hara*) flüsterte mir zu, ich 
solle nur ruhisr meines Weges gehen und den Schlafenden 
schlafen lassen. Das dauerte eine Weile, dann besann 
ich mich« packte den Schlafenden beim Krageh. and 
schleppte ihn rasch fort dann eilte ich von dannen,' um 
nicht erkannt zu werden. Das ist alles." 

Der alte König aber sprach: : 

„Du hast Grösseres vollbracht als Deine beiden 
älteren Brüder, mein Sohn. Es steht ja gesjehi ieben,*) 
man ^olle auch des Feindes Esel oder Ochseu beinteihen» 
wenn er unter der schweren Last keucht, um wieviel 
mehr dem Feinde selber, und erst, wenn es am. sein 
L*ben geht. Und Du, mein jüngster Sohn, was hast 
Du in der Welt vollbracht?« 

Der jüngste tr.t vor und hub an: 

„Als ich durch ein grosses Stück Welt gekommen 
war, ohne etwas besonderes eilebt zu haben, traf ich 
einmal in einer fernen Stadt ein, wo grosse Bestürzung 
unter den Einwohnern herrsi-hfe. Ich fiagte, was da 
vorfirefallen sei, und man erzählte mir, es sei ein neuer 
König gewählt worden und heute sollte er gekrönt 
werden. Bei der Krönung müssten, wie es Brauch ist, 
Märsche und andei'e MuMk»*tUcke gespielt werden ^.Nun 
sei der Kapellmeister plötzlich erkrankt und die KrOjiung 
könne an dem bestimmten Tnge nicht stattfinden, wa» 
für den König ein böses Vor/.eichen hei. Ich fi^gte, 
wie der Köniir heis-^e, und man nannte mir den Namen 
meines ärgsten Feindes, der mir das Schlimmste in der 
Welt zuifefUgt hatte. Als ich das hörte, meldete ich 
mich beim Adjutanten des Königs, da ich mich erinnerte, 
diss ich ja Musikant bin und eut zu >pielen verstehe. 
Man übeitrug mir die IdpHllmelsterstelle, die Krönungs- 
feierlichkeiten wurden abjrehalten und naclibr zog ich 
rasch von dannen, um nicht erkannt zu werden." 

Ais der Köuisr dies gehört, stieg er vom Throne, 
küsste seinen jüng>ten Sohn auf di-5 Stirn und sagte: 
„Du, mein jüngster Sohn, hast die giösste Siegestat 
unter all Deinen JJrüdern vollbracht" Und er setzte 
ihm die Krone aufs Haupt. Der jiineste bestieg auch 
wiiklich den Thron, erreichte ein hohes Alter and es 
ging ihm s**hr gut. 

Anmerkung In der vorliegenden Fassung hörte ich 
als Kind dieses Märchen von meinem Grossvater erzählen. 
Später wurde mir unter anderen unwesentlich von 
der vorliegenden abweichenden Fassungen besonders 
eine bekannt, in der der älteste Sohn fehlte. Diese Version 
scheint mir die ursprünglichere zu sein. Märchenkönige 
pflegen gewöhnlich nöchstens drei Söhne zu haben. Der 
älteste scheint mir nur i\en vier Weltyegend« n zuliebe 
erfunden zu sein Das Märchen dürfte in seinem Kern 
aus Indien stammen. Mir wurde eine ähnliche Version 
aus einem Lehrbuch des Ita ionischen bekannt, aber der 
Geist, der in dieser Version herrscht, ist ein völlig ver- 
Bchiedener. 

1) Böser Trieb. 

«) Gemeint ist Numeri XXIII, 1415 



MITTEILUNGEN AUS DEM DEUTSCHEN BUREAU 
zun DER ALLIANCE ISRAEÜTE UNIVERSELLE. 1= 

1 (Berlin N. 24, Oranienburgerstr. 42/43 \\. 



Jl 



DAS SCHUL- UND LEHRLINOS-WERK DER ALLIANCE ISRAELITE 
UNIVERSELLE. 



(Ans dem Jahresbericht 1906.) 



Nachdmck vertKiten^ 



L Schulen. besuchte Mädchenschule in Jerusalem. — In Marokko 

Im Januar 1907 zählte die Alliance 134 Schulen, hat die AlUance ihre erat« Schule eingerichtet. Der 
davon 17 in Marokko, 10 in Bulgarien, 35 in der euro- Tag ist nahe, an dem die Zivilisation in breitem Strom 



pfiiachen Türkei, 15 in 
Kleinasien, 19 in Syrien, 
4 in Mesopotamien, 2 in 
Tripolis, 8 in Egyplen, 6 
in Tunis, 14 in Persien, 
4 in Al^er. 

Jedes Jahr dehnt sich 
das Erziehungswerk der 
Alliance mehr aus, sei es 
durch Gründung neuer 
Anstalten, sei es durch die 
Entwicklung bereits be- 
stehender Schulen. Unter 
den Neuschöpfungen ist 
eine Sehulgnippe in Maza- 
gan, Marokko, zu er- 
wähnen, eine zweite 
Knabenschule in Mogador 
und eine von 200 Kindern 



AIliancC'KnabcDubuU in Bagdad. 

s Hauptgcbäade ciilhätl im ersdn Stock 6 KlasscnziinnieT und 
giosscn Sul, iin EtdKr$c)i(r» befindet sich die Bynigug«. 



n dieses Land eindringen 
und CS dem allgemeinen 
Gesetz des ForlschritU 
unterwerfen wird. Dank 
den Allianceschulen wer- 
den die Irsaeliten vor- 
bereitet sein, in der wirt- 
schaftlichen Bewegung 
Marokkos die Rolle zu 
spielen, die ihnen nach 
ihrer Zahl, ihrer Erfah- 
rung, ihrer Einsicht zu- 
kommt. Wenn bisher ein 
Teil der israelitischen 
Jugend nach Südamerika 
auswanderte, weil ihrem 
Tätigkeitsdrang in Ma- 
rokko die Nahrung fehlte, 
werden die Zöglinge der 



331 Milteilungen der AUiance hniflite Univerectte: Dasi Schul- und Lchrlingsrerh der Alliance Israäite Universelle. 33? 



Allianceechulen nicht ermangeln, die ersten Elemente zum Teil nach dem europäischen Viertel gewendet. 
des^ notwendigen Personals zu liefern, sobald die In diesem durch das Araberviertel vob dem Mellah ge- 
europäische Industrie den natürlichen Reichlümern trennten Stadtteil hat die Alliance 1888 eine große 
Marokkos den vollen Wert gegeben haben wird. Die Knabenschule eingerichtet. Die weite Entfernung vom 
Wirrnisse des Landes, die Armut der jüdischen Be- Mellah machte den Schulbesuch Tür die im Mellah 
völkerung haben nicht gestattet, schon in diesem zurückgebliebenen Kinder beschwerlich. Um das Leni- 
Jahre alle Schöpfungen zu verwirklichen, die von betlürfnis dieses Teiles der jüdischen Bevölkerung zu 
dem Cenlral-Comitö für Marokko in Aussicht ge- befriedigen, eröffnete die Alliance in Mogador eine 
tiommen waren und such eine Notwendigkeit sind. Wir zweite Knabenschule. Des neue Institut zählt fast 
brauchen Schulen in Alcazar {300 Kinder), Azamur 400 Zöglinge, hat ungefähr alle kleinen Schulen der 
(300 Kinder), Ma'juinez (1200 Kinder), Siffru (500 Eingeborenen aufgesogen und die tüchtigsten Lehrer 
Kinder), Taga (300 Kinder), Debdu (400 Kinder), dieser Eingeborenenschulcn in seinen Dienst genommen. 



Demnat (300 Kinder). 
Aus verschiedenen Grün- 
den, namentlich um der 
Landesunsicherhcit willen, 
haben diese Pläne verlagt 
werden müssen. Nur in 
der Hafenstadt Mazagan, 
die eine große Zukunft 
hat, ist die Alhancc im 
Oktober 1906 imstande 
gewesen, eine Knaben- 
und eine Mädchenschule 
zu eröffnen, die bereits 
275 Zöglinge zählen. 

In Mogador hat die 
10 000 Seelen starke jü- 
dische Bevölkerung, im 
Mellah (dem Juden- 
([uartier) erstickend, sich 



AlUance-KnabenschuIc in Bagdad. 

itchW mll S KlMsenilmm« i!i 1902. (1*r Anb-iu 



In Casabtanca hat dit 
AUianceschuIe alle frühe- 
ren Privatschulen in sich 
aufgenommen. Die ge- 
samte jüdische Schul- 
jugend 8t«ht jetzt unter 
der moralischen Vormund- 
schaft der Alliance. 
• 

)m September 190& 
legte ein furchtbarer Brand 
einen Teil der St«dt 
Adrianopel in Asche. 
Die Geißel hatte nament- 
lich im jüdischen Viertel 
gewütet. Tausende von 
jüdischenFämilien mußten 
sich neue HSuser bauen. 
Die Folge des UnglQclu 



333 Mitteilungen der Alliance hnflite Universelle: Das Schul- und Lehrlingsverlc der Alliance lsra£lite Universelle 334 



Die AUiancoScbulc Riwka Nuriel in Bagdad. 



war, daß die Wohnungen der Juden gesunder, gerüumigep 
wurden. Da das alte Gebäude der Talmudloraschule zer- 
stört war, schlug die Gemeinde eine Versclimolzung der 
Talmudtora- mit der Allianccschule vor. Das Centrai- 
Comit^ nahm den Vorschlag freudig an und legte sich 
behufs besserer Durchführung sogar neue Lasten auf. 
Heute umfaßt die Anstalt die gesamte judische Schul- 
jugend, die Zahl der Zöglinge ist nahe an 1300. Die 
Verschmelzung, die einige Jahre zuvor noch großen 
Schwierigkeiten begegnelwäre, hat sich leicht vollzogen, 
nicht ein einziger Anhanger der alten Gewohnheilen hat 
Einspruch erhoben. 

Die Gemeinden, in denen die Alllanccschulen noch 
«uf Widerstand treffen, sind überhaupt selten geworden. 
In Jerusalem z. B. war es einigen Rabbinen und den 
Obskuranten lange Zeit gelungen, die Bemühungen der 
Ailiance hinsichtlich der Unterrichts Versorgung der 
jüdischen Jugend zu hemmen. Aber die Lernbegierde 
war so allgemein und so stark, daß sie alle Hindernisse 
überwand. In Jerusalem gibt es etwa 5000 Kinder im 
«chulpflichligen Alter. In die ADianceschule gehen etwa 
400 Kinder, 150 besuchen die Lämelschule, (fie übrigen 
finden in den Talmud toraschulen und in den Jeschibot 
Aufnahme. Für Mädchen gab es bisher nur eine, die 



Eveline v. Rothschild-Schule'mit 500—600 Zöglingen. 
Fast 2000 Madchen blieben ohne jeden Unterricht. Das^ 
Central-Comite hat diese Lücke nicht fortbestehea 
lassen wollen. Im Jahr 1906 hat die Alliance in 
Jerusalem eine Mädchenschule eröffnet, die gegenwärlif; 
200 Schülerinnen zählt und erweitert werden soll, sobald 
die Verhältnisse es gestatten. 

InPersien onvoitem die Schulen fortgesetzt ihren 
moralischen und beschützenden Einfluß. Das Vor- 
handensein der Schule und die Gegenwart der von der 
Alliance entsandten europäischen Lehrer gewälirteistet 
die Sicherheit der Israeliten und zwingt die zahlreichen 
Agenten der Verhetzung, die vordem die Israeliten 
ungestraft mißhandelten und ausbeuteten, Frieden zu 
halten. Der Einfluß der Schulen reicht weit über die 
Städte hinaus, in denen sie sich befinden, zuweilen über 
eine ganze Provinz, beschützt Leben und Eigentum der 
unglücklichen israelitischen Hausierer, die ihr Gewerbe 
in entlegenen Dörfern betreiben. Unter allen Umständen 
erblickt die jüdische Bevölkerung in der Allianccschule 
nicht bloß eine Zufluchtsstätte und in dem Direktor 
einen Beschützer; sie hat auch Jas Bewußtsein, daß der 
moderne Unterricht der Allianccschule ein wahrhaftes 
Werkzeug des Fortschritts und des Broterwerbes ist. 



335 Mitteilungen der Alliance Israelite Universelle: Das Schul- und Lehrlingswerk der Alliance Israelite Universelle. 



336 



In Persien sind sechs Schulgruppen: in Teheran. 
Hamadan, Ispahan, Schiras, Senah und Kirmanscha. 
Außerdem subventioniert die Alliance kleine Schulen 
in Nahavenda, Tussurcana und Bidjar. Man wird mit 
Interesse den Auszug aus einem Bericht lesen, den 
Herr Loria, Direktor der Knabenschule in Teheran über 
die moralischen Erfolge der Schule erstattet hat: 

„Unsere Tätigkeit ist hauptsächhch auf die 
iSchulbevölkerung gewendet, die unserem Einfluß 
unmittelbar untereteht. Bisher war die 2^hl der 
eingeschriebenen Schüler im Verhältnis zur 
jüdischen Bevölkerung von Teheran zu klein, als 
daß die Berührung mit den in unserer Schule ge- 
wonnenen Begriffen von Würde, Ehrlichkeit und 
Arbeit die Masse unserer Glaubensgenossen zu einer 
^ merklichen Änderung ihrer Lebensführung hätte 
bestimmen können. VVir mußten vielmehr fürchten, 
daß der Einfluß der Umgebung unsere Tätigkeit 
lähmen, " daß unsere Schülerscliar von . den 
finsteren, eingewurzelten väterlichen Gewöhnungen 
neu angesteckt würde. Unnötig zu sagen, daß die 
Vermehrung unseres Schülerbestandes eine Ein- 
wirkung auf die ganze israelitische Bevölkerung 
ausüben muß, daß wir um so nachaltiger und ein- 
dringlicher eine moralische Hebung unserer 
Glaubensgenossen erzielen, je größer der Kreis der 
Kinder ist, die wir unter unserem erziehlichen Ein- 
fluß hs^en. Schon können unsere Schulen sich 
schmeicheln, einen merklichen Anstoß für die Er- 
neuerung der materiellen Existenz der Juden in 
der Hauptstadt gegeben zu haben. Unsere Schulen 
haben zunächst zum Nutzen der Juden eine Atmo- 
sphäre der Sicherheit und Ordnung geschaffen, die 
ihnen gestattet, alle ihre Fähigkeiten zur An- 
wendung zu bringen. Stark durch die Unter- 
stützung, die ihre Vertreter bei sich bietender 
Gelegenheit ihnen gewähren, sind unsere Glaubens- 
genossen dahin gelangt, ihre Furchtsamkeit und 
ihr Mißtrauen zu besiegen. Sie verlassen das be- 
engende Ghetto und wagen sich in die neuen Viertel 
hinaus, nützen ihre natürlichen Gaben, treiben in der 
neuen Gegend Handel oder finden dort Anstellung. 
In früher Morgenstunde ziehen sie aus dem Juden- 
viertel an ihre Arbeit. Auf dem Weg durch die 
von Muselmanen bevölkerten Kaufhäuser bleiben 
sie unbelästigt. Man kann versichern, daß seit vier 
Jahren in Teheran kein Willkürakt zum Schaden 
unserer Glaubensgenossen vorgekommen ist. Frei- 
lich geraten von Zeit zu Zeit Muselmanen und 
Juden untereinander in Streit. Ich will auch nicht 
behaupten, daß der Kampf ums Dasein hier weniger 
hart ist als anderwärts. Aber die Streitigkeiten 
nehmen niemals einen konfessionellen Charakter 
an. Der Konflikt der Interessen, nicht der 
Fanatismus ruft sie hervor. — Die Israeliten waren 
lange Zeit gezwungen, in ungesunden und engen 
Quartieren zu wohnen. Heute ziehen sie überall hin 
und bauen ihr Heim, wo sie mehr Luft und mehr 
Lichtfinden. Die israelitischejGemeinde von Teheran 
w^ar schwach und ohnmächtig. Unsere Glaubens- 
genossen kannten nur den Hausier- und Lumpcn- 
handel. Fast alle Handwerke waren ihnen ver- 
schlossen, nicht durch ausdrückliche Vorschriften. 



sondern duiY;h eine unbegreifliche und unent- 
schuldbare Lässigkeit. Wir haben versucht, dii* 
unserer Fürsorge anvertrauten Kinder dem Handel 
mit alten Sachen zu entreißen und sie dem Hand- 
werk zuzuführen. Abgesehen von den Lehrlingen, 
die von derAlliance eine Unterstützung erhalten, ist 
die Zahl derer, die jetzt ein Handwerk ausüben, schon 
sehr groß. Wir haben Schneider, Schuhmacher,Typo- 
graphen, Goldarbeiter, Tischler, Tapezierer, Hut- 
macher, Zimmerleute, Maurer, Schmiede, Bronze- 
gießer usw. Man darf sich keine Illusionen machen : 
Diese Handwerker müssen überhart arbeiten, um 
ihre Familien zu ernähren. Aber wenn man an die 
Zeit denkt, da unsere Glaubensgenossen ihr Brot 
nur durch erniedrigende Beschäftigungen ge- 
wannen — Höker, Tänzer, Mimen — und diese 
ganze kraftvolle Jugend ansieht, die schwere, doch 
gesunde Arbeit leistet, kann man sich eines Gefühk 
der Dankbarkeit gegen die Alliance nicht ent- 
schlagen.'' 

II. Lehrllngswerk. 

Die Alliance unterhält zur Zeit an 32 verschiedenen 
Plätzen Lehrlingswerkstätten für Knaben, die zu 
hunderten für die besten Handwerke ausgebildet 
werden, zu Schmieden, Schlossern, Mechanikern, Eben- 
holzai^beitern, Tischlern, Malern, Schriftsetzern usw. 
Am meisten werden solche Handwerke begünstigt, 
die die Körperkraft der Lehrhnge am besten zu ent- 
wickeln vermögen, und solche, die bisher aus irgend 
einem Grunde von den Juden noch nicht ausgeübt 
werden. 

Trotz der in den verschiedenen Berichten schon 
wiederholt betonten Schwierigkeiten, die das Lehrlings- 
werk zu bekämpfen hat, leistet dieses Werk bereits in 
den meisten Städten große Dienste. Es trägt in macht- 
voller Weise zur moralischen, körperlichen und 
materiellen Hebung der Israeliten bei. Das kräftige 
Äußere der Lehrlinge kontrastiert deutlich gegen die 
Muskelschwäche der Mehrzahl der Israeliten. Das ist 
eine der großen Wohltaten des Werks. 

Neben den Mädchenschulen sind Atehers für 
Näherei, Stickerei und Teppichweberei in Betrieb, die 
den armen Mädchen einen Erwerb sichern, der dem 
FamiUenbudget einen wesentlichen Beitrag sichert. 

Die Handwerkerschule in Jerusalem ist im Jahn»^ 
1906 von 145 internen und externen Schülern besucht 
worden. Zehn Schüler hatten ihre Lehrzeit beendet, 
haben ihr Handwerk gründlich erlernt und arbeiten 
jetzt teils in Jerusalem, teils in Egypten, das ein wert- 
volles Arbeitsfeld für sie bietet. Soviele Arbeiter jährlich 
ausgelernt haben, so viele Familien sind dadurch der 
Bettelei und dem Kleinhandel entrissem Die 
Weberinnen, die Netz- und Spitzenateliers geben 
hunderten von Arbeitern, Frauen und jungen Mädchen, 
Beschäftigung. Alle diese Tätigkeit zur Förderung der 
Handarbeiten hat die Sitten und die materielle Lage der 
Israeliten in der heiligen Stadt merklich verändert. 
Die Ausübung dieser Handarbeiten führt dieser tat- 
sächlich so elenden Bevölkerung neues Leben zu, sichert 
ihnen besseres Auskommen .und erweckt in ihr das 
Gefühl der Würde, das die Liebe zur Handarbeit un<l 
ihre Ausübung mit sich bringt. 



THEODOR OSCHINSKY-BRESLAU. 



Unser Frennd Herr Theodor Osdiinsky in Breslau, 
das verehrte langjährige Mitg-Iied der Dentschea Con- 
ferenz-GemeiDBChaft der AHiance Israelit« Universelle, 
tiat die Güte gehabt, uns fllr 
die vorliegende Nummer von 
„Ost and West" einen Aus- 
zug ans seinem interessanten 
Berii^ht über die jQngst von ihm 
nnt«raommene Fahrt ins Gelobte 
land ZOT Verfügung zu stellen. 
Wir benutzen dies als will- 
kommenen Anlass, unsern Lesern 
das Bild des um die Sache der 
AUiance hochverdienten Mannes 
zu bringen und ihnen von seinem 
r^ebensgang zu erzählen. 

Theodor.Osehinsky ist im Jahr 
1844 in Nikolai O.-Schl. geboren. 
Er besachte dort die jüdische 
Schule, von 1857 bis 1859 das 
Gymnasiam in Gleiwitz, von 
1859 bis 1803 das Gymnasium 
in Breslau. Nach beendeter 
Schulzeit widmete er sich dem 
- kaufmännischen Beruf. In sein 
Militärdiensljahr 1865/66 fiel 
der böhmische Feldzug, den er 
zunächst ah Unteroffizier, dann 
als Offizierdiensttuender Vize- 
feldwebel mitmachtw In der 
gleichen Eigenschiift war er 
au dem Feldzug 1870/1871 
beteiligt. 

Anfangs der siebziger Jahre trat er der AUiance 
Isra^lite Universelle als Mitglied bei und gründete narh 
dem Tode des Rabbiners l>r. Landsberg- Lii-gnitz — sein 



Nachdruck vciboUn. 

Andenken sei gesegnet! — das Provinzial-Eomltd filr 
Schlesien, belebte die bestehenden und schuf neue Lokal- 
Komitej in Schlesien nnd gewann namentlich in Breslau 
der Alliance eine grosse Anzahl 
Anbänger. Im Jahr 1862 
begründete er ein Rilfskomite 
für die verfolgten russischen Ju- 
den; im Jahr 1691 stand er wieder 
an der Spitze des Hilfskomit^s, 
für das die gleiche Aufgabe sich 
erneuert hatte. Inzwischen war 
er, 1889, Hitglied des Central- 
(.'umites der Alliance geworden. 
Innerhalb der Breslauer Ge- 
meinde, in deren R»praseutanten- 
KoUegium er vor 18 Jahren ge- 
wählt wurde, war Herr Oschinsky 
in allen Wohlfahrta- und Wohl- 
tätigkeits - Angelegenheiten be- 
."onders tätig. Im Vorstand des 
ismeliliscben Kranken -Verpfle- 
guugs-und der Alters versorgungs- 
Ansialt entwickelte ersein organi- 
satorisches Talent. Er erwarbsich 
ein besonderes Verdienst dadurch, 
ddss er die Baronin Hirsch he- 
stimmte, zur Errichtung des — 
musterhaft ausgestatteten — jü- 
dischen Krank:enhause.s in Breslau 
aOOOOO Mark beizusteuern. Nach 
Theodor Oschinsky. Einweihung dieses Kranken- 

hauses wurde er durch die Vei-- 
leihnng des Kronenordens ausge- 
zeichnet. Er ist im Vorstand zahlreicher jüdischer 
Wohltat igkeits vereine, und wo immer es gilt, unseren 
bedrängten Glaubensgenossen beizustehen, da bt auch er. 



MEIN AUFENTHALT IN PALASTINA. 

Aus Reiseerinneninjjen von Theodor. Oschinsky. ■ 



\iii i:äi'hstL-[i .\lurg.-ii lii'siclitigtiTiwir (iif 

neutsi'lm AlliuncoschuleiiiK<>nslanliiio]ip|. Ein 
schönes niodemes Cieliäudc mit sdir hohen Scliul- 
zimmeru. Dtr Uireklor Springer etiiprüiigl uns iiii<! 
führt uns zunächst in die untorHlo Klasse, dii.' xicmlich 
stark (von 60 Schfilcm) b«surlit ist. Es ist Ri'rade An- 
schauungsunterrichl. Wir sind frslHuiil, als wir dioM^ 
Kinder, die im Hause größtenloils kL'in dciitsclii's 
Wort zu veriiflinien Gt'iegt'nlu'il lialiciL, di'iilsi'h 
sprechen liören, .Xeben Kindern von Hiissi'n nnd 
Ilumäm-n befinden sich hier Kinder vim Spaniulcn, 
Türken. Yi-nionitcn und versehiedencn ondenn Vülkoc- 
schafton. Ein kleim-r Knabe wini an die Tafel 
ßemfen. Kr soll sagen, was an dem Kann», den er 
zeigt, zu bemerken ist. Man siehl. iluß er <s weill, 
daß OS ihm aber schwor fällt, das richtijp' Wtnl zu 
finden. Rndlich sliillt er hervor; er bleut; und als 
viele darüber lachen, verbessert er sich uml sagt: er 
blüht. — Die näehsle Klasse ist übcrriilll : sie hat 
80 Schüler. Diese sind im Deutschen »»^■iion fjanz 
firm. In 'ler fdlgi'nden Ktas.«e sprechen Hie Kinder 



!<ucli selirui sehr giil fraiizüsiscb. Ebenso sind sie iin 
llehräisehen weil. In der nächsten Klasse, mit 
Till Schülern, wiiiJ eben ans dem Hebräischen ins 
Deutsche übersetzt. In der folgenden Klasse ist Unter- 
liclil in Tieomelrio und Arithmetik, worin die Schüler 
Erstannliehes leisten. Dringend notwendig wäre ein 
Knrsns zur Vorbereitung für die Konfirmiilion; ferner 
niiililoti hebräische Bücher, Lesetabellen und Le»o- 
fibeln in genügender Anzahl zur Verteilung an itio 
S<'liiilcr beschafft werden, damit sich die Kinder auch 
zu Haus damit bescbäriigen können. Jetzt nämlieli 
wertien die llttehor nach Si^'hulschlull in der Schule ein- 
geschlossen. Dip Zahl der Schüler beträgt 260, die der 
l.ehn-r fünf, davon ist einer in Paris au.'^'bildel, die 
übrigen vier sind deutsche Lehrer und sämtlich gi^- 
borrne Deulst-lic nder L'ngarn. 



\'on Port Said aus waren wir nach außergewöhn- 
lich unruhiger Fahrt Donnerstag, den 22. Febrnar 1!>06 
vor Jaffa angekommen; doch die Hoffnung, hier zu 



339 



Theodor Oschinsky: Mein Aufenthalt in Palästina. 



340 



landen, schwand bald: das Meer war zu stürmisch. Der 
Kapitän bestimmt endlich, daß das Schiff weiter, nach 
Beirut fahren soll, und wir haben wieder eine qualvolle 
Nacht vor uns.Wie Hohn erschien es uns, als der Steward 
uns zum Diner auffordert, da wir doch nicht aufstehen 
konn'en. Wir bitten ihn, uns ein Glas Tee zu bringen; 
er verweist uns in den Speisesaal. Hierbei kann ich 
nicht unterlassen, folgendes Jntermezzo zu erzählen. 
Nachdem mein Sohn bereits 24 Stunden auf hartem 
Lager gelegen und viel von der Seekrankheit ausge- 
standen hatte, empfand er großen Hunger. Er weichte 
einStückchen altesBrot in demTee auf, den einer unserer 
Führer sich selbst bereitet hatte. Dieser Führer ging 
in die Küche und verlangte ein Stükchen Brot, das 
uns die Schiffsleitung (wir waren auf einem russischen 
Schiff!) außer der Zeit vorenthalten will; da stürzt 
der Koch auf ihn zu und ruft: „Du Jude, Dir gebe 
ich nichts!" 

Endlich ist es Morgen, der Sturm hat sich gelegt. 

Wir sehen in nächster Nähe den Libanon mit seinen 
ewigen Schneegipfeln, die in der Sonne glitzern, wir sind 
in Beirut. — Nach der üblichen Paß- und Zollrevision 
steigen wir in unserem H otel ab. Bald nachTisch machen 
wir eine Spazierfahrt, zunächst durch einen Teil der 
Stadt, die terrassenförmig gebaut ist. Man sieht schöne 
große Gebäude abwechseln mit verfallenem Gemäuer, 
dem man das mehrtausendjährige Alter anmerkt. Da 
es vorher stark geregnet hat, sind die Straßen und 
Chausseen so schlecht, daß die Räder unserer Wagen 
bis zur Nabe einsinken. Soweit das Auge reicht, ist 
alles voller Maulbeerbäume. Es fallen uns die kräftigen 
Gestalten auf und die vielen schönen und wohl- 
genährten Kinder. Wir sehen unter ihnen Gesichter, 
wie sie weißer und schöner bei uns nicht zu f nden 
sind, aber auch braune und schwarze. . . . Sonn- 
abend, den 24. Februar bleiben wir im Hotel und 
erfreuen uns auf der sonnigen Terrasse an dem An- 
blick der mit den schönsten Früchten behangenen 
Citronen- und Orangenbäume. 

Sonntag, den 25. Februar vormittags besichtigten wir 
die Alliance-Schulen, zunächst die Mädchenschule, die 
250 Schülerinnen hat. — Wir waren erstaunt über das, 
was hier geleistet wird. Wir sahen die überaus sauberen 
schriftlichen Arbeiten, einige Schülerinnen trugen Ge- 
dichte vor, schwierige Rechenaufgaben wurden auf der 
Tafel ausgearbeitet und gelöst, ein Lehrer erteilt gerade 
hebräischen Unterricht und läßt aus dem Pentateuch 
lesen und übersetzen. Dann gingen wir zur Kna'^en- 
schule, die einige Minuten entfernt von der Mädchen- 
schule liegt; hier sind 300 Schüler. Jn sehr hohen 
geräumigen Zimmern wird der Unterricht erteilt- Wir 
hörten französich, jüdische Geschichte in hebräischer 
Sprache, auch die Geographie von Deutschland wird 
uns zu Ehren durchgenommen; die Schüler wissen, 
welche Länder in Europa Republiken und welche 
Monarchien sind. Wir finden in den schriftlichen 
Arbeiten schön gezeichnete Landkarten, Zeichnungen 
von Thermometern, Barometern und verschiedenen 
anderen physikalischen Instrumenten. Auch im kauf- 
männischen Rechnen zeigen die Schüler große Ge- 
wandtheit. Wir nehmen dann im Konferenzsaal Platz, 
'^ ein Schüler Konfekt herumreicht. Ich freute mich 



darüber, daß dieser kleine Junge erst den anwesenden 
Damen aufwartete und dann den Herren. Wir nehmen 
Abschied, nachdem ich mich mit den Schülern hatte 
photographieren lassen. 

Nachmittags machten wir wieder eine Spazier- 
fahrt. An der Küste des Mittelmerees entlang führen 
uns in Windungen ansteigende Chausseen an weiten 
Orangen- und Zitronenplantagen vorüber. Die Küste 
ist sehr malerisch. Durch die starke Brandung des 
Meeres sind ihr zerklüftete Felsen vorgelagert. An' 
der Taubengrotte machten wir Halt und bewunderten 
die eigenartige Gestaltung der riesigen Felsen, die wie 
von Künstlerhand gearbeitet aussehen. Sie haben 
am unteren Ende Tore, durch die ein Nachen hindurch- 
fahren kann. Zu unserer linken Seite ist wundervoller 
Frühling, auf der rechten Seite ewiger Winter: der 
langgestreckte Libanon, dessen Höhen mit Schnee 
bedeckt sind. — Nach kurzer Rast kommen wir 
wieder in die Stadt, die heute ungemein reges 
Treiben zeigt. — Wir verlassen das Weichbild der 
Stadt und kommen in den berühmten Pinienwald» 
wo wir Rast halten. 

Da kommen in rasender Eile Reiter, die 
dem Wagen ihrer Herrin, der iFrau des Gouverneurs 
vom Libanon, Chader Pascha, voraussprengen. 
Wir grüßen nach europäischer Art, und die im 
Wagen sitzenden Damen erwidern unsem Gruß 
durch freundliches Kopfnicken. Wir fahren weiter an 
der Grenze zwischen Libanon fmd Beirut entlang, 
immer das ganze Gebirge überblickend, bis wir wieder 
in unserem Hotel angelangt sind. Nach sehr kurzer 
Rast begeben wir uns zum Hafen, von dem aus wir zu 
unserem Schiffe gerudert werden. Nachdem wir hier 
ganz energisch unser Recht auf gute Kabinen ver- 
fochten haben, belegen wir diese und begeben uns auf 
Deck. Unsere nächsten Nachbarn sind eine große 
Anzahl Pferde, die noch fortwährend Gesellschaft 
erhalten, denn soeben langt ein Kahn mit Pferden an. 
deren Ausladung auf unser Schiff wir mit an- 
sehen. Der Krahn macht ohrenbetäubenden Lärm, 
ebenso das Einladen einer Unmasse Waren in Säcken, 
Ballen und Kisten. Dann kommen Ziegen, Esel und 
Ochsen, kurz: unsere Reisegesellschaft ist sehr ge- 
mischt. Das Meer ist spiegelglatt, der Himmel aus- 
gestirnt, die Luft sehr angenehm. Nach lebhafter 
Unterhaltung begeben wir uns zur Ruhe. 

Montag, den 26. Februar, morgens 6 Uhr, langen 
wir in Ca ffa an. Die Kähne der verschiedenen Gesell- 
schaften kommen heran, umschwärmen unser Schiff, 
Araber erklimmen wie Piraten die Treppen, die 
schwersten Lasten tragend, Reisende kommen fort- 
während in großer Zahl an und verändern jedesmal 
das Gesamtbild. Unsere Führer fahren eihgst an Land, 
um unsere Landung zu regeln. Es vergeht fast eine 
Stunde, die Zeit der Weiterfahrt unseres Schiffes ist 
bald gekommen, und noch immer sind sie nicht zurück. 
Wir werden ängstlich, nehmen schon unser Gepäck 
und wollen eigenmächtig das Schiff verlassen, als das 
geübte Auge eines Matrosen den Kahn mit unseren 
Führern heranrudem sieht. Wir werden nun in größter 
Eile in unsere Boote gesetzt und in ruhiger Fahrt 
steuern wir dem Ufer zu. 



341 



Theodor Oschinsky; Mein Aufenthalt in Palästina. 



Nach unserer Landung setzen wir bei schönstem 
Wetter uns in die bereitstehenden Wagen und fahren 
durch das saubere Städtchen zum Hotel Carniel. Wir 
begeben ims in das Schreibzimmer und fallen über 
die ausliegenden Postkarten her, weil jeder seinen 
Lieben wieder einmal ein Lebenszeichen geben will, 
das erste aus Palästina. ■ j , 

Vor unserem Hotel liegen Millionen von kleinen 
Muscheln, die wie bei uns der Kies zum Beschütten 
genommen werden. Wir begegnen einer Anzahl sehr 
sauber gekleideter Kinder, die, von einer Diakonisse 
geführt, ein deutsches geistliches Lied singen. Unsern 
Gruß erwidern die Kinder artig in deutscher Sprache. 

Nachdem wir die La ndungs brücke, die für unseren 
Kaiser gemacht war, besichtigt und einen sehr schönen 
Ausblick auf die lange Straße genossen, setzen wir uns in 
eigenartigeWagen.diemitje drei Pferden bespannt sind. 
Schon das Hiaufsteigcn ist eine Turnübung. Die beiden 
Seiten sowie die Rückwand sind mit Leinwand über- 
spannt, die bei gutem Wetter hinaufgerollt wird. Wir 
fahren das Mittelmeer entlang. Vorunsist der Karmel. 
der ganz kahl und steinig sich stundenlang hinzieht. 
Am Abhang dieses Gebirges sind Mönche beschäftigt, 
das Ackerland von den vielen Steinen zu befreien. S"e 
wollen hier Wein anbauen. Am Gipfel des Gebirges 
steht das berühmte Carmebter- Kloster an der Stelle, 
an der Prophet Elia die Baalspriester verhöhnt und die 
abtrünnigen Juden wieder zu Gott geführt bat. Eine 
mehrere Kilometer um das Gebirge laufende Mauer 
grenzt die gewaltigen Besitzungen des reichen 
Klosters ab. Wir kommen nun an fruchtbaren 
Gegenden vorbei, sehen Karawanenztige vorüberziehen 
und auf dem Felde die Fellachen die schwersten 
-Arbeiten verrichten. Das ist die Straße, die die 
Kreuzfahrer gezogen sind. Traurigen Blickes sehen 
wir auf die Ruinen von Athlit, wo der letzte \'er- 
zweiflungskampf der Juden gegen die Römer statt- 
fand. Nach kurzer Rast fahren wir bis zur Kolonie 
Sichron Jacob. Wir steigen ab und sehen die üppigsten 
Anlagen, Mandelbäume in schönster Blüte, Orangen- 
und Olivenbäume, namentlich Weinpflanzungen. 
Schon die ersten Häuser machen einen guten Eindruck, 
fast alle sind aus Mauerwerk erbaut und sehen wie 
neu aus ; die Straßen sind chaussicrt und sehr sauber, 
auch Wasserleitung ist vorhanden. Wir steigen wieder 
in unsere Wagen und halten unsem Einzug in die erste 
jüdische selbständige Kolonie. Vor dem Holol steigen 
wir ab, das zwar für uns keine Bequemlichkeit bietet, 
aber für die kleinen Verhältnisse der Kolonie mehr als 
ausreichend ist. Während wir den Kaffee einnehmen, 
erscheint der inzwischen von unserer Ankunft benach- 
richtigte Vertreter der Administration, stellt sich mir 
vor und erwähnt unter anderem, daß er von der 
AUiance ausgebildet wurde. Er zeigt uns die Kolonie, 
das schöne, in einem großen Garten liegende Hospital, 
und führt uns dann zu den Rothschildschen Kellereien. 
Hier stein sich uns der Direktor Gutlmann vor, 
ebenfalls ein ehemaliger Alliance-Schüler; wir erhalten 
angezündete Kerzen und werden in die Tiefe hinab- 
geführt, wo an den Wänden in drei Etagen riesen- 
große Fässer aufgestapelt sind, die alle mit dem 
edelsten Naß gefüllt sind. Hier lagern 



13 000 Hektoliter Wein. — Diese schönen Fässer sind 
von Alliance-Schülern selbst gefertigt, die das Holz, 
das aus Europa geliefert wird, hier an Ort und Stelle 
verarbeiten. Nachdem wir in die großen Räume ge- 
führt wurden, in denen die ganze Weinbereitung 
vor sich geht, auch die große Kognakfabrik ein- 
gehend besichtigt und bewundert haben, gehen wir in 
die Synagoge, die schön und geröumig ist. Hier fiel 
mir besonders auf, daß an den Wänden die Namen der 
Stammväter und -Mütter und verschiedener Propheten 
und Könige angeschrieben waren. — Die Bauern 
kamen so, ^-ie sie gerade angezogen waren, zum Gebet. 
— Dann besuchen wir die Bibliothek und die Lesehalle, 
die unser Interesse sehr in Anspruch nahmen. Die 
jüdischen Kolonisten arbeiten tagsüber schwer, und des 
Abends suchen se s'ch noch fortzubilden. Wir wurden 
hier von einem Manne empfangen, der nach Feierabend 
das Amt eines Bibliothekars verwaltet. Er zeigte uns 
die reichhaltige Bibliothek, die französische und 
jüdisch-deutsche Bücher enthält. Inder anschließenden 
Lesehalle legen einige Zeitungen aus. Auf dem Rück- 
wege treffen wir eine Anzahl Kinder, alle kräftig und 
gesund ; sie sprechen hebräisch und freuen sich, wenn 
einige von uns ebenso antworten. Die Kinder erhalten 
in einer Knaben- und Mädchenschule Unterricht in 
Hebräisch, Türkisch und Französisch und gewinnen 
auch die elementarsten Kenntnisse, die sie in ihrem 
zukünftigen landwirtschaftbchen Beruf brauchen. 
Jn dieser ganzen Kolonie, die an 1000 Seelen zählt, 
wohnen nur Juden. Sie verwalten den Ort ganz allein 
und wählen alljährlich sieben Personen, die das 
Regiment führen. Den Wein, d. h. die Trauben ver- 
kaufen sie an die Hothschildsche Administration. 
Alle sind Rumänen. Sie wären mit ihrem Lose .sehr 
zufrieden, wenn sie nicht, da sie türkische Untertanen 
worden mußten, von denStcuerpächtern der türkischen 
Regierung allzusehr bedrückt würden. Obwohl das 
Gesetz nur eine Abgabe von lO'/o vorschreibt, erreicht 
diese durch die gesetzwidrige Schätzung 25'/,, und 
noch mehr. — Beim Abendbrot, das mehr als 
frugal war, saßen wir alle beisammen. In einer kurzen 



Theodor Oschinsky: Mein Aufenthalt Jn Palästina. 



Betrat. AlllancC'KnabeiuchuIe. 

Ansprache, die alle andächlig anhörten, dankte ich 
zunftchst . Gotl, daß er iins wohlbehalten hier in 
PalSstina hat ankommen lassen, gedachte der Zeit 
der Blüte und des Verfalles unseres Landes, beglflck- 
wOnschte uns, daß es uns vergönnt worden, das 
heilige Land, wenn auch in der jetzigen Verfassung, 
zu schauen, und hob hervor, daß der Allgütige immer 
zur rechten Zeit hat Männer in Israel erstehen lassen, 
die Vollstrecker seines Willens sind. So hat hier der 
Philanthrop Rothschild durch weise Anordnung und 
durch Hergabe von großen Mitteln aus der Einöde ein 
Paradies geschaffen, in dem so viele Glaubensgenossen 
in Freiheit leben und gedeihen können. 

Nach dem Abendbrot begaben wir uns, während 
draußen starker Regen fiel, und ein Gewitter tobte, 
zur Ruhe. 

Dienstag, den 27. Februar werden wir um 3 Uhr 
morgens geweckt. Nach dem Frühstück sollen wir 
trotz des Unwetters in die Wagen steigen. Regen und 
Sturm hatten aufgehört, aber pechschwarze Finsternis 
hüllte das Dorf ein. Wir weigerten uns, in dieser 
Dunkelheit abzureisen. Erst um 5 Uhr setzten wir uns 
beim Schein unserer elektrischen Taschenlampen in 
die Wagen. Das naßkalte Wetter, das spritzende 
Wasser, die kleinen und großen Tümpel, die sich durch 
Regen gebildet hatten, machten die Fahrt mehr als 
ungemütlich. 

Mit Anbruch des Morgens fahren wir bei der 
jüdischen Kolonie Hedera vorbei, die leider wegen 
des sumpfigen Geländes vom Fieber viel heimgesucht 
wird. Durch Anpflanzen einer großen Zahl 
Eukalyptus- Bäume sucht man jetzt den Sumpfboden 
auszutrocknen, der dann noch durch künstliche Ent- 
wässerung zu fruchtbarem Boden gemacht wird. 
Plötzhch wird bei einem kleinen Sumpf Halt gemacht. 
Der Sumpf war zur Zeit der Kaiserreisc überbrückt 
worden. Seit dieser Zeit haben Stürme und Regen die 
Brücke forlgerisscn. Kein Mensch, keine Regienmg 



kümmert sich um ibreiWiederherstellung. 
Alle müssen aussteigen, ein FObrer geht 
in das Wasser hinein, wir reißen mit 
großerMühe aus dem noch feststehenden 
Teil der Brücke Steine heraus, werfen 
sie ins Wasser imd schaffen uns so die 
Möglichkeit, einigermaßen trockenen 
Fußes an das jenseitige Ufer zu gelangen. 
Unsere Damen werden ron dem Führer 
hinübergetragen. Die leeren .Wagen 
werden abseits an einer seichteren Stelle 
herübergezogen. Der Gepackwagen aber 
■ bleibt trotz der Assistenz der anderen 
Pferde im Wasser stecken. Die Gepäck- 
stücke müssen deshalb heruntergeworfen 
werden, und dann endlich kommt auch 
dieser leere Wagen hinüber. Nach kurzer 
Rast geht es weiter, bis nach Verlauf 
einer halben Stunde sich ein ähnliches 
Manöver abspielt. 

Die Wege werden wieder so schlecht, 
daß wir mit unseren Wagen bald nach 
der einen, bald nach der anderen Seite 
neigen und uns fortwährend bemühen 
i Wagen das Gleichgewicht herzustellen. 
Endlich, um die Mittagszeit, wird ein einsames Haus 
sichtbar. Rasch streben wir diesem Ziele zu. In der 
einzigen Stube dieses Beduinenhauses wird aus den 
Brettern der Bettstellen ein langer Tisch hergestellt, 
und hier werden unsere Speisevorräle ausgepackt. 
Trotz der Unappetitlichkeit der ganzen Umgebung 
essen wir, weil wir hungrig geworden sind, wir halten 
uns jedoch nicht lange auf und steigen wieder in unsere 
Wagen. Wenn auch eine Strecke lang die Wege etwas 
besser werden, glauben wir manchmal doch uns auf 
einer Berg- und Talfahrt zu befinden : tief hinab geht 
es in sausendem Lauf, dann strengen sich die Pferde 
an, wieder die Höhe zu erklimmen. Das Schütteln 
war zeitweilig so arg, daß immer einer im Wagen die 
Aufsicht übernehmen mußte und an den fraglichen 
Stellen kommandierte: Festhaltenl damit man nicht 
aus dem Wagen geschleudert werde. — Gute, 
mit Kies bestreute Wege führen uns darauf an der 
jüdischen Kolonie Pethach Tikwah vorbei. Große 
Kakteenzäune und Spalierobst grenzen die einzelnen 
Felder von einander ab, auf denen hauptsächlich 
Orangenbäume sich befinden. Die Kolonie konnte 
in diesem Jahre die beste Orangenernte verzeichnen. 
Wir fahren weiter, abwechselnd von Regenschauern, 
Sturm und Sonnenschein begleitet. Wir warten auf 
unseren Gepäckwagen, da jetzt bei Eintritt der 
Dämmerung Beduinenzelte -sichtbar werden, deren 
Insassen sich auf Raub verlegen. In der Tat wollte 
ein Beduine auf einen Wagen springen, um sich zu ver- 
gewissem, ob sich die Ausraubung des Gepäckwagens 
ermöglichen lasse. Wir haben ihn jedoch verscheucht, 
— Die Sonne ist gesunken. — Die Dämmerung dauert 
nur ganz kurze Zeit, sofort herrscht tiefste Finster- 
nis, die nur hin und wieder dem Mondlicht weicht. 
Klar und deutlich treten plützhch die Sterne her- 
aus, ein unvergeßlicher Anblick ; wir glauben, die Sterne 
greifen zu können, so groß und nahe erscheinen sie uns. 



Theodor Oschinsky: Mein Aiifenlhall in Palästini. 



Um 8 Uhr abends machten wir bei 
einer Steiamühle Rast. Nur 1>/, Stuodeo 
■fiollten ims nunmehr von dem heiß- 
■ereehoten Ziele, von Jaffa, trennen. 
Um 9 Uhr brachen wir in pechschwarzer 
Nacht auf, von heulendem Sturm be- 
gleitet. Bald stockte die Fahrt, da 
auf den schlechten Wegen die Wagen 
nur ruckweise vorwärts kommen konn- 
ten ; bald waren wir in eine Grube hinein- 
-gefabren, bald war das Pferd eines 
anderen Wagens gestürzt. — Sobald der 
Mond verschwand, waren wir ganz trost- 
los, da an ein Weiterfahren nicht zu 
Jenken war. — Regenschauer, Schlössen 
fielen auf uns hernieder, der schreckliche 
Sturm peitschte den Regen in die Wagen 
hinein, deren Insassen ängstlich wurden. 
Plötzlich legt sich ein Wagen ganz be- 
dächtig auf die Seite. Mit ^ühe 
springen die Insassen hinaus. Auch aus 
den anderen Wagen steigen fast alle 
heraus, einige Herren übernehmen die 
Führung und suchen, langsam voraus- 
gehend, den besten Weg. Einige Zeit geht es so. Von 
der Spitze aus ertönen die Kommandoworte und 
werden von einem Wagen zum anderen weiter ge- 
geben, bis wir uns wieder an einem Abhänge be- 
finden. Hagel und Regen sausen auf uns hernieder, 
der Sturm heult, die Damen der Gesellschaft bekommen 
mit wenigen Ausnahmen infolge der seelischen Auf- 
regung Weinkrämpfe, einige ältere Herren flehen 
mich an, nicht weiter fahren zu lassen, sondern hier 
den Morgen zu erwarten. Wir fahren trotzdem weiter; 
viele wollten nicht mehr in die Wagen hinein und 
gingen hinter dem letzten Wagen im größten Schmutze 
bei Sturm und Regen ca. anderthalb Stunden, bis sie 
nicht mehr weiter konnten. Wir sehen in der Nähe 
Lichter, fahren noch eine Viertelstunde weiter, dann 
aber wollen wir nicht ins Ungewisse; wir machen 
Halt. — Unser Führer ist bereit, nach der Kolonie zu 
gehen und um Hilfe zu bitten. Es vei^eht eine 
Viertelstunde, eine halbe Stunde, es dünkt uns eine 
Ewigkeit. — Zwölf dumpfe Schläge durchhallen die 
Nacht, wir mußten uns in der Nähe von Jaffa befinden. 
Endlich kommt unser Führer in Begleitung eines 
Kolonisten und eines Dieners, der eine Laterne mit- 
bringt. Wir erfahren, daß wir uns auf dem rechten 
Wege befinden und erhalten die Laterne geliehen, für 
die ein Pfand von 20 Franks hinterlegt werden mußte. 
Unser Führer erzählte uns, wie er zu den Kolonisten, 
einer Württembei^schen Niederlassung, gekommen 
sei. Mehrere Minuten mußte er trotz Rufens und 
Pochens am Tore warten, die Hunde schlugen an, und 
endlich auf den Ruf Hilfe! deutsche Leute in Gefahr! 
erbarmte sich seiner ein Kolonist, zog sich an und kam 
mit einem starken Stock bewaffnet und mit einem 
Knecht, der die Laterne trug, bis zu unseren Wagen. 
Nun wurden wir wieder guten Mutes. Beim Scheine 
der Laterne rückten wir langsam vorwärts und kamen 
morgens nach Jaffa in unser Hotel. 

Mittwoch, den 28. Februar besuchte ich bald nach 



Rothachildscbule In Jerusalem. 

dem Frühstück die Alliance- Knabenschule. Die 
Kinder sind weit vorgeschritten, und was namentlich 
in Erstaunen setzt, ist, daß kleine Kinder schon drei 
Sprachen lernen bezw. sprechen. Die Stadt selbst 
unterscheidet sich kaum von anderen orientalischen 
Städten. — Nach Tisch fuhren wir durch die Stadt zum 
Bahnhof. Es fallen mir hier besonders die vielen 
hebräischen Schilder auf, wie z. B. Raufe Schinajim 
(Zahnarzt). 

Wir erhalten einen Salonwagen und fahren nach 
Jerusalem. Wir kommen an Orangengärten vorbei, die 
voller Früchte sind. Man muß staunen, -wenn man 
sieht, daß ein solches Bäumchen hunderte von selten 
großen Orangen trägt. So weit das Auge reicht, 
sieht es nur' diese Bäume, später wechseln sie mit 
Olivenwäldern ab. — Wir fahren bei Jaron vorbei, 
Stadt Jasur, durch Simson bekannt, dann bei 
Bethdagan, bei Ramleh, Ekron vorbei, endlich bei 
Zoreah, dem Geburtsort Simsons. Nach kurzer 
Fahrt kommen wir ins Gebirge Juda. Die Eisenbahn 
geht fortwährend durch dieses Gebirge in den ver- 
schiedensten Windungen, ein Anblick, der wahrhaft 
überwältigend ist. Wir kommen auch bei der Höhle 
vorbei, in der sich Simson verborgen hat, dann bei 
Bethar, wo Bar Kochba nach 2'/, jähriger Regierung 
von den Römern unter Sevenis besiegt wurde und wo 
so viel Blut geflossen sein soll, daß es bis ins Mittelmeer 
sich ergoß. Dann kommen wir bei Emek-RefaJm 
vorbei, wo David seine Schlacht mit den Philistern 
geschlagen hat, und bei Glchon, wo Salomon zum 
König gekrönt worden ist. 

Endlich kommen wir in Jerusalem an und werden 
feierlich durch den Sohn des Ghacham Baschi 
empfangen, der uns den Willkommgruß seines 
greisen Vaters überbringt. Wir besteigen die bereit- 
stehenden Wagen und fahren durch das Jaffa-Tor bei 
Migdol-David in unser Hotel. — Von unserer Terrasse 
aus bietet sich ein herrliches Panorama unseren 



Theodor Oschinsky: Mtin Aufenihalt in Palästina. 



Blicken dar. Von der Stadt Jerusalem, die ca. 700 m 
über dem Meeresspiegel Hegt, sieht man die kuppel- 
gekrönte Synagoge, die Omarmoschee, die Grabes- 
kirebe, das Jaffa-Tor, das Davids-Tor und die Davida- 
burg mit ihrem hoben historischen Turm. Mit 
wehmütigen Empfindungen, Tränen in den Augen, 
ateht man an den Trümmern unserer einstigen Größe 
und muß sieh in den Willen Gottes fügen; sonst be- 
greift man nicht, wie es selbst einer noch viel größeren 
Übermacht bei dieser natüHichen und künstlichen 
Festung möglich sein konnte, hier einzudringen. 
Freilich geschah dies, nachdem die heldenmütigen 
Verleidiger durch Hunger geschwächt war. n. 

Die eigentliche alte Stadl ist von einer 22m hohen, 
ca. vier Kilometer langen Mauer umzogen. Die beiden 
Hauptstraßen kreuzen sich in der Mitte und teilen die 
Stadt in vier Quartiere, das muslimische, das jüdische, 
das armenische und das griechisch-französische. Die 
Gassen sind winklig, an manchen Stellen überwölbt, 
schlecht gepflastert und bei Regenwetter sehr 
schmutzig. Die Häuser sind aus Stein gebaut, alle 
Flächen sind zum Abfangen des Regenwassers ein- 
gerichtet, das in die im Hofe befindliche Zisterne 
geleitet wird. 

Unter den 60 000 Einwohnern Jerusalems sind 
40000 Juden, die zum großen Teil von den Spenden 
europäischer Glaubensgenossen, der Chalukka, leben. 
— Diese Chalukka ist ein Verderb für die Juden 
Jerusalems, sie erzieht von Kindheit an zur Bettelei 
und zum Nichtstun. Die Alten und die Jungen 
lernen in der Jeschiba und schicken ihre Kinder 
nicht in die Schule, da sie sonst von der Chalukka 
ausgeschlossen sein würden. Aber schon fängt 
es auch dort an zu tagen. Es haben sich mehrere 
junge Leute zu einer Vereinigung zusammenge- 
schlossen, deren Mitglieder die Chalukka zurückweisen 
und nur durch Arbeit ihr Brot verdienen. 



Rothachtidachule in Jerusalem. 



In unserem Hotel erwartet uns schon eine Depu- 
tation der Eveline von Rothschild-Mädchenschule, die 
uns zu einer Vorstellung in der Schule nach dem 
Abendbrot einlädt. Wir nehmen die Einladung 
an und werden von Lehrerinnen abgeholt. — Das 
Programm war sehr reichhaltig. Zuerst wurden 
Reigentänze aufgeführt, dann wurde deklamiert. Mit 
großem Geschick' wurde dann eine Harems-Szene 
arrangiert. Ein überaus schönes Mädchen stellte die 
eine der Haremsdamen vor und zog durch guten 
Gesang, graziösen Tanz und Anmut aller Blicke auf 
sich. In der Ruth-Szene wirkte ihr herrliches Spiel 
bezaubernd. Als trauernde Tochter Zions trat ihr 
blendend weißes Gesicht in der schwarzen Witwen- 
kleidung ganz besonders hervor. Bebenden und 
trauernden Herzens fühlten wir mit der Armen, die 
über einen Leichenstein gebeugt, verzweifelnd ihrem 
Kummer Ausdruck gibt. Zum Schluß erscheinen alle 
Darstellerinnen und singen mit Fahnen in den Händen 
begeistert ein Zionsljed. Diese Vorstellung machte auf 
uns einen überwältigenden Eindruck. Wir dankten 
der Lehrerin der Schule, Fräulein Landau, herzlichst 
und gaben einige Spenden für die armen, kleinen 
Kinder, die meist zuhause nichts zu essen und kaum 
eine Schlafstelle bei ihren armen Eltern, in den elenden, 
jeder Beschreibung spottenden Wohnungen haben. 
In dieser Schule bekommen sie als Mittagsmahl: 
trocknes Brot und einige Üliven. Manchmal essen 
sie nicht alles und nehmen die vom Munde abge- 
sparte Nahrung den Eltern mit. Ein solches Elend zu 
bekämpfen, reichen alle Mittel, reichen alle Wohl- 
tätigkeitsantalten nicht aus; es wird erst dann auf- 
hören, wenn die Juden die Landessprache beherrschen 
und zu Arbeitern erzogen werden, die lesen, schreiben 
und rechnen können. 

Am nächsten Tage sollten wir nach Hebron 
fahren. Da erklärte unser Führer, daß die Wege 
unpassierbar seien. Ein Teil 
unserer Gesellschaft entschloß 
sich, zum Toten Meere, 
Jordan und Jericho, der 
andere Teil nach Bethlehem 
zu fahren. Die Reise >zum 
Toten Meere geht zunächst 
in' das Tal Kidron hinunter, 
dann bei Bethanien vorbei, 
nach unzähligen Windungen, 
es sind fast 1200 Meter zu 
üben^-inden, kommt man am 
Meeresiifer an. Totenstille 
herrscht überall, kein Lebe- 
wesen ist zusehen." Das Meer 
ist spiegelglatt. Einige aus der 
Gesellschaft baden hier; sie 
sind erstaunt, daß sie nicht 
untersinken, selbst die Beine 
werden von dem Wasser in 
die Höhe getrieben. Von da 
fahren sie nach Jericho. Was 
ist aus dieser einst so stolzen 
Stadt geworden! Ein ganz 
ärmliches Fell ach endorf mit 
Haremipiele. ^'"'K"^" besseren Hotels! 



Theodor Oschinsky: Mein Aufenthalt in Palästina. 



Von da png es zur JordanFurt. Interessanter ist 
die Reise nach Bethlebem. Wir fahren bei dem 
Gehinnom-Tale vorbei in langer Fahrt bis zum Elias- 
kloster. Dieses Kloster ist von Kreuzfahrern ge- 
gründet worden. Am Grabe Rahcis machen wir halt 
und besuchen die Grabstätte unserer Erzmutter. 
Durch einen niedrigen Eingang gelangt man ins Innere 
der Grabkapelle, zu der nur die Juden den Schlüssel 
haben. Von der Decke hängen große eiserne Leuchter 
herab, die ÖUämpchen fassen. Viele verrichten hier 
ihre Gebete und zünden zum Gedächtnis an die Ver- 
storbene ein Lämpchen an. Diese wehmütige Er- 
innerung wird einigermaßen gestört, als unser Führer 
uns einige Briefe zeigte, die abergäubische Männer und 
Frauen an Rahel geschrieben haben, von der sie Er- 
füllung ihrer Bitten erhoffen. Von da geht es weiter 
nach Bethlehem, der Geburtsslätte König Davids. 
Wir besuchen hier die Geburtskirche. Durch eine 
SSulentorhalle, deren Säulen von dem Tempelplatz 
genommen sein sollen, gelangt man in die Haupt- 
kirche, wo an drei streng von einander getrennten 
Altfiren und Gebetsstellen die drei Sekten ihre Gebete 
verrichten. Eigentümlich mutet es uns an, mitten in 
der Kirche einen türkischen Soldaten stehen zu sehen, 
der mit geladenem Gewehr Wache hält. Die drei 
Sekten, Armenier, Griechen und Katholiken, streiten 
miteinander um die Oberherrschaft. Da solche 
Streitigkeiten, die oft einen blutigen Ausgang nehmen, 
sich wiederholten, so hat die türkische Regierung auf 
Intervention der ausländischen Mächte eine ständige 
Wache in die Kirche beordert. — Nachdem wir noch 
von einer Baustelle aus das Feld des Boas gesehen 
haben, gehen wir in die verschiedenen Bazare, in 
denen uns namentlich Perlmutterarbeiten auffallen. 
— Nachmittags fahren wir auf einem Wege, der seiner- 
zeit für unsem Kaiser hei^^esteUt wurde, zum Olberg, 
von dessen Turm selbst ohne Femglas das Tote Meer 
und der Jordan zu sehen sind. Bei verschiedenen, 
wunderbar erhaltenen Bauten führt unser Weg vorbei 
so z. B. an der Besitzung Calba Sabuahs, jetzt einem 
Araber gehörig. Wir steigen hinab und bewundem die 
aus dem Felsen gehauenen Stufen, die eine Breite von 
acht Meter haben; wir kommen zu den beiden 
Brunnen, die in alter Zeit dem Besitzer als Bad ge- 
dient haben, darauf durch ein großes, durch die Fels- 
wand gehauenes Tor hinab auf einen großen Platz. 
Hier sind die KönigsgrSber. Von da kriecht man mit 
Lichtem in der Hand durch eine kleine Öffnung in 
die eigentliche Gruft. In die Felswandungen sind 
fünf große, viereckige Öffnungen eingehauen, die die 
Sarkophage aufgenommen haben. An der Seite führt 
eine kleine Öffnung hinab auf einen Weg, der unter- 
irdisch bis nach Safed führen soll. 

Freitag, den 2. März Besichtigung der Lämel- 
Schule, die außerhalb der inneren Stadt in schönster 
Lage sich befindet. Ein schönes, aus Stein errichtetes 
Gebäude mit großen, hohen und hellen Schulzimmern, 
bestehend aus neun Klassen. Wir fanden überall 
staunenswerte Resultate, selbst die kleinsten Kinder 
sprechen mehrere Sprachen, deutsch, französisch, 
hebräisch und arabisch, in der Seminarklasse wird 
gerade Schiller (Die Kraniche des Ibykus) vorge- 



nommen, in einer anderen Klasse die schlesischen 
Kriege zwischen Friedrich und Maria Theresia. 
Darauf besuchten wir die Kindersehule (Kinder- 
garten). Hier antworteten die Kinder, kaum vier Jahre 
alt, hebräisch. Von da gingen wir zur AUia nee -Schule 
und auch zur Alliance- Handwerkerschule. Die Ge- 
bäude dieser Schulen nehmen einen sehr groCen Raum 
ein. Da die Zeit knapp bemessen war, besichtigen wir 
heute nur die Handwerkerschule. Der Direktor dieser 
großen und sehr verzweigten Anstalt, selbst ein früherer 
Schöler der Alliance, der in Damaskus und Paris aus- 
gebildet wurde, beweist große Umsicht und Tüchtig- 
keit. — Wir gehen zuerst in die Möbeltischlerei und 
sehen eine gerade fertig gewordene, schön geschnitzte 
Zimmereinrichtung, die für einen reichen Zionisten in 
Jaffa bestimmt ist, — Wir kommen dann in den 
Zeichensaal, erfeuen uns an den schönen Zeichnungen, 
die sämtlich von Schülern gemacht werden, die unter 
einem Meister stehen, der ebenfalls seine Ausbildung 
bei der Alliance erhalten hat. Wir sehen modellieren, 
auch fertige Modelle, und kommen dann zu den 
Metallarbeitern. Hier sehen wir Kupfer in Formen 
gießen, auch die fertigen Abgüsse und kupferne Gefäße 
stanzen. Dann besichtigen wir die Schlosser- und 
Schmiedewerkstatt, Wir sehen die Metalldrechsler 
den Stahl bearbeiten, und kommen in die Woll- und 
Seidenweberei, die einen sehr großen Umfang hat. 
Mit dem Aufspulen der Fäden werden viele arme 



351 



Theodor Oschinsky: Mein Aufenthalt in Palästina. 



352 



Kinder, alte Frauen und Männer beschäftigt. Die 
sonst auf der Straße bettelten, werden, wenn auch 
bei geringem Verdienst, zur Arbeit angehalten. In 
anderen Räumen sind die Färbekessel untergebracht 
und auch die Trockenplätze. Wir sehen Haarnetze, 
von denen man glaubte, ein Stück in der Hand zu 
haben, während es vier Dutzend waren. — Wir be- 
suchen die Bäckerei und lassen uns ein eben 
Tertig gewordenes Brot aus dem Ofen herausnehmen. 

Inzwischen ist es Mittag geworden; die Arbeiter 
versammeln sich vor dem Speisehause; es sind ca. 
1000 Personen, die hier gespeist werden. Wir be- 
sichtigen noch den Krankensaal und die Synagoge. 
Selbstredend ruht jede Arbeit am Sonnabend und 
auch an den Feiertagen, Wir besichtigen die Schlaf- 
säle, die sehr luftig und rein sind, ferner die große 
Küche und den Eßsaal. Beim Verlassen der Räume 
gehen wir über den Hof, auf dem bei Erbauung dieser 
Handwerkerschule bei Ausgrabung des Grundes zwei 
steinerne Sarkophage gefunden wurden. 

Nach Tisch besichtigen wir das Rothschild'sche 
Krankenhaus jund werden von Herrn Dr. Michalo- 
witsch, dem dirigierenden Arzt, herumgeführt. Es 
besitzt 35 Betten, das Wärterpersonal besteht aus sechs 
Leuten, die tüchtig geschult sind und unter Um- 
siändMU^uch die Assistenten vertreten müssen. — Im 
UntQjrätocl?%t. eine gut eingerichtete Apotheke, ein 
Laboratorium, für deren Erhaltung, Ausrüstung und 
Ergänzung der Chemikalien die Rothschild'sche Ver- 
waltung in Paris Sorge trägt. In diesem Kranken- 
haus, das durch Rothschild erhalten imd unter- 
halten wird, finden nur Arme Aufnahme. Wir 
besichtigen dann die Alterversorgungs-Anstalt, in der 
130 Personen untergebracht sind, kommen in die 
Küche und bewundern hier den großen Schaletofen für 
die Speisen und den Tee, die bereits für den moipgen 
Sonnabend fertig sind. 

Nachdem wir auch die drei kleinen Synagogen 
uns angesehen haben, gehen wir in die Irren- und 
Siechenanstalt, die durch unermüdUche Arbeit von 
wohltätigen Frauen errichtet wurde und einem 
dringenden Bedürfnis abgeholfen hat. — Früher haben 
diese unglücklichen Kranken die Straßen unsicher 
gemacht. — Wir kommen nun in die Waisenanstalt, 
in der zwar nur 30 Waisenkinder untergebracht sind, 
aber 80 Kinder verpflegt werden. 

Von dort gehen wir weiter durch das jüdische 
Viertel zwischen hohen Mauern durch das Zionstor. 
Hier ist der Eingang zur Stadt Zion, hier lagen früher 
die Wohnungen König Davids und Salomos. Hier sollen 
in den Gewölben, zu denen die Türken den Eintritt 
nicht gestatten, die Gräber Davids und Salomos 
liegen. Wir schreiten durch das Judenviertel: 
furchtbare Gassen, die trotz großen Verkehrs wenig 
Licht und Luft haben; sie machen einen traurigen 
Eindruck. 

Wir besichtigen den Tempel des Rabban 
Jochauan ben Sackai und gehen auch in die drei Bet- 
schulen, die hinter diesem großen Gotteshause neben- 
einander liegen. Auf einem großen, freien Platze 
sehen wir die Häusergruppen, die von den Philanthropen 
der einzelnen Ländergruppen gestiftet worden sind. 



Sehr schön und massiv gebaut, dienen sie armen 
Leuten zur Wohnung. Bei dem großmächtigen Ge- 
bäude, in dessen Inneren das Synhedrion zu Gericht 
gesessen, das auch heute dem türkisch-religiösen 
Gerichtshof als Gerichtsstätte dient, machen wir 
Halt. Wir können von hier aus den alten Tempelplatz 
mit der Omar-Moschee und auch die Klagemäuer 
erblicken. 

• Auf der Via Dolorosa begeben wir uns zurück 
und besuchen die Jeschiwa. — Hier herrscht 
die größte Sauberkeit, die strengste Disziplin, hier 
werden die jungen Leute beköstigt, hier haben sie 
ihre Schlafstätte. Winklige Gassen weisen uns den 
Weg zur Klagemauer. Der Raum an dieser Mauer ist 
ca. fünf Meter tief und 150 Meter lang. Vier große 
Quadersteine übereinander sind die einzigen Reste 
vergangener Pracht. Der Grund der Mauer liegt noch 
etwa 20 Meter unter der Erde. An dieser Mauer stehen 
Juden und Jüdinnen, und schicken klagend und weinend 
ihre Bitten zum Himmel. Heute, da es gerade Freitag 
Abend ist, sieht man die Andächtigen in vielen, vielen 
Gruppen Gebete verrichten. Man sieht hier die eigen- 
tümlichsten Trachten. Hier steht ein Pole mit langem 
blauem Sammetmantel, dort ein Rumäne, dort ein 
Russe, ein Ungar, ein Deutscher; alle in den ver- 
schiedensten Kostümen. Seidene rote, blaue, gelbe, 
braune Kaftane verhüllen die meist sehr langen 
Gestalten, und eine Sammetmütze mit Pelzborte 
bedeckt den Kopf. Wir besuchen die kleinen 
sephardischen Betschulen, verrichten in dem großen, 
aschkenasischen Tempel unser Gebet, machen noch 
einen Abstecher zu den Kabbalisten, die in weiße 
Mäntel gehüllt auf hohen Bänken, die Füße unter- 
geschlagen, sitzen. 

Am nächstenTage, Sonnabend, den 3. März, 
werden wir nach dem Gottesdienst von den Direktoren 
der AlUance- Schule erwartet und gehen unter ihrer 
Führung durch eine Gasse, die sonst ein Jude unge- 
fährdet nicht betreten kann, nach dem französischen 
Hospiz. In liebenswürdigster Weise erklärt sich ein 
Bruder bereit, uns alle Räume dieses ungeheuren 
Komplexes zu zeigen. Vom Dach aus haben wir 
einen großartigen Ausblick über ganz Jerusalem. 
Hier sieht man die Omar-Moschee, die Erlöserkirche 
und die Hauptsynagoge in einer Linie zusammen- 
stehen. Auf der einen Seite die Trümmer des alten 
Jerusalem, auf der anderen Seite Neu-Jerusalem mit 
seinen Neubauten der deutschen, russischen, englischen 
französischen und ungarischen Kolonien. — Wir 
folgen einer Einladung in die Blindenanstalt. Wir 
wohnen dem Unterrichte bei. Diese Unglücklichen 
lesen uns aus ihren Büchern vor, indem sie mit 
unglaublicher Schnelligkeit die einzelnen Buchstaben 
abgreifen. Dann zeigt man uns die Werkstätten, in 
der sie Bürsten aller Art anfertigen, Rohrstühle 
flechten und sonst noch allerlei Handfertigkeiten aus- 
üben. Auch die Mädchen und die kleinen Kinder 
suchen wir auf, die uns zu Ehren einen Gesang an- 
stimmen und von denen dann zwei ein Duett vor- 
tragen. — Nach Tisch besuchen wir die National- 
bibhothek. In einem Gebäude, das zu dieser Zeit 
bis zum ersten Stock ausgeführt war, ist die Bibliothok 



Theodor Oschinsky: Mein Aufenthalt in Paiävtin.i. 



untei^bracht, die von der Bne Brith-Loge gegründet, 
durch die Schenkungen eines hochherzigen Mannes in 
Bialystock bedeutend erweitert wurde. 

Wir setzen unseren Rundgang fort und be- 
geben uns in das Allgemeine jüdische Krankenhaus 
Schaare Zedek. Wir werden von dem dirigierenden 
Arzt Dr. Wallach und dem Vorsteher Herrn Marx 
empfangen und herumgeführt, — Wir bewundern 
die schönen luftigen Krankenzimmer, das nach den 
neuesten Anforderungen eingerichtete Operations- 
zimmer, die schönen Korridore upd vor allem die 
große Sauberkeit. Separat gelegene große Infektions- 
haracken nehmen die mit ansteckenden Krankheilen 
behafteten Kranken auf. Geschlechtskranke gibt es 
woder hier, noch im Rothschild'schen Krankenhaus. 

Sonntag, den 4. März besuchen wir zunächst die 
AlUancc-Schule. Sie ist in einem sehr schönen und 
großen Gebäude untergebracht. Wir besuchen alle 
Klassen und wohnen dem Unterrichte bei. Wir hören 
Jüdische Geschichte, Mathematik, Arithmetik, auch 
Buchführung und kaufmännisches Rechnen. Wir 
waren überaus befriedigt von den Leistungen der 
Schüler, die durchweg sehr guten Eindruck 
machten. Hier unterrichten elf Lehrer, von denen 
zwei von der Alliance ausgebildet sind. Im vorigen 
Jahre wurde auch eine Mädchenschule gegründet, die 
mit 130 Schülerinnen begann. Auch von den Erfolgen 
im Kindergarten mit 75 Kindern waren wir geradezu 
überrascht. 

Dann gingen wir in die Eveline v. Rothschild'sche 
M&dchenschule. Hier werden uns die von den 
Schülerinnen angefertigten Arbeiten vorgelegt: die 
eine stickt sehr schöne Thorakleider und zieht goldene 
und silberne Fäden über die in Pappe ausgeschnittenen 
Modelle, andere werden als Modialinnen und 



Wfiateiipoliziat. 

Schneiderinnen ausgebildet, wieder andere werden 
in den Seminarklassen zum Gouvernantenexamen vor- 
bereitet. Jedes Jahr kommt ein Prufungskommissar 
aus Cairo, der die staatliche Prüfung dieser Schule 
abhält. — 

Montag, den 5. März fahren wir zeitig nach dem 
Bahnhof. Hier herrscht reges buntes Treiben: eine 
große Anzahl Bettler aller Konfessionen, Männer. 
Weiber und Kinder haben sich eingefunden. Wir 
nehmen Abschied von unseren Freunden, die es sich 
nicht haben nehmen lassen, uns das Geleit zu geben, 
und steigen dann in unseren Wagen. Wir werten 
noch einen wehmütigen Blick auf das hohe, heilige 
Jenisalem, dann ein Pfiff, und der /.ng setzt sich 
langsam in Bewegung. 



JerDMlem. Den Zöglingen der hiesigen Alliancc- 

Schoien ist von der Leitung iler AHianco Egypten, das 
seit der Etablieninj;; der englischen Herrschaft ein Land 
Her Freiheit geworden, als Zufluchtsstätte erßRnet worden, 
als das Land, in dem sie ihre in den Alliancesciiulen ge- 
wonnenen Ffthigkeiten in ungehindertem Wettbewerb ent- 
falten und nützen kOnnen. Der glQchlichste Erfolg lohnt 
■ lio aufgewendeten Bemühungen und leet Zeugnis datflr 
ab, dass die Altiance das richtige getroffen hat, die Zu- 
kunft der ihr anvertrauten ZCgliagc zu sichern. Der ganze 
Schulunterricht hat dieses Zief im Atwe. Um dieses 
Zieles willen haben die Alliance-Schulleiter den l'nter- 
richt namentlich im Französischen gepflegt, dessen Kennt- 
nis im ganzen Orient und vomehmlicli in Eg>-ptea den 
jungen Leuten bei dem Kampf ums Dasein einen Vor- 
sprung giebt. Hierbei wie immer war die Alliance einzig 
von i^m Wunsch geleitet, das zu tun, was ihren Schütz- 
lingen förderlich sein könnte, denn ihr ganzes Werk ge- 
hört allein diesen SchntzlinRcn. Die Unterstellunc, 'ftss 
die Alliance politische Sonderzweckc im Au e habe, sich 
in den Dienst einseitiiier nationaler Bestrelmnf^en stelle, 
i;it immer imd überall falsch und irreführeud, nieht selten 
liewnast verleumderisch gewesen. Das Verfahren der 
.\IIiance hat jetzt die Anerkennung seihst derer gefunden, 
die bisher der Meinung gewesen sind, der Sprachunter- 
ncht in den Alliance- Schulen des Orients sei narli 
nationalen Vo reinireno nunc n heilen geregelt worden und 
dürfte eine Umgestaltung nach anderen nationalen Vor- 
eingenommen heiton erfaliren. Der HiUsverein hat 
sich entschlossen — was alle Anerkennung verdien! — 
dem Beispiel der Aliinnci' zu (olgen und in dor 



von ihm an der hiesigen Lämel schule ein^ richteten 
Handelssch ulklasse, die die jOdischen jungen l.,eute fQr ihr 
Fortkommen in Egj'pten vorbereiten soll, für s&mttichc 
Kurse die französische Unterrichtssprache einzu- 
führen! — Wir registrieren diese Huldigung, die zwar 
stumm ist, aber gleichwohl ilie Verdienste der Alliance 
lauter preist, als Beredsamkeit vermüchte. 



Die Vorkommnisse in Rumänien. Wie an 

leitender Stelle in dieser Nummer dargelegt worden ist, 
Qusere Leser auch schon aus dem Aprilbeft erfahren 
hatten, ist die jAngste Bedrängnis unserer Glanbens- 
genosMU in Rnmänien für die Alliance Israölite 
UniverseHe nicht äberraschend gekommen, so dass von 
ihr ans und von der Israälitischen Allianz in 
Wien die Hilfsaktion bereits organisiert und aosgestattet 
war, als die Not begann. Grossherzig, wie immer, und 
in gTossartigem Massstab stellt« die Jewish Coloni- 
sation Association ihre geschulten Kräfte znr Ver- 
fügung, nicht far den aagenblicklichen Bedarf, sondeni 
ftlr eine weitgreifende und von ihr allein zu leitendi.- 
Answandemugspolitik, Vorschauend fasste man vou der- 
selben Seite für die in Bedrängnis Zurückbleibenden die 
Schaffang wirtschaftlicher Einrichtungen ins Äuge, die sich 
an anderen Orten unter der gleichen Leitung bereits 
dauernd und glänzend bewährt haben. Das Frankfurter 
Hitfscomite fiir die osteuropäischen Juden bot 



355 



Mitteilungen der Alliance Isra^lite Universelle. 



356 



Tm?erzäglich seine Beihilfe an und stellte alsbald 50000 
Mark dem gemeinsamen Werk zar Vfrf&gnng. Das 
American Jewish Gommittee in New York war eben- 
ÜEÜls sofort willig, aas den bereiten Geldern herzugeben, 
was in reichlicher Bemessung idr jetzt oder später 
erforderlich sein würde. Auch der Hilfsvereinder 
deutschen Juden hat sich an dem Hilfswerk beteiligt 
Ein ?on ihm für Bukarest angeregtes Zentralkomitee wurde 
allerdings nicht konstituiert, nachdem die in Aussicht 
genommenen Mitglieder erfanren hatten, dass die drei 
grossen Organisationen: A.LU., J.C. A.undTsraelitische 
Allianz in Wien die Bildung eines solchen Zentral- 
komitees z. Z. als nicht zweckmässig erachteten und eine 
andere Handhabung der Unterstützungsaktion vor- 
geschlagen hatten, an der alle Organisationen mitwirken 
können. 

Spenden für Rumänien. Wir haben die angenehme 
Pflicht, Zeugnis dafür abzulegen, dass die ersten ^itungs- 
meldungen von dem rumänischen Aufstand ausgereicht 
haben, den rühmlichsten Wohltätigkeits- und Hilfsdrang 
bei unseren Mitgliedern hervorzurufen. Der Alliance 
Israölite Universelle gingen spontan so reiche Gaben zu, 
dass nach wenigen Tagen jeder aktuelle Bedarf gedeckt 
war. Ein Mitglied allein übersandte 40000 Mark. Unser 
unermüdlicher Freund Dr Salvendi schickte 300 Mark, 
Frau H. Schwarzmann ans Kiew, Herr Maximilian Hey- 
mann in Berlin, Boonstrasse 9, unser Vertrauensmann 
in Ladenburg Herr Julius Kaufmann II, der bei keiner 
Sammlung fehlt, überreichten uns je 100 Mark, Herr 
Friedrich Tborwart in Frankfurt a. M. beteiligte sich 
mit 50 Mark, Herr Heinrich Fränkel in Berlin, Breite- 
strasse 28, brachte uns mit 20 Mark noch eine Gabe 
von 30 Mark von dem „Stammtisch bei Fehlow^. Herr 
Dr. W. Nehab übermittelte uns 5 Mark, Frau Helene 
Werthauer in Bergentreich i. W. 1 5 Mark, Herr Bezirks- 
rabbiner Schlessinger in Bretten übersendet uns 30 Mark, 
die von ihm selbst (1 M.), den Herren Leopold Lob (2 M.), 
Max Ellinger (1 M.), Heymann Kochlöffel (2 M.), Julius 
Gailiiiger (2 M.), Samuel Veis (1 M.), Lazarus Lichten- 



berger (3 M.), Arnold Lämmle (2 M.), Vorsteher Gustav 
Lämmle (2 M.), Heinrich Wertheim (1 M.), und den 
Schülerinnen der höheren Töchterschule Becha und Hilda 
Lämmle, Bella und Betty Lichtenberger, Hertha Koppel, 
Lisa und Anna Wertheimer (13 M.) herrühren. — Den 
Spendern allen, den genannten wie den ungenannten, 
sagen wir herzlichen Dank. 

Sitiiing des Bezirks -Gomites Nürnberg. Am 

17. März hat das Nürnberger Bezirks -Comit^ der 
Alliance Israelite Universelle seine Jahresitzung ge- 
halten. 

Nachdem der langjährige Kassierer Herr S. Rau 
über die KassenverhSltnibse und deren sehr befriedigende 
Ergebnisse — die Einnahmen haben eine neue Mehrung 
erfahren — Rechenschaft gegeben hatte, wurde ihm 
nach Anhörung des Revisors Herrn Th. Oreiff Ent- 
lastung zuteil unter dem Ausdruck herzlichen Dankes 
für seine vielfachen und erfolgreichen Bemühungeh im 
Dienste der A. L U. 

Der zweite Vorsitzende Herr Kommerzienrat 
Oallioger — Herr Geheimer Hof rat Josephtbal war 
durch sein Befinden am Erscheinen verhindert — gab 
Bericht über die vierte Jahrestasrung der Deutschen 
Conferenz-Gemeiubchaft in Frankfurt am Main, der er 
beigewohnt hatte. In Uebereinstimmung mit den in 
Frankfurt am Main gegebenen Direktiven und dem 
Antrage des Herrn Kommerzienrat Oallinger gemäss 
wurde beschlosi>en, dass das Nürnberger Bezirks-Comit^ 
seine BeitrSge in Zukunft an das Deutsche Bureau 
nach Berlin einschickt. Eingehende Erörterung galt 
der ferneren Propaganda. Die geeigneten Massnahmen 
wurden besprochen und eingeleitet. Die bisheiige Ver- 
waltung, bestehend ans dem Herrn Geheimen Hofrat 
Jonephthal (l. Vorsitzender), Herrn Kommerzienrat 
Gallinger (2. Vorsitzender), Herrn S. Rau (Kassierer), 
Herrn Marcus (Schriftführer), wurde wiedergewählt. 
An Stelle des Herrn Greif, der aus Altersrücksichten 
seine Funktionen niederlegt, übernimmt Herr Schloss 
das Amt des Revisors. 



Frfllijalirtkuren. In der gesamten organischen Natur zeitigt der Frühling frische Lebenskraft , wie das Pflanzenreich am deutlichsten er- 
kennen lisst. Auch im menschlichen Organismus findet Im Frühling eine S&fteverinderung statt, darum ist gerade diese Jahreszeit bestgeeignet für eine 
gründliche Aufbesserung des durch schlechte Luft, Mangel an Bewegung und falsche (cwer zu üppige) Ernährung anormalen Stoffwechsels, wodurch 
mangelhafte Blutraischung entsteht, als Ursache der meisten modernen Krankheiten Zu diesen zählen: Nervosität, Magen- und Darmleiden, Stoffwechsel- 
störungen, Blutarmut, Erkrankungen der Atmungsorgane und viele Frauenleiden. Oegen diese und andere Leiden ist nach den Feststellungen der neueren 
Wissenschaft das beste Heilmittefeine Radikalkur in einer erstklassigen physikalisch-diätetischen Kuranstalt, weil nur in einer solchen durch Ineinander- 
greifen verschiedener Heilfaktoren eine wirkliche Regenerationskur durchgeführt werden kann. Vor allem ist es wichtig für jeden, der sich leidend fühlt, 
solche Kur jetzt sofort vorzunehmen und nicht bis zum Sommer zu warten, weil sonst oft gefährliche Komplikationen entstehen können. Die Frühjthrs- 
kuren sind die wirksamsten ! Für diese muss aber eine Kuranstalt durch natürliche Lage und Spezialeinrichtungen auch geeignet sein, sonst ist der Erfolg 




und ein zur Anstalt gehörender grossarliger Waldpark bietet bequeme Gelegenheit für Promenaden und Terrainkuren. EMe leicht erreichbare Stadt 
St. Gallen bietet Theater, Konzerte etc. ; auch in der Anstalt ist bestens für Unterhaltung gesorgt. Zwei Aerzte und eine Aerztin leiten die Behandlung. 
Der für Frühjahrskuren ermässigte Aufnahmepreis beginnt mit ca. 8 Mark pro Tag inkl. alle Kuranwendungen. Ausführlicher Prospekt kostenfrei. 

Neekartulmer Naubaftan. Die Neckarsulmer Fahrradwerke A.-Q. Königl. Hoflieferanten Neckarsulm geben die Richtschnur für die neue 
Saison an; wir finden auch für 1907 Neuheiten, welche dem Strome der Zeit vollständig Rechnung tragen. Die Einzylinder-Motorräder sind mit einem 
3 HP, die Zweizylinder mit 4 und 5«/ HP ergänzt worden; wie leistungsfähig diese Typen sind, beweist ein Zeugnis vom 7. 12. 07 vom Fddberg: 
„Trotz schneebedeckter Strasse mit meinem Nedcarsulmer Zweizylinder Feldberg anstandslos erstiegen, so etwas kann man nur mit N. S. U. Ellcr.** Auch 
das IV| HP Motörchen hat schon viele Anhänger und wer die Leistungsfähigkeit einmal erprobt nat, ist geradezu verblüfft; selbst Im Winter hat das 
einschliesslich Magnetai^parat 38 kg schwere Motorrad schmutzige und steile Strassen durchgezogen ; es liegen darauf bedeutende Bestellungen vor und 
frühzeitige Auftragserteilung ist zu empfehlen. Die Neckarsulmer merken nichts von dem Märdien des Aussterbens des Motorrades. 



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InsmunaRiiJiMiie nur durcb l^jldsensteitl ^ Uogler H. 6. i» Bertin URd «ere» Tiliale». 

Abooneineiitspreit für «tat Jahr in DeutochlAnd und Oetterr«lch Mark 7,— (LuxutatMfabe Mark 14«— )> ^^ <Im Ausland Mark 8—. 

(LnxiMaiitffabe Mark 16). 
für RuMland fanzjihrllcli 4 Rub«l. Einzelhefte k 35 Kop. 



Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- und Autlandes, durch alle PotUmter des Deutschen 
Reichet unter No. 6735 a der Potlieitungtlitte und durch die Expedition dietef Zeitschrift 



Anzeigren Mk. /.— die viergespaltene NonpareiUezeile, grössere Anzeigen nach Tarif, bei Wiederholungen Rabatt. 

Adresse fiir die geschäftliche Korrespondenz: Verlag „Ost und Wesf', Berlin W. 8, Leipzigerstr. 31-32. 

Redaktion: Berlin W* 15, Knesebeckstr. 48/49. 



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Verantwortlicher Redakteur: Leo Winz. Berlin W. 15. Knesebeckstr. 48/49. - Verlag Ost und West, BerUn \X^.8. 

Druck von Beyer & Boehme, Berlin S. 42, Wasserthorstr. 50. 



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lUUSTRIERTE MONATSSCHRIFT 




FÜR DAS GESAMTE JUDENTUM 



Herausgegeben und redigiert 



von 



LEO WINZ. 



Alle Rechte vorbehalten. 



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Heft 6. Juni 1907. 



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Tn. Jahrg. 



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EINE ERINNERUNG. 



Nachdruck verholen. 



Seit vierzig Jahren spricht die ramänische 
Kegienmg aller Gerechtigkeit nnd Menschlichkeit 
Hohn, verleugnet sie ihre Verpflichtungen, durch 
deren üebemahme sie die Anerkennung der Selb- 
ständigkeit ihres Landes von Europa erlangt hat — 
und allgemein gilt es beinahe als selbstverständlich, 
dass keine der Signatarmächte des Berliner Ver- 
trages und dass kein anderer Staat das Recht habe, 
bei der rumänischen Regierung vorstellig zu werden, 
sie an ihre Pflicht zu erinnern und nötigenfalls zur 
Erf&Uung ihrer Pflicht anzuhalten. 

Wir sind nicht diplomatisch geschult und 
wissen nicht, welche Interessen etwa einer solchen 
Intervention im Sinne der Gerechtigkeit und 
Menschlichkeit und im Sinne des Berliner Vertrages 
bei der rumänischen Regierung im Wege stehen. 
Es ist möglich, dass diese Interessen sehr gross 
sind; und da wir sie nicht kennen, so wollen wir 
auch nicht abmessen, ob nicht das Menschlichkeits- 
und Gerechtigkeits-Interesse höher zu achten wäre. 
Nur eine Tatsache wollen wir hervorheben, die 
Tatsache nämlich, dass es eine Zeit gegeben hat, 
in der unsere Diplomatie anderer Meinung war 
und f&r das menschheitliche und f&r das Gerechlig- 
keits-Interesse eine andere Schätzung hatte. Dazu 
dient eine Erinnerung, die heute beinahe märchen- 
haft klingt. Am 6. April des Jahres 1866 hat der 
Vorstand der jüdischen Gremeinde zu Berlin folgende 
Immediatvorstellung an Se. Maj. den König ge- 
richtet: 

„Noch sind sie in frischer Erinnerung, die 
von ganz Europa gebrandmarkten Gewalttaten, 
welche während der letzten zwei Jahre an den 
Bekennem des jüdischen Glaubens in Rumänien 



verübt worden sind. Grausamer aber und schmach- 
voller, als jene Greueltaten sind die neuesten 
Vorgänge daselbst, grausamer, weil sie nicht gegen 
einzehie, sondern gegen die gesamte dort weilende 
dort y geborene "jüdische • Bevölkerung gerichtet, 
und schmachvoller, weil nicht niedere ungebildete 
Massen es sind, sondern ^Staatsmänner und ein- 
flußreiche "Volksvertreter, welche durch einen 
von ihnen eingebrachten if; Gesetzentwiu*f die 
Zivilisation Europas zu beleidigen und zu ver- 
höhnen wagen. Denn nur als eine Verhöhnung 
europäischer Gesittung kann jener Entwurf ange- 
sehen werden, den wir in dem von den Zeitungen 
veröffentlichten Wortlaut abschriftlich ehrfurchts- 
voll beifügen und der offenbar nur dahin zielt: 
die Gewalttätigkeit zu sanktionieren und 
durch für die Willkür geschaffene Rechts- 
formen die bisher anarchischen Juden- 
verfolgungen in gesetzliche umzugestalten. 
Ew. Majestät Untertanen jüdischen Glaubens 
fühlen sich voll ab Preußen, als Deutsche, und 
blicken als solche mit Stolz auf die von Ew. Majestät 
befestigte und erweiterte Machtstellung des 
deutschen Vaterlandes hin, für welche auch sie 
ihre pflichtschuldigen Opfer dargebracht haben 
und fernerhin zu bringen stets bereit sind. Treu 
dem Glauben ihrer Väter, können sie aber ihren 
so schwer geprüften Religionsgenossen auch in 
fernen Landen ihre innigste Teilnahme nicht 
versagen, dürfen sie nicht schweigen, wenn mit 
dem Glücke und Frieden derselben ein frevel- 
haftes Spiel getrieben wird. 

Dem Thron Ew. Majestät nahen wir daher 
mit dem ehrfurchtsvollen Ausdrucke unseres 
tiefgefühlten Dankes für die Schritte, welche von 
Allerhöchst ihrer Regierung zugunsten unserer 
rumänischen Glaubensbrüder bei der dortigen 
Landesregierung bereits geschehen sind. Möchten 
Ew. Majestät Allergnädigst uns aber noch die 
untertänigste Bitte zu gestatten geruhen: 



359 



Eine Erinnerung. 



360 



daß es Allerhöchstderseioen gefallen mögei 
der bei dem Fürsten des rumänischen Volkes, 
einem Glieds des erlauchten preußischen 
Königstammes, geschehenen Verwendung den 
möglichsten Nachdruck zu geben, um die 
Sanktionierung eines unmenschlichen Gesetzes 
abzuwehren i^nd dem gegen unsere Glaubens- 
brüder versuchten Vernichtungskampfe end- 
lich ein Ziel zu setzen. 

In tiefster Ehrfurcht usw. 

BerUn, den 6. April 1868." 

Auf diese Immediat-Vorstellung ist folgende 
Antwort ergangen: 

„Se. Majestät haben mich beauftragt, die 
Immediateingabe des Vorstandes der jüdischen 
Gemeinde vom 6. d. M. zu beantworten, worin 
derselbe die Allerhöchste Verwendung Sr. Majestät 
gegen die Durchführung eines bei der rumänischen 
Volksvertretung eingebrachten, die Stellung der 
Israeliten betreffenden Gesetzentwurfes nach- 
gesucht hat. Infolgedessen benachrichtige ich 
den Vorstand der jüdischen Gemeinde ergebenst, 
daß ich auf Allerhöchsten Befehl schon nach 
Eingang der ersten Nachricht über jenen Gesetz- 
entwurf auf telegraphischem Wege Erkundigungen 
in Bukarest eingezogen hatte. Hierauf ist mir 
aus sicherster Quelle die Mitteilung zugegangen, 
daß der gedachte Gesetzentwurf gegen den Willen 
des Fürsten Karl eingebracht worden ist, daß 



dessen Annahme nicht zu erwarten stehe,'- und 
wenn sie dennoch erfolgte, die Sanktionierung 
des Gesetzes seitens der fürstlichen Regierung 
nicht stattfinden werde. 

Wenn somit in dieser Beziehung für den 
Vorstand der jüdischen Gemeinde keine Ver- 
mlassung zur Beunruhigung vorhanden ist, so 
aat die Königliche Regierung auch nicht unter- 
lassen, jetzt ebenso, wie es bereits bei früherem 
\nlasse geschehen, infolge der in neuester Zeit 
»rerbreiteten Nachrichten über angebliche Juden- 
verfolgungen in der Moldau, in Bukarest Vor- 
stellungen machen zu lassen, und es ist uns hierauf 
die Zusichenmg erteilt worden, daß Maßregeln 
getroffen seien, um jede etwaige Beunruhigung 
der israelitischen Glaubensgenossen zu verhindern. 

Der Minister der auswärtigen Angelegenheiten. 

gez. Graf v. Bismarck." 

Graf Bismarck, Kanzler des Norddeutschen 
Bundes, hat freilich noch lange genug gelebt, um 
seine Politik Rumänien gegenüber zu ändern und 
die Folgen dieser Aenderung zu sehen. Wir sind 
davon überzeugt, dass Vielen, sehr Vielen, die 
Politik des Grafen Bismarck Rumänien gegenüber 
vor der sogenannten Sanierung der rumänischen 
Eisenbahnen besser, viel besser gefallen wird, als 
die Politik des Fürsten Bismarck, die dieser 
Sanierung folgte. 



KLEINERE JUEDISCHE SPRACHGEBIETE. 

Von Dr. S. Bcrnfeld. 



Nachdruck verboten. 



Seit über zwei Jahrtausenden ist die Elr- 
scheinung zu beobachten, dass überall, wo sich 
Juden in einer grösseren Zahl niederlassen, im 
Laufe der Zeit eine jüdische Literatur in der 
Landessprache entsteht. Die Juden fanden stets 
und überall etwas vor, was ihren Geist anregte 
und dazu bewog, sich darüber zu äussern. Sie 
konnten das, was ihr Inneres beschäftigte, niemals 
für sich bebalten, und so entstand ein Gedanken- 
anstausch, ein teils nationales und teils kosmo- 
politisches Schrifttum. Die Juden liebten zu 
reflektieren, ihre Anschauungen über alles, was in 
ihrer Umgebung vorging, schriftlich niederzulegen, 
zu polemisieren, die Walirheit des Judentums zu 
verteidigen und dessen Vorzüge gegen andere 
Religonen hervorzuheben. Es entstanden auch mit- 
unter grosse, ernste Bücher, die Epoche machten. 
Jedenfalls rastete der jüdische Geist niemals. 

Infolge dieser Vielsprachigkeit des Judentums 
ist auch ein grosser Missstand eingetreten. Das 
jüdische Volk war genötigt, oft eine Arbeit wieder 
aufzunehmen, die bereits in früherer Zeit geleistet 
worden war. Die Uebersetzungsliteratur spielt in 
seinem geistigen Leben eine grosse Rolle. Häufig 
kam es vor, dass eine grosse literarische Epoche 
schon kurz nach ihrem Abschluss in Vergessenheit 
geriet Es sah aus, als ob Jahrhunderte hindurch 



vergeblich gearbeitet worden wäre. Von der 
grossen alexandrinischen Epoche beispielsweise 
blieben dem jüdischen Volke im ganzen nur die 
griechische Bibelübersetzung und die Schriften 
Philos zurück. Es sind dies zweifellos schriftliche 
Denkmäler von höchstem Wert. Soviele Irrtümer 
wir auch in der griechischen Bibelübersetzung 
finden, so kann doch nicht bestritten werden, dass 
sie für die Erforschung des biblischen Schrifttums 
von der grössten Wichtigkeit ist. Und ebenso 
bieten die Schriften Philos eine Fülle anregender 
Gredanken über das Judentum und über die Be- 
deutung des jüdischen Volkes. Aber im Laufe der 
Jahrhunderte sind diese literarischen Erzeugnisse, 
die der jüdische Geist in einem Zeitalter der 
höchsten Eulturentwicklung geschaffen hat, uns 
fremd geworden. Und selbst als man später zu 
ihnen zurückkehrte, bildeten diese Schriften nur 
den G^enstand der wissenschaftlichen Forschung, 
dem Volke gehören sie nicht mehr an. Höchstens, 
dass sie ihm auf Umwegen bekannt werden. 

Auch mit der grossen jüdisch-arabischen 
Literaturepoche ist es nicht besser gegangen. Nur 
solche Schriften, die. rechtzeitig ins Hebräische 
übertragen wurden, haben ihren Platz in der 
jüdischen Literaturgeschichte erhalten, und zum 
Teil übten sie auf die Entwicklung des Judentoms 



361 



Dr. S. Bemfeld: Kleinere judische Sprachgebiete. 



362 



den grössten Eintlnss eins. Iq der arabischen 
Urschrift hätte Maimonidas „Führer der Irrenden" 
niemals eine epochemnchende Bedeutung erlangt. 
Es liegen noch jetzt handschriftlich viele jüdisch- 
arabische Bücher in den Bibliotheken, die hin und 
wieder ans Tageslicht gezogen werden, aber immer 
nur für Gelehrte und Forscher Geltung haben. Es 
konunt auch gamicht darauf an, dass solche Bücher 
jetzt nach Jahrhunderten verbreitet werden, da sie 
für unsere Zeit nicht mehr passen. Selbst das 
grosse Buch des Maimonides hat ja nur dadurch 
soviel gewirkt, dass es vor Jahrhunderten in das 
Volk drang und die deukfähigen Köpfe im Ghetto 
mit philosophischen Fragen beschäftigte. Wäre 
es nicht rechtzeitig hebräisch übersetzt, in der 
Folge eifrig besprochen, kommentiert, widerlegt, 
angegriflfen und verteitigt worden, so würde es 
wirkungslos geblieben sein. 

Auch in der neueren Zeit wiederholt sich 
diese Erscheinung. Noch vor 50 Jahren war die 
deutsche Sprache die einzige, in der eine wissen- 
schaftliche jüdische Literatur vorhanden war. Fast 
alle Juden des Abendlandes, und nur diese hatten 
den Anschluss an die moderne Kultur gefunden, 
verstanden diese Sprache, die für die Juden eine Art 
internationale Sprache war. Nach und nach entfrem- 
deten sich Teile der abendländischen Judenheit der 
deutschen Sprache. Es gibt jetzt Juden in Russ- 
land, Ungarn, England, Franlo'eich, Italien und in 
den skandinavischen Ländern, die kein Wort deutsch 
verstehen. Und da auch das Hebräische den 
breiten Massen des Volkes in keinem Lande ver- 
traut genug ist, so entstehen jetzt verschiedene 
jüdische Literaturen iu den Landessprachen. Vor 
allem konnte sich eme jüdisch-englische Literatur 
bilden, weil an ihr nicht nur die englischen, sondern 
auch die amerikanischen Juden teilnahmen. Und 
in der Tat sieht es auf diesem jüdischen Sprach- 
gebiete am hoflFnungsvoUsten aus. Auch in Russ- 
land wird wahrscheinlich im Laufe der Zeit eine 
umfangreiche und gediei?ene jüdische Literatur 
entstehen, da die Zahl der Juden in diesem Lande 
gross ist. Viel ungünstiirer hingegen sieht es in 
anderen europäischen Ländern aus, wo zwar 
jüdische Zeitungen und hin und wieder auch 
jüdische Bücher erscheinen, aber kaum etwas 
Originelles hervorgebracht wird. Ueberall muss 
man jedenfalls von vom beginnen, als ob der 
jüdische Geist dazu verurteilt wäre, immer das 
bereits Gelernte nochmals zu lernen. 

Immerhin kann man in solchen Ländern, wo 
die Juden eine beträchtliche Zahl bilden und auch 
die christliche Welt einigermassen Interesse für 
die Kenntnis des Judentums bekundet, hoffen, dass 
da eine Literatur entstehen wird. Sehr schlimm 
sieht es aber in den ganz kleinen Sprachgebieten 
aus, die sich in der letzten Zeit gebildet haben 
oder in der Bildung begriflfen sind. In Serbien z. 
B. erreicht die Zalü. der Juden nicht lOOOO. Als 
ich dort noch lebte, sprach die jüdische Bevölkerung 
, neben dem Serbischen, das sie allerdings nur 
' mangelhaft beherrschte, die jüdisch-spanische Mund- 



art, durch die sie mit der ganzen Judenheit im 
Orient kulturell verbunden war. In dieser Sprache 
wurde der Religionsunterricht und der biblische 
Unterricht erteilt, in diese Sprache wurden die 
Gebete übersetzt. Wenn auch die jüdisch-spanische 
Sprache keine wissenschaftliche Literatur auf- 
zuweisen hat, wie etwa die deutsche oder die eng- 
lische, so ist doch in ihr ein volkstümliches jüdisches 
Schrifttum enthalten. Es gibt gute Bibelüber- 
setzungen, und auch die Gebete, die Mischnah, 
die Agadah sind in diese Sprache fibertragen. Für 
die reifere Jugend und ftkr die Volksmassen ist 
immerhin eine reichhaltige Lektüre vortianden. 
Noch grösseres Gewicht lege ich sogar auf die 
Volkspoesie dieser Sprache, auf die vielen schönen 
Lieder, die in den jüdischen Familien an den Feier- 
tagen, auf Hochzeiten und bei Trauerfällen gesungen 
werden. Es liegt in ihnen ein Stück Judentum, das 
gewiss erhalten und gepflegt zu werden verdient. 

Nun denke man sich, dass man in den letzten 
Jahren in der serbischen Judenheit dazu schreiten 
musste, die jüdisch- spanische Mundart aus Familie 
und Schule zu verbannen. In serbischer Sprache 
giebt es aber kein jüdisches Buch. Die bibÜschen 
Schriften sind nur in der schlechten Uebersetzung, 
die von der bekannten Bibelgesellschaft heraus- 
gegeben wird, vorhanden; die Gebete und andere 
jüdische Bücher sind ins Serbische nicht übersetzt, 
und für die kleine Zahl der serbischen Juden 
werden solche Uebersetzungen wohl niemals an- 
gefertigt werden. Es gibt kein einziges jüdisch- 
serbisches Volkslied, und es wird auch ein solches 
in absehbarer Zeit nicht entstehen. Da die ser- 
bischen Juden von der jüdischen Gesamtheit oder 
von einem ihrer grossen Aeste abgesplittert sind, 
so steht leider zu befürchten, dass sie schon in 
der nächsten Generation unserm Volke verloren 
gehen. Jedenfalls wird ihre religiöse Ausbildung 
in bedauerlicher Weise zurückbleiben. In derselben 
Gefahr befinden sich auch die Juden in Kroatien 
und Slavonien, in Bulgarien, Griechenland und 
einem Teil von Rumänien. Mit der fortschreitenden 
Nationalisierung dieser Länder wird dort immer 
mehr die Zukunft des Judentums bedroht. 

Dieser Erscheinung sollte die Alliance, die 
doch für die Judenerziehung der dortigen Juden 
soviel Mittel aufbringt, grosse Aufmerksamkeit zu- 
wenden. Leicht lässt sich da nicht Abhilfe schaflfen. 
Aber wenn man sieht, mit welcher grossen Liebe 
und mit welchem Eifer die britische Bibelgesellschaft 
ftir die Verbreitung der heiligen Schrift in den ent- 
legensten Sprachgebieten sorgt, so glaube ich, dass 
auch wir nicht untätig bleiben dürfen, wenn in 
Ländern, die ehemals berühmte Pflegestätten des 
Judentums waren, das Judentum allmählich abstirbt. 
Diesem Vemichtungsprozess könnte man vielleicht 
Einhalt tun, wenn man mit Unterstützung von 
aussen statt der jüdischen Literatur in der früheren 
Sprache mindestens das AUemotwendigste in der 
neuen schaflfl. Ueberhaupt scheint mir, dass bei 
uns vieles verloren geht, was bei rejrerem Eifer 
zum grössten Teil erhalten werden könnte. 



Grabmal „Auferstehung". Detail. 



BENNO ELKAN. 

Von Dr. PhilidorLeven. 



Eine eigenartige Erscheinung unter den jüngeren 
jüdischen Künstlern bt Benno Elkan. Eigen- 
artig besonders darum, weil bei ihm sich an seinem 
Leben und seinen Werken der Weg des Talentes wie 
an einem Schulbeispiel verfolgen läßt. Beachtungs- 
wOrdig auch darum, weil ihm schon in jungen Jahren 
— Elkan ist 1878 geboren — Erfolg und Anerkennung 
beschieden war wie selten einem Altersgenossen. 

Benno Elkan, ein geborener Dortmunder, war für 
den Kautmannsberuf bestimmt. 

Erst nach Überwindung mannig- r ■ — 

fach er Widerstände konnte er 
sich der künstlerischen Betätigung 
widmen. Er studierte zunächst 
in München als Schüler von Gysis, 
später in Karlsruhe bei Fehr 
Malerei „mit heißem Bemühn", 
Und nach jahrelangen eifrigen 
Versuchen in der Bewältigung 
der Farhe und ihrer Technik be- 
gann er auf eigne Faust, geleitet 
von einem beginnenden Erkennen 
seiner selbst, zu modellieren, 
ohne jede Unterweisung erwachte 
ein OefüliJ für die Form und B ELKAN 



ihn Bi>ine erstt'i 



Arhcitei 



Nachdiuck veiboun. 

auf dem Gebiete scliaffen, das er bald ganz erobern 
sollte. Als Bildhauer ist Elkan Autodidakt; allein 
nicht in dem Sinne, daß er ohne eindringliches Studium 
und mit halber Beherrschung der Mittel Aufgaben zu 
lösen versuchte; sondern so verstanden, daß allein sein 
sicheres Formgefühl ihm den Weg wies, auf dem er 
vom Kleinsten bannend immer tiefer in das Ge- 
heimnis der Formsprache einzudringen suchte und 
erst mit dem Erstarken seines Könnens zu immer 
größeren Aufgaben fortachritt. 
— ] Elkan erregte zunächst Auf- 
sehen als Wiedererwecker einer 
längst vergessenen Kunst, der 
Medaillen technik altitalienischer 
Meister. Hier im kleinen Stile 
gerade schärfte sich sein Form- 
ompfinden durch die Notwendig- 
keit, einen starken konzentrierten 
Ausdruck mit wenigen einfachen 
Mitteln zu geben. Für Elkan 
spielte diese Betätigung dieselbe 
Rolle wie für die Entwickelung 
manches Malers das Radieren. 
Seine Medaillen haben ihm auf 
DORTMUND, verschiedenen Ausstellungen Bei- 



Grabmal „Auferstehung." 



fall und zahlreiche Aufträge 



Ür. Philidor Leven: Benno Elkan. 



PortratbOate des Dr. Hflser. 



gebracht. Großherzog Frietlricli von Baden und 
Meister Thoma in Karlsruhe seien hier nur von den 
vielen bekannteren Persönlichkeiten genannt, tOr die 
Elkan Porträtmedaillen herstellte. 

Von schöner Charakteristik ist auch die hier mit- 
geteilte Medaille des Geh. Reg^eningsrates Wandt. 
Von den Frauenportrfits ist eins der reizvollsten das 
von Mudding Richter. Im Auftrage der Universität 
in Freibui^ schuf RIkan eine Bronzeplakette, auf 
einer Marmortafel angebracht, welche dem Groß- 
herzog von Baden, dem Protektor der Universität, 
an seinem 80s ten Geburtstage überreicht wurde. 
Heute sind unter anderem das Münzkabinett des 
Kaiser Friedrich - Museums in Berlin, die Skulpturen- 
galerie in Dresden, die Kgl. Sammlungen in München 
u. a. mehr im Besitze Elkanscher Medaillen. 

Nach diesen ersten Erfolgen wandte sich Elkan 
völlig der Plastik zu. Elkan teilt die Eigenschaft fast 
aller jüdischen Künstler auf dem Gebiete der bildenden 
Künste: er arbeitet — wenn wir für alle vom Tech- 
nischen absehen — fast ganz ohne Tradition. Zum 
Teile beruht das sicherlich darauf, daß erst der Fall 
der Ghettomauern den Juden die Augen im buch- 
stäblichen Sinne wieder geöffnet hat, daß erst seit- 
dem der alten These von der Unfruchtbarkeit der 
Juden in der bildenden Kunst lebendige Widerlegungen 
erstanden sind. 

Elkan ist der geborene Bildhauer: er sieht 
plastisch. Wir finden den Ursprung seiner Kunst 
nicht in dem Bingen mit dem Material, das ihm nur 
widerstrebend eine vom Ganzen kaum gelöste Form 
gewährt, sondern seine Werke sind sofort plastisch 
in das Material hineineosehen. PabH sind seinf Ideen 



von einer für einen so jungen Künstler erstaunlichen 
Erreichbarkeit. Durch die Verbindung dieser beiden 
Umstände kommt bei den meisten seiner Werke der 
Charakter völliger Geschlossenheit zustande, erschienen 
sie durchweg ah erschaut, nicht erdacht. Selbstredend 
soll hiermit nicht etwa jede seiner Arbeiten als Meister- 
werk und als restlos vollendet hingestellt werden, 
sondern wir sehen hier nur auf den Grund der Sache 
und dürfen die Reife und Vollendung getrost der weite- 
ren Entwickelung überlassen. 

Elkan hat zunächst eine Kunstgattung gepflegt, 
welche in Deutschland zum Bedauern aller künst- 
lerisch Empfindenden noch so gut wie ganz brach 
liegt, der Grahmalskunst. In seiner Vaterstadt Dort- 
mund stehen heute nicht weniger als fünf größere 
Grabdenkmäler, die er im Auftrage von Dortmunder 
Büi^m ausgeführt hat. Das größte davon ist hier 
in 2 Abbildungen wiedergegeben; es stand auch in 
einer Nachbildung auf der vorjährigen Kölner Kunst- 
ausstellung. Es bringt den Auf erst ehungsgedanken 
in wuchtiger Sprache zur Verkörperung. Das Bronze- 
relief mit den Figuren der Erwachenden ist tief in 
die umgebende Steinarchitektur eingelassen; noch 
bindet und beengt die dunkle Gruft alle Bewegung 
der eben Erstehenden; allein im nächsten Augenblick 
wird sie zersprengt dem Lichte und der Bewegung die 
Grenzen öffnen. Überzeugend wirkt auch der Christus- 
kopf auf dem anderen Grabmal in seiner herben Trau- 
rigkeit. Das Grabmal „Kauerade"^zeigt, wie wohl 
Elkan im kleinsten l^aume ein großes Maß von Be- 
wegung und innerem Gehalt zu geben weiß Bei allen 



B. hLKAN DORTMUND, 

Flötenspieler. 



367 



,Dr. Philidor Leven: Benno Elkan. 



3 Darstellungen finden wir in der 
Begreiiztheit der starken inneren 
Bewegung besonders klar den Ge- 
danken der Mäßigung, den Elkan 
unbewußt^ zum Programm seines 
Schaffens erhoben zu haben scheint. 
Neuerdings hat sich Elkan der 
gegenstSndlichen Plastik zugewandt 
und fast auF allen ihren Gebieten 
Bemerkenswertes geleistet. Von 
seinen zahlreichen Porträtbilsten 
seien hier als interessanteste die- 
jenige des durch seine Simplicissi- 
mus-Beitrftge bekannt gewordenen 
Zeichners Pascin und die nach einer 
kleinen Photographie hergestellte 
des verstorbenen Kommerzienrates 
Dr. Muser mitgeteilt, die er zu- 
sammen mit der des lebenden 
Generaldirektors Müser für den 
Sitzungssaal des Harpenor Bei^- 
bau -Vereins geschaffen hat. Die 
BOste „Brahms-Impression" hält 
die Mitte zwischen einer Portröt- 
darstellung (es ist die Pianistin 
Hedwig Einstein) und einer freien 
Phantasieschöpfung. Eines der 
köstlichsten Werke Elkana ist der 
Flötenspieler, den er für das Foyer 
des Dortmunder Stadttheater aus- 
geführt hat. In ihrem edlen, melo- 
diachen Linienspiele und ihrer wahr- 
hafteinfachen Formsprache istdiese 
Arbeit von klassischer Abge- 
schlossenheit. 

^1 Daß Elkan auch auf anderen Kuns^ebioten sielt 
höchst glücklich betätigt, zeigt vor allem die wert- 
volle Zeichnung eines Knahen die an künstlerischem 
Gehalt etwa ein Gegenstück zum Flötenspieler bildet. 
Die Zeichnung der Frau R. erreicht in ihrer Zartheit 
und ihrem innigen Gefühlsgehalte den Eindruck eines 
gemalten Bildnisses. Dasölbild der Eltern des Künstlers 
zeigt seine frische Gestaltungskraft und lebendige Auf- 



. ELKAN 



Brahma Impression. 



Porträtbüste des Zeichnen Pasdn. 



iindringlicherCharaktorisierung; die Art, wie 
er die Belebung der großen, fast ungeteilten Flächen mit 
einfachen Mitteln erreicht, verdient volle Bewunderung. 

Der beschränkte Raum gestattet leider nicht, 
aus der großen Fülle der Elkanschen Arbeiten und 
Entwürfe weitere Proben hlor mitzuteilen. DerKünstler, 
der bisher aus einem engeren Kreise kaum heraus- 
getreten ist, wird sich demnächst auf der Internatio- 
nalen Kunstausstellung in Mannheim, auf der Großen 
Bcriiner Kunstausstellung, zu der er eingeladen wurde, 
in der Sezession in MUnclien und auf der Deutsch- 
nationalen Aussteilung in Düsseldorf zu ungefähr 
gleicher Zeit dem größeren Publikum zum ersten 
Male mit einer beträchtlicheren Anzahl seiner Werke 
vorstellen, und es kann kein Zweifel obwalt.;n, daß 
dieser junge Künstler, bei dem sich emsles Streben 
nach reinster Kunst in, ji^dem Werke zeigt, alsdann 
die Aufmerksamkeit in bedeuti'ndem Maße auf sich 
ziehen wird. Gerade die Tiefe seiner Empfindung, 
sein Wille, den inneren Gehalt eines Gedankens in 
der adäquatesten Weise zur Form zu führen, unter- 
scheiden iim SU weit von mancherlei neuen mehr 
artistischen Bestrebungen, daß er bald weit über die 
Reihen der jüdischen Künstler hinaus unter den 
Besten genannt werden dürfte. 

Elkan lebt gegenwärtig in Pai-is, an der Stätte 
moderner Hochkultur in der Plastik. Wir haben 
allen Anlaß, mit Stolz und fi-ohor Erwartung seiner 
w-ntcron Entwickelimg enlgi^g^u zusehen. 



369 



370 



MODERNE JARGONLYRIK. 



Von Samuel Meise 

Noch vor zwei DezcDDien wäre es eine schwie- 
rige Aufgabe gewesen, über Jargonlyrik zu schreib0n. 
Erstens wussten dazumal die westeuropäischen 
Juden nicht viel vom Jargon, und die osteuropäischen 
nicht viel von der Lyrik. Die einen hatten von . 
dem sogenannten „Yiddish" wunderliche Ansichten, 
die andern noch wunderlichere von der Lyrik. 
Die einen verwechselten den Jargon mit Mauscheln 
und Kauderwelsch, die andern die Lyrik mit „ge- 
reimten Predigten". Die einen spotteten über den 
Jargon, die andern sprachen allen Kegeln der Dicht- 
kunst Hohn. Hier und dort war das Urteil getrübt. 
Erst unsere Zeit hat auf beiden Seiten eine er- 
freuliche Aufklärung gezeitigt. Das Westjudentum 
weiss jetzt, dass der Jargon eine Sprache ist, die 
zurzeit noch von dem grössten Teil der Juden in 
Russland, Galizien, Rumänien, in England und 
Amerika gesprochen wird und in der es eine 
Literatur und eine Tagespresse gibt, und das Ost- 
judentum hat erfahren, dass Lyrik sich aus so etwas 
wie Sprachfeinheit, Gefühlsstimmung, Seelenerguss, 
Naturempfinden und ähnlichem zusammensetzt. 

Es sei gleich vorweggenommen: der erfreuliche 
Fortschritt, den ich auf beiden Seiten konstatiert 
habe, ist nur relativ gemeint, und zwar im Ver- 
hältnis zu früheren Zeiten. Im Verhältnis zu der 
Kenntnis anderer Sprachen oder zu den lyrischen 
Erzeugnissen in andern Sprachen ist in dem einfen 
wie in dem andern Lager noch immer ein gut Teil 
von Rückständigkeit zu verzeichnen. Die Kenntnis 
des Jargons beim westeuropäischen Judentum reicht 
noch immer nicht aus, diese Sprache vollkommen 
gerecht beurteilen zu können ; und das osteuropäische 
Judentum wartet noch immer anf den grossen Dichter, 
der das Jüdisch-deutsche" Schrifttum in der Welt- 
literatur vertreten könnte. 

« 

Die ersten poetischen Erzeugnisse in der jü- 
dischen Literatur waren die jüdischen Volkslieder. 
Sie gehören zu dem Schönsten, was je die Literatur 
eines Volkes an primitiver Kunst geschaflfen bat. 
Ob man am Stile den Menschen erkennt, ist zweifel- 
haft; dass sich aber in den Volksliedern die Psyche 
eines ganzen Volkes offenbart, ist gewiss. Besonders 
in den jüdischen Volksliedern spricht sich die Seele 
dieses müdgehetzten Volkes mit all seinen Sehn- 
süchten und Wünschen, seinen Träumen und Hoff- 
nungen aus. Der Familiensinn und die Streitsucht, 
der Heldenmut und die Unterwürfigkeit, das Gott- 
vertrauen und die Resignation, der einseitige Ge- 
lebrsamkeitskult und der Mangel an einem praktischen 
Sinn ftirs Leben — alle diese Tugenden und Mängel 
des Ghettojuden treten in diesen Volksdichtungen 
deutlich zutage. 

Ursprünglich sind die jüdischen Volkslieder 
geschaflfen worden, um von Frauen gesungen zu 
werden. Das beweisen in erster Linie die Wiegen- 
lieder, mit denen jüdische Mütter ihre Lieblinge in 
den Schlaf sangen. Diese Lieder entstanden im 



Nachdruck veibuitru> 



Is (Charlottenburg). 

Ghetto, wie Bäume aus der Erde wachsen Wie 
Naturlaute klangen sie hervor aus den .»^lerzen der 
Mütter. Jede Mutter hat irgend ein Wort ihrem 
schlafenden Engel, ihrem Sonnenscheinchen, zu- 
gerufen, und wie von selbst reihte sich ein Wort 
an das andere. So entstand das jüdische Wiegen- 
lied. Später lullte damit jede Mutter ihr Kind ein. 
In ihren Gelühlen konservativ, fand sie darin alle 
Wünsche und Hoffnungen ausgedrückt, die sie für 
die Zukunft ihres Kindes erflUlten. An den Wünschen 
im Ghetto hatten die Jahre wenig geändert; sie 
blieben stereotyp. Und was wünschte sich eine 
jüdische Mutter? Dass ihr Sohn em frommer, thora- 
kundiger Jude, eine Leuchte in Israel, ihre Tochter 
eine züchtige Hausfrau, Gattin eines Gelehrten und 
Mutter von gelehrten Kindern werde. Das wünschten 
sich alle Mütter im Ghetto : die Frau des Rabbiners 
wie die des Holzhauers. Alle sangen dasselbe 
Wieeenliedchen. Es klang wie ein Gebet, wie der 
Feenspruch an der Wiege Schneewittchens. Würden 
alle diese Gebete vom Himmel erhört worden sein, das 
jüdische Volk wäre heute in der Tat ein Volk von 
Priestern, von lauter Weisen und Thorakundigen. 
Wie im Siddur andere Gebete für den Mann und 
andere für die Frau vorgeschrieben sind, so war 
auch ein anderes Wiegenlied für das Knäblein, ein 
anderes für das Mägdelein. Unter der Wiege des 
Söhnchens waren ,.Rosinen und Mandeln" 

Rosinkelach mit mandelen 
dos is die beste s'chaure,'^) 
mein annale wird lernen taure.^) 
Taure wird er lernen, 
sforim^) mrd er schreiben, 
un a jid a talmid-chochem*) 
wird mein sunale bleiben. 

Auch unter der Wiege des Töchterchens waren 
„Rosinen mit Mandeln", die „beste s'chaure". 
Aber eine jüdische Tochter braucht keine „taure 
lernen." Ihr Beruf ist ein ganz anderer. Häuslich 
und wirtschaftlich erzogen, dabei auch schreibens- 
und lesenskundig muss sie sein. 

Wirst araus vun de wieg 
bot men arbeit genig 

ongegreit far dir azind, 
zu sticken tichelach 
zu leienen büchelach 

derweil schief sich aus, mein kind. 

In ähnlicher Weise waren auch die Liebeslieder 
für Frauen bestimmt. Da befindet sich, im Gegen- 
satz zu den Volksliedern anderer Völker, selten ein 
Lied, das die Liebe des Mannes zur Frau schildert. 
Immer ist es das Weib, das nach dem Geliebten 
schmachtet, die Frau, die ihren nach Amerika ver- 
reisten Gatten beweint, die Gattin, die die Ab- 
trünnigkeit ihres Mannes beklagt. Rührend ist das 



*) 8'chaure=^Ware. *) taure=Lehre. ^) 8forim= Bücher. 
*) talmid-chochem = ein Gelehrter. 



Samuel Meiseis, Charlottenburg: Moderne Jargonlyrik. 



folgende Liedchen, in dern ein Mädchen seiueml Ge- 
liebten Untreue vorwirft: 

Kommet zu irehnzn mir 
QQ brenit>t mir a fatsuheile, 'J 
frühst awtik zu eiu au'lir m-idule, 
sogst du, 'ch bin a echfuUu.'') 

Enminst zn Kühn zu mir, 
sogbt ilu. icli hin tciur, 
gehst Mwuk zu vi» an ler meidol«, 
brennt deiu lu-ri wie a feiwr. 

Die erstPD jüdischnn Volk-Iiederdichter waren 
die 60)fenauDtei) t.itadclioiiiin'', dii- Hochzeitsspass- 
macher. Sie w.iri'ii diu Lieblinge der Hochzeits- 
gäste. Der „Hiidclioii" w;ir die (jersoiia ((rata anf 
der jüdischen Hoclizeit in Glu^ito. Kiiie Hochzeit 
ohne Badcheii gliche einem Ball ohne Tanz. Man 
mnss sich ihu uiclit als blossen 8passm:icher denken 
Er war der .■^elbstbon^cher, nud die Hochzeits- 
gesellschal't musste sich seinem Willen beugen. 
Wollte er autlieitcrii, so satig nud taozte uud 
lachte altes um ihn her: wollte er trübselig 
stimmen, so verstjind er Töne niiünscb lagen, dass 
Männerbe'zen weich wiirdcu und Fiaueuaakreu in 
Tränen badetn. Kr mischte Kl.-igölieder in Jubel- 
hymnen, ins Janchzeu d-s Kcstps ein W'interuachts- 
triineru. Und die Gesellsclmt't nadm beides wohl- 
wollend entgegen, l'er Jude iu Ghetto konnte 
ßitel Freude nicht vertra>!On. Die Kabbalisten 
schrieben vor, dass der Jude in den Becher Wein, 
den er zur Heiligung des Sabbats trinkt, einige 
Tiopfen Wasser hineingiesse; in die Stimmung der 
Freude einige Wermutstropfeu hineinzngiessen — 
bat er sich selbst vor eschrieben. Der eine Satz: 
„Des Lt'bens ungemisrhte Freude ward keinem 
Irdiarhen zutpil-" hatte genügt, Schiller im Ghetto 
populär zu machen. !>&<> war so ganz das Lebens- 
proaramm der Ghettojnden. Unueniischte Freude? 
Wie wäre das nur möglich! . . . Ein kleines 
AX ölkchen blieb auch für die heiteren Tage aufi^e^ 
fpart Uud sie halten es ^erne. mitten im Jnbel 
auf dieses trübe Wölkihen autmerisam gemacht 
zu werden. An einem Hoibzeilstage besor^cte dies 
der Badeheu. Der „Hochzeitsspa^smacher" hatte 
überhaupt eine hohe Meinung von seinem Beruf. 
Er trat als Piediger auf; er moralisit-rte, belehrte, 
hielt Braut und Bränti-am ein Be);istpr von Sünden 
vor, die sie nie bedangen hatten, und mahnte sie 
an ihre Pflichten fiir die Zukunft; er sagte — so 
,en passnnt — den Anwesenden Wahrheiten, die 
fie sieb an einem Weikeltave von keinem Kabbtuer 
blatten saaen lasseu. Aber ihm klatschten sie 
Beilall. Er machte doch nur „Spnss". 

Die jüdischen Vnlnsdicbter waren keine 
Lyriker im eigentliehen Sinne. Sie verstanden 
nichts von der Dichtkunst Ohne Key ein waren 
ihre Dii:!ilungpn. Ihre Verse hallen verrenkte 
Kü'se. Aber der R'ini war da, den Rythmus be- 
üorgie die Melodie. Da wurden in dem einen Vers 



') fatscheite = ein Kopftuf 
eiik. ') 8chleile = Keineini's 



B. EIKAN DORTMUND. 

Oelbild: Die Eltern des KQiutlers. 

die Worte gedehnt, in dem andern drei Worte 
mit einem M^ verschluckt — so glich sich das ans. 
Jedes jüdische Volkslied kam mit einer Uelodie 
ZBT Welt. Sein Verfasser dichtete singend. Der 
Text eines jüdischen Volksliedes ist gar oft höchst 
abgeschmackt, mit begleitendem Gelang jedoch 
öiesst es weich und melodisch ins Ohr nud von 
dem Ohr ins Herz. Es lässt sich nicht ermessen, 
welche Wirkunjr die Volhslieder auf die Juden im 
Osten ausüblen, ihr Eiiiflnss auf die moderne 
Jargonlyrik ist gross. Auch bei Frag und Rosen- 
feld lassen sich ihre Spuren nachweisen. 

Volksdichter nannten sie sich. Volkslehrer 
waren sie. Sie predigten Moral und Sittlichkeit, 
G'itt vertrauen uud Lielie zum Volke. Sie kämpften 
fiir die wahre Relipiosdät uud gegen den flüstern 
Abei^laubeu. Mit bewundernswerter Offen herzig keit 
und Unerschrocken heit deckten sie alle inneren 
Schäden auf. Sie sahen ihre Mi-sion darin, die 
zugenagelten Fenster im Ghetto aufzureissen, damit 
das Licht hiueiudringe: Bildung, Aufklärung. Sie 
hallen ja selbst dieses Licht noch nicht gesehen; sie 
wussleu auih nicht, obs wärmt oder sengt; aber sie 
abuteu, dass es gut sei ... Der Ton, mit dem sie in 
ihi-eii ,.gereimten Predigten" zum Volke sprachen, 



373 



Samuel Meiseis, Charlottenburg: Moderne Jaigonlyrik. 



374 



war verschieden: bald ätzend-^satyrisch, bald ernst 
nnd eindringlich. Bald wetterten sie gegen den 
Parteienzwist der Männer, gegen den Luxus der 
Frauen, bald verherrlichten sie das jüdische 
Familienleben und priesen die jüdischen Feiertage. 
Heute verspotteten sie den Fanatismus der Chassidim, 
morgen rühmten sie die gute alte Zeit. Die gute 
alte Zeit war das Lieblingsthema der jüdischen 
Volksdichter. Eljakum Zunser, Gk)ldfaden, Seuffert, 
Schafir bis herab auf Lateiner und Scheikewitz — 
alle haben sie Lobeshymnen auf die gute alte Zeit 
gedichtet. 

Führ dich nooch der alter weit, 
die neie is gor falsch, varstollt . . . 

Eine glühende Liebe zum Judentum spricht 
aus ihren Liedern. Der Name Jud ist ihnen teuer, 
einerlei, in welcher Sprache er ausgesprochen wird. 
Selbst der Name „zyd*, in den der Pule soviel 
Verachtung hineinlegte, gilt ihnen als Ehrenname: 

Ich hob dich lieb, mein volk, du teiere nmme,^) 

du starke, du schene, du feine, da f ramme; 

ich lieb dein nomen, wie men g^ibt ihm a dreh: 

zi^) jisroel, zl israel, zi ibri, zi jewr^, 

zi ja'akov, zi Jakob, zi jade, zi jid, 

ich hob dich lieb afilä^) beim nomen „2yd" . . . 

(k. Goldfaden.) 

Und dieses Volk, das sie so herzinnig liebten, 
trösteten sie in den schweren Tauen des Unheils. 
8ie suchten es aufzurichten und ihm Mut ein- 
zuflössen: Willst Du verzagen, Jakob, und dein 
alter Gk)tt schläft nicht, und dir winkt noch eine 

frohe Zukunft! — Mancher trat wie ein 

tröstender Jesaias auf und erlaubte sich, im Namen 
Gottes zu reden. Charakteristisch für diese 
Gattung von Liedern ist ein Gedicht, betitelt: 
„Die Stimme Jakobs". Da tritt der Dichter vor 
Gott hin und klagt, dass er ferne sitze in den 
Zeiten der Bedrängnis und stillschweigend zusehe, 
wie man sein Volk martert und quält. Darauf 
die Stimme Gtottes: 

Wirst blihen, ja'akov, wie im schenen 

frihling bliht a rois, 

bist klein — meu wird dich erkenen, 

bist geschichtlich groiss. 

Dein glick wird laichten wie var zaiten, 

wie die sonne frih; 
Tes-atto*) si'z ich van der waiten, 
aa kik mir klomersch^) zu. 

(Beirach Schafir.) 

War auch keine eigentliche Poesie in ihren 
Liedern, so lag doch Methode darin. Erstens 
musste fast jedes Gedicht einen Kehrreim haben. 
Dann mussten — da Text und Melodie gleichzeitig 
entstanden — die Strophen eine gewisse Einheit- 
lichkeit aufweisen. In den historischen Liedern 
wurde die chronologische Reihenfolge strengstens 
beobachtet. Da machten sie oft einen Rundgang 



durch die jüdische Geschichte: eine Reise um die 
Welt Von Egypten giugs nach Palästina, von hier 
über Babylon nach Riim, von da wiederum durch 
Spanien über Deutschland nach Polen, bis sie end- 
lich im freien Amerika aulautflen. Fast jeder 
jüdische Volksdichter bat in mehreren Gredichten 
diese Reise gemacht . . Auch innerhalb der 
Mauern des Ghetto wurden derartige Rundgänt^e 
unternommen. Das Leben und Lieben im Ghetto 
wurde in allen möglichen Schattierungen gezeigt« 
Die jüdischen Volksdichter achteten es geling:, 
emen einzelnen Fall zu behandeln. Immer musste 
eine ganze Gattung von Fällen herhalten. Wollten 
sie die handelsmässig abgeschlossenen Ehen g^isseln, 
so glaubten sie, die Unmoral . olcher Khepakten an 
unzähligen Beispielen demonstrieren zu müssen Sie 
dichteten frisch drauf los ein meterlnui;es Poem, 
in dem jede Strophe ein anderes Ehepaar vorführte. 
Aehnlich waren auch die Chassidinilieder, Sabbat- 
lieder, die Spottlieder auf die „moderne" Welt. 
Sie zeigten von jedem I Hng die Kopf- und Wappen- 
seite. Das folgende Liedchen „Das Weib"" ist 
typisch ftir difse ganze Gattung von Liederu. 

Dos Weib. 

Wer macht einem dod leben Fiess? — a weih. 
Wer macht einem dos leben mi«'68? — a weih. 
Wer is far ein mann dos gresi^te glick? 
Wer brengt ihm derzu, er 8oll sich machen chik? — 

' a weih, a weih. 

Sie bot doch kein manre'^) far dem starkAten htld, 
Sie is die stärkste chajv^) auf der weit. 

Wer kenn lachen nn nisrht aufberen? — a weih. 
Wer kenn weinen mit falbche trer^n? — a weih. 
Wer is mechiye'difir,') süss nn geschmak?^) 
Wer is auf der weit der gresster schlak? — 

a weih, a weib. 
Sie bot doch kein manre far dem stärksten held, 
Sie is die stärkste chige auf der weit. 

(Josef Lateiner.) 

Unter den jüdischen Volksdichtem siod die 
bedeutendsten: Abraham Goldfaden und Beirach 
Schafir. Der erste ein dramatisches Tolent, der 
andere ein verkommenes lyrisches Genie. Der erste 
als Verfasser mehrerer „Dramen* und Schöpfer 
der jüdischen Bühne allenthalben bekannt, der 
andere verschollen und ven; essen. Goldfaden ist 
der erste Jar^ondramatiker; bei Schafir vollzieht 
sich die Metamorphose vom jüdischen Volksdichter 
zum Jargonlyriker, Schafir hätte ein Heine der 
Jargonliteratur werden können, wäre er nicht das 
Opfer einer falschen Erziehung geworden. Eigent- 
lich kann bei ihm von Erziehung nicht die Rede 
sein. Weder Eltern noch Freunde haben für die 
Ausbildung dieses Talents gesorgt. Er hat nicht 
das Glück gehabt, entdeckt zu werden. Er ent- 
deckte sich selbst. Als Autodidakt brachte er es 
soweit, in vier Sprachen dichten zu können : Jargon, 
Hebräisch, Deutsch nn 1 Polnisch. Er hat in allen 
diesen Sprachen Gedichte veiöflfentlicht, die ihn 



*) Ulli me = Volk. •) zi = ob. *) afilu = selbst. *) Tes- *; maure = Furcht. ^) chaje = Lebewesen. ^ nie- 

atto = vorläufig. *) klomersch = scheinbar. chaje^difi^ «• belebend. *) geschmak = lieblich. 



Samuel Meiseis, Charlottenburg;. Moderne Jargonlyrik. 



Knabe (Zeichnung). 

eioe beträchtliche Stufe höher über den Dureb- 
schaittslyrilcer stellen Als jBdischer Volksdichter 
war er der erst«, «der das Jai^onlied in Jamben 
und Trochäen dichtete Man lese sein Gedicht 
„Am Olam" (Das ewige Volk), das die Vertreibnng 
der Juden aas RnsslaDd und ihre Auswanderung 
nach Amerika schildert. Hier nur die ersten zwei 
Strophen: 

Auf dem waiteii meer 

Diheu bin un her 

«chifFti ohu a zubl; 

dorten im gerider 

aegelu unsre brider, 

die beue jlsro"!. ') 

Nischt aus der meditie'^) 
luilien nder Chine 
fähren s'chaure sei; 
dorten scliwimmen zinder 
arme, n^ickte hiuder 
zwischen weiten /.wei, 

Scbafir hat in die Üheltopoesie zum ersten 
Mal etwas Katurempfiiidung hiueingetrageu. Für 
die jüdischeu Volksdichter existierte nämlich die 
Natur nicht. Das Wort Natur in soiuer umfassen- 
den Bedeutung fehlte iu ihrem Sprachschatz. Sie 
'.'ebraucht«u es nur im Sinne von Charakter: die 

') oetie 'isro'l = Kinder Israel. ')] moiline = Lan.l. 



Nator des Meosclien, eine Weibsoatur. Auch das 
hebräische Wort „tewa" (Natur) bekam bei ihnen 
nur die Bedeutung von „Eigenschaft", „Gewohnheit". 
Kan sprach von einer „guten tewa" (guten Eigen- 
schaft) ODd von einer „miesseu tewa" (üblen Ge- 
wohnheit). Es wäre durchaus falsch, diese Er- 
scheinung auf eineu angeborenen Maupel au Natur- 
emp&nden znrückzufäbren. Nicht etwa eine schwache 
Sehkraft oder gar' das gänzliche Fehlen eines aus- 
geprägten Schönheitssinnes bedingte sie. Im Gegea- 
teiJ. Das Schöne, das innerhalb der Gbettomauem 
vorbanden war, sahen, fühlten, liebten und besangen 
sie in allen möglichen Tonarten. Sie bekundeten 
sogar einen recht scharfen Blick für alles Schöne 
und Glanzvolle im Ghetto. Viele erhabene Schön- 
beitslinien , die aus der trüben Ghettozeit wie 
glänzende Lichtstreifen zu uns herüberleuchten, 
sind zum grosseu Teil ihre Entdeckungen gewesen. 
Aber die Schönheit der Natur lag ausserhalb der 
Ghettomauem, io jenen Gegenden zumeist, zu denen 
die Jaden keinen Zutritt hatten ... Es ist gewiss 
mehr als blosser Zufall, dass das erste Jai^n- 
gedicht mit der Ueberschrift „Die Nator" im fireien 
Amerika entstand . . . Erst in der Freiheit er- 
wachen im Jaden all die edlen Gefühle und 
Empfindungen, die die Grausamkeit der Menschen 
{ahrhundertelang in ihm erstickt hat Die modernen 
Jargonlyriker, die vorzügliche Natnrmaler sind, be- 
weisen nni, mit welcher Liebe und Innigkeit der 
Jude sich in die göttliche Natur versenken kann. 
Aber während die modernen Jargonlyriker sich in 
ihrem Erfassen der Natur in allen Stücken modern 
zeigen, äussert sich in d^u Naturschilderangen der 
letzten jüdischen Volksdicliter und ersten Jargon- 
lyriker eine gewisse spezifisch -jüdische Empfindungs- 
art. Zur näheru Illustration möge hier das folgende 



Porträtmedaille des Groasherzogs v 



377 



Samuel Meiseis, Charlottenburg Moderne Jargonlyrik. 



378 



reizende Scbafirsche Bildchen eines Sonnenunter- 
gangs an einem Sabbatnacbmittage Platz finden: 

Die snn geht unter mit purpurne streifen, 
es zeigen sich sternlach stillerheit, 
dos senen die bänder, goldene schleifen 
Tun der schabbes-malkesse"^) dos seidene kleid. 

Man beachte den Vers „es zeigen sich stern- 
lach stillerheit"! — Prinzessin Sabbat ist eine 
liebliche Fee, die Bringerin alles Guten. Alles 
Schöne strahlt von ihr aus. Sind wir fröhlich an 
einem Sabbat, so haben wir die fröhliche Stimmung 
nicht in ihn hineingetragen, sondern von ihm 
empfangen ... Er erzeugte sie . . . Ein schöner 
sonniger Tag an einem Sabbat ist kein schöner 
sonniger Tag, der zufällig auf einen Sabbat fiel, 
sondern die liebreiche Spende aus der freigebigen 
Hand der Prinzessin Sabbat. Selbst der herrliche 
Sonnenuj^tergang an einem Sabbat ist keine blosse 
Naturerscheinung; seine purpurnen Streifen sind 
nur „die Bänder und die goldenen Schleifen von 
Prinzessin Sabbat's seidenem Eleid^ . . . Schon 
in diesem Vierzeiler erkennen wir einen Dichter, 
der in sich wahrhaft poetisches Empfinden mit echt 
jüdischer Denkungsart vereinigt. 

Wenn wir zwei Jahrzehnte in die jargonische 
Literatur zur&ckblicken, so finden wir Simon Frug 
in edler Begeisterung auf den alten Zionsharfen 
neue Lieder anstimmen. Mit Schafir schliesst die 
Epoche der jüdischen Volksdichter, mit BVug be- 
ginnt die Epoche der Jargonlyrik. Frugs Poesie 
mit ihrer vorwiegend nationalen Tendenz, mit ihrer 
Verherrlichung der jüdischen Ahnherren und 
jüdischen Helden, mit ihrer lohenden Begeisterung 
fftr das antike Judentum, sein Schrifttum, seine 
heiligen Bücher — erinnert in gewisser Hinsicht 
an die Bardenlieder der deutschen Literatur am 
Ausgange des achtzehnten Jahrhunderts. Diese 
Aehnlichkeit besteht nur, soweit die Ahnen- Ver- 
herrlichung und Helden-Verehrung, die sich in 
Frugs Liedern ausspricht, in Betracht kommt. 
Sonst ist zwischen den deutschen Barden und 
dem jungjüdischen Lyriker ein himmelweiter unter- 
schied. Frug ist vor allem modern; er singt kerne 
dithyrambischen Oden in schwülstigem Choral- 
stil. Dem tausendjährigen Judenschmerz hat Frug 
seine Lieder geweiht. Der Dichter lebt in Russ- 
land, in dem Lande, wo dieser Schmerz nicht erst 
geweckt zu werden braucht, da man ihn nicht zur 
Ruhe kommen lässt . . . 

Frug spielt also die alte Leier, aber er bringt 
ganz neue Töne hervor. Er hat der jüdisch-deutschen 
Poesie eine erhöhte Mannigfaltigkeit verliehen. Die 
Hauptmerkmale der Frugschen Dichtungsart sind: 
tiefe Gedanken, verbunden mit einer fast naiven 
Einfachheit in Form und Stil. Selbst da, wo der 
Dichter, von seinen quellenden Gefühlen und Em- 
pfindungen voll, ins Mystische hinübergreift, lugt 
der (Jedanke hinter dem mystisch- symbolischen 
Schleier klar und deutlich hervor. Der Schwer- 



') schabbes malkesse = Prinzessin Sabbat. 



punkt Frugs liegt in seiner Sprache."^] Dem 
poLaischen Schriftsteller Kraszewskl wird nach- 
gerühmt, er habe die polnischen Schriftsteller 
schreiben gelehrt : auch von Frug kann man sagen, 
er habe die Jargondichter schreiben gelehrt Er 
war der erste, der auf Flexibilität und Modulations- 
fähigkeit der jüdisch-deutschen Sprache hingewiesen 
hat; er zeigte uns, dass im Jargon der Sprach- 
schönheiten und Stilfeinheiten mehr sind, als sich 
mancher Jargonverächter träumen lässt. 

Der russische Dichter Frug steht über Frug, 
dem Jargonlyriker. Vielleicht liegt der Grund 
darin, weil er als russischer Dichter Epigone ist. 
Auch das hervorragende poetische Talent braucht 
seine Vorbilder, denen es nacheifern kann. In 
der russischen Literatur konnte Frugs poetische 
Begabung an bedeutenden Meistern sich bilden. 
Ich nenne nur : Puschkin. Dagegen in der jüdisch- 
deutschen Literatur waren seine Vorgänger Vers- 
macher, die zwar manches Gedicht schrieben, das 
in seiner Tendenz annehmbar und einer gewissen 
Zeitströmung auch entsprechend war, die jedoch 
kein einziges Werk schufen, das irgendwie vom 
künstlerischen Standpunkt aus Ajospruch auf 
Mustergiltigkeit erheben könnte. Trotz alledem hat 
sich Frug von den jüdischen Volksdichtem nicht 
gänzlich emanzipiert. Er hat viele ihrer G^anken 
übernommen, freilich nicht ohne sie zu modernisieren, 
zu vertiefen. Die Eunstform für das Jargongedicht 
ist JFrugs Schöpfung. Vor ihm konnte man von 
einer Eunstform des Jargonliedes nicht gut reden. 
Frug war somit der erste, der als vollwertiger 
Dichter in der jüdisch-deutschen Literatur auftrat. 
Er war der Zeit nach der erste, und ist dem 
Werte nach bis heute der erste, nämlich der 
bedeutendste. Alle seine Nachfolger sind eine 
hübsche Strecke hinter ihm zurückgeblieben; selbst 
der gefeierte Morris Rosenfeld hat ihn nur an- 
nähernd erreicht. Rosenfeld besitzt vielleicht mehr 
Sprachgewalt, mehr Temperament; Frug dagegen 
verft^t über jene Ruhe und Grelassenheit, die zum 
Wesen des Künstlers notwendig gehören. Rosen- 
feld ist eine impulsive Natur, alles drängt bei ihm 
nach aussen, an die Oberfläche; er sagt nicht viel, 
aber laut, mit kraftvoller Stimme. Frug ist mtensiv ; 
alles ist bei ihm innerlicher, tiefer, die Tränen 
schwimmen nur so in seinen Augen, aber sie rinnen 
nicht seine Wangen hinunter, seine Seufzer klingen 
gedämpft und immer gedämpfter, je beklommener 
seine Brust ist. Rosenfeld erscheint uns inmier in 
ein und demselben Gewände: der Jude als 
Proletarier; Frug zeigt uns den Juden in seiner 
proteusartigen Vielgestaltigkeit. Deshalb ist auch 
Frug spezifischer jüdisch als Rosenfeld, dessen 
Arbeiterlieder — die meisten seiner Lieder sinds 
ja — das jüdische Kolorit ganz gut entbehren 
können und zum Teil auch entbehren. 

Die Muse Simon Frugs hat ein spezifisch 
jüdisches Aussehen. Der Dichter selbst nennt sie 
die „jüdische Jargonmuse **. In der als Gedicht in 
Prosa abgefassten Einleitung zu den in zwei Bänden 
vorliegenden gesammelten poetischen Werken Frugs 



379 



Samuel Meiseis, Charlottenburg: Moderne Jargonlyrik. 



380 



schildert der Dichter seine Sehnsacht nach der Muse, 
nach Jener ewig jnngen nnd ewig schönen Mose mit 
den langen brannen Locken, mit den blähenden rosa- 
farbenen Wangen, mit den frischen roten Lippen, 
die die Engel küssen, jener göttlich schönen 
Prinzessin mit der siebensaitigen Leier in der einen 
Hand nnd mit dem Lorbeerkränzchen in der 
andern." Das ist die Muse, die der Dichter herbei- 
mft. Statt ihrer erscheint ein Weib mit bleichem 
Antlitz, mit kranken rotgeweinten Angen, die tnlbe 
Wolken umschatten ; sie ist in düstere Tranerkleider 
gehüllt und spricht in abgerissenen elegischen 
Tönen, die bald weich nnd rührend klingen wie das 
Kinnothsagen am nennten Ab, bald volltönend nnd 
erschütternd wie die Stimme des Schofars am 
Nenjabrstage. Das ist die jüdische Mnse . . • 
Und wie die Mnse, so der Dichter. 

Ich bin der ständige Schofarbläser, 
Ich stoss ins Hörn mit Macht, 
Sowohl am trüben Wintertage 
• Wie in der Frühlingsnacht. 

Es schlummert wohl in meinem Herzen 
Manch lustge Melodie, 
Kaum fang* ich an das Lied zu singen, 
Wirds gleich zur Elegie. . . 

Man kann bei Fmg fünf Arten von Liedern 
unterscheiden: ernste Gesänge, Lieder der Bibel, 
Zionslieder, satirische Gedichte und Balladen und 
Legenden. 

In den ernsten Gtesängen Frugs finden wir 
jenen Grnndzng der Melancholie, die wir bereits 
beim hebräischen Lyriker Chaim Nachman Bialik 
kennen gelernt haben. Es ist immer die ewige 
Suche nach Schönheit und Kraft, Freiheit und 
Licht Schönheit ist genugsam vorhanden: eine 
herrliche Natur Gottes, ein wogendes Aehrenfeld, 
zierliche Blumen im Garten, ein blanfarbener 
Himmel, Sonne, Mond und Sterne — aber der Jude 
kann die Schönheit nicht gemessen, weil ihm Licht 
nnd Freiheit fehlen. Er sieht die Schönheiten der 
Natur nur durch ein kleines Guckfenster, aber er 
darf sich nicht mitten in ihf als freier Mann frei 
bewegen. Deshalb ist der jüdische Poet nmso 
trauriger, je freudiger der Himmel lacht, nmso 
melancholischer, je freigebiger die Natur ihre 
Schätze oflFenbart. 

Droben lacht der blaue Himmel. 
Heiter ist der Tag, gelind. 

— „Spiel mir doch ein Sommerliedchen!" — 
Fleht das arme bleiche Kind: 

— „Komm mit mir doch in den Garten; 
Von des Gartens schönster Zier, 

Von den allerschönsten Blumen 
Windest du ein Kränzlein mir!** — . 

Ach, mein Kind, siehst nicht? — Zerbrochen 
Hängt die Harfe an der Wand; 
Und entwohnt ist längst des Spielens 
Meine schwache, kranke Hand. 

Was kann Lebensfreude frommen, 
Wenn verwundet ist das Herz! 
Sommer, Wintjer, Herbst und Frühling — 
Immer nagt der alte Schmerz. 



Das ist das Sommerlied des jüdischen Poeten. 
Fast alle ernsten Gesänge, besonders aber die Ge- 
dichte „Eine Sommernacht**, ^Die Natur*, „In den 
Gärten, auf den Feldern", „Zum Cheder, Kinder !„ 
„Grossmütterchen sitzt mit einem Strumpf in der 
Hand", „Der Frühling geht, der Frühling kommt'' — 
hat Fmg aus dieser traurig düstem Grundstimmung 
heraus gedichtet. Frugs Leier ist reich genug an 
Tönen, um den tausendfachen Schmerz in tausend- 
fachen Variationen ausklingen zu lassen. 

Frugs biblische Liederhaben mit den „Biblischen 
Melodien" Ujejskis nichts gemein. Komel üjejski 
hat seinen polnischen Patriotismus in biblische Stoffe 
gehüllt. Frugs biblische Lieder dagegen sind 
Kommentare zu der Bibel, Randglossen, Be- 
trachtungen, Reflexionen. Er sitzt über die uralten 
Blätter gebeugt und hebt jedesmal seinen Kopf 
empor, um ins Freie zu blicken und über das Ge- 
lesene nachzusinnen. Er bringt jedes Bibelwort in 
Beziehung zum modernen praktischen Leben. Liest 
er von den biblischen Helden, so sucht er sie 
gleich in der Gegenwart, und leise Wehmut zieht 
in sein Herz, weil er sie nicht findet. Er liest 
die uralten heiligen Blätter mit Andacht, zugleich mit 
erhöhter Aufmerksamkeit. Bald hält er inne, bald 
macht er einen Gedankenstrich. Hier setzt er ein 
Ausrufungszeich^, dort ein Fragezeichen. Hier 
als Beispiel das von Zlocisti ins Hochdeutsche über- 
tragene Gtedicht „Aber die Sterne?" 

Es glänzt der Mond. Es glänzen die Sterne 
In wallender Nacht über Berg und Tal ... — 
ÜDd wieder les ich die uralten Blätter; 
Ich las sie tausend und tausende Mal. 

Und wie ich lese die heiligen Worte, 

Hält mich eine Stimme gebannt: 

„Mein Volk, Du wirst «ein wie die Sterne am Himmel, 

Wie am Meeresgestade der Sand.** 

Ich weiss es mein Gott: Von Deiner Verheissung, 
Wird sich erfüllen das leiseste Wort. 
Ich weiss es, mein Gott: Es sucht nur Dein Wille 
Die richtige Zeit, den richtigen Ort. 

Und eines hat schon die Erfüllung gesehen. 
Ich hab^ es mit allen Sinnen gettSilt: 
Wir sind zu treibendem Sande geworden. 
Von jeglichem Fusse durchwUhlt . . . 

Es hat sich erfüllt! . . Wie Sand und wie Steine 
Zerstreut und zerstohen zu Schande und Spott I 
. . . Nun aber die Sterne mit leuchtendem Scheine, 
Die Sterne, die Sterne, wo sind sie, mein Gott? . . . 

Die Zionslieder Frugs sind der Ausfluss Jenes 
tiefinnerlichen Gtemütslebens, das sich nur bei dem 
von aller Welt abgegrenzten Ghettojuden entwickeln 
konnte. Nahm man ihm diese schöne Welt, so 
schuf er sich im Gteiste eine andere, eine schönere, 
glanzvollere. Raubte man ihm die Wirklichkeit, 
so blieben ihm die Träume. „Auch Träume sind 
etwas, womit man die Zeit ausfüllen kann", und 
Träume haben nicht selten Leidende getröstet und 
Gebeugte aufgerichtet. Tiefe Religiosität erzeugte 



3dl 



Samuel Meiseis, Charlottenburg: Moderne Jargonlyrik. 



382 



den Messiasglauben; die farbenreichen Traumbilder, 
die sich an ihn knüpften, dichtete später die leb- 
hafte Phantasie hinzn. Das goldene Zeitalter suchten 
die Juden im Ghetto in der Zukunft. Und sie hatten 
recht. Das goldene Zeitalter war noch nicht; ein 
goldenes Zeitsdter, das spurlos verschwinden konnte, 
glänzte nur wie Gold, aber es war keins. Das echte 
muss erst kommen. Diese Hofinung tröstete die 
Juden. Mit goldenen Fäden hatte der Ghettojude 
sein Zionsideal umsponnen. Und der jüdische 
Ghettodichter Frug spinnt sie weiter. Es liegt 
viel Erhabenes und viel Rührendes in seinen Zious- 
liedem. Es sind Tränen in ihnen, die wie sonnen- 
bestrahlte Tautropfen funkeln, und Töne, die wie 
liebliche Zukunftsmusik klingen. Frug hat in diesen 
Liedern die an den Messiasglauben anknüpfenden 
Sagen, L^enden und Märchen als zierliche Arabesken 
verwendet Von den vielen Zionsliedern sei hier 
nur eins in möglichst wortgetreuer deutscher 
Uebertragung angeiührt. Es betitelt sich „Der 
Becher^ und bebandelt die alte Midraschl^ende 
von dem Tränenbecher, der vor Gott steht und in 
den der Allerbarmer beim Anblick der Leiden Israels 
maiche Träne fliessen lässt. Erst — so geht die 
Sage — wenn das Mass der Leiden voll ist und 
der Becher von Tränen überströmt, hat die Stunde 
der Erlösung geschlagen, ist die lange Leidens- 
geschichte Israels beendet. 

D 6 t}\B e c h e r. 

— „Sag, MüttercbcD, ist's wirklich wahr, 
Was Grosspapa erzählet: 

Dass dort vor Gott ein Becher steht; — X 

und wenn man hier uns quälet, 
Und wenn aus unsrer wunden Brust 
Erschallen Schmerzenstöne, 
Lässt fliessen Gott in diesen Kelch 
Voll Mitleid eine Träne?" — 

— „Ist wahr, mein Kind!" — „Sag, Mütterchen, 
Ist's wahr, was ich vernommen, 

Dass wenn der Becher tränenvoll. 

Dann wird Messias kommen?** — 

„Jaw^ohi, mein Kind!" — Und eine Weil' 

Seufzt still der kleine Sprecher, 

Dann fragt er leis: — „Wann, Mütterchen, 

Wann wird denn voll der Becher?" — 

Tieftraurig hebt zur Mutter Qr 
Den Blick voll bangem Sehnen: 

— „Ist denn der Becher bodenlos 
Und sickern durch die Tränen? 
Wir litten und wir leiden noch, 
Nichts füllt des Bechers Leere; 
Vielleicht versiegt im Lauf der Zeit 
Im Becher drin die Zähre?" . . . — 

Die Mutter schweigt und neigt das Haupt, 

Ihr Herz ist tief erschüttert, 

Und eine Träne, weich und mild. 

Im Mutterauge zittert 

Und auf des Kindes hold Gesicht 

Zwei Perlentropfen fliessen. . . 

O guter Gott, lass in den Kelch 
Die Tränen sich ergiessen. 



Auf dem Gebiet der Satire bewegt sich Frug 
zwischen Höhe und Tiefe. Manchmal gelingt ihm 
ein vorzügliches satirisches Gedicht. Zuweilen 
jedoch sinkt er auf die Stufe der alten Badchonim 
hinunter .... Auf der Höhe seines poetischen 
Könnens zeigen ihn seine Balladen und Legenden. Sie 
verdienen die Bezeichnung: Perlen der jargonischen 
Literatur. 



Frug ist ein bedeutender Lyriker. Der Ab- 
stand zwischen ihm und den jüdischen Volksdichtem 
ist gross. Aber man kann sich Frug ohne die 
jüdischen Volksdichter nicht denken. In ihm hat 
die jüdische Volksdichtung ihren Gipfelpunkt er- 
reicht. Er hat für den Gedankenb^is und die 
Gef&hlsmomente der jüdischen Volksdichtung die 
richtige Kunstform geschaflfen. Das erhebt ihn vom 
Volksdichter zum Dichter des Volkes. Ganzanders 
ist Morris Eosenfeld. Dieser Dichter steht — als 
Jargonlyriker — auf eigenen Füssen. Freilich 
lassen sich auch in Rosenfelds Dichtungen, 
namentlich in denen seiner ersten Schaffenszeit, Spuren 
der jüdischen Volksdichtung nachweisen. Aber sie 
haften nicht unzertrennlich am Wesen dieses Dichters. 
Man kann diese Spuren verwischen, ohne dadurch 
ein Jota von der poetischen Empfindungsart Bösen* 
felds zu rauben. In der Jargonliteratur bedeutete 
er ein Ereignis. Zunächst seine Persönlichkeit: 
ein armer, hungernder, in den Sweat-Shops Fron- 
dienste leistender jüdischer Schneidergeselle erwacht 
eines Morgens und findet sich als Dichter berühmt 
So mancher jüdische Schneidergeselle war zu etwas 
besserm geboren und hat es zu etwas besserm ge- 
bracht. Der alte Alexander Zederbaum hat den 
kühnen Sprung von der Schneiderwerkstatt zum 
Redaktionstisch gemacht. Dieser Schneidergeselle 
begründete die älteste und grösste hebräische 
Tageszeitung „Ha-meliz", die in Petersburg vier- 
undvierzig Jahre lang erschien. Ausserdem gab er 
noch einige Zeitschriften und Wochenblätter in 
jüdisch-deutscher und in russischer Sprache heraus. 
Ein jüdischer Schneidergeselle war es, der heute 
die „Stütze des Wiener Burgtheaters" ist. Und 
ein jüdischer Schneidergeselle schrieb die „Songs 
from the Ghetto", die seinen Namen als Jargon- 
dichter in Amerika wie in Europa bekannt machten. 

t^ Die „Lieder des Ghetto"^) hat der Dichter in 
drei Teile geschieden: in die Lieder der Arbeit, die 
Lieder des Volkes und die Lieder des Lebens. 
„Alle drei Teile sind \on einer Stimmung getragen: 
einem gewaltigen Schmerz, der sich empört gegen 
die Grausamkeit des Schicksals und der Menschen, 
der wild aufschreit, ohne emen Widerhall zu finden, 
der sich verzweifelt krümmt und endlich kraftlos 
zusammenbricht, um den letzten halberstickteu 
Seufzer in einer Flut von Tränen zu begraben" . . 
Rosenfeld setzt unbewusst statt des Spezifisch- 



1) Deutsch: Lieder des Ghetto von Morris Rosenfeld. 
Autor. Uebertragung aus dem Jüdischen von Berthold 
Feiwel mit Zeichnimgen von E. M. Lilien. Zweite Auf- 
lage. Hermann Seemann Nachf., Berlin. 



383 



Samuel Meiseis, Charlottenburg: Moderne Jargonlyrik. 



384 



Jüdischen das Allgemein-Menschliche in den Vorder- 
gmnd. Diese Erweiterung des lyrischen Stoffge- 
biets in der jüdisch-deutschen Literatur ist mit 
Genugtuung zu begrüssen. Denn eine Literatur 
bereidiem, heisst, ihr jedesmal neue Stoffgebiete 
zuf&hren, neue Werte schaffen. Von diesem G^e- 
sichtspunkt aus betrachtet, ist Kosen feld ein Bahn- 
brecher. Er griff über die Grenzen des Ghetto 
hinaus und ins volle Menschenleben hinein. Das 
Schicksal wollte es, dass er auch ausserhalb des 
Ghetto nur Disteln und Domen fand, die in sein 
Herz drangen und es bluten machten. Von Eind< 
heit an an jüdische Schmerzen und Tränen gewohnt, 
glaubte er in jedem Schmerz und in jeder Träne 
etwaä Jüdisches erblicken zu dürfen. Es gibt 
Leiden, die der Jude als Mensch zusammen mit 
Millionen andern Menschen teilt Die grosse Tragik 
im Leben des Juden bildet der Zuschuss zu den 
menschlichen Leiden, den er vom Schicksal erhalten 
hat: das Judenelend. Morris ßosenfeld scheint 
beide B^;riffe: das allgemein -menschliche und 
spezifisch-jüdische Elend nicht recht auseinander- 
zuhalten. Sonst hätte er seine Gredichtsammlnng 
nicht unter der falschen Flagge „Lieder des Ghetto** 
in die Welt geschickt. Es sind Lieder, die in der 
Ghettosprache geschrieben sind; Lieder des Ghetto 
sind sie nicht. Was haben zum Beispiel die Ar- 
beiterlieder „Die Werkstatt**, „An der Nähmaschine**, 
„Die Nachtigall zum Arbeiter**, „Das Lied der 
Not**, „Die Träne aul dem Elsen**, „Was ist die 
Welt**, „Auf dem Totengarten** — mit dem Ghetto 
zu schaffen? Oder wie stehen die Lieder des 
Lebens: „Blumen im Herbst", „In der Wildnis**, 
„Die EIrschaffung des Menschen**, „Die Freiheit**, 
„Die Not und der Dichter**, „Die Friedhofsnach- 
tififaU** — mit dem Ghetto in Zusammenhang? Nur 
die Lieder des Volkes — der kleinste Teil der 
Sammlung — stammen aus der rein jüdischen 
Gtemütssphäre. Rosenfelds Gedichte haben aus dem 
Grunde, weil sie nicht spezifisch-jüdisch sind, an 
poetischem Wert nicht das geringste verloren. Aber 
man soll die Seufzer, die aus rauchgeschwängerten 
Fabriksräumen kommen, mit den Seufzern, die aus 
dumpfen Ghettomauem hervortönen, nicht identifi- 
zieren. 

ßosenfelds Stärke ist die Naturmalerei. Er 
malt keine Kabinettbilder, weil er mit einfachen 
Mitteln nicht zu arbeiten versteht. Er entwirft 
übergrosse Gtemälde, in denen er einen Farben- 
reichtum entwickelt, dass es glänzt und schillert 
und funkelt von allen Seiten. Er findet für jedes 
Naturbild eine treffende Tonfarbe, für jeden 
Naturlaut einen richtigen Klangwert. Wir staunen 
oft, wie sich in diesem hungernden und darbenden 
Schneidergesellen ein solcher Natursinn entwickeln 
konnte, und wir fragen uns: wie gross hätte dieses 
Dichtertalent unter günstigen Verhältnissen werden 
können, wenn es unter ungünstigen so geworden 
ist! . . . Ein grandioses Bild von grossartiger 
Plastik und meisterhafter Klangmalerei ist das 
Gedicht „der Sturm". Wild rast der Sturm übers 
^tep^. Tief gähnt der Abgrund der brüllenden See, 



aus der die Wogen hochauffliegen, als drohten sie 
eine. Welt zu verschlingen. Gtegen diesen Meeres- 
sturm setzt sich em Schiff zur Wehr. „Eis biegt 
sich und bäumt sich und stöhnt und ächzt**. Es 
schnaubt der Kessel, es zischt im Kamin, es 
krachen die Balken, 

Es krachen die Masten, wild fiattem die Segel,] 

— Jetzt fliegt es Torbei an dem tötlichen lUff — 
Sie kämpfen und streiten und raufen und ringen 
Auf Leben und Tod: der Sturm und das ScMff. 

Jetzt muss es sich ducken, jetzt muss es sich stellen. 
Jetzt treibt es zurück, jetzt treibt es voraus, 
Jetzt ist es nur noch ein Spielzeug der Wellen, 
Die Wasser verschlingen^s und speien es aus. 

Es braust die See, auffliegen die Wogen, 

Es dampft und kocht und siedet der Grund, 

Blut wiU der höllische Sturm, der Mörder, 

Ein grausiger Abgrund reisst auf seinen Schlund 

« 

Da hört man ein Jammern, ein Schreien und Weinen. 

— Entsetzlich die Angst und schaurig die Not — 
Jedwedes betet zu seinem Grotte: 

„Rette uns, rette uns, Herr, vor dem Tod!" 

Und an der Seite dieses Bildes malt er zwei 
Männ^, die ruhig und stumm nebeneinander sitzen. 
Sie falten die Hände und starren schweigend den 
Todesgraus an. Es sind zwei russische Juden, 
die aus dem finstem Russland geflohen sind und 
jetzt vom freien Amerika wieder nach Russland 
getrieben werden. Sie resignieren: Mag brausen 
das Meer und heulen der Sturm und sinken das 
Schiff — was haben wir, die Entrechteten, die 
Heimatlosen, zu verlieren? Das nackte Leben, das 
wir besitzen, ist wahrlich des Lebens nicht wert . . . 

Ihr habt wohl Grund zum Weinen und Beten 
Und mögt Euch entsetzen vor jähem Tod, 
Habt alle ein Heim, darinnen zu wohnen, 
Euch jagt übers Meer nicht die grausame Not. 

Doch wir sind verloren, verlassen wie Steine, 
Die Erde giebt uns kein Fleckchen frei, 
Wir fahren. Doch keiner erwartet uns drüben. 
Vielleicht wisset ihr, wohin fahren wir zwei? 

Mags brausen und brüllen und sieden und ^kochen- 
Mags stürmen und stürzen um uns her, 
Wir sind verlorne, verlassene Juden — 
Unsere brennende Wunde löscht nur das Meer. . . . 

Als Gegenstück zu diesem dtistem Gemälde 
möchte ich „Die Nachtigall zum Arbeiter" anfahren, 
ein Gedicht, worin Rosenfeld einen schönen Sonmier- 
tag in den buntesten Farben malt. Freilich 
brechen auch in diesem Gedichte Seufzer hervor, 
auch hier beemträchtigt die Tendenz den künst- 
lerischen Wert der Dichtung. Aber die künstlerischen 
Werte, die sie enthält, interessieren uns umsomehr, 
als sie von dem Natursinn Rosenfelds beredtes 
Zeugnis ablegen: 



385 



'^Samuel Meiseis, Charlottenburg: Moderne Jargonlyrik. 



386 



Schön Sommer ist heut, schön Sommer ist heut! 

Hörst du mein zärtliches Locken? 

Vom tiefblauen Himmel die Goldsonne blinkt, 

Luftvölkchen im Walde schmettert und singt, 

Froh summt es auf blQhenden Glocken. 

Es plaudert die Quelle und murmelt der Teich, 

Es prangen die Blümelein wunderreich. 

Schön Sommer ist jetzt, schön Sommer ist jetzt! 

Der Schmetterling tanzt in den Lüften, 

Der köstliche Silberregen sprüht, 

Es funkeln die Berge, von Golde umgltlht, 

Es wogt von wonnigen Düften. 

Und lustig erschallen Schäferschalmei'n, 

Der Hirt ruft die Hirtin zum Stelldichein, 

Die heilige Zeit ist ersehienen. 

Es ist kein Wunder, dass ein Dichter wie 
Bosenfeld im Ghetto Aufsehen erregte. Die ver- 
gleichende Kritik beschäftigte i^ch alsofort mit der 
Erörterung der Frage: Wer ist grösser — Frug 
oder Kosenfeld? So formuliert wurde eigentlich 
die Frage nicht, aber sie war aus der Antwort er- 
sichtlich, mit andern Worten: sie fragten nicht, 
weil sie bereits die Antwort fertig in der Tasche 
hatten. Im Grunde genommen lassen sich beide 
Dichter nicht miteinander vergleichen. Sie sind 
zwei verschieden geartete Lyriker. Ihre Wege 
gehen weit auseinander. Ich habe den Vergleich 
beibehalten, erstens weil er schon einmal gemacht 
worden ist, zweitens weil Frug und Rosenfeld die 



Hauptvertreter der modernen Jargonlyrik sind. 
Und wie lautete die Antwort der Kritiker? Die 
einen stellten ßosenfeld neben Frug, die andern — 
darunter einige deutsche jüdische &itiker — sogar 
über Frug. Schätzt man den rein künstlerischen 
Wert der Erzeugnisse dieser beiden Dichter genan 
ab^ so muss man meines Erachtens zu dem 
Schlüsse gelangen: Bosenfeld hat gar mächtige 
Akkorde angeschlagen; er hat Fnig übertönt, 
übertroffen hat er ihn nicht Ja, nicht einmal ihn 
ganz erreicht. 

Nach diesen Jargonlyrikem wären vor allen 
andern zu nennen: Abraham Reisen, ein stinmiungs- 
reicher Poet, der manchen hübschen Gedanken in 
den Goldreif eines schöngeformten Verses einfasst. 
Coleridge sagt, dass in einem Liede, wo der Satz 
musikalisch gebildet und wo in den Worten Rythmus 
und Melodie zu finden ist, da ist auch etwas Gutes 
in seiner Bedeutung. In diesem Sinne sind die 
Lieder Beisens gute Poesie. — Ch. D. Nomberg, 
ein überaus begabtes dichterisches Talent, dessen 
Gesänge gar oft an die Psalmen erinnern. — 
L. Jafffe, ein Verskünstler, der zwar von Frug ge- 
lernt hat, aber mitunter seine eigenen Wege geht. 
— J. Propus, ein Freiheitsdichter, der in seinen 
Liedern ffir Licht, Leben, Freiheit und Freude 
kämpft. — Ausserdem ist noch eine Beihe von 
Jargondichtem \orhanden, deren G^chte zumeist 
nur eine schlechtere Ausgabe von Frugs und Bosen- 
felds Liedern sind. 



Rbfd)ieösverfe 



von Iel)uöa l)a«Cevl — Ueberfe^ von Cmil Col)n. 



nad)dnid( verboten. 



I. 

(Dein Cieb, wir muffen uns fd)id^en, 
nun jd)ei5' id) aus 5em Zq\: 
Cag 5ir ins Rüge blid^en 
3um allerle^^en CDal! 

Id)*fürd)t', id) kann nid)t 3wingen 
Das Ber3 in fein Revier: 
ßeraus wirb es mir fpringen 
Unb laufen Y)\n\ex bir. 

II. 

ÖebenNe ber Zage liebenber Cuft, 

Unb id) will benken ber näd)te: 

Wie bu mir 3iebft burd) bie träumenbe ßruft, 

flud) id), aud) id) 

Durd) beine träume möd)te. 



III. 



ein (Deer von tränen 3wifd)en uns rollt, 
Id) kann nid)t l)inübereilen ; 
Dod) wenn beine Ciebe l)erüber wollf, 
- Die Wogen würben fid) teilen. 



IV. 



Id) lieg* im Grabe in tiefem träum, - 
Da Rlmgt ein Glöd^lein l)olbe, 
Das Glöd^lein l)ängt an beinern Saum, 
Das 0lö*lein ift von Öolbe. 

Du flüfterft I)ei6; „Id) grüfee bid), 
O Ciebfter bu, im Grabe!** 
Da t)aud) id) leife: Baft bu mid) 
So lieb, wie id) bid) l)abe? - 



387 



Jehuda ha-LevJt Abschiedsverse. 



388 



V. 

Du \)a\\ einen CDorö begangen, 
Darum verhiag' id) 5id): 
Deine roten Cippen unb Wangen, 
Die f ollen seugen ffir mid)! 

Deine roten Cippen unb Wangen, 
Was finb fie benn fo rot? - 
nun mu^ 5u fd)weigen unb bangen: 
(Dein Blut auf beinen Wangen, 
Das 3eugt von meinem tob. 

VI. 

Willft bu wirklid) meinen tob? 
Bd), id) bete nur um Ceben, 
Um es jung unb frifd) unb rot 
Deinen Jal)ren 3U3ugeben. 

Rul)lo9 meine näd)te finb 
Unb Du raubteft mir bie RuI)': - 
nimm fie l)in, bu liebes Rinb, 
Sd)lumm*re, fd)lumm're bu! - 

VII. 

RH meine tränen blieben 
Im Seuer beiner Cuft, 
RH beine Waffer 3errieben 
Die Steine in meiner Bruft. 

Durd) Seuer unb Waffer 3ufammen 
Sd)ritt mein 3ittembes Ber3: 
Das waren beine flammen, 
Das war mein weinenber Sd)mer3. 

VIII. 

Wie golbene platten mein liebenbes Ber3, 
So l)5mmem es beine Reben; 
Deine Bänbe aber bas leud)tenbe Crj, 
Das fd)neiben fie wieber 3u Säbenl 

IX. 
Rubin unb Sapl)ir: O Cippenprad)t 
Über fd)immember 3äl)ne Reib'n; 
eine Sonne Dein flntli^ bod) lo*ige nad)t 
Wirft fd)war3e Wolken \)\r\e\ru 



X. 

Rller Reid)tum biefer Welt 
Ist mir eitel trug, 
Deiner Cippen rote Sd)nur, 
Deiner Cenben Gürtel nur 
Wäre mir genug. 

RH mein füfeer ßonig fliegt 
Dort, wo id) bid) küfete 
(Deine narbe fid) ergiefet, 
Rlle meine CDv^bc fP^iefet 
Runb um beine Brüfte. 

XI. 

Der Srauen &f)te ift il)r ebles tun, 
Dod) alles Zun verebelt fid) burd) bid). 

XII. 

Unter beinen leid)ten Sügen 
Beimlid) füfee Reime fpriegen, 
Baifamknospe, (DYrrl)enblüt. 
<Död)te bod) mein Ceben glüAen 
nur fo lange, bis id) pflQd^en, 
Sel)en kann, wiejalles blül)t. 

XIII. 

Deine Stimme l)ör' id) nimmer, 
Rber leife l)or' id) immer 
(klingen wie ein fernes ÖrOfeen 
In ben tiefen meiner Seele 
Deine Rettd)en an ben Sfigen. 

XIV. 

Wenn bu bie erfd)lag*nen beiner Ciebe 
We*eft einft aus it)rer toten RuI)', 
Denke aud) in fanftem triebe 
(Deinet armen Seele Du. 

nur bir nad)3uget)n auf beinem pfabe, 
Ciefe fie einft bes Ceibes bunkle Zxu\f: 
Gib fie ibm 3urü* in beiner Önabe, 
Gib ibr Rübe, gib ibr Rub'! 



^ 



XV. 

(Dein ßer3 wirb bitter, 
Da es gebenkt: - 
nod) \)anQ\ ja, bS^gt 
fln ben Cippen bie Süfee, 
nod) fObr id) bie Rüffe, 
Die bu mir gefd)enkt. - 



389 



390 



Ol! JOSSEL MIT DEM FIEDEL 



(Nach einer jüdischen Volksmelodie.) 



Aus der Sammlung: LEO WINZ. 

Lebhaft. 



Nachdruck verboten! 



Begleitung von JACOB BEYMEL. 




moHoritf^ 



atempo 




Ol ! JOSSEL MIT DEM FIEDEL 



Zehn Brüder seinen mir gewesen, 

hobeA mir gehandelt mit Lein. 
Is einer gestorben, 

is geblieben nein. 
Oil Jossei mit dem Fiedel, 

Tewjeh mit dem Bass, 
spieltssche mir a Liedel, 

chotsch*) auf dem Mitten Gass. 



Nein Brüder seinen mir geblieben, 

hoben mir gehandelt mit Fracht. 
Is einer gestorben, 

is geblieben acht. 
Oi! Jossei mit dem FiedeU 

Tewjeh mit dem Bass, 
spieltssche mir a Liedel, 

chotsch auf dem Mitten Gass. 



Acht Brüdei seinen mir geblieben, 

hoben mir gehandelt mit Rieben. 
Is einer gestorben, 

is geblieben sieben. 
Oi! Jossei mit dem Fiedel. 

'T'ewjeh mit dem Bass. 
spieltssche mir a Liedel. 

chotsch auf dem Mitten Gasj«. 



*) chot8eh2= Wfim auch. 



*: 



391 



Oi! Jossei mit dem Fiedel. 



392 



Sieben Brüder seinen mir geblieben, 
hoben mir gehandelt mit Tschweks.*) 

Is einer gestorben, 
is geblieben sechs. 

Oi! Jossei usw. 



Sechs Brüder seinen mir geblieben,^ 
hoben mir gebändelt mit Strumpf. 

Is einer gestorben,! 
is geblieben fünf. 

Oi! Jossei usw. 



Fünf Brüder seinen mir geblieben, 
hoben mir gehandelt mit Bier.« 

Is einer gestorben, 
is geblieben vier. 

Oi! Jossei usw. 



Vier Brüder seinen mir geblieben, 
hoben mir gehandelt mit Blei. 

Is einer gestorben, 
is geblieben^drei. 

Oi! Jossei usw. 



Drei Brüder seinen mir geblieben, 
hoben mir gehandelt mit Hei (Heu). 

Is einer gestorben, 
is geblieben zwei. 

Oi! Jossei usw. 



Zwei Brüder seinen mir geblieben 
hoben mir gehandelt mit Steiner. 

Is einer gestorben, 
bin ich geblieben einer. 

Oi! Jossei usw. 



Einer bin ich geblieben, 

handel ich mit^ Licht. 
Starben tu ich jeden Tog, 

weil zu fressen hob ich nicht. 
OÜj Jossei usw. 



*) Tschweks = Nagel. 



DIE MILITAER-OESTELLUNG. 

Monolog von Scholem Alechem. 



Machdruck verboten 



„Von wannen ich fahr? Ach und Weh ist mir: ich 
fahr von der Militär-Gestellung. Das dort ist mein 
Sohn, der jmige Mann, der da ausgezogen auf der 
Bank liegt. Mit ihm fahr ich von Jehupez. Bin beim 
Advokaten gewesen, mit ihm zu beraten, und auf dem 
Wege habe ich bei Professoren gehorcht, was sie etwa 
sagen möchten. Eine Militär-G^tellung hat mir Gott 
zugeediickt ! Viermal habe ich dort gestanden und 
bin noch nicht fertig. Und gerade er ist ein einzigdiger 
Sohn, der einimdeinzigdige, ganz echt, wahrhaftig, 
koscher, mit einem vollkommenen Militärbefreiungs- 
Privileg... Was kuckt ihr mich an? Ihr glaubt nicht? 
Ihr mögt zuhören, mögt ihr! 

Das B^egnis von der Geschichte ist nftmlich die 
Mahsse*): Ich selbst bin ein Meseretscher von Mese- 
retsch. Geboren bin ich in Masepewka und zugeschrie- 
ben bin ich in Worotiliwka. Einmal bin ich nftmlich 
— nicht gedacht soll es heute werden ! — in Woroti- 
liwka ansässig gewesen. Heute aber wohne ich in 
Meseretsch. Wer ich bin und wie ich heiße, macht 
Euch wohl nicht viel aus, meine ich. Doch meines 
Sohnes Namen muß ich Euch sagen, denn das gehört 
zur Hauptsache, sehr sogar. Er heißt Itzig, das heisst 
Awrohom Jitzchok, aber man ruft ihn Alterchen. 
Den Namen hat sie ihm gegeben, meine Frau, sie 
soll gesund sehi, weil er ein Angstkind ist, ein ein- 
zigdiger, ein einundeinzigdiger. Das heißt, wir hatten 
außer ihm noch einen Jungen gehabt, um ein Jahr 
oder anderthalb jünger als jener, ihm zu längerek 
Jahren. Eisik hat er geheißen, Eisik. Ist ein Unglücn 
gekommen. Man hat ihn, nämlich Eisik, einmal aUein 
gelassen — ich bin damals, es soll nicht gedacht werden, 
noch ein Worotiliwkaer gewesen, das heisst ich hatte mich 
in Worotiliwka ansässig gemacht — und da hat er, 
nämlich Eisik, sich niedergesetzt und ist uinter den 
Samowar gekrochen und hat den siedigen Samowar — 
nicht für Euch soll es gedacht werden — auf sich ge- 
gossen und sich zu Tode gebrüht — jenem zu längeren 
Jahren. Von der 2^it an ist er, Itzig nämlich, das heisst 



♦) Sache. 



Awrohom ^Jizchok, unser] einzigdiger gewesen, und 
sie hat ihn verzogen, meine Frau, sie soU gesund sein, 
und hat ihm den Namen Alterchen gegeben. Werdet 
Ihr fragen: Wie heißt? Ein Einzigdiger, ein Einundein- 
zigdiger, was hat der mit der Militär- Gestellung zu tun? 
— Hört nur, das ist doch eben mein ganzer Verdruß ! 
Ihr glaubt vielleicht, er ist, Gott soll hüten, ein gesunder 
Jung, wie es einmal vorkommt bei Kindern die im 
Überfluß aufwachsen. Seid ihr auch im Irrtum ! Nicht 
zwei Groschen möchtet Ihr für ihn geben. Ein Ver- 
sehnis ist er, ein kranker Jung. Das heißt, krank, Gott 
soll hüten, ist er eigentlich auch nicht; aber gesund ist 
er gewiß nicht. Schade, er schläft jetzt, ich will ihn 
nicht wecken. Wenn er aufsteht, werdet Ihr sehen: 
ein Schatten von einem Menschen, Haut und Knochen, 
lang und schmal, ein Gesicht, wie die ausgespiene Feige, 
die Rabbi Zadok verschluckt hat, und eine Gestalt — 
Steins geklagt! — dünn wie ein Lulew, im ganzen 
nach ihr geraten, nach meiner Frau, sie soll gesund sein, 
auch hochgeschossen und mager. Nun frage ich Euch: 
brauche ich etwa an eine MiUtär-Gestellung zu denken, 
so lang und dünn wie er ist ? Und tauglich ist er auch 
nicht, und ein Befreiungsprivileg hat er ! 

Es ist zur Militär -Gestellung gekommen. Wie 
heißt „Befreiungsprivileg"? Was ist mit dem Befrei- 
ungsprivileg? Es fängt sich gamichts an. Und was war 
die Ursache? Ganz einfach: mein anderes Jüngelchen, 
Eisik, der sich als Kind — nicht für Euch soll es gedacht 
sein ! — mit dem Samowar zu Tode gebrüht hat, war 
nicht in der Matrikel gestrichen worden ; man hatte es 
vergessen! Bin ich hingelaufen ziun Kronsrabbiner, dem 
Schaute, und habe geschrien: „Halunke, Spitzbube, was 
habt ihr getan? Warum habt ihr meinen Eisik nicht aus- 
gestrichen? Fragt mich der Narr: Wer ist der Eisik 
gewesen? — Wie heißt? frag ich, Ihr wißt nicht, wer 
Eisik ist? mein Sohn Eisik, der den siedigen Samowar 
über sich gegossen hat? — Was für ein Samowar? fragt 
jener. — Guten Morgen, sag ich; Ein guter Kopf auf 
Euch ! So ein Kopf bt gut, Nüsse drauf zu knacken ! 
Wer kennt nicht die Geschichte von meinem Eisik, 
der sich mit dem Samowar zu Tode gebrüht hat 1 Ich 



3Q3 



Scholem Alechem: Die Militar-Oestellung. 



394 



verstehe nicht, was Ihr für ein Rabbiner in unserm 
Städtchen seid. Mit Schales'*') kommt man nicht zu Euch, 
dafOr ist ein Row da, lang soll er leben — solltet Ihr 
wenigstens Achtung geben auf die Gestorbenen! Zu 
was hat man Euch und Eure Taxen? — Endlich stellt 
sich heraus, ich habe den schönen Row ganz umsonst 
heruntergemacht; denn die Geschichte mit dem Sa- 
mowar war gamicht in Meseretsch passiert, sondern 
zu der Zeit, wo wir — nicht gedacht soU es heute werden 
— in Worotiliwka gewohnt haben. Das war mir ganz 
wie aus dem Kopf herausgeflogen. 

Kurz — was soll ich Euch erzählen ! — ich habe 
mich gerührt und umgetan, Papiere her, Papiere hin — 
mein Awrohom Jizchok, das heißt Itzig, den man 
Alterchen ruft, war um sein Privileg gekommen. Das 
ganze Privileg war fort. Ach und Weh und Gewalt ! 
Denkt Euch : ein einzigdiger Sohn, ein einundeinzigdiger, 
ganz echt, wahrhaftig, koscher, mit einem vollkomme* 
nen Militärbefreiungsprivileg — und keine Spur von 
einem Privileg! Nim geh und schrei um Hilfe und 
Erbarmen — aus! verfaUen! 

Wir haben aber doch einen großen Gott auf 
der Welt ! Geht mein AIterchen,das heisst Itzig, und zieht 
die höchste Losnummer 699!. Die Militärkommission 
hat sich gewiegt vor Freude. Der Vorsitzende selbst 
hat ihm einen Stoß in die Rippen gegeben und hat 
gerufen: Bravo, Itzig, tüchtiger Junge! Die ganze 
Stadt hat mich beneidet. Nummer sechshundertneim- 
undneimzig ! Was für ein Glück ! Masel tow, masel 
tow ! Mit Masel sollt Ihr leben ! Genau als wenn ich 
mit dem großen Los von 200000 Rubel herausgekommen 
wäre! 

Aber unsere Jüdchen ! . . . Wie man ist gekommen 
zur Untersuchung, sind auf einmal aUe wüste, finstere 
Krüppel geworden. Der hat den Fehler gehabt, jener 
hat plötzlich zu hinken angefangen, einem andern war 
es auf die Augen gefaUen, der hat das Pfeifen bekommen, 
bei jenem hat sich eine Wunde aufgetan, bei wieder 
einem bat sich, mit Respekt zu sagen, ein Aussatz auf 
dem Kopf gezeigt .... 

Kurz — was soll ich Euch lang erzählen — man 
ist bis zu meines Sohnes Nummer gekommen, xmd 
mein Itzig, das heisst Alterchen, hat sich nebbig gemußt 
zur Aushebung stellen. Bei mir in der Stube hat sich 
ein Gowein erhoben, oin Gewein und Geschrei. Finster- 
keit ! Meine Frau, sie soll gesund sein, legt die Welt ein, 
meine Schwiegertochter fällt in Ohnmacht. Wie heißt? 
Wo ist das erhört gewesen! Ein einzigdiger Sohn, 
ein einundeinzigdiger, ein ganz echter, wahrhaftiger, 
koscherer, mit einem vollkommenen Militärbefreiungs- 
Privileg, und kein Stückchen Privileg ! Und er, das heisst 
mein Sohn, ist ganz gleichgültig, als ginge die ganze 
Sache ihn nichts an. „Was wird sein mit Kol Jisroel, 
wird sein mit Heb Jisroel" sagt er. Nur der Magen 
zittert ihm dabei. 

Wir haben aber doch einen großen Gott auf der 
Welt! Der Doktor betrachtet meinen Itzig, das heißt 
Alterchen, mißt ihn aus in der Länge und in der Breite, 
beklopft ihn, bekuckt ihn, dreht ihn her imd hin und 
8agt:/„Er taugt nicht, der Himd", d. h. er taugt schon, 
nur zum Soldaten taugt er nicht. Er mißt keine dritte- 

) RituaUragen. 



halb Werschok in der Breite .. . . Wiedereinmal eine 
Freude, ein Jubel : Masel tow, masel tow ! Mit Masel 
sollt Ihr leben ! Die Familie ist zusammengekommen, 
man hat einander „lechajim"*) zugerufen, man hat Gott 
gedankt, man war die Gestellung los ! 

Aber unsere Jüdchen ! . . . Meint Ihr, es hat sich 
nicht ein Scheikez**) gefunden, der bei der Regierung an- 
gezeigt hat, ich hätte „geschmiert"? Was soU ich Euch 
sagen — noch nicht zwei Monate vorüber, kommt ein Pa- 
pier, worin mein Itzig, das heißt Alterchen, gebeten wird, 
er soll noch einmal zur Gestellung in die Gouvemements- 
stadt kommen, zur „Revision" heißt man das. Wie 
gefällt Euch die Mahße? Meine Frau, sie soll gesund 
sein, legt die Welt ein, meine Schwiegertochter fällt in 
Ohnmacht. Wie heißt ! Wie heißt ! zweimal zur Ge- 
stellung ein einzigdiger Sohn, ein einundeinzigdiger 
ein ganz echter, wahrhaftiger, koscherer, mit einem 
vollkonunenen Militärbefreiungs-Privileg ! 

jt Kurz — was soll ich Euch erzählen ! — wenn man 
zur Regierung gerufen wird, darf man nicht ausbleiben, 
muß man fahren. Sind wir zur Regierung gefahren. 
Bin ick herumgelaufen hin und her. Vidleicht hilft 
das Verdienst der Väter, ein gutes Wort, das, jenes. 
Geh, schrei ! Ich erzähle einem die Geschichte — ein ein- 
zigdiger Sohn, ein einundeinzigdiger, und nicht einmal 
gesund. — Der erhebt ein Gelächter. — Und mein Sohn? 
— Man hat schon schönere begraben, sagt er, eine 
Revision ist eine Lotterie, die reine Lotterie! 

Wir haben aber doch einen großen Gott auf der 
Welt! Man hat meinen Itzig, das heißt Alterchen, 
hineingeführt zu der Regierungsrevision und hat wieder 
von vom angefangen, ihn zu betrachten in der 
Länge und in der Breite, hat ihn wieder beklopft und 
bekuckt, gedreht hin und her. Was? Steins geklagt ! 
„Taugt nicht, der Hund?** Das heißt, taugen taugt 
er schon, nur zum Soldaten taugt er nicht. Einer hat 
widersprochen und gesagt „tauglich". Hat der 
Dokter geschrieen: „nicht tauglich". — Der sagt 
„taugUch", der sagt „nicht tauglich", tausch, nicht 
tausch, hin und her, bis der Gouverneur selbst sich 
von seinem Bänkchen erhoben hat, herankommt und 
sagt: „Ganz und gar nicht tauglich", das heißt, ertaugt 
auf 99 Kapores. — Hab ich sofort weggeschickt eine 
Depesche ! nach Haus in verstellter Sprache: „Masel 
tow, die Ware ist für vollkommen unbrauchbar erklärt.'* 

Jetzt muß ich noch einmal zu der Zeit zurück- 
kehren, wo ich — nicht gedacht soll es heute werden — 
in Worotiliwka ansässig gewesen bin, xmd mein Itzig, 
das heißt Alterchen, noch ein ganz kleines Kind ge- 
wesen ist. Kommt da eine Geschichte, etwas wie eine 
Revision in der Stadt. Von Stube zu Stube ist man her- 
umgegangen und hat aufgeschrieben von jedem. Klein 
bis Groß, wie er heißt und wie alt er ist, wieviel Kinder 
er hat, ob Jungen oder Mädchen, und wie man sie ruft* 
Ist man auch zu meinem Itzig gekommen^ fragen* 
wie man ruft ihn. Sagt meine Frau, sie soll gesund sein : 
,yAlterchen". Jener ist zufrieden und geht und schreibt 
auf: „Alterchen". 

Genau ein Jahr nach der MiUtärgestellung kommt 
eine neue Schickung : man sucht meinen Sohn Alterchen ; 
er soll, Gott erbarme sich, zur Gestellung kommen ia 



*; zum Wohl8ein.3 **) Scheusal. 



397 



Scholem Alechem EHe Militär-Oestellung. 



398 



Der eine sagt so, und der andere sagt so; was der 
eine sagt, bfilt der andere für falsch — meschugge 
könnte man werden. 

Der erste Advokat, den ich traf, war ein grober 
Kopf, ein stumpfer, trotz der großen Stirn mit einer 
mächtigen Glatze, wie um Lockschenteig darauf aus- 
zurollen. Er hat nicht einmal verstehen können, wer 
Alterchen ist und wer Itzig, und wer Awrohom Jizchok 
ist, und wer Eisik gewesen ist. Ich erzähle ihm noch 
einmal und noch einmal, Alterchen und Awrohom 
Jizchok imd Itzig sind ein Mensch, und Eisik ist der, 
der den Samowar über sich gegossen hat, als ich noch 
in Worotiliwka gewesen bin. Wie ich meine, daß ich 
mit ihm fertig bin, fragt er mich eine ganz neue Frage: 
„Sagt nur, wer ist der älteste, Itzig oder Alterchen oder 
Awrohom Jizchok?" — Hat man schon so was gehört ! 
Sag ich ihm: „Ich hab euch schon fünfzehn mal gesagt, 
daß Itzig und Awrohom Jizchok imd Alterchen ist 
aUes eine Person; das heißt, sein wirklicher Name ist 
Itzig, das heißt Awrohom Jizchok, nur rufen ruft 
man ihn, seine Mutter, meine ich, Alterchen. Seine 
Mutter hat ihn so verzogen. Und Eisik ist der, der den 
Samowar über sich gegossen hat, als ich noch ein Woro- 
tiliwkaer gewesen bin." — „Und wann", fragt jener, 
,4n welchem Jahr ist Awrohom Alterchen, ich meine 
Jizchok Eisik zur Militärgestellung gegangen?" — 
„Was schwatzt Ihr da?" frag ich, „was bringt Ihr^da 
durcheinander Qraupen und Borschtsch? Zum ersten 
Mal in meinem Leben treffe ich einen Jüd mit einem so 
goischkischen Kopf ! Man sagt Euch doch, daß Jizchok 
und Awrohom Jizchok und Itzig und ^ Eisik fi^und 
Alterchen, das ist alles ein Mensch!" 

„Scha", sagt er, „schreien Sie nicht so! Was 
schreien Sie?" . . . Verstehen Sie eine Sprach'? 
Nim soll er gar nicht recht haben! • . . Kurz, ich 
hab selbstverständlich ausgespuckt und bin weg- 
gegangen zu einem anderen Advokaten, der war ge- 
rade ein guter Kopf, ein talmudischer Kopf war er, 
nur ein wenig überchochem, überklug ein wenig. 
Er rieb sich die Stime und „lernte", den Text des 
Gesetzes lernte er, drehte sich, folgerte, zog Schlüsse, 
daß nach diesem und diesem Paragraphen war der 
Meseretscher Magistrat gar nicht berechtigt, ihn ein- 
zuschreiben. Dagegen, sagt er, ist vorhanden ein 
Gesetz, daß, wenn er hier eingeschrieben worden 
ist und dort nicht ausgeschrieben worden ist, so 
muß er ausgeschrieben werden; und wieder ist 
vorhanden eine „Kassation", daß er, wenn er hier 
eingeschrieben ist, und dort nicht ausgeschrieben 
wurde, so .... Kurz, so ein Gesetz und so ein 
Gesetz, so eine Kassation imd so eine Kassation; 
er hat mir „kassassiert" den Kopf voll, und ich 
mußte gehen zu einem dritten, mußte ich. Da 
hab ich gerade angetroffen auf einen Schlemiel, 
ein ganz junges Advokatchen, ein funkelnagelneues, 
das erst 'vor kurzem* sein „juris" beendet hat, ein 



sehr gutes Menschchen mit einem Züngelchen wie 
ein Glöckchen. Wie es scheint, lernte er sich reden, 
red^i lernte er sich; deim wenn er Isprach, merkt mans 
ihm an, daß ihm das Vergnügen machte, das Reden, 
heißt 'es. Also der wurde voll Begeisterung, hielt 
mir eine lange Predigt, so daß ich ihn unterbrechen 
mußte und sagen: „Alles sehr schön und fein" sehr — 
sag ich — „Sie haben vollständig recht, aber was 
nützt es mir, sag ich, daß Sie mich beweinen. Wozu 
beweinen Sie mich? Geben Sie mir lieber eine Eize, 
sag ich, was ich mit meinem Sohn machen soll, vielleicht. 
Gott behüte, ruft man ihn doch, vielleicht? 

Kurz, was soll ich Ihnen lange erzählen, ich kam 
endlich zu einem^richtigen, wirklichen Advokaten. Das 
ist, verstehen Sie mich, ein Advokat von den alten Ad- 
vokaten, ein Advokat, der einen Sachverhalt versteht, 
verstehen Sie mich. Ich erzählte ihm die ganze Ge- 
schichte von Aleph bis^Thow. Er saß^die ganze Zeit mit 
geschlossenen Augen und]hörte mir zu. " Dann meinte 
er: „Schon? Sind Sie fertig? Fahren Sie nach Hause, 
es ist Mumpitz,; mehr als dreihundert Rubel Strafe 
werden Sie nicht bezahlen." — „Das ist das Ganze? 
sag ich,'e, wenn es mit den dreihundert Rubeln getan 
wäre! Aber ich habe Maure für meinen Sohn, Maure 
hab ^ ich!" — „Was für Sohn?" — „Was heißt, sag 
ich, was für 'Sohn? Mein Alter, Itzig heißt es." — 
„Was hat dies alles, sagt er, mit Itzigen^zu schaffen?" 

— „Was heißt, sag ich, vieUeicht ruft man ihn wieder 
einmal?" — Er hat Jdoch, sagen*^Sie, ein weißes Billet?" 

— „Zwei, sag ich; hat^er, zwei." — „In diesem Falle, 
sagt er, was wollen Sie denn?" — „Wollen, sag ich, 
wUU ich gar nichts, was soll ich denn wollen? aber 
Maure habe ich, sag ich, denn man sucht jetzt Eisiken, 
und Eisik ist nicht da, und Alter^ Itzig heißt es, ist 
eingeschrieben"^ Awrohom -Jizchok, und Jizchok — 
so sagt unser Herr Rabbiner — ist Issak, und Issak 
ist Isak, und Isak ist Eisik; könnte^man, Gott behüte, 
glauben, daß mein Itzig, oder Awrohom- Jizchok, 
Alter heißt es, ist Eisik.** — „Nun,** was schadets, 
sagt er, was schadete? Im Gegenteil, desto besser, 
dann werden Sie überhaupt nicht bestraft. Er hat 
doch,T sagend Sie, ein weißes Billet." — „Zwei, sag 
ich, zwei weiße. Aber die hat doch Itzig, nicht Eisik." 

— „Sie sagen doch, sagt er, daß Itzik ist Eisik?" — 
„Wer sagt das, sag ich, daß Itzig ist Eisik?" — „Sie 
haben es doch selbst gesagt?" — „Ich, sag ich, wie 
konnte ich so was gesagti^ihaben? Wie kann ich sagen, 
sag ich, daß Itzig ist Eisik, wenn Itzig ist Alter, und 
Eisik ist der, der den kochenden Samovar auf sich 
umgestürzt hat, zur Zeit als ich noch ein Worotiliwkaer 

war, in Worotiliwka heißt es" Er, der Advokat, 

wird rot wie ein Feuer und befiehlt mir, zu gehen: 
Entfernen Sie sich, sagt er, Sie langweiliger Ebräer, 
sagt er ! .... Verstehen Sie, was das heißt? ich bin 
ein langweiliger Jüd, heißt es. Haben Sie Worte? 
Ich und langweilig?! Ich!... 



399 



400 



AUS DEN ALTEN GEMEINDEN. 

Von'^Leon Scheinbaus-Memel. 
(Schluss.) 



Nachdruck verbouso 



II. 

Statutenordnung einer Gemeinde. 

(Nach S. J. Pin »Kiriath Sofer" — Geschichte 
der jüdischen Gemeinde zu Wilna, p. 33—42. 
ed. WUna 1860.) 

Rabbinat, Vorstand und Leitung derJGemeinde 
konstituierten sich in den froheren Jahren Jolgender- 
massen: 

^3^1. An der Spitze /der Gemeinde stand der 
Kabbiner, er wai* Vorsitzender des Rabbinats, zu 
dem 12 Beisitzer (besoldete Dajonim) und das 
Gemeindekollegium gehörten. Der Rabbiner, dessen 
Oberaufsicht sämtliche Gemeindeangelegenheiten 
unterstellt waren, wurde immer von einer Ver- 
sammlung der Gemeindemitglieder auf drei Jahre 
gewählt. 

Nachstehende Abschnitte aus einem Vertrag 
der Wilnaer Gemeinde mit ihrem Rabbiner vom 
Jahre (5468) 1708 geben uns ein Bild vonjder 
Stellung und den Aufgaben des Rabbiners : 

a. (Absatz 3). Wenn die Vorsteher den 
Rabbiner zu einer Sitzung oder zu einer Versamm- 
lung einladen, so muss er der Einladung unverzüg- 
lich nachkommen ; er darf namentlich nicht zurück- 
bleiben, wenn eine wichtige Rechtsfrage den Gegen- 
stand der Tagesordnung bildet Seine Pflicht ist 
es, darauf zu achten, dass er nicht zu Beschwerden 
einzelner Mitglieder gegen die Gemeindeverwaltung 
und das Rabbinat Veranlassung gibt, dass er 
Rechtssprüche fällt nach Vorschrift, sei es gemein- 
schaftlich mit dem Gemeinderat, sei es in Zivil- 
prozesssachen mit den Rabbinatsassessoren (Dajonim), 
ohne Rücksicht auf Krittler und Rüttler jeder Art, 
selbst nicht auf die Stimmung einer ganzen Ver- 
sammlung, wenn die Meinung eines einzelnen die 
richtige und mit dem Gemeindestatut vereinbar ist. 
Die Vorsteher, die Vertrauensmänner, die Beamten 
und das gesamte Kollegium sind verpflichtet, dem 
Wort des Rabbiners zu folgen. 

b. (Absatz 4). In die Geschäftsführung der 
Gremeinde, Einschätzungen, Erhebungen und Aus- 
gaben, Verpachtung des Gemeinde Vermögens, darf 
der Rabbiner sich nicht einmischen ; nur wo es sich 
um Abschluss des Pachtvertrages handelt, hat auch 
der Rabbiner Sitz und Stimme in der entscheiden- 
den Versammlung. Beschlüsse werden nach Stimmen- 



mehrheit gefasst; aer Rabbiner unterzeichnet mit 
dem Gemeindekollegium zusammen die Beschlüsse. 

c. (Absatz 5.) Will die Gemeinde eine neue Steuer 
erheben, eine neue Ausgabe auf sich nehmen oder 
neue Anordnungen treffen, die gegen die Gemeinde- 
satzungen sind, so muss der Rabbiner, wenn auch 
nur einer aus der Versammlung sich mit der 
Motivierung dagegen ausspricht, die Neuerung sei 
gegen das Gemeindestatut, für den einen Partei er- 
greifen und die geplante Einrichtung verhindern. 

d. (Absatz 11). In Zivilprozesssachen ist der 
Rabbiner nicht verpflichtet, mit im Richterkollegium 
zu sitzen, die Rabbinatsassessoren dürfen auch ohne 
ihn urteilen, und der Rabbiner muss deren Urteils- 
spruch als vollkräftig gelten lassen, ohne ein Jota 
daran zu ändern. Wenn jedoch bei der Verhand- 
lung eine Partei, mag es sich um eine geringfügige 
Sache handeln, die Anwesenheit des Rabbiners 
durchaus wünscht, darf der Rabbiner sich nicht 
zurückziehen. 

e. (Absatz 12). Der Rabbiner hat überall nur 
eine Stimme, bei Stimmengleichheit entscheidet sein 
Votum. Laden die Kontrolleure der Statuten den 
Rabbiner zu ihren Sitzungen ein, so ist er ver- 
pflichtet, zu erscheinen. Wenn sie einen Paragraphen 
des Statuts streichen wollen, so wird durch die 
Mehrheit entschieden. Der Rabbiner kann nur 
dann die Streichung verbieten, wenn sie gegen die 
Landessatzung ist; wollen sie aber einen neuen 
Satz einfügen, so kann der Rabbiner im Verein mit 
zwei Gemeindemitgliedem das hindern. 

f. (Absatz 13). Eine Erläuterung oder einen 
Kommentar zu einer statutarischen Bestimmung 
kann der Rabbiner von sich selbst nicht einsetzen, er 
bedarf hierzu der Bestätigung der Landessynode. 
Ist ein Fall weder in den Landessatzungen noch in 
den Statuten der Gemeinde vorgesehen, so soll der 
Rabbiner in Gemeinschaft mit zwei Gemeindemit- 
gliedem, zwei Versammlungsvorstehem, zwei Re- 
präsentanten und zwei Rabbinatsassessoren, die mit- 
einander nicht verwandt sind, die Entscheidung 
treffen. 

g. (Absatz 15). An einem Wahlakt in den 
Mittelfeiertagen, an der Wahl von Wahlmännern 
zur Einschätzungskommission usw., darf der Rabbiner 
sich nicht aktiv beteiligen, weder für noch gegen 
einen Wahlmann Stellung nehmen. 

h. (Absatz 16). In der Landessynode darf der 
Rabbiner keinen Beschluss unterzeichnen, der gegen 



401 



Leon Scheinhaus-Memel : Aus den alten Gemeinden. 



402 



das Interesse seiner Gemeinde, einzelner oder vieler 
Mitglieder wäre, ohne sieh mit dem Vorsteher 
seiner Gemeinde ins Einvernehmen gesetzt zu haben. 

i. (Absatz 20). Die Ordination des „Kandidaten" 
erteilt der Rabbiner mit den Gemeindeältesten 
zusammen (wenn es mit den Landessatzungen ver- 
einbar ist). 

•Bei Erteilung des Morenu-Titels hat der Rabbiner 
die vier Gemeindevorsteher und die Repräsentanten 
einzuberufen, die bereits nach Landessatzung mit 
dem Morenu-Titel versehen sind, auch die beiden 
ältesten Rabbinatsassessoren. Diese halten zn* 
sammen im Haus des Rabbiners oder im Gemeinde- 
haus Sitzung und beschliessen nach Stimmenmehr- 
heit. In jedem Fall dürfen sie den Morenu-Titel 
nur nach Landessatzung verleihen, und nicht dem 
der nicht die jüdische Rechtslehre (Jorel-deah, 
Choschen-Mischpot) gelernt hat, wenn er, auch den 
Talmud wohl kennt. Bei einem älteren Herrn, der 
mindestens 10 Jahre verheiratet ist, wird nicht so 
streng verfahren. 

2. Aus dem Kreia der Gemeindemitglieder wurden 
die sogenannten ;,Männer der Versammlung^ aus- 
erwählt, aus denen die Vorsteher, Repräsentanten 
usw. zur gesamten Leitung der Gemeinde gewählt 
wurden. Zur Versammlung wurden überhaupt nur 
die zugelassen, die den Morenu- oder auch Chober- 
titel besassen oder eine bestimmte Zahl Jahre ver- 
heiratet waren. 

3. Die Ernennung zu einem Gemeindeamt erfolete 
in der Regel stufenweise: I. Klasse: Vize- Vorsteher 
oder Vize -Repräsentant. n. Dajan (Rabbinats- 
assessor) bei einem Verein oder ehrenamtlicher 
Beisitzer bei dem Gemeinderichterkollegium. III. 
Vorsteher der Zdoko Gdoulo oder Dajan der 
Gemeinde. IV. Gemeindehaupt V. die Besten 
der Gemeinde (die eigentlichen Repräsentanten). 
VI. (höchste Klasse). Vorsitzender der Landessynode 
oder Vorsitzender der Gemeinde. Nur selten und 
unter genau vorgesehenen Umständen kam es vor, 
dass ein Gemeindemitglied ausser der Reihe zu 
einem höheren Amt gelangte. — Ausser den er- 
wähnten Aemtem gab es noch das der Kontrolleure 
der Statuten und nach diesen das der Hüter des 
Statuts. (Beide Aemter sind, das was wir etwa als 
Protokollführer und Revisoren bezeichnen). 

i. Die Neuwahl land nach einer bestimmten, im 
Lauf der Zeit nur unwesentlich umgestalteten 
Ordnung aus dem Jahre 1608 statt. Vor Beginn 
des Monats Kislew wurden fünf Wahlmänner be- 
zeichnet, die die eigentlichen Ordner waren. Diese 
trafen Vorbereitungen zur Hauptwahl, die immer 
in den Mitteltagen des Osterfestes stattfand. Schon 
vor dem Passahfest wurde der Wahlakt vom Schrift- 
führer vorbereitet, die Zettel, auf die Namen der 
berechtigten Mitglieder lautend, wurden ausgefertigt, 
und in die Wahlbüchse gelegt; am ersten 
Mittelfeiertag, gleich nach Beendigung des Morgen- 
Gottesdienstes , hatten sämtliche Vorsteher und 
Führer, auch der Rabbiner und der Schriftführer, 
sich im Gemeindehaus zu versammeln, um den 



Wahlakt zu überwachen. Fünf Vertrauensmänner 
entnahmen aus der Wahlbüchse nacheinander fünt 
Zettel. Die auf diesen stehenden Namen sind die 
der fünf Wahlmänner. Die Wahlmänner, die sofort 
ins Gemeindehans berufen wurden, ernannten die 
vier Vorsteher, zwei Vorstehe der Landessynode, 
vier (Tuwim) Repräsentanten, drei Häupter, vier 
Rechnungsrevisoren und zwei Versammlungs Vorsteher ; 
zusammen 19 Männer, die die Verwaltung der 
Gemeinde bildeten, ausserdem noch vier Vorsteher 
der Zdoko-Odouloh (Armenunterstützung und 12 
Dajonim. 

5. Die Hauptarbeit der Gemeindeverwaltung be- 
stand in der Steuereinschätzung, in der Einteilung 
der verschiedenen Kaufmanns- und sonstigen Kate- 
gorien, und in der Aufsicht über die Handelsver- 
hältnisse. Steuerpflichtig waren sämtliche Handels- 
artikel, die Kreditgeschäfte, jeder Gewerbebetrieb 
und jedes Handwerk. Die Einziehung der Steuer- 
beiträge geschah direkt durch Vertrauensmänner 
der Gemeinde und durch bestellte Pächter, die die 
verschiedenen Steuerartikel in Pacht nahmen. Zur 
Bemessung des Steuerbeitrages wurden Einschätzungs- 
mitglieder gewählt, die die Einschätzung durch ge- 
heime Stimmabgabe zu vollziehen verpflichtet waren, 
unter strengem Verbot jeder persönlichen Rücksicht- 
nahme. Waren sie zu diesem Amte gewählt, 
so mussten sie total isoliert im Gemeinde- 
zimmer ihre Sitzung abhalten und durften nicht 
einmal während der Tagung nach Hause zu ihren 
Familien gehen. Ihnen lag ob, jeden Beitrags- 
pflichtigen zu vereidigen. In der Steuerquote vom 
Gewinn aus Handel und Handwerk war jeder 
Beitragspflichtige verpflichtet, den Vertrauens- 
männern oder den Pächtern seinen Nettoverdienst 
anzugeben. Alle Handelsgeschäfte waren von der 
Gemeinde abhängig. Die Gemeindeverwaltung 
durfte einem jeden zum Handel und Gewerbe Er- 
laubnis erteilen, sotem er einen bereits bestehen- 
den Geschäftsbetrieb nicht schädigte. Jedem 
Handwerker war verboten, selbst innerhalb seines 
Berufs, ein Fach ausserhalb seines Handwerks zu 
ergreifen. 

6. Jedes Vierteljahr mussten die „Männer der 
Versammlung** im Gemeindehaus zu einer Sitzung 
zusammentreten, um die Gemeindeangelegenheiten 
zu besprechen und zu beaufsichtigen. Wenn die 
Vorsteher der Versammlung diese nicht einberufen 
hatten, versammelten sich die Mitglieder von selbst. 
Wenn 20 Mitglieder zusammen kamen, galt die 
STersammlung für ordnungsmässig und beschluss- 
fähig, als wenn die Mitglieder vollzählig erschienen 
wären. 

7. Die Dajonim, unter dem Vorsitz des Rabbiners, 
hätten die Schätzung der Grundsteuer vorzunehmen, 
die Stände in der Synagoge zu vergeben usw. Ge- 
meinsam mit dem Gemeindeschriftitihrer und dem 
Gemeindediener gaben sie allen vor ihnen ge- 
schlossenen Kaufverträgen etc. Kraft und Geltung. 
Unterstützt von der gesamten Gemeindeverwaltung, 
halten sie auch die Richtigkeit der Masse streng 



Leon Scheinhaus-Memel : Aus den alten Oemeinden. 



Soldatensplele im Park. (Zum Anikci „J«iidc ii 



ZU beobacliten, und mit grosster 
Strenge gegen die Förderer 
der Teuerung der Marktpreise 
vorzugehen und eine Preis- 
steigerung zu verliindern. 

8. Alle 3 Jahre fand die 
Landesversammlung (Landes- 
synode) an einem zu be- 
stimmenden Ort statt. Der 
Landesversammlung gehörten 
an die 5 Hauptgemeinden Li- 
tauens : Brest, Gi-odno, Wilna, 
Pinsk und Siuzk nebst allen 
umliegenden kleineren Ge- 
meinden. Jedoch in den 
Gemeindeverordnungen aus 
dem Jahre 1608 lesen wir; 
Da die Jahre und die Ver- 
hältnisse nun nicht in der Ord- 
nung sind und es nicht mehr 
möglich ist , Landessynoden 
alle 3 Jahre zu .stände 
zu bringen, wie von alters 
her angeordnet war , so ist 
in der Gemeindeversammlung 



Turnen am Rundlauf in der Tumballe. 



der ßeschluss gefasst worden, 
Wahhuänner aus der Ver- 
sammlung hervorgehen zu 
lassen, um „Kontrolleure der 
Statuten" zu ernennen, die 
die alten herkömmlichen Ver- 
ordnungen bewachen und er- 
neuern sollen, damit der 
geistige und moralische Stand 
unserer Gemeinden auf seiner 
alten Höhe bleibe. 



So haben es unsere Vor- 
fahren vor 2—3 Jahrhunderten 
in Littauen und ganz genau 
ebenso früher in den Ländern 
Mitteleuropas verstanden, ihr 
Gemeindewesen vergleichs- 
weise mustergültig zu ordnen. 
Das Gemeindeleben war ihnen 
gegen jede öeberschwemmung 
von aussen her ein mUchtiger 
Damm und Schutz 



JEDIDE ILMIM. 



Frennde der Tanbstnmmen — ihre Zahl ist Legion! 
Helfer der Taabstammen — ihrer sind nicht genug! 

Doch die kleine Zahl bat schon bemerkenswertes 
geleistet, und sie wird sich stattlich mehren, sobald man 
in der breitereu Oeffentlicbkeit von ihrem gesegaetfin 
Wirken hört, — Im Jahre 1884 ist der Verein „Freunde 
der Tanbstnmmen — Jedide Ilmim" gegründet worden, 
Im Jahre 1889 bat er in Berlin -Weissensee die nnter 
der trefflichen Leitnog dea Herrn Direktor M. Reich 
stehende An- 
stalt, die wir 
anaem Le- 
iern im Bilde 
vorfuhren, 
errichtet. : 
Heute wer- 
den in dieser 
Anstalt 48 
tanbstamme! 
Kinder, 25 
Knaben und 
23 Mädchen, 
erzogen, zn 

arbeite- 
Ahigen und 
arbeitsfrohen 
Menschen 
herangebil- 
det Hier ler- 
nen die Taub- 
stummen 
„sprechen", 
werden sie 
einem Hand- 
werk ÜU- 
gefQhrt: hier 
geschieht 



IV. Klaaae der Taubttummcn-Schule mit dem Lehrer. 



das Mifglicbe, ihnen über den angeborenen Mangel 
hinwegzuhelfen, dessen üble Folgen ganz zn beseitigen 
oder wenigstens zur Erträglichkeit zn verringern. 

Der Verein hat 3000 Mitglieder, davon 1200 in 
Berlin; eine stattliche Zahl, und doch nicht genug! — 
Seine einmaligeu Einnahmen betrugen im vergangenen 
Jabre Mark 21 396,75. seine dauernden Einnahmen Mark 
31 679, aus dem Vorjahr hatte er einen Barbestand 
von Uark 6 272,81 übernommen. Die Höhe der einma- 
ligen Einnah- 
men, die nur- 
bis KU Mark 
14294,45 von 
einmaligen 
Ausgaben in 
Anspruch ge- 
nommen wur- 
den, gestat- 
tete ihm, die 
dauernden 
Ausgaben 
auf Mark 
35 015,81, 
d. h. über 
die dauern- 1 
den Einnah- 
men hinaus - 
zu normie- 
ren. Er war 
gleichwohl 
in der Lage, 
mit einem 
Barbestand 
von Mark 
10 221,55 in 
das neue Jahr 
einzutreten. 



Der Artikulationsunterricht in der 
unterBten Klaue. 

Du Abtühlen der Laut» vom Kchlliopf dtr Lehrerin 



Die Verwaltung gewann 
sogar den Mdt, der 
von schOnem Vertrauen 
zn der ständigen Opfer- 
willigkeit unserer Glau- 
bensgenossen 2Sengnis ab- 
legt, sein Aufgaben- 
gebiet noch zu erweitem: 
die Fürsorge für die 
Zöglinge über die Ent- 
lassung aus der Anstalt 
hinaus auf die ganze 
Lebenszeit ausza dehnen. 
Wer einmal in der Anstalt 
gewesen, der soll sie 
immer als Beraterin und 
Helferin anrufen dürfen. 
Auch sonst ist eine 
Ausdehnung des Instituts 
In Aussicht genommen, 
bis für alle taubstammen 
jüdischen Kinder Deutsch- 
lands Kaum geschaffen ist. 
Unseren Lesern sei die 
Teilnahme an dem Verein 
und die Förderung seiner 
Ziele herzlich empfohlen. 



SpracbCbung in der n. Klaate. 
Lehrer Meyer. 



407 



408 



MITTEILUNGEN AUS DEM DEUTSCHEN BUREAU 
ZZl DER ALLIANCE ISRAELITE UNIVERSELLE. CZ 



T"! (Berlin N. 24, Oranienbui^erstr. 42/43 1). 



DAS RUMAENISCHE HILFSWERK. 



Nachdruck verboten. 



An der Lage in Rumänien hat sich bedauer- 
licherweise nicht viel geändert. Zwar die Unruhen 
mit ihren groben Ausschreitungen haben aufgehört. 
Aber die weit gröblicheren Ausschreitungen der 
Regierung dauern fort. Das Ministerium Sturdza^ 
Bratianu bleibt der Politik treu, die nicht die 
Politik einer einzelnen Part<>i, sondern die rumänische 
Politik ist. Was immer im rumänischen Staate 
sich ereignen mag, das dient zum Verwand für 
eine neue vexatorische Handhabung der Oesetze 
gegenüber der jüdischen Bevölkerung. So von 
Grund aus verderbt und verrottet ist das fsanze 
politische Leben in Rumänien, so völlig verkehrt 
sind alle Begriffe von Recht und Grerechtigkeit, 
dass sogar die Opfer der rumänischen Justiz- 
verhöhnung bereits zufrieden sind, wenn diese Justiz- 
verhöhnung nur keine neue Form an^^mt, keine 
neuen Schleich- und Umwege einschlägt. Ein aller 
Menschlichkeit Hohn sprechendes Gesetz macht in 
einem grossem Teil Rumäniens für die jüdische Be- 
völkerung die Erlaubnis zur Niederlassung in länd- 
lichen Gemeinden von einer Unzahl Bedingungen 
abhängig, die nur sehr schwer zu erfüllen sind. 
Hat aber hier und da ein jüdischer Rumäne durch 
keine Verleumdung und keine Gewalt von der Er- 
langung der Niederlassungserlaubnis abgeschnitten 
wenlen können, so weiss der bojarische Witz, der 
nach dieser Richtung unerschöpflich ist, immer 
wieder neue Mittel zu finden, den Armen um sein 
Heimatsrecht zu bringen. Ist es doch vorgekommen, 
dass jüdische Männer zur Bekämpfung des jüngsten 
Bauernaufstandes unter die Fahnen gerufen wurden 
und noch unter den Fahnen erfahren mussten, sie 
seien ihres Niederlassungsrechtes verlustig gegangen, 
weil sie ihren Wohnsttz „aufgegeben" hätten 1 Sie 
hatten ihn aufgegeben, um mit der Waffe in der 
Hand die Bojaren gegen die Bauern zu schützen. 
In anderen Bezirken haben antisemitische Barbaren 
im Präfektenamt das Mittel ersonnen, ein schwer 
erkämpftes Niederlassungsrecht zunichte zu machen 
dadurch, dass sie die Bauern der betreffenden Ge* 
meinden erklären Uessen: der jüdische Mann ver- 
kaufe ihnen seine Waren zu teuer und bezahle 
ihnen ihre Waren zu billig. Das Verstösse gegen 
die guten Sitten, der jüdische Kaufmann sei somit 
kein ehrsamer Eaufinann mehr und erfülle nicht 
länger die Bedingungen, unter denen er in die 
Landgemeinde zugelassen wurde! 

Die Rumänen lieben es, sich die Franzosen 
des Ostens zu nennen. Das ist eine freche Be- 
leidigung der Franzosen, gegen die die französische 
Presse laut und einmütig Protest erheben sollte! 

Das Hilfswerk tür unsere bedrängten Glaubens- 
genossen in Rumänien ist nach dem Antrag der 



Alliance Israölite Universelle unserem Schwester-^ 
Institut, der Israelitischen Allianz in Wien, über- 
tragen worden. Das ist von vornherein in Absicht 
gewesen, schon weil Oesterreich das Nachbarland 
des rumänischen Verfolgungsbezirkes ist, sodann 
weil auch sonstige österreichische Interessen vor- 
zugsweise in Rumänien engagiert sind. Es ist 
niemals ein Zweifel gewesen, dass diese Ordnung 
der Dinge die beste sein würde, sie lag in den 
Verhältnissen und zwang sich beinahe auf. Neben 
den eigenen Vertrauensmännern und Beamten stehen 
der Israelitischen Allianz in Wien die der Alliance 
Israölite Universelle und der Jewish Colonisation 
Association zur Verfugung, die mit den rumänischen 
Verhältnissen und Personen genau vertraut sind. 

Am 5. Mai kamen Vertreter der Alliance 
Isra61ite Universelle, der Deutschen Conferenz- 
Gtemeinschaft der Alliance IsraöUte Universelle, des 
Frankfurter Hilfiscomit6s für die osteuropäischen 
Juden, — des Hilfsvereins der deutschen Juden 
und der Israelitischen Allianz in Wien zu einer 
Besprechung zusammen, in der die vorher tatsäch- 
lich bereits beschlossenen Massnahmen bestätigt 
und ausserdem die Summen bezeichnet wurden, die 
man für das rumänische Hilfswerk zunächst zur 
Verfügung steUen wollte. Auch Vertreter der 
rumänischen Lokal-Comit6s sowie die Vertrauens- 
männer der Alliance Israälite Universelle und der 
Jewish Colonisation Association in Rumänien waren 
zur Besprechung zugezogen worden, die unter dem 
Vorsitz des Herrn Ritters von Gutmann, Vorstehers 
der Israelitischen Allianz, viele Stunden währte. Es 
wurde mitgeteilt und mit allgemeiner Freude ange- 
nommen, was unsere Leser bereits aus dem vorigen 
Heft wissen, dass die I. C. A« sich entschlossen 
hat, die Organisation und Leitung des rumänischen 
Auswanderungswerkes ganz allein in die Hand zu 
nehmen und auch die Kosten allein zu bestreiten. 
Mit grosser Befriedigung wurde die Mitteilung ent- 
gegengenommen, dass die frühere rumänische Aus- 
wanderung nach Amerika den erhebendsten Beweis 
für ihr glückliches Gelingen und ihren guten Erfolg 
gegeben hat, indem Rumänen, die in Amerika eine 
neue Heimat gefunden, für ihre in der Heimat 
heimgesuchten Brüder stattliche Beiträge, 8U00O Fs., 
geschickt hatten. Man erfuhr femer, dass die wohl- 
habenden rumänischen Israeliten, trotz der schweren 
Verluste, denen sie selbst ausgesetzt gewesen, sich 
beeilt hatten, freiwillig neue Opfer auf sich zu 
nehmen, um den Aermeren beizustehen. In 
den Kassen der lokalen Hilfscomit^s waren von 
diesen Geldern ausser den oben erwähnten 
80000 Frs. noch 25000 Frs. vorhanden. Der 
Israelitischen Allianz in Wien wurden insgesamt 



409 



gMitteitungen der Alliance Isra^Hte Universelle: Das rumänische Hilfswerk. 



410 



500000 Frs. flir2:das HUfswerk zar Verfflgang 
gestellt. Da 105000 Frs. aus Amerika und Ru- 
mäuien selbst vorhanden waren, so musste zunächst 
nur noch fftr 395000 Frs. gesorgt werden. Die 
Alliance Isra^lite Universelle und die Israelitische 
Allianz in Wien äbernehmen hiervon die Hälfte, 
ein Viertel wird das eußrlische Hilfscotnitee tragen, 
mit einem Sechstel will sich der Hilfsverein der 
deutschen Juden beteiligen, mit einem Zwölftel das 
Frankfurter Hilfscomitee für die osteuropäischen 
Juden. Was die Alliance Israälite Universelle und 



die [sraelitische Allianz in Wien zur Bekämpfung 
der Tagesnot vorweg geleistet haben, wollen sie 
auf ihren Anteil nicht verrechnet wissen. Die Hand- 
habung des Hilfswerkes steht ausschliesslich bei der 
Israelitischen Allianz in Wien, die sich der be- 
stehenden lokalen Hilfs-Gomitees bedient, um das 
Maass der zu leistenden Entschädigungen festzu- 
stellen, und ausserdem, wenn sie es für nötig hält, 
ein von ihr zu berufendes Comitee von kundigen 
Männern zu Informationszwecken heranzieht. 



DAS ACKERBAU -WERK. 

Spezialbericht an die A I. U. 



Nachdruck verboten. 



I. Die Ackerbauschttle in Jaffa. 

;Wie üblich, geben wir hier ausführliche Auszüge 
aus dem Jahresbericht, den der Direktor dem Central- 
Comit^e über das Ackerbau- Werk für 1905/06 erstattet 
hat: 

Ich erwähne wie alljährlich die hauptsächlichen 
Vorkommnisse, die sich auf unser Internat und unsere 
praktischen Versuche in dem eben abgeschlossenen 
Erntewirtschaftsjahr beziehen. 

Unterricht der Zöglinge: Unsere An- 
stalt hat eine Oaseinsberechtigung nur dann, wenn 
sie den von ihren Begründern vorgezeichneten Zweck 
erfüllt: für die in Palästina niedergelassenen Kolo- 
nisten als Mustergut und als Versuchsschule zu dienen, 
körperlich und beruflich die jüdische Jugend durch 
Einimpfung des Geschmacks an der Landarbeit zu 
regenerieren. Darum beginnen wir die Darlegung der 
Entwicklung unserer Schule mit dem Kapitel, das von 
den Zöglingen handelt, den Hauptinteressenten an 
unserem Werk. 

Zahl der Zöglinge: Am 31. Oktober 1905 
hatte unsere Schule 72 Zöglinge. Im Lauf des Jahres 
wurden 19 aufgenommen, 33 entlassen, sodaß am 
31. Oktober 1906 eine)Zahl von 58 geblieben war, die sich 
durch 27 Neuaufnahmen auf 85 hob. Drei von unseren 
Zöglingen sind Muselmanen. Ich bemerke bei diesem 
Anlaß, daß die muselmanischen Familien auf das drin- 
gendste die Zulassung ihrer Söhne erbitten, weil unsere 
Ackerbauschule die einzige in der ganzen Gegend ist. Das 
Central-Comit6 hat dieAufnahme als vereinzelte Vergüns- 
tigung gestattet. Von den entlassenen 33 Zöglingen 
hatten 5 den 5jährigen, 1 einen 4jährigen, 13 einen 
3jährigen Schulkursus durchgemacht, 12 waren 2 Jahre, 
2 nur 1 Jahr bei uns geblieben. Die 5 Zöglinge, die den 
ganzen Kursus durchgemacht haben, sind im Ausland 
untergebracht worden. Von den 28 anderen waren 8 
Söhne von Kolonisten. Sie sind gemäß dem neuen 
Reglement nach 2jähriger Übungszeit zu ihren Eltern 
zurückgekehrt, 5 mußten aus Gesundheitsrücksichten 
entlassen werden. Aus besonderen Anlässen wurden 5 
Zöglinge von den Eltern heimgerufen, 7 zeigten sich für 
die Landwirtschaft ungeeignet, und 3 mußten wegen 
schlechter Führung fortgeschickt werden. 

Versorgung der abgehenden Zög- 
linge: Zur Zeit der Gründung der Kolonien in Pa- 



lästina und der Schaffung neuer Landwirtschaftsschulen 
— die Alliance entschloß sich damals, diese Schulen mit 
technischem Personal auszustatten — hatten meine 
Vorgänger keine Schwierigkeiten, ihre abgehenden 
Zöglinge unterzubringen. Die einen fanden Anstellung 
bei den mit der Landwirtschaft noch wenig vertrauten 
Kolonisten. Später verwendete die I. C. A. mehrere 
in ihrer Verwaltung. Alljährlich nahmen Sie eine ge- 
wisse Zahl in das agronomische Institut auf. Die 
andern wurden meist in Egypten untergebracht, als 
Angestellte bei den israelitischen Großgrundbesitzern. 
Diese Plätze sind aber immer seltener geworden. In 
den Kolonien haben die Ansiedler kaum Arbeit genug 
für die eigenen Kinder und die zahlreichen russischen 
Zuwanderer. Die I. C. A. vermindert von Jahr zu Jahr 
die Zahl ihrer Verwaltungsbeamten. Ihre Ackerbaif- 
schulen sind mit Personal reichUch versorgt, und die 
Zulassung zum agronomischen Institut erfolgt nur 
noch ausnahmsweise. Man ist davon abgekommen, 
Egypten als eine Art gelobtes Land zu betrachten. 
Freilich ist R^ypten nach wie vor überwiegend acker- 
bautreibendes Land, und mehrere Glaubensgenossen 
besitzen dort ausgedehnte Ländereien. Aber unsere 
armen jungen Leute können mit dem arabischen Land- 
arbeiter, der sich mit einem lächerlichen Lohn begnügt, 
nicht konkurrieren. Ohne übermäßig anspruchsvoll 
zu sein, haben unsere Zöglinge, die mit einer Fülle 
theoretischer und praktischer Kenntnisse unsere An- 
stalt verlassen und danach ein Volontärjahr absolviert 
haben, um sich mit der egyptscihen Landwirtschaft 
vertraut zu machen, Anrecht auf eine angemessene 
Entlohnung. Übrigens bevorzugen die Verwalter der 
egyptischen Großgrundbesitzer die eingeborenen und 
muselmanischen Werkführer, die die arabischen Ar- 
beiter mit der Peitsche traktieren, während diese Ar- 
beiter sich von einem Fremden auch nicht einen Nasen- 
stüber würden gefallen lassen. Keine Möglichkeit mehr, 
unsere Zöglinge in Egypten unterzubringen. Wir 
laufen Gefahr, unsere jungen Leute den landwirtschaft- 
lichen Beruf verlassen und schlechtbezahlte, aber leichte 
Anstellungen im Handelsgewerbe annehmen zu sehen. 
Die Ungewißheit ihrer Zukunft hat die Moral unserer 
Zöglinge sehr beeinflußt, einige von ihnen entmutigt. 
Es mußte ein neuer Ausweg für sie gefunden werden. 
Und der scheint sich in Kanada zu bieten. Mit Hilfe 



411 



Mitteilungen der Alliance Isra^Iite Universelle: Das Ackerbau-Werk. 



412 



der Alliance, der I. C. A. und des Baron Hirsch-Fonds 
können einige unserer Zöglinge nach Kanada gehen, 
um dort eine Zeitlang als Arbeiter tätig zu sein und 
dann Pächter zu werden* Die während des letzten 
Jahres in Kanada gewesen sind, schreiben, daß sie mit 
ihrer Lage zufrieden sind. Eben jetzt schicken sich 
6 unserer Zöglinge an, nach Amerika zu gehen. Die 
Möglichkeit, bei ihrem Austritt aus der Schule Arbeit 
zu finden, hat unsere Zöglinge ermuntert und ihnen 
einiges Vertrauen in die Zukunft eingeflößt. 

Gesundheitszustand: Die Primärschulen 
der Türkei versehen uns nur in beschränktem Maße mit 
Kandidaten. Unsere Schule ergänzt sich aus Syrien 
und besonders den palästinensischen Kolonien, so daß 
von den 28 Schülern, die den neuen Jahrgang darstellen, 
5 aus Rußland sind, aus Gallipoli, von Demotica und 
den Dardanellen. Die 23 anderen stammen aus Syrien, 
nämlich: 10 aus Jaffa, 4 aus Tiberias, 3 aus Rischon, 
2 aus Damaskus, 2 aus Jerusalem, 1 aus Wad-el-Hanine 
und 1 aus Saida. Eine betrübliche Folge der Vorherr- 
schaft des syrischen Elementes ist die Einschleppung 
von Augenkrankheiten in unser Haus. Beinahe alle 
Kinder aus dieser Gegend sind mit mehr oder weniger 
schweren Augenkrankheiten behaftet oder dazu prä- 
disponiert. Es ist sehr schwer, eine strenge Wahl zu 
treffen, man müßte sonst alle Kandidaten zurück- 
schicken. Die Folgen haben sich fühlbar gemacht. 
Während des ganzen Monat März hatten wir epidemische 
Augenkrankheiten zu beklagen. Dank der Hingebung 
unseres überwachenden Pharmazeuten, der Fürsorge 
unseres Arztes, und dank den Ausflügen^ die wir unsere 
Schüler gelegentlich des Passahfestes haben machen 
lassen, ist der Epidemie Einhalt getan, und jeder hat 
seine Arbeit und seine Studien in bester Gesundheit 
wieder aufgenommen. 

Personal: Ich freue mich, Ihnen hier wieder- 
holen zu können, daß ich dieses Jahr nur zufrieden 
sein kann mit der Hingebung, die von unseren Lehrern 
und Angestellten jeden Grades entfaltet worden ist, und 
mit der treuen Aiihänglichkeit, die sie unserer Anstalt 
beweisen. In den häufigen Versammlungen, zu denen 
wir sie berufen, setzen wir die auszuführende Arbeit 
fest. Die bei solcher Gelegenheit veranstalteten, den 
Unterricht und den Feldbau betreffenden Erörterungen 
sind sehr nützlich und erzeugen eine gewisse Vertrau- 
lichkeit, die das Band unter den Kollegen nur fester 
knüpfen kann. Alle setzen Ehrgeiz darein, die Aufträge, 
die man ihnen anvertraut hat, erfolgreich auszuführen. 
Jeder in seinem Bereich und alle vereint bemühen wir 
uns, das Gedeihen der Anstalt zu sichern. 

Landwirtschaftliches Ergebnis: 
Das ländliche Arbeits jähr hat unter ungünstigen Be- 
dingungen begonnen. Es regnete ebensoviel wie im 
vorigen Jahr. Wir haben im ganzen 630 Millimeter 
gehabt. Das ist ein normaler Durchschnitt; aber der 
Regen war verspätet, vielfach Platzregen von Hagel 
begleitet. Unsere tonartige und feste, schnell gesättigte 
Erde, die trotz vorhergegangener Entwässerungen häufig 
und lange überschwemmt war, das andauernde Stehen 
der Gewässer hat das Wachstum des Unkrauts zum 
Nachteil des größten Teiles der Nutzpflanzen begünstigt, 
die sich nicht entfaltet haben oder durch den Sirocco 



zu Schaden gekommen sind. Abgesehen von den 
Orangengärten aber haben imsere Pflanzungen kaum 
unter der Ungunst der Witterung gelitten imd mit ver- 
schiedenen Sommerpflanzungen imd imserem Wein 
die Lage gerettet. 

Die Wintersaaten sind fast völlig zu Schaden ge- 
kommen. 

Da der Ertrag des landwirtschaftlichwi Jahres 
sich recht ungünstig anläßt, haben wir uns bemüht, 
durch Herabsetzung der Ausgaben auf das unbedingt 
Notwendige Abhilfe zu schaffen. 

Die Einnahmen betrugen Fr. 70822,50 
„ Ausgaben .... „ 62 561,60 

Das Reinerträgnis war somit Fr. 8 260,90 

Das ist im Vergleich zu den investierten Kapitalien 
ein recht magerer Ertrag, der sich daraus erklärt, daß 
wir unsere allgemeinen Unkosten haben vermehren 
müssen, um die Sicherheit unserer Anstalt zu festigen, 
daß infolge der wirtschaftlichen Krise in unserer ganzen 
Gegend (schlechter Verkauf der Weine imd der Orangen) 
die Einnahmen sich verminderten, und daß das Wetter 
während des ganzen Jahres ungünstig war. In guten 
Jahren dürfen wir auf eine Verdoppelung des Rein- 
ertrages rechnen. 

Am Ende aller Enden können wir in Anbetracht 
des Mißwachses unserer Wintersaaten und des ab- 
normen Regenfalles mit dem Ergebnis leidlich zufrieden 
sein, das hinter dem des Vorjahres nicht zurückstand. 
Wenn auch der Reinertrag noch immer nicht merklich 
wächst, so geht doch das Defizit der Landwirtschafts- 
schule von Jahr zu Jahr zurücTc. Dieses Defizit betrug 
im Jahre 1901/02 noch Fr. 90392,05, im folgenden 
Jahr Fr. 68 705,30, im nächsten Jahr 70 016,70, im 
Jahre 1904/05 noch Fr. 55 435,15, und im abgelaufenen 
Jahr nur Fr. 51 378,61. 

Folgendes ist der Rechnungsabschluß für das Jahr 
1. November 1905 bis 31. Oktober 1906: 

Ausgaben : 

Allgemeine Unkosten und Personalgehalte Fr. 22 735,75 

Beköstigung und Unterhalt der Zöglinge „ 33 983,20 
Prämien für die Zöglinge des 4. und 5. 

Jahrgangs . . • „ 1 338,20 

Mobiliar 87,65 

Erhaltung der Gebäude 750, — 

Bibliothek 223,30 

Gemüsegartei) 2 427,60 

Geflügelhof 126,15 

Schäferei 322,90 

Stallungen 3056,95 

Weinberge und IvJlereion 23815,80 

Mandelbäume 595,05 

Baumschule , 2 460,10 

Orangonbäumo 6 732,80 

Höfe, Gräben und Wege 818,40 

Maulbeerbäume, Seidenwuniizuclil 329,05 

Holzaanbu , 86,15 

Zuckerstauden , 536,15 

Bestellung „ 15 430,40 

Summa Fr. 115 855,60 



413 



Mitteilungen der Alliance Isn^ite Universelle: Das Ackerbau- Werk. 



414 



Boden-Verbesserungen und Grundanlagen. 

Olivenbäume Fr. 160,20 

Holzanbau 700, — 

t 



Setzen der Grenzsteine .... 

Orangengärten 

Brücken und Wege 

Neuer Weinberg 

Bauten 

Urbarmachung 

Kellerei und Bestellungsmaterial 
Viehankauf 



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139,05 

3881,80 

706,90 

340,35 

440,95 

22,25 

239,— 

2690,— 



Summa Fr. 9320,50 

Einnahmen : 

Spende des Konsistoriums von Bordeaux Fr. 45, — 

Ertrag des Küchengartens 2 476,55 

„ Geflügelhofs 152,30 

der Schäferei 1 030,85 

Stallungen 3 349,95 

Weinberge und dos Kellers . ., 30132,65 

Mandelbäume , i 383,25 

Baumschulen 2 821,45 

Orangengärten 8 748,85 

Höfe und Wege 818,40 

Seidenzucht „ 329,05 

Zuckerstauden „ 380,95 

Bestellung . „ 19 891,25 

Summa Fr. 70867,50 



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a. Parmschttle von Djedelda. 

Herr Avigdor, der vortreffliche Direktor der Farm- 
schule von Djedeida, berichtet: 

Bewegung der Schüler: Die Gesamt- 
zahl unserer ZögUnge war am I.Oktober 1905 60. Da- 
von kommen auf den ersten Jahrgang 20, auf den 
zweiten 16, auf den dritten 8, auf den vierten 11, auf 
den fünften 5. Von diesen Zöglingen schieden 18 aus, 
15 wurden im Oktober 1906 aufgenommen, die gegen- 
wärtige Zahl beträgt 55. Von den im vorigen Jahr aus- 
geschiedenen 18 Zöglingen hatten 5 den fünften Jahr- 
gang durchgemacht, 5 den vierten, einer den dritten, 
3 den zweiten und 4 den ersten. Drei Zöglinge kehren 
aus Gesundheitsrücksichten in ihre Heimat zurück, ein 
vierter wurde von seinen Eltern nach Vama berufen, 
wo er seine Studien in einer Landwirtschaftsschule fort- 
setzt; 2 andere haben uns im ersten Halbjahr ihres 
Aufenthaltes verlassen. Der Zögling des dritten Jahr- 
gangs Meimun schied vor der Zeit aus unserer Anstalt, 
um in der Gegend von Porta Farina die von seinem 
verstorbenen Vater hinterlassenen Grundstücke zu 
übernehmen. Von den 10 Zöglingen des vierten und 
fünften Jahrgangs sind 9 dem Beruf treu geblieben. 
3 von ihnen arbeiten in Egypten — alle 3 sind aus der 
Türkei — ein vierter, gleichfalls Türke, baut in Adri- 
anopel die Gärten seines Vaters, ein fünfter aus Demotica 
ist Werkmeister in Setif (Algier), 2 Tunesen arbeiten 
im Dienst und auf Rechnung ihrer Eltern, ein dritter 
Tunese ist noch ohne Anstellung und 2 Tunesen sind 
provisorisch in unserem Betrieb tätig. 

Statistik : Nach Abschluß Jodes Schuljahres 
erneuern wir das Tableau der Zöglinge, die Djedeida 
seit Gründung dieser Schule verlassen haben. W ir ver- 



vollständigen und berichtigen die Meldungen,'die uns 
über die Lage jedes Einzelne^ zugegangen sind gemäß 
den Berichten, die wir aUs allen Teilen der Erde erhalten. 
Wir bekonmien Briefe von unseren ehemaligen Zöglingen 
aus Amerika, Chikago, Montreal, aus dem Innern von 
Brasilien, aus Argentinien, der asiatischen Türkei, 
Egypten, der Balkanhalbinsel, aus Algier und Tunis. 
Die meisten, wenn nicht alle, selbst die mit ihrem 
Geschick am wenigsten zufrieden sind, bewahren eine 
Erinnerung an die Jahre, die sie in der Anstalt zuge- 
bracht haben. Sie empfinden das Bedürfnis, uns ihre 
Freuden und ihre Hoffnungen anzuvertrauen; sie ver- 
gessen nicht, was sie unserer Anstalt danken, der Alli- 
ance, die fortfährt, ihnen verschwenderisch ihre Unter- 
stützung zu gewähren. Hat ihre Lage sich gebessert, 
so beeilen sie sich, uns zu schreiben und das Verdienst 
der Musterwirtschaft beizumessen und in irgend einer 
rührenden Form uns wieder ihre Dankbarkeit auszu- 
drücken. Sie nehmen Zuflucht zu unserer Erfahrung, 
erbitten unseren Rat und bei Streitigkeiten mit ihren 
Patronen unsere Intervention. Ohne jede Frage ist 
dies der angenehmste Teil unserer Arbeit, die Bezieh- 
ungen mit unseren ehemaligen Zöglingen zu pflegen; sie 
ist aber auch der schwerste Teil. Haben wir unsere Lehr- 
linge einmal in die Landwirtschaft eingeführt, so müssen 
wir uns auch bemühen, sie darin zu erhalten gegenüber 
den Verlockungen der Umgebung, die sie ihrem Be .uf 
entfremden wollen. Angesichts der Schwierigkeiten 
jeden Anfangs, der Schwierigkeiten schon der Stellen- 
besorgung, ist es gar zu leicht, einem jungen Mann die 
unmittelbaren Vorteile einer Anstellung im Handel ein- 
gängig zu machen, selbst wenn die Entlohnung noch so 
gering ist. Im Verlauf von 12 Jahren sind wir oft genug 
die ohnmächtigen Zuschauer zahlreicher Desertionen 
gewesen. Hat der junge Mann der Versuchung nach- 
gegeben und ist er in den Handel eingetreten, so sehnt 
er sich bald, ihn wieder zu verlassen, so empfindet er 
Heimweh nach der freien Luft; er magert ab in der 
verdorbenen Atmosphäre der Warenhäuser und der 
Bureaus. Er sammelt seinen Mut, um an uns zu schreiben ; 
er wagt noch nicht zu uns zu kommen, sondern bittet 
nur inständig, dasswir ihn dem Landleben wiedergeben. 
Eine Rückkehr solcher Art haben wir häufig gesehen. 
Das sind sehr heilsame Beispiele für die Zöglinge, die 
noch auf den Bänken unserer Anstalt sitzen. Viele 
unserer vormaligen Lehrlinge, die eine Anstellung such- 
ten, wollen liebef als einfache Arbeiter angestellt sein, 
als in die Städte gehen, obwohl sie schon Werkführer 
und Inspektoren gewesen sind. Sie können sich nicht 
mehr an die Stadtluft gewöhnen. Wir kennen andere, 
die gegen ihren Willen im Handel beschäftigt, mit Un- 
geduld den Zeitpunkt und die Gelegenheit erwarten, 
zur Landarbeit zurückzukehren. 

Dank der Korrespondenz, die wir mit unseren 
früheren Zöglingen unterhalten, können wir J3des Jcuir 
die Liste aller derer feststellen, die in der Landwirtschaft 
leben. Ihre Zahl ist gegenwärtig 80. Häufige mündliche 
und schriftliche Unterhaltungen mit unseren früheren 
Zöglingen geben uns zu denken, lassen uns den Geist 
ihrer Grundherren, deren größeres oder geringeres 
Wohlwollen erkennen, geben uns eine ziemlich genaue 
Vorstellung von den Auswegen, die wir dem Tätigkeits- 
drang unserer jungen Aek(»rbauer zeigen können. 



417 



Mitteilungen der Alliance Israelite Universelle: Das Ackerbau- Werk. 



418 



Nachstehend der Rechnungsabschluß für das 
Jahr 1905/06: 



Ausgaben : 

Unterricht und Unterhalt der Zöglinge Fr. 
Schmiedewerkstatt und Tischlerei . . . 

Allgemeine Ausgaben 

BibUothek 

Mobiliar 

Bauten 

Apotheke 

Prämien für die besten Schüler .... 

Ackerland 

Wein 

Olbftume und ölkamraer 

Mehlfabrik 

Kuhstall 

Bodenverpachtung 

Bewässerungskultur 



43 880,95 
110,40 

12 855,45 
421,45 

1 501,05 

2 832,05 
1464,55 

1 562,90 
9 609,80 

2 987,35 
5 992,65 

2 749,10 
8855,60 

3 056,30 
2 501,30 



Total Fr. 98380,90 



Bodenverbesserung. 

Neue ölbaumpflanzen Fr. 3 112,45 

Neuer Weinberg „ 601,90 

Kellereimaterial „ 960, — 

Mehlfabrik, Reparaturen „ 2 477,60 

Summa Fr. 7 150,95 

Einn a li . en : 

Pension der zahlenden S*;hüier .... Fr. 1 350, — 

Tischlerwerkstatt „ 185,60 

Feldbestellung „11 308,95 

Weinberge und Keller „ 4 618,85 

Olivenbäume und ölkammern ...... 6 625,60 

Mehlfabrik „ 8819,55 

Schweizerei „ 10 500, — 

Hausmiete „ 2 000, — 

Landpacht , 13 996,25 

Bewässerungskulturen „ 2 499,50 

Verschiedenes „ 475,95 

Summa Fr. 62 380,35 



RUSSISCHE VERSUCHE IN BULGARIEN. 

(Spezialbericht an die A. I. U.) 



Nachdruck yerboteo« 



Sofia, 15. Mai. 

Hier ist anläßlich des jüngsten russischen Oster- 
festes anfangs Mai, der Versuch erneuert worden, 
das Märchen vom Blutmord zu beleben. Der Vorgang 
soll sich in folgender Weise abgespielt haben: 

Die siebenjährige Tochter des Generals Velt- 
schew, Helene, und die achtjährige Tochter eines 
Advokaten spielten nach beendetem Schulunterricht 
auf dem Schulhof. Sie wurden von der Straße aus 
von zwei Personen aufmerksam beobachtet. Die 
Kinder begaben sich nach Haus. Unterwegs er- 
neuerten sie das Versteokspiel. Jene beiden Personen 
folgten von fem. Sie ergriffen die kleine Helene, ab 
diese sich hinter dem Holzstapel eines Neubaus versteckt 
hatte, schlössen ihr den Mund mit einem Taschen- 
tuch und entführten sie durch entlegene Straßen 
an das äußerste Ende der Stadt. Unterdessen setzte 
die kleine Gefährtin das Spiel fort und rief: komm 
heraus, komm, komm! Da auf den wiederholten An- 
ruf nichts erfolgte, glaubte sie, daß Helene nach Hause 
gegangen sei, und machte sich auf, das gleiche zu tun. 

Inzwischen waren die beiden Räuber vor einem 
verfallenen Hause angelangt, in das sie das Mädchen 
schleppen wollten. Das Mädchan aber wehrte sich, 
weinte und schrie. Ein Polizist kam des Weges, 
sah das Mädchen und trat hinzu. Als die Räuber das 
merkten, ergriffen sie die Flucht. Der Polizist nahm 
dem Kinde das Taschentuch aus dem Mund und 
schickte das Mädchen nach Haus, wo es erzählte, daß 
zwei Juden es hätten entführen wollen. Daß die Ent- 
führer Juden gewesen, habe es daran erkannt, daß 
sie die Sprache der Juden redeten. 

Der „Courier du Soir" meinte in seinem Bericht, 
es sei möglich, daß man es mit einem Kindesraub zu 
tunTiabe, der Gelderpressung vom Vater, dem General 
Veltschew, bezweckte, und daß die Urheber des ver- 



brecherischen Versuchs sich nach Art der jüdischen 
Hausierer verkleidet hätten, um die Polizei auf eine 
falsche Spur zu leiten. Ein anderes Blatt gab der 
Vermutung Ausdruck, daß eine Spitzbüberei vor- 
liege, die den Glauben an Ritualmord erwecken solle. 
Ein drittes Blatt wiederum behauptete schlochthin, 
daß tatsächlich die Absicht eines Ritualmordes vor- 
gelegen habe. 

Selbstverständlich bildete der Vorfall das Tages- 
gespräch in der Stadt. Ueberall sah man ganze Gruppen 
um die 2^itungsplakate versammelt, die in großen 
Buchstaben ankündigten: „Raub der Tochter des 
Generals Veltschew! — Erklärung des Generals Velt- 
schew! — Verhaftung von 30 Juden! — Konfrontation ! 
— Die kleine Veltschew erkennt ihre Räuber!" Ebenso 
selbstverständlich ist es, daß unsere Glaubensgenossen 
sich beunruhigt fühlten, weil das Vorkommnis gerade 
in die „heilige Woche" gefallen war, und weil General 
Veltschew jedem, der hören wollte, versicherte, seine 
Tochter sei beinahe das Opfer eines jüdischen Ritual- 
mordes geworden. Auf die Frage von Reportern, 
ob er wirklich an die Blutbeschuldigung glaube, er- 
widerte er: „Bisher habe ich nicht daran geglaubt; 
aber jetzt, da mein Kind fast das Opfer geworden 
wäre, bin ich fest überzeugt." 

Die kleine Helene Veltschew verharrte bei der 
Behauptung, daß zwei Juden sich ihrer bemächtigt 
und sie in ein verfallenes Haus geführt hätten. Ihr 
Geschrei habe Polizisten herbeigerufen, von denen 
sie aus den Händen der Räuber befreit und einer zu- 
fällig anwesenden Person übergeben worden sei, die 
sie nach Haus gebracht habe. 

Unter solchen Umständen sollte es doch ziemlich 
leicht sein, die volle Wahrheit zu ermitteln. Man 
brauchte nur den Bericht der beiden Polizisten ent- 
gegenzunehmen und jene dritte Person zu verhören. 



' 



421 



Mitteilungen der AUiance Isra^lite Universelle: Russische Versuche in Bulgarien. 



422 



Alternativo übrige daß die kleine Helene Veltschew 
zusammen mit der kleinen Tolew sich überlang auf der 
Straße herumgetrieben haben und danach, zu ihrer 
Entschuldigung oder aus Furcht vor Strafe oder aus 
diesen Gründen und gleichzeitig aus Lust am Fabulieren, 
ihren Eltern das Märchen vom Raub und von der 
Befreiung vorgeflunkert haben. Denn daran ist kein 
Zweifel, daß eine ernstliche Entführung so wenig wie 
eine Befreiung stattgefunden hat, da weder Polizisten 
noch Soldaten als die angeblichen Befreier sich haben 
ermitteln lassen. Polizisten aber und Soldaten hätten 
sich •unfraglich gern gemeldet, um den Dank des 
Generals Veltschew, den sie auch verdient hätten, 
entgegenzunehmen. Dasselbe gilt von der Zivil- 
person, die angeblich die kleine Helene nach Hause 
gebracht hat. Bei dem Lärm, den die Zeitungen er- 



hoben haben, ist es beinahe unmöglich, daß diese 
Zivilperson, wofern sie überhaupt existiert, von der 
Affäre nichts gehört hätte. Was den hellen Rock 
betrifft, den man bei dem einen verhafteten Trödler 
als privaten Besitz gefunden hat und der eine Spur 
von Verdacht rechtfertigen soll, weil die beiden Mädchen 
gesagt haben, einer von den beiden Räubern habe 
einen hellen Rock getragen, so können wir darin ein 
verdächtigendes Moment nicht erblicken, solange 
nicht festgestellt ist, daß helle Röcke bei Personen 
gleichen Standes und gleicher Beschäftigung eine 
Seltenheit sind. 

Wir haben zu dem guten Willen der bulgarischen 
Regierung das beste Zutrauen und rechnen darauf, 
daß es sich bewähren wird. 



(Gedenktafel. Die Alliance Israelite Universelle 
und deren Deutsche Conferenz-Gemeinschaft haben zwei 
herbe Verluste erlitten. Herr Gotthold Lewy in 
Stettin, der als Schrittführer unseres Zwdig-Comites 
für Pommern den Hauptteil der Geschäftslast auf sich 
genommen hatte, mit Hingebung und Treue viele Jahre 
hindurch seines Amtes waltete, ist nach kurzer Krank- 
heit, am 30. \pril, in Lugano gestorben. Zwölf Tage 
später, am 11. Mai, hat utis der Tod den ersten Vor- 
sitzenden unseres Badischen Landes -Comit^:), Herrn 
Emil Nöther in Mannheim entrissen. Wie Gott- 
hold Lewy an der Seite des Rabbiners Dr. Vogelstein- 
Stettin in der Provinz Pommern, so hat Emil Nöther 
an der Seite unseres Seniors Bielefeld im Grossherzog- 
tum Baden die Sache der AUiance Israelite Universelle, 
die die Sache der Judenheit ist, mit herzlichem Eifer 
und mit stetig wachsendem Erfolg vertreten. Die beiden 
Männer, deren Hinscheiden uns mit Trauer erfCUlt, 
sind Ek*ben und sorgsame Pfleger unserer besten Tradi- 
tionen gewesen, und haben dnrch ihr Beispiel für deren 
Erhaltung gesorgt. Wir werden der Treuen immer in 
Treue gedenken. 

♦ ♦ ♦ 

Das Berliner Lokal- Gomite der A. L U. hielt 
am 28. April unter dem Vorsitz des Herrn Geheimen 
Kommerzienrat G^idberger eine Sitzung ab. Der Vor- 
sitzende erstattete Bericht über die am 19. Februar in 
Frankfurt a. M. stattgehabte Tagung der Deutschen 
Conferenz-Gemeinschaft und machte Mitteilungen über 
den Stand der Arbeiten. Er konstatiert, dass die Zahl 
der Mitglieder von Tag zu Tag erfreuliche Steigerung er- 
fährt. Der besondere Hilfsdienst für russische Emigranten 
findet in den Räumen des deutschen Bureaus statt. Er 
erfordert andauernd erhebliche Aufwendungen. Das Ab- 
kommen mit der Berliner Abfertigungsstelle für russische 
Aus- und Rückwanderer wurde bis 31. März 1908 ver- 



längert. Zum Schluss wurde durch einstimmigen Be- 
schluss des Comites Herr Geheimer Medizibalrat Pro- 
fessor Dr. L. Landau, dessen humanitäres Wirken 
bekannt ist, kooptiert. Herr Prof. Dr. Landau hat 
die Wahl angenommen. 

« « 

Mainz. In Mainz hat sich ein neues Lokalcomite 
der Alliance Israelite Universelle gebildet. Es setzt 
sich zusammen aus den Herren: Moritz Berney. 
Sigmund Cahn, Ferdinand Gntmann. Adolf 
Jeremias, Moritz Marx, Gross-Rabbiner Dr. Saal- 
feld, Siegfried Tendlau. 



llarmstadt. Hier hat sich das Lokal-Comit^ der 
Alliance Israelite Universelle erweitert und neu 
konstituiert. E^ besteht aus den Herren Lud- 
wig Joseph, Kommerzienrat W. Langenbach, 
J. Lehmann, Rabbiner Dr. Marx, J. Sander, 
Max Stern, Adolph Trier, Kommerzienrat Louis 
Trier und Otto Wolff. Eine weitere Vergrösserung 
des Comit^ ist in nahe Aussicht genommen. 



Spenden für Bumilaien. Für das rumänische 
Hilfswerk sind aus Hambur&r 3200 Mark und von 
Herrn H. Löwenthal, Berlin, Prenzlauerstr. 19a, 
5 Mark eingegangen.' 

♦ ♦ * 

Neue immerwährende Mitglieder. 

Fräulein D o r o t h e a. W o r m an n , Berlin, Oranienburger- 
str. 32, Herr Ludwig Born i. Fa Born & Busse, Berlin, 
Behrenstr. 31. Herr Julius Bleichröder sei. Anged , 
Herr Leopold Cohn i. Fa. Cohn & Daniel, Potsdamer- 
str. 119. — 



Die verehrlichen Mitglieder, die auf regelmässige und pUnktliche Zustellung 

unseres Organs Wert legen, werden ersucht, Aenderungen ihrer Postadresse unver« 

xil^liCh dem deutschen Bureau der A. L U., Berlin N. 24, Oranienburgerstrasse 42/43 
mitzuteilen. 



j. 



423 Mitteilungen der Alliance Israelite Universelle. 424 

Alle für das Berliner Lokal «Comlt^ der A. 1* U* und für das Deutsche Bureau der A. I. U. bestimmten 
Geldsendungen beliebe man an den Schatzmeister 

Herrn Benno Braun in Firma Joelsohn & Brfinn, Berlin C. 19, Hausvoigteiplatz 1 2 

zu adressieren, eventuell durch Reichsbank-Girokonto der Firma Joelsohn & Brunn zu überweisen. 



Vom 1. Juni bis IS. August d. J. sind unsere Bureaus, Oranienburgerstr. 42/43, nur 
von 9 Uhr vormittags bis 3 Uhr nachmittags geöffnet« 

Das Deutsche Bureau der Alliance Israelite Universelle. 




rr;: r: d*y ih ^>^3r Stntr *73 



Wir machen unsere Leser auf die gegenüberstehende Anzeige y^ElM denkender 
MenSCh^^ aufmerksam. 

Die Frechheit der Einbrecher nimmt von Tag zu Tag zu. Im letzten Winter und bis in die letzten Tage hinein ist es vielfach vor- 

Sekommen, das Einbrecher sich In der Nacht mittels falscher Schlfissel Eingang in die Wohnung verschafften und bis an die Betten der schlafenden 
lewohner vordrangen, wo sie deren Kleider ausraubten. Mit Entsetzen sah man am anderen Tage, in welcher Gefahr man geschwebt hatte. Gerade 
zur Reisezeit droht unserem Eigentum noch besonders Gefahr von dieser Seite, denn wochen- und monatelang bleiben die Wohnräume unbewacht 
Gegen diese Plage giebt es keinen Schutz, den Einbrechern gegenüber versagen Wächter ebenso wie alle modernen Schutzmittel. Nur vor dem durch 
Diebstahl und Beschädigung verursachten Schaden kann man sich schützen, indem man sein Mobiliar, Geld, Schmucksachen, kurz Alles, was die 
Diebe erreichen oder beschädigen können würden, versichert. — Wir möchten nicht verfehlen, unsere verehrten Leser und Leserinnen auf das dies- 
bezügliche Inserat des Niederländischen Lloyd in unserer Zeitung aufmerksam zu machen. Die Direktion für das Deutsche Reich, Berlin W. 35, 
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Redaktion: Berlin W« 15, Knesebeckstr. 48/49. 

Verantwortlicher Redakteur: Leo Winz, Berlin W. 15, Knesebeckstr. 48/49. - Verlag Ost und West, Berlin W.8. 

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Vnvt1iSli1«ii<lalr«Ha fremde äpraehen (b. Ausllnd.). Briefstil. 
MmturwIlBangebirtaii. Toi kiwIrCsoha fiel ehre. Deklamatloa u. ■. v. 

Praktische Anibildnna iHu.«irb.» (pji.tt.^i.«.i5mti.i.). 




ILLUSTRIERTE MONATSSCHRIFT 




Herausgegeben und redigiert 

von 

LEO WINZ. 



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Alle Rechte vorbehalten. 

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Juli 1907. Vn. Jahrg. 



JAKOB FREUDENTHAL 

Von Bernhard Münz. 



Nachdruck verboten. 



Die Breslauer Universität hat den Verlust eines 
sehr gelehrten Forschers zu beklagen. Jakob 
Freudenthal ist nicht mehr. Er hat schon als 
ganz junger Mann von sich reden gemacht. Er 
war in seiner dem überaus schwierigen Begriffe 
der Phantasie bei Aristoteles gewidmeten Doktor- 
dissertation auf dem rechten Wege und hat mit 
gesundem Verstände manches Treffende gesagt. 
Freilich war seine Bekanntschaft mit dem Stagiriten 
bei der Abfassung seiner Erstlingsschrift noch zu 
jung; sind aber auch ihre Resultate nicht durchweg 
annehmbar, so ist sie doch als eine treffliche 
Grundlage zu betrachten. 

Dann reizte ihn das kleine unscheinbare 
Schriftchen „Ueber die Herrschaft der Vernunft", 
das sich durch Form und inneren Gehalt vor seiner 
Umgebung vorteilhaft auszeichnet und ein in 
seiner Art ganz einziges Erzeugnis jener wunder- 
baren Vereinigung jüdischen und griechischen 
Wesens ist, welche noch unserer Zeit einen grossen 
Teil ihrer Bildungselemente liefert. Habent sua 
fata libelli. Auch das Büchlein, das Freudenthals 
Aufmerksamkeit fesselte, hat eine merkwürdige 
Geschichte zu erzählen. „Im christlichen Altertum 
oft genannt, benutzt, bewundert und abgeschrieben, 
den deuterokanonischen Schriften des Alten 
Testaments angereiht und mit dem klangvollen 
Namen des Flavius Josephus geziert; in neuerer 
Zeit ebenso häufig übersetzt und gedruckt, wie 
wenig gekannt und geachtet; lange Zeit fast ver- 
schollen und erst in den letzten Jahrzehnten Gegen- 
stand einer meist einseitigen Betrachtung; ver- 
stümmelt und verunstaltet durch eifrige Leser, un- 
wissende Abschreiber und sorglose Herausgeber, 
aus deren langer Reihe herauszutreten selbst 
Männer wie Wilhelm Dindorf und Immanuel Bekker 
sich nicht bemüssigt gesehen haben, können wir es 
heutzutage nur als den Torso eines interessanten 
Kunstwerkes gelten lassen, über den gerade ent- 
gegengesetzte Urteile gefällt werden können, je 



nachdem diese oder jene Seite beleuchtet, das 
ursprüngliche Ganze ins Auge gefasst oder über 
Einzelheiten übersehen und in ein falsches Licht 
gerückt wird". 

Es folgten die „Hellenistischen Studien", die 
den Zugang zu einem zwar engbegrenzten, aber 
nicht unergiebigen Gebiete des hellenistischen 
Schrifttums erschlossen. Das literarische Erbe 
des jüdischen Hellenismus ist so dürftig, die Lücken, 
die die Zeit vom Abschluss der griechischen Bibel- 
übersetzung bis zum Auftreten Philos aufweist, 
sind so gross und weit, dass Freudenthal sich ge- 
drängt fühlte, die von Alexander Polyhistor er- 
haltenen Reste jüdischer und samaritanischer 
Geschichtswerke, die von hervorragenden Forschem 
in Bausch und Bogen abgeurteilt wurden, ohne dass 
sie in ihrer Gesamtheit nach den literarischen Ver- 
hältnissen der Zeit, aus der sie hervorgegangen, 
nach den Zielen ihres Verfassers und nach ihrem 
Zusammenhange mit den verwandten Erscheinungen 
des Hellenismus befragt worden wären, einer ein- 
gehenden Untersuchung zu würdigen, die Spreu 
von den Körnern zu sondern, das wertvolle Einzelne 
aus dem grossen Haufen des Wertlosen heraus- 
zulesen. 

Seine eigentliche Lebensarbeit war der einsame, 
das All liebende, vom amor Dei intellectualis be- 
seelte Spinoza. Er hat keine Mühe gescheut, um 
in das auf Spinoza bezügliche biographische 
Material Einblick zu gewinnen, und sein löbliches, 
von der Berliner Akademie der Wissenschaften 
gefördertes Unternehmen hat von den ver- 
schiedensten Seiten kräftige Unterstützung erfahren. 
Gleichwohl ist die Ernte im ganzen und grossen 
recht kärglich ausgefallen. Die Durchmusterung 
zahlreicher, in den Bibliotheken und Archiven von 
Amsterdam, Breslau, dem Haag, Hannover, Leyden, 
London und Utrecht aufbewahrter, noch unge- 
druckter Briefe und die Durchsicht der Papiere 
vieler holländischer Familien, von denen einzehie 



Bernhard Münz: Jakob Freudenlhal. 



Mitglieder in nahen Bezielrnngen zu Spinoza ge- 
standen hatten, war ziemlich fruchtlos, „weil, wie 
es scheint, nahezu alle aof Spinoza bezüglichen 
Schriftstücke als Zeugnisse eines verdächtigen 
Verkehrs mit dem verschrienen Ketzer bald nach 
seinem Tode vernichtet worden sind." Im Einklänge 
mit dieser Vermutung befindet sich die uns in 
Stolle-Halmanns Reisebescbreibnng aus dem Jahre 
1704 begegnende Aeussernng des Verlegers Rieu- 
werts, „in denen Epistolis Spinosae wären einige 
Personennamen, die man suspect machen wollte, 
ausgelassen und dafür nur Striche gesetzt worden." 
Immerhin müssen wir dankbar anerkennen, öass 
Freudenthal eine feste Grundlage für die noch an- 
sicher schwankende, von der Parteien Hass und 
Angst entstellte Lebensgeschichte Spinozas gelegt 
hat; indem er das Verhältnis der 
wichtigsten Quellenschriften zu ein- 
ander bestimmte, eine grosse Zahl von 
nicht belanglosen Schriftstücken, die 
bisher im Staube hollandischer und 
deutscher Archive und Bibliotheken 
schlummerten, zu neuem Leben weckte, 
nach ihrer Zeitfolge ordnete, auf ihren 
Wert prüfte, durch Anmerkungen er- 
ISaterte und der allgemeinen Benutzung 
und Verarbeitung zugänglich machte. 
Dornig war der Lebensweg Spi- 
nozas. Seine Glaubensbrüder schlössen 
ihn wegen „schwerer Irrlehren" ans 
ihrer Gemeinschaft aus. Aber auch 
die kirchlichen Behörden der wegen 
ihrer Glaubens- and Denkfreiheit viel 
gerühmten Niederlande inszenierten 
gegen ihn und seine Schriften einen 
fbnnlichen Kreuzzug, wie aus einer langen Beihe 
von Urkunden erhellt, deren bei weitem grösster 
Teil von Freudenthal zum erstenmal veröffentlicht 
wurde. Treffend bemerkt unser Forscher, dass die 
Zustände, ans denen die Massnahmen der Geist- 
lichen und dann die Verordnungen der Staats- 
behörden hervoi^egangen sind, den dunklen Hinter- 
grund des Lebens und der Werke Spinozas bilden. 
Die Kenntnis dieser Dinge lehre, dass es nicht bloss 
die von der machtlosen jüdischen Gemeinde Amster- 
dams über ihn verhängte Exkommunikation war, 
die sein Leben verbitterte, sondern dass er unter dem 
Drucke drohender Verfolgimg seit 1665 fortwährend 
gelitten hat. Man begreife jetzt, warum er ein 
Öaute auf seinen Siegelring eingraben Hess. Man 
sehe, dass er aus gutem Grunde seinen Fi'euud 
Jarig Jelles ersuchte, den Druck der holländischen 
l'ebersetzung des theologisch-politischen Traktates 



Jakob Freudcntbal. 



ZU verhindern. Man werde es nicht mehr ver- 
wunderlich finden, dass er die Veröffentlichung der 
Ethik im Jahre 1675 unterliess, weil Theologen 
und Descartes ergebene Philosophen das Volk 
gegen ihn erregten. Man werde es nicht mehr als 
Zeichen grundloser Furcht oder anmännlicher Feig- 
heit betrachten, wenn er im theologisch-politischen 
Traktate äusserst vorsichtig auftrat und das Neue 
Testament überhaupt nicht zum Gegenstand seiner 
Kritik machte. 

Es ist eine feingimiige Bemerkung, dass 
Spinoza keiner jener kampflustigen Federhelden ist, 
wie sie die Zeit der Kenaissance und der Befor- 
mation in grosser Zahl erzeugt hat, — keiner 
jener Männer, ~ die den Kampf um des 
Kalnpfes willen suchten und einer Welt von 
Feinden entgegenzutreten sich nicht 
scheuten, wenn es galt, dem Bechte 
und der Wahrheit oder dem, was sie 
dafür hielten, zum Siege zu ver- 
helfen. Er hat neben anderen aus- 
gezeichneten Eigenschaften auch ein 
tiefes Friedensbedürfnis von seinen 
Vorfahren geerbt. Das waren nicht 
streitlustige Krieger, sondern unglück- 
selige Dulder, die wegen ihrer Religion 
und ihrer Rasse unterdrückt und ge- 
hetzt, resigniert hinnehmen mussten, 
was das Geschick über sie verhängte. 
Der Vergewaltigung mit Gewaltmitteln 
zu begegnen, konnte ihnen nicht in 
den Sinn kommen; denn sie bildeten 
eine verschwindend kleine Minderheit, 
die einer erdrückenden Uebermacht 
gegenüberstand. So verloren sie die 
Wehrhaftigteit und den Kampfesmnt alter Zeiten. 
Der Enkel dieser nur im Leiden, nicht im Kämpfen 
heldenhaften Männer ist Spinoza. „Vor Streitig- 
keiten schaudere ich zurück", sagte er einmal. 

Durch seine Quellenforschungen wie durch 
seine gründliche Kenntnis der Geschichte der 
Juden und der jüdischen Religionsphilosophie war 
der zu früh heinigegangene Gelehite wie kaum ein 
anderer berufen, die mustergiltige und nicht zu 
überbietende Biographie Spinozas zu schreiben, 
deren erster Band im Jahre 1904 erschien und 
alle bisherigen Lebensbeschreibungen Spinozas weit 
hinter sich lässt. Er war in der glücklichen Lage, 
uns neue Gesichtspunkt« zu eröffnen, die seinen 
Vorgängern wegen Mangels an diesen Kenntnissen 
entgehen mussten, Etappen seines Entwicklungs- 
ganges, die von ihnen übersehen oder unterschätzt 
wurden, in die richtige Beleuchtung zu rücken. 



AUS VERGILBTEN PAPIEREN. 



Von Prof, A. Berliner. 



Naclidruch verbalen. 



II.') 



Am Schlüsse des ersten Artikels habe Ich 
"versprochen, eine richtige Darstellung über die 
Leidenszeit der römischen Juden während des Kar- 

*. S. Hell 10/11 des vorigeji Jalirgani;es. 



uevals auf Grund historischer Dokumente folgen zu 
lassen, um hierbei zugleich auch manches, was ge- 
schichtlich nicht haltbar ist, sich aber allgemein 
eingebürgert hat, auf Grund archivalischer 
Forschungen zurückzuweisen. 



429 



Prof. A. Berliner: Aus vergilbten Papieren. 



430 



So z. B. wird im Gedächtnisse fast aller Eömer 
die falsche Tradition aufbewahrt, dass die jüdische 
Oemeinde in Rom alle acht Bennpfähle, innerhalb 
deren die Pferde beim Karneval auf dem Korso zn 
laufen hatten, liefern musste und zwar als eine 
Ablösung dafür, dass die Juden nicht mehr zur 
Belustigung der Römer und zum Gespötte derselben 
bei diesem Rennen aufzumarschieren hatten. Aber 
es ist bei Belli: J sonetti romaneschi ed. Morandi 
(Teil I, S. 339 ff.) festgestellt, dass die Judep diese 
Rennpfähle niemals zu liefern hatten. Hierbei wird 
näher ausgeführt, dass die jüdische Gemeinde bis 
zum Jahre 1847 an das Capitol an Tribut zu 
zahlen hatte: 531 Scudi (Fttnffrankstücke) und 
57 Bajocchi, welche Summe bereits in einem Diplom 
des Königs Robert vom 11. März 1334 erwähnt 
wird, als Preis für die Aufhebung einer alten 
Sklaverei, die darin bestand, dass die Juden bei 
den Volksspielen auf der Piazza Navona zur Be- 
lustigung des Pöbels als Esel ausstaffiert aufzu- 
treten hatten, ebenso auch bei den pomphaften 
Spielen des Militärs am Monte Tests ccio. Femer 
mussten sie 200 Scudi als Loskauf von einer Ver- 
pflichtung zahlen, welche bis zum Jahre 1668 be- 
stand, nämlich darin, dass sie bei dem Spazierritte 
der Magistratspersonen der Hauptstrasse entlang 
voran marschieren mussten. Bei dieser Gelegenheit 
waren sie allen möglichen Chikanen und Belästigungen 
preisgegeben. 

Endlich mussten die Juden 20 Scudi entrichten, 
durch welchen Geldbetrag sie sich seit 1828 von 
der bis dahin alljährlich wiederkehrenden Pflicht 
befreiten, die Tribüne für die Conservatoren der 
Stadt und die Richter auf dem Volksplatze her- 
zustellen. 

Dies ist der wahre Tatbestand; daher die Be- 
hauptung so vieler Schriftsteller, dass auch die 
Rennpfähle von den Juden geliefert werden mussten, 
durchaus unbegründet ist. Auch das Chirograph 
des Papstes Clemens IX, vom 28. Januar 1668, 
welches von den Abgaben und Lasten der Juden 
Roms handelt, erwähnt hiervon nichts. 

Dieser Irrtum scheint in folgender Weise sich 
herausgebildet zu haben: 

Das Statut der Stadt Rom v. J. 1580 verordnet 
bereits, dass von den 1130 Fiorinen, welche dem 
Werte von 531,57 Scudi gleich sind, von vorne 
weg 30 Fiorinen für das Lesen einer Messe ge- 
nommen werden sollten, mit dem ausdrücklichen 
Hinweis, dass diese 30 Goldgulden an die gleiche 
Summe des Juda Ischariot erinnern soUten. Das 
übrige Gteld dagegen sollte für die Karneval-Spiele 
verwendet werden, und zwar für die Schabracken, 



die Sättel und andere Verzierungen, womit das 
Pferd des Senators versehen wurde. Auch wurden 
hiervon die Kosten bestritten für die seidenen Ge- 
wänder der Gerichtsschreiber, femer bezahlt die 
Spielleute, die Ausrufer, die Trompeter, die Glöckner, 
der Stallknecht, der Barbier, der Hüter der Schweine, 
die von dem Testaccio-Berg hinuntergeworfen 
wurden. Als diese Spiele später durch das Wett- 
rennen der Berberhengste verdrängt wurden, mussten 
die Juden die früher gezahlten Grelder für die neuen 
Spiele hergeben. Noch die Bilanzen des Capitols 
bis zum Jahre 1848 weisen alljährlich 500 Scudi für 
den Karneval und für andere kleine Ausgaben nach« 

Morandi in seinen Noten zu den bereits oben 
erwähnten Sonetten Belli's kann bei der Anführung 
des betre£fenden geschichtlichen Materials (I S. 340) 
nicht unterlassen, den Ausspruch zu tun: „Somit 
ist es klar, dass die christliche Kanaille auf Kosten 
der armen Juden sich amüsierte und noch einen 
Ueberschuss einheimste. '^ Und um zum Spass noch 
den Hohn hinzuzufügen, Hessen die Conservatoren 
des Kapitels, so lange diese Tribute geleistet 
wurden, ihre Gläubigen in Prozession mit den acht 
Rennpfählen unter Begleitung der städtischen 
Musikbande aufziehen, bis unter die Fenster 
der Vertreter der jüdischen Gemeinde. 

In solcher Weise konnte allgemein die Meinung 
aufkommen und sich immer mehr befestigen, dass 
die Rennpf&hle direkt von der jüdischen Gemeinde 
geliefert wurden. 

Wie oft auch die Juden Roms die päpstliche 
Gewalt anflehten, alle die Akte dieser Grausamkeit 
abzuschaffen*), so konnten sie weiter nichts erreichen, 
als einen Auftrag des Papstes Gregor XVI. zur 
näheren Prüfung des vom Advokaten Durant im 
Namen der Gemeinde eingereichten Memorials, 
welche aber weiter kein Resultat hatte, als die 
Weigerung des Papstes, hierin etwas zu ändern, 
mit dem Motiv, welches er in der Audienz am 
6. November 1836 den mit Zittern und Beben er- 
füllten Vertretern der Gemeinde gegenüber aus- 
sprach: „dass er keine Neuordnungen liebe". Erst 
dem Papst Pius IX. sollte das Verdienst bleiben, 
mit dem Edict vom 1. Oktober 1847 hierin Wandel 
zu schaffen. 

Aus alter Zeit ist noch ein spezieller Fall an- 
zuführen, der von einer Ausnahme, welche in der 
Leistung des Tributs einmal gemacht wurde, be- 
richtet. Am vorletzten Tage des Aprilmonat im 
Jahre 1376 befreite der römische Senat die beiden 



*) Näher dargestellt in meiner „Geschichte der Juden 
in Rom" R S. 50 n. 140. 



431 



Prof. A. Berliner: Aus vergilbten Papieren. 



432 



jüdischen Aerzte von Trastevere, Manuele und 
Angelus, Vater und Sohn, und ihre ganze Familie von 
jeder Gteldsteuer und jeder persönlichen Leistung, 
weil, wie es in dem betreflfenden Dokumente 
heisst, sie in der Ausübung ihrer Praxis den 
römischen Bürgern viele Dienste erwiesen haben, 
indem sie ihre grosse Erfahrung und ihren uner- 
müdlichen Eifer mit ausgedehnter Liberalität in 
der Behandlung auch armer Kranken zur Geltung 
brachten. Als aber die Gemeinde durch eine 
solche finanzielle Ausnahme der erwähnten Glaubens- 
genossen bei der Verteilung der aufzubringenden 
Summe auf die einzelnen Mitglieder sich geschädigt 
fühlte, verweigerte die Gemeinde ihnen den Zutritt 
zu ihren Gotteshäusern. Da reduzierte derselbe 
Senat im Jahre 1385 den Tribut für die Spiele 
Agone und Testaccio um 30 G^ldgulden, solange 
die 2 Aerzte und die Söhne Angelus lebten. Da- 



für sollte aber die jüdische Gremeinde diesen 
FamUien den Zutritt zur Synagoge zum Anhören 
des hebräischen Offiziums gemäss dem Gesetze 
Mosis gestatten. Hierbei wird ausdrücklich her- 
vorgehoben, dass diese beiden Juden ausser vielen 
anderen Verdiensten auch noch darin zu loben 
seien, dass sie die armen Kranken unentgeltlich 
behandelten. Hierin, setzt Morandi hinzu, waren 
sie vielleicht die einzigen Christen in Eom. 

Nach dem Tode Manuels bestätigte der Papst 
Bonifacius IX. mit erweiterter Bulle vom Jahre 
1399 dieselben Rechte und Befreiungen zu Gunsten 
Angelos, der ebenfalls sein Arzt und Familiäre 
geworden war. Als ein bemerkenswertes Zeichen 
jener Zeit ist eine andere Bestätigung dieses Papstes, 
welche in der Bulle vom Jahre 1392 enthalten ist; 
sie ist in meiner Geschichte der Juden in Rom 
II S. 62 zum Abdruck gelangt. 



DIE JUEDISCHE PRESSE IN OESTERREICH. 

Von Josef Lin, Berlin. 



Nachdruck verboten. 



Die Entstehung der jüdisch-periodischen Literatur 
fällt mit dem Abschluß des Mittelalters für die Juden 
in Zentral- und Westeuropa um den Beginn des XIX. 
Jahrhunderts zusammen. Die neuen Geistesströmungen, 
welche in die finsteren Ghettos eingedrungen waren, 
erheischten neue Ausdrucksformen. Voran gingen die 
deutschen Juden, die von den Aufklärungsideen des 
XVIII. Jahrhunderts zuerst ergriffen wurden. Moses 
Mendelssohn und sein Freundeskreis leiteten die neue 
Phase der jüdischen Kulturgeschichte ein. Und aus 
diesem Kreise ging auch der eigentliche Beginn der 
jüdischen periodischen Literatur hervor. Die soge- 
nannte „Berliner Hascalah" schuf sich im Jahre 1783 
ein Organ in der hebräischen Monatsschrift „Hameassef 
— „Der Sammler" — , zu deren Mitarbeitern auch 
Mendelssohn, Hartwig Wessely, Friedländer, der Philo- 
soph Salomon Maimon, Prof. Marcus Herz und viele 
andere bedeutende Dichter und Denker zählten. Die 
Hauptaufgabe dieser ersten hebräischen Zeitschrift 
war, das Bildungsbestreben auch auf die große Masse 
der deutschen Judenheit — die zu jener Zeit in ihrer 
überwiegenden Mehrheit die hebräische Sprache be- 
herrschte*) — zu übertragen. Der Einfluß der „Ber- 
liner Aufklärung" sollte aber nicht auf Deutschland 
allein beschränkt bleiben, sondern weit über dessen 
Grenzen hinausreichen. Die erste Etappe war Öster- 
reich. 

Die „Measfim"-Richtung fand dort zunächst bei- 
nahe imverändert ihre Fortsetzung. Die jüdisch-perio- 
dische Literatur beginnt in den Donauländern mit den 
sehr bedeutenden, von Schalom Kohn begründeten 
hebräischen Jahrbüchern „Bikkure haittim" („Zeit- 
früchte"), welche in Wien 1820 — 1831 erschienen und 



nach einem Vermerk auf dem Titelblatt des ersten 
Bandes „ein nützliches und lehrreiches Geschäfts- und 
Unterhaltungsbuch zuin Neujahrsgeschenk für gebildete 
Hausväter und Hausmütter, als Prämienbuch für die 
fleißig lernende Jugend"**) sein sollten. Die „Bikkure 
haittim" wurden aber mehr als „ein Geschäfts- und 
Unterhaltungsbuch", — sie wurden zu einer Bildungs- 
quelle für die österreichische Judenheit, zu einem 
Sammelplatz aller führenden „MaskiUm" in Österreich- 
Ungarn. Was der „Hameassef* in Deutschland be- 
deutete, das wurden die „Bikkure haittim" in der 
Donau-Monarchie. Zu ihren hervorragendsten Mit- 
arbeitern gehörten auch der geniale S. D. Luzatto, der 
geistvolle J. S. Reggio, der Sprachgelehrte J. B. Schle- 
singer und S. J. Rapoport, der neben Zunz der Be- 
gründer der neujüdischen Wissenschaft wurde. 1825 
bis 1831 waren die „Bikkure haittim" das einzige 
periodische Literaturerzeugnis der gesamten Judenheit. 
Das Programm dieser Jahrbücher war zum größten 
Teile dem des „Hameassef" nachgebildet. Mehrere 
Auszüge aus dieser Monatsschrift wurden sogar wörtlich 
in den „Bikkure haittim" nachgedruckt, die in der 
Kopierung ihres berühmten Vorgängers schon eine ge- 
wisse geistige Unselbständigkeit zeigten. Der deutsche 
Einfluß zeigte sich besonders in ihrem dichterischen 
Teil, der mehrfach in deutscher Sprache ab- 
gefaßt und mit hebräischen Buchstaben 
gedruckt war. Der wissenschaftliche Teil enthielt ins- 
besondere Bibelkritik, philologische und kulturge- 
schichtliche Studien. Der Charakter der „Bikkure 
haittim" war gemäßigt, bildend, entwickelnd, positiv, 
nicht polemisch, — auch hierin ihrem Vorgänger in 
Deutschland verwandt. Eine andere Färbung nahm 



*) Die Berliner Gemeinde -Bücher wurden z. B zu **) Vergl M. Weissberg: Die neuhebräische Auf- 

jener Zeit hebräisch geführt. klärungsliteratur in Galizien. Wien 1898. 



435 



Josef Lin, Berlin: Die jüdische Presse in Oesterreich. 



436 



die jüdische Presse in Österreich an mit dem stärkeren 
Hervortreten der galizischen Elemente, welche im 
zweiten Viertel des vorigen Jahrhunderts die führende 
Rolle in der österreichischen Hascalah hatten. In 
Galizien stießen die Aufklärungsbestrebungen auf den 
hartnäckigsten und erbittertsten Widerstand seitens 
der konservativen Talmudisten und der fanatischen 
Chassidim. Die Fortschrittspioniere waren den un- 
erhörtesten Verfolgungen ausgesetzt imd mußten fort- 
während schwere Kämpfe bestehen. Und so stand 
auch die dortige Hascalah-Presse im Zeichen des 
Kampfes, der häufig einen sehr radikalen Charakter 
trug und sich mitunter auch gegen den Talmud und 
gegen die absolute und imveränderliche Giltigkeit 
seiner rituellen Vorschriften richtete. Der polemische 
Charakter zeigte sich bereits im „Kerem Chemed" 
(„Lieblicher Weinberg"), der im Jahre 1833 vom 
Galizianer S. L. Goldenberg begründet wurde und von 
dem neim Bände in unregelmäßigen Zeitabständen 
in verschiedenen Städten erschienen sind. Das galizische 
Dreigestim jener Epoche: der erste hebräische Hegeli- 
aner, der „galizische Mendelssohn" Nachman Kroch- 
mal; der große Historiker und Dichter S. J. Rapoport 
und der unübertroffene Satiriker und hebräische Sprach- 
meister Isak Erter nahmen hervorragenden Anteil am 
„Kerem Chemed", ebenso der edle Josef Perl, Luzatto 
und Zunz. Radikaler und schärfer in Inhalt und Form 
als dieses Hascalah-Organ war das hebräische Sammel- 
werk „Hecholuz" („Der Pionier"), das von dem mutigen 
und schonungslosen Kritiker und geistvollen Satiriker 
Osias Schorr herausgegeben wurde und in zehn Bänden 
in verschiedenen Zeiträumen zv^ischen 1851 und 1877 
erschienen ist. Der zum größten Teile von seinem Her- 
ausgeber selbst ausgefüllte „Hecholuz" enthielt eine 
sehr freie Bibelkritik, Befehdung des Grundsatzes von 
der Göttlichkeit und Unfehlbarkeit des Talmuds, 
leidenschaftliche Angriffe gegen die die Lebensbedürf- 
nisse ignorierenden Rabbiner, die Forderung nach 
einer Reformierung der jüdisch-religiösen Vorschriften, 
dem Zeitgeiste und den Gegenwartsbedingungen ent- 
sprechend. Dieses Hascalah-Organ, zu dessen Mit- 
arbeitern auch Abraham Geiger zählte, ging in seiner 
Bekämpfung der Tradition soweit, daß es selbst von 
Aufgeklärten wie S. J. Rapoport als zu radikal und ein- 
seitig mißbilligt wurde. 

Viel gemäßigter war das von A. W. Menkes und 
Josef Cohn Zedek begründete hebräische Wochenblatt 
„Hamcwasser" („Der Verkünder") in Lemberg, welches 
von 1860 — 1870 erschien und auf die öffentliche Mei- 
nung der galizischen Judenheit großen Einfluß hatte. 
Diese Wochenschrift befaßte sich viel mit Politik, in 
der sie im allgemeinen eine fortschrittliche Richtung 
vertrat, was sie nicht verhinderte, die JVotwendigkeit 
einer „jüdischen Politik" zu propagieren. Seine vier- 
zehntägige Uterarische Beilage „Hanescher" („Der 
Adler") brachte auch Übersetzungen von Byron, Uh- 
land, Kants „Kritik der reinen Vernunft", allgemeine 
naturwissenschaftliche Abhandlungen von Dr. Rubin, 
d(^sen „Maasse taatuim" vom Spinoza-Übersetzor 
J. Stern unter dem Titel „Die Geschichte des Aber- 
glaubens" ins Deutsche übertragen worden ist. 

Eine zweite Beilage „Halichauth Olam" war 



speziell dem Studium der Geschichte der Juden in 
Galizien gewidmet, auf welchem Gebiete der Redakteur 
Josef Cohn Zedek eine bedeutende Autorität war. Der 
„Hamewasser" war in allen Schichten der galizischen 
Judenheit, selbst unter den Orthodoxen, verbreitet. 
Einen geringeren Einfluß hatte die von Baruch \\ erber 
begründete hebräische Wochenschrift „Haiwri" mit der 
theologisch-wissenschaftUchen Beilage „Iwri onauchi" 
in Brody, welche von 1865 — 1890 erschien. Die Has- 
calah-Epoche in Galizien war inzwischen in die Annalen 
der Geschichte übergegangen. Es war eine große Epoche. 
War auch manches an ihr naiv und einseitig, so war sie 
doch reich an schöpferischen Kräften und von hohem 
Idealismus getragen. Es war ein Aufblühen der jüdischen 
Geisteskultur in der polnischen Provinz, und sie hint^^r- 
ließ der jüdischen Literatur unvergängliche Schätze. 
Die Hascalah konnte sich jedoch in Galizien, wohin sie 
sich vom gesamt-österreichischen Reiche zurückgezogen 
hatte, nicht dauernd behaupten. Sie war zu abstrakt 
und allgemeiner Natur und hatte sich dem spezifischen 
psychischen Zustand, den Stimmungen der dortigen 
Judenheit, sowie ihren konkreten sozialen Bedürfnissen 
zu wenig angepaßt; und in der zweiten Hälfte des Jahr- 
hunderts erfolgte ihrNiedergang und ihr gänzlicherVerf all . 

Von den inzwischen völlig .europäisierten west- 
lichen Provinzen waren in Galizien Einflüsse einge- 
drungen, die nicht dazu angetan waren, das Judentum 
dort zu stärken. Es entstanden assimilatorische Be- 
strebungen nach zwei Richtungen hin: einer deutschen 
und einer polnischen. Die erste wurde von dem von 
David L. Lßwin in Wien 1882 begründeten hebräischen 
„Zir neemon" („Treuer Bote") vertreten; das Organ 
der zweiten Richtung war der vom Verein „Agudath 
Achim" („Brüderbund") in Lemberg hervorgegangene, 
von 1881 — 1886 erschienene hebräische „Hamaskir" 
(„Der Mahner") mit der polnischen Beilage „Ojczyzna" 
(„Vaterland)". Also hebräische Blätter zur 
Propagierung der Assimilation — , und eines davon er- 
strebte die Assimilation der Juden in Polen mit dem 
Deutschtum ! 

Als Reaktion gegen die Assimilationsbestrebungen 
setzte — durch Einflüsse aus Rußland und \mter dem 
Eindruck des Antisemitismus im eigenen Lande — im 
letzten Viertel des Jahrhunderts die neueste Phase 
der jüdischen Presse in Österreich ein, die im Zeichen f r- 
neuten Erwachens des jüdischen Bewußtseins steht. Es 
ist eine Epoche der Gährung, der Aufrüttelung schlum- 
mernder Kräfte, die nach Ausdruck und Betätigung 
ringen, die aber noch keine krystallisierte Form ge- 
funden haben. Licht und Schatten wirken neben- 
einander, teils miteinander. Neben Erscheinungen 
der Renaissance altmodische, kurios anmutende Er- 
zeugnisse. Neben aufstrebenden Willensäußerungen 
Zeichen geistiger Armut und intellektueller Ohnmacht . 

Die galizische Judenheit zeigt seit einem Menschen- 
alter das Bild eines aufnahmewilligen Geistes- 
konsumenten, der aber sehr wenig Produzent ist. 
Die literarischen Produktionen anderer Länder — 
besonders Rußlands — finden dort ein gutes Absatz- 
gebiet; dagegen zeigt die dortige Literatur keine 
eigene Schöpferkraft. Die wenig zahlreichen bedeutenden 
Sihriftsteller aus Galizien produzieren auch meistens 



NATHANIEL SICHEL 



NATHANIEL SrCHEL 



NATHANIEL SICHEL. 



Es gibt nnr wenig KttusUer, deren Werke mit 
Hilfe photographischer Mittel mehr verbreitet worden 
wären als die SicheU. Die dunkeläugigen Fraaen- 
geatalten, mit den schwarzen lockigen Haarwellen um 
das südländische Gesicht, angetan mit reichem Schmnck 
und weiblich selbstge^ligem Stolz wurden die Lieb- 
liogsbilder eines grossen Publikums. Sie hatten viel 
von jenem Reiz, der bei der 
AUgemeinbeit unmittelbares 
Gefallen erregt. Der Erfolg 
beim grossen Publikam liess 
Sichel an seiner Art fest- 
halten nnd trotz der gegne- 
rischen Beorteilnng von 
kritischer Seite seine ge- 
fällige Manier weiter Üben. 
So betätigte sich seine ma- 
lerische Phantasie auf dem 
Spezialgebiet des dekorativen 
Phantasieporträts. 

Es sind jnnge, sinnlich 
trSnmerische Frauen, mit 
exotischem Schein nnd süd- 
ländischer Schwüle, die er 
darstellt. In voller Ent- 
wicklung prangt ihr reifer 
Körper, sUsse orientalische 
Mattigkeit liegt auf ihnen, 
in sentimentaler Untätigkeit 
blicken sie uns an. Sie 
sind geschmfickt wie reiche 
Bräute des Orients oder in Nathaniel Sichel. 



leichtes antikisches Phantasiegewand gehüllt; Kettchen, 
Spangen nnd Geactmieide stützen die Gewandfalten nnd 
glitzern an den braunen Armen, anf dem entblOssten 
Hals, an dem Gurt an der Brust. So verkörpern sie 
eine Franengestalt der Bibel oder der Dichtung oder 
geben ohne bestimmte Beziehung nur ein Bild der 
schönen Frauenwelt des Südens mit einer Mischung von 
leiser Melancholie in ihrem 
dolce f&T niente. 

Durch zwei Dinge sucht 
Sichel die tränmerische 
Stimmung zu steigern, durch 
Musik und durch sonnige 
Gestade im Hintergrund. 
Seine Deborah, die „Bettlerin 
vom Pont des Arts", seine 
Mignon und andere Ideal- 
bUdnisse haben ein Saiten- 
instrument in derHand, daran 
rühren noch die Finger, wäh- 
rend die Augen sinnen und 
in die Ferne schweifen. So 
sucht er den Eindruck zu 
erwecken, als klingen und 
verklingen Töne nra die 
Geslult und sei eine Mignon- 
Stimmung um das schöne 
Frauen bild gebreitet. Zu- 
weilen aind's zwei Frauen- 
ges tulten, die in mUssiger 
Träumerei bei einander 
weilen, ihre dunklen Augen 



443 



Nathaniel Sichel. 



ins Weite senden, während der klare Himmel am sie 
blsat Anf boliem Gestein sitzen oder lagern sie, die 
Helligkeit der AtmospbSre lässt die Plastik ihrer Leiber 
hervorti-eten ; hinten dehnt sich das endlose Meer, die 
Stadt windet sich tun die hügelige Bucht, daraus 
Kappeln und Hinarets zur Hohe steigen. 

Sicheis Frauen gestalten, die biblische Persönlich- 
keiten verkörpern, entsprechen nicht gerade dem 
Charakter, der sich aus der biblischen Erzählung ergibt. 
Ea ist mehr das fraulich schöne Dasein mit einer all- 
gemeinen Beziehung zum Morgenland als eine speziUach 
charakterisierte Persönlichkeit, was er darin darstellen 
will. Die Eampfesheldin Deborah anterscbeidet eich 
höchstens durch etwas Ernst von der gastfreundlichen 
Kebekka oder der Tochter Jephtahs. Es ist mehr eine 
Xosserliehe Bezeichnung, wenn diese reizvollen modernen 



Geschöpfe solch ehrwürdige Namen tragen, wie sie ja 
auch zuweilen mit Namen wie „Mirjam" oder „Esther" 
belegt sind, ohne Hberbaupt Beziehang zur Bibel zu 
haben. Stfirend wirkt dieser Umstand bei Bildern wie 
die Judith. Die verführerisch schöne Gestalt, mit dem 
loseu Gewände ist reicher an Pose wie an heldischer 
Frauengrösse; die Magd hinter ihr, geschmückt wie die 
Herrin, steht za gemeinsamer Repräsentation neben ihr. 
So berUcken sie alle Welt, während sie heimlich zu 
des Holofernes Zelt hin wollen. 

Die Zahl der Werke ist gross, die der rührige, 
aus Mainz gebürtige, nunmehr 63jährige Künstler 
geschaffen hat, und in alten klingt dieselbe Melodie 
hindurch, mit der er des Weibes Schönheit und Reiz 
unermüdlich besingt. 



EINE MISSETAT. 

Von D. Aismann aus dem Russischen. 



Es war noch ganz' dunkel, als der Droschken- 
kutscher Lcjier sich von dem Lumpenbündel erhob, 
das ihm als Lagerstatt diente. Er zündete das kleine 
messingne Lämpchen an und begann sich anzukleiden. 
Seine Bewegungen waren langsam, unwillig, er hustete, 
stöhnte und fuhr sich mit dem Ellbogen über die 
Seiten, dann 
^viede^ rieb 
er den Rük- 
ken an der 
Wand. 

Weiß ich? 
Weiß ich, 
was sein 
wird? — 
sprach er in 
Gedanken 
zu sich. — 
Nur Gott, 
der Allmäch- 
tige kann 
wissen. Was 
ist der 
Mensch? 
Der Mensch 
kann gar 
nicht wissen. 
Er fing 
an zu beten. 

Aber er 
dachte nicht 
an dieWorte, 
die er leise 
murmelte, 
sondern dar- 
ani daß or 
nichtwulite, 
NATHANIEL SICHEL BERLIN. ^^ ,]^j. jgg 

Die Bettlerin vom Pont des Arta. zu F.nde 



Nichdnick verboten. 

gehen würde, und ob die Kinder heute satt werden 
sollten. 

AU er sein Gebet beendet hatte, zog Lejser seinen 
alten Kutschermantel an, band den Riemen um die 
Hüften fest und schritt vorsichtig mit großen Schritten 
über die auf dem Boden schlafenden Kinder hinweg 
zur Tür. In diesem Moment fiel sein Blick auf das 
Küchenbord und ein kleines Stück Brot, das darauf 
lag. Er wurde kleinmütig. 

„Socie", sagte er leise und tragend, und wandte 
sich an sein \\'eib, eine große, hagere Frau, die eben 
schweigend vom Ofen heruntei^k rochen war und 
schweigend auf einem umgedrehten Backtrog hockte. 

„Nu!" 

Dieses Nu ernüchterte Lejser wirklich — 

was fiel ihm einl Die Kinder! .... 

Er räusperte sich und griff nach der Türklinke. 

„Was denkst du dir eigentlich", schrie Socie 
herausfordernd, „wirst du endlich einmal Arbeit 
bekommen?" 

Lojicr blieb stehen. 

„Kann ich wissen .... vielleicht wird der Herr- 
gott segnen . . , ," 

„Du kannst nichts wissen .... nichts! Andere 
wissen, andere arbeiten." 

„Nu ich, will ich denn nicht arbeiten?" — Lejser 
schaute seine Frau traurig an. — „Was soll man 
tun! Der Bug*) ist zu, Weizen fährt man nicht, 
nirgends ist Arbeit. Wenn ein Mensch um eine Fuhre 
kommt, stoßen sich zwanzig." 

„Stoß' du dich auch!" 

„Ich geb mir Mühe . ... ich tue alles." 

„Du tust nichts, du bist ein Hundsfott, du schlöfst 
auf dem Bock, du wirst nie Arbeit haben," 

Lejser seufzte und schlich hinaus. 

Im Schuppen stand Krapuntschik, eine weißliche 
blinde Stute mit langem struppigen Maul, mit ge- 



•) Ni'bcnfliisB des Dnjepr. 



D. Aismanti: Eine Missetat 



bogenem, wie zerttrochenem Rücken und mit breiten, 
flactieit, tellerartigen Hufen. Stolpernd und an den 
langen schleppenden Stricken streichelnd, spannt« 
Lejser das Pferd ein. Dann ergriff er die sch&bigen 
Zügel und fuhr langsam zum Tore hinaus. 

Er war schon in der Mitte der Straße als im Hof 
eine eilige Stimme „Täte, Tat«" zu rufen begann. 
Eine große Frauengestalt, in ein dickes Tuch gehüllt, 
lief ihm nach, erreichte den Wagen und schob ihm 
etwas in die Hand. 

„Na, da hast du, nimm." 

Lejser schob sie zurück. 

„Und die Kinder", sagte er unschlüssig. 

Zwei große eingefallene Augen blitzten ihn 
zornig an. 

„Nu was denn, wenn die Kinderl Du brauchst 
' nicht zu essen?" 

„Ich werde Arbeit bekommen, so werd' ich 
kaufen." 

„Verdreh' mir nicht den Kopf .... Kaufen .... 
Und wenn du keine Arbeit bekommst? .... Einen 
ganzen Tag in der Kalte nicht essen .... Wenn du 
umfftlbt, was dann?" 

Lejser hüstelte, dann nahm er das Stückchen 
Brot, das die Tochter ihm reichte und zwei Zwiebeln 
und trieb seine Stute an. 



Auf der Fahrstraße lag tiefer, zäber Kot. Die 
Rader drangen bis zur Hälfte der Speichen in die dicke 
Masse, wenn der Boden ein Loch hatte, sogar bis zur 
Achse. Lejser schritt neben seiner Fuhre, und schob 
sie in kritischen Momenten mit den Schultern vor- 
wärts, manchmal hob er auch die Räder. Das Pferd 
ennunt«rte er mit freundlichen Reden und streichelte 
es kitzelnd mit den Zügeln. 

„Njo, r.jo, lustiger. Wenn wir nur das Maul auf- 
sperren, kriegen wir nichts hinein, du weist das ganz 
gut, Krapuntschik." 

Als sie auf die gepflasterte chersonsker Straße 
kamen, schlug Krapuntschik ein rascheres Tempo 
ein. Lejser kletterte auf sein Fuhrwerk, setzte sich 
auf den Rand und ließ die Beine baumeln. Der Nebel 
schwand allmählich, die Strohdächer der kleinen 
Häuser traten hervor und dazwischen die endlosen, 
an manchen Stellen eingefallenen Zäune. Der Wind 
blies Leiter in den Röcken und die dünnen Schnee- 
flocken, die in der Luft umherwirbelten, setzten sich 
ihm in den Bart und auf die struppigen Brauen. Dann 
schmolzen sie auf seinem Gesicht und tropften hin- 
unter. Lej^r holte einen Sack unter dem Sitz hervor 
und machte sich eine Kaputze. Aber der Wind riß 
sie ihm sofort vom Kopfe. Er versuchte es noch ein- 
mal, aber endlich ergab er sich in sein Schicksal und 
l^te den Sack in den Wagen zurück. Nun saß er 
mit zusammengezogenen Schultern da, und ließ sich 
demütig von Wind und Schnee mißhandeln. 

Jente ist gut, dachte er zähneklappernd und 
klopfte mit den Stiefeln gegen den Wagen — sie hat 
mir Broi gebracht .... Nu, ich brauch' gar kein 
Brot. Kann ich essen, wenn die Kinder nichts haben . . . 
Das ist kein Brot für mich, sondern Eisen .... Aber 



NATHANIEL SICHEL 



was? Wenn man so überlegt, kann der Mensch denn 
leben, wenn er nicht Ißt? .... Am Jun-Kipur ißt 
man auch nicht, man fastet — aber es ist doch nur 
ein Tag .... Tags vorher ißt man sich ordentlich 
satt, und dann sitzt man in der warmen Synagoge 
und betet .... Und manche, die sind so zart, daß sie 
nicht einmal das aushalten: sie müssen was riechen, 
so was Starkes oder in die frische Luft hinaus, spazieren 
gehen .... Nu, und ich habe mich gestern hungrig 
schlafen gelegt, und vorgestern habe ich nicht ordent- 
lich gegessen, und es sind vielleicht schon zwei Wochen, 
daß ich nicht satt gewesen bin .... Und die ganze 
Familie ist hungrig, ist das ein Spaß, wenn das Weib 
und so viel Kinder hungern? Gott soll mich nicht 
strafen für diese Worte, aber ich bereife nicht, warum 
er das so macht .... 

Eine halbe Stunde kam Lejser auf den Markt- 
platz. 

Auf dem breiten, unheimlich schmutzigen Platz, 
.stand ein hoher offener Schuppen, dessen verbogenes 
Dach dunkel an chinesische Bauart erinnerte. In 
seiner Mitte befand sich ein alter, halbverschotteter, 
längst nicht mehr brauchbarer Brunnen. Das war 
der städtische Kutscherstand. Zwei Ehitzend Fuhren 
etwa standen schon umher und fortwährend kamen 
noch neue. 

Leiter gelang es für Krapuntschik einen guten 
windgeschützten Platz ausfindig zu machen. Als 
Krapuntschik stehen blieb, senkte er sofort den 



447 



D. Aismann: Eine Missetat 



448 



struppigen Kopf und schnupperte nach Heu, doch 
Lejier hatte kein Heu. Er bedeckte das Pferd mit 
einer zerrissenen Decke, klbpfte ihm freundschaftlich 
auf die Stirn und schritt selber unter das Wetterdach 
des Schuppens. Lange hielt er's da nicht aus. Der 
Wind drang durch alle Sparren und pfiff erbärmlich. 
Da war es draußen im Schneegestöber schon besser. 
Er kehrte zu Krapuntschik zurück und kletterte wieder 
auf seinen Sitz. 

So ist das menschliche Leben, dachte er, man 
braucht Arbeit und man hat keine Arbeit. Der Mensch 
braucht zu essen, und er hat nichts zu essen. Der 
' Mensch kann nicht wie eine Telegraphenstange den 
ganzen Fag im Schnee und Wind stehen. Nu? wie 
soll man das verstehen? .... Ich Icann es nicht 
vorstehen .... Oder dann: Gott hat mir elf Kinder 
gegeben, nu, fünf davon sind gestorben und gerade 
die Jungen. Jungen kann man in die Lehre geben, 
zu einem Schneider, zu einem Klempner, später 
vielleicht in ein Geschäft. Und was soll man mit 

Mädchen machen? Wie soll man sie verheiraten? 

Nu und Jente, Gott hat mir geholfen, und ich hab' 
sie verheiratet, was ist mit Jente? .... Solch' eine 
Geschichte ist das geworden : ihr Mann wird verrückt, 
m^ sperrt ihn in's Irrenhaus, und sie kommt mit 
zwei Kindern und schwanger zu mir zurück .... 
Solche Geschäfte das .... Und wenn ihre Kinder 
wenigstens gesund wären — nicht einmal das .... 
Was? Mir allein kann ich die Wahrheit sagen, vor 
mir brauche ich mich nicht zu schämen: wenn Schmilek 
hustet, zerreißt sich alles in mir in Stücke, und wenn 
er weint und um Essen bittet und es ist niclits zu 
essen da, dann weine ich ... . Ich weine, nu . . . . 
Ich kann mich nicht zurückhalten, ich dreh' mich um 
und weine .... 

„Du nachdenklicher Engel", schrie hinter Lejsers 
Rücken ptzt ein Fuhrmann; es war der rothaarige 
baumlange Schlomke Hitzel. — „Dich weniger breit 
machen, kannst du nicht, Gold." 

Lc j ^er sah sich ängstlich um und zog seine Beine 
ein. Hitzel schimpfte jüdisch und russisch durch- 
einander, stieß Krapuntschik roh in den Rücken und 
stellte seinen Wagen auf. 

Und warum soll ich nicht weinen, fuhr Lejser 
in seinen Gedanken fort. — Warum? Wenn Schmilek 
eine Lunge schon fehlt, und er so eine schreckliche 
Wunde am Fuß hat, die immer brennt .... Schmilek 
braucht Lebertran und Milch und einfe gute Salbe 
imd es ist gar nichts da ... . — 

Lr j er hob den Kopf und sah sich um. 

Milch gab es nach Belieben. Die Milchweiber 
begannen gerade sich auf dem Marktplatz aufzustellen 
imd man sah sie ganz deutlich mit ihren Kannen. . 
Auf der entgegengesetzten Seite des Platzes glitzerten 
im Nebel die weiten Flügel eines vergoldeten Adlers. 
Das war die Apotheke. Dort gab es natürlich Salben 
für kranke Füße und Lebertran und alle möglichen 
Arzneien für die Lunge. — 

Ja, nu was, wenn der Herrgott nicht will, daß 
es für uns sein soll .... Und ich soll so nicht wissen 
von Schlechts, wie ich nicht weiß, warum er auf uns 
böse ist ... . Und was wird mit uns, wenn ich zum 



Beispiel wirklich zusammenfalV . . . . Ich will essen, 
ich will schrecklich essen .... — 

Lej^r betastete das Brot und die Zwiebeln im 
Gürtel, schnalzte mit der Zunge und spuckte aus. 

Mir ist kalt und das Wasser rinnt mir den nackten 
Rüöken herunter .... Bin ich aus Eisen .... 
Ich kann krank werden .... Wenn alles so wUr* 
wie es zu sein hat, müßte ich jetzt mein Brot essen 
und in „England" Tee trinken oder gar einen Teller 
Fleischernes essen — und keine Möglichkeit. Ich 
will so essen, daß mir die Seele zum Leib herauskriecht, 
und keine Möglichkeit. 

Lejsers Füße Wurden so kalt, daß er sie nicht 
begann umherzustampfen. 

Uj, uj, uj! Wie kalt, so schrecklich kalt . . . , 
Ich könnte doch in's „England" hineinschauen — so 
als wenn ich jemand suchen würde und mich dabei 
wärmen; aber man kann einen Kunden vergessen. . . . 
Es kommt immer so heraus, wie zum Trotz: man 
paßt auf wie ein Kettenhund die ganze Woche und 
kein Mensch kommt, imd dann geht man für fünf 
Minuten weg, so kommen die Leute von allen Seiten. . • 

man muß schon leiden. — 

• « 

# 

Gegen zehn Uhr kam^ine jüdische Frau in einem 
Männerpelz und eben solchen Stiefeln auf den Markt- 
platz und verlangte vier Fuhren zu einem Möbel* 
transport. 

Sofort stürzten sich an zwanzig Leute auf. 
sie. Ein ungeheurer Spektakel begann, man hätte 
glauben köni^ien, daß ein Mensch buchstäblich in Stücke 
zerrissen wird. 

Lojser versuchte ebenfalls sich in das Gedränge 
zu mischen, wurde aber von zwei gesunden Burschen 
zurückgestoßen. Er wagte eis nicht seinen Versuch 
zu wiederholen und blieb hinter den anderen stehen. 
Aber er hob die Hände empor und schrie atemlos: 

„Hier bin ich .... ich ... . ichwerde fahren.. . 
ich." 

Schlemka Hitzel bemächtigte sich indessen kurzer- 
hand der Frau und schleppte sie am Gürtel ihres 
Pelzes bis zu seiner Fuhre. 

„Ihr braucht nicht vier Fuhren", brüllte er. 
„Zwei sind auch genug. Ich und mein Kamerad .... 
wir machen es hintereinander." 

„Laßt mich los .... Ich will nicht zweimal. 
Das dauert lange .... Die Tage sind kurz jetzt .... 
Ich will alles auf einmal." » 

„Was lange . . . . ' gar nicht lange .... wir 
fahren im Galopp .... Setzt euch auf, hopp!" 

„Laßt mich .... wartet." 

„Was warten .... Es ist keine Zeit zu warten. 
Die Tage sind kurz. Setz' dich, Balbuste, setz' dich 
auf. Ich kenn' dich, ich weiß, wo du wohnst, in der 
Fischgasse." 

„Gar nicht in der Fischgasse, in der Engen- 
Straße." 

„Ist mir ein Unglück, was, wenn du in der Engen 
wohnst? Also hopp, setz' dich auf, geschwind." 

Das allgemeine Geschrei wurde noch lauter. Alle 
Fuhrleute fielen über Hitzel her, und riefen, er fange 
wider Recht und Sitte die Kundschaft ab ... . 



449 ^- Aismann; Eine Missetal. 

„Verbrennen solH Ihr, ver- " 
fluchte Pfuscher! Kehlen haben 
sie." — 

Eine Reibe kräftiger Worte 
folgte. 

„Hol' euch der Teufel, Also 
werft das Los." 

Hitzel warf seine Peitsche hin, 
ein anderer packte sie in der 
Mitte an, worauf alle, die fahren 
wollten, die Schnur mit dem 
Zeige* und Mittelfinger wie eine 
Schere umklammerten. Wessen 
Hand zu oberst lag, der hatte 
gewonnen. 

Lejser nOherte sich ebenfalls 
der Gruppe, doch Hitzel stieß 
ihn mit der Paust vor die Brust. 

„He! Wohin kriechst du?" ■ 

Das geschah Lejser immer, i 
wenn die anderen das Los 
warfen, und das war einer der 
Gründe, warum er so selten 
Arbeit bekam. Er war schw&ch- 
lich und überdies gutmütig, und 
die anderen wußten es wohl. 
Die»nal aber kam ihm „die 
Kundschaft" selber zu Hilfe. 

„Nein, er auch", befahl sie. 

„Der Rebbe! Zu allen Teu- 
fein! Er hat ein krepiertes Pferd." 

„Nein, er soll auch," 

„Sein Pferd hat noch zu 
Salomons Tempel Steine geführt." 

„Wenn er nicht mittut, nehm' 
ich niemand." 

Hitzeb merkwürdige Rede- 
weise, sein Räubergesicht und 
seine originellen Bewegungen 
hatten die Frau erschreckt. Sie 
war überzeugt, daß er die HSifte 
der Möbel stehlen und zerbrechen 
würde. Die anderen Fuhrleute 
kamen ihr auch nicht sehr ver- 
trauenerweckend vor. Lejser war 
der einzige, der ihr wie ein 
Mensch vorkam, und sie hätte 
gerade ihn gern gehabt. 

„Ich will nichts wissen . . . 
er soll dabei sein", erklärte sie 
bestimmt. 

Das ermutigte LejsGr, und 
er näherte sich der Gruppe 
wieder, um die steifen Finger ah 
die Schnur zu legen. 

Herrgott, tu', daß ich oben 
bin, betete er unter Herzklopfen. 
— Hilf mir ... . nicht für 
mich, für Schmück. - ^„ ^^^ ,„ ,..u„«,h,...« o««..!,^ 

Der Herrgott war Schmilek 
gBüdig und I^j,crr, Gebet .T,rd» NATHANIEL SICHEL 
erhört. Die Mädchen von Tanger, 



„U-wa! gut .... es riecht .... U-udi! wie 
gut .... niclit zu glauben gut . . . ." 

l^ejier leckte an seinen Fingern und sclinahle 
dann. 

„Großartig .... Nu, j tzt muß man den Kessel 
zudecken .... Wo ist der Deckel? Aha, liier . , , , 
Der ist einlach wo anders hingegangen .... Man 
muß zudecken .... Sonst gießt sicli alles aus und 
gar nichts . . . ." 

Lejior deckte den Braten zu und trat zurück. 
„Uch! wie das riecht .... was legt man denn 
da hinein, daß es so riecht? .... Zimmt? muß schon 
so sein, Zimmt . . , ." 

Die Fuhre versank plötzlich halb in einem tiefen 
Loch und 
wieder klap- 
perten die 
Töpfe. 

„Nu ein 
Pflaster . . . 

auch ein 
Pflaster . . . 
auf einem 
solchen 
Pflaster kann 
man alle 
Töpfe zer- 
brechen und 
alles verschüt- 
ten." 

Um den Kes- 
sel zu schüt- 
zen, türmte 

Lejicr die 
Töpfe rings 
um ihn. Die 
Operation ge- 
lang völlig, 
aber seine 
Hand tauchte 
dabei wieder 
in die Sauce. 

„Nein, 
das ist nicht 

Zimmt", 
a^te er wie- 
der die Finger 
ableckend, 
„sicherUch 
nicht 
Zimmt .... 
es ist gar 
nicht dieser 
Geruch .... 
Und es riecht 
so gut .... 
Uj , uj, wie 

gut 

wenn das so 
riecht, wenn's 

kalt ist, wie ist U" a...Lmlfgn. der FkoU(r>p 

es erst, wenn NATHANIEL SICHEL Hin: 



man's warm macht. Ein paiadiesischer Geschmack 
muß es dann sein .... bei Gott! .... So, nu und 
ptzt erinnere ich mich, ich hab' so einen Braten schon 
t-inmat gegessen .... sicherlich hab' ich's schon 

gegessen aber bei wem? . . . ." 

L(i>ci' steckte eine kleine Kartoffel in den Mund. 
„Ganz genau so, ebenso hab' ich's gegessen .... 
Nu, ich weiß es ganz bestimmt .... aber wo und 
wann, das weiß ich nicht .... Nu, ich werd' ein 
Stückchen Fleisch kosten .... ein kleines- Stück, 
ein Knöchelcben . . . . ej, aj, wie gut das ist ... . 
alle Goschmäcke sind da zusammen .... wie Balsam 
geht das durch alle Glieder .... Mich wundert, 
daß ich nicht mehr weiß, bei wem ich das eß . . . . 
einfach ärger- 
lich 

Ich kann 
schwören, ich 
kann bei allem 

Beliebigem 
schwören, daß 
ich's schon 
einmal aß, wo 
— weiß ich 
nicht ..... 
ganz so 

war's 

Es riecht und 
damals roch 
es auch .... 
A — n das ist 
nicht Zimmt, 
das sind Lor- 
beerblätter! 
Das sind ein- 
fach Lorbeer- 
blätter und 

Gewürz- 
nelken .... 
NatürUchLor- 
beerblätter . . 
Und ich 
dachte 
Zimmt .... 
So ein Esel, 
wirklich ich 
bin ein Esel . . 
Gewürz- 
nelken, die 
riechen erst 
recht. Ge- 
würznelken 
sind so wie 
Pfeffer. Du 
denkst es ist 
Pfeffer, und 
wenn du 's auf- 
beißt, ist CS 
wie eine Ge- 
würznelke . . 
iiiboi aiHUi:h>n m Binin. .^ch ! großar- 

m. BERLIN, tigl Nur auf 



455 



D. Aismann: Eine Missetat. 



456 



einer Hochzeit kann man so was e sen, mein 
Ehrenwort." 

Unterdessen ordnete Lejser noch immer die Töpfe 
mit der linken Hand. Die rechte steckte bald im 
Kessel, bald im Mund. 

„Ah-ha, ha! ... . Ich weiß es, nun weiß ich's. . . 
Bei Herrn Gporkes aß ich so etwas .... Nu ja, 
natürlich .... Ich brachte ihm damals den Wein 
vom Dampfer — er bestellt ihn sich aus Odessa, und 
man rief mich in die Ktijche und bewirtete mich .... 
Nu ja, bei Herrn Ciporkes .... Ein großer Herr, 
der Herr Ciporkes, ein Edelmann I Ein Schwein und 
kein Edelmann .... Aber bei Gott, das verstehe 
ich nicht. Bei Herrn Ciporkes war damals ein Bris, 
nu, da konnte er solchen Braten haben. Und eine 
einfache Jüdin .... Was ist ihr Mann .... In 
einem Geschäft ist er auf der Hauptstraße 1 Und an 
einem Wochentag, an einem gewöhnlichen Donnerstag 
macht sie solchen Braten .... So sind unsere Juden: 
einen Rubel verdienen sie, drei verbrauchen sie. 
Scharlatans. Und dann glauben die Russen, daß 
alle Juden schrecklich reich sind und prügeln uns 
dafür. Wegen solcher Sachen haßt man uns .... 
Hast du so etwas gesehen .... Lorbeerblätter! 
Ohne Lorbeerblätter kann sie nicht! Eine 
Balabuste! .... Nu, und ich bin auch gut. Hatt' 
ich wirklich vergessen, wo ich solchen Braten gegessen 
habe. Ha! .... Was sagst du dazu? Eine Ge- 
schichte . . . . ! — " 

Das Pflaster hatte längst aufgehört, die Fuhre 
ging ganz gleichmäßig, auch die Töpfe klapperten 
nicht mehr, aber Lejser machte sich noch immer bei 
ihnen zu schaffen. 

Er fuhr zum letztenmal mit^ der Hand in den 
Kessel, kratzte die Kartoffel weg, die am Rande fest 
saßen, leckte die Finger sauber süb, deckte den Kessel 
feinsäuberlich zu und trat zurück. 

Vor ihm zogen in einiger Entfernung die drei 
anderen Fuhren dicht hintereinander imd neben ihnen 
schritt mit hochgeschürzten Röcken, mit dem Spiegel 
in der einen und einer Lampe in der anderen Hand, 
die Wirtin. 

„Oj, wenn sie's gesehen hat . . . . Oj, jeh, wenn 
sie's gesehn hat.*' 

Lejser wurde starr vor Schreck. 

„Ei, nein, „gesehen"? Nu, was soll sie sehen . . . 

wie soll man das plötzUch sehen?! .... Gar nichts 

wird sein ! Wenn wir ankommen, trag' ich sofort 

alle Töpfe rein, die Scheffel stell' ich davor, fertig . . . 

Und wenn ich fort bin, kann sie's sehen .... Lauf 

mir dann nach, pack' mich .... Eh! Man braucht 

sich nicht zu beunruhigen. Was wird sie tun. Zu 

Gericht gehen mit mir? .... Hat sie Zeugen? .... 

Ich furcht' mich nicht vor ihr! Was ist sie, daß ich 

mich fürchten soll .... ich furcht' mich gar nicht . . . 

ysia! . . . ." 

• * 

Die Fuhrleute hatten den ersten Wagen halb 
abgeladen, als Krapuntschik endlich an seinem Be- 
Stimmungsort anlangte. 

„Eh, du, vertrocknetes Eingeweide, noch nicht 
krepiert", begrüßte Hitzel Lejser. 



Lejser schwieg. Ein leiser Schauer nach dem 
andern überlief ihn. Die Augen blickten, ohne zu 
sehen, die Zunge war wie geschwollen .... 

Er band eilig die Stricke auf, mit denen die Schätze 
seines Wagens zusammengebunden waren und begann 
abzuladen. Nach ein paar Minuten war das Geschäft 
erledigt, alle Töpfe und Kessel standen hinter- und 
übereinander zwischen Wand und Ofen, ein großer 
umgedrehter Kübel ganz vorne zum Schutz. 

„Nu, jetzt ist fertig! Die Gefahr ist vorüber! 
Jetzt nur noch die Sofas, d^mi ist der ganze Ball 
fertig ! Es macht nichts, Krapuntschik ! Heute werden 
wir gut essen . . . ." 

Die Möbel waren alle aufgestellt. Die Fuhrleute 
wischten ihre schweißigen Stirnen, lockerten die Zügel 
der Pferde und schickten sich an nach Hause zu fahren. 
Nur das Geld ließ noch auf sich warten. 

„Madame, bitte zur Auszahlung^', rief Hitzel die 
plötzlich verschwundene Hausfrau. Er rechnete auf 
ein Trinkgeld und befleißigte sich deshalb einer großen 
HöfUchkeit. 

„Madame, wo sind Sie, bitte bemühen Sie sich 
hierher." 

Doch etwas völlig Unerwartetes trat ein. 
Madame sprang wie eine Bombe aus der Haustür 
hervor und brüllte, einen leeren Kessel in den Händen 
schwingend: 

„Diebe .... Mörder .... Spitzbuben • • • • 
Krepieren sollt Ihr, Verfluchte .... Ihr glaubt, ich 
werde schweigen! Ihr glaubt, das ist umsonst! 
Scharlatans, Einbrecher .... !" 

„Öho!" rief Hitzel lustig, „du kannst's aber .... 
Hast bei mir gelernt, was?" 

„Ich werd' dir zeigen, schwarz wirst du werden. . ." 
Die übrigen Mieter des Hauses sammelten sich 
unterdessen im F^lur. 

„Solche Betrüger, solche Scharlatans", fuhr die 
aufgeregte Hausfrau fort! „Gestern habe ich noch 
zu Fleiß Braten gemacht, ich dachte heut geht es nicht 
und einen Braten kann man bei Nachbarn wärmen, 
daß die Kinder was zu Mittag halben .... Und die 
haben's aufgefressen, alles haben sie aufgefressen.... 
Nu! nu! was mach' ich jetzt?" .... 
„Neues kochen", sagte Hitzel höflich. 
„Neues .... ich werd's dir abziehen, dann wirst 
du's wissen Dieb, mich hat der Braten anderthalb 
Rubel gekostet, du wirst mir dafür zahlen , . . ." 
„Ich werd' zahlen? Ich?" 
Hitzel trat der Frau um einen Schritt näher. 
„Und so, wenn man dich fragt auPs Gewissen, 
hast du's gesehen." 

Er hob langsam seine rissige Faust von der Größe 
eines kleinen Kürbis. 

„Wer deinen Braten gegessen hat, zur Gesundheit, 
der soll ihn bezahlen. Und mit mir laß' diese 
Politik .... Acht Zehnkopekenstücke gib her", 
brüllte er dann, „und fünf Trinkgeld für die Sofas" . . • 
Das Geschrei vor dem Hause dauerte sehr lange. 
Die Frau bestand auf ihren anderthalb Rubeln 
und die Fuhrleute riefen ihre verstorbenen Eltern zur 
Zeugenschaft, und erklärten sich überdies bereit, be- 
liebige Fensterscheiben und Zähne einzuschlagen . . • 



457 



D. Aismann: Eine Missetat 



458 



Lejser verhielt sich abseiU hinter Krapuntschik. 
Er gestand den Diebstahl nicht gerade ein, aber er 
leugnete auch nicht. Er stand blaß und schweigend 
mit gesenktem Kopfe da und stieß nur von Zeit zu 
Zeit einen seltsamen Laut aus, dann wurde er wieder 
still. 

„Nein, ein Mensch kann das nicht aufessen", 
schrie die Frau, „das ist undenkbar .... Ein Pfund 
Fleisch, Kartoffel, Gewürz .... Dazu muß einer 
ein Faß haben, keinen Bauch .... Ihr habt alle zu- 
sammen gefressen .... Spitzbuben, verfluchte!" 

Die Geschichte endigte damit, daß die Frau die 
drei anderen voll ausbezahlte und ihnen sogar noch 
ein Trinkgeld gab, während Lejser leer ausging. 

„Ein alter Mann", schrie sie ihm nach, als er 
schon abfuhr, „ein Mann mit grauen Haaren und 
macht solche Schweinereien. In Arrest müßt' man 
euch abführen, aber ich will mir nicht die Hände damit 
schmutzig machen . . . ." 

Es war dunkel als Lejser sich auf den Heimweg 
machte. Der Schnee hatte aufgehört und der Wind 
schwieg, aber der Frost war stärker. Lejsers feuchter 
Mantel wurde steif und Krapuntschiks flache Hufe 
patschten nicht mehr durch Pfützen, sondern stießen 
auf gefrorenen Boden. 

Als er eine Stunde später vor seiner Wohnung 
hielt, begrüßte ihn ein freudiger Aufschrei. 

„Gelobt sei sein heiliger Name." 

Socie näherte sich eilig der Fuhre. 

„Nu? Wieviel?" 

Er mußte Arbeit gefunden haben, wenn er so 
spät kam. Zwei Stunden lang hatte sie mit Jente 
und den anderen Kindern beraten, ob es wohl noch 
nicht zu spät sein würde bis zum Metzger, um Knochen 
zjur Suppe zu laufen. Und sie waren übereingekommen, 
daß es mit der Zeit langen würde. 

„Gib die Milch her*', sagte Socie und drängte sich 
an das Gespann heran. — Nu, komm', vorsichtig, 
es ist dunkel." 

„Ich hab' keine Milch." 

„Hast nicht gekauft? Nu macht nichts! 



Feiginin kann zur Mudrezeche laufen, die Mudrc- 
zeche melkt spät." 

„Ich hab' nicht gearbeitet heute." 

Einige Sekunden dauerte die Stille. 

„Ha!" 

„Niemand kam .... was willst du ... . Bis 
jetzt hab' ich gewartet .... kein toller Hund 
Kam . . . ... 

Lejser spannte Krapuntschik aus und brachte 
ihn auf seinen Platz. Das Pferd schnupperte und 
suchte die Leckerbissen, die sein Herr ihm des Morgens 
versprochen hatte. Aber seine hängenden Lippen 
fanden bloß kaltes Holz .... 

« « 

# 

Eine halbe Stunde später lag Lejser auf einem 
Haufen zerrissener Lumpen und drückte seine Sohlen 
mit den Fäusten zusammen. Er bildete sich ein, daß 
er sie so erwärmen könne. Socie und die Kinder 
lagen auf ihren Plätzen und versuchten einzuschlafen, 
xxm den Hunger nicht zu spüren. Alle schwiegen. 
Nur der kleine Schmilek, der mit seiner Mutter auf 
dem ungeheizten Ofen lag, begann mit seinem 
schleppenden Stimmchen: 

„Mutter, Milch." 

„Morgen gibt es Milch, Schmilek, morgen." 

„Milch .... ein bischen Mi — ^ilch." 

„Morgen, Söhnchen, morgen .... Morgen be- 
kommen wir Milch und Suppe. Gute Suppe mit 
Fleisch und Henne . . . . " 

„Mein Herz brennt, Mi — ilch!" 

Jente antwortete nicht. 

„Ich will essen, Ali — ilch." 

„Nu, scha, scha .... nu, was soll man machen? 
Du bist hungrig! Alle sind hungrig, alle haben nicht 
gegessen .... Der Großvater ist alt und krank, der 
war den ganzen Tag draußen in der Kälte und hat 
auch nichts gegessen." 

Lejser drehte sich auf seinem Lager imi. Er 
räusperte sich oder schluchzte, und in seine Nase stieg 
noch einmal der süßliche Duft von Gewürznelken und 
Lorbeerblättern. 




SCHALOM ASCH ALS DRAMATIKER 



Meine Gnädige! Ihr Wunsch, meine tleinung aber das 
Drama von Sctutom Asch zu hOren, kommt etwas zu spät 
Jetzt — poat tot discrimina renim — über ein Stück zu 
schreiben, dass schon am 19. März aufgeführt worden ist, 
ist, wie soll ich sagen, ein Anachronismus. Aber Sie 
wollen ja gar keine Rezension, sondern eine tiefere Analyse 
des Werkes. Oflan gestanden, bin i' li im Grunde gegen diese 
Analysen. Was ein KOnstJer als Ganzes geschaut und nach- 
gebildet hat, darf der Kritikur gar nicht zerzausen, zer- 
pflücken. Aber Sie wollen es. Sit pro ratione voluntas. 

Wissen Sie, die Künstler sind ein oft merkwQrdiges 
Volk. Da ist einer, der sich auf seinem Gebiete, in seinen 
„vier Ellen" so gut eingerichtet, so sicher eingenistet hat. 
Warum will er mehr als er kann? Warum zieht's ihn 
immer in das unzulängliche, nicht zu Erlangende V Nehmen 
Sie diesen oder jenen Künstler. Der eine ist ein ganz 
netter Lyriker, d. Ii. er hat Form und Melodie, kann seiner 
subjektiven Empfindung eine objektive Form verleihen. 
Der will hinein in das Drama. Der andere kann kleine 
Novellen sehr fein schreiben, ohne Prätention auf Tiefe, 
auf Weltfragen. DafOr fehlt ihm der Sinn — da muss 
gerade er sich an die grössteu Seelen- und Lebens- 
probleme heranwagen. Natürlich ereilt ihn sein Geschick — 
der Ikarusaturz. Ich fürclite, das es unserem Aach ebeneo 
ei^angen ist. Und ich muss Ihnen gestehen, es wftre 
mir schade darum. Denn wir sind wirklich nicht so 
flberreich an Talenten Ich will aber diesmal nicht Ober 
Asch als Lyriker der Skizze, der er eigentlich ist, sondern 
aber seine dramatischen Schöpfungen sprechen u. z. haupt- 
sächlich Aber sein letztes Drama. Vor etwa einem Jahre 
war es Asch gogflnnt, das jDdische Drama dem russischen 
Publikum mit dem Stacke „Messianische Zeiten" vorzu- 
führen, jetzt trat er vor einen noch weiteren, europaischen 
tireis. Er hat sozusagen die Mission des Einfuhrers der 
jüdischen Literatur übernommen. Das ist vielleicht für ihn 
die richtige Bezeichnung, die 
Erklärung seines Wesens. 
Denn jeder, der die moderne 
jüdische Literatur kennt, der 
die Laufbahn von Asch ver- 
folgte, seine Leistungen und 
deren inneren Wert kennen 
lernte, wird sich sagen 
müssen, dass Asch wohl ein 
begabter, aber bei weitem 
nicht der begabteste unter 
den jüdischen Dichtern ist. 
Seine Dichtungen haben 
Seele, aber keine tiefe und 
starke, Stimmungen, aber 
keine abgetönten , nuan- 
cierten. Feinen, Rhythmus, 
aber einen eintönigen, wie 
das Summen einer Uiene an 
<!incm schwülen Sommertaif, 
Wahrheit, aber eine alltäg- 
liche, manchmal banale, 

Es gibt Gebiete der Kunst, Szene auB.,D«rGott derßache' 
die ihm unzugänglich sind, j,„^,| Schfp.chowiisch (Schil« 

Winkel der Seele, die für iSpc/iabiifnalime fi 



NicIidTuck vctttoUn. 
ihn unsichtbar sind. Und gerade in diesenEcken und Winkeln 
hat sich dio ureigene jadische Seele eingenistet, sich vei'- 
schlossen vor dem Auge der Nicht — Eingeweihten, Zu 
diesen Tiefen des jüdischen Lebens hat z. B, Mendele- 
Mochor Sforim mit unmittolbarfm, intuitivem Gefühl. 
Perez mit mehr Reflexion und klugem Verständnis sich 
manchmal durchgerungen, Asch besitzt den Schlüssel 
nicht. Ich liebe sonst Asch's Schreibweise, Es ist so 
viel Naives, Gutes, Einfaches darin. Man fühlt, dass ein 
Naturmensch schreibt, dass er nicht über den Erscheinungen 
steht, sie künstlerisch gestaltet, sondern die Eindrücke an 
sich heranfluten liisst, von ihnen getragen, geschaukelt 
wii'd. Da haben wir sein neuestes SKizzenbuch : „Das 
Städtel", das von vielen als ein Meisterwerk betrachtet 
wird. Ich kann mir nicht helfen: auf mich hats nicht den 
Eindruck eber starken, bildenden, bleibenden Kunst ge- 
macht. Es sind niedliche, stimmungsvolle Skizzen, aber 
kein Poem, es sind lyrische Romanzen in Prosa, kein Epos. 
Denn die Gestaltungskraft fehlt. Nicht das äusserliche, 
physiognomische erschöpft das Gestaltungseleuient in der 
Kunst. Wemi er „Reb Jecheskel" oder pLei'le" physiog- 
nomisch zeichnet, so hat er uns zwar ein Bild gezeigt, 
aber nur eine Photographie. Ein EQnstler deutet das 
Bild, d. h. er sieht es nach seiner Art, er legt seine 
Seele hinein, indem ihm die Seele des andern offenbar wird. 
Asch sieht auch die Natur äusserlich. Wenn R. Mendele 
z. B. die Natur schildert, so fOhlt man, dass in ihm ein 
jüdischer Gestalter spricht, ein Epiker. Er hat Bilder, die 
so kühn sind, weil sie einem so eigenartigen Seelongrund 
entstammten. Ob sie uns gefallen oder nicht — das ist 
eine andere Frage, Wenn wir als moderne Menschen, als 
Westeuropäer an Mendele herantreten, so worden wir 
sicherlich ebenso stutzig blicken, wie vor dera echten, 
alten Märchen der Galen oder der Nordmänner. 

Perez hat eine ga-z moderne Art zu sehen und 
zu schildern. Er ist ein 
modemer Mensch, der die 
Schönheit <md denRhythmus 
des Wortes kennt und liebt, 
der nach einer neuen Har- 
monie strebt, der die Tiefen 
der Seele — wie der Welt- 
Stimmung sucht, der ahnen 
liisst Asch lässt nichts 
ahnen. Wie ein stilles, 
ruhiges, hinter grünem Ge- 
lände plätscherndes Bächlein 
zieht seine lyrische, weiche 
un<l eintönige Weise dahin, 
wie ein moldauanischesLied, 
nii' aufregend, nie hin- 
reissend. Was Asch vor 
allem besitzt, das ist das 
Gefühl für Raumseele, für 
die Stimmung des Ganzen, 
Undifferenzierten, wo der 
Mensch sich vor sich los- 
wird mit der 



Darum ist Asch ein Skizzen- 



A. Coralnik: Sctialom Asch als Dramatiker. 



Szene aus „Der Gott der Rache" von Scbalom Aach. Dritter Akt. 

Jankel (Schildkraul) und Sir» SdicpschoBitsdi (Frau W'angtl). 
(Spczia lauf nähme fSr „Ost und We9l".) 



und Stimmnngsciichter von sehr bedeutendem Werte, 
aber kein Epiker und vor allem kein Dramatiker. Denn 
Dramatiker sein heisst vor altem — mit Menscbenaeelen 
umgehen kOnnen, sie einander geKenQberstellen, mit dem 
äusBeren Leben sie in DerUhrung und G^enaatz bringen, 
aua dem acheinbar Einartigen des Lebena das Viel- 
gestaltige, tief Widersprechende berausfinden. Und wo 
die Differenz ierungakunst anhebt, hOrt Asch'e Kraft auf. 
Das haben wir an seinem ersten grösseren Drama 
„Meaaianiache Zeiten" gesehen, das sehen wir in noch 
grosserem Masse an seinem neuen Stücke „Gott <ler 
Rache". Die „Messianischen Zeiten" sind überhaupt kein 
Drama, es sind keine Menschen und kein Schicksal, es 
sind keine Geschehnisse und Erlebnisse, die auf die Bühne 
gebracht wurden. Es sind Üüder, Szenen, Skizzen manch- 
mal von schöner, wahrhaft dichterischer Stimmung itm- 
flosscn, manchmal aber reizlos und ziemlich flach. Voll- 
ständiger Mangel an Handlung, und was noch schlimmer 
ist, an innerer Motivierung, an innerem Rhythmus. Dei- 
Gross vater, der nach Palästina sich rüstet und seine 
Kinder um sich sammelt, um von ihnen Absei li cd zu 
nehmen, die Sohne und Enkel, die ini Laufe von drei 
Akten sich in kleinstädtischer Weise über Politik unter- 
halten und dann die Justyna, die Enkelin, die da im 
Garten sitzt und Zwiesprache halt mit ihrer Seele, die 
den Schatten von Esterka, dor schünen Torhter des 
„Schneiders von Opta" und Buhiin des Königs Kazimierz sieht 
— all das sind keine dramatischen Gestalten, nicht einmal 
symbolistisch gedcutot. Es ist ein Stammeln. Manchmal 
scheint es mir, als ob Asrh sich von schönen Bildern hin- 
reissen Hesse und als ob alte, uralte Motive in seiner 
Seele nachklängen. Als ich ein Kind war, stellte ich mir 



die Szene des Scheideos des Patriarchen Jakobs so vor. 
Ein steinalter Mann mit eisgrauem, langen Bart, der sich 
zum letzten Wege ins „Land der Väter" rüstet. Um 
ihn die Söhne versammelt, iteuben, der starke, brutale mit 
den mächtigen Händen, ein Recke mit einer gefurchten, 
sonnegebräunten Stirn, Simon und Levi, die „Brüder", die 
listigen, die l.'rahnen der Gelehrten und sämtlicher Lehrer, 
Jehuda, dessen schöne ZShne wie Milch so weiss, und seine 
Augen so blau — und endlich Issachar, der Ifir mich ein 
Rätsel war, Issachar. der Issaschar geschrieben und 
Issachar gelesen, der „wie ein heladener Esel ruht zwischen 
den Gemarken". Oft kam er mir vor, wie ein Lastträger im 
Bauemkittel, mit einem Strick gegürtet uud in grossen 
Schaftstiefeln .... Und in der weihevollen Stille erzählt 
Jakob die Zukunft seines Geschlechtes, . . . „Das Ende 
wollte er offenbaren", aber er hat die ..Schecina" erblickt, 
und schwieg .... ' 

Dieses Bild aus der fernen Kindheit, dieses uralte 
Motiv hahen in mir die „ M essi an i sehen Zeiten' hervor- 
gerufen lad als der Traum verflog, da sah ich, wie on- 
adäquat die Ursache meines Traumes war, wie unkOnstle- 

risch hier das grosse Motiv bearbeitet wurde Aber 

während der Vorwurf des ersten Dramas dem inneren 
Wesen Asch's entsprach, die Menschen, die uns ihre Seele 
dort biossiegten, etwas von der Seele des Dichters selbst, 
das Träumerische, Weiche, Verschwommene hatten und 
sich manchmal zu der ffiihe eines poetischen Symbols 
emporschwangen, ist ilie Idee des zweiten Dramas im 
vorhinein eine miashm^ene. Misslungen, weil der Dichter 
an sie nicht herangewachsen ist, sie nicht seelisch 
!)ewältigen und deshalb auch künstlerisch nicht gestalten 
konnte. Die Idee ist nilmlich eine alte, ewige. Gott ist der 



463 



A. Coralnik: Schalom Asch als E>ramatiker. 



464 



Qott der Rache und der furchtbaren Strafe, der die Sünden 
der Väter an den Kindern ahndet, der „am dritten und 
vierten Geschlecht" seinen Zorn für die Vergehen der 
ersten Greneration stillt. Eine «wige, schicksalschwere 
Frage, die in dem alten lapidaren hebräischen Satze wie 
ein Verzweiflungsschrei klingt: „Unsere Eltern haben 
sauere Trauben gegessen, und die Zähne der Kinder werden 
stumpf davon"! Aber die Tragödie beginnt erst dann, 
wenn die Strafe den an und für sich Unschuldigen trifft, 
den von eigener Sünde Nichtbehafteten. Dass der Sünder 
selbst der Strafe verfällt, dass er, um das talmudische 
Wort zu gebrauchen „ertränkt wird, weil er andere er- 
tränkte", darin ist kein Moment der Tragik vorhanden. 
Sehen wir nun, wie Asch das Problem auffasste. Jankel 
Schepschowicz, ein roher, brutaler Mensch, Sohn eines 
Pferdehändlers, der, wie es so oft ist, wahrscheinlich in 
das Gebiet des Pferdediebs hie und da sich hineinschlich, 
hat eine Dirne, ein innerlich und nicht blos gewerbsmässig 
verdorbenes Weib, geheiratet und dann ein Freudenhaus 
eröffnet. Kommt dadurch zu einem Vermögen. Nachdem 
es ihm nun besser g^ht, teilt er sein Haus in zwei Hälften 
— „oben", dort wohnt er, dort wohnt die „bürgerliche" 
Familie Jankel Schepscho witsch — , „unten" wohnen sie, die 
Sklavinnen des sündigen Gewerbes, seine Sklavinnen« 
Das Oben lebt vom Unten. Und Jankel selbst ist gamicht 
so weit vom „Unten" entfernt. Er ist nicht etwa ein Mann, der 
nur mit Widerwillen und Abscheu ein Gewerbe ausübt, seine 
Seele aber rein behält. Er ist ein Duzfreund des Zuhälters 
Schlojme, steht beinähe auf demselben seelischen Niveau, wie 
dieser Galan. Nur in einem ist er ihm voraus: er ist 
wohlhabend geworden und hat eine Tochter Riwkele, an 
der er wirklich mit der innigsten väterlichen Liebe hängt. 
Dieser Riwkele zuliebe will er alles tun; sie will er rein 
ei*halten, rein und keusch. Um sie in Keuschheit zu 
bewahren, lässt er sie nie nach «unten" gehen, verbietet 
ihr jeden Verkehr mit denen von „unten**. Aber er zittert 
immer für ihre Reinheit. Er fürchtet das Unheil. Und 
um es zu verhüten, lässt er eine Thora für sie schreiben, 
die die Schützerin der Keuschheit seines Kindes sein 
sollte, sozusagen ein Amulet gegen die Sünde. Aber es 
hilft nichts. Riwkele fühlt sich nach «unten** durch eine 
unheimliche Gewalt, durch die Gewalt des Blutes hinab- 
gezogen. Und Manjka, eines der Erwerbsmädchen ihres 
Vaters, verführt sie, verlockt sie, zieht sie in das Netz der 
Sünde, tief in die Maschen des Lasters. Schlojme und 
Hindi, eine der Dirnen, wollen auch heiraten, sich ein 
Haus — und zwar eines nach dem Muster von Jankel 
Schepscho witsch — gründen, und dazu brauchen sie als 
Zugkraft, als Anfangskapital ein noch jungfräuliches 
Mädchen. Riwkele wird das Opfer, das willige, allzuwillige. 
Verdorben bis ins Mark, was man vom ersten Augenblick 
erkennt, geht sie, nein, taumelt sie jauchzend in die Lust 
und die Schande. Alles hat nichts geholfen, — nicht 
die Tugendwächterei des Vaters und nicht die Thorarolle. 
Riwkele wird zurückgebracht, aber nicht mehr als Jungfrau. 
«Die Mutter hat's gedurft und ich sollte es nicht!**, ist 
ihre einzige, grausam-lüsterne Antwort auf die verz weif lungs- 
volle Frage ihres Vaters, ob sie noch rein und unbefleckt 
sei. Und da bricht für Jankel alles zusammen. Keine 
Zukunft, keine Hoffnung auf das Hinaufkommen — und er 
stösst seine Tochter hinab in die Tiefe des Lasters, nach 
„unten". Und auch die Thora schickt er aus dem Hause 



— sie darf nicht in seinem Hause bleiben — sie hat das 
Wunder, das er von ihr erwartete, nicht vollbracht. Gott 
hat sich gerächt 

* ♦ * 

Hat er? Wo ist die Tragik dieser Rache? Dass 
er dem Freudenhausbesitzer nicht gestattete, zugleich ein 
„Unten" und ein „Oben" zu haben, dass er am Vater 
strafte, was der Vater tat? „Weil du andere ertränktest, 
wirst du selbst ertränkt werden" — wo ist hier das 
Tragische? Und die Strafe hat ja Jankel selbst, nicht 
Riwkele betroffen. Riwkele war für das bürgerliche 
Leben — die Tochter einer Dirne und eines Zuhälters — 
nicht geschaffen, sie wollte es nicht, hat es als Last 
empfunden. . Und Jankel selbst hat nicht innerlich seine 
Sünde überwunden, wozu auch der einfachste, gemeinste, 
Mensch in dem Momente der Seelenumwälzung fähig ist 
Er wollte einfach beides — eine reine „bürgerliche" 
Tochter und sein altes, sündiges Gewerbe ohne Busse, 
ohne Sühne in Einklang bringen Er spricht zwar in 
einem fort von seiner Sündhaftigkeit, wir sehen aber 
nie seine Umkehr. Das ist nicht Gott der Rache, 
^as ist einfach die Logik der Tatsachen, eine Logik, die 
kein dramatisches Motiv in sich enthält In der „Maria 
Magdalena" von Hebbel hatte der alte Meister Anton Recht, 
den ganzen Zusammenstui-z seiner Weltanschauung, seines 
Lebenstraumes, seines Sittlichkeitsideals in einem Satz 
zusanmienzufassen, der bitterer klingt, als die offene Em- 
pörung gegen das Leben: „Ich verstehe die Welt nicht 
mehr!" Ein kämpfender, um die Erkenntnis ringender 
Mensch hat den tragischen Punkt seines Lebens erreicht. 
Hätte z. B. Jankel Schepschowitsch anstatt eine Thora zu 
schreiben, sein Haus aufgelöst, wäre er zum ehrlichen 
Leben zurückgekehrt, und wäre dann trotz alledem Riwkele 
der Schande verfallen, dann hätte er Recht zu sagen: 
«Gott wollte es nicht**, dann wäre er der Gerechte. Denn 
die Tragödie beginnt erst dort, wo die Vemünftigkeit 
des Seins aufhörte. Dass z. B. in einem Staate, wo der 
Strafkodex den Diebstahl mit dem Strang bestraft — wie 
z. B. früher in England — ein Dieb gehängt wird, ist keine 
Tragödie. Weder die Mitwelt noch die leidende Person 
selber empflnden es als eine Tragödie. Es ist grausam, 
ungertcht, aber nicht tragisch. Tragisch aber ist es, 
wenn Luise Michel, die selbstlose, maniakalisch - heilige 
Volkstribunin wegen Diebstahls bestraft wurde, weil sie, 
um Hungrige zu speisen, aus einem Bäckerladen selbst- 
mächtig Brot nalim. Jankel Schepscho witsch's Schicksal 
ist so erklärlich, so natürlich, so untragisch, undramatisch. 
Es wäre ein Wunder, wenn das Gegenteil sich ereignet 
hätte. Und ein Motiv des Wunders ist kein dramatisches 
Motiv. Asch hat das Problem falsch angefasst, das 
Motiv verdorben. Und es waren wunderschöne Motive, 
die im Drama hier und dort aufflackerten, um wieder 
verloren zu gehen. Das Motiv — „unten" und „oben". 
Nicht, wie manche oberflächliche Kritiker meinen, das 
Problem von „Vorn" und „Hinten" in Sudermanns „Ehre". 
Hätte ein wahrer Dramatiker den Vorwurf von Asch 
in die Hände bekommen, ein jüdischer Dramatiker, 
er hätte dieses Motiv zum Zentrum, zur Axe des Ganzen 
machen müssen. Der Jude, für den das äussere Leben 
nur ein Schein, eine „Aeusserlichkeit" ist, die sein Inneres 
nicht tangiert; der Jude, der die schmutzigen Dinge der 
Welt betastet, ohne sie zu sehen, ohne sie seiner Seele 



A. Coraintk: Schalom Asch als Dramatiker. 



eiDEU verleiben. Und dann der Konflikt zwischen dem 
»Aussen" und „Innen", zwischen dem „Unten" und „Oben" 
in seiner eigenen Seele, der Kampf dieser beiden Welten, 
der einmal doch anbrechen muss. Dort wäre das Dram^ 
des jfidischen Sünders. Jankel Schepscbo witsch kennt den 
inneren Kampf nicht. Er ist der ZuhSlter gehlieben mit 
bUrgerltch-jDdiechen, atavistiach-ehrfOrchtigen Instinkten. 
* 
Ich will nicht Ober die vielen technischen Schwächen 
des Stackes reden. Das sind Nebensächlichkeiten, auch nicht 
darOber, dass das Drama eigentlich eine Reihe von lose 
miteinsjider verbundenen, oft sehr schflnen und poetischen 
Szenenakizzen — z. B. die Szene des Regens im II. Akt — 
ist, denn das ist kein Mangel. Ein Mangel, aber auch der 
Hauptmangel ist, dasa wir bei diesem StQcke uns in keinem 
Augenblick vor der Tiefe des Lehens finden, dass wir 
immer an der Oberfläche vorQbergohen, uns nie von der Ge- 



walt des Gefdhls oder des äusseren Geschehens ergriffen 
waren, dass es keinen „Ewigkeitswert" hat. Ein Deuter 
der jüdischen Seele — und d.is soll jeder jüdische Dra- 
matiber sein — ist Asch nicht. Er kann täeelcnschwin- 
gungen mitlablcn und hervorbringen, nie einen ganzen 

Akkord Das jüdische Drama wird Aach wohl kaum 

schaffen, aber ein Einführer ist er. Alle leichtbeschwingten, 
die Tiefe nicht kemtenden, im Dichten spielenden Künstler 
sind Herolde der tieferen Kunst. Tiefe Seelen schöpfen 
aus der Kultur ihres Volkes; um dann darüber hinaus- 
zugehen. Der grosse jüdische Künstler wird der sein, 
der die Elemente der jüdischen Kultur künstlerisch 
refundieren wird. Sind diese Elemente vorhanden, sind 
sie lebensfähig, dann wird auch die ersehnte Kunst 
kommen Oder glauben Sie auch daran nicht, meine- 
Gnädige? ~ 

A. Coralnik. 



EIN JUEDISCHES KUENSTLERPAAR IN RUSSLAND. 

Nichdruck vttboua. 

Anf eioer längeren Reise dnrch die grösseren ein Gastspiel absolvierte. Seine Frati hingegen lebte 
Zentren Rnsslands berObrte ich anch die Stadt Kiew, noch nnter dem Eindruck des Tages znvor durchlebten 
Ein Frennd, den ich von meiner AnknnfC rechtzeitig Schreckens. In ihrer im besten Stadtteil gelegenen 
T«T8tändigt hatte, empfing mich am Bahnhof mit der 
ermutigenden Mitteilung, dass fKr jenen Tag ein Pogrom 
erwartet und befürchtet werde. 1» Kiew weiss man 
Belli' gut, was ein solcher zu bedeuten habe, da die 
furchtbaren Ereigniaae Tom November 1906 nicht so 
leicht vergessen werden kSnnen. 

Glücklicherweise ist der zum zweiten Mal ange- 
kündigte Pogrom damals ausgeblieben. Die lokale 
BHrokratie sah dieses Mal keinen N^utzen ans den 
Schreckensszenen nnd liess rechtzeitig abwinken. Nach- 
mittags wurde eine BekanntmachnDg des General- 
gonvemeurs verbreitet, wonach er jede Ausschreitung 
gegen die Juden anter Anwendung aller Machtmittel 
verhindern wollte. Die meisten Jnden beruhigten sich 
dabei, und abends konnte man im „Kaufmännischen 
Garten", wo eine gute Musik gespielt wird, ein zahl- 
reiches jüdisches Publikum finden, das, wie es schien, 
alle Schrecknisse and alle Sorgen bereits vergessen 
hatte. Ich muss gestehen, dass diese Sorglosigkeit, die 
mir beinahe wie Leichtsinn vorkam, mich nicht wenig 
befremdete. Aber bei ruhiger Ueberlegnng musaie ich 
mir sagen, dass die Leute schliesslich doch recht haben. 
Wollten sie sich unausgesetzt in der Erinnerung ver- 
gangener Schrecknisse und mit Furcht vor den 
kommenden plagen, so kSmen sie überhaupt niemals 
BUS dem Trübsinn heraas. 

Tags darauf wurde ich durch einen Freund bei 
einer jüdischen Künstler fsmilie eingeführt. Es ist dies 
der Opernsänger Oskar Eamionski nnd dessen Gattin, 
die lerühmte Künstlerin Klara Brun-Kamionska, die 
beide in der Kiewer Oper die einzigen and vorzüglichsten 
Wagnersänger sind. Herrn Kamionski traf Ich nicht 
an, da er gerade in jenen Tagen in der Moskauer Oper 



Oskar Kamionski, Kiew, Operosanger. 



Eiti jüdisches Künsllerjiaar in Rn^sland. 



468 



Klara Bnui'KamioiMka, Kiew, Openisaogerin. 

Villa fQhlte die sich ebeDfalls uicbt sicher und hatte, 
wie sie mir erzählte, die ganze Nacht angekleidet io 
irgend einer Sophuecke zogebracht. Sie erzätdte mir 
viel von den fürchterlichen Pogromtagen, die Kiew 
gesehen hatte, und an welchen viele ihrer nächsten 
Anverwandten grossen Schaden erfuhren. Kein Stand 
also bleibt von diesen Ereignissen in Russland unberührt. 
Kin KUnstlerpaar, das sich in der Stadt der giössten 
Beliebtheit erfi-eut und in dessen Haus sich die 



bedeutendsten und ange^ehendsten Persönlichkeiten ein- 
finden, wird von Zeit zu Zeit daran erinnert, dass es 
einem rechtlos gemachten Volke angehört und für 
Leben und Rabe zu fürchten bat. 

Oskar ICamionskt, der in ganz Rassland als aus* 
gezeichneter Darsteller und Sänger in Wagüeropern 
bertihmt ist, entstammt einer sehr angesehenen und 
gebildeten jüdischen Familie in MohlleW am Dnjepr. 
E)ass er ein hervorragender Künstler geworden ist, hat 
■ er seinem ungewöbnlicben Können und seiner grossen 
Energie zu verdanken. Denn die Hindernisse, die er 
zu überwinden hatte, waren ungemein gross. Er musste 
das Vorurteil, das in alten jüdischen Familien gegen 
diesen Beruf herrscht, erst besiegen, denn er wollte 
durchaus nicht seine Eltern kranken. Sie billigten erst 
dann diese Berufswahl, als er itinen versprochen hatte, 
unter allen Umständen tia Judentum treu auszuharren. 
Dieses Versprechen hat er treulich, gehalten, und in 
Gemeinschaft mit seiner Gattin, der ebenfalls ausge- 
zeichneten Künstlerin, welche die weiblichen Haupt- 
rollen in den Wagneropern gibt, repräsentiert er in 
seinem Hause immer den jüdischen Künstler. Ich 
habe viele Stunden in diesem Hause auf das angenehmste 
zugebracht, und ich will gleich gestehen, dass mich im 
Gespräche mit Frau Klara Brun-KamJnaka nicht so 
sehr die Künstlerin interessierte, wie die Jüdin. Auch 
die Künstlerin war darüber sehr erfreut, mit einem 
jüdischen Schriftsteller sich über die Zukunft des 
judischen Volkes eingehend unterhalten zn können. Ich 
gewann den Eindruck, dass diese edle Frau, die persön- 
lich unter dem Antisemitismus nicht im mindesten zn 
leiden hat und im Gegenteil in der rassischen Gesell- 
schaft nur Liebes und Angenehmes erfährt, freiwillig 
auf sich das Joch des „Golus" genommen bat und mit 
ihrem leidenden Volke leidet und hofft. Unser stunden- 
langes Gespräch galt dem Zionismus, und es hatte etwas 
Beschämendes für mich, dass sie sich in dem Glauben 
an die Zukunft des jüdischen Volkes stärker zeigte als 
ich selbst. Als Jüdische" Künstlerin bezeichnete sie 
sich auf einer Photographie, die sie mir zum Andenkea 
an unsere Unterhaltung schenkte. 

Ich bin auf meiner Heise in Russland mit ver- 
schiedenen jüdischen und christlichen Personen zusammen- 
gekommen, habe viel Angenehmes and auch Betrübendes 
gesehen, aber die Begegnung mit dieser Künstlerin, die 
auf der Höhe des persönlichen Erfolges steht, jedoch 
durch die Leiden des Jüdischen Volkes soviel Kummer 
und Schmerz erlebt, gehört zu dem Bedeutsamsten, was 
mir in Russland begegnet ist. Das ist auch ein Blatt 
aus unserer Golusgeschichte. B. 



Gruppe tfidiacher Auswanderer, die unter Leitung der J.T.O. am 7. Juni mit Dampfer „Caaacl" de« Narddcutschcn 
Uoyi in Bremen nach Galveston expediert worden sind. 

X Dr. Jochctmann. 



VON DER JUEDISCHEN AUSWANDERUNO. 



Die jüdische Auswanderong aus dem Osten 
Europas, insbesondere aas Rassland, bat in den 
letzten Jahren einen Umfang angenommen, wie er 
seit der Yölkerwandenuig bisher nicht zu ver* 
zeichnen gewesen ist. Die systematiscben Ver- 
folgungen haben den wirtscbaftlicben Ruin unserer 
russischen Glaubensgenossen, ' der mit den Ignat- 
jewschen Maigesetzen vom Jahre 1882 begonnen 
hatte, beschleunigt, und sie gezwangen, das Zaren- 
reich in Massen za verlassen. In dem Zeitraum 
von 1880 bis 1905 sind etwa 1 '/a Millionen Jaden 
aas Russland ao^ewandert. Der Mehrzahl nach 
wandten sich unsere Glaubensgenossen den Ver- 
eioigten Staaten von Nordamerika zu, wo sie sich 
haapteächlich in den astlicheo Teilen niederliessen. 
Darch die Bevorzugung einzelner Städte haben sich 
Missstände herausgebildet, die durch den alljährljch 
immer grösser werdenden Zustrom zu einem ernsten 
Problem sowohl für die bereits dort ansässigen, 
wie für die hinzukommenden Glaubensgenossen 



geworden sind. Inzwischen war auch in Amerika 
bei den amerikanischen Arbeitergewerkscbaften, 
die durch den grossen Zustrom enrop^cher 
Arbeitskräfte sich in ihrer Existenz bedroht sahen, 
eine einwanderungsfemdliche Bewegung entstanden, 
die nach und nach die amerikanische Regierung ' 
bestimmte, die Einwanderungsbedingungen wesent- 
lich zu verscbärfeu. Diese Tatsache führte zu 
ernsten Erwägungen, ob es nicht im Interesse 
unserer Glaubensgenossen zweckmässiger wäre, 
anstatt in den bereits übervölkerten Centren des 
Ostens das Proletariat zu vergrössem, die Ein- 
wanderer lieber nach den aufiaahmeiUhigeren Ge- 
bieten des Südens der Vereinigten Staaten zu 
lenken. Für diese Bestrebungen ist in New York 
das Industrial Kemoval Office tätig, eine mit Unter- 
stützung der Jewish Colonisation Association segens- 
reich wirkende Oiganisation. Der Tätigkeit dieses 
Bureaus waren aber gewisse Grenzen gesetzt, weil 
es erfahningsgeniäss schwierig ist, die Einwanderer 



Von der jQdischen Auswanderung. 



nach ihrer bereits erfolgten Landimg in New York 
znr Uebersiedelong nach einem entfernteren Gebiet 
zu veranlassen. — Im .Frftl^jahr 1906 ist dann 
TOQ einem in Berlin begründeten „StudiencomitS 
für jüdische Kolonisation", dessen Vorsitzender das 
llit((lied des Berliner Lokal-Comitös der AlUance 
Isra6Iite Universelle, Herr Direktor Oliven ist, 
zum ersten Male die Anregung gegeben worden, 
einen Teil der jüdischen Aaswanderer nach den 
sfidlichen Häfen der Vereinigten Staaten, vornehm- 
lich nach Oalveston, und nach Südamerika zu 
führen. Dieser Plan fand nachdrückliche Ünter- 
stützuna; (larch die Schifiahrtspolitik des Nord- 
deutschen Lloyd in Bremen, dessen umsichtige 
Leiter schon vor Jahren eine direkte Verbindung 
zwischen Bremen und dem Hafen Galveston in 
Texas errichtet hatten. 

Dieser Plan, der zu lebhaften Diskussionen 
innerhalb d6r jüdischen Organisationen gefUbrt 
hatte, ist dann späterhin von dem bekannten 
Philantropen Jacob H. $chiff in New York auf- 
genommen, and durch dessen Freigebigkeit der 
praktischen Verwirklichung nähergerückt worden. 
Die zur DurchfÜhniDg dieses Planes notwendigen 
Vorarbeiten hatte die anter Leitung Israel Zangwills 
in liondon stehende Jewish Territorial Oiganisation 
übernommen, die zn diesem Zweck ein besonderes 
Bureau in Russland errichtet hat. Nachdem die 
notwendigen Vorbereitungen in Kussland getroffen 
waren, konnte die durch das Bureau der JTO 
in ßussland organisierte erste Gruppe von jödischen 
Aoswanderem am 7. Juni mit dem Postdampfer 
»Cassel" des Norddeutschen Lloyd von Bremer- 
haven nach Galveston expediert werden. Diese 
Gruppe bestand ans 60 Personen, die sich säm1> 
lieh im besten Mannesalter befanden. Der Leiter 
des russischen Boreans der JTO, Herr Dr. Jochel- 
mann hatte die Gruppe bis nach Bremerhaven 
begleitet. .Unser Bild führt uns die jüdischen 
Auswanderer korz vor Abgang des Damp;cTs vor. 



Die Direktion des Norddeutschen Lloyd 
in Bremen, die stets den Wünschen der jüdischen 
Passagiere in weitgehender Welse entgegenkommt, 
hatte ihren Beamten, Herrn Arthor Meyerowita, zur 
Expedition des Dampfers nach Bremerhaven ent- 
sandt und ein besonderes Schreiben an den Kapitän 
des Dampfers, Herrn Jantzen, gerichtet, in dem 
die jüdischen Passagiere seiner besonderen Für- 
sorge empfohlen worden sind. Von den amerika- 
nischen Glaabensgenossen ist Vorsorge getroffen, 
dass die Ankommenden von einem Ck>mit6, das sich 
ans angesehenen ' Glaubensgenossen der Jüdischen 
Gemeinden in Texas zusammensetzt, empfangen 
und in geeigneter Weise auf die einzelnen Staaten 
verteilt werden. Eine zweite Expedition nach 
Galveston folgte am 20. Juni mit dem Dampfer 
„Frankfurt" des Norddeutschen Lloyd. 

Es darf an dwser Stelle mit besonderer 
Genugtuung konstatiert werden , dass die von 
führenden Männern der „Alliance Israälite 
Universelle" in Deutschland aasgehende Anregung 
auf so Iruchtbaren Boden gefallen ist. Wir dürfen 
hofen, dass durch das Zusammenwirken aller be- 
teiligten Kreise dieser Plan oaseren auswanderadeo 
Glaubensgenossen sowohl wie ihrem Bestimmungs- 
limde zum Segen gereichen wird. 

Als weiterer Erfolg der oben erwähnten Be- 
strebungen darf verzeichnet werden, dass die 
jüdische Einwanderung in Argentinien in 
stetiger Zunahme begriffen ist. Laut dem amtjichen 
statistischen Bericht der ai^entinischen Eegiemng 
sind im Jahre 1906 13 880 IsraeUten gegen 7516 
im Jahre 1905 in den Häfen Argentiniens gelandet. 
Diese starke Zonahme der jüdischen Einwanderung 
in Ai^entinien ist hauptsächlich dem grosszUgigen 
Kolonisationswerk der Jewish ColonisaUon As- 
sociation zuzuschreiben, deren planvolles Vorgehen 
einer solchen starken Einwanderung seit Jahren die 
Wege geebnet hat. AJmoDi. 




P^Ä 



rm. 



MITTEILUNGEN 



iischen Buieau der M Ailiance Jsrae 



DIE OENERAL-VERSAMMLUNO 
DER BERLINER MITGLIEDER DER A. I. U. n„.«^™».„ 



Am SpDntag den 2. Juni 1907 hat die General- 
varsammliing der Alliance Isra^Ütc Universelle, LokaJ- 
Comitä Berlin, im Sitzungssaal desVerwaltung^bSudes 
' der Jüdischen Gemeinde, Rosonstrasse 2 — 4, stattge- 
funden. Die Tagesordnung lautete wie folgt: 1. All- 
gemeiner Bericht. 2. Wellen zum Vorstand. Die 
Einladung war einem jedi>n einzelnen Berliner Mit^ 
glied der Alliance zugegangen. 

Der Geschartsf Uhrer M. A. Klausner erstattete 
den Bericht, der fulgenden Wortlaut hat: 

„Es ziemt sich und ist uns Herzensp Hiebt, 
daß wir bei Beginn unseres Berichts in Treue der 
Treuen gedenken, die vor uns dahiogegangen sind, 
nachdem sie mit uns in Eifer und Hingebung der 
Sache der Alliance IsraäUte Universelle, d. i. der 
Sache der Judenheit, gedient haben. Kurz nach- 
einander sind unser Schatzmeister Heinrich Gold- 
schmidt und unser Schrittführer Dr. Heinrich 
Meyer C oh n im letzten Drittel des Jahres 1905 von uns 
schieden, jeder eine Zierde des Lokal-Comilfo Berlin, 
beide mit ganzer Seele unserem Werke gehörig, wackere 
Männer, vortreffliche Juden, vorbildlich in ihrer Für- 
sorge für die großen menschheitlichen Ziele unserer 
Vereinigung. Denn den Menschheitsgedanken pflegen 
und lArdem wir, indem wir der Judenheit unser Mühen 
widmen, für den Gerechtigkeitsgedanken, der der 
Grundgedanke unserer heiligen Religion ist, arbeiten 
wir, indem wir, unserem Wahlspruch folgend, die 
Gemeinbürgschaft der Judenheit überall da zur 
Geltung bringen, wo Juden leiden, wo sie Bedrückung 
und Zurücksetzung erfahren, weil sie Juden sind. An 
dem Tage, der die Herrschaft der Gerechtigkeit sehen 
und der zur Anerkennung gebracht haben wird, daß 
es eine Gerechtigkeit ohne Milde und Liebe nicht gibt, 
an diesem Tage, der den Beginn des messianischen 
Reiches bedeutet, wird unser Ziel erreicht und unsere 
Arbeit beendet sein, wird die GemeinbUi^chaft nicht 
bloß ganz Israel, wird sie die ganze Menschheit um- 
fassen. Wer das Glück hatte, die Männer zu kennen, 
die ich genannt habe, der weiß, wie sehr sie, namentlich 
unser Heinrich Meyer Cohn, mit sehnender Seele 
dieses weitere Ziel geschaut und um seine Verwirk- 
lichung in den Grenzen, die die Enge eines einzelnen 
Menschenlebens überhaupt zuläßt, pro viriU parte 
gestrebt und gelitttr. hsben." 



Der Vorsitzende: Erheben Sie sieb, ich bitta 
Sie darum, zum ehrenden Andenken an diese 
Teuren \ 

Der Geschäftsführer fährt fort: „Der Rück- 
blick, den wir Ihnen zu bieten haben, umfaßt zwei 
Jahre. Im vorigen Jahr — dafür ersuchen wir Sie 
um Indenmitat — haben wir die statutenmäßig vorge- 
sehene Generalversanunlung unserer Berliner Mitglieder 
ausfallen lassen. Nicht «us Lässigkeit ist dies geschehen, 
sondern weil wir Sie nur als Zeugen einer Art von 
Umwälzung hätten berufen kflnnen, die wir in unserer 
größeren Gemeinschaft, als deutsche Mitglieder der 
Alliance Isra^lite Universelle, durchmachen mußten. 
Sie selbst hatten durch Ihre geordnete Vertretung, 
das Lokal-Comitä Berlin, den Anstoß dazu gegeben; 
und wir glaubten, nicht eher vor Sie treten zu dürfen, 
als bis die Bewegung zu einem vorläufigen Abachloß 
gelangt, eine Etappe auf dem Wege erreicht war, den 
Ihre Vertretung uns gewiesen hatte. 

Sie wissen, daß die Alliance Isra^lite Universelle 
seit Anbeginn von einem Cenlral-Comit6 geleitet 
wird, dessen Sitz Paris ist. Nur eine Minderheit 
der Mitglieder ist französischer Nationalität. Daß 
die am Sitz einer Gesellschaft wohnenden Mitglieder 
eben wegen ihrer steten Anwesenheit ein gewisses 
Übergewicht haben, liegt in der Natur der Sache. Wir 
müssen aber laut betonen, daß unsere französischen 
Glaubensgenossen niemals von ihrem Übergewicht 
einseitigen Gebrauch gemacht, etwa Interessen ge- 
pflegt hätten, die uns fremd gewesen wären. Gleich- 
wohl haben die deutschen Mitglieder des Central- 
Comitös das Bedürfnis empfunden, einen gewissen 
Ausgleich dadurch zu schaffen, daß sie zu einer deut- 
schen Conferenz-Gemeinschaft sich zusammentaten, 
die, ohne bestimmte Satzungen, bloß den Zweck hatte, 
in zwanglosen Conferenzen die Gemeinschaft der 
Ansichten der deutschen Mitglieder des Central- 
Comilfe diesem zur Kenntnis zu bringen, auch wenn 
die deutschen Mitglieder den Central-Comitö-Sitzungen 
nicht beiwohnten. Am 15. Oktober 1901 hat die erst« 
Tagung der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft statt- 
gefunden; doch führte sie ein Dasein eigentlich nur 
in der Idee. Daß sie wirkliches Leben gewann, daß 
der Gedanke Körper bekam, dazu mußten sich erst 
eine Reihe von Umständen vereinigen. 



477 



Mittdlungen der Alliance Isra^lite Universelle: Die General -Versammlung der Berliner Mitglieder etc. 



478 



Schaft vom 19. Februar dieses Jahres in Frankfurt a. M. 
in dem Bericht des Präsidenten wie in den Berichten 
der Mitglieder über ihre Bezirke mit vorbehaltloser An- 
erkennung des Organs der Deutschen Conferenz-Gemein- 
schaft, der Monatsschrift „Ost undWest**, gedacht 
wurde. Es herrschte nur eine Stimme darüber, daß durch 
diese Monatsschrift ein ausgezeichnetes Mittel gewonnen 
sei, nicht bloß dauernde Beziehungen zwischen der 
Deutschen Conferenz-Gemeinschaft und allen ihren 
Mitgliedern zu unterhalten, nicht bloß die MitgUeder 
der Alliance fortgesetzt über alle Vorgänge in den 
Werken und in dem Wirken der Alliance in Kenntnis 
zu setzen, sondern gleichzeitig in jedes jüdische Haus 
Deutschlands und des deutschen Sprachgebiets Kunde 
zu tragen von dem, was auf irgend einem Felde geistigen 
jüdischen Lebens sich regt. Durch die Verbreitung, 
die die Deutsche Conferenz-Gemeinschaft ihrer Monats- 
schrift gibt, macht sie aus ihr, ganz im Sinne der 
AlUance, ein eigenes hterarisches Schuhverk für Er- 
wachsene. Und wiederum geschieht es im Geiste und 
nach den Gewohnheiten der AlUance, daß sie dieses 
Schulwerk nicht abhängigmacht von Beitragsleistungen, 
daß sie ihr Blatt in jedes jüdische Haus schickt, ohne 
besondere Beiträge, ohne materielle Gegenleistungen 
dafür zu fordern, zufrieden, daß sie jüdisches Wissen 
und Wissen vom Judentum verbreitet, daß sie Gemein- 
sinn weckt und hebt, und mehr und mehr die Gemein - 
bürgschaft zur Wirklichkeit macht, die in dem Wahl- 
spruch der Alliance Isra^lite sich ausdrückt: „Ganz 
Israel bürgt für einander." 

Die Tagung der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft 
vom 19. Februar 1907 in Frankfurt a. M. faßte mit 
Stimmeneinhelligkeit eine Reihe bedeutsamer Be- 
schlüsse. Voran stand die Durchführung der 
Zentrahsierung aller deutschen Bezirks- und Lokal- 
Comit^s und Mitglieder nach BerHn. Es muß be- 
sonders hervorgehoben werden, daß die verdienten 
Träger selbst der liebgewordenen, mehr durch Zufall 
als systematisch gebiljieten alten Einrichtungen den 
Vorzug der vorgeschlagenen Neuerung anerkannt haben 
und sich bereitwillig in die umgestaltende Organisation 
vom 1. Januar 1908 an einfügen zu wollen erklärten. 
Das verdient aufrichtigen Dank, der auch von 
dieser Stelle aus den Herren Bezirksrabbiner Dr. Sal- 
vendi in Dürkheim und Rabbiner Dr. Frank in Cöln 
nochmals ausgesprochen sei. 

Bereits am 24. Oktober 1906 hatte das Central- 
Comitö beschlossen, daß Zöglinge der Ecole Normale 
in Paris — der Lehrerschule für die Lehrer der Alliance- 
schulen — zum Erlernen der deutschen Sprache nach 
Deutschland geschickt werden sollten. Die Frank- 
furter Tagung der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft 
sprach die Erwartung aus, daß das Central-Comit6 
diese Zusage möghchst bald, nach vorheriger Ver- 
ständigung mit dem Präsidium der Deutschen 
Conferenz-Gemeinschaft über die Art der Ausführung, 
verwirklichen werde; ebenso daß das Central-Comite 
mit dem Präsidium der Deutschen Conferenz-Gemein- 
schaft eine Vereinbarung treffe, die die Ausbildung 
von Allianceschullehrern in Deutschland zum nahen 
Ziele hat. Auch beanspruchte das Präsidium der 
Deutschen Conferenz-Gemeinschaft ein Vorschlags- 



recht für die an den Allianceschulen anzustellenden 
Lehrer der deutschen Sprache, so>\ie die Einführung 
deutschen Sprachunterrichts in den marokkanischen 
Allianceschulen. 

Das Central-Comitö hat von den Organisations- 
beschlüssen der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft mit 
Befriedigung Kenntnis genommen. Die Zusage wegen 
der Entsendung von Zöglingen der Ecole Normale 
nach Deutschland wurde erneuert. Die augenblickliche 
Erfüllung sei niu* durch den sofortigen Bedarf an allen 
ausgebildeten Lehrkräften verzögert. Die Ausdehnung 
des deutschen Sprachunterrichts wiu*de nach Maßgabe 
des Interesses der Zöglinge ausdrücklich beschlossen. 

Noch ist von der Frankfurter Tagimg zu erwähnen, 
daß man innerhalb der Deutschen Conferenz-Gemein- 
schaft vollkommen einig war, mit allen in Deutsch- 
land wirkenden jüdischen Organisationen gutes und. 
einträchtiges Einvernehmen zu erhalten oder herbei- 
zuführen. Das ist auch im wesentlichen gelungen* 
Mit der jüdischen Gemeinde in Berlin wirken wir auf 
zwei noch näher zu erwähnenden Gebieten harmonisch 
zusammen, zu den Bnei Briss-Logen sind wir in die 
freundUchsten Beziehungen getreten, was uns zu 
höchster Befriedigung und Genugtuung gereicht und 
im Grunde nur natürUch ist, da uns Gemeinsamkeit 
humanitären und idealen Strebens verbindet. Wir 
erwähnen mit herzlichem Dank, daß auf Anregung 
des Großpräsidenten Herrn Justizrat Timendorfer der 
geschäftsführende Ausschuß der Großloge sämtliche 
deutsche Bnei-Briß-Logen eingeladen hat, der Alliance 
Israelite Universelle korporativ beizutreten. 

Die beiden Gebiete des Zusammenwirkens mit 
der jüdischen Gemeinde in Berlin betreffen die Für- 
sorge für die durchwandernden und rückwandemden 
russischen Glaubensgenossen und für die Ausgewiesenen. 
Im Verein mit der jüdischen Gemeinde, den B*nei 
Brith Logen und dem Hilfsverein der deutschen Jud^n 
haben wir eine Abfertigungsstelle für die durch- 
und rückwandemden russischen Juden eingerichtet. 
Die Gemeinde gab die Bureauräiune dazu her und 
stellte Beamte zur Verfügung, von uns wurden Mit- 
glieder abgeordnet, die in täglicher Arbeit die Einzel- 
fälle prüften und erledigen halfen. Die Gesamtkosten 
wurden von den vier Organisationen zu gleichen Teilen 
bestritten. Seit dem 1. April dieses Jahres ist hierin 
eine Änderung insofern eingetreten, als die Anteil- 
nahme sich auf die jüdische Gemeinde, auf uns und 
auf den Hilfsverein beschränkt. Dank der Munifizenz 
des Central-Comit^s sind wir in der Lage gewesen, 
für diesen Teil unserer Tätigkeit allein seit Beginn 
vorigen Jahres jährlich 10 000 Mk. auszuwerfen. Das 
ist ungefähr so viel, als unser Unterstützungsetat 
im Jahre 1905 insgesamt ausmachte. Jetzt hat dieser 
•Etat ungefähr die fünffache Höhe erreicht. Herr 
Justizrat Dr. Edmund Lachmann vom Vorstand der 
jüdischen Gemeinde leitet mit bekannter Umsicht 
imd SachUchkeit diese Abfertigungsstelle, die unter 
Mitwirkung unserer Delegierten tadellos funktioniert. 

Im April vergangenen Jahres haben, wie Ihnen 
bekannt ist, in Berlin und in ganz Preußen neuerdings 
Massenausweisungen unserer östUchen Glaubensge- 
nossen begonnen. W^ir wurden zunächst bei dem 



481 



Mitteilungen der Alliance Isradite Universelle: Die General -Versammlung der Berliner Mitglieder etc. 



482 



wähnt sind, geht hervor, daß die Alliance Israölite 
Universelle sich auch bei der Erteilung des sprachlichen 
Unterrichts von keiner einseitigen VorUebe hat leiten 
lassen, sondern daß sie überall nur bestimmt worden ist 
und bestimmt werden wird von der Rücksicht auf das 
fernere gute Fortkommen ihrer Zöglinge. Wo deutscher 
Sprachunterricht irgend von Nutzen ist — in der ganzen 
Levante — da wird er erteilt. Auch die deutsche Unter- 
richtssprache ist da, wo das Zöglingsmaterial es zuläßt, 
ohne weiteres eingeführt. Aber wir würden gewissenlos 
sein und töricht, wenn wir in persischen Schulen den 
deutschen Unterricht einführen wollten, wenn wir in 
den türkischen Schulen nicht die größere Aufmerksam- 
keit der französischen Sprache widmen wollten, die in 
der Türkei die zweite Staatssprache ist, deren Kenntnis 
imentbehrlich ist für jeden, der die Möglichkeit besseren 
wirtschaftlichen Fortkommens haben will. Die Alliance 
Isra^lite Universelle hat eine lange Erfahrung auf dem 
Gebiete des Schulwesens. Sie hat viele tastende Ver- 
suche machen müssen, ehe sie dahin gelangte, die un- 
endlichen Schwierigkeiten zu überwinden, die sich ihr 
entgegenstellten. In drei Erdteilen unterhält sie 
Schulen, in denen sie an 45000 Schüler unterrichtet, 
nährt und kleidet. Für drei Erdteile muß sie Lehrer er- 
ziehen. Aus drei Erdteilen holt sie die künftigen Lehrer 
herbei, die sie dann in vielfach unkontrollierbare Fernen 
schickt. Diese Entfernungen sind nicht abzukürzen. 
Die Kontrolle wird immer mangelhaft sein müssen, und 
so bleibt als Ersatz nur, daß man die künftigen Lehrer 
wenigstens während der Erziehungsperiode unter Augen 
hat und genau beobachtet, damit man wisse, wie weit 
ihre Zuverlässigkeit gehe, damit man wenigstens für 
eine Reihe von Jahren die Sicherheit habe, daß nicht 
die erneuten Einflüsse des alten Miüeus sich wieder in 
«törender Weise geltend machen. Die Zeit ist noch nicht 
gekommen und wird noch lange nicht gekommen sein, für 
<len Orient im Orient Lehrerseminare zu errichten. Jeder 
anderweite Versuch wird sich als vergeblich erweisen. 
Es ist selbstverständlich und bedarf keiner Be- 
tonung, daß wir es gern sehen würden, wenn die deut- 
sche Sprache auch im Orient die Weltsprache würde, 
die beute noch die französische allein ist. Aber für 
•diese ferne Zukunft können wir unsere jüdischen 
Knaben im Osten nicht erziehen. Wir müssen sie er- 
ziehen für die nächsten Jahre und für die Dauer ihres 
Lebens. Wir wollen nicht auf ihre Kosten, auf Kosten 
ihrer Zukunft Experimente machen, von denen wir 
wissen, daß sie nicht anders als mißglücken können. 
Es wäre ja wider alle Natur, wenn wir einer fremden 
Sprache den Vorzug vor unserer geben wollten. Auf 
■eine Erörterung hierüber lassen wir uns nicht ein, die 
überlassen wir denen, die sich in ihrem Deutschtum 
nicht sicher fühlen. Den Engländern und insonderheit 
den englischen Juden wird man nicht zum Vorwurf 
machen, daß sie etwa ihr Engländertum zurückstellten 
imd verleugneten. Der englische Zweig der Alliance 
Isra^lite Universelle, die Anglo-Jewish Association in 
<}onnection with the Alliance Isra^lite Universelle, wie 
ihr voller Titel lautet, bietet neim Zehntel ihres Etats 
■den Alliance-Schulen dar, und nur in ganz vereinzelten 
von diesen durch englisches Geld miterhaltenen AUiance- 
schulen wird englisch gelehrt. Denn unsere engli-:chen 



Glaubensgenossen sind gleich uns der Meinung, wir hätten 
keine Sprachenpoütik zu treiben, sondern für xmsere be- 
drängten Glaubensgenossen und ihr Fortkoramen zu 
sorgen. Ägypten steht unter englischer Herrschaft, und 
doch ist dort die europäische Sprache die französische 
Sprache, und die jungen Leute, die ohne Kenntnis des 
Französischen nachÄgypten gehen wollten, würden dort 
üble Erfahrungen machen, würden Anstellungen kaum 
finden. Der Hilfs verein hatte in Jerusalem an die 
durch uns von je unterstützte Lämelschule eine 
Kommerzschule oder Kommerzklasse angegliedert. In 
dieser Kommerzklasse wurde die deutsche Unter- 
richtssprache eingeführt. Die deutsche Unterrichts- 
sprache ist jetzt verschwunden, sie hat durch 
die französische Unterrichtssprache ersetzt werden 

müssen 

Im gegenwärtigen Jahr hat wieder Rumänien 
neben Rußland, dem Land unserer größten Schrecken, 
von sich reden gemacht. Eine Mißregierung hat dort 
die Bauern zur Empörung getrieben. Vor aller Welt 
Augen haben die Bojaren den Versuch gemacht, diese 
Empörung abzulenken auf imsere Glaubensgenossen, 
damit diese als Sühnopfer dienten, und damit der 
öffentUchkeit vorgegaukelt werden körme, den Juden 
und nur den Juden habe der Aufstand gegolten. In 
Wirklichkeit sind die nmiänischen Bauern fast genau 
so mißhandelt, wie die rumänischen Juden. Aber selbst 
die Empfindimgslosigkeit der rumänischen Bauern 
hat eine Grenze, imd daß sie erreicht war, zeigte der 
Aufstand, der sich nicht gegen die Juden ablenken 
ließ, so viel Propagatoren der Judenhetze auch auf 
öffentUche Kosten im Lande herumreisten. Der Auf- 
stand brach da aus und wütete da am meisten, wo es 
Juden überhaupt nicht gab. Freilich waren jene Hetz- 
apostel auch nicht ganz erfolglos tätig gewesen, imd es 
hat beträchtUchc Schädigimgen gegeben. — Wir hatten 
gesehen, daß dies kommen würde. Die AUiance Isra^Ute 
Universelle hatte sich auf Abwehr imd Hilfe vorbereitet, 
hatte beizeiten mobil gemacht; und als das Unglück 
da war, da war auch schon die Hilfe der Alliance zur 
Stelle. Ihre Vertrauensmänner imd ihre Beamten 
hatten in den meistbedrohten Orten und in den Grenz- 
städten die erforderUchen Vorkehrungen getroffen. 
Auch das war, wie alles, was die Alliance tut, in aller 
Stille und ohne Ruhmredigkeit geschehen. Sogar die 
Leitung des späteren Hilfswerks, das über den Tag 
hinaus zu sorgen hatte, war von der Alliance ohne 
weiteres dem geographisch näher liegenden Schwester- 
institut, der IsraeUtischen AUianz in Wien übertragen, 
ohne daß deswegen die Alliance mit ihren Mitteln 
zurückgehalten hätte. Nachdem sie die Tagesnot be- 
kämpft, stellte sie mit der IsraeUtischen Allianz in Wien 
die Hälfte allen Bedarfs zur Verfügung, ein Viertel 
leistete das vereinigte Englische Hilfs -Comit^ für 
die notleidenden osteuropäischen Juden, ein Sechstel der 
Hilfsverein, ein Zwölftel das Frankfurter Komitee für 
die osteuropäischen Juden. Daß die Jewish Colonisation 
Association, die durch Personalunion mit der Alliance 
Isra^lite Universelle verknüpft ist, die gesamten Kosten 
und die ganze Leitung der rumänischen Emigration 
übernimmt, auch für die Einrichtung von Kredit- 
genossenschaften in Rumänien ganz ebenso wie seit 



483 Mitteilungen der Alliance Isra61ite Universelle: Die General -Versammlung der Berliner Mitglieder ctc 484 



Jahren in Galizien sorgt, ist Ihnen bereits durch unser 
Organ mitgeteilt worden. 

Und wiederum ist es selbstverständlich, daß die 
Alliance Israelite Universelle überall versucht hat, und 
fortfährt zu versuchen, den rumänischen Glaubens- 
brüdem aus der dauernden Not zu helfen, in der sie 
durch rumänischen Wortbruch zu leben gezwungen 
sind. Die Leitung unserer Centrale hat in Paris, die 
Leitung der D. C. G. hat in Berlin, die Israelitische 
Allianz in Wien, das Anglo-Jewish Comittee in connec- 
tion with the A. I. U. in London die nötigen Vor- 
stellungen an den zuständigen Stellen mit Nachdruck 
und mit Klugheit gemacht, imd die endliche Wirkung, 
das ist imsere Hoffnung, wird nicht ausbleiben. 

Wann aber wird der Morgen erscheinen, den wir 
alle mit einem Herzen begrüßen ? Wann geht der 
Tag auf, der uns zur gemeinschaftUchen Arbeit führt, 
zu einer Arbeit, die keine Tremnmg zwischen Menschen- 
brüdem mehr kennt? So fragen wir mit einem Edlen 
unsere» Stanunes und wir antworten mit ihm: „Er 
wird kommen, der Tag des Lichtes! Mögen immer 
Pygmäen-Gesinnungen in einen Kampf sich einlassen 
mit dem Riesengeist der Gerechtigkeit — wir sind 
des Sieges gewiß. Doch auch die Wunde des Siegers 
schmerzt. Darum, Brüder, laßt uns nach den Satzungen 
und Zielen der A. I. U. mit lindernder Hand Balsam 
träufeln in die Wimden der siegenden Wahrheit, damit, 
wenn man das zwanzigste Jahrhundert noch einmal 
erröten sieht, man sagen möge: „Die Farbe der Freude 
ist's, die es verklärt, nicht die Farbe der Scham." 

• « 

• 

Nach diesen allgemeinen Ausführungen gestatten 

Sie, Ihnen aus dem demnächst erscheinenden und zur 

Verteilung gelangenden Jahresbericht der Alliance 

Israelite Universelle für 1906 einige Daten mitzuteilen: 

„Die Alliance hat im Jahre 1906 für die von ihr 

in drei Erdteilen unterhaltenen und geförderten 



Knaben- und Mädchenschulen und Lehrlingsanstalten 
einschliesslich von Ackerbauschulen 1 481 027 Frs. 
ausgegeben, außerdem für die Präparandenanstalt, 
die zu dem Lehrerseminar für die Orientschnlen 
gehört, einen Betrag von 105 274 Frs., endlich .für die 
Errichtimg von Bauten 76 490 Frs. insgesamt also 
1 662 791 Frs. Diese Ausgaben haben durch die reg 1- 
mässigen Einnahmen, aus den Zinsen der Stiftungs- 
kapitalien und aus den Beiträgen von Mitgliedern 
und Freunden volle Deckung gefunden. Die Ein- 
nahmen beziffern sich auf 1613 798 Frs. Darüber 
hinaus hat die AUiance Israelite Universelle für die 
besondere Hilfstätigkeit zugimsten verfolgter Juden 
anderthalb Millionen aufgewendet, die in besonderen 
Spenden eingingen. Der Gesamtaufwand der A. I. U. 
ftir ihr Hilswerk hat somit im vorigen Jahr an 
3 200 000 Frs. betragen. Die Zahl der Mitglieder der 
Alliance Israölite Universelle beträgt 30000, hiervon 
in Deutschland ungefähr 13 000." 

« « 

• 

Der Vorsitzende stellte den Bericht zur Diskussion. 
Da sich niemand zum Wort meldete, konstatierte der 
Vorsitzende die Gutheißung des Berichts durch die 
General-Versammlung. 

Dem Vorschlag des Vorstandes gemäß wurde 
das gesamte Lokal-Comitä neu gewählt. Die Ver- 
sammlung wählte den seitherigen Vorstand durch 
Akklamation wieder. Das Lokal-Comit6 besteht aus 
den Herren Geheinu^at Goldberger (Vorsitzender), 
Rabbiner Dr. Weiße (Stellvertr. Vors.), Benno 
Braun (Schatzmeister), Alfred Cohn (Stellvertr. 
Schatzm.), Dr. Hantke (Schriftf.), Dr. Lehfeldt 
(Stellv. Schriftf.), Ludwig Adler, Max Beer, 
Ilia Ber, Siegfried Brunn, Moritz Dorn, 
Heinrich Fraenkel, Dr. Sam. Fraenkel, 
Geheimrat Landau, Direktor Oliven, Louis 
Rosenbaum. 



DER JAHRESBERICHT 
DES CENTRAL- COMITES DER A. I. U. FÜR 1906. 



Nachdruck veiboteo. 



Die Alliance Israelite Universelle hat seit ihrem 
Bestehen Weit darauf gelegt, den Mitgliedern und 
Jedem, der sich dafür interessieren mag, über ihr 
Wirken genaue Auskunft zu geben. Die Jahresberichte 
dieser ältesten und grössten jüdischen Hilfsorganisation 
bieten nicht blos ein Bild ihrer über drei Erdteile sich 
erstreckenden Tätigkeit, sondern im Zusammenhang 
damit eine fortlaufende Geschichte der Judenheit. Was 
von der Judenheit für die Judenheit getan wird, daa 
ist hier aufgezeichnet; der Juden Leiden und der Juden 
Taten sind hier aufgeführt. Die Jahresberichte der 
Alliance Israelite Universelle sind eine Art Kultur- 
geschichte der Juden, Zeugnisse eines nie aufhörenden 
Kampfes für Gerechtigkeit und Menschlichkeit, un- 
ermüdlicher Bruderliebe und nie rastenden Kulturfort- 
schritts. In immer entlegenere Kulturwtlsten entsendet 
die Alliance Israelite Universelle ihre Missionare, die 
das Licht der Lehre erneuern und verbreiten, die das 
wirtschaftliche Elend unserer Glaubensgenossen durch 



Erziehung und Unten^icht und durch wirtschaftliche 
Kräftigung der Brüder ausrotten helfen. Die Alliance 
Israölite Universelle verleiht den Glaubensgenossen 
Stärke zur wirtschaftlichen Selbsthilfe, stählt sie für 
den Lebenskampf und erweckt in ihnen die Traditionen, 
die der ganzen Judenheit gehören. Die Alliance Israelite 
Universelle blickt auf ermutigende Erfolge zxu*ück. In 
mehr als einem Lande, das sonst in geistigem Dämmer 
liegt, hat sie unseren Brüdern das Licht der Kultur 
gebracht; in mehr als einem Lande besteht das ganze 
lebende Geschlecht der Juden aus ihren Sdiülem, die 
in verehrender und dankerfüllter Liebe auf sie als auf 
die grosse Mutter sehen und Gott preisen, dass er ihnen 
vergönnt hat, nachdem sie Kinder der Sorge und Für- 
sorge gewesen, zu selbständigen, mitarbeitenden Männern 
in Israel und für Israel zu werden. Auch der vor- 
liegende Bericht für das Jahr 1906 spricht von weiteren 
Fortschritten und von glücklichem Gelingen, überall 
von der Erfüllung der Pflichten der Bruderliebe. Der 



Mitteilungen der Alliance Israelile Universelle: Der )ahresberJchl der A. I. U. für 1906. 



letzte Abachoitt der deatscheo Ausgabe des Jahres- 
berichts handelt von der Dentschen Conferenz-Gemeip- 
schaft, die die Fahne der Alliance Tsraelite Universelle 
in DeatachläDd nen erhoben und neäe Mitstreiter lu 
Taasenden gewonnen hat. Jedem unserer Mitglieder 
ist ein Esemplar zugestellt worden. Dass anch bei 
.sorg flu tlgster Herstellung des Bericht« Irrtümer vor- 
kommen, findet wohl dnrch die Fülle des Materials 



freundliche Entschuldigung. Wir vermerken hier eini^re 
Berichtignngen und Nachträge für das Spenden ver- 
z'ichnis: Auf Seite 154 muss es bei Homburg v.d.H. 
Mk. 51.— sUtt Mk. ]02.— , auf Seite 155 bei Mar- 
burg heissen : „durch Pro vinzi airabbin er Dr. L. Manck 
Mk. 58. — . An Spenden sind noch zu verzeichnen: Rechts- 
anwalt Emannel in Bonn Mk. 100. — , Justizrat Dr. 
Edmund Lachmann in Berlin Mk. 200.— und Mk. 100.—. 



ZWEI VETERANEN DER A. I. U. 



Wir haben in der vorigen Nummer des Verlustes 
gedacht, den die Alliance Israölite Universelle durch 
den Tod zweier treuen Vertreter, Emil Nöther in 
Mannheim und Ootthold Levy in Stettin, erlitten hat. 
Es sei uns gestattet, einige Daten aus dem Leben dieser 
beiden, um unser grosses Werk in treuer Mitarbeit 
hochverdienten HSnner, anzuführen, als Begleitung zu 
den Bildnissen der Verewigten. 



Emil Nether wurde am 16. UArz 1812 in Mann- 
heim geboren. Er widmete sich dem Kaufmannsstande. 
Nachdem er im Aaslande tätig gewesen und weiten 
Blick gewonnen hatte, begründete er in Mannheim die 
eieene Firma Jos. Nöther & Co., deren Seniorchef er 
war. In dem Anfsichtsrat der SOddeutachen Bank in 
Mannheim war er Vorsitzender. Persönlich jedem 
äffenttichen Auftreten abgeneigt, entzog er sich doch 
nicht den Anforderungen, die man zunächst im engeren, 
dann In immer weiterem Kreis an ihn stellte. Die 
Israelitische Gemeinde seiner Geburts- nnd Heimatsstadt 
wählte ihn seit etwa 10 Jahren znm Synagogenrat, in 
einer Reihe wohltätiger Vereine bekleidete er das Vor- 
steheramt. Er würde der Allicance Israölite Universelle 
sich angeschlossen haben, auch wenn er nicht schon 
durch Familientradition ihr mit ganzem Herzen ange- 
hörte. Als erster Präsident des Orossherzoglich Badi- 
schen Landescomit^s der A. I. U. hat er dieser im ganzen 
Grossherzogtum Freunde und Anhänger gewonnen, 
die Mitslied- 

schaft 
organisiert 
nnd im Zu- 
sammenhang 
mitdemDeut- 
schenBureau 
der A. I. U. 
das Hilfs- 
werk gelei- 
tet. Er war 
die rechte 
Handunsere<i 
J. M. Biele- 
feld in Mann- 
heim, dem er 

besonders 
nahe stand 
und dem sein 
Patriarchen - 
alter weder 
die Freude 
an der Tätig- 
keit in der 



Gotthold Levy. Stettin. 



Emil NOtber, Hannheim. 

A. I. n. noch die dazu erforderliche RQstigkeit ge- 
schmälert hat. 

Gotthold Levy in Stettin war nm wenige Jahre 
jünger als Emil Nßther. Auch er hat die Zugehörig- 
keit zur Alliauce als ErbteU vom Vater übernommen, 
dem vormaligen Vorsitzenden des Stettiner Synagogen- 
vorstandes. Schon als junger Mann, im Jt^re 1873, 
nahm er an einer Delegierten Versammlung in Paris teil. 
Die Bekanntschaft mit Ci'emieux nnd anderen Führern 
der Alliance blieb ihm für sein ganzes Leben ein Er- 
innerungsschatz. Das Fener heiliger Begeisterung für 
unsere Sache hatte sich auf ihn Obertragen und er- 
wärmte und belebte ihn. Er blieb mit der Alliance, 
für die er in Stadt und Provinz eifrig wirkte, bis an 
das Ende seiner Tage in stetem Zusammenhang. Seine 
Tätigkeit im Dienste der Alliance brachte es mit sich, 
dass er auch im Dienst unserer verfolgten russischen 
Glaubensgenossen stand. Im Jahre 1891 hat er als 
Schriftführer des Stettiner Comit^s für die russischen 
Juden Tausende nach Amerika befördert. Seine Für- 
sorge galt nicht minder dem jüdischen Waisenhau.s 
seiner Heimatsstadt, dessen Vorstand er in den letzten 
8 Jahren als Vorsitzender angehörte. Gleiches Interesse 
wendete er dem Verein für Jüdische Geschichte nnd 
Literatur zu. Gotthold Levy, ein Kaufmann von mehr 
als gewöhnlicher Bildung und von grossem Bildungs- 
trieb, war sehr religiös. Er hat, solange er gesund 
war, keinen Sabbat-Gottesdienst versänmt. 



MiKeiiungen der Allianz Israäite Universelle. 



Rabbiner Dr. Feilchenfeld. 



RABBINER DR. FEILCHENFELD. 

Die AlliaDce laraellte Unviversfille bat das O-lUck, 
dasB aie in ihrem Rat die Stlnune der Alten nicht za 
missen braucht Wer zn ihren „Alten" gerechnet sein 
will, der mnss schon das 80. Lebensjahr überschritten 
haben. Seit dem 28. Mai, seinem 80. Geburtstag, ist 
Rabbiner Dr. Feilchenfeld in diesen Rat der Alten ge- 
treten, zu dem er nach Weisheit nnd Erfahrung Ungst 
gehörte. Als Mitglied des Central-Comit^ der A. I. U. 
hat er an deren Bestrebungen allezeit regsten herz- 
lichsten Antatl genommen. 



Das rnmlfjiiBche Hilfswerk. Das mmäuisclie 
Hilfswerk wird von der Israelitischen AHianz zn 
Wien mit regstem Eifer, mit unübertrefflicher Hingabe 
and gleicher Sachkunde geleitet. Das in der Wiener 
Besprechung vom- 6. Mai aufgestellte Programm ist in 
tadelloser Weise zur AnsfUhrung gebracht worden. 
Die Vertreter der geschädigten jüdischen Qemeinden 
Kamäniens haben von Jaaay uns an die Israelitische 
Allianz zn Wien das nachstehende Dankschreiben 
gerichtet, das zugleich eine neue Bitte enthält: 

„Jassy, den U./27. Mai 1907. 
Hochgeehrte Herren! 

Die hier zu einer Beratung versammelten 
Delegierten der HUfscomites in Rumänien bringen 
Ihnen hiermit ihren tiefgeftihltesten Dank fOr alle 
Beweise brüderlicher Teilnahme zum Ausdruck, die 
sie nach der Heimsuchung der hier ländischen 
Grlaubensgenossen durch die jüngsten Ereignisse 
gegeben haben, und bitten Sie höflichst, auch den 
an dem HUfewerk beteiligten Organisationen in 
Berlin, Frankfurt a. M., Paris und London, sowie 
den Glaube nsbrildern in Amerika, die unverzüglich 
so bedeutende Geldsummen zu Hilfszwecken sandten, 
gütigst ihren lebhaftesten Dank zu Übermitteln. 

Die genannten Delegierten appellieren femer 
an Sie, den unglücklichen Glaubensgenossen, die 



nicht in die Dörfer zurückkehren dürfen, oder aus 
ihnen ausgewiesen worden und die nun in den ver- 
schiedenen Städten obdachlos und erwerbslos umher- 
irren, Ihr Augenmerk zuzuwenden und für sie alles 
zu tun, was möglich ist. 

Hochachtungsvoll und ergebenst 
Dr. M, Bjeck. M. Schnttrer." 

Von diesem Schreiben ist durch die Israelitische 
Allianz zu Wien allen an dem Hilfswerk beteiligten 
Oriranisationen Kenntnis gegeben worden. Wie am 
5. Mai in Wien bereits in Aussiebt genommen war, 
ist für den in dem mitgeteilten Schreiben bezeichneten 
Zweck eine angemessene Summe zurückgelegt. Von 
ungenannter Seite veranlasst, haben mehrere Zeitungen 
die irrige Nachricht verbreitet, dass die Bitte um neue 
Unterstützung an eine Stelle ausserhalb der 
Israelitischen Allianz zu Wien geleitet worden sei. 
Desselben Ursprungs ist wohl auch die andere falsche 
Meldung, dass die rumänische AuswauderuDg Gegenstand 
der Fürsorge irgend einer anderen Organisation als der 
Jewish Colonisation Association sei. Die Aus- 
wanderung unserer rumänischen Glaubensgenossen ist 
bei der J. C. A. in den besten Händen. Die J. C. A. 
ganz allein leitet und bestimmt diese Aus- 
wanderung, sie ganz allein bestreitet auch die 
Kosten. Jede andere Mitteilung widerspricht den 
Tatsachen. 

• * * 

Spenden für die rumänischen Ulaubena- 
genossen. Herr Bezlrksrabbiuer Dr. Salvendi- 
Dürkheim, der unermüdliche Sammler, bat für das 
rumänische Hilfewerk weitere 300 Mark eingeschickt. 
Den gleichen Betrag von 300 Mark, für denselben 
Zweck bestimmt, verdanken wir der Güte der F,raa 
Geheimrat Meyer Cohn in Berlin. Das Geld ist 
seiner Bestimmung zugeführt worden. 

* 
Deutscher Unterricht in Coustantinopel. Das 

Central-Comit^ der A. I. U. hat gemäss dem Vorschlag 
der Deutschen Conferenz- Gemeinschaft Herrn Julius 
Kaufmann ans Cöln zum Lehrer der deutseben 
Sprache an der Alliance- Schule in Constantinopel- 
Galata berufen. 

, - • 
Wiesbaden. Am 27. Mai hat unter dem A^orsitz 
des Herrn Stadt- und Bezirksrabbiners Dr. Silberstein 
eine Sitzung des Lokalcomites stattgefunden. Herr 
Hermann Hertz hat aus Rücksicht auf sein Älter 
das von ihm seit 40 Jahren verwaltete Amt eines 
Sahatzmeisters niedergelegt. An seiner Stelle wurde 
Herr Jacob Hirsch gewählt. Der Vorsitzende 
widmete dem verdienten Manne, der übrigens Mitglied 
des Comit^ bleibt, herzlichen Dank für sein pflicht- 
eifriges und treues Wirken. — Die Zahl der hiesigen 
Mitglieder der Alliance Israelit« Universelle hat 100 
erreicht 

Königsberg i. Pr. Das hiesige Lokalcomite hat 
sich erweitert und neu konstituiert. Es besteht ans den 
Herren Rabbiner Dr. Vogelstein (Vorsitzender), 
Konsul Max Minkowski (Schatzmebter) , Albert 
Eichelbaum, Max Fernstein, Julius Herrmann, 
Waisenhaus-Inspektor A. Peritz. 



489 Mitteilungen der Alliance Isra^lite Universelle. 400 

An die 

Mitglieder der Jüdischen Gemeinden in Deutschland. 



Glaubensgenossen I 

Die Alliance Israelite Universelle wurde vor länger denn einem Menschenaller tns Leben 
gerufen, um die Ehre des jüdischen Namens ^egen Angriffe zu verteidigen, um den Bedrängten 
beizustehen gegen Verfolgungen, die sie des (jtaubens oder der Abstammung we^en erdulden, um 
dem Elend, das Heimsuchung und Knechtung erzeugen, durch Unterricht und Erziehung zu steuern. 

Die Alliance Israiliie Universelle hat steh seit ihrem Bestehen mit nie ermüdender 
Bereitwilligkeit und mit wachsender Kraft Werken der Nächstenliebe gewidmet. 

Die Alliance Israiliie Universelle, die Bekenner unseres Glaubens in allen Erdteilen 
umfasst, ist ihren weitgesteckten Aufgaben vielfach mit gesegnetem Erfolg gerecht geworden. 

Wäre die Alliance Israelite Universelle nicht vorhanden, wcArlich, sie müsste geschaffen 
werden! Harte Prüfungen kommen immer wieder über uns. So rufen neue und erweiterte P flickten 
mit mahnenden Forderungen unsem Gemeinsinn auf. 

Und Oemeinsinn ist es vor allem, der uns not tut, damit wir, in Einigkeit stark, über 
die Qual der Gegenwart hinweghelfend, das Schicksal unserer leidgewohnten Glaubensgenossen zu 
lindern und ihre Zukunft froher zu gestalten vermögen. 

Im Vertrauen auf Oott una auf eigene Kraft ist das Werk der Alliance Israelite 
Universelle begonnen und geführt worden. So wollen wir es fortsetzen. Und kein Sohn Israels, 
nicht einer, sollte dr aussen bleiben und abseits stehen: 

Wir wenden uns an Euch, deutsche Glaubensgenossen, mit der Bitte, dass Ihr Euch 
anschliesset. Wir in Deutschland sind die Nachbarn des traditionellen Verfolgungsbereichs, Wir 
sind die berufenen Schirmer des Leides^ das über die östlichen Grenzen zu uns schreitet. 

Die Alliance Israilite Universelle hat niemals und nirgends ihren Beistand versagt. 
Mit offener Hand war sie allezeit zur Stelle. Und in ihren Schulen hat sie Hunderttausende eu 
treuen Anhängern unserer Religion, zu treuen Bürgern ihres Landes erzogen. 

Gegenwärtig werden in den allgemeinen und in den Handwerks- und Ackerbauschtden der 
Alliance Israelite Universelle^ in Algier^ Tunis, Marokko, in Bulgarien und Macedonien, in 
der europäischen und asiatischen Türkei, namentlich in Palästina, in Persien, über vierzigtausend 
Schulkinder unterrichtet, zum Teil auch verpflegt und gehleidet Deutscher Unterricht wird 
überall da erteilt oder zur Einführung gebracht^ wo die Tvirtschafüichen Verhältnisse es erfordern. 

Die Alliance Israilite Universelle wendet jährlich für Wohlfahrts- und Wohltätig- 
heitszzvecke 1 200 000 Mark auf. 

Das Werk der Alliance Israilite Universelle steht im Dienste der Menschlichkeit und 
Gesittung^ der Duldsamkeit und der Gerechtigkeit. 

Zur Teilnahme an diesem Werk rufen wir auf. Glaubensgenossen, wir sind davon 
durchdrungen^ Ihr werdet dem Rufe Folge leisten! 

Die Deutsche Conferenzgemeinschaft der 
Alliance Israelite Universelle. 

Geheimer Kommer zienrat Goldher ger, Berlin Charles L. Hallgarten, Frankfurt a. M. 

Rechtsanivalt Behrendt, Danztg, Sally Flörsheim, Dortmund. 

Rabbiner Dr. Frank, Köln. Theodor Oschinsky, Breslau. 

Dr. Blau, Frankjurt a. M. J. M, Bielefeld, Mannheim. Rabbiner Dr. Feilchenjeld, Posen. 

Eugen Fellheim, Stuttgart. Geheimer Justizrath Dr. Fuld, Frankjurt a. M. Hermann Gumpertz, Hamburg^ 

Stadtrath Leopold Guttmann, Beuthen, Ober-Schi. Geheimer Hof- und Justizrath Dr. Josephthal, Nürnberg 

Emil Meyer, Hannover, Sanitätsrath Dr. S. Neumann, Berlin. Rabbiner Dr. Porges, Leipzig. 

Rabbiner Dr. F. Rosenthal, Breslau. C. Simon Salomon, Metz. Rabbiner Dr. Salvendi, Dürkheim. 

Philipp Schiß, Frankfurt a. M. Rabbiner Dr. Vogelstein, Königsberg i. Pr. Rabbiner Dr. Werner. München. 



491 Mitteilungen der AUiance Isra^lite Universelle. 492 

Die verehrlichen Mitglieder, die auf regelmässige und pünktliche Zustellung 
unseres Organs Wert legen^ werden ersucht, Aenderungen ihrer Postadresse unver^ 
zttgiich dem deutschen Bureau der A. 1. U., Berlin N. 24, Oranienburgerstrasse 42/43 
mitzuteilen. 

Alle für das BerUner Lokal -Coniit^ der A« I. U. und fflr das Deutsche Bureau der A. I. U. bestimmten 
Geldsendungen beliebe man an den Schatzmeister 

Herrn Benno BrAun in Firma Joelsohn & Brunn» Berlin C. 19, Hausvoigteiplatz 1 2 

zu adressieren, eventuell durch Reichsbank-Girokonto der Firma Joelsohn & Brunn zu überweisen. 



Vom 1. Juni bis 15. August d. J. sind unsere Bureaus, Oranienburgerstr. 42/43» nur 
von 9 Uhr vormittags bis 3 Uhr nachmittags geöffnet. 

Das Deutsche Bureau der AUiance Isra^lite Universelle» 




TO m Ji ^iJr. D^21P 



BUECHERSCHAU. 

Einsames Land. Erzählungen und Stimmungsbilder Tristan. Tagebuchblätt^r einer Glücklich-Unglücklioben 

von Dr. Bemh. Münz, Gleiwitz. Verlag von von Else Fränkel. E. Pierson's Verlag, Dresden. 

J. Kauffmann, Frankfurt a. M. Die Ausgestossenen einer Grossstadt. Roman aut^ 

Mutterschaft. Schauspiel in einem Aufzuge von dem modernen amerikanischen Leben von Fred 

Emstine von Lemor. E. Pierson's Verlag, Dresden. W. Primer. E. Pierson's Verlag, Dresden. 

Empfundenes. Gedichte von Fanny Bäumel. II. Band. Modernes Judentum im Morgen- und Abendland. Von 

E- Pierson's Verlag, Dresden. Jakob Obermeyer. Verlag von Carl Fromme, Wien. 

„Reinigung, Aufffritchung, VerJOngung dos Biutot". Von Dr. med. Paczkowski. VII. Aufl. M. 1^. Verlae von Edmund Demme, Leipzig.— 
Der wichtigste Bestanateil unseres Körpers ist das Blut, alle, auch die kleinsten Teile desselben werden durch das Blut ernährt. Ist es nun rein und 
gut, so bleiben auch die Oewebe rein und gesund ; wird aber das Blut verdorben, so muss auch der Körper darunter leiden und muss krank werden. 
Jedes Organ ist in erster Linie von seiner crnähning abhängig, d. h. es kann nur so lange normal funktionieren so lange es richtig und mit reinem 
Blute versehen wird. Daraus erhellt, dass fast alle Krankheiten Blutkrankheiten sinoT sie wurzeln entweder in einer fehlerhaften Zusammensetzung 
oder in einer falschen Zirkulation des Blutes. Ueber alles gibt die Broschüre Aufschluss. 



Fflr Kranke und Gesunde ist es ein Oebot der Vernunft, nur natürliche Mineralwasser bei Durst zu trinken, keine solchen, welche künstlich 
hergerichtet sind. Unter den natürlichen Mineralwässern ist Klösterle Sauerbrunn wegen seiner Zusammensetzung an heilkräftigen Salzen am 
empfehlenswertesten, weil er äusserst durststillend wirkt und überdies der hohe Oehalt an Lithium die Hamsalze aus dem Blute ausscheidet, was von 
allen äntlidien Autoritäten anerkannt wird. 

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Reiches unter No. 5785 a der Postzeitungsliste und durch die Expedition dieser 2^itschrift " 

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Adresse fDr die geschäftliche Korrespondenz: Verlag „Ost und West'S Berlin W. 8, Leipzigerstr. 31-32^ 

Redaktion: Berlin W. 15» Knesebeckstr. 48/49. 

Verantwortlicher Redakteur: Leo Winz, Berlin W. 15, Knesebeckstr. 48/49. - Verlag Ost und West, Berlin W.8. 

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Oitit leichte, hochfeine IJua'' ' 



ILLUSTRIERTE MONATSSCHRIFT 





4 



FÜR DAS GESAMTE JUDENTUM 



Herausgegeben und redigiert 



LEO WrNZ. 



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Heft 8/9. 



Alle Rechte yorbehalten. 

yn. Jahrg. 



Augnst/September 1907. 



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NARCISSE LEVEN, PRAESIDENT DER ALLIANCE ISRAELITE 

UNIVERSELLE UND DER J.CA., UEBER DIE TAETIGKEIT DER 

JEWISH COLONISATION ASSOCIATION IM JAHRE 1906. 

(Vortrag in der Generalversammlung vom 7. Juli 1907.) 

Gteehrte Herren! 

Der Jahresbericht, den wir Ihnen vorzulegen 
die Ehre haben, gibt möglichst genaue Bechen- 
schaft über unsere Tätigkeit während des ver- 
flossenen Jahres. Diese Tätigkeit ist mannigfacher 
Art; sie umfasst landwirtschaftliche Besiedelung, 
Auswanderung, Schulen, Darlehnskassen u. s. w. 
und vollzieht sich auf zahlreichen Punkten des 
Erdballs. Gerade um der Mannigfaltigkeit unserer 
Unternehmungen willen, die alle das nämliche Ziel 
verfolgen, scheint es mir nützlich, in kurzen Worten 
die grossen Umrisse unserer Arbeiten anzugeben 
und Ihnen die Ergebnisse vor Augen zu führen, 
die wir erreicht haben. 

Wie Ihnen bekannt ist, hat Baron Hirsch 
unsere Gesellschaft gegründet, um den Israeliten 
zu Hilfe zu kommen, die in ihren Heimatländern 
Ausnahmegesetzen und Verfolgungen unterworfen 
sind. Erfahrung hatte ihm gezeigt, dass Aus- 
wanderung und Niederlassung in freien Ländern 
diesen Unglücklichen Heil versprächen. Als haupt- 
sächlichen Zweck unserer Bemühungen bestimmte 
er die Schaffung und Entwickelung jüdischer Ko- 
lonien. Dieses verwickelte und schwierige Werk 
erfordert die tätige Mitarbeit einer Gesellschaft, 
wie es die unsrige ist. 

Die Auswanderung der russischen und rumä- 
nischen Israeliten in überseeische Länder und 
namentlich die landwirtschaftliche Besiedelung in 
diesen Gebieten stand immer und steht noch heute 
in der vordersten Reihe unserer Betätigung. Die 



Nacbdruck veihotco. 

Lage unserer Glaubensgenossen im östlichen Europa 
hat sich übrigens, leider, nicht gebessert seit der 
Zeit, da Baron Hirsch sich damit beschäftigte, 
ihnen Hilfe zu bringen. Bumänien fährt fort, die 
Israeliten zu unterdrücken. Vor wenigen Monaten 
war es der Schauplatz eines Bauernaufstandes 
gegen die Grundeigentümer, der teilweise gegen die 
Jnden abgelenkt wurde und zu neuen Gewalt- 
massnahmen gegen unsere Glaubensgenossen führte. 
Die vom flachen Lande Entflohenen oder Verjagten 
wollen auswandern. Das ist für viele unter ihnen 
die einzige Rettung. In Russland hat der Ein- 
druck der blutigen Ereignisse des Jahres 1905 
sich nicht abgeschwächt. Unsere Glaubensgenossen 
sind noch in den ersten Monaten des Jahres 1906 
AngriflFen ausgesetzt gewesen. Nicht ein einziges 
Ausnahmegesetz, unter dem sie seufzen, ist ab- 
geschafft worden, und trotz der Religionsfreiheit, 
die im Oktober 1905 allen Russen versprochen 
worden ist, bleibt die Judenemanzipation inmitten 
tatsächlicher Bedrängnisse eine blosse Hoffnung. 

In dieser Lage behält das Programm, das der 
Gründer unserer Gesellschaft vorgezeichnet hat, 
seine volle Gteltung. Wir haben uns danach ge- 
richtet und es sogar erweitert, indem wir eine 
ganze Gruppe von Werken schufen, die der wirt- 
schaftlichen und moralischen Hebung unserer 
Glaubensgenossen zu dienen bestimmt sind. Neben 
uns verfolgen andere jüdische Institutionen auf 
anderen Wegen in verschiedenen Ländern das 
gleiche Ziel wie wir, und sie haben ein sehr weites 



495 



Präsident Narcisse Leven über die Tätigkeit der Jewish Colonisation Association im Jahre 1906. 



496 



n 



V 



Tätigkeitsfeld. Die jüdische Frage ist so um- 
lassend und so verwickelt, dass sie die wetteifernde 
Teilnahme jedes guten Willens rechtfertigt. Jeder 
Mann seinen Anteil haben und nützlich wirken, so- 
iem er diesen AnteU einzugrenzen und so zu 
ordnen versteht, dass er in die gemeinsame Tätig- 
keit sich einfügt. 

Infolge der russischen Wirren und der von 
ihnen angerichteten Verwüstungen war die russische 
Auswanderung im Jahre 1906 besonders stark. 
Die Vereinigten Staaten haben 186 089 Ein- 
wanderer aufgenommen. Unfraglich haben die 
schmerzlichen russischen Ereignisse hierbei wesent- 
lich mitgewirkt; doch muss erwähnt werden, dass 
die Einwanderung in die Vereinigten Staaten schon 
Jahre vorher fast ununterbrochen gestiegen ist. 
Die Statistik gibt folgende ZiflFem lür Newyork 
allein: 

1901 38565 Einwanderer 

1902 57 64:1 

1903 63 550 

1904 104 870 

1905 88 533 

1906 156 964 

Für Kanada ist die Statistik weniger genau. 
Man darf die Zahl der Auswanderer, die sich im 
Jahre 1906 dort niedergelassen haben, auf 9000 
schätzen. Endlich beginnt die Argentinische Be- 
publik, bisher den russischen Auswanderern wenig 
bekannt, dank unseren Kolonien, eine grosse Zahl 
unserer Glaubensgenossen aufzunehmen. Im Jahre 
1906 sind 13 500 von ihnen in dieses Land em- 
gewandert. 

Wir sind weit entfernt von der Zeit, da es 
notwendig war, die Auswanderung anzuregen und 
ins einzelne zu organisieren. Für die jetzige Aus- 
wanderung ist die Freiwilligkeit charakteristisch. 
Es ist immer ein schwerer Entschluss, sich von 
dem Geburtsland zu trennen, das der Israelit liebt, 
trotz der Leiden, die er dort erduldet, und eine 
neue Existenz in einem Lande zu suchen, dessen 
Sprache und Sitten man nicht kennt. Den Juden 
kommt der Entschluss hart an, aber er fasst ihn 
und führt ihn aus freiem Willen aus. Glücklicher 
als die ihm vorangezogen sind, weiss er wenigstens, 
wohin er geht; er kommt an einen Ort, wo er freund- 
lich aufgenommen zu werden und Arbeitsgelegen- 
heit zu finden erwarten darf. Meist sind es 
Freunde und Verwandte, die ihn rufen. Wenn 
man sich gegenwärtig hält, dass Verfolgung und 
Drangsal seit 37 Jahren die Juden Osteuropas in 
Massen westwärts, namentlich nach Amerika treiben, 



so begreift man, dass die Wefie jetzt gebahnt 
sind, das9 ein starker Strom vorhanden ist, dass 
die Bewegung andauert und sich beschleunigt. Zu 
mächtig und zu ausgedehnt ist diese Bewegung, 
als dass unsere Gesellschaft oder irgend eine Ge- 
sellschaft^ wie gross immer ihr Einfluss und ihre 
Hilfsmittel sein mögen, hoffen dürfte, sie in Händen 
zu halten, zu organisieren, zu leiten. Das kann 
nur verkennen, wem es an Wirklichkeitssinn fehlt. 
Damit ist nicht gesagt, dass unsere Inter- 
vention aufhören müsste. Zunächst ist die An- 
häufung der jüdischen Bevölkerung in den grossen 
Landungshäfen, namentlich in Newyork, nicht ohne 
Bedenken, wäre es auch nur wegen des über- 
grossen Angebots bei dem Suchen nach Arbeit. 
Wir bemühen uns, die Auswanderer auf die ver- 
schiedenen Gebiete der Vereinigten Staaten zu ver- 
teilen. Ein unter dem Namen Bemoval Office 
in Newyork gebildetes Comit6, dem wir alle 
erforderlichen Mittel liefern, hat bereits seit 
mehreren Jahren diesen Versuch unternommen, der 
ihm auch geglückt ist. Das Bemoval Ofi&ce hat 
von Newyork nach den Binnenstädten über- 
geftihrt: 

im Jahre 1901 1830 Personen 

„ „ 1902 3206 

. . 1903 5525 



n 



1904 6023 



n 



n 



n 



1905 6005 

1906 6922 

Die Uebersiedlung derer, denen wir Unter- 
stützung gewähren, bestimmt viele andere, ohne 
jede Unterstützung den gleichen Weg einzuschlagen 
und sich in einer beträchtlichen Anzahl von Städten 
niederzulassen, in denen es bisher keine israelitischen 
Einwohner gab. Zur Begünstigung dieser Aus- 
breitung empfiehlt es sich, schon in Russland selbst 
die nötigen Schritte zu tun, um die Auswanderer 
allmählich dahin zu bringen, dass sie sich direkt 
in das Innere der Vereinigten Staaten begeben. 
Zu dem Ende braucht man ihnen in der Haupt- 
sache blos von den neuen Gebieten Kenntnis zu 
geben. Hierfür sind die Informationscomites, 
deren Onranisierung in fast allen wichtigen Städten 
des russischen Niederlassungsgebiets uns kürzlich 
geglückt ist, vorzugsweise geeignet. Diese Co- 
mit6s bestehen aus eifrigen, selbstlosen, der Sache 
ergebenen Männern, handeln nach gemeinsamen 
Verhaltungsmassregeln und unterstehen unserer 
Kontrolle. Sie treiben niemanden zur Auswande- 
rung an; sie unterrichten blos die Auswandernden 
über den Weg, den sie einzuschlagen, über das 



497 



Präsident Narcisse Leven über die Tätigkeit der Jewish Colonisation Assodation im Jahre 1906. 



498 



Schiff, das sie zu wählen haben, tragen Fürsorge 
für sie bis zur Abreise, als wären sie verwandt 
oder befreundet, und schützen sie namentlich vor 
Ausbeutung und Verlusten, bis sie an Bord ge- 
laugt sind. 

Unter Umständen haben wir uns auch ein- 
greifender zu betätigen. Nach den furchtbaren 
Pogroms von 1905 beispielsweise stauten sich die 
vor Plünderung, Brand und Mord fliehenden Israe- 
liten in den österreichischen und deutschen Grenz- 
städten. Sie wollten fort, nur fort, und wussten 
nicht wohin, und hatten nichts, womit sie gehen 
sollten. Das waren nicht eigentlich arme Leute; 
es waren Handwerker, die sonst von ihrer Arbeit 
lebten, Eaufleute, die gestern noch in behaglichen 
Verhältnissen, fast reich gewesen waren, nur 
augenblicklich durch den Pogrom ruiniert, und 
wohl imstande, ihre Existenz anderwärts neu auf- 
zubauen. In herrlichem Wetteifer der Bruderliebe 
hatten die Israeliten Europas und Amerikas be- 
trächtliche Summen zur Unterstützung dieser Un- 
glücklichen aufgebracht. Unser Wunsch war, dass 
man diese Beträge für die vorbehalte, die daheim ge- 
blieben waren oder die man nach Bussland zurück- 
fuhren musste. Die Aufwendungen für die Aus- 
wanderung haben wir mit anderen Wohltätigkeits- 
und Wohlfahrtsinstituten auf uns genommen, und 
die Auswanderer sind in die Länder ihrer Wahl 
übergeführt worden. 

In Eumänien verfuhren wir vor einigen 
Monaten in gleicher Weise. Zahlreiche jüdische 
Familien, die durch den Aufstand oder durch Ver- 
waltungsmassnalimeu vom flachen Lande vertrieben 
waren, mussten unterstützt werden. Für die, die 
nicht auswandern konnten oder es nicht wollten, 
wurde das Hilfswerk durch die europäischen und 
amerikanischen Hilfsorganisationen geleistet. Die 
Kosten der Auswanderung nahmen wir 
vollständig auf uns. Die Ausführung des 
Werkes vollzieht sich unter der Leitung der Is- 
raelitischen Allianz in Wien. 

Ich kann Ihnen, meine Herren, kein voll- 
ständiges Bild von unserer Tätigkeit auf diesem 
Gebiet geben. Dürfte ich länger dabei verweilen, 
so würde ich Ihnen ein Wort sagen über alle die 
Institutionen, die in den Vereinigten Staaten von 
den amerikanischen jüdischen Gesellschaften zu- 
gunsten der Einwanderer geschaffen worden sind, 
und zu deren Unterhalt wir wesentlich beitragen. 
Gern hätte ich Ihnen auch von der Tätigkeit der 
Montreal-Gesellschaft gesprochen, die mit dem 
Empfang und der Uuterbrin<,^ung der Einwanderer 



in Kanada beauftragt ist. Ich beschränke mich 
auf die Mitteilung, dass soeben ein neues Comit6 
in Montreal gebildet worden ist, dessen Aufgabe 
darin besteht, dem Bedarf der zunehmenden kana- 
dischen Einwanderung zu begegnen. Zu den 
Kosten tragen wir in erheblichem Masse bei. 

Ich kann mir nicht versagen, Ihre Aufmerk- 
samkeit einige Augenblicke festzuhalten bei dem 
unbestreitbaren Erfolg unseres landwirt- 
schaftlichen Ansiedlungswerkes, namentlich 
unseres ältesten Werkes, das seine Existenz dem 
Gründer unserer Gesellscaft verdankt: den Kolo- 
nien in Argentinien. 

Sie wissen, wie gross die anfänglichen 
Schwierigkeiten gewesen sind. Die Schwierigkeiten 
lagen zumeist in dem Unternehmen selbst, das 
daiin bestand: ohne Anleitung irgend einer Er- 
fahrung — denn ähnliches war vorher nie versucht 
worden — alles von Grund aus neu zu schaffen, 
mit Menschen, die im Lande fremd waren, nicht 
seine Sprache noch seine Sitten kannten, in der 
Re^el von Landwirtschaft nichts wussten, jüdische 
landwirtschaftliche Ansiedlungen einzurichten, d. h. 
nicht blos jüdische Landwirte anzusiedeln, sondern 
Organisationen zu bilden, die Lebenskraft genug 
besassen, um Wurzel zu fassen und sich zu ent- 
wickeln. Diese Schwierigkeiten wuchsen noch, als 
die ersten Ansiedler viel zu wünschen übrig Hessen, 
imd aus Mangel an Erfahrung die Grenzlinien 
zwischen reiner Wohltätigkeit und eigentlicher Ko- 
lonisationsarbeit verwischt wurden. Dass es bei 
Beginn tastende Versuche gab, dass Fehler be- 
gangen wurden, dass das Unternehmen sich mit 
einer gewissen Langsamkeit zu entwickeln schien 
— wen hätte das überraschen dürfen? Selbst- 
verständlich hat man uns keine Art von Kritik er- 
spart. Wir wollten kein glänzendes, sondern ein 
solides Werk schaffen, dessen Entwickelung nicht 
künstlich in die Höhe ^ietrieben, sondern durch die 
eigene Lebenskraft erreicht werden sollte. Das ist 
uns gelungen. Nachdem die Kolonisten mit Ge- 
treidebau begonnen und damit infolge von Wetter- 
ungunst imd Heuschreckenplage Fehlschläge erlebt 
hatten, sind sie allmählich dazu übergegangen, 
ausser dem Feldbau noch einige etwas weniger 
vom Wetter abhängige Erwerbszweige zu treiben: 
Viehzucht, Geflügelzucht, Milchwirtschaft, Luzeme- 
anbau. Dann haben sie ihre Erfahrungen zur Ver- 
besserung der Feldwirtschaft angewendet, so dass 
sie heute auf festen Füssen stehen und ihr Lebens- 
unterhalt gesichert ist. Wie immer die Schwank- 
ungen und Zufälle des Landbaues auch sein mögen. 



499 



Präsident Narcisse Leven über die Tätigkeit der Jewish Colonisation Association im Jahre 1906. 



500 



die Ansiedler gewinnen aus ihrer Arbeit nicht nur 
ihre Subsistenzmittel, sondern auch die Möglichkeit, 
ihre Schulden an unsere Gesellschaft abzuzahlen. 
Die Kolonie Moisesville liefert gerade jetzt einen 
bemerkenswerten Beweis : Die beiden letzten Jahre 
sind für den Getreidebau sehr ungünstig gewesen 
imd die vor einigen Monaten, zur Erntezeit, an 
uns gelangten Meldungen lauteten ebenfalls sehr 
beunruhigend. Aber dank der verschiedenen Zweige 
ihres Betriebes haben die Ansiedler trotzdem das 
zu ihrem Leben Nötige gewonnen und uns noch 
eine Jahresabzahlung von ungefähr 110000 Fr. 
leisten können. 

Die wirtschaftliche Lage schwankt natürlich, 
je nach den Kolonien und auch nach den ver- 
schiedenen Ansiedlem selbst. Einigen von ihnen 
geht es sehr gut (man nennt in Mauricio mehrere 
Kolonisten, die in diesem Jahr von ihren Luzerne- 
Feldern über 30 000 Fr. Einnahme hatten), andere 
sind weniger günstig gestellt. Im allgemeinen aber 
herrscht zui Zeit Wohlstand in unseren Kolonien. 
Die Ansiedler leben gut und zahlen uns von Jahr 
immer grössere Summen ab. Sie zahlten 
im Jahr 1900 72 820 Fr. 
„ „ 1901 221100 „ 
„ „ 1902 189160 „ 
„ „ 1903 175 780 „ 
„ ^ 1904 214:060 „ 
„ ^ 1905 464 640 „ 
„ „ 1906 614 900 „ 
Wir ziehen hier verschiedene andere Einnahmen 
nicht inbetracht, z. B. von Terrains und Immo- 
bilien, die von Jahr zu Jahr in gleichem Ver- 
hältnis zunehmen. Man sieht für das Jahr 1907 
noch weit höhere Abzahlungen voraus. Die An- 
siedler schicken auch von Jahr zu Jahr immer be- 
deutendere Geldmittel nach Russland zur Unter- 
stützung dort lebender Verwandten (im Jahr 1906 
waren es über 163 000 Fr.). Sie beschäftigen 
eine immer grössere Zahl jüdischer Landarbeiter, 
wie im Jahresbericht aus der Bevölkerungstabelle 
der Kolonien zu ersehen ist, und viele Ansiedler 
machen beträchtliche Ausgaben zur Verbesserung 
ihrer Betriebe. Schliesslich gewinnt der Boden, 
auf dem sie angesiedelt sind und dessen Eigen- 
tümer sie mit der Zeit werden, in manchen 
Gegenden bedeutend an Wert 

Diesem materiellen Gedeihen entspricht die 
Entwickelung des sozialen Lebens; es ist jetzt so 
wohlgeordnet, dass es sich in voller Freiheit ent- 
falten kann, und die Kolonien stehen fest genug, 
«im sich selbst zu verwalten. Ihre Bevölkerung 



besteht aus Leuten, die desselben Ursprungs sind, 
dieselbe Sprache und dieselben Bedürfhisse haben, 
es sind demnach alle Vorbedingungen zur Ver- 
ständigung vorhanden. Wir haben homogene 
Gruppen zusammengestellt, was unsere Angabe 
sehr erschwert hatte. In den Vereinigten Staaten 
hat man mit denselben Bevölkerungselementen das 
entgegengesetzte System der einzelwohnenden Pächter 
versucht, d. h. genauer gesagt: man hat einzelne 
Pächter mit der umwohnenden Bevölkerung zu ver- 
mischen gesucht. Man verzichtet aber allmählich auf 
dieses System ; die Erfahrung hat gezeigt, dass man 
besser daran tut, richtige Kolonien zu begründen. 

Nachdem das Leben der Kolonisten gesichert 
und die Besorgnis geschwunden ist, dass wir bei 
etwaigem Missgeschick im Feldbetrieb für ihren 
Unterhalt würden eintreten müssen, können wir 
unserem Unternehmen eine weitere Ausdehnung 
geben. Alles begünstigt seine Entwicklung: man 
kann in Argentinien noch grosse Terrainstrecken 
erwerben, und wir haben tüchtige Arbeiter dafür. 
Das sind Leute, die ins Land gekommen sind, um 
den Feldbau zu lernen, die in unseren Kolonien 
eine Lehrlingszeit durchmachen und die wir nach 
ein- und zweijähriger Probearbeit für geeignet 
halten, als Ansiedler etabliert zu werden. Da wir 
jetzt die richtige Methode zur Entwickelung 
unserer Kolonien kennen, dürfen wir auch sagen, 
dass wir über ihre Zukunft beruhigt sind. 

Ihr Gedeihen wird durch die allgemeine Lage 
des Landes erleichtert. Argentinien hat seit einigen 
Jahren bemerkenswerten wirtschaftlichen Auf- 
schwung genommen. Das Land bedeckt sich mit 
einem Netz von Eisenbahnen; die Beziehungen 
werden zahreicher und bedeutender; mit der land- 
wirtschaftlichen Produktion verbundene Industrien 
werden neu geschaffen oder entwickeln sich weiter 
— was braucht es mehr für den Ackerbauer? 

Die Kolonien in Palästina, für deren Lebens- 
fähigkeit ihr Begründer so viele Mittel hat her- 
geben müssen, stehen jetzt ebenfalls günstiger. 
Das Land ist gut, die Erde fruchtbar, und die 
Ansiedler haben genügend Land und entsprechende 
Ausrüstung bekommen, um sich ohne weitere Unter- 
stützung durchzubringen. Wir haben den grössten 
Teil unserer Verwalter entlassen, die Kolonien 
verw^alten sich selbst und die Kolonisten arbeiten 
ernsthaft. Die Verwaltungsform des Landes und 
der Modus der Steuererhebung allein halten den 
Fortschritt der Kolonisation auf. 

Ich habe die glückliche Entwickelung unseres 
landwirtschaftlichen Werkes so stark betont, nicht 



501 



Präsident Narcisse Leven über die Tätigkeit der Jewish Colonisation Association im Jahre 1006. 



502 



nur, weil es nnser Hauptuntemehmeii ist, sondern 
um dem weitverbreiteten Vorurteil entgegenzutreten, 
dass die Juden unfähig zur Landarbeit sind. Sie 
haben in Mheren Zeiten immer Landwirtschaft 
getrieben und haben damit nur autgehört, weil 
man sie daran gehindert hat. Aber das ist alte 
Geschichte, die auch gebildete Leute nicht zu 
kennen brauchen. Habe ich doch erst kürzlich 
gehört, wie ein Diplomat den Juden Osteuropas 
den Vorwurf machte, keine Ackerbauer zu sein, 
und das in einem Lande, in dem sie nicht nur 
kein Land erwerben, sondern nicht einmal auf dem 
Lande wohnen dfirfen! Ich hätte diesen Diplo- 
maten gern ersucht, einmal einen Besuch in Ar- 
gentinien zu machen, wenn Argentinien nicht so 
weit ab läge; dort könnte er sehen, Mit welcher 
Freude und mit welchem Erfolg die Juden in 
einem freien Lande zur Landarbeit zurttckkehren. 
Ist es denn nötig, Europa zu verlassen, um zu be- 
weisen, dass die Juden zu dieser Arbeit geeignet 
sind? Sind sie nicht in Rumänien, soweit sie dort 
auf dem flachen Lande wohnen dUrfen, Landarbeiter 
und Milchwirte, obwohl sie selbst nicht Guts- 
besitzer werden können? Gibt es nicht in 
Russland vor langen Jahren begründete landwirt- 
schaftliche Kolonien, wo auf dem von der Re- 
gierung sehr eng begrenzten und ganz ungenügiBnden 
Terrain das irgend mögliche erzielt wird, und be- 
schäftigen sich nicht in Bessarabien, Podolien, in 
den Gouvernements Cherson und Jekaterinoslaw 
und in den nordwestlichen Gouvernements zahl- 
reiche jüdische Familien ausschliesslich mit Land- 
wirtschaft? In dem Gebiet, wo seit dem Mai 1882 
die Juden nicht mehr auf dem flachen Lande 
wohnen dürfen, haben sie vor den Toren der Städte 
gedeihliche Gartenindustrien geschaffen. Aus 
unserem Bericht können Sie ersehen, was wir seit 
sieben Jahren zur Unterstützung der jüdischen 
Ackerbauer und Gärtner getan haben. 

Da es in Russland bei der allgemeinen, durch 
Verfolgungen fortwährend vergrösserten Not nicht 
genügt, den Landarbeitern beizustehen, haben wir 
ausser dem Unternehmen der billigen, gesunden 
Arbeiterwohnungen in Wilna und Bobruisk, der 
550 Arbeiter beschäftigenden Weberei in Dubrowna, 
den Kooperativgenossenschaften für Tischler und 
Schumacher in Homel, Bobruisk und Wilna, noch 
eine Reihe von Volkskreditinstituten ge- 
schaffen. Diese gewähren den Handwerkern und 
kleinen Kauf leuten Vorschüsse, die mit bewunderungs- 
wertem Geschick ausgenutzt werden. Die Kassen 
vermehren sich ungeheuer schnell. Im vorigen 



Jahr waren es 35, in diesem Jahr sind .59 neu 
begründet worden. Eine grosse Anzahl anderer 
ist bereits, organisiert und wartet nur auf die be- 
hördliche Genehmigung zum Beginn des Betriebs. 
Die 35 im vorigen Jahr von uns unterstützten 
Institute — um nur von diesen zu reden — um- 
fassen 294:35 Mitglieder, meist Familienväter; man 
darf also die Zahl der an der segensreichen Tätig- 
keit dieser Darlehnskassen interessierten Personen 
auf 150000 schätzen. Diese Tätigkeit wird auf 
einem Gebiet ausgeübt, das beinahe eine halbe 
Million jüdischer Einwohner zählt. Die Kassen 
verfügten am Ende des Jahres über ein Betriebs- 
kapital von insgesamt 1 577 815 Rubel. Sie sind 
sehr gut verwaltet, die Höhe ihres Reservefonds 

— 35 896 Rubel — beweist zur Genüge den Elr- 
folg ihrer Unternehmungen. Sie erfreuen sich auch 
des Vertrauens der Ortsbevölkerung, die ihnen in 
immer grösserem Umfange ihre Ersparnisse über- 
gibt. Die Darlehnsempfänger entledigen sich ihrer 
Verpflichtungen mit bemerkenswerter Pünktlichkeit, 
und dadurch wirken die Institute auf die moralische 
Erziehung ihrer Klienten ebenso wie auf ihre wirt- 
schaftliche Förderung. Sie haben im vorigen 
Jahr, nach den Pogromen, unschätzbare Dienste 
geleistet. 

Unsere Darlehnskassen in Galizien ge- 
deihen ebenfalls. Das Jahr 1906 hat ihnen 1890 
neue Mitglieder gebracht, die Gesamtzahl ihrer 
derzeitigen Mitglieder ist 8639; neue Darlehnskassen 
werden für dieses Jahr geplant. 

Meine Herren, ich habe versucht, die wesent- 
lichen Punkte unserer Tätigkeit hervorzuheben. Ich 
hätte Ihnen noch interessante Mitteilungen zu 
machen über unsere Arbeit an den 27Elementar- 
und 2 Handwerkerschulen in Rumänien, die 
am Ende des vorigen Jahres 5275 Schüler zählten; 
an den 51 Elementarschulen in Russland mit 
7100 Schülern; den 40 Handwerkerschulen in 
diesem Lande, die eine grosse Anzahl junger Leute 

— im letzten Jahr 2540 — in verschiedenen Hand- 
werken unterrichten; den 7 Landwirtschafts- 
schulen in Kleinasien, Galizien und Russ- 
land Wir beschäftigen uns ernstlich mit der Zu- 
kunft der Jugend, die nicht nur gegen die gewöhn- 
lichen Schwierigkeiten des Lebens zu kämpfen be- 
rufen ist, sondern auch gegen den traurigen Druck, 
den die Regierung auf die Juden ausübt; in Ru- 
mänien, wo sie vor 50 Jahren die vollständige 
Emanzipation der Juden versprochen hat, und in 
Russland, wo sie seit 40 Jahren erhofft wird. 
Werden die heutigen Kinder in ihrem Lande bleiben 



503 



Präsident Narcisse Leven über die Tätigkeit der Jewish Colonisation Association im Jahre 1Q06. 



kSoaen, wenn die Begiemng sich nicht Ändert? 
Wenn sie bleiben, moss man iboea eine besondere 
-Widerstandskraft geben; wenn sie gehen, mnss man 
ihren Mnt stählen, damit sie in den neuen Ländern 
den Zufällen des Lebens trotzen können. Wir 
werden unsere Aufgabe erfUlen. 

Wenn wir die Qesamtheit unserer Einrichtongen 
Überblicken, so dOrfen wir sagen, dass sie anf 



gatem W^e sind. Wir verdanken die gewooneneo 
E^ebnisse einer aniinerksamen Betrachtung unserer 
Angabe, dem Wert unserer durch lange Er- 
fahrungeo gesicherten Methoden, dem Eifer und 
der Hingebung unserer grossen and kleinen Hfit- 
arbeiter hier und dranssen; ihnen allen zollen wir 
nnsern Dank. 



REOrNA MUNDLAK 



Dif Obathändlerin. 



505 506 

ERNST JOSEPHSON. 

Von Hermann Struck, *) N«chdnick votnua. 
„Seit einigeD Tagen liegt Ernst Joseptason im schloss, war er fast zwei Jahrzehnte hindarcb ein siecher 
Sterben" — so sagt« mir eines Abends im November Mann gewesen, seiner Verstandeslcraft beraubt. Ans 
1906 der schwedische Schriftsteller G-nstav at Geljerstam. einer hoch an gesehenen Familie stammend, war der bUnen- 
TJnd mit tiefer Wehmut in den klugm, klaren Augen er- hafte, schöne, lebenaliutige, geistvolle, geniale EUostler 

zahlte er mir der vergSt- 

lange von sei- terte Führer 

nem gelieb- der modernen 

ten Freunde. Ricbtnng in 

Wer ist Ernst der schwe- 

Josepbson? dlschen Ma- 

Ein Mann, lerei, bis er 

auf den das in der Mitt« 

Judentum seines dritten 

stolz sein Lebencgabr- 

kannnndden zehntes von 

doch in der unheilbarer 

allgemeinen Paralyse be- 

Judenheit &llen wurde, 

fast niemand Die letzten 

kennt! Man- 20 Jahre war 

eher wird er fast wie 

wohl in den ein toter 

Galerieen Mann; nur 
vonGöteborg ab and 'za 
oder Sfock- flackerte sein 
holm Bilder Bewnstsein 
von ihm ge- auf kurze 
sehen haben, Zeit wieder 
vielleicht so- ERNST JOSEPHSON Der Ziegenhirt. FUERSTENBERO'SCHE GALERIE, empor, und 
gar, ohne zu er machte 
wbsen, dass der Maler f lal merkwürdige Zeich- 
war. — (ch möchte ii , die einen selUam kiank- 
folgenden das Wenige, Charakter, doch etwas 
selbst von Josephson unc ^den Künstlerisches auf- 
Leben weiss, meinen^ S Das Geschlecht, aus dem 
brtidem znr Kenntnis ge vorgegangen, war nicht 
mit auch bei uns sein N: edeutung fDr Schwedens 
guten Klang erbalte, mit Von .den Brtidem seines 
in Skandinavien seit Jahi war der eine ein bekannter 
genannt wird, • und der andere Direktor 
Josephsohn ist 1851 j rvorragenden Theaters. — 
als er am 22. Novemb n der Kindheit traten bei 
seine Augen zum Todeascl Ernst Josephson die 

— -■ künstlerischen Neigun- 

*) Mit Benutzung des gen hervor, die er 

Artikels von .Klas Fäh- zunächst durch Zeich- 

reua" in der Zeitechrift nungen auf derSchiefer- 

,Ord och Bild". Stock- ,a(e, nnd durch allerlei 

ho m,JanuarI907,undder •■ u j -i 

„^ ,.' ^ ' , poetische and musika- 

PtndiB^bmat Josephson" I ,. ,. , , , 

von Georg Pauli, Stock- '■^'^"^ Ulstungen be- 

holm 1902. Herrn Dr ^"^- ^^^ Beendi- 

EmatRubt-n sei an dieser »«"K <'«'■ ^^^^ ^*" 

Stelle mein herzlichster er ins Comptoir; doch 

Dank fOr die Freundliche da wnrde es ihm bald 

HiKe beim Cbersetzen zn lansTweilig, die Seiten 
auagesprochen. P. HASSELBE RO Ernst Josephson. BUEST!; .(18S3)- ■'■■i Hanpthuches if'- 



507 



Hermann Struck: Ernst Josephso 



508 



langen Reihen vod Ziffero zu bedeckep. Kaum dass 
er tu seinen Beruf eingetreten war, eo brach er auch 
schon mit ihm. Das jüdische Temperament drängte ihn, 
die leuchtenden, glühenden, kraftvollen Farben, die sein 
Auge ■ erblicku, zu Bildern zu pestalten, und bald 
offenbarten sieb die beiden Ge^nsStze von Nord lud 
Süd in diesem skandinavischem Boden entstammenden 
Sohne des Morgenlandes, indem er zu den Hauptfarben 
seines kUnstleriwhen Banners das warme Kot des 
Südens und das nordische Blau erkor. Er absolvierte 
die Kunstakademie und bekam einen Preis. (In 
Paranthese bemerke ich, dass er zu den wenigen 
Männern gehörte, die auf der Akademie einen Preis 
bekamen und doch tüchtige KUnstler wurden.) — Mit 
einem Stipendium nahm er 1876, 25 Jahre alt, seinen 
Weg ins Ausland und wandte sich zuerst nach Paris, 
dem Ooldlande der Maler. Von dort aus unternahm er 
langdauemde AusflUge. 1876/77 ist er in Holland; 
dann von 1877 — 79 in Italien; dazwischen wieder in 
Paris, und .1882 endlich ist er in Spanien. Ueberall 
kopiert er mit unvergleichlicher Eingabe und grösstem 
Pleiss die alten Meister; und es muss konstatiert werden, 
dass hierbei eine gewisse, der jOdiseheo Baase eigen* 
tümliche Eindrucksfähigkeit einige Jahre hindurch auf 



Der spanische Tanz. 



die ÜrsprUnglicbkeit seiner Entwicklung etwas störend 
einwirkte. In Amsterdam kopierte er Rembrandts „St-il- 
meesters", allerdings mit einem gewissen Mangel an Fein- 
gefühl inBezug auf den Tonwert. In Florenz beschäftigt ihn 
Raffaels Portrait von „Inghirami"; nächstdem beeinflossten 
ihn am meisten Yelasquez and Franz Hals. Seine 
innigst« Liebe aber galt neben Rembrandt den wannen 
Farben des Rubens. Nach vielem ümherstreiten liess 
er sich 1880 wieder in der Hauptstadt Frankreichs 
nieder, wo alsbald eine Folge von meisterhaften Bildnissen 
entstand, die bekannte Persönlichkeiten aus dem intellek- 
tuellen Schweden darstellten: Oeaterlind, Sk&nberg, Ren- 
holm und andere. Diese Portraits waren die ersten Schritte 
auf dem Gebiet eines nur ihm eigentümlichen Realismus. 
Sie zeigen unseren Blicken weniger Erzeugnisse eines 
korrekt und akademisch ausstudierten' Talentes, als 
vielmehr eine vielseitige, impulsive, Dppig bl Oben de 
Kraft, die durch naive Kühnheit imponiert. Kommt 
man etwa auf den Gedanken, diese Bildnisse mit denen 
anderer hervorragender zeitgenossischer Künstler zu 
vergleichen, Bastien-Lepage'a oder Ijenbachs, so findet 
man eine Reihe von Fehlern, die die eben gerühmten 
Vorzöge stören; jedoch die grosse Schönheit seines 
Talentes und die packende Ursprünitlichkeit seiner Auf- 
fassung bezwingen uns stets. — Kuhn 
und eigenartig ist die provozierende 
Haltung aaf dem Bilde Skänbergs 
überwältigend der Geist anf dem 
Gesichte dieser merkwtlrdigen Figur 
während Oesterlind noch etwas ,.alt- 
meisterlich" und befangen in der 
Stellung wirkt. Ein schwieriges 
Problem ist im Bildnis Renholms ge- 
löst, das entschieden genrehaft aufge- 
fasst ist und doch gross und monu- 
mental erscheint. Später entstanden 
wundervolle Bildnisse schwedischer 
Jüdinnen. Er malte Fran Fürstenberg, 
die Gattin des bekannten Göteborger 
Mäcenas, des Begründers der be- 
rühmten Kunstsammlung, die jetzt, als 
sein Vermächtnis, in den Besitz des 
schwedischen Staates übergegangen 
ist. Mit wahrem Entzücken erwidern 
wir den liebenswürdigen Blick der von 
Kunstschätzen umgebenen aristokra- 
tischen Dame. In „Frau H. Marcus" 
tritt uns schon mit fast vollkommener 
Unbefangenheit und beinahe ohne 
jede Pose dargestellt eine gutbürger- 
liche, ehrbare Hausfrau entgegen. Das 
grösste Juwel aber in dieser Kette 
von Kunstwerken ist das Bildnis der 
„Frau .7. Rubensohn", das mit höchster 
Meisterschaft gemalt, durch die ab- 
solute Unmittelbarkeit direkt wie 
ein Ausschnitt aus dem Leben wirkt. 
:M OOETEBORO. Dieses herriiclie Portrait würde sich 



509 Hermann Struck; Ernsl Joseph so n. 510 

neben den besteo BildDissen alter 
Meister mit Ehren behaapt«D! 

^lit vollkommener Freiheit nod 
ohne jede Spar von Sentimentalität 
ist das Hingebende and Laaschende 
im Bildnis der nFran Nennie von 
Geijerstam" zum Ausdruck gelangt, 
jener Fran, deren Seelenleben ans 
durch das wunderbare, ergreifende 
„Bach vom Brüderchen" bekannt 
geworden ist Fflr das Kunst- 
verständnis der damaligen Juroren 
des Pariser „Salons" ist es ein Ubies 
Zeugnis, dass diese Portraits, die 
jetzt zum grossen Teil die höchsten 
Zierden der schwedischen Museen 
siod, zurückgewiesen wurden! Ja, 
so ist es wiriclich geschehen im 
Jahre 1886. 

Nun fuhrt ihn sein Weg ins 
Gebiet des Genrebildes, das er in 
grossenZUgeu und mit konzentrierter 
Kraft darstellt. Ich nenne das Bild 
„Borfklatsch", das vier alte BSue- 
rlnnen zeigt and noch etwas an- 
beholten komponiert ist. Ein ge- 
waltiger Schritt vorwärts ist der 
„Spanische Tanz". — Spanische 
Zigarettenmacherinnen haben ihre 
Arbeit unterbrochen; eine von ihnen 
ist auf den Tisch gesprungen und 
tanzt in entzückend graziöser Be- 
wegung beim Klange von Tambourin 

nnd Gaitarre. Den Einfluss von ERNST JOSEPHSON. FRAU HILMA MARCUS. 

Velasquez zeigt deutlich der ,, Spa- 
nische Zwerg". Desselben Meisten Anregung verdankt und auch der Schmerz' zusammengenommen und ein 
das kraftvolle Bild „Spanische Schmiede" seine Entste- hohes Lied der Gewalt des brausenden Stromes ge- 
hung, auf dem uns, von einer alten Frau sekundiert, sungen, das nicht UbertrofFen werden kann. Die 
zwei groteske, halbnackte Gesellen angrinsen. Er war, Wirkung ist so überwältigend, so ergreifend, dass 
wie ein schwedischer Schriftsteller von ibia sagt, „ein kleine Schwächen in den Proportionen nnd in der 
Kolorist von Lichtes Gnaden; jedes Quadrat der Fläche Plastik dem Beschauer kaum zum Bevvusstsein kommen. 
war pastos und glanzerfüllt". In diesen Bildem zeigt er Als 1885 die erste Ausstellung von Josephsons 

in Bezng aut die Tonwerte noch den KinHusa dänischer Werken in Stockholm stattfand, entpann sich ein grosser 
Maler, während wir ihn in dem Gemälde „Der Ziegenhirt" Streit; das in seinen Gewohnheiten aufgestörte Publikum 
in den Wegen Courbets wandeln sehen. Doch niemals schmähte und verhöhnte den grossen Künstler, während 
unterlag er irgend welchen akademischen Geseizen, und er gleichzeitig das unbestrittene Haupt der jungen 
er war sogar in jener Zeil des beginnenden Naturalismus Malerschule wurde. 'Unter den jungen schwedischen 
ein ausgesprochener Romantiker. „Der Neck", 1883 Malern in Paris wirkten seine Bilder wie „eine Lunte 
gemalt, schildert mit altilalienischer Mystik musikalische im Pulvermagazin". Er wurde von den jungen Malern 
Empfindungen. Wilder und erhabener behandelt er vergöttert. Vielseitig veranlagt, betätigte er sich gleich- 
dieses Thema in seinem grossartigen Bilde „Ström- zeitig als Musiker, Sänger und Schauspieler; er schrieb 
karlen" 1885. Dieses, sein grbsstes Meisterwerk, be- auch für eine Zeitschrift, und seiner Feder entstammen 
findet sich im Besitz des Prinzen Eugen von Schweden, die Dichtungen: „Schwante Rosen" und ,, Gelbe Rosen". 
Rauschende, musikalische Klänge vereinigen sich mit Zu alledem war der schöne Skandinavier ein unwider- 
dem Tosen des Wasserfalles in diesem Bilde, das uns stehlicher Gesellschafter. In seinem Wesen ver- 
die schöne, nackte Gottheit des Stromes in vollem, einigten sich die verschiedmsten Gegensätze! Er 
strahlendem Sonnenlichte zeigt. In diesem erhabenen war gutmütig und jähzornig, stolz und schüchtern, 
Meisterwerke ist alle Kraft des Künstlers „die Lust herausfordernd und weich, meist voll Arbeitsfrendigkeit, 



511 Hermann Struck: Ernst Josephson. 512 

hatte er zuerst nnter den jangen Künstlern 
in Paris Anbang gefunden; seine nSpanlsche 
Schmiede" wurde aber von der Jnry refltsiert. 

— Mit seinem Meisterwerk „Strömkarlen" 
erlitt er eine Niederlage. Anch die vQlIig 
nnverstSndlidke ZurUckweisnng des Bildnisses 
der Fran von Geijerstam erregte »eine 
explosive Nator anfs höchste, so, Aass darch 
alle diese Käinpfe seine ringende Kraft 
gebrochen wnrde und sein seelisches Oleich- 
gewicht zu wanken begann. Dazu kamen 
schliesslich, da fast niemand im Pnblikam 
fQr seine Bilder VerstHndnis hatte, quälende 
Nabrangssorgen, die seine Konstitution unter- 
graben. 

Er ging nao nach der Bretagne, wo 
er einen Band von jungen Ktlnstlem stiftete, 
aus dem er aber 1887 infolge von Zerwürf- 
nissen mit den alten Kameraden wieder 
austrat 

Schwärmerische Neigungen, wachsende 
Melancholie, spiritistische und kabbalistische 
Einflüsse brachen schliesslich die Kraft dieses 
ung^lUcklicben Helden. Im August 1888, 
als er 37 Jahre alt war, kam die Kunde 
von seiner Getstesumnebelung nach Schweden, 

— und da, als es schon zu spSt war, gingen 
den Leutchen die Augen auf. — 

1898 veranstalteten seine Freunde in 
Stockholm eine Ausstellung, die den gut«n 
Schweden den grossen Reichtum dieser einzig- 
artigen , kQnstlerischen PersSnlicbkeit vor 
Augen führte, und die später auch in 
doch oft auch melancholischen Sinnes. — „Ein glut- Norwegen, wohin sie wanderte, grosses Aufsehen er- 
valler Romantiker im bürgerlichen Gewände"; in regte. Seit der allgemeinen Aosstelluug 1903 in 
naturalistischer Hillle war er ein Künstler mit klas- Kopenhagen ist er auch in Dänemark als einer der 
sischem 0«scbraack. Durch das Bildnis Renholms Grundpfeiler der nordischen Kunst anerkannt. 



6in bibliscbeB T^rinklicd.') 

Sprfid)e Solomoe, Cap. 23. 

mtm fflt «o web zu Sinnend So gifisst er und so sprfdit er, 

VXtr will nur Ötrcit beginnen? Dann *ber beisst er und sticht er, 

Vier mag sieh Gdunden gewinnen Cdie Schlange und Dradtenblut, 

Hus HnUss, den er nicht kennt? €mpSrt und staidiclt dein Blut. 

Sles Hug (et gerSttt und brennt} 

6« ecbwanben Spuhgcetalten — 
So gebts uncrsittticben Zechern, Sie hSnncn sich nicht halten — 

Die unntnfldUd) beim Bechern, 'Vor deinen Hugen her; 

Die CQein hinuntcrstOrzen, Die Zunge stammelt schwer. 

Ihn stark und stStrher wQrzen. Sic redet, was dein Rcrz nicht weiss, 

Sie gibt geheime Dinge preis. 
Sieh du nicht hin zum Weine, Qnd was sie sdiwatzt, es ist verkehrt. 

Zu seinem rStlichen Schetncl 

er Sugelt dich an aus dem Bed»er, plStilich bat alUs aufgehört, 

er winkt! „Komm her, mein Zedier! Dir ist, als lagst du im tiefen fittr, 

Wein wird« du so bald nidit satt, Du nidist von dea Mastbaums Spitze her. 

Durch die KcbU gUitc ich gUtt." jj^d endlidt epHrfist dm „Man schlug mir Olunden, 

■ Doch babc ith keinen Schmerz empfunden; 

Man hat mich oeatossen — ich tat nichts spllren; 

ttlann erwacht idt? — muss doch noch mal probiercnl" 



MEINE TANTE CHANE. 

Von Anna Schapire. 



tdichdiuck vecbaten 



Wenn meine alte Tante Chane abends ihre Brille 
aufsetzte and nach der Zeitung griff, überschlug sie 
jedesmal mit einer nachlässigen Qebärde Leitartikel, 
FeoilletoD und Depeschen. Ihr Interesse begann erat 
dort, wo das anderer Leate gemeinhin aufhört: beim 
Annoncenteil. Und auch bei den Annoncen fesselten 
sie nicht die Rubriken, in die andere Leute einen Blick 
werfen: Känfe und Verkäufe, Stellengesuche, Wohnun- 
gen, Heiratsgesacbe und wie alle die schönen Eintei- 
lungen heissen, mit denen eine moderne Zejtnng ihren 
Lesern anfeartet. Meine Tante Chane machte keine 
0«Iegenbeit3kftnfe, denn die Kreuzer klimperten nicht 
reichlich in dem alten sch9bigen Oeldbeutelcben; Arbeit 
suchte sie auch nicht, denn in dem muffigen Mehl- 
geschäft gab es mehr zu tun, als den alten Gliedern 
heilsam dttnkte; und Wohnnng — nein, die beiden 
kleinen Dachzimmer, die die Verwandten Ihr grossmutig 
eingeräumt hatten, waren gerad das ScbOnste, was 
meine Tante Chane hatte. Diese Wobnnng bot eine 
ganze Reibe von Vorteilen, die andere vielleicht nicht 
gleich ttbetiaben, die meine Tante Chane aber aehi zu 
abätzen wnsste. Dass sie keine Miete zu 
zahlen braucht«, war einer der geringsten 
— meine Tante Chane war eine sehr noble 
Natur, obgleich sie nie Geld genug besaas, 
nm steh ein gutes Kleid zu leisten. Bei 
ausserordentlichen Gelegenheiten mnssten die 
Verwandten anch fOr die Glarderobe sorgen. 
Aber durch die freie Wohnung war ihre 
Zugehörigkeit zur Familie ein fUr alle 
Mal festgelegt and anerkannt. Mochten 
immerhin tagsUber Käufer die alte Frau 
hinter dem morschen Ladentisch ein bischen 
über die Achsel anschauen und freche 
Weiber um einen Kreuzer so unentweirt 
feilschen, bis Tante Chane müde wurde 
und wirklich nachgab; wenn sie abends 
das rostige Vorlegeschloss an der blech- 
beschlagenen LadentUr zuklappte, war das 
alles abgetan. Dann wurde sie wieder das 
würdige, wenn auch verarmte Mitglied einer 
wfirdigen Familie und sass an einem soliden 
runden Tisch mit einer schönen grossen 
Lampe drauf, an der kein Petroleum ge- 
spart wurde. Ihre Hände waren röter als 
die der übrigen Hausgenossen. Das kam 
daher, dass sie Sommer und Winter hinter 
dem Ladentisch hockte und die blauen Puls- 
wärmer, die sie bei kaltem Wetter trug, 
die alten Finger nicht genug wärmten. 
Ihre Kleider waren etwas staubiger und 
schmutziger als die der anderen; auch das 
hing mit dem Laden zusammen, und an 
beide Tatsachen hatten sich alle längst ERNST JOSEPHSON. 



gewöhnt. Vielleicht schimmerte auch hier etwas herab- 
lassendes Mitleid durch. Mein Gott, so ein altes ver- 
hutzeltes Weiblein, das eigentlich Gnadenbrot igst — , 
der Vetter war froh, wenn das Mehlgeschäft kein 
Defizit ergab, das er auch noch decken musste. Aber 
meiner Tante Chane war Mitleid nicht schrecklich, und 
sie trug es ganz ruhig, ja sie fand es sogar richtig, 
dass ihr beim Nachtmahl zuletzt aufgelegt wurde und 
die Zeitung erst durch alle anderen Hände ging, ehe 
sie zu ihr kam. Ordnung muss sein, und es ist ein 
Unterschied zwischen einem reichen Gescbäftsmann und 
einer kleinen Ladenfrau, wenn sie auch zur Familie 
gehört. Wenn aber alle anderen ihre Lektttre beendet 
hatten und die Zeitung an meine Tante Chane gelangte, 
dann feierte sie die gemütlichste Stunde des ganzen 
Tages. Sie drehte mit einem Handgriff die Blätter um 
und fing rückwärts auf der letzten Seite an. Dann 
suchte sie aufmerksam alle Todesanzeigen heraus und 
unterwarf sie einer sachgemäSMen Kritik. Sie fand es 
nicht hübsch, wenn die Anzeige nur einen bescheidenen 
Raum einnahm, es war ihr auch nicht recht, wenn sie 



DIE MUTTER DES KUENSTLERS. 



515 



a Schapire: Mdne Tante Chane. 



516 



nicht sehr viel Namen von tranernden HiolerbtiebeDen 
enthielt. Am unan^nehmsten aber berührte sie es, wenn 
der Tote in einem recht hohen Alter verschieden war. 
Dann haderte meine Taute Ctiane fürmlich mit dem 
lieben Gott, vor dem sie sonst «inen gewaltigen Respekt 
halt«, nnd warf ihm ziemlich nuverblUmt vor, warnm 
er so einem alten Menschen, der sich sicherlich schon 
stark ans Leben gewöhnt hatte, nicht noch ein paar 
Jahre Zeit liess. Der Tod von jnngen Leuten berührte 
sie weniger. Gott weiss, was denen noch für ein 
Schicksal geblüt hätte, manch einem ist das Leben so 
bitter, dass der Tod zur Wohltat wird, aber ein alter 
Mensch, der schon alles hinter sich hat, Leid nnd Frend« 
dem sind seine letzten Jahre immer lieb, und man 
sollte sie ihm nicht kürzen. Das war meiner Tante 
Chanes Leben sphilosopbie, nnd sie richtet« sich weirigstens 
selber streng nach ihr, was sich nicht von allen Ver- 
fechtern von Lebensphilosopbien sagen lässt. Als das 
Sterben an sie kam, da kämpften die alten Knochen 
einen zähen Kampf, und der Tod hatte Mühe, bis er 
sie bezwang. Wochenlang lag sie in ihrem Dach- 
stübchen und. rang mir. ihm schwer und bitter, bis sie 
doch allmählich den Kürzeren zog. Da wurde sie still 



ERNST JOSEPHSON. 



nnd verdrtesslich nnd es gelang ihren Hansgenosaen 
nur selten, sie aofznrfitteln. Ein Mittet freilich hatten 
sie, nnd es bewährte sich bis zu allerletzt. Wenn die 
Kranke apathisch wurde, dann branchte sich nnr ihre 
t,ieblings-Grossnichte — denn die Tant« Chane war 
gar keine wirkliche Tante, man nannte sie nnr ans 
Höflichkeit so — mit ihrem Strickzeug an ihr Bett zu 
setzend Das Mädchen hielt die Nadeln ungeschickt 
zwischen den dieken Fingern, nnd darüber amüsierte 
sich Tante Chane und lachte so, dass ihr grosse Tranen 
ftber die runzligen Wangen kollerten nnd der Tod 
erstaunt in seiner Arbeit einhielt. Aber es half ihr 
alles nichts; eines Tages lag sie tot in ihrer alten 
Bettstelle. 

Ach, Tante Chane, wenn ich an deine letzten 
friedlichen Jahre denke, dann dünkt es mich wie ein 
wirres Mär lein, was sie mir alles von dir erzählt 
haben, nnd wenn ich mir dein runzliges verfallenes 
Gesicht vorstelle, dann scheint es mir unmöglich, dass 
es einmal schön war, sehr schön sogar, sagen die Leute. 
Was sagst dn? ich soll nicht weiter reden? Die 
Schönheit, gerade die war dein Unglück und brachte 
dir soviel Leid, !,dass du damals gar den Tod riefst, 
mit dem dn später einen so harten Stranss 
fochtest, und Schande brachte sie d'r, sagst 
du, soviel Schande, dass du anfangs nicht 
wnsstest, wie sie tragen I Ach, Tante Chane, 
es war wohl nicht die Schönheit allein, 
anch ein Tropfen südlichen Bluts wird mit 
Schuld gewesen sein. Das südliche Blut, 
- das ihr von Urväterzeit mitgebracht habt 
in galizische Sümpfe nnd Sandflächen. 
Die Männer konnten es nicht verwahren, 
die hatten genug mit Talmud und Thora 
zu tun, über dem vielen Lernen, was die 
Täter gesagt und was sie gewollt, ver- 
loren sie 's; aber ihr Weiber, bei euch 
hielt es sich besser. Ihr tammelt euch 
mehr unter Gottes blauem Himm«l und 
mehr anch in seinem Kot, den er dort- 
znlande nicht eben spärlich geschenkt hat. 
Die einen das Blut, die anderen die Lehre, 
es klappt nicht immer, wenn das zu- 
sammenstösst. Was sagst du? aufhören 
soll i>:h, du hättest es schwer genug 
gehabt, bis die Leute still wurden mit 
den alten Geschichten, Ach, Tant« Cliane, 
die Leute, denen ich heute erzähle, die 
wissen ja nichts von dir. Tritt nur still 
bei Seite und leg dich ruhig in dein Grab 
zurück, kein Mensch soll dich stören, 
■ ich erzähle die Geschichte eines jungen 
' Mädchens. 

In einem galizischen Marktflecken war 

es, ein paar mühselige Wegstunden liinter 

einer grösseren Handelsstadt. In der 

„TANTE". Handelsstadt gab es gemauerte Häuser 



517 Anna Schapire: Meine Tante Chane. 518 

nnd gepflasterte Strassen. Sie hatte viel 
Verkehr, nnd ihi-e Bewohnet- waren sehr auf- 
geklärt . Es lag wohl man r lies durch- 
einander in diesen Köpfen an alter Talniiid- 
weisheit nnd deutschen liberalen Zeitungs- 
phrasen, denn brave fort sei irittliclie Männer 
waren sie, und die Kevolutinn von 48 fand 
viel Begeisterung bei ihnen. Sie taten bhjs 
nicht mit, das schickte sich bei ihnen doch 
nicht. Klug waren sie auch und verstanden 
ihren Vorteil, Erst trieben sie tjffen Handel 
mit RnEsland, und als man der Stadt ihre 
Privilegien nahm und die f'reistadt aufhrib, 
organisierten sie den Schmuggel vortrefflich. 
Es ging zwar nicht melir so gut wie ehe- 
dem, aber dafür konnten sie nichts. Helle 
Köpfe waren es, in ganz Galizien nnd noch 
drüber hinaus in Litthauen rühmte man 
iliren Verstand. Und auch ktthne HSnner 
gab es unter ihnen, es war gar nicht 
so leicht für die Ersten, die Stirnincken 
abzuschneiden und die langen Röcke zu 
kürzen. Später, da wurde es Mode, da 
schlichen selbst die halbwüchsigen Burschen 
am Samstag hinter die Stadt und rauchten 
eine Zigarette nach der anderen. Aber 
anfangs gehörte Mut zu allen diesen 
Dingen. Nun, sie hatten ihn eben und 
führten es aus. — In dem Marktflecken war 
alles anders. Von Strassen war Überhaupt 

nicht viel zu sehen. Die hOliemen Häuschen ERNST JOSEPHSON. FRAU NENNIE OF GEIJERSTAM. 

der Bewohner standen rings um den grossen, 
unregel massigen Marktplatz, jedes mit einem 

kleinen Vorbau versehen, der sich wie das feiste Ding sind und überdies ein unbeiiuemes KleidungsstBck, 
Bäuchlein eine» sonst zerlumpten Bettelmanns vor- kletterten die Bewohner lieber von Vorbau zu Vorbau, 
drängte: eine lehmgestampfte Diele war es meist, wenn sie sich besuchen wollten. War der Abstand 
die von breiten hohen Holzbalken eingefasst war, nnd zwischen zwei Häuschen etwas grösser, so trat man 
drüber ein Schindeldach, das sich auf zwei hölzerne gelegentlich auf einen Stein, der schon fürsorglich im 
Säulen stutzte. Die Säulen hatten sonderbare Ans- ' Sommer hingelegt wurde, sonst schwang man sich 
bucbtungen und Beulen und waren rosa oder hellblau rnhig von Diele zu Diele und hielt sich an den Sänien 
angestrichen. Aber die Farbe hielt nicht, and si> fest. Man machte so oft gemächlich die Runde um 
schimmerte denn überall das wurmstichige' Holz durch die halbe Stadt, wenn man seinem Nachbar, der einem 
und bildete zusammen mit dem abgebröckelten Kalk- gerad vor der Nase wuhute, guten Tag sagen wollte, 
bewarf der \\'ände einen trübseligen Anblick. Die Vor- Es war etwas umständlich und zeitraubend, aber die 
bauten wurden zu allerlei häuslichen Arbeiten, gescliäft- Bewohner des Marktfleckens hatten ohnedies nicht viel 
liehen Verrichtungen und geselligen Zusammenkünften zu tun. Ihre Geschäfte machten sie an den Markttagen 
benutzt. Die "Weiber sassen tratschend auf den Balken, ab, wenn die Bauern aus den kleinen Dörfern kamen, 
das Strickzeug in den Händen oder ein Kind auf dem Die Bauern waren mis-strauisch nnd die Juden vor- 
Schooss, die ^länner hielten Ausschau, ob nicht ein sichtig, es gab viel Geschrei und viel Ueberredungs- 
Bäuerlein des ^\'egs käme, dem man ein paar Eier ab- kunst, aber schliessticb kam man v.n liande. An den 
kaufen oder ein Gläsclien Brannt^sein anbieten kiinnte, übrigen Tagen der Woche dösten die Leute ruhig vor 
die Kinder spielten hier und balgten sich. Ihre wichtigste sich hin, die Burschen und Männer sassen viel im Bet- 
Aufgabe aber hatten die Vorbauten im Frühling und haus, und studierten auch zu Hause ihre hebräischen 
Herbst. Dann verwandelte sich der Marktplatz in ein Folianten, deutsche Lettern kannte kaum einer von 
wogendes übelriechendes Kotmeer, in das sich ein Fnss- ihnen, Die Weiber machten sich mit der Wirtschaft 
ganger höchstens mit Röhren stiefeln ausgerüstet hinein- und den Kindern zu schaffen, am schlimmsten aber 
wagen konnte. Und da Röbi-en Stiefel ein kostspieliges waren die Mädchen daran. Für sie gab es keine andere 



519 



Anna Schapire: Meine Tante Chane. 



BeschSftigniig als Stricken und HSkeln. Es gab 
Yirtaosinnen anter ihnen, die ihre Eanat mit wahrer 
Hingabe pflegten; ihre gehäkelten Rosen standen den 
wirklichen in nichts nach, nnd wenn man bedenkt, 
dass sie haltbarer waren, mnsste man ihnen sogar den 
Vorzng geben. Aber wenn eine keinen Gefallen daran 
fand — nnd die junge Chane, die mit Eltern and 
Brüdern in einem der ^räamigsten Hänser des Fleckens 
wohnte, fand leider gar keinen Gefallen an den herr- 
lichen Mustern der G-espiel innen. Sie langweilte sich, 
sie langweilte sich eigentlich den ganzen Tag. Die 
Mutter trieb einen kleinen Eierhandel, der Vater war 
ein frommer Mann, der sich nicht gern mit weltlichen 
Dingen abgab, sondern lieber die Geschäfte der Frau 
Uberliess nnd daf[ir tagaus tagein aus der Thora lernte. 
Die Brüder lernten auch. Für Chane gab es gar 
nichts zu tun, denn fürs Geschäft war sie noch zu 
jung und zu dumm, und es schickt sich überdies nicht 
für ein Mädchen, ^um Lernen hielt sie auch niemand 
an; man hatte sie lesen gelehrt, damit sie als ver- 
heitatete Frau einmal ihr Morgengebet herunterhaspeln 
konnte, mehr war nicht von Nöten. 



Sie bockte im Winter in der Stabe and im Sommer 
im Vorbau, es war immer dasselbe. Die schwerfflUgen 
Glieder waren za dämm zur häuslichen Arbeit and der 
junge Copf war womdglich noch dümmer. Viel Ge- 
danken steckten nicht drin. Wie es wohl in der Stadt 
aussehen mag, wo die Matter Verwandte hatte, nnd wie 
es wohl ist, wenn man heiratet. Mitunter verschmolzen 
die beiden Gedanken reihen, und die junge Chane fragte 
sich, wie es ist, wenn man eine verheiratete Frau in 
der Stadt ist. Dann wurde ihr ganz heiss, and das 
junge Blut, das sonst langsam durch den trägen K5rper 
schlich, kreiste plötzlich rascher nnd trieb gante 
Wellen zu dem tfirichten Kopf empor. Ja, die Stadt, 
stnndenlang konnte Chane sich ausmalen wie das ist, 
wenn man in der Stadt lebt, wo es richtige Strassen 
gab und richtige Kaufläden, in denen man alle Herr- 
lichkeiten - der ^\''elt kaufen konnte. Zißi'e Mendel, die 
in ihrer Wohnstube ein Warenlager eingerichtet hatte, 
brachte jeden Frühling von ihrer Geschäftsreise drei 
Stücke Kattun mit; das reichte gerad' für ' die ganze 
weibliche Bevölkerung und sogar noch zu Hemden für 
die Mänoer. Chane könnt« sich den ganzen Winter 
ein grünes Kleid mit roten Panktcn aosdenkea; 
brachte ZiSi-e blau mit, so musste sie blau tragen. 
In der Stadt, oh, da geht man einfach in einen 
Laden nach dem anderen, und in jedem legen sie 
einem hundert Stoffe vor, und dann wählt man. Nun 
ja, das ist einfach und wenn man sich eine ganz 
merkwürdige Farbe ausgedacht hat, bekommt man 
sie auch; warum denn nichtl 

Die Matter fuhr auch manchmal zur Stadt, aber 
sie nahm Chane nie mit nnd sie brachte uichts 
anderes heim als Tee und Talgkerzen zum Licht- 
benschen.*) FUr diese Dinge hatte sie dort eine 
billigere Quelle entdeckt als Ziftre Hendel. Ziffre 
Mendel nahm das übel und gestattete sich hier 
und da sarkastische Bemerkungen über die Brenn- 
dauer dieser Schabbeskerzen, aber ihre Worte blieben 
erfolglos, ebenso wie die Grimassen, mit denen sie 
den Tee binunterschlürfte, den die Mutter ihr vor- 
setzte. Chane dagegen hatte keinerlei Interesse fOr 
Tee und Schabbeslichter; sie nahm daher auch die 
Pakete, wenn die Matter sie ihr vorsichtig vom 
Wageu herunterreichte , stets mit grosser Gleich- 
giltigkeit in Empfang. Eines Tages aber brachte 
die Mutter mehr als Pakete mit. Neben ihr auf 
dem Strohsack, der als Sitz diente, sass ein 
lebendiges Wesen, das sich als ein schmScktiger 
junger Mann mit eingefallenen Backen und einer 
grünlich schimmernden, etwas zerrissenen Pekesche 
entpuppte, als er ungeschickt hinter der Matter vom 
Wagen hin unter klettert«. 

Chane, die gerade auf dem Vorbau herum- 
lungerte, betrachtete ihn neugierig. Die Mutter 



ERNST JOSEl'HSON. ML^SEUM GOET^HORO. *) Das Gebet der verheirateten Frauen am Freitag 

Fra Göthilda Fürstenberg. .\bend. 



521 Anna Schapirc: Meine Tante Chane. 522 

aber ging an ihr vorKber and fUbrte itn 
direkt znm Vat«r, der in der Stnbe sass 
und lernt«. Chane sclilich hinterdrein und 
macht« sich drinnen zn schaffen, so dass 
sie alles h9rte, was sie verhandelten. Die 
Mutter hatte den Bocber^) bei Verwandten 
g«fanden. Er war ein feiner Kopf und 
ein armer Teufel obendrein. Angehörige 
hatte er nicht. Er schlief im Betitaus 
nnd as9 nur zu Mittag, wenn mitleidige 
Leute ihn zu Tische riefen. Dabei wussl« 
er ungeheuer viel, den ganzen Talmud 
hatte er gelesen und wichtige Abschnitte 
kannte er auswendig. Da hatte die Mutter 
gedacht, dass er wohl ein Jahr bei ihnen 
bleiben känne, um mit den Jungen zu 
lernen. Das bischen Essen kostete nicht 
viel und für Kleider wollte sie auch 
sorgen, alte Sachen waren genug vom 
Vater da. 

Der Bocher blieb. 

Anfangs war er schllcbtem und schweig- 
sam, aber das änderte sich allmählich, und 
die Mutter brauchte ihn beim Essen nicht 
mehr zu nötigen. Er entwickelte sogar 
einen Appetit, der ihr zu denken gab, 
während ihre sachlichen Bemerkungen Über 
die schädlichen Folgen eines tlberladnen 
Magens wenig Eindruck machten. Die 
Mutter wurde immer kühler gegen ihn, 
aber Chane gefiel er immer besser. Er 
wuBst« von der Stadt zu ersBbten, er 
„halt .1. mch. 1„„„ wie die ..dU., ERNST JOSEPHSON. FRAU JEANETTE RUBENSON. 

und dazu wurde er immer hübscher, seit 

er nicht mehr so hohlwangig und duckmäusig umher- Als die Mutter endlich dahinter kam, gab es 
schlich. Und auch Chane wurde immer schöner mit tüchtige PrBgel. Der Vatei- verhaute den Bocher, 
ihren fünfzehn Jahren. Seit der Bocher da war, lang- Chane bekam ihre Ohrfeigen von der Mutter. Dann 
weilte sie sich nicht mehr, und da sah man erst, was mnsste der Bocher sein Bündel schnüren. Xicht einmal 
sie für schöne blitzende Augen hatte. Sie blitzte auch Abschied durften sie nehmen. Chane sah ihm Ver- 
den Bocher mit ihnen an, und er fand langsam Gefallen etoblen durch das Kammerfenster nach. Die Mutter 
an ihnen, genau so wie an ihrer Mutter Klössen. Aber hatte ihm die Kleider wieder abgenommen, er trug die 
niemand warnte ihn zu viel hineinzugucken, wie die alte abgerissene Pekesche, In der er gekommen war, 
Mutter vor dem vielen Essen warnte. Immer h&nfiger und schlich mit gesenktem Kopf und gebeugtem Rücken 
lachten sie sich an, drinnen wenn die anderen draussen über den Mariitplatz, so demütig wie damals, als er 
waren, und auf dem Vorbau, wenn die anderen in der znm ersten Male ins Haus kam. 
Stube sassen. Immer wärmer wurde ihnen dabei und Chane ballr« die Fäuste, sie hätte sich nicht fort- 
immer stärker schoss das Blut lu Cbanes tSrichten jagen lassen, wie ein räudiger Bettler, nein, sie nicht, 
jnogen Kopf. Er lag nachts in der Kammer mit seinen Aber er war eben doch ein Chederjingel*) und hatte 
drei Zöglingen, die schliefen so fest wie junge Hunde, nur Mut solange es ihm gut ging. Fast widerwärtig 
Wenn Cbane vorsichtig zu ihm hinUberschlich, denn wurde er ihr in diesem Augenblick. Nein, um ihn 
die trägen Glieder waren jetzt flink und hurtig ge- wollte sie nicht weinen. Das nützte ihr freilich wenig, 
worden, merkten die Jungen nichts und auch die es kamen so böse Zeiten für die junge Chane, dass sie 
Eltern, die in der Stube hinter dem Vorhang schliefen, kaum mehr wusste , um was ihre Tränen flössen. 
hörten nichts. Sie flosien immerzu, bei jedem Schlag, den die Mutter 

•) junger Mann. *) einer, der immer im Bethaus hockt. 



Meine Tanle Chane. 



ERNST JOSEPHSON, 



ERNST THIELS OALLERIE. 
Spanischer Zwerg. 



ihr gab, and bei jedem bösen Wort, das von der Mutter 
kam. AofaDgs war die Motter nur böse und schlug 
und schimpfte, aber später, als sie das SchUnimste 
entdeckte I 

Das waren ein paar arge Monate für die kleine Chane. 
Die Mutter sperrte sie in die Kammer und liess sie 
nicht vor die Tür. Ihre Tochter sei kranlc, erzählte 
sie den Nachbarn, und mltsse das Bett hüten. Aber 
die Leute wussten plötzlich alles. Die einen hatten sie 
mit dem Bocher lachen gesehn, ein zweiter tuschelte, 
wie der kluge Itocher so Knall und Fall ans dem Haus 
geworfen war, und gestohlen hatte er doch wohl nichts, 
Ziffre Mendel aber lief amher und sagte allen Leuten, 
die es hören wollten, sie habe nie Vertrauen zu der Familie 
gehabt. Dann kam sie zur Mutter zu Besuch und 
wollte wissen, was Chane fehle. 

Chane dachte damals, sie müsse vergehen vor 
Schande und Schmerz. Der junge Leib wehrte sich 
gegen die schwere BUrde, er keuchte und bäumte sich, 
und der törichte Kopf war ganz angefüllt mit schweren 
(iedanken. Warum die Menschen so schlecht seien, 
und warum der Vater nicht mit ihr reden wolle, und 



warum die Mutter nicht lieher den Bocher 
aus der Stadt hole und ihr die Cbuppe*) mit 
ihm stelle, dass sie sich nicht mehr verstecken 
mflsse vor aller Welt. Sie mochte Ihn gar 
nicht mehr, aber es war immer noch besser 
als das alles allein tragen. Aber die Mutler 
wollte nichts von dem Schuft hören, sie hatte 
andere Pläne. Qanz heimlich in der Stille 
wurde das Kind geboren. Dann nahmen sie 
es ihr fort und schickten es in eine andere 
Gemeinde. Ein jüdisches Kind war es und 
sollte in einem jüdischen Hanse leben, aber 
die junge Mutter sollte nichts von ihm wissen, 
und die Leute auch nicht. Die wussten es 
doch und tuschelten und zischelten, dass Chane 
nicht wagte, den Kopf zu heben. 

Ata sie wieder gesund war, brachte die 
Mutter sie zu den Verwandten in die Stadt. 
Chane war so müde und unglücklich, dass sie 
sich nicht recht darüber freuen konnte. Am 
liebsten wäre sie gestorben. Die Leute wussten 
auch hier alles. Hatte Zifire Mendel geschwatzt 
oder hatte sich der Bocher verraten, sie redeteten 
und höhnten hinter ihr her, immerzu, immerzu. 
Sie wollte gar nicht aus der Stube, die Strassen 
and Kaufläden lockten sie nicht mehr. 

Und dann kam Srul Bär heim. Srul 
Bär, der Spassvogel, der sich unten in der 
Türkei herumgetrieben hatte und von dem man 
behauptete, er habe dort sogar seinen Talles**) 
an einen Muselmann verkauft, Srul Bär, dessen 
Geschäfte dunkel waren und von dessen 
Charakter man anch nicht das Beste wusste. 
Für den war sie gerade die richtige Fraa. 
Kein guter jüdischer Mann hätte ihm seine Tochter 
gegeben, sowie er Chane seinen Sohn verweigert hätte. 
Das gefallene Mädchen und der Abenteurer, die passteu 
zusammen. Er nahm sie, er nahm auch die Mitgift, 
die die Eltern gaben. 

Wieder redeten die Leute. Aber als Srul Bär einen 
regelrechten Handel begann, wie die anderen, da wurden 
sie still, und auch Chane wurde ruhig. Anfangs hatte 
sie sich vor dem schrecklichen Menschen mit den 
stechenden Augen gefürchtet, dann gewöhnte sie sich 
an ihn. Ihm machte das hübsche kleine Ding Spass; 
er erzühlte ihr viel und lehrte sie sogar das deutsche 
ABC. Bis er eines Tages fortfuhr und nicht wieder- 
kam. Wieder sass Chane mit einem kleinen Kinde da und 
wollte sich die Augen ausweinen. Und die Leute 
zischelten auch wieder: natürlich, der Lump, sie hatten 
es gleich gewusst Aber diesmal nahm ihr niemand 
das Kleine weg. Die Verwandten richteten ihr einen 
kleinen Mehlhandel ein, davon lebte sie bis die Tochter 



*) Der Trauhiinm* 
■d. ••) Itetinanfel. 



r dem die Trauung vollzogen 



^5 



Anna Schapire: Meine Tante Chane, 



faeranwucba und weit weg heit-atete. Als Cbane alt nnd 
gebrechlich war Qod das Mehlgeschäft zurückging, 
nahmen die Verwandten sie ganz ins Hans. 

Der Mann kam nie wieder. Aber von den alten 
Geschichten sprach anch kein Mensch mehr. Niemand 
spottete Über sie, man wnsste nnr noch, dass sie 



r sehr angesehenen Familie war. Sie hatte es auszusetzen fand. 



schlecht in der Ehe betroffen und war nicht mit Glücks- 
gütern gesegnet. Mein Gott, das kommt vor und ist 
nichts besonderes. Und allmählich vergass Chane selber, 
was sie erlebt hatte. Sie wurde ein altes Weiblein, 
das ganz zufrieden vor sich hiulebte und nicht sterben 
wollte, weil ea gar nichts an dieser schönen Welt 



Nach druck verbolcn. 



Vom VIII. 3ionistenkongress. 

In dem grauen, alten, stilvollen OeböuÖe im bei vielen unter ben Sionisten felbst. nid)t auf 

.Buitenbof" 3U fiaag tagte Öie Sriebenskonferen3 bem territorialen prinjip, nid)t auf bem Streben nodj 

- in bem luftigen, l>ellen, jugenblid] fröl)tid>en Palästina bettelt ber Sionismus in seiner Ibee, 

.Oebäube für Runst" tagte ber Sionistenliongrese. €r ist nidjt barouf ausgegangen, für bas jüÖisd)e 



3u gleid)er 3eit, 3U 
gleidjer Stunbe würben 
in (öaag 3wei rabilial 
veredjiebene fragen, fast 
entgegengese^ter Orb> 
nung, bisl^utiert. Im 
.Buitentjof" spradj man 
iiber bas Prin3tp ber €ini= 
gung, Solibarisierung 
aller Völher, über bie Sör< 
berung bes Integrierungs- 
pro3esse9 ber (Densd)' 
l)eit, bort im .Runst- 
gebouw* über bie (Dittel 
ber Differen3ierung eines 
Volkes aus ben bereite 
vorl>anbenen Völher ' 
gruppen, über bie Sdjaf f' 
ung einer neuen tertito» 
riaien £inf)eit. Sdjeinbar 
Oegensä^. Unb bod) 
Keine. Ceste Spinoso, 
b. I>. bie notwenbigheit 
bes Cegenso^es. 

Die Jubenfroge ist 
Quä) in biesem Sinne 
eine Bremse, eine ßemm' 
ung nid)t bloss ber ent= 
wichlung ber ^uben, son- 
bern aud) berWelthultur, 
Unb besl)alb muss sie 
gelöst werben, — unb 
bes SionistenhongresS' 



bies ist ber 



nad) 10 ]al)ren unermüblid^er Agitation, nad) 
ad>t Kongressen ist ber Örunbgebanhe, bas 
eigentlid^e Wesen bes Sionismus ben (Deisten 
nod) nid)t klar geworben. Unb was nod) merk' 
wGrbiger ist, biese €rkenntnis sdjwinbet audi 



Volk seine b'sto'isdjen 
Redete auf palöstina 
3U vinbisieren. Wos ist 
tjistortsdpesRedit? nidjt 
mel)r als ein Wort. Unb 
nidjt Romantik aliein war 
bas örunbmoment ber 
3ionistisd)en Dewtgung. 
Der3ionismu8 Iwbeutete 
ein RufFladtern bes jü' 
bisd)en Volkswillens, 
eine Erkenntnis ber in= 
neren 3ufommenl)änge 
im Ceben bes jübisdjen 
CDensdjen unb bem ber 
nation, ein Versud), bem 
Pro3ess bes 3erfalls unb 
ber ntomisierung ent -■ 
gegen3uarbeiten, bie in 
Brüdje gegangene €in^ 
l)eit bes )ubentums burd> 
eine aus ber £ntwidilung 
ber ßultur t)ervorge' 
gangene unb von it)r be^ 
bingte £tnl}eit neu 3U 
fd)affen. nidjts war am 
3ionismus neu ausser 
seiner Sorm, weber sein 
negierenbes Verijältnis 
3ur iübisdpen 6egen' 
wart - ber Begriff ber 
Diaspora nod) sein positives Streben nad) 

einem 3entrum. Das lleue, Eigenartige, t3in= 
reissenbe am 3ionismus war eben [eine form, bie 
Cinreit)ung ber Jubenfrage in bie weltpoIitisd>en 
Sragen, bie Politisierung bes ]ubentums. Was 
bem Jubentum seit 3al)rtausenben fet)lte, bie 
politisd)e Organisotion, wollte, sollte ber 3ionismus 
sd)affen. (T)and)mal sdjien es, bass bie Ceiter 



K7 



Viator: Vom VIII. Zionistenkongress. 



528 



ber Bewegung sid) biesee ßrunbsieles bewusst 
seien. in bieser Binsid^t ist öer Be- 
Fd>luss öes VI. Kongresses, bas Uganba^Hn' 
gebot ab3ulet)nen, bie weitere prinjipielle 
Bblel)nung Öes territoriolen prin3ip6 am VII. Ron= 
gress von eminenter t3ebeutung. Die CertitoriO' 
listen leugneten bie politisctT^hulturelle Renaissance, 
inbem sie alles einsig unb allein auf bos Cerd' 
torium stellten, bie Sionisten weigerten sidj, diesen 
l)istOTisd) ungered^tfertigten Weg 3U betreten, 
ßätten sie nur ben Oebanhen 3U £nbe gebad)t, 
wären sie auf ber von il)nen eingesdjiagenen 
ßal)n weiter gegangen, trotten sie wirl^lid) an ber 
Politisierung unb Kulturellen Weiterentwid^lung 
gearbeitet, bie territoriole SelbstänöigNeit auf 
bem l}istorisd)en Boben als eines ber COomente, 
aber nidjt nie bas einsige, als ben Sdjiusspunlit 
ber Cntwidilung, nid)t als bas R unb O ber 
Renaissancebewegung betrad>tet, so wäre ber 
is ein Ijistorisdjes €reignis 
eit geworben. 

torialismus wütete nod) 

ber palöstinensisct)e. Der 

r mit praNtisd}en palästino^ 

fragen besd>äftigt - er war uneingestanbener' 

mossen eine Absage an bie grosssügige Politih, 

eine Selbsteinsdjräntiung. 

eine ganje Wodje (14.-21. August) tagte 
ber Rongress. Den Sdjwerpunlit ber Verl)anb' 
lungen bilbete bie reole Rrbeit in Palästina, 
tlro^ bes Wiberstanbes einiger „politisd)er" 
3ionisten, eines f5durieins unentwegter „Cbarte< 
risten" war bas prinsip ber realen, unaufsdjieb' 
baren Arbeit in Palästina angenommen unb 
sanktioniert. VonbenSragen berDiasporale^renbes 
jübisd>en Voll^es war fast t^eine einsige berührt, bie 
ßulturfrage nur flfidptig angesd^nitten, um aud)sorort 
abgese^t 3U werben. (Dan erwartete vom Rongreas 
aud) eine rabitiale Reorganisation ber Partei- 
leitung. Die Crwartungen l)at ber Rongress nid)t 
im vollen (Dasse erfüllt. Denn bie einjige Reform 
bie erse^ung bes früheren siebengliebrigen engeren 
Rhtionshomtl^s burd) ein breigliebriges (D. Wolff= 
fobn^Röln [Präsibent], Prof. O. Warburg^Berlin, 
]ahobus Rann-fDQog) ist nur eine aritl>meti(d)e, 
aber heine grunb3ä^lid>e flenberung. Der djarahter 
ber Ceitung bürgt uns für eine ruhige, fleissige 
Rrbeit, für eine ernste Belötigung in Palästina. 
Ob aber bie Ceitung grosse prinslpien f>ot 
unb wie sie sie aiiS3ufüt)ren gebenht - barüber 
l)Qt uns ber Rongress nid)t beleljrt. Die näd^ete 
3uhunft wirb es uns seigen. 



Rlles in allem l)at ber Rongress nidjt bas 
le^e Wort bes 3ionismus gesagt. £r ist nur 
eine €tappe auf bem Wege ber CntwiAlung ber 
3ionistisd>en Ibee. 

Spino30 ! - Ruf einem kleinen piatf im 
ßaag am „Grossen (DarKt" stel)t sein Denkmal. 
£infad) unb sd)lid)t, oljne Cenbens, ol)ne .Ver« 
tiefung". Ein gutes, treues flbbilb. Spinoso, ein 
junger, jugenblid^er (Dann, sitft in einem Ce\)n' 
stul}l, in seiner ßonb eine Seber. Sinnenb unb 
verträumt sitst er ba. Rein bitterer Rusbrudi um 
bie CDunbwinkel, keine mübe, resignierte fsoltung, 
wie sie ber Spinosa von Rntokolski \)at. €in 
Ritter bes Geistes si^t i>a, ein Rbliger, ein prins 
ber Ibeen. Sd)on sein Reusseres \}ai etwas be* 
6ted)enb Vornebmes, liebes unb bod; unnal)bares, 
imponierenbes. (Dan merkt nidjt, bass bieser 
(Dann einsam im Ceben baetanb, einsam in 
seinem Denken unb in seinem tun. 

Diesem jungen, freunblid>en, sd}önen (Densd)en 
l)ätte man es wobi kaum ongeseben, basa er so 
viele Illusionen serstörte, bass er einer ber 
strengsten Denker aller Seiten war. Selbst ein 
einsamer, l)at er ben Cnenfd>en vereinsamt, il>n 
auf sid> selbst gestellt, um iljn in eine l)öl)ere 
einljeit - Öott'Cinljeit - 3u bringen . . . Unb 
in bem nal)en Rmsterbam stet)! bie alte, vor 
Alter sd)war3 geworbene Synogoge ber Sepbarbim^ 
wo sid) bie ))istorisd]e Begebenljeit ber Aus* 
stossung Spinozas aus bem ^ubentum voll* 
3ogen l)at. 

3um Spino3obenhmol kam id; birekt von 
einer Sitfung bes Sionistenhongreffes. eine tiefe 
Crouer legte sid) über mein Denken, unb es 
würbe so bunkel, so einsam in mir. Was id) am 
Rongress sal) - konnte meine Sel>nsud)t nur 
steigern, ofyne sie 3U stillen, ben 3weifel, ber in 
mir unb an mir nagte, 3ur Versweiflung steigern, 
es war etwas irrationales, unbered>enbaree, in 
keine Sorm 3U fassenbes an biesem Rongress. 
(Dan wusste nid)t redjt, wesl}alb ein Rampf be' 
3tel)e, weldje (Dotive bie Bewegung leiten, was 
bie Oegenwort verlangt unb bie 3ukunft aus- 
fül)ren soll. ]eber frühere Rongress Viatte seine 
pt)Vsiognomie. Cr l)atte bestimmte 3iele unb 
Aufgaben. Ob er sie löste ober nid)t - er 
stellte bie Probleme. Dieser Rongress ober 
wusste selbst nidjt, was für eine Prägung er fyihe, 
unb ben Rampf um Ibeen ersehe ein Rampf um 
Personen. Vielleid)t geljt jebe Partei biesen Weg, 



Viator: Vom VUI. Zionislenkongress. 



vielleid)t ist Öaa öer Gang ber Cntwichlung. fln 
biesem Vielleid)t aber gebt ber Glaube, gebt bie 
ßoffnung sugrunbe. 

einemerhwüröigeStimnmng. Soet jeber einselne 
unter ben Defegierten war mit sid) unsufrieben, 
innerlid) aufgerüttelt. )eber füblte, bies sei nid>t 
ias sein sollenöe. Aber bie 3weifel ber einjelnen 
konnten sid) nid}t 3U einem einjigen Willen ver- 
einen, 3U einer Stimmung ber £rlösung. 

Unsufriebenbeit. (Don las es in ben Bugen 
ber )ungen, im sd>wermütigen ßUche ber Reiteren. 
(Oand) einer, ber fünfunbswanjig ]al)re für bie 
Ibee arbeitete, sab »^it sorgenvollem, öngstlid^em 
ßlidie um sid), prüfte seine Vergongenbeit, ob sie 
wabr gewesen sei ... . 

(Dand) einer unter ben ]ungen sab burd) 
bie WSnbe bes ßongress-Oeböubes, bie weite, 
grosse, üppige (Delt, unb sebnte sid> biiQus . , . 

Id} t)abe mtd} in frQber Rbenbstunbe 3U 
Spino3a b'^^usgesloblen. In ber Ddmmenings< 
stunbe ist er nod} sd>öner als am Cage. Denn 
in ber DQmmerung senhen sidj bie sdjöpferisdjcn 
tröume auf bie Welt, auf alles .... 

Unb bie tote, bleid7e Vergongenbeit stanb 
vor meinem träumerisdjen Huge wieber auf, 
nabm Sarbe unb Ceben an, würbe 3U einer bunten, 
mannigfaltigen, etürmiscben Oegenwart. Auf bem 
freien Boben ßollonbs, ein jübifd^es Obetto. Ctn 
selbstgesd)affenes. Alle Probleme ber neu= 
3eit öurd)wüblten bomole öos Jubentum, Seljn' 
sucbt nad) Sreibeit unb Unobbängiglieit, nacb £r> 
lö|ung, (Dessionismus. Die l^lugen aber, bie 
halten, bie Deredjnenben iieesen sid) nidjt burdj 
CrSume blenben, blieben ouf bem realen Boben 
ber Cotsadjen. Sie wollten hein neues ]ubentum. 
Unb ben beiben Rid)tungen trat eine britte ent» 
gegen. Dos war aud) eine Crlöfungsbewegung, 
aber eine bes Geistes. £in nagenber 3weifel 
ging ibr voraus, eine sd>mer3volle Abwendung 
vom alten, liebgewonnenen jubentum, ein Ringen 



prot. UT. OHO worourg, oenm. 

(Päd) einem Relief von Doris Sdja«). 

Viie.pTfi|i»ent bes Soniftitcben AMionshoml»». 

nad) einer neuen Umbildung, vielleidjt nadj einem 
Umbau ber Grundlagen bes ^ubentums. Anosta 
5pino3a waren bie Juben bes .britten Reidjes". 
Wären sie nidjt gons vereinsamt geblieben, b^tte 
die }ubenbeit sie nid^t ausgestossen — vielleid^t, 
vielleid)t bätten wir beute einen neuen )übisd)en 
3nbalt, ein neues Weltbilb, Atier sie sind ein= 
sam geblieben. Unb bie Gesdjidjte wieberf)olt 
B\ä). Die Probleme hebren wieber. 

An biesem Abend Konnte id) erst spät 3ur 

Rongresssi^ung kommen. Als id) vom Spino30< 

benhmot 3um f^ongresssool 3urüdfhel)ten viK>Ilte, 

honnte id) nidjt leidet ben Weg 3urüdifinden . . . 

Viator. 



JUEDISCHE JUGENDWEHR IN ENGLAND. 

(Jew-jsli Lads Brigads). - Von Js. Wolf. 



Die AssimilatioDsfahigkeit der Juden hat sicli bei 
der jBdiacbeD Elawandernng in England von der treff- 
lichBten Seite gezeigt. Die jüdischen ZuzUglinge aus 
Rnssland, die In ihrer Heimat jede kSiperliche Uebung 
missachteten und demgemäss vernachlässigten, liaben in 
dem klassischen Lande des Sports mit Überraschender 
Schnelligkeit erkannt, wie grossen Wert die Ausbildung 
der physischen Fähigkeiten besitzt. Aber nicht bloss 
theoretisch erkannt haben sie diesen Wert; sie haben 



sich beeilt, von der Gelegenheit Gebrauch zu machen, 
die sich ihnen bot, in den neuen KQnsten Fertigkeit 
zu gewinnen, ihren EOrper zu stählen und die moralischen 
Einflüsse, die daraus hervorgehen, auf sich wirken zu 
lassen. Dei' Sport — d.as Turnen der EnglUnder — 
hat unter den geborenen Engländern selbst keine 
eifrigeren Anhänger als unter den russischen Jaden, 
die seit wenigen Jahren erst ins Land gekommen sind. 
Die Grundlage für die besondere Form der körperlichen 



Ja Wotf: Jüdische Jugendwehr in England. 



Gruppe auB dem Zeltlager der jüdiachen Jugendwelir in England (U). 



Ausbildung der jüdischen Jugend hat der weitbekannte 
englische Oberst Goldsmith gelegt. Dieser, als Kind 
von den Kltern der Tanfe zugeführt and .später zum 
Judentum zurückgekehrt, schuf im Jahre 1891 die 
jüdische Jngendwehr, die Jewish Lads Brigads, in der 
strenge militärische Zucht mit der Freiheit englischen 
Sports sich vereinigt. Die J. L. B., die bei ihrer 
Gründung 60 Mitglieder zählte, hnt jetzt deren schon 
Ober 4000. Diese stattliche Zahl ist in 17 Londoner 
Kompagnien gegliedert und in ein Provinzregiment, 
dessen einzelne Kompagnien in Manchester, Liverpool, 
Hnll, Birmingham, Leeds, Sheffield, Jtradford und New- 
castle stehen. Auch in den Kolonien ist bereits 
die Grundlage fUr ein neues Regiment vorhanden. 
In Montreal 
ist ein Ba- 
taillon, inJo- 
hannesburg 
und Port 
Elisabeth je 
eine Kom- 
pagnie. An 
den ersten 
Manövern, 
die im Jahre 
1896 abge- 
halten wur- 
den, beteilig- 
ten sieb nur 

19 junge 
Leute; in 
diesem .Jahre 
sah Oberst- 
leutnant Sir 
Frederic L. 
Natlian be- 
reits über 



linge als Manöverteilnehmer. Für das Provinzregiment 
wurde in Zitham eine besondere Uebnng abgehalten. Diese 
jährlichen üebungen finden meist an der Meeresküste statt 
und währen etwa 8 Tage. Zelte werden im Freien auf- 
geschla^n, und nach deu militärischen Exerzitien geben 
sich die jungen Leute dem Krikett- und Fossball -Spiel, 
der Athletik and Schwimmübungen hin. FUr die musika- 
lische Unterhaltung sorgt eine eigene Musikkapelle, die 
Ubdgens während des Sommers auch in öffentlichen 
Londoner Parks spielt. Am Sabbath ruhen die üebungen. 
Das ganze Bataillon tritt in einem Viereck zusammen, 
aus Trommeln wird eine Kanzel gebaut, und der 
Feldprediger hält die Andacht ab. — Hohe Milit&rs 
besichtigen wiederholt die Kompagnie. Bei dieser 
Gelegenheit 
werden an 
Soldaten und 
Offiziere für 
gute Leistun- 
gen Preise 
verteilt. Die 
jüdische Ju- 
gendbrigade 
erfi-eut sich 
bei Juden 
undbeiNicbt- 
jnden ausser- 
ordentlicher 
Beliebtheit. 
— Wir fah- 
ren unseren 
Lesern zwei 

Gruppen- 
bilder aua 

dem Zelt- 
lager der Je- 
wish Lads 



1000 Jung- 



I dem Zeltlager der jüdischen Jugendwchr in England (II). 



Brigads V 



533 



534 



DIE TOCHTER JEPHTA' 

Ein dramatisches Gedicht von Richard Huldschiner. 



Personen: 

Jephta, der Richter Die Amme 

Jobeka, seine Tochter 

Abdon 



Die zehn Ael testen 



Chor der Töchter Israels. 

(Das Recht der Aufführung vorbehalten.) 



<Eine Stunde vor Tag. — Das Frauengemach im Hause Jephtas. Ein 
grosser Raum. Mit Fellen und Teppichen belegte Ruhebänke. Ein breites 
offenes Fenster geht auf den von niedrigen Mauern umsäumten Hof 
hinaus, auf dem, im Dunkel der Nacht kaum sichtbar, zwei Terebinthen 
stehen, deren Wipfel das Fenster links und rechts einrahmen. Darüber 
hinaus freier Blick in die baumlose Ebene. — Im Hause tiefe Stille. — 
Jephta, der Richter, ein kräftiger Mann mit vollem, grauem Haar kniet 
im Vordergrund, gen Osten gewendet und betet Er ist waffenlos und 
ganz in Linnen gekleidet. — Am Fenster steht Jobeka. Sie hat den linken 
Arm über sich auf den Fensterpfosten gelegt und stützt das Haupt darauf. 
<lie Beine ein wenig ubereinandergeschlagen in einer leicht ruhenden, 
sehnsüchtigen Stellung, mit Augen, die träumerisch in die Feme sehen. 
Sie spricht, mehr für sich, als an den Vater sich wendend, der zudem 

ganz in sein Qel>et versunken ist.) 

Jobeka: So sinkst du hin, du tiefe Nacht, vergehst in Stille. 
Schon weht vom Berge kalte Morgenluft, 
Die Terebinthen rauschen leise 
Und schlagen ihre Zweige sanft zusammen. 
Erschauernd so wie ich vorm Licht des Tages. 
Noch ist der Himmel schwer von Nacht, 
Und seine Sterne funkeln still, als galt 
Es, hundert Jahre so in trautem Farbenspiel 
Zu leuchten, ja als käme nie ein hellrer Glanz, 
Der ihre goldnen Herden jäh verschlingt. 
Noch klingt das leise Tönen dieser Nacht, 
Als kam aus unterirdschen Höhlen ferner Ruf, 
Das Klirren goldner Becken weit im Schoss 
Der Erde; noch kein Laut in Haus und Stall. 

Ich aber seh im Geist die Sonne still sich heben. 
Ich kenne sie, ich hab ihr oft ins Antlitz, 
Ins feuerstrahlende geschaut, 
Bis grün ihr Schild, von rotem Rand umwunden, 
Jenseits geschlossnem Lide sank und sank, 
Und immer, wenn ich ihn emporzuheben dachte, 
Von neuem sank, in purpurrote Nacht. 
Ich kenne, Sonne, dich, ich lief dir oft 
Entgegen, weit die Arme ausgestreckt. 
Vom Berg hinab ins ebne Land 
Und mit der Schwalbe um die Wette. 

(Sie horcht plötzlich in die Nacht hinaus) 

Horch! zwitschert da nicht etwas unterm Dache? 
Mein Schwälbchen, bist du wach? Nein, nein 
's ist alles still noch, alles schläft. Und doch, mein Gott! 
Die Sonne naht . . . 

(Ein Laut des Schmerzes, der vom Vater kommt, macht sie zittern, 
jephta hat sein Oebet beendet, kniet da, das Antlitz gen Himmel gewandt, 
die Hände mit nach ot)en gekehrten Flächen erhoben, in einer Gebärde 

der Ergebung in Gottes Willen). 

Vater! Vater! 



Jephta: Kind, 

Ich höre deine Stimme wie durch Tränen; 

Nicht deine Tränen, meine sinds, 

Die wie ein dichter Schleier mich verhüllen. 

(zitternd) : 

Wie weit ist schon die Nacht? 
Jobeka: Zu Ende bald. 
Jephta: Zu Ende bald! Ich kanns nicht sehn. Ist schon 

Ein lichter Schein im Osten? 
Jobeka: Ja, vielleicht . . . 

Ich weiss nicht . . . doch . . , ein roter Saum, 

Hebt langsam sich empor. 
Jephta: Mein Kind! 

(Er schleppt sich auT den Knien zu ihr hin) 

Ich liege hier im Staub vor Gott, von dem 
Ein Teilchen du bist, Kind. Gib deine Hand, 
Dass ich die trocknen Lippen darauf hefte! 
Jobeka: Wir wollen fröhlich sein, mein Vater, 
Da Gott mich ausersehen hat, zu sterben. 
Ist das nicht Gnade, für ein ganzes Volk 
Der Dank an Gott zu sein? Für alle stolz 
Zum Opferstock zu gehen und sein Haupt 
Dem Opfermesser schweigend darzubieten? 
Ich werde gehn, als ginge es zur Hochzeit, 
Und werde froh auf Ros und Myrrhe treten 
Und unter Palmenzweigen wandeln. 
Und lächeln will ich stolz dem neuen Tag, 
Von deiner Hand geleitet, Vater! 

Jephta: (Ganz zusammengesunken auf ihre Hand murmelnd): 

Ich war ein stolzer Krieger vor dem Herrn, 

Und meines Rosses Mähne wehte wie des Löwen; 

Und hielt ich in der harten Faust das Schwert, 

So fühlt ich kühnlich mich als Gottes Boten. 

Im Rausch der Schlacht, wenn die Trompeten bliesen, 

Und wenn der Staub der Wahlstatt mich 

Wie Qualm vom Opferbrand umwehte, 

Und wenn das Schwert des Lebens rote Quellen 

Dir, Gott, zum Lob in heissem Strahl erschloss, 

Dann dacht ich dein, geliebte Tochter, 

Und deines Lächelns, deiner Stimme, 

Die meiner Heimkehr froh Willkommen sprach. 

Von deiner Sorge wohlbehütet dacht ich 

Des Alterns graue Trage zu verbringen; 

Denn du warst meines Lebens höchste Krone. 

Nun hab ich dich dah ingegeben. 

Gott sprach; ich warf mich in den Staub 



535 



Richard Huldschiner: Die Tochter Jephta. 



536 



Vor ihn; und was gelobt ihm ist, 

Das ist für immer aus des Lebens Buch 

Gestrichen. Diese Nacht ist deine letzte, Kind. 

Ich will Verzeihung nicht, ich bin 

Ja Werkzeug nur in seiner Hand. 

Dein zartes Leben aber jammert mich, 

Das, schüchtern kaum dem Licht des Tags erschlossen, 

Wie eine Blume nun dem ersten Reif 

Verfallt, und wie das Morgenrot, 

Kaum dass die Nacht vorübeijging. 

Im grellen Licht des Tages spurlos schwindet. 

So mache denn bereit dich! bald, 

In einer Stunde, wenn die ersten Strahlen 

Der Bäume höchste Wipfel färben, 

Führt unser Weg zum Gilgal hin. 

(Er richtet sich langsam auf, das Haupt immer noch auf ihre Hände 
geneigt. Jobeka aber beugt sich zu ihm herab und küsst ihn langsam, 
zärtlich und voller Andacht, als sei es eine gottesdienstliche Handlung, 
auf die Stirn, worauf Jephta rückwärts schreitend die Arme über der Brust 
kreuzt und mit einer letzten Beugung des Haupts links seitlich durch 

einen Vorhang verschwindet.) 
Jobeka (immer noch am Fenster): 

Noch ist es Nacht wie lange noch? 

Bald, bald schon werden Gileads Töchter 

Zum Brunnen gehn, dann wird 

Die Kette klirrend niederfahren, und 

Im klaren Wasser ihrer Eimer wird 

Das erste Morgenrot sich zitternd spiegeln, 

Der Himmel klar, und kalt die Luft. 

Und auf den Wiesen schwindet dann 

Im Hauch des jungen Tags der Nebel. 

Ich habe nie so früh gewacht, sah nie 

Der Nacht allmählich Schwinden, da der Tag 

Sie ohne Schonung jagt, gleichwie den Löwen 

Erzürnte Hirten . . . 

(Sie vers' imt, dann zitternd und leiser): 

Ach, wie wird es sein? 
Wird Gott mich treffen ohne Schmerz? 
Wird meines Vaters Hand mein Leben 
Auslöschen zart mit einem Hauch, wie wenn 
Ein Mund ein flackernd Lämpchen still vergehen macht? 

Ich bin so jung. Mir ist, als ging ich gestern erst 

Zum ersten Mal mit eignen Füssen; 

Ich höre noch mein traumhaft Lallen, 

Mit dem ich Sonne, Mond und Himmel grüsste; 

Ich seh mich kindisch nach den Sternen greifen 

Und meiner jungen Glieder langsam Reifen. 

Ich bin so jung. Und leg ich meine Hand 

Auf meiner Brüste leises Wogen, 

So fühle ich des Herzens zarten Schlag, 

Von lauten Wünschen nie beschleunigt. 

Wie schön ist diese Welt! Wie steht so hoch 

Die Palme über Myrtensträuchem 

Und neigt im Winde stolz ihr Haupt! 

Wie fröhlich ist der Wolken heller Reigen, 

Der sich am Himmel drängt! Das Abendrot, 

Wie hold mit seinem frohen Grüssen! 

Wie schimmert silbrig-weiss des Oelbaums Blatt, 

Wenn vom Gebirge kommt der leichte Hauch! 

Wie schön bist du, o Mensch ! 

Was weiss ich 
Vom Menschen? . . . doch ... die jungen Krieger, 
Sie tragen goldne Ringe um den starken Arm, 



Und ihrer Augen dunkle Nacht strahlt stolz 

Mich an. Und legt ein Mann den Arm 

Um einer Jungfrau scheue Hüfte, 

Dann klopft ihr Herz in schnellem Takt, 

Und ihre Augen füllen sich mit frohen Tränen. 

Ich weiss, wenn sich der Abend senkt 

Und Kühlung über Tal und Weiden breitet. 

Wenn sich die Schatten fernhin lagern 

Wie satte Kühe an des Baches Rand, 

Dann schwärmen die Verliebten aus; 

Das Madchen lehnt den Kopf an Mannes Schulter, 

Und ihre Arme sind verstrickt, 

Und leise Worte gehen traumhaft her und hin. 

Ich sah sie oftmals wandeln, wenn ich vor 

Dem Zelte sass da unten in den Bergen, 

Mein Sehnen aber gab ich ihnen mit. 

Ich dachte wohl, dass auch um mich 

Einstmals ein Jüngling würde legen 

Den starken Arm, und dass mein Mund 

Zu seinem dürstend sinken würde. 

Ich weiss, dass Abdon 

(Sie schlägt die Hände vor das Antlitz, in sehnsfichtiges Sinnen versunken. 
Aber diese Regung geht schnell vorüber. Sie hebt die Arme gegen das 
steigende Licht im Osten, das in hellgrünem Streifen Himmel und Erde 

scheidet.) 

Ach, Wie schnell 
Steigst, Licht, du jetzt empor. Und deine Harfen, 
O junger Tag, erklingen brausend 
Von Ost zu West. Das Grün der Bäume 
Hebt froh aus nächtgem Schatten sich. 
Wie bist du schön, du junger Tag! 
Ein Pfirsichbäumchen, weiss und rot 
Am grünen Bach, ein Wölkchen licht 
Wie junger Schafe leichte Wolle, und dein Duft 
Ist süss und herb zugleich und dünkt mich besser 
Als Myrrh' und Ambra. 

(Sie atmet tief. Auf dem Hofe leises Geräusch. Die Aeste der linken 
Terebinthe bewegen sich, als ob jemand den Baum schüttelte. Jobeka 
tritt wie erschrocken einen Schritt zurück. Aber wie die Unruhe im Baum 
fortdauert, teilen sich seine Zweige, und in der Höhe des Fensters erscheint 
Abdon s Antlitz. Der Jüngling legt einen Finger auf den Mund und 
schwingt sich noch weiter empor, sodass nun sein ganzer Korper am 
Fenster sichtbar wird. Jobeka hat die ganze Zeit in jähem Erstaunen 
geschwiegen ; nun aber errötet sie und schlägt die Hände zitternd vor der 

Brust zusammen.) 

Abdon: Jobeka! 

Jobeka: Abdon, du? In stiller Nacht! 

(Sie schlägt den Schleier vors Gesicht.) 

Es ziemt sich nicht, dass eines Mannes 
Verwegnes Antlitz sich der Jungfrau aufdrängt. 
Was willst du hier vor meinem Fenster? 
Erschlichnen Weges . . . 

Abdon: Ach, es ist nicht Zeit, 

Der Worte viel zu machen. Komm Jobeka! 
Ich rette dich, wenn du dich mir vertraust. 

(Zitternd vor Liebe und Trauer.) 

Jobeka! Komm! Vertrau dich meinen Armen. 
Mein Pferd harrt schon gesattelt dort im Garten. 
Ich trage dich wie Sturmwind mit mir fort. 
Ich liebe dich, Jobeka, und ich will 
Nicht, dass du stirbst. 

Jobeka: (Immer weiter vom Fenster zurückweichend.) 

Hab je ich dir gezeigt, 
Dass deinem Blicke ich Erhörung lieh? 
Hab je ich dir ein karges Zeichen nur. 



537 



Richard Huldschiner: Die Tochter Jephta. 



538 



Dass mir dein Bild im Herzen steht, 
Gegeben? Sag! Wie könnt ich sonst 
Verstehen, duss du forderst, und so forderst! 
So ungestüm! Geh, Abdon, geh! 
Abdon: Nicht ohne dich, 

Jobeka. Lass nicht jetzt ein rauhes Wort, 

Das wegen karger Zeit nicht so bedacht ist, 

Wie es vielleicht, hörst du? vielleicht bedacht 

Sein müsste, zwischen uns sich drängen! 

Nein, nein, ich weiss, Jobeka, niemals hast du 

Mir mehr geschenkt als einen schnellen Blick, 

Der nur dem Liebenden, der hofft. Erhörung schien. 

Und wenn du je im Spiel die weiche Hand 

Auf meinen Arm gelegt, so war es nur 

Der scheue Druck des Schmetterlings, nicht mehr. 

Nein, nein Jobeka! Deine Nachsicht nicht. 

Mein eignes Sehnen treibt mich her. 

Ich liebe dich, du bist die Rose, die 

Auf schwankem Stengel trinkt den Tau 

Des kühlen Morgens, du das leise Wehen 

Des Bergwinds, der den Heissen kühlt, 

Der Quell, aus dem der Durstge trinkt 

Mit nie gesättigtem Verlangen. 

Ich ging dir nach im Palmenhain und tummelte 

Mein Ross auf jeder Bleiche, wo 

Mit deinen Mägden du das Linnen breitetest, 

Ich ging dir ungesehen oftmals nach und bin 

Verstummt, das Herz in süsser Angst beklommen, wenn 

Ich dir — wie selten! — gegenüber stand .... 

Jobeka! Einmal nur in Traum und Nacht, 

Als ich im Zelte einsam lag, im Feld 

Bei meinen Herden, fragte ich, 

Weil es ein Traum war kühn, ob du 

Mich liebst. Ach, und du errötetest 

Und senktest dann dein Antlitz hold zu Boden. 

Und sagtest: ja! Jobeka, ja! 

Jobeka: (Zittert und schweigt.) 

Abdon: Ist's wahr? 

Der Traum hat nicht gelogen? 

(Immer eifriger und leidenschaftlicher): 

Nein, er kann 
Nicht; denn ich liebe dich so heiss, wie nur 
Der liebt, dem Sicherheit, dass er erhört 
Ist, wohnt im Herzen. Und du schweigst? 
Sagst meinem Drängen nichts, Jobeka? 

(Er ringt die Hände mit dem Eifer dessen, der sein heisses Fühlen einem 

anderen mitteilen will)j 

Du weisst nicht, wie ich lieben kann. 

In meinem Herzen ist die Liebe 

Ein zehrend Feuer, das durch Tür und Mauer 

Zerstörend glüht und nimmer rastet. 

Du hebst mich hoch empor, als schwebte ich 

Von Flügeln leicht getragen. 

Und alle Menschen meines Stammes, die 

Mich kannten, sagen: »wie bist du doch gross, 

O Abdon! Hebst dein Haupt empor, als seiest 

Ein König du! Was macht so stolz dich?" 

Ich aber lächle nur und schweige; denn 

Was mich berückt, das kann ich keinem sagen. 

Wiewohl dein Name stets auf meinen Lippen liegt. 

So leicht wie einer Rose leichtes Blatt, 

Sodass ich deinen Namen ängstlich hüten muss, 

Dass er mir nicht entfliegt, vom Hauch verweht. 



Wenn ich bei meinen Herden bin, allein 

Und fem von andern Menschen, dann besteige 

Mein Ross ich oft und lass es laufen 

Durch Wüste, Dom und Strauch und Dickicht, 

Wie einen Kriegsmf deinen Namen schreiend, 

Vom Wind umtost, sodass mein Mantel flattert. 

So jage ich der Sonn* entgegen. 

Und abends, wenn das Dunkel steigt im Osten, 

Des Tages Dinge sterben, und die Nacht 

Ihr müdes Haupt voll schwerer Rätsel hebt. 

Wenn nur das leise Rauschen träger Bäche 

Im Weidendickicht sickert, und ich vor dem Zelte 

Beim Feuer sitze und in sein Verglühen 

Mit grossen Augen starre^ dann 

Bin glücklich ich in deiner üebe . . . Sieh! 

Ich weiss es: dieses Glück, im Herzen 

Dich hold zu tragen, wird mir nie genommen. 

Jobeka: (Verträumt:) 

So liebst du mich? Und hast mir nie gesprochen? 

Abdon : Du würdest, dacht ich, schon in meinen Augen lesen 
Dmm schwieg ich. Aber nun ist keine Zeit 
Zu warten. Sieh! des Bisamberges Gipfel 
Erhellt sich schon und hebt 
Aus Nacht und Dunkel sich empor. 
Bald ist es Tag; dann müssen fem wir sein. 
So fem, dass schnelle Rosse uns nicht mehr 
Erreichen, ach! so fem, dass uns kein Aug 
Ersieht, schon jenseits Ajalon vielleicht. 
Wo tellergleich die Ebne ist gebreitet. 
Dmm komm, mein Stem, mein heller Garten, 
Mein Weihrauchbaum und Würzewein, 
Ich hebe aus dem Fenster dich heraus 
Und trage sanft hinab dich. Keine Furcht ! 
Ich halt dich fest, so fest wie je ein Krieger 
Sein scharfes Schwert im Kampfgetös. 
Und bist du erst im Garten, wartet dein mein Ross, 
Mein schnelles Ross, auf dessen breitem Rücken 
Von meiner Hand gestützt du sicher bist 
Wie nur ein Adlerjunges ist im Horst. 
So komm, mein leuchtender Granat, 
Und gib dich meiner heissen Ungeduld, 
Dass ich von dieser Stätte dumpfen Grauens 
Ins Licht des Lebens kann hinaus dich tragen. 
Es ist nicht wahr, Jobeka, dass du sterben musst, 
Gott will nicht, dass du stirbst. Vernichte Lüge 
Dein Vater hat geträumt im Rausch, 
In Fieberhitze! . . . Sterben! Du? Ich lache. 
In Ekel muss ich schütteln mich. Und war 
Es wahr, dass er dich Gott gelobt, ich würde 
Die Faust erheben gegen diesen Gott, 
Und den Gehorsam ihm versagen. 
Und würde kämpfen mit ihm, denn ich bin 
Der Stärkere, da für's Recht ich streite. 

^Jobeka: (ist immer weiter vor ihm zurückgewichen, starr wie eine 
Bildsäule. Nun schüttelt sie langsam das Haupt.) 

Abdon (macht Anstalten, sich auf das Fenster herüberzuschwingen) : 

Du sagst nichts? 

(jubelnd): 

Folgst du mir? Du kommst? 
Was starrst du so? du zitterst? Ach, Jobeka! 

(Er beginnt zu ahnen, dass sie ihm entschlüpfen wird) 

Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. 



543 



Richard Huldschincr: Die Tochter Jephta. 



544 



Schlank wie die Gerte der Weiden 

Auf dem Berge Libanon, 

Und hob die Arme nnd sang 

Und beweinte ihr frühes Sterben 

Im Jungfrauenalter. 

Auf den Bergen weinte sie da 

Und warf ihre Klagen hinaus 

In den Wind 

Vom Berge Ramah, 

Und gab sie dem Wehen 

Das nächtlich aus der Wüste emporsteigt — 

Königstochter! 

Wir klagen mit dir. 

Unsere Haare hängen 

Trauernd herab, 

Unsere langen, seidigen Haare, 

Die knistern, wenn des Geliebten Hand 

Liebkosend darüber hinstreicht . . . 

(Der Oesang verhallt leise im Morgengrauen.) 

Jobeka: Was zittern deine Hände, Amme? 

Amme: (eilfertig) 

Das ist vom frühen Morgen, ist vom Fasten . . . 
— Ich weiss nicht — ist vielleicht vom Südwind; 
Ich bin schon alt . . . 

Jobeka: Du, alt? 

Amme: Sehr alt, seit dieser Zeit, 

Da Jephta heimgekehrt vom Kriege. 

Jobeka: Was sangen sie? 

Amme: Ein Trauerlied — 

Jobeka: (träumerisch in die Feme starrend) 

Ich stand in diesen Wochen oft allein 

Hoch über unsern Zelten auf dem Berge 

Und hört' den stillen Atem ihrer Einsamkeit, 

Und dachte nach, ein ganzes Leben . . . 

Ists nicht genug, zu wissen, dass 

Das Licht des Tages freudvoll ist, und dass 

Kein einzig Leben kann erlöschen, das 

Nicht auch ein anderes an sich entzündet hat? 

So arm ist keiner, dass er nicht 

Bei einem hinterliess ein Trauern. 

Und als ich dies erkannte, wurd ich troh 

Und alle Angst versank ins Wesenlose. 

Die Myrthe hebt die Krone froh empor. 

Und sinkt sie auch, noch hat sie Schwestern, 

Und nimmer leer wird diese Welt 

Vom Hauche ihres zarten Atems. 

Amme: Wie du, ist keine, keine . . . 

(s'e hebt eine der Haarflechten Jobekas empor und drückt einen Kuss 

darauf.) 

Ach, dies Haar! 
Ich sah es wachsen. Als du kamst zur Welt, 
Da hattest du ein dunkles Häubchen 
Von seidenweichem Haar, so fein, dass, wenn 
Ich küsste, zerging der Hauch 
Wie Schnee auf meinen Lippen. 
Du sogst an meiner Brust, ich hielt dich 
Wie eine Krone stolz im Arm 
Und lauschte auf den leisen Schlag 
Des Herzens, der eilfertig ging und wieder ging. 
Du warst sehr still und machtest 
Mir niemals Müh. Ich sass an deiner Wiege. 
Ich sang .... 



Jobeka: Was sangst du noch? ... ich weiss — 
Als ich schon älter war, vielleicht fünf Jahre, 
Da sangst das Lied vom Reiter du . . . 

(sie beginnt leise zu singen) 

Reiter! Reiter! wohin? 

Lanze hast du und Schwert . . . 

Willst du nach fernen Landen ziehn? 

Ist dir die Heimat nicht wert? 

Reite nicht, Reiter! o schau! 

Grün ist der Wiesenplan, 

Wasser genug hat die Au . . . 

Wer hat dir Leides getan? 

Feige und Myrthe und Wein 

Grünet vor meinem Zelt. 

Und meine Herde wird dein 

Und meines Vaters Feld. 

Und meiner Arme Band 

Schliesset dich warm. 

Wer seine Heimat fand 

Kennt keinen Harm. 

Reiter! Reiter! wohin? 

Lanze hast du und Schwert . . . 

Willst du nach fernen Landen ziehn? 

Ist dir die Heimat nicht wert? 
Es klingt mir noch, das kleine Lied, 
Liebkosend nach; der Reiter zieht. 
Die Sehnsucht bleibt und blickt vergebens in die Feme 

(sie hebt ihr Haupt zum Fenster) 

Der Tag! Der Tag! Schon wird der Himmel hell 

Und seine Sterne schwinden mählig, 

Nun gilt kein Säumen mehr. Was hast du da? 

Amme: Ein weisser Schleier ist es, nie getragen . . . 
Mit purpurrotem Saume — 

Jobeka: Und die Spangen? 

Amme: Für deine zarten Arme. J-ass sie mich 
Noch küssen, eh das schwere Gold 
Ich um sie lege. 

Jobeka : (hält ihr still die Arme hin) 

Hast du auch 
Mir Schuhe mitgebracht? 

Amme: Auch das. 

Sandalen, weiss, vom feinsten Leder 

Aus eines Milchkalbs Haut gemacht. 

Sie sollten für deine Hochzeit sein. 

Sie sollten tragen dich, wenn du 

Dem Gatten würdest zugeführt von Vaters Hand, 

Und wenn der Priester über euch 

Den Segen spräche. Ach, wie träumte ich 

So oft davon! Ich dachte, dass dich nur 

Ein König dürfte führen in sein Haus, 

Ein stolzer Stammesfürst in Israel. 

Ich aber wollte tragen deiner Schleppe Saum 

Und wollte wachen nachts vor deinem Zelte. 

Jobeka: Als Jungfrau sterbend, darf ich auf Sandalen ' 
Zum Tode schreiten, darf 
Den weissen Mantel sterbend um mich breiten. 
Und wenn du wachen willst, so wache denn 
An meines Scheiterhaufens stiller Reinheit. 

Amme: (schluchzend): 

Gott wird mir bald vergönnen, dir 
Im Tod zu folgen. 



545 



Richard Huldschiner: Die Tochter Jephta. 



546 



Jobeka : (ekstatisch) : 

Mach mich schön! 
So schön, wie ich noch nie gewesen bin. 
Mich dürstet, weiss zu leuchten wie 
Die Sommerwolke über grünem Lande. 
Mach schön mich für den Bräutigam, 
Der mich im Schmerz des Tods entrückt . . . 

(Sie sieht an sich herunter und t>etrachtet lange ihre weissen Hände.) 
Amine: (will ihr einen Schleier um Kopf und Hals legen.) 

Jobeka: Nein nein! den Hals lass frei! Sie sollen 
Des Lebens Quell nicht lange suchen müssen. 
Ich biete Gott mich willig dar 
Wie ein von Sommers Glut gedörrter Weinstock, 
Der seine Blätter froh dem Regen gifct . . . 

(Im Garten hebt sich wieder Musik.) 
Die Töchter Israel (unter dem Fenster). 

Es war kein Richter in Israel, 

Und die Not des Volkes war gross. 

Es klagten in den verwaisten Hütten 

Die Frauen, die Hürden waren leer, 

Zerstampft die Felder, die Brunnen ausgetrocknet, 

Den Wüstentieren gabst du uns zum Raub. 

Doch siehe! es erhob sich uns ein Schwert, 

Von Jobekas Mund geküsst, 

Geküsst zum Kampf und zum Tod der Feinde. 

Soll nicht jubeln mein Herz, 

Da Freude ihm ward und Rettung? 

Ja, Frucht wird dem Frommen 

Und Wasser dem Dürstenden! 

Von allen Töchtern Israels preise ich hoch Jobeka. 

Breitet ihr willig die Hände 

Unter den Schritt ihres Fusscs, 

Dass sie weich einhergehe. 

Nicht fühle die Härte des Weges! 

Streuet Rosen und singt: 

ifFeundin! Jungfraun sehen auf dich; 

Dein Name wird ewig währen, 

Und wo eine Jungfrau errötet 

Unter dem Kuss des Bräutigams, 

Da wird ihre zitternde Seele sprechen: 

Dir danke ich meine Liebe, Jobeka!" 

Jfobeka: (mit ausgebreiteten Armen gegen das Fenster nnd die 

steigende Morgenröte gewandt): 

Wie sollte weinen, wessen Namen 

Die Mädchen nennen, wenn sie in dem Zelt 

Am Rocken sitzen, oder an den Brunnen 

Des Abends Wasser holen! Königlich 

Ist mein Geschick. Ich preise dich, mein Gott! 

Du sendest gnädig deiner Sonne Licht, 

Dass sie die letzte Stunde mir erhelle. 

Nicht freundlich ist die Nacht mit ihrem Schweigen, 

Das wie ein Mantel Trost und Hoffnung schwer 

Verhüllt. Da kämpft der Mensch und beugt 

Sein Haupt, und seine Tränen 

Verrinnen spurlos in des Bodens Sand; 

Da sendest, Herr, mit deines Atems Hauch 

Du frohe Sonnenstrahlen, deines Willens 

Beschwingte Boten, und wir sinken in den Staub 

Und stammeln deinem Namen Dank. 

Du hast mich auserwählt, mit meinem Leben 

Dir zu dienen; sieh! ich bin bereit, 

Und froh und furchtlos folg ich deinem Rufe . . . 

(Geräusch betender Stimmen kommt näher) 



Die Amme : (wirft sich 2ittemd zu Boden und kfisst leidenschaftlich 

Jobekas Fasse) 

Sie kommen. Steh uns bei, Gott Israel, 
Und lass uns nicht verzagen jetzt 
Und dort in unserer letzten Stunde! 

(Der Vorhang zur rechten öffnet sich. Die zehn Aeltesten treten herein, 
hinter ihnen, das Haupt von einem Mantel verhüllt, Jephta. Die Männer 
vert>eugen sich vor Jobeka und stellen sich ihr gegenüber auf. Die Amme 

liegt regungslos am Boden.) 

Jobeka: (steht still am Fenster, von der Morgenröte angestrahlt, wie 

in einer Olorie) 

Ich grüsse euch! Ihr kommt, mit mir zu beten? 
Mein Leib ist rein, und meine Seele 
Harrt andachtsvoll der Opferung. 

Die Männer: (beten gen Osten gewandt das Stert>egebet) : 

Lass walten, Herr, in voller Grösse 
Du deine Kraft, wie du verheissen! 
Gedenke des Erbarmens, Herr, 
Und deiner Huld! 

Der Vorbetende: Es möge werden 

Erkannt der hohe Name Gottes in der Welt, 

Die er geschaffen hat nach seinem Willen! 

Es komme bald zu uns sein Reich 

Und seine Herrschaft! Bald! Bei unserm Leben und 

In unsem Tagen! 

Die Männer: Sei gelobt in Ewigkeit 
Dein grosser Name, Gott! 

Der Vorbetende: Gelobt, gepriesen 

Verherrlicht und erhöht in seinem Glänze sei 

Der Name des Geheiligten! Erhaben ist 

Sein Name über jedes Lob und Lied 

Und über jeden Segensspruch, 

Den sprechen kann der Mensch in dieser Welt 

Die Männer: Der Name Gottes sei gelobt, nun und 
In Ewigkeit! 

Der Vorbetende: Des Lebens Fülle und 
Des Friedens komme über uns 
Und über Israel vom Himmel! Amen! 

Die Männer: Die Hülfe ist bei Gott, dem Herrn, 
Der Himmel schuf und Erde! Der 
Den Frieden schuf in seiner Höh, der schaffe 
Auch Frieden unter seinem Volke! Amen! 

Alle Männer: (treten vor mit erhobenen Händen, deren Finger sie 
so spreizen, dass zwischen Zeige- und Ringfinger eine Lücke entsteht, und 

sprechen den Priestersegen): 

Es segne dich Gott und behüte dich! 

Es lasse dir leuchten der Herr ,^ 

Sein Angesicht und begnade dich! 

Es wende der Herr sein Angesicht 

Dir zu und gebe dir Frieden! 

(Alle ausser Jobeka verharren im stillen Oet)et. Das Zimmer wird immer 
mehr vom Licht des steigenden Tages fiberflutet. Jobeka vermag keinen 
Blick vom strahlenden Morgenhimmel zu wenden. Da hebt sich draussen 

noch einmal der Sang der 

Töchter Israel : Klaget, ihr Mädchen, um Israels Schönste, 
Die noch im Jungfrauenalter dahinging. 
Weiss war ihr Antlitz und rötlich 
Wie erste Ahnung des Tages, 
Leicht ihr beflügelter Gang, 
Wie einer zarten Wolke Weg 

lieber den Bergen 

Klaget, ihr Mädchen! 

Mannes Liebkosung hat nie jobeka genossen; 



7 Richard Huldschiner: Die Tochter Jephla. 548 

Sie gehet dahin Schwindet Jobeka dahin 

Jungfräulich im Sänge der Priester. Wie der Tau der Nacht, 

VlCinkt mit den Palmen! Den durstig trinket 

Streut ihr Rosen und weint! Dein heisser Strahl, o Sonne — 

Ach, ganz Israel klagt, und wo nur (Die Sonne erwheint in einet SlrahlenElnrie übei dem Saume dei Ebene 

Ein Mädchen ist, dem glückliche Liebe D= "■'» 

Ruhe der Tage und Jubel der Nächte gibt, Jephta vor. .mflhJR z» sprechen, und streckt die Arme nsch jobeka 

r»i. j- T 1. 1 . j 1 . . ,- . 1 ^"'p «anrena die Männer eine Qasse bilden). 

Gilt dir, Jobeka, sein erstes und etzles Gedenken. i-k-v™. , k. u ■ > -.,.,■ j- ■, j . _. . 

■" Jobeka: isieht nnch einmal rückwärts m die Sonne und legt dann 

~^ die Arme eraeben auf die Brust) 

Sehet die Sonne! sie steigt. Ich bin bereit. 

Leuchtet Jobekas Tod ; iSie schreitet durch die von den Acllesten gebildete Oasse. Hinter ihr Jephta.) 

Und mit dem letzten Verflatlem der Nacht Dtr Vorhang sinkt schnell. 



Jephta und »eine Tochter. FLORF.NCE. OFFICES. 



DER POETISCH VERHERRLICHTE MOSES MENDELSSOHN. 

Eine Ausgrabung vom Jahr 1787. — Von Dr. Leopold Hirschberg (Berlin). N»chdrock v« 



Ut SBdfe mt Der ^tnf<^. 



In vltr Sttfinjim 



Für den deBkeuden Bächerfrenud, d. h. fäi den, 
der ältere Bbcher nicht bloss sammelt, nm dann, 
wie Richard Wagners Fafiier sein 
„Ich lieg und besitz, 
Lasst mich schlafen!" 
herauszarafen, sondern die Werke als Spi^el der 
Zeit vom knltnrgeschichtlichen Standpunit ans be- 
trachtet, — für den den- 
kenden B&cherfreond 
also eröfiiiet sich beim 
richtigen Betrachten 
scheinbar unwichtiger 
Dinge eine Perspektive 
von meist beträchtlicher 
Weite. Die ehrwürdigen, 
bezopften Gestalten ver- 
gangener Zeiten treten 
leibhaftig vor ihn; das 
Milien, in dem sie sich 
bewegen, erscheint dent- 
lich nnd klar; ihre Nei- 
gungen ondBestrebongen , 
ihre Erfolge und ihr Miss- 
geschick, ihre Liebe und 
ihr Hass — alles das zeigt 
sich dem, der zn sehen 
und zu lesen versteht. 
BQcher — vielfach sogar 
ganz anbedeutende nnd 
verschollene — sind der 
Spiegel der Zeit, der ihr 
Bild unverzerrt, sine ira 
et studio, wiedei^ibt. — 
Von diesem weiten kul- 
turgeschichtlichen 
Standpunkte ans wollen 
wir einmal ein Büchlein 
von kaum 100 Seiten 
betrachten, das ein Zufall 
mir vor kurzem in die 

Hände spielt«. Denn „Moses Mendelssohu, der 
Weise nnd der Mensch. Ein lyrisch-didak- 
tisches Gedicht in vier Gesängen von M. C. 
Ph. Conz. Stuttgart 1787" (so lautet der Titel 
des Buches) in seinem poetischen Werte za 
wardigen, dazu liegt, wie wir noch sehen 
werden, keine Veranlassung vw; und es dürfte 
wohl kaum ein Literarhistoriker von Fach von 
der Existenz der Dichtung wissen, geschweige sie 



Wer ist Carl Philipp Conz gewesen? Ein 
Heimatsgenosse Friedrich Schillers, nur drei Jahre 
jünger als dieser, in Jena ein Hansfreond des 
grossen Dichters. Er hatte in Tübingen Theologie 
und Philologie studiert, war längere Jahre Pfarrer 
and Diakon, bis er endlich (ein Jahr vor Schillers 
Tode) ordentlicher Professor der klassischen Literatur 
und Eloquenz in Tübingen 
wurde, wo er vor 80 
Jahren (1827) gestorben 
ist. Wh* besitzen sogar 
eine recht drastische Per- 
sonalbeschreibung des 
gelehrten Mannes, die wir, 
um ihres berühmtenÄutors 
willen, hierhersetzen 
wollen. GnstavSchwab 
erzählt in seiner Schiller- 
Biographie (StQttg;art 
1840, p. 462) folgendes; 
„Viele Männer unseres 
Scbwabenlaudes vonmitt- 
lerem Alter erinnern sich 
von ihren Tübinger 
Stndentenjahren her recht 
wohl eines mit Fett ge- 
polsterten Kopfes, dem 
die Wangen zn Mund und 
Äugen kaum Platz Hessen. 
Der ganze dicke Leib 
rührte sich nur schwer- 
fUUig, und die Lippen 
brachten, in Gesellschaft 
oder aof dem Katheder, 
Töne hei-vor, die mit 
Mühe sich zom Artikulier- 
ten steigerten. Äberwenn 
der Mann ins Feaer kam 
und die blanen Augen 
freundlich zu leuchten 
begannen, so lösten sich die Worte allmählich ver- 
ständlicher von der sich überschlagenden Zunge: 
feine Bemerkungen, gewürzte Scherze, sprühende 
Funken Geistes, selbst tiefere Gedanken und ge- 
lehrte Untersnchnngen Hessen sich unterscheiden, 
und man konnte dem stammelnden Lehrer der 
Beredsamkeit das Zeugnis des alten Poeten nicht 
versagen : 

In uns waltet ein Gott, 
sein regend Bewegen erwärmt uns. 






Original 'Titel, verkleinert. 



551 



Dr. Leopold Hirschberg, Berlin: Der poetisch verherrlichte Moses Mendelssohn. 



552 



Es war der Professor der Poesie und Eloquenz 
zu TiibingeD, der schwäbische Dichter Carl Philipp 
Conz." 

Wir werden am Schluss uns mit einem Teil 
der Conzschen Poesien noch kurz zu beschäftigen 
haben; das oben genannte Mendelssohn- Gedicht 
scheint die erste Pegasus-Besteigung des damals 
Vierundzwanzigjährigen gewesen zu sein. Es ist 
Jacob Friedrich Abel, Professor der Philologie und 
Moral und ^dermaligem Prorektor an der hohen 
Karlschule in Stuttgart", gewidmet. Der Autor 
übergibt das Kind seiner Muse dem Publikum mit 
ziemlicher Verzagtheit: „Wie sehr wünschte ich, 
dass die Verzögerung memer Arbeit die vollendete 
Güte derselben zur Folge haben könnte. Aber 
eine Sache aufschieben, heisst nicht immer sie, bey 
ihrer Erscheinung, besser liefern. Sollte ich sie 
darum noch länger zurückbehalten haben, um ihr 
den mir möglichen Grad der Vollkommenheit zu 
ertheilen, dies hiesse, so sehr es auf der einen Seite 
die Achtung gegen das Publikum zu erfordern 
scheint, auf der andern doch wieder, wann man 
etwas schon lange versprochen hat, ebendasselbe 
beleidigen, und das Interesse der Sache, das schon 
etwas geschwächt seyn dörfte, noch mehr schwächen 
oder gar zernichten." 

Moses Mendelssohn war ein Jahr vorher ge- 
storben (4. Januar 1786), und während dieses 
Jahres war dem Verfasser, wie er weiterbin selbst 
gesteht, „aller Umgang mit den Musen schlechter- 
dings abgerissen" worden. Wir werden nach diesem 
etwas komisch klingenden Geständnis nicht viel 
erwarten dürfen. 

Durch den Tod des Weisen in eine „sanft 
begeisternde Wehmut" versetzt, gelobte Conz ihm 
ein geringes Denkmal, derart, dass er den Lehr- 
dichter mit dem Lobredner vereinigen wollte, da 
ein blosser Panegyrikus ihm zu schaal erschien. 
Er wollte sich selbst ausserdem den Weg zur 
didaktischen Poesie über die lyrische bahnen. 

Das beste des ganzen Gedichts ist zweifellos 
die Einleitung, ein den Klopstockschen Oden glück- 
lich abgelauschtes und geschickt verfertigtes Stück 
allgemeinen Inhalts, in dem von Klopstock besonders 
bevorzugten (Alcäischen) Versmasse, dessen drei 
Strophen lauten: 

„Doch, wer, wie Du, des Lebens Gehalt und Werth 
Auf sichrer Wagschal wog, und, wie Du, so warm 
An jenes bessre Jenseits glaubte, 
Dem ist die Larve des Todes nicht furchtbar. 



Dem ist er kein Zerstörer, dem ist er nur 
Mit ausgelöschter Fackel ein Genius, 
Wie ihn Dein Lessing uns geschildert. 
Selber gesehn und noch mehr verstanden, 

Als ihm aus seinen Zweifel die Wahrheit sich, 
Wie aus dem Kampf der Dämmrung der sonnige. 
Der hohe Morgeo in der Gottheit 
Urlicht, dem staunenden Geist emporwand." 

Schlimm siehts dagegen mit dem Dichten 
Gonzens aus, wo der Beim angewendet wird. Hier 
passiert ihm, wie der gleichfalls von Apoll ge- 
küsßten Friderike Kempner, manchmal das Unglück, 
zum Zwecke des Gelingens der Verszeile Sylben 
kassieren zu müssen. Wenn sich schon die Ab- 
kürzung von Aristoteles in »Aristot" seltsam genug 
anhört, so ist dies noch mehr bei dem Helden des 
Gedichts selbst der Fall: 

„Und so, wie wenn der Tag in schönem Lauf, 
Ein schöner Jüngling, die Welt herauf 
Sich hebt und wächst im Gehen, 
So blühte Mendel auf, 
Ein Wunder anzusehen I'' 

Komisch klingts, wenn Conz von dem nachmaligen 
Hofpoeten Ramler erzählt^ dass dieser, als er 
Mendelssohns Freund wurde, noch die „Begeisterung 
im Busen verhalten habe**, trotzdem er bereits „ins- 
geheim Liebling der Musen" gewesen sei; wenn er 
ferner von der „Weisheit grossem Schwur", den 
Moses und Lessing zusammen leisteten, mit folgen- 
den Hyperbeln berichtet: 

„Da schwüret ihr der Weisheit grossen Schwur: 
Ihn hörten jauchzend die Engel, ihn hörte jauchzend 

Natur: 
Der Aberglaube grinst*, als er die Kunde vernahm. 
Die zur erschrocknen Hölle kam. 
Die Dummheit schüttelte arbeitend, schwer ihr Haupt 
Von Mohn beträuft, von Lotos umlaubt. 
Die Trägheit gähnt' und fuhr aus ihren Eiderbetten, 
Und Teufel bissen in die Ketten." 

Bei der ungemein tiefsinnigen Behauptung: 
„Zum Kinde von dem Embryonen 
Ist grösser noch der Sprung, als von Huronen 
Zu einem Leibnitz" 

merkt man das Stöhnen des gemarterten Hippo- 
gryphen, desgleichen bei dem wie eine Bombe ein- 
schlagenden Schlussreim: 

„Seligkeit athmet im Rosenstrauch, 
Seligkeit duftet aus der Morgenflur Hecken, 
Schimmert aus der Wiese farbigten Decken, 
Woget in des Weltmeers Bauch". 



553 



Dr. Leopold Hirschberg, Berlin: Der poetisch verherrlichte Moses Mendelssohn. 



554 



So könnte ich nnn noch viele Stellen zum 
Beweis daftir anftthren, dass Tonzens ^Mendels- 
sohn" zwar sehr gut gemeint ist, dass aber das 
Können des Dichters mit seiner Begeisterung nicht 
gleichen Schritt hielt. Es lohnte nicht, von dem 
Werkchen zu reden, wenn man nicht, wie schon 
eingangs erwähnt, kulturgeschichtliche Momente zu 
berücksichtigen hätte. Schon der Umstand gibt zu 
denken Anlass, dass in einer Zeit, wo die Rechte 
der Juden noch gleich Null waren, wo das 
Ghetto sie noch wie wilde Tiere von der Ge- 
meinschaft mit den übrigen Menschen abschloss, 
ein solches Gredicht auf einen Juden überhaupt 
möglich war. Die Hochachtung, die Moses Mendels- 
sohn in allen Kreisen genoss, muss in der Tat 
gewall ig gewesen sein — das geht, möchte 
ich sagen, aus jeder Verszeile hervor; und nur 
diese allgemeine Hochachtung lässt es verstehen, 
dass der Dichter sein Werk mit der schwungvollen 
Strophe schliessen konnte: 

„Und Du, die ihn gebohren, Germania! 

Sey stolz, dass Du die Mutter des Weisen warst. 

Du wirst ihn ewig ehren, denn Du 

Ehrest Dich selber in Deinen Söhnen." 

Von hohem Interesse ist nun weiterhin das nicht 
weniger als zehn Seiten umfassende Subskribenten- 
Verzeichnis. Vorwiegend sind es ja schwäbische 
Städte und Dörfer, die das Kontingent der Leser 
stellen. In Enzweihingen z. B. subskribieren der 
Substitut Maier, der Amtsverweser Schumann, der 
Gterichts-Schreiber Jung und endlich „HerrOchsen- 
wirth Braun" auf je ein Exemplar, die Familie 
CauUa in Hechingen will deren acht haben, 
Herr Armbruster in Konstanz sogar zwölf. Die 
Abonnenten von Ludwigsburg sind durchweg 
Adlige: Herr Oberst von Dedel, Herr Oberst 
von Hügel, Herr Hofmedikus von Höfen, Herr 
Obrist von Palm; in Stuttgart ist unter 25 Teil- 
nehmern kein Jude zu entdecken, wenn man nicht 
den letzten „Ein Ungenannter* dazu rechnen will. 
Die ganze theologische und philosophische Fakultät 
von Tübingen ist vertreten ; in Königsberg verlangt 
Herr Wolff Oppenheim 6 Exemplare, die weiteren 
Abonnenten von dort sind: Herr v. Arnim (Fähnrich 
vom Regiment von Egloflfstein), zwei Lieutenants 
von Wolff, ein Lieutenant von Kunheim und Herr 
E. F. Erhardt, ein „Mousquetier" vom Regiment 
von Anhalt, die Herren Copmus und Woltersdorf, 
beides Lehrer am Collegio Friedericiano. Die 
Pfarrer und Vikare von Pfaffenhofen, Vaihingen, 



Weinsberg, Wüstenroth, Lorch, Haussen, Heilbronn 
fehlen nicht. 

Wenn wir aus der Berliner Subskriptionsliste 
den Geheimen Sekretär Siebmann und den Ratbmann 
Köls streichen, so bleiben uns folgende Namen : Moses 
Alexander, Samuel David, David Ephraim, Benjamin 
Veitel Ephraim, David Friedländer, Abraham Fried- 
länder, Joseph Fraenkel, Isaak Helfft, Joel Samuel 
und Wolf Samuel von Halle, Elias Daniel, Benjamin 
Daniel und Daniel Itzig; Samuel Salomon, Wolf 
Samuel und Daniel Samuel Levy; Heym. Ephraim 
Veitel, Benjamin Isaac Wulffund Meyer Warburg. 
Während in 'Freudenthal die Herren Judas und 
Götsch Moses friedlich neben Fräulein Caroline 
von Rieben figurieren, in Horkheim Herr Low 
Maier als einsame Grösse dasteht, zeigt Frank- 
furt a. M. wieder eine stattliche Reihe: Lemle und 
Wolf Joel Bamberger, Abraham Moses Braun- 
schweiger, Gumpertz und Low Elias, Low GWtz 
Haas, daneben den „Geheimden Rath von Schmid, 
Herr zu Rossau. ^ 

Mit fortschreitendem Alter und wachsender 
Erfahrung hat sich Conz als Dichter sehr zu 
seinem Vorteil entwickelt; seine Gedichtsammlungen 
erschienen mehrfach und fanden viel Beifall. In 
richtiger Erkenntnis hat er seinen „Mendelssohn^ 
in diese nicht mehr aufgenommen. Alttestamen- 
tarischen Stoffen aber ist er Zeit seines Lebens 
treu geblieben. Unter seinen 1818 erschienenen 
„Biblischen Gemälden" finden wir folgende, 
zum Teil sehr schöne Dichtungen: Isaak und 
Rebekka, Jakob am Brunnen, die Täuschung 
Labans, Hagar, die Prophetenwittwe, die Sunamitinn 
(die Wunderthaten Elisas behandelnd), die sieben 
Brüder und ihre Mutter (Makkabäer), Belsazer in 
der Unterwelt, Klagelied des Hiskias, die Helden- 
probe (davidische Episode), KlagegQsang Davids 
um Jonathan. Besonders interessant ist das Frag- 
ment „Hiob", zum Teil in Terzinen gedichtet, voll- 
endet in der Form und von nicht geringem 
dichterischen Schwung. 

Was aber am meisten dazu angetan ist, dem 
braven CJonz — dem Christen — unsere be- 
sonderen Sympathien zu erwerben, das ist folgende 
kleine versteckte Bemerkung auf der Titel-Rückseite 
seines Mendelssohn-Gedichtes: 

„Nachricht: 
Der Preiss des Werkchens ist 36 kr. oder 
8 ggr. Sachs, und der Ueberschuss über 
Papier- nnd Druckkosten flir arme Juden- 
familien bestimmt." 



\'c 



ZWEI AERZTE. 

I Dr. mtd. Theodor Zloc 



Die Hiimeigung der Juden zum ärztlichen 
Beruf ist uralte Erbschaft. Sie ist nicht Milieu- 
erzeofniis and nicht gezüchtet durch die gewalt- 
same Erziehuug einer qualenreichen Grescbichte, die 
aus nie en- 
dendem Lei- 
den das Mit- 
leid schof 
und ans der 
Not die in- 
nere Nöti- 
gung zu 
helfen, zu 
bessern, zu 
heilen. Der 

ärztliche 
Beruf wurde 
Dicht ge - 
w&hlt. Zu 
ihm drängte 

Wahl- 
verwandt- 
schaft. Er 
wurde nicht 
lediglich 
äusserlich 
aafgezwun - 
gen "^durch 
die Eineng- 
nng der 
BerufsEnOg - 
lichkeiten. 
Es war die 
seelisch not- 
wendige 
Äusweitnng 
der jüdi- 
schen Per- 
sönlichkeit. 
Im Arzttnm 
wirkt« zu 
allen Zeiten 
die gleiche 
Kraft der 
jüdischen 
Seele, die in 

anderen 
Formen, mit 
umfassen- 
deren Hori- 
zonten und 

weniger auf das Keal - Naheliegende gerichtet 
sich in den Idealen, der Arbeit and dem Mar- 
tyrium jüdischer Sozialreformer offenbarte und 
restlos ausgab. Heilkunst und Heilwille waren 
nicht ein Beruf an sich, ein Geschäft — sie 
waren die sichtbare Aeusserung immanenten jü- 
dischen Altruismus. Die Juden, so dringendes 
Bedürfnis ihnen , die WandeniDg und Forschung 



]j_ Nichdnick vcctolen. 

in der Welt des (reistigen war, hielten sieb 
doch immer frei von der Blutleere dessen, 
was man „voraussetzongslose Wissenschaft" heute 
nennt. Jedes Studium and alles Bingen nm Er- 
kenntnisse 
und um die 
Erkenntnis 
hattedieVoD 
aassetzung, 
dass sie ein 
^greifbares 
Ziel haben 



. Hermann Senator. 



die Men- 



nnd glück- 
licher zu 
machen und 
ihnen die 
Tage' zu 
mehren, auf 
dass sie län- 
ger und mit 
reinen, nicht 

verquälten 
Sinnen die 

Schönheit 
der Welt ge- 
nössen. Wer 
der GFottheit 
nahe stand, 

verstand 
auch zu hei- 
len. Und 



sich, wer als 

Gott- 
gesalbter 
betrachtet 
sein wollte, 
mit wunder- 
samen Hei- 
lungen le- 
gitimieren. 
Das war 
Volks - 



Die höch- 
sten Attri- 

jr ,.u»i uau »«1 . bute, WCl- 

che die plas- 
tische Vorstellung des Volkes ihremGN}tte gab, waren : 
gerechtes Richtertum und Allheiler. Und|diese Vor- 
stellungen sind nicht verblasst. Die Gottes Gesetze 
und Gott iu seinen Gesetzen zu erkemieo strebten, 
unsere Weisen, unsere Lehrer, ihrar viele betätigten 
sich als Aerzle. 

Helfen und Heileu ist Gottesdienst 
und Sehnsucht nach Gottähnlicbkeit Und 



557 



Dr. med. Theodor Zlocisti: Zwei Aerzte. 



558 



diese Weihe reinen Menschentums webt auch nm 
das Werk derer den heiligen Schein, die ein arm- 
seliger Materialismus ihres Gottes, ihres Gk)ttes- 
strebens beraubt hat. Wer Gk)ttes lacht und doch 
gottgefälliges Werk vollbringt, ist kein Spötter, 
auch wenn er sich dafür MXt Er ist nur ein 
Armer — sein selber nicht bewusst. 

Zu den wundersamsten Umsetzungen spezifisch- 
jüdischer Charaktere, wie sie in den letzten 
hundert Jahren sich vollziehen, gehört der Typ 
des jüdischen Arztes. Bei den einen: Erstarrung 
des inneren Arzt- Berufs — der Berufung! — zum 
ärztlichen Merkantilismus. Bei anderen ungeschwächt 
und unverbogen - wirksam der Drang der Seele, 
zu bessern und zu heilen. Aber sie deuten 
diesen Drang anders. Der alte Trieb, aber neue 
Antriebe. Der Urgrund der Seele blieb: die Be- 
gründung ihres Wirkens aber wurde eine andere. 

Ein klassisches Paradigma dieser Ait gibt 
das Leben des jüngst fiestorbenen Emanuel 
Mendel. Ein dezidierter Heide in seiner Welt- 
anschauung — und ein gottgesegnetes Lebenswerk! 
Er lehnte Gtott auf allen Wegen ab und „er wan- 
delte in den Wegen Gtottes." Mit welcher Ergriffen- 
heit haben die russischen Juden von ihm gesprochen ! 
In seiner Poliklinik behandelte er Tausende. Der 
die Menschenliebe in sich trug — die seit 
Jahrtausenden lebendige, in ewigen Leiden betäticfte, 
im Ausgeben sich verjüngende und steigernde 
jüdische Nächstenliebe — suchte armer Juden 
kranke Nerven zu heilen, die seit Jahrtausenden 
zuckenden, in ewigem Leiden zermarterten, 
alternden und gesteigert reizbaren jüdischen 
Nerven ! 

Mendel fühlte sich, wie so viele jüdische Aerzte, 
schon früh zur Seelenheilkunde hingezogen. Als 
Sohn armer jüdischer Eltern in Bunzlau geboren, 
hatte sich Mendel unter schweren Mühen in Breslau 
dem ärztlichen Studium gewidmet. Nach seinem 
Examen liess er sich in Pankow, einem Dörfchen an 
der nördlichen Peripherie Berlins nieder. Er war 
bald der gesuchteste Arzt des ganzes Kreises; der 
Arzt. Gründliche Kenntnisse verband er mit 
edelster Menschenliebe. Still in seinem Auftreten, 
bestimmt aber ohne die tönende Aufdringlichkeit und 
Arroganz des ärztlichen commis voyageur, bedächtig 
— und doch sicher, ernst und doch voll gütigen Humors 
und rührend schlicht musste er alle an sich ketten, 
die ihm einmal nahe traten. Die Armen werden 
ihn vermissen: wie hoch auch sein Ruhm und sein 
Ruf in den Jahren anstieg, er verstieg sich nie 
zu „festen Preisen"; und niemand hat wohl ein 
Wort der „Belehrung" von ihm gehört, der ihm 
für langwierige Konsultation ein lächerlich niedriges 
Honorar auf den Tisch l^e! 

Die drei Feldzüge machte Mendel als Militär- 
arzt mit. Laqueur gibt eine Anekdote, die das 
Wesen Mendels ganz beleuchtet. Das 3. Garde- 
Grenadier-Regiment „Köniein Elisabeth'' rückte 
zum Sturm auf Le Bourget vor. Ein älterer 
Stabsarzt tritt auf Mendel zu: ^ Gehen Sie tür 
mich in die Feuerlinie. Sie sind ledig. Ich habe 



Weib und Kind.* Mendel erfüllt die Bitte sofort Ein 
Schuss zersplittert sein Schienbein. Eisernes Kreuz ! 

An Auszeichnungen hat es Mendel nicht ge- 
fehlt. Zum Ordinarius hat er es freilich nidbt 
gebracht. Ihm fehlte nicht der S^en seiner 
Kranken, nicht der Segen seiner grossen Schaar 
von Schülern. Nur der Segen des Kultus- 
ministeriums. Freilich ganz war Mendel nicht zu 
umcfehen. Nicht auf der bequemen Rutschbahn 
des akademischen Assistententums, sondern über die 
Mühsal des praktischen Arztes hin war er 1873 
zur Habilitation zugelassen worden. Gründliche 
Arbeiten über die „Progressive Paralyse" und die 
„Manie" und eine Fülle kleinerer Stufen, zu denen 
ihm seine Poliklinik und die von ihm begründete 
Privat-Irrenanstalt das Material gab, vor allem 
aber seine ausgedehnte Lehrtätigkeit brachten ihn 
schon nachllJahren („schon" für einen Juden!) 
eine ausserordentliche Professur ein. Allein trotz 
seiner umfangreichen beruflichen und wissenschaft- 
lichen Arbeit blieb er in engster Beziehung zu 
den Interessen des Tages. Während zweier Legis- 
laturperioden war er Abgeordneter von Nieder- 
Bamim — seines Kreises, der seinem unermüd- 
lichen Eifer so viele sozialhygienische und ver- 
kehrstechnische Einrichtungen und Verbesserungen 
verdankt. Mendel sass natürlich auf der „linken 
Seite" des Parlaments, auf der Seite, auf der, wie 
er in seiner Vorlesung immer scherzte, auch im 
Gehirn das — Sprachzentrum liegt. Der heut so 
scharf — und nicht zuletzt von Mendel selbst an- 
gefochtene! — § 51 über die ZurechnungsfShigkeit 
verdankt Mendel Fassung und Kommentar. Er 
war durch praktische Erfahrung und gerichtliche 
Sachverständigentätigkeit ein kompetenter Be- 
urteiler des Problems über die Gebundenheiten des 
Willens, die durch Bewusstlosigkeit und krank- 
hafte Seelenlage die verbrecherische Tat zu einer 
unfreien machen. Es wird wohl kaum einen Ber- 
liner Studenten gegeben haben, der nicht — 
wenigstens einmal — seine Vorlesung über Zu- 
rechnung sf&higkeit gehört hat. 

Seinen Studenten, seinen Schülern, der Wissen- 
schaft und den Kranken ist Mendel am 23. Juni 
in seinem 67. Jahre entrissen worden. Ein Leben 
der Arbeit, der Freundschaft und reinsten 
Menschentums ging dahin. Aber die Erinnerung 
an sein Lebenswerk, das allein uoser Leben ist, 
wird nicht schwinden. Und es soll in der Juden- 
heit nicht schwinden. Hat sich Mendel auch über 
die traditionelle Weltanschauung Israels hinweg- 
gesetzt, so hielt er seinem Stamme die Treue und 
verschmähte es, die unreinen Ehren des Venäters 
zu erkaufen, zu ertaufen! Und gegen den Rassen- 
hass kämpfte er als Mitglied des Komitees zur 
Abwehr antisemitischer Angriffe mit der Entrüstung 
des freiheitlichen Mannes. 

Eine geschlossene, aufrechte, reiche Persön- 
lichkeit ging von uns: Ein „dezidierter Heide**, 
der in Gottes Wegen wandelte . . . 



55Q 



Dr. med. Theodor Zlocisti: Zwei Aerzte. 



560 



Vou d6ii stilleu Gräbern lockt uns der freund- 
liche Tag. Der Erinnerung an unsere Toten ganz 
hingegeben, — in diesen heiligen Minuten sollen nicht 
Tränen rinnen — so will es unser Judentum, das 
den Willen zum Leben fordert — sollen Loblieder 
erschallen auf unsern Herrn; und wir flehen: J'hei 
sch'lomo rabo. Die Fftlle des Glückes im Leben 
senke sich über uns und ganz Israel vom Himmel 
hernieder. * 

Ein Heiler und Helfer starb — freuen wir 
uns der lebenden Heiler und Helfer! 

Die Tage sterben verdrossen und schwarz 
dahin — klammern wir uus an frohe Stunden! 
Eine frohe Stunde will ein Schüler festhalten: sie 

kam, als sein Lehrer geehrt wurde. 

Nach dem Tode des Meisters der deutschen 
Chururgie Ernst von Bergmann hat die angesehenste 
Vereinigung deutscher Aerzte Hermann Senator 
zu ihrem Vorsitzenden gewählt. Virchow hatte die 
Berliner medizinische Gesellschaft durch viele 
Lustren geleitet. Seine sella curulis ist geweiht; 
und nur wer die höchsten Weihen der Heilkunst 
empfangen, darf von dieser Stelle zu diesem Forum 
sprechen. 

Diese hohe Auszeichnung durfte Senator mit 
dem leisen Gefühl der Genugtuung hinnehmen. 
Nicht auf den winkligen Schleichwegen, die sich 
an den Personalienchef unserer preussischen Hoch- 
schulen heranschlängeln : — durch den freien Willen 
einer hochstehenden Vereinigung, durch den freudigen 
Zuruf bedeutender Männer, die Leistungen zu werten 
wissen, ist Senator zu dem ehrenvollen, ragenden 
Ziele geschritten. Es ist eine kleine Genugtuung 
für viele, die mit Bitternis die Zurücksetzung sahen, 
die Senator von der Hochschulverwaltung durch 
viele Jahre erfahren musste : auch Senator hat es nie 
zum ordentlichen Professor gebracht. Mit einem 
Lehrauftrag und leeren Titeln wurde er abgespeist, 
upd er durfte mitansehen, wie jüngere Kräfte und 
kraftlose Jüngere ihm vorgezogen — vorgezogen 
wurden. Die Berliner Universität ist nach Levin 
Goldschmidts Tode vor der peinlichen Gefahr, vor 
dem — nationalen Unglück behütet worden, einen 
Juden unter den Ordinarien zu dulden. Und als die 
unheimliche Rumpelkammer der Charite endlich einem 
modern-hygienischen Neubau weichen sollte, wurde 
die dritte medizinische Klinik,an der Senator mehr 
als ein Jahrzehnt als Lehrer und Forscher gewirkt, 
aufgehoben Er war derfrischen Luft näher gebracht 
worden: physikalisch-diätetische Therapie der Ver- 
waltung. Aber Senator bekam zur weiteren Stärkung 
eine neue Poliklinik, der ein paar Betten angefügt 
wurden. Aeusserlich war Senator also die Möglich- 
keit geblieben, auch klinische Vorlesungen neben 
den poliklinischen zu halten, die ihm seit Josef 
Meyers Tode anvertraut waren. 

Auf Senators ernste Lippen hat sich sicher 
nie ein Wort über die mannigfachen schmerzhaften 
Zurücksetzungen gedrängt, in getreuer Erfüllung 
seiner Pflichten hat er die Befriedigung gesucht. 
Und er muss sie gefunden haben. Viele Generationen 
deutscher Aerzte danken ihm Wissen und die Kunst 



der Beobachtung. Senator ist ein Meister in der 
Zergliederung des Materials, ein Diagnostiker voller 
Scharfsinn und eindringender Kritik. Und ein ge- 
diegener Lehrer. Zu seinen Vorlesungen drängen 
sich die Studenten, die lernen wollen, was sie 
draussen in der wechselreichen Tätigkeit leiten 
kann und woraus sie zu Helfern und Heilem werden. 
Senators Vorlesuugen haben nie an die Ergötzlich- 
keiten des Zirkus erinnert, in dem der Professor 
den Clown in vollendeter Groteske markiert. Sie 
suchen nicht zu fesseln durch pikante Ueber- 
raschungen, sondern durch die Gliederung des 
Lehrstoffes, durch planvolle Pädagogik und durch 
die zielsichere Erziehung für den praktischen Beruf. 
Dabei bleibt Senator immer den Forderungen 
ehrlicher Wissenschaftlichkeit gerecht, ohne freilich 
in den Fehler zu versinken, seine Vorlesungen für 
erfahrene Aerzte statt flir Studenten einzurichten. 
Sein Vortrag ist trocken — aber man wird dieses 
trockenen Tones nicht satt. Es ist kein Sprühfeuer 
des Witzes, dessen Eaketen aufleuchten und dann 
die Nacht nur noch dunkler erscheinen lassen. Er 
verbreitet ein geruhiges Licht, das milde leuchtet 
und dessen Abglanz nicht mehr aus der Seele ver- 
schwebt. Es ist kein Prunk in Senators Gediegenheit. 
Sie ist schlicht und stolziert nicht in gestenreicher 
Pose einher. Man fiihlt an jedem Fortschritt noch 
die hemmende Bleilast des Zweifels. 

So ist Senator vielen Aerzten auch im späteren 
Leben Berater geworden. Ein Consiliarius, von 
dem man sich der Entwirrung verknäuelter Krank- 
heitssymptome sicher weiss, von dem man die 
Wegesrichtung zur Lebenserneuerung erwartet. 
Wer aber einen Patienten „in Schönheit sterben" 
lassen will und narkotisiert von ätherischen Worten; 
wer flir die zerfliessenden Angehörigen einen 
gallertigen Tröster braucht, oder wer durch 
fleissiges Konsultieren flir einen Sohn oder Ver- 
wandten — eine Assistentenstelle ebnet, der zieht 
Senator nicht zu! Das ist sein Ruhm. Das macht 
seinen seelischen Reichtimi aus. 

Sein Wort ist ernst, gemessen, oft einsilbig. 
Seine Geste schlicht, bestimmt, voll hoheitsvoUeu 
Ernstes. Manchem mag sie als kalt und nüchtern 
erscheiüen. Aber niemand wird das Geflihl der 
Abweisung, der Distanzierung haben, in der sich 
Gelehrtenmumien gefallen. 

Es gibt sicher nur wenige Menschen, in denen 
äussere Gehabung und seelische Art sich so har- 
monisch zum Bilde einer geschlossenen Persönlich- 
keit aneinanderfügen. Zwischen der steifen Kra- 
vatte ( ich kenne sie freilich erst seit 10 Jahren — ) 
und seiner klinischen Vorlesung liegt nicht ein 
Spalt von einem Millimeter. Und in seinen wissen- 
schaftlichen Arbeiten sieht man noch das ernste, 
ausdrucksreiche und so wenig dithyrambische Auge, 
das auf die Blätter des Manuskriptes sah. Und 
diese wissenschaftliche Arbeit, die einem halben 
Jahrhundert persönlichen Lebens Inhalt und Weihe 
gab, trägt ganz ihres Schöpfers Züge. Grosse Ge- 
biete, auf denen das Unkraut wild in die Höhe 
schoss, hat er durchpflügt, dass die Schollen fein 



561 



Dr. med. Theodor Zlocisti: Zwei Aerete. 



säuberlich nach rechts and links fielen nnd aus den 
ijeradlinigen Forchen die Halme ernst ia die Höhe 
sprosBten. Ein Schöler des BegrUnders moderner 
iHiysiologie, Johannes Müller, ein Jünger des grossen 
Klinikers Ludwig Traube, war er ein Mebrer 
ihres Erbes. Und seine umfangreichen Werke, in 
denen Senator das Wissen ganzer Gebiete zusammen- 
fasste, sind nie Kompilationen gewesen, sondern 
Neaseböpfunpen , welche die sichtende , ordnende 
wertende Meisterhand 
offenbaren. Sie bieten nur 
wenig Ueberraschnngen, 
halten sich von schwei- 
fenden Hypothesen Irei, 
io denen die Fantasie 
über den niederhaltenden 
Zwang des nüctatemeD 
Experimentes und der 
Beobachtung mit leich- 
ten Sinnen hinausflattert. 
Mao hOrt den ernsten, 
schweren Schritt des 
Mannes in seinen Werken, 
dem der Reichtum des 
Bodens- seinesBodens! 
— mehr Befriedigung gibt 
als die unruhigen Wolken 
Über ihm. Senators Art 
steht jenseits aller Poesie, 
die durchaus nicht die 
Feiodia der Natur- 
forschung ist. Sie hat 
nicht jenen leisen Hauch 
der Mystik, die um alle 
ewigen Werte liegt. Sie 
ist intellektuell und von 
jenem gar zu fieradlinigen Rationalismus, der fast 
ein Stigma der aufwärtsstrebenden Judeng enerationeu 
vom Beginn des Jahrhunderts ist. 

Senator adelt seine kernige Ehrlichkeit, die 
wie ein gesundes Balkenwerk das Heim seiues 
Lebens durchzieht. Ehrlichkeit der Ueberzeuguug 
ist E}hrlichkeit der wissenschaftlichen Arbeit, des 
Lebrens und des Duldens! — Senator hat immer 
treu zum Judentum gestanden, dessen zähe 
Krail io ihm wirkt. Seit vielen Jahren ist 



Prof. Dr. E. Hendel. 



er Repräsentant der jüdischen öemeinde; und 
war er auch von der konservativen Partei, die 
unter M. A. Klausner's geistiger Führung 
der breiten jüdischen Masse engere Fühlung zur 
Gemeinde brachte, in die Gemeindestnbe getragen 
worden, so erwarb er sich bald die Hochschätzuog 
auch der Liberalen. Er selbst ist freilich nur in 
dem Belang als konservativ zu bezeichnen, als bei 
ihm die Pietät gegen die Tradition stärker poin- 
tiert ist. Lebendige 
Ueberzeugung ist sein 
Konservatismus nicht. 
Senator ist aber auch 
„kirchlich" zu wenig in- 
teressiert, um zn den 
anachronistischen Stre- 
bungen des Liberalismus 
eine innere Beziehung 
zu haben. Sein Juden- 
tum ist nicht scharf 
umgrenzte Weltanschau- 
ung. Es ist eine heilige 
Stimmung. Ein reines 
Gefühl des Stolzes anf 
die kultnischöpferischen 
Kräfte des jüdischen 
StAmmes; historisches 
Bewnsstsein der Tätig- 
keit unserer Gemein- 
schaft! So findet er den 
Quell aller Treue und 
zugleich der Existenz- 
berechtigung der Juden in 
den ethischen Inhalten der 
jüdischen Lehre , deren 
Lebeoskraft nicht zn 
greisenhafter Dürre vertrocknet ist, und deren im- 
manenter Expansionstrieb noch Aufgaben und Ziele 
in der Menschheit hat. 

Senator hat vor einigen Jahren die wissenschaft- 
lichen Vorlesungen für Akademiker geschaffen, aus 
deuen das meisterhafte Werk von Eschelbacher hervor- 
ging. Und in gleicher Richtung bewegt sich Senators 
Anteilnahme an der Verbreitung der „ethischen Bein- 
stellen"', die stolz den Vergleich mit dem Cliristen- 
lum herausfordern. 



563 



564 



Text von S. MAGULESCO. 



Moderato. 



DAS PEKELE. 

(Nach einer jüdischen Volksmeiodie.) 

Nachdruck veibuirn. 



Musik von H. A. RüSSOTTO. 




^^^^ 



VOICE 





^^^m 




lacht weil mir trogen dasver 




shimcl_v s.k'l a kreink ken er trefen w, 




dolig:t in p.k'l mit 





^ 




> 



-* 



565 



S. Magulesco! Das Pekele. 



566 





Das Rekele, 



Seit unser Land ist verlorn, 

Brent noch mehr Eissow's Zorn. 

Mir wandern, und er treibt uns von Land zu Land. 

Chotsch er lacht, weil mir trogen 

Das verschimelte Sek'l. 

A krenk ken er trefen, 

Was do liegt in Pek'l. 

Mit Ozres kaufen 

Is er nit umstand; 

Chotsch er treibt und jogt; 

Mein Yidele geht weiter und sogt: 



Trog das Pekele Videle, t^ob kein Moire ^) 
Auf dein Pleizele^) trog und wer nich mid, 
Trog dos Pekele, Videle, hit ob Gott Thoire, 
So lang du trogst den Nomen „Yid". 

Sein Pekel dertapf hat Eissow gleich 

Ün sein Thoire zerrissen auf Prach,^) 

Seine neueToire hat er gewollt dem YkJ anhängen; 

Der Yid bat die Stucklacn zusammengeklieben, 

Stillerheit, dass kein Aus^) ist übergeblieben, 

Weil ganz will er sein Toire aheim obbrdngen. 



<) Furcht. *) RQckcn. >) vollständig. «) Buchstabe. 



ihenBuieauder M AllianceJsiaelili 



no m o'SiSi 

BERLiM.N 2^. 



Oraflienbur^ersrttf^ 



DAS UNTERSTUETZUNGSWERK DER ALLIANCE 
IN CASABLANCA. 

iSpezialbtricht für die A. I. U. von Is. Pisa). 



Nachdruck veiboten 



C. a s a b I a n . a . 13. AiikusI. 1907. 
Ich halte din Ehre. Ihnpn niilzuleiltn. dali ich heule 
in Casablanoa an^kommcn bin, um miuh mit der Lage 
unserer Glaubensgenossen zu besrhiirtigen. l>a es 
unmöglich ist, hier in der Stadt Li>hcnsmiltel zu fhidon, 
so habe ich an Nahrungsmilleln mitgelira'-lil: 
1500 kg Brol, 
20 Sack pemaldeiiL' (.-ersto, 
25 Sack Heis, 
25 Sack Kavlolfeln. 
15 Sack Bohnen, 
2 Sack Salz, 
1 kleine Tonne öl, 
10 Sack Zucker, 
1 keine Tonne Ituni, 
1 Packen Tee. - -^ 

Aullerdem halio ich eine kleine Apotheke mitge- 
bracht, namentlich Chinin, Rizinusöl, Calomel und 
Sublimat. 

In Tanger habe ich vergcbii<'h zwei Tage lang auf 
die Ahfahrl eines Schifles gewartet. Mitteilungen, 
die wir aus Casablanca bekamen, versicherten, daß die 
Israeliten dort Hungers stürben. Ich habe deshalb 
in Übereinstimmung mit Herrn Rihbi für ö bis 700 Frs. 
ein Boot gemietet, das mich mit meinen Vorräten hier- 
herbrachte. 

Unterredung mit Herrn de S t. .\ u I a i r e. 
Bevor ich Tanger verlieU, besuchte ich Herrn 
de St. Aulaire, dem ich meinen Auftrag vorlegte. Er 
gab mir Empfehlungsbnefe an die französischen 
Militärbehörden mit. Ich habe ihm von den Aus- 
schreitungen gesprochen, die einige Fremdenlegionarc 
begangen hätten. Kr versicherte mir, daß strenge 
Befehle deswegen ergehen würden. 

Unterredung mit Herrn Maigret. 
Sofort nach meiner Ankunft habe ich mich dem 
französischen Vizekonsul, Herrn Maigrct, vorgestellt. 
Ich nannte ihm den Zweck meiner Rückkehr. Er nahm 
mich in ausgezeichneter Weise auf, beklagte lebhaft die 
Plünderung des Juden Viertels, und entschuldigte sich 
beinahe, daß er die Israelileu zu gewissen Leistungen 
— Leichenbeisetzung. Straßenreiniguug usw. — heran- 
gezogen habe. Er vcrsiclierte mich der französischen 
Sympalliie mit unseren Glaubensgi'nossen. Er sprach ; 



von dem möglichen Wiederaufbau des israelitisi'hen 
Viertels. Ich entgegnete ihm jedoch, daß man sich 
zunächst mit der F>nährung unserer Glaubensgenossen 
und damit beschäftigen müsse, ihnen Arbeit zu geben. 
Er stellte mir c ne Barkas.se und ein Pitjuet Tirailleure 
zur Verfügung, um meine Vorräte auszuschiffen, .^uf 
seinen Rat ging ich selbst durcli das zerstörte Juden- 
viertel, beruhigte die israelitische Bevölkerung und 
versprach ihr .Arbeit und Lebensmitlei. TalsächUch 
hat die .Ankunft Ihres Verlrelers bei den Jsraeiilen 
Freude her\oi^'ruren. Sie fühlen sich nicht mehr allein 
und wis.ien, daU man sieh mit ihnen beschäftigt. 

Unterredung mildem Kommandanten 
Mangln. 

Icli habe mich auch dem Heirn Platzkomnian- 
danten Mangln voiT^steilt. Er ist ein Mann von aus- 
gezeichneten Gefühlen. Ich habe wahrgenommen, 
daß er für unsere Glaubensgenossen große Sympatliie 
empfindet. Ich erlangte von ihm sofort, daß alle von 
Israeliten geleisteten Arbeiten noch am nämlichen 
Tage bezahlt werden sollten. Auf diese Weise werden 
viele kräftige Männer .Arbeit finden. Der Kommandant 
Mangln gab mir einen Gelellschein, der mich ermächtigt, 
zu jeder Tages- oder Nachtstunde mich In der Stadt zu 
bewegen. 

.Moi^n früh wei-de ich die Lebensmittel ausschiffen 
und verleiten und Ihnen einen genauen Bericht über die 
Lage schicken. .Augenblicklich kann Ich Ihnen nur 
wiederholen, daß unsere Glaubensgenossen ohne Brot 
und ohne Obdach sind, und daß die Wohltätigkeit zu 
ihren Gunslen grolle Aufwendungen wird machen 
müssen. Is. Pisa. 

C a s a b 1 a n c H , 15. August 1907. 

Ich habe die Ehre, Sie von <len Ereignissen in 
Kenntnis zu selzen, die während der letzten vierzehn 
Tape in Casablanca sich vollzogen haben. 

Am 1. August stürzte sich eine Bande von etwa 
100 Kabylen, unterstützt von einigen Arabern ans 
der Stadt auf die Ilafenscliuppen, brachte einen 
kleinen Eisenbahnzug zur Entgleisung, tätet'' neun 
Europäer und zerstörte einen gii>ßen Teil der Bau- 
werke. Sofort verbreitete sich in der Stadt eine große 
Panik. Es war, als hätte man cm Vorgefühl der 
kommenden Ereignisse. Der Dienstag und di;r MitI- 



: Israelile Universelle: Das Unlerstiitziiiigswerk dtr Alliance in Casablanca 



Die Alliance -Mädchenschule in Tanger. VI. Klasse. 



woch Ringi'n vorüber, ohii*! daß dio uiibesclirdlilkhc 
Angst sich legto. Die israolilischo Bcvöllvorung sah ein 
Massakrc und allgemGinc Plünderunj; voraus, welcher 
Teil immer siegreich sein würde, und stürzte sich in 
.Massen auf die K.aiiffahrtcischiffe, die auf der Hcede 
Waren einluden. Fast alle reichen oder wohlhabenden 
Familien, die etwas bai-es Geld oder Effekten zu- 
sammenbringen konnten, s(^hifften nich ein, zahlten 
unsinnige Summen zum Teil dafür, dali ihnen die 
Kabylen die EinschiffunR gestatteten, zum Teil für die 
Verbringung an Itord. Die Erri'gung war unermeßlich: 
Mütter vergaßen ihre Knider, die verschwanden, reiche 
Leute, die ihr ganzes Vermögen in einem Sack mit 
sich führten, sahen ihre Habe im Wasser vorechwinden. 
Am 3. Augusl erschien der Kreuzer .,(ia!i!ee" 
auf rfer lleede. Seine Anwesenbeil beruhigte die 
Stadt ehi wenig, und fasi eine volle Woche, bis zum 
nächsten Uienslag, zeigte sich keine allzugiiiUe Er- 
regung. Initz der .'1— WMKI Heiler, die di.^ Sladl 
umzingelt 
hielten. 
Plötzlich 
trat ein 
Wechsel ein. 
[nderNaciil 
vom Montag 
zum Diens- 
tag, nm 
2 Uhr des 

.Morgens. 
wurden die 
Europäer in 
aller Eile be- 
nachrich- 
tigt. 



Konsulate begeben sollten. Umö Uhr landete ein Piquet 
von 75 Seosoldaten. Das weileiv kennen Sie: Die 
Soldaten des Maghzen schos.sen auf jene. Die Mari iie- 
soldalen durcheilten die Stadt, bedeckten die Straßen 
mit Leichen, kamen in das französische Konsulat und 
gaben das Zeichen zum Bombardement. Als hätten die 
-\raber nur auf dieses Zeichen gewartet, stürzten sich 
die Soldaten des Maghzen heim ersten Kanonenschuß 
auf das Judenviertcl, von dem ganzen Mob gefolgt, und 
begannen die Plünderung. Die ,0—6000 Mann, die an den 
Toren wartoten, drangen in die .Sladt ein, ergossen sicli 
über das Judenvicrte) und andere Stadtteile, stahlen, 
plünderten, vergewaltigten, töten, legten Feuer an und 
verbi-eileten drei Tage lang, bis zur Ausschiffung der 
französischen Truppen, Schrecken in der Stadt. -Nicht ' 
ein Haus, nicht eine Familie, nicht ein Mensch blieb 
vei-schont. Im ganzen sind vielleicht fünf oder sechs 
israelitiscbe Ilauser unheriihrt geblieben, weil sie dicht 
neben d.-n Konsulaten stan.len. Die Kaiseria.<li.AV..bn- 
stalle iler 
israeliti- 
schen Kauf- 
leute, über 
500 Lä.len, 
wurden in 
Ürand ge- 
steckt. Nur 
Kuinen sind 

übrig gf;- 
blieberi. Das 
ganze Mellah 



von enieiii 
Ende zum 



sich 



die 



Die Alliance 'Mädchenschule in Tanger. III. Klasse. 



Mitteilungen der Alliance Israflite Universelle; Das UnlerstüUmigsviwk Jer Ailiai 



O. SIMONI. 



ist verwüstet, 

Türen und 

Fenster zer- 
brochen, Möbel 
undWertgegen- 

fitände ver- 
schwunden. Es 
ist alles geraubt 
tmd davonge- 
tragen. Unsere 
Schulen sind in 
Trflmmer ge- 
legt. Die Bänke 
und ■ Katheder 
sind "zerhackt, 
alles Material 
und das Silber 
[fortgeschleppt, 
die Bücher ver- 
brannt. In der 
'.Talmud-tora, 
wo der Adjunkt 
Herr Soussana 
wohnte, ist alles 
in »Stöcke ge- 
sclilagen. Herr 

Soussana war schwer krank. Man nehm ihm alles weg, 
sogar seineMatratze und sein Hemd, und lieQ Hin auF der 
eisernen Bettstelle liegen. AlleSynagogen. mit Ausnahme 
von zwei kleinen Gebetsstuben, sind ausgeraubt, die 
Silbersachen gestohlen. Eine Einzelheit sei hier ver- 
merkt, die unseren Glaubensgenossen zur Ehre gereicht: 
Alle Gesetzesrollen sind gerettet worden! Überall Zer- 
ntärung und Verwüstung. Man sollte nicht glauben, 
daß Menschen solche Trümmer schaffen können. Man 
möchte eher annehmen, daß eine elementare Kata- 
strophe über die Stadt niedergegangen wäre. 
;■ ■, Doch Plünderung und Brandstiftung ist noch 
nichts. Die aus ihren Wohnstfitlen verjagten Israeliten 
verbreiteten sich über alle Stadtviertel in der iS'äho der 
Konsulate, namentlich des französischen Konsulats. 
Zwischen den Arabern und den in ihren Konsulaten 
untergebrachten Europäern fanden Gefechte statt. 
Die Araber rächten die enormen Verluste, die sie dabei 
erlitten, an den Schwächeren, den Israeliten. Eme 
wahre Menschenjagd begann. Man versteckte sich in 
Kellern, unter Schutthaufen, in leeren Cisternen. Ganze 
Familien lebten drei Tage lang ohne zu essen auf dein 
Stroh. Die Männer wurden mit Knüttelhiehen und 
Dolchstichen verjagt, Frauen und Kinder davon- 
geführt. Schreckliche Szenen spielton sich ab, .Man 
muß den Bericht aus dem Munde der Opfer hören. 
Ein Rabbiner unserer Schule hatte eine einzige Tochter. 
Aus Geiz wollte er sich nicht einschiften lassen. Die 
Kabylen drangen bei ihm ein, nahmen ihm alles fort, 
auch seine Tochter. Er bot alle .seine Habe, seine 
Ersparnisse, seine Möbel. Man nahm sie und seine 
Tochter dazu. Er lief nach. Ein Dolchstich in den 
Kopf brachte ihn zu Fall. Als er sich erhob, war se ne 
Tochter verschwunden. Hunderte von ähnlichen 
Szenen haben sich abgespielt. Nach den Ermittelungen, 
die ich seit drei Tagen angestellt habe, bin ich zu nach- 
-iti'henden Ziffern gekommen, die dri' Ifehörden inir 



Jüdisches Konzert in Marokko. 



OEI.QEMAELDE. 



als wahrscheinlich bezeichnet haben: 30 Tote, etwa 
ÜO N'erwundete, davon 20 sehr schwer, zahllose Ver- 
letzungen, Vergewaltigungen, 250 junge Frauen und 
Mädchen entführt. Besonders beklagenswert ist der 
Tod des Herrn Sasson, eines der großherzigsten Wohl- 
täter der Stadt, und des Herrn Ettequi, eines Freundes 
der Allianeoschulen und ihrer Angestellten. Jetzt ist 
die Stadt heinahe verlassen. Die arabische Bevölkerung 
ist tot oder verschwunden. Von den 6000 Israeliten, 
die die Stadt zählte, haben sich etwa 1000, nämlich 
die Kolonien von Tanger und Tctuan. zwschen Genta, 
Gibraltar und Tanger verteilt. I.ÖOO— 2000 Flüchtlinge 
von Mzab und Zettat sind nach allen Richtungen 
zerstreut. Unmöglich, irgend etwas über ihr augenblick- 
liches Schicksal zu erfahren. Sie kehren allmählich 
zurück. Die Vorposten signalisieren lagtäglich heim- 
kehrende Gruppen. General Drude, den ich ge- 
sprochen habe, hat mir die Versicherung gegeben, 
daß er das Möglichste tun werde, um sie in Ruhe zur 
Stadt zurückkehren zu lassen. In der Stadt sind etwa 
.S— 4000 eingeborene Israeliten in der traurigsten Lage 
zurückgeblieben. Ich verteile Lebensmittel unter sie. 
Das französische und das englische Konsulat haben 
mir Hrot zur Verfügung gestellt. Aber diese Unglück- 
lichen sind ohne Häuser und ohne alles. Im Augen- 
blick ist das Elend noch nicht so schlimm. In den 
Straßen liegt Gerste knieh(M'h. Jeder kann davon 
nehmen so viel wie er mag. Das eigentliche Elend 
wird erst später beginnen, wenn die Ordnung wieder- 
hergestellt ist. 

Was die Israeliten auf dem flachen Lande betrifft, 
so ist Hoffnung vorhanden, daß man sie in Ruhe lassen 
wird. Ich hoffe viel für sie von der Okkupation. Viele 
Stämme haben sich bei-eits zur NiederlegungderWaffen 
bereit erklärt, und eine der Frioiiensbedingimgcn, die 
man ihnen stellen wird, wird darin heslehen, daß man 
<las Leben und das Eigentum i\'-v Israeliten achtet. 



1 Zöglingen der Handwerkerschule 5. Jahrgangs nach Jerusalem. 



ISRAELITEN IN PERSIEN. 

Die israelitische Gemeinde in Kachan. 

(Spezialbtrichl an die A.J. U, von Direktor Loria.) 



Niclidnick vcrtHiitn. 



Teheran , 9. Juli 1907. 

Kachan liegt in der Mitte zwischen Teheran und 
Ispahan an der großen Handebstraße, auf der die 
Karawanen vom kaspiachen Meer zum persisclicn 
Meerbusen ziehen müssen. Auf diesem ungeheuren, 
von Norden nach dem Süden Persiens durch nackte, 
sandige Ebenen laufenden Wege trifft man zwischen 
der Hauptstadt und Kachan nur auf einen einzigen 
Platz von einiger Bedeutung, das ist Kum. Diese 
Oase erhebt sich in wunderbarer Weise mitten in kahler 
und trauriger Gegend, wo man auf einer Strecke von 
100 km keine einzige Baumgruppe findet, und wo 
kaum ein paar widerstandakräftige Ranken sich an 
die Felsenwand schmiegen. 

In früheren Zeiten hat Kum, wie Meschcd und 
Tebris, zu den blühenden jüdischen Gemeinden ge- 
zählt. Jetzt ist es die Stadt der Pilgerzüge, die auf 
der Ebene wie zum Gebet auf den Knien liegt und die 
goldfunkelnde Kuppel seiner Moschee wiojdie schlanken 
Türmchen seiner 446 von Storchncstem besetzten 
Mausoleen gen Himmel streckt. Der Massen übertritt 
der Juden von Kum zum Islam fällt noch unter die 
Regierungszeit des Schahs Abbas I. des Großen 
(1557—1628). 

Dieser Monarch war im Besitz eines mit wertvollen 
Edebteinen besetzten Dolches, den er als eine Familien- 
reliquie hoch hielt. WährendF einer Treibjagd wai* 
der Herrscher, von seinem Gefolge abgetrennt, in 
großer Ermüdung unter einem Baum eingeschlafen; 
seinen Dolch hatte er neben sich gelegt. Bei seinem 



Erwachen war die Waffe verschwunden, und alle 
Nachforschungen blieben fruchtlos. Drei Monate 
spater erfuhr man, ein J ude habe einem Juwel enhOndler 
mehrere der Steine verkauft, die den Griff des Dolches 
geschmückt hatten. Schah Abbas ließ den Juden vor 
sich kommen, und verlangte von ihm eine Erklärung 
über die Herkunft der kostbaren Steine. Der Jude 
beteuerte seine Unschuld und blieb trotz der Folter 
bis zu seinem Tode dabei, daß er dem denunzierenden 
Juwelenhändler überhaupt nichts verkauft hatte. 
Zur Strafe dafür erließ Schah Abbas ein Edikt, das die 
Juden seines Königreichs aufforderte, zwischen dem 
Tode und dem Übertritt zum Islam zu w&hlen. 

Babai ben Lotl, der diese Ereignisse in einem 
mit hebräischen Buchstaben geschriebenen jüdisch- 
persischcn Manuskript berichtet, fügt hinzu, daß un- 
gefähr tausend Juden dieses angebliche Verbrechen 
büßten, und daß mehrere Gemeinden bei diesem 
traurigen Ereignis verschwanden. Zu diesen muss 
man auch wohl Kum rechnen. 

Natürlich hat diese Erzählung nur zweifelhaften 
Wert und gehört mehr der Legende als der Geschichte 
an. In Porsien gibt es eine Legion von Chronisten, 
die Gesell ichtsannalen nach dem Vorbild der 
PerraullÄchcn Märchen schreiben, und die den Völkern, 
die seit dem Altertum Persien bewohnt haben, ohne 
Dokumentenstudium und ohne sich um die Wahrheit 
zu kümmern, eine sagenhafte Vergangenheit aufbauen. 
Deshalb muß man bei diesen Manuskripten zwischen 
poetischen Wendungen und wohlklingenden Worteii 



Milteilungeii der Alliance Isra^liic Universelle: Die israelitische Gemeinde in Kachan. 



nach dem Hauptthema suchen, um das dßr Künstler 
das phantastisch? Gewebe geschlungen hat. 

Das Bestehen einer jüdischen Gemeinde in Kum 
und ihr Massen übertritt zum Islam ist uns aber nicht 
allein durch die Schrift des Babai ben Lotf bekannt 
geworden. In Kachan lebende Notable haben mir 
erklärt, sie hätten Gesetzesrollen besessen, die über 
500 Jahre alt gewesen wären und von Kum herstammten. 
Selbstverständlich sind diese Reliquien inzwischen in 
die Sammlungen unserer Glaubensgenoasen in Europa 
tibergegangen. Und heute noch, da nur ein einziger 
russischer Jude in Kum wohnt, hat ein ganzer Stadt- 
teil seine ehemalige Bezeichnung behalten : „mahal*^ 
yeoudiya" (Judenviertel). Man zeigte mir dort sogar 
am Rand der Felder, inmitten blühender Granaten, 
das Mausoleum Zeporas, der Frau des Mose. Das 
Denkmal ist von patriarchalischer Einfachheit: Vier 
von einer Kuppel überragte Lehmmauern, im Innern 
ein einfacher Kubus aus Backsteinen, der mit Kalk 
getüncht und mit Inscliriften bedeckt ist, die der Nach- 
welt die Namen der Besucher übermitteln sollen. 
Das Grab ist ringsum von hochstehenden Gräsern 
überwuchert; die Krähen haben in den verfallenden 
Mauern ihre Nester gebaut, und das von allen ver- 
lassene Mausoleum scheint der Vernichtung anheim- 
gegeben. 

Einige Kilometer hinter Kum verschwinden die 
bebauten Felder, das Land gewinnt wieder das Aus- 
sehen der Wüste, und der \Veg zieht sich bis an die 
Grenze des Horizonts zwischen Hügeln auf steinigem 
Boden hin. Nicht ein Wasserstrahl, nicht ein Gras- 
halm, nicht ein frischer Ton in dieser Landschaft, 
nur grauer Boden und der trübe, metallische Wider- 
schein der Felsen. Erst vor den Toren K ach ans 
sieht man wieder l)estelltes Land und hier und durl 
magere Ilaumpruppi'ii. 



Die Alliance Mädchenschule in Bagdad. 



Kachan ist an die letzten Abstufungen einer 
Felseiikette gebaut, die das südliche Ende der Stadt 
umgeben. Seine topographische Lage, am Saum der 
sich bis lapahan erstreckenden Sandwüste, hätte den 
Ort schon vor Begründung der Stadt als geeigneten 
Ruhepunkt für die nach dem persischen Meerbusen 
ziehenden Karawanen von Kamelen erscheinen lassen. 
Im Jahre 607 der üblichen Zeitrechnung zeichnete 
ein Mitglied der Familie Maiek Adjar den Umkreis 
der Ortschaft mit Strohhalmen ab (Kah chevan), daher 
noch der heutige Name Kachan. 

Bildung der Gemeinde. Die jüdische 
Gemeinde Kachan ist eine der ältesten Persiens, Nach 
ilen von Geschlecht zu Geschlecht bei unseren Glaubenß- 
genossen in dieser Stadt überlieferten Traditionen 
scheint die Bildung des ersten Kerns dieser Gemeinde 
noch vor der Eroberung Persiens durch den Islam 
stattgefunden zu haben. Das Fieber der Proselyten- 
macherei, das im Lande erst nach der Schlacht bei 
Neliavend nachließ (im Jahre 20 der Hedschra) und 
das den Übertritt der Völker Persiens zum Glauben 
Mohameds zur Folge hatte, war dem kleinen, eben 
begründeten .Städtchen fem gebheben. Die Juden von 
Kachan ließen den Sturm vorübergehen und machten 
es sich zur Pflicht, allen ihren Glaubensgenossen des 
Fars, deren Heim durch die Heere der Khalifen ver- 
wüstet worden war, den Rettungsbalken zu reichen. 
Die Gemeinde von Kachan stand damals auf der Höhe; 
kein Kontingent von Einwanderern setzte sich dem 
autochtbonen Stamm entgegen, der sich durch die 
Jahrhunderte rein erhielt und stolz auf seinen im 
Dunkel der \'ergangenheit verschwimmenden Ursprung, 
Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts kamen Schirasi 
(Juden aus Sihiras) und Jasdi (Juden aus Jesd) nach 
Kachan und vermehrten den Bestand der dortigen 
Gcmcmdc — \ergehens forscht man in den Schriften 
derZeit nach den Geschicken 
dieser Handvoll Juden, die 
zehn Jahrhunderte lang von 
der großen jüdischen Familie 
losgelöst, von einer unduld- 
samen exklusiven Bevölke- 
rung umgeben, unter dem 
Zwange lebten, alles zu ver- 
meiden, was in ihren 
Sitten und Gewohnheiten 
dem persischen Parti kularis- 
inus verdächtig erscheinen 
konnte, die aber trotzdem 
entschlossen waren, durch 
Jahrhunderte der Unter- 
drückung und Quälerei die 
Religion ihrer Väter zu 
i-etten. Kein Dokument 
hat uns ein auch nur 
schwaches Echo der Leiden 
jener Märtyrer übermittelt. 
Wer aber die Widerstands- 
kraft des jüdischen Volkes 
kennt und die wilde Ener- 
gie, mit der es seine Tradi- 
tionen und seine Sitten 
(I. Klaase.i verteidigt, braucht nur den 



MiWeiliingen der Alliance Israelite Universelle: Die israelilische Gemeinde i 



Zu.stand der Horabwürdii^nK und Scrvilität zu Iw- 
tracliten, zu dem diese Bevölkerung jolztherabj^uiikon 
ist, um sich eine Vorstellung von der Lebensführung 
der Juden von Kachan zu machen, die in jenen 
Zeiten der eines verfolgten Wildes gleichkam. 

Die Thronbesteigung der Sofis war das Signal 
für die Neubelehung der Verfolgungen. Unter den 
Auspizien des Schahs Ahbas I. des Großen {l."i.'i7 — 1628) 
wurden alle Verordnungen und Ausnahmegesetze 
gegen unsere Glaubensgenossen gesammelt und unter 
dem Gesamttitel „Djamö Abbas.si" herausgegeben. 
Diese Sammlung für Fanatiker wurde das Lieblingsbuch 
der moliamedanischen Geistlichkeit, die daraus die 
drakonischsten Satzungen schöpfte und es übernahm, 
sie den Juden des Reiches aufzuzwingen, immer unter 
Bedrohung mit eisen gepanzerter Faust. Unter der 
Regierung desselben Schahs Ahbaa und nach erfolgtem 
Massenübertritt der Juden aus Kum geschah es auch, 
daQ zwanzig jüdische Familien aus Kachan in das 
Lager ihrer Verfolger übergingen und die Reihe der 
Glaubensabsc hwörun gen begannen, die so vielen 
jüdischen Gemeinden Pcrsiens zum Verhängnis ge- 
worden sind. 

Die Nachkommen jener Konvertiten werden noch 
heute mit dem Namen „Djedids" bezeichnet; sie 
stehen in freundschaftlichen Beziehungen zu ihren 
früheren Glaubensbrüdern und haben sich der Ge- 
meinde oft nützlich erwiesen durch Übernahme der 
Vermittlerrolle zwischen Juden und Mohamedanem. 

Unter der Regierung des Schahs Abhas IL 
(I(i.!i— 1666) besserte sich die l^ge der Juden; aber 
erst im 18 Jahrhundert, unter der Herrschaft Nadir 
Schahs (1688—1747), wurde Kachan der vornehmste 
geistige Mittelpunkt der Juden in Persieii. Durch 
den Einfluß der ersten palästinensischen Rabbinen, 
die zwar keine Reichtümer, aber die ganzen Schätze 
der jüdischen Wissen- 
schaften des Mittelalters 
mitbringen, schütteln die 
Juden von Kachan ihre 
Müdigkeit ab und setzen 
ihre Ehre darein, mit 
den Glaubensgenossen des 
Abendlandes in Verbindung 
zu treten. Das kam für^sie 
einer Offenbarung gleich. 
Mit fieberhaftem Eifer 
studierten sie die Werke 
des .Maimonides und Raschi; 
durch ihren Bildungs trieb 
angestachelt, verschlingen 
sie bald alle Werke, dieMer 
Zufall ihnen in die Hand 
spielt, die Werke eines 
Jehuda Halevy, wie 'die 
Reisebeschreibungen eines 
unbekannten Dichters^aus 
Bagdad. Die kleine Ge- 
meinde umfaßte bald einen 
Kreis von Rabbinen, die 
in ganz Persien populfir 
waren, und denen man die 
schwierigen Stellen unter- Die All iance-Kna benschule 



breitete, die in vielen \'i)rschriften über das bürgerliche 
und religiöse l.eben unserer Glaubensgenossen zu finden 
waren, Kachan — seitdem „Klein- Jerusalem" ge- 
nannt — wurde in der ersten Hälfte des 18. Jahr- 
hunderts eine Rabbinerschule, die die geistigen Häupter 
fast alier jüdischen N'ereinigungen Persiens ausbildete. 
Wir nennen unt(!r den bedeutendsten: Moliah Mosche 
Hate\-T,-, Mollah Refua Cohen, Sehemuel Bar Nissim, 
Elischa ben Sehemuel, alles Verfasser verschiedener 
\\'erke jüdischer Dichtkunst und der „Pismonim", 
die noch heutigen Tages beim Gottesdienst am Rosch 
Haschana und Jörn Kippur gesungen werden. 

Aber dieser gedeihliche Zustand und diese Ent- 
faltung <ler jüdischen Literatur konnten nicht lange 
dauern. Im Jahre 1747 wird Nadir Schah ermordet, 
die jüdische Gemeinde Kachan wird von den Gouver- 
neuren geschröpft, von der Geistlichkeit besteuert, 
von den die Straßen durchziehenden Rauberbanden 
geplündert, und stürzt mehr als sie sinkt von der 
führenden Stellung herab, die sie im Religionsleben 
der Juden Persiens innegehabt hatte. Von Ende 
des 18. und dem Beginn des 19. Jahrhunderts bis 
zu dem im Jahre 18.1^1 erfolgten Ableben des Schahs 
Feth Ali bringt die Geschichte unserer Glaubensge- 
nossen nur eine Reihenfolge gegen sie angewendeter 
Ausnahmegesetze, Plünderungen und Grausamkeiten 
aller Art. 

Die Thronbesteigung von Mohamed Schah (18-34 
bis 1848) macht diesen Schandtaten ein Ende. Während 
seiner friedhchen Regierung erstehen Ordnung und 
\\'ohlstand wieder im Lande. Die gegen ihren Willen 
in kostspielige Kriege verwickelte, von Anarchie 
und inneren Kämpfen zugrunde gerichtete Bevölkerung 
fängt an, ruhigere Wege zu gehen. Der in den leitenden 
Klassen herrschende Skeptizismus, der alles religiöse 
Gefühl zerstört hat, der Wunsch, sich in den schweren 



Bagdad. (Dritte i 



579 



Mitteilungen der Alliance Isra61ite Universelle: Die israelitische Gemeinde in Kachan. 



580 



Zeiten Freundschaften zu sichern, die Notwendigkeit, 
sich zur Bekämpfung der alle Konfessionen und Völker- 
schaften gleichmäßig ausplündernden Feinde zu- 
sammenzuschließen, bilden die Gründe zur Friedens- 
liebe imd treiben Juden imd Mohamedaner zur Ver- 
brüderung. 

Die Seiden- und Wollenindustrie hält ihren Einzug 
in Kachan,Jdem Zerstörungstrieb folgt das Fieber der 
Arbeit. 

Werkstätten werden improvisiert; Spinnereien, 
Webereien, Färbereien vervielfältigen sich in der 
ganzen Stadt, und Kachan wird ein von Maschinen- 
lärm erfüllter Ort. Unsere Glaubensgenossen sind, 
wie üblich, die haupsächlichsten Agenten, wenn nicht 
die Urheber dieser Industrien. In beständigem Ge- 
schäftsverkehr mit ihren Mitbürgern geben sie einer 
Welt von Arbeitern Verdienst, die für ihre wohlwollende 
Fürsorge sehr dankbar sind. 

Unter diesen Vorbedingungen haben die Juden 
natürlich während der langen Regierungszeit des 
Schahs Nasr-Ed-Din (1848—1896) und des Schah 
Muzaffer-Ed-Dm (1896—1906 ) nicht unter den Wechsel- 
fällen der Politik zu leiden gehabt und sind von der 
Geistlichkeit geschont worden, die durch die offene 
herzUche Haltung'^der Mohamedaner in Respekt^ ge- 
halten wurde. 

Judenvierteh Das Judenviertel vonj Kachan 
darf ohne Übertreibung eine Stadt des Schmutzes 
genannt werden. Ein Hauch von Traurigkeit durch- 
zieht das Durcheinander der zu|Labyrinthen'gewordenen 
Gässchen. Zur Rechten, zur Linken, bis an die Grenzen 
des Ghetto nichts als altes Gemäuer von'gleichmäßigem 
schmutzigem Grau, von den heißen Sonnenstrahlen 
durchglüht. Hausteine kennt man in Kachan nicht, 
und der Backstein bedeutet großen Luxus. Das^einzige 
gebräuchliche Baumaterial der Gegend sind 5 die in 
vertrockneten Strombetten gesammelten SteineJ'und 
die an der Sonne getrockneten tönernen Ziegel. Deshalb 
befinden sich auch alle Wohnhäuser in Verfall. Alte 
Mauerskelette, Trümmer einstiger Karawansereien zer- 
faUen und zerbröckeln überall diu^ch den* Einfluß^des 
Regens und des Mauerschwamms. Ganze Familien 
von Jasdis, arm an Geld und reich an Kindern, haben 
ihr Unterkommen unter diesen Trümmern, die nur 
durch ein paar Balken gestützt werden. Es gibt da 
weder Türen noch Fensterscheiben, der Zutritt wird 
durch eine Art Backofenöffnung vermittelt, durch* die 
alle Winde pfeifen. Mit schwerem Herzen schiebt 
man sich die Wände entlang. Die Mitte dieser Art 
Höhle wird diu^ch einen Haufen zerrissener Wolldecken 
eingenommen, nur ganz spärlich dringt das Sonnenlicht 
ein. An den Seitenwänden ist in Nischen der arm- 
selige' Besitz der Bewohner unordentlich untergebracht : 
verlumpte Kleidungsstücke, irdene Teller, von Schmutz 
geschwärzte Kasserollen — die ganze Ausrüstung des 
Elends. In diesem Raum kommen und gehen die 
Kinder, ein aus einem Lappen geschnittenes'^ Hemdchen 
um den Leib gebunden, und schieben Knochenreste 
oder Topfscherben vor sich her. 

Glücklicherweise werden diese aus früherer Zeit 
stammenden Behausungen in Kachan immer seltener. 



In Ermangelung einer städtischen Aufsicht übernimmt 
es die Zeit, diese Trümmerhaufen wegzufegen, sobald 
sie gänzlich unbewohnbar werden. Aber kein Mensch 
denkt daran, diese Reste vollständig abzutragen und 
die Plätze neu zu bebauen. Sobald einem dieser Häuser 
der Zusammensturz droht, verlassen es die Bewohner 
und installieren sich anderwärts. Das Judenviertel hat 
dadurch d>e Neigung, sich hauptsächlich südwärts, 
nach dem höher gelegenen Teil der Stadt auszudehnen. 
Bisher in das Ghetto eingeengt, hat die israelitische 
Bevölkerung von Kachan angefangen, überall hin aus- 
zustrahlen. Langsam, unmerklich, wie eine steigende 
Flut, überschwemmt sie die angrenzenden musel- 
manischen Quartiere Auf diese Weise haben unsere 
Glaubensgenossen ganze Straßen beschlagnahmt, ange- 
zogen durch die behaglichere Ausstattung der Woh- 
nungen, die freilich noch weit davon entfernt sind, 
eiu'opäischen hygienischen Anforderungen zu genügen. 
Die Häuser sind allzudicht aneinander gedrängt. 
Alte Einfahrten, halb in den Boden gesunken, gewähren 
Zutritt zu gewölbten Galerien, die abwärts in das 
Innere führen und sich zwei bis drei Meter unter dem 
Erdboden auftun. Die Mauern entlang geht ein 
Gäßchen, von dem aus man zu den niedrigen und 
kläglich engen Gemächern gelangt. Wo man einen 
Hof zu finden erwartet, gelangt man ins Leere. Neigt 
man sich über das Geländer der Galerien, so vernimmt 
man das dumpfe Geräusch der Handwerkstätigkeit 
imd gewahrt, daß dort unten, bis zu zwölf Meter Tiefe 
vergraben, Geschöpfe wohnen In diese Abgründe 
steigt man auf Wendeltreppen hinab, auf steilen, 
schlüpfrigen Stufen. Ist man endlich im Hof, so wird 
man förmlich betäubt von dem Lärm der von Frauen 
und Mädchen, unter der Aufsicht eines Werkmeisters, 
bedienten Webstühle, Haspelmaschinen und Gerät- 
schaften aller Art. Der erste trübe Eindruck schwindet, 
man ist angenehm überrascht von der in diesen 
Räumen herrschenden Frische gegenüber der dumpfigen 
Luft, aus der man gekommen. Die Flucht vor schäd- 
lichem Gewürm ist es, die die Übersiedelung in diese 
Art Höhlen veranlaßt. Die Juden von Kachan nehmen 
ihr Sommerquartier unter der Erdoberfläche und 
richten sich da für die ganze Saison ein. Zwei in einer 
Ecke aufgerichtete Bretter dienen der ganzen Familie 
als Schlafstelle, dort hinauf schwingt man sich, wenn 
man schlafen will,. Die Angst vor den Skorpionen ist 
für den Kachiten der Anfang der Weisheit. Auf dem 
in der Mitte des Raumes stehenden Tisch mit abge- 
sägten Beinen sieht man die üblichen Karaffen voll 
des mit Zederblüten parfümierten Branntweins. 
Porzellanlampen und Leuchter mit matten Glasglocken 
schmücken den Kamin und bilden den einzigen Luxus 
der Ausstattung. Alles andere ist Gerumpel. Aus- 
rangierte Rohrstäbchen, Haufen von Wollresten, die 
von der Teppichfabrikation herrühren, liegen unordent- 
lich in einem Winkel. Ein paar Schritte davon kauert 
ein kleines Mädchen mit untergeschlagenen Beinchen 
auf dem Fußboden und arbeitet flink an einer Haspel- 
maschine. Seidensträhnen hängen an Stricken. In einer 
Ecke stehen zwei ungeheure bauchige verstaubte 
Gefäße mit „Sikendjibi" , einem aus Essig imd Zucker 
gekochten Likör. 



Mitteilungen der Alliance Isra^lile Universelle: Die israelitische Gemeinde in Kachan. 



Die Alliance-Knabenschule in Jaffa. 



Das lebharte Temperament der Juden von Kaclian 
ffrheitert dieses Familienleben. Unsere Glaubens- 
genossen sind groß und kräftig, gut gebaut, die Gesichts- 
züge beweisen die Feinheit ihrer Rasse, und sie haben 
ganz die Beweglichkeit der Südländer. Sie lachen und 
plaudern gern und kommen mit Vorliebe zusammen, 
um (iber den lieben Nächsten zu schwatzen und zu 
klatschen. Unter sich sprechen sie eine wohlklingende 
Sprache mit scharf betonten Konsonanten, und ihre 
Heden sprühen von Witn und Heiterkeit. Das ist der 
kachitische Jargon, eine von ihnen allein vollständig 
verstandene Familiensprache, die auch die Juden aus 
anderen Gegenden Persiens nie beherrschen lernen. 
Jederman strahlt vor Lebensfreude, Die Frauen 
kommen und gehen geschäftig mit ihren Wasser 
eimern, die sie am „Amambar", dem Wassertrog, ge- 
füllt haben. Sie sind nicht eigentlich hübsch und haben 
keine Spurvon Gefallsucht, aber sie sind hoch gewachsen, 
strahlen vor Gesundheit und haben schöne, mandel- 
förmige schwarze Augen in ausdruckslosen Gesichtern. 
Sie werden vor der Zeit dick. Wenn sie keine sehr reiz- 
vollen Geschöpfe sind, so sind sie doch sehr gute 
Familienmütter in der vollsten Hedeutung des W'ortes, 
denn es ist ihre Aufgabe, ganze Scharen von Kindern 
zur Welt zu bringen. In allen Häusern gibt es deren 
einen ganzen Haufen. Die Kinder sind kräftig gebaut, 
haben einen bei jungen Persern erstaunlich hellen Teint 
und sind immer vei^ügt und zu luMigen Sireichen 
aufgelegt. 

Die Juden von Kachan haben den Ruf, in bezug auf 
Sauberkeit und Hygiene sehr sorgsam zu sein. Der 
Itesucher hat allerdings bei Besichtigung eines 
jüdischen Heims nicht diesen Eindruck, aber man 
muß zugeben, daß sie verhältnismäßig ihren Körper 



pflegen und sich anständig anziehen. Über der 
traditionellen ,,.Aba" — einem langen Überrock, der 
um die Taille von einem Tuchgürtel gehalten wird, 
dessen Enden auf die Hüften fallen — tragen sie zum 
-Ausgehen einen weiten Überwurf ohne Knöpfe, der 
plaidartig um den Körper geschlungen wird. Die 
Kopfbedeckung besteht aus einer „Kolah" genannten 
Mütze aus Zicgenfell, die Fußbekleidung ist ein aus 
Baumwolle geflochtener PantolTel, dessen Sohle aus 
gepreßten Lumpen beigestellt wird. 

Die Frauen machen für ihre Häuslichkeit nicht 
sehr gewählte Toilette. Sie tragen gewöhnlich eine 
einfabrige Taille mit festem Gürtel und einen glocken- 
förmigen, bis an das Knie reichenden gefältelten Rock. 
So kurz angezogen und barfuß gehen sie vom Morgen 
bis zum Abend ihren Geschäften nach, Ihre Stellung 
in der Familie ist nicht besser als in anderen jüdischen 
Gemeinden Persiens. Mit 12 oder 13 Jahren verheiratet, 
als verstandlose Wesen betrachtet, in ihrem eigenen 
Hause auf den Rang von Dienstboten gestellt, haben 
diese Frauen, auch wenn sie reichlich ihrer Pflicht als 
Familienmutter genügt haben, sich den Launen ihrer 
Herren und Meister zu fügen und ihr eigenes Leben 
nach der Phantasie der Männer einzurichten. 

Bestand der Gemeinde. In Persien gibt 
es keine Personenregister, deshalb kann man die Ein- 
wohnerzahl von Kachan nur schätzungsweise angeben. 
Nach den von mir aus den sichersten Quellen ge- 
schöpften Angaben hat Kachan 45000—50000 Ein- 
wohner, Iaut«r Mohammedaner, bis auf 2000 Juden 
und ungefähr 20 in einer Karawanserei lebende Heiden. 

Die jüdische Gemeinde besteht aus 350 Familien 
vom alten Kachitenstamm, auf ungefähr 130 Woh- 
nungen verteilt. Außerdem gehören ihr gegen hundert 



583 



Mitteilungen der AUiance Israelite Universelle: Die israelitische Gemeinde in Kachan. 



584 



aus Jesd, Schiras und Suitanabad stammende Juden 
an, die im Laufe des 19. Jahrhunderts nach Kachan ge- 
kommen sind, angelockt durch den hier eingetretenen 
Aufschwung in der Wollen- und Seidenindustrie. 

Die Gemeinde wird von einem Großrabbi ver- 
waltet, dem eine Anzahl von Notabein, die „Risch 
Sefid" (VVeißbärte) zur Seite stehen. 

Wirtschaftliche Lage. Die wirtschaft- 
liche Lage der Juden von Kachan fängt jetzt an sich 
zu bessern; aber das materielle Aufblühen wird ver- 
langsamt und erschwert durch die jahrhundertelang 
von ihnen getragenen Lasten. Von allen Seiten bedrückt 
und geschunden, von den Gouverneuren mit einer 
sogenannten „Schutz"-Abgabe besteuert, von der 
Geistlichkeit mit dem „Homs" belastet (d. i. eine Steuer, 
die den fünften Teil des W^ertes aller von Juden er- 
worbenen Immobilien bedeutet), hatten die Juden von 
Kachan bis vor fünfzig Jahren außerdem noch eine 
Hlutsteuer — „Djezieh" — von 400 Tomans jährlich 
an den Staatsschatz zu zahlen. Jetzt ist diese Steuer 
auf 25 Tomans herabgesetzt. Große Vermögen konnten 
sich seitdem in einer Umgebung nicht anhäufen, wo 
schon etwas Wohlhabenheit unsere Glaubensgenossen 
zur Zielscheibe aller Art von Begehrlichkeit machte: 
daher die Zersplitterung der Reichtümer. Ungefähr 
fünfzehn Notable mit einem Vermögen von 10 000 bis 
50 000 Francs bilden den wohlhabendsten Teil der 
Bevölkerung. Gegen hundert Familien mit 5000 bis 
10 000 Francs Kapital halten -die Mitte der StafTel, 
und dann kommen die vielen, die von der Hand in den 
Mund leben, von ihrer Arbeit im Wollen- und Seidenfach 
oder vom Hausierhandel. 

Im Folgenden geben wir eine Übersicht, wie die 
350 Familien sich auf die verschiedenen Berufe und 
Gewerbe verteilen. 

K a u f 1 e u t e : 40. Sie hatten bis zum März des 
laufenden Jahres das Recht, sich im Bazar aufzustellen, 
während sie in fast allen anderen jüdischen Gemeinden 
Persiens sich zur Ausübung ihres Handels in 
Karawansereien zurückziehen mußten. Aber seitdem 
die Handelskrisis alle Geschäfte des Landes gelähmt 
und der noch in den Kinderschuhen steckende Par- 
lamentarismus die Tätigkeit der Regierung geschwächt 
hat, wird den Juden das Recht auf die Wahl ihrer 
Standorte in den Bazaren bestritten. Nach gemein- 
samem Übereinkommen haben sie ihre Plätze verlassen 
und harren besserer Zeiten. Es ist auch mit Sicherheit 
zu erwarten, daß nach Wiederherstellung der Ordnung 
im Lande die jüdischen Kaufleute in Kachan die ihnen 
von ihren Mitbürgern freiwillig überlassenen Vor- 
rechte wieder erhalten werden. 

Umherziehende Händler: 25; meist 
Schirasi. 

Hausierer: 95. Sie wandern zwischen der 
Stadt und den am Fuß der Hügel hegenden Dörfern 
hin und her und schleppen alle fertig gearbeiteten 
Gewebe aufs Land, die rohe Wolle und die übrigen 
ersten Bestandteile in die Stadt. Da sie inmitten einer 
fleißigen Bevölkerung leben, die sich weder um politische 
noch um religiöse Fragen kümmert, können sie in aller 
Huhe und Sicherheit ihren Geschäften nachgehen. 



Arbeiter in der Baumwollen- und 
Seidengarnfabrikation: 35. 

Kaufleute, die von der Seiden- 
industrie leben: 50. Da unsere Glaubens- 
genossen nur über geringe Mittel verfügen, kommt es 
für sie nicht in Betracht, die Verarbeitung und den 
Verkauf der in Kachan fabrizierten Seidengewebe in 
großem Stil zu betreiben. Sie kaufen die rohe Seide 
selbst ein. Nachdem die Seide von den Frauen und 
Töchtern gewaschen und gefärbt worden ist, wird sie 
kleinen Fabrikanten übergeben, die daraus auf Be- 
stellung die im ganzen Lande bekannten Gewebe her- 
stellen: „Rouhe lalaf" ist ein gewässerter, mit einem 
Pyramidenmuster gewebter Stoff; „Kemerband" sind 
breite Gürtel, die unendlich viele Male um die 
Taille geschlungen werden können; „Sokmö", leichtes 
Baumwollgewebe mit durchbrochener Stickerei aus 
weißem Seidengam; „Tschargats", eine Art schwarzer 
Überwürfe, in die die persischen Frauen sich von 
Kopf bis Fuß einhüllen, und schließlich allerhand 
Phantasieartikel, Halstücher, Taschentücher usw. 

Teppichfabrikation: 9. Der in Kachan 
verfertigte Teppich ist ebenso wie der aus Kerman zurzeit 
der beliebteste im Lande, wegen seiner feinen Arbeit 
und der guten Qualität der dazu verwendeten Wolle. 
Unsere Glaubensgenossen lassen die Ziegenhaare zu- 
hause waschen, auskämmen, spinnen und färben. 
Durch einen Werkmeister, der auch das Muster liefert, 
wird der Teppich in den Rahmen gespannt, und acht- 
bis zwölfjährige, auf hohen Gestellen sitzende Mädchen 
machen sich an die Arbeit. Sie bekommen für ihre Arbeit 
5 Kras bis 3 Tomans monatlich. Ein Kachaner Teppich 
wird für 15 bis 20 Tomans pro Quadratmeter verkauft. 

Schneider: 10. 
Rabbiner: 4. 
Fleischer: 3. 
Destillateure: 3. 

Musiker: 2. Diese sind in der ganzen Gegend 
bekannt und kommen auf alle Feste. Will ein Herr 
einen Geburtstag, eine Hochzeit feiern, so kommt er 
zu ihnen. Der erste spielt den „Tar", eine Art Mandohne, 
die aus einem langen, feinen Griff und aus einer zwei- 
teiligen Calebasse zusammengesetzt ist, über die eine 
Tierhaut gespannt ist. Der zweite bearbeitet den 
„Kimantsche", ein unserer Geige ähnliches Instrument, 
das aus einem spitz zulaufenden Kasten und einem 
zylinderförmigen Stiel besteht, über den Saiten gespannt 
sind. Der Musiker stellt das Instrument gerade voi' 
sich und bringt die Töne vermittelst eines Bogens 
herv'or, mit dem er über die Saiten streicht. 

Friseure: 4. 
Schuhmacher: 3. 
Maurer: 3. 
Goldschmied: 1. 

Ärzte: 4. Sie genießen bei der ganzen Be- 
völkerung Kachans, bei Juden und Mohammedanern, 
großes Ansehen. 

Apotheker: 1 . 

Außerdem gibt es gegen fünfzig Familien, meist 
Jasdis, die den Jahreszeiten entsprechend alle Ge- 



5S5 



Mitteilungen der Alliance Israel ite Universelle: Die israelitische Gemeinde in Kachan. 



586 



werbe ausüben ; Straßenhändler, Obst Verkäufer, 
Lumpenhändler und Tagelöhner; sie leben von der 
Hand in den Mund. 

Mit Ausnahme dieser armen Leute, die in der 
Hoffnung nach Kachan gekommen sind, hier bessere 
Arbeitsgelegenheit zu finden, ist hiernach die wirt- 
schaftliche Lage unserer Glaubensgenossen weniger 
schlimm als anderwärts, z. B. in Ispahan. Man hat es 
ja auch hier nicht mit Kapitalisten zu tun, aber in 
allen an Arbeit, Ordnung und Sparsamkeit gewöhnten 
Familien herrscht ein gewisser Wohlstand. Unsere 
Glaubensgenossen verüeren keine Zeit; Männer, 
Frauen und Kinder sind bestrebt, durch Fleiß das 
Wocheneinkommen zu vermehren; die Tätigkeit für 
den Haushalt geht Hand in Hand mit der Arbeit in der 
Wollen- und Seidenindustrie. Selten sieht man in 
Kachan müßige Hände. Die Zahl der jüdischen kleinen 
Mädchen, die im Hause mit der Vorarbeit an 
Wollen- und Seidengam beschäftigt werden, kann man 
auf 300 schätzen. Die geschicktesten verdienen täglich 
kaum 10 Schahis, das sind 20 Pfennig, aber sie sind 
auch nach diesem kleinen Verdienst eifrig und sammeln 
Groschen für Groschen, um dafür später eine Aus- 
stattung zu erhalten. 

Allgemeiner Unterricht. Ich habe 
jetzt nur noch von dem Schulwerk zu erzählen. Außer . 
den beiden erst kürzlich nach dem Muster der Teheraner 
Gynuiasien eingerichteten Schulen gibt es als einzige 
Erziehungsinstitute hier ungefähr zehn „Mektebs", 
wo die um den Moliah herumhockenden Schüler vom 
Morgen bis zum Abend den Koran murmeln. Kein 
Jude besucht diese Schulen. 

Eine Talmud-Thoraschule gibt es in Kachan nicht. 
Die Kinder sind in Gruppen von 15 bis 20 kleinen 
Jungen auf die Nebenräume der Synagogen verteilt, 
die mit dem Namen „Mollahanes" — Lehrhäuser — 
geschmückt werden. Ich bin ganz unangemeldet in 
einen dieser Bienenstöcke hineingeraten. Es war ein 
für alle Winde offener Laden an einer Straßenecke, 
der Anblick hätte den Pinsel eines Karikaturenzeichners 
reizen können : Die Höhle eines Kohlenbrenners mit 
verräucherter Decke. Bis zur Mitte der Wände ein 
Aufbau von Brettern, Reste von außer Betrieb gesetzten 
Webstühlen, und auf diesen Brettern ein Durcheinander 
von zerbrochenen Leitern, Eimern, Schaufeln und 
Überbleibsel von Instrumenten, die zur Teppich- 
fabrikation gedient hatten. 

Der Unterricht hatte schon eine Stunde gedauert; 
<ier Raum war durchglüht, die Gesichter von Schläfrig- 
keit überwältigt. In einem Winkel schnarchte ein Kind 
mit geballten Fäustchen; zwei am Fenster sitzende 
Jungchen schauten gähnend auf die Spatzen draußen; 
ein anderer Junge hockte dicht dabei und erzählte mit 
lebhaften Gebärden drei Kameraden ein ihm gestern 
zugestoßenes Abenteuer. Schließlich sassen im Kreis 



um einen vom Alter gebrochenen Greis vier oder fünf 
kleine Bürschchen, den Oberkörper über schmutzige 
Bibeln gebeugt und brüllten, daß die Vorübergehenden 
betäubt werden mußten. Der Rabbiner ließ unbeirrt 
eine Spulmaschine arbeiten. Beim Geräusch, das mein 
Eintritt verursachte, blickte er auf, und das Geschwirr 
hörte auf. Der arme Alte versuchte ein paar ent- 
schuldigende Worte zu stammeln, aber ich war schon 
wieder auf der Straße. 

Als ich meine Verwunderung über diese Zustände 
aussprach, sagten mir die Notablen, die mich begleitet 
hatten, daß dies in Kachan so üblich wäre. Die sehr 
schlecht besoldeten Rabbiner sehen sich in die Not- 
wendigkeit versetzt, ihre Einnahmen zu vermehren, 
indem sie Wolle spinnen. „Übrigens", fügte einer der 
Herren scherzend zu, „haben nicht auch die Gelehrten 
des Talmud ein Handwerk ausgeübt?" „Gewiß", er- 
widerte ich, „aber sie waren zu intelligent, um zwei 
Hasen gleichzeitig zu jagen." 

Die Last von Kenntnissen, die die 140 Schüler der 
„Mollahanes" auf diese Weise erwerben, ist nicht 
schwer zu tragen. Mit 15 Jahren können sie kaum die 
Bibel übersetzen, und alles übrige ist toter Buchstabe 
für sie. Darum verzichten auch viele Eltern darauf, 
die Jungen in die Schule zu schicken, und lehren sie 
Heber, vom zehnten Lebensjahr an ihr Brot zuverdienen. 
Selbstverständlich würden diese Knaben sich sofort in 
unsere Listen einschreiben, wenn wir eine Schule in 
Kachan begründeten. Die Schülerzahl würde sich unter 
den obwaltenden Verhältnissen auf ungefähr 20<J 
stellen, fast ausschließlich Knaben, denn die Mädchen 
werden für die Wollen- und Seidenindustrie gebraucht. 

Schluß. Die Begründung einer Schule in 
Kachan würde unseren Glaubensgenossen dort bessere 
Ordnung und Sicherheit schaffen und ihre materielle 
Aufrichtung mächtig fördern. Die an die Disziplin- 
losigkeit und Faulheit des Talmud Thora gewöhnte 
Kinderwelt würde Gehorsam, Pünktlichkeit und Fleiß 
lernen. Eine gut organisierte Handwerkerschule 
würde sicher die Zahl der Dorf-Hausierer verringern 
und ihre Tätigkeit entweder der Seidenweberei oder 
der Handweberei zuwenden. Die in Kachan noch üb- 
lichen vorzeitigen Eheschließungen würden nach und 
nach aufhören, die Frau würde eine höhere Stellung 
einnehmen und die Rücksichten erfahren, die ihr als 
Gattin und Mutter zukommen. 

Der begeisterte und warme Empfang, den Ihr \'er- 
treter in Kachan gefunden hat, beweist, daß die Ge- 
meinde das Werk der .Vlliance schon kennt. Sie weiß 
die Bedeutung der Vorteile zu schätzen, die eine Schule 
ihr bringen würde, und sie freut sich schon heute 
auf den glücklichen Tag, da das Central-Comitee ihre 
heißen Wünsche erfüllen und sie mit der Errichtun<,^ 
eines Schulinstituts beglücken wird. 



587 



588 



Aus anderen Gemeinden Persiens. 

Spezialberichte an die A. I. U. — Von Loria und Lahana. 



Nachdruck verboten. 



Schiras, den 26. April 1907. 

Ich muss Ihnen aber die beklagenswerte Lage be- 
richten, die unseren unglücklichen Brüdern in der 
ganzen Provinz Fars bereitet worden ist. 

Das Uebel ist hier schlimmer als anderwärts, weil 
unsere Glaubensgenossen in grosser Zahl über die Ort- 
schaften der Provinz zerstreut sind. Die israelitische 
Bevölkerung ist in den kleinen Städten und Dörfern 
wie folgt verteilt: Dscharum 300; Nobandagun 300; 
Sargun 300; Darab 150; Caserun 100; Lar 70; 
•Dagar 150; Kowat 60; Firus-Abad 70. 

Am Samstag, 6. April, wurde das israelitische 
Viertel von Dscharum von einer grossen Zahl 
Muhamedaner überfallen. Unsere Glaubenssjenossen 
wurden misshandelt und konnten erst nach sechstägiger 
Gefangenhaltung, die sie in ihrem Viertel zu erdulden 
hatten, wieder an ihre Geschäfte gehen. 

In Darab hatte sich ein muhamedanisches Kind ver- 
laufen und war einige Tage unauffindlich. Man be- 
schuldigte die Israeliten, das Kind getötet zu haben, 
um sich seines Blutes zum Osterfest zu bedienen. Mit 
Staunen und Betrübnis habe ich wahrgenommen, dass 
das Märchen vom Ritualmord hier fast überall ver- 
breitet ist. Die Israeliten von Darab wurden zwei 
Wochen hindurch in den Bazai^en belästigt, bis das 
Kind wiedergefunden wurde. 

In Lar sind die Leiden unserer Brüder alten 
Datums. Nach meinen Ermittelungen ist die Gemeinde 
von Lar an 200 Jahre alt und war zahlreich. Das 
wird auch von der Ueberlieferung in Schiras bestätigt. 
Verfolgungen und Leiden haben die Gemeinde, die 
mehrere Tausend Mitglieder zählte, auf nur 70 Seelen 
herabgebracht. Auswanderung und üebertritt waren 
die Geissein, unter denen sie verkümmerte. Die 
Priester der Ortschaft machten ea sich jüngst zur 
Pflicht, mit der kleinen Zahl Ungläubigen zu Ende zu 
kommen. Die Anwendung der bedrückendsten Aus- 
nahmegesetze sollte dazu helfen. Wiederholt wandten 
sich unsere Glaubensgenossen brieflich an mich. 
Leider ist das von Schiras weit entfernte Lar dem 
Einfluss der Behörden unserer Stadt entzogen. Alle 
meine Anstrengungen waren vergeblich. Vor iie 
Wahl zwischen Üebertritt oder Verbannung gestellt, 
entschieden sich unsere Brüder für die Verbannung. 
Sie wollen in Bendar-Abbas und in Dscharum eine 
Zuflucht suchen. 

Die Gemeinde Nobandagun wird von einem Teil 
der Behörden hart bedrängt. Nach den jüngsten 
Winsen verlangten die Mohamedaner von Nobandagun 
eine Erhöhung der von den Juden zu leistenden Ab- 
gaben, weil ein grosser Teil des Handels in ihren 
Händen sei. Der Gouverneur stimmte der Forderung 
gern zu, und sein Vorgesetzter, Salar-es-Sultan in 
Schiras, der aus dem Steuerzuschlag Gewinn erhoffte. 



unterstützte das Verlangen. Seit einigen Tagen sind 
fünfzehn Notable der Gemeinde Nobandagun in unserer 
Stadt. Ich stehe ihnen nach Kräften bei, eine Er- 
mässigung der Steuern zu erwirken, die von 40 auf 
200 Toman hinaufgeschraubt worden ist. Dringe ich 
hier nicht durch, so will ich mich nach Teheran 
wenden. Die willkürliche Steigerung der Abgabe 
würde für die anderen Städte ein bedauerliches Prä- 
zedens bilden. 



* 



Schiras, den 30. Mai 1907. 

Infolge der schweren Wirren und der vollständigen 
Anarchie in unserer Provinz wird die Lage unserer 
Glaubensgenossen in Fais von Tag zu Tag kritischer. 

In Lar gibt es keinen einzigen Israeliten mehr. 
Von denen, die in den Hafenorten Zuflucht gesucht 
haben, bin ich ohne Nachricht. Ich schliesse daraus, 
dass sie dort Heim und Sicherheit gefunden haben. 
Von den nach Dscharum Geflüchteten erhalte ich be- 
trübliche Nachrichten. Nach schwieriger und ent- 
behrungsreicher Reise sind sie in dieser Stadt ange- 
langt. Da die Lage unserer Glaubensgenossen in 
Dscharum unter der Mittelmässigkeit ist, konnten die 
Auswanderer weder Unterkunft noch Unterstützung 
flnden. Die Männer von Lars mussten ihren Gast- 
wirten die Sefer-Tora ihrer alten Synagoge verkaufen. 
In dieser Woche haben sie uns mitgeteilt, dass einige 
von ihnen die Absicht haben, in Schiras Arbeit zu 
suchen. Ich habe ihnen abzureden versucht, weil ich 
überzeugt bin, dass sie anderwärts besser aufgehoben 
sein würden, als in unserer Stadt, wo das Elend 
unserer Glaubensgenossen ohnehin gross ist. 

In Schiras selbst herrscht vollständige Anarchie. 
Nicht einmal die Ausländer geniessen hier Sicherheit, 
geschweige denn unsere unglücklichen Glaubens- 
genossen. Der Gouverneur erklärt sich ausser Stande, 
die Ordnung in der Stadt aufrecht zu erhalten und 
irgend jemandes Besitztum zu schützen. Die Bazare 
sind geschlossen, die Stadt ist dem Belieben durch- 
ziehender bewaffneter Banden tiberliefert, die am hellen 
Tage Angriffe sogar auf die angesehensten Personen 
wagen. Der Grosseigentümer Kawam-el-Molk, der die 
Macht eines wirklichen Gouverneurs ausübt, ermutigt 
diese Banden und reizt sie an, um die Absicht der 
Verfassungsfi-eunde zu vereiteln, die seine Entfernung 
nach Teheran verlangen. Die wenig zahlreichen Kon- 
servativen, die dem Kawam seine ganze frühere Macht 
erhalten sehen möchten, scheinen nicht zur Nachgiebig- 
keit geneigt. Aus der Hauptstadt ist Befehl ge- 
kommen, dass der Kawam mit seinen beiden Söhnen 
unverzüglich abreise; sie erklären aber, dass sie nicht 
aufbrechen werden, ehe sie in Schiras viel Blut ver- 
gossen haben. In einer solchen Lage wirbt man um 



589 



Mitteilungen der Alliancc Isra61ite Universelle: Israeliten in Persien. 



590 



die Israeliten, so geringes Ansehen man ihnen sonst 
gönnt. Eine Massendepesche zugunsten der einen oder 
anderen Partei kann, ohne an sich entscheidend zu 
sein, bis zu einem gewissen Grade den Streitenden 
dienlich sein. Die Vorkommnisse dieser Woche be- 
weisen das wieder einmal: 8alar-es-Sultan, Sohn des 
Kawam, hat den beiden Grossrabbinen sagen lassen, 
dass sie aus Erkenntlichkeit für die von seiner Familie 
den Israeliten geleisteten Dienste und um sich für die 
Zukunft Ruhe zu sichern, mit einer Gesetzesrolle sich 
gleichfalls in den Toren der Moschee einfinden sollten, 
um für ihre Ergebenheit gegenüber der Familie des 
Kawam Zeugnis abzulegen. Zugleich befahl er ihnen, 
eine Massendepesche nach Teheran zu schicken, in der 
sie von dem Schutz sprechen, den sie bisher genossen, 
und von den Angriffen, denen sie von selten der Ver- 
fassungsfreunde ausgesetzt seien. — Die Kurzsichtigsten 
konnten das Uebel voraussehen, da die Niederlage der 
Verfassungsgegner fast sicher ist. Ich habe meine 
Glaubensgenossen angehalten, in dieser Sache unbe- 
dingte Neutralität zu wahren. Unsere unglücklichen 
Brüder haben eine unsagbare Furcht vor dieser Familie, 
durch die sie seit Generationen so viel gelitten haben, 
dass es unmöglich ist, sie zu überzeugen, die Macht 
jener Leute könne eines Tages ein Ende haben. Ich 
habe den Rabbinen jede Mitwirkung geradezu ver- 
boten. Wir sind entschlossen, unter den schwierigen 
Umständen mit grosser Umsicht zu handeln. 8alar-es- 
Sultan hat mich durch einen Abgesandten bitten lassen, 
ich möchte die Israeliten zu einer Mitwirkunar be- 
stimmen und selbst an die französicshe Gesandtschaft 
eine Depesche mit der Meldung schicken, dass unsere 
bisher so wohlgeschützten Schulen jetzt in Gefahr 
seien. Für den Fall des Erfolges machte er mir 
überdies die liebenswürdigsten Versprechunfir« n. — Diesp 
Tatsache beweist, welche Bedeutung die Ortsbehörden 
dem tatkräftigen Schutz beimessen, den man als seitens 
der Gesandtschaft uns zugesagt voraussetzt. — Ich er- 
widerte dem Abgesandten, dass die Haitang der 
Familie des Kawam uns grosse Genugtuung bereite, 
und dass ich nach Teheran depeschieren würde. Ich 
habe das nicht getan und hatte es auch nicht beab- 
sichtigt. Die Sor^e für die Wohlfahrt unserer 
Glaubensgenossen zwingt uns, unser Verhalten den 
Sitten des Landes anzupassen. In einem Fall, wie der 
vorliegende einer ist, gebietet unsere Pflicht, nur an 
die Sicherheit unserer Brüder zu denken. Eine übel 
angebrachte Offenheit von unserer Seite könnte ihnen 
unwiderbringlichen Schaden bereiten. Wir sind also 
darauf angewiesen, beide Parteien zu s^^honen, damit 
der Sieger weder aus unsern Worten noch aus unsem 
Handlunsren einen Vorwurf gegen uns herleiten könne. 
Die Lage der Gemeinde von SchiraS ist gegen- 
wärtig überaus traurig. Kein .lüde hat den Mut, das 
Viertel zu verlassen, nicht einmal am hellen Tage. Die 
unfflückseligen Tagelöhner, die die Mehrzahl der 
jüdischen Bevölkerung bilden, sind irezwungen. inner- 



halb ihres Viertels hin und her zu gehen, damit sie 
sich beim geringsten Alarmzeichen in ihre Wohnungen 
einschliessen können. Die Wohlhabenderen sind auch 
nicht glücklicher. Sie haben laufende Rechnungen mit 
verschiedenen Mohamedanem. Die Schuldner ent- 
fliehen ihnen, indem sie sich in die Moscheen oder ins 
Telegraphenamt flüchten, und weigern sich, ihre Schulden 
zu bezahlen ; die Glänbiger dagegen folgen den Juden bis 
in ihre Wohnungen und zwingen sie, wohl oder übel 
das letzte zusammenzuraffen, um entweder die schuldige 
Summe oder die landesüblichen ungeheuerlichen Zinsen 
zu zahlen. 

Damit ist das Uebel noch nicht erschöpft. Ein 
Haufe nach Strafgeldern gieriger Farachen verlässt 
das Juden viertel niemals, denn anderwärts ist über- 
haupt auf keine Einnahme zu rechnen. 

Es ist verboten, irgend welchem Muselmann alko- 
holische Getränke %n liefern. Unsere Glaubensgenossen 
haben sich diesem Befehl gewissenhaft gefügt, um den 
von der Menge so eifrig gesuchten Vorwand zu einem 
Angriff zu vermeiden. Aber wa«< sollen diese armen, 
wehrlosen Leute tun, wenn die Taugenichtse mit be- 
waffneter Hand eine Flasche Branntwein von ihnen 
verlangen, für die sie nicht einmal einen Pfennig be- 
zahlen? Der Gouverneur muss selbst zugeben, dass er 
nichts gegen die Leute tun kann, die die Anarchie in 
der Stadt herrschen lassen. Die Farachen laufen, so 
schnell sie können, sobald eine bewaffnete Gruppe sich 
dem Viertel naht. Sobald aber einer unserer unglück- 
lichen Brüder mit Gewalt gezwungen worden ist, das 
verlangte Getränk zu geben, erscheinen die Farachen 
wieder, lassen sich in seinem Hause nieder und erheben 
eine Busse von 2—5 Toman. Der Aermste schreit, 
und wir unterstützen ihn; aber keiner in der Stadt 
will uns hören. Sie können sich unsere Machtlosigkeit 
vorstellen und unsere üble Lasre gegenfiber den Leuten, 
die von uns wirksamen Schutz erbitten. 

Ich muss mir nochmals die Freiheit nehmen, dem 
englischen Konsul Herrn Grahame für die bewunderns- 
werte Hingebung zu danken, mit der er uns bisher bei 
unserer schweren Aufgabe beigestanden hat. 

Ich darf wiederholt feststellen, dass in Schiras 
mehr als anders wärts das Schul werk uns bedeutend 
weniger Mühe und Arbeit macht als der fortgesetzte 
Schutz, den wir unseren Glaubensgenossen gewähren 
müssen. 

Mit der Zeit werden wir uns nur noch mit unserer 
zivilisatorischen Aufgabe zu beschäftigen und allein in 
den schwierigsten Fällen einzuschreiten haben. Noch 
aber sind wir in Schiras nicht so weit. Wir müssen 
langsam und mit grossem Takt vorgehen, damit diese 
Aenderung eintreten kann. Zu Anfansr ist es in den 
anderen persischen Städten ebenso gewesen. Heute 
brauchen Ihre Vertreter sich nicht mehr soviel wie 
zu Beginn mit Prozessen, Streitigkeiten usw. zu be- 
fassen. 



591 



Mitteilungen der Aliiance Israelite Universelle; Israeliten in Persien. 



592 



Schon bei unserer Ankunft hier ist diese Sachlage 
mir aufgefallen, und ich habe die Möglichkeit gesucht, 
mit einer gewissen Berechtigung in die Angelegen- 
heiten unserer Glaubensgenossen einzugreifen. In 
Persien sind die religiösen Häupter der armenischen 
Gemeinden fremde Untertanen. Wir glaubten, bei 
unseren Gemeinden könnte es ebenso sein. Deshalb 
habe ich von den Oberrabbinen und den Notablen ein 
Schriftstück unterzeichnen lassen, in dem diese mich 
als religiöses Haupt anerkennen. Auf diesen Titel 
gestützt, habe ich wiederholt meine Stimme zu Gunsten 
unserer verfolgten Glaubensgenossen erheben dürfen. 
Wir können auch öfters den Fall irgend eines Juden 
dadurch zu dem unseren machen, dass wir diesen ver- 
anlassen, sich zu uns zu flüchten. 

Herr Grahame interessiert sich für alle diese An- 
gelegenheiten und interveniert, wenn ungerechte Mass- 
nahmen gegen unsere Brüder zur Anwendung kommen. 



Loria. 



J?: 



* 



ijc 



Schi ras, den 14. Juli 1907. 

In dieser Woche sind hier 26 Israeliten aus 
Lar angekommen, die in wahrhalt bemitleidens- 
wertem Zustand waren. Seit ihrem Eintreffen in 
Oscharum hatten unsere Glaubensgenossen in dieser 
btadt unter übler Behandlung seitens der Musel- 
manen zu leiden. Die Priester fingen an, davon zu 
sprechen, dass sie das Beispiel der Geistlichkeit 
von Lar nachahmen und die kleine Gemeinde von 
Dscharum vertreiben wollten. Aus Furcht vor 
Ausführung dieser Drohung zwangen die Israeliten 
von Dscharum die Zuztiglinpe von Lar förmlich, 
anderwärts hinzuwandern. Die Laris verliessen 
Dscharum in grossem Elend; ihre ganze Habe be- 
stand in den Kleidern, die sie auf dem Leibe 
hatten. Unter Hitze, Ermüdung und Hunger leidend, 
legten sie den Weg zu Fuss zurück. Die Frauen, 
die ganz erschöpft auf den Etappenstationen ein- 
trafen, mussten in den Strassen ein Stück Brot ffir 
ihre Kinder erbetteln. Sobald sie hier angekommen 
waren, begaben sie sich an den Platz, wo alle unsere 
Brüder Trost "und Unterstützung im Elend finden. 
Weinend erzählten mir die Unglücklichen von den 
Leiden, die sie während der letzten Monate ihres 
Aufenthalts in Lar haben erdulden müssen. Sie hatten 
keine Minute Ruhe, sahen mit täglich wachsender 
Angst dem kommenden Massakre entgegen. Ihren 
Geschäften nachzugehen war ihnen vorboten, strenge 
Ueberwachung hinderte sie an der Ausübung der 
religiösen Bräuche, Unsere Glaubensgenossen 
mussten in einem Winkel ihres traurigen Heims 
vegetieren und ihre geringe Habe aufzehren, ohne 
an den morgigen Tag denken zu können Ihre 
Drangsal w^urde so gross, dass sie sich endlich 
zum Massenaufbruch aus Lar entschlossen. Die 
Geistlichkeit verbot den Muselmanen, die Häuser 
der Juden zu kaufen. So waren die Juden ge- 
zwungen, ihre Häuser in den Händen ihrer Feinde 
zu lassen und zu sehen, wie ihre Synagoge — die 
Zeugin der unerhörten Leiden, die die Gemeinde 



Jahrhunderte hindurch zu ertragen gehabt — von 
dem Pöbel zerstört wurde. Glücklicherweise hatten 
sie die Gesetzesrollen an dem Tage entfernt, an 
dem ihnen untersagt worden war, sich zum Gottes- 
dienste in der Synagoge zu versammeln. 

Die israelitische Gemeinde von Schiras hat 
grosse Opferwilligkeit bewiesen. Ich hatte mich an 
sie gewandt, um das unermessliche Elend etwas zu 
mildern. Grossherzig ist die Gemeinde dem Ruf 
nachgekommen. Der dringendste Bedarf wurde 
alsbaJd gedeckt, den jüngsten Zuzüglingen wurde 
Arbeit verschafft. Wir bemühen uns, für die 
anderen Arbeitsgelegenheit in den sonstigen Ort- 
schaften der Provinz zu finden. 

In vergangener Woche ist endlich der neue 
Gouverneur von Fars, Nezam-es-Saltaneh, in unserer 
Stadt eingetroffen. Seit seiner mit Ungeduld er- 
warteten Ernennung war alle Welt überzeugt, dass 
die Ruhe bald wiederhergestellt sein würde. Mau 
hatte Recht. Unser neuer Gouverneur ist ein 
Greis, der während seiner ganzen Laufbahn mit 
allen Kräften sich bemüht hat, Persien auf den 
Weg zu leiten, den es seit einigen Monaten be- 
treten hat. Nezam-es-Saltaneh gehört zu den 
eifrigsten und angesehendsten Anhängern der Rchabi- 
Sekte. Sein Sohn, dessen Händen alle Geschäfte 
anvertraut sind, ist ein wohlunterrichteter junger 
Mann, der lange Jahre in Europa gelebt und sich 
für die Verwaltung mit den Anschauungen seines 
Vaters erfüllt hat. Ein Vorkommnis der jüngsten 
Zeit beweist, dass wir unter dem neuen Gouverneur 
auf eine Besserung der Lage unserer unglücklichen 
Brüder rechnen dürfen: 

Der Vorsteher des jüdischen Viertels hatte 
einen unglücklichen israelitischen Erdarbeiter fest- 
nehmen lassen unter der Beschuldigung, dass er in 
dem Hause, an dem er arbeitete, einen Schatz ge- 
funden habe. Unser Glaubensgenosse vnirde ins 
Gefängnis geworfen und tausend Qualen ausgesetzt. 
Tag für Tag erhielt er die Bastonnade, wurde er 
mit glühenden Zangen gezwickt. Unsere Be- 
mühungen, ihm die Freiheit zu verschaffen, waren 
vergeblich, bis der neue Gouverneur kam. Als ich 
ihm den ersten Besuch machte, erzählte ich ihm 
von unseren unglücklichen Bruder. Der Sohn des 
Gouverneurs schickte sofort nach dem schuldigen 
Beamten, Hess an ihm vor den Augen des ge- 
quälten Juden strenge Strafe vollziehen und ent- 
setzte ihn seines Amtes. — Das machte in der 
Stadt den besten Eindruck, denn seit vier Jahren 
haben unsere Glaubensgenossen nur selten gesehen, 
dass einer der Gewalthaber ihre Verteidigung gegen 
die kleinen Tyrannen übernahm. — Während der 
Unterhaltung, die diesem Akt der Gerechtigkeit 
folgte, liess uns Nezam-es-Saltaneh hoffen, dass für 
die Israeliten von Fars bessere Zeiten kommen 
werden. „Sein Sie überzeugt", sagte er mir, 
„dass ichr den Leiden ein Ende machen 
werde, die die Israliten von Schiras seit 
langen Jahren haben erdulden müssen. Wenn 
mein Wort nicht genügt, die Fanatiker zu be- 
ruhigen, so werde ich Gewalt anwenden. Es ist 



5Q3 



Mitteilungen der Alliance Israelite Universelle: Israeliten in Persien. 



594 



Zeit, dass wir mit den Barbareien aufhören, die 
uns im Auslande den Ruf der Unduldsamkeit ein- 
<(etragen haben." 

Nezam-es-Saltaneh hat mir auch wirksame 
Unterstützung: für unser Schulwerk versprochen 
und mich ermutigt, muselmanische Schüler auf- 
zunehmen, was wir bisher aus Besorgnis vor den 
Intriguen der Ober-Priester nicht wagten. Die 
Tatsache, dass israelitische und muselmanische 
Kinder auf derselben Bank sitzen, 7usammen lernen 
imd in demselben Hof spielen, verheisst heilsamen 
Binfluss. Ich werde versuchen, nichtjüdische 
Schüler zum Oktober aufzunehmen. 

Lahana. 



Teheran, 19. Juli 1907. 

Unruhen im Juden viertel. Unsere hiesigen 
Glaubensgenossen haben wieder einige Tage voll Angst 
und Schrecken durchgemacht ond die Befürchtung ge- 
hegt, dass die Plünderungen und Verwüstungen einer 
noch nicht fernen Zeit wiederkehren könnten. Das 
Judenviertel war von allen Seiten durch mit Eisen- 
ketten und Standen bewaffneten Pöbel überfallen 
worden und bot einen fürchterlichen Anblick. Am 
14. Juli war das Gerücht verbreitet worden, eine 
jüdische Hebeamme hätte an einer jungen Mohamedanerin 
eine gesetzlich verbotene Operation vorgenommen. Die 
Beschuldigung üos: von Mund zu Mund, und ganze 
Truppen junger Leute eilten durch die Strassen, um 
den Fanatismus der einen und die Rachsucht der an- 
deren aufzureizen. Die aufgeregte Menge wuchs zu- 
sehends und stürmte nach dem Juden viertel, wo bald 
die grösste Bestürzung herrschte. Die Häuser wurden 
eilends barikadiert, die Läden veriammelt. Die durch 
Steinwürfe verfolgten Juden hatten kaum Zeit, sich in 
ihre Wohnungen zu retten, die später abends von der 
Arbeit Heimkehrenden wurden mit Knüppeln bearbeitet. 
Nach einer in Angst und Sorge verbrachten Nacht 
wiederholten sich am 15. Jali dieselben Szenen. Jeder 
Jude, der sich auf der Strasse sehen Hess, wurde ge- 
schlagen und bedroht. Unsere erschrockenen Glaubens- 
brüder zogen sich in die Synagogen zurück und er- 
warteten jeden Augenblick den Beginn der Plünderung. 
Die mit wütendem Geschrei durch die Strassen 
ziehenden Burschen hätten auch gewiss Hand an die 
Läden gelegt, wenn nicht rechtzeitig Sicherheitsvor- 
kehrungen getroffen w^orden wären. Der Oberrabbiner 
setzte die Behörden von der bedrohlichen La^e in 
Kenntnis, und eine Deputation von Juden begab sich 
nach dem „Medjless", dem Parlament, und bat dort 
um Hilfe. Sobald ich von den Vorkommnissen erfuhr, 
begab ich mich erst zur französischen, dann zur eng- 
lischen Gesandtschaft, die in Zerguendeh resp. Goulhek 
in den Sommerwohnungen sich befinden, und bat die 
Gesandten beider Mächte um ihre sofortige Verwendung 
bei den Landesbehörden, damit diese den Unruhen ein 
Ende machten. Herr v. Lamartiniere und Herr Cecil 



Spring Rici versprachen mir, bei Ala-El-Saltanet, dem 
Minister der Auswärtigen Angelegenheiten, die ge- 
wünschten Schritte zu tun. Am nächsten Morgen 
schrieben sie mir bereits, dass sie die kritische Lage 
der Juden von Teheran zur Kenntnis der persischen 
Eegierung gebracht hätten, und dass man ihnen die 
Versicherung gegeben habe, „dass alle bei der gegen- 
wärtigen Lage zulässigen Massregeln getroffen werden 
sollen." Diese vereinten Schritte haben ihre Wirkung 
Licht verfehlt. Die Unruhen konnten erst einge- 
schränkt, dann ganz unterdrückt werden. Das Juden- 
viertel hat allmählich das gewohnte Ausseben, die 
Strassen sind belebt, die Geschäfte geöffnet und die 
Leute gehen wieder in Frieden an die gewohnte Arbeit. 



Loria. 



* 



Teheran, 7. August 1907. 

Die Begeisterung, mit der die Bevölkerung die 
Einrichtung des parlamentarischen Regimes in Persien 
bearrüsst hat, scheint noch nicht* in der Abnahme zu 
sein. Die wirtschaftliche Lage des Landes freilich hat 
sich nicht gebessert, die breiten Volksschichten sind 
ein wenig davon enttäuscht, dass die Deputierteu- 
kammer endlose Reden hält, ohne wirksame Massregeln 
zu ergreifen. Doch die Hoffnung auf eine bessere 
Zukunft ist so stark, dass man fortfährt, da^ parla- 
mentarische Regime als das einzige Mittel der 
materiellen und moralischen Erneuerung zu betrachten. 
Daraus erklärt sich der Glanz der Festlichkeiten, die 
man jüngst, am ersten Jahrestage der Verfassungs- 
Verkündigung, gefeiert hat. Alle Gesellschaftsschichten 
haben an den öffentlichen Veranstaltungen sich beteiligt. 
Auch die Jüdische Gemeinde hat Wert darauf gelegt, 
ihre Loyalität und ihre Anhänglichkeit an die neue 
Einrichtung dadurch kundzutun, dass sie gegenüber 
den Gärten von Neguaristan — dort befindet sich das 
Parlamentsgebäude — eine Estrade erricLtete und reich 
ausschmückte. Auf Einladung des Unterrichtsministers 
hat eine Deputation von 150 Israelitischen Kindern, 
unter den Schülern unserer Oberabteilungen ausgewählt, 
unter Vorantragung einer Fahne mit den Deputationen 
der anderen Schulanstalten der Stadt sich in den Fest- 
raum begeben. Wir haben uns bestrebt, offenbar zu 
machen, dass die Jüdische Gemeinde von Tehercin sich 
mit Freuden den zu Ehren des Parlaments veranstalteten 
Sympathiekundgebungen anschliesst. 

Persien bereitet uns noch Ueberraschungen ! Nach 
der Einführung einer repräsentativen Verfassung wird 
jetzt die Organisation von Munizipalräten in Angriff 
genommen werden. Ein Reformhanch weht durch das 
Land, die vorgeschrittenen Parteien bauen auf den 
Trümmern des alten Regime in aller Eile die Organi- 
sationen des zivilisierten Europa auf. Von Entwürfen 
ist man zu Taten übergegangen. In diesen Tagen ist 
Kachef-el-Saltanet amtlich beauftragt worden, in Teheran 
einen Munizipalrat zu schaffen. Ein offener Kopf und 



595 



. Mitteilungen der Alliance Isra6Iite Universelle: Israeliten in Persien. 



506 



freisiDnig, hat Kachef-el • Salfanet gedacht, dass die 
iranze Bevölkerung der Hauptstadt, ohne unterschied der 
Abstammung und des Bekenntnisses, in ihren Vertretern 
herangezogen werden müsse, an den Arbeiten zur Ge- 
sundung der städtischen Verhältnisse teilzunehmen. 
Demzufolge hat er mich gebeten, unseren Glaubens- 
genossen die Organisation des Munizipalrats auseinander- 
zusetzen, ihnen zu zeigen, welch grosses Tätigkeitsfeld 
ihnen damit eröffnet würde, und zu veranlassen, 
dass sie ihre Interessen einem aus ihrer Mitte ge- 



wählten Vertreter anvertrauen möchten. Ich habe 
diesen Auftrag mit Eifer erfüllt und kann Ihnen zu 
meiner Freude melden, dass Herr Dr. Logman, ein 
eingeborener Arzt, der aas den Bänken der ameri- 
kanischen Schule hervorgegangen ist, die Mehrzahl der 
Stimmen erhalten hat und mit dem Amt eines Muni- 
zipalrats bekleidet worden ist. In naher Zeit werden 
wir wissen, ob diese Wahl für die Israeliten von 
Teheran glücklich gewesen ist. 

L. Loria. 



TRAUERREDE AN DER BAHRE THEODOR OSCHINSKVS, 



gehalten am 9. Juli 1907 zn Breslau von Rabbiner Dr. Rosenthal. 



Nachdruck verboter, 



Als wir in dem Mai -Heft dieses Blattes die 
ErinDeruneen unseres Freundes Theodor Oschinsky 
an seine Palästinareise veröflFentlichten und sein Bild 
unseren Lesern zeigten, waren wir der Hoffnung, 
dass es uns bescMeden sein würde, noch lange 
Jahre diesen streitbaren, rüstigen, von heiligem 
Kifer beseelten Mitarbeiter in unserer Mitte zu sehen. 
Unsere HoflFnuus: ist zu nichte geworden, Theodor 
Oschinsky ist am 6 Juli von uns gegangen. In dem 
Mai-Heft unseres Organs haben wir erzählt, was 
wir an Tüeodor Oschinsky besessen; jetzt sagen 
jene Worte, was wir an ihm verloren haben. 

Wir lassen hier folgen, was Herr Rabbiner 
Dr. Rosenthal in Breslau als Seelsorger und Freund 
und zugleich im Namen des Central -Comit es und 
der Deutschen Conferenz- Gemeinschalt der A. I. U. 
am Grabe des Entschlafenen gesprochen hat: 

Geehrte und ansehnliche Trauergemeinde! 

nSj? oneS iTDIIS „Tobija hat sich gen Himmel 
gewandt." Mit diesen Worten beginnt eine lithur- 
gische Einschaltung in unserem Gottesdienste, wo- 
mit wir die Weihe des Wochen festes nach altem 
Brauche einleiten. Tobija bedeutet „Gottesgüte", 
und damit wird Mose, der Prophet, bezeichnet. 
Uns aber sind diese Worte jetzt kein festlicher 
Gruss von einem Mann, der sich zum Himmel ge- 
wandt hat, um zu seinem Volke wieder zurückzu- 
kehren mit einem Gnadengeschenk der Gottheit, 
sondern eine Klage und eine Aeusserung des tiefsten 
Schmerzes. Denn Tobija war der hebräische Name 
unseres Freundes Theodor Oschinsky, dessen plötz- 
licher Tod uns aufs tiefste erschüttert. Unser 
Tobija hat sich auch gen Himmel gewandt; aber 
er kehrt nicht mehr zu uns zurück. Er nahm 
auch das Gnadengeschenk, das uns die Gottheit 
in ihm verliehen hatte, mit sich fort und lässt uns 
hier als Trauernde zurück, nicht nur sein Haus, 
seine Gattin, seine Kinder und Verwandten, sondern 
auch zahlreiche Freunde und viele, viele, die von 
ihm WQhltaten empfanden haben, eine grosse Ge- 
meinde in unserer Stadt und weit, weit über deren 
Bereich hinaus. Denn ^n^ j: loi^»:, wie sein Name, 
so war er : iT3^::, ein Mann voll Gottesgüte und ein 
-*^en für viele. 



Er war eine imponierende und liebenswürdige 
Erscheinung, eine kraftvolle und einnehmende Per- 
sönlichkeit, ein Mann von grosser Menschen- 
kenntnis, der die Menschen richtig zu nehmen, zu 
gewinnen und auf sie einzuwirken verstand, ein 
Mann von grossem Scharfblick und kluger Vor- 
aussicht, von besonnener Erwägung und raschem 
Entschlüsse, von unermüdlichem Fleisse und er- 
staunlicher Arbeitslust und Arbeitskraft. Ein viel- 
beschäftigter Mann mit einer bewunderungswürdigen 
Gründlichkeit, Pünktlichkeit und Ordnung in allem 
Mit dieser seltenen Vereinigung vortrefflicher Eigen- 
schaftea ist es Ihm gelungen, aus kleinen Anfängen 
und durch eigene Kraft zur Höhe emporzusteigen, 
hat er sich und seinem Hause Wohlstand und eine 
geachtete Stellung erworben. Bei ihm bewährte 
sich der Weisheitsspruch Ttryn n'^mn T, die Hand 
der Fleissigen macht reich. 

Doch mit diesen Gaben vereinigte er zugleich 
einen hohen Idealismus und ein edles und frommes 
Gemüt, dessen Grundzug Gottesgüte gewesen, 
das starke Vertrauen darauf und ein Durchdrungen- 
sein davon für sein Lebensprinzip, gütig und hilf- 
reich gegen andere zu sein. Ihm war keine 
Leistung zu schwer und keine Aufopferung zu 
gross, und ihn fand man zu jeder Zeit, bei Tag 
und Nacht, Sommer und Winter, bei Sonnenglut 
und Sturm und Wetter stets bereit, wenn es galt, 
einem guten, gemeinnützigen Zwecke zu dienen. 
Armen, Kranken und Unglücklichen zu helfen. 
)2 cM^s mi itt^H IT''« m2 N^ri^in — Wo findet man so 
leicht einen Mann wie diesen, der von dem Gottes- 
geiste des Wohltums und des Gemeinsinns so er- 
füllt und belebt gewesen! 

Es gibt, fürwahr, nicht sehr viele Männer, die 
unserm Theodor Oschinsky gleichen, von dessen 
segensreichem Wirken auf vielen Gebieten während 
einer langen Reihe von Jahren sich so tiefe Spuren 
in das öffentliche und soziale Leben unserer grossen 
und angesehenen Gemeinde eingegraben haben. Er 
war Mitglied unseres Repräsentantenkollegiums und 
hatte an den bedeutenden religiösen und gemein- 
nützigen Schöpfungen und Einrichtungen unserer 
Gemeinde seinen wesentlichen Anteil. Er war 
Mitglied unserer Armenkommission, Kultuskommissioii 



5)7 



Mitteilungen der Alliance Israelite Universelle: Trauerrede an der Bahre Theodor Oschinskys. 



598 



uüd Synagogenkommission, und hat an aUem, was 
in den letzten Jahrzehnten zur Förderung und 
Hebung der Armenunterstützung, unseres Schul- 
wesens und unseres Gottesdienstes sowie zur Ver- 
schönerung unseres Gotteshauses geschehen, her- 
vorragend mitgewirkt. Er war im Vorstande 
unserer Chebra-Kaddischa und einer der tüchtigsten 
und fleissigsteu Arbeiter in der weitverzweigten 
Verwaltung dieses segensreichen Vereins, die in 
grossem Stile die Krankenpflege, die Altersver- 
sorgung und das Beerdigungswesen umfasst. Unser 
viele erühmtes Krankenhaus verdankt den kostbaren 
Neubau den reichen Mitteln wesentlich mit, die er 
persönlich durch Anregung und Sammlung herbei- 
geschafft hat. Er war der Wächter und Hüter 
der religiösen und traditionellen Einrichtungen in 
unserem Altersheim und Krankenhaus und auch 
ein eifriges und verdienstvolles Mitglied im Vor- 
Stande der israelitischen Volksküche. Er war Mit- 
begründer und Vorstandsmitglied des Verbandes 
für die Erziehung hilfsbedürftiger israelitischer 
Kinder. Diesem edlen Werke der Fürsorge für 
die unglücklichsten aller Unglücklichen, der ohne 
ihre Schuld verlassenen und verwahrlosten Kinder 
liat sein gutes Herz sich mit besonderer Liebe zu- 
<^ewandt. Die Errichtung eines notwendig ge- 
wordenen Heims für unsere Zöglinge war das Ideal, 
dem er in den letzten Jahren zustrebte, und womit 
sich auch seine letzten Gedanken noch kurz vor 
seinem Tode beschäftigten. Er war auch noch in 
vielen anderen Ehrenämtern tätig, war überall 
pünktlich in der Sitzung, tüchtig im Amte und 
fleissig in der Arbeit. 

Aber wie viel Gutes und wie vielen Segen 
hat dieser wunderbare Mann auch noch an Taten 
persönlicher Nächstenliebe vollführt! Wer hat all- 
jährlich in der rauhen Zeit des Winters die armen 
Kinder bekleidet und ihnen am Chanukka ein 
schönes Weihefest bereitet? Theodor Oschinsky mit 
seiner Sammlung und durch die Beihilfe guter 
Menschen, die er zur Mitarbeit gewonnen. Wer 
hat das alte Werk unserer frommen und ehr- 
würdigen Wollstein und Struck s. And. fortgesetzt, 
durch Sammlungen zweimal im Jahre zu den 
Festeszeiten für die verschämten Armen zu 
sorgen und Festesfreude in die Hütte der Armut 
zu traoen? Theodor Oschinski in Verbindung 
mit einem würdigen Freunde. Auf wen blickte 
man zuerst, und an wen wandte man sich 
zumeist, wenn man grösserer Mittel bedurfte zur 
Aufrichtung heruntergekommener Existenzen und 
zur Ausstattung von Bräuten? An Theodor Oschinsky. 
Ja, Theodor Oschinsky war für uns ein kostbarer 
Besitz, und darum ist uns auch sein Tod ein über- 
aus schwerer Verlust. Aus dem tiefen Innern er- 
hebt sich der Wunsch: hir\\i^^2 nar H^or. — Möge es 
seinesgleichen in Israel viele geben! 

Aber weit über den Kreis unserer Stadt hin- 
aus verbreitet sich die Trauer über deu Verlust 
dieses ausgezeichneten Mannes. Auch die Alliance 
Israelite Universelle betrachtet sich als Leidtragende 
an dieser Bahre. l)er Mann mit dem warmen 



Fühlen für die Not der Armen und Unglücklichen 
und der tatkräftigen Liebe für die allgemeinen In- 
teressen unserer Gesamtheit war der richtige Mann 
für die Alliance, war ein begeisterter Anhänger 
dieses grossen Bruderbundes und seiner erhabenen 
Idee, alle Israeliten zu vereinen, um den unter- 
drückten und verfolgten Glaubensgenossen hilfreich 
beizustehen und sie zugleich geistig und moralisch 
zu heben durch Errichtung von Schulen und Ver- 
breitung von Kultur in den Ländern ihres Elends 
und ihrer Armut. Er hat in ihrem treuen Dienste 
viel geleistet und viele Erfolge erzielt. Er hat 
durch Gründung von Lokalkomitees nicht nur in 
Breslau, sondern in ganz Schlesien und darüber 
hinaus der Alliance ein weites Gebiet und zahl- 
reiche Anhänger erworben. Er war es auch, der 
als Träger ihrer Idee und als Vertreter des Central- 
comitees den grossen Wanderzügen der aus Russ- 
land und Rumänien vertriebenen Glaubensgenossen, 
die in Scharen ihren Weg durch Schlesien nahmen, 
Beistand leistete und der auch für ihre Verpflegung 
sorgte, er als der Leiter im Vereine mit würdigen 
Gefährten, die sich ihm zu dem guten Liebeswerke 
angeschlossen haben. Unvergessen bleiben ihm 
auch die Reisen nach Oberschlesien und Galizien 
und die Anstrengungen, denen er sich zur Ordnung 
der Züge unterzogen hat. Im Namen des Central- 
Comit6s, dessen Mitglied er gewesen, und im Namen 
der Deutschen Conferenz- Gemeinschaft, in deren 
Vorstand er sass, zolle ich ihm den Tribut des 
tiefsten Dankes und der unwandelbaren Liebe und 
Verehrung. In das Buch des Gedächtnisses dieses 
hehren Bundes wird neben den vielen grossen und 
edlen Israeliten, die ihm ihre reiche Intelligenz und 
Kraft geweiht haben, auch sein Name für immei* 
eingeschrieben sein als Tobija, als ein Mann voll 
Gottesgüte. Von ihm gilt das Wort des Propheten : 
„Und die Einsichtsvollen werden glänzen wie der 
Glanz des Himmels und die Wohltaten für viele 
üben und viele zum Wohltun anregen, wie die 
Sterne immer und ewig.** 

Geehrte Leidtragende! Verzeihet, wenn ich 
hinter das, was er uns allen gewesen, zurücktreten 
Hess, was er euch gewesen. Was er uns allen 
gewesen, ein Mann von Güte, Liebe und Treue, 
das ist er ja auch euch gewesen, nur in noch weil 
höherem Masse. War er doch der gütigste, zärt- 
lichste und liebevollste Gatte und Vater! Seine Ehe 
mit seiner würdigen und innig geliebten Gattin hat 
die ideale Grundlage einer reinen und tiefen 
Herzensneigunp, auf der sie erstanden, niemals ver- 
ändert. Und es ist nicht zuviel, wenn ich sage, 
dass die Harmonie und Eintracht dieser aus- 
gezeichneten Ehe nie durch einen Misston oder ein 
Missverständnis getrübt wurde. Und was für ein 
gütiger und t rensorgender Vater war er seinen 
Kindern, seinen Söhnen, Töchtern, Schwiegerkindern 
und Enkelkindern! Er war beglückt ob dem Frieden 
und dem religiösen Geist, der in den Familien 
seiner verheirateten Kinder waltet, und dass es ihm 
vergönnt gewesen, auch seinen jüngsten Sohn am 
Ziele seiner Studien zu sehen. Und wie hat ei* 



599 



Mitteilungen der Alliance Isra61ite Universelle: Trauerrede an der Bahre Theodor Oschinskys. 



600 



sich noch gefreut über die Geburt des jüngsten 
Enkels, des ersten Trägers seiues klangvollen 
Namens, dessen Einführung in den Bund Abrahams 
er leider nicht erleben sollte. 

. Tröstet euch, ihr seine nächsten Angehörigen 
und Verwandten, damit: nbv wioS iT3lö, dass Tobija 
zur Höhe emporgestiegen, dass er ein Mann von 
strahlender Gottesgüte gewesen, dessen Name und 
dessen Leben noch lange nachleben und nach- 
leuchten wird. Tiöstet euch damit, dass seine 
Seele gleich der des Mose auf der Höhe sanft in 
die Ewigkeit hinüberzog. Er wurde wegen seiner 
Leistung im Dienste der Humanität auch durch 
einen Orden ausgezeichnet Doch höher ist 



der Glanz der 3*ö ü\^ vt^, der Krone des guten 
Namens, die er sich auf seiner leider nicht sehr 
langen Pilgerfahrt auf Erden erworben. Endlich 
möge auch euch diese ungemein grosse Trauer- 
versammlung zum Tröste sein als ein Zeichen, dass 
so viele an eurer Trauer teilnehmen. Theodoi* 
Oschinsky war unser, er bleibt unser, und wir 
werden stets in Liebe und Verehrung seiner ge- 
denken. 

So ziehe denn hin in Frieden, "pisf yy^b -[Sn 
und es gehe dir voran deine Gerechtigkeit, und die 
Herrlichkeit des Ewigen nehme dich auf zu den 
Seligen und Unsterblichen! 

Amen. 



Hilfstätigkeit der A. I. U. tu Marokko und Russ» 
land« Aus Anlass der jüngsten Vorkoramnisse in Casa- 
blanca, wo das Jadenviertel geplündert und teilweise 
verbrannt wurde, hat das Pariser Central-Comite der 
Alliance Israelite Universelle zur Linderung: der augen- 
blicklichen Not den Betrag von 5000 Francs nach 
Casablanca telegraphisch übermittelt. 

Ferner hat das Central-Comite der Alliance israelite 
Universelle für die zwei in Russland abgebrannten Ort- 
schaften Stolbozy und Smoliany eine Subvention von 
8000 Francs bewilligt. 

* * * 

Die amerikanische Einwanderungskom- 
mission. Der Kongress in Washington hat eine 
Kommission ausgesandt, die zur Vorbereitung für 
eine etwaige Aenderung der Einwanderungsgesetze 
eine Studienreise durch die Länder machen soll, 
aus denen sich die Einwanderung hauptsächlich 
rekrutiert. An der Spitze dieser Kommission steht 
das Kongressmitglied Herr William S. Bennet. Auf 
den verschiedenen Stationen ist diese Einwanderungs- 
kommission von den Vertretern der Alliance Israelite 
Universelle geleitet und mit allen Auskünften ver- 
sehen worden. Ganz besonders geschah dies in 
Rumänien, wo die Kommission längeren Aufenthalt 
nahm und die Verhältnisse in den einzelnen Landes- 
teilen genau prüfte. Herr Bennet und seine Kollegen 
haben ein Bild von der Lage der Israeliten in 
Rumänien erhalten und von dem unwiderstehlichen 
Auswanderungsdrang, den die von der rumänischen 
Regierung geschaffenen Verhältnisse hervorgerufen 
haben und hervorzurufen fortfahren. 



Die Alliance-Sehulen iu Tunis. Vor kurzem sind 
die Alliance-Sehulen in Tunis von Herrn Alapetite, 
Generalresidenten von Tunesien, und den Herren General- 
unterrichtsdirektor Machuel, Primärinspektor Baille und 
dessen Kabinettschef Beriel besichtigt worden. 

Herr Alapetite hat fast alle Klassen besucht, hat 
mehreren Lektionen beigewohnt, einige Schüler 
examiniert und die Klassenbücher aufmerksam durch- 
gesehen. 



In der Mädchenschule hat Herr Alapetite sich be- 
sonders im Saal der Strickerinnen aufgehalten, wo die 
Schülerinnen unterrichtet und angehalten werden, 
Tücher, Strümpfe und Socken für ihre armen Mit- 
schülerinnen zu stricken. Diese Praxis der Gegen- 
seitigkeit in der Schule hat den Herrn Generalresidenten 
auf das lebhafteste interessiert. Beim Abschied hat er 
den Direktoren seine vollste Befriediguns: über den guten 
Stand der beiden Schulen und über die Tätigkeit der 
Alliance in Tunesien ausgesprochen. 

<• 

Lokal •Comite Worms. Am 30. Juni hat die 
Generalversammlung des Wormser Lokal -Comit^s der 
A. L ü. stattgefunden. Nach Anhörang und Ge- 
nehmigung des Rechenschaftsberichts wurden die Wahlen 
vorgenommen. Die bisherigen Vorstandsmitglieder 
Herren Rabbiner Dr. Stein, Rudolf Scheuer und 
Siegmund Liebmann wurden wiedergewählt. An 
Stelle des Herrn EmanuelDewald, der nach Wies- 
baden verzogen ist und dort seine schätzbare Kraft dera 
Werk der A. L ü. in alter Treue widmet, wurden die 
Herren Brockmann und Kiefer gewählt. 



* 



* 



Neues Lokal -Comite Kiel. Ein neues Lokal- 
Comite der Alliance Israelite Universelle hat sich in 
Kiel gebildet. Das Comite wird geleitet von den 
Vorstehern Herren J. Frankenthal, Dr. med. Jacob, 
J. Tannenwald. 



* 



V 



Nachtrag zum Jahresbericht der A. I. l'. 
für 1906. Im Jahresbericht 1906 ist zu ergänzen: 
Durch Bezirksrabbiner Schlessinger. Gaben und 
Thoraspenden in Bretten. Leopold Lob 3, — Mk., 
Lazarus Esslinger 3, — M., Bezirksrabbiner Schlessinger 
2,— Mk., Julius Gailinger 1.— Mk., Louis Wein- 
garten 4, — Mk., L. tCahn aus Frankenthal 10,— Mk., 
Sally Kahn 5, — Mk., Vorsteher Gustav Lämmie 2 Mk.. 
Max Erlebacher 1,— Mk., Emil Wertheimer 1,— Mk., 
M. Lichtenberger 3,-— Mk., Nathan Dreyfuss aus 
Diedelsheim 6,— Mk. — Flehingen: Vorsteher 
G. Schlesinger 2, — Mk., Louis Barth 1,— Mk., Leop 
Barth 10.— Mk. — Königsbach: N. N. 4,— Mk.— 
Gemmingen: Max Oitenheimer 2,— Mk., V. Dinkel- 
spiel 1,— Mk., Jul. Manasse 1,— Mk. — Neuzuge- 
treten: Synagogen - Gemeinde Münzesheim. — 
Sammlung für die Israeliten in Russland: Königs- 
bach 33,50 Mk., Flehingen 31,— Mk. — Exin, 
Dombrower 6, — Mk. 



Mitteilungen der Alliance Israäile Universelle. 



Ein Urteil über das Alliance- Werk in Persien. 

Per Spezi albericbterEtatter des „Berliner Tafieblaite" 
HerrMygind, schreibt aus Teheran tibei die durtigeD 
Alliance -Schulen wie fulgt: 

.Ich habe in inetnem früheren Artikel schon von 
der Vom Staate euvintionierten deutschen Schule ge- 
sprochen und will heute einige Worte über die Schule 
der „Alliance Israelite" hier folgen lassen. Wenn man 
b(^denkt, das§ unter dun Muhamedanern im allgemeinen 
eine starke Abneigung gegen die Juden h<.'rrscbt, und 
ilass die Alliance hier nicht wie zum Beispiel in der 
Türkei einen starken internationalen Rückhalt an diplo- 
matischen Verträgen nud Xnnzessianen besitzt, so wirft 
das Bestehen und Gedeihen ihrer Schalen in Persien eben- 
falls ein eigenes Licht auf den „Fanatismus" der Perser. 

In einem zum grosseren Teil von einbeimischen 
Juden bewohnten Viertel im östlichen Teil der Stadt, 
zu dem man durch eine lange Basergassc gelangt, 
befinden sich in drei gemieteten Häusern die beiden 
Schulen für Knaben und Mädchen. Ich bi suchte diese 
ktztere zuerst und wnrde empfangen vim der Direktrice, 
der mir bereits bekannten Frau Eosanu, die schon in 
Konstantini>pel und Sofia gewirkt hat, .Sie führt mich 
in den Klassen herum und erläutert. In ihrer >>chnle 
sind 196 Mädchen im Alter von 6 — 14 Jahren, verteilt 
auf fünf Klassen, in denen von acht Lehrkräften — der 
Direktrice, einem Lehrer nnd sechs in der Schule selbst 
ausgebildeten Lehrerinnen — unterrichtet wird. Lehr- 
gegenstände sind ausser den allgemeinen üblichen einer 
niederen Volksschule Trppichweben, Strumpf wirken und 
Feinwäsche — also drei hierzulande gutbezahlte Frani-n- 
arbeiteu. Krau Rosano ist eine energische Leiterin, und 
alles geht wie am Schnürchen. Aber welche Geduld 
und welche Zähigkeit dazu gehört hat, diese verwahrloste 
Jugend an Zucht und Ordnung, vor allem an Reinlich- 
keit zu gewähnen, und wieviel kleiner Fehden mit den 
eigensinnigen Eltern es gekostet hat, das lässt sich aus 



einigen Mitteilungen der Dame ermessen: „Als ich vor 
fünf Jahren meine Arbeit begann, war kaum eines der 
Mädchen ohne irgend eine ekelhafte Haar- oder Haut- 
krankheit Ich begann nahen allgemeiner Eörperpflegu 
damit, sie zu zwingen, ihr Haar statt wie landesüblich 
in vier oder fünf festgeflochtenen und eigentlich 
niemals ausgekämmten Zöpfen in einem einziifeu 
losen Knoten zu tragen, der sich selbstverständlich 
während des Spiels oder nachts von selbst löst; dadurch 
erreichte ich, daes die Mädchen schon aus Koketterie 
ihr Haar wieder ordneten, nnd dass dnrch den Luftzu- 
tritt und das Waschen und Kämmen die Ansschläge 
allmählich von selber verschwanden. Aber das schwerstt; 
von allem war der Kampf mit den Eltern gegen die 
Frühheiraten; war es doch Sitte, kräftige Mädchen mit 
zehn Jahren und selbst noch jünger zu verehelichen! 
Das kommt jetzt, vrie ich mit Stolz sagen kann, kannt 
mehr vor; einige ernst« Wort« da, wo die Absicht zu 
bestehen scheint, seitens meines alten Freundes hier'* — 
sie stellt mir einen der Vorsteher vor — „genügen heute, 
am die Ausführung zu verhindern." 

Ich ging nun in die Knabenschule, die unter 
der Leitung des Direktors Loria aus Saloniki 
steht, den ein zweiter Direktor und neun ein- 
heimische Lehrer unterstützen. Anzahl der Schüler 
470, verteilt auf zehn Klassen. Die Unterrichtsgegen- 
stände sind die einer Elementarschule, wozu noch 
Hebräisch und Arabisch kommen; die Unterrichtssprache 
ist in den nnteren Klassen persisch, in den oberen 
französisch. Auch Herr Loria hat viel mit den 
orientalischen Untugenden der Unreinlichkeit und Vn- 
pünktlichkeit zu kämpfen gehabt, aber seine Klassen 
machen heute durchweg einen mindestens ebenso sanberen 
und ordentlichen Eindruck wie die einer deutscht it 
Dorfschule. Die Knaben scheiden meistens mit dem 
fünfzehnten oder sechzehnten Lebensjahre aus und finden 
leicht Anstellungen in Bureaus nnd Geschäften." 



Die verehrlichen Mitglieder, die auf regelmässige und pünktliche Zustellung 
unseres Organs Wert legen, werden ersucht, Aenderungen ihrer Postadresse unver* 
zU^IICh dem Deutschen Bureau der A. I. U., Berlin N. 24, Oranienburgerstrasse 42/43 
mitzuteilen. 

Alle für das Berliner Lokal-Comitö der A. I. U. und für das DcnUche Bnrean der A. L U. bestimmten 

Geldsendungen beliebe man an den Schatzmeister 

Herrn Benno Braun in Firma Joelsohn & Brfinn, Berlin C. 19, Hausvoigteiplatz 12 

zu adressieren, eventuell durch Reichsbank- Girokonto der Firma Joelsohn & BrDnn zu überweisen. 

Strw fj3 



BUECHERSCHAU. 



Aphorismen. Von C. Kalisrher. Verlag von Carl 
Georgi in Bonn. 
Aphorismen sind zur Mode und damit zur Plage 
geworden. Wer schiefe Gedanken in manierierte Form 
zn bringen vermag, lässt sie unter dem Namen von 
Aphorismen in die Welt gehen. Die Bezeichnung ist 



dadurch in Verruf gekommen. Das vorliegende Bflchel- 
chen ist keine Modearheit. Nicht die Witzform ist ihr 
Zweck, auch ist ihr Witz nicht gesucht. Mit grossei- 
Kunst sind hier hohe und kluge Gedanken in die ein- 
fachste, knappste Form gekleidet. Die Gedanken blenden 
nicht durch ihren Ausdruck, sondern durch überzeugend'.- 



603 



Bücherschau. 



604 



r 



Kraft and durch Tiefe. Es ist eine Freude, das kleine 
Buch zu lesen und immer wieder zu lesen. Der Ver- 
fasser ist Rabbiner in Bonn. Er hat seine Amtsbe- 
zeichnung seinem Namen nicht beigefügt und er hat Recht 
daran getan. Denn so sehr die Gedanken; die er in 
«einem Buch vorträgt, jedem Rabbiner zur Ehre ge- 
reichen würden, Berufsgedankeu sind sie nicht. 

' ♦ ' 

Einsames Land. Erzählungen und Stimmungsbilder 
von Dr. Wilhelm Münz, Rabbiner in Glei- 
witz. Verlag von J. Kauffmann in Frank- 
furt a. M. 
Hier hat der Verfasser seinen Titel genannt, und 
er hat Recht daran getan. Denn seine Erzählungen 
und Stimmungen sind aus den Anschauungen und Er- 
fahrungen des Amts hervorgegangen, an dessen Auf- 
graben er seine dichterische Kraft erprobt hat. Die 
Begeisterung, die den Verfasser in seinem Beruf be- 
seelt, spricht nicht minder aus seinen poetischen Schöpfun- 
£ren, und die mitreissende Kraft ist auch hier nicht verloren 
gegangen. 

* * * 

ßeruria. Gebet- und Andachtsbuch für jüdische Frauen 
und Mädchen. Von Rabbiner Dr. Max Grun- 
wald. Verlag von Jos. Schlesinger in Wien. 
Das Buch, so heisst es im Vorwort „ist nicht 
bestimmt den Siddur und das Machsor zu verdrängen**. — 
Keine Sorge, dass das geschehen könnt«". Das Buch, 
so hpisst es weiter im Vorwort, „erbittet dringend 
dauerndes Heimrecht an jenen Türen, von denen die 
Sprache der Psalmisten trauernd sich fortgewiesen sieht, 
und die nun dem lauernden Gespenst des Abfalls vom 
alten Väterglauben offen stehen." — Keine Aussicht, 
dass dieser Bitte stattgegeben wird. Die alten Techinoth 
haben es nicht erreicht und waren doch wenigstens 
naiv, während diese neue Techinah blos geschmacklos 
ist. Ein Abschnitt, dem die Ehren eines besonderen 
Kespekt -Titelblattes eingeräumt sind, hat die dunkle 
1 eberschrift: „Bilder und Zeichen am Lebenswege. 
Nach Bibel, Talmud und Midrasch." Als Motto ist 



das Wort aus Hebbels Judith vprangesetzt: „Ein Volk, 
das solche Weiber hat, ist nicht zu verachten.** Dei 
Herausgeber will damit keinen Witz machen, er ist im 
Gegenteil von trostloser Ernsthaftigkeit. -^ Ein Teil de.s 
Inhalts ist von anderen Autoren entlehnt. Die Namen 
der freiwilligen und unfreiwilligen Spender sind auf 
der Schlussseite aufgezählt. Manche werden ihren 
durch Druckfehler und unsinnige Aenderungen ent- 
stellten Anteil nicht erkennen. K. 

* * 

Liebermann-Mappe^ herausgegeben vom Kunstwart, Preis 
10 Mark. (Kunst wartverlag Georg D. W. Callwey 
in München). 

Wer den Kunstwart nur oberflächlich kennt, mag 
sich darüber ^^Tindern, dass gerade er Liebermanns 
60. Geburtstag durch die Herausgabe einer besonderen 
Künstlermappe ehrt, noch dazu mit der umfangreichsten 
Mappe, die er überhaupt bis jetzt gebracht hnt. Aber 
Avenarius ist keineswegs ein öegner der Moderden; die 
ihn und den Kunstwart dafür ausgeben, schliessen das 
meistens sehr irrtümlich daraus, dass er den Folgerungen 
sich nicht anschliesst, welche gewisse moderne Kritiker aus 
ihrer Bewunderung ziehen. Auch der Kunstwart schätzt 
und ehrt Liebermann, ohne ihn freilich mit den ^modernen" 
Kritikern gleich den grössten lebenden Maler oder sogar 
den grössten lebenden Künstler zu nennen; aber er 
macht den Schluss nicht mit, dass deshalb die Künstler 
anderer Richtung, dass vor allem so überragende Genies 
wie Böcklin und Klinger geringere Künstler als Lieber- 
mann seien. Auch im Begleittext zur Lieberraann-Mappo 
macht Avenarius aus seiner ablehnenden Meinung gegen- 
über den einseitigen Verherrlichern Liebermanns kein 
Hehl: im übrigen aber bemüht er sich, dem Publikum 
die Augen für diese ur gesunde und wahrhaftige Malerei 
zu öffnen, wo sie noch nicht geöffnet sein sollten. Lieber- 
mann seihst hat die Publikation entgegenkommend mit 
seiner Hilfe unterstützt. Avenarius hat davon freudig 
Gebrauch gemacht, und so bietet die Mappe, mit naliezu 
einem halben Hundert (etwa zur Hälfte in grossem Format 
reproduzierten und auf Karton aufgezogenen» Bildern, dio 
grösste Bilderpublikatiim über Liebermann, die bisher 
überhaupt erschienen ist. Wer die moderne Malerei in 
Deutschland näher kennen lernen will, der muss diese 
Mappe kennen lernen, wo immer er die Originale nicht kennt. 



Nllmm'r ifegi'ein PFospcIcf dcf „Sana-Cescllschafr m. b. H., Cleve" 



bei, auf den wir unsere Leser 
besonders aufmerksam machen. 



Kaum 15 Monate sind verflossen, seit die Actisn-QesellS'^liaft fUr Anilin-Fabrikation, Berlin, die letzte Auflage ihres bekannten ..Agfa-Photo- 
Handbuohet**, das 41.- 52. Tausend in blauem Leinenband, herausgab und schon wieder hat sich ein Ncudrucl« notwendig gemacht. Diese neueste 
Ausgabe, in weinrotem Leinenumschlag und einer Stärke von 120 Textseiten liegt uns vor; es handelt sich um das 53.-65. Tausend. Angesichts der 
Fülle des darin über die photographischen »Agfa^-Artikel, wie Platten, Films, Entwickler, Spezialitäten etc.. Gesagten und bei dem äusserst geringen 
Preis von 30 Pfg., der knapp die Selbstkosten deckt« ist es nicht zu verwundern, wenn kein Verbraucher von „Agfa" -Photo- Artikeln dieses handliche 
Büchlein missen mochte. Zu beziehen ist dasselbe durch alle Handlungen mit photographischen Artikeln. 

Gewerbe-Akademie Friedberg. Die an der Akademie hier kürzlich wieder unter dem Vorsitz eines städtischen Prüfungskommissars (Geh. 
Baurat) in den Abteilungen für Maschinenbau, Elektrotechnik, Bau-Ingenieurfach und Architekturfach abgehaltenen Ingenieurprüfungen haben wietlerum 
ein günstiges Resultat ergeben, denn von den Kandidaten der Haupt- bezw. Vorprüfung bestanden 11 mit dem Prädikat »sehr gut". 20 mit ..gut", 
10 erreichten die Note .bestanden"*, während 3 die Prüfungen ganz oder teilweise wiederholen müssen. Das neue Maschinenlaboratorium ist dem Herrn Dozenten 
Dipl.-Ing. Immerschitt unterstellt, der auch im Verein mit den übrigen Dozenten wieder die Excursionen in die umliegenden Industriebezirke leiten wird. 

Grotte Itraelititche VergnO||ungtr<>lte nach Palättina, Syrien, Ägypten, Griechenland und Konttantinopel. Die vom Reisebureau 
^Tabor" A. Grajevsky & Co., Jerusalem, im Herbst 1. J. veranstaltete Vergnügungsreise nach dem Orient findet starken Anklang in allen Schichten 
des Judentums. Es sind bereits aus Deutschland, Oesterreich-Ungam, Holland. DAnemark und Russland eine solche Anzahl von Anmeldungen zur 
Reise eingetroffen, dass das Stattfinden der Reise gesichert ist. Die Reite wird demzufolge an bettimmteni Datum ab Wien und Budapeit anfangen. 
}{err A. Graievsky, Direktor des Reisebureau „Tabor^ fährt am 16. September von Jerusalem nach Konstantinopel, um dort die letzten Arrangements 
auf dem dort auf ihm wartenden Dampfer zu treffen, von wo aus er nach Budapest, Hotel Royal geht, um daselbst die Teilnehmer zu erwarten. 
Diejenigen, weiche die Absicht haben, sich an dieser Reise zu beteiligen, werden gut tun, ihre Anmeldungen zur Reise derart einzuschicken, dass 
(dieselben in Jerusalem noch vor der Abfahrt des Herrn Grajevsky dort eintreffen. Die Reise nimmt ab Wien und Budapest am 15. Oktober ihren 
Anfang und dauert 28 Tage, wovon 2 Tage in Konstantinopel, 1 Tag in Smyrna und Rhodos, 15 Tage in Syrien und Palästina, 2 Tage in Ägypten 
und 1 Tag in Piräus (Athen) zugebracht werden. Prospekte und nähere Auskünfte erteilt das Reisebureau „Tabor" A. Grajevsky & Co., Jerusalem, Palästina. 



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lM$cr4ttii4MHal)iie nur aurcD j^aascnsteilt Sf UOfller Jl. 6. in Btrlin una aeren Tilialen 

AboiineneiitspreU ffir dat Jahr In Deuttchland and Oesterrelch Mark 7,— (Luzusausgabe Mark 14,—). für das Ausland Mark 

(Lazusausgabe Mark 16). 
ffir Russland ffanzjihrllch 4 Rubel. Einzelhefte k 35 Kop. 

__^. . Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandet, durch tUe Pottämter des Deuttchen 

. . Reiches unter No. 5785 t der Postzeitungsliste und durch die Expedition dieser Zeitschrift " 



Anzeigen Mk. /. — die viergespaltene Nonpareillezeile, grössere Anzeigen nach Tarif, bei Wiederholungen Rabatt. 

Adresse für die geschäftliche Korrespondenz: Verlag ,.Ost und West'\ Berlin S. 42, Wasserthorstr 50. 

Redaktion: Berlin W. 15, Knesebeckstr. 48/49. 



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Verantwortlich für den redaktionellen Teil: Chefredakteur Leo Winz, Berlin W. 15. Knesebeckstr. 48/49. — Verlag Ost 

und West, Berlin S. 42. — Druck von Beyer & Boehme, Berlin S. 42. Wasserthorstr. 50. 



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Heft 10. 



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JÜtoiSCHE ORGANISATION IN DER DIASPORA. 



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<r< re Kuri*' Von nichtjüdischen Historikern ist häufig dem 
xt ziir Li; ' Idlschen Volkdie staatsbildende Fähigkeit abgesprochen 
»'hnpQ'i?c Orden. Als Beweis für diese Behauptung wurden 
licht m L' ie geschichtlichen Ereignisse angeführt, die erbitterten 
t er SM Jütischen und religiösen Kämpfe, welche die Entwick- 
uD'. «'^'^ mg des jüdischen Staatts gehemmt haben. Es ist in 

" Inti'e ^^ '^^^ ^^^' ^^^ ^^ ®'®^® Anlauf der israelitischen 
Iriua ha: -*^™°^®» ^ Vorderasien ein starkes politisches Gemein- 
st ii^ M- ®^®^ ™^^ zentraler Gewalt zu bilden, durch den Par- 
HtjfTKji.- kularismus der einzelnen Stämme erfolglos geblieben 
.ffrpzojr.: t; der zweite jüdische Staat wiederum litt fortwährend 
Li. ber.u'^ 1 den sozialen, politischen und religiösen Kämpfen, 
,lie !i ^iff> eiche ihn zu verschiedenen Zeiten ins Wanken brachten. 
. D \M ' idessen wird man diese Tatsachen zugeben können, 
r«ii>'^'-g^ pe dass dadurch die an sie geknüpfte Schlussfolgerung 
auf den i'*s^tii1^ würde. Keinem Staat sind solche Ereignisse 
Oders wäai^^^spsirt geblieben, und niemals hat sich seine Ent- 
icklung und Konsolidierung in gerader Linie völl- 
igen. Wenn die äusseren Ereignisse nicht seine Ver- 
chtuDg herbeigeführt haben, konnte er diese in der 
ator der Sache liegenden Schwierigkeiten überwinden, 
er jüdische Staat ist nicht nur an dem partikula- 
stischen Charakter der israelitischen Stämme und an 
)r Masslosigkeit der Parteikämpfe zugrunde gegangen, 
•Odern auch, und dies wohl in erster Keihe, an 
m politischen Verhältnissen Vorderasiens, an der 
iglücklichen geographischen Lage Palästinas und an 
Jk"^^ *:': srschiedenen anderen ungünstigen Bedingungen, deren 
^'^ Ji'iil^.J »Beseitigung gar nicht in der Kraft des jüdischen VolJjes 
\ d*»/» ^; \ g' Es ist eine geschichtliche Ethik von grossem 





FÜR DAS GESAMTE JUDENTUM 



Herausgegeben und redigiert 

von 

LEO WINZ. 



Alle Rechte vorbehalten. 



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«^iM^Vt^^"^^^'^^^'*«^^^^^^""^^^^^^*"*'*'*^^^ 



Oktober 1907. 



Vn. Jahrg. 



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Von Dr. Simon Bernfeld. 



Nachdruck verboten. 



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^ ^^ , >lkspädagoglschem Wert, wenn man das Unglück 

l Bvi'r^-r ^^ ^^^^ ^^^ ^^^ Begriff von Schuld und Sühne in 

i;^^ !vA»> ' ^''^i^^'^^i^ bringt, aber objektiv wahr ist dies nicht. 

^^^^^ ^^^^'^eber manches Volk sind schwere Prüfungen ge- 

äita Jl^°^°^®^» laicht infolge seiner Fehler, sondern im Gegen- 

i •^ ^il wegen seiner moralischen Vorzüge. 

-). ^ Die Juden besitzen zweifellos dieselbe staatsbildende 

fthigkeit wie die anderen Völker, deren Geschichte 

Deüt*c^ c^h dieser Richtung bessere Erfolge zu verzeichnen 

2«'^*^^jg^t. Hingegen ist es vielleicht eine singulare Er- 

?i ^'^•^^heinung, dass sie auch ausser der staatlichen Gesell- 

12 itS^^haft in gewissem Sinne staatliche Organisationen und 

• * '"titutionen schufen. Die Geschichte der Juden in der 




Diaspora zeigt, dass es einem kulturell hochentwickeltem 
Volke möglich ist, ein Staatsleben zu führen, auch 
wenn es keinen Staat bildet. Fichte hat die Juden, 
welche zu seiner Zeit noch nicht in die staatliche 
Gesellschaft der zivilisierten Völker aufgenommen 
waren, als einen „Staat im Staat^ bezeic^et; viel 
richtiger wäre aber die Bezeichnung: ein Staat ohne 
Staat. Durch achtzehn Jahrhunderte bildete das 
jüdische Volk an den verschiedenen Punkten der Erde, 
sozusagen einen ambulanten Staat, eine staatliche 
Gesellschaft ohne territoriale Grundlage, eine Art 
„Stiftszelt**, wie es die Israeliten nach der biblischen 
Erzählung mit sich von Lager zu Lager herumgeftlhrt 
haben. Wo die Juden sich im Laufe der Zeit dauernd 
niederliessen, richteten sie ihre eigene staatliche Ord- 
nung ein, um sie dann, wenn sie eine neue Ansiedlung 
gründen roussten, abzubrechen und mit sich zu führen. 
Dieser ambulante jüdische Staat hatte stets seine 
Institutionen, die er nicht entbehren konnte. Die 
jüdische Gemeinde der früheren Jahrhunderte bis zur 
Mitte des neunzehnten Jahrhunderts war keineswegs 
bloss eine religiöse oder gar bloss kirchliche Gemein- 
schaft, wie sie es heutzutage in den westeuropäischen 
und amerikanischen Ländern ist; sie war eine politisch 
gegliederte Kolonie, die unter gewissen Bedingungen 
von dem sie umgebenden fremden Staat geduldet und 
beschützt wurde. Gab es in einem grösseren Staat 
mehrere jüdische Gemeinden mit zahlreicher Be- 
völkerung, so lag es in der Natur der Dinge, dass 
die Gemeinden eine gemeinsame Organisation schufen, 
nicht etwa, wie dies auch heutzutage in vielen 
Ländern geschieht, um die gemeinsamen religiösen In- 
teressen zu fördern, sondern um die ambulante staat- 
liche Gesellschaft zu erhalten und zu befestigen. Eine 
bloss religiöse Organisation der Juden ist leicht zu 
schaffen und zu halten; sie ist eigentlich auch da vor- 
handen, wo sie unsichtbar ist. Und das Judentum 
selbst ist eine Organisation, ein Zentralpunkt, dem sich 
alle einzelnen Gemeinwesen von selbst anschliessen, 
auch ohne Organisationsstatut. Ganz anders liegen die 
Dinge, wenn es sich um politische Gemeinden handelt, 
die sich auf Grund von Abmachungen und Verein- 
barungen zusammenschliessen. Oft ist die politische 






607 



Dr. Simon BdfiHfeld: Jüdische Organisation in der Diaspora. 



608 



Einh% der Oemeinden durch den Einfloss von anflsen, 
durch ein Machtgebot der politischen Gewalt hergestellt 
worden. Die K^iernng, welche die Niederlassung von 
Juden in ihrem Lande duldete oder gar förderte, wollte 
dies nur unter gewissen Bedingungen tun. Damit aber 
die Innehaltung der von den Juden übernommenen Ver- 
pflichtungen gesichert erscheine, musste eine politische 
Organisation vorbanden sein, mit der die Regierung 
unterhandeln und an die sie sich fQr alle Fälle halten 
konnte Das beeinflusste natürlich die innere Be- 
schaffenheit der Organisationen, die immer eine lokale 
Färbung annahmen. Aber die politischen Ansprüche 
an die Organisationen erschöpften sich keineswegs in 
den Verhandlungen mit der Regierung und in der 
Regelung des Verhältnisses zwisdien dem Staat und 
den G-emetnden. Das ganze innere Leben der Juden, 
das Kulturleben im weitesten Sinne des Wortes, war 
davon abhängig. Nicht nur die öffentlichen Angelegen- 
heiten der jüdischen Gemeinden wurden durch diese 
Organisationen bestimmt und geregelt, sondern auch 
das private Leben. Denn die Befugnisse der Gemeinden 
war mannigfaltig und weitgehend; sie griffen tief in 
das Leben, in die intimste Häuslichkeit jedes einzelnen 
Juden. Der ambulante jüdische Staat, dessen Grund- 
lage so tinbestimmt und unsicher war, besass mehr 
Machtvollkommenheit als irgend ein anderer Staat. Er 
beherrschte alles und bestimmte alles; seine Ver- 
ordnungen und Befehle erstreckten sich bis über die 
kleinsten und einfachsten Einrichtungen des Lebens. 
Er sorgte nicht nur für die gemeinsamen Institutionen 
der Gemeinde, für die öffentliche Wohltätigkeit, für die 
Schule, für die Befriedigung der religiösen Bedürfnisse ; 
er gab auch eine Kleiderordnung, bestimmte, wie sich 
jeder Jude und jede Jüdin zu kleiden hatte, welchen 
Aufwand eine jüdische Familie nach ihren materiellen 
Verhältnissen machen durfte, wie viele Gäste zu einer 
Hochzeit oder zu einem sonstigen Familienfest in der 
Höchstzahl geladen werden sollten, welche Kosten die 
Bewirtung der Gäste zu verursachen hätte. Einem 
modernen Menschen wtlrde diese Bestimmung seines 
privaten Lebens, seiner intimsten Häuslichkeit, als eine 
unerträgliche Tyrannei erscheinen; er würde sic)i ihr 
gamicht fügen können. In den früheren Jahrhunderten 
besass aber jede Judenschaft derartige Verordnuegen 
und verfügte über weitgehende Disziplinmittel, um ihnen 
Respekt zu verschaffen. Dem M^htbereich der Ge- 
meinde und der politischen Organisation konnte sich 
der Jude nur durch den üeberüitt zu einem anderen 
Glauben entziehen. 

Diese stramme Organisation war nötig, weil ohne 
sie die Erhaltung des jüdischen Volkes unter so un- 
günstigen Bedingungen undenkbar schien; sie war aber 
auch nützlich, weil sie dem Einzelnen nicht nur 
Pflichten auferlegte, sondern zugleich weitgehenden 
Schutz gewährte. Die ökonomische Lage der Juden war 
oft noch ungünstiger als die politische. Sie wurde nur 
durch die Gemeindeorganisationen etwas ^ erträglicher. 
So war es beispielsweise eine sehr wichtige Einrichtung, 
dass ein Jude dem andern gegenüber manches ersessene, 
ererbte oder erworbene, aber seiner Natur nach doch 
nur ideale Recht hatte, in dessen Besitz er nicht ge- 
stört werden durfte. Man kennt dieses Recht unter 
der Bezeichnung „chasaka^, das im Privatleben der 
Juden eine so bedeutende Rolle spielte. In manchen 
Städten hatten die Juden kein Recht, Häuser zu 
kaufen; sie waren darauf angewiesen, bei christlichen 
Hausbesitzern zur Miete zu wohnen oder Geschäftsläden 
zu mieten. Die Gefahr lag nahe, dass sich die Juden 
gegenseitig in dem zu gewährenden Mietspreis über- 



boten und ruinierten. D^ Recht der „chasaka** regelte 
einerseits diese Verhältnisse gegen den Wettbewerb 
der Gemeindemitglieder untereinander und andererseits 
gegen den der fremden Juden, die sich in der be- 
treffenden Stadt dauernd niederlassen wollten. Es sollte 

• 

niemand von der Stelle verdrängt werden, wo er die 
Möglichkeit des ehrlichen Erwerbes faiid; aber auch 
das Interesse des Gemeinwesens, der Gesamtheit, wurde 
dabei gewahrt; wo das öffentliche Interesse es heischte, 
musste das Privatrecht eine Einschränkung erfahren. 
Es durfte sich kein Ring bilden, um den privaten Eigen- 
nutz zu fördern; es sollte nichts monopolisiert werden. 
Der Wettbewerb sollte nicht beseitigt, sondern bloss in 
genau bestimmter Grenze zwischen dem privaten und 
dem öffentlichen Interesse geregelt werden. 

Im Mittelalter entsprachen die jüdischen Organi- 
sationen den politischen und kulturellen Zuständen 
eines jeden Landes. Die spanische Judenheit besass 
Jahrhunderte hindurch eine politische Organisation, in 
der in erster Reihe die staatliche Gewalt, die obrigkeit- 
liche Disziplin zum Ausdruck kam. Man kann sagen, 
sagen, dass sie die Organisation als Selbstzweck le- 
trachtete. Jeder einzelne sollte sicJ| gewöhnen, den er- 
lassenen Verordnungen unbedingr Folge zu leisten. 
Jeder Widerspruch, jede Auflehnung gegen die politische 
Behörde wurde mit der grössten Strenge oft äusserst 
grausam zurückgewiesen. Es sind uns zahlreiche Fälle 
von angewandter Rücksichtslosigkeit und Grausamkeit 
bekannt, die uns geradezu erschreckend erscheinen. 
Das ungeheuerliche dabei ist aber, dass oft unwichtige 
Vorgänge zu solchen gransamen Massregeln Anlass 
gaben. Den Männern, die an der Spitze der Organi- 
sation standen, kam es gamicht auf den zur Vorhand^ 
lung stehenden Gegenstand an; ihnen galt nur das 
Prinzip der strengsten Unterordnung und der Disziplin, 
das sie bei jeder Gelegenheit zur Geltung bringen 
wollten, um einer geringfügigen Angelegenheit willen 
konnte jemand wirtschaftlich vernichtet werden. Merk- 
würdig aber wap dabei, dass gerade bei dieser Strenge 
die ünbotmässigkeit der spatischen Judenheit sehr 
gross war. In allen Gemeinden herrschte Hader und 
Streit, und selbst als die schreckliche Katastrophe vom 
Jahre 1492 allen, die nur sehen wollten, unvermeidlich 
erschien, hörten diese erbitterten Kämpfe in den Ge- 
meinden nicht auf. Die spanischen Juden setzten so- 
gar die G^meindestreitigkeiten auch später fort. Ihre 
neuen Ansiedlungen zeichneten sich Jahrhunderte lang 
dadurch aus, dass einerseits die Gemeindevorstände ein 
strammes Regiment zu behaupten suchten, andererseits 
aber viele Gemeindemitglieder sich gegen diese Auto- 
kratie auflehnten. An diesen Missständen kranken die 
meisten sefardischen Gemeinden bis auf den heutigen Tag. 

Auch in der deutschen Judenheit hat es zu ver- 
schiedenen Zeiten nicht an Versuchen gefehlt, eine 
Gemeindeorganisation zu schaffen. Sie hatte andere 
Ziele und andere Voraussetzungen. Es handelte sich 
niemals darum, eine Art staatlicher Autokratie ins 
Leben zu rufen, sondern die politischen, religiösen und 
sozialen Verhältnisse gemeinsam zu regeln. Nicht eine 
Gemeindebehörde init starken Machtmitteln sollte ge- 
schaffen werden, sondern gemeinnützige Einrichtungen. 
Die politische Zerrissenheit Deutschlands hatte wohl 
die meiste Schuld daran, dass in der deutschen Jud^- 
heit keine dauernde jüdische Organisation ins Leben 
gerufen werden konnte. Aber zum grossen Teil lag dies 
wohl auch im Wesen der deutschen Juden selbst, die, 
wie man heutzutage sagen würde, keine Politiker 
waren und keinen Sinn für politische Leitung hatten. 
Es lag ihnen stets nur daran, gute Einrichtungen zu 



609 



Dr. Simon Bemfdd: Jüdische Organisation in der Diaspora. 



610 



besitzen, ohne aber gleichzeitig auch Organe zu haben, 
welche f&r die Befolgung der erlassenen Verordnungen 
sorgen sollten. Die deutschen Juden glaubten in ihrer 
Frömmigkeit und Rechtschaffenheit, es genügte, dass 
gute Gesetze vorhanden sein — befolgt wtkrden sie 
schon von selbst, auch ohne jenen äusseren Zwang. 
Wir kennen daher von der deutschen Judenheit blos9 
eine grosse Anzahl trefflicher Verordnungen, aber 
keine wirksame Organisation. 

Eine sehr merkwürdige politische Organisation der 
Juden, die merkwürdigste wohl, welche die jüdische 
Geschichte in der Diaspora kennt, war die sogenannte 
„Vierländer - Synode" in Polen und Lithauen im 17. 
und 18. Jahrhundert.*) Die Bezeichnung Synode, wie 
sie in der jüdischen Geschichtsschreibung üblich ge- 
worden ist und eigentlich nur für eine religiöse Be- 
hörde passt, ist zweifellos unrichtig. Denn die polnische 
„Vierländer-Synode", die sich aus Rabbinern und Ge- 
meindevorständen zusammensetzte, beschäftigte sich 
keineswegs bloss mit religiösen Angelegenheiten. Sie 
bildete vielmehr eine Art Parlament, in dem alle 
jüdischen Angelegenheiten, öffentliche wie private be- 
handelt wurden. Sie war gleichzeitig der höchste 
Gerichtshof, der »über alle Streitfälle endgiltig zu 
urteilen hatte. Ebenso gingen von ihr die nötigen zeit* 
gemässen Verordnungen aus für die Gemeinden und 
für die Einzelnen, f& Rabbinate, für das Unterrichts- 
wesen und alle öffentlichen Einrichtungen. Das ganze 
soziale, wirtschaftliche und religiöse Leben der Juden 
in Gross- und in Kleinpolen, in Reussen und in Lithauen 
spiegelte sich in den Versammlungen dieser eigenartigen 
Körperschaft ab, die alljährlich an verschiedenen Orten 



♦) Siehe die Artikel von Leon Scheinhaus, Memel: 
„Aus den alten Gemeinden" in Heft 4 und 6 von „Ost 
und West". 



anlässlich der grossen Jahresmessen stattfanden. Da 
die Juden in Polen eine weitgehende politische und 
nationale Autonomie besassen, so konnte diese Behörde 
last staatliche Gewalt ausüben. Die innere Einrichtung 
und Zusammensetzung der „Vierländer- Synode" ist 
noch nicht genügend bekannt, selbst über ihrer geschicht- 
lichen Entstehung und Entwicklung schwebt noch 
manches Dnnkel, obwohl in den letzten Jahren viel 
aufhellende Forschungen auf diesem Gebiete veröffent- 
licht worden sind. Es unterliegt auch leider keinem 
Zweifel, dass diese Organisation, die grösste und treff- 
lichste, welche die Juden in der Diaspora bis zum An- 
bruch der neuen Zeit besessen haben, am Ende der- 
selben sozialen Elrankheit verfallen ist, an der die 
polnische Republik zu Grunde gegangen ist. Auch da 
riss später die sprichwörtlich gewordene polnische Miss- 
wirtschaft ein. Wenn auch die Auflösung der „Vier- 
länder-Synode" durch die Vernichtung des polnischen 
Reiches verursacht wurde, so muss doch gesagt werden, 
dass das Ende kein rtlhmliches war, und es ist be- 
zeichnend genug, dass man lange Zeit selbst von der 
Existenz dieser Institution nichts gewusst hat, obwohl 
sie doch bis fast in die Gegenwart hineinreicht. 

Wir sehen aus den unzähligen Organisationen, den 
gelungenen und den misslungenen, welche das jüdische 
Volk in den achtzehn Jahrhunderten seiner Zer- 
streuung geschaffen hat, dass in ihm ein starkes 
Streben nach Konzentrierung seiner Kräfte vorhanden 
ist. Der behauptete Mangel an staatsbildender Fähig- 
keit der Juden ist gewiss nur eine Phrase. Es zeugt 
dies von einer oberflächlichen Auffassung der geschicht- 
lichen Erscheinungen. Dagegen spricht auch die be- 
kundete Fähigkeit der Juden, selbst unter ungünstigen 
Verhältnissen grosse Organisationen zu schaffen, die 
dem jüdischen Volk unermesslichen Nutzen gebracht 
haben. 



HUGO REINHOLD. 



Von Adolph 

Er hat viel gelitten im Leben, mag ihn auch 
äusserer Glanz umgeben haben . . • hat innerlich ge- 
litten, und ist dann früh dahingestorben, viel zu 
früh . . . Nun werden es schon sieben Jahre, dass 
Hugo Reinhold, der Plastiker, von uns schied. Mitten 
aus kühnen Künstlerträumen, mitten aus reichem 
Künstlerschaffen riss ihn der Tod, raubte ihn den 
Freunden, denen er Edles gegeben, nahm ihn der 
Kunst, die ihm, dem reifen Manne, alles gewesen. Und 
selten hat Einer ein so Wechsel volles Schicksal gehabt, 
wie Hugo Reinhold, der erst mit 35 Jahren ein Jünger 
der Kunst geworden ist. 

Er stammte aus Obeirlahnstein, ist dort am 26. März 
1853 geboren worden. Schon in der Jugend zeigte er 
künstlerisches Empfinden, aber die Sehnsucht, die ihn 
beseelte, erlosch in der Wahl des Berufes, dem er sich 
widmen sollte. Er wurde Kaufmann, wurde ein 
tüchtiger Kaufmann, streifte kreuz und quer durch die 
Welt, fahr oft übers Meer, nahm eines Tages in San 
Francisco Wohnung und legte hier den Grund zn 
s€$^ier kaufmännischen Carriere. Und als ein paar 
Jahre vergangen waren und sein Ruf als Kaufmann 
schon guten Klang hatte, verliess Hugo Reinhold 



Nachdruck verboten. 



Donath (Berlin). 

Amerika, gründete in Hamburg ein Exporthaus und 
ftlhrte bald darauf seine geliebte Jugendliebe aus der 
rheinischen Heimat, Emma Levy aus Köln, als Gattin 
heim. E^aum eineinhalb Jahre aber hat dieses junge 
Glück gewährt. Emma Reinhold starb ... Da hielt 
es den jungen Witwer, der den grössten Schmerz er- 
fahren, nicht länger in Hamburg, er schüttelte den 
Kaufmann ab, kam nach Berlin und studierte hier 
bei Dilthey und Paulsen Philosophie. Besonders 
die Ethik und die Aesthetik fesselten ihn. Sie haben 
seinem Leben eine neue Wendung gegeben. Im Ver- 
kehr mit Männern wie Steinthal und Kristeller 
kam der junge Philosoph mit dem Judentum, dem er 
entstammte, in innigen Kontakt, der umso inniger 
wurde, als ihn der Deutsch-Israelitische Gemeindebund 
zu seinem Schatzmeister wählte. 

Das war zu Anfang der Neunziger Jahre, und 
in diese Zeit fällt auch das erste selbständige Schaffen 
Hugo Reinholds, des Plastikers. Schon in den Stunden, 
da er Kollegien hörte, flammten in ihm die Wünsche 
der Kindheit von neuem auf. Er träumte von der 
Kunst, versenkte sich in seine Träume immer tiefer, 
bis schliesslich der feste Wille siegte: ich werde 



Adolph Donath. Berlin: Hugo Reinhold. 



612 



HUGO REINHOLD OIPSBUESTE 1898. 

Frau Dr. Edmund Kejer. 

KUsBtler . . . Und während der Ethiker Reinhold 
nach VeredlQDg der Menschheit strebte, zanbert« dem 
Aestlietiker Reinhold die Knnst ihre schönsten Gebilde 
vor. Max Kruse war sein erster Lehrer nnd 1888 
trat Hugo Reinhold, der damals 35 .Tahre zählte, als 
simpler SchOler in die Akademie der Künste ein, der 
er bald znr Zierde gereichen sollte. 

Schon seine ersten Plastiken erweckten starke 
Hoffnungen. Er zeigte Empfiodnng und Temperament, 
zeigte Phantasie und vor allem die Gabe der lebens- 
vollen Darstellnuß. Wer die niedliche Qipsgmppe 
„Kinder um ein Vögelchen trauernd" — die Gruppe 
ist 1692 entstanden — betrachtet, muss sich sagen, 
dass hier der Bildhauer dem Ton Leben eingehaucht, 
ein feines Moment des Lebens ernst und graziOs 
gestaltet hat. Das war nicht die Arbeit eines Anßngera, 
sondern ein wirkliches Kunstwerk. Und ein Jahr darauf 
kommt Hugo Reinhold mit einer neuen ScbQpfang, die 
seinen Kamen zwei Jahre Ep&ter weiteren Kreisen bekannt 
machen soll. 1895 nSmlich hat er diese Plastik — 
„Affe einen Schädel betrachtend" — in der Grossen 
Berliner Eumtansstellnng sehen lassen nnd durfte stolz 
darauf sein, dass sein kleines Werk besonders anfßel 
und lebhaft besprochen wurde. Der Schimpanse, der 
hier auf einem Stoss von Büchern hockt und in der rechtm 
Hand einen Totenschädel hält, während die linke das 
Kinn umfasst, ist ein entzückendes Kerlchen. Dieser halb 
gelehrte, halb verschmitztoZug imKopfe ist präcfatigheraas- 
gemeisselt, das Sujet an sich von nicht geringem Effekt«. 

Dieser Erfolg gab dem BUdhaner natOrlich neue 
Kraft, ermanterte ihn zu neuen Arbeiten. So schuf er 
in kurzer Zeit seinen „Jeremias", seine Gruppe „Lesende 



Mönche", seine Gruppe „Am Wege". Der „Joremiaa^ 
ist leider nur Skizze geblieben. Die „Lesenden Mduche" 
tndes sind in Bronze, die Gruppe „Am Wege" (1894) 
in Hannor ansgeführt worden, und das sind Flastdkea 
Ton hohem künstlerischen Werte. Namentlich in dwt 
„Lesenden UOuchen" und in der Gruppe „Am Weg«*, 
die man mit Recht als das Hauptwerk des Ktlnstlers 
bezeichnet, weist sich Reinhold als ein Mebter der 
HodellierungskuDSt. Hier wie dort zeichnet er Menschen 
mit wunderbar feinen Linien, hier wie dort rollt er 
Charaktere vor uns auf. „Am Wege" freilich ist nocb 
feiner, noch menschlicher gezeichnet. Und man begreift, 
dass die Nationalgallerie sich dieses Werk nicht 
entgehen Hess und ihm einen Ehrenplatz eingettomt 
hat. Ueber dem Ganzen liegt eine visionäre Stimmung. 
Wie das jnnge schOne WelD mit seinem Kind auf dem 
Arm aot der Stnfe der Mariensänle sitzt, die Augen- 
lider gesenkt, allen Mutterachmer^, alles Leid des 
Lebens vergessend, nur ihren Zakunftsträumen horchend 
und das Glück des Kindleins erflehend, das ist mit 
einer solchen warme, solchen dichterischenEmplindung 
geschaffen, dass man des Werkes immer wieder ge- 
denkt .... 

„Am Wege" bedeutet die Höhe der Kttnstlerschaft 
Reinholds. Aber auch die folgenden Werke zeigen ihn 
als rdfen Künstler nnd reihen sich würdig dem Haupt- 
werke an. „Das Dynamit im Dienste der Kultur", 
eine Bronzegroppe, die Im Kobelhof zu Hambnrg steht — 
Reinhold hat sich (1896) an der Konkurrenz um das 
Nobel-Denkmal beteiligt — ist in Idee und Ansfflhrang 
von wirkungsvoller Wacht nnd auch die Bronze-Figur 
eines verbitterten, streikenden, drohenden Arbeiters im 



HUGO REINHOLD MARMORBUESTE 18W. 

Geh. Hedizlnalrat Prof. Bernhard Fränkel. 



Adolph Donath, Berlin: Hugo Reinhold. 



HUOO REENHOLD BRONCEFIOUR 1895. 

Leaeade Hftnchc 



HUGO REINHOLD GIPSFIGUR 1892. 

Kinder um ein Vögeictaen trauernd. 



Arbeitskittel — Reinbold nennt diese Plastik „Der 
viert« Stand" — zeigt die kr&ftigste Seite seiner 
Modell ierongskanst ant. Einen Interessanten Kon- 
trast hierzu bilden die liebliche „Schnitterin" 
(1898) und die 
geistreiche Sta- 
tuette «Äuarer- 
kaaft", die im 
gleichen Jahre 
Kescbaffen wurde. 
Ebenso sehr hat 
ans die Skizze 

„Versuchung" 
entzückt. 

Besondere An- 
erkennung ge- 
bort Reinhold, 
dem Porträtisten. 
Auch hier bat er 

herrorragendes 
geleistet. Die 

Bronzebfiste huoo heinhold marmorbueste isqo. 

„Meine Mutter" Jonji Oabom. 



ist in Ihrer verinnerlicfaten Auffassung und realistischen 
DurchfQhrung ein Meisterporträt. FQr bedeutend 
halten wir auch die prächtigen Reinholdschen 
Büsten der Herren Dr. Ludwig Bamberger, 
Professor Bern- 
hard Franke 1, 
Jonas O s b o r n 
and das Por- 
trät der Fran Dr. 
Edmund Meyer. 
Man kann an die- 
sen Werken nicht 
ohne BGb rang vor- 
übei^ehen, denn 
sie alle gemah- 
nen daran, dass 
uns am 2. Ok- 
tober des Jahres - 
1900 ein Küast- 
1er jäh entrissen 
wurde, der bem- 

HUOO REINHOLD MARMORBUESTE 1899. '^1 ""^y GrOBMS 

Dr. Ludwig Bamberger. zu schaffen. 



VERBLASSTE GESTALTEN. 

Von A. S. Rabbinowicz. — (Aus dem Hebräischen). 

Ich mustere in der Erinnerung die Gassen und unter den Gebilden meiner Erinnerung sind nicht 

Plätze meines Heimatstädtchens Dort, in einem äußerlich, sondern innerlich schön, schön allein durch 

verlassenen Winkel, erhebt sich ein öder Trümmer- ihre hehre Seele, durch das sie belebende und er- 
haufen und zur Seite ragt ein morscher Pfahl empor, hebende Ideal.... 

gleich einem traurigen Denkmal entschwundenen Dort, wo jetzt der Trflmmerhaufen mir entgegen- 

, Lebens. starrt, erhob sich ehemals ein altes Lehrhaus. Die 

Ich kann mich der Erinnerungen nicht erwehren, Fenster waren nahezu in den Erdboden versunken, 
die dieser Anblick in mir wachruft. Die verblaßten die zerfallenen Wgnde mußten gestützt \\-erden, um 
Gestalten tauchen aus dem Abgrund der Vei^angenheit nicht völlig umzusinken, die Querbalken waren gänz- 
empor und umkreisen mich in gedrängter Schar; be- lieh vermorscht. Einzelne Fensterscheiben waren 
trübende und erfreuliche, schöne und häßliche, in zerbrochen und geflickt, andere trüb und ver- 
buntem Gemisch, kleistert. Das hohe und sehr schiefe Dach war 
Mein Gedächtnis verweilt gern bei den schönen ganz mit grünem Moos bewachsen, steUenweise mit 
und lieblichen Bildern, ich halte sie fest und präge sie Pilzen bedeckt. Keine Blume blühte, kein Baum grünte 
mir ein. Die anderen verbanne ich gern in die Ver- in der Nähe. Traurig und düster sah das alte Hau» 

Senkung, aus der sie aufgetaucht sind: haben wir im drein Eine Tradition erzählte, daß hier einst 

wirklichen Leben nicht genug des Traurigen und Un- ein heiliger Mann, eine Säule der „Chabad"') gehaust 
schönen? — Doch auch die schönen und anmutigen hatte Im Innern dieses traurigen Hauses, 

zwischen seinen düsteren Wän- 
den, flackerte das ewige Licht, 

das Licht des Lebens, nicht 

jenes grobsinnlichen Alltag- 

iebens, sondern des worme- 

vollen Lebens der Geister, mit 

dem vei^lichen, alle Freuden 

dieser Welt eitel und nichtig 

sind ; hier saßen viele, die sich 

Tag und Nacht dem Studium 

der heiligen Lehre widmeten. 
Drinnen waltete ein stein- 
alter Schamaa*); Er war von 

gebückter Gestalt und hatte 

einen angsteinflöBenden Blick, 

der besonders ims acht- bis 

neunjährigen Kindern vielen 

Schrecken verursachte. Der 

Alte hielt uns strenge im 

Zaume ; just wenn wir in einem 

Winkel eifrig mit dem Spiele 

beschäftigt waren, tauchte er 

mit der Rute in der Hand 

auf und jagte uns nach allen 

Windrichtungen auseinander. 
Doch nicht wir allein 

hatten eine heillose Angst 

vor dem strengen Greise, son- 
dern auch alle alten Leut«, 

die dort beteten, denn der 

Schamas war älter als alle, 

') Eine wegen iürer strengen 
Frömmigkeit bekannte Partei 

HUOO REINHOLD SKIZZE 1900, ""^j^S^agSgÄl^W. Gemeinde- "'J'^O RE.NHOLD BRONCEFIGUR 1899. 

Versuchimg. diener. Der vierte Stand. 



A. S. Rabbinowicz; Verblasste G«talten. 



HUGO REINHOLD SKIZZE 1S95. 
Jereinias. 



und da er von heftigem Tempe- 
rament war, 80 pflegte er 
kein Blatt vor den Mund zu 
nehmen, und wer das Ge- 
ringste tat, was ihm zuwider 
war, mußte sich auf die 
herbste Zurechtweisung gefaßt 
machen. 

Und dieser gefürchtele alte 
Mann b eh and eile außerordent- 
lich liebevoll einen armen 
Bachur'), der dort lernte. 
Freitich verrichtete der Bachur 
allerhand kleine Dienstleis- 
tungen, brachte Wasser, heizte 
den Ofen, fegte den Boden, 
so daß' dem Schamas beinahe 
nichts weiter zu tun übrig 
bheb, als dieLichter zu putzen. 
Diese Tätigkeit war dem Scha- 
mas angenehm, denn der ge- 
schmolzene Talg, den er an 
den Leuchtern und den Tischen 
fand, warf ihm eine, wenn 
auch äußerst dürftige Ein- 
nahme ab. Gleichwohl war es 
auffallend, daß der grimme 
Schamas dem armen Bachur 
niemals ein unfreundliches 
Wort gab und noch dazu 
häufig mit ihm seinen Bissen 
teilte, besonders wenn sein 



HUGO REINHOLD BRONCEFIRUR 1898. 
Ausverkauft 



Liehhngsgericht, 
nämlich Erdäpfel 
in Pfeffer und 
Zwiebeln, daheim 
gekocht wurde. 
Des Nachts er- 
laubte er ihm, 
Tischtücher und 
\'orhänge unter 
das Haupt als Kis- 
sen zu legen und 
sogar den Schlüssel 
zur Lichterkiste 
übergab er ihm, 
so daß der Bachur, 
so oft er wollte, 
eine Kerze haben 
konnte. 

Mir war es stets 
ein Rätsel, wieso 
es kam, daß dieser 
arme, förmlich in 
Lumpen gehüllte 
Bachur bei dem 
gestrengen, alten 
Griesgram in so 



HUGO REINHOLD 



boberGunststand, 
daß er ganz wie 
umgewandelt war, 
wenn er mit ihm 
sprach. 

Ich wußte, daß 
der Bachur ein 
vollendeter „Am- 
haarez"') war, daß 
er aus der Feme 
gekommen, war, 
um hier zu stu- 
di«%n, doch ahnte 
ich nicht, welch 
festen Willen er 
hatte und mit 
welch einem Auf- 
wände von Ge- 
duld und Fügsam- 
keit er das Hera 
unseres gefürch- 
leten Schamas ge- 
wann Ich 

hatte selbstver- 
ständlich keine nä- 
liereBerührungmil 
dem unwissenden 

') L"mvis>emJe.-. 



619 



A. S. Rabbinowicz: Vcrblasste Gestalten. 



620 



Bacbur, der den ganzen Tag wie ein Anfänger über dem 
Chumesch'} saß und jeden Vers und jedes Wort un- 
zählige MaJe einbüfrelte. Ich schätzte ihn im Herzen 
gering, als ich merkte, daS ihm Sätze unversländUch 
waren, die ich bereits auswendig wußte. Überdies kam 
ich ja in das Bethamid rasch nur, wenn ich eine freie 
Stunde hatte und nicht im Cheder*) zu sein brauchte. 
Dort spielte ich gern mit meinen Altersgenossen, in- 
dem wir im Reigen rings um den Almemor liefen, oder 
ich briet mir Erbsen, indem ich sie anbiß und dann an 
die glühende Ofentür klebte. 

In den Chanuka-Tagen, da ich zum Kapitalisten 
avancierte — ich besaß nämlich ein „Drehdel" und 
noch 10 Groschen dazu — und obendrein an den Nach- 
mittagen vom Unterrichte frei war, spielte ich mit 
meinen Kollegen im Lehrhause, da trat auf mich der 
arme Bachur hinzu und bat mich, mit ihm einen Ab- 
schnitt in der Bibel durchzustudieren. 

Es tat mir leid, mein Spiel zu verlassen, aber ich 
erinnerte mich an das Wort unserer Weisen: „Wer 
seinem Nächsten Unterricht in der heiligen Lehre vor- 
enthält, der raubt ihm sein väterliches Erbe". Außer- 
dem schmeichelte es mir, den Lehrer zu spielen, daher 
willfahrte ich der Bitte und wir gingen ans Werk. 

') Fönt Bacher Moses. ^ Kinderachule. 



HUGO REINHOLD BRONCEGRUPPE 1893. 

Affe, einen Schädel betrachtend. 



Zwei, drei Tage unterrichtete ich ihn fleißig und 
gewissenhaft, doch bald überzeugte ich mich, daß es 
keine leicht« Arbeit ist, ein Lehrer zu sein, und vollends, 
wenn man es mit einem solchen Schüler zu tun hatte. 
Zuweilen wiederholte ich mit ihm ein Kapit«! unzäbUge 
Male und am nächsten Tage mußte ich mit ihm dasselbe 
Kapitel von neuem durchnehmen, als hätt« er es nie- 
mals gesehen. Dabei hatte ich natürlich keine Ahnung 
davon, wie fleißig er dazwischen seine Lektion wieder- 
holt hatte, während ich vei^UgUch schlief. Ich ahnte 
nicht, daß er unterdessen bereits alle Besucher des 
Bethamidrasch gequält halte, ihm bei der Vorbereitung 
auf den morgigen Unterricht behilflich zu sein. 

Einmal ward ich ungehalten und rief: ,,lch unter- 
richte dich nicht länger!" 

i.Warum?" versetzte er schlicht. 

„Du bist träge, bereitest dich nicht genügend vor", 
antwortete ich zornig und wandte ihm den Racken. 

,,Du sollst sehen, fortan werde ich stets gehörig 
vorbereitet sein", entschuldigte sich der Unglückliche, 
indem er mich angstvoll anblickte. 

„Du bist ein unwissender Mensch", donnert« ich, 
, .würdest du bei einem richtigen Lehrer lernen, der 
würde dich auf die Bank hinstrecken und dir eine 
Tracht Prügel aufzählen, die Ruthen müßtest du noch 
selber dazu bringen." 

,,Wenn das dein Ernst ist, so bin ich bereit, mich 
.zu unterwerfen", sagte er mit großer Ruhe. 

„Du willst dich also selber auf die Bank hin- 
strecken ?" fragte ich lachend. 

„Wenn du befiehlst " 

Die Sache fing an, mich zu amüsieren. Ich, der 
kleine Lehrer, sollte diesen großen Jungen prügeln. 
Das war zu komisch. 

„Bring die Rute!" befahl ich, mein Lachen unter- 
drückend und eine ernste Miene machend, wie es einem 
erwachsenen Lehrer geziemt, der seinen Schüler wegen 
Müßiggang bestraft 

Er tat, wie ihm befohlen ward, ohne eine Miene 
zu verziehen. 

,,Leg dich hin!" kommandierte ich weiter. 

Ich erhob die Rute. Doch augenblicklich sank 
meine Hand wieder. Bisher hatte mich der Voi^ang 
erheitert, plötzlich jedoch ward ich verwirrt. Ein 
neuer Gedanke huschte durch mein kleines Gehirn. 
Die Rute entfiel meiner Hand, Tränen brachen mir aus 
den Augen, ich fing an, laut zu weinen 

Er erschrak heftig, fuhi' auf, nahm mich in seine 
Arme, streichelte und liebkoste mich und fragte nach 
dem Grunde meiner Trauer. Er, der so tief Gekränkte, 
glaubte, mich verletzt zu haben. Doch ich konnte ihm 
eine Zeitlang vor Aufregung nicht antworten. 

„Verzeih ich ich habe dich beleidigt", 

stammelte ich mühevoll, ^ 

Ich fing an zu ahnen, wenn auch ziemlich unklai', 
welch eine Seelengröße dazu gehört, um der heiligen 
Lehre willen keine persönliche Erniedrigung zu scheuen. 

Gegen anderthalb Jahre verweilte ich in meinem 
Heimatsstädtchen, und während dieser Zeit hatte er 
vermocht, einen großen Teil der Bibel und die eiste 
Ordnung des Talmuds durchzuarbeiten, !und alles, was 



«21 



A. S. RabbinowJcz: Verblasste CesUlten. 



er erlernt hatte, war wohlverwahrt in seinem Gedächt- 
nisse. Hatte er ja sein Wissea mit schwerer Mühe, mit 
auSerordentlichem Fleiß und wahrer Auropferung er- 
woii>en. Es traf sich nicht selten, dafl er den ganzen 
Tag fastete, weil er nicht» zu essen hatte; gleichwohl 
lag er, wie immer, seinen Studien ob und gännle sich 
keine Minute Ruhe. 



Nach sieben Jahren trafen wir uns wieder in der 
Jeschiba*} zu W. 

Er zählte schon fünfundzwanzig Jahre und hatte 
bereits die schwierigsten Partien dos Talmuds be- 
wältigt. Einen großen Teil wußte er fast auswendig. 

Wir erneuerten unsem Freundschaftsbund und 
studierten zusammen. AuOerdem hatte er noch seine 
besonderen Studiengegenstände. Sein Fleiß war un- 
beschreiblich. Offenbarverdankteer seineErfolge nicht 
nur einer Entwicklung seiner Fassungskraft, sondern 
auch seines Gedächtnisses. 

Seine Liebe zur Lehre war aufrichtig und tief. 
Er schien sich gar keine Rechenschaft darüber zu 
geben, warum und wozu er lernte. Er lernte buch- 
stäblich nur um des Lernens willen. Die Kenntnis der 
Lehre war in seinen Augen das höchste und erhabenste 
Ziel. 

Der Rektor achtete ihn ungemein. Er erhielt das 
größte Stipendium unter allen Schülern: 75 Kopeken 
die Wochel Außerdem erteilte er einem jüngeren 
Kollegen Privatunterricht und erwarb damit — einen 
vollen Rubel monatlich. Davon lebte er und legte noch 
etwas beiseite, um sich Kleider anzuschaffen. Es war 
auffallend, daß er, trotzdem er stets m äußerster Dfliitig- 
keit lebte, viel auf Sauberkeit und anständige Kleidung 
gab. Es machte ihm nichts, Hunger zu leiden, aber sein 
Rock mußte stets ganz und sauber sein und auch gut 
sitzen. Er gestand mir nur einmal, daß er seit zwei 
Wochen nichts Warmes gegessen hatte, da er jeden 
Pfennig aufsparte, um sich einen besseren Oberrock 
zu kaufen. 

Nach einigen Tagen traf sich ihm eine günstige 
Gel^enheit, einen guten Rock zu bilhgem Preise zu 
erwerben. Einem jungen Durchreisenden war unter- 
wegs das Geld ausgegangen imd er wollte seinen Ober- 
rock veräußern, um die Fahrt mit der Bahn fortsetzen 
zu können. Man riet ihm, in die Jeschiba zu gehen, wo 
sich leichter Käufer finden könnten. Mein Freund 
probierte das Kleidungsstück an und war außer sich 
vor Freude. Es war wie eigens für ihn genäht 
und dabei aus besserem Stoff. Der Fremde forderte 
Rubel, aber der Käufer versicherte, daß er nicht mehr 
als vier besaß. Der Fremde ging auch auf diesen Preis 
ein. Jener beugte sich über seinen Koffer nieder, um 
das Geld hervorzuziehen, und eine Weile sann er nach. 
Dann trat er auf den Fremden hinzu. 

„Mein Herr, Sie wollen Ihren Rock verkaufen, da 
Ihnen das Reisegeld fehlt. Hier sind die 4 Rubel, alier 
Ihr Kleidungsstück kann ich nicht nehmen." 

„Aber ich bin ja kein armer Mann", antwortete 
dieser erstaunt. 



') Akademie für talmiidiBChe und rabbinieche Sludien 



HUOO REINHOLD NATIONALOALERIE, BERLIN. 

Am Wege. 

(Marmorgruppe 1S94.) 

„Jn diesem Augenblicke sind Sic arm. Übrigens 
gebe ich Ihnen kein Almosen, Gott behüte, sondern 
nur ein Darlehen, wenn Sie nach Hause kommen, 
können Sie es mir ja zurücksenden." 

Der Fremde war verwirrt und weigerte sich noch 
immer, das Geld anzunehmen. 

, .Genieren Sie sich nicht, das Sprichwort sagt, 
zwei Bei^e kommen nicht zusammen, wohl aber zwei 
Menschen. Besonders wir Juden; heute sind wir hier 
und moi^n verschleudert uns der \\ ind auf die anden- 
Seite des Ozeans." 

Diese schlichten Worte bewogen den Fremden 
endlich, das Geld anzunehmen. 

Als einige Monate vei^ingen und der Mann noch 
immer nichts von sich härrn ließ, lachten die Kollegen 



623 



A. S. Rabbinowicz: Verblasste Gestalten. 



624 



über die Leichtgläubigkeit meines armen Freundes, 
der sich von einem Windbeutel hatte verführen lassen 
(wir hatten nämlich inzwischen erfahren, daß unser 
Fremder ein leichtsinniger Patron war) und ihm seine 
sauer verdienten Ersparnisse von mehreren Monaten 
aufhalste. 

„Mich dauert das garnicht", antwortete er uner- 
schütterlich. Ich bin sicher, daß ich zu meinem Gelde 
komme." 

„Wieso v^irst du zu deinem Gelde kommen? 
Glaubst du, Gott wird dir für diesen Lumpen bezahlen ?** 
nef einer spöttisch 

„Ich bin überzeugt", antwortete jener, ohne sich 
an den Spott zu kehren, „daß, wenn mir, Gott behüte, 
ein Unglück zustößt und ich auf die Hilfe anderer an- 
gewiesen sein werde, so werde ich gute Menschen finden, 
die mir beistehen. Richtiger gesagt, habe ich nur meine 
Schuld abgetragen, denn ich war Seit meiner Jugend 
auf die Hilfe anderer ange^\iesen.*' 

* « 

* 

Weitere zehn Jahre waren vergangen. 

Ich gedachte oft meines Freundes und Schülers, 
während all der Zeit. Mit Vergnügen erinnerte ich mich 
seiner eigenartigen Melodie, die er beim Studium der 
Gemara anwendete, der Freude, die aus seinen Augen 
strahlte, wenn es ihm gelang, ein schwieriges Problem 
zu bewältigen oder einem Schüler, der ihn um die Er- 
klärung bat, mit engelhafter Geduld und Gelassenheit 
eine befriedigende Antwort zu geben. 

„Ich würde um keinen Preis einen so stumpf- 
sinnigen Kerl tausendmal eine und dieselbe Sache ein- 
trichtern", sagte ihm einer unserer Kollegen. 

„Wenn alle Menschen so strenge wären, wie du, 
dann bliebe freilich nicht viel zu tun übrig", versetzte 
er lachend. 

Es kam mir wiederholt der Gedanke, daß er wie 
kein zweiter, geeignet war, als Lehrer an einer großen 
Jeschiba zu wirken. Doch war es anders gekommen. 
Mein Freund wurde zum Rabbiner einer nahe gelegenen 
Stadt erwählt. 

Inzwischen beschlossen die Einwohner unserer 
Stadt, zu dem alten Bethamidrasch eine richtige, 
größere Jeschiba zu gründen. Es fanden sich einige, 
die das nötige Geld hergaben, man schaffte Utensilien 
und Bücher für die ärmeren Schüler an, auch für den 
Gehalt des Rektors sollte gesorgt werden. Nun hieß 
es, einen passenden Rektor ausfindig zu machen. 

Ich erinnerte mich meines Freundes, der jetzt 
Rabbiner war, und brachte ihn scherzweise in Vor- 
schlag, obgleich ich wußte, daß dies nicht gut anginge. 

„Das wäre ja eine Degradation und kein Avance- 
ment für ihn", wandte der Vorsteher ein. 



„Doch wäre es ja sehr hübsch für ihn, wenn er als 
Rektor in demselben Lehrhause fungieren würde, in 
welchem er zu lernen angefangen hatte." 

„Wollen wir unser Glück versuchen!" sagte der 
Vorsteher. „Vielleicht gelingt's. Schön wäre es ja!" 

Ich schrieb an meinen Freund und war glücklich, 
nach einiger Zeit eine einwilligende Antwort zu erhalten. 
Er ging mit Freuden auf meinen Vorschlag ein und war 
dankbar, daß wir ihm eine Stellung einräumten, die ihm 
ermöglichte, dem Studium obzuliegen, während das 
Amt eines Rabbiners ihm alle Zeit raubte. 

Nach zwei Wochen trug er in seinem alten Lehr- 
hause seine erste Lektion vor, zu der sich ein großes 
Pubhkum eingefunden hatte. 

Mir gegenüber, auf der anderen Bank, saß ein 
alter Mann und fing jedes Wort des Vortragenden auf, 
während reichliche Tränen aus seinen Augen flössen. 

An seinen schwieligen und abgearbeiteten Händen 
konnte man erkennen, daß er dem Arbeiterstande an- 
gehörte, aber seine Züge verrieten, daß er nicht zu den 
Gelehrten zählte, ich zweifelte keinen Augenblick, daß 
der alte Mann kein Wort von dem \'ortrage verstand, 
der sich in den höheren Regionen talmudischer Gelehr- 
samkeit bewegte. Es war mir ein Rätsel, warum er 
weinte, da der Inhalt des Vortrages keineswegs danach 
war, Rührung zu erwecken. 

Später erfuhr ich, daß dies der Vater meines Freun- 
des war; er war ein schlichter Zimmermann, der sein 
ganzes Leben mit Beil und Balken zu tun hatte. Jetzt 
lebte er bei seinem Sohne. Ich betrachtete den Alten, 
der noch immer weinte, und bemerkte allsogleich, 
daß es Tränen der Freude waren. Der Greis war be- 
glückt, seinen Sohn als Meister so vieler Jünger zu 
sehen, die seinen Worten lauschten. 

Kaum zwanzig Jahre sind seit der Zeit vorüber, 
und es ist, als trennten uns mehrere Geschlechter von 
jenen Menschen. Mein Freund ist längst tot, die 
Jeschiba ist aufgehoben, das Lehrhaus ist in einen 
Trümmerhaufen verwandelt. In einer anderen Straße 
erhebt sich ein schönes, funkelnagelneues Bethamidrasch 
mit funkelnagelneuen Stukkaturen und anderen Ver- 
schönerungen, daher sind die Preise der Plätze dort 
teuer, und wer einen vollen Geldbeutel hat, der sitzt 
obenan. Der Vorsteher achtet strenge darauf, daß 
alles so neu bleibe wie es ist, daher wird dort keinem 
armen Schüler gestattet, sich auch nur zu erwärmen. 
Nach dem Abendgebete brummt einer ein paar Ab- 
schnitte Mischnajoth her, und nur zwei, drei Greise 
hören ihn an und schlummern dabei. Sonst ist alles 
ganz modern. 



Eia Beichbegabter 
dahinga^angen : Ignaz BrBll, der bekannte Wieti<*r 
KomponiBt, ist am 17. Septentber nach mehrtägiger 
Agonie im Kreise seiner Familie zu Wien Terscbiedeu, 
nachdem er vor kaum Jahreefriat seinen 60. Geburtstag 
gefeiert hat Sein Leben verlief zumeist in den Bahnen 
eines geordneten Boargeoisietams, kaum reich an sonder- 
lichen Elreigoissen ; aber auch sein KbnBtlerwallen, im 
Ä2ifong noch die R«ise- 
Inst der Jagend zeigend, 
lenkte gar bald in ruhige 
Bahnen ein. Den 7. No- 
vember 1846 zu ProBsnitz 
in K&hren geboren, sie- 
delte Ignaz BrfiU bereits 
als Dtetj&hriger mit den 
wohlhabenden Eltern nach 
Wien aber. Früh ent- 
wickelte sich dort sein 
miuikaliBches Talent, früh 
hatte er aber auch Ge- 
legenheit, durch tftchtige 
Lehrer, wie Epstein fBr 
das Elavierspiel, Bnfi- 
natscha für Komposition 
und Dessof fttr Instru- 
mentation, sich zu k&nst- 
lerischer Reife zu ent- 
falten. Schon mit 15 
Jahren spielte der junge 
Brflll zusammen mit sei- 
nem Lehrer Epstein öffent- 
lich Mozarts „Konzert fdr 
zwei Klariere". Damals 
begann er auch die ersten 
Kompositionen niederzu- 
schreiben. Er hatte dabei 
nichts Ton jenen Eigen- 
schaften, die „Wunder- 
knaben" so oft wenig angenehm auszeichnen, er war 
von ungemeiner Bescheidenheit und vornehmer Einfach- 
heit, frei von jeglicher Originalitäts- und Effekthascherei, 
Eigenschaften, die auch dem zum Manne gewordenen 
stets erhalten blieben. 

Als Pianist lenkte er znerst die breitere Oeffentlich- 
keit auf sich. Auf Konzertreisen durch Oesterreich und 
Deutachland wussle er seine Hörer vor Allem durch 
die grosse Sachlichkeit seiner pianistischen Darstellung 
zu fesseln. Namentlich Beethoven und Schumann wShIte 
er sich für seine Interpretation. Auch in GemeioBchaft 
mit anderen Künstlern, wie Beuschel, Joachim, der 
Nemda konzertierte er und wurde bei derartiger Gelegen- 
heit in den Jahren 1678 und 81 zu London überaus 
gefeiert Hit Torliebe sucht ihn Brahms auf und gar 



lONAZ BRÜLL. 

Von Dr. Bogumil Zepler. N«ehdniek vtrtxntD. 

Judas Söhnen ist soeben manche seiner Kompositionen nahm Meister Johannes 



FRANZ VON LENBACH. 

Ignaz Brüll. 

(geil. 17. Septtmber 1907). 



mit Brüll zum ersten Male durch. 

Gar bald aber verblasete dar Ruf des 
vor jenem des Tondichters Brüll. Es war am 22. Dezember 
1875, als an der Berliner Königlichen Oper mm ersten 
Male die zweiaktigo Spieloper „Das goldene Kreuz" 
in Szene ging und den Bnbm Brülls in alle Lande trug. 
Viin jenem Tage an wusate man, was Brülls eigenste 
Note war, die Begabung 
für die heitere Grazie, für 
das volkstümliche Senti- 
ment. Der durchschla- 
gende Erfolg dieser Oper 
machte sie auch zu einer 
der Lieblingsopern Kaiser 
Wilhelms 1., der sich dar- 
über zu dem Komponisten 
sehr herzlich Susserte: 
„Ihr Wiener seid doch 
glückliche Menschen. Die 
Melodien kommen Euch 
über Nacht und so heiler 
und herzenafroh tu singen, 
versteht auch Niemand 
wie Ihr!" Leider blieb 
, den späteren Opern Brülls 
ein gleicher Erfolg ver- 
sag! Während „Das gol- 
dene Kreuz" noch heute 
nach 32JahrenBepertoire- 
oper der meisten Bühnen 
ist, konnten es sein 
„Landfriedo" (1877), 
„Königin Marietta" 
(1883), „Das stei- 
OELGEMAELDE. nemo Herz" (1888), 
„Gringoire" (1892), 
„Der Hnaar" (1898) 
zumeist nicht über Eiu- 
tagserfolge hin ausbringen. Und doch steckt in allen diesen 
Werken des Geistes, den wir ans seinem „Goldenen 
Kreuz" kennen lernten, und in der Mehrzahl der Fälle 
sind es die allzu wenig interessierenden Textbücher, an 
denen die Kunst des Komponisten Schiffbruch litt. Was 
Brüll jenseits der Oper geschrieben, ist, ubwohl alles 
den Stempel des Künstlers und feinsinnigen Musikers 
trägt, nicht von gleicher Bedeutung; so eine Sj-mphonie, 
Orchester - Serenaden, Ouvertuien, Klarier - Konzerte, 
Kammermusikwerke (Violinkonzert, Klariersuiten, Sonaten 
Klavierdnos, Violinsunaten u. A.). Am meisten Bedeutung 
nuter diesen Dingen beanspruchen wohl die et^va 
70 Lieder für sich, die uns Brüll hinterlassen und die die 
ungemeine Vielseitigkeit seines liebenswürdigen Talents 
erweisen. Wir mochten unter ihnen namentlich die 



627 



Dr. Bogumil Zq>ler: Ignaz Brüll. 



628 



allerbekanntesten hier genannt haben: „Es war *ne Maid'S 
„Polly Steward", „An einen Schmetterling", „Willst 
Du mein sein", „Gondoliere", „Sechse, sieben oder achtes 
„Der Steinklopfer'S »Auf dem Maskenball". Auch einiger 
vielgespielter Klavierstücke, besonders einiger Mazarkas, 
Impromptus und Etüden möchten wir an dieser Stelle 
noch gedenken; sie alle zeichnen sich durch jene Anmut 
der Melodik und den feinen Formensinu aus, der Brülls 
KfLnstertum anhaftete. 

Brüll war Zeit seines Lebens seiner Heimat Wien 
treugeblieben. In den 70 er Jahren wurde er daselbst 
Lehrer an den Horakschen Klavierschulen und wirkte 
seit 1881 dort als Professor und artistischer Mitdirektor. 
Nur im Sommer verliess er stets sein geliebtes Wieü, 
um auf einer reizenden Besitzung im idyllischen Unterach 
am Mondsee mit seiner Familie der Ferien zu ge- 
messen. 

Die künstlerische Persönlichkeit Brülls ist nicht die 
eines Himmelsstürmers. Wie wir schon wiederholt an- 
deuteten, sind es einesteils liebenswürdige Züge einer 
feinen Grazie, andrerseits ein dem deutschen Volkstum 
nahestehendes Ton gefühlvollen Sentiments, aus dem sich 
das Bild seiner Melodik und Bythmik zusammensetzt. 
In beiden liegt der Schwerpunkt seines Schaffens; daher 
denn auch die besondere Anpassungsfähigkeit an die 
Forderungen der Spieloper I Freilich die Ambition ein 
Neuerer zu sein, hatte Brüll nicht: die übeikommene 
Form füllte er mit neuem Inhalt, und seine Harmonik 
und Instrumentierung ist die uns von den Romantikem 
des 19. Jahrhunderts her wohlbekannte. Vielleicht wurde 
dieses Sichverschliessen gegen die Forderungen der Mo- 
derne mit Schuld daran, ihm die späteren Erfolge zu 
erschweren ! 

Eine seltene Harmonie bestand zwischen dem Menschen 
Brüll und dem Künstler. Dieselbe Einfachheit und 
liebenswürdige Natürlichkeit zeichnete Beide aus. 
Schreiber dieses hatte durch eine erst kürzlich geführte 
und nun leider jäh unterbrochene Korrespondenz mit 
dem dahingeschiedenen Meister Gelegenheit, sich aus 
eigener Anschauung davon zu überzeugen. Diese Korre- 
spondenz zeitigte aber noch eino andere wertvolle Kennt- 
nis, die namentlich für die Leser von Ost und West 
eine gewisse interessante Seite hat, nämlich die Antwort 
auf die Frage: welches war Brülls Standpunkt in Dingen 
jüdisch-orientalischer Musik? 

Ich hatte mich in dieser Angelegenheit an Brüll 
gewandt, da ich für die von dem Berliner „Verein für 
jüdische Kunst^ veranstalteten Konzerte auch einige Doku- 
mente modemer jüdischer Komponisten zu haben wünschte. 
Zu meiner Freude wurde mir die Nachricht, dass Brüll 



jüdische Verse komponiert hätte; allerdings in Bezng auf 
den Begriff „Jüdische Mnsik^ stand er — übrigens in genau 
derselben Weise wie Goldmark — auf einem durchaus 
negativem Standpunkt. Doch lassen wir ihn lieber 
selbst reden. „Ich kenne eigentlich^ — schreibt er — 
„keinen jüdischen Musikstil. Was man in den Synagogen 
hört, ist zum weitaus grössten Teil von den Kantoren 
der betreffenden Tempel komponiert, arrangiert (in einem 
türkischen Tempel in Wien hörte ich einen steirischen 
Ländler) und durchaus europäisch. Der Sprech -Gesang 
des Vorbeters ist — mit wenigen Ausnahmen — nicht 
melodische Musik, sondern Bezitation. Ein orienta- 
lischer Musikstil ist mir bekannt aus der „Wüste^ 
Davids, aus einem Werk über orientalische Musik, das 
ich einst in der Wiener Hofbibliothek sah. Goldmarks 
„Königin von Saba^ und Sakuntala- Ouvertüre finde ich 
ebenfalls orientalisch, aber — jüdisch?? 

Die jüdischen Komponisten komponierten und kom- 
ponieren nicht anders als christliche; ihr Stil ist teils 
persönlich, teils deutsch (wie bei Mendelssohn) oder fran- 
zösisch, italienisch (wie bei Meyerbeer), je nach ihrem 
musikalischen Bildungsgang. Darum, scheint mir, hat das 
Betonen der jüdischen Nationalität in der Musik nicht dieBe- 
rechtigung die z.B. russische Musik hat.*' Brüll, dem 
es nicht beikommen konnte anders zu schreiben wie er 
dachte, hat denn auch in seinen Kompositionen jüdischer 
Verstexte alles andere geboten als orientalische Musik. 
Seine drei Lieder nach Gedichten des mittelalterlichen 
jüdischen Dichters Jehuda Halevy sowohl, wie auch eine 
Vertonung des „hohen Liedes^ sind tiefempfundene, 
charakteristische Kleinbilder, deren Texte jedoch ebenso 
christlichen Ursprungs hätten sein dürfen — im Gegen- 
satz zu Goldmark, der jüdischem Stoftigebiet zunieist 
auch jüdische Musik unterlegt. 

Was Brülls Ansicht selbst anbetrifft, so kann man 
darüber — so natürlich und selbstverständlich sie klingt, 
doch auch anders denken. Es würde zu weit ab von 
dem eigentlichen Inhalt dieses Artikels führen, wollten 
wir darauf näher eingehen. Jedoch sei soviel schon hier 
bemerkt, dass Erscheinungen wie „Offeiibach^ und „Bizet^ 
allein aus der „französischen Note^ nicht zu erschöpfen 
sind; aber auch von dem nach Brülls Worten „deutsch- 
schreibenden Mendelssohn^, von dem „französisch -ita- 
lienisch schreibenden Meyerbeer^ wissen wir Alle, wie 
viel sie Beide in ihrer Musik ihrer Rasse Tribut gezahlt 
haben. Und Ignatz Brüll selbst? Obwohl das Bassen- 
hafte in seiner Kunst sehr zurückgedrängt erscheint, 
weisen doch auch an ihm gewisse das Formale und 
Bythmische betreffende Züge auf seine Zugehörigkeit 
zu Judas Söhnen. 



629 



630 



,,Die Cösung ber Jubenfrage- 

eine Rntwort von CO. R. f^lausner« 



ii 



Nachdruck verboteo. 



Im Sommer biefes Jahres bat Dr. ODoses 
einer grösseren 3al)l von (Dännem unö Srauen 
folgenöe vier fragen 3ur Beantwortung vorgelegt: 

1. Worin besteht nad) ll)rer flnsd)auung bas 
Wesen ber Jubenfrage? 

2. Glauben Sie, bass bas ]ubenproblem ein fOr 
alle Cönber gleiches Problem ist, ober glauben 
Sie, bass bie Jubenfrage in ben versd)iebenen 
Cänbern aud) eine versd)iebene Cösung 
erl)eisd)t? 

3. Worin bestel)t nad) ll)rer flnsd)auung bie 
Cöfung ber Jubenfrage? 

4. Wenn Sie für bie versd)iebenen Cänber eine 
versd)iebene Cösung ber Jubenfrage für nötig 
erad)ten, worin bestel)t biese Cösung ber 
Jubenfrage a) für Deutsd)lanb, b) für 
Rufelanb ? 

Dr. (Doses \)q\ bie Antworten in einem 
Bud) vereinigt, bas unter bem Ziiel „Die Cösung 
ber Jubenfrage** bemnäd)st bei Curt Wiganb, 
Berlin*Ceip3ig, erscj)einen wirb. 

Auf Wunsd) bes fSerausgebers veröffentlid)en 
wir l)ier bie Antwort, bie (D. fl. Klausner ein= 
gesd)id^t l}at: 

Sie l)aben bie Sreunblid)heit gel}abt, mir vier 
fragen vor3ulegen. 

ODeine Antwort bestel}t in bem Bekenntnis 
meiner Un3ustänbigheit. 

nur wer (Ditglieb eines Be3irhsvereins ist, l)at 
bas ÖlOd^ für jebe frage eine autorative Antwort, 
für jebes Problem bie lösenbe Sormel bereit 3u 
l)aben. Id) bin nid)t (Ditglieb eines Be3irhsvereins; 
id) bin es so wenig, bass id) nid)t einmal an ben 
Wert von Sormeln glaube. 

Dod) ba Sie meine (Deinung 3U l)ören wün* 
sd)en, will id) ll)nen gern sagen, was id) über 
bie „Jubenfrage** benNe; ll)ren Cesern gegenüber 
müssen Sie bie Verantwortung bafür tragen, bass 
Sie einen Caien 3u öffentlid)er flussprad)e veran* 
lasst l)aben. 

Wir Juben sinb, feit wir gesd)id)tlid)es Ceben 
l)aben, anbers als anbere. 

Was uns anbers als anbere gemad)t l)at, bas 
war unsere Religion, bie uns berief. In strenger 
Rbsonberung gegenüber allem fSeibentum bie 
(Dissionare bes mit bem Öottesgebanhen unlösbar 



verknüpften flDensd)l)eitsgebanNens 3U sein. Unb 
ber ÖottesgebanNe bestel)t in ber aus (Densd)= 
beitsliebe geborenen, (Densd)l)eitsliebel be3wed^en= 
ben 6ered)tigheit. 

Diesen (Densd)l)eitsgebanNen l)aben unsere 
Propl)eten verhünbet unb uns eingesd)ärft unb 
allem anberen vorangestellt, selbst in ber 3eit, 
ba wir eine Ilation waren unb eine Ilation sein 
sollten. 

flnbers als anbere sinb wir von je gewesen, 
unb ben anbern gleid) 3U sein l)aben wir von je 
gestrebt balb burd) Behel)rung ber anberen 3u 
uns, balb burd) unsere Anpassung an bie anbern. 
Beibe Strömungen l)aben immer nebeneinanber be* 
stanben, wir l)aben uns gleid)3eitig assimiliert unb 
abgesonbert, unb für bas eine wie für bas anbere 
l)at es Propheten gegeben. Die Propl)eten beiber 
Rid)tungen l)aben sid) vergeblid) bemül)t. Denn 
man assimiliert sid) nid)t weil man will, sonbern 
weil man muss, unb man wiberstrebt ber flssimi* 
lation nid)t, weil man will, sonbern gleid)falls nur 
aus innerem, naturgewaltigem Drang. Dass wir 
für freien Willen l)alten, was in Wal)rl)elt unbe* 
wusster 3wang ist, berul)t auf Selbsttäusd)ung. 

So mand)e l)aben sid) Im Cauf ber Selten 
von uns getrennt, so mand)e sinb 3u uns ge* 
kommen; im grossen unb gan3en Ist unsere 6e* 
memsd)aft geblieben - anbers als anbere. 

Dass man unser flnbefssein als eine Art Un^ 
red)t empfinbet, bas wir begel)en, bass man es 
uns 3um Vorwurf mad)t ~ barin bestel)t eben bas 
flnberssein ber flnberen, bie ben flDensd)l)eits^ 
gebanhen nod) nid)t voll in sid) aufgenommen 
l)aben, bie ben Oottesgebanhen ber 6ered)tigheit 
nur mit einsd)ränhungen wollen gelten lassen. 

Die Rbneigung gegen bie, bie anbers sinb, 
nimmt tausenb Vorwänbe, nad) Cänbern unb Sittten 
unb Selten versd)ieben; sie äussert sid) l)ier burd) 
f^unbgebung ber Verad)tung, bort burd) 3urüd^= 
set3ung, bort burd) fSanblungen ber Grausamkeit. 

Wir Juben l)aben es erfal)ren unb erfal)ren es 
fortgeset3t nid)t wir allein. 

Wann bles aufl)ören wirb? 

Sie können mid) eben so gut fragen, wann 
bas messianisd)e Reid) kommen wirb. 



631 



M. A. Klausner: Die Lösung der Judenfrage. 



632 



Wie wir ]uben ju einer Sonöerstellung im 
Staat gehommen sinb, ist eigentümlid) genug: 

Vor 3al)rl}unberten liebten bie sid) festigenben 
Staatsgebilbe, selbst bei steigenbem Überwiegen 5er 
rein weltlid)en Interessen, sid) tl)eohratisd)'tl}eolo* 
gisd)es Oewanb nad) altiübisd)em (Duster an5u» 
legen. Wol}l nid)t allein, aber vomel}mlid) aus 
biesem Örunb wussten sie bie Juben nid)t anbers 
benn als einen Srembhörper 3u betrad)ten unb 3U 
bel)anbeln. 

Bierin ist bie Quelle ber Anomalie 3U finben, 
in bie man uns ]uben forma lred)tlid) gewiesen l)at, 
unb in ber man uns aud) in vielen von ben Cänbern 
tatsöd)lid) nod) festl)alt, bie aus bem Unred)t bieses 
ge8et3lid)en Sormalred)ts sid) emporgerungen unb 
von il)m sid) freigemad)t l)aben. In bie Auffassung 
vom Red)tsstaat ragt auf bem Gebiet ber VerwaU 
tungspraxis unb teilweise aud) auf bem ber 6eset3= 
gebung nod) bie Ruffassung vom konfessionellen 
Staat l)inein. Daraus ist bie 3wiespältigNeit ent^ 
stanben, unter ber in erster Reil)e wir Juben 3U 
leiben t)aben, bie aber 3ugleid) bem Staat nad)teil 
bringt, inbem sie nüt3lid)e Rräfte ber ODitarbeit an 
ber gebeit)lid)en £ntwid^lung bes gemeinen Wesens 
ent3iel)t. Diese 3wiespältigheit bilbete sid) aus, 
als ber d)ristlid)e Konfessionelle Staat ben Juben 
als Rnbersglöubigen von ber politisd)'bürgerlid)en 
6esellsd)aft aussd)loss. Sie 3wang bie Juben 3U 
einem 3usammengel)örigheitsbewusstsein, bas im 
Cauf ber 3eit md)t an ber anfänglid) rein religiösen 
Örunblage l)aften konnte; unb sie blieb bestel)en, 
nad)bem ein mel)r nod) törid)tes benn grausames 
Vorurteil inmitten einer nad) il)ren Bestanbteilen 
kaum nod) erkennbaren (Disd)lingsbevölNerung bie 
Juben als rassenversd)ieben in berselben Aus» 
sd)liessung l)alten wollte, wie vorbem als reli* 
g i o n s versd)ieben. 

ein über weite 3eiträume sid) erstred^enber 
gesd)id)tlid)er Werbegang kann nid)t plöt3lid) seine 
Wirkung verlieren, nid)t plöt3lid) unbead)tet bleiben. 

Cs ist eine missverstänblid)e Auffassung, bass 
bie Jubenl)eit als sold)e eine Organisation besitse, 
bie ol)ne ben 3wang einer staatlid)en flufsid)t unb 
ol)ne ben f5alt einer staatlid)en Anerkennung burd) 
aller Seiten Wed)sel ungesd)wäd)t weiter funktio^ 
nieten könne. Hod) Jal)rl)unberte nad) ber 3er* 
trümmerung bes äusseren Symbols unserer natio= 
naien existen3, bes bilbnislosen Tempels in Jeru- 
salem, nad) ber Auflösung bes jübisd)en Reid)es, 
fanben unsere Väter sid) gebrungen, bie Sat3ungen 
ber tl)eokratisd)en Verfassung aud) ol)ne bas Sub= 
strat eines räumlid) gesd)los6enen Staatswesens 



in Geltung 3U erl)alten. Sie sd)ufen bie Institution 
eines Oberl)aupts, bem sie in freiwilligem 6et)orsam 
sid) unterwarfen. Jal)rl)unberte l)inburd) l)atte bie 
Jubenl)eit in Asien nad) fSerobes einen Sürsten> 
eine Art Stattl)alter bes göttlid)en Willens, ber 
unter d)arakteristisd)em ßinweis auf bas Provi^ 
sorisd)e ber einrid)tung unb bie auf bie enblid)keit 
bieses Provisoriums gerid)teten fSoffnungen „Resd) 
Galuta", b. i. „fürst ber Verbannung" genannt 
würbe. Aber bas Königtum jenes f^önigs ol)ne 
Rrone 3ermorsd)te unb versd)liss mel)r unb mel)r, 
bis bie erbsd)aft so gering geworben war, bass 
sid) für sie kein Crbe me\)x fanb. Jet3t war aud) 
ber Sd)atten ber einstmaligen organisierten 3u* 
sammengel)örigkeit versd)wunben. 

Obwol)l nun bas Wesen unb sein Sd)atten 
gesd)wunben waren - ber völlig unbered)tigte 
Glaube an bie Sortbauer ber organisierten 3u=^ 
sammengel)örigkeit blieb bestel)en unb bel)errsd)te 
fortgeset3t, bewusst unb unbewusst, bie Geset3^ 
gebung, bie sid) mit uns besd)äftigte. Die 
wunberlid)e Vorausset3ung l)atte unbestrittene 
Geltung, bass bie Juben il)re 3ivilgeset3gebung 
burd) lange Jal)rl)unberte unter völlig umgewänbelten 
politisd)en' unb wirtsd)aftlid)en Verl)ältnissen um 
veränbert bewal)rt l)ätten, wie naturgemäss il)re 
ewigen religiösen Sat3ungen, bloss weil in ber 
3eit bqs iübisd)en tl)eokratisd)en Staates kein 
erkennbares äusseres 3eid)en bie Gebote ber 
Offenbarung von ben staatlid)en Anorbnungen 
untersd)ieb. Weil bie gleidien religiösen 
Quellensd)riften für alle Juben ber Welt mass- 
gebenb waren, set3te man voraus, bass biese 
Gemeinsamkeit aud) alle äusseren Cebensbebing* 
ungen ber Juben burd)bringe, wäl)renb nad) allen 
€rfal)rungen bod) nur ber gemeinsame Wille sid) 
bauernb in Geltung l)alten kann, bem es vergönnt 
ist, bem Wiberstreben wirksamen 3 w a n g ent* 
gegen3ustellen. 

ein fast 3weitausenbiäl)riges Bestel)en in ber 
Diaspora unb unter ben ersd)werenbsten Bebing^^ 
ungen bürfte uns - abgesel)en von allen religiösen 
Verl)eissungen - mit ber 3uversid)t un3erstörbarer 
Dauer erfüllen, verbietet {ebenfalls, mit unserm 
Untergang in absel)barer 3eit 3U red)nen. Der ge« 
beil)lid)e Bestanb bes Jubentums im Staat ist über* 
bies eine Hotwenbigkeit für ben Staat aud) im 
Interesse ber anberen Ronfessionen. Sür biese 
ist es ein bebenklid)er Gewinn, wenn il)nen frembe 
eiemente 3ugefül)rt werben, beren neues Bekenntnis 
lebiglid) bie Besiegelung ber Untreue gegenüber 
bem alten Bekenntnis ist. Sold)e Clemente sinb 



633 



M. A. Klaussner: Die Lösung der Judenfrage. 



634 



Probuhte ber DeNompoaition unb trägen Dehom- 
Positionen überall)) in, oud) wenn sie bas nid^t 
wollen unb nidjt wissen. 

Unsere So nÖ erst eilung in ber Öesellscljaft 
ist teilweise ein Ergebnis unserer Sonberstellung 
im Staat, folgt 3um anbeten Cell aus unserer 
Abweljr gegen ftesimilation. 

Wer sid) gegen bie Uniformierung auflel}nt, 
muss bereit sein, bie Konsequenzen 3U tragen. 

Cin unl)öflid)es Spridjwort sagt: .]ebem Darren 



getollt seine Rappe." Das Spridjwort mag wal)r 
sein. Darum aber braud)t öer nod) nidjt weniger ein 
Darr 3U sein, bem nur bie ßappe bes anberen gefällt. 

(Dir gefällt unsere Rappe. 

$ünf3el)nl)unbert Jotjre waren wir unter uns 
unb l)aben unsere Rappe getragen, fln 3wei= 
tousenb ]al>re tragen wir sie in ber Diaspora. — 
Unb nun soll id) lljnen sogen, wann wir unb bie 
anberen alle unter einen ßut gebradjt sein 
werben? — ld> weiss es wirNlid) nidjt. 



S. 1. ABRAMOWITZ. 

(Mendele Mocher SToriim). 
Literarische Studie von Dr. Eliaschoff, Warschau. NMhdturt •nrnotn. 

I. Abramowitz genieLten bedeutet für mich dasselbe 

Empränglichen Sinnes einen groben Sclirirtst«Iler wie das Aufrollen eines alten Adelsbriefes, um sich 

genießen, heißt Zwiesprache halten mit seinem eigenen einmal klar bewußt zu werden, woher wir denn eigent- 

Ich, gleicht einer trauten stummen Unterredung mit lieh stammen. Wir lernen begreifen, wie sich aus den 

seinem eigenen Gewissen oder mit seiner eigenen Ver- alten Ghettojuden der osteuropäische Jude der Gegen- 

gangenheit. Mitunter haben wir auch das Gefühl, als wart entwickelte. Derselbe Ideatismus, der heute den 



Enkel beseelt, hatte ehemals den 
Großvater begeistert. Der unter- 
schied iKtsteht nur im Inhalt. 
Uns drücken noch immer die- 
selben Fesseln; wir leiden noch 
heute infolge unserer einstigen 
\'nlksgebrechen. 

II. 
Die Welt, die sich in Abra- 
mowitzens Werken spiegelt, ist 
die jüdische Ghettnwelt in den 
vierziger und fünfziger Jahren 
des vorigen Jahrhunderts. Wenn 
auch seine Schöpferkraft sich bis 
auf unsere Tage in ungeschwäch- 
ter Frische erhalten hat, so ist 
dennoch sein Blick stet« nacli 
rückwärlsaufjeneZeitcn gerichtet. 
Er ist unter den Volksdichtern, 
die uns eine künstlerische Syn- 
tliesc des ehemaligen Ghetto- 
den Judentums gugeben haben, der größte und tiefste, 
einzigen Spiegel vom Leben unserer Großväter und Ich will vi rsuchen, im engen Rahmen eines Artikels 

Urgroßväter. Mit anderen Worten: sie zeigen mir eine \'orstellung von Abramowitzs Synthese zu geben, 
die tiefsten Wurzeln, aus denen der neuzeitliche Jude und ich werde mich glücklich schätzen, wenn mein 
im Osten emporgewachsen ist. Ich finde hier Ge- Versuch beim ernsten Leser das Verlangen wecken 
legcnheit, mich mit der ganzen abgerundeten Welt- wird, mit diesem Meister und größten Psycholt^n des 
anschauung vergangener Generationen vertraut zu jüdischen Volkslebens näher bekannt zu werden. 
machen. Und da die ehemalige Weltanschauung Zunächst führt uns Abramowitz in seinen Ghetto- 

in uns einen Komplex von Gefühlen und Liebens- Schilderungen jene jüdischen Votksmassen vor, in deren 



offenbare sich uns in diesergenuß- 
reichen Stille die Psyche eines 
ganzen Volkes. Abramowitz zählt 
zu denen, die uns der jüdischen 
Vergangenheit, der kollektiven 
Seele des Golusjudentums von 
Angesicht zu Angesicht gegen- 
überstellen. Wie gering jedoch ist 
die Zahl derer, die Abramowitz in 

vollem Maße genießen 

.\bramowitz genießen ist für 
mich gleichbedeutend mit dem 
Untertauchen in die alte "^ver- 
gangene Welt; in die Welt, wo 
Armut und Kinderglaube I zu- 
sammenhausten, wo in [einem 
schlammigen Pfuhl Tausende 
von jüdischen Seelen zappelten, 
Menschen, die ihren Leib mit 
Lumpen eines Bettlers bedeckten, 
und ihre SUin, eingebildeten 
Königskindem gleich, mit pa- 
pierenen Kröne he n schmückten. 
Ich erblicke in den Werken Abramowitz's 



werten erzeugte, von denen wir uns heute noch nicht 
ganz frei machen können — so entdecke ich im 
Juden der Gegenwart vieles, was seine Säfte aus den 



eingefallenen Hütten die Armut aus allen Spalten 
und Spältchen „pfeift". Die jüdische Armut erhält bei 
Abramowitz ein höchst wunderliches Aussehen; 



alten Ghettowurzeln zieht, aus Abramowitzens fälltschwer, ein Gleichnis zu finden. Sie läßt sich weder 
jüdischer Welt. mit der Armut in den großen europäischen Städten, 



635 



Dr. Eliaschoff, Warschau: S. I. Abramowitz. 



636 



noch mit der der russischen Bauern vergleichen. Die 
Armen einer Großstadt sind in der Regel Verlassene, 
Entkräftete, Trunkenbolde, kurz: der Abfall der 
Gesellschaft, der dahinsiecht und keinen Nachwuchs 
zurückläßt. Was in dieser Bevölkerungsschicht an 
leistungsfähiger Kraft noch vorhanden ist, wird in den 
sogenannten Sweat- Shops ausgenutzt oder von Leuten 
mit unsauberem Gewerbe ausgebeutet. Der jüdischen 
Armut ist die Fabrik fremd. Die jüdische Armut lebt 
in kleinen Städten und in armen Gemeinden, ist 
fruchtbar und mehrt sich, und kann auf einen Stamm- 
baum von Vätern und Großvätern zurückblicken, 
die gleichfalls arme Leute waren und im Finstem 
wohnten. Der russische Bauer ist bei all seiner Armut 
doch gewissermaßen Herr auf seinem eigenen Stückchen 
Boden; seine Not währt nicht ewiglich ; man empfindet, 
daß früher oder später eine Besserung der Lage eintreten 
muß. Das Reich selbst sinnt auf Mittel, die Armut des 
Bauern zu verringern. Bei der jüdischen Armut aber 
versagt jedes Heilverfahren; der Jude ist aller Mittel 
bar, sich aus der Not herauszuhelfen, und bei den 
gegenwärtigen Verhältnissen im Osten, unter denen 
dort der Jude sein Leben fristet, dürfte kaum ein 
radikales Mittel gegen die schreckliche jüdische Armut 
ausfindig gemacht werden. Er lebt wie ein Städter 
selbst in den Ortschaften, wo ihn das Leben der Mutter 
Erde und der Natur näher bringen müßte, und hungert 
wie ein Bauer im Dorfe zu Zeiten einer Mißernte. 

Denn besitzt die jüdische Volksmasse, die uns 
Abramowitz vorführt, eine gar merkwürdige Ver- 
gangenheit. Sie ist der Träger einer zweitausendjährigen 
Geschichte. Der Geist der Großväter lebt noch unter 
ihnen ,und sie wandeln in den Fußtapfen vergangener 
Geschlechter. Diese Gemeinschaft lebt von der sie 
lungebenden Welt isoliert, wie eine Insel auf dem 
weiten Meer, und alles das, was im Lande, in dem sie 
wohnt, vorgeht, berührt sie nur oberflächUch. Die 
Menschen dieser „Gemeinschaft" sind derart unzer- 
trennUch verbunden und aneinander gekettet, daß 
demjenigen, der aus ihren Reihen treten will, nichts 
anderes übrig bleibt, als sich „in des Meeres Wellen zu 
stürzen", die ihn auf ewig weit, weit weg von der 
jüdischen Welt tragen. 

Das enge Band mit der toten Vergangenheit, 
vollends aber die Armut und Isoliertheit machten sie 
zu Asketen, erzeugte in ihrem Herzen die Verachtung 
aller Lebensfreuden dieser Welt. Sie leben in be- 
ständiger Angst, sie könnten, Gott behüte, einen Schritt 
von dem engen Pfade weichen, den ihnen die „Alten" 
gezeigt haben ; sie verzichten selbst auf jene harmlosen 
Vergnügungen, die nach dem Religionsgesetz erlaubt 
sind. Sie bauen einen Zaun vor den andern : sie bauen 
stets engere Käfige für die ruhelosen Seelen. Sie ver- 
graben ihre fünf Sinne und gebrauchen sie nur so weit, 
als es ihnen für dieses finstere Leben notwendig er- 
scheint. Sie gebrauchen das Ohr nur so weit, um dem 
Baal- Köre (Thoravorleser) zu lauschen, das Auge, um 
in der Mesuso oder in der Thorarolle Korrekturen 
vorzunehmen und die Stimme, um „Schma-jisroel" 
zu rufen. 

Dabei besitzt diese Judengomeinschaft eine wunder- 
^^"^o alte Kultur. In der „Schul" wie im Heth-hami- 



drasch verhallt nie die volltönende Stimme des 
„Mathmid" (Fleißigen)* In halb vermoderten Schränken 
stehen Dutzende von alten Folianten mit zerrissenen 
Einbanddecken und zerknitterten schmierigen Blättern. 
Eine ganze Armee von Büchern bestimmt jeden Schritt 
dieser Judengemeinschaft. Der Talmud erhält den 
Geist rege, die Moralbücher erwärmen das Herz, und 
der Midrasch und der Sohar erfüllen die düstere Seele 
mit lichtvollen Traumgebilden. 

Gleichzeitig mit der asketischen Weltanschauung 
beherbergt diese Gemeinschaft zwei Gedanken an das 
ewige Leben. Sie glaubt erstens fest und unerschütter- 
lich, daß sie, die Gemeinschaft, das „Salz der Erde" 
sei und daß das jüdische Volk nie untergehen werde; 
ebenso fest und unerschütterlich glaubt sie, daß jeder 
Jude nach seinem Ableben einen Anteil am Jenseits 
erhalte, und daß er am jüngsten Tag zum ewigen 
Leben auferstehen werde. 

Sie verachten die Lebensfreuden dieser Welt und 
vergöttern die Bibel, das Produkt jenes Volkes, das 
jede Askese verpönte und welches den Lebensquell 
durch alle fünf Sinne strömen ließ. Sie dünken sich 
als die „Auserwählten" und fristen dabei ein — Hunde- 
leben. Sie glauben ans Jenseits und ihre Ideale gehen 
über die Verheiratung ihrer Söhne und Töchter, die 
Vorbereitung eines Säckchens Palästinaerde und Lein- 
wand auf Totenkleider nicht hinaus. Sie träumen 
von einem ewigen Leben, und ihrer Sorgen Anfang und 
Ende ist die Sorge ums tägliche Brot, die Sorge um die 
Familie. Das „ewige Volk" in Abramowitz's Juden- 
gemeinschaft lebt von Federnrupfen und vom Liefern 
der „heiügen Dienerschaft" für die Glupsker „Schulen" ; 
sie nagt am Hungertuche und gerät völlig aus dem 
Häuschen, wenn der Poritz vorbeifährt, bei dem man 
einen Rubel verdienen kann. 

Mit dem Unsterblichkeitsgedanken konnte sich 
aber der Magen nicht zufrieden geben. Diese Asketen 
verschmähten es, in die Wüste zu flüchten. Ihr aus- 
getrockneter Körper besaß den festen Willen, von 
dieser sündhaften Welt so spät wie möglich Abschied zu 
nehmen. Ein Einsamer und Abgesonderter mit ver- 
schlafenen Sinnen, blieb dem Asketen nur der klügelnde, 
tüftelnde und grübelnde Geist, der, um den Körper am 
Leben zu erhalten, verschiedene eigenartige Erv^-erbs- 
zweige ersann, die lange den andern Völkern eine terra 
incognita blieben. 

Die Armut, die Isoliertheit, die Verachtung der 
reinen Lebensfreuden, der Glaube an den ewigen 
Bestand des gemarterten jüdischen Volkes im all- 
gemeinen und jedes einzelnen Juden im besonderen, 
die schlaffe Sinnestätigkeit, der scharfe findige Geist — 
alles das trug dazu bei, eine Gemeinschaft von Juden 
hervorzurufen, die in einem ewigen Kampf leben mit 
ihren eigenen Gefühlen, die sich in einem Kreislauf 
von Widersprüchen bewegen und der Welt das Bild 
eines Volkes offenbaren, das innerlich und äußerlich 
einen sonderbaren logischen Widerspruch darstellt. 
Bevor noch die Welt diesen Widerspruch erkannte, 
hat ihn schon der Ghetto Jude in sich verspürt. Wären 
seine Sinne infolge der stetig geübten Askese nicht 
schlaff und unempfänglich geworden, er hätte sicherUch 
wie ein Verzweifelter mit verbissenen Lippen alle 



637 



Dr. Eliasdioff, Warschau: S. I. Abramowitz. 



638 



erdenklichen Anstrengungen gemacht, um in dieses 
verworrene Leben einen Sinn, ja ein System hineinzu- 
bringen. Er hätte den engen Pfad durchbrochen 
und sich ein Ideal geschaffen, für das er auf Leben 
und Tod kämpfen könnte. Da er aber seine fünf Sinne 
nicht mehr in ergiebiger Weise gebrauchen konnte, 
so war er sozusagen einzig auf seinen sechsten Sinn, 
den scharf-spitzigen Geist, angewiesen. Und dieser 
konnte nur lachen uhd spotten, so oft er logische 
Widersprüche wahrnahm. So schuf sich der jüdische 
Volksgeist den Spaßmacher, den Spötter, 
den Witzbold. Die bekannten Witzbolde Schajke 
Feifer und Motke Chabad sind für den Kritiker des 
jüdischen Volkslebens nicht minder interessante jüdische 
Helden als die hebräischen Poeten der sechziger Jahre. 

Ein spitziger und witziger Kopf, der sich ruhelos 
bewegt auf einem halbtoten Körper, empfindet die 
Schmerzen des Lebens wie in einem Dämmerzustande. 
Die Schmerzen nehmen den Weg durch die abge- 
storbenen Sinne und dringen ins Gemüt, wie ein ferner 
' Widerhall, wie der schwache Reflex eines Blitzstrahls, 
dem kein Donner folgt. Frauen und Kinder, die die 
traurigen und fröhlichen Ereignisse im Leben mit 
weniger Verstand, aber mit mehr Herz in sich auf- 
nehmen, sind nicht imstande, Witze zu machen. Sie 
verstehen auch die Witze der Männer nicht. Der 
Jeschibah-bachur (Talmudjimge), der seinen darbenden 
Magen mit dem äußersten Ende eines Herings zu 
täuschen sucht, kann sich über das Leben eher lustig 
machen als der Spießbürger oder der stets beschäftigte 
Kaufmann. Alte Männer, lang unterdrückte Völker, 
Stiefkinder des Lebens, deren natürliche Instinkte in 
ständiger Ohnmacht liegen — witzeln und spötteln 
über die traurigsten und heiligsten Angelegenheiten. 

Im jüdischen Witz hört man die Verachtung 
seines eigenen Ich, die Stinmie eines Volkes, das mit 
dem kochenden und rauschenden Leben den Zusammen- 
hang verlor. Aus dem jüdischen Witz spricht zu uns 
die Hoffnungslosigkeit eines Menschen, der nie etwas 
Gutes genoß, die Resignation eines Volkes, dessen 
Leben ein ewiger Widerspruch ist, ein Wortspiel, zu 
nichts anderem tauglich, als einen guten Witz daraus 
zu machen. 

Das ist die allgemeine Basis, die Synthese, auf die 
Abramowitz seine psychologischen Schilderungen aus 
dem jüdischen Volksleben aufbaut. Niemand vor ihm 
hat dieses Leben so klar durchschaut und so meister- 
haft geschildert. 

Allein welche Gefühle verbinden Abramowitz mit 
dieser Synthese? Wie ist sein Gemütsverhällnis zu 
der von ihm geschilderten Ghetto- Welt? 

III. 

Abramowitz größte Schöpfungen „Fischke der 
Lahme" und „Das Winschfingerl" (Der Wunschring) 
sind durchtränkt von zwei Hauptgefühlen: aus jeder 
Zeile spricht zu uns in deutlich vernehmbaren Tönen 
die Verachtung für die altvaterische jüdische 
Volksmasse und fast jedes Kapitel schließt mit den 
Worten eines traurigen Gemüts, das vor Mitleid 
weint. In diesen abw^echselnden Empfindungen des 
Mitleids und dor Verachtung, denen auch 



einige Tropfen von Haß beigemischt sind, in der 
Bitterkeit des Tones, worin diese beiden Hauptgefühle 
zusanunenschmelzen — liegt die Kraft von Abramowitz's 
hervorragendem Talent, hegt das Geheinmis seiner 
mächtigen Wirkung auf die Leser. 

Abramowitz fühlte sich angewidert von der ebenso 
törichten wie häßlichen Lebensweise jener Asketen, die 
sich ans Leben klammem und doch seine natürlichsten 
Freuden verachten; er empfand einen Ekel vor der 
halbtoten Vergangenheit, mit der sich die jüdische 
Volksmasse herumschleppt. Wie ein Lebender unter 
Toten wandelte er unter seinen Brüdern. Er kam sich 
vor wie ein Friedhofswächter, der die Begräbnisstätte 
nicht verlassen darf. „Ein feiner Faden war in das 
Stück Materie gewoben, das den Namen „Jud" trägt, 
und die schwere Materie rieb ihn auf und verdarb seine 
Jugend wie die Jugend tausend anderer ähnlicher 
Seelenfäden." Er verachtete die jüdische Gemeinschaft, 
die ohnmächtig war, eine starke Individualität hervor- 
zubringen, jene Gemeinschaft, die „Herschelech" gebar, 
„deren Jugend rasch verwelkt und deren Kindheit nur 
eine Weile leuchtet, wie die Sonne an einem häßlichen 
Wintertag, und dann in einer großen trüben Wolke 
untertaucht.'' Er haßte die jüdische Gemeinschaft, 
die keinen frischen Lufthauch verträgt und keinen 
lebendigen Gedanken in den engen dunstigen Ghetto- 
mauern aufkeimen läßt. 

In der Art und Weise, wie Abramowitz jede Be- 
wegung eines jüdischen Körpers mustert, wie ihm jedes 
Fleckchen, jede Bartstoppel nicht entgeht, wie er uns 
das fratzenhafte Gesicht und den schlendernden Gang 
seiner Helden malt — in all dem erkennen wir die ver- 
bissene Aufmerksamkeit und den scharfen Blick eines 
im tiefsten Innern gequälten Zuschauers. Wie ein 
Stiefkind beobachtete er jede Bewegung der jüdischen 
Gemeinschaft; keine Körperkrümmung, kein Stirn- 
runzeln entließ er ohne giftigen Kommentar. Sein 
„Mendele'* in den ein Stück von Abramowitz's Seele 
hinübergewandert ist, hat die Gewohnheit, seinen 
Brüdern, den Jüdchen, zuzuschauen „mit verzogenen 
Lippen, auf denen ein stachelichtes Lächeln sich 
windet.** „Ich träume nur von Bettlern; vor meinen 
Augen schwebt immer ein Bettelsack, der alte große 
jüdische Bettelsack** — ruft Abramowitz in seinem 
„Fischke** aus .... Seine Helden gleichen Halb- 
leichen, Menschen, die sich in einem todähnlichen 
Zustande befinden, Menschen, in deren Körper fast 
alle Lebensfunktionen stocken. Ein stachelichtes 
Lächeln zeigt sich auf seinen Lippen, wenn er sieht, 
wie die Halbleichen eine Weile ihren todähnlichen 
Zustand vergessen und, von ihrem darbenden, einge- 
schrumpften Magen getrieben, ein „ Gesellschaf ts- 
tänzchen** aufführen. Nirgends drückt sich Abramowitz's 
\' erachtung so prägnant aus, wie an jenen Stellen, 
wo er den Juden in seiner Jagd nach einem Erw^erb, 
nach einer jüdischen Pamosso, schildert. 

Die \>rachtung, die der Jude selbst für seine 
Erwerbszweige, für seine Geschäftchen, seine ganze 
Lebensart empfindet, hat im Herzen des ersten großen 
jüdischen Volksdichters ihren Platz gefunden. 

Der Jude in Abramowitz's Welt jagt nur dem 
Erwerb nach, aber er kriegt keinen. Hungernd, darbend. 



639 



Dx, ^liaschoff, Warschau: S* I. Abramowitz. 



640 



verbittert, verfolgt von Eigenen und Fremden, kehrt 
ßr in seine dunkle Behausung zurück, in das Grab für 
Lebende. Dort sitzt er und überläßt sich seinen 
melancholisch-düstern Gedanken. Kaum beginnt 
Abramowitz den Juden in dieser Lage zu schildern, 
so verschwindet das stacheUchte Lächeln von seinen 
Lippen. Reine Quellen des Mitleids ergießen sich 
aus seinem Gemüt. Das jüdische Mitleid klingt a.lsdann 
aus jeder Zeile. Es ist nicht das Mitleid eines Starken 
zum Schwachen, eines Arztes zum Kranken, für dessen 
Schmerzen er ein Linderungsmittel in Bereitschaft hat ; 
es ist vielmehr das Mitleid einer Mutter zu ihrem 
kranken Kinde, die nur weinen, ans Herz drücken 
und zärtlich liebkosen kann; es ist das tiefe Mitgefühl 
eines liebenden Herzens, „das dieselben Qualen leidet, 
dieselben Schmerzen empfindet." ^J 

Abramowitz beginnt die jüdische Volksmasse zu 
lieben, wenn er „das wortlose Klagen über das wüste 
Leben" vernimmt, wenn ihre Seele zu flehen scheint: 
„0, genug! genug! die Kräfte reichen nicht mehr, um 
das noch länger zu ertragen!" 

Alsdann wird Abramowitz's Herz weichjgestimmt 
wie das Herz einer zärtlichen Mutter. Es freut ihn, 
daß diese Judengemeinschaft noch ein Asyl besitzt, wo 
sie bei einem Talmudfolianten, bei einem Kapitel 
Sohar, bei einer traiu*igen Melodie auf eine Weile ihr 
elendes Leben vergessen kann. Ihm selbst bringt 
schon dies wenig Erleichterung; aber gleich einer treuen 
Mutter ist er zufrieden, daß das kranke Kind noch 
ein Spielzeug besitzt, mit dem es spielen kann. 

Im jüdischen Mitleid äußert sich dieselbe 
Hoffnungslosigkeit, wie im jüdischen V o 1 k s w i t z , 
und Abramowitzs Werke tragen den Stempel des 
Geistes der jüdischen Volksmasse, die zu gewissen 
Zeiten sich selbst verleugnet und verspottet. 

Dank diesem tiefempfundenen Mitleid mit der 
jüdischen Volksmasse überragt Abramowitz an Hauptes- 
länge seine Brüder, die Aufklärer der Haskalah-Zeit. 
Ihm allein war es vergönnt, in die gottergebene Seele 
der jüdischen Volksmasse einzudringen, er wußte genau 
abzuschätzen, welchen Trost die Sitten und Gebräuche 
vergangener Zeiten enthielten. 

„In des Menschen Seele spiegelt sich eine ganze 
Welt, die Gefühlsströme im Herzen brechen hervor 
aus tausend Quellen, deren Ursprung sowohl im Innern 
des Herzens wie in der Außenwelt zu suchen ist." 
Aber nicht alle gehören zu der Kategorie von Menschen, 
in deren Herzen eine Welt sich spiegelt. Bei vielen von 
ihnen reflektiert die Welt nicht; sie geht an ihnen 
spurlos vorüber, ohne selbst einen kargen Widerschein 
hervorzurufen. 

Abramowitz war einer jener Auserwählten, denen 
sich die Welt der jüdischen Volksmasse in allen ihren 
Einzelheiten offenbarte; und von den erwähnten 
Gefühlen beherrscht, vertiefte er sich in die Einzel- 
erscheinungen dieser sonderbaren Welt. 

In „Fischke der Lahme" und „Winschfingerl" 
finden wir den ganzen Abramowitz. Im ersten Buch 
sehen wir den Juden auf der Suche nach einem Erwerb, 
den Juden mit dem alten großen jüdischen Bettel- 
sack ; im zweiten dagegen sehen wir die nieder- 
"-'^ rückte jüdische Volksmasse, die sich in den Schatz- 



kammern einer alten Vergangenheit vergräbt und in 
einem überfrommen Lebenswandel auf eine Weile 
Linderung und Trost findet. „Fischke, der Lahme" 
ist das Buch der Veracht ujn g d e r jü- 
dischen Masse, „Winschfingerl" — dasRuch 
desMitleids. 

IV.^ 

„Fischke", eine Geschichte von jüdischen Wander- 
bettlem, liest sich wie ein symbolisches Gleichnis, das 
auf die jüdische Armut im allgemeinen gemünzt ist. 
Abramowitz schildert nicht eine gewisse Klasse von 
Bettlern, die von der ganzen großen Arbeitermasse 
abgesondert leben. Er liefert uns vielmehr in „Fischke" 
das Bild einer jüdischen Gemeinschaft in der Gestalt 
eines Heeres von Bettlern und Schnorrern. Nicht 
umsonst träumt Abramowitz nur von Bettlern, nicht 
umsonst schwebt ihm immer ein Bettelsack vor den 
Augen, der alte große jüdische Bettelsack. Nicht 
umsonst sieht er manchmal hinter jedem Jüdel Geister- 
scharen stehen und antreiben: „Blühet und gedeihet, 
Bettler, sprießet hervor wie Gras und Unkraut ! Geht, 
jüdische Kinder, und wandert von einem Haus zum 
andern !" 

In der Erzählung „Fischke" kommt das Jüdel 
zum Vorschein, dessen Magen bis zur Unsichtbarkeit 
eingeschrumpft ist, das Jüdel, das ewig bemüht ist, 
die Eßlust zu überwinden und das das ganze Leben mit 
einem Schnickschnack abfertigt. Wir sehen den 
schwachen Juden, den entkräfteten, der niu* mit der 
„Stimme Jakobs" gesegnet ist und gegen die „Hände 
Esaus" nichts ausrichten kann; wir sehen den kiunmer- 
vollen, ohnmächtigen Juden, der nur dann auflebt, 
wenn er von Geschäften sprechen hört. „Der Jude 
in der Agonie, kaum hört er von Geschäften reden, 
erwacht zu neuem Leben; selbst der Todesengel hat 
alsdann seine Macht über ihn verloren." Die Geschäfte 
sind jedoch luftige Windbeutel, ohne Geschmack und 
ohne Duft. Sie sehen aus wie die „goldenen Ge- 
schäftchen" Reb Alter Jaknehas' und Reb Mendele 
Mocher S'forims (des Buchhändlers), die am Wege 
stehen mit ihren Rummelwägelchen und miteinander 
Tauschgeschäfte machen: einen Berster Gebetmantel 
für kleine Taleissim tauschen, ein Bündel achtfachiger 
Zizith für Wolfszähne, Gebetriemen für Kupfer- und 
Messinggeräte. Man kann sich von diesen Geschäften 
und ihren Verdiensten einen Begriff machen, wenn 
man bedenkt, daß ein jüdischer Buchhändler auf seinem 
Wägelchen auch Kupfer- und Messinggeräte mitführen 
muß. Und diesen „goldenen Geschäftchen" widmet 
sich der Jude mit einer ernsten Betriebsamkeit, als 
gälte es die Welt aus ihren Angeln zu heben. 

Betrachten wir einen Jahrmarkt, wie ihn 
Abramowitz in „Fischke" schildert. „Ein Jüdel auf 
dem Jahrmarkt ist wie ein Fisch im Wasser . . . Juden 
, jahrmarkten*, laufen, handeln, stehen nicht ruhig auf 
einem Ort ... Es ist ein Tararam, ein Sieden und 
Kochen . . . Dort, seh ich, lauft ein Jüd, bald ein 
zweiter, ein dritter^ auch paarweis, gebadet in Schweiß, 
das Käppchen sitzt auf der Spitze des Kopfes . . . 
Ein Jüdel tappt bald hier, bald dort, macht eine nervöse 
Bewegung bald nach rechts, bald nach links, beschreibt 



641 



Dr. Eliaschoff, Warschau: S. I. Abramowitz. 



642 



in der Luft einen Zirkel müdem dicken Finger und kaut 
dabei das Spitzbärtchen : gewiß auf eine gute Idee 
verfallen . % . Da laufen in atemloser Hast Makler, 
Schadchonim, Trödler, Judenweiber mit Körben, 
Juden mit Säcken, rundbäuchige Baale-Batim (Bürger); 
jedes Gesicht flammt; man hat keine Zeit; ein Dukat 
— die Minute " 

Sowohl die alltäglichsten wie die heihgsten Be- 
schäftigungen der von Abramowitz geschilderten Ge- 
sellschaft ist vom Krämergeist durchdrungen: alles 
trägt an sich die Merkmale eines maklerischen Handels, 
selbst die Ehe ist ein Geschäft. „Man feilscht um ein 
Weib, setzt den Preis fest, die Mitgift, die Aussteuer. 
Sind die Bedingungen günstig und kommt man den 
Verpflichtungen nach, dann, liebes Bräutchen, komm 
unter die Chuppe, mit dem Schadehen, mit dem 
Badchen, mit dem ganzen Pack der „heiligen Diener- 
schaft" (die von diesem Geschäft ebenfalls einen 
Knochen abzulecken kriegen), sei ein Weib und teile 
mit mir das freudlose finstere Dasein. Ob du klug bist 
oder dumm, schön oder häßlich, das ist deine Sache. 
Wir sind keine Prizim, uns mangelts an Zeit, derartigen 
Sachen unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Juden 
sind wir, Kaufleute, Makler, Krämer" .... 

In der Erzählung „Fischke" treten auch all die 
„großartigen Gebäude" zum Vorschein, die dieses 
finstere Ghetto aufzuweisen hat. Wir sehen das jüdische 
„Hekdesch" (Armenasyl), das jüdische „Bad", die alt- 
jüdische Kretschma (Schenke). Diese Bilder malt 
Abramowitz mit der Hand eines Künstlers. Wer diese 
Schilderungen liest, glaubt die aus diesem Dunstkreis 
emporsteigenden „Gerüche" in seiner Nase zu ver- 
spüren. 

In Abramowitz's altvaterischer Welt war das Bad 
eine Art von Rathaus. Es spielte im materiellen Leben 
nicht minder eine Rolle wie die Klaus im geistigen 
Leben des Volkes. Die Angesehensten der Stadt be- 
saßen dort ihre „Vorderw^and". Kam der Arme dorhin, 
so mußte er so lange warten, bis der Reiche auf der 
„obersten Bank" Platz genommen hatte. 

Zugleich mit dem Bad spielte das Hekdesch eine 
wichtige Rolle im jüdischen Leben; ein Volk von 
Bettlern braucht ein Hekdesch notwendiger als ein 
Bad. Übrigens waren in früheren Zeiten das Hekdesch 
und das Bad ZA\'ei nahe Verwandte. Der Bademeister 
und sein Hausgesind pflegten im Hekdeschgebäude zu 
wohnen, und umgekehrt pflegten die Hekdeschleute 
an den Tagen, an denen das Bad nicht geheizt wurde, 
hier auf der feuchtkalten Diele ihre Glieder auszu- 
strecken. Das ehemalige Hekdesch diente auch als 
Fremdenlogis, als Krankenhaus und zu ähnlichen 
humanitären Zwecken. Welches Jammerbild es darbot, 
kann man daraus ersehen, daß heute das Wort „Hek- 
desch" mit Schmutz, Krankheit und Fäulnis synonym 
geworden ist. 

Niemand hat diese „Institutionen" des jüdischen 
Ciemeinschaftslebens so meisterhaft geschildert wie 
Abramowitz. Der künftige Historiker der jüdischen 
\'olksmasse in Rußland wird Abramowitz Dank 
vvissen für seinen „Fischke", indem er uns in episclier 
Ruhe eines satirischen Homer das Hekdesch, das Bad 
und die jüdische Kretschma malt. 



V. 

„Fischke" ist das Buch, in dem Abramowitzs Ver- 
achtung für die jüdische Volksmasse zum Ausdruck 
kommt. „Fischke" ist das Buch, in dem Abramowitz 
das materielle Leben der jüdischen Gemeinschaft 
schildert. — Sein Antipode ist das „Winschfingerl". 
Das ist das Buch des großen jüdischen Mitleids. In 
„Winschfingerl" vertieft sich Abramowitz in die geistige 
Welt der jüdischen Gemeinschaft. Nur durch das große 
Mitleid mit den gepeinigten Maklern und Krämern, 
die sich den Namen „Kaufleute" beilegen und Ein- 
künfte wie Bettler haben — nur durch das große Mitleid 
mit diesen unglücklichen Menschen hat Abramowitz 
in diese Welt, von der ihn eine Kluft der Empfindungen 
trennt, einzudringen vermocht. 

Abramowitz's Jud, der Kabzansker Einwohner, 
dem sein Kabzansk der Markstein der Schöpfung ist, 
hinter dem sich nur noch eine Wüste mit wilden Tieren 
hinzieht — steht zum Ribaunau schel aulom (Herrn 
des Weltalls) in einer recht nahen Verwandtschaft. 
Gott sorgt für ihn wie ein zärtlicher Vater. Er läßt den 
Regen hinunterströmen, damit das liebe jüdische Vieh 
zu trinken hat, damit die Ziegen ihre Weide haben 
und nicht das Stroh von den Dächern zu fressen 
brauchen. Er sendet sonnige Tage, damit die Weiber 
ihre Vorbereitungen für den Sabbath treffen können. 
Er läßt Zwiebeln und Kartoffeln gedeihen, damit die 
Juden ihren Magen sättigen. Die Juden zeigen sich 
auch dankbar dafür; sie blasen Schofar am Neujahrs- 
tage und singen den „Melech-EIjaun", sie essen zu 
Ehren der Prinzessin Sabbath Schalet, und sie tanzen 
am Freudenfeste mit der Thora. 

Außer Kabzansk gibts noch eine Stadt: 
Jerusalem, wo die biblischen Juden hausen, 
begraben, aber doch lebendig. Jerusalem war einst eine 
heilige Stadt, von Engeln und gottgesandten Männern 
erfüllt. Heute jedoch ist sie wüst und leer, keine Stadt 
mehr, keine Welt, und für die Juden ist nur noch eine 
Wohnstätte geblieben — Kabzansk. Der „Dalles pfeift" 
in Kabzansk, und die Juden, die mit gekreuzten Händen 
dasitzen und nicht wissen, wie seiner los zu werden, 
erinnern sich an wunderUche Geschichten von Messias- 
Zeiten und träumen mit leeren Magen von den Tagen, 
da Gott sein „siebentes Wunder" zeigen wird: 
Meschiach ben Jossef wird erscheinen und den Frevler 
Romulus besiegen; darauf wird das „achte Wunder** 
geschehen, und ein mächtiger Posaunenschall wird die 
Juden von allen Ecken der Welt zusanmienrufen. 

An warmen Sommerabenden liegen die Kabzansker 
Juden ausgestreckt vor den Türen ihrer engen stickigen 
Häuschen und suchen den hungernden Magen mit 
allerlei leeren „Wünschen" zu überlisten. „Infolge 
des ständigen Mangels an Befriedigung der not- 
wendigsten Bedürfnisse, sowie infolge des durch 
Erwerbslosigkeit hervorgerufenen ständigen Müßig- 
ganges, schufen sie sich eine Beschäftigung, damit die 
Zeit totzuschlagen: das Wünschen." Kabzansker 
Juden wünschen sich vor allem soviel Geld wie Sand- 
kömchen am Meeresufer; sehen sie den besternten 
Himmel, so wünschen sie sich soviele Rubel wie Sterne 
am Himmel. Man wünscht sich in der Regel die Hälfte 
von Rothschilds Reichtum, von Korachs Vermögen usw. 



643 



Dr. Eliaschoft, Warschau: S. I. Abramowitz. 



644 



Nicht nur damit allein stillt der Kabzansker Jude 
seinen brennenden Hunger. Bei einem Blatt Gemara 
vergißt er sein trauriges Leben, ein Kapitel Sohar 
erhitzt seine Phantasie, die alten Moralbücher lehren 
ihn: leiden und schweigen. 

In „Winschfingerl** sehen wir die gewaltige 
lindernde Kraft unserer alten geistigen Vergangenheit. 
Das kochende Leben der Halachah nimmt das kindliche 
Gemüt eines „Mauschele** gefangen, sowie das Herz 
tausend anderer seiner Altersgenossen. Und wenn 
„Reb Abraham** vor seinen Sorgen ins Bethhamidrasch 
flüchtet und seinen Sohar liest, so deucht ihm, dieser 
Sohar „sei kein Buch, sondern ein feuerspeiender 
Berg der göttlich reinen Liebe, allwo Erde und Himmel 
sich vermählen, Engel, Seraphim und Menschenkinder 
einander liebend umarmen und einer dem andern 
göttliche Worte zuflüstern." 

Jede Woche schließt bei den Kabzansker Juden 
mit einem Sabbath. An diesem Tage wandelt sich 
der Hund zu einem Prinzen; der Jud kriegt eine 
gehobene Seele, einen lautern Geist, einen geraden 
Rücken. E;n Meer von Gefühlen durchflutet die Seele 
eines Juden in der Zeit von Freitagabend bis zum 
Sabbathausgang. Niemand nach Heine hat uns die 
Umwandlungen, die an einem Sabbath in des Juden 
Herzen vorgehen, so meisterhaft veranschaulicht, wie 
S. I. Abramowitz; ja, Abramowitz ist noch weit tiefer 
als Heine in die jüdische Sabbathseele eingedrungen, 
indem er uns die verschiedenen Nuancen der drei 
Tageszeiten : des Freitagsabends, des Sabbaths und des 
Sabbathausgangs — meisterhaft zeichnete. 

In der Selichoth-Zeit erscheint in Kabzansk die 
„jüdische Nachtigall**. Sie erscheint in Gestalt eines 
Vorbeters, der mit seinen schmelzenden Tönen in den 
Herzen der Juden Gefühle der Liebe en\eckt. Und des 
Juden Liebe hat einen wunderlichen Charakter; sie 
ist von Mitleid durchtränkt. Die „jüdische Nachtigall", 
die an den hohen Feiertagen als Dolmetsch der Gefühle 
der Andächtigen fungiert, schafft sich seine eigenen 
tief traurigen Melodien. Man hört in ihnen keine 
Krafttöne, keine Stimme eines Heldenvolkes, sondern 
ein ewiges Klagen, ein zitterndes Gebet, das Flehen eines 
verlassenen Kindes zu seinem strengen, aber liebevollen 



Vater. Die „jüdische Nachtigall*' versteht es, den Augen 
der Juden Tränen zu entlocken. 

Es ist nicht gut mögUch, in einem kurzen Artikel 
die vielseitigen Motive von „Winschfingerl** zu er- 
schöpfen. Im allgemeinen sehen wir in „Winschfingerl** 
eine Judengemeinschaft, die, von einer altreligiösen 
Kultur durchdrungen, wie ein Volk von Priestern lebt. 
Zwischen den Lücken ihres materiellen Lebens treten 
die zarten Glieder eines vermaskierten Königskindes 
hervor, oder, besser gesagt, eines vertriebenen Hohen- 
priesters, der in Sklavenkleidern einherwandelt. Die 
Knechtschaft und der hohe Adel sind in Eins zusammen- 
geschmolzen und haben Lebensformen und Sitten 
geschaffen, die von Tausenden innerer Widersprüche 
durchtränkt sind. Sie zwingen den Dichter, der sie 
beobachtet, zu lachen und zu weinen. 

Ebenso „Fischke** wie „Winschfingerl** enthalten 
meisterhafte Schilderungen des materiellen und geistigen 
Lebens der erwähnten Judengemeinschaft. Wer diese 
Judengemeinschaft von der einen oder der andern 
Seite kennen lernen will, der muß beide Bücher lesen. 
Denn das eine Buch ergänzt das z>^'eite. 



Nach dem Obengesagten ist es klar, daß 
Abramowitz zu den Männern gehört, die tief in die 
unterirdische Welt unseres Volkes hineingeblickt haben. 
Er hat schärfer, klarer, aber auch unbarmherziger 
als alle seine Zeitgenossen die Wurzeln des frommen, 
vorzeitlichen jüdischen Lebens im Osten aufgedeckt. 
Wenn auch Abramowitzens Welt nicht mehr die unsere 
ist, so sind doch seine Werke für uns von unschätz- 
barem Wert. Aus ihnen können wir ersehen, wie groß 
die Strecke ist, die die östliche Judenheit im Laufe der 
letzten Jahrzehnte zurückgelegt hat. Abramowitzens 
Werke sind der sicherste Maßstab für die Entwicklung 
des jüdischen Volkes im Osten. Sie bieten einen Trost, 
indem man zurückblickt und konstatiert, wie weit man 
sich von dieser alten und veralteten Welt entfernt hat. 
Abramowitz war es vergönnt, die Grenzlinie anzuzeigen, 
die zwei Welten von einander scheidet: die neue und 
die alte jüdische Welt im Ghetto. 




Der Subrmann unö öie eifenbabn. 



(]üdifd)e Volhsmelo&ie.) 

flu» ber Sammlung Ceo Winj. (noeijötu* vetboten.) 

Andante con moto- 



Bearbeitet von J. BeymeL 





*^ Ol - beo spart » - Tel - «t*; 




«'Aar ^ÜS 





Beifee fteil)len=) 


Owalö 


Ribeinei fdjel Cilom.') 


Unö wer l)ot &08 geljert, 


ts bei 


Vom a a>aid)'l"i 


neljm 


op bai iljm Sie Joljren, 


fla Soier mit Woifer 


ßalte Waffer 


Cr 6oH nit kennen faifen 


Sollen tieljren wie a ferö? 


la bai 


iljm a Jaid>-|!'> 


Un soll nit kennen fotjren! 


fli, üi, Ol l)ot er Saifer") 




fli, ai, ai l>ot er a Soifer 




fli, ai, Qi l)ot er o Soifer 


mit ain oisernem meiad?,') 




mit ain aifernem Reiad), 




mit oin aifemem l^eiad). 


Vun unten giegt [id? Vla\\et 




Vun unten g'efet f'* WaJIer, 




Vun unten giefet (id) Woffe 


Vun eiben (pari 3) o Reiad)!' 




Vun eiben fpart a Reiad)! 




Vun eiben (port a Reiadj! 


■) Soifer = pfeife. '> Reiad) = Rtoll. '1 




-'\ Rei 
















^chenBuRauderSAIIianceJsraelitellnJveiselle 

BERLirt.N 2**. ^B^r 0wniennur9«rsirtf^3 



DIE JAHRESWENDE. 

lAd neues Jahr hat begonnen. 

Wir begrttssen bei der Jahreswende, die Mitglieder der A. I. U. mit herzÜchem Glückwunsch. 

unsere Deatsche CünferenZ'Gemeinschaft, die alles in sich begreift, was in Dentscblaad 
znr Älliance IsraäUte UniTerselle gehört, die mit anfrecbtem Patriotismus das aufrecht stolze Bekenntnis 
zum Judentum vereint, hat nach ihrer Kengestaltung das erste Jahr abgeschlossen. 

Dieses erste Jahr ist ein Jahr harter Arbeit' gewesen, und die Arbeit ist noch nicht beendet. 
Während langer Beschaulichkeit blieb unser Acker ungepfliigt. Frischer Betätignogswille, der nicht bei 
Worten stehen bleibt, wird ihn neu bestellen. Starker Gemeindrang re^ sich — der Glemeindrang, 
der ganz Israel zum Ausgangspunkt and zum G^enstande bat. 

Unsere Freunde im Beicb, vierzehntausend und darüber, haben uns freudig zugestimmt, taasende 
haben daraufhin sich neu angeschlossen. 

Ihnen allen Dank! 

Ein Jahr der Trauer ist das vergangene Jahr gewesen. Schweres Verhängnis ist über viele 
nnserer Glanben^sbrüder gekommen. Das Ungl&ck bat anser ZosammengehSr^keitsgefUhl verstärkt, 
und wir dürfen sagen: wir haben es betätigt — mit offener Hand, mit teilnehmendem Herzen, in 
andauernder Hillsarbeit, von der kein geringer Teil sich in der Stille vollzog. Das war nicht mehr 
als ansere Schnidigkeit. Wir we:den dieser Scbnldigkeit auch in Zukunft gerecht werden mit aller 
Kraft, die uns gegeben ist. Doch damit diese Kraft nicht erlahme, damit nicht Entmutigung unsere 
Reihen lichte, damit unsere . Anstrengung nicht des Ansporns entbehre, der iu der Hoffnung aul 
Erfolg liegt, wollen wir am hentigen Tag unseren Blick nicht rückwärts wenden auf blutige Vorgänge 
voller Gränel, sondern vorwärts auf eine lichtere Zukunft, an deren Herbeiführung mitzuwirken onseru 
Stolz ausmachen soU. 

Sdimerzen lindern — Wunden beUen — fiir bessere Tage bauen — das ist unsere Aufgabe. 
Dass diese gedeihe, mit unserer Glaubensbrüder Hilfe und zu unserer Glaubensbrüder Heil, das ist der 
Gruss, den wir der gesamten Jndenheit entbieten. 

Berlin, im Tischri 5668. 

Das Präsidium 
der Deutschen Conferenz-Oemeinschaft der Alliance Isradite Universelle. 



LECO.MTE DU NOLIV OELOEMAELDE. 

SAbbatnachmittag in einer Juden gasse zu Marokko. 



651 



652 



1 



DAS UNTERSTUETZUNGSWERK DER ALLIANCE IN MAROKKO. 



(Spezialbericht für die A. I. U. von Is. Pisa und Elmalah.) 



Nachdruck veiboteo. 



Casablanca, 18. August 1904. 

Ich habe die Ehre, Ihnen eine Unterredung zu 
berichten, die ich mit dem Platzkommandanten 
M angin und dem General Drude, dem Kommandeur der 
Besatzungstruppen, über die Lage unserer Glaubens- 
genossen gehabt habe. 

Ich besuchte zuerst den Kommandanten Mangin. 

„Die lsraeHten'\ erklärte er mir, „sind durch 
die jüngsten Vorkommnisse heimgesucht worden. Sie 
kennen die Verluste, die sie erlitten haben. Zahlreiche 
ehrenhafte Familien sind ins Elend gebracht worden, 
damit einige Spitzbuben sich durch Plünderung be- 
reichern konnten. Ich war am ersten Tage im Mellah 
und habe mir das Quartier angesehen. Es hat mich in 
hohem Maß interessiert. Ich abe keinerlei Vorurteil 
gegen seine Einwohnerschaft, denn ich kann mir 
recht gut erklären, wie Jahrhunderle der Unter- 
drückung sie erniedrigt und ihr heuchlerischen Anschein 
gegeben haben. Ich habe Mitleid mit diesen Menschen 
und Teilnahme für sie. In den ersten Tagen nach der 
Besetzung mußte ich streng mit ihnen sein. Ich habe 
sie zu harten Arbeitsleistungen herangezogen, zur 
Totenbestattung, zur Straßenreinigung. Das war 
unumgänglich, denn in der Stadt gab es keine Araber 
mehr und die Soldaten waren im Feuer." 

„Welches Programm haben Sie den Israeliten 
gegenüber festgestellt?'' 

„Ich will den Mellah reorganisieren wie die ganze 
übrige Stadt. Hierbei rechnen \\ir auch auf Sie. Sie 
kennen den Geist der Israeliten und haben Einfluß 
auf sie. Es trifft sich ganz gut, daß Sie das Oberhaupt 
der Gemeinde bleiben, da alle einflußreichen Personen 
die Stadt verlassen haben. Wir werden Ihnen die 
Reformen anzeigen, die wir gemeinschaftlich durch- 
führen wollen. Ich werde die gegenwärtige Übergangs- 
periode benutzen, um den Mellah als Judenviertel auf- 
zuheben. Ich werde die Tore fortnehmen und das 
Quartier gesundheitlich umgestalten. Ich wünsche 
außerdem durch die Israeliten selbst Reformen einzu- 
führen. Ich bitte Sie deslialb, mir über folgende vier 
Punkte Bericht zu geben: 1. Schaffung einer Israeli- 
tischen Gemeindeverwaltung, 2. Herstellung von Be- 
ziehungen zwischen der Gemeindeverwaltung mit der 
städtischen Zentral Verwaltung, 3. Hygienische Vor- 
schriften für den Mellah, 4. Einrichtung einer Polizei". 

Auf die Frage nach der künftigen Lage der Israe- 
liten, erwiderte der Kommandant: 

„Bei dem gegenwärtigen Stand der Dinge kann 
ich Ihnen unmöglich darüber Auskunft geben. Wenn 
die Stämme sich unterwerfen, wird der Ausfuhrhandel 
wieder beginnen und die Ladeninhaber und Kaufleute 
werden wieder Geschäfte machen. Wenn aber der 
Kriegszustand andauert, so werden die Armen sich als 
Arbeiter verdingen müssen, junge Leute werden als 
Dolmetscher und als Angestellte in den zahlj»eichen 
Vorratshäusern dienen können. Unter allen Umständen 
recimen wir sehr auf die israelitische Bevölkerung. 
Ich wiederhole einen Gemeinplatz, wenn ich sage, daß 
sie sehr nützliche Hilfskräfte zwischen den Arabern und 



uns abgeben können. Wir fühlen dies heule schon. 
Sie dienen uns als Dolmetscher' und für allerhand Aus- 
künfte. Ich bin überzeugt, daß unter der Okkupation 
und mit Hilfe Ihrer Schulen die Gemeinde sich um- 
gestalten wird. Unsere hygienischen Vorschriften und 
unsere Polizei werden in dem Mellah Sauberkeit, 
Ordnung, gute Haltung, Arbeitsgelegenheit schaffen, 
der Besuch der Europäer wird die Bewohner aufrütteln 
und allmählich ihre Gewohnheiten umgestalten." 

Ich muß hierbei en\ähnen, daß diese Worte mit 
dem Ton besonderer Sympathie gesprochen wurden. 
Konmiandant Mangin, ein Mann von hoher Einsicht, 
schien mir über die Sitten der hiesigen Israeliten voll- 
kommen unterrichtet. Es ist ein wahres Glück, daß er 
an der Spitze der Stadt steht. 

Ich besuchte auch den General Drude. Der General 
empfing mich sehr schlicht. Er sagte mir, daß er von 
dem W^erk der Alliance wohl gehört habe, sie aber nicht 
genau kenne. „Ich hoffe", fügte er hinzu, „lange genug 
hierzubleiben, um die Wiedereröffnung Ihrer Schulen 
zu sehen". Auf die Frage nach dem Eindruck, den die 
hiesigen Israeliten auf ihn gemacht hätten, en^iderte er : 

„Ich habe die Israeliten sehr wenig gesehen. Da 
ich Tag und Nacht auf dem Felde sein mußte, bin ich 
noch nicht zur Stadt gekommen. Indessen sehe ich 
doch die Flüchtlinge, die tagtäglich nach Casablanca 
zurückkehren. Sie scheinen mir klug und geweckt'*. 

„Und wie wird sich die Lage der Israeliten ge- 
stalten ?" 

„Darüber fragen Sie mich nicht. Ich habe mit den 
militärischen Operationen zu tun und überlasse die 
Sorge für die Reorganisation der Stadt dem Komman- 
danten Mangin. Seien Sie überzeugt, daß er alles zu 
ihrer Verbesserung tun wird. Ich persönlich bin über- 
zeugt, daß die Israeliten durch die Okkupation nur 
gewinnen können. Die Araber werden ihre Anmaßlich- 
keit den Israeliten gegenüber ebenso wie gegenüber 
den Europäern verlieren. Nach Beendigung der 
miUtärischen Operationen 'wird der Handel sicher 
einen großen Aufschwung nehmen, und dabei werden 
die Israeliten natürlich als Vermittler zwischen Arabern 
und Europäern dienen." 

Als ich den General verließ, hatte ich den Eindruck, 
daß er den Israeliten gegenüber dieselben Sympathien 
hegt wie Kommandant Mangin. Ich habe mit Offizieren 
und Soldaten gesprochen und einige von ihnen den 
Israeliten feindlich gefunden. Sie sprachen mit harten 
Worten von den Plünderungen, die unsere Glaubens- 
genossen veranlaßt hätten. Doch der Geist der Führer 
ist ausgezeichnet, und das ist es, was ich Ihnen habe 
mitteilen wollen, indem ich Ihnen den obigen Bericht 
über meine Unterredungen gab. I s. Pisa. 

Casablanca, 19. August 1907. 

Ich habe die Ehre, Ihnen Abschrift zweier an den 
Kommandanten Mangin gerichteten Briefe und der 
darauf eingegangenen Antworten zu überreichen. Es 
ist mir eine Genugtuung, hinzufügen zu können, daß 



OtiLGEMAELDE. 
Jüdische Schule in Tiuigcr. 



655 



Mitteilungen der Alliance Isra^lile Universelle: Das Unterstötzungswerk der AUiance in Marokko. 



656 



meine Wünsche alle erfüllt worden sind. Kommandant 
Mangin läßt keine Gelegenheit vorübergehen, sich 
Ihrem Vertreter gefällig zu erweisen. 

I s. Pisa, 

16. August. 

An den Herrn Platzkommandanten Mangin! 

In unserer gestrigen Unterredung hatten Sie 
mir gesagt, daß Sie israelitische Arbeiter brauchen, 
teils zur Straßenreinigung, teils zur Beerdigung der 
Leichen. Sie sind zu solchen Requisitionen unbedingt 
berechtigt. Sie werden aber einsehen, daß diese 
Tagelöhner, die Famihe zu ernähren haben, für ihre 
harte Arbeit bezahlt sein wollen, da es weder in 
der Stadt noch im Hafen an Arbeit fehlt. Ich wage 
deshalb zu hoffen, daß ich Ihnen diese Tatsache 
bloß anzuzeigen brauche, um Sie zu bestimmen, 
daß Sie nach Maßgabe der vorhandenen Mittel die 
Arbeit der armen Leute entlohnen. 

I s. Pisa. 

Antwort des Kommandanten Mangin. 

Lieber Herr P i sa! 

Ich habe Ihren Brief vom heutigen Tage erhalten. 
Es entspricht nur der Gerechtigkeit, daß die Arbeiter 
bezahlt werden. Ich habe dem Kapitän Poulet be- 
fohlen, ihnen 1,45 Frs. täglich oder den doppelten 
Wert in Stoffen zu zahlen, die man den Arabern 
weggenommen hat. 

Kommandant Mangin. 

17. August. 

Herrn Platzkommandanten M angin! 

Der Scheich der Israeliten teilt mir soeben mit, 
daß Sie von Israeliten Arbeit am Sabbath verlangt 
haben. Diese armen Leute sind gewiß geneigt, auf 
Ihren Befehl mit dem besten Willen von der Welt zu 
arbeiten. Aber dem Glauben Ihrer Väter treu er- 
geben, würden sie das Gefühl haben, ein Sakrileg 
zu begehen, wenn sie am Sabbath arbeiteten. Ich 
bitte Sie deshalb, Herr Kommandant, im Namen 
der Ideen der Toleranz, zu deren vornehmstem Ver- 
treter Frankreich sich seit Jahrhunderten gemacht 
hat, Ihren israelitischen Arbeitern gütigst gestatten 
zu wollen, daß sie am Sabbath ruhen. Ich verspreche 
Ihnen, daß sie ihrer Aufgabe mitEifer an allen anderen 
Tagen der Woche nachkommen werden. 

I s. Pisa. 

Der Herr Kommandant hat mir wörtlich ge- 
antwortet, daß Befehl gegeben sei, wonach die 
Israeliten am Sabbath nicht mehr zu arbeiten 
brauchen. 

C a s a b 1 a n c a , 29. August 1907. 

Es ist mir eine Freude, Ihnen mitteilen zu können, 
daß auf Befehl des Kommandanten Mangin vierzig 
unter dem Verdacht der Plünderung vor einigen Tagen 
verhaftete Israeliten freigelassen worden sind. Diese 
humane Maßregel verdient alles Lob; ich habe in 
Ihrem Namen dem Kommandanten Mangin einen 
warmt'n Dankbriof geschrieben. 1 s. Pisa. 



(^asablanca, 30. August 1907. 

Beiliegend übersende ich Ihnen die Abschrift 
eines mir zur Verfügung gestellten Briefes, der aus 
Zettat an einen hiesigen Notablen, Herrn Selam Edery, 
gekommen ist. Aus seinem Inhalt ergibt sich, daß in 
Zettat über 400 geflüchtete Israeliten sich in größter 
Not befinden. Man muß alle Mittel aufbieten, sie nach 
Casablanca zurückzubringen, was mit dem erforder- 
lichen Geld gut zu bewerkstelligen ist. Da die nächste 
Umgebung von Casablanca noch durch militärische 
Operationen sehr unruhig ist, könnte man die unglück- 
lichen Leute nicht durch die Schauia heimkehren 
lassen, sondern müßte sie nach Mazagan schicken, 
wo die Lage verhältnismäßig besser ist, und sie von dort 
zu Schiff hierher bringen. Nach meiner Berechnung 
würde diese Reise über 5000 Francs kosten. Wie kann 
man Geld nach Zettat gelangen lassen? 

Wenn Sie gewillt sind, diese Flüchtlinge wieder in 
ihre Heimat befördern zu lassen, so würde ich Herrn 
Amar, den Absender j enes Briefes aus Zettat, den Rat 
geben, die Juden aus Casablanca gruppenweise nach 
Mazagan zu schicken, wo Herr Elmaleh (Direktor der 
Allianceschule in Mazagan) die Führer pro Rata bei 
ihrer Ankunft bezahlen würde. Nachdem alle in 
Mazagan beisammen sind, würde man für den Weiter- 
transport nach Casablanca ein Boot mieten. 

Wollen Sie mir gefälligst Instruktionen über diese 
Angelegenheit geben. Von anderer Seite habe ich 
erfahren, daß zahlreiche Gruppen von Israeliten sich 
in Uled-Zyan, Mzab und anderen Orten aufhalten. 
Ich kann mir nur sehr schwer Auskunft verschaffen, 
weil die Boten sehr teuer sind. Es wäre praktisch, 
wenn Sie mir einen kleinen Kredit eröffneten, damit 
ich versuchen kann, genaue Nachrichten von allen 
Orten zu erhalten, wohin unsere armen Glaubens- 
genossen zerstreut sind. Pisa. 

Anlage, aus dem Jüdisch- Arabischen übersetz L 

Zettat, 12. August 1907. 

Lieber Freund! Deine Familie ist, Gott sei 
Dank, in bester Gesundheit hier eingetroffen, aber 
Deine Schwester ist bei der Ankunft in Zettat ge- 
storben und wie eine HeiUge bestattet worden. 
Ich muß Dir auch mitteilen, daß über 400 Juden aus 
Casablanca hier sind. Sie haben fast gar keine 
Kleider. Ich tue mein Mögüchstes, um ihnen zu essen 
zu geben, aber ich habe selbst nichts mehr. Die 
Flüchtlinge, auch die Frauen, sind unterwegs von 
den Arabern auf das Grausamste behandelt worden. 
Alle sind dem llungertode nahe. 

David Amar. 

(Die Alliance Israelite Univer- 
selle hat die zur Repatriierung 
der Flüchtlinge nötige Summe zur 
Verfügung gestellt.) 

Casablanca, 30. August 1907. 

Hierdurch teile ich Ihnen mit, daß gestern Abend 
spanische Soldaten in Begleitung von Zivilisten in 
trunkenem Zustand in den Mellah eingedrungen sind. 



Mitteilungen der AUiance Isra61ite ünivoselle: Das Unlerstützungswerk der Alliance in Marokko. 



EUGENE DELACROIX. 



JUEDISCHE HOCHZEIT IN MAROKKO. 



Sie brachen die Türen ein und machten den VereucU, 
Frauen zu überwältigen und verschiedene Sachen 
fortzunehmen. Einen armen wehrlosen Mann haben 
sie durch einen Revolverschuß verwundet. Ich habe dem 
Kommandanten Mangin eine Beschwerde übei^ben. 
Pisa. 
Casablanca, 1. September 1907. 

Ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, daO Dr. Baron 
Henri de Rothschild hier gewesen ist, wo er ein Kranken- 
haus zu begründen beabsichtigt. Ich habe ihm an der 
Spitze der provisorischen Kommission der jüdischen 
Gemeinde meine Aufwartung gemacht und ihm die 
traurige Lage unserer Glaubensgenossen geschildert. 
Er fragte mich, was er für sie tun könnte. Ich habe 
ihn um Hausgerät für die ganze Bevölkerung gebeten. 
Er antwortete nur, er wollte sofort an seine Oheime 
telegraphieren und sie um Hausgerät für 400 Familien 
und Kleidung für die Kinder bitten. Dann ging er mit 
mir aus und kaufte einige dreißig Stück Leinwand 
zur Kleidung für die Familien, die aus dem Innern 
des Landes zurückkommen. Beim Abschied wieder- 
holte er mir, er wolle sein Möglichstes tun, um von 
seinen Oheimen eine groOe Unterstützung zu erlangen. 

Sie wissen, daß Dr. von Rothschild in Casablanca 
ein Krankenhaus errichten wird. Wäre es möglich, 



die Reservierung eines besonderen Pavillons für die 
jüdischen Patienten zu erreichen? Pisa. 

Casablanca, 1. September 1907. 
Ich komme nochmals auf die Ereignisse in Casa- 
blanca zurück, um Ihnen noch einige Einzelheiten von 
gewisser Bedeutung mitzuteilen. Wie Sie wissen, hat 
die Plünderung am 5., 6. und. 7. August stattgefunden. 
Nachdem die Ausschiffung von Truppen erfolgt war, 
haben die Araber die Stadt verlassen. Einige jüdische 
Familien aus der Bhiwa — dem schmutzigsten Stadtteil 
des Mellah — haben während der wenigen Tage bis zur 
Wiederherstellung der Ordnung die herrschende Ver- 
wirrung mißbraucht, indem sie von den Arabern ver- 
gessene oder weggeworfene, übrigens ganz wertlose 
G^enstände fortnahmen. Dadurch ist das in ganz 
Marokko verbreitete Gerücht entstanden, die Juden 
hätten zuerst das Signal zum Plündern gegeben und 
die meisten von ihnen hätten sich auf Kosten der anderen 
Bevölkerung bereichert. — Das ist eine maßlose 
Übertreibung. Gewiß haben auch Juden vielfach von 
dem genommen, was auf den Straßen herumlag, wovon 
übrigerks die Soldaten gleichfalls nahmen und was aller 
Welt zur Verfügung stand. Worin aber bestanden diese 
geraubten Schätze? In etwas Tee, Gerste, Zucker und 
gleichwertigen Dingen. Die auf den Straßen liegenden 



6b9 



Mitteilungen der Alliance Isra^lite Universelle: Das Unterstützungswerk der Alliance in Marokko. 



660 



Waren galten 8o ganz als Gemeingut, daß selbst euro- 
päische große Handelshäuser die entwendete Ware 
angekauft und sich so zu Mitschuldigen der Diebe ge- 
macht haben. Die unsinnige Behauptung, alle Juden 
hätten sich bereichert, trifft so wenig zu, daß den hundert 
Familien, die vielleicht noch einen Monat zu essen haben, 
tausende gegenüberstehen, die nichts, aber auch gar 
nichts haben und die den Tod oder das Verschwinden 
eines oder mehrerer Angehörigen beweinen. 

Alle Europäer haben bei ihren Konsulaten Ersatz 
für die ihnen zugefügten Verluste beantragt. Nur die 
Juden unterstehen keinem Schutz und können sich 
an niemand wenden. Ich bitte um Nachricht, ob ich 
mich mit der Anfrage an Herrn Malpertuy wenden soll, 
ob er eine Reklamation von allen Juden entgegen- 
nehmen kann, oder ob es richtiger ist, daß Sie in 
diesem Sinne beim Ministerium der Auswärtigen An- 
gelegenheiten Schritte tun. Pisa. 

Casablanca, 3. September 1907. 

Vor einigen Tagen hatte ich die Ehre, Ihnen, über 
die Lage unsere Glaubensgenossen in Settat zu be- 
richten. Eben erhalte ich einige ausführlichere Nach- 
richten, die ich Ihnen hierdurch mitteile. Da in Settat 
alle durch die Schauia führenden Wege zusammen- 
laufen, scheint dieser Ort der Mittelpunkt zu werden, 
an dem aUe aufs Land geflohenen Israeliten sich zu- 
sammenfinden. Außerdem ist dies auch der einzige 
Platz, an dem sie eine kleine jüdische Gemeinde vor- 
finden. Es ist wahrscheinlich, daß in den nächsten 
Tagen die 1000 bis 1500 auf dem platten Lande ver- 
streuten Israeliten, die aus irgend einem Grunde nicht 
nach Casablanca zurückkehren können, sich in Settat 
zusanmienfinden werden. 

Ich hatte Sie gebeten, diese UnglückUchen über 
Mazagan nach Casablanca zurückbefördem zu dtirfen. 
Die Proklamation von Mulay-Hafid hat die Lage im 
Süden sehr unsicher gestaltet. Man ist jeden Augen- 
blick darauf gefaßt, in Mazagan Truppen landen zu 
sehen. Außerdem steht beinahe fest, daß eine 
Expeditionsabteilung in das Innere des Landes geschickt 
wird. Das Reisen in der Schauia wird ganz unmöglich. 
Es ist deshalb auch nicht angängig, etwas für die 
Unglücklichen in Settat zu tun. Wir könnten vielleicht 
jenen ziemlich wohlhabend scheinenden David Amar, 
dem Absender des Ihnen neulich in Abschrift ge- 
schickten Briefes, bitten, die Flüchtlinge auf Kosten 
der Alliance zu speisen. Ich kann aber nicht beurteilen, 
wie weit Ihre AJaordnimgen ausgeführt würden. Am 
richtigsten ist wohl, die Klärung der politischen Lage 
abzuwarten. Ich bin fest entschlossen, wenn mich nicht 
neue Pflichten in Casablanca zurückhalten, die 
Expeditionsabteilung in das Innere zu begleiten, be- 
sonders wenn sie bis Settat und Mzab geht. Pisa. 

Casablanca, 4. September 1907. 

Heute Morgen besuchte mich Dr. Bachon, der 
Militärarzt des französischen Besatzungskorps in 
Marokko. Er hat bei den Israeliten die vielfach vor- 
kommenden Augenkrankheiten bemerkt und erbietet 
sich aus eigenem Antrieb zur Behandlung dieser 
Krankheilen. Er fragte mich, ob ich ihm im Mellah 



ein Zinmier zur Verfügung stellen und ob ich von der 
Alliance die Lieferung voü Medikamenten erlangen 
könnte. Er würde täglich einige Stunden den armen 
Patienten widmen, deren Zustand dadurch ver- 
schlimmert werden kann, daß sie mehrere Tage auf die 
Untersuchung in der französischen Klinik warten 
müssen. Dr. Bachon kennt die Tätigkeit der Alliance 
sehr genau und bewundert sie aufs tiefste. 

Ich habe Herrn Dr. Bachon meinen herzlichsten 
Dank für sein schönes Vorhaben ausgesprochen und 
habe mich stark gemacht, von Ihnen die Mittel für 
ein Zinmier und für die erforderlichen Medikamente 
zu erhalten. Ich habe ihn gebeten, mir eine Aufstellung 
zu machen, die ich Ihnen sofort nach Empfang zu- 
stellen wollte. Wir würden auf diese Weise im Mellah 
eine KUnik bekommen, die unseren Kranken die erste 
Hilfe gewährt. Pisa. 

(Die Alliance Israelite Univer- 
selle hat Herrn Pisa ermächtigt, 
über die zur Herstellung der vom 
Militärarzt Dr. Bachon in Aussicht 
gestellten Klinik erforderlichen 
Gelder zu verfügen.) 

Casablanca, 6. September 1907. 

Ich habe die Ehre, Ihnen einige Auskunft über die 
Israeliten zu geben, die Casablanca verlassen haben. 
Wie schon berichtet, hatte eine große Anzahl von ihnen 
sich nach Tanger gewendet. Als aber auch in dieser 
Stadt die Lage etwas bedrohlich geworden war, sind 
unsere Flüchtlinge nach Gibraltar gegangen, wo der 
Gouverneur ihnen die Aufnahme verweigerte. Darauf 
wendeten sie sich nach der Linea und Algeciras. Es 
waren ungefähr 500 Personen, fast durchweg wohl- 
habende Familien aus Casablanca. Bei den spanischen 
Behörden fanden sie ausgezeichnete Aufnahme. Man 
erließ ihnen den Zoll, suchte ihnen Wohnungen, brachte 
ihnen Lebensmittel, gestattete ihnen, das Vieh nach 
jüdischem Ritus zu schlachten, und erlaubte ihnen, 
ein Bethaus einzurichten. Die Zivil- und Militär- 
behörden und die ganze Bevölkerung machten sich 
eine Ehre daraus, ihnen aUes anzubieten, was ihnen 
fehlte. Jetzt haben alle Familien sich niedergelassen, 
die Mehrzahl in Algeciras, einige in der Linea und 
in Cadix; sie wollen den Winter über dort bleiben. 
Von der bei den Spaniern gefundenen Aufnahme gerührt, 
haben die Israeliten dem Vorsitzenden des 'spanischen 
Comit^ einen Dankbrief geschickt, der in der Über- 
setzung lautet: 

„Die Unterzeichneten, die infolge der blutigen 
Ereignisse in Marokko auf der Suche nach einer 
Schutzstätte in dieses ritterliche und gastliche Land 
gekonmien sind, um sich unter den Schutz der glor- 
reichen spanischen Flagge zu stellen, geben sich die 
Ehre, den Behörden und der ganzen spanischen 
Bevölkerung ihre tiefste Dankbarkeit für die ihnen 
bewiesene menschenfreundliche Haltung auszu- 
sprechen. Seine Exzellenz der Militärgouvemeur 
dieser Stadt, Don Julio Bazan, der Btirgermeister, 
Don Eugenio Bianca Romero, und die ganze Stadt- 
vertretung, der Herr Steuerinspektor, Don Eusebio 
Albalade jo, der Direktor, Don Antonio Diaz Tejeiro, 



Milteilungen der Alliance Israflite Universelle: Das Unterstützungswerk der Alliance in Marokko. 



OELOEMAELDE. 



Jüdin auB Tanger. 



Jädfn aiu Tetuan. 



OELOEMAELDE. 



der Hafenkommandaiit und das ihm untersl«hende 
Personal, die Seebebörden, die ganze, ja die ganze 
Bevölkerung hat dem Namen dieses gesegneten 
Landes Ehre gemacht und hat unter diesen traurigen 
Verhältnissen Trost gespendet. Dafür verdienen sie 
den Dank der Menschheit. Da die Mehrzahl der 
Unterzeichneten aus Gasablanca ist, wünschen wir, 
daS ganz Spanien das edle und tapfere Betragen der 
Handvoll heldenhaften Seeleute des Kreuzers 
,,Alvaro de Bazan" kennen lernen, die den glor- 
reichen Annalen Spaniens mit ihrem Blut die Be- 
wunderung von Freund und Feind neu erobert 
haben.' Und da wir zurzeit unsere Dankbarkeit in 
keiner anderen Gestalt beweisen können, bitten wir 
den Allmächtigen Gott Israeb, seinen reichen Segen 
über Spanien auszubreiten." 

A 1 g e c i r a s , August 1907. 
(Folgen die Unterschriften aller der in den drei ge- 
nannten Städten niedei^lassenen flüchtigen 
Notabein.) 
Dieses Dokument ist in den spanischen Zeitungen 
veröffentlicht und in einer Spezialausgabe verbreitet 
worden und hat in Spanien großen Eindruck gemacht. 
Pisa. 
Casablanca, 8. September 1907. 
Ich bin glücklich, Ihnen mitteilen zu können, 
daß der aus Tanger hierher zurückgekehrte Dr. Henri 



von Rothschild uns die Nachricht gebracht hat, Baron 
Gustav von Rothschild habe ihm 20 000 Francs für die 
Israeliten in Casablanca geschickt. Davon sind 10 000 
Francs dem Dr. Henri von Rothschild zur Bezahlung 
der von ihm in Europa bestellten Wirtschaftsgerfite 
und Kleider zur Verfügung gestellt worden, 10 000 Frcf. 
wurden der provisorischen Kommission überwiesen. 
Wir haben also einen Kaasenbesland von 15 000 Francs. 
In ihrer gestrigen Sitzung hat die Kommission be- 
schlossen, nur einen geringen Teil dieser Summe als 
Unterstätzung zu den Feiertagen zu verteilen. Mit 
dem Rest hofft sie, eine bilbge Küche für die Kranken 
und die ganz Armen einrichten zu können. Sie hat 
zwei ihror Mitglieder mit einem Bericht über diesen 
Gegenstand beauftragt. 

Bei dieser Gelegenheit teile ich Ihnen auch mit, 
daß in dem von Herrn von Rothschild begründeten 
Krankenhaus ein wesentlicher Raum für die Israeliten 
reserviert werden wird. 

SchlieSUch habe ich noch zu berichten, daß alle 
arbeitsfähigen Israeliten in den Geschäften und bei 
den städtischen Behörden Arbeit finden und von 
1,50 bis 4 Francs täglich verdienen. Pisa. 

M a z a g a n , 20. August 1907. 
^Nachdem die Mordtaten von Casablanca hier be- 
kannt worden waren, fing die Lage in Mazagan auch an, 
beunruhigend zu werden. Unter der arabischen ße- 



1 



663 



Mitteilungen der Alliance Isra^lite Universelle: Das Unterstützungswerk der Ailiance in Marokko. 



664 



völkerung der Umgegend machte sich sofort große 
Aufregung bemerkbar und die bedrohUchsten Gerüchte 
kamen in Umlauf. Die folgende Tatsache wird Ihnen 
die Überreizung der Gemüter beweisen: 

Eines Nachmittags wurde ich bei einem Spazier- 
gang am Strande von einer Gruppe Araber mit den 
Worten angesprochen: „In dieser Woche kommt die 
Reihe an Euch !" Das war eine direkte Drohung. Am 
Montag, den 6. August haben wir in Mazagan genau das 
Bombardement von Casablanca hören können, und an 
demselben Tage begannen ansehnliche Reitertrupps 
aus den Stänmien Uled Farredj und Uled Buaziz die 
Stadt Mazagan zu imizingeln und zu belagern. Alle 
außerhalb der Stadt wohnenden Leute kamen herein, 
um sich hinter den Mauern der Stadt in Sicherheit zu 
bringen. Der französische Konsul kam mit seiner 
Famihe in die Stadt und ließ sich im Hotel nieder, 
wohin auch wir alle geflüchtet waren, weil das Haus 
zu den am leichtesten zu verteidigenden gehörte. Der 
Konsul erhielt vom Kaid der Stadt Waffen und Munition 
für uns. Die nächsten drei Tage verliefen unter fort- 
währendem Alarm. Man schUef nicht mehr, wir waren 
ununterbrochen auf Wache, das Gewehr im Arm, 
und waren entschlössen, uns zu verteidigen, bis der im 
Hafen verankerte „Du Chayla" uns Hilfe schicken 
würde. UnglückUcherweise wußten wir, daß dieser 
Kreuzer keinen Mann mehr auszuschiffen hatte, weil 
die gesamte Mannschaft in Casablanca geblieben war; 
er konnte nichts tun, als die^ Stadt bombardieren. >a 

Am Mittwoch, den 8. August gab es eine große 
Panik. Die Ueiter belagerten die Stadt, in deren 
Innern die aufrührerische Menge eben den Kaid ab- 
gesetzt und einen neuen ernannt hatte, um nachher 
Nvieder den ersten einzusetzen. Am Freitag, den 
10. August kam infol^ der Vorstellungen und Bitten 
seitens der fremden Kolonien der „Admiral Aube" 
angedampft und brachte 176 Mann zur Ausschiffung 
mit. Das war der böseste Tag für Mazagan. Die durch 
Marabouts zu einem heiligen Kriege aufgereizten be- 
rittenen Stänune begannen vom Strande aus den 
Kreuzer zu beschießen und sich an den Toren der 
Stadt zu konzentrieren. Die Gefahr war außerordentUch 
groß. Dem Kaid gelang es schließUch durch Geld- 
geschenke die Uled Farredj zu entfernen. Alle Welt 
erwartete an diesem Tage die Ausschiffung der Truppen. 
Die mohamedanischen Notablen verlangten es, und 
der Kaid war mit den Umanas der Zollstation bereit, 
die Stadt zu übergeben. Als gegen Abend die Araber 
sich überzeugt hatten, daß die Schiffe die Stadt nicht 
bombardierten, wurde es einen Augenblick ruhig, so 
daß man auf offenem Markt vor einer ansehnhchen 
Volksmenge eine Proklamation des General Drude imd 
des Kontreadmirals Philibert vorlesen konnte. Die 
gesamte französische Kolonie verließ an diesem Abend 
die Stadt imd schloß sich im französischen Konsulat 
ein, das am Meeresstrand hegt und von draußen 
leichter zu verteidigen ist. Alle Europäer der Stadt 
kamen dorthin nach. Wir verbrachten dort zwei Tage 
und zv^ei Nächte unter fortwährender Beunruhigung, 
denn schon am Tage nach der Verlesung der 
l Proklamation hatten die feindüchen Angriffe der 
^♦'^mme wieder begonnen. Darum wurde auch das erste 



nach Tanger segelnde Schiff wie ein Retter begrüßt. 
Auf Befehl des Konmiandanten des Kriegesschiffes 
wurden alle europäischen Familien dort aufgenommen. 
Mehrere Hundert FamiUen fanden auf diesem Schiffe 
Unterkommen, zwei andere Schiffe kamen noch an 
demselben Tage und schifften den Rest der Bevölkerung 
von Mazagan ein. Heute ist die Stadt leer. Einige 
Englische und deutsche Kaufleute, das Konsularkorps 
und die Postbeamten sind die einzigen Zurück- 
gebliebenen. 

Die jüdische Bevölkerung ist in Massen geflohen 
und hat ihre Armen im Stich gelassen. 

Elmalah. 

Mazagan, 26. August 1907. 

Die Stadt scheint ruhiger zu sein. Ist diese Ruhe 
echt, oder ist es die Ruhe, die dem Sturm vorangeht ? 
Mazagan ist augenblicklich leer und macht den Eindruck 
einer unbewohnten Stadt. Die Geschäfte, die Läden und 
Häuser sind geschlossen. Die wenigen zurückge- 
bliebenen Kaufleute sind mit der Verpackung ihrer 
Warenbestände beschäftigt und wollen dann ebenfalls 
abreisen. Im Verlauf einer Woche sind von Mazagan 
über zehntausend Personen abgereist: Israeliten, 
Europäer und Mohamedaner. Fast die gesamte 
jüdische Bevölkerung ist fort, nur die Armen sind 
zurückgeblieben; ihre Not, ihr Elend sind unbeschreib- 
lich. Darum sind auch die von Ihnen geschickten 
Unterstützungen sehr willkonmien, gewesen. 

Heute habe ich die Knabenschule wieder eröffnet 
und habe alle in der Stadt zurückgebUebenen Kinder 
darin aufgenonmien, damit sie nicht in den Straßen 
umherlaufen. Die beiden Rabbiner habe ich ebenfalls 
dahin gebracht, und ich bringe einen Teil des Tages 
dort zu. 

Die Behörden von Mazagan, der Kaid und die 
Umanas, haben heute einen Brief vom Gegensultan 
Mulay Hafid erhalten, in dem er ihnen seine Thron- 
besteigung meldet. Diese Nachricht ist von der hiesigen 
Bevölkerung mit großer Freude begrüßt worden, 
denn man erwartet, daß mm die Anarchie im Lande 
aufhören wird. Darum ist Mulay Hafid heute proklamier 
aufhören wird. Darum ist Mulay Hafid heute 
akklamiert worden. Außer den beiden berühmten 
Kaids Si Aissa ben Omar, der noch Vorbehalte macht, 
und dem Kaid Anfluß war der ganze Bezirk Haouz 
für ihn. Elmalah. 



Herr Elmalah, Leiter der AUi^nceschule in 
Mazagan, teilt unter dem 10. September mit, 
daß eine unter den IsraeUten von Mazagan veranstaltete 
Sammlung zur Auslösung einer Anzahl von den Arabern 
gefangener Frauen imd Mädchen 500 Francs ergab. 
Durch dieses Lösegeld konnten 80 Personen die Freiheit 
erlangen. 

Die AlHance hat von ihren Vertretern in M o g a - 
dor, Marrakesch und Rabat Berichte be- 
konamen, die dieselben Besorgnisse aussprechen und 
von derselben traurigen Lage der jüdischen Bevölkerung 
und von derselben kopflosen Flucht erzählen. 



^^ 666 

AUFRUF FUER DIE MAROKKANISCHEN GLAUBENSGENOSSEN. 

Am 12. September hat. das Präsidium der Deutschen Conferenz-Gremeinschaft an die deutschen 
Mitglieder der Alliance Isra61ite Universelle nachstehendes Rundschreiben gerichtet: 

Hochgeehrter Herr! 

Das Elend unserer marokkanischen Qlaubensbrüder, zu jeder Zeit gross, hat sich 
durch die jängsten Ereignisse noch unermesslich gesteigert. Die Gremeinde von Casablanca, die 
vor kurzem 6000 Seelen zählte, ist durch Gewalttaten von Mauren und Eabylen dezimiert und 
unter namenlosen Greueln um all ihr Hab und Gut gebracht worden. 

Die Alliance Isra^lite Universelle hat unverzüglich in die Stätte der Verwüstimg 
ffilfe geschickt, hat die Bedrängten mit Nahrung und Unterkunft versehen. Doch der Bedarf 
übersteigt die bereiten Mittel, und leider ist zu befürchten, dass die Zahl der Bedürftigen sich 
noch mehren wird. 

Die Alliance Isra^lite Universelle, die seit einem halben Jahrhundert die Fürsorge 
für unsere bedrückten Glaubensgenossen sich zur tagtäglich geübten Pflicht gemacht hat, an die 
sie nicht durch Katastrophen erinnert zu werden braucht, wendet sich in der Not des Augenblicks 
an Sie mit der Bitte, anlässlich der bevorstehenden Feiertage der heimgesuchten Brüder in 
Marokko zu gedenken. 

Nehmen Sie freundlichst auch von Freunden und Bekannten Gaben entgegen und führen 
Sie sie uns zu. Das Deutsche Bureau der Alliance Isra^lite Universelle (Berlin N. 24, Oranien- 
burgerstrasse 42/43) vermittelt die üeberleitung der Spenden nach Marokko. 

Die Alliance Isra^lite Universelle hat das Hilfswerk von alters her organisiert. Ihre 
Vertrauensmänner und Sendboten sind landeskundig und bei den Behörden legitimiert; sie verstehen 
die Unterstützungen an die rechte Stelle zu leiten und für die rechte Verwendung zu sorgen. 

Wir hoffen sehnlichst, dass wir keine Fehlbitte getan haben, und begrüssen Sie 

mit aller Hochachtung 

Die Deutsche Conferenz-Qetneinschaft der Alliance Isra^lite Universelle. 

Geheimer Konunerzienrat L. M. Gk)ldberger Charles L. Hallgarten 

Präsident. Stellvertretender Präsident. 

M. A. Klausner 

Geschäftsführer. 

In Frankfurt a. M. haben die Lokal-Comit^ der Alliance Israelite Universelle und des Hilüs- 
vereins der Deutschen Juden gemeinsam folgenden Aufruf erlassen: 

Aus den Zeitungen werden Sie von den schweren Verfolgungen erfahren haben, denen 
unsere marokkanischen Glaubensbrüder ausgesetzt sind. Durch Baubtaten, Brandstiftungen und 
Mordtaten sind blühende Gemeinwesen zerstört; die 6000 Seelen zählende Gemeinde Casablanca 
ist zugrunde gerichtet, und noch ist ein Ende der Greuel nicht abzusehen« Auch die Gremeinden 
Mazagan, Babat, Magador und Tanger sind auf das härteste getroffen worden. 

Hunderte und Aberhunderte unserer marokkanischen Glaubensgenossen sind ohne Wohnung, 
ohne Brot, ohne Obdach und Arbeit. Wenn auch für die allerdringendste Not durch unsere Hilfs- 
organisationen gesorgt worden ist, so wird doch fortgesetzt Hilfe bis zur Herstellung der Buhe 
nötig sein. Man wird den dortigen Glaubensgenossen helfen müssen, ihre niedergebrannten Häuser 
wieder aufzubauen, ihre zerstörte Habe wieder zu ersetzen, vielleicht sogar die entführten Frauen 
und Kinder wieder zurückzukaufen. 

In dieser Not wenden sich die unterzeichneten Frankfurter Lokal-Comit6s 
der Alliance Isra61ite Universelle und des Hilfsvereins der Deutschen Juden an Sie 
mit der Bitte, nach Kräften zu diesem Werk der Brüderlichkeit und Barmherzigkeit 



667 



Mitteilungen der Alliance Isra^Iite Universeile: Aufruf für die marokkanischen Glaubensgenossen. 



668 



beizasteaern« Wir erwarten gern, dass das Herz unserer Glaubensgenossen auch 

gegenüber diesem neuen Ungläck sich in gewohnter Weise bewähren wird. Wir 

werden uns erlauben, Ihnen denmächst eine Liste zur Einzeichnung Ihres Beitrages vorlegen 

zu lassen. 

Mit vorzüglicher Hochachtung 



Das Lokal-Comit^ 
der Alliance Israölite Universelle 

Th. H. Schlesinger 

Charles Hallgarten Dr. J. Blau 

PhiUpp Schiff 

Dr. Ed. Baerwald Direktor Dr. Adler 

Alfred Eosenthai 



Das Lokal-Comit^ 
des Hilfsvereins der Deutschen Juden 

Eduard Cohen 

Dr. Karl Sulzbach Salomon Epstein 

Sanitätsrat Dr. Jaff6 

Isaac Dreyfus Louis Feist 

Julius Goldschmidt 



Beiträge nimmt Herr Th. H. Schlesinger, i. Fa.: Franz Straus Sohn, Junghofetr. 14, 
entgegen. Im Uebrigen ist jeder der Unterzeichneten bereit, Gaben in Empfang zu nehmen. 



Soweit es der Raum dieser Nummer gestattet und 
soweit sich die gütigen Spender ihre Nennung aus- 
drücklich verbeten haben, bestätigen vnv im Folgenden 
dem Deutschen Bureau der A. I. U. für die Marok- 
kanischen Glaubensgenossen zugegangenen Gaben, 
weitere Bestätigungen für die späteren Hefte vor- 
behaltend : 

Berlin: N. N. 300.—, Siegfried Brunn 100.—, Geh.Rat 
Prof. Dr. Landau 100.—, Direktor O. Oliven 100.—, 
Rabbiner Dr. Weiße 30.—, San.- Rat Dr. Neumann 25. — , 
Benno Braun 25. — , Alfred Cohn 20. — , Direktor Dom 
20.—, Dr. S. Fränkel 20.—, Heinrich Fränkel 20.—, Max 
Ber 20.—, N. N. 10.—, Dr. Lehfeld 10.—, M. A. Klausner 
50. — , Emil Heymann 100. — , Frau Geh. Kommerzien- 
rat Meyer - Cohn 100. — , Kommerzienrat Louis 
Schlesinger 300. — , Fritz Zedner 20. — , M. Koplowitz 
20.— S. Fränkel (Unter den Linden) 300.—, N. N. 
10. — , O. Altmann 5. — , EUas Rosenberg 5. — , Wolf 
Mandel 5. — , Frau Clara Poppelauer 5. — , Bernhard 
Noa 5. — , J. Aronheim 8, — , Rechtsanwalt Dr. Hantke 
10. — , Fräulein Berta Majerowitsch 10. — , Arthur 
Meyerowitz 5. — , Dr. J. H. Goldschmidt 100. — , S.Herz 
100.—, Direktor J . Stern 100.—, Alfred und Oskar Löwen- 
berg 100.— , L. Berl200.— , Paul Schlochauer 50.—, Max 
Franck 50. — , Albert Rathenau 50. — , Architekt Geoi^ 
Rathenau 50. — , G. Mosler 100. — , Alexander Kro- 
towski 50. — , E. Sachs 50. — , Simon Bing 50. — , 
Hermann Scheyer 100. — , Cassierer Söhne 50. — , 
Hermann Hoffmann 50. — , Generalkonsud Burchardt 
50. — , MaximiUan Heymann 50. — , PhiUppsohn & 
Leschziner 30. — , Wollenberg 30. — , Lubzynski& Co. 
25. — , Louis Ed. Sachs 25. — , J. D. Hassan 20. — , 
Leopold Juda 20. — , S. Hoffmann 20. — , Carl Chram- 
bach 20.—, E. Engel 20.—, Jul. Punitzer 20.—, Max 
Mecklenburg 20. — , Ad. Gradenwitz 20. — , Professor 
Dr. Rosin 20. — , L. Brockmann 30. — , Gebr. Beermann 
20.—, Arnold Weiß 20.—, Heinrich Tuchmann 20.— 
Anton Lewin 20. — , Ferdinand Schlesinger 20. — , 
Moritz Mannheimer 15. — , Frau Anna Landau 12. — , 
Abr. Schwab 10. — , Dr. Wiesenthal 10. — , John Busch 



10. — , Adolf Fuchs 10. — , Samuel Numann 10. — , 
J. Flach 10.—, D. Flach 10.—, Max Weiß 10.—, 
S. Cobliner 10. — , Hendrik Citroen 10. — , A.B. Citroen 
10.—, Rud. Mayer 10.—, Thekla Mayer 10.—, Phöbus 
Sachs 10. — , J. Oppenheim 10. — , Louis Schleich 10. — , 
Louis Ansbach 10. — , Rob. Kayser 10. — , Louis Littauer 
10. — , Jac. Eichenwald 10. — , Max Brühl und Ludwig 
Brühl 10.—, R. Benjamin 10.—, JuUus Futter 10.—, 
S. Gesang 10. — , Carl Wittenberg 10. — , Ed. Pincus 
10. — , Gebr. Scherk 10. — , A. Breslauer 10. — , Heinrich 
Löwenstein 10. — , Jac. Popper 10. — , Dr. Brodnitz 
10. — , Ernst Hirsch 10. — , A. Lewin 10. — , Citren 10. — , 
Jos. Chaim 10. — , Edgar Burchardt 5. — , Max Rind- 
fleisch 5. — , Berthold Lewy 10. — , Dr. Max Levi-Dorn 
5. — , Louis Stern 3. — , R. L. 5. — , H. Schwarzbei^ 2. — , 
G. Neumann 3. — , Norbert Sachter 6. — , J. Cohn 5. — , 
B. Hauptmann 3. — , Salinger, Liepmann & Rieß 5. — , 
A. Herzfeld 5. — , M. Auerbach 5. — , Dr. med. Rosen- 
berg 3. — , Ad. ZülUchauer 5. — , Dipl.-lng. Ludwig Gut- 
mann 5. — , Adolf Guttmann 5. — , Jenny Henn 5. — , 
N. Mohrus 2. — , Isidor Wolff 1. — , Eugen Courant 5. — , 
Prof. Berliner 3. — , Mich. Altmann 3. — , Frau N. Barth 
5.—, Hbsch 2.50, Alb. Fabian 2.—, M. Ullendorf 5.—, 
Moritz Meyer 3. — , Alb. Friedenthal 3. — , David Cohn 
5. — , Dr. Holzmann 5. — , B. Glückstein 5. — , Dr. Plotke 
5. — , Frau Nathan 5, — , Jul. Matzdorff 3. — , Siegfried 
Joseph 5. — , Dr. K. Ruhemann 5. — , T. L. 3. — , D. Zie- 
linsky 3. — , Moritz Cohn jun. 5. — , J. Marcuse 5. — , 
J. Ferester 5. — , S. Hirsch 5. — , Louis Galewski 5. — , 
L. Rokotnitz 5. — , Siegmund Fürst 5. — , H. Bein 5. — , 
Berthold Levy 5.—, H. Pinn 2.50, Dr. S. Breslauer 2.50, 
Ad. Cohn, Architekt 3. — , S. Friedeberg 3. — , Arthur 
Moses 2. — , J. Knoller 3. — , Hermann Löwenstein 5. — , 
D. Malachowski 5. — , Emil Stern 3. — , A. Böhm 3. — , 
Emil Berg 5. — , Wilhelm Latte 5. — , Berthold Lewin 
5. — , Sally Haase 5. — , Dr. Adolf Zimmermann 4.—. 
Breslau: Adolf Sternberg 100. — , Ungenannt 300. — 
Lessing-Loge 50. — , Rittergutsbesitzer H. Cohn 30. — , 
S. E. Goldschmidt 30. — , Georg Cohn 50. — , Jacob 
Blau 20.—, S. Glücksmann 20.—, Burgfeld 20.—, 



669 



Mitteilungen der AUiance Isra^iite Universelle: Spenden. 



670 



Josef Lipmann 20. — , Lipmann Boch 50. — , Louis 
Rosenthal 20.—, J. Ehrlich 20.—, Carl Leipziger 20.—, 
Max Krüger 20. — , Dr. med. Köbner 20. — , Jul. Sachs jf . 
15.—, D. R. Schlesinger 10.—, N. Ritter 10.—, Max 
Königeberger i. Fa. A, J. Mugdan 10. — , Bankier Isidor 
Alexander 10. — , Carl Haber 10. — , Siegfr. Bielschowsky 
10.—, Felix Sander 8.50, Salo Blau 5.—, J. Schäfer 3.—, 
Dr. Steinitz 5. — , Dr. med. Ed. Weyl 5. — , Baruch 
& Loewy 3. — , Dav. Tockus 5. — , Gustav Stern 5. — , 
S.Zimmt 5. — , C. Lewin 6. — , Siegfr. Weyl 5. — , Siegfr. 
Gerstel 10. — , Jacob Sulke 4. — . 

Anrieh: Gesammelt durch H. Reuß 112.70. 
Beuthen, O.-Schl.: Leopold Guttmamfi 20. — . Brieg: 
Siegfr. Böhm 5. — . Burgstelntart: Gesammelt durch 
H.Emanul65. — . Cassel: Callmann Plaut 5. — . Düren: 
(Rheinland): Emanuel Heimann 25. — . Exin: Jusitz- 
rat Loewy 5. — , Leiser Jacob 2. — , Leiser Samuel 2 — , 
M.Loeser 2. — , S. Stein 1. — , Rosenthal 3. — ,Dombrower 
1. — , Meyer Tuch 1. — , Ad. Haase 1. — , Siamuel Cohn 
1. — , Cohn Jacob 1. — , Süßkind 1. — , L. Seemann 2. — , 
Salomon Cohn 1. — , Louis Reich 1. — , Salomon Isidor 
1. — , Isidor Leszynski 1. — , Louis Salomon 1. — , Ad. 
Schimmek 1. — , Riemann 1. — , M. Mamroth 1. — , 
M. Jacoby 1. — , R. Raphael 1. — , M. Raphael 1. — , 
H. Bär 1. — , Ad. Steinhardt 1. — , , W. Salomon 1 — , 
A. Buschke 1. — . Dortmund: Sally Flörsheim 25. — . 
Esehweiler: Männer-Chevrah, gesammelt durch Marc. 
Meyer 20. — . Pilehne: Gesammelt durch Rabbiner 
J. Nobel 79.40. Friedeberg (Queis): Gesammelt durch 
M. Saritz 7. — . Halberstadt: Aron Hirsch Sohn 100. — , 
S. Redelmeier 10. — , L. Burchardt 10. — , Moritz 
Joseph 5. — , Leop. Gottschalk 5. — , Arthiur Helft 5. — , 
Arth. Heynemann 5. — , Willy Cohn 3. — , Dr. Crohn 3. — , 
H. Silberberg 5. — , Max Harwitz 5. — , Phil. Lasch 5. — , 
Jul. Meyer 5. — , Joseph Baer 5. — , Samuel Baers Söhne 
20. — , H. J. Meyer & Söhne 5. — , Frohnhausen 3. — , 
Frau Henriette Meyer 5. — , Gottfr. Goldtschmidt 3. — , 
Moritz & M. Meyer 5. — , Paul Reichenbach 3. — . 
Heidingsfeld: L. Bamberg 10. — . Hamburg: Hermann 
Gumpertz 50. — ,. Herford: Durch Rabbiner Dr. 
Hulisch 100. — (Israelitischer Frauenverein 75. — , 
Israelitischer Männer- Wohltätigkeitsverein 25. — ) . 
Höxter: E. M. 5. — , A. L. 5.—. Hildesheim: Ge- 
sammelt durch AI. Ballheimer 161.25. Kosehmin: 
Rabbiner Dr. Heppner 5. — . Leipzig: Max Schiller 
10.—, Max Schmoll 10.—, J. Abraham 20.—, B. Maly 
50. — , Gebr. Felsenstein 10. — . Linz a. Rh. : Hermann 
Hirsch 10. — , Moritz Simon 10. — , Daniel Wallach 10. — , 
Dr. Graf, Notar 10.—, Max Meyer 10.—, Dr. Wolf 10.—, 
Frau Louis Simon 10. — , Jos. Wallach II 5. — , M. 
Jonas 5. — , Jos. Hirsch 3. — , Leop. Levy II 3. — , 
Simon Simon 5. — , Abr. Levy 2. — , D. Würzburger 
2. — , M. Marx 2. — , Herm. Faber 2. — , Jos. WaUach I 
2. — , A. Samuel 1. — , Wallach Nathan 1. — , Leop. 



Marx 1. — , Aron Marx 1. — , Heinr. Levy 1. — , Frau 
Levy 1. — . Lobsens: Jacob Cohn 2.50, Heymann Cohn 
2.50. Kiel: Gesammelt durch Is. Tannenwald 90. — . 
Koethen (Anhalt): Dr. Seligkowitz 70. — . Laden- 
burg a. N.: Gebr. Kaufmann 100. — . München: Durch 
Michael Nußbaum 300.—. Harienburg (W.-Pr.): Ge- 
sanmielt durch H. Flatow 52. — . Hosbaeh (Baden): 
Gesanunelt durch Bezirksrabbiner Dr. Löwenstein 
136.30. Ottensoos: Gesammelt durch Hermann Prager 
54. — . Osnz (Ungarn): Sophie Weißberger 3. — . 
Pinne: Gesammelt durch Max Szamatolski 69.55. 
Plesehen: Salo Geliert 50. — , Rud. Rosenbaum 5.—, 
J. Strelitz 10.—, T. Oppler 5.—, G. Oppler 5.—, 
J. Oppler 5. — , B. Galewski 5. — , G. Galewski 5. — , 
KasteUan 5. — , M. Friedmann 5. — , E. Fränkel 5. — , 
J. Brieger 5. — , M. Brandt 5. — , J. Brandt 5. — , Emil 
Joachim 5. — , Marcus Cohn 5. — , Herm. Rosenbaum 
5. — , Abr. Kurzezunge 5. — , M. Kozminski 5. — 
H. Bilak 5. — , Dr. Peiser 5. — , Gutsbesitzer Lewin 5. — 
Jacobi, Kreistierarzt 5. — , Frau H. Rosenbaum 5. — 
Baumeister Peyser 1.—, Cannel — .50, Grzymich — .50 
A. Markus 1. — , M. Barin — .50, Salo Kurzezunge — .50 
E. Ostrowski — .50, Feblowicz 1. — , J. Schybilski 1. — 
Rathenow: Gesammelt durch Jul. Heimannsohn 13.50 
Rendsburg: Gemeindevorstand 12. — , Moritz Nathan 
2. — . Pfungstadt: Gesammelt durch Frau Agathe Jeide 
10. — . Rostock i. M. : S. Bernharf 5. — , E. Familie 5. — , 
Frau Julie Gimpel 3. — , Bernhard Gimpel 3. — . 
Reiehenbaeh (Schles.), Arnold Cohn 100. — , Hermann 
Cohn 100. — . Speyer: Gesammelt durch Leop. Klein 
100. — , J OS. Kohn 5. — . Stuttgart : Ad. Zimmern 20. — , 
H . Kahn 20. — , Eßlingen 10. — , J acob Kelsen 3. — , V.Merz - 
bacher 10. — , S. Merzbacher 5. — , J. M. Levi 12. — . 
Sulzburg (Baden): Gesanmielt durch Gemeindevor- 
steher Moritz Dukas 45. — . Staden (Hessen) : A. Münz 
Sohn 10. — . Sehokken: E. Kochmann 3. — , Sallv 
JuUus 2. — , A. Rosenthal 1. — , A. Bremler 1. — , 
Th. Dreier 2.—, J. Dattel —.50, L. Simon 1.— , H. Salo- 
mon 1.50, J. Elias 1. — , H. Losaynski — .50, J. Losa- 
ynski — .50, L. Bremler 1. — , J. Ziegel 1. — , Unbenannt 
3. — . Suhl: Sanunlung durch Leop. Sander 64. — . 
Sehwetz a. W. : Gesanunelt durch Siegm. Knopf 62.80. 
Trier: Dr. med. Löwenstein, durch Oberrabbiner 
Dr. Baßfreund 100. — . Thom: Gesammelt durch Adolf 
Jacob 354.60. Woltersdorf b. Erkner: A. Müller 3.—. 
Wilhermsdorf: Max Neu 3. — , Jul. Kerner 3. — , Justin 
Neu 3. — , Ida Michelsohn 3. — , M. Neuburger 2. — , 
H. Ehrenbacher 2.—, J. Neuhöfer 2.—, H. Kohn 2.—. 
Worms: Sammlung Tischgesellschaft J. Sander Wwe., 
durch A. Mayer 15. — . Walsrode: R. Levy 5. — . War- 
burg: Gesammelt durch Prediger E. Alexander 40. — . 
Wiesbaden: L. Wolf 5.—, Jacob Hirsch 4.—. Ziegen- 
hain: Gemeindevorstand, durch Lehrer Ph. Dilloff 
20.—. 



671 



672 



BRIEFE AUS ARABIEN. 

(Spczialberichtc für die A. I. U. von S o m e k h.) 



Nachdruck verboten. 



Herr Somekh, der Direktor der Allianceschiden 
in Kairo, hat kttrzlich die Gremeinde Aden be- 
sucht nnd hat dem Centralcomit6 folgenden Bericht 
über diese Gemeinde übermittelt: 

Die Stadt ist schon seit dem hohen Altertum 
durch ihre kaufmännische Tüchtigkeit berühmt ge- 
wesen. Bis 3U Ende des fünfzehaten Jahrhunderts 
war sie die Zwischenstation für die Produkte 
Asiens und Afrika. Schon die Kömer kauften dort 
die chinesischen Seidenwaren. Der von der Stadt 
beibehaltene jüdische Name „Eden^ hat eine Ana- 
logie mit dem diesem Teil des Landes gegebenen 
Beinamen des „glücklichen" Arabien. Es ist zwar 
durchaus kein Paradies im wörtlichen Sinne des 
hebräischen Worts, aber die Provinz Yemen kon- 
trastiert durch reiche Wassermengen und fnsches 
Grün sehr angenehm gegen die traurige Wüste, 
die sie umgibt. In seiner Prophezeiung gegen 
Tyrus spricht bereits der Prophet Hesekiel von 
ihr als von einer sehr handelstüchtigen Stadt. 
Prächtige Brunnen und Wasserleitungen, ungefähr 
fünfzig an Zahl, deren Bau und geschickte An- 
ordnung man heute noch bewundert und deren Ur- 
sprung mehrere Jahrhunderte vor die übliche Zeit- 
rechnung zurückreicht, beweisen ihre ehemalige 
Bedeutung und ihren Glanz. Nachdem Aden nach- 
einander im Besitz der Araber, der Abessynier, 
der Perser, der Egjrpter und der Ttlrken gewesen 
war, fiel es 1839 in die Hände der Engländer, die 
daraus eine Festung ersten Ranges gemacht haben, 
ähnlich der von Gibraltar. Der von Vasco de 
Gama entdeckte Seeweg hat die Bedeutung der 
Stadt geschmälert und ihren Handel zerstört. Aber 
die Besitznahme von Seiten der Engländer und die 
Schaffung des Suez-Kanals scheint es wieder 
seinem iSten Glanz entgegenzuführen. Tatsächlich 
kommen jetzt jährlich über 1400 Dampfschiffe 
nach Aden und sein jährlicher geschäftlicher Um- 
satz in Export und Import beziffert sich auf 
10—12 MiDionen Kund Sterling. 

Bei der Volkszählung von 1901 hatte Aden 
ungefähr 40 000 Einwohner, meist Araber aus dem 
Innern der Provinz Yemen und Somalis von der 
gegenüberliegenden afrikanischen Küste, alles Mo- 
hamedaner. Aber die Parsis, die Anhänger Zoro- 
asters, sind ziemlich zahlreich. Ihr Andachtsort 
ist der „Feuertempel", wo sie das heilige Feuer 
ihrer Vorfahren unterhalten; und der „Turm des 
Schweigens**, wo sie ihre Toten den Raubvögeln 
preisgeben, ist, wenn man so sagen darf, ihr 
KircUiof. Man findet in Aden auch Indier, 
von der Kaste der „Banianen'S die den Gott 
Brahma anbeten und denen die Kuh heilig ist. 
Die Europäer werden meist vom britischen Militär 
repräsentiert; aber es gibt auch viele Engländer, 
Franzosen, Deutsche, Italiener und Griechen, die 
sich dem Handel widmen. Sie wohnen fast alle 
in dem am Hafen belegenen Stadtteil Steamer- 
Point, arabisch: Tawahi, wo die Konsulate, die 



Schiffsagenturen, die Banken und Hotels, Post- und 
Telegraphenamt sich befinden. Die richtige Stadt 
Aden Uegt 8—10 Kilometer weiter nach dem 
Innern und hat nach ihrer Lage im Krater eines 
erloscheneu Vulkans den Beinamen Kraterstadt. 
Hier wohnen unsere Glaubensgenossen — 3050 an 
der Zahl — , sie stammen alle aus Yemen und 
haben die dortigen Gebräuche und Kleidung genau 
beibehalten. Die Statistik von 1901 gibt ziemlich 
viel Einzelheiten, manche sehr interessanter Art. 
So erfährt man, dass 3 Frauen und 144 Männer 
ohne Obdach sind und auf der Strasse wohnen, 
dass es 1561 jüdische Männer und nur 1489 
Frauen gibt. Dieses Missverhältnis tritt bei den 
mohamedanischen Arabern und Somalis noch deut- 
licher hervor, denn hier zählt man nur eine Frau 
auf zwei Männer. Unter den 3050 Juden Adens 
sind 889 Männer und 739 Frauen unverheiratet, 
620 Männer und 534 Frauen verheiratet, 52 
Männer und 216 Frauen verwitwet. Es gibt 749 
Kinder — 396 Knaben und 353 Mädchen im Alter 
von 5 — 15 Jahren, die die Schule besuchen oder 
ein Handwerk lernen könnten. 

Die Mädchen sind natürlich von allem Un- 
terricht ausgeschlossen, was bei der eigenen 
Stellung der Frauen in Yemen nicht Wunder 
nehmen kann. Während die eingeborene Be- 
völkerung ihre, wenn auch sehr lückenhaften. 
Schulen besitzt, haben die Juden keine einzige. 
Sie begnügen sich mit einem unbedeutenden 
Talmud Thora, wo ein unwissender Babbiner un- 
gefähr hundert Schülern das mechanische Lesen 
der Bibel beibrmgt, während die Gemeinde 
396 schulpflichtige Knaben zählt. Ich habe diese 
primitive Schule besucht, die durch die Grossmut 
des Herrn Menachem Messa unterhalten wird. 
Dieser reichste und einflussreichste Jude Adens ist 
bekannter unter dem Namen Banin; er ist der Ver- 
treter der Judenschaft bei den englischen Be- 
hörden. 

Die Juden in Aden sind bei weitem nicht 
reich; unter ihnen sind viele BedtLrftige, deren Zahl 
durch den Zufluss aus dem türkischen Yemen 
ständig wächst. Im 'sJlgemeinen aber sind sie 
nicht sehr unglücklich. In den warmen Ländern 
sind die materiellen Lebensbedürfnisse sehr gering. 
Wenn man Hunger und Durst gestillt hat, fühlt 
man sich glücklich, und der Jude in Aden, dessen 
Anspruchslosigkeit sprichwörtlich ist, scheint dieses 
Minimnin an Gtenüsseu zu besitzen. Die wirt- 
schaftliche Lage der Juden könnte weit besser 
sein, wenn sie irgend ein nutzbringendes Gewerbe 
ausübten, die Schlosserei, Schuhmacherei, den 
Maurer- oder Zimmererberuf. Sie haben eine 
Industrie, die der Straussfedem und Boas, die sie 
selbst auf den Schiffen verkaufen. Viele sind 
Wechsler und Händler, aber Grosskaufleute und 
Ladeninhaber sind sehr selten. Manche verkaufen 
auch Branntwein, den sie selbst aus von Bassorah 



673 



Mitteilungen der Alliance Isra^lite Universelle: Briefe aus Arabien. 



674 



und Bedjas importierten Datteln fabrizieren. 
Schliesslich verdingen sich eine grosse Anzahl 
Jnden als Arbeiter im Hafen für den geringen 
Taijelohn von 0,75 Frc. bis 1 Frc. 

Die Umprangssprache des Landes ist arabisch, 
die offizielle Sprache englisch. Man spricht aber 
anch hindostanisch nnd die Somalisprache. Die 
Unterrichtssprache in den Schulen der Einge- 
borenen ist das Arabische. Ich bin in einer Schule 
gewesen, die ausschliesslich von kleinen Somalis 
besucht wird. Der Anblick ist sehr interessant. 
Lehrer und Schüler sind nach Landessitte halb 
nackt, vielleicht verlangt es auch die im Schul- 
raum herrschende Hitze. Jedenfalls haben die 
eingeborenen Juden diesen Gebrauch nicht an- 
genommen, in der von mir besuchten Talmud Thora 
waren die Jungen anständig angezogen. 

Die europäischen Schulen sind insgesamt von 
Greistlichen geleitet und der Unterricht wird 
natfirlich! in englischer Sprache erteilt. Die 
Schwestern vom guten Hirten haben eine Mädchen- 



schule in Aden selbst, deren Schiilerinnen nur aus 
getauften Eingeborenen bestehen. In Steamer- 
Point leiten dUe Maristen-Brüder und Schwestern 
je eine Knaben- und eine Mädchenschule, in der 
die wenigen Kinder der europäischen Kolonie unter- 
gebracht sind, auch die der ausländischen Juden, 
meist Spaniolen aus der Türkei und in sehr ge- 
ringer Anzahl. Selbstverständlich würde ein ein- 
geborener Jude niemals auf den Gedanken 
kommen, semen Sohn oder gar seine Tochter in 
eine dieser Schulen zu schicken. 

Die Gemeinde Aden verdient wohl, dass man 
sich für sie mterressiert. Erstens ist sie an sich 
schon bedeutend mit ihren 3050 Seelen, darunter 
749 Kinder in schulpflichtigem Alter. Ausserdem 
wächst diese Bevölkerung täglich durch die aus 
dem Innern Yemens zuziehenden Juden. Eine 
AUianceschule in Aden würde in kurzer Zeit eine 
Hebung unserer dortigen Glaubensgenossen aus 
ihrer moralischen und geistigen Minderwertigkeit 
bewirken. 



SCHULBERICHT AUS BAGDAD. 

Spezialbericht für die A. I. U. von Direktor Albala. 



Nachdruck verboten. 



Der Direktor der Knabenschule in Bagdad, 
Herr Albala, hat dem Centralcomit6 folgenden 
Bericht über die Schulprüfungen am Jahresschluss 
geschickt: 

Herr Rouet, der französische Konsul, und 
Herr Ramsay, der englische Konsul, haben den 
Jahresschluss- Prüfungen in unseren Schulen bei- 
gewohnt Jeder der Herren hat einen Vormittag 
dazu verwendet, die Schüler der höheren Klassen 
zu befragen. In der ersten und zweiten Klasse 
liess Herr Major Ramsay die Schüler ein eng- 
lisches Diktat schreiben und korrigierte alle 
Niederschriften sofort. Dann unterhielt er sich 
mit der Mehrzahl der Schüler in seiner Mutter- 
sprache und konstatierte mit grosser Befriedigung, 
dass die jungen Leute sie ziemlich fliessend 
sprachen. «Die Resultate dieses Jahres sind noch 
besser als die des vorigen Jahres," sagte mir 
Herr Major Ramsay, und versprach mir, für die 
besten Schüler der beiden obersten Klassen 
Prämien zu schicken. 

Herr Rouet hat die Mädchen und Knaben 
in Geschichte, Geographie und Arithmetik exa- 
miniert und hat sich besonders für die französische 
Sprache interessiert Die Schüler der ersten Klasse 
hat Herr Rouet über ihr: Lektüre befragt und 
hat ihnen einige Fragen über französische Literatur 
gestellt Einen jungen Mann, der besonders gut 
geantwortet und ihm die grössten zeitgenössischen 



Dichter genannt hatte, fragte er, welches die drei 
grössten iranzösischen Dichter des 19. Jahrhunderts 
waren, und welcher ihm am besten gefiele. Der 
Schüler nannte Viktor Hugo, Lamartine und Musset, 
zählte die Werke auf, die er von diesen Dichtern 
gelesen hatte, und fügte hinzu : „Ich liebe Lamar- 
tine am meisten, weil er melancholisch und religiös 
ist" Ich muss hierbei bemerken, dass in unserer 
Schule kein eigentlicher Literaturunterricht erteilt 
wird, und dass unsere Schüler nur auf Grund 
ihrer privaten Lektüre geantwortet haben. Herr 
Rouet sagte: „Ich habe zwei sehr interessante 
Stunden mit Ihren Schülern zugebracht; Sie 
geben Ihnen einen ziemlich umfassenden Unter- 
richt, und keine Schule Bagdads könnte den Ver- 
gleich mit Ihrer Schule aushalten." 

Auch in mehreren anderen Städten haben 
die Autoritäten ihre Sympathie für das Schulwerk 
der Alliance ausgesprochen. In Salonichi haben 
Herr Alric, der französische Konsul, und Herr 
Violet, der Direktor der Dette Ottomane, den 
Schlussprüfungen beigewohnt und ihre voll- 
ständige Befriedigung über die bewiesenen Erfolge 
ausgesprochen. In Jaffa sind Se. Exzellenz der 
Gouverneur von Jerusalem und der französische 
Konsul bei der Verteilung der Preise zugegen 
gewesen, und in Rhodus haben der General- 
gouvemeur der Stadt und der französische Konsul 
die beiden Schulprämien gestiftet 



675 



676 



DIE ISRAELITEN IN PERSIEN 

Spezialbericht für die A. I. U. von Lahana. 



Nachdruck verboten. 



Schiras, 19. August 1907. 

Es vergeht kaum eine Woche, daß eine der kleineren 
Gemeinden von Pars brieflich meine Intervention er- 
bittet, um sie aus der Willkür zu befreien, deren Opfer 
sie ist. Meine beste Zeit wird von Bemühungen in An- 
spruch genommen, die ich zugunsten zahlreicher kleiner 
Gemeinden in der Umgegend von Schiras machen muß. 
In dieser Zeit der Anarchie sind namentlich die un- 
glücklichen Israeliten der ganzen Provinz unausgesetzt 
verfolgt und von den Priestern den unmenschUchsten 
Ausnahmegesetzen unterworfen. Wir erwarten mit 
Ungeduld die Veröffentlichung der neuen Gesetze, 
damit wir laut ein wenig Gerechtigkeit für alle Israeliten 
unserer Provinz verlangen können. Die Behörden, mit 
denen wir übrigens in den besten Beziehungen sind, 
werden endlich meiner unaufhörlichen Reklamationen 
müde. Die Lage der Gemeinde von Schiras verlangt 
fortgesetzte Unterstützung. Wir haben bei allen unseren 
Bemühungen und bei den Anrufungen der Behörde in 
einer Stadt, wo wir jedes Schutzes entraten, tausend 
Rücksichten zu nehmen. 

Die kleine Gemeinde von Darab schickt mir schon 
lange Brief auf Brief, ich möchte mich für ihr Schicksal 
interessieren. Die 30 FamiUen, die dort wohnen, haben 
seit mehreren Monaten von fanatischen MoUahs Ver- 
folgungen zu erleiden. Ihre Lage ist seit der Vertreibung 
unserer Glaubensgenossen aus Lar unerträglich ge- 
worden. Man hat ihnen den Handel mit alkoholischen 



Getränken verboten. Waren, die sie im Depot hatten, 
sind geraubt, ihre Gerätschaften zerschlagen worden. 
Allabendlich wird imter irgend einem Vorwand das 
Judenviertel überschwemmt, werden zahlreiche Juden 
erbarmungslos mißhandelt. 

Da der Gouverneur eben abgesetzt wurde, hatte 
die Geistlichkeit die unumschränkte Herrschaft in der 
Stadt. Die Provinzialbehörden waren somit gamicht 
in der Lage, irgend einen Befehl zu erteilen. Ich war 
gezwungen, mich in Geduld zu fassen, bis der neue 
Gouverneur ernannt worden war. Dann begab ich mich 
sofort zu Mezam-es-Saltaneh, der in meiner Gegenwart 
den neuen Gouverneur von Darab beauftragte, unsere 
Glaubensgenossen gegen die Willkür der Geistlichkeit 
zu schützen. Sobald der Gouverneur von Darab an 
seinem Amtssitz angelangt war, schrieb ich ihm, um 
ihn an seine Versprechungen zu erinnern. Er ließ die 
Oberhäupter der Gemeinden berufen und teilte ihnen 
mit, daß er entschlossen sei, sie offen zu beschützen, 
wie er es dem Reis von Schiras versprochen habe. Nach 
zahlreichen beunruhigenden Briefen erhalte ich in dieser 
Woche eine Mitteilung von unseren Glaubensgenossen 
in Darab, in der sie mir mit großer Freude verkünden, 
daß meine Bemühungen das glücklichste Ergebnis 
gehabt haben. Sie waren schon bereit, den verzweifelten 
Entschluß der Laris nachzuahmen, aber jetzt denken 
sie nicht mehr daran, ihre Stadt zu verlassen. 

Lahana. 



Neue immerwährende Mitglieder. 

Berlin. Die immerwährende Mitgliedschaft der A.I.U. hat Herr MaxWeisbaeh, Magdeburgerstr. 4, erworben. 



n:3 m 




D''31V 



ÄlTerlÄ Prospekt der „Sana-Gescilschafr m. b. H.. Cieve" ^„^.^1'-^.;' 



nnsere Leser 
machen. 



Angesichts des von manchen Cigarettenfabrikanten geübten Unfugs, auf den Schachteln Konstantinopel oder andere türkische Städte- und 
Provinznamen anzubringen, um bei dem PuBlikura den Glauben zu erwecken, dass sie Fabriken in der Türkei besitzen, machen wir unsere Leser auf 
Folgendes aufmerksam. Im ganzen türk. Reiche ist es, ausser den Manufakturen der Kaiserlich Türkischen Tabak-Regie, niemandem gestattet, Cigaretten 
zu nbnzieren. Die Cigaretten der Kaiserlich Türk. Tabak-Regie bieten allein die Garantie, dass sie nur reinen türkischen Tabak enthalten, weil das 
strenge Einfuhrverbot die Verwendung anderweitiger Tabake ausschliesst. Hingegen können bei den ausserhalb des türk. Reiches, wie z. B. in Aegypten, 
angerertigten, sogenannten türkischen cigaretten auch Tabake nicht türkischer nerkunft verwendet werden. Der offizielle Ausweis der Aegyptischen 
Regierung über die Tabak-Einfuhr in diesem Lande für das vergangene Jahr gibt an: 

Gesamteinfuhr von Tabaken: 7260334 kg. 

Hiervon Türkische Tabake: 3513460 , 

verbleiben minderwertige anderweitige Tabake: 8747874 kg. 
z. Teil aus Bulgarien, Griechenland, Italien, Oesterreich, Russland, England etc. Um Verwechselungen zu vermeiden, achte man auf das Kaiserlich 
türkische Wappen, wie solches im Inseratenteil bei der betreffenden Annonce zur Abbildung gelangt ist. welches jede Schachtel und jede Cigar«tte 
tragen muss. Die Marken der Kaiserl. Türkischen Tabak-Regie sind in jeder besseren Cigarrenhandlung des In- una Auslandes erhältlich. 



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ümaUMMMDMC nur iwch l$44$en$tein ff Uogkr Jl. 6. m BerliM Nid deren Jiliaki. 

AboBiieaienUpreit für das Jahr In DenttchlMid nnd Oattcrrelch Mark 7.— (LmntanHT^be Mark 14»— )• für das Antland Mark 8—, 

(Loxnsaiisgaba Mark 16). 
für RoMland jraiulihrllcli 4 Rnbel. BloMlhefte k 38_Kop. 

idlUB 



Zu beziehen durch alle Bnchhandlungen des In- und Autlandet, durch alle Pottimter det Deutichen ^ 
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Adresse fDr die goschaftllohe Korrespondenz: Verlag „Ost und West'', Berlins. 42, Wasserthorstr. 50. 

Redaktion: Berlin W. 15» Knesebeckstr. 48/49. 



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Verantwortlich für den redaktionellen Teil: Chefredakteur Leo Winz, Berlin W. 15, Knesebeckstr. 48/49. - Verlag Ost 
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Dp. L. IIi 



lUUSTRIERTE MONATSSCHRIFT 





FÜR DAS GESAMTE JUDENTUM 



Herausgegeben und redigiert 



von 



LEO WINZ. 



Heft 11. 



Alle Rechte vorbehalten. 



mt^t^iß ^m i^ ^t0 n ^m0^m0»^*0t^' '^^1 



NoTember 1907. 



•««^«MWMk^Wt^h>^^N^ta^^«%M#MM^M^i^ 



Tu. Jahrg. 



^^t^>^t0^ 11^ » m ^t^^m0t 



DIE LEHRANSTALT EUER DIE WISSENSCHAFT DES JUDENTUMS. 



Mit Beginn des Wintersemesters bezieht die 
Lehranstalt ihr neu errichtetes eigenes Heim. Sie 
tritt damit aus der Verborgenheit heraus in das 
Licht der Oeffentlichkeit Die allgemeine Auf- 
merksamkeit wird sich ihr mehr als bisher zu- 
wenden, und diese Veränderung kann ihr nur von 
Nutzen sein; es gibt wenige Institutionen innerhalb 
der (Jemeinde, über deren Bedeutung und Auf- 
gaben nach einem so langen Bestehen so geringe 
sichere Kunde verbreitet ist, so viel Unklarheit 
herrscht. 

Die Lehranstalt hat im Jahre 1872 ihie 
Tätigkeit begonnen, ihre Gründung geht sogar bis 
186y zurück. Solange dauerte es, bis wenigstens 
das Mindestmass von Kapital aufgebracht war, das 
zu ihrer Eröffnung und Erhaltung notwendig 
schien. Ihre Entstehung verdankt sie dem 1869 
verstorbenen Stadtrat Moritz Meyer, der den 
Grundstock für die Mittel bereit stellte, als ihre 
geistigen Väter müssen Professor Lazarus und 
Sanitätsrat Neumann bezeichnet werden. Es er- 
übrigt sich an dieser Stelle zu wiederholen, welche 
führende SteUung Lazarus in allen geistigen Be- 
wegungen des modernen Judentums einnatmi, wie 
Neumann für die politischen Bechte und die 
geistige Freiheit der Juden, für die Pflege ihres 
Schrifttums jederzeit energisch eintrat. Sie fanden 
einen getreuen Genossen und eifrigen Mitarbeiter 
an Ludwig Philippson, der 1837 bereits einen 
Aufruf zur Gründung einer Jüdisch-theologischen 
Fakultät*' erlassen hatte, der auch später tat- 
kräftig für diese Idee wirkte und, als sie ihrer 
Verwirklichung entgegengeflUirt werden sollte, 
seine Mithilfe nicht versagt hat. Unter dem Namen 
„Hochschule für die Wissenschaft des 
Judenthums" wurde das neue Institut 1870 be- 
gründet. 

Die Hochschule war dazu bestimmt, ein 
Mittelpunkt wissenschaftlicher Tätigkeit im weitesten 



Nachdruck vertx>ten. 

Sinne des Wortes zu werden, sie sollte sich nicht 
darauf beschränken, ihre Jünger für ein praktisches 
Amt tüchtig zu machen, sondern für jedermann 
geöffnet sein, der über das Judentum, über seine Ver- 
gangenheit und Literatur belehrt sein wollte, sollte 
jedermann als Lehrer zulassen, der wissenschaftliche 
Anregung für * die Erkenntnis des Judentums zu 
bieten hatte. In erster Keihe sollte sie natur- 
gemäss der Ausbildung von Rabbinern, Predigern 
und Religionslehrem dienen, für diesen Zweck war 
ihr Lehrplan eingerichtet. Aber darüber hinaus 
sollte sie jedermann zugänglich sein, dem jüdischen 
Akademiker, welcher Fakultät er auch angehörte, 
dem jüdischen Privatmann, der seine Müsse der 
Wissenschaft zu widmen bereit war; die Hoch- 
schule sollte eine Vereinigung „der alten Jeschiba 
und des Beth-Hamidrasch f£* die heutigen Juden 
gemäss den neuen wissenschaftlichen Forderungen 
und Lebensverhältnissen^ sein, gewissermassen die 
Zwecke emer Volkshochschule mit verfolgen. Auch 
nichtjüdischen Studierenden, welche ihren Unterricht 
suchten, sollte die Hochschule ihre Pforten öffnen. 
Die Hochschule wurde als eine selbständige Stif- 
tung begründet, „Unabhängigkeit von den 
Staats-, Gemeinde- und Synagogenbe- 
hörde n** war eines der Leitmotive der Gründer 
der Anstalt; ein zu diesem Zweck gebildeter 
Verein übernahm ihre Erhaltung und Fortführung. 
Dadurch sollte verhütet werden, dass die Hoch- 
schule das Organ einer der verschiedenen religiösen 
Parteien würde ; unabhängig von dem Parteigetriebe 
sollte sie allen religiösen Richtungen dienen 
können, soweit sie in wissenschaftlicher Forschung 
ihre Begründung suchten, sie sollte die Vertiefung 
und Ausbreitung der Wissenschaft um ihrer selbst 
willen ohne Rücksicht auf das praktische Leben, 
anregen. Die Lehrer werden verpflichtet, „die 
Vorträge lediglich im reinen Interesse 
der Wissenschaft des Judentums, ihrer 



679 



Die Lehfranstalt für die Wissenschaft des Judentums. 



680 



Erhaltung, Fortbildung und Verbreitung 
zu halten.'' An die Spitze der Anstalt trat ein 
Kuratorium, das zugleich den Vorstand des Vereins 
bildete und von den Vereinsmitgliedem gewählt 
wurde. 

Die Hochschule hatte das Glück, bei ihrer 
BegranduDg ausgezeichnete Lehrer zu finden, die 
für den Zweck vorzüglich geeignet waren. Gleich 
bei ihrer Eröifnung traten zwei Männer mit welt- 
berühmten Namen in ihr Kollegium ein: H. Stein- 
thal (1823-1899), der als Völkerpsychologe und 
Ethiker einen ausgezeichneten Ruf in der wissen- 
schaftlichen Welt genoss, em bewährter aka- 
demischer Lehrer war, der insbesondere durch 
seine edle, vorbildliche Persönlichkeit auf seine 
Schüler in seltener Weise einwirkte; A. Geiger 
(1810 — 1874), der zuerst den Begriff einer jüdischen 
Theologie aufstellte, durch seine Stellung als Führer 
der jüdischen Reformbewegung, durch seine bahn- 
brechenden Forschungen auf dem Gebiete der Bibel- 
wissenschaft und der älteren jüdischen Geschichte 
sowie durch seine Verteidigung der Ehre des 
Judentums eine allgemein anerkannte Grösse. Dazu 
trat J. Le wy (geb. 1840), damals am Anfange seiner 
Lauibahn, der eine seltene Begabung und eine be- 
sondere Tüchtigkeit für sein umfassendes Spezialfach 
mitbrachte, und endlich D. Cassel (1818—1893), 
der ganz besonders durch seine organisatorischen 
Fähigkeiten, seinen praktischen Sinn und sein 
pädagogisches Geschick der Hochschule vortrefflich 
diente. Auch später ist es gelungen, die im 
Lehrerkollegium entstandenen Lücken durch tüch- 
tige Kräfte zu ergänzen, es braucht nur an 
J. Müller erinnert, nur auf Namen wie Frankl 
und Schreiner verwiesen zu werden, deren 
beider Kraft m der Blüte des Lebens gebrochen 
wurde. 

Trotz der schönen Anfänge, die zu den besten 
Hoffnungen berechtigten, wurde die Hochschule 
nicht das, was sie werden sollte, hat ihre Ent- 
wicklung nicht vollständig das Ziel erreicht, das 
ihr vorgezeichnet worden war. Das lag zum Teil 
an der Ungunst der Verhältnisse. Die moralische 
Unterstützung des Staates, auf die die Gründer 
Hofibungen gesetzt hatten, blieb aus, wandelte sich 
sogar in das Gegenteil um, aus der Hochschule 
musste die „Lehranstalt" gemacht werden, der 
alte klangreiche, inhaltsvolle Namen musste auf- 
gegeben und mit einem nichtssagenden, farblosen 
Titel vertauscht werden. Weit verhängnisvoller 
war die Gleichgiltigkeit der Glaubensgenossen. Die 
Hochschule fand nicht genügende Unterstützung 
und hatte lange unter Mittellosigkeit schwer zu 
leiden. Ihre Aufgaben konnten nicht in vollem 
Umfange erfüllt werden, weil es ihr an der Gunst 
und der Beihilfe fehlte, auf die sie angewiesen 
war. Das Geschick der Hochschule, die Teil- 
nahmlosigkeit der Glaubensgenossen gegenüber ihren 
Bestrebungen, bildet eines der wenig rühmlichen 
Blätter in der Geschichte des modernen Juden- 
tums. Trotzdem Jahrzehnte lanj? die Gründung 
eines solchen Institutes vorgeschlagen und an- 



gestrebt wurde, trotz der glänzenden Namen, die 
an der Spitze standen und eine Gewähr für die 
Durchführuns: ihres Programms boten, zeigte sich 
nur wenig Verständnis, noch weniger Förderung 
für die Bestrebungen der Anstalt. Die Hochschule 
war als der Ausdruck des Geistes der modernen 
Judenheit gedacht, sie sollte em lebendiges Zeugnis 
des Gemeinsinnes und der religiösen Hochherzigkeit 
darstellen. Der Geschichtssdu-eiber muss mit Be- 
schämung bekennen, dass diese Erwartungen ent- 
täuscht wurden, dass die Zahl der Opferfreudigen 
gering war, die der Anstalt dauernd ihre Anhäng- 
lichkeit bezeigten. „Seitdem man unter den Juden 
nicht mehr im spezifischen Sinne „lernt", ist das 
Interesse für die jüdische Wissenschaft erlahmt." 
Es bedurfte langer Zeit, bis die Stimmung sich 
der Anstalt günstiger gezeigt hat! 

Trotz aller Kämpfe und Schwierigkeiten hat 
die Hochschule ihr Ziel nicht aufKegeben, sie hat 
sich durchgerungen und lebt der Hoffnung, dereinst 
auch den Sieg zu erlangen. Es war ihr das 
Glück beschieden, dass der Geist, der bei ihrer 
Gründung treibend wirkte, lange in ihr lebendig 
blieb und fortbestand. Lehrer und Kuratoren 
blieben lange Zeit im Amte, an die Stelle der 
Väter traten mehrfach die Söhne in die Verwaltungr, 
so blieb die Kontinuität des Geistes erhalten, die 
alte Klarheit über die Angaben, die gleiche 
Freudigkeit wie bei der Begründung blieb herr- 
schend. Es ist dem unentwegten Streben auch 
der Erfolg nicht versagt geblieben, im letzten 
Jahrzehnt konnte die Lehranstalt grosse Fort- 
schritte in ihrer Entwicklung verzeichnen. Neue 
Stiftungen wurden an ihr errichtet, die Zahl der 
Mitglieder wuchs, die Lehrstühle konnten vermehrt, 
für die Besoldung und Zukunft der Lehrer konnte 
m ausreichenderer Weise gesorgt werden. Zuletzt 
konnte das grösste Ziel angestrebt werden, das 
seit der Gründung der Verwaltung der Hoch- 
schule vorschwebte, dessen Erreichung aber immer 
wieder hinausgeschoben werden musste, die Er- 
richtung eines eigenen Heims. |,Wenn 
Emancipation und Wissenschaft nicht leerer Schall 
sein soll, muss sie Institutionen befruchten!" Dieses 
Mahnwort Leopold Zunz scheint in seiner Wahrheit 
allmählich erfasst zu werden, in immer weiteren 
Kreisen bricht sich die Erkenntnis Bahn, welche 
Bedeutung der Wissenschaft des Judentums zukommt, 
zahlreicher werden die Freunde der ihr geweihten 
Veranstaltungen. 

Unser jüdisches Bewusstsein wird immer 
klarer und sicherer, es wächst das Verständnis für 
unsere wahren Aufgaben. Unter diesen bildet die 
Wissenschaft eine der vornehmsten. Es soll der 
Wert sozialer Hilfswerke, für die in unserer Ge- 
meinschaft so grosse Opfer gebracht werden, 
gewiss nicht verkannt werden; aber sie alle be- 
deuten nur einzelne Leistungen, tragen nicht zur 
Festigung des gesamten Judentums bei Das 
kann nur die Wissenschaft bewirken. Sie ist eine 
Quelle der Erneuerung der Sittlichkeit, der Be- 
lebung des religiösen Geistes, sie allein bietet 



Die Lehranslalt für die Wissenschaft des Judentums. 



HFRMAMN STRUCK. QEMAELDE. 

Sanftaisrat Dr. S. Neumann, Ehren Vorsitzen der. 



Gewähr fnr die auKetrUbte Erhaltang der Grund- 
gedanken, fUr die stete Läuterung der Formen der 
Religion, sie ist das Mittel zur Vereinigung der 
widerstrebeaden GlaDbeDsmeinnogen. Sie bietet das 
Rüstzeug zum Kampfe 
für unser Recht und 
unsere Ehre , sie bat 
die Aufgabe, gegenüber 
Gleicbgiltigkeit und Ab- 
fall ins helle Licht zu 
setzen, welche Kultur- 
werte wir als Juden be- 
sitzen und verteidigeu. Es 
wird unseren Ölaubensge- 
Dossen nachgerühmt, dass 
sie eioen empfäuglichen 
Sinn und eine offene 
Hand fär wissenschaft- 
liche Forderungen be- 
sitzen. Es soll durchaus 
nicht beansprucht werden, 
dass sie ihre Opferwillig- 
keit ausschliesslich der 
Wisseoschaft des Juden- 
tums widmen; aber es sollte 
doch auch nicht so sein, 
dass sie für alle Gebiete 
des Geisteslebens mit all- Rabb. Dr. L. Philippaon. 



einigem Ausschluss der Wissenschaft des Judentums 
ihre Freigebigkeit und Bereitwilligkeit bet&tigen. 
Mit dem neaeo Hanse sind nicht alle Aufgaben 
der Lehranstalt erfüllt, grosse Probleme harren 
noch ihrer Verwirklich- 
ung; nur wenn der An- 
stalt die Teilnahme ihrer 
Mitglieder erhalten bleibt, 
wenn noch weit grossere 
Mittel ihr zugeführt 
werden, kann sie den 
AnfordeniDgen gerecht 
werden, die bei dem ge- 
genwärtigen Stande der 
Forschang an ein wissen- 
schafLliches Listitut mit 
iCecht gestellt werden. 
-Möge die Förderung der 
lilaubensgenosseu der An- 
stalt nicht ^ersast bleiben, 
möge es ihr beschiedeu 
sein, in Zukunft rüstig 
weiter zu streben, mit 
Erfolg zu arbeiten und 
segensreich zu dienen 
dem Judentum 
und 
seiner Wissenschaft! 



DAS KURATORIUM DER LEHRANSTALT. 



Von Dr. Felix Ooldmann. 



Geh. Kommcrziearftt Louis Simon. 



Stadtrat HoriU Hefcr (gtut. 1869). 

MilbcKiDiKlcr der LfhrinsMIL 



Die Bi^uart und die Stärke 
der „Lehranstalt f^ die Wissen- 
schaft des Judentums" besteht 
darin, daas sie von allen Ein- 
flilssen religiöser Natur völlig 
unabhängig ist Die Aufgabe 
aber, eine solche Institution zu 
verwalten, mnss sich nm so 
schwieriger gestalten, je mehr 
sie ihren freien Charakter zu 
betonen and zu wahren sucht. 
Das gilt vor allem wegen der 
aufzubringenden Mittel; die 
Lehranstalt durfte nie von einer 
jUdiachenGemeinde ihren ganzen 
Unterhalt beziehen, da die in 
dieser herrschende religiöse An- 
schauung sieb nur zn bald auf 
den Geist des Unterrichts hätte 
ausdehnen kÜDoen. Die Ver- 
walter dieses Heims der jüdi- 
schen Wissenschaft mussten 
nach jeder Richtung hin frei 
und unabhängig sein. 

Das Fehlen einer festen 
materiellen Grundlage bot den 
Kuratoren bei ihrer Arbeit 
das {.rste Hindernis, denn sie 
allein mussten für die Auf- 
brlngnngdesnotwendigenGeldes 
sorgen. Schwierig war und ist 
ihr« Stellung auch dadurch, 
dasB man aus ihren Reihen die 



Rabbiner ausgeschlossen hat, 
in der nicht nnbegrQndeten Be- 
sorgnis, dass die Anwesenheit 
von Geistlichen ein Vorwiegen 
der Interessen der praktischen 
Theologie zu Ungunsten der 
Wissenschaft nach sich ziehen 
kßnnte. Obwohl das Kuratorium 
satzungsge mtUs nicht aus Fach- 
leuten besteht, muss es dennoch 
die Gewähr Übernehmen, dass 
auch der innere Betrieb der 
Anstatt, die Durchführung eines 
geordneten Lehrplanes, die rech- 
ten Bahnen gebt. Das Amt des 
Kurators ist also wahrlich 
nicht leicht. 

Das Kuratorium hat ee 
jedoch verstanden, seinen Auf- 
gaben gerecht zu werden ; denn 
die grosse Anzahl von ana- 
gebildeten Schillern beweist, 
dass an einer Stätte freier 
Wissenschaft von Lehrern und 
Zöglingen fle issig gearbeitet 
worden ist, und die Tataache, 
dass dieser Schule ein eigenes 
Haus gebaut werden konnte, 
zeigt, wie trefilich das Problem 
der finanziellen Fundiemng ge- 
löst worden ist. Die Kuratoren 
haben denn auch ihre Freude 
an der Arbeit gehabt. Wir 



Dr. Felix Goldmann: Das Kuratorium der Lehranstalt. 



hätten es sonst nicht erlebt, 
d«s8 du Interesse an diesem 
I Zweige des jadisch-wissen- 

I schaftlicb^n Lebens sich Tomi 

Vater auf den Sohn ver-I 
erbt hat. So war Lndwig 
Philippson bei der Grün- 
dung: der Lehranstalt In 
herrorragendem Masse tfttig, 
während sein Sohn dem 
Knratorlam von 1886 bis 
1904 angehört hat Ebenso 
ist Lndwig Qeiger, der 
rtlhmlichst bekannte Literar- 
historiker and Professor ander 
BerlinerÜniversität, Mitglied 
der Verwaltung, während sein 
Vater Abraham Geiger 
dem Lehrer kollegi am bis zn 
seinem Tode zur Zierde ge< 
reichte. Ferner haben Carl 
Berthold Simon and sein 
SohnHerman Veit Simon 
an dieserSrätte ihre Kräfte in 
den Dienst des Jadentnms ge- 
stellt. Von dem Wirken des 
Stadtrats Moritz Meyer 
and seiner Söhne, der Herren 
Geheimer Oberregierungsrat 
Dr. Paul Meyer und Georg 
Meyer, wird weiter onten die 
Rede sein. — Eigentliche 
QrQnder der damaligen , Hoch- 
schnle' waren fanf Männer, 
von denen zwei noch heute an 
ihr tätig sind. Der eine Ist 
der im politischen Leben be- 
kannte Sanitätsrat S a 1 o m o n 
N'eamann.ein freigesinnter 
Geheimer Kommerzieorat L. H. Goldbcrger. Mann, der selber eine ans- 
stciivertr. Vorsitiendet, Kurator seit 1890. gedehnte Kenntnis der jüdi- 

schen Literatur mit Liebe 
zom Judentum verbindet. 
Er worde, als er im Jahre 1Ö05 das Amt des Vor- 
sitzenden niederlegte, von seinen dankbaren Mitarbeitern 
zum Ehrenvorsitzenden gewählt. Der zweite ist der 
Geheime Oberregiernngsrat Dr. Paal Meyer. Seinem 
Vater, dem Stadtrat Moritz Meyer, verdankt die 
Anstalt die ersten bedeutenderen Mittel, and seine 
Familie hat in diesem Sinne weiter ge- 
handelt. Die Witwe Moritz Meyers 
hat durch grosse Stiftungen den Kura- 
toren manche ernste Sorge abgenommen, 
und der andere Sohn, Georg Meyer, 
wirkt noch heute nel<en seinem Bruder 
im Geiste des Vaters. 

Die übrigen Gründer weilen nicht 
mehr unter den Lebenden. Moritz 
Lazarus, der lange Jahre den Vorsitz 
im Kuratorium führte, nndsein Schwager 
Chajim Steinthal setzten ihre ganze 
Kraft für das neue Unternehmen ein. 
Steinthal trat bald ins Lehrerkollegium 
über, wo er viele Generationen von 
Hörern als Mensch und als Dozent be- 
geistert hat. Der fQnfte, der Geheime 
Kommerzienrat B. Liebermann, ist 
schon sehr früh ausgeschieden. 

Manche Männer haben seit jenen 



Tagen ftlr unsere Lehranstalt ihr bestes hingegeben; 
nnd wenn wir auch nicht ihrer aller Namen hier auf- 
zählen wollen, wissen wir wohl, ihre aufopfernde 
Tätigkeit zu schatten. Die Zahl der Kuratoren ist 
bis jetzt noch nie verändert worden, sie beträgt — 
wie zur Zeit der Gründung — nenn. 

Heute ist Vorsitzender Justizrat 
Dr. Herrn an Veit Simon, der 
einer berühmten alten jüdischen Familie 
Berlins entstammt. Gehörte ihr doch 
der erste jUdisobe Stadtverordnete 
(Salomon Veit, 18U) und der erste 
jüdische Abgeordnete zum Frankfurter 
Parlament wie zum preussischen Ab- 
geordnetenhau.se an (Moritz Veit). 
Justizrat Simon genieast einen grossen 
Rnf als HandeUrecbtler, das bekannteste 
unter seinen vielen Werken ist das 
Buch: „Die Bilanzen der Aktiengesell- 
schaften". Er hat trotz seiner ans- 
üredehnten Tätiebeit als Anwalt und 
Notar, stets eifrig fUr das Judentum 
gearbeitet; seit einem Jahrzehnt ist er 
auch Repräsentant der jüdischen 
Gemeinde. Seiner Tatkraft ist es 
vornehmlich zu danken, wenn das 



Dr. Felix Ooldmann: Das Kuratorium der Lehranstalt. 



Prof Dr. Ludwig Geiger. 



Verdienste inbezog auf den didakttscben Teil der Yer- 
waltnn^, wie Prdfiiiigs- and Stipendienangelegenheiten, 
erworben. In seinem Schriftfllhreramte steht ihm zur 
Seite Jostizrat Dr. Arnold Seligsobn, eine Autorität 
auf dem G-ebiete des Patentrechts, der seit 1905 dem 
Knratorinm angehört nnd als besonnener und sachlicher 
Berater in allen Verwaltungaangelegenheiten seine 
Arbeits frendigkeit erweist. 

Das Amt des Kontrolleurs hat der schon erwähnte 
Georg Meyer inne. Als Rendant gehört dem 
Kollegium Max Weiss an, dessen 
aosserord entlich rühriger Propaganda 
es zuzuschreiben ist, wenn die Zahl 
der Wohltäter eine so stattliche 
Hohe erreicht hat. Reichliche Hilfe 
findet er an Oscar Wassermann, 
einem feinen Kenner des Schrift- 
tums, einem Freunde des Wissens und 
des wisjenschaftlichen Geistes; er 
ist erst seit 1906 Mitglied des Kura- 
toriums. In demselben Jahre stellte 
auch der schon erwähnte Professor 
Ludwig Geiger seine reiche Er- 
fahrung und Arbeitskraft in den 
Dienst der Anstalt. 

Zwei Jahre früher hatte dei> Ge- 
heime ReRierungsrat Professor Her- 
mann Cohen die auf ihn gefallene 
Wahl zum Kurator angenommen. 
Cohen, von dessen Bedeutung zu reden 
hier llberflQssig wäre — ist er doch 
in der Gegenwart der grSsste und 
tiefste unter Deutschlands Denkern ■ — 
hat sein« Aufmerksamkeit vornehm- 
lich den inneren Fragen des Unter- 
richts zugewandt und beschäftigt sich 
mit den pädagogischen und metho- 
dischen Angelegenheiten. 

Das sind die Männer, in deren 



Kuratorium heute seine Auf- 
gabe durch das Yorimnden- 
sein grösserer Mittel bedeu- 
tend erleichtert sieht, vor 
allem darf sein Anteil an 
der Errichtung des neuen 
Heims nicht unterschätzt 
werden. 

Volle Unterstützung hat 
er in dem stellvertretenden 
Vorsitzenden, dem weithin 
gemeinnutzig wirkenden Ge- 
heimen Kommerzienrat Lud- 
wig Mas Goldberger. 
Ihm verdankt die Anstalt vor- 
nehmlich anch den Ausbau 
unddleFördernngderStiftang 
seiner Schwiegereltern, des 
Louis Simonschen Ehepaares. 
Schriftführer ist Gnstav 
Oppert, der stille, emsige 
Gelehrte, der an der Ber- 
liner Universität das Lehr- 
fach der indischen Philologie 
vertritt und durch grund* 
legende Werke seine Fach- 
wissenschaft bereichert hat. 
Oppert ist ein rühriges Mit- 
glied der Bibliothekskom- 
mission nnd hat sich grosse 

" Händen die Geschicke der Lehranstalt ruhen, denen — in 

Deutschland wenigstens — die Aufgabe obliegt, die jüdische 
Wissenschaft zu schützen und sie in ihrer Freiheit nnd Un- 
abhängigkeit zu erhalten. Wir haben Ihnen keine über- 
triebenen Lobeshymnen gesungen, wenn wir vor den 
Namen fast eines jeden das bedeutungsvolle WQrichen 
„bekannt" oder gar „berühmt" gesetzt hiben. Es sind 
Männer, auf die nicht nur die Lehranstalt und die jüdische 
Wissenschaft, sondern die ganze Judenheit stolz ist. Sie 
stehen alle, seien sie auf dem Katheder und in der 
stillen Stube des Gelehrten, seien sie 
dranssen im Getriebe der Welt tätig, an 
hervorragender Stelle ihres Berufes, 
deren Behauptung auch die Kraft eines 
ganzen, echten Mannes erfordert. Da 
ist es denn ein Zeichen von schönem, 
judischem Idealismus, wenn sie 
trotz der Alltagslast freiwillig und 
uneigennützig so grosse Mühen und 
LSorgen auf sich genommen haben. 
Wir, die junge Generation, die wir 
die Früchte ihres Schaffens genossen 
haben, wir danken ihnen; aber vir 
blicken auch Über den engen Kreis 
der Fachgelehiten hinaus. Wir dan- 
ken ihnen, dass sie es unternehmen, 
die jüdische Wissenschaft immer mehr 
zu einem gleichberechtigten Gliede 
der „universitas litterarum" zu ge- 
stalten und wir hoffen, dass sie, 
wie bisher, den konfessionellen Beein- 
flussungen stets einen festen Wider- 
stand entgegensetzen werden. Ernste 
wissenschaftliche Arbeit der Jünger 
der Anstalt, Arbeit in dem Be- 
wusstsein, dass jene Männer sie 
erst ermöglicht haben, wird ihnen 
der schönste Lohn für ihre Auf- 
opferung sein. 




Justizrat SeligBohn, Berlin. 



DER LEHRANSTALT FUER WISSENSCHAFT DES JUDENTUMS. 

Gedanken und Wünsche. 

Von Professor Dr. Ludwig Geiger. 



Der Lehranstalt, — wir dürfen leider nicht 
sagen: der Hochschnle. Und doch soll die An- 
stalt, deren oenes Hüm nnnmehr eingeweiht wird, 
einer Hochschule gleichen, sie soll weder ein 
Seminar sein, noch eine theologische Bildongs- 
anstalt Kein Seminar. Denn die Jünglinge, die 
wir zum Lehensbemfe ansrnsten, wohnen weder 
in der Anstalt, noch erhalten sie in ihr eine be- 
stimmte Richtnng, eine yoII- 
kommene geistige Ansstattnng. 
Keine theologische Bildangs- 
anstalt, denn obgldch die bei 
weitem meisten Jänglinge den 
theologischen Beruf ei^eifen, 
so sollen sie dnrchans nicht 
ausschliesslich zn Rabbinern 
voi^ebildet werden, sondern 
2u Jüngern der Wissenschaft 
des Jadentoms. 

Wir dürfen uns nicht ver- 
hehlen, dass die Lehranstalt 
trotz ihrer fünfonddreissig- 
jährigen Wirksamkeit das Ziel, 
nach dem sie von Anfang 
strebte, noch keineswegs er- 
reicht hat. Dieses Ziel war 
eine möglichst gleichmSssige 
Pflege sämtlicher Disziplinen 
aus dem Gesamtgebiet der 
Wissenschaft des Judentums. 
Teils die Beschränktheit der 
Mittel, teils die Schwierigkeit 
geeignete Lehrer zu finden, 
teils die Bücksicht auf die 
Universität haben den wünschenswerten Ausbau 
bisher verhindert. 

Von den beiden ersten Ponkten ist nnr wenig 
zo sprechen. Dass auch zu der Verwirklichung 
der idealsten Dioge Geld und wiederum Geld ge- 
hört, das ist eine alte Klage. Was die Schwierig- 
keit anbetrifft, geeignete Lehrkräfte zu finden, so 
ist sie in den allgemeinen jüdischen Verhältmsseu 
begründet Unsere Gelehrten, d. h. diejenigen, die 
sich der Erforschung jüdischer Dinge zuwenden, 
müssen, wenn sie nicht durch Zufall materiell ou- 
abhängig sind, danach trachten, einen Beruf zu er- 
greifen, der sie ernährt; es bleibt ihnen daher 
kaum etwas anderes übrig, als ein Schulamt anzu- 



Geh. Rcgienmgsrat Prof. Dr. Hermann Cohen, 
Harburg. 

Kurator e«il 1904, 



Nicbdnick niboUi. 

nehmen oder dem Kabbinerberuf sich zn widmen. 
Unter den Deutschland angehörenden jfidischen 
Gelehrten ist keiner lebenslang unabhängiger 
Schriftsteller und Gelehrter gewesen, denn auch 
Znnz, von dem man dies meist behauptet, war 
jahrelang Seminardirektor ood bezog lebenslänglich 
eine Pension von dieser Stellang her. 

Etwas ausführlicher ist von dem dritten 
Punkt zu sprechen. Unsere 
Lehranstalt sollte niemals, vrie 
etwa ein katholisches Priester- 
seminar in einen Gegensatz znr 
Universität treten. Während 
eine Anstalt der eben er- 
wähnten Art sich vor jedem 
freien Luftzug profaner Wissen- 
schaft verschliesst und daher 
seinen Zöglingen alles was zu 
ihrem Bemfe nötig ist inner- 
halb seiner Mauern mitzuteilen 
bestrebt ist, war unsere 
Stellung von vornherein eine 
andere. Eine solche Stelloug 
war schon durch die Notwen- 
digkeit geboten- Elin katho- 
lischer Priester ist Priester 
dorcb die Weihe und bedarf 
keines anderen äusseren Titels; 
ein Babbiner dagegen muss 
ausser dem Babbinertitel, den 
er nach abgelegtem Examen 
erwirbt, noch dnrchans den 
Doktortitel fhhren. Diesen zu 
verleihen, ist aber nnr die 
Universität imstande. Und um einen solchen zn er- 
langen, bedarf der Kandidat ausser den Kenntnissen 
des Hebr^chen, die er in unserer Liehranstalt sich 
aneignen kann, zweier Hauptfächer, als die gewöhn- 
lich orientalische Sprachen, in erster IJnie arabisch, 
und Philosophie gewählt werden. Aus diesem Grunde 
muss er wie jeder andere Student, mindestens sein 
akademisches Triennium durchmachen und es recht 
fleissig benatzen, um in der kurzen Zeit zum er- 
wünschten Ziele zu gelangen. 

Diesen Znstand wird kein verständig Denkender 
ändern wollen. Es ist nicht nur kein Unglück, 
dass die Jünglinge zwei Anstalten besuchen, 
sondern ein grosses Glück: neben der Fachschule 



^1 



Prof. Dr. Ludwig Oeiger: Der Lehranstalt für Wissenschaft des Judentums. 



692 



die allgemeine Bildungsstätte. Einen Lehrstuhl 
fttr orientalische Sprachen nnd einen solchen für 
allgemeine Philosophie an der Lehranstalt einzu- 
richten, gehört gewiss nicht zu den berechtigten 
Wünschen. 

Wohl aber dflrfte der Wunsch gerechtfertigt 
sein, die Fachschule in der Weise auszubauen, 
dass sie eine gewisse Vollständigkeit erlangt. Seit 
dem Tode Steinthals ist die Lehrstelle für 
Religionsphilosophie verwaist und es ist eine 
dringende Notwendigkeit, dass der geeignete Mann 
f&r sie gefunden werde. Damit soll den wackeren 
und fleissigen Männern, die seit längerer oder 
kürzerer Zeit an der Lehranstalt wirken, nicht der 
allergeringste Vorwurf gemacht werden, sie können 
nur ihrem Fach obliegen und es wäre für sie und 
für die Schüler ein Nachteil, wenn sie sich auf 
Nebenwege locken Hessen. Aber auch der Aus- 
weg, der in letzter Zeit getroffen war, führte nicht 
zum Ziel: die Ferienkurse, die mehrmals von 
H. Cohen veranstaltet wurden, so sehr sie auch 
die Zuhörer befriedigten, Hessen mehr das Fehlende 
erkennen, als dass sie imstande waren, die klaffende 
Lücke auszufüllen. 

Mit der Schaffung eines Lehrstuhls für Re- 
ligionsphilosophie wäre ein notwendiges Erfordernis 
erfüllt, aber keineswegs das einzige. Gewiss soll 
eine Fachschule Kenntnisse vermitteln, aber sie soll 
auch allgemeine Gesichtspunkte aufstellen, sie soll 
bedenken, dass sie es einerseits mit Anfängern zu 
tun hat, andererseits mit solchen, die neben der 
gelehrten Kenntnis einer Anregung bedürfen und 
gerade durch eine solche zum Sammeln gelehrter 
Kenntnisse angetrieben werden. Für das erstere 
bedürfte es allgemeiner Vorlesungen über das 
Wesen des Judentums, einer Einleitung in die 
Wissenschaft des Judentums, einer Methodik über 
die Disziplin, wie sie seit A. Geigers erstem Ver- 
suche (1873) an der Lehranstalt niemals wieder 
gelesen worden ist. Zu dem letzteren wäre es 
nötig, Publica zu schaffen, etwa wöchentlich einmal 
in einer Abendstunde im grossen Hörsaal, die all- 
gemeine Fragen, die selbstverständlich eng mit 
der Wissenschaft des Judentums zusammenhängen, 
erörtern, auch sich nicht scheuen, von der Gegen- 
wart und ihren Bedürfnissen zu reden. 

Besonders aber sind es drei Dinge, die eine 
eifrigere Pflege verdienen, als ihnen bisher zuteil 
geworden ist. Bei der Pflege des Hebräischen 
wird naturgeniäss in erster Linie die Bibel 
traktiert; ihre Erklärung steht im Vordergrunde. 
Aber mit Bibelexegese ist nicht genug geschehen; 



auch die Bibelkritik fordert unbedingt ihr 
Recht. 

Ein zweites ist, eine stärkere Pflege der 
Geschichte und Literatur. So eifrig ältere Zeit 
und Mittelalter gelehrt wird, auch die neueste Zeit 
müsste in den Kreis der Studien gezogen werden. 
Es erscheint mir wünschenswert und erforderlich, 
auch den Anteil der Juden an der Weltliteratur 
darzulegen; aus diesem Grunde wäre es von her- 
vorragender Bedeutung, gerade dem Einflüsse der 
Juden auf die Literatur anderer Völker, dem An- 
teile, den sie an solcher fremden Entwicklung ge^ 
nommen und den Urteilen nachzugehen, die sie 
von den Schriftstellern der verschiedensten Zeiten 
erfahren haben. 

Als das Dritte und fast als das Wichtigste 
sei die Pädagogik genannt. Die Pflege des jü- 
dischen Religionsunterrichts hat in dem letzten 
Jahrzehnt^ nicht nur in der Berliner Gemeinde 
einen ungeahnten Aufschwung genommen. Es gibt 
jetzt gewiss, alles zusammengerechnet, 3ü jüdische 
Beligionsschulen allein in Berlin. Die an diesen 
Anstalten wirkenden Lehrer rekrutieren sich, wenn 
auch keineswegs ausschliesslich, so doch wesentlich 
aus unserer Lehranstalt. Diese aber sind zu 
diesem Berufe in keiner Weise vorbereitet. Gewiss 
kann man auch auf den Lehrer das von dem 
Dichter gebrauchte Wort übertragen, dass^ der 
Lehrer geboren und nidit gemacht werde, aber in 
viel höherem Grade als der Poet bedarf der Lehrer 
Kunstgriffe, kleiner und grosser Mittel, der Fähig- 
keit, seinen Stoff zu ordnen, kurz eine Lehr- 

■ 

methode, die ihm durchaus überliefert werden muss. 
Es genügt nicht, dass dies alle zwei oder vier 
Jahre geschieht, eine solche Vorlesung mtlsste viel- 
mehr jedes Halbjahr gehalten werden, sie müsste 
begleitet sein von einer Geschichte des jüdischen 
Religionsunterrichts, von einer Kritik der be- 
stehenden Lehrbücher, vor allen Dingen von prak- 
tischen Uebungen. Es dürfte kein Zögling der 
Lehranstalt eine Religionsstunde an einer Schule 
erteilen, der nicht mindestens ein Jahr unter der 
ständigen Aufsicht eines Dozenten wirklich gelehrt 
und die Methodik des Unterrichtes praktisch be- 
währt hätte. 

Zu der Schaffung solcher Einrichtungen und 
solcher Stellen bedarf es sehr grosser Mittel. Den 
bisherigen Wohltätern und Spendern, den vielen 
Mitgliedern, besonders denen, die eifrig bemüht 
sind, immer neue Gönner herbeizuziehen, soll der 
Dank nicht verkümmert werden. Aber es ist 
immer noch nicht genug geschehen. Manche Ge- 



693 



Prof. Dr. Ludwig Geiger: Der Lehranstalt für Wissenschaft des Judentums. 



694 



meiDdeo in erster Linie die Berliner, aber auch 
manche anderen dentschen Gemeinden haben ihre 
Pflidit erkannt, diese Anstalt zn unterstützen. 
Denn da sie alle Teile Deutschlands mit Theologen 
versorgt, so ist sie wert, in ihren Anstrengungen 
gefördert zu werden, aber wie viele Gemeinden, 
wie viele Private leimen es ab, einer solchen Anstalt 
Mittel zu gewähren. Es ist schon oft genug den 
Wohltätigen gepredigt worden, dass es nicht ge- 
nügt, Arme und Kranke zu unterstützen, sondern 
dass es nötig ist, in erster Linie den Geist zu pflegen. 

Und so sei dieser Tag besonders bestimmt zu 
einem Appell an die Reichen. Ihnen, besonders 
denen, die der Theologie . abgeneigt sind, sei es 
gesagt: Hier ist keine theologische Pflanzstätte, 
sondern ein allgemeines jüdisches Bildungsinstitut. 
Hier liegt der Keim für eine gedeihliche Zukunft, 
für die Lehrer und Führer einer kommenden Ge- 
neration. Das Wort, „es ist der Geist, der sich 
den Körper baut^, sei besonders denen zugerufen, 
die nur für Kranke eine offene Hand und ein 
mildes Herz haben. Wer den geistig Strebenden 
die Zukunft erleichtert, der beugt vor und bereitet 
ein gesundes Greschlecht. 

Das Heim ist gegründet, es steht zwischen 
der Hauptsynagoge und der Universität. Es soll 
beeinflusst und gekräftigt werden durch Religion 



und Wissenschaft. Es dient der Religion, nicht 
einer Partei. Es ist der Wissenschaft bestimmt, 
die nur die Wahrheit verlangt und nur in Freiheit 
gedeiht 

Man hat in neuerer Zeit oft das Schlagwort 
von der „firöhlichen Wissenschaft" gebraucht, es 
mag auch hier seine Anwendung finden. Was hier 
gelehrt und gelernt wird, sei nicht totes Wissen, 
sondern ein lebendiger Schatz. Was Goethe ein- 
mal von der G^chichte sagte: „Das Beste, was 
wir von ihr haben, ist der Enthusiasmus, den sie 
erregt", das gelte von der Wissenschaft, die hier 
gelehrt wird: mit den Kenntnissen, die Freudigkeit 
sie zu verbreiten, die Verklärung des Geistes, der 
Opfermut, in ihr zu leben und für sie zu wirken. 
Denn das Panier sei: „Wissenschaft und Leben": 
sich nicht der Gegenwart entfremden, sondern 
frohgemut für sie arbeiten in der Hoffnung und in 
dem Bewusstsein, dass der redlichen Arbeit die 
Zukunft gehört. Und so sei es gestattet, diesem 
Wunsche nach Vereinigen von Wissenschaft und 
Leben einen Goetheschen Vers als Geleitwort mit- 
zugeben : 

Was ist denn die Wissenschaft? 

Sie ist nur des Lebens Kraft. 

Ihr erzeuget nicht das Leben, 

Leben muss erst Leben geben 



ABRAHAM GEIGER ALS LEHRER. 



Von Oberrabb. Prot. D. 

Am IQ. Oktober 1874, drei Tage vor seinem 
Hinscheiden, schrieb Geiger an eine Freundin: 
«Heute sind es gerade 42 Jahre, dass ich nach 
Wiesbaden gefahren, in sorgloser Jugend, um 
meine Probepredigt dort zu halten. Welch eine 
Zeit und wie voll des mächtigsten Inhalts! Aber 
er lastet nicht auf mir, und ich möchte noch 
eine Reihe von Jahren vor mir haben, um diesen 
Inhalt zu vermehren.«^) Nein, der Inhalt des 
Lebens hat auf Abraham Geiger nicht gelastet 
das wird ein jeder bezeugen, der das Glück hatte, 
in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts 
zu den Füssen des Meisters gesessen zu haben. 
Nach 34 Jahren sehe ich ihn noch lebhaft vor 
mir, wie er freundlich nach rechts und links 
grüssend sich anschickte, seine Vorlesung zu be- 
ginnen; ich höre noch den Metallklang seiner 
Stimme, mit der er uns begeistert und be- 
geisternd in die Tiefen seiner Wissenschaft ein- 



») S. Abr. Geigers, Nachgel. Schriften 5. Bd. S. 366. 



O. Klein, Stockholm. Nachdruck verboten. 

zuführen suchte. Lange genug hat er darauf ge- 
wartet, ein Amt zu bekleiden, zu dem er, wie 
nur wenige, berufen war; lange genug hatte er 
sich gesehnt, mit Jüngern der Wissenschaft un- 
mittelbar zu verkehren und mit ihnen jung zu 
bleiben. In seinen alten Tagen ist ihm endlich 
sein Herzenswunsch erfüllt worden, und die vielen 
und bitteren Kämpfe, die hinter ihm lagen, sind 
bald vergessen, er möchte noch eine Reihe 
von Jahren vor sich haben, um sein Leben mit 
einem noch reichern Inhalt zu füllen. Die kämpf* 
erfüllte zurückgelegte Wegstrecke, sie hat seine 
Kraft nur gestählt, sie hat ihn jung erhalten. 
Jetzt konnte er ganz und gar seiner lieben 
Wissenschaft leben und das w Professorspielen", 
wie er in einem Briefe an Nöldeke scherzhaft 

sagt, gewährt ihm wahrhafte Freude. Doch 

über das Schicksal Abr. Geigers ist anders be* 
stimmt worden. Sein Herzenswunsch sollte nicht 
in Erfüllung gehen. — Die Berliner Gemeinde ist 
20 Jahre zu spät gekommen. — Oder trifft der 



Oberrab. Prof. Dr. G. Klein, Slockholm: Abraham Geiger als l^hrer. 



696 



Vorwurf die Breslauer, sie, die das Werden und 
Wachsen des Riesen mit eigenen Augen ge- 
schaut? — Doch das sind nutzlose Fragen und 
Klagen! Nutzlos auch die Erwägung, wie das 
heutige Geschlecht der Rabbiner aussehen würde, 
wenn Abr. Geiger in seiner Jugendltraft, vom 
heissen Ta- 
tendrange 
erfüllt, zum 
Leiter eines 
Rabbi ner- 
seminarser- 
nannt wor- 
den wäre. 
— — Ganz 

plötzlich 
und unver- 
mutet, ohne 
vorherge- 
gangene 
Krankheit, 

hat die 
Nacht vom 
24. zum 25. 

Oktober 
ihn uns für 
immer ge- 
raubt, da 
ist, um mit 
dem Tal- 
mud zu 
reden, ein 
Riss ent- 
standen, 
den wir Zeit 
unseres 
Letwns 
nicht mehr 
vernähen 
und ver- 
winden 
werden. - 
Was woll- 
te Geiger? Abrahan 

Was wollte do^"" « 

er uns, seinen Schülern, beibringen? In seiner An- 
kündigung der Jüdischen Zeitschrift für Wissen- 
schaft und Leben, Breslau, 30. Dezember 1861, 
sagt O. über das Programm derselben u. a. fol- 
gendes: «Das Bedürfnis eines Blattes freisinnig- 
religiöser Richtung innerhalb des Judentums, um 
das Recht dieses Standpunktes nach aussen und 



nach innen zu vertreten, ist sicherlich vorhanden; 
einem solchen Bedürfnisse will die Zeitschrift ge- 
nügen. Mein Standpunkt für Wissenschaft und 
Leben hat unterdessen nicht gewechselt: noch 
heute wie ehedem bleibt mein Ziel die An- 
erkennung der fortschreitenden geschichtlichen 
Entwick- 
lung im 
Judentume, 
die scharfe 
Hervorhe- 
bung seines 

wesent- 
lichen und 
dauernden 
Gehaltes, 
die Bedeu- 
tung seines 
wel^e- 
schicht- 
lichen Ein- 
flusses, die 

würdige 
Darstellung 
seines geis- 
tigen In- 
halst, die 
Kräftigung 
seines 
Lebens- 
prinzips zur 
Ueberwin- 
dung aller 
überlebten 
zeitlichen 
Gestaltun- 
gen zu er- 
wirken." — 
Kürzer ist 
dies Pro- 
grammaus- 
gedrückt in 
dem Wahl- 
Geiger, sprach, der 
r2-ie74. unter dem 
Bilde Geigers, aus der Breslauer Zeit, zu lesen ist: 
»Aus der Vergangenheit schöpfen, in der Gegen- 
wart leben, für die Zukunft wirken." 

Dieses Programm hat Geiger nach Berlin 
mitgebracht, ihm ist er bis zum letzten 
Atemzuge treu geblieben. Und in der kurzen 
Zeit, in der es ihm nun beschieden war, an der 



6Q7 



Oberrab. Prof- Dr. G. Klein, Stockholm: Abraham Geiger als Lehrer. 



608 



w Hochschule" zu lehren, hat er keine heiligere 
Aufgabe gekannt, als in diesem Geiste zu wirken. 
So hat er aus Kether Thora, aus der Krone 
der Wissenschaft, die ihn geschmückt, reichlich 
ausgeteilt Splitter von Gold und Edelgestein. Er 
hat aber ausserdem noch für seine Schüler ein 
goldenes Herz gehabt Wie ein Vater um seine 
Kinder besorgt ist, so war seine Sorge um seine 
Schüler. Der Vielbeschäftigte, von allen Seiten 
in Anspruch Genommene, hatte stets Zeit für 
sie. Er hatte ein offenes Ohr, wenn es galt, 
wissenschaftlichen Rat zu erteilen, und eine 
offene Hand, wenn es galt, materielle Not zu 
lindem. Doch am bedeutungsvollsten erschien 
er uns auf dem Katheder. Voll Geist und Leben 
war seine Vortragsweise, glänzend und gedanken- 
voll seine Beredsamkeit, tief sein Eindruck, und 
sein unermüdlicher Eifer wurde durch die ge- 
spannteste Aufmerksamkeit und die innigste An- 
hänglichkeit, Liebe und Verehrung belohnt. Man 
muss G. gesehen und gehört haben, wenn es 
in einem Vortrage galt, den Jüngern zu demon- 
strieren, wie man Resultate der Wissenschaft im 
praktischen Leben verwerten soll: da war alles 
an ihm Geist und durchgeistigt. Da kannte 
seine Wahrheitsliebe keine Grenzen. Freiheit! 
war seine Parole. Freiheit in Gewissen und 
Glauben; Freiheit in der Wissenschaft; Freiheit 
im Leben der Völker, wie im Leben des Ein- 
zelnen! — Er konnte alle Tonarten anschlagen, 
galt es das Lob der Freiheit zu singen, zum 
Kampfe für sie zu ermuntern. — So steht er 
noch heute vor mir, mahnend und warnend, als 
ein furchtloser Kämpfer für die Rechte der Ver- 
nunft und des freien Gewissens. So höre ich 
ihn noch heute mit seiner Donnerstimme dem 
schwer geprüften Israel zurufen: »/Erhebe dich 
Israel, in vollem Schmuck des Geistes und bahne 
der freien Erkenntnis, die den wahren Glauben 



bedingt, weite Gassen, Darum weg mit allem 
Schein und aller Aussenfrömmigkeit, denn nur 
die innere Gesinnung heiligt Raffe dich auf, 
Israel ! Es ist lange genug an Dir herumgepfuscht 
und gekünstelt worden. Weg mit allen künst- 
lichen Wiederbelebungsversuchen! Du hast einen 
lebendigen Gott, der sich offenbart in der Ge- 
schichte. Und mit Händen zu greifen ist seine 
Offenbarung in deiner eigenen Geschichte. Du 
hast einen Quell, den deine Geistesfürsten, den 
deine heiligen Propheten und Psalmisten ge- 
graben. Schöpfe aus ihm und du wirst dich 
verjüngen und reifen für die wahre Freiheit. Es 
ist Zeit, dass du dich allen unnützen, deine Sitt- 
lichkeit und deine Erbauung nicht fördernden 
Umzäunungen entwindest Führe deinen Kampf 
ums Recht mit Würde und tritt als Mann auf 
und nicht als Sklave. — Israel, du musst dich 
wieder auf deine heilige Aufgabe besinnen! Das 
ist das Eine! Dabei vergiss nimmer, dass du ein 
Glied bist an dem grossen Menschheitsorganismus. 
Aus deiner Gotteslehre folgt die Einheit des 
Menschengeschlechts. Du hast der Menschheit 
den Dekalog geschenkt In deiner Bibel ist zuerst 
das grosse Gebot der Liebe verkündet worden. 
Noch sind deine Wurzeln nicht verdorrt, noch 
strömt Lebenskraft aus ihnen. Nur an dir Israel 
liegt es, zu wollen, recht zu wollen, dann wirst du 
noch eine Zukunft haben und der Menschheit 
zum Segen werden. Darum auf Israel! Sammle 
dich wieder um eine Idee, um deine Uridee, und 
die Spuren des Drucks, die noch an dir haften, 
werden bald getilgt sein, und eine späte Zukunft 
wird dankerfüllt von deinen Geistestaten zeugen." — 
So hat Geiger uns, seine Schüler, das Judentum 
erfassen und lieben gelehrt. So redet er noch 
heute aus seinen Schriften zu uns. O, dass wir 
auf seine Stimme hören! 



DIE DOZENTEN DER LEHRANSTALT UM 1890. 

Von Rabb. Dr. Max Joseph. 



Nachdruck verboten. 



Als ich beim Beginn meiner theologischen Studien 
mich unter den bestehenden Rabbiner- Bildungs- 
anstalten für die „Hochschule" entschied, da war 
für mich hauptsächlich der Umstand ausschlaggebend, 
daß ich hier völlig freie Bahn für meine theologische 
Entwicklung zu finden hoffte. Der Gedanke, mit 
meiner Überzeugung irgendeinem Zwange zu unter- 
stehen, ist mir stets unerträglich gewesen. 

Bunt genug war auch, wie von Anfang an, das 



Lehrerkollegium zusammengesetzt. Jeder junge Theo- 
loge wurde dadurch schon selbst gezwungen, seinen 
eigenen Weg zu suchen. Die Wissenschaft des Juden- 
tums wurde an der Anstalt gelehrt, seine Theologie 
mußte sich jeder selber aufbauen. 

Da w^ar an dem einen Ende, am weitesten rechts- 
stehend, der selige Joel Müller. Ein Mann von großer 
talmudischer Gelehrsamkeit und einer seltenen, fast 
zaghaften Hosoheidenheit. Dogmatisch hatte er den 



Die vier Dozenten der Lehranstalt u 



orthodoxen Standpunkt wohl überwunden, aber in 
der Praxis hielt er doch mit ehrfürchtiger Liebe an 
den talmudischen Normen fest. Eine theoretische 
Begründung seines Standpunkts hat er wohl kaum 
je zu geben versucht. Wie manch anderer unter den 
neueren Talmudisten war er in seine talmudische 
Welt ganz eir^sponnen. Wer den großen, be- 
wunderungswürdigen Emat der Heroen dieser Welt 
kennt und den milden Zauber, der von ihnen aus- 
geht, der wird die heilige Scheu vor der Autorität 
der frommen Schriftgelehrten immerhin begreiflich 
finden. Müller besaß auch die natorliche, starke 
Frömmigkeit des talmudisch-mittelalterlichen Juden- 
tums. Mit der Ruhe eines wahren 
Frommen erwog und riet er vor 
seinem Tode, wie es bis zur Be- ' 
rufung eines neuen Dozenten mit 
den von ihm vertretenen Disziplinen 
gehalten werden '^ sollte. „Sterbe 
meine Seele den Tod der Ge- 
rechten! Möge mein Ende dem 
seinen gleichen !" 



Müller am nächsten stand David Cassel. In 
seinen jungen Jahren war Cassel, wie sein Bruder 
Selig, der spätere Paulus, ein heftiger Gegner der 
Reform gewesen. Der Fortschritt der Zeit hatte 
seinen Eifer gemäßigt, er schien sich jedoch mehr und 
mehr auf sich selbst und seine Wissenschaft zurück- 
zuziehen. Nie habe ich aus seinem Munde ein Wort 
über seinen Standpunkt gebort. Er machte auf mich 
stets den Eindruck eines kerzengeraden, geschlossenen, 
aber auch, bei allem Humor und aller Jovialität, ver- 
schlossenen Charakters. Seine Liebe zur „objektiven" 
jüdischen Wissenschaft hatte hierin unzweifelhaft 
ihren tiefsten subjektiven Grund. Der Gang der 
Dinge hat ihm schwerlich gefallen, 
doch schien er seinen Frieden 'mit 
ihm. .gemacht zu haben. ^ 

Dann kam Maybaum, der prak- 
tische Theologe, der gewandte Lehrer 
der Homiletik. Er redete einer be- 
sonnen und langsam fortschreiten- 
den Reform das Wort. Eine lie- 
ffre theoretische Begründung dieses 



Dr. Israel Lewy.. 



Die vier Dozenten der Lehranstalt i 



Dr. J. Elbogen, Berliii. 



Dr. Tahuda, Berlin. 



Dr. Baneth, Berlin. 



Standpunkts gehörte stets zu seinen sehnlichsten herangezogen werden. Es ist wohl Itein bloßer Zufall, 
Wünschen. Vielen jungen Theologen ist er, besonders daß Steinthal in dem 73. Psalm, vielleicht dem schönsten 



während meiner Studienzeil, ein Führer gewesen. 

Am äußersten linken Ende schien Halm Stein- 
thal zu stehen. Ich glaube auch, daß seine tiefe Religio- 
sität und seine heiße Liebe zum Judentum von manchem 
der Hörer nicht recht erkannt wurden. Das kam 
wohl hauptsächlich daher, daß in seinen Kollegien 
vor allem die scharfe, rücksichtslose Kritik seines 
Verstandes in den Vorder- 
grund trat. Wohl kaum 
ein anderer Bibelkritiker 
zerriß die heiligen Texte 
in 80 viel Stücke, wie er. 
In Wirklichkeit aber war 
er der Typus des großen, 
vornehmen jüdischen 

Geistes. Sein HerzJ war 
ganz und garvon einer hei- 
ligen religiösen Sehnsucht 
erfüllt, mit seinem Ver- 
stände aber bohrte er un- 
ablässig in don Tiefen des 
Welträtsels. Der Prophet 
Jeremia, der angesichts 
seiner widrigen Schicksale 
und des Weltlaufs gar 
manchmal vom Zweifel 
grausig gepackt wurde, 
auch mancher mit seinem 
Glauben ringende Psalm- 
dichter, am meisten viel- 
leicht der erhabene Ver- 
fasser des Buches llioh, 
können hier zum \'ergli'irli 



der bezeichneten Art, die höchste und reinst« Reli- 
giosität ausgedrückt fand. Die Worte „die Nähe 
Gottes, sie ist mein Gut" enthalten nach seiner eignen 
Äußerung das Glaubensbekenntnis seines Herzens. 
Als ein echter Diener des Gottes, dessen Insiegel die 
Wahrheit ist, und also aus einem stark ethischen 
Grundtriebeberaus ein von glühendem Verlangen erfüll- 
ter Wahrheitssucher, übte 
er eine haarscharfe Kri- 
tik selbst am Heiligsten. 
Auch das war ihm Gottes- 
dienst. Ein echter Sohn 
Jakobs, ein wahrerlsraelit, 
rang er für und mit Gott, 
und des Kampfes anstren- 
gende Arbeit breitete eine 
stille, tiefe Wemut Über 
sein Wesen. Wer konnte 
ihm, dem stillen Kämpfer, 
dem großen Denker, dem 
erhabenen Geiste, dem 
reinen Menschen mit dem 
kindlich schlichten Ge- 
müte zu Füßen sitzen, 
ohne von heiliger Ehr- 
furcht erfaßt zu werden ? 
Er war einer der edelsten 
und größten Söhne Israels 
im neunzehnten Jahr- 
hundert. Ihn gekannt, in 
seine Seele geschaut zu 
haben, ist ein reicher Ge- 
winn für das ganze Leben. 



ERINNERUNGEN AN CHAJIM STEINTHAL. 

Von Dr. Simon Bernfeld. 



Steinthal gehörte zu den wenigen Gelehrten 
und Schriftstellern, die bei persönlicher Be- 
kanntschaft nicht enttäuschen, sondern im Gegen- 
teil die Bedeutung und Wirkung ihrer Schriften 
noch erhöhen. Wer ihn einmal sprach, gewann 
gleich die Ueberzeugung, dass er das, was er 
schrieb, auch lebte. In ihm war nichts von 
Phrase, von gedankenloser Gewohnheit; er war 
von antiker, oder sagen wir ebenso richtig, von 
altjüdischer Wahrhaftigkeit und von streng 
ernster Auffassung des Lebens. Ebenso wie er 
ungekünstelt und doch 
fesselnd schrieb, war er 
auch in der mündlichen 
Unterhaltung von be- 
zaubernder Natürlich- 
keit und Einfachheit. 
Die PersönlichkeitSiein - 
thals bot eine eigen- 
tümliche Erscheinung ; 
sie war eine wunder- 
volle Spielart des jüdi- 
schen Wesens, wie es 
sich im modernen Leben 
auf dem Boden der 
europaischen Bildung, 
aber in der Natur des 
jüdischen Volkes wur- 
zelnd ausgebildet hat. 
Steinthal vereinigte in 
sich die tiefe Religiosität 
eines Bachja ihn Ba- 
kuda, die echte schrift- 
stellerische Bescheiden- 
heit und Klarheit eines 
Raschi, die philoso- 
phische Weltanschau- 
ung des klassischen 
Hellenismus und die 
ganze Modernität eines 

vornehm gebildeten Chajim s 

deutschen Juden. ^^'"' " 

Diese Synthese bildete 

die Eigenartigkeit seiner bezaubernden Persön- 
lichkeit. 

Zum erstenmale habe ich Steinthal im Mai 
1883 in einer öffentlichen Versammlung sprechen 
hören. Es war dies anlässlich der Enthüllung 
der beiden Humboldt-Denkmäler vor der Uni- 
versität in Berlin. Am Abend nach der Ent- 
hüllungsfeier hielt Steinthal im Rathaussaal die 
Gedenkrede auf die Brüder Humboldt, ins- 
besondere auf Wilhelm v, Humboldt, als dessen 
geistigen Schüler man Steinthal zu bezeichnen 
pflegte. Die geistige Elite von Berlin war zu 
diesem Vortrage erschienen. Ich kann mich 
nicht mehr erinnern, welchem günstigen Zufall 
ich damals die Zulassung zu der Feier im Rat- 
hause zu verdanken hatte. Wenn jemand 



ausserUch zu einem offendichen Vortrage, dazu 
noch bei einer solchen Gelegenheit, völlig un- 
geeignet war, so schien es Steinthal zu sein. 
Seine Sprache war von der denkbarsten Ein- 
fachheit, das Organ schwach und unschön. Er 
konnte auch nicht eine Minute, ohne das Manu- 
script vor Augen zu halten, sprechen. Bei den 
ersten Worten, mit denen er seinen Vortrag 
begann, empfand man em Gefühl der Be- 
klemmung und der Beängstigung. Aber bereits 
die ersten Sätze fesselten die illustre Zuhörer- 
schaft. Jeder weitere 
Satz rief geradezu eine 
Bewegung hervor, und 
alle im Saale folgten 
den Worten desRedners 
mit einer Aufmerksam- 
keit, wie eine andäch- 
tige Gemeinde der 
Predigt eines gott- 
begeisterten Redners 
lauscht. Nie habe ich 
eme solche Wirkung 
eines Vortrages bei völ- 
ligem Mangel aller 
äusseren Hilfsmittel ge- 
sehen, wie an jenem 
Tage. Die Festrede 
Stemthals war eine 
Sensation und wurde 
in der Presse eingehend 
und rühmend be- 
sprochen. 

Im Auditorium der 
Lehranstalt derWissen- 
schaft des Judentums 
bot Steinthal eine nicht 
minder merkwürdige 
Erscheinung. Sein Fach 
■«ll'^**- war Bibelkritik und 

'^ '*"■ Religionsphilosophie. 

Das Eigentümliche da- 
bei war, dass Steinthal sehr wenig vom Kritiker 
an sich hatte. Ihm fehlte die philologische 
Objektivität, die bei der Bibelkritik unerlässlich 
ist. Die Bibel war ihm nicht nur die Quelle der 
Religion und der Religiosität, sondern auch der 
Inbegriff aller poetischen Schönheit. Wer in diesem 
Buch die höchste Ethik und Aesthetik vereinigt 
findet, ist zum Bibelkritiker nicht geschaffen. Ich 
erinnere mich, wie er eines Tages über das Buch 
Ruth las. Es fiel ihm gar nicht ein, diese liebliche 
Idylle, die, was ihre poetische Schönheit be- 
trifft, sicherlich einzig in der Weltliteratur da- 
steht, kritisch zu sondieren und auf ihre ge- 
schichtliche Grundlage zu prüfen, wie es etwa 
Abraham Geiger in seiner „Urschrift" getan 
hat. Steinthal versuchte vielmehr, uns die un- 



Dr. Simon Bcmfeld: Erinnerungen an Chajim Sieinthai. 



vergleichliche Schönheit 

der biblischen Epik zu 

schildern: wie das un- 
glückliche Weib Noomi 

zuerst ihren Mann ver- 
liert und dann ihre beiden 

verheirateten Söhne, und 

in der Fremde mit ihren 

Schwiegertöchtern arm 

und verlassen zurück- 
bleibt. Steinthal las uns 

vor, wie der Erzähler 

diese Ereignisse einfach 

und doch ho ergreifend 

schildert. Als er zu 

dem Satz kam: „sie 

erhüben ihre Stimme 

und weinten", weinte 

er selbst mit und 

musste die Vorlesung ab- 
brechen. Er war von der Tragik der Dichtung Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums als 
aufs tiefste et^iffen. Aehnliches geschah auch Hörer angehörte, in manchen Kreisen halb ver- 
einmal, als er über die Geschichte der versuchten wundernd und halb missbiUigend die Klage 
Opferung Isaaks las. über welches Kapitel der gehört, dass ein solcher Freidenker wie Steintl^ . 
Bibel eine fast unübersehbare Kritik-Literatur an einem Institut mitwirken konnte, dessen 
vorhanden ist. Steinthal befasste sich ganz und Hauptzweck auch schon damals die Ausbildung 



Justizrat Lilienthal, Berlin. 

Syndikus der JQdlKhcn Gemeinde. 
Höret 1876-1878. 



Rechtsanwalt Plotke, Frankfurt a. M. 



Hörer 18T6— 187M. 



gar nicht mit der religionsgeschichtlichen Seite 
dieser Erzählang, sondern mit der Schönheit 
der Darstellung. Die ästhetische Betrachtung 
Überweg bei ihm immer die Kritik. Allerdings 
ging er dabei oft von der altklassischen Auf- 



von Rabbinern war. Mag man aber dazu 
sagen, was man will, ich habe niemals einen 
frommeren Juden gesehen, als Steinthal einer war. 
Allerdings darf man dies nicht im landlau^en 
Sinne nehmen. Steinthal war eine religiöse 



fassung aus. So konnte er beispielsweise der Natur und hing ebenso mit allen Fasern seines 

ebenso natürlichen, wie heissen Sehnsucht nach Lebens am Judentum. Aber seine Frömmigkeit 

Liebe, wie sie im Hohelied zum Ausdruck ge- und sein Judentum schöpften nicht beide aus 

langt, recht wenig Geschmack abgewinnen, ein und derselben Quelle. Es dürfte den meisten 

Bei einer mündlichen Unterhaltung äusserte er seiner Schüler bekannt sein, dass Steinthal 

mir gegenüber seine Abneigung gegen die keinem jüdischen Religionsphilosophen eine 



schwülstige Sprache, wie er sich 
ausdrückte, dieser Dichtung. Er 
liebte weder die kühnen Bilder, 
deren sich der Dichter bedient, 
noch den heissen Atem der 
Liebenden, die ihre Sehnsucht 
so offen und natürlich aus- 
sprechen. Das war nicht nach 
seinem Geschmack. 

In gewissen Kreisen galt 
Steinthal bezüglich seiner reli- 
giösen Anschauung als radikal; 
viele behaupteten sogar, er sei 
Atheist. Nun, was seinen Atheis- 
mus betrifft, dürfte man wohl auf 
ihn das Wort anwenden, das 
einst Hegel Ober Spinoza aus- 
sprach: „Nicht Atheismuss lehrte 
er, sondern Akosmismus", die 
Verneinung des Materiellen und 
des Vergänglichen und die Her- 
vorhebung des Göttlichen in allem 
menschlichen Denken und Tun. 
Ich habe oft, während ich der 



Dr. Bcmfeld, Berlin. 



solche innige Verehrung zollte, 
wie dem bereits erwähnten Bachja 
ihn Bakuda. Also auch in der 
Religionsphilosophie liebte Stein- 
thal nicht etwa die Kritik und 
die Analyse, sondern das Posi- 
tive. Dass er gerade Bachja so 
gern las und ihn für den 
Religionsphilosophen hielt, zeigt 
deutlich, dass bei ihm das Rdi- 
giöse die Hauptsache war, das 
Gottvertrauen und das Leben in 
Gott, wie es Bachja lehrt. In- 
dessen ist dies nicht gerade das 
Jüdisch -Religiöse, wie ja be- 
kanntlich das Buch der „Herzens- 
pflichten" des Bachja nur eine 
Nachahmung beinahe eine Ueber- 
setzung eines ähnlichen arabi- 
schen Volksbuches ist. Denkt 
man sich statt der Bibelverse in 
diesem Buche solche aus dem 
Koran, so eignet es sich auch 
iür fromme, gottvertrauende Isla- 
miten. Steinthal war somit 



Dr. Simon Bemfeld: Erinnerungen an Chajim Steinthal. 



Rabb. Dr. H. Watscbauer, 
BcTlln. 

Hörn 1B90 -t8<»:' 



Rabb. Dr. Blumentbal, 

Benin. 

Hörer 18S4-IS92. 



Rabb. Dr. Joaeph, 

Stolp. 

»ÖTtt 1390— 18M. 



religiös, aber nicht konfessionell. Gleichzeitig aber 
hing er am Judentum als geschichtlicher Er- 
scheinung, an dem, was das jüdische Volk unver- 
gänglich macht. Das war aber nicht mehr Religion, 



sondern geschichtliches Bewusstsein, so dass sich 
Steinthals Judentum auch mit der freiesten Welt- 
anschauung vereinigen liess. Er war als Lehrer 
der Religionsphilosophie nicht an seinem Platze, 



Rabb. Dr. Lucas, 
Glogftn. 

Kfirer ie92-18W. 



Rabb. Dr. S. Poznanski, 

Hürer ISQO-IS«. 



weil ihm das Revolutionare in den grossen jadischen 
Religionsphilosophen fremd war; aber er selbst lehrte 
Religionsphilosophie im modernen Sinne, d, h. er 
zeigte, wie man auf der Höhe der philosophischen 
Weltanschauung und der nichtkonfessionellen Ethik 
stehend, religiös und ein überzeugter Jude sein kann. 
Denn Steinthal war dies, er der so wahrhaftig und 
aufrichtig war, der nichts aus Gedankenlosigkeit tat 
oder sprach, der stets Selbstschau hielt und seine 
Ueberzeugung immer von neuem einer gründlichen 
Prüfung unterzog. 

Ich habe oben bemerkt, dass Steinthal die un- 
gekünstelte Bescheidenheit unseres Raschi zeigte. 
In manchem Semester pflegte er auch Bibelexegese 
zu lesen, in seiner Art, als Bibelkritik und Bibel- 
forschung. Diese Vorlesung war zu meiner Zeit 
seminaristisch gehalten. Er las nicht vor, sondern 
mit seinen Hörern. Da pflegte er oft, wenn ihm 
eine Bemerkung eines Hörers gefiel, in rührender 
Bescheidenheit zu äussern: Das Tiabe ich nicht ver- 
standen, oder; Das habe ich nicht gewusst. Derartige 
Aeusserungen erinnerten oft an die den deutschen 
Juden früherer Jahrhunderte nachgerühmte Naivität 
(Themimut), die wir an Raschi so sehr bewundern. 
Dieser unvergleichliche Bibel- und TalmuderklSrer 
macht manchesmal die Bemerkung: diese Stelle v r- 
mag ich nicht zu erklären, obwohl er doch darüber 
hatte hinweggehen können. Er schämte sich eben 
nicht, den Hörern einzugestehen, dass er etwas nicht 
wusste. Durch diese Art ehrlicher Bescheidenheit 
war Steinthal auch dem jüngsten seiner Schüler 
gegenüber: wohlwollend und nachsichtig, gütig und 
milde. Nichtwissen war bei ihm kein Fehler, dessen 
sich jemand zu schämen hätte. Er forderte nur von 
jedermann Aulrichtigkeit und Wahrhaftigkeit. 

So war er, wie selten einer, geeignet, Rabbiner, 
d. h. Volkslehrer zu erziehen und auszubilden, und 
ich möchte auch auf ihn das alt mischnaetische Wort 
anwenden: „Rabbi! Wer sich von dir 1 
bich vom Leben los." 



Dr. Neamann, Berlin. 
Sekrear da D. I. Q. B. 

Höret 1889-1892. 



Oberrabb. Prof. Dt. Klein. 



Rabb. Dr. Henn. Vogelstein. 
KfloigBben i. Pr. 

Harn 18W— 1895. 



Rabb. Dr. J. Galliner, 
CbaTlottcnbarg. 
Hörer 1397—1903. 



Rabb. Dr. Samuel, 



HSrtr ISB8-I8W. 



Rabb. Dr. Walter. 



Rabb. Dr. Bich. 

Dflueldorf. 



WAS MICH ZUR HOCHSCHULE FUEHRTE. 

Von Prof. Dr. K. Völlers. 

Als idi im Herbst 1877 die Universität Berlia 
-bezog, um dort evangelische Theologie nud Orienlalia 
zn stndieren, wendete ich mich an Heirn Professor ' 
Dr. H. Steinthal, mit der Bitte, mich auch zum 
BesQch der Vorlesangeo an der damals meist nach 
Abr. Geiger genanaten Lehranstalt (oder Hoch- 
schule) fiir die Wissenschaft des Jadentums id 
Berlin zuzolassen. Meine Bitte wurde gewährt, 
und ich war während des "Winters 1877—78 Zu* 
hOrer dort Die Gründe meines Besuchs dieser 
Lehranstalt liegen nicht ferne. Ich hatte die 
Ueberzeugung gewonnen, dass die ältere, in der 
„Zerstrennng" ausgebildete Wissenschaft der Juden 
bei weitem noch nicht Kenfigend für die Zwecke 
der Exegese des Alten Testaments, der Geschichte 
des Kanons asw. antzbar gemacht sei, und wollte 
mich durch tieferen Einblick in diese Literatur fttr 
alttestamentliche Stadien rftsten. 

Zu dem Zwecke besuchte ich die Vorlesungen 
von H. Steinthal Ober jüdische Glaubenslehre and 
die von Dr. Lewy über Talmud. Jene boten einen 
besonderen G^enass duich die geistvolle Art, wie 
dieser hervorragende Denker die überlieferten An- 
schauungen mit seinen philosophischen üeber- 
zengnngen in Einklang zu bringen suchte, und er- 
innerten mich an parallele Erscheinangen auf 
christlichem Gebiet Sehr viel neues lernte ich in 
der gediegenen exegetischen Vorlesung des Dr. Lewy. 
Ich habe nnzählige Male bedauert, dass ich durch 
meinen späteren Lebensgang, der mich auf die 
Pflege des Arabischen hindrängte, von diesen Studien 
abgezogen wurde. Niemals habe ich meine Ueber- 
zeugung von dem besondem Wert dieser Literatur 
für die Exegese und Kritik des Alten Testaments 
verloren, nnd wenn seitdem anch vieles anf diesem 
Gebiet von christlichen Gelehrten gearbeitet ist, so 
vermisse ich doch noch immer eine knappe Dar- 
stellung der hier zu holenden Gewinnste für die 
genannten Zwecke und nicht minder tür die so- 
genannte nentestamentlicbe Zeilgeschichte und das 
keimende Christentum. 



Rabb. Dr. KalUcher, 
Bonn a. EUi. 
HSrtr 1885—1892. 



Dr. Barol, Berlin. 
Blbllotbelcar. 



AUS DEM LEBEN DER LEHRANSTALT. 

Von Dr. Max Eschelbacher. 



Die Lehranstalt für die Wissen- 
schaft des Judentums zieht in 
diesen Tagen in ihr neues Heim 
ein. Damit beginnt, mindestens 
äußerhch, ein neuer Abschnitt 
ihrer Geschichte, und es ist viel- 
leicht auch für weitere Kreise 
nicht ohne Interesse, nochmab 
einen Blick auf das Leben und 
Treiben zu werfen, wie es in den 
letzten Jahren im alten Gebäude 
in der Lindenstraße sich ^abge- 
spielt hat. 

Die Freude über die Über* 
Siedlung ins neue Haus wird groß 
sein, größer vielleicht noch die 
Genugtuung über den Auszug aus 
dem alten, denn dieses warwie ein 
Symbol der engen Verhältnisse, 
unter denen die Wissenschaft des 
Judentums sich entwickelt hat. 

Auf einer hölzernen Treppe 
liegt. 



Hier entfaltete sich 
vom Ofengesims her stumm die Büste eines alten 
jüdischen Oelehrtfin blickte. 

Und nebenan ist der Hörsaal, der Hörsaal 
schlechthin, denn die Lehranstalt besaß bisher keinen 
anderen. Ein großer, schöner Baum. Die Vorderwand 
ziert ein vorzügUchcs Porträt von Moses Mendelssohn, 
an der Hinterwand erblicken wir das Bild Steinthals, 
der auch einmal hier doziert hat, an der Seite pocht 
eintönig die Wanduhr, wenn sie nicht gerade stehen 
geblieben ist, was nicht selten vorkam. 

Und nun wird es Zeit, von den Männern zu sprechen, 
die hier unterrichten. Das Verhältnis der Schüler zu 
ihrem Lehrern wird bedingt durch die Eigenart des 
rabbinischen Studiums. Wir haben Keine Lehrbücher. 
Was wir lernen, müssen wir aus den Quellen selber 
schöpfen. Das hat seineSchattenseiten, denn dasQuelIen-_ 
Studium ist mühsam, und auch einem fleißigen Menschen 
wird e? kaum möglich sein, schon in der Studienzeit 



stieg man zur Anstalt empor und 
befand sich bald auf einem 
Vestibül von 2 Meter Länge und 
anderthalb Meter Breite. Wie es 
für eine Hochschule sich geziemt, 
hing hier ein schwarzes Brett, 
das, abgesehen vom Verzeichnis 
der Vorlesungen, eine Liste der 
„kleinen Propheten" enthielt, der 
Hörer, die im laufenden Semester 
im homiletischen Seminar eine 
Ubungspredigt halten wollten. 
Dann gings hnks in einen läng« 
liehen Gang hinein, der im 
Sommer btdb, im Winter ganz 
dunkel war, und während der 
Pausen nur spärlich durch die 
glühenden Zigaretten einiger 
Hörer erhellt wurde. Links 
öffnete sich eine Tür zur Biblio- 
thek, deren oberste Leitung in 
den Händen des Herrn Dr. Barol 
r^s Leben, auf das 



Rabb. Dr. G. Oppenheim, 



Hörer 1873-1877. 



Dr. Max Eschelbacher: Aus dem Leben der Lehranstalt. 



Gruppe der derzeitigen Hörer der „Lehranstalt ffir die WiBBenachaft des Judentuma." 

5p«tial-Aulnahine,f<lT „Ost und West". 



eine gründliche Kenntnis des ganzen Gebiets der jü- 
dischen Wissenschaft Zugewinnen. Aber das ist doch 
nur die Kehrseite einer Lichtseite, und auf anderem 
Weg ist ein Eindringen in die Wissenschaft schwer 
möglich. Nicht Werke über Bibel und Talmud 
werden hier besprochen, sondern Bibel und Tahnud 
selber. Damit aber verwandelt sich mit Notwendigkeit 
die in anderen Disziplinen übliche systematische Vor- 
lesung in eine Diskussion zwischen Lehrer und Schüler, 
die sich infolgedessen ganz anders nahe treten, als der 
Student und der Professor auf der Universität. Diese 
lernen sich vielleicht im Examen zum erstenmal kennen, 
auf der Lehranstalt aber ist jeder Tag em klene*^ 
Examen, wo der Hörer dem Dozenten Rede zu stehen 
hat. 

Das dienstälteste Mitglied des X.ehierkolleg<un)s 
ist Professor Dr. Maybaum. Er lehrt Midrasch und 
praktische Theologie, d. h. Pädago^k und Homiletik. 
Die Krone seines Unt«rrichts aber sind die homiletischen 
Übungen. Ein Hörer predigt, die andern hören zu, 
kritisieren, der Redner repliziert, und schUeßlich pibt 
Maybaum ein zusammenfassendes Urteil über Rede 
und Kritik, in der er hSuHg die feinsten Beobachtungen 
aus vielj&hriger Praxis mitteilt. Es ist ein kritikfrohes 
PubUkum, das hier dem Redner lauscht, häufig und 
mit Erfolg bemüht, den Dulder oben auf dem Katheder 
außer Fassung zu bringen. Es sind nicht nur belehrende, 
sondern auch heitere Stunden, und die schönsten Blüten 
eines unfreiwilligen Humors wachsen hier. Schade, daß 
man nicht alles erzählen kann ! Vor einigen Jahren 
erklärte ein Hörer, er werde bei der nun folgenden Rede 
die Voraussetzung machen, daß weit und breit im ganzen 
Land kein Rabbiner zu finden sei, und dann ging er hin 
und hielt eine Traurede, in der er unverzagt sich selber 
traute. Wer das Vergnügen hatte, an diesen schönen 
Stunden Freitags von 8 bis 10 Uhr teilzunehmen, 
wird stets mit größter Freude an sie zurückdenken 

Ein ernsteres .\ntbtz trfigt schon die Talmud- 
verlesung. Im Talmud unterrichten ist keine leichte 



Aufgabe. Der Stoff ist schwierig und die Hörer sind oft 
wenig vorgebildet. An der Lehranstalt wird das Fach 
durch einen großen Gelehrten vertreten, durch Dr. 
Eduard Baneth. einen Enkel des berühmten Tal 
mudisten Mordechai Baneth. Er gehört der streng- 
orthodoxen Richtung an und versteht es, mit viel 
Gelehrsamkeit und Geist, bisweilen auch mit blenden 
dem Witz, seine Anschauungen zu vertreten. „Was 
Wellhausen sagt, ist auch nicht alles Thorath Mosche", 
hat er einmal auf die Darlegungen eines Bibelkritikers 
erwidert. Im Unterricht ist er ein Vertreter des Peschat. 
der einfachen, unv erkünstelten Auffassung. Mit hoher 
Kunst versteht er es, die schwierigsten talmudischen 
Materien in ihre Elemente aufzulösen, jede Frage von 
den ersten Quellen bis zum Schulcban Aruch zu ver- 
folgen und schheßUch, nach gründlicher Untersuchung 
jedes einzelnen Punktes, das Ganze vor den Augen seiner 
Schüler wieder aufzubauen. Dabei beschränkt er sich 
nicht auf den Talmud allein. Er ist ein Kenner der 
Mathematik, besonders der Astronomie, und hat, das 
ist seine jüngste literarische Leistung, die Abhandlung 
des Maimonides ober die Neumondsberechnung in 
die Sprache der Mathematik unserer Zeit übersetzt. 
So kann er, frei nach Max Samuel, sE^n: „Die Bahnen 
der Gestirne sind mir so bekannt, wie die Straßen 
von Berhn." 

Literatur und Geschichte lehrt Dr. Ismar Elhogen. 
Er bemüht sich ganz besonders, zu zeigen, wie Probleme 
der jüdischen Geschichte nach der exakten Methode 
hbtorischer Forschung zu behandeln sind. So hat er. 
um eine seiner bedeutendsten Leistungen zu nennen, 
vor einigen Semestern in den historischen Übungen, 
die er leitet, die Geschieht« von den vier Gelehrten, 
eine der bekanntesten Legenden der jüdischen Ge- 
schichte, kritisch betrachtet. Vier Gelehrte, so erzählt 
ein mittelalterHcher Historiker, zogen aus Sura fort, um 
Spenden für die Lehrhäuscr zu sammeln. Unterwegs 
wurden sie von Piraten gefangen genommen, aber von 
Glaubensgenossen losgekauft, worauf sie in verschiede- 



715 



Dr. Max Eschelbacher : Aus dem Leben der Lehranstalt. 



716 



nen Städten Nordafrikas und Spaniens Lehrhäuser 
begründeten. Eine Prüfung der gesamten uns über* 
lieferten Nachrichten, insbesondere auch der in der 
Geniza zu Kairo gemachten Funde, zeigte indes, wie 
Elbogen damals nachwies, daß die Erzählung, so wie sie 
berichtet wird, nicht zutreffend ist. Die vier Gelehrten 
haben gamicht zu gleicher Zeit gelebt, und wichtige 
Züge sind wörtlich dem Talmud entlehnt. Und doch ist 
jene Legende von hoher historischer Bedeutung, denn 
sie bringt zum Ausdruck, wie im X. Jahrhundert die 
babylonischen Lehrhäuser verfielen und neue in Afrika 
und Spanien begründet wurden. Für die Kunst einer 
kritischen imd sorgsamen Quellenbetrachtung sind 
Elbogens Vorlesungen eine vorzügliche Schule. 

Das jüngste MitgUed des Kollegiums ist Dr. 
Yahuda, ein Mann, der viele Städte und Menschen 
gesehen hat, geboren zu Jerusalem, auf deutschen 
Universitäten gebildet, englischer Staatsangehöriger. 
Als er sein Amt an der Lehranstalt antrat, hörte 
ich nur noch sehr wenig Vorlesungen und kann 



darum auch nur wenig davon berichten. Abei daß 
ein Mann, der Arabisch und Hebräisch von Jugend 
auf fertig spricht, und der die Lebensverhältnisse des 
Orients aus eigener Anschauung gründlich kennt, zur 
Erklärung der Bibel vieles sagen kann, was andere 
nicht wissen können, das ist selbstverständhch. 

Wenige Tage noch, und der alte Hörsaal wird 
geschlossen, ein neues Lehrhaus öffnet seine Pforten. 
Möge es eine Stätte jüdischen Wissens werden, wo 
tüchtige Lehrer imterrichten und tüchtige Schüler 
lernen. Mögen viele Männer aus ihm hervorgehen, auf 
die der deutsche Rabbinerstand dereinst stolz sein darf ! 
Und wenn auch das neue Heim dereinst alt und morsch 
wird und zerfällt, dann möge immer noch die Lehr- 
anstalt in voller Kraft bestehen, und wenn sie dann, 
in hundert, in zweihimdert Jahren, abermals eine neue 
Stätte bezieht, dann mögen die Hörer jener Zeit mit 
ebensoviel Dankbarkeit und Freude von ihren Lehrern 
sprechen dürfen, wie die heutigen Schüler der Anstalt. 



DER NEUBAU DER LEHRANSTALT EUER DIE WISSENSCHAFT DES 

JUDENTUMS/) 

Standes für absehbare Zeit in völlig ausreichender 
Weise befriedigt werden könnten, wurde von an- 
derer Seite geltend gemacht, dass auch auf die 
Zukunft Bedacht zu nehmen, dass die Möglickeit 
einer bedeutenden Vergrösserung der Hochschule 
zu berücksichtigen sei. 

Zahlreiche Angebote wurden bezüglich ihrer 
Eignung geprüft, bis sich das Kuratorium dahin 
schlüssig machte, den Bauplatz Artüleriestrasse 14t 
von der Stadtgemeinde zu erwerben. Die geringe 
Grösse des Grundstückes, seine schiefwinklige 
Form, sowie der Umstand, dass es von allen 
Seiten von hohen Giebelwänden umgeben war, 
machen es erklärlich, dass sein Erwerb auch teil- 
weisen Widerspruch fand, der jedoch gegenüber 
den vielen anderen Vorzügen nicht zur Geltung 
kommen konnte. 



Allgemeines. 

Seit ihrer Begründung war die Hochschule, 
die heutige Lehralnstalt, in Mietsräumen unter- 
gebracht, zunächst 1872—1875 in dem Hause 
Spandauer Brücke 8, sodann im Quergebände Unter 
den Linden 4A, von Oktober 1892 ab im Seiten- 
flügel der Synagoge Lindenstrasse 48/52. Die als 
Wohnungen bestimmten Räume waren für die Zwecke 
einer Hochschule nicht sehr geeignet. Der lang- 
gehegteWunsch nachErwerbung eines eigenen Grundr 
Stücks konnte infolge des Mangels an Mitteln keine 
Verwirklichung finden; erst die hochherzige Schenkung 
des Bittergutsbesitzers Nathan Bernstein er- 
möglichte die energische Aufnahme des Planes. 
Allein selbst dann konnte die Angelegenheit keine 
rechte Förderung finden, weil es an einem ge- 
eigneten Platz für die Eirrichtung des neuen Ge- 
bäudes fehlte. Das Kuratorium sowohl wie das 
LehierkoUegium wünschten, dass die Anstalt 
möglichst nahe der Universität liegen sollte. Da 
die Hörer der Hochschule gleichzeitig die Vorträge 
der Universität besuchen, musste die Möglichkeit 
gegeben werden, in recht kurzer Zeit, zumeist in 
den Zwischenpausen, den Weg von der Universität 
zur neuen Hochschule zurückzulegen. Es ist klar, 
dass der Ankauf eines passenden Bauplatzes im 
Herzen der Hauptstadt auf besondere Schwierig- 
keiten stiess. Auch waren im Kuratorium ver- 
schiedene Ansichten über die Grösse der er- 
forderlichen Bodenfläche vorhanden. Während auf 
der einen Seite der Wunsch bestand, ein Grund- 
stück zu erwerben, auf welchem die Bedürfoisse 
der Hochschule nach Massgabe des augenblicklichen 

•^ Aus der „Festsclirift zur Einweihung des eigenen 
von J. Elbogen und J. Ilöniger. 




Nachdem über den Bauplatz entschieden war, 
nahm die Angelegenheit einen beschleunigten Fort- 
gang. Die Herren Architekten Hoeniger & Sedel- 
meier, welche dem Kuratorium schon bei den Vor- 
bereitungen für die Auswahl der Baustelle zur 
Seite standen, wurden mit der definitiven Aus- 
arbeitung der Baupläne und mit der Oberleitung 
des Baues betraut. Noch im Sommer 1906 könnt« 
mit den Bauarbeiten begonnen werden, und der 
Rohbau ist ohne Unterbrechung in kurzer Zeit 
aufgeführt worden. Dagegen musste der Ausbau 
eine Verzögerung erleiden, welche eine Folge des 
in diesem Jahre ausgebrochenen Maurerstreiks war. 
Trotzdem ist der Neubau zu dem von dem Kura- 
torium gewünschten Termine fertiggestellt worden. 

Programm. 

Das vom Lehrerkollegium aufgestellte Programm 
umtasst folgende ADfordeiUDgen : 



717 Der Neubau der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums. 7U 

A. Lehrräume. 

1. Zwei mittelgrosae AnditorieD; 

2. ein grrosser Saal in Öffentlichen VorlesimgeQ nnd 
fflBtlicheD Yeranstaltnogen (ittt PerienlniTBB GeDeml- 
TeTsamnüuDgen nsw.); 

3 ein SeminarziiniDer (zugleich Präparandie) ^ 
4. ein Lehieizimmei (zugleicti Arcbir); 
5 ein Konferenzzimmer. 

B. Blibliotheksräame. 

1. Bin Lesesaal (6 X 12 m); 

2. ein Verwaltung- nnd Ausleihzimmer; 

^. Ein BBcherma^azin (von ca. 100 qm, dem Doppelten 
des bisherigen Ranmnmfanges}. 
C. Korridore. 

1. Ein Garderobenranm; 

2. zwei Toilettenräume mit Wascbgelegenheit. 

Innere und äussere Gestaltung. 

Die Befürchtung, dass die kleine winklige Baustelle 
eine ungenfigende Erfällnag des Programms mit eich 
bringen und vor allem eine repräsentative, einer Hoch- 
schule würdige Anlage unmöglich machen würde, hat 
sich nicht bewahrheitet. Wenn auch naturgemäss kein 
altztigrosser Aufwand in hezug auf Vorräume, Treppen 
und Korridore getrieben werden konnte, sind doch alle 
berechtigten Ansprüche befriedigt, ist sogar darüber 
hinaus for genügende Vestibüle und geräumige Vor- 
plätze Sorge getragen. 

Haupteingang. 

Insbesonderb musste der Haupteingang so gestaltet 
werden, dass möglichst im Anschluss an diesen eine 
Wandelhalle für die Studierenden geschaffen wurde. 
Dies ist auch rollkommen erreicht worden und zwar da- 
durch, dass der Vorplatz vor der Treppe mit dem Ein- 
gang^nr vereint wurde. 

Aber nicht nur im Erdgescboss des Hauses, sondern 
auch in den oberen Stockwerken sind würdige, grosse 
lind helle Vorräume angeordnet worden, an die sich 
ausreichende Toiletten nnd Garderoben anEcbliessen. 
Treppen. 

Unerwartete Schwierigkeiten wurden dnrch die bau- 
polizeiliche Pordemng geschaffen, welche trotz der 
Kleinheit des Grundstückes die Anlage von zwei Treppen 
vorschrieb. Die Haupttreppe, massiv aus KnnststeinBtiü'en 
mit eisernen Brüstungsgeländem hergestellt, zeigt grosse 
Abmessungen. Die zweite Treppe musste naturgemäss 
nur als eine Nottreppe ausgebildet werden, nnd ist 
hierfür der spitze Winkel an der Vorderfront glücklich 
verwendet worden, derart, dase nicht allzuviel Raum 
verloren wurde. 

Unterrichtsräume. 

Die Auditorien liegen im ersten Stock, wo sich auch 
das Sitz n II gsz immer des Kuratoriume befiodet, während 
das Lehreikoltegium im Erdgescho^s sein Zimmer hat. 
Die Aula ist im zweiten Stock untergebracht und bildet 
iu Verbindung mit dem grossen Seminarraum ein 
Auditorium von 150 bis 200 Plätzen. Im dritten Stock 
befindet sich der Lesesaal, im Auscbluss an diesen 
folgen die Räume der Bibliothek. 

Bibliothek. 

Ganz besondere Sorgfalt ist der Ausbildung der 
Bibliothek gewidmet worden und ist für diese das ganze 

Obergeschoss einschliesslich des Dachbodenranms in Neubau der Lehranstalt für die „Wissenschaft de» 

zweckmässiger Weise zur Verwendung gekommen. Da- Judentums." 

durch hat sich ein sehr geräumiges Magazin für die e.,.,.,i.j....,,h™- m, 

Aufstellung der Bibliothek gewinnen jlassen, welche im 



Speiial -Aufnahme tOr _Ost und West". 



Der Neubau der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums. 



dritten Stock beginnt und bis in den Dachboden hinein 
ihre K&ame erstreckt 

Bibliothekseinrichtnng. 

Die Einrichtong der Bibliothek ist nach dem ueoBten 
System der Firma H. Lipmann in Strasaborg zoi Aub- 
f&hmng gekommen. Diese Fiima, velche mit der hier 
am Orte befindlichen Eisenkonstraktions- and Blech- 
fabrik, WoM', Netter & Jacobi Terschmolzen ist, hat in 
bereitwilligem Gntgegen kommen die Einrichtung der 
Bibliothek zn einem Anenahmepreiae hergestellt. 
Aufzug. 

Im Erdgeschoss des Hauses befindet sich noch die Woh- 
nung des Hanswarts. Eid elektrisch betriebener Personen- 
aofzug vermitt«lt den Verkehr nach den oberen Stockwerken. 
Heizung. 

Im Keller befinden sich die Vorrichtungen tVa die 
Heizung und Ventilation des Hauses. Die Reizung ist 
eine Warmwasserheizung und ist verbanden mit einer 
Lfiftungs- und Ventil ationsanlage, welche den Räumen 
fortwährend frische, vorgewärmte Luft zufährt. 
Hof. 

Es mag noch erwähnt sein, dass der Ho&aum von 
solchen Abmessungen ist, dass er nicht nor die an ihm 
liegenden Zimmer Kenögend beleuchtet, soudem dasa er 
auch zum Aufenthalt der Studierenden Gelegenheit 
bietet Der Hof soll später gärtnerischen Schmuck er- 
halten, nm diesem Zwecke noch besser dienen zu können. 



Ausstattung. 

Nachdem darauf gesehen ist, die Räume hell und 
Inßjg zn gestalten, konnte die Ausstattung selbst schlicht 
und einfach gehalten weiden. Die innere Einrichtung, 
sowie die elektrische Beleuchtung sind Überaus zweck- 
mässig unter Berilcksichtigung der neuesten schal- 
technischen Anschauongen ausgeführt Hier sei nur 
hervorgehoben, dass die Aula Sitzplätze erhalten hat nach 
amerikamschem System. Die grossen bequemen Lehn- 
sessel bieten, durch eine sinnreiche Anordnung der 
rechten Armlehne, Gelegenheit zni schriftlichen Fixierong 
der Vorträge. Dadurck konnten die Pulte in Fortfall 
kommen, welche den Gesamteindmck dee Baumes be- 
einträchtigt hätten. 

Fassade. 

Bezüglich der Fassadengestaltung mag gesagt sein, 
dass darauf hingestrebt wurde, die Bestimmung des 
Gebäudes auch in seiner äusseren Erscheinung zur 
Geltung EU bringen. Die grossen Fenster sollen den 
Schul zimmern reichliches Licht zuführen. Nur der 
Haupteingang ist durch die Ausführung in Stein be- 
sonders betont worden. Sonst ist die Fassade achlicht 
geputzt und hat nur wenige Zierformen erhalten, welche 
in sogenannter Antragarbeit ausgeführt sind. Ueher den 
Hanpteingang befindet sich dielnschrift, diedie Bestimmung 
des Hauses auseigt: 

Der Wissenschaft des Judentums 

nosn'« min'? 



AUS DEN KINDERJAHREN 
DER „LEHRANSTALT EUER DIE WISSENSCHAFT DES JUDENTUMS". 

Von Dr. Adolf Rosenzweig, Rabbiner der jüdischen Gemeinde zu Berlin. Nachdruck vCTbo(en, 



Es war in grosser, reicher Zeit — man zählte das 
Jahr 1872 — da wurde das Kind geboren. 

Männer von Namen standen an seiner Wiege und 
gaben ihm den stolzen Namen „Hochschule für die 
Wissenschaft des Judentums" — ein Wahrzeichen sollte 
der Name sein für das, was Zunz, Oeiger und Philippsoo 
ersehnt und erhofft, aber nicht erreicht 
hatten. 

Spätere Verhältnisse brachten es 
dahin, dass ans der „Hochschole' die 
„Lehranstalt für die Wissenschaft des 
Jadentums" ward. Ein Eind wars. 
Kinder sind bescheiden. Und in be- 
scheidenen Verhältnissen und Räumen 
lebte das junge Kind, dort an der 
Spandaaer Brücke No. 1, an der Ecke, 
an der sieh jene stiessen, die nach 
rechts, und jene, dienach links wollten, 
und im engen Raum stiessen sich auch 
Lehrer und Hörer. Gegenüber dem 
Lehrzimraer — von einem Lehrsaale 
konnte keine Uede sein — befand sich 
die Bibliothek in den bescheidensten 
Anfingen. Ein Semester war bereits 
dahingegangen, aber noch lagen ge- 
bunden und ungebunden Hefte und 
Bücher in dichten Haufen auf der 
Erde. Loew, der vom Hause aus ein 
gewisses organisatorbches Talent mit- 
gebracht hatte, legte den Zettelkatalog 
an, und mit ihm gemeinsam schrieb 
ich die Büchertitel und ordnete die 
■"■■■streuten Massen. 



Rabbiner Dr. Rosenzweig, Berlin, 

Hürer 1872-1675. 



Vom Kuratorinm sahen und hörten wir nicht viel 
— Fbilippaon lebte in Bonn und Lazarus hatte viel 
mit sich und der Welt zu tun; aber hurtig mit Donner- 
gepolter stürmte von Zeit zu Zeit Sanitätarat Neumann 
herbei; und ob er auch polterte, er brachte stets sein 
warmes Interesse für die Anstalt mit. 

In dem einen Hörsaale fanden 
alle Vorlesungen statt. 

Stündlich — nur die Talmud- 
Vorlesungen dauerten in der Reget 
2 Stunden — wechselte das Hörer- 
material, eine bunte Gesellschaft, in 
der Bachurim aus der ungarischen 
Jeschiba,Oestreicher, Ro man en, Russen 
und Amerikaner sich befanden. Nur 
Deutsche fehlten. Und doch, &st 
hätte ich des einen, der in Deutsch- 
land geboren war, vergessen — es war 
der Sohn des damaligen Poatdirekters 
Sachse — ein deutscher Christ, der 
die Mischna Vorlesungen and Einleitung 
in die Mischna mit besonderem Fleiss 
uod Interesse hörte. 

Eine bunte Jüngerschar wars, die 
an den Turmbau zu Babel gemahnte — 
Einer verstand nicht die Sprache des 
Anderen. Die aus der ungarischen Je- 
schiba kamen, brachten zunächst ihre 
Fschettelchen und ihreAccomodations- 
fllhigkeit mit, die Küssen eine tüch- 
tige Belesenheit in talmudicis und 
grosse Energie, aber auch einen un- 
gezügelten, revolutionären Geist in 



721 



Dr. Adolf Rosenzweig: Aus den Kinderjahren der „Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums." 



722 



religiösen Dingen, nnd die Amerikaner, die allesamt wohl- 
habenden Familien entstammten, ein vornehmes Wesen, aber 
auch grosse Armut an jüdischem Wissen. — Ich erinnere 
mich zweier, die sich bedeutender Stellungen innerhalb 
der amerikanischen Judenheit erfreuen — der eine 
suchte eine Stelle aus dem ersten Kapitel der Genesis 
am Ende des Deuteronomium, und der andere, für die 
jüdische Theologie besser Vorbereitete, in dem letzten 
Kapitel der Genesis. 

Zu den Hörern gehörten als „Ausserordentliche" 
nicht wenige, die nie eine Yolkschule, geschweige denn 
ein Gymnasium besucht hatten. So gut es möglich 
war, wurde für diese ein Präparandenunterricht einge- 
richtet; Loew übernahm den Unterricht in der griechischen 
Grammatik und der Mathematik, ich lateinische 
Grammatik, Geschichte und Deutsch. Es ging, wie es 
unter den obwaltenden Umständen gehen konnte: der 
Bachurimgeist mochte sich nicht leicht fügen; aber die 
Aussicht auf Stipendien tat Wunder l Nach etwa zwei 
Semestern kam ein Besserer, der den Unterricht über- 
nahm, Dr. Holzman, der jetztige Direktor der Berliner 
Gemeinde-Knabenschule und des Lehrerseminars. 

Zweier Hörer sei an dieser Stelle gedacht — früh 
hat der Tod sie aus unseren Reihen gerissen: Rosen- 
feld (erinnere ich mich recht: der Sohn eines Gemeinde- 
vorstehers) aus New- York, wurde nach Amerika über- 
führt — bei der in der Hochschule abgehaltenen 
Trauerfeier sprach Felix Adler; Leopold Schauer, der 
Sohn eines ungarischen Rabbiners, ruht hier auf dem 
Friedhofe in der Schönhauser Allee — ein Armenstein 
nennt seinen Namen. 

Allein so halbfertig dies alles auch war, alsbald 
kündete sich doch in der Anstalt ein reger Geist, den 
die tüchtigen und bedeutenden Lehrer, auf die die Lehr- 
anstalt stets mit Stolz blicken wird, weckten. 

Vor allem Abraham Geiger, der als Sechzig- 
jährifirer Rabbiner in unserer Gemeinde wurde — ein 
Greis und doch ein Jüngling an Kraft und Begeisterung! 
Der Lehrstuhl, das war seine rechte Stelle : das fühlte 
er, das wusste er, darum strebte er ihm sein Leben 
lang zu; auf dem Lehrstuhl, da fühlte er sich am 
wohlsten; da quoll und schwoll sein Wort so voll, so 
frisch, so lebendig, da hub sich auch das stets glatt 
gescheitelte, lange Kopfhaar, da glänzte das glatte, 
nicht sonderlich schöne Antlitz, da leuchteten die Augen 
in jugendlicher Frische, da lebte der ganze Geiger. 

Wohl, Geiger war ein bedeutender Kanzelredner, 
der alles besass, dessen der Prediger bedarf, um seine 
Zuhörer fesseln zu können: lebhaftes Temperament, 
poetische Gestaltungsfähigkeit, tiefes Wissen und vor 
allem ein vibirierendesHerz. Und Geiger wirkte auch 
durch seine Predigt gewaltig! Noch nach Jahren er- 
zählte mir der sei. Wertheim, der langjährige Sekretär 
unserer Gemeinde, von der Begeisterung, die Geiger 
geweckt durch die Predigt, die er an jenem verhängnis- 
vollen Morgen (es war an einem Sonnabend), da der 
Krieg gegen Frankreich erklärt wurde, über Jer. 4,19 
in der Neuen Synagoge gehalten hatte. Allein Geiger 
hatte für die Predigt wenig Zeit: in der Regel wählte 
er Donnerstag Abend, oder auch Freitag einen Text, 
über den er am Sonnabend predigen wollte; zu dem 
Texte notierte er auf einem Zettel einen Gedanken, 
einen Midrasch und dann predigte er, und er predigte 
immer begeistert und begeisternd; denn seine Predigt 
entstammte reichem, kräftigen Können; da war nichts 
eingelernt, nichts memoriert, nichts berechnet; der gott- 
begnadete Redner stand vor der Gemeinde: er band 
sich an keine homiletische Regel, die ihm als Fessel, 
höchstens als Krücke erschien, da sein Herz, das Ge- 
heimnis aller Persönlichkeit, vor allem des Redners, 



homiletische Regeln ihm kündete; da stand der Meister 
auf der Kanzel, der mit souveräner Kraft die Fragen 
des Lebens nnd der Religion behandelte. 

Daher kams aber auch, dass man von Geiger 
nicht predigen lernen konnte; er war wie Jellinek, der 
trotz seiner Bedeutung als Kanzelredner keine Schule 
begründete, eine originale Individualität; darum konnte 
er sich auch nicht entschliessen, homiletische Uebungen 
abzuhalten — für ihn war Predigen eine Kunst, 
Ktinstler aber müssen als solche geboren werden, noch 
nie sind Menschen durch Regeln Künstler geworden. 
In den Vorlesungen zu Pirke Abot gab er homiletische 
Winke, kurze Sentenzen, einzelne Gedanken, welche die 
Hörer zu weiterer Arbeit anregen sollten. 

Geigers 2ieit und Arbeit gehörte der Wissenschaft 
des Judentums: ob er den inneren Kämpfen in Alt- 
Israel nachspürte; ob er uns in das griechische Geistes- 
leben in Alexandria einführte; ob er uns den in Jamnia 
das Raupengespinnst durchbrechenden Schmetterling — 
Israel — zeigte, der, in Sonnenlicht gebadet, allen Stürmen 
trotzend, aufwärts sich hob; ob er uns in die Lehrhäuser 
von Sura und Pumpedita geführt oder das Leben der 
Denker und Dichter in der spanischen Blüteperiode vor- 
führte: in allem kündete sich der weite und scharfe 
Blick des Gelehrten, der kühne Denker, der Geschichte 
zu konstruieren versteht, der tüchtige Orientalist, der 
alle verwandten Gebiete unifasst. 

Und neben Geiger, dem Alter nach am nächsten, 
David Cassel, ein schlichter, wortkarger Mensch, 
der früh müde geworden, weil er früh und wohl auch 
spät zu kämpfen hatte, um sein Leben zu fristen; ein 
abgeklärter Mensch, der mit offenen Augen die Kämpfe 
der Zeit gesehen und offen, manchmal wohl auch ungesehen, 
an ihnen teilgenommen hatte. 

Cassel besass keine originelle schöpferische Kraft; 
er stellte nie eine Hypothese auf und machte selten 
oder nie eine Emendation; aber alle seine Arbeiten 
charakterisiert wissenschaftlicher Ernst, gediegene Ehr- 
lichkeit; was er schrieb und lehrte, das bedurfte keiner 
Nachprüfung, das durfte als feststehend hingenommen 
werden. Er war vielfach beschäftigt: neben dem Lehr- 
amte in der Hochschule war er deren Bibliothekar, 
versah er das Amt des Waisenvaters im Nauen'schen 
Stift und das Amt des Schriftführers in verschiedenen 
Vereinen. Daher konnte er in seinen Vorlesungen nicht 
viel Neues bringen, auch nicht immer pünktlich sein — 
der geistreiche Horwitz, vordem Rektor der Knaben- 
schule und der Lehrerbildungsanstalt, an der Cassel 
früher Unterricht erteilte, nannte ihn einst in seiner 
witzigen Art „den grössten Fehler" der Anstalt. Und 
doch wäre es ungerecht und entspräche nicht den Ver- 
hältnissen, wollte man nicht des wohltuenden Einflusses, 
den seine Tätigkeit an der Anstalt gehabt, gedenken! 
Cassel war nach mancher Richtung hin ein Skeptiker, 
seinem eigentlichen Wesen nach aber konservativ, nicht 
blos weil er täglich die Synagoge besuchte, sondern 
weil er einen pädagogisch-praktischen Blick für das, 
was dem Rabbiner not tut, besass: in späterer Zeit 
pflegte er zu manchem jüngeren, in Deutschland ge- 
borenen Hörer in seiner Eigenart zu sagen: lernen Sie 
Chumesch und Raschi und den Suach lesen; der Schammes 
wird Sie, wenn Sie Rabbiner sind, fragen, ob man 
Zidkos'chu zedek sagt und Sie werden es nicht wissen ! 

Und neben Cassel Dr. Steinthal, der Philosoph 
mit dem Kindesgemüt I Steinthal war kein Theologe; 
er hatte sich, ehe er Dozent an der Hochschule wurde, 
nur wenig mit jüdischem Wissen beschäftigt, und 
nur geringe Reminiszenzen aus seiner Jugendzeit in 
Gröbzig waren ihm geblieben. Steinthal war aber ein 
Philosoph und ein Mensch, den man gerne hörte, weil 



723 



Dr. Adolf Rosenzweig: Aus den Kindeijahren der »Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums.« 



724 



er immer zum Denken anregte. Wie er so da sass an 
dem Lehrtische! Still und ohne jede Prfttension; die 
Sprache etwas schleppend, oft schl&frig and sich selbst 
korrigierend, die Augen dem Manuskripte zugewandt. 
Aber sobald er in seinem Elemente war, da er die Oe- 
danken der Denker zergliederte, sichtete, da nahm er 
den Qeist der Zuhörer gefangen, da zwang er mitzu- 
denken. Das war es, was uns zu seinen Vorlesungen 
zog, was seine Vorlesungen uns wert machte! Hin- 
gegen hatten nicht Alle die Neigung, ihm in der Mytho- 
logie, die er in die Bibel hineintrug, zu folgen und mit 
Genugtuung darf hier registriert werden, dass Groldziher, 
der wohl das dickste Buch über die Mythologie der 
Bibel geschrieben hat, an dieses später nicht gerne 
erinnert sein wollte! 

Und zuletzt, aber nicht als Letzter, Dr. Lewy, 
jetzt Professor und Seminarrabbiner in Breslau, der in 
jungen Jahren das Lehramt für die talmudisohen Fächer 
übeSrnahm, ein Mann, in dem sich die Gelehrsamkeit 
der Alten mit der Wissenschaftlichkeit der modernen 
Zeit harmonisch einte; ein Mann mit scharfem Ver- 
stände, kritischem Blick und seltenem Bleiss ; ein Mann 
mit dem sittlichen Ernst und der Frömmigkeit der 
Alten, aber auch mit dem ernsten Blick für die Er- 
scheinungen des Lebens. 

Lewy war schon bei seinem Amtsantritte ein Lam- 
dan alten Schlages, ein Lämdan, der den Talmud und 
die Decisoren samt der ganzen einschlägigen Literatur 
beherrschte, ein tüditiger Kenner des Jerusalemischen 
Talmud — in den Randnoten seines Handexemplares 
ist ein reicher Schatz von Wissen und kritischen Be- 
merkungen für die RichtigstelluDg des arg korrum- 
pierten Jeruschalmitextes aufgespeichert — , ein Läm- 
dan, der die alten halachischen Midraschim, die in der 
Jeschiba kaum dem Namen nach bekannt waren, in seinen 
Forschnngskreis aufhahm; einLamdan, aber auch zugleich 
ein tüchtiger Philologe, der gut Latein und Griechisch, 
Syrisch und Arabisch Terstand, gerne seinen Kant lass 
und in den Werken der neueren Exegese heimisch war. 
In seinen Vorlesungen zur Einleitung in die Mischna 
zitierte er in einer Stunde unzählige Stellen aus der 
talmudischen Literatur und daneben alle einschlägigen 
Arbeiten aus dem Ben Ghananja, dem Orient, der 
Geiger'schen Zeitschrift, und der Graotzschen Monats- 
schnft, legte er die kritische Sonde an das, was Frankel 
und Graetz, Zunz und Geiger über die behandelten 
Fragen geschrieben, und alles zitierte er auswendig, ohne 
irgendwelche Notiz! 

Er war aber auch fleissig, wie nur wenige sind: 
Donnerstag Abend um 8 Uhr versammelten wir uns in 
der Hochschule, um homiletische Uebungen abzuhalten. 
An diese scblosis sich ein gemütliches Zasammensein. 
Auf dem Heimwege passierten wir fast allesamt das 
Haus an der Spandauerbrücke, wo die Hochschule sich 
befand und Dr. Lewy wohnte: ob früher ob später wir 
nach Hause gingen, Dr. Lewy sass immer an seinen 
Folianten, um sich für die nächste Talmudvorlesnng, die 
pünktlich um 8V4 Uhr begann und die er am liebsten 
über die festgesetzte Zeit hinaus aasdehnte, zu präparieren. 

Und wie er ernst und streng gegen sich war, so ver- 
langte er auch Ernst und Gewissenhaftigkeit von den 
Hörern. Und das rief den Unwillen Einzelner hervor! 
Die anderen Dozenten brauchten nur zu „lesen", er aber 



wollte lehren; die anderen Dozenten brauchten sich nicht, 
wenn sie es nicht wollten, um die Hörer zu kümmern, 
er aber wollte, dass gearbeitet werde! Die aus der un- 
garischen Jeschiba und dem russischen Beth-hamidrasch 
kamen, brachten zumeist einen Hochmut mit, der an der 
Bedeutung der deutschen Talmudgelehrsamkeit zweifelte, 
den Deutschen aber war der Talmud ein Novum und 
nicht einmal ein angenehmes Novum I 

Und dazu noch ein Anderes: Lewy ist fromm und 
verlangt, dass der Theologe auch etwas vom Glauben in 
sich trage; der Babbiner soll nicht blos predigen, eondem 
auch im Glauben leben! Auch das geüel nicht Allen! 

Und doch, Lewy war nicht blos ein bedeutender Ge- 
lehrter, ein frommer Lehrer, er war und ist auch ein 
biederer Mensch, mitteilsam und anregend, freundlich und 
wohlwollend — ich kann und werde es nicht vergessen: 
Ich brauchte Geld. Nur schwer entschloss ich mich 
dazu, zumal ich in seinem Hause verkehrte, ihn um ein 
Darlehn zu bitten. Ich tats, weil mir nichts anderes 
übrig blieb. Lewy aber stand damit tränenden Augen: 
„ich kann es Ihnen nicht geben, denn ich habe kein 
(ireld zu Hause !*^ Ich sprach darauf, was ich sprechen 
konnte, und kehrte heim. Aber kaum war ich zu Hause, 
da trat Dr. Lewy bei mir ein und brachte mir das Geld. 
Er hatte es selbst entliehen, um es mir geben zu können! 
Und so fand ich ihn stets auch in seinem Hause! Es 
war ein schlichtes Haus ohne Glanz, ein stilles Haus, 
in dem Glaube und Liebe alles verklärte, ein Haus von 
patriarchalischer Einfachheit mit leuchtendem Sabbat- 
Uchte, mit fröhlichem Sabbatliede. Dort war ich nicht 
fremd und nicht arm; dort im Kreise und am Tische 
der Guten vergass ich alles, was mich drückte, die 
Fremde und den Drang des Lebens. 

Lewy wurde von den Meisten als orthodox ver- 
schrieen. Mit Unrecht! Er war nie einseitig orthodox. 
Es war zur Zeit, da ich meine erste Stelle in Pasewalk 
antreten sollte. Ich besprach mit ihm das eine, 
das andere. Da sprach er zu mir: Wie stehen Sie zur 
Orgel? Auf meine Antwort: Diese Frage ist für mich 
nicht vorhanden! sprach er ruhig: Ich verstehe Sie! 

Das alles machte mir ihn lieb und teuer; das alles 
erfüllt mich auch heute noch mit Ehrerbietung and Dank- 
barkeit für ihn! 

Ich bin zu Ende mit meinem Bückblick auf ver 
gangene Zeiten. Aber ehe ich schliesse, möchte ich noch 
die Frage streifen: war die Zusammensetzung dieses 
ersten Lehrerkollegiums eine glückliche? Mancher wird 
alsbald: Nein! antworten; mir aber will es scheinen: 
wohl, es war eine glückliche Zusammensetzung! 

Die verschiedenartigen Individualitäten und An- 
schauungen, die einander in der Hochschule begegneten, 
mussten notwendigerweise eine Gährung in den Geistern, 
einen Kampf in den Inneren der Hörer erzeugen; es galt, 
sich zu einer eigenen Meinung durchringen, einen festen 
Standpunkt inmitten der widerstreitenden Anschauungen 
sich erkämpfen. Und das war gut! So wurden die 
Denkenden unter den Hörern nicht einseitige Nachbeter 
und Nachtreter, sondern selbständige Menschen mit 
selbständigen religiösen Anschauungen. 

Und so möge es bleiben! Mögen solche Lehrer und 
Hörer der Anstalt stets beschieden sein; mögen wissen- 
schaftlicher Ernst und demütiger Geist des Glaubens 
Lehrer und Hörer stets erfüllen! 



sehen Buieau der M Alliance Jsiaeli 

BERLIh,N2^. ^H^^ Oranien porgersrrtf^ _ 

AN DIE LEHRANSTALT || 

EUER DIE WISSENSCHAFT DES JUDENTUMS. 

Die Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums hat ihr eigenes Heim bezogen. 

Der schöne Tag, der eine frohe und glückliche Zukunft einleiten möge, ist mit würdiger 
Feier begangen worden. 

Wir nehmen an dieser Feier mit ganzem Herzen Teil. 

Denn wo die Wissenschaft des Judentums gepflegt wird — in welcher Richtung immer, 
wofern nur die Erforschung und Befestigung das Ziel ist — da ist die Alliance Israelite Universelle 
im Bunde, da hat sie Mitarbeiter an der Erstarkung unserer Glaubensgemeinschaft. 

Die Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums hat von Anbeginn und in den fünfund- 
dreissig Jahren ihres Bestehens alle Zweige jüdischen Wissens gepflegt und gefördert, ihre Jünger 
zu Aposteln des Judentums und seines religiösen Bekenntnisses erzogen. Einträchtig haben an ihr 
Vertreter aller Anschauungen gewirkt, — in rühmlichem Wetteifer, in musterhafter Verträglichkeit. 

So ist sie uns eine Genossin an unserem Werke, das der gesamten Judenheit ge- 
widmet ist. 

Wir bringen ihr aus tiefstem Gemüt innigste Glückwünsche dar. 
Berlin, 22. Oktober 1907. 

Das Präsidium 
der Deutschen Conferenz-Qemeinschaft der Alliance Israelite Universelle. 

Ludwig Max Goldberger. Charles L. Hallgarten. 



DAS UNTERSTUETZUNOSWERK DER ALLIANCE IN MAROKKO. 

(Spezialbericht für die A. 1. U. Von fs. Pisa.) NKhdmc* »»rtown. 

Casablanca, 23. September 1907. gestern sprach, hat mir versichert, dass alle kräf- 

Ich habe die Ehre, Sie zu benachrichtigen, tigen Männer Arbeit finden, und dass die Franen 

dass ich soeben die Verteilnng von ünterstutzimeen ^ Bonnen, Haasbältürinnen, Köchinnen, Wäscher- 

an Lebensmfttehi und Geld beendet habe. Un- i™en Beschäftigung haben können. Wirkliehe 

geiähr 30Ü Familien befaDden sich in änsserster Armut bleibt nur bei den wenigen Familien, für 

Not. An diese habe ich an den Rasttagen zum <Ue solche T&tipkeit sich nicht eignet, bei Kranken 

Roseh- Haschana-, zum Jom-Kippur- und zum «Dd Waisenkindera. Ich stellte eine Liste dieser 

Sukkot-Fest drei grosse Verteilnngen vorgenommen. Personen anf, die wie in früheren Tagen wöchent- 

Den Familien, die nicht zur Abholnng zu kommen üc^e Unterstützung erhalten werden. Besondere 

wagten, habe ich die Spenden persönlich ins Haas Aufmerksamkeit wende ich jetzt den im Innern des 

gebracht, die anderen kamen in die Schule, um Landes und an der Kaste zerstreuten Glaubens- 

dort die Gaben za empfangen. Alle Lebensmittel genossen zu. 

und eine beträchtliche Geldsumme sind verteilt Die Verteilung der Spenden hat unendliche 

worden. Sobald auch die Kleidungsstücke verteilt Mühe gemacht. Bei der Aoäösong aller Aut^ri- 

sein werden, die wir von Dr. Baron Rothschild täten fand ich bei niemand Hilfe, wohl aber 

erwarten, können wir, glaube ich, das Unter- überall Beschwerden und Kritik. Ausnahmen bil- 

stütznngswerk an Ort und Stelle für abgeschlossen deten einzig die Herren Banabu und David 

erachten, um nicht etwa auf Trägheit eine Be- Alexander, die mir bei der Au&tellung der Liste 

lohnung zu setzen. Kommandant Uangin, den ich der Bedürftigen von grossem Nutzen gewesen 



727 



Mitteilungen der Alliance Isradlite Universelle: Das Unterstützungswerk der Alliance in Marokko. 



728 



sind. (Diese Listen, in denen die Namen der 
Unterstützten und die ihnen gegebenen Beträge 
verzeichnet sind, bleiben als Unterlagen für den 
Rechenschaftsbericht einstweilen im Archiv des 
provisorischen Komitees) 

Soeben erhalte ich den beiliegenden Brief, der 
mir in Abwesenheit des Herrn v. Rothschild aus- 
gehändigt worden ist. Wie ich erfahre, hat die 
Gemeinde von Mazagan sich die grössten Opfer 
auferlegt, um unsere Glaubensgenossen aus Settat 
freizukaufen und sie zu ernähren. Doch muss sie 
eine grosse Zahl fortschicken, weil sie bereits 
überlastet ist. Den Absendern des Briefes habe 
ich alsbald Ermächtigung geschickt, alle Familien 
auszulösen, die in der Gewalt der Araber sind, 
und ihnen einstweilen 1500 Frs. zur Verfugung 
gestellt. Gleichzeitig habe ich Herrn Elmaleh von 
der Lage unterrichtet, damit er sich nach seiner 
Rückkehr nach Mazagan mit der Repatriierung 
dieser Unglücklichen beschäftigen könne. 

Heute früh kam aus Mazagan ein Zug von 
123 Personen, die von der Gemeinde freigekauft 
und von Herrn Zenaty, einem Notablen von 
Mazagan, hierhergeleitet waren. Pisa 

Anlage. 

Mazagan, 17. September 1907. 

Wir beehren uns, an die menschlichen und 
grossherzigen Gefühle zu appelieren, die Ihnen die 
Bewunderung und die Dankbarkeit der Völker ein- 
getragen haben. 

Lifolge der kritischen Tage in Mazagan haben 
fast alle bemittelten Israeliten das Land verlassen. 
Wir aber sind um unserer Geschäft» willen hier 
geblieben und haben vom ersten Tage an es als 
unsere Pflicht angesehen, den 200 Brüdern, die 
sich hier im tieften Elend befinden, Hilfe zu 
leisten. Während unsere Mittel so grosser Not 
gegenüber schon unzureichend waren, kamen die 
Araber vom Lande, um uns den Freikauf der Un- 
glücklichen anzubieten, die in Casablanca und an- 
deren Ortschaften gefangen worden waren. Es 
sind bereits 600 solcher Israeliten in Mazagan 
eingetroffen. 

Unser guter Wille wird niemals aufhören, 
aber unsere Mittel gestatten uns eine weitere 
wirksame Hilfe nicht. 

Wir vertrauen Ihrer edlen und mächtigen 
Intervention, auf die wir mit bewundernder Zu- 
versicht rechnen. 

Genehmigen Sie den Ausdruck unserer Dank- 
barkeit und Ergebenheit. 

Aron A. Zenaty. 

Casablanca, 26. September 1907. 

Heute ft*üh sind hundertundftinfzig Israeliten, 
die von der Gemeinde Mazagan freigekauft waren, 
durch unsere Vermittelung repatriiert worden. Sie 
kamen in beklagenswertem Zustand an. Wir haben 
ihnen die nötige Hilfe geleistet. Die von Herrn 
V. Rothschild geschickten 20000 Pres, sind in 
' des Kommandanten Mangin. Sechs- bis 



siebentausend Francs sind für Matratzen, Decken 
und Kleider ausgegeben worden. Für den Rest 
schlägt Kommandant Mangin folgende Verwendung 
vor: Ankauf von Rohstoffen zur Herstellung von 
Leinewand für Kinder und Frauen. Israelitische 
Frauen sollen mit dem Weben und Zuschneiden 
beschäftigt werden und dadurch einige Monate 
Arbeit haben. — Reinigung und Desinfektion des 
Mellah. — Organisierung der Arbeiter zur 
Säuberung des Innern der Häuser, ihrer Ab- 
waschung mit Karbolwasser, und zum Weissen der 
Mauern. — Ankauf einiger Esel für die Strassen- 
aufseher im Mellah usw. — Das provisorische 
Komitee wird sich über die Vorschläge äussern. 

Pisa. 

Casablanca, 1. Oktober 1907. 

Ich beehre mich, Ihnen die Nachrichten zu 
übermitteln, die ein von mir nach Uled-Hriss, 
Uled-Zyan, Mdakra und bis nach Settat ent- 
sandter Kurier gebracht hat: 

Das Land ist Öde und verlassen. Die Araber 
haben ihre Lager 30 Kilometer weit zurück- 
gezogen. Der Kurier begegnete unterwegs nur 
einigen Familien, die, von den unterworfenen 
Stämmen freigelassen, nach Casablanca zurück- 
kehrten. Die Hauptmasse der Flüchtlinge scheint 
sich nach Settat ziurückgezogen zu haben. In 
dieser Stadt hatten sich jüngst 700—800 Seelen 
angesammelt, von denen etwa 350 nach Mazagan 
und Rabat zurückgekehrt sind. Gegen 400 Per- 
sonen blieben in äusserstem Mangel zurück. Herr 
David Amon, der in den ersten Tagen sich damit 
beschäftigt hatte, sie aufzunehmen, zeigt trotz der 
Hilfsmittel, die ich ihm zur Linderung des EUends 
dieser Unglücklichen zur Verfügung stellte, jetzt 
nur noch massige Teilnahme und Fürsorge. Eine 
Zurückführung in Massen ist zur Zeit untunlich, 
weil Settat jetzt von dem Stamm der Schaujas 
besetzt ist und seit gestern das Gerücht sich hart- 
näckig erhält, dass die Mahalla des G^ensultans 
Mulay Hafld zu den Schaujas gestossen sei. Man 
weiss noch nicht, welche Haltung die beiden Sul- 
tane einnehmen werden; es scheint aber, dass die 
Hauptentwicklung des Dramas sich in dieser Ge- 
gend vollziehen wird. Unter solchen Umständen 
ist es für uns äusserst schwierig, zu entscheiden, 
ob wir die Flüchtlinge hierher sollen kommen 
lassen oder ob wir ihnen Unterstützungen schicken 
sollen. Ihre Lage zwischen den beiden Sultanen 
und inmitten einer unentschiedenen Bevölkerung 
ist überaus besorgniserregend. 

Mit Freude teile ich Ihnen mit, dass eine der 
Friedensbedingungen, die General Drude, Admiral 
Philibert und Herr Malpertuy den Stämmen auf- 
erlegt haben, die Freigabe aller von ihnen während 
der jüngsten Ereignisse gemachten Gefangenen ist. 
Aus den Zeitungen wissen Sie, dass fast alle 
Stämme in der Umgebung von Casablanca ihre 
Unterwerfung angemeldet haben. Es sind dem- 
gemäss auch alle Israeliten, die sich bei ihnen be- 
fanden, in die Stadt zurückgekehrt. Pisa. 



729 



730 



DIE JUDEN VON MAROKKO. 

Von Ernst v. Hesse-Wartegg. 



Nachdruck verboten. 



Von den Juden, die im Jahre 1492 aus Spanien, 
vier Jahre später auch aus Portugal vertrieben worden 
sind, haben jene, welche sich nach dem benachbarten 
Marokko wandten, ihr gelobtes Land keineswegs ge- 
fanden. Vier Jahrhunderte schon schmachten sie unter 
der despotischen Herrschaft der Sultane, wie unter dem 
tötlichen Hass und der Verachtung der Marokkaner, 
allen möglichen Beschränkungen und Bedrückungen 
ausgesetzt. Die letzten Ereignisse in Casablanca haben 
gezeigt, dass die Marokkaner auch heute noch die 
Juden als erste und willkommenste Opfer ausersehen, 
ihre Wohnungen zerstören, sie ihrer Habe, ihrer 
Frauen berauben und kalten Blutes niedermetzeln. 
Gewiss hätten sich im Laufe der Zeit schon viele dem 
marokkanischen Joch entzogen, wenn sie nur könnten. 
Die Marokkaner lassen sie nicht fort. Sie wissen sehr 
wohl, dass bei ihrer eigenen Indolenz Handel und 
Wandel ihres grossen Landes dahin ginsren, wenn die 
Juden nicht mehr vorhanden wären, und so behandeln 
sie dieselben geradezu wie Oefangene. Bis in die 
jüngste Zeit durften Frauen Marokko überhaupt nicht 
verlassen, Männer nur dann, wenn sie ihre Familien 
gewissermassen als Geiseln zurückliessen. 

Seit dem Dazwischenkommen der „Alliance 
Israeliten und des Engländers Sir Moses Monteüore hat 
sich die Bewegungsfreiheit der Juden in Tanger, unter 
den Augen der fremden Gesandtschaften erheblich ge- 
bessert. In den anderen Häfen ebenso wie in den 
Städten des Inlandes müssen sie sich von den Gouver- 
neuren einen Pass erwirken, wenn sie fort wollen, 
und für diesen w^erden mitunter so hohe Summen ver- 
langt, dass ihre Befreiung ausgeschlossen ist. Heute 
noch sind sie mit Ausnahme von Tanger in ummauerte 
Judenviertel gesperrt, deren Tore von Schergen des 
Kaid bewacht werden. Bei Sonnenuntergang werden 
diese Tore geschlossen und erst bei Tagesanbruch wieder 
geöffnet. In Tanger allein dürfen sie in denselben 
Strassen leben wie die Mauren und sind wohl ebenso 
zahlreich wie diese. Die spanische Sprache hat sich 
bei ihnen bis auf den heutigen Tag erhalten; auch in 
ihren Lebensgewohnheiten und Sitten zeigt sich noch 
der altspanische Einfluss. So z. B. nennen sie sich 
selbst „Gueruch Castilla", d. h. aus Eastilien Ver- 
triebene, und ihre Rabbiner beenden bei Heiraten die 
Vermählungsformel mit den Worten; „Das alles nach 
den Gebräuchen von Kastilien.** 

Früher in krasser Unwissenheit und ohne jede 
Schulbildung aufwachsend, haben sie heute dank der 
nAlliance Israelite** in Tanger zwei vortreffliche 
Schulen für beiderlei Geschlechter mit ungefähr 
100 Kindern. Hier werden sie natürlich auch im 
Französischen unterrichtet. Viele lernen privatim dazu 
noch Englisch, und da sie von Kindheit auf durch den 
Verkehr mit Mauren das Arabische beherrschen, bilden 
sie geradezu unentbehrliche Vermittler zwischen den 
Arabern und Europäern. Sogar die Regierung bedient 
sich ihrer dazu mit Vorliebe. Die Eintreibung der 
Steuern wird gerne an sie verpachtet, und so manche 
Regierungsgeschäfte fallen in ihre Hände. In den 
europäischen Postämtern sind sie geschickte, fleissige, 
ehrliche Beamte, im Geschäftsleben die rührigsten 
Bankiers, und die reichen Mauren bedienen sich ihrer 
als Strohmänner oder zur Verwertung ihrer Reichtümer, 
denn sie wissen sehr wohl, dass sie selbt damit nichi 
unter die Augen der Regierenden kommen dürfen, soll 
ihnen nicht alles wieder verloren gehen. In Tanger 



bilden die Juden jedenfalls den tatkräftigsten, wohl- 
habendsten und interessantesten Teil der Einwohner- 
schaft. Manche von ihnen, wie die Bankiers Abensur 
und Nahon, wohnen geradezu in Palästen, und auch 
sonst finden sich in dem Labyrinth enger, viel- 
gewundener Gässchen und Plätzchen ganz nette Häuser, 
durchweg nach andalusischer Art gebaut. Viele Juden 
geben sich auch verschiedenen Gewerben hin. In 
Tanger wie in den anderen Städten sind sie Schlächter, 
Bäcker, Silber- und Goldschmiede, Graveure, Schneider, 
Schuster — niemals aber Maurer, Schmiede, Töpler 
oder Sattler. 

Als ich mich bei meinem ersten Besuch von 
Tanger nach dem Stadtviertel wandte, wo sie am zahl- 
reichsten sind, kam ich von Soco Chice, d. h. vom 
kleinen Markt aus bald in die dämmerigen Gässchen, 
durch welche bei dem herrschenden Regenwetter wahre 
Kaskaden strömten. Zu beiden Seiten erhoben sich 
maurisehe. portugiesische oder andalusische Häuser, 
viele noch aus der Zeit der portugisischen und 
spanischen Herrschaft stammend. Dazu überall Sack- 
gassen mit quer Yorgebauten Mauern und schweren 
Toren, dunklen Hausfluren oder schmutzigen Säulen- 
höfen. So manches Haus mochte in früherer Zeit einem 
maurischen Grossen gehört haben. Hadschi, mein 
Dragoman, Hess mich in die schönsten eintreten. In 
den mit herrlichen Wandomamenten im arabischen Stil, 
reichgeschnitzten Holzplafonds und Türen geschmückten 
Räumen hausen jetzt jüdische Familien mit zahlreichen 
Kindern. Die in Stukko ausgeführten Koransprüche 
an den Wänden der Patios sind durch Schmutz und 
Unrat kaum mehr erkennbar, und die schönen Marmor- 
platten des Fussbodens sind mit dicken Unratschichten 
bedeckt. Die Atmosphäre in diesen dunklen, feuchten 
Räumen ist derart, dass ich nach flüchtigem Blick so- 
fort das Weite suchte. 

In einem Hause gewahrte ich einige der herr- 
lichsten Frauengestalten, die ich auf meinen langen 
Reisen durch den ganzen Orient je zu Gesicht be- 
kommen. Die Jüdinnen von Marokko sind ihrer aus- 
nehmenden Schönheit wegen mit Recht berühmt, doch 
jene, die ich vor mir sah, übertrafen noch meine Er- 
wartungen. Sie waren eben von einer Hochzeit zurück- 
gekehrt und prangten in goldstrotzenden Gewändern, 
Nacken und Arme waren mit kostbaren Juwelen be- 
deckt, die kleinen nackten Füsschen steckten in gold- 
gestickten Pantoffeln und an den Fingern blitzten 
Diamanten. Aber den schönsten Schmuck, den sie be- 
sassen, waren ihre grossen dunklen Augen, ihr 
schwarzes glänzendes Haar, das in reichster Fülle die 
Köpfchen umrahmte, und das schöne Ebenroass ihrer 
Gestalten. Besässen sie mehi* Verstand und Witz, sie 
könnten die Welt zu ihren Füssen sehen. 

Als ich ein Jahrzehnt später bei meinem zweiten 
Aufenthalt in Tanger zu einem jüdischen Five o'clock 
geladen wurde, fand ich in den schönen, nach maurischer 
Art geschmückten Salons des Gastgebers, eines reichen 
Bankiers, anscheinend europäische Gesellschaft — 
Herren und Damen in modemer abendländischer 
Kleidung, die Möbel eui*opäisch, der ganze Verkehr 
wie die Unterhaltung, als befände ich mich im Soho 
Square von London. Die jüdischen Fräuleins waren 
in England erzogen worden und sprachen Englisch vor- 
trefflich, die Männer hatten wiederholt Reisen nach 
Europa unternommen, und da die Hautfarbe der 
marokkanischen Jüdinnen im allgemeinen viel heller ist 



-J^ - .M- 



731 



Mitteilungen der AUiance Isradlite Universelle: Die Juden von Marokko von Ernst v. Hesse-Wartegg. 



732 



als die der Mauren und sich der unserigen nähert, so 
konnte man sie in der Tat für Europäerinnen halten. 
Dafür hatte die Schönheit der Jüdinnen durch die 
modernen englischen Kostüme entschieden verloren. 
Man glaubt gar nicht, wie orientalischer Sammet und 
Gaze, Groldstickerei und Seide und der^eichen für 
weibliche Reise alles ausmachen! 

In allen anderen Städten Marokkos, der Küste 
entlang von Tetuan über Rabat bis Mogador, ebenso 
wie im Innern des Landes, in Fez, Marrakesch, Mekinez 
usw. sind die Juden noch immer in schmutzige, streng 
ummauerte Stadtviertel, die sogenannten Mellah, d. h. 
Salzplätze, zusammengepfercht und müssen ihre Nächte 
unbedingt dort zubringen. Der Segen, den Jehova 
Abraham spendete.: Deüi Samen soll zahlreich sein wie 
der Sand am Meere, scheint ihnen ein Gebot zu sein, 
das sie nach Leibeskräften befolgen. Was gibt es doch 
in diesen Mellahs für Unmassen Kinder! Auf den 
Strassen, in den schmutzigen Patios der überall nach 
spanisch-maurischer Art gebauten Häuser, in den 
dämmerigen Kaufläden ihrer Papas tummeln sich Kinder, 
halbnackt oder ganz nackt umher, dutzendweise, und 
Familien mit einem oder anderthalb Dutzend Kinder 
sind gar keine Seltenheiten. Die Juden vermählen sieh 
sehr früh. 

Von den früheren Beschränkungen ihrer Lebens- 
weise haben sich viele bis auf den heutigen Tag er- 
halten. Je nach der Strenge des jeweiligen Kaid oder 
nach seiner Bestechlichkeit werden ihnen grössere 
Freiheiten gewährt, aber mitunter lehnt sich die 
mohammedanische Bevölkerung dagegen auf. In früherer 
Zeit durften die Juden beispielsweise nur in ihter 
Mellah Schuhe tragen. Kamen sie in die Maurenstadt, 
so mussten sie barfuss laufen. Sultan Soliman ge- 
stattete ihnen das Tragen schwarzer Schuhe. Als sie 
sich damit in Fez auf die Strasse wagten, waren die 
Mohammedaner darüber so wütend, dass sie alle be- 
schuhten Juden ohne weiteres niedermachten. Sie selbst 
baten dann den Sultan, das bezügliche Dekret wieder 
zurückzunehmen! Noch unter dem letzten, keineswegs 
strengen Sultan Mulay Hassan war es ihnen verboten, 
Turbane zu tragen. Sie bedecken sich heute mit 
schwarzen Käppchen oder blauen Tüchern, die sie unterm 
Kinn zusammenbinden, aber vor dem Gouverneur oder 
beim Yorüberschreiten an Moscheen abnehmen müssen. 
Statt der gebräuchlichen gelben Schuhe dürfen sie nur 
batfnss gehen. Begegnen sie Mauren, so müssen sie 
nach der linken Seite ausweichen, sie dürfen maurische 
Bäder nicht besuchen, in der Maurenstadt kein Pferd 
besteigen, vor Gericht keine Zeugenschaft ablegen, 
ausserhalb ihrer Mellah kein Haus und kein Grund- 
stück erwerben. Jahrhundertelang blieben sie bedrückt, 
ausgeschlossen vom öffentlichen Leben, verachtet. Jede 
Verbindung eines Mauren mit einer Jüdin ist unter- 
sagt, zeigten sie sich bei Festlichkeiten, dann wurden 
sie mit faulen Orangen und Steinen beworfen, mussten 
aber das Geld ftlr diese Festlichkeiten zahlen. Heute 
noch sind sie einer dem Sultan zu zahlenden Toleranz- 
steuer unterworfen. Alles das erhielt die Mehrzahl 
von ihnen bis auf die Gegenwart in Ungewissheit und 
Aberglauben. Auf den meisten Häusern wird man 
beispielsweise zum Schutz gegen die zahlreichen giftigen 
Skorpione Papierstreifen über den Türen finden, mit 
dem Bild zweier Skorpione und einem Abrakadabra in 
hebräischer Schrift, von den Rabbinern niedergeschrieben. 
Die Herstellung dieser Zettel kann nur in der ersten 
Nacht des Siwanmonats geschehen, nachdem der Rabbi 
dreimal unter Wasser getaucht ist und sich die Finger- 



nägel geschnitten hat. Ueber der Beschwörung steht 
in hebräischen Lettern folgendes: 

A 

Spicoros la Opretata 

Picoros Nia Pretata 

Icoros Inia Retata 

Coros Ginia Eitata 

Oros Iginia Tata 

Ros Liginia Ata 

Os Bl^nia Ta 

S AbUginia A 

Der Bürgermeister jeder Mellah ist wohl ein 
Jude, untersteht aber einem maurischen Gouverneur, 
der wieder vom E[aid der Stadt seine Befehle empfängt. 
In den Mellahs der den Europäern geöfbeten Hafen- 
städte dürften durchschnittlich je 5 — 7000 Juden wohnen, 
in Tanger, Fez und Marrakesch je 8000, nnd Tau- 
sende leben ausserdem bei den Araberstämmen, von 
denen sie sich den Mezrag, d. h. Schutz durch 
teures Geld erkaufen müssen. Im ganzen ist die 
Zahl der Juden von Marokko wohl Hunderttausend 
Sie wäre bedeutender, wenn die elenden Gesundheits- 
verhältnisse, in welchen die Juden leben, nicht vor- 
handen wären. Die Abwesenheit von Kloaken und 
frischem Wasser, von Luft und Licht, die Ablagerung 
allen Unrates in den Strassen und Häusern machen die 
Wohnungen zu wahren Krankheitsherden, und bei 
Epidemien haben die Juden die grösste Zahl an Opfern 
aufzuweisen. An ihrem Judentum halten sie mit grosser 
Zähigkeit fest Sie trinken ihren Wein aus Gefässen, 
die kein Andersgläubiger berührl hat, und gemessen 
nur koscher geschlachtetes Fleisch. Selbst auf den 
Schiffen, wo ich mit ihnen zusammentraf, setzten sie 
sich nicht zur gemeinschaftlichen Tafel, sondern Hessen 
sich ihre Mahlzeiten in mitgebrachten Geschirren zu- 
bereiten. Die Speisen für den Sabbath werden am 
Tage vorher zubereitet, und die Kochtöpfe dürfen nicht 
abgetrocknet werden. Ihre Synagogen sind indessen 
auch Christen zugänglich. Die meisten sind klein und 
von ärmlicher Ausstattung. Mit Kalk belegte Stufen 
führen in das mit Eichenholz getäfelte Innere. Zwei 
Säulen stützen in der Mitte eine Tribüne, uud hinter 
dieser erhebt sich das gewöhnlich hölzerne Tabernakel 
mit den Gesetztaieln. Die sehr reich geschmückten 
Ornate der Rabbiner und die zum Gottesdienst er- 
forderlichen Gegenstände sind in hölzernen Schränken 
untergebracht, die, für Marokko merkwürdig genug, 
unverschlossen sind. Dennoch hat es, wie man mir 
erzählte, seit Menschengedenken keinen Diebstahl ge- 
geben. Nach dem Glauben der marokkanischen Juden 
würde ein Dieb, der sich an diesen heiligen Dingen 
vergreift, sofort durch den Tod bestraft werden. 

Die religiösen Feste werden streng beobachtet, 
doch das grösste Fest, bei welchem auch der reichste 
Aufwand entwickelt wird, dürfte das Hochzeitsfest 
sein. Selten habe ich schönere Gewänder gesehen, wie 
bei jenem, dem ich beiwohnen durfte. Die Frauen und 
Mädchen der Hochzeitsgesellschaft waren in die kost- 
barsten Brokate und Seidengaze gehüllt und mit Perlen 
und Edelsteinen geradezu besäet Der Kopfputz, das 
kurze Jäckchen, Gürtel und Pantoffeln blitzten von 
Edelsteinen; je älter die Matronen waren, desto mehr 
Schmuck hatten sie. Das rabenschwarze Haar dieser 
alten Jahrgänge, das Edmondo de Amicis bei seiner 
Reise nach Fez so sehr in Verwunderung setzte, ist 
nicht natürliches Haar, sondern eine seidene Perücke. 
Nur die Mädchen tragen ihren Haarschmuck gewöhn- 
lich in grosser üeppigkeit lose über die Schultern 



733 



Mitteilungen der Alliance Isradlite Universelle: Die Juden von Marokko von Ernst v. Hesse-Wart^g. 



734 



fallend. Sobald die Jüdinnen Matter werden, lassen 
sie sich die Schädel, gewiss zpm Leidwesen aller Be- 
wunderer Ton Franenschönheit, abrasieren und tragen 
dann nur mehr Perticken. 

Die Braut, ebenfalls reich gesehmtickt, das Ge- 
sicht verschleiert und die Hände durch Henna orange- 
gelb gefärbt, sass nach orientalischer Manier auf einer 
Art Thron zwischen ihren Eltern. Ihre Augen blieben 
geschlossen, und ihr Antlitz zeigte yöllige Teilnahm- 
losigkeit. Auf der anderen Seite der weiss gedeckten 
Tafel sass ihr jugendlicher Bräutigam. Elaum hatte 
mich der Vater der Braut begrttsst, so wurde auch 
schon, wahrscheinlich meinethalben, eine Messingplatte 
umhergereicht, auf welche jeder Anwesende ein Gold- 
oder Silberstäck warf. Natürlich musste auch ich mit 
einem Dukaten für die mir wildfremde Person her- 
halten und bekam von dem eigentlichen Hochzeits- 
zeremoniell nicht einmal etwas zu sehen, denn dieses 
findet, wie ich später erfuhr, erst am Schluss der 



Woche statt, und wir waren erst am Dienstag, dem 
Tag der Unterfertigung des Ehekontrakts. Mittwoch 
wird die Aussteuer der Braut in das Haus des Bräu- 
tigams gebracht und alles, was an Hochzeitsgeschenken 
beigesteuert wurde, zur Besichtigung durch Freunde 
und Bekannte ausgestellt. Jeden Tag gibt es Fest- 
essen, Musik, Tanz und Gesang. Donnerstag wird die 
Braut, in schneeiges Weiss gekleidet und mit Orangen- 
blüten geschmückt, nach dem Hause des Bräuti^ms 
gebracht Bei schönem Wetter marschiert sie tapfer 
über das holperige Pflaster; gibt*s Regen, dann setzt 
sie sich in einen mit bunten Tüchern verhängten Käfig 
und wird von Maultieren zu ihrem Bräutigam ge- 
tragen, mit den singenden, fackeltragenden Hochzeits- 
gästen hinterdrein. Freitag kommt unter grossen 
Festlichkeiten der Schluss; das Pärchen trinkt aus 
demselben Glase Wein beim grossen Hochzeltsschmause. 

(Aus der „Kölnischen Volkszeitung.'') 



Sammlung für die marokkanisehen Glaubens- 
genossen« Wir haben die Liste der dem deutschen 
Bureau zugegangenen Spenden für die marokkanischen 
Glaubensgenossen in unserer vorigen Nummer ver- 
öffentlicht. Seitdem sind uns weiter folgende Spenden 
zugegangen : 

Amswalde: E. Abrahamowsky 10. — , S. Goldberg 
10. — , Frau Moses 10.—, Fräulein Rosenau 10. — 
P. Falk 5. — , Amholz 5. — , M. Cohn 5. — , Bieber 5. — 
Samuel 5. — , FKeß-Marienwalde 5. — , Frau Ww 
Samuel 5. — , Frau Pauline Abrahamowsky 5. — 
Max Altmann-Kaulsdorf 3. — , Arthur Cohn 3. — 
Glaßmann 3. — , Glaßmann-Granow 3. — , Herman 
Putziger 3. — , Gerber 3. — , M. Falk-Cürtow 3. — 
H. Casper 3. — , Frau Davidsohn 3. — , A. Abraham 
2. — y Benno Schöps 2. — , M. Manasse 2. — , G. Joel 
söhn 1. — , B. Joelsohn — .50, Hamburger-Doelitz 1. — 
Ephraim 1. — . Berlin: George Salamonski 100. — 
Max Salinger 50.—, N. N. 50.—, A. Bereut 40.— 
J. Munk 20.—, Stammtisch bei Fehlow 20.—, Fr! 
Hertha Majerowitsch 10. — , gesammelt durch Gustav 
Strom 8.50, Frau Dr. Alice Nehab 4. — , Leopold Lob 
l\. — , E. Simsohn 5. — , J. Baer 5. — , Moritz Zadek 
5.—, Frau N. Marks 5.—, L. Simion 10. — . Bitsch: 
Gerson Brann 1. — , Ungenannt 10. — . Braunsbach: 
Gesammelt durch Lehrer Obemdörfer 47. — . Breslau: 
J. Schneller & Co. 10. — , Aron Kober, Martin Fränkel, 
Marcus Pinczower, Helene Pinczower, zusammen 
25. — , Hermann Stillmann 10. — . Crailsheim: Max 
Rosenfeld 20. — , Josua B. Stein 5. — , Adolf Stein 
3.—, M. Grünsfelder 6.—, H. Grünsfelder 5.—, Berthold 
und Albert Stein 5. — , Manuel Rosenfeld 10. — , A.Reine- 
mann 5. — , Julius Levi 3. — , W. Goldstein sen. 5. — , 
David Heinsfurter 2. — , L. H. Goldstein 2. — , D. & 
M. Rosenthal 6.—, L. Levigard 3.—, Rufen Süßfeld 
3.—, Sal. Falk 3.—, J. Essinger 5.—, Max Essinger 
2.—, Alb. Hallheimer 2.—, M. & Berthold Rosen- 
feld 5. — , Isak Kohn 2. — , J. Grünsfelder 6. — , Louis 
Friedmann 2. — , Salomon Goldstein 1. — , Lehrer 
Strauß 2.—, W. H. Goldstein 1.—, Hermann Gold- 
tsein 2. — , Moriz Heinsfiuter 1. — , Moriz Elkan 1. — , 
Beruh, Goldstein 1. — , Frau Bertha Goldstein 3. — , 



Frau B. Hanauer 2. — , David Stein 2. — , S. Mezger 
4. — , W. Mezger 3. — , D. Ps^penheimer 3. — , Samuel 
Stern 5. — , Aron Strauß 3. — , Jacob Stern 3. — , Max 
Mezger 2. — , David Friedmann 1. — , Emil Hallheimer 
2. — , Dr. Adolf Rosenfeld 3. — , Lazarus Heinsfurter 
3.—. Darmstadt: Durch Otto Wolff 600.—, durch 
Rabb. Dr. Marx : Dr. Bodenheimer 20. — , Is. Lehmann 
20. — , Frau S. Bodenheimer 10. — , F. Lutz 5. — , 
Rabb. Dr. Marx 5. — . Dürkheim: Durch Bezirks- 
rabbiner Dr. Salvendi 400. — . Düsseldorf: Carl W. 
Simons 30. — . Edenkoben: Wohltätigkeitsverein, durch 
Jacob Michel 20. — . Filehne: Josef Cohn 2. — . 
Göppingen: Gesammelt durch Leop. A. Gutmann 
219. — . Köln a. Rh«: Gesammelt durch Rabbiner 
Dr. Frank 238.—, M. C. Munk 10.—, J. WaUach 
2. — , B. Lewertoff 5. — , C. Sander 5. — . Konstanz: 
Adolf Veit 5. — , Gebr. Moos 10. — , Samuel Schatz sen. 
3. — , Emrich 3. — , Gebr. Rosenthal 5. — , Frau Marie 
Guggenheim 1. — , Simon Neuburger 10. — , Gustav 
Frank 10. — , Dr. <^ Daniel Guggenheim 5. — , J. W. 
Guggenheim 5. — , Napht. Ortlieb Wwe. 2. — , Hermann 
Schwarz 3. — , Pius Wieler Söhne 10. — , Moses Roth- 
schild 5. — , Frau Adele Wolf Wwe. 3. — , Salomon 
Hasgall 1. — , Max Mann 5. — , Maier, Großh. Bez.- 
Tierarzt 3. — ,fMoritz Picard 3. — , Samule Picard 5. — , 
Sigmund Rothschild 2. — , Frau Guggenheim-Neumann 
3. — , Frau Lazarus Frank Wwe. 3. — . Krotosehin: 
Durch Rabbiner Dr. Berger: Stadtrat Neumark 10. — , 
Louis Daniel 5. — , Jacob Schlesinger 10. — , Heinrich 
Epstein 10. — , Jacob Rotstein 3. — . Labisehin: Ge- 
sammelt durch Rabb. Dr. Ansbacher 34. — . Leipzig: 
Justizrat Broda 15. — . Loslau: Gesammelt durch 
Ad. Adler 40.50. Mannheim: Adolf Bär 10. — , Moses 
Lorch 10. — , Hermann Löb-Stem 20. — , E. Heidel- 
berger Söhne 10. — , Gebrüder 21immem 100. — , Bern- 
hard Bodenhehner 25. — , Hermann, Max, Bernhard 
Kaufmann 20. — , S. Simon 20. — , Frau Friedrich 
Julius Bensinger 50. — , Max Küssel 20. — , Paul Benfey 
10. — , Maier Marxheimer 10. — , Ad. Marx 10. — , 
Jac. Mendel 10. — , Alfred Marx 10. — , Emil Stern 
10. — , M. Kalter 10. — , E. Friedmann 10. — , Jacob 
Marx 5. — . Marienbad: Durch Dr. S. Prager: Dr. 



735 



Mitteilungen der Alliance Isra^lite Universelle: Sammlung für die marokkanischen Glaubensgenossen. 



736 



Felix Wolfner 10.— Kr., Dr. Strauß 2.— Kr., S. Meyer 
5._ Kr., M. Spitz 10.— Kr., Frl. M. Meyer 1 Kr., 
Frau Dr. Porges 5. — Kr., Dr. Prenninger 5. — Kr., 
Dr. S. Prager 5. — Kr., Panne aus Krakau 2. — Kr., 
Heimann aus Krakau 2. — Kr. Mergentheim: Ge- 
sammelt durch Rabbiner Dr. Sänger 64.30. Münster 
i. West!.: Synagogen- Gemeinde 50. — . Niederflor- 
stadt: Abr. Adler 3. — . Offenbach a. M.: Durch Rechts- 
anwalt und Notar Dr. Guggenheim 500. — . Ottensoos: 
Die bereits im Oktoberheft quittierten, durch Herrn 
Hermann Prager gesammelten 54.50 Mk. setzen sich 
wie folgt zusammen: Julius Prager 5. — , Theodor 
Rebitzer 3. — , Mannheimer 3. — , Niem Rebitzer 3. — , 
Emma Sommerich 1. — , Louis Rebitzer 3. — , Welsch 
2. — , Max Heßdörfer 3. — , Simon Heßdörfer 2. — , 
Siegfried Heßdörfer 2. — , Em. Lamm 3. — , Lisette 
Prager 2. — , Sigwart Prager 2. — , Martin Prager 
2. — , Anton Sommerich 2. — , Em. Späth 2. — , Jac. 
Späth 2. — , Guido Prager 1. — , Hermann Rebitzer 
2. — , Schwestern Prager 1.50, Frauen- Verein 3. — , 



Hermann Prager 2. — , Säle Späth 3. — (abzüglich 
50 Pf. Einziehungskosten). Potsdam: Gustav Salomon 
2. — . Sehwetz a. W.: Louis Graf 3. — . Schivelbein: 
Max Salomon 20. — , S. Borchardt 10. — , Gebr. Wolff 
5. — , Laepert 5. — , Ph. Mannheim Söhne 3. — , Emil 
Jacob US 3. — , Jul. Elias 3. — , L. Kargauer 2. — , Gut- 
mann 2. — , Neumann 2. — , E. Lewinsohn 2. — , S. Bern- 
stein 2. — , Max Bernstein 2. — , S. Schendel 2. — , 
Gustav Engel 2. — , Hirsch 1. — , Ungenannt 1. — , 
L. Heinrichsdorf f 1. — , Leopold Jacobus 1. — , Sophie 
Engel 1.—, M. Meyer 1.—. Staden: N. N. —.40. 
Stallupönen: H. Postawelsky 5. — . Stuttgart: R., Leop., 
Adolf und Siegmund Ehrlich, zusammen 7. — . Wies- 
baden: S. Bielefeld 6. — . 

Die Beträge sind dem Pariser Central-Comite 
überwiesen worden. — Infolge des in Frankfurt a. M. 
von den dortigen Lokal-Comites der A.LU. und des 
Hilfsvereins gemeinsam erlassenen Aufrufs sind bi.s 
jetzt über 17000 Mk. eingegangen. 



Lokal-Comite Berlin. In der Sitzung des Lokal- 
Comit^s Berlin der A. I. U. vom 6. Oktober ist Herr 
Rabbiner Dr. Eschelbacher einstimmig kooptiert 
worden. Herr Dr. Eschelbacher hat die Wahl an- 
genommen und an den Vorsitzenden das folgende 
Schreiben gerichtet: 

„den 8. Oktober 1907. 

Hochgeehrter Herr Geheimrat! 

Far die mich ehrende Wahl in das Lokal-Comite 
der Alliance Israölite Universelle und die freundlichen 



Worte, mit welchen Sie deren Anzeige begleitet haben ^ 
spreche ich hierdurch meinen ergebensten Dank aus. 
Ich nehme sie mit grosser Befriedigung an, und 
es wird mir eine Freude sein, in Ihrem Kreise für die 
grossen und edlen Zwecke der Alliance wirken zu 
können. 

Mit vorzüglicher Hochachtung 

Ihr ergebenster 

Eschelbacher.'* 



buecHerschau. 



Der 9. Jahrgang von Rabbiner Dr. Heppners 
jüdisch-literarischem Abreisskalender für das 
Jahr 1908 (5668/69) ist soeben erschienen. Dieser Kalender 
erfreut sich von Jahr zu Jahr immer grösserer Be- 
liebtheit, die er wegen seiner ausserordentlich praktischen 
und geschickten Anordnung in vollem Mass verdient. 
Er beginnt mit dem bürgerlichen Kalenderjahr und 
zeigt gleichzeitig die Daten der jüdischen Zeitrechnung 
und die des bürgerlichen Jahres an. Alle für die 
Geschichte des jüdischen Volkes bedeutsamen Gedenk- 



tage und biographischen Notizen über hervorragende 
jüdische Gelehrte, Künstler und Dichter werden sorg- 
fältig registriert, die für die Sabbathe und Festtage 
bestimmten Thora- und Hafarah-Abschnitte werden 
dem Inhalt nach angegeben, Sabbath- und Festtags- 
ausgang wird verzeichnet. Zwischen den tatsächlichen 
Angaben finden wir wohlausgewählte Sprüche und 
Sentenzen aus der heiligen Schrift, abwechselnd mit 
sinnigen Versen und Aussprüchen neuerer jüdischer 
Dichter. 



„Eine gesunde Familie, eine giackliche Familie!** Niemand wird diesen Satz bestreiten können! Gesundheit und mit ihr Zufriedenheit 
sind in der Tat köstliche Güter, aut deren Erhaltung jeder Mensch immer bedacht sein sollte. Erfahrungsgemäss bilden die Ursache vieler Krankheiten 
Verstimmungen des Magens und diese wieder sind sehr oft auf schlechte Zähne zurückzuführen. Gut gekaut ist halb verdaut! Mit schlechten Kau- 
werkzeugen ist dies aber nicht erreichbar. Werden die Speisen nicht genügend zerkleinert, so bleiben solche lange unverdaut im Magen liegen, 
verursachen Magenbeschwerden und andere Krankheiten lassen dann nicht lange auf sich warten. Eine rationelle Mund- und Zahnpflege ist für Jung und 
Alt, für Klein und Gross von grösster Wichtijgkeit und es kann hierauf nicht genug Wert gelegt werden. Einfaches Ausspülen des Mundes genügt nicht : 
Man verwende vielmehr ein Zahnmittel, weiches die Zähne vor Fäulnis schützt und die zerstörenden Bakterien vernichtet, ferner die Zähne weiss und 
den Atem frisch erhält. Alle diese Eigenschaften besitzt voll und ganz die weltbekannte Specialität: „Bergmanns Zahnpasta,, AHAB" patent- 
amtlich geschützt, verpackt in höchst pracktische, für Ersatzstücke eingerichtete Milchglasdosen mit Aluminiumdeckel und allein hergestellt von der in 
bestem Rufe stehenden Firma A. H. A. Bergmann, Wald heim i. Sa. Dieses altbewährte, überall beliebte Zahn mittel hat infolge seines 
sparsamen Verbrauchs noch den Vorzug grösster Billigkeit gegenüber anderen Fabrikaten für gleiche Zwecke. In der Deutschen Armee-» 
Marine- und Kolonial-Ausstellung Berlin 1907, wurde die Firma A. H. A. Bergmann, Waldheim i. Sa. mit der Goldenen Medaille 
ausgezeichnet. Bergmanns Zahnpasta „AHAB" ist käuflich in Apotheken, Drogerien und Parfflmerien. * 



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mseratenaiinabiiie nur durcl) l)j|jl$enstein ff Uogler Jl* 6* in Berlin und deren Jilialen. 

AboBBementtpreU ffir das Jahr Ib DentschlSBd uBd Oesterrelch Mark 7,— (Laznsauiffabe Mark 149— )i ffir das Anslaad Mark 8—, 

(LnxiisaiMf abe Mark i6). 
ffir RuMland ffanzjihrlich 4 Rubel. Bluzelhefte ä 35 Kop. 

- .. . -_ Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandes, durch alle Postämter des Deutschen ... ^..^ 

^" Reiches unter No. 5785 a der Postzeitungsliste und durch die Expedition dieser Zeitschrift ' ^ — - 

Anzeigten Mk. L — die viergespaltene NonpareiUezeüe, grössere Anzeigen nach Tarif, bei Wiederholungen Rabatt 

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Adresse fOr die gesdiäftliclie Korrespondenz: Verlag „Ost und West'', Berlins. 42, Wassertiiorstr. 50 

Redaktion: Berlin W. 15, Knesebecicstr. 48/49* 



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Verantwortlich für den redaktionellen Teil: Chefredakteur Leo Winz, Berlin W. 15, Knesebeckstr. 48/49. — Verlag Ost 
und West, Leo Winz, Berlin S. 42. — Druck von Beyer & Boehme, Berlin S. 42, Wasserthorstr. 50. 



ILLUSTRIERTE MONATSSCHRIFT 



V 



FÜR DAS GESAMTE JUDENTUM 



Herausgegeben und redigiert 

von 

LEO WINZ. 



Alle Rechte Torbehalten. 

Heft 12. Dezember 1907. 



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An unsere Abonnenten! 

IVlit vorliegendem Hefte schliesst der siebente Jahrgang unserer Zeitschrift. 

Soweit uns nichts Gegenteiliges mitgeteilt wird, werden wir das Abonnement 
als verlängert betrachten. 

Wir bitten unsere Freunde, uns ihre Sympathien auch weiterhin zu bewahren 
lind unserer Zeitschrift nach Kräften zu weiterer Verbreitung zu verhelfen. 

Verlag und Redaktion von „OST und WEST^^. 



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DIE ORGANISATION DER VERTEIDIGUNO. 



Von Dr. Simon Bernfeld. 



Nachdruck verboten. 



Mit der G^chichte des Judentums ist aufs 
engste verknüpft die Geschichte seiner Verteidigung, 
die bis in das hohe Altertum des jüdischen Volkes 
hinaufreicht. Das Judentum ist ziemlich früh eine 
^Weltreligion geworden, und infolge der Zerstreuung 
des jüdischen Volkes kam es bald in enge Be- 
rührung mit andern Kulturen, mit denen es sich 
verschiedenartig auseinandersetzen musste. Ins- 
besondere wurde dies für die Geschichte des Juden- 
tums von grosser Bedeutung, seitdem Judentum 
und Hellenismus in den ägyptischen und klein- 
asiatischen Kolonien einander begegneten. Es war 
dies ein merkwürdiges Zusammentreffen, eine eigen- 
artige Berührung zweier Kulturwelten, von denen 
eine jede die besten geistigen Vorzüge für sich in 
Anspruch nahm. Sie sollten in Wahrheit ein- 



ander ergänzen, aber im Bewusstsein ihrer Be- 
deutung glaubte jede nur allein die Daseinsberech- 
tigung zu haben und auf die andere mit Miss- 
achtung herabsehen zu dürfen. Die Gegensätze 
schienen unausgleichbar zu sein, und nur in heissem 
Ringen sollte entschieden werden, wer Siegerin bleibt. 
Das Judentum konnte sich doch dem Einfluss 
des Hellenismus nicht ganz entziehen. Anderer- 
seits aber war es nie gesonnen, sein Dasein auf- 
zugeben. Es musste somit die Möglichkeit ge- 
funden oder geschaffen werden, wie es neben dem 
Hellenismus nicht nur fortbestehen, sondern sogar 
diesem gegenüber seine Superiorität wahren sollte. 
Diese Bestrebungen im Judentum riefen die 
Apologie hervor, sie schufen ein Schrifttum, das 
sich mit der Rechtfertigung und mit der Stärkung 



739 



Dr. Simon Bernfeld: Die Organisation der Verteidigung. 



740 



des Jadentams in mannigfaltiger Weise beschfiftigte. 
Die Schriftsteller, welche sich dieser Arbeit wid- 
meten, mögen nicht immer Klarheit über ihre 
Ziele gehabt haben; manches ist, ich möchte 
sagen, instinktiv entstanden, in dem aber doch das 
geschichtliche Bewnsstsein des jüdischen Volkes 
zum Ansdrack kam. Es wnrde mitunter der Ver* 
snch gemacht, zwischen dem Judentum und dem 
Hellenismus einen Ausgleich herbeizuführen. Ich 
brauche nur auf Philo hinzudeuten, der von den 
platonischen Ideen erf&llt, nachzuweisen sich die 
Mtthe gab, dass das Judentum, wenn auch in an- 
deren, ihm eigenen Formen, dieselben philosophischen 
und ethischen Wahrheiten lehre, wie die griechische 
Weisheit. Auch das war Apologie, die Ver- 
teidigung des Judentums gegen diejenigen, die es 
deshalb herabsetzen zu dfirien glaubten, weil es 
vom philosphischen Denken fem sei. Diese Art 
der Verteidigung, gleichviel ob sie so beabsichtigt 
war, galt in erster Beihe für gebildete Juden, £e 
von der griechischen Bildung viel, vom Judentum 
aber wenig wussten. Ihnen sollte gezeigt werden, 
dass die Söhne und Töchter des jüdischen Volkes 
gar keinen Grund hätten, sich des Judentums zu 
schämen und es, wie es die Griechen jener Zeit 
taten, als eine Beligion von Barbaren zu be- 
trachten. 

Neben dieser Apologie der Defensive kennen 
wir aus dem hohen Altertum auch eine solche der 
Offensive. Das Beste dieser Art finden wir in der 
bekannten Schrift des Josephus über das hohe 
Alter des jüdischen Volkes, die er gegen den juden- 
feindlichen Klopffechter und Prahlhans Apion ge- 
richtet hat* Dieses Buch, das man noch heut- 
zutage mit hohem Interesse lesen kann, ist für 
eine bestimmte Art der Apologie gradezu muster- 
gültig. Es besitzt alle Vorzüge einer guten apolo- 
getischen Schrift. Der Verfasser verf^t über ge- 
naue Kenntnisse des Judentums und des Griechen- 
tums, weiss geschickt die Vorzüge des ersteren 
und die Schwächen des letzteren hervorzuheben, 
die Angriffe auf das Judentum und das jüdische 
Volk mit Ernst und Witz entschieden zurück- 
zuweisen, den judenfeindlichen Apion ins Lächer- 
liche zu ziehen, das Judentum mit Wärme und 
ungekünsteltem Pathos zu verteidigen. Vieles in 
diesem Buche ist noch jetzt aktuell; es hört sich 
recht modern an. Der Hauptvorziig der Schrift 
gegen Apion liegt nämlich darin, dass Josephus in 
Wirklichkeit weitgehendes Verständnis für das 
innere Wesen des Judentums und des Griechen- 
tums besass; er verstand die Bedeutung der 
jüdischen Religion in ihrem volkserzieherischen 
Wert und betonte dies mit vielem Nachdruck Das 
Judentum galt ihm eben nicht als eine philosophische 
Wahrheit, die doch vergänglich sein kann, sondern 
als eine ewige sittliche Wahrheit, die nicht etwa 
von nur wenigen Bevorzugten erfasst wird, sondern 
von einem ganzen Volk. 

Die beiden grössten jüdischen Apologeten des 
Altertums, Philo und Josephus, waren nach meiner 
Auffassung deshalb so erfolgreich, weil sie sich 



mit dem jüdischen Volke und mit dem Judentum 
identifizierten. Man merkt es ihren Worten an. 
dass sie das, was sie schrieben, labten und 
empfanden. Sie fährten ihre eigene Verteidigung, 
indem sie, jeder nach seiner Art, ihr Volk und das 
Judentum verteidigten. An die Sache, ftu* die sie 
mit solchem Eifer und mit solcher Begeisterung 
eintraten, glaubten sie mit derselben tiefen Ueber- 
zeugung, wie sie an sich selbst glaubten. Für sie 
war die Apologie des Judentums kein literarisches 
unternehmen, sondern eine Lebensäusserung. Wenn 
heutzutage oft gefiraet wird, warum wir jetzt 
trotz mancher guter Versuche keine durchdringende 
Apologie des Judentums erhalten, so wird mau 
vielleicht den Grund dafür darin zu suchen haben, 
dass es uns an Männern fehlt, die nicht nur ihr 
reiches Wissen und ihr literarisches Können in den 
Dienst des Judentums stellen, sondern auch ihre 
ganze Persönlichkeit. Auch dieses möchte ich 
durch ein Beispiel aus unserer Literaturgeschichte 
erhärten. Aüs-d^m religions-philosophischen Schrift- 
tum des *^' dlalters ragt besonders ein Buch 
hervor, der t^og „Kusari** des gottbegnadeten 
Dichters Jehuda Halevy. An philosophischer Tief e 
und Originalität steht dieses Buch weit hinter der 
„Lebensquelle^ des Salomo ihn Gabirol, an Klarheit 
und kühner Folgerichtigkeit hinter dem „Führer 
der Irrenden" des Maimonides. Und doch ist der 
„Kusari" ein herrliches Buch, aus dem in tausend 
Tönen das Lob des Judentums und des jüdischen 
Volkes erschallt. Da tritt ein Mann auf, der von 
der innem Wahrheit des Judentums und von dem 
hohen Wert des jüdischen Volkes, von seiner ge- 
schichtlichen Bedeutung, tief fiberzeugt ist. Er 
sucht nicht nach Formeln, nach Analogien, nach 
Syllogismen, um das Judentum zs verteidigen; von 
seiner Güte ist er so überzeugt, wie ein Mensch 
von seiner Liebe zu den Eltern überzeugt ist. Aus 
ihm spricht nicht der kalte Verstand, sondern das 
warme Gefühl, das aus dem vollen Herzen hervor- 
sprudelt. Er verteidigt das Judentum aus dem- 
selben Gefühl, wie jemand für seine Heimat, seine 
Familie und seine Freiheit eintritt. 

Wir sehen somit, dass grosse Apologeten im 
Judentum entstehen können, wenn es die Zeit er- 
fordert. Aber allerdings kann die Apologie des 
Judentums keine bestellte Arbeit sein, die auf Ver- 
langen geleistet wird. Ein Priester konnte alle 
Bestimmungen des Altardienstes erlernen und alle 
Bräuche einüben, um seines Amtes zu walten — 
der Prophet aber musste zu seinem Amte den 
innem Beeuf haben, dazu „vom Mutterleibe" ge- 
weiht sein. An eine Prophetenschule, obwohl es 
solche in Israel gegeben hat, glaube ich nicht, 
denn das Prophetentum erlernt man nicht. Auch 
eine wirksame Verteidigung des Judentums und des 
jüdischen Volkes ist nur von solchen zu erwarten, 
die dazu wirklich berufen sind. Nichtsdestoweniger 
wäre es ein grosser Irrtum, wenn wir in den 
heutigen Zeitläuften jeden Versuch unterlassen 
wollten, weil wir das Vollendete und Höchste nicht 
erreichen können. Die Verhältnisse liegen so, dass 



Dr. Simon Bemfeid: Die Organisation der Verteidigung. 



wir der Apologie nach jeder Bichtnng driDgeod 
bedärfen; sie tat uns not nach aussen tun, g^ea 
Angriffe, die in verschiedener Form gegen das 
Jodentnin ond gegen den jüdischen Stamm gerichtet 
werden, aber auch nach innen, gegen Missachtong 
and Herabsetzung des Judentums in unserer eigenen 
Mitte, welche durch Unkenntnis hervorgerufen 
werden. Die Nützlichkeit und ErspriessUchkeit 
kultureller Arbeit braucht nicht sofort sichtbar zu 
sein; verloren geht doch kein Saatkorn. Das Wort 
der Wahrheit kann mitunter, wo es gesprochen 
wird, anvernommpn verhallen, aber es wird vielleicht 
vom Winde in die Feme getragen, um dort auf 
empfäi^lichen Boden zu fallen. 

Id der letzten Zeit sind unter den deutscheu 
Juden verschiedene Organisationeo entstanden, 
welche sich den 



schichtliche Erfahrang lehrt auch, dass sich die Dinge 
immer so entwickelt haben: zaerstwordea die Juden 
wegen ihrer religiösen Anschauung und ihres reli- 
giösen Lebens verächtlich gemacht, dann kam ihre 
Entrechtung und ihre Knechtung. So trieben 
es die. judenfeindlicben Qriecben in Alexan- 
drien, so verfutir das christlich gewordene 
Bom, der fanatische Klerus in Spanten, der 
Mob am Ehein. Angriffe auf das Judentum dürfen 
uns nie gleichgültig lassen, mag unsere politische 
Stellung nach so gesichert erscheinen. Sie bedeuten 
immer die Vorzeichen eines heftigen Sturmes 
auf unsere bürgerlichen Rechte. Die Klug- 
heit nnd der Trieb der Seibsterhaltnng erheischen 
in solchen Fällen immer das rechtzeitige und 
kräftige Eingreifen za unserer Verteidignng. 

Die Feindselig- 



Kampf fUr die 


keit gegen das Ju- 


Sache des Juden- 


dentum und gegen 


tums und der Ju- 


■ unserVolk wird von 


deoheit zur Aufgabe 


Böswilligen hervor- 


gemacht haben. Die 


gerufen. Indessen 


Tatsachen haben 


wäre die Wirkung 


zur Einsicht ge- 


nie eine so ver- 


führt, dass die Ver- 


heerende und \er- 


teidigung der bür- 


giftende, wenn sich 


gerlichen Rechte 


nicht am die Bös- 


der Juden nicht 


willigen ein Gefolge 


ohne die Vertei- 


von aas Unkenntnis 


digong des Juden- 


Sprechenden bilden 


tums möglich ist. 


würde. Die Böseu 


Kein logisch ge- 


werden sich nicht 


nommen, könnte 


belehren lassen . 


man ja sagen, das 


wohl aber viele 


Judentum brauche 


von denen, die 


keine Verteidi« ang ; 


ihnen aus Un- 


denn eine Wahrheit 


wissenheit nach- 


hört nicht auf Wahr- 


sprechen. Zu die- 


heit zu sein, wenn 


sen gehört leider 


sie tausendmal von 


auch eine grosse 


BöswilUgen und 


Zahl von Juden und 


Narren begeifert 


Jüdinnen. WoUen 


wird. Aber die 




I'raxis zeigt, dass 


Anfeindungen die 


die Herabsetzung 


Verteidignng orga- 


des Judentums mit 


nisieren, so bleibt 


der Beeinträchti- 


uns zunächst niii' 


gung der bürger- 


ein Mittel übrig: 


lichen Rechte der 


die Verbreitung der 


Juden zusammen- 


Kenntnis von allen 


fällt. Solange das 


Dingen , die das 


Judentum nicht zu 


jüdische Volk um! 


seinem Rechte ge- 


das Judentum be- 


langt, werden auch 


treffen. Der beste 


die Juden niemals 


Teil der Apolo- 


im sichern Besitz 


gie des Juden- 


ihrer bürgerlichen 


tums ist doch 


Rechte bleiben, mö- 


die Kenntnis des 


gen sie ihnen auf 


Judentums, und 


dem Papier noch so 


das zu erreichen 


heilig versprochen lesser URV „ OELOEMAELDE. liegt vielfach in 


werden. Die ge- 


unserer Macht. 




ng jüdischer Künstler ■> 



OELGEMAELDE. 



Russtellung jübisd)er Künstler.*) 



Von Dr. flifreö Hossig. 



CDel)rfadj unb an verfdjiebenen Orten würbe in 
le^ter 3eit von Runftverltanbigen bie Ibee angeregt, 
burd) RusfteUungen einen Ueberblidt über bie 
t^ünftlerifdje probuktion ber ]uben 3U gewinnen. 
Dad) bem (d)on bie Wiener Se3e(fion gelegent' 
lidj eines reidjeren Cinloufes von Werken o(l= 
jübifd)er (Daler biejelben 3U einer Gruppe vereinigt 
l)Qtte, würbe vor jQljresfrijt (riovember'Desember 
1906) bonh ben Bemütjungen bes Rever. 
Canon Bor nett in ber Wl)ited)apel Art öallery 
3u Conbon bie .^xb'bition of Jewift) Rrt anb 
Bntiquities' eröffnet, bie burd) itjre I^ünftlerifdie 

•) Die naclj^tetjenöen Seilen mögen 3ur CinfQl^rung 
in bie Husrttllung jOdiTditr KOnltltr dienen, die am 
17. november in ben Räumen Öer Galerie für alte unb neue 
f^\in\t Strlin, cauhclmrtr. 45, eröffnet wurde. Wir bringen 

eine fln3at)IReprobuMionen von Wer henbieterintereflanten 
flusltellung in öietem ßefte unb werben im folgenden 
weitere Abbildungen «eroffentlicben Ueber die 
flufnaljmeberauadenverfdjiebenftenCänberneingelaufenen 
Werhe entfdjieb die Jury, die jicb aua den Berren Otto 
ß. Cngel (Vortitsender der ßommiftion der grofeen Ber- 
liner Sunltauattellung), Prof. Oacar Sren3el und Prof. 
Cudwig (Hansel 3ufammenfe^t. [neb. von Olt un6 WeTi.) 



Nachdruck verboten. 

Eigenart bas lntere(|e an einer 3ufommenfa{fung 
jübifd^er l^ünftler steigerte. Wäbrenb einerseits ber 
Inbuftri-Soreningen (Inbuffrieverein) in f%open = 
f) a g en unter OOitwirliung bes Direlitors bes 
bortigen l^unftgewerbemufeums, Bannover, unb 
bes Profeflora Dr. Simon(en eine analoge flus= 
ftellung für ben Januar 1908 vorbereitet, unter= 
nal)m ber „Verein jur Sörberung jübi{d)er 
Run(t" bie Veranftaltung einer (oldjen in Berlin. 
Von verfdjiebenen (3efid)tspuntiten aus er- 
fdjeint ber angeftrebte tjiftorifdj'hünftleri|d)e Lieber- 
blid^ lol)nenb. Dag ben Initiatoren ber Ibee, 3U benen 
aud) CDönner nid^tjübifd^er ßonfeffion gel^örten, Ijier 
unb anberwSrts bie Cenbens einer honfeffionellen 
Separation völlig fremb war, braud)t wol)l nid)t 
er(t l)ervorgel>oben 3U werben. Hur bas etl)nologtfd)e 
unb hulturl7i[torifd}e rOoment, auf bem bie gan^e 
moberne Runltgefd)id)te, bejonbers (eit Bippolyt 
Caine, bafiert, kommt in Srage. Unb i>a ift es 
nun intereffant, Rnl)altspunhte bafür 3U gewinnen, 
wie ein Stamm, ben einerfeits feine überlieferte 
Cebre, anbererfeits bie lii[tori[d)en Verl)ältni((e von 



Dr. Alfred Nossig: Ausstellung jüdischer Künstler. 



746 



der ßefd^öftigung mit ber bUbenöen ßunfl }Ql)r< 
taufende l)inburd) abhielten, im legten Jal)r' 
t^unbert, ja eigentlid; in ben legten 3at)r3el)nten 
ouf biefem Gebiete fid) betötigt l)Qt. 

5It e5 ben ]uben gelungen, in biefer Kursen 
3eit (id) auf bie Böt)e hünftlerifdjen Sdjaffens 
anberer Rulturvölher auf3ufet)wingen? Bat bie 
tolange wätjrenbe Unterbinbung ber hünftleri(d)en 
Aber ben }uben bie Originalität unb bie Intenfität 
bes Oeftaltens benommen, ober tritt der Oe= 
[toltungsbrang bei il)nen beute um (o ungejtümer 
t)ervor? 

Ca(fen (idj — ba bod> bie Raffe als eigentlid)fter 
n5t)rboben unb Quetl öes itünftlerifdjen Sdjaffens 
von ber Runft^ 
wiffenfct^oft l)inge= 
ftellt wjrb - Qudj 
bei ben jübifdjen 
Rünftlern gewiffe 
gemeinfame CDerlt= 
male erl^ennen unb 
wenn es fo i[t: 
worin beftet)t bie 
Kaffeneigenart ber 
lubeninberRunft? 
Wie weit reidjt 
bie Beeinfluffung 
burd) bas liulturelle 
unb äftl)etifd)e 011= 
lieu, in bem bie 
einseinen jübifd^en 
Rünftler fid) ent= 
widfelt l)aben? 6e= 
l)en fie alle völlig 
in il)m auf, oder 
keimt vielteid)t i)ier 
ober bort, bewußt 
ober unbewugt,eine 
fpe5i{ifdj jübifd)e 
Runft? 

Das finb bie 
fragen, bie fid) bem 
Runfti)iftorikeT unb 
RunfthritiKer auf- 
orangen, wenn er 
benflnteil berauben 
on ber mobemen 
Runft in's Auge 
fafet. nur eine 
3ufammenftellung jqzef ISRAELS 
ber Werhe jü- Lebensabend. 

bifd)er RÜnftler Ver» (/.um Anilel .Ausstellimg jüdische 



fdjiebener Cänber konnte öie Beantwortung 
biefer Sragen, ber mon mit Intereffe entgegenfel)en 
barf, ermöglid)en. Der vorurteilslofen Runftwiffen' 
fd)aft ein berartiges Substrat 3U liefern, war bas 
Beffreben ber Veranftolfer biefer Busflellung. 

Sie finb fid) vollkommen beffen bewußt, bag 
fie bie unternommene Aufgabe keineswegs voll= 
[tänbig gelöft l)aben. 3u il)rer 6nt|d)ulbigung biene 
es jebod), bog biefe Aufgabe, wie bie aud) in 
Conbon gemad)ten erfai)rungen tet)ren, im Raijmen 
einer einmaligen flusftellung reftlos überl)oupt 
nid)t gelöft werben kann. 3undd)ft ift es von 
voml)erein klar, ba^ eine Ausftellung nie bie Volt> 
flänbigkeit ber Runitgefd)id)te erreid)en kann, 
fonbem ftets nur 
ein von Sufällen 
bel)erTfd)tcr unb 
burd) Ftaummangel 
befd)ränkter Aus= 
3ug bleiben mug. 
Was bie Betd)af= 
fungöer Werke vep 
ftorbener CDeifter 
betrifft, fo bereitet 
bie fel)r begreif= 
lid)e Abneigung ber 
CDufeen unb Privat= 
befit3er gegen bas 
Ueberlaffen Öerfel' 
ben vielfad) unüber= 
winblid)eSd)wierig= 
keiten. Die Ar= 
beiten ber l)eute 
fdjaffenbenRünftler 
wieberum laffen fid) 
barum an einem 
Orte unb 3U einem 
unö bemfelben Seit- 
punkte nid)t alle 
vereinigen, weil fie 
von langer Banb für 
verfd)iebene Runft^ 
ausftellungen 3uge' 
fagtfinb. Will man 
alfo gewiffe RQnft^ 
ler ausftellen, fo 
mu^ man auf an= 
bere versidjten, bie 
um bie gegebene 
3eit anberweitig 
engagiert finb. 
Die räumlid)e Be^ 



OEl.GEMAELDE. 



747 



Dr. Alfred Nossig: Ausstellung jüdisclter Künstler. 



fd)ranhung t>Qt es mit fid} 
gebrad^t, ba^ die jüöifdjen 
Rünftler Berlins nid7t in 9e= 
nügenöem (Dage berüch' 
(idjtigt weröen honnten. Bei 
iljrer eri)ebiid)en flnsal)! 
unb öetn feitens lohaler 
Rünftler nid)tunberedjti9ten 
Rnfprud^e, mit ßollehtionen 
vertreten 3U fein, l)otte bas 
flusftellungshomitee nurbie 
Wai)l, bie Beteiligung ber 
auslänbifdjen ßünftler ober 
bie ber Berliner auf ein 
(Dinimum 3U rebu3ieren. 
CDan entld^log fidj für Öos 
Ce^tere, üa öie Werhe ber 
l)ier lebenben I^ünftler bem 
PubliNumvon anberen Rus" 
ftellungen I)er beitannt (inb. 
Das finb bie ßauptur= 
fQd>en ber £ü*en, bie bie 



Freude und Sorge. 



OELQEMAELDE. 



JOZEK ISRAELS Portrait. 

(Zum Artikel ..Aufstellung iüdi- 



Beriiner Rusftellung aufweift. ßiersu tritt ber Um- 
ftanb, bafj mondje nomboftere Rünftler aus ber an= 
ge(tammten Oemeinfd^aft ausgetreten (inb ober il)r 
nid>t beigered^net 3U werben wün[d}en. 

^ro^ biefer CÜd^en, bie in ber Sotgeseit burd) 
ßollehtivausftellungen einselner Ijervorragenberer 
l^ünftler teilweife ausgefüllt werben follen, bürfte 
bas 3ufammengebrad)te fDateriol Jdjon mandjen 
intereffanten fluffd)lu^ über bie t^ünftlertfd^e Cdtig= 
heit ber ]uben bieten. 

Vor allem bürfte es War werben, bafe bie alU 
bekannten jübifd^en (Deifter unter iljren Stammes^ 
' genoffen als F^ünftlernid)t völlig vereinselt bafteben, 
fonbern nur als bie t)Öd)ften Spieen aus einem 
hräftig fproffenben Rünftlerwalbe hervorragen. 
Hod) einer Cifte, bie ber englifd)=jübifd7e (Daler 
Sronh C. £manuel angelegt l)at, gibt es 3Ur= 
3eit in Europa über vierhundert jübifd^e Rünfter, 
bie fid) einen Hamen erworben l>aben. Dem= 
entfpred)enb würbe Öewidjt barauf gelegt, in öer 
Berliner Rusftellung neben bem RItmeifter ber ' 
bollänbifd^en COalerei, 3o3ef Israels, neben einem 
Camille pi33aro unb Benry Cevy, einem 
(Darh Rntoholsl^i, einem Simeon Solomon, 
ben Burne Jones als ben begabteften unter ben 
englifdjen praerapljagliten beseidjnete, neben einem 
Davib (Donies, einem (Dori^ Oottlieb unb 
Salomon ). Solomon, Rusjüge ous ber Pro- 
buhtion ber jüngeren }übifd)en Rünftler in Berlin, 



JOZEF ISRAELS Die Nachbarn. OELGEMAELDE. 

(Zum Artikel „AusslellunR jadischcr Küiistlcr".) 



Dr. Alfred Nossig: Ausstellung jüdischer Künstler. 750 

berebten Sd>il&ererin ber 
nomenlofen Cei&enöee£xil& 
unb hlingt in eine t)Q"> 
[vnibo[i[d)e, t^alb realiftifd^e 
flpotljeofe bes irrenbeti 
Volhes aus. Von i>en 
Ufern öer Seine unb ber 
Cl)eni!e (d)weitt ber Blich 
ber )übi{d)en Rünftler nad) 
jenen fc!)neeigen Oefilben 
3urüch, bie bas Blut iljrer 
Bröber r^tet. Wie einft 
Rembranbt bas firntterba» 
merÖl^etto für bieRunft ent- 
bed^te, fo fQI)ren fie bas 
ÖI)etto bes Oftens in bie 
CDolerei unb pioftih ein. 
Vom rein hün(tlerifdjen 
Stanbpunl^t eröffnet fid) l)ier 
eine Quelle interef(anter 
rßotive. So Ijat, um nur 
ein (Doment 3U ftreifen, 

{T)ünc))en, Wien, Paris, Conbon, Rrokau, Petersburg, Robin bie jübi(d)en l^finftler barauf aufmerhfam 

Rom unb anberen Stäbten ju geben. gemad)t, bofe burd) ben Öebefmantel, wie einft 

Regtsid7bod>l)eute,wiebieBilbeTR. Samuels burd) bie römijdje Zoqq, eine Solle unvergleidjtid) 

beweijen, bas hunttlerifdje Streben fetbft unter [djöner Variationen ber Cinienfüljrung fid) ersielen 

ben Beni Israel, jenen fd>war3l)äutigen Juben laffe. 

Inbiens, bie als bie nad)hommen ber verlorenen €in Wort nod) über bie jübi[d)en Rltertümer. 

3el>n Stämme betrad)tet werben. Sie würben biefer flusftellung einverleibt, um 

riod) eine anbere bemerkenswerte Crfdjeinung ben Ral)men unb bie CDotive 3U veranjd^aulidjen, 

ergibtfid) aus ben in ber flusftellung vereinigten innerijolb beren bas plaftifdje Cmpfinben ber ]uben 

Werken. CT)an fprid^t beute viel von 1 

ber ßeimatsfunjt, von bem beftim' ; 

menben £influ(fe, ben neben ber i, 

Raffe bas ßeimalslanb auf bas / / 

Sdjaffen ber Rünftler ousübt. Sidjer- f / . / 

lid) wirb fid) biefer Cinflug aud) in \ 1 _/ ^ ' 

ben Werhen ber fd)affenben )uben, /-""^l^^"^ ,' 

bie in il)rer ßeimat feft wurseln, be= <■! ■ \ ..y''j^'\ 

meri^en loffen. flnbererfeits aber 

fdjeint es jenen iüöifd)en Rünftlem, '', ^ 

biebosljarte Sd)idtfal i))rerOlaubens= ^^. 

genoffen teilenb, von Canb 3U Canb 

wanbern mu^en, vorbel)alten ge= 

wefen 3U fein, eine in ber Rulturent^ 

wichlung verein3elt baftel)enbe Runft 

ber fäeimatslofigheit 3U fd)affen. 
flusgeljenb von öer nationalen 

Qe[d)id)te - ber l)eroifd)en epod)e 

bes ]ubentum3, - von ber Synagoge 

unb bem Oljetto. bie il)r bie Beimat ^^^^^^ ^^^^ BLEISTIFTZEICHNUNG. 

vertreten muffen, wirb biefe Runft 3ur i?,,,,,, Artitei .an^swiiuhr jüctischtr Kfln!,iier~.) 



Dr. Alfred Nossig: Ausstellung jüdischer Künstler. 



S. HIRSZENBERQ 



Die Verbannung. 

tel ,Au55[cllunE jüdischer Küiisller",! 



OELOEMAELDE. 



in friil)eren ]ol)rl)unöerten |id) bewegte. Wi[(en 
wir aud), Öag viele BitualgegenftSnöe von ntd)t= 
jüöifdjen ßanbwerNern verfertigt wuröen, fo ift es 
öod) anöererfeits feftgeftellt, £>ag bte Juden fid) 
ouf öem Gebiete ber fynagogalen ßunft unö bes 
ßunftgewerbes fiberbaupt [elb[t l^ervorragenb be^ 
tätigten. So blühte im 16. unb 17. ]al)rl)unbert 
in Itolien bie Samilie Öer flsutai, weldje in pabua, 
Saen3Q unb Pefaro CDajolihen unb Sayencen 
Ijerffellten. 

Bn bie Cätigheit biefer iÜÖifdjen CDeifter einer 



längft vergangenen 3eit KnUpfen fid) t)eute bieBe' 
ftrebungen 3ur Sdjaffung eines neuen jfibifdjen 
F^unftgewerbes. Sinben wir einerfeits in Sranhfurt 
unb anberwärts jübifdje Rün[tler, bie bag fvnagogale 
F^unftgewerbe neu beleben, fo fel)en wir anberer> 
feits in Jerufalem bie ßunftgewerbefd>ule „ßesalel" 
entftel>en, weldje ouf öem Gebiete öer Ceppid)' 
Weberei, ber ßol3fd)ni^rei unb in anberen 3weigen 
ber angewanbten l^unft einen auf ber polöftinenfifdjen 
Slora unb ben ober lieferten COotiven bafierten 
neujübifd^en Stil 3U fd)aFfen fid) bemül)t. 



DIE MAKKABAEISCHE EROBERUNO IM LICHTE 
DER AUSORABUNOEN. 



Die Bedeutimg der palästinischeD AnsgrabuDgen 
wird bis zum henlij^en Tage bedanerlicherweise 
stark imterschätzt. Der Doppelklang „Babel und 
Bibel" klingt seit Jahren in alle Welt; aber die 
ZusammeDsiellung „Palästina und die Bibel" ist 
unter dem gleichen altertnms- und religioDS- 
geschichtlicben Qesichtsponkt in weiteren Kreisen 
so gut wie unbekannt. 

Und doch liegt es auf der Hand, dass die letzte 
Entscheidung ttber die Religion Israels, soweit sich 
eben geistige Grössen und innere EntwickeluDgen 
mit Hacke und Spaten fassen lassen, nicht auf den 
Trümmerfeldern Assyriens, Babyloniens oder 
Aegyptens, sondern auf dem Boden der Bibel, d. i- 



Nachdruck verboten. 

in Palästina, fallen wird. Hier wird denn auch 
bereits seit dreissig Jahren in Nord und Süd von 
berufenen Forschem emsig und erfolgreich 
gegraben, tind in dem neuen Jahrhundert haben 
diese Arbeiten mit reicheren Mitteln und verstärkter 
Kraft wieder eingesetzt; am Bande der Jesreel- 
Ebene zu Teil el Matesellim {= Megiddo, Dr. 
Schumacher-Haifa) und zn Ta'annek (= Thaanach, 
Prof Sellin-Wien), im S&den zu Gezer (St. Maca- 
lister) und dem alten Jericho (Seilin). Die be- 
deutendste dieser Ansgrabongen ist wohl die des 
bewährten englischen Archäologen Macalister; der 
Hügelrilckenvon Gezer ist während der ganzen Arbeits- 
periode, die vom 14. Juni 1902 fast ununterbrochen 



Die makkabäische Eroberung im Lichte der Ausgrabungen. 



L PILICHOWSKI 



Unterwcga. 

(Zum ATtiliFr>Ansstc1lntie jOdischer KQnstler-.) 



OELQEMAELDE. 



bis zum 30. ÄQgnst 1905 w&hrte, ständifr ein Ort 
der UeberraschnDgen gewesen. Einer dieser Fände 
beliebtet die grossen Tage der Makkabäerkärapfe 
in einer Welse, wie sie vor den Tagen des Spatens 
anch nicht entfernt erhofft werden konnte. Davon 
mögen die folgenden Zeilen erzählen; der am- 
fossende and abschliessende ÄasfErabongsbericht 
wird sich noch längere Zeit in der Vorbereitung be- 
finden, da es sich in ihm allein um die Bescbreibnng 
von zehntaasend FnndstUcken nnd nm die Wiedergabe 
Ton dreitansf^nd Zeichnungen, zweihnndert Plänen 
und fünthnndert Photographieen bandelt. 

Die Stadt Qezer ist uns bereits aus den 
1887 aufgefiindenen Amama-Tafeln (1450 v. Ch. Ö,) 
und dann wieder aus der alttestamentUchen Ueber- 
lieferung (Jos. 10.33, 16,10, 1. Kön. 9,16) als eine 
bedeutende altpalästinische Stadt bekannt, die erst 
im Besitze der Pharaonen, dann in den Händen 
der Kananit«r war. Es war der Ort an der Süd- 
grenze Judäas, den späterhin der EOnig von 
Aegypten seiner Tochter als Mitgift bei ihrer Ver- 
heiratung mit Salomo gab. Dann hören wir aas 
literarischen Quellen von Qezer eist wieder zar 
Zeit der Makkabäerkämpfe. 

Als Antiocbas IV. 175 v. Chr. G. seine Herr- 
schaft Über Syrien antrat, hatten griechische Ein- 
flgsse sich bereits nicht nur in der täglichen 
Lebenshaltung, sondern anch auf dem Gebiete des 
religiösen Lebens bei der vornehmen Judenschaft 
eingenistet, und Antiochus begünstigte diese Be- 



einflussung durch fremde Elemente nachdrücklich. 
Einen schlagenden Beweis dafür liefert der in 
G^zer ausgegrabene Votiv- Altar, der auf beiden 
Seiten griechische Widmungen an Jehovah nnd an 
Herakles trägt. Vielleicht ist dieser dem Synkre- 
tismus dienende Altar auf den Befehl des Syrer- 
königs zurückzuführen, dass in jedem jödiscben 
Dorfe ein heidnischer AHar errichtet werden sollte. 
Da es mit dem Befehl anf die Verderbung der 
israelitischen Beligion abgesehen war, so wider- 
setzte sich ihm zu Ifodin, einem Dorfe unweit 
Gtezer, Mattathias, ein Mann priesterlichen Ge- 
schlechts. Er erschlag den syrischen Hauptmano 
samt dem ersten Jaden, der hinzutrat, um auf dem 
Götzenaltar zu opfern. Dies Vorgehen war das 
Signal zum Aufstande, der im Lande bei der 
gesetzeslreuen Partei schon längst unter der Asche 
geglimmt hatte Mattathias ward der Rufer im Streit; 
ihm folgt i. J. 166 sein Sohn Judas mit dem Bei- 
namen Makkabäns; nach dessen Tode (161) geht 
die Führerrolle an seinen Bruder Jonathan über. 
In diesen Kämpfen, wohl 16Ü v. Chr. G., erobert 
der seleucidische Feldhanptmann Bacchides neben 
anderen festen Plätzen anch die Stadt Gezer. Sie 
wird neu befestigt nnd verbleibt nach der 
baldigen Beendigung des ersten Makkabäerkrieges 
in der Hand der Syrer. 

Aber i. J. Iö3 bricht der Kampf aufs neue los; 
Simon, der letzte überlebende Bruder ans 
dem priesterlicheu Heldengescblecht, tritt an die 



T->b 



Die iiiakkabäische Eroberung im Lichte der Ausgrabungen. 



756 



Spitze der Juden. Er bat sich schon bei den 
Erobernngeo von Joppe ood Beth-Zor auszeichnet ; 
er wirft jetzt anch den Kronpräteudeutea Tryphoo 
znrttck, der sieb nacb Antiochos Tode nm den 
■ syrischen Thron bemüht. Siegreich ist der Syrer- 
^eg ZQ Ende geirrt; aber non gilt es das 
jüdische Land und Volk zn stärken. W^ also 
mit allen fremden Einflüssen, die Jndäa strategisch 
oder sittlich schwächen können! Weg anch mit 
der heidnisch-syrischen Besatzung, die noch zn 
Oezer horstet! Und der gewaltige Mann ans 
priesterlichem Geschlecht geht an die Rück- 
eroberung der Stadt Gezer, von der uns der Be- 
richt im ersten Makkabäerbuch Kap. 13, V. 43-48 
anschaulich erzählt. Die eroberte Stadt wird durch 
neue BeFestiguDgen gesichert; innerhalb der Mauern 
wird für dea Eroberer eine Residenz gebaut (I-Makk. 
l'i, 48); Simons Sohn Jonathan wird Gouverneur 
der Stadt und nach der Ermordung des Vaters 
auch Nachfolger in dem hobenpriesterlicbec Amte. 
Bier setzt nun der Spaten ein; und zwar 
lassen wir im Anschlnss an Macalister den Gang 



Höre Israel! 



der Ausgrabungen, nicht bloss die Ergebnisse, folgen, 
nm einenEinblick indieSchwierigkeitenderArbeitnnd 
in die Erfolge rastlosen Forschens zu gewähren. 

Es war im Sommer 1904, als eine „Strafab- 
teilung" der arabischen Arbeiter sieb unter Macalisters 
Leitung durch Anlage von Gräben nnd Tnnneln an 
die Blosslegung der Stadtmauern machen musste. 
Plötzlich klafft auf der Südseite eine Lücke; in 
der Mitte der Mauer sind auf eine Länge von 
dreihundert Fnss keinerlei Maneneste oder Funda- 
ment« zn entdecken. Dagegen stösst an dem öst- 
lichen Ende dieser Lücke die Stadtmaner g^en 
ein Gebäude, dessen Mauerwerk viel sorgsamer 
als der rohe Manerzng gearbeitet ist und auf eine 
weit jüngere Banperiode hinweist Macalister hält 
dies Haus um seines burgartigen Charakters willen 
anfangs für das Erenzfahrerkastell auf dem Berge 
„Qisart", das auf diesem Hügel lag. Aber ältere 
Funde widerlegen diese Annahme bald. Vielmehr 
fördert die gründliche üntersnchung südlich von der 
Front dieses Gebäudes ein ähnliches Mauerwerk zn 
Tage, und zwischen beiden läuft ein roh gepflasterter 
Weg zur Stadt hinauf. Das Gebäude ist 
darnach ein grosses Tor gewesen, unter 
dem der Steinweg von aussen in die 
Stadt führte. Aber welches war die 
Bestimmung dieser Anlage? 

Die Frage wird noch verwickelter, 
als zehn Fuss nördlich von der Linie, 
wo die Stadtmauer sich hätte hinziehen 
müssen, nach innen eine zweite parallel 
laufende Mauer freigelegt wird, in der 
sich abermals eine sorpteltig behauene 
Tor(3ö'aung findet, die einen selbständigen 
Ausgang ans der Stadt erm^licbt. 
Was hat die ganze rätselhafte Anlage 
zu bedeuten? Vier Wochen trägt Ma- 
calister sich mit dieser Frage; dann 
ergeben sich ihm an der Hand der 
Funde und einer genauen Zeichnung die 
folgenden Schlnssfolgerungen : 

1. Wenn hier zwei Tore zusammen- 
liegen, die aus der Stadt tmd in die 
Stadt führen, so bedarf diese seltsame 
Einrichtung und die Beziehung der 

. beiden Tore zn einander einer Sirklärung. 

2. Beide Tore gehörten archä- 
ologisch nachweisbar zusammen und 
stammen aus der Makkabäerzeit, da in 
Verbindung mit ihnen makkabäische 
Töpferwaren ausgegraben worden sind. 

3. Deshalb kann auch die Hauer, 
in der sichdas zweite innere Tor be&nd, 
nicht die alte innere Stadtmauer sein, 
die zur Makkabäerzeit längst verschüttet 
und vergessen war. 

4. Die Maner kann ans verschiedenen 
Gründen, von deren Eiörterung hier ab- 
gesehen sein mag, überhaupt kein Teil 
der Stadtmaner sein. 

5. Sondern sie gehörte einem wich- 
tigen Gebäude, etwa einem Schloss an, 
dessen Herr das ßecht freien Aus- und 



OELOEMAELDE. 



Die makkabäische Eroberung im Lichie der Ausgrabungen. 



E^iogangs in die Stadt hatte. Nur dem Gouvemenr 
konnte ein solches Gebäude zur Verffigung stehen. 

6. Demzufolge werden wir ouwidersteblich zu 
dem Hause geführt, das Simon sich nach der Er- 
oberung von Gezer dort erbaute, bezw. zweck- 
gemilss umbaute. 

Das Ergebnis dieser Schlusskette lautet also, 
am es kurz zu sagen: In dem fragwürdigen Hanse 
li^ die 1. Makkab. 13, 4:8 genannte Burg des 
Makkabäers Simon vor. Zu dieser Annahme 
stimmt der ganze Ortsbefond vortrefflich. Die 
Lacke in der Stadtmauer ist durch Simons Be- 
lagemnfismflschiDen gebrochen: zu der Aufstellung 
des „Widders" bot die erhöhte Fläche draussen 
vor der Stadtmauer eine einzig gäastige Gelegenheit. 
In die Bresche wurde nach der Eroberung als eine 
Art von Zitadelle Simons Palast hlneingebaot, das 
Baumaterial lieferten die umherliegenden Mauer- 
tr&mmer. 

Also kein Kreuzfahrerschloss, sondern eine 
Makkabäerresidenz ! so lautete die neu gewonnene 
Hypothese. Liess sich für die Hypothese ein Tat- 
sacheobeweis erbringen? Die Durch- 
stöberung der einzelnen Räame in dem 
Hanse brachte keinerlei Funde, sondern 
nur die Gewissheit, dass das Gebäude 
bis aufs änsserste durchplündert und dann 
zerstört worden sei. Das entscheidende 
Zeugnis lieferte fast zu^ig — ein 
Stein, der neben der Aüssenmauer lag 
und einer Fellachin durch seine selt- 
samen Zeichen anfßel. Die Zeichen 
erwiesen sich dem Forseber als eine 
unleserliche Inschrift in griechischer 
Sprache : endlich entzifterte Macalister 
folgendes Bruchstück eines schlechten 
Hexameters: 

„Pampra [sagt:] Simons Palast 
möge Feuer fressen". 

Das war ein Fluch. Wie sollen 
wir uns den Fluch auf einem Baustein 
erklären? — Der jüdische Eroberer 
reinigt die Stadt von den heidnischen 
(xreueln. Die dort ansässigen Heiden 
und heidnisch Gesinnten müssen zähne- 
knirschend die Götzenbilder zur Ver- 
nichtung herausgeben. Pampra, ein An- 
hänger der Syrer, vermag Zorn und 
Hass nicht in seinem Innern zu be- 
graben: da zu offenem Widerstand nicht 
die Zeit ist, greift er zu heidnischer 
Zauberei. Er nimmt den Kalkstein, 
kritzelt seinen Fluch hinein, und der 
Plan gelingt: Der Stein wird in das 
Hans vermauert , und Simou steht 
unter dem verderbenbringenden Zauber- 
wort, das die Mauern seines Palastes 
bergen. 

Dieser bekritzelte Baustein ist das 
erste zeitgeschichtliche Zeugnis aus der 
Zeit der Makkabäer über einen ihrer 
Fürsten. Es ist ein interessantes L. PASTER 
Dokument, um so interessanter durch 



die Entdeckung der Simonsburg, die init seiner 
Hilfe von dem unsicheren Boden der Wahrschein- 
lichkeit auf den sicheren Boden der Tatsachen 
gestellt worden ist. 

Trotz der gründlichen Verwüstung liess sich 
in dem Palast noch eine eigentümliche Badeanlage 
aus Kalksteinziegeln nachweisen; es fanden sich 
Räume fOr Schwimmbad nnd Dusche, und eine 
Böhrenleitung diente dazu, das gebrauchte Wasser 
abzuführen; ausserdem wurden noch sieben Bassins 
mitsamt einem Badeofen ansgefiraben. Ob die 
Stadt in jener Zeit auf länger jüdisch gewesen ist, 
erscheint sehr fraglich, da schon nnter Simons 
Nachfolger Gezer wieder als eine sj^ische Stadt 
erwähnt wird. Bei dieser BAckeroberuug haben 
dann die Syrer so vandalisch in dem Palaste gebaust, 
dass nicht mehr als ein vermauertes Steinchen übrig 
blieb, um von den früheren Bewohnern zn künden. 
Aber auch die syrische Herrschaft hat nicht lange 
gewährt; gut hundert Jahre später ist die uralte 
Stadt in einen verödeten, wüsten Trümmerhaufen 
gewandelt. Eberhard- Zarrentin. 



Nach dem Progrom. 



ZEICH KL'NO. 



DAS JUEDISCHE SPRICHWOERTERBUCH. 

Von Dr. B. Rohatyn, Krakau. 



Endlich baben wir es. Es war höchste Zeit, 
dass es kam. Der Titel, den es itihrt, lautet frei- 
lich viel bescheidener.*) „Jüdische Sprichwörter". 
Zweite Auflage! Wo war denn die erste? Das 
erfahren wir ans der Vorrede. Die erste Auflag^e, 
das waren zwei magere, dünne Heftehen, die vor 
18 oder 19 Jahren als Sonderabdruck aus einer 
WarGchaner jüdischen Zeitschrift erschienen, äusserst 
dUrftig ausgestattet, dafür aber reichlich mit Druck- 
fehlem versehen, das Material weder nach stoff- 
lichen noch nach lexikalischen Gesichtspunkten ge- 
ordnet, sondern einfach alphabetisch nach den 
Anfangswörtem 
derSpricbwörter, 
ohne Erklärung 
oder Hinweis. 
Und hier ein 
stattlicher Band 
von beinahe 800 
Seiten Lexikon- 
fonnat, beiläufig 
4000 Sprichwör- 
ter enthaltend, 
herrlichgedrackt 
nndansgestattet, 
eine förmliche 
Au(renweide.Ein 
nnäbersehbarer 
Reichtum voa 
folkloristiscbem 
Material zur Er- 
klärung und Be- 
leuchtung der 
nach eiuer festen 
Kegel streng und 
darum sehr über- 
sichtlich jzeord- 
netenSprichwör- 
ter. Es wird 
dem Leser ziem- 
lich schwer, die- 
ses Buch für 
die zweite Auf- 
lage jener zwei 



*) Jgnaz Bern- 
stein, Jüdische 
Sprichwörter, ge- 
B&mnielt und er- 
klärt. Zweite, ver- 
mehrte und ver- 
besserte Auflage, 
mit eegenOberste- 
henißr Transkrip- 
tion, Index und 
Glossar. Warschau 
1908. In Kommis- 
sion bei J. Eau9- 
mann in Frank fürt 
SANDORJARAY HOLZSCHNITT, a.M. Gedruckt bei 
Phrjne. Josef Fischer in 

(Zrnii Artlliel „Ausslellune jadischcr Künstler-.) Krakau. 



Nichdnick verbot«). 

Hellchen zn halten, die eher als ein sch&chtemer 
Versuch, eine Skizze zu diesem gross angelegen 
Werke erscheinen. 

Doch das hat der Leser mit dem Verfasser 
anszumachen. Dem Bezensenten liegt es ob. Form 
und Inhalt des Buches zn untersuchen, und darüber 
Bericht zu erstatten. Was nun zunächst in die 
Augen fSllt, das ist die splendide, aber zugleich 
vornehme schlichte Ausstattung des Werkes. In 
typographischer Beziehung hat es — mau muss 
schon sagen: leider! — schlechtbin seinesgleichen 
nicht. Man sieht, dass der Verfasser mit wahrer 
väterlicher Liebe sein GFeisteskind ausgerüstet hat, 
um es in die weite Welt zu entlassen. Und dem 
tadellosen äusseren Ciewande entspricht anch die, 
ich möchte sagen, innere Korrektheit, die man nicht 
auf den ersten Blick wahrnimmt, nämlich die nahezu 
vollkommene Freiheit von Dmckfehlem. Ich habe 
einige Wochen über dem Bnebe gehockt, aber es 
ist mir nicht gelungen, einen rechten Druckfehler za 
entdecken. Es mag vielleicht seltsam erscheinen, 
dass hier diese Dinge betont werden, aber wenn 
mui bedenkt, in welch ärmlicher Ausstattung 
jüdische Bflcber im allgemeinen auf den Markt 
erscheinen , und wie verwahrlost die Korrektur, 
besonders der Bücher ita hebräischer Sprache, auch 
der besten, ist, dass es den aufmerksamen Leser 
direkt verletzt, so muss man förmlich mit Neid 
auf dieses Sprichwörterbuch blicken. Es will nur 
ein Volksbuch sein und tritt mit jenem ausgesuchten 
Bespekt vor den Leser hin, den mau wohl 
von einer guten Erziehung und einem guten Gle- 
schmack fordern darf Ich muss mit Bedauern 
konstatieren, dass mir nur äusserst wenige jüdische 
Bücher bekannt sind — in jüdischer Sprache 
schon gar keines — die sich auch nur halb so 
sauber und tadellos repräsentieren. 

Eingerichtet ist das Werk nach Schlag- 
wörtern. Die Sprichwörter sind nach dem in 
ihnen vorkommenden Hauptbegriff, der ihnen Sig- 
natur und Charakter gibt, gruppiert. Innerhalb 
einer jeden Gruppe sind die Sprichwörter alpha- 
betisch geordnet and mit fortlaufenden Zahlen ver- 
sehen. Am oberen und am uutereu Band einer jeden 
Kolonne sind die addierten Oesamtiablen regis- 
triert. Das ergibt eine grosse Bequemlichkeit, die 
den Wert des Baches sowohl als Lektüre, wie als 
Nachschlagewerk bedeutend erhöht. Wer wissen will, 
wie das jüdische Sprichwort über Glott, Mensch, Mann, 
Weib, Lehen, Tod und dergleichen denkt, findet hier 
alle Sprichwörter, die sich auf jeden der genannten 
Begrifie als Hauptinhalt beziehen, fein säuberlich 
aneinaudeigereiht, sodass sie ein interessantes 
Kapitel bilden. Wer aber ein bestimmtes, ihm be- 
kanntes Sprichwort finden will, der braucht nnr zu 
überIegen,welchesWort darin denHauptbegriff bildet, 
dies ist das Schlagwort uod in der unter diesem Schlag- 
worte vereinigten Gruppe ist das Gfesuchte leicht 
zu finden. Non enthält aber ein Sprichwort neben 



Dr. B. Rohatyn, Krakau: Das jüdische Sprich Wörterbuch. 



dem Haoptbegriff gewöhnlich auch noch 
andere Begriffe. Eine Uebersicbt über 
die alphabetisch geordneten Schlag- 
wörter ergiebt also Doch nicht den 
ganzcD Begriffsinhalt der Sprichwörter, 
um anch die anderen Begriffe dem 
Leser ersichtlich zn machen, befindet 
sich zum Schlosse ein mit erstaunlichem 
Fleiss und Genaaigkeit ansgearbeiteter 
Index, in welchem sämtliche in dem 
Bncb {ausser den Schlagwörtern) vor- 
kommenden Substantiva verzeichnet 
sind, jedes mit dem Schlagwort und der 
Nnmmer des Sprichwortes, in dem es 
vorkommt. 

Sprichwörter, die, obgleich za ver- 
schiedeneu Gruppen gehörend, doch 
dem Sinne nach miteinander verwandt 
oder ähnlich sind, sind durch Hinweise 
imtereinander verbunden. 

Was die Orthographie anbetrifft, so 
versichert uns der Verfasser, er sei 
„vorwiegend den von den neuen jüdi- 
schen Verfassern beobachteten Regeln 
gefolgt." Das tritft glttcklicherweise 
nicht zn. In den Schriften auch der 
besten neueren judischen Schriftsteller, 
auch solcher, die nicht nur bedeutende 
Dichter sind, sondern ein hohp.s Mass 
von Bildung besitzen, wie z. B. Fmg, 
Abrahamowicz, J. L. Gordon, herrscht 
leider eine vollständige orthographische 
Anafchie. Zuweilen findet man dasselbe 
Wort in derselben Zeile auf verschiedene 
Weise geschrieben. Der Verfasser be- 
folgte ein eigenes System, welches mit strenger 
Konsequenz durchgeführt ist und darauf ausgeht, 
die Etymologie der Wörter ersichtlich zu machen 
und zugleich einer ungezwungenen, schönen und klaren 
Aussprache zu dienen. Besonders geschickt und mit 
grosser Gewissenhaftigkeit ist die Zusammensetzung 
hybrider Wörter veranschaulicht. Es wäre zu 
Manschen, dass das Bemstein'sche Sprichwörter- 
bncb dazu beitrage, dem entsetzlichen Chaos in der 
Orthographie des Jüdischen ein Ende zn machen. 
(Einwendungen gegen einzelne Punkte siehe weiter 
unten). 

Zahlreiche Sprichwörter stehen im Zusammen- 
hang mit Volksbräuchen, Anekdoten, Volksliedern, 
Sagen, Märchen, abeif^läabischen Vorstellungen, 
historischen Heminiszeuzen, oder bedürfen sonst 
einer Erläuterung, da der Witz, oder das Wort- 
spiel, das 8ie enthalten, nicht anf den ersten Blick 
klar zn Tage Hegen. In allen diesen Fällen hat 
der Verfasser klare, knappe Erklärungen ange- 
bracht, in einem anmutigen, leichten Flauderton, 
der zum Stil des Ganzen stimmt, der alles zum 
Verständnis nötige sagt, ohne in Pedanterie und 
Wichtigtuerei zn verf^len. Hier scheint mir der 
Verfasser zuweilen ein Uebriges getan und muiches 
erklärt zu haben, was sich von selber erklärt. 
Doch immer besser zn viel als zn wenig. Und 



M. ANTOKOLSKl 



Judenkopf. 
■Ausslellune iüdischn Kün 



wer mag wissen, ob nicht der nächsten Generation 
schon so manches donkel'sein wird, was uns ge- 
läufig and selbstverständlich ist 

Besondem Dank wird man dem Verfasser 
wissen iiir die Zur&ckf&brang sehr zahlreicher 
Sprichwörter anf ihre biblischen imd rabbinischen 
Quellen. Viele biblische und noch mehr sggadische 
Wendungen und Ausspräche sind auf dem Wege 
der beinahe nnlibersehbaren Homilien- und sonstigen 
Volksliteratnr ins Volk gedrungen und, oft mehr 
oder weniger umeestaltet, zu Sprichwörtern ge- 
prägt worden. Hier findet man die Urtypen, bäu% 
ans den fernsten und verstecktesten Winkeln her- 
vorgeholt und dem lebendigen Sprichwort gegen- 
fibergestellt. Aof so manche Volksanschauong, 
auf so manchen Brauch und Volksglauben fällt 
dadurch ein helleres Licht. Doch hat sich der 
Verfasser wohlweislich gehütet, Analogien and 
scheinbare Aehnllchkeiten zu berücksichtigen. Das 
hätte geheissen: sich ins Uferlose verlieren. Denn 
ABalogien existieren zwischen den Sprichwörtern 
aller Zeiten uud Völker. Nur wo eine direkte 
Entlehnung oder wenigstens eine sichtbare Au- 
lehnong an die alten Quellen vorhanden, sind diese 
nachgewiesen. Soviel ich sehen kann, ist nur die 
Bibel und das rabbinische Schrifttum herangezogen, 
die spätere, so reichhaltige und bis auf die neue 



Dr. B. Rohatyn, Krakau: Das jüdische Sprich vörlerbudi. 



OELQEMAELDE. 



(Zum Artikel .Ausi 



Zeit langende hebräische Gnomenliteratnr aber 
Dicht berücksichtigt worden. Wie mir scheint, mit 
Becht; doDD bei diesen späteren Quellen kann 
man nie wissen, ob sie das Yolkseprichwort oder 
dieses jene angeregt hat. Nur 'EÜah Bachur wird 
einmal zitiert, aber da handelt es sich am ein 
Sprichwort, das ganz in hebräischer Fassung er- 
scheint und dem genannten Autor direkt entlehnt ist. 
Und nnn zor Transskription in die lateiniscbe 
Schrift, welche dem des Hebr^schen ITuknndigen 
die Lektüre nnd das Verständnis möglich machen 
soll. Ich mnss gesteben, dass ich von jeher jede 
Transskription eines Textes in eine ihm fremde 
Schrift perhorresziert habe ; znmal die wenigen 
Tersnche, die inbezng auf jüdische Texte in den 
letzten Jahren gemacht wurden, haben mir infolge 
ihrer Unkorrektheit nnd Stillosigkeit einen förm- 
lichen Widerwillen eingeflösst. Und so habe ich 
denn die vorliegende anfänglich mit grossem Miss- 
trauen betrachtet, und sie verdarb mir die auf- 
richtige Freude an dem ganzen Werk. Bin näheies 
Studium hat mich jedoch überzeugt, dass diese 
Transskription der Germanistik, der vergleichenden 
Phonetik and dem Folklore ganz unschätzbare 
Dienste zu leisten imstande ist. Der Verfasser hat 
sich bemüht, wie er in der Einleitung näher aus- 
einandersetzt, vermittelst der Transskription die 
Aussprache des Originals phonetisch genau wieder- 
zugeben. Der oberflächliche Leser wird den Text 



glatt beranterlesen. Aber 
erst wer genau zusieht, 
wird bemerken, welch ein 
kompliziertes und sinn- 
reiches System erdacht 
werden musste, nm dieses 
Ziel ZQ erreichen , der 
Verwechselnng ähnlich 
lautender Wörter vorzu- 
beugen, der Etymoloitie 
Gheltung zu verschaffen und 
die hybriden Formen dar- 
zustellen. Und mit welch 
peinlicher Genauigkeit alle 
die minutiösen Uistinktio- 
nen das ganze Buch hin- 
durch festgehalten sind, 
ohne irgendwie auffällig 
zu werden. Das muss ein 
verteufelt schweres Stück 
Arbeit gewesen sein. Be- 
sondere Schwierigkeiten 
boten sich der Transskrip- 
tion der sehr zahlreicben 
hebräischen Wörter, der 
nicht die sog. sephardische, 
sondern die volkstümliche 
„polnische" Aussprache zu 
Omnde gelegt wurde. 
, , Doch wurden diese Wörter 

nicht nach der nonchalanten 
Aussprache des alltäg- 
lichen Gebrauchs trans- 
skribiert, sondern „nach der relativ korrekteren, 
wie man sie von jedem schriFtkandigen Juden hören 
kann, wenn er z. B. aus der Tiiora vorliest, oder 
ein Gebet rezitiert,* Gleichwohl hat der Verfasser 
in manchen Fällen in der Transskription der vul- 
gären Aussprache Konzessionen machen müssen, da 
wohl sonst der transskrlbierte Text etwas ge- 
zwungen und geziert herausgekommen wäre. Um 
Dor ein Beispiel zu nennen, lautet das Wort 
gScbamoss" (Synagogendiener) im Original richtig 
„schamosch". Alle diese Fälle hätten m. E., um 
Ifissverständnisse zu vermeiden, in der Vorrede 
einzeln hervorgehoben werden müssen. Allenfalls 
bieten sich hier zum ersten Male authentische, reich- 
baltige, mit grosser Akribie nnd gründlicher Sach- 
kenntniss durchgeführte Beleee fiir die nicht - 
sephardische Aussprache des Hebräischen, nnd die 
Orientalisten mögen nna versuchen, die von 
Luzatto angeschnittene Frage nach dem Ursprung 
der beiden Aussprachen auf dem Wege vergleichen- 
der Phonetik der Lösung näher zu bringen. 

Aeusserst gelangen sind die Erklärungen, (oft 
sind es vollständige Uebersetzungen), die auch in 
der Transskription den weitaus meisten SprUcb- 
wörtern beigefügt sind nnd den nichtjildischen 
Lesern das Verständnis sehr erleichtern werden. 
Unter nichtjUdische verstehe ich alle, die sich der 
hebräischen Schrift nicht bedienen können, einerlei, 
ob sie Juden sind oder nicht. Vorwi^end für 



Dr. B, Rohafyn, Krahau: Das jüdische Sprichwörterblich. 



diese Leser ist ancb das 
am Schlüsse des Baodes 
beigefügte Glossar be- 
stimmt, eine aoch an sich 
sehr wertvolle and gedie- 
gene Leistung. Es ent- 
bältTerzeichnis und Erklä- 
rung aller in den Sprich- 
wörtern vorkommenden 
hebr&ischen, fremdsprach- 
lichen nnd älteren deut- 
schen Äosdiilcke, Bede- 
wendoDgen nnd Phrasen. 
Hier ist ein reichhaltiges, 
sehr sorgfältig durcbgear- 



BENNO BECKER 



ethnographisches and knl- 
turhistoriscbes Material 
aafgespeichert. Da begeg- 
net man so mancher Er- 
Uärnng. die man in den 
besten and umfangreichsten 
Wörterbüchern vergebens 
Sachen wilrde. Was nutzt 
es mir, wenn ein Wörter- 
bach das Wort „mizwah" 
ganz korrekt mit „Gebot" 
fibersetzt? Was fBr eine 

zarte Kebenbedeatnng das Wort im Mnode eines 
Jaden hat, erfahre ich doch nicht. Oder wenn ich 
z. B. Dalmanns Aruch befrage, was ein „£)rQv" 
heisst, nnd mir gess^ wird, es sei eine „Yermeo- 
gUDg von Häusern", so werde ich nicht viel klüger 
daraus- » ^ 

Nun wäre es zuviel verlangt von einem Re- 
zensenten, dass er ein Buch bespreche, ohne zu 
zeigen, dass er es, wenigstens in einigen Punkten, 
doch besser verstehe als der Verfasser. Der 
Leser möge es mir daher nicht verübeln, wenn ich 
einige Ausstellungen vorbringe. Zunächst was die 
Orthographie betrifft, scheint mir das „e" in den 
Silben „ver", „be'", „ent" u. dgl, neuem Ursprunges, 
die ältere Literatur hatte hier stets ein „a" und 
so lautet noch heute die Aussprache der älteren 
Generation, die dem Mittelhoctideatschen näher 
kommt. Das Participinm perfecti von ,,uemen" 
(nehmen) sollte „genUmen" lauten, aus dem „ü" 
wurde in neuerer Zeit ein „e", -ms denn jener 
J-Laut die Tendenz hat, in ein „e" überzugehen. 
„Dermahnen" (erinnern) ist unrichtig, das ist das 
deutsche „ermannen"; aus „mahnen" ist im jüdi- 
schen „muhnen" geworden, wie aus „zahlen" — 
„zahlen". — Zu den Sprichwörtern und deren Er- 
klärongen: In der Gruppe „Urem-man" vermisse ich 
ein sehr hübsches Sprichwort: „Dem Armen glaubt 
man nicht eher, dass er krank ist, bis er auf dem 
Totenbett liegt." — „Gott beschert dem Trinker 
seinen Wein und der Spinnerin ihren Flachs" (so soll 
der richtige Text lauten!) stammt der ersten Hälfte 
nach aus einer im Esther Eabbah, Y, 1, erwähnten 
hübschen Anekdote. No. 48 desselben Schlagwortes 



Landschaft OELGEMAELDE, 

m Artikel .Ausstellung jüdisdicr Kfinsticr-.) 

bedentet: Gott möge uns behüten vor einer Sorge, 
nämlicb «iner so schweren, die die alltl^lichen 
leichteren in den Hintergrund drängt. „Man traue 
nicht der Frau daheim nnd dem Pferd unterwegs" 
ist kein jüdisches, sondern ein polnisches Sprich- 
wort. Der Verfasser hat es unzweifelhaft ans dem 
Munde eines Jaden gebort, aber dieser dürfte es 
gewiss mit dem Bewusstsein zitiert haben, dass es 
ein fremdes Sprichwort ist. Man braucht nur in 
Adalbergs polnischem Sprichwörterbucb das Kapitel 
„Weib" nachzulesen und es mit dem entsprechenden 
Kapitel hier zu vergleichen, um sich zu überzeugen^ 
dass das genannte Sprichwort dort nnd nicht hier 
am Platze ist. No. 16 desselben Schlagwortes 
beruht auf einem Wortspiel zwischen „misse" (Tod) 
and „miüsse" (hässliche Frau). — Das Sprichwort: 
„In Halicz ist drei Tage Rosch-cbodesch" beruht 
daraof, dass die in dem genannten Städtchen an- 
sässigen Karäer das Neumondfest einen Tag später 
als die Juden begehen. — Das nnter dem Schlag- 
wort „Führen" befindliche Sprichwort ist in der 
Transkription nnrichtig gedeutet. Es wird gebraucht, 
um eiueo hinkenden, uDpassenden Vei^leich zu 
kennzeichnen. — Das Sprichwort: »Wer gut 
kriechen kann, kriecht hinauf'' ist kein jüdisches. 
Im Jüdischen hat „kriechen" nur die Bedeutung 
von .langsam gehen", nicht aber von schmeicheln, 
schweifwedeln. — „Der Bastard hat eiuen guten 
Kopf" stammt ans dem Talmnd (Soferim 15; Jeni, 
Kid. JV, 11) wo es heisst, die meisten Bastarde 
seien schlau (pikkchin). — Das Sprichwort: „Ent- 
weder der Herr wird sterben oder sein Hund", 
beruht auf einer hübschen Anekdote von dem 
Mann, dem sein Herr drohte, ihn aus dem Hause 



767 



Dr. B. Rohatyn, Krakau; Das jüdische Sprichwörlerbuch. 



768 



ZD werfen, wena er nicht seineo Lieblingshnnd 
bis znr Jahresfrist das Sprechen lehren w&rde. 
Der Mann sagte zn; als man ihn fragte, wie er 
sieb aus der Äfiaire zn ziehen gedächte, antwortete 
er, bis nach einem Jahre werde vielleicht der Herr 
oder sein Hund tot sein. — Zur Etymologie 
mancher Wörter wäre Folgendes zn bemerken: 
„greisen" (lehl gehen, irren) stammt von „greis" 
{ait = knrzsichtig, schwach), „greis - grau" kommt 
in Volksliedern häufig vor. Davon gebildet ist das 
Hauptwort „GJreis" (Fehler, Irrtum). — Ob ooter 
„mies" (hässlich) das hebr. „mins" sich verbirgt, ist 
ansicher; es ist vielleicht das deutsche „miss", 
welches heute nur noch in Kompositis vorkommt. 
„Kwenklen" hat nichts mit „wanken" zu schaffen, 
sondern ist das deutsche „quängeln" = jammern. 



M. MINKOWSKI 



Heimatlos. 

Ausstellung jüdischei 



plärren, unzufrieden sein. „Eoilen" (schlacbteu) 
ist nicht slavisch, sondern das deutsche „keulen" 
(töten). — Dass das polnische Wort „meches", 
womit die Nachkommen der getauften Frankisten 
bezeichnet werden, mit dem hebr. Wort liir zoll 
in Verbindung gebracht wurde, beruht wohl nnr 
auf einem Versehen. — „Pnlisch" (Vorraum in der 
Synagoge) ist sicherlich nicht griechischen Ur- 
sprunges; griechische Wörter sind ins Jüdische 
nur dorcb den Talmud gedrungen, wie Pismon, 
Sandek, Apitropos. „Pnlisch'' ist aber im Talmud 
nicht nachweisbar. Es dürfte vielleicht eher vom 
czechischen „pavlaC" (Flur, Galerie, Vorbau) her- 
rühren. -Wenn„turen" (dürfen) vom althochdeatschen 
„turren" herrühren würde, müsste es „türen" lauten; es 
ist eher vom mittelhochdeutschen „taren" abzuleiten, 
das noch Lnther gebraucht, 
so z. B- Prov. 31, 2. — 
Nnn hat der Bezensent doch 
Gelegenheit gefonden, die 
ihm angeborene und von 
Bechtesw^en zustehende 
Tadelsncht wenigstens 
ein bischen zu befriäigen. 
' Aber das Bach hat mich 
80 gefesselt, dass es mir 
mehrere schlaflose Nächte 
gekostet hat. Es wäre 
nur gerechte Rache, wenn 
ich es ein wenig plündert« 
und ans seinem Inhalt hier 
etwas zum Besten gäbe. 
Doch weiss ich nicht, wo 
anzufangen und wo antzn- 
hören, denn wo mao's auf- 
schlägt, ist es interessant. 
Möge der geneigte Leser 
nun selber sein Mütchen 
daran kühlen. Er wird anf 
seine Rechnung kommen. 
Es ist ein erquickliches 
Buch, voll alterund dennoch 
frischer Lebensweisheit; 
Humor und Satire, gute 
Laune und nachdenkliche 
Versonnenheit finden sich 
hier vereinigt Es ist ein 
Bnch znm Lachen, zum 
Weinen und zum stillen 
Sinnen. Man kann darin 
blättern und man kaim 
ea ununterbrochen lesen. 
Dem Forscher aber wird es 
auf viele, viele Fragen zur 
Kunde des jüdischen Volkes 
und seiner Psyche Antwort 



gebührlich vernachlässig- 
tes Gebiet der jüdischen 
Wissenschaft, die Volks- 
knnde, hat hier eine glän- 
zende Revanche gefunden. 



OELQEMAELDE. 



DIE SAENOER. 

Von Hermann Menkes. 



Im Souterrain 
eines der mor- 
schen Häuser in 

der „Schul- 
gasse" einer ga- 
lizischen Stadt, 
in einem klei- 
nen, feuchten 
und lichtlosen 
Raum, wohnte 
Löbl, der Apfel- 
händler. Er 
war ein kleines 
Männchen und 
sab, trotzdem 
er erst 45 Jahre 
zählte, mit sei- 
nem dichten, 
etwas ergrau- 
ten Bart und 
seinen welken 
Zügen schon 
greisenhaft aus. 
Er ■ hatte von 
frühester ,{ Ju- 
gend an Not 
und schwerste, 
endlose Arbeit 
gekannt, konn- 
te nie trotz 
seiner Anstren- 
gungen auf 
einen grünen 
Zweig kommen 
und wurde nach 
kurzen, kümmerlichen Clücks)ahren seiner Ehe 
Witwer. Solange seine Frau lebte, bildete sie seinen 
einzigen Stolz. Sie besaß trotz der Derbheit ihres 
Äußern einige Schönheit, und Löbl schaute mit Glück 
auf sie, da sie so stattlich aussah wie die Frauen der 



U KRESTIN 



Verbotene Lektfirc. 

Artikel .Ausstellung jüdischrc K 



OELOEMAELDE. 



sich ab, da die Frau mit ihren schmeichelnden Worten 
nicht mehr lockte, und Löbi wurde ein fliegender 
Händler mit zweifelhaften und schwer genießbaren 
Waren, mußte sich vom grauenden Morgen bis in 
späte Abendstunden bei Frost und Wetter noch mehr 



\\'ohIhabenderen und Gesegneteren. Auch halt sie abrackern, und schlimmes, bitteres Leid fügte ihm 



wacker mit im Arbeiten und Verdienen, wußte draußen 
auf dem Markte die Kundschaft durch feinere Art an 
sich heranzulocken, und so lange sie lebte, ging es ja 
leidlich gut. Es bildete lange beider Schmerz und 
Traurigkeit, daß sich Kindersegen nicht einstellen 
wollte. Weil ihnen dies unerträglich war, und sie sich 
vor den Leuten, die sie mit ihren Fragen bedrängten, 
schämten, hatte sie unter Tränen nahezu sich ent- 
schlossen, ihre Ehe autzulösen und von einander 
zu gehen. Doch gerade um diese Zeit stellte sich der 
Segen ein. Die Frau gebar einen Knaben, aber nach 
wenigen Tagen innigster Glückseligkeit starb sie an 
den Folgen der Geburt. 

Von da ab ging es abwärts mit Löbl. Nicht nur, 
daß er seinen klaglosen, stillen Kummer nicht über- 
winden konnte, auch sein sonstiges Elend nahm zu. 
Er konnte nicht mehr ,,die Stell'" mitten auf dem 
Marktplatze behalten, die bessere Kundschaft wandte 



das verlassene Kindlein zu, dessen sich nur die 
Nachbarn zuweilen annahmen und das ihm gar 
keine Freude bringen konnte. Wie oft saß er in später 
Nacht an der Wiege, mit geneigtem Haupt und ge- 
schlossenen Augen darüber nachsinnend, wie wenig 
Segen und Glück darin lag, was er so heiß erfleht. 
Mußte er bei grauendem Morgen an Wintertagen mit 
seinen Waren wieder hinaus und das Kind verlassen, 
da geschah es, daß sich dem sonst resignierten Manne 
die Klage entrang; ,, Glücklich bist du, daß du tot 
bist, Chane, und weh' mir, daß ich dich überlebt!" 
Das hörte niemand und die Worte zerrannen in dem 
einsamen grauen und wie in Trübsal erstarrten 
Morgen, 

War Löbl wieder unter den Leuten, da mußte all das 
vergessen werden, und aus einem versteckten Winkel 
seiner Seele holte er ein kleines Restchen von Humor 
hervor, das der arme^Jude benötigt, um mit Welt 



Hermann Menkes: Die Sänger, 



und Menschen noch auszukommen. So lockte er mit 
Witzworten und humoristisclien Zurufen die Leute, 
zumeist junges, dankbares Schulvolk, aa sieb heran 
und fand in dieser Weise karglichen Verdienst. 

Gott hilft über alles hinweg. So war denn das 
Kind immer größer geworden, behielt nach einigen 
Krankheiten, die es überstand, eine dürftige Gesund- 
heit und konnte in die Talmud-Thora, in eine arm- 
selige religiöse Schule gesteckt werden, die sich von 
Spenden reicher Juden und der Unterstützung der 
jüdischen Gemeinde erhielt. Hier bekamen die Kinder 
nebst der geistigen auch einige leibliche Nahrung, 
die ebenso dürftig war, wie die Kleidungsstücke, die 
man zur Winterszeit ihnen verabreichte. Aber, das 
sah nun Löbl einmal ein : der Knabe hatte etwas von 
der Schönheit der Mutter. Ja, vielleicht, daß seine 
Augen noch schöner waren, große, schwarze, traurige 
Allgen, daß man weinen konnte, wenn man sie an- 
blickte und ein Stimmlein, zart und wie Mädchen- 
gesang erklingend. Löbl stahl sich oft einige Augen- 
blicke Zeit, eilte in die Talmud-Thoraschule zur Zeit, 
da die Kinder sich im Hof ergingen, um seinen Knaben 
zu sehen. Geschäfte hier wie vor anderen Schulen zu 
machen, durfte er nicht hoffen. Wenn er den Hof 
mit seinen nüchternen Wänden und seiner Öde betrat, 
da saßen die Kinder teils müde und we leidend an 
allen Ecken oder versuchten zaghaft und nutzlos 
Spiele zu veranstalten. Lärm und Trubel gab es da 
nicht, vielleicht ein wenig Angst oder bestenfalls ein 



SOLOMON J. SOLOMON 



Die Familie des KOnstters. 

rtikcl ■Ausstelluni; jüdi«:hcr Kiinslle 



trauriges Behagen an der Ruhe und ein Aufatmen 
darüber, daß es für wenige Minuten die Strenge der 
Lehrer nicht mehr für sie gab. Kam sein Knabe auf 
ihn zu, da streichelte Löbl mit seinen vom Frost auf- 
gedunsenen und rauhen Händen das feine, reiche 
Haar des Kindes, hob es zu sich empor und verließ 
dann still den Hof. Er lächelte nicht und hatte kein 
bewußtes GlücksgefUbl. Aber seit dieser Zeit klagte 
er nicht und dankte Gott nicht mehr, daß er seine 
Frau all das viele Leid nicht erleben ließ. 

Aber von einem ungehemmteren Glück war Löbls 
kleiner Sohn erfüllt. Hatte er an Frühlings- oder 
Sommertagen einige freie Zeit, so tummelte er sich 
auf jenem umfriedeten Platz, den sie den „Friedhof' 
nannten. Er war da am liebsten allein, und wie viel 
Glück schuf ihm diese Einsamkeit l Da gab es Sträu- 
cher, lärmende Spatzen und bunte Schmetterlinge, 
da und dort einen Hügel oder ein kleines Regenbäch- 
lein. Die bildeten seine Märebenreiche. Hie und da 
drang mit sausendem und musizierendem Wind 
Gesang aus der Synagoge zu ihm, und der Knabe 
sang mit, still und scheu und doch ein wenig wie von 
feierlichem Glück erfüllt. 

Kam aber das Kind nach Hause in den düstem, 
schmucklosen Keller, so war jener Zauber und alles 
Glück gewichen. Früh kam ihm die Ahnung, wie hart 
und freudlos das Leben ist. Auch des Vaters Zärt- 
lichkeit war glücklos und wurde unter Seufzern und 
Sorgen gegeben. Und gerade der Samstag war ein 
Tag, der dem Kind Unbe- 
hagen und einige Ängstlich- 
keit brachte. Sein Vater 
hatte einen Freund, den er 
nach den Gebetsstunden 
in der kleinen Synagoge 
stets mit sich nach Hause 
brachte. Ein gewisser.Gram 
und Zorn gegen das Leben 
hatte zwei Menschen zu- 
sammenzubringenvermocht, 
die sonst nichts mit- 
einander teilen konnten. 
Löbls Freund hieß Rüben, 
war rothaarig, zählte 40 
Jahre, sah aber viel älter aus 
und hatte ein kleines ärm- 
liches Amt als Ausbilfsvor- 
beter. Es war nichts von 
Gemüt und Freundlichkeit 
im Wesen dieses Mannes. 
Ihm war der karge Humor 
fremd, mit dem sich ein 
armer Jude über Not und 
Tücken des Lebens zu 
helfen weiß. Seine Stjm war 
hart geformt und in seinen 
Augen war nie ein sonniger 
Schein, Er hatte ein Weib, 
viele Kinder, und nichts 
konnte ihn je versöhnlich und 
OELGEMAELDE. freudig stimmen, keine Sehn- 
sucht,, kein Traum lebte in 



Hermann Menkcs: Die Sänger. 



Am Versfibnungstag. 

(Zum Artikel „AussItlluDK )üdischer Kansticr-.) 



OELQEMAELDE. 



ihm. Er hatte nie einen Feiertag, der doch dem arm' 
seligsten Leben das eine und andere Mal beschieden 
ist. Und doch gab es etwas, das an ihm nagte, einen 
Schmerz, der ihn erfüllte, eine Sehnsucht, die weit 
über sein dürftiges Lehen hinausreichte, die ihn ver- 
zehrte. Dieser Mensch, der nicht von Glück wußte und 
der gegen alle Schönheit blind war, setzte sein ganzes 
Wünschen darein, als andachtsvoller Sänger seine Ge- 
meinde in Ergriffenheit und Begeisterung und zu einer 
Achtung für sein Können zu bringen. Er war davon 
tief überzeugt, daß ihm eine göttliche Gabe verliehen 
war. Stand er vorder Gotteslade, so sammelte erall das, 
was in seiner Seele an Gottesfurcht, Ergebenheit und 
stillen Kummer aufgespart war, und da er selbst in 
diesen Momenten, trotz der Sprödiglceit seines Wesens, 
sich ergriffen fühlte, glaubte er, daß etwas von all 
dem auch in seinen Gesang fließe. Aber seine Stimme 
klang rauh und nahezu heiser, ynd er quälte sie immer- 
zu durch vergebliche Anstrengungen, zwang sie zu 
einem Weinen, das nicht kam, zu einer Fröhhchkoit, 
die grotesk und komisch wirkte. Er hörte oft wie 
hinter seinem Rücken gelacht wurde, und mußte 
dann freundliehen oder boshaften Spott entgegen- 



nehmen, ohne sich recht wehren zu können. Sein 
Glaube an seinen Beruf verließ ihn nicht, aber der 
Kummer über ein Verkanntsein und über die Miß- 
achtung, die ihm zuteil wurde, wuchs in ihm und 
machte ihn hart und böswillig. Nur einen gab es, 
der, wenn er auch nicht an ihn glaubte, nicht über 
ihn lachte, ja, mit ihm mitempfand : Löbl. Er wußte, 
was Versagen vor einem Mächtigen heißt und Demut 
und Hilflosigkeit, die einem armen Menschen die 
Worte verschlugen und qualvoll stammeln laßen. 
Sah Löbl, wie Ruhen rang und sich vergeblich mühte, 
so erinnerte er sich an die eigene Beängstigung, die 
ihn stets vor allem Überragenden, vor Gott, vor 
Menschen und allem Leben außerhalb seines kleinen 
Bezirkes stets überkam. In dieser Weise kam in ihm 
ein starkes Mitleid auf und ließ ihn Freundschaft 
für einen Verhöhnten empfinden. An den Feiertagen 
nach den Gebetsstunden nötigte er Ruhen zu sich 
nach Hause, bewirtete ihn und schenkte ihm einige 
freundliche Worte, die nie durch lauten Dank belohnt 
wurden. Voll Trotz und verfinstert saß Rüben in der 
dunklen, unfreundlichen Stube da und klagte nicht. 
Niemals beachtete er den Knaben, der Angst vor dem 



Hermann Meiikcs: Die Sänger. 



WAGNER BUESTE EINER JUNGEN JUEDIN. 

Zum Artikel .AusKellung |fidl«cher Krmilter.') 



Stand L-in kleines, sclion ergrautes Männchen von 
einem kleinen Chor umgehen und sang. Es war 
Jerichem, der berühmte Vorbeter aus Odessa. Das 
Lied, das er sang, schwang sich empor feierlich und 
ergi'eifend und verlor sich dann in den dumpfen 
Klängen des Chors, tauchte wieder empor und siegte 
über all die Männerstimmen. 

In eine Ecke gedrückt standen Rüben und Löbl 
und lauschten. 

Ruhen war wie erstarrt. Er fühlte sich von einem 
Mächtigen niedergeschlagen, übenvunden, des letzten 
Glaubens beraubt. Noch nie hatte er diese Demut 
gefühlt, diese Scham über sich selbst, über seine Ohn- 
macht und Dürftigkeit. Er verarmte mit jedem Ton, 
den er erlauschte, und er empfand eine heftige Schani 
darüber, daß er es bisher gewagt, in Stolz und Sieges- 
bewußtsein mit seinen jämmerlichen Gaben vor Gott 
und die Gemeinde hinzutreten. Und er glaubte nicht 
länger leben zu können, da ihm diese Erkenntnis ge- 
worden. Einmal seufzte er auf, und in seinem Innern 
war ein bitteres Weinen. 

Ganz unbemerkt hatte er sich fortgeschlichon. 
In der Kellerstube Löbls war er auf eine Bank ge- 
sunken und stöhnte. Löbl fand ihn so, als er nach 
Hause kam, und begriff rasch, was in dem Einsamen 
vorging. Erjließ ihn wieder allein. Aber in der stillen 
Stube erhob sich zuerst scheu, leise und stockend, 
dann immer heller eine zarte Kinderstimme. Es war 
der Knabe, der sang. Das Lied klang rührend und 
ohne Kummer, und Rüben weinte und weinte, aber 
er fühlte, daß er glücklich wurde, weil, wie es ihm 
schien, ein Kind mit ihm Erbarmen empfand. Er 
sank hin vor dem Knaben und umfaßte ihn mit 



schweigsamen, häßlichen 
und unfreundlichen Mann 
empfand. 

Eines Tages geschah 
es, daß einer der berühmten 
Vorbeter aus Rußland ins 
Städtchen kam und sich 
an einem Sabbathtage in 
der Synagoge hören ließ. 
Das war allemal eine große 
künstlerische Begebenheit 
in der Judengemeinde. 
Ein Seelenloser ist so ein 
Sänger, ein Glück- und 
Gnadenbringer. 

Es war knapp vor Ostern, 
und eine warme, milde 
Sonne' schien durch die 
hohen verstaubten Fenster 
der alten Synagoge mit 
ihren schon geschwärzten 
Wänden, ihrem steifen, 
vorbhchenen Schmuck. 

Dicht gedrängt aneinander 
standen und saßen Arm 
imH Reich, 'Alt und Jung. 
ir der Golti'slade 



Auf dem Boulevard. 

(Zum Artikel .A^is.iWiliing )iiili*her KU 



OELGEMAEI-DE. 



Hermann Meiikes: Die Sänger. 



«iner Zärtlichkeit, deren er bis dahin nie fähig 
gewesen. 

„Singe, singe!" schluchzte er flehend. 



Und so geschah es, daß der liebeleere und ver- 
bitterte Ruhen etwas in der Welt gefunden hatte, 
das er mit aller Zärtlichkeit seines kargen Empfindens 
liebte: Den zarten Knaben Lob Is. Von ihm erhoffte 
€r, daß er seine Seele erlösen werde. Ihm vertraute 
er seine Weisen an, die er bisher, hilflos und häßlich 
verzerrt, stammeln mußte. Sang dannder Knabe, so war 
es Rüben, als ob er selbst singen würde und mit seinem 
Gotte in süßen, zarten Tönen Zwiegespräche hielte. 
In die Einsamkeit des kleinen, alten und verlassenen 
Friedhofes führte er das Kind, und unbelauscht 
formte er hier dessen Stimme. Aus den verfallenen 
Gräbern stieg es empor wie Weinen, und jubelte die 
Stimme des Kindes, so zitterte Vogelsang mit und 
die Schwalben erhoben sich und strebten durch die 
Lüfte der Sonne zu. 

Jetzt ging Ruhen mit strahlendem Gesicht und 
wie mit einem heimlichen Glück herum. Er wartete 
und sah einem großen Tag entgegen. Inzwischen 
neigte sich und versank still der Sommer mit der 
dürftigen Schönheit, die er für die Judongasse übrig 
hatte. Da und dort wie aus Ruinen, begann ein 
kleiner Strauch hart an der Mauer in dunklem Rot 
zu erglühen. Die Fliegen summten matt durch die 
klare Luft, und die Sonnenblumen standen gebrochen 
und ihrer Körner beraubt vor den schiefen und halb- 
morschen Häusern. In den Frühstunden klangen 
gebrochen und an Tage des himmlischen Gerichts 
gemahnend die Töne des Widderhorns aus der Syna- 



Interieurs aus der Bretagne. 

um Artikel .Ausstellung judischer Künstler.) 



SIMEON SOLOMON ZEICHNUNG. 

Abraham und Isaac, 

(Zum Artikel .Atisslellung jfidlscher Künstler-.) 



goge. Das war das Neujahr 
und der große Versöhnungs- 
tag, die sich ankündigten. 
Der Tag des Neujahr 
war voll von Strahlen der 
Sonne und Köstlichkeit. 
Vor dem Almemor stand 
Rüben, von den wenigen 
Chorsängern umgeben, die 
er für sich werben konnte. 
Seine Stimme klang still 
und sanfter als sonst, als 
er die ersten Gebete 
hersagte. In Sterbekitteln, 
die Gebetbücher tief über 
die harten oder gerun- 
zelten Stirnen gezogen, die 
Arme bald flehend empor- 
gestreckt, bald die Fäuste 
zu Schlägen gegen die 
eigene Brust geballt, stan- 
den die Beter. Es war das 
Schemonah essra - Gebet, 
das sie still hersagten. Da- 
selbe Gebet griff dann der 
r^FtriPMiPi riF Vorheter auf und kam 
zu dem strahlenden Lob- 
gesang der Keduschah. Dj^ 



Hermann Menkes: Die Sänger. 



Grhob Eich zuerst still und zart eine Kuabcastimnie. 
Die Greise neigten sich vor und lauschten, und 
es neigte sich manch zartes, trauriges Frauen- 
gesicht aus der Weiberschul durchs Fensterlein 
vor und folgte den Tönen, die süß und wie in einem 
innigen Erbarmen klangen. Wie Sonne kam es in die 
düstere Halle voll schwelender Kerzen und Seufzer. 
Das Haupt Rubens sank in die Arme, die er auf 
dem Almemor ausgebreitet hatte. Und während 



seine Tränen flössen, lauschte er der Stimme des 
Knaben wie einer eigenen Stimme. 

Ganz hinten, in einer Armenecke, in abgetragenem 
Feiertags ge wand und geflicktem Gebetmantel, stand 
Löbl. Und während die Stimme seines Kindes immer 
strahlender und voll wunderbarster Innigkeit empor- 
wuchs, flüsterte er mit einem glückselig- weben 
Lächeln: ,, Chane, Chane, warum konntest du das 
nicht erleben!" 



HEINE IM HEBRAEISCHEN. 

Von Samuel Meiseis, Chart otlenbui^. Nichdruck vemoien. 

Heiorich Heiae ist ein Lebender. Schon dass Tapferkeit der Gresellschatl der toten Sprachen 

er soviel angefeindet wird, beweist, dass er kein fernhält and bereits mehrere dentsche Dichter 

Toter ist. Sein Flügelschlag ist nicht verrauscht, in ihr „heiliges Gewand" kleidete? — Heinrich 

sein LercbeoKesaug nicht verklnngen- Er ist vou Heine lebt anch in der hebräischen Sprache, 

ewiger Jugend; seine Blumen im Garten der man kann beute einen Teil seiner Lieder iu 

deutschen Lyrik blUhen nnd doften in nnge- znmeist guten hebr^scheD Uebersetzaogen lesen. 



minderter Pracht 
und Schönheit. 
Hdne ist nicht ans 
der Mode gekom- 
men. „Flügel des 
Glesanges" trugen 
seinen Namen in 
alle Weltgegenden, 
und fiberaU wurde 
er als munterer 
Spötter und grosser 
Poetbegrüsst. Sei- 
ne Lieder wnrden 
in alle modernen 
Sprachen übersetzt. 
Selbst die Polen, 
die ihm seine Era- 
pülinski und Wasch- 
lapkl nicht ver- 
zeihen, laben sich 
an seinem Lieder- 
quell. Und sollten 
die El^ge eines 
Dichters, der um 
das Haupt Jehuda 
Balevys einen nie 
verwelkenden Lie- 
derkranz wand, ein- 
zig in der Sprache 
Halevys kein Echo 
linden? besonders 
da diese Sprache 
sich mit zäher 



Judith. 

isstcllanc jüdischer Künstler".) 



OELOEMAELDE. 



Der Name Heine 
hat ziemlich schnell 
die Eunde durch 
die Welt gemacht 
Aber ins Ghetto 
ist er verhältnis- 
mässig spät eioge- 
dmogen. Mau 

spricht oft vou 
Schiller im Ghetto, 
es Hesse sich anch 
vou Goethe im 
Ghetto sprechen — 
dagegen vou Heine 
im Ghetto ist herz- 
lich wenig zu be- 
richten. Die Ur- 
sache hierfür ist 
nicht in seiner 
Taufe zu suchen. 
Die literatorkou- 
digeu Juden im 
Ghetto waren — 
soweit es sich um 
Dichter handelt« 
— in höchstem 
Masse tolerant. Ln 
Dichter sahen sie 
nur deu Dichter, 
den Weisen, deu 
von Gott Begna- 
deten; sein Privat- 
leben kümmerte sie 



Samuel Meiscis, Charl ollen bürg: Heine im Hebräischen 



AblgaU \ 

(Zum Arlilifl .Ausstcllur 



OELGEMAELDE. 



nicht. Aber mit Heine wussten sie nicht recht 
was anzafangeD. Es ging ihnen mit ihm wie 
Moses Men- 
delssohn mit 
demSchach- 
spiel: er war 
ihnen als 

Witzbold 
za ernst, 
als ernster 
Dichter za 
witzig. Zu- 
dem war sei- 
ne Schreib- 
weise za 
glatt, ein- 
fach, klar, 
ohne 

Schnörkel 
und Satz- 
windoDgen , 
die Dentnn- 



und Kom- 
mentare zn- 
lassen. Die 



TMANUEL L, FRANK 



Der Hafen von London. 

iZum Ailikel „Ausslclluiig ifldischei Kün! 



Entwirrnng eines Gedankenknäuels war den tal- 
mndischen Köpfen im Ghetto nnentbehrlich. Sie 
fanden da- 
ran ein be- 
SonderesGe- 
fallen. Heine 
konnte man 
lesen ; sie 
waren ge- 
wohnt zu 
„lernen". 
Im fibrigen 
fehlte den 
Heineschen 
Gedichten 
die morali- 
sche Nutz- 
anwendung. 
Solche Ge- 
dichte nann- 
ten sie ehe* 
mals im 
Ghetto 
„Gedichte 
ohne Sinn", 
das will 



OELGEMAELDE. 



783 



Samuel Meiseis, Char'oltenburg: Heine ira Hebräilchen. 



784 



sagen: ohne moralische Tendenz. — Gemäss 
dieser Neigiug zur Grübelei und zum Moralisieren 
hatten auch die hebräischen Schriftsteller lange 
gezögert, in das Fren|denregister der ueu- 
hcbräischen Literatur, wo 'so viele Dichter und 
Denker Aufnahme fanden, Heinrich Heine einzu- 
tragen. Das erste Heinesche Gedicht, das in einer 
hebräischen Uebertragung erschien, ist — soweit 
ich es feststellen konnte — das Gedicht „Frau 
Sorge". (Koehbe jizchak 1853, Heft 18.) Der 
Uebersetzpr heisst S. Allerhand. Die Uebersetzang 
ist weder gut noch schlecht, jedenfalls in einem 
Stile, der mit dem graziösen Stil Heines nichts 
gemein bat. Erst neun Jahre später finden wir in 
derselben Zeitschrift einen Sinnspruch Heines über- 
setzt vom philosophischen Schriftsteller Fabius 
Mises. (ibid. 1862, Heft 27.) Bedenkt man, dass 
die Koehbe yi2chak von 1847 bis 1873 erschienen 
sind und dass sie zumeist von Uebersetzungen ge- 
nährt wurden, so müsste die Aaslese von bloss 
zwei Gedichtchen ans dem reichen Liederschatz 



Heines ein KopfschUtteln hervorrufen, wenn die 
oben angeführten Gründe diese Erscheinung* nicht 
einigermassen erklärten. 

Ich finde es besonders beachtenswert, dass 
gerade „Frau Sorge" die Uebersetzungslust eines 
hebräischen Schrittstellers erregte, während doch 
in erster Reihe Heines Hebräische Melodien ins 
Hebräische übertragen zu werden verdienten. Man 
kann an der ersten Auswahl ans den Werken der 
verschiedensten Dichter, die sie der Uebersetzang 
fUr wert befunden, das Innenleben und die Ge- 
dankensphäre der damaligen hebräischen Schrift- 
steller studieren. Von Schiller übersetzten sie den 
Cborgesang: „Durch die Strassen der Städte, vom 
Jammer gefolget, schreitet das Unglück", den Brand 
ans der „Glocke", von Goethe „Wer nie sein Brot 
mit Tränen ass", von Shakespeare den Sein- oder 
MichlfieiU'Monolog, Youngs „Nachtgedanken", aus 
Tiedges Urania ,Der Zweifler", und — Kotzebues 
„Ausbrach der Verzweiflung". Bei Heine hatte es 
ihnen just die „Frau Sorge" angetan: 

Bas GlUck ist fort, der Beutel leer. 
Ich hab auch keine Freaade mehr . . . 



Valeska. 

:l .AMr^itellung ifidi^cher 



OELQEMAELDE. 



An meioem Bett in der Wint«rDacht 
Als Wärterin die Sorge wacht. 

Auch der bekannte Poet Max 
Letteris bat einige Gedichte Heines ins 
Hebräische übertragen. Im Jahrbach 
„Haasyf" (1885) flndet sich das Ge- 
dicht „Belsazer" in einer ziemlich wort- 
getreuen Uebertragung von „Abner". 
Den Hebräischen Melodien in einem 
hebräischen Gewände begegnen wir erst 
dreissig Jahre nach dem Tode des 
Dichters. K, A. Schapira lieferte eine 
gelungene Uebersetzang der „Dispu- 
tation" ; Salomon Mandelkern abersetzte 
„Prinzessin Sabbath" (Ozar hasifrnth, 
m. Jahrgang 1890; Schire s'fath ebher 
II. Teil) und „Jehuda Halevy" (Kneseth 
jisrael 1886). Zu der Uebersetzong 
des Gedichtes „Jehuda Halevy" sind 
einige Bemerkungen notwendig, weil der 
„Halevy" eine der köstlichsten Dich- 
tungen Heines ist, und weil Mandelkeni 
zu den anerkanntesten hebräischen 
Poeten gehört. Wer Mandelkerns 
Originaldichtungen kennt, wird zugeben, 
dass er ein starkes poetisches Talent 
war. Aber man kann eigene Dichtungea 
gut schreiben und fremde schlecht ober- 



785 



Samuel Meiseis, Charlotlenburg: Hei 



setzen; man kann selbst ein Poet sein, und doch Ver- 
ständnis und Qeiiihl tHr Heinesche Dichtuugen nicht 
besitzen. Was hat Mandelkern aus dem HeioescheD 
„Halevy" gemacht? Zunächst hat er die leicht- 
bewegten vierfnssigen Trochäea in langatmige Versezu 
je vierzehn Silben umgetauscht. Dann hat er den ge- 
kreuzten Keim (Schema: a. b. ab.) verwendet. Und 
schliesslich überschritt er vollends das Mass des für 
einen Uebersetzer Znlässigen, indem er sich Äende- 
rongen im Text, Äbkürzongen, Ergänzungen und aller- 
hand Korrekturen erlanbte. Die einleitende Strophe 
„Lechzend klebe mir die Zunge usw.", die doch nur 
mit dem bekannten Psalm vers rüekäbersetzt zu 
werden brauchte, lautet bei Mandelkeni wörtlich: 
„Es klebe meine Zunge an dem Gaumen und es 
welke mein Gaumen im Schlonde, mein Mund sei ' 
Id Staub gesteckt, verstummt die Lippen, vergessen 
meine Rechte, zerbrochen mein Ann wie ein Schilf- 
rohr — vergesse ich jemals dein, Tochter Jeru- 
salems!" — Das ist weder heinisch noch sonst 
poetisch. Die herrlichen hochpoetischen Verse: 
„Und es hat der goldne Taja Ihm sein Wiegenlied 
gelnllet" behagten offenbar Mandelkern nicht. Denn 
der Uebersetzer, will es besser machen als Heine, 
und lässt das Wi^ntied von der Mutter Halevys 
singen. Er ist so freigebig, ihr ein Wiegenlied von 
viemndsechzig Versen in den Mnnd zu legen. Ein 
„kleiner* Zusatz vom Uebersetzer, um Heines Poesie 
poetischer zu gestalten! In einer Fassnot« ist der Ver- 
merk, dass das Wiegenlied nicht von Heine, sondern 
vom Uebersetzer stammt. FUr Uneingeweihte war 
dieser Vermerk notwendig, fttr den aber, der auch nur 
ein Gedicht von Heine im Original gelesen — über- 
flüssig. . . Znm Schlnss des dritten Kapitels fügt 
Mandelkern eine Strophe aus Halevys Divan bei. 
Sie kommt an die Stelle des hänfig erwähnten 
Heineschen „Schnitzers", das Lecho-daudi-Lied be< 
treffend, dessen VertJasser nicht Jehuda Halevy, 
sondern Salomo Alkavez war. Die Strophe, in der 
Heine seiner Geliebten den gntgemeinten Rat erteilt, 
das Hebr^che zu erlernen, um Gabirol, Ibn Esra 
und Halevy im Original lesen zu können, schliesst 
bei Mandelkern mit den Worten: „Komm, ich unter- 
richte dich zu Nutz and Frommen, und zwar un- 
entgeltlich." Das konnte Heine nicht gesagt haben. 
Hebräischen Unterricht erteilen, war nicht Heines 
starke Seite. Es sind berechtigte Zweifel vorhanden, 
ob Heine Überhaupt die „pittoreske altchaldäiscbe 
Qnadratschrift" geläufig lesen konnte. Aas dem 
letzten Passus ersieht man, dass Mandelkern mehr 
an sich als an Heine dachte. Mag sein, es seien 
Kleinigkeiten, aber gerade bei Heine, dem Meister 



EUGEN SPIRO OELGEMAELDE. 

Portrait des SchriftatellerB B. 

(Zum Anlkcl .Ausstdlung jüdischrr Künstler-.) 



des Wortes, fallen sie schwer in die Wage. Der 
„Halevy" ist wie aus einem Gnss; iSngt man an, 
an ihm hemmzabosseln, so macht man sich schuldig, 
ein Kunstwerk zerstört zu haben. Der Heraus- 
geber des Kneseth Jisrael schreibt: „Mandelkern 
konnte nnd wollte nicht der Diener Heines sein". 
Als Uebersetzer musste ers. Der Zweck einer 
Uebersetzuug ist, das Lesepobliknm mit einem 
fremden Dichter bekannt zu machen, mit dem 
Dichter, vrie er ist, nicht wie ihn der Uebersetzer 
haben möchte. . . 

Aas der Mandelkemschen Uebereetznng könnte 
man den Schluss ziehen, Heines Lieder eigneten 
sich nicht zum Uebersetzen ins Hebräische. Die 
Uebersetzangen in den letzten Dezennien beweisen 
das Gegenteil. Keines zweiten Dichters Lieder 
besitzen in der hebräischen Sprache einen solchen 
Wohlklang, wie die Heines. Sie muten so ver- 
traut, so heimisch an, als wären diese Töne irgendwo 
und irgendwann in den Zelten Jakobs schon ge- 
hört worden. Wird maus glauben? In der „heiligen 
Sprache" durchweht die Liebesweisen Heines ein 
Geist der Heiligkeit — Hohelied-Stimmung. . . Die 
Uebersetzungen der junghebräischen Schriftsteller 
sind in ihrer Mehrzahl gelungen; sie geben den 



787 



Samuel Meiseis, CharloHenburg: Heine im Hebräischen. 



elegaoten Stil Heines wieder, ohne dem Geist der 
hebräischen Sprache- Gewalt anzatnn. Es würde 
zn weit führen, alle ins Hebräische übersetzten 
Gedichte Heines auFzuzähleD. Es sollen hier einige der 
gelnngeostea erwähnt werden: An Edom — Brich 
aus in lanten Klagen — Der Vorhang fällt — Ver- 
giftet sind meine Lieder — Gaben mir Rat und 
gnte Lehren — Warimi sind die Kosen so blass — 
Die Fragen — Nacht lag anf meinen Augen — 
Es liegt der heisse Sommer auf deinen Wfioge- 
Ißin — Ich habe im Traume geweinet — Im wiinder- 
scbOnen Monat Mai — Aus meinen Tränen spriessen — 
Wenn ich in deine Augen seh — Lehn deine Wang 
nn meine Wang — Ich will meine Seele tauchen 
in den Kelch der Lilie hinein — Auf Flügeln des 
Gesanges — Die Lotosblume äDgstig;t — schwöre 
nicht und küsse nur — Und wüsstens die Blumen, 
die kleinen — Mir träumte von einem Königskind. 
(Haasyf 1887; Kneseth jisrael 1887; Pardes 1895; 



J. KAUFMANN 



Sepher haschacah 1900—1901; Luach achiassaf; 
Meassef 1902). Als Heine-Uebersetzer wären n. a. 
zu nennen: I. Borochowitz, S. L. Gordoii, I. Kaplan, 
A. Liboschitzki, A. L. Münz, J. Papima, Noa Hns, 
Ch. Rabbinowitz, Nathan Samnely und Zwi Scher- 
schewski. Auch kleinere Auszüge, Gedanken- 
splitter aas den prosaischen Werken Heines sied 
zerstreut in mehreren hebräischen Zeitschrüteo er- 
schienen, damnler „Heine-Gedanken" (Achiassaf 
1893) von der hebräischen Schriftstellerin Pua 
Eakowski. Nimmt man alles zusammen, was zur- 
zeit von Heine im Hebräischen vorliegt, so dürfte 
es kaum mehr als den zwanzigsten Teil seines Ge- 
samtwerks ausmachen. 

Heine im Bebräischen ist nur ein Miniaturbild des 
deutschen Heinrich Heine. Wir können ans den vor- 
liegenden Uebersetzungen seine Grösse als Dichter 
ahnen, aber sie tritt nicht lebenskräftig genug vor 
unsere Äugen- Nichtdestoweniger ist dem hebrä- 
ischen Leser Gelegenheitgegeben.Heinricb 
Heine in seiner ganzen Vielgestaltigkeit 
kennen, lieben und schätzen zu lernen. Es 
existiert nämlich eine Heine-Biographie 
in hebräischer Sprache. Das Buch 
trägt den vielsaeenden Titel „Mimkor 
Jisrael* (Aus jüdischer Quelle) nnd 
sein Verfasser ist Eleasar Schulmaim. 
Schulmann war ein Gelehrter, ein Mann 
von Geist und von einer Gründlichkeit, 
die an die alten Gabbinen erinnert. 
Die Heine - Biographie ist eines der 
besten Werke Schulmanns. Wir kennen 
Schriften Gar und wider Heine, gehässige 
Pamphlete, die ihn in den schwärzesten 
Farben malen, und Werke voll von 
Lobhudeleien, die über das Ziel hinaus- 
gehen. Schulmann stellt alle Parteilich- 
keit in den Hintergniod and bleibt in 
jeder Hinsicht objektiv. Er sucht Heine 
zu verstehen, das Verzeihen — wo es 
erforderlich ist — ergibt sich von selbst. 
Wäre dies Buch in einer modernen 
Sprache abgefasst, sein Verfasser stünde 
heute neben den bedeutendsten Heine- 
Forschern in der vordersten Eeihe. 
Dieses Buch ist das schönste Denk- 
mal, das ein hebräischer Schriftsteller 
dem Dichter Heine setzen konnte nnd 
— es ist das erste Denkmal, das in 
der hebräischen Literatur einem nicht 
hebräischen Dichter gesetzt worden ist. 



OELOEMAELDE. 



^;i- 



uisdienBuieauder M AllianceJsraelileUniveßelle 



■r 



BERLIN, IN 2*t. 



0ranrenOurgersir*?*3 



CrNlärung. 



In einer Publikation, &ie als .neueste Oe> 
sd>id)te bes jübisdjen Volkes" firmiert, tjat ßerr 
Professor Dr. CDortin pfjiiippson Öie fliliance 
Israel ite Universelle 3um 6egenstand einer 
Darstellung gemadjt, 6ie im Interesse bes Juben< 
hims unft Öer ge3d)id)tlid)en Wat)rl>eit nidjt un^ 
wiöersprodjen bleiben ijorf. 

f5err Professor pi>ilippson sagt: 
,flls 3eid)en Öer 3usammenget)öngKeit oller" 
.]uben trat 1860 Öie fliliance isra^lite Univer^" 
„seile ins Ceben. Iljre Stiftung l>otte von vorn'" 
»(>erein bie Besorgnis 3Ql)Ireid)er 6lauben3=" 
.genossen erregt. CDon meinte, sie werbe" 
„mad)tl03 bleiben, iljren ßauptswech, bie eman'" 
.3ipation ber Israeliten in benjenigen CänÖern," 
.wo sie sold^e nodj nidjt besassen, 3u erreidjen," 
„werbe aber im Gegenteil burd) bie (Deinung" 
.von einer förmlid^en Versdjwörung ber Juben" 
.3ur erlangung ber Weitf)errsd)aft grossen" 
„Sdjoben anridjten. Diese Befürdjtung l>at" 
.sic^ in vollem (Dasse bewal)rl)eitet; man borf' 
.sagen, nid)ts l)at ben ]uben in vielen Cönbem" 
.soldjen flbbrud) in ber öffentlidjen (Deinung" 
.getan wie bie irrigen, aber unvermeiblidjen" 
.Solgerungen, bie aus ber Internattonalltät ber" 
.Rlliance gesogen unb von Uebelwollenben" 
.gel)ässig ousgebeutet würben," 
Der 3wech, ben bie fliliance Isro^lite Univer- 
seile bei iljrer Stiftung verfolgt t)at, ist in nad)= 
5tet)enben Satsungsbestimmungen niebergelegt: 

1. .Ueberall für bie 01eid>stellung unb ben" 
.moralisd)en Sortsdiritt ber ^uben su" 
.wirhen;" 

2. „Denen, öie in il)rer €igensd)aft als" 
.]|uben leiben, eine wirttsame Bilfe Qn=" 
„gebeiben ju lassen;" 

3. „]eber Sdjrift, weld)e geeignet ist, biese" 
«Resultate l>erbei3Ufüt)ren, Unterstütsung " 
,3U gewäl)ren." 

flis bie fliliance Isra^lite Universelle be^ 
grünbet würbe, sinb blefe Satsungsbestimmungen 
in ber weiten Welt unserer Olaubensgemeinsc^aft 
mit l)eller Sreube aufgenommen worben. 



fllle i^unbgebungen aus jener Seit beseugen 
jubelnbe 3ustimmung. Von einer Besorgnis war 
nie unb nirgenbs ein F5aud} 3u verspüren. 

Die von Berrn pi)ilippson vorgetragene Vor= 

Stellung von einer .förmlidjen Vers())wörung ber 

Juben 3ur Erlangung ber Weltl>err8d)aft" stammt 

ungef&b^ wörtlid) ous ber Seber bes Rebakteurs 

Oöbsdje, bessen Oame (Pseubonym: }ol)n Ret' 

cliffe) burd) seine Romane unb burd) seine 

3eugensd)aft in bem Prosess Walbe* - nad) 

bes OeTid)tspTasibenten Cobbel flusbnidt .ein 

Bubenstüdi, ersonnen, einen (Dann.3u verberben" 

- bekannt geworben ist. In einem bieser Ro< 

mane ist eine angebiid) auf einem jfibisd)en 

Sriebbof in Osteuropa gehaltene Rabbinerrebe 

erwähnt, bie bas Streben nod) Weltberrsd)aft ent= 

büllt \)abe. Die verlogenste Presse \)at in ben 

ad)t3iger Jabren bieses fanatisd)e Pbantosie= 

erjeugnis truhtifijiert. Wir bürfen wobi be' 

baupten, boss bie „öffentlidje ODeinung", auf bie 

ßerr Pbüippson sid) beruft unb in ber nad) seiner 

Versidjerung bie .irrigen aber unvermeibUd)en" 

Solgerungen aus ber Intemationolität ber fliliance 

gesogen unb .von Uebelwollenben gebSssig aus= 

gebeutet" worben sinb, bie öffentlidje ODeinung 

ber skrupellosesten Antisemiten gewesen ist. 

Berr Professor, Pbüippson fSbrt fort; 

.(Dan warf ber fliliance ferner ibren fron=" 

.3Ösisd)en riamen, ibr aussd)liesslid) fron'" 

.3Ösis(bes Domi3il unb ibre nidjt minber auS'" 

.3d)liesslid) fran3ösisd)e 3enfralleitung vor." 

,flud) bas mit Red)t. Die Sübrer ber fliliance" 

.baben ibr Öen fran3Ösisd)en Cborakter ge-" 

,wal>rt unb sold)en aud) bem einsig frud)t'" 

.baren Selbe ibrer Cätigkeit, ben Unterrid)ts=" 

.anstolten im Osten, nid)t 3u beren Vorteil" 

.aufgeprägt. Es war besbalb nid)t 3U ver=„ 

.wunbern, bass sid) 1871 bie englisd)en }uben" 

.in ber flnglo'Jewisb^flssociation, 1873 bie" 

,österreid)isd)en in ber , l3raelitisd)en flilions" 

„3U Wien" von ber Rlliance universelle los^" 

«lösten." 

In einem fltem leitet Berr Pbüippson ber 

fliliance gegenüber einmal aus ibrer angeblid>en 



rzwwtmt 



791 



Mitteilungen der Alliance Israelite Universelle: Erklärung. 



792 



Internationalität unb bann aus il)rem angeb- 
lid}en fransösisdjen CI)araNter einen Vorwurf 
ber. Denn jetst spricht er nid)t bie „irrigen, aber 
unvermeibl!d)en Solgerungen** anberen nad), sonbern 
mad)t sie sid) gans 3U eigen, inbem er von bem 
Vorwurf bes fran3Ösisd)en flamens unb ber aus= 
sd)liesslid) fran3Ösisd)en 3entralleitung ber fllli^ 
ance sagt, bass man nCiud) \\)n mit Red)t 
erhoben l)abe." Der sweite Vorwurf aber 
ist ebenso grunblos wie ber erste. Das 
Central^Comit^ ber fliliance ist nid)t aussd)liesslid} 
fran3Ösisd) unb ist es nie gewesen. i5errpi)iHppson, 
ber seit '}Q\)ven ber fliliance Israelite Universelle 
angehört, weiss aus ben \\)m regelmässig 3uge* 
stellten unb jebenfalls 3ugängigen 3al)resberid)ten 
ber fliliance Israelite Universelle, bass gegen* 
wörtig von ben 67 (Ditgliebern bes Central^Comitfe 
(barunter 3wei €l)renmitglieber) nur 26 (barunier 
ein ei)renmitglieb) Sransosen, 41 nid)tfran30sen, 
unter biesen 23 in Deutsd)lanb lebenbe Deutsche 
3inb. Von einer „aussd}liesslid) fran3Ösisd)en 
Centralleitung" kann man unter solchen Umstänben 
nid)t sprechen. Von ben übrigen 18 nid)tfran* 
sösisd)en (Ditgliebern bes CentrahComitfe sinb 
ausserbem so viele von Geburt Deutsche, bass 
alles in allem ber beutsd)e Zell bes (Zentral- 
Comit^s minbestens ebenso 3al}lreid) ist wie ber 
fran3Ösisd)e. ebenso ist es un3utreffenb, bass 
bie Sül)rer ber fliliance ben fran3ösisd)en Cl)arahter 
„aud) bem ein3ig fruchtbaren Selbe ibrer Cätigheit, 
ben Unterrid}tsanstalten im Osten, aufgeprägt" 
t)aben. €s ist richtig, bass in ben fllliancesd}ulen 
bes Ostens ber fran3ösisd)e Sprad)unterrid)t vor* 
3ugsweise — gegenüber bem Unterricht in irgenb 
einer anberen europäischen Sprache — gepflegt 
wirb, flber im Orient ist bis auf ben beutigen 
Zag fran3osiscb bie ßulturspracbe^ es ist in ber 
Cürhei bie 3weite Staatsspracbe; bie Kenntnis 
allein bes Sran3Ösiscben ist für ben Orientalen 
im Ceben von praktisd}em Wert unb gewäbrt ibm 
eine nut3bare Ueberlegenbeit im wirtscbaftlicben 
Sorthommen. Wo bie Verbältnisse nur einiger* 
massen anbers liegen , wirb namentlicb 
beutscber Spracbunterricbt ausgiebig er* 
teilt. Berr Pbi'ippson meint, es sei nicbt 3U 
verwunbem, bass sieb 1871 bie engliscben Juben 
in ber flnglo*Jewisb*flssociation, 1873 bie öster* 
reicbSscben in ber Israelitiscben flllians 3U Wien 
von ber fliliance Universelle loslösten". — flein, 
bier ist etwas gans anberes verwunberlicb : bass 
nömlicb für falscbe Folgerungen irrige (Ditteilungen 
als Ursacbe angefübrt werben! Die „flnglo Jewisb 
Association in connection witb tbefllli* 
ance Israelite Universelle", wie ber volle 
unb ricbtige Dame von flnbeginn unb bis beute 
lautet, ist 1871 entstanben aus ber Besorgnis, 
ber Rrieg von 1870/71 möcbte ben Sortgang bes 
segensreicben Werkes ber fliliance Israelite Uni* 
verseile stören. Um bieser (Döglicbheit 3U be* 
gegnen, um bas Werk ber fliliance aufrecbt 3U 
erbalten, \)Qi bie flnglo Jewisb flssociation sid) 
gebilbet. Das ist in bem ersten Beriebt ber flnglo 



tc 



u 



Jewisb Association 1871/72 ausfübrlicb bargelegt 
unb in ber Sirma ber Gesellscbaft für jeben 
gekenn3eicbnet. Die flnglo Jewisb flssociation 
bat nie aufgebort, ibre (Dittel ben Werken ber 
fliliance Israelite Universelle 3u wibmen, namentlicb 
ber Scbulunterbaltung, obwobl nur in 3wei von 
ben burcb bas Gelb ber flnglo Jewisb flssociation 
mit erbaltenen Scbulen überbaupt engliscber Sprad)« 
unterriebt erteilt wirb. * 

fluf eine Anfrage, bie wir naeb Conbon ge* 
riebtet b^ben, ist uns von ber Ceitung ber Anglo 
Jewisb Association unter bem 13. Oktober b. J. 
erwibert worben: 

„Cbe Anglo Jewisb Association was founbeb*' 
„to belp tbe Alliance in its b^ur of neeb at" 
„tbe time of tbe Sranco*6erman war. It was" 
„also tbougbt tbat more money woulb be ob*" 
„taineb in Cnglanb if tbere were a separate 
„Association in clear connexion bowever witb 
„tbe Alliance. — " 

„Cbere lyas never been an „Abfall", anb our" 
„relations \)Qve always been clear anb frienblv-*' 
„Inbeeb mueb of our money goes in grants" 
„mabe to Alliance scbools." 

(Die Anglo Jewisb Association würbe ge* 
grünbet, um ber Alliance in einer Stunbe ber 
not bei3usteben, in ber 3eit bes fran3Ösiscb« 
beutseben Krieges. (Dan \)q\ aud) geglaubt» 
bass in €nglanb mebr Gelb für eine' besonbere 
Vereinigung 3U erlangen wäre, bie gleiebwobl 
in beutlicbem 3usammenbang mit ber Alliance 
stünbe. — niemals b^t es einen „Abfall" ge* 
geben, unb unsere Be3iebungen sinb immer 
ungetrübt unb freunbsebaftlicb gewesen. ZaU 
söcbUcb wirb ein grosser Zeil unseres Gelbes 
als 3ubusse für bie Alliancescbulen ver* 
wenbet.) 

Aucb besüglid) ber Israelitiscben Allians 3u 
Wien ist bie Darstellung bes Berrn Pbillppson 
unsutreffenb. Die Israelitiscbe Allian3 3U Wien 
bat sid) 1873 gebilbet, einfad) weil bas österrei* 
d)iscbe Staatsgeset3 bie Bilbung von Comitte 
einer Gesellscbaft verbietet, beren 3entralsit3 sieb 
ausserbalb Oesterreiebs befinbet. Dieser gesets* 
lieben Vorsebrift musste natürlicb Solge gegeben 
werben. h\ Ungarn gilt bas eben erwöbnte öster* 
reiebisebe Staatsgeset3 nicbt, b*er besteben bie 
alten Alliance*Comit6s fort. Dies finbet beweis* 
kraftige Bestätigung burcb nacbstebenbes Sd)reiben, 
bas ber Vorstanb ber lsraelitisd)en Allian3 3u 
Wien unter bem 20. Oktober auf unsere Anfrage 
an uns gericbtet lyai: 

„Sebr geebrte Berren!" 

„Wir banken Ibnen sebr für bie freunblicbe" 
„(Ditteilung bes auf bie Alliance be3üglid)en** 
n Passus im Bucbe bes Berrn Professor** 
nPbilippson, ben aucb wir mit grossem* 
„Befremben unb mit Bebauern über** 
„bie tenben3iöse Darstellung gelesen" 
„baben.** 



-. ^^ 



79i 



Mitteilungen der Alliance Israelite Universelle: Erklärung. 



794 



„Wir können gleid) 5er flnglojewisl) flsso* 
„ciation nur bestätigen, bass von einer Cos= 
„lööung ober gar von einem Abfall von ber 
„Pariser Organisation bei ber Grünbung ber 
„unsrigen nid)t bie Rebe sein honnte, bass es 
„sid) vielmebt neben ber Rüchsidjt auf bie 
»Staatsgesetse barum l)anbelte, grössere 
„(Dittel für allgemeine jübisd}e Bilfssweche in 
„unserem Canbe aufsubringen, als es für ein 
„Comitö eines auswärts bomisilierten Vereins 
„mögltd) gewesen wäre. Wäl)renb ber 35 ]aJ)re 
„unseres Bestehens l)aben wir uns in perma- 
„nantem Rontahte unb im f}er3lid)sten €in« 
„vernebmen mit bem Pariser Central-Comit^ 
„befunben, bessen CDitglieb unser präsibent 
„ist, unb sinb bei allen grossen Bilfswerken 
„für verfolgte Glaubensgenossen mit Paris 
„ßanb in Banb gegangen.** 

„Qan3 absurb ersd)eint uns bie Bn« 
„beutung bes Verfassers, bass ber fran» 
„3Ösisd)e Cl)arahter ber fliliance als 
„nad)teillg für beren eT3iel)lid)e tätige 
„heit im Osten angesel)en unb mit ein 
„CDotiv für unsere angeblid)e Coslösung 
„gewesen wäre.** 

Berr Professor pi)ilippson lässt sid) bann 
weiter vemel)men: 

„Diese (bie fliliance) l)at in ein3elnen Sollen** 
„viel Gutes geleistet, oft ben flrmen unb Be^** 
„brängten Unterstütsung gesd)afft. Sie l)at** 
„im Osten €lementarsd)ulen begrünbet, bie in*** 
„bessen nid)t so viel flutsen gewirkt l)aben,'* 
„wie man wol)l l)ätte erwarten bürfen; unb** 
„3war aus brei Grünben: einmal weil bie** 
„Ceiter ber fliliance 3uerst selten, später nie** 
„nad) bem Orient gingen unb bas Werh** 
„lebiglid) (Dietlingen anvertrauten, benen es** 
„3umeist entweber an Verstänbnis ober an"" 
„€ifer ober an selbstloser Bingabe an il)re** 
„Aufgabe fehlte. 3weitens, weil ber CI)araMer** 
„ber Sdjulen ein albu abenblänbi3d)er unb** 
„3umal fran3Ösisd)er ist, ol)ne flnpassung an** 
„bie besonberen 3ustänbe unb flnforberungen** 
„bes Orients. Drittens, weil sie ol)ne Sort=** 
„bil9Ungssd}ulen blieben unb so bie Rinber** 
„im bilbungsfäl)igsten fllter entliessen unb** 
„bem alten orientalisd)en öd)lenbrian über=** 
„lieferten, bem sie unrettbar wieber verfielen.** 

Die brei Grünbe, bie Berr pi)ilippson bafür 
anfül)rt, bass bie €lementarsd)ulen ber fliliance 
im Osten angeblid) „nid)t soviel nut3en gewirkt 
l)aben, wie man wol)l l)ätte erwarten bürfen*, be* 
weisen nur Unvertrautl)eit mit bem Sd)ulwerN ber 
fliliance im Osten. Die Ceiter ber fliliance 
Israölite Universelle l)aben jeber3eit Wert barauf 
gelegt, \\)v Sd)ulwerN, bas 142 Sd)ulen in brei 
€rbteilen umfasst, unter steter fad)männisd)er 
Inspektion 3U l)alten. Sie wissen eben, bog all' 
gemeine Bilbung, sei sie nod) so gross, nid)t im» 
stanbe ist, bie Sad)kenntnis 3U erset3en. - Berr 
pi)ilippson nennt bie von ber Ceitung ber fliliance 



Israelite Universelle nad) langer Crprobung ein* 
geset3ten Inspektoren mit ber l)erat>würbtgenbeit 
Be3eid)nung „(Dietlinge**. Will Berr Professor 
pi)ilippson vielleid)t bie Rabbiner als „CDietlinge** 
il)rer Gemeinben, bie Gymnafiallebrer als „CDiet« 
linge** bes Staats ober ber ßommunen anspred)en7 
nein, biese alle sinb bie verel}Tten unb angesel)enen 
Vertrauensmänner ber Gemeinben, bes Staates, 
ber Stäbte. Unb so sinb bie (Dänner, bie Berr 
pi)ilippson als „(Dietlinge** l)erabwürbigt, unsere 
erprobten unb angesehenen Vertrauensmänner, bie 
il)res sd}weren flmtes mit reifem Verstänbnis, mit 
unübertrefflid}em Cifer unb mit vorbilblid)er Bin* 
gäbe walten! 

Wenn Berr pi)ilippson ben Cbarakter ber 
fllliancesd)ulen im Orient „albu abenblänbisd) 
unb 3umal fransösisd}** finbet, so übersiel)t er: 
Die Orientsd)ulen ber fliliance sinb Sd)ulen sui 
generis, sie sinb x\)xen besonberen Bebürfnissen, 
bie eigenartiger Ilatur sinb, angepasst, sie 
sinb genau bas, was Berr pt)ilippson sagt, bass 
sie sein sollen, unb was er bloss nid)t ge^ 
sel)en \)at 

Berr pi)ilippson beklagt ben (Dangel an 
Sortbilbungssd)ulen. Das Sortbilbungssd)ulwesen 
ist im (Dorgenlanb wirklid) nod) nid)t systematisd) 
burd)3ufül)ren. €inen gewissen €rsat3 sd)affen 
wir in ben £rgän3ungskursen (classes supplSmem 
taires), bie wir in versd)iebenen Stäbten, wie 
Constantinopel, Salonid)i, Smyrna, Cunis, Canger, 
Bagbab, fllexanbrien, Rairo,ben oberen RIassen am 
gegliebert baben. Wenn im übrigen unsere Jungen im 
Orient unsere Sd)ulen frül) verlassen, so gesd)!el)t 
es nid)t um bes „Sd)lenbrians** willen, sonbem 
aus bitterer Hot, weil sie für Brot 3U sorgen 
l)aben. 

Berr Professor pi)ilippson beenbet seine Aus* 
fül)rungen folgenbermafeen: 

„Im Desember 1872 besd)lo8S eine Versamm«** 
„lung in Berlin bie Begrünbung einer besonberen** 
„ lsraelitisd)en flllian3 in Deutsd)lanb.** flllein** 
„bas Central =Comit^ ber fliliance in Paris** 
„wies biesen plan burd)aus 3urüd^, ber aud)** 
„nie verwirklicht worben ist. Ceiber Hess bas** 
„Pariser CentrahComit^ sid) burd) sold)e Vor«** 
„gänge unb aud) burd) ben flbfall ber Cng^** 
„länber unb Oesterreid)er nid)t bestimmen,** 
„bie spesiell fran3ösisd)e Sörbung ber fliliance** 
„unb ben Despotismus bes pariser Central-** 
„Comitte irgendwie 3U mobifisieren. Daburd)** 
„verlor sid) in Deutsd)lanb bas Interesse für** 
„sie um so mel)r, je sd)ärfer bie nationalen** 
„Gegensat5e 3wisd)en beiben Cänbern did> um** 
„glüd^lid)erweise gestalteten.** 

Cl)arakteristisd) ist sd)on ber erste Sa^, bass 
„eine** Versammlung - beren näbere Be3eid)nung 
vollstänbig fel)lt - im De3ember 1872 bie Be* 
grünbung einer besonberen „lsralitisd)en flllians 
in Deutsd)lanb** besd)Iossen l)abe. Wer l)at benn 
„besd)lossen**? Wer waren bie Besd)liessenben, 
bie il)re flbsid)t sofort fallen Hessen, weil bas 



?95 



Mitteilungen der AUiance Isra^Ute Universelle: Erklärung. 



796 



Central-ComiW in Paris ben plan surüchwies? 
€9 mOesen 5od} xedji öd)wäd)lid)e ioerren gewesen 
sein, 5ie bem pariser „nein" gegenüber sofort 
auf H)ren Willen ver3id)teten. In Wabrbeit ist 
jener „Besd)luss** nie gefasst worben, in Wabr- 
l)eit l)atte bas pariser Central=Comit6 nie flniass 
gel)abt, 8old)en Besd)luss 3urüch3uweisen. €s ist 
im Desember 1872 einmal eine Anregung in ber 
angegebenen Rid)tung l)ervorgetreten. Cin CT)al)n= 
wort bes Berrn Sanitätsrat Dr. Deumann l)at ge- 
nügt, von bem üblen plan ab3ul)alten. 

Was in bem vorstel)enben Resum^ über ben 
»Rbfall ber €nglänber unb Oesterreid)er" über 
bie „spesiell fran3Ösisd)e Särbung" ber fliliance, 
über ben „Despotismus" bes pariser Central 



Comit^s gesagt ist, l)aben wir wiberlegt. Aber 
aud) bas, was Berr Pbilippson über eine Abnahme 
bes Interesses für bie fliliance Isra^lite Uni* 
verseile in Deutsd)lanb bel)auptet, ist nid)t 3U= 
treffenb. Das Interesse für bie fliliance Isra^lite 
Universelle \)ai sid) in Deutsd)lanb nid)t verloren. 
Der 3uwad)s von tausenben von (Ditgliebern, bie 
sid) uns in hur3er 3eit neuerbings in Deutsd)lanb 
angesd)lossen l)aben, beweist bas Gegenteil. 

Weitaussd)auenbe unb albeit getätigte 
jübisd)e Wol)lfal)rts= unb Wobltätigheitspolitih 
verfolgt bie fliliance Isra^lite Universelle. Sie 
wirb il)rer Sat3ungen immerbar eingebend bleiben 
unb \\)nen in unermüblid)er Arbeit treu sein, 3um 
Segen für bie gesamte 3ubenl)eit. 



Berlin, ben 30. Oktober 1907. 

Das präsibium 
ber Deutscl)en Conferen3*6emeinscl)aft ber fliliance Israelite Universelle 

Cubwig (Dax Oolbberger. Cl)arles C. fSallgarten. 



Paris, ben 1. Dovember 1907. 

Der vorstebenben €rhlärung sd)liesst sid> vorbehaltlos an 

Das präsibium bes Central* Comit^s ber fliliance Israelite Universelle 

Harcisse Ceven. Salomon Reinod). Dr. R. Hetter. Jacques CDad)iels. 



Nachdruck verboten. 



ACHAD HAAM 
UEBER DAS SCHULWERK DER ALLIANCE ISRAELITE UNIVERSELLE. 



Der bedeutendste hebräische Schriftsteller der Jetzt- 
zeit, Achad Haam (Uscher Qiozberg), hat vor etwa 
7 Jahren über die „Schulpolitik** der AUiance Israelite 
Universelle in der von ihm begründeten hebräischen 
Monatsschrift „Haschiloach** nach einer Palästinareise 
geschrieben und später in seinem Sammelwerk „AI 
Paraschath Drachim", Band IT, S. 151 — 152, neu ver- 
öffentlicht, was wir hier in genauer Uebersetzung 
wiedergeben : 

„Das jüdische Publikum glaubt gewöhnlich, dass 
die AUiance Israelite Universelle in ihrem grossen 
Eifer für ihr Heimatsland Frankreich bemüht ist, die 
Vorherrschaft des „französischen Geistes** in der 
Welt zu verbreiten, und dass sie für alle ihre Schulen 
die strenge Vorschrift festgesetzt hat, die Zöglinge 
zu „guten Franzosen** zu erziehen. Wieviel der- 
artige Phrasen lesen wir in den jüdischen Zeitungen, 
und besonders in der letzten Zeit. Tatsächlich ist 
es aber nur eine der bei uns üblichen Uebertreibungen. 
Die AUiance selbst — d. h. das Central-Comit^ in 
Paris — sorgt für den französischen Geist nicht 
mehr, vielleicht noch weniger als für den jüdischen 
Geist. Im allgemeinen zieht sie keinen spezifischen 
„G^ist** vor, und ihr Hauptzweck bei der Gründung 
von Schulen im Orient ist dieser: die dortigen 
jüdischen Massen durch eine europäische Erziehung 
und exakte, zum Lebensunterhalt notwendige Kennt- 



nisse aus ihrem sozialen und moralischen Tiefstand 
emporzuheben. Und da in den meisten Orientländem 
die französche Sprache in den höheren Gesellschafts- 
schicbten noch die vorherrschende ist, sowohl unter 
den Eingeborenen als auch unter den Eingewanderten, 
so ist es einem Menschen aus der Masse fast un- 
möglich, eine mehr oder weniger anstandsvoUe Stütze 
im Gesellschaftsleben zu erreichen, sei es als Beamter 
in einem Regierungs- oder sonstigen öffentUchen In- 
stitute, sei es als AngesteUter bei einer angesehenen 
kaufmännischen Firma, wenn er nicht die französische 
Sprache beherrscht. Es ist deshalb nicht verwunder- 
lich, wenn man in den AUianceschulen, die nur zu 
diesem sozialen Zwecke begründet wurden, die fran- 
zösische Sprache — aber nicht den Geist — besonders 
pflegt, damit die Zöglinge sie nachher für ihre Lebens- 
bedürfnisse gebrauchen können. Wer Gelegenheit 
hatte, die „Zirkulare** zu lesen, die das Central- 
Gomite in den letzten Jahren an alle Leiter der 
AUianceschulen betreffs des Unterrichts in der jüdischen 
Geschichte, der moralischen Erziehung, der Beobachtung 
der religiösen Vorschriften etc. versendet, der wird 
die Wahrheit meiner Worte bestätigen, dass die 
AUiance nur darnach strebt, ihren Zöglingen die 
Fähigkeit und MögUchkeit beizubringen, sich eine 
Lebensexistenz durch redliche und geachtete Arbeit, 
durch ein Handwerk oder theoretische Kenntnisse zu 



797 Mitteilungen der Alliance Isra^lite Universelle: Achad Haam über das Schulwerk der Alliance Isra^ite Universelle, 798 



schaffen. Sie hat aber keinerlei missgünstige Be- 
atrebnngen in bezug auf die jüdische Seele, — im 
Gegenteil, sie sacht diese Seele besonders zn wahren. 
— (In einem Zirkular vom 22. Januar 1896 heisst 
es: n^ ist uns viel erwünschter, dass die Schüler 



die Leidensgeschichte der Juden kennen, als dass 
sie die Regeln vom französischen Partizipium 
können**.) — .« 
Niemand wird Achad Haam den Vorwurf machen, 
dass er „zu wenig jüdisch" sei. 



DAS HILFSWERK DER ALLIANCE IN MAROKKO. 

(Spezialbericht für die A. I. U. von Is. Pisa.) 



Casablanca, 15. Oktober 1907. 

Die beiden Boten, die ich vor 14 Tagen nach 
Mzab und nach Settat geschickt hatte, sind zurück- 
gekehrt, und haben mir aus den von ihnen besuchten 
Orten Briefe mitgebracht, von denen ich Abschriften 
beilege. 

Die Briefe kommen aus Uled-Hriß, Maguch, 
Settat, Mzab und Azemmur. Uled-Hriß ist eine der 
ersten Ortschaften auf dem Wege nach Settat. Man 
hatte mir beinahe offiziell die Versicherung gegeben, 
daß als eine der Friedensbedingungen von den ara- 
bischen Stämmen die Freilassung der Juden aus 
Casablanca verlangt worden war. Doch obgleich 
der Stamm sich unterwoflen hat, haben die Araber 
ihre Gefangenen nicht freigelassen. Ich habe meinem 
Korrespondenten Auftrag gegeben, die drei jungen 
Mädchen loszukaufen, die sich noch in den Händen 
der Araber befinden, und sie nach Casablanca zu- 
rückzuschicken. 

Maguch ist ein großes, einige Stunden vor Settat 
belegenes Dorf. Die dortige, aus 30 Familien bestehende 
jüdische Gemeinde hat die Flüchtlinge mit großer 
Liebe aufgenommen. Aus dem anliegenden Brief geht 
hervor, daß dort noch 17 junge Mädchen und Knaben 
in Gefangenschaft sind. Ich werde sofort den Auf- 
trag dorthin erteilen, die jungen Leute auf unsere 
Kosten loszukaufen und in ihre Heimat zurückzu- 
schicken. 

Die Stadt Settat ist Ihnen wohl noch durch 
die Plünderung bekannt, die vor vier Jahren dort 
stattgefunden hat. Seitdem hat die kleine Gemeinde 
sich aus Zuzüglingen von Casablanca wieder ergänzt. 
Die beiden Herren, die den beifolgenden Brief unter- 
zeichnet haben, sind ziemlich wohlhabend. Sie haben 
sich mit dem größten Eifer der FlüchUinge ange- 
nommen und ihre Not liebevoll und ausreichend ge- 
lindert. Alle Ankömmlinge sind voll Lobes für dieses 
Verhalten. Wollen Sie die Güte haben, Herrn Elmalah 
den im beifolgenden Brief erbetenen Kredit zur Ver- 
fügung zu stellen; ich werde ihm schreiben, daß er 
sich mit den Notablen in Settat in Verbindung setzen 
soll. 

Der Mzab ist ein weites Gebiet, über das ganz 
kleine jüdische Gemeinden verstreut liegen, die sich 
vom Ackerbau ernähren. Aus dem beiliegenden Brief 
können Sie ersehen, daß man beabsichtigt, alle Flücht- 
linge von Casablanca in Settat zu konzentrieren. 

In Casablanca selbst hat die Lage sich nicht ge- 
ändert. Die reichen Familien, die nach Spanien ge- 
flohen waren, sind wieder in ihre verwüsteten Heim- 



Nachdruck verboten. 

Stätten zurückgekehrt. Wer über einige Mittel ver- 
fügen kann, eröffnet einen kleinen Spezerei-, Weiß- 
waren- oder Bijouterieladen. Der Großhandel ist 
tot. Die armen Leute arbeiten als Lastträger und 
Verlader; es sind aber ihrer so viele und ihre Zahl 
vergrößert sich täglich durch Zuzug aus dem Innern 
so bedeutend, daß viele ohne Arbeit bleiben. Die 
zwischen den beiden stehende Klasse der vormals 
wohlhabenden Leute ist am meisten zu bedauern. 
Sie können kein neues Geschäft anfangen wie die 
Reichen, und können nicht betteln wie die Armen. 
Was sollen sie tun, um ihr Leben zu fristen? Wir 
verteilen ja immer noch Getreide, aber unsere Vor- 
räte sind bald erschöpft. 

Die Aussichten bleiben trübe. Die zwischen den 
feindlichen Bruderstämmen und der französischen 
Armee stehenden Stämme können sich nicht zur 
Unterwerfung entschließen. Da sie nicht haben 
säen können, ist die Ernte des nächsten Jahres ver- 
loren. Pisa. 

Uled Hriß. 

Geehrter Herr Pisa! 

Herr Abraham Amstet ist zu uns nach Uled- 
Hriß gekommen, um zu erkunden, ob von hier aus 
Juden nach Casablanca zurückzuschicken seien. Er 
hat 15 junge Mädchen ausfindig gemacht, von denen 
drei noch nicht losgekauft sind. Die übrigen sind 
teils von ihren Angehörigen, teils von uns oder von 
hiesigen jüdischen Privatleuten zurückgekauft worden. 
Eines der jungen Mädchen hat aus Dankbarkeit ihren 
Befreier geheiratet. 

Gez. Elias Bensimhon. 

Maguch, 1. Cheschwan 5668. 

Geehrter Herr Isaac Pisa! 

Hierdurch teilen wir Ihnen mit, daß Ihr Ab- 
gesandter, Herr Abraham Amstet, am Freitag bei 
uns angekommen ist, zwei Tage nach seiner Abreise 
aus Casablanca. Er hat uns Ihre Vollmacht vor- 
gelegt, damit wir ihm bei der Befreiung der jungen 
Mädchen und Kinder behilflich sind, die sich in dieser 
Gegend noch in Gefangenschaft befinden. Wir haben 
ihn gut aufgenommen und bis zum Sonntag bei uns 
behalten. Dann sind wir sehr früh am Morgen mit 
ihm auf die Suche nach Gefangenen gegangen. Das 
erste junge Mädchen fanden wir bei einem Araber 
Namens Ahmed ben Zochra. Er hatte ihr das Haupt- 
haar abgeschoren und betrachtete sie als seine Tochter. 



799 



Mitteilungen der Alliance Israelite Universelle: Das Hilfswerk der AUiance in Marokko. 



800 



Abraham. Amstet wollte das Mädchen mit Gewalt 
entführen, und wäre dabei von dem Araber er- 
schossen worden, wenn sein Begleiter ihn nicht ge- 
rettet hlitte. Wir gingen darauf zu einem Freund 
des Arabers, der uns sagte, wir würden das Mädchen 
gegen ein Lösegeld herausbekommen. Für das zweite 
von uns aufgefundene Mädchen verlangte man 
10 Duros. Wir fanden danach noch 13 Mädchen 
und 3 Knaben, von denen erst zwei Mädchen von ihren 
Eltern zurückgekauft worden sind. 

All diese jungen Leute sind bei den Mdakras. 
Von hier aus wollte Herr Abraham Amstet noch 
nach Mzab gehen, um auch dort nach Israeliten zu 
suchen. Wir Ueßen es aber nicht zu, denn die Araber 
hätten ihn totgeschlagen, weil sie ihn für einen Spion 
hielten. Eia einziger Araber, der Häupthng aller 
Kabylen, hat Ihren AJjgesandten respektiert und hat 
uns versprochen, Ihnen zuhebc die jungen Mädchen 
zu befreien, die sich bei diesen Kabylen befinden. 
Dazu ist aber etwas Geld nötig, das wir Einwohner 
von Maguch nicht geben können. Bitte, beraten Sie 
darüber mit den Reichen in Casablanca, und lassen 
Sie uns wissen, was Sie zu tun gedenken. 

Gez. Die Israeliten von Maguch. 
Meier Trudjman. 
Elias Benhimol. 
Abram Benchotrit. 
Ry Messod Edery. 
Messod Amor usw. usw. 

S e 1 1 a t. 

Geehrte Herren Pisa und Zagury! 

Herr Abraham Amstet ist mit seinem Begleiter 
Si Mohamed ben-Hadj-Omar von Ouled-Hriß zu uns 
nach Settat gekommen. Dieser Araber hat unterwegs 
zwei junge Mädchen für 6 Duros losgekauft und bis 
Settat geleitet, ohne dafür auch nur einen Centime 
anzunehmen. Er meint, das sei ein Geschenk, das 
er den Israehten macht. Er hat uns erzählt, welchen 
großen Mühen Abraham Amstet sich hat unterziehen 
müssen, um alle aus Casablanca entflohenen Juden 
wieder aufzufinden. 

Sie wünschen von uns eine Auskunft, wieviel 
Juden aus Casablanca sich hier in Settat aufhalten. 
Seitdem wir sie hier bei ihrer Ankunft enpfangen, 
haben wir ungefähr 500 Famihen verzeichnet. Wir 
haben sie gastfreundlich aufgenommen; vielen von 
ihnen, die nach Mazagan weiter gegangen sind, haben 
wir die Führer dorthin bezahlt, und haben ihnen 
Brot für den W^eg mitgegeben. Andere sind hier ge- 
blieben, und so lange sie noch bleiben wollen, werden 
sie hier freies Essen und Trinken und Obdach er- 
halten. 

Wir haben auch junge Mädchen aus den Händen 
der Araber in der Umgebung von Settat befreit. So- 
bald wir erfahren, daß in einem bestimmten Duar 
(Beduinendorf) ein jüdisches Mädchen ist, schicken 
wir sofort Vertrauenspersonen hin, um sie loszukaufen. 

Viele junge Mädchen sind bei den Leuten vom 
Stamm Uled-Said, die von uns 100 — 150 Duros ver- 
langen. Unter den von diesen Arabern zurückge- 



kauften Jüdinnen haben wir zwei sehr teuer bezahlt: 
eine junge Frau, die Tochter eines sehr angesehenen 
Mannes haben wir für 91 Duros auch noch fast mit 
Gewalt nehmen müssen; für die andere, eine Frau 
mit ihren Kindern, haben wir 101 Duros bezahlt. 
Das dazu erforderUche Geld haben die Angehörigen 
der beiden jungen Frauen gegeben. Erst in dieser 
Woche haben wir >\ieder vier Personen zum Los- 
kauf von Mädchen zu den Uled-Saids geschickt; es 
soll dort noch eine ganze Anzahl sein. 

Herr Abraham Amstet hat uns Ihren Auftrag 
ausgerichtet, wir sollten hier die gefangenen Mädchen 
loskaufen, Sie würden uns das dafür verauslagte 
Geld zurückerstatten. Wir bitten Sie demnach, 
meine Herren, uns für das Lösegeld der jungen Mädchen 
und für ihre Weiterbeförderung nach Mazagan einen 
Kredit bei dem Schullehrer oder bei Herrn Maimani 
in Mazagan zu eröffnen, denn mit dieser Stadt können 
wir bequem verkehren. Wir hier arbeiten nur um 
Gotteswillen und aus Mitleid für unsere Glaubens- 
genossen, aber wir haben nicht genügend Mittel, um 
unsere Pflicht ohne Beihilfe zu erfüllen. 

Gez. David Amar. 

Abraham Ohayon. 

Mzab, den 3. Cheschwan 5668. 

Geehrter Herr Schuldirektor! 

Wir haben Ihren Brief erhalten und daraus er- 
sehen, daß Sie sich damit beschäftigen, den Israeliten 
zu helfen. Gott helfe Ihnen bei Ihrem Werk. 

Eine große Anzahl von Familien hat sich bei uns 
aufgehalten. Einige hatten wir losgekauft und nach 
Mazagan geschickt, einige Familien sind noch hier 
und bleiben, bis wir ihnen die Weiterreise bezahlen 
können. 

Nachdem wir jetzt Ihre Zusage erhalten haben, 
werden wir alle Israeliten loskaufen, die sich noch 
in den Händen der Araber befinden. 

Mit diesem Brief zugleich erhalten Sie die Liste 
der von uns losgekauften Personen und der Personen, 
denen wir Reisegeld gegeben haben. 

Wir werden uns bemühen, alle in unserem Be- 
zirk verstreuten Israeliten in Settat zusammenzu- 
führen. Wir stehen Ihnen immer zu Diensten. 

Gez. Isaac Benchetrit. 
Mordechai Ruemi. 

Azemmur, 4. Cheschwan 5668. 

Der Unterzeichnete bezeugt hiermit, daß Herr 
Abraham Amstet zu uns nach Azemmur gekommen ist, 
um zu erkunden, ob sich hier IsraeUten aus Casablanca 
aufhalten, die er loskaufen und mitnehmen könnte. 
Er hat hier nichts gefunden, denn die in unserer Um- 
gegend gefangen gewesenen Frauen und Mädchen 
hatten wir selbst schon von den Arabern losgekauft 
und nach Mazagan befördert. Abraham Amstet 
hat sich darauf nach Stuka und nach Chiadma be- 
geben, und hat auch dort keiiion FlüchUing gefunden. 

Zur Bekräftigung des Gesagten zeichne ich 

Sid Benator. 



801 



802 



Sammlung für die marokkanischen Glaubensgenossen. 



Im Anschluß an die in den beiden vorher- 
gehenden Nummern veröffenüichten Listen der dem 
Deutschen Bureau zugegangenen Spenden für die 
marokkanischen Glaubensgenossen quittieren wir nach- 
stehend die uns seitdem weiter übermittelten Spenden : 

Altona: Durch Oberrabbiner Dr. Lemer: W. MöJJer 
20.—, J. Holländer 20.—, W. Segelbaum 10.—, 
W. Cohn 5. — , A. Neumann 5. — , Dr. Frank 10. — , 
L. Koppel 10. — , N. Levy 15. — . Berlinr Frau S. Beer 
100. — , Wohltätigkeitsverein Auseh Tauwaus durch 
A. Hirsch 23. — , auf der Beschneidungsfeier bei Schein- 
linger gesammelt durch N. Levy 5.70, N. Levy 1. — , 
Frau Spiegel 1. — , Wasserreich 1. — , Ungenannt 6. — , 
Isaac Korb 2. — , Elias Jubelski 3. — , Hermann Struck 
5. — , Frau Geheimrat Bucher 100. — , John Becker 
50. — . Bonn a. Rh.: Gesammelt durch Rabbiner Dr. Ka- 
lischer 400. — . Berwangen: Durch K. Hahn, Vorsteher 
der Israelitischen Gemeinde, 45.80. Bretten: Durch 
Bezirksrabbiner L. Schlessinger : Bez. Rabbiner 2. — , 
Bernhard Veit 2. — , Jul. Gailinger 2. — , Haupt- 
lehrer Moch 2. — , Kantor Metzger 2. — , Leopold W^olf 
1. — , Heym. Kochlöffel 1. — , Max Eichtersheimer 
2. — , Max Lämle 3. — , Gustav Lämle 5. — , Arnold 
Lämle 4. — , Leopold Lämle 6. — , Lippmann Lämle 
2. — , Leopold Koppel 8. — , Emil Wertheimer 
1. — , Heinrich Wertheimer 1. — , Louis Erlebacher 
4. — , Simon Erlebacher 2. — , Gustav Erlebacher 2. — , 
Max Erlebacher 2. — , Salomon Wertheimer 1. — , 
Isidor Koppel 2. — , Ferdinand Wertheimer 4. — , 
Isak M. Wertheimer 2. — , Moses Wertheimer 1. — , 
Ludwig Dreifuß 5. — , Moses Lichtenberger 2.-^, Max 
Lichtenberger 3. — , Lehmann Weingärtner 2. — , Adolf 
Simon 2. — , Ehas Bodenheimer 2. — , Nathan Dreifuß 
2. — , Siegfried Rosenfeld (aus Aub) 2. — , Moses Lichten- 
berger 5. — . Cassel: Durch Julius Mecca: J. R. 20. — , 
Alb. Lindenfeld 3. — , Grtinbaum 5. — , J. Mecca 5. — , 
M. F. 25. — , Frau Elise Gans 10. — , Louis Mosbacher 
5. — , Moritz Messner 10. — , Heula Hahn 6. — , N. N. 
3.—, Sah Fröhlich 30.—, Benno Fröhlich 10.—, Hugo 
Gotthelft 10.—, Jos. Spangenthal 10. — , L. B. 10. — , 
N. N. 5. — , Th. Baumann 10. — , S. M. Oppenheim 5. — , 
H. Marcuse 3. — , A. Dellerie 5. — , Th. Eisenberg 5. — , 
Rieh. Gotthelft 10. — , Lieberg & Co. 10. — , Dr. Doctor 
5, — , H. L. 10. Coburg: Gesammelt durch D. Weinberg, 
Vorsteher der Kultusgemeinde 62.50. Cöln: Meno 
Auerbach 3. — , Sally Benjamin 3. — . Darmstadt: 
Sammlung durch Otto Wolff : Otto Wolff 20.—, Louis 
Rosenburg 20. — , Hermann Josef 20. — , Hermann 
Reichenbach 10. — , Ungenannt 2.95, Hermann Stade 
5.—, Carl Wolff 10.—, Leopold Erdmann 10.—, Dr. 
Italiener 10. — , Kommerzienrat Louis Trier 20. — , 
Eugen Trier 20. — , Ludwig Josef 20. — , Dr. Josef 
Strauß 20. — , Justizrat Dr. Loeb 20. — , Leopold 
Hachenburger 20. — , Eduard Homberger 10. — , Ernst 
Hornberger 5. — , Max Jonas Mayer 20. — , Dr. F. 
Mainzer 20. — , Dr. Hugo Bender 20. — , Frau Pauline 
Blau und Fräulein Simon 20. — , Julius Heineberg 20. — , 
Leopold^ Kahn, Bankier 10. — , Arnold Naß 10.— ,'|^ 
Alexander Sander 20. — , Max Sander 10. — , Josef Nau- 
heim 20. — , Jacob Guthmann 20. — , Konamerzienrat 




Langenbach 10. — , Leopold Kahn 10. — , Adolf Trier 
30.—, Oskar Wolff 10.—, E. M. Mansbacher & Sohn 
10. — , Berthold Bodenheimer 20. — , Benno Stern 10. — , 
Dr. Richard Oppenheimer 10. — , Justizrat D. Reiß 
10. — , Otto Benjamin 10. — , Max Sander Wwe. 10. — , 
Carl Lehmann 10. — , Adolph Simon 5. — , Max Stern 
20. — , Siegmund Rotiischild 10. — , Joseph Stade 10. — , 
Helene Strauß 10. — , Ferdinand Stern 10. — , Theoder 
Strauß 10. — , Clemens Goldschmidt 10. — , Siegfried 
Haas 5. — , Josef und Robert Landau 10. — , Gebr. Neu 
5. — , Carl Erlanger 10. — , Geh. Baurat Landsberg 
10. — , Karl Benjamin 10. — , Hermann Berger 5. — , 
Cari Beer 10.—, J. Bruchfeld 10.—, S. Joseph 3—, 
M. Aschkenas 5. — , Justizrat Mainzer 10. — , Heinrich 
Strauß 20. — , Meyer Meyer 5. — , M. Meyer 5. — , A. Uli- 
mann 5. — , M. Heß 5. — , Jul. Katzenstein 5. — , 
Dr. Simon 10. — , Paul Wildau 15.—, Guggenheimer 
& Marx 5. — , Frau Delphine Homberger 10. — , Ludwig 
Kahn 3. — , Lippmau May 10. — , Cerf Hanau 10. — , 
Salomon & Beißinger 5. — , Abraham Josef 5. — , Max 
Fulda 10. — , Frau Th. Sander Wwe. 5. — , Frau Jac. 
Goldschmidt Wwe. 3. — , bei einer Hochzeit durch 
Ferd. Kahn gesammelt 20.50, Moses Isaac 10. — , Hugo 
Strauß 10. — . Diespeek a. d.Aisch: K. Kohn, M. Seligen- 
brunn, S. Stemau, A. Lein, G. Kohlmann, L. Schön- 
wasser, B. Fulder, G. Schönwasser, A. Heß je 1 Mark = 
9 Mark, S. Rosenau, Wwe. Weil, Geschw. Sternau je 
50 Pfennig = L50 Mark. Emmerieh: Durch Sal. L. 
Franken, gesammelt durch Lehrer Carsch 74. — . 
Frankfurt a. M.: Von den vereinigten Lokal-Comit^ 
der Alhance Israelite Universelle und des Hilfsvereins 
der Deutschen Juden für die notleidenden marokka- 
nischen Juden gesammelt: Lucien Picard 50. — , Leo 
Dalsheim 20. — , Hieronymus Dessauer 10. — , David 
Rosenthal 60.—, Philipp Deutsch 10.—, Wilhelm 
E. Cahn 30.—, Robert Koch 50.—, Ludwig Schiff 
100. — , Siegmund Schott 5. — , Salo Stern 5. — , 
A. Misch 5. — , E. A. Schwabacher 10. — , Charles L. 
Hallgarten 1000. — , N. N. 50. — , Louis Wassermann 
20. — , Dr. med. S. Kirchheim 50. — , Jacob Frenkel 
10. — , Alfred Weinschenk 100. — , Hermann Roth 
10. — , Raphael Ettlinger 20. — , Leopold Sonnemann 
300. — , Carl Langenbach 20. — , Emil Simon 20. — , 
David Goldschmidt 25. — , Max David Goldschmidt 
25. — , Jos. Levy Wwe. in Sulzbach bei Saarbrücken 
75. — , M. Grünstein 3. — , H. Frohmann 10. — , J. Sonnen- 
theil 25.—, Leopold Levy 20. — , J. Scheuer 20. — , 
Jos. Wertheimer 20. — , Hermann Katz 5. — , N. Hirsch 
20.—, Rudolph Kahn 20.—, Philipp Schiff 200.—, 
Frau A. G. 100.—, Moritz Metzger 30.—, Max Wert- 
heimer 30. — , S. vSchwarz 20. — , I^eo Hamburger 50. — , 
David E. Schwarzschild 100. — , Max E. Schwarzschild 
100. — , Ferdinand E. Schwarzschild 50. — , James Loeb 
KXK). — , Leopold Igersheimer 25. — , Babette Rosen- 
busch 150.—, D. A. Z. 20.—, Reclitsanwalt Dr. Mor. 
Kohn 5. — , Rechtsanwalt Dr. Arthur Oppenheimer 
5. — , Rechtsanwalt Dr. Siegfried Schwarzschild 10. — , 
Rechtsanwalt Zinunt 5. — , Rechtsanwalt Dr. Eisenberg 
5. — , Rechtsanwalt Dr. Rosenmeyer 3. — , Rechtsanwalt 
Dr. Richard Merzbach 10. — , Reclilsanwalt Dr. Seckel 



L 



803 



Mitteilungen der Alliance Israelite Universelle: Sammlung für die marokkanischen Glaubensgenossen. 



804 



3. — , Rechtsanwalt Dr. Julius Jessel 10. — , Rechts- 
anwalt Julius Wolff 10. — , Rechtsanwalt Dr. Neu- 
mond 20. — , Rechtsanwalt Dr. Ed. Baerwald 20. — , 
Referendar W. 3. — , Frl. B. und S. Jacobsohn in Lüne- 
burg 50. — , M. Jacobsohn in Lüneburg 50. — , J. Rosen- 
baum 50. — , Leopold Hirschler 50. — , Adolf Gans 
300. — , Lincoln Menny Oppenheimer 100. — , Gebrüder 
Bauer 100.—, J. J. Weiller Söhne 100.—, Rechts- 
anwalt Dr. Blau 100. — , Direktor Zachary Hochschild 
100.—, Leo Ellinger 100.—, Dr. Feist 50.—, S. L. Beer 
20. — , Dr. Kirschbaum 10. — , Elise Bonn 50. — , Franz 
Strauß Sohn 100.—, Eduard Cohen 1000.—, Freiherr 
von Goldschmidt-Rothschild 500. — , Dr. Karl Sulzbach 
300.—, J. Dreyfuß 300.—, Emil Sulzbach 100.— 
Albert Bing 50. — , Ernst Strauß 50. — , Justizrat 
^Dr. B. Baer 10. — , Dr. med. Th. Baer 10.—, Julius 
Obemzenner 100. — , Ferdinand Maas 20. — , Zach. 
Mayer 20. — , A. Hüttenbach 50. — , Rechtsanwalt 
Dr. S. Rosen thal II 10. — , Rechtsanwalt Lazarus 20. — . 
Notar Dr. A. Mai 10.—, Frau Rosalie Teblö 5.—, 
Leopold Lindheimer 35. — , Jacob Nußbaum 20; — , 
Direktor Hermann Maier 50. — , S. Bienes 10. — , Rudolph 
Isaac 10. — , Henry Seligmann 300. — , Albert Flersheim 
20.—, Willy Stern 1000.—, Julius Goldschmidt 300.—, 
S. Neustadt 100.—, Adolf Stern 100.—, Maier SeHg 
Goldschmidt 100.—, H. & B. Kahn 100.—, Emil 
Rosenthal 100.—, Ph. Mayfarth & Co. 100.—, A. Kerbs 
30. — , A. R. 10. — , Rosenberg 10. — Frau Francis 
Livingston 20. — , Dr. med. Frank 10. — , Professor 
Edinger 50.—, Carl Berlö 20.—, Dr. L. Walter 20.—, 
Frl. Bertha Pappenheim 50. — , Ernst H. Epstein 20.—^, 
Jacob H. Epstein 50. — , Sanitätsrat Dr. Jaffö 50. — , 
Gebrüder Klau 25.—, Josef Wisloch 20.—, JuUus W. 
Wisloch 10. — , B. Marxsohn 30. — , Max Salomon 20. — , 
Frau Emma Neißer 30. — , W. Bischheim 25. — , Fr. Anna 
Rosenthal 50. — , Geh. Justizrat Dr. Fuld 100. — , 
Runkel 20. — , Dr. Katzenstein 10. — , Rechtsanwalt 
Heyum 5. — , Erich Frenkel 5. — , N. N. 1. — , Dr. J. 
Grünebaum 3. — , Direktor Dr. Adler 10. — , Synagogen- 
beamter Meier 10. — , Professor Dr. Michel 10. — , 
Lehrer Scherer 5. — , Hugo Koch 3. — , David Crame 
25. — , Fr. Louise Vogel 8. — , Adolf Neustadt 50. — , 
Julius F. Goldschmidt 50.—, Frau Adolf Schloß 40.—, 
Julius Hirsch 10. — , E. Metzger 10. — , Frau Bella 
Goldschmidt- Kirchheim 100. — , H. Emden 20. — , 
A. S. Levy 10. — , Stadtrat Josef Baer 100.—, Nathan 
Wallach 30.—, Sigmund Simon 50.—, Js. Wolff 50.—, 
J. Erlanger 20. — , C. Schlessinger 10. — , Frau Fanny 
Rosenthal 20. — , A. Misch 10. — , J. Steiner 5. — , 
Heinrich Strauß 20. — , Dr. med. A. Baerwald 10. — , 
Frau C. Frankenthal 30. — , Carl Kaufmann 50. — , 
J.Neuberger 10. — , Rabbiner Dr. Lazarus 10. — , FrauTh. 
T.100.—,Cahn&Sommer50.~,FrauLouise Goldschmidt 
200.—, Lud. Mayer 100.—, Louis Feist 100.—, J. L. 
Beer 100.—, Anton Kulp 100.—, Alfred Metz 20.—, 
Eugen Dreyfus 30. — , F. Horckheimer 20. — , E. Schles- 
singer 10. — , Geschwister Oppenheimer 20. — , Hermann 
Wronker 30. — , Hugo Forchheimer 30. — , Frau Jenny 
Forchheimer 20. — , M. J. Löwenthal 25. — , Carl Bier 
20. — , Goldschmidt & Löwenick 50. — , Oscar Mayer 
10. — , Sally Bonn 40. — , Julius Carlebach 20. — , Gebr. 
'^ '^ '^.hmidt 50. — , Dr. Siegmund Abraham 10. — , 



Dr. Alfred Geiger 10. — , Justizrat Dr. Berthold Geiger 
20. — , Dr. med. Sigmund Auerbach 50. — , Ignatz 
Frank 20.—, Dr. Franz Adler 10.—, Anton Fulda 
50.—, M. A. Wolff 50.—, Ferdinand Schamberg 20.—, 
M. Oppenheimer 5. — , Ernst Bing 5. — , Fr. Anna Cahn 
5. — , Frau Sidonie Dann 10. — , Bernhard Neustadt 
20. — , Herr und Frau H. L. 50. — zum 13. September, 
M. Niedermayer & Söhne 100. — , Professor Dr. Ganz 
in Leipzig 25. — , S. K. Hochschild 25. — , Frau Emma 
Livingston 200. — , A. & E. Frank 50. — , Fritz Merz- 
tach 20. — , Josef Jandorf 10. — , Raphael M. Kirchheim 
100. — , M. Neu & Söhne 50. — , von einer Administration 
1000. — , Michael Levy 10. — , Consul Gustav Maier- 
Alberti 10.—, A. 0. 20.—, S. Budge 30.—, Dr. P. Mayer 
100. — , D. Ganz 20. — , Dr. Hermann Goldschmidt 
30.—, Dr. Altschul 10.—, Moritz Wolff 10.—, M. F. 
20. — , Anton Horckheimer 20. — , Leopold Lösenstein 
20. — , Frau Pauline Lion 20. — , Fritz Hirschhorn 30. — , 
J. M. 10. — , L. L. 20. — , Siegfried Rosenberg 50. — , 
Louis Mai 10. — , Frau Siegmund Una 50. — , L. H. Reis 
50. — , Eduard Apfel 20. — , Salomon Binswanger 20. — , 
Felix Frank 50. — , Frau Cahn-Brasch 20. — , Paul Reine- 
mann 30. — , Frau Leopold Kahn 20. — , Leo Liefmann 
10. — , Max Lewisohn 5. — , Dr. M. Nassauer 20. — , 
Stadtrat Levin 5. — , Dr. R. Stern 20. — , L. A. 5. — , 
Josef Mayer 5. — , Justizrat Dr. Hecht 20. — , Gebr. 
Siesmayer 20. — , Josef Holzmann 20. — , Leo Holzmann 
10. — , Bamberger, Leroi &Co. 30. — , Geh. Kommerzien- 
rat Baron Ad. von Mayer 20. — , C. Flersheim-Heß 20. — , 
Hugo Nathan 20. — , Frau Menko Kulp Wwe. 50. — , 
A. Rosenthal jr. 20. — , Jos. & Is. Bottenwieser 60.—. 
M. M. 10.—, Fränkel & Co. 10.—, Dr. H. 30.—, M. B, 
50. — , Leonhard Mayer-Dinkel 100. — , Frau Konsul 
Budge 100. — , Frau Baronin Willy von Rothschild 
1000.—, Josef Salomon 20.—, Carl Feist 5.—, Dr. 
Rudolf Geiger 6. — , L. Wertheimer 5. — , Hermann 
Guttmann 10. — , Fr. Mimi Borchardt in Kairo 200. — , 
Günther- Schlewinsky in Werben im Spreewald 5. — , 
Direktor Carl Herzberg 150. — , Heinrich Edenfeld 20. — , 
Frau E. Strauß-Ellinger 40. — , Frau Max Heim 40. — , 
Dr. C. Kaufmann 50.—, S. Huttens, 20.—, N. N. 30.—, 
E. Regensburger 20. — , M. B. 5. — , A. S. 20. — , 
S. Kirschner 20.-^, Julius Scheuer 10. — , xN. N. 5. — , 
Frau Dr. Schnapper 50. — , Ludwig Strauß 10. — , 
M. Tannenbaum, 10. — , Hugo Fraenkel 20. — , Fritz 
Sondheimer 20. — , Dr. C. SeHgmann 15. — , M. Kulp 
20. — , H. L. 5. — , Raphael Kaufmann 15. — , M. Baum 
10. — , Hermann Stern 20. — , Hermann Levita 20. — , 
M. Stern sen. 20. — , Leo Hochschild 20. — , Frau 
Dorothea Mayer, Heidelberg 10. — , M. Doctor Sohn 
20.—, Frau Bertha Mayer 10.—, Karl Mayer 10.—, 
Professor Dr. A. Löhren 10. — , Moritz Cahn 5. — , 
L. Trost 5.—, Frau Bertha Glazier 50.—, Wohltätig- 
keitskasse der Gemeinde Lübbecke i. \V. durch M. 
Löwenstein 12.—, Ben Keseh L'osaux 20. — . Frei- 
burg i. B.: Gesammelt durch A. Burger 357,20. Gießen: 
Durch Israelitische Religionsgemeinde 223.60. Gnesen: 
Durch M. Witkowski 105.—. Gotha: Durch Dr. jur. 
Goldschmidt iGust.Ledermaim 10. — , Jul. SimsonlO. — , 
D. Katzenstein 10. — , I. & S. Israelski 10. — , Leopold 
Bereut 10.—, Gebr. Grünstein 5.—, Rob. Werner 5. — , E. 
Samson 5. — , Ad. Meyerstein 5. — , M. Heilbrunn 5. — , 



805 Mitteilungen der Alliance Isra^lite Universelle: Sammlung für die marokkanischen Glaubensgenossen. 806 



S. Rosenblatt 5. — , Oskar Meyerstein 5. — , Dr. Rosen- 
baiim 3. — , A. Werner 1. — , Dr. Goldschmidt 11. — . 
Hainstarth (durch S. Rau-Nürnberg): Gesammelt 
durch Kultusvorstand H. Gutmann 32,82. Hamburg: 
Durch Hermann Gumpertz: B. Rleichröder 50. — , 
Sam. Cohen 20. — , A. Löwenstein 20. — , H. Lewin 10. — , 
E. Luria 50. — , Leop. David 10. — , E. Danziger 20. — , 
N. S. Mendel 20.—, M. Fränkel 10.—, B. Hahlo 50.—, 
M. M. Warbm*g & Co. 100. — , Bernhard Lewandowski 
30. — , Dr. L J. H. 6. — , J. Caperto jun. 40. — . Heidel- 
berg: Hanna Neumann 5. — , Bikur chaulim, durch 
Richard Schlössinger 20. — . Heidenhean: Amson Neu- 
berger sen. 10.—. Kobylin: Louis Neustadt 1. — . 
Königshütte, 0.-8.: Durch Siegmund Adler: Adolf 
Lewin 20. — , Siegmund Adler 10. — , Bernh. Kos- 
lowsky 10. — , Nathan Markiewitz 10. — , Samuel Kober 
6. — , Gerson Faerber 10. — , Frau Flora Freund 20. — , 
Adolf Hirsche! 10. — , Theodor Tichauer 10. — , Heinrich 
Koplowitz 20. — , Arthur Sternberg 20. — , Dr. Kaiser 
6. — , Louis Brock 6. — , J. S. Kains 10. — , B. Lonmitz 
5. — , Isidor Langer 20. — , Benno Aschner 5. — , Burlin 
2. — , Apotheker Weißenberg 10. — , Salo Kreutzberger 
10. — , Josef Kreutzberger 10. — , S. Ziegler 6. — , Leo 
Pinkus 5. — , Paul Goldstein 20. — , Amil Fränkel 10. — , 
Max Keins 5. — , Salo Fischel 5. — , Ferdinand Weißen- 
berg 10. — , Albert Goldstein 15. — , H. Liebrecht 5. — , 
Frau Amalie Sternberg 20. — , Frau Loebel Centaver 
10. — , Meyer Sachs 5. — , J. Israel 5. — , cand. med. K. I. 
1. — , Frau Johanna Haussdorff 10. — , Gustav Silber- 
feld 5. — , Alex Tichauer 5. — , Max Tauber 5. — , Hein- 
rich Königsfeld 10. — , Max Thaler 5. — , S. Olschowsky 
3. — . Laupheim: Synagogen- Gemeinde 100. — . Lübeck: 
Durch Rabbiner Dr. Carlebach: B. L. 1. — , G. G. 3. — , 
H. M. 2.— , A. C. 7.—, H. N. 6.—, Dr. J. J. 1.— . 
Ludwigshaten: Gesammelt durch Vorstand Moritz 
Wolff 213. — . Mannheim: Durch Hermann Lob- Stern : 
Gust. Benzinger 10. — , J. M. Bielefeld 20. — , Ungenannt 
20. — . Merzig: Gesammelt durch Benny Cahn 46. — . 
Nürnberg: Durch S. Rau: Spende Konsul Bernhard 
Lang 50. — , Ungenannt 3. — , A. Feldheim 10. — . 
Neustadt a. Aiseh: Gesammelt durch Simon Hecht 
85. — . Posen: Durch Louis Calvary 394. — . Sagan: 
Durch Stadtrat Max Jonas 60. — . Schnaittach: (durch 
S. Rau-Nürnberg): Gesammelt durch J. Ullmann 
52.43. Siegburg (durch Dr. 0. Levison): Ge- 
sammelt durch Lehrer Seelig 126. — . Speyer: Durch 
Leopold Klein: IsraeHt. Wohltätigkeitsverein Ez 
Chajim 10. — , Israelit. Wohl tätigkeits verein Gemillus 
Chasodim 10. — , Israelit. Spendekasse 10. — , Israelit. 
Frauenverein 10. — . Steele: M. Lilienfeld 10. — . 
Stuttgart: Durch Eugen Fellheim: R. Grünwald 
20.—, S. Kahn 10.—. Winzenhehn, Ob. -Eis.: 
Leon Abr. Bloch 80. — . Worms: AI. Mayer 
3. — . Wreschen: Durch Rabbiner Dr. M. Lewin: 
Medizinalrat Michaelsohn 5. — , Dr. M. Löwin 3. — , 
Louis Michalski 3. — , Rechtsanwalt Peyser 3. — , 



Dr. Itzig 3. — , J. Gans 3. — , M. Miodowski 3. — , 
David Mendel 1. — , L. Leonitzky 1. — , M. Zucker 
2. — , L. Grunwald 1. — , H. Hirsch — .50, L. Rodi^ewski 
1.50, Gebr. Siebert 3. — , J. Jadesohu 2. — , M. Gans 
1. — , N. N. 1. — , Siegm. Freund 1. — , Carl Lewin 2. — , 
Türk i:— , Abr. Schöps 1.—, L. Licht 1.—, Sam. 
Gersohn 2. — , M. Sokolowski 1. — , Wiener 1. — , 
S. Ascher 1. — , Marcus Meyer 2. — , Michael Haase 1. — , 
R. Rubin 1. — , S. Mannes 1. — , Frau Rodijewski 1. — , 
Frau Eva Miodowski 4. — , bei der Bris Milo im Hause 
des Herrn Lehrer Cohn 2.20, Bernhard Gerson 1. — . 
Zabrze: Durch M. Fischer: Rabbiner Dr. Kaatz 3.—, 
Julius PoUak 10. — , M. Fischer 5. — , Kochmann 3. — , 
A. Kaiser 3. — , A. Olschowsky 2. — , Hugo Böhm 5. — , 
Georg Krebs 2. — , J. Loebmann 3. — , Eugen 
Haendler 10.—, R. 2. — , Dr. Baumgart 2.—, Leo 
Weinstein 2. — , Kaufmann Baumgart 1.50, Hugo 
Grünberger 3.—, N. N. 2.—, A. Ehrlich 2.—, 
N. Seidler 2.—, Adolf Pollack 5.—, Jos. Hecht 2.—, 
E. Krebs' 1.50, N. Nebel 2.—, L. S. 1.—, H. Grün- 
berg 1.—, S. N. 1.—, J. Weissenberg 2. — , J. Haendler 
10. — , Max Formann 1. — , Grünwald 5. — , Max 
Eisner 1. — , H. Fischer 1. — , Lange 1.50, A. Ascher 
1. — , B. Pniower 3. — , Josef Herzka 0.50, Bruno 
Herzberg 2. — , R. W. 1. — , Isidor Silbermann 2. — , 
M. Steuer 1.—, B. Salinger 1. — , Max Angress 1. — , 
Moritz Pinkus 3. — , Georg Prager 1.—, Max Glaser 
1.50, S. Benger 1. — , Hermann Wiener 3.—, Pauline 
Pollack 1.—, N. N. 1.50, Josef Herzberg 1.50, Toczek 
0.50, Wolff 2.—, L. Morgenstern 1.—, B. Wieland 
1. — , N. Pollack 3. — , Grabowski 1. — , Schöngut 
1.—, R. 1.—, N. N. 1.—, S. Kosterlitz 3.—, Gebr. 
Markus 2.—, S. Sorsky 1. — , Julius Kochmann 10. — , 
L. 1. — , D. Misch 1. — , R. F. 1. — , Moritz Eisner 
2. — , M. Finkelstein 2. — , M. Riesenfeld 1. — , Graetz 
2. — , Unger 3. — , Knoche 1. — , Metz 2. — , Josef 
Brauer 1. — , Jacob Brauer 1. — , J. Eisner 1. — , Max 
Kaiser 1, — , L. Cahn 1. — , Henriette Steuer 1. — , 
Eugen Pollack 5. — , L. Herlitz 2. — , H. Herzberg 
1.—, M. Kiiser 3. — , W. Isaac 3. — , J. Kochmann 
1. — , Franz Kochmann 2. — , D. Waldmann 1. — , 
Krebs 3.—, Siegel 1.—, Grünberg 1.50, N. N. 3.—, 
Schönfeld 1.—, L. Danziger 1.50, A. Seh. 1.50, 
A. Richter 1.50, F. Eisner 1. — , N. Schulz 1. — , 
Martin Zimmermann 2. — , F. Friedländer 1. — , Glaser 
2. — , J. Simonauer 1. — , Max Daniel 5. — , J. W. 1. — , 
N. N. 2.—, E. H. 2.—, Leop. Katz 2.—, Goldmann 
1.—, Fr. 1.50, A. Prager 1. — , Max Goldstein 2. — , 
M. Leschziner 1. — , Meiler 3. — , Tichauer 1. — , 
Fröhlich 3. — , Albert Siedner, Biskupitz 3. — , Josef 
Wischnitzer 1.—, B. Kosterlitz, Biskupitz 1.50, 
Oschinsky 1.50, S. Hanamer in Mikultschütz 1.50, 
Branner 1. — , M. Thomas 3. — , J. Schauer 2. — , 
Hugo Gruss 3.—. Berlin; Jac. Richter 5. — . Hamburg: 
Dr. Caro 10.—. 



Expedition nach Abessinien. DasCeDtral-Comite der 
Alliance Israelite Universelle hat beschlossen, eine Studien- 
kommission nach Abessinien zu entsenden zur Erforschung 
der wirtschaftlichen, sittlichen und gesellschaftlichen 
Lage der Falaschas in den verschiedenen Provinzen, 



wo das Vorkommen von solchen durch frühere Forüchang 
festgestellt worden ist. Mit der Leitung der Expedition 
ist Herr Naham beauftragt, Professor am Rabbiner- 
seminar zu Konstantinopel, der in der Schule für 
lebende orientalische Sprachen und in dem Rabbiner-