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Presented by
Congrtgatioii
Southf ield, Michigan
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^bbi Morri^dler
Judaica Collection
ofthe
^Tifver^itygfMichigaTi
Libraries
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OST UND WEST
Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum
Herausgegeben und redigiert
von
Leo Winz
SIEBENTER JAHRGANG
BERLIN
VERLAG OST UND WEST LEO WINZ
1907.
/
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VI
INHALT DES SIEBENTEN JAHRGANGES
4i
Kr
AUFSAETZE.
Almoni, Dr., S., Moritz Steinschneider
Almoni, Von der jüdischen Aus-
wanderung
B., Ein jüdisches Künstlerpaar in Russ-
land
Ben-Uri, Jettchen Gebert
Berliner, Professor, A., Aus vergilbten
Papieren
Beinfeld, Dr., S., Ost und West in
der jüdischen Wanderung ....
— , Kleinere jüdische Sprachgebiete. .
— , Jüdische Organisation in der Dias-
pora
— , Erinnerungen an Chajim Steinthal
— , Die Organisation der Verteidigung
Coralnik, A., Schalom Asch als
Dramatiker
Donat, Adolph, Neues von Lesser Ury
— , Hugo Reinhold
Eberhard, Die inakkabäische Er-
oberung im Lichte der Aus-
grabungen
Eliaschoff. Dr., S. J. Abramowitz. .
Eschelbacher, Dr., Max, Aus dem
Leben der Lehranstalt
Geiger, Professor, Dr, Ludwig,
Der Lehranstalt für Wissenschaft
des Judentums
Goldmann, Dr., Felix, Das Kura-
torium der Lehranstalt
Hallgarten, Charles, L., Der
Kollektant
Hermann, Georg, Isaak Lewithan
Hirschberg, Leopold, Dr., Der
poetisch verherrlichte Mose>
Mendelssohn Vi 11
Jacchia, Piero, Henryk Glicenstein .
Joseph, Dr., Max, Die Dozenten der
Lehranstalt um 1890
Kellnir, L, Der chassidische Ossian .
Klausner, M. A., Das Jahr 1006 (Ein
Rückblick)
— , Vererbte Uebersetzungsfehler . . .
— . Dr. Philipp Kroner. Ein Nachruf .
— , Der Aufstand in Rumänien . . .
-, Die Lösung der judenfrage . . .
Klein. D. G., Professor, Abraham
Geiger als Lehrer
Kutna, CL, Emmanuel Hannaux . . .
- . Jüdische Künstler in Paris . . .
, I ucien L^vy-Dhurmer
Leven, Xarciss, Die Tätigkeit der
Jewi: h Colonisation Association . . Vlll
Heft Spalte
III 181-186
VII 469-472
VII 465—468
II 103—108
VII 427-432
IV 217—222
VI 359-362
X 605-610
XI 703-708
XII 737-742
VII 459-466
IV 223 - 224
X 609-614
XII 751-758
X 633-644
XI 711-717
XI 689-694
XI 683-688
III 145-148
IV 241-246
IX 549-554
III 155-166
XI 697-702
II 111-114
I 1-10
II 115-130
II 129-130
V 293-300
X 629-634
XI 693-698
I 13-15
II 85-04
V 301-306
_IX 493-504
Leven, Philidor, Dr., Benno Elkan .
Lin, Josef, Die ostjüdische Presse . .
— , Die jüdische Presse in Oesterreich
Longi, P. A., Die zweite Duma . .
M , Dr , Jamaika
Meiseis, Samuel, Jung- Hebräische
Lyrik I
— , Jung-Hebräische Lyrik II . . . .
— , Moderne Jargonlyrik
— , Heine im Hebräischen
Münz, Bernhard, Jakob Freudcnihal
Nossig, Dr., Alfred, Ausstellung
jüdischer Künstler
Perles, Rosalie, Die russischen
Juden in Königsberg i. Pr. . . .
Reiner, Dr., Julius, Die Sendung
Muhameds
Rohatyn, Dr., B., Das jüdische
Sprichwörterbuch
Rosenzweig, Adolf, Dr., Aus den
Kinderjahren der ,, Lehranstalt für
die Wissenschaft des Judentums"
Saphra, B., Berthold Auerbach . . *
Scheinhaus, Leon, Aus den alten
Gemeinden I
— , Aus den alten Gemeinden II . .
Steif, Dr., Max, Einiges über den ge-
schichtlichen Begriff des Amhaarez
Struck, Hermann, Einige Worte über
den »Bezalel«
— , Ernst Josephson VIII
Tobias, A., Neues von den Falaschas
Viator, Vom VIII Zionistenkongress VIII
Völlers. Prof. Dr., K., Was mich
zur Hochschule führte
Wo lf,Js.,JüdischeJugendwehr in England VIII
Wolff, A., Das auserwählte Volk . .
Z, Th., Zabludowski
Zepler, Bogumil, Dr., Ignaz Brüll
Zlocisti, Dr. med. Theodor, Zwei
Aerzte VIII
Heft Spalte
VI 363—364
V 317-322
VU 431-440
IV 269-272
III 177-182
IV 225-232
V 307-314
VI 369—386
XII 779-787
VII 425-428
XII 743-752
I 27-34
I 35-44
XII 759-768
XI 719-^724
n 73-84
IV 259-2()4
VI 399—40?
III 147— 15e
I 21-2(.
IX 505-512
IV 231— 23S
-IX 525 -53C
XI 709-710
•IX 529-532
II 95-102
I 9-12
X 625-628
IX 555-562
Ein jüdischer Liederabend . . .
Daniel Osiris
Eine Erinnerung
Jedide Ilmim
Nathan iel Sichel
Die Lehranstalt für die Wissenschaft
des Judentums
Der Neubau der Lehranstalt für die
Wissenschaft des Judentums . . .
I 71-72
III 1S5-185
VI 357—360
VI 405— 40r)
VII 441-444
t
XI 677-^8^
XI 715-72«
«n
ERZAEHLUNGEN etc.
Aismann, D., Eine Missetat . . . .
Bar-Ami, Aus der jüdischen Sagen-
* und Märchenwelt:
a) Die Macht des Gesanges
b) Der Chassid und die Räuber
c) Das Totenhed
d) Die Nachtigall
— , Aus der jüdischen Sagen- und
Märchenwelt:
Der König und seine vier Söhne .
Konopnicka, Maria, Der Pogrom (I)
. (11)
. m
Heft Spalte
VII 443-458
;»
I 15-20
V 325-328
II 108—110
II 191-1Q6
IV 263-270
Meiseis, S., Aus Benjamins Cheder-
jahren
Menkes, Hermann, Die Sänger . .
Rabbi nowicz, A. S., Verblasste Ge-
stalten
Schapire, Anna, Meine Tante Chane VIII
Scholem Alechem, Beim Doktor. .
-, Die Miiitärgestellung
Skorra, Thekla: Judenporzellan . .
Zlocisti, Hulda, Prinzessin Goldhaar
(aus dem Englischen)
Heft Spalte
I 43-54
XII 760-780
X 615-624
-IX 513-526
V 313-318
VI 391-398
IV 241-260
III 167—176
GEDICHTE.
Htft Spalte
Huldschiner, Richard, Die Tochter
Jephia. Ein dramatisches Gedicht VIII— IX 533-548
Jehuda ha-Levi, Abschiedsverse
(Uebersetzt von Emil Cohn) ... VI 385-388
Klausner, M. A.
Ein biblisches Trinklied
M. A., K., Gebet
Meiseis, Samuel, Ein Traum
Heft
Spalte
. VIIl-lX 511 512
I 12
I 53—54
Der Fuhrmann und die Eisenbahn
Der Rebbe
Psalm 42, Musik von Hirsch Liwschitz
Das Lied von dem Bart ......
MUSIK.
Heft Spalte Heft Spalte
X 645—646 Oi! Jossei mit dem Fiedel VI 389—392
I 19-20 Das Pekele VIII -IX 563-566
III 1S7— 190 mWo Du hingehst" (Musik von
IV 239-240 Bogumil Zepler) V 321 -326
ILLUSTRATIONEN,
^NACH GEMAELDEN, ORIGINAL-
ZEICHNUNGEN, RADIERUNGEN
UND SKULPTUREN.
Adler, Jules, Auf dem Boulevard
Antokolski, M., Judenkopf ....
Becker, Benno, Landschaft ....
Browne, H., Jüdische Schule in Tanger
Conrad, L., Höre Israel
Daunesteter, Helene, Arsene
(Selbstportrait)
--/Frau des Gesandten Motono . . .
— , Trotzköpf eh en
— , Im Spiegel
— , Miss Hartoy
— , Frau Mouromtzeff
Dclacroix, Eugene, Jüdische Hoch-
zeit in Marokko
Elkan. B. , Grabmal »Auferstehung".
Detail •
Grabmal »Auferstehung« ....
Portraiibtiste des Dr. Müser . . .
Flötenspieler
Portraitbüste des Zeichners Pascin
Brahms Impression
Die Eltern des Künstlers ....
Heft Spalte
XII
776
XII
762
XII
766
X 653-
-654
XII
755
11
107
11
110
II
111
11
112
11
113
11
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X 657-
-658
VI 363-
-364
VI 363-
-364
VI
365
VI
366
VI
369
VI
369
Vi
373
Elkan, B., Knabe
— , Portraitmedaille des Grossherzo^s
von Baden
Frank, Emanuel L, Der Hafen von
London
Glicenstein, Henryk, Selbstportrait
— , Bar-Kochba
t *t »I
t *t M • •
— , Portraitbüste des Gabriel d'Annunzio
— , Portraitbüste des Pianisten Mu/io
Hanozowski
— , II Domani
— Die Vorkämpfer
Gottlieb, M., Judith
Hannaux, Em., Poet und Sirene . .
— , Mme Coralie Cahen
— -, Baronin James Rothschild . . .
Hasselberg, P. Ernst Josephson , . VIII
Hirszenberg, S., Die Verbannung: .
Israels, Jozef, Notsignal
— , Lebensabend
— , Freude und Sorge
— , Portrait
— , Die Nachbarn
M»-fT
VI
VI
375
376
XII 781—782
III 155—156
III 157 -LS8
III 150-160
111 161—162
111 163
III 164
m 160
lll 169-170
XII 779-780
1 13-14
I 15
\ 18
-j> 5C"->-D0h
Xll 751 - 752
XII 743- TM
Xll 745— 74f.
XII 747-748
Xll 747
Xn 749 7^)1)
Heft Spalte
larav Sandor, Phrync ^^^ '^^^
J^Iephson. Ernst, Der ZJegenhirt . VIII-IX 505- 506
- Der spanische Tanz VIII— IX
Frau Hilma Marcus y,!!!""!^
Renholm, VIII-IX
Die Mutter des Künstlers ....
.Tante"
Frau Nennie of Geijerstam . . .
Frau Göthilda Fürstenberg . . .
Jeannette Frau Rubenson ....
Spanischer Zwerg ....
Kaufmann, J., Am Versohnungstag .
— , Trauer um den Toten
Koschell, M., Abigail vor David . .
Krestin, L., Verbotene Lektüre . . .
Le Brun, Jephta und seine Tochter .
Lecomte duNouy, Sabbatnachmittag
in einer ludengasse zu Marokko
Lenbach, Franz von, Jgnaz Brüll .
Levy, Henry, Bleistiftzeichnung . .
L6vyi M. B., Interieurs aus der Bretagne
Lesser, Ury, Moses
L6vy-Dhurmer, L, Der Richter . .
-, Bettler in Spanien
— , Die Blinden von Tanger . . . .
— , Georges Rodenbach
— , Die Mutter
- , Der Denker
Lewithan, Isaak, Der Wald . .
— , Heuschober
-, Studie
vin-ix
VIII-IX
VIII-IX
VIII -IX
VIII-IX
VIII-IX
XII
XII
507
510
511
514
515
518
519
522
523
773-774
787
im
— , Herbst
— , Abend
-. Studie
— , Herbst
— , Trüber Tag
— , Dorf
-, Studie • •
-, Herbst
Mayer, Constant, Die Waise .
— , Froh im Sinn
— , Die Näherin
Minkowski, M., Heimatlos . .
Moyse, E., Jüdische Hochzeit
Mittelalter
— , Das Ausheben der Thora . .
Mundlsk, Regina, Studie . .
— , Jüdischer Knabe aus Polen .
—, Zur neuen Heimat ....
~, Die ^bsthändlerin Vi II -IX 503-504
Pastern ik, L, Nach dem Progrom
Pavill, i:, Grossvater und Enkelin
-, Im Park Monceau
-, Auf der Place de la Bastille . .
Peyrc, R Gh., Zärtlichkeit . . .
— . Opfer an Venus
»^il-rhowski, L, Unterwegs . . .
Pisbaro, C. Undschaft ....
k»ortacls. J , Jifdin aus Tanger . ,
— , ji'idin aus Tetuan
XII 781-782
XII 769—770
VIII-IX 547-548
X 649-650
X 626
XII 750
XII 777
XII 742
V 301 -302
V 3o3
V 305-306
V 308
V 310
V 311—312
IV 235
IV 238
IV 241—242
IV 243—244
IV 246
IV 246
IV 247—248
IV 249-250
• IV 251-252
IV 254
IV 255-256
IV 257—258
II 103
II 105
II 106
XII 767
II 85-86
II 87
IV 219
IV 222
V 297-298
Hetf Spalte
Reinhold, Hugo, Frau Dr. Edmund
Meyer
— , Prof., Dr. Bernhard, Geh Med Rat
- , Lesende Mönche
-, Kinder, um ein Vögelchen trauernd
Reinhold, Hugo, Jonas Osbom . .
— , Dr. Ludwig Bamberger ....
— , Versuchung
— , Der vierte Stand
— , Jeremias
— , Ausverkauft
— , Schnitterin
— , Affe, einen Schädel betrachtend .
— , Am Wege
Sichel, Nathaniel, Mignon . . .
— , Judith
— , Uarda
— , Die Bettlerin vom Pont des Arts .
— , Esther
— , Die Mädchen von Tanger . . .
— , Miriam
— , Valcska
Simoni, G., Jüdische Konzert in
Marokko XIIl-IX 570-571
Solomon J. Solomon, Die Familie
des Künstlers
Solomon, Simeon, Abraham und Isaac
Spiro, Eugen, Portrait des Schrift-
stellers B • •
Ury, Lesser, David im Gebet . . .
— , Die Sintflut
— , Moses
Wagner, Büste einer jungen Jüdin
Weissmann, Jaques, Portrait der
Madame X
— , Portrait des Herrn C M. Gariel .
Worms, Jules, Bekanntmachung . .
— , Beim Einkauf
— , Vordem Richter
XII 758
II 99-100
II 101-102
II 101 — 102
II
II
XII
XII
X
X
91
94
753—754
763
661
662
X
611
X
öU
X
613
X
613
X
613
X
614
X
615
X
616
X
617
X
618
X 617-
-618
X
619
X
622
VII 433-
-434
VII 437-
-438
VII 441-
-442
VII
442
VII
446
Vll 449
-450
VII 453
-454
XII
783
Xll
771
XII
776
XII
786
IV 223-
-224
IV 225-
-226
XII 741-
-742
Xll
775
II
89
II
90
II
95
II
9>.
II
98
„BEZALEL".
Schüler, Schülerinnen und Personal des
Bezalel /
Muster für Teppiche im jüdischen Stil
Gipsmodelle „ » «
Muster für dekorative Buchstabenver-
bindungen auf Teppichen ....
Boris Schatz im Kreise seiner Schüler
Obere Klasse. Zeichnen nach der Natur
Arbeiten der Schüler der oberen Klasse
Beim Zeichnen von Pflanzen ....
Die Gipsgiesserei-Abteilung des Bezalel
Beim Stilisieren der Pflanzen ....
Im Garten des Bezalel
Teppich-Abteilung
VERSCHIEDENES.
Das neue Gebäude der Lehranstalt für
die Wissenschaft des Judentums in
Berlin
21 -22
23-24
25-26
25—26
'29-30
31
34
35
38
39
41-42
43
67-68
r
Hfft
VERSCHIEDENES.
Bar-Mizwa-Unterricht II
Die Synagoge von Kingston .... III
Die jüdische Familie Motta in Kingston
auf Jamaika, die 5 Mitglieder durch
das Erdbeben verloren hat . . . III
Der Jordan V
Rothschildschule in Jenisalem .... V
„ M »» Haremspiele . V
II ft tt Lea als
trauernde Tochter Zion .... V
Soldatenspiele im Park VI
Turnen am Rundlauf in der Turnhalle VI
IV. Klasse der Taubstummen-Schule
mit dem Lehrer VI
Wüstenpolizist V
Sprachübung in der II. Klasse ... VI
Der Artikulationsunterricht in der
untersten Klasse VI
Szene aus: »Der Gott der Rache« von
Schalom Asch VII
Szene aus: »Der Gott der Rache" von
Schalom Asch VII
Gruppe jüdischer Auswanderer, die unter
Leitung der J. T. O. am 7. Juni mit
Dampfer «Cassel« des Nord-
deutschen Lloyd in Bremen nach
Galveston expediert worden sind . VII
Gruppe aus dem Zeltlager der jüdischen
Jugendwehr in England .... VlII/lX
Gruppe aus dem Zeltlager der Judischen
Jugendwehr in England .... VIII/IX
Verkleinerung des Original-Titels von
•Moses Mendelsohn der Weise und
der Mensch* VIII/IX
Gruppe der derzeitigen Hörer der
•Lehranstalt für die Wissenschaft
des Judentums" XI
Neubau der Lehranstalt für die Wissen-
schaft des Judentums" XI
PORTRAITS.
Abramowitz, S. J X 633
d'Annunzio, Gabriel III
Back, Dr., Rabb XI
Baerwald, Dr. H.| III 211
Bamberger, Dr., Ludwig X
Baneth, Dr XI
Barol, Dr XI
Bernfeld, Dr XI
Bernhard, Geh. Med.-Rat, I^of., Dr. . X
Blumenthal, Dr , Rabb XI
Brandon, Isaac III
Briill, Ignaz X
Buber, Salomon I
Cahen, Coralie, Mme I
Cassel, Dr., David XI
Cohen, Herrmann, Prof. Dr., Geh. Reg.-Rat X 1 ()80
Cordora, Charles de III
Darmesteter, Helena, Arsene .... II
"Elbogen, Dr., J XI
Spaljc
83-84
175
177- 178
342
346
347
350
404
404
406
354
406
406
459- 660
461—462
469-470
531- 532
531-532
549-550
714
718
625
137
-634
163
709
-212
614
702
710
706
611
708
180
626
-138
15
700
()90
179
108
701
Heft
Feilchenfeld, Rabb., Dr ; vil
Feuchel, Jul ; . \y
Frank, Rabb,, Dr m
Franke, Dr., P. F. xi
Fränkel, B., Geh. Med.-Rat Prof. ... X
Freudenthal, Jacob vil
Freund, Rabb., Dr \
Fürstenberg, Göthilda ....... VIII— IX
Galliner, Rabb., Dr., J xi
Gariel, CM ji
Geiger, Abraham xi
Geiger, Prof., Dr., Ludwig xi
Geijerstam, Nennie, Frau vill— IX
Glicenstein, Henryk m
Goldberger, L. M, Geh. Kommerzienrat XI
Gottheil, Prof., Rieh xi
Grossherzog von Baden. Portraitmedaille VI
Hannaux, Em. i
Hanozowski, Muzio m
Hartoy, Miss \[
Hirsch, Prof., E. G., Prediger .... XI
Hochfeld, Rabb., Dr xi
Joseph, Rabb., Dr xi
Josephson, Ernst VIII— IX
Kaminka, A.,- Dr xi
Kalischer, Rabb., Dr xi
Kamionska-Klara, Brun VII
Kamionski, Oskar . , vil
Klein, Prof., Dr., Oberrabb XI
Kroner, Philipp, Dr n
Lazarus, Geheimrat, Prof., M X
Levy, Gotth vil
Lewithan, Isaak iv
Lewy, Israel, Dr xi
Lilienthal, Justizrat xi
Low, Oberrabbiner, Dr XI
Lucas, Dr., Rabb xi
Marcus, Hilma, Frau VIll-IX
Maretzki, Dr iv
Maybaum, Prof., Dr xi
Mendel, Prof., Dr., E V/Ii-IX
Mercado, C. de * . . . . 11 1
Meyer, Moritz, Stadtrat • \i
Meyer, Frau Dr. Edmund X
Mordecai, L M m
Motono, Frau ii
Motta, Dr., A. C lij
Mouromtzeff, Frau li
Mudahy, Jacob \\\
Müller, Dr., Josef xi
Dr. Müser V|,
Neumann, Dr ix
Neumann, San.-Rat, Dr., S X
Neumark, Rabb., Dr Xi
Nöther, Emil VI
Oppenheim, Rabb., Dr., G XI
Oppert, Prof., Dr., Gustav .... M
Osbom, Jonas X
Oschinsky, Th '/
Osiris, Daniel II
Pascin \ 1
Philippson, L. Dr.,- Rabb a(
Spalte
487
289—290
213-214
699
612
428
69—70
519
710
90
695—696
688
518
155
685
711
-376
13-14
165
114
711
708
708
506
711
710
467
466
709
130
682
485
242
699—700
705
711
707
510
290
701-702
562
180
f)R4
611
ISO
110
180
114
180
700
365
708
681
708
486
712
686
613
> 7^338
186
369
6S 1-682
Plotke, Rechtsanwalt XI 70t)
Poznanski, Dr., S., Rabb Xi 707
Rtnholm VIIl 511
Rosenzweig, Rabbiner, Dr XI 720
Rothschild, James, Baronin 1 18
Rubenson, Jeanr'itte, Frau VIII -IX 522
Salvendi, Dr IV 289-290
Samuel, Dr., Rabb XI 710
Sdigsohn, justizrat XI 687
Senator, H., Geh. Medizinalrat, Prüf.,Dr. VIII IX 555-556
Sichel,;Nathaniel VII 442
Simon, Louis, Geh. Komm Rat . . . Xi 683
Stcinthal,'Chajim XI 702
Simon, Ida, Frau XI 684
Simon, justizrat, Hermann, Veit . . .
Steinschneider, Moritz
Schiff, Jacob. H
Schechter, Prof., Salomon
Schreiner, Dr., Martin
Timendorf er, justizrat
Vogelstein, Dr., Herrn., Rabb
Walter, Rabb., Dr
Warburg, Professor, Dr., Otto. . . .VIII
Warschauer, Dr., M., Rabb. .....
Weiss, Max
Wolffsohn, David VIII-
Yahuda, Dr
Zabludowski, Prof., Dr
Heft
Spahf
XI
686
lU
182
II
140
XI
712
XI
699
IV
290
XI
710
XI
709
-IX
530
^1
708
XI
687
-IX 525
-526
XI
702
l
IT
MITTEILUNGEN AUS DEM DEUTSCHEN BUREAU DER ALLIANCE
ISRAELITE UNIVERSELLE.
AUFSAETZE.
Heft
Die Knabenschulen der Alliance in
Mogador (Marokko) ...... I
Die Knabenschule der Alliance in Bagdad I
Das Schulwerk der Alliance in Saloniki I
Bekanntmachung '. . 11
Die Lage der Juden in Persien ... II
Salomon Buber II
Jacob H. Schiff II
Die Kreditgenossenschaften in Galizien II
Die vierte Tagung der Deutschen
Conferenzgemeinschaft der All. Isr.
Univ. am 19. Februar 1907 in
Frankfurt a. M III
Die Israeliten in Tripolis III
Dr. Hermann Baerwald III
Rabb. Dr. Frank, Cöln III
Die Israeliten Rumäniens IV
Die Vorkommnisse in Rumänien ... IV
Die A. I. U. und die persischen Juden IV
Jubiläumsfeier der Logen IV
Bezirksrabb. Dr. Salvendi, Dürkheim . IV
Das Schul- und Lehriingswerk der A. I. U. V
Theodor Oschinsky V
Mein Aufenthalt in Palästina von
Th. Oschinsky V
Das rumänische Hilfswerk VI
Das Ackerbauwerk VI
Russische Versuche in Bulgarien ... VI
Spalte
5'i— 58
59-64
63-66
131—132
133—136
137—140
139-142
141 — 144
197—204
205-210
209—212
211-214
273-286
285-286
285-288
289-290
289 - 292
329—336
337—338
337-354
407—410
409-418
417-422
Heft
Die General-Versainmlung der Berliner
Mitglieder der A. I. U VII
Der Jahresbericht des Central-Comites
der A. I. U. für 1906 . . . . . VII
Zwei Veteranen der A. I. U VII
Das Unterstützungswerk der Alliance in
Casablanca VlII-IX
Die israelitische Gemeinde in Kachan . VIII— IX
Aus anderen Gemeinden Persiens . . VIIl— IX
Trauerrede an der Bahre Theodor
Oschinskys VIII-IX
Die Jahreswende X
Das Unterstützungswerk der Alliance in
Marokko • X
Aufruf für die marokkanischen Glaubens-
genossen X
Briefe aus Arabien X
Schulbericht aus Bagdad X
Die Israeliten in Persien X
An die Lehranstalt für die Wissenschaft
des Judentums XI
Das Unterstülzungswerk der Alliance
in Marokko XI
Die Juden von Marokko XI
Erklärung XII
Achad Haam über das Schulwerk
der A. I. U XII
Das Hilfswerk der Alliance in Marokko XII
spalte
473-484
483-486
485 488
567—572
573-586
587—596
595-600
647-648
651—664
665-668
671-674
673-674
675 - 676
725-726
725—728
729 - 734
789-796
795-796
799—800
NOTIZEN.
Heft I. Vorträge über die A. I. U. justizraf Dr. Hermann Veit Simon. — Rabb. Dr. Freund, Göriitz. — Jacob
H. Schiff, New York. — Handelsminister Oscar S. Strauss, New York. — Neue immerwährende Mitglieder
in Berlin und Breslau.
Heft II. Salomon Buber. — Das Lokal-Comit6 der A. I. U. in Köln. — Neue immei*währende Mitglieder in Frankfurt a. M.
1.
Heft in.
Heft IV.
Heft V.
Heft VI.
Heft VII.
Heft VI 11
Heft X.
Heft XI.
Heft XII.
Neue immerwährende Mitglieder in Berlin. — Rabb. Dr. Freund, Görlitz. — Rabb. Dr. Salvendi. — Das
50jährige Jubiläum des Norddeutschen Lloyd. — Die A. I. U. in Mannheim.
Die A. I. U. in Frankfurt a. M. - Die A. I. U. in Pleschen (Posen).
Die Tätigkeit der A. I. U. in Jerusalem. ~ Die Vorkommnisse in Rumänien. — Spenden für Rumänien. —
Sitzung des Bezirks-Comitfe Nürnberg.
Gedenktafel. — Eine Sitzung des Berliner Lokal-Comit^s der A. I. U. — Das Lokal-Comit^ der A. I. U. in
Mainz. — Das Lokal-Comit6 der A. l. U. in Darmstadt. — Spenden für Rumänien. — Neue immerwährende
Mitglieder in Berlin.
Rabb. Dr. Feilchenfeld, Posen. — Das rumänische Hilfswerk. — Spenden für Rumänien. — Deutscher Unter-
richt in Constantinopel. — Eine Sitzung des Lokal-Comit^s der A. I. U. in Wiesbaden. — Das Lokal-Comit^
der A. I. U. in Königsberg i. Pr. — Aufruf an die Mitglieder der A. I. U.
— IX. 'Hilfstätigkeit der A. l. U. in Marokko und Russland. — Die amerikanische Einwanderungskommission. —
Die AUiance-Schulen in Tunis. — Lokal-Comit^ Worms. — Neues Lokal-Comite Kiel. - Nachtrag zum Jahres-
bericht der A. I. U. für 1006. — Ein Urteil über das Alliancewerk in Persien.
Spenden-Verzeichnis. — Neue immerwährende Mitglieder in Berlin.
Spenden-Verzeichnis. — Lokal-Comite Berlin.
Sammlung für die marokkanischen Glaubensgenossen. — Expedition nach Abessinien. — Landes-Comit^ für
das Grossherzogtum Baden, — Die A. l. U. in Karlsruhe i. B. — Gedenktafel.
ILLUSTRATIONEN.
Heft
Alliagice Knabenschule in Bagdad . . V
„ 6.-12. Klasse V
„ 1.-5. Klasse V
V
„ Riwka Nuriel in Bagdad V
Allianc« Knabenschule in Beirut . . V
Die Alhance-Mädchenschule in Tanger
IV. Klasse / VlII-IX 569-^570
t*
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11
tt
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I»
II
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Spalte
330—331
330—331
331—332
331-J32
333-334
343
Heft
Spalte
Die Alliance-Mädchenschule in Tanger
in, Klasse VIII-IX 569-570
Pilgerfahrt von Zöglingen der Hand-
werkerschule 5. Jahrgangs nach
Jerusalem VIII— IX 573-574
Die Alliance-Mädchenschule in Bagdad VIII— IX 575
„ „ -Knabenschule „ „ VIII— IX 576
Die Alliance-Knabenschule in Jaffa . VIII-IX 581—582
Verantwortlich für die Redaktion: Chefredakteur Leo Winz, Berlin W. 15, Knesebeckstr. 48/49.
Verlag Ost und West, Leo Winz, Berlin $.42. - Druck von Beyer & ßoehme, Berlin S. 42, Wasserthorstrasse 50.
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ILLUSTRIERTE MONATSSCHRIR
V
FÜR DAS GESAMTE JUDENTUM
Herausgegeben und redigiert
von
LEO WINZ.
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Alle Rechte vorbehalten.
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Heft].
Januar 1907.
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VII. Jahrg.
««Mt^Mt^ta*^^^^«^««^MA<
An unsere Leser!
Titel und Register zum vorigen Jahrgange sind vorliegendem Hefte beigegeben, mit dem
V siebente Jahrgang unserer Zeitschrift beginnt.
Soweit nichts Gegenteiliges mitgeteilt wird, werden wir das Abonnement der seitherigen
Abonnenten als verlängert betrachten,
Verlag und Redaktion von „OST und WESV.
DAS JAHR 1906.
Ein Rüci<blici<.
Von M. A. Klausner.
Das Schicksal hat uns nicht verwöhnt. Wenn
uns ein Jahr kein besonderes Leid gebracht hat,
so sprechen wir voller Dank von einem freund-
lichen Wandel des Geschicks, so sehen wir bereits
die Morgenröte jener friedlichen Zeit, von der
unsere Propheten gesprochen haben. Denn der
Geist der Propheten, die in Sturm und Not
nicht verzagten und selbst unter der Geissei des
Unheils den Sieg der Gerechtigkeit in Gottes
Namen vorschauend verkündeten, dieser Geist
des unverwüstlichen Optimismus lebt auch in
uns, wie er überhaupt das Leben unserer Ge-
meinschaft erhalten hat.
»Die Geschichte", sagt Hegel, »ist der
Fortschritt der Menschheit im Bewusstsein der
Freiheit." Unsere Geschichte ist der Fort-
schritt der Menschlichkeit und Gerechtigkeit, wie
unsere Religion im wesentlichen die Offenbarung
des Rechts ist, des Rechtes aller Kreatur unter-
einander und vor dem Schöpfer selbst. Dass
dieser Fortschritt zur Gerechtigkeit so langsam
ist, können wir beklagen doch kann das unsem
Stolz darüber nicht mindern, dass der Fortschritt
unserer Gemeinschaft ein Vorbild ist für den
Fortschritt der Menschheit und Menschlichkeit,
dass in unserm Schicksal sich „der Fortschritt der
Menschheit im Bewusstsein der Freiheit" spiegelt.
Wenn ein Rückschlag in unserer Freiheit unser
Empfinden auf das tiefste schmerzlich erschüttert,
so beklagen wir zugleich das gemeine Mensöh-
heitslos. Finden wir dabei kein Mitgefühl bei
unsem Menschenbrüdern — so ist das schlimmer
für diese als für uns, und wir haben keinen
Grund, die Erbarmungslosen zu beneiden.
w Nicht ein Einzelner ist wider uns aufge-
standen, uns zu verderben, sondern von Ge-
schlecht zu Geschlecht erhoben sich Hasser, uns
zu vernichten; doch der heilige Gott rettete uns
aus ihrer Hand." Diese Worte, die wir am
Passahabend sprechen, enthalten unsere Leidens-
geschichte; sie bezeugen, dass Gerechtigkeit und
Menschenliebe den Sieg noch nicht errungen
haben; sie bezeugen zugleich unserer Väter und
unsere Zuversicht in den Gott-Retter, der uns
M. A. Klausner: Das Jahr 1906.
bis auf diesen Tag erhalten hat. Diese Zuversicht
ist die Grundlage unseres von den Propheten
ererbten Optimismus.
Dieser prophetische Optimismus soll uns
niemals verlassen, auch in dem Augenjjlick nicht,
da wir schmerzergriffen der Vorkommnisse ge-
denken, die den Legionen unserer Märtyrer neue
Scharen zugeführt haben. Der Schauplatz der
grausamen Verfolgungen unserer Glaubensge-
nossen ist der Teil Russlands, der nach seiner
geographischen Lage zum europäischen Russland
gerechnet wird, der aber von europäischer, von
menschlicher Gesittung weltenfern ist. Nicht ein
in Unwissenheit verkommener und durch seine
ungezügelten Leidenschaften in Taten der Wut
sich ergehender Pöbel hat in Siedlic und an
anderen Orten zu Raub und Mord, zur Ab-
schlachtung Unschuldiger sich vereinigt — viel
Schlimmeres ist geschehen : die geordneten Träger
der Staatsgewalt haben den Pöbel zu jenen Ge-
walttaten planvoll angestiftet! Die Beugung der
Gerechtigkeit wurde zur Staatsmaxime gemacht.
Taten der Unmenschlichkeit gaben sich für
Staatsrettertum aus! Man muss weit, sehr weit
zurückgehen, um in der Weltgeschichte Blätter
zu finden, die von ähnlichem Gräuel berichten.
Russland ist revolutioniert, das ganze Russ-
land. Keine Bevölkerungsschicht, die nicht der
Regierung gegenüber voller Abscheu und Ver-
achtung wäre. Selbstverständlich teilt die jüdische
Bevölkerung Russlands diese Stimmung der Um-
gebung. Es wäre wider die Natur, wenn es
anders wäre. Niemand würde es glauben, wollte
man sagen, dass der Bevölkerungsausschnitt im
russischen Reich, der von der Regierung am
meisten gelitten hat, jenen Abscheu und jene Ver-
achtung nicht teilte. Und wäre das Unglaubliche,
das Widernatürliche wahr, man würde dafür
keine andere Erklärung haben, als dass die lange
Unterdrückung die Gequälten moralisch und
geistig bis zur Widerstands- und Willens- und
Hoffnungslosigkeit erdrückt und zermorscht habe.
Gewiss lag das in der Absicht der Gewalthaber,
der Pobedonoszew und Genossen. Doch vor
diesem äussersten Unglück unverdienter Schande
sind unsere russischen Brüder bewahrt geblieben.
Gut und Freiheit hat man ihnen genommen —
der männliche Mut war in ihnen unvertilglich.
Nicht gern und erst in äusserster Not haben sie
zu den Waffen gegriffen, im Verein mit ihren
andersgläubigen Landsgenossen. Sie sind ein
leidgewohntes Geschlecht. Wenn sie gleichwohl
sich empörten und Gewalt der Vergewaltigung
entgegenstellten, so ist damit allein bewiesen,
dass die Qual unerträglich geworden war, dass
das Leben eingesetzt werden musste, damit das
Leben gewonnen werde. Dass unsere inter-
nationalen nationalistischen Feinde unseren russi-
schen Brüdern die Notwehr zum Verbrechen an-
rechneten, sie als berufsmässige Revolutionäre
ausgaben, ist selbstverständlich. Dieselben Ver-
ketzerer der Juden hätten mit Hohn und Ver-
achtung von eben diesen russischen Juden ge-
sprochen, wenn die jüdischen russischen Männer
teilnahmlose Zeugen der Revolution geblieben
wären und untätig zugeschaut hätten, wie andere
ihnen Befreiung zu bringen sich bemühten. Jene
internationalen nationalistischen Feinde der Juden-
heit sind die Gesinnungsgenossen, die Helfer, die
mitschuldigen Kronzeugen der Massenverbrechen,
die unter Duldung der amtlichen russischen Re-
gierung von der amtlichen russischen Neben-
regierung im vorigen Jahr ebenso wie in dem
voraufgegangenen verübt worden sind.
Der Witz der russischen Pogrom - Politiker
ist so dürftig, dass überall nach dem gleichen
Schema verfahren wurde, das durchsichtig ist für
jeden, der nicht freiwillig blind und darum un-
heilbar blind ist: An einem Ort ist ein Polizei-
vorsteher, der die Juden nicht unmenschlich be-
handelt und dafür von den jüdischen Einwohnern
geliebt, verehrt, gepriesen, gesegnet wird. Der
Polizeivorsteher fällt von Mörderhand. Der Mörder
wird nicht entdeckt: Die kriminalistische Frage
wcui bono?" würde den Verdacht auf die Amts-
genossen des Ermordeten leiten, die an seiner
Menschlichkeit den Juden gegenüber Anstoss ge-
nommen hatten, weil sie durch den gerechten
Mann gehindert waren, nach ihrer Laune Er-
pressungen, Gewalttaten, Räubereien zu begehen.
Diese Amtsgenossen spielen sich als tiefergriffene
Freunde, als die berufenen „Rächer" des Er-
schlagenen auf, und ihr beleidigtes Freundes-
gefühl wendet sich gegen die Juden, die ihren
Helfer und Beschützer erschlagen haben sollen.
„Gebt den Mörder heraus!" — diese Forderung
ergeht an die Juden, die nicht antworten dürfen,
wo sie den Mörder vermuten, auch nicht sagen
dürfen, dass es Sache der Polizei sei, den Mörder
zu finden. Die Forderung, die unerfüllbar ist,
wird nicht erfüllt, und der Pogrom beginnt —
Die einzige Variante, die man sich gestattet, be-
steht darin, dass in einer Stadt, die zu vier Fünfteln
jüdische Einwohner hat, deren Revolutionäre also
M. A. Klausner: Das Jahr 1906.
aller Wahrscheinlichkeit nach zu vier Fünfteln
Juden sind, von dem Polizei- oder Militär-
gewaltigen die Juden zur Auslieferung der Re-
volutionäre, der Bombenwerfer bei Strafe des
Pogroms aufgefordert werden. Natürlich kennen
die Juden die Revolutionäre ihres Glaubens nicht,
so wenig wie die Christen die Revolutionäre ihres
Glaubens kennen. Doch die Christen werden
mit der analogen unsinnigen Forderung nicht
behelligt, die nur den Juden gegenüber vor-
kommt, und Vorwand und Ankündigung des
Pogroms bildet, des staatsretterischen Terrorismus,
der als nicht unwillkommene Nebenwirkung noch
Beute bringt
In den letzten Monaten des vergangenen
Jahres ist eine gewisse Ruhe eingetreten, hat man
von Ausschreitungen in den schlimmsten Formen
nicht gehört. Leider haben wir keinen Grund,
das einem Erschrecken der russischen Gewalt-
haber vor ihrem eigenen Werk zuzuschreiben,
dem erwachenden Gewissen oder der sich regen-
den Reue. ~ Eine Anleihe ist gewiss in Sicht, und
zu den Vorbereitungen hierfür gehört wenigstens
der Anschein der ' Ruhe, das Unterbleiben der
gröblichsten Ausschreitungen. Dass die Ver-
folgungspause zu so gelegener Zeit eintritt, ist
ein weiterer Beweis für den Zusammenhang
zwischen Regierung und Pogromveranstaltung.
Dass den Pogroms ein gewaltiger Aus-
wanderungsdrang folgte, ist selbstverständlich.
Die Bewegung der Auswanderungsziffer im ver-
gangenen Jahr legt Zeugnis davon ab. Die
wirtschaftlichen Verhältnisse hätten in Russland
eine starke Auswanderung nicht bedingt. Sie
war auch in den ersten Monaten des Jahres
gering. Der Pogrom von Bialystok Hess sie
plötzlich anschwellen. Dann trat Verebbung ein,
bis die Reihe der neuen Pogroms, in Siedlic ein-
geleitet, neue Flut brachte.
Dass die jüdischen Wohlfahrts-Organisationen,
die Alliance Isradite Universelle mit den Seh wester-
Instituten voran, für die Notleidenden schnell mit
reicher Hilfe sorgten, dass sie namentlich im Ge-
folge der Jewish Colonisation Association die Aus-
wanderer-Unterstützung mit Mitteln versah, soll
an dieser Stelle nicht näher dargelegt werden.
Auch von dem Auswanderungs - Problem und
seinen Einzelheiten kann hier nicht ausführlich
die Rede sein. Nur von der Auswanderungsnot
haben wir hier zu sprechen, insbesondere von
dem Teil der Auswanderungsnot, die in den den
Auswanderern bereiteten Schwierigkeiten besteht.
Die Hauptzufluchtslande der russischen
jüdischen Auswanderer sind England und nament-
lich Amerika. Es ist offenkundig, dass die Lohn-
ansprüche der russischen jüdischen Auswanderer,
ebenso wie ihr ganzer Standard of life hinter den
Lohnansprüchen und der Lebenshaltung der ein-
geborenen Arbeiter in den genannten Ländern
zum Teil erheblich zurückstehen. Daraus ergibt
sich, wenigstens für eine Uebergangszeit, ein
Lohndruck, gegen den die Betroffenen begreif-
licherweise sich zu wehren suchen. Auch die nicht
unmittelbar Betroffenen haben ein unzweifelhaftes
Recht, eine Herabsetzung der einmal gewonnenen
Lebenshaltung der arbeitenden Bevölkerung des
Landes oder eines Teiles dieser Bevölkerung als
eine Schädigung anzusehen und demgemäss zu
bekämpfen. Es ist daher erklärlich — wenngleich
im Hinblick auf die Gesamtlage und auf die
Ursachen der russischen Auswanderung nicht
unbedingt zu billigen und in Bezug auf die
Folgen jedenfalls zu beklagen — dass England
wie Amerika begonnen haben, zur Verhütung
der unwillkommenen Nebenwirkungen der plötzlich
gesteigerten Einwanderung die Einwanderung
selbst durch erschwerende Bedingungen aufzu-
halten. Es wäre nicht richtig, hinter diesen Be-
strebungen durchaus antisemitische Neigungen zu
vermuten, und noch weniger klug, solche un-
richtige Vermutung in der Form anklagender
Behauptung zu lautem Ausdruck zu bringen.
Nicht alles, was uns missbehagt und uns schadet,
ist darum antisemitisch. Es ist am Ende ver-
ständlich, wenn man um das eigene Leiden in
des Reiches Untergang weint, es kann aber nicht
gebilligt werden, wenn man in allgemeiner Be-
drängnis nur für das eigene Leiden Empfindung
hegt und zeigt. Jüdisch ist das jedenfalls nicht
Die Auswanderungsbeschränkungen in England
und Amerika treffen unsere russischen Glaubens-
brüder vielfach hart, ihre Tendenz aber richtet
sich nicht ausschliesslich oder vorzugsweise gegen
diese. Wir haben vielmehr dankbar und rühmend
anzuerkennen, dass englische und amerikanische
Grossherzigkeit sich unsem russischen Brüdern
gegenüber im grossen und ganzen nicht verleugnet
hat, dass politische und religiöse Verfolgung für
unsere Brüder nach wie vor einen Freipass bildet
in jenen gastlichen Landen. Das schliesst nicht
aus, dass gewisse Strömungen vorhanden sind,
die sich namentlich gegen die Zusammenballung
jüdischer Einwanderer richten. Nur soll man
nicht vergessen, dass wir selbst solche Zusammen-
M. A. Klausner: Das Jahr 1906.
8
ballung nicht wünschen, dass wir lieber sehen
würden, unsere russischen Glaubensgenossen
Hessen sich nicht der Mehrzahl nach gerade in
Newyork oder sonst im Osten nieder, wo ihrer be-
reits fast eine Million zusammen ist. Fast hat es
den Anschein, als ob eben dieses Gedränge die
Flüchtlinge aus dem russischen Ansiedelungsgebiet
heimatlich anmutet. So begreiflieh das ist, so
sprechen doch triftige Gründe dafür, dass man
vorsichtig für eine bessere Verteilung sorgt, schon
damit die Zuwandernden durch die Fülle nicht
selbst einander Licht und Luft nehmen, damit
sie schneller dem äusseren Landesbrauch in
Sprache und Kleidung und in mancher
guten Gewöhnung sich anpassen können. Einst-
weilen haben wir Ursache, mit Freude zu sehen,
wie das russische Gefängnis sich allmählich
entleert Im vergangenen Jahr sind viele Zehn-
tausende unserer Glaubensgenossen aus dem
Lande der Knechtschaft in Lande der Freiheit
übergesiedelt, sich selbst und ihren neuen Mit-
bürgern zum dauernden Segen. Das Aufnahme-
gebiet hat sich kürzlich wesentlich erweitert Süd-
amerika hungert förmlich nach Menschen und hat
seine Pforten weit aufgetan. Die mit der Alliance
Isra^lite Universelle durch Personalunion ver-
bundene Jewisch Colonisation Association und
verwandte Institutionen in England, Amerika
und auf dem europäischen Kontinent haben in
der Stille vorgearbeitet Das Ergebnis wird erst
in einer späteren Zeit zu Tage treten. Heute
genüge, so viel zu sagen, dass seit den Zeiten
der Völkerwanderung nicht solche Massen von
Land zu Land sich gewälzt haben, wie jetzt über
das Meer geführt werden.
Der grösste Reichtum eines Landes besteht
in seinen arbeitskräftigen und arbeitswilligen Be-
wohnern. Das weiss man in England wie in
Amerika, und deswegen ist vorläufig nicht zu
besorgen, dass jene Länder sich der Zuwanderung
solcher Elemente verschliessen werden, besonders
dann nicht, wenn die oben erwähnten Verteilungs-
Massnahmen Erfolg haben. Erschwerungen freilich
sind möglich und beinahe wahrscheinlich. Doch
die Gründe dafür sind nicht in feindseliger Ge-
sinnung zu suchen, sondern in Erwägungen
wirtschaftspolitischer Art, denen eine subjektive
Berechtigung innerhalb gewisser Grenzen nicht
abzusprechen ist Noch ist die Dillingham-Bill
in den gesetzgebenden Körperschaften der Union
nicht durchberaten. Aber auch der angenommene
Dillingham-Antrag würde den Weg nach Amerika
nicht versperren.
Mit tiefem Bedauern müssen wir feststellen,
dass Deutschland zu den Staaten gehört, die sich
den russischen, namentlich jüdischen Flüchtlingen
gegenüber am wenigsten freundlich zeigen. Wir
haben es hier mit einer Erbschaft aus der Bismarck-
Puttkamerschen Zeit zu tun. Im Jahre 1885
begann — unter dem Vorgeben notwendiger
Abwehr der Repolonisierungsgefahr — die Aera
der Massenausweisungen Fremdbürtiger, d. h.
der russischbürtigen Personen. Viele tausende
mussten damals das Vaterland ihrer Wahl ver-
lassen, dessen Leiter gleichzeitig die Pforte der
Naturalisierung durch Verwaltungsverfügung fast
unpassierbar machten. Zehn Jahre später bot die
Gewerbezählung den Vorwand zur Erneuerung
der harten Massregel. Man hatte kein Auge
dafür, dass die Verjagung des betriebsamen
Fleisses unersetzlichen Schaden anrichtete, dass
mit dem anspruchslosen Arbeiter die Industrie
selbst auszuwandern anfing. Als man die Wirkung
merkte, war es zu spät, namentlich weil man auch
dann nur Ausnahmen zuzulassen sich entschliessen
konnte. Immerhin hörte die Massenverjagung
allmählich auf, zum Teil, weil nicht viel mehr übrig
geblieben war, was verjagt werden konnte, zum
Teil, weil man sich zur Milde bekehrt hatte — nicht
aus Menschlichkeit, sondern aus berechtigtem
Eigennutz. Im abgelaufenen Jahr verursachte die
russische Pogrom-Politik die panikartige Flucht
der russisch-jüdischen Bevölkerung, die sich natur-
gemäss zunächst nach Deutschland wandte. Und
auf der Stelle setzte die Ausweisungs-Politik ein.
Der Grundsatz wurde aufgestellt, dass die
russischen Juden in Deutschland nicht zu dulden
seien. Für die Pogrom-Flüchtlinge gab es in
Deutschland kein Gastrecht. Gerade der Staat,
der national unter allen der geschlossenste,
einheitlichste ist, erklärte sich unfähig, fremde
Elemente zu vertragen, nicht einmal solche, deren
Anhänglichkeit an Deutschland sich durch das
Festhalten an deutscher Sprache durch Jahr-
hunderte bewährt hatte. Zu Zehntausenden
müssen alljährlich fremdbürtige Arbeiter zur
billigen Arbeit in Deutschland geworben werden,
grosse geschlossene polnische Kolonien sind da-
durch in Deutschland entstanden und bis zum
Westen vorgedrungen — aber der Jude aus dem
Osten kann nicht geduldet werden! Die jüdische
biblische Satzung — «dasselbe Gesetz und das
nämliche Recht sollen gelten für dich und für
den Fremden" — hat für unser Land heute
noch immer keine Geltung. Alle Vorstellungen
hiergegen sind vergeblich gewesen. Doch Billig-
M. A. Klausner: Das Jahr 1906.
10
keit verlangt die Anerkennung, dass die harte
Anschauung eine milde und menschliche Praxis
gefunden hat
Der Sieg der Gerechtigkeit für uns Juden
ist fem, aber nicht unerreichbar. Frankreich
beweist es. Dort hat die Gerechtigkeit durch
Sühne früherer Schuld schönen Triumph gefeiert.
Der Hauptmann Dreyfus, den Fälschung und
Meineid zum Verräter an seinem Vaterlande
stempeln wollten, ist vollständig rehabilitiert und
als Major wieder in die Reihen des Heeres ein-
gestellt worden. Man hat gesagt, dass täglich
und allerorten Justizirrtümer vorkämen, und dass
es ärgerlich auffallen müsse, wenn die ganze
Judenheit sich erregte, weil das nicht seltene
Unglück einmal einen Juden getroffen. Wer das
sagt, verkennt die Wahrheit gröblich. Gewiss sind
Justizirrtümer häufig. Aber in dem Fall Dreyfus
hat kein Justizirrtum vorgelegen, sondern ein
vorbedachter, planvoll ersonnener Justizmord,
doppelt verrucht, weil er von der Gerechtigkeit
das Gewand entlehnt hatte. Und nicht dem um
Ehre und Freiheit Betrogenen allein galt der An-
schlag, sondern der Gefangene auf der Teufels-
insel sollte ein Brandmal und Schandmal sein
für die ganze Glaubensgemeinschaft, der er an-
gehörte. Darum erhob sich für ihn die Ge-
rechtigkeit selbst, die der meineidgeborene
Richterspruch hatte erwürgen wollen; darum er-
hob sich für ihn die Gemeinschaft, als deren
Spezimen der Gemarterte auf der Teufelsinsel
litt und wundervoll ausharrte. Die Gerechtigkeit
hat gesiegt Picquart, der nahe daran war,
Dreyfus' Schicksal teilen zu müssen, ist Kriegs-
minister geworden, weil er Zeuge und Bekenner
und Verteidiger der Schuldlosigkeit gegen
Meineid und Fälschung gewesen, und Emile
Zolas sterblichen Resten haben sich die Tore des
Pantheon aufgetan. Nicht dem Schriftsteller, nein,
dem Verteidiger der Gerechtigkeit ist diese Ehre
zuteil geworden, die das französische Volk ehrt.
wDie Wahrheit ist unterwegs", hatte er verkündet
— er hat nicht mehr erlebt, sie am Ziel zu sehen.
Wir aber haben sie in diesem Falle am Ziel
gesehen. Warum sollten wir verzagen, dass auch
das Reich der Gerechtigkeit kommt? Die Pro-
pheten haben es geschaut, und wir hoffen ihm
entgegen.
ZABLUDOWSKI.
Von Th. Z.
Nachdruck verboten.
Es ist sicher falsch, weil eine blinde Ein-
seitigkeit die Fülle der Komponenten sich nicht zur
Wahrnehmung zu bringen vermag, — es ist sicher
falsch, dass der Mensch nur ein Produkt seiner
Zeit sei. Die Zeit schaflflb nicht den Menschen;
sie findet nur ihren Widerschein im Menschen.
Wie etwa die Landschaft Stimmung und Charakter
wandelt im wechselnden Lichte der Sonne. Im
ewigen Schatten des dichten, von breitem Kronen-
geäst überdachten Urwaldes weiten sich nur Ab-
stufungen des Dunkels. Auf blumiger Wiese aber
schreitet die Seele der Stunden. So gibt es
Menschen, in deren offener, nicht verschatteter
Art sich die Zeit spiegelt.
Zabludowski war solch ein Mensch.
Folgen wir den pewundenen Wegen seiner
Entwickelung bis zur Höhe empor, so sinken die
Schranken des Individuellen.
Wh- schreiten nur den Pfad entlang, den die
Geschichte unseres Volkes sich durch die letzten
fönfeig Jahre geschlagen.
Zabludowski wurde in Bialystok geboren. In
der Enge, in der Qual und in dem Frieden des
Ghettos wuchs seine Jugend empor, von dem guten
Geiste unserer Ahnen, unserer Lehrer genährt. Aber
seine Sehnsucht strebte aus dem niedrigen Holzbau
des*Beth-Hamidrasch hinaus, so sehr er es auch
sein ganzes Lebenlang als seine stille Heimat
liebte. Nach schweren Kämpfen fand er den Weg
in das Gymnasium und in die kaiserlich russische
Militärakademie zu Petersburg. Er wurde in den
Sanitätsdienst der russischen Armee gestellt und
rückte im Krieg gegen die Türkei 1877 — 1878 zum
Regimentsarzt des Donschen Kosakenregiments
No. 3() auf, wo bei der Belagerung von Plewna,
dem Übergang über den Balkan und später im
Lazarett zu Adrianopel seine medizinischen Kennt-
nisse und seine Menschenliebe den Leidenden Segen
brachten. Damals lernte ihn Ernst v. Bergmann
kennen und verehren. Die Freundschaft knüpfte
ein Band um diese beiden Männer, das nur der Tod
lösen konnte.
Als Bergmann von Dorpat nach Berlin berufen
wurde zum Leiter der chirurgischen Universitäts-
klinik zu Berlin, suchte er Zabludowski an sich zu
fesseln. Zabludowski hatte, von der russischen
Regierung zur weiteren Ausbildung ins Ausland,
nach Wien, London, Paris und Amsterdam geschickt,
die Massage kennen gelernt, — ein von der
medizinischen Wissenschaft durch viele Jahrhunderte
vernachlässigtes Gebiet, auf dem sich Kurpfuscher
und klobige Heilgehilfen tummeln. Ein gründlich
Th. Z.: Zabludowski.
durchgebildeter Physiologe, erhob er die rohe kraft er eine Zukimft der Grösse und des Siemes
Methode za einer Kunst, weitete er die Naivität erhoffte. Mit besonderer Liebe hing er an der
pfuscherischer Anschauung zu sicher fundierter hebräischen Sprache, die er in vollkommener
Wissenschaft aas. Meisterschaft beherrschte. In dem Safa berurah,
Es ist ein Zeugnis des weiten Blickes v. Berg- einem hebräischen Sprachklub \d Berlin, erwies er
manns, dessen siebzigsten Qe-
bnrtstag am 16. Dezember
die Kultnrmenschheit gefeiert
hat, daas er der fortge-
schrittensten medizinischen Dis-
ziplin, der Chirurgie, die Massage
nutzbar gemacht hat. Er schuf
Zabludowski in Berlin ein Ar-
beitsfeld, auf dem er vorbild-
lich für Taosende voc Ärzten
aller Völker und heilbringend
für die Leidenden wirken konnte.
Uud die Anerkennung blieb
nicht aus : Er wurde zum
Professor ernannt nnd zum Di-
rektor eines Massageinstitutes,
das die preassische Hegierung
eigens für ihn einrichtete und
der Berliner Uni versität an -
gliederte.
Aber alle Ehrung machte
den schlichten Mann nur eifriger.
Sie könnt« ihn nicht aus dem
Geleise drängen. Er blieb, was
ei' war: ein emsiger Gelehrter
von tiefem , schöpferischem
Fleisse , ein milder Lehrer ,
ein edler Helfer der Kranken, ein treuer Berater
allen, die seinen klugen Rat erbaten — und ein
guter Jude. Selbst eine Zierde für das Judentum,
hat er allzeit mit Stolz auf seine Abstammung
hingewiesen. Er hatte eine Vergangenheit.
Seine Verlegenheit wurzelte in seinem
jüdischen A''olkstum, von dessen ewig-junger Trieb-
Prof. Dr. Zabludowaki.
sich oft als eiu tüchtiger De-
batter. Die hebräische Sprache
war ihm lebendig, und ihre
Pflege und ihre W'eiterent-
wickelnng waren ihm hohes
Ideal. Und alle Regeneration
seines Volltes sah er nur er-
stehen aus der ^Medei-geburt
der so undankbar verstossenen
und treulos Aerscharrten Sprache
der Propheten.
Der mühselige A\eg aus
dem Ghetto zur europäischen
Zivilisation führte ihn nicht
aus dejn Judentum heraus ,
sondern zu einer freieren Ent-
faltuuR jüdischer Kraft und
jüdischen Erkenntnisdranges.
Spross eines alten Rabbiner-
geschlechtes, hat er ein neues
Gebiet beackert mit den er-
erbten Gaben. Er kannte
die Quellen seiner Kraft —
und blieb dankbar. Der undank-
bare Apostel wird immer treu-
los sein gegen sein Volk und
alle, denen sich sein Parasiten-
tum anhängt. Treue aber ist immer Dankbarkeit.
Aus diesem Empfloden heraus war Zabludowski
dem Judentum treu, — weil er nie ^ergass, dass
er seinem Stamme sittlichen Ernst und arbeitsfrohe
Spannkraft dankte. j
An seinem Grabe stand auch der Genius des
jüdischen Volkes und — weinte.
Gebet.
Valer des Ueltenallsl
kehre und Satzungen halt du gegeben,
Kedit und 6ereditlehelt riefst du Ins [leben
Fahre uns, Vater des Weltenalls,
Deiner Getreuen Sdiaar!
Sdiapfer
Deiner Seireuen Sdiaar
Beugt [ldi In Demul vor deinem Seridite,
Blldtt mit Verlangen hinauf zu dem (ildile.
Das du enlzQndet der treuen Sdiaar
Kelftgen Israels.
Bater du Ssraelsl Sdiipfer des Erdenballs, Ende und Untergang
Ball uns geleilet durdi Walten und Wogen, Bolt uns In udterlldi gütigem Walten Kemmeii In Cwighelt nidit deinem Volke,
Ball uns zu Kdmpfem der Wahthell erzogen: Durdi der Sohrhunderte Drangial erhalten. Dem du eTldilenlt In des Stnal Uolhe;
Huldigend prellet didi Ssrael, Bannft von uns, Sdidpfer des Srdenbalis, lllmmeT droht Ende und Unleigang
Sdiöpfer des Cidenballsl Ende und Untergang. Dem, der zum Berren Iteht.
Wer zu dem Herren Itetit,
Wandeil In EUIuaters labendem Sdiallen,
3hn kann nicht Sorge nodilHahe ermatten.-
Die Ihr In Cteue zum Berren Iteht,
Stimmt an das Danhgebet!
BSr unfer Danhgebet!
Was uns dein ewiger Wille beldileden.
Dient uns zum Beil, es lel Krieg oder frieden.
Bär und ethir unler Danhgebet.
Vater des Weltenalls!
EMiWANUEL HANNAUX.
Ein bescheidener Mann, i
ein Schsffender in stiller Bi
Hannaux, der Gestalter rei:
Menschlichkeit. „Ich liebe )
die Kunst, ich liebe das
Nackte", ist sein ganzes
Programm, nnd dieser Liebe t
gibt er bildnerischen Ans- t
druck. So geht er gfraden i-
Sinnes der Schönheit nach, h
voll Ehrerbietung vor der t
Natnr, fromm und beherzt h
in seiner Liebe. Das Län- r
temde, Veredelnde, das dem i-
Nackten innewohnt, ist bei n
ihm noch tiefer «irksam *-
durch Schwermut und Ver- n
sonnenheit, die wie ein i.
Poesiehauch ans tiefver- >•
senkter Seele her^-or- ;,
dringen. Der Menschenleib it
ist ein Zeugnis vom Adel des n
Lebens, und die Menschen- d
seele ist dichterische An- o
dacht; nns aber mahnt «
es zur Weltfrommheit. n
Des Menschen nackte il
Herrlichkeit schafft Han- n
naux, von hellenischem L
Geist, hellenischer Dich- n
inng angezogen, klar und i-
formen rein. Fem von g
Grübelei und Tiefsinn, !-
ohne Vieldeutigkeit und h
gedankliche Beziehung .sind r
seine Gebilde; nur der Sinnt i-
heit sind ihnen eigen, Ansi
mittein sie kunstgemäss, que' b
Klarheit. Und dieser Griei e
Jude, beimisch und eingewurzelt im Judentum. An Zustand lichkeit und regsame Spannkraft geben einen
solchen Männern leidet die Judenheit "en künstlerischen Kontrast,
bitteren Mangel, an Menschen mit un- ifte durchziehen fühlbar ein
befangener Sinnenanscbauung und mit mdes Dasein ; der Körper lagert,
Treue, die natürlich und unbedacht ist, Schwere gebannt, nnd die
nicht In nnd dekorativ, nicht Pro- e Lebensform verhüllt ein viel-
granim gma. irlangen nach Bewegung. Sie
Seil ge hat das nicht behindert. ich halbwach in den Händen
In seine itstadt Metz, aus der auch tern; sie rühren aü die Leier
seine Fj nmt, die als Professor der ■ wie nach Klängen langend; sie
Mathem linem Pariser Lyzeum wirkt, en Krug in mattem Tasten
stehen in verschiedenen Kirchen Bildwerke und sind von Spiel und Reg-
von seiner Hand. Von Mgr. Dupont des leseelt (Poet und Sirene), gehen
Lorges, dem Bischof von Metz, den die llen auf und nieder, kommen
Juden von Met^ im deutsch ■ fr anziisischen «le tvenenschlag aus sinnendem Traumes-
Kriege als Deputierten aufstellten, hat er Em. Hannaux. dasein.
AUS DER JUEDISCHEN SAGEN- UND MAERCHENWELT.
Von
Die folgenden Sagen sind von mir vor mehreren
Jahren nach dem Vortrage eines chassidischen Märchen-
erzählers aufgezeichnet worden. Die vorangehende Ein-
leitung bildet gleichsam ein Präludium und spiegelt trefflich
die naive und zugleich von einem gewissen mystischen
Schwung beseelte Anschauungsweise der Chassidim wieder.
Die Uebertragung ins Hochdeutsche schliesst sich möglichst
wortgetreu dem Original an.
Die Macht des Gesanges.
Es ist allgemein bekannt, dass das schönste Qeschenk,
das der Mensch von Qolt erhielt, in der Fähigkeit besteht,
alles, was seine Seele bedrückt, aus sich herauszusingen.
In alten, sehr alten Zeiten, kurz nach Erschaffung der
Welt, konnten alle Tiere singen, wie davon in den heiligen
Büchern geschrieben steht. Alle sangen sie, ein jedes auf
seine Art, ein Lied zu Ehren Gottes. Doch als später die
Welt verdorben wurde und sogar die Tiere sündigten, und
Oott die Sintflut über die Welt kommen liess, wurde die
Gabe des Singens- den Tieren genommen, und nur den
Menschen und manchen Vögeln belassen. Heutzutage
können die Tiere nur brüllen, heulen, bellen und quaken,
manche können auch das nicht. Aber singen? Wer kann
singen! Nur der Mensch allein und die Vögel ein wenig.
Denn die Vögel sind von allen Geschöpfen die reinsten
und Oott am angenehmsten. Und wozu singen die Vögel?
EM. HANNAUX
Mme. Coralie Cahen.
(Maiioa de fitivgt, Neu[l1y.)
Gott -zum Preis singen sie, wenn der Frühling kommt,
wenn der Tag erwacht, oder wenn der Abend sinkt. Und
wozu hat Oott den Vögeln die I^higkeit zum Singen be-
lassen? Damit der Mensch sich an ihnen ein Bebpiel
nimmt. So wie sie weder trunkene, noch gottlose, noch
unzüchtige Lieder singen, ebenso sollst du, Mensch, solches
auch nicht singen. Nur wenn du eine Bitte an Oott hast,
oder ihm danken willst, oder wenn es dir traurig in der
Seele ist, so singe, und sogleich wird es dir leichter werden.
Das Singen gottloser Lieder ist nämlich eine grosse Sünde,
und es harren schwere Strafen darauf in der anderen Welt.
Der Mensch aber ist von Natur sehr ausgelassen, und wenn
man ihn auf der anderen Welt fragt; warum hast du sünd-
hafte Lieder gesungen? — so möchte er wohl antworlen:
wenn ich gehabt hätte dort an jemand ein Beispiel zu
nehmen, so würde ich wohl keine sündhaften Lieder ge-
sungen haben. Aber jetzt, da die singenden Vögel da sind,
was kann er für eine Ausrede haben?
Mit dem Gesang kann der Mensch beim Himmel die
höchste Onade sich ausbitlen, und wie gross die Macht des
Gesanges wider die bösen Engel ist, ist ja bekannt. Aber
auch über böse Menschen hat der Gesang eine grosse Gewall.
Manche Menschen haben eine hohe Seele, die sich
l>eim Singen zu Gott erhebt und bei ihm bleibt; solch ein
Mensch erleidet weder die Qualen des Todes noch die der
Hölle. Ein jeder weiss, dass es solch eine Seele war, die
jener Chassid hatte, der am Jam-Kipur beim Beten vor dem
Altar sein Leben beschloss. Er war Chasan und stand am
Jom-Kipur vor dem Altar in der Synagoge und sang gerade
den Psalm: »Aus den Tiefen ruf ich zu dir, o Gott", und
allen griff es ans Herz, so wunderschön sang er. Das ganze
Volk weinte, und die Weiber droben, wie das schon ihre
Gewohnheit ist, jammerten laut wie die kleinen Kinder,
Indessen fängt der Gesang an immer leiser und leiser zu
werden, bis er endlich ganz verstummt. Sie dachten, der
Chasan sei ermüdet und möchte eine Weile ausruhen, er
atwr stand noch immer schweigend da. Endlich tritt jemand
zu ihm heran, zupft ihn am Aermel und sagtr .Nu, alle
Leute warten." Er aber war leblos, wie der Altar, bei dem
er stand. Jetzt eisl merkten sie, dass die Seele nicht mehr
in ihm war. Gott hatte sie beim Singen zu sich gewürdigt.
Doch wie gross die Macht des Gesanges ist, sogar über
böse Menschen, und was für Sünden es auf dieser Welt
gibt, das will ich euch erzählen.
Der Chassid und die RAuber.
War einmal ein Chassid, der sehr schön zu singen ver-
stand. Eines Tages ging er, wie gewöhnlich, zum Rebbe
auf den Sabbalh, und es traf sich, dass er sich in einem
dichten Wald verirrte. Er ging und ging und konnte keinen
Ausgang finden. Und in dem Walde hausten Räuber.
Diese ütwrfielen unsem Chassid, schlugen ihn in Ketten und
wollten ihn umbringen. Als er sah, dass der Tod nahe
war, fing er an über sein Leben und seine Sünden nach-
zudenken, um die Gnade des Schöpfers auf seine Seele
herabzuflehen. So lag er da, bis der Abend sank. Inzwischen
erinnerte er sich, dass es gerade Freitag war, da alle Welt
in den Synagogen versammelt ist, um zu beten und Lieder
zu Gott zu singen, und nun wetzten die Mörder ihre Messer,
mit denen sie ihm den Garaus machen wolhen. Er flehte
sie also an, ihn noch ein Stündchen am Leben zu lassen,
Bar-Ami: Aus der jüdischen Sagen- und Märchenwelt.
damit er Zeit hätte, sein Gebet zu verrichten, wie Gott
geboten, denn er wollte nicht ohne Gebet aus dieser Well
scheiden. Die Räuber lachten ihn aus, aber um Possen zu
treiben und ihn zu verhöhnen, lösten sie seine Fesseln,
stellten sich im Kreise um ihn herum, und er musste sich
in die Mitle stellen, um nicht entfliehen zu können. Da er
wusste, dass dies das letzte Mal sei, dass er auf dieser Welt
beten konnte, nahm er all seine Kralt zusammen, und als
er die Sabl)athlieder zu singen anfing, sang er und sang
ohne Aufhören; die Verzfickung übermannte ihn immer
mehr, sodass er am Ende die ganze Welt ringsum und auch
seinen nahen Tod vergass. Den Räubern aber drang der
Gesang in die verhärteten Herzen und zerknirschte sie so
sehr, dass sie nicht länger an sich halten konnten. Sic
fielen ihm zu Füssen und fingen an, ihn um Verzeihung zu
bitten. Er aber sprach zu ihnen; .Nicht mich, nicht mich,
sondern Qolt müsst ihr um Verzeihung bitten.' Dann
führte er sie zum Rebbe, dieser bekehrte sie und sie
wurden fromme Leute.
Als Busse für ihre schweren Sünden legte ihnen der
Rebbe auf, dass sie mehrere Jahre ein unstetes Wanderfeben
fnhrlen, nie zweimal an demselben Ort übernachteten, nie
um ein Almosen oder einen Bissen Brot baten, sondern
schweigend bei der Türe standen, wartend, bis die Hausfrau
selber ihnen etwas verabreichen würde.
Das Totenlled.
In einer fernen Stadt war einmal ein grosser Herr,
Dieser grosse Herr war von Natur nicht böse, aber wenn
einmal der böse Geist in ihn fuhr, konnte ift" die schlimmsten
Dinge von der Welt anstellen. Einmal kam ihm ijer
Gedanke in den Kopf, alle Juden, die in seiner Stadt
wohnten, umzubringen. Er lässt sie also in den Kerker
werfen und spricht zu ihnen: -Hier werdet ihr ein paar
Tage brummen, bis ich Galgen in genügender Anzahl für
euch aufgerichtet hat)e.*
.Wir müssen alle sterben; aber nach unserem Ende
wird niemand sein, der über unsere Seelen das „El mole
rachamim" singen wird. Erbarme dich über unsere und
Deine eigene Seele und lasse den Gesang uns jetzt
anstimmen. Bei Gott wird das gerade so lieb sein, wie
wenn Du es nach unserem Tode sängst!" So sagten sie zu
EM. HANNAUX PARIS.
Baronin Jamea Rothschild.
(Hospital Picpui, Piris.)
aber war so süss, wie die einer Nachtigall, und Augen
hatte er, die leuchteten wie die Sterne am Himmel. Man
nannte ihn allgemein die Nachtigall. Wenn man sagte:
die Nachtigall wird an diesem oder diesem Sabbath beim
19
Bar- Ami: Aus der jüdischen Sagen- und Märchenwelt.
20
barg, spähten ihn gleich ihre Häscher aus, und hörten nicht
auf ihn weiter zu verfolgen. Seiner Vaterstadt aber drohte
sie in ihrem Zorn, dass, wenn ihn die Juden nicht ausliefern
würden, so würden sie alle bis auf den letzten Mann aus-
gerottet werden.
Was blieb nun dem armen Knaben übrig? So oder
so, er war verloren. Wollte er nicht eine schwere Sünde
auf seine Seele nehmen, so geerdete er das Leben so
vieler Menschen. Er betete also zu Qott, dass er ihm seine
Gaben nähme, die die Menschen zu solch schrecklichen
Sünden verleiteten und über andere Verderben zu bringen
drohten. Und Gott erhörte seine Bitte und nahm ihm die
Stimme aus der Kehle und das Licht aus den Augen. Seit-
her vernahm kein Mensch mehr einen Laut von seinen
Lippen. Stumm und blind irrte der ehemalige Sänger, der
Gott und Menschen mit seinem Singen erfreute, den Bettel-
stab in der Hand, von Dorf zu Dorf und von Stadt zu
Stadt. Und das alles um ein Weib.
Aus der Sammlung LEO WINZ.
Lebhaft.
, . 1 ,
(ffiSANO
DER REBBE.
(Jüdische Volksmelodie.)
Nachdruck verboten.
Begleitung von ARNO NADEL.
• ^ t^^ » ^^^P f
KLAVIER.
Der Reb-be, der Reb-be, der hei-li - ge Mann, der is doch a m'-cha - jehi) far •
I i j) i^ ,h ii > j^ '
ihm is doch die gan-ze Welt die f?an-ze Welt a frei - e. Un - ser Reb-be, un-ser Sgu-le^)
rij)j)>JU'i'^^ j^'i>j^;>j j
macht doch meif-sim^jgor a-fu-le, seid ihm me-sa-me-ach!^)Hu-le^)Be-rltan-zeSchme-rl mitdemReb-besKe-ach*)
Der Rebbe, der Rebbe, der heilige Mann,
er ist doch gor achijess'^)
To nemt sehe Brüder zu Kapetzkes^)
Macht un sehe keine sshijes^)
Unser Rebbe, unser Sgule, etc.
Der Rebbe, der Rebbe, der heilige Mann,
er trinkt doch uns lechajim, *<>)
lechajim, lechajim trinkt er uns
und kehrt arein keflajim ^^)
unser Re1»be, unser Sgule, etc.
1) Mechajeh = Wonne. ^) Sgule = Schatz. ^} Meifsim = Wunder. ♦) Messameach = Freut euch.
•'">) Hule = Sei lustig. «) Keach = Kraft. 7) Achijess = Wonne. ») Kapetzkes = Schluck. ») Sshijes = Verzögerung.
^^) Lechajim = Zum Leben. »M Keflajim = Doppelten Schluck.
r sraitvoiistea, wu-tscDaititcDen AQtneoe oeraaDt. seizeo. UDne aurcn irgenaweicne scDWiengKeiien
23 Hermann Struck: Einige Worte fiber den .Bezalel°. 24
sich abhalten za lassen, gebt dieser prachtvolle kostümierten Jerasalemer Joden. Ein Teil dieser
] 1 dnrch photo-
: LToll kommen zn
1 D, ist auf Ab-
] t ftberrascht zn
l Material hier in
fien wurde; jede
j ab von starkem
! Peise modellieren
< tem Erlolg. Das
1 tndimn der Natnr
I geschulte KSn-
] nen wendet sieb
( inderDekora-
I tivklasse dem
Stilisieren der pa-
< Fauna nnd Flora
' zn; eine reich-
< haltige S^nm-
i lung TOD Insek-
1 ten, Vögeln nnd
anderen Tieren,
die verschieden-
I artigsteoBlnmen
] und Blätter nnd
1 endlich die In-
i teressanten und
1 zahlreicheuAuti-
quitäteuscbStze
1 des Bez^el-
I museums geben
I immer wech-
selnde Anregung
zu dekorativen
( Versuchen. Die
Juden Palästinas
bringen diesem
1 Moseam das leb-
hafteste Tnter -
I esse entg^;en
I und schenken
ihm gern und
j freudig alles,
j was an wert-
t votlem Alter-
j tfimem sieb vor-
I findet. Ausser
I dem „Messias"
] von G-licenstein
I und einem Oel-
i gemälde Max
I !t bereits viele
1 men und Bücher
1 Tbliche Themata,
i benkt, in dess«i
lurch einen allge-
( ^richteten Aufruf
j diese einzig da-
1 it werden.
ZuKuuiuguu Lieureru uuuin.u»i.t;rzt;u:iiueruHua)$Buuui;L. auuiiuuii^cu r uuu ix ^eigcii unS die SchQler
Auf Abb. Ill sehen wir sie mitten in der beim Zeichnen und Stilisieren von PflanzeD,
Arbeit; sie zeichnen und malen Köpfe und halbe während wir an den Wänden die eigenartigen
Ftgaren nach dem lebenden Modell, einem farbig Erfolge ihres eifrigeu Strebens erblicken. Besonders
Hermann Struck; Einige Worte über den .Bezalel'.
merkwürdig sind als
erster ADfang eines
„neneD palSstineD*
siscbea Stils" die
reizvollen dekorati-
ven Bachstabenver-
bioduDgen, die zom
Teil schon vollendet schöne Ornamente darstellen
(Abbildnogen Vni, IX).
Diese neu heif^estellten Entwürfe werden stets
EOgleich der TeppichknÜpFereiabteilmig zur Äns-
führung ftbergeben. Es unterliegt keinem Zweifel,
dass die in so origineller Weise entstehen-
den Teppiche zur Ansschmäckang von Synagogen
oder Wohnränmeo wohlhabender Juden ein viel-
b^ehrter Handelsartikel sein werden. Bereits liegt
das Ersuchen eines bedeutenden englischen Handels-
hauses vor, ihm den AJleinverkaof der Bezalel-
Teppiche för England nnd Irland zu überlassen. ^
In der Präparandie erhalten acht Jerasalemer
Schüler, deren schönes Talent nur durch den Bezalel
^geregt ans Tageslicht kam, Unterriebt im Zeichnen.
Die Gipsgiesserei- Abteilang bietet den
angehenden Bildhauern Gelegenheit, ihre Tonmodelle
in Gips nmzoformen; ausserdem erlernen hier sechs
Schüler die Gipsgiesserei als spezielles Handwerk,
nicht ohne gleichzeitig Kenntnisse im Zeichneu zu
erwerben. Einer dieser Schüler hat eine Giesserei
in Jerusalem eröffnet, wo er Reliefansichten des
belügen Landes und typische Charakterköpfe nach
den von den Schülern verfertigten Modellen in Gips
herstellt. Auch diese Tatsache, dass nach wenigen
Monaten bereits ein Schüler
nnserer Anstalt die Möglichkeit
taaü, sich in einem ganz neuen
Fach von seiner Hände Arbeit zn
ernähren, spricht für die segens-
reiche Wirksamkeit des Bezalel.
Fünfundzwanzig Schüler —
meistens Handwerker — er-
balten in der
Abendschule
den unentbehr-
lichen Zeichen-
J33S11
Unterricht Hier sehen
wir anf derselben
Bat denVaternebeu
seinem jungen Sohne
sitzen , beide in
heissem Bemühen be-
strebt, ihr Können zu
bereichem nnd so ihr Handwerk auf eine höhere Stufe
zu heben ; hier ist auch so manches schöne Talent ent-
deckt worden, das sonst keinen Weg zum Licht ge-
funden hätte! — Am lä:. Mai 1906 wurde die
Teppich-Abteilung eröffnet, an die eine Färberei
und Spinnerei angegliedert wurden. 400 Frauen,
Witwen, Waisen und Kinder von armen Eltern
meldeten sich aus freiem Antrieb für diese Arbeit;
und schweren Herzens musste unser Boris Schatz
355 von ihnen wegen Mangel an Platz zurückweisen.
45 Schülerinnen arbeiten nun in dieser wichtigen
Abteilung, kopieren die für ihre Arbeit nötigen
Zeichnungen und helfen bei der Vorbereitung der
gemalten Teppichmnster. Alle Schülerinnen arbeiten
mit grösster Freude und hingebendem Fleiss, sodass
fast eine jede von ihnen bereits imstande war, einen
klemen Teppich in persischer Technik anzufertigen.
Sie erlernen gleichzeitig auch das Spinnen der
fiir die Teppiche zu verwendenden Wolle, und es be-
steht die Absicht, späterhin die Frauen, welche ctie
Teppichkntipferei nicht erlernen können, die Spinnerei
zu lehren nnd ihnen Spinnräder auf Abzahlung in
ihre Hänser zu liefern. Auf diese Weise können sich
auch alte und schwache Frauen ihr Brot verdienen.
Da das lernende Element dieser einzigartigen
Schnle ans den verschiedensten
Gemeinden und Sprachgebieten
stammt, so hat man den Versuch ge-
macht, das Hebräische als Einheits-
sprache einzuführen. Da der hebrä-
ische Sprachkurs zahlreich be-
sucht ist, SD werden wohl bald die
meisten Schäler und Lehrer des
Bezalel sich in
der Sprache der
Väter verstän-
digen können.
Muster für dekorative BucIistaben-VerbindungeD aut Teppichen.
Komponiert von Herrn Davidof. (Beute;. Abbiidune ix.)
27
28
V. ^ DIE RUSSISCHEN JUDEN
VonRosal
Im letzten Jahrgang von „Ost nnd West"*) er-
schien ein Artikel: „Die rassischen Juden in
Dentschland** von Fabius Schach. Der Verfasser,
der die soziale, kaltnrelle und moralische Lage der
russischen Juden in Deutschland zu skizzieren suchte,
führte flir seine Zwecke die deutschen Städte auf, in
denen sich eine grössere Anzahl russischer Juden auf-
hält. Dabei ist aber gerade die Stadt übergangen,
die schon ihrer geographischen Lage wegen vor
allen anderen hätte genannt werden müssen. Der
Artikel, der sonst eingehend die einschlägigen Ver-
hältnisse darlegt, liefert von neuem den Beweis, dass
es ausserhalb Königsbergs völlig unbekannt ist, welch
grosse. und schwierige Aufgabe gerade dieser Stadt
durch die fort und fort einströmenden jüdisch-russischen
Nachbarn zufällt» und in wie mustergültiger Art sie
dieser Aufgabe gerecht wird.
In einem im März 1904 hier in Königsberg ge-
haltenen Vortrag, der unter dem Titel „Zwischen Ost
und West" auch im Druck erschienen ist, wurde von
mir der A^ersuch gemacht, eine Schilderung dieser A^er-
hältnisse zu geben. Das alles hier noch einmal zu
wiederholen, wäre also überflüssig. Da aber dort
grösstenteils nur von den russischen Krankenzügen
berichtet wird, die unablässig in Königsberg ein- und
ausgehen, so soll heate nur näher ausgeführt werden,
was ausserdem die Stadt und die jüdische Gemeinde
Königsberg für die russischen Juden bedeutet, und
umgekehrt.
Wenn man mit ansieht, wie unablässig hier für
die unglücklichen Glaubensbrüder geschafift, gespendet,
gearbeitet wird, welche ungeheure Anforderungen diese
an die Geduld und den Opfersinn der Einzelnen wie der
Gesamtheit stellen, da hier dem ersten Anprall des aus
Kussland herüberkommenden Elends begegnet werden
muss, so kann man sich ungefähr eine Vorstellung davon
machen, wie verblüffend damals jener ominöse Perl-
mann unterzeichnete Brief, der die ganze deutsche und
russische Presse durchlief, auf die betreffenden hiesigen
Kreise gewirkt hat. Haben doch alle über den Brief
laut gewordenen Aeusserungen bewiesen, dass er als
Ausdruck der hier allgemein herrschenden Gesinnung
angesehen wurde.
Das also soll das einzige sein, was ausserhalb
Königsbergs von hier verlautet I Darauf soll sich das
Urteil gründen, das über die Behandlung der Unglück-
lichsten unter den Unglücklichen von selten unserer
Gemeinde in der Welt gefällt wird ! Dazu opfert man
Geld und Gut, Kraft und Zeit, dazu arbeitet man Tag
und Nacht, um als grausam und unmenschlich dazu-
stehen und geschmäht und verspottet zu werden!
Dieses famose Aktenstück verdiente nicht einmal er-
wähnt zu werden, wenn es nicht so weite Kreise
*) Seite 719-7?0.
IN KOENIGSBERG I. PR.
V
Nachdruck vei1>otea.
ie'Perlcs.
^geEO§em Jiätte, dass es sogar im preussisdien Landtag
besprochen wurde und im russischen Regierungsanzeiger
in Uebersetzung abgedruckt war. Natürlich — das
gab ja Wasser auf die Mühle aller Judenfeinde. Lassen
wir den Brief ruhen und wenden wir uns den wirk-
lichen Tatsachen zu.
In Königsberg gibt es eine grosse russische Kolonie,
von der genau das Gegenteil dessen zu sagen ist, was
Fabius Schach von den im Ausland lebenden russischen
Juden sagt. Die hier lebenden Russen sind nicht ent-
wurzelt, sondern haben hier auf deutschem Boden feste
Wurzel gefasst; sie tragen keine innere Tragik mit
sich herum, sondern schätzen sich glücklich — jetzt
mehr als je zuvor — allen Schrecken ihres früheren
Wohnsitzes entronnen zu sein und den Segen eines
ruhigen, gesicherten Daseins zu geniessen. Die Eltern
sonnen sich förmlich in der ungestörten, stetigen Aus-
bildung ihrer Kinder, die in den Schulen sehr oft den
deutschen Mitschülern den Rang ablaufen. Die Kinder,
sobald sie Urteil und Denkkraft gewonnen haben,
danken es ihren Eltern, dass diese rechtzeitig vorgesorgt
und den Kindern alles Unglück, alles Ungemach ihrer
russischen Heimat erspart haben.
Die hier angesiedelte russische Kolonie bildet ftlr
die Stadt und damit auch für den Staat ein wichtiges
Element. In kommerzieller Beziehung haben die hiesigen
Russen eine grosse Bedeutung erlangt, da russische
Kommissionäre den Handel nach und von Russland ver-
mitteln und für den Austausch der Erzeugnisse der
beiden hier aneinander grenzenden Länder als ganz
unentbehrlich sich erwiesen haben. Daher entstand
in den Jahren 1887 und 88, als politische Weisheit
die Massenausweisungen verfügte, eine sehr fühlbare
Verminderung des allgemeinen Wohlstandes in Stadt
und Gemeinde. Jn manchen Stadtteilen, wo die Russen
zumeist gewohnt hatten, konnte man nach den Aus-
weisungen sogar ein Fallen der Mietspreise konstatieren,
und die Nachwirkungen sind bis auf den heutigen Tag
noch nicht ganz überwunden. Als mehrere Jahre
später noch einmal eine ähnliche Massregel drohte,
wandte sich die Vertretung der Kaufmannschaft mit
einer Eingabe an die Regierung, in der dargelegt wurde,
welche Schädigung dem Handel mit der Ausweisung
dieser Kommissionäre zugefügt würde, und die Aus-
weisung unterblieb.
Am meisten aber bedeutet die russische Kolonie
für die hiesige jüdische Gemeinde. Es ist wohl nicht
zuviel gesagt, wenn man die Mitglieder dieser Kolonie
als die Hauptträger wirklich jüdischen Lebens und
jüdischen Wissens bezeichnet. Sie haben ihre eigene
Synagoge, die frühere Gemeindesynagoge, die ihnen
mietweise von der Gemeinde überlassen ist. In dieser
Synagoge ist alles ganz nach altem Ritus eingerichtet,
und die Kosten des Gottesdienstes werden von den opfer-
RosalJe Perles: Die russisclien Juden in Königsberg.
Boris Schatz im Kreiae seiner Schüler.
tBeiild, Abbildung II.)
freudigen, zum Teil sehr frommen MitglieJern allein
getragen. Trotzdem fällt es ihnen nicht ein, sich von
der Hauptgemeinde zu trennen, wie oft und wie dringend
es ihnen aoth von dem Häuflein Orthodoxer, das sich
losgetrennt hat, nahegelegt werden mag. Sie sind ebeu
im Scbril'ttum viel za bewandert, um sich in diesem
Punkte heeinflussen zu lassen nnd wider besseres Wissen
zu handeln. Lieber (ragen sie die doppelten Lasten.
Uebrigens sind sie auch ihrer Bedeutung angemessen
in der Verwaliun? der Synagogen-Gemeinde
Wie aber diese zu ruhigem Wohlstand i
russischen Juden hier für ihre armen, nng i
Landaleute sorgen, das macht ihnen am mel:
Waren es bis vor wenigen Jahren grösstenteils nur
Kranke, die von der nahen russischen Grenze hier ein-
kehrten, um in den hicsi:.'en Kliniken Heilung zu
suchen, so sind jet^t ebenso viele Auswanderer, Flücht-
linge, Leute hinzugekommen, die eilends den heissen
Boden der Heimat verlassen haben und zum Teil noch
nicht wissen, wo ihr fluchtiger Fu«s Ruhe finden wird.
Wenn es nach Fabius Schach Liebe ist, was diese
Leute brauchen — hier finden sie Liebe, werktätige
Litbe.
Es vei'dient Bewunderang, bis zu welchem Grade
die Aulopferung geht, mit der jedem von den Tausenden
l>e^ige.<prungen wird. Da gibt es manche hier schon
eingebürgerte Herren, die überhaupt nicht zur Ruhe
kommen, die trotz ihrer Wohlhabenheit nicht wissen.
wie ein ruhiger, behaglicher Tag aussieht. Tag und
Nacht, förmlich gehetzt, suchen sie die tausend form igen
Anliegen ihrer geqn31ten Landsleute zu befriedigen,
jede Stunde stellt neue Ansprüche an ihre Zeit, ihre
Kraft, ihre Kassel
Ist ein schwieriger Fall nach unendlicher Mühe
erledigt, kommt schon ein neuer, noch schwieligerer.
Wer vermag es zu schildern, das vielgestaltige Elend,
dai sich ergibt aus I^ieg, Revolution, Flucht nnd Ver-
folgung.
Auch im nahen Seebade Cranz, wohin die Familien
zur Erholung gehen, wird keine Rast geschenkt Der
russischen Kolonne der Wohlhabenden folgen die
Kolonnen der Elenden, dir Siechen, der armen Kranken.
Neue Aibeit, neue Hilfsaktionen, neue Geldopfer.
Man nimmt sich hier nicht nur dieser Armen an,
sondern es ist ihnen auch ihr gewohntes religiöses
Leben, der Kultus, dessen sie bedürfen, dargeboten.
Die Synagoge der russischen Gemeinde nimmt sie auf,
andere kleine Betstuben, sogar ein Chassidim-Stübel
können sie nach ihrer Wahl, ihrem Geschmack und
ihrer Gewohnheit besuchen.
Ausser dem Hilfsverein für kranke russische
Israeliten, dessen grossartige Leis'nngen in dem oben
genannten Vortrag „Zwischen Ost und West" ein-
gehend geschildert sind, wurden in der letzten Zeit
neue Organisationen notwendig, die hier noch knrz be-
handelt werden sollen. Im vorigen Wintei', als der
Rosalie Perles: Die russischen Juden in Königsberg.
Obere Klasse. Zeichnen nach der Natur.
(BeialcL Abbildung III.)
Strom der Flüchtlinge und Auswanderer unter den
Schrecken der damaligen Yerfolguneen immer atSrker
anschwoll, faasten mehrere junge Leute vom Verein
jüdischer Studenten den Entschlnss, den Auswanderern
bei der Durchfahrt durch KQuIgsberg etwas Liebes zu
erweisen und ihnen Erfrischungen zu reichen, zumal
die Armen während der ganzen Reise nirgends den
Waggon verlassen dürfen. Bald fand sich auch eine
Anzahl Damen, die den Studenten bei der Be-
speisung der Auswanderer, die manche Nacht nach
Hunderten zählten, zur Seite standen. Der Aus-
wandererzug, der jede Nacht zwischen 12 und 1 Uhr
hier ankommt, hat 25 Minuten Aufenthalt. In dieser
Zeit wurde den Insassen zu Türe« und Fenstern der
Waggons die Erft^chnngen hineingereicht. Wie wohl
tat den vor Kälte Erstarrten der huisse Tee, wie froh
waren sie, für die Kinder Milch in Flaschen für
die Weiterreise zu erhalten; am meisten aber stärkte
sie das Bewusstsein, dass es auch in der Fremde
liebende Herzen gibt, die der Heimatlosen sich an-
nehmen.
Im Sommer wurde einstweilen der Dienst ein-
gest«llt, um in der knlten Jahreszeit wieder auf-
genommen 7.\i werden. Fast gl ei cb zeitig wurde ein
zweites Hilfswerk in Angriff genommen. Das
„Schutzkomitee für Auswanderer" hat hier seit
längerer Zelt eine Herberte für die Aus wand ei er
errichtet, die wegen Krankheit, meiit Augenleiden,
nicht befördert werden und hier in Königsberg
ihre Heilung abwarten. Es stellte sich aber heraus,
dass ohne eine regelmässige Bespeisung in der Herberge
selbst die Insassen dem Hunger preisgegeben waren,
und daher die Heilung dieser entkräfteten Menschen,
1er, sich end-
esichts dieser
ide unterzog
i von Frauen
er bei dem
er Bahn mit
Jer Mühe, in
i Bespeisung
die Hand zu
r lOOMSnner,
der erhalten
Sssigen Mahl-
igen geringen
ler Teil dieser
er zum ernten
den Kindern
fissig reichen
ine Tischzeit
ten kennen.
lie daheim am
, woher sie am
nächsten Tage die paar Pfennige
bekommen würden, um das not-
wendigste zum Leben kaufen
SU können. Jetzt wird ihnen dreimal am Tage der
Ti^ch gedeckt. Wie einfach das Mahl auch sein mag,
es ist doch gesunde und regelmässige Nahrung.
Manche TragOdie spielt sich hier in der Herberge
ab. Wenn nach langen, bangen Wochen und Monaten
endlich der ersehnte Moment kommt, in dem der Arzt
die erlösende Bescheinigung „zur Weiterreise geheut
entlassen" dem Patienten ausgehändigt, macht die Familie
sich reisefertig, flUirt bis nach Hamburg, Bremen oder
einer anderen Hafenstadt, — um sofort die Reise wieder
zurück zu machen, weil in der Eontrollstation der Arzt
anderer Meinung war und die Heilung noch nicht für
vollständig erkläit. Ja, von Amerika kommen nicht
selten die Unglücklichen wieder zurück. Man Hess sie
nicht landen, weil ein Kind vielleicht noch Narben hat
von einer ausgeheilten Granulöse. Was ist damit alles
verloren! Geld und Gut, die ganze Habe, Mut und
Hoffnung. Wo wird man nun die Mittel zum Leben,
wo ein zweites Mal die grosse Summe hernehmen zur
Reise, zur Ueberfahrt! Der Familienvater hat ja in der
neuen Welt so lange und so schwer gearbeitet und sich
das Notwendigste versagt, um für die Familie die
Schiffdkarten zu erschwingen; die Freude auf das
Wiedersehen hat ihm die Kraft dazu gegeben. Und
nun? Ein junges Madchen, das noch heute in der
Herberge lebt, ging vor zwei Jahren mit Elt«rn und
Geschwistern nach Amerika. Dort angekommen, wurde
das jüngste Kind augenkrank befunden und nicht
durchgelassen. Vater, Mutter und Geschwister wurden
gelandet, das Kind aber musste zurück und die älteste
Schwester musste es begleiten. VAa ganzes Jahr lebten
die beiden Geschivister in der Herberge. Das Augen-
leiden des Kindes stellte sich aber schliesslich als
Rosalie Perles: Die russischen Juden in Königsberg.
unheilbar heraus, und der
Schwester blieh nichta Bhrts,
sls allein nach Amerika zu
reisen nnd das Kind nach
Rossland jsa Verwandten zu
geben. Bai der Ankunft in
Amerika wurde die Tochter
von den Eltern mit Freuden
begrOsst. Doch ala sie das
Schiff verlassen will, kon-
statiert der untersuchende
Arzt hei dem Mädchen Granu-
löse, und sie musste zum
zveiten Male die Heise zu-
rauk machen — eine tragische
Heldin.
Was das Verhatten der
deutschen Juden Königsbergs
gegen ihre russischen Glau-
bensgenossen betrifft, Sü konnte
wohl auch hier, vielleicht noch
mehr als anderswo, behauptet
werden, dass im allgemeinen
die beiden Klassen wie Oel
und Wasser sich von einander
trennten. Jetzt aber beginnt das anders zu werden.
Angesichts der furchtbaren Ereignisse, die sich in den
russische ' ' ' ' ' ' ten Jahre abgespielt
haben, k ^s, als sich mit den
Verfolgt! klären. Hat frQher
der dent cbränkt, wie Fabins
Schach 1 ede persönliche Be-
rübmng :iden, so beginnt er
etxt, aa ine Zeit und Kraft
in den I :tlder zu stellen, um
an dem beiten, oder doch
wenigste iderung ihrer namen-
losen Le
Ge» die Jugend beider
Klassen ^r Belehrung sowohl
wie za i eit. Sie erwärmen
sich in für ihr Judentum,
Alle Bio« , ihr Jadentun zu
Eliren zt ;tinen zu lernen, die
hebraisd I die eignen Heilig-
tQmer hoch zu halten. So erfüllen sich die Träger der
Arbeiten der SctiQler der oberen Klasse.
(Bcialtl. Abbllduni IV.}
Zukunft mit einem neuen, vorher nicht gekannten Geist,
so entwickeln sie sich nicht mehr wie frUher zu halben,
in ihrem Innnem zerrissenen Xamenjuden, sondern zu
harmonischen, mit sioh selbst einigen, stolzen Bekennem
ihres Glaubens.
Hier in Königsberg, wo in die jüdische Gemeinde
eine so grosse Russen gemeinde eingepflanzt ist, hier kann
mans mit Händen greifen, aus welcher Quelle dem
deutschen Judentum neue Lebenssäfte zuströmen, hier
siebt man gleichsam die Adern, durch die ihm frisches
Blut zugefiihrt wird.
Verzweifeln wir also nicht an der Zukunft des
Judentums, wenn auch alle Schrecken von aussen toben,
und wenn auch von innen, wie hier in Königsberg, von
manchem att-adligen jüdischen Stammbaum die Zweige
abfallen oder längst abgefallen sind. Ein neuer Frühling
erzeugt neues, frisch pulsierendes Leben. An Stelle
eines welken Baumes kommt ein ganzer Wald mit
frischen Säften, für alles Abgestorbene eine lebendige
Wiedergeburt, ein neues zukunftsreiches Leben.
DIE SENDUNO MUHAMMEDS.
Von Dr. Julius Reiner.
Nachdruclc vcrtiolen.
Unter den Propheten, die einen hervor-
ragenden Anteil an der Entwicklung der Mensch-
heit haben, kann man zwei typische Richtungen
erkennen, Richtungen, die nicht immer scharf
von einander sich abheben, die aber zuweilen
einen nicht zu verkennenden Gegensatz bilden.
Die Vertreter der einen Richtung könnte man die
»Moralisten ", die der anderen die „Politiker'
nennen. Für die einen ist das ethische, für die
änderen das politische Problem die Rechtfertigung
ihrer Sendung. Dass der Politiker seine Absichten
und Wünsche mit der Ethik verquickt, und der
Moralist zuweilen zur Politik seine Zuflucht
nehmen muss, um seinen Ideen eine grössere
Durchschlagskraft zu verschaffen, kann man
leicht bei einem Vergleich der beiden typischen
Richtungen erkennen.
Die Propheten Israels waren in erster Reihe
Moralisten. Sie kämpften für die höchsten Ideen
der Menschheit. Gerechtigkeit ist der Grund-
ton ihrer Predigten, und wenn sie ab und zu
auf das politische Gebiet sich begeben, so ge-
schieht es nur, um ihren Ideen mehr Nachdruck
zu verschaffen.
Etwas günstiger stellt sich
dieses Problem bei den nPoIi-
tikem" unter den Propheten,
Bei ihnen ist ihre persönliche
Stellungnahme zur Frage des
Zusammenhanges zwischen
Tugend und Lohn, Laster und
Strafe, etwas durchsichtiger.
Diese Propheten kämpften für
durchaus greifbare und zu-
weilen auch sehr selbstsüchtige
Ideen, Da sie als gewandte
und erfahrene Politiker das
Menschenherz gut kannten, ver-
brämten sie ihre politischen
Absichten mit moralischen und
religiösen Elementen. Auf diese
Weise konnten sie ihres Er-
folges sicherer sein.
Die Moralisten unter den
Propheten drohten mit Strafen
mit dem Feinde, der das Land
verwüsten und die Einwohner
zu Gefangenen machen wird.
Nicht immer folgte die Strafe
sofort auf die Uebertretung der Gebote der /üoral.
Viel besser waren die Politiker unter den Propheten
gestellt, die den Willen des Volkes unter Hin-
weis auf göttliche und jenseitige Belohnung sich
botmässig machen konnten und für den Ausfall
der Strafe nicht verantwortlich waren.
Von diesem Gesichtspunkt aus wollen wir
hier die Sendung Muhammeds betrachten; kein
anderer Prophet eignet sich besser dazu. Denn
Judentum und Christentum hängen zu sehr ge-
schichtlich und inhaltlich zusammen und stehen
dem Westeuropäer viel zu nahe, als dass wir
unbefangen an ihnen Kritik üben könnten. Ein-
drücke der Kindheit, der Erziehung, äussere Rück-
sichtnahme auf die liebgewordenen Vorstellungen
unserer Mitmenschen, der rings um uns tobende
Kampf der Parteien und die persönliche Zu-
gehörigkeit zu einer dieser Religionen lassen ein
unbefangenes Urteil kaum aufkommen. Man
mag noch so sehr objektiv sein wollen, man wird
unwillküriich parteiisch. Dazu gesellt sich noch
als erschwerendes Moment die Mangelhaftigkeit
der uns überlieferten geschichtlichen Tatsachen.
Das Leben Moses, der Propheten, Jesus ist uns
37
Dr. Julius Reiner; Die Sendung Muhammeds.
nur sehr wenig bekannt, die
vorhandenen Quellen reichen
zu einem getreuen Lebensbild
nicht aus.
Bei dem Stifter der muham-
medanisclien Religion liegen die
Dinge anders. Wir treten mit
ungetrübtem Blick an die reich-
lich vorhandenen und historisch
beglaubigten Tatsachen seines
Lebens heran, und da uns der
Islam als Rehgion fernsteht, so
können wir das Wesen seiner
Offenbarung objektiv behandein,
ohne Gefahr zu laufen, das
religiöse Empfinden der Leser
zu verletzen.
Muhammed ist der einzige
Religionsstifter, dessen Entwicke-
lungsgeschichte sich Schritt für
Schritt an der Hand durchaus
glaubwürdiger Dokumente ver-
folgen lässt. Wo der heutige
Muhammedaner im Leben seines
Propheten das Werk Gottes be-
wundert, da sehen wir Menschen-
werk; der Islam erscheint uns —
historischen Tatsachen betrachtet
Produkt eines religiösen Schwärmers und ziel-
bewussten Gesetzgebers und Politikers, der für
die Bedürfnisse seines Volkes eine Religion zu
bilden bestrebt war.
Wir wissen, dass der Prophet Muhammed
epileptische und hysterische Anfälle hatte, die
durch seine asketische Lebensweise noch gesteigert
wurden. Zeitgenossen beschreiben uns diese An-
fälle mit übereinstimmender Genauigkeit. Seine
Lippen und seine Zunge zitterten , die Augen
verdrehten sich, der Kopf bewegte sich willenlos.
Bei heftigerer Anwandlung fiel Muhammed wie
trunken zu Boden, rot im Gesicht, mit Schweiss-
tropfen auf der Stirn, unter starken Atmungs-
beschwerden; «er schnaufte wie ein Kamel" heisst
es bei einem Berichterstatter. Mit diesen Anfällen
trafen seine Inspirationen zusammen. Er hat sie
als Besuche eines Engels gedeutet und war, gleich
nachdem er sich erholt hatte, darauf bedacht, den
Inhalt seiner religiösen Träume als göttliche
Offenbarungen zu verkünden.
Die psychischen Symptome dieser Krankheit,
die noch heute den dunkelsten Winkel der
Medizin bildet, sind für die Entstehungsgeschichte
Die Glpsglesserel-AbteiluDg des BezaleL
im Lichte der
— als das
der religiösen Offenbarung bei Muhammed von
äusserster Bedeutung. Diese Symptome sind je
nach dem Bildungsgrad und der Individualität
des Patienten und je nach dem Milieu, in dem
er sich befindet, verschieden. Muhammed, der
für religiöse Fragen sich frühzeitig interessierte,
hat bei seinen Anfällen Bilder gesehen und Dinge
gehört, die aus den Elementen des religiösen
Lebens zusammengesetzt waren.
Allerdings ist es jetzt sehr schwer festzustellen,
inwiefern Muhammed bei der Verkündung seiner
Lehre nur das schwache Werkzeug seiner über-
spannten Phantasie war, die ihm Offenbarungen
vortäuschte, oder ob er aus schlauer Berechnung
zu diesem Hilfsmittel seine Zuflucht nahm, um
seine göttliche Sendung glaubwürdiger erscheinen
zu lassen. Mit anderen Worten: war Muhammed
ein betrogener, leichtgläubiger, religiösen Wahn-
vorstellungen wirklich anheimgefallener kranker
Mensch, oder war er ein kluger Diplomat, der
zu diesem heiligen Betrug seine Zuflucht
nahm, um einer guten Sache, der Einführung
eines gereinigten Gottesglaubens, zu dienen,
und um aus den wilden arabischen Beduinen-
stämmen eine einheitliche politische Macht zu
bilden?
Dr. Julius Reiner: Die Sendung Muhammeds.
40
Wir glauben nicht fehlzugehen, wenn wir
beiden Elementen eine mehr oder weniger gleich-
massige Rolle im Leben Muhammeds zuweisen.
Die leichte Erregbarkeit seiner Phantasie, die
durch hysterische Anfälle (hysteria muscularis)
noch gesteigert wurde, hat ihn für Visionen ge-
stimmt, die er in nüchternen Stunden nur als
die Folgen seiner Krankheit angesehen haben
mag. Andererseits aber mag er im gesunden
Zustand diese Visionen als das wirksamste
Moment bei der Geltendmachung seiner neuen
Lehre betrachtet haben, umsomehr, als er von
seinen nahen Verwandten dazu ermuntert wurde.
Ursprünglich mag im Geiste Muhammeds
selbst diese Scheidung stark und klar vorhanden
gewesen sein, er mag sich seiner künstlichen
Hilfsmittel, der Visionen und vermeintlichen
Offenbarungen, bewusst gewesen sein; er berief
sich auf sie, um seine eigene Person vor der
göttlichen Allgewalt zurücktreten zu lassen und
sich nur als ein willenloses Werkzeug in den
Händen Allahs hinzustellen: aber im Lauf der
Zeit wird er wohl selbst diese Scheidung auf-
gegeben haben — und eben davon hängt die
Beurteilung Muhammeds wesentlich ab. Wieviel
auf Klugheit und Berechnung und wieviel auf
seine Krankheit zurückzuführen ist, was das
Werk der Vernunft oder was der mensch-
lichen Schwäche zuzuschreiben ist, wird
sich, so wesentlich auch dieser Punkt ist, nie
genau feststellen lassen.
Muhammed wussfe, dass er als Mensch
unter Menschen nie die Autorität erlangen könne,
die dazu nötig ist, um einer Lehre, die von der
bestehenden abweicht, allgemeine Geltung zu ver-
schaffen. Er musste daher auf den Willen Gottes
sich berufen, der ihn inspirierte. Mit neuen
Lehren und Gesetzen konnte ja jeder auftreten.
Aber die neuen Lehren waren der Annahme
nicht sicher, auch wenn sie sich durch innere
Vorzüge empfahlen. Dazu bedarf es einer
Autorität, einer Gewalt Da solche Autorität und
Gewalt Mohammed bei seinem ersten Auftreten
noch nicht zur Verfügung stand und nur unter
Hinweis auf den göttlichen Willen zu gewinnen
war, so blieb Mohammed nichts anderes übrig,
als sich für den Gesandten Gottes auszugeben.
Nur auf diese Weise konnte er sich Gehör ver-
schaffen. Wie sehr Muhammed der Nachahmer
derer war, denen er es nachtun wollte, seiner
Vorgänger — denn er war kein selbstständiger
Denker — geht aus einem Vei;gleich des Korans
mit der Bibel hervor. Ganze Kapitel sind aus der
Bibel entlehnt. Die Art, wie sich Muhammed
von Gott inspirieren lässt, ist
der Bibel fast wörtlich ent-
nommen. , Waren Begabung
und Kenntnis bei ihm mangel-
haft, so ist sein Wille, der mit
geringen Mitteln Grosses zu
erzielen verstand, desto höher
anzuschlagen.
Man darf aber nicht denken,
dass die Araber, denen er seine
Lehren vortrug, so ganz leicht-
gläubig waren. Sie überhäuften
ihn mit Spott und machten oft
recht gelungene Witze über den
neuen Propheten, der genau so
wie sie ass und trank und
für schöne Weiber schwärmte.
Muhammed war aber zu sehr
von seiner eigenen Mission
durchdrungen und von der
Überlegenheit des Monotheis-
mus über den Götzendienst
seiner Mitbürger überzeugt. Er
wusste, dass nur ein gemein-
sames religiöses Band imstande
Dr. hiliiii Reiner: Die Sendung Muliammeds,
ist, die einander bekämpfenden Stämme, von denen
jeder seinen eigenen Götzen diente, zu einigen und
Ihnen eine Überlegenheit zu verschaffen, die den
Nachbarn bald gefährlich werden sollte. Er wurde
nicht müde, auf Gott sich zu berufen, himmlische
Strafen anzudrohen und göttliche Belohnung zu
verheissen.
Allmähhch gewann er einen kleinen Anhang,
der vielleicht an seine göttliche Sendung gamicht
glaubte, der aber sich sagte, dass der Mann doch
ganz recht habe. Sie lernten einsehen, dass Ge-
rechtigkeit besser sei als Ungerechtigkeit, denn
sie diene allen gleichmässig und gewähre den
Schwachen Schutz.
Auch die äusseren sozialen Verhältnisse kamen
dem Propheten zu Hiife. Er verstand es, die Armen
für seine Lehre zu gewinnen, denn er verlangte
im Namen Gottes, dass man barmherzig sein solle,
dass man die Hungrigen speise und die Nackten
kleide. So wuchs sein Anhang im I-auf der Zeit;
aber auch die Gegner nahmen zu, denn der
Einfluss Muhammeds beunruhigte sie. Sie wollten
die neue Lehre annehmen, aber sie verlangten.
dass ihnen Muhammed seine göttliche Sendung
durch ein Wunder beweise. „Wirke ein Wunder,
und wir wollen dir glauben!" sprachen sie zu ihm.
Muhammed fragte, was für ein Wunder man
verlange.
„Verwandle den Hügel von Safa in Gold",
war die Antwort
Der Engel Gabriel, den Muhammed zur Aus-
führung dieses alchem istischen Zauberstückes
angerufen hatten soll, Hess vergebens auf sich
warten. Erneuerte Angriffe auf Muhammed folgten.
Man schrie ihm entgegen: „Er ist nur abgelernt
oder verrückt" (Sure 44).
Für Muhammed gab es kein Zurück mehr.
Er verfolgte den einmal eingeschlagenen Weg,
trotzdem sein Leben dabei bedroht war. Das
Bewusstsein sefner guten Absicht hiess ihn nicht
rasten, und seine Klugheit gab ihm oft gute Rat-
schläge ein.
Er verstand es, zwei angesehene und reiche
Bürger aus Mekka, Abu Bekr und Omar, für
seine Pläne zu gewinnen. Um das Band mit
diesen zu befestigen, heiratete er die neunjährige
43
Dr. Julius Reinen Die Sendung Muhammeds.
Tochter Abu Bekrs. Ohne
diese zwei Persönlichkeiten;
die dem Propheten mit Rat
und Tat beistanden, wäre
der Islam gewiss nicht über
die ereten Anfänge ahn -
hcher Versuche, neue Reli-
gionen zu stiften, hirtaus-
gekommen. Von nun an
wächst die Macht und das
Ansehen des Propheten.
Sein Anhang ist sogar so
stark, dass er auf die gewalt-
same Ausbreitung seiner
Lehre sich einlassen kann.
Die Aussicht auf Beute mag
nicht wenig beigetragen
haben, den Mut seiner
Anhänger zu steigern. Mu-
hammed offent)arte näm-
lich im Namen Gottes, dass
die Beute gleichmässig
unter die Kämpfenden ver-
teilt werden solle. Das war kein geringer An-
sporn für so manchen armen Teufel, dem übrigens
der Prophet neben den irdischen Gütern für die
Teilnahme am heiligen Krieg - so nannte
Muhammed seine Raubzüge — noch himmlische
Freuden in Aussicht stellte.
Der Veriauf der Ausbreitung des Islams
kann hier als bekannt vorausgesetzt werden.
Keine Religion hat in ihren Anfängen so viel
Menschenleben gekostet, wie der Islam.
In der anderen Hälfte seiner prophetischen
Laufbahn war Muhammed von seiner göttlichen
Sendung weniger überzeugt, als in der ersten.
Er sah, dass das Schwert viel wirksamer sich
erwies, als die Berufung auf Gott, auf den sich
ja auch seine Gegner zu berufen pflegten. Trotz
der Verdienste, die man dem Stifter des Islam
nicht aberkennen kann, ersdieint er als Mensch
und Prophet in etwas unklarem Licht. Seine
geistige und moralische Physiognomie war weit
entfernt von jener Reinheit und Selbstlosigkeit,
die wir von einem Religionsstifter zu verlangen
pflegen. Mit dem Massstab seiner grossen Vor-
gänger unter den Religionsstiftem gemessen,
erscheint uns der Prophet von Mekka ver-
schwindend klein, das Allzu mensch liehe haftet
zu sehr an ihm. Er hat auf dem Gebiet der
Religion keinen einzigen Gedanken hervorge-
bracht, der nicht schon früher bekannt gewesen
wäre. Vom Standpunkt der Theologie betrachtet,
ist der Islam ein ziemlich schwacher eklektischer
Versuch, und der Stifter selbst hat sogar nicht
immer im Sinne seiner eigenen Vorschriften gelebt
Und dies ist es in erster Reihe, was die Person
Muhammeds in weitem Abstand von den anderen
Religionsstiftem zeigt
AUS BENJAMINS CHEDERJAHREN.
Eine Skizze aus dem Osten. — Von S. Meiseis.
Benjamin hiess er, aber seine Eltern nannten ihn,
ihren Einzigen, ihren Liebling, liebkosend und ver-
zärtelnd iMuniu". Sie sprachen diesen Namen in
polnisch verweichlichtem Akzent aus. Tiefempfundene
Liebe, Elleniliet>e, die sich zuweilen in den kleinsten
Dingen äussert, lag in dieser Namensnennung; inner-
liche Zärtlichkeit, die schon im zarten Kinderberzen
ein Cefiihl von Würde und selbstbewusster Wert-
schätzung erweckte.
Benjamin war in einem polnischen Dorfe geboren.
Sein Vater, der Gutspäcbter Saul Glück, war ein
reicher Mann, vielleicht der reichste Mann im Dorfe,
ohne dass er dadurch den Neid oder die Missgunst
der Bauersleute irgendwie erregte. Alle wussten es.
45
S. Meiseis: Aus Benjamins Chederjahren.
46
der Jude Saul hat sich redlich gemüht, unermüdlich
gearbeitet und sich ehrlich den Groschen erworben.
Dabei gewann er sich durch wahren Edelmut und
stets bereite Opferwilligkeit die Herzen aller. Die
Bauern nannten ihn nicht anders als^unser Saul";
sie verziehen ihm sogar sein Judentum. Saul Qück
war kein Dorf Jude von gewöhnlichem Schlage; er
repräsentierte vielmehr das, was man im Osten ein
„Vaterskind* nennt. Er verfügte über eine sogenannte
jüdisch-bürgerliche Gelehrsamkeit, die aus einiger
Kenntnis der Bibel und des agadischen Teiles des
Talmud besteht. Selbstverständlich wollte Saul seinen
einzigen Sohn auf eine höhere Stufe der Gelehrsam-
keit bringen. Benjamin sollte überhaupt kein Dorf-
jude bleiben. Er sollte nach der nahegelegenen
Stadt, wo das Thoralemen noch fleissig getrieben
wird, und wenn nicht Rabbiner so doch wenigstens
ein thorakundiger Stadtjude werden.
Um Benjamin für die Stadt mit genügenden
Kenntnissen vorzubereiten, wurde auch frühzeitig ge-
sorgt. Ein tüchtiger Lehrer wurde ins Haus genommen.
Dieser unterwies Benjamin in der Bibel, mitunter auch
im Talmud.
Die ersten Studienjahre Benjamins brachten dem
Vater eine arge Enttäuschung. Benjamins aufgeweckter
Geist, der an allem, was im Dorfe vorging, reges
Interesse nahm, zeigte für das Buchstabens tudtum
nicht die geringsten Anlagen. Sein Vergnügen war,
draussen auf dem Felde zu weilen, den Bauern bei
der Arbeit zuzusehen, selbst hinter dem Pfluge zu
gehen, oder im Grase unter schattigen Bäumen zu
Hegen und — zu grübeln. Am meisten aber
liebte er den Sonnenaufgang, „das Hervorkriechen
der Sonne aus ihrem Futteral", wie er selbst eme
altjüdische Redensart nachzuplappern pflegte. Oft
schlich er heimlich in frühester Morgenstunde aus
dem Hause, legte einige Kilometer zu Fuss zurück,
um einen nächst der Dorfschule befindlichen ziemlich
steilen Hügel zu erklettern, von wo aus er den Auf-
gang des blutigroten Feuerballs besser betrachten
konnte. Dabei kamen ihm die merkwürdigsten Ge-
danken. ,Ja, die Sonne ist gut, zugleich auch
schlecht. Sie trocknet die Wäsche und schwärzt
das Gesicht. Wenn keine Sonne wäre, wir würden
beim Feuer die Wäsche trocknen und durch Petroleum-
lampen die Finsternis erhellen . . . Aber der Sonnen-
aufgang ist schön . . . die Sonne macht den Tag —
ich liebe sie."
Benjamin liebte zu fragen, und hatte er keinen,
mit dem er sich unterhalten konnte, so fragte er sich
selbst. Fand er einmal im Gezweige der Bäume
oder auf einem Stammstrunk ein Taubennest, so
stand er stundenlang dabei und beobachtete das
Treiben der kleinköpfigen Vögel. Wie sie glucksten
und girrten und herumhüpften und mit den Köpf-
chen nickten 1 Der Lehrer hatte es ihm einmal
erzählt, dass in den heiligen Büchern die Juden mit
den Tauben verglichen werden. Ob sie wohl auch
frommgläubig sind wie die Juden? Dass sie auch
jedesmal auswandern I — Sind sie vielleicht auch im
Golus? . . . Den Störchen war Benjamin ein ge-
schworener Feind. Diese boshaften Störche! Sie
töten ihre schwächlichen Jungen, weil sie nicht fliegen
können ... Sie glauben wohl an keinen Gott, denn
wer an Gott glaubt, kann nicht boshaft sein. Auch
der kleine Mieczyslaw, des Schlachzizen Söhnchen,
glaubt an keinen Gott; er ist ja boshaft, schlägt ihn
oft ohne Grund mit seiner kleinen Reitpeitsche und
hetzt die Hunde wider ihn.
So hatte unser kleiner Naturphilosöph im Freien
vollauf Beschäftigung. Sein Studium ging daher wie
ein schwerbelasteter Wagen. Der Vater war verdriess-
lich, die Mutter geärgert, der Lehrer unzufrieden,
allein er war der „Einzige", man durfte mit ihm
nicht strenge verfahren. — Es wird sich ändern,
tröstete sich der Vater, 's wird sich ändern, sobald
er nach der Stadt kommt. Dort, in der Talmud-
schule, mit so vielen Jüngern zusammen, wird erst in ihm
der richtige Sinn filrs „Lernen" erwachen. — Und Saul
wartete auf den glücklichen Augenblick, da er seinen
Benjamin nach dem „Sitz der Thora" bringen werde . . .
Wie vorauszusehen war, wurde Benjamin bald
zu einem Onkel in die Stadt geschickt, damit er
dort sich zu einem „Gelehrten in Israel" heranbilde.
Der erste Eindruck, den die Stadt auf Benjamin
machte, war mächtig. Wie berauscht taumelte er
die Strassen entlang. Schon das Gehen auf dem
glatten, steinernen Pflaster versetzte ihn in eine
sonderbare Bangigkeit. Bald ging er auf den Fuss-
spitzen, den Boden kaum berührend, bald scharrte
er mit den Füssen, wie einer, der zum ersten Mal
auf dem Glatteis geht. Es dünkte ihm, als ob er
stolpern oder ausgleiten müsste. Das Klingeln
der Fahrräder, das Rollen der Wagen verwirrte
ihn förmlich. Die drei- bis vierstöckigen Häuser
erifichienen ihm wie Kolosse; die Turmuhr min-
destens so hoch wie der Turm zu Babel, von
dem er bereits wusste. Wenn er ganz oben stünde
und die Hand ausstrecken dürfte, er würde ja
sicherlich ein Loch in den Himmel bohren können!
Die Macht des Neuen wirkte stark auf ihn. Er ver-
gass den in der Nähe der Dorfschule befindlichen
Hügel, auf dem er oft den Sonnenaufgang erwartete;
er vergass Flur und Feld, ja, selbst die sittenreinen
Täubchen, die stets mit den Köpfchen nickten, und
die boshaften Störche, die an keinen Gott glaubten.
Eine neue Welt erschloss sich ihm; ein neues wechsel-
reiches Bild der Natur eröfihete sich seinen staunenden
Blicken. Der hohe königliche Zamek, der Schloss-
berg mit seiner alten, verfallenen Ruine, die von ent-
schwundener Pracht kündet, der gelblich-grüne San,
der in einem graziösen Strombett sanft dahinfliesst,
boten ihm ein Aequivalent für sein verlorenes
Paradies. Auf den Höhen des Schlossberges, an den
sogenannten Drei Kreuzen, fand er einen Punkt, von
dem aus er das ganze weite herrliche Panorama des
Stadt- Weichbildes überblicken konnte.
Rasch war die schöne Zeit zu Ende, wo Benjamin
die Stadt und ihr Getriebe, die Häuser und die
Menschen, die Turmuhr und das Rathaus, den Fluss
und die Berge, bewundem durfte. Schon am dritten
Tage nach seiner Ankunft musste er in die viel-
gerühmte — Talmudschule.
47
S. Meiseis: Aus Benjamins Chederjahren.
48
In der Talmudschule sass Reb Mendel auf dem
Katheder. Vor ihm ein aufgeschlagener Foliant.
Reb Mendel war ein langer, hochstämmiger Mann
mit einem länglichen Kopf, bleichen Wangen und
kleinen matten, von vielem Nachtwachen geröteten
Augen. Hinter dem sammetnen fettigen Käppchen,
das mit dem Kopfe wie verwachsen war, lugten
einige weisse Härchen hervor. An beiden Schläfen
trug er herabhängende, gekräuselte Haarlöckchen,
die bei jeder Bewegung in fast gleichmässigem Tempo
hin und her baumelten. Eine lange Habichtnase,
ein spitzes weissgelbes Bärtchen, verliehen seinem
Gesichte einen Zug von Urkomischem. Wirkte auch
sein Aeusseres nicht besonders wohltuend, so verstand
er es dafür, den SchtUem durch seine eigenartige
Lehrweise einen geradezu ästhetischen Genuss zu ver-
schaffen. Er besass eine grosse Fertigkeit im Er-
klären, Erläutern, Plausibelmachen. Jede Hebung
oder Senkung des Tonfalls, jedes Stampfen mit dem
Fusse, jede Handbewegung trug zum näheren Ver-
ständnis des gelernten Gegenstandes bei. Es war
kein trockenes Lernen; es lag vielmehr Sang und
Klang, Feuer und Verve, ein Schwelgen und ein
Hochgenuss darin.
Jeden neuen Schüler empfing Reb Mendel mit
folgender stereot)rpen Ansprache: „Weisst du, mein
Kind, zu welchem Zwecke du zu mir gekommen
bist? Nu, um Thora zu lernen. Das Thoralemen
ist ein heiliges Studium, und jeder Jude ist verpflichtet,
sich in die Lehre Tag und Nacht zu vertiefen. Das
Thoralemen ist das Lebenselement der Juden, wie
das Wasser den Fischen. Der listige Fuchs spricht
zu den Fischen : Kommt ans Trockene, da ist Sonne,
da ist Leben . . . Die Dummen gehorchen, verlassen
ihr Lebenselement, kommen ans Trockene und
— krepieren. Die Klugen bleiben im Wasser und
leben und sind munter . . . Wisse mein Sohn, seit
der Zerstörung des heiligen Tempels ist Gott nichts
so lieb auf dieser Welt als die vier Ellen der
Halacha."
Eine Art Erleuchtung überkam Benjamin bei
diesen Worten. Er verstand sie nicht ganz, aber
dieses Geheimnisvolle verlieh ihnen den Stempel der
Erhabenheit und der verschleierten Wahrheit. Bisher
hat er instinktiv geglaubt, Leben heisst „Sehen", nun
wird es ihm in feierlicher Weise klargelegt, dass
Leben „Lernen" heisse . . . Und dass Reb Mendel
recht hatte, das bewies die stattliche Schülerzahl, die
durch einen muntern Singsang und lebhaftes Gestikulieren
ein lebendiges Lernen und lernendes Leben bekundete.
Bisher hat er geglaubt, dass das Schönste, was Gott
geschaffen, der Sonnenaufgang sei mit seinen purpurnen
Streifen und rotschimmemdem Becken, die schattigen
Bäume und die plätschernden Quellen, — und nun
wird ihm erzählt, Gott sei nichts wertvoller als die
vier Ellen der Halacha. Was die vier Ellen der
Halacha sind, das wusste er zwar nicht, aber eben
weil er es nicht wusste, glaubte er daran . . .
Allein Mendel Hess ihm nicht viel Zeit zum
Nachdenken. Benjamin wurde schleunigst den anderen
Schülern eingereiht. Im Trällern des Lernens wurde
fortgefahren. Sie begannen eben einen neuen Traktat,
der von gefundenen und geliehenen Sachen handelt.
Mendel explizierte: „Weim zwei — sagen wir Rüben
und Simon — ein Elleid, das sie gefunden haben,
halten; Rüben sagt: ich hab's gefunden, und Simon
sagt: ich hab's gefunden; Rüben sagt: es gehört mir,
und Simon sagt: es gehört mir — so muss jeder
einzelne von ihnen schwören, dass er zumindest auf
die Hälfte dieses Kleides Anspruch erheben kann,
und sie — teilen ..."
Dieser eine Rechtsfall wurde mit den hierzu
nötigen Kommentaren einigemal erläutert und wieder-
holt. Nicht nach festgesetzten trocknen Paragraphen,
zu deren Verständnis wenig Beweglichkeit des Geistes
erforderlich ist, wurde dieses an sich seltene jus
occupandi behandelt. Weniger das Gesetz als der
Geist des Gesetzes bildete den Gegenstand der Unter-
suchung. Die kleinen Rechtsgelehrten leierten und
sangen diese Rechtsvorschriften in einer recht selt-
samen Weise. Es lag Poesie in dieser gesungenen
Jurisprudenz.
Benjamin befand sich wie im Traume. Wohl
hatte er noch im Dorfe bei seinem Lehrer etwas von
diesem Studium zu hören bekommen, aber dieses
Leiern und Singen waren ihm so eigenartig fremd,
dabei so autheitemd lustig, dass er an die singenden
Engel denken musste, von denen einmal Dimitri,
der klügste der Bauern im Dorfe, erzählte. Dem
Dimitri war nämlich seine kleine Marischa gestorben.
Er kam auf das Feld, wo seine älteren Kinder
arbeiteten, und sagte: „Marischa ist gestorben. Aber
betrübt euch nicht. Sie hat's gut. Sie war jung.
Ihre Seele war rein, rein wie das Wasser und durch-
sichtig wie das Glas. Eine solche Seele kommt
gerad' in den Himmel und wird zu einem singenden
Engel und leuchtet wie ein Stern. Viele Sterne, die
wir des Nachts sehen, sind solche Kinderseelen. Wir
sehen ihren Glanz, aber wir hören nicht ihren Gesang."
An diese Engel dachte Benjamin. — Wie gross er-
schienen ihm die Kollegen; wie winzig kam er selbst
sich vor . . . Ein Gefühl des Neides regte sich in
ihm ... Je lauter die Töne der Lernenden an sein
Ohr schlugen, je mehr ihr Lerneifer sich steigerte,
desto mächtiger wurde in ihm das Verlangen, ihnen
zu gleichen. Fast unbewusst stimmte er mit ein in
ihren Akkord; er „lernte".
In der Schule Mendels war es seither Brauch,
dass die Schüler jeden Donnerstag Abend zum
Repetieren, dem sogenannten „Cbasem", zusammen-
kamen und die ganze Nacht beim Wiederholen des
die Woche hindurch gelernten Abschnittes zubrachten.
Dieses Nachtstudium war nicht obligatorisch; die
Fleissigen kamen, die minder Fleissigen zogen es vor,
in den Armen des Schlafes auszuruhen, und mit der
Entscheidung der schwierigen Rechtsfrage, ob der
gefundene Mantel dem Rüben oder dem Simon zu-
zusprechen sei, bis Freitag zu warten. Mendel selbst
dozierte nicht an diesen Abenden. Er schnarchte
in dem anstossenden dunklen Alkoven, um, wie er
selbst sagte, durch seine Abwesenheit die Kinder
zum selbständigen Denken anzuleiten.
49
S. Meiseis: Aus Benjamins Chederjahren.
50
In dem Schulzimmer wurde nicht nur fleissig
gelerot, sondern auch, namentlich in der Abwesen-
heit des Rebbe, manch Schabernack gespielt und
manche Allotria getrieben, Da wurde ein Junge von
seinen Kollegen auf den Tisch gespannt und tüchtig
durchgeprügelt, weil er angeblich etwas vor dem
Lehrer geschwatzt haben sollte. Schlief einer ein, so
befestigten sie den Zipfel seines Kaftans an den
Stuhl, und als er erwachte, und sich recken und
strecken wollte, fiel er mit grossem Gepolter zu
Boden. Da gab es ein helles Gelächter. Einem
andern stopften sie die Nase voll mit Schnupftabak,
dass er kräftig niesste und mit Todesschrecken auf-
sprang. Einer krähte wie ein Hahn, ein zweiter pfifi
wie ein Vogel, ein dritter erzählte gar drollige und
zugleich schauerliche Geschichten. Wieder ein anderer
setzte die Mütze des Lehrers auf, steckte eine lange
Pfeife in den Mund, verzog das Gesicht und suchte
Sprache und Minen Reb Mendels nachzuahmen. An
diesen Abenden nannten sie sich auch nicht bei ihren
üblichen Rufhamen ; jeder besass einen Spitznamen,
der ein besonderes Merkmal an seiner Person heraus-
strich. So hiess der eine der „Rothaarige", der andere
der „Rundbäuchige-', der dritte der „Fetzenkopf" und
ähnliche Kosenamen. Auch Benjamin wurde ein nom
de guerre beigelegt: der „Dorfjunge".
Der „Dorfjunge" — das sollte mancherlei be-
deuten. Zunächst seine Minderwertigkeit den
städtischen Jungen gegenüber. Der Dorijunge durfte
sich nicht viel herausnehmen; musste schweigen,
wenn die andern sprachen, und spielte im allgemeinen
unter den Schülern eine untergeordnete Rolle. Seinen
Fragen, mochten sie noch so vernünftig sein, wurde
mit einer gewissen Geringschätzung begegnet. In
seinen Antworten glaubte man immer etwas Lächer-
liches, Dummes, zu finden. Allein Benjamin begrifi
die Bedeutung dieses Spitznamens nicht; er Hess ihn
daher kalt.
An dem ersten Donnerstag Abend, an dem
Benjamin sich an dem Wiederholungsunterricht be-
teiligte, trug der „Rundbäuchige", sonst Jossei
Scblite genannt, die erste Mischna aus dem Traktate
„die mittlere Pforte" vor:
„Wenn zwei — sagen wir Rüben und Simon —
ein Kleid, das sie gefunden haben, halten; Rüben
sagt: ich hab*s gefunden, und Simon sagt: ich hab's
gefunden; Rüben sagt: es gehört mir, und Simon
sagt: es gehört mir — so muss jeder von ihnen
schwören, dass er zumindest auf die Hälfte dieses
Kleides Anspruch erheben kann, und sie — teilen."
— Das versteh ich nicht, versuchte Benjamin
nach längerem Zaudern seinen Kollegen zu inter-
pellieren. Wenn zwei einen Mantel finden, soll ihn
der bekommen, der ärmer ist. Wenn ich im Dorfe
mit Stasch, Dimitri seinem Sohne, einen Mantel ge-
funden hätte, ich würde mir gesagt haben, mein
Vater ist reich, er kann mir einen machen lassen,
und Dimitri ist arm, und behält Stasch den ge-
fundenen nicht, so kriegt er auqh keinen.
— Was? Was sagt der Dorfjunge? höhnte der
Rothaarige und machte hinter Benjamins Rücken
eine lange Nase.
— Was ein Dortjunge überhaupt fragen kann?
kicherte der Fetzenkopf.
— Du Fetzenkopf, schnauzte ihn der Rothaarige
an und versetzte ihm dabei mit seinem EUbogen
einen wuchtigen Rippenstoss, du solltest überhaupt
nicht mitreden. Was verstehst du davon? Du hast
ja Fetzen im Kopfe.
Alle Kinder lachten.
— Aber er hat doch recht, meinte einer, der
mit Fetzenkopf auf gutem Fusse stand. Kommt so
einer aus dem Dorfe her, bringt er gleich seinen
Baueraschädel mit . . .
— Und das Beispiel, das er anfuhrt 1 sprach ein
anderer. Was hat Dimitri mit dem Talmud zu
schaffen? . . .
Allein der Rundbäuchige bewahrte in solchen
Momenten die Ruhe und den Ernst eines Vortragenden.
— Ja, Benjamin, sagte er gelassen, du hast recht.
Was würdest du aber tun, wenn sie beide reich sind? —
— Dann brauchen sie ihn beide nicht, antwortete
Benjamin, ohne viel zu überlegen. Dann sollen sie
den Mantel einem Armen schenken.
— Verschenken, das ist gut, lachten einige.
— Ja, wenn sie aber beide arm sind, was dann?
sprach wieder der Rundbäuchige und setzte sich in
Positur.
— Ja, was dann? was dann? hüpften einige mut-
willige Bengel.
Benjamin war im ersten Augenblick wie ge-
schlagen. Beschämt Hess er seinen Kopf hangen,
um den herausfordernden verächtlichen Blicken seiner
Mitschüler nicht zu begegnen. Jedoch wie ein
Kämpfender, der sich nicht so leicht besiegt geben
will, wagte er sich mit einer Gegenfrage hervor: Nu,
was haben sie denn davon, wenn sie den Mantel
zerschneiden? —
— Zerschneiden I sprang der Rothaarige trium-
phierend auf. Was sagt' ich, der Dortjunge versteht
nichts, was er lernt. Zerschneiden? was für Unsinn.
Sie verkaufen ihn und teilen mit dem Gelde.
Benjamin war besiegt. Endgültig. Alle Kinder
lachten so geringschätzend, so verächtlich. Eine
mühsam unterdrückte Träne glänzte in Benjamins
Auge. Er bedauerte, in die Arena getreten zu sein,
die Disputation heraufbeschworen zu haben. Waren
ihm doch seine Kollegen an talmudischen Kennt-
nissen weit überlegen I Nun galt es durch ein rasches
Hinüberlenken auf ein anderes Thema der Sache
eine andere Wendung zu geben.
— Ich schäme mich gamicht, dass ich es nicht
wusste, sagte Benjamin mit einer zaghaft zitternden
Stimme. Woher sollte ich auch? Im Dorfe gibt's
so vieles zu sehen, dass einem die Lust zum Lernen
vergeht . . .
— Im Dorfe gibt*s vieles zu sehen? lachte
Feiwisch Narr laut auf. Das ist nicht schlecht.
Kartoffel graben kann man im Dorfe, aber zu sehen
gibt's gar nichts.
— Da hast du, schrie der Rothaarige, der hat
auch schon das Wort. Feiwisch Narr, du selbst
solltest lieber Kartoffel graben, als hier sitzen.
51
S. Mdsels: Aus Benjamins Chedeijahren.
52
— Na, Rothaariger, hat der Esel Bileams sein
Maul geöffnet? versetzte Fei wisch trotzig.
— Warte, der Esel Bileams drückt dich bald
an die Wand, dass dir Hören und Sehen vergehen,
schrie erbost der Rothaarige.
— Auch mir ein Heldl lachte Feiwisch und
rückte dem Rothaarigen immer näher. Vielleicht
willst du dich mit mir schlagen, da zeig' ich dir
bald, wer älter ist.
— Nu, komm heran, wenn du Mut hastl
forderte ihn der Rothaarige auf.
Er reckte sich wie em kleiner Athlet. Sein Gesicht
nahm eine seinen Haaren ähnliche Farbe an. Auf seiner
Stirn zeigte sich eine bläuliche Ader. Seine Fäuste
ballten sich. Als jedoch Feiwisch meikte, dass es
ernst zu werden begann, rückte er allmählich ab.
— Mir passt es gar nicht, mich mit dir zu
schlagen, sprach er mit schlecht verhehlter Furcht,
und verkroch sich dabei in einen Winkel.
— Wie es sich verkriecht, das Hasenfüsschen,
triumphierte der Rothaarige.
— Ruhig, Jungen! gab Jossei Schute das
Kommando. Macht keinen Lärm und hört auf zu
zanken 1 Wenn der Rebbe erwacht, so kriegt ihr
eine Tracht Prügel, dass euch diese Nacht ewig in
Erinnerung bleibt.
Die Schüler, die infolge des drohenden Zwei-
kampfes zwischen dem Rothaarigen und Feiwisch
Narr in eine animierte Stimmung geraten waren,
zogen sich zurück und nahmen wieder ihre Plätze
vor den aufgeschlagenen Folianten ein. Jossei
Schites Verweis war von Erfolg, denn er erfreute
sich — seiner „Gelehrsamkeit" wegen — einer ton-
angebenden Stellung unter seinen Genossen.
— Erzähl doch mal, was du im Dorfe gesehen,
wendete sich Jossei, nachdem die Ruhe wiederher-
gesteUt war, an den ratlos stehenden Benjamin.
— Den Sonnenaufgang, antwortete Benjamin
mit vibrierender Stimme.
Aus der Eoke des Zimmers hörte man ein leises
Kichern.
— Oj wei, grosse Sachen. Das kann man auch in
der Stadt sehen.
-— Hast du's denn schon mal gesehen, Wölwel?
fragte ein grüner Junge den Spottenden.
— Hab ich's denn gesagt? Man kann ihn sehen,
sagt' ich, wenn man morgens früh aufsteht. Ich steh
morgens nicht früh auf Wozu brauch ich's sehen?
— Es ist doch so schön . . . erwiderte Benjamin.
— So schön, wiederholte Wölwel, den Kopf
hin und her wiegend. Habt ihr schon einmal gehört,
dass die Sonne schön ist?
— Ich hab' schon gehört, meinte der Rot-
haarige, dass der Mond schön ist. Mein Vater kommt
manchmal nach der Neumondweihe nach Hause und
erzählt voUer Freude, dass der Mond schön war.
Aber von einer schönen Sonne kann wirklich nur
ein DoHjunge sprechen.
— Auch ein Dienstmädchen, ergänzte Wölwel,
unsere Magd singt immer ein Lied:
Der Tag war hell, die Sonne schien schön.
Da kam mein Geliebter zu mir zu gehn.
— Kusch, du Hund! brauste plötzlich der
Fetzenkopf auf. Das fehlte noch, solche Lieder in
einem Schulhause singen. Und dann, wie kommst
du dazu, solche Lieder zu hören? Darf man 'ne
Frauenstimme hören?
— Man darf nicht, man darf nicht, bestätigte
der Rundbäuchige.
— Warte, das muss ich dem Rebben nachsagen,
drohte der Fetzenkopf.
— Was soll ich tun? verteidigte sich Wölwel,
sie singt so laut, soll ich mir die Ohren stopfen?
Und Benjamin war es, als käme er von einer
heissen Dusche unter eine kalte. Eine Art von
SchamgeHihl, von Reue regte sich in seinem Innern,
Er kam sich so dumm vor, so sündhaft; sündhaft,
weil er dumm war. Wie oft hatte ihn die Sonne
schön gedäucht, wie oft hatte er ihren Feuerglanz
bewundert, wie oft hatte er Bauemmädchen singen,
hören, dem Gesänge der Schnitterinnen gelauscht I —
'ne Frauenstimme hören, das sei doch nicht statt-
haft ; der Fetzenkopf hat's gesagt, der Rundbäuchige
bestätigt, wahrscheinlich steht's geschrieben, und was
geschrieben steht — so sagte ja Reb Mendel —
ist heilig . . .
Im Schulzimmer trat eine kurze Pause ein.
Jossei Schlite war anscheinend neugierig, etwas
mehr von den Sehenswürdigkeiten im Dorfe zu er-
fahren, denn er forderte den bleichen und zitternden
Benjamin wiederholt auf, seine Berichterstattung
fortzusetzen.
— Ich könnte euch, begann Benjamin, viele
hübsche Geschichten von den Störchen erzählen,
wie sie ihr Nest auf dem grossen Wagenrad bauen,
das auf dem Scheunendach Uegt, wie sie Beute her-
beischleppen und ihre Jungen füttern. Es sind recht
niedliche Vögel, aber sie glauben an keinen Gott!
— Hört mal, was der Dorfjunge zu sagen wagt,
unterbrach ihn der Rothaarige.
— Heisst eine Frechheit, schrie Feiwisch Narr.
— Eine Gottlosigkeit, meinte ein anderer.
— Alles, was lebt, selbst das, was nicht lebt,
glaubt an einen Gott, erklärte der Rundbäuchige.
— Du, Dorf junge, weisst du, wie der Storch
hebräisch heisst? sprach eine quietschende Stimme
dazwischen.
— Wissen wird er 's, nach dem Schalet, raste
der Rothaarige, wenn anders es ihm Michailow oder
Pawel gesagt haben . . .
— „Chassida" heisst er, dass heisst „der Fromme'S
quietschte wieder die Stimme. Sie werden schon ge-
wusst haben, warum sie ihn so nannten.
Selbst Jossei Schlite schien diesmal auf Seite
der Opposition zu stehen.
— Dieses Wort dari nicht ungestraft bleiben,
hetzte der Rothaarige, 'rauf mit ihm!
— 'raui mit ihm! ertönte es gleichzeitig aus
mehreren Kehlen.
Sie machten sich an ihn heran, zerrten und
schleppten ihn, spannten ihn auf den Tisch, zupften
und kniffen ihn, schnellten ihm in die Nase und
53
S. Meiseis: Aus Benjamins Chederjahren.
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verabreichten ihm eine beträchtliche Anzahl Prügel, so
dass er in — ein lautes Weinen ausbrach.
Wie aus der Erde wuchs plötzlich Reb Mendel
in schmutzigem Schlafhemde und Unterbeinkleide aus.
„Was macht ihr, Bengel? Nennt ihr das —
Lernen — — r Wie steht geschrieben? Moses sagte:
Roscho, Bösewicht, weshalb schlägst du deinen
Freund! - *• Das letzte Wort elektrisierte alle
Schüler. Sie wurden wie gelähmt. Sie schämten
sich ihrer bösen Tat ... An dieses Wort Moses
dachten sie gar nicht . . . Mendel bestrafte diesmal
die Missetäter nicht, sondern hielt ihnen eine Moral-
predigt. Hieraut schickte er sie nach Hause, zumal
da es bereits zu dämmern anfmg. Benjamin war der
letzte, der das Schulhaus verliess.
Mit schwerem Herzen und wehen Gliedern
schlenderte er durch die menschenleeren Strassen der
Stadt. Er ging nicht nach der Wohnung seines
Onkels, sondern lenkte seine müden Schritte über
den Quai dem Scblossberge zu . . . Als er ihn er-
klettert hatte, setzte er sich in das taufeuchte Gras.
Die ersten purpurnen Streifen des Sonnenaufgangs
zeigten sich auf dem Horihontlfe ... Er wendete
seinen Blick von diesem Himmelspunkt . . . vergrub
sein Gesicht . . . und — weinte . » .
ein Traum.
nad)6ruch verboten.
Id) träumt - id) wäre in eURe|d)iös Canben,
Wo Sreil)eit unb 6ered)tigheit fid) fanöen
Unb eine Rrone um öie CDenfd)en wanben
Von Cieb unb treu.
Id) \q\) bie Sreil)eit auf bem Z\)vone fi^en,
ein Diabem auf \\)xem Raupte bilden,
Unb Red)t unb Ciebe bienten \\)x als Stufen
Im l)ol)en Amt.
Unb Jonnverwanbt war \\)x gered)tes Walten:
Sie liefe bie Cebensheime frei entfalten;
Sie fpenbef Cid)t ben jungen wie ben fllten
In gleid)em CDafe.
Der Bafe entwid), ber 3wift fanb l)ier ein enbe,
Vereint, verbrübert waren alle Stänbe,
Die lang ent3weiten reid)ten fid) bie Bänbe . . .
Id) freute mid).
Id) ham ja aus bem {d)aurig finftern Horben,
Wo Cagesarbeit ijt bas CDen{d)enmorben,
Das Canb burd)3iel)en bejtienwilbe Borben,
Des Böfen Brut.
Wo Bäd)e fliegen von ben vielen Tränen,
Wo Srauen jammern unb bie CDänner ftöl)nen
Unb jebe Brujt burd)tobt ein mäd)tig Sel)nen
nad) Cid)t, nad) Cid)t . . .
Dod) l)ier ift Sriebe, l)ier ifts gut 3u wol)nen;
Wo Sreil)eit tl)ront, ba mufe aud) CDilbe tl)ronen,
Bier wirb ber Starhe wol)l ben Sd)wad)en fd)onen,
Wie Jid)'s gebül)rt.
CI)arlottenburg.
Von biefer Stelle werb id) aud) nid)t weid)en,
Bier {oll bie Wanberung x\)x enb erreid)en,
Unb meinen Wanberftab, bes eienbs 3eid)en,
Begrab id) l)ier . . .
nBe, Alter, auf! Id) müfet eud) {onft beftrafen.
In biejem Parh ift nid)t erlaubt 3U fd)lafen,
Bier ift für l)ergelaufne frembe Shlaven
Rein nad)tafYl! -
l\)x feib ein Srember, mübe fd)on vom Wanbern? -
Bier ift hein pia^ für eud) - fud)t einen anbern;
\\)x bauert mid), bod) müfet x\)x fd)leunigft wanbern
3ur Stobt l)inaus!**
So wed^te mid) ein (Dann vor CDörgengrauen.
Id) fal) il)n an unb wollt bem Blid^ nid)t trauen,
Id) mufete immer wieber auf \\)n fd)auen.
Den (Dann bes Red)ts.
Da griffen nad) bem Wanberftab bie Bänbe,
Unb weiter ging es, weiter ol)ne enbe.
6ott ein3ig weife, ob je bas Cos fid) wenbe
Des Wanbersmanns.
Id) bleib ja ftets ber wanbernbe Oefelle,
6el)e^t, gejagt von jebes Baufes Sd)welle,
Der Bli^e 3iel, ein Spielball jeber Welle,
Das Ceiben felbft.
Id) träumt - id) wäre in ei=Refd)ibs Canben,
Wo Sreil)eit unb 6ered)tigheit fid) fanben . . .
Dod) als ber junge Zqq haum war erftanben.
Verflog ber Craum. -
Samuel CDeifels.
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56
MITTEILUNGEN AUS DEM DEUTSCHEN BUREAU
DER ALLIANCE ISRAELITE UNIVERSELLE.
(Berlin N. 24, Oranienburgerstr. 42/43 I). r
DIE KNABENSCHULEN DER ALLIANCE IN MOGADOR (MAROKKO).
Aus dem Bericht des Direktors Nahon.
Nachdruck verboten.
Mogador ist eine junge Stadt. Sie ist im 18. Jahr-
hundert entstanden, ein Ergebnis der bemerkenswerten
neueren Erscheinung, dass die marokkanischen Völker-
schaften von der Küste angezogen werden. Jahrhunderte-
lang war das anders, hüllte sich Marokko in Geheimnis,
richtete es seine ganze Tätigkeit auf das Innere des
Landes, fern von den Blicken der Fremden. Gleich den
muselmanischen Familien, die alles darauf einrichten, dass
sie von aussen nicht gesehen noch gehört werden sollen,
die verlassene Strassen vorziehen und hinter weiten,
schweigsamen Vorhöfen leben, öffnete Marokko nach dem
Meere zu nur unbedeutende Häfen, hatte es an seiner
langgestreckten atlantischen Küste nur leblose, ärmliche
Weiler. Die grossen Städte — Fez, Marakesch, Meknös,
Tarudant — hielten Reichtum und Leben von der Küste
fem. Doch ein Umschwung erschüttert allmählich das
Gleichgewicht der Dinge und treibt die Massen zum
Meere hin. Erschöpft und blutlos durch eine jahr-
hundertelange Absperrung, drängt sich die Menge zum
Meeresufer, um frische Luft zu schöpfen und den an-
kommenden Fremden die Hand zu reichen. Unaufhörliche
Zuwanderung erhöht die Wichtigkeit aller Häfen auf
Kosten des flachen Landes und der alten Städte.
Die Israeliten, durch ihr Missgeschick, ihr Temperament
und ihre Geschichte empfindlicher für die kommenden
sozialen Umgestaltungen, stehen bei diesem Meeresdrang
in erster Reihe. Die Gemeinden des Küstenbezirks
nehmen täglich zu. Die Zeit kann nicht fem sein, da
die jüdischen Gemeinden von Tanger, Gasablanca, Mogador
20 000 Seelen und darüber zählen werden.
Die Gemeinde Mogador erhält ihren Zuwachs nament-
lich aus der Provinz Sus. In physischer Beziehung sind
die Israeliten dieses Bezirks von ihren nördlichen Glaubens-
genossen sehr verschieden. Brauner, unklarer Teint,
langer Schädel, Ausdruck von Schüchternheit, wie er
wilden Völkerschaften eigentümlich ist — das sind die
charakteristischen Züge. Eine gelehrige, geschmeidige,
ausdauemde, kluge Rasse, fehlt ihnen jene Feinheit der
Manieren, jene Fröhlichkeit und Ungebundenheit, die man
im Norden findet Talmudische Traditionen haben sie
gar nicht. Bei ihnen hat es nicht, wie in Meknes, Fez,
Rabat, Tetuan, eine lange Geschlechterfolge von Rabbinen
und scharfsinnigen theologischen Denkern gegeben.
Jüdische Wissenschaft hat bei ihnen keine Pflege erfahren.
Wenigstens ist keine Spur davon durch diese Einwanderang
in die junge Gemeinde Mogador gekommen. Die Zu-
wanderer hatten kein anderes Bedürfnis, als ihren Unter-
halt zu gewinnen, ein freieres L^ben als an ihrem
Geburtsort zu fuhren. Für die Einrichtung von „ Jeschibot"
nach nordischem Muster hatten sie weder die moralische
Ruhe noch die Mittel. Die jetzt hierher kommen, ver-
langen vor allem Brot und haben keinen Gedanken an
Greistesarbeii
So hat sich eine Bevölkemng gebildet, die fast
jeder intellectuellen Regsamkeit entbehrt. Dabei sind
die Gestalten blutlos. Die Gesichter sprechen von un-
genügender Emährang. Es begreift sich, dass das
erschöpfte Gehim mehr als die elementarsten Vor*
Stellungen aufzunehmen sich weigert. Besserer Emährangs-
zustand ist die Vorbedingung höherer Kultur.
Unsere Zöglinge sind zumeist nicht arbeitsam. Sie
kommen aus Gehorsam zur Schule, ohne Neigung für
den Unterricht Ihre Haltung ist gut. Ausserordentliche
Anstrengungen, sie an Sauberkeit zu gewöhnen, haben
erst geringen Erfolg gehabt. Gegen eingewurzelte
Gewöhnungen, die aus dem Boden der Armut, des
grössten Wohnungselends, des Mangels an Seife, Kamm
und Schwamm emporgewachsen sind, ist schwer ankämpfen.
Augenkrankheiten sind selten, allerhand Hautkrankheiten
häuflg. Man tut das Mögliche, um die Uebel zu beseitigen.
In den letzten Jahren hat sich die Schule sehr gut
entwickelt. Vor 12 Jahren zählte sie 60—80, vor fünf
Jahren 140, gegenwärtig 310 Schüler, von denen 250 die
Klassen mit Ausdauer durchmachen.
Freie Speisung. Etwa die halbe Zahl der Schüler,
140, erhält Freitisch. Man erkennt hieraus die herrschende
Armut. Seit dem 24. April sind 165 bis 180 neue Gäste
hinzugekommen, da auf Anordnung der Alliance alle
bedürftigen Kinder, sie mögen eine Schule besuchen oder
nicht, eingeladen sind, an derMittagsmahlzeitteilzunebmen.
Diese Verfügung des Central-Comitees ist mit begreiflicher
Begeisterung aufgenommen worden. Fleisch ist zu teuer,
als dass es den jungen Gästen so oft dargeboten werden
könnte. Oft bat es an Brot gemangelt, weil Kom und
Mehl phantastische Preise hatten. Reis wurde als Ersatz
gereicht und hat vortreffliche Dienste getan, obwohl
seltsamerweise die Kinder den Reis nicht sehr lieben.
Es würde sich empfehlen, in die Speisekarte Kichererbsen
und Linsen einzufügen, die man in Gasablanca zu erträg-
lichem Preis erstehen könnte Bedauerlicherweise sind
die Spenden für diesen Freitisch sehr gering.
Unterricht. Ich habe eingangs die Gründe für
die gegenwärtige Apathie der Judenschaft von Mogador
dargelegt. Ein weiterer Gmnd, der den Fortechritt
unserer Jugend aufhält, besteht in der Armut ihres
Jargons, der aus entstellten und fast unverständlichen
57
Mitteilungen der Alliance Isra^lite Universelle: Die Knabenschulen der Alliance in Mogador (Marokko).
58
arabischen, hebräischen, spanischen Worten zusammen-
gesetzt ist und nur ein sehr geringes, abwechselungsloses
Vokabularium hat. Wer das Unglück hat, einen solchen
Dialekt als Muttersprache zu sprechen, hat die grössten
Schwierigkeiten, zu europäischen Gedanken durch-
zudringen. Das Milieu muss den unterrichtlichen An-
strengungen zu Hilfe kommen, um wenigstens bei den
jüngeren Leuten die Fessel des Jargons zu sprengen«
In Mogador, wo die europäische Kolonie unbedeutend
ist, kein Gegenstand, kein Gebäude, kein Zeichen das
Auge des Kindes trifft, nichts zur Beobachtung reizt und
die Bequemlichkeit überlieferter Formeln stört, wird die
den Schulen obliegende Last erdrückend. Die Schule nimmt
abnorme Wesen auf, deren Ohr sie erst bilden, deren
Sprachwerkzeuge sie erst modeln, deren Geist sie erst an
Worte und Bezeichnungen gewöhnen muss, die für die
Kinder ohne Urbild in der Wirklichkeit sind. Das be-
dingt einen ungeheuren Zeit- und Kräfteverlust. Die
Fortschritte zeugen von einem sehr kleinen Teil der
Mühen, die Lehrer und Schüler aufwenden müssen. Ich
betrachte es als ein Glück, dass ich lange Zeit in ähn-
licher Umgebung unterrichtet habe und dadurch gerüstet
bin, die Anstrengungen richtig zu schätzen und dem
guten Willen Gerechtigkeit angedeihen zu lassen.
Zu den Ursachen iür die Langsamkeit in der
Besserung der ökonomischen Lage der Gemeinde gehört die
mangelnde Eignung der jungen Leute zur Auswanderung.
OhneKenntnis des Spanischen sind sie für den Lebenskampf
in Südamerika nicht geschickt. An uns ist es, diese
Lücken auszufüllen. Das Spanische muss in unser Schul-
programm aufgenommen werden, zum mindesten für die
I. und 2. Klasse; alle unsere Schüler müssten dahin
gebracht werden, mit 13 oder 14 Jahren spanisch zu
sprechen. Es ist Zeit, diese fruchtbare Bevölkerung, die
hier für ihre Tatkraft kein Feld findet, die von Hunger
und Krankheit dezimiert wird, nach den freien Ländern
Amerikas zu lenken. Wenn wir unseren hiesigen
Zöglingen die Sprache beibringen, die sie in Argentinien,
in Peru, in Venezuela brauchen, so bereiten wir ihre
Auswanderung dorthin vor. Die hierfür nötigen Auf-
wendungen wären vortrefflich angelegt. Die jungen Leute
sind es, die auswandern müssen. Für sie vor allem ist
der spanische Unterricht einzurichten. Der Abend-
nnterricht muss deshalb in betreff dieser Sprache weiten
Baum einnehmen, und alle Sorgfalt ist darauf zu richten^
dass die jungen Leute fliessend und leicht sprechen
können. Ich denke deshalb eine Anzahl Stunden in den
Abendklassen auch der Belehrung über amerikanische
Verhältnisse zu widmen, die Geographie, die Ein-
wanderungsbezirke, die politischen Einrichtungen, die
Hilfsquellen Amerikas, die Beschäftigung, die man dort
findet, die Lebensführung, die man dort beobachten muss,
die Kosten der Reise, die Wegrichtungen, die hygienischen
Vorkehrungen. Der befreiende Auszug muss rationell
torbereitet werden. Man muss die Intelligenzen derart
beeinflussen, dass ein formlicher Drang nach den trans-
ozeanischen Republiken entsteht Bis zu dem vielleicht
noch fernen Zeitpunkt der Erschliessung Marokkos für
europäische Tätigkeit ist das das einzige Mittel, die
Frage des Elends in diesen Landen zu lösen.
Schlussfolgerung. Man könnte unsere Marokka-
nischen Schulen in zwei Kategorien sondern:
1. Die Schulen mit vollem Betrieb, die schon
mächtige Wurzeln geschlagen haben, deren • Früchte
unter unseren Augen zur Reife gelangen, und deren
Boden die für die wirtschaftliche Emanzipation und für
die geistige Entwickelung günstigen Kräfte enthält.
2. Die im Ausbau begriffenen Schulen, die
noch keine Fühlung mit den Gemeinden haben, in deren
Umgebung das Erdreich noch nicht locker genug ist,
um der jungen Pflanze Nahrung und Ausbreitung zu
gewähren, die ihre Organe geduldig bearbeiten, sich
wappnen und üben, um zur Blüthe bereit zu sein, so-
bald die erforderliche Wärme und Arbeitskraft sich
einstellen.
Die Schule von Mogador gehört zur zweiten
Kategorie. Sie macht in der Gemeinde noch den Ein-
druck eines fremdartigen Körpers ; unserö Glaubens-
genossen haben grosse Achtung vor ihr und erwarten
ihre Leistungen, aber sie sind von ihrer Unentbehrlich-
keit durchaus nicht überzeugt. Trotzdem einige frühere
Zöglinge vermöge ihrer hier gewonnenen Ausbildung
ihren Lebensunterhalt verdienen, ist bei den Juden von
Magador die Ueberzeugung noch nicht durchgedrungen,
dass der Unterricht zum Wohlleben, jedenfalls zu un-
abhängiger und würdiger Tätigkeit führen kann. Und
da im Lande der arabische Jargon vollständig zur
Verständigung ausreicht, könnte die Schule ver-
schwinden, ohne etwas anderes als oberflächliches Be-
dauern zu hinterlassen.
Der Schülerbestand unserer Schule war lange Zelt
sehr beschränkt, ihre Tätigkeit ist durch keine
Mädchenschule unterstützt worden, so dass ihr Eindruck
auf die Gemeinde nicht sehr tief hat sein können.
Trotz aller unserer Bemühungen werden sich die An-
sichten unserer Glaubensgenossen nicht ändern bis zu
dem Tage, wo eine stark europäische Kolonie sich in
Mogador gebildet haben wird und junge Leute in
grosser Zahl 'für wohlbezahlte Stellungen verlangt
werden, und die soziale und wirtschaftliche Ueberlegen-
heit des Mannes, „der lesen kann^, sichtbar, greifbar
geworden sein wird. Bis dahin besteht unsere Aufgabe
darin, nichts zu vernachlässigen, damit vom ersten Be-
ginn des Anzeichens einer wirtschaftlichen Hebung '
dies für aller Augen unmittelbar offenbar wird. Die
Schule bereitet sich für ihre künftige Aufgabe vor.
Seit 3—4 Jahren ist sie beträchtlich gewachsen, und
mit der Schule in Mellah verdoppelt sie ihre Tätigkeit!
Sie gewöhnt die Gemeinde daran, ihre Opfer für das
Erziehungswerk zu steigern.
5y
60
DIE KNABENSCHULE DER ALUANGE IN BAGDAD.
(Inspektionsbericht des Herrn Ni^go.)
Unterricht. Im Winter und im Frühling wird
der Unterricht vor- und nachmittags gegeben. Sobj.ld
jedoch die starke Sommerhitze einsetzt, ist die Arbeit
am Nachmittag unmöglich. Man beginnt dann morgens
in aller Frühe und hört mittags auf. Während meines
Besuchs stellte ich in den Klassen um 7 Uhr morgens
33 0, mittags 44 o fest. Bei 33 o fühlt man sich noch
recht behaglich, da die Luft beinahe ohne alle Feuchtig-
keit ist, richtiger, die Luft hat auch bei höchster
Temperatur einen Feuchtigkeitsgehalt, der weit unter
dem Sättigungsgrade bleibt.
Folgende Sprachen werden in der Schule zu Bag-
dad gelehrt: Französisch, Englisch, Hebräisch, Arabisch,
Türkisch.
Im allgemeinen sei bemerkt, dass die israelitische
Bevölkerung Bagdads ausserordentlich intelligent ist.
Die Mühe der Lehrer wird durch erstaunliche Erfolge
belohnt. Die Schüler sind von Natur rege, arbeitsam,
wissbegierig. Die Disziplin macht keinerlei Schwierig-
keit. In der Klasse herrscht stets vollkommene Ord-
nung, und auf dem Hofe, während der Pause, hört man
kaum einen Schrei. Ich finde diese Kinder für ihr
Alter zu ruhig und zu vernünftig; ich wünschte sie
mir etwas lärmender, bewegter, sie müssten sich in den
Pausen jugendlichen Belustigungen hingeben.
Wenn ich nun sämtliche Lehrgegenstände mustere,
so kann ich erklären, dass ich in allem und jedem
Fortschritte konstatiere, dass ich überall, in allen
Klassen, sehr befriedigende Antworten erhielt.
Unterricht im Englischen finden wir in den neun
oberen Klassen. Herr Albala hat dieser Sprache mit
Ihrer Zustimmung grösseren Platz eingeräumt als
seine Vorgänger. Sie ist für die israelitische Be-
völkerung Bagdads von wesentlicher Bedeutung. Die
Handelsbeziehungen Mesopotamiens mit Indien, Aegypten,
Grossbritannien sind viel wichtiger als die mit Frank-
reich und Oesterreich. Diesem Handelsverkehr und der
Kenntjiis des Englischen verdanken viele ehemalige
Zöglinge der Schule ihre Wohlhabenheit; viele von
ihnen haben sich die Rechtschaffenheit. und peinliche
Ehrenhaftigkeit des englischen Grosskaufmanns an-
geeignet.
Ich bin nicht kompetent genug, um über die Fort-
schritte der Schüler im Englischen zu urteilen, aber
ich beziehe mich auf den englischen Generalkonsul
Major Ramsey, der während meiner Inspektion der
Schule einen Besuch abstattete. Er begnügte sich nicht
damit, die vorliegenden Hefte zu prüfen, sondern liess
nach eigenem Diktat schreiben, wobei viele Schüler
keinen Fehler machten. Er war von den Fortschritten sehr
befriedigt und hat nur die Aussprache der allerjüngsten,
die einen Inländer zum Lehrer haben, bemängelt. Man
weiss, dass eine gut« englische Aussprache nicht so
Nachdruck verboten.
leicht ZU erwerben ist, insbesondere ftlr den, der ein
englisches Land noch nicht besucht hat.
Arabisch wird in allen Klassen gelehrt, und
überall, weil es die Landessprache ist, mit Erfolg, den
schlechten Methoden zum Trotz, die die Lehrer noch
anzuwenden pflegen.
Türkisch ist nur in den oberen Klassen Lehr-
gegenstand.
Im Hebräischen werden ausgezeichnete Resultate
erzielt. Es ist beinahe wieder zur Umgangssprache ge-
worden, die jeder versteht. Bagdad ist die Stadt der
Schreiber. Unweit von Bagdad liegt das Grab Esras, und
in Bagdad werden in grosser Zahl Pentateuchrollen an-
gefertigt, die in alle Länder gehen. Alle Kinder, die
jüngsten wie die ältesten, lesen hebräisch korrekt und
deutlich. Im Nu gelangt man — auch dank der Ver-
wandtschaft mit der arabischen Sprache — zum Ver-
stehen und Uebersetzen. Das Bibelstudium, das in ge-
wissen Gegenden oft zu Gunsten des Talmud vernach-
lässigt wurde, steht hier sehr in Ehren. In jeder
Klasse wird an den 6 Wochentagen je ein Stück
Pentateuch (der Wochenabschnitt) oder ein Stück aus
den Propheten durchgenommen. Dieser Unterricht mag
vielleicht ein wenig mechanisch gestaltet, noch allzu-
w^enig von modernen Methoden beeinflusst sein; aber
er gibt nichtsdestoweniger infolge vieler Wieder-
holungen und wegen der Liebe, die man ihm widmet,
gute Resultate.
Der erste Rabbiner der Schule, Ghacham Hezkel,
bemüht sich bereits, seinen Schülern die Grammatik
methodisch beizubringen; bis jetzt beschränkt sich
dies auf die Konjugation der Zeitwörter. Das ist wenig,
aber immerhin ein Fortschritt.
Speisungen. Man speist täglich unentgeltlich
574 arme Zöglinge, davon 484 Knaben und 90 Mädchen.
Die Kosten beziffern sich auf m3hr als 5000 fr. jähr-
lich, wovon 1000 fr. von der Alliance beigesteuert
werden. Der Gemeindepräsident Meir Elias gewährt
einen jährlichen Beitrag von 1380 fr. Der Rest geht
zu Lasten der Stadt. Herr Albala hat diesen Zuschuss
beim Rat der Stadt erwirkt.
Die reichen Familien pflegen zu jeder feierlichen
Gelegenheit, wie zu Feiertagen, Hochzeiten, Jahi'zeiten,
den Armen und den Schülern der Talmud Tora Mahl-
zeiten zu schicken. Herr Albala hat es durchgesetzt,
dass auch die armen Zöglinge unserer Schulen hierbei
nicht leer ausgehen.
Auf dem täglichen Speisezettel stehen Brot mit
Gemüse oder Reis oder Eier oder Früchte (Gurken,
Wassermelonen, Melonen, Trauben, Pfirsiche, Aepfel,
Datteln) oder Speise (Halva).
61
Mitteilungen der Alliance Israeli te Universelle: Die Knabenschule der AUiance in Bagdad
62
Das Hilfowcrk ist gut organisiert und wird
ordnungsgemäss überwacht.
Gewerbliche Ausbildung. Die Ftlrsorge er-
streckt sich auf 20 Lehrlinge, nämlich: 4 Setzer,
8 Tischler, 3 Kupferschmiede, 1 Schneider, 4 Grob-
schmtede.
Zu den Kosten steuert die Alliance 1400 fr., die
Anglo-Jewish Association 400 fr. bei. Die gezahlten Löhne
werden den Lehrlingen erst am Ende der Lehrzeit zur
Beschaffung von Werkzeug ausgehändigt und sind
verpflichtungsgemäss zurückzuzahlen, wenn von dem
Greld kein guter Gebrauch gemacht wiid. Ausser
einer gestempelten Quittung, die diese Verpflichtung
enthält, fordert Herr Albala noch, dass ein Bürge die
Quittung gegenzeichnet.
Ich habe die meisten dieser Lehrlinge besucht und
festgestellt, dass sie mit Eifer arbeiten, und dass ihre
Meister mit ihnen zufrieden sind. Nach Beendigung
der Lehrzeit verdienen sie als Arbeiter 0,50 bis 1 fr.
den Tag. Die Bezüge bleiben hier gering, solange
einer nicht selbst Meister ist.
Das LehrUngswerk ist im allgemeinen nur schwach
entwickelt, wird jedoch gut überwacht und bat jedenfalls
bessere Ergebnisse aufzuweisen, als ich z. B. in Alcppo
gesehen habe.
Die Lehrlinge erhalten Kleidung auf Kosten des
Hilfswerks und speisen täglich unentgeltlich in der
Schule. Abendkurse gibt ihnen regelmässig der Lehrer,
dem ihre Ueberwachung anvertraut ist.
Bibliothek. Die Schulbibliothek ist wie auch das
ganze Schulmaterial in sehr gutem Zustand. Die Schüler
«
haben an der Lektüre Geschmack. Die Bibliothek ent-
hält viele französische und englische Bücher. Die
erstereu sind von der Alliance gesandt, die letzteren von
der Anglo Jewish Association, die hierfür die Zinsen
eines von Silar Sassoon gestifteten Legats zur Ver-
fügung hat.
Die Schüler haben auch unter sich eine kleine
^Brüderschaft^ zum Ankauf von Büchern gebildet. Sie
geben für die Lektüre jedes Buches 1 Sou. Von den
80 angesammelten Beträgen wurden im letzten Jahre
250Bände modemer Schriftsteller, Z.B.Balzac und Alexandre
Dnmas, angeschafft. Alle Bücher der Bibliothek sind ge-
bunden und gut gehalten.
Schulgebäude. Die Bagdad er Schule macht der
AUlauce und den Israeliten Ehre. Nicht nur Unterricht
und Disziplin, auch die Räumlichkeiten sind vortrefflich.
Das Schulgebäude, von einem weiten Hof umgeben,
besteht aus 4 Einzelhäusern.
1. Der Zentralbau inmitten des Hofes, von allen
Seiten beleuchtet und durchlüftet, mit einer Galerie rings
herum, die den Sonnenstrahlen den direkten Zutritt zu
den Klassenzimmern verwehrt und den Schülern als
Erholungsraum dient Das Haus umfasst 6 geräumige
Zimmer über einem Erdgeschoss, das man hierzulande
Serdab nennt. Dies Erdgeschoss ist ein einheitlicher
sehr schöner Kaum mit Säulen und Gewölben — letztere
nach Landessitte mit Backs !:einverzierungen verkleidet.
Bis vor kurzem diente es als Speisesaal. Man ist seit
einigen Monaten daran, es in eine Synagoge umzuwandeln,
die die schönste in gans Bagdad sein wird. Das Haus
trägt den Namen David Sassoous, der 1869 das Kapital
zum Bau gestiftet hat. Au der Wand ist der Name des
Wohltäters und das Datum der Erbauung eingraviert.
2. Der Anbau „Meuachem Daniel", durch Herrn
Z^mach enichti t, nach Osten gelegen, mit 2 grossen
Klassenzimmern im Erdgeschoss und einem Bureauraum
im ersten Stockwerk.
3. Das Empfangsgebäude, — nahe der westlichen
Pforte. Es enthält unter anderm die Bibliothek.
4. Der neue Anbau, der gegenwärtig errichtet wird,
nach Norden gelegen, — dies ist für Bagdad die beste Lage.
Er wird 6 Klassenzimmer aufweisen, je 3 im Erdgeschoss
und im ersten Stockwerk. Die Baukosten werden sich
auf 300 Pfund belaufen. An 180 türkische Pfund sind
bereits am Platze und durch Herrn Albala gesammelt.
Alle Gebäude sind in bestem Zustand. Die Wände
erhalten alle 6 Monate Kalkanstrich. Der ganze weite
Hof wird täglich gekehrt und reichlich besprengt.
Klassenzimmer, Galerien und nicht zuletzt die Kloset-
anlage im Hofe blitzen von Sauberkeit Grade in diesem
heissen Lande ist es von Wichtigkeit, dass den Schülern
täglich ein gutes Muster für Ordnung und Reinlichkeit
gegeben wird.
Die Schule entliielt im letzten Jahr 12 Klassen-
zimmer. Durch den Neubau wird die Zahl auf 18
erhöht. Herr Albala fand bei seinem Amtsautritt 405
Schüler vor. Jetzt sind es 529, und mit Hilfe der neuen
Räume wird es die Schule auf 750 Schüler bringen
können.
Endergebnis. Die Schule in Bagdad, die
erste, die die Alliance im Orient gegründet hat,
ist ein gutes Institut. Es ist die schönste Schule
im Irak. Die Muhammedaner und die Christen
erkennen es gleicherweise an. Sie hat sich langsam
aufsteigend entwickelt und hat noch eine grosse
Zukunft vor sich, sie wird noch weit grössere
Verhältnisse annehmen können. Sie hat zu einem
sehr grossen Teil zu dem wirtschaftlichen Auf-
blühen der israelitischen Gemeinde in Bagdad bei-
getragen. Dank der allgemeinen, durch die Schule
vermittelten Bildung, dem Unterricht im Französi-
schen und vor allem im Englischen waren die
ersten Schüler, die die Bänke der Schule verliessen,
in der Lage, in die Fremde zu wandern, ihren
Interessenkreis, ihren Handel auszudehnen, und ge-
laugten dazu, solide Handelshäuser zu begründen
und ihr Glück zu machen. Die Eröfl&iung der
Schule hat einige Jahre vor der Fertigstellung des
Kanals von Suez stattgefunden, die ersten aus-
63
Mitteilungen der Alliance Isra^lite Universelle: Die Knabenschule der Alliance in Bagdad.
64
gebildeten Zöglinge der Schale konnten daher bereits
aus der Ausdehnung, die der Bagdader Handel durch
den neuen Kanal erfuhr, Nutzen ziehen.
Die kommerziellen Beziehungen zu Europa,
Ägypten, Indien und Persien haben sich vervielfacht.
Man hat die Bemerkung gemacht, dass die Kauf-
leute, die ihre Geschäfte auf englischen Bezugs-
quellen basierten, weit mehr Gewinn erzielten,
als die, die nur mit französischen oder öster-
reichischen Häusern zu tun hatten. Einzelne kamen
üi wenigen Jahren zu Vermögen. Man kann sagen,
dass unsre Glaubensgenossen zur Zeit den gesamten
Handel in Händen haben. Diesen blühenden Stand
der Gemeinde darf man gewiss nicht der Schule
allein zuschreiben. Die angeborenen Eigenschaften
der Bevölkerung sind mit in Anschlag zu bringen.
Der Bagdader Jude ist tatkräftig; ein Mann der
Ordnung, der seine Bücher bestens zu führen pflegt ;
die doppelte Buchführung hat sich früh in sämtlichen
Geschäftshäusern eingebürgert. Ausserdem ist er
sehr sparsam, gibt weit weniger aus, als er das
Jahr hindurch einnimmt. Die Reichsten in Bagdad
fahren mit dieser Methode noch immer fort;
Luxus, Komfort, selbst die einfachste Behaglich-
keit der Wohnung, des Mobiliars, der Kleidung
liegen ihnen fem.
Bei Einzelnen unter den Wohlhabenden sieht
man wohl schon das Gefühl der Solidarität im
Keimen begriffen. Sie hegen den Wunsch, ihren
Mitbürgern zu nützen, und helfen die Werke der
Wohltätigkeit, der Schulen, der Talmudtora zur
Entfaltung bringen. Aber noch ist diese Sinnes-
art kein Allgemeingut. An dem Direktor der Schule
liegt es, sie zu verbreiten, zu entwickeln. Dann
wird man in Bagdad mit den Mitteln der Bevölkerung
selbst die schönsten Unternehmungen schaffen können.
Was mir bei diesem Schuluntemehmen in Bagdad
noch gefällt, das ist die Tatsache, dass es stufen-
weise fortgeschritten ist, dass mehrere Direktoren,
die einander ablösten, durchaus von demselben Geist
beseelt waren. Zemach trat in die Fusstapfen
Danons, und Albala hat nur das eine Ziel vor Augen :
das Erbe seiner Vorgänger zu mehren. Dies ist
nachahmenswert. Nur die Kontinuität aller An-
strengungen verbürgt den Erfolg guter Unter-
nehmungen.
DAS SCHULWERK DER ALLIANCE IN SALONIKI.
Aus einem Inspektionsbericht des Herrn S. Benedict.
Saloniki, November 1906.
Saloniki zählt unter allen Städten des Orients die
meisten Juden, 70 bis 75000 unter 120000 Einwohnern.
Mehr noch als selbst Jerusalem ist Saloniki eine jüdische
Stadt Am Sonnabend ruht jeder Handel, die Läden
sind geschlossen, auch die der NichtJuden; die Schiffe
können weder landen noch ausreisen, denn die Schauer-
leute sind alle Juden. In den übrigen Städten des
Orients bemühen sich unsere Glaubensgenossen, sich die
Landessprache anzueignen; hier hingegen waren die
Griechen, die Türken darauf bedacht, den jüdisch-
spanischen Dialekt zu erlernen. Das Jüdisch-Spanische
ist beinahe die Amtssprache von Saloniki geworden.
Die Salonikier Juden, ein rastlos tätiger Menschenschlag,
haben einige Erwerbszweige völlig mit Beschlag belegt.
Die Gemeinde von Saloniki ist nicht arm. Ich
sah sehr wenig Bedürftige — Bettler, von denen doch
die Städte des Orients wimmeln, fast garnicht. Sehr
wenig Arme werden auf Gemeindekosten unterhalten;
auch diese Armen sind nicht Bettler im eigentlichen Sinne,
sondern Gelegenheits- Notleidende, denen man Beihilfe
zur Miete gibt oder zum Passahfest Mazzot spendet.
Schon aus der Höhe des in unsern Anstalten und
in den Privatschulen entrichteten Schulgeldes erhellt,
dass die grosse Mehrheit der Israeliten von Saloniki
zwar nicht reich, aber doch wohlhabend ist; selbst die,
die man mit Unrecht als arm bezeichnet, zahlen durch-
schnittlich an Schulgeld zwei Piaster die Woche. Das
Schulgeld der Knaben bringt uns sicher beinahe
20000 Francs, die Mädchenschule etwa ebensoviel.
Die Behauptung, dass Saloniki eine arme Gemeinde
ist, ist also falsch. Ich lege Wert darauf, dies zu
Beginn meines Berichts testzustellen.
Nachdruck verboten
Der Bahnhofsbeamte, bei dem ich mein Billet löse,
ist ein ehemaliger Zögling unsrer Schule; der Zoll-
beamte, der meinen Koffer durchsucht oder vielmehr
nicht durchsucht, ging gleichfalls aus unsrer Schule
hervor; der Kondukteur, der mein Billet locht, dankt
seinen Posten dem Unterricht, den er bei uns erhielt.
Meine beiden Reisebegleiter sprechen voll dankbarer
Erinnerung von ihren AUiance-Lehrern; der eine hat
sich als Möbelfabrikant in Konstantinopel niedergelassen
und beschäftigt fünf von unseren Lehrlingen in seiner
Werkstatt; der andere ist Modewarenhändler zu Ueskub,
er fährt zum Einkauf nach Wien. Ich könnte noch
viele Personen aufzählen, denen ich begegnet bin und
die uns alles verdanken. Ich will jedoch nur noch
feststellen, dass die 27 Zöglinge der Knabenschule,
die in diesem Jahre die Schule verliessen, alle in
Stellung gebracht sind und bereits mehr oder weniger
verdienen.
Nach dieser langen Vorrede will ich Ihnen nun
gleich sa?en, dass Ihr ganzes Unternehmen in Saloniki
vortrefflich gediehen ist. Die eigentlichen Schulen, das
Asyl, die Volkskurse, die Gewerbeschule, das Lehrlings-
werk, sie alle sind gut entwickelt und w^eisen schätzens-
werte Fortschi-itte auf. Für alle unsre Lehrer habe
ich nur Worte der Anerkennung. Die erzielten Re-
sultate sind, wie ich mich überzeugen konnte, beinahe
wunderbar. Saloniki besitzt heute eine gebildete,
arbeitsame Generation, die sich ihrer sozialen Pflichten
wohl bewusst ist. Der Boden, auf dem wir gearbeitet haben,
war allerdings besonders fruchtbar. Die Israeliten von
Saloniki sind im allgemeine von schönem Wuchs und
lebhafter Intelligenz. Man sieht hier nicht jene ge-
bückten Jammergestalten. Der Salonikier Jude ist eher
65
Mitteilungen der Alliance Israelite Universelle: Das Schulwerk der Alliance in Saloniki.
66
einmal etwas übermütig, er fühlt sich als Herr des
Platzes: Saloniki gehört ihm.
Die aus unsem Anstalten entlassenen jungen Leute
nehmen in den Bankhäusern, den Läden, in der öffentlichen
Verwaltung die ersten Stellungen' ein. Auf den zahl-
reichen Eisenbahnlinien, die ich benutzte, traf ich bei-
nahe auf jeder Station ein oder zwei oder mehr jüdische
Beamte. Viele Schüler setzten die auf der Schulbank
begonnenen Studien fort; zahlreich sind die Aerzte und
Rechtsanwälte, die ihre erste Erziehung den Schulen
von Saloniki verdanken.
Die Knabenschule, vor 33 Jahren begründet,
zählt zu unsem besten Schöpfungen. Sie erfreute sich
stets, und grösstenteils mit Recht, eines ausgezeichneten
Rufes. Die Schule ist ein wahrer „Turm von Babel. ^
Ausser Hebräisch, Deutsch, Französisch, Türkisch unter-
richtet man Englisch, Italienisch, Griechisch. Natürlich
lernen die Kinder nicht alle sieben Sprachen auf einmal.
Der deutsche Unterricht ist in den bewährten Händen
des Herrn Neftel.
Das Lehrlingswerk. Saloniki gehört zu den
Städten, in denen das Lehrlingswerk gut giidiehen ist
Hier kennt man nicht die häufig unüberwindbare
Schwierigkeit, die darin liegt, dass für die Zöglinge
keine ordentlichen Lehrmeister zu finden sind. Die
Mehrzahl der Handwerksmeister in Saloniki sind Juden.
Ehemalige Lehrlinge. Ich sah in t>iner Werk-
statt zwei ehemalige Tischlerlehrlinge, der eine verdient
4 Frcs., der andere sy^ täglich, was für Saloniki ein
sehr schöner Verdienst ist; in einer andern Werkstatt
verdienen fünl Tischler je 3 Frcs. täglich; in einer
Steinmetzerei verdienen sechs ehemalige Lehrlinge
Frcs. 2,50 bis 1,75; in einer Teppichweberei zwei ^-
beiter Frcs. 2. Einer nnserer ehemaligen Tischler-
lehrlinge, der sich etabliert hat, verdient wöchentlich
Frcs. 20. Rührend ist, dass sein Vater nun bei ihm
als Lehrling arbeitet. Ein anderer Tischlermeister, des-
gleichen zwei Tischlergesellen, verdienen Frcs. 2,50 bis
1,60 täglich; zwei Ofensetzer 1,50 und 1,25; sechs
Stuhlmacher 2 bis 3 Frcs.; ein Klempner 6 Frcs.
wöchentlich; sechs Posamentiere 10 bis 23 Frcs.
wöchentlich; zwei Koflermacher 8 Frcs. wöchentlich;
ein Tischler, der seit 27 Jahren sein Handwerk betreibt,
verdient 1500 Frcs. im Jahr; zwei Bürstenbinder, der eine
von ihnen Meister, verdienen 50 bezw .1 1 Frcs. wöchentlich.
Ich besuchte die Werkstatt Nahmias, wo mehr als
35 Tischler, alles Juden, beschäftigt sind. Unter ihnen
finden sich 12 ehomalige Lehrlinge, die 1,25 bis 3 Frcs.
täglich verdienen. Unter diesen zwölfen ist ein Holz-
bildhauer von Ihrer Gewerbeschule in Jerusalem mit
einem täglichen Verdienst von 3 Frcs. Endlich besuchte
ich zwei ehemalige Setzerlehrlinge; sie verdienen heute
8 und 12 Frcs. wöchentlich.
Ich habe selbstverständlich nur den kleinf^ten Teil
Ihrer ehemaligen Lehrlinge aufsuchen können. Alle, die
ich sah, sind mit ihrer Lage zufrieden und segnen die
Alliance, die sie einen Beruf erlernen Hess, der sie und
ihre Familien anständig ernährt.
Gegenwärtige Lehrlinge. Es sind an Zahl 54,
davon 23 Tischler, 7 Schmiede, 5 Steinmetze, 3 Teppich-
weber, 3 Posamentiere. 3 Stuhlmacher, 3 Dentisten,
2 Setzer, 1 Kupferschmied, 1 Koffirmacher, 1 Mützen-
macher, 1 Schumacher und 1 Goldschmied. Alle diese
Lehrlinge erhalten ausnahmslos einen wöchentlichen
Lohn von 2 bis 8 Frcs.
Die Lehrlinge nehmen regelmässig an den Abend-
kursen teil, die in bester Art von zwei unsrer Lehrer
abgehalten werden. Sie erhalten ausserdem Mittagessen,
das uns etwa 0,15 Frcs. pro Lehrling und Mahlzeit kostet.
Die Gewerbeschule. Diese Schule ist die popu-
lärste in Saloniki, die Schule, auf die Saloniki am meisten
stolz isi Die vornehmsten Damen, jüdische wie
muhammedanische, besorgen sich bei uns Korsett und
Kostüm. Ein Korsett wird mit Frcs. 40 bis 50 bezahlt,
die Anfertigung einer Hube mit Frcs. 50 bis 60, was
für Saloniki recht beträchtlich ist; man kann dennoch
der Nachfrage nicht genügen. Der Vorwurf, dass die
Schule ihrer Kundschs^ zu hohe Preise berechne, trifft
sie nicht allzu schwer; man bedenke, dass mit Hilfe der
Einkünfte der Ateliers nicht weniger als 300 junge
Mädchen ihre Ausbildung erhalten. Wäre nicht die hohe
Miete von 5200 Frcs. aufzubringen, so würde die Ge-
werbeschule nicht nur sich selbst, sondern auch die
andern Anstalten erhalten.
Vereinigungen. Sowohl die ehemaligen Zöglinge
der Knaben- wie der Mädchenschule haben sich zu
Vereinigungen zusammengetan. Beide Vereine leisten
dem Werk der Alliance grosse Dienste, durch Ein-
sammlung von Jahresbeiträgen, durch Propaganda, durch
Subventionen, die sie den Volkskursen und sogar
den auswärtigen Schulen in Ueskub und in Serres
widmen.
Schlussbemerkungen. Unser Werk in Saloniki
ist in jeder Hinsicht gut, die Resultate sind beträchtlich.
Die Saat wurde vieUeicht ein wenig zu langsam aus-
gestreut, die Ernte aber ist reichlich. Wer das Saloniki
vor 30 Jahren gekannt hat und mit dem heutigen
Saloniki vergleicht, muss wahrnehmen, dass hier eine
wahrhafte Revolution sich abgespielt hat Die israelitische
Gemeinde, ja die Stadt selbst hat dch von Grund auf
verändert Man höre die Männer von 40 bis 50 Jahren
über die Alliance. und über ihre wohltätige zivilisatorische
Wirksamkeit sprechen. Man höre, mit welcher Be-
geisterung die jungen Leute, die eben die Schulbank
verlassen, die „heilige*^ Alliance preisen der sie ihr
Glück verdanken.
Berlin. Der Wunsch, mit den Mitgliedern der
Alliance Liraelite Univer-elle in immer nähere Beziehung
zu treten und durch Aufklärung über das Wirken und
die Ziele der A. L ü. dieser immer neue Freunde zu
gewinnen, hat das Präsidium der Deutschen Conferenz-
Gemeinschaft veranlasst, Versammlungen zu veranstalten,
in denen über die A.L U.Vorträge gebalten wurden. Es ge-
schah dies, abgesehen von den Vororten von Berlin, in
Eberswalde, Grünberg in Schi., Würzburg, Stuttgart,
Lissa 1. P., Frankfurt a. M., Wongrowitz, Grätz, Mur.
Goslin, Schokken, Ostrowo, Schrimm, Schildberg,
Ra witsch, Memel, Insterburg, Erfurt, Gotha, Tilsit,
Filehne, Alienstein, Seh wetz. Die Vorti-agenden — die
Herren M. A. Klausner, Dr. Friedländer, Dr. Markus,
A. Jacoby — fanden überall für ihre Ausführungen leb-
haftes Interesse. Nicht selten riefen ihre Darlegungen
Ueberraschung hervor. Denn wenn die Alliance auch über-
all mit ehrender Anerkennunsr und mit höchster Achtung
genant wird, so hatte sich doch vielfach die genauere
Kenntnis von dem weltumfassenden Wirken der Alliance,
von ihrer ausdauernden Fürsorge und von dem Reichtum der
Mittel, die sie unseren bedrängten Glaubensbrüdem in aller
Welt zur Verfügung stellt, verflüchtigt. Die Geräuschlosig-
keit, mit der die Alliance ihre Taten verrichtet, hat zur
Folge gehabt, dass man vielfach andere Organisationen
für die eigentlichen Urheber dessen Welt, was in Wirk-
Miliei!i:ngen der AUiance Isra^lite Universelle.
Ijchkeit von d^r Ällianc« aiisgegang'en und geleist«t
war. Man nahm die Aufklürnng mit herzlicher
»eude entgegen. Das jüngere Geschlecht erfuhr
mit Gennstnung, das» die von den Vätern begonnene
Arbeit nicht unterbrochen, üondern mit ebenso stillem
wie großem Eifer fortcesetzt worden ist. In den Vor-
trägen wurde auch rühmend der Jewish Colonisation
Association gedacht, die durch Personalunion mit der
Alliance verbunden ist und innerhalb der allgemeinen
Aufgabe die besondere RieBenarbeit versieht, die Aus-
wanderung aus Russland grosszügig zu organisieren. End-
lich wurde betont, dass die Alliance Israelit« Universelle
es für ihre Pflicht hült, allen nationalistischen Bestrebungen
gegenüber den universellen Charakter zu unterstreichen,
und nicht zuzulassen, dass das jüdische Hilfswerk
zerrissen und durch nationale Teilung entkräftet wird.
Berlin. Am 18. Dezember v J. feierte unser
Mitglied Justizrat Dr. Hermann Veit Simon das
Fest der silbernen Hochzeit, Dem her vorragenden. luristen
und tj-euen Glaubensgenossen wurden ans diesem Anlass
die herzlichsten Bekundungen zuteil. Aach das Präsi-
dium der DeutMchen Co nf er enz- Gemeinschaft fand sich
die folgenden
mit einer Glückwunschadresse
Wortlaut hatte:
„Hochverehrter Herr .Tustizrat!
8ie feiern haute ein Familien-
fest, das Pest der Silbernen
Hochzeit.
Wir bitten um die Erlaubnis,
wir fordern ea als unser
Frenn desrecht, mit Ihnen und
Ihrer verehrten Frau Ge-
mahlin uns zu freuen, mit
Ihnen beiden den Tag als
einen Fest und Freudentag
zu begehen.
Wir haben Gelegenheit
gehabt, Ihr öffentliches und
Ihr stilles Wirken zu beo-
bachten — wir haben gesehen,
wie Sie in Ihrem ehrenvollen
Berut zu immer höherem An-
sehen gelangten, wie Sie
durch Gaben des Geistes und
ernstes wissenschaftliches
Streben zu einer Zierde Ihres
Standes wurden.
Wir sind einander be-
gegnet bei Ihrer steten Be-
reitwilligkeit, Ihr persön-
liches Können in den Dienst
unserer Glaubensgemein-
schaft und der dieser Gemein-
schaft gewidmeten Werke zu
stellen. Mit freudiger Be-
wunderung und mit herz-
innigem Stolz haben wir
wahrgenommen, wie Sie in
der Fülle der Arbeit immer
Müsse fanden für die Förde-
rung und Hebung der Juden-
heit, die mit ungeteilter Anerkennung auf
blickt, wie Sie mit durchdringendem,
richtiger Liebe geborenem Verständnis
KrtflUung grosser, auf Gegenwart und Zukunft
zugleich gerichteter Aufgaben sich beteiligt<'n.
Auf das Grosse hat Ihr Streben sich gerichtet.
Wo immer das Hecht der Judenheit in Frage
kam, wo es werktätiges Eingreifen galt und wuch-
tige Verteidigung mit den Waffen des Geistes
und Wissens — da waren Sie zur Stelle, ein
rüstiger und gerüsteter Kämpfer. Und für Ihre
Liebe zu unserer Gemeinschaft hat es nichts
Kleines, nichts Unbedeutendes gegeben.
Wir haben kein Mandat, im Namen der Juden-
heit zu reden. Aber wir
sind sicher, im Sinne der
deutschen Judenheit zu
handein, wenn wir den
heutigen Tag als Anlass
benutzen, mit unseren GIQck-
wünschen Ihnen, unserem
hochgeschätzten Mitglied ,
den Ausdruck tiefgefühlter
Anerkennung, Verehrung
und Liebe darzubringen.
Genehmigen Sie, hoch-
verehrt«r Herr Justizrat,
unsere Grüsse und die
Versicherung unserer ver-
ehrungavollen Ergebenheit,"
.Tustizrat Dr. Hermann Veit
Simon gehört einer Reibe bedeu-
tender judischer Organisationen an,
so auch det: Lehranstalt für die
Wissenschaft des Judentums, Hier
wurde er im .Jahre 1904 in das
Kuratorium gewählt, dessen Vor-
sitzender er seit Beginn, des Jahres
1906 ist. Von Uebernahme dieser
Tätigkeit an war es sein Be-
streben, der Lehranstalt ein eigenes
Heim zu gründen, würdig der
grossen Aufgabe, die die Lehr-
anstalt in der Judenheit zu er-
füllen bat Sein Wunsch konnte,
dank der Munifizenz hochherziger
Glaubensgenossen, zur Erfüllung
gelangen. Im Herbst dieses Jahres
Das neue Gebäude der Uhramtalt für die '"''■'' '" ^e"" Artilleriestrasse der
Prachtbau der Lehranstalt seine
Tore denen öffnen, die dereinst
Lehrer in Israel sein und Gottes
Wort künden wollen. Bei dem innigen Zusammen-
hang, der zwischen den erzieherischen Tendenzen der
Alliance Israelite Universelle und allen Kulturwerken
in unserer Glaubensgemeinschaft besteht, glauben wir
der bildlichen Darstellung des Lehranstaltsgebäudes
in diesen Spalten einen Raum anweisen zu dürfen.
Wisaenachaft des Judentums in Berlin.
I auf-
Uörlits. Herr Rabbiner Dr. Freund, einer der
Senioren der Alliance Israelite Universelle und seit 35
.lahren ihr eifriger, pftichtgetreuerund sorglicher Vertreter,
hat am 30. Dezember v. J. sein fünfzigjähriges
Jubiläum als Rabbiner der Synagogengemeinde Görlitz
gefeiert. Das Central-Comite in Paris und das Prä-
sidium der Deutschen Conferenz- Gemeinschaft haben dem
um die Sache der Alliance hochverdienten Manne, der
von seiner Gemeinde geliebt und auf Händen getragen
wird, der seine Gemeinde selbst erzogen hat, Glück-
wunsch ad re.ssen überreichen lassen.
Rabbiner Dr. Freund steht im 78, Lebensjahre,
Er Ist am 3. August 182« in der Posenschen Stadt
Schmiegel geboren, wo sein "\'ater ein allseitig angesehener
Mitleilungen der Alliance Israelile Universelle.
Kaufmann war. Seine M " ' " ' ' - ■'■
Sklower an, die in BreaU
heute noch bestehende „äkl
aoBgeatattet hat. Im Jahi
Liasa, wo er nach einjährig
die ÜataritäUprilfung beata
Eltern ond der eigenen 1>
sich dem Rabbinerbemf. In
wo damals Talmndgelehrti
grossem Ruf lebten, gern
talmudischen Unterricht, n
lieh bei dem Dajan Reb
Hamburger. Von Lisaa
Freund zum Besuch der Univ
nach Brealan. Hier hOi
Philosophie bei Professor B
exegetische Vorlesungen üb
Alte Testament bei den
fessoren Movers und Midde
arabisch und syrisch bei dt
fessoren Bernstein und Schm
Dabei wurden die Talmudi
unter Leitung der bedeut«
Gelehrten, u. A. des s]
Ostrowoer Rabbiners Dr. Fr
fortgesetzt. Das Rabbiners
war damals noch nicht e;
Rabbiner Dr. Geiger nahi
des jungen Kandidaten an,
unserem Jubilar des Dr.
nachmaligen Rabbiners in
und des Dr. Friedeberg, sj
Rabbiners in Tilsit. Dr.
hielt Vorlesungen über jl
Literatur, nahm mit den
Männern die judischen philo
hielt sie zu homiletischen Uet
promovierte Freund in B
handelte („de rebus die i
stehungstage. Er veröffentlichte darin zum ersten Mal
den Text eines in den Universitätsbibliotheken von
Breslau und Leyden vorhandenen Manuscripts mit la-
teinischer üebersetanng und zahlreichen Anmerkungen
über die judische Autfassung vom Leben nach dem
Tode und von der Auferstehung. Noch vor der Pro-
motion hatte Freund die Stelle eines ersten Lehrers an
1
Breslau-Liegnitz-und dem Vorstand vieler gemeinnütziger
Vereine an. Dass er treues Mitglied, ein Freund und
Förderer der Alliance Israelite Universelle seit 32 Jahren
ist, haben wir bereits ei-wähnt.
Der 30. Dezember war fllr Dr. Freund und für
seine Freunde und für die Gemeinde Görlitz ein Fest-
und Ehrentag.
Berlin. Der grosse Philanthi'op .Jacob H.Schiff
in New York, 965, 5th Avenue, feiert am 10. Januar
d. J. den sechzigsten Geburtstag. Ehrungen aus der
ganzen Welt werden ihm an diesem Tage verdienter-
massen zuteil werden. Wir entbieten dem Förderer
aller gi'ossen humanitären Werke, dem treuen und
unerschrockenen Glaubensgeiiossen herzinnigen Glück-
wunsch und glanbensbrüderlicben Gruss,
Pu-ia. Herr Oscar S. Strans hat infolge seiner
Ernennung zum Handelsminister der Vereinigten Staaten
seineDemission als Mitglied des Üentral-Comitä der A.I.U.
gegeben. Das Central- Com ite hat beschlossen, an Herrn
Straus für die wirksame Tätigkeit, die er stets zu-
gunsten der Alliance, sowie überhaupt zugunsten alter
Werke allgemein jMischen Interesses entfaltet hat, ein
Dankschreiben zu richten.
Neue immerwährende Mitglieder:
Berlin: Einanuel Bergmann, italisch reib<>r.'<tras'<
Atft-cil Ci>lin, Behrenstrasse 48.
Breslau: Israel Sachs, Hnfchen Strasse 97.
Alk' für das Berliner Lokal-Comit^ der A. l. ü. und fiii- das Deutsche Bureau der A. I. )'. Ucstimmten
Gfldsendimgen beliebe iiiiin an den Schatzmeister
Herrn Benno Braun in Firma Joelsohn & Brfinn, Berlin C.19, Hausvoigteiplatz 12
/u ikdressicren, eventuell diircli Heiehsbank-Girokont« den Herreu Joelsohn & HrOnn zu (Ibenveisen.
71
72
EIN JUEDISCHER LIEDERABEND.
Am 10. Dezember fand im Festsaal der Gesellschaft der Freunde der erste Vortragsabend des
neu gegründeten Vereins zur Förderung jüdischer Kunst statt. Dem längst totgesagten jüdischen
Volkslied galt die erste Darbietung. Es war ein ganzer Erfolg. Das grosse Auditorium gab dankbaren
Beifsdl. Und alle Zeitungen der Hauptstadt brachten anerkennende Besprechungen. — Wir blicken mit
Liebe und freudiger Grenugtuung auf die Arbeit des jungen Vereines; dient sie doch einem Gedanken,
für den „Ost und West" seit sechs Jahren unter Opfern und Mühsal gekämpft hat. — In einem
der nächsten Hefte werden wir über die Bestrebungen des Vereins eine eigene Studie bringen. Heute
beschränken wir uns darauf, nur das Programm des ersten Abends zu geben, das in Wahrheit ein
— Programm ist!
Den einleitenden Vortrag über „die G^eschichte, die Quellen und die psychologischen Charaktere
des jüdischen Volksliedes" hielt Dr. med. Theodor Zlocisti. Die musikalischen Erläuterungen zu
den Einzelstücken gab der bekannte Komponist Dr. Bogumil Zepler, dessen hingebungsvolle Arbeit
die Durchlühmng des Programms in erster Reihe ermöglicht hat.
Es folgten dann:
I. Volkslied massiges. 7. Berühmte jüdische Melodie aus Wilna
1. Die Fähre Volkslie.l "*"" ^*- lodern.
2. Der Vater an sein Kind M. ßeimel
3. Das Pekele Volkslied Hl- Kunstmusik.
. o . Herr Michael Magidsohn. ^p^.^^ „^^ Oper) unter Benutzung jüdischer Motive
4. Seimsucht nach Jerusalem v olkshed , '^ ^ ^ *
5. Zwei Wiegenlieder a) Volkslied l. ^War ein kleines stilles Haus" . . . J. Rothstoin
b) aus „Sulamith" (loldfaden 2. Arie a. d. Op. „Der Brautmarkt zu Hira" B Zepler
Fräulein Bella Zlotnicka. Herr Michael Magidsohn.
ß. „Wer es kann afn Fiddele spieln" . . . Volkslied 3. Arie a. d. Op. „Die Makkabäer" . . . Rubinstein
7. Alef Beiss Volkslied (für Solo und Chor)
S. Ratseilied Volkslied 4. Wo du hingehst B. Zepler
Fraulein Vera Goldberg. Fräulein Vera Goldberg.
5. Arie der Sulamith a. d. Op. „Die Königin
IIa. Liturgische Hausmus'ik. von Saba" (für Solo und Chor) . . Goldmark
(Hebräisch)
1. Hin Szeidergesanff (Passah) IV. Volksliedmässiges.
2. Ein Freitag- Abendgesang (S'miraus) (Heiteres und Chassidische Melodien)
Herr Michael Magidsohn« ,, , .
3. Ein Freitag- Abendgesang 1- "Her nur du schein Meidele" Volkslied
4. Eine alte Neujahrmelodie (Melech eljaun) 2. „Geh ich mer spazieren" Volkslied
Fräulein Bella Zlotnicka. 3- „L.oif zu mir" . Goldfaden
Fräulein Vera Goldberg.
IIb. Alte jüdische Melodien ^- Zwei kleine Lieder: A alte Kasche —
for Violine und Fishor.onium ,es.t.t , BalfatttTebbe „n.l .Ion Chassidin. l . 'tSd
5. Sefardische Melodie 6. Der Rebbe Volkslied
G. Drei alte Weisen Herr Michael Magidsohn.
Die Mehrzahl der Lieder stararate aus der Sammlung Leo Winz (Ost und West).
t i • '
iRseratenaRnabme nur durcD RaaseitSfeill ff UOflkr Jl* di. in Berlin und deren Tilialen.
AbonaemenUprelt für da« Jahr in DeuttchUnd und Oesterrelch Mark 7,— (Luxusausgabe Mark 14,—), für das Ausland Mark 8—,
(Luxusausgabe Mark t6).
für Russland ganzjihrllch 4 Rubel. BlDzelhefte k ss Kdp.
„^„^ . Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandes, durch alle Postflmter des Deutschen -_
^^ Reiches unter No. 5785 a der Postzeitungsliste und durch die Expedition dieser Zeitschrift ' -
Anzeigen Mk. /.— die viergespaltene NonparelUezelle, grössere Anzeigen nach Tarif, bei Wiederholungen Rabatt.
Adresse fDr die geschäftliche Korrespondenz: Verlag „Ost und West", Berlin W. 8, J^pzigerstr. 31-32.
Redaktion: Berlin NW. 33» Altonaerstr. 36»
Verantwortlicher Redakteur: Leo Winz, Berlin, Altonaerstr. 36. - Verlag Ost und West, Berlin W. 8.
Druck von Haasenstein & Vogler A. O., Berlin S. 42, Wasserthorstr. 50.
j^
ILLUSTRIERTE MONATSSCHRIFT
V
FÜR DAS GESAMTE JUDENTUM
Herausgegeben und redigiert
von
LEO WINZ.
^^^P^^«M^A>«*i
^^Vt^^^M
l^*%W|W
Alle Rechte vorbehalteiL.
Heft 2. Febrnar 1907.
YII. Jahrg.
BERTHOLD AUERBACH.
Zur 25. Wiederkehr seines Sterbetages.
Von B. Saphra.
Ncchdnick verboten.
Als ganz junger Mensch bekam ich in einem
weltabgel^;en^ Winkel einmal ein Bnch in fremd-
sprachlicher Uebersetzung zur Sand, das den Titel
trug „Im Palast und in der Hütte". Es war dies
der Boman „Auf der Höhe" von Berthold Auerbach.
Der Verfasser war schon tot, ich aber hörte damals
zum ersten Mal seinen Namen. Als ich das Buch
zu Ende gelesen hatte und hinauslief in die Felder, um
des mächtigen Eindruckes Herr zu werden, sagte ich
mir: das muss ein Jude geschrieben haben. In dem
Buch kam kein einziger Jude vor, es spielte in einem
vom judischen Leben himmelweiten Milieu: im Königs-
palast und in der Bauemhütte. Gleichwohl schwebte
aber dem Ganzen etwas Jüdisches, undefinierbar, aber
deutlich fühlbar. Die Idee der menschlichen
Verantwortlichkeit, dass man seine Schuld nicht
dmrch den Tod, sondern durch ein reines Leben
sühnen müsse und könne, die kräftige und
unverwüstliche Weltfreude, die lächelnde, ver-
zeihende Milde und Nachsicht, die humorvolle
Geringschätzung irdischer Pracht und Grösse,
tönten in meinen Ohren wie ein fernes, aber
deutliches Echo biblischer und talmudischer
Sprüche : War das nicht irgend ein verkappter Rabbi,
der in das Gewand des Eomanschreibers geschlüpft?
Am stärksten hatte es mir Irma angetan. Diese
Irma war meine erste Liebe, das MMchen meiner
Enabenträume. Und dann jener Mann, dem ewige
Blindheit droht, und der noch vorher die Welt
durchstreift, um sich an der Schönheit der Menschen
und der Dinge sattzusehen. Ich war fest über-
zeugt, dass das nur von einem Juden geschrieben
sein konnte. Und wie einst Gutzkow „erschrak",
als er erfuhr, dass Börne — denkt euch, bitte,
Börne in eigener Person — ein Jude sei, so war
ich fireudig überrascht und bewegt, als ich erfuhr,
dass meine Ahnung mich nicht getäuscht hatte
Er hatte sogar zwei Romane aus dem jüdischen
Leben geschrieben und war dabei einer der an-
gesehensten und einflussreichsten deutschen Schritt-
steller gewesen.
Erst später, viel später lernte ich Berthold
Auerbach als Juden kennen, aus seinen Briefen an
semen Vetter Dr. Jakob Auerbach, dessen wunder-
schöne Bibelübersetzung m Deutschland so populär
geworden ist. Es ist dies eine eigenartige Brief-
sammlung, die sich über mehr als fünfzig Jahre
erstreckt und nur selten ein paar Tage lang ruhte.
Ein Tagebuch, voll von intimen Bekenntnissen, voll
von persönlichen Erlebnissen, ein wahres Spiegelbild
vom innersten Wesen des Schreibers. Auerbach
hatte diese Briefe, wenigstens in den Anfängen,
sicherlich nicht für die Oeffentlichkeit bestimmt.
Er legte nur in die Hände des geliebten Jugend-
freundes eine „Generalbeichte" ab, berichtete ihm
getreulich von allem, was ihn betraf und was ihn
innerlich bewegte; er wollte, wie er sich ausdrückte,
bei ihm „in künftigen alten Tagen ein Erinnerungs-
mal seines Lebens wiederfinden". Diese von Jakob
Auerbach herausgegebenen Briefe sind eines der
lesenswertesten Bücher, gleichwohl sind sie unter
allen Büchern Berthold Auerbachs das am wenigsten
beachtete. Das Buch ist nämlich „zu jüdisch'*;
Grund genug, um von Juden nicht gelesen zu
werden, und von Christen — erst recht nicht.
Jüdisch sind nun freilich alle Bücher Auerbachs,
am jüdischsten die, die gar nicht von Juden
handeln. Aber sie sind es sozusagen latent, unbe-
wusst. Es ist rührend, wie Auerbach, der ein
glühender Verehrer Spinozas war, sich einbildet, in
seinen Erzählungen „konsequent" die spinozistisehe
Weltanschauung durchzuführen, während er nur dns^
75
B. Saphra: Berthold Auerbach.
76
ivas an dieser Weltanschauung jüdisch ist, konsequent
durchfuhrt. Denn nichts eignet sich wohl weniger
zur kfinstlerjschen Darstellung als der Spinozismus
mit seiner tiefen Gedankenblässe und Blutleere.
Und die Gestalt Spinozas selber, wie sie, von
Auerbachs Meisterhand gezeichnet (in dem gleich-
namigen Roman), auf den Leser einen unauäösch-
liehen, unverisresslichen Eindruck macht, ist gar
nicht der richtige Spinoza. Will man dessen Urbild
finden, so muss man es unter den Weisen des
Talmud suchen oder unter den jüdischen Rabbinern
des Mittelalters. Auerbach hat von dem Antlitz
seines Helden alle historischen Flecke weggewischt
und es mit einer fast überirdischen Aureole umgeben,
aber ein künstlerisch veredeltes Bild der bewegten
Zeit Spinozas hat er nicht geboten. Namentlich
hinderte ihn sein rationalistischer und aufklärerischer
Standpunkt, den Gegnern Spinozas gerecht zu werden,
in ihre Motive tiefer einzudringen und zu erfassen,
zu ergründen, was in ihren Seelen vorging. Hier
hinderte der G^sinnungsmensch den Künstler und
trübte sein Verständnis. Künstlerisch ungleich
höher steht „Dichter und Kaufmann*', ein Meister-
werk psychologischer Kleinmalerei, ein vollendetes
Zeitgemälde der Mendelssohnschen Epoche. Es ist
ein edles, tiefes und trotz des vielen Traurigen, das
es enthält, doch so heiteres Buch, dass man es heute,
Sechsundsechzig Jahre nach Erscheinen, mit wahrer
Wonne und grossem Nutzen lesen wird. Ausser
diesen beiden Romanen plante Auerbach noch eine
ErzUilung aus dem jüdischen Leben „Schuliach
Mizwah" und einen grossangelegten Roman „Wir
Juden". Keines von beiden ist zur AusführuDg
gelangt. Wer aber Auerbach als Juden, seine
jüdische Seele kennen lernen will, der muss
in seinen Briefen an den Vetter blättern.
Dort findet man ein unbewusst und ungewollt ent-
worfenes Selbstkonterfei, das festgehalten zu werden
verdient. Berthold (eigentlich Moses Baruch) Auer-
bach war „in einer lustigen Purimnacht" am
28. Februar 1812 in Nordstetten in Württemberg
geboren. Er bezeichnete sich selber als die Verbindung
von zwei verschiedenen, aber verwandten geistigen
Elementen: „Der leichtlebige, lustige Musikant von
mütterlicher und der ernst vomelune grüblerische
Rabbi von väterlicher Seite, seltsam gemischt." Es
war eine kinderreiche, in sehr ärmlichen Verhält-
nissen lebende Familie, der Auerbach entstammte.
Die Eltern bemühten sich, dem begabten und auf-
geweckten Knaben eine gute Erziehung zu geben.
Nach Vollendung seines 13. Lebensjahres konnte er
sich auf die damals in Hechingen existierende
Jeschiba begeben. Zwei Jahre darauf finden wir
ihn an der talmndischen Hochschule zu Karlsruhe;
dann bezog er das Gymnasium in Stuttgart. All-
mählich wandte sich sein Sinn vom Talmudstudium
ab. Die Art, in der damals dieses Studium in
Deutschland betrieben wurde, konnte seinem auf das
Plastische, Klare und Lichtvolle gerichteten Sinn
auf die Dauer nicht behagen. So ist es denn kein
Wunder, dass der Neunzehnjährige die naseweisen
und leichtfertigeD Worte schrieb: „Der jüdische
Korau, Talmud genannt, ist nicht wert, dass im
19. Jahrhundert ein talentvoller Jüngling sich ledig-
lich mit ihm befasst — ein Buch, in dem die er-
habenste Moral neben dem gemeinstai Sophisma
steht." Er konnte nicht ahnen, dass wenige Jahr-
zehnte darauf zahlreiche begabte christliche
Jünglinge den „jüdischen Koran" fiir wichtig genug
halten würden, um mit der grössten Mühe in ihn
einzudringen. Dass er die hohe kulturelle Bedeutung
einer wissenschaftlichen Erforschung des Talmud
verkannte, ist jedoch viel verzeihBcher als der
billige Vorwurf von der Nachbarschaft der höchsten
Moral mit dem „gemeinsten Sophisma''. In allen
Schriften alter Kulturepochen, im Zend-Avesta, in
den Veden, in den Reden Buddhas bei Piaton, und
bei den griechischen Tragikern findet sich immer
das Ewige dicht bei dem Vergänglichen; also die
erhabenste Moral neben dem, was uns, durch den
Nebel der Zeiten betrachtet, als „gemeines Sophisma"
erscheint, und das im genetischen Zusammenhange
zu verstehen eben Angabe einer universellen Be-
trachtung ist. Aber trotz dieser abfälligen Aeusserung
über den Talmud war Auerbach doch von seinem
Geist zu sehr imprägniert, besonders waren in
seinem Geiste die wunder\^ollen Bilder und Sen-
tenzen der Haggada haften geblieben — unbewusst
vielleicht — und sie kehren oft in seinen Schriften
und Briefen wieder. Etwas blieb immer von der
Theologie an ihm hangen, und es zog ihn immer
wieder zu ihr hin.
Auerbach studierte in Tübingen und in Heidel-
berg. Als Mitglied der Burschenschaft geriet er in
Untersuchung und musste wegen des Verbrechens,
die Einigung Deutschlands anzustreben, zwei Monate
auf dem Hohenasperg, dem „har haggeboa", wie
er ihn scherzend airf hebräisch nennt, brummen,
weshalb er auch nicht zum Examen zugelassen
wurde. Er hatte sich mittlerweile sehr erfolgreich
als Schriftsteller versucht. Er hatte eine Geschichte
Friedrichs des Grossen veröffentlicht, dann einen
umfangreichen Aufsatz über die Juden und die
neueste Literatur. Im Jahre 1837 enstand sem
„Spinoza" und drei Jahre darauf „Dichter und
Kaufmann'', lieber den Spinoza schreibt er: „Du
kannst es kaum erfassen, welche Seligkeit ich bei
der Abfassung dieses Buches genoss. Und doch
fehlte mir oft, ja meist, der nervus rerum. Wochen-
lang habe ich keinen Heller in der Tasche. Von
Familien- und persönlichen Verhältnissen belastet,
zog ich mich in meine Arbeit zurück und vergass
alles", üeber „Dichter und Kaufmann" schreibt
er: „Oft, wenn sich mein einsames Innere mit Ge-
stalten füllte, die sich vor mir und in mir bewegten,
da schwebte ich im seligsten Aether, und alles, was
ich davon festgebannt, ist leider nicht der volle Klang
dessen, was in meiner Seele t^nte. Das Buch ist
ein Lebensabschnitt von mir**.
Im Jahre 1890 bewarb sich Auerbach um eine
Predigerstelle am „Tempel" zu Hamburg. „Aber
das Schicksal wollte nicht, dass ich noch zur Ruhe
komme. Es war das letzte va banque, dass ich der
Theologie zurief, sie schüttelte den Kopt. Gut."
77
B. Saphra: Berthold Auerbach.
78
Die Gremeindegewaltigen von Hamburg bewiesen
damals ebensoviel Geschmack und Verständnis, wie
jene, die seinerzeit Zunz und Graetz nicht als
Prediger akzeptieren wollten. Und ebenso wie jene
vollbrachten sie unbewusst ein gutes Werk.
Auerbach widmete sich fortab gänzlich der
Literatur. 184:3 erschienen seine ersten 12 „Dorf-
geschichten", die seinen Dichterruhm begründeten
und in die weitesten Kreise der Gebildeten
trugen. Es war ein gänzlich neuer Ton, den er in
die Literatur hineinbrachte. Man kann sagen, dass
Auerbach den Landmann für die deutsche Literatur
entdeckte. Es ist erstaunlich, wie dieser Talmud-
jünger, der Sohn eines jüdischen Chasan und Enkel
eines £abbiners, tief in die Seele des schwarzwälder
Bauern einzudringen vermochte, wie wunderbar er
seine Leiden und Freuden, sein Sehnen und Hoflfen,
seinen Glauben und sein Zweifeln begriflf, wie
treflnich er es verstand, das rein Menschliche in
ihm herauszufühlen und künstlerisch zu gestalten.
Hierin war nicht allein der künstlerische Instinkt,
sondern auch die grosse und echte Menschenliebe,
von der Auerbach beseelt war, seine Führerin, die
ihm das Innere dieser Kleinen und Geringen im
Volke erschloss. Anatole Leroy-Beaulieu, unter
den Franzosen einer der besten Kenner der deutschen
Literatur, ruft in seinem Buche ,, Israel chez les
nations^ neidvoll aus: „Dass unsere Bauern in
Frankreich nicht ihren Auerbach gehabt haben!
Ich glaube nicht, dass Deutschland viele deutschere
und gesündere Schriftsteller besitzt". Der Dorf-
geschichte blieb Anerbach zeitlebens treu. Ihr er-
Mschender Erdgeruch durchduftet auch seine
grossen Romane aus der „höheren" Gesellschaft,
wie „Auf der Höhe", ,,Das Landhaus am Rhein"
u. a., die zu den meistgelesenen belletristischen
Schriften in Deutschland gehörten. Er wandte
sich aber auch unmittelbar an das Volk in zahl-
reichen meisterhaft geschriebenen Volkserzählungen,
Kalendern, Abhandlungen, während er selber auf
den Höhen des philosophischen Gedankens wandelte
und eine Uebersetzung sämtlicher Werke Spinozas
(1846) lieferte.
In demselben Jahr war es ihm gegönnt, ein
geliebtes Mädchen heimzuführen. Im November
dieses Jahres schrieb er aus Breslau an Jakob
Auerbach : „Ich liebe und werde geliebt. Ich war
am vergangenen Abend spät hier angekommen,
mein erster Ausgaug Samstags morgens war in den
Tempel, wo ich kurz vor der Predigt ankam. Ich
las mit einem fremden Manne gemeinsam den Ge-
sang vor der Predigt, und das war die erste An-
näherung zu dem Mann, der mir ein neues Leben
wahrte, meine Auguste ist seine Tochter. Nach
beendigtem Gottesdienste ging ich weg, und auf der
Strasse sah ich ein Mädchen, wir sahen uns zwei-
mal unwillkürlich nach einander um. Das war
meine Auguste, die ebenfalls aus dem Gottesdienste
kam". Es war ihm nur kurzes Eheglück be-
schieden, denn seine geliebte Frau starb im April
1848 nach der Geburt eines Sohnes. „Mir ist die
Welt zerlallen", schreibt er an den Freund, offenbar
mit einer Reminiszenz an ein schönes talmudisches
Wort. Einige Jahre darauf heiratete Auerbach
Nina Landesmann, die Schwester des bekannten
Hieronymus Lorm. Auerbach kehrte häufig in der
Erinnerung zu seiner ersten Frau zurück, be-
suchte immer wieder ihr Grab und gab seinem
nicht versiegenden Schmerz in den Briefen an den
Freund erschütternden Ausdruck.
In den nächsten Jahren finden wir ihn in Wien,
dann in Dresden. Sein Ruhm stieg immer höher.
Er verkehrte mit den erlesensten und bedeutendsten
Menschen seiner Zeit. Lebhaft interessierte er sich
fiir alle jüdischen Fragen, schloss sich den be-
deutenden jüdischen (belehrten an, und mit so
manchem von ihnen verband ihn innige Freundschaft,
so mit Jakob Bemays, Abraham Geiger, Steinthal,
Moritz Lazarus. Beim König Max von Bayern
stand er in hoher Gunst, die er dazu benutzte, um
dem Dichter Otto Ludwig eine Pension zu ver-
schaffen. Dabei gedenkt er in einem Briefe
an seinen Freund des — übrigens nicht richtig
zitierten — talmudischen Wortes: „Wer für seinen
Nächsten betet, der wird für sich auch er-
hört", und fugt hinzu: „Mir fallen jetzt oft jüdische
Sprüche ein, vidleicht hat es den psychologischen
Grund, weil ich jetzt mehr als je in die Ver-
gangenheit hinabsteige". Ueber eine Unterhaltung
mit dem freisinnigen Hofjprediger Schwarz in Gotha-
schreibt er: „Ueber das Verharren im Judentum
sprach er sich brav und ganz in unserem Sinne
aus, dass es Aufgabe sei, das rein Menschliche als
solches zu zeigen, das an keine Konfessionsform
gebunden ist". Das Sukkothfest 1860 verlebte er
in seinem Geburtsort Nordstetten. „Ich war sehr
vergnügt hier", schreibt er, „und als ich in der
Synagoge war und nach vielen Jahren zum ersten
Mal wieder birchath geschem mit den Melodien
n'eines seligen Vaters hörte, da konnte ich mich
des Weioens nicht enthalten".
Bald darauf übersiedelte er nach Berlin. Sein
Ruhm verschaffte ihm dort Zutritt zu den höchsten
Kreisen. Der damalige Ministerpräsident Fürst von
Hohenzollern und der Hof erwiesen ihm viel Freund-
lichkeit. Königin Augusta ernannte ihn zu ihrem
Vorleser. Das erregte natürlich vielfachen Neid,
namentlich in Junkerkreisen. Die Kreuzzeitung
nannte Auerbach einmal „den Hofjuden". Auerbach
bekannte sich stets mit Nachdruck zum Judentum.
Er nahm lebhaften Anteil am jüdischen öffentlichen
Leben.
Ueber das Pessachfest 1867 schreibt er: „Ich
hatte Prof. Bemays versprochen, mit ihm den Seder
zu halten. Wir gingen zu seii\er Cousine. Alles
war nach strengem Ritus mit alten goldenen Bechern
bereit, und Bernays, der nicht singen konnte, freute
sich meines Auerbachschen Familienerbes. Nun aber
brachten mir die alten Worte und Melodien ein Stück
Jugend zurück. Ich sprach das Mah nischtanah . . .
Bemays bemerkte, dass kein nachlebender und tätiger
Volksstamm eine so weit hinausreichende geschicht-
liche Tatsache hat . . . Tief ergriff mich die Be-
merkung, dass wir Juden schon einmal in Spanien
79
B. Saphra: Berthold Auerbach.
80
ganzr frei waren und wieder zurückgeworfen wurden.
Könnte das noch einöiai so sein in der Geschichte?"
Aber nicht bloss an dem Schicksal der Juden
seines Vaterlandes, sondern auch der in fremden
Ländern nahm Auerbach regen Antail. Er jubelte,
als im ungarischen Reichstage 1867 das Gesetz über
die bürgerliche Gleichstellung der Juden ohne De-
batte einstimmig angenommen wurde. „Das ist doch
etwas, was wir nicht zu erleben glaubten, dass unser
heisses und schweres Drängen so zum Einmaleins
der Humanität geworden; wer will da sagen, man
dürfe am Sieg des reinen Gedankens zu irgend einer
Zeit verzweifeln?"* . . . Ein Jahrzehnt darauf sollte
sich die bittere Enttäuschung bei ihm einstellen.
Als im Jahre 1867 in Rumänien Judenverfol-
gungen veranstaltet wurden, hatte Auerbach die Ab-
sicht, zusammen mit Moses Montefiore nach Bukarest
zu reisen. Der Plan kam jedoch nicht zur Ausführung.
Als sich im Jahre 1868 die Gräuel erneuerten, ver-
wendete sich Auerbach beim damaligen Fürsten,
jetzigen König Karol von Rumänien, für die Be-
drängten im Namen der Menschlichkeit und Gerech-
tigkeit. Der Vater des Fürsten, der ehemalige
preussische Ministerpräsident, ein Freund und Ver-
ehrer Auerbachs, richtete darauf an diesen einen
Brief, der nachher in der Neuen Freien Presse ab-
gedruckt wurde und den wir weiter unten veröflFent-
. liehen. Interessant ist, dass der Vater des von den
Rumänen zu ihrem Fürsten erkorenen Hohenzollern sich
auf die kurz zuvor in Böhmen stattgefundenen Juden-
hetzen hinausredet und andeutet, dass, was für
Oesterreich recht, flir Rumänien billig sein kann.
Schlägst du deinen Juden, so schlage ich meinen
Juden !
Mittlerweile hatte der Antisemitismus in Deutsch-
land sich zu regen begonnen. Auf leisen Sohlen trat
er zuerst auf, in ästhetisch -philosophischen Ge-
wändern, im Menuett-Schritt, mit wichtigen, würde-
vollen Gesten. Auerbach mit seinem feinen Emp-
finden witterte, dass etwas Unbekanntes, Drohendes
herannahte, und bange Ahnungen klingen oft aus
seinen Briefen an den Freund. Eine der frühesten
Aeusserungen des neuerwachenden Judenhasses noch
vor dem Kriege war die berüchtigte Broschüre Richard
Wagners „Das Judentum in der Musik." Mit grosser
Bitterkeit äusserte sich Auerbach darüber. Er
empfand Aerger und zugleich eine Art von Schaden-
freude, weil Felix Mendelssohn „als Inkarnation der
Judenmusik" von Wagner hingestellt wurde, der-
selbe Mendelssohn, den Auerbach nicht leiden konnte,
„ weil er einmal bei ihm eine entschiedene Abwendung
von allem, was die Juden betrifft, fand.** Aber
das und Aehnliches waren nur sanfte Präludien zu
dem grossen Hallali, das mitte der siebziger Jahre
gegen die Juden erscholl. Auerbach war erstaunt
und entsetzt zugleich. „Rätselhaft ist mir der
neuerwachte furor teutonicus gegen die Juden. Ich
möchte die Grundquelle finden. Besteht sie vielleicht
darin, dass das Selbstgefühl der Deutschen jetzt er-
wacht ist? Aber der Judenhass war ja auch schon in
den Zeiten der Unterdrückung und besonders in der
Reaktion von 1812—1830. Wo steckt es also?^ An
ihn persönlich, ebensowenig wie an andere geistig
hochstehende Juden wagte sich der Hass noch nicht
heran, aber er litt für andere. „Ich wollte heute
arbeiten," schrieb er 1879, „da lese ich in der
Zeitung, dass ein Prozess vor Gericht verhandelt
wird i gegen die Juden, die ein Christenmädchen
getötet und ihm für Ostern das Blut abgezapft
haben sollen. Das steht so da, und nun soll ich
eine Dichtung zu Papier bringen, um ein ethisches
Motiv zum Aastrag zu bringen. Ich }^m so ausser
mir und weiss doch nicht, wo hinaus. Ich habe
eine in allen Zeitungen zu veröffentlichende Erklärung
abgefasst. Ja, da gehe ich in Zorn, Erbitterung und
Wehmut mutlos umher und es steigert das Entsetzliche
noch, dass ich voraussehe, wie Hunderte und Tausende
die Zeitungsnotiz beiseite legen ... Ich weiss, wie
ich damals bei der Damaskuögeschichte wochenlang
nicht schlafen konnte. Eine tiefe Lebensverachtung,
eine Verzweiflung an aller Geistesarbeit und Zorn
über den Mangel an Solidarität lässt mich kaum
die Feder fuhren . . . Was haben wir von Jugend
an gelitten von den Kindern derer, die Hexen und
Ketzer verbrannten. . ." Es klmgt wie der Aufschrei
eines tiefverwundeten Herzens Von ähnlichen
Jammertönen ist es voll in seinen Briefen bis au
sein Lebensende. Man kann sagen, dass der
Antisemitismus Auerbachs letzte Jahre vergiftet
und ihm schliesslich den Todesstoss versetzt hat.
Wir spätgeborenen, die wir um so vieles abgehärteter
sind als Auerbach und seine Generation, wir, deren
Jugendtiäume nicht von den holden Schattenbildern
einer seligen Völkerliebe umgaukelt waren, können
die ganze Tiefe dieses Schmerzes nur nachempfinden.
Er verfolgt mit überempfindlicher Reizbarkeit alle
Aeusserungen gegen und für die Juden - Er ist zu
Tode betrübt über die „Petition an Bismark gegen
die Juden" (1880) und jauchzt himmelhoch als „die
besten Männer, an ihrer Spitze Forckenbeck und
Mommsen, die Infamie der Antisemiten brandmarken."
Aber einige Tage darauf stöhnt er wieder: „Vergebens
gelebt und gearbeitet! Das ist der zermalmende
Eindruck der zweitägigen Judendebatte im Ab-
geordnetenhause. Erbitterung über die entsetzliche
Tatsache, dass solche Roheit, solche Verlogenheit
und solcher Hass noch möglich sind." Und einige
Monate darauf fühlte er sich wieder „wie neubelebt"
infolge von Virchows und Richters Auftreten gegen
die Judenhetze. Es liegt etwas unendlich Tragisches
in dem Gedanken, dass dieser feinfühlige und leicht
verletzbare Edelmensch im Grunde iür die wirklichen
oder vermeintlichen Sünden anderer leidet. Das
war eben der Fluch des Antisemitismus, dass
er die Edelsten und Vornehmsten in ihrer
tiefsten Seele traf und verwundete, während
er die, die ihn angefacht, völlig ungeschoren Hess.
„Was hörte man im Abgeordnetenhaus?" ruft
Auerbach. ,.Die Börse und wieder die Börse.
Sind denn wir anderen seit Moses Mendelssohn nicht
auch da?" Und an den SchriAstellerkongress in
Wien erwiderte er auf sein Begrüssungsschreibeu,
seit dem Ausbruch des Antisemitismus begreife er die
Sage von dem Manne, der in einer Nacht alt wurde.
81
B. Saphra: Berthold Auerbach.
82
Im März 1881 wurde er ins Schloss zur Kaiserin
Augusta und deren Schwiegersohn, dem Grossherzog
von Baden gebeten. Man sprach von dem blutigen
Attentat auf den Kaiser Alexander von Russland.
Auerbach bemerkte, die Art, ,wie die Judenhetze
m Deutschland unablässig betrieben werde, sei
auch ein Werfen von Dynamithomben. Die Kaiserin
und der Grossherzog sprachen ihm Trost zu und
äusserten die Meinung, der Antisemitismus sei
eine vorübergehende Erscheinung. Einige Monate
. darauf entrissen ihm die Greueltaten in Südruss-
land folgenden Schmerzensruf: „Die Gemeinheit,
die sich bei uns in Deutschland breit macht, zeigt
sich in Russland gleich brutal als Raub und Mord.
Und wenn ich daran denke, wieviel hundert Juden
dort jetzt gemordet und geschlagen sind, so blutet
mir das Herz, und es erscheint mir als eine Hart-
herzigkeit, dass wir da draussen uns vergnügen,
Kunstgenüsse und alles haben, und dort ist Jammer
und Wehgeschrei Wie ein grausames Rätsel
stellt sich die Erneuerung der gräulichen Gemeinheit
dar . . . Der Verstand steht einem still, aber das
Hei-z will nicht still stehen."
Es war ein grosses, edles Herz, das zehn
Monate darauf still stand für ewig, weit unten
in Cannes, auf fremder Erde, 30 T^^e bevor
Auerbach seinen 70. Geburtstag begehen konnte,
auf den er sich wie ein Kind gefreut haben mochte.
Wie ein Kind, — denn er hatte bei aller tiefen
Lebenserfahrung, bei aller grossen und umfassenden
Weisheit und scharfen durchdringenden Menschen-
kenntnis sein gan7es Leben lang etwas Kindliches,
naiv Herzliches und Schlichtes Er beurteilte alle
die zahlreichen Menschen, mit denen er zusammen-
traf, genau und treffend, kannte ihre Fehler und
Schwächen, liebte sie aber, so wie sie waren, und
empfand wie ein Kind das brennende Bedürfnis,
von allen peliebt und bewundert zu werden. Daher
seine Empfänglichkeit für Lob. Aber er war
vollkommen frei von Hochmut, für den er „gar kein
Talent hatte ^, und ebenso frei von Neid. Er war
es, der Göttfried Keller nicht nur zum Schaffen an-
regte, sondern ihn auch auf den Schild hob und ihm
den Weg zur Anerkennung bahnte und, als sein
eigner Stern schon im Erblassen war, ihm noch
einen ermunternden Gruss zurief. All die Bitter-
keit, die ihm in den letzten Lebensjahren beschieden
war, galt nicht seiner Pei*son, sondern dem Stamm,
dem er entsprossen, zu dem er sich allezeit laut
und freudig bekannte.
Ein Brief des FQrsten von Hohenzollernt Vaters des
Königs Card von Rumänien» an Bertliold Auerbach»
betreffend die Judenverfolgungen in Rumänien» i868.
„Verehrter Freund!
Schon längst würde ich Ihre
Briefe beantwortet haben, wenn ich nicht
zeit eingehende Recherchen gepflogen
die sehr allarmierenden Gerüchte wegen
in der Moldau usw. mir Gewissheit
Diese Gewissheit liegt mir in vollem
inhaltsschweren
in der Zwischen-
hätte, um über
Judenverfolgung
zu verschaffen.
Masse jetzt vor.
Älein Sohn ist tief verletzt über die Tatsache, dass ihm
solche Willkür-Akte im entferntesten nur zugemutet
werden könnten. Er und seine Regierung leugnen auf
das bestimmteste, dass irgendwo ein so schändlicher
Missbrauch gegen die Juden vorgewaltet habe, und sie
führen die Entstehung und Verbreitung solcher ge-
hässiger, aller Zivilisation Hohn sprechender Aus-
streuungen auf ausserhalb Kumäniens liegende, sehr
feindselige, mit perfider Absichtlichkeit gepflegte Intri-
gen zurück.
Da es nun aber doch in der Möglichkeit liegen
könnte, dass terroristische Massregeln von untergeord-
neten Organen platzgegrififen haben, so hat sich mein
Sohn entschlossen, eventuelle Vorkommnisse an Ort
und Stelle persönlich zu untersuchen und die vielleicht
irgend einem Partei-Interesse dienstbaren Schuldigen
mit rücksichtsloser Strenge behandeln zu lassen. Durch
diesen Akt identifiziert er sich mit Anschauungen der
Humanität und zeigt öffentlich, dass er die Niedertracht,
wo er sie auch finden möge, entschieden zu bekämpfen
und auszurotten bestrebt ist. Seine Geistes- und
Herzensbildung sowie sein ganzer Erziehungslauf sind
mir Bürge dafiir.
An Rumänien darf überhaupt jetzt noch nicht der
Mafsstab europäischer Kultur gelegt werden. Alle
Bestandteile der dortigen Bevölkerung, inklusive Juden,
befinden sich heute noch in einer Verfassung, die durch
jene der Grenzländer natürlich bedingt ist. Es ist
einerseits der dieses Land von etwas frischen sieben-
bürgischen Elementen scheidende Karpathenwall —
andererseits ist es der unvermeidliche Kontakt mit tief
gesunkenen russischen und türkischen Zuständen, was
einer nach unseren Begriffen kräftig moralischen Auf-
raffung hindernd im Wege steht. Ein Menschenleben
wird nicht ausreichen, die Besserung zu ermöglichen;
aber es kann doch meinem Sohne beschieden bleiben,
den Keimen einer hoffnungsvolleren Entwickelung nicht
fremd geblieben zu sein. ...
Es schneidet mir oft tief ins Herz hinein, wenn
ich Beurteilungen, Ansichten und Aussprüche lese, die
auf ganz falsche und gehässige Voraussetzungen sich
gründen.
Die unrichtigste aller Voraussetzungen gipfelt in
der Annahme, dass meines Sohnes Regierungsergreifung
in den Donau türstentümern im Zusammenhange mit der
Waffnung Preussens gegen Oesterreich gestanden.
Meines Sohnes Ankunft auf rumänischem Boden fand
statt, nicht weil die Kriegseinleitungen gegen Oester-
reich schon im vollen Zuge waren, sondern obgleich
dieselben im Stadium des Beginnes skh befanden. Die
so scharf und so oft hervorgehobene Inkognito-Reise
durch Oesterreich lag in der Natur der Sache, und
dass sie gelungen, beweist, dass sie mit Geschick voll-
führt worden. Die Veranlassung derselben war nicht
in Oesterreich zu suchen, sondern in Rumänien, da es
galt, ein fait accompU zu schaffen. Hierbei ist ein
jeder sich selb-jt der Nächste. Meines Sohnes politisches
Glaubensbekenntnis ist durchaus nicht gegen Oester-
reich gerichtet, von welchem allein — niemals aber
von Russland und der Türkei — zivilisatorische Ein-
flüsse zu erwarten sind. Will ihm aber der Drang
der österreichischen Rumänen nach einer nationalen
Stammeseinigung vorgeworfen werden, so beweist dies
nichts anderes aU absichtliche Verkennung. Mein Sohn
hat mit der inneren Ordnung und Kräftigung genug
zu schaffen, — er wird sich gewi'«s leichtsinnigerweise
keine auswärtige Komplikation auf den Hals laden.
Dass die „Neue Freie Presse" überhaupt für das
Bojarentum plädieren kann, iNt der auffallendste Wider-
spruch in ihrer i)olitischen Haltung; dass sie aber an
83 B, Sa?lira: Berthold Auerbach. • 84
Preussen kein gutes Haar lässt, darin liegt ein von „Nachschrilt. A propoa „Nene freie Pi'ease" fällt
mir verstandenes und nicht verurteiltes System. mir eben noch bei: Hat jemand im Winter 1866 der
Das ist, verehrt«r Freund, eine recht lange Epistel österreichischen Regierang einen Vorwurf ans der sehr
geworden — ein Attentat auf Ihre so koitbare Zeit, exzessiven, gewalttätigiin Judenverfolgung in BShmen
Die schönste Rache, welche Sie nehmen kOnnten, wftre gemacht? niemand. — Wohl aber waren diese wilden
die,, dass Sie mir einen doppelt so langen Brief schrieben. Exzesse ein Mafsstab für den Bildungsstandpunkt der
Von Osttr- und FrUhlings-Empfindungen will ich tscbecbiscbeu BerClkernng. Es dauerte ziemlich lange,
schweigen, nur so viel will ich sagen, dass es mich bis die Regierung dieser Ausschreitungen Herr wnrde.
hinausdrängt, und zwar zunächst wegen meines lahmen — TJpd Böhmen ist doch ein anders politisch organi-
Fusses in ein Bad. Trotz aller schwäbischen Preussen- siertes Land, als die Moldau ist. Nur Überalt gleiches
fresserei zieht es mich nach Wildbad in den Schwarz- Mass und ich gebe mich znfrieden.
wald. Nun Gott befohlen ! Berlin war unserem Wiedersehen nicht günstig;
In aller Frenndsch*ft und innieer Hochachtung ^\ "'*'=>» eine reine Unmöglichkeit, aus der Tagesanf-
. ^ TL . V El j ?abe ein Stückchen Zeit herauszuschneiden, das ich
Btet5 Ihr treu ergebener Freuad Jt,„^„ ^ä^t^ „.ij„g„ ^^^^^^ ^^ Rhein geht es besser!!!"
Düsseldorf, 19. April 1868. Hohenzollem."
Bar-Mizwa-Unterricht.
JL'EDISCHE HOCHZEIT IM MITTELALTER.
JUEDISCHE KUEN5TLER IN PARIS.
Von G. Kiitna.
Uebernll in Paris stobst man auf Pracht und
N'ot, auf Glanz des Rciclitums und Bitternis der
Armut Ungescliieden ist beides neben einander,
diirclizielit in Wecliscl und Wandel das scliäumeude,
brandende l'ariser Leben. So ist es ancli in der
KUnstlersciiaft, und so ists unter den judisclien
Künstlern. In feingestiramte Atelienäume tritt man,
in denen kilnstlerischer Sinn und perstioliclier Ge-
sctimaek erlesen anmuten; und in BoUenlücher
kommt man, wo nichts da ist von Schmuek und
Wohnliclikeit, nur harrende Hoffnung.
Viele solche gibt es. Man steigt liohe Treppen
liinauf, windet sicii durch enge, dumpfe Korridore,
tappt sich an den Tllren vorbei und gelangt in einen
verlorenen, trüben Raum- Doit sitzt ein junger
Mensch in der dürftigen Helle, schickt seine Träume
hinaus in die Ferne und blickt durch enge Raum-
Spalten über die Dilclier der Weltstadt, Und er
malt oder mcisselt.
Wie ist ea schün in diesen Dachstuben, wie
ist es traurig dort. An den Wänden hängen Akt-
zeicIiQungcn, ein niedriges IJett steht in der Ecke,
am Fenster steht das Gestell, kahle Winkel inen
in dem Raum, ein bleiches Jlenschengesicht wandelt
darin. Das ist des Kunstschtllers unwirtliches Ob-
dach. Tritt er hinaus und schaut den Glanz, die
reiche Kultur, den bestrickondeu Geschmack, Kunst
nnd Geist, GlOck und Wirrnis, schaut die grosse
Welt Paris; dann weiten sich die Augen, es weitet
sich die Seele und all ihi-e Sehnsucht, all ihre
Schwingen. Vollgetränkt davon geht er in seine
Dachstube hinauf, fiebert nach Schaffen und vei^isst
die Enge.
Fragend, wartend, ausschauend ist sein Dasein.
Der Ehrgeiz glüht, Bangigkeit unl Zweifel um-
schauern die Stirn, und seines Lebens Schicksal
spinnt.
l'nsagbar stille Stunden gibt es dort oben.
Niemals in der Ferne vergisst man den Hauch, der
dort gewellt, da ein solch junger M;nsch von seiner
Heimat und Not gcspiochon, lois und dämnierstiil, '
All* einer Stadt im weiten Kussland war er ge-
kommen, doit gab CS niclits von Kunst, nur ein
Denkmal Kalharinas II. Zu d:esem zog es un 1
lockte CS ihn; er zeichnete danach, immer aufs
neue, und befragte es, was Kunst sei. Ein Anderer
G. Kiiina: Jüdische Künstler in Paris.
E. MOVSE.
DAS AUSHEBEN DER THORA.
erzählt, wie er die Juden malen wollte in seiner
Heimat in Odessa, die Juden in ihrer besten und
wahrsten CbarakteristUi, in der Andacht des Gebets.
Doch da stürzen sich Eiferer auf ihn, er wolle den
Glauben verraten und die Synagoge beflecken, und
beschädigen ihm sein Bild. So lebten sie in der
kunstfremden Welt und harrten in Sehnsucht nach
Kunst. In Paris gibt es dann Kunst und Lehre
in Pulle, doch keinen Bissen Brot. So versuchen
sies mit allerlei, malen Bildchen fQr Kinemato-
graphen, 15 Soos die Meterlänge, maclien Retouchen
von Photographien filr 3 Fr. den Tag, malen billige
Theaterdekorationen und derlei mehr. AVährend
der Anfänger bange die ersten Schritte tut, muss
er fabrikmässige Schnellarbeit liefern, um nur das
Notwendigste zu verdienen. „Und trotz alledem,
.Juden bleiben nicht akademisch; ich arbeite nicht
nach den Lehrern, sondern wie ich fflhle," So
endet die Erzählung von Not und Soi^e mit dem
Ausdruck selbstgewissen Vertrauens,
Langsam ringen sie sich durch, suchen eigene
Wege zu gehen und mögen lieber stillos sein als
schulmässig; bis sie eines Tages in der Oeffentlichkeit
stehen und sich einen Kreis gewinnen. So gewann
sich Aronson eiaea Namen, auf deA in dieser
Zeitschrift mehrfach hingewiesen wurde. Eine
eigene Note unter den Malern beginnt der aus
Odessa stammende EliePavill zu bekunden, der
trotz seiner Lehrer in der Acad^mie Julian eine
angesprochene Begabung für impressionistische
Malweise an den Tag legte. Er hat lebendig accen-
tut^te Farbe ohne Buntheit, gltlckliche Baiun-
wirkung, und gibt innerhalb der Impression die
Gesamtwirkung, das „enveloppement" des Natur-
bildos. Seine kecke Art, Lichter aufzusetzen, ist
manchmal unvermittelt, aber von lebendiger Natur-
wirkung; in wechselnder Bewegung der Fliehen ist
der Raum im Kreise festgehalten und doch ins Weit«
strebend. Das Bild ans dem Park Monceau
bat tpielerische Reize in einen anziehenden Mittel-
punkt zentralisiert, gute Lichtwirkungen inmitten
einer heiter grOnenden Natur; „Grossvater und
Enkelin" sprechende Büdhaftigkeit und natür-
liches Leben; beim „Basti Uenplatz" gewinnt
alles — ähnlich wie bei Jules Adler — einen um-
fassenden Einheitszug, in dem Strasse, Menschen
und Atmosphäre sich zu dem einen düsteren Phä-
nomen verdichten. EUe Pavill hat die Förderung
von Männern wie Wereschtschagin, Graf Tolstoi in
Petersburg, Bemstamm in Paris gefunden, seine
Bilder sind in die Galerien des Qrafen Stembock-
Fermor in Petersburg, des Baron Günzhurg in Kiew,
Charles Ephrussis in Paris u. a. gelangt. Wenn
seine Begabung weitere Forderung findet, kann sich
dieser jüdische Künstler auf dem Gebiete der Licht-
malerei zu hervorragender Bedeutung entwickeln.
Den jüdiachen Künstlern französischer Herkunft
sind diese doppelten Nute derer aus dem Osten
erspart. Sie leben ungeschieden in der französischen
Kultur, betätigen sich frei und werden sogar bei
kirchlichen Aufträgen herangezogen, wie seinerzeit
H. L^vy bei den Fresken des Pantheon und E.
Lövy bei denen der Trinite. Sie fühlen sich meist
als Söhne ihres Geburtslandes, wollen nichts von
einem „esprit juif" wissen, wie dies der sonst
geschmackvolle H. Caro-Delvaille tnt, oder mOgen
gar nicht an irgend eine Art Judentum erinnert
werden. Doch auch die andem sind von franzö-
sischem Geiste genährt und entwickeln die Vorzüge
der französischen Kunst: liebenswürdige Auffassung,
leichtflüssigen Vortrag, gelällige Charakteristik,
vibrierenden Reiz, bestrickende Natürlichkeit. Nach
dieser Richtung hin ist Jacques Weismann eine
gut veranlagte junge Kraft. Seine Pastelle finden
O. Kutna; Jüdische Künstler in Paris.
mit ihrer noblen Nonclialance m d feinen Abtönung
viel Beifall. Das Portrait C. M. Gariel's von
der Acadämie de M^decine (Salon d'automne 1905)
ist treffend, eindringlich und trotz des Momentanen
der Charakteristik durchaus vesenhaft; das Damen-
Portrait zeigt sehr fein die Mischung von frei-
mütiger Gefallsucht, aparter Sinnlichkeit und leiser
Sentimentalität, die dem franzOsiscbea Weibe den
rätselhaften Frauenreiz verleiht. Französische Grazie
mit zarter sinniger Seelenstimmung ist auch den
plastischen Werken des jungen Parisers ßaphaei
Charles Peyre eigen. Leise Düfte liegen auf
diesen zarten, träumerisch seligen Gestalten, lieblich
entfalten sich die knospenden Körper, von edlen
Linien und schmiegsamen Flächen umrahmt. Ein
feiner Schleier ist Ober ilires Lebens Freudigkeit
gebreitet, und süss verhalten blüht ihr Dasein im
Räume, wie Wiesenblumen, die das Mor^enlicht
erwarten. Seine Gnippen „Zärtlichkeit" {Salon
1906) und „Opfer an Venus" (Salon 1900) —
von der Stadt Paris flir einen Offenl liehen Platz an-
gekauft—sind von edler Poesie und eminent dekorativ.
Bei der weiblichen Kflnstlerscbaft findet sich
dieser graziöse Stil recht häufig vertreten. Die aus
Odessa gebürtige Pastellmalerin Emilie Landau,
die auch einer Damenscbule für Pastellmalerei vor-
steht, sucht in weiblichen Portraits und in Dai-
JACQUES WEISMANN
Portrait des Herrn C.
JACQUES WEISSMANN
Portrait der Madame X.
Stellung des Nacken die Wirkung des Charme zu
erreichen. Mit liebenswürdiger Einfachheit ver-
bunden, erscheint dies in den Portraits von Helena
Darmesteter, der Witwe des Romanisten Arsene
Darmesteter von der Sorbonne. Das Portrait der
Prau des japanischen Botschafters in Peters-
burg (Salon 1904), das ihrer Schwester, Miss
Hartog, haben solche Qualitäten.
Von den jüdischen Künstlern, die innerhalb
der modernen französischen Kunst eine hervor-
ragende Bedeutung haben, war bereits in besonderen
Artikeln in dieser Zeitschrift die Rede, und wird
im weiteren noch die Rede sein; in dem Zu-
sammenhang einer allgemeinen Würdigung gebührt
das Interesse neben den jungen Stiebenden den
Veteranen der Kunst, deren Erfolge in der Ver-
gangenheit liegen, ohne dass sie in der Gegenwart
untätig geworden wären. Sie begannen in einer
Zeit zu schaffen, in der das Publikum sich an das
Gegeuständlielie im Kunstwerk hielt und Anekdo-
tisches, Sittenbildliches, Genreszenen in anziehender
Ausfhhrlichkcit sehen mochte. Solchem Geiste des
Zeitalters liclien diese Künstler ihre Schaffenskraft.
C. Kulna: Jüdische Künstler
R. CH. PEYRE.
ZAERTLICHKEIT.
Anf dem Gebiet der siltenbilJlieticn Scliil-
deruQg hat Jules Worms eine iciclie Lebens-
tätigkeit liinter sicli. Seine Domäne ist Spanien,
das Land der malerischen Trachten, des romantischen
Volkslebens und strahlenden Sonnenlichts. Seine
Werke muten wie Romanzen an, dem T.cben
der Strasse, den stillen, trilumerischcn Ei;ken
abgelauscht. Im Jalir 1862 machte er seine erste
Reise dahin, dann zog es ilm immer Mieder in
diese alten Stildte, die wie im Halbschlaf dahcgen,
von ritterltclier Vergangenheit träumend. Und immer
brachte er eine reiche Ernte nach Hans, gewann
mit seinen Malwerken die Medaillen in Salon und
wurde nach der Ausstellung 1876 Ehrenlcgionär.
Die französische Kritik rühmte die Reinheit seiner
Zeichnung, den einfachen, ungezwungenen KHVkt,
die Harmonie der Bildeinheit und die tiefe „Sehn-
sucht nach Wahrhaftigkeit," Wie er die anek-
dotischen Einzelheiten zur Einheit verknüpft, wie
er das Zufällige der Gesamtwirkung einordnet, zeigt
innerhalb der erzülilerischen Malknnst eine gesunde
sinnlich bihhieiischc Kraft und fiischen 1 luiijor.
So ist etwa in der „Sensationellen Bekanntmachung"
allerlei anekdotische Kleinmalerei eingestreut, und
man hat doch ein ungestörtes bildhaftes Zentrum.
' Da steht der Barbier mit seinem eingeseiften Kunden
vor dem Laden, die schöne Wirtin blickt aus dem
Fenster der lioteria, ein Pfaffe spi-iclit auf eine
Dame ein, ein Schwarzer sinnt vor sich hin, ein
Hündchen bellt und anderes mehr, und d''ch
eint sich alles im Gesichtsfeld zn dem Ausrufer
und der lauschenden Hörerschaf*,: man vernimmt ilie
langgezogene Neuigkeit, sieht die neugierig angelockte
Zuhörerschaft und ihre bewegten Silhouetten, vom
Sonnenlicht umspielt. Dieselben QualitElten zeigen
die homoristischen Szenen: „Vor. dem Richter",
„Ballkönigin" und andere seiner Arbeiten. Jules
Worms hat neben seinen Darstellungen aus Spanien
auch mit seinen Illustrationen zu den „Contes de
Voltaire" (Edition Lechevalier 1869) und mit seinen
Zeichnungen für die Bibelausgabe Lahure's viel
Beifall gefunden.
Ein verwandtes Gebiet kultiviert Constant
Mayer. Seine Malwerke sind von weicher lyrischer
Sentimentalität, durch dichterische Stimmung und
menschenfreundlichen Humor ansprechend. Diese
Bilder in der Art der Düsseldorfer kamen dem
Zeitgeschmack entgegen nnd bi-achten ihrem Schöpfer
vollen Erfolg. Mayer gingim Jahr 1865 nacli Amerika,
wurde dort eine BerUhmheit und ein wohlhabender
Mann. Dies dankteer seinem Bilde: der Trost. Als
er es malle — es war 12 : 10 Fuss gross — musste
er es in seinem kleinen Zimmer einrollen, weil er
über keinen entsprechenden Raum verfßgtö. Ais
es ihn zum Tagesgespräch gemacht hatte und die
Leute sich in den Stüdten dazu drängten, wurde er
der bevorzugte Maler der amerikanischen Elite. Das
Bild stellt einen Kranken dar, der den Trostworten
der Krankenschwester lauscht; den verbundenen
Kopf ans Kissen gelehnt, hört er, wie sie mit
leiser Eindringlichkeit, die Hand bekräftigend er-
hoben, die Worte der Bibel liest, während der Raum
in einsamer Stille daliegt nnd draussen die Hohen
den Himmel umsäumen. Bald nach seinem ersten
Elfolg fand er auch in der Heimat Anerkennung:
er wurde im Jahr 1869 fllr sein „Rencontre"
Ritter der Ehrenlegion. Es stellte ein Zusammen-
treffen zweier Brüder dar, die einander im amerika-
nisehenKriegiroJahrel863alsGegnerentgegcntrateo.
Heute lebt Constant Mayer in seinem schönen
Atelier in Paris, arbeitel und ist wohlgemut, übt
mit jugendlicher Elastizität und weltmännischei'
Eleganz Gastfreundschaft und bekennt sich zur
Lebensfreude mit dem Ausspruch : „ Die Ein-
93
O. Kuina: Jüdische Kfmstler in f^aris.
samkett und die Dunkelheit sind meioe beiden
Schrecken/'
Anders Eduard Moyse, der Maler des religiös-.
zeremonJalen Lebens der Juden. Still resigniert
lebt er in seiner Zurttckgezogenheit und denkt alter
Zeiten und äitten. Lauter Erinnerung weht durch
sein Heim, wo alles lautlos, säuberlich, preziSs
Bild und Stimmung der Vergangenheit wahrt. M{(be1,
Bilder und alles Gerät altmodisci', fein gediegen,
wie in einer jadischen Familie von ehedem; gelreu-
liche Vergangenheit, unberührt in Entlegenheil.
Uni er erzählt von jener Zeit, von seiner Zeit;
wie er in seiner Vaterstadt Nancy die Zeremonien
geübt, wie er täj^lich zweimal zur Synagc^e ge-
gangen und wie die Juden damals geglaubt und
gebetet haben. „Ich kenne das alles recht gut, ich
bin auch der einzige, der diese Dinge malt (Älphons
Lävy behandelt sie in der graphischen Kunst, s.
„Ost und West" V. Jahrg. No. 5); hier in Paris
gibt es ja nicht die richtigen Modelle; die Juden
ans dem Osten sind nicht gut geeignet, sie sind
nachlässig und armselig, aber das echte, natürliche,
gUnbig-jOdische Wesen fehlt ilinen." Das gerade
gibt den Darstellungen von Moyse das Weihe-
volle, Erhebende, dass das Zeremonielle nicht als
Formsache, nicht als äusserer Habitus nnd aufs
Interessante, ÄussergewObnliche hin gestaltet ist,
sondern dass alle religiöse FormQbung von religiösem
GefUhl durchzittert ist, dass andächtige, trostvolle
Regangen durch die Seele gehen und der Mensch
darin sichtbar wird, innerlich, gesammelt, in frommer
Demut. Immer sind die Äugen treu versonnen,
die Gesten zart und zärtlich, und das Wesen in
Gebet. Ein Mann hebt die Tliora aus der Lade,
und zwei stehen neben ihm als Ehrengeleite des
heiligen Buchs. Ernste Weihe liegt auf ihnen, in
versenkter Innerlichkeit empfangen sie Glaubens-
trost, und Gewissheit ist in ihrer Seele. So wenden
sie sich zur Gemeinde, Vorbeter und Rabbi, und
alle sind gegenwärtig in gläubiger Ämlacht Ein
Mann hebt die Thora in die Höhe nach der Vor-
lesung, und wieder ist in di-m engen Ausschnitt
das halblaute Beten, die Anilaclitsstimmung der
Gemeinde fühlbar. Die rQckschauende Empfindungs-
weise des Künstlers lässt ihn weiti-r zurückgreifen
in die Geschichte und die Judenheit schildern, als
die Undnldsamkeit des Mittelalters ihr Zu.«ammen-
leben noch abgeschlossener, enj^er, einheitlicher
machte. In seiner „Jüdischen Hochzeit" (Salon
1901) ist diese starke Gefüldseinheit der Versam-
melten ausgedrückt. Das Brautpaar neigt sich er-
gebenen Gemüts, und in der teilnehmenden Gemeinde
R. CH. PEYRE.
OPFER AN VENUS.
wird alles Resonanz des Priestersegens aus dem
Munde des Rabbi. Diese menschlich fromme Stim-
mung haben auch die andrren Werke seiner Hand,
bti denen es sich nicht direkt um ein Zeremonial
handelt Eine „Talmuddiskussion" im Atelier
des Künstlers zeigt einen Juden in vergeistigter
Unterhaltung, in edler Typik ideal aufgefasste
Wirklichkeit. Ein „Jude aus Jerusalem", für den
nächsten Salon bestimmt, hat dekorative Qualität
mit starker Betonung des Farbigen. Die Karben-
gebung hat bei Moyse etwas höchst Simples, das
Oi^ganisclie wirkt schwach, fast symbolisi'h nur,
das RaumgerQhl ist matt. Aber das Gegenständliche
ist rein nnd stimmungsvoll zum Vortrag gebracht
und weckt auf dem Umwe^'e einer Teilnahme des
Gemüts den Eindruck einwandsfreier Waiirhaftigkeit,
Nicht so gut wirken seine Darstellungen ans dem
Anwaltsleben; sie erscheinen zu sehr in neutraler
Idealität, sind ins Allgemeine verschönt und haben
etwas von jener frommen Meditation, die bei den
religiösen Bildern ein solch schönes Zeugnis
sind für die Seelenfrommheit dieses jüdischen
Künstlers.
DAS AUSERWAEHLTE VOLK.
Von A. Wolff, London.
Du glanbst gewiss, dass ich von den Joden
reden will. Aber du irrst dich, mein Freund. Ich
meine die — Engländer. Jawohl! Diese nur sind
das anserwählte Volk. Freilich als „anserwählt"
fühlt sich jedes Volk io jener Epoche seiner
Entwickelung, da ung'ebrochene Jngeudkraft und
Tatendrang ihm störmisch durch die Glieder
brausen. Gleich wie der Ginzelwunsch in derselben
Epoche seines Lebens sich so zu sagen als der
Mittelpunkt der Welt fUblt and alles anf sich
bezieht. Uud das ist sein gutes Recht. Die Aos-
erwähltheit ist dann ja nur der theologische Aus-
druck ffir das GefBhl der eignen Wichtigkeit, von
dem jedes lebenskräftipe Individuum, solange es
nicht euttäuscht ist, erfillU zu sein pflegt. Aber
das Bewnsstsein der Anserwähltheit kann in einem
Volke an^b in den Epochen des Niederganges
entstehen, als trotzige Bejahung des Willens zum
Leben den Schl^en des Schicksals gegenüber.
So hat z. B. die romantische Poesie Polens in der
ersten Hälfte des 1 9. Jahrhunderts die polnische
Nation in einem gewissen Sinne als die auserwählte
bezeichnet, indem sie ihr eine besondere, einzigartige,
nur durch unsägliche Leiden za erfüllende Mission
innerhalb des Völkerkreises zuschrieb. Aber auch
manche kleine NatJönchen, so u. a die Rumänen,
betrachten sich als auserwähit, wie man aus ihren
Naiionalliedem ersehen kann. Männer wie Dostojewski
und Tnlstoy betrachten die Küssen als das auser-
wählte Volk. Wenn Chamberlain die Germanen als
NKhdrack verboten.
aiiserwähltes Volk proklamiert, hat das einen
andern Sinn, nämlich den, dass dieser Titel
ihnen das Recht gibt, alle anderen Völker,
namentlich die Romanen nnd Semiten, „in die
Berge zu verdrängen" und auszurotten. Keinem
Volke aber wurde der Anspruch ant „Auserwähl theit"
so furchtbar verübelt, wie den Juden, obgleich
dieser Anspruch sich in alter Zeit eigentlich auf
die jüdische Lehre bezog, die nach dem bekannten
Prophetenworte das „Licht der Völker" werden
sollte. In späteren Zeiten nahm dieses Epitheton
einen tragischen, märtyreihaft - tragischen Bei-
geschmack an nnd bildete einen unschuldigen Trost
in Zeiten bitterster Not. Nirgends aber wie bei
den Engländern hat sich das Gefühl der eignen
Supeiiorität und .Auserwähltheit" zn einer förmlichen
Theorie krystaüisiert, die ins einzelne durchgeführt
und in allen Punkten begründet, znr Unterstützung
nnd Rechtfertigung der praktischen Politik dient.
Ja mehr noch, die Söhne Albions leiten ihr „Erst-
gebnrtsrecht," ihren Anspruch anf den Titel des
„auserwählten Voltes* von der Bibel her, indem sie
sich als die Erben des Volkes Israel ausgeben.
Es existiert über diesen Gegenstand in englischer
Spracheeine ganzeLiteraturvon seltsamen und inihrer
Art witzigen und spitzfindigen Interpretationen der
Worte der Bibel, namentlich gewisser Propheten-
stellen, von denen es sich verlohnt, einige hierher-
ULES WORMS.
Unter den heraldischen Emblemen im Wappen des
vereinigten Königreiches
Grossbritannien befindet
sich auch ein Löwe und
ein Einhorn. Das ist nun
das vereinigte Wappen der
Königreiche Jehuda und
Ephraim (Israel). Ersteres
vergleicht nämlich Hichah
{V. 7) mit einem Jungen
Leu unter den Tieren des
Waldes;" von Ephraim
aber sagt Denterominm 33,
17, er sei ähnlich dem erst-
geborenen Stier und habe
ein Geweih wie ein Ein-
horn. Braucht man da noch
eines kräftigeren Beweises,
dass die Bibel an nichts
anderes, als an Gross-
britannieii dachte? Doch
BRKANNTMACHUNO. muss hier bemerkt werden,
A. Wolff, London: Das auscncählte Volk.
JULES WORMS.
BErM EINKAUF.
dass jenes Einhorn keineswegs so einwandfrei ist, wie
der Löwe nnd der Stier, denn das Wort „Reem", das
sieb in der Bibel findet, wird Terschiedentlich gedeutet.
Wenn Jesajas an mebreren Stellen von den
„Inseln des Ozeans" spricht, und Jereniias dem
„Laude im Norden" eine grosse Zukunft vcrbelsst,
konnten sie etwas anderes
im Sinne haben als dos
britische Inselreich, das
im hohen Norden gelegen
ist? „Der Ort ist mir
zn enge, weiclie, damit
ich mich ansiedeln kann"
ruft England mit eiuem
Zitat nach Jesajas {49, 20),
der also vor dritthalb-
tansend Jahren voraus-
gesagt hat, dass von
den „Inseln des Ozeans"
ein Volk ausgehen, „das
sich hber die ganze Erde
verbreiten und sie in
Besitz nehmen werde."
Dass aber Jesajas sogar
in Kolonisationspolitik, au
eme Flotte ersten Ranges
wie auch an aMkaoischo
Gold- und Diamantenfelder jULts WORMS.
dachte, geht ja unwiderleglich aus jener Stelle in
in seinem Buche (60, 9) hervor, wo er ruft: „Mir
werden die Bewohner der Inseln vertrauen und die
Schiffe von Tharschisch werden an der Spitze ein-
herachwimmen, ihre Söhne werden sie aus der Feme
bringen und ihr Gold und Silber zugleich." Hier
ist offenbar die Bede von einem Volke von Seeleuten
nnd Kolonisatoren, das Handel treibt und eine
Industrie besitzt, aber zugleich kriegerisch und
erobemngslnstig ist. Natürlich kann kein anderes
als das englische Volk gemeint sein.
Und wer anders erfüllt so gewissenhaft des
Jesajas Weissagung oder Wunsch (49. 8), „auf dass
du das Land aufrichtest nnd verödete Erbtümer
besiedelst?" Dartim kann sich auch einzig auf
England die Prophezeiung des Ezechiel beziehen
(37. 16) wonach die Tharschischfiotte berufen ist,
dermaleinst „die Invasion des Barbarenstammes Gog
vom heiligen Lande abzuwehren." Ein reiches Erbe
von Prophezeiungen und Weissagungen bat den
Eagländem unser Erzvater Jakob in dem Segen
(Genesis 48—49) hinterlassen, den er den Söhneu
allen und seinen Enkeln Ephraim und Manasse
spendete: „Er lagert wie ein Löwe, wer wagt
es, ihn zu wecken?" „Das Szepter entsinkt nicht den
Händen Jehudas und ihm gebährt der Gehorsam der
Völker." „Sein wird die Fülle der Nationen sein".
AU das verkfkndet die unvergleichliche rasche Aus-
breitung der anglosächsischen Basse, das Anwachsen
ihrer Macht und Unabhängigkeit in der Welt.
Als im Jahre 1878 eine Deputation kanadischer
VOR DEM RICHTER
A. Wclff. London : Das auserwahlte Volk.
E. PAVILL.
GROSSVATER UND ENKELIN.
FranzosCQ bei dem Getieralgouvenieur Marquis ot
Lome erschien nad von ihm gewisse Koiizessioneo
zugunsten der fraozösiscbeD Nationalität forderte,
erhielt sie von dem Vertreter der britischen Ge-
walt folg:endes zur Antwort: „Wir Engländer
herrschen über Franzosen in Kanada und auf
Hanritins, über Spanier auf Trinidad und Gibraltar,
über Italiener auf Malta, über Deutsche auf Helgo-
land, über Holländer in Südafrika, über Chinesen
in ihrem eigenen Vaterlande, über Araber in Asien,
über Griechen auf Cypem, — ohne die zahllosen
Millionen von Asiaten anderer Stämme zu erwähnen.
Aber wo in der ganzen Welt pibt es den kleinsten
Streifen Landes, wo englisch sprechende Menschen
unter fremder Herrschaft lebt«n oder den Gesetzen
eines fremden Gebieters gehorchten?" Also sprach
Marquis of Lome. Wie heisst es nun im h. Buche
Mosis (Ifj,6)y „Du wirst ßber viele Naiionen
herrschen, keine aber wird dir gebieten". Eine
andere Weissagung . in demselben Verse lautet:
,.Du wirst vielen Nationen leihen, bei keiner aber
wirst dn entleihen." Das könnte sich freilich auch
auf Frankreich beziehen, das die halbe Welt zu
Schuldnern hat. Aber weder England noch Frank-
reich denkt daran, die mit diesem Segen verknQpfte
Forderung zu erfüllen: „Jedes siebente Jahr sollst
du einen Schuldenerlass einführen. . . . Erlassen
muss jeder Gläubige das Geld, das er seinem
Nächsten geborgt". Es ist nicht bekannt geworden.
dass jemand in England
an.die VoUstreckmig dieser
Vorschrift gedacht hätte.
„Dein Geschlecht wird
die Pfort«n seiner Feinde
besitzen", sprach Gott
zu Abraham nach der
Opferung Isaacs. Der
erste beste jüdische Kom-
mentator etwas älteren Da-
tums wird gern klarmachen,
dass dieses Wort besagen
wolle: „Jeder Israelit, der
seinen Willen dem Willen
Gottes unterordnet, werde
zum Lohn dafür die Herr-
schaft über alle Eingänge
erhalten, durch die der
ewige Feind, der Jezer-
hara , der Satan , der
böse Geist, sich in die
Seele der Menschen einzu-
schleichen sucht, lun sie
in seine Gewalt zu be-
kommen. Nicht so der praktische Engländer; für
ihn bedeuten die „feindlichen Pforten" . . . Kohlen-
stationen, Inseln, befestigte Punkte, die er auf der
ganzen Welt besitzt, in solcher X.age, dass sie die
Eingänge zu ganzen Eeichen, Ozeanen, Weltteilen
beherrschen, z. B. Gibraltar, Portsaid, Aden (Bftb
el Maudeb), Weihaiwei- Kann da jemand Doch
zweifeln, dass das britische Volk der Erbe aller
dem Volke Israel verkündeten Weissagungen ist? . . ,
Noch eine Aehnlichkeit mit Israel weist Eng-
land auf: Es feiert nämlich den Sabbath (das
heisst natürlich den Sonntag) beinahe ebenso rigoros
und ebenso solenn wie die Juden. Und dadurch
zeichnet es sich vor allen anderen Völkern aus.
Israel — das ist also Engl^d.
Vor einigen Jahren veranstaltete der Moming
Herald, eines der angesehendsten Londoner Tages-
blätter eine öffentliche Diskussion über diese Frage.
Eines der Mitglieder des hohen anglikanischen
Klubs nahm das Wort zu folgenden Ausführungen:
„Das von den Propheten angekündigte grosse und
mächtige Reich muss in materiellem und nicht
bloss in geistigem Sinne verstanden werden. Wenn
aber nicht wir Engländer dieses Reich sind, wenn
nicht wir es sind, die in der ganzen Welt unsere
Kraft anspannen, um die Pläne der Vorsehung zu
verwirklichen, wer ist es denn sonst? Alle Israel
gegebenen Verheissungen von Allmacht, Reichtnm,
Kolonisation, Grösse und Glück, (die, wie gesagt.
101
A. Wolff, London; Das auserwähltc Volk.
im rein materiellen Sinne
zn verstehen sinil, oiclit
im spirituellen, wie es der
Talmod und die späteren
jüdischen Kommentatoren
tun), haben sich an uns
verwirklicht. Wir sind die
Zeugen Gottes, welche die
Weltbefeehren. Wirsenden
Millionen nach allen Him-
melsgegenden aas, wie das
demVolkelsrael verheissen
ward. Wenn wir nicht
Israel wären, so hätten
wir es nicht nötig, für diese
Dinge za arbeiten. Was
mich aohetrifiFt, so bin ich
äberzengt, dass wir Is-
rael sind, und in dieser
ÜberzeavQQg gewährt es
mir nnr eine grosse Gtenog-
tnnng, dass wir von allen
kontinentalen Mächten ge- e. pavill.
hasst werden." . . Die eng-
lische Nation nimmt für sich auch eine andere Ver-
heissung in Anspruch, die da lautet: (Oen.18.18) «Und
Abraham wird sich in ein grosses mid mächtiges
Volk veizweijren, und alle Nationen der Erde werden
sich mit ihm segnen." Doch darf man diese Identität
zwischen England and Israel nicht nur bildlich,
sondern physiologisch im eigentlichen Sinne ver-
stehen. Die anglosächsische Rasse soll nämlich
(Cbamberlain, verhülle dein Haupt!) die eigeut-
liche hebräische Kasse darstellen. Erst im Jahre
1892 erschien in Philadelphia bei Spangler ein Buch
IM PARK MONCEAU.
unter dem Titel: „Anglo-Israet and the jewish
Problem. The ten lost tribes of Israel found and
identified in the Anglo-Saxon Bace.* by Tb.
Bosling Hewlett B. A. (Anglo - Israel und das
jüdische Problem. Die zehn Stämme Israels
gefunden und mit der angelsächsischen .Rasse
identifiziert). Das ist nicht neu. In England
existiert seit Jahren eine British Israel Associaton,
die vermittelst der von ihr herausgegebenen
Zeitschriften The Banner of Israel und The Cove-
nant People, wie auch des Handbuchs British
Israel Tmk, das in
15 000 Exemplaren ver-
breitet wird — die An-
sicht propagiert, dass die
verlorenen 10 Stämme
Israels die E^^änder
sind. Jene 10 Stämme
sind bekanntlich unanf-
üodbar vom Erdboden ver-
schwunden. Wo sind sie
hin-' Die Bibel erzählt,
sie wären hinler den
Euphrat vertrieben wor-
den. Aber warum sollten
sie nicht von dort nach
Britannien gelangt sein
können?
AUF DER PLACE DE LA BASTILLE.
JETTCHEN OEBERT.')
Von Ben-Uri.
Nicb druck v
Tagelang schwebt einem ibr Bild vor, man geht
umher und denkt an dies Menschenkind, das so schön
ist wie ein Maieutag, frisch und licht und hold ver*
sonnen. Man sieht die „samtig glänzenden" Augen,
die verschwiegen umherirren im stummen Leid, den
herrlichen Leib und die blattke Seele, Ober die sich das
Frösteln legt, das starre Frösteb.
Armes Jetteben. So sagt man vor sich hin, wenn
man strassenwärts gebt durch die vielköpfige Menge;
so spricht man vor sich, wenn man im Kreise von
Menschen sitzt, und dann siunen die FVauen und sagen :
das arme Jettchen!
Voller Leibbartigkeit sehen wir die Gestalt, wahr,
greifbar und sinntäUig, nnverrllckbar in der Reaiitfit;
und doch von Traum und Hauch umgeben, von Schleiern
nmhQllt, wundersam und ganz Erstaunlicfakeit, wie
Menscbenseelen, Afenscbenwesen sihd. So sehen wir
Jettchen und ihren Kreis in Georg Hermanns
herrlichem Roman.
So sehen wir sie, ausgestaltet in der Wirklicbkeit,
traumgeboren im Dichterland; sehen sie bangend und
tiefbeglUckt, staunenden Auges und zitternden Herzene.
Und man wird ein besserer Mensch dabei. Ich
war innerlich arm, sah oberflSchlich ins Leben and
ging an Menachen und Schicksalen gleichmlitig vorbei.
Da las ich „Jettchen Gebort", und ich fand meine
Ehrfurcht wieder; und man kann nicht anders denn
glauben, so mOsse es allen geben. Dies aber ist ein
nntrOglich Zeichen, dass man ein Kunstwerk erlebt hat.
Es ist schwer, etwas darüber zu sagen, was man
eine Kritik, ein fachmännisches Diteil nennen könnte.
Man ist so voll Dankbarkeit, und wenn man dank-
bar ist, wird man leicht trivial, und das darf bei diesem
Buch nicht geschehen; dena es ist Leben. Das blufat
und träumt, wächst und spinnt und fängt Farben in
der Sonne, wie das Leben selbst. Man sieht den Tag
und die Dämmerung, in Raum und Saum regt sichs,
Hintergründe steigen bildhatt herauf und wetten sich
tief und fern; laut und leis rUhren Menschen an ein*
ander, Menschenlose wandeln sich, Kobolde kichern,
und Jettchens samtene Augen blicken in unsäglicher
Traner daraus.
Alles ist Weben darin, lebendiges Keimen, Reifen
ond Welken; das Naturdasein gewinnt Sprache, wird
des Sinnes voll und unserem Wesen verbrfldert, und
bleibt doch wahrhafte Natnr, warzelhaft vegetativ. In
jeder Zeile ist das starke KnnstgefUhl zu spüren, das
Hermanns Kunstkritiken so nach gestaltend lebensvoll
machen, und zugleich der Xaturatem, die eiadringllche
sachliche Sinnlichkeit, die aller Kunst anschauung letzter
(juell ist. Innerlichkeit und Erdenfülie.
Wir werden in die Natur hinausgeführt^ ein
KrQhling und ein Sommer lacht und ranscht und bangt
um uns her, wir ^ehen das Sprossen und Wachsen und
den Wandet des Lichts, gehen verhaltenen Atems mit,
gehen der Jahreswende zu in der Natnr nnd Jettchens
Dasein.
Es Hesse sich ja die Anmerkung machen, die Ver-
äinnlichung der Vorstellungen sei zuweilen zu stark,
die Materialisation der Din^e zu üppig, und die reine
Stofflichkeit sei mitunter zu lose Aber die Erlebnisse
gespannt Aber dazu muss man sich kritisch gegen-
übergestellt haben, sonst wird man es nicht gewahr,
E^ ist ja Fülle der Sinnenwelt und quellendes Leben,
da gibt efl eben Ranken und Reiser, die weit hinaus-
spriessen nnd alle Ecken überfluten. Und das ist von
soviel Humor und Helligkeit duicüleuchtet, dass es uns
wegsam genug ist: und zieht un.s an und lockt uns
weiter.
Wir werden hineingezoL'pn in Handlung und Zu-
Ntändlichkeit, hangen und bansen dai-in, als forme und
bilde das Buch un.s selber und gebe uns Gepräge und
letzte Bestimmung. Ein Lauschen en-teht in uns. und
wir wähnen uns zu schauen, lauschend wir und ofTen-
bai-ond das Lehen. Die bildnerische Kraft «-streckt
roNSTANT MAN'Ei;,
I .I.-(lcl.on Cobcrt.
1, Kti'Ti Flpisrhol Ä
Korn
Ben-Uri ; Jettchen Qebert
CONSTANT MAVER. FEDERZEICHNUNG.
Froh Im Sinn.
prieater Aroo in den Mund legt. I>arch die Abwesenheit
einer Tendenz sowohl wie gedanklicher Kleinmalerei be-
kommt aber die Schilderung etwas Aufrechtes, Sieghaftes,
VoUgttttiges. Die -Tuden sind da Menschen, sie gebärden
sich niuht scheu und vergrämt, nicht seltsam und frem d
artig,sondern ^adeans und anbeirrtmenachlich. Sie reden
nicht viel von ihrem Judentum und äben nicht viel
davon, aber es ist ihnen ein Erbe, das sie makellos
erhalten wollen, und Onkel Jason, der geistreiche
Skeptiker, äussert zu seinem christlichen Freunde,
Jettuhens Liebsten: „Uosere Familie hat den Stolz, dass
wir eben als Juden hier angesehen und geachtet sind.
Wenn mein Yat«r sich und uns hätte taufen lassen
wollen, wie ihm Sfter als einmal nahegelegt worden ist,
wir hiessen vielleicht hente von Oebert und wären
Offiziere und Räte bei der Regierung. Und dass wir
das Dicht getan haben und nicht zn Kreuze gekrochen
sind und in keiner Weise unsere Gesinnung verkauft
haben — nicht so und nicht so — das ist nnser Stolz."
Das ist gewiss kein bi^sonderes Verdienst, ce ist
nicht anders denkbar für den, der Charakter hat.
Aber die Gebert£ haben diesen Cliarakter; sonst sind
sie freidenkerisch, aufrecht, selbstbewusst und haben die
Bäuberliche Behaglichkeit des vonnUrzlichen BUrgertums
und eine selbstfreudige Noblesse, Die hat .Tettchen vor
sich auf uns mit; wir werden bildsam und fUblen,
wie ein formendes Werden durch unsere Seele zieht.
Ein Menschenkind geht an uns vorfiber, schön
erwachsen in gleichroässigem Lichte des Tages, voll
frischer Reife und geborgener, ruhiger Tiefe. Das ist
.lettchen. Und andere sind da nm sie, ganz menschlich
wie wir selbst. Die leben und sinnen, lieben sie und ver-
wunden ihre Seele, schmücken sie mit Kostbarkeiten
und werden ihr Schicksal. Dass sie Juden sind, gibt nur
dem Relief eigenartige Profilierung und Beleuchtong;
in mätiger Transparenz schimmert es durch und zeigt
das Menschliche von eigentümlichem Ornament umgeben,
schnörkelhaft zuweilen, aber immer überzeugend und
regsamen Lebens voll.
Man könnte bedauern, dass des Dichters Verhältnis
zu seinem jildis(;hen Milieu nicht inniger, persünlicher
ist, dass es mehr ein iisthe tisch es als ein herzliches ist.
Man könnte wünschen, dass die künstlerische Wahrheit
weniger die pei-sönlichen GemUisvvallungen ausgeschieden
hätte, dass aus der objektiven Lebensfülle mehr per-
sönliches Liebesbekeuntnis heraus 7.u fühlen ^väre. Damit
aber -hätle die Dichtung mehr nnmittelbare Innigkeit
des Tones wohl, aber sie wäre nicht so schön und reif
als Kunstwerk. Dass der Dichter die Behandlung
reUgiös -geistiger Dinge vermeidet, scheint seinen Grund
in der Unkenntnis dieser Seite des Judentums zu hüben,
was man auch daraus schliessen kann, dass er einen Aus- CONSTANT MAYF.R.
sprach Moses in völlig verunstalteter Form dem Hohen- Di
Ben Uli: jettchen Gebert.
loe
allen, sie Uiiie)t
noch am melst«n
dem alt«ii Gebert,
dem Hofjuwelier,
der „stocksteif
nnd stolz in sein
Schlatzimmer
(ring und voran
der Diener mit
einem dick en Band
des Athenäums io
der eifien und
einem silbernen
Leuchter mit einer
hohen Kerze in
der anderen
Hand — ". Dem
ist Jettchen am
ähnlichsten, sie
hat „dieselbe Sin-
neafeinheit und
dieselbe Leben s-
stärke."
Und doch kommt
das Unglück Über
.Tettchen. Die
vjippe ist stSrker.
Die Jacobys ans
' Bentächen haben
sich in die Fa-
Helena Arsfene Darmesteter mil'e eingenistet
(Seibsiportraii) Und nagen still
und schleichen und saugen latA Sippenart. Onkel
Saloroon, Jettdiens Kährvater, hat die Sinnesfeinheit
verloren, Onkel Jason hat keine Lebensstärke, nnd
Onkel Eli, das prächtige, knorrige Männchen, ist uralt.
Da Jettchen den Dr. Küssling liebt, den 8chacht«men,
linkischen, .mittellosen Dichter, den blonden Christen
und Träumer, da lassen die Frauen den Nefien JulJna
kommen und spinnen ihre Netze. Die Geberts werden
überredet und umgarnt, werden willfährig oder machte
los. Jettchen wird durch mild und kosend knechtende
Familien Zärtlichkeit mürbe gemacht and kann nicht
mehr nein sagen. So wird sie die Braut des kleinen,
dickleibigen Julius Jacoby aus Bentschen, gebt betinbt
nmher und schweigt Wenn er sie mit seinen dicken
kurzen Fingern berührt, durchzuckt es sie eisig, des
Nachts kommen rote Spinnen und umfangen mit langen
Fäden ihren Leib, Onkel Salomon sieht sie in stummer
Reue fragend an, sie kUsst ihren Liebsten vor dem
Hochzeltstag in wildem Weh und schweigt und schweigt.
Sie sagt sich, man esse nirgends umsonst zwaneigJahre
fremdes Brot, nun mllsse sie die Rechnung bezahlen,
wie es in ihres Onkels Hanse Sitte. Sie wird Julius
Jacjbys Weib; der kUsst sie und sagt ihr, „dass er so
glücklich wäre, und zum Geschäft hätt« er auch Zu-
trauen"; dann sitzt sie im Brantschmuck als reiche
Biaut, hört lustige Reden schwirren und fühlt Julius
Jacobys kurzfingerige Hand. Da geht sie heimlich, des
Geliebten Bild im Herzen, die Treppe hinab, in die
kalte Finsternis hinaus
Das ist Jettchen Geberts Geschiebte, auf die nach
einer Andeutung im SiAtasawort die Geschichte von
Jetteben Jacoby folgen soll.
DER POGROM.
Von Maria Konopnicka. — Aus dem Polnischen.
Im Gässchen herrschte seit gestern eine gewisse
Unruhe, Der alte*Mendel wundert sich, stopfe öfter
als gewöhnlich sein kurzes Pfeifchen und guckt durchs
Fenster. All diese Leute hatte er hier noch nicht
gesehen Wohin gehen sie? Wozu halten sie Arbeiter
auf, die zu dem Bauplatz eilen, wo das Fundament
unter das neue Haus gegraben wiid ? Woher
kommen alle diese in Lumpen gekleideten Ga.ssen-
jungen? Wozu sjiähen sie in den Torgängen herum?
Woher haben sie das Geld, um zu Fünfen in die
Schänke zu gehen?
Der alte Mendel schüttelt das Haupt, indem er
an dem staik gekrümmten Weichsel tschibuk saugt. Kr
kennt es so gut, dieses stille Gässchen, seine
Physioi^nomie, seine Stimmen, seine Pulsschlage.
Und wie sollte Mendel Gdnnski es nicht kennen,
da er sit^benundzwanzig Jahre in der nämlichen
Stube, hinler dem nämlkhen Fenster seine Buchbinder-
werkstätte b.it; Über ein Vierteljahrhundert steht er
in seiner l,eders<rfiUrze da, jeden Tag, und während
NKbdruck veibolea.
seine nervige, trockene, jetzt schon etwas zitternde
Hand die Holzschraube der Presse lenkt, blicken
seine Augen unter den grauen, überhängenden, dichten
Brauen in diese Gasse, die in der grossen Stadt
gleichsam eine besondere, in sich abgeschlossene
Welt bildet.
Men<lel weiss alles, alles was man mit scharfem
Auge rechts und links wahrnehmen, was das Ohr
rechts und links erhorchen, was man in langen
Stunden mit dem Verstand ausdenken kann, während
das Hämmerchen sich auf dem Brett hören lässt, und
die Papierbogen, sich in saubere Bände fügend,
rascheln.
Und ihn kennen alle hier. Ein Fremder lässt
sich nur selten blicken; man ist hier untereinander
wie Genossen desselben Hauses.
Der alte kahlköp6ge Uhrmacher von gegenüber
ruft ihm jeden Morgen im Sommer einen Gruss zu
und beginnt ein Gespräch über Bismarck; der
schwindsüchtige Seildreher befestigt an seiner Tür-
Maria Konopnicka; Da* Progrom.
klinke die lange Hanfsträhne, die er
dem halb dunklen Hausfiur dreht. Jeden Abend,
wenn's dunkelt, zeigt sich der dUrre Student von
drüben, steckt den Kopf mit dem langen Halse durch
die halbgeöffnete TUr und borgt sich die Talgkerze
aus, die er gleich zurückzubringen verspricht, da er
nur ein StQndcben schreiben will. Die Hökerin reicht
ihm durchs Fenster zuweilen einen schwarzen Reitich,
den sie für einige bunte Papierschnitzel eintauscht,
woraus sich ihre Buben die Drachen fertigen, mit denen
sie die ganze Gasse unsicher machen. Das Söhnchen des
Hauswirts sitzt in seiner Werkstatie ganze Stunden
und wartet, bis Mendel seine Papiersoldaten auf Pappe
klebt, und bewundert unterdessen den grossen Griff
der Scheere, wiegt den Hammer in seiner Hand und
steckt die Nase in die KleisteitöpTe hinein. Alles dies
zusammen bildet eine gewisse warme, traute
Atmosphähre herzlichen, gegenseitigen Wohlwollens.
Und dA alte Mendel fühlt sie auf seinem typischen,
in Arbeit und Sorgert verwelkten Antlitz.
Sein Haar ist stark ergraut und der lange Bart
ist milchweiss. Bisweilen verkriecht sich zwar die
eingefallene Brust unter dem abgetragenen Kafian, und
der gekrümmte Rücken will sich fast niemals gerade
richten; aber das sind Kleinigkeiten, solange nur
Beine und Augen dienen und die Kräfte der Hand
nicht versagen. Wenn das Asihma ihm den Atem
raubt und in dem gebeugten Rücken die Knochen
schmerten, dann stopft sich der alte Mendel sein
Ffeichen mit Tabak voll, und indem er raucht, ruht
«r ein wenig aus. Sein Tabak ist nicht besonders
fein, aber er gibt einen so schönen grauen Rauch.
Dieser Rauch hat noch die ganz besondere Eigen-
schaft, dass Mendel in ihm verschiedene endegene
Dinge sieht, und auch solche, die längst vergangen sind.
In diesem Ranch sieht Mendel Resa, seine Frau,
an deren Seite er dreissig glückliche Jahre verlebt,
und seine Söhne, die sieb, um Biot zu suchen, in
die Welt verstreut haben, gleich Blättern, die der
Wind einhetjagt, und die Kinder dieser Söhne —
und allerlei Kummer, Fi enden und Sorgen. Am
längsten aber schwebt vor seinem geistigen Auge
die Gestalt der jüngsten Tochter l.eah, die so ftüh
aus dem Leben scheiden musste und von der ihm nur
ein einziger Knabe zurückbüeb. Sobald der alte
Mendel sein Pfeifchen entzündet, kommt ein leises
Mutmein von seinen Lippen. Und in dem Masse,
als die Rancbknäuel dichter werden und vor ihm
Bilder auftauchen, die niemals mehr Wirklichkeit
werden, wird dieses Murmeln immer stärker, bis es
sich zu einem wehmütigen Seufzen erhebt. Auch diese
Menschenseele hat ihre Trauer und ihr Sehnen, die
sie durch Arbeit zum Schweigen bringt.
Unterdessen kommt die Nachbarin und brmgt
in der einen Hand ein Töpfchen Brühe, in dem
aufgeweichte Stückchen vertrockneten Weissbrodes
schwimmen, in der anderen einen zugedeckten Teller
mit Fleiith und Gemüse. Der ahe Mendel nimmt
die Gegenstände in die Hand; aber er macht sieb
nicht sogleich an das Essen, sondern wartet. Er
wartet nicht lange. So bald die zweite Stunde schlägt.
öffnet sich
dte Tür mit
grossem Ge-
räusch, und
herein
' stürmt ein
kleiner
Gymnasiast
in grauer,
auf die Zu-
kunft be-
rechneter
Schüler,
uniform, die
Mütze aufs
Hinterhaupt
geschoben,
mit einem
Tornister
auf den
Scbultcin.
Ein etwa .
zehnjähriger
Knabe, der
von der
Mutter, der
jüngsten
Tochter
Mendels, die
braunen
Augen mit
dem
goldigen
Schimmer
geerbt hat
und die
langen,
schwarzen
Wimpem
und den
kleinen Mund, vom Grossvater aber die Adlernase und
die hohe Stirn, Klein und schmächtig, erscheint der
Knabe noch kleiner und noch schmächtiger, wenn er
den Mantel ablegt und in der ScbU'erbluse mit dem
breiten Ledergürtel bleibt. Der Grossvater lebt in
steter Angst um. ihn. Die durchsichtige Hautfarbe
des Knaben, sein fortwährender Husten, seine
schmächtige Brust und die schmalen Schultern er-
wecken im Alten unaufhörliche Sorge. Deshalb legt
er ihm die besten Bissen auf den Teller, und wenn
er gegessen hat, klopft er ihm auf den Arm und
eifert /.um Spiel mit den Kindern auf dem engen
Hof an.
Aber der Knabe lässt sich nur selten dazu be-
reden. Die Lektionen quälen ihn, die schwere Uniform,
das Sitzen in aer Schule, der weite Weg, der Tornister
erschöpfen seine zarten Kräfte Auf morgen hat er
eine Menge Aufgaben. Im Gehen schleppt er die
Füs^ nach, und selbst wenn er lacht, blicken seine
braunen Augen schwermütig drein.
[Sd.liiss fülKt-)
HELENA ARSENE DARMESTETER PARIS
Frau des Gesandten Motono.
DER CHASSIDISCHE OSSIAN.
Von L Kellner.
NaFhdnicIi vcibolen.
Wie anders Kolt man das llnfassbare fassen, wenn
nicht niittela des Verwandten und Aehnlichen, wie anders
soll man das Un darstellbare darstellen, wenn nicht dnrch
Gleichnis und Ebenbild? Kin seltsames, ganz eiirenartiges
Bach liegt vor mir: „Die Üeschichte des Rabbi Nach-
mann. Ihm nacherzählt von Martin Buber" (Literarische
Anstalt KQtten and Loening, Frankfurt a. M. IQOQ).
Die zarten Flämmchen, die ans dem siebenzinkigen
Leucht«r aaf dem Titelblatte ecnporstreben, schmelzen
sachte die Eiskruste vom Herzen des Betrachters weg,
und man ist im tiefsten Innern erschüttert. Und wie
ich mich in die Worte des geheirania vollen Buches ver-
tiefe, fliessen die Buchstaben in einander, und das
-schimmernde Auge sieht die eigene, längst verschiedene
■tagend vorsieh, nicht alsschrecliendes Gespenst, sondern
als verklärte, als eine hiromiische Vision. Die seelenvolle
Sprache klingt mir so verti-aut, und doch habe ich sie
nie in diesem Wohllaut vernommen; die Gestalten
kamen mir so bekannt vor, und doch habe ich sie nie
in solchem Glänze gesehen!
„Es gibt Menschen, die die Worte des Gebetes zn
sprechen vermögen in Wahrheit, also dass die Worte
leuchten wie ein Edelstein, der aas sich selbst lenchtet.
Und es gibt Menschen, deren Worte nur wie ein Fenster
sind, das kein Licht aus sich selbst hat, das dem Licht
nur Eingang gibt und aas ihm erstrahlt." —
„Man kann Gott mit dem bösen Triebe dienen,
wenn man sPin Enth'ennpn und swne begehrende
HKI.fiNA ARSFNK DARMESTFrER
Trotzköpfchen.
Glut zu Gott
lenkt. Und
ohne bösen
Trieb ist kein
vollkomme-
ner Dienst.''
„Es gibt
Steine wie
Seelen, die
sind hinge-
worfen auf
den Strassen.
Aber wenn
einst die
neneuHäuser
gebaut wer-
den, dann
fügt man
ihnen die hei-
ligen Steine
Diese tief-
sinnigen Aus-
sprüche habe
ich in jungen
.Tahren von
meiner
chassidisshen HELENA ARSENE DARMESTETER PARIS.
Umgebung
gehört und im Spiegel,
doch nicht
gehört; denn
was ich damals aus dem Munde meiner frommen Ver-
wandten vernahm, klang wie faselndes Nachsprechen
von BHeberpbantasien, hier aber werde ich an llöhme,
Swedenborg, Blake, Novalis, Emerson erinnert.
Und vollends die Emählungen! Wie roh, wie plump
waren die Wunder, die man uns im Namen des Baalschem
auftischte: Alles lief aaf unendlich 'win/.ige Kniffe,
auf gemeine Taschenspielerkünsle hinaus. Und hier!
Rin neuer Märchenhort tut sich vor uns auf, nicht für
Kinder an Jahren, sondern für Männer, dia im Alt«r
nocb nicht die Sehnsucht nach der Traumwelt der ersten
Lebensjahre verloren haben, ein Mürchenhort von einer
Herrlichkeit, einer seelischen Schönheit, neben der alle
Pracht dei' indischen, persischen und arabischen Phantasie
wie der Moi'genste.rn vor der Sonne vei-blasst.
Von den aecJis Geschichten, die Buber dem Rabbi
Xachmunu nacherzählt, ist nicht eine dei' andern gleich,
weder im Schauplatz, noch in den handelnden Personen,
noch auch im geistigen Gehalt; aber den mystischen
Grundgedanken haben sie alle gemein, die Geschichte
vom Meister des debetes drückt ihn in unz"eideatiger
Weise aus
Als das g] o'ise W etter die Krde heimgesucht und
ihre Essenzen leiniditet hatte, veruneinigten sich die
Scharen dei Menschen und kamen in Streit miteinander
um den binn des Leben-" Und jede Schar ging ihres
\Ve„e-! ein Volk zu sein für sich und sich einen
J^Önig nach ihret ^leinung zu erwählen. Und auch
wir die wir erkannt hatten, dass einzi;^ die Weisheit
Ziel and Grund alles Bestandes ist, taten also und
zogen Über die Filichen dei' Erde, um den Weisen
. Kellner: Der chassidische Ossian.
HELENA ARSENE DARMESTETER PARIS,
(Schwf
und Wissao-
den KQ Sa-
chen, der un-
ser Herr sein
sollte. So
trafen wir
auf einen,
der sass da
mit zurUck-
eeworfenem
Hanpt« und
schaate zu
den Sternen.
Da fragten
wir ihn:
„Bist du der
Weise , der
die Welt
weiss , also
dass seinem
Ange kein
duokler Rest
standhält, vor
Beioera For-
schen keine
Bahn sich
verliert, sei-
nem Gedan-
ken die Ele-
mente za-
lanfen wie
die Sohafe
ist es, d^ss der englische Dichter William Blake
(1757 — 1827) sich in mehr ab einem Ausspruche eng
mit der chassidiseben Mystik berührt! Freude und
Lachen ist ihm ein Gottesdienst, gen an wie denCbassidim');
der Trieb, das Döse, die Sinnlichkeit ist ihm gleichwertig
mit dem Guten, wenn nicht wertvoller-), und Rabbi
Nacbmann lehrt: Ohne hösen Trieb ist kein vollkommener
Dienst. ... Es ist übrigens kein Zufall, dass M. Buber
seinen Rabbi Nachmann und U. Richter ihren William
Blake gleichKeitig za neuem Leben erweckten. Wir
sind alle ein klein wenig mit Logik und Wissenschaft
Überfüttert, ein klein wenie verstandesmilde und sehnen
uns nauh Traum und Vision. Dieser Stimmung, die an
die Zeit Hamanns und des jungen Herder erinnert, an
die Zeit, da Üssian aus dem keltischen Zwielicht auf-
tauchte and als Offenbarung erschien, kommt Bober
mit seinem vranderschönen Buche entgegen. Und er
dürfte seinem Rabbi ähnliche Dienste geleistet haben,
wie dei' einst ganz mit Unrecht geschmäbte Macpberson
sie seinem Oisin erwies. Wenn Rabbi Nachmann nur
der zehnte Teil des Erfolges beschieden ist, der Ossian
im achtzehnten Jahrhundert zufiel, dann erleben wir
noch das Wunder, dass das Aschenbrödel der Kultur,
die chassidische Mystik, sich in eine Prinzessin verwandelt.
') Hdene lücht-T, WilÜaNi Blake, Strassliurgl906. S.äl.
-) Das. 6(i.
dem Ruf des
Hirten?" Er antwortete: „Ich weiss um das Leben der
Sterne; so weiss ich die Welt." Aber wir sprachen: „Und
wenn das Leben Uber dieSteme kommt am Tage der Erneu-
erung und sie in Stücke schlägt — was weisst du dann?"
Da schwieg er und gab uns keine Antwort. Und weiter
trafen wir auf einen, der lag am Strande and schaute
in das Meer, and wir taten unsre Frage. Er sagte:
„Ich weiss um das Leben des Meeres; so weiss ich die
Welt." Da (ragten wir ihn: „Und wenn die Sonne das
Meer trinkt am Tage der Wende — was weisst du
dann?" Daraaf schwieg auch er, and wir zogen weiter.
Sc trafen wir manchen Weisen in seinem Schauen, nnd
eines jeden Weisheit zerschellte an unserer Frage.
Einmai aber erblickten wir auf unserem Wege einen
alten Mann, der sass auf einem Stein, und seine Augen
waren weit und schauend offen, aber auf kein Ding
oder Wesen im Raum vor ihm gerichtet, sondern es
war ein Schauen, das in sich selbst beschlossen and
umfriedet war. Ihn fra^rten wir: ,,Bist du der Weise,
der die Welt weiss?-' Da sah er auf zu uns und sprach:
„Ich weiss um eine Seele. Und sie ist das Fir-
mament, das Niemand zerbrechen kann" So
neigten wir uns vor ihm und baten ihn, unser König
zu sein
Die SelbstheiTlichkeit der Seele allem Sichtbaren,
allem Erschaffenen geffenüber, die Seele als der Ur-
qoell allens Seins. — Diese Grundanschauiing hat
Rabbi Nachmann mit den Upanischads und aller
Mystik gemein. Ob wohl ein äusserer Zusammenhan?
zwischen dem polnischen Rabbi und den christlichen
Mystikern besteht? Nach Allem, was wir von der
Wandei-ung der Ideen wissen, mikhte man e.s annehmen;
aber wo sind die Brücken, die von einem Höhnie zu
einem Itabbi Xarhmann führen'/ Und wie er.itaiinlicii
ISAAK R05EMANN.
Frau Mouromtzefl
VERERBTE UEBERSETZUNOS-FEHLER.
Von M. A. Klausner.
üebersetzungen sind wie die Frauen: die
treuen sind nicht scliön, die schönen nicht treu.
Der Vergleich ist frivol, aber immer ooch
nicht so absprechend wie das italienisclie Sprich-
wort „tradattore — traäitore", das den Uebersetzer
einen Verräter nennt.
In Wirklichkeit hat schon mancher Ueber-
setzer Verrat geübt Zumeist nicht aus bOsem
Willen, sondern aus Mangel an Verständnis oder
auch aus Flüchtigkeit.
Man sollte glauben, dass der b^^ngene
Fehler bald erkannt und beseitigt werden müsste;
denn es finden sich immer und immer Gelehrte,
die zu der Quelle zurDckkehren und sich nicht mit
der Uebersetzung begnügen. Doch das gibt keiue
Gewähr. Die Korrektur greift selten durch —
der einmal eingefUlirte Irrtum hat onQberwindlieh
zfthes Leben, selbst da, wo die Wahrheit das herz-
lichste Interesse finden, ihre Aufdeckung innige
Freude erwecken sollte, selbst da, wo eifrige Ge-
müter an dem Irrtum, den sie för Walirheit halten,
AnstoSB nehmen und die neue Erklärung froh be-
im folgenden will ich eine Reihe solcher
Uebersetzungsfehler anführen, die zumeist schon
sehr hohes Alter haben. FQr einige von ihnen
habe ich die Richtigsten ung gefunden, für die Mehr-
zahl danke ich die bessere Erkenntnis meinem
Vater Bernhard Wolf Klausner, dessen scharf-
sinnige Gelehrsamkeit es nicht verschmähte, schon
dem "Kinde sich mitteilend zu offenbaren.
Wir alle haben in der Jugend von den Sans-
culotten gehört, den schlimmen Konigsfeinden, die
den Thron der Bourbonen stürzten und in ihrem
Frevelmut Gott für abgesetzt erklärten. Wenn wir
nun fragten, was denn das Wort Sans-Culotten be-
deute, so erhielten wir den Bescheid : ,, Ohnehosen".
Wir konnten uns keine rechte Vorstellung von den
bösen Gesellen machen, die ihre Feindseligkeit
j, gegen Brauch und
Verzicht auf das un-
er gesitteten Mensch-
l)rachteo und in ihrer
it durch ihre Nackt-
efUhl trotzten. Die
blieb haften. Mit
ler Jugend sprachen
ten, und verdammten
Nicbdruck verbottn.
mit aufrichtigem Abscheu die „Ohnehosen".' Erst
in späteren Jahren belehrten uns Bilder von den
Revolutionskämpfen, die auf der einen Seite die
treuen Anhänger des Hofes, auf der anderen Seite
die ungestümen Rechtsforderer zeigten, dass wohl
jene zu den Wadenstrümpfen sich mit den zier-
lichen Kniehosen begnügten, aber diese die Beine
in ihrer ganzen Länge ungefähr so umhüllten, wie
wir heute noch zu tun pfiegen. Jetzt waren wir
anch so weit, dass wir aus dem Lexikon erfahren
konnten, Culotten seien nielit Hosen schlechthin,
sondern Kniehosen, während Sans-Culotten die ge-
nannt wurden, die kein hQfisches Kleid trugen,
vielmehr in langen Hosen einhergingen. Die „Ohne-
hosen" waren also eigentlich ,,Ijanghosen", das ist
ungefähr das Gegenteil von dem, wofür die unge-
schickte Uebersetzung des Wortes Sans-Culotten
sie hatte gelten lassen. — Ich glaube aber, dass
das jüngere Geschlecht dnrcli den nämlichen Ueber-
8et2ungsfehier in den nämÜclien Irrtum gebracht
worden ist, wie wir, und dass es gleich uns erst
nach Jahren zur Korrektur seiner Vor^^tellung ge>
kommen ist. Das ist gerade kein UnglQck. Doch
würde es gewiss nichts schaden, wenn wir die
Sans-Culotten in unserer Sprache nicht mehr Ohne-
hosen, sondern Langhosen zu nennen uns gewohnten.
Zu den Erscheinungen, mit denen die Welt-
literatur die ganze Welt bekannt gemacht hat, ge-
hört des Dom Miguel Cervantes de la Saavedra
Don Quijote de la Mancha. Dass er bei uns seit
Ludwig Tieck der „sinnreiche" Junker genannt
wird, während er der ,, phantasiereiche" heissen
sollte, mag noch angehen. Ueberaus wunderlich
aber ist, dass er bei uns zum „Ritter von der
traurigen Gestalt" werden und dass er diese Be-
zeichnung behalten konnte, obwohl sein ganzes
Wesen gegen sie förmlich schreit. Zahllose Maler
haben Don Qaijote gezeichnet — keinem ist es
eingefallen, keinem ist es niOglich gewesen, ihm im
Bilde eine traurige Gestalt zu geben. Lang und
hager ist Don Quijote, „brandmagcr" wie der
Idealtypns des Spaniei-s, aber seine Gestalt ist edel.
In Wahrheit hat der spanische Dichter seinem
Helden den Ekelnamen gar nicht geu:eben, den der
deutsche Uebersetzer dem fahrenden Ritter ange-
dichtet hat. Don Quijole ist bei Cervantes nicht
der „Bitter von der traurigen Gestalt", sondern
der „Ritter mit dem traurigen Gesicht." El
117
AL A. Klausner: Vererbte Uebersetzungsfehler.
118
Caballero de la triste figura heisst es im spani-
schen Text, und das spanische Wort figura kann
zwar Gestalt bedeuten, heisst aber in der Regel
Gresicht. Die blosse Zulässigkeit der Uebersetzung
„Gesicht" statt „Gestalt" wQrde förmlich zwingen,
in diesem Fall die zulässige Uebersetzung für die
allein mögliche zu halten. Zum Ueberfluss gibt
CJeryantes selbst ganz ausführlich an, bei welcher
Gelegenheit und aus welchem besonderen Anlass
der Knappe iSancho Pansa dazu gekommen ist,
seinem Herrn den Beinamen des „Ritters mit dem
traurigen Gesicht" zu geben. Im 18. Kapitel wird
das Abenteuer von Don Quijotes Angriff auf eine
Hammelheerde erzählt, das dem Ritter üble Be-
handlung von Seiten der ergrimmten Hirten eintrug,
ihm das Antlitz zerschlug und zerschund und ihn
um einen Teil seiner Zähne brachte. Unmittelbar
nach diesem Ereignis, dessen körperliche und
seelische Einwirkungen noch sichtbar waren, hält
Don Quijote einen Leichenzug an, wirft einen
jungen angehenden Theologen vom Pferd, so dass
er einen Schenkel bricht, und erklärt es für seine
Au%abe, Recht an Stelle des Unrechts zu setzen
und Missetaten zu bestrafen. Dass im vorliegenden
Fall sein Eifer Schaden angerichtet habe, hebe
seine Gerechtigkeitsmission nicht auf, müsse viel-
mehr als eine Fügung hingenommen werden. Dann
empfiehlt er den Verletzten der Fürsorge Sancho
Pansas, der nach Erfüllung seines Auftrages sagt :
„Will vielleicht jemand wissen, wer der Tapfere
gewesen, der Euch so zugerichtet hat, so möge
Eure Gnaden erwidern: der berühmte Don
Quijote de la Mancha ist es gewesen, der sich
auch el Caballero de la Triste Figura nennt."
Der junge Theologe zog wortlos von dannen;
Don Quijote aber fragte Sancho, was ihn gerade
in diesem Augenblick bestimmt habe, seinen Herrn
den Caballero de la Triste Figura zu nennen.
„Ich will es Euch sagen, entgegnete Sancho:
Bei dem Licht der Fackel, die der Unglücks-
mensch da bei sich hatte, habe ich Euch ein
Weilchen angesehen, und Eure Gnaden hat
wahrhaftig seit kurzem das übelste Gesicht
(Figura), das ich je erblickt habe, wovon die
Ursache entweder die Einwirkung dieses
Kampfes oder das Fehlen der Backen-
und Vorderzähne sein mag." „Das
ist es nicht, versetzte Don Quijote. Sondern
der gelehrte Mann, dessen Aufgabe es sein
soll, die Geschichte meiner Heldentaten zu
schreiben, wird gemeint haben, dass es gut
sei, ich nähme irgend einen Beinamen an,
wie es alle früheren Ritter getan haben, die
sich der Ritter „mit dem glühenden Schwert"
oder „mit dem Einhorn" oder „mit dem
Fräulein" oder der Ritter „mit der Sonne"
oder der Ritter „mit dem Greif* oder der
„Todesritter" genannt und mit diesen Namen
Ruhm über das ganze Erdenrund gewonnen
haben. Darum, sage ich, hat mein künftiger
Geschichtsschreiber, jener Gelehrte, auf deine
Zunge das Wort gelegt und dir den Ge-
danken eingegeben, mich den Caballero de la
Triste Figura zu heissen, wie ich mich von
heute an für alle Zukunft zu nennen beab-
sichtige. Und damit dieser Name besser zu
mir passe, will ich bei erster Gelegenheit auf
meinen Schild ein sehr trauriges Gesicht
(figura) malen lassen." - - „Nicht nötig, Herr,
Zeit und Geld fllr die Herstellung solchen
Gesichtes (figura) zu verschwenden, sagte
Sancho. Eure Gnaden braucht nur das eigne
Antlitz (rostro) aufzudecken und zu zeigen;
dann wird man Euch ohne Schild und Bild
den „de la Triste Figura" nennen. Glaubt
mir, dass ich die Wahrheit spreche und es
nicht zum Spass sage: die Augen und die
fehlenden Zähne machen Euch ein so übles
Gesicht (cara), dass man die traurige Malerei
sehr wohl entbehren kann."
Es ist unmöglich, hiemach zu bestreiten, dass
Don Quvjote bei uns Deutschen zu Unrecht zum
Ritter von der traurigen Gestalt gemacht worden
ist — nur bei uns Deutschen, die wir uns doch
rühmen dürfen, die besten Uebersetzungen der
Welt geliefert zu haben, hat er den Missnamen,
während die Engländer ihn richtig the knight of
the rueful countenance nennen — es ist ebenso
unmöglich, zu bestreiten, dass es unsinnig gewesen
ist, den Uebersetzungsfehler zu übernehmen. Und
doch zweifle ich, dass die Korrektur angenommen
werden wird. Die „ti-aurige Gestalt" ist eine blöde
Verirrung — aber sie lebt, und Wahi*scheinlichkeit
spricht dafür, dass sie Leben behält.
*
Im 14. Satz des ersten Abschnitts der „Sprüche
der Väter" wird als Aeusserung Hillels angeführt:
üH) "^itf :no ^0^9^ ^j^5» ^ ^ ^ vif r» 0«^
Das heisst nach der üblichen Uebersetzung:
„Wenn ich nicht für mich bin — wer ist für mich?
und bin ich für mich — was bin ich? und wenn
nicht sofort auf wann?"
119
M. A. Klausner: VererbtalUcbersetzungsfehlCT. |
120
Die Uebersetzung ist wortgetreu und tadellos.
Doch der SIdu will mir nicht eiolenchten. So wie
er hier lautet, empfleblt der Spruch in seinem ersten
Teil — „wenn ich nicht für mich hin, wer ist för
mich?" — Selbstvertrauen und Selbsthilfe. Da-
gegen ist nichts einzuwenden. Nur dass gerade
von Hillel, dem Urbild der Bescheidenheit, Demut
und Geduld, die Empfehlung ausgehen soll, ist
mir unwahrscheinlich. Hätte es Sehammai gesagt,
der eifervolle Manq, der seinem Scharfsinn ver-
hingehen. Doch zu
t, das g^en seinen
0er zweite Teil des
■ mich, was bin ich?"
»Ischen Anschauungen
t Bescheidenheit. Nur
dem ersten nicht ver-
hebt ihn auf. Das
el konnte den ersten
ichtigkeit des Selbst-
fe durch den zweiten
lervortreten zu lassen,
der dritte Teil des
jfort;, auf wann?" —
I Teil gibt dann llber-
an nicht zu gewalt-
!ht DÜnmt Die Uber-
Bgungen gehen dahin,
trauen und Selbsthilfe
.ufschub sich geltend
r praktisch sein und
lung hinaus kommen:
,t vertraut
haut,
d gebaut."
Me Lebensweisheit —
t, ganz und gar nicht,
nimmt, dass in dem
eine Abkürzung des
ng des zweiten Buch-
st die ^Uebersetzung:
ich ist — wer ist
,t für mich ist —
licht sofort ^ auf
ganz in Hillelschem
Gottvei-trauen, jetzt
hat: üass man alles
vertrauen, sich Gott
ttes Beistand keinen
fort — auf wann?")
In dieser Deutung
enthält der Spruch die judische £thik, wie Hillel
sie verstand und übte und lehrte.
Die Kürzung aber, die hier vorausgesetzt wird,
kommt tatsächlich auch sonst vor. In den Ge-
beten des E>aubhtlttenfestes, bei den Hoschanoth,
findet sich der Refrain: : «i nyip>1n in; 'JJJ Hier
sind die beiden ersten Worte Abkürzungen des
Gottesnamens, das erste Wort genau die Ab-
kürzung, die in dem Hillelschen Spruch vorkommt.
Die Gleichnisse in denen Jesu zu reden liebte,
seine Parabeln und Bilder sind uns vertraut, weil
die Redeweise, die hinter seine Tage zurückreicht,
sich bei den Ostlichen „Maggidim" bis in unsere
Zeit erhalten hat Manche von diesen Gleichnissen
— und gerade die bekanntesten ~ sind uns ent-
stellt überliefert. Die Evangelisten Matthäus und
Lucas berichten Übereinstimmend als einen Ausspruch
Jesus: „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein
Nadelöhr gehe, denn dass ein Eeicher ins Reich
Gottes komme." Beide lassen auch übereinstimmend
den Satz vorausgehen : „Ein Reicher wird schwerlich
ins Himmelreich . kommen." Der Evangelist Marcus
bringt den nämlichen Bericht, der aber mit dem
letzterwähnten Satz endet, während sich bei ihm
jener weitergehende, die Himmelreichsaussicht des
Reichen vollkommen leugnende Scblusssatz nicht
findet.
Schon immer ist das Bild vom Kamel und
dem Nadelohr als unschlüssig und verfehlt auf-
gefallen. Das Gleichnis hinkt über Gebühr, es
enthält gewaltsame NebeneiaanderstelluDgeo, es
maugelt ihm an dem sinnßHIigen und überzeugenden
Parallelismus, der die Kraft des Gleichnisses und
seinen rednerischen Wert ausmacht. Das Kamel
geht allerdings durch kein Nadelohr — es hat aber
auch garnicbt den Wunsch hindurchzugehen, und
nichts berechtigt zu der Vermutung, dass es einen
solchen Wunsch haben könnte. Der Reiche dagegen
hat ganz gewiss den Wunsch, nach den Sussigkeiten
dieser Erde auch die Seligkeiten des Paradieses zu
kosten. Es ist darum im höchsten Grade wahr-
scheiolich, was- von anderer Seite als Vermutung
ausgesprochen ist, dass im griechischen Text xa[i.i>.o>;
statt xaiJL7i>.oi; — das Ubei-baupt auch kamilos aus-
gesprochen wurde — zu lesen ist. Dann heisst es:
„Elier geht ein Tau durch ein Nadelöhr, denn dass
ein Reicher ins Reich Gottes komme." Jetzt ist
das Bild genau und das Gleiciinis vortrefflich. Von
dem Tan als einem überstarken b'aden kann man
sich vorstellen, dass es durch ein Nadelöhr geben
will, und dass uiir filr seinen Umfang das ent-
121
M. A. Klausner: Vererbte Uebersetzungsfehler.
122
sprechend grosse Nadelöhr sich nicht leicht finden
mag. Dann ist die Schwierigkeit für den Reichen,
in das Beich Gottes zu kommen, sinnfällig gemacht,
die Möglichkeit aber nicht völlig geleugnet. Dann
bringt das Gleichnis die jüdische Anschauung zum
klaren Ausdruck, dass die Versuchungen des Reich-
tums grösser sind als die Versuchungen der Armut.
Jetzt begreift man auch, warum der Evangelist
Markos lieber den ganzen Schlusssatz weggelassen
hat. Die Korrektur fiel ibm nicht ein, oder war
ihm fremd, und die Entstellung wollte er nicht
übernehmen, weil er sie als solche erkannte. Für
die ganze spätere Zeit aber, bis zu unseren Tagen
und wohl auch für unabsehbare weitere Zeit ist
die Richtigstellung vergeblich gewesen. Es bleibt
bei dem Gleichnis vom Kamel und dem Nadelöhr,
und fast möchte man wirklich glauben, dass eher
ein Kamel durch ein Nadelöhr, geht, denn dass die
Welt auf einen einmal recipierten Fehler verzichtet.
Es wird auch bei dem anderen Fehler sein
Bewenden behalten, der sich in das Gleichnis vom
Splitter und Balken eingeschlichen hat. Die Evan-
gelisten Matthäus und Lucas haben es überliefert
und Luther gibt es wie folgt wieder:
„Denn mit welcherlei Gericht ihr richtet,
werdet ihr gerichtet werden ; und mit welcher-
lei Mass ihr messet, wird euch gemessen
werden. Was siebest du aber den Splitter in
deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr
des Balkens in deinem Auge? Oder wie
darfst du sagen zu deinem Bruder: „Halt,
ich will dir den Splitter aus deinem Auge
ziehen?" Und siehe, ein Balken ist in deinem
Auge. Du Heuchler, ziehe am ersten den
Balken aus deinem Auge; danach besiehe,
wie du den Splitter aus deines Bruders Auge
ziehest."
Bei allem schuldigen Respekt vor der Ueber-
lieferung wird man dQch sagen müssen, dass die
Vorstellung vom „Balken im Auge" eine unmögliche
Vorstellung und darum das Bild recht unglücklich
ist Welche Dimensionen man in Gedanken dem
Auge und dem Balken geben mag, immer wird der
Balken grösser sein als das Auge, und immer wird
die Phantasie sich weigern, ein Menschenauge vor-
auszusetzen, in dem ein Balken stecken kann. Und
wenn selbst das Undenkbare denkbar wäre, wenn
die Einbildungskraft die natürliche Ordnung so
sehr verkehren könnte, so würde man sich sagen:
dass es die erstaunlichste Selbstlosigkeit beweist,
wenn jemand, der im eigenen Auge einen Balken
hat, noch Sinn dafür hätte, im Auge des anderen
einen Splitter zu bemerken, und die Neigung ftlhlte,
den anderen von diesem Splitter zu befreien. Frei-
lich wären • Balken und Splitter hier nur Sinn-
bilder oder Symbole von Sünden und Fehlem. Doch
das hebt die Bedingung für ein gutes Gleichnis
nicht auf, sinnfällig zu sein und ohne Schwierig-
keiten auf seine übertragene Bedeutung hinzuleiten.
Liest man aber im hebräischen Text statt »^^P
— Balken - ^^P — Spinn web — so lautet die angeführte
Stelle in deutscher Uebertragung : „Was siebest du
den Splitter in deines Bruders Auge und wirst
nicht gewahr des Spinnwebs in deinem Auge?
Oder wie darfst du sagen zu deinem Bruder:
Halt, Ich will dir den Splitter aus deinem Auge
ziehen? Und siehe, em Spinnweb ist in deinem
Auge. Du Heuchler, nimm am ersten das Spinn-
web aus deinem Auge ; danach besiehe, wie du den
Splitter aus deines Bruders Auge ziehest."
Das Gleichnis ist nun tadellos, jeder Teil des
Bildes ist treffend und hat überzeugende Kraft.
Wer richten will, soll zunächst sich selbst prüfen,
die Klarheit des eigenen Blicks feststellen, damit
er nicht in die Lage komme, dem Bruder als Fehler
anzurechnen, was in Wahrheit ein Fehler des
eigenen Sehvermögens ist. Man soll zunächst
darauf achten, ob man nicht ein Spinnweb, einen
Schleier vor seinem Auge hat und deshalb einen
Mangel bei dem Bruder voraussetzt, während in
Wirklichkeit ein Schleier, ein Spinnweb die eigene
Wahrnehmungsfähigkeit beeinträchtigt und irreführt.
Erst sorge man für Reinheit des eigenen Auges,
für Unbefangenheit des eigenen Urteils, ehe man
sich zum Richter über Mängel des Bruders auf-
wirft, ehe man sich zum „Splitterrichter" macht.
Viermal kommt in der Bibel die Wortfügung
If^X ^r© oder Op^] ^^-HO vor. Wir begegnen ihr
zuerst im 12. Satz des 11. Kapitels im Buch
der Richter, sodann im 10. Satz des 16. Kapitels
im 2. Buch Samuel, femer im 22. Satz des
19. Kapitels desselben Buches, endlich im 18. Satz
des 17. Kapitels im 1. Buch der Könige. Luther
abersetzt an allen vier Stellen: ^was habe ich mit
dir (bezw. mit euch) zu schaffen?" oder in will-
kürlicher Umstellung: „was hast du mit mir zu
schaffen?** In allen vier Fällen streitet der Zu-
sammenhang des Textes mit dieser Übersetzung,
die von allen Späteren übernommen worden ist, und
giebt keinen Sinn. Die Luthersche Übertragung
knüpft an die buchstäbliche Bedeutung .,was ist
mir und dir (euch)?** an und legt sie in der an
123
M. A. Klausner: Vererbte Uebersetzungsfehler.
124
gegebenen Weise aus. Die rhetorische Frage
„was ist mir und dir (euch)?" setzt eine Ver-
neinung voraus und lehnt eine Gemeinschaft des
Willens zwischen dem Fragenden und dem Be-
fragten ab.
Sehen wir nun die einzelnen Stellen an: Der
Gileaditer Jephta, zum Haupt des Volkes in
Gilead gewählt, schickt Boten zum König der
Söhne Ammons mit der Frage : „vJ ''rHO dass
du mein Land mit Krieg überziehst?'' - Es bedarf
kaum einer näheren Darlegung, dass es an einem
logischen Zusammenhang fehlt, wenn man die ersten
Worte mit „was habe ich mit dir zu schaffen?'*
Qbersetzt. Denn der Kriegszug der Am moniter ist
eine dem Jephta bekannte Tatsache, und nur der
Grund des Kriegszugs erscheint dem Jephta fraglich
oder unberechtigt. Nach der Ursache des Kri^es
forscht Jephta. Der Ammoniterkönig versteht
auch Jephtas Worte m diesem Sinne; er zählt
die Gründe auf, die ihn zum Krieg bestimmt haben.
Jephta erkennt an, dass er sachgemässen Bescheid
erhalten hat, denn er führt die Erörterung fort und
sucht in einer zweiten Botschaft den Kriegsvorwand
des Ammoniterkönigs als hinfällig nachzuweisen.
Die erste Botschaft Jephtas hat somit den Sinn
— der mit dem Wortlaut in Einklang steht —
„Wie soll ich das verstehen, dass du mein Land
mit Krieg überziehst?"
Die beiden Stellen im 2. Buch Samuel erzählen
zwei Vorgänge, die miteinander in Zusammenhang
stehen. König David war vor seinem aufrühre-
rischen Sohn Absalom geflohen. Der Fliehende
wird von einem Nachkommen Sauls, Schim'i, mit
Schmähreden und Steinwürfen angefallen. Einen
Bluthund nennt Schim'i den König David, den
gerechte Vergeltung für das vergossene Blut des
Hauses Saul treffe. Des Königs Schwestersohn
Abischjg ist empört über den „toten Hund", der
den König zu schmähen wagt, und erbittet die
Erlaubnis, ihm den Kopf abzureissen. König David
erwidert: jp'?r} ^/'•'^9, ihr Kinder Zerujas? Lasst
ihn fluchen! Gott hat ihm gesagt, er solle David
fluchen — wer mag ihn nun fragen: „warum tust
du also?" . . . Nachdem König David den Auf-
stand niedergeworfen hatte, kehrte er desselben
Weges zurück. Dem Siegreichen naht an der
gleichen Stelle Schim'i mit demütiger Abbitte.
Abischaj greift dem König mit zornvoUer Rede
vor: Soll darum Schim'i nicht sterben, der Gottes
Gesalbtem geflucht hat? Doch David: „THQ
D?7], ihr Kinder Zerujas? Wollt ihr mir heute
zum Versucher werden? Soll heutigen Tages ein
Mann in Israel sterben, da ich weiss, dass ich
heute wieder König über Israel geworden bin!"
In dieser Erzählung gibt an beiden Stellen
die Übersetzung der hebräisch angeführten Worte
mit „was habe ich mit euch zu schaffen?** keinen
Sinn. König David weiss, was er mit seinen
Sciiwesterkindern zu schaffen hat, die ihn auf der
Flucht verteidigen, die ihm die Krone zurück-
gewonnen haben, die eine ihm zugefügte Beleidigung
rächen wollen. Er lehnt nur die Ruche ab — das
eine Mal unter dem Hinweis darauf, dass der
Spross aus dem Hause Saul zu Schmähreden
berechtigt erscheine neben Absalpm, der dem
eigenen Vater nach Thron und Leben trachtet —
das andere Mal unter Hinweis darauf, dass der
Tag seines erneuten Königtums nicht durch ein
Strafgericht verdunkelt werden dürfe. Darum
lautet seine Rede: „Wie soll ich das verstehen,
ihr Kinder Zerujas? Lassi ihn fluchen! Gott hat
ihm den Fluch aufgetragen . . .*' „Wie soll ich
das verstehen, ihr Kinder Zerujas? Wollt ihr mir
heute zum Versucher werden? Soll Blut fliessen
an dem Tage, da ich wieder König geworden bini"
In den Worten D??) vH© liegt also keines-
wegs die schroffe Zurückweisung, die aus der Luther-
sehen deutschen Uebertragung spricht, sondern eine
belehrende und vermahnende Ablehnung. Das gilt
für alle drei Stellen.
Wir kommen zur vierten Stelle im 1. Buch
der Könige: Der Prophet Klia hat sich auf Gottes
Geheiss nach Zarpat bei Zidon begeben und von
einer Witwe für die Dauer der grossen Trockenheit
Obdach und Nahrung verlangte Die Witwe stellt
ihren ganzen Vorrat, eine Hand voll Mehl und
einen kleinen Rest Oel, zur Verfügung des Gottes-
mannes. Mehl aber und Oel gingen nicht zu Ende,
obwohl der Prophet, die Witwe und ihr Sohn
dauernd davon nahmen. Der Sohn der Witwe er-
krankte so schwer, dass l^ein Hauch mehr in ihm
war. Da sprach die Witwe zu Elia: „ vJ ^7"*"^
Mann Gottes? Bist Du zu mir gekommen, dass
meiner Sünde gedacht werde und mein Sohn sterbe?**
Da die Witwe den Propheten Elia als „Mann
Gottes" anredet, so kann sie unmöglich in einem
Athera zu ihm sagen, wie sie nach Luther und den
Späteren tun soll: „Was habe ich mit dir zu
schaffen!** Ihre Worte lauten vielmehr: „Wie soll
ich das verstehen, Mann Gottes, dass, während du
zu mir gekommen bist, meiner Sünde gedacht wird
und mein Sohn stirbt!**
125
M. A. Klausner: Vererbte Ueberselzungsfehler.
126
Ich bin wohl zu der Annahme berechtigt, dass
die Redewendung „was habe ich mit dir zu
schaffen?*' in der Erinnerung der meisten lebendig
ist nicht aus den vier oben angeführten Stellen der
Heiligen Schrift, sondeni aus dem vierten Satz des
2. Kapitels im Evangelium Johannes, aus der Er-
zählung von der Hochzeit zu Cana. Jesu und seine
Jünger waren zur Hochzeit geladen, auch seine
Mutter war da. Als es an Wein gebrach, sprach
die Mutter Jesus zu ihm: Sie haben nicht Wein.
Jesu antwortete ihr; „Weib, was habe ich mit dir
zu schaffen?"
Die christlichen Ausleger haben unendliche
Mühe gehabt, diese Worte so umzudeuten, dass sie
ihren für das schlichte menschliche Gefühl pein-
lichen Charakter verloren. Jesu, so sagten sie,
erscheine in dem Evangelium Johannes ganz und
gar als Gottessohn und Gott und lehne deshalb mit
beinahe schroffer Entschiedenheit alle menschlichen
Beziehungen, alle Verwandtschaft des Fleisches,
selbst der Mutter* gegenüber, ab. — Man kann diese
Auslegung vom christlichen Standpunkt aus gelten
lassen, so lange sie notwendig ist. Aber auch der
gläubige und fromme Christ wird dieser Notwendig-
keit gern überhoben sein und vielleicht mit einer
gewissen inneren Befreiung vernehmen, dass sich
eine Deutung bietet, die mit der sonstigen mensch-
liehen Erscheinung Jesus besser in Einklang ist.
Auch wir Juden, denen Jesu ein jüdischer Mann
ist, können uns dessen mit voller Unbefangenheit
freuen. Denn es kann uns, für die der Hinweis
auf Jesus Gottesbewusstsein naturgt^mäss keine
überzeugende Kraft hat, nur willkommen sein,
wenn der meistbekannte jüdische Mann keinen
Widerspruch zeigt zu der jüdischen Anschauung
und Erziehung, die Ehrfurcht vor Vater und Mutter
als oberstes sittliches Gesetz, als das erste Gebot
hinstellt, „das Verheissung hat".
Der griechische Text der nach der Luther-
schen Uebersetzung angeführten Stelle im Evan-
gelium Johannes lautet: „Ti £|jlo'. xai aoi, ^üva».?-* —
Man erkennt unschwer, dass das nicht griechisch,
sondern buchstäblich aus dem Hebräischen über-
setzt ist und in der Urspmche gelautet hat:^?*nö
•*^^ '«J7J — Nach den oben gemachten Da-
legungen heisst das in richtiger deutscher Teber-
tragung: „Wie soll ich das verstehen,
Fraue!"
Das ist eine durchaus ehrerbietige Anrede,
wie sie dem Sohn der Mutter gegenüber nach
menschlicher Auffassung geziemt. So kann Jesu
zu seiner Mutter gesprochen haben, so musserzu
ihr gesprochen haben. Denn nach dem Zeugnis
des Evangeilisten Jobannes hat Maria sich durch*
aus nicht verletzt gefühlt, vielmehr aus der rheto-
rischen Frage des Sohnes, der die Worte angefügt
waren — „meine Stunde ist noch nicht ge-
kommen*' — , die gehorsame Zustimmung ver-
ständnisvoll herausgehört. Spricht sie doch alsbald
zu den Dienern: „Was er euch sagen wir^
das tut!**
Damit wäre dieser Luthersche Uebersetzungs-
irrtum aufgeklärt. Wenn ich bei der Richtigstellung
noch verweile, so geschieht es, weil sie auch
sonst einiges Licht verbreitet.
Von dem Evangelium Johannes hat man an-
genommen, dass es ursprünglich griechisch nieder-
geschrieben worden sei, während die anderen Evan-
gelien in griechischen üebersetzungen aus dem
Hebräischen überliefert worden sind, und dass seine
Abfassung spätestens auf das Jahr 150 der üblichen
Zeitr chnung falle. Jene eine Redewendung nun,
die absolut nicht original-griechisch, sondern buch-
stäblich aus dem Hebräischen übertragen ist, lässt
erkennen, dass es einen hebräischen Urtext auoh
für das Evangelium Johannes, zum mindesten für
einzelne Teile, g^eben hat, und dass zwischen der
Abfassung des hebräischen Urtextes und der Her-
stellung der giiechischen Uebersetzung ein langer
Zeitraum gelegen hat. Der Zeitraum muss hin-
reichend lang gewesen sein, um erklärlich zu
machen, dass sogar für den zweisprachigen Mann,
den Uebersetzer des Evangeliums Johannes, eine
nach viermaligem Voikommen in den biblischen
Schriften als landläufig anzusehende Redefigur dem
Verständnis eotschwinden konnte. Wäre das nicht
der Fall, so hätte die griechische Uebersetzung
den Sinn des v» ^^'"'^ wiedergegeben und nicht
völlig ungriechiscli "' i'io» xal aol gelautet. Die
Frist aber, die den Sinn der hebräischen Rede-
wendung in Vergessenheit brachte, kann —
schätzungsweise — nicht viel unter hundert Jahre
betragen haben, und damit rückt der Verfasser der
hebräischen Urschrift des Evangeliums Johannes,
wenigstens einzelner Teile, aus dem .Jahr 150 in
das Jahr oO, d.i. in die Zeitgenossenschaft Jesus.
Ich erbitte zum Schluss die Aufmerksamheit
für nachstehende Uebersetzung der ersten 14 Sätze
des 20. Kapitels im ersten Buch Moses. Ich gebe
sie nicht ohne Zagen, weil sie von uralter Ueber-
liefeuing — wenn auch nur in der Einkleidung
127
M. A. Klausner: Vererbte Uebersetzungsfehler.
128
und in Aeusserlichkeiten, nicht in Kern und
Wesen — abweicht und vertraut gewordene Vor-
stellungen etwas umgestaltet. Wäre ich nicht der
üeberzeugung, dass die Umgestaltung der Weihe
und Würde des heiligen Textes keinen Eintrag
tut, so hätte ich mich vielleicht nicht zur Ver-
öffentlichung der Auslegung entschlossen:
„Nach diesen Begebenheiten versuchte
Gott den Abraham. Er rief ihn: Abraham!
— Hier bin ich, er\\dderte dieser. — Und
Gott: Nimm deinen einzigen geliebten Sohn
Isaak, gehe in das Land Morijah und bringe
ihn dort zu dem Opfer hinauf auf einen
der Berge, den ich dir anzeigen werde. —
Abraham erhob sich am Morgen, sattelte
seinen Esel, nahm zwei Diener mit sich und
seinen Sohn Isaak, spaltete Opferholz und
machte sich nach dem Ort auf, den Gott ihm
bezeichnet hatte. Am dritten Tage erblickte
Abraham, der sein Auge erhob, den Ort von
ferne. Er sprach zu den' Dienern: Bleibt
ihr hier mit dem Esel. Ich gehe mit dem
Knaben dorthin, um anzubeten, dann kehren
wir zu euch zurück. — Abraham nahm das
Opferholz, legte es seinem Sohn Isaak auf
und nahm Feuer und Schlachtmesser in seine
Hand. Dann schritten sie mitsammen fort. —
Isaak redete seinen Vater Abraham an:
Mein Vater! — Und dieser: Hier bin ich,
mein Sohn. — Isaak darauf: Feuer und Holz
sind da, wo ist das Opferlamm? — Abraham
erwiderte: Mein Sohn, Gott wird sich das
Opferlamm ersehen. — Danach schritten sie
beide fürbass und gelangten an den Ort, den
Gott dem Abraham bezeichnet hatte. Dort
errichtete Abraham den Altar, ordnete das
Holz, band seinen Sohn Isaak und legte ihn
auf den Altar über das Holz. Dann streckte
Abraham seine Hand aus uid ergriff das
Messer, um seinen Sohn zu schlachten. Da
rief Gottes Engel vom Himmel: Abraham!
Abraham! — Und dieser: Hier bin ich. —
Der Engel sprach: Strecke deine Hand nicht
nach dem Knaben aus und tue ihm nichts!
Jetzt weiss ich, dass du gottes fürchtig bist,
da du den einzigen Sohn mir nicht verweigert
hast. — Abraham erhob seine Augen, blickte
um sich, und siehe: hinter ihm hatte sich
ein Widder mit seinen Hörnern in die Hecke
verwickelt. Zu diesem schritt Abraham, er-
griff ihn und brachte ihn als Opfer dar an
seines Sohnes statt. Abraham gab dem Ort
den Namen „Gott ersieht", und bis zum
heutigen Tage heisst der Ort: auf dem Berge
Gottes wird ersehen.*'
Ich habe mich genau an den Urtext gehalten;
meine Uebersetzung weicht von der üblichen
nur in dem einzigen Satze ab, der durch Sperr-
druck hervorgehoben ist. Nach der allgemeinen
Auffassung erhält Abraham von Gott den Befehl,
seinen Sohn als Opfer darzubringen, während
ich der Meinung bin, dass der Befehl nur sagt,
Abraham solle SQJnen Sohn zu dem Opfer auf den
Berg hinaufbringen.
Dies scheint mir logischer.
Die grammatische Zulässigkeit meiner Deutung
ist ausser Zweifel. »V^l 'f^??? kann ebenso gut
heissen: führe, bringe ihn zum Opfer hin, wie:
bringe ihn als Opfer dar. Der. Zusammenhang aber
spricht für meine Auffassung.
Die Erzählung beginnt mit der Angabe, dass
Gott den Abraham „versuchte". Die „Versuchung"
kann nicht wohl darin bestehen, dass erprobt
werden solle, ob Abraham .einem direkten Gottes-
befehl, der ihm tiefschmerzlich sein musste, gehor-
samen würde. Für den Sterblichen, dem die Gnade
zuteil geworden ist, mit dem AUmächtigen gleich-
sam von Angesicht zu Angesicht zu sprechen, ist
es kaum ein Verdienst, dass er einem Befehl nach-
kommt, dessen Erfüllung gar nicht von seinem
Willen abhängt, dessen Erfüllung sich vielmehr
unter allen Umständen erzwingt. Abrahams Gottes-
furcht zeigt sich darin, dass er ohne jedes Be-
sinnen und Zögern einen blos vermuteten Gottes-
befehl auszuführen bereit ist, obwohl die Aus-
führung ihn mit der Vernichtung aller seiner
Zukunftshoffnungen bedroht und ihm das Liebste
nimmt, das er auf Erden hat. Abraham erhält
den Befehl, seinen Sohn zu einem Opfer hinzu-
führen an einen Ort im Lande Morijah, den Gott
ihm zeigen wird. Er fragt nicht, er ge-
horcht. Er erwartet, dass Gott an Ort und Stelle
das Opfer ersehen wird. So sagt er seinem Sohn.
Freilich wäre dem Knaben gegenüber die Ver-
schleierung der Wahrheit eine pia fraus gewesen;
aber auch die pia fraus will zu Abrahams ganzer
Erschemung nicht passen. Noch kurz vor dem
Ziel der Wanderung denkt Abraham nicht an eine
Opferung seines Sohnes. Man müsste Um sonst
einer zweiten Unwahrheit den Dienern gegenüber
zeihen, die er seine und seines Sohnes Rückkehr
abwarten heisst. Abraham glaubt wirklich, wie
er Isaak versichert, Gott werde sich das Opferlamm
ersehen. Erst als er an der Opferstätte nach Er-
M. A. Klausner: Vererbte Uebersetziingsfehler.
richtaog des Altars kein Lebewesen ausser seinem
Sohn erblickt, vermutet er in diesem das ersehene
Opfer, und er ist bereit, den Sohn in Erfüllung
des vermuteten Gottesbefehls hinzugeben. Das
war die Versuchung, und diese Versuchung hat
er bestanden. Jetzt erfolgt die Interveation des
GottesoDgela, jetzt erblickt auch Abraham den mit
den Hörnern in die Hecke veretrickten Widder
und erkennt in ihm das Opfer, das Gott sich er-
sehen hat. Auch jetzt noch halt er daran fest,
dass er nichts als natQrlichen Gehorsam getlbt hat,
und nennt den Ort nach der Bestätigung seiner
Zuversicht: Gott ersieht. Hätte Abraham die
Diener und den Knaben absichtlich getäuscltt, so
wäre darin ein Zweifel an Gottes Berechtigung zu dem
Opferbefehl zum Ausdruck gekommen, und das wäre
schon ein Zweifel an Gott sei
Niclit aus Freude an Neuerungen, nicht aus
Geschmack an Ueberrasehungen habe ich dieser
Darlegung Worte geliehen, sondern weil ich glaube,
dass die Schrift durch jede bessere Einsicht nur
gewinnen kann.
DieGesamtheit meiner AusHthrungen aber bildet,
glaube ich, einen Beweis dafür, dass die prüfende
Rückkehr zn den Quellen immer wieder frische
Aufschlüsse bringt und dämm immer wieder not-
wendig ist.
DR. PHILIPP KRONER.
Ein Nachruf von M. A. Klausner,
Am 2. Januar d. J. ist in Berlin der Rabbiner und
Schulmann Dr. Philipp Kroner geslorben. Mit seinen
73 Jahren hatte er die Schwelle des Qreisenalters über-
schritten. Doch aufrecht und kräftig war er bis zuletzt ge-
blieben, arbeitsfähig und arbeitsfroh, voller eifrigen Menschen-
liebe — ein echter Jude, an dem kein Falsch zu finden.
„Ich will euch Hirten senden
nach _ meinem Herzen." Dieses
Propheten wort war als Text der
Rede zu Grunde gelegt, die am
4. Januar gehalten wunie, als die
Verwandten und Freunde den Ver-
ewigten zur letzten Ruhe geleiteten.
Rabbiner Dr. Emil Cohn tiätle für
die Grabrede keinen pa^n deren
Spruch finden können. Ein Hirte
nach dem Herzen der grossen
Propheten Israels ist Dr. Kroner
gewesen, vom Beginn seines Amts-
wirkens an bis an sein sanftes
Ende.
In früher Jugend schon auf sich
gestellt, hat er sich selbst zur Selbst-
losigkeit erzogen und in dieser vor-
nehmsten Tugend sich geübt, die
Quell und Inbegriff aller Menschen-
liebe ist. Sein ganzes bewusstes
Leben war fortgesetzte Betätigung
einer Menschenlieoe, die durch keine
üble Erfahrung, durch keinen Un-
dank sich erschöpfen oder auch nur
ermüden liess. Sein Glaube an die
Menschheit und an die Menschen
grenzte an Aberglauben. Für bösen
wiüen fehlte ihm das Veretändnis —
er glaubte nicht an ihn. Sein kind-
liches Herz war voll von jener
Weisheit des Himmels, die kein Arg
kennt. Darum waren vor allem die
Kinder ihm zugetan. Sie fühlten, dass in ihm ein kindliches,
Vinderrcines Gemüt lebte, Damm war er auch der geborene
Pädagoge. Ungehorsam ihm gegenüber gehörte einfach zu
den unmöglichlieiten.
Und dieser friedfertigste der Menschen konnte in
heiligen Zorn geraten; Jene Bewegung, die eine Schmach
unserer Zeit ist, rief ihn zur Apologetik, in der er sein
PbUipp
Deutsch -Kroni
It. In Berlin ii
vieiseiliges und umfangreiches Wissen, seine scharfe Logik
in den Dienst der Wahrheit stellte.
Seine Homiletik hatte eigenartigen Reiz. Seine
Predigten waren kura und eindringlich. Sie schmeichelten
sich durch ihre Form dem Ohr des Hörers ein und sättigten
zugleich das Herz, dem sie Nahrung gaben. Wer offenen
Herzens seinen Worten lauschte,
der trug dauernde Erinnerung
davon, dem blieb dauernder Gewinn
zurück.
Das Lehramt versah er in meister-
licher Weise. Ihm war gegeben, die
Herzen der Juijend und ihren Ver-
stand au fzuschli essen. Was er den
Kindern sagte, ging nicht über ihren
Horizont, und enthielt doch auch
schon Keime der Belehrung für die
wmmenden Tage der Reife. Und
Sias er den Jünglingen vortrug, die
doch mit Begeisterung um ihn
krängten, das tiatte üSerzeugende,
mitreissende Kraft. Der Glaube in
ihm schuf Gläubige. Er predigte
ihnen nicht Religion, er lebte sie
vor ihren Augen, ein Vorbild, das
zur Vereehrung und Nacheiferung
zwang.
Ein Schüler Diesterwegs ist Dr.
Philipp Krön er gewesen. Er hat,
was jener gelehrt, zur Tat gemacht.
Nicht blos in der Schule, nicht blos
in seinem Hause, sondern in seiner
ganzen Lebensführung. Sein Herz
jauchzte, wenn er loben durfte; es
|f^j_._ war ihm Erquiekung, Anerkennung
c am n oktobtr 1S33, auszusprechen. Anderen helfen, war
m 3, Jjausf 1907. Seine Freude. Er half mit Rat und
Tat jedem, der sich an ihn wandte,
jedem, den er hilfsbedürftig fand.
Und für die Hilfe, die er brachte, wusste er aufnehtigen
Dank. Klugen Ral erteilte er, ohne seine Ueberlegenheit
fühlbar zu machen; seine Troslesworte waren eine Auf-
richtung, denn aus echtem, innerem Mitgefühl waren sie
geschöpft.
Philipp Kroner, reine. Seele, fahre wohl!
131
132
MITTEILUNGEN AUS DEM DEUTSCHEN BUREAU
DER ALLIANCE ISRAELITE UNIVERSELLE.
(Berlin N. 24, Oranienburgerstr. 42/43 I). i
BEKANNTMACHUNG.
Vierte regelmässige Jahressitzung der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft
der ALLI AN C E I S RAELITE U N I VE RS E LLE.
Das Präsidium der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft hat an deren Mitglieder die Einladung
zur vierten regelmässigen Jahressitzung erlassen, die
am 19» Februar 1907 in FRANKFURT A. M»
— Bes[inn: Vormittags 9V2 l^hr —
im Saal der Frankfurt-Loge, Eschersheimer Landstrasse 27, stattfinden wird.
Die am 13. Februar 1906 festgestellten Satzungen der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft
der A. 1. U. enthalten folgende Bestimmungen:
Im § 1. Jedes deutsche Mitglied des Central -Comit^s der A. I. U. ist Mitglied der Deutschen
Conferenz-Gemeinschaft.
Im § 2. Die Deutsche Conferenz-Gemeinschaft beschliesst über die an die Centrale nach Paris zu
richtenden Anträge.
Im § 8. Tagungen der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft beruft der Vorsitzende, so oft er es für
erforderlich hält, und mindestens alljährlich einmal die regelmässige Jahressitzung innerhalb
der vier ersten Monate des Kalenderjahres nach Berlin oder anderswohin in Deutschland.
Auf den Tagungen können sich die Mitglieder durch ein anderes Mitglied der
Deutschen Conferenz-Gemeinschaft, oder durch ein Mitglied des Lokal-Comites, dem sie
zugehören, auf Grund schriftlicher, dem Vorsitzenden einzureichender Vollmacht vertreten
lassen. Ausserdem ist der Vofsitzende befugt, die Mitglieder des Lokal -Comit^s des
Platzes, an dem die Tagung stattfindet, einzuladen. Diese Eingeladenen haben das Rechtr
sich an den Verhandlungen beratend zu beteiligen.
Im § 9. In der regelmässigen Jahrestagung unterbreitet der Vorsitzende den Rechenschafts- und
Arbeitsbericht über das abgelaufene Jahr, sowie den Arbeitsplan für das neue Jahr.
Die Bestimmung des Ortes für die vierte regelmässige Jahrestagung der Deutschen Conferenz-
Gemeinschaft hat das Präsidium den Mitgliedern der D. C. G. selbst überlassen, die sich in grosser
Mehrheit für Frankfurt am Main entschieden haben.
Die Mitglieder des Frankfurter Lokal-Comit6s werden auf Grund des §8 der Satzungen zu
der vierten regelmässigen Jahrestagung eingeladen.
2.
3.
4.
5.
Die Tagesordnung ist wie folgt festgesetzt:
1. Rechenschafts- und Arbeitsbericht des Präsidiums für das Jahr 1906 und Arbeitsplan für
das Jahr 1907. (§ 9 der Satzungen.)
Bericht der Mitglieder über ihre Bezirke.
Ausbau der Organisation der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft und Anträge.
Beschlussfassung über die an die Centrale nach Paris zu richtenden Anträge (§ 2 der Satzungen).
Die Stellung der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft zu anderen jüdischen Organisationen
im Inlande und jüdische Tagesfragen.
6. Unvorhergesehenes.
§ 9 der Satzungen sieht vor:
;,Den regelmässigen Jahressitzungen der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft soll
möglichst ein Alliance-Tag angegliedert werden, zu dem alle Vertreter der deutschen
Bezirks- und Lokal-Comites einberufen werden und alle Mitglieder der Alliance Zutritt haben".
Das Präsidium hat beschlossen, den Alliance-Tag diesmal in Berlin stattfinden zu lassen,
möglichst im Anschluss an die Generalversammlung des Berliner Lokal-Comites, die bis zum I.Juli einzu-
berufen ist. Nähere Mitteilungen über diesen Alliance-Tag, zu dem alle Vertreter der deutschen Bezirks- und
Lokalcomites einberufen werden, und alle Mitglieder der Alliance Zutritt haben, werden rechtzeitig erfolgen.
BERLIN, 18. Januar 1907. Der Vorsitzende: L. M. Goldberger, Geheimer Kommerzienrat.
133
134
DIE LAGE DER JUDEN IN PERSIEN.
Spezialbericht für die AUiance Isra^Iite Universelle von S. Galfon.
Nachdruck verboten*
Ispahan, 28. Oktober 1906.
Bei dem unbeschreiblichen Zustand von Anarchie,
in dem das ganze Land lebt, das der Gier der
negierenden, der Habsucht und Bestechlichkeit der
Priester ohne Gnade tiberliefert ist, können wir zu-
frieden sein, dass unser Ansehen nicht noch schlimmeren
Schaden gelitten hat. Persien befindet sich zur Zeit
an einem Wendepunkt seiner Geschichte. Die von den
Einwohnern der Hauptstadt erlangte Einrichtung eines
Parlaments bleibt für die Provinzbewohner ein toter
Buchstabe. Sie können nicht begreifen, dass der Schah
es leichten Herzens tiber sich gewinnt, etwas von den
Vorrechten seiner Autokratie aufzugeben und seine
Taten einer Volkskontrole zu unterwerfen. Das per-
sische Volk ist feige, furchtsam, sehr langsam im Fort-
schritt, und daran gewöhnt, das Knie zu beugen; es
ist deshalb noch nicht so weit, sich von dem Joch er-
erbter Dienstbarkeit betreien zu wollen. In der Be-
sorgnis, dass das aufgeklärte Volk schliesslich des
vexatorischen Expressungssystems müde werden möchte,
wenn es nach dem Beispiel der Einwohner Teherans
sich belehren lässt und ihre Herrschaft zu bestreiten
oder selbst abzuwerfen versucht, bemühen sich die
Priester, das Uebel mit der Wurzel auszureissen. Sie
haben neue drakonische Gesetze erlassen, alle ver-
gessenen Verordnungen wieder hervorgesucht, die
Fasten, die Bass- und Trauertage (Taziels) verviel-
fältigt, als ob der Weltuntergang drohte. Um die
gläubigen und kindlichen Gemüter der Menge noch
mehr zu schrecken und sie in das Dunkel der Un-
wissenheit zurückzudrängen, halten die Oberpriester in
den Moscheen drohende Predigten, die die Blitze Allahs
und die vollständige Vernichtung auf alle herab-
beschwören, die die ungläubigen protestantischen und
judischen Schulen besuchen. Diese Drohungen haben
bereits gewirkt. Die Oscof- Schule der englischen
Missionare, die den Zweck verfolgt, unter den Moha-
medanem Propaganda zu machen, hat aus Mangel an
Schülern geschlossen werden müssen.
Von den 22 Schülern, die im letzten Jahr unsere
Knabenschule besucht haben, sind uns nur 6 oder 7
geblieben, die übrigen haben uns verlassen, um den
Priestern zu gehorchen. Mehr als alle andern empfinden
unsere Glaubensgenossen den Rückschlag des wieder-
erwachten Fanatismus. Jeden Tag sind sie neuen
Quälereien ausgesetzt. Ein Muschtehed hat sich grosse
Berühmtheit erworben, weil er den Mohamedanern ver-
bot, den Juden Trauben zu verkaufen Die Djedids
(Convertiten) machen jetzt schon gemeinschaftliche
Sache mit den Priestern. Unter deren Schutz kommen
sie plötzlich überall zum Vorschein und reklaniieren
Anteile von märchenhaften Erbschaften. Die Lage
wird sehr kritisch. Ich bin fortwährend auf dem qui-
vive, um den Eventualitäten zuvorzukommen. Ich habe
sehr unangenehme Zeiten durchzumachen, und muss mit
meiner Person eintreten, um die verworrenen An-
gelegenheiten der Gemeinde zu gutem Ende zu führen.
Um Unterstützung zu gewinnen und um sie im Notfall
auf meiner Seite zu haben, habe ich bei den einfluss-
reichsten Priestern eine Besuchsrunde gemacht.
Was ich eben erzählt habe, bezieht sich nur auf
die beiden letztverflossenen Monate. Aber im allgemeinen
hat während des vergangenen Jahres unser Einfluss
heilsame Ergebnisse für unsere Glaubensgenossen gehabt.
Xicht nur in Ispahan, sondern auch in Schiras und in
Golpaygan ist unser Einfluss wohltätig gewesen. Als
unsere Glaubensgenossen in Schiras im letzten Jahr
soviel Ungemach und Verfolgungen erleiden mussten,
haben wir hier daran gearbeitet, sie aus der Gefangen-
schaft zu befreien, in der sie über ein halbes Jahr
haben aushalten müssen. Wir haben einen eigen-
händigen Brief des Grosspriesters von Ispahan, Agha
Nadjafi, erlangt, in dem er unsere bedrückten Glaubens-
genossen dem Wohlwollen seines Kollegen in Schiras,
Agha Mirza Ibrahim, empfiehlt. Etwas Aehnliches war
bis jetzt in Persien noch nicht vorgekommen: dass ein
einflussreicher und fanatischer Priester die „unreinen''
Juden protegiert hätte. Andererseits hat auch Se. Hoheit
Zil Essultan, der Gouverneur von Ispahan, uns die
wärmsten Empfehlungsbriefe an die Behörden in Schiras
gegeben. Dieser gleichzeitige Schutz von hoher geist-
licher und weltlicher Stelle hat sehr \iel zur Befreiung
unserer Glaubensgenossen in Schiras beigetragen.
In der 15 Kilometer von Ispahan belegenen Stadt
Golpaygan haben die Djedids unseren Glaubensgenossen
das Leben schwer gemacht. Durch unsere guten Be-
ziehungen und durch direkte Intervention beim Minister
des Auswärtigen in Teheran haben wir erreicht, dass
die Urheber der Unruhen bestraft wurden — sie wurden
nach Suitanabad verbannt. Das hat allen jenen die
Lust benommen, die unseren Glaubensgenossen neue
Unannehmlichkeiten bereiten wollten.
In Ispahan selbst hat unser Schulwerk gute Fort-
schritte gemacht. Mehrere von der ersten Stunde an
unseren Schulen feindlich gesinnte Personen haben
ihren alten Irrtum eingesehen und kamen zu uns,
amende honorable zu leisten. Ihre Neutralität ist uns
jetzt eine wertvolle Hilfe.
In den leider sehr häufigen Streitigkeiten der Juden
untereinander sind wir die versöhnenden Schiedsrichter
gewesen und haben das gute Einvernehmen wiederher-
gestellt; damit ist vielfach die Veranlassung zu Miss-
gunst und Rache aus der Welt geschafft worden.
Das Judenviertel verwandelt sich von Tag zu Tag,
und unsere Glaubensgenossen ebenfalls. Früher ver-
mieden sie alle Verlautbarungen ihi*er Existenz, schlichen
an den Häusermauern entlang, um unbemerkt vorbei-
zukommen, lebten in Kellern, damit man ihre Häuser
nicht erkannte, feierten ihre Hochzeiten bei Nacht, um
den Mohamedanem nicht durch ihre Freude zu miss-
fallen, kleideten sich in schmutzige Lumpen, damit man
ihr Vermögen nicht argwöhnte, demütigten und duckten
sich, damit man sie vergass und in ihren Löchern
vegetieren Hess. Heute ist die Lage eine ganz andere.
Seitdem unsere Schulen bestehen und der in ihrer Mitte
lebende Direktor ihnen Beistand und Schutz verleiht,
haben die Juden Selb/jtvertrauen gewonnen, ihre Häuser
erheben sich schön, bequem und sauber; sie kleiden sich
gut, eröffnen zahlreiche Geschäfte im europäischen Viertel
und haben Läden in den grossen Handel sbazaren der Stadt;
sie importieren und exportieren und haben Beziehungen
zu den anderen Städten Persiens, sogar zum Ausland.
Nicht nur in den wohlhabenden Häusern, auch in den
Hütten der Armen fängt ein besseres Leben an. Mit
einem Wort: in den Herzen unserer vordem so sehr
zu beklagenden Glaubensgenossen wird die Hoffnung
wieder neu geboren.
Nach dem Urteil aller Welt zeigen unsere Schulen
schon jetzt die besten Erfolge: jedenfalls nimmt ihr
guter Ruf immer weiter zu, trotz des verdummenden
135
S. Galfon: Die Lage der Juden in Persien.
136
Fanatismus der Menge und der nervenzerrüttenden
Scherereien der Priester. Einige Beispiele mögen
davon überzeugen.
Die Tombacs-Gesellschaft verlangte von mir einen
Schüler, der gut französisch und persisch verstand, und
ich beeilte mich natürtich, diesen Wunsch zu erfüllen.
Durch sein geschäftUdies Verständnis und besonders
durch sein Anpassupgsvennögen wird er bald die
Kollegen überflügelt haben, die schon länger als er im
Dienst der Gesellschaft stehen. Obgleich er erst vor
knapp vier Monaten engagiert worden, verdient der
junge Mann schon 90 Francs monatlich.
Ein armes junges Mädchen aus unserer ersten
Klasse gibt im Harem (Enderum) des Gouverneurs
Unterricht im Französischen. So etwas ist bis jetzt
noch nicht vorgekommen. Zweimal wöchentlich schickt
Se. Hoheit der Gouverneur seinen Wagen ins Juden-
viertel und lässt die arme Lehrerin mit ihrer Mutter
abholen, damit sie im Palast des Gouverneurs Unter-
richt erteilen kann.
Unsere Schule verdankt ihr Vorwärtskommen
ihrer praktischen Unterrichtsmethode. Schüler, die
drei bis vier Jahre die mohamedanischen oder die
Missionsschulen besucht haben, sind nicht im Stande,
englisch zu sprechen oder zu verstehen, während die
Erfolge unserer Schulen sehr schnell zu Tage treten.
Es ist ein wahres Vergnügen, unsere Schüler während
der Unterrichtspausen französisch plaudern zu hören.
Während des Unterrichts hören sie nicht auf, ihren
Lehrern verständige Fragen zu stellen, die das Er-
wachen ihres Geistes und ihr rasches Aufifassungs-
vermögen beweisen. Mehr als das eigentliche Lehren
im buchstäblichen Sinne haben wir uns die Hebung
unserer Glaubensgenossen zum Ziel gesetzt, die Neu-
schafl^ung der Familie durch Hygiene und Reinlichkeit,
die Uebung einer rechtschaffenen Moral und reinere
Sitten, die Weckung des Selbstgefühls und eine weniger
materielle Auffassung des Lebens. Gerade den Kind.TU
müssen wir die Keime dieser Grundsätze einimpfen,
damit die von ihnen zu bildende Generation besser
werde als die vorhergegangenen.
Bei den Mädchen bestehen die Kurse aus Plaudereien
über Familie, Hygiene, Kindererziehung, gute Haltung
und saubere Häuslichkeit. Viele Stunden werden mit
Näharbeiten, Stickereien und def Fabrikation von
Ghives ausgefüllt. Die überall in Persien öbliche
lächerliche Kleidung, die so grosse Aehnlichkeit mit
dem Kostüm der Tänzerinnen in den Konzert - Hallen
hat, wird allmählich durch den langen und einfachen
Rock der Europäerinnen verdrängt. Die täglich vor-
genommene Sauberkeitsinspektion ermöglicht uns, die
hautkranken Kinder herauszufinden und sie zu heilen.
Tatsächlich wird die Zahl dieser Kranken von Tag zu Tag
geringer, dank der strengen Methode, dass äJlen Schülern
gleich massig die Haare ganz kurz geschor^il werden.
Von allen Lehrgegenständen interessieren unsere
Schüler die exakten Wissenschaften und die Geographie
am meisten. Die sehr elementaren wissenschaftlichen
Vorstellungen zerstören allmählich manchen lächerlichen
Aberglauben: die Furcht vor den Dämonen, den Glauben
an die Wunderwerke der Zauberkunst, der Karten-
leger, der Chiromantie und aller occulten Wissen-.
Schäften, die so grosse Gewalt über die Gemüter der
Perser üben. Wir benutzen jede Gelegenheit, unsere
Schüler von der Wesenlosigkeit der mancherlei aber-
gläubischen Vorstellungen zu überzeugen, die bei
unsern Glaubensgenossen Geltung haben, und ihnen
beizubringen, dass man in Krankheitsfällen uhd bei
Verletzungen anstatt eines Nekromanten einen euro-
päischen Arzt zu Hilfe rufen muss.
Die Geographie interessiert die Kinder noch weit
mehr. Da die meisten Schüler Ispahan noch nicht ver-
lassen haben, weder das Meer noch Schiffe noch Eisen«
bahnen kennen, haben alle nur den einen Wunsch:
alles zu sehen; und bis sie in die Lage kommeu, ihre
Träume zu verwirklichen, wollen sie wenigstens davon
sprechen hören. Ihre sehr berechtigte Neugier kennt
keine Grenzen. Sie befragen uns fortwährend über die
zivilisierten Länder, die von ihrem Vaterland so ver-
schieden sind. Ich ermutige ihren Wunsch, Persien
verlassen zu wollen, denn in unserem Viertel ist die
jüdische Bevölkerung viel zu dicht. Ihr Elend kommt
von ihrer grossen Zahl. Ganze Familien leben in herz-
brechender Enge in einem einzigen Raum ohne Luft
und Licht. Die Familien sind nicht selten, die nach
wiederholter Vermehrung immer noch dasselbe einzige
Stübchen bewohnen. Unglücklicherweise kann die
jüdische Kolonie sich nicht in grösserer Entfernung von
ihrem jetzigen Viertel ausdehnen und enti^'ickeln. denn
sie ist von allen Seiten von übelwollenden Mohamedanem
umgeben, die missgünstig auf den neuen Aufschwung
sehen, den unsere Glaubensbrüder zur Verbesserung
ihres Loses genommen haben.
Für die mohamedanischen Kinder, die unsere
Knabenschule besuchen, habe ich ausser den gewöhn-
lichen Lehrstunden eine arabische Klasse eingerichtet.
Ich benutze meine Kenntnisse in dieser Sprache, jeden
Freitag selbst Unterricht zu erteilen. Dadurch bringe
ich unsere Schule besser zur Geltung, denn das
Arabische i>t die Religionssprache der Perser.
Jeden Tag konstatiere ich mit Vergnügen die
Fortschritte, die unsere männlichen und weiblichen
L«»hrlinge in ihren verschiedenen Handwerken machen.
Abgesehen davon, dass ihre Gesundheit sich durch das
Handhaben der Werkreuge gekräftigt hat, bemerke ich,
dass sie mit ausgesprochen gutem Willen und mit allen
möglichen Mitteln bemüht sind, auch die feinsten Hand-
griffe ihres Metiers zu erlernen. Ich habe die Hoffnung,
dass ihre Zukunft durch die Ausübung ihrer Berufe
gesichert ibt. Wenn sie ihre Lehrzeit beendet haben ,
werden sie ihren Lebensunterhalt bequem und anständig
verdienen können.
Auch die Stickerinnen, Näherinnen und Ghives-
Arbeiterinnen sind mit grossem Eifer in Tätigkeit, und
ihre Arbeiten sind wegen ihres guten Geschmacks, ihrer
Feinheit und vollendeten Ausführung sehr geschätzt.
loh resümiere mich: Das vergangene Jahr ist für
unsere Tätigkeit in Ispahan ein gutes Jahr gewesen.
Nach aussen ist es uns gelungen, unsere Glaubens-
genossen aus schwierigen Verlegenheiten zu ziehen,
dank den freundlichen Beziehungen, die wir mit den
Behörden und den Xotabeln der Stadt unterhalten.
(Der Vertrauensmann der A.
SALOMON BUBER.
. U. in Leraberg, am 23, Januar 1907 i
Wieder hat der Tod in die Reihen der AVissen-
Schaft des Jadentums eioe Lticke gerissen und
eineo Mann dahingerafft, der niclit ersetzt werden
wird. Salomon Buber, der nach einem arbeits-
voUen und au mannigfaltigen Erfolgen reichen
Leben in dem Lohen Alter von 80 Jahren von
uns geschieden ist, stand ein volles halbes Jahr-
hundert unter den emsigen Arbeitisrn im Wein-
garten der judischen Literatur. Kr entstammte
einer wohlhabenden, an-
gesehenen Kaufmann-s-
familie in Lemberg, in
der es, wie zu jener Zeit
in dieser Klasse allge-
mein Qblich war, die der
geschäftlichen Arbeit ab-
gerungene Mnsse der
Schriftgelehrsamkeit za
widmen, Salomon Bubers
Jagend fiel in eine Zeit,
als die Sturm- und Drang-
periode der Haskala, von
der er tlbrigeos unmittel-
bar fast garnicht berührt
wurde, bereits ausgetobt
hatte. Aber von dem
Geist, der die Zeit be-
herrschte, mosste auch
er notwendig einen Hauch
verspQreD. So kam es,
dass er, anstatt sich in
dem Labyrinth des Pilpul
und der ritualistisehen
Diskusaionen zu verirren,
für die wissenschaftliche
Forschung Vorliebe
fasste. Als er im Jahr
]H56 mit seiner ersten
Arbeit, einer Biographie
des Eliah Bachur, de-
btttierte, war Nachman Salomon
Krochmai seit fdnfzelm
Jahren tot und Rappoport schon lange auf
dem Pr^er Kabbinatsstubl fcslgeeist. tSalonion
Buber gedachte nicht, die Rolle eines Dilet-
tanten zu spielen. Er vertiefte sich mit
)iraazem Ernst und vielem Flciss in die
Wissenschaft. 1865 veröffentlichte er Glossen zu
den Responsen der Gaonim, und drei Jahre
später begründete er seinen Ruf durch dia Publi-
kation der sog. Fesikta des Rav Kaliana, eines der
wichtigsten aggadischen Midrasch werke, einer un-
iimg&nglichen Quelle zur Literatiirgescliiclite der
Juden Palästinas im 4. .Jahrliundert, eigentlicli die
älteste Aggadakompilation, an die sich die tausend-
jährige Kerie dieser Literaturgattung anschliesst,
ein Werk, das bis dahin in seiner Totalität der
Oeffeotlichkeit nicht zugänglicii war. Nun stammt
diese Pesikta freilicli gar nicht von Kav Kahana,
Nachdruck verboten.
I 80. Lebensjahr gestorben.)
wie Buber im deutschen Titel seiner Edition an-
gibt, sondern der Name ist eine Abkürzung von
Rabbi Abba bai- Kabana, von dem ein Ausspruch
die Sammlung ursprüngliph einleitete. Aber das
tat dem grossen, allgemein anerkannten Verdienst
des Herausgebeis keinen Eintmg. Buber hatte
sich vier äusserst seltene Handschriften verschafft,
die Lesarten mit peinlicher Genauigkeit verglichen,
dem Text eine sehr lange Einleitung vorausge-
schickt, in der er alle
möglichen Hypothesen
über Entstehnngszeit,
Komposition und Be-
ziehungen des Werkes zu-
sammentrug, alle Stellen
verzeichnete, wo sein
Midrasch erwähnt, ziüeit
oder nur berDhit wurde,
und begleitete ihn mit
einem anafohrlichen
Kommentar, der tlber die
geringsten Minutiositäten
sich mit Genauigkeit er-
geht. Dieser Methode
blieb Salomon Bubcr sein
ganzes Leben treu. Fast
jedes zweite Jahr brachte
von ihm die Edition
irgend eines anderen
verloren geglaubten Mi-
drasch, eines Midrasch-
fragments, eines Kom-
mentars oder Superkom-
mentars, nach derselben
Methode bearbeitet.
Grosses Verdienst erwarb
er sich durch die Aus-
gabe des tJr-Thanchuma
{WilnalS85). Erstellte
seine sehr bedeutenden
Buber. materiellen Mittel in den
Dienst der Wissenschaft
und vollbraclile das, was sonst überall nur mit
reichen Ressourcen ausgerüstete gelehrte Körper-
schaften zu unternehmen pflegen. Er durchstöberte
alle Bibliotheken nach Handschriften, beschäftigte
zahlreiche Kopisten, scheute auch keine Opfer,
wo es galt, die Manuskripte selber in Augen-
schein zu nehmen, arbeitete unermüdlich und rast-
los, selbst im hohen Alter, da er schon schwer
leidend war, jeden Tag von '* Uhr morgens ab.
(Dabei war er ein G rosskau fmann, Chef einer be-
deutenden, prosperierenden Firma. Auch war ei'
lange Jahre der Vertrauensmann der .Mliance
Israölite Universelle, deren Werke er mit hin-
gebendem Eifer förderte.) Unverdrossen brachte
er eine grosse Reihe älterer und jüngerer Midrasch-
werke an den Tag. Da ist der Lekach Tov, Sifiö
dcaggadetha, Midiasch Tchillim, Midrasch Samue
139 Mitteilungen der Alliance Israelite Universelle: Salomon Buber. 140
Midrascli Miscble, Sdidrasch Ä^gada, Midrascli er mit ausscliliesslicher Liebe, so dass fUr ilio
Suta, Midrasch £:chah, Jalkut Hammakhiri und zuletzt der Begriff Literatur fast mit dem
viele, viele andere. Bubers PublikatioDen bilden eines alten noch nicht publizierten Midrasch iden-
zusammen 26 oder 28 Bände, eine imponierende tisch wurde.. Es kam ihm seltsam vor, dass die
Ernte. Dabei war Salomon Buber nicht ehrgeizig. Leute Gedichte, Dramen, Romane, philosophische
Er langte nicht nach den Lorbeeren eines Abraham und naturwissenschaftliche Bücher schrieben,
Epstein, J. H. Weiss, Fränkel, Theodor, Friedmann, während noch so viele unedierte Midraschim im
Bacher, die diese ganze Literatur als eine Reihe Dämmer der Bibliotheken schlummern. Anderer-
von Dokumenten entschwuudeneD Geisteslebens be- seits war er in wissenschaftlicher Hinsicht von
trachteten, deren Text sie mit ungeheurem Scharf- unerscliöpflicher Freigebigkeit und stets bereit,
sinn durchforschten, um auf ihm die Kulturgeschicbt« Jedem, der auf seinem Gebiet mitarbeiten wollte,
verschollener Zeiten wieder aufzubauen. Buber mit seinem Rat und seiner Erfahrung beizustehen,
zog es vor, die verschiedenen Hypothesen und alle Wer seine Werke nur dem Namen nach kannte
Lesarten, die er auftreiben konnte, nebeneinander und ihm näher trat, war erstaunt, auf einem ver-
zu stellen und es dem Leser zu ttberlassen, die gleichsweise so engen Gebiet solche Fülle von
zu wählen, die ihm am meisten zusagte. Er Gelehrsamkeit und positivem Wissen anzutreffen,
betrachtete es als seine Aufgabe, mit Gewissen- und musste inne werden, dass Fleiss, Emsigkeit
haftigkeit und genauester Sachkunde Bausteine und Hingabe imstande sind, der Kleinheit selbst
zosammenzutr^en, die mühsamste Vorarbeit filr innere Grösse zu verleihen. Aus seinem Gebiet trat
einen späteren Bau zu leisten, dessen Ausfuhrung er nur selten heraus. Noch im vorletzten Jahr er-
er anderen ermSglichte und neidlos Uberliess. freute er alle Verehrer Raschis durch Herausgabe
Auch die Bearbeitung des so überaus reiclien des ,S6fer Haorah", eines den Namen des grossen
linguistischen Stoffes, den seine Publikationen boten, Kommentators tragenden Sammelwerkes, das bisher
ttberliess er anderen, wie z.B. Kohut, Jastrow, nurausExzerptenbekannt war. Nun ist er selber hin-
FUrst, Kraus. Es. war nicht seine Schuld, wenn gegangen dorthin, wo Raschi seit acht Jahrhunderten
die genannten Männer oft eigene Wege gingen, weilt. Er ist hingegangen, „alt und satt an Tagen"
Ihn störte und kümmerte das nicht, er war un- wie die Patriarchen der Bibel, und lässt hier unten
ermQdlich. Das von ihm erwählte Gebiet liebte keinen zurück, der seinen Platz ausfüllen würde.
JACOB H. SCHIFF.
Nichdnick verboten.
In der vorigen Nummer haben wir unserem groscenameri- Bankhaus in den amerikanischen Eisenbahnangel egenheiten
kanischen Glaubensgenossen Jacob H.Schiff zum tO. Januar, bald eine führendeStcllung erlanete. Er war dielreibende Kraft
seinemÖO.Geburtstag, unseren bei der Reorganisation der
Glückwunsch dargebracht. Union ftcific-Bahn und
Heute zeigen wir unseren führte sie in glänzender Weise
Lesern den Derühnitcn Philan- durch. Ausser der Ver-
ihropen im Bilde. waltung dieser Bahn gehört
Er ist in Frankfurt a. M. ge- Schiff auch derjenigen der
boren, wo seine Familie seit Baltimore and Ohio, der
dem 14. Jahrhundert ansässig Norfolk Western, der Pennsyl-
jst und sich wachsenden An- vania, der Chicago Bulington
sehens erfreut liat. Nachdem and Quincy-Bahn an, und
er — wir folgen hier den An- seine Firma übt die Kontrolle
^ben eines zuverlässigen Be- über ein gewalt igesEisenbahn-
richlerstatters — die zu jener netz aus. Bei vielen her-
Zeit allgemein übliche Real- vorragenden amerikanischen
Schulbildung genossen und Eisenbahn- Geschäften hat
seine kaufmännische Lehrzeit Schiff eine massgebende
in der Tuchhandlung Moses Stellung eingenommen, so
Amschel durchgemacht hatte, auch Sei dem bekannten
King er achzehnjährig nach Kampf um die Northern
New-York, wo er bei einer Pacific-Aktien, uud seiner
Brokerfirma Frank & Gans ein- Mässigung war es zu danken,
trat. Nach zweijähriger Tälig- dass dem New-Vorker Markte
keit gründete er 1867 das Bank- damals eine schwere Kata-
haus Budge Schiff & Co., das sirophe erspart blieb. Für
im Jahre 1873 wieder auf- die Unterbringung der ja-
gelöst wurde. Schiff weille panischen Kriegsanleihen hat
dann einige Zeit in Europa, hat Schiff mit seinem Hause
wo er viele wertvolle Be- eine ausschlaggebende Tälig-
zfehungen anknüpfte. Nach keit enlwickelt und hat im
Amerika zurückgekehrt, trat ' vorigen Jahre auf Einladung
ernm [.Januar ]675als Teil- des Kaisers von Japan das
haberin dasangeseheneNew- Land bereist, — "" ~''
VorkerBankhausKuhnLöb& '" '" '
Co. ein, in dem er bald die
' ''ende Persönlich keit wurde. hat Schiff eifrig und erfolg-
lem Wirken war es vor- reich für die so schwer
;endzudanken,dassdieses Jacob H. Schiff. bedrückten russischen Juden
f
141
Mitteilungen der Altiancc Israelite Universelle: Jacob H. Schiff.
142
gewirkt, wie er sich stets als Philantrop grossen Stils be-
währt Die wichtigsten jüdischen Stiftungen New- Yorks sind
ihm zu danken, und bei zahlreichen Wohltätigkeitsanstalten
in Ncw-York ist er mit seinen Mitteln und seiner Art)eitskraft
tätig. In den Werken hilfsbereiter Menschenliebe ist sein
Haus für alle Notleidenden ohne Unterschied des Glaubens
und der Nation geöffnet. Je reicher er wurde, umsomehr
liess er die Armen und Dürftigen an seinem Reichtum teil-
nehmen. Auch für wissenschaftliche und künstlerische Inter-
essen hat er stets ein weit geöffnetes Haus. So hat er, ab-
gcsdien von anderen grossen Leistungen, einen eigenen Lehr-
stuhl für Sozialwissenschaften an der Kolumbus-Universität
errichtet und audi für Verbreitung der hebräischen Literatur
in Amerika viel getan. Jacob H. Schiff war immer ein treuer
Sohn und hat sich seinen Geschwistern gegenübem zu allen
Zeiten den warmen Familiensinn bewahrt, wie er auch in-
mitten der anstrengendsten und aufreibendsten Geschäfte sich
immer Herz und Gemüt für die Familie im wahrsten Sinne
des Wortes bewahrte. Ein gutes, warmes Herz, ein feines,
tiefes Gemüt, sind die charakteristischen Eigenschaften des
energischen Mannes der Tat.
Herr Jacob H. Schiff ist der Bruder unseres hoch-
verehrten Mitgliedes in der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft
Herrn Philipp Schiff in Frankfurt a. M.
DIE KREDITGENOSSENSCHAFTEN IN OALIZIEN.
Ein Hilfswerk der J. C A.
Die Jewish Colonisation Association — ihr
Präsident ist zugleich der Präsident des Central -
Comitös der Alliance Isra61ite Universelle — ver-
waltet und verwendet ihre grossen Mittel mit vor-
sQhauender Klugheit. Sie hat ihre Aufgabe dahin auf-
gefasst, dass sie nicht das Elend fristen und dadurch
verewigen, sondern es bekämpfen und durch Schaflang
selbstständiger wirtschaftlicher Existenzen beseitigen
Nachdruck verboten.
amtlich in die Direktion einzutreten. Dehnt sich
die Tätigkeit der Kreditgenossenschaft aus, so ge-
währt die J. C. A. ihr weitere Mittel als Darlehen
zu massigem Zinsfuss.
Von 10 Kreditgenossenschaften — die in
Husiatyn und Brzczany sind erst später gegründet
— liegen Jahresberichte pro 1905 vor, aus denen
wir die nachfolgende Tabelle zusammenstellen:
Kreditgenossenschaften der J. C. A.
Stand am 31. Dezember 1905.
«
Mitglieder
Anteile
Darlehou
Spareinlagen
Reservefonds
Gewi
im pro 1905
Kr.
Kr.
Kr.
Kr.
Kr.
Brody . ' . .
974
16920
69 750.80
52 686.07
3 884.65
172.91
Burstyn . .
240
8420
22277.-
14000.—
280.—
16.38
Koloroea . .
1895
30880
142 760 50
111680.09
16 262.63
1355.55
Rxeszow . . .
775
14220
67 664.74
54 169.87
4 275.26
546.32
Sambor . . .
370
10090
39 903.80
14000.
1 707.81
241.24
Stanislau . . .
820
14190
72 189.88
59 020.24
5 125.90
100.49
Taraow . . .
643
12 830
60 817.41
49 685.71
3 394.10
667.37
Tamopol . . .
290
10 940
40 734 80
34000.
584.25
—
Zloczow . .
226
8 910
27 117.90
19000.-
450.13
«
—
Zaleszczyki .
416
10150
34 310.40
22 155.21
3953.83
690.27
6649
Kr. 137 550.—
Kr. 577 527.23
Kr. 430 397.19
Kr.
39 918.65
Kr.
3 790.53
soll. Indem die J. C. A. zu freier Selbsttätigkeit
anregt, strebt sie dahin, den wirtschaftlich rück-
ständigen Teil der ihrer Obsorge überwiesenen
jüdischen Bevölkerung auf die eigenen Füsse zu
stellen, Selbstvertrauen in den Gemütern derer zu
wecken, die sonst gewöhnt waren, im „Schnorren**
die einzige angemessene Betätigung des Gott-
vertrauens zu sehen. In aller Stille hat sie in
Galizien Kredit-Genossenschaften für den
Kleinhandel und das Kleingewerbe geschaffen,
deren Zahl im Laufe weniger Jahre auf 12 ge-
stiegen ist. Der Gründungsvorgang war überall
der nämliche : Die J. C A. zeichnete 6000 Kronen
Anteilscheine und gab ein unverziusliches Darlehen
von 14 000 Kronen, nachdem sie vorher durch ihre
Vertrauensmänner angesehene Personen des Platzes
dazu bewogen hatte, durch Uebemahme von Anteil-
sdieinen das Werk zu unterstützen und ehren-
Von diesen zehn galizischen Kreditgenossen-
schaften haben drei, die in Kolomea, Stanislau und
Tarnow, bereits sieben Geschäftsjahre hinter sich, die
von Brody, Rzeszow und Zalesczyki fünf Geschäfts-
jahre. Die Kreditgenossenschaft von Sambor hat
zwei Jahre, die von Bursztyn, Tamopol und Zloczow
haben erst ein Geschäftsjahr hinter sich. Die Zahl
der Mitglieder, bei den jüngsten Genossenschaften
224 — 226—290, belief sich Anfang vorigen Jahres
bei den ältesten auf 643 — 820 — 1895, bei allen
10 Genossenschaftskassen auf zusammen 6649. In
fünf Kassen war die Zahl der Mitglieder vom
1. Januar 1905 bis 1. Januar 1906 um 894 ge-
stiegen, in einem einzigen (Tarnow) war ein kleiner
Rückgang, von 650 auf 643, eingetreten. Inner-
halb desselben Jahres hatten sich, wie bereits er-
wähnt, drei neue Kassen mit 756 Mitgliedern ge-
bildet, sodass in der genannten Zeit 1643 Mit-
143
Mitteilungen der Alliance I^raelite Universelle: Die Kreditgenossenschaften in Oilicjen.
144
glieder (1650 ~7) sich neu dem Genossenscliafts-
wesen angeschlossen haben. Die Anteilscheine der
zehn Genossenschaften, über je 10 Kronen lautend,
betragen zusammen 137750 Kronen, wovon 6O0OO
Kronen der J, C. A. gehören. Ausserdem sind
von den 430 377,19 Kronen mehr als 400 000
Kronen Darlehen der J. C A. an die Genossen-
schaften. Mit diesen Mitteln war es den Genossen-
schaften möglich , im Jahr 1905 insgesamt
997752 Kronen an 5596 Parteien zu verleihen.
Das geringste Darlehen schwankte von 35 bis 50,
das höchste von 300 bis 800 Kronen, der Durch-
schnitt war 178,30 Kronen. Bezeichnend fttr die
ganze Geschäftsgebarung und fUr die Solidität und
Ehrlichkeit der Genossenschaftsmitglieder ist der
Umstand, dass die Genossenschaftsleitungen wohl
hier und da über mangelhafte Pünktlichkeit in der
Innehaltung der Rückzahlungstermine zu klagen
hattep, dass aber wirkliche Ausfälle fast gar nicht
vorkamen. Man darf jedoch nicht glauben, dass dieses
günstige Ergebnis durch besonders strenge Aus-
wahl unter den Darlehnssuchem erreicht worden
ist. Wenn beispielsweite in Kolomea von 2257
Kreditgesuchen nur 225 abgelehnt worden sind,
so spricht das nicht tür übergrosse Peinlichkeit.
Man kann nicht sagen, dass die galizischen Kredit-
genossenschaften der J. C. A. qUt blendenden Ge-
winnen arbeiten. Durchaus n|obt. Das sollen sie
aber auch garnicht. Keine von ihnen bat im letzten
Geschäftsjahr ein Defizit gebabt — das ist alles,
was man verlangen kann. DuegfaD sind überall
die Reserven so reichlich wie möjj|fiio|i bedacht. Und
noch ein Umstand ist benjerkeflswert: die Ver-
waltung ist die denkbar biUIgite,
Dass die Jewish Golonlßatlpo Association zu
diesem Werk Kapital hergegabeo hat, ist nicht der
springendePunkt. Das Bedeutsamste uodAnerkennens-
werteste ist, dass sie gerade an d^r Kleinarbeit sich zu
beteiligen nicht verschmäht bat, ißW sie imGegenteil in
fortgesetzt steigendem Masse beniüht gewesen ist, zu
solcher rettenden Kleinarbeit iojpaer mehr Personen
heranzuziehen. Nicht alle Mitglieder der galizischen
Kreditgenossenschaften der J. 0, A. sind gerettete,
neu aufgerichtete wirtschaftliehe Existenzen, aber
Tausende sind durch dies^ Kreditgenossenschaften
tatsächlich zu Selbständigjceit und Selbstvertrauen
erzogen worden. Und das Wf rk ist noch nicht an
seinem Ende, noch nicht af|f seiner Höbe. Im
Gegenteil. Die bisherigen I^elstungen stellen eher
A'^ersuche dar, deren glückliobes Gelingen den Weg
zu weiterem Fortschreiten weist.
Berlin. Anlässlich des Ablebens unseres gelehrten
Freundes Salomon Buber hatte der Präsident der
Deutschen Conferenz-Gemeinschaft der Alliance Israelite
Universelle an die Hinterbliebenen ein herzliches Bei-
leidschreiben gerichtet. Darauf ist folgende Antwort
eingegangen :
Lemberg, 6. Januar 1907.
An die verehrliche Deutsche Conferenz-Gemeinschaft
der Alliance Israelite Universelle
Berlin.
Wollen Sie den Ausdruck unseres herzlichen
Dankes für die Teilnahme, die Sie uns anlässlich
des Hinscheidens unseres unvergesslichen Familien-
oberhauptes, des Herrn Salomo Buber, erwiesen
haben, entgegennehmen. Ihre Worte haben uns in
unserm tiefen Schmerze einen kostbaren Trost ge-
spendet und werden yon uns allezeit in dankbarer
Erinnerung bewahrt werden.
FUr die trauernde Familie
Carl Buber.
Cöln. Am 6. Januar hat sich hier ein Lokal-
Comit6 der A. I. U. f^bildet, das sich später zu einem
Bezirks-Comitö erweitern soll. Eiijßtweilen besteht das
Comite aus den H^Ten Rabbiner Dr. Frank (Vor-
sitzender), Stadtverordneter Louis Eliel (stellvertr.
Vorsitzender), B. Fellchen feld (Schriftführer), Emil
Blumenau (Schat2;m0ister), Dr. med. B. Auerbach,
Justizrat Dr. Callmann und Simon Rosenberg.
Frankfurt •• M* Die immerwährende Mitglied-
schaft der A. l,\J. hat Frau Jakob Sichel, Eschen-
heimer Anlage 31 erworben.
Alle für das Berliner Lokal -Comite der A. 1. U. und für das peutsche Bureau der A. I. U. bestimmten
Geldsendungen beliebe man an den Schatzmeister
Herrn Benno Braun in Firma Joelsohn & Brfinn, Berlin C. 19, Hausvoigteiplatz 1 2
zu adressieren, eventueU durch Reichsbank-Girokon o der Firma Joelsohi & Brunn zu überweisen.
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Verantwortlicher Redakteur: Leo Winz, Berlin, Alton^rstr. 36. - Verlan Ost und West, Berlin W.8.
Druck von Haasenstein & Vogler A. O., Berlin S. 42, wasserthorstr. 50.
ILLUSTRIERTE MONATSSCHRIFT
FÜR DAS GESAMTE JUDENTUM
Herausgegeben und redigiert
von
LEO WINZ.
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Alle Rechte vorbehalten.
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Heft 3. März 1907. TIL Jahrg.
DER KOLLEKTANT.
Von Charles L. Hallgarten (Frankfurt a. M.).
Nacbdnick verboten.
Vor einiger Zeit empfii^ ich einen Brief nach-
stehenden Inhaltes:
„Bei den Vereinen, bei denen Sie und
Ihre Frennde an der Spitze stehen, sollten
Sie doch dahin wirken, dass folgender Missstand
grBndlich beseitigt werde: Durch Trägheit oder
Indolenz der Colporteure oder deren mangelhafte
Instruktion werden die Sammellisten immer und
immer wieder nur einer beschränkten Anzahl von
Leuten vorgelegt, von denen man weiss, dass sie
geben, während die weitaus grössere Zahl unserer
Mitbürger, die sich in Verhältnissen befindet,
die ihr das Geben ebenfalls erlauben (ich meine
nämlich den Mittelstand), ganz und gar unbehelligt
bleibt. — Viele davon brauchten nur aus dem In-
differentismus au%erüttelt zu werden, um an den
humanitären Werken aktiv teilzunehmen. Ich glaube
hier nach allen Seiten eine dankenswerte Anregung
gegeben zu haben. ^
Ich möchte nun das bewährte Mittel der
Öffentlichkeit erproben, um eine „dankenswerte
Anregung" zu geben, wie man den Indif-
ferentismus im Spendengeben aufrütteln könne.
Dass die KoUektanten immer an denselben Türen
anklopfen, ist doch sehr begreiflich. Zunächst
werden sie sich stets an die wenden, von
denen sie etwas zu erwarten haben. Daneben
machen sie auch viele erfolglose Oänge, und mein
Korrespondent weiss nicht, wie oft der Kollektant
abgewiesen wird. — Dieser lässt sich die Mühe
nicht verdriessen, besucht auch solche wieder, die
ihm schon einmal eine Gabe verweigert haben,
imd verfolgt jede Spur, um möglichst neue Kunden
zu erwerben. — Es ist sein (Geschäft, und da er
von der Kollekte Prozente erhält, so giebt er sich
schon im eigepen Interesse die grOsste Mühe, den
Betrag seiner Kollekte durch Heranziehung neuer
Geber zu vermehren.
Dass der Kollekta^nt denen, an die er sich
wendet, Moral predige,« sie an ihre Pflicht mahne,
das ist wohl kaum von ihm zu erwarten. Einem
jeden ist auch schon so oft gepredigt worden,
Geben sei seliger denn Nehmen, dass diese Wahrheit
einer eigenen Propaganda kaum noch bedarf. Und
die Aufgabe der KoUektanten kann es sicherlich
nicht sein, die Gewissen zu erwecken, die sich
solchen Lehren verschliessen. Dass er kommt und
wieder kommt, das wirkt ohne Zweifel bei einigen ;
denn steter Tropfen höhlt den Stein. — Allein eine
würdige Aufgabe wäre es, die Menschen zum
Geben zu erziehen. Einer der grössten Philan-
thropen in New-York wirkt seit den letzten Jahren '
mit aller Macht nach dieser Blchtung, da er erkannt
hat, dass die Erziehung zum Geben ebenso eine
Pflicht ist, wie das Selbstgeben. Am meisten
wirkt er durch sein Beispiel, und die Erfolge, die
er erzielt, sind auch wohl zumeist dem Beispiel,
das er gibt, zu verdanken, wenn sie auch ver-
hältnismässig gering sind. Der Ereis der Geber
ist überall klein, und auch für Frankfurt
stimmt, was mir erst kürzlich ein geistreicher
Philanthrop in Paris gesagt hat: „Ce sont toujours
les memes qui se fönt tuer."
In einem Punkte hat mein Korrespondent
Unrecht. Er will, dass der Kollektant sich an den
Mittelstand wende, an den „armen" Mittelstand,
147
Charles L. Hallgarten, Frankfurt a. M. : Der Kollektant.
148
dessen sich heute so viele politische Parteien an-
nehmen. Eh^r mochte ich betonen, mftsste man
sich noch weit dringlicher an die vielen Reichen
wenden, die geben können, aber nicht geben
wollen. Wie oft hört man nachgerade in
diesen Kreisen die Worte: „Ich gebe prin-
zipiell nichts!" In Encland besteht die Sitte,
dass die Geistlichen einmal im Jahre einen charity
sermon (Wohltätigkeitspredigt) halten. Der geist-
reiche Dean Swift hielt einst eine solche Predigt
mit den wenigen Worten : „He who gives to the poor
lends to the Lord. If you'like the secnrity, down
with the dust" (wer dem Armen gibt, leihet dem
Herrn. Wenn Euch die Sicherheit genügend erscheint,
heraus mit dem Plunder!) und verliess die Kanzel.
Das ist ungefähr das Gleiche, was der Kollektant
zu bieten hat, wenn er seine Sammelliste vorlegt.
Durch lange Reden, durch persönliche Einwirkung
kann er nichts erreichen. Wie oft, wenn ich selbst
sammeln sollte, habe ich an die Worte gedacht,
die Bulwer sei^ßm Schauspiel „Money" als Motto
vorangesetzt hat:
,/T is a very fihe world that we live in
To lend or to spend or to give in;
But to heg or to borrow or get a mans* own
'T is the very worst world that ever was known."
„'S ist 'ne schöne Welt, in der wir leben,
Zum Verleihn, zum Schenken, zum Geldausgeben;
Doch zum Bettehi, zum Borgen, zum Fordern von Geld —
Da ist es eine abscheuliche Welt!"
EINIGES ÜBER DEN GESCHICHTLICHEN BEGRIFF DES AMHAAREZ.
Von Dr* Max Steif;
Nachdruck verboten.
Gibt es SO bald ein zweites Volk wie das
jüdische, das sein neu erlangtes Volkstum vor allem
dadurch bekundet, dass es am Sinai Lehren und
Gebote entgegengenommen? Findet sich so leicht
ein zweiter Volksführer wie Mose, der, anstatt
das ihm anvertraute Volk zuallererst mit den Regeln
der Kriegskunst vertraut zu machen, es kampf-
bereit und sclilagfertig zu halten gegen die Unzahl
von Feinden, die es rings umlauerte, „vom Morgen
bis Abend ^ unermddlich tätig ist, es auszurüsten
mit den Waffen des Geistes und des Wissens?
Wahrlich, da ist es keine Uebertreibung, wenn von
Israel gesagt wird, dass es allein ein „weises und
verständiges Volk" genannt zu werden verdiene.
Und wenn wir finden, wie später aller Tadel und
aller Hohn der Propheten sich zumeist dagegen ge-
richtet, weil das Volk dieses Wissen geringzu-
schätzen begann, wenn wir erfahren, dass es wieder
ein grosser Schriftgelehrter, Esra, gewesen, an
dessen Namen sich die Neugründung des zweiten
jüdischen Staatswesens knüpfte, dann wird man zu-
freben müssen, dass das Wissen nirgends eine solche
Wertschätzung gefunden, wie innerhalb des jüdi-
schen Volkes. — Bildung und Wissen war zumeist
allein entscheidend für den Rang, den jemand im
alten Israel und auch späterhin eingenommen, und
nichts mag hierfür bezeichnender sein als jene
talmudi^che Entsclieidung, derzufolge einem Rastard
der Vorrang selbst vor dem Hoiiepriester gebühre, wo-
fern jener diesen an Bildung überrage. (Horioth 13a).
Die Tatsache von der holten Wertschätzung
des Wissens und die Geringschätzung der Un-
bildung ist also schon in eine sehr frühe Zeit zu-
rückzudatieren. Etwas anderes ist es hingegen
mit den verschiedenerlei hebräischen Bezeichnungen
für den Gebildeten und Ungebildeten; namentlich
hat jenes Wort, das wie kein zweites den
Ignoranten im jüdischen Wissen kennzeichnet,
das Wort Amhaarez, seme besondere Geschichte,
die darlegen kann, wie Worte ursprünglich ganz
harmloser Natur im Laufe der Zeit zu einer omi-
nösen Nebenbedeutung gelangen.
Wortwörtlich nichts anderes als jj,Volk des
Landes" bezeiclmend, erscheint der Amhaarez
neben dieser Ursprungsbedeutung schon in der
Bibel als eine besondere Klasse von Leuten, als
misera plebs contribuens, oder als der gewöhnliche
Mann idiotes, im Gegensatze zu dem eine Würde
oder ein Amt Bekleidenden (vgl. III. B. M. 4, 27,
Ez. 33, 2). Hier involviert diese Bezeichnung noch
lange nicht die Bedeutung des Unwissenden, denn
in der Bibel finden sich hierfür eine Reihe anderer
Ausdrücke, wie z. B. isch-baar (4, 92, 7) kethil,
pethi (Spr. I. 5, 22, VII. 6 u, a. m.) vor. —
Die Entwicklung des Städtewesens zur Zeit
des zweiten Tempels hatte mehr als früher, wo der
Staat im ganzen und grossen ein ackerbautrei-
bender gewesen, in der Landbevölkerung eine be-
sonders differenzierte Klasse geschaffen, der in
dem damaligen Schrifttum die Gesamtbezeichnung
Amhaarez beigelegt wurde. Nichts wäre nun natür-
licher gewesen, als dass infolge der Entfernung
vom Zentrum der Gesetzesforschung eine immer
mehr Überhandnehmende Unwissenheit bei diesem
Amhaarez hätte Platz greifen müssen. Und doch
geht aus den, auch diese Zeit Verhältnisse schon
berührenden Mischnahangaben so viel hervor, dass das
charakteristische Merkmal des Amhaarez keines-
wegs völlige Unkenntnis des Gesetzes gewesen,
sondern nur eine laxere Beobachtung gewisser reli-
giöser Vorschriften, namentlich ein leichtfertiges Sich-
hinwegsetzen über gewisse zu leistende Abgaben,
Zehnten, und schliesslich eine geringere Observanz
der auch in bestimmten Laienkreisen oft streng
eingehaltenen levitischen Reinheitsgesetze. Dies
hatte zur Folge, dass sich nach und nach streng
abgeschlossene Vereinigungen Gleichgesinnter, sog.
„Genossenschaften" (Chaberim), herausbildeten.
149
Dr. Max Steif: Einiges über den geschichtlichen Begriff des Amhaarez.
150
die, wenn auch ihrem eigentlichen Wesen und
ihrer Bedeutung nach bis heute unerkannt, sich
gerade die Pflege der von dem Amhaarez. so sehr
vernachlässigten religiösen Bräuche zur Aufgabe
stellten und behufs ihrer besseren Einhaltung
jeden engeren Verkehr mit dem Amhaarez ver-
pönten. Wohl hat in jtlngster Zeit Professor
Dr. Bttchler (der galiläische Amhaarez des 2. Jahr-
hunderts, Xlll. Jahresberichts der isr. theol. Lehr-
anstalt in Wien 1906) in instruktiver Weise den
Nachweis geführt, dass es sich hier um eine spe-
zielle Menschenklasse, um den Köhen- Amhaarez
in Galiläa und ebenso in seinem Widerpart um den
Chaber-Köhen handle; aber so grosse Wahrschein-
lichkeit diese Hypothese in sich schliesst, sie be-
weist nicht, dass die Nichtbeobachtung der Rein-
heitsgesetze gerade aus purer Ignoranz geschah.
Denn wenn es dem Amhaarez durchaus nicht be-
nommen war, durch blosse Uebeinahme der Pflich-
ten jener Genossenschaft selbst gleichfalls ein
Chaber zu werden (Toss. Demai II, 3), so lässt
sich daraus der Schluss ziehen, dass er in allen
übrigen Dingen, mithin auch in der Gesetzeskenntnis,
nicht weit hinter dem Chaber zurükstand. Es war
also, wie gesagt, mehr sein un frommer Lebens-
wandel, der Anstoss erregte, ein Vorurteil, das der
Amhaarez schwer zu bannen vermochte, dessen Nach-
barschaft darum selbst bei äusserem frommen Gehaben
man womöglich meiden sollte. (Sabbat 63 a). Denn
so lautet ein alter Ausspruch der Mischnah (Pirke
Aboth II, 5): kein Amhaarez kann ein Chassid
sein. Vielleicht ist indessen in diesem Satze eine
versteckte Spitze gegen die Sekte der Essäer zu
suchen, die, wie bekannt, zumeist in Dörfern
lebten und wahre Frömmigkeit einzig in dem völligen
Zurückziehen von dem lauten Treiben der Städte
wie in asketischen Uebungen erblickten. Noch
mehr wäre dies aus einer anderen Stelle ersicht-
lich (Pirke Aboth V, 10), die es als Merkmal des
Amhaarez bezeichnet, es im Munde zu führen: was
mir gehört, gehört dir, und was dir gehört, gehört
mir — ein Grundsatz, der in der Gütergemein-
schaft der Essäer seinen prägnanten Ausdruck
fand. — Auch im Tahnud findet sich eine ganze
Reihe verschiedener Ansichten, denen zufolge der
Amhaarez alles andere denn als Ungelehrter gelten
kann. Da meint beispielsweise R. Elieser (Bera-
chot 47 b), der wäre ein Amhaarez zu nennen,
der nicht täglich früh und abends das Sch'ma
spreche; ein anderer, R. Josna: der keine Gebet-
riemen anlege; ein dritter, Ben Asai: der keine
Schaufäden trage; ein vierter: der seine Kinder
ohneThorakenntnis heranwachsen lasse; und schliess-
lich ein fünfter: der wohl selbst die Lehre
studiere, sich aber im praktischen Leben nicht
den Bestimmungen — der Lehrer füge. Nament-
lich aus dieser letzten Ansicht ginge klar und
deutlich hervor, dass auch zu Beginn des talmudi-
schen Zeitalters der Begriff Amhaarez mit dem des
Unwissenden noch nicht identisch war. Und wenn
auch die Bedeutung der „Bote-Kenessioth" der
Amhaarez (Aboth III, 4) als Lehrhäuser noch
nicht so fest steht, wie manche annehmen, so gibt
es auch noch andere Stellen, die uns vom gelehrten
Amhaarez erzählen, deren Unterweisung ein Chaber
aufgesucht (Toss. Demai 11, 8, vgl. dagegen Büch-
lers Jahresbericht S. 181, Note 3), oder von solchen,
denen man gewisse Streitfälle, freilich nicht ohne
Verwahrung einiger Schriftgelehrten, vorlegte
(Gittin 88 b). Was hingegen gerade um diese
Zeit zutage tritt, ist die keineswegs wohlwollende,
ja mitunter direkt feindselige und hasserftillte Ge-
sinnung, die von Seiten des Amhaarez dem Ge-
lehrtenstande und umgekehrt von diesem dem
Amhaarez entgegengebracht wurde. Gewisse Forscher
über die Entstehungszeit des Christentums, wie
Schürer, haben in diesem Gegensatz eine Bestä-
tigung jener gespannten Beziehungen finden wollen,
wie sie die Evangelien als zwischen den Pharisäern
und den ersten Anhängern der christlichen Lehre
bestehend schildern, und haben darum dem Amhaarez
ihre besonderen Sympathien zugewandt Auch
Priedländer (Religiöse Bewegungen innerhalb des
Judentums im Zeitalter Jesu, Berlin, Georg Rehner
1905) wandelt zum Teil in ihren Spuren, und
erklärt sich zu der Ansicht, dass namentlich seit
den Makkabäersiegen ein grosser Teil der Volks-
masse, der sog. Amhaarez, beeinflusst durch den
hellenistisch universalistischen Geist, dem die sog.
Weisheitslehrer in den Apokryphen und sonstigen
apokalyptischen Schriften Ausdruck verliehen, sich
in einen unüberbrückbaren Gegensatz zu den Pha-
lisäem d. h. den gesetzestreuen und nationalistisch
Gesinnten im Volke stellte und infolgedessen von
diesen verachtet, gehasst und verfolgt wurde. Aber
zugegeben, dass der Einfluss der apokalyptischen
Weisheitsschriften auf einen Bruchteil des jüdischen
Volkes von einiger Bedeutung gewesen, es will
doch nicht recht einleuchten, dass einzig aus dem
Grunde und weil „die Pharisäer ihm schwere und
unerträgliche (?) Bürden auf den Hals legen wollten"
(S. 88) er vom „unversöhnlichsten Hass** gegen
diese erfüllt worden und darum mit den schärfsten
Waffen sie bekämpfte. — Um diesen klaffenden
Gegensatz zwischen beiden zu verstehen, muss man
sich vielmehr jene Zustände vergegenwärtigen, wie
sie knapp vor dem Untergang des zweiten jüdischen
Staatswesens geherrscht haben: Die immer mehr
zunehmende Kriegsnot hatte nämlich zu jener Zeit
die Landbevölkerung, die zuerst dem Vor-
dringen der Römer weichen musste, in grossen
Massen nach Jerusalem getrieben, und wie selbst-
verständlich waren diese Desperados, die ihr Hab
und Gut eingebüsst und darum nichts mehr zu
verlieren hatten, Anhänger derer unter den
verschiedenen Parteien geworden, für den
äussersten Widerstand gegen den verhassten Römer,
für den Kampf bis zum letzten Atemzuge waren. —
Dieser gegenüber stand die sog. Friadenspartei,
die bei der Aussichtslosigkeit jeden Widerstandes
für einen friedlichen Vergleich, selbst mit Ver-
lust staatlicher Selbständigkeit, eintraten. Es
ist bekannt, dass zu dieser Partei auch einfluss-
reiche Gesetzeslehrer, darunter nicht in letzter Linie
151
Dr. Max Steif: ' Einiges über den geschichtlichen B^iff des Amhaarez.
152
R. Jochanan b. Sakkai, zählten. Als dann in der
Tat das Unvermeidliche eingetreten, das Heiligtum
und Jerusalem eingeäschert worden, und man die
Gesetzeslehrer ruhig, als ob sich nichts geändert
hätte, im Lehrhaus zu Jabneh ihren Studien ob-
liegeti sah, da sammelte sich in den Patrioten,
zu denen eben jene Landbevölkerung das grösste
Kontingent stellte, ein versteckter Groll gegen die,
die man jetzt nachträglich als feige Verräter an-
sehen musste, als Egoisten, die nur an sich selbst
und nicht an das allgemeine Wohl gedacht. — Es
war also ursprünglich mehr ein Hass aus politi-
scher Gegensätzlichkeit, der noch nicht jede Hoff-
nung auf Wiedervergeltung aufgegeben, und, weil
diese bei den führenden Geistern auf so wenig
Teilnahme stiess, naturgemäss sich steigern musste.
(Vgl. Rosenthal. Vier apokryphiscbe Schriften.
S. 25). Nur so lassen sich jene Stellen im Talmud
verstehen, wo beispielsweise ein R. Akiba, ein
Mann, durchglüht von nationaler Gesinnung, er-
klärte: als ich noch ein Amhaarez gewesen, da
hasste ich die Gelehrten so sehr, dass ich sie hätte
in Stücke reissen mögen. (Pess. 4:3b). Oder: wenn
sie ubser nicht bedürfen würden, würden sie (die
Amhaarez) uns ohne weiteres ermorden. (Meg. 28 a).
Später geriet die eigentliche Ursache nach und
nach in Vergessenheit, während die feindselige Ge-
sinnung selbst von Zeit zu Zeit immer wieder
hervortrat. Da stellte man es dann als eine Schande
hin, an Gastgelagen in Gesellschaft eines Amhaarez
\ teilzunehmen (Berachoth 43 b), widerriet auf das
energischste, seine Tochter einem Amhaarez zur
Frau zu geben (Pess. 43 b), untersagte es, ihm Heil-
mittel zu verabfolgen (Sota 43 a), und ächtete ihn
für die Gerichtsbarkeit der Synagoge wie des Lehr-
hauses. — Was aus allen diesen Fällen für uns
hervorgeht, ist, dass, mag auch bei dem Amhaarez
dieser Zeit keine hervorragende oder nur geringe
Gesetzeskenntnis gefanden werden, er damals
dennoch noch nicht als das Prototyp der Unwissen-
heit gegolten.
Erst folgende, einer etwas späteren Zeit ent-
stammende Anekdote Hesse erkennen, dass unter
dem Amhaarez auch der Unwissende und Unge-
bildete verstanden wurde. Tn Baba Bathra 8 a
wird uns von Rabbi, dem Redaktor der Mischnah,
erzählt, er habe während emer Hungersnot seine
eigenen Getreidekammem für den allgemeinen Be-
darf geöffnet, jedoch mit dem Vorbehalt, dass nur
der Zutritt haben sollte, der genügend Bescheid
wisse, sei es in Bibel, Mischnah oder Agada; hin-
gegen sollte ein Amhaarez unerbittlich zurückge-
wiesen werden. Man kennt es, wie dabei Rabbi
der Missgriff unterläuft, einen seiner besten Schüler,
R. Jonathan Sohn Amrams, der es verschmälit,
solchermassen Vorteil aus seinem Wissen zu ziehen,
abzuweisen, und, später von seinem Sohn über den
Irrtum aufgeklärt, seine harte Verfügung zurück-
gezogen. — Von dieser Zeit behält der Amhaarez
diese seine geringschätzige Nebenbedeutung bei,
in welchem Sinne wir ihm auch in den babylo-
nischen Lehrhäusem begegnen. Merkwürdiger-
weise war auch dort in Babylonien, wenngleich
aus anderer Ursache und bei weitem nicht so ge-
hässiger* Natur, das Verhältnis zwischen Amhaarez
und Gelehrten ebenfalls zeitweilig gespannt.
Weil nämlich diese hier eine Art Patrizier-
kaste bildeten, „die ihre eigenen Interessen gegen-
seitig schützten und wahrten**, sich z. B. das Pri-
vilegium einräumten, ihre Produkte am Markte
zuerst vor den Uebrigen verkaufen zu dürfen, um
einen höheren Preis zu erzielen, erregten sie ge-
legentlichen Spott seitens des Amhaarez gegen sich,
die zuweilen in wegwerfendem Tone „von diesen
Gelehrten da*' redeten. Man konnte Aeusser-
ungen vernehmen wie: „was nützen uns diese Ge-
lehrten, sie treiben die Gelehrsamkeit nur zu ihrem
eigenen Vorteil**. Oder: „Wozu brauchen wir diese
Gelehrten, sie können uns weder Raben erlauben,
noch Tauben verbieten.** (Synhedrin 9 ® b). Dr.Ham-
burß:er will hier die Spuren einer dem Karäertum
vorausgegangenen Richtung erblicken; vgl. Winter
und Wünsche II, S. 68). — Doch dauerte dieses
unleidliche Verhältnis keineswegs lange. Der Adel
der Gesinnung, die leuchtenden Charaktereigen-
schaften der meisten Gelehrten Hess ba)d alle ohne
Unterschied mit vollster Ehrerbietung zu ihnen
emporschauen. Und es darf mehr als eine blosse
Redensart gelten, wenn es an einer Stelle im Talmud
heisst: Der Gelehrte erscheint in den Augen des
Amhaarez gleich einem goldenen Gefäss (Synh. 52 a).
Freilich unterlässt die Stelle nicht, sofort hinzu-
zufügen: Wenn er sich allzuviel mit ihm abgibt,
dann wird er gleich einem silbernen Gefäss ange-
sehen, und zieht der Gelehrte gar irgend einen
Vorteil von dem Amhaarez, dann sinkt er bei ihm
zum irdenen Gefäss herab.
Mit der Zeit wich hier wie dort die früher
so feindselige Gesinnung zwischen beiden einer zu-
sehends freundschaftlichen Annäherung, wovon
neben anderen folgender Satz (Baba mezia 85 a)
zeugen kann: Wer den Sohn eines Amhaarez Thora
lehrt, dem zu Liebe hebt Gott selbst ein schweres
Verhängnis auf. Ebenso verlangten es Männer
wie z. B. R. Seira, dass man dem Amhaarez nur
freundlich und wohlwollend entgegenkommen möge,
denn dadurch erfahre die Lehre selbst eine För-
derung, indem jene dann ihre Söhne zu Gelehrten
erziehen. — Auch gewisse Vorrechte, früher nur den
Gelehrten eingeräumt, wurden ihnen jetzt gleichfalls
bereitwilligst zugestanden: bei Gericht wies mm
ihnen ebenso wie den Gelehrten einen Platz zum
Sitzen an (Schebuoth 30 b), und bei voreilig ge-
leisteten Gelübden wurden die früher gegen sie
erlassenen Erschwerungen aufgehoben (Nedarim 20 a).
Auf besondere Veranlassung eines Gesetzeslehrers,
Resch-Lakisch, sollte sogar für das Wohl des
Amhaarez gebetet werden; denn, so meinte er, wie
der Weinstock seine Blätter nötig hätte, so seien auch
die Gelehrten auf jene angewiesen. (Chullin 92 a).
In der Tat erreichte ein solches Entgegenkommen
bald, dass sich namentlich am Sabbat das Lehrhaus
mit ihnen füllte, woselbst sie andächtig den popu-
lären Lehrvorträgen lauschten. — Ein Vertrauen
153
Dr. Max Steif: Einiges über den geschichtlichen Begriff des Amhaarez.
154
freilieh besonderer Art, das dem Amhaarez ent-
gegengebracht wurde, Hesse sich aus dem Rat-
schlage ersehen, den man dem Gelehrten gab, sich
bei der Brautschau einen Amhaarez als Berater
mitzunehmen, damit ihm, dem Gelehrten, viellßicht
bei seiner vom Vielwissen herrührenden Zerstreut-
heit (also schon damals gab es den Typus des zer-
streuten Professors!) bei der Hochzeit keine andere
an Stelle seiner Auserwählten unterschoben werde.
(Baba bathra 168a). So gut sich indessen der
Amhaarez auf die Frauen im Allgemeinen verstehe,
so sei damit noch nicht ausgeschlossen, dass er selbst
eine Art Pantoffelheld sei, wie dies (Berachoth 61a)
an der historischen Figur des Monauah, des Vaters
Simsons, und in dem Mann der Prophetin Deborah
(Tana debe Elia rabba IX) nachgewiesen wird.
Was die nachtalmudische Zeit betrifft, so
wechselt jetzt die Anschauung bezüglich des
Amhaarez wohl nicht mehr dem Wesen, sondern
höchstens dem Grade nach, wie. ja auch das
Prädikat eines Gelehrten in den verschiedenen Zeit-
läufen eine verschiedene Schätzung erfuhr. Aus
den jeweiligen Anforderungen, die an den Gebildeten
gestellt wurden, lässt sich nun unschwer der Rück-
schluss ziehen, wer damals als Amhaarez betrachtet
wurde. In der spanischen Blütezeit bis Maimonides
(gest. 1204) hiess hauptsächlich der gelehrt, der
neben dem Talmud auch in den profanen Wissen-
schaften wie Grammatik, Poetik, Philosophie,
Mathematfe, Astronomie und Medizin bewandert
war. (vergl. Buch Heilung der Seelen von R. Josef
C. Juda, Aknin, 12. Jahrhundert.) Von Interesse
ist hier ein Schreiben des grossen- Maimonides an
einen gewissen Josef ben Gaber in Bagdad, der
sich selbst anklagte, em Amhaarez zu sein, „weil
er nur den arabisch geschriebenen Commentar
Maimimis zur Mischnah aber nicht den hebräisch
abgefassten „Jad hachasaka" zu lesen vermöge",
worauf ihn jener beruhigt, sich deswegen noch
keineswegs für einen Amhaarez zu betrachten,
sondern weiterhin als seinen „geliebten Schüler";
„denn ein jeder sei es, wer auch nur einen Vers
oder eine Halacha zu lernen wünsche.*'
Eine wissensfeindliche Strömung tritt in der
nachmaimunischen Zeit ein, und man gilt schon für
gelehrt, wenn man in den verschlungenen Gängen
des Talmud bewandert ist. Selbst Unwissenheit
in der Grammatik tut dem Ehrennamen eines
Gelehrten keinerlei Abbruch, „denn alle die, die
sich geistig beschäftigen, haben ein^ Abneigung
gegen die Grammatik", wie Profiat Duran in seinem
Maasse Efod (1391) nicht ohne gewissen Spott
bemerkt. Noch weniger wurde von ihnen Metrik
oder elegante Diktion verlangt, und es erschien
mibep^reiflich, wieso man in früheren Zeiten dies
als Bedingung für den Namen eines Gelehrten habe
aufstellen können, (vgl. Güdemann, Geschichte des
Erziehungswesens in Spanien Note 1). Konnte es
sonach Wunder nehmen, wenn man jetzt den als
einen Amhaarez hinstellte, der, mochte er auch in
allen übrigen Wissenschaften zu Hausq sein, das
talnradische Studium vernachlässigte, und wenn in
emem Brief Alfachars (13. Jahrhundert) religions-
philosophische Werke als Fabeleien bezeichnet
wurden, gut genug für den Amhaarez? So wurde
nach und nach die Kenntnis des Talmud und der
verschiedenen Dezisoren allein zum ausschlaggebenden
Moment für den Titel eines Gelehrten, und je mehr
die ganze nun kommende Zeitrichtung dahm ging,
jede ein2elne Lebensäusserung der religiösen Norm
unterzustellen, desto häufiger traf den der Vorwurf
der Unbildung, der sich hier auch nur die geringste
Blosse gab. Da wird in einem Besponsum des
R. Isak b. Schescheth (zuletzt Rabbiner in Algier
gefl. 1^8) an Chajim Galipaa über die grosse
Masse von Amehaarez geklagt, die sich damit
begnügen, bloss am ersten Abend des Laubhütten-
festes den Kidduschspruch in einer Sukkah zu beten
oder von andern zu hören, und sonst während des
ganzen übrigen Festes ausserhalb der Laubhütte
zu speisen. Ein vielleicht zu dunkel gehaltenes
Büd der Zustände seiner Zeit entwirft uns Salomo
Alämi um die Mitte des 15. Jahrhunderts in seinem
Iggereth Mnssar: Am allerschlimmsten aber ist es,
dass es heute leichtfertige Buben ^bt, die nicht
einmal auf eine gründliche Bildung hinweisen können
und nur auf grund einiger Brocken griechisch,
die sie sich angeeignet, sich unterfangen, die
jüdische Üeberlieferung zu verhöhnen und die Gebote
verächtlich zu machen. Es trägt dies am meisten
dazu bei, dass die grosse Masse die jüdische
Wissenschaft verachtet und. sich von ihr abwendet.
Versammelt man sich, um einen Vortrag zu hören, so
schlummern die Vornehmen, die Andern unterhalten
sich laut und stören den Redner durch ihr ungezogenes
Geräusch." — Bekannt ist ferner, dass sich R.
Meir b. Baruch Halevi (um 1375) veranlasst sah,
den Morenutitel für den rabbinische Funktionen
Ausübenden einzuführen, weil um diese Zeit der
traurigen äusseren Verhältnisse in Deutschland
und Oestereich ein arger Rückgang im Talmud-
studium eingetreten war, und Unberufene oder
Halbwisser aus Mangel an besseren Kräften die
Stellung von Rabbinern einnahmen, (vgl. Grätz Vlll.
S. 16.). Und wenn gelegentlich in früherer Zeit
Samuel Hanagid seinen Spott in einer Satyre über
die ausgegossen, die sich unrechtmässig als
Gelehrte ausgaben, „als wenn Schaufäsen, langer
Bart und Hut den Mann zum Lehrhaus-Meister
machten," so wendet sich R. Meir Eisenstadt (st.
1744) in einem Responsura (II. 152.) gegen die Un-
würdigen, die mit Geld ihre hohen Stellungen er-
kaufen, und gleich bei deren Antritt sich in weisse
Gewänder kleiden, als würden sie jenen heiligen
Männern früherer Zeiten gleichen, die sich voll
inniger Glaubens wärme darein hüllten."
Aber mochte auch der Amhaarez seines geringen
jüdischen Wissens halber für sozial minderwertig^
betrachtet und darum zumeist von den verschie-
denerlei Ehrenstellen ausgeschlossen bleiben (vgl.
Resp. des R. Menachem Krochmal 1648 Landes-
rabbiner von Nikolsburg), mochte ihm seit jeher
(Derech-Erez sutta 9. Jhrdt.) mit mehr oder minder
Berechtigung jedes bessere Gefühl für Anstand
Dr. Max Steif: Einiges über den geschichtlichen Begriff des Arahaarez.
und Sitte abgesprochen werden, er hat doch zu
allen ZeiteD hoch Ober dem UDgebüdetea der ausser-
judischen Kreise gestanden. In den Tagen dunkelsten
Mittelalters, wo es mitunter selbst Fürsten nicht
unerhebliche Mühe verursachte, den eigenen Namen
zu unterfertigen, hat der Amhaarez im engen Ghetto
in hebräischen Lettern leseb und sclireiben
gekonnt. Es gab auch eine besondere Am-
haarezliteratur, d. h. Werke in jüdisch-deutscher
Uundart für Ungelehrte, Frauen und Kinder.
Hierher gehörte unter anderem der Josippon
(entstanden im 10. Jhrdt. in Italien), eine
verschlechterte volkstllraliche Bearbeitung des
Josephus Flavius, später das im Anfang des
17. Jahrhunderts entstandene Deutsch -Chnmesch,
Zeen^-Reenah von Jacob b- Isak Janow ans
Polen, euie populäre Bibelerklärung, untermischt
mit zahlreichen talmudischen Sagen und Legenden.
Aber auch eine ganze Beihe ausserjudischer
Dichtungen und Erzählungen fand auf eigenartigen
Umwegen in diesen Teil jüdisclier Literatur
Eingang, so dass man nicht ohne gewisse Be-
rechtigung behaupten darf, dass der Amhaarez
indirekt zum Pfleger nnd Erhalter mancher schon für
verloren gehaltenen deutscher Literaturerzeugnisae
geworden ist.
HENRYK GLICENSTEIN.
Von Piero Jacchia (Rom). Nichdmck veibown.
üeuryk GlicensteiD, über deu wir oachfolgeod den ongluckliclie Hand den Sockel omgeben hat. Auch die
Artikel eines hervorragenden römiBcheu Publizisten Ter- fremden Beschaaer ringsiun haben wir vergesseu; das
öftbntlicben, ist den Leaem dieses Blati»s kein neuer Ilame. äleicbgültige der Welt rauscht irgendwo in der Feme.
Sie kennen die merkwürdigu OescMchte seines Lebens. Wir Wo Religion ist, da w61bt sieb das Gottesbaas. Gleich-
wohl mSchteu wir dem Werk
am liebsten in der geheim-
halten es wiederholt unter-
nommen, durch Reproduk-
tionen eine Anschaunng
seiner Ennst zu vermitteln.
Aber heute, wo wir den
Werken des jnngen Meisters
im Eunstealon Schalte selbst
gegenüberstehen, glauben
wir ihm snm ersten Hate zu
begegnen. Welche pboto-
graphische Nachbildung
wäre auch im Stande, einen
Begriff von der Grösse dieses
Schlafenden Messias zn
geben, von der Wucht und
EoloBsalität seiner aber-
meuschlichen Formen. Das
merkwürdige dabei ist, dass
dieser Eindruck des ganz
Ungebenren nicht durch
besonders überraschende
Dimensionen hervurgerufen
wird; wie an der Sphinx,
die sich io einem der Nacfa-
barsäle befindet, machen wir
die Erfahrung, dass Grässo
eine innere Eigenschaft ist.
Wir begegnen zuweilen Selbstportrait.
Bildwerken von ungeheuren (Zerchnun«)
Maassen, und sie wirken
klein; und hier haben wir anderthalb der natürlichen Grösse,
und die Illusion des Ueberweltlichen wird erzeugt. Eine
Tempelstille umgibt dieses religiöse Bildwerk, religiös iu
einem neuen Sinne. Was kümmert uns die bemalte Lein-
wand an den Wänden, das grüne Gestrüpp, mit dem eine
HENRYK OI.iCENSTEIN
nisvollen Tiefe eines Grab-
gewölbes oder auf der freien
Weit» des Gottesackers be-
gegnen. — Viel stärker leidet
unter den unglücklichen
Banmverbältniseen der Bar
Eochb a, das andere Haupt-
werk Glicenst<nns. EinSprin-
ger braucht Raum vor sich,
ein Bildwerk von heroischen
Formen einen erhabenen
Standpunkt; hier ruht es anl
einer umgestürzten, flachen
und schmalen, nicht einmal
verkleideten Eiste, eigentlich
ein wenig schamlos ange-
stellt; eingezwängt zwischen
Plastiken von zum Teil ent-
motigendem Dilettantismus,
im Bücken eine Treppe, vor
den Füssen der Eingang
tarn Kacbbarsaal. Es hat
übrigens seinen Beiz, die
kleine Treppe hinter der
Figur hinabzusteigen und
die federnde Eraft und gio-
'"«■) sammelte Energie des zu
Sprang und Schlag in Einem
Ausholenden (die Midraschstolie lautet: er springt auf
eine Ueile und schlägt auf eine Meile) an dem Muskel-
spiel iji'ür Bein und Bücken za geniessen. Bekannt,
und do>h nicht bekannt aus der Abbildung ist uns der
Jüngling: mit dem Stab über der Schulter (bei Schalte
Piero Jacchia, Rom: Hentyk Olicenslein.
158
al* OedipOB bezviclinet), den der König tob Italien
anf der rSmischen laternationaleii AtuptellaBg 1906 er-
woiboo hat; der zu gerade Stab Ton damals, der in
Broms fast den Kindrack einee Speeres machte, ist
mittlerweile durch einen echten krummen Stecken oder
Knoti^astock,
i^endwo auf
der Wander-
schaft an
einem Erenz-
dom abge-
schnitten, er-
setzt worden.
Aach die rüh-
rende Fignr
der kleinen,
in ihrer Ver-
laasenheit
eingeschlafe-
nenMando-
linistin ha-
ben wir&fiber
abzubilden
gesucht; wie-
der mtiBsen
wir sagen:
welche Ee-
produktion
kann eine
VorBtelluDg
Ton dem Li-
nienspiel nnd
der lieblichen
Traner diese
Gestalt ver-
schaffen'. Ab-
gösse dieses
kleinen Ju-
wels ist in
Besitz des
lirafen Stro-
ganoff in
Rom, des Ba-
rons Botfa-
Schild in Pa-
ris und an-
derer Pri-
Tater in Lon-
don, Paris,
Berlin, Leip-
zig nnd an-
derwärts. Unter den neuen Kleinbronzen bemerken wir ein
BOrschlein, das spreiibeinig auf einem Eckstein sitzt, ein
so naives StQck Leben, wie es nur auf italischem Boden und
u der göttlichen Nackheit des Südens wächst; die edle,
fast tragisch anmutende Brunnenfigur eines Wasserträgers,
der den Schlauch über der Schulter in ein nicht ange-
HENRVK GLICENSTEIN
doutetes Becken entleert; nnd eine wondersohöne weih-
liehe Brunnenfigur: ein nacktes Mädchen in schener,
spröder Balttmg sitzend, mit der Rechten fängt de die
Pülle des nach vorne flutenden Haares auf und scheint
sich zugleich gegen die Sonne zu beschirmen; der Sockel
mit den Tier
Tier- und
Mensehen-
maikes an
den Ecken,
die mit dem
Unterkiefer
in Brnnnen-
schalen Über-
gehen, ist
eine känstle-
rische Tat
Endlich die
Gruppe der
drei Vorläu-
fer der ruB-
sischen Frei-
heit, der Stu-
dent zwischen
dem Bauer
und dem Ar-
beiter. Doch
dieses Werk
bedörfte
einer eigenen
' Abhandlung.
Ein echter
Glicenstein
ist auch das
grosse Flach-
relief eine^
Narzise, ans-
serordentlich
malerisch
und reizvoll
in die Land-
schaft binein-
kom paniert;
der Knabe
träumt, auf
den Hirten-
stab gelehnt,
melancho-
lisch in den
Spiegel eines
Quells, der
durch das Hotiv des trinkenden Hundes sichtbar gemacht
wird. Von den sechs ausgestellten Bftstnn endlich mögen
die einen dem genialen Porträt Gabriele d'ÄnDnnzios den
Vorrang geben, andere der Büste des Dr. Ludwig Mond,
die ein Pariser Kritiker eine herknlamsche Ausgrabung
genannt hat; wir berorzogen gegen alles andere die
ROM.
Piero Jacchia, Rom : Henryk OlicenGtein.
HENRYK GLICENSTEIN Bar-Kochba. ROM,
(„Er IBar-Kochbal sptinüi auf eini' Meile lind schlägt nul ,:iin; .Meile.- — Midruth-Haha.)
BüBte des Dichtere HeiDzelmaon, eines slaTiBchSD rührender GeeantF vom Menschen leide wirkt. — Doch
FreiheitEsäDt^ers nnd MenschenapoBtets, bo gütig, so lassen wir Jacchia das Wort. Kleine Ungeiiauigkeiteii
kindlich, so rfihrend schwermutfoll. so schmalbrÜBtig ; des biograpbiechcn Berichts mögen wir gern übsr-
1 gross in der Form anter dem Schleier einer dunkel- sehen oder ans Eigenem ergänzen, gegenüber der leb-
Hweren Patina, dass dieses Wirk selbst wie ein haften Vergegenw&rtigiiag, die die künstlerische wie
• Piero Jacchia, Rom: Henryk Oliceiisteiil.
HENRYK 0I.ICENSTE1N Bar-Kochba. ROM.
(.Er IBir-Kochba) spriiisl auf ^Ine Meile und ^chlägi ant «Ine Meile." ~ Mldrisch-Raba.)
menschliche Persönlichkeit des jttdiachen Meisters er- lieber JahretsitzuDg am i. Mai l^OÖ Glicuuiiteiii elireiid
ftbrt. Das Bchliesslicbe Urteil fallt, wie das unsere, erwähnte für seine Arbeiten, „die sich durch bcsonileru
iQBanunen mit den Worten des Kunstreferenten tUr die Frische auszeichnen nnd bisweilen an die besten Wi'rku
Äkadtmie der Wissenschaften in Krakau, der in Teier- der italienischen Renaissauce gemahnen". U.
Piero Jaccliia, Rom: Henryk Olicenslein, '
HENRYK GLICENSTEIN
ROM.
Portraitbflste desGabriel d'Anniinzio.
^Kinst sagte
mau, daas die
Juden keiae
Be^igiiDg
zur bilden-
deo Kunst
hätten. Und
es schien
wahr, denn
neben einen
Phidias,
Parrbasius,
Michelanfielo
und Raffael
hatten sie
keinen Na-
men 7.a
Stullen. Der
Geist der
Itelisrion, der
wie bekannt
die «ichtiR-
ste Quelle der
Inspiration,
wenn nicht
der eigent-
liche Schöp-
iA- der
Künste war,
war bei ihnen
wie der Glut-
wind der
Wüste, der
die Scholle
unft^chtbar
macht, dass
keine Blume mehr dort spriessen kann. Die HeUgioni die
fast Ffthigkeiten der Juden absorbierte und ihnen
verbot, die eifernde Gottheit darzustellen, war der
Grund, dass der kUnstlerbcbe Keim niemals darch die
Bertthrnng mit anderen Knlturen befruchtet werden und
sich entwickeln konnte.
Erst in allerjUngster Zeit, Hand in Hand mit
der Anpassung der -luden an die modernen Existenz-
bedingungen, treten bei ihnen eine Reihe von Künstlern,
glänzende Namen, hervor. Russland hatte seinen
Antokolsky, Holland seinen Israels, Amerika seinen
Ezekiel, Deutschtand seinen Liebermann, Italien
seinen Arturo Rieti, in dessen Pas teil geinätden
die Besucher der derzeitigen Mailänder Ausstetiune eine
tiefe Originalität und eine suggestive Ausdruckskraft be-
wundem, und Polen endlich hatseinenHenryk Glicen-
stein, von dem ich heute den Lesern erzählen will.
Aach Henryk Glicenstein hat in Mailand einige
Arbeiten ausgestellt, vor denen das Publikum stehen
bleibt nicht wissend, ob es mehr die Technik be-
wundern oder über den philosophischen Gehalt nach-
sinnen soll. In der Btlste d' Annunzio's lebt förm-
lich die Seele des Dichters, die der Künstler ihr ein-
zuhauchen verstand. Ein grösseres Lob wüaste ich
nicht Die S p h i n \ , eine Gruppe in weissem und
schwarzem Marmor, ist weit entfernt von, der üblichen
Auffassung des udipus- Mysteriums, üeber einem zurück-
gebogenen, vielleicht schon toten menschlichen Körper
kauert ein Tier mit Tiegerleib und Frauenkopf, und
seine Krallen dringen schon in die schöne männliche
Brost. .Die Opalaugen, unter einem kühn geschwungenen
Branenpaar, starren ins Leere mit einem Ausdruck
vnischer Wildheit. Der schöne Kopf der Sphinx wie
r beiden Leiber, der Mensch in der mSden und resig-
nierten Erschöpfung des Todes, und das Ungeheuer,
eine Verkörperung des „Vae victis!" sind wunderbar
modelliert. Von dem Meisterwerk Glicensteins, der Ko-
lossatstatue des Messias, kann ich nicht sprechen ohne
vorher noch einige Worte über das Leben des Kiinatlera
zu sagen, der in diesem Gedicht von Erz den Akt seinei'
Befreiung vollendet hat.
Henryk Glicenstein ist als Sohn armer Eltern in
einem weltverlassenen, fast ausschliesslich ron -luden
bewohnten Dorf im unglücklichen Russbchpolen geboren-
Sein Vater wollte ihn zum Rabbiner machen, aber der
-lUngling, der schon in sich das Feuer des Gentes
spUrte, widersetzte sich. Gegen den väterlichen Willen
besuchte er statt der jUdisoben Schule die russische
Ortsschule, und zum Aergemis der ganzen Gemeinde
modellierte er in Ton. Er hatte noch als Kind
ohne Lehrer angefangen, aber bald fühlte er, dass er
in dieser engen and elenden Welt verkümmern müsse.
Das Leiden seiner Glaubensgenossen und des ganzen
russischen Volkes hatte ihn dann tief ergrlfTen. Er floh
aus dem Vaterhaus und unter den bärtesten Lebens-
prüfungen bereitete sich seine wahrhaft heroische Seele
vor, um ihr künstlerisches Ideal siegreich durchzusetzen.
Man muss den Künstler selbst die Geschichte seiner
-lugend erzählen hören, wie er von seiner Mission
spricht in dieseiu seinem etwas dunklen und symbolischen,
beflügelten und poetischen Stil, der an den der heiligen
Schiiften erinnert. Man muss seine Angen erglühen sehen
von lohender Flamme, seine kleine Gestalt, wie sie fast
geheimnisvoll beseelt ist,, um zu verstehen, was der Glaube
ist, und welche enorme schöpferische Kraft der besitzt.
Erst dann, wenn man an das tausendjährige Elend
des jüdischen Volkes denkt und an die feierliche
Verheissung der Propheten — denen es in aller Herren
Länder gleichen Glauben bewahrt,trotz der Verfolgungen,
HENRYK GLICENSTEIN ROM.
Portraitbüste des Pianiitcn Muzio Hanozowski,
Piero Jacchia, Rom; Henryk Glicenstdn.
di» ihoen seit Jahrhunderten widersprechen — an die
VerhMBSiinfr eines Erlösers, der Israel befreien nnd auf
Etd^n das Reich der Gerechtigkeit gründen wird, erst
daDn kann man die Knnst von Glicensteln bearteileu,
«eil man erst datin in ihr innerstes Wesen eindringt.
Glicenstein fUlilt sich als Jade in jeder innersten
Fiber: als Jade d. h. als ein Wesen, das kaam weniger
als ein Sklave yerachtet nnd von dem menschlichen
Terkehr aoagescblossen ist, weil es der Liebling Gottes
ist. Die ganze Seele seines Stammes ist aof ihn nieder-
gestiefren, gequält von seiner Angst nnd seinem Schmerz,
mit seinem Glauben, seiner Hoffnnngund seiner Erwai tang,
damit er sie hinaussinge in Strophen von Marmor nnd
Erz mit aller Wahrheit and ICr^ft seiner Verzweifiang.
Glicenstein bt ein philosophischer Bildhauer, abei-
ein Pessimist Der griisst« Teil seiner Flgaren ist
traurig. Ich weise hier nur im Flog auf die grÖ3.-<ten hin.
In der Gruppe Maternita IaI nur eine lächelnde
Figur. Die Mniter ist düster und nachdenklich im
Gesichtsausdruck, und ihr grSsster Sohn zu ihrer Seite
betrachtet auch schon das Leben ernst. Ein Orpheus,
der ermattet und weinend* über die Leier zebeugt ist,
kSnnte auch „Verzweifiang" beissen. Ein B^aTo« stellt
Kain dar, wie er im Begriff, den Körper des er-
schlagenen Abel aufzuheben, die schreckliche Erscheinung
des Todes hat, der durch sein Werk in die Welt ge-
kommen, nnd stellt die Frage: „Du bist alfo der Tod?"
Die Gruppe erinnert mich an die Worte Kalos in dem
Mystetium von Byron.
Das Mysterium ist eine kleine Statne, von der
man schwören möchte, dass sie in Tanagra wieder-
gefunden sei. Sie ist ein wahres Juwel. Ein junger
Wanderer bleibt auf seinem Wege nachdenklich vor
einer unverständlichen Erscheinung stehen.
Glicenstein ist Pessimist, auch wenn er den Hero-
ismus verewigt. Er versteht nicht den triumphierenden
Krieger darzustellen. Sein Held ist zum Untergang
bestimmt und ist sich dessen bewusst. Daher legt sich
anf sein männliches and energisches Gesicht ein kaum
bemerkbarer Schatten von Traurigkeit, llieses Werk
ist der Bar Kochba, der steh durch seine Tapfetkeit
im Kampf gegen die lUmer berUbmt gemacht hat. Er
ist dargestellt in dem Aagenblick, da er auf einen
Felsen springt, um von da seine Pfeile gegea den
Feind zu schiessen. Der Meoücb ist hier, entgegen
den Klassikern nnd allen Theorien Lessings, im
Augenblick der höchsten Kraftanstrengnng aufgenommen,
während alle seine Muskelenergie und seelische Auf-
merksamkeit auf die Tat konzentriert sind. Eine
Rötelskizze an der Wand seines Ateliers zeigt uns, wie
der Künstler den Sprung des Helden an dem des Leo-
parden studiert hatte. Die Figur hat etwas Dämonisches.
Ich übergehe der Kürze halber, wenn auch nur
schweren Herzens, die (ihrem Umfang nach) kleineren
Arbeiten, die alle eine besondere Würdigung verdienten.
EU sind Porträts, Basreliefs, Brunnenskizzen mit Fratzen
and Satyren etc. Ich kenne endlich zum dritten ein in
Hailand ausgestelltes Werk, den Messias. Anf ihn
hat der Künstler die höchste Anstrengung gewandt und
•eine ganze Seele hineingelegt. Er gesteht selbst, dass
er schwerlich etwas besseres wird schaffen können.
Diese Statue stellt das jüdische Volk in seiner
Jetzigen Verelendung (man bedenke, dass der Künstler
aus Polen ist) und doch im Ruhm seiner Zukunft dar.
Bs lat mit einem Wort die „bewusste Erwartung".
Der wie unter ein Joch gebeugte Kopf, die dUstere
Stirn sagen, was er ist. Die geballte Faust anf dem
HENRYK GLICENSTEIN ROM.
n Domani.
Knie zeigt den bartniLckigen Willen zur Znkunft an.
Er scheint zu sagen: „Und er wird doch kommen".
Das Hom, das er in der Linken hält, ist ein Sinnbild
der glorreichen Auferstehung.
Diese Statue ist erhaben. Sie steht da, gewaltig
sitzend wie die ägyptischen Kolo.'ue und der Mose von
Michdangelo. Es sind die einzigen Werke, mit denen man
sie vergleichen kann. Dieser titanische Körper ist wahr-
haft aus Muskeln andNerven gemacht. Man spürt förmlich
das Gewicht des Fleisches. Das ist der „Sinn der Materie".
Sie wäre nach meiner Meinung würdig, unter der
Kuppel des Pantheon zu stehen, vielmehr würde erst da
ihre ganze Bedeutung verstanden werden. Sie steht
dem „Denker" von Rodln nicht nach.
Doch ach, wer weiss, in welcher amerikanischen
Gallerie sie enden wird?"
(Aus „La Vita", Roma, 4. Ottobre 1906, ObersetEt
von F. P)
167
168
PRINZESSIN GOLDHAAR.
Aus dem Englischt n übertragen von Hulda Zlocisti.*)
Nachdruck verboten.
Es war einmal ein alter frommer Mniin, der war
fiehr, sehr reich. Er hatte nur einen einzigen Sohn,
namens Jochanan. Dieser Jochanan hatte ein schönes
und frommes Weib. Als sein Vater im Sterben lag,
rief er seinen Sohn zu sich und ermahnte ihn, sich mit
der Lehre Gottes zu besctiäftigen und fort und fort
Werke der Liebe und Barmherzigkeit zu üben. All
seinen Reichtum hinterliess er ihm und dann sprach er
zu ihm also: ..Wenn die Tage der Trauer um mich
vorüber sind, geh hinaus auf die Gasse und warte, bis
Du einen Mann des AVeges kommen siehst, der seine
Ware auf dem Markte v erkaufen will, kauf ihm die Ware
ab, nimm sie mit Dir nach Hause und behüte sie wol".
Bald darauf st^irb der alte Mann und wurde mit
allen Ehren begraben. Dreissig Tage trauerte sein
Sohn um ihn; und dann gedachte er der Weisung seines
Vaters und ging hinaus auf die Strasse, wie ihm
geheissen ward. Dort setzte er sich nieder. Da kam
ein Mann des Weges, der ein schönes Gefäss trug.
Jochanan fragte ihn, ob er das Gefäss verkaufen wolle.
„Ja", antwortete jener. „Wie viel verlangst Du dafür?**
„Hundert Goldstücke**, sagte der Mann. „Gib es mir
für sechzig", sagte Joehanan. Der Mann weitrerte sich
und setzte sdinen Weg fort. Da erinnerte sich Jochanan
des Wunsches seines frommen Vaters und rief dem
Manne nach: „Gib mir das Gefäss, hier hast Du die
hundert Goldstücke, die Du verlangt hast.** Da ant-
wortete der Mann: „Wenn Du mir zweihundert Gold-
stücke zahlen willst, werde ich Dir da'« Gefäss geben;
wenn nicht, so gehe ich meines Weges.** Da sagte
Jochanan: „Ich will Dir nicht mehr geben als die
hundert Goldstücke, die Du selbst verlangt hast.** Da
ging der Mann weiter. Jochanan aber glaubte, dass er
den Gegenstand kaufen müsse, um seines Vaters Weisung
zu erfüllen, und lief hinter ihm drein und sagte: „Bier
hast Du die zweihundert Goldstücke, die Du verlangst."
Der Mann antwortete: „Wenn Du e& zufrieden bist,
mir tausend Goldstücke zu geben, sollst Du das Gefäss
haben; wenn nicht, so muss ich gehen.** Da nun
Jochanan sah, dass der Mann jedes mal. da er ihn
zurückrief, immer mehr verlangte, so zahlte er die
tausend Goldstücke, um sich nicht gegen den Vater zu
versündigen, und nahm dasGefäjss mit nach Hause und
und stellte es beiseite. Manchmal versuchte er, es zu
öffnen, aber vergebens. Am PaMsah- Abend, jils er und
sein frommes Weib sich zu Tische setzten, um den
ersten Seder- Abend zu feiern, bat er seine Frau, sie
möge das Gefäsa, dass er gekauft habe, herbeiholen und
es zu Ehren des Festes auf den Tisch stellen. Die
fromme Frau tat also. Jetzt versuchte Jochanan wieder
es zu öffnen und siehe: es gelang. In dem grösseren
Gefäss fand er noch ein kleineres. Und als er das
kleine Gefäss öffnete, fand er darin einen kleinen
Skofpion. Da erschraken die beiden Leute gar sehr.
*) Nach einer aus dem hebräischen Manuskript her-
f;e8tellten Übersetzung von Dr. Gaster (Folk-Lore. 1906).
)er Originaltext befindet sich in der Bodleiana und ent-
stammt augenscheinlich dem 12. Jahrhundert. Dem hebrä-
ischen Text (etwa 100 Märchen enthaltend) ist ein
hebräisch - altfranzösisches Glossarium angefflgt. Dieses
Manuskript stellt aber auch nicht die erste Niederschrift
der Märchen dar, sondern ein grosser Teil, darunter auch
das hier wieder gegebene, finden sich schon in einem dem
5. Jahrhundert entstammenden Manuskript, das in Palästina
feschrieben wurde und sich im Besitze des Dr. Gaster
efindet. Eine neuere Bearbeitung, die durch Fortlassung
aller religiösen Momente verwässert ist, findet sich bruch-
stückweise in dem „Maassebnch" wieder.
Jochanan aber fasste Mut, nahm den Skorpion heraas
und gab ihm zu fressen. Er wand si^h um Jochanans
Hals und umarmte und küsste ihn. Und als er gesättigt
waa-, kroch er wieder zurück in das kleine Gefäss.
Jochanan verschloss es und stellte es wieder in das
grössere Gefäss hinein, worin es zuvor gestanden. Dann
sprach er zu seinem Weibe: „Mein Vater bat mich
wohl nicht lunsonst, also zu tun. Wir sollen den
Skorpion füttern und grossziehen und acht geben, was
darau:* wird.** Sie fütterten ihn nun jeden Tag, so dass
er wuchs und bald nicht mehr in das kleine Gefäss
hineinschlüpfen konnte. Da setzten sie ihn in das
grössere; aber der Skorpion wuchs und wuchs und
wurde so gross, dass man einen besonderen Platz
fiXr ihn schaffen musste. Und Jochanans Reichtum
ward immer kleiner, denn der Skorpion frass alles, was
sie besassen, bis er so ungeheuer gross ward, dass er
nicht mehr in das Haus, ja nicht mehr in den Hof
hinein konnte. Und er wu<^s immer noch, bis er wie
ein riesiger Berg anzusehen war.
Als Jochanan nun gar nichts mehr besass, was er
ihm zu fressen geben konnte, weinte er und sprach zu
seiner Frau: „Was sollen wir nur tun, um ihn mit
Nahrung zu versorgen? Nichts ist uns geblieben.
Alles was wir besassen, hat er verschlungen.** Sein
Weib riet ihm, sein Gewand zu verkaufen. Auch sie
wollte am nächsten Tage ihr Kleid veikaufen, um dem
Skorpion Nahrung zu geben. So taten sie auch. Nun
aber hatten sie nichts mehr. Und Jochanan warf sich
nieder vor Gott und sprach: „Du weisst es, o Herr,
dass ich alles hingegeben liabe, um den Wunsch meines
Vaters zu erfüllen und dass mir nichts, gar nichts
mehr geblieben ist. Entl^ülle es mir, wozu ist der
Skorpion nütze, den ich ^ossgezogen habe, und was soll
daraus werden ?** Da öffnete der Skorpion seinen Mund
und sprach: „Gott hat Dein Gebet erhört und hat mir
erlaubt, zu Dir zu sprechen. Ich weiss, dass Du alles
für mich getan hast, was Du nur konntest, und dass
Du mir nichts von Deinem Besitztum vorenthalten hast.
Nun dafür darfst Du einen Wunsch aussprechen, den
ich Dir erfüllen will.** Und Jochanan sprach: „Lehre
mich denn alle Sprachen der Welt.** Das tat er und
Jochanan konnte nun verstehen die Sprache aller Tiere,
Vögel und Vierfüssler und alle Sprachen der Welt.
Und der Skorpion sprach weiter: „Lass auch Dein
frommes Weib, die sich so viel Mühe mit mir gab, und
die so voller Eiter war, mich zu bedienen, lass auch sie
einen Wunsch aussprechen, den ich ihr erfüllen will."
Die Frau sagte: „0 mein Herr, gib mir genug, um
mich, meinen Mann und mein Haus zu erhalten.**
„Folge mir,** sagte der Skorpion, „und bringe Wagen,
Pferde und Esel und alle Tiere, die Du hast, mit Dir.
Ich will sie mit Silber und Gold, mit Edelsteinen und
Perlen beladen.** Sie folgten ihm, und er brachte sie in
einen Wald. Der hiess Bai. Sie drangen in die Tiefe
dieses Waldes ein. Der Skorpion stiess einen lauten
Pfiff aus, und da erschienen vor ihm alle wildeiy' Tiere
der Welt und Schlangen und Skorpione. Ein jedes von
ihnen brachte ein Geschenk von Silber und Goldi Edel-
steinen und Perlen und warf es vor ihm nieder, wie
ein Volk seinem Könige Geschenke darbringt. /
Und der Skorpion sprach zu Jochanan und/seinem
Weibe: „Gehet und füllet Eure Säcke und jWagen,
füllet alles, was ihr habet, auf dass Ihr Überftuss von
allem haben möget.** Das taten sie. Und t^ochanan
sprach zu dem Skorpion: „Sei mir nicht böse, /wenn ich
Dich bitte, mir zu sagen, wer Du bist und ^»ohe^ Du
Prinzessin Qokihaa
HENRYK OLICENSTEIN.
Die Vorkämpfer.
ROM.
kommst." Er antwortete: „Ich biu der Sohn Adam«.
Während eines Zeltraums von tausend Jahren bin ich
immer kleiner and kleiner geworden nnd während der
nächsten tanaend Jahre bin ich allmählich gewachsen.
Auf mich erstreckte sich das Gebot nicht: „Am Tage,
da Dn davon issest, mnsst Da sterben"." Und Jocbanan
sagte: „Da Du der Sohn Adams bist, so segne mich."
Da sprach er: „Möire Gott Dich von den Leiden be-
freien, die über Dich kommen werden." Und Jochanan
erschrak und wollte wissen, was das für Leiden sein
wurden, die über ihn kommen sollten. Aber der Skorpion
antwortete ihm nicht mehr und entschwand seinen
Blicken. Und Jochanan kehrte in sein Haus zurUck
als ein reicher nnd weiser Mann, und es gab niemand,
der ihm an Weisheit gleichkam.
Auch der KiSnig des Landes horte von seiner
grossen Weisheit and liess ihn zu sich rufen, um
einige schwierige Fragen zu beantworten. Und er fand,
dass er ausserordentlich geschickt und wohl bewandert
in allem war. Darum liebte ihn der König mehr als
alle andern weisen Männer. Nnn war dei' König noch
nicht verheiratet. Und so kamen eines Tages seine
Ratgeber zu ihm und sprachen: ^Es kann Dir nicht
Wohlgefallen, so weiter zu leben, ohne einen Erben, der
Dir auf dem Throne folgen soll. Denn wenn Du stirhst,
wird iatf Königreich ohne einen Erben bleiben nnd an
einen EVemdeu fallen, weil Du keinen Sohn nnd Nach-
folger haben wirst. Darum lass in allen Provinzen
Deines Reiches nach einem schönen Mädchen suchen,
auf dass Du sie zur Frau nähmest '' Aber der König
wollte nicht aut sie hören. Sie kamen jedoch noch
einmal und ein drittes und viertes Slal, bis er sagte:
„Out, wenn ihr durchaus haben wollt, dass ich heiraten
soll, so gebt jnir drei Tage Zeit, dann will ich Euch
antworten, ob es recht ist zu heiraten oder nicht." Des
waren .sie zufrieden. Am zweiten Tage sasa der KSnig
in tiefem Nachdenken in seinem königlichen Garten.
Da flog ein Rabe auf ihn zu und liess auf seine Knie
ein sehr schönes, goldenes Haar fallen, welches er in
seinen Füssen getragen hatte. Dieses Haar reichte der
KSnig am dritten Tage seinen Ratgebern hin nnd
sprach: „Ihr wollt, dass ich heirate. Gut, ich bin es
zufrieden. Wenn ihr mir die Frau bringen könnt, der
dieses Haar gehört, .so will ich sie heiraten. Wenn Ihr
sie aber nicht findet, so seid Ihr des Todes." „Gib uns
drei Tage Zeit, um uns zu beraten," saften sie nnd
der KSnig gewährte sie ihnen. Nun kamen tie zusammen
ond dachten nach, was wohl zu tun sei. Und sie er-
kannten, dass es niemand ausser Jochanan gäbe, der
dass vollbringen könnte, was der König verlangte; denn
er kannte alle Sprachen und seinesgleichen war ini
ganzen Lande nicht zu finden. So kamen sie atn
171
Prinzessin Goldhaar.
172
(Mtten Tage zum König und sprachen: „Da lebt ein
weiser Mann in Deinem Königreich; Jochanan heisst er.
Er kennt alle Sprachen der Welt und er ist der einzige,
der vollbringen kann, was Du verlangst.** Und da
schickte der König nach ihm.
Inzwischen geschah es, dass über Jochanans Haus
der Grelehrsamkeit ein Vogel flog und schrie: „Möge-
Dich, Jochanan, Gott befreien von den Leiden, die über
Dich kommen werden.** Als Jochanan das hörte, er-
schrak er sehr; denn mit den gleichen Worten hatte
ihn ja der Skorpion gesegnet. Und die Diener des
Königs kamen zu Jochanan und sprachen: „Auf, komm
zum König! £r hat nach Dir geschickt.** Jochanan
zitterte gar sehr. Er stand auf, ging zum König und
warf sich vor ihm nieder. Und der König sprach zu
ihm: „Ich weiss, dass Du sehr klug und weise bist und
alle Sprachen der Welt verstehst. Nun wünsche ich
eine Frau zu nehmen, weil das Gesetz des Landes es
dem König verbietet, ohne Frau und ohne Kinder zu
bleiben. Darum ziehe aus und bringe mir die Frau,
der dieses Haar gehört Ein Rabe hat es mir gebracht.
Ich weiss, dass es einer Frau gehört, und diese Frau
begehre ich.** Und Jochanan antwortete: „Niemals hat
ein Köni^, ein Prinz, ein Fürst oder ein Herscher einen
solchien Wunsch ausgesprochen, wie Du es tust; eine
Frau zu suchen, der ein Haar in Deiner Hand ^hört.**
Da sprach der König „Willst Du sie mir nicht brin^ren,
80 werde ich Dir und Deinem ganzen Volke die Köpfe
abschlagen lassen.** Und Jochanan sagte: „Nun so gib
mir drei Jahre Zeit, sie zu suchen und Dir zuzuführen.''
Die Frist wurde ihm gewährt. Und er eilte sofort
nach Hause, rief seine Frau und seine Familie herbei
und erzählte ihnen, was sich zugetragen. Und sie
weinten alle miteinander über sein Jjeid. Er aber ging,
begleitet von den Segenswür sehen seiner Frau und
seiner Kinder, in der Richtung nach dem Walde Hai;
denn er sagte sich: „Vielleicht treffe ich doch zufällig
den Skorpion, den ich grossgezogen habe.'* Mit sich
nahm er drei Laib Brot und zehn Goldstücke. Er drang
in die Tiefe des Waldes ein und traf einen riesengrossen
Hund, desgleichen er noch nie gesehen. Die Tiere
dieses Waldes waren nicht wie andere Tiere und von
ungeheurer Grösse. Der Hund schrie und heulte:
„Gott hat mich so riesig gross und so verschieden von
allen anderen Tieren geschaffen, damit ich nicht genug
Nahrung finden kann für mein Bedürfnis; denn „eine
Handvoll wird den Löwen nicht sättigen**. Wenn ich
so klein wäre wie andere Hunde, könnte ich mich mit
wenigem begnügen und gut für mich sorgen. Hast Du
mich geschaffen, auf das ich Hungers sterbe?** Und
Jochanan sprach: „Gott hat Dich nicht geschaffen, um
Hungers zu sterben; denn seine Gnade waltet über
allen seinen Geschöpfen. Nimm einen dieser Laibe und
iss!** Das tat der Hund und dann sprach er: „Möge
Gott Dich befreien von aller Art Leiden, die über Dich
kommen werden, und möge er mir gnädig sein, dass ich
Dir vergelten kann die Speise, die Du mir gereicht
und die Güte, die Du mir erwiesen.** Jochanan zog
weiter und traf auf seinem Wege einen ungeheuren
Raben, desgleichen er noch nie gesehen hatte. Auch er
schrie und jammerte wie der Hund. Und Jochanan gab
ihm den zweiten Brotlaib. Der Rabe aber segnete ihn
mit denselben Worten, mit denen ihn der Hund gesegnet
hatte. Jochanan zog weiter, und als er am Rande des
Waldes ankam, sah er einen Fluss vor sich. Er ging
auf ihn zu, Hess sich an seinem Ufer nieder, ass von
dem dritten Brote, das ihm noch geblieben war, und
trank etwas Wasser dazu. Ihm gegenüber sass ein
Fischer. Der sprach zu ihm: „Möchtest Du den Fisch
kaufen, den ich gefangen habe?** Er antwortete: „Ja.**
„Willst Du mir dafür die zehn Goldstücke geben, die Du
in Deinem Beutel haat?** — „Wer sagte Dir, dass ich
zehn Goldstücke in meinem Beutel habe?** — ,Kein
anderer als Gott selbst,** erwiederte der Fischer. Und
Jochanan gab ihm die zehn Goldstücke. Als der Fischer
aber das Netz öffnete, fand er darin einen sehr schönen,
grossen Fisch, der hundert Goldstücke wert war. Und
er ärgerte sich fürchterlich über den Handel, den
Jochanan gemacht hatte, und warf ihm den Fisch vor
die Füsse. Der Fisch aber streckte sich vor Jochanan
aus und sprach zu ihm: „Du weisst, mein Herr, dass
ich zu gross bin, als dass Du mich tragen könntest, und
selbst wenn Du mich essen wolltest, hättest Du an
einem kleinen Stück von mir reichlich genug. Tu daher,
was gerecht und gpit ist, und wirf mich wieder in den
Fluss, aus dem ich gekommen bin, und mit Gottes Hilfe
werde ich Dir das Geld zurückgeben, das Du für midi
gezahlt hast. Möge Gott mit Dir sein und Dich be-
freien von allen Leiden, die über Dich kommen werden,
und möge er mir gnädig sein, aut dass ich Dir die
Güte vergelten kann, die Du mir erwiesen hast** Bei
diesen Worten warf Jochanan den Fisch wieder ins
Wasser zurück. Als der Fischer das sah, ärgerte er sich
und sprach: „Warum wirfst Du den Fisch in den Fluss
zurück? Du hast töricht gehandelt; denn er war
hundert Geldstücke wert.** Jochanan antwortete: „Ich
tat es, weil es in der heiligen Schrift heisst: „Und
seine Gnade waltet über allen seinen Geschöpfen**.**
Er stand auf und ging am Ufer des Flusses entlang.
Da sah er am andern Ufer eine schöne Stadt liegen.
Vor den Toren der Stadt standen zwei Frauen. Eine
davon war die Königin der Stadt, die schönste Frau im
ganzen Lande. Die andere war ihre Kammerfrau. Zu
ihr sprach die Königin: „Sieh jenen armen Mann am
andern Ufer des Flusses. Er kommt zu mir und will
mich mit sich nehmen, damit ich einen König beirate,
dessen Bosheit ohne gleichen ist. Er hat mich nie
gesehen, noch je etwas von mir gehört; aber ein Rabe
nahm ein Haar von meinem Haupte und brachte es üim.
Und da schickte er diesen braven Mann zu mir. Ich
werde mit ihm gehen müssen, wenn er mir drei
Wünsche erfüllen kann, die ich ihm nennen werde.
Geh zu dem Bootsmann und sag ihm, dass er den Mann
herüberhole.** Und so brachte ihn der Bootsmann vor
die Königin. Jochanan trat vor sie hin und verneigte
sich vor ihr. Sie erwiederte seinen Gruss und sprach
zu ihm: „Sei mir willkommen! Woher kommst Du und
wohin gehst Du?** Da antwortete er: „Ich komme aus
fernen Landen, und ich suche eine Frau, deren Haar
dem Haar gleicht, das ich bei mir trage.** „Bleib einen
Monat bei uns," sagte sie, „und wir werden Dir geben,
was Du suchst.** Und er blieb bei ihr. Als der Monat
um war, kam Jochanan zur Königin und sprach: „Sag
mir, ob ich in Deinem Lande finden kann, was i(£
suche.** ^Ja,** sagte sie, „ich, die ich hier vor Dir
stehe, bin die Frau, die Du suchst. Siehe: mein Haar
ist das gleiche wie das, was Du bei Dir trägst. Wisse
nun, dass ich mit Dir gehen will. Zuvor aber musst
Da mir drei Wünsche erfüllen.** Und Jochanan sprach:
„Lege mir keine Hindemisse in den Weg. Wisse,
wenn ich Dich nicht in vier Monaten zum König
bringe, so müssen alle sterben, die von meinem Volke
noch geblieben sind.*" Sie aber sprach: „Ich habe zwei
Eimer; und ich wünsche, dass Du mir einen mit dem
Wasser der Hölle, den andern mit Wasser aus dem
Garten Eden füllen sollst.** Da weinte Jochanan und
sprach; „Wer könnte das wohl tun?** Und sie ant-
wortete: „Wenn Du es nicht kannst, so will ich nicht
mit Dir gehen.** »Nun, dann bringe mir die beiden
Eimer und ich werde tun, was ich kann.** Man brachte
173
Wnzessin Ooldhaar.
174
sie ihm und er ging sogleich über den Fluss und
wanderte fort, bis er zum Walde Hai kam. Dort setzte
er sich nieder, weinte bitterlich und betete aus der
Tiefe seiner Seele: „Möge es Dir, o Gott, gefallen, mir
den Raben zu senden, dem ich mein Brot gab und der
mir versprach, mir meine Güte zu vergelten!'' Der
Rabe kam, Hess sich neben ihm nieder und sprach :
„Hier bin ich, um zu tun nach Deinem Geheiss ** Da
nahm Jochanan die Eimer, hing sie dem Raben um den
Hals und sagte: „Bring mir einen von diesen Eimern
gefüllt mit Wasser aus dem Garten Eden und den
andern mit dem Wasser derHölle.^ „Ich will tun, was
Du verlangst,^ sprfush der Rabe und flog davon. Er
kam nach der Hölle und tauchte einen Eimer in den
Fiuss und füllte ihn mit dem Wasser der Hölle. Aber
das Wasser war kochend heiss, und man konnte den
Finger nicht hineinstecken, ohne ihn zu verbiühvn, und
wäre Gottes Gnade nicht mit dem Raben gewesen, so
wäre er ganz verbrannt. Von da flosr er zu dem
Flusie, der mitten durch den Garten Eden fliesst, und
füllte mit seinem Wasser den anderen Eimer. Dann
tauchte der Rabe selbst sich in das Wasser und wusch
seinen Körper und er ward geheilt von den Brand-
wunden, die er durch das Wasser der Hölle bekommen
hatte. Nun nahm er die Eimer auf, flog zu Jochanan
und sprach zu ihm: „Siehe, mein Herr, ich habe getan,
vrie Du es mir geheissen.^ Und Jochanan nahm die
Eimer und brachte sie der Königin Er sprach: „Sieh,
o Königin, die Eimer, gefüllt mit dem Wasser des
Gartens Eden und dem Wasser der Hölle, ^ie Du es
gewünscht.*^ Als die Königin ihm die Eimer abnahm,
sah sie das Wasser an und erkannte, dass das Wasser
der Hölle sehr heiss und übelriechend war, während
das Wasser aus dem Garten Eden sehr kühl war und
nach köstlichen Spezereien duftete. Da war die
Königin sehr froh darüber und sprach: „Nun musst
Du mir noch einen Wunsch erfilllen. Vor fünfund-
zwanzifiT Jahren starb mein Vater und gab mir den
Ring von seinem Finger. Darin war ein so kostbarer
Edelstein, wie es in der ganzen Welt nicht seines-
gleichen gibt. Eines Tages ging ich nun am Flusse
spazieren und da flel mir der Ring vom Finger in den
Fluss hinein. Meine Diener suchten ihn, leiteten das
Wasser des Flusses ab und konnten ihn doch nicht
finden. Wenn Du ihn mir bringen kannst, so werde
ich mit Dir gehen." Aber Jochanan sprach: ^Wie ist
es möglich, jetzt etwas wiederzuflnden, was vor fünf-
undzwanzig Jahren verloren gegangen ist?** Die
Königin antwortete: „Kannst Du ihn mir nicht bringen,
so werde ich nicht mit Dir gehen." Nun ging
Jochanan am Flussufer entlang, bis er zu der Stelle
kam, an der er einst den Fisch hineingeworfen, den er
dem Fischer abgekauft hatte. Dort setzte er sich
nieder und weinte und betete. Während er noch
betete, kam der Fisch herbei und sprach: „0, mein
Herr! Ich bin bereit Deinen Wunsch zu erfüllen. Ich
weiss, was Du suchst und Gott weiss, dass das, was
Du suchst, nicht in meinem Besitz ist; aber ich kenne
den Fisch, der ihn nahm und noch besitzt und ich will
ihn vor Leviathan anklagen, dem ich die Geschiente
erzählen muss.** Nun ging der Fisch zu Leviathan
und sprach: „Am Flussufer sitzt ein guter Mann . . .**
und erzählte ihm alles, was er wusste. Da sprach
Leviathan: „Geh hin zu jenem Fisch und frage ihn, ob
er weiss, wo der Ring ist, und um deinetwillen werde
ich dafür sorgen, dass er ihn dem Eigentümer zurück-
gibt." So ging er nun zu dem Fisch und führte ihn
vor Leviathan, der also zu ihm sprach: „Du hast einen
Ring, den Du zu der und der Zeit gefunden und auf-
genommen hast. Gib ihn diesem Fisch, damit er ihn
dem frommen Mann bringe, der am Flussufer steht.
Sein ganzes Volk ist vom Kummer gebeugt wegen
dieses Ringes/' Der Fisch gab nun dem andern Fisch
den Ring und dieser brachte ihn Jochanan. Aber als
der Fisch ihn aus seinem Munde auf den Boden spie,
schnappte ein riesiges Schwein danach, verschlang ihn
und verschwand. Und Jochanan weinte und klagte in
der Betrübnis seines Herzens. „Wehe, wehe mirl^
schrie er laut. Auch der Fisch war sehr betrübt und
sprach: „Ich habe nicht mehr die Macht, Dir jetzt noch
den Ring wiederzubringen. Aber möge Gott Dein
Gebet erhören und Dich aus der Not zur Freiheit
führen." Damit verschwand der Fisch. Und Jochanan
sprach: ,0 Herr, möge es Dir gefallen, mir den Hund
zuzuschicken, damit ich mit ihm ausziehe, d s Schwein
zu suchen und, wenn es mösrlich ist, auch zu finden."
Während er noch so sprach, kam derselbe Hund an
und sagte: „Teurer, ich habe Deinen Wunsch und Dein
Gebet schon erlüllt; denn ich tiaf das Schwein, das Dir
den Ring wegnahm. Ich riss es in Stücke und nahm
ihm die Eingeweide heraus. Da liegen si^ auf der
Erde. Komm, ich will Dich zu dem Ort führen, damit
Du die Eingeweide öffnest und den Ring darin findest.*^
Jochanan ging mit ihm und sie kamen zu dem toten
Schwein. Er öffnete die Eingeweide und fand den
Ring darin. Nun nahm er ihn an sich und ging frohen
Herzens seines Weges. Der Hund verschwand. Und
Jochanan kam zur Königin und brachte ihr den Ring.
Als sie ihn sab, freute sie sich gar sehr und küshte
ihn. Und Jochanan sprach: „Da Gott den Weg ge-
segnet hat, den er mich geschickt, so lass uns jetzt
zusammen hingehen nach meinem Lande, nach meiner
Stadt. Ich habe vollbracht, was Du verlangst ; tue nun
auch Du, was Du versprochen und lass uns nicht
zögern." Und sie antwortete: „Da Gott es so gefügt
hat, kann ich nicht anders und muss mit Dir gehen,
wohin Du mich bringen willst." Sie brachen nun auf
und kamen wieder in das Land des Königs, der ihn
ausgesandt hatte. Als der König von ihrer Ankunft
hörte, zog er ihnen mit seinem ganzen Gefolge ent-
gegen und geleitete sie zu seinem Palaste. Als sie
dort ankamen, erfuhr Jochanan, dass seine Frau
gestorben, seine Söhne gefangen genommen und alles
dessen beraubt worden waren, was sie besessen hatten:
denn die Ratgeber des Königs, die ihn beneideten,
hatten sein ganzes Besitztum geplündert und seine
Söhne in die Gefangenschaft geführt. Als Jochanan
das hörte, ward er sehr traurig und weinte und weh-
klagte um seine Frau und seine Söhne.
Die Söhne aber waren sehr froh, als sie hörten,
dass ihr Vater zurückgekehrt war. Sie kamen zu ihm
und erzählten ihm von allem Ungemach, das sie be-
troffen hatte. Er befreite sie nun, und sie blieben bei
ihm. Er wurde vom Könige geliebt und geehrt, weil
er ihm eine sehr schöne Frau gebracht hatte, wie ihres-
gleichen im ganzen Königreich nicht zu finden war.
Nun wollte der König sie auch gleich heiraten und sie
zum Traualtar führen. Sie aber sprach: „In meinem
Lande ist es nicht Sitte, jemand gleich zu heiraten,
der eben zum ersten Mal zu uns spricht. Gib mir
zwölf Monat Zeit." Der König fügte sich ihrem Wunsche
und versprach, alles zu tun, was sie verlangte. Und
.Jochanan ward sehr geliebt von dem König und der
Königin, so dass der König den Ring von seinem
Finger nahm, ihn ihm darreichte und ihn zum obersten
Beamten in seinem Palaste, zum Verwalter seines
ganzen Gutes ernannte. Deswegen wurden die Rat-
geber des Königs wieder neidisch und sprachen zn
einander: „Wenn wir nicht beschliessen, diesen Mann
zu erschlagen, wird er an uns Rache nehmen lür alles
Prinzessin Ooldhaar,
BQse, was wir ihm und seinen Sötiaen getan haben. "
So lauerten sie Ibro eines Tages auf, scblneen ilin zn
Boden und rissen Ihn In Stftclie, Glied nm Glied. Ab
die Nachricht, dass Jochanan erschlagen und vou seinen
MSrdem in Stücke geriitsen war, zum Könige IcHm,
war dieser und die K (In igln gar sehr betrUbt.
Und die Königin xprach: „Führe mich zu dem Ort, wo
seine zerstreuten Gliedmassen liegen." Sie lUhrten sie
hin. Und die EBnigin sammelte die Gliedmassen und
fUgte sie aneiDander, wie nie zusammengehörten. Und
nie nahm ihren Hing und als sie die Wunden mit dem
Stein berührte, wachsen die Knochen und Muskeln
wieder zusammen, denn eine seltsame Kraft lag in dem
Ringe. Dann nahm sie Wasser ans dem Garten Eden,
wusch damit seine Haut, so dass sie geheilt wurde und
dass er das Aussehen eines scheinen JUngltnga erhielt.
Dann kniete sie nieder, presste ihren Mond auf den
seinen und küsst« ihn. Und sie betete zu Gott und er
gab ihm auch die Seele wieder, so dass er wieder
lebendig wurde, sich erhob and auf seinen Füssen
wandelte.
Ais das Volk sah, dass sie T^te beieben konnte,
wunderte es sich Über alle Massen. Und der König
sagte: „Lasst uns ausziehen und einen Krieg mit dem
Nachbarvolke beginnen. Falle ich in der Schlacht, so
wird sie kommen und mich wieder ins Leben rufen."
Und der König zog aus mit seinem Gefolge und seinen
.Soldaten, am einen andern König zu bekämpfen. Sie
stellten sich in einer langen SchlachtUnte auf. Aber
der König, seine fHlrsten und seine Diener wurdfen
getötet I>a kamen die königlichen Katgeber zu ifcr
Königin und sprachen zu ihr: ,.Komm and belebe den
König und seine Getreuen, denn sie sind vom Schwefte
erschlagen." Und sie ging zusammen mit Jochaokn
zu dem Orte, wo die Erschlagenen lagen, and tat
ihnen, was sie Jochanan zuerst getan hatte. Aber daAn
nahm sie statt des Wassers aus dem Garten Edta
solches au3 der Hülle und besprengte sie damit, wora&f
sie sogleich alle ta Asche verbrannt waren. Dann
sagte sie: „Siehe die Wunder Gottes; denn nicht mein
ist die Kunst zu töten und zu beleben. Gott ist M,
der tätet und belebet, der Wunden schlägt and heilt,
der erniedrigt und erhöht. £a gefiel ihm nicht, dieie
bö^en Menschen zu beleben, wie er diesen guten Mann
wiederbelebt hat. Ich kann nur seinem Willen ge-
horchen." Dann kehrten sie nach Hause zurück und
das Königreich blieb ohne König, bis das Volk seine
Blicke auf .Tochanan richtete und ihn zum König machte,
denn alle, die ihm nach dem Leben tracbteten, waren
nun tot. Und sie gaben ibm auch die schöne Frau
zum Weibe. Sie lebten miteinander in Fiiede und
Freude viele, viele .Tabre und bekamen Söhne und
Töchter.
So kann man a^ch hier sagen; „Wirf Dein Brot
ins Wasser; wenn die Zeit kommt, wirst I>u es
wieder finden." (Eccles. XI.)
Die Synagoge in Kingston.
Zerstört durcli da«! Erdbeben,
Die jüdische Familie Motta in Kingston aaf Jamaika, die fUnf Mitglieder
durch das Erdbeben verloren hat.
JAMAIKA.
Die furchtbare Katastrophe, die über das
bliUiende Kingston, die schöne Haupt- and Hafen*
Stadt von Jamaika, hereingebrochen, hat auch unter
der j&dischen Bevölkenuig eine entsetzlich hohe
Zahl von OpfeiB gefordert. In der langen Liste
der verwundeten und getötet«n Juden liest man die
Namen der hervorragendsten Gemeindemitglieder;
am schwersten aber wurde die sehr angesehene
Familie Motta getroffen, die den Tod vod
fünf Aagehörigeu zu beklagen hat- Es war
für die Temnglückteu Juden verhängnisvoll,
dass die ErderschQttenmg und die Feuers-
bronst zuerst und ain heftigsten dort watete,
wo die meisten von ihnen ihre Berufstätigkeit ans-
fibten, nämlich in dem am Haien gelegenen
Handelsviertel, der City von Kingston. In <
Stadtteil befand sich auch das nun vollständig
vernichtete Gottesbaas, die vereinigte (amalgamated),
ursprünglich sephardische Synagoge. Als sie
nämlich erbaut wurde, besass Princess Street nebst
Umgebung noch zahlreiche Privathänser, deren
Wohnungen w^en der Nähe des Geschäftsbetriebes
von den jüdischen Kaufleuten besonders bevorzugt
waren. Ällmäbllch aber mussten diese Gebäude
weichen und den Riesenspeichem und Handels-
palästen Platz machen, und schliesslich stand der'
stille Tempel einsam inmitten des lärmenden Treibens
der Hafenstadt. Seine Gründer waren Sephardim,
die seit jeher an Zahl und Einfluss die Aschkanasini
im Lande weit übertrafen.
179
180
Die ersten jüdischen
Ansiedler kameD nach Ja-
maika auf der Flacht vor
der spanischen Inquisition.
Hier fand ihr lebhafter Geist
nnd ihre rege Energie ein
Faniilientradition
denen jedoch ihre sepbar-
dische Abstammung allein
binreicbendeu Stolz verlieh,
om ihre aschkäDasischen
Bräder als Jaden zweiter
Charles de Cordora.
Beim Erdbeben auf Jamaika
schwer verwundet.
IVachtbares Feld der Be-
tätigung. Gleichwohl hielten
sie in ihrer fast sprichwört-
lich gewordenen Treue die
Beziehungen zum Lande
ihrer Geburt aufrecht und lockten immer neue
.Stamme^enossen aus Spanien und I'ortugal nach
der freien lusel im Oaraibischeii Meere. Dieso
Jüdischen Flüchtlinge wur-
den die Ahnen des nunmehr
alt gewordenen, vornehmen
und wohlhabenden jüdischen
Adels von Kingston. Es
gibt B'amilien im Lande, die
C. de Mercado.
Leiler der Jutlenheit in Kingsion
Isaac Brandon, Kingston.
Beim Erdbeben auf latnaika
schwer verwundet.
Ordnung zu betrachten und
zu verachten. So kannte
beispielsweise ein Sephardi
kanm einen grosseren
Schimpf und ein schlimmeres
Unglück, als wenn ein Mitglied seiner Familie den
Sohn resp. die Tochter eines Äschkauasi heiratete.
Nach einer alten Überlieferung pflegten die Bluts-
verwandten eines solchen
„abtrünnigen" Yabid, der
eine Tedesca heimführte,
sieben Tage zu trauern, —
als wäre er geslorbeii.
Die Aschkanasim hatten
L. M. Mordecai, Kingston.
Beim Erdbeben getötet.
iliien Stammbaum bis ins
15. .lahrhiindeit nachweisen
kiinneu. Es gab aber (und
^bt auch jetzt noclii vii^le
»ipanisclie tiud iiortiigifsische
.luden, die zwar keine
Jacob Mudahy.
|ji; hervorragendes Mitglied der Kmu^li
(jenieinde.
Dr. A. C. Motta, Kingston.
Beim Erdbeben gelötet.
sich ihrerseits zu einer
eigenen Gemeinde (Germau
Community) miteigener Syna-
goge zusammengeschlossen.
Eine Feindschaft zwischen
den bi'iden jiidischen Kürper-
Schäften gab es im übrigen Dicht, sie betractit«ten ein-
ander als gleichgiltige Freunde und hatten nur so viele
gemeinsame Beröhnii^;spaokte wie etwa Katholiken
and Protestanten. Erfrenlicberweise wurde durch
das Verdienst des alten Herrn de Cordova diesem
QQwfirdigen Zostaade ein Ende bereitet. Er und
seine Familie haben schon vor Jahrzehnten dea
Wahn bekämpft, als sei die Ehe mit einer Tedesca
«in Unglück oder ein Terhreefaen; mau begann
allmählich brüderliche Verbindungen zn knüpfen,
und endlich kam es Vorjahren zn einer vollstäadigen
Verschmelzung der beiden Gremeinden. Die Asch-
kanasim verliesseu ilire Synagt^ and siedelten in
das alte Gkttteshaus der Sephardim über, das seit-
dem die Bezeichnung Amalgamated Synagogue
führte. Hau einigste sieb dahin, dass die sephardisdie
Anssprache des Hebräischen beibehalten, d^^^
die Form des Gottesdienstes nach aschkanasischem
Brauche modifiziert wurde.
Nun ist die Synagoge in Schutt und Asche
verwandelt. Mö^e der neu zn errichtende Tempel
im gleichen Sinne wie der alte „amalgamated",
d. h. ein Symbol jüdischer E^inigkeit sein. Dr. M.
MORITZ STEINSCHNEIDER.
Von Dr. S, Almoni.
Das jädische Volk, das seit jeher eine warme
Verehrung fUr sein nationales und religiases Schrift-
tom hegte, zeigte auch fröhzeitig Sinn und Ver-
stibidnis für die bibliographische Wissenschaft.
Moritz Steinschneider, der am 24. Januar im Alter
von über neunzig Jatuen beim-
gegangen ist, war seit Jahr-
zehnten als der grösste und
bedeutendste hebräische Bihlio-
tcraph anerkannt und i^efeiert.
Diesen Ruhm verdiente er un-
streitig. Aber er war nicht der
Einzige und auch Dicht der Erste
auf diesem Gebiet , und der
jüngst verstorbene Gelehrte, dem
die wissenschaftliche Objektivi-
tät immer so hoch stand, würde
es gewiss nicht geduldet haben,
dass man das Vt^rdienst seiner
Vorgänger , seiner zeitgünossi-
scben Mitarbeiter und der
jüngeren Gelehrten nicht ge-
nügend anerkenne. Was Stein-
schneider zu dem hervorragend-
sten hebräischen Bibliographen
machte , das war die seltene
Vereinigune aller Eigenschafteu,
die man bei den anderen Biblio-
graphen nur vereinzelt findet.
Wie bei den anderen wissen-
schaftlichen Disziplinen ist es
auch bei der hebräischen Biblio-
graphie denkbar, dass ein von einem Gelehrten
unlemommenes Werk gleichzeitig vou mehreren
gefördert und durch sie zum Abschluas gebracht
wird. Und tatsächlich ist Steinschneider mit
seinem Unternehmen zu einer Zeit anfgelreten, als
die hebräische Bibliographie sozusagen hoch iu der
Mode stand. Man braucht nur die zwölf Jahr-
gäoiie des „Orient", oder richtiger seiner „Literatur-
blatt" benannten wissenschaftlichen Beilage ilH4()
bis 1851) durchzublättern, um zu sehen, welches
Moritz Steinschneider.
Interesse mau in den Kreisen der Fachgelehrten
seit der Begründung der Wissenschaft des Juden-
tums der Bücheriiuude entgegenbrachte. Hiblio-
graphen waren sie fast alle, die ersten Begründer
der Wissenschaft des Judentums; Happoport,
Zunz, Luzzatto, Schorr, Fürst,
David und Selig (Paulus) Cassel
usw. Steinschneider überragt
sie alle auf diesem Grebiet nur
dadurch, dass er alle seine
Krälte, seinen Scharfsinn, seine
Kombinations^abe und seine
Ausdauer in den Dienst dieser
Wissenschaft stellte. Büchertitel
and Autorennamen waren für ihn
nicht Schall und Ranch, sondern
Denksteine des schöpferischen
Geistes des jüdischen Volkes
und Bausteine für <'essen Kultur-
geschichte.
Die hebräische Bibliographie
haben Jüdische uud christliche
Forscher noch vor Steinschneider
begründet. Unter den jüdischen
Bibliographen war zweifellos der
bedeutendste Ch. J D. Asulai,
dessen hundertster Sterbetag im
nächsten Monat in Erinnerung
gebracht zu werden verdient. Es
war dies ein einenartiger Mann,
einer durch ihre Gfelehrsamkeit
berühmten sephardischen Familie
entstammend, der aus Palästina nach Eiuvpa kam
und in verschiedenen Ländern öffentliche nnl private
Bibliotheken durchstöberte, um die hebräische
Bibliographie wissenschaftlich zu fördern. Unter
den christlichen Gelehrten, die sich mit der Er-
forschung des hebräischen Schrifltnms eineehend
befassten, ragten zwei Männer hervor: der deutsche
J. Ch. Wolf und der Italiener de Rossi, der zuletzt-
genannte von einer jüdischen Familie abstammend.
Diese drei Männer, die so ziemlich zu einer Zeit
183
Dr. S. Almoni: Moritz Steinschneider.
184
lebten (Wolf hat seinen j&dischen Fax^hgenossen
Asnlai persönlich gekannt nnd sehr geschätzt),
hsU)en in der hebräischen Bibliographie wertvolles
geleistet. Indess^ haften ihren Arbeiten grosse
Mängel an, die freilich auch die Mängel ihrer Zeit
wareü. Steinschneider hatte gegen sie den Vorzog,
dass er zu eioer Zeit lebte, wo die j&dische
Geschichte aus ihrem Dunkel gef&hrt und wissen-
schaftlich erforscht war.
Die hebräische Bibliographie hatte nämlich in
den fr&heren Jahrhunderten dasselbe Missgeschick
erfiahren, wie die jüdische Geschichte. Grätz
bemerkt sehr zutreffend, dass der jüdischen Ge-
schichte vordem beide Augen fehlten: Orts- und
Zeitbestimmung. Von vielen Begebenheiten wusste
man nichts. Das war aber nicht das Schlimmste,
da man das fehlende durch neue Forschungen
ei^änzen konnte. Viel irreführender war es, dass
manche bekannten Ereignisse in eine falsche Zdt
oder an eine falsche Stelle verlegt wurden. Alles
war durcheinandergeworfen. Es hielt sehr schwer,
die Irrtümer, die so festgewurzelt waren, zu be-
richtigen. Aehnliches geschah auch mit der
hebräischen Bibliographie. Autoren, die zu ver-
schiedenen Zeiten nnd in verschiedenen Landau
gelebt hatten, zumal wenn sie gleiche od^ tim-
Uche Na^en führten, wurden im Lauf d^r Zeit
mit einander verwechselt; ebenso erging es den
Büchertiteln. Die Flüchtigkeit der Abschreiber,
die merkwürdigen Schickste, die jüdische Bücher
oft erfuhren, die ewii^e Unruhe in der sich jüdische
Bücherbesitzer früherer Jahrhunderte befs^den, die
Furcht vor der Zensur und den Denun^ationen,
die häufigen Bücherkonfiskationen — all dieses
trug reichlich dazu bei, die hebräische Bücher-
kunde zu einem Knäuel von Irrtümern und Miss-
verständnissen zu machen. Es kam nicht selten
vor, dass durch irgend einen Zufall ein handschrift-
licher Kodex aus verschiedenen Bücherteilen zu-
sammengesetzt war, die miteinander in nur losem
Zusammenhang standen. Sie gehörten verschiedenen
Autoren an. In früherer Zeit war es nicht un-
möglich, dass ein solches Buch kritiklos gedruckt
und in die Welt geschickt wurde.
Als der Sinn für wissenschaftliche Ord-
nung der hebräischen Bücherschätze erwachte,
war es nicht leicht, den Knäuel zu entwirren, die
hebräischen Bücher von dem Schimmel zu befreien,
der sich auf sie im Lauf der Jahrhunderte ge-
lagert hatte. Wolf hat für sein bibliographisches
Buch in erster Reihe die berühmte Oppenhein^ische
Büchersammlung benutzt, die damals in Hannover
verpfändet war. Sie enthielt seltene Drucke und
auch viele Handschriften. Schon die Bücher biblio-
graphisch zu ordnen, war gewiss ein verdienstvolles
Werk. Aber von einem christlichen Gelehrten, der
sich immerhin nur schwer in den Text dieser
Schriften hineinlesen konnte, durfte man nicht
verlangen, dass er alle Fehler vermeide, die sich
durch falsche Vermerke auf den Büchertiteln er-
gaben. Noch weniger konnte er Irrtümer authellen,
die aus falschen Zusammenstellungen verschiedener
Hefte oder Bücherteile entstanden waren. Dasselbe
lässt sich auch von de Bossi sagen, der namentlich
italienische Bibliotheken benutzte, so auch die be-;
rühmte Foa'sche, die die seltensten und inhalt-
lich wertvollsten Handschriften, zum Teil tausend
Jahr alte Autogramme, umfasste, später aber, lun
die Zeit der itäienischen Freiheitskämpfe, bis bvS
wenige Nummern. Valoren ging. Asnlai war ein
bedeutender jüdischer Gtelehj^r, der wohl sehr gut
in den von ihm beschriebenen Büchern Bescheid
wusste. Aber ihm fehlten die materiellen und
wissenschaftlichen Mittel, um die Bibliographie
kritisch zu behandeln. Auch beschrieb er nur einen
geringen Bruchteil des hebräische, Schrilttums.
Steinsdineider vereinigte bei seltener Begabung
die umfassende Gelehrsamkeit Asulais mit der wissen-
schaftlichen Akribie seiner christlichen Vorgänger.
Dazu kam noch seine gründliche Kenntnis mehrerer
semitischer Idiome. Eüie grosse Bolle spielten un-
zweifelhaft in seinen gelehrten Forschungen die
modernen Komunikationsmittel, durch die allein es
ihm möglich wurde, an fremden Orten vorhandene
Büchersammlungen entweder selbst zu besichtigeai,
oder sie bibliographisch durch andere verwerten
zu Isssen. Es wäre eine unangebrachte Schmeichelei,
wollte man behaupten, dass alle bibliographischen
Arbeiten Steinschneiders frei von Fehlem und
Irrtümern seien. Grerade sein Hauptwerk, der
grosse lateinisch geschriebene Katalog der Bodleiana
hat solche Mängel in nicht kleiner Zahl aufzu-
weisen. Aber das verrinn? ert die Bedeutung Stein-
schneiders nicht im geringsten. Vor il^ und
neben ihm hat keiner die hebräische Bibliographie
so vollständig beherrscht und so umfassend behandelt.
Das merkwürdigste ist aber, dass die Arbeiten
Steinschneiders, die ihm zu solcher Berühn*theit
verhalfen, nicht einmal die bedeutendsten von ihm
waren. Es erging ihm darin wie seinem von ihm
mit Becht bewunderten Freund Leopold Zunz,
der ebenfalls durch ein grosses Buch berühmt
wurde, das nicht sein grösstes war. Steinschneiders
kulturgeschichtliche Forschungen sind von einer
Bedeutung, die man in einem Nekrolog nicht er-
schöpfend behandeln kann. Was er zu der Geschichte
der Philosophie, der Mathematik, der Astronomie, der
Medizin usw. beigetragen hat, ist bekannt genug.
Er schrieb über Bücher verschiedener Sprachen
und in verschiedenen Sprachen. Was er über den
innigen Zusammenhang zwischen der altklassischen
und der arabisch- jüdischen Kultur für wertvolles
Material znsammeng«*tragen hat, das allein würde
genüsen, ihm ein ruhmvolles Blatt in der Geschichte
der Wissenschaft zu sichern.
Moritz Steinschneider war ein eigenartiger
Gelehrter, ein Mann, der auch in seiner Persönlichkeit
überaus interessant war. Man hat oft behauptet,
dass seine Gelehrsamkeit vom Leben losgelöst sei.
Für die Gegenwart, ftlr das moderne Leben und
seine Anforderungen habe er wenig Verständnis
gezeigt. Indessen muss man in Betracht ziehen,
dass er stets seinen Stolz darin setzte, nur für die
Wissenschaft und für Wenige zu schreiben. Ein
185
Dr. S. Almoni: Moritz Steinschneider.
^t«s Bach war für Um dut eiii solches, das in
einer Auflage von höchstens dreihundert Exemplaren
gedruckt wurde. Das Thema seiner Forschungen
eignet sieb tatsächlich nicht direkt selbst Gtc ge-
bildete Laien. Und das konnte er weder verstehen
noch ertraeen, dass andere die von ihm herbeiee-
schafiten knltnrgeschichtlichen Bausteine zn hohen
und luftigen Gebäuden, allen zugänglich, benutzten.
Hätte er es gekonnt, so würde er dies yerhindert
haben. Ich kann das Wort nicht unterdrücken;
es war dies ein unjüdischer Zug in seinem Wesen.
Denn bei Juden pjüt es stets als das grösste Ver-
dienst, die Schätze des menschlichen Wissens frei-
^big zu verteilen, und im Talmud wird der
am beftigHten getadelt, der sein Wissen für sich
behält oder nur wenigen mitteilen will.
Aber glücklicherweise ist auch dieses Ideal
Steinschneiders, die Wissenschaft sorgf^tig vor
den Augen nicht EJngevreihter zu verbergen, nicht
verwirklicht worden Er hat für das jüdische Volk
mehr geleistet, als in seiner Absicht lag. Er hat
sich oft im Leben über die Unberufenen beklagt,
die sich in die Wissenschaft des Judentums ver-
liefen. Dies mag in manchen Fällen bedauerlich
sein, aber der Wissenschaft hat es nicht geschadet.
Wenn die Kenntnis des Judentums, wie wir hoffen,
dereinst, sei es in der ersten Quelle, oder durch Popu-
larisierung, allen Juden eigen sein wird, so wird man
auch Steinschneiders nnsterbliche Leistungen zu wür-
digen verstehn, trotzdem er dies gar nii-ht wollte.
Was jüdische GJelehrte und Forscher auf dem (Je-
biet des Judentums geschahen haben, ist der
geistigen Kraft des jüdischen Volkes entnommen
und gehört fBa- immer der jftdischen Gesamtheit an.
DANIEL OSIRIS.
Am 4. Februar starb zu Paris im Alter von
82 Jahren der Offizier der EhrenlegiOD Daniel Osirla
Iffla. O&iris ~ er pflegte sich nicht mit seinem
Familiennamen zu nennen — war der Sohn eines
jüdischen Kaufmann^ in Bordeaux und
kam im Alter von 14 Jahren nach
Paris, wo er im Kontor eines Bank-
geschäfts seine finanzielle Karriere
begann. Er gelangte sehr rasch zn
grossem Beichtom, der ihm die
Mifglicbkeit gab, schon hei Lehzeiten
philanrhropiscbe Werke von be -
wundemawerter Art zu stiften. Er
war nicht nur ein faodiherziger Wohl-
tater der leidenden, sondern auch ein
verständniavolter Wohltäter der „ge-
Diessenden" Menschheit. Er war nicht
nur ein Erbauer von KrankenMusem,
sondern — in erster Linie — ein
tatkräftiger Förderer der Künste und
Wissenschaften. Seine Vaterstadt
schmückte er mit üffentUchen Brunnen, Daniel
der Stadt Nancy schenkte er eine
Statue der Jungfrau von Orleans. Jüngst noch be-
dachte er die Stadt Paris mit einem Standbild Mnrrets,
das vor dem Th^ätre Fran^aia aufgestellt worden ist.
Im Jahre 1889 stiftete er ans Anlass der Pariser Welt-
ausstellung einen Preis von 100 000 Franks für das
wertvollste Werk anf dem Gebiete der Knnst, der
Wissenschaft oder der Industrie; 1900 stiftete er einen
neuen Preis von 100 000 Franks ftlr die Dützlichste
wissenschaftliche Entdeckung. Die ersten Empfönger
dieses Preises waren der verstorbene Professor Curie
für die Entdeckung des Radiums und Brandly, der
Erfinder der drahtlosen Telegraphie. Im Jahre ^90b
schenkte er dem Staate das Schloss
Atalmaison, die frühere Residenz der
Kaiserin Josefine. Noch viele andere
grossartige Stiftungen sind dauernd
mit dem Namen Osiris verknttpfL
Sein Steckenpferd aber bildete
gleichsam das Erbauen von Synagogen.
Hierbei verfuhr er streng nach dem
Prinzip, nur für den äusseren Bau zu
sorgen, die innere Einrichtung and die
Ausschmückung der Qottesbänser übei-
liess er den Gemeinden.
Trotz seines unermesslicben Reich-
tums verschmälite Osiris für seine Person
jeden Luxus, ja selbst manche Bequem-
lichkeiten, auf die sogar der „bessere
Mittelstand" nicht verzichten würde.
Osins. jj-y^ (^ jjg Ausschmückung seiner
letzten Ruhestätte gab er eine
grössere Somme her. An seiner Familiengruft anf
der judischen Abteilung des Hontmartre-Friedhofs Hess
er eine Marmomachbildnng des „Moses" von Michel
Angelo anbringen. Später erschien Ihm der Marmor
an diesem Orie nicht passend, und er ersetzt« Ihn durch
eine Kopie aas Bronze. Das MarmorstandbUd aber
schenkte er der Alllance Israelite universelle
für ihr Lehrerseminar, in deren Garten es jetzt steht.
187
ISS
PSALM 42
Nachdruck verboten.
Andante con moto.
Hirsch Liwschitz.
SOPRAN.
TENOR.
ORGEL
od.
HARMONIUM.
4^^
^
Wie der Hirsch schrei
et nach fri-schem Was
te
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Wie der Hirsdi schrei-
semprelegaiö
i.rii urrirrM^ii '; [ i;f^^[i' -^ ;i
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cresc.
zu dir o
cresc.
et nach fri «schein Was
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ser.
so schrei-et mei . no See - le
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Gott, zu dir o Gott, zu dir
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o Gott. Wann 'wer- de ich da . hin kom - men, dassich
cresc.
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Gott, zu dir o Gott, zu dir o
Gott.
Wann wer- de ich da - hin
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191
192
DER POGROM.
Von Maria Konopnicka. — Aus dem Polnischen.
Nachdruck verboten.
IL
Nach dem Mittagessen macht sich der Kleine
an die Arbeit, indem er aus dem Tornister seine
Bücher und Hefte hervorholt, während der Alte an
seinen Arbeitstisch geht. Obgleich das Kind sich
still verhält und nur mit halblautem Fltlstem seine
Lektionen wiederholt, scheint dem alten Buchbinder
doch etwas bei der Arbeit hinderlich zu sein. Jedes-
mal wendet er den Kopf, um den Knaben anzusehen,
und obgleich er nur die Hand auszustrecken braucht,
um Kleister zu haben, macht er doch absichtlich einen
Umweg um die ganze Länge der Stube, um unter-
wegs den Enkel in die bleichen Wangen zu kneifen,
•der ihm das kurzgeschorene, weiche und dichte
Haar zu streicheln. Der Knabe ist offenbar an diese
Liebkosungen gewöhnt, denn er unterbricht weder
sein eifriges Murmeln, noch die wiegenden Bewegungen.
Und der Grossvater ist damit sehr zufrieden ; leise auf-
tretend kehrt er auf seinen Platz beim Arbeitstisch
zurück.
Am Freitag vor Abend ändert sich die Szene;
der Kleine lernt beim Fenster, indem er sich müh-
selig auf seinem Sessel hin- und herwiegt, auf dem
Tischchen li^t ein weisses Tischtuch, und die Nach-
barin bringt Fische, Nudeln mit Brühe und eine fette,
eben vom Bäcker abgeholte, hübsch gebräunte Ente.
Ein Zinnleucbter von seltsamer Form erhellt die Stube
mid verleiht ihr ein feierliches, testliches Aussehen.
Der alte Mendel hat einen etwas abgetragenen,
aber noch immer schönen schwarzen Kaftan an,
mit breitem Gürtel darüber, in den er mit einem
wonnigen Gefühl seine abgearbeiteten Hände steckt.
Ein Käppchen bedeckt sein graues Haar, und das
Knistern der neuen Stiefel mit Schäften erfüllt den
Kaum mit einem gewissen heiteren Geräusch. So-
bald der Tisch angerichtet ist, wäscht sich der
Knabe, kämmt sein Haar, das wie ein Maulwurfs-
vliess aussehende Haar auf dem kleinen, länglichen
Köpfchen, knöpft sich einen frischen Kragen und
frische Manschetten an, und die Hände auf dem
Rücken gekreuzt steht er da, ernst und gerade auf-
gerichtet, während der Grossvater nach dem Tales
(Gebetmantel) und Gebetbuch langt.
Eine Weile später erklingen die Töne eines
hellen Singsangs. Der alte Jude betet. Seine Stimme
durchläuft alle Tonfalle, von den tiefsten Lagen bis
zu den höchsten, die sich zu einem Stöhnen und
inbrünstigen Klagen erheben, voll leidenschaftlicher,
flehender schluchzender Akzente. Unter dem Ein-
druck dieses Gesanges empfindet der kleine Gymnasiast
einen nervösen Schauer, sein bleiches Gesichtchen
wird noch bleicher, seine grossen Augen werden
übermässig weit, bald schliessen sie sich und, füllen
sich mit Tränen; er blickt auf den Grossvater wie
gebannt, und ein spasmatisches Gähnen öffnet sein
Mund. Zum Glück schlägt der Alte das grosse
Gebetbuch zu und beginnt mit einem Segensspruch
'««? Sabbatmahl.
Im Sommer kam es einmal vor, dass die Burschen
vom benachbarten Schlosser und Schuster sich vor
dem geöffneten Fenster des alten Buchbinders ver-
sammelten, in die von dem Samstagslicht erhellte
Stube guckten und über das Gebet des Juden höhnten
und schlechte Scherze trieben. Li diesem Augenblick
ging der alte Pfarrer vorbei, er blickte flüchtig ins
Fenster, und als er den betenden Juden sah, der so
wehmütig zu seinem Gott rief, lüftete er ehrfürchtig
den Hut. Die Burschen liefen davon, wie vom
Winde auseinandergejagt, und seither war kein Fall
mehr vorgekommen, wo der Friede der armen Be-
hausimg gestört worden wäre.
Erst vorgestern . . .
Eigen tlichwarauchvorgestemnichts vorgekommen.
Nur der Kleine kam aus der Schule ohne Mütze,
keuchend, wie ein gehetzter Hase. Anfangs wollte
er nichts* sagen. Erst nach langer Inquirirung kam
es heraus, dass ihn ein zerlumpter Gassenbube unter-
wegs „Judl . . Jud!*' angebrüllt hatte; daher sei
er davongelaufen, habe die Mütze verloren und nicht
gewagt zurückzukehren, um sie zu suchen.
Eine 2k)meswelle stieg in das Gesicht Mendel's.
Er richtete sich empor, als sei er plötzlich gewachsen,
spuckte aus, dann fasste er den Knaben hart bei
der Schulter, schob ihn zum Tisch und verzehrte
schweigend das Mahl.
Nach dem Mittagessen kehrte der Alte nicht zu
seinem Arbeitstisch zurück, stopte keine Pfeife,
sondern ging im Zimmer auf und nieder. Auch der
Kleine machte sich nicht ans Lernen, sondern be-
trachtete den Gross vater mit erschrockenen Augen.
Noch nie hatte er ihn so zornig gesehen.
„Höre, Du!" brachte endlich Mendel hervor,
indem er vor seinen Enkel sich aufpflanzte. „Als
ich Dich, eine kleine Waise, zu mir nahm, und Dich
erzog und hegte und pflegte, und Dir Mutter und
Wärterin vertrat, so habe ich das nicht deswegen
getan, damit Du ein Dummkopf würdest. Und als
ich Dich' lernen Hess, und Dir Bücher kaufte, so
habe ich das auch nicht dazu getan, damit Du
dumm bleibst. Und Du wächst ganz dumm heran ^
und hast kein Fünkchen Klugheit in Dir. Wenn
Du ein Fünckchen Klugheit in Dir hättest, würdest
Du Dich nicht schämen, nicht weinen und nicht
davonlaufen, wenn man Dir auf der Strasse „Jud'!"
zuruft. Und wenn Du darüber weinst, davonläufst
und mir noch dazu eine so schöne Mütze verlierst,
die fünf polnische Gulden weniger sechs Groschen
in baarem Gelde kostet, na, so bist Du mir ganz
dumm, und die Schulen, die Bücher, das Lernen,
Alles nützt zu nichts".
Er holte Athem und hub dann wieder zu
sprechen an.
„Nun, was ist das: Jud'? Nu! was heisst: Jud'r"
sagte er schon mit etwas sanfterer Stimme. „Du
bist in dieser Stadt geboren, bist also kein Fremder,
193
Maria Konopnicka: Der Progrom.
194
gehörst hierher, bist ein hiesiger, hast ein Recht,
diese Stadt zu lieben, so lange Du redlich bleibst.
Du hast Dich dessen nicht zu schämen, dass Du
Jude bist. Wenn Du Dich schämst, dass Du Jude
bist, so hältst IDu Dich selber für niedrig, nur weil
Du Jude bist, nu, wie kannst Du dann für diese Stadt
etwas Gutes tun, in der Du geboren bist? Wie
kannst Du diese Stadt lieben? Nu? . . ."
Er verschluckte sich und blieb wieder vor dem
Knaben stehen. Jetzt aber schaute er auf sein er-
schrockenes Gesichtchen mit einer gewissen Rührung.
Er legte die Hand auf sein Haupt und rief mit Nachdruck :
„Ein redlicher Jude bleiben, das ist eine schöne
Sache! Merk' Dir das! Und jetzt gehe lernen, damit
Du aufhörst, dumm zu sein; und eine Mütze werde
ich Dir schon kaufen, Du brauchst deshalb nicht zu
weinen, das ist eine Dummheit."
Der Kleine küsste dem Grossvater die Hand
und ging an die Arbeit. Den Alten aber hatte die
Sache doch mehr aufgeregt, als er vor dem Kleinen
entdecken wollte. Denn er ging im Zimmer auf und
ab, ohne die angefangene dringende Arbeit zu voll-
enden, spuckte jedesmal in den Winkeln aus, als
hätte er etwas Bitteres verschluckt. Er hatte auch
über Nacht diese Bitternis noch nicht verdaut, denn
am Morgen erhob er sich noch gebückter und mehr
gealtert, als sonst. Als der Kleine sich die Riemen
seines Tornisters befestigte und zur Schule ging, stand
er lange noch am Fenster und sah ihm unruhig nach.
Diese Unruhe verliess ihn auch während der
Arbeit nicht. Oefter als gewöhnlich, offenbar im
Zustande einer Gereiztheit, stopfte er das kurze
Pfeifchen und blickte argwöhnisch in diese Gasse,
die er so lange nnd so gründlich kannte. Und
vielleicht war eben diese seine Gereiztheit schuld,
das ihm ihre Bewegung und das rege Treiben anders
als gewöhnlich vorkamen.
Aber als der Kleine aus der Schule fröhlich
heimkam, weil er eine gute Zensur bekommen, und
belustigt über die neue Mütze, die ihm über die
Stirn fiel, vergass der Alte ganz alle seine Phantasie-
gebilde und, sei es für sich selber, oder um dem
Kleinen eine Freude zu machen, begann er bei der
Arbeit zu pfeifen, wie in den Zeiten der Jugend.
Nach dem Mittagessen kam der ewig nach
Bisam riechende Dependent hereingestürzt, um sich
seine zusammengenähten Akten zu holen.
In der Stube war es schon dunkel, als durch
die niedrige Tür der dicke Uhrmacher im aschgrauen
Havelock sich hineindrängte, den er immer um diese
Stunde trug.
„Haben Sie Neues gehört?** frug er, indem er
sich auf den Rand des Tisches setzte, an dem der
Knabe studirte.
„Nu,* versetzte Mendel, „was gehen mich
Neuigkeiten an? Ist es eine gute Neuigkeit, wird sie
gut bleiben, auch wenn sie nicht mehr eine Neuig-
keit ist; ist sie böse, was nützt es mir zu wissen!*
„Es heisst, dass man die Juden schlagen soll,*
rief der beleibte Uhrmacher, indem er den Fuss mit
dem ausgeschnittenen Schiüi und der Stahlspange
hin und her wiegte.
Der alte Mendel zwinkerte einige Male nervös mit
den Augen, ein plötzliches Beben zuckte um seinen
Mund. Bald aber hatte er sich wieder in seiner
Gewalt und im Tone jovialer Gutmütigkeit sprach er:
„Juden? Welche Juden? Was flir Juden wiU man
schlagen? Die Diebe, oder solche, die den Leuten
Böses tun, unterwegs die Reisenden berauben, die
den Armen die Haut herabziehen, warum nicht?
Ich selber werde hingehen und sie schlagen!*
.Aber nein!" lachte der Uhrmacher.
.Alle
Juden! . . ."
In den grauen Augensternen Mendel's flammte
ein plötzlicher Glanz auf. Er dämpfte ihn durch
die halb gesenkten Wimpern und mit gekünstelter
Gleichgültigkeit sprach er:
„Nu, warum sollen alle Juden geschlagen werden?*
„Wieso, warum?* erwiderte der Uhrmacher frei-
müthig. „Darum, weil sie Juden sind!*
„So?" sagte Mendel, indem er halb seine grauen
Augen schloss: „Warum gehen die Leute nicht in
den Wald, um die Birken und die Tannen zu schlagen,
weil sie Birken und Tannen sind? . . .*
„Ha, ha!* lachte der Uhrmacher. „Jeder Jude
hat seine Axisflüchte. Aber, lieber Freund, diese
Birken und diese Tannen sind ja unser, in unserem
Walde, auf unserem Grund und Boden aufgewachsen.*
In Mendel brauste es auf, dass er sich ver-
schluckte. Er beugte sich leicht zu seinem Gegner
hinüber und blickte ihm tief in die Augen.
„Nun, und ich, wo bin ich aufgewachsen? Aus
welchem JBoden heraus bin ich aufgesprosst? Wie
lange kennen Sie mich schon? Siebenundzwanzig
Jahre kennen Sie mich! Bin ich ich etwa hierher
gekommen, wie man in ein Wirtshaus kommt. Wie
Einer, der isst, zecht und nicht bezahlt? Nein, ich
bin nicht wie in ein Wirtshaus hier eingekehrt. Ich
bin in dieser Stadt aufgewachsen wie die Birke im
Walde. Habe hier mein Brod gegessen > das ist
wahr. Hab' auch Wasser getrunken, auch wahr.
Aber für mein Brod und Wasser habe ich bezahlt!
Womit habe ich bezahlt? Wollen Sie wissen, womit
ich bezahlt habe?"
Er streckte seine beiden abgearbeiteten, trockenen
und nervigen Hände vor sieh aus.
„Nu," sagte er mit einer plötzlichen Wallung,
„mit diesen fünf Fingern habe ich bezahlt! Sehen
Sie diese Hände?*
Wieder beugte er sich herab xmd fuchtelte mit seinen
mageren Händen vor dem Gesichte des Uhrmachers.
„Diese Hände haben das Brod und das Wasser
nicht unverdient zu den Lippen geführt. Diese
Hände sind krumm geworden vom Messer, von den
Zangen, der Schraube und dem Hammer. Ich habe
mit diesen Händen flir jeden Bissen Brod und für
jeden Schluck Wasser bezahlt, die ich verzehrt. Ich
habe auch noch diese Augen hinzugelegt, die nicht
mehr gut sehen wollen, und diesen Rücken, der sich
nicht mehr gerade strecken will, und die Füsse, die
mich nicht mehr tragen wollen!*
Der Uhrmacher hörte teilnahmslos tu, während
er mit seiner Uhrkette spielte. Der Jude erhitzte
sich vom Reden noch mehr.
ff
195
Maria Könopnicka: Der Progrom.
196
„Nu, wo ist meine Bezahlung? Sie ist in der
Schule bei den Kindern, bei den jungen Herren und
Fräuleins, die in den Büchern studieren und in den
Heften schreiben, die ich mit meinen Händen da
gebunden habe. In der Kirche ist sie, wenn die
Leute mit meinen Büchern dorthin gehen. Nu,
meine Bezahlung ist in der Hand des gnädigen Herrn
Pfarrers, dem ich auch seine Bücher einbinde, leben
und gesund sein soll erl"
Hier lüftete er das Käppchen, dann fügte er
hinzu:
„Meine Bezahlung ist in guten Händen!^
^Dass sind blosse Redensarten, ** erwiderte der
Uhrmacher diplomatisch, „aber Jude bleibt immer
Jude«.
Neue Funken erglühten in den Augen des alten
Buchbinders.
„Nu, was denn soll er sein? Ein Deutscher soll
er sein, ein Franzose soll er sein? Vielleicht soll er
gar ein Pferd sein? Zum Himd nämlich hat man
ihn längst schon gemacht! Verstehen Sie das?^
„Nicht um das handelt es sich," rief der Uhr-
macher pathetisch, „es handelt sich darum, dass der
Jude kein Fremder sein soll".
„So, darum handelt es sich," versetzte der
Jude, indem er sich zurückneigte und die Ellen-
bogen an sich zog. „Nu, so hätten Sie doch gleich
sprechen sollen. Das ist einmal ein gescheidtes
"Wort. Wissen Sie, ich höre sehr gern ein gescheidtes
Wort Ein gescheidtes Wort ist dem Menschen wie
Vater und Mutter. Um ein gescheidtes Wort zu
hören, möchte ich eine Meile weit gehen. Das
nährt mich, wie das litbe Brod. Wenn ich ein
reicher Mann wäre, ein Banquier z. B., so möchte
ich für jedes geicheidte einen Dukaten geben. Sie
sagen, der Jude soll nicht fremd sein? Nu, das sage
ich ja auch. Er soll nicht ein Fremder sein.
Warum soll er fremd sein, er gehört ja hierher.
Glauben Sie, dass, wenn der Regen fällt, er den
Juden nicht durchnässt, weil er fremd ist? Oder
glauben Sie, dass, wenn hier der Wind weht, er
dem Juden keinen Sand in die Augen streut, weil
er hier fremd ist. Oder glauben Sie, dass, wenn hier
der Ziegel vom Dache fällt, der Jude verschont
bleibt, weil er fremd ist? Nu, da muss ich Ihnen
aber sagen, dass er ihn nicht verschont, und auch
der Wind nicht, und auch der Regen nicht. Sehen
Sie mein Haar und meinen Bart? Sie sind graul
Was bedeutet das? Das bedeutet, dass sie vielerlei
Dinge gesehen und bewahrt haben. Sie haben
grosse Feuer, grosse Brände und scharfe Blitze ge-
sehen, die auf diese Stadt niederzuckten, aber das,
dass die Juden verschont geblieben wären, das haben
sie nicht gesehen. Nu, und wenn die Nacht über
diese Stadt kommt, so scheint auch für die Juden
keine Sonne."
Er holte tief und schwer Atem.
Er streichelte wiederholt seinen weissen Bart,
dachte ein wenig nach, dann hub er an:
„Entschuldigen Sie, Herr Nachbar, wer hat es
-'.agt, das man die Juden schlagen soll? Ich wollte.
bevor Sie das Kind wegschickten, nicht fragen, um
es, Gott behüte, nicht zu erschrecken, denn das ist
ein sehr zartes Kind, aber jetzt frage ich Sie
darüber."
Er lächelte einschmeichelnd, herzgewinnend, und
seine grossen Augen blickten mit ängstlicher Neu-
gierde drein.
Der Uhrmacher, den die früheren Ausführungen
des Juden etwas aus der Fassung gebracht hatten,
ftihlte sofort seine Ueberlegenheit.
„Man sagt . . .»" brummte er nachlässig, indem
er die Lippen blähte.
„Nu, wer sagt?" fragte der Jude und seine Augen
gewannen einen scharfen, stechenden Ausdruck.
„Menschen sagen ..." brummte der Gefragte
in demselben Tone.
Der alte Jude sprang plötzlich ^wei Schritte
zurück mit einer Geschicklichkeit, die niemand bei
ihm vermutet hätte. Sein Blick brannte, die Lippen
bebten, der Kopf hob und senkte sich.
„Menschen? . . . Menschen sagen das? ..."
fragte er mit zischender Stimme, immer höhere
Töne greifend.
„Menschen?"
Bei jedem Worte bückte er sich mehr und
mehr, so dass er fast zu sitzen kam.
Der Uhrmacher blickte fragend drein, spielte
mit seiner Ubrkette und schaukelte den elegant
beschuhten Fuss hin und her. Er bedachte jedoch,
dass diese Haltung des Juden ihm gegenübar un-
passend und lächerlich war.
„Was wundert Sie das so?" fragte er kühl.
Aber der alte Bachbinder hatte sich schon be-
ruhigt. * Er blickte um sich, stemmte die Arme
in die Hüften, hob das Kinn empor und schloss
die Augen.
„Sie irren sich!" rief er. „Menschen sagen
das nicht. Das sagt der Schnaps, das sagt die
Schänke, das sagt die Bosheit und die Dummheit,
das sagt der böse Wind, der weht!"
Er erhob die Hand und machte eine ven^chtungs-
volle Bewegung.
„Sie können ruhig schlafen. Ich werde auch
ruhig schlafen und mein Kind auch. Unsere Stadt
hat schon viel Trauriges erlebt, viel Dunkelheit und
viel Unglück ist über sie gekommen, aber das war
npch in unserer Stadt nicht, dass die Menschen sich
in ihr beissen sollten, wie die Hunde. Was das aa-
betriflft, so können Sie ruhig sein."
Er biss die Lippen zusammen und griff nach
dem schweren Zinnleuchter, als wollte er dem Gast
hinausleuchten. Dieser g4itt vom Tisch herunter,
wickelte sich in seinen Havelock, schob sich den
Hut zurecht, der ihm auf den Nacken herunter-
gerutscht war, sagte kurz: „Guten Abend!" und ent-
fernte sich.
Der Jude trat von der Tür zurück, stellte den
Leuchter auf den Tisch, dann schritt er auf den
Zehen zum Alkoven, schob den Vorhang beiseite
und horchte. (Schluss folgt)
107
198
MITTEILUNGEN AUS DEM DEUTSCHEN BUREAU
DER ALLIANCE ISRAELITE UNIVERSELLE. CZZ
(Berlin N. 24, Oranienburgerstr. 42/43 1).
1
r
DIE VIERTE TAGUNG DER DEUTSCHEN CONFERENZ-
GEMEINSCHAFT DER ALLIANCE ISRAELITE UNIVERSELLE
am IQ. Februar 1907
Zum 18. Febrnar, dem Vorabend der Vierten
regelmässigen Jahressitzung der Deutschen Con-
ferenz-Gemeinschaft der Alliance Israölite Universelle,
hatte Herr Charles L. Hallgarten die Mitglieder
der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft, die bereits
vor der Tagung in Frankfurt eingetroffen waren,
und alle in der Judenheit Frankfurts in vorderster
Reihe stehenden Männer in sein gastliches Haus
eingeladen. Es war eine überaus stattliche Ver-
sammlung, die sich dort zusammenfand — es
fehlte kaum ein Name von Bedeutung aus unserer
Glaubensgemeinschaft in der Mainstadt. Herr
Hallgarten hiess die Erschienenen mit herzlichen
Worten willkommen. Dem Dank der Gäste gab
der Präsident der Deutschen Conferenz-Gemein-
schaft Herr Geheimrat Goldberger-ßerlin Ausdruck.
Die Alliance Isra^lite Universelle, sagteer, sei
kein Hilfsverein der deutschen Juden und
kein Hilfsverein der französischen Juden.
Wir Juden in Deutschland sind gute Deutsche, die
Juden in Frankreich gute Franzosen; wir Juden
stehen keiner Glaubensgemeinschaft nach in natio-
nalem Zugehörigkeitsgefühl und patriotischem Em-
pfinden. In dei: Alliance Israelite Universelle
aber sind wir nur Juden, ohne nationale Fär-
bung, ohne nationalistische Tendenzen, einzig
bestrebt, für die Gleichstellung und den mora-
lischen Fortschritt unserer Glaubensgenossen
zu arbeiten und denen, die als Juden leiden, wirk=
same Hilfe zu bringen. Für uns in der Alliance gibt
es nur einen Bekenntnisruf: „Schema Israel," und
auf <}iesen Ruf nur die eine Antwort: „Hinneni,"
— hier bin ich ! — sobald es gilt, Hilfe zu bringen.
Im Verlauf des Abends sprachen noch die
Herren Dr. Frank-Köln, Feinstein- Königsberg,
Schlesinger-Frankfurt a. M., Dr. Blau-Frank-
furt a. M. Bis tief in die Nacht blieb man bei-
sammen — ein harmonisches Präludium für die
Verhandlungen des folgenden Tages.
Am 19. morgens 9^2 Uhr begannen diese Ver-
handlungen unter dem Vorsitz der Herren Geheimrat
Goldberger und Charles L. Hallgarten in einem
Saal der Frankfiirt-Loge. Die Beratungen währten,
mit einer geringen Pause, bis zum späten Abend.
in Frankfurt a. M.
Vor Eintritt in die Tagesordnung verlas der
Vorsitzende drei Zuschriften, die bei den Zuhörern
freudigste Stimmung erweckten. Der Ehrenpräsident
des Berliner Lokal-Comites der A. I. U. und Mit-
glied des Pariser Central-Comitös, Herr Sanitäts-
rat Dr. Neu mann, entschuldigte sein Fernbleiben
von der Tagung mit der Rücksicht auf sein Alter
und seinen Gesundheitszustand und knüpfte daran
die besten Wünsche für ein treues und er-
folgreiches Arbeiten der deutschen Juden im
Sinne der unvergänglichen Prinzipien unserer
lediglich universellen Alliance."
Herr I. M. Bielefeld aus Mannheim, der
Nestor der Deutschen C'Onferenz- Gemeinschaft,
hatte an den Vorsitzenden des Frankfurter Lokal-
Comit^s der ALU, Herrn Theodor Schlesinger,
folgendes geschrieben:
Da ich durch die gütige Vermittlung meines
lieben Freundes Herrn Charles L. H^lgarten,
und Ihr freundliches Entgegenkommen die Ehre
haben werde, Sie bei der morgenden Versamm-
lung der A. 1. U., wenn auch leider nur schrift-
lich, als meinen Vertreter begrüssen zu dürfen,
so erlaube ich mir schon heute die ergebene
Bitte, die vereinigten Herren auch in meinem
Namen, da ich als 94:jähriger wohl der älteste
sein werde, herzlich zu begrüssen und den
Wunsch auszusprechen, dass dem gemeinschaft-
lichen Streben ein voller Erfolg zur Ehre der
Alliance und das ganzen Judentums beschieden
werde.
Es sind 40 Jahre vergangen, seit ich im
Mai 1867 das erste Comit6 in Havre gegründet
habe. Unmittelbar nach dem Kriege 70/71
habe ich in Mannheim, wohin ich meinen Wohn-
sitz wieder verlegt hatte, mit voller Kraft an
dem Wachstum der Alliance Israelite Universelle
und mit glücklichem Erfolg gearbeitet und das
noch heute bestehende Landescomit6 für das Gross-
herzogtum Baden mit seinen Filialen gegründet.
Ich fühle meine Kraft zum Schreiben
schwinden und muss schliessen.
Nehmen Sie meinen herzlichen Dank für
Ihre Bemühungen für mich und meine Ent-
schuldigung für den so leeren Brief. Alters-
schwäche in Kopf und Hand muss mich ent-
schuldigen. Empfehlen Sie mich gefl. den
Herren Präsidenten.
199 Mitteilungen der Alliance Isra^Iite Universelle: Die vierte Tagung der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft etc. 200.
Der ganze Brief ist von Herrn Bielefeld eigen-
händig geschrieben.
Von dem Präsideuten des Pariser Centrai-
Comitte der A. l. U. Herrn Narcisse Leven
war folgender Brief eingegangen :
Cher President!
Je suis vraiment touch6 de votre iusistance
k me faire venir k Francfort et regette d'en
etre empechö par rinclßmence de la saison et
surtout par T^tat de sant6 de nia femme, qu'un
accident, heureusement 16ger, retient au lit.
Veuillez, je vous prie, dire aux raembres de
la r6union, comme j'aurais ^t6 heureux de me
trouver au milieu ü'eux pour les remercier de
ce qu'ils out fait et etudier avec eux ce qui
reste k faire'pour le d^veloppement de T Alliance
en AUemagne. Je leur souhaite de röussir ä
donner un nouvel essort k notre grande
Institution qui, pour avoir un demi si^cle
d'existence environ, n'a pas vieilli, et reste
roalgrä tout ce qui a 616 tent6 k cöt6 d'elle,
plus que Jamals nöcessaire au maintien de
l'unit6 dans l'action pour le bien de nos
coröligionnaires
Votre bien d6vou6
N. Leven.
Paris, le 14 fövrier 1907.
Verehrter Herr Präsident!
Ich bin innig gerührt von der Dringlichkeit
Ihrer Einladung nach Frankfurt und bedaure,
dass ich durch die Untrunst der Jahreszeit und
namentlich durch den Gesundheitszustand meiner
Frau, die ein glücklicherweise leichter Unfall
an das ßett fesselt, gehindert bin, der Ein-
ladung zu folgen.
Haben Sie die Güte, ich bitte Sie darum,
den Mitgliedern der Deutschen Conferenz-
Gemeinschaft zu sagen, wie glücklich es mich
gemacht hätte, mich in ihrer Mitte zu befinden,
um ihnen den Dank für alles auszusprechen,
was sie getan haben, und mit ihnen zu prüfen,
was tür die Entwickelung der Alliance in
Deutschland noch zu geschehen hat. Ich
wünsche der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft,
dass es ihr gelingen möge, neuen Aufschwung
unserer grossen Gemeinschaft zu geben, die
nach einem Dasein von fast einem halben Jahr-
hundert nicht gealtert hat und trotz allem, was
neben ihr versucht worden ist, mehr denn je
notwendig ist zur Erhaltung einheitlicher
Tätigkeit für das Wohl unserer Glaubens-
genossen.
Ebenfalls von dem Präsidenten des Central-
ComitÄs von Paris war nachstehendes Telegramm
gelangt:
Le comit6 central me Charge de vous adresser
ainsi qn'a nos excellents coUögues de la Deutsche
Conferenz - Gemeinschaft affectueux sentiments.
H est convaincu que vos döliberations con-
stitueront une nouvelle ätape dans la marche
eu avant de TAlliance pour le plus grand bien
d« Judaisme. Leven.
Das Central- Comitö beauftragt mich, für
Sie und unsere ausgezeichneten Kollegen von
der Deutschen Conferenz - Gemeinschaft der
Vermittler seiner freundschaftlichen G^ftlhle zu
sein. Das Central-Comit6 ist überzeugt, dass
tbre Beratungen einen neuen Ausgangspunkt
bilden werden ftir das Fortschreiten der Alliance
zum Wohl der Judenheit. Leven.
Die telegraphischen Antworten auf diese Kund-
gebungen lauteten in der gleichen Beihenfolge:
Sanitätsrat Dr. Neumann -Berlin.
Dem Ehrenpräsidenten des Berliner Lokal-
Comitös, dem hochverehrten Kollegen entbietet
für seinen freundlichen Gruss in herzlicher
Gesinnung sgemeinscbaft innigen Dank die zur
vierten Tagung vereinigte
Deutsche Conferenz-Gemeinschaft der
Alliance Isra61ite Universelle
Goldberger. Hallgarten .
Herrn I. M. Bielefeld -Mannheim.
Ihrem würdigen Nestor bringt mit dem
Wunsch, dass ihm die Zahl der Jahre der
Patriarchen in Frische und Rüstigkeit beschieden
sein möge, verehrungsvollen dankenden Gruss
die zur vierten Tagung vereinigte
Deutsche Conferenz -Gemeinschaft der
Alliance Isra^lite Universelle
Goldberger. Hallgarten.
„Präsident Narcisse Leven Paris.
Die Mitglieder der Deutschen Conferenz-
Gemeinschaft bringen bei Beginn ihrer vierten
Tagung in Frankfurt a./Main dem hochver-
dienten Präsidenten des Central -Comit6 ver-
ehrungsvollen Gruss und den Ausdruck herzlicher
Zugehörigkeit dar. Sie danken aufrichtig tür
die guten und treuen Wünsche in dem lieben
Brief vom 14. Februar und in dem Begrüssungs-
telegramm, das allgemeine freudige Stimmung
erweckt hat.
Die Vorsitzenden
Goldberger. Hallgarten. "
Hiemach trat die Versammlung in die Tages-
ordnung ein, die folgendermassen lautete:
1. Rechenschafts- imd Arbeitsbericht des Prä-
sidiums ftir das Jahr 1906 und Arbeitsplan
füi^ 1907. (§ 9 der Satzungen.)
2. Bericht der Mitglieder über ihre Bezirke.
3. Ausbau der Organisation der Deutschen
Conferenz-Gtemeinschaft und Anträge.
201 Mitteilungen der Alliance Israelite Universelle: Die vierte Tagung der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft etc 202
4. Beschlassfassapg Über die bxl die Centrale
nach Paris zu richtenden Anträge. (§ 2 der
Satzungen.)
5. Die Stellung der Deutschen Conferenz-Ge-
meioschaft zu anderen jüdischen Organi-
sationen im Tnlande, und jüdischen Tagesfragen.
6. Unvorhergesehenes.
Der Vorsitzende, Herr Geheimrat Goldb erger,
erstattete den Rechenschafts- und Arbeitsbericht für
1906. Der Bericht konstatierte das Aul^blühen der
Alliance in allen Teilen Deutschlands, die Erweiterung
«les gesamten Arbeitsfeldes und die Ausgestaltung
der Täiigkeit im Geiste der Stifter. Der von
dem Herrn Vorsitzenden entwickelte, an die seit-
herige umfassende Tätigkeit sich anschliessende
Arbeitsplan für das Jahr 1907 fand allseitige Zu-
stimmung. In dem Bericht des Präsidenten, wie in
den Berichten der Mityliedertiber ihre Bezirke
(Punkt 2 der T.-O ) wurde mit vorbehaltloser Aner-
kennung des Organs der Deutschen Conferenz-Ge-
meinschaft, der Monatsschrift „Ost und West"* ge-
dacht. Es herrschte nur eine Stimme darüber,
dass durch diese Monatsschrift ein ausgezeichnetes
Mittel gewonnen sei, nicht blos dauernde Be-
ziehungen zwischen der Deutschen Conferenz-
Gemeinschaft und allen ihren Mitgliedern zu unter-
halten, nicht blos die Mitglieder der Alliance fort-
gesetzt über alle Vorgänge in den Werken und in
dem Wirken der Alliance in Kenntnis zu setzen,
sondern gleichzeitig in jedes jüdische Haus Deutsc V
lands und des deul sehen Sprachgebiets Kunde zu
tragen von dem, was auf irgend einem Felde
geistigen jüdischen Lebens sich regt. Durch die
Verbreitung, die die Deutsche Conferenz-Gemeinschaft
ihrer Monatsschrift gibt, macht sie aus ihr, gjinz
im Sinne der Alliance, ein eigenes literarisches Schul-
werk für Erwachsene. Und wiederum geschieht
es im Geiste und nach den Gewohnheiten der Alliance,
dass sie dieses Schulwerk nicht abhängig macht
von Beitragsieistungen, dass sie ihr Blatt in jedes
Hau«< schickt, ohne besondere Beiträge, ohne
materi^Blle Ge^^euleistungen dafür zu fordern, zu-
frieden, dass sie jüdisches Wissen und Wissen
vom Judentum verbreitet, dass sie Gemeinsinn weckt
und hebt, und mehr und mehr die Gemeinbürgschaft:
zur Wirklichkeit macht, die in dem Wahlspruch
der Alliance Israölite Universelle sich ausdrückt:
„Ganz Israel bürgt für einander."
Zu dem dritten Gegenstand der Tagesordnung
wurde ein von den Vorsitzenden vorbereiteter
Antrag angenommen, der in seinem wesentlichen
Teil nachstehenden Wortlaut hat:
„Die Deutsche Conferenz-Gemeinschaft, die
den Wunsch hat, die Einheitlichkeit der A. I. U.
zu festigen und dem Gedanken und den Zielen
der A. L U. noch besser als bisher zu dienen,
erklärt es flir notwendig,
dass spätestens vom 1. Januar 1908 ab —
unbeschadet der Satzungen der A. I. U. und
unbeschadet der Beziehungen zwischen den
deutschen Bezirks- oder Landes- Comit^ und
ihren Lokal-Comit6s — alle deutschen Bezirks-
oder Landes- und Lokal-Comit6s ihre Ein-
nahmen an Beiträgen und Spenden, ihre Abrech*
nungen, nach Abzug der notwendigen Kosten,
und ihre Berichte dem Deutschen Bureau in
Berlin übermitteln, das die Weitergabe und
die Weitermeldnng an das Central-Comitä nach
Paris übernimmt. Dem Deutschen Bureau
liegt die Versendung aller Drucksachen an
die Einzelmitglieder wie an die einzelnen
Comit6s ob. Jedes Bezirks- bezw. Landes-
und Lokal-Comit^ soll berechtigt sein, von
dem Deutschen Bureau ein gewisses Mass an
Leistungen schriftlicher Arbeiten für die
Förderung der Organisation und Propaganda
oder Beihilfe hierzu für ihre Bezirke zu ver-
langen, und das Deutsche Bureau soll ver-
pflichtet sein, diesen Anforderungen nach
Kräften nachzukommen.^
Ferner wurden — vierter Gegenstand der
Tagesordnung — folgende Anträge der Vorsitzenden
angenommen:
„DieDeutscheConferenz-Gemeinschaft spricht
die Elrwartung aus,
1. dass das Central-Comit6 der A. L U. seinen
Beschluss vom 24. Oktober 1906, nämlich :
Zöglinge der Ecole Normal« in Paris
zum Erlernen der deutschen Sprache
nach Deutschland zu schicken
möglichst bald — nach vorheriger Ver-
ständigung mit dem Präsidium der D. G.-(^
über die Art der Ausführung — verwirk-
lichen wird;
2. dass das Central-Comitö der A. I. U. mit dem
Präsidium der D. C.-G. eine Vereinbarung
trifft, die die Ausbildung einiger Alliance-
schullehrer in Deutschland zum nahen
Ziele hat;
3. dass das Central-Comite der A. I. U. dem
Präsidium der D. C.-G. ein Vorschlags-
recht für die an den Allianceschulen anzu-
stellenden Lehrer der deutschen Sprache
einräumt ;
4. dass an den hierftir geeigneten Alliance-
schulen in Marokko deutscher Sprach-
unterricht eingeftihrt wird und hierbei
T
203 Mitteilungen der AUiancc Israclite Universelle: Die vierte Tagung der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft etc. 204
erstmalig das Alinea 3 vorhergesehene Vor-
schlagsrecht in Geltung tritt*
Bei dem fänften Gegenstand der Tagesordnung
kam die Deutsche Conferenz-Gemeinschaft auf Antrag
der Vorsitzenden zu folgendem Beschluss:
„Die Deutsche Conferenz-Gemeinschaft der
A. I U. hält daran fest, unter Wahrung ihrer
Selbständigkeit und Würde mit allen jüdischen
Hilfsorganisationen in Deutschland in freund-
lichem Einvernehmen zu bleiben. Sie beauftragt
ihr Präsidium, für die angemessene Fortführung
bereits bestehender oder die Anbahnung neuer
Zusammenarbeit mit jenen Organisationen die
erforderlichen Verabredungen zu treffen, und er-
mächtigt ihr Präsidium, die hierbei nötigen
Massnahmen Namens der Deutschen Conferenz-
Gemeinschaft anzuordnen."
Die Vorsitzenden wurden von der Deutschen
Conferenz-Gemeinschaft beauftragt, von allen vor-
stehenden Beschlüssen dem Central-Comit6 in Paris
Kenntnis zu geben.
Bei jedem einzelnen der bisher erwähnten
Punkte der Tagesordnung gab der Vorsitzende
eingehenden Bericht über die voraufgegangenen
Beratungen und über die mit dem Central-Comit6
in Paris gepflogenen Verbandlungen. Es ver-
dient besonders hervorgehoben zu werden, dass
alle Anträge mit Stimmenöinhelligkeit gefasst
worden sind, dass die ganzen Beratungen einen voll-
ständigen Zusammenklang aller Anschauungen
ergaben, einen Zusammenklang, der nur
möglich war durch die Ueberzeugung, die sich
allen Teilnehmern aufdrängte, dass jeder Einzeltie
ohne Ausnahme das gleiche Ziel im Auge hatte,
und dass die Ueberzengung unbedingtes Gemeingut
wurde, die in der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft
und dem Deutschen Bureau geschaffene Organi-
sation sei für die Pflege der Alliance Israclite
Universelle, ihre Erhaltung und ihre gedeihliche
Ausbildung das beste Mittel. Mit herzlicher An-
erkennung muss hervorgehoben werden, dass Herr
Bezirksrabbiner Dr. Salvendi-Dürkheim mit vor-
bildlicher Bereitwilligkeit und Selbstentäusserung —
nachdem er im Verlauf der Tagung die Ueber-
zeugung gewonnen hatte, dass seine Comit6s nirgend
besser aufgehoben sein könnten als bei dem Deutschen
Bureau, für das er den Segen des Hinunels er-
flehte — spontan die Erklärung abgab, dass er mit
Ende des laufenden Jahres alle seine Gomit^s dem
Deutschen Bureau überweise. — Damit ein äusseres
Zeichen die Erinnerung an die langjährige Tätig-
keit des Dr. Salvendi festhalte, wird den Corait6s,
die bisher Dr. Salvendische Comit6s gewesen sind,
auch in den späteren Berichten diese Bezeichnung
erhalten bleiben. Die gleiche freudige Zustimmung
erwarb sich durch die gleiche Erklärung Herr
Rabbiner Dr. Frank- Cöln. Beiden hochverdienten
Mitgliedern wurde wärmster Dank ausgesprochen.
Die Tagung fand ihren Abschluss in einem
prächtigen Festbankett, das das Frankfurter Lokal-
Comitö den Teilnehmern veranstaltet hatte. Auch
diesem Festbankett wohnten die hervorragendsten
Mitglieder der Jüdischen Gemeinde von Frank-
furt am Main bei. Viele geistvolle Trinksprüche
wurden ausgebracht, in launiger und ernster Rede
ergingen sich Meister des Worts. Die Herren
Rabbiner Dr. Rosenthal- Breslau, Rabbiner Dr.
Porges-Leipzig,Feinstei.n- Königsberg, Theodor
Schlesinger- Frankfurt a. M., orfreuten die Hörer
bald durch sinnige, bald durch heitere Betrachtungen.
Herr Rabbiner Dr. Horowitz fand stürmischen
Beifall, als er im Namen des Frankfurter Lokal-
Comites des Hilfsverems der Deutschen Juden ein
Hoch der Alliance Israölite Universelle brachte,
zu deren ältesten Mitglieüern er selbst gehört.
Er erzählte von dem siebenarmigen Leuchter in
der Stiftshütte, dessen Lichtei', der Ueberlieferung
zufolge, von Westen her angezün«let wurden. Vom
Westen sei das Licht der Alliance aufgegangen,
ein Licht der Befieiung für die bedrängten Teile
der Judenheit, und dieses Licht werde leuchten bis
an das Ende der Dinge.
Die Beratungen haben den harmonischsten
Verlauf genommen, zur aufrichtigen Befriedigung
aller Teilnehmer und in voller Erfüllung der
Wünsche, die sie von aussen her begrüsst und
begleitet hatten.
Der Tag von Frankfurt wird allen Teilnehmern
unver^esslich in der Erinnerung haften. Stärker
denn je ist das stolze Werk der Alliance Israclite
Universelle und ihrer Deutschen Conferenz-Gemein-
schaft gefestigt, zum Segen för die gesamte Glaubens-
gemeinschaft.
*
:i«
Zu allseiliger Befriedigung wurde während der
Tagung festgestellt, dass die Anhängerschaft der
A.iliance in Deutschland während des letzten Jahres
eine Zunahme erfahren hat wie noch nie zuvor,
dass die Zahl ihrer Mitglieder grösser ist als sie
je gewesen, weit grösser als irgend eine jüdische
Vereinigung besessc i hat oder besitzt. Man war
einig darin, immer und überall den universellen
Charakter der Alliance und ihre Einheitlichkeit zu
betonen.
205
206
DIE ISRAELITEN IN TRIPOLIS. Nachdrudc verboten.
Spezialbericht an die Alliance Israelite Universelle von N. Slousch, Lehrer an der Sorbonne.
Am 16. Augast 1906 imtemahm ich einen
dreiwöchigen Ausflug in das tripolitanische Djebel.
Diese Reise, die durch Sand wüste führt, ist im
Sommer besonders gefährlich; doch konnte ich die
einzige Gelegenheit nicht entschlüpfen lassen, die
sich mir zum Besuch der Gebiete des alten Libyen
bot, die reich sind an jüdischen Erinnerungen und
wo sich mehrere jüdische Niederlassungen, noch
von keines europäischen Glaubensgenossen Auge
geschaut, in unverändertem vorgeschichtlichen Zu-
stand befinden.
Nach zweitägigem Kamelritt gelangte ich in
das gebirgige Grebiet der Höhlenbewohner von
Gharian. Ein seltsamer Anblick, diese fruchtbaren
Hügel und Täler, in denen, abgesehen von einigen
Eoinen und Moscheen, sich keine Spur menschlicher
Wohnungen über den Erdboden erhebt, wo die
Toten über der Erde liegen, die Lebenden in
Höhlen sich aufhalten, die das Auge kaum zu ent-
decken vermag! Gharian, von Troglodjrten be-
wohnt, hat eine grosse Zahl muselmanischer Dörfer,
wenn man diesen Namen den nackten Anhöhungen
von roter Erde geben kann, bei denen nichts auf
die Anwesenheit menschlicher Wesen deutet. Von
Zeit zu Zeit entdeckt das geübte Auge zwischen
Oliven- und Feigenbäumen, zur Seite einer Moschee
oder neben Ruinen am Abhang eines Hügels Löcher,
die durch ihre Gestalt meist an Kellertüren er-
innern. Eine kleine hölzerne Pforte öfl&iet sich vor
dem Reisenden, und er ist in einer Art dunkler
Galerie, die abwärts führt und die man erst durch
Gewöhnung ungefährdet durchschreiten lernt. In
einem Abstand von etwa 15 bis 20 Meter stösst
man auf einen Hof, der durch von oben einfcdlende
Lichtstrahlen schwach erhellt ist. Dieser Raum
geht dem Centralhof vorauf und dient zu-
weÜOT den israelitischen Schmieden als Werkstatt.
Man steigt immer weiter hinab und gelangt auf
einen viereckigen unterirdischen Hof, der vergleichs-
weise hell ist, weil durch ein Stück Himmel, das
man durch einen Ausschnitt von 10 bis 12 Meter
Durchmesser sehen kann. Dieser Hof, ein förm-
licher Abgrund, ist der Zentralsitz, zugleich Küche
und Fabrik. Die einzelnen Gemächer sind in
Umfassungsmauern gegrabene Aushöhlungen, die
ihr Licht vom Hof aus erhalten. Man erstickt dort
gerade nicht, aber der Reisende fühlt sich unbe-
haglich, während die Eingeborenen der Meinung
sind, dass das unterirdische Leben naturg^näss
und sogar bequem sei. Die Synagoge des Dorfes
Beni-Abbas ist gleichfalls unterirdisch angelegt,
doch ist der Zugang offen und leicht, das Dach
überragt sogar um etwas den Erdboden, In Ti-
grena hat man eben einen Synagogenbau beendet,
der sich ganz über die Erde erhebt.
So habe ich zwei vollständig jüdische Dörfer
und zwei unterirdische Niederlassungsgruppen un-
serer Glaubensgenossen geftmden. Das eine Dorf,
unter dem Namen Yehud-Abbas bekannt, liegt
der Wüste, die nach Tripolis fuhrt, am nächsten.
Das Dorf zählt in sechs unterirdischen Höfen
24D Einwohner und hat eine Synagoge, deren
Dach kaum über den Erdboden ragt. Die Bewohner
sind die letzten Überlebenden einer vormals zahl-
reichen, durch Pest aufgeriebenen Bevölkerung.
Männer und Frauen stellen einen schönen Typ dar,
den die Höhlenluft nicht verderbt hat. In den
Höhlen arbeiten alle Juden. In der Jahreszeit, die
der Feldarbeit vorausgeht, sind sie Schmiede,
dann sind sie Feldarbeiter und während der Brach-
zeit wandernde Kaufleute, die das ganze Land
durchziehen. Viele von ihnen fabrizieren einen
Dattelschnaps, die Frauen weben für die Einge-
borenen, arbeiten in den Feldern und an den
Fruchtbäumen. Manche Juden von Gharian be-
schäftigen sich überdies mit der Fabrikation von
Holzschuhen.
Bei der allgemeinen Unwissenheit hat mau
nur wenige örtliche Überlieferungen bewahrt.
Die Schochtira und die Talmud -Tora -Lehrer sind
von tiefer Unbildung. In der Talmud -Tora von
Beni-Abbas sind 16 Schüler, in der von Tigrena 40.
Bemerkenswert ist, dass man in der Synagoge
„Piutira" singt, die anderwärts unbekannt sind
und deren Verfasser aus dem Troglodytenlande
stammen. Als Nahrung dient den Höhlenbewohnern
Gerstenbrod, Feigen und Datteln. Aus diesen be-
reiten sie einen Schnaps, dem sie auch selbst nur
allzusehr zusprechen. Ihre Lieblingsspeise ist ein
aus Gerste und Öl hergestelltes Gtemisch, das sie
mit den Fingern, ohne Gabel oder Löffel, zum
Munde führen.
Fast jeder Jude hat einen Esel, den am Sab-
bat die Araber ohne weiteres in Anspruch nehmen,
indem sie sagen: „wenn der Jude seinen Tag ver-
liert, so ist das kein Grund, dass das Vieh das-
selbe tut." Solche Ungeniertheit findet man nicht
blos bei den Troglodyten. Die überaus fanatischen
207
Mitteilungen der Alliance Israelite Universelle: Die Israeliten in Tripolis.
208
und faulen arabischen Nachbarn ersparen dieser
fleissigen, arbeitsamen Bevölkerung auch sonst
nicht Schädigungen aller Art. Die Synagoge, ein
altes nnd verehrtes Heiligtum, wäre beinahe" unter
dem Vorwand zerstört worden, dass sie einer
Moschee zu nahe stehe. Erst der urkundliche
Nachweis, dass die Synagoge 600 Jahre vor der
Moschee gebaut worden, gab dem türkischen Ver-
waltungschef die Möglichkeit, die Synagoge zu er-
halten. Den grössten Kummer bereiteten die Araber
dadurch, dass sie den Friedhof beackerten, auf
dem die irdischen Reste einer langen Ahnenreihe
der Israeliten ruhen.
Drei und eine halbe Stunde von Beul Abbas liegt
malerisch das Dorf Tigrena, das in etwa 20 Höhlen
650 jüdische Einwohner hat. Die wirtschaftlichen
Verhältnisse sind hier wie dort die nämlichen, aber
die Beziehungen ^u den Eingeborenen scheinen mir
in Tigrena erträglicher. Das Dorf hat zwei Sy-
nagogen, deren eine unter der Erde, und eine
Talmud-Tora-Schule, in der die Kinder fast nichts
lernen. Der einzige des Hebräischen kundige Mann
hier ist der Chacham Baschi der troglodytischen
Judenschaft, Rabbi Kalifa Hadschai. Gleich den
Rabbinern des Mittelalters und einer Reihe von
Vorfahren übt der Chacham die ärztliche Kunst
aus. Kalifa ist ein schöner Mann, der ausgezeichnet
hebräisch spricht. Er gab mir eine handschriftliche
Sammlung von „Piutim", von denen er einen Teil
selbst verfasst hat. Er ist der wahrhafte Spross
des jüdisch -arabischen Mittelalters.
Die wirtschaftliche Lage der Juden im Tro-
glodytengebiet ist überaus unsicher. Die ganze
Existenz der Juden hängt von dem guten Willen
der arabischen Kundschaft ab. Die Bezahlung der
Schmiede und anderen Handwerker besteht in dem
geldarmen Lande fast aussc^iesslich in Naturalien :
so und so viel Mass Gerste, Feigen oder Oliven,
nach dem Ausfall der Ernte. Selbst Ackerbauer,
sieht der Jude, ohne Einspruch zu wagen, wie die
arabischen Nachbarn sich der Erstlinge seiner
Olivenbäume, des Ertrages seiner Äcker bemäch-
tigen, die in der weiten Ausdehnung der musel-
manischen Felder sich verlieren. Ein unterneh-
mender Hausierer, der bis nach Fezzan vordringt,
ist er allen Nachstellungen und Demütigungen aus-
gesetzt, die die Phantasie des muselmanischen
Mittelalters hat ersinnen können. Als türkischer
Untertan hat er die Wehrsteuer selbst da zu ent-
richten, wo die Muselmanen Militärdienste nicht zu
leisten brauchen, und von den Vorteilen der otto-
manischen Justiz und der ottomanischen Gesetze
hat er keine Nutzniessung. Eine freundschaftliche
Intervention bei den aufgeklärten Behörden von
Tripolis, um den Juden eine gerechtere Verteilung
der Steuern und des Landbesitzes zu sichern, der
im Innern niedrigen Preis hat, J^würde die wirt-
schaftliche Lage dieser arbeitsamen Bevölkerung
wesentlich bessern, die abermals beweist, bis zu
welchem Grade unsere Rasse sich jeder Umgebung
und jeder sozialen Lage anzupassen vermag. Was
die moralische Lage betrifft, so würde genügen,
einen guten Hebräisch-Lehrer zu schicken, der hin-
reichend zivilisiert ist, um sich mit den Behörden
ins Vernehmen setzen zu können. Schön dadurch
würde die gesellschaftliche Stellung der Juden im
Troglodytenlande sehr gehoben werden.
Eine Tagesreise trennt Djebel Gharian von
Djebel Iffi^on. Dieses 2ählt noch drei israelitische
Dörfer : El Ksir, El Meanien und Dissir mit einer
Gesamtbevölkerung von etwa 2000 Seelen. Wenn
die Juden der erstgenannten Provinz Höhlen be-
wohnen, so suchen die der anderen Provinz auf
Bei^bhängen Schutz, wo ihre Wohnungen an die
versteckten und schwer zugänglichen Dörfer der
Berber erinnern. Diese interessante jüdische Be-
völkerung hat ihre Sitten und Ueberlieferungen und
sogar eine seltsame Ait hebräischen Dialekts be-
wahrt. Die letzten Ueberlebenden einer zahlreichen
jüdischen Bevölkerung, deren zahllpsen Spuren man
durch das ganze weite Gebiet des Djebel Nefussi
begegnet, steUen die Juden von Iffren einen der
schönsten, stattlichsten Menschentypen dar, die zu
sehen mir je vergönnt gewesen. Die Frauen be-
sonders, in eine Art gefluteten bunten Tuchs ge-
kleidet, fallen durch die Weisse der Haut, die
Schlankheit des Wuchses, die Regelmässigkeit der
Züge auf. Ihre soziale Lage gleicht fast der der
Männer. Wenn die Frau, gleich der Tochter des
alten Juda, Leinen und Gürtel webt, Korn mahlt;
so hat sie dafür auch das Recht, an der Seite des
Mannes zu speisen und sich in die Gesellschaft
der Männer zu mischen.
Die Ehen werden in der Nähe der Brunnen
geschlossen, dort wo die jungen Mädchen Wasser
schöpfen. Ich habe manche anmutige Rebekka von
Djebel gesehen, dicht am Brunnen, von den jungen
Burschen des Dorfes umgeben.
Die Gewerbe unserer Glaubensgenossen hier
sind ungefähr die nämlichen, wie bei den Juden
von Gharian, Nach Ansicht der türkischen Be-
hörden sind in dieser Gegend, die durch die aus-
nehmende Faulheit ihrer Bewohner ruiniert worden,
die Juden das einzige arbeitsame, schaffende El^:
V r*
209
Mitteilungen der Alliance Israäite Universelle: Die Israeliten in Tripolis.
210
ment, allein imstande, sogar die benachbarten
Mnselmanen znr Arbeit anzuregen. Das gilt bis
an das äusserste Ende von Djebel Nefussi, wohin
immer die jüdischen Eaufleute, die Schnapsfabri-
kanten (deren beste Kunden die Jaden selbst sind)
and Schmackhändler dringen.
Die Beziehungen zwischen Juden und Berbern
sind besser als die zwischen Juden und Arabern.
Bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts würden
die Juden als Sklaven betrachtet. Die Türkei be-
seitigte diese erniedrigende Einrichtung, hat aber
noch nicht Zeit gehabt, die moralischen Erniedri-
gungen zu unterdrücken, deneA die Juden von
Seiten ihrer arabischen Nachbarn ausgesetzt sind.
Ein Beispiel von hundert: Der Bezirksrabbiner
macht eine Beise nach Nalut Eingeborene zvringen
ihn, von seinem Maultier abzusteigen, weil ein
Jude in Gegenwart von Muselmanen nicht auf einem
Sattel sitzen dari Wollte der Rabbiner wagen,
sidi zu beklagen, so wäre er in Gefahr, alle Seinigen
von den Arabern umgebracht zu sehen. Die ver-
ehrtesten Heiligtümer, die ältesten Friedhöfe werden
von den Muselmanen entweiht; auf dem Felde
nehmen die Araber ohne Bedenken den Ernteertrag
ihrer jüdischen Nachbarn in Anspruch. Die oberen
Behörden haben guten Willen, aber die Einzelheiten
entgehen ihnen.
DjebellJSren, ehemals Sitz gelehrtester Rabbiner,
ist gänzlich in Verfall. Ein Vertreter der Alliance
könnte das materielle und soziale Niveau dieser
int^essanten jüdischen Gruppe heben.
Indem ich den Spuren der alten jüdischen
Einrichtungen folgte, kam ich nach Djebel Nefussa.
Alte Synagogen, Friedhöfe, die in die entferntesten
Zeiten zurückreichen, halbzerstörte jüdische Städte
zeugen von dem überwiegenden Einfluss, den der
Judaismus auf dieses bisher den Europäern un-
bekannte Gebiet ausgeübt hat. In den letzten
Jahren haben die Türken Djebel vollständig
pazifiziert, und unsere Glaubensgenossen fangen an,
sich von neuem in den Ortschaften niederzulassen,
aus denen ihre Vorfahren haben weichen müssen.
Vor allem aber täte eine Intervention bei den
türkischen Behörden dahin not, dass den Abkömm-
lingen der vormaligen eingeborenen Juden alle
Heiligtümer und Friedhöfe, die heute noch vorhanden
sind und von den örtlichen Traditionen und von
den Eingeborenen selbst als solche an mehr als
50 Stellen bezeichnet werden, zurückgegeben werden.
Nach dreitägigem Wüstenmarsch verweilte ich
in der Küstenstadt Zauia, die etwa 800 unserer
Glaubensgenossen ^schliesst. Ihre soziale Lage
lässt zu wünschen übrig. Die fanatische Be-
völkerung der Oase erspart den jüdischen Nachbarn
keine Bedrückung.
Bei meiner Rückkehr nach Tripolis hatte ich
zweimal Gelegenheit, den oberen Behörden zu
schildern, wie ich die Juden der Oasen gefunden
habe. Ich freue mich, dass ich bei den leitenden
Männern die freundlichsten Absichten hinsichtlich
unserer Glaubensgenossen gefunden habe. Man hat
mir die Versicherung gegeben, dass ein Rundschreiben
an die Ortsbehörden ei gehen wird, dass sie die
Eingeborenen an Rechtsverletzungen gegenüber den
Juden hindern sollen. Unter allen Umständen
erwarten die Aufsichtsbehörden, dass die nahe bevor-
stehende Einrichtung von Katasterämteni den Be-
sitzungen und den Ernteerzeugnissen der Juden im
Innern des Landes wirksameren Schutz verschaffen
wird.
DR. HERMANN BAERWALD.
Ehrenmitglied des Central-Comitfe der A. I. U.
Ein Erinnerungsblatt
Nachdhick verboten.
In der Nacht zum 9. Februar 1907 ist, hochbetagt, in
Frankfurt a. Main Doktor Hermann Baerwald ge-
storben. So lange Rüstigkeit in ihm wohnte — und er
hatte das Glück, weit über die Grenze des biblischen
Lebensalters hinaus Rüstigkeit und geistige Regsamkeit
sich zu wahren — war er Mitglied des C^ntral-Comites
and somit Mitglied der Deutschen Conferenz-Gemein-
Schaft der Alliance Isra^lite Universelle. Erst der
TSjährigc erkannte in seiner Pflichttreue und in seinem
Arbeitseifer, dass die Last der Tage ihm die Möglich-
keit nehme, im gewohnten Umfang für die Alliance
tätig zu sein. Diese Erkenntnis, die sein Pflichtbe-
wusstsein ihm eingab, bestimmte ihn, aus dem Central-
Comite auszuscheiden, das ihn in Anerkennung seiner
Verdienste zum Ehrenmitglied machte.
Hermann Baerwald war am 7. November 1828
in Nakel in der Provinz Posen geboren. Sein Vater
war ein Mann von vielseitiger Bildung und hohem
Streben, seine Mutter eine Frau von vorbildlicher Güte
und Herzensreinheit. Der patriarchalische Geist, der
in dem Eltemhause gewaltet hat, ist von dauerndem
Einfluss auf Hermann Baerwald geblieben. Den Jugend-
unterricht genoss Hermann Baerwald im wesentlichen
auf dem Elisabethgymnasium in Breslau, das er 1850
mit dem Zeugnis der Reife verliess. Die Ereignisse der
Revolutionszeit und das Bestreben, die Begebenheiten
des Tages aus der Kenntnis der vaterländischen Ver-
gangenheit zu verstehen, führten ihn zum Studium der
Geschichte. Schon als junger Student lieferte er in
Breslau eine wissenschaftliche Preisarbeit. In Berlin
j.' ^
Mitteilungen der Alliance laraflite Universelle: Dr. Hennann Baerwald.
zn den vei-tranten SchUlem Kankeü, dessen
Persönlichkeit und Aoffassnnf^ oachlialtigst^n Ein-
druck aaf ihn ausübten. Im Jahr 1855 erwarb er
mit einer Äbhandlang fiber „Die Erwählang König
Rudolfe L von Habsburg" den Doktorgrad. Später
schrieb er eine Abhandlang „Zar Charakteristik nnd
Kritik aiittelalterlicher FormelbUcher" nnd eine Unter-
suchnog tlber das „Baamgarten-
berger Fonaelbntdi''. Sein Wansch
war es gewesen, nach Ablegnng
der Lebramtsprüfnng in den staat-
lichen höheren Schaldienst einza-
treten. Die Anschanongen der
prenssischen Regierung nnd na-
mentlich der preojsischen Schal-
behtirden in der zweiten Hälfte
der fBnfziger Jahre machte das
fttr den glaobenatreaen Juden
anmöglich, trotz vorzuglicher
Prüfangszeugnisse , trotz der
wärmsten Empfehlungen Rankes.
Er warde nicht einmal zur Ab-
leistung des Probejahrs an einer
höheren Lehranstalt zugelassen.
Er begab sich nach Wien, wo
er seine Stadien fortsetzte und im
Hause des Prenssischen Consuls
Moritz Ritter von Goldschmidt als
Lehrer t&tig war. Die Frncfat
der Wiener Jahre war eine Reihe
von Forschungen zur mittelalter-
lichen Geschichte. Seine Schriften
fonden allgemeine Anerkennung;
eine von ihnen wurde in den
Berichten der Wiener Akademie
veröffettlicbt und trug dem jnngen
Gelehrten die österreichische goldene Medaille für Kunst-
nnd Wissenschaft ein — aber die UniverHitätslanfbahn
blieb selbstverständlich dem Juden verschlossen.
Bei Anbruch der neuen Aera in Preussen kehrte
Baerwald in die Heimat zurück. Im Vertrauen auf
die Verheissungen der Verfassung hoffte er, jetzt hier
eine Lehrtätigkeit ausüben zu können. Doch die
Verwaltungspraxis war die alte geblieben. Baerwald
entschloss sich deshalb, in den Schuldienst der Berliner
Dr. Hermann Baerwald.
Jüdischen Gemeinde einzutreten. Er wirkte ISngere
Zeit au der damals einzigen Berliner Religionsscbnle
nnd am Lehrerseminar als Lehrer. Enge Beziehungen
verbanden ihn mit Michael Sachs, einige Freundschaft
verknüpfte ihn mit Eduard Laaker. Seine ausgezeich-
neten Charaktereigenschaften, seine ungewöhnliche
pfidagogische Belähigang veranlassten im Jahre 1868 die
Berufung Baerwalds als Direktor
des Fhilanthropin in Franktort
a. Main, unter seiner Leitung
wurde dieses Institut zu einer
neunklassigen Reabchule ausge-
baut Dass er grosse und mannig-
fache Schwierigkeiten zu über-
winden hatte, nicht zum wenigsten
Schwierigkeiten, die ihm von den
' Behörden bereitet waren, bedarf
keiner Ausführung. Eh- Ober-
wand sie alle. Ueber SO Jahre
hat er an der Spitze der Anst<
gestanden, die unter ihm an
SchiilerzE^ an Ansdien nnd an
wohltatigen Stiftungen für Lehrer
und Schüler stetig zunahm.
Hermann Baerwald bat zu
den BegrOndeni des national-
liberalen Wahlvereins gehört.
Aber nicht in seiner politischen
Tätigkeit lag seine hauptsäch-
liche Stärke. Humanität war sein
ganzes Sinnen und sein ganzes
Leben, und darum gehörte er zur
Alliance Isra^lite Universelle, Seit
Anfang der siebziger Jahre stand
er an der Spitze des Frankfurter
Lokal-Comit^s, war er als Mit-
glied des Cential-Comiies für die Sache der Alliance
Tsraelite Universelle mit heiligem Eifer tätig. Sein
herzliches Inteiease an diesem grossen Institut hat
er bis in die letzten Tage seines Lehens bewahrt und
bekundet.
Die Alliance Israelite Universelle wird dem hoch-
vei-dtenten Freunde ehrendes Andenben allezeit bewahren.
Wir fuhren unseren Lesern das Bildnis des Ver-
ewigten vor Augen.
RABBINER DR. FRANK-COELN.
(Mit Bildnis.)
Wenn die verdientesten Mitglieder der Alliance
laraälite Universelle genannt werden, so wird auch der
Name des Rabbiners Dr. Frank-Cöln genannt, der seit
1876, d. i. seit seiner Uebemahme des Babbinats von
Cöln, dem Central-Comitä der Alliance angehört, und
in dieser langen Zeit an allen Arbeiten der Körperschaft
den treuesten Anteil genommen bat Als in dem ge-
nannten Jahre die Constantinopeler Konferenz den Anläse
bot für die von dem Central-Comitä der Alliance nach
Paris bernfene Zusammenkunft europäiscber nnd ameri-
kanischer Juden, in der Schritte zugunsten der Israeliten
des Orients beraten werden sollten, war Frank-Cöln
unter den Delegieiten. Wenige Jahre später war er es,
dem anf Wunsch des Pariser Central - Comitäs die
Nachfolgerschaft des unvergessenen Rabbiners Dr.
Laudsberg- Liegnitz übertragen wurde. Dr. Frank hat
deutsche Uebersetzung und den Versand der
Nicbdnick verboten,
Berichte der Alliirace für Deutschland und das Aueland
au erster Stelle besorgt nnd iKÜte die übrige Arbeit
piit Theodor Oschinsk; -Breslau und anderen Fflhreni
der Alliance, die heute noch in vorderster Reihe tätig
sind. All der Renaissance der A. J. A. in Deutschland
ist Dr. Frank mit tätig.
Ür. Frank, in Ond-Beyerland (Holland) geboren,
besuchte das Gymnasium in Amhem , danach das
jüdisch -theo logische Seminar und die Universität in
Breslau. Er war hier ein LiehlingsschDler des Seminai-
direktors Frankel, dessen behräische Korrespondenz er
zumeist besorgte. Grätz, Bemays, Joel, Znckennann
hatteu auf seineu Bildungfigang wesentlichen Ginfluss.
Sein erstes Rabbineramt bekleidete er (1868 bis 1878)
in Saaz in Böhmen, das nächste (1873 bis 1876) in Linz
an der Donau, seit 1876 steht er in Cöln an der Spitze
des Rabbinats. Hier hat er sich seit mehr als einem
Mitteilungen der Alliance Israäite Universelle: Rabbiner Dr. Frank-Cöln.
Henschenalter Tonüglich bemflht, den frieden unter den
Konfeetnonen za erhalten Sein vortrefflicbes Einrer-
nehmen mit den katholiscben Kirchenbehörden — bis
bioanf zu dem Kardinal - Erzbücbof
Fiseber — kam ihm hierbei in Hilte.
Tatsächlich hat sich in der C51ner
DiSzeae der Antisemitismus nur spora-
disch gezeigt Ein Teil des Verdienstes
hieran gebührt Herrn Dr. Frank, seiner
Klugheit und seinem Takt
Hit welchem Eifer Dr. Frank die
Wecknug religiösen Lebens sich ange-
legen sein Hess, zeigt schon der äussere
Umstand, doss er während seines
rabbiniechen Wiikens 34 Synagogen —
zumeist in Bbeinland und Westtalen —
einweihte. Dass er allen jädischen
Wohltätigkeitsanetalten in Cöln als
Torstandsmiiglied angehört, ist selbst-
Terständlicb. Auch sitzt er im Kura-
loriam des „Israelitischen Asyls für
Kranke und Alterfschwache", ist Hit-
begrflnder des „Cölner Vereins für ent-
lusene Strafgefangene" nnd versieht Rabbiner Dr.
die Funktionen als Strsfanstaltsgeist-
lieber. Das jädiscbe Waisenhaus in
Cöln, dessen Statoten die behördliche Genehmi-
gung gefunden haben, ist ganz und gar sem
Werk, das Ergebnis langjähriger, mahevoller Arbeit.
Dem gemeiitjfidiBcben IntOTesse gehörte seine fördernde
Teilnahme auf jedem Gebiet Er ist zweiter Vor-
siteender des „Verbandes der Vereine für Jüdische
Geschichte und Literatur, Vorsitzender
und Ehrenmitglied des CÖlner Lite-
rat nrrereineg, Bhreumitgliiid des Ver-
eins der Lehrer Rheinlands und
Westfalras , fOr dessen Fcnsions -
kasse er in den letzten 7 Jahren
grosse Summen gesammelt bat
Gelehrte Abhandluotren hat er in
der FrankelscLen Uonataschiift ver-
öffentlicht
Bin freundlicher Zufall fQgte es,
dssB Herrn Dr. Frank gerade am
29. Januar 1907, an welchem Tage
er genau 31 Jalire rabbinischer Tätig-
keit in Cöln -geübt hatte, von dem
Vertreter der Regierung der Kote Adler-
ordc-n IV. Klasse überreicht wurde „als
Anerkennung für patriotisches Wirken
and stets betätigte Vaterlandsliebe,
für Ausübung der Seelsorge und das
Franlc-Cöln. 8^^ Bemühen, Verträglichkeit und
Harmonie unter den verschiedenen
KonfeBBionen zu fordern."
Dr. Frank gehört dem Vorstand der Deutschen
Conferenz-Qemeinschaft an, zu dessen werktätigsten Mit-
gliedern wir ihn mit aFtfnchtigst^r Genugtuung zählen.
Neue immerwährende Mitglieder:
Berlin: Komnierzienrat J. Dannenbaum, Direktor der
Preussischon Pfandbriefbank, Vossstrasae 1 und Herr
Louis M. Bamberger, Berlin, Königin Augustastr. 40.
"'" Berlin. Auf die GlQckwOnacbe zu dem 5() jährigen
AmtsiubiliUim des verdienstvollen Mitgliedes und Vertreters
der Ä. 1. U. in Görlitz Herrn Rabbiner Ilr. Freund ist
der Deutschen Conierenz - Gemeinschalt nachstehendes
Schreiben zugegangen:
„Görlitz, 24. -lanuar 1907.
Vielen herzlichen Dank fOr Ihre GIDckwUnsche
zu meinem 50jährigen Amtajubiläum und die mich
hochehrenden Worte, mit denen Sie dieselben
begleitet haben.
Unter den vielen mich nur zu sehr ehrenden
Anerkennungen, die mir an dem Tage wurden,
haben mir Ihre Worte besonders wohlgetan, Sie
haben mich darin prinnert, dass ich schon vor melir
als 30 Jahren es mit Freuden erfaast habe, mich in
den Dienst einer so segensreichen Tätigkeit zu
Stellen, wie sie die Alliance weit über die Grenzen
unseres Vaterlandes, ja nnseres Erdteils übt.
Möge Ihrem so segensreichen Wirken zur Ehre
unseres Judentums, zum Heile von Tausenden unserer
Qlaubensbrflder Gottes Segen und der Erfolg, der
Ihnen der schönste Dank sein wird, nimmer lehlen.
Mir wird es eine Ehre sein, in dem Dienst
einer von Ihnen so wirksam vertretenen Sache
zu stehen
Acbtimgsvoll und ei^ebenst
Rabb. Dr. Freund."
Berlin. \)io Vorsitzenden der Deutschen Oonferenz-
tiemeinschait haben am 28. Januar an Herrn Bezirks-
rabbiner S B 1 V e Q d i nachstehendes Schreiben gerichtet :
^Hochgeehrter Herr Bezirks rabb iner! .
Wir kommen als verspätete Gratulanten —
aber nicht durch unsere Schuld. Ihre Bescheiden-
heit ist es, die unsere Säumnis veranlasst hat. Erst
aus einem Zeitungsinserat haben wir, und auch das
nur zuFalldweise, erfahren, dass am 18. Januar Ihr
70. Geburtstag war.
Wir bitten Sie, unsere herzlichsten GlOck-
wQnache entgegenzunehmen und bei diesem Anlass
den AusdrucK unserer freudigsten Anerkennung für
die Dienste, die Sie der Alliance Isra61ite Universelle
seit langen Jahren erwiesen haben.
Sei Ihnen frChliches, gesundes, rüstiges Alter
bis zu der Zahl der Patriarchenjahre besciiiedenl
Ihre aufrii'.htig und verchrungsvoll ergebenen
Die Vorsitzenden
gez. Goldberger. Hallgarten. "
Berlin. Der „Norddeutsche Lloyd", der in
dankenswertester Weise für die jüdischen Auswanderer
in Bremen und anderwärts F Urse rge- Einrieb tan geo, in
der Hauptsache auf Veranlassung nnd Anweisung des
Generaldirektors Wiegand, getroffen hat, feierte am
20. Februar das fünfzigjährige Jubiläum seines Bestehens.
Das Präsidium der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft
hat aus diesem Anlass am genannten Tage an Herrn
Generaldirektor Wiegand in Bremen nachstehendes
Glückwunschtelegramm gerichtet:
Zu dem Jubiläum des Norddeutacben Lloyd,
das zu einem Festtag Deutschen Unternefamungü-
gei->te3 nicht zum wenigsten durch Ihren Weit-
blick und Ihre organisatorische Grouziigigkeit
geworden, bringen wir Ihnen die herzlichsten
215
Mitteilungen der AUiance Israelite Universelle.
216
Glückwünsche zugleich mit unserem Dank tOr
die menschenfi'eundliche türsorgende Teilnahme,
die Sie unseren notleidenden bedrängten Schutz-
befohlenen zuzuwenden nie aufgehört haben.
Das Präsidium der Deutschen Conferenz-
Gemeinschsrft der Alliance Israelite Universelle.
Goldberger. Hallgarten.
Hannheim. Die Anhängerschaft der A. I. U.
im Grossherzogtum Baden mehi t sich von Tag zu Tag
In hohem Masse machen sich hierbei verdient die
Herren: Max Wimpfheimer in Karlsruhe, Dr.
jur. Günzburger in Oflfenbach, Rieh. Schlössin-
gar in Heidelberg, Gabr. Bloch in Eichstetten,
Rabbiner Dr. Löwenstein in Mosbach a. N., Jonas
Biedermann in Garlingen, Bezlrksäitester Jos.
Nordmann in Börrach, Jul. Kaufmann in Baden-
ber<r, Alfred Burger in Freiburg i. B.
Alle für das Berliner Lokal -Comlt^ der A. I. U. und für das Deutsche Bureau der A. I. U. bestimmten
Geldsendungen beliebe man an den Schatzmeister
Herrn Benno Braun in Firma Joelsohn & Brfinn» Berlin C. 19, Hausvoigteiplatz 1 2
zu adressieren, eventuell durch Reichsbank-Girokonto der Firma Joelsohn & BrOnn zu überweisen.
nT3 m D'-sij:
htrt^ fe
Noch liegt Feld und Flur, Berg und Tal mit Schnee bedeckt, man zieht es immer noch vor, sich im trauten wohldurchwärmten Zimmer
aufzuhalten, statt sich den eisig kalten Nordwind ins Gesicht peitschen zu lassen und doch werden die jfidischen Geister durch eine kurze Kalendemotiz
an die Vorboten des sich langsam nahenden Lenzes gemahnt „Chamischo-ossor-bischwat" lautet diese einfache Kalenderliemerkung. Die Natur hat
ihr erstes Werk zur Erneuerung des Erdbodens vcllbracht Die Bäume beginnen neue Säfte in sich aufzunehmen. — Langsam, fast unmerklich beginnt
die Natur ihr Winterkleid von sich zu schütteln. Die Nächte werden kürzer und die Tage länger und kaum haben wir uns vorgesehen, steht die Purimzeit
vor unseren Türen. — „Purim", dies zweisilbige, jedoch für die jüdische Geschichte so vielbcdeutende Wort, welch herrlich schöne Jugenderinnerungen
zaubert es mir vor mein geistiges Auge! Ich sehe mich am frühen Morgen an der Hand meines lieben Vaters aus der Synagoge — wo die Megilla
vorgelesen wurde — nach nause g[ekommen, nehme in aller Eile meinen Morgenimbiss zu mir, um ja nur das Zusammenstellen des «.Schlach-monauss"
nicht zu versäumen. Mit welch wichtiger Umsicht wurde da das verschiedene Gebäck auf die dazu bestimmten Teller gelegt; es hiess da aufpassen,
um ein Vermischen der milchigen und fleischigen Backwaren zu vermeiden. Unwillkürlich muss ich zwischen der, ich möchte sagen, »Schwerfälligkeit«'
der damaligen Zeit und dem sich heute auch in dieser Beziehung zeigenden Fortschritt, eine Parallele ziehen. Wollte man früher ein schmaclmaftt6
Gebäck bereiten, hiess es entweder mit Butter, also milchig, oder mit animalischen Fetten -- dann fleischig — backen. Wie anders und bequemer hat
es heute die jüdische Küche, zumal seitdem es der Sana-Gesellschaft m. b. H., Cleve nach vielen Versuchen gelungen ist, .rTomor* zu fabrizieren, das
sich in so kurzer Zeit einen Weltruf eroberte. Dieses »Tomor- ist, was ja auch schon der Name »Tomor* (Palma) sagt, ein aus dem Fette der Kokos-
nuss hergestelltes Produkt, welches der Naturtnitter sowohl in Bezug auf Geschmack, Aussehen und Atoma vollkommen ebenbürtig ist, dabei den
unschätzbaren Vorteil hat, dass es sowohl für Milch- als auch für Fleischspeisen verwendet werden darf und wird dieses »Tomor« unter ständiger
Aufsicht und Leitung eines von Sr. Ehrwürden Herrn Rabbiner Dr. B. Wolf in Köln angestellten streng religiösen Beamten hergestellt. — (Uebcr das
Nähere, Tomor betiYffend, gestatte ich mir auf das in der heutigen Nummer veröffentlichte Inserat hinzuweisen.) Möge sich selbst der strengste Jehudi
mit ruhigem Gewissen das mit Tomor bereitete Gebäck, speziell die unentt)ehrlichen «Hamans" sowohl bei milchigen als
recht guf munden lassen.
Is auch bei fleischigen Mihlzeiten
Stuttaartor LebentvertlolieruiiitlMiiik «. G. (Alt« Stuttgarter). Die neuen Anträge auf Todesfallversicherungen sind im Jahre 1906 wieder
um mehr als 3 Millionen Mk. gegen das Vorjahr gestiegen. Es wurden eingereicht: 9883 Anträge über Mk. 68,124,3«) Versicherungssumme (gegen
9382 Anträfe über Mk. 65,072,500 im Jahre 1905). Neu abgeschlossen wurden 7676 Versicherungen über Mk. 53,613,625 Kapital (gegen 7538 Versicherungen
über Mk, 53,165,580 im Vorjahr). Nach Abzug der durdi Tod, Ablauf imd Verfall ausge^iedenen Versicherungen verblieb ein Heinznwachs von
4784 Policen mit Mk. 34,802,980 Versicherungssumme (im Vorjahr: 4642 Policen mit Mk. 34,992,455). Der vorzeitige Abgang durch Kündigung und
Verfall betrug 0,81 % der im Jahre 1906 auf den Todesfall versichert gewesenen Summen. Der Abgang durch Tod ist wiederum hinter dem des Vor-
jahres zurückjfseblieben : es wurden nur Mk, 8,075,796 fällig gegen Mk. 8,249,070 im Vorjahr ; die aussergewöhnlich niedrige Sterblichkeit des Jahres 1905
ist also im Berichtsjahre noch übertroffen; was für den Ausfall des Jahresüberschusses von sehr günstigem Einflüsse sein wird. — Einschliesslich des
noch vorhandenen Bestands an Aussteuerversicherungen, die die Bank seit 1904 nicht mehr abschliesst, war Ende 1906 ein Gesamtversicherungsbestand
von 125,990 Policen mit Mk. 780,683,206 Versicherungssumme vorhanden.
Dm erste Marttelegrtffliii. Vor kurzem ging die Nachricht durch die Zeitungen, dass auf einer atlantischen Station für drahtlose Tele-
graphie jede Nacht um dieselbe Zeit ein geheimnisvolles Signal eintreffe in Form eines „8". Man vermutete einen Verständigungsversuch der Mars-
bewohner. Die Vermutung hat sich jetzt bestätigt. Das erste Marstelegramm ist eingetroffen und entziffert worden. Es .besteht aus 2 Worten und
lautet „Salem Aleikum". (Anmerkung. E>ie Marsbewohner scheinen demnach auch Freunde einer guten Zigarette zu sein.)
Ein rotig zarter, reiner Teint: Die menschliche Gesichtshaut besteht bekannUich aus kleinen Zellen, die in den unteren Schichten weich
und durchsichtig sind, oben Bber abblätttern, nachdem sie zu Schuppen eingetrocknet sind. Sobald dieser Vorgsmg merklich wird, erscheint die Ober-
flädie hart, schwielig, verliert ihre Durchsichtigkeit, es ergel>en sich jene Erscheinungen, die man gemeinhin einen schlechten, unreinen Teint
nennt Tritt gar eine Verstopfung der Talgdrüsen hinzu, so führt die Reizung zur Bildung von Pusteln. Knötchen. Finnen. Mitessern. Diesem
Uebel wirkt allein die von der F^rma Bergminn ft Comp, in Radebeul-Oresilen hergestellte 8te6kenpferd-Lillenmil6h*S|elfe (Sohiitxmarfce : Steeken-
pferd) entgegen. Die Seife ist von völlig neutraler Beschaffenheit, und der Zasatz von Borax bewirkt eine schnelle und beinahe unmerkliche Abstossung
der unreinen Ot)erhaut und erweist sich somit bei einer dauernden Anwendung als unbedingt zuverlässiges Mittel zur Erhaltung einet rotlgen,
zarten und reinen Teints. Die 8te6kenpferd-Ullenmllch-8elfe ist in den meisten Apotheken, Drogerien und ParfümerieK ä Stück 50 Pfg. zu haben.
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Aboanementtprelft für das Jahr In DeutschlaDd und Oeatcrrelch Mark 7»— (LtuLusausgabe Mark 149—)« ffir das Analaod Mark S— ,
(LtULttaanagabe Mark 16).
ffir Rtttalaod gaazjihrllch 4 Rubel. Elnzalliefte k 35 Kop.
. - .-_ Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandes, durch alle Postämter des Deutschen ^^.^
■ Reiches unter No. 5785 a der Postzeitungsliste und durch die Expedition dieser Zeitschrift " — "^
Anzeigen Mk. /. — die viergespcUtene NonparetUezeile, grössere Anzeigen nach Tarif, bei Wiederholungen Rabatt.
Adresse fDr die gescli&ftliolie Korrespondenz: Verlag „Ost und West'', Berlin W. 8, Leipzigerstr 31-32.
Redaktion: Berlin NW. 23» Altonaerstr. 36.
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Verantwortlicher Redakteur: Leo Winz, Berlin, Altonaerstr. 36. - Verlag Ost und West, Berlin W.8.
Druck von Haasenstein & Vogler A. O., Berlin S. 42, Wasserthorstr. 50.
ILLUSTRIERTE MONATSSCHRIFT
FÜR DAS GESAMTE JUDENTUM
Herausgegeben und redigiert
von
LEO WINZ.
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Alle Rechte vorbehalten.
yn. Jahrg.
Heft 4.
April 1907.
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OST UND WEST IN DER JUEDISCHEN WANDERUNO.
Von Dr. S. Bernfeld.
Wenn man die Geschichte des jüdischen Volkes
betrachtet, so hat man beinahe den Eindruck, als
ob es in dessen Natuf und Wesen gelegen hätte,
stets von Ost nach West* and von West nach
Ost zu pendeln. In der uralten Zeit, die man
als das Morgengrauen in der jüdischen Geschichte
bezeichnen darf, sehen wir die israelitischen Stämme
von den Ländern des Euphrat nach Kanaan
wandern. Einige Jahrhunderte später beginnt die
Rückwanderung nach Mesopotamien und Babylonien.
Nahezu ein ganzes Jahrtausend erhielt sich dann
im jüdischen Volke das Hin- und Her wandern
zwischen Ost und West, wobei sich merk-
würdigerweise im Laufe der Zeit zwischen der
Judenheit im Osten und der im Westen dieselben
kulturellen und sozialen Gegensätze ausbildeten wie
in der Gegenwart. Im babylonischen Talmud ist
es eine fast stereotype Redensart, über diese oder
jene babylonische Lelirmeinung oder dialektische
Spitzfindigkeit ^habe man im Westen gelacht".
Trotz der engsten Beziehungen zwischen der baby-
lonischen und palästinensischen Judenheit flogen
doch immer von hüben und drüben spitze Be-
merkungen, Witze und oft auch offenener Tadel
gegeneinander. Im Osten, wo damals der Schwer-
punkt des jüdischen Volkes war, ärgerte man sich
oft über die wegwerfende Art und Weise, in der
man zu Palästina über die Juden in Babylonien
zu urteilen pfl^te. Aus diesem Grunde sahen
viele die Wanderung von Babylonien nach Pa-
lästina nicht gern, und ein berühmter Lehrer ver-
sti^ sich sogar zu der Behauptung, es sei dies
sündhaft, da die Juden in der babylonischen Ver-
bannung so lange zu verbleiben hätten, bis sie.
Gott selbst nach ihrer palästinischen Heimat zu-
rückführen würde.
In der neueren Geschichte der Juden spielt
ebenfalls die Wanderung von Westen nach dem
Osten und zurück eine bedeutsame Rolle. Als
Ntcbdruck verboten.
durch das römische Weltreich das europäische
Abendland allmählich erschlossen wurde, wanderten
die Juden zuerst westwärts, dann aber infolge ver-
schiedener Ereignisse wieder nach dem Osten.
Eine merkwürdige Episode in der jüdischen iGe-
schichte bilden die Vorgänge gegen Ende des 15.
Jahrhunderts. Zwei grosse Gruppen von jüdischen
Ansiedelungen, wo die Juden seit einem Jahr-
tausend feste Wurzel gefasst hatten, wurden ge-
waltsam zerstört. Die Juden in Deutschland
mussten allmählich ihre alte Heimat verlassen und
wandten sich nach Polen. Um dieselbe Zeit
kam auf der pyrenäischen Halbinsel die schreck-
liche* Katastrophe über die dortigen Juden, und
auch sie mussten sich eine neue Heimstätte suchen.
Was geschah nun ? Während die deutschen Juden
vom Westen nach dem Nordosten zogen, suchten
die meisten spanischen und portugisischen Juden
vom äussersten Westen eine Ruhestätte in dem
europäischen Südosten, das damals unter der Herr-
schaft der aufgeklärten und toleranten Osmanen
stand. Nur ein kleiner Teil dieser Flüchtlinge fand
in Italien und später auch in Holland Aufnahme.
Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, als in
Polen und den damaligen russischen Provinzen
des grossen Polenreiches die schrecklichen Juden-
metzeleien stattfanden, begann wieder eine stete
Rückwanderung der dt^utschen Juden nadi dem
Westen. Diese Rückwanderung, die im Laufe
eines Viertel-Jahrtausends verschiedene Zielpunkte
gefunden hat, ist in der letzten Zeit zu einer
grossartigen Emigration nach Amerika geworden.
Es ist somit kein Zweifel, dass wir es gegenwärtig
mit einer grosse Dimensionen annehmenden Wande-
rung der Juden nach der westlichen Halbkugel
zu tun haben. Ueber die kulturgeschichtlichen
Einzelheiten dieser ewigen Wanderung des jüdischen
Volkes Hesse sich ein interessantes Buch schreiben.
Denn dadurch hat sieh dieses Volk eigenartig ent-
21«
Dr. S. Bemfcld: Ost und West in der jüdischen Wanderung.
wickelt, national und kosmopolitisch ziigleicli. Und
nicht nur das, die Kulturgeschiclite der Menschheit
ist von dieser Ersclieinnng dberall und zu allen
Zeiten stark beeinflusst. Die Spuren des jüdischen
(leistea sind bei allen Völkern zu finden, selbst
bei solchen, die süt Jahrhunderten alle Gemein-
schaft mit dem jfldischen Volk aurgegeben zu haben
glauben. Am merkvOrdigsten aber ist das
sprachliche Problem der Juden.
Als die israelitischen Stämme aus dem Morgen-
lande erobernd in Kanaan eindrangen, sprachen sie
zweifellos aramäisch, die Sprache ihres Heimat-
landes. Das Hebräische, die Sprache Kanaans,
haben sie von den unterworfenen Stämmen tlber-
nommen und sie zu ihrer nationalen Sprache ge-
macht, in der sie das niedergelegt haben, was für
ewige Zeiten das geistige Merkmal des judischen
Volkes und dessen Bedeutung In der Weltgeschiclite
bilden wird. Die kanaitische Sprache ist somit zu
einer israelitischen geworden, zu einer, die von der
Bevölkerung, die sie einst gesprochen, losgelöst
wurde und mit der kulturellen Entwicklung des
jüdischen Volkes aufs innigste verknüpft ist. Nach-
dem aber die Juden in dieser Sprache alles nieder-
gelegt hatten, was ihre geistige schöpferische Kraft
zu bieten hatte, kehrten sie zu ihrer ehemaligen
Muttersprache zurück, zu der aramäischen. Auch
in dieser Sprache schaf das Volk manches hervor-
ragende Geistesprodukt, und obwohl die Juden
dieses Idiom mit mehreren anderen Volkei-u in
Vordeidsien teil'— "• ■'"—'■
eine merkwUrdij
der Umstände d:
nur als Volks
ratursprache de
blieben. Wir hai
Ahnung davon, \
liehen aramäisc
diese Sprache
und literariscli
haben. Denn dJ
literarischen D»
aramäischen 1
ihrem Inhalt nai
ihnen werden
lieb Dinge
behandelt, die
das Juden-
tam betreffen.
Man muss
annehmen, -^
dass dadurch ^
die Sprache
lexikalisch,
d. h. in
ihrem Wort-
schatz UDd
auch in ihren
l'^ormen vieles
llbernommen hat. Wir haben ; '
also diese Sprache nur in der Rr.oiNA MUNDT.aK-
Uestalt, in der sie sich bei den Juden entwickelt
hat. — Dass die Juden auf ihrer tausendjährigen
Wanderung an verschiedenen Orten verschiedene
Sprachen angenommen und in der Folge diesen
Sprachen den Stempel ihres geistigen Lebens und
Schaffens aufgedrückt haben, ist ja bekannt. Ein
Stück jüdischen Kultu'lebens ist aufbewahrt in der
griechischen Sprache, in der syiischen, anibischon
und persischen. Von den neueren Sprachen
spielen die de;itsche und spanische im Leben der
Juden die grössle Rolle. Für absehbare Zeit kann
man sogar behaupten, dass abgesehen von einigen
kleinen Sprachgebieten , die Juden sich in eine
grossere deutsche und eine kleinere spanische Hälfte
teilen. E^s sielit so aus, als ob das Volk, das
bereits so viele Spraclien gelernt und wieder ver-
gessen hat, nunmehr bei diesen beiden genannten
bleiben will, die so innig mit seiner Geschichte im
letzten Jahrtausend zusammenhängen. Ein Irrtum
ist es, wenn man glaubt, dass alle deutsch- oder
jUdisclideutsch sprechenden Juden von denen ab-
stammen, die vor Jahrhunderten die deutsehe
Heimat verlassen ranssten und in der Fremde die
nun einmal angenommene Muttersprache in mhrender
Anhänglichkeit wahrten. So viele Juden sind gar
nicht von Deutschland nach Polen eingewandert.
Tatsächlich haben die deutschen Einwanderer
im Osten und im Nordosten zahlreiche jüdische
Gemeinden voi-gefunden , die ihr slavisehes
Idiom sprachen. Da ihnen aber die deutschen
...j-_ i...i.y^gj| Hbeiiegcn waren,
ingte die deutsche
xllmäbtleh die slavl-
jüdischon Emigranten
mit in dtr P<enide
unter sich die deut-
:he erhalten, sondern
ihr andere Sprach-
abert. Dasselbe gilt
lie spanisch redenden
Südosten von Europa,
rika, in Egypten, in
Syrien und
Kteinasien.
Bevor die
jjrosseWau-
/ierung von
der pyrenäi-
<*' .sehen Halb-
, insel begon-
I nen hatte,
' |v' j-^ab es in
P r t*-' den genann-
/ teil Län-
dern grosse
Gemeinden,
in denen
slavisch,
i,'riccliisch
h gesprochen wnrdc.
Diese Sprachen wurden erst im
STUDIF. Laufe der Zeit nach und nach ver-
221
Dr. S. Bernftld: Ost und Wrsi in der jüdischen Waiideratig.
(liiLiit^t, wobei sicil kleine Reätu bis auf den houligen
'l'äg erbiolten, in mänclien Gemeinden aber neben
der spanisdien aucb die frülieie Sprache nocli gilt.
Allerdings darf man nicht annehmen, dass die Aus-
wanderer aus Spanien und Portu^^al, die man auf
etwa 300000 schätzte, diese Eroberung auf dem
sprachlichen Gebiet vollzogen hätten. Etwa zwei
Jahrhunderte hindurch erhielten sie von iJirer ehe-
maligen Heimat dadurch Zuzug, dass viele, die zuerst
als Schfiinehristen in Spanien und in Portugal
zurückgeblieben waren, dort doch nicht bleiben
konnten und sie' " " ' "
maligen Leidensg
Was sieb jetzt v
voilzielit, dass
polnische , und
die sieh in der □
massen eingeburgt
nach üire in der
bliebenen Verwarn
zu sich kommen
damals mit
den spanisch-
jüdischen
Emigranten.
Nur dieser
Zu2ug, der
zwei Jahr-
hunderte an-
hielt, ermög-
lichte ilmeii,
alte griechi-
sche, slavi- '_-
sehe oder ar^- -'
bische Ge- j
meinden all-
mählicli zu
romaniaieren.
Auf eine
volkspsycho-
logisch merk-
würdige Er- :
scheinung
mochte ich
noch hinwei-
sen. FOr die _;
deutsch re-
dendenJuden -z
ist die deut-
sche Sprache ^'
einfach die —
.jüdische'' ^'
geworden, _';
worüber nur -_
N&rren spot- -7^
ten können. j
Auch die spa- ^
nifichen Ju-
den bezeich-
nen die von
ihnen ge-
sprochene j^^^,,^^ munDLAK.
spanische Mundart als ^uda'ismo". Bekwntlich
ist ein Teil des hebräischen Wortschatzes in
den judisch-deutscben Dialekt eingedrungen. Auch
der jadisL-h-spaniscbe Dialekt enthält manche
hebräische Worte, aber bei weitem nicht in dem
Umfang wie der jüdisch-deutsche. Wie kommt das?
Bei den deutschen Juden war das geistige Leben
viel tiefer in alle Volksschichten eingedrungen, alle
strebten danach, das hebräische Schrifttum zu
kennen, in dem sie lebten und geistige Körung
fanden. Was sie diesem Schrifttum entnalimen, trugen
• _ ,.._.. ■_ .i._ ' -•Jg^,e Umgangs-
kanot, dass sie
Vorstellungen
die Bezeich-
len entnahmen,
men diese nicht
iseben Massen
kfassen in den
t voran waren.
Juden hiogegen
standen die
Dinge guiz
anders. Auch
in der besten
Zeit blieb
die Kenntnis
des hebräi-
schen Schrifl-
inms auf den
engen Kreis
der Gebilde-
ten und Ge-
lehrten be-
schränkt. Die
unteren Mas-
sen wnssten
nicht viel da-
von. Oaaber
das Spanische
als Kuttur-
sprache sich
froher ent-
wickelte als
das Deutsche,
so brauchten
ilie Juden in
ihrem Kul-
turleben
nicht so oft
ihre Zuflucht
zu dem he-
bi'äischen zn
nehmen. Auf
diese Weise
hat sich die
jddisch-deut-
scbe Mundart
viel judischer
entwickelt als
die jüdisch-
JUEDISCHER KNABE AUS POLEN, spanische.
NEUES VON LESSER URY.
Nicbdruck vtriiatcn.
Es ist etwa elf Jabre her, seit Lesser Ury zum
erstemnale sein „JerOBalem" aa3:^tellte. Damals scbrieb
Oskar Bie: „Ich bin glücklieb, bei dieser Oelegenbeit
einmal meine ganze grenzenlose BewandemDg der
Urysühen Kunst aussprechen und belegen zu kflnnen.
Denn Uryj Werk ist nicht nur sein Meisterwerk, es
L^t ein Meisterwerk der gesamten modernen Kunst, es
ist ein kunstgescbichtlicbea Bild . . ." Seit damals
sind elf Jahre vergangen, seit damals ist Lesser Ury
ins Kiesen hafte gewachsen, seit damals hat Lesser Ury
eine ganze grosse Galerie von Heisterwerken empor-
gebaut.
Nun hat er fUr seine Qaterie, die leider noch nicht
Gemeingut des Volkes geworden, zwei neue Werke
hervorgezau-
bert: ein
grosses Ge-
mälde „Sin^
Hut", ein
kleineres
„David im
Gebet".
Zwei Werke
höchster
Menschbeits-
knnst. Hau
steht vor die-
ser „Sintflot"
wie vor einem
' PhSnomen,
schüttelt sii^
vielleicht vor
Grauen, fBb-
lend, dass
hier ein
Meister die
Tra'gik des
Lebens in
bisher aner-
hörter Weise
dargestellt,
blossgelegt LESSER URY David im Gebet,
und in all
ihren mor-
denden Wirkungen fürmlichverkürpert hat Man schüttelt
sich vor Grauen . . . Aas den ungeheuren nebligen
Wassern, deren blendend weisse Wellen hoch empor-
scblageo, ragt ein mächtiger Felsen auf: die letzte Zu-
fludit der letzten drei Urmenschen. I-Jiner von ihnen, der
^ mittlere, stürzt eben in die Fluten, im letzten Momente
noch den rechten Fuss um eine Felskante klammernd.
Schon aber werfen sich die'Wasser über den Körper . . der
Tod ist da . . , Und während er gierig an dem Manne
sangt, mit seinen Wassern in Mund und Augen dringt,
ringen die beiden Mitmenschen noch um das nackte
Leben . . . Muskeln und Sehnen spannen sich: Ein
furchtbarer Kampf letzter Kräfte mit dem tötenden
Element. Man sieht, wie der eine 7«n beiden, ein
knorriger Kerl, mit rötlich schimmerndem Haar, die
rechte Hand um den Felsen schlingt and mit den
starken Fingern der Linken ein höher strebendes Stück
des Felsens packt, während dfr rechte Fuss gegen
einen Block sich wuchtig stemmt. Wie da der Kopt
sich im Nacken dreht, wie da die Augen tierisch wild
zur Seite blitzten, als spritzte ihm schon der weisse
Gischt entgegen 1 Und d;inn der andere von jenen dem
Tode Geweihten: der liegt platt vom Felsen hernieder,
Hinterkopf und Rücken an ein and erpressend, mit beiden
Händen Übermenschlich die Zacken umspannend, vahrend
die Füsse schon von einem langsam sich abbröckelnden
Block, auf dem sie vor Sekunden noch fest g«mht
haben, langsam hernieder gleiten . . . Man empfindet:
im nächster Augenblick schrumpft auch die Kraft
dieses Menschen in nichts zusammen. Denn von oben
herab drücken die schwergranen Wolken, drücken die
schwergraaen Itegenmassen auf die braunen Felsen nieder,
bullen ihn
ein, hallen
die mensch-
lichen Körper
ein,
sie schauem,
und aus der
Tiefe brau-
sen schon die
weissenWas-
ser höher
empor und
ringeln sich
wie weisse
Schlangen
um die Ffisse
der Men-
schen . .
Ein grauen-
haftes, aber
grandioses
^aospiel !
Und wie
Lesser üry
hier, von dem
m&chtigen
Vorwurf des
Gemäldes ab-
gesehen, die
Technik an
.lieh meistert, ist wunderbar, üry, der Aktmaler, der
vor einem Viert«ljabrhundert beim berühmten Portaels
in Brüssel den ersten Preis im Aktmalen errungen, zeigt
sich hier in seiner vollendetsten Kunst. Und gleich un-
übertrefflich ist, wie Ury, der farbenfrohe Meister des
blauen Gardasees, das graue Meer hinmalte in seiner
endlosen Weite, seinen seltsamen Sturmspiegelungen.
Und neben diesem gewaltig- düsteren Bilde das
Werk der reinsten, hellsten Andacht: „David im Gebet."
Ans dem sonngebräuiiten Knaben köpfe blicken die
dunklen Augen verklflrt zum Himmel empor, der mit
weichen weissen Wolken bedeckt ist. Nur da und
dort lugt ein Streifen Blau, ein Streifen Grün hervor.
Und seitwärts ' von dem betenden Jaden st«ht Goliath
da, zu einer schattenhaften Erscheinung zusammenge-
schrumpft, als hätte den Riesen schon der Anblick des
Betenden niedergezwungen.
Berlin, Adolph Donath.
BERLIN.
JUNO-HEBRAEISCHE LYRIK.
Von Samitel Meiseis (Charlotten bürg).
Nicbdnick «tfboun.
Den grossen Zeitraam von dem gläDzendeo
DreigestirD, den Dichterförsten Jehada Halevy,
IbD Esra nnd Ben Oabirol bis in die Aera Mendels-
sohns and Docb weit darüber hinaus kann man mit
Recht als die dichterlose Zeit im Jndentnme be-
Eeicbnen. Die QueUen der jüdischen Lyrik waren
versiegt; Die Zionsharfen schienen zerschlagen,
ihre Saiten geborsten. Kein Laut war hörbar,
selbst die alten K]a<;etöne verhallten, otine das
leiseste Echo zu wecken. Es war eine Zeit der
annmschränktfn Herrschaft des Geistes, der jedes
Geföhl verstnramen macht. Stellten sich manchmal
innere Geföhlsregnngen ein, lohten manchnial im
Herzen die FlamoieD der Be^eisternng anf, so sachte
mau sie weniger dnrch eigene lyrischen Ergüsse
als durch bereits vorhandene ältere zum Ausdruck
zu bringen. Uan kümmerte sich wenig darnm,
ob diese alten Klänge zu den neuen Zeitstimmnngen
passten. Und schliesslich muss man nicht immer
io Schmerzen und Leiden poetische Tränen ver-
giessen. Es lässt sich auch
in schlichter Prosa weinen
und wehklagen . . .
Erst in den Zeiten der
Emanzipatiunsbestrebangen
der Juden, besonders aber
in der darauffolgenden Anf-
klärungsperiode erstand dem
Judentum eine Anzahl von
hebräischen Dichtern, die
im bekannten Mnsivstil oder
in der Form der sogenannten
.Pijutim" ihre Lieder und
Hymnen sangen. Allein diese
Dichter waren keine Lyriker
im eigentlichen Sinne; ihre
Dichtungen boten ein Ge-
misch von philosophischen
Bebachtangen und mora-
lischen Sentenzen, sprühen-
dem Wortwitz und trockenem
Humor, schwülstigen Phra-
sen und gereimter Prosa.
Reine Gefühlseiyüsse waren
ihaen fVemd. Jedes Diu^f
lief bei ihnen auf die Moral
hinans, die ihnen der In-
begriff alles Schöoen war.
Da sie eine grosse Vorliebe
fürs Lehrhafte besassen, be-
vorzugten sie das didak-
tische Gedicht. Diese Be-
vorzugung derLehi^edichts-
gattane hat sich bei den
hebräischen Dichtem bis
Ende der achtziger Jahre
des neunzehnten Jahr-
, handerts erhalten. Aus
diesem Grunde haben sie LESSER URY
auch aus allen Literaturen nur das herßberge-
Dommen, was lehrhaft, moralisch, tendenziös war.
Sie liebten das Schweriälline and Gedankenreiche.
Für die Reize einer leichtbeschwingten Mase ging
ihnen das Verständnis ab. Die tiefgründigen, mit
metaphysischen Gedanken durchwebten Gedichte
Schillers sagten ihnen mehr zu als die sanft dahin-
äiessenden Klänge der Goetheschen Poesie oder die
tänzelnde Lyrik Heiuricb Heines, Schiller war
auch der erste deutsche Dichter, von dem eine
grössere Auswahl von Gedichten in hebräischer
Uebersetznog erschienen ist,
Dazamal wurde in der jüdischen Poetenschule
mit der poetischen Lizenz insofern Missbrauch
getrieben, als jeder, der hebräisch schreiben nnd
reimen konnte, für sich die Lizenz beanspruchte,
zu dichten. Da gab es neben einigen wirklichen
Poeten viele Reimschmiede in Israel. Jeder Stuben-
gelehrte, der Studien oblag, die von der Dichtkunst
weltenweit entfernt sind, betrieb das Handwerk der
Die Sintflut.
221
Samuel Meiseis, Charlottenburg: Junghebräische Lyrik,
228
Reimschmiedeknnst als Nebenbeschäftagung. Es ist
cbarakteristiscb, dass damals fast kein einziges Buch
in hebräischer Sprache — mochte es ein Buch ttber
hebräische Synonymik oder eine Konkordanz, ein
Lehrbuch der Geographie oder ein Leitfaden der
Greschichte sein — ohne einleitendes Gedicht in
die Welt gesetzt wurde. Dieser Brauch hat sich
dermassen eingebürgert, dass eine gereimte Ein-
leitung unerlässlich notwendig wurde zu jedem
Buch. War das Werk ein Orißinal oder eine
üebersetzung — das Gedicht als Geleitwort durfte
unter keinen Umständen fehlen ... In den meisten
Fällen war dieses Gredicht ein Hymnus auf die
hebräische Sprache, in der „Adam und Eva, lust-
wandelnd im Garten Eden, sich verständigten, in
der Gott vom Sinai zu seinem Volke sprach,
in der die gotterfiillten E^opheten Strafreden
hielten und in der der Sänger auf dem Throne
seine herrlichen Psalmen saug*. Oder es war
eine Elegie auf den Niedergang der hebräischen
Sprache, die wie „eine Witwe dasitzt, von ihren
Kindern verlassen" . . .
Freilich hat die jüdische Literatur dieser
Epoche einige Dichter zu verzeichneu, in deren
Dichtungen der Puls einer warmen Empfindung zu
vernehmen ist. Sie meisterten die hebräische
Sprache mit einer Virtuosität, die jedem Kenner
Bewunderung abringt. Mit grosser Kunstfertigkeit
wendeten sie in ihrep Gedichten das Bibel wort an,
in dieser Weise, dass es in seiner alten Form einen
neuen Gedanken erhielt. Sie waren Meister des
Wohles; sie schufen keine neuen Worte für die
neuen Begriffe, sondern sie besassen ein fein-
entwickeltes Sprachgefühl, das sie befähigte, den
vorhandenen hebräischen Wortschatz auszubeuten
und dem Bibelwort, je nach seiner Stellung im
Satzgefüge, einen neuen Sinn zu geben. Dass dieses
strikte Festhalten am Stil der Bibel zuweilen den
dichterischen Schwung hemmte und in ein leeres
Wortgeklimper ausartete, ist erklärlich. Aber auch
Dichter sind Kinder ihrer Zeit. Wie das Juden-
tum, namentlich im Osten, zu jener Zeit nur nach
dem Buchstaben lebte, so dichteten seine Poeten
nach dem, was geschrieben stand — nämlich: frei
nach der Bibel. Sie schöpften den Stoff zu ihren
Dichtungen nicht aus ihrer Brust, aus dem vollen
Menschenleben, aus der grossen weiten freien Natur,
sondern — aus der Bibel. Den Zauber des Früh-
lings, das Malerische einer herrlichea Landschaft,
das Bauschen der Flüsse, das Säuseln der Winde, das
Jubilieren der Nachtigallen — all dies sahen sie nicht
und hörten sie nicht, sondern lasen es aus der Bibel
heraus. Das Ergebnis: alle ihre Frühlingslieder waren
in Reime gebrachte Bruchstücke aus den Psalmen und
dem Hohenliede; alle ihre Landschaft sbilder hatten
ein palästinensisches Aussehen; alle ihre Metaphern
waren biblisch. Bei jedem Sonnenaufgang ginp: die
Sonne heraus „wie ein Bräutigam aus seiner
Kammer, frohlockend wie ein Held, die Bahn zu
durchlaufen"; im eisigen Norden sass der Bauer
„friedlich unter dem Schatten seines Feigenbaumes";
^id wo die Rebe nie geglüht, kelterten die Winzer
Weintrauben in den Keltern und sangen ein Heidod-
lied. Bezeichnend waren auch ihire Liebeslieder.
Da hiess jede Geliebte Sulamith und eine glich der
andern wie ein Tropfen Wasser dem zweiten: die
Augen waren wie die Teiche zu Hebron am Tor
Bethrabbim, das Haar wie eine Herde Ziegen,
gelagert am Berge Gilead, die Zähne, wie eine
Herde Schafe, die aus der Schwemme kommen die
Brüste wie zwei junge Behzwillinge, die unter
Rosen weiden, der Hals wie em elfenbeinerner
Turm, das Haupt wie der Karmel — also alles
genau nach Muster der Sulamith im Hohenliede
Salomos. Li vielen Fällen brachte die Schluss-
strophe des Liebesliedes eine Enttäuschung, denn
es stellte sich heraus, dass die vom Dichter an*
geschwärmte Dame gar kein Wesen von Fleisch
und Blut war, auch keine schaumgeborene Meeres-
göttin, sondern die lichtgeborene „Haskala" (Auf-
klärung), die Tochter des Himmels, die die Finsternis
bekämpft und den Menschengeist erleuchtet . . .
Erst mit dem Dichter-Trifolium Adam Leben-
sohn, seinem leider früh verstorbenen Sohn Micha
Josef Lebensohn und Juda Leib Grordon beginnt
eine neue Epoche in der hebräischen Poesie im
besonderen und in der jüdischen Poesie überhaupt.
Sie bilden die Vorläufer der modernen hebräischen
Lyrik, obwohl die moderne Dichterschule an diese
Meister sehr wenig anlehnt. Die hebräische Lyrik
berührt jetzt ganz andere Saiten und entlockt
diesen ganz andere Töne, als man fi^er zu hören
gewohnt war. Etwas Melodisches und Wäch-
klingendes tönt aus ihren Gedichten heraus. Jedes
Gedicht ist aus der Zeit heraus gedichtet, aus dem
Born des frisch sprudelnden Lebens geschöpft
* * *
Die führende Rolle unter den junghebräischen
Lyrikern hat Chaim Nachman Bialik, ein starkes
Talent von grosser dichterischer Kraft und von
unerschöpflicher Sprachgewalt. Bialik steht am
Scheidewege, zwischen zwei Epochen, wo er sich
mit den jüngsten alten und den ältesten jungen
hebräischeu Lyrikern berührt. Er beginnt als
Epigone Juda Leib Gordons und wächst sich all-
mählich zum Vorläufer vieler jungem Talente aus.
Also halb Jünger, halb Meister; kein ganz modemer
hebräischer Dichter, aber einer, der sich moder-
nisierte, um schliesslich seinen Nachfolgern den
Weg zur Moderne zu zeigen. Bialik hat eine grad-
linige spontane natürliche Entwicklung durchge-
macht; er hat viele Hemmnisse überwunden, sich
durch manche Hindemisse durchgerungen, aber
ohne Schwingübungen und Kunstsprünge. Diese
Tatsache verdient um so eher der Erwähnung, als
Bialik vom Beth-ha-midrasch den Schritt zum
Paraas untemahm. Viele vor ihm sind gleichfalls
aus dem Beth-ha-midrasch zu des Dichters Berges-
höhen gestiegen. Aber Bialik ist den Weg ge-
gangen, jene sind gesprungen. Jeder Beth-ha-
midrasch-Jünger ist m der Regel zu seinem eigenen
Schaden ein Voltigeur. Bialik war es nicht. Schon
dieser natürliche Entwicklungsgang zeigt ihn als
Modernen.
229
Samuel Meiseis, Charlottenburg: Junghebräische Lyrik.
230
Zwei Epochen lassen sich schon jetzt in
Bialiks dichterischem Schaffen unterscheiden. Die
eine bedeutet den Abschied vom Beth-ha-midrasch,
die andere den Eintritt ins Leben. Dieser Ueber-
gang vollzieht sich ohne Katastrophe und hinter-
lässt keinen Zwiespalt in der Natur des Dichters.
Seine Brust wird dadurch nicht zum Wohnsitz der
männiglich bekannten „zwei Seelen". Es ist eine
grosse Dichterseele, von Natur aus mit einer reichen
Entwicklungsmöglichkeit ausgestattet, sodass man
bereits am Ausgangspunkt das ferne Endziel sehen
konnte. Ein stetes Vorwärtsgehen, ein immer-
währendes Aufwärtssteigen .... Wollte ich die
bis jetzt in vier Bänden vorliegenden lyrischen
Gesänge Bialiks mit einem Schlagworte kennzeichnen,
ich würde sie „Der Gang zum Licht* nennen.
Sein erstes Gedicht schildert emen melancholisch
düstern Herbsttag, wo alles in Nebelschleier ge-
hüllt ist und ewige Finsternis den Himmel umlagert;
in seinen letzten gedruckten Gedichten badet er
in Sonnenstrahlen und kann sich nicht satt baden
und ruft aus: „Mehr Licht, o Gott des Lichts,
gib Licht!«
Der Abschied vom Beth-ha-midrasch fiel dem
Dichter schwer. Es war ein Abschied unter Tränen,
ein Abschied voller Rührseeligkeit von dei Stätte,
wo er seine Jugend zwischen kahlen Wänden und
dickleibigen vergilbten Folianten hinwelken sah.
Immer wieder wirft der Dichter einen Blick nach
dem Beth-ha-midrasch, dem Grabe seiner Jugend.
Er sehnt sich manchmal zurück nach dem alten
melancholischen Lehrhaus, nach dem alten welt-
fremden Talmudstudium mii seiner Kasuistik und
nach dem monotonen Singsang. Er entdeckt nach-
träglich Lichtspuren in dieser fahlen Düsterkeit,
Poesie m dem prosaischen Talmudstudium. Gleich-
zeitig überkommt ihn ein glühender Zorn ob dem
Dahinschwinden der Jugendjahre ohne Schönheit,
ohne Frühlingsluft und Sonnenschein« Aus dieser
Doppelstimmung heraus sind die formvollendeten
Gedichte ^Der Fleissige**, „An der Schwelle des
Lehrhauses'' entstanden. Namentlich jenes ist ein
Gedicht von kulturhistorischem Wert, eine Apo-
theose auf den Talmudjünger und seinen Heroismus,
zugleich eine Anklage gegen die Yerknöcheruog im
IBuchstabenkult. Der Dichter schildert den ganzen
Lebensjammer des Bachurs, der in den Tiefen des
Talmud seine Jugend ertränkt, der das Wort der
jüdischen Schriftgelehrten: ^Brot und Salz und
Brunnenwasser und hartes Lager und — Thora-
Studium" zur Wahrheit macht. Oft denkt der
Dichter zurück an . seine Kampfgenossen, die .mit
der Waffe des dialektisch scharf zugespitzten Worts
kämpften, deren ganzes Jugendleben ein Wortgefecht
war; oft wähnt er ihre schmelzend traurigen Stimmen
zu vernehmen, und seiner tiefempfindenden Brust
entringt sich der Seufzer:
Nur ein Bachur, der das düstere Beth-ha-midrasch-
Leben mitgemacht hatte wie Bialik, konnte das Ba-
churimwesen so ergreifend und so plastisch malen.
Voraussichtlich ist Bialik der letzte Dichter, den
das Beth-ha-midrasch der neuhebräischen Literatur
geschenkt hat. Denn die Gtoluthspezies der Bachurim
ist im Aussterben. Die Nachfolger Bialiks kommen
ans ganz anderen Kreisen als dem Beth-ha-midrasch.
Und dieser letzte Bachur-Dichter hat das altjüdische
Lehrhaus und den Bachur in herrlichen Liedern
verewigt Im „Fleissigen" lebt, wie ein hebräischer
Kritiker treffend bemerkt, der Bachur unsterblich im
Gesänge, noch bevor er im Leben untergegangen ist.
Der Eintritt ins Leben, das erste Atmen in
der freien Natur, das erste Sichsätligen mit Schön-
heit und Blumenduft — geschieht vom Dichter mit
einer gewissen „talmudischen" Weihe, ja mit einer
gewissen Traurigkeit. Tiefe Schwermut atmen die
ersten Gedichte von Bialiks zweiter, reiferen Periode.
Der Dichter hat zwar das alte Lehrhaus verlassen,
aber er scheint einige vergilbte Schriften als Talis-
mane mit sich zu fiihren. Er kann noch nicht die
„Flügel des Gtesanges'* ganz frei bewegen, denn
sie sind noch immer von Talnmdfolianten belastet.
Bialik tritt in die schöne freie Natur, und Buch-
staben schwirren vor seinen Augen . . . Das Ähren-
feld, die Wölkchen am Himmel, die Tannen im
Walde — sie sind Buchstaben einer himmlischen
Schrift, die er liest und mit Kommentaren versieht.
Die ganze Natur wird ihm zum Talmudfolianten
oder zu einem mystischen Werke der Kabbala. . .
Er lässt die Schönheit der Natur nicht unmittelbar
auf sich einwirken, er trägt vielmehr seine innere
Stinmiung auf sie über. Er denkt mehr in sie hin-
ein als er aus ihr herausfühlt. . . Der Dichter fUhlt
sich mitunter fremd mitten m der Natur, wie wenn
er nicht so recht hingehörte. Ist er nicht seit
Jahrhunderten durch die Grausamkeit der Menschen
der Natur entfremdet worden? Ist Mutter Erde
auch seine Mutter? Darf er den Duft der Blumen
atmen, die er nicht gepflanzt? sein Auge am herr-
lichen Anblick des mat^ldnen Aehrenfeldes weiden,
das er nicht bebaut ? Solche Gedanken überkommen
ihn „Im Felde«.
Hin aufs Feld! Dort stehen Hütten in des Friedens ewger
Weihe,
In den Hütten leben Menschen, gottgeliebte, sorgenfreie,
Sehen ihrer Arbeit Segen, wie er wächst von Tag zu Tage —
Ach, und dort klagt meine Sehnsucht manche wilde Sehn-
suchtsklage.
Hin aufs Feld! die heiigen Stimmen im Getreide will ich
hören,
Tnd den Wind, wenn er vorüberhuscht, das hohe Rohr
zu stören,
Und im Feld das leise Brodeln und im Berg das tief<»
Gähren.
Tnd warum die Köpfchen rühren, vollo, flaumige, die Ähren.
Und denk ich an ihre Stimme, die stöhnte
Wie Ächzen Erschlagncr in Mittemachtsstunde,
Dann schreit es in mir: Gott, du Gerechter,
Weshalb gehn denn all diese Kräfte zugrunde?
Ins Getreide will ich schleichen, niederkauem, mich ver-
stecken.
In die gelbe Hut mich tauchen, dass mich ihre Wellen
decken.
231
Samuel Meiseis, Charlottenburg: Junjghebräische Lyrik.
232
Drüben schweigt der Wald; mich schauerte, Waldes-
schweigen zu belauschen
Und die Bäume, wie sie Träume tiefgeheimer Nächte
tauschen.
Hin zur Erde will ich fallen, mein Gesicht darin verschmiegen
Und mit einer bittem Frage weinend ihr im Schosse lieffen.
„Sag mir, liebe Mutter Erde, warum tränkt nicht voller
Gnaden
Deine Brust auch meine arme Seele, krank und mühbeladen?"
Keine Antwort — zu des Berges Saum ist Sonnenblut
ergossen.
Ich von Wand und Wand der hohen Ähren wonnevoll
umschlossen,
Ganz umwallt, umballt von Schatten, die auf mich her-
niedersinken^
Schreit ich, Himmel mir zu Häupten, Korn zur Rechten,
Korn zur Linken.
Vor des Feldes lichter, froher Majestät, ein Bettler steh ich,
Und wie nackt ich bin und elend, erst zu dieser Stunde
seh ich.
Meine Hände nicht, ihr Aehren, schulen euch in Müh und
Walten,
Meine Kraft hat nicht gesät hier, ich nicht werde Ernte
halten.
War es Schweiss von meiner Arbeit, der den schwarzen
Boden trän'«te?
Mein Gebet, dem sich der Himmel gnädig wies und Regen
schenkte?
Ihr gedieht, doch nicht um mein Herz, meine Augen nicht
zu rühren —
Ach, so wird nicht meiner Lieder Jubel euch zur Scheune
führen.
(üebersetzt von Bernhard Fuchs.)
In diesem Gedichte zeigt sich Bialiks Meister-
schaft in der Naturmalerei Zum wahren Künstler
entfaltet er sich in seinen spätem Gedichten „Friih-
lingswehen", „Mysterien der Nacht", „Morgen-
geister", „Sommerlieder". Sein stimmungsreiches
Gedicht „Licht" dürfte in der neuhebiäischen Lite-
ratur den Rang einnehmen, den Schillers Spazier-
gang in der deutschen Literatur einnimmt. Auch
eine Reihe von sinnigen Balladen hat Bialik ge-
dichtet, darunter die „Zwerge der Nacht*, eine
Wichtelmännchengeschichte, düe sich anmutig liest
wie Goethes „Hochzeitslied**. Nur in seinen
Liebesgedichten, von denen bisher im ganzen
sieben erschienen sind, kommt er über die
Mittelmässigkeit nicht hinaus. Allerdings üanden
auch diese Gedichte in den hebräisch lesenden
Kreisen viel Anerkennung, und em bedeutender
hebräischer Kritiker scheute sich nicht, zu erklären,
dass Bialiks Liebeslied „Ein Brief lein schrieb sie
mir" nicht seinesgleichen in der ganzen Weltliteratur
fände. — Was Wunder? Waren doch die echten
gefühlvollen Liebeslieder bis jetzt so rar in der
neuhebräischen Literatur! Und aUes Neue liebt
man zu überschätzen. Im deutschen Dichterwald,
wo die Nachtigallen Goethe und Heine ihre Liebes-
lieder sangen, würde man Bialiks Liebeslieder doch
etwas niedriger bewerten.
Soll ich noch vom Dichter-Propheten Bialik
sprechen? — Nach den Judenmetzeleien in Kischi-
new hat Bialik drei Gedichte, richtiger prophetische
Strafreden unter dem Gesamttitel „Von den Ge-
dichten des Zorns" veröffentlicht. Das sind Lieder
des grossen Zorns, wie sie keine zweite Literatur
aufzuweisen hat, aufweisen kann. Diese Lieder
hat die Volksseele gedichtet, die seit Jahrtausenden
gemarterte, in Blut getränkte jüdische Volks-
seele. . . Keines Malers Pinsel hätte die schreck-
lichen Szenen des Judenmassakers in Kischinew
so plastisch darzustellen vermocht, wie Bialik
sie in diesen Gedichten schildert Und doch ist
er hier weder Künstler, noch Maler noch Dichter,
sondern Prophet. Der Prophet, dessen Stimme wie
ein Donner dahinroUt, weit hinter die Berge, und
alles, was lebt und nicht lebt, mitreisst, aufrüttelt,
aufpeitscht, dass es jammert und wehklagt ob der
Schmach unserer Zeit. Ein moderner Prophet,
der nicht, von dem göttlichen Strahl geblendet, zu
Boden fällt und sein Gesicht verbirgt, der vielmehr
eine erschütternde Klage hinausschleudert darüber,
dass Gott sein Volk verlassen, gegen das Volk, das
die Makkabäer hatte und sich wie das Vieh ab-
schlachten lässt, gegen die menschliche Gesellschaft,
gegen die Gerechtigkeit selbst.
Gerechtigkeit, bist du kein Schein — so lass dich sehn!
Wird aber erst, nachdem ich spurlos bin vernichtet,
Dein Thron hienieden wieder aufgerichtet,
So soll dein Thron verflucht in Trümmer gehn!
Der Himmel soll im Frevelfrass verschwinden!
Und ihr, Barbaren, lebt in euern Sünden,
Und wascht in unserm Blut sie rein!
(Schluss folgt.)
NEUES VON DEN FALASCHAS.
Von A. Tobias.
Nachdruck verboten.
Weit unten im subtropischen Afrika, im alten
Aethiopien, dem heutigen Abessinien, lebt uns
seit unvordenklichen Zeiten ein Bruderstamm,
von dem wir bis gegen das Ende des 18. Jahr-
hunderts gar nichts gewusst hatten: die Palaschas
oder die schwarzen Juden. Erst um jene Zeit
brachten europäische Reisende, die bis nach
Abessinien vordrangen, die Kunde von der Existenz
jüdischer Gemeinden in diesem Lande, doch waren
ihre Nachrichten derart von Wahrheit und Dichtung
gemischt, dass man sich kein klares Bild von dem
Gegenstand machen konnte. Aber das Interesse der
europäischen Judenheit war geweckt, und diese hat
seither mehreremale versucht, sich mit den Juden
im Reiche des Negus in Verbindung zu setzen.
Im Jahre 1829 hat Louis Marcus im Journal
Asiatique alle bis dahin bekannt gewordenen Nach-
richten tlber die Falaschas gesammelt und auf Grund
derselben ihre Geschichte zu konstruieren unter-
nommen. Später bemühte sich S. D. Luzattos
leider allzufrüh verstorbener Sohn Oh6v-Ger
(Philoxene), mit den abessinischen Juden in direkten
233
A. Tobias: Neues von den Falaschas.
234
\
Verkehr zu treten. Die Mittel zu einer so kost-
spieligen und bescliwerlicben Reise batte er natürlich
nicht. Aber der französische Reisende Äntoine
d'Abbadie, der eine Forschungsreise nach Abessinien
antrat, nahm einen Brief an die Falaschas von dem
genannten jungen Gelehrten mit und brachte in der
Tat eine Antwort von ihrem religiösen Oberhaupt
Abba Isaak nach Europa, die im Jahre 1851
m vielen jüdischen Zeitungen veröffentlicht wurde.
Das erregte zugleich die Aufmerksamkeit der
protestantischen Missionare, und da diese bereits
früher im Lande tätig waren, so erwirkten sie beim
Negus die Erlaubnis, die Falaschas zu bekehren.
Sie stiessen auf grossen Widerstand, aber ein
merkwürdiges Zusammentreffen kam ihnen zu Hilfe.
Die Falaschas hatten gehört, dass in Jerusalem
Juden existierten, andererseits erzählten ihnen die
Missionare von der Ankunft des Messias. All das
versetzte sie in helle Begeisterung, und dem Trieb
eines naiven Glaubens folgend, verliessen sie in
grossen Massen ihr Heimatland und machten . sich
auf gen Norden bis Tigr6, von wo aus sie nach
Palästina zu gelangen hofften. Natürlich fanden
sie, anstatt des Weges nach Jerusalem, nur Not
und Elend. Von Krankheiten und Hunger dezimiert,
verzichteten sie endlich auf das Unternehmen,
Tausende von ihnen gingen zugrunde, der Rest
trat den Heimweg an. Diese Nottage machten sich
die Missionare zunutze, und mit Hilfe der Be-
hörden, die auf die Unglücklichen eine Pression
ausübten, machten sie eine grosse Anzahl Falaschas
ihrem väterlichen Glauben abtrünnig. Schon glaubte
die Mission, wenigstens im Herzen von Afrika über
das Judentum zu triumphieren, als die Alliance
Isra^lite Universelle auf Betreiben des genialen
Pariser Orientalisten Joseph Hal6vy sich ins
Mittel legte. Dieser wurde nämlich von der Alliance
beauftragt, die Falaschas aufzusuchen, einen Kontakt
zwischen der europäischen Judenheit und ihnen
herzustellen und ihre religiösen, moralischen und
sozialen Zustände zu erforschen. Die im Jahre 1868
in Abessinien ausgebrochenen inneren Wirren und
Büi^erkriege machten es Hal6vy unmöglich, seinen
Plan in vollem Masse auszuführen, aber die Er-
gebnisse seiner Bemühungen waren wenigstens in
rein wissenschaftlicher Hinsicht sehr erfreulich.
Wir verdanken ihm zwei wichtige Schriften über
die Falaschas „Priferes des Falachas" (1877) und
„Gommandements du Sabbath" (1902). Alles was
bisher über die Sitten, Bräuche und Satzungen der
abessinischen Juden bekannt geworden, versuchte
der rühmlich bekannte Forscher Abraham Epstein
in seiner scharfsinnigen und eindringenden Weise
für die Geschichte der Halacha ^u verwerten.
Mittlerweile war über die Falaschas unsägliche Not
gekommen, infolge der obengenannten Wirren waren
Hunger und Pest ausgebrochen und hatten Tausende
von ihnen hingerafft. Die Derwische hatten viele
von ihnen in Gefangenschaft geführt und zu Sklaven
gemacht. Dabei hatten die Missionare sich wieder
an sie herangemacht. In den leitenden Elreisen
der Alliance glaubte man, es wäre schon zu spät,
um ihnen irgendwie zu Hilfe zu kommen. Nur der
greise Joseph Hal6vy verzweifelte nicht und war
sogar bereit, eine zweite Reise nach Abessinien
anzutreten. Doch sein hohes Alter hinderte ihn
daran. Er bemühte sich aber, einige seiner Schüler
mit den notieren Kenntnissen auszurüsten und für
eine solche Forschungsreise vorzubereiten. Auch
der Chacham der Karaiten von Kairo, Herr Schabti
Eiiah Mangubi, versuchte, sich mit. den Falaschas
in Verbindung zu setzen, indem er durch Ver-
mittelung koptischer Priester den abessinischen
Geistlichen Briefe für die Falaschas zukommen
lassen wollte. Allein die abessinischen Priester
unterschlugen die Briefe. Erst als jüdische Offiziere
der italienischen Armee, die Erythräa besetzte,
nach Europa die Kunde dringen liesseö, dass noch
sehr zahlreiche Falaschas dem jüdischen Glauben
treu geblieben sind, entschloss sich die Alliance
zu einer erneuten Aktion. Da hatte ein gewisser
Herr Rappoport, der eine Lustreise nach Aegypten
als eine hochwichtige wissenschaftliche Mission aus-
geben wollte, in allen jüdischen Zeitungen aus-
posaunen lassen, die Alliance habe ihn mit der
Aufgabe betraut, die Falaschas zu erforsclien. Der
genannte Herr, dem alle Qualitäten für ein solches
Unternehmen fehlten, blieb denn auch in Kairo
stecken und machte keinen Schritt weiter. • Nun
rüstete Baron Edmund von Rothschild einen jungen
Orientalisten, Herrn Jaques Faltlovitch, einen
Schüler Joseph Halövys, zu einer Reise nach
Abessinien aus, und der vorläufige Bericht über
die Ergebnisse dieser Forschungsreise liegt uns vor.*)
Herr Jaques Faltlovitch hat im Jahre 1904
das Reich des Negus nach allen Richtungen durch-
streift, ist mit sehr zahlreichen Falaschas m Be-
rührung gekommen, hat viele ihrer Gemeinden be-
sucht, linguistische, ethnographische und historische
Studien gemacht und viele Manuskripte liturgischen,
folkloristischen und historischen Inhaltes mitgebrachte
Auf Grund seiner Studien und Sammlungen gedenkt
er ein umfangreiches Werk über die Falaschas zu
veröffentlichen, auf das man wohl sehr gespannt
sein darf. In dem vorliegenden Bericht bietet er
eine Schilderung seiner Reise und entwirft in grossen
Umrissen ein Bild von dem Leben und dem Treiben
dieses so wenig bekannten Zweiges der israelitischen
Volksfamilie.
Die ersten Falaschas traf er in Axum. Sie
wollten ihm anfangs nicht glauben, dass er Jude
sei. Alle Europäer, welche zu uns kommen, sagten
sie, nennen sich Juden, aber alle predigen am Ende
das Christentum. Im übrigen, fügten sie hinzu,
dürfte es wohl in der Welt überhaupt keine Juden
mehr geben. Vor etwa 40 Jahren sei ein Weisser
zu ihnen gekommen, der sich Josief nannte (gemeint
ist Joseph Hal6vy), der habe ihnen von den Juden
in Europa erzählt und ihnen versprochen, sich für
sie bei ihren Brüdern zu verwenden, die eine grosse
Gesellschaft zur Förderung des Unterrichts ge-
gründet hätten, auf dass man ihnen Lehrer sende,
*) Notes d'un voyage chez les Falachas. Rapport
pr4sent6 a M. le Baron Edmond de Rothschild par Jaques
FaYtlovitch. Paris. Emest Leroux, editeur.
235
A.Tobias: Neues von den Falaschas.
236
die sie in der Lehre Mosis tmterricliten sollteo.
Nan hätte jener Josief seither nichts von eich
hOren lassen. FaUlovitch hatte Mühe, sie zu Ober-
zeagen, dass er Jude sei und als Abgesandter eben
jener Gesellschaft zu ihnen komme. Scbliesslich
gewann er ihr Vertrauen in dem Masse, dass sie
ihm zwei junge Stammesgenossen, Getie Jeremias
und Taamrat EinmaDuel, Uberantwortetea, die er
mit nach Paris nahm, wo sie als Lehrer ausgebildet
werden sollen, um dann in ihrer Heimat zu wirken.
Die Falaschas in Amhara sprechen das
Amarifia, in Tigrö das Tigritla. Den Kuarefla-
Dialekt, welcher von Halevy und andern Forschem
als ihre ursprQngliche Nationalsprache bezeichaet
wird, sprechen ausserhalb der Provinz Kuara nur
hier und da noch Greise und Gelehrte. Die
hebräische Sprache ist ihnen gänzlich unbekannt
und sie wissen nicht einmal, dass mau sich ihrer
noch irgendwo bedient. Sie behaupten, der jüdischen
Rasse anzugehören und von Abraham, Isaak und
.lakob abzustammen. Ihre afrikaDische, mehr oder
weoiger schwarze Hautfarbe scheint dem zu wider-
'=AAK LEWITHAN.
sprechen. Aber die Feinheit ihrer Züge, der
intelligente Gesichtsansdnick und schliesslich der
kräftisre Widerstand, den sie der Aufsangnngskraft
ihrer Umgebuug seit Jahrtausenden entgegensetzten,
scheinen jedoch ihre Ansprüche zu rechtfertigen.
Den Adel ihier Abkunft bezeugen Übrigeos auch
ihre Nachbarn, Christen, Muhammedaner und Heiden,
die ihnen deswegen einen grossen Respekt ent-
gegenbringen.
Ihre Religion ist ein modifizierter und ent-
stellter Mosaismus. Obgleich ihnen die mündliche
Lehre unbekannt ist, so beobachten sie doch einige
rabbinische Vorschriften. In ihrer Mitte existieren
weder religiöse, noch Klassenunterschiede. Der
„Kahen" (Priester) und der „Deblera" (Lehrer)
erwerben iliren Lebensunterhalt durch Arbeit, wie
die anderen. Manchmal nur empfangen sie einen
Lohn für den Unterricht, den sie der Jugend er-
teilen. Denn nichts liegt den Falaschas
mehr am Herzen, als der Unterricht ihrer
Kinder. Die Debteras versammeln bei sich die
kleinen Kinder, denen sie Elementarunterricht er-
teilen und die Bibel in der Oheez-Sprache
lehren, die sie in das lokale Idiom über-
setzen. Der Kahen ergänzt diesen Unter-
richt durch -das Lehren von Gebeten
und religiösen Hymnen. Die Gebete sind
erfüllt von einer tiefen Frömmigkeit
und einem lebendigen (ilauben an eine
bessere Zukunft Israels und der ganzen
Menschheit. Sie erhoffen die Rückkehr
nach Jerusalem, die Wiederherstellung
der jüdischen Nationalität im Zusammen-
hange mit dem Anbruch des ewigen
Friedens. Zum Beten vereinigen sie
sich in Synagogen oder in Privathäusern.
Am Schabuothfest versammeln sie sich
unter freiem Himmel auf einem Hügel
zur Erinnerung au die Gesetzgebung
am Sinai.
Den Sabbat beobachten sie sehr
strenge. Sie halten alle unsere religiösen
Feate mit Ausnahme von Chanukka und
Purim. Ihr Kalender weicht nur wenig
von dem unserigen ab. Sie kennen auch
die Fastt^e zur Erinnerung an die Zer-
Störung .Terusalems, aber sie fasten am
9 Thamus und am 17. Ab. Am Jörn
Kippur fasten sogar Kinder von 8 Jahren.
Die besonders Frommen fasten am Mon-
tag und Donnerstag jeder Woche. Von
den Tieropfern, die sie ehemals prakti-
zierten, hat sich bei ihnen nur der Brauch
eriialten, am Passahabend ein Lamm zu
schlachten. ■ ^An verschiedenen Trauer-
tagen schlachten sie ebenfalls ein Tier,
was sie als Opfer betrachten. Die
Reinigungsgesetze werden bei ihnen sehr
rigoros beobachtet. Die Cireumcision
wird an beiden Geschlechtern voliftlhrt
(ein Brauch, der sich bekanntlich bei
manchen afrikanischen Völkerschaften
DER WALD, findet). Weder Polygamie noch Kon-
A. Tobias: Neues von den f^laschas.
kubinat wird ^datdet. Die
Frauen sind den Männern
völlig gleichgestellt, werden
weder im Hause einge-
scblosseo, noch geben sie
versclileiertaus. Hie nehmen
teil an den Versammlungen
der Männer, diskutieren mit
ihnen über alle öffentlichen
Fragen und arbeiten mit
ihnen zusammen.
Am Pesach nähren sieb
die Falasetias von unge-
säuertem Brot und vermeiden
alle gegobrenen Getränke.
Beim Schlachten der Tiere
beobachten sie ein anderes
Ritual, als das unserige,
aber sie entfernen ebenso
strenge das Blut aus dem
Fleisch, auch essen sie es
nicht roh, was sie vor der
Taenia behdtet, an der die
meisten anderen Abessinier
leiden. Vor nnd nach dem
Essen waschen sie sich die
Hände und sprechen ein
Gebet. In der Kleidung '^'^^'^ LEWlTHAN.
onterscbeiden sie sich nicht
von der übrigen Bevölkerung. Sie sind stets bar-
haupt, sogar in der Synagoge, nur der Kahen ti-ägt
einen wel'isen Turban. Sie achten sehr auf die
Reinlichkeit der Kleider, sogar bei der Arbeit.
An Sabbaten und Festtagen ziehen sie ihre besten
Kleider an, die Frauen legen Schmuck an.
Die Falaschas liefern ihrem Lande fast sämt-
liche Handwerker. Sie sind Bauern, Schmiede,
Maarer, Baumeister, Elbenliolzscbnitzer, Weber,
Töpfer u. s. w. Ehemals war der Ackerbau ihre
Hauptbeschäftigung, aber etwa vor einem halben
. Jahrhundert wurden ihnen ihre Ländereien ge-
nommen und sie zu Farmern herabgedrückt, die
fQr andere arbeiten. Ihre Beschäftigungen bringen
sie in fortwährende Berohning mit der christlichen
Bevölkerung, die an sich von jedem Religionshass
fem ist. Nur die fremden Missionare und der
heimische unwissende Klerus setzen ihnen zu.
Hierbei werden die Unterdrücker von den Behörden
wacker unterstutzt, die die Falaschas ausbeuten
and missbandeln nnd, um der christlichen Bauern-
schaft zu schmeicheln, sie zwingen, Kirchen zu
bauen, am Sabbat zu arbeiten und sogar verbotene
Speisen zu geniessen. Dennocli, versichert FaYt-
lovitch, habe er sich selber ßberzeugt, dass un-
zählige längst getaufte Falaschas sich danach sehnen,
zu ihrer Mutterreligion zurückzukehren, sich mit
der eingeborenen Bevölkerung nicht vermischen
wollen, und die Hoffnung nicht aufgeben, dass eine
bessere Zukunft für sie anbrechen werde.
HEUSCHOBER.
Doch nicht allein diese staunenswerte Wider-
standsfähigkeit zeichnet sie aus. Sie überragen
ihre ümsrebung durch Intelligenz, Tatkraft und
BildungsiUhigkeit, was alle Forschungsreisende, und
sogar die Missionare anerkennen. Faltlovitch rühmt
besonders ihren grossen Wissensdrang und den
Eifer, mit dem sie bemUht sind, sieb zu r^enieren,
aus dem Sumpf afrikanischer Barbarei nnd Un-
wissenheit sich zu erheben, in den eine tausend-
jährige Abgeschlossenheit sie versenkt hat. Sie
■anterscheiden sich dadurch vorteilhaft von den ein-
geborenen Abessiniem, die sich jeglichem Bildungs-
bestreben widersetzen und in ihrer naiven Un-
wissenheit auf die europäische Zivilisation herab-
schauen, über der sie sich unendlich erhaben dOnken.
Von den zahlreichen mitgebrachten Manuskripten
veröffentlicht FaHlovitch eine Legende über den Tod
Mosis, eine interessante Variante der auch bei uns
in vielen Fassungen bekannten Sage*) über das
Hinscheiden unseres Religionsstifters,
Zum Schlüsse gibt der Verfasser der Hoffnung
Ausdruck, dass die europäischen Juden sich ihrer
vergessenen afrikanischen Bruder energisch annehmen
werden, die berufen sind, im schwarzen Erdteil die
Pioniere europäischer Kultur zu werden.
•) Mota Mus6 (Li
traduit en h^breu et eii hnaq:
d'extraits arabes, par Jaqiiea
de MoTse). Texte Ethiopiou
■3 atinot^ et accorapMin'''
FartloviUih, Paris. l*aiil
239
240
DAS LIED VON DEM BART.
(Nach einer jüdischen Volksmelodie.)
Mitgeteilt von Dr. GÖTZ, Berlin.
Langsam.
Nachdruck verboten.
Bearbeitet von ARNO NADEL.
ru. ^ZiA A^^^ ^rwfoA Aa <r» Pill ta _il'a «TA . fv^H tinA hobt slch doft R<^h
Ihr seid dodi awad-de in Pul- ta - we ge-wen
Con ped
L^JuLjL ^fPtH^^-f^^ JU » i ) Jg
Go-del ge-sehn Es is mei Mann e Char-pe and Leid! Me sofft von ehm, er is ge-
woF-den Tcrscheit Es is mei Mann e Char-pe und Leid !
^P^^^
me-sogt von ctun er is ge-worden verschalt
Ihr seid doch awadde in Pultawa gewen
Und hot sich dort Reb Godel gesehn.
Es is mei Mann. E Charpe^) un Leid!
Me sogt von ehm, er is geworden verscheid.
Me sogt, er geht ganz korz gekleidt,
Nach goischkischer-) Mode obgeneiht,
Un geiht ohne Hittl alle Teg;
Und wos er tut, sogt er, me megl
Er sogt: me megl Dos is die Zore,^)
Doss er hot gelernt e Blättl Gemore^)
Und wos er tut, sogt er: me meg! —
Und kummt herob vom jiddischen Weg.
Es hot sich auch schon emol getroffen,
Doss er hot 'das Kriasschma^ ganz verschloffen.
Und hat sich zu spet zum Dawnen^) gestelt,
Das lange „Wehu Rachum"^) \)?X er gor verfeit!
E Fraind vun em hot mir vertraut auf Nemones^)
Sei Bärtt steiht schon in grosse Sakones;^)
Er tut sich — - Ba'awaunes^^) — schon demit Schemen
Und tracht, em gor erunterzunemen.
Mit asoi e Mann is me doch nor verloren,
Me versindigt mit ehm sich all seine Johren,
Un uf jenner Welt hot mer nur Bisjaunes;")]
Da mus me vergelten mit seine Auwaunes. ^^)
Ir geiht doch awadde nach Pultawa zurück,
Durch Eich kann ich hoben noch e Stickele Glick;
Sogt mei Mann, ich, sei Weib, ich bet:
Er soll mir schicken balde dem Get.^^)
') E Charpc = eine Schande. ») Goischkischer = nichtjüdischer. *) Zone = ünglflcW. *) Gemore = Talmud. ^) Kriasschma = Abend-Bcbet.
•^i Dawnen = Beten. ') „Wehu-Rachum" = ein an bestimmten Tagen zu verrichtendes Gebet ^) Nemones = im Vertrauen. ") Sakones = Gefahr.
^") Ba'awauness = o Sunde. ") Bisjaunes = Verachtung. '^ Auwaunes = Sünden. ") Get = Scheidebrief.
ISAAK LEWITHAN.
ISAAK LEWITHAN.
Von Georg Hermann.
Ob dieser Satz, den ich hier gleich erwähnen werde,
auch in Mathers „kleiner franzSsiscber Malerei" sich
findet — — fcenug, ich habe ihn in eineir. Vortrag
Über dasselbe Tema ans seinem Mnnde gebCrt, nnd er
wird ebenso wie mir, manchem anderen wieder ins
Gedächtnis gekommen sein jetzt vor der Ansstelinng
rassischer Kflnstler, die wir bei Schnlte sahen. Duich
das ganze 19. Jahrhundert, sagt Mut her, sind die
Franzosen Führer aaf dem Gebiet der Malerei gewesen.
Jede Neuerang in der stets vorwärtsschreitenden Ver-
bildlichung ist von ihnen aasgegangen. Ebeoso wie sie
die grösste Summe starker Neuerer und Pfadfinder ihr
eigen nennen kann. Aber es scheint,
als ob die zeugende Kraft auf dem
Gebiet der Malerei in Frankreich
im Abnehmen und Schwinden be-
griffen ist, und vielleicht wird im
20. Jahrhundert ein neues Volk,
das mit neuen und ungekannten,
vorerst sich kaum seiner seibat be-
wossten Kräften auf den Plan tritt,
in der Malerei die Führerschaft
übPTnehraen. Dieses Volk mit
seiner Barbarei, mit seinen unge-
zählten Millionen, die zur Knltur
empordringen, und die doch
wieder den engen Zusammenhang
mit der Natui' besitzen, alle
Rauheit und Härte, alle Kraft
Nachdruck veibotco
und alle Sehnsncht der Erde In sich tragen — das
russische Volk wird vielleicht bestimmt sein, für
die Zukunft der Kunst die Fttbrer, die Pioniere nnd
die grossen starken Begabungen zu geben.
Dieser Satz, damals kaum mehr als eine geistreiche
und paradoxe Prophezeiung, scheint doch mehr Wahr-
heitsmöglich ketten in sich zu tragen, als man im ersten
Augenblick glauben mochte. Denn ohne Zweifel, diese
russischen Künstler, wie man sie jetit sah, in einer
wohl geschickten, aber sicherlich völlig unzulänglichen
Zusammenstellung, zeigten eine solche Summe von reg-
samen Koloristen, eine solche Fülle von Kraft und
Originalität in den Persönlich-
keiten, eine solche Bodenständig-
keit und Wurzel fest igkeit, soviel
Werden, als ob die Wort« Mulhers
schon daran wären, sich zu be-
wahrheilen. Und einer der boden-
ständigsten Kiin:^tler, die Kussland
je hervorgebracht hat, ist Isaak
Lewithan. Vor sieben Jahren ist
er gestorben. Nicht so jung, dass
man sagen künnte, er hätte seine
Höbe nicht erreicht, nicht so alt,
dass man sagen könnte, er hätte sich
wohl schwerlich weiter entwickelt.
Das Aufie der Maler bat sich in-
dessen gewandelt, die Farbe ist
Isaak Lewithan. heller und lichtvoller geworden.
Georg Hermann: Isaak Lewithan.
ISAAK LEWITHAN.
STUDIE.
aber das erscheint nur als eioe Aenaserlichkeit.
Die Empfindung f(lr die Seele der Landschaft,
die Liebe zur Scholle, die Liebe ZQr Luft nnd zu
den SchQnheiten des Himmels, sie hat sich indessen
nicht gewandelt und ist indessen nicht stäricer
^worden. Mehr oder weniger Heilseben, das ist eine
Modesacbe, eine Sache der Erziehung und dea Fort-
fichreitens; das andere ist eine Sache der Stärke der
Begabung nod der Innigkeit de^ künstlerischen EmpHn-
dens; das andere ist eine Sache des Temperamente,
der Freude an den Dingen nnd der Liebe znr Schönheit
dieser Welt, die sich uns vor allem in dem Heimatboden
verkörpert. Man möchte sagen, dass in den Landschaften
Lewitbans das Natnrempfinden eines TurgeniefT steckt.
Das sind die Felder, die Birkenhaine, die Feldwege,
der Reichtum der Ernten, die Ajmseligkeit der Dörfer,
die versandeten, versinterMn Tümpel und Flussläufe
aus dem „Tagebuch eines Jägers." Und da» ist die Liebe
zur Erde, der festen schweren Scholle, eine Liebe, die sich
gleichsam niederwirft und den Boden küsst, und die
nicht milde wird, ewig das Lied zu singen von der
Fruchtbarkeit und Zeugungskraft der Erde und von der
Tiefe und Durchsichtigkeit der weiten windzerrissenen
Himmel, die sich über sie spannen. Lewithan hat Herbst-
foilder gemalt mit Birken, die wie gelbe Flammen lodern,
und einer Buntscheckigkeit ferner Waldlinien, dass
wir an ein Feuerwerk glauben. AU das in einer
Malerei, die so fest, ölig, schwer und saftig ist, als
hätte er gleichsam Erde in seine Farben hineingerieben;
und doch haben seine Bilder trotz leachtender Farben
eine so unerhörte Tonschönheit, dass man sie neben
die besten Landschaften der Fontainebleaner stellen
kann, — ja dass sie fast an Schönheit des Silbergraus,
das alle Farben bindet, über sie hinaus gehen. Neben
dem Wurzelfesten und Bodenständigen lebt in alten
Werken Lewitbans jener seltsame Zug von Melancholie,
der ja die Eigenheit der russischen Volksseele und der
russischen Landschaft ist. Diese Melancholie schwebt
Über den ganz einfachen Formen einer Landschaft und
sie ist der hellen Klarheit eines lichten Herbsttages
ebenso eigen, wie dem aufgehenden Mond an schwülen
Sommerabenden über ruhigen Wassern und weiten
Stoppelfeldern, auf denen die Pilze der riesigen Heu-
schober stehen. Wir Fremden haben bei Russland den
Gedanken der Einsamkeit nnd den Gedanken an riesige
sich spannende Flächen, das GefQhl von etwas unerhört
Grossräumigen, von dem der Einzelne doch nur einen
kleinen Winkel, eine Einsamkeit und Ewigkeit für sich
umspannen kann. Und nie mehr vor russischen Bildern
wird diese Empfindung wieder so stark In uns Fremden
geweckt, wie hier vor den Arbeiten Lewitbans. Diese
Bilder sind in Natur nicht gross, manche sogar viel-
leicht nur 30 zu 30 cm, und doch — welche unendlichen
Räume — das gnnze unendliche Russland scheint in
die engen Rahmen gespannt zu sein. Und mit welchen
einfachen Mitteln ist da der Raum nachgeschafTen.
Die Landschaft scheint ungegliedert und verliert sich
doch in endlosen Weiten. Fast nirgend sind es Mittel
der Perspektive, Überall ist es die Farbe und die feinen
Veränderungen der zitternden Luftschicht vor den Dingen,
welche den Kaum zum Ausdrack bringen. Dieser
Künstler ist mit einer Feinheit für alle Schwankungen
der Farbe und Helligkeit begabt, wie wir sie kaum
wieder ti-elTen, es sei denn vielleicht bei holländischen
245 Georg Hermann: Isaak Lewilhan. 246
Marin eioalern. Man sehe ntir
dielichtdurchtränktenHiramel,
die wilden oder g&nz zarten
Wolke nformationen anf seinen
Gemälden — nod nie eine
Wand, nie eine Kulisse,
sondern immer Tiefe darin,
immer wieder neue Lnft-
schichten bis zu dem zag-
haften Bild des aufgehenden
Mondes, der niedrig über
dem Horizont hänet Ein
starkes Temperament, sagt«
ich schon, lebt in all diesen
Bildern und doch ist das
Temperament überall durch
die Kunst gebändigt und
hat nirgends Kntgleisungen.
Und diese Bilder hier mit
dem unerhörten Feinsinn im
Erhaschen der Färb- und
Tonwerte scheinen manch-
mal fast kleinlich und
ingBtlich und haben fast ,g^^^ lEWITHAN. HERBST.
immer im Bildsinne etwas
Abpolut-Fertiges, etwas
schier Alt meisterliches. Bielmpression.dieauf demhalben Feinmaler nennt, sondern von einer unerhörten Breite
Wege stehen bleibt, eben der Impression zu Liebe, nm den und Frische, aber keines seiner Bilder macht — das
Eindrnk des Un mittelbaren nicht zu stören, schien der wollte ich sagen — den Eindmk des Gewollten und
Kunst eines Lewithan fremd. Man verstehe mich nicht des Experiments, sondern alle rufen sie den Eindruck
falsch. Er ist deswegen keinesweg das, was man einen des Crewordenen in uns hervor.
Man sagt, dass die
Juden kein Naturempfinden
haben. Nun dieser Maler
— der ein Jude war —
hat vieleicht^ das stärkst«
Naturempfinden, den stärksten
Landschaftssinn, der sich je
in einem rassischen KOnstler
offenbart hat. Man sagt
ferner, dass die luden Kos-
mopoliten sind und heimat-
los wären, dass sie Fremde
blieben in dem Volk, das
sie in sich aufgenommen
hat. Nun die Eigenart der
russischen Seele mit ihren Rät-
seln und ihrem seh wer mutigen
Lyrismus , ihrer Wurzel-
ständigkeit, und ihrer in-
brünstigen Liebe zur Scholle,
sie haben sich wohl in
keinem russischen Maler
stärker offenbart, wie in
ISAAK LEWITHAN. ABEND, diesem jüdischen Künstler.
JUDENPORZELLAN.
Von Thekla Skorra.
Iq der Stube meiner Urgrossmutter als
t&aie ich wieder den Weg zurück, den lange ver-
schütteten zur Kinderzeitl Ein üchaeeliauch von
frischgewaschenen Mullgardinen; als wartete dort
hinter einer langverschlossenen Tdr noch immer
ein altes, faltiges Gesicht, in dem nur die Augen
noch so jnng waren unter der perlengesticktsn
SahbatmQtze ; als horte Ich noch ihre grossen Filz-
schuhe aber die peinlich weissgescheuerten Dielen
schlurfen in der Stube meiner Urgrossmutter
stand tief hinten in der Schrankecke eine alte Tasse.
Immer wenn ich sie in kindlicher Neugier
hervorzog und fragte: „Grossmutter, warum trinkst
du nie aus dieser?" kam es leise, abwehrend:
„Lass stehn, mein Kind, 's schmeckt salzig draus,
sind zu viel Thränen drin gewesen!"
Und ich wendete erstaunt die Tasse nach allen
Seiten. Es war ein feines StDck, klar und durch-
sichtig, mit bunten Strenbiumen eines längst ver-
gangenen Geschmacks gemustert. Eine schwebende
Frauengestalt inmitten, die all diese Blüten über
den Erdball streut. „Humanite" stand in goldenen
Lettern darunter. Nur ivaren die Blumen alle
etwas schief und verzerrt aufgetr^en, nur zeigte
der Rand allerlei fehlerhafte Risse und Erhöhungen.
(K. P. M.) Der hlaue Stempel war noch deutlich
sichtbar; daneben in grellem Gelbrot: {J. P.)
„Qrossmutter, was bedeutet das?" „Das be-
deutet, — dass deine Väter und Matter Erniedrigte
Nichdmck vertioicn.
gewesen sind und Qetretne. Dass die Scherben
von tausend und abertausend solcher Tassen nnd
Töpfe uns haben geschnitten in die Füss, bis wir
sind aufgestiegen zn ein wenig Lieht und Luft
Das bedeutet, dass das Wort „humanitö" hier drauf,
Menschlichkeit heissen sies, ist gewesen gelogen
und getrogen. Denn was, ist der Jud kein Mensch?
Und haben sie uns nicht behandelt schlimmer als
das Vieh? Wenn der Bauer seine Kuh melkt, so
sorgt er auch dafür, dass sie hat 'n Stall und
hat zu fressen. Uns haben sie immer nur gemelkt
und gemelkt und haben uns dafdr noch weggezogen
das Dach dberm Kopf. J. P. das beisst „.Tuden-
porzellan**. Ja, ja, „Judenporzellan 1" — Dann
schwieg sie, als hätte sie mir dummem Kind schon
zn viel ge8Bg:t.
Jahre vergingen. Mich hatten sie in die Höhe
gestreckt aber der Urahne aufrechte Gestalt kaum
merklich zu beugen vermocht. Ihre schwarzen
Äugen, die auch jetzt noch jung blitzten, sahen,
dass meine leuchtender geworden und tiefer nach
den Dingen forschten, als zuvor.
Geheimnisvoll in dem alten Schrank hauchten
all die vergilbten Päckchen stärker den Duft der
Vergangenheit. Jetzt durfte ich auch die kleine
Schachtel unter der alten Tasse hervorziehen. Aus
verblichenen, mattblonden Haaren, die einen breiten,
silberweijsen Streifen zeigten, war darin mit Gold-
perlen kunstvoll ein seltsamer Blumenstrauss ge-
^K LEWITHAN.
Thekia Skorra: Juden porzellan.
ISA AK LEWITHAN.
flochten; sorgfältig auf Goldpapier uater ein Glas
geklebt
Fragend sab ich ^ur Ahne hinüber. Beim
Zurückstellen fesselte mich doch wieder das J.P.
der Tasse. ^ JudenporztiUan ? Da mßsscn unter
den Juden doch schon recht geschickte Leute ge-
wesen sein damals, dass sie so scbOne Sachen
machen konnten?" Da flog ein bitteres Lächeln
über das verwitterte Gesicht,
„Machen? Ach nein, machen durften die
Juden kein Porzellan : auch anderes nicht, keinerlei
Handwerk oder Fabrikation. Das hatten sie sich
schSn ausgedacht, die Andern. Wer etwas schaffen
kann, etwas anfertigen, und wftrens auch nur ge-
meine Tische und Stuhle aus grobem Holz, der
fllhlt ja Macht in sich wachsen, Menschenmacht.
Der kann ja weiter gehn um die Erde und sich
frei machen, er wird ttberall sein willkommen.
Und der Jud, der musste dableiben. Eingepfercht
in Schmutz und Schlamm, aber im Lande bleiben.
Von wem hätte man sonst nehmen sollen all das
viele Geld, zu machen froh die Andern? Und
darum musste der Jude handeln, immer nur
handeln — Schacherjuden haben sie uns dann ge-
heissen. Judenporzcllan — Komm, mein Mädele,
setz dich nieder zum Babele, dass sie dir kann
erzählen alles, was sicli hat zugetragen mit der
Tasse, als dein Babele selber noch ist gewesen ein
kleines, dummes Mädchen
Sieh, damals iiat regiert hier ein Künig, den
sie haben geheissen den grossen Friedrich. Du
wirst wissen besser als ich, wie sein Ruhm hat
geleuchtet über alle Länder, und er hat viel ge-
sprochen das Wort „humanitä", was heisst: Mensch-
lichkeit, aber die Juden muss wohl auch er nicht
haben gerechnet zu den Menschen. Sind wir doch
selbst unter seinem gestrengen Vater nicht gewesen
so geknechtet und getreten wie unter ihm.
Er hat geführt viele Kriege. Du hast gelernt
in der Schule, mein Kind, wie er hat gesiegt und
gesiegt und gemacht Preussen gross und mächtig.
Aber sie haben dir nicht ges^t, dass er dazu hat
ausgepresst den Schweiss von deinem unglücklichen
Volk bis auf den letzten Tropfen. Aber Geld
ist nur Geld.
Was ist gewesen das schlimmste, dass wir
nicht hüben gekonnt stolz sein und siegesiroh mit
den andern, weil Preussens Ehre ist worden erkauft
mit unserer Schmach und unserer Demtltigung."
Grossmutter sah in meine heissen Augen und
bebenden Lippen und hielt plötzlich ein: „Gelt,
dein Babele ist worden geschwätzig; was vergiftet
sie dein junges Herz mit lang vermodertem Hassen!
Nur eins, weil du so oft hast gefragt — wo ein
jüdisch Kind hat wollen heiraten, jeder jüdische
Hausvater, ob arm. ob reich, hat mtissi'n kaufen
vom Staat für 3t)0 Taler Porzellan, zu führen fort
ins Ausland. Man hat natürlich ge^'eben alles.
was ist gewesen fehlerhaft und keiner liat wollen
brauchen.
Thekta Skorra; Judenporzeltan.
Das Schimpfliche dran aber — wie man stellt
auf Fallen, dass die Ratten und die Maus nicht
sollen mehr werden; so hat von den Juden immer
nur bekommen das älteste Kind das Recht, sich zu
veilieiraten uod zu gründen eine Familie."
„Aber, Grossmutter, die Andern? Und die
Andern?" fragte ich ängstlich. Mir war auf ein-
mal, als mtlsse ich hinaus auf die Sti'asse, um
wieder frei atmen zu können.
„Die haben eben gerausst verziehten auf alles
Leben — oder wandern aus nach Amerika. Ja,
ja, ihr seid schon aufgewachsen unter Gottes Sonne;
und eure Väter haben weit aufgerissen die Fenster,
dass ihr sollt nicht mehr spüren die Stickluft,
worin unsere Jugend ist worden erwürgt,
Kinder, — Kinder, die anderem Volk sind
wie ein Segen, wir haben mttssen ansehn mit
trübem Blick schon bei der Geburt das zweite und
dritte. So haben auch meine Eltern damals ge-
dankt dem lieben Gott, dass er ihnen hat geschenkt
nur zwei Söhne. Als Stutze für die Mutter haben
sie zugenommen ein verwaistes Mädchen.
War einer toten Muhme Kind, arm und ver-
lassen; aber ein fröhliches, feines Geschöpf, und
wie ein lichter Sonnenscliein in unserm Hause.
Alle haben sie lieb gehabt. Am Cieisten aber mein
Bruder Samuel, der jüngere. Ich selbst bin erst
fünfzehn Jahre nach ihm, als die Muttei- schon
wie unsere Stammmutter Sara, an keinen Kinder-
segen mehr glauben mochte, den Eltern ins
Haus geflogen. Sie aber war Samuel eine
Schwester, eine Gespielin; und bald sollt« sie ihm
mehr sein..
Die Eltern sahn es und freuten sich — und
bangten. Sie wussten ja, dass keine ihm »ine
reichere Mit^ft zubringen konnte, als sie mit ihrem
goldoen, treuen Herzen, mit ihren geschickten
Händen, die der Mutter in dem kleinen Geschäft
halfen und über alles im Hause hinglitten wie ein
leiser, duft'ger Segen.
Wie eine fremde Biüte schien sie, lichter und
zarter, als meist die Töchter unsres Volks. Aber
Hannah hiess sie, und eine Channah, eine Gerechte,
war sie. Wozu aber sollte alles frommen? War
doch Samuel das zweite Kind. Der Aelteste hat
bald gefreit.
Gar ärmlich wars in meinem Vaterhaus. Der
Vater ist nicht gewesen einer, der hat können
handeln nnd prachem. Ein ernster, gelehrter
Mann, der hat gesessen Tag und Nacht lernen
über den frommen Büchern; dem der Glaube der
Väter und ihre Lehre über alles ging.
Wenig verstand er von der Welt draussen.
So blieb sein Hab und Gut gar gering. Um so
mehr aber wuchs das Ansehn, das er in der Ge-
meinde genoss. Entscheiden musste er in allen
Streitsachen, und sein Aus-
spruch galt ilmen wie Gottes
Wort.
In Samuel war des Vaters
Geist, nur dass er wilder
war und lebendiger. So
trieb's ihn bald fort aus der
Enge, in diegrosse Preussen-
stadt hin, nach Berlin.
Am meisten um Hannahs
willen. Er hat gespürt, dass
er nicht mehr könnt' leben
als Bruder neben ihr, und
hat doch als Zweitgeborner
geseh'n keinen Weg, zu
machen Hannah zu seinem
Weibe.
Hat auch gefunden gleich
eine Anstellung bei einem
generalprivilegierten Schutz-
juden ; so durfte er dort
bleiben. Wenn anders,
hätten sie ihn g^agt aus
dem Tor.
Lange haben dann die
Eltern nichts gehört von
ihm. Ist nicht gewesen mit
dem schreiben wie heut'.
Ein Brief hat gekostet an
die zwei Taler und hat ge-
braucht viele Wochen.
Dann ist er noch einmal
gekommen Zu den grossen
. Feiertagen. Wie heut denk
253
Tbekia Skoira: Judenporzellan.
ich noch, was l^r ein
goldDer Herbst. Ais wir
haben gesessen Laubhütten
draussen, haben noch ge-
biaht Roseo.
Alle haben geschaut
auf Samuel, der ist ge-
gangen einher, als ob er
nicht mehr passt in seine
Kleider, aufrecht wie
keiner im Ort Hanna hat
geseh'n mit glückseligeren
Äugen noch auf ihn, als
je zuvor, und ihr Lachen
ist im Haus berumge-
Sprüngen wie ein Glöck-
chen von Silber.
Auch er ist gewesen
noch lieber mit ihr und
inniger. Nur manchmal
hat er sie angeschaut wie
bange von der Seite, als
mOcbt' er sie wohl etwas
fragen wollen und finde
doch kein Herz.
Am Jomkippur dann,
als sie haben gesungen
das oralte, herzerschüt-
ternde „kolnidrei" , ist
Samuel plötzlich gelaufen
ans der Betsctanl, gleich
als ob ihm w&r nicht gnt.
Nur ich kleines Mädchen
damals, was hat noch nicht
dttrfen mit hinein, hab' gesehu, wie er sich hat
draussen gelehnt in eine Ecke, den weissen Gebet-
mantel ttber's Gesiebt gezogen, und der starke Mann
hat geschluchzt wie ein Kind.
Am andern Tag schon ist er fort. Seine
Geschäfte wären dringlich. Wie er schon als
Knabe hat nie gemacht viel Worte, hat er auch
jetzt auf alle Fragen nur gesagt, es gehe ihm
nicht übel, er verdiene, was er brauche.
Um jene Zeit wars, als ein neuer König ins
Land kam. Und der Jammer um ihrer jüngeren
Kinder zerstörtes Leben hat nicht lassen ruhn all
die Väter und Mütter, bis sie haben erwirkt von
ihm, auch das zweite Kind verheiraten zn dürfen.
Mit vielen, vielen Opfern, — solln haben bezahlt
, die Gemeinden an die 70(X)0 Taler, — und mit neuer
Schmach and Knechtung. Nur eine davon ist
wieder gewesen die Porzellanabnabme. Diesmal
om 500 Taler. 500 Taler — eine grosse, grosse
Summe damals. Vieler ganzes Vermögen und schier
anerschwinglich den Armen.
Und doch haben sie alle aufgejauchzt: ihre
Arbeit, ihr letzter Schweiss, aber ein Lichtstrabi
doch in ihrer Kinder Leben. So hat auch der
Vater an jenem Tage, da das neue Recht verkündet
wnrde, dankbar erhoben die Augen zum Himmel.
Die Mutter hat Hannah zu sich genifeu und ihr
gelegt segnend die Hände auf den lichten Scheitel :
JSAAK LEWITHAN.
DORF.
„Hannah, nun ganz mein Kind, non doppelt mein
Kind."
Nun ging's an ein Zusammenraffen und Sparen.
Es langte nicht, noch nicht zum Drilleil lanite es.
Entbehrungen, Soi^n, wie leicht getragen für die,
die einpm sind die liebsten Menschen auf der Welt.
Und alle, die ganze Gemeinde half. Jeder lieh
mit Freuden sein Teil-
Siud doch zu jener Zeit gewesen die Juden
in Solidarverhaftung dem Staate. Wo ist gewesen
irgend ein Böser unter ihnen, was hat bietrogen
einen Christen oder benachteiligt: immer hat ge-
troffen die Strafe die ganze Gemeinde. Warum
sollten sie nicht da auch in Freuden einstehn, alle
für einen. Und für ihren Dajon noch dazu, für
ihren selbslgewählten Richter.
Als wieder der Herbst kam und zum dritten
Mal der Tag sich jäiiren sollte, an dem zuvor
Samuel heimgekommen: da hatte die Mutter alles
beisammen, endlich.
Der Vater ging umher mit Lächeln und einer
stillen Feierlichkeit Für meine Kindemeugier
war's eine schöne Zeit, da täjjlich von weit her
Fuhrleute kamen, die grosse Kisten ablieferten und
öfiheten. Ich durfte der Mutter auspacken helfen.
Der Vater schalt zwar ein wenig, wozu, es müsste
ja doch alles weitergeschickt werden in ferne
Länder.
255
Thekia Skorra: Judenporzellan.
Die Mutter aber hatte eine kiodiscbe Freude
an all dem bunten Zeug, das sie in einer entfernten
Kammer alles gar zierlich aufbaute. Dorthin wollte
sie Samuel mit seiner Hannab fiibren, dass der
Ueberraschte könnt' übersehn mit einem Blick sein
ganzes Glücli, das die Eltern so trenlfch hatten
ersorgt nnd erdarbt für ihre Kinder.
Obenanf baute sie zwei köstliche bemalte
Tassen. Die durften dableiben. Daraus sollte beim
Hochzeitsschmaus das Brautpaar trinken. So war
alles wohl vorbereitet and schon Wochen zuvor
ein Brief an Samuel abgegangen, dass man ihn
sicher erwarte.
Da reiste eines Tags ein fremder Wanderrabbi
durch 's Städtchen. Immer sonst waren solche
zuerst zum Vater ins Hans getreten. Der wartete
heute ganz besonders, da jener sollte sein gekommen
TOn Berlin und ilim wohl Kunde geben konnte von
Samuel, der noch immer Hess warten anf Antwort.
Ungeduldig harrten wir alle des Gastes. Da
Hess jener, ein frommer und, gelehrter Mann, aber
von einem finsteren, eifervollen Geiste, dem Vater
dnrch einen Gemeindeboten sagen, es täte Ihm
leid, aber er könne nie wieder da-** Hans eines
. solchen Mannes betreten.
Der Vater fasste sich an die Stirn, an die
Ohren. Was? Was sollte das? Ihm? War jener
krank im Verstände ? Dann ist eingetreten der
Alteste der Gemeinde zum Vater und hat lang und
schonend auf ihn eingeredet. Hat auch lassen
rufen den ältesten Bruder, die Mutter und Hannah.
Ich drückte mich allein drausseu wie ein er-
schrockenes Hahnchen an die Tür. Da — auf ein-
mal hörte ich drinnen Hannah einen Schrei ans-
stossen, so jammervoll, so hoffnungslos elend, dass
der Ton davon mir ist nachgegangen mein ganzes
Leben.
Dann erhob sich ein Weinen und Wehklagen
Im ganzen Haus, wie um ein Gestorbenes. Man
hing Tücher vor die Fenster, und in dem Stübchen,
das einst Samuel hatte bewohnt, brannte 8 Tage
lanir die Sterbelampe Dort sassen in trostlosem
Schweigen alle auf niederen Holzschemeln.
Danach, als der Vater ^rad wieder Ist im
Haus herumgegangen, aber wie Einer, den man
hat geschlagen mit der Axt vor den Kopf, und er
kann sich noch nicht besinnen, ist gekommen ein
dickes Schreiben. Der Vater hats gerad anf dem
Hof dem Boten abgenommen. Wie er sieht drauf,
's ist Samuels Hand: ists auf einmal, als föngt
alles nm ihn an sich zu drefao.
Der liebe Gott hat mich behütet, dass ich nie
im Leben wieder hab gesehn einen Menschen so
sich verändern. Dnnkelrot schoss das Blut in sein
Gesicht, sonst still nnd weiss vom Lernen. Die
Augen schienen zu qaetlen heraus. Der Brief ist
geflogen auf den Hof. Die Hände, die sich haben
gekrampft zur Fanst, griffen den nächsten Feld-
stein von der Erde. Als ob er mOcht sein rasend,
schlug er damit herum in der Luft, gleich als war
da vor ihm Samuel, and er könnt ihn steinigen.
Dann mit einem Ruck, als war ihm gekommen
ein Gedanke, relsst er auf die Tür jener Kammer,
zuvor der Matter geheiligte Preudenstelle, wo Ist
Innen gestanden das Porzellan, da — einen Stein,
noch einen, — fort bis alles in Scherben, In
Thekia Sitorra: Judenporzellan.
ISA AK LEWITHAN.
HERBST.
Tiütnirer. Alles io ciaer Miiiate, eh noch jemand
hat kOnnen hindern.
Als die Untter ist hinzugekommen, bat er schon
gelegen filr tot, nicht mächtig seiner Sinne, auf
der Erde.
Grossmutter schwieg. Noch heute, nach so
langer Zeit, schien ihr die Erinnenrng den Atem
za raaben. Nach einer Weile erst wagte ich ein
scböchternes: »Und dann, Orossmutter, nachher?"
Als käme ihr Geist ans weiten, weiten Fernen
wieder; Von da ab ist unser Leben gewesen zer-
stört. Der Vater hat gesessen gelähmt an Geist
and Körper auf dem Lehnstuhl. „Und der Brief?
Was stand denn in dem Brief?*
„Da hat gestanden von Einem, der ist anf-
g'estiegsn ans Veraast erring und Teraclitong seiner
Herkanft zu Wissen und Ansebo. Von Einem, der
ist geworden ein Studierter und bald schon kann
anfrücken im Staat za Ansehn nnd WUrden, Dass
sein entes Glück ihn hat finden lassen einen Reichen,
der hat erkannt Samuels Geist nnd hat ihm gegeben
alles mit vollen Händen, zu machen aus sich, was
hat in ihm gelegen von Kindheit an. — Ich weiss
Dicht, ob bat wirklich in ihm gelesen von Kindheit
%a so viel Schurkerei; jedenfalls bat daheim niemand
]avoii gemerkt.
Ist ja nur gewesen eine Bedingung dabei.
"fichts Grosses, i wo! Dem Juden „Samuel" hätt
latElrlich alles Geld seines Beschützers nicht köDoeo
fiaen die Türen. Aber dem Christ gewordenen
Siegfried", dem haben sich anfgetan die Schranken.
üt 'ner Hand voll Wasser haben sie abgewaschen
allen Schimpf von einer Welt von Feinden; haben
ihm gegeben in einem Augenblirk, wo er hat ab-
geschworen die Jahrtausend alte Lehr, alle Zu-
verlässigkeit und Gewissenhaftigkeit, die dem Jud
Samuel hätt gemangelt bis an sein End
Ist doch sein Beschützer selbst gewesen solch
ein Getaufter. Der ganze Brief war gerichtet an
Hannah, den Eltern bat er sich nicht getraut zu
schreiben. Sie hat sollen sein Für&prach sein bei
denen. Und ob sie ihn noch lieb habe wie einst,
trotz allem. Er hätte in der ganzen, grossen Stadt
nicht eine gefunden wie sie In all der Zeit hätt
ihr Bild doch gestanden liebt .and ungetrübt in
seinem Herzen. Nur eines, sie musste natürlich
aacb lernen glauben an seinen Glauben und lernen
vergessen alles, was ist gewesen bis daher. Was
Hannah in jener Nacht, da sie allein wachend bei
dem kranken Vater sass. gekämpft und durchlebt:
Das weiss nur der liebe Gott droben, ders bat
eingezeichnet in* das Buch der Gerechtigkeit. —
Die Menschen aber sahen von da ab anf Hannahs
jungem Scheitel einen Streifen silberweissen Haars,
mitten über's Haupt gehend, glpicbwie der Riss,
der ist geganzen von nun ab durch ibr Leben."
Stumm nickend zog Grossmntter noch einmal
die alte Glasschacbtel hervor mit dem verblichenen
Haarbuket, auf dem mir's plötzlich zu leuchten
schien und zn flimmern, gleich dem Glorienschein
alter Heilgenbilder.
„Die Sonne war untergegangen von da ab in
unserm stillen Hans. Die Sot^e nnd Bitternis ist
getreten ein durch alle Türen. AV^ar doch auch
259
Thekla Skorra: Jijdenporzellan.
260
worden verloren alles Geld für das Porzellan in
einem Augenblick durch die wütige Tat des Vaters.
Aber der Mensch ist stärker, als ein Pferd, mein
Kind; er zieht weiter seinen Karm, auch wenn's
ist geworden dunkel um ihn her. So hat Hannah
noch Jahre der Mutter abgenommen alle Sorge und
Pflege für dep Vater, der sich hat nie wieder
erholt.
Erst als sie ihn haben getragen hinaus, ist
Hannah geworden an Körper immer weniger; gleich
als ob sie nun nicht mehr hätt nötig ihre Kräfte,
die sie haben verlassen von Tag zu Tag schneller.
War ich doch inzwischen gewachsen heran, an
Hannahs Vorbild geschickt und tüchtig, zu werden
der Mutter eine Stütze. In unsem Armen ist sie
dann gestorben. Auszehrung, haben gesagt die
Aerzte, was rafft sehr schnell hin den Menschen,
wenn er ist kaum 24 Jahre."
,,Und Samuel, Grossmutter, hat er sie nie
wieder gesehn?"
„Nein, niemals wieder. — Einmal hat er
geschickt einen feinen Herrn, zu sagen, dass er
hätte erlangt Titel und Würden und stände hoch
in Ansehn und Mächtigkeit. Und dass er wolle
sorgen für alles, so viel nur möchten brauchen
die Eltern. Die aber haben gesagt, dass sie wüssten
von keinem zweiten Sohn mehr. Ihr Sohn Samuel,
der wäre längst gestorben. Ob sie ihm sollten
zeigen das Grab, das man hat ihm gegraben^
draussen vor der Stadt, auf dem guten Ort. Und
haben in kein Wiedersehn gewilligt, auch nicht
auf dem Totenbett." —
Grossmutter schwi^- Wie Flügelrauschen der
Vergangenheit schwirrte es über unseren Häuptern,
und es zog dabin durch die kleine Stube der Hauch
eines grossen Schicksals. Jetzt sah auch ich es
quellen aus dem matten Goldglanz der alten Tasse,
die allein einst der Vernichtung entgangen, eine
epdlose Salzflut von Tränen eines gehetzten Volkes.
Und (loch: Oft im Leben, wenn ich den Boden
heissgesuchter Erkenntnis unter den Füssen
schwanken fühlte, alle Stützen aus Denken und
Wissen der sehnsüchtig klammernden Seele zu
brechen schienen: dann schritt der Urahne auf-
rechte Gestalt, die mehr als 90 Lebensjahre nicht
zu beugen vermocht, an meinem Geist vorüber.
Ich sah die weissen Haare der. Voreltern flattern
im Schicksalssturm ; ehern und wurzelstark aber
die Füsse, hineingewachsen in eine jahrtausendalte
Ueberlieferung.
Von aussen geschändet, beschimpft und ge-
treten: doch heilig hielten sie und unbesudelt ikres
Herzens Hassen und liieben bis ans Ende.
Ghettomauern um sie her, Finsternis und
Elend — und dock eine Heiipat. Und doch in
den paar Schuh breit Erde Saum genug, dass
jeder Wurzeln schlagen konnte, die stark hielten
fürs Leben.
AUS DEN ALTEN GEMEINDEN,
Von Leon Scheinhaus-Memel.
Nachdruck verboten.
I.
Schwere Lasten der Gemeinde.
Ein Stück Mittelalter ist nachträglich auch
den Juden m Polen nicht erspart geblieben. Die
Kosakenaufstände und die schwedischen Kriege in
polnischen Gebieten brachten eine fürchterliche Ver-
armung über die Juden. Die Nachwirkung jener
Schreckenszeit auf das Schicksal der polnisch-
litauischen jüdischen Gemeinden ersieht man deut-
lich aus nachstehender Schilderung der Steuer-
Verhältnisse, die die litauischen Juden so gewaltig
belastet zeigen. Ich entnehme die Daten dem ge-
schichtlichen russischen Werk „Litauische Juden"
(ed. Petersburg 1883) p. 8—15, von Professor
Berschadsky.
Seit Ende des 17. Jahrhunderts waren die
Juden genötigt, unaufhörlich Anleihen zu machen,
bald bei weltlichen Personen, bald bei verschie-
denen Kollegien und Stiftungen. Die Anleihen der
zweiten Gattung waren gewöhnlich auf unbe-
stimmte Zeit (ohne Fristbegrenzung) abgeschlossen
und unter Verpfändung des Gemeindegutes; auf
diese Weise befand sich zum grössten Teil das
Hab und Gut der jüdischen Gemeinden im Unter-
pfand auf unbestimmte Frist.
In der Mitte des 18. Jahrhunderts erweisen
sich die litauischen jüdischen Gemeinden als
»
»
j>
V
»»
>T
zahlungsunfähige Schuldner. Als die vom Land-
tag eingesetzte Kommission im Jahre 1766 zur
Liquidatien der jüdischen Schulden sich anschickte,
handelte es sich um folgende Summen:
Die Gemeinde (Kahal) Wilna (5316 Seelen) schuldete
722,800 poln. Gulden
„ Brest (3175 Seelen) schuldete
. 222,720 poln. Gulden
„ Grodno (2418 Seelen) schuldete
386,571 poln. Gulden
„ Pinsk (1277 Seelen) schuldete
309,140 poln. Gulden
Zur Tilgung dieser Schulden verfügten die
Gemeinden über ganz unbedeutende Mittel. So
betrug das jährliche Einkommen der Gemeinde
(Kahal) Wilna 34000 poln. Gld., das von Brest
31200, von Grodno 21000 und das von Pinsk
37 500. Diese Einkünfte setzten sich hauptsäch-
lich aus diversen indirekten Steuern zusammen,
z. B. von der Akzise, aus dem Handel mit Salz,
Tabak, Heringen, Teer und anderen Waren, aus
Abgaben von jüdischen Handwerkern, einem Prozent-
satz von jeder Mitgift, dem dritten Mass von Mühlen,
die bei der Gemeinde verpachtet waren, der Steuer
von Schankwirtschaften, von Bierbrauereien, Fleisch-
verkauf und von ähnlichem Gewerbebetrieb in
jüdischen Händen. Aus diesen Quellen mussten
61
Leon Scheinhaus-Memel: Aus den alten Gemeinden.
262
or allen Dingen die Staatssteuern gedeckt werden,
. a. die sogenannte „Gibema" d. h. die Abgabe
ur Erhaltung des Militärs, die Kopfsteuer ohne
usnahme für die Armen u. s. w. Aus diesen
litteln wurde auch das Gehalt fQr die unmittelbare
ehörde, die die jüdischen Angelegenheiten führt,
ifgebracht. In Wiina erhielt dieser Beamte 780
ulden und Naturallieferungen für seinen Gebrauch
s Fleisch, Fische, Gewürze und dergleichen. Die
ersorgung der Truppen des GrossfOrstentums
itauen, während ihrer Bewegung innerhalb des
ebietes der jüdischen Gemeinden, mit verschie-
men unentbehrlichen Gegenständen, wie Lichte,
apier, Siegellack, Butter, Fleisch, Fische, geschah
eichfalls auf Kosten des jüdischen Gemeinwesens.
US denselben Gemeindeeinkünften wurden selbst-
trständlich dem Rabbiner, den Dajonim und den
ideren besoldeten Mitgliedern der Gemeinde- Ver-
giltung die Gehälter gezahlt. Ebenso wurden aus
r gleichen Quelle sämtliche unvorhergesehene
isgaben bestritten.
Kommt der päpstliche Nuntius in die Stadt,
überreicht ihm die Gemeinde „einen Zuckerhut";
3 nämlichen Kosten macht sich die Gemeinde bei
igrüssung anderer Gäste, je nach deren Rang und
ürde Ziehen die allierten Truppen (die russi-
hen) in die Stadt ein, so hat die jüdische Ge-
binde auch für diese Ausgaben zu machen; Holz,
cht, Kohlen, Fleisch, Fische und Vorkost aller
rt zu leisten, die Ofenheizer in den Quartieren
r Befehlshaber zu stellen, das Geld zu wechseln
d dabei den Schaden an Kursdifferenzen tragen,
jld zur Rekognoszierung der flüchtig gewordenen
Idaten zu geben u. s. w. Im Jahre 1767 hat
5 Wilnaer jüdische Gemeinde während der An-
isenheit der russischen Truppen im Laufe von
Wochen 2959 poln. Gulden fttr die Truppen
rausgabt, ün Jahre darauf 9786 p. G.
Sendet der Magistrat Gesandte zum Landtag
) schlimmen Projekten, zur Einschränkung der
chte der Juden, so ziemt es sich für die jüdische
meinde, gleichfalls Deputierte zu entsenden, um
(1 Gang der Sache zu folgen und entsprechende
ssregeln zu unternehmen. Im Jahre 1667 hat
Wilnaer Gemeinde hierauf 1056, im Jahre
)8 2059 poln. Gld. ausgegeben.
Zuweilen musste der Rabbiner zum obersten
imten für die jüdischen Angelegenheiten reisen,
l solche Reisen waren allerdings kostspielig; im
ire 1788, ist die Reise des Rabbiners Abel nach
swisch zu Fürsten Radzivil, Woyewoden von
Ina, auf 690 Gulden gekommen. Zuweilen
5ste das gesamte Gemeindekollegium „in corpore"
sen in Gemeindeangelegenheiten unternehmen,
[it nur nach dem nahegelegenen Sitz der vor-
dtzten Behörde sondern auch nach der Residenz.
z. B. musste im Jahre 1767 der gesamte
Inaer Gemeindevorstand nach Warschau reisen.
Ober die unerträglichen Lasten und Ungerechtig-
:en Klage zu führen; diese Reise hat 1800 Gld.
ostet.
Es gab auch Ausgaben aus anderen Gründen:
In die Stadt werden Juden zugestellt, die irgend
welcher Vergehen angeklagt sind; — ihr voll-
ständiger Unterhalt im Geßngnis und alles andere
geschieht auf Rechnung der jüdischen Gemeinde.
Das Gericht erkennt die Unschuld der Angeklagten
und spricht sie frei, die Gerichtskosten aber legt
es der jüdischen Gemeinde zur Last. — Nahe bei
der Stadt werden drei ermordete Juden gefunden.
Auf der Suche nach den Mördern lassen die Juden
irrtümlich zwei Edelleute und einen Soldaten ver-
haften. Gleich darauf werden die wirklichen
Mörder entdeckt. Da fangen die irrtümlich Ver-
hafteten einen Gerichtshandel wegen dieses Irrtums
an. Das litauische Tribunal ordnet dafür die Ein-
sperrung des gesamten Gemeindekollegiums wie des
Rabbiners und seiner Gehilfen an. Sie müssen
nun „die guten Dienste" verschiedener Personen
suchen, um einen gütlichen Vergleich zu bewirken.
Mit grosser Mühe gelingt es, eine Aussöhnung zu
stiften. Den unschuldig Angeklagten werden in
bar und in Waren 4000 Gulden gezahlt, ihren
Freunden, d. h. den Edelleuten und Offizieren noch
1300 Gulden vergütet, insgesamt also 5300 Gulden.
Damit war es aber nicht abgetan: Die ergrififenen
wirklichen Mörder sitzen 14 Monate in Unter-
suchungshaft, und ihre Verpflegung geschieht auf
Kosten der jüdischen Gemeinde. Schliesslich ent-
scheidet das Gericht den Prozess und verurteilt
die Mörder, — wiederum Unkosten — und zuletzt
noch das Begräbnis der Mörder — insgesamt etwa
900 Gulden zu Lasten der jüdischen Gemeinde,
so dass dieser Prozess allein die Gemeinde mehr
als 6000 Gulden gekostet hat.
Die Taten der Barmherzigkeit sind selbstver-
ständlich von der Gemeindekasse geübt worden:
Bald kauft die Gemeinde einen Schuldner vom
Gefängnis los, bald sonst jemand, der aus irgend
einem Grunde festgenommen worden ist. Die
grössten Beträge verwendete die Gemeinde zum
Loskauf Minderjähriger, kleiner Kinder aus dem
Gefängnis, die durch Schulden ihrer Väter in nicht-
jüdische Hände geraten sind. Milde Gaben werden
von der Gemeinde armen Juden, einheimischen und
durchreisenden, zu allen Zeiten verabreicht.
Derartige, sehr bedeutende Ausgaben forderten
einerseits, dass in den Händen der Gemeinde-
verwaltung stets bare Summen in Bereitschaft
waren, andererseits erlaubte der hohe Betrag
dieser Ausgaben nur in seltenen Fällen die An-
sammlung von Mitteln.
Unter solchen Umständen wäre es keinem
Finanzmann der Welt möglich gewesen, einen
einigermassen befriedigenden Etatsvoranschlag auf-
zustellen. Daher wachsen die Schulden der jüdischen
Gemeinden rapid, mit diesem Wachstum nehmen
die vielfältigen Ausgaben zu; das System der
speziell jüdischen Gemeindeabgaben wird überdies
mehr und mehr zum Nachteil geändert; eine Steuer
nach der anderen wird verpachtet, indirekte Ab-
gaben erhalten eine übermässige Entwickelung,
263
Leon Scheinhaus-Memel : Aus den alten Gemeinden.
264
und für den jüdischen Armen wird das Leben
ungemein schwer, geradezu unerträglich ; alle unent-
behrlichen Gegenstände als Fleisch, Fisch und
überhaupt sämtliche Lebensmittel können nur \ron den
von der Gemeinde bestellten Pächtern bezogen werden ;
das Recht des Handels mit den meistens erträg-
lichen Artikeb war mit hohen Abgaben verbunden
und gehörte ausschliesslich den Hausbesitzern, der
Handel mit einzelnen Waren war überhaupt
Monopol der Gemeinde. Sogar das Recht der
Freizügigkeit war mitunter sehr beschränkt, jeder
Neuangesiedelte musste eine grosse oder kleine
Summe für das Niederlassungsrecht („cheskath
Jischuw") entrichten.
Während so das Recht des Umzuges von einem
Ort zum andern fbr den armen Juden aufs äusserste
beschränkt war, während die Ausübung des Berufs
selbst innerhalb der eigenen Gemeinde erschwert
genug war, nicht nur durch hohe Gewerbeabgaben,
sondern noch mehr durch kleinliche händelsuchende
Kontrollen, waren die Steuerpflichten eines jeden
Juden gegenüber der Gemeinde am Ende des
18. Jahrhunderts über alles Mass gestiegen. Es
gab keine Möglichkeit der ungeheuren üeberbür-
dung zu entgehen, und die Bürde wurde dadurch
noch drückender, dass die wohlhabenden Steuer-
zahler sich das Vorrecht erworben hatten, ausser-
halb des Gemeinderayons wohnen zu dürfen, und
nunmehr als nicht zur Gemeinde gehörig nicht zu
deren Lasten herangezogen werden konnten.
Soweit Prof. Berschadsky, gestützt auf Quellen-
nachweise aus amtlichen Gemeindeakten und archäo-
graphischen Archiven.
Alle diese Kalamitäten waren eine Folge
der polnischen Misswirtschaft, die nach dem Jahr-
zehnt des Schreckens 1648—58 sich aufgetan
hatte. Erst mit der Eroberung der Provinzen
durch Russland sind nach und nach geordnete
Verhältnisse eingetreten, namentlich durch das
Organisationsgesetz Alexanders I. vom 9. De-
zember 1804.
Doch selbst unter der Ungunst der polnischen
Konfliktzeit war das jüdische Gemeindewesen nach
innen von ruhmvoller Lebendigkeit, wie das
folgende Kapitel zeigen soll. Wie früher in
Mitteleuropa*), so war es auch in Litauen die
musterhafte Ordnung des inneren Gemeinwesens,
die bei allen äusseren ungeordneten und bedrän-
genden Verhältnissen einen Halt bot. Ein Ver-
dienst des herrschenden Gemeindesinns ist es, der
den Bedrängten Erholung und Sammlung ihrer
idealen Bestrebungen ermöglichte, dass die Juden
nicht ganz unter den Bürden und Lasten erdrückt
wurden, dass sie vielmehr gegen alle äusseren
Drangsale Widerstandskraft aus ihrem inneren
Leben gewannen. (Schluss folgt.)
*) Verffl. einen Aufsatz : „Zum jüdischen Synagogen-
und Gemeindeleben im Mittelalter " Israelitische Wocnen-
schrift, wissenschaftliche ßeilage, Februar 1899.
DER POGROM.
Von Maria Konopnicka. — Aus dem Polnischen.
(Schluss.)
Nichdruck verboten.
Aus dem Innern kam das üebei hafte, heisere,
ungleichmässige Atemholen des Kindes. Eine kleine
Lampe mit grünlichem Glaskörper brannte auf dem
Nachttischchen. Der Alte trat an das Bett und
blickte unruhig forschend in das Gesicht des Kindes.
So stand er eine Weile, indem er den Atem anhielt,
dann entrang sich ein Seufzer seiner Brust ; er schlich
sich leise aus dem Alkoven, Hess sich schwer aut
den Stuhl sinken, stützte die Arme auf die Kniee
und schüttelte das graue Haupt.
Er war gebückt und sah aus, als wäre er um
zehn Jahre gealtert. Seine Lippen bewegten sich
tonlos, die Brust keuchte schwer, und die Augen
waren auf den Boden geheftet. Die dünne Kerze
im Zinnleuchter brannte zischend nieder.
Am nächsten Morgen erwachte die schmale
Gasse still und ruhig wie gewöhnlich. Schon früh-
zeitig stand Mendel Gdanski in seiner Lederschürze
beim. Arbeitstisch. Seine grosse Schere knirschte
eifrig mit hartem Ton am Papier, die bis zur letzten
Windung herabgedrehte Schraube kreischte, das
schmale lange Messer blitzte in der Morgensonne
mit seiner abgewetzten Klinge, die Papierstreifen
fielen geräuschlos nach rechts und nach links zu
Boden hinunter. Der alte Buchbinder arbeitete
fieberhaft angestrengt. Sein welkes, tiefgefurchtes
Gesicht verriet eine schlaflos verbrachte Nacht. Erst
als er den leichten Kafifee getrunken hatte, den ihm
die Nachbarin gebracht, wurde ihm etwas frischer zu
Mute, er stopfte sich das Pfeifchen und ging, den
Enkel zu wecken.
Der Knabe hatte seltsamerweise verschlafen.
Bis in die späte Nachtstunde hatte er sich aui^
seinem Lager hin- und hergewälzt, jetzt schlief er
einen ruhigen, stillen Schlaf. Der schmale Sonnen-
strahl, der durch die Oeffnung im roten Vorhang in
den Alkoven drang, glitt über seine Augen, seine
Lippen und seine zarte, entblösste Brust, bald wieder
entzündete er in den weichen, dunklen Haaren und
den langen gesenkten Wimpern goldige, flimmernde
Fünkchen.
Der Alte blickte den Knaben liebevoll an. Seine
Stirn glättete sich, der Mund öffnete sich, und in
den Augen erschien ein eigentümlicher Glanz. Dann
!65
Maria Konopnicka: Der Progrom.
266
achte er ein leises, glückliches Lachen, zog aus der
pfeife eine grosse Rauchwolke, bückte sich und blies
ie dem Knaben unter die Nase. Der Kleine hustete,
afTte sich auf, öffnete weit seine Goldaugen und be-
ann sie mit den beiden mageren Fäustchen, zu reiben.
)r hatte es jetzt sehr eilig und war ausser Fassung.
)ine der Aufgaben war unbeendet geblieben, Bücher
nd Hefre lagen ungeordnet auf dem Tische herum.
Ir vermochte nicht den Kaffee zu Ende zu trinken,
och das belegte Biödchen für die Pause mit sich
11 nehmen, sondern griff nach dem Tornister, un-
ewiss, ob er sich nicht verspäten würde. Als er
ber, mit der Bluse auf dem Arm, der Tür zuschritt,
urde diese hastig aufgerissen, und der magere Student
Dm Dachstübchen stiess den Kleinen zuvück in's
immer.
„Flieh', man schlägt die Juden!"
Er war offenbar sehr aufgeregt. Sein blatter-
arbiges, langes Gesicht schien sich noch zu verlängern
nd war förmlich wüst. Er bebte vor Wut am
anzen Körper und seine grauen Augen sprühten
ornesfunken. Der erschrockene Knabe prallte bis
im Tisch zurück und Hess Bluse und Tornister
Jlen.
Der Alte war starr. Doch bald gewann er die
assung wieder, sein Gesicht war feuerrot. Mit einem
atz stand er beim Studenten.
„Was heisst das, fliehen? . . . Wohin soll er
eben? . . . Warum hat er zu fliehen? Hat er, Gott
shüte, etwas gestohlen, dass er fliehen soll? . . .
der wohnt er nicht in seinem eigenen Zimmer? . . .
t er etwa bei fremden Leuten? ... Er ist da in
inem Hause! In seiner Wohnung! ... Er hat,
oitlob, bei Niemandem gestohlen ... Er geht zur
:hule, er braucht nicht zu fliehen!"
Er sprang auf den bei der Tür stehenden
udenten zu, gebückt, zusammengekauert, zischend
id fauchend, während sein weisser Bart zitterte.
„Ganz, wie Sie wollen!" versetzte der Student,
ch habe gewarnt ..."
Und er wollte sich zurückziehen, aber der alte
ichbinder hielt ihn am Rockschosse fest.
„Wie ich will? Was ist das für eine Rede?
ie ich will? Ich will meine Ruhe haben. Ich will
Ruhe mein Stückchen Brod verzehren, fUr das
1 aibeitel Ich will diese Waise erziehen, diesen
laben, damit er ein Mensch sei und Niemand auf
1 spucke, da er nichts verschuldet hat. Ich will,
ss weder mir noch einem Anderen Unrecht ge-
lehe, sondern dass Gerechtigkeit sei, damit die
ansehen Gott fürchten . . . Das will ich. Und
^hen will ich nicht. Ich bin in dieser Stadt ge-
ren, habe in diesem Hause Kinder gehabt und
emandem was zu Leide getan. Ich besitze hier
5ine Werkstätte . . ."
Er war noch nicht zu Ende, als von der Biegung
r Strasse ein dumpfes Getümmel vernehmbar wurde,
B von einem aus der Feme vorbeiziehenden Sturm.
1 plötzlicher Krampf lief über das Gesicht des
identen, ein halblauter Fluch kam von seinen
iamnaengedrückten Zähnen.
Der alte Buchbinder schwieg, richtete sich
gerade empor, streckte seinen dürren Hals vor und
horchte eine Weile. Der Tumult näherte sich rasch.
Man konnte jetzt ein langgezogenes Pfeifen vernehmen.
Lachen, Rufe, Ausbrüche von Geschrei, Weinen und
Jammern. In der kleinen Gasse kochte es förmlich.
Man versperrte die Haustore, verrammelte die Gewölbe,
die Einen liefen direkt in den Tumult hinein, die
Anderen liefen vor ihm davon.
Plötzlich begann der kleine Knabe laut zu
schluchzen. Der Student warf die Türe ins Schloss
und verschwand im Öden Hof räum.
Der alte Jude lachte; er schien weder das
Schluchzen des erschrockenen Knaben, noch die
Entfernung des Studenten zu bemerken. Sein Blick
war gleichsam nach Innen gekehrt, die Unterlippe
gesenkt. Trotz der Lederschürze konnte man das
Zittern seiner Brust wahrnehmen, das Gesicht wurde
abwechselnd rot, braun und gelb, dann wieder bleich
wie Kreide. Er sah aus, wie von einem Pfeil getroffen.
Nur noch eine Weile und dieser morsche, müde Leib
würde zusammenbrechen.
Immer deudicher, immer näher kam der Lärm
heran und ergoss sich endlich in die Öde Gasse mit
wildem Schreien, Heulen, Pfeifen, Lachen, Fluchen
und Toben. Heisere, trunkene Stimmen verschwammen
in eins mit dem höllischtn Quieken halberwachsener
Burschen. Die Luft schien taumelig von diesem Tosen
des Pöbels. Eine tierische Zügellosigkeit umfasste
die Strasse, raste, tummelte sich, wälzte sich von der
einen Exke zur anderen, wild, betäubend. Das
Knacken zerbrochener Fensterläden, das Krachen
gewalzter Fässer, das Klirren eingeworfener Scheiben,
das Rasseln geschleuderter Steine, das Knirschen von
Eisenstangen schienen Anteil zu nehmen aii diesen
scheuslichen Scenen. Wie Flocken dicht fallenden
Schnees wirbelten in der Luft die Federn umher, die
aus den zerrissenen Kissen und Betten kamen. Nur
noch einige armselige Kramläden trennten Mendel's
Stube von der einer Lawine gleich sich heranwälzen-
den Menge. Der Knabe hörte auf zu schluchzen, und
zitternd wie im Fieber, schmiegte er sich an den Alten.
Seine grossen dunklen Augen wurden noch dunkler
und erglänzten düster in dem bleichen Gesichtchen.
Es war seltsam. Dieses Anschmiegen des Kindes
und die nahe Gefahr ermunterten den Alten und
rüttelten ihn auf. Er legte die Hand auf den Kopf
des Enkels, holte tief Atem, und obgleich sein Gesiebt
bleich war, wie eine Oblate, kehrte doch in seine Augen
Feuer und Leben wieder ein.
In den Hausflur stürzten einige Frauen herein.
Die Frau des Seildrehers mit dem Kind auf dem
Arm, die Portiersfrau, die Höckerin.
„Fort von iiier, Mendel !" schrie die Portiers-
frau schon von der Schwelle. „Gehen Sie ihnen aus
den Augen. Ich w.erde hier sogleich ein Heiligenbild
oder ein Kreuz ans Fenster stellen. In anderen
Stuben ist das schon geschehen. — Dorthin gehen
sie auch nicht !^
„Sie fasste den Knaben bei der Hand:"
„Fort Jakob, verstecke dich im Alkoven!**
267
Maria Konopnicka: Der Progrom.
268
Sie umringten die Beiden, als wollten sie sie mit
ihren Leibern schützen, drängten sie zum roten Vorhang
hin. Sie kannten diesen Juden solange schon, er
war ein gefälliger, guter Mensch. Nach den Frauen
kamen andere Einwohner des kleinen Hauses, die
Stube füllte sich mit Menschen.
Der alte Mendel stütze die eine Hand schwer
auf den Arm des Kindes und mit der anderen wehrte
er die Frauen ab. Dieser eine Augenblick hatte ihm
die volle Geistesgegenwart wiedergegeben.
„Lasst ab, liebe Frauen!" sagte er mit seiner
harten, wie Glockenton klingenden Stimme. „Lasst
abl Ich danke Euch, dass Ihr mir Euer Heiligtum
geben wolltet, um mich zu retten. Aber ich will kein
kein Kreuz in mein Fenster stellen. Ich will mich nicht
schämen, dass ich Jude bin. Ich will mich nicht
fürchten. Wenn sie keine Barmherzigkeit in sich
haben, wenn sie Anderen Unrecht zufügen wollen,
dann sind sie keine Christen, und so werden sie sich
auch um kein Kreuz kümmern, um kein Heiligenbild.
Das sind keine Menschen mehr, sondern wilde Bestien.
Wenn sie aber noch Menschen sind, wenn sie noch
etwas Christentum im Herzen haben, so wird das
graue Haupt eines alten Mannes und das imschuldige
Kind ihnen auch heilig sein."
„Komm, Jakob!"
Und er zog den Kleinen nach sich, trotz der
heftigen Proteste der Anwesenden, trat an das
Fenster, riss seine beiden Flügel • auf und stand da
mit geöffnetem Kaftan, in der Lederschürze, mit
dem zitternden weissen Bart, das Haupt hoch er-
hoben, während der kleine Gymnasiast sich an ihn
schmiegte, dessen grosse Augen sich immer weiter
öffneten und auf die heulende Menge gerichtet
waren. '*
Der Anblick war so ergreifend, dass die Frauen
zu schluchzen begannen.
Der Pöbel auf der Strasse bemerkte sofort den
am Fenster stehenden Juden, Hess die paar Kram-
laden unberührt und wälzte sich auf ihn zu.
Dieser heroische Mut des Greises, dieser stumme
Appell an die Gefühle der Menschlichkeit wurde von
der Masse Air Hohn und herausfordernde Beleidigung
gehalten. Hier suchte man nicht mehr, ob es ein
Fass Essig oder Spiritus zum Hinauswälzen gab, einen
Pack Waren zum Vernichten, ein Federbett zum 2^r-
reissen, oder ein Korb Eier zum Zerstampfen; die
wilde Begierde zum Wehetun, der blinde Instinkt der
Grausamkeit erwachte, der im einzelnen Individuum
schlummert.
Sie waren noch nicht beim Fenster, als ein aus
der Mitte der Menge geworfener Stein den Knaben
am Kopfe traf. Der Kleine schrie auf, die Frauen
umringten ihn. Der Alte Hess seinen Arm los, blickte
sich nicht einmal um, sondern erhob beide Hände
über die Köpfe der heulenden Menge, sein BHck
ward starr und mit bleichen Lippen flüsterte er:
„Adonai, Adonail" — — und grosse Tränen
liefen über sein gefurchtes Gesicht.
In diesem Augenblicke war er ein wahrer ,,Gaon",
dass heisst hoch, erhaben.
Als die ersten Reihen das Fenster erreicht hatten,
fanden sie ein unerwartetes Hindernis in der Person
des langen Studenten aus dem Dachstübchen.
Mit wirrem Haar, mit aufgeknöpfter Uniform
stand er hinter dem Fenster, die Arme ausgebreitet^
die Fäuste geballt, die Beine wie ein geöffneter
Zirkel auseinandergespreizt. Er war so hoch, dass
er beinahe die Hälfte des Fensters mit seinem Körper
deckte. Zorn, Scham, Verachtung, Mitleid machte
seine entblösste Brust stürmisch; Wogen zuckten
wie Flammen über sein schwarzes, blatternarbiges
Gesicht. . . .
„Fort von da!" knurrten grimmig die ersten an,
die heranliefen. „Zuerst müsst Ihr an mich heran-
kommen, einer und der andere, Ihr Lumpengesindel,
Strolche, Gassenbuben!"
Er zitterte am ganzen Leibe und konnte nicht
einmal die volle Stimme aus der Brust herausbringen,
so würgte ihm der Zorn. Seine kleinen, grauen
Augen schössen Funken.
In diesem Augenblick war er schön wie
ApoUo . . .
Einige der Nüchternen aus der Bande begannen
sich zurückzuziehen. Die Gestalt des Jünglings und
seine Worte hatten sie mit ihrer Gewalt getroffen.
Der. Student benutzte den Augenblick, sprang in das
Innere, stiess Mendel von dannen und pflanzte sich
seiner ganzen Länge nach am Fenster auf. Die
Menge zog an diesem Fenster mit dumpfen Murren
vorüber: Hohnrufe, Bedrohungen, Lärm und Flüche
folgten diesem Zug; dann entfernte sich das Getümmel,
wurde immer stiller, bis es zu einem im deutlichen,
in der Ferne verstummenden Brausen herabsank.
An jenem Abend lernte Niemand beim Tisch
und Niemand arbeitete in der Werkstätte. Hinter
dem Vorhang drang aus dem Alkoven von Zeit zu
Zeit das stille Stöhnen des Kindes, sonst herrschte
hier vollständige Ruhe. Wäre nicht die eingeschlagene
Scheibe am Fenster, man hätte den Sturm nicht
ahnen können, der da am Morgen vorübergerast war.
Im Alkoven, hinter dem roten Vorhang lag der
Knabe mit verbundenem Kopfe. Eine grüne Lampe
brannte neben ihm, der Student sass am Bettrand
und hielt die Hand des Kleinen.
Der Student hatte jetzt sein gewöhnliches,
blatternarbiges Gesicht; nur in seinen Augen glomm
das nicht ganz erloschene Feuer, das aus der Tiefe
der Seele kam. Es sass schweigend, mit gefurchter
Siim, zornig, und warf von Zfit zu Zeit unruhige
Blicke nach dem dunklen Winkel des Alkoven. In
diesem Winkel sass Mendel Gdanski regungslos, ohne
einen Ton vernehmen zu lassen. Zusammengekauert,
die Arme auf die Knie gestemmt, das Gesicht in
die Hände verborgen, sass er hier so seit Mittag,
von dem Moment ab, da er sich überzeugte, dass
dem Kinde keine ernstliche Gefahr drohte.
Die Regungslosigkeit und das Schweigen des alten
Buchbinders machten den Studenten ungeduldig.
„Lieber Herr Mendel!" brummte er schliesslich,
„kriechen Sie doch endlich aus ihrem Winkel hervor.
Halten Sie Trauer nach einem Toten, oder was, zum
269
Maria Konopnicka: Der Progrom.
270
Teufel? Etwas Hitze, sonst nichts. Der Kleine kann
nach einer Woche zur Schule gehen, wenn nur die
Haut wieder etwas zusammenwächst. Sie hahen sich
so in den Winkel gesetzt, als wäre Ihnen jemand
gestorben.*'
Der alte Jude schwieg.
Erst nach einer Weile erhob er den Kopf und
rief mit vor Leidenschaft bebender Stimme:
„Sie fragen, ob ich Totentrauer halte? Nu, ja,
das tue ich. Ich trauere in Sack und Asche, denn
ich habe einen grossen Schmerz und eine grosse
Bitternis in der Seele . . .*'
Er schwieg und verbarg wieder das Gesicht in
die Hände. Die kleine, grüne Lampe beleuchtete
sein Antlitz eigenartig, fast gespensterhaft. Der
kranke Knabe stöhnte einmal über das andere, und
wieder herrschte Schweigen.
Mendel Gdanski erhob nochmals das Haupt
und rief durch die tiefe Stille:
„Sie sagten, niemand sei mir gestorben? Nu,
mir ist das abgestorben, womit ich geboren ward,
womit ich siebenundsechzig Jahre gelebt habe, womit
ich zu sterben hoffte . . .
In mir ist das Herz für diese Stadt gestorben . . .**
DIE ZWEITE DUiVlA.
(Brief aus Petersburg.!
Die zweite Duma ist versammelt. Alle Hoff-
lungen Rußlands sind jetzt auf das Schicksal der
ussischen Duma konzentriert. Die Optimisten hoffen,
lie weitere Umgestaltung Rußlands auf parlamenta-
•ischem Wege herbeiführen zu können, ohne jene
ichrecklichen Zusammenstöße, durch die das ganze
^and im Laufe von zwei Jahren von Blut überströmt
Verden war; die Pessimisten erwarten keinen fried-
Ichen Ausgang und glauben, daß die Bureaukratie
uch weiter hartnäckig bleiben und den Unter-
ang des Landes und des Monarchen riskieren wird,
m nur ihre Selbstherrschaft behalten zu können.
^s ist schwer vorauszusagen, was uns die nächste
iukunft bringen wird, weil vieles von Hofintriguen
nd persönlichen Einflüssen aWiängig ist.
Die jüdische Bevölkerung ist mehr am fried-
chen Gange des parlamentarischen Lebens inter-
?siert, als alle anderen Bürger, da jede revo-
itionäre Bewegung sich als ein viel schwereres Ver-
ängnis für das Schicksal der Juden erweist. Im
ahre 1905 wurde der Höhepunkt der Revolution
urch eine ganze Reihe der blutigsten Pogrome be-
jichnet, die alle Schreckenstaten des Mittelalters
bersteigen.
Leider verspricht die Zusammensetzung der
Veiten Duma ihr wenig Hoffnung auf dauernde
xistenz. Die Repressivakte der Regierung haben
veifelsohne eine stärkere Erbitterung im Volke
jrvorgerufen, das als Ausdruck seines Protestes viele
adikale in die Duma geschickt hat: Sozialderao-
•aten und Sozialrevolutionäre. Die Partei der
adetten (die konstitutionell-demokratische), die eine
mäßigte Opposition darstellt, hatte diesmal keinen
starken Erfolg; statt 185 Stimmen, die sie in der
sten Duma besaß, verfügt sie jetzt über etwa
O Stimmen. Bedeutend verstärkt haben sich die
chten Parteien. Außer den Oktobristen (Frei-
•nservativ) sind noch in der Duma etwa 70
jaktionäre, Anhänger des absoluten Regimes. Diese
'uppe ist noch besonders charakterisert durch ihren
itisemitismus. Der Hauptvertreter der reaktionären
irtei ist der bekannte Paneolaky Kruschewan, der
•ganisator des Kischinewer Pogroms. Da die
positiodellen Elemente in der Duma über mehr
. zwei Drittel aller Abgeordneten verfügen, so haben
die Reaktionäre von vornherein die Absicht, auf ob-
struktivem Wege oder durch Skandale die Duma
arbeitsunfähig zu machen, um ihre baldige Auf-
lösung zu erzwingen. Dagegen beginnen jetzt die
Radikalen, die noch im vorigen Jahre die Duma
boykottiert haben, oder sich bemühten, sie zu
sprengen, deren Existenz zu schätzen, und sie werden
sich voraussichtlich einer äußerst vorsichtigen und
loyalen Taktik befleißigen.
Die Zahl der jüdischen Deputierten ist äußerst
unbedeutend — im ganzen drei Personen: Jakob
Schapiro, ein Kaufmann mit höherer Bildung aus
Kurland, der Advokat Abramsohn aus Koneno, und
der Bergingenieur Lasar Rabinowitsch aus dem
Gouvernement Ekaterinoslaw. Diese drei Personen
gehören der gemäßigten Opposition an als Mitglieder
der Kadettenpartei. Im politischen, gesellschaft-
lichen, wie auch im jüdischen Leben waren sie bis
jetzt wenig bekannt.
Über die geringe Zahl der jüdischen Deputierten
war die jüdische Bevölkerung sehr betrübt, obwohl
die Juden auch in der vorigen Duma statt der ihnen
im Verhältnis zur Zahl der Bevölkerung (4,16 pCt.)
zukommenden 24 Abgeordneten deren nur 12 be-
saßen. Unter diesen waren wenigstens einige Persön-
lichkeiten, deren hervorragende Betätigung dem
jüdischen Publikum bekannt war; andererseits war
die Zahl der Antisemiten, die in der Duma die Juden
provozieren konnten, weit geringer.
Alle Bemühungen der jüdischen Deputierten
waren auf die baldige Durchführung des Gesetzes
der Gleichberechtigung aller Bürger gerichtet. In
diesem Jahre wird die jüdische Frage, wahrscheinlich
gleich zu Anfang, erörtert werden, aber nicht von
den Juden, sondern von den Antisemiten ä la
Kruschewan und Purischkewitsch, etwa im Genre
der Ahlwardt und Pückler. Wer wird Antwort
geben auf alle Verleumdungen und Lügen, die von
der Dumatribüne auf die Köpfe der Juden fallen
werden ? Diese Frage ist es, die jetzt die russischen
Juden am meisten beunruhigt. In allen Schichten
der jüdischen Gesellschaft und in der Presse wird als
Hauptthema die Frage nach den Ursachen des Rück-
ganges der Juden bei den letzten Wahlen erörtert.
Die letzten Wahlen enttäuschten viele Illusionen,
271
P. A. Longi: Die zweite Duma.
272
die sich bei den Juden in der Revolutionszeit fest-
gesetzt hatten. So behaupteten die revolutionären
Parteien unter den Juden stets, daß die Ansiedlungs-
gebiete inbezug auf die politische Entwicklung die erste
Stelle unter den übrigen Gouvernements des inneren
Rußlands einnehmen. Tatsächlich erwies sich das
Gegenteil als richtig. Im Ansiedlungsgebiet waren
in den allermeisten Fällen die Bauern sowohl, als
auch die städtische Bevölkerung reaktionär. Am
revolutionärsten erwiesen sich die Gouvernements
im Osten Rußlands, wo es überhaupt keine jüdische
Bevölkerung gibt. Allerdings bleibt für die Juden
ein Trost übrig: daß die Regierung auf Grund solcher
sichtbaren Tatsachen jetzt nicht mehr den Juden
die Schuld an der Revolution wird zuschreiben
können, wie sie es bis jetzt getan hat. Dieser Trost
ist jedoch nicht bedeutend, da die Antisemiten sich
nicht scheuen werden, eine neue Beschuldigung zu
erfinden.
Der Rückgang der Progressisten in den An-
siedlungsgebieten kann teilweise durch den nationalen
Antagonismus zwischen den Russen einerseits, den
Polen und Juden andererseits, erklärt werden.
Von diesem Antogonismus machte die Ad-
ministration und die Geistüchkeit Gebrauch, um
die Befreiungsbewegung in den Augen der un-
wissenden Bevölkerung zu diskreditieren, und die
ganze Revolution als einzige Tat der Juden zu er-
klären.
Nach dem russischen Wahlsystem wählt jede
von den drei Kurien der Gutsbesitzer, Städter und
Bauern zuerst ihre Wahlmänner. Diese kommen zu
einer Gouvemementsversammlung zusammen und
wählen gemeinschaftlich 6 bis 15 Deputierte, die dem
ganzen Gouvernement seiner Bevölkerung gemäß zu-
kommen. Die meisten Wähler besitzen die Juden
unter den Städtern, und sie können ihre Deputierten
durchbringen, wenn sie sich mit der Bauemkurie
gegen die Gutsbesitzer vereinigen, oder mit den
Gutsbesitzern gegen die Bauern.
Als die Juden in die letzte Wahlkampagne ein-
traten, hegten sie die vöHig falsche Ansicht, daß die
Bauern sich oppositionell verhalten müssen, da in
der Duma die Frage über die Verteilung des Bodens
unter die Bauern gelöst werden muß. Deshalb haben
die Juden, die die Majorität in den Städten des
AnSiedlungsgebietes bildeten, sich in diesem Jahr
von einem Block mit der Gutsbesitzerkurie überall
zurückgehalten, und sich bemüht, sich mit der Bauem-
kurie zu vereinigen. Das Resultat war, daß in den
meisten Gouvernements sich ein Teil der reaktionären
Gutsbesitzer mit den Bauern vereinigte und
reaktionäre Wahlen durchführte. Die Juden aber,
und in manchen Orten auch die konstitutionellen
Polen fielen bei den Wahlen ganz durch. Nur in
einem Gouvernement, in Kiew, erwiesen sich die
Bauern als konstitutionell, aber auch hier verhinderten
sie die Wahl eines jüdischen Deputierten. Die
prinzipielle Absage, sich mit der Gutsbesitzerkurie
zu vereinigen, führte dazu, daß die Juden jegliche
Bedeutung bei den Wahlen verloren, und zur Wahl
der Reaktionäre und Antisemiten in einigen
Gouvernements verhalfen, wie z. B. in den
Gouvernements Witebsk und Mohileff.
Noch mehr aber schadeten den Juden die inneren
Zwistigkeiten, der Kampf der verschiedenen jüdischen
Parteien untereinander. Im vorigen Jahre haben die
radikalen sozialdemokratischen Parteien (wie der
Bund) die Duma boykottiert, und die parteilosen
Massen und die Bourgeoisie fügten sich den Direktiven
der Vereinigung zur Erlangung der Vollberechtigung
der Juden und arbeiteten soüdarisch. Dieses Jahr
bemühte sich der Bund dort, wo er keine Kandidaten *
hatte, den jüdischen Block in den Städten aus-
einander zu sprengen, indem er irgend eine Klassen-
politik dort durchführen wollte, wo der Erfolg von
einer vollen Solidarität der ganzen jüdischen Be-
völkerung abhängig war. Dem Bund kamen die
Gründer der jüdischen Volksgruppe in Petersburg
zu Hilfe. Sie verkündeten kurz vor den Wahlen dem
Zionismus den Krieg. Es begann ein vernichtender
Kampf, dei: alle Kräfte und Mittel verschlang. Die Ini-
tiatoren der Volksgruppe lähmten durch ihren
Einfluß auch die ganze Tätigkeit der Vereinigung,
imd deshalb spielten sie dieses Mal überhaupt keine
Rolle. Diese Zwistigkeiten führten in einigen Orten
zu äußerst traurigen Ergebnissen. Zum Beispiel
konnte es gelingen, in Kischineff auch durch eine
wenig bedeutende Agitation die Wahl des bekannten
Antisemiten Kruschewan zu verhindern. Während
hier nichts unternommen wurde, wurde in den anderen
Gouvernements wie in Wolynien, Minsk, zehntausende
für den Kampf der jüdischen Parteien untereinander
ausgegeben. Mit der Agitation unter den Bauern
in dem Ansiedlungsgebiet beschäftigte sich fast nie-
mand, weil die revolutionären Parteien, durch die
Schuld des Bundes, ihre Aufmerksamkeit im Kampfe
mit den jüdischen Komitees vergeudeten und weiter
nichts taten.
Der Sieg der Reaktionären in dem größten Tei 1
des Ansiedlungsgebietes, wie auch der Rückgang der
jüdischen Kandidaten, dürften wohl als warnendes
Zeichen den jüdischen revolutionären Parteien dienen,
die sich als Ziel nicht die Agitation unter den Bauern,
sondern den Kampf mit der jüdischen Bourgeoisie
gestellt haben, und auch den vielen jüdischen Leitern
in Petersburg, die in diesem wichtigen Augenblick
den politischen Kampf als Mittel gebrauchten, um
ihre Abrechnung mit den Parteien im Judentum
herbeizuführen. Es bleibt nur die Hoffnung übrig,
daß die bittere Lektion, die uns durch die letzten
Wahlen erteilt wurde, die Parteizersplitterung zum
Teil beseitigen wird, die jetzt in Rußland, wie zu
allen Zeiten auf jede europäische gesellschaftliche
Tätigkeit, zerstörend wirkt.
Petersburg, den 17. März 1907.
P. A. Long i.
3
274
MITTEILUNGEN AUS DEM DEUTSCHEN BUREAU
DER ALLIANCE ISRAELITE UNIVERSELLE. CII
1 (Berlin N. 24, Oranienburgerstr. 42/43 1). r
DIE ISRAELITEN RUiVlAENIENS.
Nacbdruck verboten.
Ein Korrespondent der ^Alliance Israälite
liverselle* richtet an das Central-Comit6 nach-
übenden mteressanten Bericht über die Lage der
raeliten in Rumänien:
Das Jahr 1906 hat gleich dem voraufgegangenen
acklicherweise kein neues Gesetz erstehen sehen,
s die Lage der Israeliten in Kumänien weiter
Schwert hätte. Es hat immer mehr den Anschein,
> ob die Gewalthaber in Rumänien die Ent-
ckelung der Ereignisse in Russland abwarteten,
eichwohl glauben unterrichtete Männer, dass die
heinbare Ruhe nur ein Vorläufer abermaliger
isnahmebestimmungen ist, die im Schatten der
nisteriellen Kanzleien vorbereitet werden. Die
immung hinter den parlamentarischen Kulissen
nichts weniger als ermutigend. Der Eifer, der
rt herrscht, ist kein günstiges Vorzeichen, und
r fragen uns nicht ohne Besorgnis, ob nicht
natoren und Deputierte nicht noch drakonischere
lenfeindliche Massregeln planen, als die bereits
Kraft gesetzt worden sind. Denn der Hass
pen alles, was Jude heisst, hat noch nichts von
ner Nachhaltigkeit verloren. Die Kluft, die
iroänen und Israeliten scheidet, scheint sich in
mselben Mass zu erweitem, in dem die materielle
ge des Landes sich verbessert. Das Gegenteil
xe verständlicher und logischer gewesen. Haben
m die Israeliten durch ihre kommerziellen und
[ustriellen Fähigkeiten nicht zur Festigung des
nänischen Kredits und zur Verbesserung der
"tschaftlichen Lage des Landes beigetragen?
Der Landwirtschaftstrust. Das ist die auf
• Tagesordnung stehende Frage, die allerlei
berraschungen ffir die Zukunft birgt.
Den Juden Rumäniens ist, wie man weiss, der
sverb von Landbesitz verboten. Die freien Be-
e sind ihnen verschlossen. Zum Rechtsanwalts-
nd werden sie nicht zugelassen. Im Heer endet
3 Laufbahn beim Unteroffizier. Zu den Handels-
amem haben sie keinen Zutritt. Von den
tmischen Verbänden werden sie zurückgewiesen.
dfirfen keine Apotheken aufmachen, an öffent-
len Ausschreibungen dürfen sie sich nicht be-
igen. Jede amtliche Verwaltung lehnt sie ab.
1 den Fabriken werden sie femgehalten. Der
idel im Umherziehen und der Branntweinverkauf
l ihnen untersagt. — Durften die Israeliten unter
;hen Umständen in untätiger Resignation ver-
ren? Schon macht man ihnen die mangelnde
nnng ffir den Landbau zum Vorwurf. Sei es
angeborenem Betätigungsdrang, sei es zur Be-
ipfong des Vorurteils, das sie als untüchtig zur
darbeit bezeichnet, haben zahlreiche moldauische
Israeliten Land gepachtet und dadurch eine be-
trächtliche Steigerung der Pachtraten bewirkt.
Man sollte meinen, die Bojaren, die Grundbesitzer
mttssten von den grossen Gewinnen, die sie da-
durch erzielten, befriedigt sein. Dem ist nicht so.
Man lese, was die ,9Rivista idealista" vom Oktober
schreibt:
„Wer zwingt unsere Grundbesitzer ihre Ländereien
an Fischer*) und Genossen zu verpachten? Erzwingen
denn diese die Pachtung mit bewaffneter Hand? Gewiss
nicht. Warum nehmen die Besitzer sie als Pächter?
Weil jene habgierig sind und weil diese die ver-
lockendsten Preise bieten. Darum vergessen unsere
Bojaren die öffentlichen Erörterungen der Presse über
die Gefabren des sogenannten Landwirtschafts-Trusts
und überantworten ihre Güter den Fischer und Genossen.
Das tun die Konservativen, das tun die Liberalen, das
tun die Junimisten. Von dem Augenblick an, da ^vir
mit Eifer, Freude und Begeisterung ihre erhöhten und
übertriebenen Preise annehmen, steht es uns nicht mehr
an, gegen die Fischer und Genossen zu schreien. Wir
werden das Recht hierzu erst haben, wenn wir jede
Verhandlung mit ihnen ablehnen. So lange wir ihr
Geld nehmen, ziemt es uns besser, zu schweigen und,
unser Gewissen befragend, zu gestehen, dass wir Elende
sind. Das Wort ist hart, aber gerecht.**
Der „Prozentul" vom 28. Oktober schreibt:
„Wir begreifen nicht, warum der Feldzug seit
einiger Zeit ausschliesslich gegen den Trust der Land-
wirte gerichtet ist, warum man diesen Trust als die
alleinige Ursache der Uebel hinstellen will, unter denen
die Landbevölkerung leidet. Die Verwirrung, die man
jüngst in dieser Beziehung angerichtet hat, ist wahr-
haft beunruhigend. Heute sind die Dinge soweit ge-
diehen, dass, wenn man von einer Verbesserung der
Lage der Bauern spricht, man die wahren Ursachen
ihres Elends aus den Augen verliert. Man setzt alles
auf Rechnung des Landwirtetrusts, als ob alles
rumänische Land von den Trusts beschlagnahmt
wäre! . . . Wir wiederholen die Frage: war die Lage
der bäuerlichisn Bevölkerung vor den Trusts, die etwa
ein Dutzend Jahre alt sind, besser? und glaubt irgend
wer, dass dipse Lage sich bessern würde, wenn die
Trusts verschwinden? Wir sind sicher, dass niemand
die Frage bejahen wird.**
Trotz dieser Vorstellungen sind es die Gross-
grundbesitzer, die in allen Tonarten in ihren Press-
organen verlangen, dass ein Gesetz den „Fremden"
die Pachtung von Land verbiete. Das würde den
Ruin mancher jüdischer Besitzer herbeiführen, die
sich auf derartige Unternehmungen eingelassen
haben. Es ist zweifelhaft, ob die gegenwärtige
Regierung selbst die Initiative zu einer derartigen
*) Fischer heissen die reichsten jüdischen Pächter
in Rumänien.
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275
Mitteilungen der Alliance Isra^lite Universelle: Die Israeliten Rumäniens.
276
Massnahme ergreift; aber es ist sicher, dass die
jüdischen Pächter indirekt getroffen würden durch
die strenge Anwendung des Gesetzes über die
Landpolizei, das den „Fremden^ den Aufenthalt
auf dem Lande verbietet. In der Tat hat nach
Be^nn der parlamentarischen Herbstsession an-
lässlich der Debatte über die königliche Botschaft
der Senator Condrescu die Regierung wegen der
schwächlichen Haltung der Minister gegenüber den
„Fremden" in den läncUichen Gemeinden interpelliert.
Hier ist der Bericht über die Debatte nach dem
„Moniteur Officiel*:
„Senator Condrescu: M. H., das Gesetz sagt
deutlich, dass die Fremden in den Landgemeinden sich
nur auf Grund einer Ermächtigung des Gemeinderats
niederlassen diirfen. Trotz der Befehle der Regierung
ist dieses Gesetz nicht beachtet worden, sind zum Un-
glück für unsere Landbevölkerung unsere Dörfer von
Juden überschwemmt. Denn wenn der Jude ein Gut
gepachtet hat, bringt er ganze Familien seiner Glaubens-
genossen mit sich.
Senator Stefanescu: Der Fehler liegt bei den
Eigentümern.
Senator Condrescu: Sie haben Recht. Ich sage
es mit Schmerz : wir Rumänen überlassen unsere Güter
in die Hände der Juden. Was in den Landgemeinden
vorgeht, ist ein wahres Unglück. Hier ein Beispiel:
Zum Bahnhof Todircui, in dessen Nähe ich wohne,
sind Juden gekommen und haben 92 Waggons mit
Feldfrüchten beladen, während d»e rumänischen Pächter
und Besitzer nicht einen einzigen Sack hatten . . .
Ich wende mich an Sie, Herr Premierminister, der Sie
der reichste Grundbesitzer Rumäniens sind, der Sie
wissen, was wohlerworbener Reichtum bedeutet: Die
rumänischen Pächter und Eigentümer besitzen im Durch-
schnitt 200—300 falci,*) während jeder Jude über
20 000 falci verfügt. Wo ist da das Verhältnis? . . .
Die Juden ziehen Tag und Nacht durch die Dörfer
und bemächtigen sich des Besitztums der anderen, oder
beschäftigen sich mit Gewerben, die allein die „Jidden^
verstehen. Ich sage nicht mehr. Ich beschränke mich,
Ihnen eine Andeutung zu geben, Herr Premierminister,
und bitte Sie, dringliche Massregeln zu ergreifen und
die Präfekten zur Vertreibung der Fremden aus den
Landgemeinden aufzufordern.
Ministerpräsident Cantacuzenu: Der Herr Senator
Condrescu darf überzeugt sein, dass die Regierung von
den gleichen Gefühlen beseelt ist, wie er. Die An-
führungen des Herrn Senators sind leider wahr, und
die Regierung wird alle Massregeln zur Bekämpfung
des Uebels treffen. (Beifall.)"
In Gemässheit dieser Erkläruug hat Herr
Cantacuzenu, der auch Minister des Ifinem ist, an
die Präfekten ein Rundschreiben gerichtet, worin
es heisst, dass „alle Fremden" unter Beachtung
der in dem Gesetz vorgesehenen Bedingungen die
Niederlassungsgenehmigung bei den Kommunalräten,
bei der Präfektur und bei dem Ministerium nach-
suchen müssen. Wer diese Vorschriften nicht er-
füllt, wird ausgewiesen und in die Städte zurück-
geschickt.
In seiner Dezembernummer schreibt der
„Agrarul*, das Organ der Grossgrundbesitzer:
♦) 1 falcc = 14,82 Quadratmeter.
„Wir sind glüoklich, das man endlich etwas tut.
Wir freuen uns zu sehen, dass der Chef der Regierung
Kenntnis hat von der Art, in der das delikateste aller
Gesetze angewendet worden ist Wir hoffen, dass die
Massnahmen, die er ergreifen wird, seiner Erwartung
und der unseren entsprechen werden.**
Am 15./28. Dezember schneidet Herr Condrescu
die Frage vor dem Senat wieder an und behauptet,
dass die ministeriellen Weisungen nicht genau be-
folgt worden sind. Er verliest einen Brief, in dem
ein Priester ihm eine Landgemeinde des Bukarester
Bezirks bezeichnet, wo sich eben „Fremde** mit
Zustimmung der Ortsverwaltung niedergelasseji
hätten. Herr Condrescu schliesst daraus, dass die
Unterbeamten sich von dem Gold der auf dem
Lande ansässigen Juden bestechen lassen, und
fordert die Regierung auf, strenge Massregeln zu
ergreifen „gegen die fremden Pächter, die die
Staatsgüter und die der Privaten zum Schaden der
ländlichen Bevölkerung monopolisiert und eine
wachsende Verarmung der einheimischen Bevölke-
rung herbeigeführt haben " In der nämlichen
Sitzung dankt der Unterrichtsminister Dissescu im
Namen der Regierung Herrn Condrescu für die An-
gabe dieses bestimmten Falles und verspricht
äusserste Strenge gegen die schuldigen Beamten.
Er fugt hinzu : „Was die Frage der Güterverpachtung
angeht, so ist es unsere Pflicht, die Güter nicht
mehr den Fremden zu geben. Die Regierung wird
Anordnungen in diesem Sinne erlassen." Schliesslich
erklärt Herr Condrescu, dass er nach den Feiertagen
einen Gesetzentwurf über die Pachtfrage ein-
bringen wird.
Ausweisungen. Mittlerweile werden die
Ausweisungen, namentlich in dem Bezirk von
Botosany, immer zahlreicher. Niemand findet in '
den Augen des Präfekten Yasescu Gnade. Ein
typischer Fall sei angeführt: Calinesti ist ein
Weiler, der früher von dem Dorf Bucecea losgelöst
war und jüngst ihm wieder angegliedert worden
ist. Moscu Abramowici aus Bucecea hatte sich in
Calinesti zu einer Zeit niedergelassen, in der der
Weiler nicht zu dem Dorf gehörte. Er hatte im
Jahr 1901 die behördliche Genehmigung erhalten.
Kürzlich schrieb ihm Herr Vasescu vor, die gesetz-
lichen Schritte zur Erneuerung seiner Aufenthalts-
erlaubnis zu tun. Abramowici tat das Erforderliche,
an dem Erfolg seiner Bemühungen nicht zweifelnd.
War doch sein Vater Awram einer der Gründer
von Bucecea, hatte er doch selbst in dem vierten
Jäger bat aillon gedient! Abramowici erhielt auch von
der Gemeinde ein gutes Führungszeugnis und eine
zweite Bescheinigung, in der ihm bestätigt wurde,
dass er persönliches Vermögen besitze. Ein drittes
Zeugnis sagte, dass er niemals bestraft worden
sei. Der Kommunalrat genehmigte die Erneuerung
der Niederlassungserlaubnis, aber der Präfekt
annullierte diese Entscheidung. Abramowici wendet
sich dem Gesetze gemäss an den Minister des
Innern und erstreitet einen günstigen Bescheid.
Doch man machte ihm neue Schwierigkeiten. Calinesti
ist jetzt wieder zu dem Dorf Bucecea gehörig, und
deshalb muss Abramowici abermals um eine Ge-
Mitteilungen der Alliance Isra^lite Universelle: Die Israeliten Rumäniens.
278
thmigoDg emkommen. Diesmal verweigert auf
3fehl des Präfekten der KommuDalrat die 6e-
hmigung. Zum zweiten Mal wird der Minister
gerufen, dessen Entscheidung sich verzögert,
ittler weile wird Abramowici aufgefordert, den
1 zu verlassen. Er geht nach Bukarest, um die
nisterielle Entscheidung zu beschleunifiren.
ährend seiner Abwesenheit erbricht die Orts-
hörde auf Befehl des Präfekten die Schlösser der
)ramowicischen Wohnung, wirft das Hausgerät
f die Strasse, schafft es auf Wagen und schickt
nach Bucecea.
Derartige kleine Polizeiakte werden von dem
mmütigen Präfekten von Botosany täglich ange-
Intjt
Welche Ueberraschungen uns das beginnende
iir bringen kann, wird man aus nachstehender
usserung der „Sentinela" vom 3. Dezember ent-
imen:
„Um der verfluchten jüdischen Lepra zu entgehen,
sich wie eine Siindflut von Heuschrecken auf unserer
ter Erbe niedergelassen hat, haben wir uns zur An-
idung aller gesetzlich erlaubten und nicht erlaubten
tel entschlossen . . . Um unsere Länder zu befreien,
er verletztes Recht wiederzugewinnen, uns von der
flachten Sklaverei der Juden zu erlösen, werden
nicht Kugeln noch Tod, nicht unsere Regierung
1 irgend eine Macht der Erde fürchten. Das soll
I wi:isen!"
Hier noch einige Zeilen, die der frühere liberale
errichtsminister Haret als Antwort auf einen
schlag des gegenwärtigen Finanzministers Take
escu zu Gunsten einer mit Unterstützung fremder
Litauen gegründeten Landbank niedergeschrieben
„Herr Jonescu überantwortet den Bauer auf Gnade
Ungnade den fremden Bankiers, die einzig auf
nun von Dividenden bedacht sein werden. Die
ien der Bank des Herrn Jonescu werden in den
den das früheren Maire von London (Sir Marcus
uel) sein, der mit der gewohnten Frechheit seiner
je in den Augenblicken der Sittherheit vor Gefahren
r Land insultiert hat. Aktionäre werden sein
shi Fischer und Genossen, die sich unserer Land-
r bemächtigt haben. Diese Aktionäre werden von
ts wegen die Herren des Landes sein, wie sie es
its tätsächlich sind. Das ist das Mittel, das Herr
3 Jonescu ersonnen bat, um den Artikel 7 zu
räften."
Wenn die fahrenden Klassen der Bevölkerung
le Geflihle gegenüber den Juden hegen, kann
sich dann verwundem, dass das Volk selbst
unseren Glaubensgenossen gegenüber zuweilen
Llich zeigt? Im Verlauf des Jahres hat man
Q können, wie die Professoren Cuza, Jorda
andere mehr, Rundreisen im Lande veranstalteten,
«rem Katheder herab in ihren Vorträgen zum
nhass anzustacheln. Natürlich durchtränken
die Studierenden mit den Hassgefühlen ihrer
er und setzen die ihnen eingeimpften Theorien
ie Praxis um. Auf diese Weise hat die
erende Jugend von Bukarest eine Gesellschaft
eher Damen, die den Saal des Athenäums ge-
t nnd die Schauspieler des Nationaltheaters
engagiert hatte, gezwungen, eine Wohltätigkeits-
vorstellnng abzusagen. Es verdient dabei bemerkt
zu werden, dass das Athenäum auf Grund einer
öffentlichen Sammlung entstanden ist, an der die
Juden sich in hervorragendem Masse beteiligt haben,
wie sie auch jetzt wieder sehr beträchtlich zu
einem Kapital zuschiessen, das zur Errichtung eines
Blindeninstituts bestimmt ist, obwohl es kaum
einem Zweifel unterliegt., dass Blmde jüdischen
Glaubens zu diesem Etablissement ebensowenig
Zutritt haben werden, wie zu den meisten Kranken-
häusern.
Es scheint übrigens, als ob selbst das Leben
der Juden in den Augen der Landesjustiz keinen
Wert hätte, und als ob die Greschworenengerichte
den Grundsatz aufstellen wollten, dass jedem an
einem Juden begangenen Mord die Freisprechung
des Mörders folgen müsse. Im Verlauf des Jahres
1906 haben vier derartige Verdikte sogar die
Rumänen selbst in Staunen versetzt. In Podul-
Turcului wurde eine jüdische Familie ermordet;
alle Angeklagten wurden freigesprochen. In Bur-
dnjeni fällt eine andere Familie unter dem Messer
der Mörder, die man entdeckt. Die Geschworenen
sprechen die Mörder frei. In Braila wird Mendel,
Schwiegersohn des grossen Exporteurs Halfon, von
einem seiner Arbeiter ermordet, der für einen Un-
fall eme Entschädigung von 100000 Frs. verlangt
hatte. Mendel ist Jude. Der Mörder wird frei-
gesprochen. In Galatz prozessiert der Pächter
Leibowici wegen der Pacht. Ehe noch die Gerichte
gesprochen haben, verpachtet der Beisitzer sein
Gut an den Eumänen Winkler. Dieser will auf
der Stelle die Pacht antreten. Leibowici macht
seinen Kontrakt geltend. Wincler schiesst den
jüdischen Pächter mit dem Revolver nieder. Die
Jury spricht ihn frei. Wenige Tage später gibt
die Zivilkammer in dem Prozess Leibowicis gegen
den Besitzer ihr Urteil dahin ab, dass der Besitzer
rechtswidrig sein Gut an Wincler verpachtet habe,
und dass der mit Leibowici abgeschlossene Pacht-
vertrag bis 1916 Geltung habe!
Jubiläums - Ausstellung. Die Israeliten
des ganzen Landes haben Wert darauf gelegt, an
den Festen und öffentlichen Kundgebungen anläss-
lich der vierzigjährigen Regierungsfeier des Königs
teilzunehmen. Eine jüdische Abordnung stellte sich
am 12. Mai im Palais ein und überreichte dem
König eine Adresse, die folgenden Satz enthielt:
„Die Grösse dieses Landes, dessen Bürger wir
unter Euerer Majestät Regierung mit Stolz sind,
ist auch unsere Grösse. Das Glück, das die
glänzende und ruhmreiche Herrschaft unseres ersten
Königs verbreitet hat, hat sich gleichmässig und
in Fülle auf alle Kinder Rumäniens und auf uns
ergossen." Bei dieser Gelegenheit erkannte der
König huldvoll an, dass „die Naturalisationen
schwer zu erreichen wären." Das war alles. Und
doch hätte der König sich leicht überzeugen können,
dass das Gedeihen Rumäniens und die erzielten
Fortschritte zum guten Teil der Intelligenz und der
Arbeit seiner jüdischen Untertanen zu danken
— J '. ...
279
Mitteilungen der Alliance Isra^lite Universelle: Die Israeliten Rumäniens.
280
sind. Wie aber sogar solche Geister, die sich auf-
geklärt uennen, den Anteil der Juden an dem
Erfolg der Ausstellung beurteilen, mö^en nach-
stehende Zeilen zeigen, die dem amtlichen Aus-
stellungskatalog, veröffentlicht unter dem Patronat
des Generalkommissars Dr. Istrati, entnommen sind:
„ ... In der demografischen Lage des Landes
besteht die beunruhigendste Erscheinung in der Invasion
des jüdischen Elementes aus Polen, Galizien und Uussland.
Mit einer fast beispiellosen Duldsamkeit haben die Rumänen
seit den ältesten Zeiten alle Konfessionen unter sich
zugelassen. Wenn sie in verschiedenen Verträgen sich
gegen die Niederlassung der Mohamedauer gewendet
haben, so gehört das der Vergangenheit an und beruht
auf politischen Erwägungen. Abgesehen hiervon, hat
jedes andere Bekenntnis, selbst das der Schismatiker,
die aus Uussland vertrieben waren, in Rumänien volle
Freiheit genossen. Die Rumänen haben sich nie wegen
des Seelenheiles anderer beunruhigt. Doch jetzt ersteht
eine grosse Gefahr: Die Juden, anderwärts verfolgt
oder übel angesehen, haben begonnen, das rumänische
Land zu überschwemmen. Sie zuerst haben den Rumänen
eine deutliche Vorstellung von dem gegeben, was man
konfessionelle Missachtung nennen könnte. Denn mit
Ausnahme derer, die aus dem Abendland kamen, haben
die aus dem Orient und dem Norden eingewanderten
Juden eine Atmosphäre des religiösen Fanatismus mit-
gebracht, würdig der Ghettos, eines Fanatismus, den
wir niemals gekannt hatten. Während Protestanten,
Katholiken und russische Sektierer unbemerkt bleiben,
während der muselmanische Muezzin friedlich seine
Melo4icn über die Kirchen weg ertönen lässt, haben
die Juden allein das Gefühl einer unsinnigen kon-
fessionellen Feindseligkeit mitgebracht. Ihr bizarres
Kostüm, ihre Schläfenlocken, ihre Feiertage mit den
strengen Ruhegeboten, ihre Schächtriten (das von Christen
verkaufte Fleisch wird als' unrein betrachtet), alle ihre
Besonderheiten im täglichen Leben haben die Rumänen
dahin gebracht, nicht eine Religions-, sondern eine Rassen-
frage vor sich zu sehen. Den bündigsten Beweis hierfür
findet man in dem Mangel jeder Familienbeziehung zu
den Rumänen. Eheschliessungen zwischen diesen beiden
Volkselementen bilden eine seltene Ausnahme; der Jude
und die Jüdin, die der Synagoge untreu werden, setzen
sich ernsten Unannehmlichkeiten aus. Dieses fremde,
nicht assimilierbare, auch intellektuell uns nicht ver-
wandte Element bildet für die organische Entwickelung
des rumänischen Staates ein um so schwierigeres Problem,
als der konfessionelle Partikularismus sich auch auf den
wirtschaftlichen Kampf überträgt in einem Wettbewerb,
der sich nicht wie im übrigen Europa von Individuum
zu Individuum, sondern von Rasse zu Rasse abspielt.
Ehe man noch in der ökonomischen Welt etwas wie
einen Trust gesehen hatte, haben wir den kleinen, aber
undurchbrechlichen Trust der Juden in den einzelnen
Städten gegenüber dem Handel und dem Gewerbe der
Rumänen gesehen. Jetzt stehen wir grossen landwirt-
schaftlichen Trusts gegenüber; und obwohl die Flut
der Einwanderung unaufhörlich steigt, giebt es bei uns
keine antisemitische Partei."
Auswanderung. — Die Nationalisten des
Landes berufen sich bekanntlich, um ihre Lieblings-
theorien zu unterstützen, auf die unaufhörliche
Vermehrung der jüdischen Bevölkerunjr, die sie
auf 700 000 Seelen schätzen. Die offizielle Statistik
beweist jedoch, dass kaum eine Viertelmillion
Israeliten in Rumänien verblieben ist. Zudem
nimmt die Auswanderungsbew^ung ihren Fortgang.
Der ^Moniteur Oflficiel" vom 13. August 1906 steUt
fest, dass laut den Eintragungen beim Sicherheits-
dienst des Ministeriums des Innern von 1899 bis
1904 nach Amerika 42 968 Juden abgereist sind.
Im Jahr 1906 belief sich die Zahl der Aus-
wanderer auf 3406. Eechnet man hinzu die
Zahl der Personen, die ohne Pass oder nur mit
dem sogenannten gewöhnlichen Beisepass das Land
verlassen haben, so stellt sich nach dem Moniteur
die Gesamtzahl der in 6 Jahren Abgewanderten
auf 55 000. Hierzu vergleiche man nun — immer
nach den Angaben desselben Organs — die Ab-
nahme der Geburten:
8994 in 1901
8696 „ 1902
8221 „ 1903
8137 „ 1904
7710 „ 1905
Infolge der russischen Pogrome flüchteten
einige jüdische Familien nach Rumänien. Zur
Stunde haben diese Familien das Land wieder
verlassen; was die antisemitische Presse nicht
hindert, der Verwaltung vorzuwerfen, sie hätte
eine wahrhafte Invasion geschehen lassen Aber
aus einer besonderen Statistik des Ministeriums des
Innern erhellt, dass von 3222 russischen Israeliten,
die seit Januar 1905 nach Rumänien gekommen
sind, 2196 das Land bereits verlassen haben. Es
verblieben 1026. Und auch diese Zuzügler haben
sich im Lauf des Jahres 1906 nach Argentinien
eingeschifft. Sonach beschränkt sich die behauptete
Invasion auf einige Dutzend Individuen.
Handel. Laut einer für 1905 — 1906 auf-
gestellten amtlichen Statistik gibt es in Rumänien
136 674 Handeltreibende aUer Gattungen und
Kategorien, nämlich 101 779 Rumänen, 22 667 Juden
und 12 226 verschiedener Nationalität. Nur in
einigen Bezirken überschreitet die Zahl der jüdischen
Handeltreibenden die der rumänischen, nämlich in
den folgenden:
Israelitische Christliche
Handeltreibende:
Bacau zählt . . 1582 und 1465.
Botosami
Covorului
Dorohoi
Folticeni
Jassy
Neamtz
Roman
Suceava
Vaslui
n
n
»
«
n
j?
>?
2359
1377
2227
878
3404
1572
934
1269
859
905
1226
783
587
836
836
566
539
541
Die grösste Zahl von Handeltreibenden weist
der Bezirk Dlov (Bukarest) auf, nämlich 43 510,
davon 1534 Juden.
Im VeHauf der letzten 10 Jahre stieg die
Zahl der rumänischen Handeltreibenden von 68 785
auf 101779; die Zahl der jüdischen Handel-
treibenden verminderte sich demgegenüber merklich
(ungefähr 24 000 in 1896 und 22 667 in 1905).
281
Mitteilungen der Alliance Isra^lite Universelle: Die Israeliten Rumäniens.
282
Dem Handel im Umherziehen ist von neuem
1er Krieg erklärt. Das zeigen beispielsweise einige
^ikel aas einem Gesetzentwarf, den der Präsident
1er Jassyer Handelskammer Scherban verfasst hat.
t\^ie ersichtlich, zielt dieser Gesetzesvorschlag auf
lie Unterdrückung der kleinen Ortsmärkte:
Art 5. Der Hausierhandel mit Waren, gleichviel
welcher Herkunft, ist auf den grossen Märkten und
idiglich während ihrer Dauer den Personen gestattet,
ie einen Erlaubnisschein der Handelskammer besitzen,
od deren Firma mindestens 5 Jahre alt ist.
Art 6. Dem Antrag auf Gewährung einer VoU-
lacht zar Ausübung des Haasierbandels muss eine
enaue Bilanz^ über Soll und Haben des Antragstellers
od der Nachweis über Entrichtung sämtlicher schuldigen
teaem beigefügt sein.
Die Handelskammer kann nach Prüfung die Voll-
acht gewähren oder verweigern.
Art. 7. Die Vollmacht soll verweigert werden:
a) den Miadei;jährigen:
b) den mit ansteckenden Krankheiten behafteten
Personen;
c) denen, die wegen eines Verbrechens, Diebstahls,
Betrugs, Vertrauensmissbrauchs, Bankerotts,
Schmuggels verurteilt sind, und auch den
Kaufleuten, deren Wechsel ein oder mehrere
Mal protestiert wurden.
Der Kassationshof hat für die Rechtsprechung
züglich des Hausierhandels die folgenden Hin-
jise gegeben:
„Artikel 1 des Gesetzes bestimmt, dass der Hausier-
ndel jedweder Art in den Stadtgemeinden mit Aus-
lime der vorgesehenen Fälle vollkommen untersagt
Nach dem Wortlaut des zweiten Artikel 5 ist unter
usierhandel jeder Handel zu verstehen, der von Haus
Hans, von Ort zu Ort, an ungedeckten Plätzen, in
den, Höfen, Hausfluren usw. betrieben wird. Infolge-
sen muss der Handel der „Zaraf" (Wechsler), der
1 auf den Strassen, Plätzen, überhaupt unter freiem
nmel abspielt, d. h. im Wettbewerb mit den Ge-
äften der Bankiers in den Bankhäusern, nach dem
st und dem Buchstaben des Gesetzes als verbotener
isierhandel betrachtet werden.*^
Diese Entscheidung trifft hunderte von jüdi-
en Wechslern.
Gewerbe. — Im November machte der
nänenminister seine Ministerkollegen durch Rund-
reiben nachdrücklich darauf aufmerksam, dass
Art. 95, 141 und 146 des G^werbegesetzes
ramänischen Handwerker sich besonderer Vor-
ite erfreuen sollen. Der Domänenminister ver-
$t insbesondere auf folgende Punkte:
1 . Die Eumänen sollen bei jeder Unternehmung
• Lieferang, die den Betrag von 50 000 Francs
t überschreitet, selbst dbun den Zuschlag er-
3n, wenn ihre Forderung um 5 % höher ist
iie ihrer Mitbewerber.
2 bei den staatlichen Submissionen haben die
laischen gesetzlich bestätigten Handwerker-
inignogen nur die Hälfte der durch das Gesetz
'derten Kaution zu erlegen.
3. _ Bei der Ausführung staatlicher Aufträge
Liiefemngen sind iausschliesslich rumänische
iter zu verwenden.
Nach einer neuen, von der Zentral-Begiemng
veröffentlichten Statistik verteilen sich die Hand-
werker in Eumänien wie folgt:
Rumänen
Fremde
Juden
Kreis
•
1.
Cnyova
= 6410
5236
507
2.
Pitesti
= 4485
1822
202
3.
Ploesti
= 7435
2202
713
4.
Bucarest
= 14848
8068
3691
5.
Braüa
= 3030
1598
785
6.
Galatz
= 2660
1204
1823
7.
Focsani
= 1510
426
1887
8.
Jassy
- 2180
1125
3048
9.
Botosani
= 1129
475
3199
10.
Constanza
= 2162
1623
204
Zusammen 45849 23779 16059
Die grösste Zahl von Handwerkern nmfasst
demnach der Kreis Bukarest (Ufov, Jalomitza,
Vlaschca), nämlich 26 607, die sich nach Bezirken
wie folgt verteilen:
Bezirk Rumänen Fremde Juden
Bukarest = 22183:
U513
7050
3620
Jalomnitza = 2695 :
2121
532
42
llVlaschca = 1729:
1214
486
29
•
•
Nach Branchen gliedern sich die Handwerker
im Kreise Bukarest wie
folgt:
Rumänen
Fremde
Juden
1.
Tischler. . . .
. 1255
728
171
2.
Klempner . . .
357
174
591
3.
Zimraerleute . .
642
187
1
4.
Maurer ....
109
852
314
5.
Matratzenmacher
444
203
246
6.
Mechaniker . .
409
401
52
7.
Schuhmacher . .
. 2369
1345
225
8.
Barbiere . . .
624
143
64
9.
Graveure, Bildhauei
• 200
247
90
10.
Schneider . . .
. 1028
511
1599
11.
Gerber
142
224
5
12.
Stellmacher . . .
830
1192
42
13.
Konditoren . . .
187
79
5
14.
Buchdrucker . . .
1077
180
166
15.
Bäcker
450
472
36
16.
Sattler
81
108
93
17.
Lederarbeiter . . .
291
"""
18.
Verschiedene . . .
348
82
5
Naturalisationen
Um seine Naturalisation
zu erreichen, muss ein rumänischer Jude tausend
erniedrigende Schritte tun und znweilen bis zu
20 Jahren warten, ehe sein Gesuch die Prüfung
durchgemacht hat Meist ist überdies das Ergebnis
negativ. Der einzuschlagende Geschäftsgang ist
dermassen beschwerlich, dass nur einzelne Bevor-
zugte sich dazu entschliessen, ihr Glück zu ver-
suchen. Die Kammer selbst hat in ihrer ausser-
ordentlichen Sitzung im Jahre 1906 mit Rücksicht
auf die systematische Obstruktion seitens der
Mehrheit der Abgeordneten das Reglement folgender-
massen abändern zu mtlssen geglaubt:
1. Der Naturalisationsbewerber braucht nicht
mehr wie vordem jedes Jahr eine neue Erklärung ein-
zureichen. Der Bericht der Kommission behält für die
späteren Sessionen Gültigkeit.
283
Mitteilungen der Alliance Isradite Universelle: Die Israeliten Rumäniens
284
2. Den Vorrang auf der Tagesordnung erhält der
Bewerber, dessen Mutter oder dessen Frau Rumänin ist.
d. Ein Prioritätsrecht wi^d auch den Söhnen der
Naturalisierten zugebilligt (die 'vor der Naturalii^ation
des Vaters geborenen Kinder werden als Fremde be-
trachtet) nnd die sie betreffende Abstimmung erfolgt
durch Aulstehen und Sitzenbleiben.
In der Session, die vom November 1905 bis
zum Mai 1906 währte, genehmigte die Abgeordneten-
kammer 23, dar Senat 51 Natnralisationsgesuche.
Nur 10 Israeliten sind endgiltif? durch beide Kammern
zugelassen worden, die Herren: Dr. Sigler,
J. J. Benvenisti, J. Lupus, I.-B. Brociner,
M. Athias, A. Benaker, J. Bottenberg, A. Lorenz,
D. Salomon und S.-A. Berger.
Die Üobrudscha. Es ist die Rede davon,
den Bewohnern der Dobrudscha die politischen
ßechte zu verleihen. Eine Kommission studiert
dieses Problem, und die Presse wirft die Frage
auf, ob die Israeliten, die in der annektierten
Provinz wohnen, die gleichen Rechte erhalten werden
wie ihre Mitbttrger. Inzwischen hat der Kassations-
hof den Satz angestellt, dass von Rechtswegen
durch die Annexion derDobru^lscha die ottomanischen
Untertanen, die sich dort im Jahre 1877 befanden,
Rumänen geworden sind. Ein Mitglied dieses
Gerichtshofes macht hierzu im „Curierul Judiciar"
die folgenden Bemerkungen:
„DieAnnexion eines Territoriums bringt den Erwerb
oder auch den Verlust der Nationalität mit sich. So
wurden die Bewohner der Dobrudscha, die am 11.
April 1877 ottomanische Untertanen waren, Rumänen
(Art. 3 des Gesetzes vom 9. März 1880), wie ander-
seits die Rumänen Bessarabiens aufhörten es zu sein
und Russen wurden. Wenn das Gesetz betreffend
die Organisation der Dobrudscha die Bewohner der
Dobrudscha zu Rumänen stempelte, so erhebt sich die
Frage: Was versteht der Gesetzgeber unter diesem
Ausdruck ?
Vor allem ist es nicht zweifelhaft, dass die Fremden,
die im Augenblick der Annexion in der Dobrudscha
weilten, nicht Rumänen geworden sind. Also konnten
die nichtnaturalLsierten, aber in Rumänien geborenen
Israeliten durch die Wirkung der Annexion nicht
rumänische Bürger werden, obgleich sie um diese Zeit
in der Dobrudscha ihren Wohnsitz hatten. Rumänen
konnten nur die Bürger des türkischen Reiches werden,
d. h. die Mohamedaner. Da es jedoch in diesem Reich
auch andere Einwohner („Ungläubige") gibt: griechische,
bulgarische, serbische, armenische, lipowanische u. a.
ottomanische Untertanen (auch solche rumänischen Ur-
sprungs), so ist zu ergründen, ob diese Einwohner, die
sich im Augenblick der Annexion in der Dobrudscha
befanden, Rumänen geworden sind. Die Frage auf-
werfen heisst sie lösen. Der Kassationshof entscheidet
mit Recht dahin, dass diese Einwohner Rumänen ge-
worden sind; er begreift unter der im Gesetz von 1880
angewandten Bezeichnung „Bürger" alle Untertanen,
die sich unter der ottomanischen Herrschaft befanden;
denn, — wie der hohe Gerichtshof sehr gut bemerkt, —
wenn es anders wäre, so würden unter den Einwohnern
der Dobruscha nur die Bekenner der mohammedanischen
Religion Rumänen geworden sein, was in keinem Falle
aufrecht erhalten werden könnte. Auch die „Ungläu-
bigen", d. h. nichtmohammedanischen Einwohner sind
in gewissem Masse ottomanische Bürger.
Was nunmehr die Frage betrifft, über die der
Gerichtshot sich zu äussern hat, so ist von dem Antrag-
steller, mag er immerhin Israelit sein, der Beweis er-
bracht worden, dass er im Augenblick der Annexion
der Dobrudscha kein Fremder war, sondern ottomanischer
Untertan. Demgemäss wurde er infolge der Annexion
Rumäne."
Schulangelegenheiten. Die Eltern israeli-
tischer Schüler hatten in diesem Jahr für die
Prüfungen ihrer Kinder höhere Lasten zu tragen
als in den voraufgegangenen Jahren. Die Zahl
der von der regulären Abgabe teilweise befreiten
Kandidaten war winzig gering. Viele bereits be-
willigte Dispense wurden von dem Minister des
öffentlichen Unterrichts Vladescu im letzten Augen-
blick unter dem Vorwand zurückgezogen, der
Vorstand der Schulkasse (in die die Prüfungsabgaben
fliessen) habe Widerspruch erhoben.
Die rumänische Presse bespricht einen neuen
Gesetzesentwurf betreffend den Privatunterricht.
Der Entwurf sieht unter anderen Bestimmungen
vor, dass Privatschulen werden genehmigt werden
können :
1. Wenn die Lehrer wenigstens 10 Jahre lang
praktisch tätig gewesen, und wenn sie Zeugnisse der
literarischen oder der naturwissenschaftlichen Fakultät
besitzen;
2. wenn die Gehälter der Lehrer der vom Minister
fetzusetzenden Norm entsprechen;
3. wenn das Lehrprogramm in allen Punkten
mit dem der S taatsschulen übereinstimmt. |f^v.
Ganz wie der iG^esetzesvorschlag des ehemaligen
Ministers Earet, zielt auch der neue darauf hin,
den Privatschulen, folglich auch den jüdischen
Schulen, rumänische Lehrer aufzuzwingen. Das
wäre eine weitere Unbilligkeit zu allen früheren.
Als ob die Existenzbedingungen unserer Schul-
institute denen dieRegiemnj^ immer unerträglichere
Verpflichtungen auferlegt — nicht bereits genügend
heikel wären! In der letzten Zeit war jede israelitische
Schule genötigt, zum Ueberfluss einen militärischen
Erzieher anzustellen, der vom Schulinspektor vor-
geschlagen wird und mit dem von diesem fest-
gesetzten Betrage zu besolden ist.
Zum Schluss seien einige die Schulen be-
treffenden Ziffern mitgeteilt:
Der Staat unterhält 63 Lyceen, Gymnasien
und Mädchen - Mittelschulen. Privatmittelschulen
mit dem staatlichen Lehrprogramm gibt es 64,
desgleichen mit besonderem Programm 48. Die
ersteren zählen 1066 Lehrer, die letzteren 1297,
davon 980 Rumänen und 317 Fremde. Die staat-
lichen Mittelschulen werden von 15 000 Schülern
besucht, die privaten Mittelschulen von etwa 6000.
Li 64 Schulen mit staatlichem Programm verteilen
sich die Schüler wie folgt : Orthodoxe 2917; Katho-
liken 83; Protestanten 20; Juden 867; Ver-
schiedene 12.
Private Elementarschulen mit besonderem
Programm gibt es 77 mit 10 526 Schülern, davon :
3172 Orthodoxe, 1324Katholiken, 1260 Protestanten,
4729 Israeliten und 41 verschiedener Konfession.
Die privaten Elementarschulen mit staatlichem Lehr-
285
Mitteilungen der Alliance Isra^Kte Universelle: Die Israeliten Rumäniens.
286
plan belaufen sich auf 155 mit 11733 Schülern,
davon: 1645 Orthodoxe, 1442 Katholiken, 282 Pro-
testanten, 8352 Israeliten und 12 verschiedener
Konfession. Es gibt ausserdem 7 6 konfessionelle Asyle
mit 2658 israelitischen Schalem und 136 Schülern
anderer Konfession, femer 23 Kindergärten. In
den privaten Elementarschulen beträgt die Zahl der
Leh^r 1058, davon 433 Rumänen und 625 Fremde.
Bukarest umfasst 58 Institute besonderen
Charakters, 2 konfessionelle Asyle, 11 Kinder-
gärten, 45 Elementarschulen mit dem staatlichen
Lehrplan, 15 mit eigenem Lehrplan, 28 Mittel-
schulen mit dem staatlichen und 20 mit eigenem
Lehrplan. Jassy zählt 21 Privatinstitute, 36 konfes-
sioneUe Asyle, 81 Elementar-, 12 Mittelschulen,
1 Eindergarten. Die Gesamtzahl der Schüler aller
privaten Elementar- und Mittelschulen beträgt
29 630; davon sind orthodox 8000, kathoüsch 3000,
protestantisch 1600, jüdisch 16800 und ver-
schiedenen Bekenntnisses 230.
Bumänien und Bulgarien. Im Monat
November verbot die bulgmsche Regierung den
russischen Flüchtlingen und einigen romanischen
Juden den Zutritt zum Fürstentum. Zur Wieder-
vergeltung verschloss Bumänien seine Grenzen den
bulgarischen Juden. Welch schwere Störungen
durch diese Massregeln in den Handelsbeziehungen
zwischen Untertanen der beiden Länder hervor-
gemfen wurden, kann man sich leicht vorstellen.
Noch sind sie nicht beseitigt. Die bulgarische
Begierung hat ihre Verfügung zurückgenommen,
die mmänische hingegen beeilt sich nicht, hrer-
seits den entsprechenden Schritt zu tun.
Die Torkommnisse in Rumänien. In ver-
.schiedenen Beziiken Rnmäniens haben die wüsten
Hetzereien, von denen in dem oben mitgeteilten Bericht
an die Alliance Isra^lite Universelle die Rede gewesen
ist, die traurigen Früchte getragen. Auch hat die
Auspowerung der rumänischen Bauern durch die
rumänischen Bojaren eine revolutionäre Bewegung
hervorgeruten. Diese Bewegung richtet sich in der
Hauptsache gegen die rumänischen Grossgrundbesitzer,
die den rumänischen Bauer aufs äusserste bedrücken.
Selbstverständlich macht die Aufstandsbewegung nicht
gerade vor den jüdischen Türen halt, und so ist es
erklärlich, dass auch die Juden 'n den betreffenden
Bezirken zu leiden haben. Den antisemitischen Hetz-
aposteln ist es hier und da gelungen, die bäuerliche
Bewegung in das antisemitische Fahrwasser zu leiten.
Doch das sind nur Ausnahmeerscheinungen. In der
Hauptsache ist die rumänische Bauernbewegung gegen
Bedrückung durch die Grossgrundbesitzer gerichtet.
Die heuchlerischen Klagen über den „Landwirtschafbs-
Trust**, von dem in dem obigen Bericht an die Alliance
so viel die Rede ist, waren im vorhinein darauf be-
rechnet, die Bauemnot in einen Zusammenhang mit den
Juden Rumäniens zu bringen, denen doch sogar der
Aufenthalt auf dem flachen Lande in jeder Weise er-
schwert wird. Die jüdischen Pächter mussten diesem
Zweck dienen. Dass man gleichzeitig den Bojaren
Vorwürfe machte, weil sie jüdische Pächter und von
diesen hohe Pacht nahmen, war lediglich ein Mittel, für
die neue Judenhetze einen populären Vor wand zu finden.
In Rumänien braucht es nun kaum eines Vorwandes,
um eine Judenverfolgung hervorzurufen, und die
hungernden Bauern warteten keine wiederholte Ein«
ladung ab, sich an Juden und jüdischem Eigentum zu
vergreifen. Doch der rumänische Bauernaufstand ist
ein regelrechter Hungeraufstand gegen die Misswirt-
schaft der Bojaren, und der antisemitische Anstrich ist
äusserüches Beiwerk. Leider wird die Not unserer
Glaubensgenossen in Rumänien hierdurch nicht geringer.
Selbstverständlich haben die Alliance Iraelite UniverseUe
und die Jewish Colonisatiun Association durch ihre Ver-
treter in Rumänien ohne Verzug dafür gesorgt, dass
den jüdischen Flüchtlinsen und den am Ort ihrer Nieder-
lassung geschädigten Juden Hilfe zuteil werde.
DIE ALLIANCE ISRAELITE UNIVERSELLE UND
DIE PERSISCHEN JUDEN.
Der Präsident der Alliance Israölite Universelle,
Herr Narcisse Leven, hat am 12. Februar an den
französischen Minister des Auswärtigen nach-
stehendes Schreiben gerichtet:
Herr Minister!
Wir haben die Ehre, Ihre wohlwollende
Aufmerksamkeit auf die Lage hinzulenken, die
unseren Glaubensgenossen in Ispahan bereitet
worden ist. Ein Telegramm, das wir soeben von
dem Direktor unserer Schulen in dieser Stadt
erhalten haben, meldet uns, dass die Geistlichkeit
die Juden gezwungen hat, sich zum Tragen
xmterscheidender Gewänder und zum Verzicht
auf den Handel im Umherziehen zu verpflichten.
Zu jeder Zeit haben die Vertreter Frankreichs
in Persien sich bemüht, die Israeliten gegen
ähnliche Angriffe auf ihre Menschenwürde in
Schutz zu nehmen, und die Intervention der
französischen Vertretung bei der Regierung des
Schah ist stets wirksam gewesen und mit Ent-
gegenkommen aufgenommen worden. Wir würden
Ihnen zu tiefer Dankbarkeit verbunden sein,
wenn Sie die Güte haben wollten, möglichst auf
telegraphischem Wege der französischen Gesandt-
schaft in Teheran aufzugeben, dass sie bei den haupt-
städtischen Behörden die Rücknahme der gegen
die Israeliten von Ispahan erlassenen Befehle
erwirke. Wir richten diesen Apell an Ihren
Geist der Menschlichkeit und des Liberalismus
287 Mitteilungen der Alliance Isra^lite Universelle: Die AUiance Isra^lite Universelle und die persischen Juden. 2S
und sind überzeugt, dass Sie diesen durch Ge-
währung unseres Ersuchens aufs neue beweisen
werden.
Genehmigen Sie, Herr Minister, die Ver-
sicherung unserer Hochachtung.
Der Präsident
Narcisse Leven.
Hierauf ist folgende Antwort an Herrn Leven
gelangt:
REPUBLIQUE FRANCAISE.
Ministere des
affaires etrangeres
Paris, den 18. Februar 1907.
Geehrter Herr!
Durch einen Brief vom 12. Februar haben Sie
die Güte gehabt, mein^ Aufmerksamkeit auf ge-
wisse Verfolgungen zu lenken, denen Ilire
Glaubensgenossen in Ispahan von seilen der Orts-
geistlichkeit dieser Stadt ausgesetzt werden. In
diesem Schreiben drückten Sie mir zugleich den
Wunsch aus, dass die Gesandschaft der Republik
in Teheran bei den hauptstädtischen Behörden auf
die Rücknahme der gegen die Israeliten von
Ispahan erlassenen Verfügungen wirke.
Ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, dass
ich soeben unserm Gesandten in Persien tele-'
graphisch die Weisung habe zugehen lassen, er
möchte in dem von Ihnen angegebenen Sinne
bei der Regierung des Schah die erforderliche
Schritte tun, die, wie ich hoffe, wirksam sein
werden und im übrigen dem Geist der Menschlich-
keit und des Liberalismus der Regierung der
Republik entsprechen, an den Sie neuerding»
appelliert haben.
Empfangen Sie, geehrter Herr, die Ver-
sicherung meiner ausgezeichneten Hochachtung.
S. Pichon.
Der Präsident der Alliance Israölite Univer-
selle hat darauf von dem französischen Gesandten
in Teheran nachstehenden Brief erhalten:
Französische Gesandtschaft -p, , i^o w u tn/vrr
in Persien. Teheran, 23. Februar 1907.
Herr Präsident!
Ich habe das Telegramm empfangen, das Sie
am 11. d. M. an mich wegen der Bedrückungen
gerichtet haben, denen die israelitische Gemeinde
von Ispahan ausgesetzt gewesen ist.
Ich bin sofort bei Sadi Azam vorstellig ge-
worden, der deswegen alsbald ein Telegramm an
den Gouverneur von Ispahan geschickt hat. Ich
hoffe, dass die gegenwärtigen Schwierigkeiten
sich nicht allzu lange ausdehnen werden. Nach
den von dem englischen Konsulat .eingezogenen
Erkundigungen soll in Ispahan die Agitation
unter den Mollahs abermals zunehmen, die den
Juden das Recht zum Verkauf von Wein und
Branntwein und zum Handel im Umherziehen
bestreiten wollen.
Genehmigen Sie, Herr Präsident, die Ver-
sicherung meiner ausgezeichneten Hochachtung.
L. Descos.
An den Präsidenten
der Alliance Isra^lite Universelle
35 rue de Tr^vise
Paris.
BULGARIEN.
Gelegentlich des Hinscheidens der Prinzessin
Klementine, Mutter des Fürsten Ferdinand von
Bulgarien, hat das Central - Comit^ der Alliance
Isra^lite Universelle an den Fürsten ein Beileids-
Schreiben gerichtet, auf das folgende telegraphische
Antwort eingegangen ist:
Vienne, 28. Fövrier 1907.
Particulierement touch^ des condoleances que
vous m'offrez au nom du Comife Central de
l'Alliance Isra^lite Universelle ainsi que de
Texpression de vos sentiments de gratitude envers
les Id^s de tolerance et de justice que j'ai
toujours eu a coeur de mettre en pratique, je
vous adresse, a vous et aux membres du Comite
Central, mes plus sinceras remercimints.
Ferdinand.
(Tief gerührt durch die Beileidsbezeugung,
die Sie mir namens des Central -Comit^s der
Alhance Isra^lite Universelle übermitteln, wie
durch den Ausdruck Ihrer Dankbarkeit gegenüber
den Ideen der Toleranz und Gerechtigkeit, deren
Verwirklichung mir stets am Herzen gelegen
hat, sage ich Ihnen, wie den Mitgliedern des
CentralComitös meinen aufrichtigsten Dank.)
Druckfehler-Berichtigung. In unserer aus
Mannheim datierten Mitteilung Seite 216 der vorigen
Nummer sind eine Anzahl Druckfehler: Unser ver-
dienter Kollege Dr. jr. Günzburger ist in Offenburg
und nicht in Offenbach tätig, sein Heidelberger College
heisst nicht Schlössingar, sondein Schlössinger, unser
Freund Jonas Biedermann ist iü Gailingen» nicht
Garlingen, Herr Bezirksältester Josef Nordmann ist
in Lörrach, nicht in Börrach, Herr Julius Kaufmann
nicht in Badenberg, sondern in Ladenburg tätig. — Da
wir einmal bei den Druckfehlern sind, so woDen wir
noch bemerken, dass auf Seite 212 Zeile 4 von oben
nicht „einige" sondern „innige" Freundschaft zu lesen ist.
* ^ *
Berlchfs-Ergänzung. Herr Babbiner Dr. Frank
bittet uns, das P) otokoll der letzten Tagunpr der Deutschen
Conferenz-Gemeinschatt in Frankfurt a. M. dahin zu er-
gänzen, dass er die Erklärung abgegeben hat, er werde
vom 1. Januar 1908 an seine Tätigkeit in Alliance-
Angelegenheiten auf die Rheinprovitt^ beschränken.
HERMANN STRUCK OELOEMAHI.D
Grootpräsident
Justizrat Dr. Timendorfer.
PAULA LEVI :OE[.QEMAELDF_
Groaapraaident Julius Feuchcl.
HEfiMANN STRUCK OELQEMAEl.DE.
GrouprSsident
Sanititsrat Dr. Haretxki.
JUBILAEUMSFEIER DER LOOEN.
Am 17. März haben die Gro5slog:en lör Deutschland
und die Deutsche Reicbs-Loge daa Fest ihres 25jährl^n
Bestehens ^feiert. Die Deutsche Conferenz- Gemein-
schaft der AJliance Isra^lite Universelle hat an dem
Jabiläam der beiden wUrdis^en und hochverdienten
Logen den herzltcbEten Anteil ^nommen und durch
eine von Herrn Rabbiner Dt. Weisse geführte Depu-
tation die innigen GlfickwUnsche der Alliance Israi'ltte
Universelle zum Ausdruck bringen lassen. Unter
dem 19. März er. hat die Gros^-loge an die Deutsche
Conferenz-Gemeinschaft der Alliance Israi^lite Universelle
nachstehendes Schreiben gerichtet:
„Sehr geehrte Herren!
Es ist uns eine angenehme Pflicht, Ihnen
herzlichst zu danken fQr die Entsendnng Ihrer
werten Vertreter zu unserer Jubiläumsfeier am
17. d. M. und zu versichern, dass diese Ihre
Entsendung von uns als eine besondere Aus-
Nacbdnick verbolen.
Zeichnung angesehen wird. Wenn der Yeilanf
der Peter ein so würdiger gewesen, und auf alle
Anwesenden einen tiefen Eihdrack gemacht hat,
so hat hierzu Ihre Vertretung sehr wesentlich
beigetragen, dpnn hierdurch ist so recht zum
Ausdruck gekommen, wie unsere Ziele auch von
Ihnen gewürdigt und anerkannt werden. Wir
werden es zu allen Ziiiten als unsere Aufgabe
enichtcn, soweit unsere Kräfte reithen, auch Ihre
Bestrebungen zu fordern, und wir werden uns
aufrichtig freoen, wenn wir in die Lage kommen
werden, diese unsere Versicherung zu betätigen.
Mit vorzuglicher Hochachtung
Grossloge fttr Deutschland VIII V. 0. ». H.
gez. Timendorfer, D. Wolff,
Präsident. SekretSr."
Auch die Reichaloge hat in ähnlictier Weise ihrem
Dank Ausdruck gegeben.
BEZIRKS-RABBINER DR. SALVENDI-DUERKHEIM. »«.„,. „,^„
Grösser als der Geber selbst ist, wer zum Geben persiinlich und brieillich sie mahnen, als ein Apostel
veranlasst. — Sagt dieses hebräische Sprichwurt di<' der Mildtätigkeit sie an ihre Wohl tnnspfli cht ei-
Wahrheit, so darf l>r. Sulvendi für sieh in An- Innern and dem erwachenden Willen zur Hilfe die
Spruch nehmen, vor allen Philanthropen genannt zu rechten Wege weisen. Sein unermüdlifhes Mühen wiir
werden. Denn unzählige Hände nicht vergeblich. Als er vor jetzt
hat er geöffnet, dass sie dem Be- mehr denn vierzig .Tahren nncli
dürftigen Gaben darreichten. Wie DUrkheim kam, ourfasste sein
mit einem Zanberstab berührte er Bezirksrabbinat 36 Gemeinden,
die Herzen, und sie ttten sich weit eine stattliche Zahl. Doch diese
anf in lebendigem Mitgefühl, und 31 Gemeinden zusammen sind klein
das Mitgefühl setzte sich in im Vergleich zu der Riesen -
lebendige Hilfsbereitschaft um. gemeinde der Wohltäter, die er in
Kleine Gaben und grosse flogen allen Teilen des Deutschen lleiches
durch ihn zosannmen und bil- nnd Ober dessen Grenzen hinaus
deten einen starken Strom des herangezogen, zur Hilfs Willigkeit
Wohltuns, der werktätigen Bruder- erzogen, zu einer Armee von
liebe. Dabei sass er nicht an Kämpfern gegen jede Art von Not
einem der mächtigen Centren geworben, gewonnen und nnter
des Verkehrs, wo die Menge seine Fahne gewöhnt hat.
der Menschen und -die Fülle des Die Pflege der Wohltätigkeit
Reichtums beieinander wohnen. war sein Lebenswerk, die Aufgabe,
Nein, abseits von der viellw- der er sich roil eisernem Fleiss
wanderten Heerstrasse, im stillen widmete, der er mit unvergleich-
pfälzischen DUrkheim hatte er sein lieber Hingebung oblag. In den
Galehrtenheim aufgeschlagen. Die Dienst dieses Leben.iwerkes stellte
Menschen kamen nicht zu ihm — er ein ungewöhnliches oiT^anisa-
er musste zu dpp Menschen gehen, Dr. SalvendUDfirkheim. torisches Talent. Mit tadelloser
291
Mitteilungen der Alliance Israelite Universelle: Bezirks-Rabbiner Dr. Salvendi-Dürkheini.
292
Uebersichtlichkeit, in der kein Kaufmann ihn hätte tiber-
bieten können, legte er Rechenschaft über jeden Eingang
und seine besondere Bestimmung, sowie über die Verwen-
dung. Die Spender hatten die Möglichkeit, ihren Beitrag
zu verfolgen, bis er in seinen Zweck aufgegangen war.
Und die Zwecke waren mannigfachster Art, dem Willen
der Geber entsprechend. Freilich fügte sich oft der
Wille des Gebers nach dem Willen dessen, der die
Gabe veranlasst hatte, nach dem Willen Salvendis.
Für Tausende war Dr. Salvendi der Mittler und Leiter
bei der Erfüllung der Pflicht der Bruderliebe. Sein
pietätvolles Herz war dem alten Heimatlande der Judenheit
in unzerstörbarer Anhänglichkeit zugewandt, und das
machte ihn zum Führer der ungezählten Gesinnungs- und
Gefühlsgenossen. Ein Appell, der ans dem Heiligen
Lande kam, begegnete schon um seines Ursprungs
willen bei ihm zustimmendem Willen, und diesen über-
trug er auf die grosse Gemeinde seiner Mithelfer.
Es konnte gar nicht anders sein, als dass ein so
gearteter Mann zur Alliance Israelite Universlle ge-
hörte. Er musste ihr beitreten, denn er fand bei ihr
die Erfüllung des eigenen Strebens, die weltumfassende
Verwirklichung der Wünsche, die er im eigenen Herzen
hegte. Einen grossen Teil seines Lebenswerkes hat
er im Dienst der Alliance Israelite Universelle ver-
richtet, dem Werk der Alliance einen grossen Teil des
Ertrages gewidmet. Von Dürkheim in der Pfalz aus
hat Bezirksrabbiner T)r. Salvendi über eine Million
Mark, genau — bei dem musterhaften Verwalter kann
man den Pfennig angeben — Mark 1036476.— für
Wohltätigkeits- und Wohl fahrtsz wecke gesammelt.
Davon waren Mark 228620.— für die Alliance
Israelite Universelle, Mark 118000. — füi* ein Waisen-
haus in Jerusalem, Mark 100000,— für eine Kolonie-
Stiftung in Palästina, Mark 46800.— für den palästi-
nischen Hilfsverein Lemaan Zion, Mark 41900. — ' für
Armen Wohnungen in Jerusalem bestimmt.
Diese grosse Tätigkeit hat Dr. Salvendi in be-
scheidener Stille ausgeübt, ohne mit seiner Person je
Jiervorzutreten. Doch die ADiance Israelite Universelle,
in deren Central- Com ite er Sitz und Stimme hat, wusste
stets, was sie an ihm besass. Sie wusste, dass des
Mannes ganzes Herz ihr gehörte, weil es der Judenheit
gehörte. Und in der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft,
deren Mitglied er als Mitglied des Central-Comites ist,
hat er noch jüngst in Frankfurt am Main erfahren,
welches grosse Mass von Anerkennung und Verehrung
ihm gezollt wird.
Dr. Salvendi ist am 10. Januar 1837 in Waag-
Neustadtl in Ungarn geboren. Dort sowie auf den
Jeschiboth in Pressburg, Leipnik und Nikolsburg in
Mähren lag er gründlichen Talmudstudien ob, auf der
Universität Breslau studierte er 1858 bis 1862 Philo-
sophie. Er erlangte den Doktorgrad durch eine Disser-
tation über „Josef Kimchi und seine Werke**. Im
April 1864 kam er als Rabbiner nach Bereut in West-
preussen. Seit Dezember 1866 amtiert er als Bezirks-
rabbiner in Dürkheim. — Ad centum et viginti annos !
Frankfurt a« M. Unser verehrliches Mitglied
Herr Willy Stern hat dem hiesigen Lokal-Comite
der Alliance Israelite Universelle eine Spende von
1000 Mark übermittelt.
Pleschen hi Posen. In der Gemeinde Plescben
hat sich ein neues Ortskomitee für die Alliance Israelite
Universelle gebildet. An der Spitze steht der Gemeinde-
vorstand Herr Hermann Rosenbaum. Der jeweilige
Vorsteher der Gemeinde ist laut Vorstandsbeschluss der
Vertreter der Alliance. Unser immerwährendes Mit-
glied Herr Salo Geliert unterstüzt Herrn Rosenbaum
in dankenswei ter Weise.
Die verehrlichen Mitgliedery die auf regelmässige und pünktliche Zustellung
unseres Organs Wert legen, werden ersucht, Aenderungen ihrer Postadresse unver^
ztt^lich dem deutschen Bureau der A. L U., Berlin N. 24, Oranienburgerstrasse 42/43
mitzuteilen.
Alle für das Berliner Lokal -Comit6 der A* 1. U* und für das Deutsche Bureau der A. I. U. bestimmten
Geldsendungen beliebe man an den Schatzmeister
Herrn Benno Braun in Firma Joelsohn & BrOnn, Berlin C. 19, Hausvoigteiplatz 1 2
zu adressieren, eventuell durch Reichsbank-Girokonto der Firma Joelsohn & BrOnn zu überweisen.
Unter den soliden und bekanntesten Zigarrengeschkften Berlins sei dasjenige der Firma H. L. Rennert, Unter den Linden 54/55
hiermit bestens empfohlen, dasselbe wurde im Jahre 1849 gegründet und wird von Herrn Paul Rennert, dem Sohn des Begründers, unter den vom
Vater eingeführten, streng reellen Prinzipien geleitet. Genannte Firma unterhält in Hamburger und Bremer Marken der bekanntesten Fabrikanten,
sowie in echten Importen jeder Preislage, ein wohlassortiertes Lager, sodass jedem Qeschmack Rechnung getragen wird. Durch den directen Verkehr
mit der Havanna ist die Firma Rennert in der Lage, in echten Importen selbst die ventöhntesten Ansprüche zu befriedigen, hierbei dürfte es Fein-
schmeckern mit besonders verwöhnten Gaumen rn erfahren von Interesse sein, dass sich eine Marke, genannt ..Calixto Lorez", auf Lager befindet,
wovon die teuerste pro tausend 10,000 Mark, also pro Stück 10 Mark kostet. Aber auch in Zigaretten unterhält genannte Firma alle türkischen,
egytischen und russischen Marken, sowie ihre eigenen Fabrikate in allen Preislagen vorrätig. Schliesslich sei erwähnt, dass Preislisten auf Wunsch
gratis und franko von der Firma H. L. Rennert, Unter den Linden 54/55, versandt wcnien.
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Abonnemcattprclt f&r da* Jahr In D«utschland uad 0«»tarrelch Mark 7,— (Laxosaatgabe Mark 14,—)« für da* Ausland Mark 8—,
(Lnznsausf ab« Mark 16).
für RuMland ffanxjihrllch 4 Rubel. EInzelhefta k 35 Kop.
.V ..,- .-^ Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandes, durch alle Postämter des Deutschen «..^
■ Reiches unter No. 5786 a der Postzeitungsliste und durch die Expedition dieser Zeitschrift. ' ^'•~^
Anzeigen Mk. /.— die viergespaltene NonpareiUezeHe, grössere Anzeigen nach Tarif, bei Wiederholungen Rabatt.
Adresse für die geschäftliche Korrespondenz: Verlag „Ost und West'*, Berlin W. 8, Leipzigerstr. 31-32.
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Verantwortlicher Redakteur: Leo Winz, Berlin W. 15, Kncsebeckstr. 48/49. - Verlag Ost und West, Berlin W.8.
Druck von Haasenstein & Vogler A. O., Berlin S. 42, Wasserthorstr. 50.
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WelD0Foaabandlung
I J. Bourdonnay, St. Avold (uthr.)
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Herrorragendes Tafel- u. Gesundbeitswasser
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ligan, unb Ibie gelunbc I8tlebunn laiin
fialb nue nalürlf^e ftraitlgungg* unb
liunggflone tferbclfabren, ivle (le biirO]
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iche Erzeugnis:
und nuslande:
irösster PuswaH
laUSTRIERTE MONATSSCHRIFT
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FÜR DAS GESAMTE JUDENTUM
Herausgegeben und redigiert
von
LEO WINZ.
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Alle Rechte ▼orbehalten.
Heft 5. Mai 1907. TH. Jahrg.
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MW
DER AUFSTAND IN RUMAENIEN.
Von M. A. Klausner.
Nachdruck verboten.
Rumänien liegt zwar in „Halbasien^, aber
immerhin an der Grenze des europäischen Kultur-
und Verkehrsgebietes, so dass man annehmen dürfte,
die dortigen Vorgänge, die sich am lichten Tage
abspielen, könnten kein Geheimnis bilden. Neueste
Erfahrungen jedoch zeigen, dass man von Rumänien
ans mit Erfolg den Versuch machen kann, den
europäischen Zeitungsleser auch über die Natur
soldier Vorkommnisse zu täuschen, die sich in aller
Oeffentlichkeit vorbereitet haben, in aller Oeffent-
lichkeit erörtert worden sind.
Der rumänische Bauernaufstand, der jetzt mit
Waffengewalt niedergeschlagen worden ist, hat in
Rumänien nicht überrascht. Man hat dort sein
Werden und Heraufziehen beobachtet, hat in Senat
und Kammer von ihm gesprochen, und selbstver-
ständlich hat man nach Landesbrauch den Versuch
gemacht, die Schuld an den Zuständen, die die
bäuerliche Bevölkerung zu Raub und Gewalttat
trieben, den „Juden" zuzuweisen — die in einem
grossen Teil Rumäniens gamicht in ländlichen Ge-
meinden wohnen, in ganz Rumänien keinen Grund-
besitz erwerben dürfen, sogar als Gutspächter nur
ausnahmsweise zugelassen werden. Ohne jede Ver-
schleierung, erkennbar für jeden, der nicht frei-
willig auf den Gebrauch von Augen und Ohren
verzichtete, verhandelte man in den gesetzgebenden
Körperschaften Rumäniens darüber, wie man die
grossgrundbesitzende Bojarenschaft von dem Vor-
wurf, den rumänischen Bauer zur Verzweiflung
und zu Verzweiflungstaten getrieben zu haben, be-
freien und den „Juden", den „Fremden" als Prügel-
knaben einschieben könne. Aus den Reihen der
Lehrer und der Zöglinge der Hochschulen zogen
Wanderprediger aus, die dem Bauer eänreden wollten,
alle Bedrängnis schreibe sich von den Juden hei*,
und eine Judenverfolgung nach bessarabischem
Muster sei das gegebene Mittel, den Bauer aus
seiner Not zu eriösen. Der Jüdische Pächter"
habe alles Unheil verschuldet, denn — der jüdische
Pächter zahle hohe Pacht, und es liege auf der
Hand, dass hohe Pachtraten der Landwirtschaft
verderblich seien. Ganz leise wurde das Zuge-
ständnis gemacht, die Bojaren hätten insofern einen
Anteil an dem bösen Verhängnis, als sie die hohen
Angebote der jüdischen Pächter nicht zurückwiesen.
Aber auch für diese Sünde seien die Juden ver-
antwortlich, die die Bojaren durch schnödes Geld
verlockt und erkauft hätten.
Die Unwahrhaftigkeit dieser Behauptungen
war selbst für den rumänischen Bauer zu deutlich.
Er liess sich nicht auf die „Juden" ablenken,
sondern machte die bojarische Misswirtschaft durch
seinen Hungeraufstand europakundig.
Nur unter den westeuropäischen Juden fanden
die Bojaren Gläubige, nur unter den westeuro-
päischen Juden gab es naive Gemüter, die der
bojarischen Vorspiegelung trauten, das Märchen
von einer neuen Judenverfolgung in Rumänien
nacherzählten, und damit die Arbeit der Bojaren
nach deren Wunsch taten.
Freilich gab es insofern mildernde Umstände,
als man in Rumänien Judenverfolgungen nicht für
unmöglich oder auch nur für unwahrscheinlich
295
M. A. Klausner: Der Aufstand in Rumänien.
296
halten kann, und als der tatsächlich ausgebrochene
Bauernaufstand weder vor jQdischen Läden noch
vor den Häusern jüdischer Pächter respektvoll
Halt machte, so wenig wie vor den Besitzungen
des Königs Carol und der rumänischen Grossbojaren.
Trotzdem ist die Täuschung fast unbegreiflicli.
Die »Alliance Isra6lite Universelle" hatte aus
Rumänien während der ganzen Vorbereitungszeit
des Aufstandes ausführliche und zuverlässige Be-
richte, die auch in der Aprilnummer dieses Blattes
veröffentlicht worden sind. Wer unterrichtet sein
wollte, der war es. Auch hatte die Alliance im
Verein mit der Israelitischen Alliance in Wien,
ihrem Schwesterinstitut, alle erforderlichen Vor-
kehrungen getroffen, nicht minder die Aufmerksam-
keit derer, die es anging, auf die kommenden
Dinge gelenkt. Es bedurfte nicht der Erfahrungen,
die sie in fast halbhundertjähriger Tätigkeit ge-
sammelt hatte, damit sie sich sage: bei dem bevor-
stehenden Sturm werde es an Schädigungen jüdischen
Eigentums über den prozentualen Anteil hinaus
nicht fehlen, während bei der demnächstigen Ent-
schädigung die Juden Rumäniens kaum auf
ihren vollen Anteil kommen würden. Sie sah
auch eine Pluchtbewegung der Bedrohten voraus
und traf in der Stillle ihre Vorkehrungen. Sie
mobilisierte ihre Vertrauensmänner in Rumänien
und in den Grenzstaaten, namentlich in den bul-
garischen und österreichischen Grenzorten —
übrigens unter wohlwollendster Unterstützung und
Förderung von Seiten der österreichischen und
bulgarischen Behörden, die sofort die sonst geltenden
Vorschriften über die Grenzsperre aufhoben — und
als das Unheil da war, war auch schon die Hilfe
zur Hand, waren die Gelder für die augenblickliche
Hilfe angewiesen, die Mittel zur weiteren Hilfe
schon bereit
Bei alledem wurde klugerweise kein Wort
von einer Judenverfolgung verlautet. Denn es gab
keine Judenverfolgung in Rumänien im eigentlichen
Sinne, es gab nur eine allgemeine Landeskalamität,
unter der die Juden mit der übrigen Bevölkerung
zu leiden hatten! Das ändert an der Tatsache
nichts, dass in Rumänien die Juden seit dreissig
Jahren bedrückt und, entgegen feierlich vor Europa
abgegebenem Versprechen, von den natürlichsten
Rechten ausgeschlossen, durch ein System von gesetz-
geberischen Chikanen der unwürdigsten Behand-
lung planvoll unterworfen werden. Nur eben jetzt
war der Aufstand nicht gegen die Juden, sondern
gegen die Bojaren gerichtet, und diesen Bedrückern
der Juden half man, leistete man, unwissentlich
natürlich, Dienste, indem man die rumänischen
Juden als die Zielpunkte und damit, wenigstens in
gewissem Sinne, als die Anlassgeber des Aufstandes
hinstellte.
Gewiss ist der rumänische Bauernaufstand ein
Zeugnis rumänischer Misswirtschaft» Auf jüdischer
Seite hatte man aber nicht das geringste Interesse
— nur auf bojarischer Seite hatte man es und
machte daraus auch kein Hehl — die falsche Vor-
stellung zu unterstützen, dass der Bauernaufstand
in Rumänien der Ausdruck der Feindseligkeit sei,
den die bäuerliche Bevölkerung gegen die ru-
mänischen Juden empfinde. Unser Interesse ver-
langte vielmehr, dass wir vor Europa wiederholten
und laut verkündeten, was die Bojaren in Senat
und Deputiertenkammer, wo sie „unter sich" waren,
unumwunden eingestanden hatten. Unsere Sache
war es, die Signatarmächte des Berliner Vertrages
darauf hinzuweisen, dass die Bedrohung der öffent-
lichen Ordnung in Rumänien mit eine Folge ist
des fortgesetzten Rechtsbruchs, dessen Opfer unsere
Glaubensgenossen seit einem Menschenalter sind.
Die nämliche Politik ist es, die in Rumänien die
Judenbedrückung und die Bauembedrückung ge-
zeitigt hat, derselbe Faden wird in dem einen wie
in dem anderen Falle gesponnen, derselbe Faden
und dieselbe Nummer. Es wäre vielleicht nicht
einmal unbedingt nötig gewesen, die Signatar-
mächte des Berliner Vertrages ausdrücklich anzu-
gehen. Denn diesen ist die Entwickelung der
rumänischen Verhältnisse durch ihre Gesandten be-
kannt, ebenso bekannt wie der Alliance Isra^lite
Universelle. Unter allen Umständen ist das jetzt
der Fall.
Dass für unsere geschädigten rumänischen
Glaubensgenossen alles irgend Erforderliche ge-
schieht, ist selbstverständlich. Dafür sind die
Hilfsorganisationen da, vor allem die Alliance
Israölite Universelle, die für jeden ersten Anprall
in jedem Augenblick gerüstet und bereit ist. Ihre
Mobilmachungspläne sind immer fertig. Um so
weniger ist es erforderlich, nervöse Hast zu zeigen
und in noch so wohlgemeintem Eifer Alarmrufe
auszustossen, die Aufregung ohne Not verbreiten
undStöruDg in die vorhandene Hilfsorganisation tragen.
Wir sind, Gott sei es geklagt, in der Notwendigkeit,
uns für schlimme Fälle gerüstet zu halten, für weit
schlimmere, als deren Schauplatz Rumänien jüngst
gewesen ist. Wir müssen, Gott sei es geklagt,
immer an Möglichkeiten denken, die uns zwingen
können, unsere begünstigteren Glaubensgenossen
alle aufzurufen zu einem Landsturm der Wohltätig-
REOrNA MUNDLAK. Zur DCueii Heimat. ORIOINAL-ZEICHNUNQ.
"ir
299
M. A. Klausner: Der Aufstand In Rumänien.
300
keit, wo nicht mehr Spenden genügen, wo es der
Opfer bedarf. Fttr diese Möglichkeiten — deren
Verwirklichung nns dauernd femgehalten sein
mag — müssen wir das letzte Aufgebot aufsparen.
Sonst handeln wir unklug wie jener Führer, der
durch blinden Alarm die Wachsamkeit seiner
Scharen nicht schärfte, sondern einschläferte, so
dass der ernste Alarm die Ruhenden nicht weckte-
Auch der Apparat des politischen Appells
will nur mit Auswahl und unter vorsichtigster Ab-
wägung, aller Rücksichten in Bewegung gesetzt
sein. Der blinde Eifer — auch der von gutem
Herzen eingegebene — kann Schaden stiften und
stiftet ihn. Wer auf diesem Gebiet improvisieren
will, bringt es im besten Falle zu einer unfrei-
willigen Persiflage des Posatums, in der Regel
sogar zu schlimmerem Erfolg. Die schmerzvoll-
überlegene Posa-Pose vor einer innerlich ergriffenen
Versammlung mag ja für manches Gemüt unwider-
stehlichen Reiz haben — den Erfahrenen wird sie
nicht in Versuchung führen.
Bereit sein, ist Alles.
Wir müssen bereit sein. Doch dazu gehört
in erster Reihe, dass wir uns ruhig-nüchternes
urteil wahren, dass wir nicht in die Lärmtrompete
stossen, bloss weil unsere Feinde es wünschen.
Die AUiance Isra61ite Universelle hat zu ihren
vielen Verdiensten sich ein neues Verdienst er-
worben, indem sie die bojarischen Irreführungs-
versuche durchschaute und vereitelte. Ihr ist es
auch zu danken, dass unverztlglich gehörigen Ortes
bekannt wurde, wie das neue rumänische Ministerium,
in dieser Beziehung mit dem vorigen vollkommen
•
gesinnungseinig, die Folgen des Au&tandes zu aber-
maligem Rechtsbruch, zu abermaliger vexatorischer
Rechtsverktlrzung gegenüber unseren Glaubens-
genossen zu missbrauchen begonnen hat. Man weiss,
unter welchen Erschwerungen den Juden Rumäniens
gestattet wird, in ländlichen Bezirken sich nieder-
zulassen. Vor den aufständischen Bauern sind
begreiflicherweise unsere Glaubensgenossen —
übrigens mit der christlichen Bevölkerung — geflohen.
Nach Niederwerfung des Aufstandes kehrten sie
in ihre zerstörten Wohnungen zurück. Hier aber
mussten sie erfahren, dass ihre Flucht als Aufgeben
des Niederlassungsortes anzusehen sei, und sie
deshalb ihr Niederlassungsrecht verloren hätten!
In Vaslui allein sind hundert jüdische Familien
von dieser Justizverhöhnung im Namen des
Präfekten betroffen worden!
Jüdische rumänische Soldaten haben den
Bauernaufstand niederwerfen helfen. Hier ein Bei-
spiel, welchen Dank diese jüdischen Soldaten bei
der mit ihrem Beistand geretteten Regierung finden :
Bocia Avramescu, in Rumänien von rumänischen
Eltern geboren, Unteroffizier der Reserve, wurde
ausgewiesen, weil er angeblich bei einem Delikt
beteiligt war, und über die Grenze abgeschoben.
Der Gerechtigkeit der Richter vertrauend, kehrte
er nach Bukarest zurück und stellte sich in Haft.
Das Gericht erster Instanz sprach ihn mit der
Begründung frei, dass ein rumänischer Untertan,
welches Vergehen er sich auch habe zu Schulden
kommen lassen, nicht des Landes verwiesen werden-
könne. Der Staatsanwalt brachte die Sache vor
den Apellhof, und dieser verurteilte Avramescu zu
dreimonatlichem Gefängnis wegen Bannbruchs und zu
erneuter Ausweisung. Jetzt schwebt die Angelegen-
heit vor dem obersten Gericht, das das Urteil
zweiter Instanz nur unter Verleugnung des von ihm
früher erlassenen Spruchs, jede Ausweisung eines
rumänischen Untertanen sei gesetzwidrig, bestätigen
könnte. — Einzig von der Aufmerksamkeit Europas
kann die Wirkung erhofft werden, dass sich der oberste
Gerichtshof Rumäniens seiner eigenen frilheren Ent-
scheidung erinnert
Es ist begreiflich, dass sich unter solchen
Umständen in der jüdischen Bevölkerung Rumäniens
erneuter Auswanderungsdrang regt. — Unsere Leser
werden mit Befriedigung hören, dass die Jewish
Oolonisation Association die ganze Sorge für die Aus-
wanderung zu übernehmen sich bereit erklärt hat.
j
1.. LfeW-DHURMER
LUCIEN LEW-DHURMER
Von O. Kulna.
Voll frisclier Tatenlust, uiiboirrl in seinem Selbst-
vtTtrauen, sieht Levy-Dhurnier in der Pariser Kiinsller-
schaft, wie ein gesunder junger Sproß. Kritik und
Publikum haben ihm viel Beifall und Wohlwollen ge-
zeigt, das hat ihn ermutigt, beschwingt, hat seine
Schaffensfreude gestärkt. Die Persönlichkeit und die
Kunst L^vy-Dhurmers sind danach angetan, daU sie
/tistimmung fördert. Diese gesellige, liebenswürdige
Natur und die geschmackvolle, harmonisierende Kunst
verlangen nach freundschaftlicher Berührung der Außen-
welt. Haltung und Redeweise des Mannes, wie Kolorit
und FoPmbehandlung seiner Malerei sind so beschaffen,
als bieten sie jedermann freundschaftlichen Gruß und
Händedruck. Nichts Einsiedlerisches, Grüblerisches
darin, alles bietet sich sinnfällig dar, trägt die Zeichen
des Gemeingefühis und macht die Geste der Gastlich-
keit. Die feinste Qualität in den Werken ist eine frei-
heitliche, ungezwungene Allgemeingültigkeit.
Revolutionäre Neuheit, Umwertung der Form
findet sich in seinem Werke nicht; man bleibt auf ver-
trautem Boden, kann jenen Harmonien des Daseins
lauschen, die unmittelbar auf unsere Sinne wirken und
Wohlgefallen erwecken. Dem Impressionismus steht er
ganz fem, er malt nicht die Erscheinung um ihrer Form-
wirkung willen, sondern ,,um durch sie etwas auszu-
drücken, als Maler die Dinge betrachtend, doch nicht
als Maler allein". Eher kann man Anklänge an die
Kunst der Vergangenheit bei ihm finden, die, mit
modernem Geiste geziert, voll feinen Reizes sind. So
hat seine Farbe und Charakteristik etwas von dem
delikaten Charme Lionardos, an dessen leis bestrickendes
Lächeln und vielsinnigen, rätselhaften Augenglanz
mancher Kopf erinnert.
Das kann man an dem Porträt Georges
Rodenbachl im Luxemboui^ ersehen. In rätsel-
hafter Symbolik steigt der Kopf aus der BildflScIn-
O. Kutna: Lwcien Lfvy-Dhurmer.
304
heraus, fein^innt« Realität spiegelt sich darin, nahe
lind bertihrbar, und lockt uns doch ins Ferne, zu des
Menschendaseins Unergründlichkeiten. Voll Sprache
und Klarheit scheint die Menschlichkeit zu uns herüber
und ist doch verschwieffen und unerkannt, in welten-
rcmem Neuland. Das stille Stadtbild umschließt den
Hintergrund, Hoimstälten träumen darin, die Straßen
sind in Stille versenkt und halten den At«in an. Daraus
blickt der feine Dichterkopf, fragend und sinnend, als
ziehen die Mysterien seiner Dichtei^elt an seinem
Sehfeld vorüber. Die geistige Feinheit, die Mischung von
Reserve und Offenheit im Ausdruck, das leise Vibrieren
iu den etilen Formen erinnern an Köpfe Lionardos, die
delikate Schwermut, die skeptische Mystik geben den
/Qgen moderne Charakteristik innerhalb eigenartiger
Raumillusion.
Diese feine Analyse des Menschlichen, in der das
Wesen vielgestaltig und doch in Einheitlichkeit erschaut
ist, läQt das Vertraute und Phänomenale in reizvollem
Widerspruch sichtbar werden, wie „Gesten aus alten
/.eiten, die in der Haltung des Alltags regsam geblieben
nnd in der täglichen Berufsarbeit weiterdauem". Das
Geistreiche und Gemütvolle verbindet sich darin, Witz
und Sentiment tauchen ineinander und geben dem Bilde
die geistvoll dichterische Qualität, die der Franzose so
liebt. Die Kritik rühmte daher seiner Kunst nach, sie
^■el■eine ebensoviel Realität wie Traum, soviel Wahriieit
I.KVY-DHURMER
BctUcr in Spanien.
wie Phantasie und gebe allem poetischen Dasein
malerische Wirkung.
In dem Oeuvre Lö^-y-Dhurmers sind die Spuren dw
Entwicklung erkennbar, die er durchgemacht hat und
die bei seinem offenen Sinn für Weite und Wandel des
Lebens noch lange nicht ihr Ende gefunden hat. In der
Ausstellung in der Galerie Petit 1896, durch die er
das Interesse der Öffentlichkeit auf sich zog, zeigte er
liebenswürdigen Geschmack, abgetönten Realismus mit
einer Neigung zum Kunstgeist Italiens und zu der
Strömung literarischer Mysilk jener Zeit, in der „alle
Schönheit eingefaßt war von Mysterien". Dann kamen
wieder Reisen nach Nord und Süd, das Seemannsleben
der Holländer, die Märchenpracht Venedigs, das träge
Volkselend in Spanion, die Sonnenglut und das Sklaven-
dasoin afrikanischer Gestade wirkten auf seine Phantasie
ein, und zuletzt gab die Dreyfus- Affäre seinem ganzen
Schaffen die bewußt gestaltende Richtung. Die Leiden-
schaften, die da aufgewühlt wurden, die Schmach und
die Erlösung des Rechts ergriffen ihn stark, und seine
Kunst bekam inneriiche, tiefernste Züge, den Ausdruck
sozialen Empfindens. So schafft er heute unter Beein-
flussung dieser Gesinnung, der menschlich-sozialen
Gefühle, „für alle die da leiden". Und die Klärung, zu
der das künstlerische Element und das soziale Palhos
in seiner Kunst gelangen, werden seineReife bekunden.
Da sind seine „B l^i n d e n von Tanger"
im Luxemboui^. An sich ist die Fassung skizzenhaft, es
sind lauter Formen in der Fläche und keine hinreissende
Raumwirkung. Aber gerade darin liegt eine gewisse
.Steigerung; in diesem losen Ausschnitt, ohne greifbare
örtlichkeit, in der zufälligen .Anordnung ist eine starke
Eindringlichkeit. Die ganze Bildfläche ist gefüllt, die
Formen fließen ins Breite, und eben darum liegt auf dem
ganzen Bilde die Tragik, auf der ganzen Bildflache Blind-
heil. Keine Helligkeit dringt aus noch ein, alles spricht
von Blindheit. Eine dumpfe Einheit bilden diese drei,
die verschiedene Individualität tritt zurück, in gleichem
Daseinselend sind sie eins und dieselbe Blindheit liegt
auf allen dreien. Es sind zwei Mauren und ein Jude und
docli'sind sie dieselben, „das Unglück hat sie geeint", sagt
der Künstler. Wie ein Bündel Elend sind sie da, heraus-
gc^ften von irgendwoher, wo's mehrgibt. Allesdeutet
auf dieses mehr, pbt Hintergründe und erschreckende
Weite. So entstehen von der inneren Wirkung
aus Raumversenkung und Zusammenhänge nach außen
hin imd trotz der skizzenhaften Fassung ist eine weitaus
greifende Perspektive darin und tragische Allgemeinheit.
Von ähnlicher Wirkung sind die „D e 1 1 1 e r in
.S p a n i e n". Der ganze Winkel ist Betteln, als eine
Mauer st«hen sie da, bettelnd ; wie verankert sind sie in
der Ecke, seit langer Zeit dahin gebannt und können
nimmer daraus. Die Wirkung der Formen ist zeratück'l,
die Lichtverteilung dissonierend und trotzdem sind sie
einheitlich geschlossene Massen. Zusammengeballt zu
einem wirren Haufen, sind sie vom Bildraum eingepreßt :
keine Gestalt kann sich entwickeln, nur lauerndes Ver-
langen dringt daraus. Blicken und Tasten und aus- .
gestreckte Hände, starre, welke Hände, die nur zum
Betteln laugen. Die regen sich automalisch und der
Blick folgt stumpf und stierend ; darin leben sie, sind
sie Lehen, im übrigen wio Falloi)st aus den» Weg ge-
O. Kutna: Luden Levy-Dhurnier
L L^VY-DHURMER
Die Blinden von Tanger.
(MuKC du Luicnibourg.)
scharrt. Der eine gleich einem verdurstenden Hund, der
zv>-eite hager, wie ein morscher Stamm, die anderen wie
irgend ein nächtliches Gewimmer und alle~von Fäulnis
angefreeeen bis auf den letzten Rest.
Nicht ohne Beeinträchtigung durch diese Be-
handlung des Bildraumes ist die Wirkung hei der
„Mutter". Auch hier ist die Bildgrenze gelöst, die
Peripherie des Daseins nach außen verlegt; aber es ist
doch keine Weite darin, weil das Pathos stärker ist als
der Natureindruck. Die Einfachheit ist nicht absichtlits
genug, die großzügige Form nicht schlechthin organisch,
die weiträumige Körpcrhchkeit zu heroisch gesteigerl.
Mütterlichkeit, Schwermut und Versonnenheit gehen
wohl davon aus, wie eine dunkle Wolke steigt's in die
Bildhöhe und beschattet uns eine sinnende Weile. Man
denkt an Millet, dessen Formgefühl und Lebensan-
schauung hier ihren Einfluß geübt haben ; aber die tiefe,
allseitige Femwirkung Mitlcts fehlt, der Eindruck ist
nach vorn zu beengt ein Betrachtender ist vorausgesetzt.
Im vei^angenen Jahre wurde L6vy-Dhurmer durch
einen Staatsauftrag Gelegenheit gegeben, sein Können
auf dem Gebiete der Monumentalmalerei zu betätigen;
und er löste seine Aufgabe in dem Bilde ,,D e r
Richter" für das Palais de J ustice in origineller und
wirkungsvoller Weise. Der Richter sitzt da, sinnend,
grübelnd nach Recht und Gerechtigkeit suchend, ganz
Geist, ganz Ergriffenheit, ganz Schauer. Er soll Reiht
sprechen, soll allen gerecht werden und soll Schick.sal
sein für vieles Volk, Leid und Leidenschaft umgeben ihn-
Unschuld und Verbrechen, Not und Zwang umkreisen
seinen Richteistuhl, Augen und Seelen sind seines
Spruches gewärtig. Da halt er inne und blickt, von
Bangen durchzittert, nach dem rechten Weg in der
Möglichkeiten unendlicher Falle. Alles Licht strahlt
über ihm, und doch blickt er in Dunkel und Wirrnis und
bebt vor dem eigenen Spruch. Die Hand liegt auf dem
Buche des Rechts, daß ist seine einzige Stütze ; doch das
Gesetz ist begrenzt, durch bestimmt« Prägung beengt,
das Leben aber ist unendlich, unübersehbar wechselvoll.
Darum grübelt der Richter über das Gesetz hinaus, und
das Volk harrt um ihn in gespannter Erwartung.
Dumpf drängen sie heran und gellende Rufe ertönen;
Verzweifelnde ringen die Hände, Diebsvolk und Apachen
drohen voll Haß. Daraus sondern sich Einzelgestallen
und beleben in stärkerer Helligkeit die Silhouette der
Masse. Ein Weib verschränkt keck die Arme und wartet
in überlegenem Rechlsbewußtsein auf den Entscheid;
ein alter Skeptiker blickt in ironischer Gleichgültigkeit
um sich, eine junge Mutter sinnt sorgenvoll vor sich ihn,
ein Knabe schaut mit fragendem Rindesblick auf, und
das Kind am Boden spielt nichlsahriend mit der Puppe.
Die Typen und das Gebahren echt gallisch, echt
pariserisch; alles dem Leben der Straße entnommen,
unmittelbare Wirklichkeit und doch visionSr, voll
trivialer Züge im einzelnen und als ganzes doch
dichterisch verklärt, von idealem Hauch durchtränk!.
JUNO-HEBRAEISCHE LYRIK.
Von Samuel Meiseis.
Nicbdnick TCftwtei
Eine ganz neue Note brachte in die nenbebrälsche
Literatur Sani Tscheroichow&ki. Ein Scböoheits-
anbeter. Ein Jnde-HelleDe. Der erste hebräische
Lyriker, der mit Bacchus herumtollt, mit Aphrodite
liebäogelt nnd Apollo seine Haldi^n^n darbringe.
Aber beileibe kein Jude-Grieche, ähnlich den Jaden-
Oriechen zu Zeilen der HasmoLäer. Jene helleni-
sierten das Judeotuni, er jodatsiert das Hellenentnm.
— Karz, ein durch das Judentum wohltuend ge-
dämpfter Heilentsmns ; ein Schönheitshult ohne
überschüssige Ans^iel&ssenheit aad znr Entartung
führende Ausschweifung ... So gibt sieb ans
Tschemichowski- In einem reizenden Gedicht
„Vor einer Apollo-Statue" finden wir eine Art Yon
Olanbensbekenntnis des Dichters. „Ich kam zu
dir, du in Vergessenheit geratener Gatt, du Gntt
der Vorzeit, der die stürmischen Leidenschaften
jugendfrischer Menschenkioder beherrscht. Ich kam
zu dir, ich der Jude, der einen ewigen Kampf mit
dir gef&brt. Vor deiner Statue, dem Symbol des
I,eb<>uslichtes, sinke ich hin; ich knie vor dem
Leben, der Kraft, der Schönheit, vor allen
Herrlichkeiten der Natur!-* . . . Leben, Kraft, und
Schönheit, das sind die GOtter Tscbemichowskis.
Er \ergOttert die Natur und verherrlicht das Leben.
Statt des Gottes der Geister betet er an den Gott
dos Herzens.
Und dieser Naturanbeter geniesst die Schön-
heiten der Natur und besingt sie. Der Sang ist
ibm gegeben. Er singt „wie der Vogel singt."
Kr sucht keine Mysterien in der Natur; er ist kein
Sterndeuter; er belauscht nicht die Geheimnisse,
die die Winde einander zuraunen, er hört nicht die
Märchen, die die Wellen einander erzählen. Die
I.. LE\'V-DHL-R.MF-R
Georgea Rodenbach.
Natur, wie er sie sieht und wo er sie siebt, sei
es in den malerischen Gegenden der Krim, sei es
in der herrliclieu Umgebung am Neckarfiusse, das
ist sem Sloff. Er matt die Natur in abgetönten
Farben unl besingt sie in schmelzendem Kythmns
und klangvollem Heim. Als Beispiel möchte ich
hier sein stimmnngsToUes Gedicht „Der Abend"
anführen :
Von des Berges ROcken
Dunkle Schatten mcken,
Wälzen Dämm erstreiten in die Silberflut«n,
Und die Hasel trfiuineD,
Mond esst ramon säumen
Ihre Gipfel mit schimmernd weissen Glnten.
Sterne um die Hügel —
Zephirs sanfte PJQgel
Hört man, rauschend durch des Baches Felsenritzen,
Leis am Schilf erklingen . . .
Sieh — mit mächtgen f"chwio(ten
Fliegt der Adler aufwärts zu den Holkeaaitzen.
Freilich, dieses Gedicht erinnert an Mattbissons
Abendlandschaft
In der modernen deutschen Lyrik ist die
Matthissonsche „Naturempfindelei" ein — wie der
allgemeine Ansdnick lautet — Überwundener Stand-
punkt. In der junghebräischen Lyrik ffingt sie
erst an, und Tchernichowski ist der erste, der
dieser Empflndnngsart in einer „glUchlicben Wahl
harmonierender Bilder" Ausdruck leiht. Tschemi-
chowski braucht sich dessen nicht zu schämen.
Kfin Geringerer als Schiller hat das Naturempfindeu
Matthissous und seine Naturgemälde gepiiesen.
Tächernichowskis Lehrmeisterin ist die Natur.
Er verschmäht es, sich nach dem traditionellen
Brauch seiner Slammesgenossen aus den weiss-
schwarzen Weisheitsqnellen die Lehren
fürs Leben zu schöpfen. Man lernt
das Leben, indem man es lebt, aber
nicht, indem man es studiert. Ein mdir
vernünftiger als poetischer Standpunkt.
Aber er lässt sich in Poesie umsetzen.
Tschnichowskis Lebensbejahung ent
quillt einem starken Willen zum Leben,
einem angeborenen Bedürfnis nach
Schönheit und Kraft. Es ist eine Lust
zu sehen, wie dieser jüdische Apollu-
Verehrer sich frei und bew^^ch
hemmtummelt anf Flur und Feld, Htm
und Höh, überall lebengeniessend. Er
lässt nicht die Kümmernisse des Alltags
die reiueu Quellen seiner Heiterkeit
trüben. Der Schmerz beugt ihn eben-
sowenic: wie ihn der Lebensgenuss ver-
weichlicht. Immer aufrecht, immer
PARIS elastisch. Und wenn Augenblicke kom-
men, wo auch seine Seele trauert und
aurh in seiner Brust Wunden brennen.
Samuel Metseis: Junghebräische Lyrik.
weil er Hoffnungen wie Rosen im Winter welken
sieht, da fllidilet er in Uie Anne seiuer Lebr-
meisterin, da siiclit er jenen Ort auf.
Wo wild braus ende Wellen an mfiuhtge Felsen schlagen
Und er ruit selbstbewusst ans:
Ich miisa mich seh Urnen,
Seh ich wie die Felsen der Wellen spotten
Und Stolz die Häupter tr;^en.
TscheniicIinwRki liebt <]a<i Goldiand der Jiig:end,
das Lachen des FriÜilinüs mehr iih die glühenden
AuKeu seiner Geliebten, die zoweileu si-ine Seele
versengen, mehr als da.s Läclielu rosi-uiotei Lippen,
die miiunter süsses Gift verabreichen, nud wie ein
Gebet klinijeu seiue „Sehusüchte."
Geht mir meine Jupend wieder
Und des Ooldbnds Featpreloge
Und die I^eit der frohen Lit-der
Und des Kindes Uuschuldugel
entfacht die gluhnden Funken,
Die die ?lianta»ie bi^lehet,
Daas sie wieder, färbe nt ranken,
Zauberträume um mich webet
Gebt die Zeit mir ohne Porpo,
Mo ich Wimdeimärchen kannte,
Wo mich nni'h kein glühend Auge —
Sondern FrOliÜngssonne brannte.
Seine Liebeslieder sind leidenschaftlich gemessen
— mau »löchie fast sagen, von einer kenschen
Ao^elasseuheit. In der eisten Zeit dpj*JHirciidlichen l l£vy-DHURMER
Liebesraiiscbes äbenvu<'hert seine l'hantasie. Damalt
er das BiM seiner Geliebten nach uUzii bekanntem -
Muster. I 'as Allerbeste iiml Alleiscliönste, das er in der
grossen Schö|ilun(r votflndet. muss ihr als Sihmnck
dienen: ein Kütidel Mundscheiuslrnlilen, eine l'o-'is
weisse- Noidtiebt, ein Qnnntnm Rosendnft; dnrchrührt
mit Morjreniöte, ein Gementrsel von peclimben-
schwai'zer N.icht nnd hellichiem T»ig — hll das in die
ricbtigM Grenzen verteilt, eivibt, wie zu erwarten
war, ein übeiirdisches \Veseu.
Sieh. Berge und Tftler der Morgen erhellt,
In Bluten gebettet ist ringsum das Feld.
Die Weizentiaat dehnt sitii — ein träumendes Meet, -
Das Zweikorn das reckt sich so stolz und so hehr.
Und Winde, gelinde,
Bewegen et leis
Und du bist so mutlos, mein TäubchonI .
Und wie ein himmlisch Wesen, das Erdenkinder dauern.
Wie t-ine Edenbblume in faib-'tireichsier BlOic
Erschienst du mir — In Furclit und Wonneschauern
Verhallt' mein Antlitz ioh und — kniete
Znm Glück für den Dichter und die neu-
hebräisulie Lyrik ist diese Schwünnerei rasch ver-
schwunden. Tscheniichowski bat sich zum Meister
des Uiuneiresantres cnipoivescliwnniien l'ic Liebes-
lieder „Ueiueu Namen Ira^e ich auf FlUgeln des
Gesanges", „Von allen ßluinen im Giiiten",
„LiebcsbotPu", „An iliijnm" üben durch ihre
Einfachheit und Innigkeit einen unwidersfehiiclieD
Zauber ans. Ein Gedieht, diis die Eiugi-nart
Tschei'uicbowskis am bcsteu kennzeichnet, möge
hier in deutscher Uebertiaguug Platz finden:
„Und dn . . .■'
Unendliche WOlbimg in schimmernder Pracht
Das mßi'litige WeltuU umzAnnet. umdacht;
Unendlich das Liiltitieer, hl anfärben nnd klar.
Drin segelt dir Vftgel Irohsingeude Schar.
Und Himmclbläne
Spiegelt der Bach —
Und du bist so traurig, mein Täubchen!
Per Li'ben^nif mächtig und (reui)iij e.__
jier Lobeusquell muRchet durch Felder
Die niUmclein schlfli-fen erquickenden T.
Auf dem Gebiete der llalladc ist TFchernowski
in der jnn^fliobiüischcn Litenitiir geradezu balm-
brecliend Kr weiss doo richtigen Ton zu tnffen
und behandelt jlldiselie nie niclitjllilische Stoffe
mit gleielier Virtuosität. Seine ttalluden zeichnen
sii-li dnrch eine pii^nante Ausdruckswcise, einen
feingegliedeilen Slrophonban und im allgemeinen
durch eine mehr deut-che als liebraische Form-
gebung aus. — Täcliernicliowski ist anch ein
ausgezeichneter Uebeisetzer ans fremden Spiarhen.
Er hat (Jediclite von Anakieon, Longfeltow, Rubelt
Bums, Slielley. Alfred de Jlusset, Richard Dehniel
u. a. in.s Ilebräisclie tlbeiiragen. Mei^teihaft ist
seine Ueliersetzung des bik^innten Goet besehen
Liedes „Ueber allen Gipfelu". Dieses Lied ist
Samuel Mcisels; ■Jiingliebräische Lyrik
bereits mehrfach ins Hebräische (Ibertragen worden,
aber die EJebersetzung Tschernichowskis kommt dcu
Original am nächsten.
O'i wenn Du wundersam ruiisdio^it.
Versteh' ich das Wisiiei-jreheimnis
eiuer Fin-herzwpige,
Dieses Wort Goethes hat bis vor kurzem in
in der neuhebräischen Literatur weni^ Anklang
^funden. Was ist Liebe? Tändelei. Ein ei-nster
Mann ist nur ein Philosoph, ein Weisheitsliebcndsr.
Und als die allerjOngste Generation, an Goollie
und Heine gestärkt, Liebesweisen za dichten anfing,
entstand — eine Pressfeltde. Zuerst wurdo die
Frage aufgeworfen, ob man Dichter sein könne
ohne Liebe? Die einen bejahten, die andern ver-
neinten, und stürzten sich beide ins Unrecltt. Ein
angesehener hebräischer Sctiriftsteller wollle die
Liebe aus der modernen Poesie ausgeschaltot wissen,
weil dieses Gefühl, so mächtig es anch
im Menschen ist, sich fdr die Poesie
(iberiebt, ja weil die Liebe seit dem
Hohenliede bis auf Heine bereits die
ganze Skala der GefuhlstOne erscliSpft
hätte ; es sei jetzt nicht mehr gut möglicli,
nach dieser Richtung irgend etwas neues
hinzuzudichten . . . Diese Pressfehde
ist charakteristisch. Das ist noch ein
Ueberbleibsel der alten Beth-ha-midiasch-
Methode, selbst reine GefUblsmomente
und Fragen der Aesthetik mit einer
strengen Logik begründen zu wollen.
Die eigentlichen Liebessänger in der
neuhebr^schen Literatur sind 1. L. Ferez
und A. Liboschitzki. Perez ist ein
stimmungsreicher Poet, der die Gabe
besitzt, für die geheimsten Seelenvor-
gänge die richtigen Klangwerte zu finden.
Der Grundzug seiner Poesie ist geheime
Weiimut, die wie stille Andaclit ihre
Seufzer in die Luft haucht, Auch ein
Hauch von Mystik durchweht sie. Mit
sieiner kleinen Gedichtsammlung „Der
Liebespsalter" tritt er als der Schöpfer
des hebräischen Liedes auf, indem er
zeigt, wie man seiner dichterischen
Empfindung den entsprechenden musi-
kalisch -rythmischen Wortklang verleiiit.
Aus diesem BUchlein hat vor einigen
.Jahren Herr Moritz Zobel den Lieder-
Zyklus Die Palme ins Deutsche übersetzt.
Ich zitiere daraus die folgenden drei
Lieder :
Suhooe mein, Palme,
Mütterlich milde,
Armseliger Flüchtling hin iili,
'Tags zehrte die Sonne an mir,
.^henda nunmeiir erschijpft.
Such' ich die Hast deines Schiittens.
Matt ist meine ^ccle, mutt
lind Dir zu Füssen
Leg' ich mein glühend Ihiiiiit.
I'ein Schatten, Palme, liirgt Ziiiiher!
An l>eiaeni saftgrünen titamtn
^ fliH-indet mein Ungemach hin.
Mein Hera hegt Iriedvolle Klarheit,
Alle Wunden verharrsehen,
l'iid trauiimchöne Jiigendlioflniuig
Knvai'ht. schwingt sich empor -
Safr' mh*. o Palirie;
Wer ist der l>ichtstial»I.
I'ci' Wolkenüöre durchriss
Und eindrang in deine Zweiger
Ist wirklich der Moi^en schon da
Odei' hat dich der Mond bloss boj;!
Oder ist's gar der Jdnglings träum
■Der an die llerzkainnier pocht V
. LfA'V-DlIl'R.MER
313
Samuel Meiseis: Junghebräische Lyrik.
314
Liboschitzki ahmt mit nicht geringem Geschick
Heinrieh Heine nach und verpflanzt somit den
graziösen Stil, den einfachen Strophenbau und den
melodischen Reim in die neuhebräische L3rrik.
tlierin liegt Liboschitzkis Stärke. Er ist ent-
schieden ein schätzenswertes Talent, für die neu-
hebräische Literatur doppelt wert, und man tut
ihm Unrecht, wenn man ihn zu verkleinem sucht.
Es hat sich in letzter Zeit in der hebräischen
Literatur eine kleine Partei gebildet, die jede Nach-
ahmung verpönt. Das bekundet wenig Ver-
ständnis för die Entwicklung einer Literatur. Die
Nachahmung ist lör eine Literatur, die sich im
Anfangsstadium ihrer Entwicklung befindet, eine
Notwendigkeit. In der deutschen Literatur ist der
Kampf gegen die Nachahmung erst mit Lessing
aufgenommen worden. Die junghebräische Literatur
ist noch nicht so weit, sie hat noch keinen Lessing
hervorgebracht. Und im Grunde genommen ist
die höchstentwickelte Literatur nicht frei von
Nachahmungen. Wie Handelsbeziehungen gibts
auch (ieistesbeziehungen zwischen den Völkerrf.
Auch geistige Werte, die ich in meiner Heimat
nicht finde, müssen von draussen importiert werden.
Abgrenzung ist kulturhemmend auf jedem Gebiet.
*
*
Von andern altem und jungem neuhebrä-
ischen Lyrikern wären zu erwähnen : David Frisch-
mann, ein Einsamer, der nur mit „dem Qott in
seinem Herzen" durch die Welt wandert. — S.
L. Gordon, ein Verskünstler, der Kraltausdrücke
liebt urtd harte Reime bevorzugt. Einer aus der
allen Schule, der sich mit jedem Tage verjüngt.
-- Jakob Kohen und J L. Boruchovitz, Jünger
Bialiks, die ihrem Meister Ehre machen. — S.
Schneeur, ein nicht ungewöhnliches Talent, dessen
Gedichte sich durch Einfachheit und Anmut aus-
zeichnen. — Ausser diesen ist noch eine Reihe
von junghebräisclien Lyrikern vorhanden, die teils
einige Striche über, teils aber auch unter der
Mittelraässigkeit stehen.
BEIM DOKTOR. Nachdruck verboten
Monolog von Scholem Alechem. — Dem Jüdisch-Deutschen nachgebildet von Samuel Meiseis.
Hören Sie mir nur zu, Herr Doktor, ich bitte Sie
darum. Meine zerrültele (Gesundheit spricht aus mir.
Aber davon später. Meine zerrüttete Gesundheit ist
oben eine ganz besondere Sache, und ich werde Sie auf-
klären, wie sie gekommen ist, wie sie entstanden ist,
und worin sie besteht. Aber das ist nicht der Zweek
meines Redens; der Zweck meines Redens ist, daß Sie
mir zuhören. — Nicht jeder Doktor will dem Kranken
zuhören, nicht jeder läßt zu sich reden. Vorhanden
Doktoren, große Doktoren — ein reines Unglück ! —
die lassen gar nicht zu sich reden. Die verstehen nur
den Puls zu fühlen, auf die Uhr zu sehen, ein Rezept
zu verschreiben, und sich für die Visite bezahlen zu
lassen. Nu, bezahlen, — meinetwegen, es verlangt
doch keiner umsonst — aber nicht zu sich reden lassen,
das ist schrecklich Von Ihnen, Herr Doktor,
hörte ich sagen, Sie sind noch ein junger Doktor, und
nicht wie die anderen Doktoren .... Auf einen
Rubel mehr oder weniger, sagt man, kommts Ihnen
nicht an, wie den anderen Doktoren. Deswegen, sag
ich, bin ich auch zu Ihnen gekommen, um mich mit
Ihnen zu beraten wegen meines Magens. Ich bin,
wie Sie mich sehen, ein Mensch mit einem Magen.
An sich ist das noch nicht sonderbares. Nach der Weis-
heit der „Doktorei" hat ja jeder Mensch einen Magen.
Nur ist es eine ganz andere Sache, wenn der Magen
wirkhch ein Magen ist; wenn aber der Magen gar
kein Magen ist, wozu nützt das Leben? — — —
Werden Sie wahrscheinlich antworten mit dem be-
kannten Spruch unserer lalmudischen Weisen: ,,Du
bist gezwungen, zu leben." Nu, diesen Spruch kenne
ich auch ohne Sie, das brauchen Sie mir nicht zu sagen.
Was ich weiß, weiß ich eben .... Ich rede nur
von dem, daß der Mensch, solange er lebt, nicht sterben
will. Die Wahrheit gesprochen: ich selbst fürehte
mich nicht im geringsten vor dem Tod, denn erstens
habe ich bereits die sechzig übei'schritten, und zweitens
bin ich von Natur aus so ein Mensch, dem leben und
sterben dei'selbe Jontew*) ist, das heißt, leben ist
selbstvei*ständlich gescheiter als sterben .....
Welcher Mensch will denn sterben ? Überhaupt ein
Jüd ? Überhaupt ein Vater von elf Kindern, sollen
gesund sein, und einer Frau dazu! Zwar die dritte
Frau, aber doch eine Frau . . . Kurz, ich will Sie
nicht lange aufhalten. Ich bin ein Kamenetzer, das
heißt, ich stamme nicht aus Kamenetz selbst, aber
aus einem Städtchen unweit Kamenetz. Bin ich ein
Kamenetzer, soweit wäre die Sache noch kein großes
Unglück, bin ich aber noch dazu ein Jüd, ein Mühlen-
besitzer . . . Ich halte eine Mühle, das heißt, die Mühle
hält mich. Denn, wie heisst es: ist man mal hinein-
gekrochen, so muß man darin liegen bleiben. Es hilft
nichts. Es ist — verstehen Sie mich — ein Rad, und
das Rad dreht sich. Bedenken Sie selbst: für den
Weizen muß man zahlen, und das Mehl muß man auf
Kredit liefern! Aber, wie gesagt, das geniert mich
weniger. Hat man noch dazu mit ungeschlachten
Menschen zu tun, mit Frauenzimmern .... Lieben
Sie etwa die Frauenzimmer? Na, ich danke, ver-
suchen Sie es nur, mit ihnen einmal abzurechnen, da
werden Sie was schönes zu hören kriegen: Was
heißt? Wofür dies? Wofür jenes? Bald ist das
Mehl schwarz, bald war das Weißbrot nicht schmack-
haft genug .... Versuchen Sie es mal, sich zu ver-
teidigen : Trage ich die Schuld ? Wahrscheinlich war
der Ofen schlecht geheizt, wahrscheinlich habt Ihr
schlechte Hefe hineingegeben, wahrscheinlich habt
Ihr nasses Holz in den Ofen gesteckt — da überfallen
sie einen wie die Räuber, schimpfen und fluchen und
schwören, daß sie euch nächstes Mal das Brot an deri
*) Keiertatr.
315
Scholem Alechem: ßeim Doktor.
316
Kopf werfen .... Nun, ich frage Sie, ist es etwa an-
genehm, wenn einem so ein Laib Brot an den Kopf
fliegt? Das sind, wie gesagt, meine Endät€ul- Kunden.
Glauben Sie etwa, daß meine Engros-Kunden besser
sind? 1, bewahre! Die sind auch nicht besser! An-
fangs, wenn der Kunde sich einen Kredit verschaffen
möchte, ist er weich wie Butter, hat tausenderlei
Schmeicheleien und Komplimente zur Hand; kaum
aber rückt der Zahlungstermin heran, da ist er nicht
wiederzuerkennen. Da führt er ganz andere Redens-
arten: Die Ware sei zu spät geliefert worden, die Säcke
seien halb zerrissen gewesen, und das Mehl verdiente
gar nicht den Namen Mehl .... Solche Sachen er-
zählt er Ihnen, — achtzehn Fehler und siebenund-
zwanzig Ausflüchte .... „Und Geld?" — Geld,
sagt er, schickt eine Rechnung! Schickt man eine
Rechnung, sagt er: „Morgen!" Kommt man morgen
— „übermorgen!" Da fängt man an zu drohen.
Schließlich kommt es zu einer Pfändung. Kommt
man pfänden, gehört alles der Frau. Jetzt geh und tu
ihm was! .... Nu, frage ich Sie, bei solchen Geschäften,
wie soll man keinen „Magen" haben ? Nicht umsonst
sagt mir meine Frau — sie ist bei mir nicht die erste,
die dritte ist sie, und die tlritte Frau ist doch, wie man
sagt, die Sonne, im September, aber ^vx)n sich weisen
kann man sie doch nicht, doch eine Frau. — Also meine
Frau sagt mir immer: „Chajim, laß die Geschäfte!
Laß das Mehlgeschäft, sollen deine Feinde schon Mehl-
geschäfte haben! soll die Mühle verbrannt werden!
werde ich wenigstens wissen, daß du lebst auf der Welt.
Was für Leben ist das ? Laufst herum wie ein Wilder,
kein Schabbes, kein Jontew, kein Weib, kein Kind . . .
Was hast du von deinem Leben? Wofür laufst du?
Wozu laufst du ? . . . . " Eigentlich weiß ich selbst
nicht, wozu ich den ganzen Tag in der Stadt herum-
laufe .... Es ist halt so eine alte Gewohnheit bei mir.
Glauben Sie etwa, man hat was von dieser ewigen
Lauferei ? ' — Leid hat man, und Ärgernisse und
Kränkungen und Aufregungen und Gott weiß was
alles noch ! . . . . Aber ich bin nun einmal so ein Mensch,
der jedes Geschäft, das sich ihm darbietet, in die Hand
nimmt. Für mich existiert nämhch kein schlechter
Schnaps. Ein Handel mit Säcken — meinet-
wegen; mit Holz — meinetwegen ; mit Eisen — meinet-
wegen .... Sie glauben wahrscheinlich, Herr Doktor,
ich habe außer der Mühle keine Geschäfte mehr ? Da
befinden Sie sich aber stark im Irrtum. Wie Sie mich
sehen, handle ich auch mit Waldungen, zusammen
mit einem anderen, heißt es. Außerdem bin ich auch
am „Akzis" beteiligt. Ich wünsche Ihnen, das jeden
Monat zu verdienen — Schlechtes wünsch ich Ihnen
osser*) — was ich^an diesem Geschäft jährlich
verliere. Sie werden wahrscheinlich fragen: wozu
brauche ich das? Nu, soll sich „Kohol" ärgern! Wie
Sie mich sehen, bin ich ein großer Draufgänger. Wo
es gilt, einen Sieg zu erringen, kann meinetwegen die
ganze Stadt zugrunde gehen und ganz „Kohol" be-
graben werden — ich muß das meinige ausführen! Ich
bin eigentlich, wie Sie mich sehen, von Natur aus
kein schlechter Mensch, nur „kapriziös", heißt es.
Versuchen Sie es mal, mich zu beleidigen, meine Ehre
anzutasten, so sind Sie mit Ihrem Leben nicht sicher! . .
*/ bestimmt nicht.
Was kann ich machen? Es ist so ein Blut in mir.
Nerven, sagen sie, die Doktoren nämlich, und dies,
sagen sie, steht auch mit meinem Magen im Zu-
sammenhange .... Zwar der einfache Menschen-
verstand kann das nicht begreifen; es ist auch, ver-
zeihen Sie, ein wenig Unsinn darin. Denn was haben
die Nerven mit dem Magen zu schaffen? Nerven
sind Nerven, und Magen ist Magen. Wo sind die
Nerven? Und wo ist der Magen? Die Nerven sind
doch, nicht wahr? nicht weit vom Gehirn . . . .Und
der Magen wo ist? . . . . Von den Nerven bis zum
Magen — na, ich danke — eine schöne Strecke! Aber
sie, die Doktoren, mein ich, sagen, daß mein „Magen'*
kommt von den Nerven . . . Meinetwegen, soll sein
so ... . Augenblick nur, ich bin bald zu Ende. Wozu
die Eir? Warten Sie doch noch eine Sekunde! Ich
will Ihnen doch alles „akkurat" erzählen, damit Sie
dann sagen, wie ich zu diesem Unglück, meinem Magen
nämlich, gekommen bin .... V ellecht kommt es
daher, weil ich so ein unstetes Leben habe, weil ich
nie zu Hause bin. Ich schwör Ihnen — 's ist eine
Schande zu sagen -^ daß, wenn ich bei mir zu Hause
bin, so bin ich doch nicht zu Hause. Ich wollte, daß'
Sie mal in meine Wohnung einen Blick tun. Ein Schiff
ohne Ruder! Tag und Nacht ein Getümmel und Getöse,
Gott soll hüten! Ist leicht gesagt, unbeschrien
elf Kinder! Das eine ißt, das andere trinkt, das dritte
betet, das vierte schläft, das sechste frißt Ku3hen,
das siebente einen Hering. Wer kann das alles auf-
zählen? Zwischen solchem Kleinkram, unbeschrien,
gibts, wie gesagt, ein Zanken und Streiten, ein wirres
Durcheinander, daß man am liebsten in die Welt laufen
möchte. Und weshalb, meinen Sie, ist ein solches
Getobe und Getöse in meinem Hause ? Nur weil ich
keine Zeit habe. Hätte ich Zeit, da war es selbst-
verständlich anders. Sie, meine Frau nämlich, ist un-
beschrien sehr eine gute Frau; das heißt, sie^ist nicht so
gut, aber sie ist sehr weichherzig, und weiß nicht, wie
mit Kindern umzugehen. Das heißt, schimpfen kann
sie, tadeln, schelten, Ohrfeigen austeilen, aber was
nützt es ? Doch eine Mutter ! und was eine Mutter ist,
ist noch lange kein Vater .... Ein Vater, das ist
ganz was anderes, der kann prügeln, und das auf der
richtigen Stelle .... Ich erinnere mich noch jetzt,
wie mich mein Vater zu prügeln pflegte .... Ihr
Vater hat S e wahrscheinlich auch geprügelt. Nu,
nein, er hat Sie nicht geprügelt! .... Glauben Sie
etwa, es wäre für Sie besser gewesen, wenn Sie nicht
geprügelt worden wären? I, bewahre! Das tut den
Kindern ganz gut. Wozu die Eil' ? Ich
bin bald fertig. Ich erzähl Ihnen das doch nicht
umsonst! Der Zweck meines Redens ist, daß Sie ver-
stehen sollen die Art, wie ich lebe. Glauben Sie, daß
ich weiß, wie viel ich in meinem Vermögen habe?
Keine Spur! Möglich, daß ich reich bin, sehr reich,
und möglich — unter uns gesprochen, Sie crzählens
doch niemand — daß ich gar nichts besitze. Wie soll
ich denn das wissen ? Jeden Tag kommt etwas anderes,
bald dies, bald jenes .... Ob man kann oder nicht,
das ist ganz egal — Mitgift geben den Kindern muB
man ! Ist leicht gesagt, wenn Gott segnet mit
Töchtern, und erwachsenen dazu! Nu, versuchen Sie
es mal mit drei erwachsenen Töchtern, unbeschrien«
alle unter die Chuppe zu führen, da werden wir gleick
317
Scholem Alechem: Beim Doktor.
318
sehen, ob Sie werden sich zuhause eine Stunde auf-
halten können! Jetzt verstehen Sie schon, weshalb
ich den ganzen Tag auf der Gaß herumlaufe. Und
was hat man davon ? Bald erkältet man sich, bald ißt
man etwas, was schwer zu verdauen ist — und auf
diese Weise bekomm! man einen „Magen"
Ein Stück Masel*) hab ich doch, daß ich von Natur aus
kein kränklicher Mensch bin; im Gegenteil, von Jugend
auf gut gepflegt .... Daß ich so spindeldürr und ein-
getrocknet aussehe, darauf brauchen Sie nicht zu
schauen. Die Geschäfte haben mich so gemacht, und
beiläufig entstamme ich einer solchen Familie. Ich
hatte etliche Brüder, die, mir zu langem Jahren, auch
so schmächtig gewachsen waren wie ich. Nichts-
destoweniger bin ich, wie Sie mich sehen, immer ein
gesunder Mensch gewesen; ich hab nicht gewußt von
einem Magen, und von einem Doktor und von ähn-
lichen Unglücken .... Wenn es nur so weiter
gegangen wäre! Aber seit einer Zeit hab ich
angefangen, mich mit Arzneien zu füttern: Pillen,
Pulver, Kräuter. — Jeder Doktor kam mit einer andern
Erfindung; der eine sagte: Diät, das heißt, wenig essen;
der zweite sagte: im Gegenteil, viel essen! Wahr-
scheinlich gehörte dieser Doktor selbst zu den Leuten,
die viel essen können. So sind ja die Doktoren : was sie
selbst gerne haben, das verordnen sie dem Kranken . . .
Einfach meschupge zu werden! Der eine Doktor sagte:
viel gehen, das heißt, verstehen Sie mich, ^hen ohne
Zweck, ohne Ziel, Spazieren, heißt es ... . Kommt
der zweite Doktor und sagt: Sie müssen im Bett liegen
and Ruhe haben. Und nun geh und unterscheide, wer
von beiden der größere Chamer**) ist? — Was brauchen
Sie mehr? Da war ein Doktor, der fütterte mich ein
ganzes Jahr mit Pillen .... Geh ich zum andern;
sagt er: diese Pillen, Gott soll Sie hüten, das ist für
Sie Gift .... Und er verschreibt mir ein Pulver,
ein gelbes Pulver war es. Sie werden doch wissen, was
für ein Pulver das war! Ich komme mit diesem Pulver
zu einem dritten Doktor, schüttet er das Pulver aus,
zerreißt das Rezept und verschreibt mir Kräuter.
Was für Kräuter, glauben Sie, waren das? Bitter
wie Galle! Nu, Sie kennen sich denken, gebenscht
hab ich diesen Doktor nicht für seine Kräuter ....
Und was war das Ende von alledem? Ich komm
wieder zu jenem Doktor, zum ersten, heißt es, der mich
ein Jahr lang mit Pillen gefüttert hat, und erzähl'
ihm die Geschichte von den bittem Kräutern, die
mir das Leben verbittern. Da springt er auf voll Zorn
und lärmt und schreit: „Ich hab doch Ihnen ver-
schrieben, sagt er, Pillen, und wozu laufen Sie wie
ein Verrückter von emem Doktor zum andern!"
♦) Glück. *♦) Esel.
Darauf sag' ich: „Scha! Nur ruhig! Was schreien
Sie? Wir sind doch hier nicht auf einem Jahrmarkt!
Einen Kontrakt haben wir auch nicht gegenseitig
imterschrieben. Ich kann gehen, wohin ich will,
und jener Doktor braucht auch zu leben, er hat auch
Weib und Kind! . . . ." Da gings aber erst los.
Er, der Doktor, ^'urde rot wie Feuer, als ob ich
ihm Gott weiß was gesagt hätte .... Kurz, er bat
mich, daß ich wieder zu jenem Doktor gehen soD.
Da sag ich: „Eizes*) brauch ich nicht; wenn ich
werde wollen, werde ich von selbst hingehen" . . . Ich
nehm und leg ihm hin einen Rubel. Glauben Sie
etwa, daß er mir den Rubel vor die Füße geschmissen
hat? Keine Spur! Rubel lieben sie, die Doktoren
nämlich, Rubel heben sie mehr als uns arme Menschen.
Daß sie sich zum Beispiel hinsetzen, um dem Kranken
zuzuhören, wie sichs gebührt — das gibts einfach bei
ihnen nicht. Sie lassen kein überflüssiges Wort zu
sich reden .... Da war ich erst unlängst bd einem
Doktor — er ist. ein Bekannter von Ihnen, den Namen
will ich nicht nSmen — wie ich hereinkomme, läßt
er mich keine zwei Worte aussprechen, sondern er
befiehlt mir, mit Respekt zu melden, „ausziehen!'*
Nu, ausziehen ist ausziehen. Was ist? Er will,
sagt er, „hören" .... Willst hören? sag ich. Sehr
gut! Hör mir nur zu, ich bin bereit, dir alles zu er-
zählen . . . . Aber der läßt mich nicht zu Wort kommen,
er tappt hier und klopft dort. Nu, sag ich, wozu
tappst du, und wozu klopfst du? Nein, sagt er, ich
hab keine Zeit, mit Ihnen zu debattieren.
Eine neue Mode geworden, daß die Doktoren keine
Zeit haben! Was? Sie haben auch keine
2^it? Na, hören Sie, was ich Ihnen sagen werde:
wenn Sie, ein junger Doktor, so jung anfangen, keine
Zeit zu haben, dann bekommen Sie nie eine „Praxis" . .
Sie brauchen nicht aufgeregt zu werden. Ich verlange
nicht von Ihnen umsonst .... Ich bin gar nicht so
ein Jüd, der, Gott behüte, etwas umsonst verlangen
soll. Und wenn Sie mir auch nicht bis zum Schluß
haben zuhören wollen, so hat eins mit dem andern
nichts zu tun. Für eine Visite muß bezahlt werden . . .
Was? Sie wollen nicht annehmen? .... Zwingen
werde ich Sie nicht. Zu solchen Sachen zwingt man
nicht . . . .Wahrscheinlich haben Sie auch so, wovon
zu leben .... Wahrscheinlich leben Sie von
Renten .... Soll Ihnen Gott geben, daß Ihr
Kapital wachsen soll, wachsen und wachsen, warum
denn nicht? Soll Ihnen Gott helfen .... Adieu!
Nehmen Sie mirs nicht übel, daß ich Ihre Zeit ein
wenig in Anspruch genommen habe .... Darauf
sind Sie ja ein Doktor ....
*) Ratschläge.
DIE OSTJUEDISCHE PRESSE.
Von Josef Lin.
Nachdruck metlNMen
In der Presse der östlichen Judenheit sind im
letzten Halbjahrzehnt größere Umgestaltungen vor sich
gegangen. Das wichtigste Moment dabei ist das Auf-
treten der Jargonpresse, die in der kurzen Zeitspanne
eine erstaunliche Ausdehnung und Verbreitung ge-
funden hat. Bis zu Beginn dieses Jahrhunderts be-
herrschte das Hebräische fast ausschUeßhch die ost-
jüdische Zeitungswelt. Die neuhebräische Presse,
deren Geschichte seit dem Entstehen der hebräischen
Wochenschrift „Hamagid" in Lyck, im Jahre 1858,
datiert, tibte einen großen Einfluß aus auf die Er-
ziehung und geistige Entwicklung der jungen Ghetto-
319
Josef Lin: Die ostjüdische Presse.
320
generation. Die Eigentümlichkeit dieser Presse war,
daß sie in hohem Maße literarischen, zum
Teil sogar wissenschaftlichen Charakter trug.
So hatten die Mathematik und die Naturwissenschaften
einen ständigen Platz in der von Ch. S. Slonimsky
begründeten, zuerst in Berlin und dann in Warschau
erschienenen hebräischen Wochenschrift „Hazephirah".
Wie rege zu jener Zeit das Interesse des hebräischen
Lesepublikums für die genannton Wissenschaften war,
geht daraus hervor, daß in der erwähnten Zeitschrift
selbst der Briefkasten der Redaktion von mathe-
matischen Lehrsätzen und geometrischen Figuren aus-
gefüllt wurde. Einen mehr IHerarischen Charakter
trug die von Zederbaum in Odessa begründete, dann
in Petersburg erschienene hebräische Zeitung
„Hamehz", die erst vor ein paar Jahren, nach
44 jährigem Bestehen, eingegangen ist. In dieser
Zeitung wiederspiegelte sich die Kulturgeschichte der
russischen Judenheit während der letzten Generation.
Von hervorragender Bedeutung war auch die vom
genialen Publizisten und Romansdfcriftsteller Peter
Smolensky in Wien herausgegebene hebräische Monats-
schrift „Haschachar", die während ihres 12 jährigen
Bestehens zur Entwicklung und Entfaltung der
Renaissance in der Ostjudenheit sehr viel beitrug. Die
neuhebräische Presse war im damaligen Stadium eine
Aufklärungs- und Kampfespresse. Sie
kämpfte nach zwei Fronten: gegen den starren
Dogmatismus und Konservatismus einerseits,
und gegen die Ass'mlaton der „Abtrünnigen"
andererseits. Wie die neuhehräische Literatur
überhaupt in ihrer ersten Epoche eine Kampfes-
literatur im angedeuteten Sinne war. Das Künst-
lerische trat vor der Tendenz zurück. Sowohl
Presse wie Literatur waren von einer leidenschaftlichen
Begeisterung getragen. Ihre Wu'kung war auf einen
verhältnismäßig nicht großen Kreis beschränkt, sie
war jedoch sehr intensiv. Ihre Leser waren ihre An-
hänger, die für sie und mit ihnen kämpften. Die
hebräischen Zeitungen führten anfangs ein sehr schweres
Dasein und konnten nur durch die größten An-
strengungen und Opfer der Herausgeber und selbst
der Schriftsteller existieren. Nicht selten mußte ein
Schriftsteller einem Redakteur zu den Kosten für den
Abdruck seiner Arbeiten beitragen. Berufsschrift-
steller, die von ihrer literarischen Tätigkeit leben
konnten, gab es so gut wie gar nicht. Man suchte
auch gar nicht materielle Vorteile dabei. Die Literatur
war ein „heiliger Tempel", und die Schriftsteller die
Priester darin das hat sich nun geändert. Die
ostjüdische Presse hat inzwischen an Ausdehnung
sehr viel zugenommen, ihre Wirkung hat jedoch an
Intensivilät abgenommen» Sie hat sich zum Realismus
entwickelt, und nähert sich mehr und mehr dem Wesen
der westeuropäischen Presse.
Vorangeht die seit einigen Jahren in Petersburg
erscheinende jargonische Tageszeitung „Der Fraind",
ein ernstes, besonnenes Blatt, das nicht bloß in der
jüdischen Masse, sondern auch in weiten Kreisen der
Intelligenz beliebt und verbreitet ist. Besonders
gut ist sein publizistischer und informativer Teil.
Das literarische Element in ihm ist in der letzten Zeit
zurückgegangen. Ein gediegenes literarisches Blatt
ist die in Wilna ^eit zwei Jahren erscheinende
jargonische Wochenschrift „Das Jüdische Volk", das
Organ der russischen Zionisten. Dort trifft man die
Dichter Schneier, Asch, Reisen, Hirschbein, Frug,
Perez usw. Dieses Blatt ist jedoch in der jüdischen
Masse wenig verbreitet, und nimmt im allgemeinen
nicht den ihm nach seiner literarischen Bedeutung
gebührenden Platz ein. Es mag daran liegen, daß
die zionistische Partei in Rußland, deren Organ es ist,
in der letzten Zeit infolge der politischen Unruhe im
Lande sehr geschwächt worden ist. Viel verbreiteter
sind die in Warschau erscheinenden territorialistischen
Ja/*gonblätter, das Tageblatt und das „Jüdische
Wochenblatt". Das erste erscheint in einer Auflage
von über 60 000 Exemplaren und heißt das „Kopeken-
Blätt'l", weil es für eine Kopeke pro Nununer verkauft
wird. Zu den ständigen feuilletonis tischen Mitarbeitern
dieser Wochenschrift gehört auch der sehr begabte
Satyriker und Kritiker David Frischmann. Das
Thema der meisten seiner jetzigen mit ätzender Satyre
geschriebenen Arbeiten sind die Segnungen der
russischen „Freiheit" und „Konstitution". —
Den territorialistischen Standpunkt vertritt auch
das in Wilna erscheinende Wochenblatt „Die Jüdische
Wirklichkeit", das Organ der sogen. „Poale Zion-*
Territorialisten". Dieses Blatt trägt einen populären
Charakter und hat nicht den gehässigen Ton mancher
Parteiblätter, wie er z. B. in der „Volkszeitung", det
ebenfalls in Wilna erscheinenden jargonischen Tages-
zeitung, zu finden ist. Diese Zeitung, die das Organ
des „Bundes" ist, zeichnet sich durch parteiische
Engherzigkeit und Dogmatik, durch Beschimpfung
und Verachtung anderer Parteien und Richtungen
aus. Viel vornehmer, mannigfaltiger und inhaltsreicher
ist die gleichfalls in Wilna erschemende Halbmonats-
schrift „Volksstimme", das Organ der sogenannten
„Seimisten", die nach der Schaffung einer jüdischen
Nationalversammlung in Rußland streben. Die „Volks-
stimme", zu deren Hauptmitarbeitem auch der hoch-
gebildete und begabte Chajim Shitlowsky gehört, ist —
abgesehen von der New- Yorker „Zukunft" — das
gediegenste Jargonblatt der Gegenwart.
Alle diese Blätter sind ein Produkt der letzten
Jahre und zum größten Teile nach der Aufhebung der
Preßzensur in Rußland entstanden. Das rege Leben
in der Jargonpresse zeugt vom politischen und geistigen
Erwachen der jüdischen Masse. Zu bedauern ist nur
die Parteizersplitterung, die sich auch in der Presse,
besonders in der jargonischen, widerspiegelt. Die
beiden hebräischen Blätter, die jetzt noch in Rußland
erscheinen, die Tageszeitung „Hasman" in Wilna
und die Monatsschrift „Haschiloah" in Odessa, ver-
treten den Standpunkt der gemeinsamen Zusammen-
gehörigkeit der Gesamtjudenheit. Der „Hasman"
ist ein ernstes, umfang- und inhaltsreiches Blatt, zu
dessen ständigen Mitarbeitern auch N. Sokolow, der
eigentliche Schöpfer der modernen hebräischen
Journalistik gehört. Der „Haschiloah" wurde vor
etwa zehn Jahren vom bekannten Publizisten Achad-
ha'am begründet. Jetzt wird er vom eifrigen An-
hänger Achad-ha'am's Josef Klausner und vom be-
deutendsten hebräischen Dichter Ch. N. Bjalik
redigiert. Der „Haschiloah" gehört zu den besten
.321
Josef ün: Die ostjüdische Presse.
322
Erzeugnissen der neuhebräischeh 'Literatur und
ftresse.
Von den in Rußland erscheinenden jüdischen
Blättern in anderen Sprachen seien erwähnt die Wochen-
schriften „Jewrejski Golos" in Odessa, das russische
Organ der territorialistischen Partei; der „Ras'swjet"
in Petersburg, das russische Organ der Zionisten;
„Swobada i Rawenstwö", das Organ der die Emanzi-
pation der Juden in Rußland erstrebenden „jüdischen
Vplksgruppe", an deren Spitze der bekannte frühere
Duma- Abgeordnete Winawer steht; das zionistische
„Zycie Zydowskie" und die „Israeliia" — beide in
Warschau. Außerdem erscheinen noch in Westeuropa
zwei hebräische Zeitschriften, die eigentlich auch für
das Lesepublikum in Rußland bestimmt sind; Die
von Sokolow redigierte Wochenschrift „Ha'olafn" in
Köln und die dekadentisch gefärbte, schöngeistige
Monatsschrift „Hameorer" in London.
Wir sehen somit, daß die russische Judenheit jetzt
über eine vielseitige und mannigfaltige Presse verfügt,
die ein Beweis ihrer geistigen Regsamkeit und ihres
kulturellen Reifens ist.
„wo DU HINGEHST . . ."
(aus Buch Ruth).
Fraulein Vera Goldberg gewidmet
Eigentum von OST UND WEST. AUe Rtcbte voibetiaiten. Komp. von BOOUMIL ZEPLER.
■ Andante, (in einem freien reettnttvarttgen Zeitmass).
OESANO.
HARMONIUM.
k
^
S
'1^ P ^ff^
Z
-^
i
hin -gehst,
auch ich hingehn
nd wo du bleibst, da
blei-beauch ich!
ff,^'Clr~ptn^TM l ^l■l^'^'■l'M(1|1l^FPFll p^ ^J*J'^J'^^''J' Pfr'^'T '
*^ stirbst-liUsterbft &Dch ichmidwo du ruhest däwillandi ich be^raien sein, so mö-ge . der
*-* to-muss - ninss w»-schom e-to - weir Kau-ja-a - sse ^
325
Wo du hingehst.
326
bleibst,.
da blei-be ooch ich, da blei-be, c
ich auch!
T=m
lin, o-lin, S-Iin, lo - iin! -.
AUS DER JUEDISCHEN SAGEN- UND MAERCHENWELT.
Von Bar-ami.
Der König und seine vier Sohne.
In einem fernf^n, fernen Lande war einmal ein
König y d»»r hatte vier Söhne. Als er alt wurde und
ftthlte, dass ihm kein langes Leben mehr beschieden
war, Hess er seine Söhne um sich versammeln und
«prach zu ihnen Folirendes:
, Meine lieben Kinder, Ihr sehet, dass ich nicht
mehr junir bin, meine Z»*it i-t bald absr^laufen, nicht
lan^e dauert's noch und ich werde geiufen. Wenn ich
nicht mehr hier bin, fürchte ich, könnten Streit und
Hader unter Eu<*h entstehen, wer m^-ine Krone und
mein Reich eib^n solle. Seht, um dem vor/.ubeuiren ,
iiabe ich beschlossen, Euch auf die Probe zu stellen,
wer der Tüchtitr>te ist. Ihr sollt alle vier in die Welt
hinaus, ein jeder nach einer anderen Kichtung, ein
Jahr lang sollt Ihr umherwandern, allerlei Menschen
Nachdruck verboten.
und Dinge sehen und Euch durchschlagen, so ffut Ihr's
könnt. Daheim Ut ein Jeder schön, sagt ein Sprich-
wort. Das ist keine Kunst, geschickt und tUchtig
zu sein, wenn Einer beim Vater hinteim Of^n sitzt
und es warm hat. Versuchtft's mal aber drau?>sen, wie es
Euch ergehen wird B»'S'-er ein Narr, der gewandert
ist, als ein Kluger, der immer zuhause sitzt. Wer von
Euch also nach einem Jahre zurückkommt und mittler-
weile die grösste Sieire^at vollbra«-hr hat, der soll mein
Königieich erben. Gold und Edelsteine irebe ich einem
Jeden von p]uch, so viel er tragen kann, doch dürfet
Ihr von diesen Schätzen nur in der äusseraten Not
Gebrauch machen."
Gesagt, getan. Man sattelte den vier Prinzen die
besten Pferde. Dann nahmen sie sich alles Nötige mit
und zogen hinaus in die weite Welt, ein jeder nach
327
Bar-ami: Aus der jüdischen Sagen- und Märchenwelt.
328
einer anderen Richtung, wie es der alte König an-
befohlen httre.
Ein Jiihr lansr Hessen die vier Prinzen nichts von
sich hö'en, und den alten Vater fing om schon an zu
gereuen^ dass er Peine Kinder >o in die Fremde hinaus-
gejagt hatie, denn er dnchre bfi sich, Gott weiss was
ihnen wid»*rf.ihien sein kann. Aber ^ei*a«le als d ir Tag
ihr>*8 AbschiJ'des sit-h jJihite, treffen sie «He vier, jeder
aus ein»'r anderen Weltiregt^nd kommend, im Vaterhause
ein. Nun könnt ihr euch ja selber die l'^ietide des alren
Königs ausmalen, al^ er wieder die Kiiider um sich
beisammen hatte; er firnr an, sie auszufrageUi wie es
ihnen ergangen war all die lan«re Zeit.
Der älteste trat vor und erzählte, was ihm passiert
war: •
. «T^h wanderte und wanderte lange Zeit, kam durch
viele Städte und Länder und en pausierte mir nichts
besonderes. Endlich traf ich ein« Stadt, die soeben
abgebrannt war, die Menschen jimmeiten und klagten,
das» sie alles verloren hatten und wussten nicht, was
aie anfangen sollten. Da gab ich ihnen alle meine
Schätze hin, und da ich ein Baumeister bin** — ihr
mÜHst nähmliuh wissen, da^s ein je«ler Sohn des Königs
immer ireeiid ein Handwerk erlernen mu^s, um >ich in
der äussersten Not, wenn er sein Heifh verliert, redlich
ernähren zu können; und dann versteht erdadun-h, wie
es unter gewissen Leuren zugeht, versteht ihre Sorgen
und was sie alles anstellen müssen, um leben zu
kennen; daher wird er ni«-ht hoichmütiir und weiss, wie
er die Leute zu richten hat, wenn sie zu ihm kommen.
Der älteste war also Baumeister, er irab den Abgebranuten
all sein Uold und seinem E<lelsteine und baute ihnen die
Stadt wieder auf. Dann wollten sie ihn noch zum König
aufnehmen und baten und flehten ihn an, er .solle bei
ihnen bleiben. Aber er wollte just sein väterliches
Keich erben, daher widerstand 6r ihren Bitten und eilte
nach Hause, um z'im richrigen Termine einzutreffen.
So erzählte der älteste Sohn, der Vater aber sprach:
• „Das hast du gut gema«'ht, m^in S*'hn, Nun wollen
wir hören, wie es deinen Bri'ulern ergangen i>t."
Der Zweitälteste Sohn trat vor und erzählte:
^Ich wander' e und wan«lerte lange Zeit kam durch
versciiiedene Städte und Länder und iidr war nichts
besonciei-es pausiert. Endlich gelang es mir, meinen
ärgsten Feind zu besiegen. Einmal kam ich nändich
in eine fei*ne Stadt, da herrschre gi*osser Jubel. Ich
frasTte, w'as di los wäre, und man erklärte mir, heute
solle der neue König cekrönt werden. Ich fragte: Wie
heisst denn euer KöoIl'? Da nannte man mir den
Namen meines ärgsten Feindes, der mir das Schlimmste
in der Welt zugeiligt hatte. Ich finir an, den Leuren
zuzureden: Solch' einen Köniir habt Ihr bekommen?
Der ist ja garnicht wü dig, König z-i sein, UMd noch
der&rleichen mehr, sagte ich, was endlich dem neu-
gewählten König zu Ohren kam. Er Hess mich rufen
und stellte mich zur Rede, ich aber forderte ihn zum
Zweikampfe heraus, besiesrte ihn und so musste er be-
schämt das Feld iäum»'n, gerade an dem Tage, der sein
Freudentag werden sollte. Die Bew^ohner der Stadt
wollten mich als König aufnehmen, aber ich wollte das
Reich meines Vaters erben, daher beeilte ich mich, um
richtig zum Termin anzulangen."
„Und was habt Ihr vollbracht?" sagte der König zu
seinen beiden jünirsten Söhnen.
Der dritte irat vor unJ säurte: „^lein Herr Vater
und König", mir ist lel«ler während der gjinzen Wan'ler-
schatt nichts pa>siert. wo ich Gel-»irenheit gehabt hätte,
meine Kraft zu berätigen und eine Siegestat zu voll-
^-nnsren. Ich bringe nichts, ich komme, wie ich ge-
n bin."
Doch die Anderen fingen an, ihm zuzureden, er
möge nur alles er/ählen. was ihm passiert wäre, auch
das kleinste Ereignis s(dle er nicht versch «zeigen, dann
werde man schon sehen. Der Dritte besann .sich ^eine
Zeit lang und schliesslich erzählte er tollendes:
„Einmal tfihrte mich mein Weg an einem tteten
Wasser vorbei, ich sah hin und bemerkte, dass dicht
am ül'er ein Mensch schlief. Das Ufer war steil, ^ und
der Schlafende brauchte sich nur umzuwenden,! um
hineinzufallen, dann war er unrettbar verloren, ienn
dort war das Wasser gerade am tiefsten. Ich eilte
hinzu, und ihr könnt euch leicht meine Ueberraschung
ausmalen, als ich sah, d<iss der Schlafende mein ärgster
Feind war, der mir das Schlimm.ste in der Welt zu-
gefügt hatte. Der Je/.er hara*) flüsterte mir zu, ich
solle nur ruhisr meines Weges gehen und den Schlafenden
schlafen lassen. Das dauerte eine Weile, dann besann
ich mich« packte den Schlafenden beim Krageh. and
schleppte ihn rasch fort dann eilte ich von dannen,' um
nicht erkannt zu werden. Das ist alles."
Der alte König aber sprach: :
„Du hast Grösseres vollbracht als Deine beiden
älteren Brüder, mein Sohn. Es steht ja gesjehi ieben,*)
man ^olle auch des Feindes Esel oder Ochseu beinteihen»
wenn er unter der schweren Last keucht, um wieviel
mehr dem Feinde selber, und erst, wenn es am. sein
L*ben geht. Und Du, mein jüngster Sohn, was hast
Du in der Welt vollbracht?«
Der jüngste tr.t vor und hub an:
„Als ich durch ein grosses Stück Welt gekommen
war, ohne etwas besonderes eilebt zu haben, traf ich
einmal in einer fernen Stadt ein, wo grosse Bestürzung
unter den Einwohnern herrsi-hfe. Ich fiagte, was da
vorfirefallen sei, und man erzählte mir, es sei ein neuer
König gewählt worden und heute sollte er gekrönt
werden. Bei der Krönung müssten, wie es Brauch ist,
Märsche und andei'e MuMk»*tUcke gespielt werden ^.Nun
sei der Kapellmeister plötzlich erkrankt und die KrOjiung
könne an dem bestimmten Tnge nicht stattfinden, wa»
für den König ein böses Vor/.eichen hei. Ich fi^gte,
wie der Köniir heis-^e, und man nannte mir den Namen
meines ärgsten Feindes, der mir das Schlimmste in der
Welt zuifefUgt hatte. Als ich das hörte, meldete ich
mich beim Adjutanten des Königs, da ich mich erinnerte,
diss ich ja Musikant bin und eut zu >pielen verstehe.
Man übeitrug mir die IdpHllmelsterstelle, die Krönungs-
feierlichkeiten wurden abjrehalten und naclibr zog ich
rasch von dannen, um nicht erkannt zu werden."
Ais der Köuisr dies gehört, stieg er vom Throne,
küsste seinen jüng>ten Sohn auf di-5 Stirn und sagte:
„Du, mein jüngster Sohn, hast die giösste Siegestat
unter all Deinen JJrüdern vollbracht" Und er setzte
ihm die Krone aufs Haupt. Der jiineste bestieg auch
wiiklich den Thron, erreichte ein hohes Alter and es
ging ihm s**hr gut.
Anmerkung In der vorliegenden Fassung hörte ich
als Kind dieses Märchen von meinem Grossvater erzählen.
Später wurde mir unter anderen unwesentlich von
der vorliegenden abweichenden Fassungen besonders
eine bekannt, in der der älteste Sohn fehlte. Diese Version
scheint mir die ursprünglichere zu sein. Märchenkönige
pflegen gewöhnlich nöchstens drei Söhne zu haben. Der
älteste scheint mir nur i\en vier Weltyegend« n zuliebe
erfunden zu sein Das Märchen dürfte in seinem Kern
aus Indien stammen. Mir wurde eine ähnliche Version
aus einem Lehrbuch des Ita ionischen bekannt, aber der
Geist, der in dieser Version herrscht, ist ein völlig ver-
Bchiedener.
1) Böser Trieb.
«) Gemeint ist Numeri XXIII, 1415
MITTEILUNGEN AUS DEM DEUTSCHEN BUREAU
zun DER ALLIANCE ISRAEÜTE UNIVERSELLE. 1=
1 (Berlin N. 24, Oranienburgerstr. 42/43 \\.
Jl
DAS SCHUL- UND LEHRLINOS-WERK DER ALLIANCE ISRAELITE
UNIVERSELLE.
(Ans dem Jahresbericht 1906.)
Nachdmck vertKiten^
L Schulen. besuchte Mädchenschule in Jerusalem. — In Marokko
Im Januar 1907 zählte die Alliance 134 Schulen, hat die AlUance ihre erat« Schule eingerichtet. Der
davon 17 in Marokko, 10 in Bulgarien, 35 in der euro- Tag ist nahe, an dem die Zivilisation in breitem Strom
pfiiachen Türkei, 15 in
Kleinasien, 19 in Syrien,
4 in Mesopotamien, 2 in
Tripolis, 8 in Egyplen, 6
in Tunis, 14 in Persien,
4 in Al^er.
Jedes Jahr dehnt sich
das Erziehungswerk der
Alliance mehr aus, sei es
durch Gründung neuer
Anstalten, sei es durch die
Entwicklung bereits be-
stehender Schulen. Unter
den Neuschöpfungen ist
eine Sehulgnippe in Maza-
gan, Marokko, zu er-
wähnen, eine zweite
Knabenschule in Mogador
und eine von 200 Kindern
AIliancC'KnabcDubuU in Bagdad.
s Hauptgcbäade ciilhätl im ersdn Stock 6 KlasscnziinnieT und
giosscn Sul, iin EtdKr$c)i(r» befindet sich die Bynigug«.
n dieses Land eindringen
und CS dem allgemeinen
Gesetz des ForlschritU
unterwerfen wird. Dank
den Allianceschulen wer-
den die Irsaeliten vor-
bereitet sein, in der wirt-
schaftlichen Bewegung
Marokkos die Rolle zu
spielen, die ihnen nach
ihrer Zahl, ihrer Erfah-
rung, ihrer Einsicht zu-
kommt. Wenn bisher ein
Teil der israelitischen
Jugend nach Südamerika
auswanderte, weil ihrem
Tätigkeitsdrang in Ma-
rokko die Nahrung fehlte,
werden die Zöglinge der
331 Milteilungen der AUiance hniflite Univerectte: Dasi Schul- und Lchrlingsrerh der Alliance Israäite Universelle. 33?
Allianceechulen nicht ermangeln, die ersten Elemente zum Teil nach dem europäischen Viertel gewendet.
des^ notwendigen Personals zu liefern, sobald die In diesem durch das Araberviertel vob dem Mellah ge-
europäische Industrie den natürlichen Reichlümern trennten Stadtteil hat die Alliance 1888 eine große
Marokkos den vollen Wert gegeben haben wird. Die Knabenschule eingerichtet. Die weite Entfernung vom
Wirrnisse des Landes, die Armut der jüdischen Be- Mellah machte den Schulbesuch Tür die im Mellah
völkerung haben nicht gestattet, schon in diesem zurückgebliebenen Kinder beschwerlich. Um das Leni-
Jahre alle Schöpfungen zu verwirklichen, die von betlürfnis dieses Teiles der jüdischen Bevölkerung zu
dem Cenlral-Comitö für Marokko in Aussicht ge- befriedigen, eröffnete die Alliance in Mogador eine
tiommen waren und such eine Notwendigkeit sind. Wir zweite Knabenschule. Des neue Institut zählt fast
brauchen Schulen in Alcazar {300 Kinder), Azamur 400 Zöglinge, hat ungefähr alle kleinen Schulen der
(300 Kinder), Ma'juinez (1200 Kinder), Siffru (500 Eingeborenen aufgesogen und die tüchtigsten Lehrer
Kinder), Taga (300 Kinder), Debdu (400 Kinder), dieser Eingeborenenschulcn in seinen Dienst genommen.
Demnat (300 Kinder).
Aus verschiedenen Grün-
den, namentlich um der
Landesunsicherhcit willen,
haben diese Pläne verlagt
werden müssen. Nur in
der Hafenstadt Mazagan,
die eine große Zukunft
hat, ist die Alhancc im
Oktober 1906 imstande
gewesen, eine Knaben-
und eine Mädchenschule
zu eröffnen, die bereits
275 Zöglinge zählen.
In Mogador hat die
10 000 Seelen starke jü-
dische Bevölkerung, im
Mellah (dem Juden-
([uartier) erstickend, sich
AlUance-KnabenschuIc in Bagdad.
itchW mll S KlMsenilmm« i!i 1902. (1*r Anb-iu
In Casabtanca hat dit
AUianceschuIe alle frühe-
ren Privatschulen in sich
aufgenommen. Die ge-
samte jüdische Schul-
jugend 8t«ht jetzt unter
der moralischen Vormund-
schaft der Alliance.
•
)m September 190&
legte ein furchtbarer Brand
einen Teil der St«dt
Adrianopel in Asche.
Die Geißel hatte nament-
lich im jüdischen Viertel
gewütet. Tausende von
jüdischenFämilien mußten
sich neue HSuser bauen.
Die Folge des UnglQclu
333 Mitteilungen der Alliance hnflite Universelle: Das Schul- und Lehrlingsverlc der Alliance lsra£lite Universelle 334
Die AUiancoScbulc Riwka Nuriel in Bagdad.
war, daß die Wohnungen der Juden gesunder, gerüumigep
wurden. Da das alte Gebäude der Talmudloraschule zer-
stört war, schlug die Gemeinde eine Versclimolzung der
Talmudtora- mit der Allianccschule vor. Das Centrai-
Comit^ nahm den Vorschlag freudig an und legte sich
behufs besserer Durchführung sogar neue Lasten auf.
Heute umfaßt die Anstalt die gesamte judische Schul-
jugend, die Zahl der Zöglinge ist nahe an 1300. Die
Verschmelzung, die einige Jahre zuvor noch großen
Schwierigkeiten begegnelwäre, hat sich leicht vollzogen,
nicht ein einziger Anhanger der alten Gewohnheilen hat
Einspruch erhoben.
Die Gemeinden, in denen die Alllanccschulen noch
«uf Widerstand treffen, sind überhaupt selten geworden.
In Jerusalem z. B. war es einigen Rabbinen und den
Obskuranten lange Zeit gelungen, die Bemühungen der
Ailiance hinsichtlich der Unterrichts Versorgung der
jüdischen Jugend zu hemmen. Aber die Lernbegierde
war so allgemein und so stark, daß sie alle Hindernisse
überwand. In Jerusalem gibt es etwa 5000 Kinder im
«chulpflichligen Alter. In die ADianceschule gehen etwa
400 Kinder, 150 besuchen die Lämelschule, (fie übrigen
finden in den Talmud toraschulen und in den Jeschibot
Aufnahme. Für Mädchen gab es bisher nur eine, die
Eveline v. Rothschild-Schule'mit 500—600 Zöglingen.
Fast 2000 Madchen blieben ohne jeden Unterricht. Das^
Central-Comite hat diese Lücke nicht fortbestehea
lassen wollen. Im Jahr 1906 hat die Alliance in
Jerusalem eine Mädchenschule eröffnet, die gegenwärlif;
200 Schülerinnen zählt und erweitert werden soll, sobald
die Verhältnisse es gestatten.
InPersien onvoitem die Schulen fortgesetzt ihren
moralischen und beschützenden Einfluß. Das Vor-
handensein der Schule und die Gegenwart der von der
Alliance entsandten europäischen Lehrer gewälirteistet
die Sicherheit der Israeliten und zwingt die zahlreichen
Agenten der Verhetzung, die vordem die Israeliten
ungestraft mißhandelten und ausbeuteten, Frieden zu
halten. Der Einfluß der Schulen reicht weit über die
Städte hinaus, in denen sie sich befinden, zuweilen über
eine ganze Provinz, beschützt Leben und Eigentum der
unglücklichen israelitischen Hausierer, die ihr Gewerbe
in entlegenen Dörfern betreiben. Unter allen Umständen
erblickt die jüdische Bevölkerung in der Allianccschule
nicht bloß eine Zufluchtsstätte und in dem Direktor
einen Beschützer; sie hat auch Jas Bewußtsein, daß der
moderne Unterricht der Allianccschule ein wahrhaftes
Werkzeug des Fortschritts und des Broterwerbes ist.
335 Mitteilungen der Alliance Israelite Universelle: Das Schul- und Lehrlingswerk der Alliance Israelite Universelle.
336
In Persien sind sechs Schulgruppen: in Teheran.
Hamadan, Ispahan, Schiras, Senah und Kirmanscha.
Außerdem subventioniert die Alliance kleine Schulen
in Nahavenda, Tussurcana und Bidjar. Man wird mit
Interesse den Auszug aus einem Bericht lesen, den
Herr Loria, Direktor der Knabenschule in Teheran über
die moralischen Erfolge der Schule erstattet hat:
„Unsere Tätigkeit ist hauptsächhch auf die
iSchulbevölkerung gewendet, die unserem Einfluß
unmittelbar untereteht. Bisher war die 2^hl der
eingeschriebenen Schüler im Verhältnis zur
jüdischen Bevölkerung von Teheran zu klein, als
daß die Berührung mit den in unserer Schule ge-
wonnenen Begriffen von Würde, Ehrlichkeit und
Arbeit die Masse unserer Glaubensgenossen zu einer
^ merklichen Änderung ihrer Lebensführung hätte
bestimmen können. VVir mußten vielmehr fürchten,
daß der Einfluß der Umgebung unsere Tätigkeit
lähmen, " daß unsere Schülerscliar von . den
finsteren, eingewurzelten väterlichen Gewöhnungen
neu angesteckt würde. Unnötig zu sagen, daß die
Vermehrung unseres Schülerbestandes eine Ein-
wirkung auf die ganze israelitische Bevölkerung
ausüben muß, daß wir um so nachaltiger und ein-
dringlicher eine moralische Hebung unserer
Glaubensgenossen erzielen, je größer der Kreis der
Kinder ist, die wir unter unserem erziehlichen Ein-
fluß hs^en. Schon können unsere Schulen sich
schmeicheln, einen merklichen Anstoß für die Er-
neuerung der materiellen Existenz der Juden in
der Hauptstadt gegeben zu haben. Unsere Schulen
haben zunächst zum Nutzen der Juden eine Atmo-
sphäre der Sicherheit und Ordnung geschaffen, die
ihnen gestattet, alle ihre Fähigkeiten zur An-
wendung zu bringen. Stark durch die Unter-
stützung, die ihre Vertreter bei sich bietender
Gelegenheit ihnen gewähren, sind unsere Glaubens-
genossen dahin gelangt, ihre Furchtsamkeit und
ihr Mißtrauen zu besiegen. Sie verlassen das be-
engende Ghetto und wagen sich in die neuen Viertel
hinaus, nützen ihre natürlichen Gaben, treiben in der
neuen Gegend Handel oder finden dort Anstellung.
In früher Morgenstunde ziehen sie aus dem Juden-
viertel an ihre Arbeit. Auf dem Weg durch die
von Muselmanen bevölkerten Kaufhäuser bleiben
sie unbelästigt. Man kann versichern, daß seit vier
Jahren in Teheran kein Willkürakt zum Schaden
unserer Glaubensgenossen vorgekommen ist. Frei-
lich geraten von Zeit zu Zeit Muselmanen und
Juden untereinander in Streit. Ich will auch nicht
behaupten, daß der Kampf ums Dasein hier weniger
hart ist als anderwärts. Aber die Streitigkeiten
nehmen niemals einen konfessionellen Charakter
an. Der Konflikt der Interessen, nicht der
Fanatismus ruft sie hervor. — Die Israeliten waren
lange Zeit gezwungen, in ungesunden und engen
Quartieren zu wohnen. Heute ziehen sie überall hin
und bauen ihr Heim, wo sie mehr Luft und mehr
Lichtfinden. Die israelitischejGemeinde von Teheran
w^ar schwach und ohnmächtig. Unsere Glaubens-
genossen kannten nur den Hausier- und Lumpcn-
handel. Fast alle Handwerke waren ihnen ver-
schlossen, nicht durch ausdrückliche Vorschriften.
sondern duiY;h eine unbegreifliche und unent-
schuldbare Lässigkeit. Wir haben versucht, dii*
unserer Fürsorge anvertrauten Kinder dem Handel
mit alten Sachen zu entreißen und sie dem Hand-
werk zuzuführen. Abgesehen von den Lehrlingen,
die von derAlliance eine Unterstützung erhalten, ist
die Zahl derer, die jetzt ein Handwerk ausüben, schon
sehr groß. Wir haben Schneider, Schuhmacher,Typo-
graphen, Goldarbeiter, Tischler, Tapezierer, Hut-
macher, Zimmerleute, Maurer, Schmiede, Bronze-
gießer usw. Man darf sich keine Illusionen machen :
Diese Handwerker müssen überhart arbeiten, um
ihre Familien zu ernähren. Aber wenn man an die
Zeit denkt, da unsere Glaubensgenossen ihr Brot
nur durch erniedrigende Beschäftigungen ge-
wannen — Höker, Tänzer, Mimen — und diese
ganze kraftvolle Jugend ansieht, die schwere, doch
gesunde Arbeit leistet, kann man sich eines Gefühk
der Dankbarkeit gegen die Alliance nicht ent-
schlagen.''
II. Lehrllngswerk.
Die Alliance unterhält zur Zeit an 32 verschiedenen
Plätzen Lehrlingswerkstätten für Knaben, die zu
hunderten für die besten Handwerke ausgebildet
werden, zu Schmieden, Schlossern, Mechanikern, Eben-
holzai^beitern, Tischlern, Malern, Schriftsetzern usw.
Am meisten werden solche Handwerke begünstigt,
die die Körperkraft der Lehrhnge am besten zu ent-
wickeln vermögen, und solche, die bisher aus irgend
einem Grunde von den Juden noch nicht ausgeübt
werden.
Trotz der in den verschiedenen Berichten schon
wiederholt betonten Schwierigkeiten, die das Lehrlings-
werk zu bekämpfen hat, leistet dieses Werk bereits in
den meisten Städten große Dienste. Es trägt in macht-
voller Weise zur moralischen, körperlichen und
materiellen Hebung der Israeliten bei. Das kräftige
Äußere der Lehrlinge kontrastiert deutlich gegen die
Muskelschwäche der Mehrzahl der Israeliten. Das ist
eine der großen Wohltaten des Werks.
Neben den Mädchenschulen sind Atehers für
Näherei, Stickerei und Teppichweberei in Betrieb, die
den armen Mädchen einen Erwerb sichern, der dem
FamiUenbudget einen wesentlichen Beitrag sichert.
Die Handwerkerschule in Jerusalem ist im Jahn»^
1906 von 145 internen und externen Schülern besucht
worden. Zehn Schüler hatten ihre Lehrzeit beendet,
haben ihr Handwerk gründlich erlernt und arbeiten
jetzt teils in Jerusalem, teils in Egypten, das ein wert-
volles Arbeitsfeld für sie bietet. Soviele Arbeiter jährlich
ausgelernt haben, so viele Familien sind dadurch der
Bettelei und dem Kleinhandel entrissem Die
Weberinnen, die Netz- und Spitzenateliers geben
hunderten von Arbeitern, Frauen und jungen Mädchen,
Beschäftigung. Alle diese Tätigkeit zur Förderung der
Handarbeiten hat die Sitten und die materielle Lage der
Israeliten in der heiligen Stadt merklich verändert.
Die Ausübung dieser Handarbeiten führt dieser tat-
sächlich so elenden Bevölkerung neues Leben zu, sichert
ihnen besseres Auskommen .und erweckt in ihr das
Gefühl der Würde, das die Liebe zur Handarbeit un<l
ihre Ausübung mit sich bringt.
THEODOR OSCHINSKY-BRESLAU.
Unser Frennd Herr Theodor Osdiinsky in Breslau,
das verehrte langjährige Mitg-Iied der Dentschea Con-
ferenz-GemeiDBChaft der AHiance Israelit« Universelle,
tiat die Güte gehabt, uns fllr
die vorliegende Nummer von
„Ost and West" einen Aus-
zug ans seinem interessanten
Berii^ht über die jQngst von ihm
nnt«raommene Fahrt ins Gelobte
land ZOT Verfügung zu stellen.
Wir benutzen dies als will-
kommenen Anlass, unsern Lesern
das Bild des um die Sache der
AUiance hochverdienten Mannes
zu bringen und ihnen von seinem
r^ebensgang zu erzählen.
Theodor.Osehinsky ist im Jahr
1844 in Nikolai O.-Schl. geboren.
Er besachte dort die jüdische
Schule, von 1857 bis 1859 das
Gymnasiam in Gleiwitz, von
1859 bis 1803 das Gymnasium
in Breslau. Nach beendeter
Schulzeit widmete er sich dem
- kaufmännischen Beruf. In sein
Militärdiensljahr 1865/66 fiel
der böhmische Feldzug, den er
zunächst ah Unteroffizier, dann
als Offizierdiensttuender Vize-
feldwebel mitmachtw In der
gleichen Eigenschiift war er
au dem Feldzug 1870/1871
beteiligt.
Anfangs der siebziger Jahre trat er der AUiance
Isra^lite Universelle als Mitglied bei und gründete narh
dem Tode des Rabbiners l>r. Landsberg- Lii-gnitz — sein
Nachdruck vciboUn.
Andenken sei gesegnet! — das Provinzial-Eomltd filr
Schlesien, belebte die bestehenden und schuf neue Lokal-
Komitej in Schlesien nnd gewann namentlich in Breslau
der Alliance eine grosse Anzahl
Anbänger. Im Jahr 1862
begründete er ein Rilfskomite
für die verfolgten russischen Ju-
den; im Jahr 1691 stand er wieder
an der Spitze des Hilfskomit^s,
für das die gleiche Aufgabe sich
erneuert hatte. Inzwischen war
er, 1889, Hitglied des Central-
(.'umites der Alliance geworden.
Innerhalb der Breslauer Ge-
meinde, in deren R»praseutanten-
KoUegium er vor 18 Jahren ge-
wählt wurde, war Herr Oschinsky
in allen Wohlfahrta- und Wohl-
tätigkeits - Angelegenheiten be-
."onders tätig. Im Vorstand des
ismeliliscben Kranken -Verpfle-
guugs-und der Alters versorgungs-
Ansialt entwickelte ersein organi-
satorisches Talent. Er erwarbsich
ein besonderes Verdienst dadurch,
ddss er die Baronin Hirsch he-
stimmte, zur Errichtung des —
musterhaft ausgestatteten — jü-
dischen Krank:enhause.s in Breslau
aOOOOO Mark beizusteuern. Nach
Theodor Oschinsky. Einweihung dieses Kranken-
hauses wurde er durch die Vei--
leihnng des Kronenordens ausge-
zeichnet. Er ist im Vorstand zahlreicher jüdischer
Wohltat igkeits vereine, und wo immer es gilt, unseren
bedrängten Glaubensgenossen beizustehen, da bt auch er.
MEIN AUFENTHALT IN PALASTINA.
Aus Reiseerinneninjjen von Theodor. Oschinsky. ■
\iii i:äi'hstL-[i .\lurg.-ii lii'siclitigtiTiwir (iif
neutsi'lm AlliuncoschuleiiiK<>nslanliiio]ip|. Ein
schönes niodemes Cieliäudc mit sdir hohen Scliul-
zimmeru. Dtr Uireklor Springer etiiprüiigl uns iiii<!
führt uns zunächst in die untorHlo Klasse, dii.' xicmlich
stark (von 60 Schfilcm) b«surlit ist. Es ist Ri'rade An-
schauungsunterrichl. Wir sind frslHuiil, als wir dioM^
Kinder, die im Hause größtenloils kL'in dciitsclii's
Wort zu veriiflinien Gt'iegt'nlu'il lialiciL, di'iilsi'h
sprechen liören, .Xeben Kindern von Hiissi'n nnd
Ilumäm-n befinden sich hier Kinder vim Spaniulcn,
Türken. Yi-nionitcn und versehiedencn ondenn Vülkoc-
schafton. Ein kleim-r Knabe wini an die Tafel
ßemfen. Kr soll sagen, was an dem Kann», den er
zeigt, zu bemerken ist. Man siehl. iluß er <s weill,
daß OS ihm aber schwor fällt, das richtijp' Wtnl zu
finden. Rndlich sliillt er hervor; er bleut; und als
viele darüber lachen, verbessert er sich uml sagt: er
blüht. — Die näehsle Klasse ist übcrriilll : sie hat
80 Schüler. Diese sind im Deutschen »»^■iion fjanz
firm. In 'ler fdlgi'nden Ktas.«e sprechen Hie Kinder
!<ucli selirui sehr giil fraiizüsiscb. Ebenso sind sie iin
llehräisehen weil. In der nächsten Klasse, mit
Till Schülern, wiiiJ eben ans dem Hebräischen ins
Deutsche übersetzt. In der folgenden Klasse ist Unter-
liclil in Tieomelrio und Arithmetik, worin die Schüler
Erstannliehes leisten. Dringend notwendig wäre ein
Knrsns zur Vorbereitung für die Konfirmiilion; ferner
niiililoti hebräische Bücher, Lesetabellen und Le»o-
fibeln in genügender Anzahl zur Verteilung an itio
S<'liiilcr beschafft werden, damit sich die Kinder auch
zu Haus damit bescbäriigen können. Jetzt nämlieli
wertien die llttehor nach Si^'hulschlull in der Schule ein-
geschlossen. Dip Zahl der Schüler beträgt 260, die der
l.ehn-r fünf, davon ist einer in Paris au.'^'bildel, die
übrigen vier sind deutsche Lehrer und sämtlich gi^-
borrne Deulst-lic nder L'ngarn.
\'on Port Said aus waren wir nach außergewöhn-
lich unruhiger Fahrt Donnerstag, den 22. Febrnar 1!>06
vor Jaffa angekommen; doch die Hoffnung, hier zu
339
Theodor Oschinsky: Mein Aufenthalt in Palästina.
340
landen, schwand bald: das Meer war zu stürmisch. Der
Kapitän bestimmt endlich, daß das Schiff weiter, nach
Beirut fahren soll, und wir haben wieder eine qualvolle
Nacht vor uns.Wie Hohn erschien es uns, als der Steward
uns zum Diner auffordert, da wir doch nicht aufstehen
konn'en. Wir bitten ihn, uns ein Glas Tee zu bringen;
er verweist uns in den Speisesaal. Hierbei kann ich
nicht unterlassen, folgendes Jntermezzo zu erzählen.
Nachdem mein Sohn bereits 24 Stunden auf hartem
Lager gelegen und viel von der Seekrankheit ausge-
standen hatte, empfand er großen Hunger. Er weichte
einStückchen altesBrot in demTee auf, den einer unserer
Führer sich selbst bereitet hatte. Dieser Führer ging
in die Küche und verlangte ein Stükchen Brot, das
uns die Schiffsleitung (wir waren auf einem russischen
Schiff!) außer der Zeit vorenthalten will; da stürzt
der Koch auf ihn zu und ruft: „Du Jude, Dir gebe
ich nichts!"
Endlich ist es Morgen, der Sturm hat sich gelegt.
Wir sehen in nächster Nähe den Libanon mit seinen
ewigen Schneegipfeln, die in der Sonne glitzern, wir sind
in Beirut. — Nach der üblichen Paß- und Zollrevision
steigen wir in unserem H otel ab. Bald nachTisch machen
wir eine Spazierfahrt, zunächst durch einen Teil der
Stadt, die terrassenförmig gebaut ist. Man sieht schöne
große Gebäude abwechseln mit verfallenem Gemäuer,
dem man das mehrtausendjährige Alter anmerkt. Da
es vorher stark geregnet hat, sind die Straßen und
Chausseen so schlecht, daß die Räder unserer Wagen
bis zur Nabe einsinken. Soweit das Auge reicht, ist
alles voller Maulbeerbäume. Es fallen uns die kräftigen
Gestalten auf und die vielen schönen und wohl-
genährten Kinder. Wir sehen unter ihnen Gesichter,
wie sie weißer und schöner bei uns nicht zu f nden
sind, aber auch braune und schwarze. . . . Sonn-
abend, den 24. Februar bleiben wir im Hotel und
erfreuen uns auf der sonnigen Terrasse an dem An-
blick der mit den schönsten Früchten behangenen
Citronen- und Orangenbäume.
Sonntag, den 25. Februar vormittags besichtigten wir
die Alliance-Schulen, zunächst die Mädchenschule, die
250 Schülerinnen hat. — Wir waren erstaunt über das,
was hier geleistet wird. Wir sahen die überaus sauberen
schriftlichen Arbeiten, einige Schülerinnen trugen Ge-
dichte vor, schwierige Rechenaufgaben wurden auf der
Tafel ausgearbeitet und gelöst, ein Lehrer erteilt gerade
hebräischen Unterricht und läßt aus dem Pentateuch
lesen und übersetzen. Dann gingen wir zur Kna'^en-
schule, die einige Minuten entfernt von der Mädchen-
schule liegt; hier sind 300 Schüler. Jn sehr hohen
geräumigen Zimmern wird der Unterricht erteilt- Wir
hörten französich, jüdische Geschichte in hebräischer
Sprache, auch die Geographie von Deutschland wird
uns zu Ehren durchgenommen; die Schüler wissen,
welche Länder in Europa Republiken und welche
Monarchien sind. Wir finden in den schriftlichen
Arbeiten schön gezeichnete Landkarten, Zeichnungen
von Thermometern, Barometern und verschiedenen
anderen physikalischen Instrumenten. Auch im kauf-
männischen Rechnen zeigen die Schüler große Ge-
wandtheit. Wir nehmen dann im Konferenzsaal Platz,
'^ ein Schüler Konfekt herumreicht. Ich freute mich
darüber, daß dieser kleine Junge erst den anwesenden
Damen aufwartete und dann den Herren. Wir nehmen
Abschied, nachdem ich mich mit den Schülern hatte
photographieren lassen.
Nachmittags machten wir wieder eine Spazier-
fahrt. An der Küste des Mittelmerees entlang führen
uns in Windungen ansteigende Chausseen an weiten
Orangen- und Zitronenplantagen vorüber. Die Küste
ist sehr malerisch. Durch die starke Brandung des
Meeres sind ihr zerklüftete Felsen vorgelagert. An'
der Taubengrotte machten wir Halt und bewunderten
die eigenartige Gestaltung der riesigen Felsen, die wie
von Künstlerhand gearbeitet aussehen. Sie haben
am unteren Ende Tore, durch die ein Nachen hindurch-
fahren kann. Zu unserer linken Seite ist wundervoller
Frühling, auf der rechten Seite ewiger Winter: der
langgestreckte Libanon, dessen Höhen mit Schnee
bedeckt sind. — Nach kurzer Rast kommen wir
wieder in die Stadt, die heute ungemein reges
Treiben zeigt. — Wir verlassen das Weichbild der
Stadt und kommen in den berühmten Pinienwald»
wo wir Rast halten.
Da kommen in rasender Eile Reiter, die
dem Wagen ihrer Herrin, der iFrau des Gouverneurs
vom Libanon, Chader Pascha, voraussprengen.
Wir grüßen nach europäischer Art, und die im
Wagen sitzenden Damen erwidern unsem Gruß
durch freundliches Kopfnicken. Wir fahren weiter an
der Grenze zwischen Libanon fmd Beirut entlang,
immer das ganze Gebirge überblickend, bis wir wieder
in unserem Hotel angelangt sind. Nach sehr kurzer
Rast begeben wir uns zum Hafen, von dem aus wir zu
unserem Schiffe gerudert werden. Nachdem wir hier
ganz energisch unser Recht auf gute Kabinen ver-
fochten haben, belegen wir diese und begeben uns auf
Deck. Unsere nächsten Nachbarn sind eine große
Anzahl Pferde, die noch fortwährend Gesellschaft
erhalten, denn soeben langt ein Kahn mit Pferden an.
deren Ausladung auf unser Schiff wir mit an-
sehen. Der Krahn macht ohrenbetäubenden Lärm,
ebenso das Einladen einer Unmasse Waren in Säcken,
Ballen und Kisten. Dann kommen Ziegen, Esel und
Ochsen, kurz: unsere Reisegesellschaft ist sehr ge-
mischt. Das Meer ist spiegelglatt, der Himmel aus-
gestirnt, die Luft sehr angenehm. Nach lebhafter
Unterhaltung begeben wir uns zur Ruhe.
Montag, den 26. Februar, morgens 6 Uhr, langen
wir in Ca ffa an. Die Kähne der verschiedenen Gesell-
schaften kommen heran, umschwärmen unser Schiff,
Araber erklimmen wie Piraten die Treppen, die
schwersten Lasten tragend, Reisende kommen fort-
während in großer Zahl an und verändern jedesmal
das Gesamtbild. Unsere Führer fahren eihgst an Land,
um unsere Landung zu regeln. Es vergeht fast eine
Stunde, die Zeit der Weiterfahrt unseres Schiffes ist
bald gekommen, und noch immer sind sie nicht zurück.
Wir werden ängstlich, nehmen schon unser Gepäck
und wollen eigenmächtig das Schiff verlassen, als das
geübte Auge eines Matrosen den Kahn mit unseren
Führern heranrudem sieht. Wir werden nun in größter
Eile in unsere Boote gesetzt und in ruhiger Fahrt
steuern wir dem Ufer zu.
341
Theodor Oschinsky; Mein Aufenthalt in Palästina.
Nach unserer Landung setzen wir bei schönstem
Wetter uns in die bereitstehenden Wagen und fahren
durch das saubere Städtchen zum Hotel Carniel. Wir
begeben ims in das Schreibzimmer und fallen über
die ausliegenden Postkarten her, weil jeder seinen
Lieben wieder einmal ein Lebenszeichen geben will,
das erste aus Palästina. ■ j ,
Vor unserem Hotel liegen Millionen von kleinen
Muscheln, die wie bei uns der Kies zum Beschütten
genommen werden. Wir begegnen einer Anzahl sehr
sauber gekleideter Kinder, die, von einer Diakonisse
geführt, ein deutsches geistliches Lied singen. Unsern
Gruß erwidern die Kinder artig in deutscher Sprache.
Nachdem wir die La ndungs brücke, die für unseren
Kaiser gemacht war, besichtigt und einen sehr schönen
Ausblick auf die lange Straße genossen, setzen wir uns in
eigenartigeWagen.diemitje drei Pferden bespannt sind.
Schon das Hiaufsteigcn ist eine Turnübung. Die beiden
Seiten sowie die Rückwand sind mit Leinwand über-
spannt, die bei gutem Wetter hinaufgerollt wird. Wir
fahren das Mittelmeer entlang. Vorunsist der Karmel.
der ganz kahl und steinig sich stundenlang hinzieht.
Am Abhang dieses Gebirges sind Mönche beschäftigt,
das Ackerland von den vielen Steinen zu befreien. S"e
wollen hier Wein anbauen. Am Gipfel des Gebirges
steht das berühmte Carmebter- Kloster an der Stelle,
an der Prophet Elia die Baalspriester verhöhnt und die
abtrünnigen Juden wieder zu Gott geführt bat. Eine
mehrere Kilometer um das Gebirge laufende Mauer
grenzt die gewaltigen Besitzungen des reichen
Klosters ab. Wir kommen nun an fruchtbaren
Gegenden vorbei, sehen Karawanenztige vorüberziehen
und auf dem Felde die Fellachen die schwersten
-Arbeiten verrichten. Das ist die Straße, die die
Kreuzfahrer gezogen sind. Traurigen Blickes sehen
wir auf die Ruinen von Athlit, wo der letzte \'er-
zweiflungskampf der Juden gegen die Römer statt-
fand. Nach kurzer Rast fahren wir bis zur Kolonie
Sichron Jacob. Wir steigen ab und sehen die üppigsten
Anlagen, Mandelbäume in schönster Blüte, Orangen-
und Olivenbäume, namentlich Weinpflanzungen.
Schon die ersten Häuser machen einen guten Eindruck,
fast alle sind aus Mauerwerk erbaut und sehen wie
neu aus ; die Straßen sind chaussicrt und sehr sauber,
auch Wasserleitung ist vorhanden. Wir steigen wieder
in unsere Wagen und halten unsem Einzug in die erste
jüdische selbständige Kolonie. Vor dem Holol steigen
wir ab, das zwar für uns keine Bequemlichkeit bietet,
aber für die kleinen Verhältnisse der Kolonie mehr als
ausreichend ist. Während wir den Kaffee einnehmen,
erscheint der inzwischen von unserer Ankunft benach-
richtigte Vertreter der Administration, stellt sich mir
vor und erwähnt unter anderem, daß er von der
AUiance ausgebildet wurde. Er zeigt uns die Kolonie,
das schöne, in einem großen Garten liegende Hospital,
und führt uns dann zu den Rothschildschen Kellereien.
Hier stein sich uns der Direktor Gutlmann vor,
ebenfalls ein ehemaliger Alliance-Schüler; wir erhalten
angezündete Kerzen und werden in die Tiefe hinab-
geführt, wo an den Wänden in drei Etagen riesen-
große Fässer aufgestapelt sind, die alle mit dem
edelsten Naß gefüllt sind. Hier lagern
13 000 Hektoliter Wein. — Diese schönen Fässer sind
von Alliance-Schülern selbst gefertigt, die das Holz,
das aus Europa geliefert wird, hier an Ort und Stelle
verarbeiten. Nachdem wir in die großen Räume ge-
führt wurden, in denen die ganze Weinbereitung
vor sich geht, auch die große Kognakfabrik ein-
gehend besichtigt und bewundert haben, gehen wir in
die Synagoge, die schön und geröumig ist. Hier fiel
mir besonders auf, daß an den Wänden die Namen der
Stammväter und -Mütter und verschiedener Propheten
und Könige angeschrieben waren. — Die Bauern
kamen so, ^-ie sie gerade angezogen waren, zum Gebet.
— Dann besuchen wir die Bibliothek und die Lesehalle,
die unser Interesse sehr in Anspruch nahmen. Die
jüdischen Kolonisten arbeiten tagsüber schwer, und des
Abends suchen se s'ch noch fortzubilden. Wir wurden
hier von einem Manne empfangen, der nach Feierabend
das Amt eines Bibliothekars verwaltet. Er zeigte uns
die reichhaltige Bibliothek, die französische und
jüdisch-deutsche Bücher enthält. Inder anschließenden
Lesehalle legen einige Zeitungen aus. Auf dem Rück-
wege treffen wir eine Anzahl Kinder, alle kräftig und
gesund ; sie sprechen hebräisch und freuen sich, wenn
einige von uns ebenso antworten. Die Kinder erhalten
in einer Knaben- und Mädchenschule Unterricht in
Hebräisch, Türkisch und Französisch und gewinnen
auch die elementarsten Kenntnisse, die sie in ihrem
zukünftigen landwirtschaftbchen Beruf brauchen.
Jn dieser ganzen Kolonie, die an 1000 Seelen zählt,
wohnen nur Juden. Sie verwalten den Ort ganz allein
und wählen alljährlich sieben Personen, die das
Regiment führen. Den Wein, d. h. die Trauben ver-
kaufen sie an die Hothschildsche Administration.
Alle sind Rumänen. Sie wären mit ihrem Lose .sehr
zufrieden, wenn sie nicht, da sie türkische Untertanen
worden mußten, von denStcuerpächtern der türkischen
Regierung allzusehr bedrückt würden. Obwohl das
Gesetz nur eine Abgabe von lO'/o vorschreibt, erreicht
diese durch die gesetzwidrige Schätzung 25'/,, und
noch mehr. — Beim Abendbrot, das mehr als
frugal war, saßen wir alle beisammen. In einer kurzen
Theodor Oschinsky: Mein Aufenthalt Jn Palästina.
Betrat. AlllancC'KnabeiuchuIe.
Ansprache, die alle andächlig anhörten, dankte ich
zunftchst . Gotl, daß er iins wohlbehalten hier in
PalSstina hat ankommen lassen, gedachte der Zeit
der Blüte und des Verfalles unseres Landes, beglflck-
wOnschte uns, daß es uns vergönnt worden, das
heilige Land, wenn auch in der jetzigen Verfassung,
zu schauen, und hob hervor, daß der Allgütige immer
zur rechten Zeit hat Männer in Israel erstehen lassen,
die Vollstrecker seines Willens sind. So hat hier der
Philanthrop Rothschild durch weise Anordnung und
durch Hergabe von großen Mitteln aus der Einöde ein
Paradies geschaffen, in dem so viele Glaubensgenossen
in Freiheit leben und gedeihen können.
Nach dem Abendbrot begaben wir uns, während
draußen starker Regen fiel, und ein Gewitter tobte,
zur Ruhe.
Dienstag, den 27. Februar werden wir um 3 Uhr
morgens geweckt. Nach dem Frühstück sollen wir
trotz des Unwetters in die Wagen steigen. Regen und
Sturm hatten aufgehört, aber pechschwarze Finsternis
hüllte das Dorf ein. Wir weigerten uns, in dieser
Dunkelheit abzureisen. Erst um 5 Uhr setzten wir uns
beim Schein unserer elektrischen Taschenlampen in
die Wagen. Das naßkalte Wetter, das spritzende
Wasser, die kleinen und großen Tümpel, die sich durch
Regen gebildet hatten, machten die Fahrt mehr als
ungemütlich.
Mit Anbruch des Morgens fahren wir bei der
jüdischen Kolonie Hedera vorbei, die leider wegen
des sumpfigen Geländes vom Fieber viel heimgesucht
wird. Durch Anpflanzen einer großen Zahl
Eukalyptus- Bäume sucht man jetzt den Sumpfboden
auszutrocknen, der dann noch durch künstliche Ent-
wässerung zu fruchtbarem Boden gemacht wird.
Plötzhch wird bei einem kleinen Sumpf Halt gemacht.
Der Sumpf war zur Zeit der Kaiserreisc überbrückt
worden. Seit dieser Zeit haben Stürme und Regen die
Brücke forlgerisscn. Kein Mensch, keine Regienmg
kümmert sich um ibreiWiederherstellung.
Alle müssen aussteigen, ein FObrer geht
in das Wasser hinein, wir reißen mit
großerMühe aus dem noch feststehenden
Teil der Brücke Steine heraus, werfen
sie ins Wasser imd schaffen uns so die
Möglichkeit, einigermaßen trockenen
Fußes an das jenseitige Ufer zu gelangen.
Unsere Damen werden ron dem Führer
hinübergetragen. Die leeren .Wagen
werden abseits an einer seichteren Stelle
herübergezogen. Der Gepackwagen aber
■ bleibt trotz der Assistenz der anderen
Pferde im Wasser stecken. Die Gepäck-
stücke müssen deshalb heruntergeworfen
werden, und dann endlich kommt auch
dieser leere Wagen hinüber. Nach kurzer
Rast geht es weiter, bis nach Verlauf
einer halben Stunde sich ein ähnliches
Manöver abspielt.
Die Wege werden wieder so schlecht,
daß wir mit unseren Wagen bald nach
der einen, bald nach der anderen Seite
neigen und uns fortwährend bemühen
i Wagen das Gleichgewicht herzustellen.
Endlich, um die Mittagszeit, wird ein einsames Haus
sichtbar. Rasch streben wir diesem Ziele zu. In der
einzigen Stube dieses Beduinenhauses wird aus den
Brettern der Bettstellen ein langer Tisch hergestellt,
und hier werden unsere Speisevorräle ausgepackt.
Trotz der Unappetitlichkeit der ganzen Umgebung
essen wir, weil wir hungrig geworden sind, wir halten
uns jedoch nicht lange auf und steigen wieder in unsere
Wagen. Wenn auch eine Strecke lang die Wege etwas
besser werden, glauben wir manchmal doch uns auf
einer Berg- und Talfahrt zu befinden : tief hinab geht
es in sausendem Lauf, dann strengen sich die Pferde
an, wieder die Höhe zu erklimmen. Das Schütteln
war zeitweilig so arg, daß immer einer im Wagen die
Aufsicht übernehmen mußte und an den fraglichen
Stellen kommandierte: Festhaltenl damit man nicht
aus dem Wagen geschleudert werde. — Gute,
mit Kies bestreute Wege führen uns darauf an der
jüdischen Kolonie Pethach Tikwah vorbei. Große
Kakteenzäune und Spalierobst grenzen die einzelnen
Felder von einander ab, auf denen hauptsächlich
Orangenbäume sich befinden. Die Kolonie konnte
in diesem Jahre die beste Orangenernte verzeichnen.
Wir fahren weiter, abwechselnd von Regenschauern,
Sturm und Sonnenschein begleitet. Wir warten auf
unseren Gepäckwagen, da jetzt bei Eintritt der
Dämmerung Beduinenzelte -sichtbar werden, deren
Insassen sich auf Raub verlegen. In der Tat wollte
ein Beduine auf einen Wagen springen, um sich zu ver-
gewissem, ob sich die Ausraubung des Gepäckwagens
ermöglichen lasse. Wir haben ihn jedoch verscheucht,
— Die Sonne ist gesunken. — Die Dämmerung dauert
nur ganz kurze Zeit, sofort herrscht tiefste Finster-
nis, die nur hin und wieder dem Mondlicht weicht.
Klar und deutlich treten plützhch die Sterne her-
aus, ein unvergeßlicher Anblick ; wir glauben, die Sterne
greifen zu können, so groß und nahe erscheinen sie uns.
Theodor Oschinsky: Mein Aiifenlhall in Palästini.
Um 8 Uhr abends machten wir bei
einer Steiamühle Rast. Nur 1>/, Stuodeo
■fiollten ims nunmehr von dem heiß-
■ereehoten Ziele, von Jaffa, trennen.
Um 9 Uhr brachen wir in pechschwarzer
Nacht auf, von heulendem Sturm be-
gleitet. Bald stockte die Fahrt, da
auf den schlechten Wegen die Wagen
nur ruckweise vorwärts kommen konn-
ten ; bald waren wir in eine Grube hinein-
-gefabren, bald war das Pferd eines
anderen Wagens gestürzt. — Sobald der
Mond verschwand, waren wir ganz trost-
los, da an ein Weiterfahren nicht zu
Jenken war. — Regenschauer, Schlössen
fielen auf uns hernieder, der schreckliche
Sturm peitschte den Regen in die Wagen
hinein, deren Insassen ängstlich wurden.
Plötzlich legt sich ein Wagen ganz be-
dächtig auf die Seite. Mit ^ühe
springen die Insassen hinaus. Auch aus
den anderen Wagen steigen fast alle
heraus, einige Herren übernehmen die
Führung und suchen, langsam voraus-
gehend, den besten Weg. Einige Zeit geht es so. Von
der Spitze aus ertönen die Kommandoworte und
werden von einem Wagen zum anderen weiter ge-
geben, bis wir uns wieder an einem Abhänge be-
finden. Hagel und Regen sausen auf uns hernieder,
der Sturm heult, die Damen der Gesellschaft bekommen
mit wenigen Ausnahmen infolge der seelischen Auf-
regung Weinkrämpfe, einige ältere Herren flehen
mich an, nicht weiter fahren zu lassen, sondern hier
den Morgen zu erwarten. Wir fahren trotzdem weiter;
viele wollten nicht mehr in die Wagen hinein und
gingen hinter dem letzten Wagen im größten Schmutze
bei Sturm und Regen ca. anderthalb Stunden, bis sie
nicht mehr weiter konnten. Wir sehen in der Nähe
Lichter, fahren noch eine Viertelstunde weiter, dann
aber wollen wir nicht ins Ungewisse; wir machen
Halt. — Unser Führer ist bereit, nach der Kolonie zu
gehen und um Hilfe zu bitten. Es vei^eht eine
Viertelstunde, eine halbe Stunde, es dünkt uns eine
Ewigkeit. — Zwölf dumpfe Schläge durchhallen die
Nacht, wir mußten uns in der Nähe von Jaffa befinden.
Endlich kommt unser Führer in Begleitung eines
Kolonisten und eines Dieners, der eine Laterne mit-
bringt. Wir erfahren, daß wir uns auf dem rechten
Wege befinden und erhalten die Laterne geliehen, für
die ein Pfand von 20 Franks hinterlegt werden mußte.
Unser Führer erzählte uns, wie er zu den Kolonisten,
einer Württembei^schen Niederlassung, gekommen
sei. Mehrere Minuten mußte er trotz Rufens und
Pochens am Tore warten, die Hunde schlugen an, und
endlich auf den Ruf Hilfe! deutsche Leute in Gefahr!
erbarmte sich seiner ein Kolonist, zog sich an und kam
mit einem starken Stock bewaffnet und mit einem
Knecht, der die Laterne trug, bis zu unseren Wagen.
Nun wurden wir wieder guten Mutes. Beim Scheine
der Laterne rückten wir langsam vorwärts und kamen
morgens nach Jaffa in unser Hotel.
Mittwoch, den 28. Februar besuchte ich bald nach
Rothachildscbule In Jerusalem.
dem Frühstück die Alliance- Knabenschule. Die
Kinder sind weit vorgeschritten, und was namentlich
in Erstaunen setzt, ist, daß kleine Kinder schon drei
Sprachen lernen bezw. sprechen. Die Stadt selbst
unterscheidet sich kaum von anderen orientalischen
Städten. — Nach Tisch fuhren wir durch die Stadt zum
Bahnhof. Es fallen mir hier besonders die vielen
hebräischen Schilder auf, wie z. B. Raufe Schinajim
(Zahnarzt).
Wir erhalten einen Salonwagen und fahren nach
Jerusalem. Wir kommen an Orangengärten vorbei, die
voller Früchte sind. Man muß staunen, -wenn man
sieht, daß ein solches Bäumchen hunderte von selten
großen Orangen trägt. So weit das Auge reicht,
sieht es nur' diese Bäume, später wechseln sie mit
Olivenwäldern ab. — Wir fahren bei Jaron vorbei,
Stadt Jasur, durch Simson bekannt, dann bei
Bethdagan, bei Ramleh, Ekron vorbei, endlich bei
Zoreah, dem Geburtsort Simsons. Nach kurzer
Fahrt kommen wir ins Gebirge Juda. Die Eisenbahn
geht fortwährend durch dieses Gebirge in den ver-
schiedensten Windungen, ein Anblick, der wahrhaft
überwältigend ist. Wir kommen auch bei der Höhle
vorbei, in der sich Simson verborgen hat, dann bei
Bethar, wo Bar Kochba nach 2'/, jähriger Regierung
von den Römern unter Sevenis besiegt wurde und wo
so viel Blut geflossen sein soll, daß es bis ins Mittelmeer
sich ergoß. Dann kommen wir bei Emek-RefaJm
vorbei, wo David seine Schlacht mit den Philistern
geschlagen hat, und bei Glchon, wo Salomon zum
König gekrönt worden ist.
Endlich kommen wir in Jerusalem an und werden
feierlich durch den Sohn des Ghacham Baschi
empfangen, der uns den Willkommgruß seines
greisen Vaters überbringt. Wir besteigen die bereit-
stehenden Wagen und fahren durch das Jaffa-Tor bei
Migdol-David in unser Hotel. — Von unserer Terrasse
aus bietet sich ein herrliches Panorama unseren
Theodor Oschinsky: Mtin Aufenihalt in Palästina.
Blicken dar. Von der Stadt Jerusalem, die ca. 700 m
über dem Meeresspiegel Hegt, sieht man die kuppel-
gekrönte Synagoge, die Omarmoschee, die Grabes-
kirebe, das Jaffa-Tor, das Davids-Tor und die Davida-
burg mit ihrem hoben historischen Turm. Mit
wehmütigen Empfindungen, Tränen in den Augen,
ateht man an den Trümmern unserer einstigen Größe
und muß sieh in den Willen Gottes fügen; sonst be-
greift man nicht, wie es selbst einer noch viel größeren
Übermacht bei dieser natüHichen und künstlichen
Festung möglich sein konnte, hier einzudringen.
Freilich geschah dies, nachdem die heldenmütigen
Verleidiger durch Hunger geschwächt war. n.
Die eigentliche alte Stadl ist von einer 22m hohen,
ca. vier Kilometer langen Mauer umzogen. Die beiden
Hauptstraßen kreuzen sich in der Mitte und teilen die
Stadt in vier Quartiere, das muslimische, das jüdische,
das armenische und das griechisch-französische. Die
Gassen sind winklig, an manchen Stellen überwölbt,
schlecht gepflastert und bei Regenwetter sehr
schmutzig. Die Häuser sind aus Stein gebaut, alle
Flächen sind zum Abfangen des Regenwassers ein-
gerichtet, das in die im Hofe befindliche Zisterne
geleitet wird.
Unter den 60 000 Einwohnern Jerusalems sind
40000 Juden, die zum großen Teil von den Spenden
europäischer Glaubensgenossen, der Chalukka, leben.
— Diese Chalukka ist ein Verderb für die Juden
Jerusalems, sie erzieht von Kindheit an zur Bettelei
und zum Nichtstun. Die Alten und die Jungen
lernen in der Jeschiba und schicken ihre Kinder
nicht in die Schule, da sie sonst von der Chalukka
ausgeschlossen sein würden. Aber schon fängt
es auch dort an zu tagen. Es haben sich mehrere
junge Leute zu einer Vereinigung zusammenge-
schlossen, deren Mitglieder die Chalukka zurückweisen
und nur durch Arbeit ihr Brot verdienen.
Rothachtidachule in Jerusalem.
In unserem Hotel erwartet uns schon eine Depu-
tation der Eveline von Rothschild-Mädchenschule, die
uns zu einer Vorstellung in der Schule nach dem
Abendbrot einlädt. Wir nehmen die Einladung
an und werden von Lehrerinnen abgeholt. — Das
Programm war sehr reichhaltig. Zuerst wurden
Reigentänze aufgeführt, dann wurde deklamiert. Mit
großem Geschick' wurde dann eine Harems-Szene
arrangiert. Ein überaus schönes Mädchen stellte die
eine der Haremsdamen vor und zog durch guten
Gesang, graziösen Tanz und Anmut aller Blicke auf
sich. In der Ruth-Szene wirkte ihr herrliches Spiel
bezaubernd. Als trauernde Tochter Zions trat ihr
blendend weißes Gesicht in der schwarzen Witwen-
kleidung ganz besonders hervor. Bebenden und
trauernden Herzens fühlten wir mit der Armen, die
über einen Leichenstein gebeugt, verzweifelnd ihrem
Kummer Ausdruck gibt. Zum Schluß erscheinen alle
Darstellerinnen und singen mit Fahnen in den Händen
begeistert ein Zionsljed. Diese Vorstellung machte auf
uns einen überwältigenden Eindruck. Wir dankten
der Lehrerin der Schule, Fräulein Landau, herzlichst
und gaben einige Spenden für die armen, kleinen
Kinder, die meist zuhause nichts zu essen und kaum
eine Schlafstelle bei ihren armen Eltern, in den elenden,
jeder Beschreibung spottenden Wohnungen haben.
In dieser Schule bekommen sie als Mittagsmahl:
trocknes Brot und einige Üliven. Manchmal essen
sie nicht alles und nehmen die vom Munde abge-
sparte Nahrung den Eltern mit. Ein solches Elend zu
bekämpfen, reichen alle Mittel, reichen alle Wohl-
tätigkeitsantalten nicht aus; es wird erst dann auf-
hören, wenn die Juden die Landessprache beherrschen
und zu Arbeitern erzogen werden, die lesen, schreiben
und rechnen können.
Am nächsten Tage sollten wir nach Hebron
fahren. Da erklärte unser Führer, daß die Wege
unpassierbar seien. Ein Teil
unserer Gesellschaft entschloß
sich, zum Toten Meere,
Jordan und Jericho, der
andere Teil nach Bethlehem
zu fahren. Die Reise >zum
Toten Meere geht zunächst
in' das Tal Kidron hinunter,
dann bei Bethanien vorbei,
nach unzähligen Windungen,
es sind fast 1200 Meter zu
üben^-inden, kommt man am
Meeresiifer an. Totenstille
herrscht überall, kein Lebe-
wesen ist zusehen." Das Meer
ist spiegelglatt. Einige aus der
Gesellschaft baden hier; sie
sind erstaunt, daß sie nicht
untersinken, selbst die Beine
werden von dem Wasser in
die Höhe getrieben. Von da
fahren sie nach Jericho. Was
ist aus dieser einst so stolzen
Stadt geworden! Ein ganz
ärmliches Fell ach endorf mit
Haremipiele. ^'"'K"^" besseren Hotels!
Theodor Oschinsky: Mein Aufenthalt in Palästina.
Von da png es zur JordanFurt. Interessanter ist
die Reise nach Bethlebem. Wir fahren bei dem
Gehinnom-Tale vorbei in langer Fahrt bis zum Elias-
kloster. Dieses Kloster ist von Kreuzfahrern ge-
gründet worden. Am Grabe Rahcis machen wir halt
und besuchen die Grabstätte unserer Erzmutter.
Durch einen niedrigen Eingang gelangt man ins Innere
der Grabkapelle, zu der nur die Juden den Schlüssel
haben. Von der Decke hängen große eiserne Leuchter
herab, die ÖUämpchen fassen. Viele verrichten hier
ihre Gebete und zünden zum Gedächtnis an die Ver-
storbene ein Lämpchen an. Diese wehmütige Er-
innerung wird einigermaßen gestört, als unser Führer
uns einige Briefe zeigte, die abergäubische Männer und
Frauen an Rahel geschrieben haben, von der sie Er-
füllung ihrer Bitten erhoffen. Von da geht es weiter
nach Bethlehem, der Geburtsslätte König Davids.
Wir besuchen hier die Geburtskirche. Durch eine
SSulentorhalle, deren Säulen von dem Tempelplatz
genommen sein sollen, gelangt man in die Haupt-
kirche, wo an drei streng von einander getrennten
Altfiren und Gebetsstellen die drei Sekten ihre Gebete
verrichten. Eigentümlich mutet es uns an, mitten in
der Kirche einen türkischen Soldaten stehen zu sehen,
der mit geladenem Gewehr Wache hält. Die drei
Sekten, Armenier, Griechen und Katholiken, streiten
miteinander um die Oberherrschaft. Da solche
Streitigkeiten, die oft einen blutigen Ausgang nehmen,
sich wiederholten, so hat die türkische Regierung auf
Intervention der ausländischen Mächte eine ständige
Wache in die Kirche beordert. — Nachdem wir noch
von einer Baustelle aus das Feld des Boas gesehen
haben, gehen wir in die verschiedenen Bazare, in
denen uns namentlich Perlmutterarbeiten auffallen.
— Nachmittags fahren wir auf einem Wege, der seiner-
zeit für unsem Kaiser hei^^esteUt wurde, zum Olberg,
von dessen Turm selbst ohne Femglas das Tote Meer
und der Jordan zu sehen sind. Bei verschiedenen,
wunderbar erhaltenen Bauten führt unser Weg vorbei
so z. B. an der Besitzung Calba Sabuahs, jetzt einem
Araber gehörig. Wir steigen hinab und bewundem die
aus dem Felsen gehauenen Stufen, die eine Breite von
acht Meter haben; wir kommen zu den beiden
Brunnen, die in alter Zeit dem Besitzer als Bad ge-
dient haben, darauf durch ein großes, durch die Fels-
wand gehauenes Tor hinab auf einen großen Platz.
Hier sind die KönigsgrSber. Von da kriecht man mit
Lichtem in der Hand durch eine kleine Öffnung in
die eigentliche Gruft. In die Felswandungen sind
fünf große, viereckige Öffnungen eingehauen, die die
Sarkophage aufgenommen haben. An der Seite führt
eine kleine Öffnung hinab auf einen Weg, der unter-
irdisch bis nach Safed führen soll.
Freitag, den 2. März Besichtigung der Lämel-
Schule, die außerhalb der inneren Stadt in schönster
Lage sich befindet. Ein schönes, aus Stein errichtetes
Gebäude mit großen, hohen und hellen Schulzimmern,
bestehend aus neun Klassen. Wir fanden überall
staunenswerte Resultate, selbst die kleinsten Kinder
sprechen mehrere Sprachen, deutsch, französisch,
hebräisch und arabisch, in der Seminarklasse wird
gerade Schiller (Die Kraniche des Ibykus) vorge-
nommen, in einer anderen Klasse die schlesischen
Kriege zwischen Friedrich und Maria Theresia.
Darauf besuchten wir die Kindersehule (Kinder-
garten). Hier antworteten die Kinder, kaum vier Jahre
alt, hebräisch. Von da gingen wir zur AUia nee -Schule
und auch zur Alliance- Handwerkerschule. Die Ge-
bäude dieser Schulen nehmen einen sehr groCen Raum
ein. Da die Zeit knapp bemessen war, besichtigen wir
heute nur die Handwerkerschule. Der Direktor dieser
großen und sehr verzweigten Anstalt, selbst ein früherer
Schöler der Alliance, der in Damaskus und Paris aus-
gebildet wurde, beweist große Umsicht und Tüchtig-
keit. — Wir gehen zuerst in die Möbeltischlerei und
sehen eine gerade fertig gewordene, schön geschnitzte
Zimmereinrichtung, die für einen reichen Zionisten in
Jaffa bestimmt ist, — Wir kommen dann in den
Zeichensaal, erfeuen uns an den schönen Zeichnungen,
die sämtlich von Schülern gemacht werden, die unter
einem Meister stehen, der ebenfalls seine Ausbildung
bei der Alliance erhalten hat. Wir sehen modellieren,
auch fertige Modelle, und kommen dann zu den
Metallarbeitern. Hier sehen wir Kupfer in Formen
gießen, auch die fertigen Abgüsse und kupferne Gefäße
stanzen. Dann besichtigen wir die Schlosser- und
Schmiedewerkstatt, Wir sehen die Metalldrechsler
den Stahl bearbeiten, und kommen in die Woll- und
Seidenweberei, die einen sehr großen Umfang hat.
Mit dem Aufspulen der Fäden werden viele arme
351
Theodor Oschinsky: Mein Aufenthalt in Palästina.
352
Kinder, alte Frauen und Männer beschäftigt. Die
sonst auf der Straße bettelten, werden, wenn auch
bei geringem Verdienst, zur Arbeit angehalten. In
anderen Räumen sind die Färbekessel untergebracht
und auch die Trockenplätze. Wir sehen Haarnetze,
von denen man glaubte, ein Stück in der Hand zu
haben, während es vier Dutzend waren. — Wir be-
suchen die Bäckerei und lassen uns ein eben
Tertig gewordenes Brot aus dem Ofen herausnehmen.
Inzwischen ist es Mittag geworden; die Arbeiter
versammeln sich vor dem Speisehause; es sind ca.
1000 Personen, die hier gespeist werden. Wir be-
sichtigen noch den Krankensaal und die Synagoge.
Selbstredend ruht jede Arbeit am Sonnabend und
auch an den Feiertagen, Wir besichtigen die Schlaf-
säle, die sehr luftig und rein sind, ferner die große
Küche und den Eßsaal. Beim Verlassen der Räume
gehen wir über den Hof, auf dem bei Erbauung dieser
Handwerkerschule bei Ausgrabung des Grundes zwei
steinerne Sarkophage gefunden wurden.
Nach Tisch besichtigen wir das Rothschild'sche
Krankenhaus jund werden von Herrn Dr. Michalo-
witsch, dem dirigierenden Arzt, herumgeführt. Es
besitzt 35 Betten, das Wärterpersonal besteht aus sechs
Leuten, die tüchtig geschult sind und unter Um-
siändMU^uch die Assistenten vertreten müssen. — Im
UntQjrätocl?%t. eine gut eingerichtete Apotheke, ein
Laboratorium, für deren Erhaltung, Ausrüstung und
Ergänzung der Chemikalien die Rothschild'sche Ver-
waltung in Paris Sorge trägt. In diesem Kranken-
haus, das durch Rothschild erhalten imd unter-
halten wird, finden nur Arme Aufnahme. Wir
besichtigen dann die Alterversorgungs-Anstalt, in der
130 Personen untergebracht sind, kommen in die
Küche und bewundern hier den großen Schaletofen für
die Speisen und den Tee, die bereits für den moipgen
Sonnabend fertig sind.
Nachdem wir auch die drei kleinen Synagogen
uns angesehen haben, gehen wir in die Irren- und
Siechenanstalt, die durch unermüdUche Arbeit von
wohltätigen Frauen errichtet wurde und einem
dringenden Bedürfnis abgeholfen hat. — Früher haben
diese unglücklichen Kranken die Straßen unsicher
gemacht. — Wir kommen nun in die Waisenanstalt,
in der zwar nur 30 Waisenkinder untergebracht sind,
aber 80 Kinder verpflegt werden.
Von dort gehen wir weiter durch das jüdische
Viertel zwischen hohen Mauern durch das Zionstor.
Hier ist der Eingang zur Stadt Zion, hier lagen früher
die Wohnungen König Davids und Salomos. Hier sollen
in den Gewölben, zu denen die Türken den Eintritt
nicht gestatten, die Gräber Davids und Salomos
liegen. Wir schreiten durch das Judenviertel:
furchtbare Gassen, die trotz großen Verkehrs wenig
Licht und Luft haben; sie machen einen traurigen
Eindruck.
Wir besichtigen den Tempel des Rabban
Jochauan ben Sackai und gehen auch in die drei Bet-
schulen, die hinter diesem großen Gotteshause neben-
einander liegen. Auf einem großen, freien Platze
sehen wir die Häusergruppen, die von den Philanthropen
der einzelnen Ländergruppen gestiftet worden sind.
Sehr schön und massiv gebaut, dienen sie armen
Leuten zur Wohnung. Bei dem großmächtigen Ge-
bäude, in dessen Inneren das Synhedrion zu Gericht
gesessen, das auch heute dem türkisch-religiösen
Gerichtshof als Gerichtsstätte dient, machen wir
Halt. Wir können von hier aus den alten Tempelplatz
mit der Omar-Moschee und auch die Klagemäuer
erblicken.
• Auf der Via Dolorosa begeben wir uns zurück
und besuchen die Jeschiwa. — Hier herrscht
die größte Sauberkeit, die strengste Disziplin, hier
werden die jungen Leute beköstigt, hier haben sie
ihre Schlafstätte. Winklige Gassen weisen uns den
Weg zur Klagemauer. Der Raum an dieser Mauer ist
ca. fünf Meter tief und 150 Meter lang. Vier große
Quadersteine übereinander sind die einzigen Reste
vergangener Pracht. Der Grund der Mauer liegt noch
etwa 20 Meter unter der Erde. An dieser Mauer stehen
Juden und Jüdinnen, und schicken klagend und weinend
ihre Bitten zum Himmel. Heute, da es gerade Freitag
Abend ist, sieht man die Andächtigen in vielen, vielen
Gruppen Gebete verrichten. Man sieht hier die eigen-
tümlichsten Trachten. Hier steht ein Pole mit langem
blauem Sammetmantel, dort ein Rumäne, dort ein
Russe, ein Ungar, ein Deutscher; alle in den ver-
schiedensten Kostümen. Seidene rote, blaue, gelbe,
braune Kaftane verhüllen die meist sehr langen
Gestalten, und eine Sammetmütze mit Pelzborte
bedeckt den Kopf. Wir besuchen die kleinen
sephardischen Betschulen, verrichten in dem großen,
aschkenasischen Tempel unser Gebet, machen noch
einen Abstecher zu den Kabbalisten, die in weiße
Mäntel gehüllt auf hohen Bänken, die Füße unter-
geschlagen, sitzen.
Am nächstenTage, Sonnabend, den 3. März,
werden wir nach dem Gottesdienst von den Direktoren
der AlUance- Schule erwartet und gehen unter ihrer
Führung durch eine Gasse, die sonst ein Jude unge-
fährdet nicht betreten kann, nach dem französischen
Hospiz. In liebenswürdigster Weise erklärt sich ein
Bruder bereit, uns alle Räume dieses ungeheuren
Komplexes zu zeigen. Vom Dach aus haben wir
einen großartigen Ausblick über ganz Jerusalem.
Hier sieht man die Omar-Moschee, die Erlöserkirche
und die Hauptsynagoge in einer Linie zusammen-
stehen. Auf der einen Seite die Trümmer des alten
Jerusalem, auf der anderen Seite Neu-Jerusalem mit
seinen Neubauten der deutschen, russischen, englischen
französischen und ungarischen Kolonien. — Wir
folgen einer Einladung in die Blindenanstalt. Wir
wohnen dem Unterrichte bei. Diese Unglücklichen
lesen uns aus ihren Büchern vor, indem sie mit
unglaublicher Schnelligkeit die einzelnen Buchstaben
abgreifen. Dann zeigt man uns die Werkstätten, in
der sie Bürsten aller Art anfertigen, Rohrstühle
flechten und sonst noch allerlei Handfertigkeiten aus-
üben. Auch die Mädchen und die kleinen Kinder
suchen wir auf, die uns zu Ehren einen Gesang an-
stimmen und von denen dann zwei ein Duett vor-
tragen. — Nach Tisch besuchen wir die National-
bibhothek. In einem Gebäude, das zu dieser Zeit
bis zum ersten Stock ausgeführt war, ist die Bibliothok
Theodor Oschinsky: Mein Aufenthalt in Paiävtin.i.
untei^bracht, die von der Bne Brith-Loge gegründet,
durch die Schenkungen eines hochherzigen Mannes in
Bialystock bedeutend erweitert wurde.
Wir setzen unseren Rundgang fort und be-
geben uns in das Allgemeine jüdische Krankenhaus
Schaare Zedek. Wir werden von dem dirigierenden
Arzt Dr. Wallach und dem Vorsteher Herrn Marx
empfangen und herumgeführt, — Wir bewundern
die schönen luftigen Krankenzimmer, das nach den
neuesten Anforderungen eingerichtete Operations-
zimmer, die schönen Korridore upd vor allem die
große Sauberkeit. Separat gelegene große Infektions-
haracken nehmen die mit ansteckenden Krankheilen
behafteten Kranken auf. Geschlechtskranke gibt es
woder hier, noch im Rothschild'schen Krankenhaus.
Sonntag, den 4. März besuchen wir zunächst die
AlUancc-Schule. Sie ist in einem sehr schönen und
großen Gebäude untergebracht. Wir besuchen alle
Klassen und wohnen dem Unterrichte bei. Wir hören
Jüdische Geschichte, Mathematik, Arithmetik, auch
Buchführung und kaufmännisches Rechnen. Wir
waren überaus befriedigt von den Leistungen der
Schüler, die durchweg sehr guten Eindruck
machten. Hier unterrichten elf Lehrer, von denen
zwei von der Alliance ausgebildet sind. Im vorigen
Jahre wurde auch eine Mädchenschule gegründet, die
mit 130 Schülerinnen begann. Auch von den Erfolgen
im Kindergarten mit 75 Kindern waren wir geradezu
überrascht.
Dann gingen wir in die Eveline v. Rothschild'sche
M&dchenschule. Hier werden uns die von den
Schülerinnen angefertigten Arbeiten vorgelegt: die
eine stickt sehr schöne Thorakleider und zieht goldene
und silberne Fäden über die in Pappe ausgeschnittenen
Modelle, andere werden als Modialinnen und
Wfiateiipoliziat.
Schneiderinnen ausgebildet, wieder andere werden
in den Seminarklassen zum Gouvernantenexamen vor-
bereitet. Jedes Jahr kommt ein Prufungskommissar
aus Cairo, der die staatliche Prüfung dieser Schule
abhält. —
Montag, den 5. März fahren wir zeitig nach dem
Bahnhof. Hier herrscht reges buntes Treiben: eine
große Anzahl Bettler aller Konfessionen, Männer.
Weiber und Kinder haben sich eingefunden. Wir
nehmen Abschied von unseren Freunden, die es sich
nicht haben nehmen lassen, uns das Geleit zu geben,
und steigen dann in unseren Wagen. Wir werten
noch einen wehmütigen Blick auf das hohe, heilige
Jenisalem, dann ein Pfiff, und der /.ng setzt sich
langsam in Bewegung.
JerDMlem. Den Zöglingen der hiesigen Alliancc-
Schoien ist von der Leitung iler AHianco Egypten, das
seit der Etablieninj;; der englischen Herrschaft ein Land
Her Freiheit geworden, als Zufluchtsstätte erßRnet worden,
als das Land, in dem sie ihre in den Alliancesciiulen ge-
wonnenen Ffthigkeiten in ungehindertem Wettbewerb ent-
falten und nützen kOnnen. Der glQchlichste Erfolg lohnt
■ lio aufgewendeten Bemühungen und leet Zeugnis datflr
ab, dass die Altiance das richtige getroffen hat, die Zu-
kunft der ihr anvertrauten ZCgliagc zu sichern. Der ganze
Schulunterricht hat dieses Zief im Atwe. Um dieses
Zieles willen haben die Alliance-Schulleiter den l'nter-
richt namentlich im Französischen gepflegt, dessen Kennt-
nis im ganzen Orient und vomehmlicli in Eg>-ptea den
jungen Leuten bei dem Kampf ums Dasein einen Vor-
sprung giebt. Hierbei wie immer war die Alliance einzig
von i^m Wunsch geleitet, das zu tun, was ihren Schütz-
lingen förderlich sein könnte, denn ihr ganzes Werk ge-
hört allein diesen SchntzlinRcn. Die Unterstellunc, 'ftss
die Alliance politische Sonderzweckc im Au e habe, sich
in den Dienst einseitiiier nationaler Bestrelmnf^en stelle,
i;it immer imd überall falsch und irreführeud, nieht selten
liewnast verleumderisch gewesen. Das Verfahren der
.\IIiance hat jetzt die Anerkennung seihst derer gefunden,
die bisher der Meinung gewesen sind, der Sprachunter-
ncht in den Alliance- Schulen des Orients sei narli
nationalen Vo reinireno nunc n heilen geregelt worden und
dürfte eine Umgestaltung nach anderen nationalen Vor-
eingenommen heiton erfaliren. Der HiUsverein hat
sich entschlossen — was alle Anerkennung verdien! —
dem Beispiel der Aliinnci' zu (olgen und in dor
von ihm an der hiesigen Lämel schule ein^ richteten
Handelssch ulklasse, die die jOdischen jungen l.,eute fQr ihr
Fortkommen in Egj'pten vorbereiten soll, für s&mttichc
Kurse die französische Unterrichtssprache einzu-
führen! — Wir registrieren diese Huldigung, die zwar
stumm ist, aber gleichwohl ilie Verdienste der Alliance
lauter preist, als Beredsamkeit vermüchte.
Die Vorkommnisse in Rumänien. Wie an
leitender Stelle in dieser Nummer dargelegt worden ist,
Qusere Leser auch schon aus dem Aprilbeft erfahren
hatten, ist die jAngste Bedrängnis unserer Glanbens-
genosMU in Rnmänien für die Alliance Israölite
UniverseHe nicht äberraschend gekommen, so dass von
ihr ans und von der Israälitischen Allianz in
Wien die Hilfsaktion bereits organisiert und aosgestattet
war, als die Not begann. Grossherzig, wie immer, und
in gTossartigem Massstab stellt« die Jewish Coloni-
sation Association ihre geschulten Kräfte znr Ver-
fügung, nicht far den aagenblicklichen Bedarf, sondeni
ftlr eine weitgreifende und von ihr allein zu leitendi.-
Answandemugspolitik, Vorschauend fasste man vou der-
selben Seite für die in Bedrängnis Zurückbleibenden die
Schaffang wirtschaftlicher Einrichtungen ins Äuge, die sich
an anderen Orten unter der gleichen Leitung bereits
dauernd und glänzend bewährt haben. Das Frankfurter
Hitfscomite fiir die osteuropäischen Juden bot
355
Mitteilungen der Alliance Isra^lite Universelle.
356
Tm?erzäglich seine Beihilfe an und stellte alsbald 50000
Mark dem gemeinsamen Werk zar Vfrf&gnng. Das
American Jewish Gommittee in New York war eben-
ÜEÜls sofort willig, aas den bereiten Geldern herzugeben,
was in reichlicher Bemessung idr jetzt oder später
erforderlich sein würde. Auch der Hilfsvereinder
deutschen Juden hat sich an dem Hilfswerk beteiligt
Ein ?on ihm für Bukarest angeregtes Zentralkomitee wurde
allerdings nicht konstituiert, nachdem die in Aussicht
genommenen Mitglieder erfanren hatten, dass die drei
grossen Organisationen: A.LU., J.C. A.undTsraelitische
Allianz in Wien die Bildung eines solchen Zentral-
komitees z. Z. als nicht zweckmässig erachteten und eine
andere Handhabung der Unterstützungsaktion vor-
geschlagen hatten, an der alle Organisationen mitwirken
können.
Spenden für Rumänien. Wir haben die angenehme
Pflicht, Zeugnis dafür abzulegen, dass die ersten ^itungs-
meldungen von dem rumänischen Aufstand ausgereicht
haben, den rühmlichsten Wohltätigkeits- und Hilfsdrang
bei unseren Mitgliedern hervorzurufen. Der Alliance
Israölite Universelle gingen spontan so reiche Gaben zu,
dass nach wenigen Tagen jeder aktuelle Bedarf gedeckt
war. Ein Mitglied allein übersandte 40000 Mark. Unser
unermüdlicher Freund Dr Salvendi schickte 300 Mark,
Frau H. Schwarzmann ans Kiew, Herr Maximilian Hey-
mann in Berlin, Boonstrasse 9, unser Vertrauensmann
in Ladenburg Herr Julius Kaufmann II, der bei keiner
Sammlung fehlt, überreichten uns je 100 Mark, Herr
Friedrich Tborwart in Frankfurt a. M. beteiligte sich
mit 50 Mark, Herr Heinrich Fränkel in Berlin, Breite-
strasse 28, brachte uns mit 20 Mark noch eine Gabe
von 30 Mark von dem „Stammtisch bei Fehlow^. Herr
Dr. W. Nehab übermittelte uns 5 Mark, Frau Helene
Werthauer in Bergentreich i. W. 1 5 Mark, Herr Bezirks-
rabbiner Schlessinger in Bretten übersendet uns 30 Mark,
die von ihm selbst (1 M.), den Herren Leopold Lob (2 M.),
Max Ellinger (1 M.), Heymann Kochlöffel (2 M.), Julius
Gailiiiger (2 M.), Samuel Veis (1 M.), Lazarus Lichten-
berger (3 M.), Arnold Lämmle (2 M.), Vorsteher Gustav
Lämmle (2 M.), Heinrich Wertheim (1 M.), und den
Schülerinnen der höheren Töchterschule Becha und Hilda
Lämmle, Bella und Betty Lichtenberger, Hertha Koppel,
Lisa und Anna Wertheimer (13 M.) herrühren. — Den
Spendern allen, den genannten wie den ungenannten,
sagen wir herzlichen Dank.
Sitiiing des Bezirks -Gomites Nürnberg. Am
17. März hat das Nürnberger Bezirks -Comit^ der
Alliance Israelite Universelle seine Jahresitzung ge-
halten.
Nachdem der langjährige Kassierer Herr S. Rau
über die KassenverhSltnibse und deren sehr befriedigende
Ergebnisse — die Einnahmen haben eine neue Mehrung
erfahren — Rechenschaft gegeben hatte, wurde ihm
nach Anhörung des Revisors Herrn Th. Oreiff Ent-
lastung zuteil unter dem Ausdruck herzlichen Dankes
für seine vielfachen und erfolgreichen Bemühungeh im
Dienste der A. L U.
Der zweite Vorsitzende Herr Kommerzienrat
Oallioger — Herr Geheimer Hof rat Josephtbal war
durch sein Befinden am Erscheinen verhindert — gab
Bericht über die vierte Jahrestasrung der Deutschen
Conferenz-Gemeiubchaft in Frankfurt am Main, der er
beigewohnt hatte. In Uebereinstimmung mit den in
Frankfurt am Main gegebenen Direktiven und dem
Antrage des Herrn Kommerzienrat Oallinger gemäss
wurde beschlosi>en, dass das Nürnberger Bezirks-Comit^
seine BeitrSge in Zukunft an das Deutsche Bureau
nach Berlin einschickt. Eingehende Erörterung galt
der ferneren Propaganda. Die geeigneten Massnahmen
wurden besprochen und eingeleitet. Die bisheiige Ver-
waltung, bestehend ans dem Herrn Geheimen Hofrat
Jonephthal (l. Vorsitzender), Herrn Kommerzienrat
Gallinger (2. Vorsitzender), Herrn S. Rau (Kassierer),
Herrn Marcus (Schriftführer), wurde wiedergewählt.
An Stelle des Herrn Greif, der aus Altersrücksichten
seine Funktionen niederlegt, übernimmt Herr Schloss
das Amt des Revisors.
Frfllijalirtkuren. In der gesamten organischen Natur zeitigt der Frühling frische Lebenskraft , wie das Pflanzenreich am deutlichsten er-
kennen lisst. Auch im menschlichen Organismus findet Im Frühling eine S&fteverinderung statt, darum ist gerade diese Jahreszeit bestgeeignet für eine
gründliche Aufbesserung des durch schlechte Luft, Mangel an Bewegung und falsche (cwer zu üppige) Ernährung anormalen Stoffwechsels, wodurch
mangelhafte Blutraischung entsteht, als Ursache der meisten modernen Krankheiten Zu diesen zählen: Nervosität, Magen- und Darmleiden, Stoffwechsel-
störungen, Blutarmut, Erkrankungen der Atmungsorgane und viele Frauenleiden. Oegen diese und andere Leiden ist nach den Feststellungen der neueren
Wissenschaft das beste Heilmittefeine Radikalkur in einer erstklassigen physikalisch-diätetischen Kuranstalt, weil nur in einer solchen durch Ineinander-
greifen verschiedener Heilfaktoren eine wirkliche Regenerationskur durchgeführt werden kann. Vor allem ist es wichtig für jeden, der sich leidend fühlt,
solche Kur jetzt sofort vorzunehmen und nicht bis zum Sommer zu warten, weil sonst oft gefährliche Komplikationen entstehen können. Die Frühjthrs-
kuren sind die wirksamsten ! Für diese muss aber eine Kuranstalt durch natürliche Lage und Spezialeinrichtungen auch geeignet sein, sonst ist der Erfolg
und ein zur Anstalt gehörender grossarliger Waldpark bietet bequeme Gelegenheit für Promenaden und Terrainkuren. EMe leicht erreichbare Stadt
St. Gallen bietet Theater, Konzerte etc. ; auch in der Anstalt ist bestens für Unterhaltung gesorgt. Zwei Aerzte und eine Aerztin leiten die Behandlung.
Der für Frühjahrskuren ermässigte Aufnahmepreis beginnt mit ca. 8 Mark pro Tag inkl. alle Kuranwendungen. Ausführlicher Prospekt kostenfrei.
Neekartulmer Naubaftan. Die Neckarsulmer Fahrradwerke A.-Q. Königl. Hoflieferanten Neckarsulm geben die Richtschnur für die neue
Saison an; wir finden auch für 1907 Neuheiten, welche dem Strome der Zeit vollständig Rechnung tragen. Die Einzylinder-Motorräder sind mit einem
3 HP, die Zweizylinder mit 4 und 5«/ HP ergänzt worden; wie leistungsfähig diese Typen sind, beweist ein Zeugnis vom 7. 12. 07 vom Fddberg:
„Trotz schneebedeckter Strasse mit meinem Nedcarsulmer Zweizylinder Feldberg anstandslos erstiegen, so etwas kann man nur mit N. S. U. Ellcr.** Auch
das IV| HP Motörchen hat schon viele Anhänger und wer die Leistungsfähigkeit einmal erprobt nat, ist geradezu verblüfft; selbst Im Winter hat das
einschliesslich Magnetai^parat 38 kg schwere Motorrad schmutzige und steile Strassen durchgezogen ; es liegen darauf bedeutende Bestellungen vor und
frühzeitige Auftragserteilung ist zu empfehlen. Die Neckarsulmer merken nichts von dem Märdien des Aussterbens des Motorrades.
A^«M«
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InsmunaRiiJiMiie nur durcb l^jldsensteitl ^ Uogler H. 6. i» Bertin URd «ere» Tiliale».
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Verantwortlicher Redakteur: Leo Winz. Berlin W. 15. Knesebeckstr. 48/49. - Verlag Ost und West, BerUn \X^.8.
Druck von Beyer & Boehme, Berlin S. 42, Wasserthorstr. 50.
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lUUSTRIERTE MONATSSCHRIFT
FÜR DAS GESAMTE JUDENTUM
Herausgegeben und redigiert
von
LEO WINZ.
Alle Rechte vorbehalten.
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Heft 6. Juni 1907.
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Tn. Jahrg.
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EINE ERINNERUNG.
Nachdruck verholen.
Seit vierzig Jahren spricht die ramänische
Kegienmg aller Gerechtigkeit nnd Menschlichkeit
Hohn, verleugnet sie ihre Verpflichtungen, durch
deren üebemahme sie die Anerkennung der Selb-
ständigkeit ihres Landes von Europa erlangt hat —
und allgemein gilt es beinahe als selbstverständlich,
dass keine der Signatarmächte des Berliner Ver-
trages und dass kein anderer Staat das Recht habe,
bei der rumänischen Regierung vorstellig zu werden,
sie an ihre Pflicht zu erinnern und nötigenfalls zur
Erf&Uung ihrer Pflicht anzuhalten.
Wir sind nicht diplomatisch geschult und
wissen nicht, welche Interessen etwa einer solchen
Intervention im Sinne der Gerechtigkeit und
Menschlichkeit und im Sinne des Berliner Vertrages
bei der rumänischen Regierung im Wege stehen.
Es ist möglich, dass diese Interessen sehr gross
sind; und da wir sie nicht kennen, so wollen wir
auch nicht abmessen, ob nicht das Menschlichkeits-
und Gerechtigkeits-Interesse höher zu achten wäre.
Nur eine Tatsache wollen wir hervorheben, die
Tatsache nämlich, dass es eine Zeit gegeben hat,
in der unsere Diplomatie anderer Meinung war
und f&r das menschheitliche und f&r das Gerechlig-
keits-Interesse eine andere Schätzung hatte. Dazu
dient eine Erinnerung, die heute beinahe märchen-
haft klingt. Am 6. April des Jahres 1866 hat der
Vorstand der jüdischen Gremeinde zu Berlin folgende
Immediatvorstellung an Se. Maj. den König ge-
richtet:
„Noch sind sie in frischer Erinnerung, die
von ganz Europa gebrandmarkten Gewalttaten,
welche während der letzten zwei Jahre an den
Bekennem des jüdischen Glaubens in Rumänien
verübt worden sind. Grausamer aber und schmach-
voller, als jene Greueltaten sind die neuesten
Vorgänge daselbst, grausamer, weil sie nicht gegen
einzehie, sondern gegen die gesamte dort weilende
dort y geborene "jüdische • Bevölkerung gerichtet,
und schmachvoller, weil nicht niedere ungebildete
Massen es sind, sondern ^Staatsmänner und ein-
flußreiche "Volksvertreter, welche durch einen
von ihnen eingebrachten if; Gesetzentwiu*f die
Zivilisation Europas zu beleidigen und zu ver-
höhnen wagen. Denn nur als eine Verhöhnung
europäischer Gesittung kann jener Entwurf ange-
sehen werden, den wir in dem von den Zeitungen
veröffentlichten Wortlaut abschriftlich ehrfurchts-
voll beifügen und der offenbar nur dahin zielt:
die Gewalttätigkeit zu sanktionieren und
durch für die Willkür geschaffene Rechts-
formen die bisher anarchischen Juden-
verfolgungen in gesetzliche umzugestalten.
Ew. Majestät Untertanen jüdischen Glaubens
fühlen sich voll ab Preußen, als Deutsche, und
blicken als solche mit Stolz auf die von Ew. Majestät
befestigte und erweiterte Machtstellung des
deutschen Vaterlandes hin, für welche auch sie
ihre pflichtschuldigen Opfer dargebracht haben
und fernerhin zu bringen stets bereit sind. Treu
dem Glauben ihrer Väter, können sie aber ihren
so schwer geprüften Religionsgenossen auch in
fernen Landen ihre innigste Teilnahme nicht
versagen, dürfen sie nicht schweigen, wenn mit
dem Glücke und Frieden derselben ein frevel-
haftes Spiel getrieben wird.
Dem Thron Ew. Majestät nahen wir daher
mit dem ehrfurchtsvollen Ausdrucke unseres
tiefgefühlten Dankes für die Schritte, welche von
Allerhöchst ihrer Regierung zugunsten unserer
rumänischen Glaubensbrüder bei der dortigen
Landesregierung bereits geschehen sind. Möchten
Ew. Majestät Allergnädigst uns aber noch die
untertänigste Bitte zu gestatten geruhen:
359
Eine Erinnerung.
360
daß es Allerhöchstderseioen gefallen mögei
der bei dem Fürsten des rumänischen Volkes,
einem Glieds des erlauchten preußischen
Königstammes, geschehenen Verwendung den
möglichsten Nachdruck zu geben, um die
Sanktionierung eines unmenschlichen Gesetzes
abzuwehren i^nd dem gegen unsere Glaubens-
brüder versuchten Vernichtungskampfe end-
lich ein Ziel zu setzen.
In tiefster Ehrfurcht usw.
BerUn, den 6. April 1868."
Auf diese Immediat-Vorstellung ist folgende
Antwort ergangen:
„Se. Majestät haben mich beauftragt, die
Immediateingabe des Vorstandes der jüdischen
Gemeinde vom 6. d. M. zu beantworten, worin
derselbe die Allerhöchste Verwendung Sr. Majestät
gegen die Durchführung eines bei der rumänischen
Volksvertretung eingebrachten, die Stellung der
Israeliten betreffenden Gesetzentwurfes nach-
gesucht hat. Infolgedessen benachrichtige ich
den Vorstand der jüdischen Gemeinde ergebenst,
daß ich auf Allerhöchsten Befehl schon nach
Eingang der ersten Nachricht über jenen Gesetz-
entwurf auf telegraphischem Wege Erkundigungen
in Bukarest eingezogen hatte. Hierauf ist mir
aus sicherster Quelle die Mitteilung zugegangen,
daß der gedachte Gesetzentwurf gegen den Willen
des Fürsten Karl eingebracht worden ist, daß
dessen Annahme nicht zu erwarten stehe,'- und
wenn sie dennoch erfolgte, die Sanktionierung
des Gesetzes seitens der fürstlichen Regierung
nicht stattfinden werde.
Wenn somit in dieser Beziehung für den
Vorstand der jüdischen Gemeinde keine Ver-
mlassung zur Beunruhigung vorhanden ist, so
aat die Königliche Regierung auch nicht unter-
lassen, jetzt ebenso, wie es bereits bei früherem
\nlasse geschehen, infolge der in neuester Zeit
»rerbreiteten Nachrichten über angebliche Juden-
verfolgungen in der Moldau, in Bukarest Vor-
stellungen machen zu lassen, und es ist uns hierauf
die Zusichenmg erteilt worden, daß Maßregeln
getroffen seien, um jede etwaige Beunruhigung
der israelitischen Glaubensgenossen zu verhindern.
Der Minister der auswärtigen Angelegenheiten.
gez. Graf v. Bismarck."
Graf Bismarck, Kanzler des Norddeutschen
Bundes, hat freilich noch lange genug gelebt, um
seine Politik Rumänien gegenüber zu ändern und
die Folgen dieser Aenderung zu sehen. Wir sind
davon überzeugt, dass Vielen, sehr Vielen, die
Politik des Grafen Bismarck Rumänien gegenüber
vor der sogenannten Sanierung der rumänischen
Eisenbahnen besser, viel besser gefallen wird, als
die Politik des Fürsten Bismarck, die dieser
Sanierung folgte.
KLEINERE JUEDISCHE SPRACHGEBIETE.
Von Dr. S. Bcrnfeld.
Nachdruck verboten.
Seit über zwei Jahrtausenden ist die Elr-
scheinung zu beobachten, dass überall, wo sich
Juden in einer grösseren Zahl niederlassen, im
Laufe der Zeit eine jüdische Literatur in der
Landessprache entsteht. Die Juden fanden stets
und überall etwas vor, was ihren Geist anregte
und dazu bewog, sich darüber zu äussern. Sie
konnten das, was ihr Inneres beschäftigte, niemals
für sich bebalten, und so entstand ein Gedanken-
anstausch, ein teils nationales und teils kosmo-
politisches Schrifttum. Die Juden liebten zu
reflektieren, ihre Anschauungen über alles, was in
ihrer Umgebung vorging, schriftlich niederzulegen,
zu polemisieren, die Walirheit des Judentums zu
verteidigen und dessen Vorzüge gegen andere
Religonen hervorzuheben. Es entstanden auch mit-
unter grosse, ernste Bücher, die Epoche machten.
Jedenfalls rastete der jüdische Geist niemals.
Infolge dieser Vielsprachigkeit des Judentums
ist auch ein grosser Missstand eingetreten. Das
jüdische Volk war genötigt, oft eine Arbeit wieder
aufzunehmen, die bereits in früherer Zeit geleistet
worden war. Die Uebersetzungsliteratur spielt in
seinem geistigen Leben eine grosse Rolle. Häufig
kam es vor, dass eine grosse literarische Epoche
schon kurz nach ihrem Abschluss in Vergessenheit
geriet Es sah aus, als ob Jahrhunderte hindurch
vergeblich gearbeitet worden wäre. Von der
grossen alexandrinischen Epoche beispielsweise
blieben dem jüdischen Volke im ganzen nur die
griechische Bibelübersetzung und die Schriften
Philos zurück. Es sind dies zweifellos schriftliche
Denkmäler von höchstem Wert. Soviele Irrtümer
wir auch in der griechischen Bibelübersetzung
finden, so kann doch nicht bestritten werden, dass
sie für die Erforschung des biblischen Schrifttums
von der grössten Wichtigkeit ist. Und ebenso
bieten die Schriften Philos eine Fülle anregender
Gredanken über das Judentum und über die Be-
deutung des jüdischen Volkes. Aber im Laufe der
Jahrhunderte sind diese literarischen Erzeugnisse,
die der jüdische Geist in einem Zeitalter der
höchsten Eulturentwicklung geschaffen hat, uns
fremd geworden. Und selbst als man später zu
ihnen zurückkehrte, bildeten diese Schriften nur
den G^enstand der wissenschaftlichen Forschung,
dem Volke gehören sie nicht mehr an. Höchstens,
dass sie ihm auf Umwegen bekannt werden.
Auch mit der grossen jüdisch-arabischen
Literaturepoche ist es nicht besser gegangen. Nur
solche Schriften, die. rechtzeitig ins Hebräische
übertragen wurden, haben ihren Platz in der
jüdischen Literaturgeschichte erhalten, und zum
Teil übten sie auf die Entwicklung des Judentoms
361
Dr. S. Bemfeld: Kleinere judische Sprachgebiete.
362
den grössten Eintlnss eins. Iq der arabischen
Urschrift hätte Maimonidas „Führer der Irrenden"
niemals eine epochemnchende Bedeutung erlangt.
Es liegen noch jetzt handschriftlich viele jüdisch-
arabische Bücher in den Bibliotheken, die hin und
wieder ans Tageslicht gezogen werden, aber immer
nur für Gelehrte und Forscher Geltung haben. Es
konunt auch gamicht darauf an, dass solche Bücher
jetzt nach Jahrhunderten verbreitet werden, da sie
für unsere Zeit nicht mehr passen. Selbst das
grosse Buch des Maimonides hat ja nur dadurch
soviel gewirkt, dass es vor Jahrhunderten in das
Volk drang und die deukfähigen Köpfe im Ghetto
mit philosophischen Fragen beschäftigte. Wäre
es nicht rechtzeitig hebräisch übersetzt, in der
Folge eifrig besprochen, kommentiert, widerlegt,
angegriflfen und verteitigt worden, so würde es
wirkungslos geblieben sein.
Auch in der neueren Zeit wiederholt sich
diese Erscheinung. Noch vor 50 Jahren war die
deutsche Sprache die einzige, in der eine wissen-
schaftliche jüdische Literatur vorhanden war. Fast
alle Juden des Abendlandes, und nur diese hatten
den Anschluss an die moderne Kultur gefunden,
verstanden diese Sprache, die für die Juden eine Art
internationale Sprache war. Nach und nach entfrem-
deten sich Teile der abendländischen Judenheit der
deutschen Sprache. Es gibt jetzt Juden in Russ-
land, Ungarn, England, Franlo'eich, Italien und in
den skandinavischen Ländern, die kein Wort deutsch
verstehen. Und da auch das Hebräische den
breiten Massen des Volkes in keinem Lande ver-
traut genug ist, so entstehen jetzt verschiedene
jüdische Literaturen iu den Landessprachen. Vor
allem konnte sich eme jüdisch-englische Literatur
bilden, weil an ihr nicht nur die englischen, sondern
auch die amerikanischen Juden teilnahmen. Und
in der Tat sieht es auf diesem jüdischen Sprach-
gebiete am hoflFnungsvoUsten aus. Auch in Russ-
land wird wahrscheinlich im Laufe der Zeit eine
umfangreiche und gediei?ene jüdische Literatur
entstehen, da die Zahl der Juden in diesem Lande
gross ist. Viel ungünstiirer hingegen sieht es in
anderen europäischen Ländern aus, wo zwar
jüdische Zeitungen und hin und wieder auch
jüdische Bücher erscheinen, aber kaum etwas
Originelles hervorgebracht wird. Ueberall muss
man jedenfalls von vom beginnen, als ob der
jüdische Geist dazu verurteilt wäre, immer das
bereits Gelernte nochmals zu lernen.
Immerhin kann man in solchen Ländern, wo
die Juden eine beträchtliche Zahl bilden und auch
die christliche Welt einigermassen Interesse für
die Kenntnis des Judentums bekundet, hoffen, dass
da eine Literatur entstehen wird. Sehr schlimm
sieht es aber in den ganz kleinen Sprachgebieten
aus, die sich in der letzten Zeit gebildet haben
oder in der Bildung begriflfen sind. In Serbien z.
B. erreicht die Zalü. der Juden nicht lOOOO. Als
ich dort noch lebte, sprach die jüdische Bevölkerung
, neben dem Serbischen, das sie allerdings nur
' mangelhaft beherrschte, die jüdisch-spanische Mund-
art, durch die sie mit der ganzen Judenheit im
Orient kulturell verbunden war. In dieser Sprache
wurde der Religionsunterricht und der biblische
Unterricht erteilt, in diese Sprache wurden die
Gebete übersetzt. Wenn auch die jüdisch-spanische
Sprache keine wissenschaftliche Literatur auf-
zuweisen hat, wie etwa die deutsche oder die eng-
lische, so ist doch in ihr ein volkstümliches jüdisches
Schrifttum enthalten. Es gibt gute Bibelüber-
setzungen, und auch die Gebete, die Mischnah,
die Agadah sind in diese Sprache fibertragen. Für
die reifere Jugend und ftkr die Volksmassen ist
immerhin eine reichhaltige Lektüre vortianden.
Noch grösseres Gewicht lege ich sogar auf die
Volkspoesie dieser Sprache, auf die vielen schönen
Lieder, die in den jüdischen Familien an den Feier-
tagen, auf Hochzeiten und bei Trauerfällen gesungen
werden. Es liegt in ihnen ein Stück Judentum, das
gewiss erhalten und gepflegt zu werden verdient.
Nun denke man sich, dass man in den letzten
Jahren in der serbischen Judenheit dazu schreiten
musste, die jüdisch- spanische Mundart aus Familie
und Schule zu verbannen. In serbischer Sprache
giebt es aber kein jüdisches Buch. Die bibÜschen
Schriften sind nur in der schlechten Uebersetzung,
die von der bekannten Bibelgesellschaft heraus-
gegeben wird, vorhanden; die Gebete und andere
jüdische Bücher sind ins Serbische nicht übersetzt,
und für die kleine Zahl der serbischen Juden
werden solche Uebersetzungen wohl niemals an-
gefertigt werden. Es gibt kein einziges jüdisch-
serbisches Volkslied, und es wird auch ein solches
in absehbarer Zeit nicht entstehen. Da die ser-
bischen Juden von der jüdischen Gesamtheit oder
von einem ihrer grossen Aeste abgesplittert sind,
so steht leider zu befürchten, dass sie schon in
der nächsten Generation unserm Volke verloren
gehen. Jedenfalls wird ihre religiöse Ausbildung
in bedauerlicher Weise zurückbleiben. In derselben
Gefahr befinden sich auch die Juden in Kroatien
und Slavonien, in Bulgarien, Griechenland und
einem Teil von Rumänien. Mit der fortschreitenden
Nationalisierung dieser Länder wird dort immer
mehr die Zukunft des Judentums bedroht.
Dieser Erscheinung sollte die Alliance, die
doch für die Judenerziehung der dortigen Juden
soviel Mittel aufbringt, grosse Aufmerksamkeit zu-
wenden. Leicht lässt sich da nicht Abhilfe schaflfen.
Aber wenn man sieht, mit welcher grossen Liebe
und mit welchem Eifer die britische Bibelgesellschaft
ftir die Verbreitung der heiligen Schrift in den ent-
legensten Sprachgebieten sorgt, so glaube ich, dass
auch wir nicht untätig bleiben dürfen, wenn in
Ländern, die ehemals berühmte Pflegestätten des
Judentums waren, das Judentum allmählich abstirbt.
Diesem Vemichtungsprozess könnte man vielleicht
Einhalt tun, wenn man mit Unterstützung von
aussen statt der jüdischen Literatur in der früheren
Sprache mindestens das AUemotwendigste in der
neuen schaflfl. Ueberhaupt scheint mir, dass bei
uns vieles verloren geht, was bei rejrerem Eifer
zum grössten Teil erhalten werden könnte.
Grabmal „Auferstehung". Detail.
BENNO ELKAN.
Von Dr. PhilidorLeven.
Eine eigenartige Erscheinung unter den jüngeren
jüdischen Künstlern bt Benno Elkan. Eigen-
artig besonders darum, weil bei ihm sich an seinem
Leben und seinen Werken der Weg des Talentes wie
an einem Schulbeispiel verfolgen läßt. Beachtungs-
wOrdig auch darum, weil ihm schon in jungen Jahren
— Elkan ist 1878 geboren — Erfolg und Anerkennung
beschieden war wie selten einem Altersgenossen.
Benno Elkan, ein geborener Dortmunder, war für
den Kautmannsberuf bestimmt.
Erst nach Überwindung mannig- r ■ —
fach er Widerstände konnte er
sich der künstlerischen Betätigung
widmen. Er studierte zunächst
in München als Schüler von Gysis,
später in Karlsruhe bei Fehr
Malerei „mit heißem Bemühn",
Und nach jahrelangen eifrigen
Versuchen in der Bewältigung
der Farhe und ihrer Technik be-
gann er auf eigne Faust, geleitet
von einem beginnenden Erkennen
seiner selbst, zu modellieren,
ohne jede Unterweisung erwachte
ein OefüliJ für die Form und B ELKAN
ihn Bi>ine erstt'i
Arhcitei
Nachdiuck veiboun.
auf dem Gebiete scliaffen, das er bald ganz erobern
sollte. Als Bildhauer ist Elkan Autodidakt; allein
nicht in dem Sinne, daß er ohne eindringliches Studium
und mit halber Beherrschung der Mittel Aufgaben zu
lösen versuchte; sondern so verstanden, daß allein sein
sicheres Formgefühl ihm den Weg wies, auf dem er
vom Kleinsten bannend immer tiefer in das Ge-
heimnis der Formsprache einzudringen suchte und
erst mit dem Erstarken seines Könnens zu immer
größeren Aufgaben fortachritt.
— ] Elkan erregte zunächst Auf-
sehen als Wiedererwecker einer
längst vergessenen Kunst, der
Medaillen technik altitalienischer
Meister. Hier im kleinen Stile
gerade schärfte sich sein Form-
ompfinden durch die Notwendig-
keit, einen starken konzentrierten
Ausdruck mit wenigen einfachen
Mitteln zu geben. Für Elkan
spielte diese Betätigung dieselbe
Rolle wie für die Entwickelung
manches Malers das Radieren.
Seine Medaillen haben ihm auf
DORTMUND, verschiedenen Ausstellungen Bei-
Grabmal „Auferstehung."
fall und zahlreiche Aufträge
Ür. Philidor Leven: Benno Elkan.
PortratbOate des Dr. Hflser.
gebracht. Großherzog Frietlricli von Baden und
Meister Thoma in Karlsruhe seien hier nur von den
vielen bekannteren Persönlichkeiten genannt, tOr die
Elkan Porträtmedaillen herstellte.
Von schöner Charakteristik ist auch die hier mit-
geteilte Medaille des Geh. Reg^eningsrates Wandt.
Von den Frauenportrfits ist eins der reizvollsten das
von Mudding Richter. Im Auftrage der Universität
in Freibui^ schuf RIkan eine Bronzeplakette, auf
einer Marmortafel angebracht, welche dem Groß-
herzog von Baden, dem Protektor der Universität,
an seinem 80s ten Geburtstage überreicht wurde.
Heute sind unter anderem das Münzkabinett des
Kaiser Friedrich - Museums in Berlin, die Skulpturen-
galerie in Dresden, die Kgl. Sammlungen in München
u. a. mehr im Besitze Elkanscher Medaillen.
Nach diesen ersten Erfolgen wandte sich Elkan
völlig der Plastik zu. Elkan teilt die Eigenschaft fast
aller jüdischen Künstler auf dem Gebiete der bildenden
Künste: er arbeitet — wenn wir für alle vom Tech-
nischen absehen — fast ganz ohne Tradition. Zum
Teile beruht das sicherlich darauf, daß erst der Fall
der Ghettomauern den Juden die Augen im buch-
stäblichen Sinne wieder geöffnet hat, daß erst seit-
dem der alten These von der Unfruchtbarkeit der
Juden in der bildenden Kunst lebendige Widerlegungen
erstanden sind.
Elkan ist der geborene Bildhauer: er sieht
plastisch. Wir finden den Ursprung seiner Kunst
nicht in dem Bingen mit dem Material, das ihm nur
widerstrebend eine vom Ganzen kaum gelöste Form
gewährt, sondern seine Werke sind sofort plastisch
in das Material hineineosehen. PabH sind seinf Ideen
von einer für einen so jungen Künstler erstaunlichen
Erreichbarkeit. Durch die Verbindung dieser beiden
Umstände kommt bei den meisten seiner Werke der
Charakter völliger Geschlossenheit zustande, erschienen
sie durchweg ah erschaut, nicht erdacht. Selbstredend
soll hiermit nicht etwa jede seiner Arbeiten als Meister-
werk und als restlos vollendet hingestellt werden,
sondern wir sehen hier nur auf den Grund der Sache
und dürfen die Reife und Vollendung getrost der weite-
ren Entwickelung überlassen.
Elkan hat zunächst eine Kunstgattung gepflegt,
welche in Deutschland zum Bedauern aller künst-
lerisch Empfindenden noch so gut wie ganz brach
liegt, der Grahmalskunst. In seiner Vaterstadt Dort-
mund stehen heute nicht weniger als fünf größere
Grabdenkmäler, die er im Auftrage von Dortmunder
Büi^m ausgeführt hat. Das größte davon ist hier
in 2 Abbildungen wiedergegeben; es stand auch in
einer Nachbildung auf der vorjährigen Kölner Kunst-
ausstellung. Es bringt den Auf erst ehungsgedanken
in wuchtiger Sprache zur Verkörperung. Das Bronze-
relief mit den Figuren der Erwachenden ist tief in
die umgebende Steinarchitektur eingelassen; noch
bindet und beengt die dunkle Gruft alle Bewegung
der eben Erstehenden; allein im nächsten Augenblick
wird sie zersprengt dem Lichte und der Bewegung die
Grenzen öffnen. Überzeugend wirkt auch der Christus-
kopf auf dem anderen Grabmal in seiner herben Trau-
rigkeit. Das Grabmal „Kauerade"^zeigt, wie wohl
Elkan im kleinsten l^aume ein großes Maß von Be-
wegung und innerem Gehalt zu geben weiß Bei allen
B. hLKAN DORTMUND,
Flötenspieler.
367
,Dr. Philidor Leven: Benno Elkan.
3 Darstellungen finden wir in der
Begreiiztheit der starken inneren
Bewegung besonders klar den Ge-
danken der Mäßigung, den Elkan
unbewußt^ zum Programm seines
Schaffens erhoben zu haben scheint.
Neuerdings hat sich Elkan der
gegenstSndlichen Plastik zugewandt
und fast auF allen ihren Gebieten
Bemerkenswertes geleistet. Von
seinen zahlreichen Porträtbilsten
seien hier als interessanteste die-
jenige des durch seine Simplicissi-
mus-Beitrftge bekannt gewordenen
Zeichners Pascin und die nach einer
kleinen Photographie hergestellte
des verstorbenen Kommerzienrates
Dr. Muser mitgeteilt, die er zu-
sammen mit der des lebenden
Generaldirektors Müser für den
Sitzungssaal des Harpenor Bei^-
bau -Vereins geschaffen hat. Die
BOste „Brahms-Impression" hält
die Mitte zwischen einer Portröt-
darstellung (es ist die Pianistin
Hedwig Einstein) und einer freien
Phantasieschöpfung. Eines der
köstlichsten Werke Elkana ist der
Flötenspieler, den er für das Foyer
des Dortmunder Stadttheater aus-
geführt hat. In ihrem edlen, melo-
diachen Linienspiele und ihrer wahr-
hafteinfachen Formsprache istdiese
Arbeit von klassischer Abge-
schlossenheit.
^1 Daß Elkan auch auf anderen Kuns^ebioten sielt
höchst glücklich betätigt, zeigt vor allem die wert-
volle Zeichnung eines Knahen die an künstlerischem
Gehalt etwa ein Gegenstück zum Flötenspieler bildet.
Die Zeichnung der Frau R. erreicht in ihrer Zartheit
und ihrem innigen Gefühlsgehalte den Eindruck eines
gemalten Bildnisses. Dasölbild der Eltern des Künstlers
zeigt seine frische Gestaltungskraft und lebendige Auf-
. ELKAN
Brahma Impression.
Porträtbüste des Zeichnen Pasdn.
iindringlicherCharaktorisierung; die Art, wie
er die Belebung der großen, fast ungeteilten Flächen mit
einfachen Mitteln erreicht, verdient volle Bewunderung.
Der beschränkte Raum gestattet leider nicht,
aus der großen Fülle der Elkanschen Arbeiten und
Entwürfe weitere Proben hlor mitzuteilen. DerKünstler,
der bisher aus einem engeren Kreise kaum heraus-
getreten ist, wird sich demnächst auf der Internatio-
nalen Kunstausstellung in Mannheim, auf der Großen
Bcriiner Kunstausstellung, zu der er eingeladen wurde,
in der Sezession in MUnclien und auf der Deutsch-
nationalen Aussteilung in Düsseldorf zu ungefähr
gleicher Zeit dem größeren Publikum zum ersten
Male mit einer beträchtlicheren Anzahl seiner Werke
vorstellen, und es kann kein Zweifel obwalt.;n, daß
dieser junge Künstler, bei dem sich emsles Streben
nach reinster Kunst in, ji^dem Werke zeigt, alsdann
die Aufmerksamkeit in bedeuti'ndem Maße auf sich
ziehen wird. Gerade die Tiefe seiner Empfindung,
sein Wille, den inneren Gehalt eines Gedankens in
der adäquatesten Weise zur Form zu führen, unter-
scheiden iim SU weit von mancherlei neuen mehr
artistischen Bestrebungen, daß er bald weit über die
Reihen der jüdischen Künstler hinaus unter den
Besten genannt werden dürfte.
Elkan lebt gegenwärtig in Pai-is, an der Stätte
moderner Hochkultur in der Plastik. Wir haben
allen Anlaß, mit Stolz und fi-ohor Erwartung seiner
w-ntcron Entwickelimg enlgi^g^u zusehen.
369
370
MODERNE JARGONLYRIK.
Von Samuel Meise
Noch vor zwei DezcDDien wäre es eine schwie-
rige Aufgabe gewesen, über Jargonlyrik zu schreib0n.
Erstens wussten dazumal die westeuropäischen
Juden nicht viel vom Jargon, und die osteuropäischen
nicht viel von der Lyrik. Die einen hatten von .
dem sogenannten „Yiddish" wunderliche Ansichten,
die andern noch wunderlichere von der Lyrik.
Die einen verwechselten den Jargon mit Mauscheln
und Kauderwelsch, die andern die Lyrik mit „ge-
reimten Predigten". Die einen spotteten über den
Jargon, die andern sprachen allen Kegeln der Dicht-
kunst Hohn. Hier und dort war das Urteil getrübt.
Erst unsere Zeit hat auf beiden Seiten eine er-
freuliche Aufklärung gezeitigt. Das Westjudentum
weiss jetzt, dass der Jargon eine Sprache ist, die
zurzeit noch von dem grössten Teil der Juden in
Russland, Galizien, Rumänien, in England und
Amerika gesprochen wird und in der es eine
Literatur und eine Tagespresse gibt, und das Ost-
judentum hat erfahren, dass Lyrik sich aus so etwas
wie Sprachfeinheit, Gefühlsstimmung, Seelenerguss,
Naturempfinden und ähnlichem zusammensetzt.
Es sei gleich vorweggenommen: der erfreuliche
Fortschritt, den ich auf beiden Seiten konstatiert
habe, ist nur relativ gemeint, und zwar im Ver-
hältnis zu früheren Zeiten. Im Verhältnis zu der
Kenntnis anderer Sprachen oder zu den lyrischen
Erzeugnissen in andern Sprachen ist in dem einfen
wie in dem andern Lager noch immer ein gut Teil
von Rückständigkeit zu verzeichnen. Die Kenntnis
des Jargons beim westeuropäischen Judentum reicht
noch immer nicht aus, diese Sprache vollkommen
gerecht beurteilen zu können ; und das osteuropäische
Judentum wartet noch immer anf den grossen Dichter,
der das Jüdisch-deutsche" Schrifttum in der Welt-
literatur vertreten könnte.
«
Die ersten poetischen Erzeugnisse in der jü-
dischen Literatur waren die jüdischen Volkslieder.
Sie gehören zu dem Schönsten, was je die Literatur
eines Volkes an primitiver Kunst geschaflfen bat.
Ob man am Stile den Menschen erkennt, ist zweifel-
haft; dass sich aber in den Volksliedern die Psyche
eines ganzen Volkes offenbart, ist gewiss. Besonders
in den jüdischen Volksliedern spricht sich die Seele
dieses müdgehetzten Volkes mit all seinen Sehn-
süchten und Wünschen, seinen Träumen und Hoff-
nungen aus. Der Familiensinn und die Streitsucht,
der Heldenmut und die Unterwürfigkeit, das Gott-
vertrauen und die Resignation, der einseitige Ge-
lebrsamkeitskult und der Mangel an einem praktischen
Sinn ftirs Leben — alle diese Tugenden und Mängel
des Ghettojuden treten in diesen Volksdichtungen
deutlich zutage.
Ursprünglich sind die jüdischen Volkslieder
geschaflfen worden, um von Frauen gesungen zu
werden. Das beweisen in erster Linie die Wiegen-
lieder, mit denen jüdische Mütter ihre Lieblinge in
den Schlaf sangen. Diese Lieder entstanden im
Nachdruck veibuitru>
Is (Charlottenburg).
Ghetto, wie Bäume aus der Erde wachsen Wie
Naturlaute klangen sie hervor aus den .»^lerzen der
Mütter. Jede Mutter hat irgend ein Wort ihrem
schlafenden Engel, ihrem Sonnenscheinchen, zu-
gerufen, und wie von selbst reihte sich ein Wort
an das andere. So entstand das jüdische Wiegen-
lied. Später lullte damit jede Mutter ihr Kind ein.
In ihren Gelühlen konservativ, fand sie darin alle
Wünsche und Hoffnungen ausgedrückt, die sie für
die Zukunft ihres Kindes erflUlten. An den Wünschen
im Ghetto hatten die Jahre wenig geändert; sie
blieben stereotyp. Und was wünschte sich eine
jüdische Mutter? Dass ihr Sohn em frommer, thora-
kundiger Jude, eine Leuchte in Israel, ihre Tochter
eine züchtige Hausfrau, Gattin eines Gelehrten und
Mutter von gelehrten Kindern werde. Das wünschten
sich alle Mütter im Ghetto : die Frau des Rabbiners
wie die des Holzhauers. Alle sangen dasselbe
Wieeenliedchen. Es klang wie ein Gebet, wie der
Feenspruch an der Wiege Schneewittchens. Würden
alle diese Gebete vom Himmel erhört worden sein, das
jüdische Volk wäre heute in der Tat ein Volk von
Priestern, von lauter Weisen und Thorakundigen.
Wie im Siddur andere Gebete für den Mann und
andere für die Frau vorgeschrieben sind, so war
auch ein anderes Wiegenlied für das Knäblein, ein
anderes für das Mägdelein. Unter der Wiege des
Söhnchens waren ,.Rosinen und Mandeln"
Rosinkelach mit mandelen
dos is die beste s'chaure,'^)
mein annale wird lernen taure.^)
Taure wird er lernen,
sforim^) mrd er schreiben,
un a jid a talmid-chochem*)
wird mein sunale bleiben.
Auch unter der Wiege des Töchterchens waren
„Rosinen mit Mandeln", die „beste s'chaure".
Aber eine jüdische Tochter braucht keine „taure
lernen." Ihr Beruf ist ein ganz anderer. Häuslich
und wirtschaftlich erzogen, dabei auch schreibens-
und lesenskundig muss sie sein.
Wirst araus vun de wieg
bot men arbeit genig
ongegreit far dir azind,
zu sticken tichelach
zu leienen büchelach
derweil schief sich aus, mein kind.
In ähnlicher Weise waren auch die Liebeslieder
für Frauen bestimmt. Da befindet sich, im Gegen-
satz zu den Volksliedern anderer Völker, selten ein
Lied, das die Liebe des Mannes zur Frau schildert.
Immer ist es das Weib, das nach dem Geliebten
schmachtet, die Frau, die ihren nach Amerika ver-
reisten Gatten beweint, die Gattin, die die Ab-
trünnigkeit ihres Mannes beklagt. Rührend ist das
*) 8'chaure=^Ware. *) taure=Lehre. ^) 8forim= Bücher.
*) talmid-chochem = ein Gelehrter.
Samuel Meiseis, Charlottenburg: Moderne Jargonlyrik.
folgende Liedchen, in dern ein Mädchen seiueml Ge-
liebten Untreue vorwirft:
Kommet zu irehnzn mir
QQ brenit>t mir a fatsuheile, 'J
frühst awtik zu eiu au'lir m-idule,
sogst du, 'ch bin a echfuUu.'')
Enminst zn Kühn zu mir,
sogbt ilu. icli hin tciur,
gehst Mwuk zu vi» an ler meidol«,
brennt deiu lu-ri wie a feiwr.
Die erstPD jüdischnn Volk-Iiederdichter waren
die 60)fenauDtei) t.itadclioiiiin'', dii- Hochzeitsspass-
macher. Sie w.iri'ii diu Lieblinge der Hochzeits-
gäste. Der „Hiidclioii" w;ir die (jersoiia ((rata anf
der jüdischen Hoclizeit in Glu^ito. Kiiie Hochzeit
ohne Badcheii gliche einem Ball ohne Tanz. Man
mnss sich ihu uiclit als blossen 8passm:icher denken
Er war der .■^elbstbon^cher, nud die Hochzeits-
gesellschal't musste sich seinem Willen beugen.
Wollte er autlieitcrii, so satig nud taozte uud
lachte altes um ihn her: wollte er trübselig
stimmen, so verstjind er Töne niiünscb lagen, dass
Männerbe'zen weich wiirdcu und Fiaueuaakreu in
Tränen badetn. Kr mischte Kl.-igölieder in Jubel-
hymnen, ins Janchzeu d-s Kcstps ein W'interuachts-
triineru. Und die Gesellsclmt't nadm beides wohl-
wollend entgegen, l'er Jude iu Ghetto konnte
ßitel Freude nicht vertra>!On. Die Kabbalisten
schrieben vor, dass der Jude in den Becher Wein,
den er zur Heiligung des Sabbats trinkt, einige
Tiopfen Wasser hineingiesse; in die Stimmung der
Freude einige Wermutstropfeu hineinzngiessen —
bat er sich selbst vor eschrieben. Der eine Satz:
„Des Lt'bens ungemisrhte Freude ward keinem
Irdiarhen zutpil-" hatte genügt, Schiller im Ghetto
populär zu machen. !>&<> war so ganz das Lebens-
proaramm der Ghettojnden. Unueniischte Freude?
Wie wäre das nur möglich! . . . Ein kleines
AX ölkchen blieb auch für die heiteren Tage aufi^e^
fpart Uud sie halten es ^erne. mitten im Jnbel
auf dieses trübe Wölkihen autmerisam gemacht
zu werden. An einem Hoibzeilstage besor^cte dies
der Badeheu. Der „Hochzeitsspa^smacher" hatte
überhaupt eine hohe Meinung von seinem Beruf.
Er trat als Piediger auf; er moralisit-rte, belehrte,
hielt Braut und Bränti-am ein Be);istpr von Sünden
vor, die sie nie bedangen hatten, und mahnte sie
an ihre Pflichten fiir die Zukunft; er sagte — so
,en passnnt — den Anwesenden Wahrheiten, die
fie sieb an einem Weikeltave von keinem Kabbtuer
blatten saaen lasseu. Aber ihm klatschten sie
Beilall. Er machte doch nur „Spnss".
Die jüdischen Vnlnsdicbter waren keine
Lyriker im eigentliehen Sinne. Sie verstanden
nichts von der Dichtkunst Ohne Key ein waren
ihre Dii:!ilungpn. Ihre Verse hallen verrenkte
Kü'se. Aber der R'ini war da, den Rythmus be-
üorgie die Melodie. Da wurden in dem einen Vers
') fatscheite = ein Kopftuf
eiik. ') 8chleile = Keineini's
B. EIKAN DORTMUND.
Oelbild: Die Eltern des KQiutlers.
die Worte gedehnt, in dem andern drei Worte
mit einem M^ verschluckt — so glich sich das ans.
Jedes jüdische Volkslied kam mit einer Uelodie
ZBT Welt. Sein Verfasser dichtete singend. Der
Text eines jüdischen Volksliedes ist gar oft höchst
abgeschmackt, mit begleitendem Gelang jedoch
öiesst es weich und melodisch ins Ohr nud von
dem Ohr ins Herz. Es lässt sich nicht ermessen,
welche Wirkunjr die Volhslieder auf die Juden im
Osten ausüblen, ihr Eiiiflnss auf die moderne
Jargonlyrik ist gross. Auch bei Frag und Rosen-
feld lassen sich ihre Spuren nachweisen.
Volksdichter nannten sie sich. Volkslehrer
waren sie. Sie predigten Moral und Sittlichkeit,
G'itt vertrauen uud Lielie zum Volke. Sie kämpften
fiir die wahre Relipiosdät uud gegen den flüstern
Abei^laubeu. Mit bewundernswerter Offen herzig keit
und Unerschrocken heit deckten sie alle inneren
Schäden auf. Sie sahen ihre Mi-sion darin, die
zugenagelten Fenster im Ghetto aufzureissen, damit
das Licht hiueiudringe: Bildung, Aufklärung. Sie
hallen ja selbst dieses Licht noch nicht gesehen; sie
wussleu auih nicht, obs wärmt oder sengt; aber sie
abuteu, dass es gut sei ... Der Ton, mit dem sie in
ihi-eii ,.gereimten Predigten" zum Volke sprachen,
373
Samuel Meiseis, Charlottenburg: Moderne Jaigonlyrik.
374
war verschieden: bald ätzend-^satyrisch, bald ernst
nnd eindringlich. Bald wetterten sie gegen den
Parteienzwist der Männer, gegen den Luxus der
Frauen, bald verherrlichten sie das jüdische
Familienleben und priesen die jüdischen Feiertage.
Heute verspotteten sie den Fanatismus der Chassidim,
morgen rühmten sie die gute alte Zeit. Die gute
alte Zeit war das Lieblingsthema der jüdischen
Volksdichter. Eljakum Zunser, Gk)ldfaden, Seuffert,
Schafir bis herab auf Lateiner und Scheikewitz —
alle haben sie Lobeshymnen auf die gute alte Zeit
gedichtet.
Führ dich nooch der alter weit,
die neie is gor falsch, varstollt . . .
Eine glühende Liebe zum Judentum spricht
aus ihren Liedern. Der Name Jud ist ihnen teuer,
einerlei, in welcher Sprache er ausgesprochen wird.
Selbst der Name „zyd*, in den der Pule soviel
Verachtung hineinlegte, gilt ihnen als Ehrenname:
Ich hob dich lieb, mein volk, du teiere nmme,^)
du starke, du schene, du feine, da f ramme;
ich lieb dein nomen, wie men g^ibt ihm a dreh:
zi^) jisroel, zl israel, zi ibri, zi jewr^,
zi ja'akov, zi Jakob, zi jade, zi jid,
ich hob dich lieb afilä^) beim nomen „2yd" . . .
(k. Goldfaden.)
Und dieses Volk, das sie so herzinnig liebten,
trösteten sie in den schweren Tauen des Unheils.
8ie suchten es aufzurichten und ihm Mut ein-
zuflössen: Willst Du verzagen, Jakob, und dein
alter Gk)tt schläft nicht, und dir winkt noch eine
frohe Zukunft! — Mancher trat wie ein
tröstender Jesaias auf und erlaubte sich, im Namen
Gottes zu reden. Charakteristisch für diese
Gattung von Liedern ist ein Gedicht, betitelt:
„Die Stimme Jakobs". Da tritt der Dichter vor
Gott hin und klagt, dass er ferne sitze in den
Zeiten der Bedrängnis und stillschweigend zusehe,
wie man sein Volk martert und quält. Darauf
die Stimme Gtottes:
Wirst blihen, ja'akov, wie im schenen
frihling bliht a rois,
bist klein — meu wird dich erkenen,
bist geschichtlich groiss.
Dein glick wird laichten wie var zaiten,
wie die sonne frih;
Tes-atto*) si'z ich van der waiten,
aa kik mir klomersch^) zu.
(Beirach Schafir.)
War auch keine eigentliche Poesie in ihren
Liedern, so lag doch Methode darin. Erstens
musste fast jedes Gedicht einen Kehrreim haben.
Dann mussten — da Text und Melodie gleichzeitig
entstanden — die Strophen eine gewisse Einheit-
lichkeit aufweisen. In den historischen Liedern
wurde die chronologische Reihenfolge strengstens
beobachtet. Da machten sie oft einen Rundgang
durch die jüdische Geschichte: eine Reise um die
Welt Von Egypten giugs nach Palästina, von hier
über Babylon nach Riim, von da wiederum durch
Spanien über Deutschland nach Polen, bis sie end-
lich im freien Amerika aulautflen. Fast jeder
jüdische Volksdichter bat in mehreren Gredichten
diese Reise gemacht . . Auch innerhalb der
Mauern des Ghetto wurden derartige Rundgänt^e
unternommen. Das Leben und Lieben im Ghetto
wurde in allen möglichen Schattierungen gezeigt«
Die jüdischen Volksdichter achteten es geling:,
emen einzelnen Fall zu behandeln. Immer musste
eine ganze Gattung von Fällen herhalten. Wollten
sie die handelsmässig abgeschlossenen Ehen g^isseln,
so glaubten sie, die Unmoral . olcher Khepakten an
unzähligen Beispielen demonstrieren zu müssen Sie
dichteten frisch drauf los ein meterlnui;es Poem,
in dem jede Strophe ein anderes Ehepaar vorführte.
Aehnlich waren auch die Chassidinilieder, Sabbat-
lieder, die Spottlieder auf die „moderne" Welt.
Sie zeigten von jedem I Hng die Kopf- und Wappen-
seite. Das folgende Liedchen „Das Weib"" ist
typisch ftir difse ganze Gattung von Liederu.
Dos Weib.
Wer macht einem dod leben Fiess? — a weih.
Wer macht einem dos leben mi«'68? — a weih.
Wer is far ein mann dos gresi^te glick?
Wer brengt ihm derzu, er 8oll sich machen chik? —
' a weih, a weih.
Sie bot doch kein manre'^) far dem starkAten htld,
Sie is die stärkste chajv^) auf der weit.
Wer kenn lachen nn nisrht aufberen? — a weih.
Wer kenn weinen mit falbche trer^n? — a weih.
Wer is mechiye'difir,') süss nn geschmak?^)
Wer is auf der weit der gresster schlak? —
a weih, a weib.
Sie bot doch kein manre far dem stärksten held,
Sie is die stärkste chige auf der weit.
(Josef Lateiner.)
Unter den jüdischen Volksdichtem siod die
bedeutendsten: Abraham Goldfaden und Beirach
Schafir. Der erste ein dramatisches Tolent, der
andere ein verkommenes lyrisches Genie. Der erste
als Verfasser mehrerer „Dramen* und Schöpfer
der jüdischen Bühne allenthalben bekannt, der
andere verschollen und ven; essen. Goldfaden ist
der erste Jar^ondramatiker; bei Schafir vollzieht
sich die Metamorphose vom jüdischen Volksdichter
zum Jargonlyriker, Schafir hätte ein Heine der
Jargonliteratur werden können, wäre er nicht das
Opfer einer falschen Erziehung geworden. Eigent-
lich kann bei ihm von Erziehung nicht die Rede
sein. Weder Eltern noch Freunde haben für die
Ausbildung dieses Talents gesorgt. Er hat nicht
das Glück gehabt, entdeckt zu werden. Er ent-
deckte sich selbst. Als Autodidakt brachte er es
soweit, in vier Sprachen dichten zu können : Jargon,
Hebräisch, Deutsch nn 1 Polnisch. Er hat in allen
diesen Sprachen Gedichte veiöflfentlicht, die ihn
*) Ulli me = Volk. •) zi = ob. *) afilu = selbst. *) Tes- *; maure = Furcht. ^) chaje = Lebewesen. ^ nie-
atto = vorläufig. *) klomersch = scheinbar. chaje^difi^ «• belebend. *) geschmak = lieblich.
Samuel Meiseis, Charlottenburg;. Moderne Jargonlyrik.
Knabe (Zeichnung).
eioe beträchtliche Stufe höher über den Dureb-
schaittslyrilcer stellen Als jBdischer Volksdichter
war er der erst«, «der das Jai^onlied in Jamben
und Trochäen dichtete Man lese sein Gedicht
„Am Olam" (Das ewige Volk), das die Vertreibnng
der Juden aas RnsslaDd und ihre Auswanderung
nach Amerika schildert. Hier nur die ersten zwei
Strophen:
Auf dem waiteii meer
Diheu bin un her
«chifFti ohu a zubl;
dorten im gerider
aegelu unsre brider,
die beue jlsro"!. ')
Nischt aus der meditie'^)
luilien nder Chine
fähren s'chaure sei;
dorten scliwimmen zinder
arme, n^ickte hiuder
zwischen weiten /.wei,
Scbafir hat in die Üheltopoesie zum ersten
Mal etwas Katurempfiiidung hiueingetrageu. Für
die jüdischeu Volksdichter existierte nämlich die
Natur nicht. Das Wort Natur in soiuer umfassen-
den Bedeutung fehlte iu ihrem Sprachschatz. Sie
'.'ebraucht«u es nur im Sinne von Charakter: die
') oetie 'isro'l = Kinder Israel. ')] moiline = Lan.l.
Nator des Meosclien, eine Weibsoatur. Auch das
hebräische Wort „tewa" (Natur) bekam bei ihnen
nur die Bedeutung von „Eigenschaft", „Gewohnheit".
Kan sprach von einer „guten tewa" (guten Eigen-
schaft) ODd von einer „miesseu tewa" (üblen Ge-
wohnheit). Es wäre durchaus falsch, diese Er-
scheinung auf eineu angeborenen Maupel au Natur-
emp&nden znrückzufäbren. Nicht etwa eine schwache
Sehkraft oder gar' das gänzliche Fehlen eines aus-
geprägten Schönheitssinnes bedingte sie. Im Gegea-
teiJ. Das Schöne, das innerhalb der Gbettomauem
vorbanden war, sahen, fühlten, liebten und besangen
sie in allen möglichen Tonarten. Sie bekundeten
sogar einen recht scharfen Blick für alles Schöne
und Glanzvolle im Ghetto. Viele erhabene Schön-
beitslinien , die aus der trüben Ghettozeit wie
glänzende Lichtstreifen zu uns herüberleuchten,
sind zum grosseu Teil ihre Entdeckungen gewesen.
Aber die Schönheit der Natur lag ausserhalb der
Ghettomauem, io jenen Gegenden zumeist, zu denen
die Jaden keinen Zutritt hatten ... Es ist gewiss
mehr als blosser Zufall, dass das erste Jai^n-
gedicht mit der Ueberschrift „Die Nator" im fireien
Amerika entstand . . . Erst in der Freiheit er-
wachen im Jaden all die edlen Gefühle und
Empfindungen, die die Grausamkeit der Menschen
{ahrhundertelang in ihm erstickt hat Die modernen
Jargonlyriker, die vorzügliche Natnrmaler sind, be-
weisen nni, mit welcher Liebe und Innigkeit der
Jude sich in die göttliche Natur versenken kann.
Aber während die modernen Jargonlyriker sich in
ihrem Erfassen der Natur in allen Stücken modern
zeigen, äussert sich in d^u Naturschilderangen der
letzten jüdischen Volksdicliter und ersten Jargon-
lyriker eine gewisse spezifisch -jüdische Empfindungs-
art. Zur näheru Illustration möge hier das folgende
Porträtmedaille des Groasherzogs v
377
Samuel Meiseis, Charlottenburg Moderne Jargonlyrik.
378
reizende Scbafirsche Bildchen eines Sonnenunter-
gangs an einem Sabbatnacbmittage Platz finden:
Die snn geht unter mit purpurne streifen,
es zeigen sich sternlach stillerheit,
dos senen die bänder, goldene schleifen
Tun der schabbes-malkesse"^) dos seidene kleid.
Man beachte den Vers „es zeigen sich stern-
lach stillerheit"! — Prinzessin Sabbat ist eine
liebliche Fee, die Bringerin alles Guten. Alles
Schöne strahlt von ihr aus. Sind wir fröhlich an
einem Sabbat, so haben wir die fröhliche Stimmung
nicht in ihn hineingetragen, sondern von ihm
empfangen ... Er erzeugte sie . . . Ein schöner
sonniger Tag an einem Sabbat ist kein schöner
sonniger Tag, der zufällig auf einen Sabbat fiel,
sondern die liebreiche Spende aus der freigebigen
Hand der Prinzessin Sabbat. Selbst der herrliche
Sonnenuj^tergang an einem Sabbat ist keine blosse
Naturerscheinung; seine purpurnen Streifen sind
nur „die Bänder und die goldenen Schleifen von
Prinzessin Sabbat's seidenem Eleid^ . . . Schon
in diesem Vierzeiler erkennen wir einen Dichter,
der in sich wahrhaft poetisches Empfinden mit echt
jüdischer Denkungsart vereinigt.
Wenn wir zwei Jahrzehnte in die jargonische
Literatur zur&ckblicken, so finden wir Simon Frug
in edler Begeisterung auf den alten Zionsharfen
neue Lieder anstimmen. Mit Schafir schliesst die
Epoche der jüdischen Volksdichter, mit BVug be-
ginnt die Epoche der Jargonlyrik. Frugs Poesie
mit ihrer vorwiegend nationalen Tendenz, mit ihrer
Verherrlichung der jüdischen Ahnherren und
jüdischen Helden, mit ihrer lohenden Begeisterung
fftr das antike Judentum, sein Schrifttum, seine
heiligen Bücher — erinnert in gewisser Hinsicht
an die Bardenlieder der deutschen Literatur am
Ausgange des achtzehnten Jahrhunderts. Diese
Aehnlichkeit besteht nur, soweit die Ahnen- Ver-
herrlichung und Helden-Verehrung, die sich in
Frugs Liedern ausspricht, in Betracht kommt.
Sonst ist zwischen den deutschen Barden und
dem jungjüdischen Lyriker ein himmelweiter unter-
schied. Frug ist vor allem modern; er singt kerne
dithyrambischen Oden in schwülstigem Choral-
stil. Dem tausendjährigen Judenschmerz hat Frug
seine Lieder geweiht. Der Dichter lebt in Russ-
land, in dem Lande, wo dieser Schmerz nicht erst
geweckt zu werden braucht, da man ihn nicht zur
Ruhe kommen lässt . . .
Frug spielt also die alte Leier, aber er bringt
ganz neue Töne hervor. Er hat der jüdisch-deutschen
Poesie eine erhöhte Mannigfaltigkeit verliehen. Die
Hauptmerkmale der Frugschen Dichtungsart sind:
tiefe Gedanken, verbunden mit einer fast naiven
Einfachheit in Form und Stil. Selbst da, wo der
Dichter, von seinen quellenden Gefühlen und Em-
pfindungen voll, ins Mystische hinübergreift, lugt
der (Jedanke hinter dem mystisch- symbolischen
Schleier klar und deutlich hervor. Der Schwer-
') schabbes malkesse = Prinzessin Sabbat.
punkt Frugs liegt in seiner Sprache."^] Dem
poLaischen Schriftsteller Kraszewskl wird nach-
gerühmt, er habe die polnischen Schriftsteller
schreiben gelehrt : auch von Frug kann man sagen,
er habe die Jargondichter schreiben gelehrt Er
war der erste, der auf Flexibilität und Modulations-
fähigkeit der jüdisch-deutschen Sprache hingewiesen
hat; er zeigte uns, dass im Jargon der Sprach-
schönheiten und Stilfeinheiten mehr sind, als sich
mancher Jargonverächter träumen lässt.
Der russische Dichter Frug steht über Frug,
dem Jargonlyriker. Vielleicht liegt der Grund
darin, weil er als russischer Dichter Epigone ist.
Auch das hervorragende poetische Talent braucht
seine Vorbilder, denen es nacheifern kann. In
der russischen Literatur konnte Frugs poetische
Begabung an bedeutenden Meistern sich bilden.
Ich nenne nur : Puschkin. Dagegen in der jüdisch-
deutschen Literatur waren seine Vorgänger Vers-
macher, die zwar manches Gedicht schrieben, das
in seiner Tendenz annehmbar und einer gewissen
Zeitströmung auch entsprechend war, die jedoch
kein einziges Werk schufen, das irgendwie vom
künstlerischen Standpunkt aus Ajospruch auf
Mustergiltigkeit erheben könnte. Trotz alledem hat
sich Frug von den jüdischen Volksdichtem nicht
gänzlich emanzipiert. Er hat viele ihrer G^anken
übernommen, freilich nicht ohne sie zu modernisieren,
zu vertiefen. Die Eunstform für das Jargongedicht
ist JFrugs Schöpfung. Vor ihm konnte man von
einer Eunstform des Jargonliedes nicht gut reden.
Frug war somit der erste, der als vollwertiger
Dichter in der jüdisch-deutschen Literatur auftrat.
Er war der Zeit nach der erste, und ist dem
Werte nach bis heute der erste, nämlich der
bedeutendste. Alle seine Nachfolger sind eine
hübsche Strecke hinter ihm zurückgeblieben; selbst
der gefeierte Morris Rosenfeld hat ihn nur an-
nähernd erreicht. Rosenfeld besitzt vielleicht mehr
Sprachgewalt, mehr Temperament; Frug dagegen
verft^t über jene Ruhe und Grelassenheit, die zum
Wesen des Künstlers notwendig gehören. Rosen-
feld ist eine impulsive Natur, alles drängt bei ihm
nach aussen, an die Oberfläche; er sagt nicht viel,
aber laut, mit kraftvoller Stimme. Frug ist mtensiv ;
alles ist bei ihm innerlicher, tiefer, die Tränen
schwimmen nur so in seinen Augen, aber sie rinnen
nicht seine Wangen hinunter, seine Seufzer klingen
gedämpft und immer gedämpfter, je beklommener
seine Brust ist. Rosenfeld erscheint uns inmier in
ein und demselben Gewände: der Jude als
Proletarier; Frug zeigt uns den Juden in seiner
proteusartigen Vielgestaltigkeit. Deshalb ist auch
Frug spezifischer jüdisch als Rosenfeld, dessen
Arbeiterlieder — die meisten seiner Lieder sinds
ja — das jüdische Kolorit ganz gut entbehren
können und zum Teil auch entbehren.
Die Muse Simon Frugs hat ein spezifisch
jüdisches Aussehen. Der Dichter selbst nennt sie
die „jüdische Jargonmuse **. In der als Gedicht in
Prosa abgefassten Einleitung zu den in zwei Bänden
vorliegenden gesammelten poetischen Werken Frugs
379
Samuel Meiseis, Charlottenburg: Moderne Jargonlyrik.
380
schildert der Dichter seine Sehnsacht nach der Muse,
nach Jener ewig jnngen nnd ewig schönen Mose mit
den langen brannen Locken, mit den blähenden rosa-
farbenen Wangen, mit den frischen roten Lippen,
die die Engel küssen, jener göttlich schönen
Prinzessin mit der siebensaitigen Leier in der einen
Hand nnd mit dem Lorbeerkränzchen in der
andern." Das ist die Muse, die der Dichter herbei-
mft. Statt ihrer erscheint ein Weib mit bleichem
Antlitz, mit kranken rotgeweinten Angen, die tnlbe
Wolken umschatten ; sie ist in düstere Tranerkleider
gehüllt und spricht in abgerissenen elegischen
Tönen, die bald weich nnd rührend klingen wie das
Kinnothsagen am nennten Ab, bald volltönend nnd
erschütternd wie die Stimme des Schofars am
Nenjabrstage. Das ist die jüdische Mnse . . •
Und wie die Mnse, so der Dichter.
Ich bin der ständige Schofarbläser,
Ich stoss ins Hörn mit Macht,
Sowohl am trüben Wintertage
• Wie in der Frühlingsnacht.
Es schlummert wohl in meinem Herzen
Manch lustge Melodie,
Kaum fang* ich an das Lied zu singen,
Wirds gleich zur Elegie. . .
Man kann bei Fmg fünf Arten von Liedern
unterscheiden: ernste Gesänge, Lieder der Bibel,
Zionslieder, satirische Gedichte und Balladen und
Legenden.
In den ernsten Gtesängen Frugs finden wir
jenen Grnndzng der Melancholie, die wir bereits
beim hebräischen Lyriker Chaim Nachman Bialik
kennen gelernt haben. Es ist immer die ewige
Suche nach Schönheit und Kraft, Freiheit und
Licht Schönheit ist genugsam vorhanden: eine
herrliche Natur Gottes, ein wogendes Aehrenfeld,
zierliche Blumen im Garten, ein blanfarbener
Himmel, Sonne, Mond und Sterne — aber der Jude
kann die Schönheit nicht gemessen, weil ihm Licht
nnd Freiheit fehlen. Er sieht die Schönheiten der
Natur nur durch ein kleines Guckfenster, aber er
darf sich nicht mitten in ihf als freier Mann frei
bewegen. Deshalb ist der jüdische Poet nmso
trauriger, je freudiger der Himmel lacht, nmso
melancholischer, je freigebiger die Natur ihre
Schätze oflFenbart.
Droben lacht der blaue Himmel.
Heiter ist der Tag, gelind.
— „Spiel mir doch ein Sommerliedchen!" —
Fleht das arme bleiche Kind:
— „Komm mit mir doch in den Garten;
Von des Gartens schönster Zier,
Von den allerschönsten Blumen
Windest du ein Kränzlein mir!** — .
Ach, mein Kind, siehst nicht? — Zerbrochen
Hängt die Harfe an der Wand;
Und entwohnt ist längst des Spielens
Meine schwache, kranke Hand.
Was kann Lebensfreude frommen,
Wenn verwundet ist das Herz!
Sommer, Wintjer, Herbst und Frühling —
Immer nagt der alte Schmerz.
Das ist das Sommerlied des jüdischen Poeten.
Fast alle ernsten Gesänge, besonders aber die Ge-
dichte „Eine Sommernacht**, ^Die Natur*, „In den
Gärten, auf den Feldern", „Zum Cheder, Kinder !„
„Grossmütterchen sitzt mit einem Strumpf in der
Hand", „Der Frühling geht, der Frühling kommt'' —
hat Fmg aus dieser traurig düstem Grundstimmung
heraus gedichtet. Frugs Leier ist reich genug an
Tönen, um den tausendfachen Schmerz in tausend-
fachen Variationen ausklingen zu lassen.
Frugs biblische Liederhaben mit den „Biblischen
Melodien" Ujejskis nichts gemein. Komel üjejski
hat seinen polnischen Patriotismus in biblische Stoffe
gehüllt. Frugs biblische Lieder dagegen sind
Kommentare zu der Bibel, Randglossen, Be-
trachtungen, Reflexionen. Er sitzt über die uralten
Blätter gebeugt und hebt jedesmal seinen Kopf
empor, um ins Freie zu blicken und über das Ge-
lesene nachzusinnen. Er bringt jedes Bibelwort in
Beziehung zum modernen praktischen Leben. Liest
er von den biblischen Helden, so sucht er sie
gleich in der Gegenwart, und leise Wehmut zieht
in sein Herz, weil er sie nicht findet. Er liest
die uralten heiligen Blätter mit Andacht, zugleich mit
erhöhter Aufmerksamkeit. Bald hält er inne, bald
macht er einen Gedankenstrich. Hier setzt er ein
Ausrufungszeich^, dort ein Fragezeichen. Hier
als Beispiel das von Zlocisti ins Hochdeutsche über-
tragene Gtedicht „Aber die Sterne?"
Es glänzt der Mond. Es glänzen die Sterne
In wallender Nacht über Berg und Tal ... —
ÜDd wieder les ich die uralten Blätter;
Ich las sie tausend und tausende Mal.
Und wie ich lese die heiligen Worte,
Hält mich eine Stimme gebannt:
„Mein Volk, Du wirst «ein wie die Sterne am Himmel,
Wie am Meeresgestade der Sand.**
Ich weiss es mein Gott: Von Deiner Verheissung,
Wird sich erfüllen das leiseste Wort.
Ich weiss es, mein Gott: Es sucht nur Dein Wille
Die richtige Zeit, den richtigen Ort.
Und eines hat schon die Erfüllung gesehen.
Ich hab^ es mit allen Sinnen gettSilt:
Wir sind zu treibendem Sande geworden.
Von jeglichem Fusse durchwUhlt . . .
Es hat sich erfüllt! . . Wie Sand und wie Steine
Zerstreut und zerstohen zu Schande und Spott I
. . . Nun aber die Sterne mit leuchtendem Scheine,
Die Sterne, die Sterne, wo sind sie, mein Gott? . . .
Die Zionslieder Frugs sind der Ausfluss Jenes
tiefinnerlichen Gtemütslebens, das sich nur bei dem
von aller Welt abgegrenzten Ghettojuden entwickeln
konnte. Nahm man ihm diese schöne Welt, so
schuf er sich im Gteiste eine andere, eine schönere,
glanzvollere. Raubte man ihm die Wirklichkeit,
so blieben ihm die Träume. „Auch Träume sind
etwas, womit man die Zeit ausfüllen kann", und
Träume haben nicht selten Leidende getröstet und
Gebeugte aufgerichtet. Tiefe Religiosität erzeugte
3dl
Samuel Meiseis, Charlottenburg: Moderne Jargonlyrik.
382
den Messiasglauben; die farbenreichen Traumbilder,
die sich an ihn knüpften, dichtete später die leb-
hafte Phantasie hinzn. Das goldene Zeitalter suchten
die Juden im Ghetto in der Zukunft. Und sie hatten
recht. Das goldene Zeitalter war noch nicht; ein
goldenes Zeitsdter, das spurlos verschwinden konnte,
glänzte nur wie Gold, aber es war keins. Das echte
muss erst kommen. Diese Hofinung tröstete die
Juden. Mit goldenen Fäden hatte der Ghettojude
sein Zionsideal umsponnen. Und der jüdische
Ghettodichter Frug spinnt sie weiter. Es liegt
viel Erhabenes und viel Rührendes in seinen Zious-
liedem. Es sind Tränen in ihnen, die wie sonnen-
bestrahlte Tautropfen funkeln, und Töne, die wie
liebliche Zukunftsmusik klingen. Frug hat in diesen
Liedern die an den Messiasglauben anknüpfenden
Sagen, L^enden und Märchen als zierliche Arabesken
verwendet Von den vielen Zionsliedern sei hier
nur eins in möglichst wortgetreuer deutscher
Uebertragung angeiührt. Es betitelt sich „Der
Becher^ und bebandelt die alte Midraschl^ende
von dem Tränenbecher, der vor Gott steht und in
den der Allerbarmer beim Anblick der Leiden Israels
maiche Träne fliessen lässt. Erst — so geht die
Sage — wenn das Mass der Leiden voll ist und
der Becher von Tränen überströmt, hat die Stunde
der Erlösung geschlagen, ist die lange Leidens-
geschichte Israels beendet.
D 6 t}\B e c h e r.
— „Sag, MüttercbcD, ist's wirklich wahr,
Was Grosspapa erzählet:
Dass dort vor Gott ein Becher steht; — X
und wenn man hier uns quälet,
Und wenn aus unsrer wunden Brust
Erschallen Schmerzenstöne,
Lässt fliessen Gott in diesen Kelch
Voll Mitleid eine Träne?" —
— „Ist wahr, mein Kind!" — „Sag, Mütterchen,
Ist's wahr, was ich vernommen,
Dass wenn der Becher tränenvoll.
Dann wird Messias kommen?** —
„Jaw^ohi, mein Kind!" — Und eine Weil'
Seufzt still der kleine Sprecher,
Dann fragt er leis: — „Wann, Mütterchen,
Wann wird denn voll der Becher?" —
Tieftraurig hebt zur Mutter Qr
Den Blick voll bangem Sehnen:
— „Ist denn der Becher bodenlos
Und sickern durch die Tränen?
Wir litten und wir leiden noch,
Nichts füllt des Bechers Leere;
Vielleicht versiegt im Lauf der Zeit
Im Becher drin die Zähre?" . . . —
Die Mutter schweigt und neigt das Haupt,
Ihr Herz ist tief erschüttert,
Und eine Träne, weich und mild.
Im Mutterauge zittert
Und auf des Kindes hold Gesicht
Zwei Perlentropfen fliessen. . .
O guter Gott, lass in den Kelch
Die Tränen sich ergiessen.
Auf dem Gebiet der Satire bewegt sich Frug
zwischen Höhe und Tiefe. Manchmal gelingt ihm
ein vorzügliches satirisches Gedicht. Zuweilen
jedoch sinkt er auf die Stufe der alten Badchonim
hinunter .... Auf der Höhe seines poetischen
Könnens zeigen ihn seine Balladen und Legenden. Sie
verdienen die Bezeichnung: Perlen der jargonischen
Literatur.
Frug ist ein bedeutender Lyriker. Der Ab-
stand zwischen ihm und den jüdischen Volksdichtem
ist gross. Aber man kann sich Frug ohne die
jüdischen Volksdichter nicht denken. In ihm hat
die jüdische Volksdichtung ihren Gipfelpunkt er-
reicht. Er hat für den Gedankenb^is und die
Gef&hlsmomente der jüdischen Volksdichtung die
richtige Kunstform geschaflfen. Das erhebt ihn vom
Volksdichter zum Dichter des Volkes. Ganzanders
ist Morris Eosenfeld. Dieser Dichter steht — als
Jargonlyriker — auf eigenen Füssen. Freilich
lassen sich auch in Rosenfelds Dichtungen,
namentlich in denen seiner ersten Schaffenszeit, Spuren
der jüdischen Volksdichtung nachweisen. Aber sie
haften nicht unzertrennlich am Wesen dieses Dichters.
Man kann diese Spuren verwischen, ohne dadurch
ein Jota von der poetischen Empfindungsart Bösen*
felds zu rauben. In der Jargonliteratur bedeutete
er ein Ereignis. Zunächst seine Persönlichkeit:
ein armer, hungernder, in den Sweat-Shops Fron-
dienste leistender jüdischer Schneidergeselle erwacht
eines Morgens und findet sich als Dichter berühmt
So mancher jüdische Schneidergeselle war zu etwas
besserm geboren und hat es zu etwas besserm ge-
bracht. Der alte Alexander Zederbaum hat den
kühnen Sprung von der Schneiderwerkstatt zum
Redaktionstisch gemacht. Dieser Schneidergeselle
begründete die älteste und grösste hebräische
Tageszeitung „Ha-meliz", die in Petersburg vier-
undvierzig Jahre lang erschien. Ausserdem gab er
noch einige Zeitschriften und Wochenblätter in
jüdisch-deutscher und in russischer Sprache heraus.
Ein jüdischer Schneidergeselle war es, der heute
die „Stütze des Wiener Burgtheaters" ist. Und
ein jüdischer Schneidergeselle schrieb die „Songs
from the Ghetto", die seinen Namen als Jargon-
dichter in Amerika wie in Europa bekannt machten.
t^ Die „Lieder des Ghetto"^) hat der Dichter in
drei Teile geschieden: in die Lieder der Arbeit, die
Lieder des Volkes und die Lieder des Lebens.
„Alle drei Teile sind \on einer Stimmung getragen:
einem gewaltigen Schmerz, der sich empört gegen
die Grausamkeit des Schicksals und der Menschen,
der wild aufschreit, ohne emen Widerhall zu finden,
der sich verzweifelt krümmt und endlich kraftlos
zusammenbricht, um den letzten halberstickteu
Seufzer in einer Flut von Tränen zu begraben" . .
Rosenfeld setzt unbewusst statt des Spezifisch-
1) Deutsch: Lieder des Ghetto von Morris Rosenfeld.
Autor. Uebertragung aus dem Jüdischen von Berthold
Feiwel mit Zeichnimgen von E. M. Lilien. Zweite Auf-
lage. Hermann Seemann Nachf., Berlin.
383
Samuel Meiseis, Charlottenburg: Moderne Jargonlyrik.
384
Jüdischen das Allgemein-Menschliche in den Vorder-
gmnd. Diese Erweiterung des lyrischen Stoffge-
biets in der jüdisch-deutschen Literatur ist mit
Genugtuung zu begrüssen. Denn eine Literatur
bereidiem, heisst, ihr jedesmal neue Stoffgebiete
zuf&hren, neue Werte schaffen. Von diesem G^e-
sichtspunkt aus betrachtet, ist Kosen feld ein Bahn-
brecher. Er griff über die Grenzen des Ghetto
hinaus und ins volle Menschenleben hinein. Das
Schicksal wollte es, dass er auch ausserhalb des
Ghetto nur Disteln und Domen fand, die in sein
Herz drangen und es bluten machten. Von Eind<
heit an an jüdische Schmerzen und Tränen gewohnt,
glaubte er in jedem Schmerz und in jeder Träne
etwaä Jüdisches erblicken zu dürfen. Es gibt
Leiden, die der Jude als Mensch zusammen mit
Millionen andern Menschen teilt Die grosse Tragik
im Leben des Juden bildet der Zuschuss zu den
menschlichen Leiden, den er vom Schicksal erhalten
hat: das Judenelend. Morris ßosenfeld scheint
beide B^;riffe: das allgemein -menschliche und
spezifisch-jüdische Elend nicht recht auseinander-
zuhalten. Sonst hätte er seine Gredichtsammlnng
nicht unter der falschen Flagge „Lieder des Ghetto**
in die Welt geschickt. Es sind Lieder, die in der
Ghettosprache geschrieben sind; Lieder des Ghetto
sind sie nicht. Was haben zum Beispiel die Ar-
beiterlieder „Die Werkstatt**, „An der Nähmaschine**,
„Die Nachtigall zum Arbeiter**, „Das Lied der
Not**, „Die Träne aul dem Elsen**, „Was ist die
Welt**, „Auf dem Totengarten** — mit dem Ghetto
zu schaffen? Oder wie stehen die Lieder des
Lebens: „Blumen im Herbst", „In der Wildnis**,
„Die EIrschaffung des Menschen**, „Die Freiheit**,
„Die Not und der Dichter**, „Die Friedhofsnach-
tififaU** — mit dem Ghetto in Zusammenhang? Nur
die Lieder des Volkes — der kleinste Teil der
Sammlung — stammen aus der rein jüdischen
Gtemütssphäre. Rosenfelds Gedichte haben aus dem
Grunde, weil sie nicht spezifisch-jüdisch sind, an
poetischem Wert nicht das geringste verloren. Aber
man soll die Seufzer, die aus rauchgeschwängerten
Fabriksräumen kommen, mit den Seufzern, die aus
dumpfen Ghettomauem hervortönen, nicht identifi-
zieren.
ßosenfelds Stärke ist die Naturmalerei. Er
malt keine Kabinettbilder, weil er mit einfachen
Mitteln nicht zu arbeiten versteht. Er entwirft
übergrosse Gtemälde, in denen er einen Farben-
reichtum entwickelt, dass es glänzt und schillert
und funkelt von allen Seiten. Er findet für jedes
Naturbild eine treffende Tonfarbe, für jeden
Naturlaut einen richtigen Klangwert. Wir staunen
oft, wie sich in diesem hungernden und darbenden
Schneidergesellen ein solcher Natursinn entwickeln
konnte, und wir fragen uns: wie gross hätte dieses
Dichtertalent unter günstigen Verhältnissen werden
können, wenn es unter ungünstigen so geworden
ist! . . . Ein grandioses Bild von grossartiger
Plastik und meisterhafter Klangmalerei ist das
Gedicht „der Sturm". Wild rast der Sturm übers
^tep^. Tief gähnt der Abgrund der brüllenden See,
aus der die Wogen hochauffliegen, als drohten sie
eine. Welt zu verschlingen. Gtegen diesen Meeres-
sturm setzt sich em Schiff zur Wehr. „Eis biegt
sich und bäumt sich und stöhnt und ächzt**. Es
schnaubt der Kessel, es zischt im Kamin, es
krachen die Balken,
Es krachen die Masten, wild fiattem die Segel,]
— Jetzt fliegt es Torbei an dem tötlichen lUff —
Sie kämpfen und streiten und raufen und ringen
Auf Leben und Tod: der Sturm und das ScMff.
Jetzt muss es sich ducken, jetzt muss es sich stellen.
Jetzt treibt es zurück, jetzt treibt es voraus,
Jetzt ist es nur noch ein Spielzeug der Wellen,
Die Wasser verschlingen^s und speien es aus.
Es braust die See, auffliegen die Wogen,
Es dampft und kocht und siedet der Grund,
Blut wiU der höllische Sturm, der Mörder,
Ein grausiger Abgrund reisst auf seinen Schlund
«
Da hört man ein Jammern, ein Schreien und Weinen.
— Entsetzlich die Angst und schaurig die Not —
Jedwedes betet zu seinem Grotte:
„Rette uns, rette uns, Herr, vor dem Tod!"
Und an der Seite dieses Bildes malt er zwei
Männ^, die ruhig und stumm nebeneinander sitzen.
Sie falten die Hände und starren schweigend den
Todesgraus an. Es sind zwei russische Juden,
die aus dem finstem Russland geflohen sind und
jetzt vom freien Amerika wieder nach Russland
getrieben werden. Sie resignieren: Mag brausen
das Meer und heulen der Sturm und sinken das
Schiff — was haben wir, die Entrechteten, die
Heimatlosen, zu verlieren? Das nackte Leben, das
wir besitzen, ist wahrlich des Lebens nicht wert . . .
Ihr habt wohl Grund zum Weinen und Beten
Und mögt Euch entsetzen vor jähem Tod,
Habt alle ein Heim, darinnen zu wohnen,
Euch jagt übers Meer nicht die grausame Not.
Doch wir sind verloren, verlassen wie Steine,
Die Erde giebt uns kein Fleckchen frei,
Wir fahren. Doch keiner erwartet uns drüben.
Vielleicht wisset ihr, wohin fahren wir zwei?
Mags brausen und brüllen und sieden und ^kochen-
Mags stürmen und stürzen um uns her,
Wir sind verlorne, verlassene Juden —
Unsere brennende Wunde löscht nur das Meer. . . .
Als Gegenstück zu diesem dtistem Gemälde
möchte ich „Die Nachtigall zum Arbeiter" anfahren,
ein Gedicht, worin Rosenfeld einen schönen Sonmier-
tag in den buntesten Farben malt. Freilich
brechen auch in diesem Gedichte Seufzer hervor,
auch hier beemträchtigt die Tendenz den künst-
lerischen Wert der Dichtung. Aber die künstlerischen
Werte, die sie enthält, interessieren uns umsomehr,
als sie von dem Natursinn Rosenfelds beredtes
Zeugnis ablegen:
385
'^Samuel Meiseis, Charlottenburg: Moderne Jargonlyrik.
386
Schön Sommer ist heut, schön Sommer ist heut!
Hörst du mein zärtliches Locken?
Vom tiefblauen Himmel die Goldsonne blinkt,
Luftvölkchen im Walde schmettert und singt,
Froh summt es auf blQhenden Glocken.
Es plaudert die Quelle und murmelt der Teich,
Es prangen die Blümelein wunderreich.
Schön Sommer ist jetzt, schön Sommer ist jetzt!
Der Schmetterling tanzt in den Lüften,
Der köstliche Silberregen sprüht,
Es funkeln die Berge, von Golde umgltlht,
Es wogt von wonnigen Düften.
Und lustig erschallen Schäferschalmei'n,
Der Hirt ruft die Hirtin zum Stelldichein,
Die heilige Zeit ist ersehienen.
Es ist kein Wunder, dass ein Dichter wie
Bosenfeld im Ghetto Aufsehen erregte. Die ver-
gleichende Kritik beschäftigte i^ch alsofort mit der
Erörterung der Frage: Wer ist grösser — Frug
oder Kosenfeld? So formuliert wurde eigentlich
die Frage nicht, aber sie war aus der Antwort er-
sichtlich, mit andern Worten: sie fragten nicht,
weil sie bereits die Antwort fertig in der Tasche
hatten. Im Grunde genommen lassen sich beide
Dichter nicht miteinander vergleichen. Sie sind
zwei verschieden geartete Lyriker. Ihre Wege
gehen weit auseinander. Ich habe den Vergleich
beibehalten, erstens weil er schon einmal gemacht
worden ist, zweitens weil Frug und Rosenfeld die
Hauptvertreter der modernen Jargonlyrik sind.
Und wie lautete die Antwort der Kritiker? Die
einen stellten ßosenfeld neben Frug, die andern —
darunter einige deutsche jüdische &itiker — sogar
über Frug. Schätzt man den rein künstlerischen
Wert der Erzeugnisse dieser beiden Dichter genan
ab^ so muss man meines Erachtens zu dem
Schlüsse gelangen: Bosenfeld hat gar mächtige
Akkorde angeschlagen; er hat Fnig übertönt,
übertroffen hat er ihn nicht Ja, nicht einmal ihn
ganz erreicht.
Nach diesen Jargonlyrikem wären vor allen
andern zu nennen: Abraham Reisen, ein stinmiungs-
reicher Poet, der manchen hübschen Gedanken in
den Goldreif eines schöngeformten Verses einfasst.
Coleridge sagt, dass in einem Liede, wo der Satz
musikalisch gebildet und wo in den Worten Rythmus
und Melodie zu finden ist, da ist auch etwas Gutes
in seiner Bedeutung. In diesem Sinne sind die
Lieder Beisens gute Poesie. — Ch. D. Nomberg,
ein überaus begabtes dichterisches Talent, dessen
Gesänge gar oft an die Psalmen erinnern. —
L. Jafffe, ein Verskünstler, der zwar von Frug ge-
lernt hat, aber mitunter seine eigenen Wege geht.
— J. Propus, ein Freiheitsdichter, der in seinen
Liedern ffir Licht, Leben, Freiheit und Freude
kämpft. — Ausserdem ist noch eine Beihe von
Jargondichtem \orhanden, deren G^chte zumeist
nur eine schlechtere Ausgabe von Frugs und Bosen-
felds Liedern sind.
Rbfd)ieösverfe
von Iel)uöa l)a«Cevl — Ueberfe^ von Cmil Col)n.
nad)dnid( verboten.
I.
(Dein Cieb, wir muffen uns fd)id^en,
nun jd)ei5' id) aus 5em Zq\:
Cag 5ir ins Rüge blid^en
3um allerle^^en CDal!
Id)*fürd)t', id) kann nid)t 3wingen
Das Ber3 in fein Revier:
ßeraus wirb es mir fpringen
Unb laufen Y)\n\ex bir.
II.
ÖebenNe ber Zage liebenber Cuft,
Unb id) will benken ber näd)te:
Wie bu mir 3iebft burd) bie träumenbe ßruft,
flud) id), aud) id)
Durd) beine träume möd)te.
III.
ein (Deer von tränen 3wifd)en uns rollt,
Id) kann nid)t l)inübereilen ;
Dod) wenn beine Ciebe l)erüber wollf,
- Die Wogen würben fid) teilen.
IV.
Id) lieg* im Grabe in tiefem träum, -
Da Rlmgt ein Glöd^lein l)olbe,
Das Glöd^lein l)ängt an beinern Saum,
Das 0lö*lein ift von Öolbe.
Du flüfterft I)ei6; „Id) grüfee bid),
O Ciebfter bu, im Grabe!**
Da t)aud) id) leife: Baft bu mid)
So lieb, wie id) bid) l)abe? -
387
Jehuda ha-LevJt Abschiedsverse.
388
V.
Du \)a\\ einen CDorö begangen,
Darum verhiag' id) 5id):
Deine roten Cippen unb Wangen,
Die f ollen seugen ffir mid)!
Deine roten Cippen unb Wangen,
Was finb fie benn fo rot? -
nun mu^ 5u fd)weigen unb bangen:
(Dein Blut auf beinen Wangen,
Das 3eugt von meinem tob.
VI.
Willft bu wirklid) meinen tob?
Bd), id) bete nur um Ceben,
Um es jung unb frifd) unb rot
Deinen Jal)ren 3U3ugeben.
Rul)lo9 meine näd)te finb
Unb Du raubteft mir bie RuI)': -
nimm fie l)in, bu liebes Rinb,
Sd)lumm*re, fd)lumm're bu! -
VII.
RH meine tränen blieben
Im Seuer beiner Cuft,
RH beine Waffer 3errieben
Die Steine in meiner Bruft.
Durd) Seuer unb Waffer 3ufammen
Sd)ritt mein 3ittembes Ber3:
Das waren beine flammen,
Das war mein weinenber Sd)mer3.
VIII.
Wie golbene platten mein liebenbes Ber3,
So l)5mmem es beine Reben;
Deine Bänbe aber bas leud)tenbe Crj,
Das fd)neiben fie wieber 3u Säbenl
IX.
Rubin unb Sapl)ir: O Cippenprad)t
Über fd)immember 3äl)ne Reib'n;
eine Sonne Dein flntli^ bod) lo*ige nad)t
Wirft fd)war3e Wolken \)\r\e\ru
X.
Rller Reid)tum biefer Welt
Ist mir eitel trug,
Deiner Cippen rote Sd)nur,
Deiner Cenben Gürtel nur
Wäre mir genug.
RH mein füfeer ßonig fliegt
Dort, wo id) bid) küfete
(Deine narbe fid) ergiefet,
Rlle meine CDv^bc fP^iefet
Runb um beine Brüfte.
XI.
Der Srauen &f)te ift il)r ebles tun,
Dod) alles Zun verebelt fid) burd) bid).
XII.
Unter beinen leid)ten Sügen
Beimlid) füfee Reime fpriegen,
Baifamknospe, (DYrrl)enblüt.
<Död)te bod) mein Ceben glüAen
nur fo lange, bis id) pflQd^en,
Sel)en kann, wiejalles blül)t.
XIII.
Deine Stimme l)ör' id) nimmer,
Rber leife l)or' id) immer
(klingen wie ein fernes ÖrOfeen
In ben tiefen meiner Seele
Deine Rettd)en an ben Sfigen.
XIV.
Wenn bu bie erfd)lag*nen beiner Ciebe
We*eft einft aus it)rer toten RuI)',
Denke aud) in fanftem triebe
(Deinet armen Seele Du.
nur bir nad)3uget)n auf beinem pfabe,
Ciefe fie einft bes Ceibes bunkle Zxu\f:
Gib fie ibm 3urü* in beiner Önabe,
Gib ibr Rübe, gib ibr Rub'!
^
XV.
(Dein ßer3 wirb bitter,
Da es gebenkt: -
nod) \)anQ\ ja, bS^gt
fln ben Cippen bie Süfee,
nod) fObr id) bie Rüffe,
Die bu mir gefd)enkt. -
389
390
Ol! JOSSEL MIT DEM FIEDEL
(Nach einer jüdischen Volksmelodie.)
Aus der Sammlung: LEO WINZ.
Lebhaft.
Nachdruck verboten!
Begleitung von JACOB BEYMEL.
moHoritf^
atempo
Ol ! JOSSEL MIT DEM FIEDEL
Zehn Brüder seinen mir gewesen,
hobeA mir gehandelt mit Lein.
Is einer gestorben,
is geblieben nein.
Oil Jossei mit dem Fiedel,
Tewjeh mit dem Bass,
spieltssche mir a Liedel,
chotsch*) auf dem Mitten Gass.
Nein Brüder seinen mir geblieben,
hoben mir gehandelt mit Fracht.
Is einer gestorben,
is geblieben acht.
Oi! Jossei mit dem FiedeU
Tewjeh mit dem Bass,
spieltssche mir a Liedel,
chotsch auf dem Mitten Gass.
Acht Brüdei seinen mir geblieben,
hoben mir gehandelt mit Rieben.
Is einer gestorben,
is geblieben sieben.
Oi! Jossei mit dem Fiedel.
'T'ewjeh mit dem Bass.
spieltssche mir a Liedel.
chotsch auf dem Mitten Gasj«.
*) chot8eh2= Wfim auch.
*:
391
Oi! Jossei mit dem Fiedel.
392
Sieben Brüder seinen mir geblieben,
hoben mir gehandelt mit Tschweks.*)
Is einer gestorben,
is geblieben sechs.
Oi! Jossei usw.
Sechs Brüder seinen mir geblieben,^
hoben mir gebändelt mit Strumpf.
Is einer gestorben,!
is geblieben fünf.
Oi! Jossei usw.
Fünf Brüder seinen mir geblieben,
hoben mir gehandelt mit Bier.«
Is einer gestorben,
is geblieben vier.
Oi! Jossei usw.
Vier Brüder seinen mir geblieben,
hoben mir gehandelt mit Blei.
Is einer gestorben,
is geblieben^drei.
Oi! Jossei usw.
Drei Brüder seinen mir geblieben,
hoben mir gehandelt mit Hei (Heu).
Is einer gestorben,
is geblieben zwei.
Oi! Jossei usw.
Zwei Brüder seinen mir geblieben
hoben mir gehandelt mit Steiner.
Is einer gestorben,
bin ich geblieben einer.
Oi! Jossei usw.
Einer bin ich geblieben,
handel ich mit^ Licht.
Starben tu ich jeden Tog,
weil zu fressen hob ich nicht.
OÜj Jossei usw.
*) Tschweks = Nagel.
DIE MILITAER-OESTELLUNG.
Monolog von Scholem Alechem.
Machdruck verboten
„Von wannen ich fahr? Ach und Weh ist mir: ich
fahr von der Militär-Gestellung. Das dort ist mein
Sohn, der jmige Mann, der da ausgezogen auf der
Bank liegt. Mit ihm fahr ich von Jehupez. Bin beim
Advokaten gewesen, mit ihm zu beraten, und auf dem
Wege habe ich bei Professoren gehorcht, was sie etwa
sagen möchten. Eine Militär-G^tellung hat mir Gott
zugeediickt ! Viermal habe ich dort gestanden und
bin noch nicht fertig. Und gerade er ist ein einzigdiger
Sohn, der einimdeinzigdige, ganz echt, wahrhaftig,
koscher, mit einem vollkommenen Militärbefreiungs-
Privileg... Was kuckt ihr mich an? Ihr glaubt nicht?
Ihr mögt zuhören, mögt ihr!
Das B^egnis von der Geschichte ist nftmlich die
Mahsse*): Ich selbst bin ein Meseretscher von Mese-
retsch. Geboren bin ich in Masepewka und zugeschrie-
ben bin ich in Worotiliwka. Einmal bin ich nftmlich
— nicht gedacht soll es heute werden ! — in Woroti-
liwka ansässig gewesen. Heute aber wohne ich in
Meseretsch. Wer ich bin und wie ich heiße, macht
Euch wohl nicht viel aus, meine ich. Doch meines
Sohnes Namen muß ich Euch sagen, denn das gehört
zur Hauptsache, sehr sogar. Er heißt Itzig, das heisst
Awrohom Jitzchok, aber man ruft ihn Alterchen.
Den Namen hat sie ihm gegeben, meine Frau, sie
soll gesund sehi, weil er ein Angstkind ist, ein ein-
zigdiger, ein einundeinzigdiger. Das heißt, wir hatten
außer ihm noch einen Jungen gehabt, um ein Jahr
oder anderthalb jünger als jener, ihm zu längerek
Jahren. Eisik hat er geheißen, Eisik. Ist ein Unglücn
gekommen. Man hat ihn, nämlich Eisik, einmal aUein
gelassen — ich bin damals, es soll nicht gedacht werden,
noch ein Worotiliwkaer gewesen, das heisst ich hatte mich
in Worotiliwka ansässig gemacht — und da hat er,
nämlich Eisik, sich niedergesetzt und ist uinter den
Samowar gekrochen und hat den siedigen Samowar —
nicht für Euch soll es gedacht werden — auf sich ge-
gossen und sich zu Tode gebrüht — jenem zu längeren
Jahren. Von der 2^it an ist er, Itzig nämlich, das heisst
♦) Sache.
Awrohom ^Jizchok, unser] einzigdiger gewesen, und
sie hat ihn verzogen, meine Frau, sie soU gesund sein,
und hat ihm den Namen Alterchen gegeben. Werdet
Ihr fragen: Wie heißt? Ein Einzigdiger, ein Einundein-
zigdiger, was hat der mit der Militär- Gestellung zu tun?
— Hört nur, das ist doch eben mein ganzer Verdruß !
Ihr glaubt vielleicht, er ist, Gott soll hüten, ein gesunder
Jung, wie es einmal vorkommt bei Kindern die im
Überfluß aufwachsen. Seid ihr auch im Irrtum ! Nicht
zwei Groschen möchtet Ihr für ihn geben. Ein Ver-
sehnis ist er, ein kranker Jung. Das heißt, krank, Gott
soll hüten, ist er eigentlich auch nicht; aber gesund ist
er gewiß nicht. Schade, er schläft jetzt, ich will ihn
nicht wecken. Wenn er aufsteht, werdet Ihr sehen:
ein Schatten von einem Menschen, Haut und Knochen,
lang und schmal, ein Gesicht, wie die ausgespiene Feige,
die Rabbi Zadok verschluckt hat, und eine Gestalt —
Steins geklagt! — dünn wie ein Lulew, im ganzen
nach ihr geraten, nach meiner Frau, sie soll gesund sein,
auch hochgeschossen und mager. Nun frage ich Euch:
brauche ich etwa an eine MiUtär-Gestellung zu denken,
so lang und dünn wie er ist ? Und tauglich ist er auch
nicht, und ein Befreiungsprivileg hat er !
Es ist zur Militär -Gestellung gekommen. Wie
heißt „Befreiungsprivileg"? Was ist mit dem Befrei-
ungsprivileg? Es fängt sich gamichts an. Und was war
die Ursache? Ganz einfach: mein anderes Jüngelchen,
Eisik, der sich als Kind — nicht für Euch soll es gedacht
sein ! — mit dem Samowar zu Tode gebrüht hat, war
nicht in der Matrikel gestrichen worden ; man hatte es
vergessen! Bin ich hingelaufen ziun Kronsrabbiner, dem
Schaute, und habe geschrien: „Halunke, Spitzbube, was
habt ihr getan? Warum habt ihr meinen Eisik nicht aus-
gestrichen? Fragt mich der Narr: Wer ist der Eisik
gewesen? — Wie heißt? frag ich, Ihr wißt nicht, wer
Eisik ist? mein Sohn Eisik, der den siedigen Samowar
über sich gegossen hat? — Was für ein Samowar? fragt
jener. — Guten Morgen, sag ich; Ein guter Kopf auf
Euch ! So ein Kopf bt gut, Nüsse drauf zu knacken !
Wer kennt nicht die Geschichte von meinem Eisik,
der sich mit dem Samowar zu Tode gebrüht hat 1 Ich
3Q3
Scholem Alechem: Die Militar-Oestellung.
394
verstehe nicht, was Ihr für ein Rabbiner in unserm
Städtchen seid. Mit Schales'*') kommt man nicht zu Euch,
dafOr ist ein Row da, lang soll er leben — solltet Ihr
wenigstens Achtung geben auf die Gestorbenen! Zu
was hat man Euch und Eure Taxen? — Endlich stellt
sich heraus, ich habe den schönen Row ganz umsonst
heruntergemacht; denn die Geschichte mit dem Sa-
mowar war gamicht in Meseretsch passiert, sondern
zu der Zeit, wo wir — nicht gedacht soU es heute werden
— in Worotiliwka gewohnt haben. Das war mir ganz
wie aus dem Kopf herausgeflogen.
Kurz — was soll ich Euch erzählen ! — ich habe
mich gerührt und umgetan, Papiere her, Papiere hin —
mein Awrohom Jizchok, das heißt Itzig, den man
Alterchen ruft, war um sein Privileg gekommen. Das
ganze Privileg war fort. Ach und Weh und Gewalt !
Denkt Euch : ein einzigdiger Sohn, ein einundeinzigdiger,
ganz echt, wahrhaftig, koscher, mit einem vollkomme*
nen Militärbefreiungsprivileg — und keine Spur von
einem Privileg! Nim geh und schrei um Hilfe und
Erbarmen — aus! verfaUen!
Wir haben aber doch einen großen Gott auf
der Welt ! Geht mein AIterchen,das heisst Itzig, und zieht
die höchste Losnummer 699!. Die Militärkommission
hat sich gewiegt vor Freude. Der Vorsitzende selbst
hat ihm einen Stoß in die Rippen gegeben und hat
gerufen: Bravo, Itzig, tüchtiger Junge! Die ganze
Stadt hat mich beneidet. Nummer sechshundertneim-
undneimzig ! Was für ein Glück ! Masel tow, masel
tow ! Mit Masel sollt Ihr leben ! Genau als wenn ich
mit dem großen Los von 200000 Rubel herausgekommen
wäre!
Aber unsere Jüdchen ! . . . Wie man ist gekommen
zur Untersuchung, sind auf einmal aUe wüste, finstere
Krüppel geworden. Der hat den Fehler gehabt, jener
hat plötzlich zu hinken angefangen, einem andern war
es auf die Augen gefaUen, der hat das Pfeifen bekommen,
bei jenem hat sich eine Wunde aufgetan, bei wieder
einem bat sich, mit Respekt zu sagen, ein Aussatz auf
dem Kopf gezeigt ....
Kurz — was soll ich Euch lang erzählen — man
ist bis zu meines Sohnes Nummer gekommen, xmd
mein Itzig, das heisst Alterchen, hat sich nebbig gemußt
zur Aushebung stellen. Bei mir in der Stube hat sich
ein Gowein erhoben, oin Gewein und Geschrei. Finster-
keit ! Meine Frau, sie soll gesund sein, legt die Welt ein,
meine Schwiegertochter fällt in Ohnmacht. Wie heißt?
Wo ist das erhört gewesen! Ein einzigdiger Sohn,
ein einundeinzigdiger, ein ganz echter, wahrhaftiger,
koscherer, mit einem vollkommenen Militärbefreiungs-
Privileg, und kein Stückchen Privileg ! Und er, das heisst
mein Sohn, ist ganz gleichgültig, als ginge die ganze
Sache ihn nichts an. „Was wird sein mit Kol Jisroel,
wird sein mit Heb Jisroel" sagt er. Nur der Magen
zittert ihm dabei.
Wir haben aber doch einen großen Gott auf der
Welt! Der Doktor betrachtet meinen Itzig, das heißt
Alterchen, mißt ihn aus in der Länge und in der Breite,
beklopft ihn, bekuckt ihn, dreht ihn her imd hin und
8agt:/„Er taugt nicht, der Himd", d. h. er taugt schon,
nur zum Soldaten taugt er nicht. Er mißt keine dritte-
) RituaUragen.
halb Werschok in der Breite .. . . Wiedereinmal eine
Freude, ein Jubel : Masel tow, masel tow ! Mit Masel
sollt Ihr leben ! Die Familie ist zusammengekommen,
man hat einander „lechajim"*) zugerufen, man hat Gott
gedankt, man war die Gestellung los !
Aber unsere Jüdchen ! . . . Meint Ihr, es hat sich
nicht ein Scheikez**) gefunden, der bei der Regierung an-
gezeigt hat, ich hätte „geschmiert"? Was soU ich Euch
sagen — noch nicht zwei Monate vorüber, kommt ein Pa-
pier, worin mein Itzig, das heißt Alterchen, gebeten wird,
er soll noch einmal zur Gestellung in die Gouvemements-
stadt kommen, zur „Revision" heißt man das. Wie
gefällt Euch die Mahße? Meine Frau, sie soll gesund
sein, legt die Welt ein, meine Schwiegertochter fällt in
Ohnmacht. Wie heißt ! Wie heißt ! zweimal zur Ge-
stellung ein einzigdiger Sohn, ein einundeinzigdiger
ein ganz echter, wahrhaftiger, koscherer, mit einem
vollkonunenen Militärbefreiungs-Privileg !
jt Kurz — was soll ich Euch erzählen ! — wenn man
zur Regierung gerufen wird, darf man nicht ausbleiben,
muß man fahren. Sind wir zur Regierung gefahren.
Bin ick herumgelaufen hin und her. Vidleicht hilft
das Verdienst der Väter, ein gutes Wort, das, jenes.
Geh, schrei ! Ich erzähle einem die Geschichte — ein ein-
zigdiger Sohn, ein einundeinzigdiger, und nicht einmal
gesund. — Der erhebt ein Gelächter. — Und mein Sohn?
— Man hat schon schönere begraben, sagt er, eine
Revision ist eine Lotterie, die reine Lotterie!
Wir haben aber doch einen großen Gott auf der
Welt! Man hat meinen Itzig, das heißt Alterchen,
hineingeführt zu der Regierungsrevision und hat wieder
von vom angefangen, ihn zu betrachten in der
Länge und in der Breite, hat ihn wieder beklopft und
bekuckt, gedreht hin und her. Was? Steins geklagt !
„Taugt nicht, der Hund?** Das heißt, taugen taugt
er schon, nur zum Soldaten taugt er nicht. Einer hat
widersprochen und gesagt „tauglich". Hat der
Dokter geschrieen: „nicht tauglich". — Der sagt
„taugUch", der sagt „nicht tauglich", tausch, nicht
tausch, hin und her, bis der Gouverneur selbst sich
von seinem Bänkchen erhoben hat, herankommt und
sagt: „Ganz und gar nicht tauglich", das heißt, ertaugt
auf 99 Kapores. — Hab ich sofort weggeschickt eine
Depesche ! nach Haus in verstellter Sprache: „Masel
tow, die Ware ist für vollkommen unbrauchbar erklärt.'*
Jetzt muß ich noch einmal zu der Zeit zurück-
kehren, wo ich — nicht gedacht soll es heute werden —
in Worotiliwka ansässig gewesen bin, xmd mein Itzig,
das heißt Alterchen, noch ein ganz kleines Kind ge-
wesen ist. Kommt da eine Geschichte, etwas wie eine
Revision in der Stadt. Von Stube zu Stube ist man her-
umgegangen und hat aufgeschrieben von jedem. Klein
bis Groß, wie er heißt und wie alt er ist, wieviel Kinder
er hat, ob Jungen oder Mädchen, und wie man sie ruft*
Ist man auch zu meinem Itzig gekommen^ fragen*
wie man ruft ihn. Sagt meine Frau, sie soll gesund sein :
,yAlterchen". Jener ist zufrieden und geht und schreibt
auf: „Alterchen".
Genau ein Jahr nach der MiUtärgestellung kommt
eine neue Schickung : man sucht meinen Sohn Alterchen ;
er soll, Gott erbarme sich, zur Gestellung kommen ia
*; zum Wohl8ein.3 **) Scheusal.
397
Scholem Alechem EHe Militär-Oestellung.
398
Der eine sagt so, und der andere sagt so; was der
eine sagt, bfilt der andere für falsch — meschugge
könnte man werden.
Der erste Advokat, den ich traf, war ein grober
Kopf, ein stumpfer, trotz der großen Stirn mit einer
mächtigen Glatze, wie um Lockschenteig darauf aus-
zurollen. Er hat nicht einmal verstehen können, wer
Alterchen ist und wer Itzig, und wer Awrohom Jizchok
ist, und wer Eisik gewesen ist. Ich erzähle ihm noch
einmal und noch einmal, Alterchen und Awrohom
Jizchok imd Itzig sind ein Mensch, und Eisik ist der,
der den Samowar über sich gegossen hat, als ich noch
in Worotiliwka gewesen bin. Wie ich meine, daß ich
mit ihm fertig bin, fragt er mich eine ganz neue Frage:
„Sagt nur, wer ist der älteste, Itzig oder Alterchen oder
Awrohom Jizchok?" — Hat man schon so was gehört !
Sag ich ihm: „Ich hab euch schon fünfzehn mal gesagt,
daß Itzig und Awrohom Jizchok imd Alterchen ist
aUes eine Person; das heißt, sein wirklicher Name ist
Itzig, das heißt Awrohom Jizchok, nur rufen ruft
man ihn, seine Mutter, meine ich, Alterchen. Seine
Mutter hat ihn so verzogen. Und Eisik ist der, der den
Samowar über sich gegossen hat, als ich noch ein Woro-
tiliwkaer gewesen bin." — „Und wann", fragt jener,
,4n welchem Jahr ist Awrohom Alterchen, ich meine
Jizchok Eisik zur Militärgestellung gegangen?" —
„Was schwatzt Ihr da?" frag ich, „was bringt Ihr^da
durcheinander Qraupen und Borschtsch? Zum ersten
Mal in meinem Leben treffe ich einen Jüd mit einem so
goischkischen Kopf ! Man sagt Euch doch, daß Jizchok
und Awrohom Jizchok und Itzig und ^ Eisik fi^und
Alterchen, das ist alles ein Mensch!"
„Scha", sagt er, „schreien Sie nicht so! Was
schreien Sie?" . . . Verstehen Sie eine Sprach'?
Nim soll er gar nicht recht haben! • . . Kurz, ich
hab selbstverständlich ausgespuckt und bin weg-
gegangen zu einem anderen Advokaten, der war ge-
rade ein guter Kopf, ein talmudischer Kopf war er,
nur ein wenig überchochem, überklug ein wenig.
Er rieb sich die Stime und „lernte", den Text des
Gesetzes lernte er, drehte sich, folgerte, zog Schlüsse,
daß nach diesem und diesem Paragraphen war der
Meseretscher Magistrat gar nicht berechtigt, ihn ein-
zuschreiben. Dagegen, sagt er, ist vorhanden ein
Gesetz, daß, wenn er hier eingeschrieben worden
ist und dort nicht ausgeschrieben worden ist, so
muß er ausgeschrieben werden; und wieder ist
vorhanden eine „Kassation", daß er, wenn er hier
eingeschrieben ist, und dort nicht ausgeschrieben
wurde, so .... Kurz, so ein Gesetz und so ein
Gesetz, so eine Kassation imd so eine Kassation;
er hat mir „kassassiert" den Kopf voll, und ich
mußte gehen zu einem dritten, mußte ich. Da
hab ich gerade angetroffen auf einen Schlemiel,
ein ganz junges Advokatchen, ein funkelnagelneues,
das erst 'vor kurzem* sein „juris" beendet hat, ein
sehr gutes Menschchen mit einem Züngelchen wie
ein Glöckchen. Wie es scheint, lernte er sich reden,
red^i lernte er sich; deim wenn er Isprach, merkt mans
ihm an, daß ihm das Vergnügen machte, das Reden,
heißt 'es. Also der wurde voll Begeisterung, hielt
mir eine lange Predigt, so daß ich ihn unterbrechen
mußte und sagen: „Alles sehr schön und fein" sehr —
sag ich — „Sie haben vollständig recht, aber was
nützt es mir, sag ich, daß Sie mich beweinen. Wozu
beweinen Sie mich? Geben Sie mir lieber eine Eize,
sag ich, was ich mit meinem Sohn machen soll, vielleicht.
Gott behüte, ruft man ihn doch, vielleicht?
Kurz, was soll ich Ihnen lange erzählen, ich kam
endlich zu einem^richtigen, wirklichen Advokaten. Das
ist, verstehen Sie mich, ein Advokat von den alten Ad-
vokaten, ein Advokat, der einen Sachverhalt versteht,
verstehen Sie mich. Ich erzählte ihm die ganze Ge-
schichte von Aleph bis^Thow. Er saß^die ganze Zeit mit
geschlossenen Augen und]hörte mir zu. " Dann meinte
er: „Schon? Sind Sie fertig? Fahren Sie nach Hause,
es ist Mumpitz,; mehr als dreihundert Rubel Strafe
werden Sie nicht bezahlen." — „Das ist das Ganze?
sag ich,'e, wenn es mit den dreihundert Rubeln getan
wäre! Aber ich habe Maure für meinen Sohn, Maure
hab ^ ich!" — „Was für Sohn?" — „Was heißt, sag
ich, was für 'Sohn? Mein Alter, Itzig heißt es." —
„Was hat dies alles, sagt er, mit Itzigen^zu schaffen?"
— „Was heißt, sag ich, vieUeicht ruft man ihn wieder
einmal?" — Er hat Jdoch, sagen*^Sie, ein weißes Billet?"
— „Zwei, sag ich; hat^er, zwei." — „In diesem Falle,
sagt er, was wollen Sie denn?" — „Wollen, sag ich,
wUU ich gar nichts, was soll ich denn wollen? aber
Maure habe ich, sag ich, denn man sucht jetzt Eisiken,
und Eisik ist nicht da, und Alter^ Itzig heißt es, ist
eingeschrieben"^ Awrohom -Jizchok, und Jizchok —
so sagt unser Herr Rabbiner — ist Issak, und Issak
ist Isak, und Isak ist Eisik; könnte^man, Gott behüte,
glauben, daß mein Itzig, oder Awrohom- Jizchok,
Alter heißt es, ist Eisik.** — „Nun,** was schadets,
sagt er, was schadete? Im Gegenteil, desto besser,
dann werden Sie überhaupt nicht bestraft. Er hat
doch,T sagend Sie, ein weißes Billet." — „Zwei, sag
ich, zwei weiße. Aber die hat doch Itzig, nicht Eisik."
— „Sie sagen doch, sagt er, daß Itzik ist Eisik?" —
„Wer sagt das, sag ich, daß Itzig ist Eisik?" — „Sie
haben es doch selbst gesagt?" — „Ich, sag ich, wie
konnte ich so was gesagti^ihaben? Wie kann ich sagen,
sag ich, daß Itzig ist Eisik, wenn Itzig ist Alter, und
Eisik ist der, der den kochenden Samovar auf sich
umgestürzt hat, zur Zeit als ich noch ein Worotiliwkaer
war, in Worotiliwka heißt es" Er, der Advokat,
wird rot wie ein Feuer und befiehlt mir, zu gehen:
Entfernen Sie sich, sagt er, Sie langweiliger Ebräer,
sagt er ! .... Verstehen Sie, was das heißt? ich bin
ein langweiliger Jüd, heißt es. Haben Sie Worte?
Ich und langweilig?! Ich!...
399
400
AUS DEN ALTEN GEMEINDEN.
Von'^Leon Scheinbaus-Memel.
(Schluss.)
Nachdruck verbouso
II.
Statutenordnung einer Gemeinde.
(Nach S. J. Pin »Kiriath Sofer" — Geschichte
der jüdischen Gemeinde zu Wilna, p. 33—42.
ed. WUna 1860.)
Rabbinat, Vorstand und Leitung derJGemeinde
konstituierten sich in den froheren Jahren Jolgender-
massen:
^3^1. An der Spitze /der Gemeinde stand der
Kabbiner, er wai* Vorsitzender des Rabbinats, zu
dem 12 Beisitzer (besoldete Dajonim) und das
Gemeindekollegium gehörten. Der Rabbiner, dessen
Oberaufsicht sämtliche Gemeindeangelegenheiten
unterstellt waren, wurde immer von einer Ver-
sammlung der Gemeindemitglieder auf drei Jahre
gewählt.
Nachstehende Abschnitte aus einem Vertrag
der Wilnaer Gemeinde mit ihrem Rabbiner vom
Jahre (5468) 1708 geben uns ein Bild vonjder
Stellung und den Aufgaben des Rabbiners :
a. (Absatz 3). Wenn die Vorsteher den
Rabbiner zu einer Sitzung oder zu einer Versamm-
lung einladen, so muss er der Einladung unverzüg-
lich nachkommen ; er darf namentlich nicht zurück-
bleiben, wenn eine wichtige Rechtsfrage den Gegen-
stand der Tagesordnung bildet Seine Pflicht ist
es, darauf zu achten, dass er nicht zu Beschwerden
einzelner Mitglieder gegen die Gemeindeverwaltung
und das Rabbinat Veranlassung gibt, dass er
Rechtssprüche fällt nach Vorschrift, sei es gemein-
schaftlich mit dem Gemeinderat, sei es in Zivil-
prozesssachen mit den Rabbinatsassessoren (Dajonim),
ohne Rücksicht auf Krittler und Rüttler jeder Art,
selbst nicht auf die Stimmung einer ganzen Ver-
sammlung, wenn die Meinung eines einzelnen die
richtige und mit dem Gemeindestatut vereinbar ist.
Die Vorsteher, die Vertrauensmänner, die Beamten
und das gesamte Kollegium sind verpflichtet, dem
Wort des Rabbiners zu folgen.
b. (Absatz 4). In die Geschäftsführung der
Gremeinde, Einschätzungen, Erhebungen und Aus-
gaben, Verpachtung des Gemeinde Vermögens, darf
der Rabbiner sich nicht einmischen ; nur wo es sich
um Abschluss des Pachtvertrages handelt, hat auch
der Rabbiner Sitz und Stimme in der entscheiden-
den Versammlung. Beschlüsse werden nach Stimmen-
mehrheit gefasst; aer Rabbiner unterzeichnet mit
dem Gemeindekollegium zusammen die Beschlüsse.
c. (Absatz 5.) Will die Gemeinde eine neue Steuer
erheben, eine neue Ausgabe auf sich nehmen oder
neue Anordnungen treffen, die gegen die Gemeinde-
satzungen sind, so muss der Rabbiner, wenn auch
nur einer aus der Versammlung sich mit der
Motivierung dagegen ausspricht, die Neuerung sei
gegen das Gemeindestatut, für den einen Partei er-
greifen und die geplante Einrichtung verhindern.
d. (Absatz 11). In Zivilprozesssachen ist der
Rabbiner nicht verpflichtet, mit im Richterkollegium
zu sitzen, die Rabbinatsassessoren dürfen auch ohne
ihn urteilen, und der Rabbiner muss deren Urteils-
spruch als vollkräftig gelten lassen, ohne ein Jota
daran zu ändern. Wenn jedoch bei der Verhand-
lung eine Partei, mag es sich um eine geringfügige
Sache handeln, die Anwesenheit des Rabbiners
durchaus wünscht, darf der Rabbiner sich nicht
zurückziehen.
e. (Absatz 12). Der Rabbiner hat überall nur
eine Stimme, bei Stimmengleichheit entscheidet sein
Votum. Laden die Kontrolleure der Statuten den
Rabbiner zu ihren Sitzungen ein, so ist er ver-
pflichtet, zu erscheinen. Wenn sie einen Paragraphen
des Statuts streichen wollen, so wird durch die
Mehrheit entschieden. Der Rabbiner kann nur
dann die Streichung verbieten, wenn sie gegen die
Landessatzung ist; wollen sie aber einen neuen
Satz einfügen, so kann der Rabbiner im Verein mit
zwei Gemeindemitgliedem das hindern.
f. (Absatz 13). Eine Erläuterung oder einen
Kommentar zu einer statutarischen Bestimmung
kann der Rabbiner von sich selbst nicht einsetzen, er
bedarf hierzu der Bestätigung der Landessynode.
Ist ein Fall weder in den Landessatzungen noch in
den Statuten der Gemeinde vorgesehen, so soll der
Rabbiner in Gemeinschaft mit zwei Gemeindemit-
gliedem, zwei Versammlungsvorstehem, zwei Re-
präsentanten und zwei Rabbinatsassessoren, die mit-
einander nicht verwandt sind, die Entscheidung
treffen.
g. (Absatz 15). An einem Wahlakt in den
Mittelfeiertagen, an der Wahl von Wahlmännern
zur Einschätzungskommission usw., darf der Rabbiner
sich nicht aktiv beteiligen, weder für noch gegen
einen Wahlmann Stellung nehmen.
h. (Absatz 16). In der Landessynode darf der
Rabbiner keinen Beschluss unterzeichnen, der gegen
401
Leon Scheinhaus-Memel : Aus den alten Gemeinden.
402
das Interesse seiner Gemeinde, einzelner oder vieler
Mitglieder wäre, ohne sieh mit dem Vorsteher
seiner Gemeinde ins Einvernehmen gesetzt zu haben.
i. (Absatz 20). Die Ordination des „Kandidaten"
erteilt der Rabbiner mit den Gemeindeältesten
zusammen (wenn es mit den Landessatzungen ver-
einbar ist).
•Bei Erteilung des Morenu-Titels hat der Rabbiner
die vier Gemeindevorsteher und die Repräsentanten
einzuberufen, die bereits nach Landessatzung mit
dem Morenu-Titel versehen sind, auch die beiden
ältesten Rabbinatsassessoren. Diese halten zn*
sammen im Haus des Rabbiners oder im Gemeinde-
haus Sitzung und beschliessen nach Stimmenmehr-
heit. In jedem Fall dürfen sie den Morenu-Titel
nur nach Landessatzung verleihen, und nicht dem
der nicht die jüdische Rechtslehre (Jorel-deah,
Choschen-Mischpot) gelernt hat, wenn er, auch den
Talmud wohl kennt. Bei einem älteren Herrn, der
mindestens 10 Jahre verheiratet ist, wird nicht so
streng verfahren.
2. Aus dem Kreia der Gemeindemitglieder wurden
die sogenannten ;,Männer der Versammlung^ aus-
erwählt, aus denen die Vorsteher, Repräsentanten
usw. zur gesamten Leitung der Gemeinde gewählt
wurden. Zur Versammlung wurden überhaupt nur
die zugelassen, die den Morenu- oder auch Chober-
titel besassen oder eine bestimmte Zahl Jahre ver-
heiratet waren.
3. Die Ernennung zu einem Gemeindeamt erfolete
in der Regel stufenweise: I. Klasse: Vize- Vorsteher
oder Vize -Repräsentant. n. Dajan (Rabbinats-
assessor) bei einem Verein oder ehrenamtlicher
Beisitzer bei dem Gemeinderichterkollegium. III.
Vorsteher der Zdoko Gdoulo oder Dajan der
Gemeinde. IV. Gemeindehaupt V. die Besten
der Gemeinde (die eigentlichen Repräsentanten).
VI. (höchste Klasse). Vorsitzender der Landessynode
oder Vorsitzender der Gemeinde. Nur selten und
unter genau vorgesehenen Umständen kam es vor,
dass ein Gemeindemitglied ausser der Reihe zu
einem höheren Amt gelangte. — Ausser den er-
wähnten Aemtem gab es noch das der Kontrolleure
der Statuten und nach diesen das der Hüter des
Statuts. (Beide Aemter sind, das was wir etwa als
Protokollführer und Revisoren bezeichnen).
i. Die Neuwahl land nach einer bestimmten, im
Lauf der Zeit nur unwesentlich umgestalteten
Ordnung aus dem Jahre 1608 statt. Vor Beginn
des Monats Kislew wurden fünf Wahlmänner be-
zeichnet, die die eigentlichen Ordner waren. Diese
trafen Vorbereitungen zur Hauptwahl, die immer
in den Mitteltagen des Osterfestes stattfand. Schon
vor dem Passahfest wurde der Wahlakt vom Schrift-
führer vorbereitet, die Zettel, auf die Namen der
berechtigten Mitglieder lautend, wurden ausgefertigt,
und in die Wahlbüchse gelegt; am ersten
Mittelfeiertag, gleich nach Beendigung des Morgen-
Gottesdienstes , hatten sämtliche Vorsteher und
Führer, auch der Rabbiner und der Schriftführer,
sich im Gemeindehaus zu versammeln, um den
Wahlakt zu überwachen. Fünf Vertrauensmänner
entnahmen aus der Wahlbüchse nacheinander fünt
Zettel. Die auf diesen stehenden Namen sind die
der fünf Wahlmänner. Die Wahlmänner, die sofort
ins Gemeindehans berufen wurden, ernannten die
vier Vorsteher, zwei Vorstehe der Landessynode,
vier (Tuwim) Repräsentanten, drei Häupter, vier
Rechnungsrevisoren und zwei Versammlungs Vorsteher ;
zusammen 19 Männer, die die Verwaltung der
Gemeinde bildeten, ausserdem noch vier Vorsteher
der Zdoko-Odouloh (Armenunterstützung und 12
Dajonim.
5. Die Hauptarbeit der Gemeindeverwaltung be-
stand in der Steuereinschätzung, in der Einteilung
der verschiedenen Kaufmanns- und sonstigen Kate-
gorien, und in der Aufsicht über die Handelsver-
hältnisse. Steuerpflichtig waren sämtliche Handels-
artikel, die Kreditgeschäfte, jeder Gewerbebetrieb
und jedes Handwerk. Die Einziehung der Steuer-
beiträge geschah direkt durch Vertrauensmänner
der Gemeinde und durch bestellte Pächter, die die
verschiedenen Steuerartikel in Pacht nahmen. Zur
Bemessung des Steuerbeitrages wurden Einschätzungs-
mitglieder gewählt, die die Einschätzung durch ge-
heime Stimmabgabe zu vollziehen verpflichtet waren,
unter strengem Verbot jeder persönlichen Rücksicht-
nahme. Waren sie zu diesem Amte gewählt,
so mussten sie total isoliert im Gemeinde-
zimmer ihre Sitzung abhalten und durften nicht
einmal während der Tagung nach Hause zu ihren
Familien gehen. Ihnen lag ob, jeden Beitrags-
pflichtigen zu vereidigen. In der Steuerquote vom
Gewinn aus Handel und Handwerk war jeder
Beitragspflichtige verpflichtet, den Vertrauens-
männern oder den Pächtern seinen Nettoverdienst
anzugeben. Alle Handelsgeschäfte waren von der
Gemeinde abhängig. Die Gemeindeverwaltung
durfte einem jeden zum Handel und Gewerbe Er-
laubnis erteilen, sotem er einen bereits bestehen-
den Geschäftsbetrieb nicht schädigte. Jedem
Handwerker war verboten, selbst innerhalb seines
Berufs, ein Fach ausserhalb seines Handwerks zu
ergreifen.
6. Jedes Vierteljahr mussten die „Männer der
Versammlung** im Gemeindehaus zu einer Sitzung
zusammentreten, um die Gemeindeangelegenheiten
zu besprechen und zu beaufsichtigen. Wenn die
Vorsteher der Versammlung diese nicht einberufen
hatten, versammelten sich die Mitglieder von selbst.
Wenn 20 Mitglieder zusammen kamen, galt die
STersammlung für ordnungsmässig und beschluss-
fähig, als wenn die Mitglieder vollzählig erschienen
wären.
7. Die Dajonim, unter dem Vorsitz des Rabbiners,
hätten die Schätzung der Grundsteuer vorzunehmen,
die Stände in der Synagoge zu vergeben usw. Ge-
meinsam mit dem Gemeindeschriftitihrer und dem
Gemeindediener gaben sie allen vor ihnen ge-
schlossenen Kaufverträgen etc. Kraft und Geltung.
Unterstützt von der gesamten Gemeindeverwaltung,
halten sie auch die Richtigkeit der Masse streng
Leon Scheinhaus-Memel : Aus den alten Oemeinden.
Soldatensplele im Park. (Zum Anikci „J«iidc ii
ZU beobacliten, und mit grosster
Strenge gegen die Förderer
der Teuerung der Marktpreise
vorzugehen und eine Preis-
steigerung zu verliindern.
8. Alle 3 Jahre fand die
Landesversammlung (Landes-
synode) an einem zu be-
stimmenden Ort statt. Der
Landesversammlung gehörten
an die 5 Hauptgemeinden Li-
tauens : Brest, Gi-odno, Wilna,
Pinsk und Siuzk nebst allen
umliegenden kleineren Ge-
meinden. Jedoch in den
Gemeindeverordnungen aus
dem Jahre 1608 lesen wir;
Da die Jahre und die Ver-
hältnisse nun nicht in der Ord-
nung sind und es nicht mehr
möglich ist , Landessynoden
alle 3 Jahre zu .stände
zu bringen, wie von alters
her angeordnet war , so ist
in der Gemeindeversammlung
Turnen am Rundlauf in der Tumballe.
der ßeschluss gefasst worden,
Wahhuänner aus der Ver-
sammlung hervorgehen zu
lassen, um „Kontrolleure der
Statuten" zu ernennen, die
die alten herkömmlichen Ver-
ordnungen bewachen und er-
neuern sollen, damit der
geistige und moralische Stand
unserer Gemeinden auf seiner
alten Höhe bleibe.
So haben es unsere Vor-
fahren vor 2—3 Jahrhunderten
in Littauen und ganz genau
ebenso früher in den Ländern
Mitteleuropas verstanden, ihr
Gemeindewesen vergleichs-
weise mustergültig zu ordnen.
Das Gemeindeleben war ihnen
gegen jede öeberschwemmung
von aussen her ein mUchtiger
Damm und Schutz
JEDIDE ILMIM.
Frennde der Tanbstnmmen — ihre Zahl ist Legion!
Helfer der Taabstammen — ihrer sind nicht genug!
Doch die kleine Zahl bat schon bemerkenswertes
geleistet, und sie wird sich stattlich mehren, sobald man
in der breitereu Oeffentlicbkeit von ihrem gesegaetfin
Wirken hört, — Im Jahre 1884 ist der Verein „Freunde
der Tanbstnmmen — Jedide Ilmim" gegründet worden,
Im Jahre 1889 bat er in Berlin -Weissensee die nnter
der trefflichen Leitnog dea Herrn Direktor M. Reich
stehende An-
stalt, die wir
anaem Le-
iern im Bilde
vorfuhren,
errichtet. :
Heute wer-
den in dieser
Anstalt 48
tanbstamme!
Kinder, 25
Knaben und
23 Mädchen,
erzogen, zn
arbeite-
Ahigen und
arbeitsfrohen
Menschen
herangebil-
det Hier ler-
nen die Taub-
stummen
„sprechen",
werden sie
einem Hand-
werk ÜU-
gefQhrt: hier
geschieht
IV. Klaaae der Taubttummcn-Schule mit dem Lehrer.
das Mifglicbe, ihnen über den angeborenen Mangel
hinwegzuhelfen, dessen üble Folgen ganz zn beseitigen
oder wenigstens zur Erträglichkeit zn verringern.
Der Verein hat 3000 Mitglieder, davon 1200 in
Berlin; eine stattliche Zahl, und doch nicht genug! —
Seine einmaligeu Einnahmen betrugen im vergangenen
Jabre Mark 21 396,75. seine dauernden Einnahmen Mark
31 679, aus dem Vorjahr hatte er einen Barbestand
von Uark 6 272,81 übernommen. Die Höhe der einma-
ligen Einnah-
men, die nur-
bis KU Mark
14294,45 von
einmaligen
Ausgaben in
Anspruch ge-
nommen wur-
den, gestat-
tete ihm, die
dauernden
Ausgaben
auf Mark
35 015,81,
d. h. über
die dauern- 1
den Einnah-
men hinaus -
zu normie-
ren. Er war
gleichwohl
in der Lage,
mit einem
Barbestand
von Mark
10 221,55 in
das neue Jahr
einzutreten.
Der Artikulationsunterricht in der
unterBten Klaue.
Du Abtühlen der Laut» vom Kchlliopf dtr Lehrerin
Die Verwaltung gewann
sogar den Mdt, der
von schOnem Vertrauen
zn der ständigen Opfer-
willigkeit unserer Glau-
bensgenossen 2Sengnis ab-
legt, sein Aufgaben-
gebiet noch zu erweitem:
die Fürsorge für die
Zöglinge über die Ent-
lassung aus der Anstalt
hinaus auf die ganze
Lebenszeit ausza dehnen.
Wer einmal in der Anstalt
gewesen, der soll sie
immer als Beraterin und
Helferin anrufen dürfen.
Auch sonst ist eine
Ausdehnung des Instituts
In Aussicht genommen,
bis für alle taubstammen
jüdischen Kinder Deutsch-
lands Kaum geschaffen ist.
Unseren Lesern sei die
Teilnahme an dem Verein
und die Förderung seiner
Ziele herzlich empfohlen.
SpracbCbung in der n. Klaate.
Lehrer Meyer.
407
408
MITTEILUNGEN AUS DEM DEUTSCHEN BUREAU
ZZl DER ALLIANCE ISRAELITE UNIVERSELLE. CZ
T"! (Berlin N. 24, Oranienbui^erstr. 42/43 1).
DAS RUMAENISCHE HILFSWERK.
Nachdruck verboten.
An der Lage in Rumänien hat sich bedauer-
licherweise nicht viel geändert. Zwar die Unruhen
mit ihren groben Ausschreitungen haben aufgehört.
Aber die weit gröblicheren Ausschreitungen der
Regierung dauern fort. Das Ministerium Sturdza^
Bratianu bleibt der Politik treu, die nicht die
Politik einer einzelnen Part<>i, sondern die rumänische
Politik ist. Was immer im rumänischen Staate
sich ereignen mag, das dient zum Verwand für
eine neue vexatorische Handhabung der Oesetze
gegenüber der jüdischen Bevölkerung. So von
Grund aus verderbt und verrottet ist das fsanze
politische Leben in Rumänien, so völlig verkehrt
sind alle Begriffe von Recht und Grerechtigkeit,
dass sogar die Opfer der rumänischen Justiz-
verhöhnung bereits zufrieden sind, wenn diese Justiz-
verhöhnung nur keine neue Form an^^mt, keine
neuen Schleich- und Umwege einschlägt. Ein aller
Menschlichkeit Hohn sprechendes Gesetz macht in
einem grossem Teil Rumäniens für die jüdische Be-
völkerung die Erlaubnis zur Niederlassung in länd-
lichen Gemeinden von einer Unzahl Bedingungen
abhängig, die nur sehr schwer zu erfüllen sind.
Hat aber hier und da ein jüdischer Rumäne durch
keine Verleumdung und keine Gewalt von der Er-
langung der Niederlassungserlaubnis abgeschnitten
wenlen können, so weiss der bojarische Witz, der
nach dieser Richtung unerschöpflich ist, immer
wieder neue Mittel zu finden, den Armen um sein
Heimatsrecht zu bringen. Ist es doch vorgekommen,
dass jüdische Männer zur Bekämpfung des jüngsten
Bauernaufstandes unter die Fahnen gerufen wurden
und noch unter den Fahnen erfahren mussten, sie
seien ihres Niederlassungsrechtes verlustig gegangen,
weil sie ihren Wohnsttz „aufgegeben" hätten 1 Sie
hatten ihn aufgegeben, um mit der Waffe in der
Hand die Bojaren gegen die Bauern zu schützen.
In anderen Bezirken haben antisemitische Barbaren
im Präfektenamt das Mittel ersonnen, ein schwer
erkämpftes Niederlassungsrecht zunichte zu machen
dadurch, dass sie die Bauern der betreffenden Ge*
meinden erklären Uessen: der jüdische Mann ver-
kaufe ihnen seine Waren zu teuer und bezahle
ihnen ihre Waren zu billig. Das Verstösse gegen
die guten Sitten, der jüdische Kaufmann sei somit
kein ehrsamer Eaufinann mehr und erfülle nicht
länger die Bedingungen, unter denen er in die
Landgemeinde zugelassen wurde!
Die Rumänen lieben es, sich die Franzosen
des Ostens zu nennen. Das ist eine freche Be-
leidigung der Franzosen, gegen die die französische
Presse laut und einmütig Protest erheben sollte!
Das Hilfswerk tür unsere bedrängten Glaubens-
genossen in Rumänien ist nach dem Antrag der
Alliance Israölite Universelle unserem Schwester-^
Institut, der Israelitischen Allianz in Wien, über-
tragen worden. Das ist von vornherein in Absicht
gewesen, schon weil Oesterreich das Nachbarland
des rumänischen Verfolgungsbezirkes ist, sodann
weil auch sonstige österreichische Interessen vor-
zugsweise in Rumänien engagiert sind. Es ist
niemals ein Zweifel gewesen, dass diese Ordnung
der Dinge die beste sein würde, sie lag in den
Verhältnissen und zwang sich beinahe auf. Neben
den eigenen Vertrauensmännern und Beamten stehen
der Israelitischen Allianz in Wien die der Alliance
Israölite Universelle und der Jewish Colonisation
Association zur Verfugung, die mit den rumänischen
Verhältnissen und Personen genau vertraut sind.
Am 5. Mai kamen Vertreter der Alliance
Isra61ite Universelle, der Deutschen Conferenz-
Gtemeinschaft der Alliance IsraöUte Universelle, des
Frankfurter Hilfiscomit6s für die osteuropäischen
Juden, — des Hilfsvereins der deutschen Juden
und der Israelitischen Allianz in Wien zu einer
Besprechung zusammen, in der die vorher tatsäch-
lich bereits beschlossenen Massnahmen bestätigt
und ausserdem die Summen bezeichnet wurden, die
man für das rumänische Hilfswerk zunächst zur
Verfügung steUen wollte. Auch Vertreter der
rumänischen Lokal-Comit6s sowie die Vertrauens-
männer der Alliance Israälite Universelle und der
Jewish Colonisation Association in Rumänien waren
zur Besprechung zugezogen worden, die unter dem
Vorsitz des Herrn Ritters von Gutmann, Vorstehers
der Israelitischen Allianz, viele Stunden währte. Es
wurde mitgeteilt und mit allgemeiner Freude ange-
nommen, was unsere Leser bereits aus dem vorigen
Heft wissen, dass die I. C. A« sich entschlossen
hat, die Organisation und Leitung des rumänischen
Auswanderungswerkes ganz allein in die Hand zu
nehmen und auch die Kosten allein zu bestreiten.
Mit grosser Befriedigung wurde die Mitteilung ent-
gegengenommen, dass die frühere rumänische Aus-
wanderung nach Amerika den erhebendsten Beweis
für ihr glückliches Gelingen und ihren guten Erfolg
gegeben hat, indem Rumänen, die in Amerika eine
neue Heimat gefunden, für ihre in der Heimat
heimgesuchten Brüder stattliche Beiträge, 8U00O Fs.,
geschickt hatten. Man erfuhr femer, dass die wohl-
habenden rumänischen Israeliten, trotz der schweren
Verluste, denen sie selbst ausgesetzt gewesen, sich
beeilt hatten, freiwillig neue Opfer auf sich zu
nehmen, um den Aermeren beizustehen. In
den Kassen der lokalen Hilfscomit^s waren von
diesen Geldern ausser den oben erwähnten
80000 Frs. noch 25000 Frs. vorhanden. Der
Israelitischen Allianz in Wien wurden insgesamt
409
gMitteitungen der Alliance Isra^Hte Universelle: Das rumänische Hilfswerk.
410
500000 Frs. flir2:das HUfswerk zar Verfflgang
gestellt. Da 105000 Frs. aus Amerika und Ru-
mäuien selbst vorhanden waren, so musste zunächst
nur noch fftr 395000 Frs. gesorgt werden. Die
Alliance Isra^lite Universelle und die Israelitische
Allianz in Wien äbernehmen hiervon die Hälfte,
ein Viertel wird das eußrlische Hilfscotnitee tragen,
mit einem Sechstel will sich der Hilfsverein der
deutschen Juden beteiligen, mit einem Zwölftel das
Frankfurter Hilfscomitee für die osteuropäischen
Juden. Was die Alliance Israälite Universelle und
die [sraelitische Allianz in Wien zur Bekämpfung
der Tagesnot vorweg geleistet haben, wollen sie
auf ihren Anteil nicht verrechnet wissen. Die Hand-
habung des Hilfswerkes steht ausschliesslich bei der
Israelitischen Allianz in Wien, die sich der be-
stehenden lokalen Hilfs-Gomitees bedient, um das
Maass der zu leistenden Entschädigungen festzu-
stellen, und ausserdem, wenn sie es für nötig hält,
ein von ihr zu berufendes Comitee von kundigen
Männern zu Informationszwecken heranzieht.
DAS ACKERBAU -WERK.
Spezialbericht an die A I. U.
Nachdruck verboten.
I. Die Ackerbauschttle in Jaffa.
;Wie üblich, geben wir hier ausführliche Auszüge
aus dem Jahresbericht, den der Direktor dem Central-
Comit^e über das Ackerbau- Werk für 1905/06 erstattet
hat:
Ich erwähne wie alljährlich die hauptsächlichen
Vorkommnisse, die sich auf unser Internat und unsere
praktischen Versuche in dem eben abgeschlossenen
Erntewirtschaftsjahr beziehen.
Unterricht der Zöglinge: Unsere An-
stalt hat eine Oaseinsberechtigung nur dann, wenn
sie den von ihren Begründern vorgezeichneten Zweck
erfüllt: für die in Palästina niedergelassenen Kolo-
nisten als Mustergut und als Versuchsschule zu dienen,
körperlich und beruflich die jüdische Jugend durch
Einimpfung des Geschmacks an der Landarbeit zu
regenerieren. Darum beginnen wir die Darlegung der
Entwicklung unserer Schule mit dem Kapitel, das von
den Zöglingen handelt, den Hauptinteressenten an
unserem Werk.
Zahl der Zöglinge: Am 31. Oktober 1905
hatte unsere Schule 72 Zöglinge. Im Lauf des Jahres
wurden 19 aufgenommen, 33 entlassen, sodaß am
31. Oktober 1906 eine)Zahl von 58 geblieben war, die sich
durch 27 Neuaufnahmen auf 85 hob. Drei von unseren
Zöglingen sind Muselmanen. Ich bemerke bei diesem
Anlaß, daß die muselmanischen Familien auf das drin-
gendste die Zulassung ihrer Söhne erbitten, weil unsere
Ackerbauschule die einzige in der ganzen Gegend ist. Das
Central-Comit6 hat dieAufnahme als vereinzelte Vergüns-
tigung gestattet. Von den entlassenen 33 Zöglingen
hatten 5 den 5jährigen, 1 einen 4jährigen, 13 einen
3jährigen Schulkursus durchgemacht, 12 waren 2 Jahre,
2 nur 1 Jahr bei uns geblieben. Die 5 Zöglinge, die den
ganzen Kursus durchgemacht haben, sind im Ausland
untergebracht worden. Von den 28 anderen waren 8
Söhne von Kolonisten. Sie sind gemäß dem neuen
Reglement nach 2jähriger Übungszeit zu ihren Eltern
zurückgekehrt, 5 mußten aus Gesundheitsrücksichten
entlassen werden. Aus besonderen Anlässen wurden 5
Zöglinge von den Eltern heimgerufen, 7 zeigten sich für
die Landwirtschaft ungeeignet, und 3 mußten wegen
schlechter Führung fortgeschickt werden.
Versorgung der abgehenden Zög-
linge: Zur Zeit der Gründung der Kolonien in Pa-
lästina und der Schaffung neuer Landwirtschaftsschulen
— die Alliance entschloß sich damals, diese Schulen mit
technischem Personal auszustatten — hatten meine
Vorgänger keine Schwierigkeiten, ihre abgehenden
Zöglinge unterzubringen. Die einen fanden Anstellung
bei den mit der Landwirtschaft noch wenig vertrauten
Kolonisten. Später verwendete die I. C. A. mehrere
in ihrer Verwaltung. Alljährlich nahmen Sie eine ge-
wisse Zahl in das agronomische Institut auf. Die
andern wurden meist in Egypten untergebracht, als
Angestellte bei den israelitischen Großgrundbesitzern.
Diese Plätze sind aber immer seltener geworden. In
den Kolonien haben die Ansiedler kaum Arbeit genug
für die eigenen Kinder und die zahlreichen russischen
Zuwanderer. Die I. C. A. vermindert von Jahr zu Jahr
die Zahl ihrer Verwaltungsbeamten. Ihre Ackerbaif-
schulen sind mit Personal reichUch versorgt, und die
Zulassung zum agronomischen Institut erfolgt nur
noch ausnahmsweise. Man ist davon abgekommen,
Egypten als eine Art gelobtes Land zu betrachten.
Freilich ist R^ypten nach wie vor überwiegend acker-
bautreibendes Land, und mehrere Glaubensgenossen
besitzen dort ausgedehnte Ländereien. Aber unsere
armen jungen Leute können mit dem arabischen Land-
arbeiter, der sich mit einem lächerlichen Lohn begnügt,
nicht konkurrieren. Ohne übermäßig anspruchsvoll
zu sein, haben unsere Zöglinge, die mit einer Fülle
theoretischer und praktischer Kenntnisse unsere An-
stalt verlassen und danach ein Volontärjahr absolviert
haben, um sich mit der egyptscihen Landwirtschaft
vertraut zu machen, Anrecht auf eine angemessene
Entlohnung. Übrigens bevorzugen die Verwalter der
egyptischen Großgrundbesitzer die eingeborenen und
muselmanischen Werkführer, die die arabischen Ar-
beiter mit der Peitsche traktieren, während diese Ar-
beiter sich von einem Fremden auch nicht einen Nasen-
stüber würden gefallen lassen. Keine Möglichkeit mehr,
unsere Zöglinge in Egypten unterzubringen. Wir
laufen Gefahr, unsere jungen Leute den landwirtschaft-
lichen Beruf verlassen und schlechtbezahlte, aber leichte
Anstellungen im Handelsgewerbe annehmen zu sehen.
Die Ungewißheit ihrer Zukunft hat die Moral unserer
Zöglinge sehr beeinflußt, einige von ihnen entmutigt.
Es mußte ein neuer Ausweg für sie gefunden werden.
Und der scheint sich in Kanada zu bieten. Mit Hilfe
411
Mitteilungen der Alliance Isra^Iite Universelle: Das Ackerbau-Werk.
412
der Alliance, der I. C. A. und des Baron Hirsch-Fonds
können einige unserer Zöglinge nach Kanada gehen,
um dort eine Zeitlang als Arbeiter tätig zu sein und
dann Pächter zu werden* Die während des letzten
Jahres in Kanada gewesen sind, schreiben, daß sie mit
ihrer Lage zufrieden sind. Eben jetzt schicken sich
6 unserer Zöglinge an, nach Amerika zu gehen. Die
Möglichkeit, bei ihrem Austritt aus der Schule Arbeit
zu finden, hat unsere Zöglinge ermuntert und ihnen
einiges Vertrauen in die Zukunft eingeflößt.
Gesundheitszustand: Die Primärschulen
der Türkei versehen uns nur in beschränktem Maße mit
Kandidaten. Unsere Schule ergänzt sich aus Syrien
und besonders den palästinensischen Kolonien, so daß
von den 28 Schülern, die den neuen Jahrgang darstellen,
5 aus Rußland sind, aus Gallipoli, von Demotica und
den Dardanellen. Die 23 anderen stammen aus Syrien,
nämlich: 10 aus Jaffa, 4 aus Tiberias, 3 aus Rischon,
2 aus Damaskus, 2 aus Jerusalem, 1 aus Wad-el-Hanine
und 1 aus Saida. Eine betrübliche Folge der Vorherr-
schaft des syrischen Elementes ist die Einschleppung
von Augenkrankheiten in unser Haus. Beinahe alle
Kinder aus dieser Gegend sind mit mehr oder weniger
schweren Augenkrankheiten behaftet oder dazu prä-
disponiert. Es ist sehr schwer, eine strenge Wahl zu
treffen, man müßte sonst alle Kandidaten zurück-
schicken. Die Folgen haben sich fühlbar gemacht.
Während des ganzen Monat März hatten wir epidemische
Augenkrankheiten zu beklagen. Dank der Hingebung
unseres überwachenden Pharmazeuten, der Fürsorge
unseres Arztes, und dank den Ausflügen^ die wir unsere
Schüler gelegentlich des Passahfestes haben machen
lassen, ist der Epidemie Einhalt getan, und jeder hat
seine Arbeit und seine Studien in bester Gesundheit
wieder aufgenommen.
Personal: Ich freue mich, Ihnen hier wieder-
holen zu können, daß ich dieses Jahr nur zufrieden
sein kann mit der Hingebung, die von unseren Lehrern
und Angestellten jeden Grades entfaltet worden ist, und
mit der treuen Aiihänglichkeit, die sie unserer Anstalt
beweisen. In den häufigen Versammlungen, zu denen
wir sie berufen, setzen wir die auszuführende Arbeit
fest. Die bei solcher Gelegenheit veranstalteten, den
Unterricht und den Feldbau betreffenden Erörterungen
sind sehr nützlich und erzeugen eine gewisse Vertrau-
lichkeit, die das Band unter den Kollegen nur fester
knüpfen kann. Alle setzen Ehrgeiz darein, die Aufträge,
die man ihnen anvertraut hat, erfolgreich auszuführen.
Jeder in seinem Bereich und alle vereint bemühen wir
uns, das Gedeihen der Anstalt zu sichern.
Landwirtschaftliches Ergebnis:
Das ländliche Arbeits jähr hat unter ungünstigen Be-
dingungen begonnen. Es regnete ebensoviel wie im
vorigen Jahr. Wir haben im ganzen 630 Millimeter
gehabt. Das ist ein normaler Durchschnitt; aber der
Regen war verspätet, vielfach Platzregen von Hagel
begleitet. Unsere tonartige und feste, schnell gesättigte
Erde, die trotz vorhergegangener Entwässerungen häufig
und lange überschwemmt war, das andauernde Stehen
der Gewässer hat das Wachstum des Unkrauts zum
Nachteil des größten Teiles der Nutzpflanzen begünstigt,
die sich nicht entfaltet haben oder durch den Sirocco
zu Schaden gekommen sind. Abgesehen von den
Orangengärten aber haben imsere Pflanzungen kaum
unter der Ungunst der Witterung gelitten imd mit ver-
schiedenen Sommerpflanzungen imd imserem Wein
die Lage gerettet.
Die Wintersaaten sind fast völlig zu Schaden ge-
kommen.
Da der Ertrag des landwirtschaftlichwi Jahres
sich recht ungünstig anläßt, haben wir uns bemüht,
durch Herabsetzung der Ausgaben auf das unbedingt
Notwendige Abhilfe zu schaffen.
Die Einnahmen betrugen Fr. 70822,50
„ Ausgaben .... „ 62 561,60
Das Reinerträgnis war somit Fr. 8 260,90
Das ist im Vergleich zu den investierten Kapitalien
ein recht magerer Ertrag, der sich daraus erklärt, daß
wir unsere allgemeinen Unkosten haben vermehren
müssen, um die Sicherheit unserer Anstalt zu festigen,
daß infolge der wirtschaftlichen Krise in unserer ganzen
Gegend (schlechter Verkauf der Weine imd der Orangen)
die Einnahmen sich verminderten, und daß das Wetter
während des ganzen Jahres ungünstig war. In guten
Jahren dürfen wir auf eine Verdoppelung des Rein-
ertrages rechnen.
Am Ende aller Enden können wir in Anbetracht
des Mißwachses unserer Wintersaaten und des ab-
normen Regenfalles mit dem Ergebnis leidlich zufrieden
sein, das hinter dem des Vorjahres nicht zurückstand.
Wenn auch der Reinertrag noch immer nicht merklich
wächst, so geht doch das Defizit der Landwirtschafts-
schule von Jahr zu Jahr zurücTc. Dieses Defizit betrug
im Jahre 1901/02 noch Fr. 90392,05, im folgenden
Jahr Fr. 68 705,30, im nächsten Jahr 70 016,70, im
Jahre 1904/05 noch Fr. 55 435,15, und im abgelaufenen
Jahr nur Fr. 51 378,61.
Folgendes ist der Rechnungsabschluß für das Jahr
1. November 1905 bis 31. Oktober 1906:
Ausgaben :
Allgemeine Unkosten und Personalgehalte Fr. 22 735,75
Beköstigung und Unterhalt der Zöglinge „ 33 983,20
Prämien für die Zöglinge des 4. und 5.
Jahrgangs . . • „ 1 338,20
Mobiliar 87,65
Erhaltung der Gebäude 750, —
Bibliothek 223,30
Gemüsegartei) 2 427,60
Geflügelhof 126,15
Schäferei 322,90
Stallungen 3056,95
Weinberge und IvJlereion 23815,80
Mandelbäume 595,05
Baumschule , 2 460,10
Orangonbäumo 6 732,80
Höfe, Gräben und Wege 818,40
Maulbeerbäume, Seidenwuniizuclil 329,05
Holzaanbu , 86,15
Zuckerstauden , 536,15
Bestellung „ 15 430,40
Summa Fr. 115 855,60
413
Mitteilungen der Alliance Isn^ite Universelle: Das Ackerbau- Werk.
414
Boden-Verbesserungen und Grundanlagen.
Olivenbäume Fr. 160,20
Holzanbau 700, —
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Setzen der Grenzsteine ....
Orangengärten
Brücken und Wege
Neuer Weinberg
Bauten
Urbarmachung
Kellerei und Bestellungsmaterial
Viehankauf
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139,05
3881,80
706,90
340,35
440,95
22,25
239,—
2690,—
Summa Fr. 9320,50
Einnahmen :
Spende des Konsistoriums von Bordeaux Fr. 45, —
Ertrag des Küchengartens 2 476,55
„ Geflügelhofs 152,30
der Schäferei 1 030,85
Stallungen 3 349,95
Weinberge und dos Kellers . ., 30132,65
Mandelbäume , i 383,25
Baumschulen 2 821,45
Orangengärten 8 748,85
Höfe und Wege 818,40
Seidenzucht „ 329,05
Zuckerstauden „ 380,95
Bestellung . „ 19 891,25
Summa Fr. 70867,50
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a. Parmschttle von Djedelda.
Herr Avigdor, der vortreffliche Direktor der Farm-
schule von Djedeida, berichtet:
Bewegung der Schüler: Die Gesamt-
zahl unserer ZögUnge war am I.Oktober 1905 60. Da-
von kommen auf den ersten Jahrgang 20, auf den
zweiten 16, auf den dritten 8, auf den vierten 11, auf
den fünften 5. Von diesen Zöglingen schieden 18 aus,
15 wurden im Oktober 1906 aufgenommen, die gegen-
wärtige Zahl beträgt 55. Von den im vorigen Jahr aus-
geschiedenen 18 Zöglingen hatten 5 den fünften Jahr-
gang durchgemacht, 5 den vierten, einer den dritten,
3 den zweiten und 4 den ersten. Drei Zöglinge kehren
aus Gesundheitsrücksichten in ihre Heimat zurück, ein
vierter wurde von seinen Eltern nach Vama berufen,
wo er seine Studien in einer Landwirtschaftsschule fort-
setzt; 2 andere haben uns im ersten Halbjahr ihres
Aufenthaltes verlassen. Der Zögling des dritten Jahr-
gangs Meimun schied vor der Zeit aus unserer Anstalt,
um in der Gegend von Porta Farina die von seinem
verstorbenen Vater hinterlassenen Grundstücke zu
übernehmen. Von den 10 Zöglingen des vierten und
fünften Jahrgangs sind 9 dem Beruf treu geblieben.
3 von ihnen arbeiten in Egypten — alle 3 sind aus der
Türkei — ein vierter, gleichfalls Türke, baut in Adri-
anopel die Gärten seines Vaters, ein fünfter aus Demotica
ist Werkmeister in Setif (Algier), 2 Tunesen arbeiten
im Dienst und auf Rechnung ihrer Eltern, ein dritter
Tunese ist noch ohne Anstellung und 2 Tunesen sind
provisorisch in unserem Betrieb tätig.
Statistik : Nach Abschluß Jodes Schuljahres
erneuern wir das Tableau der Zöglinge, die Djedeida
seit Gründung dieser Schule verlassen haben. W ir ver-
vollständigen und berichtigen die Meldungen,'die uns
über die Lage jedes Einzelne^ zugegangen sind gemäß
den Berichten, die wir aUs allen Teilen der Erde erhalten.
Wir bekonmien Briefe von unseren ehemaligen Zöglingen
aus Amerika, Chikago, Montreal, aus dem Innern von
Brasilien, aus Argentinien, der asiatischen Türkei,
Egypten, der Balkanhalbinsel, aus Algier und Tunis.
Die meisten, wenn nicht alle, selbst die mit ihrem
Geschick am wenigsten zufrieden sind, bewahren eine
Erinnerung an die Jahre, die sie in der Anstalt zuge-
bracht haben. Sie empfinden das Bedürfnis, uns ihre
Freuden und ihre Hoffnungen anzuvertrauen; sie ver-
gessen nicht, was sie unserer Anstalt danken, der Alli-
ance, die fortfährt, ihnen verschwenderisch ihre Unter-
stützung zu gewähren. Hat ihre Lage sich gebessert,
so beeilen sie sich, uns zu schreiben und das Verdienst
der Musterwirtschaft beizumessen und in irgend einer
rührenden Form uns wieder ihre Dankbarkeit auszu-
drücken. Sie nehmen Zuflucht zu unserer Erfahrung,
erbitten unseren Rat und bei Streitigkeiten mit ihren
Patronen unsere Intervention. Ohne jede Frage ist
dies der angenehmste Teil unserer Arbeit, die Bezieh-
ungen mit unseren ehemaligen Zöglingen zu pflegen; sie
ist aber auch der schwerste Teil. Haben wir unsere Lehr-
linge einmal in die Landwirtschaft eingeführt, so müssen
wir uns auch bemühen, sie darin zu erhalten gegenüber
den Verlockungen der Umgebung, die sie ihrem Be .uf
entfremden wollen. Angesichts der Schwierigkeiten
jeden Anfangs, der Schwierigkeiten schon der Stellen-
besorgung, ist es gar zu leicht, einem jungen Mann die
unmittelbaren Vorteile einer Anstellung im Handel ein-
gängig zu machen, selbst wenn die Entlohnung noch so
gering ist. Im Verlauf von 12 Jahren sind wir oft genug
die ohnmächtigen Zuschauer zahlreicher Desertionen
gewesen. Hat der junge Mann der Versuchung nach-
gegeben und ist er in den Handel eingetreten, so sehnt
er sich bald, ihn wieder zu verlassen, so empfindet er
Heimweh nach der freien Luft; er magert ab in der
verdorbenen Atmosphäre der Warenhäuser und der
Bureaus. Er sammelt seinen Mut, um an uns zu schreiben ;
er wagt noch nicht zu uns zu kommen, sondern bittet
nur inständig, dasswir ihn dem Landleben wiedergeben.
Eine Rückkehr solcher Art haben wir häufig gesehen.
Das sind sehr heilsame Beispiele für die Zöglinge, die
noch auf den Bänken unserer Anstalt sitzen. Viele
unserer vormaligen Lehrlinge, die eine Anstellung such-
ten, wollen liebef als einfache Arbeiter angestellt sein,
als in die Städte gehen, obwohl sie schon Werkführer
und Inspektoren gewesen sind. Sie können sich nicht
mehr an die Stadtluft gewöhnen. Wir kennen andere,
die gegen ihren Willen im Handel beschäftigt, mit Un-
geduld den Zeitpunkt und die Gelegenheit erwarten,
zur Landarbeit zurückzukehren.
Dank der Korrespondenz, die wir mit unseren
früheren Zöglingen unterhalten, können wir J3des Jcuir
die Liste aller derer feststellen, die in der Landwirtschaft
leben. Ihre Zahl ist gegenwärtig 80. Häufige mündliche
und schriftliche Unterhaltungen mit unseren früheren
Zöglingen geben uns zu denken, lassen uns den Geist
ihrer Grundherren, deren größeres oder geringeres
Wohlwollen erkennen, geben uns eine ziemlich genaue
Vorstellung von den Auswegen, die wir dem Tätigkeits-
drang unserer jungen Aek(»rbauer zeigen können.
417
Mitteilungen der Alliance Israelite Universelle: Das Ackerbau- Werk.
418
Nachstehend der Rechnungsabschluß für das
Jahr 1905/06:
Ausgaben :
Unterricht und Unterhalt der Zöglinge Fr.
Schmiedewerkstatt und Tischlerei . . .
Allgemeine Ausgaben
BibUothek
Mobiliar
Bauten
Apotheke
Prämien für die besten Schüler ....
Ackerland
Wein
Olbftume und ölkamraer
Mehlfabrik
Kuhstall
Bodenverpachtung
Bewässerungskultur
43 880,95
110,40
12 855,45
421,45
1 501,05
2 832,05
1464,55
1 562,90
9 609,80
2 987,35
5 992,65
2 749,10
8855,60
3 056,30
2 501,30
Total Fr. 98380,90
Bodenverbesserung.
Neue ölbaumpflanzen Fr. 3 112,45
Neuer Weinberg „ 601,90
Kellereimaterial „ 960, —
Mehlfabrik, Reparaturen „ 2 477,60
Summa Fr. 7 150,95
Einn a li . en :
Pension der zahlenden S*;hüier .... Fr. 1 350, —
Tischlerwerkstatt „ 185,60
Feldbestellung „11 308,95
Weinberge und Keller „ 4 618,85
Olivenbäume und ölkammern ...... 6 625,60
Mehlfabrik „ 8819,55
Schweizerei „ 10 500, —
Hausmiete „ 2 000, —
Landpacht , 13 996,25
Bewässerungskulturen „ 2 499,50
Verschiedenes „ 475,95
Summa Fr. 62 380,35
RUSSISCHE VERSUCHE IN BULGARIEN.
(Spezialbericht an die A. I. U.)
Nachdruck yerboteo«
Sofia, 15. Mai.
Hier ist anläßlich des jüngsten russischen Oster-
festes anfangs Mai, der Versuch erneuert worden,
das Märchen vom Blutmord zu beleben. Der Vorgang
soll sich in folgender Weise abgespielt haben:
Die siebenjährige Tochter des Generals Velt-
schew, Helene, und die achtjährige Tochter eines
Advokaten spielten nach beendetem Schulunterricht
auf dem Schulhof. Sie wurden von der Straße aus
von zwei Personen aufmerksam beobachtet. Die
Kinder begaben sich nach Haus. Unterwegs er-
neuerten sie das Versteokspiel. Jene beiden Personen
folgten von fem. Sie ergriffen die kleine Helene, ab
diese sich hinter dem Holzstapel eines Neubaus versteckt
hatte, schlössen ihr den Mund mit einem Taschen-
tuch und entführten sie durch entlegene Straßen
an das äußerste Ende der Stadt. Unterdessen setzte
die kleine Gefährtin das Spiel fort und rief: komm
heraus, komm, komm! Da auf den wiederholten An-
ruf nichts erfolgte, glaubte sie, daß Helene nach Hause
gegangen sei, und machte sich auf, das gleiche zu tun.
Inzwischen waren die beiden Räuber vor einem
verfallenen Hause angelangt, in das sie das Mädchen
schleppen wollten. Das Mädchan aber wehrte sich,
weinte und schrie. Ein Polizist kam des Weges,
sah das Mädchen und trat hinzu. Als die Räuber das
merkten, ergriffen sie die Flucht. Der Polizist nahm
dem Kinde das Taschentuch aus dem Mund und
schickte das Mädchen nach Haus, wo es erzählte, daß
zwei Juden es hätten entführen wollen. Daß die Ent-
führer Juden gewesen, habe es daran erkannt, daß
sie die Sprache der Juden redeten.
Der „Courier du Soir" meinte in seinem Bericht,
es sei möglich, daß man es mit einem Kindesraub zu
tunTiabe, der Gelderpressung vom Vater, dem General
Veltschew, bezweckte, und daß die Urheber des ver-
brecherischen Versuchs sich nach Art der jüdischen
Hausierer verkleidet hätten, um die Polizei auf eine
falsche Spur zu leiten. Ein anderes Blatt gab der
Vermutung Ausdruck, daß eine Spitzbüberei vor-
liege, die den Glauben an Ritualmord erwecken solle.
Ein drittes Blatt wiederum behauptete schlochthin,
daß tatsächlich die Absicht eines Ritualmordes vor-
gelegen habe.
Selbstverständlich bildete der Vorfall das Tages-
gespräch in der Stadt. Ueberall sah man ganze Gruppen
um die 2^itungsplakate versammelt, die in großen
Buchstaben ankündigten: „Raub der Tochter des
Generals Veltschew! — Erklärung des Generals Velt-
schew! — Verhaftung von 30 Juden! — Konfrontation !
— Die kleine Veltschew erkennt ihre Räuber!" Ebenso
selbstverständlich ist es, daß unsere Glaubensgenossen
sich beunruhigt fühlten, weil das Vorkommnis gerade
in die „heilige Woche" gefallen war, und weil General
Veltschew jedem, der hören wollte, versicherte, seine
Tochter sei beinahe das Opfer eines jüdischen Ritual-
mordes geworden. Auf die Frage von Reportern,
ob er wirklich an die Blutbeschuldigung glaube, er-
widerte er: „Bisher habe ich nicht daran geglaubt;
aber jetzt, da mein Kind fast das Opfer geworden
wäre, bin ich fest überzeugt."
Die kleine Helene Veltschew verharrte bei der
Behauptung, daß zwei Juden sich ihrer bemächtigt
und sie in ein verfallenes Haus geführt hätten. Ihr
Geschrei habe Polizisten herbeigerufen, von denen
sie aus den Händen der Räuber befreit und einer zu-
fällig anwesenden Person übergeben worden sei, die
sie nach Haus gebracht habe.
Unter solchen Umständen sollte es doch ziemlich
leicht sein, die volle Wahrheit zu ermitteln. Man
brauchte nur den Bericht der beiden Polizisten ent-
gegenzunehmen und jene dritte Person zu verhören.
'
421
Mitteilungen der AUiance Isra^lite Universelle: Russische Versuche in Bulgarien.
422
Alternativo übrige daß die kleine Helene Veltschew
zusammen mit der kleinen Tolew sich überlang auf der
Straße herumgetrieben haben und danach, zu ihrer
Entschuldigung oder aus Furcht vor Strafe oder aus
diesen Gründen und gleichzeitig aus Lust am Fabulieren,
ihren Eltern das Märchen vom Raub und von der
Befreiung vorgeflunkert haben. Denn daran ist kein
Zweifel, daß eine ernstliche Entführung so wenig wie
eine Befreiung stattgefunden hat, da weder Polizisten
noch Soldaten als die angeblichen Befreier sich haben
ermitteln lassen. Polizisten aber und Soldaten hätten
sich •unfraglich gern gemeldet, um den Dank des
Generals Veltschew, den sie auch verdient hätten,
entgegenzunehmen. Dasselbe gilt von der Zivil-
person, die angeblich die kleine Helene nach Hause
gebracht hat. Bei dem Lärm, den die Zeitungen er-
hoben haben, ist es beinahe unmöglich, daß diese
Zivilperson, wofern sie überhaupt existiert, von der
Affäre nichts gehört hätte. Was den hellen Rock
betrifft, den man bei dem einen verhafteten Trödler
als privaten Besitz gefunden hat und der eine Spur
von Verdacht rechtfertigen soll, weil die beiden Mädchen
gesagt haben, einer von den beiden Räubern habe
einen hellen Rock getragen, so können wir darin ein
verdächtigendes Moment nicht erblicken, solange
nicht festgestellt ist, daß helle Röcke bei Personen
gleichen Standes und gleicher Beschäftigung eine
Seltenheit sind.
Wir haben zu dem guten Willen der bulgarischen
Regierung das beste Zutrauen und rechnen darauf,
daß es sich bewähren wird.
(Gedenktafel. Die Alliance Israelite Universelle
und deren Deutsche Conferenz-Gemeinschaft haben zwei
herbe Verluste erlitten. Herr Gotthold Lewy in
Stettin, der als Schrittführer unseres Zwdig-Comites
für Pommern den Hauptteil der Geschäftslast auf sich
genommen hatte, mit Hingebung und Treue viele Jahre
hindurch seines Amtes waltete, ist nach kurzer Krank-
heit, am 30. \pril, in Lugano gestorben. Zwölf Tage
später, am 11. Mai, hat utis der Tod den ersten Vor-
sitzenden unseres Badischen Landes -Comit^:), Herrn
Emil Nöther in Mannheim entrissen. Wie Gott-
hold Lewy an der Seite des Rabbiners Dr. Vogelstein-
Stettin in der Provinz Pommern, so hat Emil Nöther
an der Seite unseres Seniors Bielefeld im Grossherzog-
tum Baden die Sache der AUiance Israelite Universelle,
die die Sache der Judenheit ist, mit herzlichem Eifer
und mit stetig wachsendem Erfolg vertreten. Die beiden
Männer, deren Hinscheiden uns mit Trauer erfCUlt,
sind Ek*ben und sorgsame Pfleger unserer besten Tradi-
tionen gewesen, und haben dnrch ihr Beispiel für deren
Erhaltung gesorgt. Wir werden der Treuen immer in
Treue gedenken.
♦ ♦ ♦
Das Berliner Lokal- Gomite der A. L U. hielt
am 28. April unter dem Vorsitz des Herrn Geheimen
Kommerzienrat G^idberger eine Sitzung ab. Der Vor-
sitzende erstattete Bericht über die am 19. Februar in
Frankfurt a. M. stattgehabte Tagung der Deutschen
Conferenz-Gemeinschaft und machte Mitteilungen über
den Stand der Arbeiten. Er konstatiert, dass die Zahl
der Mitglieder von Tag zu Tag erfreuliche Steigerung er-
fährt. Der besondere Hilfsdienst für russische Emigranten
findet in den Räumen des deutschen Bureaus statt. Er
erfordert andauernd erhebliche Aufwendungen. Das Ab-
kommen mit der Berliner Abfertigungsstelle für russische
Aus- und Rückwanderer wurde bis 31. März 1908 ver-
längert. Zum Schluss wurde durch einstimmigen Be-
schluss des Comites Herr Geheimer Medizibalrat Pro-
fessor Dr. L. Landau, dessen humanitäres Wirken
bekannt ist, kooptiert. Herr Prof. Dr. Landau hat
die Wahl angenommen.
« «
Mainz. In Mainz hat sich ein neues Lokalcomite
der Alliance Israelite Universelle gebildet. Es setzt
sich zusammen aus den Herren: Moritz Berney.
Sigmund Cahn, Ferdinand Gntmann. Adolf
Jeremias, Moritz Marx, Gross-Rabbiner Dr. Saal-
feld, Siegfried Tendlau.
llarmstadt. Hier hat sich das Lokal-Comit^ der
Alliance Israelite Universelle erweitert und neu
konstituiert. E^ besteht aus den Herren Lud-
wig Joseph, Kommerzienrat W. Langenbach,
J. Lehmann, Rabbiner Dr. Marx, J. Sander,
Max Stern, Adolph Trier, Kommerzienrat Louis
Trier und Otto Wolff. Eine weitere Vergrösserung
des Comit^ ist in nahe Aussicht genommen.
Spenden für Bumilaien. Für das rumänische
Hilfswerk sind aus Hambur&r 3200 Mark und von
Herrn H. Löwenthal, Berlin, Prenzlauerstr. 19a,
5 Mark eingegangen.'
♦ ♦ *
Neue immerwährende Mitglieder.
Fräulein D o r o t h e a. W o r m an n , Berlin, Oranienburger-
str. 32, Herr Ludwig Born i. Fa Born & Busse, Berlin,
Behrenstr. 31. Herr Julius Bleichröder sei. Anged ,
Herr Leopold Cohn i. Fa. Cohn & Daniel, Potsdamer-
str. 119. —
Die verehrlichen Mitglieder, die auf regelmässige und pUnktliche Zustellung
unseres Organs Wert legen, werden ersucht, Aenderungen ihrer Postadresse unver«
xil^liCh dem deutschen Bureau der A. L U., Berlin N. 24, Oranienburgerstrasse 42/43
mitzuteilen.
j.
423 Mitteilungen der Alliance Israelite Universelle. 424
Alle für das Berliner Lokal «Comlt^ der A. 1* U* und für das Deutsche Bureau der A. I. U. bestimmten
Geldsendungen beliebe man an den Schatzmeister
Herrn Benno Braun in Firma Joelsohn & Brfinn, Berlin C. 19, Hausvoigteiplatz 1 2
zu adressieren, eventuell durch Reichsbank-Girokonto der Firma Joelsohn & Brunn zu überweisen.
Vom 1. Juni bis IS. August d. J. sind unsere Bureaus, Oranienburgerstr. 42/43, nur
von 9 Uhr vormittags bis 3 Uhr nachmittags geöffnet«
Das Deutsche Bureau der Alliance Israelite Universelle.
rr;: r: d*y ih ^>^3r Stntr *73
Wir machen unsere Leser auf die gegenüberstehende Anzeige y^ElM denkender
MenSCh^^ aufmerksam.
Die Frechheit der Einbrecher nimmt von Tag zu Tag zu. Im letzten Winter und bis in die letzten Tage hinein ist es vielfach vor-
Sekommen, das Einbrecher sich In der Nacht mittels falscher Schlfissel Eingang in die Wohnung verschafften und bis an die Betten der schlafenden
lewohner vordrangen, wo sie deren Kleider ausraubten. Mit Entsetzen sah man am anderen Tage, in welcher Gefahr man geschwebt hatte. Gerade
zur Reisezeit droht unserem Eigentum noch besonders Gefahr von dieser Seite, denn wochen- und monatelang bleiben die Wohnräume unbewacht
Gegen diese Plage giebt es keinen Schutz, den Einbrechern gegenüber versagen Wächter ebenso wie alle modernen Schutzmittel. Nur vor dem durch
Diebstahl und Beschädigung verursachten Schaden kann man sich schützen, indem man sein Mobiliar, Geld, Schmucksachen, kurz Alles, was die
Diebe erreichen oder beschädigen können würden, versichert. — Wir möchten nicht verfehlen, unsere verehrten Leser und Leserinnen auf das dies-
bezügliche Inserat des Niederländischen Lloyd in unserer Zeitung aufmerksam zu machen. Die Direktion für das Deutsche Reich, Berlin W. 35,
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Herausgegeben und redigiert
von
LEO WINZ.
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Alle Rechte vorbehalten.
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Juli 1907. Vn. Jahrg.
JAKOB FREUDENTHAL
Von Bernhard Münz.
Nachdruck verboten.
Die Breslauer Universität hat den Verlust eines
sehr gelehrten Forschers zu beklagen. Jakob
Freudenthal ist nicht mehr. Er hat schon als
ganz junger Mann von sich reden gemacht. Er
war in seiner dem überaus schwierigen Begriffe
der Phantasie bei Aristoteles gewidmeten Doktor-
dissertation auf dem rechten Wege und hat mit
gesundem Verstände manches Treffende gesagt.
Freilich war seine Bekanntschaft mit dem Stagiriten
bei der Abfassung seiner Erstlingsschrift noch zu
jung; sind aber auch ihre Resultate nicht durchweg
annehmbar, so ist sie doch als eine treffliche
Grundlage zu betrachten.
Dann reizte ihn das kleine unscheinbare
Schriftchen „Ueber die Herrschaft der Vernunft",
das sich durch Form und inneren Gehalt vor seiner
Umgebung vorteilhaft auszeichnet und ein in
seiner Art ganz einziges Erzeugnis jener wunder-
baren Vereinigung jüdischen und griechischen
Wesens ist, welche noch unserer Zeit einen grossen
Teil ihrer Bildungselemente liefert. Habent sua
fata libelli. Auch das Büchlein, das Freudenthals
Aufmerksamkeit fesselte, hat eine merkwürdige
Geschichte zu erzählen. „Im christlichen Altertum
oft genannt, benutzt, bewundert und abgeschrieben,
den deuterokanonischen Schriften des Alten
Testaments angereiht und mit dem klangvollen
Namen des Flavius Josephus geziert; in neuerer
Zeit ebenso häufig übersetzt und gedruckt, wie
wenig gekannt und geachtet; lange Zeit fast ver-
schollen und erst in den letzten Jahrzehnten Gegen-
stand einer meist einseitigen Betrachtung; ver-
stümmelt und verunstaltet durch eifrige Leser, un-
wissende Abschreiber und sorglose Herausgeber,
aus deren langer Reihe herauszutreten selbst
Männer wie Wilhelm Dindorf und Immanuel Bekker
sich nicht bemüssigt gesehen haben, können wir es
heutzutage nur als den Torso eines interessanten
Kunstwerkes gelten lassen, über den gerade ent-
gegengesetzte Urteile gefällt werden können, je
nachdem diese oder jene Seite beleuchtet, das
ursprüngliche Ganze ins Auge gefasst oder über
Einzelheiten übersehen und in ein falsches Licht
gerückt wird".
Es folgten die „Hellenistischen Studien", die
den Zugang zu einem zwar engbegrenzten, aber
nicht unergiebigen Gebiete des hellenistischen
Schrifttums erschlossen. Das literarische Erbe
des jüdischen Hellenismus ist so dürftig, die Lücken,
die die Zeit vom Abschluss der griechischen Bibel-
übersetzung bis zum Auftreten Philos aufweist,
sind so gross und weit, dass Freudenthal sich ge-
drängt fühlte, die von Alexander Polyhistor er-
haltenen Reste jüdischer und samaritanischer
Geschichtswerke, die von hervorragenden Forschem
in Bausch und Bogen abgeurteilt wurden, ohne dass
sie in ihrer Gesamtheit nach den literarischen Ver-
hältnissen der Zeit, aus der sie hervorgegangen,
nach den Zielen ihres Verfassers und nach ihrem
Zusammenhange mit den verwandten Erscheinungen
des Hellenismus befragt worden wären, einer ein-
gehenden Untersuchung zu würdigen, die Spreu
von den Körnern zu sondern, das wertvolle Einzelne
aus dem grossen Haufen des Wertlosen heraus-
zulesen.
Seine eigentliche Lebensarbeit war der einsame,
das All liebende, vom amor Dei intellectualis be-
seelte Spinoza. Er hat keine Mühe gescheut, um
in das auf Spinoza bezügliche biographische
Material Einblick zu gewinnen, und sein löbliches,
von der Berliner Akademie der Wissenschaften
gefördertes Unternehmen hat von den ver-
schiedensten Seiten kräftige Unterstützung erfahren.
Gleichwohl ist die Ernte im ganzen und grossen
recht kärglich ausgefallen. Die Durchmusterung
zahlreicher, in den Bibliotheken und Archiven von
Amsterdam, Breslau, dem Haag, Hannover, Leyden,
London und Utrecht aufbewahrter, noch unge-
druckter Briefe und die Durchsicht der Papiere
vieler holländischer Familien, von denen einzehie
Bernhard Münz: Jakob Freudenlhal.
Mitglieder in nahen Bezielrnngen zu Spinoza ge-
standen hatten, war ziemlich fruchtlos, „weil, wie
es scheint, nahezu alle aof Spinoza bezüglichen
Schriftstücke als Zeugnisse eines verdächtigen
Verkehrs mit dem verschrienen Ketzer bald nach
seinem Tode vernichtet worden sind." Im Einklänge
mit dieser Vermutung befindet sich die uns in
Stolle-Halmanns Reisebescbreibnng aus dem Jahre
1704 begegnende Aeussernng des Verlegers Rieu-
werts, „in denen Epistolis Spinosae wären einige
Personennamen, die man suspect machen wollte,
ausgelassen und dafür nur Striche gesetzt worden."
Immerhin müssen wir dankbar anerkennen, öass
Freudenthal eine feste Grundlage für die noch an-
sicher schwankende, von der Parteien Hass und
Angst entstellte Lebensgeschichte Spinozas gelegt
hat; indem er das Verhältnis der
wichtigsten Quellenschriften zu ein-
ander bestimmte, eine grosse Zahl von
nicht belanglosen Schriftstücken, die
bisher im Staube hollandischer und
deutscher Archive und Bibliotheken
schlummerten, zu neuem Leben weckte,
nach ihrer Zeitfolge ordnete, auf ihren
Wert prüfte, durch Anmerkungen er-
ISaterte und der allgemeinen Benutzung
und Verarbeitung zugänglich machte.
Dornig war der Lebensweg Spi-
nozas. Seine Glaubensbrüder schlössen
ihn wegen „schwerer Irrlehren" ans
ihrer Gemeinschaft aus. Aber auch
die kirchlichen Behörden der wegen
ihrer Glaubens- and Denkfreiheit viel
gerühmten Niederlande inszenierten
gegen ihn und seine Schriften einen
fbnnlichen Kreuzzug, wie aus einer langen Beihe
von Urkunden erhellt, deren bei weitem grösster
Teil von Freudenthal zum erstenmal veröffentlicht
wurde. Treffend bemerkt unser Forscher, dass die
Zustände, ans denen die Massnahmen der Geist-
lichen und dann die Verordnungen der Staats-
behörden hervoi^egangen sind, den dunklen Hinter-
grund des Lebens und der Werke Spinozas bilden.
Die Kenntnis dieser Dinge lehre, dass es nicht bloss
die von der machtlosen jüdischen Gemeinde Amster-
dams über ihn verhängte Exkommunikation war,
die sein Leben verbitterte, sondern dass er unter dem
Drucke drohender Verfolgimg seit 1665 fortwährend
gelitten hat. Man begreife jetzt, warum er ein
Öaute auf seinen Siegelring eingraben Hess. Man
sehe, dass er aus gutem Grunde seinen Fi'euud
Jarig Jelles ersuchte, den Druck der holländischen
l'ebersetzung des theologisch-politischen Traktates
Jakob Freudcntbal.
ZU verhindern. Man werde es nicht mehr ver-
wunderlich finden, dass er die Veröffentlichung der
Ethik im Jahre 1675 unterliess, weil Theologen
und Descartes ergebene Philosophen das Volk
gegen ihn erregten. Man werde es nicht mehr als
Zeichen grundloser Furcht oder anmännlicher Feig-
heit betrachten, wenn er im theologisch-politischen
Traktate äusserst vorsichtig auftrat und das Neue
Testament überhaupt nicht zum Gegenstand seiner
Kritik machte.
Es ist eine feingimiige Bemerkung, dass
Spinoza keiner jener kampflustigen Federhelden ist,
wie sie die Zeit der Kenaissance und der Befor-
mation in grosser Zahl erzeugt hat, — keiner
jener Männer, ~ die den Kampf um des
Kalnpfes willen suchten und einer Welt von
Feinden entgegenzutreten sich nicht
scheuten, wenn es galt, dem Bechte
und der Wahrheit oder dem, was sie
dafür hielten, zum Siege zu ver-
helfen. Er hat neben anderen aus-
gezeichneten Eigenschaften auch ein
tiefes Friedensbedürfnis von seinen
Vorfahren geerbt. Das waren nicht
streitlustige Krieger, sondern unglück-
selige Dulder, die wegen ihrer Religion
und ihrer Rasse unterdrückt und ge-
hetzt, resigniert hinnehmen mussten,
was das Geschick über sie verhängte.
Der Vergewaltigung mit Gewaltmitteln
zu begegnen, konnte ihnen nicht in
den Sinn kommen; denn sie bildeten
eine verschwindend kleine Minderheit,
die einer erdrückenden Uebermacht
gegenüberstand. So verloren sie die
Wehrhaftigteit und den Kampfesmnt alter Zeiten.
Der Enkel dieser nur im Leiden, nicht im Kämpfen
heldenhaften Männer ist Spinoza. „Vor Streitig-
keiten schaudere ich zurück", sagte er einmal.
Durch seine Quellenforschungen wie durch
seine gründliche Kenntnis der Geschichte der
Juden und der jüdischen Religionsphilosophie war
der zu früh heinigegangene Gelehite wie kaum ein
anderer berufen, die mustergiltige und nicht zu
überbietende Biographie Spinozas zu schreiben,
deren erster Band im Jahre 1904 erschien und
alle bisherigen Lebensbeschreibungen Spinozas weit
hinter sich lässt. Er war in der glücklichen Lage,
uns neue Gesichtspunkt« zu eröffnen, die seinen
Vorgängern wegen Mangels an diesen Kenntnissen
entgehen mussten, Etappen seines Entwicklungs-
ganges, die von ihnen übersehen oder unterschätzt
wurden, in die richtige Beleuchtung zu rücken.
AUS VERGILBTEN PAPIEREN.
Von Prof, A. Berliner.
Naclidruch verbalen.
II.')
Am Schlüsse des ersten Artikels habe Ich
"versprochen, eine richtige Darstellung über die
Leidenszeit der römischen Juden während des Kar-
*. S. Hell 10/11 des vorigeji Jalirgani;es.
uevals auf Grund historischer Dokumente folgen zu
lassen, um hierbei zugleich auch manches, was ge-
schichtlich nicht haltbar ist, sich aber allgemein
eingebürgert hat, auf Grund archivalischer
Forschungen zurückzuweisen.
429
Prof. A. Berliner: Aus vergilbten Papieren.
430
So z. B. wird im Gedächtnisse fast aller Eömer
die falsche Tradition aufbewahrt, dass die jüdische
Oemeinde in Rom alle acht Bennpfähle, innerhalb
deren die Pferde beim Karneval auf dem Korso zn
laufen hatten, liefern musste und zwar als eine
Ablösung dafür, dass die Juden nicht mehr zur
Belustigung der Römer und zum Gespötte derselben
bei diesem Rennen aufzumarschieren hatten. Aber
es ist bei Belli: J sonetti romaneschi ed. Morandi
(Teil I, S. 339 ff.) festgestellt, dass die Judep diese
Rennpfähle niemals zu liefern hatten. Hierbei wird
näher ausgeführt, dass die jüdische Gemeinde bis
zum Jahre 1847 an das Capitol an Tribut zu
zahlen hatte: 531 Scudi (Fttnffrankstücke) und
57 Bajocchi, welche Summe bereits in einem Diplom
des Königs Robert vom 11. März 1334 erwähnt
wird, als Preis für die Aufhebung einer alten
Sklaverei, die darin bestand, dass die Juden bei
den Volksspielen auf der Piazza Navona zur Be-
lustigung des Pöbels als Esel ausstaffiert aufzu-
treten hatten, ebenso auch bei den pomphaften
Spielen des Militärs am Monte Tests ccio. Femer
mussten sie 200 Scudi als Loskauf von einer Ver-
pflichtung zahlen, welche bis zum Jahre 1668 be-
stand, nämlich darin, dass sie bei dem Spazierritte
der Magistratspersonen der Hauptstrasse entlang
voran marschieren mussten. Bei dieser Gelegenheit
waren sie allen möglichen Chikanen und Belästigungen
preisgegeben.
Endlich mussten die Juden 20 Scudi entrichten,
durch welchen Geldbetrag sie sich seit 1828 von
der bis dahin alljährlich wiederkehrenden Pflicht
befreiten, die Tribüne für die Conservatoren der
Stadt und die Richter auf dem Volksplatze her-
zustellen.
Dies ist der wahre Tatbestand; daher die Be-
hauptung so vieler Schriftsteller, dass auch die
Rennpfähle von den Juden geliefert werden mussten,
durchaus unbegründet ist. Auch das Chirograph
des Papstes Clemens IX, vom 28. Januar 1668,
welches von den Abgaben und Lasten der Juden
Roms handelt, erwähnt hiervon nichts.
Dieser Irrtum scheint in folgender Weise sich
herausgebildet zu haben:
Das Statut der Stadt Rom v. J. 1580 verordnet
bereits, dass von den 1130 Fiorinen, welche dem
Werte von 531,57 Scudi gleich sind, von vorne
weg 30 Fiorinen für das Lesen einer Messe ge-
nommen werden sollten, mit dem ausdrücklichen
Hinweis, dass diese 30 Goldgulden an die gleiche
Summe des Juda Ischariot erinnern soUten. Das
übrige Gteld dagegen sollte für die Karneval-Spiele
verwendet werden, und zwar für die Schabracken,
die Sättel und andere Verzierungen, womit das
Pferd des Senators versehen wurde. Auch wurden
hiervon die Kosten bestritten für die seidenen Ge-
wänder der Gerichtsschreiber, femer bezahlt die
Spielleute, die Ausrufer, die Trompeter, die Glöckner,
der Stallknecht, der Barbier, der Hüter der Schweine,
die von dem Testaccio-Berg hinuntergeworfen
wurden. Als diese Spiele später durch das Wett-
rennen der Berberhengste verdrängt wurden, mussten
die Juden die früher gezahlten Grelder für die neuen
Spiele hergeben. Noch die Bilanzen des Capitols
bis zum Jahre 1848 weisen alljährlich 500 Scudi für
den Karneval und für andere kleine Ausgaben nach«
Morandi in seinen Noten zu den bereits oben
erwähnten Sonetten Belli's kann bei der Anführung
des betre£fenden geschichtlichen Materials (I S. 340)
nicht unterlassen, den Ausspruch zu tun: „Somit
ist es klar, dass die christliche Kanaille auf Kosten
der armen Juden sich amüsierte und noch einen
Ueberschuss einheimste. '^ Und um zum Spass noch
den Hohn hinzuzufügen, Hessen die Conservatoren
des Kapitels, so lange diese Tribute geleistet
wurden, ihre Gläubigen in Prozession mit den acht
Rennpfählen unter Begleitung der städtischen
Musikbande aufziehen, bis unter die Fenster
der Vertreter der jüdischen Gemeinde.
In solcher Weise konnte allgemein die Meinung
aufkommen und sich immer mehr befestigen, dass
die Rennpf&hle direkt von der jüdischen Gemeinde
geliefert wurden.
Wie oft auch die Juden Roms die päpstliche
Gewalt anflehten, alle die Akte dieser Grausamkeit
abzuschaffen*), so konnten sie weiter nichts erreichen,
als einen Auftrag des Papstes Gregor XVI. zur
näheren Prüfung des vom Advokaten Durant im
Namen der Gemeinde eingereichten Memorials,
welche aber weiter kein Resultat hatte, als die
Weigerung des Papstes, hierin etwas zu ändern,
mit dem Motiv, welches er in der Audienz am
6. November 1836 den mit Zittern und Beben er-
füllten Vertretern der Gemeinde gegenüber aus-
sprach: „dass er keine Neuordnungen liebe". Erst
dem Papst Pius IX. sollte das Verdienst bleiben,
mit dem Edict vom 1. Oktober 1847 hierin Wandel
zu schaffen.
Aus alter Zeit ist noch ein spezieller Fall an-
zuführen, der von einer Ausnahme, welche in der
Leistung des Tributs einmal gemacht wurde, be-
richtet. Am vorletzten Tage des Aprilmonat im
Jahre 1376 befreite der römische Senat die beiden
*) Näher dargestellt in meiner „Geschichte der Juden
in Rom" R S. 50 n. 140.
431
Prof. A. Berliner: Aus vergilbten Papieren.
432
jüdischen Aerzte von Trastevere, Manuele und
Angelus, Vater und Sohn, und ihre ganze Familie von
jeder Gteldsteuer und jeder persönlichen Leistung,
weil, wie es in dem betreflfenden Dokumente
heisst, sie in der Ausübung ihrer Praxis den
römischen Bürgern viele Dienste erwiesen haben,
indem sie ihre grosse Erfahrung und ihren uner-
müdlichen Eifer mit ausgedehnter Liberalität in
der Behandlung auch armer Kranken zur Geltung
brachten. Als aber die Gemeinde durch eine
solche finanzielle Ausnahme der erwähnten Glaubens-
genossen bei der Verteilung der aufzubringenden
Summe auf die einzelnen Mitglieder sich geschädigt
fühlte, verweigerte die Gemeinde ihnen den Zutritt
zu ihren Gotteshäusern. Da reduzierte derselbe
Senat im Jahre 1385 den Tribut für die Spiele
Agone und Testaccio um 30 G^ldgulden, solange
die 2 Aerzte und die Söhne Angelus lebten. Da-
für sollte aber die jüdische Gremeinde diesen
FamUien den Zutritt zur Synagoge zum Anhören
des hebräischen Offiziums gemäss dem Gesetze
Mosis gestatten. Hierbei wird ausdrücklich her-
vorgehoben, dass diese beiden Juden ausser vielen
anderen Verdiensten auch noch darin zu loben
seien, dass sie die armen Kranken unentgeltlich
behandelten. Hierin, setzt Morandi hinzu, waren
sie vielleicht die einzigen Christen in Eom.
Nach dem Tode Manuels bestätigte der Papst
Bonifacius IX. mit erweiterter Bulle vom Jahre
1399 dieselben Rechte und Befreiungen zu Gunsten
Angelos, der ebenfalls sein Arzt und Familiäre
geworden war. Als ein bemerkenswertes Zeichen
jener Zeit ist eine andere Bestätigung dieses Papstes,
welche in der Bulle vom Jahre 1392 enthalten ist;
sie ist in meiner Geschichte der Juden in Rom
II S. 62 zum Abdruck gelangt.
DIE JUEDISCHE PRESSE IN OESTERREICH.
Von Josef Lin, Berlin.
Nachdruck verboten.
Die Entstehung der jüdisch-periodischen Literatur
fällt mit dem Abschluß des Mittelalters für die Juden
in Zentral- und Westeuropa um den Beginn des XIX.
Jahrhunderts zusammen. Die neuen Geistesströmungen,
welche in die finsteren Ghettos eingedrungen waren,
erheischten neue Ausdrucksformen. Voran gingen die
deutschen Juden, die von den Aufklärungsideen des
XVIII. Jahrhunderts zuerst ergriffen wurden. Moses
Mendelssohn und sein Freundeskreis leiteten die neue
Phase der jüdischen Kulturgeschichte ein. Und aus
diesem Kreise ging auch der eigentliche Beginn der
jüdischen periodischen Literatur hervor. Die soge-
nannte „Berliner Hascalah" schuf sich im Jahre 1783
ein Organ in der hebräischen Monatsschrift „Hameassef
— „Der Sammler" — , zu deren Mitarbeitern auch
Mendelssohn, Hartwig Wessely, Friedländer, der Philo-
soph Salomon Maimon, Prof. Marcus Herz und viele
andere bedeutende Dichter und Denker zählten. Die
Hauptaufgabe dieser ersten hebräischen Zeitschrift
war, das Bildungsbestreben auch auf die große Masse
der deutschen Judenheit — die zu jener Zeit in ihrer
überwiegenden Mehrheit die hebräische Sprache be-
herrschte*) — zu übertragen. Der Einfluß der „Ber-
liner Aufklärung" sollte aber nicht auf Deutschland
allein beschränkt bleiben, sondern weit über dessen
Grenzen hinausreichen. Die erste Etappe war Öster-
reich.
Die „Measfim"-Richtung fand dort zunächst bei-
nahe imverändert ihre Fortsetzung. Die jüdisch-perio-
dische Literatur beginnt in den Donauländern mit den
sehr bedeutenden, von Schalom Kohn begründeten
hebräischen Jahrbüchern „Bikkure haittim" („Zeit-
früchte"), welche in Wien 1820 — 1831 erschienen und
nach einem Vermerk auf dem Titelblatt des ersten
Bandes „ein nützliches und lehrreiches Geschäfts- und
Unterhaltungsbuch zuin Neujahrsgeschenk für gebildete
Hausväter und Hausmütter, als Prämienbuch für die
fleißig lernende Jugend"**) sein sollten. Die „Bikkure
haittim" wurden aber mehr als „ein Geschäfts- und
Unterhaltungsbuch", — sie wurden zu einer Bildungs-
quelle für die österreichische Judenheit, zu einem
Sammelplatz aller führenden „MaskiUm" in Österreich-
Ungarn. Was der „Hameassef* in Deutschland be-
deutete, das wurden die „Bikkure haittim" in der
Donau-Monarchie. Zu ihren hervorragendsten Mit-
arbeitern gehörten auch der geniale S. D. Luzatto, der
geistvolle J. S. Reggio, der Sprachgelehrte J. B. Schle-
singer und S. J. Rapoport, der neben Zunz der Be-
gründer der neujüdischen Wissenschaft wurde. 1825
bis 1831 waren die „Bikkure haittim" das einzige
periodische Literaturerzeugnis der gesamten Judenheit.
Das Programm dieser Jahrbücher war zum größten
Teile dem des „Hameassef" nachgebildet. Mehrere
Auszüge aus dieser Monatsschrift wurden sogar wörtlich
in den „Bikkure haittim" nachgedruckt, die in der
Kopierung ihres berühmten Vorgängers schon eine ge-
wisse geistige Unselbständigkeit zeigten. Der deutsche
Einfluß zeigte sich besonders in ihrem dichterischen
Teil, der mehrfach in deutscher Sprache ab-
gefaßt und mit hebräischen Buchstaben
gedruckt war. Der wissenschaftliche Teil enthielt ins-
besondere Bibelkritik, philologische und kulturge-
schichtliche Studien. Der Charakter der „Bikkure
haittim" war gemäßigt, bildend, entwickelnd, positiv,
nicht polemisch, — auch hierin ihrem Vorgänger in
Deutschland verwandt. Eine andere Färbung nahm
*) Die Berliner Gemeinde -Bücher wurden z. B zu **) Vergl M. Weissberg: Die neuhebräische Auf-
jener Zeit hebräisch geführt. klärungsliteratur in Galizien. Wien 1898.
435
Josef Lin, Berlin: Die jüdische Presse in Oesterreich.
436
die jüdische Presse in Österreich an mit dem stärkeren
Hervortreten der galizischen Elemente, welche im
zweiten Viertel des vorigen Jahrhunderts die führende
Rolle in der österreichischen Hascalah hatten. In
Galizien stießen die Aufklärungsbestrebungen auf den
hartnäckigsten und erbittertsten Widerstand seitens
der konservativen Talmudisten und der fanatischen
Chassidim. Die Fortschrittspioniere waren den un-
erhörtesten Verfolgungen ausgesetzt imd mußten fort-
während schwere Kämpfe bestehen. Und so stand
auch die dortige Hascalah-Presse im Zeichen des
Kampfes, der häufig einen sehr radikalen Charakter
trug und sich mitunter auch gegen den Talmud und
gegen die absolute und imveränderliche Giltigkeit
seiner rituellen Vorschriften richtete. Der polemische
Charakter zeigte sich bereits im „Kerem Chemed"
(„Lieblicher Weinberg"), der im Jahre 1833 vom
Galizianer S. L. Goldenberg begründet wurde und von
dem neim Bände in unregelmäßigen Zeitabständen
in verschiedenen Städten erschienen sind. Das galizische
Dreigestim jener Epoche: der erste hebräische Hegeli-
aner, der „galizische Mendelssohn" Nachman Kroch-
mal; der große Historiker und Dichter S. J. Rapoport
und der unübertroffene Satiriker und hebräische Sprach-
meister Isak Erter nahmen hervorragenden Anteil am
„Kerem Chemed", ebenso der edle Josef Perl, Luzatto
und Zunz. Radikaler und schärfer in Inhalt und Form
als dieses Hascalah-Organ war das hebräische Sammel-
werk „Hecholuz" („Der Pionier"), das von dem mutigen
und schonungslosen Kritiker und geistvollen Satiriker
Osias Schorr herausgegeben wurde und in zehn Bänden
in verschiedenen Zeiträumen zv^ischen 1851 und 1877
erschienen ist. Der zum größten Teile von seinem Her-
ausgeber selbst ausgefüllte „Hecholuz" enthielt eine
sehr freie Bibelkritik, Befehdung des Grundsatzes von
der Göttlichkeit und Unfehlbarkeit des Talmuds,
leidenschaftliche Angriffe gegen die die Lebensbedürf-
nisse ignorierenden Rabbiner, die Forderung nach
einer Reformierung der jüdisch-religiösen Vorschriften,
dem Zeitgeiste und den Gegenwartsbedingungen ent-
sprechend. Dieses Hascalah-Organ, zu dessen Mit-
arbeitern auch Abraham Geiger zählte, ging in seiner
Bekämpfung der Tradition soweit, daß es selbst von
Aufgeklärten wie S. J. Rapoport als zu radikal und ein-
seitig mißbilligt wurde.
Viel gemäßigter war das von A. W. Menkes und
Josef Cohn Zedek begründete hebräische Wochenblatt
„Hamcwasser" („Der Verkünder") in Lemberg, welches
von 1860 — 1870 erschien und auf die öffentliche Mei-
nung der galizischen Judenheit großen Einfluß hatte.
Diese Wochenschrift befaßte sich viel mit Politik, in
der sie im allgemeinen eine fortschrittliche Richtung
vertrat, was sie nicht verhinderte, die JVotwendigkeit
einer „jüdischen Politik" zu propagieren. Seine vier-
zehntägige Uterarische Beilage „Hanescher" („Der
Adler") brachte auch Übersetzungen von Byron, Uh-
land, Kants „Kritik der reinen Vernunft", allgemeine
naturwissenschaftliche Abhandlungen von Dr. Rubin,
d(^sen „Maasse taatuim" vom Spinoza-Übersetzor
J. Stern unter dem Titel „Die Geschichte des Aber-
glaubens" ins Deutsche übertragen worden ist.
Eine zweite Beilage „Halichauth Olam" war
speziell dem Studium der Geschichte der Juden in
Galizien gewidmet, auf welchem Gebiete der Redakteur
Josef Cohn Zedek eine bedeutende Autorität war. Der
„Hamewasser" war in allen Schichten der galizischen
Judenheit, selbst unter den Orthodoxen, verbreitet.
Einen geringeren Einfluß hatte die von Baruch \\ erber
begründete hebräische Wochenschrift „Haiwri" mit der
theologisch-wissenschaftUchen Beilage „Iwri onauchi"
in Brody, welche von 1865 — 1890 erschien. Die Has-
calah-Epoche in Galizien war inzwischen in die Annalen
der Geschichte übergegangen. Es war eine große Epoche.
War auch manches an ihr naiv und einseitig, so war sie
doch reich an schöpferischen Kräften und von hohem
Idealismus getragen. Es war ein Aufblühen der jüdischen
Geisteskultur in der polnischen Provinz, und sie hint^^r-
ließ der jüdischen Literatur unvergängliche Schätze.
Die Hascalah konnte sich jedoch in Galizien, wohin sie
sich vom gesamt-österreichischen Reiche zurückgezogen
hatte, nicht dauernd behaupten. Sie war zu abstrakt
und allgemeiner Natur und hatte sich dem spezifischen
psychischen Zustand, den Stimmungen der dortigen
Judenheit, sowie ihren konkreten sozialen Bedürfnissen
zu wenig angepaßt; und in der zweiten Hälfte des Jahr-
hunderts erfolgte ihrNiedergang und ihr gänzlicherVerf all .
Von den inzwischen völlig .europäisierten west-
lichen Provinzen waren in Galizien Einflüsse einge-
drungen, die nicht dazu angetan waren, das Judentum
dort zu stärken. Es entstanden assimilatorische Be-
strebungen nach zwei Richtungen hin: einer deutschen
und einer polnischen. Die erste wurde von dem von
David L. Lßwin in Wien 1882 begründeten hebräischen
„Zir neemon" („Treuer Bote") vertreten; das Organ
der zweiten Richtung war der vom Verein „Agudath
Achim" („Brüderbund") in Lemberg hervorgegangene,
von 1881 — 1886 erschienene hebräische „Hamaskir"
(„Der Mahner") mit der polnischen Beilage „Ojczyzna"
(„Vaterland)". Also hebräische Blätter zur
Propagierung der Assimilation — , und eines davon er-
strebte die Assimilation der Juden in Polen mit dem
Deutschtum !
Als Reaktion gegen die Assimilationsbestrebungen
setzte — durch Einflüsse aus Rußland und \mter dem
Eindruck des Antisemitismus im eigenen Lande — im
letzten Viertel des Jahrhunderts die neueste Phase
der jüdischen Presse in Österreich ein, die im Zeichen f r-
neuten Erwachens des jüdischen Bewußtseins steht. Es
ist eine Epoche der Gährung, der Aufrüttelung schlum-
mernder Kräfte, die nach Ausdruck und Betätigung
ringen, die aber noch keine krystallisierte Form ge-
funden haben. Licht und Schatten wirken neben-
einander, teils miteinander. Neben Erscheinungen
der Renaissance altmodische, kurios anmutende Er-
zeugnisse. Neben aufstrebenden Willensäußerungen
Zeichen geistiger Armut und intellektueller Ohnmacht .
Die galizische Judenheit zeigt seit einem Menschen-
alter das Bild eines aufnahmewilligen Geistes-
konsumenten, der aber sehr wenig Produzent ist.
Die literarischen Produktionen anderer Länder —
besonders Rußlands — finden dort ein gutes Absatz-
gebiet; dagegen zeigt die dortige Literatur keine
eigene Schöpferkraft. Die wenig zahlreichen bedeutenden
Sihriftsteller aus Galizien produzieren auch meistens
NATHANIEL SICHEL
NATHANIEL SrCHEL
NATHANIEL SICHEL.
Es gibt nnr wenig KttusUer, deren Werke mit
Hilfe photographischer Mittel mehr verbreitet worden
wären als die SicheU. Die dunkeläugigen Fraaen-
geatalten, mit den schwarzen lockigen Haarwellen um
das südländische Gesicht, angetan mit reichem Schmnck
und weiblich selbstge^ligem Stolz wurden die Lieb-
liogsbilder eines grossen Publikums. Sie hatten viel
von jenem Reiz, der bei der
AUgemeinbeit unmittelbares
Gefallen erregt. Der Erfolg
beim grossen Publikam liess
Sichel an seiner Art fest-
halten nnd trotz der gegne-
rischen Beorteilnng von
kritischer Seite seine ge-
fällige Manier weiter Üben.
So betätigte sich seine ma-
lerische Phantasie auf dem
Spezialgebiet des dekorativen
Phantasieporträts.
Es sind jnnge, sinnlich
trSnmerische Frauen, mit
exotischem Schein nnd süd-
ländischer Schwüle, die er
darstellt. In voller Ent-
wicklung prangt ihr reifer
Körper, sUsse orientalische
Mattigkeit liegt auf ihnen,
in sentimentaler Untätigkeit
blicken sie uns an. Sie
sind geschmfickt wie reiche
Bräute des Orients oder in Nathaniel Sichel.
leichtes antikisches Phantasiegewand gehüllt; Kettchen,
Spangen nnd Geactmieide stützen die Gewandfalten nnd
glitzern an den braunen Armen, anf dem entblOssten
Hals, an dem Gurt an der Brust. So verkörpern sie
eine Franengestalt der Bibel oder der Dichtung oder
geben ohne bestimmte Beziehung nur ein Bild der
schönen Frauenwelt des Südens mit einer Mischung von
leiser Melancholie in ihrem
dolce f&T niente.
Durch zwei Dinge sucht
Sichel die tränmerische
Stimmung zu steigern, durch
Musik und durch sonnige
Gestade im Hintergrund.
Seine Deborah, die „Bettlerin
vom Pont des Arts", seine
Mignon und andere Ideal-
bUdnisse haben ein Saiten-
instrument in derHand, daran
rühren noch die Finger, wäh-
rend die Augen sinnen und
in die Ferne schweifen. So
sucht er den Eindruck zu
erwecken, als klingen und
verklingen Töne nra die
Geslult und sei eine Mignon-
Stimmung um das schöne
Frauen bild gebreitet. Zu-
weilen aind's zwei Frauen-
ges tulten, die in mUssiger
Träumerei bei einander
weilen, ihre dunklen Augen
443
Nathaniel Sichel.
ins Weite senden, während der klare Himmel am sie
blsat Anf boliem Gestein sitzen oder lagern sie, die
Helligkeit der AtmospbSre lässt die Plastik ihrer Leiber
hervorti-eten ; hinten dehnt sich das endlose Meer, die
Stadt windet sich tun die hügelige Bucht, daraus
Kappeln und Hinarets zur Hohe steigen.
Sicheis Frauen gestalten, die biblische Persönlich-
keiten verkörpern, entsprechen nicht gerade dem
Charakter, der sich aus der biblischen Erzählung ergibt.
Ea ist mehr das fraulich schöne Dasein mit einer all-
gemeinen Beziehung zum Morgenland als eine speziUach
charakterisierte Persönlichkeit, was er darin darstellen
will. Die Eampfesheldin Deborah anterscbeidet eich
höchstens durch etwas Ernst von der gastfreundlichen
Kebekka oder der Tochter Jephtahs. Es ist mehr eine
Xosserliehe Bezeichnung, wenn diese reizvollen modernen
Geschöpfe solch ehrwürdige Namen tragen, wie sie ja
auch zuweilen mit Namen wie „Mirjam" oder „Esther"
belegt sind, ohne Hberbaupt Beziehang zur Bibel zu
haben. Stfirend wirkt dieser Umstand bei Bildern wie
die Judith. Die verführerisch schöne Gestalt, mit dem
loseu Gewände ist reicher an Pose wie an heldischer
Frauengrösse; die Magd hinter ihr, geschmückt wie die
Herrin, steht za gemeinsamer Repräsentation neben ihr.
So berUcken sie alle Welt, während sie heimlich zu
des Holofernes Zelt hin wollen.
Die Zahl der Werke ist gross, die der rührige,
aus Mainz gebürtige, nunmehr 63jährige Künstler
geschaffen hat, und in alten klingt dieselbe Melodie
hindurch, mit der er des Weibes Schönheit und Reiz
unermüdlich besingt.
EINE MISSETAT.
Von D. Aismann aus dem Russischen.
Es war noch ganz' dunkel, als der Droschken-
kutscher Lcjier sich von dem Lumpenbündel erhob,
das ihm als Lagerstatt diente. Er zündete das kleine
messingne Lämpchen an und begann sich anzukleiden.
Seine Bewegungen waren langsam, unwillig, er hustete,
stöhnte und fuhr sich mit dem Ellbogen über die
Seiten, dann
^viede^ rieb
er den Rük-
ken an der
Wand.
Weiß ich?
Weiß ich,
was sein
wird? —
sprach er in
Gedanken
zu sich. —
Nur Gott,
der Allmäch-
tige kann
wissen. Was
ist der
Mensch?
Der Mensch
kann gar
nicht wissen.
Er fing
an zu beten.
Aber er
dachte nicht
an dieWorte,
die er leise
murmelte,
sondern dar-
ani daß or
nichtwulite,
NATHANIEL SICHEL BERLIN. ^^ ,]^j. jgg
Die Bettlerin vom Pont des Arta. zu F.nde
Nichdnick verboten.
gehen würde, und ob die Kinder heute satt werden
sollten.
AU er sein Gebet beendet hatte, zog Lejser seinen
alten Kutschermantel an, band den Riemen um die
Hüften fest und schritt vorsichtig mit großen Schritten
über die auf dem Boden schlafenden Kinder hinweg
zur Tür. In diesem Moment fiel sein Blick auf das
Küchenbord und ein kleines Stück Brot, das darauf
lag. Er wurde kleinmütig.
„Socie", sagte er leise und tragend, und wandte
sich an sein \\'eib, eine große, hagere Frau, die eben
schweigend vom Ofen heruntei^k rochen war und
schweigend auf einem umgedrehten Backtrog hockte.
„Nu!"
Dieses Nu ernüchterte Lejser wirklich —
was fiel ihm einl Die Kinder! ....
Er räusperte sich und griff nach der Türklinke.
„Was denkst du dir eigentlich", schrie Socie
herausfordernd, „wirst du endlich einmal Arbeit
bekommen?"
Lojicr blieb stehen.
„Kann ich wissen .... vielleicht wird der Herr-
gott segnen . . , ,"
„Du kannst nichts wissen .... nichts! Andere
wissen, andere arbeiten."
„Nu ich, will ich denn nicht arbeiten?" — Lejser
schaute seine Frau traurig an. — „Was soll man
tun! Der Bug*) ist zu, Weizen fährt man nicht,
nirgends ist Arbeit. Wenn ein Mensch um eine Fuhre
kommt, stoßen sich zwanzig."
„Stoß' du dich auch!"
„Ich geb mir Mühe . ... ich tue alles."
„Du tust nichts, du bist ein Hundsfott, du schlöfst
auf dem Bock, du wirst nie Arbeit haben,"
Lejser seufzte und schlich hinaus.
Im Schuppen stand Krapuntschik, eine weißliche
blinde Stute mit langem struppigen Maul, mit ge-
•) Ni'bcnfliisB des Dnjepr.
D. Aismanti: Eine Missetat
bogenem, wie zerttrochenem Rücken und mit breiten,
flactieit, tellerartigen Hufen. Stolpernd und an den
langen schleppenden Stricken streichelnd, spannt«
Lejser das Pferd ein. Dann ergriff er die sch&bigen
Zügel und fuhr langsam zum Tore hinaus.
Er war schon in der Mitte der Straße als im Hof
eine eilige Stimme „Täte, Tat«" zu rufen begann.
Eine große Frauengestalt, in ein dickes Tuch gehüllt,
lief ihm nach, erreichte den Wagen und schob ihm
etwas in die Hand.
„Na, da hast du, nimm."
Lejser schob sie zurück.
„Und die Kinder", sagte er unschlüssig.
Zwei große eingefallene Augen blitzten ihn
zornig an.
„Nu was denn, wenn die Kinderl Du brauchst
' nicht zu essen?"
„Ich werde Arbeit bekommen, so werd' ich
kaufen."
„Verdreh' mir nicht den Kopf .... Kaufen ....
Und wenn du keine Arbeit bekommst? .... Einen
ganzen Tag in der Kalte nicht essen .... Wenn du
umfftlbt, was dann?"
Lejser hüstelte, dann nahm er das Stückchen
Brot, das die Tochter ihm reichte und zwei Zwiebeln
und trieb seine Stute an.
Auf der Fahrstraße lag tiefer, zäber Kot. Die
Rader drangen bis zur Hälfte der Speichen in die dicke
Masse, wenn der Boden ein Loch hatte, sogar bis zur
Achse. Lejser schritt neben seiner Fuhre, und schob
sie in kritischen Momenten mit den Schultern vor-
wärts, manchmal hob er auch die Räder. Das Pferd
ennunt«rte er mit freundlichen Reden und streichelte
es kitzelnd mit den Zügeln.
„Njo, r.jo, lustiger. Wenn wir nur das Maul auf-
sperren, kriegen wir nichts hinein, du weist das ganz
gut, Krapuntschik."
Als sie auf die gepflasterte chersonsker Straße
kamen, schlug Krapuntschik ein rascheres Tempo
ein. Lejser kletterte auf sein Fuhrwerk, setzte sich
auf den Rand und ließ die Beine baumeln. Der Nebel
schwand allmählich, die Strohdächer der kleinen
Häuser traten hervor und dazwischen die endlosen,
an manchen Stellen eingefallenen Zäune. Der Wind
blies Leiter in den Röcken und die dünnen Schnee-
flocken, die in der Luft umherwirbelten, setzten sich
ihm in den Bart und auf die struppigen Brauen. Dann
schmolzen sie auf seinem Gesicht und tropften hin-
unter. Lej^r holte einen Sack unter dem Sitz hervor
und machte sich eine Kaputze. Aber der Wind riß
sie ihm sofort vom Kopfe. Er versuchte es noch ein-
mal, aber endlich ergab er sich in sein Schicksal und
l^te den Sack in den Wagen zurück. Nun saß er
mit zusammengezogenen Schultern da, und ließ sich
demütig von Wind und Schnee mißhandeln.
Jente ist gut, dachte er zähneklappernd und
klopfte mit den Stiefeln gegen den Wagen — sie hat
mir Broi gebracht .... Nu, ich brauch' gar kein
Brot. Kann ich essen, wenn die Kinder nichts haben . . .
Das ist kein Brot für mich, sondern Eisen .... Aber
NATHANIEL SICHEL
was? Wenn man so überlegt, kann der Mensch denn
leben, wenn er nicht Ißt? .... Am Jun-Kipur ißt
man auch nicht, man fastet — aber es ist doch nur
ein Tag .... Tags vorher ißt man sich ordentlich
satt, und dann sitzt man in der warmen Synagoge
und betet .... Und manche, die sind so zart, daß sie
nicht einmal das aushalten: sie müssen was riechen,
so was Starkes oder in die frische Luft hinaus, spazieren
gehen .... Nu, und ich habe mich gestern hungrig
schlafen gelegt, und vorgestern habe ich nicht ordent-
lich gegessen, und es sind vielleicht schon zwei Wochen,
daß ich nicht satt gewesen bin .... Und die ganze
Familie ist hungrig, ist das ein Spaß, wenn das Weib
und so viel Kinder hungern? Gott soll mich nicht
strafen für diese Worte, aber ich bereife nicht, warum
er das so macht ....
Eine halbe Stunde kam Lejser auf den Markt-
platz.
Auf dem breiten, unheimlich schmutzigen Platz,
.stand ein hoher offener Schuppen, dessen verbogenes
Dach dunkel an chinesische Bauart erinnerte. In
seiner Mitte befand sich ein alter, halbverschotteter,
längst nicht mehr brauchbarer Brunnen. Das war
der städtische Kutscherstand. Zwei Ehitzend Fuhren
etwa standen schon umher und fortwährend kamen
noch neue.
Leiter gelang es für Krapuntschik einen guten
windgeschützten Platz ausfindig zu machen. Als
Krapuntschik stehen blieb, senkte er sofort den
447
D. Aismann: Eine Missetat
448
struppigen Kopf und schnupperte nach Heu, doch
Lejier hatte kein Heu. Er bedeckte das Pferd mit
einer zerrissenen Decke, klbpfte ihm freundschaftlich
auf die Stirn und schritt selber unter das Wetterdach
des Schuppens. Lange hielt er's da nicht aus. Der
Wind drang durch alle Sparren und pfiff erbärmlich.
Da war es draußen im Schneegestöber schon besser.
Er kehrte zu Krapuntschik zurück und kletterte wieder
auf seinen Sitz.
So ist das menschliche Leben, dachte er, man
braucht Arbeit und man hat keine Arbeit. Der Mensch
braucht zu essen, und er hat nichts zu essen. Der
' Mensch kann nicht wie eine Telegraphenstange den
ganzen Fag im Schnee und Wind stehen. Nu? wie
soll man das verstehen? .... Ich Icann es nicht
vorstehen .... Oder dann: Gott hat mir elf Kinder
gegeben, nu, fünf davon sind gestorben und gerade
die Jungen. Jungen kann man in die Lehre geben,
zu einem Schneider, zu einem Klempner, später
vielleicht in ein Geschäft. Und was soll man mit
Mädchen machen? Wie soll man sie verheiraten?
Nu und Jente, Gott hat mir geholfen, und ich hab'
sie verheiratet, was ist mit Jente? .... Solch' eine
Geschichte ist das geworden : ihr Mann wird verrückt,
m^ sperrt ihn in's Irrenhaus, und sie kommt mit
zwei Kindern und schwanger zu mir zurück ....
Solche Geschäfte das .... Und wenn ihre Kinder
wenigstens gesund wären — nicht einmal das ....
Was? Mir allein kann ich die Wahrheit sagen, vor
mir brauche ich mich nicht zu schämen: wenn Schmilek
hustet, zerreißt sich alles in mir in Stücke, und wenn
er weint und um Essen bittet und es ist niclits zu
essen da, dann weine ich ... . Ich weine, nu . . . .
Ich kann mich nicht zurückhalten, ich dreh' mich um
und weine ....
„Du nachdenklicher Engel", schrie hinter Lejsers
Rücken ptzt ein Fuhrmann; es war der rothaarige
baumlange Schlomke Hitzel. — „Dich weniger breit
machen, kannst du nicht, Gold."
Lc j ^er sah sich ängstlich um und zog seine Beine
ein. Hitzel schimpfte jüdisch und russisch durch-
einander, stieß Krapuntschik roh in den Rücken und
stellte seinen Wagen auf.
Und warum soll ich nicht weinen, fuhr Lejser
in seinen Gedanken fort. — Warum? Wenn Schmilek
eine Lunge schon fehlt, und er so eine schreckliche
Wunde am Fuß hat, die immer brennt .... Schmilek
braucht Lebertran und Milch und einfe gute Salbe
imd es ist gar nichts da ... . —
Lr j er hob den Kopf und sah sich um.
Milch gab es nach Belieben. Die Milchweiber
begannen gerade sich auf dem Marktplatz aufzustellen
imd man sah sie ganz deutlich mit ihren Kannen. .
Auf der entgegengesetzten Seite des Platzes glitzerten
im Nebel die weiten Flügel eines vergoldeten Adlers.
Das war die Apotheke. Dort gab es natürlich Salben
für kranke Füße und Lebertran und alle möglichen
Arzneien für die Lunge. —
Ja, nu was, wenn der Herrgott nicht will, daß
es für uns sein soll .... Und ich soll so nicht wissen
von Schlechts, wie ich nicht weiß, warum er auf uns
böse ist ... . Und was wird mit uns, wenn ich zum
Beispiel wirklich zusammenfalV . . . . Ich will essen,
ich will schrecklich essen .... —
Lej^r betastete das Brot und die Zwiebeln im
Gürtel, schnalzte mit der Zunge und spuckte aus.
Mir ist kalt und das Wasser rinnt mir den nackten
Rüöken herunter .... Bin ich aus Eisen ....
Ich kann krank werden .... Wenn alles so wUr*
wie es zu sein hat, müßte ich jetzt mein Brot essen
und in „England" Tee trinken oder gar einen Teller
Fleischernes essen — und keine Möglichkeit. Ich
will so essen, daß mir die Seele zum Leib herauskriecht,
und keine Möglichkeit.
Lejsers Füße Wurden so kalt, daß er sie nicht
begann umherzustampfen.
Uj, uj, uj! Wie kalt, so schrecklich kalt . . . ,
Ich könnte doch in's „England" hineinschauen — so
als wenn ich jemand suchen würde und mich dabei
wärmen; aber man kann einen Kunden vergessen. . . .
Es kommt immer so heraus, wie zum Trotz: man
paßt auf wie ein Kettenhund die ganze Woche und
kein Mensch kommt, imd dann geht man für fünf
Minuten weg, so kommen die Leute von allen Seiten. . •
man muß schon leiden. —
• «
#
Gegen zehn Uhr kam^ine jüdische Frau in einem
Männerpelz und eben solchen Stiefeln auf den Markt-
platz und verlangte vier Fuhren zu einem Möbel*
transport.
Sofort stürzten sich an zwanzig Leute auf.
sie. Ein ungeheurer Spektakel begann, man hätte
glauben köni^ien, daß ein Mensch buchstäblich in Stücke
zerrissen wird.
Lojser versuchte ebenfalls sich in das Gedränge
zu mischen, wurde aber von zwei gesunden Burschen
zurückgestoßen. Er wagte eis nicht seinen Versuch
zu wiederholen und blieb hinter den anderen stehen.
Aber er hob die Hände empor und schrie atemlos:
„Hier bin ich .... ich ... . ichwerde fahren.. .
ich."
Schlemka Hitzel bemächtigte sich indessen kurzer-
hand der Frau und schleppte sie am Gürtel ihres
Pelzes bis zu seiner Fuhre.
„Ihr braucht nicht vier Fuhren", brüllte er.
„Zwei sind auch genug. Ich und mein Kamerad ....
wir machen es hintereinander."
„Laßt mich los .... Ich will nicht zweimal.
Das dauert lange .... Die Tage sind kurz jetzt ....
Ich will alles auf einmal." »
„Was lange . . . . ' gar nicht lange .... wir
fahren im Galopp .... Setzt euch auf, hopp!"
„Laßt mich .... wartet."
„Was warten .... Es ist keine Zeit zu warten.
Die Tage sind kurz. Setz' dich, Balbuste, setz' dich
auf. Ich kenn' dich, ich weiß, wo du wohnst, in der
Fischgasse."
„Gar nicht in der Fischgasse, in der Engen-
Straße."
„Ist mir ein Unglück, was, wenn du in der Engen
wohnst? Also hopp, setz' dich auf, geschwind."
Das allgemeine Geschrei wurde noch lauter. Alle
Fuhrleute fielen über Hitzel her, und riefen, er fange
wider Recht und Sitte die Kundschaft ab ... .
449 ^- Aismann; Eine Missetal.
„Verbrennen solH Ihr, ver- "
fluchte Pfuscher! Kehlen haben
sie." —
Eine Reibe kräftiger Worte
folgte.
„Hol' euch der Teufel, Also
werft das Los."
Hitzel warf seine Peitsche hin,
ein anderer packte sie in der
Mitte an, worauf alle, die fahren
wollten, die Schnur mit dem
Zeige* und Mittelfinger wie eine
Schere umklammerten. Wessen
Hand zu oberst lag, der hatte
gewonnen.
Lejser nOherte sich ebenfalls
der Gruppe, doch Hitzel stieß
ihn mit der Paust vor die Brust.
„He! Wohin kriechst du?" ■
Das geschah Lejser immer, i
wenn die anderen das Los
warfen, und das war einer der
Gründe, warum er so selten
Arbeit bekam. Er war schw&ch-
lich und überdies gutmütig, und
die anderen wußten es wohl.
Die»nal aber kam ihm „die
Kundschaft" selber zu Hilfe.
„Nein, er auch", befahl sie.
„Der Rebbe! Zu allen Teu-
fein! Er hat ein krepiertes Pferd."
„Nein, er soll auch,"
„Sein Pferd hat noch zu
Salomons Tempel Steine geführt."
„Wenn er nicht mittut, nehm'
ich niemand."
Hitzeb merkwürdige Rede-
weise, sein Räubergesicht und
seine originellen Bewegungen
hatten die Frau erschreckt. Sie
war überzeugt, daß er die HSifte
der Möbel stehlen und zerbrechen
würde. Die anderen Fuhrleute
kamen ihr auch nicht sehr ver-
trauenerweckend vor. Lejser war
der einzige, der ihr wie ein
Mensch vorkam, und sie hätte
gerade ihn gern gehabt.
„Ich will nichts wissen . . .
er soll dabei sein", erklärte sie
bestimmt.
Das ermutigte LejsGr, und
er näherte sich der Gruppe
wieder, um die steifen Finger ah
die Schnur zu legen.
Herrgott, tu', daß ich oben
bin, betete er unter Herzklopfen.
— Hilf mir ... . nicht für
mich, für Schmück. - ^„ ^^^ ,„ ,..u„«,h,...« o««..!,^
Der Herrgott war Schmilek
gBüdig und I^j,crr, Gebet .T,rd» NATHANIEL SICHEL
erhört. Die Mädchen von Tanger,
„U-wa! gut .... es riecht .... U-udi! wie
gut .... niclit zu glauben gut . . . ."
l^ejier leckte an seinen Fingern und sclinahle
dann.
„Großartig .... Nu, j tzt muß man den Kessel
zudecken .... Wo ist der Deckel? Aha, liier . , , ,
Der ist einlach wo anders hingegangen .... Man
muß zudecken .... Sonst gießt sicli alles aus und
gar nichts . . . ."
Lejior deckte den Braten zu und trat zurück.
„Uch! wie das riecht .... was legt man denn
da hinein, daß es so riecht? .... Zimmt? muß schon
so sein, Zimmt . . , ."
Die Fuhre versank plötzlich halb in einem tiefen
Loch und
wieder klap-
perten die
Töpfe.
„Nu ein
Pflaster . . .
auch ein
Pflaster . . .
auf einem
solchen
Pflaster kann
man alle
Töpfe zer-
brechen und
alles verschüt-
ten."
Um den Kes-
sel zu schüt-
zen, türmte
Lejicr die
Töpfe rings
um ihn. Die
Operation ge-
lang völlig,
aber seine
Hand tauchte
dabei wieder
in die Sauce.
„Nein,
das ist nicht
Zimmt",
a^te er wie-
der die Finger
ableckend,
„sicherUch
nicht
Zimmt ....
es ist gar
nicht dieser
Geruch ....
Und es riecht
so gut ....
Uj , uj, wie
gut
wenn das so
riecht, wenn's
kalt ist, wie ist U" a...Lmlfgn. der FkoU(r>p
es erst, wenn NATHANIEL SICHEL Hin:
man's warm macht. Ein paiadiesischer Geschmack
muß es dann sein .... bei Gott! .... So, nu und
ptzt erinnere ich mich, ich hab' so einen Braten schon
t-inmat gegessen .... sicherlich hab' ich's schon
gegessen aber bei wem? . . . ."
L(i>ci' steckte eine kleine Kartoffel in den Mund.
„Ganz genau so, ebenso hab' ich's gegessen ....
Nu, ich weiß es ganz bestimmt .... aber wo und
wann, das weiß ich nicht .... Nu, ich werd' ein
Stückchen Fleisch kosten .... ein kleines- Stück,
ein Knöchelcben . . . . ej, aj, wie gut das ist ... .
alle Goschmäcke sind da zusammen .... wie Balsam
geht das durch alle Glieder .... Mich wundert,
daß ich nicht mehr weiß, bei wem ich das eß . . . .
einfach ärger-
lich
Ich kann
schwören, ich
kann bei allem
Beliebigem
schwören, daß
ich's schon
einmal aß, wo
— weiß ich
nicht .....
ganz so
war's
Es riecht und
damals roch
es auch ....
A — n das ist
nicht Zimmt,
das sind Lor-
beerblätter!
Das sind ein-
fach Lorbeer-
blätter und
Gewürz-
nelken ....
NatürUchLor-
beerblätter . .
Und ich
dachte
Zimmt ....
So ein Esel,
wirklich ich
bin ein Esel . .
Gewürz-
nelken, die
riechen erst
recht. Ge-
würznelken
sind so wie
Pfeffer. Du
denkst es ist
Pfeffer, und
wenn du 's auf-
beißt, ist CS
wie eine Ge-
würznelke . .
iiiboi aiHUi:h>n m Binin. .^ch ! großar-
m. BERLIN, tigl Nur auf
455
D. Aismann: Eine Missetat.
456
einer Hochzeit kann man so was e sen, mein
Ehrenwort."
Unterdessen ordnete Lejser noch immer die Töpfe
mit der linken Hand. Die rechte steckte bald im
Kessel, bald im Mund.
„Ah-ha, ha! ... . Ich weiß es, nun weiß ich's. . .
Bei Herrn Gporkes aß ich so etwas .... Nu ja,
natürlich .... Ich brachte ihm damals den Wein
vom Dampfer — er bestellt ihn sich aus Odessa, und
man rief mich in die Ktijche und bewirtete mich ....
Nu ja, bei Herrn Ciporkes .... Ein großer Herr,
der Herr Ciporkes, ein Edelmann I Ein Schwein und
kein Edelmann .... Aber bei Gott, das verstehe
ich nicht. Bei Herrn Ciporkes war damals ein Bris,
nu, da konnte er solchen Braten haben. Und eine
einfache Jüdin .... Was ist ihr Mann .... In
einem Geschäft ist er auf der Hauptstraße 1 Und an
einem Wochentag, an einem gewöhnlichen Donnerstag
macht sie solchen Braten .... So sind unsere Juden:
einen Rubel verdienen sie, drei verbrauchen sie.
Scharlatans. Und dann glauben die Russen, daß
alle Juden schrecklich reich sind und prügeln uns
dafür. Wegen solcher Sachen haßt man uns ....
Hast du so etwas gesehen .... Lorbeerblätter!
Ohne Lorbeerblätter kann sie nicht! Eine
Balabuste! .... Nu, und ich bin auch gut. Hatt'
ich wirklich vergessen, wo ich solchen Braten gegessen
habe. Ha! .... Was sagst du dazu? Eine Ge-
schichte . . . . ! — "
Das Pflaster hatte längst aufgehört, die Fuhre
ging ganz gleichmäßig, auch die Töpfe klapperten
nicht mehr, aber Lejser machte sich noch immer bei
ihnen zu schaffen.
Er fuhr zum letztenmal mit^ der Hand in den
Kessel, kratzte die Kartoffel weg, die am Rande fest
saßen, leckte die Finger sauber süb, deckte den Kessel
feinsäuberlich zu und trat zurück.
Vor ihm zogen in einiger Entfernung die drei
anderen Fuhren dicht hintereinander imd neben ihnen
schritt mit hochgeschürzten Röcken, mit dem Spiegel
in der einen und einer Lampe in der anderen Hand,
die Wirtin.
„Oj, wenn sie's gesehen hat . . . . Oj, jeh, wenn
sie's gesehn hat.*'
Lejser wurde starr vor Schreck.
„Ei, nein, „gesehen"? Nu, was soll sie sehen . . .
wie soll man das plötzUch sehen?! .... Gar nichts
wird sein ! Wenn wir ankommen, trag' ich sofort
alle Töpfe rein, die Scheffel stell' ich davor, fertig . . .
Und wenn ich fort bin, kann sie's sehen .... Lauf
mir dann nach, pack' mich .... Eh! Man braucht
sich nicht zu beunruhigen. Was wird sie tun. Zu
Gericht gehen mit mir? .... Hat sie Zeugen? ....
Ich furcht' mich nicht vor ihr! Was ist sie, daß ich
mich fürchten soll .... ich furcht' mich gar nicht . . .
ysia! . . . ."
• *
Die Fuhrleute hatten den ersten Wagen halb
abgeladen, als Krapuntschik endlich an seinem Be-
Stimmungsort anlangte.
„Eh, du, vertrocknetes Eingeweide, noch nicht
krepiert", begrüßte Hitzel Lejser.
Lejser schwieg. Ein leiser Schauer nach dem
andern überlief ihn. Die Augen blickten, ohne zu
sehen, die Zunge war wie geschwollen ....
Er band eilig die Stricke auf, mit denen die Schätze
seines Wagens zusammengebunden waren und begann
abzuladen. Nach ein paar Minuten war das Geschäft
erledigt, alle Töpfe und Kessel standen hinter- und
übereinander zwischen Wand und Ofen, ein großer
umgedrehter Kübel ganz vorne zum Schutz.
„Nu, jetzt ist fertig! Die Gefahr ist vorüber!
Jetzt nur noch die Sofas, d^mi ist der ganze Ball
fertig ! Es macht nichts, Krapuntschik ! Heute werden
wir gut essen . . . ."
Die Möbel waren alle aufgestellt. Die Fuhrleute
wischten ihre schweißigen Stirnen, lockerten die Zügel
der Pferde und schickten sich an nach Hause zu fahren.
Nur das Geld ließ noch auf sich warten.
„Madame, bitte zur Auszahlung^', rief Hitzel die
plötzlich verschwundene Hausfrau. Er rechnete auf
ein Trinkgeld und befleißigte sich deshalb einer großen
HöfUchkeit.
„Madame, wo sind Sie, bitte bemühen Sie sich
hierher."
Doch etwas völlig Unerwartetes trat ein.
Madame sprang wie eine Bombe aus der Haustür
hervor und brüllte, einen leeren Kessel in den Händen
schwingend:
„Diebe .... Mörder .... Spitzbuben • • • •
Krepieren sollt Ihr, Verfluchte .... Ihr glaubt, ich
werde schweigen! Ihr glaubt, das ist umsonst!
Scharlatans, Einbrecher .... !"
„Öho!" rief Hitzel lustig, „du kannst's aber ....
Hast bei mir gelernt, was?"
„Ich werd' dir zeigen, schwarz wirst du werden. . ."
Die übrigen Mieter des Hauses sammelten sich
unterdessen im F^lur.
„Solche Betrüger, solche Scharlatans", fuhr die
aufgeregte Hausfrau fort! „Gestern habe ich noch
zu Fleiß Braten gemacht, ich dachte heut geht es nicht
und einen Braten kann man bei Nachbarn wärmen,
daß die Kinder was zu Mittag halben .... Und die
haben's aufgefressen, alles haben sie aufgefressen....
Nu! nu! was mach' ich jetzt?" ....
„Neues kochen", sagte Hitzel höflich.
„Neues .... ich werd's dir abziehen, dann wirst
du's wissen Dieb, mich hat der Braten anderthalb
Rubel gekostet, du wirst mir dafür zahlen , . . ."
„Ich werd' zahlen? Ich?"
Hitzel trat der Frau um einen Schritt näher.
„Und so, wenn man dich fragt auPs Gewissen,
hast du's gesehen."
Er hob langsam seine rissige Faust von der Größe
eines kleinen Kürbis.
„Wer deinen Braten gegessen hat, zur Gesundheit,
der soll ihn bezahlen. Und mit mir laß' diese
Politik .... Acht Zehnkopekenstücke gib her",
brüllte er dann, „und fünf Trinkgeld für die Sofas" . . •
Das Geschrei vor dem Hause dauerte sehr lange.
Die Frau bestand auf ihren anderthalb Rubeln
und die Fuhrleute riefen ihre verstorbenen Eltern zur
Zeugenschaft, und erklärten sich überdies bereit, be-
liebige Fensterscheiben und Zähne einzuschlagen . . •
457
D. Aismann: Eine Missetat
458
Lejser verhielt sich abseiU hinter Krapuntschik.
Er gestand den Diebstahl nicht gerade ein, aber er
leugnete auch nicht. Er stand blaß und schweigend
mit gesenktem Kopfe da und stieß nur von Zeit zu
Zeit einen seltsamen Laut aus, dann wurde er wieder
still.
„Nein, ein Mensch kann das nicht aufessen",
schrie die Frau, „das ist undenkbar .... Ein Pfund
Fleisch, Kartoffel, Gewürz .... Dazu muß einer
ein Faß haben, keinen Bauch .... Ihr habt alle zu-
sammen gefressen .... Spitzbuben, verfluchte!"
Die Geschichte endigte damit, daß die Frau die
drei anderen voll ausbezahlte und ihnen sogar noch
ein Trinkgeld gab, während Lejser leer ausging.
„Ein alter Mann", schrie sie ihm nach, als er
schon abfuhr, „ein Mann mit grauen Haaren und
macht solche Schweinereien. In Arrest müßt' man
euch abführen, aber ich will mir nicht die Hände damit
schmutzig machen . . . ."
Es war dunkel als Lejser sich auf den Heimweg
machte. Der Schnee hatte aufgehört und der Wind
schwieg, aber der Frost war stärker. Lejsers feuchter
Mantel wurde steif und Krapuntschiks flache Hufe
patschten nicht mehr durch Pfützen, sondern stießen
auf gefrorenen Boden.
Als er eine Stunde später vor seiner Wohnung
hielt, begrüßte ihn ein freudiger Aufschrei.
„Gelobt sei sein heiliger Name."
Socie näherte sich eilig der Fuhre.
„Nu? Wieviel?"
Er mußte Arbeit gefunden haben, wenn er so
spät kam. Zwei Stunden lang hatte sie mit Jente
und den anderen Kindern beraten, ob es wohl noch
nicht zu spät sein würde bis zum Metzger, um Knochen
zjur Suppe zu laufen. Und sie waren übereingekommen,
daß es mit der Zeit langen würde.
„Gib die Milch her*', sagte Socie und drängte sich
an das Gespann heran. — Nu, komm', vorsichtig,
es ist dunkel."
„Ich hab' keine Milch."
„Hast nicht gekauft? Nu macht nichts!
Feiginin kann zur Mudrezeche laufen, die Mudrc-
zeche melkt spät."
„Ich hab' nicht gearbeitet heute."
Einige Sekunden dauerte die Stille.
„Ha!"
„Niemand kam .... was willst du ... . Bis
jetzt hab' ich gewartet .... kein toller Hund
Kam . . . ...
Lejser spannte Krapuntschik aus und brachte
ihn auf seinen Platz. Das Pferd schnupperte und
suchte die Leckerbissen, die sein Herr ihm des Morgens
versprochen hatte. Aber seine hängenden Lippen
fanden bloß kaltes Holz ....
« «
#
Eine halbe Stunde später lag Lejser auf einem
Haufen zerrissener Lumpen und drückte seine Sohlen
mit den Fäusten zusammen. Er bildete sich ein, daß
er sie so erwärmen könne. Socie und die Kinder
lagen auf ihren Plätzen und versuchten einzuschlafen,
xxm den Hunger nicht zu spüren. Alle schwiegen.
Nur der kleine Schmilek, der mit seiner Mutter auf
dem ungeheizten Ofen lag, begann mit seinem
schleppenden Stimmchen:
„Mutter, Milch."
„Morgen gibt es Milch, Schmilek, morgen."
„Milch .... ein bischen Mi — ^ilch."
„Morgen, Söhnchen, morgen .... Morgen be-
kommen wir Milch und Suppe. Gute Suppe mit
Fleisch und Henne . . . . "
„Mein Herz brennt, Mi — ilch!"
Jente antwortete nicht.
„Ich will essen, Ali — ilch."
„Nu, scha, scha .... nu, was soll man machen?
Du bist hungrig! Alle sind hungrig, alle haben nicht
gegessen .... Der Großvater ist alt und krank, der
war den ganzen Tag draußen in der Kälte und hat
auch nichts gegessen."
Lejser drehte sich auf seinem Lager imi. Er
räusperte sich oder schluchzte, und in seine Nase stieg
noch einmal der süßliche Duft von Gewürznelken und
Lorbeerblättern.
SCHALOM ASCH ALS DRAMATIKER
Meine Gnädige! Ihr Wunsch, meine tleinung aber das
Drama von Sctutom Asch zu hOren, kommt etwas zu spät
Jetzt — poat tot discrimina renim — über ein Stück zu
schreiben, dass schon am 19. März aufgeführt worden ist,
ist, wie soll ich sagen, ein Anachronismus. Aber Sie
wollen ja gar keine Rezension, sondern eine tiefere Analyse
des Werkes. Oflan gestanden, bin i' li im Grunde gegen diese
Analysen. Was ein KOnstJer als Ganzes geschaut und nach-
gebildet hat, darf der Kritikur gar nicht zerzausen, zer-
pflücken. Aber Sie wollen es. Sit pro ratione voluntas.
Wissen Sie, die Künstler sind ein oft merkwQrdiges
Volk. Da ist einer, der sich auf seinem Gebiete, in seinen
„vier Ellen" so gut eingerichtet, so sicher eingenistet hat.
Warum will er mehr als er kann? Warum zieht's ihn
immer in das unzulängliche, nicht zu Erlangende V Nehmen
Sie diesen oder jenen Künstler. Der eine ist ein ganz
netter Lyriker, d. Ii. er hat Form und Melodie, kann seiner
subjektiven Empfindung eine objektive Form verleihen.
Der will hinein in das Drama. Der andere kann kleine
Novellen sehr fein schreiben, ohne Prätention auf Tiefe,
auf Weltfragen. DafOr fehlt ihm der Sinn — da muss
gerade er sich an die grössteu Seelen- und Lebens-
probleme heranwagen. Natürlich ereilt ihn sein Geschick —
der Ikarusaturz. Ich fürclite, das es unserem Aach ebeneo
ei^angen ist. Und ich muss Ihnen gestehen, es wftre
mir schade darum. Denn wir sind wirklich nicht so
flberreich an Talenten Ich will aber diesmal nicht Ober
Asch als Lyriker der Skizze, der er eigentlich ist, sondern
aber seine dramatischen Schöpfungen sprechen u. z. haupt-
sächlich Aber sein letztes Drama. Vor etwa einem Jahre
war es Asch gogflnnt, das jDdische Drama dem russischen
Publikum mit dem Stacke „Messianische Zeiten" vorzu-
führen, jetzt trat er vor einen noch weiteren, europaischen
tireis. Er hat sozusagen die Mission des Einfuhrers der
jüdischen Literatur übernommen. Das ist vielleicht für ihn
die richtige Bezeichnung, die
Erklärung seines Wesens.
Denn jeder, der die moderne
jüdische Literatur kennt, der
die Laufbahn von Asch ver-
folgte, seine Leistungen und
deren inneren Wert kennen
lernte, wird sich sagen
müssen, dass Asch wohl ein
begabter, aber bei weitem
nicht der begabteste unter
den jüdischen Dichtern ist.
Seine Dichtungen haben
Seele, aber keine tiefe und
starke, Stimmungen, aber
keine abgetönten , nuan-
cierten. Feinen, Rhythmus,
aber einen eintönigen, wie
das Summen einer Uiene an
<!incm schwülen Sommertaif,
Wahrheit, aber eine alltäg-
liche, manchmal banale,
Es gibt Gebiete der Kunst, Szene auB.,D«rGott derßache'
die ihm unzugänglich sind, j,„^,| Schfp.chowiisch (Schil«
Winkel der Seele, die für iSpc/iabiifnalime fi
NicIidTuck vctttoUn.
ihn unsichtbar sind. Und gerade in diesenEcken und Winkeln
hat sich dio ureigene jadische Seele eingenistet, sich vei'-
schlossen vor dem Auge der Nicht — Eingeweihten, Zu
diesen Tiefen des jüdischen Lebens hat z. B, Mendele-
Mochor Sforim mit unmittolbarfm, intuitivem Gefühl.
Perez mit mehr Reflexion und klugem Verständnis sich
manchmal durchgerungen, Asch besitzt den Schlüssel
nicht. Ich liebe sonst Asch's Schreibweise, Es ist so
viel Naives, Gutes, Einfaches darin. Man fühlt, dass ein
Naturmensch schreibt, dass er nicht über den Erscheinungen
steht, sie künstlerisch gestaltet, sondern die Eindrücke an
sich heranfluten liisst, von ihnen getragen, geschaukelt
wii'd. Da haben wir sein neuestes SKizzenbuch : „Das
Städtel", das von vielen als ein Meisterwerk betrachtet
wird. Ich kann mir nicht helfen: auf mich hats nicht den
Eindruck eber starken, bildenden, bleibenden Kunst ge-
macht. Es sind niedliche, stimmungsvolle Skizzen, aber
kein Poem, es sind lyrische Romanzen in Prosa, kein Epos.
Denn die Gestaltungskraft fehlt. Nicht das äusserliche,
physiognomische erschöpft das Gestaltungseleuient in der
Kunst. Wemi er „Reb Jecheskel" oder pLei'le" physiog-
nomisch zeichnet, so hat er uns zwar ein Bild gezeigt,
aber nur eine Photographie. Ein EQnstler deutet das
Bild, d. h. er sieht es nach seiner Art, er legt seine
Seele hinein, indem ihm die Seele des andern offenbar wird.
Asch sieht auch die Natur äusserlich. Wenn R. Mendele
z. B. die Natur schildert, so fOhlt man, dass in ihm ein
jüdischer Gestalter spricht, ein Epiker. Er hat Bilder, die
so kühn sind, weil sie einem so eigenartigen Seelongrund
entstammten. Ob sie uns gefallen oder nicht — das ist
eine andere Frage, Wenn wir als moderne Menschen, als
Westeuropäer an Mendele herantreten, so worden wir
sicherlich ebenso stutzig blicken, wie vor dera echten,
alten Märchen der Galen oder der Nordmänner.
Perez hat eine ga-z moderne Art zu sehen und
zu schildern. Er ist ein
modemer Mensch, der die
Schönheit <md denRhythmus
des Wortes kennt und liebt,
der nach einer neuen Har-
monie strebt, der die Tiefen
der Seele — wie der Welt-
Stimmung sucht, der ahnen
liisst Asch lässt nichts
ahnen. Wie ein stilles,
ruhiges, hinter grünem Ge-
lände plätscherndes Bächlein
zieht seine lyrische, weiche
un<l eintönige Weise dahin,
wie ein moldauanischesLied,
nii' aufregend, nie hin-
reissend. Was Asch vor
allem besitzt, das ist das
Gefühl für Raumseele, für
die Stimmung des Ganzen,
Undifferenzierten, wo der
Mensch sich vor sich los-
wird mit der
Darum ist Asch ein Skizzen-
A. Coralnik: Sctialom Asch als Dramatiker.
Szene aus „Der Gott der Rache" von Scbalom Aach. Dritter Akt.
Jankel (Schildkraul) und Sir» SdicpschoBitsdi (Frau W'angtl).
(Spczia lauf nähme fSr „Ost und We9l".)
und Stimmnngsciichter von sehr bedeutendem Werte,
aber kein Epiker und vor allem kein Dramatiker. Denn
Dramatiker sein heisst vor altem — mit Menscbenaeelen
umgehen kOnnen, sie einander geKenQberstellen, mit dem
äusBeren Leben sie in DerUhrung und G^enaatz bringen,
aua dem acheinbar Einartigen des Lebena das Viel-
gestaltige, tief Widersprechende berausfinden. Und wo
die Differenz ierungakunst anhebt, hOrt Asch'e Kraft auf.
Das haben wir an seinem ersten grösseren Drama
„Meaaianiache Zeiten" gesehen, das sehen wir in noch
grosserem Masse an seinem neuen Stücke „Gott <ler
Rache". Die „Messianischen Zeiten" sind überhaupt kein
Drama, es sind keine Menschen und kein Schicksal, es
sind keine Geschehnisse und Erlebnisse, die auf die Bühne
gebracht wurden. Es sind Üüder, Szenen, Skizzen manch-
mal von schöner, wahrhaft dichterischer Stimmung itm-
flosscn, manchmal aber reizlos und ziemlich flach. Voll-
ständiger Mangel an Handlung, und was noch schlimmer
ist, an innerer Motivierung, an innerem Rhythmus. Dei-
Gross vater, der nach Palästina sich rüstet und seine
Kinder um sich sammelt, um von ihnen Absei li cd zu
nehmen, die Sohne und Enkel, die ini Laufe von drei
Akten sich in kleinstädtischer Weise über Politik unter-
halten und dann die Justyna, die Enkelin, die da im
Garten sitzt und Zwiesprache halt mit ihrer Seele, die
den Schatten von Esterka, dor schünen Torhter des
„Schneiders von Opta" und Buhiin des Königs Kazimierz sieht
— all das sind keine dramatischen Gestalten, nicht einmal
symbolistisch gedcutot. Es ist ein Stammeln. Manchmal
scheint es mir, als ob Asrh sich von schönen Bildern hin-
reissen Hesse und als ob alte, uralte Motive in seiner
Seele nachklängen. Als ich ein Kind war, stellte ich mir
die Szene des Scheideos des Patriarchen Jakobs so vor.
Ein steinalter Mann mit eisgrauem, langen Bart, der sich
zum letzten Wege ins „Land der Väter" rüstet. Um
ihn die Söhne versammelt, iteuben, der starke, brutale mit
den mächtigen Händen, ein Recke mit einer gefurchten,
sonnegebräunten Stirn, Simon und Levi, die „Brüder", die
listigen, die l.'rahnen der Gelehrten und sämtlicher Lehrer,
Jehuda, dessen schöne ZShne wie Milch so weiss, und seine
Augen so blau — und endlich Issachar, der Ifir mich ein
Rätsel war, Issachar. der Issaschar geschrieben und
Issachar gelesen, der „wie ein heladener Esel ruht zwischen
den Gemarken". Oft kam er mir vor, wie ein Lastträger im
Bauemkittel, mit einem Strick gegürtet uud in grossen
Schaftstiefeln .... Und in der weihevollen Stille erzählt
Jakob die Zukunft seines Geschlechtes, . . . „Das Ende
wollte er offenbaren", aber er hat die ..Schecina" erblickt,
und schwieg .... '
Dieses Bild aus der fernen Kindheit, dieses uralte
Motiv hahen in mir die „ M essi an i sehen Zeiten' hervor-
gerufen lad als der Traum verflog, da sah ich, wie on-
adäquat die Ursache meines Traumes war, wie unkOnstle-
risch hier das grosse Motiv bearbeitet wurde Aber
während der Vorwurf des ersten Dramas dem inneren
Wesen Asch's entsprach, die Menschen, die uns ihre Seele
dort biossiegten, etwas von der Seele des Dichters selbst,
das Träumerische, Weiche, Verschwommene hatten und
sich manchmal zu der ffiihe eines poetischen Symbols
emporschwangen, ist ilie Idee des zweiten Dramas im
vorhinein eine miashm^ene. Misslungen, weil der Dichter
an sie nicht herangewachsen ist, sie nicht seelisch
!)ewältigen und deshalb auch künstlerisch nicht gestalten
konnte. Die Idee ist nilmlich eine alte, ewige. Gott ist der
463
A. Coralnik: Schalom Asch als E>ramatiker.
464
Qott der Rache und der furchtbaren Strafe, der die Sünden
der Väter an den Kindern ahndet, der „am dritten und
vierten Geschlecht" seinen Zorn für die Vergehen der
ersten Greneration stillt. Eine «wige, schicksalschwere
Frage, die in dem alten lapidaren hebräischen Satze wie
ein Verzweiflungsschrei klingt: „Unsere Eltern haben
sauere Trauben gegessen, und die Zähne der Kinder werden
stumpf davon"! Aber die Tragödie beginnt erst dann,
wenn die Strafe den an und für sich Unschuldigen trifft,
den von eigener Sünde Nichtbehafteten. Dass der Sünder
selbst der Strafe verfällt, dass er, um das talmudische
Wort zu gebrauchen „ertränkt wird, weil er andere er-
tränkte", darin ist kein Moment der Tragik vorhanden.
Sehen wir nun, wie Asch das Problem auffasste. Jankel
Schepschowicz, ein roher, brutaler Mensch, Sohn eines
Pferdehändlers, der, wie es so oft ist, wahrscheinlich in
das Gebiet des Pferdediebs hie und da sich hineinschlich,
hat eine Dirne, ein innerlich und nicht blos gewerbsmässig
verdorbenes Weib, geheiratet und dann ein Freudenhaus
eröffnet. Kommt dadurch zu einem Vermögen. Nachdem
es ihm nun besser g^ht, teilt er sein Haus in zwei Hälften
— „oben", dort wohnt er, dort wohnt die „bürgerliche"
Familie Jankel Schepscho witsch — , „unten" wohnen sie, die
Sklavinnen des sündigen Gewerbes, seine Sklavinnen«
Das Oben lebt vom Unten. Und Jankel selbst ist gamicht
so weit vom „Unten" entfernt. Er ist nicht etwa ein Mann, der
nur mit Widerwillen und Abscheu ein Gewerbe ausübt, seine
Seele aber rein behält. Er ist ein Duzfreund des Zuhälters
Schlojme, steht beinähe auf demselben seelischen Niveau, wie
dieser Galan. Nur in einem ist er ihm voraus: er ist
wohlhabend geworden und hat eine Tochter Riwkele, an
der er wirklich mit der innigsten väterlichen Liebe hängt.
Dieser Riwkele zuliebe will er alles tun; sie will er rein
ei*halten, rein und keusch. Um sie in Keuschheit zu
bewahren, lässt er sie nie nach «unten" gehen, verbietet
ihr jeden Verkehr mit denen von „unten**. Aber er zittert
immer für ihre Reinheit. Er fürchtet das Unheil. Und
um es zu verhüten, lässt er eine Thora für sie schreiben,
die die Schützerin der Keuschheit seines Kindes sein
sollte, sozusagen ein Amulet gegen die Sünde. Aber es
hilft nichts. Riwkele fühlt sich nach «unten** durch eine
unheimliche Gewalt, durch die Gewalt des Blutes hinab-
gezogen. Und Manjka, eines der Erwerbsmädchen ihres
Vaters, verführt sie, verlockt sie, zieht sie in das Netz der
Sünde, tief in die Maschen des Lasters. Schlojme und
Hindi, eine der Dirnen, wollen auch heiraten, sich ein
Haus — und zwar eines nach dem Muster von Jankel
Schepscho witsch — gründen, und dazu brauchen sie als
Zugkraft, als Anfangskapital ein noch jungfräuliches
Mädchen. Riwkele wird das Opfer, das willige, allzuwillige.
Verdorben bis ins Mark, was man vom ersten Augenblick
erkennt, geht sie, nein, taumelt sie jauchzend in die Lust
und die Schande. Alles hat nichts geholfen, — nicht
die Tugendwächterei des Vaters und nicht die Thorarolle.
Riwkele wird zurückgebracht, aber nicht mehr als Jungfrau.
«Die Mutter hat's gedurft und ich sollte es nicht!**, ist
ihre einzige, grausam-lüsterne Antwort auf die verz weif lungs-
volle Frage ihres Vaters, ob sie noch rein und unbefleckt
sei. Und da bricht für Jankel alles zusammen. Keine
Zukunft, keine Hoffnung auf das Hinaufkommen — und er
stösst seine Tochter hinab in die Tiefe des Lasters, nach
„unten". Und auch die Thora schickt er aus dem Hause
— sie darf nicht in seinem Hause bleiben — sie hat das
Wunder, das er von ihr erwartete, nicht vollbracht. Gott
hat sich gerächt
* ♦ *
Hat er? Wo ist die Tragik dieser Rache? Dass
er dem Freudenhausbesitzer nicht gestattete, zugleich ein
„Unten" und ein „Oben" zu haben, dass er am Vater
strafte, was der Vater tat? „Weil du andere ertränktest,
wirst du selbst ertränkt werden" — wo ist hier das
Tragische? Und die Strafe hat ja Jankel selbst, nicht
Riwkele betroffen. Riwkele war für das bürgerliche
Leben — die Tochter einer Dirne und eines Zuhälters —
nicht geschaffen, sie wollte es nicht, hat es als Last
empfunden. . Und Jankel selbst hat nicht innerlich seine
Sünde überwunden, wozu auch der einfachste, gemeinste,
Mensch in dem Momente der Seelenumwälzung fähig ist
Er wollte einfach beides — eine reine „bürgerliche"
Tochter und sein altes, sündiges Gewerbe ohne Busse,
ohne Sühne in Einklang bringen Er spricht zwar in
einem fort von seiner Sündhaftigkeit, wir sehen aber
nie seine Umkehr. Das ist nicht Gott der Rache,
^as ist einfach die Logik der Tatsachen, eine Logik, die
kein dramatisches Motiv in sich enthält In der „Maria
Magdalena" von Hebbel hatte der alte Meister Anton Recht,
den ganzen Zusammenstui-z seiner Weltanschauung, seines
Lebenstraumes, seines Sittlichkeitsideals in einem Satz
zusanmienzufassen, der bitterer klingt, als die offene Em-
pörung gegen das Leben: „Ich verstehe die Welt nicht
mehr!" Ein kämpfender, um die Erkenntnis ringender
Mensch hat den tragischen Punkt seines Lebens erreicht.
Hätte z. B. Jankel Schepschowitsch anstatt eine Thora zu
schreiben, sein Haus aufgelöst, wäre er zum ehrlichen
Leben zurückgekehrt, und wäre dann trotz alledem Riwkele
der Schande verfallen, dann hätte er Recht zu sagen:
«Gott wollte es nicht**, dann wäre er der Gerechte. Denn
die Tragödie beginnt erst dort, wo die Vemünftigkeit
des Seins aufhörte. Dass z. B. in einem Staate, wo der
Strafkodex den Diebstahl mit dem Strang bestraft — wie
z. B. früher in England — ein Dieb gehängt wird, ist keine
Tragödie. Weder die Mitwelt noch die leidende Person
selber empflnden es als eine Tragödie. Es ist grausam,
ungertcht, aber nicht tragisch. Tragisch aber ist es,
wenn Luise Michel, die selbstlose, maniakalisch - heilige
Volkstribunin wegen Diebstahls bestraft wurde, weil sie,
um Hungrige zu speisen, aus einem Bäckerladen selbst-
mächtig Brot nalim. Jankel Schepscho witsch's Schicksal
ist so erklärlich, so natürlich, so untragisch, undramatisch.
Es wäre ein Wunder, wenn das Gegenteil sich ereignet
hätte. Und ein Motiv des Wunders ist kein dramatisches
Motiv. Asch hat das Problem falsch angefasst, das
Motiv verdorben. Und es waren wunderschöne Motive,
die im Drama hier und dort aufflackerten, um wieder
verloren zu gehen. Das Motiv — „unten" und „oben".
Nicht, wie manche oberflächliche Kritiker meinen, das
Problem von „Vorn" und „Hinten" in Sudermanns „Ehre".
Hätte ein wahrer Dramatiker den Vorwurf von Asch
in die Hände bekommen, ein jüdischer Dramatiker,
er hätte dieses Motiv zum Zentrum, zur Axe des Ganzen
machen müssen. Der Jude, für den das äussere Leben
nur ein Schein, eine „Aeusserlichkeit" ist, die sein Inneres
nicht tangiert; der Jude, der die schmutzigen Dinge der
Welt betastet, ohne sie zu sehen, ohne sie seiner Seele
A. Coraintk: Schalom Asch als Dramatiker.
eiDEU verleiben. Und dann der Konflikt zwischen dem
»Aussen" und „Innen", zwischen dem „Unten" und „Oben"
in seiner eigenen Seele, der Kampf dieser beiden Welten,
der einmal doch anbrechen muss. Dort wäre das Dram^
des jfidischen Sünders. Jankel Schepscbo witsch kennt den
inneren Kampf nicht. Er ist der ZuhSlter gehlieben mit
bUrgerltch-jDdiechen, atavistiach-ehrfOrchtigen Instinkten.
*
Ich will nicht Ober die vielen technischen Schwächen
des Stackes reden. Das sind Nebensächlichkeiten, auch nicht
darOber, dass das Drama eigentlich eine Reihe von lose
miteinsjider verbundenen, oft sehr schflnen und poetischen
Szenenakizzen — z. B. die Szene des Regens im II. Akt —
ist, denn das ist kein Mangel. Ein Mangel, aber auch der
Hauptmangel ist, dasa wir bei diesem StQcke uns in keinem
Augenblick vor der Tiefe des Lehens finden, dass wir
immer an der Oberfläche vorQbergohen, uns nie von der Ge-
walt des Gefdhls oder des äusseren Geschehens ergriffen
waren, dass es keinen „Ewigkeitswert" hat. Ein Deuter
der jüdischen Seele — und d.is soll jeder jüdische Dra-
matiber sein — ist Asch nicht. Er kann täeelcnschwin-
gungen mitlablcn und hervorbringen, nie einen ganzen
Akkord Das jüdische Drama wird Aach wohl kaum
schaffen, aber ein Einführer ist er. Alle leichtbeschwingten,
die Tiefe nicht kemtenden, im Dichten spielenden Künstler
sind Herolde der tieferen Kunst. Tiefe Seelen schöpfen
aus der Kultur ihres Volkes; um dann darüber hinaus-
zugehen. Der grosse jüdische Künstler wird der sein,
der die Elemente der jüdischen Kultur künstlerisch
refundieren wird. Sind diese Elemente vorhanden, sind
sie lebensfähig, dann wird auch die ersehnte Kunst
kommen Oder glauben Sie auch daran nicht, meine-
Gnädige? ~
A. Coralnik.
EIN JUEDISCHES KUENSTLERPAAR IN RUSSLAND.
Nichdruck vttboua.
Anf eioer längeren Reise dnrch die grösseren ein Gastspiel absolvierte. Seine Frati hingegen lebte
Zentren Rnsslands berObrte ich anch die Stadt Kiew, noch nnter dem Eindruck des Tages znvor durchlebten
Ein Frennd, den ich von meiner AnknnfC rechtzeitig Schreckens. In ihrer im besten Stadtteil gelegenen
T«T8tändigt hatte, empfing mich am Bahnhof mit der
ermutigenden Mitteilung, dass fKr jenen Tag ein Pogrom
erwartet und befürchtet werde. 1» Kiew weiss man
Belli' gut, was ein solcher zu bedeuten habe, da die
furchtbaren Ereigniaae Tom November 1906 nicht so
leicht vergessen werden kSnnen.
Glücklicherweise ist der zum zweiten Mal ange-
kündigte Pogrom damals ausgeblieben. Die lokale
BHrokratie sah dieses Mal keinen N^utzen ans den
Schreckensszenen nnd liess rechtzeitig abwinken. Nach-
mittags wurde eine BekanntmachnDg des General-
gonvemeurs verbreitet, wonach er jede Ausschreitung
gegen die Juden anter Anwendung aller Machtmittel
verhindern wollte. Die meisten Jnden beruhigten sich
dabei, und abends konnte man im „Kaufmännischen
Garten", wo eine gute Musik gespielt wird, ein zahl-
reiches jüdisches Publikum finden, das, wie es schien,
alle Schrecknisse and alle Sorgen bereits vergessen
hatte. Ich muss gestehen, dass diese Sorglosigkeit, die
mir beinahe wie Leichtsinn vorkam, mich nicht wenig
befremdete. Aber bei ruhiger Ueberlegnng musaie ich
mir sagen, dass die Leute schliesslich doch recht haben.
Wollten sie sich unausgesetzt in der Erinnerung ver-
gangener Schrecknisse und mit Furcht vor den
kommenden plagen, so kSmen sie überhaupt niemals
BUS dem Trübsinn heraas.
Tags darauf wurde ich durch einen Freund bei
einer jüdischen Künstler fsmilie eingeführt. Es ist dies
der Opernsänger Oskar Eamionski nnd dessen Gattin,
die lerühmte Künstlerin Klara Brun-Kamionska, die
beide in der Kiewer Oper die einzigen and vorzüglichsten
Wagnersänger sind. Herrn Kamionski traf Ich nicht
an, da er gerade in jenen Tagen in der Moskauer Oper
Oskar Kamionski, Kiew, Operosanger.
Eiti jüdisches Künsllerjiaar in Rn^sland.
468
Klara Bnui'KamioiMka, Kiew, Openisaogerin.
Villa fQhlte die sich ebeDfalls uicbt sicher und hatte,
wie sie mir erzählte, die ganze Nacht angekleidet io
irgend einer Sophuecke zogebracht. Sie erzätdte mir
viel von den fürchterlichen Pogromtagen, die Kiew
gesehen hatte, und an welchen viele ihrer nächsten
Anverwandten grossen Schaden erfuhren. Kein Stand
also bleibt von diesen Ereignissen in Russland unberührt.
Kin KUnstlerpaar, das sich in der Stadt der giössten
Beliebtheit erfi-eut und in dessen Haus sich die
bedeutendsten und ange^ehendsten Persönlichkeiten ein-
finden, wird von Zeit zu Zeit daran erinnert, dass es
einem rechtlos gemachten Volke angehört und für
Leben und Rabe zu fürchten bat.
Oskar ICamionskt, der in ganz Rassland als aus*
gezeichneter Darsteller und Sänger in Wagüeropern
bertihmt ist, entstammt einer sehr angesehenen und
gebildeten jüdischen Familie in MohlleW am Dnjepr.
E)ass er ein hervorragender Künstler geworden ist, hat
■ er seinem ungewöbnlicben Können und seiner grossen
Energie zu verdanken. Denn die Hindernisse, die er
zu überwinden hatte, waren ungemein gross. Er musste
das Vorurteil, das in alten jüdischen Familien gegen
diesen Beruf herrscht, erst besiegen, denn er wollte
durchaus nicht seine Eltern kranken. Sie billigten erst
dann diese Berufswahl, als er itinen versprochen hatte,
unter allen Umständen tia Judentum treu auszuharren.
Dieses Versprechen hat er treulich, gehalten, und in
Gemeinschaft mit seiner Gattin, der ebenfalls ausge-
zeichneten Künstlerin, welche die weiblichen Haupt-
rollen in den Wagneropern gibt, repräsentiert er in
seinem Hause immer den jüdischen Künstler. Ich
habe viele Stunden in diesem Hause auf das angenehmste
zugebracht, und ich will gleich gestehen, dass mich im
Gespräche mit Frau Klara Brun-KamJnaka nicht so
sehr die Künstlerin interessierte, wie die Jüdin. Auch
die Künstlerin war darüber sehr erfreut, mit einem
jüdischen Schriftsteller sich über die Zukunft des
judischen Volkes eingehend unterhalten zn können. Ich
gewann den Eindruck, dass diese edle Frau, die persön-
lich unter dem Antisemitismus nicht im mindesten zn
leiden hat und im Gegenteil in der rassischen Gesell-
schaft nur Liebes und Angenehmes erfährt, freiwillig
auf sich das Joch des „Golus" genommen bat und mit
ihrem leidenden Volke leidet und hofft. Unser stunden-
langes Gespräch galt dem Zionismus, und es hatte etwas
Beschämendes für mich, dass sie sich in dem Glauben
an die Zukunft des jüdischen Volkes stärker zeigte als
ich selbst. Als Jüdische" Künstlerin bezeichnete sie
sich auf einer Photographie, die sie mir zum Andenkea
an unsere Unterhaltung schenkte.
Ich bin auf meiner Heise in Russland mit ver-
schiedenen jüdischen und christlichen Personen zusammen-
gekommen, habe viel Angenehmes and auch Betrübendes
gesehen, aber die Begegnung mit dieser Künstlerin, die
auf der Höhe des persönlichen Erfolges steht, jedoch
durch die Leiden des Jüdischen Volkes soviel Kummer
und Schmerz erlebt, gehört zu dem Bedeutsamsten, was
mir in Russland begegnet ist. Das ist auch ein Blatt
aus unserer Golusgeschichte. B.
Gruppe tfidiacher Auswanderer, die unter Leitung der J.T.O. am 7. Juni mit Dampfer „Caaacl" de« Narddcutschcn
Uoyi in Bremen nach Galveston expediert worden sind.
X Dr. Jochctmann.
VON DER JUEDISCHEN AUSWANDERUNO.
Die jüdische Auswanderong aus dem Osten
Europas, insbesondere aas Rassland, bat in den
letzten Jahren einen Umfang angenommen, wie er
seit der Yölkerwandenuig bisher nicht zu ver*
zeichnen gewesen ist. Die systematiscben Ver-
folgungen haben den wirtscbaftlicben Ruin unserer
russischen Glaubensgenossen, ' der mit den Ignat-
jewschen Maigesetzen vom Jahre 1882 begonnen
hatte, beschleunigt, und sie gezwangen, das Zaren-
reich in Massen za verlassen. In dem Zeitraum
von 1880 bis 1905 sind etwa 1 '/a Millionen Jaden
aas Russland ao^ewandert. Der Mehrzahl nach
wandten sich unsere Glaubensgenossen den Ver-
eioigten Staaten von Nordamerika zu, wo sie sich
haapteächlich in den astlicheo Teilen niederliessen.
Darch die Bevorzugung einzelner Städte haben sich
Missstände herausgebildet, die durch den alljährljch
immer grösser werdenden Zustrom zu einem ernsten
Problem sowohl für die bereits dort ansässigen,
wie für die hinzukommenden Glaubensgenossen
geworden sind. Inzwischen war auch in Amerika
bei den amerikanischen Arbeitergewerkscbaften,
die durch den grossen Zustrom enrop^cher
Arbeitskräfte sich in ihrer Existenz bedroht sahen,
eine einwanderungsfemdliche Bewegung entstanden,
die nach und nach die amerikanische Regierung '
bestimmte, die Einwanderungsbedingungen wesent-
lich zu verscbärfeu. Diese Tatsache führte zu
ernsten Erwägungen, ob es nicht im Interesse
unserer Glaubensgenossen zweckmässiger wäre,
anstatt in den bereits übervölkerten Centren des
Ostens das Proletariat zu vergrössem, die Ein-
wanderer lieber nach den aufiaahmeiUhigeren Ge-
bieten des Südens der Vereinigten Staaten zu
lenken. Für diese Bestrebungen ist in New York
das Industrial Kemoval Office tätig, eine mit Unter-
stützung der Jewish Colonisation Association segens-
reich wirkende Oiganisation. Der Tätigkeit dieses
Bureaus waren aber gewisse Grenzen gesetzt, weil
es erfahningsgeniäss schwierig ist, die Einwanderer
Von der jQdischen Auswanderung.
nach ihrer bereits erfolgten Landimg in New York
znr Uebersiedelong nach einem entfernteren Gebiet
zu veranlassen. — Im .Frftl^jahr 1906 ist dann
TOQ einem in Berlin begründeten „StudiencomitS
für jüdische Kolonisation", dessen Vorsitzender das
llit((lied des Berliner Lokal-Comitös der AlUance
Isra6Iite Universelle, Herr Direktor Oliven ist,
zum ersten Male die Anregung gegeben worden,
einen Teil der jüdischen Aaswanderer nach den
sfidlichen Häfen der Vereinigten Staaten, vornehm-
lich nach Oalveston, und nach Südamerika zu
führen. Dieser Plan fand nachdrückliche Ünter-
stützuna; (larch die Schifiahrtspolitik des Nord-
deutschen Lloyd in Bremen, dessen umsichtige
Leiter schon vor Jahren eine direkte Verbindung
zwischen Bremen und dem Hafen Galveston in
Texas errichtet hatten.
Dieser Plan, der zu lebhaften Diskussionen
innerhalb d6r jüdischen Organisationen gefUbrt
hatte, ist dann späterhin von dem bekannten
Philantropen Jacob H. $chiff in New York auf-
genommen, and durch dessen Freigebigkeit der
praktischen Verwirklichung nähergerückt worden.
Die zur DurchfÜhniDg dieses Planes notwendigen
Vorarbeiten hatte die anter Leitung Israel Zangwills
in liondon stehende Jewish Territorial Oiganisation
übernommen, die zn diesem Zweck ein besonderes
Bureau in Russland errichtet hat. Nachdem die
notwendigen Vorbereitungen in Kussland getroffen
waren, konnte die durch das Bureau der JTO
in ßussland organisierte erste Gruppe von jödischen
Aoswanderem am 7. Juni mit dem Postdampfer
»Cassel" des Norddeutschen Lloyd von Bremer-
haven nach Galveston expediert werden. Diese
Gruppe bestand ans 60 Personen, die sich säm1>
lieh im besten Mannesalter befanden. Der Leiter
des russischen Boreans der JTO, Herr Dr. Jochel-
mann hatte die Gruppe bis nach Bremerhaven
begleitet. .Unser Bild führt uns die jüdischen
Auswanderer korz vor Abgang des Damp;cTs vor.
Die Direktion des Norddeutschen Lloyd
in Bremen, die stets den Wünschen der jüdischen
Passagiere in weitgehender Welse entgegenkommt,
hatte ihren Beamten, Herrn Arthor Meyerowita, zur
Expedition des Dampfers nach Bremerhaven ent-
sandt und ein besonderes Schreiben an den Kapitän
des Dampfers, Herrn Jantzen, gerichtet, in dem
die jüdischen Passagiere seiner besonderen Für-
sorge empfohlen worden sind. Von den amerika-
nischen Glaabensgenossen ist Vorsorge getroffen,
dass die Ankommenden von einem Ck>mit6, das sich
ans angesehenen ' Glaubensgenossen der Jüdischen
Gemeinden in Texas zusammensetzt, empfangen
und in geeigneter Weise auf die einzelnen Staaten
verteilt werden. Eine zweite Expedition nach
Galveston folgte am 20. Juni mit dem Dampfer
„Frankfurt" des Norddeutschen Lloyd.
Es darf an dwser Stelle mit besonderer
Genugtuung konstatiert werden , dass die von
führenden Männern der „Alliance Israälite
Universelle" in Deutschland aasgehende Anregung
auf so Iruchtbaren Boden gefallen ist. Wir dürfen
hofen, dass durch das Zusammenwirken aller be-
teiligten Kreise dieser Plan oaseren auswanderadeo
Glaubensgenossen sowohl wie ihrem Bestimmungs-
limde zum Segen gereichen wird.
Als weiterer Erfolg der oben erwähnten Be-
strebungen darf verzeichnet werden, dass die
jüdische Einwanderung in Argentinien in
stetiger Zunahme begriffen ist. Laut dem amtjichen
statistischen Bericht der ai^entinischen Eegiemng
sind im Jahre 1906 13 880 IsraeUten gegen 7516
im Jahre 1905 in den Häfen Argentiniens gelandet.
Diese starke Zonahme der jüdischen Einwanderung
in Ai^entinien ist hauptsächlich dem grosszUgigen
Kolonisationswerk der Jewish ColonisaUon As-
sociation zuzuschreiben, deren planvolles Vorgehen
einer solchen starken Einwanderung seit Jahren die
Wege geebnet hat. AJmoDi.
P^Ä
rm.
MITTEILUNGEN
iischen Buieau der M Ailiance Jsrae
DIE OENERAL-VERSAMMLUNO
DER BERLINER MITGLIEDER DER A. I. U. n„.«^™».„
Am SpDntag den 2. Juni 1907 hat die General-
varsammliing der Alliance Isra^Ütc Universelle, LokaJ-
Comitä Berlin, im Sitzungssaal desVerwaltung^bSudes
' der Jüdischen Gemeinde, Rosonstrasse 2 — 4, stattge-
funden. Die Tagesordnung lautete wie folgt: 1. All-
gemeiner Bericht. 2. Wellen zum Vorstand. Die
Einladung war einem jedi>n einzelnen Berliner Mit^
glied der Alliance zugegangen.
Der Geschartsf Uhrer M. A. Klausner erstattete
den Bericht, der fulgenden Wortlaut hat:
„Es ziemt sich und ist uns Herzensp Hiebt,
daß wir bei Beginn unseres Berichts in Treue der
Treuen gedenken, die vor uns dahiogegangen sind,
nachdem sie mit uns in Eifer und Hingebung der
Sache der Alliance IsraäUte Universelle, d. i. der
Sache der Judenheit, gedient haben. Kurz nach-
einander sind unser Schatzmeister Heinrich Gold-
schmidt und unser Schrittführer Dr. Heinrich
Meyer C oh n im letzten Drittel des Jahres 1905 von uns
schieden, jeder eine Zierde des Lokal-Comilfo Berlin,
beide mit ganzer Seele unserem Werke gehörig, wackere
Männer, vortreffliche Juden, vorbildlich in ihrer Für-
sorge für die großen menschheitlichen Ziele unserer
Vereinigung. Denn den Menschheitsgedanken pflegen
und lArdem wir, indem wir der Judenheit unser Mühen
widmen, für den Gerechtigkeitsgedanken, der der
Grundgedanke unserer heiligen Religion ist, arbeiten
wir, indem wir, unserem Wahlspruch folgend, die
Gemeinbürgschaft der Judenheit überall da zur
Geltung bringen, wo Juden leiden, wo sie Bedrückung
und Zurücksetzung erfahren, weil sie Juden sind. An
dem Tage, der die Herrschaft der Gerechtigkeit sehen
und der zur Anerkennung gebracht haben wird, daß
es eine Gerechtigkeit ohne Milde und Liebe nicht gibt,
an diesem Tage, der den Beginn des messianischen
Reiches bedeutet, wird unser Ziel erreicht und unsere
Arbeit beendet sein, wird die GemeinbUi^chaft nicht
bloß ganz Israel, wird sie die ganze Menschheit um-
fassen. Wer das Glück hatte, die Männer zu kennen,
die ich genannt habe, der weiß, wie sehr sie, namentlich
unser Heinrich Meyer Cohn, mit sehnender Seele
dieses weitere Ziel geschaut und um seine Verwirk-
lichung in den Grenzen, die die Enge eines einzelnen
Menschenlebens überhaupt zuläßt, pro viriU parte
gestrebt und gelitttr. hsben."
Der Vorsitzende: Erheben Sie sieb, ich bitta
Sie darum, zum ehrenden Andenken an diese
Teuren \
Der Geschäftsführer fährt fort: „Der Rück-
blick, den wir Ihnen zu bieten haben, umfaßt zwei
Jahre. Im vorigen Jahr — dafür ersuchen wir Sie
um Indenmitat — haben wir die statutenmäßig vorge-
sehene Generalversanunlung unserer Berliner Mitglieder
ausfallen lassen. Nicht «us Lässigkeit ist dies geschehen,
sondern weil wir Sie nur als Zeugen einer Art von
Umwälzung hätten berufen kflnnen, die wir in unserer
größeren Gemeinschaft, als deutsche Mitglieder der
Alliance Isra^lite Universelle, durchmachen mußten.
Sie selbst hatten durch Ihre geordnete Vertretung,
das Lokal-Comitä Berlin, den Anstoß dazu gegeben;
und wir glaubten, nicht eher vor Sie treten zu dürfen,
als bis die Bewegung zu einem vorläufigen Abachloß
gelangt, eine Etappe auf dem Wege erreicht war, den
Ihre Vertretung uns gewiesen hatte.
Sie wissen, daß die Alliance Isra^lite Universelle
seit Anbeginn von einem Cenlral-Comit6 geleitet
wird, dessen Sitz Paris ist. Nur eine Minderheit
der Mitglieder ist französischer Nationalität. Daß
die am Sitz einer Gesellschaft wohnenden Mitglieder
eben wegen ihrer steten Anwesenheit ein gewisses
Übergewicht haben, liegt in der Natur der Sache. Wir
müssen aber laut betonen, daß unsere französischen
Glaubensgenossen niemals von ihrem Übergewicht
einseitigen Gebrauch gemacht, etwa Interessen ge-
pflegt hätten, die uns fremd gewesen wären. Gleich-
wohl haben die deutschen Mitglieder des Central-
Comitös das Bedürfnis empfunden, einen gewissen
Ausgleich dadurch zu schaffen, daß sie zu einer deut-
schen Conferenz-Gemeinschaft sich zusammentaten,
die, ohne bestimmte Satzungen, bloß den Zweck hatte,
in zwanglosen Conferenzen die Gemeinschaft der
Ansichten der deutschen Mitglieder des Central-
Comilfe diesem zur Kenntnis zu bringen, auch wenn
die deutschen Mitglieder den Central-Comitö-Sitzungen
nicht beiwohnten. Am 15. Oktober 1901 hat die erst«
Tagung der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft statt-
gefunden; doch führte sie ein Dasein eigentlich nur
in der Idee. Daß sie wirkliches Leben gewann, daß
der Gedanke Körper bekam, dazu mußten sich erst
eine Reihe von Umständen vereinigen.
477
Mittdlungen der Alliance Isra^lite Universelle: Die General -Versammlung der Berliner Mitglieder etc.
478
Schaft vom 19. Februar dieses Jahres in Frankfurt a. M.
in dem Bericht des Präsidenten wie in den Berichten
der Mitglieder über ihre Bezirke mit vorbehaltloser An-
erkennung des Organs der Deutschen Conferenz-Gemein-
schaft, der Monatsschrift „Ost undWest**, gedacht
wurde. Es herrschte nur eine Stimme darüber, daß durch
diese Monatsschrift ein ausgezeichnetes Mittel gewonnen
sei, nicht bloß dauernde Beziehungen zwischen der
Deutschen Conferenz-Gemeinschaft und allen ihren
Mitgliedern zu unterhalten, nicht bloß die MitgUeder
der Alliance fortgesetzt über alle Vorgänge in den
Werken und in dem Wirken der Alliance in Kenntnis
zu setzen, sondern gleichzeitig in jedes jüdische Haus
Deutschlands und des deutschen Sprachgebiets Kunde
zu tragen von dem, was auf irgend einem Felde geistigen
jüdischen Lebens sich regt. Durch die Verbreitung,
die die Deutsche Conferenz-Gemeinschaft ihrer Monats-
schrift gibt, macht sie aus ihr, ganz im Sinne der
AlUance, ein eigenes hterarisches Schuhverk für Er-
wachsene. Und wiederum geschieht es im Geiste und
nach den Gewohnheiten der AlUance, daß sie dieses
Schulwerk nicht abhängigmacht von Beitragsleistungen,
daß sie ihr Blatt in jedes jüdische Haus schickt, ohne
besondere Beiträge, ohne materielle Gegenleistungen
dafür zu fordern, zufrieden, daß sie jüdisches Wissen
und Wissen vom Judentum verbreitet, daß sie Gemein-
sinn weckt und hebt, und mehr und mehr die Gemein -
bürgschaft zur Wirklichkeit macht, die in dem Wahl-
spruch der Alliance Isra^lite sich ausdrückt: „Ganz
Israel bürgt für einander."
Die Tagung der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft
vom 19. Februar 1907 in Frankfurt a. M. faßte mit
Stimmeneinhelligkeit eine Reihe bedeutsamer Be-
schlüsse. Voran stand die Durchführung der
Zentrahsierung aller deutschen Bezirks- und Lokal-
Comit^s und Mitglieder nach BerHn. Es muß be-
sonders hervorgehoben werden, daß die verdienten
Träger selbst der liebgewordenen, mehr durch Zufall
als systematisch gebiljieten alten Einrichtungen den
Vorzug der vorgeschlagenen Neuerung anerkannt haben
und sich bereitwillig in die umgestaltende Organisation
vom 1. Januar 1908 an einfügen zu wollen erklärten.
Das verdient aufrichtigen Dank, der auch von
dieser Stelle aus den Herren Bezirksrabbiner Dr. Sal-
vendi in Dürkheim und Rabbiner Dr. Frank in Cöln
nochmals ausgesprochen sei.
Bereits am 24. Oktober 1906 hatte das Central-
Comitö beschlossen, daß Zöglinge der Ecole Normale
in Paris — der Lehrerschule für die Lehrer der Alliance-
schulen — zum Erlernen der deutschen Sprache nach
Deutschland geschickt werden sollten. Die Frank-
furter Tagung der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft
sprach die Erwartung aus, daß das Central-Comit6
diese Zusage möghchst bald, nach vorheriger Ver-
ständigung mit dem Präsidium der Deutschen
Conferenz-Gemeinschaft über die Art der Ausführung,
verwirklichen werde; ebenso daß das Central-Comite
mit dem Präsidium der Deutschen Conferenz-Gemein-
schaft eine Vereinbarung treffe, die die Ausbildung
von Allianceschullehrern in Deutschland zum nahen
Ziele hat. Auch beanspruchte das Präsidium der
Deutschen Conferenz-Gemeinschaft ein Vorschlags-
recht für die an den Allianceschulen anzustellenden
Lehrer der deutschen Sprache, so>\ie die Einführung
deutschen Sprachunterrichts in den marokkanischen
Allianceschulen.
Das Central-Comitö hat von den Organisations-
beschlüssen der Deutschen Conferenz-Gemeinschaft mit
Befriedigung Kenntnis genommen. Die Zusage wegen
der Entsendung von Zöglingen der Ecole Normale
nach Deutschland wurde erneuert. Die augenblickliche
Erfüllung sei niu* durch den sofortigen Bedarf an allen
ausgebildeten Lehrkräften verzögert. Die Ausdehnung
des deutschen Sprachunterrichts wiu*de nach Maßgabe
des Interesses der Zöglinge ausdrücklich beschlossen.
Noch ist von der Frankfurter Tagimg zu erwähnen,
daß man innerhalb der Deutschen Conferenz-Gemein-
schaft vollkommen einig war, mit allen in Deutsch-
land wirkenden jüdischen Organisationen gutes und.
einträchtiges Einvernehmen zu erhalten oder herbei-
zuführen. Das ist auch im wesentlichen gelungen*
Mit der jüdischen Gemeinde in Berlin wirken wir auf
zwei noch näher zu erwähnenden Gebieten harmonisch
zusammen, zu den Bnei Briss-Logen sind wir in die
freundUchsten Beziehungen getreten, was uns zu
höchster Befriedigung und Genugtuung gereicht und
im Grunde nur natürUch ist, da uns Gemeinsamkeit
humanitären und idealen Strebens verbindet. Wir
erwähnen mit herzlichem Dank, daß auf Anregung
des Großpräsidenten Herrn Justizrat Timendorfer der
geschäftsführende Ausschuß der Großloge sämtliche
deutsche Bnei-Briß-Logen eingeladen hat, der Alliance
Israelite Universelle korporativ beizutreten.
Die beiden Gebiete des Zusammenwirkens mit
der jüdischen Gemeinde in Berlin betreffen die Für-
sorge für die durchwandernden und rückwandemden
russischen Glaubensgenossen und für die Ausgewiesenen.
Im Verein mit der jüdischen Gemeinde, den B*nei
Brith Logen und dem Hilfsverein der deutschen Jud^n
haben wir eine Abfertigungsstelle für die durch-
und rückwandemden russischen Juden eingerichtet.
Die Gemeinde gab die Bureauräiune dazu her und
stellte Beamte zur Verfügung, von uns wurden Mit-
glieder abgeordnet, die in täglicher Arbeit die Einzel-
fälle prüften und erledigen halfen. Die Gesamtkosten
wurden von den vier Organisationen zu gleichen Teilen
bestritten. Seit dem 1. April dieses Jahres ist hierin
eine Änderung insofern eingetreten, als die Anteil-
nahme sich auf die jüdische Gemeinde, auf uns und
auf den Hilfsverein beschränkt. Dank der Munifizenz
des Central-Comit^s sind wir in der Lage gewesen,
für diesen Teil unserer Tätigkeit allein seit Beginn
vorigen Jahres jährlich 10 000 Mk. auszuwerfen. Das
ist ungefähr so viel, als unser Unterstützungsetat
im Jahre 1905 insgesamt ausmachte. Jetzt hat dieser
•Etat ungefähr die fünffache Höhe erreicht. Herr
Justizrat Dr. Edmund Lachmann vom Vorstand der
jüdischen Gemeinde leitet mit bekannter Umsicht
imd SachUchkeit diese Abfertigungsstelle, die unter
Mitwirkung unserer Delegierten tadellos funktioniert.
Im April vergangenen Jahres haben, wie Ihnen
bekannt ist, in Berlin und in ganz Preußen neuerdings
Massenausweisungen unserer östUchen Glaubensge-
nossen begonnen. W^ir wurden zunächst bei dem
481
Mitteilungen der Alliance Isradite Universelle: Die General -Versammlung der Berliner Mitglieder etc.
482
wähnt sind, geht hervor, daß die Alliance Israölite
Universelle sich auch bei der Erteilung des sprachlichen
Unterrichts von keiner einseitigen VorUebe hat leiten
lassen, sondern daß sie überall nur bestimmt worden ist
und bestimmt werden wird von der Rücksicht auf das
fernere gute Fortkommen ihrer Zöglinge. Wo deutscher
Sprachunterricht irgend von Nutzen ist — in der ganzen
Levante — da wird er erteilt. Auch die deutsche Unter-
richtssprache ist da, wo das Zöglingsmaterial es zuläßt,
ohne weiteres eingeführt. Aber wir würden gewissenlos
sein und töricht, wenn wir in persischen Schulen den
deutschen Unterricht einführen wollten, wenn wir in
den türkischen Schulen nicht die größere Aufmerksam-
keit der französischen Sprache widmen wollten, die in
der Türkei die zweite Staatssprache ist, deren Kenntnis
imentbehrlich ist für jeden, der die Möglichkeit besseren
wirtschaftlichen Fortkommens haben will. Die Alliance
Isra^lite Universelle hat eine lange Erfahrung auf dem
Gebiete des Schulwesens. Sie hat viele tastende Ver-
suche machen müssen, ehe sie dahin gelangte, die un-
endlichen Schwierigkeiten zu überwinden, die sich ihr
entgegenstellten. In drei Erdteilen unterhält sie
Schulen, in denen sie an 45000 Schüler unterrichtet,
nährt und kleidet. Für drei Erdteile muß sie Lehrer er-
ziehen. Aus drei Erdteilen holt sie die künftigen Lehrer
herbei, die sie dann in vielfach unkontrollierbare Fernen
schickt. Diese Entfernungen sind nicht abzukürzen.
Die Kontrolle wird immer mangelhaft sein müssen, und
so bleibt als Ersatz nur, daß man die künftigen Lehrer
wenigstens während der Erziehungsperiode unter Augen
hat und genau beobachtet, damit man wisse, wie weit
ihre Zuverlässigkeit gehe, damit man wenigstens für
eine Reihe von Jahren die Sicherheit habe, daß nicht
die erneuten Einflüsse des alten Miüeus sich wieder in
«törender Weise geltend machen. Die Zeit ist noch nicht
gekommen und wird noch lange nicht gekommen sein, für
<len Orient im Orient Lehrerseminare zu errichten. Jeder
anderweite Versuch wird sich als vergeblich erweisen.
Es ist selbstverständlich und bedarf keiner Be-
tonung, daß wir es gern sehen würden, wenn die deut-
sche Sprache auch im Orient die Weltsprache würde,
die beute noch die französische allein ist. Aber für
•diese ferne Zukunft können wir unsere jüdischen
Knaben im Osten nicht erziehen. Wir müssen sie er-
ziehen für die nächsten Jahre und für die Dauer ihres
Lebens. Wir wollen nicht auf ihre Kosten, auf Kosten
ihrer Zukunft Experimente machen, von denen wir
wissen, daß sie nicht anders als mißglücken können.
Es wäre ja wider alle Natur, wenn wir einer fremden
Sprache den Vorzug vor unserer geben wollten. Auf
■eine Erörterung hierüber lassen wir uns nicht ein, die
überlassen wir denen, die sich in ihrem Deutschtum
nicht sicher fühlen. Den Engländern und insonderheit
den englischen Juden wird man nicht zum Vorwurf
machen, daß sie etwa ihr Engländertum zurückstellten
imd verleugneten. Der englische Zweig der Alliance
Isra^lite Universelle, die Anglo-Jewish Association in
<}onnection with the Alliance Isra^lite Universelle, wie
ihr voller Titel lautet, bietet neim Zehntel ihres Etats
■den Alliance-Schulen dar, und nur in ganz vereinzelten
von diesen durch englisches Geld miterhaltenen AUiance-
schulen wird englisch gelehrt. Denn unsere engli-:chen
Glaubensgenossen sind gleich uns der Meinung, wir hätten
keine Sprachenpoütik zu treiben, sondern für xmsere be-
drängten Glaubensgenossen und ihr Fortkoramen zu
sorgen. Ägypten steht unter englischer Herrschaft, und
doch ist dort die europäische Sprache die französische
Sprache, und die jungen Leute, die ohne Kenntnis des
Französischen nachÄgypten gehen wollten, würden dort
üble Erfahrungen machen, würden Anstellungen kaum
finden. Der Hilfs verein hatte in Jerusalem an die
durch uns von je unterstützte Lämelschule eine
Kommerzschule oder Kommerzklasse angegliedert. In
dieser Kommerzklasse wurde die deutsche Unter-
richtssprache eingeführt. Die deutsche Unterrichts-
sprache ist jetzt verschwunden, sie hat durch
die französische Unterrichtssprache ersetzt werden
müssen
Im gegenwärtigen Jahr hat wieder Rumänien
neben Rußland, dem Land unserer größten Schrecken,
von sich reden gemacht. Eine Mißregierung hat dort
die Bauern zur Empörung getrieben. Vor aller Welt
Augen haben die Bojaren den Versuch gemacht, diese
Empörung abzulenken auf imsere Glaubensgenossen,
damit diese als Sühnopfer dienten, und damit der
öffentUchkeit vorgegaukelt werden körme, den Juden
und nur den Juden habe der Aufstand gegolten. In
Wirklichkeit sind die nmiänischen Bauern fast genau
so mißhandelt, wie die rumänischen Juden. Aber selbst
die Empfindimgslosigkeit der rumänischen Bauern
hat eine Grenze, imd daß sie erreicht war, zeigte der
Aufstand, der sich nicht gegen die Juden ablenken
ließ, so viel Propagatoren der Judenhetze auch auf
öffentUche Kosten im Lande herumreisten. Der Auf-
stand brach da aus und wütete da am meisten, wo es
Juden überhaupt nicht gab. Freilich waren jene Hetz-
apostel auch nicht ganz erfolglos tätig gewesen, imd es
hat beträchtUchc Schädigimgen gegeben. — Wir hatten
gesehen, daß dies kommen würde. Die AUiance Isra^Ute
Universelle hatte sich auf Abwehr imd Hilfe vorbereitet,
hatte beizeiten mobil gemacht; und als das Unglück
da war, da war auch schon die Hilfe der Alliance zur
Stelle. Ihre Vertrauensmänner imd ihre Beamten
hatten in den meistbedrohten Orten und in den Grenz-
städten die erforderUchen Vorkehrungen getroffen.
Auch das war, wie alles, was die Alliance tut, in aller
Stille und ohne Ruhmredigkeit geschehen. Sogar die
Leitung des späteren Hilfswerks, das über den Tag
hinaus zu sorgen hatte, war von der Alliance ohne
weiteres dem geographisch näher liegenden Schwester-
institut, der IsraeUtischen AUianz in Wien übertragen,
ohne daß deswegen die Alliance mit ihren Mitteln
zurückgehalten hätte. Nachdem sie die Tagesnot be-
kämpft, stellte sie mit der IsraeUtischen Allianz in Wien
die Hälfte allen Bedarfs zur Verfügung, ein Viertel
leistete das vereinigte Englische Hilfs -Comit^ für
die notleidenden osteuropäischen Juden, ein Sechstel der
Hilfsverein, ein Zwölftel das Frankfurter Komitee für
die osteuropäischen Juden. Daß die Jewish Colonisation
Association, die durch Personalunion mit der Alliance
Isra^lite Universelle verknüpft ist, die gesamten Kosten
und die ganze Leitung der rumänischen Emigration
übernimmt, auch für die Einrichtung von Kredit-
genossenschaften in Rumänien ganz ebenso wie seit
483 Mitteilungen der Alliance Isra61ite Universelle: Die General -Versammlung der Berliner Mitglieder ctc 484
Jahren in Galizien sorgt, ist Ihnen bereits durch unser
Organ mitgeteilt worden.
Und wiederum ist es selbstverständlich, daß die
Alliance Israelite Universelle überall versucht hat, und
fortfährt zu versuchen, den rumänischen Glaubens-
brüdem aus der dauernden Not zu helfen, in der sie
durch rumänischen Wortbruch zu leben gezwungen
sind. Die Leitung unserer Centrale hat in Paris, die
Leitung der D. C. G. hat in Berlin, die Israelitische
Allianz in Wien, das Anglo-Jewish Comittee in connec-
tion with the A. I. U. in London die nötigen Vor-
stellungen an den zuständigen Stellen mit Nachdruck
und mit Klugheit gemacht, imd die endliche Wirkung,
das ist imsere Hoffnung, wird nicht ausbleiben.
Wann aber wird der Morgen erscheinen, den wir
alle mit einem Herzen begrüßen ? Wann geht der
Tag auf, der uns zur gemeinschaftUchen Arbeit führt,
zu einer Arbeit, die keine Tremnmg zwischen Menschen-
brüdem mehr kennt? So fragen wir mit einem Edlen
unsere» Stanunes und wir antworten mit ihm: „Er
wird kommen, der Tag des Lichtes! Mögen immer
Pygmäen-Gesinnungen in einen Kampf sich einlassen
mit dem Riesengeist der Gerechtigkeit — wir sind
des Sieges gewiß. Doch auch die Wunde des Siegers
schmerzt. Darum, Brüder, laßt uns nach den Satzungen
und Zielen der A. I. U. mit lindernder Hand Balsam
träufeln in die Wimden der siegenden Wahrheit, damit,
wenn man das zwanzigste Jahrhundert noch einmal
erröten sieht, man sagen möge: „Die Farbe der Freude
ist's, die es verklärt, nicht die Farbe der Scham."
• «
•
Nach diesen allgemeinen Ausführungen gestatten
Sie, Ihnen aus dem demnächst erscheinenden und zur
Verteilung gelangenden Jahresbericht der Alliance
Israelite Universelle für 1906 einige Daten mitzuteilen:
„Die Alliance hat im Jahre 1906 für die von ihr
in drei Erdteilen unterhaltenen und geförderten
Knaben- und Mädchenschulen und Lehrlingsanstalten
einschliesslich von Ackerbauschulen 1 481 027 Frs.
ausgegeben, außerdem für die Präparandenanstalt,
die zu dem Lehrerseminar für die Orientschnlen
gehört, einen Betrag von 105 274 Frs., endlich .für die
Errichtimg von Bauten 76 490 Frs. insgesamt also
1 662 791 Frs. Diese Ausgaben haben durch die reg 1-
mässigen Einnahmen, aus den Zinsen der Stiftungs-
kapitalien und aus den Beiträgen von Mitgliedern
und Freunden volle Deckung gefunden. Die Ein-
nahmen beziffern sich auf 1613 798 Frs. Darüber
hinaus hat die AUiance Israelite Universelle für die
besondere Hilfstätigkeit zugimsten verfolgter Juden
anderthalb Millionen aufgewendet, die in besonderen
Spenden eingingen. Der Gesamtaufwand der A. I. U.
ftir ihr Hilswerk hat somit im vorigen Jahr an
3 200 000 Frs. betragen. Die Zahl der Mitglieder der
Alliance Israölite Universelle beträgt 30000, hiervon
in Deutschland ungefähr 13 000."
« «
•
Der Vorsitzende stellte den Bericht zur Diskussion.
Da sich niemand zum Wort meldete, konstatierte der
Vorsitzende die Gutheißung des Berichts durch die
General-Versammlung.
Dem Vorschlag des Vorstandes gemäß wurde
das gesamte Lokal-Comitä neu gewählt. Die Ver-
sammlung wählte den seitherigen Vorstand durch
Akklamation wieder. Das Lokal-Comit6 besteht aus
den Herren Geheinu^at Goldberger (Vorsitzender),
Rabbiner Dr. Weiße (Stellvertr. Vors.), Benno
Braun (Schatzmeister), Alfred Cohn (Stellvertr.
Schatzm.), Dr. Hantke (Schriftf.), Dr. Lehfeldt
(Stellv. Schriftf.), Ludwig Adler, Max Beer,
Ilia Ber, Siegfried Brunn, Moritz Dorn,
Heinrich Fraenkel, Dr. Sam. Fraenkel,
Geheimrat Landau, Direktor Oliven, Louis
Rosenbaum.
DER JAHRESBERICHT
DES CENTRAL- COMITES DER A. I. U. FÜR 1906.
Nachdruck veiboteo.
Die Alliance Israelite Universelle hat seit ihrem
Bestehen Weit darauf gelegt, den Mitgliedern und
Jedem, der sich dafür interessieren mag, über ihr
Wirken genaue Auskunft zu geben. Die Jahresberichte
dieser ältesten und grössten jüdischen Hilfsorganisation
bieten nicht blos ein Bild ihrer über drei Erdteile sich
erstreckenden Tätigkeit, sondern im Zusammenhang
damit eine fortlaufende Geschichte der Judenheit. Was
von der Judenheit für die Judenheit getan wird, daa
ist hier aufgezeichnet; der Juden Leiden und der Juden
Taten sind hier aufgeführt. Die Jahresberichte der
Alliance Israelite Universelle sind eine Art Kultur-
geschichte der Juden, Zeugnisse eines nie aufhörenden
Kampfes für Gerechtigkeit und Menschlichkeit, un-
ermüdlicher Bruderliebe und nie rastenden Kulturfort-
schritts. In immer entlegenere Kulturwtlsten entsendet
die Alliance Israelite Universelle ihre Missionare, die
das Licht der Lehre erneuern und verbreiten, die das
wirtschaftliche Elend unserer Glaubensgenossen durch
Erziehung und Unten^icht und durch wirtschaftliche
Kräftigung der Brüder ausrotten helfen. Die Alliance
Israölite Universelle verleiht den Glaubensgenossen
Stärke zur wirtschaftlichen Selbsthilfe, stählt sie für
den Lebenskampf und erweckt in ihnen die Traditionen,
die der ganzen Judenheit gehören. Die Alliance Israelite
Universelle blickt auf ermutigende Erfolge zxu*ück. In
mehr als einem Lande, das sonst in geistigem Dämmer
liegt, hat sie unseren Brüdern das Licht der Kultur
gebracht; in mehr als einem Lande besteht das ganze
lebende Geschlecht der Juden aus ihren Sdiülem, die
in verehrender und dankerfüllter Liebe auf sie als auf
die grosse Mutter sehen und Gott preisen, dass er ihnen
vergönnt hat, nachdem sie Kinder der Sorge und Für-
sorge gewesen, zu selbständigen, mitarbeitenden Männern
in Israel und für Israel zu werden. Auch der vor-
liegende Bericht für das Jahr 1906 spricht von weiteren
Fortschritten und von glücklichem Gelingen, überall
von der Erfüllung der Pflichten der Bruderliebe. Der
Mitteilungen der Alliance Israelile Universelle: Der )ahresberJchl der A. I. U. für 1906.
letzte Abachoitt der deatscheo Ausgabe des Jahres-
berichts handelt von der Dentschen Conferenz-Gemeip-
schaft, die die Fahne der Alliance Tsraelite Universelle
in DeatachläDd nen erhoben und neäe Mitstreiter lu
Taasenden gewonnen hat. Jedem unserer Mitglieder
ist ein Esemplar zugestellt worden. Dass anch bei
.sorg flu tlgster Herstellung des Bericht« Irrtümer vor-
kommen, findet wohl dnrch die Fülle des Materials
freundliche Entschuldigung. Wir vermerken hier eini^re
Berichtignngen und Nachträge für das Spenden ver-
z'ichnis: Auf Seite 154 muss es bei Homburg v.d.H.
Mk. 51.— sUtt Mk. ]02.— , auf Seite 155 bei Mar-
burg heissen : „durch Pro vinzi airabbin er Dr. L. Manck
Mk. 58. — . An Spenden sind noch zu verzeichnen: Rechts-
anwalt Emannel in Bonn Mk. 100. — , Justizrat Dr.
Edmund Lachmann in Berlin Mk. 200.— und Mk. 100.—.
ZWEI VETERANEN DER A. I. U.
Wir haben in der vorigen Nummer des Verlustes
gedacht, den die Alliance Israölite Universelle durch
den Tod zweier treuen Vertreter, Emil Nöther in
Mannheim und Ootthold Levy in Stettin, erlitten hat.
Es sei uns gestattet, einige Daten aus dem Leben dieser
beiden, um unser grosses Werk in treuer Mitarbeit
hochverdienten HSnner, anzuführen, als Begleitung zu
den Bildnissen der Verewigten.
Emil Nether wurde am 16. UArz 1812 in Mann-
heim geboren. Er widmete sich dem Kaufmannsstande.
Nachdem er im Aaslande tätig gewesen und weiten
Blick gewonnen hatte, begründete er in Mannheim die
eieene Firma Jos. Nöther & Co., deren Seniorchef er
war. In dem Anfsichtsrat der SOddeutachen Bank in
Mannheim war er Vorsitzender. Persönlich jedem
äffenttichen Auftreten abgeneigt, entzog er sich doch
nicht den Anforderungen, die man zunächst im engeren,
dann In immer weiterem Kreis an ihn stellte. Die
Israelitische Gemeinde seiner Geburts- nnd Heimatsstadt
wählte ihn seit etwa 10 Jahren znm Synagogenrat, in
einer Reihe wohltätiger Vereine bekleidete er das Vor-
steheramt. Er würde der Allicance Israölite Universelle
sich angeschlossen haben, auch wenn er nicht schon
durch Familientradition ihr mit ganzem Herzen ange-
hörte. Als erster Präsident des Orossherzoglich Badi-
schen Landescomit^s der A. I. U. hat er dieser im ganzen
Grossherzogtum Freunde und Anhänger gewonnen,
die Mitslied-
schaft
organisiert
nnd im Zu-
sammenhang
mitdemDeut-
schenBureau
der A. I. U.
das Hilfs-
werk gelei-
tet. Er war
die rechte
Handunsere<i
J. M. Biele-
feld in Mann-
heim, dem er
besonders
nahe stand
und dem sein
Patriarchen -
alter weder
die Freude
an der Tätig-
keit in der
Gotthold Levy. Stettin.
Emil NOtber, Hannheim.
A. I. n. noch die dazu erforderliche RQstigkeit ge-
schmälert hat.
Gotthold Levy in Stettin war nm wenige Jahre
jünger als Emil Nßther. Auch er hat die Zugehörig-
keit zur Alliauce als ErbteU vom Vater übernommen,
dem vormaligen Vorsitzenden des Stettiner Synagogen-
vorstandes. Schon als junger Mann, im Jt^re 1873,
nahm er an einer Delegierten Versammlung in Paris teil.
Die Bekanntschaft mit Ci'emieux nnd anderen Führern
der Alliance blieb ihm für sein ganzes Leben ein Er-
innerungsschatz. Das Fener heiliger Begeisterung für
unsere Sache hatte sich auf ihn Obertragen und er-
wärmte und belebte ihn. Er blieb mit der Alliance,
für die er in Stadt und Provinz eifrig wirkte, bis an
das Ende seiner Tage in stetem Zusammenhang. Seine
Tätigkeit im Dienste der Alliance brachte es mit sich,
dass er auch im Dienst unserer verfolgten russischen
Glaubensgenossen stand. Im Jahre 1891 hat er als
Schriftführer des Stettiner Comit^s für die russischen
Juden Tausende nach Amerika befördert. Seine Für-
sorge galt nicht minder dem jüdischen Waisenhau.s
seiner Heimatsstadt, dessen Vorstand er in den letzten
8 Jahren als Vorsitzender angehörte. Gleiches Interesse
wendete er dem Verein für Jüdische Geschichte nnd
Literatur zu. Gotthold Levy, ein Kaufmann von mehr
als gewöhnlicher Bildung und von grossem Bildungs-
trieb, war sehr religiös. Er hat, solange er gesund
war, keinen Sabbat-Gottesdienst versänmt.
MiKeiiungen der Allianz Israäite Universelle.
Rabbiner Dr. Feilchenfeld.
RABBINER DR. FEILCHENFELD.
Die AlliaDce laraellte Unviversfille bat das O-lUck,
dasB aie in ihrem Rat die Stlnune der Alten nicht za
missen braucht Wer zn ihren „Alten" gerechnet sein
will, der mnss schon das 80. Lebensjahr überschritten
haben. Seit dem 28. Mai, seinem 80. Geburtstag, ist
Rabbiner Dr. Feilchenfeld in diesen Rat der Alten ge-
treten, zu dem er nach Weisheit nnd Erfahrung Ungst
gehörte. Als Mitglied des Central-Comit^ der A. I. U.
hat er an deren Bestrebungen allezeit regsten herz-
lichsten Antatl genommen.
Das rnmlfjiiBche Hilfswerk. Das mmäuisclie
Hilfswerk wird von der Israelitischen AHianz zn
Wien mit regstem Eifer, mit unübertrefflicher Hingabe
and gleicher Sachkunde geleitet. Das in der Wiener
Besprechung vom- 6. Mai aufgestellte Programm ist in
tadelloser Weise zur AnsfUhrung gebracht worden.
Die Vertreter der geschädigten jüdischen Qemeinden
Kamäniens haben von Jaaay uns an die Israelitische
Allianz zn Wien das nachstehende Dankschreiben
gerichtet, das zugleich eine neue Bitte enthält:
„Jassy, den U./27. Mai 1907.
Hochgeehrte Herren!
Die hier zu einer Beratung versammelten
Delegierten der HUfscomites in Rumänien bringen
Ihnen hiermit ihren tiefgeftihltesten Dank fOr alle
Beweise brüderlicher Teilnahme zum Ausdruck, die
sie nach der Heimsuchung der hier ländischen
Grlaubensgenossen durch die jüngsten Ereignisse
gegeben haben, und bitten Sie höflichst, auch den
an dem HUfewerk beteiligten Organisationen in
Berlin, Frankfurt a. M., Paris und London, sowie
den Glaube nsbrildern in Amerika, die unverzüglich
so bedeutende Geldsummen zu Hilfszwecken sandten,
gütigst ihren lebhaftesten Dank zu Übermitteln.
Die genannten Delegierten appellieren femer
an Sie, den unglücklichen Glaubensgenossen, die
nicht in die Dörfer zurückkehren dürfen, oder aus
ihnen ausgewiesen worden und die nun in den ver-
schiedenen Städten obdachlos und erwerbslos umher-
irren, Ihr Augenmerk zuzuwenden und für sie alles
zu tun, was möglich ist.
Hochachtungsvoll und ergebenst
Dr. M, Bjeck. M. Schnttrer."
Von diesem Schreiben ist durch die Israelitische
Allianz zu Wien allen an dem Hilfswerk beteiligten
Oriranisationen Kenntnis gegeben worden. Wie am
5. Mai in Wien bereits in Aussiebt genommen war,
ist für den in dem mitgeteilten Schreiben bezeichneten
Zweck eine angemessene Summe zurückgelegt. Von
ungenannter Seite veranlasst, haben mehrere Zeitungen
die irrige Nachricht verbreitet, dass die Bitte um neue
Unterstützung an eine Stelle ausserhalb der
Israelitischen Allianz zu Wien geleitet worden sei.
Desselben Ursprungs ist wohl auch die andere falsche
Meldung, dass die rumänische AuswauderuDg Gegenstand
der Fürsorge irgend einer anderen Organisation als der
Jewish Colonisation Association sei. Die Aus-
wanderung unserer rumänischen Glaubensgenossen ist
bei der J. C. A. in den besten Händen. Die J. C. A.
ganz allein leitet und bestimmt diese Aus-
wanderung, sie ganz allein bestreitet auch die
Kosten. Jede andere Mitteilung widerspricht den
Tatsachen.
• * *
Spenden für die rumänischen Ulaubena-
genossen. Herr Bezlrksrabbiuer Dr. Salvendi-
Dürkheim, der unermüdliche Sammler, bat für das
rumänische Hilfewerk weitere 300 Mark eingeschickt.
Den gleichen Betrag von 300 Mark, für denselben
Zweck bestimmt, verdanken wir der Güte der F,raa
Geheimrat Meyer Cohn in Berlin. Das Geld ist
seiner Bestimmung zugeführt worden.
*
Deutscher Unterricht in Coustantinopel. Das
Central-Comit^ der A. I. U. hat gemäss dem Vorschlag
der Deutschen Conferenz- Gemeinschaft Herrn Julius
Kaufmann ans Cöln zum Lehrer der deutseben
Sprache an der Alliance- Schule in Constantinopel-
Galata berufen.
, - •
Wiesbaden. Am 27. Mai hat unter dem A^orsitz
des Herrn Stadt- und Bezirksrabbiners Dr. Silberstein
eine Sitzung des Lokalcomites stattgefunden. Herr
Hermann Hertz hat aus Rücksicht auf sein Älter
das von ihm seit 40 Jahren verwaltete Amt eines
Sahatzmeisters niedergelegt. An seiner Stelle wurde
Herr Jacob Hirsch gewählt. Der Vorsitzende
widmete dem verdienten Manne, der übrigens Mitglied
des Comit^ bleibt, herzlichen Dank für sein pflicht-
eifriges und treues Wirken. — Die Zahl der hiesigen
Mitglieder der Alliance Israelit« Universelle hat 100
erreicht
Königsberg i. Pr. Das hiesige Lokalcomite hat
sich erweitert und neu konstituiert. Es besteht ans den
Herren Rabbiner Dr. Vogelstein (Vorsitzender),
Konsul Max Minkowski (Schatzmebter) , Albert
Eichelbaum, Max Fernstein, Julius Herrmann,
Waisenhaus-Inspektor A. Peritz.
489 Mitteilungen der Alliance Isra^lite Universelle. 400
An die
Mitglieder der Jüdischen Gemeinden in Deutschland.
Glaubensgenossen I
Die Alliance Israelite Universelle wurde vor länger denn einem Menschenaller tns Leben
gerufen, um die Ehre des jüdischen Namens ^egen Angriffe zu verteidigen, um den Bedrängten
beizustehen gegen Verfolgungen, die sie des (jtaubens oder der Abstammung we^en erdulden, um
dem Elend, das Heimsuchung und Knechtung erzeugen, durch Unterricht und Erziehung zu steuern.
Die Alliance Israiliie Universelle hat steh seit ihrem Bestehen mit nie ermüdender
Bereitwilligkeit und mit wachsender Kraft Werken der Nächstenliebe gewidmet.
Die Alliance Israiliie Universelle, die Bekenner unseres Glaubens in allen Erdteilen
umfasst, ist ihren weitgesteckten Aufgaben vielfach mit gesegnetem Erfolg gerecht geworden.
Wäre die Alliance Israelite Universelle nicht vorhanden, wcArlich, sie müsste geschaffen
werden! Harte Prüfungen kommen immer wieder über uns. So rufen neue und erweiterte P flickten
mit mahnenden Forderungen unsem Gemeinsinn auf.
Und Oemeinsinn ist es vor allem, der uns not tut, damit wir, in Einigkeit stark, über
die Qual der Gegenwart hinweghelfend, das Schicksal unserer leidgewohnten Glaubensgenossen zu
lindern und ihre Zukunft froher zu gestalten vermögen.
Im Vertrauen auf Oott una auf eigene Kraft ist das Werk der Alliance Israelite
Universelle begonnen und geführt worden. So wollen wir es fortsetzen. Und kein Sohn Israels,
nicht einer, sollte dr aussen bleiben und abseits stehen:
Wir wenden uns an Euch, deutsche Glaubensgenossen, mit der Bitte, dass Ihr Euch
anschliesset. Wir in Deutschland sind die Nachbarn des traditionellen Verfolgungsbereichs, Wir
sind die berufenen Schirmer des Leides^ das über die östlichen Grenzen zu uns schreitet.
Die Alliance Israilite Universelle hat niemals und nirgends ihren Beistand versagt.
Mit offener Hand war sie allezeit zur Stelle. Und in ihren Schulen hat sie Hunderttausende eu
treuen Anhängern unserer Religion, zu treuen Bürgern ihres Landes erzogen.
Gegenwärtig werden in den allgemeinen und in den Handwerks- und Ackerbauschtden der
Alliance Israelite Universelle^ in Algier^ Tunis, Marokko, in Bulgarien und Macedonien, in
der europäischen und asiatischen Türkei, namentlich in Palästina, in Persien, über vierzigtausend
Schulkinder unterrichtet, zum Teil auch verpflegt und gehleidet Deutscher Unterricht wird
überall da erteilt oder zur Einführung gebracht^ wo die Tvirtschafüichen Verhältnisse es erfordern.
Die Alliance Israilite Universelle wendet jährlich für Wohlfahrts- und Wohltätig-
heitszzvecke 1 200 000 Mark auf.
Das Werk der Alliance Israilite Universelle steht im Dienste der Menschlichkeit und
Gesittung^ der Duldsamkeit und der Gerechtigkeit.
Zur Teilnahme an diesem Werk rufen wir auf. Glaubensgenossen, wir sind davon
durchdrungen^ Ihr werdet dem Rufe Folge leisten!
Die Deutsche Conferenzgemeinschaft der
Alliance Israelite Universelle.
Geheimer Kommer zienrat Goldher ger, Berlin Charles L. Hallgarten, Frankfurt a. M.
Rechtsanivalt Behrendt, Danztg, Sally Flörsheim, Dortmund.
Rabbiner Dr. Frank, Köln. Theodor Oschinsky, Breslau.
Dr. Blau, Frankjurt a. M. J. M, Bielefeld, Mannheim. Rabbiner Dr. Feilchenjeld, Posen.
Eugen Fellheim, Stuttgart. Geheimer Justizrath Dr. Fuld, Frankjurt a. M. Hermann Gumpertz, Hamburg^
Stadtrath Leopold Guttmann, Beuthen, Ober-Schi. Geheimer Hof- und Justizrath Dr. Josephthal, Nürnberg
Emil Meyer, Hannover, Sanitätsrath Dr. S. Neumann, Berlin. Rabbiner Dr. Porges, Leipzig.
Rabbiner Dr. F. Rosenthal, Breslau. C. Simon Salomon, Metz. Rabbiner Dr. Salvendi, Dürkheim.
Philipp Schiß, Frankfurt a. M. Rabbiner Dr. Vogelstein, Königsberg i. Pr. Rabbiner Dr. Werner. München.
491 Mitteilungen der AUiance Isra^lite Universelle. 492
Die verehrlichen Mitglieder, die auf regelmässige und pünktliche Zustellung
unseres Organs Wert legen^ werden ersucht, Aenderungen ihrer Postadresse unver^
zttgiich dem deutschen Bureau der A. 1. U., Berlin N. 24, Oranienburgerstrasse 42/43
mitzuteilen.
Alle für das BerUner Lokal -Coniit^ der A« I. U. und fflr das Deutsche Bureau der A. I. U. bestimmten
Geldsendungen beliebe man an den Schatzmeister
Herrn Benno BrAun in Firma Joelsohn & Brunn» Berlin C. 19, Hausvoigteiplatz 1 2
zu adressieren, eventuell durch Reichsbank-Girokonto der Firma Joelsohn & Brunn zu überweisen.
Vom 1. Juni bis 15. August d. J. sind unsere Bureaus, Oranienburgerstr. 42/43» nur
von 9 Uhr vormittags bis 3 Uhr nachmittags geöffnet.
Das Deutsche Bureau der AUiance Isra^lite Universelle»
TO m Ji ^iJr. D^21P
BUECHERSCHAU.
Einsames Land. Erzählungen und Stimmungsbilder Tristan. Tagebuchblätt^r einer Glücklich-Unglücklioben
von Dr. Bemh. Münz, Gleiwitz. Verlag von von Else Fränkel. E. Pierson's Verlag, Dresden.
J. Kauffmann, Frankfurt a. M. Die Ausgestossenen einer Grossstadt. Roman aut^
Mutterschaft. Schauspiel in einem Aufzuge von dem modernen amerikanischen Leben von Fred
Emstine von Lemor. E. Pierson's Verlag, Dresden. W. Primer. E. Pierson's Verlag, Dresden.
Empfundenes. Gedichte von Fanny Bäumel. II. Band. Modernes Judentum im Morgen- und Abendland. Von
E- Pierson's Verlag, Dresden. Jakob Obermeyer. Verlag von Carl Fromme, Wien.
„Reinigung, Aufffritchung, VerJOngung dos Biutot". Von Dr. med. Paczkowski. VII. Aufl. M. 1^. Verlae von Edmund Demme, Leipzig.—
Der wichtigste Bestanateil unseres Körpers ist das Blut, alle, auch die kleinsten Teile desselben werden durch das Blut ernährt. Ist es nun rein und
gut, so bleiben auch die Oewebe rein und gesund ; wird aber das Blut verdorben, so muss auch der Körper darunter leiden und muss krank werden.
Jedes Organ ist in erster Linie von seiner crnähning abhängig, d. h. es kann nur so lange normal funktionieren so lange es richtig und mit reinem
Blute versehen wird. Daraus erhellt, dass fast alle Krankheiten Blutkrankheiten sinoT sie wurzeln entweder in einer fehlerhaften Zusammensetzung
oder in einer falschen Zirkulation des Blutes. Ueber alles gibt die Broschüre Aufschluss.
Fflr Kranke und Gesunde ist es ein Oebot der Vernunft, nur natürliche Mineralwasser bei Durst zu trinken, keine solchen, welche künstlich
hergerichtet sind. Unter den natürlichen Mineralwässern ist Klösterle Sauerbrunn wegen seiner Zusammensetzung an heilkräftigen Salzen am
empfehlenswertesten, weil er äusserst durststillend wirkt und überdies der hohe Oehalt an Lithium die Hamsalze aus dem Blute ausscheidet, was von
allen äntlidien Autoritäten anerkannt wird.
lN$(rateii4Miial)me nur dtirctt f)ail$eil$teiil % UOfller ü. 6. in Berlin und deren lilialen. . ^
Abooneineiitsprelf ffir da» Jahr In DentschlAiid und Oetterrelch Mark 7,— (Luxu^mutgmht Mark 149—)* ffir da» Ausland Mark B—^
(Lnxttsansgabs Mark i6).
ffir Rnssland gan^fthrllch 4 Rubel. Elnxelhefte ä 35 Kop.
■ ., _ Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandes, durch alle Postämter des Deutschen _
Reiches unter No. 5785 a der Postzeitungsliste und durch die Expedition dieser 2^itschrift "
Anzeigen Mk. /.— die viergespaltene Nonpareillezeile, grössere Anzeigen nach Tarif, bei Wiederholungen Rabatt.
Adresse fDr die geschäftliche Korrespondenz: Verlag „Ost und West'S Berlin W. 8, Leipzigerstr. 31-32^
Redaktion: Berlin W. 15» Knesebeckstr. 48/49.
Verantwortlicher Redakteur: Leo Winz, Berlin W. 15, Knesebeckstr. 48/49. - Verlag Ost und West, Berlin W.8.
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- ■ I und eine pikante, milde Hiviina- und St Felix-Brasil- f:iiilaKr
mei sich Bpaiill lilr den Rauihir, der citi.- Iciiit yualitäl Jtiii gaW
Oitit leichte, hochfeine IJua'' '
ILLUSTRIERTE MONATSSCHRIFT
4
FÜR DAS GESAMTE JUDENTUM
Herausgegeben und redigiert
LEO WrNZ.
^^tf^^t^mm
i^w»»*«
Heft 8/9.
Alle Rechte yorbehalten.
yn. Jahrg.
Augnst/September 1907.
1^1 !■ mm\0^0^^i»^^m m mti^*m0>^*0>^ ^m m ^mmt^»0kß^^^^^\mmm tmt^t^t0^ ^0>m m^ t^t^^^^0^
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NARCISSE LEVEN, PRAESIDENT DER ALLIANCE ISRAELITE
UNIVERSELLE UND DER J.CA., UEBER DIE TAETIGKEIT DER
JEWISH COLONISATION ASSOCIATION IM JAHRE 1906.
(Vortrag in der Generalversammlung vom 7. Juli 1907.)
Gteehrte Herren!
Der Jahresbericht, den wir Ihnen vorzulegen
die Ehre haben, gibt möglichst genaue Bechen-
schaft über unsere Tätigkeit während des ver-
flossenen Jahres. Diese Tätigkeit ist mannigfacher
Art; sie umfasst landwirtschaftliche Besiedelung,
Auswanderung, Schulen, Darlehnskassen u. s. w.
und vollzieht sich auf zahlreichen Punkten des
Erdballs. Gerade um der Mannigfaltigkeit unserer
Unternehmungen willen, die alle das nämliche Ziel
verfolgen, scheint es mir nützlich, in kurzen Worten
die grossen Umrisse unserer Arbeiten anzugeben
und Ihnen die Ergebnisse vor Augen zu führen,
die wir erreicht haben.
Wie Ihnen bekannt ist, hat Baron Hirsch
unsere Gesellschaft gegründet, um den Israeliten
zu Hilfe zu kommen, die in ihren Heimatländern
Ausnahmegesetzen und Verfolgungen unterworfen
sind. Erfahrung hatte ihm gezeigt, dass Aus-
wanderung und Niederlassung in freien Ländern
diesen Unglücklichen Heil versprächen. Als haupt-
sächlichen Zweck unserer Bemühungen bestimmte
er die Schaffung und Entwickelung jüdischer Ko-
lonien. Dieses verwickelte und schwierige Werk
erfordert die tätige Mitarbeit einer Gesellschaft,
wie es die unsrige ist.
Die Auswanderung der russischen und rumä-
nischen Israeliten in überseeische Länder und
namentlich die landwirtschaftliche Besiedelung in
diesen Gebieten stand immer und steht noch heute
in der vordersten Reihe unserer Betätigung. Die
Nacbdruck veihotco.
Lage unserer Glaubensgenossen im östlichen Europa
hat sich übrigens, leider, nicht gebessert seit der
Zeit, da Baron Hirsch sich damit beschäftigte,
ihnen Hilfe zu bringen. Bumänien fährt fort, die
Israeliten zu unterdrücken. Vor wenigen Monaten
war es der Schauplatz eines Bauernaufstandes
gegen die Grundeigentümer, der teilweise gegen die
Jnden abgelenkt wurde und zu neuen Gewalt-
massnahmen gegen unsere Glaubensgenossen führte.
Die vom flachen Lande Entflohenen oder Verjagten
wollen auswandern. Das ist für viele unter ihnen
die einzige Rettung. In Russland hat der Ein-
druck der blutigen Ereignisse des Jahres 1905
sich nicht abgeschwächt. Unsere Glaubensgenossen
sind noch in den ersten Monaten des Jahres 1906
AngriflFen ausgesetzt gewesen. Nicht ein einziges
Ausnahmegesetz, unter dem sie seufzen, ist ab-
geschafft worden, und trotz der Religionsfreiheit,
die im Oktober 1905 allen Russen versprochen
worden ist, bleibt die Judenemanzipation inmitten
tatsächlicher Bedrängnisse eine blosse Hoffnung.
In dieser Lage behält das Programm, das der
Gründer unserer Gesellschaft vorgezeichnet hat,
seine volle Gteltung. Wir haben uns danach ge-
richtet und es sogar erweitert, indem wir eine
ganze Gruppe von Werken schufen, die der wirt-
schaftlichen und moralischen Hebung unserer
Glaubensgenossen zu dienen bestimmt sind. Neben
uns verfolgen andere jüdische Institutionen auf
anderen Wegen in verschiedenen Ländern das
gleiche Ziel wie wir, und sie haben ein sehr weites
495
Präsident Narcisse Leven über die Tätigkeit der Jewish Colonisation Association im Jahre 1906.
496
n
V
Tätigkeitsfeld. Die jüdische Frage ist so um-
lassend und so verwickelt, dass sie die wetteifernde
Teilnahme jedes guten Willens rechtfertigt. Jeder
Mann seinen Anteil haben und nützlich wirken, so-
iem er diesen AnteU einzugrenzen und so zu
ordnen versteht, dass er in die gemeinsame Tätig-
keit sich einfügt.
Infolge der russischen Wirren und der von
ihnen angerichteten Verwüstungen war die russische
Auswanderung im Jahre 1906 besonders stark.
Die Vereinigten Staaten haben 186 089 Ein-
wanderer aufgenommen. Unfraglich haben die
schmerzlichen russischen Ereignisse hierbei wesent-
lich mitgewirkt; doch muss erwähnt werden, dass
die Einwanderung in die Vereinigten Staaten schon
Jahre vorher fast ununterbrochen gestiegen ist.
Die Statistik gibt folgende ZiflFem lür Newyork
allein:
1901 38565 Einwanderer
1902 57 64:1
1903 63 550
1904 104 870
1905 88 533
1906 156 964
Für Kanada ist die Statistik weniger genau.
Man darf die Zahl der Auswanderer, die sich im
Jahre 1906 dort niedergelassen haben, auf 9000
schätzen. Endlich beginnt die Argentinische Be-
publik, bisher den russischen Auswanderern wenig
bekannt, dank unseren Kolonien, eine grosse Zahl
unserer Glaubensgenossen aufzunehmen. Im Jahre
1906 sind 13 500 von ihnen in dieses Land em-
gewandert.
Wir sind weit entfernt von der Zeit, da es
notwendig war, die Auswanderung anzuregen und
ins einzelne zu organisieren. Für die jetzige Aus-
wanderung ist die Freiwilligkeit charakteristisch.
Es ist immer ein schwerer Entschluss, sich von
dem Geburtsland zu trennen, das der Israelit liebt,
trotz der Leiden, die er dort erduldet, und eine
neue Existenz in einem Lande zu suchen, dessen
Sprache und Sitten man nicht kennt. Den Juden
kommt der Entschluss hart an, aber er fasst ihn
und führt ihn aus freiem Willen aus. Glücklicher
als die ihm vorangezogen sind, weiss er wenigstens,
wohin er geht; er kommt an einen Ort, wo er freund-
lich aufgenommen zu werden und Arbeitsgelegen-
heit zu finden erwarten darf. Meist sind es
Freunde und Verwandte, die ihn rufen. Wenn
man sich gegenwärtig hält, dass Verfolgung und
Drangsal seit 37 Jahren die Juden Osteuropas in
Massen westwärts, namentlich nach Amerika treiben,
so begreift man, dass die Wefie jetzt gebahnt
sind, das9 ein starker Strom vorhanden ist, dass
die Bewegung andauert und sich beschleunigt. Zu
mächtig und zu ausgedehnt ist diese Bewegung,
als dass unsere Gesellschaft oder irgend eine Ge-
sellschaft^ wie gross immer ihr Einfluss und ihre
Hilfsmittel sein mögen, hoffen dürfte, sie in Händen
zu halten, zu organisieren, zu leiten. Das kann
nur verkennen, wem es an Wirklichkeitssinn fehlt.
Damit ist nicht gesagt, dass unsere Inter-
vention aufhören müsste. Zunächst ist die An-
häufung der jüdischen Bevölkerung in den grossen
Landungshäfen, namentlich in Newyork, nicht ohne
Bedenken, wäre es auch nur wegen des über-
grossen Angebots bei dem Suchen nach Arbeit.
Wir bemühen uns, die Auswanderer auf die ver-
schiedenen Gebiete der Vereinigten Staaten zu ver-
teilen. Ein unter dem Namen Bemoval Office
in Newyork gebildetes Comit6, dem wir alle
erforderlichen Mittel liefern, hat bereits seit
mehreren Jahren diesen Versuch unternommen, der
ihm auch geglückt ist. Das Bemoval Ofi&ce hat
von Newyork nach den Binnenstädten über-
geftihrt:
im Jahre 1901 1830 Personen
„ „ 1902 3206
. . 1903 5525
n
1904 6023
n
n
n
1905 6005
1906 6922
Die Uebersiedlung derer, denen wir Unter-
stützung gewähren, bestimmt viele andere, ohne
jede Unterstützung den gleichen Weg einzuschlagen
und sich in einer beträchtlichen Anzahl von Städten
niederzulassen, in denen es bisher keine israelitischen
Einwohner gab. Zur Begünstigung dieser Aus-
breitung empfiehlt es sich, schon in Russland selbst
die nötigen Schritte zu tun, um die Auswanderer
allmählich dahin zu bringen, dass sie sich direkt
in das Innere der Vereinigten Staaten begeben.
Zu dem Ende braucht man ihnen in der Haupt-
sache blos von den neuen Gebieten Kenntnis zu
geben. Hierfür sind die Informationscomites,
deren Onranisierung in fast allen wichtigen Städten
des russischen Niederlassungsgebiets uns kürzlich
geglückt ist, vorzugsweise geeignet. Diese Co-
mit6s bestehen aus eifrigen, selbstlosen, der Sache
ergebenen Männern, handeln nach gemeinsamen
Verhaltungsmassregeln und unterstehen unserer
Kontrolle. Sie treiben niemanden zur Auswande-
rung an; sie unterrichten blos die Auswandernden
über den Weg, den sie einzuschlagen, über das
497
Präsident Narcisse Leven über die Tätigkeit der Jewish Colonisation Assodation im Jahre 1906.
498
Schiff, das sie zu wählen haben, tragen Fürsorge
für sie bis zur Abreise, als wären sie verwandt
oder befreundet, und schützen sie namentlich vor
Ausbeutung und Verlusten, bis sie an Bord ge-
laugt sind.
Unter Umständen haben wir uns auch ein-
greifender zu betätigen. Nach den furchtbaren
Pogroms von 1905 beispielsweise stauten sich die
vor Plünderung, Brand und Mord fliehenden Israe-
liten in den österreichischen und deutschen Grenz-
städten. Sie wollten fort, nur fort, und wussten
nicht wohin, und hatten nichts, womit sie gehen
sollten. Das waren nicht eigentlich arme Leute;
es waren Handwerker, die sonst von ihrer Arbeit
lebten, Eaufleute, die gestern noch in behaglichen
Verhältnissen, fast reich gewesen waren, nur
augenblicklich durch den Pogrom ruiniert, und
wohl imstande, ihre Existenz anderwärts neu auf-
zubauen. In herrlichem Wetteifer der Bruderliebe
hatten die Israeliten Europas und Amerikas be-
trächtliche Summen zur Unterstützung dieser Un-
glücklichen aufgebracht. Unser Wunsch war, dass
man diese Beträge für die vorbehalte, die daheim ge-
blieben waren oder die man nach Bussland zurück-
fuhren musste. Die Aufwendungen für die Aus-
wanderung haben wir mit anderen Wohltätigkeits-
und Wohlfahrtsinstituten auf uns genommen, und
die Auswanderer sind in die Länder ihrer Wahl
übergeführt worden.
In Eumänien verfuhren wir vor einigen
Monaten in gleicher Weise. Zahlreiche jüdische
Familien, die durch den Aufstand oder durch Ver-
waltungsmassnalimeu vom flachen Lande vertrieben
waren, mussten unterstützt werden. Für die, die
nicht auswandern konnten oder es nicht wollten,
wurde das Hilfswerk durch die europäischen und
amerikanischen Hilfsorganisationen geleistet. Die
Kosten der Auswanderung nahmen wir
vollständig auf uns. Die Ausführung des
Werkes vollzieht sich unter der Leitung der Is-
raelitischen Allianz in Wien.
Ich kann Ihnen, meine Herren, kein voll-
ständiges Bild von unserer Tätigkeit auf diesem
Gebiet geben. Dürfte ich länger dabei verweilen,
so würde ich Ihnen ein Wort sagen über alle die
Institutionen, die in den Vereinigten Staaten von
den amerikanischen jüdischen Gesellschaften zu-
gunsten der Einwanderer geschaffen worden sind,
und zu deren Unterhalt wir wesentlich beitragen.
Gern hätte ich Ihnen auch von der Tätigkeit der
Montreal-Gesellschaft gesprochen, die mit dem
Empfang und der Uuterbrin<,^ung der Einwanderer
in Kanada beauftragt ist. Ich beschränke mich
auf die Mitteilung, dass soeben ein neues Comit6
in Montreal gebildet worden ist, dessen Aufgabe
darin besteht, dem Bedarf der zunehmenden kana-
dischen Einwanderung zu begegnen. Zu den
Kosten tragen wir in erheblichem Masse bei.
Ich kann mir nicht versagen, Ihre Aufmerk-
samkeit einige Augenblicke festzuhalten bei dem
unbestreitbaren Erfolg unseres landwirt-
schaftlichen Ansiedlungswerkes, namentlich
unseres ältesten Werkes, das seine Existenz dem
Gründer unserer Gesellscaft verdankt: den Kolo-
nien in Argentinien.
Sie wissen, wie gross die anfänglichen
Schwierigkeiten gewesen sind. Die Schwierigkeiten
lagen zumeist in dem Unternehmen selbst, das
daiin bestand: ohne Anleitung irgend einer Er-
fahrung — denn ähnliches war vorher nie versucht
worden — alles von Grund aus neu zu schaffen,
mit Menschen, die im Lande fremd waren, nicht
seine Sprache noch seine Sitten kannten, in der
Re^el von Landwirtschaft nichts wussten, jüdische
landwirtschaftliche Ansiedlungen einzurichten, d. h.
nicht blos jüdische Landwirte anzusiedeln, sondern
Organisationen zu bilden, die Lebenskraft genug
besassen, um Wurzel zu fassen und sich zu ent-
wickeln. Diese Schwierigkeiten wuchsen noch, als
die ersten Ansiedler viel zu wünschen übrig Hessen,
imd aus Mangel an Erfahrung die Grenzlinien
zwischen reiner Wohltätigkeit und eigentlicher Ko-
lonisationsarbeit verwischt wurden. Dass es bei
Beginn tastende Versuche gab, dass Fehler be-
gangen wurden, dass das Unternehmen sich mit
einer gewissen Langsamkeit zu entwickeln schien
— wen hätte das überraschen dürfen? Selbst-
verständlich hat man uns keine Art von Kritik er-
spart. Wir wollten kein glänzendes, sondern ein
solides Werk schaffen, dessen Entwickelung nicht
künstlich in die Höhe ^ietrieben, sondern durch die
eigene Lebenskraft erreicht werden sollte. Das ist
uns gelungen. Nachdem die Kolonisten mit Ge-
treidebau begonnen und damit infolge von Wetter-
ungunst imd Heuschreckenplage Fehlschläge erlebt
hatten, sind sie allmählich dazu übergegangen,
ausser dem Feldbau noch einige etwas weniger
vom Wetter abhängige Erwerbszweige zu treiben:
Viehzucht, Geflügelzucht, Milchwirtschaft, Luzeme-
anbau. Dann haben sie ihre Erfahrungen zur Ver-
besserung der Feldwirtschaft angewendet, so dass
sie heute auf festen Füssen stehen und ihr Lebens-
unterhalt gesichert ist. Wie immer die Schwank-
ungen und Zufälle des Landbaues auch sein mögen.
499
Präsident Narcisse Leven über die Tätigkeit der Jewish Colonisation Association im Jahre 1906.
500
die Ansiedler gewinnen aus ihrer Arbeit nicht nur
ihre Subsistenzmittel, sondern auch die Möglichkeit,
ihre Schulden an unsere Gesellschaft abzuzahlen.
Die Kolonie Moisesville liefert gerade jetzt einen
bemerkenswerten Beweis : Die beiden letzten Jahre
sind für den Getreidebau sehr ungünstig gewesen
imd die vor einigen Monaten, zur Erntezeit, an
uns gelangten Meldungen lauteten ebenfalls sehr
beunruhigend. Aber dank der verschiedenen Zweige
ihres Betriebes haben die Ansiedler trotzdem das
zu ihrem Leben Nötige gewonnen und uns noch
eine Jahresabzahlung von ungefähr 110000 Fr.
leisten können.
Die wirtschaftliche Lage schwankt natürlich,
je nach den Kolonien und auch nach den ver-
schiedenen Ansiedlem selbst. Einigen von ihnen
geht es sehr gut (man nennt in Mauricio mehrere
Kolonisten, die in diesem Jahr von ihren Luzerne-
Feldern über 30 000 Fr. Einnahme hatten), andere
sind weniger günstig gestellt. Im allgemeinen aber
herrscht zui Zeit Wohlstand in unseren Kolonien.
Die Ansiedler leben gut und zahlen uns von Jahr
immer grössere Summen ab. Sie zahlten
im Jahr 1900 72 820 Fr.
„ „ 1901 221100 „
„ „ 1902 189160 „
„ „ 1903 175 780 „
„ ^ 1904 214:060 „
„ ^ 1905 464 640 „
„ „ 1906 614 900 „
Wir ziehen hier verschiedene andere Einnahmen
nicht inbetracht, z. B. von Terrains und Immo-
bilien, die von Jahr zu Jahr in gleichem Ver-
hältnis zunehmen. Man sieht für das Jahr 1907
noch weit höhere Abzahlungen voraus. Die An-
siedler schicken auch von Jahr zu Jahr immer be-
deutendere Geldmittel nach Russland zur Unter-
stützung dort lebender Verwandten (im Jahr 1906
waren es über 163 000 Fr.). Sie beschäftigen
eine immer grössere Zahl jüdischer Landarbeiter,
wie im Jahresbericht aus der Bevölkerungstabelle
der Kolonien zu ersehen ist, und viele Ansiedler
machen beträchtliche Ausgaben zur Verbesserung
ihrer Betriebe. Schliesslich gewinnt der Boden,
auf dem sie angesiedelt sind und dessen Eigen-
tümer sie mit der Zeit werden, in manchen
Gegenden bedeutend an Wert
Diesem materiellen Gedeihen entspricht die
Entwickelung des sozialen Lebens; es ist jetzt so
wohlgeordnet, dass es sich in voller Freiheit ent-
falten kann, und die Kolonien stehen fest genug,
«im sich selbst zu verwalten. Ihre Bevölkerung
besteht aus Leuten, die desselben Ursprungs sind,
dieselbe Sprache und dieselben Bedürfhisse haben,
es sind demnach alle Vorbedingungen zur Ver-
ständigung vorhanden. Wir haben homogene
Gruppen zusammengestellt, was unsere Angabe
sehr erschwert hatte. In den Vereinigten Staaten
hat man mit denselben Bevölkerungselementen das
entgegengesetzte System der einzelwohnenden Pächter
versucht, d. h. genauer gesagt: man hat einzelne
Pächter mit der umwohnenden Bevölkerung zu ver-
mischen gesucht. Man verzichtet aber allmählich auf
dieses System ; die Erfahrung hat gezeigt, dass man
besser daran tut, richtige Kolonien zu begründen.
Nachdem das Leben der Kolonisten gesichert
und die Besorgnis geschwunden ist, dass wir bei
etwaigem Missgeschick im Feldbetrieb für ihren
Unterhalt würden eintreten müssen, können wir
unserem Unternehmen eine weitere Ausdehnung
geben. Alles begünstigt seine Entwicklung: man
kann in Argentinien noch grosse Terrainstrecken
erwerben, und wir haben tüchtige Arbeiter dafür.
Das sind Leute, die ins Land gekommen sind, um
den Feldbau zu lernen, die in unseren Kolonien
eine Lehrlingszeit durchmachen und die wir nach
ein- und zweijähriger Probearbeit für geeignet
halten, als Ansiedler etabliert zu werden. Da wir
jetzt die richtige Methode zur Entwickelung
unserer Kolonien kennen, dürfen wir auch sagen,
dass wir über ihre Zukunft beruhigt sind.
Ihr Gedeihen wird durch die allgemeine Lage
des Landes erleichtert. Argentinien hat seit einigen
Jahren bemerkenswerten wirtschaftlichen Auf-
schwung genommen. Das Land bedeckt sich mit
einem Netz von Eisenbahnen; die Beziehungen
werden zahreicher und bedeutender; mit der land-
wirtschaftlichen Produktion verbundene Industrien
werden neu geschaffen oder entwickeln sich weiter
— was braucht es mehr für den Ackerbauer?
Die Kolonien in Palästina, für deren Lebens-
fähigkeit ihr Begründer so viele Mittel hat her-
geben müssen, stehen jetzt ebenfalls günstiger.
Das Land ist gut, die Erde fruchtbar, und die
Ansiedler haben genügend Land und entsprechende
Ausrüstung bekommen, um sich ohne weitere Unter-
stützung durchzubringen. Wir haben den grössten
Teil unserer Verwalter entlassen, die Kolonien
verw^alten sich selbst und die Kolonisten arbeiten
ernsthaft. Die Verwaltungsform des Landes und
der Modus der Steuererhebung allein halten den
Fortschritt der Kolonisation auf.
Ich habe die glückliche Entwickelung unseres
landwirtschaftlichen Werkes so stark betont, nicht
501
Präsident Narcisse Leven über die Tätigkeit der Jewish Colonisation Association im Jahre 1006.
502
nur, weil es nnser Hauptuntemehmeii ist, sondern
um dem weitverbreiteten Vorurteil entgegenzutreten,
dass die Juden unfähig zur Landarbeit sind. Sie
haben in Mheren Zeiten immer Landwirtschaft
getrieben und haben damit nur autgehört, weil
man sie daran gehindert hat. Aber das ist alte
Geschichte, die auch gebildete Leute nicht zu
kennen brauchen. Habe ich doch erst kürzlich
gehört, wie ein Diplomat den Juden Osteuropas
den Vorwurf machte, keine Ackerbauer zu sein,
und das in einem Lande, in dem sie nicht nur
kein Land erwerben, sondern nicht einmal auf dem
Lande wohnen dfirfen! Ich hätte diesen Diplo-
maten gern ersucht, einmal einen Besuch in Ar-
gentinien zu machen, wenn Argentinien nicht so
weit ab läge; dort könnte er sehen, Mit welcher
Freude und mit welchem Erfolg die Juden in
einem freien Lande zur Landarbeit zurttckkehren.
Ist es denn nötig, Europa zu verlassen, um zu be-
weisen, dass die Juden zu dieser Arbeit geeignet
sind? Sind sie nicht in Rumänien, soweit sie dort
auf dem flachen Lande wohnen dUrfen, Landarbeiter
und Milchwirte, obwohl sie selbst nicht Guts-
besitzer werden können? Gibt es nicht in
Russland vor langen Jahren begründete landwirt-
schaftliche Kolonien, wo auf dem von der Re-
gierung sehr eng begrenzten und ganz ungenügiBnden
Terrain das irgend mögliche erzielt wird, und be-
schäftigen sich nicht in Bessarabien, Podolien, in
den Gouvernements Cherson und Jekaterinoslaw
und in den nordwestlichen Gouvernements zahl-
reiche jüdische Familien ausschliesslich mit Land-
wirtschaft? In dem Gebiet, wo seit dem Mai 1882
die Juden nicht mehr auf dem flachen Lande
wohnen dürfen, haben sie vor den Toren der Städte
gedeihliche Gartenindustrien geschaffen. Aus
unserem Bericht können Sie ersehen, was wir seit
sieben Jahren zur Unterstützung der jüdischen
Ackerbauer und Gärtner getan haben.
Da es in Russland bei der allgemeinen, durch
Verfolgungen fortwährend vergrösserten Not nicht
genügt, den Landarbeitern beizustehen, haben wir
ausser dem Unternehmen der billigen, gesunden
Arbeiterwohnungen in Wilna und Bobruisk, der
550 Arbeiter beschäftigenden Weberei in Dubrowna,
den Kooperativgenossenschaften für Tischler und
Schumacher in Homel, Bobruisk und Wilna, noch
eine Reihe von Volkskreditinstituten ge-
schaffen. Diese gewähren den Handwerkern und
kleinen Kauf leuten Vorschüsse, die mit bewunderungs-
wertem Geschick ausgenutzt werden. Die Kassen
vermehren sich ungeheuer schnell. Im vorigen
Jahr waren es 35, in diesem Jahr sind .59 neu
begründet worden. Eine grosse Anzahl anderer
ist bereits, organisiert und wartet nur auf die be-
hördliche Genehmigung zum Beginn des Betriebs.
Die 35 im vorigen Jahr von uns unterstützten
Institute — um nur von diesen zu reden — um-
fassen 294:35 Mitglieder, meist Familienväter; man
darf also die Zahl der an der segensreichen Tätig-
keit dieser Darlehnskassen interessierten Personen
auf 150000 schätzen. Diese Tätigkeit wird auf
einem Gebiet ausgeübt, das beinahe eine halbe
Million jüdischer Einwohner zählt. Die Kassen
verfügten am Ende des Jahres über ein Betriebs-
kapital von insgesamt 1 577 815 Rubel. Sie sind
sehr gut verwaltet, die Höhe ihres Reservefonds
— 35 896 Rubel — beweist zur Genüge den Elr-
folg ihrer Unternehmungen. Sie erfreuen sich auch
des Vertrauens der Ortsbevölkerung, die ihnen in
immer grösserem Umfange ihre Ersparnisse über-
gibt. Die Darlehnsempfänger entledigen sich ihrer
Verpflichtungen mit bemerkenswerter Pünktlichkeit,
und dadurch wirken die Institute auf die moralische
Erziehung ihrer Klienten ebenso wie auf ihre wirt-
schaftliche Förderung. Sie haben im vorigen
Jahr, nach den Pogromen, unschätzbare Dienste
geleistet.
Unsere Darlehnskassen in Galizien ge-
deihen ebenfalls. Das Jahr 1906 hat ihnen 1890
neue Mitglieder gebracht, die Gesamtzahl ihrer
derzeitigen Mitglieder ist 8639; neue Darlehnskassen
werden für dieses Jahr geplant.
Meine Herren, ich habe versucht, die wesent-
lichen Punkte unserer Tätigkeit hervorzuheben. Ich
hätte Ihnen noch interessante Mitteilungen zu
machen über unsere Arbeit an den 27Elementar-
und 2 Handwerkerschulen in Rumänien, die
am Ende des vorigen Jahres 5275 Schüler zählten;
an den 51 Elementarschulen in Russland mit
7100 Schülern; den 40 Handwerkerschulen in
diesem Lande, die eine grosse Anzahl junger Leute
— im letzten Jahr 2540 — in verschiedenen Hand-
werken unterrichten; den 7 Landwirtschafts-
schulen in Kleinasien, Galizien und Russ-
land Wir beschäftigen uns ernstlich mit der Zu-
kunft der Jugend, die nicht nur gegen die gewöhn-
lichen Schwierigkeiten des Lebens zu kämpfen be-
rufen ist, sondern auch gegen den traurigen Druck,
den die Regierung auf die Juden ausübt; in Ru-
mänien, wo sie vor 50 Jahren die vollständige
Emanzipation der Juden versprochen hat, und in
Russland, wo sie seit 40 Jahren erhofft wird.
Werden die heutigen Kinder in ihrem Lande bleiben
503
Präsident Narcisse Leven über die Tätigkeit der Jewish Colonisation Association im Jahre 1Q06.
kSoaen, wenn die Begiemng sich nicht Ändert?
Wenn sie bleiben, moss man iboea eine besondere
-Widerstandskraft geben; wenn sie gehen, mnss man
ihren Mnt stählen, damit sie in den neuen Ländern
den Zufällen des Lebens trotzen können. Wir
werden unsere Aufgabe erfUlen.
Wenn wir die Qesamtheit unserer Einrichtongen
Überblicken, so dOrfen wir sagen, dass sie anf
gatem W^e sind. Wir verdanken die gewooneneo
E^ebnisse einer aniinerksamen Betrachtung unserer
Angabe, dem Wert unserer durch lange Er-
fahrungeo gesicherten Methoden, dem Eifer und
der Hingebung unserer grossen and kleinen Hfit-
arbeiter hier und dranssen; ihnen allen zollen wir
nnsern Dank.
REOrNA MUNDLAK
Dif Obathändlerin.
505 506
ERNST JOSEPHSON.
Von Hermann Struck, *) N«chdnick votnua.
„Seit einigeD Tagen liegt Ernst Joseptason im schloss, war er fast zwei Jahrzehnte hindarcb ein siecher
Sterben" — so sagt« mir eines Abends im November Mann gewesen, seiner Verstandeslcraft beraubt. Ans
1906 der schwedische Schriftsteller G-nstav at Geljerstam. einer hoch an gesehenen Familie stammend, war der bUnen-
TJnd mit tiefer Wehmut in den klugm, klaren Augen er- hafte, schöne, lebenaliutige, geistvolle, geniale EUostler
zahlte er mir der vergSt-
lange von sei- terte Führer
nem gelieb- der modernen
ten Freunde. Ricbtnng in
Wer ist Ernst der schwe-
Josepbson? dlschen Ma-
Ein Mann, lerei, bis er
auf den das in der Mitt«
Judentum seines dritten
stolz sein Lebencgabr-
kannnndden zehntes von
doch in der unheilbarer
allgemeinen Paralyse be-
Judenheit &llen wurde,
fast niemand Die letzten
kennt! Man- 20 Jahre war
eher wird er fast wie
wohl in den ein toter
Galerieen Mann; nur
vonGöteborg ab and 'za
oder Sfock- flackerte sein
holm Bilder Bewnstsein
von ihm ge- auf kurze
sehen haben, Zeit wieder
vielleicht so- ERNST JOSEPHSON Der Ziegenhirt. FUERSTENBERO'SCHE GALERIE, empor, und
gar, ohne zu er machte
wbsen, dass der Maler f lal merkwürdige Zeich-
war. — (ch möchte ii , die einen selUam kiank-
folgenden das Wenige, Charakter, doch etwas
selbst von Josephson unc ^den Künstlerisches auf-
Leben weiss, meinen^ S Das Geschlecht, aus dem
brtidem znr Kenntnis ge vorgegangen, war nicht
mit auch bei uns sein N: edeutung fDr Schwedens
guten Klang erbalte, mit Von .den Brtidem seines
in Skandinavien seit Jahi war der eine ein bekannter
genannt wird, • und der andere Direktor
Josephsohn ist 1851 j rvorragenden Theaters. —
als er am 22. Novemb n der Kindheit traten bei
seine Augen zum Todeascl Ernst Josephson die
— -■ künstlerischen Neigun-
*) Mit Benutzung des gen hervor, die er
Artikels von .Klas Fäh- zunächst durch Zeich-
reua" in der Zeitechrift nungen auf derSchiefer-
,Ord och Bild". Stock- ,a(e, nnd durch allerlei
ho m,JanuarI907,undder •■ u j -i
„^ ,.' ^ ' , poetische and musika-
PtndiB^bmat Josephson" I ,. ,. , , ,
von Georg Pauli, Stock- '■^'^"^ Ulstungen be-
holm 1902. Herrn Dr ^"^- ^^^ Beendi-
EmatRubt-n sei an dieser »«"K <'«'■ ^^^^ ^*"
Stelle mein herzlichster er ins Comptoir; doch
Dank fOr die Freundliche da wnrde es ihm bald
HiKe beim Cbersetzen zn lansTweilig, die Seiten
auagesprochen. P. HASSELBE RO Ernst Josephson. BUEST!; .(18S3)- ■'■■i Hanpthuches if'-
507
Hermann Struck: Ernst Josephso
508
langen Reihen vod Ziffero zu bedeckep. Kaum dass
er tu seinen Beruf eingetreten war, eo brach er auch
schon mit ihm. Das jüdische Temperament drängte ihn,
die leuchtenden, glühenden, kraftvollen Farben, die sein
Auge ■ erblicku, zu Bildern zu pestalten, und bald
offenbarten sieb die beiden Ge^nsStze von Nord lud
Süd in diesem skandinavischem Boden entstammenden
Sohne des Morgenlandes, indem er zu den Hauptfarben
seines kUnstleriwhen Banners das warme Kot des
Südens und das nordische Blau erkor. Er absolvierte
die Kunstakademie und bekam einen Preis. (In
Paranthese bemerke ich, dass er zu den wenigen
Männern gehörte, die auf der Akademie einen Preis
bekamen und doch tüchtige KUnstler wurden.) — Mit
einem Stipendium nahm er 1876, 25 Jahre alt, seinen
Weg ins Ausland und wandte sich zuerst nach Paris,
dem Ooldlande der Maler. Von dort aus unternahm er
langdauemde AusflUge. 1876/77 ist er in Holland;
dann von 1877 — 79 in Italien; dazwischen wieder in
Paris, und .1882 endlich ist er in Spanien. Ueberall
kopiert er mit unvergleichlicher Eingabe und grösstem
Pleiss die alten Meister; und es muss konstatiert werden,
dass hierbei eine gewisse, der jOdiseheo Baase eigen*
tümliche Eindrucksfähigkeit einige Jahre hindurch auf
Der spanische Tanz.
die ÜrsprUnglicbkeit seiner Entwicklung etwas störend
einwirkte. In Amsterdam kopierte er Rembrandts „St-il-
meesters", allerdings mit einem gewissen Mangel an Fein-
gefühl inBezug auf den Tonwert. In Florenz beschäftigt ihn
Raffaels Portrait von „Inghirami"; nächstdem beeinflossten
ihn am meisten Yelasquez and Franz Hals. Seine
innigst« Liebe aber galt neben Rembrandt den wannen
Farben des Rubens. Nach vielem ümherstreiten liess
er sich 1880 wieder in der Hauptstadt Frankreichs
nieder, wo alsbald eine Folge von meisterhaften Bildnissen
entstand, die bekannte Persönlichkeiten aus dem intellek-
tuellen Schweden darstellten: Oeaterlind, Sk&nberg, Ren-
holm und andere. Diese Portraits waren die ersten Schritte
auf dem Gebiet eines nur ihm eigentümlichen Realismus.
Sie zeigen unseren Blicken weniger Erzeugnisse eines
korrekt und akademisch ausstudierten' Talentes, als
vielmehr eine vielseitige, impulsive, Dppig bl Oben de
Kraft, die durch naive Kühnheit imponiert. Kommt
man etwa auf den Gedanken, diese Bildnisse mit denen
anderer hervorragender zeitgenossischer Künstler zu
vergleichen, Bastien-Lepage'a oder Ijenbachs, so findet
man eine Reihe von Fehlern, die die eben gerühmten
Vorzöge stören; jedoch die grosse Schönheit seines
Talentes und die packende Ursprünitlichkeit seiner Auf-
fassung bezwingen uns stets. — Kuhn
und eigenartig ist die provozierende
Haltung aaf dem Bilde Skänbergs
überwältigend der Geist anf dem
Gesichte dieser merkwtlrdigen Figur
während Oesterlind noch etwas ,.alt-
meisterlich" und befangen in der
Stellung wirkt. Ein schwieriges
Problem ist im Bildnis Renholms ge-
löst, das entschieden genrehaft aufge-
fasst ist und doch gross und monu-
mental erscheint. Später entstanden
wundervolle Bildnisse schwedischer
Jüdinnen. Er malte Fran Fürstenberg,
die Gattin des bekannten Göteborger
Mäcenas, des Begründers der be-
rühmten Kunstsammlung, die jetzt, als
sein Vermächtnis, in den Besitz des
schwedischen Staates übergegangen
ist. Mit wahrem Entzücken erwidern
wir den liebenswürdigen Blick der von
Kunstschätzen umgebenen aristokra-
tischen Dame. In „Frau H. Marcus"
tritt uns schon mit fast vollkommener
Unbefangenheit und beinahe ohne
jede Pose dargestellt eine gutbürger-
liche, ehrbare Hausfrau entgegen. Das
grösste Juwel aber in dieser Kette
von Kunstwerken ist das Bildnis der
„Frau .7. Rubensohn", das mit höchster
Meisterschaft gemalt, durch die ab-
solute Unmittelbarkeit direkt wie
ein Ausschnitt aus dem Leben wirkt.
:M OOETEBORO. Dieses herriiclie Portrait würde sich
509 Hermann Struck; Ernsl Joseph so n. 510
neben den besteo BildDissen alter
Meister mit Ehren behaapt«D!
^lit vollkommener Freiheit nod
ohne jede Spar von Sentimentalität
ist das Hingebende and Laaschende
im Bildnis der nFran Nennie von
Geijerstam" zum Ausdruck gelangt,
jener Fran, deren Seelenleben ans
durch das wunderbare, ergreifende
„Bach vom Brüderchen" bekannt
geworden ist Fflr das Kunst-
verständnis der damaligen Juroren
des Pariser „Salons" ist es ein Ubies
Zeugnis, dass diese Portraits, die
jetzt zum grossen Teil die höchsten
Zierden der schwedischen Museen
siod, zurückgewiesen wurden! Ja,
so ist es wiriclich geschehen im
Jahre 1886.
Nun fuhrt ihn sein Weg ins
Gebiet des Genrebildes, das er in
grossenZUgeu und mit konzentrierter
Kraft darstellt. Ich nenne das Bild
„Borfklatsch", das vier alte BSue-
rlnnen zeigt and noch etwas an-
beholten komponiert ist. Ein ge-
waltiger Schritt vorwärts ist der
„Spanische Tanz". — Spanische
Zigarettenmacherinnen haben ihre
Arbeit unterbrochen; eine von ihnen
ist auf den Tisch gesprungen und
tanzt in entzückend graziöser Be-
wegung beim Klange von Tambourin
nnd Gaitarre. Den Einfluss von ERNST JOSEPHSON. FRAU HILMA MARCUS.
Velasquez zeigt deutlich der ,, Spa-
nische Zwerg". Desselben Meisten Anregung verdankt und auch der Schmerz' zusammengenommen und ein
das kraftvolle Bild „Spanische Schmiede" seine Entste- hohes Lied der Gewalt des brausenden Stromes ge-
hung, auf dem uns, von einer alten Frau sekundiert, sungen, das nicht UbertrofFen werden kann. Die
zwei groteske, halbnackte Gesellen angrinsen. Er war, Wirkung ist so überwältigend, so ergreifend, dass
wie ein schwedischer Schriftsteller von ibia sagt, „ein kleine Schwächen in den Proportionen nnd in der
Kolorist von Lichtes Gnaden; jedes Quadrat der Fläche Plastik dem Beschauer kaum zum Bevvusstsein kommen.
war pastos und glanzerfüllt". In diesen Bildem zeigt er Als 1885 die erste Ausstellung von Josephsons
in Bezng aut die Tonwerte noch den KinHusa dänischer Werken in Stockholm stattfand, entpann sich ein grosser
Maler, während wir ihn in dem Gemälde „Der Ziegenhirt" Streit; das in seinen Gewohnheiten aufgestörte Publikum
in den Wegen Courbets wandeln sehen. Doch niemals schmähte und verhöhnte den grossen Künstler, während
unterlag er irgend welchen akademischen Geseizen, und er gleichzeitig das unbestrittene Haupt der jungen
er war sogar in jener Zeil des beginnenden Naturalismus Malerschule wurde. 'Unter den jungen schwedischen
ein ausgesprochener Romantiker. „Der Neck", 1883 Malern in Paris wirkten seine Bilder wie „eine Lunte
gemalt, schildert mit altilalienischer Mystik musikalische im Pulvermagazin". Er wurde von den jungen Malern
Empfindungen. Wilder und erhabener behandelt er vergöttert. Vielseitig veranlagt, betätigte er sich gleich-
dieses Thema in seinem grossartigen Bilde „Ström- zeitig als Musiker, Sänger und Schauspieler; er schrieb
karlen" 1885. Dieses, sein grbsstes Meisterwerk, be- auch für eine Zeitschrift, und seiner Feder entstammen
findet sich im Besitz des Prinzen Eugen von Schweden, die Dichtungen: „Schwante Rosen" und ,, Gelbe Rosen".
Rauschende, musikalische Klänge vereinigen sich mit Zu alledem war der schöne Skandinavier ein unwider-
dem Tosen des Wasserfalles in diesem Bilde, das uns stehlicher Gesellschafter. In seinem Wesen ver-
die schöne, nackte Gottheit des Stromes in vollem, einigten sich die verschiedmsten Gegensätze! Er
strahlendem Sonnenlichte zeigt. In diesem erhabenen war gutmütig und jähzornig, stolz und schüchtern,
Meisterwerke ist alle Kraft des Künstlers „die Lust herausfordernd und weich, meist voll Arbeitsfrendigkeit,
511 Hermann Struck: Ernst Josephson. 512
hatte er zuerst nnter den jangen Künstlern
in Paris Anbang gefunden; seine nSpanlsche
Schmiede" wurde aber von der Jnry refltsiert.
— Mit seinem Meisterwerk „Strömkarlen"
erlitt er eine Niederlage. Anch die vQlIig
nnverstSndlidke ZurUckweisnng des Bildnisses
der Fran von Geijerstam erregte »eine
explosive Nator anfs höchste, so, Aass darch
alle diese Käinpfe seine ringende Kraft
gebrochen wnrde und sein seelisches Oleich-
gewicht zu wanken begann. Dazu kamen
schliesslich, da fast niemand im Pnblikam
fQr seine Bilder VerstHndnis hatte, quälende
Nabrangssorgen, die seine Konstitution unter-
graben.
Er ging nao nach der Bretagne, wo
er einen Band von jungen Ktlnstlem stiftete,
aus dem er aber 1887 infolge von Zerwürf-
nissen mit den alten Kameraden wieder
austrat
Schwärmerische Neigungen, wachsende
Melancholie, spiritistische und kabbalistische
Einflüsse brachen schliesslich die Kraft dieses
ung^lUcklicben Helden. Im August 1888,
als er 37 Jahre alt war, kam die Kunde
von seiner Getstesumnebelung nach Schweden,
— und da, als es schon zu spSt war, gingen
den Leutchen die Augen auf. —
1898 veranstalteten seine Freunde in
Stockholm eine Ausstellung, die den gut«n
Schweden den grossen Reichtum dieser einzig-
artigen , kQnstlerischen PersSnlicbkeit vor
Augen führte, und die später auch in
doch oft auch melancholischen Sinnes. — „Ein glut- Norwegen, wohin sie wanderte, grosses Aufsehen er-
valler Romantiker im bürgerlichen Gewände"; in regte. Seit der allgemeinen Aosstelluug 1903 in
naturalistischer Hillle war er ein Künstler mit klas- Kopenhagen ist er auch in Dänemark als einer der
sischem 0«scbraack. Durch das Bildnis Renholms Grundpfeiler der nordischen Kunst anerkannt.
6in bibliscbeB T^rinklicd.')
Sprfid)e Solomoe, Cap. 23.
mtm fflt «o web zu Sinnend So gifisst er und so sprfdit er,
VXtr will nur Ötrcit beginnen? Dann *ber beisst er und sticht er,
Vier mag sieh Gdunden gewinnen Cdie Schlange und Dradtenblut,
Hus HnUss, den er nicht kennt? €mpSrt und staidiclt dein Blut.
Sles Hug (et gerSttt und brennt}
6« ecbwanben Spuhgcetalten —
So gebts uncrsittticben Zechern, Sie hSnncn sich nicht halten —
Die unntnfldUd) beim Bechern, 'Vor deinen Hugen her;
Die CQein hinuntcrstOrzen, Die Zunge stammelt schwer.
Ihn stark und stStrher wQrzen. Sic redet, was dein Rcrz nicht weiss,
Sie gibt geheime Dinge preis.
Sieh du nicht hin zum Weine, Qnd was sie sdiwatzt, es ist verkehrt.
Zu seinem rStlichen Schetncl
er Sugelt dich an aus dem Bed»er, plStilich bat alUs aufgehört,
er winkt! „Komm her, mein Zedier! Dir ist, als lagst du im tiefen fittr,
Wein wird« du so bald nidit satt, Du nidist von dea Mastbaums Spitze her.
Durch die KcbU gUitc ich gUtt." jj^d endlidt epHrfist dm „Man schlug mir Olunden,
■ Doch babc ith keinen Schmerz empfunden;
Man hat mich oeatossen — ich tat nichts spllren;
ttlann erwacht idt? — muss doch noch mal probiercnl"
MEINE TANTE CHANE.
Von Anna Schapire.
tdichdiuck vecbaten
Wenn meine alte Tante Chane abends ihre Brille
aufsetzte and nach der Zeitung griff, überschlug sie
jedesmal mit einer nachlässigen Qebärde Leitartikel,
FeoilletoD und Depeschen. Ihr Interesse begann erat
dort, wo das anderer Leate gemeinhin aufhört: beim
Annoncenteil. Und auch bei den Annoncen fesselten
sie nicht die Rubriken, in die andere Leute einen Blick
werfen: Känfe und Verkäufe, Stellengesuche, Wohnun-
gen, Heiratsgesacbe und wie alle die schönen Eintei-
lungen heissen, mit denen eine moderne Zejtnng ihren
Lesern anfeartet. Meine Tante Chane machte keine
0«Iegenbeit3kftnfe, denn die Kreuzer klimperten nicht
reichlich in dem alten sch9bigen Oeldbeutelcben; Arbeit
suchte sie auch nicht, denn in dem muffigen Mehl-
geschäft gab es mehr zu tun, als den alten Gliedern
heilsam dttnkte; und Wohnnng — nein, die beiden
kleinen Dachzimmer, die die Verwandten Ihr grossmutig
eingeräumt hatten, waren gerad das ScbOnste, was
meine Tante Chane hatte. Diese Wobnnng bot eine
ganze Reibe von Vorteilen, die andere vielleicht nicht
gleich ttbetiaben, die meine Tante Chane aber aehi zu
abätzen wnsste. Dass sie keine Miete zu
zahlen braucht«, war einer der geringsten
— meine Tante Chane war eine sehr noble
Natur, obgleich sie nie Geld genug besaas,
nm steh ein gutes Kleid zu leisten. Bei
ausserordentlichen Gelegenheiten mnssten die
Verwandten anch fOr die Glarderobe sorgen.
Aber durch die freie Wohnung war ihre
Zugehörigkeit zur Familie ein fUr alle
Mal festgelegt and anerkannt. Mochten
immerhin tagsUber Käufer die alte Frau
hinter dem morschen Ladentisch ein bischen
über die Achsel anschauen und freche
Weiber um einen Kreuzer so unentweirt
feilschen, bis Tante Chane müde wurde
und wirklich nachgab; wenn sie abends
das rostige Vorlegeschloss an der blech-
beschlagenen LadentUr zuklappte, war das
alles abgetan. Dann wurde sie wieder das
würdige, wenn auch verarmte Mitglied einer
wfirdigen Familie und sass an einem soliden
runden Tisch mit einer schönen grossen
Lampe drauf, an der kein Petroleum ge-
spart wurde. Ihre Hände waren röter als
die der übrigen Hausgenossen. Das kam
daher, dass sie Sommer und Winter hinter
dem Ladentisch hockte und die blauen Puls-
wärmer, die sie bei kaltem Wetter trug,
die alten Finger nicht genug wärmten.
Ihre Kleider waren etwas staubiger und
schmutziger als die der anderen; auch das
hing mit dem Laden zusammen, und an
beide Tatsachen hatten sich alle längst ERNST JOSEPHSON.
gewöhnt. Vielleicht schimmerte auch hier etwas herab-
lassendes Mitleid durch. Mein Gott, so ein altes ver-
hutzeltes Weiblein, das eigentlich Gnadenbrot igst — ,
der Vetter war froh, wenn das Mehlgeschäft kein
Defizit ergab, das er auch noch decken musste. Aber
meiner Tante Chane war Mitleid nicht schrecklich, und
sie trug es ganz ruhig, ja sie fand es sogar richtig,
dass ihr beim Nachtmahl zuletzt aufgelegt wurde und
die Zeitung erst durch alle anderen Hände ging, ehe
sie zu ihr kam. Ordnung muss sein, und es ist ein
Unterschied zwischen einem reichen Gescbäftsmann und
einer kleinen Ladenfrau, wenn sie auch zur Familie
gehört. Wenn aber alle anderen ihre Lektttre beendet
hatten und die Zeitung an meine Tante Chane gelangte,
dann feierte sie die gemütlichste Stunde des ganzen
Tages. Sie drehte mit einem Handgriff die Blätter um
und fing rückwärts auf der letzten Seite an. Dann
suchte sie aufmerksam alle Todesanzeigen heraus und
unterwarf sie einer sachgemäSMen Kritik. Sie fand es
nicht hübsch, wenn die Anzeige nur einen bescheidenen
Raum einnahm, es war ihr auch nicht recht, wenn sie
DIE MUTTER DES KUENSTLERS.
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a Schapire: Mdne Tante Chane.
516
nicht sehr viel Namen von tranernden HiolerbtiebeDen
enthielt. Am unan^nehmsten aber berührte sie es, wenn
der Tote in einem recht hohen Alter verschieden war.
Dann haderte meine Taute Ctiane fürmlich mit dem
lieben Gott, vor dem sie sonst «inen gewaltigen Respekt
halt«, nnd warf ihm ziemlich nuverblUmt vor, warnm
er so einem alten Menschen, der sich sicherlich schon
stark ans Leben gewöhnt hatte, nicht noch ein paar
Jahre Zeit liess. Der Tod von jnngen Leuten berührte
sie weniger. Gott weiss, was denen noch für ein
Schicksal geblüt hätte, manch einem ist das Leben so
bitter, dass der Tod zur Wohltat wird, aber ein alter
Mensch, der schon alles hinter sich hat, Leid nnd Frend«
dem sind seine letzten Jahre immer lieb, und man
sollte sie ihm nicht kürzen. Das war meiner Tante
Chanes Leben sphilosopbie, nnd sie richtet« sich weirigstens
selber streng nach ihr, was sich nicht von allen Ver-
fechtern von Lebensphilosopbien sagen lässt. Als das
Sterben an sie kam, da kämpften die alten Knochen
einen zähen Kampf, und der Tod hatte Mühe, bis er
sie bezwang. Wochenlang lag sie in ihrem Dach-
stübchen und. rang mir. ihm schwer und bitter, bis sie
doch allmählich den Kürzeren zog. Da wurde sie still
ERNST JOSEPHSON.
nnd verdrtesslich nnd es gelang ihren Hansgenosaen
nur selten, sie aofznrfitteln. Ein Mittet freilich hatten
sie, nnd es bewährte sich bis zu allerletzt. Wenn die
Kranke apathisch wurde, dann branchte sich nnr ihre
t,ieblings-Grossnichte — denn die Tant« Chane war
gar keine wirkliche Tante, man nannte sie nnr ans
Höflichkeit so — mit ihrem Strickzeug an ihr Bett zu
setzend Das Mädchen hielt die Nadeln ungeschickt
zwischen den dieken Fingern, nnd darüber amüsierte
sich Tante Chane und lachte so, dass ihr grosse Tranen
ftber die runzligen Wangen kollerten nnd der Tod
erstaunt in seiner Arbeit einhielt. Aber es half ihr
alles nichts; eines Tages lag sie tot in ihrer alten
Bettstelle.
Ach, Tante Chane, wenn ich an deine letzten
friedlichen Jahre denke, dann dünkt es mich wie ein
wirres Mär lein, was sie mir alles von dir erzählt
haben, nnd wenn ich mir dein runzliges verfallenes
Gesicht vorstelle, dann scheint es mir unmöglich, dass
es einmal schön war, sehr schön sogar, sagen die Leute.
Was sagst dn? ich soll nicht weiter reden? Die
Schönheit, gerade die war dein Unglück und brachte
dir soviel Leid, !,dass du damals gar den Tod riefst,
mit dem dn später einen so harten Stranss
fochtest, und Schande brachte sie d'r, sagst
du, soviel Schande, dass du anfangs nicht
wnsstest, wie sie tragen I Ach, Tante Chane,
es war wohl nicht die Schönheit allein,
anch ein Tropfen südlichen Bluts wird mit
Schuld gewesen sein. Das südliche Blut,
- das ihr von Urväterzeit mitgebracht habt
in galizische Sümpfe nnd Sandflächen.
Die Männer konnten es nicht verwahren,
die hatten genug mit Talmud und Thora
zu tun, über dem vielen Lernen, was die
Täter gesagt und was sie gewollt, ver-
loren sie 's; aber ihr Weiber, bei euch
hielt es sich besser. Ihr tammelt euch
mehr unter Gottes blauem Himm«l und
mehr anch in seinem Kot, den er dort-
znlande nicht eben spärlich geschenkt hat.
Die einen das Blut, die anderen die Lehre,
es klappt nicht immer, wenn das zu-
sammenstösst. Was sagst du? aufhören
soll i>:h, du hättest es schwer genug
gehabt, bis die Leute still wurden mit
den alten Geschichten, Ach, Tant« Cliane,
die Leute, denen ich heute erzähle, die
wissen ja nichts von dir. Tritt nur still
bei Seite und leg dich ruhig in dein Grab
zurück, kein Mensch soll dich stören,
■ ich erzähle die Geschichte eines jungen
' Mädchens.
In einem galizischen Marktflecken war
es, ein paar mühselige Wegstunden liinter
einer grösseren Handelsstadt. In der
„TANTE". Handelsstadt gab es gemauerte Häuser
517 Anna Schapire: Meine Tante Chane. 518
nnd gepflasterte Strassen. Sie hatte viel
Verkehr, nnd ihi-e Bewohnet- waren sehr auf-
geklärt . Es lag wohl man r lies durch-
einander in diesen Köpfen an alter Talniiid-
weisheit nnd deutschen liberalen Zeitungs-
phrasen, denn brave fort sei irittliclie Männer
waren sie, und die Kevolutinn von 48 fand
viel Begeisterung bei ihnen. Sie taten bhjs
nicht mit, das schickte sich bei ihnen doch
nicht. Klug waren sie auch und verstanden
ihren Vorteil, Erst trieben sie tjffen Handel
mit RnEsland, und als man der Stadt ihre
Privilegien nahm und die f'reistadt aufhrib,
organisierten sie den Schmuggel vortrefflich.
Es ging zwar nicht melir so gut wie ehe-
dem, aber dafür konnten sie nichts. Helle
Köpfe waren es, in ganz Galizien nnd noch
drüber hinaus in Litthauen rühmte man
iliren Verstand. Und auch ktthne HSnner
gab es unter ihnen, es war gar nicht
so leicht für die Ersten, die Stirnincken
abzuschneiden und die langen Röcke zu
kürzen. Später, da wurde es Mode, da
schlichen selbst die halbwüchsigen Burschen
am Samstag hinter die Stadt und rauchten
eine Zigarette nach der anderen. Aber
anfangs gehörte Mut zu allen diesen
Dingen. Nun, sie hatten ihn eben und
führten es aus. — In dem Marktflecken war
alles anders. Von Strassen war Überhaupt
nicht viel zu sehen. Die hOliemen Häuschen ERNST JOSEPHSON. FRAU NENNIE OF GEIJERSTAM.
der Bewohner standen rings um den grossen,
unregel massigen Marktplatz, jedes mit einem
kleinen Vorbau versehen, der sich wie das feiste Ding sind und überdies ein unbeiiuemes KleidungsstBck,
Bäuchlein eine» sonst zerlumpten Bettelmanns vor- kletterten die Bewohner lieber von Vorbau zu Vorbau,
drängte: eine lehmgestampfte Diele war es meist, wenn sie sich besuchen wollten. War der Abstand
die von breiten hohen Holzbalken eingefasst war, nnd zwischen zwei Häuschen etwas grösser, so trat man
drüber ein Schindeldach, das sich auf zwei hölzerne gelegentlich auf einen Stein, der schon fürsorglich im
Säulen stutzte. Die Säulen hatten sonderbare Ans- ' Sommer hingelegt wurde, sonst schwang man sich
bucbtungen und Beulen und waren rosa oder hellblau rnhig von Diele zu Diele und hielt sich an den Sänien
angestrichen. Aber die Farbe hielt nicht, and si> fest. Man machte so oft gemächlich die Runde um
schimmerte denn überall das wurmstichige' Holz durch die halbe Stadt, wenn man seinem Nachbar, der einem
und bildete zusammen mit dem abgebröckelten Kalk- gerad vor der Nase wuhute, guten Tag sagen wollte,
bewarf der \\'ände einen trübseligen Anblick. Die Vor- Es war etwas umständlich und zeitraubend, aber die
bauten wurden zu allerlei häuslichen Arbeiten, gescliäft- Bewohner des Marktfleckens hatten ohnedies nicht viel
liehen Verrichtungen und geselligen Zusammenkünften zu tun. Ihre Geschäfte machten sie an den Markttagen
benutzt. Die "Weiber sassen tratschend auf den Balken, ab, wenn die Bauern aus den kleinen Dörfern kamen,
das Strickzeug in den Händen oder ein Kind auf dem Die Bauern waren mis-strauisch nnd die Juden vor-
Schooss, die ^länner hielten Ausschau, ob nicht ein sichtig, es gab viel Geschrei und viel Ueberredungs-
Bäuerlein des ^\'egs käme, dem man ein paar Eier ab- kunst, aber schliessticb kam man v.n liande. An den
kaufen oder ein Gläsclien Brannt^sein anbieten kiinnte, übrigen Tagen der Woche dösten die Leute ruhig vor
die Kinder spielten hier und balgten sich. Ihre wichtigste sich hin, die Burschen und Männer sassen viel im Bet-
Aufgabe aber hatten die Vorbauten im Frühling und haus, und studierten auch zu Hause ihre hebräischen
Herbst. Dann verwandelte sich der Marktplatz in ein Folianten, deutsche Lettern kannte kaum einer von
wogendes übelriechendes Kotmeer, in das sich ein Fnss- ihnen, Die Weiber machten sich mit der Wirtschaft
ganger höchstens mit Röhren stiefeln ausgerüstet hinein- und den Kindern zu schaffen, am schlimmsten aber
wagen konnte. Und da Röbi-en Stiefel ein kostspieliges waren die Mädchen daran. Für sie gab es keine andere
519
Anna Schapire: Meine Tante Chane.
BeschSftigniig als Stricken und HSkeln. Es gab
Yirtaosinnen anter ihnen, die ihre Eanat mit wahrer
Hingabe pflegten; ihre gehäkelten Rosen standen den
wirklichen in nichts nach, nnd wenn man bedenkt,
dass sie haltbarer waren, mnsste man ihnen sogar den
Vorzng geben. Aber wenn eine keinen Gefallen daran
fand — nnd die junge Chane, die mit Eltern and
Brüdern in einem der ^räamigsten Hänser des Fleckens
wohnte, fand leider gar keinen Gefallen an den herr-
lichen Mustern der G-espiel innen. Sie langweilte sich,
sie langweilte sich eigentlich den ganzen Tag. Die
Mutter trieb einen kleinen Eierhandel, der Vater war
ein frommer Mann, der sich nicht gern mit weltlichen
Dingen abgab, sondern lieber die Geschäfte der Frau
Uberliess nnd daf[ir tagaus tagein aus der Thora lernte.
Die Brüder lernten auch. Für Chane gab es gar
nichts zu tun, denn fürs Geschäft war sie noch zu
jung und zu dumm, und es schickt sich überdies nicht
für ein Mädchen, ^um Lernen hielt sie auch niemand
an; man hatte sie lesen gelehrt, damit sie als ver-
heitatete Frau einmal ihr Morgengebet herunterhaspeln
konnte, mehr war nicht von Nöten.
Sie bockte im Winter in der Stabe and im Sommer
im Vorbau, es war immer dasselbe. Die schwerfflUgen
Glieder waren za dämm zur häuslichen Arbeit and der
junge Copf war womdglich noch dümmer. Viel Ge-
danken steckten nicht drin. Wie es wohl in der Stadt
aussehen mag, wo die Matter Verwandte hatte, nnd wie
es wohl ist, wenn man heiratet. Mitunter verschmolzen
die beiden Gedanken reihen, und die junge Chane fragte
sich, wie es ist, wenn man eine verheiratete Frau in
der Stadt ist. Dann wurde ihr ganz heiss, and das
junge Blut, das sonst langsam durch den trägen K5rper
schlich, kreiste plötzlich rascher nnd trieb gante
Wellen zu dem tfirichten Kopf empor. Ja, die Stadt,
stnndenlang konnte Chane sich ausmalen wie das ist,
wenn man in der Stadt lebt, wo es richtige Strassen
gab und richtige Kaufläden, in denen man alle Herr-
lichkeiten - der ^\''elt kaufen konnte. Zißi'e Mendel, die
in ihrer Wohnstube ein Warenlager eingerichtet hatte,
brachte jeden Frühling von ihrer Geschäftsreise drei
Stücke Kattun mit; das reichte gerad' für ' die ganze
weibliche Bevölkerung und sogar noch zu Hemden für
die Mänoer. Chane könnt« sich den ganzen Winter
ein grünes Kleid mit roten Panktcn aosdenkea;
brachte ZiSi-e blau mit, so musste sie blau tragen.
In der Stadt, oh, da geht man einfach in einen
Laden nach dem anderen, und in jedem legen sie
einem hundert Stoffe vor, und dann wählt man. Nun
ja, das ist einfach und wenn man sich eine ganz
merkwürdige Farbe ausgedacht hat, bekommt man
sie auch; warum denn nichtl
Die Matter fuhr auch manchmal zur Stadt, aber
sie nahm Chane nie mit nnd sie brachte uichts
anderes heim als Tee und Talgkerzen zum Licht-
benschen.*) FUr diese Dinge hatte sie dort eine
billigere Quelle entdeckt als Ziftre Hendel. Ziffre
Mendel nahm das übel und gestattete sich hier
und da sarkastische Bemerkungen über die Brenn-
dauer dieser Schabbeskerzen, aber ihre Worte blieben
erfolglos, ebenso wie die Grimassen, mit denen sie
den Tee binunterschlürfte, den die Mutter ihr vor-
setzte. Chane dagegen hatte keinerlei Interesse fOr
Tee und Schabbeslichter; sie nahm daher auch die
Pakete, wenn die Matter sie ihr vorsichtig vom
Wageu herunterreichte , stets mit grosser Gleich-
giltigkeit in Empfang. Eines Tages aber brachte
die Mutter mehr als Pakete mit. Neben ihr auf
dem Strohsack, der als Sitz diente, sass ein
lebendiges Wesen, das sich als ein schmScktiger
junger Mann mit eingefallenen Backen und einer
grünlich schimmernden, etwas zerrissenen Pekesche
entpuppte, als er ungeschickt hinter der Matter vom
Wagen hin unter klettert«.
Chane, die gerade auf dem Vorbau herum-
lungerte, betrachtete ihn neugierig. Die Mutter
ERNST JOSEl'HSON. ML^SEUM GOET^HORO. *) Das Gebet der verheirateten Frauen am Freitag
Fra Göthilda Fürstenberg. .\bend.
521 Anna Schapirc: Meine Tante Chane. 522
aber ging an ihr vorKber and fUbrte itn
direkt znm Vat«r, der in der Stnbe sass
und lernt«. Chane sclilich hinterdrein und
macht« sich drinnen zn schaffen, so dass
sie alles h9rte, was sie verhandelten. Die
Mutter hatte den Bocber^) bei Verwandten
g«fanden. Er war ein feiner Kopf und
ein armer Teufel obendrein. Angehörige
hatte er nicht. Er schlief im Betitaus
nnd as9 nur zu Mittag, wenn mitleidige
Leute ihn zu Tische riefen. Dabei wussl«
er ungeheuer viel, den ganzen Talmud
hatte er gelesen und wichtige Abschnitte
kannte er auswendig. Da hatte die Mutter
gedacht, dass er wohl ein Jahr bei ihnen
bleiben känne, um mit den Jungen zu
lernen. Das bischen Essen kostete nicht
viel und für Kleider wollte sie auch
sorgen, alte Sachen waren genug vom
Vater da.
Der Bocher blieb.
Anfangs war er schllcbtem und schweig-
sam, aber das änderte sich allmählich, und
die Mutter brauchte ihn beim Essen nicht
mehr zu nötigen. Er entwickelte sogar
einen Appetit, der ihr zu denken gab,
während ihre sachlichen Bemerkungen Über
die schädlichen Folgen eines tlberladnen
Magens wenig Eindruck machten. Die
Mutter wurde immer kühler gegen ihn,
aber Chane gefiel er immer besser. Er
wuBst« von der Stadt zu ersBbten, er
„halt .1. mch. 1„„„ wie die ..dU., ERNST JOSEPHSON. FRAU JEANETTE RUBENSON.
und dazu wurde er immer hübscher, seit
er nicht mehr so hohlwangig und duckmäusig umher- Als die Mutter endlich dahinter kam, gab es
schlich. Und auch Chane wurde immer schöner mit tüchtige PrBgel. Der Vatei- verhaute den Bocher,
ihren fünfzehn Jahren. Seit der Bocher da war, lang- Chane bekam ihre Ohrfeigen von der Mutter. Dann
weilte sie sich nicht mehr, und da sah man erst, was mnsste der Bocher sein Bündel schnüren. Xicht einmal
sie für schöne blitzende Augen hatte. Sie blitzte auch Abschied durften sie nehmen. Chane sah ihm Ver-
den Bocher mit ihnen an, und er fand langsam Gefallen etoblen durch das Kammerfenster nach. Die Mutter
an ihnen, genau so wie an ihrer Mutter Klössen. Aber hatte ihm die Kleider wieder abgenommen, er trug die
niemand warnte ihn zu viel hineinzugucken, wie die alte abgerissene Pekesche, In der er gekommen war,
Mutter vor dem vielen Essen warnte. Immer h&nfiger und schlich mit gesenktem Kopf und gebeugtem Rücken
lachten sie sich an, drinnen wenn die anderen draussen über den Mariitplatz, so demütig wie damals, als er
waren, und auf dem Vorbau, wenn die anderen in der znm ersten Male ins Haus kam.
Stube sassen. Immer wärmer wurde ihnen dabei und Chane ballr« die Fäuste, sie hätte sich nicht fort-
immer stärker schoss das Blut lu Cbanes tSrichten jagen lassen, wie ein räudiger Bettler, nein, sie nicht,
jnogen Kopf. Er lag nachts in der Kammer mit seinen Aber er war eben doch ein Chederjingel*) und hatte
drei Zöglingen, die schliefen so fest wie junge Hunde, nur Mut solange es ihm gut ging. Fast widerwärtig
Wenn Cbane vorsichtig zu ihm hinUberschlich, denn wurde er ihr in diesem Augenblick. Nein, um ihn
die trägen Glieder waren jetzt flink und hurtig ge- wollte sie nicht weinen. Das nützte ihr freilich wenig,
worden, merkten die Jungen nichts und auch die es kamen so böse Zeiten für die junge Chane, dass sie
Eltern, die in der Stube hinter dem Vorhang schliefen, kaum mehr wusste , um was ihre Tränen flössen.
hörten nichts. Sie flosien immerzu, bei jedem Schlag, den die Mutter
•) junger Mann. *) einer, der immer im Bethaus hockt.
Meine Tanle Chane.
ERNST JOSEPHSON,
ERNST THIELS OALLERIE.
Spanischer Zwerg.
ihr gab, and bei jedem bösen Wort, das von der Mutter
kam. AofaDgs war die Motter nur böse und schlug
und schimpfte, aber später, als sie das SchUnimste
entdeckte I
Das waren ein paar arge Monate für die kleine Chane.
Die Mutter sperrte sie in die Kammer und liess sie
nicht vor die Tür. Ihre Tochter sei kranlc, erzählte
sie den Nachbarn, und mltsse das Bett hüten. Aber
die Leute wussten plötzlich alles. Die einen hatten sie
mit dem Bocher lachen gesehn, ein zweiter tuschelte,
wie der kluge Itocher so Knall und Fall ans dem Haus
geworfen war, und gestohlen hatte er doch wohl nichts,
Ziffre Mendel aber lief amher und sagte allen Leuten,
die es hören wollten, sie habe nie Vertrauen zu der Familie
gehabt. Dann kam sie zur Mutter zu Besuch und
wollte wissen, was Chane fehle.
Chane dachte damals, sie müsse vergehen vor
Schande und Schmerz. Der junge Leib wehrte sich
gegen die schwere BUrde, er keuchte und bäumte sich,
und der törichte Kopf war ganz angefüllt mit schweren
(iedanken. Warum die Menschen so schlecht seien,
und warum der Vater nicht mit ihr reden wolle, und
warum die Mutter nicht lieher den Bocher
aus der Stadt hole und ihr die Cbuppe*) mit
ihm stelle, dass sie sich nicht mehr verstecken
mflsse vor aller Welt. Sie mochte Ihn gar
nicht mehr, aber es war immer noch besser
als das alles allein tragen. Aber die Mutler
wollte nichts von dem Schuft hören, sie hatte
andere Pläne. Qanz heimlich in der Stille
wurde das Kind geboren. Dann nahmen sie
es ihr fort und schickten es in eine andere
Gemeinde. Ein jüdisches Kind war es und
sollte in einem jüdischen Hanse leben, aber
die junge Mutter sollte nichts von ihm wissen,
und die Leute auch nicht. Die wussten es
doch und tuschelten und zischelten, dass Chane
nicht wagte, den Kopf zu heben.
Ata sie wieder gesund war, brachte die
Mutter sie zu den Verwandten in die Stadt.
Chane war so müde und unglücklich, dass sie
sich nicht recht darüber freuen konnte. Am
liebsten wäre sie gestorben. Die Leute wussten
auch hier alles. Hatte Zifire Mendel geschwatzt
oder hatte sich der Bocher verraten, sie redeteten
und höhnten hinter ihr her, immerzu, immerzu.
Sie wollte gar nicht aus der Stube, die Strassen
and Kaufläden lockten sie nicht mehr.
Und dann kam Srul Bär heim. Srul
Bär, der Spassvogel, der sich unten in der
Türkei herumgetrieben hatte und von dem man
behauptete, er habe dort sogar seinen Talles**)
an einen Muselmann verkauft, Srul Bär, dessen
Geschäfte dunkel waren und von dessen
Charakter man anch nicht das Beste wusste.
Für den war sie gerade die richtige Fraa.
Kein guter jüdischer Mann hätte ihm seine Tochter
gegeben, sowie er Chane seinen Sohn verweigert hätte.
Das gefallene Mädchen und der Abenteurer, die passteu
zusammen. Er nahm sie, er nahm auch die Mitgift,
die die Eltern gaben.
Wieder redeten die Leute. Aber als Srul Bär einen
regelrechten Handel begann, wie die anderen, da wurden
sie still, und auch Chane wurde ruhig. Anfangs hatte
sie sich vor dem schrecklichen Menschen mit den
stechenden Augen gefürchtet, dann gewöhnte sie sich
an ihn. Ihm machte das hübsche kleine Ding Spass;
er erzühlte ihr viel und lehrte sie sogar das deutsche
ABC. Bis er eines Tages fortfuhr und nicht wieder-
kam. Wieder sass Chane mit einem kleinen Kinde da und
wollte sich die Augen ausweinen. Und die Leute
zischelten auch wieder: natürlich, der Lump, sie hatten
es gleich gewusst Aber diesmal nahm ihr niemand
das Kleine weg. Die Verwandten richteten ihr einen
kleinen Mehlhandel ein, davon lebte sie bis die Tochter
*) Der Trauhiinm*
■d. ••) Itetinanfel.
r dem die Trauung vollzogen
^5
Anna Schapire: Meine Tante Chane,
faeranwucba und weit weg heit-atete. Als Cbane alt nnd
gebrechlich war Qod das Mehlgeschäft zurückging,
nahmen die Verwandten sie ganz ins Hans.
Der Mann kam nie wieder. Aber von den alten
Geschichten sprach anch kein Mensch mehr. Niemand
spottete Über sie, man wnsste nnr noch, dass sie
r sehr angesehenen Familie war. Sie hatte es auszusetzen fand.
schlecht in der Ehe betroffen und war nicht mit Glücks-
gütern gesegnet. Mein Gott, das kommt vor und ist
nichts besonderes. Und allmählich vergass Chane selber,
was sie erlebt hatte. Sie wurde ein altes Weiblein,
das ganz zufrieden vor sich hiulebte und nicht sterben
wollte, weil ea gar nichts an dieser schönen Welt
Nach druck verbolcn.
Vom VIII. 3ionistenkongress.
In dem grauen, alten, stilvollen OeböuÖe im bei vielen unter ben Sionisten felbst. nid)t auf
.Buitenbof" 3U fiaag tagte Öie Sriebenskonferen3 bem territorialen prinjip, nid)t auf bem Streben nodj
- in bem luftigen, l>ellen, jugenblid] fröl)tid>en Palästina bettelt ber Sionismus in seiner Ibee,
.Oebäube für Runst" tagte ber Sionistenliongrese. €r ist nidjt barouf ausgegangen, für bas jüÖisd)e
3u gleid)er 3eit, 3U
gleidjer Stunbe würben
in (öaag 3wei rabilial
veredjiebene fragen, fast
entgegengese^ter Orb>
nung, bisl^utiert. Im
.Buitentjof" spradj man
iiber bas Prin3tp ber €ini=
gung, Solibarisierung
aller Völher, über bie Sör<
berung bes Integrierungs-
pro3esse9 ber (Densd)'
l)eit, bort im .Runst-
gebouw* über bie (Dittel
ber Differen3ierung eines
Volkes aus ben bereite
vorl>anbenen Völher '
gruppen, über bie Sdjaf f'
ung einer neuen tertito»
riaien £inf)eit. Sdjeinbar
Oegensä^. Unb bod)
Keine. Ceste Spinoso,
b. I>. bie notwenbigheit
bes Cegenso^es.
Die Jubenfroge ist
Quä) in biesem Sinne
eine Bremse, eine ßemm'
ung nid)t bloss ber ent=
wichlung ber ^uben, son-
bern aud) berWelthultur,
Unb besl)alb muss sie
gelöst werben, — unb
bes SionistenhongresS'
bies ist ber
nad) 10 ]al)ren unermüblid^er Agitation, nad)
ad>t Kongressen ist ber Örunbgebanhe, bas
eigentlid^e Wesen bes Sionismus ben (Deisten
nod) nid)t klar geworben. Unb was nod) merk'
wGrbiger ist, biese €rkenntnis sdjwinbet audi
Volk seine b'sto'isdjen
Redete auf palöstina
3U vinbisieren. Wos ist
tjistortsdpesRedit? nidjt
mel)r als ein Wort. Unb
nidjt Romantik aliein war
bas örunbmoment ber
3ionistisd)en Dewtgung.
Der3ionismu8 Iwbeutete
ein RufFladtern bes jü'
bisd)en Volkswillens,
eine Erkenntnis ber in=
neren 3ufommenl)änge
im Ceben bes jübisdjen
CDensdjen unb bem ber
nation, ein Versud), bem
Pro3ess bes 3erfalls unb
ber ntomisierung ent -■
gegen3uarbeiten, bie in
Brüdje gegangene €in^
l)eit bes )ubentums burd>
eine aus ber £ntwidilung
ber ßultur t)ervorge'
gangene unb von it)r be^
bingte £tnl}eit neu 3U
fd)affen. nidjts war am
3ionismus neu ausser
seiner Sorm, weber sein
negierenbes Verijältnis
3ur iübisdpen 6egen'
wart - ber Begriff ber
Diaspora nod) sein positives Streben nad)
einem 3entrum. Das lleue, Eigenartige, t3in=
reissenbe am 3ionismus war eben [eine form, bie
Cinreit)ung ber Jubenfrage in bie weltpoIitisd>en
Sragen, bie Politisierung bes ]ubentums. Was
bem Jubentum seit 3al)rtausenben fet)lte, bie
politisd)e Organisotion, wollte, sollte ber 3ionismus
sd)affen. (T)and)mal sdjien es, bass bie Ceiter
K7
Viator: Vom VIII. Zionistenkongress.
528
ber Bewegung sid) biesee ßrunbsieles bewusst
seien. in bieser Binsid^t ist öer Be-
Fd>luss öes VI. Kongresses, bas Uganba^Hn'
gebot ab3ulet)nen, bie weitere prinjipielle
Bblel)nung Öes territoriolen prin3ip6 am VII. Ron=
gress von eminenter t3ebeutung. Die CertitoriO'
listen leugneten bie politisctT^hulturelle Renaissance,
inbem sie alles einsig unb allein auf bos Cerd'
torium stellten, bie Sionisten weigerten sidj, diesen
l)istOTisd) ungered^tfertigten Weg 3U betreten,
ßätten sie nur ben Oebanhen 3U £nbe gebad)t,
wären sie auf ber von il)nen eingesdjiagenen
ßal)n weiter gegangen, trotten sie wirl^lid) an ber
Politisierung unb Kulturellen Weiterentwid^lung
gearbeitet, bie territoriole SelbstänöigNeit auf
bem l}istorisd)en Boben als eines ber COomente,
aber nidjt nie bas einsige, als ben Sdjiusspunlit
ber Cntwidilung, nid)t als bas R unb O ber
Renaissancebewegung betrad>tet, so wäre ber
is ein Ijistorisdjes €reignis
eit geworben.
torialismus wütete nod)
ber palöstinensisct)e. Der
r mit praNtisd}en palästino^
fragen besd>äftigt - er war uneingestanbener'
mossen eine Absage an bie grosssügige Politih,
eine Selbsteinsdjräntiung.
eine ganje Wodje (14.-21. August) tagte
ber Rongress. Den Sdjwerpunlit ber Verl)anb'
lungen bilbete bie reole Rrbeit in Palästina,
tlro^ bes Wiberstanbes einiger „politisd)er"
3ionisten, eines f5durieins unentwegter „Cbarte<
risten" war bas prinsip ber realen, unaufsdjieb'
baren Arbeit in Palästina angenommen unb
sanktioniert. VonbenSragen berDiasporale^renbes
jübisd>en Voll^es war fast t^eine einsige berührt, bie
ßulturfrage nur flfidptig angesd^nitten, um aud)sorort
abgese^t 3U werben. (Dan erwartete vom Rongreas
aud) eine rabitiale Reorganisation ber Partei-
leitung. Die Crwartungen l)at ber Rongress nid)t
im vollen (Dasse erfüllt. Denn bie einjige Reform
bie erse^ung bes früheren siebengliebrigen engeren
Rhtionshomtl^s burd) ein breigliebriges (D. Wolff=
fobn^Röln [Präsibent], Prof. O. Warburg^Berlin,
]ahobus Rann-fDQog) ist nur eine aritl>meti(d)e,
aber heine grunb3ä^lid>e flenberung. Der djarahter
ber Ceitung bürgt uns für eine ruhige, fleissige
Rrbeit, für eine ernste Belötigung in Palästina.
Ob aber bie Ceitung grosse prinslpien f>ot
unb wie sie sie aiiS3ufüt)ren gebenht - barüber
l)Qt uns ber Rongress nid)t beleljrt. Die näd^ete
3uhunft wirb es uns seigen.
Rlles in allem l)at ber Rongress nidjt bas
le^e Wort bes 3ionismus gesagt. £r ist nur
eine €tappe auf bem Wege ber CntwiAlung ber
3ionistisd>en Ibee.
Spino30 ! - Ruf einem kleinen piatf im
ßaag am „Grossen (DarKt" stel)t sein Denkmal.
£infad) unb sd)lid)t, oljne Cenbens, ol)ne .Ver«
tiefung". Ein gutes, treues flbbilb. Spinoso, ein
junger, jugenblid^er (Dann, sitft in einem Ce\)n'
stul}l, in seiner ßonb eine Seber. Sinnenb unb
verträumt sitst er ba. Rein bitterer Rusbrudi um
bie CDunbwinkel, keine mübe, resignierte fsoltung,
wie sie ber Spinosa von Rntokolski \)at. €in
Ritter bes Geistes si^t i>a, ein Rbliger, ein prins
ber Ibeen. Sd)on sein Reusseres \}ai etwas be*
6ted)enb Vornebmes, liebes unb bod; unnal)bares,
imponierenbes. (Dan merkt nidjt, bass bieser
(Dann einsam im Ceben baetanb, einsam in
seinem Denken unb in seinem tun.
Diesem jungen, freunblid>en, sd}önen (Densd)en
l)ätte man es wobi kaum ongeseben, basa er so
viele Illusionen serstörte, bass er einer ber
strengsten Denker aller Seiten war. Selbst ein
einsamer, l)at er ben Cnenfd>en vereinsamt, il>n
auf sid> selbst gestellt, um iljn in eine l)öl)ere
einljeit - Öott'Cinljeit - 3u bringen . . . Unb
in bem nal)en Rmsterbam stet)! bie alte, vor
Alter sd)war3 geworbene Synogoge ber Sepbarbim^
wo sid) bie ))istorisd]e Begebenljeit ber Aus*
stossung Spinozas aus bem ^ubentum voll*
3ogen l)at.
3um Spino3obenhmol kam id; birekt von
einer Sitfung bes Sionistenhongreffes. eine tiefe
Crouer legte sid) über mein Denken, unb es
würbe so bunkel, so einsam in mir. Was id) am
Rongress sal) - konnte meine Sel>nsud)t nur
steigern, ofyne sie 3U stillen, ben 3weifel, ber in
mir unb an mir nagte, 3ur Versweiflung steigern,
es war etwas irrationales, unbered>enbaree, in
keine Sorm 3U fassenbes an biesem Rongress.
(Dan wusste nid)t redjt, wesl}alb ein Rampf be'
3tel)e, weldje (Dotive bie Bewegung leiten, was
bie Oegenwort verlangt unb bie 3ukunft aus-
fül)ren soll. ]eber frühere Rongress Viatte seine
pt)Vsiognomie. Cr l)atte bestimmte 3iele unb
Aufgaben. Ob er sie löste ober nid)t - er
stellte bie Probleme. Dieser Rongress ober
wusste selbst nidjt, was für eine Prägung er fyihe,
unb ben Rampf um Ibeen ersehe ein Rampf um
Personen. Vielleid)t geljt jebe Partei biesen Weg,
Viator: Vom VUI. Zionislenkongress.
vielleid)t ist Öaa öer Gang ber Cntwichlung. fln
biesem Vielleid)t aber gebt ber Glaube, gebt bie
ßoffnung sugrunbe.
einemerhwüröigeStimnmng. Soet jeber einselne
unter ben Defegierten war mit sid) unsufrieben,
innerlid) aufgerüttelt. )eber füblte, bies sei nid>t
ias sein sollenöe. Aber bie 3weifel ber einjelnen
konnten sid) nid}t 3U einem einjigen Willen ver-
einen, 3U einer Stimmung ber £rlösung.
Unsufriebenbeit. (Don las es in ben Bugen
ber )ungen, im sd>wermütigen ßUche ber Reiteren.
(Oand) einer, ber fünfunbswanjig ]al)re für bie
Ibee arbeitete, sab »^it sorgenvollem, öngstlid^em
ßlidie um sid), prüfte seine Vergongenbeit, ob sie
wabr gewesen sei ... .
(Dand) einer unter ben ]ungen sab burd)
bie WSnbe bes ßongress-Oeböubes, bie weite,
grosse, üppige (Delt, unb sebnte sid> biiQus . , .
Id} t)abe mtd} in frQber Rbenbstunbe 3U
Spino3a b'^^usgesloblen. In ber Ddmmenings<
stunbe ist er nod} sd>öner als am Cage. Denn
in ber DQmmerung senhen sidj bie sdjöpferisdjcn
tröume auf bie Welt, auf alles ....
Unb bie tote, bleid7e Vergongenbeit stanb
vor meinem träumerisdjen Huge wieber auf,
nabm Sarbe unb Ceben an, würbe 3U einer bunten,
mannigfaltigen, etürmiscben Oegenwart. Auf bem
freien Boben ßollonbs, ein jübifd^es Obetto. Ctn
selbstgesd)affenes. Alle Probleme ber neu=
3eit öurd)wüblten bomole öos Jubentum, Seljn'
sucbt nad) Sreibeit unb Unobbängiglieit, nacb £r>
lö|ung, (Dessionismus. Die l^lugen aber, bie
halten, bie Deredjnenben iieesen sid) nidjt burdj
CrSume blenben, blieben ouf bem realen Boben
ber Cotsadjen. Sie wollten hein neues ]ubentum.
Unb ben beiben Rid)tungen trat eine britte ent»
gegen. Dos war aud) eine Crlöfungsbewegung,
aber eine bes Geistes. £in nagenber 3weifel
ging ibr voraus, eine sd>mer3volle Abwendung
vom alten, liebgewonnenen jubentum, ein Ringen
prot. UT. OHO worourg, oenm.
(Päd) einem Relief von Doris Sdja«).
Viie.pTfi|i»ent bes Soniftitcben AMionshoml»».
nad) einer neuen Umbildung, vielleidjt nadj einem
Umbau ber Grundlagen bes ^ubentums. Anosta
5pino3a waren bie Juben bes .britten Reidjes".
Wären sie nidjt gons vereinsamt geblieben, b^tte
die }ubenbeit sie nid^t ausgestossen — vielleid^t,
vielleid)t bätten wir beute einen neuen )übisd)en
3nbalt, ein neues Weltbilb, Atier sie sind ein=
sam geblieben. Unb bie Gesdjidjte wieberf)olt
B\ä). Die Probleme hebren wieber.
An biesem Abend Konnte id) erst spät 3ur
Rongresssi^ung kommen. Als id) vom Spino30<
benhmot 3um f^ongresssool 3urüdfhel)ten viK>Ilte,
honnte id) nidjt leidet ben Weg 3urüdifinden . . .
Viator.
JUEDISCHE JUGENDWEHR IN ENGLAND.
(Jew-jsli Lads Brigads). - Von Js. Wolf.
Die AssimilatioDsfahigkeit der Juden hat sicli bei
der jBdiacbeD Elawandernng in England von der treff-
lichBten Seite gezeigt. Die jüdischen ZuzUglinge aus
Rnssland, die In ihrer Heimat jede kSiperliche Uebung
missachteten und demgemäss vernachlässigten, liaben in
dem klassischen Lande des Sports mit Überraschender
Schnelligkeit erkannt, wie grossen Wert die Ausbildung
der physischen Fähigkeiten besitzt. Aber nicht bloss
theoretisch erkannt haben sie diesen Wert; sie haben
sich beeilt, von der Gelegenheit Gebrauch zu machen,
die sich ihnen bot, in den neuen KQnsten Fertigkeit
zu gewinnen, ihren EOrper zu stählen und die moralischen
Einflüsse, die daraus hervorgehen, auf sich wirken zu
lassen. Dei' Sport — d.as Turnen der EnglUnder —
hat unter den geborenen Engländern selbst keine
eifrigeren Anhänger als unter den russischen Jaden,
die seit wenigen Jahren erst ins Land gekommen sind.
Die Grundlage für die besondere Form der körperlichen
Ja Wotf: Jüdische Jugendwehr in England.
Gruppe auB dem Zeltlager der jüdiachen Jugendwelir in England (U).
Ausbildung der jüdischen Jugend hat der weitbekannte
englische Oberst Goldsmith gelegt. Dieser, als Kind
von den Kltern der Tanfe zugeführt and .später zum
Judentum zurückgekehrt, schuf im Jahre 1891 die
jüdische Jngendwehr, die Jewish Lads Brigads, in der
strenge militärische Zucht mit der Freiheit englischen
Sports sich vereinigt. Die J. L. B., die bei ihrer
Gründung 60 Mitglieder zählte, hnt jetzt deren schon
Ober 4000. Diese stattliche Zahl ist in 17 Londoner
Kompagnien gegliedert und in ein Provinzregiment,
dessen einzelne Kompagnien in Manchester, Liverpool,
Hnll, Birmingham, Leeds, Sheffield, Jtradford und New-
castle stehen. Auch in den Kolonien ist bereits
die Grundlage fUr ein neues Regiment vorhanden.
In Montreal
ist ein Ba-
taillon, inJo-
hannesburg
und Port
Elisabeth je
eine Kom-
pagnie. An
den ersten
Manövern,
die im Jahre
1896 abge-
halten wur-
den, beteilig-
ten sieb nur
19 junge
Leute; in
diesem .Jahre
sah Oberst-
leutnant Sir
Frederic L.
Natlian be-
reits über
linge als Manöverteilnehmer. Für das Provinzregiment
wurde in Zitham eine besondere Uebnng abgehalten. Diese
jährlichen üebungen finden meist an der Meeresküste statt
und währen etwa 8 Tage. Zelte werden im Freien auf-
geschla^n, und nach deu militärischen Exerzitien geben
sich die jungen Leute dem Krikett- und Fossball -Spiel,
der Athletik and Schwimmübungen hin. FUr die musika-
lische Unterhaltung sorgt eine eigene Musikkapelle, die
Ubdgens während des Sommers auch in öffentlichen
Londoner Parks spielt. Am Sabbath ruhen die üebungen.
Das ganze Bataillon tritt in einem Viereck zusammen,
aus Trommeln wird eine Kanzel gebaut, und der
Feldprediger hält die Andacht ab. — Hohe Milit&rs
besichtigen wiederholt die Kompagnie. Bei dieser
Gelegenheit
werden an
Soldaten und
Offiziere für
gute Leistun-
gen Preise
verteilt. Die
jüdische Ju-
gendbrigade
erfi-eut sich
bei Juden
undbeiNicbt-
jnden ausser-
ordentlicher
Beliebtheit.
— Wir fah-
ren unseren
Lesern zwei
Gruppen-
bilder aua
dem Zelt-
lager der Je-
wish Lads
1000 Jung-
I dem Zeltlager der jüdischen Jugendwchr in England (II).
Brigads V
533
534
DIE TOCHTER JEPHTA'
Ein dramatisches Gedicht von Richard Huldschiner.
Personen:
Jephta, der Richter Die Amme
Jobeka, seine Tochter
Abdon
Die zehn Ael testen
Chor der Töchter Israels.
(Das Recht der Aufführung vorbehalten.)
<Eine Stunde vor Tag. — Das Frauengemach im Hause Jephtas. Ein
grosser Raum. Mit Fellen und Teppichen belegte Ruhebänke. Ein breites
offenes Fenster geht auf den von niedrigen Mauern umsäumten Hof
hinaus, auf dem, im Dunkel der Nacht kaum sichtbar, zwei Terebinthen
stehen, deren Wipfel das Fenster links und rechts einrahmen. Darüber
hinaus freier Blick in die baumlose Ebene. — Im Hause tiefe Stille. —
Jephta, der Richter, ein kräftiger Mann mit vollem, grauem Haar kniet
im Vordergrund, gen Osten gewendet und betet Er ist waffenlos und
ganz in Linnen gekleidet. — Am Fenster steht Jobeka. Sie hat den linken
Arm über sich auf den Fensterpfosten gelegt und stützt das Haupt darauf.
<lie Beine ein wenig ubereinandergeschlagen in einer leicht ruhenden,
sehnsüchtigen Stellung, mit Augen, die träumerisch in die Feme sehen.
Sie spricht, mehr für sich, als an den Vater sich wendend, der zudem
ganz in sein Qel>et versunken ist.)
Jobeka: So sinkst du hin, du tiefe Nacht, vergehst in Stille.
Schon weht vom Berge kalte Morgenluft,
Die Terebinthen rauschen leise
Und schlagen ihre Zweige sanft zusammen.
Erschauernd so wie ich vorm Licht des Tages.
Noch ist der Himmel schwer von Nacht,
Und seine Sterne funkeln still, als galt
Es, hundert Jahre so in trautem Farbenspiel
Zu leuchten, ja als käme nie ein hellrer Glanz,
Der ihre goldnen Herden jäh verschlingt.
Noch klingt das leise Tönen dieser Nacht,
Als kam aus unterirdschen Höhlen ferner Ruf,
Das Klirren goldner Becken weit im Schoss
Der Erde; noch kein Laut in Haus und Stall.
Ich aber seh im Geist die Sonne still sich heben.
Ich kenne sie, ich hab ihr oft ins Antlitz,
Ins feuerstrahlende geschaut,
Bis grün ihr Schild, von rotem Rand umwunden,
Jenseits geschlossnem Lide sank und sank,
Und immer, wenn ich ihn emporzuheben dachte,
Von neuem sank, in purpurrote Nacht.
Ich kenne, Sonne, dich, ich lief dir oft
Entgegen, weit die Arme ausgestreckt.
Vom Berg hinab ins ebne Land
Und mit der Schwalbe um die Wette.
(Sie horcht plötzlich in die Nacht hinaus)
Horch! zwitschert da nicht etwas unterm Dache?
Mein Schwälbchen, bist du wach? Nein, nein
's ist alles still noch, alles schläft. Und doch, mein Gott!
Die Sonne naht . . .
(Ein Laut des Schmerzes, der vom Vater kommt, macht sie zittern,
jephta hat sein Oebet beendet, kniet da, das Antlitz gen Himmel gewandt,
die Hände mit nach ot)en gekehrten Flächen erhoben, in einer Gebärde
der Ergebung in Gottes Willen).
Vater! Vater!
Jephta: Kind,
Ich höre deine Stimme wie durch Tränen;
Nicht deine Tränen, meine sinds,
Die wie ein dichter Schleier mich verhüllen.
(zitternd) :
Wie weit ist schon die Nacht?
Jobeka: Zu Ende bald.
Jephta: Zu Ende bald! Ich kanns nicht sehn. Ist schon
Ein lichter Schein im Osten?
Jobeka: Ja, vielleicht . . .
Ich weiss nicht . . . doch . . , ein roter Saum,
Hebt langsam sich empor.
Jephta: Mein Kind!
(Er schleppt sich auT den Knien zu ihr hin)
Ich liege hier im Staub vor Gott, von dem
Ein Teilchen du bist, Kind. Gib deine Hand,
Dass ich die trocknen Lippen darauf hefte!
Jobeka: Wir wollen fröhlich sein, mein Vater,
Da Gott mich ausersehen hat, zu sterben.
Ist das nicht Gnade, für ein ganzes Volk
Der Dank an Gott zu sein? Für alle stolz
Zum Opferstock zu gehen und sein Haupt
Dem Opfermesser schweigend darzubieten?
Ich werde gehn, als ginge es zur Hochzeit,
Und werde froh auf Ros und Myrrhe treten
Und unter Palmenzweigen wandeln.
Und lächeln will ich stolz dem neuen Tag,
Von deiner Hand geleitet, Vater!
Jephta: (Ganz zusammengesunken auf ihre Hand murmelnd):
Ich war ein stolzer Krieger vor dem Herrn,
Und meines Rosses Mähne wehte wie des Löwen;
Und hielt ich in der harten Faust das Schwert,
So fühlt ich kühnlich mich als Gottes Boten.
Im Rausch der Schlacht, wenn die Trompeten bliesen,
Und wenn der Staub der Wahlstatt mich
Wie Qualm vom Opferbrand umwehte,
Und wenn das Schwert des Lebens rote Quellen
Dir, Gott, zum Lob in heissem Strahl erschloss,
Dann dacht ich dein, geliebte Tochter,
Und deines Lächelns, deiner Stimme,
Die meiner Heimkehr froh Willkommen sprach.
Von deiner Sorge wohlbehütet dacht ich
Des Alterns graue Trage zu verbringen;
Denn du warst meines Lebens höchste Krone.
Nun hab ich dich dah ingegeben.
Gott sprach; ich warf mich in den Staub
535
Richard Huldschiner: Die Tochter Jephta.
536
Vor ihn; und was gelobt ihm ist,
Das ist für immer aus des Lebens Buch
Gestrichen. Diese Nacht ist deine letzte, Kind.
Ich will Verzeihung nicht, ich bin
Ja Werkzeug nur in seiner Hand.
Dein zartes Leben aber jammert mich,
Das, schüchtern kaum dem Licht des Tags erschlossen,
Wie eine Blume nun dem ersten Reif
Verfallt, und wie das Morgenrot,
Kaum dass die Nacht vorübeijging.
Im grellen Licht des Tages spurlos schwindet.
So mache denn bereit dich! bald,
In einer Stunde, wenn die ersten Strahlen
Der Bäume höchste Wipfel färben,
Führt unser Weg zum Gilgal hin.
(Er richtet sich langsam auf, das Haupt immer noch auf ihre Hände
geneigt. Jobeka aber beugt sich zu ihm herab und küsst ihn langsam,
zärtlich und voller Andacht, als sei es eine gottesdienstliche Handlung,
auf die Stirn, worauf Jephta rückwärts schreitend die Arme über der Brust
kreuzt und mit einer letzten Beugung des Haupts links seitlich durch
einen Vorhang verschwindet.)
Jobeka (immer noch am Fenster):
Noch ist es Nacht wie lange noch?
Bald, bald schon werden Gileads Töchter
Zum Brunnen gehn, dann wird
Die Kette klirrend niederfahren, und
Im klaren Wasser ihrer Eimer wird
Das erste Morgenrot sich zitternd spiegeln,
Der Himmel klar, und kalt die Luft.
Und auf den Wiesen schwindet dann
Im Hauch des jungen Tags der Nebel.
Ich habe nie so früh gewacht, sah nie
Der Nacht allmählich Schwinden, da der Tag
Sie ohne Schonung jagt, gleichwie den Löwen
Erzürnte Hirten . . .
(Sie vers' imt, dann zitternd und leiser):
Ach, wie wird es sein?
Wird Gott mich treffen ohne Schmerz?
Wird meines Vaters Hand mein Leben
Auslöschen zart mit einem Hauch, wie wenn
Ein Mund ein flackernd Lämpchen still vergehen macht?
Ich bin so jung. Mir ist, als ging ich gestern erst
Zum ersten Mal mit eignen Füssen;
Ich höre noch mein traumhaft Lallen,
Mit dem ich Sonne, Mond und Himmel grüsste;
Ich seh mich kindisch nach den Sternen greifen
Und meiner jungen Glieder langsam Reifen.
Ich bin so jung. Und leg ich meine Hand
Auf meiner Brüste leises Wogen,
So fühle ich des Herzens zarten Schlag,
Von lauten Wünschen nie beschleunigt.
Wie schön ist diese Welt! Wie steht so hoch
Die Palme über Myrtensträuchem
Und neigt im Winde stolz ihr Haupt!
Wie fröhlich ist der Wolken heller Reigen,
Der sich am Himmel drängt! Das Abendrot,
Wie hold mit seinem frohen Grüssen!
Wie schimmert silbrig-weiss des Oelbaums Blatt,
Wenn vom Gebirge kommt der leichte Hauch!
Wie schön bist du, o Mensch !
Was weiss ich
Vom Menschen? . . . doch ... die jungen Krieger,
Sie tragen goldne Ringe um den starken Arm,
Und ihrer Augen dunkle Nacht strahlt stolz
Mich an. Und legt ein Mann den Arm
Um einer Jungfrau scheue Hüfte,
Dann klopft ihr Herz in schnellem Takt,
Und ihre Augen füllen sich mit frohen Tränen.
Ich weiss, wenn sich der Abend senkt
Und Kühlung über Tal und Weiden breitet.
Wenn sich die Schatten fernhin lagern
Wie satte Kühe an des Baches Rand,
Dann schwärmen die Verliebten aus;
Das Madchen lehnt den Kopf an Mannes Schulter,
Und ihre Arme sind verstrickt,
Und leise Worte gehen traumhaft her und hin.
Ich sah sie oftmals wandeln, wenn ich vor
Dem Zelte sass da unten in den Bergen,
Mein Sehnen aber gab ich ihnen mit.
Ich dachte wohl, dass auch um mich
Einstmals ein Jüngling würde legen
Den starken Arm, und dass mein Mund
Zu seinem dürstend sinken würde.
Ich weiss, dass Abdon
(Sie schlägt die Hände vor das Antlitz, in sehnsfichtiges Sinnen versunken.
Aber diese Regung geht schnell vorüber. Sie hebt die Arme gegen das
steigende Licht im Osten, das in hellgrünem Streifen Himmel und Erde
scheidet.)
Ach, Wie schnell
Steigst, Licht, du jetzt empor. Und deine Harfen,
O junger Tag, erklingen brausend
Von Ost zu West. Das Grün der Bäume
Hebt froh aus nächtgem Schatten sich.
Wie bist du schön, du junger Tag!
Ein Pfirsichbäumchen, weiss und rot
Am grünen Bach, ein Wölkchen licht
Wie junger Schafe leichte Wolle, und dein Duft
Ist süss und herb zugleich und dünkt mich besser
Als Myrrh' und Ambra.
(Sie atmet tief. Auf dem Hofe leises Geräusch. Die Aeste der linken
Terebinthe bewegen sich, als ob jemand den Baum schüttelte. Jobeka
tritt wie erschrocken einen Schritt zurück. Aber wie die Unruhe im Baum
fortdauert, teilen sich seine Zweige, und in der Höhe des Fensters erscheint
Abdon s Antlitz. Der Jüngling legt einen Finger auf den Mund und
schwingt sich noch weiter empor, sodass nun sein ganzer Korper am
Fenster sichtbar wird. Jobeka hat die ganze Zeit in jähem Erstaunen
geschwiegen ; nun aber errötet sie und schlägt die Hände zitternd vor der
Brust zusammen.)
Abdon: Jobeka!
Jobeka: Abdon, du? In stiller Nacht!
(Sie schlägt den Schleier vors Gesicht.)
Es ziemt sich nicht, dass eines Mannes
Verwegnes Antlitz sich der Jungfrau aufdrängt.
Was willst du hier vor meinem Fenster?
Erschlichnen Weges . . .
Abdon: Ach, es ist nicht Zeit,
Der Worte viel zu machen. Komm Jobeka!
Ich rette dich, wenn du dich mir vertraust.
(Zitternd vor Liebe und Trauer.)
Jobeka! Komm! Vertrau dich meinen Armen.
Mein Pferd harrt schon gesattelt dort im Garten.
Ich trage dich wie Sturmwind mit mir fort.
Ich liebe dich, Jobeka, und ich will
Nicht, dass du stirbst.
Jobeka: (Immer weiter vom Fenster zurückweichend.)
Hab je ich dir gezeigt,
Dass deinem Blicke ich Erhörung lieh?
Hab je ich dir ein karges Zeichen nur.
537
Richard Huldschiner: Die Tochter Jephta.
538
Dass mir dein Bild im Herzen steht,
Gegeben? Sag! Wie könnt ich sonst
Verstehen, duss du forderst, und so forderst!
So ungestüm! Geh, Abdon, geh!
Abdon: Nicht ohne dich,
Jobeka. Lass nicht jetzt ein rauhes Wort,
Das wegen karger Zeit nicht so bedacht ist,
Wie es vielleicht, hörst du? vielleicht bedacht
Sein müsste, zwischen uns sich drängen!
Nein, nein, ich weiss, Jobeka, niemals hast du
Mir mehr geschenkt als einen schnellen Blick,
Der nur dem Liebenden, der hofft. Erhörung schien.
Und wenn du je im Spiel die weiche Hand
Auf meinen Arm gelegt, so war es nur
Der scheue Druck des Schmetterlings, nicht mehr.
Nein, nein Jobeka! Deine Nachsicht nicht.
Mein eignes Sehnen treibt mich her.
Ich liebe dich, du bist die Rose, die
Auf schwankem Stengel trinkt den Tau
Des kühlen Morgens, du das leise Wehen
Des Bergwinds, der den Heissen kühlt,
Der Quell, aus dem der Durstge trinkt
Mit nie gesättigtem Verlangen.
Ich ging dir nach im Palmenhain und tummelte
Mein Ross auf jeder Bleiche, wo
Mit deinen Mägden du das Linnen breitetest,
Ich ging dir ungesehen oftmals nach und bin
Verstummt, das Herz in süsser Angst beklommen, wenn
Ich dir — wie selten! — gegenüber stand ....
Jobeka! Einmal nur in Traum und Nacht,
Als ich im Zelte einsam lag, im Feld
Bei meinen Herden, fragte ich,
Weil es ein Traum war kühn, ob du
Mich liebst. Ach, und du errötetest
Und senktest dann dein Antlitz hold zu Boden.
Und sagtest: ja! Jobeka, ja!
Jobeka: (Zittert und schweigt.)
Abdon: Ist's wahr?
Der Traum hat nicht gelogen?
(Immer eifriger und leidenschaftlicher):
Nein, er kann
Nicht; denn ich liebe dich so heiss, wie nur
Der liebt, dem Sicherheit, dass er erhört
Ist, wohnt im Herzen. Und du schweigst?
Sagst meinem Drängen nichts, Jobeka?
(Er ringt die Hände mit dem Eifer dessen, der sein heisses Fühlen einem
anderen mitteilen will)j
Du weisst nicht, wie ich lieben kann.
In meinem Herzen ist die Liebe
Ein zehrend Feuer, das durch Tür und Mauer
Zerstörend glüht und nimmer rastet.
Du hebst mich hoch empor, als schwebte ich
Von Flügeln leicht getragen.
Und alle Menschen meines Stammes, die
Mich kannten, sagen: »wie bist du doch gross,
O Abdon! Hebst dein Haupt empor, als seiest
Ein König du! Was macht so stolz dich?"
Ich aber lächle nur und schweige; denn
Was mich berückt, das kann ich keinem sagen.
Wiewohl dein Name stets auf meinen Lippen liegt.
So leicht wie einer Rose leichtes Blatt,
Sodass ich deinen Namen ängstlich hüten muss,
Dass er mir nicht entfliegt, vom Hauch verweht.
Wenn ich bei meinen Herden bin, allein
Und fem von andern Menschen, dann besteige
Mein Ross ich oft und lass es laufen
Durch Wüste, Dom und Strauch und Dickicht,
Wie einen Kriegsmf deinen Namen schreiend,
Vom Wind umtost, sodass mein Mantel flattert.
So jage ich der Sonn* entgegen.
Und abends, wenn das Dunkel steigt im Osten,
Des Tages Dinge sterben, und die Nacht
Ihr müdes Haupt voll schwerer Rätsel hebt.
Wenn nur das leise Rauschen träger Bäche
Im Weidendickicht sickert, und ich vor dem Zelte
Beim Feuer sitze und in sein Verglühen
Mit grossen Augen starre^ dann
Bin glücklich ich in deiner üebe . . . Sieh!
Ich weiss es: dieses Glück, im Herzen
Dich hold zu tragen, wird mir nie genommen.
Jobeka: (Verträumt:)
So liebst du mich? Und hast mir nie gesprochen?
Abdon : Du würdest, dacht ich, schon in meinen Augen lesen
Dmm schwieg ich. Aber nun ist keine Zeit
Zu warten. Sieh! des Bisamberges Gipfel
Erhellt sich schon und hebt
Aus Nacht und Dunkel sich empor.
Bald ist es Tag; dann müssen fem wir sein.
So fem, dass schnelle Rosse uns nicht mehr
Erreichen, ach! so fem, dass uns kein Aug
Ersieht, schon jenseits Ajalon vielleicht.
Wo tellergleich die Ebne ist gebreitet.
Dmm komm, mein Stem, mein heller Garten,
Mein Weihrauchbaum und Würzewein,
Ich hebe aus dem Fenster dich heraus
Und trage sanft hinab dich. Keine Furcht !
Ich halt dich fest, so fest wie je ein Krieger
Sein scharfes Schwert im Kampfgetös.
Und bist du erst im Garten, wartet dein mein Ross,
Mein schnelles Ross, auf dessen breitem Rücken
Von meiner Hand gestützt du sicher bist
Wie nur ein Adlerjunges ist im Horst.
So komm, mein leuchtender Granat,
Und gib dich meiner heissen Ungeduld,
Dass ich von dieser Stätte dumpfen Grauens
Ins Licht des Lebens kann hinaus dich tragen.
Es ist nicht wahr, Jobeka, dass du sterben musst,
Gott will nicht, dass du stirbst. Vernichte Lüge
Dein Vater hat geträumt im Rausch,
In Fieberhitze! . . . Sterben! Du? Ich lache.
In Ekel muss ich schütteln mich. Und war
Es wahr, dass er dich Gott gelobt, ich würde
Die Faust erheben gegen diesen Gott,
Und den Gehorsam ihm versagen.
Und würde kämpfen mit ihm, denn ich bin
Der Stärkere, da für's Recht ich streite.
^Jobeka: (ist immer weiter vor ihm zurückgewichen, starr wie eine
Bildsäule. Nun schüttelt sie langsam das Haupt.)
Abdon (macht Anstalten, sich auf das Fenster herüberzuschwingen) :
Du sagst nichts?
(jubelnd):
Folgst du mir? Du kommst?
Was starrst du so? du zitterst? Ach, Jobeka!
(Er beginnt zu ahnen, dass sie ihm entschlüpfen wird)
Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren.
543
Richard Huldschincr: Die Tochter Jephta.
544
Schlank wie die Gerte der Weiden
Auf dem Berge Libanon,
Und hob die Arme nnd sang
Und beweinte ihr frühes Sterben
Im Jungfrauenalter.
Auf den Bergen weinte sie da
Und warf ihre Klagen hinaus
In den Wind
Vom Berge Ramah,
Und gab sie dem Wehen
Das nächtlich aus der Wüste emporsteigt —
Königstochter!
Wir klagen mit dir.
Unsere Haare hängen
Trauernd herab,
Unsere langen, seidigen Haare,
Die knistern, wenn des Geliebten Hand
Liebkosend darüber hinstreicht . . .
(Der Oesang verhallt leise im Morgengrauen.)
Jobeka: Was zittern deine Hände, Amme?
Amme: (eilfertig)
Das ist vom frühen Morgen, ist vom Fasten . . .
— Ich weiss nicht — ist vielleicht vom Südwind;
Ich bin schon alt . . .
Jobeka: Du, alt?
Amme: Sehr alt, seit dieser Zeit,
Da Jephta heimgekehrt vom Kriege.
Jobeka: Was sangen sie?
Amme: Ein Trauerlied —
Jobeka: (träumerisch in die Feme starrend)
Ich stand in diesen Wochen oft allein
Hoch über unsern Zelten auf dem Berge
Und hört' den stillen Atem ihrer Einsamkeit,
Und dachte nach, ein ganzes Leben . . .
Ists nicht genug, zu wissen, dass
Das Licht des Tages freudvoll ist, und dass
Kein einzig Leben kann erlöschen, das
Nicht auch ein anderes an sich entzündet hat?
So arm ist keiner, dass er nicht
Bei einem hinterliess ein Trauern.
Und als ich dies erkannte, wurd ich troh
Und alle Angst versank ins Wesenlose.
Die Myrthe hebt die Krone froh empor.
Und sinkt sie auch, noch hat sie Schwestern,
Und nimmer leer wird diese Welt
Vom Hauche ihres zarten Atems.
Amme: Wie du, ist keine, keine . . .
(s'e hebt eine der Haarflechten Jobekas empor und drückt einen Kuss
darauf.)
Ach, dies Haar!
Ich sah es wachsen. Als du kamst zur Welt,
Da hattest du ein dunkles Häubchen
Von seidenweichem Haar, so fein, dass, wenn
Ich küsste, zerging der Hauch
Wie Schnee auf meinen Lippen.
Du sogst an meiner Brust, ich hielt dich
Wie eine Krone stolz im Arm
Und lauschte auf den leisen Schlag
Des Herzens, der eilfertig ging und wieder ging.
Du warst sehr still und machtest
Mir niemals Müh. Ich sass an deiner Wiege.
Ich sang ....
Jobeka: Was sangst du noch? ... ich weiss —
Als ich schon älter war, vielleicht fünf Jahre,
Da sangst das Lied vom Reiter du . . .
(sie beginnt leise zu singen)
Reiter! Reiter! wohin?
Lanze hast du und Schwert . . .
Willst du nach fernen Landen ziehn?
Ist dir die Heimat nicht wert?
Reite nicht, Reiter! o schau!
Grün ist der Wiesenplan,
Wasser genug hat die Au . . .
Wer hat dir Leides getan?
Feige und Myrthe und Wein
Grünet vor meinem Zelt.
Und meine Herde wird dein
Und meines Vaters Feld.
Und meiner Arme Band
Schliesset dich warm.
Wer seine Heimat fand
Kennt keinen Harm.
Reiter! Reiter! wohin?
Lanze hast du und Schwert . . .
Willst du nach fernen Landen ziehn?
Ist dir die Heimat nicht wert?
Es klingt mir noch, das kleine Lied,
Liebkosend nach; der Reiter zieht.
Die Sehnsucht bleibt und blickt vergebens in die Feme
(sie hebt ihr Haupt zum Fenster)
Der Tag! Der Tag! Schon wird der Himmel hell
Und seine Sterne schwinden mählig,
Nun gilt kein Säumen mehr. Was hast du da?
Amme: Ein weisser Schleier ist es, nie getragen . . .
Mit purpurrotem Saume —
Jobeka: Und die Spangen?
Amme: Für deine zarten Arme. J-ass sie mich
Noch küssen, eh das schwere Gold
Ich um sie lege.
Jobeka : (hält ihr still die Arme hin)
Hast du auch
Mir Schuhe mitgebracht?
Amme: Auch das.
Sandalen, weiss, vom feinsten Leder
Aus eines Milchkalbs Haut gemacht.
Sie sollten für deine Hochzeit sein.
Sie sollten tragen dich, wenn du
Dem Gatten würdest zugeführt von Vaters Hand,
Und wenn der Priester über euch
Den Segen spräche. Ach, wie träumte ich
So oft davon! Ich dachte, dass dich nur
Ein König dürfte führen in sein Haus,
Ein stolzer Stammesfürst in Israel.
Ich aber wollte tragen deiner Schleppe Saum
Und wollte wachen nachts vor deinem Zelte.
Jobeka: Als Jungfrau sterbend, darf ich auf Sandalen '
Zum Tode schreiten, darf
Den weissen Mantel sterbend um mich breiten.
Und wenn du wachen willst, so wache denn
An meines Scheiterhaufens stiller Reinheit.
Amme: (schluchzend):
Gott wird mir bald vergönnen, dir
Im Tod zu folgen.
545
Richard Huldschiner: Die Tochter Jephta.
546
Jobeka : (ekstatisch) :
Mach mich schön!
So schön, wie ich noch nie gewesen bin.
Mich dürstet, weiss zu leuchten wie
Die Sommerwolke über grünem Lande.
Mach schön mich für den Bräutigam,
Der mich im Schmerz des Tods entrückt . . .
(Sie sieht an sich herunter und t>etrachtet lange ihre weissen Hände.)
Amine: (will ihr einen Schleier um Kopf und Hals legen.)
Jobeka: Nein nein! den Hals lass frei! Sie sollen
Des Lebens Quell nicht lange suchen müssen.
Ich biete Gott mich willig dar
Wie ein von Sommers Glut gedörrter Weinstock,
Der seine Blätter froh dem Regen gifct . . .
(Im Garten hebt sich wieder Musik.)
Die Töchter Israel (unter dem Fenster).
Es war kein Richter in Israel,
Und die Not des Volkes war gross.
Es klagten in den verwaisten Hütten
Die Frauen, die Hürden waren leer,
Zerstampft die Felder, die Brunnen ausgetrocknet,
Den Wüstentieren gabst du uns zum Raub.
Doch siehe! es erhob sich uns ein Schwert,
Von Jobekas Mund geküsst,
Geküsst zum Kampf und zum Tod der Feinde.
Soll nicht jubeln mein Herz,
Da Freude ihm ward und Rettung?
Ja, Frucht wird dem Frommen
Und Wasser dem Dürstenden!
Von allen Töchtern Israels preise ich hoch Jobeka.
Breitet ihr willig die Hände
Unter den Schritt ihres Fusscs,
Dass sie weich einhergehe.
Nicht fühle die Härte des Weges!
Streuet Rosen und singt:
ifFeundin! Jungfraun sehen auf dich;
Dein Name wird ewig währen,
Und wo eine Jungfrau errötet
Unter dem Kuss des Bräutigams,
Da wird ihre zitternde Seele sprechen:
Dir danke ich meine Liebe, Jobeka!"
Jfobeka: (mit ausgebreiteten Armen gegen das Fenster nnd die
steigende Morgenröte gewandt):
Wie sollte weinen, wessen Namen
Die Mädchen nennen, wenn sie in dem Zelt
Am Rocken sitzen, oder an den Brunnen
Des Abends Wasser holen! Königlich
Ist mein Geschick. Ich preise dich, mein Gott!
Du sendest gnädig deiner Sonne Licht,
Dass sie die letzte Stunde mir erhelle.
Nicht freundlich ist die Nacht mit ihrem Schweigen,
Das wie ein Mantel Trost und Hoffnung schwer
Verhüllt. Da kämpft der Mensch und beugt
Sein Haupt, und seine Tränen
Verrinnen spurlos in des Bodens Sand;
Da sendest, Herr, mit deines Atems Hauch
Du frohe Sonnenstrahlen, deines Willens
Beschwingte Boten, und wir sinken in den Staub
Und stammeln deinem Namen Dank.
Du hast mich auserwählt, mit meinem Leben
Dir zu dienen; sieh! ich bin bereit,
Und froh und furchtlos folg ich deinem Rufe . . .
(Geräusch betender Stimmen kommt näher)
Die Amme : (wirft sich 2ittemd zu Boden und kfisst leidenschaftlich
Jobekas Fasse)
Sie kommen. Steh uns bei, Gott Israel,
Und lass uns nicht verzagen jetzt
Und dort in unserer letzten Stunde!
(Der Vorhang zur rechten öffnet sich. Die zehn Aeltesten treten herein,
hinter ihnen, das Haupt von einem Mantel verhüllt, Jephta. Die Männer
vert>eugen sich vor Jobeka und stellen sich ihr gegenüber auf. Die Amme
liegt regungslos am Boden.)
Jobeka: (steht still am Fenster, von der Morgenröte angestrahlt, wie
in einer Olorie)
Ich grüsse euch! Ihr kommt, mit mir zu beten?
Mein Leib ist rein, und meine Seele
Harrt andachtsvoll der Opferung.
Die Männer: (beten gen Osten gewandt das Stert>egebet) :
Lass walten, Herr, in voller Grösse
Du deine Kraft, wie du verheissen!
Gedenke des Erbarmens, Herr,
Und deiner Huld!
Der Vorbetende: Es möge werden
Erkannt der hohe Name Gottes in der Welt,
Die er geschaffen hat nach seinem Willen!
Es komme bald zu uns sein Reich
Und seine Herrschaft! Bald! Bei unserm Leben und
In unsem Tagen!
Die Männer: Sei gelobt in Ewigkeit
Dein grosser Name, Gott!
Der Vorbetende: Gelobt, gepriesen
Verherrlicht und erhöht in seinem Glänze sei
Der Name des Geheiligten! Erhaben ist
Sein Name über jedes Lob und Lied
Und über jeden Segensspruch,
Den sprechen kann der Mensch in dieser Welt
Die Männer: Der Name Gottes sei gelobt, nun und
In Ewigkeit!
Der Vorbetende: Des Lebens Fülle und
Des Friedens komme über uns
Und über Israel vom Himmel! Amen!
Die Männer: Die Hülfe ist bei Gott, dem Herrn,
Der Himmel schuf und Erde! Der
Den Frieden schuf in seiner Höh, der schaffe
Auch Frieden unter seinem Volke! Amen!
Alle Männer: (treten vor mit erhobenen Händen, deren Finger sie
so spreizen, dass zwischen Zeige- und Ringfinger eine Lücke entsteht, und
sprechen den Priestersegen):
Es segne dich Gott und behüte dich!
Es lasse dir leuchten der Herr ,^
Sein Angesicht und begnade dich!
Es wende der Herr sein Angesicht
Dir zu und gebe dir Frieden!
(Alle ausser Jobeka verharren im stillen Oet)et. Das Zimmer wird immer
mehr vom Licht des steigenden Tages fiberflutet. Jobeka vermag keinen
Blick vom strahlenden Morgenhimmel zu wenden. Da hebt sich draussen
noch einmal der Sang der
Töchter Israel : Klaget, ihr Mädchen, um Israels Schönste,
Die noch im Jungfrauenalter dahinging.
Weiss war ihr Antlitz und rötlich
Wie erste Ahnung des Tages,
Leicht ihr beflügelter Gang,
Wie einer zarten Wolke Weg
lieber den Bergen
Klaget, ihr Mädchen!
Mannes Liebkosung hat nie jobeka genossen;
7 Richard Huldschiner: Die Tochter Jephla. 548
Sie gehet dahin Schwindet Jobeka dahin
Jungfräulich im Sänge der Priester. Wie der Tau der Nacht,
VlCinkt mit den Palmen! Den durstig trinket
Streut ihr Rosen und weint! Dein heisser Strahl, o Sonne —
Ach, ganz Israel klagt, und wo nur (Die Sonne erwheint in einet SlrahlenElnrie übei dem Saume dei Ebene
Ein Mädchen ist, dem glückliche Liebe D= "■'»
Ruhe der Tage und Jubel der Nächte gibt, Jephta vor. .mflhJR z» sprechen, und streckt die Arme nsch jobeka
r»i. j- T 1. 1 . j 1 . . ,- . 1 ^"'p «anrena die Männer eine Qasse bilden).
Gilt dir, Jobeka, sein erstes und etzles Gedenken. i-k-v™. , k. u ■ > -.,.,■ j- ■, j . _. .
■" Jobeka: isieht nnch einmal rückwärts m die Sonne und legt dann
~^ die Arme eraeben auf die Brust)
Sehet die Sonne! sie steigt. Ich bin bereit.
Leuchtet Jobekas Tod ; iSie schreitet durch die von den Acllesten gebildete Oasse. Hinter ihr Jephta.)
Und mit dem letzten Verflatlem der Nacht Dtr Vorhang sinkt schnell.
Jephta und »eine Tochter. FLORF.NCE. OFFICES.
DER POETISCH VERHERRLICHTE MOSES MENDELSSOHN.
Eine Ausgrabung vom Jahr 1787. — Von Dr. Leopold Hirschberg (Berlin). N»chdrock v«
Ut SBdfe mt Der ^tnf<^.
In vltr Sttfinjim
Für den deBkeuden Bächerfrenud, d. h. fäi den,
der ältere Bbcher nicht bloss sammelt, nm dann,
wie Richard Wagners Fafiier sein
„Ich lieg und besitz,
Lasst mich schlafen!"
herauszarafen, sondern die Werke als Spi^el der
Zeit vom knltnrgeschichtlichen Standpunit ans be-
trachtet, — für den den-
kenden B&cherfreond
also eröfiiiet sich beim
richtigen Betrachten
scheinbar unwichtiger
Dinge eine Perspektive
von meist beträchtlicher
Weite. Die ehrwürdigen,
bezopften Gestalten ver-
gangener Zeiten treten
leibhaftig vor ihn; das
Milien, in dem sie sich
bewegen, erscheint dent-
lich nnd klar; ihre Nei-
gungen ondBestrebongen ,
ihre Erfolge und ihr Miss-
geschick, ihre Liebe und
ihr Hass — alles das zeigt
sich dem, der zn sehen
und zu lesen versteht.
BQcher — vielfach sogar
ganz anbedeutende nnd
verschollene — sind der
Spiegel der Zeit, der ihr
Bild unverzerrt, sine ira
et studio, wiedei^ibt. —
Von diesem weiten kul-
turgeschichtlichen
Standpunkte ans wollen
wir einmal ein Büchlein
von kaum 100 Seiten
betrachten, das ein Zufall
mir vor kurzem in die
Hände spielt«. Denn „Moses Mendelssohu, der
Weise nnd der Mensch. Ein lyrisch-didak-
tisches Gedicht in vier Gesängen von M. C.
Ph. Conz. Stuttgart 1787" (so lautet der Titel
des Buches) in seinem poetischen Werte za
wardigen, dazu liegt, wie wir noch sehen
werden, keine Veranlassung vw; und es dürfte
wohl kaum ein Literarhistoriker von Fach von
der Existenz der Dichtung wissen, geschweige sie
Wer ist Carl Philipp Conz gewesen? Ein
Heimatsgenosse Friedrich Schillers, nur drei Jahre
jünger als dieser, in Jena ein Hansfreond des
grossen Dichters. Er hatte in Tübingen Theologie
und Philologie studiert, war längere Jahre Pfarrer
and Diakon, bis er endlich (ein Jahr vor Schillers
Tode) ordentlicher Professor der klassischen Literatur
und Eloquenz in Tübingen
wurde, wo er vor 80
Jahren (1827) gestorben
ist. Wh* besitzen sogar
eine recht drastische Per-
sonalbeschreibung des
gelehrten Mannes, die wir,
um ihres berühmtenÄutors
willen, hierhersetzen
wollen. GnstavSchwab
erzählt in seiner Schiller-
Biographie (StQttg;art
1840, p. 462) folgendes;
„Viele Männer unseres
Scbwabenlaudes vonmitt-
lerem Alter erinnern sich
von ihren Tübinger
Stndentenjahren her recht
wohl eines mit Fett ge-
polsterten Kopfes, dem
die Wangen zn Mund und
Äugen kaum Platz Hessen.
Der ganze dicke Leib
rührte sich nur schwer-
fUUig, und die Lippen
brachten, in Gesellschaft
oder aof dem Katheder,
Töne hei-vor, die mit
Mühe sich zom Artikulier-
ten steigerten. Äberwenn
der Mann ins Feaer kam
und die blanen Augen
freundlich zu leuchten
begannen, so lösten sich die Worte allmählich ver-
ständlicher von der sich überschlagenden Zunge:
feine Bemerkungen, gewürzte Scherze, sprühende
Funken Geistes, selbst tiefere Gedanken und ge-
lehrte Untersnchnngen Hessen sich unterscheiden,
und man konnte dem stammelnden Lehrer der
Beredsamkeit das Zeugnis des alten Poeten nicht
versagen :
In uns waltet ein Gott,
sein regend Bewegen erwärmt uns.
Original 'Titel, verkleinert.
551
Dr. Leopold Hirschberg, Berlin: Der poetisch verherrlichte Moses Mendelssohn.
552
Es war der Professor der Poesie und Eloquenz
zu TiibingeD, der schwäbische Dichter Carl Philipp
Conz."
Wir werden am Schluss uns mit einem Teil
der Conzschen Poesien noch kurz zu beschäftigen
haben; das oben genannte Mendelssohn- Gedicht
scheint die erste Pegasus-Besteigung des damals
Vierundzwanzigjährigen gewesen zu sein. Es ist
Jacob Friedrich Abel, Professor der Philologie und
Moral und ^dermaligem Prorektor an der hohen
Karlschule in Stuttgart", gewidmet. Der Autor
übergibt das Kind seiner Muse dem Publikum mit
ziemlicher Verzagtheit: „Wie sehr wünschte ich,
dass die Verzögerung memer Arbeit die vollendete
Güte derselben zur Folge haben könnte. Aber
eine Sache aufschieben, heisst nicht immer sie, bey
ihrer Erscheinung, besser liefern. Sollte ich sie
darum noch länger zurückbehalten haben, um ihr
den mir möglichen Grad der Vollkommenheit zu
ertheilen, dies hiesse, so sehr es auf der einen Seite
die Achtung gegen das Publikum zu erfordern
scheint, auf der andern doch wieder, wann man
etwas schon lange versprochen hat, ebendasselbe
beleidigen, und das Interesse der Sache, das schon
etwas geschwächt seyn dörfte, noch mehr schwächen
oder gar zernichten."
Moses Mendelssohn war ein Jahr vorher ge-
storben (4. Januar 1786), und während dieses
Jahres war dem Verfasser, wie er weiterbin selbst
gesteht, „aller Umgang mit den Musen schlechter-
dings abgerissen" worden. Wir werden nach diesem
etwas komisch klingenden Geständnis nicht viel
erwarten dürfen.
Durch den Tod des Weisen in eine „sanft
begeisternde Wehmut" versetzt, gelobte Conz ihm
ein geringes Denkmal, derart, dass er den Lehr-
dichter mit dem Lobredner vereinigen wollte, da
ein blosser Panegyrikus ihm zu schaal erschien.
Er wollte sich selbst ausserdem den Weg zur
didaktischen Poesie über die lyrische bahnen.
Das beste des ganzen Gedichts ist zweifellos
die Einleitung, ein den Klopstockschen Oden glück-
lich abgelauschtes und geschickt verfertigtes Stück
allgemeinen Inhalts, in dem von Klopstock besonders
bevorzugten (Alcäischen) Versmasse, dessen drei
Strophen lauten:
„Doch, wer, wie Du, des Lebens Gehalt und Werth
Auf sichrer Wagschal wog, und, wie Du, so warm
An jenes bessre Jenseits glaubte,
Dem ist die Larve des Todes nicht furchtbar.
Dem ist er kein Zerstörer, dem ist er nur
Mit ausgelöschter Fackel ein Genius,
Wie ihn Dein Lessing uns geschildert.
Selber gesehn und noch mehr verstanden,
Als ihm aus seinen Zweifel die Wahrheit sich,
Wie aus dem Kampf der Dämmrung der sonnige.
Der hohe Morgeo in der Gottheit
Urlicht, dem staunenden Geist emporwand."
Schlimm siehts dagegen mit dem Dichten
Gonzens aus, wo der Beim angewendet wird. Hier
passiert ihm, wie der gleichfalls von Apoll ge-
küsßten Friderike Kempner, manchmal das Unglück,
zum Zwecke des Gelingens der Verszeile Sylben
kassieren zu müssen. Wenn sich schon die Ab-
kürzung von Aristoteles in »Aristot" seltsam genug
anhört, so ist dies noch mehr bei dem Helden des
Gedichts selbst der Fall:
„Und so, wie wenn der Tag in schönem Lauf,
Ein schöner Jüngling, die Welt herauf
Sich hebt und wächst im Gehen,
So blühte Mendel auf,
Ein Wunder anzusehen I''
Komisch klingts, wenn Conz von dem nachmaligen
Hofpoeten Ramler erzählt^ dass dieser, als er
Mendelssohns Freund wurde, noch die „Begeisterung
im Busen verhalten habe**, trotzdem er bereits „ins-
geheim Liebling der Musen" gewesen sei; wenn er
ferner von der „Weisheit grossem Schwur", den
Moses und Lessing zusammen leisteten, mit folgen-
den Hyperbeln berichtet:
„Da schwüret ihr der Weisheit grossen Schwur:
Ihn hörten jauchzend die Engel, ihn hörte jauchzend
Natur:
Der Aberglaube grinst*, als er die Kunde vernahm.
Die zur erschrocknen Hölle kam.
Die Dummheit schüttelte arbeitend, schwer ihr Haupt
Von Mohn beträuft, von Lotos umlaubt.
Die Trägheit gähnt' und fuhr aus ihren Eiderbetten,
Und Teufel bissen in die Ketten."
Bei der ungemein tiefsinnigen Behauptung:
„Zum Kinde von dem Embryonen
Ist grösser noch der Sprung, als von Huronen
Zu einem Leibnitz"
merkt man das Stöhnen des gemarterten Hippo-
gryphen, desgleichen bei dem wie eine Bombe ein-
schlagenden Schlussreim:
„Seligkeit athmet im Rosenstrauch,
Seligkeit duftet aus der Morgenflur Hecken,
Schimmert aus der Wiese farbigten Decken,
Woget in des Weltmeers Bauch".
553
Dr. Leopold Hirschberg, Berlin: Der poetisch verherrlichte Moses Mendelssohn.
554
So könnte ich nnn noch viele Stellen zum
Beweis daftir anftthren, dass Tonzens ^Mendels-
sohn" zwar sehr gut gemeint ist, dass aber das
Können des Dichters mit seiner Begeisterung nicht
gleichen Schritt hielt. Es lohnte nicht, von dem
Werkchen zu reden, wenn man nicht, wie schon
eingangs erwähnt, kulturgeschichtliche Momente zu
berücksichtigen hätte. Schon der Umstand gibt zu
denken Anlass, dass in einer Zeit, wo die Rechte
der Juden noch gleich Null waren, wo das
Ghetto sie noch wie wilde Tiere von der Ge-
meinschaft mit den übrigen Menschen abschloss,
ein solches Gredicht auf einen Juden überhaupt
möglich war. Die Hochachtung, die Moses Mendels-
sohn in allen Kreisen genoss, muss in der Tat
gewall ig gewesen sein — das geht, möchte
ich sagen, aus jeder Verszeile hervor; und nur
diese allgemeine Hochachtung lässt es verstehen,
dass der Dichter sein Werk mit der schwungvollen
Strophe schliessen konnte:
„Und Du, die ihn gebohren, Germania!
Sey stolz, dass Du die Mutter des Weisen warst.
Du wirst ihn ewig ehren, denn Du
Ehrest Dich selber in Deinen Söhnen."
Von hohem Interesse ist nun weiterhin das nicht
weniger als zehn Seiten umfassende Subskribenten-
Verzeichnis. Vorwiegend sind es ja schwäbische
Städte und Dörfer, die das Kontingent der Leser
stellen. In Enzweihingen z. B. subskribieren der
Substitut Maier, der Amtsverweser Schumann, der
Gterichts-Schreiber Jung und endlich „HerrOchsen-
wirth Braun" auf je ein Exemplar, die Familie
CauUa in Hechingen will deren acht haben,
Herr Armbruster in Konstanz sogar zwölf. Die
Abonnenten von Ludwigsburg sind durchweg
Adlige: Herr Oberst von Dedel, Herr Oberst
von Hügel, Herr Hofmedikus von Höfen, Herr
Obrist von Palm; in Stuttgart ist unter 25 Teil-
nehmern kein Jude zu entdecken, wenn man nicht
den letzten „Ein Ungenannter* dazu rechnen will.
Die ganze theologische und philosophische Fakultät
von Tübingen ist vertreten ; in Königsberg verlangt
Herr Wolff Oppenheim 6 Exemplare, die weiteren
Abonnenten von dort sind: Herr v. Arnim (Fähnrich
vom Regiment von Egloflfstein), zwei Lieutenants
von Wolff, ein Lieutenant von Kunheim und Herr
E. F. Erhardt, ein „Mousquetier" vom Regiment
von Anhalt, die Herren Copmus und Woltersdorf,
beides Lehrer am Collegio Friedericiano. Die
Pfarrer und Vikare von Pfaffenhofen, Vaihingen,
Weinsberg, Wüstenroth, Lorch, Haussen, Heilbronn
fehlen nicht.
Wenn wir aus der Berliner Subskriptionsliste
den Geheimen Sekretär Siebmann und den Ratbmann
Köls streichen, so bleiben uns folgende Namen : Moses
Alexander, Samuel David, David Ephraim, Benjamin
Veitel Ephraim, David Friedländer, Abraham Fried-
länder, Joseph Fraenkel, Isaak Helfft, Joel Samuel
und Wolf Samuel von Halle, Elias Daniel, Benjamin
Daniel und Daniel Itzig; Samuel Salomon, Wolf
Samuel und Daniel Samuel Levy; Heym. Ephraim
Veitel, Benjamin Isaac Wulffund Meyer Warburg.
Während in 'Freudenthal die Herren Judas und
Götsch Moses friedlich neben Fräulein Caroline
von Rieben figurieren, in Horkheim Herr Low
Maier als einsame Grösse dasteht, zeigt Frank-
furt a. M. wieder eine stattliche Reihe: Lemle und
Wolf Joel Bamberger, Abraham Moses Braun-
schweiger, Gumpertz und Low Elias, Low GWtz
Haas, daneben den „Geheimden Rath von Schmid,
Herr zu Rossau. ^
Mit fortschreitendem Alter und wachsender
Erfahrung hat sich Conz als Dichter sehr zu
seinem Vorteil entwickelt; seine Gedichtsammlungen
erschienen mehrfach und fanden viel Beifall. In
richtiger Erkenntnis hat er seinen „Mendelssohn^
in diese nicht mehr aufgenommen. Alttestamen-
tarischen Stoffen aber ist er Zeit seines Lebens
treu geblieben. Unter seinen 1818 erschienenen
„Biblischen Gemälden" finden wir folgende,
zum Teil sehr schöne Dichtungen: Isaak und
Rebekka, Jakob am Brunnen, die Täuschung
Labans, Hagar, die Prophetenwittwe, die Sunamitinn
(die Wunderthaten Elisas behandelnd), die sieben
Brüder und ihre Mutter (Makkabäer), Belsazer in
der Unterwelt, Klagelied des Hiskias, die Helden-
probe (davidische Episode), KlagegQsang Davids
um Jonathan. Besonders interessant ist das Frag-
ment „Hiob", zum Teil in Terzinen gedichtet, voll-
endet in der Form und von nicht geringem
dichterischen Schwung.
Was aber am meisten dazu angetan ist, dem
braven CJonz — dem Christen — unsere be-
sonderen Sympathien zu erwerben, das ist folgende
kleine versteckte Bemerkung auf der Titel-Rückseite
seines Mendelssohn-Gedichtes:
„Nachricht:
Der Preiss des Werkchens ist 36 kr. oder
8 ggr. Sachs, und der Ueberschuss über
Papier- nnd Druckkosten flir arme Juden-
familien bestimmt."
\'c
ZWEI AERZTE.
I Dr. mtd. Theodor Zloc
Die Hiimeigung der Juden zum ärztlichen
Beruf ist uralte Erbschaft. Sie ist nicht Milieu-
erzeofniis and nicht gezüchtet durch die gewalt-
same Erziehuug einer qualenreichen Grescbichte, die
aus nie en-
dendem Lei-
den das Mit-
leid schof
und ans der
Not die in-
nere Nöti-
gung zu
helfen, zu
bessern, zu
heilen. Der
ärztliche
Beruf wurde
Dicht ge -
w&hlt. Zu
ihm drängte
Wahl-
verwandt-
schaft. Er
wurde nicht
lediglich
äusserlich
aafgezwun -
gen "^durch
die Eineng-
nng der
BerufsEnOg -
lichkeiten.
Es war die
seelisch not-
wendige
Äusweitnng
der jüdi-
schen Per-
sönlichkeit.
Im Arzttnm
wirkt« zu
allen Zeiten
die gleiche
Kraft der
jüdischen
Seele, die in
anderen
Formen, mit
umfassen-
deren Hori-
zonten und
weniger auf das Keal - Naheliegende gerichtet
sich in den Idealen, der Arbeit and dem Mar-
tyrium jüdischer Sozialreformer offenbarte und
restlos ausgab. Heilkunst und Heilwille waren
nicht ein Beruf an sich, ein Geschäft — sie
waren die sichtbare Aeusserung immanenten jü-
dischen Altruismus. Die Juden, so dringendes
Bedürfnis ihnen , die WandeniDg und Forschung
]j_ Nichdnick vcctolen.
in der Welt des (reistigen war, hielten sieb
doch immer frei von der Blutleere dessen,
was man „voraussetzongslose Wissenschaft" heute
nennt. Jedes Studium and alles Bingen nm Er-
kenntnisse
und um die
Erkenntnis
hattedieVoD
aassetzung,
dass sie ein
^greifbares
Ziel haben
. Hermann Senator.
die Men-
nnd glück-
licher zu
machen und
ihnen die
Tage' zu
mehren, auf
dass sie län-
ger und mit
reinen, nicht
verquälten
Sinnen die
Schönheit
der Welt ge-
nössen. Wer
der GFottheit
nahe stand,
verstand
auch zu hei-
len. Und
sich, wer als
Gott-
gesalbter
betrachtet
sein wollte,
mit wunder-
samen Hei-
lungen le-
gitimieren.
Das war
Volks -
Die höch-
sten Attri-
jr ,.u»i uau »«1 . bute, WCl-
che die plas-
tische Vorstellung des Volkes ihremGN}tte gab, waren :
gerechtes Richtertum und Allheiler. Und|diese Vor-
stellungen sind nicht verblasst. Die Gottes Gesetze
und Gott iu seinen Gesetzen zu erkemieo strebten,
unsere Weisen, unsere Lehrer, ihrar viele betätigten
sich als Aerzle.
Helfen und Heileu ist Gottesdienst
und Sehnsucht nach Gottähnlicbkeit Und
557
Dr. med. Theodor Zlocisti: Zwei Aerzte.
558
diese Weihe reinen Menschentums webt auch nm
das Werk derer den heiligen Schein, die ein arm-
seliger Materialismus ihres Gottes, ihres Gk)ttes-
strebens beraubt hat. Wer Gk)ttes lacht und doch
gottgefälliges Werk vollbringt, ist kein Spötter,
auch wenn er sich dafür MXt Er ist nur ein
Armer — sein selber nicht bewusst.
Zu den wundersamsten Umsetzungen spezifisch-
jüdischer Charaktere, wie sie in den letzten
hundert Jahren sich vollziehen, gehört der Typ
des jüdischen Arztes. Bei den einen: Erstarrung
des inneren Arzt- Berufs — der Berufung! — zum
ärztlichen Merkantilismus. Bei anderen ungeschwächt
und unverbogen - wirksam der Drang der Seele,
zu bessern und zu heilen. Aber sie deuten
diesen Drang anders. Der alte Trieb, aber neue
Antriebe. Der Urgrund der Seele blieb: die Be-
gründung ihres Wirkens aber wurde eine andere.
Ein klassisches Paradigma dieser Ait gibt
das Leben des jüngst fiestorbenen Emanuel
Mendel. Ein dezidierter Heide in seiner Welt-
anschauung — und ein gottgesegnetes Lebenswerk!
Er lehnte Gtott auf allen Wegen ab und „er wan-
delte in den Wegen Gtottes." Mit welcher Ergriffen-
heit haben die russischen Juden von ihm gesprochen !
In seiner Poliklinik behandelte er Tausende. Der
die Menschenliebe in sich trug — die seit
Jahrtausenden lebendige, in ewigen Leiden betäticfte,
im Ausgeben sich verjüngende und steigernde
jüdische Nächstenliebe — suchte armer Juden
kranke Nerven zu heilen, die seit Jahrtausenden
zuckenden, in ewigem Leiden zermarterten,
alternden und gesteigert reizbaren jüdischen
Nerven !
Mendel fühlte sich, wie so viele jüdische Aerzte,
schon früh zur Seelenheilkunde hingezogen. Als
Sohn armer jüdischer Eltern in Bunzlau geboren,
hatte sich Mendel unter schweren Mühen in Breslau
dem ärztlichen Studium gewidmet. Nach seinem
Examen liess er sich in Pankow, einem Dörfchen an
der nördlichen Peripherie Berlins nieder. Er war
bald der gesuchteste Arzt des ganzes Kreises; der
Arzt. Gründliche Kenntnisse verband er mit
edelster Menschenliebe. Still in seinem Auftreten,
bestimmt aber ohne die tönende Aufdringlichkeit und
Arroganz des ärztlichen commis voyageur, bedächtig
— und doch sicher, ernst und doch voll gütigen Humors
und rührend schlicht musste er alle an sich ketten,
die ihm einmal nahe traten. Die Armen werden
ihn vermissen: wie hoch auch sein Ruhm und sein
Ruf in den Jahren anstieg, er verstieg sich nie
zu „festen Preisen"; und niemand hat wohl ein
Wort der „Belehrung" von ihm gehört, der ihm
für langwierige Konsultation ein lächerlich niedriges
Honorar auf den Tisch l^e!
Die drei Feldzüge machte Mendel als Militär-
arzt mit. Laqueur gibt eine Anekdote, die das
Wesen Mendels ganz beleuchtet. Das 3. Garde-
Grenadier-Regiment „Köniein Elisabeth'' rückte
zum Sturm auf Le Bourget vor. Ein älterer
Stabsarzt tritt auf Mendel zu: ^ Gehen Sie tür
mich in die Feuerlinie. Sie sind ledig. Ich habe
Weib und Kind.* Mendel erfüllt die Bitte sofort Ein
Schuss zersplittert sein Schienbein. Eisernes Kreuz !
An Auszeichnungen hat es Mendel nicht ge-
fehlt. Zum Ordinarius hat er es freilich nidbt
gebracht. Ihm fehlte nicht der S^en seiner
Kranken, nicht der Segen seiner grossen Schaar
von Schülern. Nur der Segen des Kultus-
ministeriums. Freilich ganz war Mendel nicht zu
umcfehen. Nicht auf der bequemen Rutschbahn
des akademischen Assistententums, sondern über die
Mühsal des praktischen Arztes hin war er 1873
zur Habilitation zugelassen worden. Gründliche
Arbeiten über die „Progressive Paralyse" und die
„Manie" und eine Fülle kleinerer Stufen, zu denen
ihm seine Poliklinik und die von ihm begründete
Privat-Irrenanstalt das Material gab, vor allem
aber seine ausgedehnte Lehrtätigkeit brachten ihn
schon nachllJahren („schon" für einen Juden!)
eine ausserordentliche Professur ein. Allein trotz
seiner umfangreichen beruflichen und wissenschaft-
lichen Arbeit blieb er in engster Beziehung zu
den Interessen des Tages. Während zweier Legis-
laturperioden war er Abgeordneter von Nieder-
Bamim — seines Kreises, der seinem unermüd-
lichen Eifer so viele sozialhygienische und ver-
kehrstechnische Einrichtungen und Verbesserungen
verdankt. Mendel sass natürlich auf der „linken
Seite" des Parlaments, auf der Seite, auf der, wie
er in seiner Vorlesung immer scherzte, auch im
Gehirn das — Sprachzentrum liegt. Der heut so
scharf — und nicht zuletzt von Mendel selbst an-
gefochtene! — § 51 über die ZurechnungsfShigkeit
verdankt Mendel Fassung und Kommentar. Er
war durch praktische Erfahrung und gerichtliche
Sachverständigentätigkeit ein kompetenter Be-
urteiler des Problems über die Gebundenheiten des
Willens, die durch Bewusstlosigkeit und krank-
hafte Seelenlage die verbrecherische Tat zu einer
unfreien machen. Es wird wohl kaum einen Ber-
liner Studenten gegeben haben, der nicht —
wenigstens einmal — seine Vorlesung über Zu-
rechnung sf&higkeit gehört hat.
Seinen Studenten, seinen Schülern, der Wissen-
schaft und den Kranken ist Mendel am 23. Juni
in seinem 67. Jahre entrissen worden. Ein Leben
der Arbeit, der Freundschaft und reinsten
Menschentums ging dahin. Aber die Erinnerung
an sein Lebenswerk, das allein uoser Leben ist,
wird nicht schwinden. Und es soll in der Juden-
heit nicht schwinden. Hat sich Mendel auch über
die traditionelle Weltanschauung Israels hinweg-
gesetzt, so hielt er seinem Stamme die Treue und
verschmähte es, die unreinen Ehren des Venäters
zu erkaufen, zu ertaufen! Und gegen den Rassen-
hass kämpfte er als Mitglied des Komitees zur
Abwehr antisemitischer Angriffe mit der Entrüstung
des freiheitlichen Mannes.
Eine geschlossene, aufrechte, reiche Persön-
lichkeit ging von uns: Ein „dezidierter Heide**,
der in Gottes Wegen wandelte . . .
55Q
Dr. med. Theodor Zlocisti: Zwei Aerzte.
560
Vou d6ii stilleu Gräbern lockt uns der freund-
liche Tag. Der Erinnerung an unsere Toten ganz
hingegeben, — in diesen heiligen Minuten sollen nicht
Tränen rinnen — so will es unser Judentum, das
den Willen zum Leben fordert — sollen Loblieder
erschallen auf unsern Herrn; und wir flehen: J'hei
sch'lomo rabo. Die Fftlle des Glückes im Leben
senke sich über uns und ganz Israel vom Himmel
hernieder. *
Ein Heiler und Helfer starb — freuen wir
uns der lebenden Heiler und Helfer!
Die Tage sterben verdrossen und schwarz
dahin — klammern wir uus an frohe Stunden!
Eine frohe Stunde will ein Schüler festhalten: sie
kam, als sein Lehrer geehrt wurde.
Nach dem Tode des Meisters der deutschen
Chururgie Ernst von Bergmann hat die angesehenste
Vereinigung deutscher Aerzte Hermann Senator
zu ihrem Vorsitzenden gewählt. Virchow hatte die
Berliner medizinische Gesellschaft durch viele
Lustren geleitet. Seine sella curulis ist geweiht;
und nur wer die höchsten Weihen der Heilkunst
empfangen, darf von dieser Stelle zu diesem Forum
sprechen.
Diese hohe Auszeichnung durfte Senator mit
dem leisen Gefühl der Genugtuung hinnehmen.
Nicht auf den winkligen Schleichwegen, die sich
an den Personalienchef unserer preussischen Hoch-
schulen heranschlängeln : — durch den freien Willen
einer hochstehenden Vereinigung, durch den freudigen
Zuruf bedeutender Männer, die Leistungen zu werten
wissen, ist Senator zu dem ehrenvollen, ragenden
Ziele geschritten. Es ist eine kleine Genugtuung
für viele, die mit Bitternis die Zurücksetzung sahen,
die Senator von der Hochschulverwaltung durch
viele Jahre erfahren musste : auch Senator hat es nie
zum ordentlichen Professor gebracht. Mit einem
Lehrauftrag und leeren Titeln wurde er abgespeist,
upd er durfte mitansehen, wie jüngere Kräfte und
kraftlose Jüngere ihm vorgezogen — vorgezogen
wurden. Die Berliner Universität ist nach Levin
Goldschmidts Tode vor der peinlichen Gefahr, vor
dem — nationalen Unglück behütet worden, einen
Juden unter den Ordinarien zu dulden. Und als die
unheimliche Rumpelkammer der Charite endlich einem
modern-hygienischen Neubau weichen sollte, wurde
die dritte medizinische Klinik,an der Senator mehr
als ein Jahrzehnt als Lehrer und Forscher gewirkt,
aufgehoben Er war derfrischen Luft näher gebracht
worden: physikalisch-diätetische Therapie der Ver-
waltung. Aber Senator bekam zur weiteren Stärkung
eine neue Poliklinik, der ein paar Betten angefügt
wurden. Aeusserlich war Senator also die Möglich-
keit geblieben, auch klinische Vorlesungen neben
den poliklinischen zu halten, die ihm seit Josef
Meyers Tode anvertraut waren.
Auf Senators ernste Lippen hat sich sicher
nie ein Wort über die mannigfachen schmerzhaften
Zurücksetzungen gedrängt, in getreuer Erfüllung
seiner Pflichten hat er die Befriedigung gesucht.
Und er muss sie gefunden haben. Viele Generationen
deutscher Aerzte danken ihm Wissen und die Kunst
der Beobachtung. Senator ist ein Meister in der
Zergliederung des Materials, ein Diagnostiker voller
Scharfsinn und eindringender Kritik. Und ein ge-
diegener Lehrer. Zu seinen Vorlesungen drängen
sich die Studenten, die lernen wollen, was sie
draussen in der wechselreichen Tätigkeit leiten
kann und woraus sie zu Helfern und Heilem werden.
Senators Vorlesuugen haben nie an die Ergötzlich-
keiten des Zirkus erinnert, in dem der Professor
den Clown in vollendeter Groteske markiert. Sie
suchen nicht zu fesseln durch pikante Ueber-
raschungen, sondern durch die Gliederung des
Lehrstoffes, durch planvolle Pädagogik und durch
die zielsichere Erziehung für den praktischen Beruf.
Dabei bleibt Senator immer den Forderungen
ehrlicher Wissenschaftlichkeit gerecht, ohne freilich
in den Fehler zu versinken, seine Vorlesungen für
erfahrene Aerzte statt flir Studenten einzurichten.
Sein Vortrag ist trocken — aber man wird dieses
trockenen Tones nicht satt. Es ist kein Sprühfeuer
des Witzes, dessen Eaketen aufleuchten und dann
die Nacht nur noch dunkler erscheinen lassen. Er
verbreitet ein geruhiges Licht, das milde leuchtet
und dessen Abglanz nicht mehr aus der Seele ver-
schwebt. Es ist kein Prunk in Senators Gediegenheit.
Sie ist schlicht und stolziert nicht in gestenreicher
Pose einher. Man fiihlt an jedem Fortschritt noch
die hemmende Bleilast des Zweifels.
So ist Senator vielen Aerzten auch im späteren
Leben Berater geworden. Ein Consiliarius, von
dem man sich der Entwirrung verknäuelter Krank-
heitssymptome sicher weiss, von dem man die
Wegesrichtung zur Lebenserneuerung erwartet.
Wer aber einen Patienten „in Schönheit sterben"
lassen will und narkotisiert von ätherischen Worten;
wer flir die zerfliessenden Angehörigen einen
gallertigen Tröster braucht, oder wer durch
fleissiges Konsultieren flir einen Sohn oder Ver-
wandten — eine Assistentenstelle ebnet, der zieht
Senator nicht zu! Das ist sein Ruhm. Das macht
seinen seelischen Reichtimi aus.
Sein Wort ist ernst, gemessen, oft einsilbig.
Seine Geste schlicht, bestimmt, voll hoheitsvoUeu
Ernstes. Manchem mag sie als kalt und nüchtern
erscheiüen. Aber niemand wird das Geflihl der
Abweisung, der Distanzierung haben, in der sich
Gelehrtenmumien gefallen.
Es gibt sicher nur wenige Menschen, in denen
äussere Gehabung und seelische Art sich so har-
monisch zum Bilde einer geschlossenen Persönlich-
keit aneinanderfügen. Zwischen der steifen Kra-
vatte ( ich kenne sie freilich erst seit 10 Jahren — )
und seiner klinischen Vorlesung liegt nicht ein
Spalt von einem Millimeter. Und in seinen wissen-
schaftlichen Arbeiten sieht man noch das ernste,
ausdrucksreiche und so wenig dithyrambische Auge,
das auf die Blätter des Manuskriptes sah. Und
diese wissenschaftliche Arbeit, die einem halben
Jahrhundert persönlichen Lebens Inhalt und Weihe
gab, trägt ganz ihres Schöpfers Züge. Grosse Ge-
biete, auf denen das Unkraut wild in die Höhe
schoss, hat er durchpflügt, dass die Schollen fein
561
Dr. med. Theodor Zlocisti: Zwei Aerete.
säuberlich nach rechts and links fielen nnd aus den
ijeradlinigen Forchen die Halme ernst ia die Höhe
sprosBten. Ein Schöler des BegrUnders moderner
iHiysiologie, Johannes Müller, ein Jünger des grossen
Klinikers Ludwig Traube, war er ein Mebrer
ihres Erbes. Und seine umfangreichen Werke, in
denen Senator das Wissen ganzer Gebiete zusammen-
fasste, sind nie Kompilationen gewesen, sondern
Neaseböpfunpen , welche die sichtende , ordnende
wertende Meisterhand
offenbaren. Sie bieten nur
wenig Ueberraschnngen,
halten sich von schwei-
fenden Hypothesen Irei,
io denen die Fantasie
über den niederhaltenden
Zwang des nüctatemeD
Experimentes und der
Beobachtung mit leich-
ten Sinnen hinausflattert.
Mao hOrt den ernsten,
schweren Schritt des
Mannes in seinen Werken,
dem der Reichtum des
Bodens- seinesBodens!
— mehr Befriedigung gibt
als die unruhigen Wolken
Über ihm. Senators Art
steht jenseits aller Poesie,
die durchaus nicht die
Feiodia der Natur-
forschung ist. Sie hat
nicht jenen leisen Hauch
der Mystik, die um alle
ewigen Werte liegt. Sie
ist intellektuell und von
jenem gar zu fieradlinigen Rationalismus, der fast
ein Stigma der aufwärtsstrebenden Judeng enerationeu
vom Beginn des Jahrhunderts ist.
Senator adelt seine kernige Ehrlichkeit, die
wie ein gesundes Balkenwerk das Heim seiues
Lebens durchzieht. Ehrlichkeit der Ueberzeuguug
ist E}hrlichkeit der wissenschaftlichen Arbeit, des
Lebrens und des Duldens! — Senator hat immer
treu zum Judentum gestanden, dessen zähe
Krail io ihm wirkt. Seit vielen Jahren ist
Prof. Dr. E. Hendel.
er Repräsentant der jüdischen öemeinde; und
war er auch von der konservativen Partei, die
unter M. A. Klausner's geistiger Führung
der breiten jüdischen Masse engere Fühlung zur
Gemeinde brachte, in die Gemeindestnbe getragen
worden, so erwarb er sich bald die Hochschätzuog
auch der Liberalen. Er selbst ist freilich nur in
dem Belang als konservativ zu bezeichnen, als bei
ihm die Pietät gegen die Tradition stärker poin-
tiert ist. Lebendige
Ueberzeugung ist sein
Konservatismus nicht.
Senator ist aber auch
„kirchlich" zu wenig in-
teressiert, um zn den
anachronistischen Stre-
bungen des Liberalismus
eine innere Beziehung
zu haben. Sein Juden-
tum ist nicht scharf
umgrenzte Weltanschau-
ung. Es ist eine heilige
Stimmung. Ein reines
Gefühl des Stolzes anf
die kultnischöpferischen
Kräfte des jüdischen
StAmmes; historisches
Bewnsstsein der Tätig-
keit unserer Gemein-
schaft! So findet er den
Quell aller Treue und
zugleich der Existenz-
berechtigung der Juden in
den ethischen Inhalten der
jüdischen Lehre , deren
Lebeoskraft nicht zn
greisenhafter Dürre vertrocknet ist, und deren im-
manenter Expansionstrieb noch Aufgaben und Ziele
in der Menschheit hat.
Senator hat vor einigen Jahren die wissenschaft-
lichen Vorlesungen für Akademiker geschaffen, aus
deuen das meisterhafte Werk von Eschelbacher hervor-
ging. Und in gleicher Richtung bewegt sich Senators
Anteilnahme an der Verbreitung der „ethischen Bein-
stellen"', die stolz den Vergleich mit dem Cliristen-
lum herausfordern.
563
564
Text von S. MAGULESCO.
Moderato.
DAS PEKELE.
(Nach einer jüdischen Volksmeiodie.)
Nachdruck veibuirn.
Musik von H. A. RüSSOTTO.
^^^^
VOICE
^^^m
lacht weil mir trogen dasver
shimcl_v s.k'l a kreink ken er trefen w,
dolig:t in p.k'l mit
^
>
-*
565
S. Magulesco! Das Pekele.
566
Das Rekele,
Seit unser Land ist verlorn,
Brent noch mehr Eissow's Zorn.
Mir wandern, und er treibt uns von Land zu Land.
Chotsch er lacht, weil mir trogen
Das verschimelte Sek'l.
A krenk ken er trefen,
Was do liegt in Pek'l.
Mit Ozres kaufen
Is er nit umstand;
Chotsch er treibt und jogt;
Mein Yidele geht weiter und sogt:
Trog das Pekele Videle, t^ob kein Moire ^)
Auf dein Pleizele^) trog und wer nich mid,
Trog dos Pekele, Videle, hit ob Gott Thoire,
So lang du trogst den Nomen „Yid".
Sein Pekel dertapf hat Eissow gleich
Ün sein Thoire zerrissen auf Prach,^)
Seine neueToire hat er gewollt dem YkJ anhängen;
Der Yid bat die Stucklacn zusammengeklieben,
Stillerheit, dass kein Aus^) ist übergeblieben,
Weil ganz will er sein Toire aheim obbrdngen.
<) Furcht. *) RQckcn. >) vollständig. «) Buchstabe.
ihenBuieauder M AllianceJsiaelili
no m o'SiSi
BERLiM.N 2^.
Oraflienbur^ersrttf^
DAS UNTERSTUETZUNGSWERK DER ALLIANCE
IN CASABLANCA.
iSpezialbtricht für die A. I. U. von Is. Pisa).
Nachdruck veiboten
C. a s a b I a n . a . 13. AiikusI. 1907.
Ich halte din Ehre. Ihnpn niilzuleiltn. dali ich heule
in Casablanoa an^kommcn bin, um miuh mit der Lage
unserer Glaubensgenossen zu besrhiirtigen. l>a es
unmöglich ist, hier in der Stadt Li>hcnsmiltel zu fhidon,
so habe ich an Nahrungsmilleln mitgelira'-lil:
1500 kg Brol,
20 Sack pemaldeiiL' (.-ersto,
25 Sack Heis,
25 Sack Kavlolfeln.
15 Sack Bohnen,
2 Sack Salz,
1 kleine Tonne öl,
10 Sack Zucker,
1 keine Tonne Ituni,
1 Packen Tee. - -^
Aullerdem halio ich eine kleine Apotheke mitge-
bracht, namentlich Chinin, Rizinusöl, Calomel und
Sublimat.
In Tanger habe ich vergcbii<'h zwei Tage lang auf
die Ahfahrl eines Schifles gewartet. Mitteilungen,
die wir aus Casablanca bekamen, versicherten, daß die
Israeliten dort Hungers stürben. Ich habe deshalb
in Übereinstimmung mit Herrn Rihbi für ö bis 700 Frs.
ein Boot gemietet, das mich mit meinen Vorräten hier-
herbrachte.
Unterredung mit Herrn de S t. .\ u I a i r e.
Bevor ich Tanger verlieU, besuchte ich Herrn
de St. Aulaire, dem ich meinen Auftrag vorlegte. Er
gab mir Empfehlungsbnefe an die französischen
Militärbehörden mit. Ich habe ihm von den Aus-
schreitungen gesprochen, die einige Fremdenlegionarc
begangen hätten. Kr versicherte mir, daß strenge
Befehle deswegen ergehen würden.
Unterredung mit Herrn Maigret.
Sofort nach meiner Ankunft habe ich mich dem
französischen Vizekonsul, Herrn Maigrct, vorgestellt.
Ich nannte ihm den Zweck meiner Rückkehr. Er nahm
mich in ausgezeichneter Weise auf, beklagte lebhaft die
Plünderung des Juden Viertels, und entschuldigte sich
beinahe, daß er die Israelileu zu gewissen Leistungen
— Leichenbeisetzung. Straßenreiniguug usw. — heran-
gezogen habe. Er vcrsiclierte mich der französischen
Sympalliie mit unseren Glaubensgi'nossen. Er sprach ;
von dem möglichen Wiederaufbau des israelitisi'hen
Viertels. Ich entgegnete ihm jedoch, daß man sich
zunächst mit der F>nährung unserer Glaubensgenossen
und damit beschäftigen müsse, ihnen Arbeit zu geben.
Er stellte mir c ne Barkas.se und ein Pitjuet Tirailleure
zur Verfügung, um meine Vorräte auszuschiffen, .^uf
seinen Rat ging ich selbst durcli das zerstörte Juden-
viertel, beruhigte die israelitische Bevölkerung und
versprach ihr .Arbeit und Lebensmitlei. TalsächUch
hat die .Ankunft Ihres Verlrelers bei den Jsraeiilen
Freude her\oi^'ruren. Sie fühlen sich nicht mehr allein
und wis.ien, daU man sieh mit ihnen beschäftigt.
Unterredung mildem Kommandanten
Mangln.
Icli habe mich auch dem Heirn Platzkomnian-
danten Mangln voiT^steilt. Er ist ein Mann von aus-
gezeichneten Gefühlen. Ich habe wahrgenommen,
daß er für unsere Glaubensgenossen große Sympatliie
empfindet. Ich erlangte von ihm sofort, daß alle von
Israeliten geleisteten Arbeiten noch am nämlichen
Tage bezahlt werden sollten. Auf diese Weise werden
viele kräftige Männer .Arbeit finden. Der Kommandant
Mangln gab mir einen Gelellschein, der mich ermächtigt,
zu jeder Tages- oder Nachtstunde mich In der Stadt zu
bewegen.
.Moi^n früh wei-de ich die Lebensmittel ausschiffen
und verleiten und Ihnen einen genauen Bericht über die
Lage schicken. .Augenblicklich kann Ich Ihnen nur
wiederholen, daß unsere Glaubensgenossen ohne Brot
und ohne Obdach sind, und daß die Wohltätigkeit zu
ihren Gunslen grolle Aufwendungen wird machen
müssen. Is. Pisa.
C a s a b 1 a n c H , 15. August 1907.
Ich habe die Ehre, Sie von <len Ereignissen in
Kenntnis zu selzen, die während der letzten vierzehn
Tape in Casablanca sich vollzogen haben.
Am 1. August stürzte sich eine Bande von etwa
100 Kabylen, unterstützt von einigen Arabern ans
der Stadt auf die Ilafenscliuppen, brachte einen
kleinen Eisenbahnzug zur Entgleisung, tätet'' neun
Europäer und zerstörte einen gii>ßen Teil der Bau-
werke. Sofort verbreitete sich in der Stadt eine große
Panik. Es war, als hätte man cm Vorgefühl der
kommenden Ereignisse. Der Dienstag und di;r MitI-
: Israelile Universelle: Das Unlerstiitziiiigswerk dtr Alliance in Casablanca
Die Alliance -Mädchenschule in Tanger. VI. Klasse.
woch Ringi'n vorüber, ohii*! daß dio uiibesclirdlilkhc
Angst sich legto. Die israolilischo Bcvöllvorung sah ein
Massakrc und allgemGinc Plünderunj; voraus, welcher
Teil immer siegreich sein würde, und stürzte sich in
.Massen auf die K.aiiffahrtcischiffe, die auf der Hcede
Waren einluden. Fast alle reichen oder wohlhabenden
Familien, die etwas bai-es Geld oder Effekten zu-
sammenbringen konnten, s(^hifften nich ein, zahlten
unsinnige Summen zum Teil dafür, dali ihnen die
Kabylen die EinschiffunR gestatteten, zum Teil für die
Verbringung an Itord. Die Erri'gung war unermeßlich:
Mütter vergaßen ihre Knider, die verschwanden, reiche
Leute, die ihr ganzes Vermögen in einem Sack mit
sich führten, sahen ihre Habe im Wasser vorechwinden.
Am 3. Augusl erschien der Kreuzer .,(ia!i!ee"
auf rfer lleede. Seine Anwesenbeil beruhigte die
Stadt ehi wenig, und fasi eine volle Woche, bis zum
nächsten Uienslag, zeigte sich keine allzugiiiUe Er-
regung. Initz der .'1— WMKI Heiler, die di.^ Sladl
umzingelt
hielten.
Plötzlich
trat ein
Wechsel ein.
[nderNaciil
vom Montag
zum Diens-
tag, nm
2 Uhr des
.Morgens.
wurden die
Europäer in
aller Eile be-
nachrich-
tigt.
Konsulate begeben sollten. Umö Uhr landete ein Piquet
von 75 Seosoldaten. Das weileiv kennen Sie: Die
Soldaten des Maghzen schos.sen auf jene. Die Mari iie-
soldalen durcheilten die Stadt, bedeckten die Straßen
mit Leichen, kamen in das französische Konsulat und
gaben das Zeichen zum Bombardement. Als hätten die
-\raber nur auf dieses Zeichen gewartet, stürzten sich
die Soldaten des Maghzen heim ersten Kanonenschuß
auf das Judenviertcl, von dem ganzen Mob gefolgt, und
begannen die Plünderung. Die ,0—6000 Mann, die an den
Toren wartoten, drangen in die .Sladt ein, ergossen sicli
über das Judenvicrte) und andere Stadtteile, stahlen,
plünderten, vergewaltigten, töten, legten Feuer an und
verbi-eileten drei Tage lang, bis zur Ausschiffung der
französischen Truppen, Schrecken in der Stadt. -Nicht '
ein Haus, nicht eine Familie, nicht ein Mensch blieb
vei-schont. Im ganzen sind vielleicht fünf oder sechs
israelitiscbe Ilauser unheriihrt geblieben, weil sie dicht
neben d.-n Konsulaten stan.len. Die Kaiseria.<li.AV..bn-
stalle iler
israeliti-
schen Kauf-
leute, über
500 Lä.len,
wurden in
Ürand ge-
steckt. Nur
Kuinen sind
übrig gf;-
blieberi. Das
ganze Mellah
von enieiii
Ende zum
sich
die
Die Alliance 'Mädchenschule in Tanger. III. Klasse.
Mitteilungen der Alliance Israflite Universelle; Das UnlerstüUmigsviwk Jer Ailiai
O. SIMONI.
ist verwüstet,
Türen und
Fenster zer-
brochen, Möbel
undWertgegen-
fitände ver-
schwunden. Es
ist alles geraubt
tmd davonge-
tragen. Unsere
Schulen sind in
Trflmmer ge-
legt. Die Bänke
und ■ Katheder
sind "zerhackt,
alles Material
und das Silber
[fortgeschleppt,
die Bücher ver-
brannt. In der
'.Talmud-tora,
wo der Adjunkt
Herr Soussana
wohnte, ist alles
in »Stöcke ge-
sclilagen. Herr
Soussana war schwer krank. Man nehm ihm alles weg,
sogar seineMatratze und sein Hemd, und lieQ Hin auF der
eisernen Bettstelle liegen. AlleSynagogen. mit Ausnahme
von zwei kleinen Gebetsstuben, sind ausgeraubt, die
Silbersachen gestohlen. Eine Einzelheit sei hier ver-
merkt, die unseren Glaubensgenossen zur Ehre gereicht:
Alle Gesetzesrollen sind gerettet worden! Überall Zer-
ntärung und Verwüstung. Man sollte nicht glauben,
daß Menschen solche Trümmer schaffen können. Man
möchte eher annehmen, daß eine elementare Kata-
strophe über die Stadt niedergegangen wäre.
;■ ■, Doch Plünderung und Brandstiftung ist noch
nichts. Die aus ihren Wohnstfitlen verjagten Israeliten
verbreiteten sich über alle Stadtviertel in der iS'äho der
Konsulate, namentlich des französischen Konsulats.
Zwischen den Arabern und den in ihren Konsulaten
untergebrachten Europäern fanden Gefechte statt.
Die Araber rächten die enormen Verluste, die sie dabei
erlitten, an den Schwächeren, den Israeliten. Eme
wahre Menschenjagd begann. Man versteckte sich in
Kellern, unter Schutthaufen, in leeren Cisternen. Ganze
Familien lebten drei Tage lang ohne zu essen auf dein
Stroh. Die Männer wurden mit Knüttelhiehen und
Dolchstichen verjagt, Frauen und Kinder davon-
geführt. Schreckliche Szenen spielton sich ab, .Man
muß den Bericht aus dem Munde der Opfer hören.
Ein Rabbiner unserer Schule hatte eine einzige Tochter.
Aus Geiz wollte er sich nicht einschiften lassen. Die
Kabylen drangen bei ihm ein, nahmen ihm alles fort,
auch seine Tochter. Er bot alle .seine Habe, seine
Ersparnisse, seine Möbel. Man nahm sie und seine
Tochter dazu. Er lief nach. Ein Dolchstich in den
Kopf brachte ihn zu Fall. Als er sich erhob, war se ne
Tochter verschwunden. Hunderte von ähnlichen
Szenen haben sich abgespielt. Nach den Ermittelungen,
die ich seit drei Tagen angestellt habe, bin ich zu nach-
-iti'henden Ziffern gekommen, die dri' Ifehörden inir
Jüdisches Konzert in Marokko.
OEI.QEMAELDE.
als wahrscheinlich bezeichnet haben: 30 Tote, etwa
ÜO N'erwundete, davon 20 sehr schwer, zahllose Ver-
letzungen, Vergewaltigungen, 250 junge Frauen und
Mädchen entführt. Besonders beklagenswert ist der
Tod des Herrn Sasson, eines der großherzigsten Wohl-
täter der Stadt, und des Herrn Ettequi, eines Freundes
der Allianeoschulen und ihrer Angestellten. Jetzt ist
die Stadt heinahe verlassen. Die arabische Bevölkerung
ist tot oder verschwunden. Von den 6000 Israeliten,
die die Stadt zählte, haben sich etwa 1000, nämlich
die Kolonien von Tanger und Tctuan. zwschen Genta,
Gibraltar und Tanger verteilt. I.ÖOO— 2000 Flüchtlinge
von Mzab und Zettat sind nach allen Richtungen
zerstreut. Unmöglich, irgend etwas über ihr augenblick-
liches Schicksal zu erfahren. Sie kehren allmählich
zurück. Die Vorposten signalisieren lagtäglich heim-
kehrende Gruppen. General Drude, den ich ge-
sprochen habe, hat mir die Versicherung gegeben,
daß er das Möglichste tun werde, um sie in Ruhe zur
Stadt zurückkehren zu lassen. In der Stadt sind etwa
.S— 4000 eingeborene Israeliten in der traurigsten Lage
zurückgeblieben. Ich verteile Lebensmittel unter sie.
Das französische und das englische Konsulat haben
mir Hrot zur Verfügung gestellt. Aber diese Unglück-
lichen sind ohne Häuser und ohne alles. Im Augen-
blick ist das Elend noch nicht so schlimm. In den
Straßen liegt Gerste knieh(M'h. Jeder kann davon
nehmen so viel wie er mag. Das eigentliche Elend
wird erst später beginnen, wenn die Ordnung wieder-
hergestellt ist.
Was die Israeliten auf dem flachen Lande betrifft,
so ist Hoffnung vorhanden, daß man sie in Ruhe lassen
wird. Ich hoffe viel für sie von der Okkupation. Viele
Stämme haben sich bei-eits zur NiederlegungderWaffen
bereit erklärt, und eine der Frioiiensbedingimgcn, die
man ihnen stellen wird, wird darin heslehen, daß man
<las Leben und das Eigentum i\'-v Israeliten achtet.
1 Zöglingen der Handwerkerschule 5. Jahrgangs nach Jerusalem.
ISRAELITEN IN PERSIEN.
Die israelitische Gemeinde in Kachan.
(Spezialbtrichl an die A.J. U, von Direktor Loria.)
Niclidnick vcrtHiitn.
Teheran , 9. Juli 1907.
Kachan liegt in der Mitte zwischen Teheran und
Ispahan an der großen Handebstraße, auf der die
Karawanen vom kaspiachen Meer zum persisclicn
Meerbusen ziehen müssen. Auf diesem ungeheuren,
von Norden nach dem Süden Persiens durch nackte,
sandige Ebenen laufenden Wege trifft man zwischen
der Hauptstadt und Kachan nur auf einen einzigen
Platz von einiger Bedeutung, das ist Kum. Diese
Oase erhebt sich in wunderbarer Weise mitten in kahler
und trauriger Gegend, wo man auf einer Strecke von
100 km keine einzige Baumgruppe findet, und wo
kaum ein paar widerstandakräftige Ranken sich an
die Felsenwand schmiegen.
In früheren Zeiten hat Kum, wie Meschcd und
Tebris, zu den blühenden jüdischen Gemeinden ge-
zählt. Jetzt ist es die Stadt der Pilgerzüge, die auf
der Ebene wie zum Gebet auf den Knien liegt und die
goldfunkelnde Kuppel seiner Moschee wiojdie schlanken
Türmchen seiner 446 von Storchncstem besetzten
Mausoleen gen Himmel streckt. Der Massen übertritt
der Juden von Kum zum Islam fällt noch unter die
Regierungszeit des Schahs Abbas I. des Großen
(1557—1628).
Dieser Monarch war im Besitz eines mit wertvollen
Edebteinen besetzten Dolches, den er als eine Familien-
reliquie hoch hielt. WährendF einer Treibjagd wai*
der Herrscher, von seinem Gefolge abgetrennt, in
großer Ermüdung unter einem Baum eingeschlafen;
seinen Dolch hatte er neben sich gelegt. Bei seinem
Erwachen war die Waffe verschwunden, und alle
Nachforschungen blieben fruchtlos. Drei Monate
spater erfuhr man, ein J ude habe einem Juwel enhOndler
mehrere der Steine verkauft, die den Griff des Dolches
geschmückt hatten. Schah Abbas ließ den Juden vor
sich kommen, und verlangte von ihm eine Erklärung
über die Herkunft der kostbaren Steine. Der Jude
beteuerte seine Unschuld und blieb trotz der Folter
bis zu seinem Tode dabei, daß er dem denunzierenden
Juwelenhändler überhaupt nichts verkauft hatte.
Zur Strafe dafür erließ Schah Abbas ein Edikt, das die
Juden seines Königreichs aufforderte, zwischen dem
Tode und dem Übertritt zum Islam zu w&hlen.
Babai ben Lotl, der diese Ereignisse in einem
mit hebräischen Buchstaben geschriebenen jüdisch-
persischcn Manuskript berichtet, fügt hinzu, daß un-
gefähr tausend Juden dieses angebliche Verbrechen
büßten, und daß mehrere Gemeinden bei diesem
traurigen Ereignis verschwanden. Zu diesen muss
man auch wohl Kum rechnen.
Natürlich hat diese Erzählung nur zweifelhaften
Wert und gehört mehr der Legende als der Geschichte
an. In Porsien gibt es eine Legion von Chronisten,
die Gesell ichtsannalen nach dem Vorbild der
PerraullÄchcn Märchen schreiben, und die den Völkern,
die seit dem Altertum Persien bewohnt haben, ohne
Dokumentenstudium und ohne sich um die Wahrheit
zu kümmern, eine sagenhafte Vergangenheit aufbauen.
Deshalb muß man bei diesen Manuskripten zwischen
poetischen Wendungen und wohlklingenden Worteii
Milteilungeii der Alliance Isra^liic Universelle: Die israelitische Gemeinde in Kachan.
nach dem Hauptthema suchen, um das dßr Künstler
das phantastisch? Gewebe geschlungen hat.
Das Bestehen einer jüdischen Gemeinde in Kum
und ihr Massen übertritt zum Islam ist uns aber nicht
allein durch die Schrift des Babai ben Lotf bekannt
geworden. In Kachan lebende Notable haben mir
erklärt, sie hätten Gesetzesrollen besessen, die über
500 Jahre alt gewesen wären und von Kum herstammten.
Selbstverständlich sind diese Reliquien inzwischen in
die Sammlungen unserer Glaubensgenoasen in Europa
tibergegangen. Und heute noch, da nur ein einziger
russischer Jude in Kum wohnt, hat ein ganzer Stadt-
teil seine ehemalige Bezeichnung behalten : „mahal*^
yeoudiya" (Judenviertel). Man zeigte mir dort sogar
am Rand der Felder, inmitten blühender Granaten,
das Mausoleum Zeporas, der Frau des Mose. Das
Denkmal ist von patriarchalischer Einfachheit: Vier
von einer Kuppel überragte Lehmmauern, im Innern
ein einfacher Kubus aus Backsteinen, der mit Kalk
getüncht und mit Inscliriften bedeckt ist, die der Nach-
welt die Namen der Besucher übermitteln sollen.
Das Grab ist ringsum von hochstehenden Gräsern
überwuchert; die Krähen haben in den verfallenden
Mauern ihre Nester gebaut, und das von allen ver-
lassene Mausoleum scheint der Vernichtung anheim-
gegeben.
Einige Kilometer hinter Kum verschwinden die
bebauten Felder, das Land gewinnt wieder das Aus-
sehen der Wüste, und der \Veg zieht sich bis an die
Grenze des Horizonts zwischen Hügeln auf steinigem
Boden hin. Nicht ein Wasserstrahl, nicht ein Gras-
halm, nicht ein frischer Ton in dieser Landschaft,
nur grauer Boden und der trübe, metallische Wider-
schein der Felsen. Erst vor den Toren K ach ans
sieht man wieder l)estelltes Land und hier und durl
magere Ilaumpruppi'ii.
Die Alliance Mädchenschule in Bagdad.
Kachan ist an die letzten Abstufungen einer
Felseiikette gebaut, die das südliche Ende der Stadt
umgeben. Seine topographische Lage, am Saum der
sich bis lapahan erstreckenden Sandwüste, hätte den
Ort schon vor Begründung der Stadt als geeigneten
Ruhepunkt für die nach dem persischen Meerbusen
ziehenden Karawanen von Kamelen erscheinen lassen.
Im Jahre 607 der üblichen Zeitrechnung zeichnete
ein Mitglied der Familie Maiek Adjar den Umkreis
der Ortschaft mit Strohhalmen ab (Kah chevan), daher
noch der heutige Name Kachan.
Bildung der Gemeinde. Die jüdische
Gemeinde Kachan ist eine der ältesten Persiens, Nach
ilen von Geschlecht zu Geschlecht bei unseren Glaubenß-
genossen in dieser Stadt überlieferten Traditionen
scheint die Bildung des ersten Kerns dieser Gemeinde
noch vor der Eroberung Persiens durch den Islam
stattgefunden zu haben. Das Fieber der Proselyten-
macherei, das im Lande erst nach der Schlacht bei
Neliavend nachließ (im Jahre 20 der Hedschra) und
das den Übertritt der Völker Persiens zum Glauben
Mohameds zur Folge hatte, war dem kleinen, eben
begründeten .Städtchen fem gebheben. Die Juden von
Kachan ließen den Sturm vorübergehen und machten
es sich zur Pflicht, allen ihren Glaubensgenossen des
Fars, deren Heim durch die Heere der Khalifen ver-
wüstet worden war, den Rettungsbalken zu reichen.
Die Gemeinde von Kachan stand damals auf der Höhe;
kein Kontingent von Einwanderern setzte sich dem
autochtbonen Stamm entgegen, der sich durch die
Jahrhunderte rein erhielt und stolz auf seinen im
Dunkel der \'ergangenheit verschwimmenden Ursprung,
Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts kamen Schirasi
(Juden aus Sihiras) und Jasdi (Juden aus Jesd) nach
Kachan und vermehrten den Bestand der dortigen
Gcmcmdc — \ergehens forscht man in den Schriften
derZeit nach den Geschicken
dieser Handvoll Juden, die
zehn Jahrhunderte lang von
der großen jüdischen Familie
losgelöst, von einer unduld-
samen exklusiven Bevölke-
rung umgeben, unter dem
Zwange lebten, alles zu ver-
meiden, was in ihren
Sitten und Gewohnheiten
dem persischen Parti kularis-
inus verdächtig erscheinen
konnte, die aber trotzdem
entschlossen waren, durch
Jahrhunderte der Unter-
drückung und Quälerei die
Religion ihrer Väter zu
i-etten. Kein Dokument
hat uns ein auch nur
schwaches Echo der Leiden
jener Märtyrer übermittelt.
Wer aber die Widerstands-
kraft des jüdischen Volkes
kennt und die wilde Ener-
gie, mit der es seine Tradi-
tionen und seine Sitten
(I. Klaase.i verteidigt, braucht nur den
MiWeiliingen der Alliance Israelite Universelle: Die israelilische Gemeinde i
Zu.stand der Horabwürdii^nK und Scrvilität zu Iw-
tracliten, zu dem diese Bevölkerung jolztherabj^uiikon
ist, um sich eine Vorstellung von der Lebensführung
der Juden von Kachan zu machen, die in jenen
Zeiten der eines verfolgten Wildes gleichkam.
Die Thronbesteigung der Sofis war das Signal
für die Neubelehung der Verfolgungen. Unter den
Auspizien des Schahs Ahbas I. des Großen {l."i.'i7 — 1628)
wurden alle Verordnungen und Ausnahmegesetze
gegen unsere Glaubensgenossen gesammelt und unter
dem Gesamttitel „Djamö Abbas.si" herausgegeben.
Diese Sammlung für Fanatiker wurde das Lieblingsbuch
der moliamedanischen Geistlichkeit, die daraus die
drakonischsten Satzungen schöpfte und es übernahm,
sie den Juden des Reiches aufzuzwingen, immer unter
Bedrohung mit eisen gepanzerter Faust. Unter der
Regierung desselben Schahs Ahbaa und nach erfolgtem
Massenübertritt der Juden aus Kum geschah es auch,
daQ zwanzig jüdische Familien aus Kachan in das
Lager ihrer Verfolger übergingen und die Reihe der
Glaubensabsc hwörun gen begannen, die so vielen
jüdischen Gemeinden Pcrsiens zum Verhängnis ge-
worden sind.
Die Nachkommen jener Konvertiten werden noch
heute mit dem Namen „Djedids" bezeichnet; sie
stehen in freundschaftlichen Beziehungen zu ihren
früheren Glaubensbrüdern und haben sich der Ge-
meinde oft nützlich erwiesen durch Übernahme der
Vermittlerrolle zwischen Juden und Mohamedanem.
Unter der Regierung des Schahs Abhas IL
(I(i.!i— 1666) besserte sich die l^ge der Juden; aber
erst im 18 Jahrhundert, unter der Herrschaft Nadir
Schahs (1688—1747), wurde Kachan der vornehmste
geistige Mittelpunkt der Juden in Persieii. Durch
den Einfluß der ersten palästinensischen Rabbinen,
die zwar keine Reichtümer, aber die ganzen Schätze
der jüdischen Wissen-
schaften des Mittelalters
mitbringen, schütteln die
Juden von Kachan ihre
Müdigkeit ab und setzen
ihre Ehre darein, mit
den Glaubensgenossen des
Abendlandes in Verbindung
zu treten. Das kam für^sie
einer Offenbarung gleich.
Mit fieberhaftem Eifer
studierten sie die Werke
des .Maimonides und Raschi;
durch ihren Bildungs trieb
angestachelt, verschlingen
sie bald alle Werke, dieMer
Zufall ihnen in die Hand
spielt, die Werke eines
Jehuda Halevy, wie 'die
Reisebeschreibungen eines
unbekannten Dichters^aus
Bagdad. Die kleine Ge-
meinde umfaßte bald einen
Kreis von Rabbinen, die
in ganz Persien populfir
waren, und denen man die
schwierigen Stellen unter- Die All iance-Kna benschule
breitete, die in vielen \'i)rschriften über das bürgerliche
und religiöse l.eben unserer Glaubensgenossen zu finden
waren, Kachan — seitdem „Klein- Jerusalem" ge-
nannt — wurde in der ersten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts eine Rabbinerschule, die die geistigen Häupter
fast alier jüdischen N'ereinigungen Persiens ausbildete.
Wir nennen unt(!r den bedeutendsten: Moliah Mosche
Hate\-T,-, Mollah Refua Cohen, Sehemuel Bar Nissim,
Elischa ben Sehemuel, alles Verfasser verschiedener
\\'erke jüdischer Dichtkunst und der „Pismonim",
die noch heutigen Tages beim Gottesdienst am Rosch
Haschana und Jörn Kippur gesungen werden.
Aber dieser gedeihliche Zustand und diese Ent-
faltung <ler jüdischen Literatur konnten nicht lange
dauern. Im Jahre 1747 wird Nadir Schah ermordet,
die jüdische Gemeinde Kachan wird von den Gouver-
neuren geschröpft, von der Geistlichkeit besteuert,
von den die Straßen durchziehenden Rauberbanden
geplündert, und stürzt mehr als sie sinkt von der
führenden Stellung herab, die sie im Religionsleben
der Juden Persiens innegehabt hatte. Von Ende
des 18. und dem Beginn des 19. Jahrhunderts bis
zu dem im Jahre 18.1^1 erfolgten Ableben des Schahs
Feth Ali bringt die Geschichte unserer Glaubensge-
nossen nur eine Reihenfolge gegen sie angewendeter
Ausnahmegesetze, Plünderungen und Grausamkeiten
aller Art.
Die Thronbesteigung von Mohamed Schah (18-34
bis 1848) macht diesen Schandtaten ein Ende. Während
seiner friedhchen Regierung erstehen Ordnung und
\\'ohlstand wieder im Lande. Die gegen ihren Willen
in kostspielige Kriege verwickelte, von Anarchie
und inneren Kämpfen zugrunde gerichtete Bevölkerung
fängt an, ruhigere Wege zu gehen. Der in den leitenden
Klassen herrschende Skeptizismus, der alles religiöse
Gefühl zerstört hat, der Wunsch, sich in den schweren
Bagdad. (Dritte i
579
Mitteilungen der Alliance Isra61ite Universelle: Die israelitische Gemeinde in Kachan.
580
Zeiten Freundschaften zu sichern, die Notwendigkeit,
sich zur Bekämpfung der alle Konfessionen und Völker-
schaften gleichmäßig ausplündernden Feinde zu-
sammenzuschließen, bilden die Gründe zur Friedens-
liebe imd treiben Juden imd Mohamedaner zur Ver-
brüderung.
Die Seiden- und Wollenindustrie hält ihren Einzug
in Kachan,Jdem Zerstörungstrieb folgt das Fieber der
Arbeit.
Werkstätten werden improvisiert; Spinnereien,
Webereien, Färbereien vervielfältigen sich in der
ganzen Stadt, und Kachan wird ein von Maschinen-
lärm erfüllter Ort. Unsere Glaubensgenossen sind,
wie üblich, die haupsächlichsten Agenten, wenn nicht
die Urheber dieser Industrien. In beständigem Ge-
schäftsverkehr mit ihren Mitbürgern geben sie einer
Welt von Arbeitern Verdienst, die für ihre wohlwollende
Fürsorge sehr dankbar sind.
Unter diesen Vorbedingungen haben die Juden
natürlich während der langen Regierungszeit des
Schahs Nasr-Ed-Din (1848—1896) und des Schah
Muzaffer-Ed-Dm (1896—1906 ) nicht unter den Wechsel-
fällen der Politik zu leiden gehabt und sind von der
Geistlichkeit geschont worden, die durch die offene
herzUche Haltung'^der Mohamedaner in Respekt^ ge-
halten wurde.
Judenvierteh Das Judenviertel vonj Kachan
darf ohne Übertreibung eine Stadt des Schmutzes
genannt werden. Ein Hauch von Traurigkeit durch-
zieht das Durcheinander der zu|Labyrinthen'gewordenen
Gässchen. Zur Rechten, zur Linken, bis an die Grenzen
des Ghetto nichts als altes Gemäuer von'gleichmäßigem
schmutzigem Grau, von den heißen Sonnenstrahlen
durchglüht. Hausteine kennt man in Kachan nicht,
und der Backstein bedeutet großen Luxus. Das^einzige
gebräuchliche Baumaterial der Gegend sind 5 die in
vertrockneten Strombetten gesammelten SteineJ'und
die an der Sonne getrockneten tönernen Ziegel. Deshalb
befinden sich auch alle Wohnhäuser in Verfall. Alte
Mauerskelette, Trümmer einstiger Karawansereien zer-
faUen und zerbröckeln überall diu^ch den* Einfluß^des
Regens und des Mauerschwamms. Ganze Familien
von Jasdis, arm an Geld und reich an Kindern, haben
ihr Unterkommen unter diesen Trümmern, die nur
durch ein paar Balken gestützt werden. Es gibt da
weder Türen noch Fensterscheiben, der Zutritt wird
durch eine Art Backofenöffnung vermittelt, durch* die
alle Winde pfeifen. Mit schwerem Herzen schiebt
man sich die Wände entlang. Die Mitte dieser Art
Höhle wird diu^ch einen Haufen zerrissener Wolldecken
eingenommen, nur ganz spärlich dringt das Sonnenlicht
ein. An den Seitenwänden ist in Nischen der arm-
selige' Besitz der Bewohner unordentlich untergebracht :
verlumpte Kleidungsstücke, irdene Teller, von Schmutz
geschwärzte Kasserollen — die ganze Ausrüstung des
Elends. In diesem Raum kommen und gehen die
Kinder, ein aus einem Lappen geschnittenes'^ Hemdchen
um den Leib gebunden, und schieben Knochenreste
oder Topfscherben vor sich her.
Glücklicherweise werden diese aus früherer Zeit
stammenden Behausungen in Kachan immer seltener.
In Ermangelung einer städtischen Aufsicht übernimmt
es die Zeit, diese Trümmerhaufen wegzufegen, sobald
sie gänzlich unbewohnbar werden. Aber kein Mensch
denkt daran, diese Reste vollständig abzutragen und
die Plätze neu zu bebauen. Sobald einem dieser Häuser
der Zusammensturz droht, verlassen es die Bewohner
und installieren sich anderwärts. Das Judenviertel hat
dadurch d>e Neigung, sich hauptsächlich südwärts,
nach dem höher gelegenen Teil der Stadt auszudehnen.
Bisher in das Ghetto eingeengt, hat die israelitische
Bevölkerung von Kachan angefangen, überall hin aus-
zustrahlen. Langsam, unmerklich, wie eine steigende
Flut, überschwemmt sie die angrenzenden musel-
manischen Quartiere Auf diese Weise haben unsere
Glaubensgenossen ganze Straßen beschlagnahmt, ange-
zogen durch die behaglichere Ausstattung der Woh-
nungen, die freilich noch weit davon entfernt sind,
eiu'opäischen hygienischen Anforderungen zu genügen.
Die Häuser sind allzudicht aneinander gedrängt.
Alte Einfahrten, halb in den Boden gesunken, gewähren
Zutritt zu gewölbten Galerien, die abwärts in das
Innere führen und sich zwei bis drei Meter unter dem
Erdboden auftun. Die Mauern entlang geht ein
Gäßchen, von dem aus man zu den niedrigen und
kläglich engen Gemächern gelangt. Wo man einen
Hof zu finden erwartet, gelangt man ins Leere. Neigt
man sich über das Geländer der Galerien, so vernimmt
man das dumpfe Geräusch der Handwerkstätigkeit
imd gewahrt, daß dort unten, bis zu zwölf Meter Tiefe
vergraben, Geschöpfe wohnen In diese Abgründe
steigt man auf Wendeltreppen hinab, auf steilen,
schlüpfrigen Stufen. Ist man endlich im Hof, so wird
man förmlich betäubt von dem Lärm der von Frauen
und Mädchen, unter der Aufsicht eines Werkmeisters,
bedienten Webstühle, Haspelmaschinen und Gerät-
schaften aller Art. Der erste trübe Eindruck schwindet,
man ist angenehm überrascht von der in diesen
Räumen herrschenden Frische gegenüber der dumpfigen
Luft, aus der man gekommen. Die Flucht vor schäd-
lichem Gewürm ist es, die die Übersiedelung in diese
Art Höhlen veranlaßt. Die Juden von Kachan nehmen
ihr Sommerquartier unter der Erdoberfläche und
richten sich da für die ganze Saison ein. Zwei in einer
Ecke aufgerichtete Bretter dienen der ganzen Familie
als Schlafstelle, dort hinauf schwingt man sich, wenn
man schlafen will,. Die Angst vor den Skorpionen ist
für den Kachiten der Anfang der Weisheit. Auf dem
in der Mitte des Raumes stehenden Tisch mit abge-
sägten Beinen sieht man die üblichen Karaffen voll
des mit Zederblüten parfümierten Branntweins.
Porzellanlampen und Leuchter mit matten Glasglocken
schmücken den Kamin und bilden den einzigen Luxus
der Ausstattung. Alles andere ist Gerumpel. Aus-
rangierte Rohrstäbchen, Haufen von Wollresten, die
von der Teppichfabrikation herrühren, liegen unordent-
lich in einem Winkel. Ein paar Schritte davon kauert
ein kleines Mädchen mit untergeschlagenen Beinchen
auf dem Fußboden und arbeitet flink an einer Haspel-
maschine. Seidensträhnen hängen an Stricken. In einer
Ecke stehen zwei ungeheure bauchige verstaubte
Gefäße mit „Sikendjibi" , einem aus Essig imd Zucker
gekochten Likör.
Mitteilungen der Alliance Isra^lile Universelle: Die israelitische Gemeinde in Kachan.
Die Alliance-Knabenschule in Jaffa.
Das lebharte Temperament der Juden von Kaclian
ffrheitert dieses Familienleben. Unsere Glaubens-
genossen sind groß und kräftig, gut gebaut, die Gesichts-
züge beweisen die Feinheit ihrer Rasse, und sie haben
ganz die Beweglichkeit der Südländer. Sie lachen und
plaudern gern und kommen mit Vorliebe zusammen,
um (iber den lieben Nächsten zu schwatzen und zu
klatschen. Unter sich sprechen sie eine wohlklingende
Sprache mit scharf betonten Konsonanten, und ihre
Heden sprühen von Witn und Heiterkeit. Das ist der
kachitische Jargon, eine von ihnen allein vollständig
verstandene Familiensprache, die auch die Juden aus
anderen Gegenden Persiens nie beherrschen lernen.
Jederman strahlt vor Lebensfreude, Die Frauen
kommen und gehen geschäftig mit ihren Wasser
eimern, die sie am „Amambar", dem Wassertrog, ge-
füllt haben. Sie sind nicht eigentlich hübsch und haben
keine Spurvon Gefallsucht, aber sie sind hoch gewachsen,
strahlen vor Gesundheit und haben schöne, mandel-
förmige schwarze Augen in ausdruckslosen Gesichtern.
Sie werden vor der Zeit dick. Wenn sie keine sehr reiz-
vollen Geschöpfe sind, so sind sie doch sehr gute
Familienmütter in der vollsten Hedeutung des W'ortes,
denn es ist ihre Aufgabe, ganze Scharen von Kindern
zur Welt zu bringen. In allen Häusern gibt es deren
einen ganzen Haufen. Die Kinder sind kräftig gebaut,
haben einen bei jungen Persern erstaunlich hellen Teint
und sind immer vei^ügt und zu luMigen Sireichen
aufgelegt.
Die Juden von Kachan haben den Ruf, in bezug auf
Sauberkeit und Hygiene sehr sorgsam zu sein. Der
Itesucher hat allerdings bei Besichtigung eines
jüdischen Heims nicht diesen Eindruck, aber man
muß zugeben, daß sie verhältnismäßig ihren Körper
pflegen und sich anständig anziehen. Über der
traditionellen ,,.Aba" — einem langen Überrock, der
um die Taille von einem Tuchgürtel gehalten wird,
dessen Enden auf die Hüften fallen — tragen sie zum
-Ausgehen einen weiten Überwurf ohne Knöpfe, der
plaidartig um den Körper geschlungen wird. Die
Kopfbedeckung besteht aus einer „Kolah" genannten
Mütze aus Zicgenfell, die Fußbekleidung ist ein aus
Baumwolle geflochtener PantolTel, dessen Sohle aus
gepreßten Lumpen beigestellt wird.
Die Frauen machen für ihre Häuslichkeit nicht
sehr gewählte Toilette. Sie tragen gewöhnlich eine
einfabrige Taille mit festem Gürtel und einen glocken-
förmigen, bis an das Knie reichenden gefältelten Rock.
So kurz angezogen und barfuß gehen sie vom Morgen
bis zum Abend ihren Geschäften nach, Ihre Stellung
in der Familie ist nicht besser als in anderen jüdischen
Gemeinden Persiens. Mit 12 oder 13 Jahren verheiratet,
als verstandlose Wesen betrachtet, in ihrem eigenen
Hause auf den Rang von Dienstboten gestellt, haben
diese Frauen, auch wenn sie reichlich ihrer Pflicht als
Familienmutter genügt haben, sich den Launen ihrer
Herren und Meister zu fügen und ihr eigenes Leben
nach der Phantasie der Männer einzurichten.
Bestand der Gemeinde. In Persien gibt
es keine Personenregister, deshalb kann man die Ein-
wohnerzahl von Kachan nur schätzungsweise angeben.
Nach den von mir aus den sichersten Quellen ge-
schöpften Angaben hat Kachan 45000—50000 Ein-
wohner, Iaut«r Mohammedaner, bis auf 2000 Juden
und ungefähr 20 in einer Karawanserei lebende Heiden.
Die jüdische Gemeinde besteht aus 350 Familien
vom alten Kachitenstamm, auf ungefähr 130 Woh-
nungen verteilt. Außerdem gehören ihr gegen hundert
583
Mitteilungen der AUiance Israelite Universelle: Die israelitische Gemeinde in Kachan.
584
aus Jesd, Schiras und Suitanabad stammende Juden
an, die im Laufe des 19. Jahrhunderts nach Kachan ge-
kommen sind, angelockt durch den hier eingetretenen
Aufschwung in der Wollen- und Seidenindustrie.
Die Gemeinde wird von einem Großrabbi ver-
waltet, dem eine Anzahl von Notabein, die „Risch
Sefid" (VVeißbärte) zur Seite stehen.
Wirtschaftliche Lage. Die wirtschaft-
liche Lage der Juden von Kachan fängt jetzt an sich
zu bessern; aber das materielle Aufblühen wird ver-
langsamt und erschwert durch die jahrhundertelang
von ihnen getragenen Lasten. Von allen Seiten bedrückt
und geschunden, von den Gouverneuren mit einer
sogenannten „Schutz"-Abgabe besteuert, von der
Geistlichkeit mit dem „Homs" belastet (d. i. eine Steuer,
die den fünften Teil des W^ertes aller von Juden er-
worbenen Immobilien bedeutet), hatten die Juden von
Kachan bis vor fünfzig Jahren außerdem noch eine
Hlutsteuer — „Djezieh" — von 400 Tomans jährlich
an den Staatsschatz zu zahlen. Jetzt ist diese Steuer
auf 25 Tomans herabgesetzt. Große Vermögen konnten
sich seitdem in einer Umgebung nicht anhäufen, wo
schon etwas Wohlhabenheit unsere Glaubensgenossen
zur Zielscheibe aller Art von Begehrlichkeit machte:
daher die Zersplitterung der Reichtümer. Ungefähr
fünfzehn Notable mit einem Vermögen von 10 000 bis
50 000 Francs bilden den wohlhabendsten Teil der
Bevölkerung. Gegen hundert Familien mit 5000 bis
10 000 Francs Kapital halten -die Mitte der StafTel,
und dann kommen die vielen, die von der Hand in den
Mund leben, von ihrer Arbeit im Wollen- und Seidenfach
oder vom Hausierhandel.
Im Folgenden geben wir eine Übersicht, wie die
350 Familien sich auf die verschiedenen Berufe und
Gewerbe verteilen.
K a u f 1 e u t e : 40. Sie hatten bis zum März des
laufenden Jahres das Recht, sich im Bazar aufzustellen,
während sie in fast allen anderen jüdischen Gemeinden
Persiens sich zur Ausübung ihres Handels in
Karawansereien zurückziehen mußten. Aber seitdem
die Handelskrisis alle Geschäfte des Landes gelähmt
und der noch in den Kinderschuhen steckende Par-
lamentarismus die Tätigkeit der Regierung geschwächt
hat, wird den Juden das Recht auf die Wahl ihrer
Standorte in den Bazaren bestritten. Nach gemein-
samem Übereinkommen haben sie ihre Plätze verlassen
und harren besserer Zeiten. Es ist auch mit Sicherheit
zu erwarten, daß nach Wiederherstellung der Ordnung
im Lande die jüdischen Kaufleute in Kachan die ihnen
von ihren Mitbürgern freiwillig überlassenen Vor-
rechte wieder erhalten werden.
Umherziehende Händler: 25; meist
Schirasi.
Hausierer: 95. Sie wandern zwischen der
Stadt und den am Fuß der Hügel hegenden Dörfern
hin und her und schleppen alle fertig gearbeiteten
Gewebe aufs Land, die rohe Wolle und die übrigen
ersten Bestandteile in die Stadt. Da sie inmitten einer
fleißigen Bevölkerung leben, die sich weder um politische
noch um religiöse Fragen kümmert, können sie in aller
Huhe und Sicherheit ihren Geschäften nachgehen.
Arbeiter in der Baumwollen- und
Seidengarnfabrikation: 35.
Kaufleute, die von der Seiden-
industrie leben: 50. Da unsere Glaubens-
genossen nur über geringe Mittel verfügen, kommt es
für sie nicht in Betracht, die Verarbeitung und den
Verkauf der in Kachan fabrizierten Seidengewebe in
großem Stil zu betreiben. Sie kaufen die rohe Seide
selbst ein. Nachdem die Seide von den Frauen und
Töchtern gewaschen und gefärbt worden ist, wird sie
kleinen Fabrikanten übergeben, die daraus auf Be-
stellung die im ganzen Lande bekannten Gewebe her-
stellen: „Rouhe lalaf" ist ein gewässerter, mit einem
Pyramidenmuster gewebter Stoff; „Kemerband" sind
breite Gürtel, die unendlich viele Male um die
Taille geschlungen werden können; „Sokmö", leichtes
Baumwollgewebe mit durchbrochener Stickerei aus
weißem Seidengam; „Tschargats", eine Art schwarzer
Überwürfe, in die die persischen Frauen sich von
Kopf bis Fuß einhüllen, und schließlich allerhand
Phantasieartikel, Halstücher, Taschentücher usw.
Teppichfabrikation: 9. Der in Kachan
verfertigte Teppich ist ebenso wie der aus Kerman zurzeit
der beliebteste im Lande, wegen seiner feinen Arbeit
und der guten Qualität der dazu verwendeten Wolle.
Unsere Glaubensgenossen lassen die Ziegenhaare zu-
hause waschen, auskämmen, spinnen und färben.
Durch einen Werkmeister, der auch das Muster liefert,
wird der Teppich in den Rahmen gespannt, und acht-
bis zwölfjährige, auf hohen Gestellen sitzende Mädchen
machen sich an die Arbeit. Sie bekommen für ihre Arbeit
5 Kras bis 3 Tomans monatlich. Ein Kachaner Teppich
wird für 15 bis 20 Tomans pro Quadratmeter verkauft.
Schneider: 10.
Rabbiner: 4.
Fleischer: 3.
Destillateure: 3.
Musiker: 2. Diese sind in der ganzen Gegend
bekannt und kommen auf alle Feste. Will ein Herr
einen Geburtstag, eine Hochzeit feiern, so kommt er
zu ihnen. Der erste spielt den „Tar", eine Art Mandohne,
die aus einem langen, feinen Griff und aus einer zwei-
teiligen Calebasse zusammengesetzt ist, über die eine
Tierhaut gespannt ist. Der zweite bearbeitet den
„Kimantsche", ein unserer Geige ähnliches Instrument,
das aus einem spitz zulaufenden Kasten und einem
zylinderförmigen Stiel besteht, über den Saiten gespannt
sind. Der Musiker stellt das Instrument gerade voi'
sich und bringt die Töne vermittelst eines Bogens
herv'or, mit dem er über die Saiten streicht.
Friseure: 4.
Schuhmacher: 3.
Maurer: 3.
Goldschmied: 1.
Ärzte: 4. Sie genießen bei der ganzen Be-
völkerung Kachans, bei Juden und Mohammedanern,
großes Ansehen.
Apotheker: 1 .
Außerdem gibt es gegen fünfzig Familien, meist
Jasdis, die den Jahreszeiten entsprechend alle Ge-
5S5
Mitteilungen der Alliance Israel ite Universelle: Die israelitische Gemeinde in Kachan.
586
werbe ausüben ; Straßenhändler, Obst Verkäufer,
Lumpenhändler und Tagelöhner; sie leben von der
Hand in den Mund.
Mit Ausnahme dieser armen Leute, die in der
Hoffnung nach Kachan gekommen sind, hier bessere
Arbeitsgelegenheit zu finden, ist hiernach die wirt-
schaftliche Lage unserer Glaubensgenossen weniger
schlimm als anderwärts, z. B. in Ispahan. Man hat es
ja auch hier nicht mit Kapitalisten zu tun, aber in
allen an Arbeit, Ordnung und Sparsamkeit gewöhnten
Familien herrscht ein gewisser Wohlstand. Unsere
Glaubensgenossen verüeren keine Zeit; Männer,
Frauen und Kinder sind bestrebt, durch Fleiß das
Wocheneinkommen zu vermehren; die Tätigkeit für
den Haushalt geht Hand in Hand mit der Arbeit in der
Wollen- und Seidenindustrie. Selten sieht man in
Kachan müßige Hände. Die Zahl der jüdischen kleinen
Mädchen, die im Hause mit der Vorarbeit an
Wollen- und Seidengam beschäftigt werden, kann man
auf 300 schätzen. Die geschicktesten verdienen täglich
kaum 10 Schahis, das sind 20 Pfennig, aber sie sind
auch nach diesem kleinen Verdienst eifrig und sammeln
Groschen für Groschen, um dafür später eine Aus-
stattung zu erhalten.
Allgemeiner Unterricht. Ich habe
jetzt nur noch von dem Schulwerk zu erzählen. Außer .
den beiden erst kürzlich nach dem Muster der Teheraner
Gynuiasien eingerichteten Schulen gibt es als einzige
Erziehungsinstitute hier ungefähr zehn „Mektebs",
wo die um den Moliah herumhockenden Schüler vom
Morgen bis zum Abend den Koran murmeln. Kein
Jude besucht diese Schulen.
Eine Talmud-Thoraschule gibt es in Kachan nicht.
Die Kinder sind in Gruppen von 15 bis 20 kleinen
Jungen auf die Nebenräume der Synagogen verteilt,
die mit dem Namen „Mollahanes" — Lehrhäuser —
geschmückt werden. Ich bin ganz unangemeldet in
einen dieser Bienenstöcke hineingeraten. Es war ein
für alle Winde offener Laden an einer Straßenecke,
der Anblick hätte den Pinsel eines Karikaturenzeichners
reizen können : Die Höhle eines Kohlenbrenners mit
verräucherter Decke. Bis zur Mitte der Wände ein
Aufbau von Brettern, Reste von außer Betrieb gesetzten
Webstühlen, und auf diesen Brettern ein Durcheinander
von zerbrochenen Leitern, Eimern, Schaufeln und
Überbleibsel von Instrumenten, die zur Teppich-
fabrikation gedient hatten.
Der Unterricht hatte schon eine Stunde gedauert;
<ier Raum war durchglüht, die Gesichter von Schläfrig-
keit überwältigt. In einem Winkel schnarchte ein Kind
mit geballten Fäustchen; zwei am Fenster sitzende
Jungchen schauten gähnend auf die Spatzen draußen;
ein anderer Junge hockte dicht dabei und erzählte mit
lebhaften Gebärden drei Kameraden ein ihm gestern
zugestoßenes Abenteuer. Schließlich sassen im Kreis
um einen vom Alter gebrochenen Greis vier oder fünf
kleine Bürschchen, den Oberkörper über schmutzige
Bibeln gebeugt und brüllten, daß die Vorübergehenden
betäubt werden mußten. Der Rabbiner ließ unbeirrt
eine Spulmaschine arbeiten. Beim Geräusch, das mein
Eintritt verursachte, blickte er auf, und das Geschwirr
hörte auf. Der arme Alte versuchte ein paar ent-
schuldigende Worte zu stammeln, aber ich war schon
wieder auf der Straße.
Als ich meine Verwunderung über diese Zustände
aussprach, sagten mir die Notablen, die mich begleitet
hatten, daß dies in Kachan so üblich wäre. Die sehr
schlecht besoldeten Rabbiner sehen sich in die Not-
wendigkeit versetzt, ihre Einnahmen zu vermehren,
indem sie Wolle spinnen. „Übrigens", fügte einer der
Herren scherzend zu, „haben nicht auch die Gelehrten
des Talmud ein Handwerk ausgeübt?" „Gewiß", er-
widerte ich, „aber sie waren zu intelligent, um zwei
Hasen gleichzeitig zu jagen."
Die Last von Kenntnissen, die die 140 Schüler der
„Mollahanes" auf diese Weise erwerben, ist nicht
schwer zu tragen. Mit 15 Jahren können sie kaum die
Bibel übersetzen, und alles übrige ist toter Buchstabe
für sie. Darum verzichten auch viele Eltern darauf,
die Jungen in die Schule zu schicken, und lehren sie
Heber, vom zehnten Lebensjahr an ihr Brot zuverdienen.
Selbstverständlich würden diese Knaben sich sofort in
unsere Listen einschreiben, wenn wir eine Schule in
Kachan begründeten. Die Schülerzahl würde sich unter
den obwaltenden Verhältnissen auf ungefähr 20<J
stellen, fast ausschließlich Knaben, denn die Mädchen
werden für die Wollen- und Seidenindustrie gebraucht.
Schluß. Die Begründung einer Schule in
Kachan würde unseren Glaubensgenossen dort bessere
Ordnung und Sicherheit schaffen und ihre materielle
Aufrichtung mächtig fördern. Die an die Disziplin-
losigkeit und Faulheit des Talmud Thora gewöhnte
Kinderwelt würde Gehorsam, Pünktlichkeit und Fleiß
lernen. Eine gut organisierte Handwerkerschule
würde sicher die Zahl der Dorf-Hausierer verringern
und ihre Tätigkeit entweder der Seidenweberei oder
der Handweberei zuwenden. Die in Kachan noch üb-
lichen vorzeitigen Eheschließungen würden nach und
nach aufhören, die Frau würde eine höhere Stellung
einnehmen und die Rücksichten erfahren, die ihr als
Gattin und Mutter zukommen.
Der begeisterte und warme Empfang, den Ihr \'er-
treter in Kachan gefunden hat, beweist, daß die Ge-
meinde das Werk der .Vlliance schon kennt. Sie weiß
die Bedeutung der Vorteile zu schätzen, die eine Schule
ihr bringen würde, und sie freut sich schon heute
auf den glücklichen Tag, da das Central-Comitee ihre
heißen Wünsche erfüllen und sie mit der Errichtun<,^
eines Schulinstituts beglücken wird.
587
588
Aus anderen Gemeinden Persiens.
Spezialberichte an die A. I. U. — Von Loria und Lahana.
Nachdruck verboten.
Schiras, den 26. April 1907.
Ich muss Ihnen aber die beklagenswerte Lage be-
richten, die unseren unglücklichen Brüdern in der
ganzen Provinz Fars bereitet worden ist.
Das Uebel ist hier schlimmer als anderwärts, weil
unsere Glaubensgenossen in grosser Zahl über die Ort-
schaften der Provinz zerstreut sind. Die israelitische
Bevölkerung ist in den kleinen Städten und Dörfern
wie folgt verteilt: Dscharum 300; Nobandagun 300;
Sargun 300; Darab 150; Caserun 100; Lar 70;
•Dagar 150; Kowat 60; Firus-Abad 70.
Am Samstag, 6. April, wurde das israelitische
Viertel von Dscharum von einer grossen Zahl
Muhamedaner überfallen. Unsere Glaubenssjenossen
wurden misshandelt und konnten erst nach sechstägiger
Gefangenhaltung, die sie in ihrem Viertel zu erdulden
hatten, wieder an ihre Geschäfte gehen.
In Darab hatte sich ein muhamedanisches Kind ver-
laufen und war einige Tage unauffindlich. Man be-
schuldigte die Israeliten, das Kind getötet zu haben,
um sich seines Blutes zum Osterfest zu bedienen. Mit
Staunen und Betrübnis habe ich wahrgenommen, dass
das Märchen vom Ritualmord hier fast überall ver-
breitet ist. Die Israeliten von Darab wurden zwei
Wochen hindurch in den Bazai^en belästigt, bis das
Kind wiedergefunden wurde.
In Lar sind die Leiden unserer Brüder alten
Datums. Nach meinen Ermittelungen ist die Gemeinde
von Lar an 200 Jahre alt und war zahlreich. Das
wird auch von der Ueberlieferung in Schiras bestätigt.
Verfolgungen und Leiden haben die Gemeinde, die
mehrere Tausend Mitglieder zählte, auf nur 70 Seelen
herabgebracht. Auswanderung und üebertritt waren
die Geissein, unter denen sie verkümmerte. Die
Priester der Ortschaft machten ea sich jüngst zur
Pflicht, mit der kleinen Zahl Ungläubigen zu Ende zu
kommen. Die Anwendung der bedrückendsten Aus-
nahmegesetze sollte dazu helfen. Wiederholt wandten
sich unsere Glaubensgenossen brieflich an mich.
Leider ist das von Schiras weit entfernte Lar dem
Einfluss der Behörden unserer Stadt entzogen. Alle
meine Anstrengungen waren vergeblich. Vor iie
Wahl zwischen Üebertritt oder Verbannung gestellt,
entschieden sich unsere Brüder für die Verbannung.
Sie wollen in Bendar-Abbas und in Dscharum eine
Zuflucht suchen.
Die Gemeinde Nobandagun wird von einem Teil
der Behörden hart bedrängt. Nach den jüngsten
Winsen verlangten die Mohamedaner von Nobandagun
eine Erhöhung der von den Juden zu leistenden Ab-
gaben, weil ein grosser Teil des Handels in ihren
Händen sei. Der Gouverneur stimmte der Forderung
gern zu, und sein Vorgesetzter, Salar-es-Sultan in
Schiras, der aus dem Steuerzuschlag Gewinn erhoffte.
unterstützte das Verlangen. Seit einigen Tagen sind
fünfzehn Notable der Gemeinde Nobandagun in unserer
Stadt. Ich stehe ihnen nach Kräften bei, eine Er-
mässigung der Steuern zu erwirken, die von 40 auf
200 Toman hinaufgeschraubt worden ist. Dringe ich
hier nicht durch, so will ich mich nach Teheran
wenden. Die willkürliche Steigerung der Abgabe
würde für die anderen Städte ein bedauerliches Prä-
zedens bilden.
*
Schiras, den 30. Mai 1907.
Infolge der schweren Wirren und der vollständigen
Anarchie in unserer Provinz wird die Lage unserer
Glaubensgenossen in Fais von Tag zu Tag kritischer.
In Lar gibt es keinen einzigen Israeliten mehr.
Von denen, die in den Hafenorten Zuflucht gesucht
haben, bin ich ohne Nachricht. Ich schliesse daraus,
dass sie dort Heim und Sicherheit gefunden haben.
Von den nach Dscharum Geflüchteten erhalte ich be-
trübliche Nachrichten. Nach schwieriger und ent-
behrungsreicher Reise sind sie in dieser Stadt ange-
langt. Da die Lage unserer Glaubensgenossen in
Dscharum unter der Mittelmässigkeit ist, konnten die
Auswanderer weder Unterkunft noch Unterstützung
flnden. Die Männer von Lars mussten ihren Gast-
wirten die Sefer-Tora ihrer alten Synagoge verkaufen.
In dieser Woche haben sie uns mitgeteilt, dass einige
von ihnen die Absicht haben, in Schiras Arbeit zu
suchen. Ich habe ihnen abzureden versucht, weil ich
überzeugt bin, dass sie anderwärts besser aufgehoben
sein würden, als in unserer Stadt, wo das Elend
unserer Glaubensgenossen ohnehin gross ist.
In Schiras selbst herrscht vollständige Anarchie.
Nicht einmal die Ausländer geniessen hier Sicherheit,
geschweige denn unsere unglücklichen Glaubens-
genossen. Der Gouverneur erklärt sich ausser Stande,
die Ordnung in der Stadt aufrecht zu erhalten und
irgend jemandes Besitztum zu schützen. Die Bazare
sind geschlossen, die Stadt ist dem Belieben durch-
ziehender bewaffneter Banden tiberliefert, die am hellen
Tage Angriffe sogar auf die angesehensten Personen
wagen. Der Grosseigentümer Kawam-el-Molk, der die
Macht eines wirklichen Gouverneurs ausübt, ermutigt
diese Banden und reizt sie an, um die Absicht der
Verfassungsfi-eunde zu vereiteln, die seine Entfernung
nach Teheran verlangen. Die wenig zahlreichen Kon-
servativen, die dem Kawam seine ganze frühere Macht
erhalten sehen möchten, scheinen nicht zur Nachgiebig-
keit geneigt. Aus der Hauptstadt ist Befehl ge-
kommen, dass der Kawam mit seinen beiden Söhnen
unverzüglich abreise; sie erklären aber, dass sie nicht
aufbrechen werden, ehe sie in Schiras viel Blut ver-
gossen haben. In einer solchen Lage wirbt man um
589
Mitteilungen der Alliancc Isra61ite Universelle: Israeliten in Persien.
590
die Israeliten, so geringes Ansehen man ihnen sonst
gönnt. Eine Massendepesche zugunsten der einen oder
anderen Partei kann, ohne an sich entscheidend zu
sein, bis zu einem gewissen Grade den Streitenden
dienlich sein. Die Vorkommnisse dieser Woche be-
weisen das wieder einmal: 8alar-es-Sultan, Sohn des
Kawam, hat den beiden Grossrabbinen sagen lassen,
dass sie aus Erkenntlichkeit für die von seiner Familie
den Israeliten geleisteten Dienste und um sich für die
Zukunft Ruhe zu sichern, mit einer Gesetzesrolle sich
gleichfalls in den Toren der Moschee einfinden sollten,
um für ihre Ergebenheit gegenüber der Familie des
Kawam Zeugnis abzulegen. Zugleich befahl er ihnen,
eine Massendepesche nach Teheran zu schicken, in der
sie von dem Schutz sprechen, den sie bisher genossen,
und von den Angriffen, denen sie von selten der Ver-
fassungsfreunde ausgesetzt seien. — Die Kurzsichtigsten
konnten das Uebel voraussehen, da die Niederlage der
Verfassungsgegner fast sicher ist. Ich habe meine
Glaubensgenossen angehalten, in dieser Sache unbe-
dingte Neutralität zu wahren. Unsere unglücklichen
Brüder haben eine unsagbare Furcht vor dieser Familie,
durch die sie seit Generationen so viel gelitten haben,
dass es unmöglich ist, sie zu überzeugen, die Macht
jener Leute könne eines Tages ein Ende haben. Ich
habe den Rabbinen jede Mitwirkung geradezu ver-
boten. Wir sind entschlossen, unter den schwierigen
Umständen mit grosser Umsicht zu handeln. 8alar-es-
Sultan hat mich durch einen Abgesandten bitten lassen,
ich möchte die Israeliten zu einer Mitwirkunar be-
stimmen und selbst an die französicshe Gesandtschaft
eine Depesche mit der Meldung schicken, dass unsere
bisher so wohlgeschützten Schulen jetzt in Gefahr
seien. Für den Fall des Erfolges machte er mir
überdies die liebenswürdigsten Versprechunfir« n. — Diesp
Tatsache beweist, welche Bedeutung die Ortsbehörden
dem tatkräftigen Schutz beimessen, den man als seitens
der Gesandtschaft uns zugesagt voraussetzt. — Ich er-
widerte dem Abgesandten, dass die Haitang der
Familie des Kawam uns grosse Genugtuung bereite,
und dass ich nach Teheran depeschieren würde. Ich
habe das nicht getan und hatte es auch nicht beab-
sichtigt. Die Sor^e für die Wohlfahrt unserer
Glaubensgenossen zwingt uns, unser Verhalten den
Sitten des Landes anzupassen. In einem Fall, wie der
vorliegende einer ist, gebietet unsere Pflicht, nur an
die Sicherheit unserer Brüder zu denken. Eine übel
angebrachte Offenheit von unserer Seite könnte ihnen
unwiderbringlichen Schaden bereiten. Wir sind also
darauf angewiesen, beide Parteien zu s^^honen, damit
der Sieger weder aus unsern Worten noch aus unsem
Handlunsren einen Vorwurf gegen uns herleiten könne.
Die Lage der Gemeinde von SchiraS ist gegen-
wärtig überaus traurig. Kein .lüde hat den Mut, das
Viertel zu verlassen, nicht einmal am hellen Tage. Die
unfflückseligen Tagelöhner, die die Mehrzahl der
jüdischen Bevölkerung bilden, sind irezwungen. inner-
halb ihres Viertels hin und her zu gehen, damit sie
sich beim geringsten Alarmzeichen in ihre Wohnungen
einschliessen können. Die Wohlhabenderen sind auch
nicht glücklicher. Sie haben laufende Rechnungen mit
verschiedenen Mohamedanem. Die Schuldner ent-
fliehen ihnen, indem sie sich in die Moscheen oder ins
Telegraphenamt flüchten, und weigern sich, ihre Schulden
zu bezahlen ; die Glänbiger dagegen folgen den Juden bis
in ihre Wohnungen und zwingen sie, wohl oder übel
das letzte zusammenzuraffen, um entweder die schuldige
Summe oder die landesüblichen ungeheuerlichen Zinsen
zu zahlen.
Damit ist das Uebel noch nicht erschöpft. Ein
Haufe nach Strafgeldern gieriger Farachen verlässt
das Juden viertel niemals, denn anderwärts ist über-
haupt auf keine Einnahme zu rechnen.
Es ist verboten, irgend welchem Muselmann alko-
holische Getränke %n liefern. Unsere Glaubensgenossen
haben sich diesem Befehl gewissenhaft gefügt, um den
von der Menge so eifrig gesuchten Vorwand zu einem
Angriff zu vermeiden. Aber wa«< sollen diese armen,
wehrlosen Leute tun, wenn die Taugenichtse mit be-
waffneter Hand eine Flasche Branntwein von ihnen
verlangen, für die sie nicht einmal einen Pfennig be-
zahlen? Der Gouverneur muss selbst zugeben, dass er
nichts gegen die Leute tun kann, die die Anarchie in
der Stadt herrschen lassen. Die Farachen laufen, so
schnell sie können, sobald eine bewaffnete Gruppe sich
dem Viertel naht. Sobald aber einer unserer unglück-
lichen Brüder mit Gewalt gezwungen worden ist, das
verlangte Getränk zu geben, erscheinen die Farachen
wieder, lassen sich in seinem Hause nieder und erheben
eine Busse von 2—5 Toman. Der Aermste schreit,
und wir unterstützen ihn; aber keiner in der Stadt
will uns hören. Sie können sich unsere Machtlosigkeit
vorstellen und unsere üble Lasre gegenfiber den Leuten,
die von uns wirksamen Schutz erbitten.
Ich muss mir nochmals die Freiheit nehmen, dem
englischen Konsul Herrn Grahame für die bewunderns-
werte Hingebung zu danken, mit der er uns bisher bei
unserer schweren Aufgabe beigestanden hat.
Ich darf wiederholt feststellen, dass in Schiras
mehr als anders wärts das Schul werk uns bedeutend
weniger Mühe und Arbeit macht als der fortgesetzte
Schutz, den wir unseren Glaubensgenossen gewähren
müssen.
Mit der Zeit werden wir uns nur noch mit unserer
zivilisatorischen Aufgabe zu beschäftigen und allein in
den schwierigsten Fällen einzuschreiten haben. Noch
aber sind wir in Schiras nicht so weit. Wir müssen
langsam und mit grossem Takt vorgehen, damit diese
Aenderung eintreten kann. Zu Anfansr ist es in den
anderen persischen Städten ebenso gewesen. Heute
brauchen Ihre Vertreter sich nicht mehr soviel wie
zu Beginn mit Prozessen, Streitigkeiten usw. zu be-
fassen.
591
Mitteilungen der Aliiance Israelite Universelle; Israeliten in Persien.
592
Schon bei unserer Ankunft hier ist diese Sachlage
mir aufgefallen, und ich habe die Möglichkeit gesucht,
mit einer gewissen Berechtigung in die Angelegen-
heiten unserer Glaubensgenossen einzugreifen. In
Persien sind die religiösen Häupter der armenischen
Gemeinden fremde Untertanen. Wir glaubten, bei
unseren Gemeinden könnte es ebenso sein. Deshalb
habe ich von den Oberrabbinen und den Notablen ein
Schriftstück unterzeichnen lassen, in dem diese mich
als religiöses Haupt anerkennen. Auf diesen Titel
gestützt, habe ich wiederholt meine Stimme zu Gunsten
unserer verfolgten Glaubensgenossen erheben dürfen.
Wir können auch öfters den Fall irgend eines Juden
dadurch zu dem unseren machen, dass wir diesen ver-
anlassen, sich zu uns zu flüchten.
Herr Grahame interessiert sich für alle diese An-
gelegenheiten und interveniert, wenn ungerechte Mass-
nahmen gegen unsere Brüder zur Anwendung kommen.
Loria.
J?:
*
ijc
Schi ras, den 14. Juli 1907.
In dieser Woche sind hier 26 Israeliten aus
Lar angekommen, die in wahrhalt bemitleidens-
wertem Zustand waren. Seit ihrem Eintreffen in
Oscharum hatten unsere Glaubensgenossen in dieser
btadt unter übler Behandlung seitens der Musel-
manen zu leiden. Die Priester fingen an, davon zu
sprechen, dass sie das Beispiel der Geistlichkeit
von Lar nachahmen und die kleine Gemeinde von
Dscharum vertreiben wollten. Aus Furcht vor
Ausführung dieser Drohung zwangen die Israeliten
von Dscharum die Zuztiglinpe von Lar förmlich,
anderwärts hinzuwandern. Die Laris verliessen
Dscharum in grossem Elend; ihre ganze Habe be-
stand in den Kleidern, die sie auf dem Leibe
hatten. Unter Hitze, Ermüdung und Hunger leidend,
legten sie den Weg zu Fuss zurück. Die Frauen,
die ganz erschöpft auf den Etappenstationen ein-
trafen, mussten in den Strassen ein Stück Brot ffir
ihre Kinder erbetteln. Sobald sie hier angekommen
waren, begaben sie sich an den Platz, wo alle unsere
Brüder Trost "und Unterstützung im Elend finden.
Weinend erzählten mir die Unglücklichen von den
Leiden, die sie während der letzten Monate ihres
Aufenthalts in Lar haben erdulden müssen. Sie hatten
keine Minute Ruhe, sahen mit täglich wachsender
Angst dem kommenden Massakre entgegen. Ihren
Geschäften nachzugehen war ihnen vorboten, strenge
Ueberwachung hinderte sie an der Ausübung der
religiösen Bräuche, Unsere Glaubensgenossen
mussten in einem Winkel ihres traurigen Heims
vegetieren und ihre geringe Habe aufzehren, ohne
an den morgigen Tag denken zu können Ihre
Drangsal w^urde so gross, dass sie sich endlich
zum Massenaufbruch aus Lar entschlossen. Die
Geistlichkeit verbot den Muselmanen, die Häuser
der Juden zu kaufen. So waren die Juden ge-
zwungen, ihre Häuser in den Händen ihrer Feinde
zu lassen und zu sehen, wie ihre Synagoge — die
Zeugin der unerhörten Leiden, die die Gemeinde
Jahrhunderte hindurch zu ertragen gehabt — von
dem Pöbel zerstört wurde. Glücklicherweise hatten
sie die Gesetzesrollen an dem Tage entfernt, an
dem ihnen untersagt worden war, sich zum Gottes-
dienste in der Synagoge zu versammeln.
Die israelitische Gemeinde von Schiras hat
grosse Opferwilligkeit bewiesen. Ich hatte mich an
sie gewandt, um das unermessliche Elend etwas zu
mildern. Grossherzig ist die Gemeinde dem Ruf
nachgekommen. Der dringendste Bedarf wurde
alsbaJd gedeckt, den jüngsten Zuzüglingen wurde
Arbeit verschafft. Wir bemühen uns, für die
anderen Arbeitsgelegenheit in den sonstigen Ort-
schaften der Provinz zu finden.
In vergangener Woche ist endlich der neue
Gouverneur von Fars, Nezam-es-Saltaneh, in unserer
Stadt eingetroffen. Seit seiner mit Ungeduld er-
warteten Ernennung war alle Welt überzeugt, dass
die Ruhe bald wiederhergestellt sein würde. Mau
hatte Recht. Unser neuer Gouverneur ist ein
Greis, der während seiner ganzen Laufbahn mit
allen Kräften sich bemüht hat, Persien auf den
Weg zu leiten, den es seit einigen Monaten be-
treten hat. Nezam-es-Saltaneh gehört zu den
eifrigsten und angesehendsten Anhängern der Rchabi-
Sekte. Sein Sohn, dessen Händen alle Geschäfte
anvertraut sind, ist ein wohlunterrichteter junger
Mann, der lange Jahre in Europa gelebt und sich
für die Verwaltung mit den Anschauungen seines
Vaters erfüllt hat. Ein Vorkommnis der jüngsten
Zeit beweist, dass wir unter dem neuen Gouverneur
auf eine Besserung der Lage unserer unglücklichen
Brüder rechnen dürfen:
Der Vorsteher des jüdischen Viertels hatte
einen unglücklichen israelitischen Erdarbeiter fest-
nehmen lassen unter der Beschuldigung, dass er in
dem Hause, an dem er arbeitete, einen Schatz ge-
funden habe. Unser Glaubensgenosse vnirde ins
Gefängnis geworfen und tausend Qualen ausgesetzt.
Tag für Tag erhielt er die Bastonnade, wurde er
mit glühenden Zangen gezwickt. Unsere Be-
mühungen, ihm die Freiheit zu verschaffen, waren
vergeblich, bis der neue Gouverneur kam. Als ich
ihm den ersten Besuch machte, erzählte ich ihm
von unseren unglücklichen Bruder. Der Sohn des
Gouverneurs schickte sofort nach dem schuldigen
Beamten, Hess an ihm vor den Augen des ge-
quälten Juden strenge Strafe vollziehen und ent-
setzte ihn seines Amtes. — Das machte in der
Stadt den besten Eindruck, denn seit vier Jahren
haben unsere Glaubensgenossen nur selten gesehen,
dass einer der Gewalthaber ihre Verteidigung gegen
die kleinen Tyrannen übernahm. — Während der
Unterhaltung, die diesem Akt der Gerechtigkeit
folgte, liess uns Nezam-es-Saltaneh hoffen, dass für
die Israeliten von Fars bessere Zeiten kommen
werden. „Sein Sie überzeugt", sagte er mir,
„dass ichr den Leiden ein Ende machen
werde, die die Israliten von Schiras seit
langen Jahren haben erdulden müssen. Wenn
mein Wort nicht genügt, die Fanatiker zu be-
ruhigen, so werde ich Gewalt anwenden. Es ist
5Q3
Mitteilungen der Alliance Israelite Universelle: Israeliten in Persien.
594
Zeit, dass wir mit den Barbareien aufhören, die
uns im Auslande den Ruf der Unduldsamkeit ein-
<(etragen haben."
Nezam-es-Saltaneh hat mir auch wirksame
Unterstützung: für unser Schulwerk versprochen
und mich ermutigt, muselmanische Schüler auf-
zunehmen, was wir bisher aus Besorgnis vor den
Intriguen der Ober-Priester nicht wagten. Die
Tatsache, dass israelitische und muselmanische
Kinder auf derselben Bank sitzen, 7usammen lernen
imd in demselben Hof spielen, verheisst heilsamen
Binfluss. Ich werde versuchen, nichtjüdische
Schüler zum Oktober aufzunehmen.
Lahana.
Teheran, 19. Juli 1907.
Unruhen im Juden viertel. Unsere hiesigen
Glaubensgenossen haben wieder einige Tage voll Angst
und Schrecken durchgemacht ond die Befürchtung ge-
hegt, dass die Plünderungen und Verwüstungen einer
noch nicht fernen Zeit wiederkehren könnten. Das
Judenviertel war von allen Seiten durch mit Eisen-
ketten und Standen bewaffneten Pöbel überfallen
worden und bot einen fürchterlichen Anblick. Am
14. Juli war das Gerücht verbreitet worden, eine
jüdische Hebeamme hätte an einer jungen Mohamedanerin
eine gesetzlich verbotene Operation vorgenommen. Die
Beschuldigung üos: von Mund zu Mund, und ganze
Truppen junger Leute eilten durch die Strassen, um
den Fanatismus der einen und die Rachsucht der an-
deren aufzureizen. Die aufgeregte Menge wuchs zu-
sehends und stürmte nach dem Juden viertel, wo bald
die grösste Bestürzung herrschte. Die Häuser wurden
eilends barikadiert, die Läden veriammelt. Die durch
Steinwürfe verfolgten Juden hatten kaum Zeit, sich in
ihre Wohnungen zu retten, die später abends von der
Arbeit Heimkehrenden wurden mit Knüppeln bearbeitet.
Nach einer in Angst und Sorge verbrachten Nacht
wiederholten sich am 15. Jali dieselben Szenen. Jeder
Jude, der sich auf der Strasse sehen Hess, wurde ge-
schlagen und bedroht. Unsere erschrockenen Glaubens-
brüder zogen sich in die Synagogen zurück und er-
warteten jeden Augenblick den Beginn der Plünderung.
Die mit wütendem Geschrei durch die Strassen
ziehenden Burschen hätten auch gewiss Hand an die
Läden gelegt, wenn nicht rechtzeitig Sicherheitsvor-
kehrungen getroffen w^orden wären. Der Oberrabbiner
setzte die Behörden von der bedrohlichen La^e in
Kenntnis, und eine Deputation von Juden begab sich
nach dem „Medjless", dem Parlament, und bat dort
um Hilfe. Sobald ich von den Vorkommnissen erfuhr,
begab ich mich erst zur französischen, dann zur eng-
lischen Gesandtschaft, die in Zerguendeh resp. Goulhek
in den Sommerwohnungen sich befinden, und bat die
Gesandten beider Mächte um ihre sofortige Verwendung
bei den Landesbehörden, damit diese den Unruhen ein
Ende machten. Herr v. Lamartiniere und Herr Cecil
Spring Rici versprachen mir, bei Ala-El-Saltanet, dem
Minister der Auswärtigen Angelegenheiten, die ge-
wünschten Schritte zu tun. Am nächsten Morgen
schrieben sie mir bereits, dass sie die kritische Lage
der Juden von Teheran zur Kenntnis der persischen
Eegierung gebracht hätten, und dass man ihnen die
Versicherung gegeben habe, „dass alle bei der gegen-
wärtigen Lage zulässigen Massregeln getroffen werden
sollen." Diese vereinten Schritte haben ihre Wirkung
Licht verfehlt. Die Unruhen konnten erst einge-
schränkt, dann ganz unterdrückt werden. Das Juden-
viertel hat allmählich das gewohnte Ausseben, die
Strassen sind belebt, die Geschäfte geöffnet und die
Leute gehen wieder in Frieden an die gewohnte Arbeit.
Loria.
*
Teheran, 7. August 1907.
Die Begeisterung, mit der die Bevölkerung die
Einrichtung des parlamentarischen Regimes in Persien
bearrüsst hat, scheint noch nicht* in der Abnahme zu
sein. Die wirtschaftliche Lage des Landes freilich hat
sich nicht gebessert, die breiten Volksschichten sind
ein wenig davon enttäuscht, dass die Deputierteu-
kammer endlose Reden hält, ohne wirksame Massregeln
zu ergreifen. Doch die Hoffnung auf eine bessere
Zukunft ist so stark, dass man fortfährt, da^ parla-
mentarische Regime als das einzige Mittel der
materiellen und moralischen Erneuerung zu betrachten.
Daraus erklärt sich der Glanz der Festlichkeiten, die
man jüngst, am ersten Jahrestage der Verfassungs-
Verkündigung, gefeiert hat. Alle Gesellschaftsschichten
haben an den öffentlichen Veranstaltungen sich beteiligt.
Auch die Jüdische Gemeinde hat Wert darauf gelegt,
ihre Loyalität und ihre Anhänglichkeit an die neue
Einrichtung dadurch kundzutun, dass sie gegenüber
den Gärten von Neguaristan — dort befindet sich das
Parlamentsgebäude — eine Estrade erricLtete und reich
ausschmückte. Auf Einladung des Unterrichtsministers
hat eine Deputation von 150 Israelitischen Kindern,
unter den Schülern unserer Oberabteilungen ausgewählt,
unter Vorantragung einer Fahne mit den Deputationen
der anderen Schulanstalten der Stadt sich in den Fest-
raum begeben. Wir haben uns bestrebt, offenbar zu
machen, dass die Jüdische Gemeinde von Tehercin sich
mit Freuden den zu Ehren des Parlaments veranstalteten
Sympathiekundgebungen anschliesst.
Persien bereitet uns noch Ueberraschungen ! Nach
der Einführung einer repräsentativen Verfassung wird
jetzt die Organisation von Munizipalräten in Angriff
genommen werden. Ein Reformhanch weht durch das
Land, die vorgeschrittenen Parteien bauen auf den
Trümmern des alten Regime in aller Eile die Organi-
sationen des zivilisierten Europa auf. Von Entwürfen
ist man zu Taten übergegangen. In diesen Tagen ist
Kachef-el-Saltanet amtlich beauftragt worden, in Teheran
einen Munizipalrat zu schaffen. Ein offener Kopf und
595
. Mitteilungen der Alliance Isra6Iite Universelle: Israeliten in Persien.
506
freisiDnig, hat Kachef-el • Salfanet gedacht, dass die
iranze Bevölkerung der Hauptstadt, ohne unterschied der
Abstammung und des Bekenntnisses, in ihren Vertretern
herangezogen werden müsse, an den Arbeiten zur Ge-
sundung der städtischen Verhältnisse teilzunehmen.
Demzufolge hat er mich gebeten, unseren Glaubens-
genossen die Organisation des Munizipalrats auseinander-
zusetzen, ihnen zu zeigen, welch grosses Tätigkeitsfeld
ihnen damit eröffnet würde, und zu veranlassen,
dass sie ihre Interessen einem aus ihrer Mitte ge-
wählten Vertreter anvertrauen möchten. Ich habe
diesen Auftrag mit Eifer erfüllt und kann Ihnen zu
meiner Freude melden, dass Herr Dr. Logman, ein
eingeborener Arzt, der aas den Bänken der ameri-
kanischen Schule hervorgegangen ist, die Mehrzahl der
Stimmen erhalten hat und mit dem Amt eines Muni-
zipalrats bekleidet worden ist. In naher Zeit werden
wir wissen, ob diese Wahl für die Israeliten von
Teheran glücklich gewesen ist.
L. Loria.
TRAUERREDE AN DER BAHRE THEODOR OSCHINSKVS,
gehalten am 9. Juli 1907 zn Breslau von Rabbiner Dr. Rosenthal.
Nachdruck verboter,
Als wir in dem Mai -Heft dieses Blattes die
ErinDeruneen unseres Freundes Theodor Oschinsky
an seine Palästinareise veröflFentlichten und sein Bild
unseren Lesern zeigten, waren wir der Hoffnung,
dass es uns bescMeden sein würde, noch lange
Jahre diesen streitbaren, rüstigen, von heiligem
Kifer beseelten Mitarbeiter in unserer Mitte zu sehen.
Unsere HoflFnuus: ist zu nichte geworden, Theodor
Oschinsky ist am 6 Juli von uns gegangen. In dem
Mai-Heft unseres Organs haben wir erzählt, was
wir an Tüeodor Oschinsky besessen; jetzt sagen
jene Worte, was wir an ihm verloren haben.
Wir lassen hier folgen, was Herr Rabbiner
Dr. Rosenthal in Breslau als Seelsorger und Freund
und zugleich im Namen des Central -Comit es und
der Deutschen Conferenz- Gemeinschalt der A. I. U.
am Grabe des Entschlafenen gesprochen hat:
Geehrte und ansehnliche Trauergemeinde!
nSj? oneS iTDIIS „Tobija hat sich gen Himmel
gewandt." Mit diesen Worten beginnt eine lithur-
gische Einschaltung in unserem Gottesdienste, wo-
mit wir die Weihe des Wochen festes nach altem
Brauche einleiten. Tobija bedeutet „Gottesgüte",
und damit wird Mose, der Prophet, bezeichnet.
Uns aber sind diese Worte jetzt kein festlicher
Gruss von einem Mann, der sich zum Himmel ge-
wandt hat, um zu seinem Volke wieder zurückzu-
kehren mit einem Gnadengeschenk der Gottheit,
sondern eine Klage und eine Aeusserung des tiefsten
Schmerzes. Denn Tobija war der hebräische Name
unseres Freundes Theodor Oschinsky, dessen plötz-
licher Tod uns aufs tiefste erschüttert. Unser
Tobija hat sich auch gen Himmel gewandt; aber
er kehrt nicht mehr zu uns zurück. Er nahm
auch das Gnadengeschenk, das uns die Gottheit
in ihm verliehen hatte, mit sich fort und lässt uns
hier als Trauernde zurück, nicht nur sein Haus,
seine Gattin, seine Kinder und Verwandten, sondern
auch zahlreiche Freunde und viele, viele, die von
ihm WQhltaten empfanden haben, eine grosse Ge-
meinde in unserer Stadt und weit, weit über deren
Bereich hinaus. Denn ^n^ j: loi^»:, wie sein Name,
so war er : iT3^::, ein Mann voll Gottesgüte und ein
-*^en für viele.
Er war eine imponierende und liebenswürdige
Erscheinung, eine kraftvolle und einnehmende Per-
sönlichkeit, ein Mann von grosser Menschen-
kenntnis, der die Menschen richtig zu nehmen, zu
gewinnen und auf sie einzuwirken verstand, ein
Mann von grossem Scharfblick und kluger Vor-
aussicht, von besonnener Erwägung und raschem
Entschlüsse, von unermüdlichem Fleisse und er-
staunlicher Arbeitslust und Arbeitskraft. Ein viel-
beschäftigter Mann mit einer bewunderungswürdigen
Gründlichkeit, Pünktlichkeit und Ordnung in allem
Mit dieser seltenen Vereinigung vortrefflicher Eigen-
schaftea ist es Ihm gelungen, aus kleinen Anfängen
und durch eigene Kraft zur Höhe emporzusteigen,
hat er sich und seinem Hause Wohlstand und eine
geachtete Stellung erworben. Bei ihm bewährte
sich der Weisheitsspruch Ttryn n'^mn T, die Hand
der Fleissigen macht reich.
Doch mit diesen Gaben vereinigte er zugleich
einen hohen Idealismus und ein edles und frommes
Gemüt, dessen Grundzug Gottesgüte gewesen,
das starke Vertrauen darauf und ein Durchdrungen-
sein davon für sein Lebensprinzip, gütig und hilf-
reich gegen andere zu sein. Ihm war keine
Leistung zu schwer und keine Aufopferung zu
gross, und ihn fand man zu jeder Zeit, bei Tag
und Nacht, Sommer und Winter, bei Sonnenglut
und Sturm und Wetter stets bereit, wenn es galt,
einem guten, gemeinnützigen Zwecke zu dienen.
Armen, Kranken und Unglücklichen zu helfen.
)2 cM^s mi itt^H IT''« m2 N^ri^in — Wo findet man so
leicht einen Mann wie diesen, der von dem Gottes-
geiste des Wohltums und des Gemeinsinns so er-
füllt und belebt gewesen!
Es gibt, fürwahr, nicht sehr viele Männer, die
unserm Theodor Oschinsky gleichen, von dessen
segensreichem Wirken auf vielen Gebieten während
einer langen Reihe von Jahren sich so tiefe Spuren
in das öffentliche und soziale Leben unserer grossen
und angesehenen Gemeinde eingegraben haben. Er
war Mitglied unseres Repräsentantenkollegiums und
hatte an den bedeutenden religiösen und gemein-
nützigen Schöpfungen und Einrichtungen unserer
Gemeinde seinen wesentlichen Anteil. Er war
Mitglied unserer Armenkommission, Kultuskommissioii
5)7
Mitteilungen der Alliance Israelite Universelle: Trauerrede an der Bahre Theodor Oschinskys.
598
uüd Synagogenkommission, und hat an aUem, was
in den letzten Jahrzehnten zur Förderung und
Hebung der Armenunterstützung, unseres Schul-
wesens und unseres Gottesdienstes sowie zur Ver-
schönerung unseres Gotteshauses geschehen, her-
vorragend mitgewirkt. Er war im Vorstande
unserer Chebra-Kaddischa und einer der tüchtigsten
und fleissigsteu Arbeiter in der weitverzweigten
Verwaltung dieses segensreichen Vereins, die in
grossem Stile die Krankenpflege, die Altersver-
sorgung und das Beerdigungswesen umfasst. Unser
viele erühmtes Krankenhaus verdankt den kostbaren
Neubau den reichen Mitteln wesentlich mit, die er
persönlich durch Anregung und Sammlung herbei-
geschafft hat. Er war der Wächter und Hüter
der religiösen und traditionellen Einrichtungen in
unserem Altersheim und Krankenhaus und auch
ein eifriges und verdienstvolles Mitglied im Vor-
Stande der israelitischen Volksküche. Er war Mit-
begründer und Vorstandsmitglied des Verbandes
für die Erziehung hilfsbedürftiger israelitischer
Kinder. Diesem edlen Werke der Fürsorge für
die unglücklichsten aller Unglücklichen, der ohne
ihre Schuld verlassenen und verwahrlosten Kinder
liat sein gutes Herz sich mit besonderer Liebe zu-
<^ewandt. Die Errichtung eines notwendig ge-
wordenen Heims für unsere Zöglinge war das Ideal,
dem er in den letzten Jahren zustrebte, und womit
sich auch seine letzten Gedanken noch kurz vor
seinem Tode beschäftigten. Er war auch noch in
vielen anderen Ehrenämtern tätig, war überall
pünktlich in der Sitzung, tüchtig im Amte und
fleissig in der Arbeit.
Aber wie viel Gutes und wie vielen Segen
hat dieser wunderbare Mann auch noch an Taten
persönlicher Nächstenliebe vollführt! Wer hat all-
jährlich in der rauhen Zeit des Winters die armen
Kinder bekleidet und ihnen am Chanukka ein
schönes Weihefest bereitet? Theodor Oschinsky mit
seiner Sammlung und durch die Beihilfe guter
Menschen, die er zur Mitarbeit gewonnen. Wer
hat das alte Werk unserer frommen und ehr-
würdigen Wollstein und Struck s. And. fortgesetzt,
durch Sammlungen zweimal im Jahre zu den
Festeszeiten für die verschämten Armen zu
sorgen und Festesfreude in die Hütte der Armut
zu traoen? Theodor Oschinski in Verbindung
mit einem würdigen Freunde. Auf wen blickte
man zuerst, und an wen wandte man sich
zumeist, wenn man grösserer Mittel bedurfte zur
Aufrichtung heruntergekommener Existenzen und
zur Ausstattung von Bräuten? An Theodor Oschinsky.
Ja, Theodor Oschinsky war für uns ein kostbarer
Besitz, und darum ist uns auch sein Tod ein über-
aus schwerer Verlust. Aus dem tiefen Innern er-
hebt sich der Wunsch: hir\\i^^2 nar H^or. — Möge es
seinesgleichen in Israel viele geben!
Aber weit über den Kreis unserer Stadt hin-
aus verbreitet sich die Trauer über deu Verlust
dieses ausgezeichneten Mannes. Auch die Alliance
Israelite Universelle betrachtet sich als Leidtragende
an dieser Bahre. l)er Mann mit dem warmen
Fühlen für die Not der Armen und Unglücklichen
und der tatkräftigen Liebe für die allgemeinen In-
teressen unserer Gesamtheit war der richtige Mann
für die Alliance, war ein begeisterter Anhänger
dieses grossen Bruderbundes und seiner erhabenen
Idee, alle Israeliten zu vereinen, um den unter-
drückten und verfolgten Glaubensgenossen hilfreich
beizustehen und sie zugleich geistig und moralisch
zu heben durch Errichtung von Schulen und Ver-
breitung von Kultur in den Ländern ihres Elends
und ihrer Armut. Er hat in ihrem treuen Dienste
viel geleistet und viele Erfolge erzielt. Er hat
durch Gründung von Lokalkomitees nicht nur in
Breslau, sondern in ganz Schlesien und darüber
hinaus der Alliance ein weites Gebiet und zahl-
reiche Anhänger erworben. Er war es auch, der
als Träger ihrer Idee und als Vertreter des Central-
comitees den grossen Wanderzügen der aus Russ-
land und Rumänien vertriebenen Glaubensgenossen,
die in Scharen ihren Weg durch Schlesien nahmen,
Beistand leistete und der auch für ihre Verpflegung
sorgte, er als der Leiter im Vereine mit würdigen
Gefährten, die sich ihm zu dem guten Liebeswerke
angeschlossen haben. Unvergessen bleiben ihm
auch die Reisen nach Oberschlesien und Galizien
und die Anstrengungen, denen er sich zur Ordnung
der Züge unterzogen hat. Im Namen des Central-
Comit6s, dessen Mitglied er gewesen, und im Namen
der Deutschen Conferenz- Gemeinschaft, in deren
Vorstand er sass, zolle ich ihm den Tribut des
tiefsten Dankes und der unwandelbaren Liebe und
Verehrung. In das Buch des Gedächtnisses dieses
hehren Bundes wird neben den vielen grossen und
edlen Israeliten, die ihm ihre reiche Intelligenz und
Kraft geweiht haben, auch sein Name für immei*
eingeschrieben sein als Tobija, als ein Mann voll
Gottesgüte. Von ihm gilt das Wort des Propheten :
„Und die Einsichtsvollen werden glänzen wie der
Glanz des Himmels und die Wohltaten für viele
üben und viele zum Wohltun anregen, wie die
Sterne immer und ewig.**
Geehrte Leidtragende! Verzeihet, wenn ich
hinter das, was er uns allen gewesen, zurücktreten
Hess, was er euch gewesen. Was er uns allen
gewesen, ein Mann von Güte, Liebe und Treue,
das ist er ja auch euch gewesen, nur in noch weil
höherem Masse. War er doch der gütigste, zärt-
lichste und liebevollste Gatte und Vater! Seine Ehe
mit seiner würdigen und innig geliebten Gattin hat
die ideale Grundlage einer reinen und tiefen
Herzensneigunp, auf der sie erstanden, niemals ver-
ändert. Und es ist nicht zuviel, wenn ich sage,
dass die Harmonie und Eintracht dieser aus-
gezeichneten Ehe nie durch einen Misston oder ein
Missverständnis getrübt wurde. Und was für ein
gütiger und t rensorgender Vater war er seinen
Kindern, seinen Söhnen, Töchtern, Schwiegerkindern
und Enkelkindern! Er war beglückt ob dem Frieden
und dem religiösen Geist, der in den Familien
seiner verheirateten Kinder waltet, und dass es ihm
vergönnt gewesen, auch seinen jüngsten Sohn am
Ziele seiner Studien zu sehen. Und wie hat ei*
599
Mitteilungen der Alliance Isra61ite Universelle: Trauerrede an der Bahre Theodor Oschinskys.
600
sich noch gefreut über die Geburt des jüngsten
Enkels, des ersten Trägers seiues klangvollen
Namens, dessen Einführung in den Bund Abrahams
er leider nicht erleben sollte.
. Tröstet euch, ihr seine nächsten Angehörigen
und Verwandten, damit: nbv wioS iT3lö, dass Tobija
zur Höhe emporgestiegen, dass er ein Mann von
strahlender Gottesgüte gewesen, dessen Name und
dessen Leben noch lange nachleben und nach-
leuchten wird. Tiöstet euch damit, dass seine
Seele gleich der des Mose auf der Höhe sanft in
die Ewigkeit hinüberzog. Er wurde wegen seiner
Leistung im Dienste der Humanität auch durch
einen Orden ausgezeichnet Doch höher ist
der Glanz der 3*ö ü\^ vt^, der Krone des guten
Namens, die er sich auf seiner leider nicht sehr
langen Pilgerfahrt auf Erden erworben. Endlich
möge auch euch diese ungemein grosse Trauer-
versammlung zum Tröste sein als ein Zeichen, dass
so viele an eurer Trauer teilnehmen. Theodoi*
Oschinsky war unser, er bleibt unser, und wir
werden stets in Liebe und Verehrung seiner ge-
denken.
So ziehe denn hin in Frieden, "pisf yy^b -[Sn
und es gehe dir voran deine Gerechtigkeit, und die
Herrlichkeit des Ewigen nehme dich auf zu den
Seligen und Unsterblichen!
Amen.
Hilfstätigkeit der A. I. U. tu Marokko und Russ»
land« Aus Anlass der jüngsten Vorkoramnisse in Casa-
blanca, wo das Jadenviertel geplündert und teilweise
verbrannt wurde, hat das Pariser Central-Comite der
Alliance Israelite Universelle zur Linderung: der augen-
blicklichen Not den Betrag von 5000 Francs nach
Casablanca telegraphisch übermittelt.
Ferner hat das Central-Comite der Alliance israelite
Universelle für die zwei in Russland abgebrannten Ort-
schaften Stolbozy und Smoliany eine Subvention von
8000 Francs bewilligt.
* * *
Die amerikanische Einwanderungskom-
mission. Der Kongress in Washington hat eine
Kommission ausgesandt, die zur Vorbereitung für
eine etwaige Aenderung der Einwanderungsgesetze
eine Studienreise durch die Länder machen soll,
aus denen sich die Einwanderung hauptsächlich
rekrutiert. An der Spitze dieser Kommission steht
das Kongressmitglied Herr William S. Bennet. Auf
den verschiedenen Stationen ist diese Einwanderungs-
kommission von den Vertretern der Alliance Israelite
Universelle geleitet und mit allen Auskünften ver-
sehen worden. Ganz besonders geschah dies in
Rumänien, wo die Kommission längeren Aufenthalt
nahm und die Verhältnisse in den einzelnen Landes-
teilen genau prüfte. Herr Bennet und seine Kollegen
haben ein Bild von der Lage der Israeliten in
Rumänien erhalten und von dem unwiderstehlichen
Auswanderungsdrang, den die von der rumänischen
Regierung geschaffenen Verhältnisse hervorgerufen
haben und hervorzurufen fortfahren.
Die Alliance-Sehulen iu Tunis. Vor kurzem sind
die Alliance-Sehulen in Tunis von Herrn Alapetite,
Generalresidenten von Tunesien, und den Herren General-
unterrichtsdirektor Machuel, Primärinspektor Baille und
dessen Kabinettschef Beriel besichtigt worden.
Herr Alapetite hat fast alle Klassen besucht, hat
mehreren Lektionen beigewohnt, einige Schüler
examiniert und die Klassenbücher aufmerksam durch-
gesehen.
In der Mädchenschule hat Herr Alapetite sich be-
sonders im Saal der Strickerinnen aufgehalten, wo die
Schülerinnen unterrichtet und angehalten werden,
Tücher, Strümpfe und Socken für ihre armen Mit-
schülerinnen zu stricken. Diese Praxis der Gegen-
seitigkeit in der Schule hat den Herrn Generalresidenten
auf das lebhafteste interessiert. Beim Abschied hat er
den Direktoren seine vollste Befriediguns: über den guten
Stand der beiden Schulen und über die Tätigkeit der
Alliance in Tunesien ausgesprochen.
<•
Lokal •Comite Worms. Am 30. Juni hat die
Generalversammlung des Wormser Lokal -Comit^s der
A. L ü. stattgefunden. Nach Anhörang und Ge-
nehmigung des Rechenschaftsberichts wurden die Wahlen
vorgenommen. Die bisherigen Vorstandsmitglieder
Herren Rabbiner Dr. Stein, Rudolf Scheuer und
Siegmund Liebmann wurden wiedergewählt. An
Stelle des Herrn EmanuelDewald, der nach Wies-
baden verzogen ist und dort seine schätzbare Kraft dera
Werk der A. L ü. in alter Treue widmet, wurden die
Herren Brockmann und Kiefer gewählt.
*
*
Neues Lokal -Comite Kiel. Ein neues Lokal-
Comite der Alliance Israelite Universelle hat sich in
Kiel gebildet. Das Comite wird geleitet von den
Vorstehern Herren J. Frankenthal, Dr. med. Jacob,
J. Tannenwald.
*
V
Nachtrag zum Jahresbericht der A. I. l'.
für 1906. Im Jahresbericht 1906 ist zu ergänzen:
Durch Bezirksrabbiner Schlessinger. Gaben und
Thoraspenden in Bretten. Leopold Lob 3, — Mk.,
Lazarus Esslinger 3, — M., Bezirksrabbiner Schlessinger
2,— Mk., Julius Gailinger 1.— Mk., Louis Wein-
garten 4, — Mk., L. tCahn aus Frankenthal 10,— Mk.,
Sally Kahn 5, — Mk., Vorsteher Gustav Lämmie 2 Mk..
Max Erlebacher 1,— Mk., Emil Wertheimer 1,— Mk.,
M. Lichtenberger 3,-— Mk., Nathan Dreyfuss aus
Diedelsheim 6,— Mk. — Flehingen: Vorsteher
G. Schlesinger 2, — Mk., Louis Barth 1,— Mk., Leop
Barth 10.— Mk. — Königsbach: N. N. 4,— Mk.—
Gemmingen: Max Oitenheimer 2,— Mk., V. Dinkel-
spiel 1,— Mk., Jul. Manasse 1,— Mk. — Neuzuge-
treten: Synagogen - Gemeinde Münzesheim. —
Sammlung für die Israeliten in Russland: Königs-
bach 33,50 Mk., Flehingen 31,— Mk. — Exin,
Dombrower 6, — Mk.
Mitteilungen der Alliance Israäile Universelle.
Ein Urteil über das Alliance- Werk in Persien.
Per Spezi albericbterEtatter des „Berliner Tafieblaite"
HerrMygind, schreibt aus Teheran tibei die durtigeD
Alliance -Schulen wie fulgt:
.Ich habe in inetnem früheren Artikel schon von
der Vom Staate euvintionierten deutschen Schule ge-
sprochen und will heute einige Worte über die Schule
der „Alliance Israelite" hier folgen lassen. Wenn man
b(^denkt, das§ unter dun Muhamedanern im allgemeinen
eine starke Abneigung gegen die Juden h<.'rrscbt, und
ilass die Alliance hier nicht wie zum Beispiel in der
Türkei einen starken internationalen Rückhalt an diplo-
matischen Verträgen nud Xnnzessianen besitzt, so wirft
das Bestehen und Gedeihen ihrer Schalen in Persien eben-
falls ein eigenes Licht auf den „Fanatismus" der Perser.
In einem zum grosseren Teil von einbeimischen
Juden bewohnten Viertel im östlichen Teil der Stadt,
zu dem man durch eine lange Basergassc gelangt,
befinden sich in drei gemieteten Häusern die beiden
Schulen für Knaben und Mädchen. Ich bi suchte diese
ktztere zuerst und wnrde empfangen vim der Direktrice,
der mir bereits bekannten Frau Eosanu, die schon in
Konstantini>pel und Sofia gewirkt hat, .Sie führt mich
in den Klassen herum und erläutert. In ihrer >>chnle
sind 196 Mädchen im Alter von 6 — 14 Jahren, verteilt
auf fünf Klassen, in denen von acht Lehrkräften — der
Direktrice, einem Lehrer nnd sechs in der Schule selbst
ausgebildeten Lehrerinnen — unterrichtet wird. Lehr-
gegenstände sind ausser den allgemeinen üblichen einer
niederen Volksschule Trppichweben, Strumpf wirken und
Feinwäsche — also drei hierzulande gutbezahlte Frani-n-
arbeiteu. Krau Rosano ist eine energische Leiterin, und
alles geht wie am Schnürchen. Aber welche Geduld
und welche Zähigkeit dazu gehört hat, diese verwahrloste
Jugend an Zucht und Ordnung, vor allem an Reinlich-
keit zu gewähnen, und wieviel kleiner Fehden mit den
eigensinnigen Eltern es gekostet hat, das lässt sich aus
einigen Mitteilungen der Dame ermessen: „Als ich vor
fünf Jahren meine Arbeit begann, war kaum eines der
Mädchen ohne irgend eine ekelhafte Haar- oder Haut-
krankheit Ich begann nahen allgemeiner Eörperpflegu
damit, sie zu zwingen, ihr Haar statt wie landesüblich
in vier oder fünf festgeflochtenen und eigentlich
niemals ausgekämmten Zöpfen in einem einziifeu
losen Knoten zu tragen, der sich selbstverständlich
während des Spiels oder nachts von selbst löst; dadurch
erreichte ich, daes die Mädchen schon aus Koketterie
ihr Haar wieder ordneten, nnd dass dnrch den Luftzu-
tritt und das Waschen und Kämmen die Ansschläge
allmählich von selber verschwanden. Aber das schwerstt;
von allem war der Kampf mit den Eltern gegen die
Frühheiraten; war es doch Sitte, kräftige Mädchen mit
zehn Jahren und selbst noch jünger zu verehelichen!
Das kommt jetzt, vrie ich mit Stolz sagen kann, kannt
mehr vor; einige ernst« Wort« da, wo die Absicht zu
bestehen scheint, seitens meines alten Freundes hier'* —
sie stellt mir einen der Vorsteher vor — „genügen heute,
am die Ausführung zu verhindern."
Ich ging nun in die Knabenschule, die unter
der Leitung des Direktors Loria aus Saloniki
steht, den ein zweiter Direktor und neun ein-
heimische Lehrer unterstützen. Anzahl der Schüler
470, verteilt auf zehn Klassen. Die Unterrichtsgegen-
stände sind die einer Elementarschule, wozu noch
Hebräisch und Arabisch kommen; die Unterrichtssprache
ist in den nnteren Klassen persisch, in den oberen
französisch. Auch Herr Loria hat viel mit den
orientalischen Untugenden der Unreinlichkeit und Vn-
pünktlichkeit zu kämpfen gehabt, aber seine Klassen
machen heute durchweg einen mindestens ebenso sanberen
und ordentlichen Eindruck wie die einer deutscht it
Dorfschule. Die Knaben scheiden meistens mit dem
fünfzehnten oder sechzehnten Lebensjahre aus und finden
leicht Anstellungen in Bureaus nnd Geschäften."
Die verehrlichen Mitglieder, die auf regelmässige und pünktliche Zustellung
unseres Organs Wert legen, werden ersucht, Aenderungen ihrer Postadresse unver*
zU^IICh dem Deutschen Bureau der A. I. U., Berlin N. 24, Oranienburgerstrasse 42/43
mitzuteilen.
Alle für das Berliner Lokal-Comitö der A. I. U. und für das DcnUche Bnrean der A. L U. bestimmten
Geldsendungen beliebe man an den Schatzmeister
Herrn Benno Braun in Firma Joelsohn & Brfinn, Berlin C. 19, Hausvoigteiplatz 12
zu adressieren, eventuell durch Reichsbank- Girokonto der Firma Joelsohn & BrDnn zu überweisen.
Strw fj3
BUECHERSCHAU.
Aphorismen. Von C. Kalisrher. Verlag von Carl
Georgi in Bonn.
Aphorismen sind zur Mode und damit zur Plage
geworden. Wer schiefe Gedanken in manierierte Form
zn bringen vermag, lässt sie unter dem Namen von
Aphorismen in die Welt gehen. Die Bezeichnung ist
dadurch in Verruf gekommen. Das vorliegende Bflchel-
chen ist keine Modearheit. Nicht die Witzform ist ihr
Zweck, auch ist ihr Witz nicht gesucht. Mit grossei-
Kunst sind hier hohe und kluge Gedanken in die ein-
fachste, knappste Form gekleidet. Die Gedanken blenden
nicht durch ihren Ausdruck, sondern durch überzeugend'.-
603
Bücherschau.
604
r
Kraft and durch Tiefe. Es ist eine Freude, das kleine
Buch zu lesen und immer wieder zu lesen. Der Ver-
fasser ist Rabbiner in Bonn. Er hat seine Amtsbe-
zeichnung seinem Namen nicht beigefügt und er hat Recht
daran getan. Denn so sehr die Gedanken; die er in
«einem Buch vorträgt, jedem Rabbiner zur Ehre ge-
reichen würden, Berufsgedankeu sind sie nicht.
' ♦ '
Einsames Land. Erzählungen und Stimmungsbilder
von Dr. Wilhelm Münz, Rabbiner in Glei-
witz. Verlag von J. Kauffmann in Frank-
furt a. M.
Hier hat der Verfasser seinen Titel genannt, und
er hat Recht daran getan. Denn seine Erzählungen
und Stimmungen sind aus den Anschauungen und Er-
fahrungen des Amts hervorgegangen, an dessen Auf-
graben er seine dichterische Kraft erprobt hat. Die
Begeisterung, die den Verfasser in seinem Beruf be-
seelt, spricht nicht minder aus seinen poetischen Schöpfun-
£ren, und die mitreissende Kraft ist auch hier nicht verloren
gegangen.
* * *
ßeruria. Gebet- und Andachtsbuch für jüdische Frauen
und Mädchen. Von Rabbiner Dr. Max Grun-
wald. Verlag von Jos. Schlesinger in Wien.
Das Buch, so heisst es im Vorwort „ist nicht
bestimmt den Siddur und das Machsor zu verdrängen**. —
Keine Sorge, dass das geschehen könnt«". Das Buch,
so hpisst es weiter im Vorwort, „erbittet dringend
dauerndes Heimrecht an jenen Türen, von denen die
Sprache der Psalmisten trauernd sich fortgewiesen sieht,
und die nun dem lauernden Gespenst des Abfalls vom
alten Väterglauben offen stehen." — Keine Aussicht,
dass dieser Bitte stattgegeben wird. Die alten Techinoth
haben es nicht erreicht und waren doch wenigstens
naiv, während diese neue Techinah blos geschmacklos
ist. Ein Abschnitt, dem die Ehren eines besonderen
Kespekt -Titelblattes eingeräumt sind, hat die dunkle
1 eberschrift: „Bilder und Zeichen am Lebenswege.
Nach Bibel, Talmud und Midrasch." Als Motto ist
das Wort aus Hebbels Judith vprangesetzt: „Ein Volk,
das solche Weiber hat, ist nicht zu verachten.** Dei
Herausgeber will damit keinen Witz machen, er ist im
Gegenteil von trostloser Ernsthaftigkeit. -^ Ein Teil de.s
Inhalts ist von anderen Autoren entlehnt. Die Namen
der freiwilligen und unfreiwilligen Spender sind auf
der Schlussseite aufgezählt. Manche werden ihren
durch Druckfehler und unsinnige Aenderungen ent-
stellten Anteil nicht erkennen. K.
* *
Liebermann-Mappe^ herausgegeben vom Kunstwart, Preis
10 Mark. (Kunst wartverlag Georg D. W. Callwey
in München).
Wer den Kunstwart nur oberflächlich kennt, mag
sich darüber ^^Tindern, dass gerade er Liebermanns
60. Geburtstag durch die Herausgabe einer besonderen
Künstlermappe ehrt, noch dazu mit der umfangreichsten
Mappe, die er überhaupt bis jetzt gebracht hnt. Aber
Avenarius ist keineswegs ein öegner der Moderden; die
ihn und den Kunstwart dafür ausgeben, schliessen das
meistens sehr irrtümlich daraus, dass er den Folgerungen
sich nicht anschliesst, welche gewisse moderne Kritiker aus
ihrer Bewunderung ziehen. Auch der Kunstwart schätzt
und ehrt Liebermann, ohne ihn freilich mit den ^modernen"
Kritikern gleich den grössten lebenden Maler oder sogar
den grössten lebenden Künstler zu nennen; aber er
macht den Schluss nicht mit, dass deshalb die Künstler
anderer Richtung, dass vor allem so überragende Genies
wie Böcklin und Klinger geringere Künstler als Lieber-
mann seien. Auch im Begleittext zur Lieberraann-Mappo
macht Avenarius aus seiner ablehnenden Meinung gegen-
über den einseitigen Verherrlichern Liebermanns kein
Hehl: im übrigen aber bemüht er sich, dem Publikum
die Augen für diese ur gesunde und wahrhaftige Malerei
zu öffnen, wo sie noch nicht geöffnet sein sollten. Lieber-
mann seihst hat die Publikation entgegenkommend mit
seiner Hilfe unterstützt. Avenarius hat davon freudig
Gebrauch gemacht, und so bietet die Mappe, mit naliezu
einem halben Hundert (etwa zur Hälfte in grossem Format
reproduzierten und auf Karton aufgezogenen» Bildern, dio
grösste Bilderpublikatiim über Liebermann, die bisher
überhaupt erschienen ist. Wer die moderne Malerei in
Deutschland näher kennen lernen will, der muss diese
Mappe kennen lernen, wo immer er die Originale nicht kennt.
Nllmm'r ifegi'ein PFospcIcf dcf „Sana-Cescllschafr m. b. H., Cleve"
bei, auf den wir unsere Leser
besonders aufmerksam machen.
Kaum 15 Monate sind verflossen, seit die Actisn-QesellS'^liaft fUr Anilin-Fabrikation, Berlin, die letzte Auflage ihres bekannten ..Agfa-Photo-
Handbuohet**, das 41.- 52. Tausend in blauem Leinenband, herausgab und schon wieder hat sich ein Ncudrucl« notwendig gemacht. Diese neueste
Ausgabe, in weinrotem Leinenumschlag und einer Stärke von 120 Textseiten liegt uns vor; es handelt sich um das 53.-65. Tausend. Angesichts der
Fülle des darin über die photographischen »Agfa^-Artikel, wie Platten, Films, Entwickler, Spezialitäten etc.. Gesagten und bei dem äusserst geringen
Preis von 30 Pfg., der knapp die Selbstkosten deckt« ist es nicht zu verwundern, wenn kein Verbraucher von „Agfa" -Photo- Artikeln dieses handliche
Büchlein missen mochte. Zu beziehen ist dasselbe durch alle Handlungen mit photographischen Artikeln.
Gewerbe-Akademie Friedberg. Die an der Akademie hier kürzlich wieder unter dem Vorsitz eines städtischen Prüfungskommissars (Geh.
Baurat) in den Abteilungen für Maschinenbau, Elektrotechnik, Bau-Ingenieurfach und Architekturfach abgehaltenen Ingenieurprüfungen haben wietlerum
ein günstiges Resultat ergeben, denn von den Kandidaten der Haupt- bezw. Vorprüfung bestanden 11 mit dem Prädikat »sehr gut". 20 mit ..gut",
10 erreichten die Note .bestanden"*, während 3 die Prüfungen ganz oder teilweise wiederholen müssen. Das neue Maschinenlaboratorium ist dem Herrn Dozenten
Dipl.-Ing. Immerschitt unterstellt, der auch im Verein mit den übrigen Dozenten wieder die Excursionen in die umliegenden Industriebezirke leiten wird.
Grotte Itraelititche VergnO||ungtr<>lte nach Palättina, Syrien, Ägypten, Griechenland und Konttantinopel. Die vom Reisebureau
^Tabor" A. Grajevsky & Co., Jerusalem, im Herbst 1. J. veranstaltete Vergnügungsreise nach dem Orient findet starken Anklang in allen Schichten
des Judentums. Es sind bereits aus Deutschland, Oesterreich-Ungam, Holland. DAnemark und Russland eine solche Anzahl von Anmeldungen zur
Reise eingetroffen, dass das Stattfinden der Reise gesichert ist. Die Reite wird demzufolge an bettimmteni Datum ab Wien und Budapeit anfangen.
}{err A. Graievsky, Direktor des Reisebureau „Tabor^ fährt am 16. September von Jerusalem nach Konstantinopel, um dort die letzten Arrangements
auf dem dort auf ihm wartenden Dampfer zu treffen, von wo aus er nach Budapest, Hotel Royal geht, um daselbst die Teilnehmer zu erwarten.
Diejenigen, weiche die Absicht haben, sich an dieser Reise zu beteiligen, werden gut tun, ihre Anmeldungen zur Reise derart einzuschicken, dass
(dieselben in Jerusalem noch vor der Abfahrt des Herrn Grajevsky dort eintreffen. Die Reise nimmt ab Wien und Budapest am 15. Oktober ihren
Anfang und dauert 28 Tage, wovon 2 Tage in Konstantinopel, 1 Tag in Smyrna und Rhodos, 15 Tage in Syrien und Palästina, 2 Tage in Ägypten
und 1 Tag in Piräus (Athen) zugebracht werden. Prospekte und nähere Auskünfte erteilt das Reisebureau „Tabor" A. Grajevsky & Co., Jerusalem, Palästina.
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AboiineneiitspreU ffir dat Jahr In Deuttchland and Oesterrelch Mark 7,— (Luzusausgabe Mark 14,—). für das Ausland Mark
(Lazusausgabe Mark 16).
ffir Russland ffanzjihrllch 4 Rubel. Einzelhefte k 35 Kop.
__^. . Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandet, durch tUe Pottämter des Deuttchen
. . Reiches unter No. 5785 t der Postzeitungsliste und durch die Expedition dieser Zeitschrift "
Anzeigen Mk. /. — die viergespaltene Nonpareillezeile, grössere Anzeigen nach Tarif, bei Wiederholungen Rabatt.
Adresse für die geschäftliche Korrespondenz: Verlag ,.Ost und West'\ Berlin S. 42, Wasserthorstr 50.
Redaktion: Berlin W. 15, Knesebeckstr. 48/49.
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Verantwortlich für den redaktionellen Teil: Chefredakteur Leo Winz, Berlin W. 15. Knesebeckstr. 48/49. — Verlag Ost
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Heft 10.
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<r< re Kuri*' Von nichtjüdischen Historikern ist häufig dem
xt ziir Li; ' Idlschen Volkdie staatsbildende Fähigkeit abgesprochen
»'hnpQ'i?c Orden. Als Beweis für diese Behauptung wurden
licht m L' ie geschichtlichen Ereignisse angeführt, die erbitterten
t er SM Jütischen und religiösen Kämpfe, welche die Entwick-
uD'. «'^'^ mg des jüdischen Staatts gehemmt haben. Es ist in
" Inti'e ^^ '^^^ ^^^' ^^^ ^^ ®'®^® Anlauf der israelitischen
Iriua ha: -*^™°^®» ^ Vorderasien ein starkes politisches Gemein-
st ii^ M- ®^®^ ™^^ zentraler Gewalt zu bilden, durch den Par-
HtjfTKji.- kularismus der einzelnen Stämme erfolglos geblieben
.ffrpzojr.: t; der zweite jüdische Staat wiederum litt fortwährend
Li. ber.u'^ 1 den sozialen, politischen und religiösen Kämpfen,
,lie !i ^iff> eiche ihn zu verschiedenen Zeiten ins Wanken brachten.
. D \M ' idessen wird man diese Tatsachen zugeben können,
r«ii>'^'-g^ pe dass dadurch die an sie geknüpfte Schlussfolgerung
auf den i'*s^tii1^ würde. Keinem Staat sind solche Ereignisse
Oders wäai^^^spsirt geblieben, und niemals hat sich seine Ent-
icklung und Konsolidierung in gerader Linie völl-
igen. Wenn die äusseren Ereignisse nicht seine Ver-
chtuDg herbeigeführt haben, konnte er diese in der
ator der Sache liegenden Schwierigkeiten überwinden,
er jüdische Staat ist nicht nur an dem partikula-
stischen Charakter der israelitischen Stämme und an
)r Masslosigkeit der Parteikämpfe zugrunde gegangen,
•Odern auch, und dies wohl in erster Keihe, an
m politischen Verhältnissen Vorderasiens, an der
iglücklichen geographischen Lage Palästinas und an
Jk"^^ *:': srschiedenen anderen ungünstigen Bedingungen, deren
^'^ Ji'iil^.J »Beseitigung gar nicht in der Kraft des jüdischen VolJjes
\ d*»/» ^; \ g' Es ist eine geschichtliche Ethik von grossem
FÜR DAS GESAMTE JUDENTUM
Herausgegeben und redigiert
von
LEO WINZ.
Alle Rechte vorbehalten.
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Oktober 1907.
Vn. Jahrg.
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Von Dr. Simon Bernfeld.
Nachdruck verboten.
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^ ^^ , >lkspädagoglschem Wert, wenn man das Unglück
l Bvi'r^-r ^^ ^^^^ ^^^ ^^^ Begriff von Schuld und Sühne in
i;^^ !vA»> ' ^''^i^^'^^i^ bringt, aber objektiv wahr ist dies nicht.
^^^^^ ^^^^'^eber manches Volk sind schwere Prüfungen ge-
äita Jl^°^°^®^» laicht infolge seiner Fehler, sondern im Gegen-
i •^ ^il wegen seiner moralischen Vorzüge.
-). ^ Die Juden besitzen zweifellos dieselbe staatsbildende
fthigkeit wie die anderen Völker, deren Geschichte
Deüt*c^ c^h dieser Richtung bessere Erfolge zu verzeichnen
2«'^*^^jg^t. Hingegen ist es vielleicht eine singulare Er-
?i ^'^•^^heinung, dass sie auch ausser der staatlichen Gesell-
12 itS^^haft in gewissem Sinne staatliche Organisationen und
• * '"titutionen schufen. Die Geschichte der Juden in der
Diaspora zeigt, dass es einem kulturell hochentwickeltem
Volke möglich ist, ein Staatsleben zu führen, auch
wenn es keinen Staat bildet. Fichte hat die Juden,
welche zu seiner Zeit noch nicht in die staatliche
Gesellschaft der zivilisierten Völker aufgenommen
waren, als einen „Staat im Staat^ bezeic^et; viel
richtiger wäre aber die Bezeichnung: ein Staat ohne
Staat. Durch achtzehn Jahrhunderte bildete das
jüdische Volk an den verschiedenen Punkten der Erde,
sozusagen einen ambulanten Staat, eine staatliche
Gesellschaft ohne territoriale Grundlage, eine Art
„Stiftszelt**, wie es die Israeliten nach der biblischen
Erzählung mit sich von Lager zu Lager herumgeftlhrt
haben. Wo die Juden sich im Laufe der Zeit dauernd
niederliessen, richteten sie ihre eigene staatliche Ord-
nung ein, um sie dann, wenn sie eine neue Ansiedlung
gründen roussten, abzubrechen und mit sich zu führen.
Dieser ambulante jüdische Staat hatte stets seine
Institutionen, die er nicht entbehren konnte. Die
jüdische Gemeinde der früheren Jahrhunderte bis zur
Mitte des neunzehnten Jahrhunderts war keineswegs
bloss eine religiöse oder gar bloss kirchliche Gemein-
schaft, wie sie es heutzutage in den westeuropäischen
und amerikanischen Ländern ist; sie war eine politisch
gegliederte Kolonie, die unter gewissen Bedingungen
von dem sie umgebenden fremden Staat geduldet und
beschützt wurde. Gab es in einem grösseren Staat
mehrere jüdische Gemeinden mit zahlreicher Be-
völkerung, so lag es in der Natur der Dinge, dass
die Gemeinden eine gemeinsame Organisation schufen,
nicht etwa, wie dies auch heutzutage in vielen
Ländern geschieht, um die gemeinsamen religiösen In-
teressen zu fördern, sondern um die ambulante staat-
liche Gesellschaft zu erhalten und zu befestigen. Eine
bloss religiöse Organisation der Juden ist leicht zu
schaffen und zu halten; sie ist eigentlich auch da vor-
handen, wo sie unsichtbar ist. Und das Judentum
selbst ist eine Organisation, ein Zentralpunkt, dem sich
alle einzelnen Gemeinwesen von selbst anschliessen,
auch ohne Organisationsstatut. Ganz anders liegen die
Dinge, wenn es sich um politische Gemeinden handelt,
die sich auf Grund von Abmachungen und Verein-
barungen zusammenschliessen. Oft ist die politische
607
Dr. Simon BdfiHfeld: Jüdische Organisation in der Diaspora.
608
Einh% der Oemeinden durch den Einfloss von anflsen,
durch ein Machtgebot der politischen Gewalt hergestellt
worden. Die K^iernng, welche die Niederlassung von
Juden in ihrem Lande duldete oder gar förderte, wollte
dies nur unter gewissen Bedingungen tun. Damit aber
die Innehaltung der von den Juden übernommenen Ver-
pflichtungen gesichert erscheine, musste eine politische
Organisation vorbanden sein, mit der die Regierung
unterhandeln und an die sie sich fQr alle Fälle halten
konnte Das beeinflusste natürlich die innere Be-
schaffenheit der Organisationen, die immer eine lokale
Färbung annahmen. Aber die politischen Ansprüche
an die Organisationen erschöpften sich keineswegs in
den Verhandlungen mit der Regierung und in der
Regelung des Verhältnisses zwisdien dem Staat und
den G-emetnden. Das ganze innere Leben der Juden,
das Kulturleben im weitesten Sinne des Wortes, war
davon abhängig. Nicht nur die öffentlichen Angelegen-
heiten der jüdischen Gemeinden wurden durch diese
Organisationen bestimmt und geregelt, sondern auch
das private Leben. Denn die Befugnisse der Gemeinden
war mannigfaltig und weitgehend; sie griffen tief in
das Leben, in die intimste Häuslichkeit jedes einzelnen
Juden. Der ambulante jüdische Staat, dessen Grund-
lage so tinbestimmt und unsicher war, besass mehr
Machtvollkommenheit als irgend ein anderer Staat. Er
beherrschte alles und bestimmte alles; seine Ver-
ordnungen und Befehle erstreckten sich bis über die
kleinsten und einfachsten Einrichtungen des Lebens.
Er sorgte nicht nur für die gemeinsamen Institutionen
der Gemeinde, für die öffentliche Wohltätigkeit, für die
Schule, für die Befriedigung der religiösen Bedürfnisse ;
er gab auch eine Kleiderordnung, bestimmte, wie sich
jeder Jude und jede Jüdin zu kleiden hatte, welchen
Aufwand eine jüdische Familie nach ihren materiellen
Verhältnissen machen durfte, wie viele Gäste zu einer
Hochzeit oder zu einem sonstigen Familienfest in der
Höchstzahl geladen werden sollten, welche Kosten die
Bewirtung der Gäste zu verursachen hätte. Einem
modernen Menschen wtlrde diese Bestimmung seines
privaten Lebens, seiner intimsten Häuslichkeit, als eine
unerträgliche Tyrannei erscheinen; er würde sic)i ihr
gamicht fügen können. In den früheren Jahrhunderten
besass aber jede Judenschaft derartige Verordnuegen
und verfügte über weitgehende Disziplinmittel, um ihnen
Respekt zu verschaffen. Dem M^htbereich der Ge-
meinde und der politischen Organisation konnte sich
der Jude nur durch den üeberüitt zu einem anderen
Glauben entziehen.
Diese stramme Organisation war nötig, weil ohne
sie die Erhaltung des jüdischen Volkes unter so un-
günstigen Bedingungen undenkbar schien; sie war aber
auch nützlich, weil sie dem Einzelnen nicht nur
Pflichten auferlegte, sondern zugleich weitgehenden
Schutz gewährte. Die ökonomische Lage der Juden war
oft noch ungünstiger als die politische. Sie wurde nur
durch die Gemeindeorganisationen etwas ^ erträglicher.
So war es beispielsweise eine sehr wichtige Einrichtung,
dass ein Jude dem andern gegenüber manches ersessene,
ererbte oder erworbene, aber seiner Natur nach doch
nur ideale Recht hatte, in dessen Besitz er nicht ge-
stört werden durfte. Man kennt dieses Recht unter
der Bezeichnung „chasaka^, das im Privatleben der
Juden eine so bedeutende Rolle spielte. In manchen
Städten hatten die Juden kein Recht, Häuser zu
kaufen; sie waren darauf angewiesen, bei christlichen
Hausbesitzern zur Miete zu wohnen oder Geschäftsläden
zu mieten. Die Gefahr lag nahe, dass sich die Juden
gegenseitig in dem zu gewährenden Mietspreis über-
boten und ruinierten. D^ Recht der „chasaka** regelte
einerseits diese Verhältnisse gegen den Wettbewerb
der Gemeindemitglieder untereinander und andererseits
gegen den der fremden Juden, die sich in der be-
treffenden Stadt dauernd niederlassen wollten. Es sollte
•
niemand von der Stelle verdrängt werden, wo er die
Möglichkeit des ehrlichen Erwerbes faiid; aber auch
das Interesse des Gemeinwesens, der Gesamtheit, wurde
dabei gewahrt; wo das öffentliche Interesse es heischte,
musste das Privatrecht eine Einschränkung erfahren.
Es durfte sich kein Ring bilden, um den privaten Eigen-
nutz zu fördern; es sollte nichts monopolisiert werden.
Der Wettbewerb sollte nicht beseitigt, sondern bloss in
genau bestimmter Grenze zwischen dem privaten und
dem öffentlichen Interesse geregelt werden.
Im Mittelalter entsprachen die jüdischen Organi-
sationen den politischen und kulturellen Zuständen
eines jeden Landes. Die spanische Judenheit besass
Jahrhunderte hindurch eine politische Organisation, in
der in erster Reihe die staatliche Gewalt, die obrigkeit-
liche Disziplin zum Ausdruck kam. Man kann sagen,
sagen, dass sie die Organisation als Selbstzweck le-
trachtete. Jeder einzelne sollte sicJ| gewöhnen, den er-
lassenen Verordnungen unbedingr Folge zu leisten.
Jeder Widerspruch, jede Auflehnung gegen die politische
Behörde wurde mit der grössten Strenge oft äusserst
grausam zurückgewiesen. Es sind uns zahlreiche Fälle
von angewandter Rücksichtslosigkeit und Grausamkeit
bekannt, die uns geradezu erschreckend erscheinen.
Das ungeheuerliche dabei ist aber, dass oft unwichtige
Vorgänge zu solchen gransamen Massregeln Anlass
gaben. Den Männern, die an der Spitze der Organi-
sation standen, kam es gamicht auf den zur Vorhand^
lung stehenden Gegenstand an; ihnen galt nur das
Prinzip der strengsten Unterordnung und der Disziplin,
das sie bei jeder Gelegenheit zur Geltung bringen
wollten, um einer geringfügigen Angelegenheit willen
konnte jemand wirtschaftlich vernichtet werden. Merk-
würdig aber wap dabei, dass gerade bei dieser Strenge
die ünbotmässigkeit der spatischen Judenheit sehr
gross war. In allen Gemeinden herrschte Hader und
Streit, und selbst als die schreckliche Katastrophe vom
Jahre 1492 allen, die nur sehen wollten, unvermeidlich
erschien, hörten diese erbitterten Kämpfe in den Ge-
meinden nicht auf. Die spanischen Juden setzten so-
gar die G^meindestreitigkeiten auch später fort. Ihre
neuen Ansiedlungen zeichneten sich Jahrhunderte lang
dadurch aus, dass einerseits die Gemeindevorstände ein
strammes Regiment zu behaupten suchten, andererseits
aber viele Gemeindemitglieder sich gegen diese Auto-
kratie auflehnten. An diesen Missständen kranken die
meisten sefardischen Gemeinden bis auf den heutigen Tag.
Auch in der deutschen Judenheit hat es zu ver-
schiedenen Zeiten nicht an Versuchen gefehlt, eine
Gemeindeorganisation zu schaffen. Sie hatte andere
Ziele und andere Voraussetzungen. Es handelte sich
niemals darum, eine Art staatlicher Autokratie ins
Leben zu rufen, sondern die politischen, religiösen und
sozialen Verhältnisse gemeinsam zu regeln. Nicht eine
Gemeindebehörde init starken Machtmitteln sollte ge-
schaffen werden, sondern gemeinnützige Einrichtungen.
Die politische Zerrissenheit Deutschlands hatte wohl
die meiste Schuld daran, dass in der deutschen Jud^-
heit keine dauernde jüdische Organisation ins Leben
gerufen werden konnte. Aber zum grossen Teil lag dies
wohl auch im Wesen der deutschen Juden selbst, die,
wie man heutzutage sagen würde, keine Politiker
waren und keinen Sinn für politische Leitung hatten.
Es lag ihnen stets nur daran, gute Einrichtungen zu
609
Dr. Simon Bemfdd: Jüdische Organisation in der Diaspora.
610
besitzen, ohne aber gleichzeitig auch Organe zu haben,
welche f&r die Befolgung der erlassenen Verordnungen
sorgen sollten. Die deutschen Juden glaubten in ihrer
Frömmigkeit und Rechtschaffenheit, es genügte, dass
gute Gesetze vorhanden sein — befolgt wtkrden sie
schon von selbst, auch ohne jenen äusseren Zwang.
Wir kennen daher von der deutschen Judenheit blos9
eine grosse Anzahl trefflicher Verordnungen, aber
keine wirksame Organisation.
Eine sehr merkwürdige politische Organisation der
Juden, die merkwürdigste wohl, welche die jüdische
Geschichte in der Diaspora kennt, war die sogenannte
„Vierländer - Synode" in Polen und Lithauen im 17.
und 18. Jahrhundert.*) Die Bezeichnung Synode, wie
sie in der jüdischen Geschichtsschreibung üblich ge-
worden ist und eigentlich nur für eine religiöse Be-
hörde passt, ist zweifellos unrichtig. Denn die polnische
„Vierländer-Synode", die sich aus Rabbinern und Ge-
meindevorständen zusammensetzte, beschäftigte sich
keineswegs bloss mit religiösen Angelegenheiten. Sie
bildete vielmehr eine Art Parlament, in dem alle
jüdischen Angelegenheiten, öffentliche wie private be-
handelt wurden. Sie war gleichzeitig der höchste
Gerichtshof, der »über alle Streitfälle endgiltig zu
urteilen hatte. Ebenso gingen von ihr die nötigen zeit*
gemässen Verordnungen aus für die Gemeinden und
für die Einzelnen, f& Rabbinate, für das Unterrichts-
wesen und alle öffentlichen Einrichtungen. Das ganze
soziale, wirtschaftliche und religiöse Leben der Juden
in Gross- und in Kleinpolen, in Reussen und in Lithauen
spiegelte sich in den Versammlungen dieser eigenartigen
Körperschaft ab, die alljährlich an verschiedenen Orten
♦) Siehe die Artikel von Leon Scheinhaus, Memel:
„Aus den alten Gemeinden" in Heft 4 und 6 von „Ost
und West".
anlässlich der grossen Jahresmessen stattfanden. Da
die Juden in Polen eine weitgehende politische und
nationale Autonomie besassen, so konnte diese Behörde
last staatliche Gewalt ausüben. Die innere Einrichtung
und Zusammensetzung der „Vierländer- Synode" ist
noch nicht genügend bekannt, selbst über ihrer geschicht-
lichen Entstehung und Entwicklung schwebt noch
manches Dnnkel, obwohl in den letzten Jahren viel
aufhellende Forschungen auf diesem Gebiete veröffent-
licht worden sind. Es unterliegt auch leider keinem
Zweifel, dass diese Organisation, die grösste und treff-
lichste, welche die Juden in der Diaspora bis zum An-
bruch der neuen Zeit besessen haben, am Ende der-
selben sozialen Elrankheit verfallen ist, an der die
polnische Republik zu Grunde gegangen ist. Auch da
riss später die sprichwörtlich gewordene polnische Miss-
wirtschaft ein. Wenn auch die Auflösung der „Vier-
länder-Synode" durch die Vernichtung des polnischen
Reiches verursacht wurde, so muss doch gesagt werden,
dass das Ende kein rtlhmliches war, und es ist be-
zeichnend genug, dass man lange Zeit selbst von der
Existenz dieser Institution nichts gewusst hat, obwohl
sie doch bis fast in die Gegenwart hineinreicht.
Wir sehen aus den unzähligen Organisationen, den
gelungenen und den misslungenen, welche das jüdische
Volk in den achtzehn Jahrhunderten seiner Zer-
streuung geschaffen hat, dass in ihm ein starkes
Streben nach Konzentrierung seiner Kräfte vorhanden
ist. Der behauptete Mangel an staatsbildender Fähig-
keit der Juden ist gewiss nur eine Phrase. Es zeugt
dies von einer oberflächlichen Auffassung der geschicht-
lichen Erscheinungen. Dagegen spricht auch die be-
kundete Fähigkeit der Juden, selbst unter ungünstigen
Verhältnissen grosse Organisationen zu schaffen, die
dem jüdischen Volk unermesslichen Nutzen gebracht
haben.
HUGO REINHOLD.
Von Adolph
Er hat viel gelitten im Leben, mag ihn auch
äusserer Glanz umgeben haben . . • hat innerlich ge-
litten, und ist dann früh dahingestorben, viel zu
früh . . . Nun werden es schon sieben Jahre, dass
Hugo Reinhold, der Plastiker, von uns schied. Mitten
aus kühnen Künstlerträumen, mitten aus reichem
Künstlerschaffen riss ihn der Tod, raubte ihn den
Freunden, denen er Edles gegeben, nahm ihn der
Kunst, die ihm, dem reifen Manne, alles gewesen. Und
selten hat Einer ein so Wechsel volles Schicksal gehabt,
wie Hugo Reinhold, der erst mit 35 Jahren ein Jünger
der Kunst geworden ist.
Er stammte aus Obeirlahnstein, ist dort am 26. März
1853 geboren worden. Schon in der Jugend zeigte er
künstlerisches Empfinden, aber die Sehnsucht, die ihn
beseelte, erlosch in der Wahl des Berufes, dem er sich
widmen sollte. Er wurde Kaufmann, wurde ein
tüchtiger Kaufmann, streifte kreuz und quer durch die
Welt, fahr oft übers Meer, nahm eines Tages in San
Francisco Wohnung und legte hier den Grund zn
s€$^ier kaufmännischen Carriere. Und als ein paar
Jahre vergangen waren und sein Ruf als Kaufmann
schon guten Klang hatte, verliess Hugo Reinhold
Nachdruck verboten.
Donath (Berlin).
Amerika, gründete in Hamburg ein Exporthaus und
ftlhrte bald darauf seine geliebte Jugendliebe aus der
rheinischen Heimat, Emma Levy aus Köln, als Gattin
heim. E^aum eineinhalb Jahre aber hat dieses junge
Glück gewährt. Emma Reinhold starb ... Da hielt
es den jungen Witwer, der den grössten Schmerz er-
fahren, nicht länger in Hamburg, er schüttelte den
Kaufmann ab, kam nach Berlin und studierte hier
bei Dilthey und Paulsen Philosophie. Besonders
die Ethik und die Aesthetik fesselten ihn. Sie haben
seinem Leben eine neue Wendung gegeben. Im Ver-
kehr mit Männern wie Steinthal und Kristeller
kam der junge Philosoph mit dem Judentum, dem er
entstammte, in innigen Kontakt, der umso inniger
wurde, als ihn der Deutsch-Israelitische Gemeindebund
zu seinem Schatzmeister wählte.
Das war zu Anfang der Neunziger Jahre, und
in diese Zeit fällt auch das erste selbständige Schaffen
Hugo Reinholds, des Plastikers. Schon in den Stunden,
da er Kollegien hörte, flammten in ihm die Wünsche
der Kindheit von neuem auf. Er träumte von der
Kunst, versenkte sich in seine Träume immer tiefer,
bis schliesslich der feste Wille siegte: ich werde
Adolph Donath. Berlin: Hugo Reinhold.
612
HUGO REINHOLD OIPSBUESTE 1898.
Frau Dr. Edmund Kejer.
KUsBtler . . . Und während der Ethiker Reinhold
nach VeredlQDg der Menschheit strebte, zanbert« dem
Aestlietiker Reinhold die Knnst ihre schönsten Gebilde
vor. Max Kruse war sein erster Lehrer nnd 1888
trat Hugo Reinhold, der damals 35 .Tahre zählte, als
simpler SchOler in die Akademie der Künste ein, der
er bald znr Zierde gereichen sollte.
Schon seine ersten Plastiken erweckten starke
Hoffnungen. Er zeigte Empfiodnng und Temperament,
zeigte Phantasie und vor allem die Gabe der lebens-
vollen Darstellnuß. Wer die niedliche Qipsgmppe
„Kinder um ein Vögelchen trauernd" — die Gruppe
ist 1692 entstanden — betrachtet, muss sich sagen,
dass hier der Bildhauer dem Ton Leben eingehaucht,
ein feines Moment des Lebens ernst und graziOs
gestaltet hat. Das war nicht die Arbeit eines Anßngera,
sondern ein wirkliches Kunstwerk. Und ein Jahr darauf
kommt Hugo Reinhold mit einer neuen ScbQpfang, die
seinen Kamen zwei Jahre Ep&ter weiteren Kreisen bekannt
machen soll. 1895 nSmlich hat er diese Plastik —
„Affe einen Schädel betrachtend" — in der Grossen
Berliner Eumtansstellnng sehen lassen nnd durfte stolz
darauf sein, dass sein kleines Werk besonders anfßel
und lebhaft besprochen wurde. Der Schimpanse, der
hier auf einem Stoss von Büchern hockt und in der rechtm
Hand einen Totenschädel hält, während die linke das
Kinn umfasst, ist ein entzückendes Kerlchen. Dieser halb
gelehrte, halb verschmitztoZug imKopfe ist präcfatigheraas-
gemeisselt, das Sujet an sich von nicht geringem Effekt«.
Dieser Erfolg gab dem BUdhaner natOrlich neue
Kraft, ermanterte ihn zu neuen Arbeiten. So schuf er
in kurzer Zeit seinen „Jeremias", seine Gruppe „Lesende
Mönche", seine Gruppe „Am Wege". Der „Joremiaa^
ist leider nur Skizze geblieben. Die „Lesenden Mduche"
tndes sind in Bronze, die Gruppe „Am Wege" (1894)
in Hannor ansgeführt worden, und das sind Flastdkea
Ton hohem künstlerischen Werte. Namentlich in dwt
„Lesenden UOuchen" und in der Gruppe „Am Weg«*,
die man mit Recht als das Hauptwerk des Ktlnstlers
bezeichnet, weist sich Reinhold als ein Mebter der
HodellierungskuDSt. Hier wie dort zeichnet er Menschen
mit wunderbar feinen Linien, hier wie dort rollt er
Charaktere vor uns auf. „Am Wege" freilich ist nocb
feiner, noch menschlicher gezeichnet. Und man begreift,
dass die Nationalgallerie sich dieses Werk nicht
entgehen Hess und ihm einen Ehrenplatz eingettomt
hat. Ueber dem Ganzen liegt eine visionäre Stimmung.
Wie das jnnge schOne WelD mit seinem Kind auf dem
Arm aot der Stnfe der Mariensänle sitzt, die Augen-
lider gesenkt, allen Mutterachmer^, alles Leid des
Lebens vergessend, nur ihren Zakunftsträumen horchend
und das Glück des Kindleins erflehend, das ist mit
einer solchen warme, solchen dichterischenEmplindung
geschaffen, dass man des Werkes immer wieder ge-
denkt ....
„Am Wege" bedeutet die Höhe der Kttnstlerschaft
Reinholds. Aber auch die folgenden Werke zeigen ihn
als rdfen Künstler nnd reihen sich würdig dem Haupt-
werke an. „Das Dynamit im Dienste der Kultur",
eine Bronzegroppe, die Im Kobelhof zu Hambnrg steht —
Reinhold hat sich (1896) an der Konkurrenz um das
Nobel-Denkmal beteiligt — ist in Idee und Ansfflhrang
von wirkungsvoller Wacht nnd auch die Bronze-Figur
eines verbitterten, streikenden, drohenden Arbeiters im
HUGO REINHOLD MARMORBUESTE 18W.
Geh. Hedizlnalrat Prof. Bernhard Fränkel.
Adolph Donath, Berlin: Hugo Reinhold.
HUOO REENHOLD BRONCEFIOUR 1895.
Leaeade Hftnchc
HUGO REINHOLD GIPSFIGUR 1892.
Kinder um ein Vögeictaen trauernd.
Arbeitskittel — Reinbold nennt diese Plastik „Der
viert« Stand" — zeigt die kr&ftigste Seite seiner
Modell ierongskanst ant. Einen Interessanten Kon-
trast hierzu bilden die liebliche „Schnitterin"
(1898) und die
geistreiche Sta-
tuette «Äuarer-
kaaft", die im
gleichen Jahre
Kescbaffen wurde.
Ebenso sehr hat
ans die Skizze
„Versuchung"
entzückt.
Besondere An-
erkennung ge-
bort Reinhold,
dem Porträtisten.
Auch hier bat er
herrorragendes
geleistet. Die
Bronzebfiste huoo heinhold marmorbueste isqo.
„Meine Mutter" Jonji Oabom.
ist in Ihrer verinnerlicfaten Auffassung und realistischen
DurchfQhrung ein Meisterporträt. FQr bedeutend
halten wir auch die prächtigen Reinholdschen
Büsten der Herren Dr. Ludwig Bamberger,
Professor Bern-
hard Franke 1,
Jonas O s b o r n
and das Por-
trät der Fran Dr.
Edmund Meyer.
Man kann an die-
sen Werken nicht
ohne BGb rang vor-
übei^ehen, denn
sie alle gemah-
nen daran, dass
uns am 2. Ok-
tober des Jahres -
1900 ein Küast-
1er jäh entrissen
wurde, der bem-
HUOO REINHOLD MARMORBUESTE 1899. '^1 ""^y GrOBMS
Dr. Ludwig Bamberger. zu schaffen.
VERBLASSTE GESTALTEN.
Von A. S. Rabbinowicz. — (Aus dem Hebräischen).
Ich mustere in der Erinnerung die Gassen und unter den Gebilden meiner Erinnerung sind nicht
Plätze meines Heimatstädtchens Dort, in einem äußerlich, sondern innerlich schön, schön allein durch
verlassenen Winkel, erhebt sich ein öder Trümmer- ihre hehre Seele, durch das sie belebende und er-
haufen und zur Seite ragt ein morscher Pfahl empor, hebende Ideal....
gleich einem traurigen Denkmal entschwundenen Dort, wo jetzt der Trflmmerhaufen mir entgegen-
, Lebens. starrt, erhob sich ehemals ein altes Lehrhaus. Die
Ich kann mich der Erinnerungen nicht erwehren, Fenster waren nahezu in den Erdboden versunken,
die dieser Anblick in mir wachruft. Die verblaßten die zerfallenen Wgnde mußten gestützt \\-erden, um
Gestalten tauchen aus dem Abgrund der Vei^angenheit nicht völlig umzusinken, die Querbalken waren gänz-
empor und umkreisen mich in gedrängter Schar; be- lieh vermorscht. Einzelne Fensterscheiben waren
trübende und erfreuliche, schöne und häßliche, in zerbrochen und geflickt, andere trüb und ver-
buntem Gemisch, kleistert. Das hohe und sehr schiefe Dach war
Mein Gedächtnis verweilt gern bei den schönen ganz mit grünem Moos bewachsen, steUenweise mit
und lieblichen Bildern, ich halte sie fest und präge sie Pilzen bedeckt. Keine Blume blühte, kein Baum grünte
mir ein. Die anderen verbanne ich gern in die Ver- in der Nähe. Traurig und düster sah das alte Hau»
Senkung, aus der sie aufgetaucht sind: haben wir im drein Eine Tradition erzählte, daß hier einst
wirklichen Leben nicht genug des Traurigen und Un- ein heiliger Mann, eine Säule der „Chabad"') gehaust
schönen? — Doch auch die schönen und anmutigen hatte Im Innern dieses traurigen Hauses,
zwischen seinen düsteren Wän-
den, flackerte das ewige Licht,
das Licht des Lebens, nicht
jenes grobsinnlichen Alltag-
iebens, sondern des worme-
vollen Lebens der Geister, mit
dem vei^lichen, alle Freuden
dieser Welt eitel und nichtig
sind ; hier saßen viele, die sich
Tag und Nacht dem Studium
der heiligen Lehre widmeten.
Drinnen waltete ein stein-
alter Schamaa*); Er war von
gebückter Gestalt und hatte
einen angsteinflöBenden Blick,
der besonders ims acht- bis
neunjährigen Kindern vielen
Schrecken verursachte. Der
Alte hielt uns strenge im
Zaume ; just wenn wir in einem
Winkel eifrig mit dem Spiele
beschäftigt waren, tauchte er
mit der Rute in der Hand
auf und jagte uns nach allen
Windrichtungen auseinander.
Doch nicht wir allein
hatten eine heillose Angst
vor dem strengen Greise, son-
dern auch alle alten Leut«,
die dort beteten, denn der
Schamas war älter als alle,
') Eine wegen iürer strengen
Frömmigkeit bekannte Partei
HUOO REINHOLD SKIZZE 1900, ""^j^S^agSgÄl^W. Gemeinde- "'J'^O RE.NHOLD BRONCEFIGUR 1899.
Versuchimg. diener. Der vierte Stand.
A. S. Rabbinowicz; Verblasste G«talten.
HUGO REINHOLD SKIZZE 1S95.
Jereinias.
und da er von heftigem Tempe-
rament war, 80 pflegte er
kein Blatt vor den Mund zu
nehmen, und wer das Ge-
ringste tat, was ihm zuwider
war, mußte sich auf die
herbste Zurechtweisung gefaßt
machen.
Und dieser gefürchtele alte
Mann b eh and eile außerordent-
lich liebevoll einen armen
Bachur'), der dort lernte.
Freitich verrichtete der Bachur
allerhand kleine Dienstleis-
tungen, brachte Wasser, heizte
den Ofen, fegte den Boden,
so daß' dem Schamas beinahe
nichts weiter zu tun übrig
bheb, als dieLichter zu putzen.
Diese Tätigkeit war dem Scha-
mas angenehm, denn der ge-
schmolzene Talg, den er an
den Leuchtern und den Tischen
fand, warf ihm eine, wenn
auch äußerst dürftige Ein-
nahme ab. Gleichwohl war es
auffallend, daß der grimme
Schamas dem armen Bachur
niemals ein unfreundliches
Wort gab und noch dazu
häufig mit ihm seinen Bissen
teilte, besonders wenn sein
HUGO REINHOLD BRONCEFIRUR 1898.
Ausverkauft
Liehhngsgericht,
nämlich Erdäpfel
in Pfeffer und
Zwiebeln, daheim
gekocht wurde.
Des Nachts er-
laubte er ihm,
Tischtücher und
\'orhänge unter
das Haupt als Kis-
sen zu legen und
sogar den Schlüssel
zur Lichterkiste
übergab er ihm,
so daß der Bachur,
so oft er wollte,
eine Kerze haben
konnte.
Mir war es stets
ein Rätsel, wieso
es kam, daß dieser
arme, förmlich in
Lumpen gehüllte
Bachur bei dem
gestrengen, alten
Griesgram in so
HUGO REINHOLD
boberGunststand,
daß er ganz wie
umgewandelt war,
wenn er mit ihm
sprach.
Ich wußte, daß
der Bachur ein
vollendeter „Am-
haarez"') war, daß
er aus der Feme
gekommen, war,
um hier zu stu-
di«%n, doch ahnte
ich nicht, welch
festen Willen er
hatte und mit
welch einem Auf-
wände von Ge-
duld und Fügsam-
keit er das Hera
unseres gefürch-
leten Schamas ge-
wann Ich
hatte selbstver-
ständlich keine nä-
liereBerührungmil
dem unwissenden
') L"mvis>emJe.-.
619
A. S. Rabbinowicz: Vcrblasste Gestalten.
620
Bacbur, der den ganzen Tag wie ein Anfänger über dem
Chumesch'} saß und jeden Vers und jedes Wort un-
zählige MaJe einbüfrelte. Ich schätzte ihn im Herzen
gering, als ich merkte, daS ihm Sätze unversländUch
waren, die ich bereits auswendig wußte. Überdies kam
ich ja in das Bethamid rasch nur, wenn ich eine freie
Stunde hatte und nicht im Cheder*) zu sein brauchte.
Dort spielte ich gern mit meinen Altersgenossen, in-
dem wir im Reigen rings um den Almemor liefen, oder
ich briet mir Erbsen, indem ich sie anbiß und dann an
die glühende Ofentür klebte.
In den Chanuka-Tagen, da ich zum Kapitalisten
avancierte — ich besaß nämlich ein „Drehdel" und
noch 10 Groschen dazu — und obendrein an den Nach-
mittagen vom Unterrichte frei war, spielte ich mit
meinen Kollegen im Lehrhause, da trat auf mich der
arme Bachur hinzu und bat mich, mit ihm einen Ab-
schnitt in der Bibel durchzustudieren.
Es tat mir leid, mein Spiel zu verlassen, aber ich
erinnerte mich an das Wort unserer Weisen: „Wer
seinem Nächsten Unterricht in der heiligen Lehre vor-
enthält, der raubt ihm sein väterliches Erbe". Außer-
dem schmeichelte es mir, den Lehrer zu spielen, daher
willfahrte ich der Bitte und wir gingen ans Werk.
') Fönt Bacher Moses. ^ Kinderachule.
HUGO REINHOLD BRONCEGRUPPE 1893.
Affe, einen Schädel betrachtend.
Zwei, drei Tage unterrichtete ich ihn fleißig und
gewissenhaft, doch bald überzeugte ich mich, daß es
keine leicht« Arbeit ist, ein Lehrer zu sein, und vollends,
wenn man es mit einem solchen Schüler zu tun hatte.
Zuweilen wiederholte ich mit ihm ein Kapit«! unzäbUge
Male und am nächsten Tage mußte ich mit ihm dasselbe
Kapitel von neuem durchnehmen, als hätt« er es nie-
mals gesehen. Dabei hatte ich natürlich keine Ahnung
davon, wie fleißig er dazwischen seine Lektion wieder-
holt hatte, während ich vei^UgUch schlief. Ich ahnte
nicht, daß er unterdessen bereits alle Besucher des
Bethamidrasch gequält halte, ihm bei der Vorbereitung
auf den morgigen Unterricht behilflich zu sein.
Einmal ward ich ungehalten und rief: ,,lch unter-
richte dich nicht länger!"
i.Warum?" versetzte er schlicht.
„Du bist träge, bereitest dich nicht genügend vor",
antwortete ich zornig und wandte ihm den Racken.
,,Du sollst sehen, fortan werde ich stets gehörig
vorbereitet sein", entschuldigte sich der Unglückliche,
indem er mich angstvoll anblickte.
„Du bist ein unwissender Mensch", donnert« ich,
, .würdest du bei einem richtigen Lehrer lernen, der
würde dich auf die Bank hinstrecken und dir eine
Tracht Prügel aufzählen, die Ruthen müßtest du noch
selber dazu bringen."
,,Wenn das dein Ernst ist, so bin ich bereit, mich
.zu unterwerfen", sagte er mit großer Ruhe.
„Du willst dich also selber auf die Bank hin-
strecken ?" fragte ich lachend.
„Wenn du befiehlst "
Die Sache fing an, mich zu amüsieren. Ich, der
kleine Lehrer, sollte diesen großen Jungen prügeln.
Das war zu komisch.
„Bring die Rute!" befahl ich, mein Lachen unter-
drückend und eine ernste Miene machend, wie es einem
erwachsenen Lehrer geziemt, der seinen Schüler wegen
Müßiggang bestraft
Er tat, wie ihm befohlen ward, ohne eine Miene
zu verziehen.
,,Leg dich hin!" kommandierte ich weiter.
Ich erhob die Rute. Doch augenblicklich sank
meine Hand wieder. Bisher hatte mich der Voi^ang
erheitert, plötzlich jedoch ward ich verwirrt. Ein
neuer Gedanke huschte durch mein kleines Gehirn.
Die Rute entfiel meiner Hand, Tränen brachen mir aus
den Augen, ich fing an, laut zu weinen
Er erschrak heftig, fuhi' auf, nahm mich in seine
Arme, streichelte und liebkoste mich und fragte nach
dem Grunde meiner Trauer. Er, der so tief Gekränkte,
glaubte, mich verletzt zu haben. Doch ich konnte ihm
eine Zeitlang vor Aufregung nicht antworten.
„Verzeih ich ich habe dich beleidigt",
stammelte ich mühevoll, ^
Ich fing an zu ahnen, wenn auch ziemlich unklai',
welch eine Seelengröße dazu gehört, um der heiligen
Lehre willen keine persönliche Erniedrigung zu scheuen.
Gegen anderthalb Jahre verweilte ich in meinem
Heimatsstädtchen, und während dieser Zeit hatte er
vermocht, einen großen Teil der Bibel und die eiste
Ordnung des Talmuds durchzuarbeiten, !und alles, was
«21
A. S. RabbinowJcz: Verblasste CesUlten.
er erlernt hatte, war wohlverwahrt in seinem Gedächt-
nisse. Hatte er ja sein Wissea mit schwerer Mühe, mit
auSerordentlichem Fleiß und wahrer Auropferung er-
woii>en. Es traf sich nicht selten, dafl er den ganzen
Tag fastete, weil er nicht» zu essen hatte; gleichwohl
lag er, wie immer, seinen Studien ob und gännle sich
keine Minute Ruhe.
Nach sieben Jahren trafen wir uns wieder in der
Jeschiba*} zu W.
Er zählte schon fünfundzwanzig Jahre und hatte
bereits die schwierigsten Partien dos Talmuds be-
wältigt. Einen großen Teil wußte er fast auswendig.
Wir erneuerten unsem Freundschaftsbund und
studierten zusammen. AuOerdem hatte er noch seine
besonderen Studiengegenstände. Sein Fleiß war un-
beschreiblich. Offenbarverdankteer seineErfolge nicht
nur einer Entwicklung seiner Fassungskraft, sondern
auch seines Gedächtnisses.
Seine Liebe zur Lehre war aufrichtig und tief.
Er schien sich gar keine Rechenschaft darüber zu
geben, warum und wozu er lernte. Er lernte buch-
stäblich nur um des Lernens willen. Die Kenntnis der
Lehre war in seinen Augen das höchste und erhabenste
Ziel.
Der Rektor achtete ihn ungemein. Er erhielt das
größte Stipendium unter allen Schülern: 75 Kopeken
die Wochel Außerdem erteilte er einem jüngeren
Kollegen Privatunterricht und erwarb damit — einen
vollen Rubel monatlich. Davon lebte er und legte noch
etwas beiseite, um sich Kleider anzuschaffen. Es war
auffallend, daß er, trotzdem er stets m äußerster Dfliitig-
keit lebte, viel auf Sauberkeit und anständige Kleidung
gab. Es machte ihm nichts, Hunger zu leiden, aber sein
Rock mußte stets ganz und sauber sein und auch gut
sitzen. Er gestand mir nur einmal, daß er seit zwei
Wochen nichts Warmes gegessen hatte, da er jeden
Pfennig aufsparte, um sich einen besseren Oberrock
zu kaufen.
Nach einigen Tagen traf sich ihm eine günstige
Gel^enheit, einen guten Rock zu bilhgem Preise zu
erwerben. Einem jungen Durchreisenden war unter-
wegs das Geld ausgegangen imd er wollte seinen Ober-
rock veräußern, um die Fahrt mit der Bahn fortsetzen
zu können. Man riet ihm, in die Jeschiba zu gehen, wo
sich leichter Käufer finden könnten. Mein Freund
probierte das Kleidungsstück an und war außer sich
vor Freude. Es war wie eigens für ihn genäht
und dabei aus besserem Stoff. Der Fremde forderte
Rubel, aber der Käufer versicherte, daß er nicht mehr
als vier besaß. Der Fremde ging auch auf diesen Preis
ein. Jener beugte sich über seinen Koffer nieder, um
das Geld hervorzuziehen, und eine Weile sann er nach.
Dann trat er auf den Fremden hinzu.
„Mein Herr, Sie wollen Ihren Rock verkaufen, da
Ihnen das Reisegeld fehlt. Hier sind die 4 Rubel, alier
Ihr Kleidungsstück kann ich nicht nehmen."
„Aber ich bin ja kein armer Mann", antwortete
dieser erstaunt.
') Akademie für talmiidiBChe und rabbinieche Sludien
HUOO REINHOLD NATIONALOALERIE, BERLIN.
Am Wege.
(Marmorgruppe 1S94.)
„Jn diesem Augenblicke sind Sic arm. Übrigens
gebe ich Ihnen kein Almosen, Gott behüte, sondern
nur ein Darlehen, wenn Sie nach Hause kommen,
können Sie es mir ja zurücksenden."
Der Fremde war verwirrt und weigerte sich noch
immer, das Geld anzunehmen.
, .Genieren Sie sich nicht, das Sprichwort sagt,
zwei Bei^e kommen nicht zusammen, wohl aber zwei
Menschen. Besonders wir Juden; heute sind wir hier
und moi^n verschleudert uns der \\ ind auf die anden-
Seite des Ozeans."
Diese schlichten Worte bewogen den Fremden
endlich, das Geld anzunehmen.
Als einige Monate vei^ingen und der Mann noch
immer nichts von sich härrn ließ, lachten die Kollegen
623
A. S. Rabbinowicz: Verblasste Gestalten.
624
über die Leichtgläubigkeit meines armen Freundes,
der sich von einem Windbeutel hatte verführen lassen
(wir hatten nämlich inzwischen erfahren, daß unser
Fremder ein leichtsinniger Patron war) und ihm seine
sauer verdienten Ersparnisse von mehreren Monaten
aufhalste.
„Mich dauert das garnicht", antwortete er uner-
schütterlich. Ich bin sicher, daß ich zu meinem Gelde
komme."
„Wieso v^irst du zu deinem Gelde kommen?
Glaubst du, Gott wird dir für diesen Lumpen bezahlen ?**
nef einer spöttisch
„Ich bin überzeugt", antwortete jener, ohne sich
an den Spott zu kehren, „daß, wenn mir, Gott behüte,
ein Unglück zustößt und ich auf die Hilfe anderer an-
gewiesen sein werde, so werde ich gute Menschen finden,
die mir beistehen. Richtiger gesagt, habe ich nur meine
Schuld abgetragen, denn ich war Seit meiner Jugend
auf die Hilfe anderer ange^\iesen.*'
* «
*
Weitere zehn Jahre waren vergangen.
Ich gedachte oft meines Freundes und Schülers,
während all der Zeit. Mit Vergnügen erinnerte ich mich
seiner eigenartigen Melodie, die er beim Studium der
Gemara anwendete, der Freude, die aus seinen Augen
strahlte, wenn es ihm gelang, ein schwieriges Problem
zu bewältigen oder einem Schüler, der ihn um die Er-
klärung bat, mit engelhafter Geduld und Gelassenheit
eine befriedigende Antwort zu geben.
„Ich würde um keinen Preis einen so stumpf-
sinnigen Kerl tausendmal eine und dieselbe Sache ein-
trichtern", sagte ihm einer unserer Kollegen.
„Wenn alle Menschen so strenge wären, wie du,
dann bliebe freilich nicht viel zu tun übrig", versetzte
er lachend.
Es kam mir wiederholt der Gedanke, daß er wie
kein zweiter, geeignet war, als Lehrer an einer großen
Jeschiba zu wirken. Doch war es anders gekommen.
Mein Freund wurde zum Rabbiner einer nahe gelegenen
Stadt erwählt.
Inzwischen beschlossen die Einwohner unserer
Stadt, zu dem alten Bethamidrasch eine richtige,
größere Jeschiba zu gründen. Es fanden sich einige,
die das nötige Geld hergaben, man schaffte Utensilien
und Bücher für die ärmeren Schüler an, auch für den
Gehalt des Rektors sollte gesorgt werden. Nun hieß
es, einen passenden Rektor ausfindig zu machen.
Ich erinnerte mich meines Freundes, der jetzt
Rabbiner war, und brachte ihn scherzweise in Vor-
schlag, obgleich ich wußte, daß dies nicht gut anginge.
„Das wäre ja eine Degradation und kein Avance-
ment für ihn", wandte der Vorsteher ein.
„Doch wäre es ja sehr hübsch für ihn, wenn er als
Rektor in demselben Lehrhause fungieren würde, in
welchem er zu lernen angefangen hatte."
„Wollen wir unser Glück versuchen!" sagte der
Vorsteher. „Vielleicht gelingt's. Schön wäre es ja!"
Ich schrieb an meinen Freund und war glücklich,
nach einiger Zeit eine einwilligende Antwort zu erhalten.
Er ging mit Freuden auf meinen Vorschlag ein und war
dankbar, daß wir ihm eine Stellung einräumten, die ihm
ermöglichte, dem Studium obzuliegen, während das
Amt eines Rabbiners ihm alle Zeit raubte.
Nach zwei Wochen trug er in seinem alten Lehr-
hause seine erste Lektion vor, zu der sich ein großes
Pubhkum eingefunden hatte.
Mir gegenüber, auf der anderen Bank, saß ein
alter Mann und fing jedes Wort des Vortragenden auf,
während reichliche Tränen aus seinen Augen flössen.
An seinen schwieligen und abgearbeiteten Händen
konnte man erkennen, daß er dem Arbeiterstande an-
gehörte, aber seine Züge verrieten, daß er nicht zu den
Gelehrten zählte, ich zweifelte keinen Augenblick, daß
der alte Mann kein Wort von dem \'ortrage verstand,
der sich in den höheren Regionen talmudischer Gelehr-
samkeit bewegte. Es war mir ein Rätsel, warum er
weinte, da der Inhalt des Vortrages keineswegs danach
war, Rührung zu erwecken.
Später erfuhr ich, daß dies der Vater meines Freun-
des war; er war ein schlichter Zimmermann, der sein
ganzes Leben mit Beil und Balken zu tun hatte. Jetzt
lebte er bei seinem Sohne. Ich betrachtete den Alten,
der noch immer weinte, und bemerkte allsogleich,
daß es Tränen der Freude waren. Der Greis war be-
glückt, seinen Sohn als Meister so vieler Jünger zu
sehen, die seinen Worten lauschten.
Kaum zwanzig Jahre sind seit der Zeit vorüber,
und es ist, als trennten uns mehrere Geschlechter von
jenen Menschen. Mein Freund ist längst tot, die
Jeschiba ist aufgehoben, das Lehrhaus ist in einen
Trümmerhaufen verwandelt. In einer anderen Straße
erhebt sich ein schönes, funkelnagelneues Bethamidrasch
mit funkelnagelneuen Stukkaturen und anderen Ver-
schönerungen, daher sind die Preise der Plätze dort
teuer, und wer einen vollen Geldbeutel hat, der sitzt
obenan. Der Vorsteher achtet strenge darauf, daß
alles so neu bleibe wie es ist, daher wird dort keinem
armen Schüler gestattet, sich auch nur zu erwärmen.
Nach dem Abendgebete brummt einer ein paar Ab-
schnitte Mischnajoth her, und nur zwei, drei Greise
hören ihn an und schlummern dabei. Sonst ist alles
ganz modern.
Eia Beichbegabter
dahinga^angen : Ignaz BrBll, der bekannte Wieti<*r
KomponiBt, ist am 17. Septentber nach mehrtägiger
Agonie im Kreise seiner Familie zu Wien Terscbiedeu,
nachdem er vor kaum Jahreefriat seinen 60. Geburtstag
gefeiert hat Sein Leben verlief zumeist in den Bahnen
eines geordneten Boargeoisietams, kaum reich an sonder-
lichen Elreigoissen ; aber auch sein KbnBtlerwallen, im
Ä2ifong noch die R«ise-
Inst der Jagend zeigend,
lenkte gar bald in ruhige
Bahnen ein. Den 7. No-
vember 1846 zu ProBsnitz
in K&hren geboren, sie-
delte Ignaz BrfiU bereits
als Dtetj&hriger mit den
wohlhabenden Eltern nach
Wien aber. Früh ent-
wickelte sich dort sein
miuikaliBches Talent, früh
hatte er aber auch Ge-
legenheit, durch tftchtige
Lehrer, wie Epstein fBr
das Elavierspiel, Bnfi-
natscha für Komposition
und Dessof fttr Instru-
mentation, sich zu k&nst-
lerischer Reife zu ent-
falten. Schon mit 15
Jahren spielte der junge
Brflll zusammen mit sei-
nem Lehrer Epstein öffent-
lich Mozarts „Konzert fdr
zwei Klariere". Damals
begann er auch die ersten
Kompositionen niederzu-
schreiben. Er hatte dabei
nichts Ton jenen Eigen-
schaften, die „Wunder-
knaben" so oft wenig angenehm auszeichnen, er war
von ungemeiner Bescheidenheit und vornehmer Einfach-
heit, frei von jeglicher Originalitäts- und Effekthascherei,
Eigenschaften, die auch dem zum Manne gewordenen
stets erhalten blieben.
Als Pianist lenkte er znerst die breitere Oeffentlich-
keit auf sich. Auf Konzertreisen durch Oesterreich und
Deutachland wussle er seine Hörer vor Allem durch
die grosse Sachlichkeit seiner pianistischen Darstellung
zu fesseln. Namentlich Beethoven und Schumann wShIte
er sich für seine Interpretation. Auch in GemeioBchaft
mit anderen Künstlern, wie Beuschel, Joachim, der
Nemda konzertierte er und wurde bei derartiger Gelegen-
heit in den Jahren 1678 und 81 zu London überaus
gefeiert Hit Torliebe sucht ihn Brahms auf und gar
lONAZ BRÜLL.
Von Dr. Bogumil Zepler. N«ehdniek vtrtxntD.
Judas Söhnen ist soeben manche seiner Kompositionen nahm Meister Johannes
FRANZ VON LENBACH.
Ignaz Brüll.
(geil. 17. Septtmber 1907).
mit Brüll zum ersten Male durch.
Gar bald aber verblasete dar Ruf des
vor jenem des Tondichters Brüll. Es war am 22. Dezember
1875, als an der Berliner Königlichen Oper mm ersten
Male die zweiaktigo Spieloper „Das goldene Kreuz"
in Szene ging und den Bnbm Brülls in alle Lande trug.
Viin jenem Tage an wusate man, was Brülls eigenste
Note war, die Begabung
für die heitere Grazie, für
das volkstümliche Senti-
ment. Der durchschla-
gende Erfolg dieser Oper
machte sie auch zu einer
der Lieblingsopern Kaiser
Wilhelms 1., der sich dar-
über zu dem Komponisten
sehr herzlich Susserte:
„Ihr Wiener seid doch
glückliche Menschen. Die
Melodien kommen Euch
über Nacht und so heiler
und herzenafroh tu singen,
versteht auch Niemand
wie Ihr!" Leider blieb
, den späteren Opern Brülls
ein gleicher Erfolg ver-
sag! Während „Das gol-
dene Kreuz" noch heute
nach 32JahrenBepertoire-
oper der meisten Bühnen
ist, konnten es sein
„Landfriedo" (1877),
„Königin Marietta"
(1883), „Das stei-
OELGEMAELDE. nemo Herz" (1888),
„Gringoire" (1892),
„Der Hnaar" (1898)
zumeist nicht über Eiu-
tagserfolge hin ausbringen. Und doch steckt in allen diesen
Werken des Geistes, den wir ans seinem „Goldenen
Kreuz" kennen lernten, und in der Mehrzahl der Fälle
sind es die allzu wenig interessierenden Textbücher, an
denen die Kunst des Komponisten Schiffbruch litt. Was
Brüll jenseits der Oper geschrieben, ist, ubwohl alles
den Stempel des Künstlers und feinsinnigen Musikers
trägt, nicht von gleicher Bedeutung; so eine Sj-mphonie,
Orchester - Serenaden, Ouvertuien, Klarier - Konzerte,
Kammermusikwerke (Violinkonzert, Klariersuiten, Sonaten
Klavierdnos, Violinsunaten u. A.). Am meisten Bedeutung
nuter diesen Dingen beanspruchen wohl die et^va
70 Lieder für sich, die uns Brüll hinterlassen und die die
ungemeine Vielseitigkeit seines liebenswürdigen Talents
erweisen. Wir mochten unter ihnen namentlich die
627
Dr. Bogumil Zq>ler: Ignaz Brüll.
628
allerbekanntesten hier genannt haben: „Es war *ne Maid'S
„Polly Steward", „An einen Schmetterling", „Willst
Du mein sein", „Gondoliere", „Sechse, sieben oder achtes
„Der Steinklopfer'S »Auf dem Maskenball". Auch einiger
vielgespielter Klavierstücke, besonders einiger Mazarkas,
Impromptus und Etüden möchten wir an dieser Stelle
noch gedenken; sie alle zeichnen sich durch jene Anmut
der Melodik und den feinen Formensinu aus, der Brülls
KfLnstertum anhaftete.
Brüll war Zeit seines Lebens seiner Heimat Wien
treugeblieben. In den 70 er Jahren wurde er daselbst
Lehrer an den Horakschen Klavierschulen und wirkte
seit 1881 dort als Professor und artistischer Mitdirektor.
Nur im Sommer verliess er stets sein geliebtes Wieü,
um auf einer reizenden Besitzung im idyllischen Unterach
am Mondsee mit seiner Familie der Ferien zu ge-
messen.
Die künstlerische Persönlichkeit Brülls ist nicht die
eines Himmelsstürmers. Wie wir schon wiederholt an-
deuteten, sind es einesteils liebenswürdige Züge einer
feinen Grazie, andrerseits ein dem deutschen Volkstum
nahestehendes Ton gefühlvollen Sentiments, aus dem sich
das Bild seiner Melodik und Bythmik zusammensetzt.
In beiden liegt der Schwerpunkt seines Schaffens; daher
denn auch die besondere Anpassungsfähigkeit an die
Forderungen der Spieloper I Freilich die Ambition ein
Neuerer zu sein, hatte Brüll nicht: die übeikommene
Form füllte er mit neuem Inhalt, und seine Harmonik
und Instrumentierung ist die uns von den Romantikem
des 19. Jahrhunderts her wohlbekannte. Vielleicht wurde
dieses Sichverschliessen gegen die Forderungen der Mo-
derne mit Schuld daran, ihm die späteren Erfolge zu
erschweren !
Eine seltene Harmonie bestand zwischen dem Menschen
Brüll und dem Künstler. Dieselbe Einfachheit und
liebenswürdige Natürlichkeit zeichnete Beide aus.
Schreiber dieses hatte durch eine erst kürzlich geführte
und nun leider jäh unterbrochene Korrespondenz mit
dem dahingeschiedenen Meister Gelegenheit, sich aus
eigener Anschauung davon zu überzeugen. Diese Korre-
spondenz zeitigte aber noch eino andere wertvolle Kennt-
nis, die namentlich für die Leser von Ost und West
eine gewisse interessante Seite hat, nämlich die Antwort
auf die Frage: welches war Brülls Standpunkt in Dingen
jüdisch-orientalischer Musik?
Ich hatte mich in dieser Angelegenheit an Brüll
gewandt, da ich für die von dem Berliner „Verein für
jüdische Kunst^ veranstalteten Konzerte auch einige Doku-
mente modemer jüdischer Komponisten zu haben wünschte.
Zu meiner Freude wurde mir die Nachricht, dass Brüll
jüdische Verse komponiert hätte; allerdings in Bezng auf
den Begriff „Jüdische Mnsik^ stand er — übrigens in genau
derselben Weise wie Goldmark — auf einem durchaus
negativem Standpunkt. Doch lassen wir ihn lieber
selbst reden. „Ich kenne eigentlich^ — schreibt er —
„keinen jüdischen Musikstil. Was man in den Synagogen
hört, ist zum weitaus grössten Teil von den Kantoren
der betreffenden Tempel komponiert, arrangiert (in einem
türkischen Tempel in Wien hörte ich einen steirischen
Ländler) und durchaus europäisch. Der Sprech -Gesang
des Vorbeters ist — mit wenigen Ausnahmen — nicht
melodische Musik, sondern Bezitation. Ein orienta-
lischer Musikstil ist mir bekannt aus der „Wüste^
Davids, aus einem Werk über orientalische Musik, das
ich einst in der Wiener Hofbibliothek sah. Goldmarks
„Königin von Saba^ und Sakuntala- Ouvertüre finde ich
ebenfalls orientalisch, aber — jüdisch??
Die jüdischen Komponisten komponierten und kom-
ponieren nicht anders als christliche; ihr Stil ist teils
persönlich, teils deutsch (wie bei Mendelssohn) oder fran-
zösisch, italienisch (wie bei Meyerbeer), je nach ihrem
musikalischen Bildungsgang. Darum, scheint mir, hat das
Betonen der jüdischen Nationalität in der Musik nicht dieBe-
rechtigung die z.B. russische Musik hat.*' Brüll, dem
es nicht beikommen konnte anders zu schreiben wie er
dachte, hat denn auch in seinen Kompositionen jüdischer
Verstexte alles andere geboten als orientalische Musik.
Seine drei Lieder nach Gedichten des mittelalterlichen
jüdischen Dichters Jehuda Halevy sowohl, wie auch eine
Vertonung des „hohen Liedes^ sind tiefempfundene,
charakteristische Kleinbilder, deren Texte jedoch ebenso
christlichen Ursprungs hätten sein dürfen — im Gegen-
satz zu Goldmark, der jüdischem Stoftigebiet zunieist
auch jüdische Musik unterlegt.
Was Brülls Ansicht selbst anbetrifft, so kann man
darüber — so natürlich und selbstverständlich sie klingt,
doch auch anders denken. Es würde zu weit ab von
dem eigentlichen Inhalt dieses Artikels führen, wollten
wir darauf näher eingehen. Jedoch sei soviel schon hier
bemerkt, dass Erscheinungen wie „Offeiibach^ und „Bizet^
allein aus der „französischen Note^ nicht zu erschöpfen
sind; aber auch von dem nach Brülls Worten „deutsch-
schreibenden Mendelssohn^, von dem „französisch -ita-
lienisch schreibenden Meyerbeer^ wissen wir Alle, wie
viel sie Beide in ihrer Musik ihrer Rasse Tribut gezahlt
haben. Und Ignatz Brüll selbst? Obwohl das Bassen-
hafte in seiner Kunst sehr zurückgedrängt erscheint,
weisen doch auch an ihm gewisse das Formale und
Bythmische betreffende Züge auf seine Zugehörigkeit
zu Judas Söhnen.
629
630
,,Die Cösung ber Jubenfrage-
eine Rntwort von CO. R. f^lausner«
ii
Nachdruck verboteo.
Im Sommer biefes Jahres bat Dr. ODoses
einer grösseren 3al)l von (Dännem unö Srauen
folgenöe vier fragen 3ur Beantwortung vorgelegt:
1. Worin besteht nad) ll)rer flnsd)auung bas
Wesen ber Jubenfrage?
2. Glauben Sie, bass bas ]ubenproblem ein fOr
alle Cönber gleiches Problem ist, ober glauben
Sie, bass bie Jubenfrage in ben versd)iebenen
Cänbern aud) eine versd)iebene Cösung
erl)eisd)t?
3. Worin bestel)t nad) ll)rer flnsd)auung bie
Cöfung ber Jubenfrage?
4. Wenn Sie für bie versd)iebenen Cänber eine
versd)iebene Cösung ber Jubenfrage für nötig
erad)ten, worin bestel)t biese Cösung ber
Jubenfrage a) für Deutsd)lanb, b) für
Rufelanb ?
Dr. (Doses \)q\ bie Antworten in einem
Bud) vereinigt, bas unter bem Ziiel „Die Cösung
ber Jubenfrage** bemnäd)st bei Curt Wiganb,
Berlin*Ceip3ig, erscj)einen wirb.
Auf Wunsd) bes fSerausgebers veröffentlid)en
wir l)ier bie Antwort, bie (D. fl. Klausner ein=
gesd)id^t l}at:
Sie l)aben bie Sreunblid)heit gel}abt, mir vier
fragen vor3ulegen.
ODeine Antwort bestel}t in bem Bekenntnis
meiner Un3ustänbigheit.
nur wer (Ditglieb eines Be3irhsvereins ist, l)at
bas ÖlOd^ für jebe frage eine autorative Antwort,
für jebes Problem bie lösenbe Sormel bereit 3u
l)aben. Id) bin nid)t (Ditglieb eines Be3irhsvereins;
id) bin es so wenig, bass id) nid)t einmal an ben
Wert von Sormeln glaube.
Dod) ba Sie meine (Deinung 3U l)ören wün*
sd)en, will id) ll)nen gern sagen, was id) über
bie „Jubenfrage** benNe; ll)ren Cesern gegenüber
müssen Sie bie Verantwortung bafür tragen, bass
Sie einen Caien 3u öffentlid)er flussprad)e veran*
lasst l)aben.
Wir Juben sinb, feit wir gesd)id)tlid)es Ceben
l)aben, anbers als anbere.
Was uns anbers als anbere gemad)t l)at, bas
war unsere Religion, bie uns berief. In strenger
Rbsonberung gegenüber allem fSeibentum bie
(Dissionare bes mit bem Öottesgebanhen unlösbar
verknüpften flDensd)l)eitsgebanNens 3U sein. Unb
ber ÖottesgebanNe bestel)t in ber aus (Densd)=
beitsliebe geborenen, (Densd)l)eitsliebel be3wed^en=
ben 6ered)tigheit.
Diesen (Densd)l)eitsgebanNen l)aben unsere
Propl)eten verhünbet unb uns eingesd)ärft unb
allem anberen vorangestellt, selbst in ber 3eit,
ba wir eine Ilation waren unb eine Ilation sein
sollten.
flnbers als anbere sinb wir von je gewesen,
unb ben anbern gleid) 3U sein l)aben wir von je
gestrebt balb burd) Behel)rung ber anberen 3u
uns, balb burd) unsere Anpassung an bie anbern.
Beibe Strömungen l)aben immer nebeneinanber be*
stanben, wir l)aben uns gleid)3eitig assimiliert unb
abgesonbert, unb für bas eine wie für bas anbere
l)at es Propheten gegeben. Die Propl)eten beiber
Rid)tungen l)aben sid) vergeblid) bemül)t. Denn
man assimiliert sid) nid)t weil man will, sonbern
weil man muss, unb man wiberstrebt ber flssimi*
lation nid)t, weil man will, sonbern gleid)falls nur
aus innerem, naturgewaltigem Drang. Dass wir
für freien Willen l)alten, was in Wal)rl)elt unbe*
wusster 3wang ist, berul)t auf Selbsttäusd)ung.
So mand)e l)aben sid) Im Cauf ber Selten
von uns getrennt, so mand)e sinb 3u uns ge*
kommen; im grossen unb gan3en Ist unsere 6e*
memsd)aft geblieben - anbers als anbere.
Dass man unser flnbefssein als eine Art Un^
red)t empfinbet, bas wir begel)en, bass man es
uns 3um Vorwurf mad)t ~ barin bestel)t eben bas
flnberssein ber flnberen, bie ben flDensd)l)eits^
gebanhen nod) nid)t voll in sid) aufgenommen
l)aben, bie ben Oottesgebanhen ber 6ered)tigheit
nur mit einsd)ränhungen wollen gelten lassen.
Die Rbneigung gegen bie, bie anbers sinb,
nimmt tausenb Vorwänbe, nad) Cänbern unb Sittten
unb Selten versd)ieben; sie äussert sid) l)ier burd)
f^unbgebung ber Verad)tung, bort burd) 3urüd^=
set3ung, bort burd) fSanblungen ber Grausamkeit.
Wir Juben l)aben es erfal)ren unb erfal)ren es
fortgeset3t nid)t wir allein.
Wann bles aufl)ören wirb?
Sie können mid) eben so gut fragen, wann
bas messianisd)e Reid) kommen wirb.
631
M. A. Klausner: Die Lösung der Judenfrage.
632
Wie wir ]uben ju einer Sonöerstellung im
Staat gehommen sinb, ist eigentümlid) genug:
Vor 3al)rl}unberten liebten bie sid) festigenben
Staatsgebilbe, selbst bei steigenbem Überwiegen 5er
rein weltlid)en Interessen, sid) tl)eohratisd)'tl}eolo*
gisd)es Oewanb nad) altiübisd)em (Duster an5u»
legen. Wol}l nid)t allein, aber vomel}mlid) aus
biesem Örunb wussten sie bie Juben nid)t anbers
benn als einen Srembhörper 3u betrad)ten unb 3U
bel)anbeln.
Bierin ist bie Quelle ber Anomalie 3U finben,
in bie man uns ]uben forma lred)tlid) gewiesen l)at,
unb in ber man uns aud) in vielen von ben Cänbern
tatsöd)lid) nod) festl)alt, bie aus bem Unred)t bieses
ge8et3lid)en Sormalred)ts sid) emporgerungen unb
von il)m sid) freigemad)t l)aben. In bie Auffassung
vom Red)tsstaat ragt auf bem Gebiet ber VerwaU
tungspraxis unb teilweise aud) auf bem ber 6eset3=
gebung nod) bie Ruffassung vom konfessionellen
Staat l)inein. Daraus ist bie 3wiespältigNeit ent^
stanben, unter ber in erster Reil)e wir Juben 3U
leiben t)aben, bie aber 3ugleid) bem Staat nad)teil
bringt, inbem sie nüt3lid)e Rräfte ber ODitarbeit an
ber gebeit)lid)en £ntwid^lung bes gemeinen Wesens
ent3iel)t. Diese 3wiespältigheit bilbete sid) aus,
als ber d)ristlid)e Konfessionelle Staat ben Juben
als Rnbersglöubigen von ber politisd)'bürgerlid)en
6esellsd)aft aussd)loss. Sie 3wang bie Juben 3U
einem 3usammengel)örigheitsbewusstsein, bas im
Cauf ber 3eit md)t an ber anfänglid) rein religiösen
Örunblage l)aften konnte; unb sie blieb bestel)en,
nad)bem ein mel)r nod) törid)tes benn grausames
Vorurteil inmitten einer nad) il)ren Bestanbteilen
kaum nod) erkennbaren (Disd)lingsbevölNerung bie
Juben als rassenversd)ieben in berselben Aus»
sd)liessung l)alten wollte, wie vorbem als reli*
g i o n s versd)ieben.
ein über weite 3eiträume sid) erstred^enber
gesd)id)tlid)er Werbegang kann nid)t plöt3lid) seine
Wirkung verlieren, nid)t plöt3lid) unbead)tet bleiben.
Cs ist eine missverstänblid)e Auffassung, bass
bie Jubenl)eit als sold)e eine Organisation besitse,
bie ol)ne ben 3wang einer staatlid)en flufsid)t unb
ol)ne ben f5alt einer staatlid)en Anerkennung burd)
aller Seiten Wed)sel ungesd)wäd)t weiter funktio^
nieten könne. Hod) Jal)rl)unberte nad) ber 3er*
trümmerung bes äusseren Symbols unserer natio=
naien existen3, bes bilbnislosen Tempels in Jeru-
salem, nad) ber Auflösung bes jübisd)en Reid)es,
fanben unsere Väter sid) gebrungen, bie Sat3ungen
ber tl)eokratisd)en Verfassung aud) ol)ne bas Sub=
strat eines räumlid) gesd)los6enen Staatswesens
in Geltung 3U erl)alten. Sie sd)ufen bie Institution
eines Oberl)aupts, bem sie in freiwilligem 6et)orsam
sid) unterwarfen. Jal)rl)unberte l)inburd) l)atte bie
Jubenl)eit in Asien nad) fSerobes einen Sürsten>
eine Art Stattl)alter bes göttlid)en Willens, ber
unter d)arakteristisd)em ßinweis auf bas Provi^
sorisd)e ber einrid)tung unb bie auf bie enblid)keit
bieses Provisoriums gerid)teten fSoffnungen „Resd)
Galuta", b. i. „fürst ber Verbannung" genannt
würbe. Aber bas Königtum jenes f^önigs ol)ne
Rrone 3ermorsd)te unb versd)liss mel)r unb mel)r,
bis bie erbsd)aft so gering geworben war, bass
sid) für sie kein Crbe me\)x fanb. Jet3t war aud)
ber Sd)atten ber einstmaligen organisierten 3u*
sammengel)örigkeit versd)wunben.
Obwol)l nun bas Wesen unb sein Sd)atten
gesd)wunben waren - ber völlig unbered)tigte
Glaube an bie Sortbauer ber organisierten 3u=^
sammengel)örigkeit blieb bestel)en unb bel)errsd)te
fortgeset3t, bewusst unb unbewusst, bie Geset3^
gebung, bie sid) mit uns besd)äftigte. Die
wunberlid)e Vorausset3ung l)atte unbestrittene
Geltung, bass bie Juben il)re 3ivilgeset3gebung
burd) lange Jal)rl)unberte unter völlig umgewänbelten
politisd)en' unb wirtsd)aftlid)en Verl)ältnissen um
veränbert bewal)rt l)ätten, wie naturgemäss il)re
ewigen religiösen Sat3ungen, bloss weil in ber
3eit bqs iübisd)en tl)eokratisd)en Staates kein
erkennbares äusseres 3eid)en bie Gebote ber
Offenbarung von ben staatlid)en Anorbnungen
untersd)ieb. Weil bie gleidien religiösen
Quellensd)riften für alle Juben ber Welt mass-
gebenb waren, set3te man voraus, bass biese
Gemeinsamkeit aud) alle äusseren Cebensbebing*
ungen ber Juben burd)bringe, wäl)renb nad) allen
€rfal)rungen bod) nur ber gemeinsame Wille sid)
bauernb in Geltung l)alten kann, bem es vergönnt
ist, bem Wiberstreben wirksamen 3 w a n g ent*
gegen3ustellen.
ein fast 3weitausenbiäl)riges Bestel)en in ber
Diaspora unb unter ben ersd)werenbsten Bebing^^
ungen bürfte uns - abgesel)en von allen religiösen
Verl)eissungen - mit ber 3uversid)t un3erstörbarer
Dauer erfüllen, verbietet {ebenfalls, mit unserm
Untergang in absel)barer 3eit 3U red)nen. Der ge«
beil)lid)e Bestanb bes Jubentums im Staat ist über*
bies eine Hotwenbigkeit für ben Staat aud) im
Interesse ber anberen Ronfessionen. Sür biese
ist es ein bebenklid)er Gewinn, wenn il)nen frembe
eiemente 3ugefül)rt werben, beren neues Bekenntnis
lebiglid) bie Besiegelung ber Untreue gegenüber
bem alten Bekenntnis ist. Sold)e Clemente sinb
633
M. A. Klaussner: Die Lösung der Judenfrage.
634
Probuhte ber DeNompoaition unb trägen Dehom-
Positionen überall)) in, oud) wenn sie bas nid^t
wollen unb nidjt wissen.
Unsere So nÖ erst eilung in ber Öesellscljaft
ist teilweise ein Ergebnis unserer Sonberstellung
im Staat, folgt 3um anbeten Cell aus unserer
Abweljr gegen ftesimilation.
Wer sid) gegen bie Uniformierung auflel}nt,
muss bereit sein, bie Konsequenzen 3U tragen.
Cin unl)öflid)es Spridjwort sagt: .]ebem Darren
getollt seine Rappe." Das Spridjwort mag wal)r
sein. Darum aber braud)t öer nod) nidjt weniger ein
Darr 3U sein, bem nur bie ßappe bes anberen gefällt.
(Dir gefällt unsere Rappe.
$ünf3el)nl)unbert Jotjre waren wir unter uns
unb l)aben unsere Rappe getragen, fln 3wei=
tousenb ]al>re tragen wir sie in ber Diaspora. —
Unb nun soll id) lljnen sogen, wann wir unb bie
anberen alle unter einen ßut gebradjt sein
werben? — ld> weiss es wirNlid) nidjt.
S. 1. ABRAMOWITZ.
(Mendele Mocher SToriim).
Literarische Studie von Dr. Eliaschoff, Warschau. NMhdturt •nrnotn.
I. Abramowitz genieLten bedeutet für mich dasselbe
Empränglichen Sinnes einen groben Sclirirtst«Iler wie das Aufrollen eines alten Adelsbriefes, um sich
genießen, heißt Zwiesprache halten mit seinem eigenen einmal klar bewußt zu werden, woher wir denn eigent-
Ich, gleicht einer trauten stummen Unterredung mit lieh stammen. Wir lernen begreifen, wie sich aus den
seinem eigenen Gewissen oder mit seiner eigenen Ver- alten Ghettojuden der osteuropäische Jude der Gegen-
gangenheit. Mitunter haben wir auch das Gefühl, als wart entwickelte. Derselbe Ideatismus, der heute den
Enkel beseelt, hatte ehemals den
Großvater begeistert. Der unter-
schied iKtsteht nur im Inhalt.
Uns drücken noch immer die-
selben Fesseln; wir leiden noch
heute infolge unserer einstigen
\'nlksgebrechen.
II.
Die Welt, die sich in Abra-
mowitzens Werken spiegelt, ist
die jüdische Ghettnwelt in den
vierziger und fünfziger Jahren
des vorigen Jahrhunderts. Wenn
auch seine Schöpferkraft sich bis
auf unsere Tage in ungeschwäch-
ter Frische erhalten hat, so ist
dennoch sein Blick stet« nacli
rückwärlsaufjeneZeitcn gerichtet.
Er ist unter den Volksdichtern,
die uns eine künstlerische Syn-
tliesc des ehemaligen Ghetto-
den Judentums gugeben haben, der größte und tiefste,
einzigen Spiegel vom Leben unserer Großväter und Ich will vi rsuchen, im engen Rahmen eines Artikels
Urgroßväter. Mit anderen Worten: sie zeigen mir eine \'orstellung von Abramowitzs Synthese zu geben,
die tiefsten Wurzeln, aus denen der neuzeitliche Jude und ich werde mich glücklich schätzen, wenn mein
im Osten emporgewachsen ist. Ich finde hier Ge- Versuch beim ernsten Leser das Verlangen wecken
legcnheit, mich mit der ganzen abgerundeten Welt- wird, mit diesem Meister und größten Psycholt^n des
anschauung vergangener Generationen vertraut zu jüdischen Volkslebens näher bekannt zu werden.
machen. Und da die ehemalige Weltanschauung Zunächst führt uns Abramowitz in seinen Ghetto-
in uns einen Komplex von Gefühlen und Liebens- Schilderungen jene jüdischen Votksmassen vor, in deren
offenbare sich uns in diesergenuß-
reichen Stille die Psyche eines
ganzen Volkes. Abramowitz zählt
zu denen, die uns der jüdischen
Vergangenheit, der kollektiven
Seele des Golusjudentums von
Angesicht zu Angesicht gegen-
überstellen. Wie gering jedoch ist
die Zahl derer, die Abramowitz in
vollem Maße genießen
.\bramowitz genießen ist für
mich gleichbedeutend mit dem
Untertauchen in die alte "^ver-
gangene Welt; in die Welt, wo
Armut und Kinderglaube I zu-
sammenhausten, wo in [einem
schlammigen Pfuhl Tausende
von jüdischen Seelen zappelten,
Menschen, die ihren Leib mit
Lumpen eines Bettlers bedeckten,
und ihre SUin, eingebildeten
Königskindem gleich, mit pa-
pierenen Kröne he n schmückten.
Ich erblicke in den Werken Abramowitz's
werten erzeugte, von denen wir uns heute noch nicht
ganz frei machen können — so entdecke ich im
Juden der Gegenwart vieles, was seine Säfte aus den
eingefallenen Hütten die Armut aus allen Spalten
und Spältchen „pfeift". Die jüdische Armut erhält bei
Abramowitz ein höchst wunderliches Aussehen;
alten Ghettowurzeln zieht, aus Abramowitzens fälltschwer, ein Gleichnis zu finden. Sie läßt sich weder
jüdischer Welt. mit der Armut in den großen europäischen Städten,
635
Dr. Eliaschoff, Warschau: S. I. Abramowitz.
636
noch mit der der russischen Bauern vergleichen. Die
Armen einer Großstadt sind in der Regel Verlassene,
Entkräftete, Trunkenbolde, kurz: der Abfall der
Gesellschaft, der dahinsiecht und keinen Nachwuchs
zurückläßt. Was in dieser Bevölkerungsschicht an
leistungsfähiger Kraft noch vorhanden ist, wird in den
sogenannten Sweat- Shops ausgenutzt oder von Leuten
mit unsauberem Gewerbe ausgebeutet. Der jüdischen
Armut ist die Fabrik fremd. Die jüdische Armut lebt
in kleinen Städten und in armen Gemeinden, ist
fruchtbar und mehrt sich, und kann auf einen Stamm-
baum von Vätern und Großvätern zurückblicken,
die gleichfalls arme Leute waren und im Finstem
wohnten. Der russische Bauer ist bei all seiner Armut
doch gewissermaßen Herr auf seinem eigenen Stückchen
Boden; seine Not währt nicht ewiglich ; man empfindet,
daß früher oder später eine Besserung der Lage eintreten
muß. Das Reich selbst sinnt auf Mittel, die Armut des
Bauern zu verringern. Bei der jüdischen Armut aber
versagt jedes Heilverfahren; der Jude ist aller Mittel
bar, sich aus der Not herauszuhelfen, und bei den
gegenwärtigen Verhältnissen im Osten, unter denen
dort der Jude sein Leben fristet, dürfte kaum ein
radikales Mittel gegen die schreckliche jüdische Armut
ausfindig gemacht werden. Er lebt wie ein Städter
selbst in den Ortschaften, wo ihn das Leben der Mutter
Erde und der Natur näher bringen müßte, und hungert
wie ein Bauer im Dorfe zu Zeiten einer Mißernte.
Denn besitzt die jüdische Volksmasse, die uns
Abramowitz vorführt, eine gar merkwürdige Ver-
gangenheit. Sie ist der Träger einer zweitausendjährigen
Geschichte. Der Geist der Großväter lebt noch unter
ihnen ,und sie wandeln in den Fußtapfen vergangener
Geschlechter. Diese Gemeinschaft lebt von der sie
lungebenden Welt isoliert, wie eine Insel auf dem
weiten Meer, und alles das, was im Lande, in dem sie
wohnt, vorgeht, berührt sie nur oberflächUch. Die
Menschen dieser „Gemeinschaft" sind derart unzer-
trennUch verbunden und aneinander gekettet, daß
demjenigen, der aus ihren Reihen treten will, nichts
anderes übrig bleibt, als sich „in des Meeres Wellen zu
stürzen", die ihn auf ewig weit, weit weg von der
jüdischen Welt tragen.
Das enge Band mit der toten Vergangenheit,
vollends aber die Armut und Isoliertheit machten sie
zu Asketen, erzeugte in ihrem Herzen die Verachtung
aller Lebensfreuden dieser Welt. Sie leben in be-
ständiger Angst, sie könnten, Gott behüte, einen Schritt
von dem engen Pfade weichen, den ihnen die „Alten"
gezeigt haben ; sie verzichten selbst auf jene harmlosen
Vergnügungen, die nach dem Religionsgesetz erlaubt
sind. Sie bauen einen Zaun vor den andern : sie bauen
stets engere Käfige für die ruhelosen Seelen. Sie ver-
graben ihre fünf Sinne und gebrauchen sie nur so weit,
als es ihnen für dieses finstere Leben notwendig er-
scheint. Sie gebrauchen das Ohr nur so weit, um dem
Baal- Köre (Thoravorleser) zu lauschen, das Auge, um
in der Mesuso oder in der Thorarolle Korrekturen
vorzunehmen und die Stimme, um „Schma-jisroel"
zu rufen.
Dabei besitzt diese Judengomeinschaft eine wunder-
^^"^o alte Kultur. In der „Schul" wie im Heth-hami-
drasch verhallt nie die volltönende Stimme des
„Mathmid" (Fleißigen)* In halb vermoderten Schränken
stehen Dutzende von alten Folianten mit zerrissenen
Einbanddecken und zerknitterten schmierigen Blättern.
Eine ganze Armee von Büchern bestimmt jeden Schritt
dieser Judengemeinschaft. Der Talmud erhält den
Geist rege, die Moralbücher erwärmen das Herz, und
der Midrasch und der Sohar erfüllen die düstere Seele
mit lichtvollen Traumgebilden.
Gleichzeitig mit der asketischen Weltanschauung
beherbergt diese Gemeinschaft zwei Gedanken an das
ewige Leben. Sie glaubt erstens fest und unerschütter-
lich, daß sie, die Gemeinschaft, das „Salz der Erde"
sei und daß das jüdische Volk nie untergehen werde;
ebenso fest und unerschütterlich glaubt sie, daß jeder
Jude nach seinem Ableben einen Anteil am Jenseits
erhalte, und daß er am jüngsten Tag zum ewigen
Leben auferstehen werde.
Sie verachten die Lebensfreuden dieser Welt und
vergöttern die Bibel, das Produkt jenes Volkes, das
jede Askese verpönte und welches den Lebensquell
durch alle fünf Sinne strömen ließ. Sie dünken sich
als die „Auserwählten" und fristen dabei ein — Hunde-
leben. Sie glauben ans Jenseits und ihre Ideale gehen
über die Verheiratung ihrer Söhne und Töchter, die
Vorbereitung eines Säckchens Palästinaerde und Lein-
wand auf Totenkleider nicht hinaus. Sie träumen
von einem ewigen Leben, und ihrer Sorgen Anfang und
Ende ist die Sorge ums tägliche Brot, die Sorge um die
Familie. Das „ewige Volk" in Abramowitz's Juden-
gemeinschaft lebt von Federnrupfen und vom Liefern
der „heiügen Dienerschaft" für die Glupsker „Schulen" ;
sie nagt am Hungertuche und gerät völlig aus dem
Häuschen, wenn der Poritz vorbeifährt, bei dem man
einen Rubel verdienen kann.
Mit dem Unsterblichkeitsgedanken konnte sich
aber der Magen nicht zufrieden geben. Diese Asketen
verschmähten es, in die Wüste zu flüchten. Ihr aus-
getrockneter Körper besaß den festen Willen, von
dieser sündhaften Welt so spät wie möglich Abschied zu
nehmen. Ein Einsamer und Abgesonderter mit ver-
schlafenen Sinnen, blieb dem Asketen nur der klügelnde,
tüftelnde und grübelnde Geist, der, um den Körper am
Leben zu erhalten, verschiedene eigenartige Erv^-erbs-
zweige ersann, die lange den andern Völkern eine terra
incognita blieben.
Die Armut, die Isoliertheit, die Verachtung der
reinen Lebensfreuden, der Glaube an den ewigen
Bestand des gemarterten jüdischen Volkes im all-
gemeinen und jedes einzelnen Juden im besonderen,
die schlaffe Sinnestätigkeit, der scharfe findige Geist —
alles das trug dazu bei, eine Gemeinschaft von Juden
hervorzurufen, die in einem ewigen Kampf leben mit
ihren eigenen Gefühlen, die sich in einem Kreislauf
von Widersprüchen bewegen und der Welt das Bild
eines Volkes offenbaren, das innerlich und äußerlich
einen sonderbaren logischen Widerspruch darstellt.
Bevor noch die Welt diesen Widerspruch erkannte,
hat ihn schon der Ghetto Jude in sich verspürt. Wären
seine Sinne infolge der stetig geübten Askese nicht
schlaff und unempfänglich geworden, er hätte sicherUch
wie ein Verzweifelter mit verbissenen Lippen alle
637
Dr. Eliasdioff, Warschau: S. I. Abramowitz.
638
erdenklichen Anstrengungen gemacht, um in dieses
verworrene Leben einen Sinn, ja ein System hineinzu-
bringen. Er hätte den engen Pfad durchbrochen
und sich ein Ideal geschaffen, für das er auf Leben
und Tod kämpfen könnte. Da er aber seine fünf Sinne
nicht mehr in ergiebiger Weise gebrauchen konnte,
so war er sozusagen einzig auf seinen sechsten Sinn,
den scharf-spitzigen Geist, angewiesen. Und dieser
konnte nur lachen uhd spotten, so oft er logische
Widersprüche wahrnahm. So schuf sich der jüdische
Volksgeist den Spaßmacher, den Spötter,
den Witzbold. Die bekannten Witzbolde Schajke
Feifer und Motke Chabad sind für den Kritiker des
jüdischen Volkslebens nicht minder interessante jüdische
Helden als die hebräischen Poeten der sechziger Jahre.
Ein spitziger und witziger Kopf, der sich ruhelos
bewegt auf einem halbtoten Körper, empfindet die
Schmerzen des Lebens wie in einem Dämmerzustande.
Die Schmerzen nehmen den Weg durch die abge-
storbenen Sinne und dringen ins Gemüt, wie ein ferner
' Widerhall, wie der schwache Reflex eines Blitzstrahls,
dem kein Donner folgt. Frauen und Kinder, die die
traurigen und fröhlichen Ereignisse im Leben mit
weniger Verstand, aber mit mehr Herz in sich auf-
nehmen, sind nicht imstande, Witze zu machen. Sie
verstehen auch die Witze der Männer nicht. Der
Jeschibah-bachur (Talmudjimge), der seinen darbenden
Magen mit dem äußersten Ende eines Herings zu
täuschen sucht, kann sich über das Leben eher lustig
machen als der Spießbürger oder der stets beschäftigte
Kaufmann. Alte Männer, lang unterdrückte Völker,
Stiefkinder des Lebens, deren natürliche Instinkte in
ständiger Ohnmacht liegen — witzeln und spötteln
über die traurigsten und heiligsten Angelegenheiten.
Im jüdischen Witz hört man die Verachtung
seines eigenen Ich, die Stinmie eines Volkes, das mit
dem kochenden und rauschenden Leben den Zusammen-
hang verlor. Aus dem jüdischen Witz spricht zu uns
die Hoffnungslosigkeit eines Menschen, der nie etwas
Gutes genoß, die Resignation eines Volkes, dessen
Leben ein ewiger Widerspruch ist, ein Wortspiel, zu
nichts anderem tauglich, als einen guten Witz daraus
zu machen.
Das ist die allgemeine Basis, die Synthese, auf die
Abramowitz seine psychologischen Schilderungen aus
dem jüdischen Volksleben aufbaut. Niemand vor ihm
hat dieses Leben so klar durchschaut und so meister-
haft geschildert.
Allein welche Gefühle verbinden Abramowitz mit
dieser Synthese? Wie ist sein Gemütsverhällnis zu
der von ihm geschilderten Ghetto- Welt?
III.
Abramowitz größte Schöpfungen „Fischke der
Lahme" und „Das Winschfingerl" (Der Wunschring)
sind durchtränkt von zwei Hauptgefühlen: aus jeder
Zeile spricht zu uns in deutlich vernehmbaren Tönen
die Verachtung für die altvaterische jüdische
Volksmasse und fast jedes Kapitel schließt mit den
Worten eines traurigen Gemüts, das vor Mitleid
weint. In diesen abw^echselnden Empfindungen des
Mitleids und dor Verachtung, denen auch
einige Tropfen von Haß beigemischt sind, in der
Bitterkeit des Tones, worin diese beiden Hauptgefühle
zusanunenschmelzen — liegt die Kraft von Abramowitz's
hervorragendem Talent, hegt das Geheinmis seiner
mächtigen Wirkung auf die Leser.
Abramowitz fühlte sich angewidert von der ebenso
törichten wie häßlichen Lebensweise jener Asketen, die
sich ans Leben klammem und doch seine natürlichsten
Freuden verachten; er empfand einen Ekel vor der
halbtoten Vergangenheit, mit der sich die jüdische
Volksmasse herumschleppt. Wie ein Lebender unter
Toten wandelte er unter seinen Brüdern. Er kam sich
vor wie ein Friedhofswächter, der die Begräbnisstätte
nicht verlassen darf. „Ein feiner Faden war in das
Stück Materie gewoben, das den Namen „Jud" trägt,
und die schwere Materie rieb ihn auf und verdarb seine
Jugend wie die Jugend tausend anderer ähnlicher
Seelenfäden." Er verachtete die jüdische Gemeinschaft,
die ohnmächtig war, eine starke Individualität hervor-
zubringen, jene Gemeinschaft, die „Herschelech" gebar,
„deren Jugend rasch verwelkt und deren Kindheit nur
eine Weile leuchtet, wie die Sonne an einem häßlichen
Wintertag, und dann in einer großen trüben Wolke
untertaucht.'' Er haßte die jüdische Gemeinschaft,
die keinen frischen Lufthauch verträgt und keinen
lebendigen Gedanken in den engen dunstigen Ghetto-
mauern aufkeimen läßt.
In der Art und Weise, wie Abramowitz jede Be-
wegung eines jüdischen Körpers mustert, wie ihm jedes
Fleckchen, jede Bartstoppel nicht entgeht, wie er uns
das fratzenhafte Gesicht und den schlendernden Gang
seiner Helden malt — in all dem erkennen wir die ver-
bissene Aufmerksamkeit und den scharfen Blick eines
im tiefsten Innern gequälten Zuschauers. Wie ein
Stiefkind beobachtete er jede Bewegung der jüdischen
Gemeinschaft; keine Körperkrümmung, kein Stirn-
runzeln entließ er ohne giftigen Kommentar. Sein
„Mendele'* in den ein Stück von Abramowitz's Seele
hinübergewandert ist, hat die Gewohnheit, seinen
Brüdern, den Jüdchen, zuzuschauen „mit verzogenen
Lippen, auf denen ein stachelichtes Lächeln sich
windet.** „Ich träume nur von Bettlern; vor meinen
Augen schwebt immer ein Bettelsack, der alte große
jüdische Bettelsack** — ruft Abramowitz in seinem
„Fischke** aus .... Seine Helden gleichen Halb-
leichen, Menschen, die sich in einem todähnlichen
Zustande befinden, Menschen, in deren Körper fast
alle Lebensfunktionen stocken. Ein stachelichtes
Lächeln zeigt sich auf seinen Lippen, wenn er sieht,
wie die Halbleichen eine Weile ihren todähnlichen
Zustand vergessen und, von ihrem darbenden, einge-
schrumpften Magen getrieben, ein „ Gesellschaf ts-
tänzchen** aufführen. Nirgends drückt sich Abramowitz's
\' erachtung so prägnant aus, wie an jenen Stellen,
wo er den Juden in seiner Jagd nach einem Erw^erb,
nach einer jüdischen Pamosso, schildert.
Die \>rachtung, die der Jude selbst für seine
Erwerbszweige, für seine Geschäftchen, seine ganze
Lebensart empfindet, hat im Herzen des ersten großen
jüdischen Volksdichters ihren Platz gefunden.
Der Jude in Abramowitz's Welt jagt nur dem
Erwerb nach, aber er kriegt keinen. Hungernd, darbend.
639
Dx, ^liaschoff, Warschau: S* I. Abramowitz.
640
verbittert, verfolgt von Eigenen und Fremden, kehrt
ßr in seine dunkle Behausung zurück, in das Grab für
Lebende. Dort sitzt er und überläßt sich seinen
melancholisch-düstern Gedanken. Kaum beginnt
Abramowitz den Juden in dieser Lage zu schildern,
so verschwindet das stacheUchte Lächeln von seinen
Lippen. Reine Quellen des Mitleids ergießen sich
aus seinem Gemüt. Das jüdische Mitleid klingt a.lsdann
aus jeder Zeile. Es ist nicht das Mitleid eines Starken
zum Schwachen, eines Arztes zum Kranken, für dessen
Schmerzen er ein Linderungsmittel in Bereitschaft hat ;
es ist vielmehr das Mitleid einer Mutter zu ihrem
kranken Kinde, die nur weinen, ans Herz drücken
und zärtlich liebkosen kann; es ist das tiefe Mitgefühl
eines liebenden Herzens, „das dieselben Qualen leidet,
dieselben Schmerzen empfindet." ^J
Abramowitz beginnt die jüdische Volksmasse zu
lieben, wenn er „das wortlose Klagen über das wüste
Leben" vernimmt, wenn ihre Seele zu flehen scheint:
„0, genug! genug! die Kräfte reichen nicht mehr, um
das noch länger zu ertragen!"
Alsdann wird Abramowitz's Herz weichjgestimmt
wie das Herz einer zärtlichen Mutter. Es freut ihn,
daß diese Judengemeinschaft noch ein Asyl besitzt, wo
sie bei einem Talmudfolianten, bei einem Kapitel
Sohar, bei einer traiu*igen Melodie auf eine Weile ihr
elendes Leben vergessen kann. Ihm selbst bringt
schon dies wenig Erleichterung; aber gleich einer treuen
Mutter ist er zufrieden, daß das kranke Kind noch
ein Spielzeug besitzt, mit dem es spielen kann.
Im jüdischen Mitleid äußert sich dieselbe
Hoffnungslosigkeit, wie im jüdischen V o 1 k s w i t z ,
und Abramowitzs Werke tragen den Stempel des
Geistes der jüdischen Volksmasse, die zu gewissen
Zeiten sich selbst verleugnet und verspottet.
Dank diesem tiefempfundenen Mitleid mit der
jüdischen Volksmasse überragt Abramowitz an Hauptes-
länge seine Brüder, die Aufklärer der Haskalah-Zeit.
Ihm allein war es vergönnt, in die gottergebene Seele
der jüdischen Volksmasse einzudringen, er wußte genau
abzuschätzen, welchen Trost die Sitten und Gebräuche
vergangener Zeiten enthielten.
„In des Menschen Seele spiegelt sich eine ganze
Welt, die Gefühlsströme im Herzen brechen hervor
aus tausend Quellen, deren Ursprung sowohl im Innern
des Herzens wie in der Außenwelt zu suchen ist."
Aber nicht alle gehören zu der Kategorie von Menschen,
in deren Herzen eine Welt sich spiegelt. Bei vielen von
ihnen reflektiert die Welt nicht; sie geht an ihnen
spurlos vorüber, ohne selbst einen kargen Widerschein
hervorzurufen.
Abramowitz war einer jener Auserwählten, denen
sich die Welt der jüdischen Volksmasse in allen ihren
Einzelheiten offenbarte; und von den erwähnten
Gefühlen beherrscht, vertiefte er sich in die Einzel-
erscheinungen dieser sonderbaren Welt.
In „Fischke der Lahme" und „Winschfingerl"
finden wir den ganzen Abramowitz. Im ersten Buch
sehen wir den Juden auf der Suche nach einem Erwerb,
den Juden mit dem alten großen jüdischen Bettel-
sack ; im zweiten dagegen sehen wir die nieder-
"-'^ rückte jüdische Volksmasse, die sich in den Schatz-
kammern einer alten Vergangenheit vergräbt und in
einem überfrommen Lebenswandel auf eine Weile
Linderung und Trost findet. „Fischke, der Lahme"
ist das Buch der Veracht ujn g d e r jü-
dischen Masse, „Winschfingerl" — dasRuch
desMitleids.
IV.^
„Fischke", eine Geschichte von jüdischen Wander-
bettlem, liest sich wie ein symbolisches Gleichnis, das
auf die jüdische Armut im allgemeinen gemünzt ist.
Abramowitz schildert nicht eine gewisse Klasse von
Bettlern, die von der ganzen großen Arbeitermasse
abgesondert leben. Er liefert uns vielmehr in „Fischke"
das Bild einer jüdischen Gemeinschaft in der Gestalt
eines Heeres von Bettlern und Schnorrern. Nicht
umsonst träumt Abramowitz nur von Bettlern, nicht
umsonst schwebt ihm immer ein Bettelsack vor den
Augen, der alte große jüdische Bettelsack. Nicht
umsonst sieht er manchmal hinter jedem Jüdel Geister-
scharen stehen und antreiben: „Blühet und gedeihet,
Bettler, sprießet hervor wie Gras und Unkraut ! Geht,
jüdische Kinder, und wandert von einem Haus zum
andern !"
In der Erzählung „Fischke" kommt das Jüdel
zum Vorschein, dessen Magen bis zur Unsichtbarkeit
eingeschrumpft ist, das Jüdel, das ewig bemüht ist,
die Eßlust zu überwinden und das das ganze Leben mit
einem Schnickschnack abfertigt. Wir sehen den
schwachen Juden, den entkräfteten, der niu* mit der
„Stimme Jakobs" gesegnet ist und gegen die „Hände
Esaus" nichts ausrichten kann; wir sehen den kiunmer-
vollen, ohnmächtigen Juden, der nur dann auflebt,
wenn er von Geschäften sprechen hört. „Der Jude
in der Agonie, kaum hört er von Geschäften reden,
erwacht zu neuem Leben; selbst der Todesengel hat
alsdann seine Macht über ihn verloren." Die Geschäfte
sind jedoch luftige Windbeutel, ohne Geschmack und
ohne Duft. Sie sehen aus wie die „goldenen Ge-
schäftchen" Reb Alter Jaknehas' und Reb Mendele
Mocher S'forims (des Buchhändlers), die am Wege
stehen mit ihren Rummelwägelchen und miteinander
Tauschgeschäfte machen: einen Berster Gebetmantel
für kleine Taleissim tauschen, ein Bündel achtfachiger
Zizith für Wolfszähne, Gebetriemen für Kupfer- und
Messinggeräte. Man kann sich von diesen Geschäften
und ihren Verdiensten einen Begriff machen, wenn
man bedenkt, daß ein jüdischer Buchhändler auf seinem
Wägelchen auch Kupfer- und Messinggeräte mitführen
muß. Und diesen „goldenen Geschäftchen" widmet
sich der Jude mit einer ernsten Betriebsamkeit, als
gälte es die Welt aus ihren Angeln zu heben.
Betrachten wir einen Jahrmarkt, wie ihn
Abramowitz in „Fischke" schildert. „Ein Jüdel auf
dem Jahrmarkt ist wie ein Fisch im Wasser . . . Juden
, jahrmarkten*, laufen, handeln, stehen nicht ruhig auf
einem Ort ... Es ist ein Tararam, ein Sieden und
Kochen . . . Dort, seh ich, lauft ein Jüd, bald ein
zweiter, ein dritter^ auch paarweis, gebadet in Schweiß,
das Käppchen sitzt auf der Spitze des Kopfes . . .
Ein Jüdel tappt bald hier, bald dort, macht eine nervöse
Bewegung bald nach rechts, bald nach links, beschreibt
641
Dr. Eliaschoff, Warschau: S. I. Abramowitz.
642
in der Luft einen Zirkel müdem dicken Finger und kaut
dabei das Spitzbärtchen : gewiß auf eine gute Idee
verfallen . % . Da laufen in atemloser Hast Makler,
Schadchonim, Trödler, Judenweiber mit Körben,
Juden mit Säcken, rundbäuchige Baale-Batim (Bürger);
jedes Gesicht flammt; man hat keine Zeit; ein Dukat
— die Minute "
Sowohl die alltäglichsten wie die heihgsten Be-
schäftigungen der von Abramowitz geschilderten Ge-
sellschaft ist vom Krämergeist durchdrungen: alles
trägt an sich die Merkmale eines maklerischen Handels,
selbst die Ehe ist ein Geschäft. „Man feilscht um ein
Weib, setzt den Preis fest, die Mitgift, die Aussteuer.
Sind die Bedingungen günstig und kommt man den
Verpflichtungen nach, dann, liebes Bräutchen, komm
unter die Chuppe, mit dem Schadehen, mit dem
Badchen, mit dem ganzen Pack der „heiligen Diener-
schaft" (die von diesem Geschäft ebenfalls einen
Knochen abzulecken kriegen), sei ein Weib und teile
mit mir das freudlose finstere Dasein. Ob du klug bist
oder dumm, schön oder häßlich, das ist deine Sache.
Wir sind keine Prizim, uns mangelts an Zeit, derartigen
Sachen unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Juden
sind wir, Kaufleute, Makler, Krämer" ....
In der Erzählung „Fischke" treten auch all die
„großartigen Gebäude" zum Vorschein, die dieses
finstere Ghetto aufzuweisen hat. Wir sehen das jüdische
„Hekdesch" (Armenasyl), das jüdische „Bad", die alt-
jüdische Kretschma (Schenke). Diese Bilder malt
Abramowitz mit der Hand eines Künstlers. Wer diese
Schilderungen liest, glaubt die aus diesem Dunstkreis
emporsteigenden „Gerüche" in seiner Nase zu ver-
spüren.
In Abramowitz's altvaterischer Welt war das Bad
eine Art von Rathaus. Es spielte im materiellen Leben
nicht minder eine Rolle wie die Klaus im geistigen
Leben des Volkes. Die Angesehensten der Stadt be-
saßen dort ihre „Vorderw^and". Kam der Arme dorhin,
so mußte er so lange warten, bis der Reiche auf der
„obersten Bank" Platz genommen hatte.
Zugleich mit dem Bad spielte das Hekdesch eine
wichtige Rolle im jüdischen Leben; ein Volk von
Bettlern braucht ein Hekdesch notwendiger als ein
Bad. Übrigens waren in früheren Zeiten das Hekdesch
und das Bad ZA\'ei nahe Verwandte. Der Bademeister
und sein Hausgesind pflegten im Hekdeschgebäude zu
wohnen, und umgekehrt pflegten die Hekdeschleute
an den Tagen, an denen das Bad nicht geheizt wurde,
hier auf der feuchtkalten Diele ihre Glieder auszu-
strecken. Das ehemalige Hekdesch diente auch als
Fremdenlogis, als Krankenhaus und zu ähnlichen
humanitären Zwecken. Welches Jammerbild es darbot,
kann man daraus ersehen, daß heute das Wort „Hek-
desch" mit Schmutz, Krankheit und Fäulnis synonym
geworden ist.
Niemand hat diese „Institutionen" des jüdischen
Ciemeinschaftslebens so meisterhaft geschildert wie
Abramowitz. Der künftige Historiker der jüdischen
\'olksmasse in Rußland wird Abramowitz Dank
vvissen für seinen „Fischke", indem er uns in episclier
Ruhe eines satirischen Homer das Hekdesch, das Bad
und die jüdische Kretschma malt.
V.
„Fischke" ist das Buch, in dem Abramowitzs Ver-
achtung für die jüdische Volksmasse zum Ausdruck
kommt. „Fischke" ist das Buch, in dem Abramowitz
das materielle Leben der jüdischen Gemeinschaft
schildert. — Sein Antipode ist das „Winschfingerl".
Das ist das Buch des großen jüdischen Mitleids. In
„Winschfingerl" vertieft sich Abramowitz in die geistige
Welt der jüdischen Gemeinschaft. Nur durch das große
Mitleid mit den gepeinigten Maklern und Krämern,
die sich den Namen „Kaufleute" beilegen und Ein-
künfte wie Bettler haben — nur durch das große Mitleid
mit diesen unglücklichen Menschen hat Abramowitz
in diese Welt, von der ihn eine Kluft der Empfindungen
trennt, einzudringen vermocht.
Abramowitz's Jud, der Kabzansker Einwohner,
dem sein Kabzansk der Markstein der Schöpfung ist,
hinter dem sich nur noch eine Wüste mit wilden Tieren
hinzieht — steht zum Ribaunau schel aulom (Herrn
des Weltalls) in einer recht nahen Verwandtschaft.
Gott sorgt für ihn wie ein zärtlicher Vater. Er läßt den
Regen hinunterströmen, damit das liebe jüdische Vieh
zu trinken hat, damit die Ziegen ihre Weide haben
und nicht das Stroh von den Dächern zu fressen
brauchen. Er sendet sonnige Tage, damit die Weiber
ihre Vorbereitungen für den Sabbath treffen können.
Er läßt Zwiebeln und Kartoffeln gedeihen, damit die
Juden ihren Magen sättigen. Die Juden zeigen sich
auch dankbar dafür; sie blasen Schofar am Neujahrs-
tage und singen den „Melech-EIjaun", sie essen zu
Ehren der Prinzessin Sabbath Schalet, und sie tanzen
am Freudenfeste mit der Thora.
Außer Kabzansk gibts noch eine Stadt:
Jerusalem, wo die biblischen Juden hausen,
begraben, aber doch lebendig. Jerusalem war einst eine
heilige Stadt, von Engeln und gottgesandten Männern
erfüllt. Heute jedoch ist sie wüst und leer, keine Stadt
mehr, keine Welt, und für die Juden ist nur noch eine
Wohnstätte geblieben — Kabzansk. Der „Dalles pfeift"
in Kabzansk, und die Juden, die mit gekreuzten Händen
dasitzen und nicht wissen, wie seiner los zu werden,
erinnern sich an wunderUche Geschichten von Messias-
Zeiten und träumen mit leeren Magen von den Tagen,
da Gott sein „siebentes Wunder" zeigen wird:
Meschiach ben Jossef wird erscheinen und den Frevler
Romulus besiegen; darauf wird das „achte Wunder**
geschehen, und ein mächtiger Posaunenschall wird die
Juden von allen Ecken der Welt zusanmienrufen.
An warmen Sommerabenden liegen die Kabzansker
Juden ausgestreckt vor den Türen ihrer engen stickigen
Häuschen und suchen den hungernden Magen mit
allerlei leeren „Wünschen" zu überlisten. „Infolge
des ständigen Mangels an Befriedigung der not-
wendigsten Bedürfnisse, sowie infolge des durch
Erwerbslosigkeit hervorgerufenen ständigen Müßig-
ganges, schufen sie sich eine Beschäftigung, damit die
Zeit totzuschlagen: das Wünschen." Kabzansker
Juden wünschen sich vor allem soviel Geld wie Sand-
kömchen am Meeresufer; sehen sie den besternten
Himmel, so wünschen sie sich soviele Rubel wie Sterne
am Himmel. Man wünscht sich in der Regel die Hälfte
von Rothschilds Reichtum, von Korachs Vermögen usw.
643
Dr. Eliaschoft, Warschau: S. I. Abramowitz.
644
Nicht nur damit allein stillt der Kabzansker Jude
seinen brennenden Hunger. Bei einem Blatt Gemara
vergißt er sein trauriges Leben, ein Kapitel Sohar
erhitzt seine Phantasie, die alten Moralbücher lehren
ihn: leiden und schweigen.
In „Winschfingerl** sehen wir die gewaltige
lindernde Kraft unserer alten geistigen Vergangenheit.
Das kochende Leben der Halachah nimmt das kindliche
Gemüt eines „Mauschele** gefangen, sowie das Herz
tausend anderer seiner Altersgenossen. Und wenn
„Reb Abraham** vor seinen Sorgen ins Bethhamidrasch
flüchtet und seinen Sohar liest, so deucht ihm, dieser
Sohar „sei kein Buch, sondern ein feuerspeiender
Berg der göttlich reinen Liebe, allwo Erde und Himmel
sich vermählen, Engel, Seraphim und Menschenkinder
einander liebend umarmen und einer dem andern
göttliche Worte zuflüstern."
Jede Woche schließt bei den Kabzansker Juden
mit einem Sabbath. An diesem Tage wandelt sich
der Hund zu einem Prinzen; der Jud kriegt eine
gehobene Seele, einen lautern Geist, einen geraden
Rücken. E;n Meer von Gefühlen durchflutet die Seele
eines Juden in der Zeit von Freitagabend bis zum
Sabbathausgang. Niemand nach Heine hat uns die
Umwandlungen, die an einem Sabbath in des Juden
Herzen vorgehen, so meisterhaft veranschaulicht, wie
S. I. Abramowitz; ja, Abramowitz ist noch weit tiefer
als Heine in die jüdische Sabbathseele eingedrungen,
indem er uns die verschiedenen Nuancen der drei
Tageszeiten : des Freitagsabends, des Sabbaths und des
Sabbathausgangs — meisterhaft zeichnete.
In der Selichoth-Zeit erscheint in Kabzansk die
„jüdische Nachtigall**. Sie erscheint in Gestalt eines
Vorbeters, der mit seinen schmelzenden Tönen in den
Herzen der Juden Gefühle der Liebe en\eckt. Und des
Juden Liebe hat einen wunderlichen Charakter; sie
ist von Mitleid durchtränkt. Die „jüdische Nachtigall",
die an den hohen Feiertagen als Dolmetsch der Gefühle
der Andächtigen fungiert, schafft sich seine eigenen
tief traurigen Melodien. Man hört in ihnen keine
Krafttöne, keine Stimme eines Heldenvolkes, sondern
ein ewiges Klagen, ein zitterndes Gebet, das Flehen eines
verlassenen Kindes zu seinem strengen, aber liebevollen
Vater. Die „jüdische Nachtigall*' versteht es, den Augen
der Juden Tränen zu entlocken.
Es ist nicht gut mögUch, in einem kurzen Artikel
die vielseitigen Motive von „Winschfingerl** zu er-
schöpfen. Im allgemeinen sehen wir in „Winschfingerl**
eine Judengemeinschaft, die, von einer altreligiösen
Kultur durchdrungen, wie ein Volk von Priestern lebt.
Zwischen den Lücken ihres materiellen Lebens treten
die zarten Glieder eines vermaskierten Königskindes
hervor, oder, besser gesagt, eines vertriebenen Hohen-
priesters, der in Sklavenkleidern einherwandelt. Die
Knechtschaft und der hohe Adel sind in Eins zusammen-
geschmolzen und haben Lebensformen und Sitten
geschaffen, die von Tausenden innerer Widersprüche
durchtränkt sind. Sie zwingen den Dichter, der sie
beobachtet, zu lachen und zu weinen.
Ebenso „Fischke** wie „Winschfingerl** enthalten
meisterhafte Schilderungen des materiellen und geistigen
Lebens der erwähnten Judengemeinschaft. Wer diese
Judengemeinschaft von der einen oder der andern
Seite kennen lernen will, der muß beide Bücher lesen.
Denn das eine Buch ergänzt das z>^'eite.
Nach dem Obengesagten ist es klar, daß
Abramowitz zu den Männern gehört, die tief in die
unterirdische Welt unseres Volkes hineingeblickt haben.
Er hat schärfer, klarer, aber auch unbarmherziger
als alle seine Zeitgenossen die Wurzeln des frommen,
vorzeitlichen jüdischen Lebens im Osten aufgedeckt.
Wenn auch Abramowitzens Welt nicht mehr die unsere
ist, so sind doch seine Werke für uns von unschätz-
barem Wert. Aus ihnen können wir ersehen, wie groß
die Strecke ist, die die östliche Judenheit im Laufe der
letzten Jahrzehnte zurückgelegt hat. Abramowitzens
Werke sind der sicherste Maßstab für die Entwicklung
des jüdischen Volkes im Osten. Sie bieten einen Trost,
indem man zurückblickt und konstatiert, wie weit man
sich von dieser alten und veralteten Welt entfernt hat.
Abramowitz war es vergönnt, die Grenzlinie anzuzeigen,
die zwei Welten von einander scheidet: die neue und
die alte jüdische Welt im Ghetto.
Der Subrmann unö öie eifenbabn.
(]üdifd)e Volhsmelo&ie.)
flu» ber Sammlung Ceo Winj. (noeijötu* vetboten.)
Andante con moto-
Bearbeitet von J. BeymeL
*^ Ol - beo spart » - Tel - «t*;
«'Aar ^ÜS
Beifee fteil)len=)
Owalö
Ribeinei fdjel Cilom.')
Unö wer l)ot &08 geljert,
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Vom a a>aid)'l"i
neljm
op bai iljm Sie Joljren,
fla Soier mit Woifer
ßalte Waffer
Cr 6oH nit kennen faifen
Sollen tieljren wie a ferö?
la bai
iljm a Jaid>-|!'>
Un soll nit kennen fotjren!
fli, üi, Ol l)ot er Saifer")
fli, ai, ai l>ot er a Soifer
fli, ai, Qi l)ot er o Soifer
mit ain oisernem meiad?,')
mit ain aifernem Reiad),
mit oin aifemem l^eiad).
Vun unten giegt [id? Vla\\et
Vun unten g'efet f'* WaJIer,
Vun unten giefet (id) Woffe
Vun eiben (pari 3) o Reiad)!'
Vun eiben fpart a Reiad)!
Vun eiben (port a Reiadj!
■) Soifer = pfeife. '> Reiad) = Rtoll. '1
-'\ Rei
^chenBuRauderSAIIianceJsraelitellnJveiselle
BERLirt.N 2**. ^B^r 0wniennur9«rsirtf^3
DIE JAHRESWENDE.
lAd neues Jahr hat begonnen.
Wir begrttssen bei der Jahreswende, die Mitglieder der A. I. U. mit herzÜchem Glückwunsch.
unsere Deatsche CünferenZ'Gemeinschaft, die alles in sich begreift, was in Dentscblaad
znr Älliance IsraäUte UniTerselle gehört, die mit anfrecbtem Patriotismus das aufrecht stolze Bekenntnis
zum Judentum vereint, hat nach ihrer Kengestaltung das erste Jahr abgeschlossen.
Dieses erste Jahr ist ein Jahr harter Arbeit' gewesen, und die Arbeit ist noch nicht beendet.
Während langer Beschaulichkeit blieb unser Acker ungepfliigt. Frischer Betätignogswille, der nicht bei
Worten stehen bleibt, wird ihn neu bestellen. Starker Gemeindrang re^ sich — der Glemeindrang,
der ganz Israel zum Ausgangspunkt and zum G^enstande bat.
Unsere Freunde im Beicb, vierzehntausend und darüber, haben uns freudig zugestimmt, taasende
haben daraufhin sich neu angeschlossen.
Ihnen allen Dank!
Ein Jahr der Trauer ist das vergangene Jahr gewesen. Schweres Verhängnis ist über viele
nnserer Glanben^sbrüder gekommen. Das Ungl&ck bat anser ZosammengehSr^keitsgefUhl verstärkt,
und wir dürfen sagen: wir haben es betätigt — mit offener Hand, mit teilnehmendem Herzen, in
andauernder Hillsarbeit, von der kein geringer Teil sich in der Stille vollzog. Das war nicht mehr
als ansere Schnidigkeit. Wir we:den dieser Scbnldigkeit auch in Zukunft gerecht werden mit aller
Kraft, die uns gegeben ist. Doch damit diese Kraft nicht erlahme, damit nicht Entmutigung unsere
Reihen lichte, damit unsere . Anstrengung nicht des Ansporns entbehre, der iu der Hoffnung aul
Erfolg liegt, wollen wir am hentigen Tag unseren Blick nicht rückwärts wenden auf blutige Vorgänge
voller Gränel, sondern vorwärts auf eine lichtere Zukunft, an deren Herbeiführung mitzuwirken onseru
Stolz ausmachen soU.
Sdimerzen lindern — Wunden beUen — fiir bessere Tage bauen — das ist unsere Aufgabe.
Dass diese gedeihe, mit unserer Glaubensbrüder Hilfe und zu unserer Glaubensbrüder Heil, das ist der
Gruss, den wir der gesamten Jndenheit entbieten.
Berlin, im Tischri 5668.
Das Präsidium
der Deutschen Conferenz-Oemeinschaft der Alliance Isradite Universelle.
LECO.MTE DU NOLIV OELOEMAELDE.
SAbbatnachmittag in einer Juden gasse zu Marokko.
651
652
1
DAS UNTERSTUETZUNGSWERK DER ALLIANCE IN MAROKKO.
(Spezialbericht für die A. I. U. von Is. Pisa und Elmalah.)
Nachdruck veiboteo.
Casablanca, 18. August 1904.
Ich habe die Ehre, Ihnen eine Unterredung zu
berichten, die ich mit dem Platzkommandanten
M angin und dem General Drude, dem Kommandeur der
Besatzungstruppen, über die Lage unserer Glaubens-
genossen gehabt habe.
Ich besuchte zuerst den Kommandanten Mangin.
„Die lsraeHten'\ erklärte er mir, „sind durch
die jüngsten Vorkommnisse heimgesucht worden. Sie
kennen die Verluste, die sie erlitten haben. Zahlreiche
ehrenhafte Familien sind ins Elend gebracht worden,
damit einige Spitzbuben sich durch Plünderung be-
reichern konnten. Ich war am ersten Tage im Mellah
und habe mir das Quartier angesehen. Es hat mich in
hohem Maß interessiert. Ich abe keinerlei Vorurteil
gegen seine Einwohnerschaft, denn ich kann mir
recht gut erklären, wie Jahrhunderle der Unter-
drückung sie erniedrigt und ihr heuchlerischen Anschein
gegeben haben. Ich habe Mitleid mit diesen Menschen
und Teilnahme für sie. In den ersten Tagen nach der
Besetzung mußte ich streng mit ihnen sein. Ich habe
sie zu harten Arbeitsleistungen herangezogen, zur
Totenbestattung, zur Straßenreinigung. Das war
unumgänglich, denn in der Stadt gab es keine Araber
mehr und die Soldaten waren im Feuer."
„Welches Programm haben Sie den Israeliten
gegenüber festgestellt?''
„Ich will den Mellah reorganisieren wie die ganze
übrige Stadt. Hierbei rechnen \\ir auch auf Sie. Sie
kennen den Geist der Israeliten und haben Einfluß
auf sie. Es trifft sich ganz gut, daß Sie das Oberhaupt
der Gemeinde bleiben, da alle einflußreichen Personen
die Stadt verlassen haben. Wir werden Ihnen die
Reformen anzeigen, die wir gemeinschaftlich durch-
führen wollen. Ich werde die gegenwärtige Übergangs-
periode benutzen, um den Mellah als Judenviertel auf-
zuheben. Ich werde die Tore fortnehmen und das
Quartier gesundheitlich umgestalten. Ich wünsche
außerdem durch die Israeliten selbst Reformen einzu-
führen. Ich bitte Sie deslialb, mir über folgende vier
Punkte Bericht zu geben: 1. Schaffung einer Israeli-
tischen Gemeindeverwaltung, 2. Herstellung von Be-
ziehungen zwischen der Gemeindeverwaltung mit der
städtischen Zentral Verwaltung, 3. Hygienische Vor-
schriften für den Mellah, 4. Einrichtung einer Polizei".
Auf die Frage nach der künftigen Lage der Israe-
liten, erwiderte der Kommandant:
„Bei dem gegenwärtigen Stand der Dinge kann
ich Ihnen unmöglich darüber Auskunft geben. Wenn
die Stämme sich unterwerfen, wird der Ausfuhrhandel
wieder beginnen und die Ladeninhaber und Kaufleute
werden wieder Geschäfte machen. Wenn aber der
Kriegszustand andauert, so werden die Armen sich als
Arbeiter verdingen müssen, junge Leute werden als
Dolmetscher und als Angestellte in den zahlj»eichen
Vorratshäusern dienen können. Unter allen Umständen
recimen wir sehr auf die israelitische Bevölkerung.
Ich wiederhole einen Gemeinplatz, wenn ich sage, daß
sie sehr nützliche Hilfskräfte zwischen den Arabern und
uns abgeben können. Wir fühlen dies heule schon.
Sie dienen uns als Dolmetscher' und für allerhand Aus-
künfte. Ich bin überzeugt, daß unter der Okkupation
und mit Hilfe Ihrer Schulen die Gemeinde sich um-
gestalten wird. Unsere hygienischen Vorschriften und
unsere Polizei werden in dem Mellah Sauberkeit,
Ordnung, gute Haltung, Arbeitsgelegenheit schaffen,
der Besuch der Europäer wird die Bewohner aufrütteln
und allmählich ihre Gewohnheiten umgestalten."
Ich muß hierbei en\ähnen, daß diese Worte mit
dem Ton besonderer Sympathie gesprochen wurden.
Konmiandant Mangin, ein Mann von hoher Einsicht,
schien mir über die Sitten der hiesigen Israeliten voll-
kommen unterrichtet. Es ist ein wahres Glück, daß er
an der Spitze der Stadt steht.
Ich besuchte auch den General Drude. Der General
empfing mich sehr schlicht. Er sagte mir, daß er von
dem W^erk der Alliance wohl gehört habe, sie aber nicht
genau kenne. „Ich hoffe", fügte er hinzu, „lange genug
hierzubleiben, um die Wiedereröffnung Ihrer Schulen
zu sehen". Auf die Frage nach dem Eindruck, den die
hiesigen Israeliten auf ihn gemacht hätten, en^iderte er :
„Ich habe die Israeliten sehr wenig gesehen. Da
ich Tag und Nacht auf dem Felde sein mußte, bin ich
noch nicht zur Stadt gekommen. Indessen sehe ich
doch die Flüchtlinge, die tagtäglich nach Casablanca
zurückkehren. Sie scheinen mir klug und geweckt'*.
„Und wie wird sich die Lage der Israeliten ge-
stalten ?"
„Darüber fragen Sie mich nicht. Ich habe mit den
militärischen Operationen zu tun und überlasse die
Sorge für die Reorganisation der Stadt dem Komman-
danten Mangin. Seien Sie überzeugt, daß er alles zu
ihrer Verbesserung tun wird. Ich persönlich bin über-
zeugt, daß die Israeliten durch die Okkupation nur
gewinnen können. Die Araber werden ihre Anmaßlich-
keit den Israeliten gegenüber ebenso wie gegenüber
den Europäern verlieren. Nach Beendigung der
miUtärischen Operationen 'wird der Handel sicher
einen großen Aufschwung nehmen, und dabei werden
die Israeliten natürlich als Vermittler zwischen Arabern
und Europäern dienen."
Als ich den General verließ, hatte ich den Eindruck,
daß er den Israeliten gegenüber dieselben Sympathien
hegt wie Kommandant Mangin. Ich habe mit Offizieren
und Soldaten gesprochen und einige von ihnen den
Israeliten feindlich gefunden. Sie sprachen mit harten
Worten von den Plünderungen, die unsere Glaubens-
genossen veranlaßt hätten. Doch der Geist der Führer
ist ausgezeichnet, und das ist es, was ich Ihnen habe
mitteilen wollen, indem ich Ihnen den obigen Bericht
über meine Unterredungen gab. I s. Pisa.
Casablanca, 19. August 1907.
Ich habe die Ehre, Ihnen Abschrift zweier an den
Kommandanten Mangin gerichteten Briefe und der
darauf eingegangenen Antworten zu überreichen. Es
ist mir eine Genugtuung, hinzufügen zu können, daß
OtiLGEMAELDE.
Jüdische Schule in Tiuigcr.
655
Mitteilungen der Alliance Isra^lile Universelle: Das Unterstötzungswerk der AUiance in Marokko.
656
meine Wünsche alle erfüllt worden sind. Kommandant
Mangin läßt keine Gelegenheit vorübergehen, sich
Ihrem Vertreter gefällig zu erweisen.
I s. Pisa,
16. August.
An den Herrn Platzkommandanten Mangin!
In unserer gestrigen Unterredung hatten Sie
mir gesagt, daß Sie israelitische Arbeiter brauchen,
teils zur Straßenreinigung, teils zur Beerdigung der
Leichen. Sie sind zu solchen Requisitionen unbedingt
berechtigt. Sie werden aber einsehen, daß diese
Tagelöhner, die Famihe zu ernähren haben, für ihre
harte Arbeit bezahlt sein wollen, da es weder in
der Stadt noch im Hafen an Arbeit fehlt. Ich wage
deshalb zu hoffen, daß ich Ihnen diese Tatsache
bloß anzuzeigen brauche, um Sie zu bestimmen,
daß Sie nach Maßgabe der vorhandenen Mittel die
Arbeit der armen Leute entlohnen.
I s. Pisa.
Antwort des Kommandanten Mangin.
Lieber Herr P i sa!
Ich habe Ihren Brief vom heutigen Tage erhalten.
Es entspricht nur der Gerechtigkeit, daß die Arbeiter
bezahlt werden. Ich habe dem Kapitän Poulet be-
fohlen, ihnen 1,45 Frs. täglich oder den doppelten
Wert in Stoffen zu zahlen, die man den Arabern
weggenommen hat.
Kommandant Mangin.
17. August.
Herrn Platzkommandanten M angin!
Der Scheich der Israeliten teilt mir soeben mit,
daß Sie von Israeliten Arbeit am Sabbath verlangt
haben. Diese armen Leute sind gewiß geneigt, auf
Ihren Befehl mit dem besten Willen von der Welt zu
arbeiten. Aber dem Glauben Ihrer Väter treu er-
geben, würden sie das Gefühl haben, ein Sakrileg
zu begehen, wenn sie am Sabbath arbeiteten. Ich
bitte Sie deshalb, Herr Kommandant, im Namen
der Ideen der Toleranz, zu deren vornehmstem Ver-
treter Frankreich sich seit Jahrhunderten gemacht
hat, Ihren israelitischen Arbeitern gütigst gestatten
zu wollen, daß sie am Sabbath ruhen. Ich verspreche
Ihnen, daß sie ihrer Aufgabe mitEifer an allen anderen
Tagen der Woche nachkommen werden.
I s. Pisa.
Der Herr Kommandant hat mir wörtlich ge-
antwortet, daß Befehl gegeben sei, wonach die
Israeliten am Sabbath nicht mehr zu arbeiten
brauchen.
C a s a b 1 a n c a , 29. August 1907.
Es ist mir eine Freude, Ihnen mitteilen zu können,
daß auf Befehl des Kommandanten Mangin vierzig
unter dem Verdacht der Plünderung vor einigen Tagen
verhaftete Israeliten freigelassen worden sind. Diese
humane Maßregel verdient alles Lob; ich habe in
Ihrem Namen dem Kommandanten Mangin einen
warmt'n Dankbriof geschrieben. 1 s. Pisa.
(^asablanca, 30. August 1907.
Beiliegend übersende ich Ihnen die Abschrift
eines mir zur Verfügung gestellten Briefes, der aus
Zettat an einen hiesigen Notablen, Herrn Selam Edery,
gekommen ist. Aus seinem Inhalt ergibt sich, daß in
Zettat über 400 geflüchtete Israeliten sich in größter
Not befinden. Man muß alle Mittel aufbieten, sie nach
Casablanca zurückzubringen, was mit dem erforder-
lichen Geld gut zu bewerkstelligen ist. Da die nächste
Umgebung von Casablanca noch durch militärische
Operationen sehr unruhig ist, könnte man die unglück-
lichen Leute nicht durch die Schauia heimkehren
lassen, sondern müßte sie nach Mazagan schicken,
wo die Lage verhältnismäßig besser ist, und sie von dort
zu Schiff hierher bringen. Nach meiner Berechnung
würde diese Reise über 5000 Francs kosten. Wie kann
man Geld nach Zettat gelangen lassen?
Wenn Sie gewillt sind, diese Flüchtlinge wieder in
ihre Heimat befördern zu lassen, so würde ich Herrn
Amar, den Absender j enes Briefes aus Zettat, den Rat
geben, die Juden aus Casablanca gruppenweise nach
Mazagan zu schicken, wo Herr Elmaleh (Direktor der
Allianceschule in Mazagan) die Führer pro Rata bei
ihrer Ankunft bezahlen würde. Nachdem alle in
Mazagan beisammen sind, würde man für den Weiter-
transport nach Casablanca ein Boot mieten.
Wollen Sie mir gefälligst Instruktionen über diese
Angelegenheit geben. Von anderer Seite habe ich
erfahren, daß zahlreiche Gruppen von Israeliten sich
in Uled-Zyan, Mzab und anderen Orten aufhalten.
Ich kann mir nur sehr schwer Auskunft verschaffen,
weil die Boten sehr teuer sind. Es wäre praktisch,
wenn Sie mir einen kleinen Kredit eröffneten, damit
ich versuchen kann, genaue Nachrichten von allen
Orten zu erhalten, wohin unsere armen Glaubens-
genossen zerstreut sind. Pisa.
Anlage, aus dem Jüdisch- Arabischen übersetz L
Zettat, 12. August 1907.
Lieber Freund! Deine Familie ist, Gott sei
Dank, in bester Gesundheit hier eingetroffen, aber
Deine Schwester ist bei der Ankunft in Zettat ge-
storben und wie eine HeiUge bestattet worden.
Ich muß Dir auch mitteilen, daß über 400 Juden aus
Casablanca hier sind. Sie haben fast gar keine
Kleider. Ich tue mein Mögüchstes, um ihnen zu essen
zu geben, aber ich habe selbst nichts mehr. Die
Flüchtlinge, auch die Frauen, sind unterwegs von
den Arabern auf das Grausamste behandelt worden.
Alle sind dem llungertode nahe.
David Amar.
(Die Alliance Israelite Univer-
selle hat die zur Repatriierung
der Flüchtlinge nötige Summe zur
Verfügung gestellt.)
Casablanca, 30. August 1907.
Hierdurch teile ich Ihnen mit, daß gestern Abend
spanische Soldaten in Begleitung von Zivilisten in
trunkenem Zustand in den Mellah eingedrungen sind.
Mitteilungen der AUiance Isra61ite ünivoselle: Das Unlerstützungswerk der Alliance in Marokko.
EUGENE DELACROIX.
JUEDISCHE HOCHZEIT IN MAROKKO.
Sie brachen die Türen ein und machten den VereucU,
Frauen zu überwältigen und verschiedene Sachen
fortzunehmen. Einen armen wehrlosen Mann haben
sie durch einen Revolverschuß verwundet. Ich habe dem
Kommandanten Mangin eine Beschwerde übei^ben.
Pisa.
Casablanca, 1. September 1907.
Ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, daO Dr. Baron
Henri de Rothschild hier gewesen ist, wo er ein Kranken-
haus zu begründen beabsichtigt. Ich habe ihm an der
Spitze der provisorischen Kommission der jüdischen
Gemeinde meine Aufwartung gemacht und ihm die
traurige Lage unserer Glaubensgenossen geschildert.
Er fragte mich, was er für sie tun könnte. Ich habe
ihn um Hausgerät für die ganze Bevölkerung gebeten.
Er antwortete nur, er wollte sofort an seine Oheime
telegraphieren und sie um Hausgerät für 400 Familien
und Kleidung für die Kinder bitten. Dann ging er mit
mir aus und kaufte einige dreißig Stück Leinwand
zur Kleidung für die Familien, die aus dem Innern
des Landes zurückkommen. Beim Abschied wieder-
holte er mir, er wolle sein Möglichstes tun, um von
seinen Oheimen eine groOe Unterstützung zu erlangen.
Sie wissen, daß Dr. von Rothschild in Casablanca
ein Krankenhaus errichten wird. Wäre es möglich,
die Reservierung eines besonderen Pavillons für die
jüdischen Patienten zu erreichen? Pisa.
Casablanca, 1. September 1907.
Ich komme nochmals auf die Ereignisse in Casa-
blanca zurück, um Ihnen noch einige Einzelheiten von
gewisser Bedeutung mitzuteilen. Wie Sie wissen, hat
die Plünderung am 5., 6. und. 7. August stattgefunden.
Nachdem die Ausschiffung von Truppen erfolgt war,
haben die Araber die Stadt verlassen. Einige jüdische
Familien aus der Bhiwa — dem schmutzigsten Stadtteil
des Mellah — haben während der wenigen Tage bis zur
Wiederherstellung der Ordnung die herrschende Ver-
wirrung mißbraucht, indem sie von den Arabern ver-
gessene oder weggeworfene, übrigens ganz wertlose
G^enstände fortnahmen. Dadurch ist das in ganz
Marokko verbreitete Gerücht entstanden, die Juden
hätten zuerst das Signal zum Plündern gegeben und
die meisten von ihnen hätten sich auf Kosten der anderen
Bevölkerung bereichert. — Das ist eine maßlose
Übertreibung. Gewiß haben auch Juden vielfach von
dem genommen, was auf den Straßen herumlag, wovon
übrigerks die Soldaten gleichfalls nahmen und was aller
Welt zur Verfügung stand. Worin aber bestanden diese
geraubten Schätze? In etwas Tee, Gerste, Zucker und
gleichwertigen Dingen. Die auf den Straßen liegenden
6b9
Mitteilungen der Alliance Isra^lite Universelle: Das Unterstützungswerk der Alliance in Marokko.
660
Waren galten 8o ganz als Gemeingut, daß selbst euro-
päische große Handelshäuser die entwendete Ware
angekauft und sich so zu Mitschuldigen der Diebe ge-
macht haben. Die unsinnige Behauptung, alle Juden
hätten sich bereichert, trifft so wenig zu, daß den hundert
Familien, die vielleicht noch einen Monat zu essen haben,
tausende gegenüberstehen, die nichts, aber auch gar
nichts haben und die den Tod oder das Verschwinden
eines oder mehrerer Angehörigen beweinen.
Alle Europäer haben bei ihren Konsulaten Ersatz
für die ihnen zugefügten Verluste beantragt. Nur die
Juden unterstehen keinem Schutz und können sich
an niemand wenden. Ich bitte um Nachricht, ob ich
mich mit der Anfrage an Herrn Malpertuy wenden soll,
ob er eine Reklamation von allen Juden entgegen-
nehmen kann, oder ob es richtiger ist, daß Sie in
diesem Sinne beim Ministerium der Auswärtigen An-
gelegenheiten Schritte tun. Pisa.
Casablanca, 3. September 1907.
Vor einigen Tagen hatte ich die Ehre, Ihnen, über
die Lage unsere Glaubensgenossen in Settat zu be-
richten. Eben erhalte ich einige ausführlichere Nach-
richten, die ich Ihnen hierdurch mitteile. Da in Settat
alle durch die Schauia führenden Wege zusammen-
laufen, scheint dieser Ort der Mittelpunkt zu werden,
an dem aUe aufs Land geflohenen Israeliten sich zu-
sammenfinden. Außerdem ist dies auch der einzige
Platz, an dem sie eine kleine jüdische Gemeinde vor-
finden. Es ist wahrscheinlich, daß in den nächsten
Tagen die 1000 bis 1500 auf dem platten Lande ver-
streuten Israeliten, die aus irgend einem Grunde nicht
nach Casablanca zurückkehren können, sich in Settat
zusanmienfinden werden.
Ich hatte Sie gebeten, diese UnglückUchen über
Mazagan nach Casablanca zurückbefördem zu dtirfen.
Die Proklamation von Mulay-Hafid hat die Lage im
Süden sehr unsicher gestaltet. Man ist jeden Augen-
blick darauf gefaßt, in Mazagan Truppen landen zu
sehen. Außerdem steht beinahe fest, daß eine
Expeditionsabteilung in das Innere des Landes geschickt
wird. Das Reisen in der Schauia wird ganz unmöglich.
Es ist deshalb auch nicht angängig, etwas für die
Unglücklichen in Settat zu tun. Wir könnten vielleicht
jenen ziemlich wohlhabend scheinenden David Amar,
dem Absender des Ihnen neulich in Abschrift ge-
schickten Briefes, bitten, die Flüchtlinge auf Kosten
der Alliance zu speisen. Ich kann aber nicht beurteilen,
wie weit Ihre AJaordnimgen ausgeführt würden. Am
richtigsten ist wohl, die Klärung der politischen Lage
abzuwarten. Ich bin fest entschlossen, wenn mich nicht
neue Pflichten in Casablanca zurückhalten, die
Expeditionsabteilung in das Innere zu begleiten, be-
sonders wenn sie bis Settat und Mzab geht. Pisa.
Casablanca, 4. September 1907.
Heute Morgen besuchte mich Dr. Bachon, der
Militärarzt des französischen Besatzungskorps in
Marokko. Er hat bei den Israeliten die vielfach vor-
kommenden Augenkrankheiten bemerkt und erbietet
sich aus eigenem Antrieb zur Behandlung dieser
Krankheilen. Er fragte mich, ob ich ihm im Mellah
ein Zinmier zur Verfügung stellen und ob ich von der
Alliance die Lieferung voü Medikamenten erlangen
könnte. Er würde täglich einige Stunden den armen
Patienten widmen, deren Zustand dadurch ver-
schlimmert werden kann, daß sie mehrere Tage auf die
Untersuchung in der französischen Klinik warten
müssen. Dr. Bachon kennt die Tätigkeit der Alliance
sehr genau und bewundert sie aufs tiefste.
Ich habe Herrn Dr. Bachon meinen herzlichsten
Dank für sein schönes Vorhaben ausgesprochen und
habe mich stark gemacht, von Ihnen die Mittel für
ein Zinmier und für die erforderlichen Medikamente
zu erhalten. Ich habe ihn gebeten, mir eine Aufstellung
zu machen, die ich Ihnen sofort nach Empfang zu-
stellen wollte. Wir würden auf diese Weise im Mellah
eine KUnik bekommen, die unseren Kranken die erste
Hilfe gewährt. Pisa.
(Die Alliance Israelite Univer-
selle hat Herrn Pisa ermächtigt,
über die zur Herstellung der vom
Militärarzt Dr. Bachon in Aussicht
gestellten Klinik erforderlichen
Gelder zu verfügen.)
Casablanca, 6. September 1907.
Ich habe die Ehre, Ihnen einige Auskunft über die
Israeliten zu geben, die Casablanca verlassen haben.
Wie schon berichtet, hatte eine große Anzahl von ihnen
sich nach Tanger gewendet. Als aber auch in dieser
Stadt die Lage etwas bedrohlich geworden war, sind
unsere Flüchtlinge nach Gibraltar gegangen, wo der
Gouverneur ihnen die Aufnahme verweigerte. Darauf
wendeten sie sich nach der Linea und Algeciras. Es
waren ungefähr 500 Personen, fast durchweg wohl-
habende Familien aus Casablanca. Bei den spanischen
Behörden fanden sie ausgezeichnete Aufnahme. Man
erließ ihnen den Zoll, suchte ihnen Wohnungen, brachte
ihnen Lebensmittel, gestattete ihnen, das Vieh nach
jüdischem Ritus zu schlachten, und erlaubte ihnen,
ein Bethaus einzurichten. Die Zivil- und Militär-
behörden und die ganze Bevölkerung machten sich
eine Ehre daraus, ihnen aUes anzubieten, was ihnen
fehlte. Jetzt haben alle Familien sich niedergelassen,
die Mehrzahl in Algeciras, einige in der Linea und
in Cadix; sie wollen den Winter über dort bleiben.
Von der bei den Spaniern gefundenen Aufnahme gerührt,
haben die Israeliten dem Vorsitzenden des 'spanischen
Comit^ einen Dankbrief geschickt, der in der Über-
setzung lautet:
„Die Unterzeichneten, die infolge der blutigen
Ereignisse in Marokko auf der Suche nach einer
Schutzstätte in dieses ritterliche und gastliche Land
gekonmien sind, um sich unter den Schutz der glor-
reichen spanischen Flagge zu stellen, geben sich die
Ehre, den Behörden und der ganzen spanischen
Bevölkerung ihre tiefste Dankbarkeit für die ihnen
bewiesene menschenfreundliche Haltung auszu-
sprechen. Seine Exzellenz der Militärgouvemeur
dieser Stadt, Don Julio Bazan, der Btirgermeister,
Don Eugenio Bianca Romero, und die ganze Stadt-
vertretung, der Herr Steuerinspektor, Don Eusebio
Albalade jo, der Direktor, Don Antonio Diaz Tejeiro,
Milteilungen der Alliance Israflite Universelle: Das Unterstützungswerk der Alliance in Marokko.
OELOEMAELDE.
Jüdin auB Tanger.
Jädfn aiu Tetuan.
OELOEMAELDE.
der Hafenkommandaiit und das ihm untersl«hende
Personal, die Seebebörden, die ganze, ja die ganze
Bevölkerung hat dem Namen dieses gesegneten
Landes Ehre gemacht und hat unter diesen traurigen
Verhältnissen Trost gespendet. Dafür verdienen sie
den Dank der Menschheit. Da die Mehrzahl der
Unterzeichneten aus Gasablanca ist, wünschen wir,
daS ganz Spanien das edle und tapfere Betragen der
Handvoll heldenhaften Seeleute des Kreuzers
,,Alvaro de Bazan" kennen lernen, die den glor-
reichen Annalen Spaniens mit ihrem Blut die Be-
wunderung von Freund und Feind neu erobert
haben.' Und da wir zurzeit unsere Dankbarkeit in
keiner anderen Gestalt beweisen können, bitten wir
den Allmächtigen Gott Israeb, seinen reichen Segen
über Spanien auszubreiten."
A 1 g e c i r a s , August 1907.
(Folgen die Unterschriften aller der in den drei ge-
nannten Städten niedei^lassenen flüchtigen
Notabein.)
Dieses Dokument ist in den spanischen Zeitungen
veröffentlicht und in einer Spezialausgabe verbreitet
worden und hat in Spanien großen Eindruck gemacht.
Pisa.
Casablanca, 8. September 1907.
Ich bin glücklich, Ihnen mitteilen zu können,
daß der aus Tanger hierher zurückgekehrte Dr. Henri
von Rothschild uns die Nachricht gebracht hat, Baron
Gustav von Rothschild habe ihm 20 000 Francs für die
Israeliten in Casablanca geschickt. Davon sind 10 000
Francs dem Dr. Henri von Rothschild zur Bezahlung
der von ihm in Europa bestellten Wirtschaftsgerfite
und Kleider zur Verfügung gestellt worden, 10 000 Frcf.
wurden der provisorischen Kommission überwiesen.
Wir haben also einen Kaasenbesland von 15 000 Francs.
In ihrer gestrigen Sitzung hat die Kommission be-
schlossen, nur einen geringen Teil dieser Summe als
Unterstätzung zu den Feiertagen zu verteilen. Mit
dem Rest hofft sie, eine bilbge Küche für die Kranken
und die ganz Armen einrichten zu können. Sie hat
zwei ihror Mitglieder mit einem Bericht über diesen
Gegenstand beauftragt.
Bei dieser Gelegenheit teile ich Ihnen auch mit,
daß in dem von Herrn von Rothschild begründeten
Krankenhaus ein wesentlicher Raum für die Israeliten
reserviert werden wird.
SchlieSUch habe ich noch zu berichten, daß alle
arbeitsfähigen Israeliten in den Geschäften und bei
den städtischen Behörden Arbeit finden und von
1,50 bis 4 Francs täglich verdienen. Pisa.
M a z a g a n , 20. August 1907.
^Nachdem die Mordtaten von Casablanca hier be-
kannt worden waren, fing die Lage in Mazagan auch an,
beunruhigend zu werden. Unter der arabischen ße-
1
663
Mitteilungen der Alliance Isra^lite Universelle: Das Unterstützungswerk der Ailiance in Marokko.
664
völkerung der Umgegend machte sich sofort große
Aufregung bemerkbar und die bedrohUchsten Gerüchte
kamen in Umlauf. Die folgende Tatsache wird Ihnen
die Überreizung der Gemüter beweisen:
Eines Nachmittags wurde ich bei einem Spazier-
gang am Strande von einer Gruppe Araber mit den
Worten angesprochen: „In dieser Woche kommt die
Reihe an Euch !" Das war eine direkte Drohung. Am
Montag, den 6. August haben wir in Mazagan genau das
Bombardement von Casablanca hören können, und an
demselben Tage begannen ansehnliche Reitertrupps
aus den Stänmien Uled Farredj und Uled Buaziz die
Stadt Mazagan zu imizingeln und zu belagern. Alle
außerhalb der Stadt wohnenden Leute kamen herein,
um sich hinter den Mauern der Stadt in Sicherheit zu
bringen. Der französische Konsul kam mit seiner
Famihe in die Stadt und ließ sich im Hotel nieder,
wohin auch wir alle geflüchtet waren, weil das Haus
zu den am leichtesten zu verteidigenden gehörte. Der
Konsul erhielt vom Kaid der Stadt Waffen und Munition
für uns. Die nächsten drei Tage verliefen unter fort-
währendem Alarm. Man schUef nicht mehr, wir waren
ununterbrochen auf Wache, das Gewehr im Arm,
und waren entschlössen, uns zu verteidigen, bis der im
Hafen verankerte „Du Chayla" uns Hilfe schicken
würde. UnglückUcherweise wußten wir, daß dieser
Kreuzer keinen Mann mehr auszuschiffen hatte, weil
die gesamte Mannschaft in Casablanca geblieben war;
er konnte nichts tun, als die^ Stadt bombardieren. >a
Am Mittwoch, den 8. August gab es eine große
Panik. Die Ueiter belagerten die Stadt, in deren
Innern die aufrührerische Menge eben den Kaid ab-
gesetzt und einen neuen ernannt hatte, um nachher
Nvieder den ersten einzusetzen. Am Freitag, den
10. August kam infol^ der Vorstellungen und Bitten
seitens der fremden Kolonien der „Admiral Aube"
angedampft und brachte 176 Mann zur Ausschiffung
mit. Das war der böseste Tag für Mazagan. Die durch
Marabouts zu einem heiligen Kriege aufgereizten be-
rittenen Stänune begannen vom Strande aus den
Kreuzer zu beschießen und sich an den Toren der
Stadt zu konzentrieren. Die Gefahr war außerordentUch
groß. Dem Kaid gelang es schließUch durch Geld-
geschenke die Uled Farredj zu entfernen. Alle Welt
erwartete an diesem Tage die Ausschiffung der Truppen.
Die mohamedanischen Notablen verlangten es, und
der Kaid war mit den Umanas der Zollstation bereit,
die Stadt zu übergeben. Als gegen Abend die Araber
sich überzeugt hatten, daß die Schiffe die Stadt nicht
bombardierten, wurde es einen Augenblick ruhig, so
daß man auf offenem Markt vor einer ansehnhchen
Volksmenge eine Proklamation des General Drude imd
des Kontreadmirals Philibert vorlesen konnte. Die
gesamte französische Kolonie verließ an diesem Abend
die Stadt imd schloß sich im französischen Konsulat
ein, das am Meeresstrand hegt und von draußen
leichter zu verteidigen ist. Alle Europäer der Stadt
kamen dorthin nach. Wir verbrachten dort zwei Tage
und zv^ei Nächte unter fortwährender Beunruhigung,
denn schon am Tage nach der Verlesung der
l Proklamation hatten die feindüchen Angriffe der
^♦'^mme wieder begonnen. Darum wurde auch das erste
nach Tanger segelnde Schiff wie ein Retter begrüßt.
Auf Befehl des Konmiandanten des Kriegesschiffes
wurden alle europäischen Familien dort aufgenommen.
Mehrere Hundert FamiUen fanden auf diesem Schiffe
Unterkommen, zwei andere Schiffe kamen noch an
demselben Tage und schifften den Rest der Bevölkerung
von Mazagan ein. Heute ist die Stadt leer. Einige
Englische und deutsche Kaufleute, das Konsularkorps
und die Postbeamten sind die einzigen Zurück-
gebliebenen.
Die jüdische Bevölkerung ist in Massen geflohen
und hat ihre Armen im Stich gelassen.
Elmalah.
Mazagan, 26. August 1907.
Die Stadt scheint ruhiger zu sein. Ist diese Ruhe
echt, oder ist es die Ruhe, die dem Sturm vorangeht ?
Mazagan ist augenblicklich leer und macht den Eindruck
einer unbewohnten Stadt. Die Geschäfte, die Läden und
Häuser sind geschlossen. Die wenigen zurückge-
bliebenen Kaufleute sind mit der Verpackung ihrer
Warenbestände beschäftigt und wollen dann ebenfalls
abreisen. Im Verlauf einer Woche sind von Mazagan
über zehntausend Personen abgereist: Israeliten,
Europäer und Mohamedaner. Fast die gesamte
jüdische Bevölkerung ist fort, nur die Armen sind
zurückgeblieben; ihre Not, ihr Elend sind unbeschreib-
lich. Darum sind auch die von Ihnen geschickten
Unterstützungen sehr willkonmien, gewesen.
Heute habe ich die Knabenschule wieder eröffnet
und habe alle in der Stadt zurückgebUebenen Kinder
darin aufgenonmien, damit sie nicht in den Straßen
umherlaufen. Die beiden Rabbiner habe ich ebenfalls
dahin gebracht, und ich bringe einen Teil des Tages
dort zu.
Die Behörden von Mazagan, der Kaid und die
Umanas, haben heute einen Brief vom Gegensultan
Mulay Hafid erhalten, in dem er ihnen seine Thron-
besteigung meldet. Diese Nachricht ist von der hiesigen
Bevölkerung mit großer Freude begrüßt worden,
denn man erwartet, daß mm die Anarchie im Lande
aufhören wird. Darum ist Mulay Hafid heute proklamier
aufhören wird. Darum ist Mulay Hafid heute
akklamiert worden. Außer den beiden berühmten
Kaids Si Aissa ben Omar, der noch Vorbehalte macht,
und dem Kaid Anfluß war der ganze Bezirk Haouz
für ihn. Elmalah.
Herr Elmalah, Leiter der AUi^nceschule in
Mazagan, teilt unter dem 10. September mit,
daß eine unter den IsraeUten von Mazagan veranstaltete
Sammlung zur Auslösung einer Anzahl von den Arabern
gefangener Frauen imd Mädchen 500 Francs ergab.
Durch dieses Lösegeld konnten 80 Personen die Freiheit
erlangen.
Die AlHance hat von ihren Vertretern in M o g a -
dor, Marrakesch und Rabat Berichte be-
konamen, die dieselben Besorgnisse aussprechen und
von derselben traurigen Lage der jüdischen Bevölkerung
und von derselben kopflosen Flucht erzählen.
^^ 666
AUFRUF FUER DIE MAROKKANISCHEN GLAUBENSGENOSSEN.
Am 12. September hat. das Präsidium der Deutschen Conferenz-Gremeinschaft an die deutschen
Mitglieder der Alliance Isra61ite Universelle nachstehendes Rundschreiben gerichtet:
Hochgeehrter Herr!
Das Elend unserer marokkanischen Qlaubensbrüder, zu jeder Zeit gross, hat sich
durch die jängsten Ereignisse noch unermesslich gesteigert. Die Gremeinde von Casablanca, die
vor kurzem 6000 Seelen zählte, ist durch Gewalttaten von Mauren und Eabylen dezimiert und
unter namenlosen Greueln um all ihr Hab und Gut gebracht worden.
Die Alliance Isra^lite Universelle hat unverzüglich in die Stätte der Verwüstimg
ffilfe geschickt, hat die Bedrängten mit Nahrung und Unterkunft versehen. Doch der Bedarf
übersteigt die bereiten Mittel, und leider ist zu befürchten, dass die Zahl der Bedürftigen sich
noch mehren wird.
Die Alliance Isra^lite Universelle, die seit einem halben Jahrhundert die Fürsorge
für unsere bedrückten Glaubensgenossen sich zur tagtäglich geübten Pflicht gemacht hat, an die
sie nicht durch Katastrophen erinnert zu werden braucht, wendet sich in der Not des Augenblicks
an Sie mit der Bitte, anlässlich der bevorstehenden Feiertage der heimgesuchten Brüder in
Marokko zu gedenken.
Nehmen Sie freundlichst auch von Freunden und Bekannten Gaben entgegen und führen
Sie sie uns zu. Das Deutsche Bureau der Alliance Isra^lite Universelle (Berlin N. 24, Oranien-
burgerstrasse 42/43) vermittelt die üeberleitung der Spenden nach Marokko.
Die Alliance Isra^lite Universelle hat das Hilfswerk von alters her organisiert. Ihre
Vertrauensmänner und Sendboten sind landeskundig und bei den Behörden legitimiert; sie verstehen
die Unterstützungen an die rechte Stelle zu leiten und für die rechte Verwendung zu sorgen.
Wir hoffen sehnlichst, dass wir keine Fehlbitte getan haben, und begrüssen Sie
mit aller Hochachtung
Die Deutsche Conferenz-Qetneinschaft der Alliance Isra^lite Universelle.
Geheimer Konunerzienrat L. M. Gk)ldberger Charles L. Hallgarten
Präsident. Stellvertretender Präsident.
M. A. Klausner
Geschäftsführer.
In Frankfurt a. M. haben die Lokal-Comit^ der Alliance Israelite Universelle und des Hilüs-
vereins der Deutschen Juden gemeinsam folgenden Aufruf erlassen:
Aus den Zeitungen werden Sie von den schweren Verfolgungen erfahren haben, denen
unsere marokkanischen Glaubensbrüder ausgesetzt sind. Durch Baubtaten, Brandstiftungen und
Mordtaten sind blühende Gemeinwesen zerstört; die 6000 Seelen zählende Gemeinde Casablanca
ist zugrunde gerichtet, und noch ist ein Ende der Greuel nicht abzusehen« Auch die Gremeinden
Mazagan, Babat, Magador und Tanger sind auf das härteste getroffen worden.
Hunderte und Aberhunderte unserer marokkanischen Glaubensgenossen sind ohne Wohnung,
ohne Brot, ohne Obdach und Arbeit. Wenn auch für die allerdringendste Not durch unsere Hilfs-
organisationen gesorgt worden ist, so wird doch fortgesetzt Hilfe bis zur Herstellung der Buhe
nötig sein. Man wird den dortigen Glaubensgenossen helfen müssen, ihre niedergebrannten Häuser
wieder aufzubauen, ihre zerstörte Habe wieder zu ersetzen, vielleicht sogar die entführten Frauen
und Kinder wieder zurückzukaufen.
In dieser Not wenden sich die unterzeichneten Frankfurter Lokal-Comit6s
der Alliance Isra61ite Universelle und des Hilfsvereins der Deutschen Juden an Sie
mit der Bitte, nach Kräften zu diesem Werk der Brüderlichkeit und Barmherzigkeit
667
Mitteilungen der Alliance Isra^Iite Universeile: Aufruf für die marokkanischen Glaubensgenossen.
668
beizasteaern« Wir erwarten gern, dass das Herz unserer Glaubensgenossen auch
gegenüber diesem neuen Ungläck sich in gewohnter Weise bewähren wird. Wir
werden uns erlauben, Ihnen denmächst eine Liste zur Einzeichnung Ihres Beitrages vorlegen
zu lassen.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Das Lokal-Comit^
der Alliance Israölite Universelle
Th. H. Schlesinger
Charles Hallgarten Dr. J. Blau
PhiUpp Schiff
Dr. Ed. Baerwald Direktor Dr. Adler
Alfred Eosenthai
Das Lokal-Comit^
des Hilfsvereins der Deutschen Juden
Eduard Cohen
Dr. Karl Sulzbach Salomon Epstein
Sanitätsrat Dr. Jaff6
Isaac Dreyfus Louis Feist
Julius Goldschmidt
Beiträge nimmt Herr Th. H. Schlesinger, i. Fa.: Franz Straus Sohn, Junghofetr. 14,
entgegen. Im Uebrigen ist jeder der Unterzeichneten bereit, Gaben in Empfang zu nehmen.
Soweit es der Raum dieser Nummer gestattet und
soweit sich die gütigen Spender ihre Nennung aus-
drücklich verbeten haben, bestätigen vnv im Folgenden
dem Deutschen Bureau der A. I. U. für die Marok-
kanischen Glaubensgenossen zugegangenen Gaben,
weitere Bestätigungen für die späteren Hefte vor-
behaltend :
Berlin: N. N. 300.—, Siegfried Brunn 100.—, Geh.Rat
Prof. Dr. Landau 100.—, Direktor O. Oliven 100.—,
Rabbiner Dr. Weiße 30.—, San.- Rat Dr. Neumann 25. — ,
Benno Braun 25. — , Alfred Cohn 20. — , Direktor Dom
20.—, Dr. S. Fränkel 20.—, Heinrich Fränkel 20.—, Max
Ber 20.—, N. N. 10.—, Dr. Lehfeld 10.—, M. A. Klausner
50. — , Emil Heymann 100. — , Frau Geh. Kommerzien-
rat Meyer - Cohn 100. — , Kommerzienrat Louis
Schlesinger 300. — , Fritz Zedner 20. — , M. Koplowitz
20.— S. Fränkel (Unter den Linden) 300.—, N. N.
10. — , O. Altmann 5. — , EUas Rosenberg 5. — , Wolf
Mandel 5. — , Frau Clara Poppelauer 5. — , Bernhard
Noa 5. — , J. Aronheim 8, — , Rechtsanwalt Dr. Hantke
10. — , Fräulein Berta Majerowitsch 10. — , Arthur
Meyerowitz 5. — , Dr. J. H. Goldschmidt 100. — , S.Herz
100.—, Direktor J . Stern 100.—, Alfred und Oskar Löwen-
berg 100.— , L. Berl200.— , Paul Schlochauer 50.—, Max
Franck 50. — , Albert Rathenau 50. — , Architekt Geoi^
Rathenau 50. — , G. Mosler 100. — , Alexander Kro-
towski 50. — , E. Sachs 50. — , Simon Bing 50. — ,
Hermann Scheyer 100. — , Cassierer Söhne 50. — ,
Hermann Hoffmann 50. — , Generalkonsud Burchardt
50. — , MaximiUan Heymann 50. — , PhiUppsohn &
Leschziner 30. — , Wollenberg 30. — , Lubzynski& Co.
25. — , Louis Ed. Sachs 25. — , J. D. Hassan 20. — ,
Leopold Juda 20. — , S. Hoffmann 20. — , Carl Chram-
bach 20.—, E. Engel 20.—, Jul. Punitzer 20.—, Max
Mecklenburg 20. — , Ad. Gradenwitz 20. — , Professor
Dr. Rosin 20. — , L. Brockmann 30. — , Gebr. Beermann
20.—, Arnold Weiß 20.—, Heinrich Tuchmann 20.—
Anton Lewin 20. — , Ferdinand Schlesinger 20. — ,
Moritz Mannheimer 15. — , Frau Anna Landau 12. — ,
Abr. Schwab 10. — , Dr. Wiesenthal 10. — , John Busch
10. — , Adolf Fuchs 10. — , Samuel Numann 10. — ,
J. Flach 10.—, D. Flach 10.—, Max Weiß 10.—,
S. Cobliner 10. — , Hendrik Citroen 10. — , A.B. Citroen
10.—, Rud. Mayer 10.—, Thekla Mayer 10.—, Phöbus
Sachs 10. — , J. Oppenheim 10. — , Louis Schleich 10. — ,
Louis Ansbach 10. — , Rob. Kayser 10. — , Louis Littauer
10. — , Jac. Eichenwald 10. — , Max Brühl und Ludwig
Brühl 10.—, R. Benjamin 10.—, JuUus Futter 10.—,
S. Gesang 10. — , Carl Wittenberg 10. — , Ed. Pincus
10. — , Gebr. Scherk 10. — , A. Breslauer 10. — , Heinrich
Löwenstein 10. — , Jac. Popper 10. — , Dr. Brodnitz
10. — , Ernst Hirsch 10. — , A. Lewin 10. — , Citren 10. — ,
Jos. Chaim 10. — , Edgar Burchardt 5. — , Max Rind-
fleisch 5. — , Berthold Lewy 10. — , Dr. Max Levi-Dorn
5. — , Louis Stern 3. — , R. L. 5. — , H. Schwarzbei^ 2. — ,
G. Neumann 3. — , Norbert Sachter 6. — , J. Cohn 5. — ,
B. Hauptmann 3. — , Salinger, Liepmann & Rieß 5. — ,
A. Herzfeld 5. — , M. Auerbach 5. — , Dr. med. Rosen-
berg 3. — , Ad. ZülUchauer 5. — , Dipl.-lng. Ludwig Gut-
mann 5. — , Adolf Guttmann 5. — , Jenny Henn 5. — ,
N. Mohrus 2. — , Isidor Wolff 1. — , Eugen Courant 5. — ,
Prof. Berliner 3. — , Mich. Altmann 3. — , Frau N. Barth
5.—, Hbsch 2.50, Alb. Fabian 2.—, M. Ullendorf 5.—,
Moritz Meyer 3. — , Alb. Friedenthal 3. — , David Cohn
5. — , Dr. Holzmann 5. — , B. Glückstein 5. — , Dr. Plotke
5. — , Frau Nathan 5, — , Jul. Matzdorff 3. — , Siegfried
Joseph 5. — , Dr. K. Ruhemann 5. — , T. L. 3. — , D. Zie-
linsky 3. — , Moritz Cohn jun. 5. — , J. Marcuse 5. — ,
J. Ferester 5. — , S. Hirsch 5. — , Louis Galewski 5. — ,
L. Rokotnitz 5. — , Siegmund Fürst 5. — , H. Bein 5. — ,
Berthold Levy 5.—, H. Pinn 2.50, Dr. S. Breslauer 2.50,
Ad. Cohn, Architekt 3. — , S. Friedeberg 3. — , Arthur
Moses 2. — , J. Knoller 3. — , Hermann Löwenstein 5. — ,
D. Malachowski 5. — , Emil Stern 3. — , A. Böhm 3. — ,
Emil Berg 5. — , Wilhelm Latte 5. — , Berthold Lewin
5. — , Sally Haase 5. — , Dr. Adolf Zimmermann 4.—.
Breslau: Adolf Sternberg 100. — , Ungenannt 300. —
Lessing-Loge 50. — , Rittergutsbesitzer H. Cohn 30. — ,
S. E. Goldschmidt 30. — , Georg Cohn 50. — , Jacob
Blau 20.—, S. Glücksmann 20.—, Burgfeld 20.—,
669
Mitteilungen der AUiance Isra^iite Universelle: Spenden.
670
Josef Lipmann 20. — , Lipmann Boch 50. — , Louis
Rosenthal 20.—, J. Ehrlich 20.—, Carl Leipziger 20.—,
Max Krüger 20. — , Dr. med. Köbner 20. — , Jul. Sachs jf .
15.—, D. R. Schlesinger 10.—, N. Ritter 10.—, Max
Königeberger i. Fa. A, J. Mugdan 10. — , Bankier Isidor
Alexander 10. — , Carl Haber 10. — , Siegfr. Bielschowsky
10.—, Felix Sander 8.50, Salo Blau 5.—, J. Schäfer 3.—,
Dr. Steinitz 5. — , Dr. med. Ed. Weyl 5. — , Baruch
& Loewy 3. — , Dav. Tockus 5. — , Gustav Stern 5. — ,
S.Zimmt 5. — , C. Lewin 6. — , Siegfr. Weyl 5. — , Siegfr.
Gerstel 10. — , Jacob Sulke 4. — .
Anrieh: Gesammelt durch H. Reuß 112.70.
Beuthen, O.-Schl.: Leopold Guttmamfi 20. — . Brieg:
Siegfr. Böhm 5. — . Burgstelntart: Gesammelt durch
H.Emanul65. — . Cassel: Callmann Plaut 5. — . Düren:
(Rheinland): Emanuel Heimann 25. — . Exin: Jusitz-
rat Loewy 5. — , Leiser Jacob 2. — , Leiser Samuel 2 — ,
M.Loeser 2. — , S. Stein 1. — , Rosenthal 3. — ,Dombrower
1. — , Meyer Tuch 1. — , Ad. Haase 1. — , Siamuel Cohn
1. — , Cohn Jacob 1. — , Süßkind 1. — , L. Seemann 2. — ,
Salomon Cohn 1. — , Louis Reich 1. — , Salomon Isidor
1. — , Isidor Leszynski 1. — , Louis Salomon 1. — , Ad.
Schimmek 1. — , Riemann 1. — , M. Mamroth 1. — ,
M. Jacoby 1. — , R. Raphael 1. — , M. Raphael 1. — ,
H. Bär 1. — , Ad. Steinhardt 1. — , , W. Salomon 1 — ,
A. Buschke 1. — . Dortmund: Sally Flörsheim 25. — .
Esehweiler: Männer-Chevrah, gesammelt durch Marc.
Meyer 20. — . Pilehne: Gesammelt durch Rabbiner
J. Nobel 79.40. Friedeberg (Queis): Gesammelt durch
M. Saritz 7. — . Halberstadt: Aron Hirsch Sohn 100. — ,
S. Redelmeier 10. — , L. Burchardt 10. — , Moritz
Joseph 5. — , Leop. Gottschalk 5. — , Arthiur Helft 5. — ,
Arth. Heynemann 5. — , Willy Cohn 3. — , Dr. Crohn 3. — ,
H. Silberberg 5. — , Max Harwitz 5. — , Phil. Lasch 5. — ,
Jul. Meyer 5. — , Joseph Baer 5. — , Samuel Baers Söhne
20. — , H. J. Meyer & Söhne 5. — , Frohnhausen 3. — ,
Frau Henriette Meyer 5. — , Gottfr. Goldtschmidt 3. — ,
Moritz & M. Meyer 5. — , Paul Reichenbach 3. — .
Heidingsfeld: L. Bamberg 10. — . Hamburg: Hermann
Gumpertz 50. — ,. Herford: Durch Rabbiner Dr.
Hulisch 100. — (Israelitischer Frauenverein 75. — ,
Israelitischer Männer- Wohltätigkeitsverein 25. — ) .
Höxter: E. M. 5. — , A. L. 5.—. Hildesheim: Ge-
sammelt durch AI. Ballheimer 161.25. Kosehmin:
Rabbiner Dr. Heppner 5. — . Leipzig: Max Schiller
10.—, Max Schmoll 10.—, J. Abraham 20.—, B. Maly
50. — , Gebr. Felsenstein 10. — . Linz a. Rh. : Hermann
Hirsch 10. — , Moritz Simon 10. — , Daniel Wallach 10. — ,
Dr. Graf, Notar 10.—, Max Meyer 10.—, Dr. Wolf 10.—,
Frau Louis Simon 10. — , Jos. Wallach II 5. — , M.
Jonas 5. — , Jos. Hirsch 3. — , Leop. Levy II 3. — ,
Simon Simon 5. — , Abr. Levy 2. — , D. Würzburger
2. — , M. Marx 2. — , Herm. Faber 2. — , Jos. WaUach I
2. — , A. Samuel 1. — , Wallach Nathan 1. — , Leop.
Marx 1. — , Aron Marx 1. — , Heinr. Levy 1. — , Frau
Levy 1. — . Lobsens: Jacob Cohn 2.50, Heymann Cohn
2.50. Kiel: Gesammelt durch Is. Tannenwald 90. — .
Koethen (Anhalt): Dr. Seligkowitz 70. — . Laden-
burg a. N.: Gebr. Kaufmann 100. — . München: Durch
Michael Nußbaum 300.—. Harienburg (W.-Pr.): Ge-
sanmielt durch H. Flatow 52. — . Hosbaeh (Baden):
Gesanunelt durch Bezirksrabbiner Dr. Löwenstein
136.30. Ottensoos: Gesammelt durch Hermann Prager
54. — . Osnz (Ungarn): Sophie Weißberger 3. — .
Pinne: Gesammelt durch Max Szamatolski 69.55.
Plesehen: Salo Geliert 50. — , Rud. Rosenbaum 5.—,
J. Strelitz 10.—, T. Oppler 5.—, G. Oppler 5.—,
J. Oppler 5. — , B. Galewski 5. — , G. Galewski 5. — ,
KasteUan 5. — , M. Friedmann 5. — , E. Fränkel 5. — ,
J. Brieger 5. — , M. Brandt 5. — , J. Brandt 5. — , Emil
Joachim 5. — , Marcus Cohn 5. — , Herm. Rosenbaum
5. — , Abr. Kurzezunge 5. — , M. Kozminski 5. —
H. Bilak 5. — , Dr. Peiser 5. — , Gutsbesitzer Lewin 5. —
Jacobi, Kreistierarzt 5. — , Frau H. Rosenbaum 5. —
Baumeister Peyser 1.—, Cannel — .50, Grzymich — .50
A. Markus 1. — , M. Barin — .50, Salo Kurzezunge — .50
E. Ostrowski — .50, Feblowicz 1. — , J. Schybilski 1. —
Rathenow: Gesammelt durch Jul. Heimannsohn 13.50
Rendsburg: Gemeindevorstand 12. — , Moritz Nathan
2. — . Pfungstadt: Gesammelt durch Frau Agathe Jeide
10. — . Rostock i. M. : S. Bernharf 5. — , E. Familie 5. — ,
Frau Julie Gimpel 3. — , Bernhard Gimpel 3. — .
Reiehenbaeh (Schles.), Arnold Cohn 100. — , Hermann
Cohn 100. — . Speyer: Gesammelt durch Leop. Klein
100. — , J OS. Kohn 5. — . Stuttgart : Ad. Zimmern 20. — ,
H . Kahn 20. — , Eßlingen 10. — , J acob Kelsen 3. — , V.Merz -
bacher 10. — , S. Merzbacher 5. — , J. M. Levi 12. — .
Sulzburg (Baden): Gesanmielt durch Gemeindevor-
steher Moritz Dukas 45. — . Staden (Hessen) : A. Münz
Sohn 10. — . Sehokken: E. Kochmann 3. — , Sallv
JuUus 2. — , A. Rosenthal 1. — , A. Bremler 1. — ,
Th. Dreier 2.—, J. Dattel —.50, L. Simon 1.— , H. Salo-
mon 1.50, J. Elias 1. — , H. Losaynski — .50, J. Losa-
ynski — .50, L. Bremler 1. — , J. Ziegel 1. — , Unbenannt
3. — . Suhl: Sanunlung durch Leop. Sander 64. — .
Sehwetz a. W. : Gesanunelt durch Siegm. Knopf 62.80.
Trier: Dr. med. Löwenstein, durch Oberrabbiner
Dr. Baßfreund 100. — . Thom: Gesammelt durch Adolf
Jacob 354.60. Woltersdorf b. Erkner: A. Müller 3.—.
Wilhermsdorf: Max Neu 3. — , Jul. Kerner 3. — , Justin
Neu 3. — , Ida Michelsohn 3. — , M. Neuburger 2. — ,
H. Ehrenbacher 2.—, J. Neuhöfer 2.—, H. Kohn 2.—.
Worms: Sammlung Tischgesellschaft J. Sander Wwe.,
durch A. Mayer 15. — . Walsrode: R. Levy 5. — . War-
burg: Gesammelt durch Prediger E. Alexander 40. — .
Wiesbaden: L. Wolf 5.—, Jacob Hirsch 4.—. Ziegen-
hain: Gemeindevorstand, durch Lehrer Ph. Dilloff
20.—.
671
672
BRIEFE AUS ARABIEN.
(Spczialberichtc für die A. I. U. von S o m e k h.)
Nachdruck verboten.
Herr Somekh, der Direktor der Allianceschiden
in Kairo, hat kttrzlich die Gremeinde Aden be-
sucht nnd hat dem Centralcomit6 folgenden Bericht
über diese Gemeinde übermittelt:
Die Stadt ist schon seit dem hohen Altertum
durch ihre kaufmännische Tüchtigkeit berühmt ge-
wesen. Bis 3U Ende des fünfzehaten Jahrhunderts
war sie die Zwischenstation für die Produkte
Asiens und Afrika. Schon die Kömer kauften dort
die chinesischen Seidenwaren. Der von der Stadt
beibehaltene jüdische Name „Eden^ hat eine Ana-
logie mit dem diesem Teil des Landes gegebenen
Beinamen des „glücklichen" Arabien. Es ist zwar
durchaus kein Paradies im wörtlichen Sinne des
hebräischen Worts, aber die Provinz Yemen kon-
trastiert durch reiche Wassermengen und fnsches
Grün sehr angenehm gegen die traurige Wüste,
die sie umgibt. In seiner Prophezeiung gegen
Tyrus spricht bereits der Prophet Hesekiel von
ihr als von einer sehr handelstüchtigen Stadt.
Prächtige Brunnen und Wasserleitungen, ungefähr
fünfzig an Zahl, deren Bau und geschickte An-
ordnung man heute noch bewundert und deren Ur-
sprung mehrere Jahrhunderte vor die übliche Zeit-
rechnung zurückreicht, beweisen ihre ehemalige
Bedeutung und ihren Glanz. Nachdem Aden nach-
einander im Besitz der Araber, der Abessynier,
der Perser, der Egjrpter und der Ttlrken gewesen
war, fiel es 1839 in die Hände der Engländer, die
daraus eine Festung ersten Ranges gemacht haben,
ähnlich der von Gibraltar. Der von Vasco de
Gama entdeckte Seeweg hat die Bedeutung der
Stadt geschmälert und ihren Handel zerstört. Aber
die Besitznahme von Seiten der Engländer und die
Schaffung des Suez-Kanals scheint es wieder
seinem iSten Glanz entgegenzuführen. Tatsächlich
kommen jetzt jährlich über 1400 Dampfschiffe
nach Aden und sein jährlicher geschäftlicher Um-
satz in Export und Import beziffert sich auf
10—12 MiDionen Kund Sterling.
Bei der Volkszählung von 1901 hatte Aden
ungefähr 40 000 Einwohner, meist Araber aus dem
Innern der Provinz Yemen und Somalis von der
gegenüberliegenden afrikanischen Küste, alles Mo-
hamedaner. Aber die Parsis, die Anhänger Zoro-
asters, sind ziemlich zahlreich. Ihr Andachtsort
ist der „Feuertempel", wo sie das heilige Feuer
ihrer Vorfahren unterhalten; und der „Turm des
Schweigens**, wo sie ihre Toten den Raubvögeln
preisgeben, ist, wenn man so sagen darf, ihr
KircUiof. Man findet in Aden auch Indier,
von der Kaste der „Banianen'S die den Gott
Brahma anbeten und denen die Kuh heilig ist.
Die Europäer werden meist vom britischen Militär
repräsentiert; aber es gibt auch viele Engländer,
Franzosen, Deutsche, Italiener und Griechen, die
sich dem Handel widmen. Sie wohnen fast alle
in dem am Hafen belegenen Stadtteil Steamer-
Point, arabisch: Tawahi, wo die Konsulate, die
Schiffsagenturen, die Banken und Hotels, Post- und
Telegraphenamt sich befinden. Die richtige Stadt
Aden Uegt 8—10 Kilometer weiter nach dem
Innern und hat nach ihrer Lage im Krater eines
erloscheneu Vulkans den Beinamen Kraterstadt.
Hier wohnen unsere Glaubensgenossen — 3050 an
der Zahl — , sie stammen alle aus Yemen und
haben die dortigen Gebräuche und Kleidung genau
beibehalten. Die Statistik von 1901 gibt ziemlich
viel Einzelheiten, manche sehr interessanter Art.
So erfährt man, dass 3 Frauen und 144 Männer
ohne Obdach sind und auf der Strasse wohnen,
dass es 1561 jüdische Männer und nur 1489
Frauen gibt. Dieses Missverhältnis tritt bei den
mohamedanischen Arabern und Somalis noch deut-
licher hervor, denn hier zählt man nur eine Frau
auf zwei Männer. Unter den 3050 Juden Adens
sind 889 Männer und 739 Frauen unverheiratet,
620 Männer und 534 Frauen verheiratet, 52
Männer und 216 Frauen verwitwet. Es gibt 749
Kinder — 396 Knaben und 353 Mädchen im Alter
von 5 — 15 Jahren, die die Schule besuchen oder
ein Handwerk lernen könnten.
Die Mädchen sind natürlich von allem Un-
terricht ausgeschlossen, was bei der eigenen
Stellung der Frauen in Yemen nicht Wunder
nehmen kann. Während die eingeborene Be-
völkerung ihre, wenn auch sehr lückenhaften.
Schulen besitzt, haben die Juden keine einzige.
Sie begnügen sich mit einem unbedeutenden
Talmud Thora, wo ein unwissender Babbiner un-
gefähr hundert Schülern das mechanische Lesen
der Bibel beibrmgt, während die Gemeinde
396 schulpflichtige Knaben zählt. Ich habe diese
primitive Schule besucht, die durch die Grossmut
des Herrn Menachem Messa unterhalten wird.
Dieser reichste und einflussreichste Jude Adens ist
bekannter unter dem Namen Banin; er ist der Ver-
treter der Judenschaft bei den englischen Be-
hörden.
Die Juden in Aden sind bei weitem nicht
reich; unter ihnen sind viele BedtLrftige, deren Zahl
durch den Zufluss aus dem türkischen Yemen
ständig wächst. Im 'sJlgemeinen aber sind sie
nicht sehr unglücklich. In den warmen Ländern
sind die materiellen Lebensbedürfnisse sehr gering.
Wenn man Hunger und Durst gestillt hat, fühlt
man sich glücklich, und der Jude in Aden, dessen
Anspruchslosigkeit sprichwörtlich ist, scheint dieses
Minimnin an Gtenüsseu zu besitzen. Die wirt-
schaftliche Lage der Juden könnte weit besser
sein, wenn sie irgend ein nutzbringendes Gewerbe
ausübten, die Schlosserei, Schuhmacherei, den
Maurer- oder Zimmererberuf. Sie haben eine
Industrie, die der Straussfedem und Boas, die sie
selbst auf den Schiffen verkaufen. Viele sind
Wechsler und Händler, aber Grosskaufleute und
Ladeninhaber sind sehr selten. Manche verkaufen
auch Branntwein, den sie selbst aus von Bassorah
673
Mitteilungen der Alliance Isra^lite Universelle: Briefe aus Arabien.
674
und Bedjas importierten Datteln fabrizieren.
Schliesslich verdingen sich eine grosse Anzahl
Jnden als Arbeiter im Hafen für den geringen
Taijelohn von 0,75 Frc. bis 1 Frc.
Die Umprangssprache des Landes ist arabisch,
die offizielle Sprache englisch. Man spricht aber
anch hindostanisch nnd die Somalisprache. Die
Unterrichtssprache in den Schulen der Einge-
borenen ist das Arabische. Ich bin in einer Schule
gewesen, die ausschliesslich von kleinen Somalis
besucht wird. Der Anblick ist sehr interessant.
Lehrer und Schüler sind nach Landessitte halb
nackt, vielleicht verlangt es auch die im Schul-
raum herrschende Hitze. Jedenfalls haben die
eingeborenen Juden diesen Gebrauch nicht an-
genommen, in der von mir besuchten Talmud Thora
waren die Jungen anständig angezogen.
Die europäischen Schulen sind insgesamt von
Greistlichen geleitet und der Unterricht wird
natfirlich! in englischer Sprache erteilt. Die
Schwestern vom guten Hirten haben eine Mädchen-
schule in Aden selbst, deren Schiilerinnen nur aus
getauften Eingeborenen bestehen. In Steamer-
Point leiten dUe Maristen-Brüder und Schwestern
je eine Knaben- und eine Mädchenschule, in der
die wenigen Kinder der europäischen Kolonie unter-
gebracht sind, auch die der ausländischen Juden,
meist Spaniolen aus der Türkei und in sehr ge-
ringer Anzahl. Selbstverständlich würde ein ein-
geborener Jude niemals auf den Gedanken
kommen, semen Sohn oder gar seine Tochter in
eine dieser Schulen zu schicken.
Die Gemeinde Aden verdient wohl, dass man
sich für sie mterressiert. Erstens ist sie an sich
schon bedeutend mit ihren 3050 Seelen, darunter
749 Kinder in schulpflichtigem Alter. Ausserdem
wächst diese Bevölkerung täglich durch die aus
dem Innern Yemens zuziehenden Juden. Eine
AUianceschule in Aden würde in kurzer Zeit eine
Hebung unserer dortigen Glaubensgenossen aus
ihrer moralischen und geistigen Minderwertigkeit
bewirken.
SCHULBERICHT AUS BAGDAD.
Spezialbericht für die A. I. U. von Direktor Albala.
Nachdruck verboten.
Der Direktor der Knabenschule in Bagdad,
Herr Albala, hat dem Centralcomit6 folgenden
Bericht über die Schulprüfungen am Jahresschluss
geschickt:
Herr Rouet, der französische Konsul, und
Herr Ramsay, der englische Konsul, haben den
Jahresschluss- Prüfungen in unseren Schulen bei-
gewohnt Jeder der Herren hat einen Vormittag
dazu verwendet, die Schüler der höheren Klassen
zu befragen. In der ersten und zweiten Klasse
liess Herr Major Ramsay die Schüler ein eng-
lisches Diktat schreiben und korrigierte alle
Niederschriften sofort. Dann unterhielt er sich
mit der Mehrzahl der Schüler in seiner Mutter-
sprache und konstatierte mit grosser Befriedigung,
dass die jungen Leute sie ziemlich fliessend
sprachen. «Die Resultate dieses Jahres sind noch
besser als die des vorigen Jahres," sagte mir
Herr Major Ramsay, und versprach mir, für die
besten Schüler der beiden obersten Klassen
Prämien zu schicken.
Herr Rouet hat die Mädchen und Knaben
in Geschichte, Geographie und Arithmetik exa-
miniert und hat sich besonders für die französische
Sprache interessiert Die Schüler der ersten Klasse
hat Herr Rouet über ihr: Lektüre befragt und
hat ihnen einige Fragen über französische Literatur
gestellt Einen jungen Mann, der besonders gut
geantwortet und ihm die grössten zeitgenössischen
Dichter genannt hatte, fragte er, welches die drei
grössten iranzösischen Dichter des 19. Jahrhunderts
waren, und welcher ihm am besten gefiele. Der
Schüler nannte Viktor Hugo, Lamartine und Musset,
zählte die Werke auf, die er von diesen Dichtern
gelesen hatte, und fügte hinzu : „Ich liebe Lamar-
tine am meisten, weil er melancholisch und religiös
ist" Ich muss hierbei bemerken, dass in unserer
Schule kein eigentlicher Literaturunterricht erteilt
wird, und dass unsere Schüler nur auf Grund
ihrer privaten Lektüre geantwortet haben. Herr
Rouet sagte: „Ich habe zwei sehr interessante
Stunden mit Ihren Schülern zugebracht; Sie
geben Ihnen einen ziemlich umfassenden Unter-
richt, und keine Schule Bagdads könnte den Ver-
gleich mit Ihrer Schule aushalten."
Auch in mehreren anderen Städten haben
die Autoritäten ihre Sympathie für das Schulwerk
der Alliance ausgesprochen. In Salonichi haben
Herr Alric, der französische Konsul, und Herr
Violet, der Direktor der Dette Ottomane, den
Schlussprüfungen beigewohnt und ihre voll-
ständige Befriedigung über die bewiesenen Erfolge
ausgesprochen. In Jaffa sind Se. Exzellenz der
Gouverneur von Jerusalem und der französische
Konsul bei der Verteilung der Preise zugegen
gewesen, und in Rhodus haben der General-
gouvemeur der Stadt und der französische Konsul
die beiden Schulprämien gestiftet
675
676
DIE ISRAELITEN IN PERSIEN
Spezialbericht für die A. I. U. von Lahana.
Nachdruck verboten.
Schiras, 19. August 1907.
Es vergeht kaum eine Woche, daß eine der kleineren
Gemeinden von Pars brieflich meine Intervention er-
bittet, um sie aus der Willkür zu befreien, deren Opfer
sie ist. Meine beste Zeit wird von Bemühungen in An-
spruch genommen, die ich zugunsten zahlreicher kleiner
Gemeinden in der Umgegend von Schiras machen muß.
In dieser Zeit der Anarchie sind namentlich die un-
glücklichen Israeliten der ganzen Provinz unausgesetzt
verfolgt und von den Priestern den unmenschUchsten
Ausnahmegesetzen unterworfen. Wir erwarten mit
Ungeduld die Veröffentlichung der neuen Gesetze,
damit wir laut ein wenig Gerechtigkeit für alle Israeliten
unserer Provinz verlangen können. Die Behörden, mit
denen wir übrigens in den besten Beziehungen sind,
werden endlich meiner unaufhörlichen Reklamationen
müde. Die Lage der Gemeinde von Schiras verlangt
fortgesetzte Unterstützung. Wir haben bei allen unseren
Bemühungen und bei den Anrufungen der Behörde in
einer Stadt, wo wir jedes Schutzes entraten, tausend
Rücksichten zu nehmen.
Die kleine Gemeinde von Darab schickt mir schon
lange Brief auf Brief, ich möchte mich für ihr Schicksal
interessieren. Die 30 FamiUen, die dort wohnen, haben
seit mehreren Monaten von fanatischen MoUahs Ver-
folgungen zu erleiden. Ihre Lage ist seit der Vertreibung
unserer Glaubensgenossen aus Lar unerträglich ge-
worden. Man hat ihnen den Handel mit alkoholischen
Getränken verboten. Waren, die sie im Depot hatten,
sind geraubt, ihre Gerätschaften zerschlagen worden.
Allabendlich wird imter irgend einem Vorwand das
Judenviertel überschwemmt, werden zahlreiche Juden
erbarmungslos mißhandelt.
Da der Gouverneur eben abgesetzt wurde, hatte
die Geistlichkeit die unumschränkte Herrschaft in der
Stadt. Die Provinzialbehörden waren somit gamicht
in der Lage, irgend einen Befehl zu erteilen. Ich war
gezwungen, mich in Geduld zu fassen, bis der neue
Gouverneur ernannt worden war. Dann begab ich mich
sofort zu Mezam-es-Saltaneh, der in meiner Gegenwart
den neuen Gouverneur von Darab beauftragte, unsere
Glaubensgenossen gegen die Willkür der Geistlichkeit
zu schützen. Sobald der Gouverneur von Darab an
seinem Amtssitz angelangt war, schrieb ich ihm, um
ihn an seine Versprechungen zu erinnern. Er ließ die
Oberhäupter der Gemeinden berufen und teilte ihnen
mit, daß er entschlossen sei, sie offen zu beschützen,
wie er es dem Reis von Schiras versprochen habe. Nach
zahlreichen beunruhigenden Briefen erhalte ich in dieser
Woche eine Mitteilung von unseren Glaubensgenossen
in Darab, in der sie mir mit großer Freude verkünden,
daß meine Bemühungen das glücklichste Ergebnis
gehabt haben. Sie waren schon bereit, den verzweifelten
Entschluß der Laris nachzuahmen, aber jetzt denken
sie nicht mehr daran, ihre Stadt zu verlassen.
Lahana.
Neue immerwährende Mitglieder.
Berlin. Die immerwährende Mitgliedschaft der A.I.U. hat Herr MaxWeisbaeh, Magdeburgerstr. 4, erworben.
n:3 m
D''31V
ÄlTerlÄ Prospekt der „Sana-Gescilschafr m. b. H.. Cieve" ^„^.^1'-^.;'
nnsere Leser
machen.
Angesichts des von manchen Cigarettenfabrikanten geübten Unfugs, auf den Schachteln Konstantinopel oder andere türkische Städte- und
Provinznamen anzubringen, um bei dem PuBlikura den Glauben zu erwecken, dass sie Fabriken in der Türkei besitzen, machen wir unsere Leser auf
Folgendes aufmerksam. Im ganzen türk. Reiche ist es, ausser den Manufakturen der Kaiserlich Türkischen Tabak-Regie, niemandem gestattet, Cigaretten
zu nbnzieren. Die Cigaretten der Kaiserlich Türk. Tabak-Regie bieten allein die Garantie, dass sie nur reinen türkischen Tabak enthalten, weil das
strenge Einfuhrverbot die Verwendung anderweitiger Tabake ausschliesst. Hingegen können bei den ausserhalb des türk. Reiches, wie z. B. in Aegypten,
angerertigten, sogenannten türkischen cigaretten auch Tabake nicht türkischer nerkunft verwendet werden. Der offizielle Ausweis der Aegyptischen
Regierung über die Tabak-Einfuhr in diesem Lande für das vergangene Jahr gibt an:
Gesamteinfuhr von Tabaken: 7260334 kg.
Hiervon Türkische Tabake: 3513460 ,
verbleiben minderwertige anderweitige Tabake: 8747874 kg.
z. Teil aus Bulgarien, Griechenland, Italien, Oesterreich, Russland, England etc. Um Verwechselungen zu vermeiden, achte man auf das Kaiserlich
türkische Wappen, wie solches im Inseratenteil bei der betreffenden Annonce zur Abbildung gelangt ist. welches jede Schachtel und jede Cigar«tte
tragen muss. Die Marken der Kaiserl. Türkischen Tabak-Regie sind in jeder besseren Cigarrenhandlung des In- una Auslandes erhältlich.
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AboBiieaienUpreit für das Jahr In DenttchlMid nnd Oattcrrelch Mark 7.— (LmntanHT^be Mark 14»— )• für das Antland Mark 8—,
(Loxnsaiisgaba Mark 16).
für RoMland jraiulihrllcli 4 Rnbel. BloMlhefte k 38_Kop.
idlUB
Zu beziehen durch alle Bnchhandlungen des In- und Autlandet, durch alle Pottimter det Deutichen ^
Reichet unter Na 5785 a der Pottxeitungilltte und durch die Expedition dieser Zeitichrift ~-
^fc^^^i^^^^i^»
Anzeigen Alk. /,— die viergespaltene NonpareiUezeile, grössere Anzeigen nach Tarif, bei Wiederholungen Rabatt.
Adresse fDr die goschaftllohe Korrespondenz: Verlag „Ost und West'', Berlins. 42, Wasserthorstr. 50.
Redaktion: Berlin W. 15» Knesebeckstr. 48/49.
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«^tA^«AN
Verantwortlich für den redaktionellen Teil: Chefredakteur Leo Winz, Berlin W. 15, Knesebeckstr. 48/49. - Verlag Ost
und West, Leo Winz, Berlin S. 42. - Druck von Beyer & Boehme, Berlin S.42. Wasserthorstr. 50.
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-TBMwenJahresBflöBnet Prospjl— —'"' ■• '"-■-'">'
Dp. L. IIi
lUUSTRIERTE MONATSSCHRIFT
FÜR DAS GESAMTE JUDENTUM
Herausgegeben und redigiert
von
LEO WINZ.
Heft 11.
Alle Rechte vorbehalten.
mt^t^iß ^m i^ ^t0 n ^m0^m0»^*0t^' '^^1
NoTember 1907.
•««^«MWMk^Wt^h>^^N^ta^^«%M#MM^M^i^
Tu. Jahrg.
^^t^>^t0^ 11^ » m ^t^^m0t
DIE LEHRANSTALT EUER DIE WISSENSCHAFT DES JUDENTUMS.
Mit Beginn des Wintersemesters bezieht die
Lehranstalt ihr neu errichtetes eigenes Heim. Sie
tritt damit aus der Verborgenheit heraus in das
Licht der Oeffentlichkeit Die allgemeine Auf-
merksamkeit wird sich ihr mehr als bisher zu-
wenden, und diese Veränderung kann ihr nur von
Nutzen sein; es gibt wenige Institutionen innerhalb
der (Jemeinde, über deren Bedeutung und Auf-
gaben nach einem so langen Bestehen so geringe
sichere Kunde verbreitet ist, so viel Unklarheit
herrscht.
Die Lehranstalt hat im Jahre 1872 ihie
Tätigkeit begonnen, ihre Gründung geht sogar bis
186y zurück. Solange dauerte es, bis wenigstens
das Mindestmass von Kapital aufgebracht war, das
zu ihrer Eröffnung und Erhaltung notwendig
schien. Ihre Entstehung verdankt sie dem 1869
verstorbenen Stadtrat Moritz Meyer, der den
Grundstock für die Mittel bereit stellte, als ihre
geistigen Väter müssen Professor Lazarus und
Sanitätsrat Neumann bezeichnet werden. Es er-
übrigt sich an dieser Stelle zu wiederholen, welche
führende SteUung Lazarus in allen geistigen Be-
wegungen des modernen Judentums einnatmi, wie
Neumann für die politischen Bechte und die
geistige Freiheit der Juden, für die Pflege ihres
Schrifttums jederzeit energisch eintrat. Sie fanden
einen getreuen Genossen und eifrigen Mitarbeiter
an Ludwig Philippson, der 1837 bereits einen
Aufruf zur Gründung einer Jüdisch-theologischen
Fakultät*' erlassen hatte, der auch später tat-
kräftig für diese Idee wirkte und, als sie ihrer
Verwirklichung entgegengeflUirt werden sollte,
seine Mithilfe nicht versagt hat. Unter dem Namen
„Hochschule für die Wissenschaft des
Judenthums" wurde das neue Institut 1870 be-
gründet.
Die Hochschule war dazu bestimmt, ein
Mittelpunkt wissenschaftlicher Tätigkeit im weitesten
Nachdruck vertx>ten.
Sinne des Wortes zu werden, sie sollte sich nicht
darauf beschränken, ihre Jünger für ein praktisches
Amt tüchtig zu machen, sondern für jedermann
geöffnet sein, der über das Judentum, über seine Ver-
gangenheit und Literatur belehrt sein wollte, sollte
jedermann als Lehrer zulassen, der wissenschaftliche
Anregung für * die Erkenntnis des Judentums zu
bieten hatte. In erster Keihe sollte sie natur-
gemäss der Ausbildung von Rabbinern, Predigern
und Religionslehrem dienen, für diesen Zweck war
ihr Lehrplan eingerichtet. Aber darüber hinaus
sollte sie jedermann zugänglich sein, dem jüdischen
Akademiker, welcher Fakultät er auch angehörte,
dem jüdischen Privatmann, der seine Müsse der
Wissenschaft zu widmen bereit war; die Hoch-
schule sollte eine Vereinigung „der alten Jeschiba
und des Beth-Hamidrasch f£* die heutigen Juden
gemäss den neuen wissenschaftlichen Forderungen
und Lebensverhältnissen^ sein, gewissermassen die
Zwecke emer Volkshochschule mit verfolgen. Auch
nichtjüdischen Studierenden, welche ihren Unterricht
suchten, sollte die Hochschule ihre Pforten öffnen.
Die Hochschule wurde als eine selbständige Stif-
tung begründet, „Unabhängigkeit von den
Staats-, Gemeinde- und Synagogenbe-
hörde n** war eines der Leitmotive der Gründer
der Anstalt; ein zu diesem Zweck gebildeter
Verein übernahm ihre Erhaltung und Fortführung.
Dadurch sollte verhütet werden, dass die Hoch-
schule das Organ einer der verschiedenen religiösen
Parteien würde ; unabhängig von dem Parteigetriebe
sollte sie allen religiösen Richtungen dienen
können, soweit sie in wissenschaftlicher Forschung
ihre Begründung suchten, sie sollte die Vertiefung
und Ausbreitung der Wissenschaft um ihrer selbst
willen ohne Rücksicht auf das praktische Leben,
anregen. Die Lehrer werden verpflichtet, „die
Vorträge lediglich im reinen Interesse
der Wissenschaft des Judentums, ihrer
679
Die Lehfranstalt für die Wissenschaft des Judentums.
680
Erhaltung, Fortbildung und Verbreitung
zu halten.'' An die Spitze der Anstalt trat ein
Kuratorium, das zugleich den Vorstand des Vereins
bildete und von den Vereinsmitgliedem gewählt
wurde.
Die Hochschule hatte das Glück, bei ihrer
BegranduDg ausgezeichnete Lehrer zu finden, die
für den Zweck vorzüglich geeignet waren. Gleich
bei ihrer Eröifnung traten zwei Männer mit welt-
berühmten Namen in ihr Kollegium ein: H. Stein-
thal (1823-1899), der als Völkerpsychologe und
Ethiker einen ausgezeichneten Ruf in der wissen-
schaftlichen Welt genoss, em bewährter aka-
demischer Lehrer war, der insbesondere durch
seine edle, vorbildliche Persönlichkeit auf seine
Schüler in seltener Weise einwirkte; A. Geiger
(1810 — 1874), der zuerst den Begriff einer jüdischen
Theologie aufstellte, durch seine Stellung als Führer
der jüdischen Reformbewegung, durch seine bahn-
brechenden Forschungen auf dem Gebiete der Bibel-
wissenschaft und der älteren jüdischen Geschichte
sowie durch seine Verteidigung der Ehre des
Judentums eine allgemein anerkannte Grösse. Dazu
trat J. Le wy (geb. 1840), damals am Anfange seiner
Lauibahn, der eine seltene Begabung und eine be-
sondere Tüchtigkeit für sein umfassendes Spezialfach
mitbrachte, und endlich D. Cassel (1818—1893),
der ganz besonders durch seine organisatorischen
Fähigkeiten, seinen praktischen Sinn und sein
pädagogisches Geschick der Hochschule vortrefflich
diente. Auch später ist es gelungen, die im
Lehrerkollegium entstandenen Lücken durch tüch-
tige Kräfte zu ergänzen, es braucht nur an
J. Müller erinnert, nur auf Namen wie Frankl
und Schreiner verwiesen zu werden, deren
beider Kraft m der Blüte des Lebens gebrochen
wurde.
Trotz der schönen Anfänge, die zu den besten
Hoffnungen berechtigten, wurde die Hochschule
nicht das, was sie werden sollte, hat ihre Ent-
wicklung nicht vollständig das Ziel erreicht, das
ihr vorgezeichnet worden war. Das lag zum Teil
an der Ungunst der Verhältnisse. Die moralische
Unterstützung des Staates, auf die die Gründer
Hofibungen gesetzt hatten, blieb aus, wandelte sich
sogar in das Gegenteil um, aus der Hochschule
musste die „Lehranstalt" gemacht werden, der
alte klangreiche, inhaltsvolle Namen musste auf-
gegeben und mit einem nichtssagenden, farblosen
Titel vertauscht werden. Weit verhängnisvoller
war die Gleichgiltigkeit der Glaubensgenossen. Die
Hochschule fand nicht genügende Unterstützung
und hatte lange unter Mittellosigkeit schwer zu
leiden. Ihre Aufgaben konnten nicht in vollem
Umfange erfüllt werden, weil es ihr an der Gunst
und der Beihilfe fehlte, auf die sie angewiesen
war. Das Geschick der Hochschule, die Teil-
nahmlosigkeit der Glaubensgenossen gegenüber ihren
Bestrebungen, bildet eines der wenig rühmlichen
Blätter in der Geschichte des modernen Juden-
tums. Trotzdem Jahrzehnte lanj? die Gründung
eines solchen Institutes vorgeschlagen und an-
gestrebt wurde, trotz der glänzenden Namen, die
an der Spitze standen und eine Gewähr für die
Durchführuns: ihres Programms boten, zeigte sich
nur wenig Verständnis, noch weniger Förderung
für die Bestrebungen der Anstalt. Die Hochschule
war als der Ausdruck des Geistes der modernen
Judenheit gedacht, sie sollte em lebendiges Zeugnis
des Gemeinsinnes und der religiösen Hochherzigkeit
darstellen. Der Geschichtssdu-eiber muss mit Be-
schämung bekennen, dass diese Erwartungen ent-
täuscht wurden, dass die Zahl der Opferfreudigen
gering war, die der Anstalt dauernd ihre Anhäng-
lichkeit bezeigten. „Seitdem man unter den Juden
nicht mehr im spezifischen Sinne „lernt", ist das
Interesse für die jüdische Wissenschaft erlahmt."
Es bedurfte langer Zeit, bis die Stimmung sich
der Anstalt günstiger gezeigt hat!
Trotz aller Kämpfe und Schwierigkeiten hat
die Hochschule ihr Ziel nicht aufKegeben, sie hat
sich durchgerungen und lebt der Hoffnung, dereinst
auch den Sieg zu erlangen. Es war ihr das
Glück beschieden, dass der Geist, der bei ihrer
Gründung treibend wirkte, lange in ihr lebendig
blieb und fortbestand. Lehrer und Kuratoren
blieben lange Zeit im Amte, an die Stelle der
Väter traten mehrfach die Söhne in die Verwaltungr,
so blieb die Kontinuität des Geistes erhalten, die
alte Klarheit über die Angaben, die gleiche
Freudigkeit wie bei der Begründung blieb herr-
schend. Es ist dem unentwegten Streben auch
der Erfolg nicht versagt geblieben, im letzten
Jahrzehnt konnte die Lehranstalt grosse Fort-
schritte in ihrer Entwicklung verzeichnen. Neue
Stiftungen wurden an ihr errichtet, die Zahl der
Mitglieder wuchs, die Lehrstühle konnten vermehrt,
für die Besoldung und Zukunft der Lehrer konnte
m ausreichenderer Weise gesorgt werden. Zuletzt
konnte das grösste Ziel angestrebt werden, das
seit der Gründung der Verwaltung der Hoch-
schule vorschwebte, dessen Erreichung aber immer
wieder hinausgeschoben werden musste, die Er-
richtung eines eigenen Heims. |,Wenn
Emancipation und Wissenschaft nicht leerer Schall
sein soll, muss sie Institutionen befruchten!" Dieses
Mahnwort Leopold Zunz scheint in seiner Wahrheit
allmählich erfasst zu werden, in immer weiteren
Kreisen bricht sich die Erkenntnis Bahn, welche
Bedeutung der Wissenschaft des Judentums zukommt,
zahlreicher werden die Freunde der ihr geweihten
Veranstaltungen.
Unser jüdisches Bewusstsein wird immer
klarer und sicherer, es wächst das Verständnis für
unsere wahren Aufgaben. Unter diesen bildet die
Wissenschaft eine der vornehmsten. Es soll der
Wert sozialer Hilfswerke, für die in unserer Ge-
meinschaft so grosse Opfer gebracht werden,
gewiss nicht verkannt werden; aber sie alle be-
deuten nur einzelne Leistungen, tragen nicht zur
Festigung des gesamten Judentums bei Das
kann nur die Wissenschaft bewirken. Sie ist eine
Quelle der Erneuerung der Sittlichkeit, der Be-
lebung des religiösen Geistes, sie allein bietet
Die Lehranslalt für die Wissenschaft des Judentums.
HFRMAMN STRUCK. QEMAELDE.
Sanftaisrat Dr. S. Neumann, Ehren Vorsitzen der.
Gewähr fnr die auKetrUbte Erhaltang der Grund-
gedanken, fUr die stete Läuterung der Formen der
Religion, sie ist das Mittel zur Vereinigung der
widerstrebeaden GlaDbeDsmeinnogen. Sie bietet das
Rüstzeug zum Kampfe
für unser Recht und
unsere Ehre , sie bat
die Aufgabe, gegenüber
Gleicbgiltigkeit und Ab-
fall ins helle Licht zu
setzen, welche Kultur-
werte wir als Juden be-
sitzen und verteidigeu. Es
wird unseren Ölaubensge-
Dossen nachgerühmt, dass
sie eioen empfäuglichen
Sinn und eine offene
Hand fär wissenschaft-
liche Forderungen be-
sitzen. Es soll durchaus
nicht beansprucht werden,
dass sie ihre Opferwillig-
keit ausschliesslich der
Wisseoschaft des Juden-
tums widmen; aber es sollte
doch auch nicht so sein,
dass sie für alle Gebiete
des Geisteslebens mit all- Rabb. Dr. L. Philippaon.
einigem Ausschluss der Wissenschaft des Judentums
ihre Freigebigkeit und Bereitwilligkeit bet&tigen.
Mit dem neaeo Hanse sind nicht alle Aufgaben
der Lehranstalt erfüllt, grosse Probleme harren
noch ihrer Verwirklich-
ung; nur wenn der An-
stalt die Teilnahme ihrer
Mitglieder erhalten bleibt,
wenn noch weit grossere
Mittel ihr zugeführt
werden, kann sie den
AnfordeniDgen gerecht
werden, die bei dem ge-
genwärtigen Stande der
Forschang an ein wissen-
schafLliches Listitut mit
iCecht gestellt werden.
-Möge die Förderung der
lilaubensgenosseu der An-
stalt nicht ^ersast bleiben,
möge es ihr beschiedeu
sein, in Zukunft rüstig
weiter zu streben, mit
Erfolg zu arbeiten und
segensreich zu dienen
dem Judentum
und
seiner Wissenschaft!
DAS KURATORIUM DER LEHRANSTALT.
Von Dr. Felix Ooldmann.
Geh. Kommcrziearftt Louis Simon.
Stadtrat HoriU Hefcr (gtut. 1869).
MilbcKiDiKlcr der LfhrinsMIL
Die Bi^uart und die Stärke
der „Lehranstalt f^ die Wissen-
schaft des Judentums" besteht
darin, daas sie von allen Ein-
flilssen religiöser Natur völlig
unabhängig ist Die Aufgabe
aber, eine solche Institution zu
verwalten, mnss sich nm so
schwieriger gestalten, je mehr
sie ihren freien Charakter zu
betonen and zu wahren sucht.
Das gilt vor allem wegen der
aufzubringenden Mittel; die
Lehranstalt durfte nie von einer
jUdiachenGemeinde ihren ganzen
Unterhalt beziehen, da die in
dieser herrschende religiöse An-
schauung sieb nur zn bald auf
den Geist des Unterrichts hätte
ausdehnen kÜDoen. Die Ver-
walter dieses Heims der jüdi-
schen Wissenschaft mussten
nach jeder Richtung hin frei
und unabhängig sein.
Das Fehlen einer festen
materiellen Grundlage bot den
Kuratoren bei ihrer Arbeit
das {.rste Hindernis, denn sie
allein mussten für die Auf-
brlngnngdesnotwendigenGeldes
sorgen. Schwierig war und ist
ihr« Stellung auch dadurch,
dasB man aus ihren Reihen die
Rabbiner ausgeschlossen hat,
in der nicht nnbegrQndeten Be-
sorgnis, dass die Anwesenheit
von Geistlichen ein Vorwiegen
der Interessen der praktischen
Theologie zu Ungunsten der
Wissenschaft nach sich ziehen
kßnnte. Obwohl das Kuratorium
satzungsge mtUs nicht aus Fach-
leuten besteht, muss es dennoch
die Gewähr Übernehmen, dass
auch der innere Betrieb der
Anstatt, die Durchführung eines
geordneten Lehrplanes, die rech-
ten Bahnen gebt. Das Amt des
Kurators ist also wahrlich
nicht leicht.
Das Kuratorium hat ee
jedoch verstanden, seinen Auf-
gaben gerecht zu werden ; denn
die grosse Anzahl von ana-
gebildeten Schillern beweist,
dass an einer Stätte freier
Wissenschaft von Lehrern und
Zöglingen fle issig gearbeitet
worden ist, und die Tataache,
dass dieser Schule ein eigenes
Haus gebaut werden konnte,
zeigt, wie trefilich das Problem
der finanziellen Fundiemng ge-
löst worden ist. Die Kuratoren
haben denn auch ihre Freude
an der Arbeit gehabt. Wir
Dr. Felix Goldmann: Das Kuratorium der Lehranstalt.
hätten es sonst nicht erlebt,
d«s8 du Interesse an diesem
I Zweige des jadisch-wissen-
I schaftlicb^n Lebens sich Tomi
Vater auf den Sohn ver-I
erbt hat. So war Lndwig
Philippson bei der Grün-
dung: der Lehranstalt In
herrorragendem Masse tfttig,
während sein Sohn dem
Knratorlam von 1886 bis
1904 angehört hat Ebenso
ist Lndwig Qeiger, der
rtlhmlichst bekannte Literar-
historiker and Professor ander
BerlinerÜniversität, Mitglied
der Verwaltung, während sein
Vater Abraham Geiger
dem Lehrer kollegi am bis zn
seinem Tode zur Zierde ge<
reichte. Ferner haben Carl
Berthold Simon and sein
SohnHerman Veit Simon
an dieserSrätte ihre Kräfte in
den Dienst des Jadentnms ge-
stellt. Von dem Wirken des
Stadtrats Moritz Meyer
and seiner Söhne, der Herren
Geheimer Oberregierungsrat
Dr. Paul Meyer und Georg
Meyer, wird weiter onten die
Rede sein. — Eigentliche
QrQnder der damaligen , Hoch-
schnle' waren fanf Männer,
von denen zwei noch heute an
ihr tätig sind. Der eine Ist
der im politischen Leben be-
kannte Sanitätsrat S a 1 o m o n
N'eamann.ein freigesinnter
Geheimer Kommerzieorat L. H. Goldbcrger. Mann, der selber eine ans-
stciivertr. Vorsitiendet, Kurator seit 1890. gedehnte Kenntnis der jüdi-
schen Literatur mit Liebe
zom Judentum verbindet.
Er worde, als er im Jahre 1Ö05 das Amt des Vor-
sitzenden niederlegte, von seinen dankbaren Mitarbeitern
zum Ehrenvorsitzenden gewählt. Der zweite ist der
Geheime Oberregiernngsrat Dr. Paal Meyer. Seinem
Vater, dem Stadtrat Moritz Meyer, verdankt die
Anstalt die ersten bedeutenderen Mittel, and seine
Familie hat in diesem Sinne weiter ge-
handelt. Die Witwe Moritz Meyers
hat durch grosse Stiftungen den Kura-
toren manche ernste Sorge abgenommen,
und der andere Sohn, Georg Meyer,
wirkt noch heute nel<en seinem Bruder
im Geiste des Vaters.
Die übrigen Gründer weilen nicht
mehr unter den Lebenden. Moritz
Lazarus, der lange Jahre den Vorsitz
im Kuratorium führte, nndsein Schwager
Chajim Steinthal setzten ihre ganze
Kraft für das neue Unternehmen ein.
Steinthal trat bald ins Lehrerkollegium
über, wo er viele Generationen von
Hörern als Mensch und als Dozent be-
geistert hat. Der fQnfte, der Geheime
Kommerzienrat B. Liebermann, ist
schon sehr früh ausgeschieden.
Manche Männer haben seit jenen
Tagen ftlr unsere Lehranstalt ihr bestes hingegeben;
nnd wenn wir auch nicht ihrer aller Namen hier auf-
zählen wollen, wissen wir wohl, ihre aufopfernde
Tätigkeit zu schatten. Die Zahl der Kuratoren ist
bis jetzt noch nie verändert worden, sie beträgt —
wie zur Zeit der Gründung — nenn.
Heute ist Vorsitzender Justizrat
Dr. Herrn an Veit Simon, der
einer berühmten alten jüdischen Familie
Berlins entstammt. Gehörte ihr doch
der erste jUdisobe Stadtverordnete
(Salomon Veit, 18U) und der erste
jüdische Abgeordnete zum Frankfurter
Parlament wie zum preussischen Ab-
geordnetenhau.se an (Moritz Veit).
Justizrat Simon genieast einen grossen
Rnf als HandeUrecbtler, das bekannteste
unter seinen vielen Werken ist das
Buch: „Die Bilanzen der Aktiengesell-
schaften". Er hat trotz seiner ans-
üredehnten Tätiebeit als Anwalt und
Notar, stets eifrig fUr das Judentum
gearbeitet; seit einem Jahrzehnt ist er
auch Repräsentant der jüdischen
Gemeinde. Seiner Tatkraft ist es
vornehmlich zu danken, wenn das
Dr. Felix Ooldmann: Das Kuratorium der Lehranstalt.
Prof Dr. Ludwig Geiger.
Verdienste inbezog auf den didakttscben Teil der Yer-
waltnn^, wie Prdfiiiigs- and Stipendienangelegenheiten,
erworben. In seinem Schriftfllhreramte steht ihm zur
Seite Jostizrat Dr. Arnold Seligsobn, eine Autorität
auf dem G-ebiete des Patentrechts, der seit 1905 dem
Knratorinm angehört nnd als besonnener und sachlicher
Berater in allen Verwaltungaangelegenheiten seine
Arbeits frendigkeit erweist.
Das Amt des Kontrolleurs hat der schon erwähnte
Georg Meyer inne. Als Rendant gehört dem
Kollegium Max Weiss an, dessen
aosserord entlich rühriger Propaganda
es zuzuschreiben ist, wenn die Zahl
der Wohltäter eine so stattliche
Hohe erreicht hat. Reichliche Hilfe
findet er an Oscar Wassermann,
einem feinen Kenner des Schrift-
tums, einem Freunde des Wissens und
des wisjenschaftlichen Geistes; er
ist erst seit 1906 Mitglied des Kura-
toriums. In demselben Jahre stellte
auch der schon erwähnte Professor
Ludwig Geiger seine reiche Er-
fahrung und Arbeitskraft in den
Dienst der Anstalt.
Zwei Jahre früher hatte dei> Ge-
heime ReRierungsrat Professor Her-
mann Cohen die auf ihn gefallene
Wahl zum Kurator angenommen.
Cohen, von dessen Bedeutung zu reden
hier llberflQssig wäre — ist er doch
in der Gegenwart der grSsste und
tiefste unter Deutschlands Denkern ■ —
hat sein« Aufmerksamkeit vornehm-
lich den inneren Fragen des Unter-
richts zugewandt und beschäftigt sich
mit den pädagogischen und metho-
dischen Angelegenheiten.
Das sind die Männer, in deren
Kuratorium heute seine Auf-
gabe durch das Yorimnden-
sein grösserer Mittel bedeu-
tend erleichtert sieht, vor
allem darf sein Anteil an
der Errichtung des neuen
Heims nicht unterschätzt
werden.
Volle Unterstützung hat
er in dem stellvertretenden
Vorsitzenden, dem weithin
gemeinnutzig wirkenden Ge-
heimen Kommerzienrat Lud-
wig Mas Goldberger.
Ihm verdankt die Anstalt vor-
nehmlich anch den Ausbau
unddleFördernngderStiftang
seiner Schwiegereltern, des
Louis Simonschen Ehepaares.
Schriftführer ist Gnstav
Oppert, der stille, emsige
Gelehrte, der an der Ber-
liner Universität das Lehr-
fach der indischen Philologie
vertritt und durch grund*
legende Werke seine Fach-
wissenschaft bereichert hat.
Oppert ist ein rühriges Mit-
glied der Bibliothekskom-
mission nnd hat sich grosse
" Händen die Geschicke der Lehranstalt ruhen, denen — in
Deutschland wenigstens — die Aufgabe obliegt, die jüdische
Wissenschaft zu schützen und sie in ihrer Freiheit nnd Un-
abhängigkeit zu erhalten. Wir haben Ihnen keine über-
triebenen Lobeshymnen gesungen, wenn wir vor den
Namen fast eines jeden das bedeutungsvolle WQrichen
„bekannt" oder gar „berühmt" gesetzt hiben. Es sind
Männer, auf die nicht nur die Lehranstalt und die jüdische
Wissenschaft, sondern die ganze Judenheit stolz ist. Sie
stehen alle, seien sie auf dem Katheder und in der
stillen Stube des Gelehrten, seien sie
dranssen im Getriebe der Welt tätig, an
hervorragender Stelle ihres Berufes,
deren Behauptung auch die Kraft eines
ganzen, echten Mannes erfordert. Da
ist es denn ein Zeichen von schönem,
judischem Idealismus, wenn sie
trotz der Alltagslast freiwillig und
uneigennützig so grosse Mühen und
LSorgen auf sich genommen haben.
Wir, die junge Generation, die wir
die Früchte ihres Schaffens genossen
haben, wir danken ihnen; aber vir
blicken auch Über den engen Kreis
der Fachgelehiten hinaus. Wir dan-
ken ihnen, dass sie es unternehmen,
die jüdische Wissenschaft immer mehr
zu einem gleichberechtigten Gliede
der „universitas litterarum" zu ge-
stalten und wir hoffen, dass sie,
wie bisher, den konfessionellen Beein-
flussungen stets einen festen Wider-
stand entgegensetzen werden. Ernste
wissenschaftliche Arbeit der Jünger
der Anstalt, Arbeit in dem Be-
wusstsein, dass jene Männer sie
erst ermöglicht haben, wird ihnen
der schönste Lohn für ihre Auf-
opferung sein.
Justizrat SeligBohn, Berlin.
DER LEHRANSTALT FUER WISSENSCHAFT DES JUDENTUMS.
Gedanken und Wünsche.
Von Professor Dr. Ludwig Geiger.
Der Lehranstalt, — wir dürfen leider nicht
sagen: der Hochschnle. Und doch soll die An-
stalt, deren oenes Hüm nnnmehr eingeweiht wird,
einer Hochschule gleichen, sie soll weder ein
Seminar sein, noch eine theologische Bildongs-
anstalt Kein Seminar. Denn die Jünglinge, die
wir zum Lehensbemfe ansrnsten, wohnen weder
in der Anstalt, noch erhalten sie in ihr eine be-
stimmte Richtnng, eine yoII-
kommene geistige Ansstattnng.
Keine theologische Bildangs-
anstalt, denn obgldch die bei
weitem meisten Jänglinge den
theologischen Beruf ei^eifen,
so sollen sie dnrchans nicht
ausschliesslich zn Rabbinern
voi^ebildet werden, sondern
2u Jüngern der Wissenschaft
des Jadentoms.
Wir dürfen uns nicht ver-
hehlen, dass die Lehranstalt
trotz ihrer fünfonddreissig-
jährigen Wirksamkeit das Ziel,
nach dem sie von Anfang
strebte, noch keineswegs er-
reicht hat. Dieses Ziel war
eine möglichst gleichmSssige
Pflege sämtlicher Disziplinen
aus dem Gesamtgebiet der
Wissenschaft des Judentums.
Teils die Beschränktheit der
Mittel, teils die Schwierigkeit
geeignete Lehrer zu finden,
teils die Bücksicht auf die
Universität haben den wünschenswerten Ausbau
bisher verhindert.
Von den beiden ersten Ponkten ist nnr wenig
zo sprechen. Dass auch zu der Verwirklichung
der idealsten Dioge Geld und wiederum Geld ge-
hört, das ist eine alte Klage. Was die Schwierig-
keit anbetrifft, geeignete Lehrkräfte zu finden, so
ist sie in den allgemeinen jüdischen Verhältmsseu
begründet Unsere Gelehrten, d. h. diejenigen, die
sich der Erforschung jüdischer Dinge zuwenden,
müssen, wenn sie nicht durch Zufall materiell ou-
abhängig sind, danach trachten, einen Beruf zu er-
greifen, der sie ernährt; es bleibt ihnen daher
kaum etwas anderes übrig, als ein Schulamt anzu-
Geh. Rcgienmgsrat Prof. Dr. Hermann Cohen,
Harburg.
Kurator e«il 1904,
Nicbdnick niboUi.
nehmen oder dem Kabbinerberuf sich zn widmen.
Unter den Deutschland angehörenden jfidischen
Gelehrten ist keiner lebenslang unabhängiger
Schriftsteller und Gelehrter gewesen, denn auch
Znnz, von dem man dies meist behauptet, war
jahrelang Seminardirektor ood bezog lebenslänglich
eine Pension von dieser Stellang her.
Etwas ausführlicher ist von dem dritten
Punkt zu sprechen. Unsere
Lehranstalt sollte niemals, vrie
etwa ein katholisches Priester-
seminar in einen Gegensatz znr
Universität treten. Während
eine Anstalt der eben er-
wähnten Art sich vor jedem
freien Luftzug profaner Wissen-
schaft verschliesst und daher
seinen Zöglingen alles was zu
ihrem Bemfe nötig ist inner-
halb seiner Mauern mitzuteilen
bestrebt ist, war unsere
Stellung von vornherein eine
andere. Eine solche Stelloug
war schon durch die Notwen-
digkeit geboten- Elin katho-
lischer Priester ist Priester
dorcb die Weihe und bedarf
keines anderen äusseren Titels;
ein Babbiner dagegen muss
ausser dem Babbinertitel, den
er nach abgelegtem Examen
erwirbt, noch dnrchans den
Doktortitel fhhren. Diesen zu
verleihen, ist aber nnr die
Universität imstande. Und um einen solchen zn er-
langen, bedarf der Kandidat ausser den Kenntnissen
des Hebr^chen, die er in unserer Liehranstalt sich
aneignen kann, zweier Hauptfächer, als die gewöhn-
lich orientalische Sprachen, in erster IJnie arabisch,
und Philosophie gewählt werden. Aus diesem Grunde
muss er wie jeder andere Student, mindestens sein
akademisches Triennium durchmachen und es recht
fleissig benatzen, um in der kurzen Zeit zum er-
wünschten Ziele zu gelangen.
Diesen Znstand wird kein verständig Denkender
ändern wollen. Es ist nicht nur kein Unglück,
dass die Jünglinge zwei Anstalten besuchen,
sondern ein grosses Glück: neben der Fachschule
^1
Prof. Dr. Ludwig Oeiger: Der Lehranstalt für Wissenschaft des Judentums.
692
die allgemeine Bildungsstätte. Einen Lehrstuhl
fttr orientalische Sprachen nnd einen solchen für
allgemeine Philosophie an der Lehranstalt einzu-
richten, gehört gewiss nicht zu den berechtigten
Wünschen.
Wohl aber dflrfte der Wunsch gerechtfertigt
sein, die Fachschule in der Weise auszubauen,
dass sie eine gewisse Vollständigkeit erlangt. Seit
dem Tode Steinthals ist die Lehrstelle für
Religionsphilosophie verwaist und es ist eine
dringende Notwendigkeit, dass der geeignete Mann
f&r sie gefunden werde. Damit soll den wackeren
und fleissigen Männern, die seit längerer oder
kürzerer Zeit an der Lehranstalt wirken, nicht der
allergeringste Vorwurf gemacht werden, sie können
nur ihrem Fach obliegen und es wäre für sie und
für die Schüler ein Nachteil, wenn sie sich auf
Nebenwege locken Hessen. Aber auch der Aus-
weg, der in letzter Zeit getroffen war, führte nicht
zum Ziel: die Ferienkurse, die mehrmals von
H. Cohen veranstaltet wurden, so sehr sie auch
die Zuhörer befriedigten, Hessen mehr das Fehlende
erkennen, als dass sie imstande waren, die klaffende
Lücke auszufüllen.
Mit der Schaffung eines Lehrstuhls für Re-
ligionsphilosophie wäre ein notwendiges Erfordernis
erfüllt, aber keineswegs das einzige. Gewiss soll
eine Fachschule Kenntnisse vermitteln, aber sie soll
auch allgemeine Gesichtspunkte aufstellen, sie soll
bedenken, dass sie es einerseits mit Anfängern zu
tun hat, andererseits mit solchen, die neben der
gelehrten Kenntnis einer Anregung bedürfen und
gerade durch eine solche zum Sammeln gelehrter
Kenntnisse angetrieben werden. Für das erstere
bedürfte es allgemeiner Vorlesungen über das
Wesen des Judentums, einer Einleitung in die
Wissenschaft des Judentums, einer Methodik über
die Disziplin, wie sie seit A. Geigers erstem Ver-
suche (1873) an der Lehranstalt niemals wieder
gelesen worden ist. Zu dem letzteren wäre es
nötig, Publica zu schaffen, etwa wöchentlich einmal
in einer Abendstunde im grossen Hörsaal, die all-
gemeine Fragen, die selbstverständlich eng mit
der Wissenschaft des Judentums zusammenhängen,
erörtern, auch sich nicht scheuen, von der Gegen-
wart und ihren Bedürfnissen zu reden.
Besonders aber sind es drei Dinge, die eine
eifrigere Pflege verdienen, als ihnen bisher zuteil
geworden ist. Bei der Pflege des Hebräischen
wird naturgeniäss in erster Linie die Bibel
traktiert; ihre Erklärung steht im Vordergrunde.
Aber mit Bibelexegese ist nicht genug geschehen;
auch die Bibelkritik fordert unbedingt ihr
Recht.
Ein zweites ist, eine stärkere Pflege der
Geschichte und Literatur. So eifrig ältere Zeit
und Mittelalter gelehrt wird, auch die neueste Zeit
müsste in den Kreis der Studien gezogen werden.
Es erscheint mir wünschenswert und erforderlich,
auch den Anteil der Juden an der Weltliteratur
darzulegen; aus diesem Grunde wäre es von her-
vorragender Bedeutung, gerade dem Einflüsse der
Juden auf die Literatur anderer Völker, dem An-
teile, den sie an solcher fremden Entwicklung ge^
nommen und den Urteilen nachzugehen, die sie
von den Schriftstellern der verschiedensten Zeiten
erfahren haben.
Als das Dritte und fast als das Wichtigste
sei die Pädagogik genannt. Die Pflege des jü-
dischen Religionsunterrichts hat in dem letzten
Jahrzehnt^ nicht nur in der Berliner Gemeinde
einen ungeahnten Aufschwung genommen. Es gibt
jetzt gewiss, alles zusammengerechnet, 3ü jüdische
Beligionsschulen allein in Berlin. Die an diesen
Anstalten wirkenden Lehrer rekrutieren sich, wenn
auch keineswegs ausschliesslich, so doch wesentlich
aus unserer Lehranstalt. Diese aber sind zu
diesem Berufe in keiner Weise vorbereitet. Gewiss
kann man auch auf den Lehrer das von dem
Dichter gebrauchte Wort übertragen, dass^ der
Lehrer geboren und nidit gemacht werde, aber in
viel höherem Grade als der Poet bedarf der Lehrer
Kunstgriffe, kleiner und grosser Mittel, der Fähig-
keit, seinen Stoff zu ordnen, kurz eine Lehr-
■
methode, die ihm durchaus überliefert werden muss.
Es genügt nicht, dass dies alle zwei oder vier
Jahre geschieht, eine solche Vorlesung mtlsste viel-
mehr jedes Halbjahr gehalten werden, sie müsste
begleitet sein von einer Geschichte des jüdischen
Religionsunterrichts, von einer Kritik der be-
stehenden Lehrbücher, vor allen Dingen von prak-
tischen Uebungen. Es dürfte kein Zögling der
Lehranstalt eine Religionsstunde an einer Schule
erteilen, der nicht mindestens ein Jahr unter der
ständigen Aufsicht eines Dozenten wirklich gelehrt
und die Methodik des Unterrichtes praktisch be-
währt hätte.
Zu der Schaffung solcher Einrichtungen und
solcher Stellen bedarf es sehr grosser Mittel. Den
bisherigen Wohltätern und Spendern, den vielen
Mitgliedern, besonders denen, die eifrig bemüht
sind, immer neue Gönner herbeizuziehen, soll der
Dank nicht verkümmert werden. Aber es ist
immer noch nicht genug geschehen. Manche Ge-
693
Prof. Dr. Ludwig Geiger: Der Lehranstalt für Wissenschaft des Judentums.
694
meiDdeo in erster Linie die Berliner, aber auch
manche anderen dentschen Gemeinden haben ihre
Pflidit erkannt, diese Anstalt zn unterstützen.
Denn da sie alle Teile Deutschlands mit Theologen
versorgt, so ist sie wert, in ihren Anstrengungen
gefördert zu werden, aber wie viele Gemeinden,
wie viele Private leimen es ab, einer solchen Anstalt
Mittel zu gewähren. Es ist schon oft genug den
Wohltätigen gepredigt worden, dass es nicht ge-
nügt, Arme und Kranke zu unterstützen, sondern
dass es nötig ist, in erster Linie den Geist zu pflegen.
Und so sei dieser Tag besonders bestimmt zu
einem Appell an die Reichen. Ihnen, besonders
denen, die der Theologie . abgeneigt sind, sei es
gesagt: Hier ist keine theologische Pflanzstätte,
sondern ein allgemeines jüdisches Bildungsinstitut.
Hier liegt der Keim für eine gedeihliche Zukunft,
für die Lehrer und Führer einer kommenden Ge-
neration. Das Wort, „es ist der Geist, der sich
den Körper baut^, sei besonders denen zugerufen,
die nur für Kranke eine offene Hand und ein
mildes Herz haben. Wer den geistig Strebenden
die Zukunft erleichtert, der beugt vor und bereitet
ein gesundes Greschlecht.
Das Heim ist gegründet, es steht zwischen
der Hauptsynagoge und der Universität. Es soll
beeinflusst und gekräftigt werden durch Religion
und Wissenschaft. Es dient der Religion, nicht
einer Partei. Es ist der Wissenschaft bestimmt,
die nur die Wahrheit verlangt und nur in Freiheit
gedeiht
Man hat in neuerer Zeit oft das Schlagwort
von der „firöhlichen Wissenschaft" gebraucht, es
mag auch hier seine Anwendung finden. Was hier
gelehrt und gelernt wird, sei nicht totes Wissen,
sondern ein lebendiger Schatz. Was Goethe ein-
mal von der G^chichte sagte: „Das Beste, was
wir von ihr haben, ist der Enthusiasmus, den sie
erregt", das gelte von der Wissenschaft, die hier
gelehrt wird: mit den Kenntnissen, die Freudigkeit
sie zu verbreiten, die Verklärung des Geistes, der
Opfermut, in ihr zu leben und für sie zu wirken.
Denn das Panier sei: „Wissenschaft und Leben":
sich nicht der Gegenwart entfremden, sondern
frohgemut für sie arbeiten in der Hoffnung und in
dem Bewusstsein, dass der redlichen Arbeit die
Zukunft gehört. Und so sei es gestattet, diesem
Wunsche nach Vereinigen von Wissenschaft und
Leben einen Goetheschen Vers als Geleitwort mit-
zugeben :
Was ist denn die Wissenschaft?
Sie ist nur des Lebens Kraft.
Ihr erzeuget nicht das Leben,
Leben muss erst Leben geben
ABRAHAM GEIGER ALS LEHRER.
Von Oberrabb. Prot. D.
Am IQ. Oktober 1874, drei Tage vor seinem
Hinscheiden, schrieb Geiger an eine Freundin:
«Heute sind es gerade 42 Jahre, dass ich nach
Wiesbaden gefahren, in sorgloser Jugend, um
meine Probepredigt dort zu halten. Welch eine
Zeit und wie voll des mächtigsten Inhalts! Aber
er lastet nicht auf mir, und ich möchte noch
eine Reihe von Jahren vor mir haben, um diesen
Inhalt zu vermehren.«^) Nein, der Inhalt des
Lebens hat auf Abraham Geiger nicht gelastet
das wird ein jeder bezeugen, der das Glück hatte,
in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts
zu den Füssen des Meisters gesessen zu haben.
Nach 34 Jahren sehe ich ihn noch lebhaft vor
mir, wie er freundlich nach rechts und links
grüssend sich anschickte, seine Vorlesung zu be-
ginnen; ich höre noch den Metallklang seiner
Stimme, mit der er uns begeistert und be-
geisternd in die Tiefen seiner Wissenschaft ein-
») S. Abr. Geigers, Nachgel. Schriften 5. Bd. S. 366.
O. Klein, Stockholm. Nachdruck verboten.
zuführen suchte. Lange genug hat er darauf ge-
wartet, ein Amt zu bekleiden, zu dem er, wie
nur wenige, berufen war; lange genug hatte er
sich gesehnt, mit Jüngern der Wissenschaft un-
mittelbar zu verkehren und mit ihnen jung zu
bleiben. In seinen alten Tagen ist ihm endlich
sein Herzenswunsch erfüllt worden, und die vielen
und bitteren Kämpfe, die hinter ihm lagen, sind
bald vergessen, er möchte noch eine Reihe
von Jahren vor sich haben, um sein Leben mit
einem noch reichern Inhalt zu füllen. Die kämpf*
erfüllte zurückgelegte Wegstrecke, sie hat seine
Kraft nur gestählt, sie hat ihn jung erhalten.
Jetzt konnte er ganz und gar seiner lieben
Wissenschaft leben und das w Professorspielen",
wie er in einem Briefe an Nöldeke scherzhaft
sagt, gewährt ihm wahrhafte Freude. Doch
über das Schicksal Abr. Geigers ist anders be*
stimmt worden. Sein Herzenswunsch sollte nicht
in Erfüllung gehen. — Die Berliner Gemeinde ist
20 Jahre zu spät gekommen. — Oder trifft der
Oberrab. Prof. Dr. G. Klein, Slockholm: Abraham Geiger als l^hrer.
696
Vorwurf die Breslauer, sie, die das Werden und
Wachsen des Riesen mit eigenen Augen ge-
schaut? — Doch das sind nutzlose Fragen und
Klagen! Nutzlos auch die Erwägung, wie das
heutige Geschlecht der Rabbiner aussehen würde,
wenn Abr. Geiger in seiner Jugendltraft, vom
heissen Ta-
tendrange
erfüllt, zum
Leiter eines
Rabbi ner-
seminarser-
nannt wor-
den wäre.
— — Ganz
plötzlich
und unver-
mutet, ohne
vorherge-
gangene
Krankheit,
hat die
Nacht vom
24. zum 25.
Oktober
ihn uns für
immer ge-
raubt, da
ist, um mit
dem Tal-
mud zu
reden, ein
Riss ent-
standen,
den wir Zeit
unseres
Letwns
nicht mehr
vernähen
und ver-
winden
werden. -
Was woll-
te Geiger? Abrahan
Was wollte do^"" «
er uns, seinen Schülern, beibringen? In seiner An-
kündigung der Jüdischen Zeitschrift für Wissen-
schaft und Leben, Breslau, 30. Dezember 1861,
sagt O. über das Programm derselben u. a. fol-
gendes: «Das Bedürfnis eines Blattes freisinnig-
religiöser Richtung innerhalb des Judentums, um
das Recht dieses Standpunktes nach aussen und
nach innen zu vertreten, ist sicherlich vorhanden;
einem solchen Bedürfnisse will die Zeitschrift ge-
nügen. Mein Standpunkt für Wissenschaft und
Leben hat unterdessen nicht gewechselt: noch
heute wie ehedem bleibt mein Ziel die An-
erkennung der fortschreitenden geschichtlichen
Entwick-
lung im
Judentume,
die scharfe
Hervorhe-
bung seines
wesent-
lichen und
dauernden
Gehaltes,
die Bedeu-
tung seines
wel^e-
schicht-
lichen Ein-
flusses, die
würdige
Darstellung
seines geis-
tigen In-
halst, die
Kräftigung
seines
Lebens-
prinzips zur
Ueberwin-
dung aller
überlebten
zeitlichen
Gestaltun-
gen zu er-
wirken." —
Kürzer ist
dies Pro-
grammaus-
gedrückt in
dem Wahl-
Geiger, sprach, der
r2-ie74. unter dem
Bilde Geigers, aus der Breslauer Zeit, zu lesen ist:
»Aus der Vergangenheit schöpfen, in der Gegen-
wart leben, für die Zukunft wirken."
Dieses Programm hat Geiger nach Berlin
mitgebracht, ihm ist er bis zum letzten
Atemzuge treu geblieben. Und in der kurzen
Zeit, in der es ihm nun beschieden war, an der
6Q7
Oberrab. Prof- Dr. G. Klein, Stockholm: Abraham Geiger als Lehrer.
608
w Hochschule" zu lehren, hat er keine heiligere
Aufgabe gekannt, als in diesem Geiste zu wirken.
So hat er aus Kether Thora, aus der Krone
der Wissenschaft, die ihn geschmückt, reichlich
ausgeteilt Splitter von Gold und Edelgestein. Er
hat aber ausserdem noch für seine Schüler ein
goldenes Herz gehabt Wie ein Vater um seine
Kinder besorgt ist, so war seine Sorge um seine
Schüler. Der Vielbeschäftigte, von allen Seiten
in Anspruch Genommene, hatte stets Zeit für
sie. Er hatte ein offenes Ohr, wenn es galt,
wissenschaftlichen Rat zu erteilen, und eine
offene Hand, wenn es galt, materielle Not zu
lindem. Doch am bedeutungsvollsten erschien
er uns auf dem Katheder. Voll Geist und Leben
war seine Vortragsweise, glänzend und gedanken-
voll seine Beredsamkeit, tief sein Eindruck, und
sein unermüdlicher Eifer wurde durch die ge-
spannteste Aufmerksamkeit und die innigste An-
hänglichkeit, Liebe und Verehrung belohnt. Man
muss G. gesehen und gehört haben, wenn es
in einem Vortrage galt, den Jüngern zu demon-
strieren, wie man Resultate der Wissenschaft im
praktischen Leben verwerten soll: da war alles
an ihm Geist und durchgeistigt. Da kannte
seine Wahrheitsliebe keine Grenzen. Freiheit!
war seine Parole. Freiheit in Gewissen und
Glauben; Freiheit in der Wissenschaft; Freiheit
im Leben der Völker, wie im Leben des Ein-
zelnen! — Er konnte alle Tonarten anschlagen,
galt es das Lob der Freiheit zu singen, zum
Kampfe für sie zu ermuntern. — So steht er
noch heute vor mir, mahnend und warnend, als
ein furchtloser Kämpfer für die Rechte der Ver-
nunft und des freien Gewissens. So höre ich
ihn noch heute mit seiner Donnerstimme dem
schwer geprüften Israel zurufen: »/Erhebe dich
Israel, in vollem Schmuck des Geistes und bahne
der freien Erkenntnis, die den wahren Glauben
bedingt, weite Gassen, Darum weg mit allem
Schein und aller Aussenfrömmigkeit, denn nur
die innere Gesinnung heiligt Raffe dich auf,
Israel ! Es ist lange genug an Dir herumgepfuscht
und gekünstelt worden. Weg mit allen künst-
lichen Wiederbelebungsversuchen! Du hast einen
lebendigen Gott, der sich offenbart in der Ge-
schichte. Und mit Händen zu greifen ist seine
Offenbarung in deiner eigenen Geschichte. Du
hast einen Quell, den deine Geistesfürsten, den
deine heiligen Propheten und Psalmisten ge-
graben. Schöpfe aus ihm und du wirst dich
verjüngen und reifen für die wahre Freiheit. Es
ist Zeit, dass du dich allen unnützen, deine Sitt-
lichkeit und deine Erbauung nicht fördernden
Umzäunungen entwindest Führe deinen Kampf
ums Recht mit Würde und tritt als Mann auf
und nicht als Sklave. — Israel, du musst dich
wieder auf deine heilige Aufgabe besinnen! Das
ist das Eine! Dabei vergiss nimmer, dass du ein
Glied bist an dem grossen Menschheitsorganismus.
Aus deiner Gotteslehre folgt die Einheit des
Menschengeschlechts. Du hast der Menschheit
den Dekalog geschenkt In deiner Bibel ist zuerst
das grosse Gebot der Liebe verkündet worden.
Noch sind deine Wurzeln nicht verdorrt, noch
strömt Lebenskraft aus ihnen. Nur an dir Israel
liegt es, zu wollen, recht zu wollen, dann wirst du
noch eine Zukunft haben und der Menschheit
zum Segen werden. Darum auf Israel! Sammle
dich wieder um eine Idee, um deine Uridee, und
die Spuren des Drucks, die noch an dir haften,
werden bald getilgt sein, und eine späte Zukunft
wird dankerfüllt von deinen Geistestaten zeugen." —
So hat Geiger uns, seine Schüler, das Judentum
erfassen und lieben gelehrt. So redet er noch
heute aus seinen Schriften zu uns. O, dass wir
auf seine Stimme hören!
DIE DOZENTEN DER LEHRANSTALT UM 1890.
Von Rabb. Dr. Max Joseph.
Nachdruck verboten.
Als ich beim Beginn meiner theologischen Studien
mich unter den bestehenden Rabbiner- Bildungs-
anstalten für die „Hochschule" entschied, da war
für mich hauptsächlich der Umstand ausschlaggebend,
daß ich hier völlig freie Bahn für meine theologische
Entwicklung zu finden hoffte. Der Gedanke, mit
meiner Überzeugung irgendeinem Zwange zu unter-
stehen, ist mir stets unerträglich gewesen.
Bunt genug war auch, wie von Anfang an, das
Lehrerkollegium zusammengesetzt. Jeder junge Theo-
loge wurde dadurch schon selbst gezwungen, seinen
eigenen Weg zu suchen. Die Wissenschaft des Juden-
tums wurde an der Anstalt gelehrt, seine Theologie
mußte sich jeder selber aufbauen.
Da w^ar an dem einen Ende, am weitesten rechts-
stehend, der selige Joel Müller. Ein Mann von großer
talmudischer Gelehrsamkeit und einer seltenen, fast
zaghaften Hosoheidenheit. Dogmatisch hatte er den
Die vier Dozenten der Lehranstalt u
orthodoxen Standpunkt wohl überwunden, aber in
der Praxis hielt er doch mit ehrfürchtiger Liebe an
den talmudischen Normen fest. Eine theoretische
Begründung seines Standpunkts hat er wohl kaum
je zu geben versucht. Wie manch anderer unter den
neueren Talmudisten war er in seine talmudische
Welt ganz eir^sponnen. Wer den großen, be-
wunderungswürdigen Emat der Heroen dieser Welt
kennt und den milden Zauber, der von ihnen aus-
geht, der wird die heilige Scheu vor der Autorität
der frommen Schriftgelehrten immerhin begreiflich
finden. Müller besaß auch die natorliche, starke
Frömmigkeit des talmudisch-mittelalterlichen Juden-
tums. Mit der Ruhe eines wahren
Frommen erwog und riet er vor
seinem Tode, wie es bis zur Be- '
rufung eines neuen Dozenten mit
den von ihm vertretenen Disziplinen
gehalten werden '^ sollte. „Sterbe
meine Seele den Tod der Ge-
rechten! Möge mein Ende dem
seinen gleichen !"
Müller am nächsten stand David Cassel. In
seinen jungen Jahren war Cassel, wie sein Bruder
Selig, der spätere Paulus, ein heftiger Gegner der
Reform gewesen. Der Fortschritt der Zeit hatte
seinen Eifer gemäßigt, er schien sich jedoch mehr und
mehr auf sich selbst und seine Wissenschaft zurück-
zuziehen. Nie habe ich aus seinem Munde ein Wort
über seinen Standpunkt gebort. Er machte auf mich
stets den Eindruck eines kerzengeraden, geschlossenen,
aber auch, bei allem Humor und aller Jovialität, ver-
schlossenen Charakters. Seine Liebe zur „objektiven"
jüdischen Wissenschaft hatte hierin unzweifelhaft
ihren tiefsten subjektiven Grund. Der Gang der
Dinge hat ihm schwerlich gefallen,
doch schien er seinen Frieden 'mit
ihm. .gemacht zu haben. ^
Dann kam Maybaum, der prak-
tische Theologe, der gewandte Lehrer
der Homiletik. Er redete einer be-
sonnen und langsam fortschreiten-
den Reform das Wort. Eine lie-
ffre theoretische Begründung dieses
Dr. Israel Lewy..
Die vier Dozenten der Lehranstalt i
Dr. J. Elbogen, Berliii.
Dr. Tahuda, Berlin.
Dr. Baneth, Berlin.
Standpunkts gehörte stets zu seinen sehnlichsten herangezogen werden. Es ist wohl Itein bloßer Zufall,
Wünschen. Vielen jungen Theologen ist er, besonders daß Steinthal in dem 73. Psalm, vielleicht dem schönsten
während meiner Studienzeil, ein Führer gewesen.
Am äußersten linken Ende schien Halm Stein-
thal zu stehen. Ich glaube auch, daß seine tiefe Religio-
sität und seine heiße Liebe zum Judentum von manchem
der Hörer nicht recht erkannt wurden. Das kam
wohl hauptsächlich daher, daß in seinen Kollegien
vor allem die scharfe, rücksichtslose Kritik seines
Verstandes in den Vorder-
grund trat. Wohl kaum
ein anderer Bibelkritiker
zerriß die heiligen Texte
in 80 viel Stücke, wie er.
In Wirklichkeit aber war
er der Typus des großen,
vornehmen jüdischen
Geistes. Sein HerzJ war
ganz und garvon einer hei-
ligen religiösen Sehnsucht
erfüllt, mit seinem Ver-
stände aber bohrte er un-
ablässig in don Tiefen des
Welträtsels. Der Prophet
Jeremia, der angesichts
seiner widrigen Schicksale
und des Weltlaufs gar
manchmal vom Zweifel
grausig gepackt wurde,
auch mancher mit seinem
Glauben ringende Psalm-
dichter, am meisten viel-
leicht der erhabene Ver-
fasser des Buches llioh,
können hier zum \'ergli'irli
der bezeichneten Art, die höchste und reinst« Reli-
giosität ausgedrückt fand. Die Worte „die Nähe
Gottes, sie ist mein Gut" enthalten nach seiner eignen
Äußerung das Glaubensbekenntnis seines Herzens.
Als ein echter Diener des Gottes, dessen Insiegel die
Wahrheit ist, und also aus einem stark ethischen
Grundtriebeberaus ein von glühendem Verlangen erfüll-
ter Wahrheitssucher, übte
er eine haarscharfe Kri-
tik selbst am Heiligsten.
Auch das war ihm Gottes-
dienst. Ein echter Sohn
Jakobs, ein wahrerlsraelit,
rang er für und mit Gott,
und des Kampfes anstren-
gende Arbeit breitete eine
stille, tiefe Wemut Über
sein Wesen. Wer konnte
ihm, dem stillen Kämpfer,
dem großen Denker, dem
erhabenen Geiste, dem
reinen Menschen mit dem
kindlich schlichten Ge-
müte zu Füßen sitzen,
ohne von heiliger Ehr-
furcht erfaßt zu werden ?
Er war einer der edelsten
und größten Söhne Israels
im neunzehnten Jahr-
hundert. Ihn gekannt, in
seine Seele geschaut zu
haben, ist ein reicher Ge-
winn für das ganze Leben.
ERINNERUNGEN AN CHAJIM STEINTHAL.
Von Dr. Simon Bernfeld.
Steinthal gehörte zu den wenigen Gelehrten
und Schriftstellern, die bei persönlicher Be-
kanntschaft nicht enttäuschen, sondern im Gegen-
teil die Bedeutung und Wirkung ihrer Schriften
noch erhöhen. Wer ihn einmal sprach, gewann
gleich die Ueberzeugung, dass er das, was er
schrieb, auch lebte. In ihm war nichts von
Phrase, von gedankenloser Gewohnheit; er war
von antiker, oder sagen wir ebenso richtig, von
altjüdischer Wahrhaftigkeit und von streng
ernster Auffassung des Lebens. Ebenso wie er
ungekünstelt und doch
fesselnd schrieb, war er
auch in der mündlichen
Unterhaltung von be-
zaubernder Natürlich-
keit und Einfachheit.
Die PersönlichkeitSiein -
thals bot eine eigen-
tümliche Erscheinung ;
sie war eine wunder-
volle Spielart des jüdi-
schen Wesens, wie es
sich im modernen Leben
auf dem Boden der
europaischen Bildung,
aber in der Natur des
jüdischen Volkes wur-
zelnd ausgebildet hat.
Steinthal vereinigte in
sich die tiefe Religiosität
eines Bachja ihn Ba-
kuda, die echte schrift-
stellerische Bescheiden-
heit und Klarheit eines
Raschi, die philoso-
phische Weltanschau-
ung des klassischen
Hellenismus und die
ganze Modernität eines
vornehm gebildeten Chajim s
deutschen Juden. ^^'"' "
Diese Synthese bildete
die Eigenartigkeit seiner bezaubernden Persön-
lichkeit.
Zum erstenmale habe ich Steinthal im Mai
1883 in einer öffentlichen Versammlung sprechen
hören. Es war dies anlässlich der Enthüllung
der beiden Humboldt-Denkmäler vor der Uni-
versität in Berlin. Am Abend nach der Ent-
hüllungsfeier hielt Steinthal im Rathaussaal die
Gedenkrede auf die Brüder Humboldt, ins-
besondere auf Wilhelm v, Humboldt, als dessen
geistigen Schüler man Steinthal zu bezeichnen
pflegte. Die geistige Elite von Berlin war zu
diesem Vortrage erschienen. Ich kann mich
nicht mehr erinnern, welchem günstigen Zufall
ich damals die Zulassung zu der Feier im Rat-
hause zu verdanken hatte. Wenn jemand
ausserUch zu einem offendichen Vortrage, dazu
noch bei einer solchen Gelegenheit, völlig un-
geeignet war, so schien es Steinthal zu sein.
Seine Sprache war von der denkbarsten Ein-
fachheit, das Organ schwach und unschön. Er
konnte auch nicht eine Minute, ohne das Manu-
script vor Augen zu halten, sprechen. Bei den
ersten Worten, mit denen er seinen Vortrag
begann, empfand man em Gefühl der Be-
klemmung und der Beängstigung. Aber bereits
die ersten Sätze fesselten die illustre Zuhörer-
schaft. Jeder weitere
Satz rief geradezu eine
Bewegung hervor, und
alle im Saale folgten
den Worten desRedners
mit einer Aufmerksam-
keit, wie eine andäch-
tige Gemeinde der
Predigt eines gott-
begeisterten Redners
lauscht. Nie habe ich
eme solche Wirkung
eines Vortrages bei völ-
ligem Mangel aller
äusseren Hilfsmittel ge-
sehen, wie an jenem
Tage. Die Festrede
Stemthals war eine
Sensation und wurde
in der Presse eingehend
und rühmend be-
sprochen.
Im Auditorium der
Lehranstalt derWissen-
schaft des Judentums
bot Steinthal eine nicht
minder merkwürdige
Erscheinung. Sein Fach
■«ll'^**- war Bibelkritik und
'^ '*"■ Religionsphilosophie.
Das Eigentümliche da-
bei war, dass Steinthal sehr wenig vom Kritiker
an sich hatte. Ihm fehlte die philologische
Objektivität, die bei der Bibelkritik unerlässlich
ist. Die Bibel war ihm nicht nur die Quelle der
Religion und der Religiosität, sondern auch der
Inbegriff aller poetischen Schönheit. Wer in diesem
Buch die höchste Ethik und Aesthetik vereinigt
findet, ist zum Bibelkritiker nicht geschaffen. Ich
erinnere mich, wie er eines Tages über das Buch
Ruth las. Es fiel ihm gar nicht ein, diese liebliche
Idylle, die, was ihre poetische Schönheit be-
trifft, sicherlich einzig in der Weltliteratur da-
steht, kritisch zu sondieren und auf ihre ge-
schichtliche Grundlage zu prüfen, wie es etwa
Abraham Geiger in seiner „Urschrift" getan
hat. Steinthal versuchte vielmehr, uns die un-
Dr. Simon Bcmfeld: Erinnerungen an Chajim Sieinthai.
vergleichliche Schönheit
der biblischen Epik zu
schildern: wie das un-
glückliche Weib Noomi
zuerst ihren Mann ver-
liert und dann ihre beiden
verheirateten Söhne, und
in der Fremde mit ihren
Schwiegertöchtern arm
und verlassen zurück-
bleibt. Steinthal las uns
vor, wie der Erzähler
diese Ereignisse einfach
und doch ho ergreifend
schildert. Als er zu
dem Satz kam: „sie
erhüben ihre Stimme
und weinten", weinte
er selbst mit und
musste die Vorlesung ab-
brechen. Er war von der Tragik der Dichtung Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums als
aufs tiefste et^iffen. Aehnliches geschah auch Hörer angehörte, in manchen Kreisen halb ver-
einmal, als er über die Geschichte der versuchten wundernd und halb missbiUigend die Klage
Opferung Isaaks las. über welches Kapitel der gehört, dass ein solcher Freidenker wie Steintl^ .
Bibel eine fast unübersehbare Kritik-Literatur an einem Institut mitwirken konnte, dessen
vorhanden ist. Steinthal befasste sich ganz und Hauptzweck auch schon damals die Ausbildung
Justizrat Lilienthal, Berlin.
Syndikus der JQdlKhcn Gemeinde.
Höret 1876-1878.
Rechtsanwalt Plotke, Frankfurt a. M.
Hörer 18T6— 187M.
gar nicht mit der religionsgeschichtlichen Seite
dieser Erzählang, sondern mit der Schönheit
der Darstellung. Die ästhetische Betrachtung
Überweg bei ihm immer die Kritik. Allerdings
ging er dabei oft von der altklassischen Auf-
von Rabbinern war. Mag man aber dazu
sagen, was man will, ich habe niemals einen
frommeren Juden gesehen, als Steinthal einer war.
Allerdings darf man dies nicht im landlau^en
Sinne nehmen. Steinthal war eine religiöse
fassung aus. So konnte er beispielsweise der Natur und hing ebenso mit allen Fasern seines
ebenso natürlichen, wie heissen Sehnsucht nach Lebens am Judentum. Aber seine Frömmigkeit
Liebe, wie sie im Hohelied zum Ausdruck ge- und sein Judentum schöpften nicht beide aus
langt, recht wenig Geschmack abgewinnen, ein und derselben Quelle. Es dürfte den meisten
Bei einer mündlichen Unterhaltung äusserte er seiner Schüler bekannt sein, dass Steinthal
mir gegenüber seine Abneigung gegen die keinem jüdischen Religionsphilosophen eine
schwülstige Sprache, wie er sich
ausdrückte, dieser Dichtung. Er
liebte weder die kühnen Bilder,
deren sich der Dichter bedient,
noch den heissen Atem der
Liebenden, die ihre Sehnsucht
so offen und natürlich aus-
sprechen. Das war nicht nach
seinem Geschmack.
In gewissen Kreisen galt
Steinthal bezüglich seiner reli-
giösen Anschauung als radikal;
viele behaupteten sogar, er sei
Atheist. Nun, was seinen Atheis-
mus betrifft, dürfte man wohl auf
ihn das Wort anwenden, das
einst Hegel Ober Spinoza aus-
sprach: „Nicht Atheismuss lehrte
er, sondern Akosmismus", die
Verneinung des Materiellen und
des Vergänglichen und die Her-
vorhebung des Göttlichen in allem
menschlichen Denken und Tun.
Ich habe oft, während ich der
Dr. Bcmfeld, Berlin.
solche innige Verehrung zollte,
wie dem bereits erwähnten Bachja
ihn Bakuda. Also auch in der
Religionsphilosophie liebte Stein-
thal nicht etwa die Kritik und
die Analyse, sondern das Posi-
tive. Dass er gerade Bachja so
gern las und ihn für den
Religionsphilosophen hielt, zeigt
deutlich, dass bei ihm das Rdi-
giöse die Hauptsache war, das
Gottvertrauen und das Leben in
Gott, wie es Bachja lehrt. In-
dessen ist dies nicht gerade das
Jüdisch -Religiöse, wie ja be-
kanntlich das Buch der „Herzens-
pflichten" des Bachja nur eine
Nachahmung beinahe eine Ueber-
setzung eines ähnlichen arabi-
schen Volksbuches ist. Denkt
man sich statt der Bibelverse in
diesem Buche solche aus dem
Koran, so eignet es sich auch
iür fromme, gottvertrauende Isla-
miten. Steinthal war somit
Dr. Simon Bemfeld: Erinnerungen an Chajim Steinthal.
Rabb. Dr. H. Watscbauer,
BcTlln.
Hörn 1B90 -t8<»:'
Rabb. Dr. Blumentbal,
Benin.
Hörer 18S4-IS92.
Rabb. Dr. Joaeph,
Stolp.
»ÖTtt 1390— 18M.
religiös, aber nicht konfessionell. Gleichzeitig aber
hing er am Judentum als geschichtlicher Er-
scheinung, an dem, was das jüdische Volk unver-
gänglich macht. Das war aber nicht mehr Religion,
sondern geschichtliches Bewusstsein, so dass sich
Steinthals Judentum auch mit der freiesten Welt-
anschauung vereinigen liess. Er war als Lehrer
der Religionsphilosophie nicht an seinem Platze,
Rabb. Dr. Lucas,
Glogftn.
Kfirer ie92-18W.
Rabb. Dr. S. Poznanski,
Hürer ISQO-IS«.
weil ihm das Revolutionare in den grossen jadischen
Religionsphilosophen fremd war; aber er selbst lehrte
Religionsphilosophie im modernen Sinne, d, h. er
zeigte, wie man auf der Höhe der philosophischen
Weltanschauung und der nichtkonfessionellen Ethik
stehend, religiös und ein überzeugter Jude sein kann.
Denn Steinthal war dies, er der so wahrhaftig und
aufrichtig war, der nichts aus Gedankenlosigkeit tat
oder sprach, der stets Selbstschau hielt und seine
Ueberzeugung immer von neuem einer gründlichen
Prüfung unterzog.
Ich habe oben bemerkt, dass Steinthal die un-
gekünstelte Bescheidenheit unseres Raschi zeigte.
In manchem Semester pflegte er auch Bibelexegese
zu lesen, in seiner Art, als Bibelkritik und Bibel-
forschung. Diese Vorlesung war zu meiner Zeit
seminaristisch gehalten. Er las nicht vor, sondern
mit seinen Hörern. Da pflegte er oft, wenn ihm
eine Bemerkung eines Hörers gefiel, in rührender
Bescheidenheit zu äussern: Das Tiabe ich nicht ver-
standen, oder; Das habe ich nicht gewusst. Derartige
Aeusserungen erinnerten oft an die den deutschen
Juden früherer Jahrhunderte nachgerühmte Naivität
(Themimut), die wir an Raschi so sehr bewundern.
Dieser unvergleichliche Bibel- und TalmuderklSrer
macht manchesmal die Bemerkung: diese Stelle v r-
mag ich nicht zu erklären, obwohl er doch darüber
hatte hinweggehen können. Er schämte sich eben
nicht, den Hörern einzugestehen, dass er etwas nicht
wusste. Durch diese Art ehrlicher Bescheidenheit
war Steinthal auch dem jüngsten seiner Schüler
gegenüber: wohlwollend und nachsichtig, gütig und
milde. Nichtwissen war bei ihm kein Fehler, dessen
sich jemand zu schämen hätte. Er forderte nur von
jedermann Aulrichtigkeit und Wahrhaftigkeit.
So war er, wie selten einer, geeignet, Rabbiner,
d. h. Volkslehrer zu erziehen und auszubilden, und
ich möchte auch auf ihn das alt mischnaetische Wort
anwenden: „Rabbi! Wer sich von dir 1
bich vom Leben los."
Dr. Neamann, Berlin.
Sekrear da D. I. Q. B.
Höret 1889-1892.
Oberrabb. Prof. Dt. Klein.
Rabb. Dr. Henn. Vogelstein.
KfloigBben i. Pr.
Harn 18W— 1895.
Rabb. Dr. J. Galliner,
CbaTlottcnbarg.
Hörer 1397—1903.
Rabb. Dr. Samuel,
HSrtr ISB8-I8W.
Rabb. Dr. Walter.
Rabb. Dr. Bich.
Dflueldorf.
WAS MICH ZUR HOCHSCHULE FUEHRTE.
Von Prof. Dr. K. Völlers.
Als idi im Herbst 1877 die Universität Berlia
-bezog, um dort evangelische Theologie nud Orienlalia
zn stndieren, wendete ich mich an Heirn Professor '
Dr. H. Steinthal, mit der Bitte, mich auch zum
BesQch der Vorlesangeo an der damals meist nach
Abr. Geiger genanaten Lehranstalt (oder Hoch-
schule) fiir die Wissenschaft des Jadentums id
Berlin zuzolassen. Meine Bitte wurde gewährt,
und ich war während des "Winters 1877—78 Zu*
hOrer dort Die Gründe meines Besuchs dieser
Lehranstalt liegen nicht ferne. Ich hatte die
Ueberzeugung gewonnen, dass die ältere, in der
„Zerstrennng" ausgebildete Wissenschaft der Juden
bei weitem noch nicht Kenfigend für die Zwecke
der Exegese des Alten Testaments, der Geschichte
des Kanons asw. antzbar gemacht sei, und wollte
mich durch tieferen Einblick in diese Literatur fttr
alttestamentliche Stadien rftsten.
Zu dem Zwecke besuchte ich die Vorlesungen
von H. Steinthal Ober jüdische Glaubenslehre and
die von Dr. Lewy über Talmud. Jene boten einen
besonderen G^enass duich die geistvolle Art, wie
dieser hervorragende Denker die überlieferten An-
schauungen mit seinen philosophischen üeber-
zengnngen in Einklang zu bringen suchte, und er-
innerten mich an parallele Erscheinangen auf
christlichem Gebiet Sehr viel neues lernte ich in
der gediegenen exegetischen Vorlesung des Dr. Lewy.
Ich habe nnzählige Male bedauert, dass ich durch
meinen späteren Lebensgang, der mich auf die
Pflege des Arabischen hindrängte, von diesen Studien
abgezogen wurde. Niemals habe ich meine Ueber-
zeugung von dem besondem Wert dieser Literatur
für die Exegese und Kritik des Alten Testaments
verloren, nnd wenn seitdem anch vieles anf diesem
Gebiet von christlichen Gelehrten gearbeitet ist, so
vermisse ich doch noch immer eine knappe Dar-
stellung der hier zu holenden Gewinnste für die
genannten Zwecke und nicht minder tür die so-
genannte nentestamentlicbe Zeilgeschichte und das
keimende Christentum.
Rabb. Dr. KalUcher,
Bonn a. EUi.
HSrtr 1885—1892.
Dr. Barol, Berlin.
Blbllotbelcar.
AUS DEM LEBEN DER LEHRANSTALT.
Von Dr. Max Eschelbacher.
Die Lehranstalt für die Wissen-
schaft des Judentums zieht in
diesen Tagen in ihr neues Heim
ein. Damit beginnt, mindestens
äußerhch, ein neuer Abschnitt
ihrer Geschichte, und es ist viel-
leicht auch für weitere Kreise
nicht ohne Interesse, nochmab
einen Blick auf das Leben und
Treiben zu werfen, wie es in den
letzten Jahren im alten Gebäude
in der Lindenstraße sich ^abge-
spielt hat.
Die Freude über die Über*
Siedlung ins neue Haus wird groß
sein, größer vielleicht noch die
Genugtuung über den Auszug aus
dem alten, denn dieses warwie ein
Symbol der engen Verhältnisse,
unter denen die Wissenschaft des
Judentums sich entwickelt hat.
Auf einer hölzernen Treppe
liegt.
Hier entfaltete sich
vom Ofengesims her stumm die Büste eines alten
jüdischen Oelehrtfin blickte.
Und nebenan ist der Hörsaal, der Hörsaal
schlechthin, denn die Lehranstalt besaß bisher keinen
anderen. Ein großer, schöner Baum. Die Vorderwand
ziert ein vorzügUchcs Porträt von Moses Mendelssohn,
an der Hinterwand erblicken wir das Bild Steinthals,
der auch einmal hier doziert hat, an der Seite pocht
eintönig die Wanduhr, wenn sie nicht gerade stehen
geblieben ist, was nicht selten vorkam.
Und nun wird es Zeit, von den Männern zu sprechen,
die hier unterrichten. Das Verhältnis der Schüler zu
ihrem Lehrern wird bedingt durch die Eigenart des
rabbinischen Studiums. Wir haben Keine Lehrbücher.
Was wir lernen, müssen wir aus den Quellen selber
schöpfen. Das hat seineSchattenseiten, denn dasQuelIen-_
Studium ist mühsam, und auch einem fleißigen Menschen
wird e? kaum möglich sein, schon in der Studienzeit
stieg man zur Anstalt empor und
befand sich bald auf einem
Vestibül von 2 Meter Länge und
anderthalb Meter Breite. Wie es
für eine Hochschule sich geziemt,
hing hier ein schwarzes Brett,
das, abgesehen vom Verzeichnis
der Vorlesungen, eine Liste der
„kleinen Propheten" enthielt, der
Hörer, die im laufenden Semester
im homiletischen Seminar eine
Ubungspredigt halten wollten.
Dann gings hnks in einen läng«
liehen Gang hinein, der im
Sommer btdb, im Winter ganz
dunkel war, und während der
Pausen nur spärlich durch die
glühenden Zigaretten einiger
Hörer erhellt wurde. Links
öffnete sich eine Tür zur Biblio-
thek, deren oberste Leitung in
den Händen des Herrn Dr. Barol
r^s Leben, auf das
Rabb. Dr. G. Oppenheim,
Hörer 1873-1877.
Dr. Max Eschelbacher: Aus dem Leben der Lehranstalt.
Gruppe der derzeitigen Hörer der „Lehranstalt ffir die WiBBenachaft des Judentuma."
5p«tial-Aulnahine,f<lT „Ost und West".
eine gründliche Kenntnis des ganzen Gebiets der jü-
dischen Wissenschaft Zugewinnen. Aber das ist doch
nur die Kehrseite einer Lichtseite, und auf anderem
Weg ist ein Eindringen in die Wissenschaft schwer
möglich. Nicht Werke über Bibel und Talmud
werden hier besprochen, sondern Bibel und Tahnud
selber. Damit aber verwandelt sich mit Notwendigkeit
die in anderen Disziplinen übliche systematische Vor-
lesung in eine Diskussion zwischen Lehrer und Schüler,
die sich infolgedessen ganz anders nahe treten, als der
Student und der Professor auf der Universität. Diese
lernen sich vielleicht im Examen zum erstenmal kennen,
auf der Lehranstalt aber ist jeder Tag em klene*^
Examen, wo der Hörer dem Dozenten Rede zu stehen
hat.
Das dienstälteste Mitglied des X.ehierkolleg<un)s
ist Professor Dr. Maybaum. Er lehrt Midrasch und
praktische Theologie, d. h. Pädago^k und Homiletik.
Die Krone seines Unt«rrichts aber sind die homiletischen
Übungen. Ein Hörer predigt, die andern hören zu,
kritisieren, der Redner repliziert, und schUeßlich pibt
Maybaum ein zusammenfassendes Urteil über Rede
und Kritik, in der er hSuHg die feinsten Beobachtungen
aus vielj&hriger Praxis mitteilt. Es ist ein kritikfrohes
PubUkum, das hier dem Redner lauscht, häufig und
mit Erfolg bemüht, den Dulder oben auf dem Katheder
außer Fassung zu bringen. Es sind nicht nur belehrende,
sondern auch heitere Stunden, und die schönsten Blüten
eines unfreiwilligen Humors wachsen hier. Schade, daß
man nicht alles erzählen kann ! Vor einigen Jahren
erklärte ein Hörer, er werde bei der nun folgenden Rede
die Voraussetzung machen, daß weit und breit im ganzen
Land kein Rabbiner zu finden sei, und dann ging er hin
und hielt eine Traurede, in der er unverzagt sich selber
traute. Wer das Vergnügen hatte, an diesen schönen
Stunden Freitags von 8 bis 10 Uhr teilzunehmen,
wird stets mit größter Freude an sie zurückdenken
Ein ernsteres .\ntbtz trfigt schon die Talmud-
verlesung. Im Talmud unterrichten ist keine leichte
Aufgabe. Der Stoff ist schwierig und die Hörer sind oft
wenig vorgebildet. An der Lehranstalt wird das Fach
durch einen großen Gelehrten vertreten, durch Dr.
Eduard Baneth. einen Enkel des berühmten Tal
mudisten Mordechai Baneth. Er gehört der streng-
orthodoxen Richtung an und versteht es, mit viel
Gelehrsamkeit und Geist, bisweilen auch mit blenden
dem Witz, seine Anschauungen zu vertreten. „Was
Wellhausen sagt, ist auch nicht alles Thorath Mosche",
hat er einmal auf die Darlegungen eines Bibelkritikers
erwidert. Im Unterricht ist er ein Vertreter des Peschat.
der einfachen, unv erkünstelten Auffassung. Mit hoher
Kunst versteht er es, die schwierigsten talmudischen
Materien in ihre Elemente aufzulösen, jede Frage von
den ersten Quellen bis zum Schulcban Aruch zu ver-
folgen und schheßUch, nach gründlicher Untersuchung
jedes einzelnen Punktes, das Ganze vor den Augen seiner
Schüler wieder aufzubauen. Dabei beschränkt er sich
nicht auf den Talmud allein. Er ist ein Kenner der
Mathematik, besonders der Astronomie, und hat, das
ist seine jüngste literarische Leistung, die Abhandlung
des Maimonides ober die Neumondsberechnung in
die Sprache der Mathematik unserer Zeit übersetzt.
So kann er, frei nach Max Samuel, sE^n: „Die Bahnen
der Gestirne sind mir so bekannt, wie die Straßen
von Berhn."
Literatur und Geschichte lehrt Dr. Ismar Elhogen.
Er bemüht sich ganz besonders, zu zeigen, wie Probleme
der jüdischen Geschichte nach der exakten Methode
hbtorischer Forschung zu behandeln sind. So hat er.
um eine seiner bedeutendsten Leistungen zu nennen,
vor einigen Semestern in den historischen Übungen,
die er leitet, die Geschieht« von den vier Gelehrten,
eine der bekanntesten Legenden der jüdischen Ge-
schichte, kritisch betrachtet. Vier Gelehrte, so erzählt
ein mittelalterHcher Historiker, zogen aus Sura fort, um
Spenden für die Lehrhäuscr zu sammeln. Unterwegs
wurden sie von Piraten gefangen genommen, aber von
Glaubensgenossen losgekauft, worauf sie in verschiede-
715
Dr. Max Eschelbacher : Aus dem Leben der Lehranstalt.
716
nen Städten Nordafrikas und Spaniens Lehrhäuser
begründeten. Eine Prüfung der gesamten uns über*
lieferten Nachrichten, insbesondere auch der in der
Geniza zu Kairo gemachten Funde, zeigte indes, wie
Elbogen damals nachwies, daß die Erzählung, so wie sie
berichtet wird, nicht zutreffend ist. Die vier Gelehrten
haben gamicht zu gleicher Zeit gelebt, und wichtige
Züge sind wörtlich dem Talmud entlehnt. Und doch ist
jene Legende von hoher historischer Bedeutung, denn
sie bringt zum Ausdruck, wie im X. Jahrhundert die
babylonischen Lehrhäuser verfielen und neue in Afrika
und Spanien begründet wurden. Für die Kunst einer
kritischen imd sorgsamen Quellenbetrachtung sind
Elbogens Vorlesungen eine vorzügliche Schule.
Das jüngste MitgUed des Kollegiums ist Dr.
Yahuda, ein Mann, der viele Städte und Menschen
gesehen hat, geboren zu Jerusalem, auf deutschen
Universitäten gebildet, englischer Staatsangehöriger.
Als er sein Amt an der Lehranstalt antrat, hörte
ich nur noch sehr wenig Vorlesungen und kann
darum auch nur wenig davon berichten. Abei daß
ein Mann, der Arabisch und Hebräisch von Jugend
auf fertig spricht, und der die Lebensverhältnisse des
Orients aus eigener Anschauung gründlich kennt, zur
Erklärung der Bibel vieles sagen kann, was andere
nicht wissen können, das ist selbstverständhch.
Wenige Tage noch, und der alte Hörsaal wird
geschlossen, ein neues Lehrhaus öffnet seine Pforten.
Möge es eine Stätte jüdischen Wissens werden, wo
tüchtige Lehrer imterrichten und tüchtige Schüler
lernen. Mögen viele Männer aus ihm hervorgehen, auf
die der deutsche Rabbinerstand dereinst stolz sein darf !
Und wenn auch das neue Heim dereinst alt und morsch
wird und zerfällt, dann möge immer noch die Lehr-
anstalt in voller Kraft bestehen, und wenn sie dann,
in hundert, in zweihimdert Jahren, abermals eine neue
Stätte bezieht, dann mögen die Hörer jener Zeit mit
ebensoviel Dankbarkeit und Freude von ihren Lehrern
sprechen dürfen, wie die heutigen Schüler der Anstalt.
DER NEUBAU DER LEHRANSTALT EUER DIE WISSENSCHAFT DES
JUDENTUMS/)
Standes für absehbare Zeit in völlig ausreichender
Weise befriedigt werden könnten, wurde von an-
derer Seite geltend gemacht, dass auch auf die
Zukunft Bedacht zu nehmen, dass die Möglickeit
einer bedeutenden Vergrösserung der Hochschule
zu berücksichtigen sei.
Zahlreiche Angebote wurden bezüglich ihrer
Eignung geprüft, bis sich das Kuratorium dahin
schlüssig machte, den Bauplatz Artüleriestrasse 14t
von der Stadtgemeinde zu erwerben. Die geringe
Grösse des Grundstückes, seine schiefwinklige
Form, sowie der Umstand, dass es von allen
Seiten von hohen Giebelwänden umgeben war,
machen es erklärlich, dass sein Erwerb auch teil-
weisen Widerspruch fand, der jedoch gegenüber
den vielen anderen Vorzügen nicht zur Geltung
kommen konnte.
Allgemeines.
Seit ihrer Begründung war die Hochschule,
die heutige Lehralnstalt, in Mietsräumen unter-
gebracht, zunächst 1872—1875 in dem Hause
Spandauer Brücke 8, sodann im Quergebände Unter
den Linden 4A, von Oktober 1892 ab im Seiten-
flügel der Synagoge Lindenstrasse 48/52. Die als
Wohnungen bestimmten Räume waren für die Zwecke
einer Hochschule nicht sehr geeignet. Der lang-
gehegteWunsch nachErwerbung eines eigenen Grundr
Stücks konnte infolge des Mangels an Mitteln keine
Verwirklichung finden; erst die hochherzige Schenkung
des Bittergutsbesitzers Nathan Bernstein er-
möglichte die energische Aufnahme des Planes.
Allein selbst dann konnte die Angelegenheit keine
rechte Förderung finden, weil es an einem ge-
eigneten Platz für die Eirrichtung des neuen Ge-
bäudes fehlte. Das Kuratorium sowohl wie das
LehierkoUegium wünschten, dass die Anstalt
möglichst nahe der Universität liegen sollte. Da
die Hörer der Hochschule gleichzeitig die Vorträge
der Universität besuchen, musste die Möglichkeit
gegeben werden, in recht kurzer Zeit, zumeist in
den Zwischenpausen, den Weg von der Universität
zur neuen Hochschule zurückzulegen. Es ist klar,
dass der Ankauf eines passenden Bauplatzes im
Herzen der Hauptstadt auf besondere Schwierig-
keiten stiess. Auch waren im Kuratorium ver-
schiedene Ansichten über die Grösse der er-
forderlichen Bodenfläche vorhanden. Während auf
der einen Seite der Wunsch bestand, ein Grund-
stück zu erwerben, auf welchem die Bedürfoisse
der Hochschule nach Massgabe des augenblicklichen
•^ Aus der „Festsclirift zur Einweihung des eigenen
von J. Elbogen und J. Ilöniger.
Nachdem über den Bauplatz entschieden war,
nahm die Angelegenheit einen beschleunigten Fort-
gang. Die Herren Architekten Hoeniger & Sedel-
meier, welche dem Kuratorium schon bei den Vor-
bereitungen für die Auswahl der Baustelle zur
Seite standen, wurden mit der definitiven Aus-
arbeitung der Baupläne und mit der Oberleitung
des Baues betraut. Noch im Sommer 1906 könnt«
mit den Bauarbeiten begonnen werden, und der
Rohbau ist ohne Unterbrechung in kurzer Zeit
aufgeführt worden. Dagegen musste der Ausbau
eine Verzögerung erleiden, welche eine Folge des
in diesem Jahre ausgebrochenen Maurerstreiks war.
Trotzdem ist der Neubau zu dem von dem Kura-
torium gewünschten Termine fertiggestellt worden.
Programm.
Das vom Lehrerkollegium aufgestellte Programm
umtasst folgende ADfordeiUDgen :
717 Der Neubau der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums. 7U
A. Lehrräume.
1. Zwei mittelgrosae AnditorieD;
2. ein grrosser Saal in Öffentlichen VorlesimgeQ nnd
fflBtlicheD Yeranstaltnogen (ittt PerienlniTBB GeDeml-
TeTsamnüuDgen nsw.);
3 ein SeminarziiniDer (zugleich Präparandie) ^
4. ein Lehieizimmei (zugleicti Arcbir);
5 ein Konferenzzimmer.
B. Blibliotheksräame.
1. Bin Lesesaal (6 X 12 m);
2. ein Verwaltung- nnd Ausleihzimmer;
^. Ein BBcherma^azin (von ca. 100 qm, dem Doppelten
des bisherigen Ranmnmfanges}.
C. Korridore.
1. Ein Garderobenranm;
2. zwei Toilettenräume mit Wascbgelegenheit.
Innere und äussere Gestaltung.
Die Befürchtung, dass die kleine winklige Baustelle
eine ungenfigende Erfällnag des Programms mit eich
bringen und vor allem eine repräsentative, einer Hoch-
schule würdige Anlage unmöglich machen würde, hat
sich nicht bewahrheitet. Wenn auch naturgemäss kein
altztigrosser Aufwand in hezug auf Vorräume, Treppen
und Korridore getrieben werden konnte, sind doch alle
berechtigten Ansprüche befriedigt, ist sogar darüber
hinaus for genügende Vestibüle und geräumige Vor-
plätze Sorge getragen.
Haupteingang.
Insbesonderb musste der Haupteingang so gestaltet
werden, dass möglichst im Anschluss an diesen eine
Wandelhalle für die Studierenden geschaffen wurde.
Dies ist auch rollkommen erreicht worden und zwar da-
durch, dass der Vorplatz vor der Treppe mit dem Ein-
gang^nr vereint wurde.
Aber nicht nur im Erdgescboss des Hauses, sondern
auch in den oberen Stockwerken sind würdige, grosse
lind helle Vorräume angeordnet worden, an die sich
ausreichende Toiletten nnd Garderoben anEcbliessen.
Treppen.
Unerwartete Schwierigkeiten wurden dnrch die bau-
polizeiliche Pordemng geschaffen, welche trotz der
Kleinheit des Grundstückes die Anlage von zwei Treppen
vorschrieb. Die Haupttreppe, massiv aus KnnststeinBtiü'en
mit eisernen Brüstungsgeländem hergestellt, zeigt grosse
Abmessungen. Die zweite Treppe musste naturgemäss
nur als eine Nottreppe ausgebildet werden, nnd ist
hierfür der spitze Winkel an der Vorderfront glücklich
verwendet worden, derart, dase nicht allzuviel Raum
verloren wurde.
Unterrichtsräume.
Die Auditorien liegen im ersten Stock, wo sich auch
das Sitz n II gsz immer des Kuratoriume befiodet, während
das Lehreikoltegium im Erdgescho^s sein Zimmer hat.
Die Aula ist im zweiten Stock untergebracht und bildet
iu Verbindung mit dem grossen Seminarraum ein
Auditorium von 150 bis 200 Plätzen. Im dritten Stock
befindet sich der Lesesaal, im Auscbluss an diesen
folgen die Räume der Bibliothek.
Bibliothek.
Ganz besondere Sorgfalt ist der Ausbildung der
Bibliothek gewidmet worden und ist für diese das ganze
Obergeschoss einschliesslich des Dachbodenranms in Neubau der Lehranstalt für die „Wissenschaft de»
zweckmässiger Weise zur Verwendung gekommen. Da- Judentums."
durch hat sich ein sehr geräumiges Magazin für die e.,.,.,i.j....,,h™- m,
Aufstellung der Bibliothek gewinnen jlassen, welche im
Speiial -Aufnahme tOr _Ost und West".
Der Neubau der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums.
dritten Stock beginnt und bis in den Dachboden hinein
ihre K&ame erstreckt
Bibliothekseinrichtnng.
Die Einrichtong der Bibliothek ist nach dem ueoBten
System der Firma H. Lipmann in Strasaborg zoi Aub-
f&hmng gekommen. Diese Fiima, velche mit der hier
am Orte befindlichen Eisenkonstraktions- and Blech-
fabrik, WoM', Netter & Jacobi Terschmolzen ist, hat in
bereitwilligem Gntgegen kommen die Einrichtung der
Bibliothek zn einem Anenahmepreiae hergestellt.
Aufzug.
Im Erdgeschoss des Hauses befindet sich noch die Woh-
nung des Hanswarts. Eid elektrisch betriebener Personen-
aofzug vermitt«lt den Verkehr nach den oberen Stockwerken.
Heizung.
Im Keller befinden sich die Vorrichtungen tVa die
Heizung und Ventilation des Hauses. Die Reizung ist
eine Warmwasserheizung und ist verbanden mit einer
Lfiftungs- und Ventil ationsanlage, welche den Räumen
fortwährend frische, vorgewärmte Luft zufährt.
Hof.
Es mag noch erwähnt sein, dass der Ho&aum von
solchen Abmessungen ist, dass er nicht nor die an ihm
liegenden Zimmer Kenögend beleuchtet, soudem dasa er
auch zum Aufenthalt der Studierenden Gelegenheit
bietet Der Hof soll später gärtnerischen Schmuck er-
halten, nm diesem Zwecke noch besser dienen zu können.
Ausstattung.
Nachdem darauf gesehen ist, die Räume hell und
Inßjg zn gestalten, konnte die Ausstattung selbst schlicht
und einfach gehalten weiden. Die innere Einrichtung,
sowie die elektrische Beleuchtung sind Überaus zweck-
mässig unter Berilcksichtigung der neuesten schal-
technischen Anschauongen ausgeführt Hier sei nur
hervorgehoben, dass die Aula Sitzplätze erhalten hat nach
amerikamschem System. Die grossen bequemen Lehn-
sessel bieten, durch eine sinnreiche Anordnung der
rechten Armlehne, Gelegenheit zni schriftlichen Fixierong
der Vorträge. Dadurck konnten die Pulte in Fortfall
kommen, welche den Gesamteindmck dee Baumes be-
einträchtigt hätten.
Fassade.
Bezüglich der Fassadengestaltung mag gesagt sein,
dass darauf hingestrebt wurde, die Bestimmung des
Gebäudes auch in seiner äusseren Erscheinung zur
Geltung EU bringen. Die grossen Fenster sollen den
Schul zimmern reichliches Licht zuführen. Nur der
Haupteingang ist durch die Ausführung in Stein be-
sonders betont worden. Sonst ist die Fassade achlicht
geputzt und hat nur wenige Zierformen erhalten, welche
in sogenannter Antragarbeit ausgeführt sind. Ueher den
Hanpteingang befindet sich dielnschrift, diedie Bestimmung
des Hauses auseigt:
Der Wissenschaft des Judentums
nosn'« min'?
AUS DEN KINDERJAHREN
DER „LEHRANSTALT EUER DIE WISSENSCHAFT DES JUDENTUMS".
Von Dr. Adolf Rosenzweig, Rabbiner der jüdischen Gemeinde zu Berlin. Nachdruck vCTbo(en,
Es war in grosser, reicher Zeit — man zählte das
Jahr 1872 — da wurde das Kind geboren.
Männer von Namen standen an seiner Wiege und
gaben ihm den stolzen Namen „Hochschule für die
Wissenschaft des Judentums" — ein Wahrzeichen sollte
der Name sein für das, was Zunz, Oeiger und Philippsoo
ersehnt und erhofft, aber nicht erreicht
hatten.
Spätere Verhältnisse brachten es
dahin, dass ans der „Hochschole' die
„Lehranstalt für die Wissenschaft des
Jadentums" ward. Ein Eind wars.
Kinder sind bescheiden. Und in be-
scheidenen Verhältnissen und Räumen
lebte das junge Kind, dort an der
Spandaaer Brücke No. 1, an der Ecke,
an der sieh jene stiessen, die nach
rechts, und jene, dienach links wollten,
und im engen Raum stiessen sich auch
Lehrer und Hörer. Gegenüber dem
Lehrzimraer — von einem Lehrsaale
konnte keine Uede sein — befand sich
die Bibliothek in den bescheidensten
Anfingen. Ein Semester war bereits
dahingegangen, aber noch lagen ge-
bunden und ungebunden Hefte und
Bücher in dichten Haufen auf der
Erde. Loew, der vom Hause aus ein
gewisses organisatorbches Talent mit-
gebracht hatte, legte den Zettelkatalog
an, und mit ihm gemeinsam schrieb
ich die Büchertitel und ordnete die
■"■■■streuten Massen.
Rabbiner Dr. Rosenzweig, Berlin,
Hürer 1872-1675.
Vom Kuratorinm sahen und hörten wir nicht viel
— Fbilippaon lebte in Bonn und Lazarus hatte viel
mit sich und der Welt zu tun; aber hurtig mit Donner-
gepolter stürmte von Zeit zu Zeit Sanitätarat Neumann
herbei; und ob er auch polterte, er brachte stets sein
warmes Interesse für die Anstalt mit.
In dem einen Hörsaale fanden
alle Vorlesungen statt.
Stündlich — nur die Talmud-
Vorlesungen dauerten in der Reget
2 Stunden — wechselte das Hörer-
material, eine bunte Gesellschaft, in
der Bachurim aus der ungarischen
Jeschiba,Oestreicher, Ro man en, Russen
und Amerikaner sich befanden. Nur
Deutsche fehlten. Und doch, &st
hätte ich des einen, der in Deutsch-
land geboren war, vergessen — es war
der Sohn des damaligen Poatdirekters
Sachse — ein deutscher Christ, der
die Mischna Vorlesungen and Einleitung
in die Mischna mit besonderem Fleiss
uod Interesse hörte.
Eine bunte Jüngerschar wars, die
an den Turmbau zu Babel gemahnte —
Einer verstand nicht die Sprache des
Anderen. Die aus der ungarischen Je-
schiba kamen, brachten zunächst ihre
Fschettelchen und ihreAccomodations-
fllhigkeit mit, die Küssen eine tüch-
tige Belesenheit in talmudicis und
grosse Energie, aber auch einen un-
gezügelten, revolutionären Geist in
721
Dr. Adolf Rosenzweig: Aus den Kinderjahren der „Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums."
722
religiösen Dingen, nnd die Amerikaner, die allesamt wohl-
habenden Familien entstammten, ein vornehmes Wesen, aber
auch grosse Armut an jüdischem Wissen. — Ich erinnere
mich zweier, die sich bedeutender Stellungen innerhalb
der amerikanischen Judenheit erfreuen — der eine
suchte eine Stelle aus dem ersten Kapitel der Genesis
am Ende des Deuteronomium, und der andere, für die
jüdische Theologie besser Vorbereitete, in dem letzten
Kapitel der Genesis.
Zu den Hörern gehörten als „Ausserordentliche"
nicht wenige, die nie eine Yolkschule, geschweige denn
ein Gymnasium besucht hatten. So gut es möglich
war, wurde für diese ein Präparandenunterricht einge-
richtet; Loew übernahm den Unterricht in der griechischen
Grammatik und der Mathematik, ich lateinische
Grammatik, Geschichte und Deutsch. Es ging, wie es
unter den obwaltenden Umständen gehen konnte: der
Bachurimgeist mochte sich nicht leicht fügen; aber die
Aussicht auf Stipendien tat Wunder l Nach etwa zwei
Semestern kam ein Besserer, der den Unterricht über-
nahm, Dr. Holzman, der jetztige Direktor der Berliner
Gemeinde-Knabenschule und des Lehrerseminars.
Zweier Hörer sei an dieser Stelle gedacht — früh
hat der Tod sie aus unseren Reihen gerissen: Rosen-
feld (erinnere ich mich recht: der Sohn eines Gemeinde-
vorstehers) aus New- York, wurde nach Amerika über-
führt — bei der in der Hochschule abgehaltenen
Trauerfeier sprach Felix Adler; Leopold Schauer, der
Sohn eines ungarischen Rabbiners, ruht hier auf dem
Friedhofe in der Schönhauser Allee — ein Armenstein
nennt seinen Namen.
Allein so halbfertig dies alles auch war, alsbald
kündete sich doch in der Anstalt ein reger Geist, den
die tüchtigen und bedeutenden Lehrer, auf die die Lehr-
anstalt stets mit Stolz blicken wird, weckten.
Vor allem Abraham Geiger, der als Sechzig-
jährifirer Rabbiner in unserer Gemeinde wurde — ein
Greis und doch ein Jüngling an Kraft und Begeisterung!
Der Lehrstuhl, das war seine rechte Stelle : das fühlte
er, das wusste er, darum strebte er ihm sein Leben
lang zu; auf dem Lehrstuhl, da fühlte er sich am
wohlsten; da quoll und schwoll sein Wort so voll, so
frisch, so lebendig, da hub sich auch das stets glatt
gescheitelte, lange Kopfhaar, da glänzte das glatte,
nicht sonderlich schöne Antlitz, da leuchteten die Augen
in jugendlicher Frische, da lebte der ganze Geiger.
Wohl, Geiger war ein bedeutender Kanzelredner,
der alles besass, dessen der Prediger bedarf, um seine
Zuhörer fesseln zu können: lebhaftes Temperament,
poetische Gestaltungsfähigkeit, tiefes Wissen und vor
allem ein vibirierendesHerz. Und Geiger wirkte auch
durch seine Predigt gewaltig! Noch nach Jahren er-
zählte mir der sei. Wertheim, der langjährige Sekretär
unserer Gemeinde, von der Begeisterung, die Geiger
geweckt durch die Predigt, die er an jenem verhängnis-
vollen Morgen (es war an einem Sonnabend), da der
Krieg gegen Frankreich erklärt wurde, über Jer. 4,19
in der Neuen Synagoge gehalten hatte. Allein Geiger
hatte für die Predigt wenig Zeit: in der Regel wählte
er Donnerstag Abend, oder auch Freitag einen Text,
über den er am Sonnabend predigen wollte; zu dem
Texte notierte er auf einem Zettel einen Gedanken,
einen Midrasch und dann predigte er, und er predigte
immer begeistert und begeisternd; denn seine Predigt
entstammte reichem, kräftigen Können; da war nichts
eingelernt, nichts memoriert, nichts berechnet; der gott-
begnadete Redner stand vor der Gemeinde: er band
sich an keine homiletische Regel, die ihm als Fessel,
höchstens als Krücke erschien, da sein Herz, das Ge-
heimnis aller Persönlichkeit, vor allem des Redners,
homiletische Regeln ihm kündete; da stand der Meister
auf der Kanzel, der mit souveräner Kraft die Fragen
des Lebens nnd der Religion behandelte.
Daher kams aber auch, dass man von Geiger
nicht predigen lernen konnte; er war wie Jellinek, der
trotz seiner Bedeutung als Kanzelredner keine Schule
begründete, eine originale Individualität; darum konnte
er sich auch nicht entschliessen, homiletische Uebungen
abzuhalten — für ihn war Predigen eine Kunst,
Ktinstler aber müssen als solche geboren werden, noch
nie sind Menschen durch Regeln Künstler geworden.
In den Vorlesungen zu Pirke Abot gab er homiletische
Winke, kurze Sentenzen, einzelne Gedanken, welche die
Hörer zu weiterer Arbeit anregen sollten.
Geigers 2ieit und Arbeit gehörte der Wissenschaft
des Judentums: ob er den inneren Kämpfen in Alt-
Israel nachspürte; ob er uns in das griechische Geistes-
leben in Alexandria einführte; ob er uns den in Jamnia
das Raupengespinnst durchbrechenden Schmetterling —
Israel — zeigte, der, in Sonnenlicht gebadet, allen Stürmen
trotzend, aufwärts sich hob; ob er uns in die Lehrhäuser
von Sura und Pumpedita geführt oder das Leben der
Denker und Dichter in der spanischen Blüteperiode vor-
führte: in allem kündete sich der weite und scharfe
Blick des Gelehrten, der kühne Denker, der Geschichte
zu konstruieren versteht, der tüchtige Orientalist, der
alle verwandten Gebiete unifasst.
Und neben Geiger, dem Alter nach am nächsten,
David Cassel, ein schlichter, wortkarger Mensch,
der früh müde geworden, weil er früh und wohl auch
spät zu kämpfen hatte, um sein Leben zu fristen; ein
abgeklärter Mensch, der mit offenen Augen die Kämpfe
der Zeit gesehen und offen, manchmal wohl auch ungesehen,
an ihnen teilgenommen hatte.
Cassel besass keine originelle schöpferische Kraft;
er stellte nie eine Hypothese auf und machte selten
oder nie eine Emendation; aber alle seine Arbeiten
charakterisiert wissenschaftlicher Ernst, gediegene Ehr-
lichkeit; was er schrieb und lehrte, das bedurfte keiner
Nachprüfung, das durfte als feststehend hingenommen
werden. Er war vielfach beschäftigt: neben dem Lehr-
amte in der Hochschule war er deren Bibliothekar,
versah er das Amt des Waisenvaters im Nauen'schen
Stift und das Amt des Schriftführers in verschiedenen
Vereinen. Daher konnte er in seinen Vorlesungen nicht
viel Neues bringen, auch nicht immer pünktlich sein —
der geistreiche Horwitz, vordem Rektor der Knaben-
schule und der Lehrerbildungsanstalt, an der Cassel
früher Unterricht erteilte, nannte ihn einst in seiner
witzigen Art „den grössten Fehler" der Anstalt. Und
doch wäre es ungerecht und entspräche nicht den Ver-
hältnissen, wollte man nicht des wohltuenden Einflusses,
den seine Tätigkeit an der Anstalt gehabt, gedenken!
Cassel war nach mancher Richtung hin ein Skeptiker,
seinem eigentlichen Wesen nach aber konservativ, nicht
blos weil er täglich die Synagoge besuchte, sondern
weil er einen pädagogisch-praktischen Blick für das,
was dem Rabbiner not tut, besass: in späterer Zeit
pflegte er zu manchem jüngeren, in Deutschland ge-
borenen Hörer in seiner Eigenart zu sagen: lernen Sie
Chumesch und Raschi und den Suach lesen; der Schammes
wird Sie, wenn Sie Rabbiner sind, fragen, ob man
Zidkos'chu zedek sagt und Sie werden es nicht wissen !
Und neben Cassel Dr. Steinthal, der Philosoph
mit dem Kindesgemüt I Steinthal war kein Theologe;
er hatte sich, ehe er Dozent an der Hochschule wurde,
nur wenig mit jüdischem Wissen beschäftigt, und
nur geringe Reminiszenzen aus seiner Jugendzeit in
Gröbzig waren ihm geblieben. Steinthal war aber ein
Philosoph und ein Mensch, den man gerne hörte, weil
723
Dr. Adolf Rosenzweig: Aus den Kindeijahren der »Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums.«
724
er immer zum Denken anregte. Wie er so da sass an
dem Lehrtische! Still und ohne jede Prfttension; die
Sprache etwas schleppend, oft schl&frig and sich selbst
korrigierend, die Augen dem Manuskripte zugewandt.
Aber sobald er in seinem Elemente war, da er die Oe-
danken der Denker zergliederte, sichtete, da nahm er
den Qeist der Zuhörer gefangen, da zwang er mitzu-
denken. Das war es, was uns zu seinen Vorlesungen
zog, was seine Vorlesungen uns wert machte! Hin-
gegen hatten nicht Alle die Neigung, ihm in der Mytho-
logie, die er in die Bibel hineintrug, zu folgen und mit
Genugtuung darf hier registriert werden, dass Groldziher,
der wohl das dickste Buch über die Mythologie der
Bibel geschrieben hat, an dieses später nicht gerne
erinnert sein wollte!
Und zuletzt, aber nicht als Letzter, Dr. Lewy,
jetzt Professor und Seminarrabbiner in Breslau, der in
jungen Jahren das Lehramt für die talmudisohen Fächer
übeSrnahm, ein Mann, in dem sich die Gelehrsamkeit
der Alten mit der Wissenschaftlichkeit der modernen
Zeit harmonisch einte; ein Mann mit scharfem Ver-
stände, kritischem Blick und seltenem Bleiss ; ein Mann
mit dem sittlichen Ernst und der Frömmigkeit der
Alten, aber auch mit dem ernsten Blick für die Er-
scheinungen des Lebens.
Lewy war schon bei seinem Amtsantritte ein Lam-
dan alten Schlages, ein Lämdan, der den Talmud und
die Decisoren samt der ganzen einschlägigen Literatur
beherrschte, ein tüditiger Kenner des Jerusalemischen
Talmud — in den Randnoten seines Handexemplares
ist ein reicher Schatz von Wissen und kritischen Be-
merkungen für die RichtigstelluDg des arg korrum-
pierten Jeruschalmitextes aufgespeichert — , ein Läm-
dan, der die alten halachischen Midraschim, die in der
Jeschiba kaum dem Namen nach bekannt waren, in seinen
Forschnngskreis aufhahm; einLamdan, aber auch zugleich
ein tüchtiger Philologe, der gut Latein und Griechisch,
Syrisch und Arabisch Terstand, gerne seinen Kant lass
und in den Werken der neueren Exegese heimisch war.
In seinen Vorlesungen zur Einleitung in die Mischna
zitierte er in einer Stunde unzählige Stellen aus der
talmudischen Literatur und daneben alle einschlägigen
Arbeiten aus dem Ben Ghananja, dem Orient, der
Geiger'schen Zeitschrift, und der Graotzschen Monats-
schnft, legte er die kritische Sonde an das, was Frankel
und Graetz, Zunz und Geiger über die behandelten
Fragen geschrieben, und alles zitierte er auswendig, ohne
irgendwelche Notiz!
Er war aber auch fleissig, wie nur wenige sind:
Donnerstag Abend um 8 Uhr versammelten wir uns in
der Hochschule, um homiletische Uebungen abzuhalten.
An diese scblosis sich ein gemütliches Zasammensein.
Auf dem Heimwege passierten wir fast allesamt das
Haus an der Spandauerbrücke, wo die Hochschule sich
befand und Dr. Lewy wohnte: ob früher ob später wir
nach Hause gingen, Dr. Lewy sass immer an seinen
Folianten, um sich für die nächste Talmudvorlesnng, die
pünktlich um 8V4 Uhr begann und die er am liebsten
über die festgesetzte Zeit hinaus aasdehnte, zu präparieren.
Und wie er ernst und streng gegen sich war, so ver-
langte er auch Ernst und Gewissenhaftigkeit von den
Hörern. Und das rief den Unwillen Einzelner hervor!
Die anderen Dozenten brauchten nur zu „lesen", er aber
wollte lehren; die anderen Dozenten brauchten sich nicht,
wenn sie es nicht wollten, um die Hörer zu kümmern,
er aber wollte, dass gearbeitet werde! Die aus der un-
garischen Jeschiba und dem russischen Beth-hamidrasch
kamen, brachten zumeist einen Hochmut mit, der an der
Bedeutung der deutschen Talmudgelehrsamkeit zweifelte,
den Deutschen aber war der Talmud ein Novum und
nicht einmal ein angenehmes Novum I
Und dazu noch ein Anderes: Lewy ist fromm und
verlangt, dass der Theologe auch etwas vom Glauben in
sich trage; der Babbiner soll nicht blos predigen, eondem
auch im Glauben leben! Auch das geüel nicht Allen!
Und doch, Lewy war nicht blos ein bedeutender Ge-
lehrter, ein frommer Lehrer, er war und ist auch ein
biederer Mensch, mitteilsam und anregend, freundlich und
wohlwollend — ich kann und werde es nicht vergessen:
Ich brauchte Geld. Nur schwer entschloss ich mich
dazu, zumal ich in seinem Hause verkehrte, ihn um ein
Darlehn zu bitten. Ich tats, weil mir nichts anderes
übrig blieb. Lewy aber stand damit tränenden Augen:
„ich kann es Ihnen nicht geben, denn ich habe kein
(ireld zu Hause !*^ Ich sprach darauf, was ich sprechen
konnte, und kehrte heim. Aber kaum war ich zu Hause,
da trat Dr. Lewy bei mir ein und brachte mir das Geld.
Er hatte es selbst entliehen, um es mir geben zu können!
Und so fand ich ihn stets auch in seinem Hause! Es
war ein schlichtes Haus ohne Glanz, ein stilles Haus,
in dem Glaube und Liebe alles verklärte, ein Haus von
patriarchalischer Einfachheit mit leuchtendem Sabbat-
Uchte, mit fröhlichem Sabbatliede. Dort war ich nicht
fremd und nicht arm; dort im Kreise und am Tische
der Guten vergass ich alles, was mich drückte, die
Fremde und den Drang des Lebens.
Lewy wurde von den Meisten als orthodox ver-
schrieen. Mit Unrecht! Er war nie einseitig orthodox.
Es war zur Zeit, da ich meine erste Stelle in Pasewalk
antreten sollte. Ich besprach mit ihm das eine,
das andere. Da sprach er zu mir: Wie stehen Sie zur
Orgel? Auf meine Antwort: Diese Frage ist für mich
nicht vorhanden! sprach er ruhig: Ich verstehe Sie!
Das alles machte mir ihn lieb und teuer; das alles
erfüllt mich auch heute noch mit Ehrerbietung and Dank-
barkeit für ihn!
Ich bin zu Ende mit meinem Bückblick auf ver
gangene Zeiten. Aber ehe ich schliesse, möchte ich noch
die Frage streifen: war die Zusammensetzung dieses
ersten Lehrerkollegiums eine glückliche? Mancher wird
alsbald: Nein! antworten; mir aber will es scheinen:
wohl, es war eine glückliche Zusammensetzung!
Die verschiedenartigen Individualitäten und An-
schauungen, die einander in der Hochschule begegneten,
mussten notwendigerweise eine Gährung in den Geistern,
einen Kampf in den Inneren der Hörer erzeugen; es galt,
sich zu einer eigenen Meinung durchringen, einen festen
Standpunkt inmitten der widerstreitenden Anschauungen
sich erkämpfen. Und das war gut! So wurden die
Denkenden unter den Hörern nicht einseitige Nachbeter
und Nachtreter, sondern selbständige Menschen mit
selbständigen religiösen Anschauungen.
Und so möge es bleiben! Mögen solche Lehrer und
Hörer der Anstalt stets beschieden sein; mögen wissen-
schaftlicher Ernst und demütiger Geist des Glaubens
Lehrer und Hörer stets erfüllen!
sehen Buieau der M Alliance Jsiaeli
BERLIh,N2^. ^H^^ Oranien porgersrrtf^ _
AN DIE LEHRANSTALT ||
EUER DIE WISSENSCHAFT DES JUDENTUMS.
Die Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums hat ihr eigenes Heim bezogen.
Der schöne Tag, der eine frohe und glückliche Zukunft einleiten möge, ist mit würdiger
Feier begangen worden.
Wir nehmen an dieser Feier mit ganzem Herzen Teil.
Denn wo die Wissenschaft des Judentums gepflegt wird — in welcher Richtung immer,
wofern nur die Erforschung und Befestigung das Ziel ist — da ist die Alliance Israelite Universelle
im Bunde, da hat sie Mitarbeiter an der Erstarkung unserer Glaubensgemeinschaft.
Die Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums hat von Anbeginn und in den fünfund-
dreissig Jahren ihres Bestehens alle Zweige jüdischen Wissens gepflegt und gefördert, ihre Jünger
zu Aposteln des Judentums und seines religiösen Bekenntnisses erzogen. Einträchtig haben an ihr
Vertreter aller Anschauungen gewirkt, — in rühmlichem Wetteifer, in musterhafter Verträglichkeit.
So ist sie uns eine Genossin an unserem Werke, das der gesamten Judenheit ge-
widmet ist.
Wir bringen ihr aus tiefstem Gemüt innigste Glückwünsche dar.
Berlin, 22. Oktober 1907.
Das Präsidium
der Deutschen Conferenz-Qemeinschaft der Alliance Israelite Universelle.
Ludwig Max Goldberger. Charles L. Hallgarten.
DAS UNTERSTUETZUNOSWERK DER ALLIANCE IN MAROKKO.
(Spezialbericht für die A. 1. U. Von fs. Pisa.) NKhdmc* »»rtown.
Casablanca, 23. September 1907. gestern sprach, hat mir versichert, dass alle kräf-
Ich habe die Ehre, Sie zu benachrichtigen, tigen Männer Arbeit finden, und dass die Franen
dass ich soeben die Verteilnng von ünterstutzimeen ^ Bonnen, Haasbältürinnen, Köchinnen, Wäscher-
an Lebensmfttehi und Geld beendet habe. Un- i™en Beschäftigung haben können. Wirkliehe
geiähr 30Ü Familien befaDden sich in änsserster Armut bleibt nur bei den wenigen Familien, für
Not. An diese habe ich an den Rasttagen zum <Ue solche T&tipkeit sich nicht eignet, bei Kranken
Roseh- Haschana-, zum Jom-Kippur- und zum «Dd Waisenkindera. Ich stellte eine Liste dieser
Sukkot-Fest drei grosse Verteilnngen vorgenommen. Personen anf, die wie in früheren Tagen wöchent-
Den Familien, die nicht zur Abholnng zu kommen üc^e Unterstützung erhalten werden. Besondere
wagten, habe ich die Spenden persönlich ins Haas Aufmerksamkeit wende ich jetzt den im Innern des
gebracht, die anderen kamen in die Schule, um Landes und an der Kaste zerstreuten Glaubens-
dort die Gaben za empfangen. Alle Lebensmittel genossen zu.
und eine beträchtliche Geldsumme sind verteilt Die Verteilung der Spenden hat unendliche
worden. Sobald auch die Kleidungsstücke verteilt Mühe gemacht. Bei der Aoäösong aller Aut^ri-
sein werden, die wir von Dr. Baron Rothschild täten fand ich bei niemand Hilfe, wohl aber
erwarten, können wir, glaube ich, das Unter- überall Beschwerden und Kritik. Ausnahmen bil-
stütznngswerk an Ort und Stelle für abgeschlossen deten einzig die Herren Banabu und David
erachten, um nicht etwa auf Trägheit eine Be- Alexander, die mir bei der Au&tellung der Liste
lohnung zu setzen. Kommandant Uangin, den ich der Bedürftigen von grossem Nutzen gewesen
727
Mitteilungen der Alliance Isradlite Universelle: Das Unterstützungswerk der Alliance in Marokko.
728
sind. (Diese Listen, in denen die Namen der
Unterstützten und die ihnen gegebenen Beträge
verzeichnet sind, bleiben als Unterlagen für den
Rechenschaftsbericht einstweilen im Archiv des
provisorischen Komitees)
Soeben erhalte ich den beiliegenden Brief, der
mir in Abwesenheit des Herrn v. Rothschild aus-
gehändigt worden ist. Wie ich erfahre, hat die
Gemeinde von Mazagan sich die grössten Opfer
auferlegt, um unsere Glaubensgenossen aus Settat
freizukaufen und sie zu ernähren. Doch muss sie
eine grosse Zahl fortschicken, weil sie bereits
überlastet ist. Den Absendern des Briefes habe
ich alsbald Ermächtigung geschickt, alle Familien
auszulösen, die in der Gewalt der Araber sind,
und ihnen einstweilen 1500 Frs. zur Verfugung
gestellt. Gleichzeitig habe ich Herrn Elmaleh von
der Lage unterrichtet, damit er sich nach seiner
Rückkehr nach Mazagan mit der Repatriierung
dieser Unglücklichen beschäftigen könne.
Heute früh kam aus Mazagan ein Zug von
123 Personen, die von der Gemeinde freigekauft
und von Herrn Zenaty, einem Notablen von
Mazagan, hierhergeleitet waren. Pisa
Anlage.
Mazagan, 17. September 1907.
Wir beehren uns, an die menschlichen und
grossherzigen Gefühle zu appelieren, die Ihnen die
Bewunderung und die Dankbarkeit der Völker ein-
getragen haben.
Lifolge der kritischen Tage in Mazagan haben
fast alle bemittelten Israeliten das Land verlassen.
Wir aber sind um unserer Geschäft» willen hier
geblieben und haben vom ersten Tage an es als
unsere Pflicht angesehen, den 200 Brüdern, die
sich hier im tieften Elend befinden, Hilfe zu
leisten. Während unsere Mittel so grosser Not
gegenüber schon unzureichend waren, kamen die
Araber vom Lande, um uns den Freikauf der Un-
glücklichen anzubieten, die in Casablanca und an-
deren Ortschaften gefangen worden waren. Es
sind bereits 600 solcher Israeliten in Mazagan
eingetroffen.
Unser guter Wille wird niemals aufhören,
aber unsere Mittel gestatten uns eine weitere
wirksame Hilfe nicht.
Wir vertrauen Ihrer edlen und mächtigen
Intervention, auf die wir mit bewundernder Zu-
versicht rechnen.
Genehmigen Sie den Ausdruck unserer Dank-
barkeit und Ergebenheit.
Aron A. Zenaty.
Casablanca, 26. September 1907.
Heute ft*üh sind hundertundftinfzig Israeliten,
die von der Gemeinde Mazagan freigekauft waren,
durch unsere Vermittelung repatriiert worden. Sie
kamen in beklagenswertem Zustand an. Wir haben
ihnen die nötige Hilfe geleistet. Die von Herrn
V. Rothschild geschickten 20000 Pres, sind in
' des Kommandanten Mangin. Sechs- bis
siebentausend Francs sind für Matratzen, Decken
und Kleider ausgegeben worden. Für den Rest
schlägt Kommandant Mangin folgende Verwendung
vor: Ankauf von Rohstoffen zur Herstellung von
Leinewand für Kinder und Frauen. Israelitische
Frauen sollen mit dem Weben und Zuschneiden
beschäftigt werden und dadurch einige Monate
Arbeit haben. — Reinigung und Desinfektion des
Mellah. — Organisierung der Arbeiter zur
Säuberung des Innern der Häuser, ihrer Ab-
waschung mit Karbolwasser, und zum Weissen der
Mauern. — Ankauf einiger Esel für die Strassen-
aufseher im Mellah usw. — Das provisorische
Komitee wird sich über die Vorschläge äussern.
Pisa.
Casablanca, 1. Oktober 1907.
Ich beehre mich, Ihnen die Nachrichten zu
übermitteln, die ein von mir nach Uled-Hriss,
Uled-Zyan, Mdakra und bis nach Settat ent-
sandter Kurier gebracht hat:
Das Land ist Öde und verlassen. Die Araber
haben ihre Lager 30 Kilometer weit zurück-
gezogen. Der Kurier begegnete unterwegs nur
einigen Familien, die, von den unterworfenen
Stämmen freigelassen, nach Casablanca zurück-
kehrten. Die Hauptmasse der Flüchtlinge scheint
sich nach Settat ziurückgezogen zu haben. In
dieser Stadt hatten sich jüngst 700—800 Seelen
angesammelt, von denen etwa 350 nach Mazagan
und Rabat zurückgekehrt sind. Gegen 400 Per-
sonen blieben in äusserstem Mangel zurück. Herr
David Amon, der in den ersten Tagen sich damit
beschäftigt hatte, sie aufzunehmen, zeigt trotz der
Hilfsmittel, die ich ihm zur Linderung des EUends
dieser Unglücklichen zur Verfügung stellte, jetzt
nur noch massige Teilnahme und Fürsorge. Eine
Zurückführung in Massen ist zur Zeit untunlich,
weil Settat jetzt von dem Stamm der Schaujas
besetzt ist und seit gestern das Gerücht sich hart-
näckig erhält, dass die Mahalla des G^ensultans
Mulay Hafld zu den Schaujas gestossen sei. Man
weiss noch nicht, welche Haltung die beiden Sul-
tane einnehmen werden; es scheint aber, dass die
Hauptentwicklung des Dramas sich in dieser Ge-
gend vollziehen wird. Unter solchen Umständen
ist es für uns äusserst schwierig, zu entscheiden,
ob wir die Flüchtlinge hierher sollen kommen
lassen oder ob wir ihnen Unterstützungen schicken
sollen. Ihre Lage zwischen den beiden Sultanen
und inmitten einer unentschiedenen Bevölkerung
ist überaus besorgniserregend.
Mit Freude teile ich Ihnen mit, dass eine der
Friedensbedingungen, die General Drude, Admiral
Philibert und Herr Malpertuy den Stämmen auf-
erlegt haben, die Freigabe aller von ihnen während
der jüngsten Ereignisse gemachten Gefangenen ist.
Aus den Zeitungen wissen Sie, dass fast alle
Stämme in der Umgebung von Casablanca ihre
Unterwerfung angemeldet haben. Es sind dem-
gemäss auch alle Israeliten, die sich bei ihnen be-
fanden, in die Stadt zurückgekehrt. Pisa.
729
730
DIE JUDEN VON MAROKKO.
Von Ernst v. Hesse-Wartegg.
Nachdruck verboten.
Von den Juden, die im Jahre 1492 aus Spanien,
vier Jahre später auch aus Portugal vertrieben worden
sind, haben jene, welche sich nach dem benachbarten
Marokko wandten, ihr gelobtes Land keineswegs ge-
fanden. Vier Jahrhunderte schon schmachten sie unter
der despotischen Herrschaft der Sultane, wie unter dem
tötlichen Hass und der Verachtung der Marokkaner,
allen möglichen Beschränkungen und Bedrückungen
ausgesetzt. Die letzten Ereignisse in Casablanca haben
gezeigt, dass die Marokkaner auch heute noch die
Juden als erste und willkommenste Opfer ausersehen,
ihre Wohnungen zerstören, sie ihrer Habe, ihrer
Frauen berauben und kalten Blutes niedermetzeln.
Gewiss hätten sich im Laufe der Zeit schon viele dem
marokkanischen Joch entzogen, wenn sie nur könnten.
Die Marokkaner lassen sie nicht fort. Sie wissen sehr
wohl, dass bei ihrer eigenen Indolenz Handel und
Wandel ihres grossen Landes dahin ginsren, wenn die
Juden nicht mehr vorhanden wären, und so behandeln
sie dieselben geradezu wie Oefangene. Bis in die
jüngste Zeit durften Frauen Marokko überhaupt nicht
verlassen, Männer nur dann, wenn sie ihre Familien
gewissermassen als Geiseln zurückliessen.
Seit dem Dazwischenkommen der „Alliance
Israeliten und des Engländers Sir Moses Monteüore hat
sich die Bewegungsfreiheit der Juden in Tanger, unter
den Augen der fremden Gesandtschaften erheblich ge-
bessert. In den anderen Häfen ebenso wie in den
Städten des Inlandes müssen sie sich von den Gouver-
neuren einen Pass erwirken, wenn sie fort wollen,
und für diesen w^erden mitunter so hohe Summen ver-
langt, dass ihre Befreiung ausgeschlossen ist. Heute
noch sind sie mit Ausnahme von Tanger in ummauerte
Judenviertel gesperrt, deren Tore von Schergen des
Kaid bewacht werden. Bei Sonnenuntergang werden
diese Tore geschlossen und erst bei Tagesanbruch wieder
geöffnet. In Tanger allein dürfen sie in denselben
Strassen leben wie die Mauren und sind wohl ebenso
zahlreich wie diese. Die spanische Sprache hat sich
bei ihnen bis auf den heutigen Tag erhalten; auch in
ihren Lebensgewohnheiten und Sitten zeigt sich noch
der altspanische Einfluss. So z. B. nennen sie sich
selbst „Gueruch Castilla", d. h. aus Eastilien Ver-
triebene, und ihre Rabbiner beenden bei Heiraten die
Vermählungsformel mit den Worten; „Das alles nach
den Gebräuchen von Kastilien.**
Früher in krasser Unwissenheit und ohne jede
Schulbildung aufwachsend, haben sie heute dank der
nAlliance Israelite** in Tanger zwei vortreffliche
Schulen für beiderlei Geschlechter mit ungefähr
100 Kindern. Hier werden sie natürlich auch im
Französischen unterrichtet. Viele lernen privatim dazu
noch Englisch, und da sie von Kindheit auf durch den
Verkehr mit Mauren das Arabische beherrschen, bilden
sie geradezu unentbehrliche Vermittler zwischen den
Arabern und Europäern. Sogar die Regierung bedient
sich ihrer dazu mit Vorliebe. Die Eintreibung der
Steuern wird gerne an sie verpachtet, und so manche
Regierungsgeschäfte fallen in ihre Hände. In den
europäischen Postämtern sind sie geschickte, fleissige,
ehrliche Beamte, im Geschäftsleben die rührigsten
Bankiers, und die reichen Mauren bedienen sich ihrer
als Strohmänner oder zur Verwertung ihrer Reichtümer,
denn sie wissen sehr wohl, dass sie selbt damit nichi
unter die Augen der Regierenden kommen dürfen, soll
ihnen nicht alles wieder verloren gehen. In Tanger
bilden die Juden jedenfalls den tatkräftigsten, wohl-
habendsten und interessantesten Teil der Einwohner-
schaft. Manche von ihnen, wie die Bankiers Abensur
und Nahon, wohnen geradezu in Palästen, und auch
sonst finden sich in dem Labyrinth enger, viel-
gewundener Gässchen und Plätzchen ganz nette Häuser,
durchweg nach andalusischer Art gebaut. Viele Juden
geben sich auch verschiedenen Gewerben hin. In
Tanger wie in den anderen Städten sind sie Schlächter,
Bäcker, Silber- und Goldschmiede, Graveure, Schneider,
Schuster — niemals aber Maurer, Schmiede, Töpler
oder Sattler.
Als ich mich bei meinem ersten Besuch von
Tanger nach dem Stadtviertel wandte, wo sie am zahl-
reichsten sind, kam ich von Soco Chice, d. h. vom
kleinen Markt aus bald in die dämmerigen Gässchen,
durch welche bei dem herrschenden Regenwetter wahre
Kaskaden strömten. Zu beiden Seiten erhoben sich
maurisehe. portugiesische oder andalusische Häuser,
viele noch aus der Zeit der portugisischen und
spanischen Herrschaft stammend. Dazu überall Sack-
gassen mit quer Yorgebauten Mauern und schweren
Toren, dunklen Hausfluren oder schmutzigen Säulen-
höfen. So manches Haus mochte in früherer Zeit einem
maurischen Grossen gehört haben. Hadschi, mein
Dragoman, Hess mich in die schönsten eintreten. In
den mit herrlichen Wandomamenten im arabischen Stil,
reichgeschnitzten Holzplafonds und Türen geschmückten
Räumen hausen jetzt jüdische Familien mit zahlreichen
Kindern. Die in Stukko ausgeführten Koransprüche
an den Wänden der Patios sind durch Schmutz und
Unrat kaum mehr erkennbar, und die schönen Marmor-
platten des Fussbodens sind mit dicken Unratschichten
bedeckt. Die Atmosphäre in diesen dunklen, feuchten
Räumen ist derart, dass ich nach flüchtigem Blick so-
fort das Weite suchte.
In einem Hause gewahrte ich einige der herr-
lichsten Frauengestalten, die ich auf meinen langen
Reisen durch den ganzen Orient je zu Gesicht be-
kommen. Die Jüdinnen von Marokko sind ihrer aus-
nehmenden Schönheit wegen mit Recht berühmt, doch
jene, die ich vor mir sah, übertrafen noch meine Er-
wartungen. Sie waren eben von einer Hochzeit zurück-
gekehrt und prangten in goldstrotzenden Gewändern,
Nacken und Arme waren mit kostbaren Juwelen be-
deckt, die kleinen nackten Füsschen steckten in gold-
gestickten Pantoffeln und an den Fingern blitzten
Diamanten. Aber den schönsten Schmuck, den sie be-
sassen, waren ihre grossen dunklen Augen, ihr
schwarzes glänzendes Haar, das in reichster Fülle die
Köpfchen umrahmte, und das schöne Ebenroass ihrer
Gestalten. Besässen sie mehi* Verstand und Witz, sie
könnten die Welt zu ihren Füssen sehen.
Als ich ein Jahrzehnt später bei meinem zweiten
Aufenthalt in Tanger zu einem jüdischen Five o'clock
geladen wurde, fand ich in den schönen, nach maurischer
Art geschmückten Salons des Gastgebers, eines reichen
Bankiers, anscheinend europäische Gesellschaft —
Herren und Damen in modemer abendländischer
Kleidung, die Möbel eui*opäisch, der ganze Verkehr
wie die Unterhaltung, als befände ich mich im Soho
Square von London. Die jüdischen Fräuleins waren
in England erzogen worden und sprachen Englisch vor-
trefflich, die Männer hatten wiederholt Reisen nach
Europa unternommen, und da die Hautfarbe der
marokkanischen Jüdinnen im allgemeinen viel heller ist
-J^ - .M-
731
Mitteilungen der AUiance Isradlite Universelle: Die Juden von Marokko von Ernst v. Hesse-Wartegg.
732
als die der Mauren und sich der unserigen nähert, so
konnte man sie in der Tat für Europäerinnen halten.
Dafür hatte die Schönheit der Jüdinnen durch die
modernen englischen Kostüme entschieden verloren.
Man glaubt gar nicht, wie orientalischer Sammet und
Gaze, Groldstickerei und Seide und der^eichen für
weibliche Reise alles ausmachen!
In allen anderen Städten Marokkos, der Küste
entlang von Tetuan über Rabat bis Mogador, ebenso
wie im Innern des Landes, in Fez, Marrakesch, Mekinez
usw. sind die Juden noch immer in schmutzige, streng
ummauerte Stadtviertel, die sogenannten Mellah, d. h.
Salzplätze, zusammengepfercht und müssen ihre Nächte
unbedingt dort zubringen. Der Segen, den Jehova
Abraham spendete.: Deüi Samen soll zahlreich sein wie
der Sand am Meere, scheint ihnen ein Gebot zu sein,
das sie nach Leibeskräften befolgen. Was gibt es doch
in diesen Mellahs für Unmassen Kinder! Auf den
Strassen, in den schmutzigen Patios der überall nach
spanisch-maurischer Art gebauten Häuser, in den
dämmerigen Kaufläden ihrer Papas tummeln sich Kinder,
halbnackt oder ganz nackt umher, dutzendweise, und
Familien mit einem oder anderthalb Dutzend Kinder
sind gar keine Seltenheiten. Die Juden vermählen sieh
sehr früh.
Von den früheren Beschränkungen ihrer Lebens-
weise haben sich viele bis auf den heutigen Tag er-
halten. Je nach der Strenge des jeweiligen Kaid oder
nach seiner Bestechlichkeit werden ihnen grössere
Freiheiten gewährt, aber mitunter lehnt sich die
mohammedanische Bevölkerung dagegen auf. In früherer
Zeit durften die Juden beispielsweise nur in ihter
Mellah Schuhe tragen. Kamen sie in die Maurenstadt,
so mussten sie barfuss laufen. Sultan Soliman ge-
stattete ihnen das Tragen schwarzer Schuhe. Als sie
sich damit in Fez auf die Strasse wagten, waren die
Mohammedaner darüber so wütend, dass sie alle be-
schuhten Juden ohne weiteres niedermachten. Sie selbst
baten dann den Sultan, das bezügliche Dekret wieder
zurückzunehmen! Noch unter dem letzten, keineswegs
strengen Sultan Mulay Hassan war es ihnen verboten,
Turbane zu tragen. Sie bedecken sich heute mit
schwarzen Käppchen oder blauen Tüchern, die sie unterm
Kinn zusammenbinden, aber vor dem Gouverneur oder
beim Yorüberschreiten an Moscheen abnehmen müssen.
Statt der gebräuchlichen gelben Schuhe dürfen sie nur
batfnss gehen. Begegnen sie Mauren, so müssen sie
nach der linken Seite ausweichen, sie dürfen maurische
Bäder nicht besuchen, in der Maurenstadt kein Pferd
besteigen, vor Gericht keine Zeugenschaft ablegen,
ausserhalb ihrer Mellah kein Haus und kein Grund-
stück erwerben. Jahrhundertelang blieben sie bedrückt,
ausgeschlossen vom öffentlichen Leben, verachtet. Jede
Verbindung eines Mauren mit einer Jüdin ist unter-
sagt, zeigten sie sich bei Festlichkeiten, dann wurden
sie mit faulen Orangen und Steinen beworfen, mussten
aber das Geld ftlr diese Festlichkeiten zahlen. Heute
noch sind sie einer dem Sultan zu zahlenden Toleranz-
steuer unterworfen. Alles das erhielt die Mehrzahl
von ihnen bis auf die Gegenwart in Ungewissheit und
Aberglauben. Auf den meisten Häusern wird man
beispielsweise zum Schutz gegen die zahlreichen giftigen
Skorpione Papierstreifen über den Türen finden, mit
dem Bild zweier Skorpione und einem Abrakadabra in
hebräischer Schrift, von den Rabbinern niedergeschrieben.
Die Herstellung dieser Zettel kann nur in der ersten
Nacht des Siwanmonats geschehen, nachdem der Rabbi
dreimal unter Wasser getaucht ist und sich die Finger-
nägel geschnitten hat. Ueber der Beschwörung steht
in hebräischen Lettern folgendes:
A
Spicoros la Opretata
Picoros Nia Pretata
Icoros Inia Retata
Coros Ginia Eitata
Oros Iginia Tata
Ros Liginia Ata
Os Bl^nia Ta
S AbUginia A
Der Bürgermeister jeder Mellah ist wohl ein
Jude, untersteht aber einem maurischen Gouverneur,
der wieder vom E[aid der Stadt seine Befehle empfängt.
In den Mellahs der den Europäern geöfbeten Hafen-
städte dürften durchschnittlich je 5 — 7000 Juden wohnen,
in Tanger, Fez und Marrakesch je 8000, nnd Tau-
sende leben ausserdem bei den Araberstämmen, von
denen sie sich den Mezrag, d. h. Schutz durch
teures Geld erkaufen müssen. Im ganzen ist die
Zahl der Juden von Marokko wohl Hunderttausend
Sie wäre bedeutender, wenn die elenden Gesundheits-
verhältnisse, in welchen die Juden leben, nicht vor-
handen wären. Die Abwesenheit von Kloaken und
frischem Wasser, von Luft und Licht, die Ablagerung
allen Unrates in den Strassen und Häusern machen die
Wohnungen zu wahren Krankheitsherden, und bei
Epidemien haben die Juden die grösste Zahl an Opfern
aufzuweisen. An ihrem Judentum halten sie mit grosser
Zähigkeit fest Sie trinken ihren Wein aus Gefässen,
die kein Andersgläubiger berührl hat, und gemessen
nur koscher geschlachtetes Fleisch. Selbst auf den
Schiffen, wo ich mit ihnen zusammentraf, setzten sie
sich nicht zur gemeinschaftlichen Tafel, sondern Hessen
sich ihre Mahlzeiten in mitgebrachten Geschirren zu-
bereiten. Die Speisen für den Sabbath werden am
Tage vorher zubereitet, und die Kochtöpfe dürfen nicht
abgetrocknet werden. Ihre Synagogen sind indessen
auch Christen zugänglich. Die meisten sind klein und
von ärmlicher Ausstattung. Mit Kalk belegte Stufen
führen in das mit Eichenholz getäfelte Innere. Zwei
Säulen stützen in der Mitte eine Tribüne, uud hinter
dieser erhebt sich das gewöhnlich hölzerne Tabernakel
mit den Gesetztaieln. Die sehr reich geschmückten
Ornate der Rabbiner und die zum Gottesdienst er-
forderlichen Gegenstände sind in hölzernen Schränken
untergebracht, die, für Marokko merkwürdig genug,
unverschlossen sind. Dennoch hat es, wie man mir
erzählte, seit Menschengedenken keinen Diebstahl ge-
geben. Nach dem Glauben der marokkanischen Juden
würde ein Dieb, der sich an diesen heiligen Dingen
vergreift, sofort durch den Tod bestraft werden.
Die religiösen Feste werden streng beobachtet,
doch das grösste Fest, bei welchem auch der reichste
Aufwand entwickelt wird, dürfte das Hochzeitsfest
sein. Selten habe ich schönere Gewänder gesehen, wie
bei jenem, dem ich beiwohnen durfte. Die Frauen und
Mädchen der Hochzeitsgesellschaft waren in die kost-
barsten Brokate und Seidengaze gehüllt und mit Perlen
und Edelsteinen geradezu besäet Der Kopfputz, das
kurze Jäckchen, Gürtel und Pantoffeln blitzten von
Edelsteinen; je älter die Matronen waren, desto mehr
Schmuck hatten sie. Das rabenschwarze Haar dieser
alten Jahrgänge, das Edmondo de Amicis bei seiner
Reise nach Fez so sehr in Verwunderung setzte, ist
nicht natürliches Haar, sondern eine seidene Perücke.
Nur die Mädchen tragen ihren Haarschmuck gewöhn-
lich in grosser üeppigkeit lose über die Schultern
733
Mitteilungen der Alliance Isradlite Universelle: Die Juden von Marokko von Ernst v. Hesse-Wart^g.
734
fallend. Sobald die Jüdinnen Matter werden, lassen
sie sich die Schädel, gewiss zpm Leidwesen aller Be-
wunderer Ton Franenschönheit, abrasieren und tragen
dann nur mehr Perticken.
Die Braut, ebenfalls reich gesehmtickt, das Ge-
sicht verschleiert und die Hände durch Henna orange-
gelb gefärbt, sass nach orientalischer Manier auf einer
Art Thron zwischen ihren Eltern. Ihre Augen blieben
geschlossen, und ihr Antlitz zeigte yöllige Teilnahm-
losigkeit. Auf der anderen Seite der weiss gedeckten
Tafel sass ihr jugendlicher Bräutigam. Elaum hatte
mich der Vater der Braut begrttsst, so wurde auch
schon, wahrscheinlich meinethalben, eine Messingplatte
umhergereicht, auf welche jeder Anwesende ein Gold-
oder Silberstäck warf. Natürlich musste auch ich mit
einem Dukaten für die mir wildfremde Person her-
halten und bekam von dem eigentlichen Hochzeits-
zeremoniell nicht einmal etwas zu sehen, denn dieses
findet, wie ich später erfuhr, erst am Schluss der
Woche statt, und wir waren erst am Dienstag, dem
Tag der Unterfertigung des Ehekontrakts. Mittwoch
wird die Aussteuer der Braut in das Haus des Bräu-
tigams gebracht und alles, was an Hochzeitsgeschenken
beigesteuert wurde, zur Besichtigung durch Freunde
und Bekannte ausgestellt. Jeden Tag gibt es Fest-
essen, Musik, Tanz und Gesang. Donnerstag wird die
Braut, in schneeiges Weiss gekleidet und mit Orangen-
blüten geschmückt, nach dem Hause des Bräuti^ms
gebracht Bei schönem Wetter marschiert sie tapfer
über das holperige Pflaster; gibt*s Regen, dann setzt
sie sich in einen mit bunten Tüchern verhängten Käfig
und wird von Maultieren zu ihrem Bräutigam ge-
tragen, mit den singenden, fackeltragenden Hochzeits-
gästen hinterdrein. Freitag kommt unter grossen
Festlichkeiten der Schluss; das Pärchen trinkt aus
demselben Glase Wein beim grossen Hochzeltsschmause.
(Aus der „Kölnischen Volkszeitung.'')
Sammlung für die marokkanisehen Glaubens-
genossen« Wir haben die Liste der dem deutschen
Bureau zugegangenen Spenden für die marokkanischen
Glaubensgenossen in unserer vorigen Nummer ver-
öffentlicht. Seitdem sind uns weiter folgende Spenden
zugegangen :
Amswalde: E. Abrahamowsky 10. — , S. Goldberg
10. — , Frau Moses 10.—, Fräulein Rosenau 10. —
P. Falk 5. — , Amholz 5. — , M. Cohn 5. — , Bieber 5. —
Samuel 5. — , FKeß-Marienwalde 5. — , Frau Ww
Samuel 5. — , Frau Pauline Abrahamowsky 5. —
Max Altmann-Kaulsdorf 3. — , Arthur Cohn 3. —
Glaßmann 3. — , Glaßmann-Granow 3. — , Herman
Putziger 3. — , Gerber 3. — , M. Falk-Cürtow 3. —
H. Casper 3. — , Frau Davidsohn 3. — , A. Abraham
2. — y Benno Schöps 2. — , M. Manasse 2. — , G. Joel
söhn 1. — , B. Joelsohn — .50, Hamburger-Doelitz 1. —
Ephraim 1. — . Berlin: George Salamonski 100. —
Max Salinger 50.—, N. N. 50.—, A. Bereut 40.—
J. Munk 20.—, Stammtisch bei Fehlow 20.—, Fr!
Hertha Majerowitsch 10. — , gesammelt durch Gustav
Strom 8.50, Frau Dr. Alice Nehab 4. — , Leopold Lob
l\. — , E. Simsohn 5. — , J. Baer 5. — , Moritz Zadek
5.—, Frau N. Marks 5.—, L. Simion 10. — . Bitsch:
Gerson Brann 1. — , Ungenannt 10. — . Braunsbach:
Gesammelt durch Lehrer Obemdörfer 47. — . Breslau:
J. Schneller & Co. 10. — , Aron Kober, Martin Fränkel,
Marcus Pinczower, Helene Pinczower, zusammen
25. — , Hermann Stillmann 10. — . Crailsheim: Max
Rosenfeld 20. — , Josua B. Stein 5. — , Adolf Stein
3.—, M. Grünsfelder 6.—, H. Grünsfelder 5.—, Berthold
und Albert Stein 5. — , Manuel Rosenfeld 10. — , A.Reine-
mann 5. — , Julius Levi 3. — , W. Goldstein sen. 5. — ,
David Heinsfurter 2. — , L. H. Goldstein 2. — , D. &
M. Rosenthal 6.—, L. Levigard 3.—, Rufen Süßfeld
3.—, Sal. Falk 3.—, J. Essinger 5.—, Max Essinger
2.—, Alb. Hallheimer 2.—, M. & Berthold Rosen-
feld 5. — , Isak Kohn 2. — , J. Grünsfelder 6. — , Louis
Friedmann 2. — , Salomon Goldstein 1. — , Lehrer
Strauß 2.—, W. H. Goldstein 1.—, Hermann Gold-
tsein 2. — , Moriz Heinsfiuter 1. — , Moriz Elkan 1. — ,
Beruh, Goldstein 1. — , Frau Bertha Goldstein 3. — ,
Frau B. Hanauer 2. — , David Stein 2. — , S. Mezger
4. — , W. Mezger 3. — , D. Ps^penheimer 3. — , Samuel
Stern 5. — , Aron Strauß 3. — , Jacob Stern 3. — , Max
Mezger 2. — , David Friedmann 1. — , Emil Hallheimer
2. — , Dr. Adolf Rosenfeld 3. — , Lazarus Heinsfurter
3.—. Darmstadt: Durch Otto Wolff 600.—, durch
Rabb. Dr. Marx : Dr. Bodenheimer 20. — , Is. Lehmann
20. — , Frau S. Bodenheimer 10. — , F. Lutz 5. — ,
Rabb. Dr. Marx 5. — . Dürkheim: Durch Bezirks-
rabbiner Dr. Salvendi 400. — . Düsseldorf: Carl W.
Simons 30. — . Edenkoben: Wohltätigkeitsverein, durch
Jacob Michel 20. — . Filehne: Josef Cohn 2. — .
Göppingen: Gesammelt durch Leop. A. Gutmann
219. — . Köln a. Rh«: Gesammelt durch Rabbiner
Dr. Frank 238.—, M. C. Munk 10.—, J. WaUach
2. — , B. Lewertoff 5. — , C. Sander 5. — . Konstanz:
Adolf Veit 5. — , Gebr. Moos 10. — , Samuel Schatz sen.
3. — , Emrich 3. — , Gebr. Rosenthal 5. — , Frau Marie
Guggenheim 1. — , Simon Neuburger 10. — , Gustav
Frank 10. — , Dr. <^ Daniel Guggenheim 5. — , J. W.
Guggenheim 5. — , Napht. Ortlieb Wwe. 2. — , Hermann
Schwarz 3. — , Pius Wieler Söhne 10. — , Moses Roth-
schild 5. — , Frau Adele Wolf Wwe. 3. — , Salomon
Hasgall 1. — , Max Mann 5. — , Maier, Großh. Bez.-
Tierarzt 3. — ,fMoritz Picard 3. — , Samule Picard 5. — ,
Sigmund Rothschild 2. — , Frau Guggenheim-Neumann
3. — , Frau Lazarus Frank Wwe. 3. — . Krotosehin:
Durch Rabbiner Dr. Berger: Stadtrat Neumark 10. — ,
Louis Daniel 5. — , Jacob Schlesinger 10. — , Heinrich
Epstein 10. — , Jacob Rotstein 3. — . Labisehin: Ge-
sammelt durch Rabb. Dr. Ansbacher 34. — . Leipzig:
Justizrat Broda 15. — . Loslau: Gesammelt durch
Ad. Adler 40.50. Mannheim: Adolf Bär 10. — , Moses
Lorch 10. — , Hermann Löb-Stem 20. — , E. Heidel-
berger Söhne 10. — , Gebrüder 21immem 100. — , Bern-
hard Bodenhehner 25. — , Hermann, Max, Bernhard
Kaufmann 20. — , S. Simon 20. — , Frau Friedrich
Julius Bensinger 50. — , Max Küssel 20. — , Paul Benfey
10. — , Maier Marxheimer 10. — , Ad. Marx 10. — ,
Jac. Mendel 10. — , Alfred Marx 10. — , Emil Stern
10. — , M. Kalter 10. — , E. Friedmann 10. — , Jacob
Marx 5. — . Marienbad: Durch Dr. S. Prager: Dr.
735
Mitteilungen der Alliance Isra^lite Universelle: Sammlung für die marokkanischen Glaubensgenossen.
736
Felix Wolfner 10.— Kr., Dr. Strauß 2.— Kr., S. Meyer
5._ Kr., M. Spitz 10.— Kr., Frl. M. Meyer 1 Kr.,
Frau Dr. Porges 5. — Kr., Dr. Prenninger 5. — Kr.,
Dr. S. Prager 5. — Kr., Panne aus Krakau 2. — Kr.,
Heimann aus Krakau 2. — Kr. Mergentheim: Ge-
sammelt durch Rabbiner Dr. Sänger 64.30. Münster
i. West!.: Synagogen- Gemeinde 50. — . Niederflor-
stadt: Abr. Adler 3. — . Offenbach a. M.: Durch Rechts-
anwalt und Notar Dr. Guggenheim 500. — . Ottensoos:
Die bereits im Oktoberheft quittierten, durch Herrn
Hermann Prager gesammelten 54.50 Mk. setzen sich
wie folgt zusammen: Julius Prager 5. — , Theodor
Rebitzer 3. — , Mannheimer 3. — , Niem Rebitzer 3. — ,
Emma Sommerich 1. — , Louis Rebitzer 3. — , Welsch
2. — , Max Heßdörfer 3. — , Simon Heßdörfer 2. — ,
Siegfried Heßdörfer 2. — , Em. Lamm 3. — , Lisette
Prager 2. — , Sigwart Prager 2. — , Martin Prager
2. — , Anton Sommerich 2. — , Em. Späth 2. — , Jac.
Späth 2. — , Guido Prager 1. — , Hermann Rebitzer
2. — , Schwestern Prager 1.50, Frauen- Verein 3. — ,
Hermann Prager 2. — , Säle Späth 3. — (abzüglich
50 Pf. Einziehungskosten). Potsdam: Gustav Salomon
2. — . Sehwetz a. W.: Louis Graf 3. — . Schivelbein:
Max Salomon 20. — , S. Borchardt 10. — , Gebr. Wolff
5. — , Laepert 5. — , Ph. Mannheim Söhne 3. — , Emil
Jacob US 3. — , Jul. Elias 3. — , L. Kargauer 2. — , Gut-
mann 2. — , Neumann 2. — , E. Lewinsohn 2. — , S. Bern-
stein 2. — , Max Bernstein 2. — , S. Schendel 2. — ,
Gustav Engel 2. — , Hirsch 1. — , Ungenannt 1. — ,
L. Heinrichsdorf f 1. — , Leopold Jacobus 1. — , Sophie
Engel 1.—, M. Meyer 1.—. Staden: N. N. —.40.
Stallupönen: H. Postawelsky 5. — . Stuttgart: R., Leop.,
Adolf und Siegmund Ehrlich, zusammen 7. — . Wies-
baden: S. Bielefeld 6. — .
Die Beträge sind dem Pariser Central-Comite
überwiesen worden. — Infolge des in Frankfurt a. M.
von den dortigen Lokal-Comites der A.LU. und des
Hilfsvereins gemeinsam erlassenen Aufrufs sind bi.s
jetzt über 17000 Mk. eingegangen.
Lokal-Comite Berlin. In der Sitzung des Lokal-
Comit^s Berlin der A. I. U. vom 6. Oktober ist Herr
Rabbiner Dr. Eschelbacher einstimmig kooptiert
worden. Herr Dr. Eschelbacher hat die Wahl an-
genommen und an den Vorsitzenden das folgende
Schreiben gerichtet:
„den 8. Oktober 1907.
Hochgeehrter Herr Geheimrat!
Far die mich ehrende Wahl in das Lokal-Comite
der Alliance Israölite Universelle und die freundlichen
Worte, mit welchen Sie deren Anzeige begleitet haben ^
spreche ich hierdurch meinen ergebensten Dank aus.
Ich nehme sie mit grosser Befriedigung an, und
es wird mir eine Freude sein, in Ihrem Kreise für die
grossen und edlen Zwecke der Alliance wirken zu
können.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Ihr ergebenster
Eschelbacher.'*
buecHerschau.
Der 9. Jahrgang von Rabbiner Dr. Heppners
jüdisch-literarischem Abreisskalender für das
Jahr 1908 (5668/69) ist soeben erschienen. Dieser Kalender
erfreut sich von Jahr zu Jahr immer grösserer Be-
liebtheit, die er wegen seiner ausserordentlich praktischen
und geschickten Anordnung in vollem Mass verdient.
Er beginnt mit dem bürgerlichen Kalenderjahr und
zeigt gleichzeitig die Daten der jüdischen Zeitrechnung
und die des bürgerlichen Jahres an. Alle für die
Geschichte des jüdischen Volkes bedeutsamen Gedenk-
tage und biographischen Notizen über hervorragende
jüdische Gelehrte, Künstler und Dichter werden sorg-
fältig registriert, die für die Sabbathe und Festtage
bestimmten Thora- und Hafarah-Abschnitte werden
dem Inhalt nach angegeben, Sabbath- und Festtags-
ausgang wird verzeichnet. Zwischen den tatsächlichen
Angaben finden wir wohlausgewählte Sprüche und
Sentenzen aus der heiligen Schrift, abwechselnd mit
sinnigen Versen und Aussprüchen neuerer jüdischer
Dichter.
„Eine gesunde Familie, eine giackliche Familie!** Niemand wird diesen Satz bestreiten können! Gesundheit und mit ihr Zufriedenheit
sind in der Tat köstliche Güter, aut deren Erhaltung jeder Mensch immer bedacht sein sollte. Erfahrungsgemäss bilden die Ursache vieler Krankheiten
Verstimmungen des Magens und diese wieder sind sehr oft auf schlechte Zähne zurückzuführen. Gut gekaut ist halb verdaut! Mit schlechten Kau-
werkzeugen ist dies aber nicht erreichbar. Werden die Speisen nicht genügend zerkleinert, so bleiben solche lange unverdaut im Magen liegen,
verursachen Magenbeschwerden und andere Krankheiten lassen dann nicht lange auf sich warten. Eine rationelle Mund- und Zahnpflege ist für Jung und
Alt, für Klein und Gross von grösster Wichtijgkeit und es kann hierauf nicht genug Wert gelegt werden. Einfaches Ausspülen des Mundes genügt nicht :
Man verwende vielmehr ein Zahnmittel, weiches die Zähne vor Fäulnis schützt und die zerstörenden Bakterien vernichtet, ferner die Zähne weiss und
den Atem frisch erhält. Alle diese Eigenschaften besitzt voll und ganz die weltbekannte Specialität: „Bergmanns Zahnpasta,, AHAB" patent-
amtlich geschützt, verpackt in höchst pracktische, für Ersatzstücke eingerichtete Milchglasdosen mit Aluminiumdeckel und allein hergestellt von der in
bestem Rufe stehenden Firma A. H. A. Bergmann, Wald heim i. Sa. Dieses altbewährte, überall beliebte Zahn mittel hat infolge seines
sparsamen Verbrauchs noch den Vorzug grösster Billigkeit gegenüber anderen Fabrikaten für gleiche Zwecke. In der Deutschen Armee-»
Marine- und Kolonial-Ausstellung Berlin 1907, wurde die Firma A. H. A. Bergmann, Waldheim i. Sa. mit der Goldenen Medaille
ausgezeichnet. Bergmanns Zahnpasta „AHAB" ist käuflich in Apotheken, Drogerien und Parfflmerien. *
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mseratenaiinabiiie nur durcl) l)j|jl$enstein ff Uogler Jl* 6* in Berlin und deren Jilialen.
AboBBementtpreU ffir das Jahr Ib DentschlSBd uBd Oesterrelch Mark 7,— (Laznsauiffabe Mark 149— )i ffir das Anslaad Mark 8—,
(LnxiisaiMf abe Mark i6).
ffir RuMland ffanzjihrlich 4 Rubel. Bluzelhefte ä 35 Kop.
- .. . -_ Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandes, durch alle Postämter des Deutschen ... ^..^
^" Reiches unter No. 5785 a der Postzeitungsliste und durch die Expedition dieser Zeitschrift ' ^ — -
Anzeigten Mk. L — die viergespaltene NonpareiUezeüe, grössere Anzeigen nach Tarif, bei Wiederholungen Rabatt
■ - ■ ■ ■ I — —■—■■—■ - ^ ■ ■ „ ■ — ~ 1 ~ - ■ - — ■ ■-■■■, ■! I ■ ■ , ■ — I ■ ■ I » ■ ■ ■■ I ^ ■
Adresse fOr die gesdiäftliclie Korrespondenz: Verlag „Ost und West'', Berlins. 42, Wassertiiorstr. 50
Redaktion: Berlin W. 15, Knesebecicstr. 48/49*
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Verantwortlich für den redaktionellen Teil: Chefredakteur Leo Winz, Berlin W. 15, Knesebeckstr. 48/49. — Verlag Ost
und West, Leo Winz, Berlin S. 42. — Druck von Beyer & Boehme, Berlin S. 42, Wasserthorstr. 50.
ILLUSTRIERTE MONATSSCHRIFT
V
FÜR DAS GESAMTE JUDENTUM
Herausgegeben und redigiert
von
LEO WINZ.
Alle Rechte Torbehalten.
Heft 12. Dezember 1907.
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TU. Jahrg.
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An unsere Abonnenten!
IVlit vorliegendem Hefte schliesst der siebente Jahrgang unserer Zeitschrift.
Soweit uns nichts Gegenteiliges mitgeteilt wird, werden wir das Abonnement
als verlängert betrachten.
Wir bitten unsere Freunde, uns ihre Sympathien auch weiterhin zu bewahren
lind unserer Zeitschrift nach Kräften zu weiterer Verbreitung zu verhelfen.
Verlag und Redaktion von „OST und WEST^^.
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K^^^^^*0*m0t^t
DIE ORGANISATION DER VERTEIDIGUNO.
Von Dr. Simon Bernfeld.
Nachdruck verboten.
Mit der G^chichte des Judentums ist aufs
engste verknüpft die Geschichte seiner Verteidigung,
die bis in das hohe Altertum des jüdischen Volkes
hinaufreicht. Das Judentum ist ziemlich früh eine
^Weltreligion geworden, und infolge der Zerstreuung
des jüdischen Volkes kam es bald in enge Be-
rührung mit andern Kulturen, mit denen es sich
verschiedenartig auseinandersetzen musste. Ins-
besondere wurde dies für die Geschichte des Juden-
tums von grosser Bedeutung, seitdem Judentum
und Hellenismus in den ägyptischen und klein-
asiatischen Kolonien einander begegneten. Es war
dies ein merkwürdiges Zusammentreffen, eine eigen-
artige Berührung zweier Kulturwelten, von denen
eine jede die besten geistigen Vorzüge für sich in
Anspruch nahm. Sie sollten in Wahrheit ein-
ander ergänzen, aber im Bewusstsein ihrer Be-
deutung glaubte jede nur allein die Daseinsberech-
tigung zu haben und auf die andere mit Miss-
achtung herabsehen zu dürfen. Die Gegensätze
schienen unausgleichbar zu sein, und nur in heissem
Ringen sollte entschieden werden, wer Siegerin bleibt.
Das Judentum konnte sich doch dem Einfluss
des Hellenismus nicht ganz entziehen. Anderer-
seits aber war es nie gesonnen, sein Dasein auf-
zugeben. Es musste somit die Möglichkeit ge-
funden oder geschaffen werden, wie es neben dem
Hellenismus nicht nur fortbestehen, sondern sogar
diesem gegenüber seine Superiorität wahren sollte.
Diese Bestrebungen im Judentum riefen die
Apologie hervor, sie schufen ein Schrifttum, das
sich mit der Rechtfertigung und mit der Stärkung
739
Dr. Simon Bernfeld: Die Organisation der Verteidigung.
740
des Jadentams in mannigfaltiger Weise beschfiftigte.
Die Schriftsteller, welche sich dieser Arbeit wid-
meten, mögen nicht immer Klarheit über ihre
Ziele gehabt haben; manches ist, ich möchte
sagen, instinktiv entstanden, in dem aber doch das
geschichtliche Bewnsstsein des jüdischen Volkes
zum Ansdrack kam. Es wnrde mitunter der Ver*
snch gemacht, zwischen dem Judentum und dem
Hellenismus einen Ausgleich herbeizuführen. Ich
brauche nur auf Philo hinzudeuten, der von den
platonischen Ideen erf&llt, nachzuweisen sich die
Mtthe gab, dass das Judentum, wenn auch in an-
deren, ihm eigenen Formen, dieselben philosophischen
und ethischen Wahrheiten lehre, wie die griechische
Weisheit. Auch das war Apologie, die Ver-
teidigung des Judentums gegen diejenigen, die es
deshalb herabsetzen zu dfirien glaubten, weil es
vom philosphischen Denken fem sei. Diese Art
der Verteidigung, gleichviel ob sie so beabsichtigt
war, galt in erster Beihe für gebildete Juden, £e
von der griechischen Bildung viel, vom Judentum
aber wenig wussten. Ihnen sollte gezeigt werden,
dass die Söhne und Töchter des jüdischen Volkes
gar keinen Grund hätten, sich des Judentums zu
schämen und es, wie es die Griechen jener Zeit
taten, als eine Beligion von Barbaren zu be-
trachten.
Neben dieser Apologie der Defensive kennen
wir aus dem hohen Altertum auch eine solche der
Offensive. Das Beste dieser Art finden wir in der
bekannten Schrift des Josephus über das hohe
Alter des jüdischen Volkes, die er gegen den juden-
feindlichen Klopffechter und Prahlhans Apion ge-
richtet hat* Dieses Buch, das man noch heut-
zutage mit hohem Interesse lesen kann, ist für
eine bestimmte Art der Apologie gradezu muster-
gültig. Es besitzt alle Vorzüge einer guten apolo-
getischen Schrift. Der Verfasser verf^t über ge-
naue Kenntnisse des Judentums und des Griechen-
tums, weiss geschickt die Vorzüge des ersteren
und die Schwächen des letzteren hervorzuheben,
die Angriffe auf das Judentum und das jüdische
Volk mit Ernst und Witz entschieden zurück-
zuweisen, den judenfeindlichen Apion ins Lächer-
liche zu ziehen, das Judentum mit Wärme und
ungekünsteltem Pathos zu verteidigen. Vieles in
diesem Buche ist noch jetzt aktuell; es hört sich
recht modern an. Der Hauptvorziig der Schrift
gegen Apion liegt nämlich darin, dass Josephus in
Wirklichkeit weitgehendes Verständnis für das
innere Wesen des Judentums und des Griechen-
tums besass; er verstand die Bedeutung der
jüdischen Religion in ihrem volkserzieherischen
Wert und betonte dies mit vielem Nachdruck Das
Judentum galt ihm eben nicht als eine philosophische
Wahrheit, die doch vergänglich sein kann, sondern
als eine ewige sittliche Wahrheit, die nicht etwa
von nur wenigen Bevorzugten erfasst wird, sondern
von einem ganzen Volk.
Die beiden grössten jüdischen Apologeten des
Altertums, Philo und Josephus, waren nach meiner
Auffassung deshalb so erfolgreich, weil sie sich
mit dem jüdischen Volke und mit dem Judentum
identifizierten. Man merkt es ihren Worten an.
dass sie das, was sie schrieben, labten und
empfanden. Sie fährten ihre eigene Verteidigung,
indem sie, jeder nach seiner Art, ihr Volk und das
Judentum verteidigten. An die Sache, ftu* die sie
mit solchem Eifer und mit solcher Begeisterung
eintraten, glaubten sie mit derselben tiefen Ueber-
zeugung, wie sie an sich selbst glaubten. Für sie
war die Apologie des Judentums kein literarisches
unternehmen, sondern eine Lebensäusserung. Wenn
heutzutage oft gefiraet wird, warum wir jetzt
trotz mancher guter Versuche keine durchdringende
Apologie des Judentums erhalten, so wird mau
vielleicht den Grund dafür darin zu suchen haben,
dass es uns an Männern fehlt, die nicht nur ihr
reiches Wissen und ihr literarisches Können in den
Dienst des Judentums stellen, sondern auch ihre
ganze Persönlichkeit. Auch dieses möchte ich
durch ein Beispiel aus unserer Literaturgeschichte
erhärten. Aüs-d^m religions-philosophischen Schrift-
tum des *^' dlalters ragt besonders ein Buch
hervor, der t^og „Kusari** des gottbegnadeten
Dichters Jehuda Halevy. An philosophischer Tief e
und Originalität steht dieses Buch weit hinter der
„Lebensquelle^ des Salomo ihn Gabirol, an Klarheit
und kühner Folgerichtigkeit hinter dem „Führer
der Irrenden" des Maimonides. Und doch ist der
„Kusari" ein herrliches Buch, aus dem in tausend
Tönen das Lob des Judentums und des jüdischen
Volkes erschallt. Da tritt ein Mann auf, der von
der innem Wahrheit des Judentums und von dem
hohen Wert des jüdischen Volkes, von seiner ge-
schichtlichen Bedeutung, tief fiberzeugt ist. Er
sucht nicht nach Formeln, nach Analogien, nach
Syllogismen, um das Judentum zs verteidigen; von
seiner Güte ist er so überzeugt, wie ein Mensch
von seiner Liebe zu den Eltern überzeugt ist. Aus
ihm spricht nicht der kalte Verstand, sondern das
warme Gefühl, das aus dem vollen Herzen hervor-
sprudelt. Er verteidigt das Judentum aus dem-
selben Gefühl, wie jemand für seine Heimat, seine
Familie und seine Freiheit eintritt.
Wir sehen somit, dass grosse Apologeten im
Judentum entstehen können, wenn es die Zeit er-
fordert. Aber allerdings kann die Apologie des
Judentums keine bestellte Arbeit sein, die auf Ver-
langen geleistet wird. Ein Priester konnte alle
Bestimmungen des Altardienstes erlernen und alle
Bräuche einüben, um seines Amtes zu walten —
der Prophet aber musste zu seinem Amte den
innem Beeuf haben, dazu „vom Mutterleibe" ge-
weiht sein. An eine Prophetenschule, obwohl es
solche in Israel gegeben hat, glaube ich nicht,
denn das Prophetentum erlernt man nicht. Auch
eine wirksame Verteidigung des Judentums und des
jüdischen Volkes ist nur von solchen zu erwarten,
die dazu wirklich berufen sind. Nichtsdestoweniger
wäre es ein grosser Irrtum, wenn wir in den
heutigen Zeitläuften jeden Versuch unterlassen
wollten, weil wir das Vollendete und Höchste nicht
erreichen können. Die Verhältnisse liegen so, dass
Dr. Simon Bemfeid: Die Organisation der Verteidigung.
wir der Apologie nach jeder Bichtnng driDgeod
bedärfen; sie tat uns not nach aussen tun, g^ea
Angriffe, die in verschiedener Form gegen das
Jodentnin ond gegen den jüdischen Stamm gerichtet
werden, aber auch nach innen, gegen Missachtong
and Herabsetzung des Judentums in unserer eigenen
Mitte, welche durch Unkenntnis hervorgerufen
werden. Die Nützlichkeit und ErspriessUchkeit
kultureller Arbeit braucht nicht sofort sichtbar zu
sein; verloren geht doch kein Saatkorn. Das Wort
der Wahrheit kann mitunter, wo es gesprochen
wird, anvernommpn verhallen, aber es wird vielleicht
vom Winde in die Feme getragen, um dort auf
empfäi^lichen Boden zu fallen.
Id der letzten Zeit sind unter den deutscheu
Juden verschiedene Organisationeo entstanden,
welche sich den
schichtliche Erfahrang lehrt auch, dass sich die Dinge
immer so entwickelt haben: zaerstwordea die Juden
wegen ihrer religiösen Anschauung und ihres reli-
giösen Lebens verächtlich gemacht, dann kam ihre
Entrechtung und ihre Knechtung. So trieben
es die. judenfeindlicben Qriecben in Alexan-
drien, so verfutir das christlich gewordene
Bom, der fanatische Klerus in Spanten, der
Mob am Ehein. Angriffe auf das Judentum dürfen
uns nie gleichgültig lassen, mag unsere politische
Stellung nach so gesichert erscheinen. Sie bedeuten
immer die Vorzeichen eines heftigen Sturmes
auf unsere bürgerlichen Rechte. Die Klug-
heit nnd der Trieb der Seibsterhaltnng erheischen
in solchen Fällen immer das rechtzeitige und
kräftige Eingreifen za unserer Verteidignng.
Die Feindselig-
Kampf fUr die
keit gegen das Ju-
Sache des Juden-
dentum und gegen
tums und der Ju-
■ unserVolk wird von
deoheit zur Aufgabe
Böswilligen hervor-
gemacht haben. Die
gerufen. Indessen
Tatsachen haben
wäre die Wirkung
zur Einsicht ge-
nie eine so ver-
führt, dass die Ver-
heerende und \er-
teidigung der bür-
giftende, wenn sich
gerlichen Rechte
nicht am die Bös-
der Juden nicht
willigen ein Gefolge
ohne die Vertei-
von aas Unkenntnis
digong des Juden-
Sprechenden bilden
tums möglich ist.
würde. Die Böseu
Kein logisch ge-
werden sich nicht
nommen, könnte
belehren lassen .
man ja sagen, das
wohl aber viele
Judentum brauche
von denen, die
keine Verteidi« ang ;
ihnen aus Un-
denn eine Wahrheit
wissenheit nach-
hört nicht auf Wahr-
sprechen. Zu die-
heit zu sein, wenn
sen gehört leider
sie tausendmal von
auch eine grosse
BöswilUgen und
Zahl von Juden und
Narren begeifert
Jüdinnen. WoUen
wird. Aber die
I'raxis zeigt, dass
Anfeindungen die
die Herabsetzung
Verteidignng orga-
des Judentums mit
nisieren, so bleibt
der Beeinträchti-
uns zunächst niii'
gung der bürger-
ein Mittel übrig:
lichen Rechte der
die Verbreitung der
Juden zusammen-
Kenntnis von allen
fällt. Solange das
Dingen , die das
Judentum nicht zu
jüdische Volk um!
seinem Rechte ge-
das Judentum be-
langt, werden auch
treffen. Der beste
die Juden niemals
Teil der Apolo-
im sichern Besitz
gie des Juden-
ihrer bürgerlichen
tums ist doch
Rechte bleiben, mö-
die Kenntnis des
gen sie ihnen auf
Judentums, und
dem Papier noch so
das zu erreichen
heilig versprochen lesser URV „ OELOEMAELDE. liegt vielfach in
werden. Die ge-
unserer Macht.
ng jüdischer Künstler ■>
OELGEMAELDE.
Russtellung jübisd)er Künstler.*)
Von Dr. flifreö Hossig.
CDel)rfadj unb an verfdjiebenen Orten würbe in
le^ter 3eit von Runftverltanbigen bie Ibee angeregt,
burd) RusfteUungen einen Ueberblidt über bie
t^ünftlerifdje probuktion ber ]uben 3U gewinnen.
Dad) bem (d)on bie Wiener Se3e(fion gelegent'
lidj eines reidjeren Cinloufes von Werken o(l=
jübifd)er (Daler biejelben 3U einer Gruppe vereinigt
l)Qtte, würbe vor jQljresfrijt (riovember'Desember
1906) bonh ben Bemütjungen bes Rever.
Canon Bor nett in ber Wl)ited)apel Art öallery
3u Conbon bie .^xb'bition of Jewift) Rrt anb
Bntiquities' eröffnet, bie burd) itjre I^ünftlerifdie
•) Die naclj^tetjenöen Seilen mögen 3ur CinfQl^rung
in bie Husrttllung jOdiTditr KOnltltr dienen, die am
17. november in ben Räumen Öer Galerie für alte unb neue
f^\in\t Strlin, cauhclmrtr. 45, eröffnet wurde. Wir bringen
eine fln3at)IReprobuMionen von Wer henbieterintereflanten
flusltellung in öietem ßefte unb werben im folgenden
weitere Abbildungen «eroffentlicben Ueber die
flufnaljmeberauadenverfdjiebenftenCänberneingelaufenen
Werhe entfdjieb die Jury, die jicb aua den Berren Otto
ß. Cngel (Vortitsender der ßommiftion der grofeen Ber-
liner Sunltauattellung), Prof. Oacar Sren3el und Prof.
Cudwig (Hansel 3ufammenfe^t. [neb. von Olt un6 WeTi.)
Nachdruck verboten.
Eigenart bas lntere(|e an einer 3ufommenfa{fung
jübifd^er l^ünftler steigerte. Wäbrenb einerseits ber
Inbuftri-Soreningen (Inbuffrieverein) in f%open =
f) a g en unter OOitwirliung bes Direlitors bes
bortigen l^unftgewerbemufeums, Bannover, unb
bes Profeflora Dr. Simon(en eine analoge flus=
ftellung für ben Januar 1908 vorbereitet, unter=
nal)m ber „Verein jur Sörberung jübi{d)er
Run(t" bie Veranftaltung einer (oldjen in Berlin.
Von verfdjiebenen (3efid)tspuntiten aus er-
fdjeint ber angeftrebte tjiftorifdj'hünftleri|d)e Lieber-
blid^ lol)nenb. Dag ben Initiatoren ber Ibee, 3U benen
aud) CDönner nid^tjübifd^er ßonfeffion gel^örten, Ijier
unb anberwSrts bie Cenbens einer honfeffionellen
Separation völlig fremb war, braud)t wol)l nid)t
er(t l)ervorgel>oben 3U werben. Hur bas etl)nologtfd)e
unb hulturl7i[torifd}e rOoment, auf bem bie gan^e
moberne Runltgefd)id)te, bejonbers (eit Bippolyt
Caine, bafiert, kommt in Srage. Unb i>a ift es
nun intereffant, Rnl)altspunhte bafür 3U gewinnen,
wie ein Stamm, ben einerfeits feine überlieferte
Cebre, anbererfeits bie lii[tori[d)en Verl)ältni((e von
Dr. Alfred Nossig: Ausstellung jüdischer Künstler.
746
der ßefd^öftigung mit ber bUbenöen ßunfl }Ql)r<
taufende l)inburd) abhielten, im legten Jal)r'
t^unbert, ja eigentlid; in ben legten 3at)r3el)nten
ouf biefem Gebiete fid) betötigt l)Qt.
5It e5 ben ]uben gelungen, in biefer Kursen
3eit (id) auf bie Böt)e hünftlerifdjen Sdjaffens
anberer Rulturvölher auf3ufet)wingen? Bat bie
tolange wätjrenbe Unterbinbung ber hünftleri(d)en
Aber ben }uben bie Originalität unb bie Intenfität
bes Oeftaltens benommen, ober tritt der Oe=
[toltungsbrang bei il)nen beute um (o ungejtümer
t)ervor?
Ca(fen (idj — ba bod> bie Raffe als eigentlid)fter
n5t)rboben unb Quetl öes itünftlerifdjen Sdjaffens
von ber Runft^
wiffenfct^oft l)inge=
ftellt wjrb - Qudj
bei ben jübifdjen
Rünftlern gewiffe
gemeinfame CDerlt=
male erl^ennen unb
wenn es fo i[t:
worin beftet)t bie
Kaffeneigenart ber
lubeninberRunft?
Wie weit reidjt
bie Beeinfluffung
burd) bas liulturelle
unb äftl)etifd)e 011=
lieu, in bem bie
einseinen jübifd^en
Rünftler fid) ent=
widfelt l)aben? 6e=
l)en fie alle völlig
in il)m auf, oder
keimt vielteid)t i)ier
ober bort, bewußt
ober unbewugt,eine
fpe5i{ifdj jübifd)e
Runft?
Das finb bie
fragen, bie fid) bem
Runfti)iftorikeT unb
RunfthritiKer auf-
orangen, wenn er
benflnteil berauben
on ber mobemen
Runft in's Auge
fafet. nur eine
3ufammenftellung jqzef ISRAELS
ber Werhe jü- Lebensabend.
bifd)er RÜnftler Ver» (/.um Anilel .Ausstellimg jüdische
fdjiebener Cänber konnte öie Beantwortung
biefer Sragen, ber mon mit Intereffe entgegenfel)en
barf, ermöglid)en. Der vorurteilslofen Runftwiffen'
fd)aft ein berartiges Substrat 3U liefern, war bas
Beffreben ber Veranftolfer biefer Busflellung.
Sie finb fid) vollkommen beffen bewußt, bag
fie bie unternommene Aufgabe keineswegs voll=
[tänbig gelöft l)aben. 3u il)rer 6nt|d)ulbigung biene
es jebod), bog biefe Aufgabe, wie bie aud) in
Conbon gemad)ten erfai)rungen tet)ren, im Raijmen
einer einmaligen flusftellung reftlos überl)oupt
nid)t gelöft werben kann. 3undd)ft ift es von
voml)erein klar, ba^ eine Ausftellung nie bie Volt>
flänbigkeit ber Runitgefd)id)te erreid)en kann,
fonbem ftets nur
ein von Sufällen
bel)erTfd)tcr unb
burd) Ftaummangel
befd)ränkter Aus=
3ug bleiben mug.
Was bie Betd)af=
fungöer Werke vep
ftorbener CDeifter
betrifft, fo bereitet
bie fel)r begreif=
lid)e Abneigung ber
CDufeen unb Privat=
befit3er gegen bas
Ueberlaffen Öerfel'
ben vielfad) unüber=
winblid)eSd)wierig=
keiten. Die Ar=
beiten ber l)eute
fdjaffenbenRünftler
wieberum laffen fid)
barum an einem
Orte unb 3U einem
unö bemfelben Seit-
punkte nid)t alle
vereinigen, weil fie
von langer Banb für
verfd)iebene Runft^
ausftellungen 3uge'
fagtfinb. Will man
alfo gewiffe RQnft^
ler ausftellen, fo
mu^ man auf an=
bere versidjten, bie
um bie gegebene
3eit anberweitig
engagiert finb.
Die räumlid)e Be^
OEl.GEMAELDE.
747
Dr. Alfred Nossig: Ausstellung jüdisclter Künstler.
fd)ranhung t>Qt es mit fid}
gebrad^t, ba^ die jüöifdjen
Rünftler Berlins nid7t in 9e=
nügenöem (Dage berüch'
(idjtigt weröen honnten. Bei
iljrer eri)ebiid)en flnsal)!
unb öetn feitens lohaler
Rünftler nid)tunberedjti9ten
Rnfprud^e, mit ßollehtionen
vertreten 3U fein, l)otte bas
flusftellungshomitee nurbie
Wai)l, bie Beteiligung ber
auslänbifdjen ßünftler ober
bie ber Berliner auf ein
(Dinimum 3U rebu3ieren.
CDan entld^log fidj für Öos
Ce^tere, üa öie Werhe ber
l)ier lebenben I^ünftler bem
PubliNumvon anberen Rus"
ftellungen I)er beitannt (inb.
Das finb bie ßauptur=
fQd>en ber £ü*en, bie bie
Freude und Sorge.
OELQEMAELDE.
JOZEK ISRAELS Portrait.
(Zum Artikel ..Aufstellung iüdi-
Beriiner Rusftellung aufweift. ßiersu tritt ber Um-
ftanb, bafj mondje nomboftere Rünftler aus ber an=
ge(tammten Oemeinfd^aft ausgetreten (inb ober il)r
nid>t beigered^net 3U werben wün[d}en.
^ro^ biefer CÜd^en, bie in ber Sotgeseit burd)
ßollehtivausftellungen einselner Ijervorragenberer
l^ünftler teilweife ausgefüllt werben follen, bürfte
bas 3ufammengebrad)te fDateriol Jdjon mandjen
intereffanten fluffd)lu^ über bie t^ünftlertfd^e Cdtig=
heit ber ]uben bieten.
Vor allem bürfte es War werben, bafe bie alU
bekannten jübifd^en (Deifter unter iljren Stammes^
' genoffen als F^ünftlernid)t völlig vereinselt bafteben,
fonbern nur als bie t)Öd)ften Spieen aus einem
hräftig fproffenben Rünftlerwalbe hervorragen.
Hod) einer Cifte, bie ber englifd)=jübifd7e (Daler
Sronh C. £manuel angelegt l)at, gibt es 3Ur=
3eit in Europa über vierhundert jübifd^e Rünfter,
bie fid) einen Hamen erworben l>aben. Dem=
entfpred)enb würbe Öewidjt barauf gelegt, in öer
Berliner Rusftellung neben bem RItmeifter ber '
bollänbifd^en COalerei, 3o3ef Israels, neben einem
Camille pi33aro unb Benry Cevy, einem
(Darh Rntoholsl^i, einem Simeon Solomon,
ben Burne Jones als ben begabteften unter ben
englifdjen praerapljagliten beseidjnete, neben einem
Davib (Donies, einem (Dori^ Oottlieb unb
Salomon ). Solomon, Rusjüge ous ber Pro-
buhtion ber jüngeren }übifd)en Rünftler in Berlin,
JOZEF ISRAELS Die Nachbarn. OELGEMAELDE.
(Zum Artikel „AusslellunR jadischcr Küiistlcr".)
Dr. Alfred Nossig: Ausstellung jüdischer Künstler. 750
berebten Sd>il&ererin ber
nomenlofen Cei&enöee£xil&
unb hlingt in eine t)Q">
[vnibo[i[d)e, t^alb realiftifd^e
flpotljeofe bes irrenbeti
Volhes aus. Von i>en
Ufern öer Seine unb ber
Cl)eni!e (d)weitt ber Blich
ber )übi{d)en Rünftler nad)
jenen fc!)neeigen Oefilben
3urüch, bie bas Blut iljrer
Bröber r^tet. Wie einft
Rembranbt bas firntterba»
merÖl^etto für bieRunft ent-
bed^te, fo fQI)ren fie bas
ÖI)etto bes Oftens in bie
CDolerei unb pioftih ein.
Vom rein hün(tlerifdjen
Stanbpunl^t eröffnet fid) l)ier
eine Quelle interef(anter
rßotive. So Ijat, um nur
ein (Doment 3U ftreifen,
{T)ünc))en, Wien, Paris, Conbon, Rrokau, Petersburg, Robin bie jübi(d)en l^finftler barauf aufmerhfam
Rom unb anberen Stäbten ju geben. gemad)t, bofe burd) ben Öebefmantel, wie einft
Regtsid7bod>l)eute,wiebieBilbeTR. Samuels burd) bie römijdje Zoqq, eine Solle unvergleidjtid)
beweijen, bas hunttlerifdje Streben fetbft unter [djöner Variationen ber Cinienfüljrung fid) ersielen
ben Beni Israel, jenen fd>war3l)äutigen Juben laffe.
Inbiens, bie als bie nad)hommen ber verlorenen €in Wort nod) über bie jübi[d)en Rltertümer.
3el>n Stämme betrad)tet werben. Sie würben biefer flusftellung einverleibt, um
riod) eine anbere bemerkenswerte Crfdjeinung ben Ral)men unb bie CDotive 3U veranjd^aulidjen,
ergibtfid) aus ben in ber flusftellung vereinigten innerijolb beren bas plaftifdje Cmpfinben ber ]uben
Werken. CT)an fprid^t beute viel von 1
ber ßeimatsfunjt, von bem beftim' ;
menben £influ(fe, ben neben ber i,
Raffe bas ßeimalslanb auf bas / /
Sdjaffen ber Rünftler ousübt. Sidjer- f / . /
lid) wirb fid) biefer Cinflug aud) in \ 1 _/ ^ '
ben Werhen ber fd)affenben )uben, /-""^l^^"^ ,'
bie in il)rer ßeimat feft wurseln, be= <■! ■ \ ..y''j^'\
meri^en loffen. flnbererfeits aber
fdjeint es jenen iüöifd)en Rünftlem, '', ^
biebosljarte Sd)idtfal i))rerOlaubens= ^^.
genoffen teilenb, von Canb 3U Canb
wanbern mu^en, vorbel)alten ge=
wefen 3U fein, eine in ber Rulturent^
wichlung verein3elt baftel)enbe Runft
ber fäeimatslofigheit 3U fd)affen.
flusgeljenb von öer nationalen
Qe[d)id)te - ber l)eroifd)en epod)e
bes ]ubentum3, - von ber Synagoge
unb bem Oljetto. bie il)r bie Beimat ^^^^^^ ^^^^ BLEISTIFTZEICHNUNG.
vertreten muffen, wirb biefe Runft 3ur i?,,,,,, Artitei .an^swiiuhr jüctischtr Kfln!,iier~.)
Dr. Alfred Nossig: Ausstellung jüdischer Künstler.
S. HIRSZENBERQ
Die Verbannung.
tel ,Au55[cllunE jüdischer Küiisller",!
OELOEMAELDE.
in friil)eren ]ol)rl)unöerten |id) bewegte. Wi[(en
wir aud), Öag viele BitualgegenftSnöe von ntd)t=
jüöifdjen ßanbwerNern verfertigt wuröen, fo ift es
öod) anöererfeits feftgeftellt, £>ag bte Juden fid)
ouf öem Gebiete ber fynagogalen ßunft unö bes
ßunftgewerbes fiberbaupt [elb[t l^ervorragenb be^
tätigten. So blühte im 16. unb 17. ]al)rl)unbert
in Itolien bie Samilie Öer flsutai, weldje in pabua,
Saen3Q unb Pefaro CDajolihen unb Sayencen
Ijerffellten.
Bn bie Cätigheit biefer iÜÖifdjen CDeifter einer
längft vergangenen 3eit KnUpfen fid) t)eute bieBe'
ftrebungen 3ur Sdjaffung eines neuen jfibifdjen
F^unftgewerbes. Sinben wir einerfeits in Sranhfurt
unb anberwärts jübifdje Rün[tler, bie bag fvnagogale
F^unftgewerbe neu beleben, fo fel)en wir anberer>
feits in Jerufalem bie ßunftgewerbefd>ule „ßesalel"
entftel>en, weldje ouf öem Gebiete öer Ceppid)'
Weberei, ber ßol3fd)ni^rei unb in anberen 3weigen
ber angewanbten l^unft einen auf ber polöftinenfifdjen
Slora unb ben ober lieferten COotiven bafierten
neujübifd^en Stil 3U fd)aFfen fid) bemül)t.
DIE MAKKABAEISCHE EROBERUNO IM LICHTE
DER AUSORABUNOEN.
Die Bedeutimg der palästinischeD AnsgrabuDgen
wird bis zum henlij^en Tage bedanerlicherweise
stark imterschätzt. Der Doppelklang „Babel und
Bibel" klingt seit Jahren in alle Welt; aber die
ZusammeDsiellung „Palästina und die Bibel" ist
unter dem gleichen altertnms- und religioDS-
geschichtlicben Qesichtsponkt in weiteren Kreisen
so gut wie unbekannt.
Und doch liegt es auf der Hand, dass die letzte
Entscheidung ttber die Religion Israels, soweit sich
eben geistige Grössen und innere EntwickeluDgen
mit Hacke und Spaten fassen lassen, nicht auf den
Trümmerfeldern Assyriens, Babyloniens oder
Aegyptens, sondern auf dem Boden der Bibel, d. i-
Nachdruck verboten.
in Palästina, fallen wird. Hier wird denn auch
bereits seit dreissig Jahren in Nord und Süd von
berufenen Forschem emsig und erfolgreich
gegraben, tind in dem neuen Jahrhundert haben
diese Arbeiten mit reicheren Mitteln und verstärkter
Kraft wieder eingesetzt; am Bande der Jesreel-
Ebene zu Teil el Matesellim {= Megiddo, Dr.
Schumacher-Haifa) und zn Ta'annek (= Thaanach,
Prof Sellin-Wien), im S&den zu Gezer (St. Maca-
lister) und dem alten Jericho (Seilin). Die be-
deutendste dieser Ansgrabongen ist wohl die des
bewährten englischen Archäologen Macalister; der
Hügelrilckenvon Gezer ist während der ganzen Arbeits-
periode, die vom 14. Juni 1902 fast ununterbrochen
Die makkabäische Eroberung im Lichte der Ausgrabungen.
L PILICHOWSKI
Unterwcga.
(Zum ATtiliFr>Ansstc1lntie jOdischer KQnstler-.)
OELQEMAELDE.
bis zum 30. ÄQgnst 1905 w&hrte, ständifr ein Ort
der UeberraschnDgen gewesen. Einer dieser Fände
beliebtet die grossen Tage der Makkabäerkärapfe
in einer Welse, wie sie vor den Tagen des Spatens
anch nicht entfernt erhofft werden konnte. Davon
mögen die folgenden Zeilen erzählen; der am-
fossende and abschliessende ÄasfErabongsbericht
wird sich noch längere Zeit in der Vorbereitung be-
finden, da es sich in ihm allein um die Bescbreibnng
von zehntaasend FnndstUcken nnd nm die Wiedergabe
Ton dreitansf^nd Zeichnungen, zweihnndert Plänen
und fünthnndert Photographieen bandelt.
Die Stadt Qezer ist uns bereits aus den
1887 aufgefiindenen Amama-Tafeln (1450 v. Ch. Ö,)
und dann wieder aus der alttestamentUchen Ueber-
lieferung (Jos. 10.33, 16,10, 1. Kön. 9,16) als eine
bedeutende altpalästinische Stadt bekannt, die erst
im Besitze der Pharaonen, dann in den Händen
der Kananit«r war. Es war der Ort an der Süd-
grenze Judäas, den späterhin der EOnig von
Aegypten seiner Tochter als Mitgift bei ihrer Ver-
heiratung mit Salomo gab. Dann hören wir aas
literarischen Quellen von Qezer eist wieder zar
Zeit der Makkabäerkämpfe.
Als Antiocbas IV. 175 v. Chr. G. seine Herr-
schaft Über Syrien antrat, hatten griechische Ein-
flgsse sich bereits nicht nur in der täglichen
Lebenshaltung, sondern anch auf dem Gebiete des
religiösen Lebens bei der vornehmen Judenschaft
eingenistet, und Antiochus begünstigte diese Be-
einflussung durch fremde Elemente nachdrücklich.
Einen schlagenden Beweis dafür liefert der in
G^zer ausgegrabene Votiv- Altar, der auf beiden
Seiten griechische Widmungen an Jehovah nnd an
Herakles trägt. Vielleicht ist dieser dem Synkre-
tismus dienende Altar auf den Befehl des Syrer-
königs zurückzuführen, dass in jedem jödiscben
Dorfe ein heidnischer AHar errichtet werden sollte.
Da es mit dem Befehl anf die Verderbung der
israelitischen Beligion abgesehen war, so wider-
setzte sich ihm zu Ifodin, einem Dorfe unweit
Gtezer, Mattathias, ein Mann priesterlichen Ge-
schlechts. Er erschlag den syrischen Hauptmano
samt dem ersten Jaden, der hinzutrat, um auf dem
Götzenaltar zu opfern. Dies Vorgehen war das
Signal zum Aufstande, der im Lande bei der
gesetzeslreuen Partei schon längst unter der Asche
geglimmt hatte Mattathias ward der Rufer im Streit;
ihm folgt i. J. 166 sein Sohn Judas mit dem Bei-
namen Makkabäns; nach dessen Tode (161) geht
die Führerrolle an seinen Bruder Jonathan über.
In diesen Kämpfen, wohl 16Ü v. Chr. G., erobert
der seleucidische Feldhanptmann Bacchides neben
anderen festen Plätzen anch die Stadt Gezer. Sie
wird neu befestigt nnd verbleibt nach der
baldigen Beendigung des ersten Makkabäerkrieges
in der Hand der Syrer.
Aber i. J. Iö3 bricht der Kampf aufs neue los;
Simon, der letzte überlebende Bruder ans
dem priesterlicheu Heldengescblecht, tritt an die
T->b
Die iiiakkabäische Eroberung im Lichte der Ausgrabungen.
756
Spitze der Juden. Er bat sich schon bei den
Erobernngeo von Joppe ood Beth-Zor auszeichnet ;
er wirft jetzt anch den Kronpräteudeutea Tryphoo
znrttck, der sieb nacb Antiochos Tode nm den
■ syrischen Thron bemüht. Siegreich ist der Syrer-
^eg ZQ Ende geirrt; aber non gilt es das
jüdische Land und Volk zn stärken. W^ also
mit allen fremden Einflüssen, die Jndäa strategisch
oder sittlich schwächen können! Weg anch mit
der heidnisch-syrischen Besatzung, die noch zn
Oezer horstet! Und der gewaltige Mann ans
priesterlichem Geschlecht geht an die Rück-
eroberung der Stadt Gezer, von der uns der Be-
richt im ersten Makkabäerbuch Kap. 13, V. 43-48
anschaulich erzählt. Die eroberte Stadt wird durch
neue BeFestiguDgen gesichert; innerhalb der Mauern
wird für dea Eroberer eine Residenz gebaut (I-Makk.
l'i, 48); Simons Sohn Jonathan wird Gouverneur
der Stadt und nach der Ermordung des Vaters
auch Nachfolger in dem hobenpriesterlicbec Amte.
Bier setzt nun der Spaten ein; und zwar
lassen wir im Anschlnss an Macalister den Gang
Höre Israel!
der Ausgrabungen, nicht bloss die Ergebnisse, folgen,
nm einenEinblick indieSchwierigkeitenderArbeitnnd
in die Erfolge rastlosen Forschens zu gewähren.
Es war im Sommer 1904, als eine „Strafab-
teilung" der arabischen Arbeiter sieb unter Macalisters
Leitung durch Anlage von Gräben nnd Tnnneln an
die Blosslegung der Stadtmauern machen musste.
Plötzlich klafft auf der Südseite eine Lücke; in
der Mitte der Mauer sind auf eine Länge von
dreihundert Fnss keinerlei Maneneste oder Funda-
ment« zn entdecken. Dagegen stösst an dem öst-
lichen Ende dieser Lücke die Stadtmaner g^en
ein Gebäude, dessen Mauerwerk viel sorgsamer
als der rohe Manerzng gearbeitet ist und auf eine
weit jüngere Banperiode hinweist Macalister hält
dies Haus um seines burgartigen Charakters willen
anfangs für das Erenzfahrerkastell auf dem Berge
„Qisart", das auf diesem Hügel lag. Aber ältere
Funde widerlegen diese Annahme bald. Vielmehr
fördert die gründliche üntersnchung südlich von der
Front dieses Gebäudes ein ähnliches Mauerwerk zn
Tage, und zwischen beiden läuft ein roh gepflasterter
Weg zur Stadt hinauf. Das Gebäude ist
darnach ein grosses Tor gewesen, unter
dem der Steinweg von aussen in die
Stadt führte. Aber welches war die
Bestimmung dieser Anlage?
Die Frage wird noch verwickelter,
als zehn Fuss nördlich von der Linie,
wo die Stadtmauer sich hätte hinziehen
müssen, nach innen eine zweite parallel
laufende Mauer freigelegt wird, in der
sich abermals eine sorpteltig behauene
Tor(3ö'aung findet, die einen selbständigen
Ausgang ans der Stadt erm^licbt.
Was hat die ganze rätselhafte Anlage
zu bedeuten? Vier Wochen trägt Ma-
calister sich mit dieser Frage; dann
ergeben sich ihm an der Hand der
Funde und einer genauen Zeichnung die
folgenden Schlnssfolgerungen :
1. Wenn hier zwei Tore zusammen-
liegen, die aus der Stadt tmd in die
Stadt führen, so bedarf diese seltsame
Einrichtung und die Beziehung der
. beiden Tore zn einander einer Sirklärung.
2. Beide Tore gehörten archä-
ologisch nachweisbar zusammen und
stammen aus der Makkabäerzeit, da in
Verbindung mit ihnen makkabäische
Töpferwaren ausgegraben worden sind.
3. Deshalb kann auch die Hauer,
in der sichdas zweite innere Tor be&nd,
nicht die alte innere Stadtmauer sein,
die zur Makkabäerzeit längst verschüttet
und vergessen war.
4. Die Maner kann ans verschiedenen
Gründen, von deren Eiörterung hier ab-
gesehen sein mag, überhaupt kein Teil
der Stadtmaner sein.
5. Sondern sie gehörte einem wich-
tigen Gebäude, etwa einem Schloss an,
dessen Herr das ßecht freien Aus- und
OELOEMAELDE.
Die makkabäische Eroberung im Lichie der Ausgrabungen.
E^iogangs in die Stadt hatte. Nur dem Gouvemenr
konnte ein solches Gebäude zur Verffigung stehen.
6. Demzufolge werden wir ouwidersteblich zu
dem Hause geführt, das Simon sich nach der Er-
oberung von Gezer dort erbaute, bezw. zweck-
gemilss umbaute.
Das Ergebnis dieser Schlusskette lautet also,
am es kurz zu sagen: In dem fragwürdigen Hanse
li^ die 1. Makkab. 13, 4:8 genannte Burg des
Makkabäers Simon vor. Zu dieser Annahme
stimmt der ganze Ortsbefond vortrefflich. Die
Lacke in der Stadtmauer ist durch Simons Be-
lagemnfismflschiDen gebrochen: zu der Aufstellung
des „Widders" bot die erhöhte Fläche draussen
vor der Stadtmauer eine einzig gäastige Gelegenheit.
In die Bresche wurde nach der Eroberung als eine
Art von Zitadelle Simons Palast hlneingebaot, das
Baumaterial lieferten die umherliegenden Mauer-
tr&mmer.
Also kein Kreuzfahrerschloss, sondern eine
Makkabäerresidenz ! so lautete die neu gewonnene
Hypothese. Liess sich für die Hypothese ein Tat-
sacheobeweis erbringen? Die Durch-
stöberung der einzelnen Räame in dem
Hanse brachte keinerlei Funde, sondern
nur die Gewissheit, dass das Gebäude
bis aufs änsserste durchplündert und dann
zerstört worden sei. Das entscheidende
Zeugnis lieferte fast zu^ig — ein
Stein, der neben der Aüssenmauer lag
und einer Fellachin durch seine selt-
samen Zeichen anfßel. Die Zeichen
erwiesen sich dem Forseber als eine
unleserliche Inschrift in griechischer
Sprache : endlich entzifterte Macalister
folgendes Bruchstück eines schlechten
Hexameters:
„Pampra [sagt:] Simons Palast
möge Feuer fressen".
Das war ein Fluch. Wie sollen
wir uns den Fluch auf einem Baustein
erklären? — Der jüdische Eroberer
reinigt die Stadt von den heidnischen
(xreueln. Die dort ansässigen Heiden
und heidnisch Gesinnten müssen zähne-
knirschend die Götzenbilder zur Ver-
nichtung herausgeben. Pampra, ein An-
hänger der Syrer, vermag Zorn und
Hass nicht in seinem Innern zu be-
graben: da zu offenem Widerstand nicht
die Zeit ist, greift er zu heidnischer
Zauberei. Er nimmt den Kalkstein,
kritzelt seinen Fluch hinein, und der
Plan gelingt: Der Stein wird in das
Hans vermauert , und Simou steht
unter dem verderbenbringenden Zauber-
wort, das die Mauern seines Palastes
bergen.
Dieser bekritzelte Baustein ist das
erste zeitgeschichtliche Zeugnis aus der
Zeit der Makkabäer über einen ihrer
Fürsten. Es ist ein interessantes L. PASTER
Dokument, um so interessanter durch
die Entdeckung der Simonsburg, die init seiner
Hilfe von dem unsicheren Boden der Wahrschein-
lichkeit auf den sicheren Boden der Tatsachen
gestellt worden ist.
Trotz der gründlichen Verwüstung liess sich
in dem Palast noch eine eigentümliche Badeanlage
aus Kalksteinziegeln nachweisen; es fanden sich
Räume fOr Schwimmbad nnd Dusche, und eine
Böhrenleitung diente dazu, das gebrauchte Wasser
abzuführen; ausserdem wurden noch sieben Bassins
mitsamt einem Badeofen ansgefiraben. Ob die
Stadt in jener Zeit auf länger jüdisch gewesen ist,
erscheint sehr fraglich, da schon nnter Simons
Nachfolger Gezer wieder als eine sj^ische Stadt
erwähnt wird. Bei dieser BAckeroberuug haben
dann die Syrer so vandalisch in dem Palaste gebaust,
dass nicht mehr als ein vermauertes Steinchen übrig
blieb, um von den früheren Bewohnern zn künden.
Aber auch die syrische Herrschaft hat nicht lange
gewährt; gut hundert Jahre später ist die uralte
Stadt in einen verödeten, wüsten Trümmerhaufen
gewandelt. Eberhard- Zarrentin.
Nach dem Progrom.
ZEICH KL'NO.
DAS JUEDISCHE SPRICHWOERTERBUCH.
Von Dr. B. Rohatyn, Krakau.
Endlich baben wir es. Es war höchste Zeit,
dass es kam. Der Titel, den es itihrt, lautet frei-
lich viel bescheidener.*) „Jüdische Sprichwörter".
Zweite Auflage! Wo war denn die erste? Das
erfahren wir ans der Vorrede. Die erste Auflag^e,
das waren zwei magere, dünne Heftehen, die vor
18 oder 19 Jahren als Sonderabdruck aus einer
WarGchaner jüdischen Zeitschrift erschienen, äusserst
dUrftig ausgestattet, dafür aber reichlich mit Druck-
fehlem versehen, das Material weder nach stoff-
lichen noch nach lexikalischen Gesichtspunkten ge-
ordnet, sondern einfach alphabetisch nach den
Anfangswörtem
derSpricbwörter,
ohne Erklärung
oder Hinweis.
Und hier ein
stattlicher Band
von beinahe 800
Seiten Lexikon-
fonnat, beiläufig
4000 Sprichwör-
ter enthaltend,
herrlichgedrackt
nndansgestattet,
eine förmliche
Au(renweide.Ein
nnäbersehbarer
Reichtum voa
folkloristiscbem
Material zur Er-
klärung und Be-
leuchtung der
nach eiuer festen
Kegel streng und
darum sehr über-
sichtlich jzeord-
netenSprichwör-
ter. Es wird
dem Leser ziem-
lich schwer, die-
ses Buch für
die zweite Auf-
lage jener zwei
*) Jgnaz Bern-
stein, Jüdische
Sprichwörter, ge-
B&mnielt und er-
klärt. Zweite, ver-
mehrte und ver-
besserte Auflage,
mit eegenOberste-
henißr Transkrip-
tion, Index und
Glossar. Warschau
1908. In Kommis-
sion bei J. Eau9-
mann in Frank fürt
SANDORJARAY HOLZSCHNITT, a.M. Gedruckt bei
Phrjne. Josef Fischer in
(Zrnii Artlliel „Ausslellune jadischcr Künstler-.) Krakau.
Nichdnick verbot«).
Hellchen zn halten, die eher als ein sch&chtemer
Versuch, eine Skizze zu diesem gross angelegen
Werke erscheinen.
Doch das hat der Leser mit dem Verfasser
anszumachen. Dem Bezensenten liegt es ob. Form
und Inhalt des Buches zn untersuchen, und darüber
Bericht zu erstatten. Was nun zunächst in die
Augen fSllt, das ist die splendide, aber zugleich
vornehme schlichte Ausstattung des Werkes. In
typographischer Beziehung hat es — mau muss
schon sagen: leider! — schlechtbin seinesgleichen
nicht. Man sieht, dass der Verfasser mit wahrer
väterlicher Liebe sein GFeisteskind ausgerüstet hat,
um es in die weite Welt zu entlassen. Und dem
tadellosen äusseren Ciewande entspricht anch die,
ich möchte sagen, innere Korrektheit, die man nicht
auf den ersten Blick wahrnimmt, nämlich die nahezu
vollkommene Freiheit von Dmckfehlem. Ich habe
einige Wochen über dem Bnebe gehockt, aber es
ist mir nicht gelungen, einen rechten Druckfehler za
entdecken. Es mag vielleicht seltsam erscheinen,
dass hier diese Dinge betont werden, aber wenn
mui bedenkt, in welch ärmlicher Ausstattung
jüdische Bflcber im allgemeinen auf den Markt
erscheinen , und wie verwahrlost die Korrektur,
besonders der Bücher ita hebräischer Sprache, auch
der besten, ist, dass es den aufmerksamen Leser
direkt verletzt, so muss man förmlich mit Neid
auf dieses Sprichwörterbuch blicken. Es will nur
ein Volksbuch sein und tritt mit jenem ausgesuchten
Bespekt vor den Leser hin, den mau wohl
von einer guten Erziehung und einem guten Gle-
schmack fordern darf Ich muss mit Bedauern
konstatieren, dass mir nur äusserst wenige jüdische
Bücher bekannt sind — in jüdischer Sprache
schon gar keines — die sich auch nur halb so
sauber und tadellos repräsentieren.
Eingerichtet ist das Werk nach Schlag-
wörtern. Die Sprichwörter sind nach dem in
ihnen vorkommenden Hauptbegriff, der ihnen Sig-
natur und Charakter gibt, gruppiert. Innerhalb
einer jeden Gruppe sind die Sprichwörter alpha-
betisch geordnet and mit fortlaufenden Zahlen ver-
sehen. Am oberen und am uutereu Band einer jeden
Kolonne sind die addierten Oesamtiablen regis-
triert. Das ergibt eine grosse Bequemlichkeit, die
den Wert des Baches sowohl als Lektüre, wie als
Nachschlagewerk bedeutend erhöht. Wer wissen will,
wie das jüdische Sprichwort über Glott, Mensch, Mann,
Weib, Lehen, Tod und dergleichen denkt, findet hier
alle Sprichwörter, die sich auf jeden der genannten
Begrifie als Hauptinhalt beziehen, fein säuberlich
aneinaudeigereiht, sodass sie ein interessantes
Kapitel bilden. Wer aber ein bestimmtes, ihm be-
kanntes Sprichwort finden will, der braucht nnr zu
überIegen,welchesWort darin denHauptbegriff bildet,
dies ist das Schlagwort uod in der unter diesem Schlag-
worte vereinigten Gruppe ist das Gfesuchte leicht
zu finden. Non enthält aber ein Sprichwort neben
Dr. B. Rohatyn, Krakau: Das jüdische Sprich Wörterbuch.
dem Haoptbegriff gewöhnlich auch noch
andere Begriffe. Eine Uebersicbt über
die alphabetisch geordneten Schlag-
wörter ergiebt also Doch nicht den
ganzcD Begriffsinhalt der Sprichwörter,
um anch die anderen Begriffe dem
Leser ersichtlich zn machen, befindet
sich zum Schlosse ein mit erstaunlichem
Fleiss und Genaaigkeit ansgearbeiteter
Index, in welchem sämtliche in dem
Bncb {ausser den Schlagwörtern) vor-
kommenden Substantiva verzeichnet
sind, jedes mit dem Schlagwort und der
Nnmmer des Sprichwortes, in dem es
vorkommt.
Sprichwörter, die, obgleich za ver-
schiedeneu Gruppen gehörend, doch
dem Sinne nach miteinander verwandt
oder ähnlich sind, sind durch Hinweise
imtereinander verbunden.
Was die Orthographie anbetrifft, so
versichert uns der Verfasser, er sei
„vorwiegend den von den neuen jüdi-
schen Verfassern beobachteten Regeln
gefolgt." Das tritft glttcklicherweise
nicht zn. In den Schriften auch der
besten neueren judischen Schriftsteller,
auch solcher, die nicht nur bedeutende
Dichter sind, sondern ein hohp.s Mass
von Bildung besitzen, wie z. B. Fmg,
Abrahamowicz, J. L. Gordon, herrscht
leider eine vollständige orthographische
Anafchie. Zuweilen findet man dasselbe
Wort in derselben Zeile auf verschiedene
Weise geschrieben. Der Verfasser be-
folgte ein eigenes System, welches mit strenger
Konsequenz durchgeführt ist und darauf ausgeht,
die Etymologie der Wörter ersichtlich zu machen
und zugleich einer ungezwungenen, schönen und klaren
Aussprache zu dienen. Besonders geschickt und mit
grosser Gewissenhaftigkeit ist die Zusammensetzung
hybrider Wörter veranschaulicht. Es wäre zu
Manschen, dass das Bemstein'sche Sprichwörter-
bncb dazu beitrage, dem entsetzlichen Chaos in der
Orthographie des Jüdischen ein Ende zn machen.
(Einwendungen gegen einzelne Punkte siehe weiter
unten).
Zahlreiche Sprichwörter stehen im Zusammen-
hang mit Volksbräuchen, Anekdoten, Volksliedern,
Sagen, Märchen, abeif^läabischen Vorstellungen,
historischen Heminiszeuzen, oder bedürfen sonst
einer Erläuterung, da der Witz, oder das Wort-
spiel, das 8ie enthalten, nicht anf den ersten Blick
klar zn Tage Hegen. In allen diesen Fällen hat
der Verfasser klare, knappe Erklärungen ange-
bracht, in einem anmutigen, leichten Flauderton,
der zum Stil des Ganzen stimmt, der alles zum
Verständnis nötige sagt, ohne in Pedanterie und
Wichtigtuerei zn verf^len. Hier scheint mir der
Verfasser zuweilen ein Uebriges getan und muiches
erklärt zu haben, was sich von selber erklärt.
Doch immer besser zn viel als zn wenig. Und
M. ANTOKOLSKl
Judenkopf.
■Ausslellune iüdischn Kün
wer mag wissen, ob nicht der nächsten Generation
schon so manches donkel'sein wird, was uns ge-
läufig and selbstverständlich ist
Besondem Dank wird man dem Verfasser
wissen iiir die Zur&ckf&brang sehr zahlreicher
Sprichwörter anf ihre biblischen imd rabbinischen
Quellen. Viele biblische und noch mehr sggadische
Wendungen und Ausspräche sind auf dem Wege
der beinahe nnlibersehbaren Homilien- und sonstigen
Volksliteratnr ins Volk gedrungen und, oft mehr
oder weniger umeestaltet, zu Sprichwörtern ge-
prägt worden. Hier findet man die Urtypen, bäu%
ans den fernsten und verstecktesten Winkeln her-
vorgeholt und dem lebendigen Sprichwort gegen-
fibergestellt. Aof so manche Volksanschauong,
auf so manchen Brauch und Volksglauben fällt
dadurch ein helleres Licht. Doch hat sich der
Verfasser wohlweislich gehütet, Analogien and
scheinbare Aehnllchkeiten zu berücksichtigen. Das
hätte geheissen: sich ins Uferlose verlieren. Denn
ABalogien existieren zwischen den Sprichwörtern
aller Zeiten uud Völker. Nur wo eine direkte
Entlehnung oder wenigstens eine sichtbare Au-
lehnong an die alten Quellen vorhanden, sind diese
nachgewiesen. Soviel ich sehen kann, ist nur die
Bibel und das rabbinische Schrifttum herangezogen,
die spätere, so reichhaltige und bis auf die neue
Dr. B. Rohatyn, Krakau: Das jüdische Sprich vörlerbudi.
OELQEMAELDE.
(Zum Artikel .Ausi
Zeit langende hebräische Gnomenliteratnr aber
Dicht berücksichtigt worden. Wie mir scheint, mit
Becht; doDD bei diesen späteren Quellen kann
man nie wissen, ob sie das Yolkseprichwort oder
dieses jene angeregt hat. Nur 'EÜah Bachur wird
einmal zitiert, aber da handelt es sich am ein
Sprichwort, das ganz in hebräischer Fassung er-
scheint und dem genannten Autor direkt entlehnt ist.
Und nnn zor Transskription in die lateiniscbe
Schrift, welche dem des Hebr^schen ITuknndigen
die Lektüre nnd das Verständnis möglich machen
soll. Ich mnss gesteben, dass ich von jeher jede
Transskription eines Textes in eine ihm fremde
Schrift perhorresziert habe ; znmal die wenigen
Tersnche, die inbezng auf jüdische Texte in den
letzten Jahren gemacht wurden, haben mir infolge
ihrer Unkorrektheit nnd Stillosigkeit einen förm-
lichen Widerwillen eingeflösst. Und so habe ich
denn die vorliegende anfänglich mit grossem Miss-
trauen betrachtet, und sie verdarb mir die auf-
richtige Freude an dem ganzen Werk. Bin näheies
Studium hat mich jedoch überzeugt, dass diese
Transskription der Germanistik, der vergleichenden
Phonetik and dem Folklore ganz unschätzbare
Dienste zu leisten imstande ist. Der Verfasser hat
sich bemüht, wie er in der Einleitung näher aus-
einandersetzt, vermittelst der Transskription die
Aussprache des Originals phonetisch genau wieder-
zugeben. Der oberflächliche Leser wird den Text
glatt beranterlesen. Aber
erst wer genau zusieht,
wird bemerken, welch ein
kompliziertes und sinn-
reiches System erdacht
werden musste, nm dieses
Ziel ZQ erreichen , der
Verwechselnng ähnlich
lautender Wörter vorzu-
beugen, der Etymoloitie
Gheltung zu verschaffen und
die hybriden Formen dar-
zustellen. Und mit welch
peinlicher Genauigkeit alle
die minutiösen Uistinktio-
nen das ganze Buch hin-
durch festgehalten sind,
ohne irgendwie auffällig
zu werden. Das muss ein
verteufelt schweres Stück
Arbeit gewesen sein. Be-
sondere Schwierigkeiten
boten sich der Transskrip-
tion der sehr zahlreicben
hebräischen Wörter, der
nicht die sog. sephardische,
sondern die volkstümliche
„polnische" Aussprache zu
Omnde gelegt wurde.
, , Doch wurden diese Wörter
nicht nach der nonchalanten
Aussprache des alltäg-
lichen Gebrauchs trans-
skribiert, sondern „nach der relativ korrekteren,
wie man sie von jedem schriFtkandigen Juden hören
kann, wenn er z. B. aus der Tiiora vorliest, oder
ein Gebet rezitiert,* Gleichwohl hat der Verfasser
in manchen Fällen in der Transskription der vul-
gären Aussprache Konzessionen machen müssen, da
wohl sonst der transskrlbierte Text etwas ge-
zwungen und geziert herausgekommen wäre. Um
Dor ein Beispiel zu nennen, lautet das Wort
gScbamoss" (Synagogendiener) im Original richtig
„schamosch". Alle diese Fälle hätten m. E., um
Ifissverständnisse zu vermeiden, in der Vorrede
einzeln hervorgehoben werden müssen. Allenfalls
bieten sich hier zum ersten Male authentische, reich-
baltige, mit grosser Akribie nnd gründlicher Sach-
kenntniss durchgeführte Beleee fiir die nicht -
sephardische Aussprache des Hebräischen, nnd die
Orientalisten mögen nna versuchen, die von
Luzatto angeschnittene Frage nach dem Ursprung
der beiden Aussprachen auf dem Wege vergleichen-
der Phonetik der Lösung näher zu bringen.
Aeusserst gelangen sind die Erklärungen, (oft
sind es vollständige Uebersetzungen), die auch in
der Transskription den weitaus meisten SprUcb-
wörtern beigefügt sind nnd den nichtjildischen
Lesern das Verständnis sehr erleichtern werden.
Unter nichtjUdische verstehe ich alle, die sich der
hebräischen Schrift nicht bedienen können, einerlei,
ob sie Juden sind oder nicht. Vorwi^end für
Dr. B, Rohafyn, Krahau: Das jüdische Sprichwörterblich.
diese Leser ist ancb das
am Schlüsse des Baodes
beigefügte Glossar be-
stimmt, eine aoch an sich
sehr wertvolle and gedie-
gene Leistung. Es ent-
bältTerzeichnis und Erklä-
rung aller in den Sprich-
wörtern vorkommenden
hebr&ischen, fremdsprach-
lichen nnd älteren deut-
schen Äosdiilcke, Bede-
wendoDgen nnd Phrasen.
Hier ist ein reichhaltiges,
sehr sorgfältig durcbgear-
BENNO BECKER
ethnographisches and knl-
turhistoriscbes Material
aafgespeichert. Da begeg-
net man so mancher Er-
Uärnng. die man in den
besten and umfangreichsten
Wörterbüchern vergebens
Sachen wilrde. Was nutzt
es mir, wenn ein Wörter-
bach das Wort „mizwah"
ganz korrekt mit „Gebot"
fibersetzt? Was fBr eine
zarte Kebenbedeatnng das Wort im Mnode eines
Jaden hat, erfahre ich doch nicht. Oder wenn ich
z. B. Dalmanns Aruch befrage, was ein „£)rQv"
heisst, nnd mir gess^ wird, es sei eine „Yermeo-
gUDg von Häusern", so werde ich nicht viel klüger
daraus- » ^
Nun wäre es zuviel verlangt von einem Re-
zensenten, dass er ein Buch bespreche, ohne zu
zeigen, dass er es, wenigstens in einigen Punkten,
doch besser verstehe als der Verfasser. Der
Leser möge es mir daher nicht verübeln, wenn ich
einige Ausstellungen vorbringe. Zunächst was die
Orthographie betrifft, scheint mir das „e" in den
Silben „ver", „be'", „ent" u. dgl, neuem Ursprunges,
die ältere Literatur hatte hier stets ein „a" und
so lautet noch heute die Aussprache der älteren
Generation, die dem Mittelhoctideatschen näher
kommt. Das Participinm perfecti von ,,uemen"
(nehmen) sollte „genUmen" lauten, aus dem „ü"
wurde in neuerer Zeit ein „e", -ms denn jener
J-Laut die Tendenz hat, in ein „e" überzugehen.
„Dermahnen" (erinnern) ist unrichtig, das ist das
deutsche „ermannen"; aus „mahnen" ist im jüdi-
schen „muhnen" geworden, wie aus „zahlen" —
„zahlen". — Zu den Sprichwörtern und deren Er-
klärongen: In der Gruppe „Urem-man" vermisse ich
ein sehr hübsches Sprichwort: „Dem Armen glaubt
man nicht eher, dass er krank ist, bis er auf dem
Totenbett liegt." — „Gott beschert dem Trinker
seinen Wein und der Spinnerin ihren Flachs" (so soll
der richtige Text lauten!) stammt der ersten Hälfte
nach aus einer im Esther Eabbah, Y, 1, erwähnten
hübschen Anekdote. No. 48 desselben Schlagwortes
Landschaft OELGEMAELDE,
m Artikel .Ausstellung jüdisdicr Kfinsticr-.)
bedentet: Gott möge uns behüten vor einer Sorge,
nämlicb «iner so schweren, die die alltl^lichen
leichteren in den Hintergrund drängt. „Man traue
nicht der Frau daheim nnd dem Pferd unterwegs"
ist kein jüdisches, sondern ein polnisches Sprich-
wort. Der Verfasser hat es unzweifelhaft ans dem
Munde eines Jaden gebort, aber dieser dürfte es
gewiss mit dem Bewusstsein zitiert haben, dass es
ein fremdes Sprichwort ist. Man braucht nur in
Adalbergs polnischem Sprichwörterbucb das Kapitel
„Weib" nachzulesen und es mit dem entsprechenden
Kapitel hier zu vergleichen, um sich zu überzeugen^
dass das genannte Sprichwort dort nnd nicht hier
am Platze ist. No. 16 desselben Schlagwortes
beruht auf einem Wortspiel zwischen „misse" (Tod)
and „miüsse" (hässliche Frau). — Das Sprichwort:
„In Halicz ist drei Tage Rosch-cbodesch" beruht
daraof, dass die in dem genannten Städtchen an-
sässigen Karäer das Neumondfest einen Tag später
als die Juden begehen. — Das nnter dem Schlag-
wort „Führen" befindliche Sprichwort ist in der
Transkription nnrichtig gedeutet. Es wird gebraucht,
um eiueo hinkenden, uDpassenden Vei^leich zu
kennzeichnen. — Das Sprichwort: »Wer gut
kriechen kann, kriecht hinauf'' ist kein jüdisches.
Im Jüdischen hat „kriechen" nur die Bedeutung
von .langsam gehen", nicht aber von schmeicheln,
schweifwedeln. — „Der Bastard hat eiuen guten
Kopf" stammt ans dem Talmnd (Soferim 15; Jeni,
Kid. JV, 11) wo es heisst, die meisten Bastarde
seien schlau (pikkchin). — Das Sprichwort: „Ent-
weder der Herr wird sterben oder sein Hund",
beruht auf einer hübschen Anekdote von dem
Mann, dem sein Herr drohte, ihn aus dem Hause
767
Dr. B. Rohatyn, Krakau; Das jüdische Sprichwörlerbuch.
768
ZD werfen, wena er nicht seineo Lieblingshnnd
bis znr Jahresfrist das Sprechen lehren w&rde.
Der Mann sagte zn; als man ihn fragte, wie er
sieb aus der Äfiaire zn ziehen gedächte, antwortete
er, bis nach einem Jahre werde vielleicht der Herr
oder sein Hund tot sein. — Zur Etymologie
mancher Wörter wäre Folgendes zn bemerken:
„greisen" (lehl gehen, irren) stammt von „greis"
{ait = knrzsichtig, schwach), „greis - grau" kommt
in Volksliedern häufig vor. Davon gebildet ist das
Hauptwort „GJreis" (Fehler, Irrtum). — Ob ooter
„mies" (hässlich) das hebr. „mins" sich verbirgt, ist
ansicher; es ist vielleicht das deutsche „miss",
welches heute nur noch in Kompositis vorkommt.
„Kwenklen" hat nichts mit „wanken" zu schaffen,
sondern ist das deutsche „quängeln" = jammern.
M. MINKOWSKI
Heimatlos.
Ausstellung jüdischei
plärren, unzufrieden sein. „Eoilen" (schlacbteu)
ist nicht slavisch, sondern das deutsche „keulen"
(töten). — Dass das polnische Wort „meches",
womit die Nachkommen der getauften Frankisten
bezeichnet werden, mit dem hebr. Wort liir zoll
in Verbindung gebracht wurde, beruht wohl nnr
auf einem Versehen. — „Pnlisch" (Vorraum in der
Synagoge) ist sicherlich nicht griechischen Ur-
sprunges; griechische Wörter sind ins Jüdische
nur dorcb den Talmud gedrungen, wie Pismon,
Sandek, Apitropos. „Pnlisch'' ist aber im Talmud
nicht nachweisbar. Es dürfte vielleicht eher vom
czechischen „pavlaC" (Flur, Galerie, Vorbau) her-
rühren. -Wenn„turen" (dürfen) vom althochdeatschen
„turren" herrühren würde, müsste es „türen" lauten; es
ist eher vom mittelhochdeutschen „taren" abzuleiten,
das noch Lnther gebraucht,
so z. B- Prov. 31, 2. —
Nnn hat der Bezensent doch
Gelegenheit gefonden, die
ihm angeborene und von
Bechtesw^en zustehende
Tadelsncht wenigstens
ein bischen zu befriäigen.
' Aber das Bach hat mich
80 gefesselt, dass es mir
mehrere schlaflose Nächte
gekostet hat. Es wäre
nur gerechte Rache, wenn
ich es ein wenig plündert«
und ans seinem Inhalt hier
etwas zum Besten gäbe.
Doch weiss ich nicht, wo
anzufangen und wo antzn-
hören, denn wo mao's auf-
schlägt, ist es interessant.
Möge der geneigte Leser
nun selber sein Mütchen
daran kühlen. Er wird anf
seine Rechnung kommen.
Es ist ein erquickliches
Buch, voll alterund dennoch
frischer Lebensweisheit;
Humor und Satire, gute
Laune und nachdenkliche
Versonnenheit finden sich
hier vereinigt Es ist ein
Bnch znm Lachen, zum
Weinen und zum stillen
Sinnen. Man kann darin
blättern und man kaim
ea ununterbrochen lesen.
Dem Forscher aber wird es
auf viele, viele Fragen zur
Kunde des jüdischen Volkes
und seiner Psyche Antwort
gebührlich vernachlässig-
tes Gebiet der jüdischen
Wissenschaft, die Volks-
knnde, hat hier eine glän-
zende Revanche gefunden.
OELQEMAELDE.
DIE SAENOER.
Von Hermann Menkes.
Im Souterrain
eines der mor-
schen Häuser in
der „Schul-
gasse" einer ga-
lizischen Stadt,
in einem klei-
nen, feuchten
und lichtlosen
Raum, wohnte
Löbl, der Apfel-
händler. Er
war ein kleines
Männchen und
sab, trotzdem
er erst 45 Jahre
zählte, mit sei-
nem dichten,
etwas ergrau-
ten Bart und
seinen welken
Zügen schon
greisenhaft aus.
Er ■ hatte von
frühester ,{ Ju-
gend an Not
und schwerste,
endlose Arbeit
gekannt, konn-
te nie trotz
seiner Anstren-
gungen auf
einen grünen
Zweig kommen
und wurde nach
kurzen, kümmerlichen Clücks)ahren seiner Ehe
Witwer. Solange seine Frau lebte, bildete sie seinen
einzigen Stolz. Sie besaß trotz der Derbheit ihres
Äußern einige Schönheit, und Löbl schaute mit Glück
auf sie, da sie so stattlich aussah wie die Frauen der
U KRESTIN
Verbotene Lektfirc.
Artikel .Ausstellung jüdischrc K
OELOEMAELDE.
sich ab, da die Frau mit ihren schmeichelnden Worten
nicht mehr lockte, und Löbi wurde ein fliegender
Händler mit zweifelhaften und schwer genießbaren
Waren, mußte sich vom grauenden Morgen bis in
späte Abendstunden bei Frost und Wetter noch mehr
\\'ohIhabenderen und Gesegneteren. Auch halt sie abrackern, und schlimmes, bitteres Leid fügte ihm
wacker mit im Arbeiten und Verdienen, wußte draußen
auf dem Markte die Kundschaft durch feinere Art an
sich heranzulocken, und so lange sie lebte, ging es ja
leidlich gut. Es bildete lange beider Schmerz und
Traurigkeit, daß sich Kindersegen nicht einstellen
wollte. Weil ihnen dies unerträglich war, und sie sich
vor den Leuten, die sie mit ihren Fragen bedrängten,
schämten, hatte sie unter Tränen nahezu sich ent-
schlossen, ihre Ehe autzulösen und von einander
zu gehen. Doch gerade um diese Zeit stellte sich der
Segen ein. Die Frau gebar einen Knaben, aber nach
wenigen Tagen innigster Glückseligkeit starb sie an
den Folgen der Geburt.
Von da ab ging es abwärts mit Löbl. Nicht nur,
daß er seinen klaglosen, stillen Kummer nicht über-
winden konnte, auch sein sonstiges Elend nahm zu.
Er konnte nicht mehr ,,die Stell'" mitten auf dem
Marktplatze behalten, die bessere Kundschaft wandte
das verlassene Kindlein zu, dessen sich nur die
Nachbarn zuweilen annahmen und das ihm gar
keine Freude bringen konnte. Wie oft saß er in später
Nacht an der Wiege, mit geneigtem Haupt und ge-
schlossenen Augen darüber nachsinnend, wie wenig
Segen und Glück darin lag, was er so heiß erfleht.
Mußte er bei grauendem Morgen an Wintertagen mit
seinen Waren wieder hinaus und das Kind verlassen,
da geschah es, daß sich dem sonst resignierten Manne
die Klage entrang; ,, Glücklich bist du, daß du tot
bist, Chane, und weh' mir, daß ich dich überlebt!"
Das hörte niemand und die Worte zerrannen in dem
einsamen grauen und wie in Trübsal erstarrten
Morgen,
War Löbl wieder unter den Leuten, da mußte all das
vergessen werden, und aus einem versteckten Winkel
seiner Seele holte er ein kleines Restchen von Humor
hervor, das der arme^Jude benötigt, um mit Welt
Hermann Menkes: Die Sänger,
und Menschen noch auszukommen. So lockte er mit
Witzworten und humoristisclien Zurufen die Leute,
zumeist junges, dankbares Schulvolk, aa sieb heran
und fand in dieser Weise karglichen Verdienst.
Gott hilft über alles hinweg. So war denn das
Kind immer größer geworden, behielt nach einigen
Krankheiten, die es überstand, eine dürftige Gesund-
heit und konnte in die Talmud-Thora, in eine arm-
selige religiöse Schule gesteckt werden, die sich von
Spenden reicher Juden und der Unterstützung der
jüdischen Gemeinde erhielt. Hier bekamen die Kinder
nebst der geistigen auch einige leibliche Nahrung,
die ebenso dürftig war, wie die Kleidungsstücke, die
man zur Winterszeit ihnen verabreichte. Aber, das
sah nun Löbl einmal ein : der Knabe hatte etwas von
der Schönheit der Mutter. Ja, vielleicht, daß seine
Augen noch schöner waren, große, schwarze, traurige
Allgen, daß man weinen konnte, wenn man sie an-
blickte und ein Stimmlein, zart und wie Mädchen-
gesang erklingend. Löbl stahl sich oft einige Augen-
blicke Zeit, eilte in die Talmud-Thoraschule zur Zeit,
da die Kinder sich im Hof ergingen, um seinen Knaben
zu sehen. Geschäfte hier wie vor anderen Schulen zu
machen, durfte er nicht hoffen. Wenn er den Hof
mit seinen nüchternen Wänden und seiner Öde betrat,
da saßen die Kinder teils müde und we leidend an
allen Ecken oder versuchten zaghaft und nutzlos
Spiele zu veranstalten. Lärm und Trubel gab es da
nicht, vielleicht ein wenig Angst oder bestenfalls ein
SOLOMON J. SOLOMON
Die Familie des KOnstters.
rtikcl ■Ausstelluni; jüdi«:hcr Kiinslle
trauriges Behagen an der Ruhe und ein Aufatmen
darüber, daß es für wenige Minuten die Strenge der
Lehrer nicht mehr für sie gab. Kam sein Knabe auf
ihn zu, da streichelte Löbl mit seinen vom Frost auf-
gedunsenen und rauhen Händen das feine, reiche
Haar des Kindes, hob es zu sich empor und verließ
dann still den Hof. Er lächelte nicht und hatte kein
bewußtes GlücksgefUbl. Aber seit dieser Zeit klagte
er nicht und dankte Gott nicht mehr, daß er seine
Frau all das viele Leid nicht erleben ließ.
Aber von einem ungehemmteren Glück war Löbls
kleiner Sohn erfüllt. Hatte er an Frühlings- oder
Sommertagen einige freie Zeit, so tummelte er sich
auf jenem umfriedeten Platz, den sie den „Friedhof'
nannten. Er war da am liebsten allein, und wie viel
Glück schuf ihm diese Einsamkeit l Da gab es Sträu-
cher, lärmende Spatzen und bunte Schmetterlinge,
da und dort einen Hügel oder ein kleines Regenbäch-
lein. Die bildeten seine Märebenreiche. Hie und da
drang mit sausendem und musizierendem Wind
Gesang aus der Synagoge zu ihm, und der Knabe
sang mit, still und scheu und doch ein wenig wie von
feierlichem Glück erfüllt.
Kam aber das Kind nach Hause in den düstem,
schmucklosen Keller, so war jener Zauber und alles
Glück gewichen. Früh kam ihm die Ahnung, wie hart
und freudlos das Leben ist. Auch des Vaters Zärt-
lichkeit war glücklos und wurde unter Seufzern und
Sorgen gegeben. Und gerade der Samstag war ein
Tag, der dem Kind Unbe-
hagen und einige Ängstlich-
keit brachte. Sein Vater
hatte einen Freund, den er
nach den Gebetsstunden
in der kleinen Synagoge
stets mit sich nach Hause
brachte. Ein gewisser.Gram
und Zorn gegen das Leben
hatte zwei Menschen zu-
sammenzubringenvermocht,
die sonst nichts mit-
einander teilen konnten.
Löbls Freund hieß Rüben,
war rothaarig, zählte 40
Jahre, sah aber viel älter aus
und hatte ein kleines ärm-
liches Amt als Ausbilfsvor-
beter. Es war nichts von
Gemüt und Freundlichkeit
im Wesen dieses Mannes.
Ihm war der karge Humor
fremd, mit dem sich ein
armer Jude über Not und
Tücken des Lebens zu
helfen weiß. Seine Stjm war
hart geformt und in seinen
Augen war nie ein sonniger
Schein, Er hatte ein Weib,
viele Kinder, und nichts
konnte ihn je versöhnlich und
OELGEMAELDE. freudig stimmen, keine Sehn-
sucht,, kein Traum lebte in
Hermann Menkcs: Die Sänger.
Am Versfibnungstag.
(Zum Artikel „AussItlluDK )üdischer Kansticr-.)
OELQEMAELDE.
ihm. Er hatte nie einen Feiertag, der doch dem arm'
seligsten Leben das eine und andere Mal beschieden
ist. Und doch gab es etwas, das an ihm nagte, einen
Schmerz, der ihn erfüllte, eine Sehnsucht, die weit
über sein dürftiges Lehen hinausreichte, die ihn ver-
zehrte. Dieser Mensch, der nicht von Glück wußte und
der gegen alle Schönheit blind war, setzte sein ganzes
Wünschen darein, als andachtsvoller Sänger seine Ge-
meinde in Ergriffenheit und Begeisterung und zu einer
Achtung für sein Können zu bringen. Er war davon
tief überzeugt, daß ihm eine göttliche Gabe verliehen
war. Stand er vorder Gotteslade, so sammelte erall das,
was in seiner Seele an Gottesfurcht, Ergebenheit und
stillen Kummer aufgespart war, und da er selbst in
diesen Momenten, trotz der Sprödiglceit seines Wesens,
sich ergriffen fühlte, glaubte er, daß etwas von all
dem auch in seinen Gesang fließe. Aber seine Stimme
klang rauh und nahezu heiser, ynd er quälte sie immer-
zu durch vergebliche Anstrengungen, zwang sie zu
einem Weinen, das nicht kam, zu einer Fröhhchkoit,
die grotesk und komisch wirkte. Er hörte oft wie
hinter seinem Rücken gelacht wurde, und mußte
dann freundliehen oder boshaften Spott entgegen-
nehmen, ohne sich recht wehren zu können. Sein
Glaube an seinen Beruf verließ ihn nicht, aber der
Kummer über ein Verkanntsein und über die Miß-
achtung, die ihm zuteil wurde, wuchs in ihm und
machte ihn hart und böswillig. Nur einen gab es,
der, wenn er auch nicht an ihn glaubte, nicht über
ihn lachte, ja, mit ihm mitempfand : Löbl. Er wußte,
was Versagen vor einem Mächtigen heißt und Demut
und Hilflosigkeit, die einem armen Menschen die
Worte verschlugen und qualvoll stammeln laßen.
Sah Löbl, wie Ruhen rang und sich vergeblich mühte,
so erinnerte er sich an die eigene Beängstigung, die
ihn stets vor allem Überragenden, vor Gott, vor
Menschen und allem Leben außerhalb seines kleinen
Bezirkes stets überkam. In dieser Weise kam in ihm
ein starkes Mitleid auf und ließ ihn Freundschaft
für einen Verhöhnten empfinden. An den Feiertagen
nach den Gebetsstunden nötigte er Ruhen zu sich
nach Hause, bewirtete ihn und schenkte ihm einige
freundliche Worte, die nie durch lauten Dank belohnt
wurden. Voll Trotz und verfinstert saß Rüben in der
dunklen, unfreundlichen Stube da und klagte nicht.
Niemals beachtete er den Knaben, der Angst vor dem
Hermann Meiikcs: Die Sänger.
WAGNER BUESTE EINER JUNGEN JUEDIN.
Zum Artikel .AusKellung |fidl«cher Krmilter.')
Stand L-in kleines, sclion ergrautes Männchen von
einem kleinen Chor umgehen und sang. Es war
Jerichem, der berühmte Vorbeter aus Odessa. Das
Lied, das er sang, schwang sich empor feierlich und
ergi'eifend und verlor sich dann in den dumpfen
Klängen des Chors, tauchte wieder empor und siegte
über all die Männerstimmen.
In eine Ecke gedrückt standen Rüben und Löbl
und lauschten.
Ruhen war wie erstarrt. Er fühlte sich von einem
Mächtigen niedergeschlagen, übenvunden, des letzten
Glaubens beraubt. Noch nie hatte er diese Demut
gefühlt, diese Scham über sich selbst, über seine Ohn-
macht und Dürftigkeit. Er verarmte mit jedem Ton,
den er erlauschte, und er empfand eine heftige Schani
darüber, daß er es bisher gewagt, in Stolz und Sieges-
bewußtsein mit seinen jämmerlichen Gaben vor Gott
und die Gemeinde hinzutreten. Und er glaubte nicht
länger leben zu können, da ihm diese Erkenntnis ge-
worden. Einmal seufzte er auf, und in seinem Innern
war ein bitteres Weinen.
Ganz unbemerkt hatte er sich fortgeschlichon.
In der Kellerstube Löbls war er auf eine Bank ge-
sunken und stöhnte. Löbl fand ihn so, als er nach
Hause kam, und begriff rasch, was in dem Einsamen
vorging. Erjließ ihn wieder allein. Aber in der stillen
Stube erhob sich zuerst scheu, leise und stockend,
dann immer heller eine zarte Kinderstimme. Es war
der Knabe, der sang. Das Lied klang rührend und
ohne Kummer, und Rüben weinte und weinte, aber
er fühlte, daß er glücklich wurde, weil, wie es ihm
schien, ein Kind mit ihm Erbarmen empfand. Er
sank hin vor dem Knaben und umfaßte ihn mit
schweigsamen, häßlichen
und unfreundlichen Mann
empfand.
Eines Tages geschah
es, daß einer der berühmten
Vorbeter aus Rußland ins
Städtchen kam und sich
an einem Sabbathtage in
der Synagoge hören ließ.
Das war allemal eine große
künstlerische Begebenheit
in der Judengemeinde.
Ein Seelenloser ist so ein
Sänger, ein Glück- und
Gnadenbringer.
Es war knapp vor Ostern,
und eine warme, milde
Sonne' schien durch die
hohen verstaubten Fenster
der alten Synagoge mit
ihren schon geschwärzten
Wänden, ihrem steifen,
vorbhchenen Schmuck.
Dicht gedrängt aneinander
standen und saßen Arm
imH Reich, 'Alt und Jung.
ir der Golti'slade
Auf dem Boulevard.
(Zum Artikel .A^is.iWiliing )iiili*her KU
OELGEMAEI-DE.
Hermann Meiikes: Die Sänger.
«iner Zärtlichkeit, deren er bis dahin nie fähig
gewesen.
„Singe, singe!" schluchzte er flehend.
Und so geschah es, daß der liebeleere und ver-
bitterte Ruhen etwas in der Welt gefunden hatte,
das er mit aller Zärtlichkeit seines kargen Empfindens
liebte: Den zarten Knaben Lob Is. Von ihm erhoffte
€r, daß er seine Seele erlösen werde. Ihm vertraute
er seine Weisen an, die er bisher, hilflos und häßlich
verzerrt, stammeln mußte. Sang dannder Knabe, so war
es Rüben, als ob er selbst singen würde und mit seinem
Gotte in süßen, zarten Tönen Zwiegespräche hielte.
In die Einsamkeit des kleinen, alten und verlassenen
Friedhofes führte er das Kind, und unbelauscht
formte er hier dessen Stimme. Aus den verfallenen
Gräbern stieg es empor wie Weinen, und jubelte die
Stimme des Kindes, so zitterte Vogelsang mit und
die Schwalben erhoben sich und strebten durch die
Lüfte der Sonne zu.
Jetzt ging Ruhen mit strahlendem Gesicht und
wie mit einem heimlichen Glück herum. Er wartete
und sah einem großen Tag entgegen. Inzwischen
neigte sich und versank still der Sommer mit der
dürftigen Schönheit, die er für die Judongasse übrig
hatte. Da und dort wie aus Ruinen, begann ein
kleiner Strauch hart an der Mauer in dunklem Rot
zu erglühen. Die Fliegen summten matt durch die
klare Luft, und die Sonnenblumen standen gebrochen
und ihrer Körner beraubt vor den schiefen und halb-
morschen Häusern. In den Frühstunden klangen
gebrochen und an Tage des himmlischen Gerichts
gemahnend die Töne des Widderhorns aus der Syna-
Interieurs aus der Bretagne.
um Artikel .Ausstellung judischer Künstler.)
SIMEON SOLOMON ZEICHNUNG.
Abraham und Isaac,
(Zum Artikel .Atisslellung jfidlscher Künstler-.)
goge. Das war das Neujahr
und der große Versöhnungs-
tag, die sich ankündigten.
Der Tag des Neujahr
war voll von Strahlen der
Sonne und Köstlichkeit.
Vor dem Almemor stand
Rüben, von den wenigen
Chorsängern umgeben, die
er für sich werben konnte.
Seine Stimme klang still
und sanfter als sonst, als
er die ersten Gebete
hersagte. In Sterbekitteln,
die Gebetbücher tief über
die harten oder gerun-
zelten Stirnen gezogen, die
Arme bald flehend empor-
gestreckt, bald die Fäuste
zu Schlägen gegen die
eigene Brust geballt, stan-
den die Beter. Es war das
Schemonah essra - Gebet,
das sie still hersagten. Da-
selbe Gebet griff dann der
r^FtriPMiPi riF Vorheter auf und kam
zu dem strahlenden Lob-
gesang der Keduschah. Dj^
Hermann Menkes: Die Sänger.
Grhob Eich zuerst still und zart eine Kuabcastimnie.
Die Greise neigten sich vor und lauschten, und
es neigte sich manch zartes, trauriges Frauen-
gesicht aus der Weiberschul durchs Fensterlein
vor und folgte den Tönen, die süß und wie in einem
innigen Erbarmen klangen. Wie Sonne kam es in die
düstere Halle voll schwelender Kerzen und Seufzer.
Das Haupt Rubens sank in die Arme, die er auf
dem Almemor ausgebreitet hatte. Und während
seine Tränen flössen, lauschte er der Stimme des
Knaben wie einer eigenen Stimme.
Ganz hinten, in einer Armenecke, in abgetragenem
Feiertags ge wand und geflicktem Gebetmantel, stand
Löbl. Und während die Stimme seines Kindes immer
strahlender und voll wunderbarster Innigkeit empor-
wuchs, flüsterte er mit einem glückselig- weben
Lächeln: ,, Chane, Chane, warum konntest du das
nicht erleben!"
HEINE IM HEBRAEISCHEN.
Von Samuel Meiseis, Chart otlenbui^. Nichdruck vemoien.
Heiorich Heiae ist ein Lebender. Schon dass Tapferkeit der Gresellschatl der toten Sprachen
er soviel angefeindet wird, beweist, dass er kein fernhält and bereits mehrere dentsche Dichter
Toter ist. Sein Flügelschlag ist nicht verrauscht, in ihr „heiliges Gewand" kleidete? — Heinrich
sein LercbeoKesaug nicht verklnngen- Er ist vou Heine lebt anch in der hebräischen Sprache,
ewiger Jugend; seine Blumen im Garten der man kann beute einen Teil seiner Lieder iu
deutschen Lyrik blUhen nnd doften in nnge- znmeist guten hebr^scheD Uebersetzaogen lesen.
minderter Pracht
und Schönheit.
Hdne ist nicht ans
der Mode gekom-
men. „Flügel des
Glesanges" trugen
seinen Namen in
alle Weltgegenden,
und fiberaU wurde
er als munterer
Spötter und grosser
Poetbegrüsst. Sei-
ne Lieder wnrden
in alle modernen
Sprachen übersetzt.
Selbst die Polen,
die ihm seine Era-
pülinski und Wasch-
lapkl nicht ver-
zeihen, laben sich
an seinem Lieder-
quell. Und sollten
die El^ge eines
Dichters, der um
das Haupt Jehuda
Balevys einen nie
verwelkenden Lie-
derkranz wand, ein-
zig in der Sprache
Halevys kein Echo
linden? besonders
da diese Sprache
sich mit zäher
Judith.
isstcllanc jüdischer Künstler".)
OELOEMAELDE.
Der Name Heine
hat ziemlich schnell
die Eunde durch
die Welt gemacht
Aber ins Ghetto
ist er verhältnis-
mässig spät eioge-
dmogen. Mau
spricht oft vou
Schiller im Ghetto,
es Hesse sich anch
vou Goethe im
Ghetto sprechen —
dagegen vou Heine
im Ghetto ist herz-
lich wenig zu be-
richten. Die Ur-
sache hierfür ist
nicht in seiner
Taufe zu suchen.
Die literatorkou-
digeu Juden im
Ghetto waren —
soweit es sich um
Dichter handelt«
— in höchstem
Masse tolerant. Ln
Dichter sahen sie
nur deu Dichter,
den Weisen, deu
von Gott Begna-
deten; sein Privat-
leben kümmerte sie
Samuel Meiscis, Charl ollen bürg: Heine im Hebräischen
AblgaU \
(Zum Arlilifl .Ausstcllur
OELGEMAELDE.
nicht. Aber mit Heine wussten sie nicht recht
was anzafangeD. Es ging ihnen mit ihm wie
Moses Men-
delssohn mit
demSchach-
spiel: er war
ihnen als
Witzbold
za ernst,
als ernster
Dichter za
witzig. Zu-
dem war sei-
ne Schreib-
weise za
glatt, ein-
fach, klar,
ohne
Schnörkel
und Satz-
windoDgen ,
die Dentnn-
und Kom-
mentare zn-
lassen. Die
TMANUEL L, FRANK
Der Hafen von London.
iZum Ailikel „Ausslclluiig ifldischei Kün!
Entwirrnng eines Gedankenknäuels war den tal-
mndischen Köpfen im Ghetto nnentbehrlich. Sie
fanden da-
ran ein be-
SonderesGe-
fallen. Heine
konnte man
lesen ; sie
waren ge-
wohnt zu
„lernen".
Im fibrigen
fehlte den
Heineschen
Gedichten
die morali-
sche Nutz-
anwendung.
Solche Ge-
dichte nann-
ten sie ehe*
mals im
Ghetto
„Gedichte
ohne Sinn",
das will
OELGEMAELDE.
783
Samuel Meiseis, Char'oltenburg: Heine ira Hebräilchen.
784
sagen: ohne moralische Tendenz. — Gemäss
dieser Neigiug zur Grübelei und zum Moralisieren
hatten auch die hebräischen Schriftsteller lange
gezögert, in das Fren|denregister der ueu-
hcbräischen Literatur, wo 'so viele Dichter und
Denker Aufnahme fanden, Heinrich Heine einzu-
tragen. Das erste Heinesche Gedicht, das in einer
hebräischen Uebertragung erschien, ist — soweit
ich es feststellen konnte — das Gedicht „Frau
Sorge". (Koehbe jizchak 1853, Heft 18.) Der
Uebersetzpr heisst S. Allerhand. Die Uebersetzang
ist weder gut noch schlecht, jedenfalls in einem
Stile, der mit dem graziösen Stil Heines nichts
gemein bat. Erst neun Jahre später finden wir in
derselben Zeitschrift einen Sinnspruch Heines über-
setzt vom philosophischen Schriftsteller Fabius
Mises. (ibid. 1862, Heft 27.) Bedenkt man, dass
die Koehbe yi2chak von 1847 bis 1873 erschienen
sind und dass sie zumeist von Uebersetzungen ge-
nährt wurden, so müsste die Aaslese von bloss
zwei Gedichtchen ans dem reichen Liederschatz
Heines ein KopfschUtteln hervorrufen, wenn die
oben angeführten Gründe diese Erscheinung* nicht
einigermassen erklärten.
Ich finde es besonders beachtenswert, dass
gerade „Frau Sorge" die Uebersetzungslust eines
hebräischen Schrittstellers erregte, während doch
in erster Reihe Heines Hebräische Melodien ins
Hebräische übertragen zu werden verdienten. Man
kann an der ersten Auswahl ans den Werken der
verschiedensten Dichter, die sie der Uebersetzang
fUr wert befunden, das Innenleben und die Ge-
dankensphäre der damaligen hebräischen Schrift-
steller studieren. Von Schiller übersetzten sie den
Cborgesang: „Durch die Strassen der Städte, vom
Jammer gefolget, schreitet das Unglück", den Brand
ans der „Glocke", von Goethe „Wer nie sein Brot
mit Tränen ass", von Shakespeare den Sein- oder
MichlfieiU'Monolog, Youngs „Nachtgedanken", aus
Tiedges Urania ,Der Zweifler", und — Kotzebues
„Ausbrach der Verzweiflung". Bei Heine hatte es
ihnen just die „Frau Sorge" angetan:
Bas GlUck ist fort, der Beutel leer.
Ich hab auch keine Freaade mehr . . .
Valeska.
:l .AMr^itellung ifidi^cher
OELQEMAELDE.
An meioem Bett in der Wint«rDacht
Als Wärterin die Sorge wacht.
Auch der bekannte Poet Max
Letteris bat einige Gedichte Heines ins
Hebräische übertragen. Im Jahrbach
„Haasyf" (1885) flndet sich das Ge-
dicht „Belsazer" in einer ziemlich wort-
getreuen Uebertragung von „Abner".
Den Hebräischen Melodien in einem
hebräischen Gewände begegnen wir erst
dreissig Jahre nach dem Tode des
Dichters. K, A. Schapira lieferte eine
gelungene Uebersetzang der „Dispu-
tation" ; Salomon Mandelkern abersetzte
„Prinzessin Sabbath" (Ozar hasifrnth,
m. Jahrgang 1890; Schire s'fath ebher
II. Teil) und „Jehuda Halevy" (Kneseth
jisrael 1886). Zu der Uebersetzong
des Gedichtes „Jehuda Halevy" sind
einige Bemerkungen notwendig, weil der
„Halevy" eine der köstlichsten Dich-
tungen Heines ist, und weil Mandelkeni
zu den anerkanntesten hebräischen
Poeten gehört. Wer Mandelkerns
Originaldichtungen kennt, wird zugeben,
dass er ein starkes poetisches Talent
war. Aber man kann eigene Dichtungea
gut schreiben und fremde schlecht ober-
785
Samuel Meiseis, Charlotlenburg: Hei
setzen; man kann selbst ein Poet sein, und doch Ver-
ständnis und Qeiiihl tHr Heinesche Dichtuugen nicht
besitzen. Was hat Mandelkern aus dem HeioescheD
„Halevy" gemacht? Zunächst hat er die leicht-
bewegten vierfnssigen Trochäea in langatmige Versezu
je vierzehn Silben umgetauscht. Dann hat er den ge-
kreuzten Keim (Schema: a. b. ab.) verwendet. Und
schliesslich überschritt er vollends das Mass des für
einen Uebersetzer Znlässigen, indem er sich Äende-
rongen im Text, Äbkürzongen, Ergänzungen und aller-
hand Korrekturen erlanbte. Die einleitende Strophe
„Lechzend klebe mir die Zunge usw.", die doch nur
mit dem bekannten Psalm vers rüekäbersetzt zu
werden brauchte, lautet bei Mandelkeni wörtlich:
„Es klebe meine Zunge an dem Gaumen und es
welke mein Gaumen im Schlonde, mein Mund sei '
Id Staub gesteckt, verstummt die Lippen, vergessen
meine Rechte, zerbrochen mein Ann wie ein Schilf-
rohr — vergesse ich jemals dein, Tochter Jeru-
salems!" — Das ist weder heinisch noch sonst
poetisch. Die herrlichen hochpoetischen Verse:
„Und es hat der goldne Taja Ihm sein Wiegenlied
gelnllet" behagten offenbar Mandelkern nicht. Denn
der Uebersetzer, will es besser machen als Heine,
und lässt das Wi^ntied von der Mutter Halevys
singen. Er ist so freigebig, ihr ein Wiegenlied von
viemndsechzig Versen in den Mnnd zu legen. Ein
„kleiner* Zusatz vom Uebersetzer, um Heines Poesie
poetischer zu gestalten! In einer Fassnot« ist der Ver-
merk, dass das Wiegenlied nicht von Heine, sondern
vom Uebersetzer stammt. FUr Uneingeweihte war
dieser Vermerk notwendig, fttr den aber, der auch nur
ein Gedicht von Heine im Original gelesen — über-
flüssig. . . Znm Schlnss des dritten Kapitels fügt
Mandelkern eine Strophe aus Halevys Divan bei.
Sie kommt an die Stelle des hänfig erwähnten
Heineschen „Schnitzers", das Lecho-daudi-Lied be<
treffend, dessen VertJasser nicht Jehuda Halevy,
sondern Salomo Alkavez war. Die Strophe, in der
Heine seiner Geliebten den gntgemeinten Rat erteilt,
das Hebr^che zu erlernen, um Gabirol, Ibn Esra
und Halevy im Original lesen zu können, schliesst
bei Mandelkern mit den Worten: „Komm, ich unter-
richte dich zu Nutz and Frommen, und zwar un-
entgeltlich." Das konnte Heine nicht gesagt haben.
Hebräischen Unterricht erteilen, war nicht Heines
starke Seite. Es sind berechtigte Zweifel vorhanden,
ob Heine Überhaupt die „pittoreske altchaldäiscbe
Qnadratschrift" geläufig lesen konnte. Aas dem
letzten Passus ersieht man, dass Mandelkern mehr
an sich als an Heine dachte. Mag sein, es seien
Kleinigkeiten, aber gerade bei Heine, dem Meister
EUGEN SPIRO OELGEMAELDE.
Portrait des SchriftatellerB B.
(Zum Anlkcl .Ausstdlung jüdischrr Künstler-.)
des Wortes, fallen sie schwer in die Wage. Der
„Halevy" ist wie aus einem Gnss; iSngt man an,
an ihm hemmzabosseln, so macht man sich schuldig,
ein Kunstwerk zerstört zu haben. Der Heraus-
geber des Kneseth Jisrael schreibt: „Mandelkern
konnte nnd wollte nicht der Diener Heines sein".
Als Uebersetzer musste ers. Der Zweck einer
Uebersetzuug ist, das Lesepobliknm mit einem
fremden Dichter bekannt zu machen, mit dem
Dichter, vrie er ist, nicht wie ihn der Uebersetzer
haben möchte. . .
Aas der Mandelkemschen Uebereetznng könnte
man den Schluss ziehen, Heines Lieder eigneten
sich nicht zum Uebersetzen ins Hebräische. Die
Uebersetzangen in den letzten Dezennien beweisen
das Gegenteil. Keines zweiten Dichters Lieder
besitzen in der hebräischen Sprache einen solchen
Wohlklang, wie die Heines. Sie muten so ver-
traut, so heimisch an, als wären diese Töne irgendwo
und irgendwann in den Zelten Jakobs schon ge-
hört worden. Wird maus glauben? In der „heiligen
Sprache" durchweht die Liebesweisen Heines ein
Geist der Heiligkeit — Hohelied-Stimmung. . . Die
Uebersetzungen der junghebräischen Schriftsteller
sind in ihrer Mehrzahl gelungen; sie geben den
787
Samuel Meiseis, CharloHenburg: Heine im Hebräischen.
elegaoten Stil Heines wieder, ohne dem Geist der
hebräischen Sprache- Gewalt anzatnn. Es würde
zn weit führen, alle ins Hebräische übersetzten
Gedichte Heines auFzuzähleD. Es sollen hier einige der
gelnngeostea erwähnt werden: An Edom — Brich
aus in lanten Klagen — Der Vorhang fällt — Ver-
giftet sind meine Lieder — Gaben mir Rat und
gnte Lehren — Warimi sind die Kosen so blass —
Die Fragen — Nacht lag anf meinen Augen —
Es liegt der heisse Sommer auf deinen Wfioge-
Ißin — Ich habe im Traume geweinet — Im wiinder-
scbOnen Monat Mai — Aus meinen Tränen spriessen —
Wenn ich in deine Augen seh — Lehn deine Wang
nn meine Wang — Ich will meine Seele tauchen
in den Kelch der Lilie hinein — Auf Flügeln des
Gesanges — Die Lotosblume äDgstig;t — schwöre
nicht und küsse nur — Und wüsstens die Blumen,
die kleinen — Mir träumte von einem Königskind.
(Haasyf 1887; Kneseth jisrael 1887; Pardes 1895;
J. KAUFMANN
Sepher haschacah 1900—1901; Luach achiassaf;
Meassef 1902). Als Heine-Uebersetzer wären n. a.
zu nennen: I. Borochowitz, S. L. Gordoii, I. Kaplan,
A. Liboschitzki, A. L. Münz, J. Papima, Noa Hns,
Ch. Rabbinowitz, Nathan Samnely und Zwi Scher-
schewski. Auch kleinere Auszüge, Gedanken-
splitter aas den prosaischen Werken Heines sied
zerstreut in mehreren hebräischen Zeitschrüteo er-
schienen, damnler „Heine-Gedanken" (Achiassaf
1893) von der hebräischen Schriftstellerin Pua
Eakowski. Nimmt man alles zusammen, was zur-
zeit von Heine im Hebräischen vorliegt, so dürfte
es kaum mehr als den zwanzigsten Teil seines Ge-
samtwerks ausmachen.
Heine im Bebräischen ist nur ein Miniaturbild des
deutschen Heinrich Heine. Wir können ans den vor-
liegenden Uebersetzungen seine Grösse als Dichter
ahnen, aber sie tritt nicht lebenskräftig genug vor
unsere Äugen- Nichtdestoweniger ist dem hebrä-
ischen Leser Gelegenheitgegeben.Heinricb
Heine in seiner ganzen Vielgestaltigkeit
kennen, lieben und schätzen zu lernen. Es
existiert nämlich eine Heine-Biographie
in hebräischer Sprache. Das Buch
trägt den vielsaeenden Titel „Mimkor
Jisrael* (Aus jüdischer Quelle) nnd
sein Verfasser ist Eleasar Schulmaim.
Schulmann war ein Gelehrter, ein Mann
von Geist und von einer Gründlichkeit,
die an die alten Gabbinen erinnert.
Die Heine - Biographie ist eines der
besten Werke Schulmanns. Wir kennen
Schriften Gar und wider Heine, gehässige
Pamphlete, die ihn in den schwärzesten
Farben malen, und Werke voll von
Lobhudeleien, die über das Ziel hinaus-
gehen. Schulmann stellt alle Parteilich-
keit in den Hintergniod and bleibt in
jeder Hinsicht objektiv. Er sucht Heine
zu verstehen, das Verzeihen — wo es
erforderlich ist — ergibt sich von selbst.
Wäre dies Buch in einer modernen
Sprache abgefasst, sein Verfasser stünde
heute neben den bedeutendsten Heine-
Forschern in der vordersten Eeihe.
Dieses Buch ist das schönste Denk-
mal, das ein hebräischer Schriftsteller
dem Dichter Heine setzen konnte nnd
— es ist das erste Denkmal, das in
der hebräischen Literatur einem nicht
hebräischen Dichter gesetzt worden ist.
OELOEMAELDE.
^;i-
uisdienBuieauder M AllianceJsraelileUniveßelle
■r
BERLIN, IN 2*t.
0ranrenOurgersir*?*3
CrNlärung.
In einer Publikation, &ie als .neueste Oe>
sd>id)te bes jübisdjen Volkes" firmiert, tjat ßerr
Professor Dr. CDortin pfjiiippson Öie fliliance
Israel ite Universelle 3um 6egenstand einer
Darstellung gemadjt, 6ie im Interesse bes Juben<
hims unft Öer ge3d)id)tlid)en Wat)rl>eit nidjt un^
wiöersprodjen bleiben ijorf.
f5err Professor pi>ilippson sagt:
,flls 3eid)en Öer 3usammenget)öngKeit oller"
.]uben trat 1860 Öie fliliance isra^lite Univer^"
„seile ins Ceben. Iljre Stiftung l>otte von vorn'"
»(>erein bie Besorgnis 3Ql)Ireid)er 6lauben3="
.genossen erregt. CDon meinte, sie werbe"
„mad)tl03 bleiben, iljren ßauptswech, bie eman'"
.3ipation ber Israeliten in benjenigen CänÖern,"
.wo sie sold^e nodj nidjt besassen, 3u erreidjen,"
„werbe aber im Gegenteil burd) bie (Deinung"
.von einer förmlid^en Versdjwörung ber Juben"
.3ur erlangung ber Weitf)errsd)aft grossen"
„Sdjoben anridjten. Diese Befürdjtung l>at"
.sic^ in vollem (Dasse bewal)rl)eitet; man borf'
.sagen, nid)ts l)at ben ]uben in vielen Cönbem"
.soldjen flbbrud) in ber öffentlidjen (Deinung"
.getan wie bie irrigen, aber unvermeiblidjen"
.Solgerungen, bie aus ber Internattonalltät ber"
.Rlliance gesogen unb von Uebelwollenben"
.gel)ässig ousgebeutet würben,"
Der 3wech, ben bie fliliance Isro^lite Univer-
seile bei iljrer Stiftung verfolgt t)at, ist in nad)=
5tet)enben Satsungsbestimmungen niebergelegt:
1. .Ueberall für bie 01eid>stellung unb ben"
.moralisd)en Sortsdiritt ber ^uben su"
.wirhen;"
2. „Denen, öie in il)rer €igensd)aft als"
.]|uben leiben, eine wirttsame Bilfe Qn="
„gebeiben ju lassen;"
3. „]eber Sdjrift, weld)e geeignet ist, biese"
«Resultate l>erbei3Ufüt)ren, Unterstütsung "
,3U gewäl)ren."
flis bie fliliance Isra^lite Universelle be^
grünbet würbe, sinb blefe Satsungsbestimmungen
in ber weiten Welt unserer Olaubensgemeinsc^aft
mit l)eller Sreube aufgenommen worben.
fllle i^unbgebungen aus jener Seit beseugen
jubelnbe 3ustimmung. Von einer Besorgnis war
nie unb nirgenbs ein F5aud} 3u verspüren.
Die von Berrn pi)ilippson vorgetragene Vor=
Stellung von einer .förmlidjen Vers())wörung ber
Juben 3ur Erlangung ber Weltl>err8d)aft" stammt
ungef&b^ wörtlid) ous ber Seber bes Rebakteurs
Oöbsdje, bessen Oame (Pseubonym: }ol)n Ret'
cliffe) burd) seine Romane unb burd) seine
3eugensd)aft in bem Prosess Walbe* - nad)
bes OeTid)tspTasibenten Cobbel flusbnidt .ein
Bubenstüdi, ersonnen, einen (Dann.3u verberben"
- bekannt geworben ist. In einem bieser Ro<
mane ist eine angebiid) auf einem jfibisd)en
Sriebbof in Osteuropa gehaltene Rabbinerrebe
erwähnt, bie bas Streben nod) Weltberrsd)aft ent=
büllt \)abe. Die verlogenste Presse \)at in ben
ad)t3iger Jabren bieses fanatisd)e Pbantosie=
erjeugnis truhtifijiert. Wir bürfen wobi be'
baupten, boss bie „öffentlidje ODeinung", auf bie
ßerr Pbüippson sid) beruft unb in ber nad) seiner
Versidjerung bie .irrigen aber unvermeibUd)en"
Solgerungen aus ber Intemationolität ber fliliance
gesogen unb .von Uebelwollenben gebSssig aus=
gebeutet" worben sinb, bie öffentlidje ODeinung
ber skrupellosesten Antisemiten gewesen ist.
Berr Professor, Pbüippson fSbrt fort;
.(Dan warf ber fliliance ferner ibren fron="
.3Ösisd)en riamen, ibr aussd)liesslid) fron'"
.3Ösis(bes Domi3il unb ibre nidjt minber auS'"
.3d)liesslid) fran3ösisd)e 3enfralleitung vor."
,flud) bas mit Red)t. Die Sübrer ber fliliance"
.baben ibr Öen fran3Ösisd)en Cborakter ge-"
,wal>rt unb sold)en aud) bem einsig frud)t'"
.baren Selbe ibrer Cätigkeit, ben Unterrid)ts="
.anstolten im Osten, nid)t 3u beren Vorteil"
.aufgeprägt. Es war besbalb nid)t 3U ver=„
.wunbern, bass sid) 1871 bie englisd)en }uben"
.in ber flnglo'Jewisb^flssociation, 1873 bie"
,österreid)isd)en in ber , l3raelitisd)en flilions"
„3U Wien" von ber Rlliance universelle los^"
«lösten."
In einem fltem leitet Berr Pbüippson ber
fliliance gegenüber einmal aus ibrer angeblid>en
rzwwtmt
791
Mitteilungen der Alliance Israelite Universelle: Erklärung.
792
Internationalität unb bann aus il)rem angeb-
lid}en fransösisdjen CI)araNter einen Vorwurf
ber. Denn jetst spricht er nid)t bie „irrigen, aber
unvermeibl!d)en Solgerungen** anberen nad), sonbern
mad)t sie sid) gans 3U eigen, inbem er von bem
Vorwurf bes fran3Ösisd)en flamens unb ber aus=
sd)liesslid) fran3Ösisd)en 3entralleitung ber fllli^
ance sagt, bass man nCiud) \\)n mit Red)t
erhoben l)abe." Der sweite Vorwurf aber
ist ebenso grunblos wie ber erste. Das
Central^Comit^ ber fliliance ist nid)t aussd)liesslid}
fran3Ösisd) unb ist es nie gewesen. i5errpi)iHppson,
ber seit '}Q\)ven ber fliliance Israelite Universelle
angehört, weiss aus ben \\)m regelmässig 3uge*
stellten unb jebenfalls 3ugängigen 3al)resberid)ten
ber fliliance Israelite Universelle, bass gegen*
wörtig von ben 67 (Ditgliebern bes Central^Comitfe
(barunter 3wei €l)renmitglieber) nur 26 (barunier
ein ei)renmitglieb) Sransosen, 41 nid)tfran30sen,
unter biesen 23 in Deutsd)lanb lebenbe Deutsche
3inb. Von einer „aussd}liesslid) fran3Ösisd)en
Centralleitung" kann man unter solchen Umstänben
nid)t sprechen. Von ben übrigen 18 nid)tfran*
sösisd)en (Ditgliebern bes CentrahComitfe sinb
ausserbem so viele von Geburt Deutsche, bass
alles in allem ber beutsd)e Zell bes (Zentral-
Comit^s minbestens ebenso 3al}lreid) ist wie ber
fran3Ösisd)e. ebenso ist es un3utreffenb, bass
bie Sül)rer ber fliliance ben fran3ösisd)en Cl)arahter
„aud) bem ein3ig fruchtbaren Selbe ibrer Cätigheit,
ben Unterrid}tsanstalten im Osten, aufgeprägt"
t)aben. €s ist richtig, bass in ben fllliancesd}ulen
bes Ostens ber fran3ösisd)e Sprad)unterrid)t vor*
3ugsweise — gegenüber bem Unterricht in irgenb
einer anberen europäischen Sprache — gepflegt
wirb, flber im Orient ist bis auf ben beutigen
Zag fran3osiscb bie ßulturspracbe^ es ist in ber
Cürhei bie 3weite Staatsspracbe; bie Kenntnis
allein bes Sran3Ösiscben ist für ben Orientalen
im Ceben von praktisd}em Wert unb gewäbrt ibm
eine nut3bare Ueberlegenbeit im wirtscbaftlicben
Sorthommen. Wo bie Verbältnisse nur einiger*
massen anbers liegen , wirb namentlicb
beutscber Spracbunterricbt ausgiebig er*
teilt. Berr Pbi'ippson meint, es sei nicbt 3U
verwunbem, bass sieb 1871 bie engliscben Juben
in ber flnglo*Jewisb*flssociation, 1873 bie öster*
reicbSscben in ber Israelitiscben flllians 3U Wien
von ber fliliance Universelle loslösten". — flein,
bier ist etwas gans anberes verwunberlicb : bass
nömlicb für falscbe Folgerungen irrige (Ditteilungen
als Ursacbe angefübrt werben! Die „flnglo Jewisb
Association in connection witb tbefllli*
ance Israelite Universelle", wie ber volle
unb ricbtige Dame von flnbeginn unb bis beute
lautet, ist 1871 entstanben aus ber Besorgnis,
ber Rrieg von 1870/71 möcbte ben Sortgang bes
segensreicben Werkes ber fliliance Israelite Uni*
verseile stören. Um bieser (Döglicbheit 3U be*
gegnen, um bas Werk ber fliliance aufrecbt 3U
erbalten, \)Qi bie flnglo Jewisb flssociation sid)
gebilbet. Das ist in bem ersten Beriebt ber flnglo
tc
u
Jewisb Association 1871/72 ausfübrlicb bargelegt
unb in ber Sirma ber Gesellscbaft für jeben
gekenn3eicbnet. Die flnglo Jewisb flssociation
bat nie aufgebort, ibre (Dittel ben Werken ber
fliliance Israelite Universelle 3u wibmen, namentlicb
ber Scbulunterbaltung, obwobl nur in 3wei von
ben burcb bas Gelb ber flnglo Jewisb flssociation
mit erbaltenen Scbulen überbaupt engliscber Sprad)«
unterriebt erteilt wirb. *
fluf eine Anfrage, bie wir naeb Conbon ge*
riebtet b^ben, ist uns von ber Ceitung ber Anglo
Jewisb Association unter bem 13. Oktober b. J.
erwibert worben:
„Cbe Anglo Jewisb Association was founbeb*'
„to belp tbe Alliance in its b^ur of neeb at"
„tbe time of tbe Sranco*6erman war. It was"
„also tbougbt tbat more money woulb be ob*"
„taineb in Cnglanb if tbere were a separate
„Association in clear connexion bowever witb
„tbe Alliance. — "
„Cbere lyas never been an „Abfall", anb our"
„relations \)Qve always been clear anb frienblv-*'
„Inbeeb mueb of our money goes in grants"
„mabe to Alliance scbools."
(Die Anglo Jewisb Association würbe ge*
grünbet, um ber Alliance in einer Stunbe ber
not bei3usteben, in ber 3eit bes fran3Ösiscb«
beutseben Krieges. (Dan \)q\ aud) geglaubt»
bass in €nglanb mebr Gelb für eine' besonbere
Vereinigung 3U erlangen wäre, bie gleiebwobl
in beutlicbem 3usammenbang mit ber Alliance
stünbe. — niemals b^t es einen „Abfall" ge*
geben, unb unsere Be3iebungen sinb immer
ungetrübt unb freunbsebaftlicb gewesen. ZaU
söcbUcb wirb ein grosser Zeil unseres Gelbes
als 3ubusse für bie Alliancescbulen ver*
wenbet.)
Aucb besüglid) ber Israelitiscben Allians 3u
Wien ist bie Darstellung bes Berrn Pbillppson
unsutreffenb. Die Israelitiscbe Allian3 3U Wien
bat sid) 1873 gebilbet, einfad) weil bas österrei*
d)iscbe Staatsgeset3 bie Bilbung von Comitte
einer Gesellscbaft verbietet, beren 3entralsit3 sieb
ausserbalb Oesterreiebs befinbet. Dieser gesets*
lieben Vorsebrift musste natürlicb Solge gegeben
werben. h\ Ungarn gilt bas eben erwöbnte öster*
reiebisebe Staatsgeset3 nicbt, b*er besteben bie
alten Alliance*Comit6s fort. Dies finbet beweis*
kraftige Bestätigung burcb nacbstebenbes Sd)reiben,
bas ber Vorstanb ber lsraelitisd)en Allian3 3u
Wien unter bem 20. Oktober auf unsere Anfrage
an uns gericbtet lyai:
„Sebr geebrte Berren!"
„Wir banken Ibnen sebr für bie freunblicbe"
„(Ditteilung bes auf bie Alliance be3üglid)en**
n Passus im Bucbe bes Berrn Professor**
nPbilippson, ben aucb wir mit grossem*
„Befremben unb mit Bebauern über**
„bie tenben3iöse Darstellung gelesen"
„baben.**
-. ^^
79i
Mitteilungen der Alliance Israelite Universelle: Erklärung.
794
„Wir können gleid) 5er flnglojewisl) flsso*
„ciation nur bestätigen, bass von einer Cos=
„lööung ober gar von einem Abfall von ber
„Pariser Organisation bei ber Grünbung ber
„unsrigen nid)t bie Rebe sein honnte, bass es
„sid) vielmebt neben ber Rüchsidjt auf bie
»Staatsgesetse barum l)anbelte, grössere
„(Dittel für allgemeine jübisd}e Bilfssweche in
„unserem Canbe aufsubringen, als es für ein
„Comitö eines auswärts bomisilierten Vereins
„mögltd) gewesen wäre. Wäl)renb ber 35 ]aJ)re
„unseres Bestehens l)aben wir uns in perma-
„nantem Rontahte unb im f}er3lid)sten €in«
„vernebmen mit bem Pariser Central-Comit^
„befunben, bessen CDitglieb unser präsibent
„ist, unb sinb bei allen grossen Bilfswerken
„für verfolgte Glaubensgenossen mit Paris
„ßanb in Banb gegangen.**
„Qan3 absurb ersd)eint uns bie Bn«
„beutung bes Verfassers, bass ber fran»
„3Ösisd)e Cl)arahter ber fliliance als
„nad)teillg für beren eT3iel)lid)e tätige
„heit im Osten angesel)en unb mit ein
„CDotiv für unsere angeblid)e Coslösung
„gewesen wäre.**
Berr Professor pi)ilippson lässt sid) bann
weiter vemel)men:
„Diese (bie fliliance) l)at in ein3elnen Sollen**
„viel Gutes geleistet, oft ben flrmen unb Be^**
„brängten Unterstütsung gesd)afft. Sie l)at**
„im Osten €lementarsd)ulen begrünbet, bie in***
„bessen nid)t so viel flutsen gewirkt l)aben,'*
„wie man wol)l l)ätte erwarten bürfen; unb**
„3war aus brei Grünben: einmal weil bie**
„Ceiter ber fliliance 3uerst selten, später nie**
„nad) bem Orient gingen unb bas Werh**
„lebiglid) (Dietlingen anvertrauten, benen es**
„3umeist entweber an Verstänbnis ober an""
„€ifer ober an selbstloser Bingabe an il)re**
„Aufgabe fehlte. 3weitens, weil ber CI)araMer**
„ber Sdjulen ein albu abenblänbi3d)er unb**
„3umal fran3Ösisd)er ist, ol)ne flnpassung an**
„bie besonberen 3ustänbe unb flnforberungen**
„bes Orients. Drittens, weil sie ol)ne Sort=**
„bil9Ungssd}ulen blieben unb so bie Rinber**
„im bilbungsfäl)igsten fllter entliessen unb**
„bem alten orientalisd)en öd)lenbrian über=**
„lieferten, bem sie unrettbar wieber verfielen.**
Die brei Grünbe, bie Berr pi)ilippson bafür
anfül)rt, bass bie €lementarsd)ulen ber fliliance
im Osten angeblid) „nid)t soviel nut3en gewirkt
l)aben, wie man wol)l l)ätte erwarten bürfen*, be*
weisen nur Unvertrautl)eit mit bem Sd)ulwerN ber
fliliance im Osten. Die Ceiter ber fliliance
Israölite Universelle l)aben jeber3eit Wert barauf
gelegt, \\)v Sd)ulwerN, bas 142 Sd)ulen in brei
€rbteilen umfasst, unter steter fad)männisd)er
Inspektion 3U l)alten. Sie wissen eben, bog all'
gemeine Bilbung, sei sie nod) so gross, nid)t im»
stanbe ist, bie Sad)kenntnis 3U erset3en. - Berr
pi)ilippson nennt bie von ber Ceitung ber fliliance
Israelite Universelle nad) langer Crprobung ein*
geset3ten Inspektoren mit ber l)erat>würbtgenbeit
Be3eid)nung „(Dietlinge**. Will Berr Professor
pi)ilippson vielleid)t bie Rabbiner als „CDietlinge**
il)rer Gemeinben, bie Gymnafiallebrer als „CDiet«
linge** bes Staats ober ber ßommunen anspred)en7
nein, biese alle sinb bie verel}Tten unb angesel)enen
Vertrauensmänner ber Gemeinben, bes Staates,
ber Stäbte. Unb so sinb bie (Dänner, bie Berr
pi)ilippson als „(Dietlinge** l)erabwürbigt, unsere
erprobten unb angesehenen Vertrauensmänner, bie
il)res sd}weren flmtes mit reifem Verstänbnis, mit
unübertrefflid}em Cifer unb mit vorbilblid)er Bin*
gäbe walten!
Wenn Berr pi)ilippson ben Cbarakter ber
fllliancesd)ulen im Orient „albu abenblänbisd)
unb 3umal fransösisd}** finbet, so übersiel)t er:
Die Orientsd)ulen ber fliliance sinb Sd)ulen sui
generis, sie sinb x\)xen besonberen Bebürfnissen,
bie eigenartiger Ilatur sinb, angepasst, sie
sinb genau bas, was Berr pt)ilippson sagt, bass
sie sein sollen, unb was er bloss nid)t ge^
sel)en \)at
Berr pi)ilippson beklagt ben (Dangel an
Sortbilbungssd)ulen. Das Sortbilbungssd)ulwesen
ist im (Dorgenlanb wirklid) nod) nid)t systematisd)
burd)3ufül)ren. €inen gewissen €rsat3 sd)affen
wir in ben £rgän3ungskursen (classes supplSmem
taires), bie wir in versd)iebenen Stäbten, wie
Constantinopel, Salonid)i, Smyrna, Cunis, Canger,
Bagbab, fllexanbrien, Rairo,ben oberen RIassen am
gegliebert baben. Wenn im übrigen unsere Jungen im
Orient unsere Sd)ulen frül) verlassen, so gesd)!el)t
es nid)t um bes „Sd)lenbrians** willen, sonbem
aus bitterer Hot, weil sie für Brot 3U sorgen
l)aben.
Berr Professor pi)ilippson beenbet seine Aus*
fül)rungen folgenbermafeen:
„Im Desember 1872 besd)lo8S eine Versamm«**
„lung in Berlin bie Begrünbung einer besonberen**
„ lsraelitisd)en flllian3 in Deutsd)lanb.** flllein**
„bas Central =Comit^ ber fliliance in Paris**
„wies biesen plan burd)aus 3urüd^, ber aud)**
„nie verwirklicht worben ist. Ceiber Hess bas**
„Pariser CentrahComit^ sid) burd) sold)e Vor«**
„gänge unb aud) burd) ben flbfall ber Cng^**
„länber unb Oesterreid)er nid)t bestimmen,**
„bie spesiell fran3ösisd)e Sörbung ber fliliance**
„unb ben Despotismus bes pariser Central-**
„Comitte irgendwie 3U mobifisieren. Daburd)**
„verlor sid) in Deutsd)lanb bas Interesse für**
„sie um so mel)r, je sd)ärfer bie nationalen**
„Gegensat5e 3wisd)en beiben Cänbern did> um**
„glüd^lid)erweise gestalteten.**
Cl)arakteristisd) ist sd)on ber erste Sa^, bass
„eine** Versammlung - beren näbere Be3eid)nung
vollstänbig fel)lt - im De3ember 1872 bie Be*
grünbung einer besonberen „lsralitisd)en flllians
in Deutsd)lanb** besd)Iossen l)abe. Wer l)at benn
„besd)lossen**? Wer waren bie Besd)liessenben,
bie il)re flbsid)t sofort fallen Hessen, weil bas
?95
Mitteilungen der AUiance Isra^Ute Universelle: Erklärung.
796
Central-ComiW in Paris ben plan surüchwies?
€9 mOesen 5od} xedji öd)wäd)lid)e ioerren gewesen
sein, 5ie bem pariser „nein" gegenüber sofort
auf H)ren Willen ver3id)teten. In Wabrbeit ist
jener „Besd)luss** nie gefasst worben, in Wabr-
l)eit l)atte bas pariser Central=Comit6 nie flniass
gel)abt, 8old)en Besd)luss 3urüch3uweisen. €s ist
im Desember 1872 einmal eine Anregung in ber
angegebenen Rid)tung l)ervorgetreten. Cin CT)al)n=
wort bes Berrn Sanitätsrat Dr. Deumann l)at ge-
nügt, von bem üblen plan ab3ul)alten.
Was in bem vorstel)enben Resum^ über ben
»Rbfall ber €nglänber unb Oesterreid)er" über
bie „spesiell fran3Ösisd)e Särbung" ber fliliance,
über ben „Despotismus" bes pariser Central
Comit^s gesagt ist, l)aben wir wiberlegt. Aber
aud) bas, was Berr Pbilippson über eine Abnahme
bes Interesses für bie fliliance Isra^lite Uni*
verseile in Deutsd)lanb bel)auptet, ist nid)t 3U=
treffenb. Das Interesse für bie fliliance Isra^lite
Universelle \)ai sid) in Deutsd)lanb nid)t verloren.
Der 3uwad)s von tausenben von (Ditgliebern, bie
sid) uns in hur3er 3eit neuerbings in Deutsd)lanb
angesd)lossen l)aben, beweist bas Gegenteil.
Weitaussd)auenbe unb albeit getätigte
jübisd)e Wol)lfal)rts= unb Wobltätigheitspolitih
verfolgt bie fliliance Isra^lite Universelle. Sie
wirb il)rer Sat3ungen immerbar eingebend bleiben
unb \\)nen in unermüblid)er Arbeit treu sein, 3um
Segen für bie gesamte 3ubenl)eit.
Berlin, ben 30. Oktober 1907.
Das präsibium
ber Deutscl)en Conferen3*6emeinscl)aft ber fliliance Israelite Universelle
Cubwig (Dax Oolbberger. Cl)arles C. fSallgarten.
Paris, ben 1. Dovember 1907.
Der vorstebenben €rhlärung sd)liesst sid> vorbehaltlos an
Das präsibium bes Central* Comit^s ber fliliance Israelite Universelle
Harcisse Ceven. Salomon Reinod). Dr. R. Hetter. Jacques CDad)iels.
Nachdruck verboten.
ACHAD HAAM
UEBER DAS SCHULWERK DER ALLIANCE ISRAELITE UNIVERSELLE.
Der bedeutendste hebräische Schriftsteller der Jetzt-
zeit, Achad Haam (Uscher Qiozberg), hat vor etwa
7 Jahren über die „Schulpolitik** der AUiance Israelite
Universelle in der von ihm begründeten hebräischen
Monatsschrift „Haschiloach** nach einer Palästinareise
geschrieben und später in seinem Sammelwerk „AI
Paraschath Drachim", Band IT, S. 151 — 152, neu ver-
öffentlicht, was wir hier in genauer Uebersetzung
wiedergeben :
„Das jüdische Publikum glaubt gewöhnlich, dass
die AUiance Israelite Universelle in ihrem grossen
Eifer für ihr Heimatsland Frankreich bemüht ist, die
Vorherrschaft des „französischen Geistes** in der
Welt zu verbreiten, und dass sie für alle ihre Schulen
die strenge Vorschrift festgesetzt hat, die Zöglinge
zu „guten Franzosen** zu erziehen. Wieviel der-
artige Phrasen lesen wir in den jüdischen Zeitungen,
und besonders in der letzten Zeit. Tatsächlich ist
es aber nur eine der bei uns üblichen Uebertreibungen.
Die AUiance selbst — d. h. das Central-Comit^ in
Paris — sorgt für den französischen Geist nicht
mehr, vielleicht noch weniger als für den jüdischen
Geist. Im allgemeinen zieht sie keinen spezifischen
„G^ist** vor, und ihr Hauptzweck bei der Gründung
von Schulen im Orient ist dieser: die dortigen
jüdischen Massen durch eine europäische Erziehung
und exakte, zum Lebensunterhalt notwendige Kennt-
nisse aus ihrem sozialen und moralischen Tiefstand
emporzuheben. Und da in den meisten Orientländem
die französche Sprache in den höheren Gesellschafts-
schicbten noch die vorherrschende ist, sowohl unter
den Eingeborenen als auch unter den Eingewanderten,
so ist es einem Menschen aus der Masse fast un-
möglich, eine mehr oder weniger anstandsvoUe Stütze
im Gesellschaftsleben zu erreichen, sei es als Beamter
in einem Regierungs- oder sonstigen öffentUchen In-
stitute, sei es als AngesteUter bei einer angesehenen
kaufmännischen Firma, wenn er nicht die französische
Sprache beherrscht. Es ist deshalb nicht verwunder-
lich, wenn man in den AUianceschulen, die nur zu
diesem sozialen Zwecke begründet wurden, die fran-
zösische Sprache — aber nicht den Geist — besonders
pflegt, damit die Zöglinge sie nachher für ihre Lebens-
bedürfnisse gebrauchen können. Wer Gelegenheit
hatte, die „Zirkulare** zu lesen, die das Central-
Gomite in den letzten Jahren an alle Leiter der
AUianceschulen betreffs des Unterrichts in der jüdischen
Geschichte, der moralischen Erziehung, der Beobachtung
der religiösen Vorschriften etc. versendet, der wird
die Wahrheit meiner Worte bestätigen, dass die
AUiance nur darnach strebt, ihren Zöglingen die
Fähigkeit und MögUchkeit beizubringen, sich eine
Lebensexistenz durch redliche und geachtete Arbeit,
durch ein Handwerk oder theoretische Kenntnisse zu
797 Mitteilungen der Alliance Isra^lite Universelle: Achad Haam über das Schulwerk der Alliance Isra^ite Universelle, 798
schaffen. Sie hat aber keinerlei missgünstige Be-
atrebnngen in bezug auf die jüdische Seele, — im
Gegenteil, sie sacht diese Seele besonders zn wahren.
— (In einem Zirkular vom 22. Januar 1896 heisst
es: n^ ist uns viel erwünschter, dass die Schüler
die Leidensgeschichte der Juden kennen, als dass
sie die Regeln vom französischen Partizipium
können**.) — .«
Niemand wird Achad Haam den Vorwurf machen,
dass er „zu wenig jüdisch" sei.
DAS HILFSWERK DER ALLIANCE IN MAROKKO.
(Spezialbericht für die A. I. U. von Is. Pisa.)
Casablanca, 15. Oktober 1907.
Die beiden Boten, die ich vor 14 Tagen nach
Mzab und nach Settat geschickt hatte, sind zurück-
gekehrt, und haben mir aus den von ihnen besuchten
Orten Briefe mitgebracht, von denen ich Abschriften
beilege.
Die Briefe kommen aus Uled-Hriß, Maguch,
Settat, Mzab und Azemmur. Uled-Hriß ist eine der
ersten Ortschaften auf dem Wege nach Settat. Man
hatte mir beinahe offiziell die Versicherung gegeben,
daß als eine der Friedensbedingungen von den ara-
bischen Stämmen die Freilassung der Juden aus
Casablanca verlangt worden war. Doch obgleich
der Stamm sich unterwoflen hat, haben die Araber
ihre Gefangenen nicht freigelassen. Ich habe meinem
Korrespondenten Auftrag gegeben, die drei jungen
Mädchen loszukaufen, die sich noch in den Händen
der Araber befinden, und sie nach Casablanca zu-
rückzuschicken.
Maguch ist ein großes, einige Stunden vor Settat
belegenes Dorf. Die dortige, aus 30 Familien bestehende
jüdische Gemeinde hat die Flüchtlinge mit großer
Liebe aufgenommen. Aus dem anliegenden Brief geht
hervor, daß dort noch 17 junge Mädchen und Knaben
in Gefangenschaft sind. Ich werde sofort den Auf-
trag dorthin erteilen, die jungen Leute auf unsere
Kosten loszukaufen und in ihre Heimat zurückzu-
schicken.
Die Stadt Settat ist Ihnen wohl noch durch
die Plünderung bekannt, die vor vier Jahren dort
stattgefunden hat. Seitdem hat die kleine Gemeinde
sich aus Zuzüglingen von Casablanca wieder ergänzt.
Die beiden Herren, die den beifolgenden Brief unter-
zeichnet haben, sind ziemlich wohlhabend. Sie haben
sich mit dem größten Eifer der FlüchUinge ange-
nommen und ihre Not liebevoll und ausreichend ge-
lindert. Alle Ankömmlinge sind voll Lobes für dieses
Verhalten. Wollen Sie die Güte haben, Herrn Elmalah
den im beifolgenden Brief erbetenen Kredit zur Ver-
fügung zu stellen; ich werde ihm schreiben, daß er
sich mit den Notablen in Settat in Verbindung setzen
soll.
Der Mzab ist ein weites Gebiet, über das ganz
kleine jüdische Gemeinden verstreut liegen, die sich
vom Ackerbau ernähren. Aus dem beiliegenden Brief
können Sie ersehen, daß man beabsichtigt, alle Flücht-
linge von Casablanca in Settat zu konzentrieren.
In Casablanca selbst hat die Lage sich nicht ge-
ändert. Die reichen Familien, die nach Spanien ge-
flohen waren, sind wieder in ihre verwüsteten Heim-
Nachdruck verboten.
Stätten zurückgekehrt. Wer über einige Mittel ver-
fügen kann, eröffnet einen kleinen Spezerei-, Weiß-
waren- oder Bijouterieladen. Der Großhandel ist
tot. Die armen Leute arbeiten als Lastträger und
Verlader; es sind aber ihrer so viele und ihre Zahl
vergrößert sich täglich durch Zuzug aus dem Innern
so bedeutend, daß viele ohne Arbeit bleiben. Die
zwischen den beiden stehende Klasse der vormals
wohlhabenden Leute ist am meisten zu bedauern.
Sie können kein neues Geschäft anfangen wie die
Reichen, und können nicht betteln wie die Armen.
Was sollen sie tun, um ihr Leben zu fristen? Wir
verteilen ja immer noch Getreide, aber unsere Vor-
räte sind bald erschöpft.
Die Aussichten bleiben trübe. Die zwischen den
feindlichen Bruderstämmen und der französischen
Armee stehenden Stämme können sich nicht zur
Unterwerfung entschließen. Da sie nicht haben
säen können, ist die Ernte des nächsten Jahres ver-
loren. Pisa.
Uled Hriß.
Geehrter Herr Pisa!
Herr Abraham Amstet ist zu uns nach Uled-
Hriß gekommen, um zu erkunden, ob von hier aus
Juden nach Casablanca zurückzuschicken seien. Er
hat 15 junge Mädchen ausfindig gemacht, von denen
drei noch nicht losgekauft sind. Die übrigen sind
teils von ihren Angehörigen, teils von uns oder von
hiesigen jüdischen Privatleuten zurückgekauft worden.
Eines der jungen Mädchen hat aus Dankbarkeit ihren
Befreier geheiratet.
Gez. Elias Bensimhon.
Maguch, 1. Cheschwan 5668.
Geehrter Herr Isaac Pisa!
Hierdurch teilen wir Ihnen mit, daß Ihr Ab-
gesandter, Herr Abraham Amstet, am Freitag bei
uns angekommen ist, zwei Tage nach seiner Abreise
aus Casablanca. Er hat uns Ihre Vollmacht vor-
gelegt, damit wir ihm bei der Befreiung der jungen
Mädchen und Kinder behilflich sind, die sich in dieser
Gegend noch in Gefangenschaft befinden. Wir haben
ihn gut aufgenommen und bis zum Sonntag bei uns
behalten. Dann sind wir sehr früh am Morgen mit
ihm auf die Suche nach Gefangenen gegangen. Das
erste junge Mädchen fanden wir bei einem Araber
Namens Ahmed ben Zochra. Er hatte ihr das Haupt-
haar abgeschoren und betrachtete sie als seine Tochter.
799
Mitteilungen der Alliance Israelite Universelle: Das Hilfswerk der AUiance in Marokko.
800
Abraham. Amstet wollte das Mädchen mit Gewalt
entführen, und wäre dabei von dem Araber er-
schossen worden, wenn sein Begleiter ihn nicht ge-
rettet hlitte. Wir gingen darauf zu einem Freund
des Arabers, der uns sagte, wir würden das Mädchen
gegen ein Lösegeld herausbekommen. Für das zweite
von uns aufgefundene Mädchen verlangte man
10 Duros. Wir fanden danach noch 13 Mädchen
und 3 Knaben, von denen erst zwei Mädchen von ihren
Eltern zurückgekauft worden sind.
All diese jungen Leute sind bei den Mdakras.
Von hier aus wollte Herr Abraham Amstet noch
nach Mzab gehen, um auch dort nach Israeliten zu
suchen. Wir Ueßen es aber nicht zu, denn die Araber
hätten ihn totgeschlagen, weil sie ihn für einen Spion
hielten. Eia einziger Araber, der Häupthng aller
Kabylen, hat Ihren AJjgesandten respektiert und hat
uns versprochen, Ihnen zuhebc die jungen Mädchen
zu befreien, die sich bei diesen Kabylen befinden.
Dazu ist aber etwas Geld nötig, das wir Einwohner
von Maguch nicht geben können. Bitte, beraten Sie
darüber mit den Reichen in Casablanca, und lassen
Sie uns wissen, was Sie zu tun gedenken.
Gez. Die Israeliten von Maguch.
Meier Trudjman.
Elias Benhimol.
Abram Benchotrit.
Ry Messod Edery.
Messod Amor usw. usw.
S e 1 1 a t.
Geehrte Herren Pisa und Zagury!
Herr Abraham Amstet ist mit seinem Begleiter
Si Mohamed ben-Hadj-Omar von Ouled-Hriß zu uns
nach Settat gekommen. Dieser Araber hat unterwegs
zwei junge Mädchen für 6 Duros losgekauft und bis
Settat geleitet, ohne dafür auch nur einen Centime
anzunehmen. Er meint, das sei ein Geschenk, das
er den Israehten macht. Er hat uns erzählt, welchen
großen Mühen Abraham Amstet sich hat unterziehen
müssen, um alle aus Casablanca entflohenen Juden
wieder aufzufinden.
Sie wünschen von uns eine Auskunft, wieviel
Juden aus Casablanca sich hier in Settat aufhalten.
Seitdem wir sie hier bei ihrer Ankunft enpfangen,
haben wir ungefähr 500 Famihen verzeichnet. Wir
haben sie gastfreundlich aufgenommen; vielen von
ihnen, die nach Mazagan weiter gegangen sind, haben
wir die Führer dorthin bezahlt, und haben ihnen
Brot für den W^eg mitgegeben. Andere sind hier ge-
blieben, und so lange sie noch bleiben wollen, werden
sie hier freies Essen und Trinken und Obdach er-
halten.
Wir haben auch junge Mädchen aus den Händen
der Araber in der Umgebung von Settat befreit. So-
bald wir erfahren, daß in einem bestimmten Duar
(Beduinendorf) ein jüdisches Mädchen ist, schicken
wir sofort Vertrauenspersonen hin, um sie loszukaufen.
Viele junge Mädchen sind bei den Leuten vom
Stamm Uled-Said, die von uns 100 — 150 Duros ver-
langen. Unter den von diesen Arabern zurückge-
kauften Jüdinnen haben wir zwei sehr teuer bezahlt:
eine junge Frau, die Tochter eines sehr angesehenen
Mannes haben wir für 91 Duros auch noch fast mit
Gewalt nehmen müssen; für die andere, eine Frau
mit ihren Kindern, haben wir 101 Duros bezahlt.
Das dazu erforderUche Geld haben die Angehörigen
der beiden jungen Frauen gegeben. Erst in dieser
Woche haben wir >\ieder vier Personen zum Los-
kauf von Mädchen zu den Uled-Saids geschickt; es
soll dort noch eine ganze Anzahl sein.
Herr Abraham Amstet hat uns Ihren Auftrag
ausgerichtet, wir sollten hier die gefangenen Mädchen
loskaufen, Sie würden uns das dafür verauslagte
Geld zurückerstatten. Wir bitten Sie demnach,
meine Herren, uns für das Lösegeld der jungen Mädchen
und für ihre Weiterbeförderung nach Mazagan einen
Kredit bei dem Schullehrer oder bei Herrn Maimani
in Mazagan zu eröffnen, denn mit dieser Stadt können
wir bequem verkehren. Wir hier arbeiten nur um
Gotteswillen und aus Mitleid für unsere Glaubens-
genossen, aber wir haben nicht genügend Mittel, um
unsere Pflicht ohne Beihilfe zu erfüllen.
Gez. David Amar.
Abraham Ohayon.
Mzab, den 3. Cheschwan 5668.
Geehrter Herr Schuldirektor!
Wir haben Ihren Brief erhalten und daraus er-
sehen, daß Sie sich damit beschäftigen, den Israeliten
zu helfen. Gott helfe Ihnen bei Ihrem Werk.
Eine große Anzahl von Familien hat sich bei uns
aufgehalten. Einige hatten wir losgekauft und nach
Mazagan geschickt, einige Familien sind noch hier
und bleiben, bis wir ihnen die Weiterreise bezahlen
können.
Nachdem wir jetzt Ihre Zusage erhalten haben,
werden wir alle Israeliten loskaufen, die sich noch
in den Händen der Araber befinden.
Mit diesem Brief zugleich erhalten Sie die Liste
der von uns losgekauften Personen und der Personen,
denen wir Reisegeld gegeben haben.
Wir werden uns bemühen, alle in unserem Be-
zirk verstreuten Israeliten in Settat zusammenzu-
führen. Wir stehen Ihnen immer zu Diensten.
Gez. Isaac Benchetrit.
Mordechai Ruemi.
Azemmur, 4. Cheschwan 5668.
Der Unterzeichnete bezeugt hiermit, daß Herr
Abraham Amstet zu uns nach Azemmur gekommen ist,
um zu erkunden, ob sich hier IsraeUten aus Casablanca
aufhalten, die er loskaufen und mitnehmen könnte.
Er hat hier nichts gefunden, denn die in unserer Um-
gegend gefangen gewesenen Frauen und Mädchen
hatten wir selbst schon von den Arabern losgekauft
und nach Mazagan befördert. Abraham Amstet
hat sich darauf nach Stuka und nach Chiadma be-
geben, und hat auch dort keiiion FlüchUing gefunden.
Zur Bekräftigung des Gesagten zeichne ich
Sid Benator.
801
802
Sammlung für die marokkanischen Glaubensgenossen.
Im Anschluß an die in den beiden vorher-
gehenden Nummern veröffenüichten Listen der dem
Deutschen Bureau zugegangenen Spenden für die
marokkanischen Glaubensgenossen quittieren wir nach-
stehend die uns seitdem weiter übermittelten Spenden :
Altona: Durch Oberrabbiner Dr. Lemer: W. MöJJer
20.—, J. Holländer 20.—, W. Segelbaum 10.—,
W. Cohn 5. — , A. Neumann 5. — , Dr. Frank 10. — ,
L. Koppel 10. — , N. Levy 15. — . Berlinr Frau S. Beer
100. — , Wohltätigkeitsverein Auseh Tauwaus durch
A. Hirsch 23. — , auf der Beschneidungsfeier bei Schein-
linger gesammelt durch N. Levy 5.70, N. Levy 1. — ,
Frau Spiegel 1. — , Wasserreich 1. — , Ungenannt 6. — ,
Isaac Korb 2. — , Elias Jubelski 3. — , Hermann Struck
5. — , Frau Geheimrat Bucher 100. — , John Becker
50. — . Bonn a. Rh.: Gesammelt durch Rabbiner Dr. Ka-
lischer 400. — . Berwangen: Durch K. Hahn, Vorsteher
der Israelitischen Gemeinde, 45.80. Bretten: Durch
Bezirksrabbiner L. Schlessinger : Bez. Rabbiner 2. — ,
Bernhard Veit 2. — , Jul. Gailinger 2. — , Haupt-
lehrer Moch 2. — , Kantor Metzger 2. — , Leopold W^olf
1. — , Heym. Kochlöffel 1. — , Max Eichtersheimer
2. — , Max Lämle 3. — , Gustav Lämle 5. — , Arnold
Lämle 4. — , Leopold Lämle 6. — , Lippmann Lämle
2. — , Leopold Koppel 8. — , Emil Wertheimer
1. — , Heinrich Wertheimer 1. — , Louis Erlebacher
4. — , Simon Erlebacher 2. — , Gustav Erlebacher 2. — ,
Max Erlebacher 2. — , Salomon Wertheimer 1. — ,
Isidor Koppel 2. — , Ferdinand Wertheimer 4. — ,
Isak M. Wertheimer 2. — , Moses Wertheimer 1. — ,
Ludwig Dreifuß 5. — , Moses Lichtenberger 2.-^, Max
Lichtenberger 3. — , Lehmann Weingärtner 2. — , Adolf
Simon 2. — , Ehas Bodenheimer 2. — , Nathan Dreifuß
2. — , Siegfried Rosenfeld (aus Aub) 2. — , Moses Lichten-
berger 5. — . Cassel: Durch Julius Mecca: J. R. 20. — ,
Alb. Lindenfeld 3. — , Grtinbaum 5. — , J. Mecca 5. — ,
M. F. 25. — , Frau Elise Gans 10. — , Louis Mosbacher
5. — , Moritz Messner 10. — , Heula Hahn 6. — , N. N.
3.—, Sah Fröhlich 30.—, Benno Fröhlich 10.—, Hugo
Gotthelft 10.—, Jos. Spangenthal 10. — , L. B. 10. — ,
N. N. 5. — , Th. Baumann 10. — , S. M. Oppenheim 5. — ,
H. Marcuse 3. — , A. Dellerie 5. — , Th. Eisenberg 5. — ,
Rieh. Gotthelft 10. — , Lieberg & Co. 10. — , Dr. Doctor
5, — , H. L. 10. Coburg: Gesammelt durch D. Weinberg,
Vorsteher der Kultusgemeinde 62.50. Cöln: Meno
Auerbach 3. — , Sally Benjamin 3. — . Darmstadt:
Sammlung durch Otto Wolff : Otto Wolff 20.—, Louis
Rosenburg 20. — , Hermann Josef 20. — , Hermann
Reichenbach 10. — , Ungenannt 2.95, Hermann Stade
5.—, Carl Wolff 10.—, Leopold Erdmann 10.—, Dr.
Italiener 10. — , Kommerzienrat Louis Trier 20. — ,
Eugen Trier 20. — , Ludwig Josef 20. — , Dr. Josef
Strauß 20. — , Justizrat Dr. Loeb 20. — , Leopold
Hachenburger 20. — , Eduard Homberger 10. — , Ernst
Hornberger 5. — , Max Jonas Mayer 20. — , Dr. F.
Mainzer 20. — , Dr. Hugo Bender 20. — , Frau Pauline
Blau und Fräulein Simon 20. — , Julius Heineberg 20. — ,
Leopold^ Kahn, Bankier 10. — , Arnold Naß 10.— ,'|^
Alexander Sander 20. — , Max Sander 10. — , Josef Nau-
heim 20. — , Jacob Guthmann 20. — , Konamerzienrat
Langenbach 10. — , Leopold Kahn 10. — , Adolf Trier
30.—, Oskar Wolff 10.—, E. M. Mansbacher & Sohn
10. — , Berthold Bodenheimer 20. — , Benno Stern 10. — ,
Dr. Richard Oppenheimer 10. — , Justizrat D. Reiß
10. — , Otto Benjamin 10. — , Max Sander Wwe. 10. — ,
Carl Lehmann 10. — , Adolph Simon 5. — , Max Stern
20. — , Siegmund Rotiischild 10. — , Joseph Stade 10. — ,
Helene Strauß 10. — , Ferdinand Stern 10. — , Theoder
Strauß 10. — , Clemens Goldschmidt 10. — , Siegfried
Haas 5. — , Josef und Robert Landau 10. — , Gebr. Neu
5. — , Carl Erlanger 10. — , Geh. Baurat Landsberg
10. — , Karl Benjamin 10. — , Hermann Berger 5. — ,
Cari Beer 10.—, J. Bruchfeld 10.—, S. Joseph 3—,
M. Aschkenas 5. — , Justizrat Mainzer 10. — , Heinrich
Strauß 20. — , Meyer Meyer 5. — , M. Meyer 5. — , A. Uli-
mann 5. — , M. Heß 5. — , Jul. Katzenstein 5. — ,
Dr. Simon 10. — , Paul Wildau 15.—, Guggenheimer
& Marx 5. — , Frau Delphine Homberger 10. — , Ludwig
Kahn 3. — , Lippmau May 10. — , Cerf Hanau 10. — ,
Salomon & Beißinger 5. — , Abraham Josef 5. — , Max
Fulda 10. — , Frau Th. Sander Wwe. 5. — , Frau Jac.
Goldschmidt Wwe. 3. — , bei einer Hochzeit durch
Ferd. Kahn gesammelt 20.50, Moses Isaac 10. — , Hugo
Strauß 10. — . Diespeek a. d.Aisch: K. Kohn, M. Seligen-
brunn, S. Stemau, A. Lein, G. Kohlmann, L. Schön-
wasser, B. Fulder, G. Schönwasser, A. Heß je 1 Mark =
9 Mark, S. Rosenau, Wwe. Weil, Geschw. Sternau je
50 Pfennig = L50 Mark. Emmerieh: Durch Sal. L.
Franken, gesammelt durch Lehrer Carsch 74. — .
Frankfurt a. M.: Von den vereinigten Lokal-Comit^
der Alhance Israelite Universelle und des Hilfsvereins
der Deutschen Juden für die notleidenden marokka-
nischen Juden gesammelt: Lucien Picard 50. — , Leo
Dalsheim 20. — , Hieronymus Dessauer 10. — , David
Rosenthal 60.—, Philipp Deutsch 10.—, Wilhelm
E. Cahn 30.—, Robert Koch 50.—, Ludwig Schiff
100. — , Siegmund Schott 5. — , Salo Stern 5. — ,
A. Misch 5. — , E. A. Schwabacher 10. — , Charles L.
Hallgarten 1000. — , N. N. 50. — , Louis Wassermann
20. — , Dr. med. S. Kirchheim 50. — , Jacob Frenkel
10. — , Alfred Weinschenk 100. — , Hermann Roth
10. — , Raphael Ettlinger 20. — , Leopold Sonnemann
300. — , Carl Langenbach 20. — , Emil Simon 20. — ,
David Goldschmidt 25. — , Max David Goldschmidt
25. — , Jos. Levy Wwe. in Sulzbach bei Saarbrücken
75. — , M. Grünstein 3. — , H. Frohmann 10. — , J. Sonnen-
theil 25.—, Leopold Levy 20. — , J. Scheuer 20. — ,
Jos. Wertheimer 20. — , Hermann Katz 5. — , N. Hirsch
20.—, Rudolph Kahn 20.—, Philipp Schiff 200.—,
Frau A. G. 100.—, Moritz Metzger 30.—, Max Wert-
heimer 30. — , S. vSchwarz 20. — , I^eo Hamburger 50. — ,
David E. Schwarzschild 100. — , Max E. Schwarzschild
100. — , Ferdinand E. Schwarzschild 50. — , James Loeb
KXK). — , Leopold Igersheimer 25. — , Babette Rosen-
busch 150.—, D. A. Z. 20.—, Reclitsanwalt Dr. Mor.
Kohn 5. — , Rechtsanwalt Dr. Arthur Oppenheimer
5. — , Rechtsanwalt Dr. Siegfried Schwarzschild 10. — ,
Rechtsanwalt Zinunt 5. — , Rechtsanwalt Dr. Eisenberg
5. — , Rechtsanwalt Dr. Rosenmeyer 3. — , Rechtsanwalt
Dr. Richard Merzbach 10. — , Reclilsanwalt Dr. Seckel
L
803
Mitteilungen der Alliance Israelite Universelle: Sammlung für die marokkanischen Glaubensgenossen.
804
3. — , Rechtsanwalt Dr. Julius Jessel 10. — , Rechts-
anwalt Julius Wolff 10. — , Rechtsanwalt Dr. Neu-
mond 20. — , Rechtsanwalt Dr. Ed. Baerwald 20. — ,
Referendar W. 3. — , Frl. B. und S. Jacobsohn in Lüne-
burg 50. — , M. Jacobsohn in Lüneburg 50. — , J. Rosen-
baum 50. — , Leopold Hirschler 50. — , Adolf Gans
300. — , Lincoln Menny Oppenheimer 100. — , Gebrüder
Bauer 100.—, J. J. Weiller Söhne 100.—, Rechts-
anwalt Dr. Blau 100. — , Direktor Zachary Hochschild
100.—, Leo Ellinger 100.—, Dr. Feist 50.—, S. L. Beer
20. — , Dr. Kirschbaum 10. — , Elise Bonn 50. — , Franz
Strauß Sohn 100.—, Eduard Cohen 1000.—, Freiherr
von Goldschmidt-Rothschild 500. — , Dr. Karl Sulzbach
300.—, J. Dreyfuß 300.—, Emil Sulzbach 100.—
Albert Bing 50. — , Ernst Strauß 50. — , Justizrat
^Dr. B. Baer 10. — , Dr. med. Th. Baer 10.—, Julius
Obemzenner 100. — , Ferdinand Maas 20. — , Zach.
Mayer 20. — , A. Hüttenbach 50. — , Rechtsanwalt
Dr. S. Rosen thal II 10. — , Rechtsanwalt Lazarus 20. — .
Notar Dr. A. Mai 10.—, Frau Rosalie Teblö 5.—,
Leopold Lindheimer 35. — , Jacob Nußbaum 20; — ,
Direktor Hermann Maier 50. — , S. Bienes 10. — , Rudolph
Isaac 10. — , Henry Seligmann 300. — , Albert Flersheim
20.—, Willy Stern 1000.—, Julius Goldschmidt 300.—,
S. Neustadt 100.—, Adolf Stern 100.—, Maier SeHg
Goldschmidt 100.—, H. & B. Kahn 100.—, Emil
Rosenthal 100.—, Ph. Mayfarth & Co. 100.—, A. Kerbs
30. — , A. R. 10. — , Rosenberg 10. — Frau Francis
Livingston 20. — , Dr. med. Frank 10. — , Professor
Edinger 50.—, Carl Berlö 20.—, Dr. L. Walter 20.—,
Frl. Bertha Pappenheim 50. — , Ernst H. Epstein 20.—^,
Jacob H. Epstein 50. — , Sanitätsrat Dr. Jaffö 50. — ,
Gebrüder Klau 25.—, Josef Wisloch 20.—, JuUus W.
Wisloch 10. — , B. Marxsohn 30. — , Max Salomon 20. — ,
Frau Emma Neißer 30. — , W. Bischheim 25. — , Fr. Anna
Rosenthal 50. — , Geh. Justizrat Dr. Fuld 100. — ,
Runkel 20. — , Dr. Katzenstein 10. — , Rechtsanwalt
Heyum 5. — , Erich Frenkel 5. — , N. N. 1. — , Dr. J.
Grünebaum 3. — , Direktor Dr. Adler 10. — , Synagogen-
beamter Meier 10. — , Professor Dr. Michel 10. — ,
Lehrer Scherer 5. — , Hugo Koch 3. — , David Crame
25. — , Fr. Louise Vogel 8. — , Adolf Neustadt 50. — ,
Julius F. Goldschmidt 50.—, Frau Adolf Schloß 40.—,
Julius Hirsch 10. — , E. Metzger 10. — , Frau Bella
Goldschmidt- Kirchheim 100. — , H. Emden 20. — ,
A. S. Levy 10. — , Stadtrat Josef Baer 100.—, Nathan
Wallach 30.—, Sigmund Simon 50.—, Js. Wolff 50.—,
J. Erlanger 20. — , C. Schlessinger 10. — , Frau Fanny
Rosenthal 20. — , A. Misch 10. — , J. Steiner 5. — ,
Heinrich Strauß 20. — , Dr. med. A. Baerwald 10. — ,
Frau C. Frankenthal 30. — , Carl Kaufmann 50. — ,
J.Neuberger 10. — , Rabbiner Dr. Lazarus 10. — , FrauTh.
T.100.—,Cahn&Sommer50.~,FrauLouise Goldschmidt
200.—, Lud. Mayer 100.—, Louis Feist 100.—, J. L.
Beer 100.—, Anton Kulp 100.—, Alfred Metz 20.—,
Eugen Dreyfus 30. — , F. Horckheimer 20. — , E. Schles-
singer 10. — , Geschwister Oppenheimer 20. — , Hermann
Wronker 30. — , Hugo Forchheimer 30. — , Frau Jenny
Forchheimer 20. — , M. J. Löwenthal 25. — , Carl Bier
20. — , Goldschmidt & Löwenick 50. — , Oscar Mayer
10. — , Sally Bonn 40. — , Julius Carlebach 20. — , Gebr.
'^ '^ '^.hmidt 50. — , Dr. Siegmund Abraham 10. — ,
Dr. Alfred Geiger 10. — , Justizrat Dr. Berthold Geiger
20. — , Dr. med. Sigmund Auerbach 50. — , Ignatz
Frank 20.—, Dr. Franz Adler 10.—, Anton Fulda
50.—, M. A. Wolff 50.—, Ferdinand Schamberg 20.—,
M. Oppenheimer 5. — , Ernst Bing 5. — , Fr. Anna Cahn
5. — , Frau Sidonie Dann 10. — , Bernhard Neustadt
20. — , Herr und Frau H. L. 50. — zum 13. September,
M. Niedermayer & Söhne 100. — , Professor Dr. Ganz
in Leipzig 25. — , S. K. Hochschild 25. — , Frau Emma
Livingston 200. — , A. & E. Frank 50. — , Fritz Merz-
tach 20. — , Josef Jandorf 10. — , Raphael M. Kirchheim
100. — , M. Neu & Söhne 50. — , von einer Administration
1000. — , Michael Levy 10. — , Consul Gustav Maier-
Alberti 10.—, A. 0. 20.—, S. Budge 30.—, Dr. P. Mayer
100. — , D. Ganz 20. — , Dr. Hermann Goldschmidt
30.—, Dr. Altschul 10.—, Moritz Wolff 10.—, M. F.
20. — , Anton Horckheimer 20. — , Leopold Lösenstein
20. — , Frau Pauline Lion 20. — , Fritz Hirschhorn 30. — ,
J. M. 10. — , L. L. 20. — , Siegfried Rosenberg 50. — ,
Louis Mai 10. — , Frau Siegmund Una 50. — , L. H. Reis
50. — , Eduard Apfel 20. — , Salomon Binswanger 20. — ,
Felix Frank 50. — , Frau Cahn-Brasch 20. — , Paul Reine-
mann 30. — , Frau Leopold Kahn 20. — , Leo Liefmann
10. — , Max Lewisohn 5. — , Dr. M. Nassauer 20. — ,
Stadtrat Levin 5. — , Dr. R. Stern 20. — , L. A. 5. — ,
Josef Mayer 5. — , Justizrat Dr. Hecht 20. — , Gebr.
Siesmayer 20. — , Josef Holzmann 20. — , Leo Holzmann
10. — , Bamberger, Leroi &Co. 30. — , Geh. Kommerzien-
rat Baron Ad. von Mayer 20. — , C. Flersheim-Heß 20. — ,
Hugo Nathan 20. — , Frau Menko Kulp Wwe. 50. — ,
A. Rosenthal jr. 20. — , Jos. & Is. Bottenwieser 60.—.
M. M. 10.—, Fränkel & Co. 10.—, Dr. H. 30.—, M. B,
50. — , Leonhard Mayer-Dinkel 100. — , Frau Konsul
Budge 100. — , Frau Baronin Willy von Rothschild
1000.—, Josef Salomon 20.—, Carl Feist 5.—, Dr.
Rudolf Geiger 6. — , L. Wertheimer 5. — , Hermann
Guttmann 10. — , Fr. Mimi Borchardt in Kairo 200. — ,
Günther- Schlewinsky in Werben im Spreewald 5. — ,
Direktor Carl Herzberg 150. — , Heinrich Edenfeld 20. — ,
Frau E. Strauß-Ellinger 40. — , Frau Max Heim 40. — ,
Dr. C. Kaufmann 50.—, S. Huttens, 20.—, N. N. 30.—,
E. Regensburger 20. — , M. B. 5. — , A. S. 20. — ,
S. Kirschner 20.-^, Julius Scheuer 10. — , xN. N. 5. — ,
Frau Dr. Schnapper 50. — , Ludwig Strauß 10. — ,
M. Tannenbaum, 10. — , Hugo Fraenkel 20. — , Fritz
Sondheimer 20. — , Dr. C. SeHgmann 15. — , M. Kulp
20. — , H. L. 5. — , Raphael Kaufmann 15. — , M. Baum
10. — , Hermann Stern 20. — , Hermann Levita 20. — ,
M. Stern sen. 20. — , Leo Hochschild 20. — , Frau
Dorothea Mayer, Heidelberg 10. — , M. Doctor Sohn
20.—, Frau Bertha Mayer 10.—, Karl Mayer 10.—,
Professor Dr. A. Löhren 10. — , Moritz Cahn 5. — ,
L. Trost 5.—, Frau Bertha Glazier 50.—, Wohltätig-
keitskasse der Gemeinde Lübbecke i. \V. durch M.
Löwenstein 12.—, Ben Keseh L'osaux 20. — . Frei-
burg i. B.: Gesammelt durch A. Burger 357,20. Gießen:
Durch Israelitische Religionsgemeinde 223.60. Gnesen:
Durch M. Witkowski 105.—. Gotha: Durch Dr. jur.
Goldschmidt iGust.Ledermaim 10. — , Jul. SimsonlO. — ,
D. Katzenstein 10. — , I. & S. Israelski 10. — , Leopold
Bereut 10.—, Gebr. Grünstein 5.—, Rob. Werner 5. — , E.
Samson 5. — , Ad. Meyerstein 5. — , M. Heilbrunn 5. — ,
805 Mitteilungen der Alliance Isra^lite Universelle: Sammlung für die marokkanischen Glaubensgenossen. 806
S. Rosenblatt 5. — , Oskar Meyerstein 5. — , Dr. Rosen-
baiim 3. — , A. Werner 1. — , Dr. Goldschmidt 11. — .
Hainstarth (durch S. Rau-Nürnberg): Gesammelt
durch Kultusvorstand H. Gutmann 32,82. Hamburg:
Durch Hermann Gumpertz: B. Rleichröder 50. — ,
Sam. Cohen 20. — , A. Löwenstein 20. — , H. Lewin 10. — ,
E. Luria 50. — , Leop. David 10. — , E. Danziger 20. — ,
N. S. Mendel 20.—, M. Fränkel 10.—, B. Hahlo 50.—,
M. M. Warbm*g & Co. 100. — , Bernhard Lewandowski
30. — , Dr. L J. H. 6. — , J. Caperto jun. 40. — . Heidel-
berg: Hanna Neumann 5. — , Bikur chaulim, durch
Richard Schlössinger 20. — . Heidenhean: Amson Neu-
berger sen. 10.—. Kobylin: Louis Neustadt 1. — .
Königshütte, 0.-8.: Durch Siegmund Adler: Adolf
Lewin 20. — , Siegmund Adler 10. — , Bernh. Kos-
lowsky 10. — , Nathan Markiewitz 10. — , Samuel Kober
6. — , Gerson Faerber 10. — , Frau Flora Freund 20. — ,
Adolf Hirsche! 10. — , Theodor Tichauer 10. — , Heinrich
Koplowitz 20. — , Arthur Sternberg 20. — , Dr. Kaiser
6. — , Louis Brock 6. — , J. S. Kains 10. — , B. Lonmitz
5. — , Isidor Langer 20. — , Benno Aschner 5. — , Burlin
2. — , Apotheker Weißenberg 10. — , Salo Kreutzberger
10. — , Josef Kreutzberger 10. — , S. Ziegler 6. — , Leo
Pinkus 5. — , Paul Goldstein 20. — , Amil Fränkel 10. — ,
Max Keins 5. — , Salo Fischel 5. — , Ferdinand Weißen-
berg 10. — , Albert Goldstein 15. — , H. Liebrecht 5. — ,
Frau Amalie Sternberg 20. — , Frau Loebel Centaver
10. — , Meyer Sachs 5. — , J. Israel 5. — , cand. med. K. I.
1. — , Frau Johanna Haussdorff 10. — , Gustav Silber-
feld 5. — , Alex Tichauer 5. — , Max Tauber 5. — , Hein-
rich Königsfeld 10. — , Max Thaler 5. — , S. Olschowsky
3. — . Laupheim: Synagogen- Gemeinde 100. — . Lübeck:
Durch Rabbiner Dr. Carlebach: B. L. 1. — , G. G. 3. — ,
H. M. 2.— , A. C. 7.—, H. N. 6.—, Dr. J. J. 1.— .
Ludwigshaten: Gesammelt durch Vorstand Moritz
Wolff 213. — . Mannheim: Durch Hermann Lob- Stern :
Gust. Benzinger 10. — , J. M. Bielefeld 20. — , Ungenannt
20. — . Merzig: Gesammelt durch Benny Cahn 46. — .
Nürnberg: Durch S. Rau: Spende Konsul Bernhard
Lang 50. — , Ungenannt 3. — , A. Feldheim 10. — .
Neustadt a. Aiseh: Gesammelt durch Simon Hecht
85. — . Posen: Durch Louis Calvary 394. — . Sagan:
Durch Stadtrat Max Jonas 60. — . Schnaittach: (durch
S. Rau-Nürnberg): Gesammelt durch J. Ullmann
52.43. Siegburg (durch Dr. 0. Levison): Ge-
sammelt durch Lehrer Seelig 126. — . Speyer: Durch
Leopold Klein: IsraeHt. Wohltätigkeitsverein Ez
Chajim 10. — , Israelit. Wohl tätigkeits verein Gemillus
Chasodim 10. — , Israelit. Spendekasse 10. — , Israelit.
Frauenverein 10. — . Steele: M. Lilienfeld 10. — .
Stuttgart: Durch Eugen Fellheim: R. Grünwald
20.—, S. Kahn 10.—. Winzenhehn, Ob. -Eis.:
Leon Abr. Bloch 80. — . Worms: AI. Mayer
3. — . Wreschen: Durch Rabbiner Dr. M. Lewin:
Medizinalrat Michaelsohn 5. — , Dr. M. Löwin 3. — ,
Louis Michalski 3. — , Rechtsanwalt Peyser 3. — ,
Dr. Itzig 3. — , J. Gans 3. — , M. Miodowski 3. — ,
David Mendel 1. — , L. Leonitzky 1. — , M. Zucker
2. — , L. Grunwald 1. — , H. Hirsch — .50, L. Rodi^ewski
1.50, Gebr. Siebert 3. — , J. Jadesohu 2. — , M. Gans
1. — , N. N. 1. — , Siegm. Freund 1. — , Carl Lewin 2. — ,
Türk i:— , Abr. Schöps 1.—, L. Licht 1.—, Sam.
Gersohn 2. — , M. Sokolowski 1. — , Wiener 1. — ,
S. Ascher 1. — , Marcus Meyer 2. — , Michael Haase 1. — ,
R. Rubin 1. — , S. Mannes 1. — , Frau Rodijewski 1. — ,
Frau Eva Miodowski 4. — , bei der Bris Milo im Hause
des Herrn Lehrer Cohn 2.20, Bernhard Gerson 1. — .
Zabrze: Durch M. Fischer: Rabbiner Dr. Kaatz 3.—,
Julius PoUak 10. — , M. Fischer 5. — , Kochmann 3. — ,
A. Kaiser 3. — , A. Olschowsky 2. — , Hugo Böhm 5. — ,
Georg Krebs 2. — , J. Loebmann 3. — , Eugen
Haendler 10.—, R. 2. — , Dr. Baumgart 2.—, Leo
Weinstein 2. — , Kaufmann Baumgart 1.50, Hugo
Grünberger 3.—, N. N. 2.—, A. Ehrlich 2.—,
N. Seidler 2.—, Adolf Pollack 5.—, Jos. Hecht 2.—,
E. Krebs' 1.50, N. Nebel 2.—, L. S. 1.—, H. Grün-
berg 1.—, S. N. 1.—, J. Weissenberg 2. — , J. Haendler
10. — , Max Formann 1. — , Grünwald 5. — , Max
Eisner 1. — , H. Fischer 1. — , Lange 1.50, A. Ascher
1. — , B. Pniower 3. — , Josef Herzka 0.50, Bruno
Herzberg 2. — , R. W. 1. — , Isidor Silbermann 2. — ,
M. Steuer 1.—, B. Salinger 1. — , Max Angress 1. — ,
Moritz Pinkus 3. — , Georg Prager 1.—, Max Glaser
1.50, S. Benger 1. — , Hermann Wiener 3.—, Pauline
Pollack 1.—, N. N. 1.50, Josef Herzberg 1.50, Toczek
0.50, Wolff 2.—, L. Morgenstern 1.—, B. Wieland
1. — , N. Pollack 3. — , Grabowski 1. — , Schöngut
1.—, R. 1.—, N. N. 1.—, S. Kosterlitz 3.—, Gebr.
Markus 2.—, S. Sorsky 1. — , Julius Kochmann 10. — ,
L. 1. — , D. Misch 1. — , R. F. 1. — , Moritz Eisner
2. — , M. Finkelstein 2. — , M. Riesenfeld 1. — , Graetz
2. — , Unger 3. — , Knoche 1. — , Metz 2. — , Josef
Brauer 1. — , Jacob Brauer 1. — , J. Eisner 1. — , Max
Kaiser 1, — , L. Cahn 1. — , Henriette Steuer 1. — ,
Eugen Pollack 5. — , L. Herlitz 2. — , H. Herzberg
1.—, M. Kiiser 3. — , W. Isaac 3. — , J. Kochmann
1. — , Franz Kochmann 2. — , D. Waldmann 1. — ,
Krebs 3.—, Siegel 1.—, Grünberg 1.50, N. N. 3.—,
Schönfeld 1.—, L. Danziger 1.50, A. Seh. 1.50,
A. Richter 1.50, F. Eisner 1. — , N. Schulz 1. — ,
Martin Zimmermann 2. — , F. Friedländer 1. — , Glaser
2. — , J. Simonauer 1. — , Max Daniel 5. — , J. W. 1. — ,
N. N. 2.—, E. H. 2.—, Leop. Katz 2.—, Goldmann
1.—, Fr. 1.50, A. Prager 1. — , Max Goldstein 2. — ,
M. Leschziner 1. — , Meiler 3. — , Tichauer 1. — ,
Fröhlich 3. — , Albert Siedner, Biskupitz 3. — , Josef
Wischnitzer 1.—, B. Kosterlitz, Biskupitz 1.50,
Oschinsky 1.50, S. Hanamer in Mikultschütz 1.50,
Branner 1. — , M. Thomas 3. — , J. Schauer 2. — ,
Hugo Gruss 3.—. Berlin; Jac. Richter 5. — . Hamburg:
Dr. Caro 10.—.
Expedition nach Abessinien. DasCeDtral-Comite der
Alliance Israelite Universelle hat beschlossen, eine Studien-
kommission nach Abessinien zu entsenden zur Erforschung
der wirtschaftlichen, sittlichen und gesellschaftlichen
Lage der Falaschas in den verschiedenen Provinzen,
wo das Vorkommen von solchen durch frühere Forüchang
festgestellt worden ist. Mit der Leitung der Expedition
ist Herr Naham beauftragt, Professor am Rabbiner-
seminar zu Konstantinopel, der in der Schule für
lebende orientalische Sprachen und in dem Rabbiner-