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Full text of "Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung"

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PRESENTED 


TO 


THE UNIVERSITY OF TORONTO 
THE UNIVERSITY OF STRASSBURG, 


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JANUARY IOrH, 1891 


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DIE 


PHILOSOPHIE DER GRIECHEN 


IN IHRER 


GESCHICHTLICHEN ENTWICKLUNG 
DARGESTELLT 


Dr. EDUARD ZELLER. 


DRITTER THEIL, 
ERSTE ABTREILUNG. 
τ΄ \ 
DIE NACHARISTOBELISCHE PHILOSOPHIE, 
ERSTE HÄLFTE. 


LEIPZIG, 
FUESS VERLAG (L. W. REISLAND). 


1865. 


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Gedruckt bei L. Fr. Fues in Tübingen. 


Vorwort. 


Der gegenwärtige Theil dieses Werkes würde ein volles Jahr 
früher erschienen sein, wenn nicht durch meinen Uebergang an 
die hiesige Universität die bereits ziemlich weit vorgeschrittene 
Arbeit für längere Zeit unterbrochen worden wäre. Dass er aber 
überhaupt seinem Vorgänger nicht so schnell folgen konnte, ergab 
sich aus dem Umfang der Veränderungen, welche auch er in der 
neuen Bearbeitung erfahren hat. Die meisten von diesen Aende- 
rungen bestanden, so weit sie nicht blos formeller Natur waren, 
in solchen Erweiterungen der früheren Darstellung, durch welche 
dieselbe blos vervollständigt, mehr in’s Einzelne ausgeführt, 
durch weitere Quellenbelege und Einzeluntersuchungen ergänzt 
wurde; und ich habe in dieser Beziehung neben der Lehrentwick- 
lung auch die äussere Geschichte der verschiedenen philosophischen 
Schulen eingehender behandelt, um von ihrem Bestand und ihrer 
Verbreitung in jedem Zeitabschnitt und von der Persönlichkeit 
ihrer bedeutendsten Lehrer eine möglichst genaue Vorstellung zu 
gewinnen. Doch fand sich auch zur Berichtigung und näheren 
Bestimmung der Ergebnisse, welche ich im Ganzen und Grossen 
allerdings festhielt, auf Grund eines wiederholten und erweiterten 
Quellenstudiums, manche Veranlassung. Die eingreifendste von 
diesen neu hinzugekommenen Bestimmungen betrifft das stoische 
System, dem überhaupt, wegen seiner hervorragenden geschicht- 
lichen Bedeutung, auch jetzt wieder besondere Aufmerksamkeit 
gewidmet wurde. Zwischen den zwei hervortretendsten Zügen der 
stoischen Metaphysik, ihrem Materialismus auf der einen, ihrer 


A2 


ἊΝ 


ΙΝ Vorwort. 


pantheistischen Theologie auf der anderen Seite, fehlte bisher die 
ausreichende innere Verbindung. Diese Lücke hoffe ich jetzt aus- 
gefüllt zu haben, indem ich den Nachweis liefere, dass die Materie 
selbst von den Stoikern dynamisch erklärt wurde, und nur das 
Erzeugniss der Kräfte sein sollte, die ihrerseits alle auf die Gott- 
heit, als ihre einheitliche Quelle, zurückführen. Zugleich wird 
dadurch auch der Zusammenhang zwischen der stoischen und 
der neuplatonischen Weltansicht vollständiger zur Anschauung 
gebracht, die Stetigkeit des Fortgangs von Plato und Aristoteles 
zu Plotin hergestellt, und der Schein beseitigt, als ob sich zwischen 
diese spiritualistischen Systeme ein materialistisches störend einge- 
drängt hätte. Gerade der Zug, welcher für die neuplatonische 
Metaphysik eine so durchgreifende Wichtigkeit hat, die Idee der 
wirkenden Kräfte, die von Einer Urkraft ausgehend, Alles tragen 
und erfüllen, ist ihm zunächst aus der stoischen zugekommen. 

Die Vollendung dieses Werkes durch die neue Bearbeitung 
seines letzten Bandes wird, wie ich hoffe, nicht allzulange auf sich 
warten lassen. 


Heidelberg, 7. Januar 1865. 


Der Verfasser. 


“- 


Inhaltsverzeichniss. 


Dritte Periode. 


Einleitung. 


ἐ 


Die griechische Philosophie am Ende des vierten Jahrhunderts; 
der Zustand Griechenlands seit diesem Zeitpunkt 

Die platonische und aristotelische Philosophie, ihre Vorzüge bee: 
Mängel S. 1; Zusammenhang der letzteren mit der griechischen 
Eigenthümlichkeit - und den geschichtlichen Verhältnissen, 
Schwierigkeit ihrer Beseitigung — 4. Griechenland seit der 
Schlacht von Chäronea — 9. 


» DerCharakter und die Hauptformen der nacharistotelischen Philo- 


sophie : ᾿ } 

Einfluss der adlichen Zustände auf die Philosophie — 11; An- 
bahnung der neuen Richtung durch die hisherige ERST 
liche Entwieklung — 13. Gemeinsamer Charakter der nachari- 
stotelischen Schulen — 14. Entwicklungsgang der nacharisto- 
telischen Philosophie — 18. 


Erster Abschnitt. 


Die griechische Philosophie im dritten und zweiten Jahrhundert v.Chr. 


Stoicismus, Epikureismus, Skepsis. 


A. Die stoische Philosophie. 


1. 


Die äussere Geschichte der Schule bis gegen das Ende des zweiten 
Jahrhunderts . : ὦ ; ! : N 3 1 - 

Zeno — 27. Zeno’s Schule: Kleanthes, Aristo, Herillus u. A. — 31. 
Chrysippus — 37. Teles, Eratosthenes, Boöthus, Zeno v. Tar- 
sus, Diogenes, Antipater, Archedemus — 39. Weitere Stoiker 
dieser Zeit — 42. 


2. Die Quellen der stoischen Philosophie. Die Bestimmungen der 


Stoiker über Aufgabe und Theile der Philosophie . 
Quellen — 43. Folgerungen für das Verfahren bei der Dirstellung 
des Stoicismus — 45. — Praktische Zweckbestimmung der Philo- 
„sophie — 46. Nothwendigkeit und Bedeutung der wissenschaft- 
"lichen Erkenntniss — 48. Haupttheile der Philosophie, Aristo’s 


Seite 


11 


26 


43 


vi 


3. 


ο΄ 


Inhaltsverzeichniss. 


Ausichten darüber — 49; verschiedene Bestimmungen über den 
Werth und die Reihenfolge der drei Theile — 55. 

Die stoische Logik . Α . 

Umfang und Eintheilung der Logik - 88; die ϑρεαυ δῖαν - 62. 
1. Die Erkenntnisstheorie: ihre Richtung und ihr Charak- 
ter — 63; die Vorstellung — 65; Wahrnehmung und Begriff — 
67; Werthverhältniss beider, Nominalismus — 69. Kriterium, 
begriflliche Vorstellung — 72. — 2. Die formale Logik. 
Das λεχτόν — 78. Die unvollständigen Aussagen — 80; 
die Kategorieen — 82; die oberste Gattung — 83; die vier 
Kategorieen — 84; das Substrat — 85; die Eigenschaft — 86; 
Körperlichkeit der Eigenschaften — 89; die zwei übrigen Ka- 
tegorieen — 91; Verhältniss der Kategorieen — 92. Die voll- 
ständigen Aussagen: Satz und Urtheil — 93. Der Schluss — 
98; der hypothetische Schluss als Grundform — 99; die ein- 


fachen und die zusammengesetzten Schlüsse — 101; dieSophis- - 


men — 103. Die Beweisführung — 104. Bedeutung der 
stoischen Logik — 105. 

Die Physik. A. Die letzten Gründe . : . . . 

1. Materialismus: alles Wirkliche körperlich — 106. Das 
Unkörperliche — 111. Gründe des stoischen Materialismus — 
112. Folgesätze desselben: die Stoffdurchdringung — 114. 
2. Dynamische Weltansicht. Kraft und Stoff — 118. Ein- 
heit, Körperlichkeit, Vernünftigkeit der wirkenden Ursache: 
die Gottheit — 121. Nähere Bestimmung des Gottesbegriffs — 
126. Gott als der Urstoff — 132. 3. Gott und die Welt: Pan- 
theismus — 133. 


Fortsetzung. B. Die Welt als Ganzes . . 

Weltentstehung — 136. Weltuntergang — 138. Kreislauf δὲ: 
Welten — 140. — Nothwendigkeit alles Geschehens, Verhäng- 
niss, Vorsehung — 144. Begründung des Vorsehungsglaubens 
— 147. Nähere Bestimmung desselben — 150. Vorsehung 
und Freiheit — 151. — Einheit der Welt — 155. Vollkommen- 
heit der Welt, teleologische Weltansicht — 156. Das Uebel, 
Theodicee — 159. 


. Fortsetzung. C. Die Natur, die Elemente, das Weltgebäude, die 


vernunftlosen Wesen . 

Allgemeine physikalische Begriffe: ehe De FR 
tative Veränderung, Raum, Zeit u. s. w. — 165. — Die Ele- 
mente — 168. — Das Weltgebäude — 172; die Gestirne — 
174. — Meteorologie — 176. — Pflanzen und Thiere, vier Klas- 
sen von Wesen — 177. 

Fortsetzung. D. Der Mensch . 


Körperlichkeit der Seele; Stoff’, Bülstähtng; Sitz, Theile der- 


' Seite 


ss 


106 


136 


165 


Inhaltsverzeichniss. 


selben — 179. Gottverwandtschaft — 184; Determinismus; 
beschränkte Fortdauer nach dem Tode — 185. 
8. Die Ethik. I. Die allgemeinen Grundzüge' der stoischen Ethik. 

A. Das sittliche Ideal als solches . . 

Eintheilung der Ethik — 190. — Das höchste Gut -- 191: PR: 
Naturgemässe und das Gute — 192. Güter, Uebel und Adia- 
phora — 196. Gegen die akademisch-peripatetische und die 
epikureische Güterlehre — 198. Negative Fassung des höchsten 
Guts — 204. Das Gesetz und der Trieb — 204. Die Affekte — 
207; Eintheilung derselben — 212; Verwerflichkeit der Affekte 
— 214. — Die Tugend — 217. Die Tugenden — 219. Einheit 
und Mehrheit der Tugenden — 223. Der Gegensatz von Tugend 
und Schlechtigkeit ein absoluter — 227. — Weise und Thoren 
— 229. Allgemeinheit des sittlichen Verderbens — 232. Der 
Eintritt in die Weisheit momentan — 235. 

9. Fortsetzung. B. Die Milderung des sittlichen Idealismus durch 

die Rücksicht auf das praktische Bedürfniss 3 

Das Wünschenswerthe und das Verwerfliche — 237. Gemeine 
und mittlere Pflichten — 244. Erlaubte Gemüthsbewegungen — 
247. Unwirklichkeit des Weisen; die Weisen und die Fort- 
schreitenden — 248. 

10. Fortsetzung. II. Die angewandte Moral 

Ausbildung der speciellen Moral in der stoischen Sekte) Aristo 

_ ihr Gegner — 252. — 1. Der Einzelne als solcher — 255. 
Stoische Cynismen — 258. — 2. Die menschliche Gemein- 
schaft. Ihr Werth und ihre Begründung — 264. Gerechtig- 
keit und Menschenliebe — 267. Die Freundschaft — 268. 
Staat und Familie — 271; niedrigere Schätzung des Staatslebens 
— 273. Kosmopolitismus — 277. — ὃ. Der Mensch und 
der Weltlauf. Ergebung in den Weltlauf — 281. Der Selbst- 
mord — 284, 

11. Das Verhältniss der stoischen Philosophie zur Religion . 

Religiöser Charakter des Stoieismus — 288. Anschluss an die 
Volksreligion — 289. Freie Urtheile über dieselbe «—- 290. Die 
Wahrheit im Polytheismus und seinen Mythen —.293. Die 
Dämonen — 297. Allegorische Mythendeutung — 299. Bei- 


spiele derselben: die Göttersage — 302; die Heroönsage, Hera- 


kles und Odysseus — 311. — Die Weissagung — 313; natür- 

liche Erklärung derselben — 316; Ursachen und Bedingungen 
der Weissagung, natürliche und künstliche Mantik — 319. 

12. Der innere Zusammenhang und die geschichtliche Stellung der 
stoischen Philosopbie ἢ ν . 

Ihr ethisches (— 323) und ihr ἀουιήρε δον ἜΣ 325) Element, Δὰν 

Verhältniss beider (— 327). Verhältniss des Stoicismus zu sei- 

nen Vorgängern: Sokrates und den Cynikern (— 327), den 


ὙΠ 


Seite 


189 


252 


288 


ΥΠ|Ι Inhaltsverzeichniss. 


Megarikern (— 331), Heraklit (— 332), Aristoteles (— 334), 
Plato (— 336). Geschichtliche Erklärung des Stoieismus — 337. 
Einseitigkeit desselben — 339. 
B. Die epikureische Philosophie. 
1. Epikur und seine Schule . . : . 4 ἐ 
Epikur 341. Seine Schule: Metrodorus, Herma Polyänus 
u.A. — 345. Epikureer der römischen Periode: Zeno, Phädrus, 
Philodemus, Lneretius u. A. — 348. 
2. Charakter und Theile der epikureischen Lehre. Kanonik . 5 


Stabilität der epikureischen Philosophie — 354. Ueber die Auf- 


gabe der Philosophie — 356. Theile derselben — 359. — Die 


Kanonik: Sensualismus; die Wahrnehmung — 360. Der 
Begriff — 362. Die Meinung — 364. Kriterium — 365. 
3. Die epikureische Physik . H 


Bedeutung, Aufgabe und zierung de Physik. -- 367. Mecha- 
nische Naturerklärung, Anschluss an Demokrit — 370. Die 
Atome und das Leere — 371. Fall und Abweichung der Atome 
— 377. Die Welten — 378. Entstehung der Welt — 379, 
Weltgebäude — 381. Pflanzen und Thiere — 383. Geschicht- 
liche Entwicklung des Menschengeschlechts — 383. — Die 
Seele: ihr Wesen, ihre Theile, ihre Entstehung und ihr Unter- 
gang — 385. Die Wahrnehmung — 388. Der Wille — 390. 

4. Die Religionsphilosophie Ε 

Kritik des Götter- und V ἌΣ ΌΘΕΣ ἡ τς — 392. Die ae 
schen Götter — 394. 

Die epikureische Ethik. A. Die allgemeinen Grundsätze: . 
die Lust als höchstes Gut — 400; die Schmerzlosigkeit — 401; 
die Einsicht — 403. Die Erhebung über die Sinnlichkeit sen- 
sualistisch begründet — 405. — Die Tugend — 407. Der Weise 
— 409. 

6. Fortsetzung. B. Die besonderen sittlichen Verhältnisse . 

Der Einzelne — 411. Die Geselischaft: das Staatsleben — 414. 


Die Familie — 417. Die Freundschaft — 417. Milde der epi- 
kureischen Sittenlehre — 421. 


[2}} 


7. Das Ganze der epikureischen Philosophie und ihre geschichtliche ' 


Stellung . 


Der innere FR ner A An: J,ehre — 422. — Ihre 
geschichtliche Stellung: Verhältniss zum Stoieismus — 425; 
zu Aristipp — 429; zu Demokrit — 431; zu Plato und Aristo- 
teles — 432. 

C. Die Skepsis. Pyrrho und die neuere Akademie. 
1. Pyrrho Ε Ε Ξ 

Die Skepsis und ihr Verhältnis. zu ai gleichnei dogmati- 
schen Systemen — 435. Entstehungsgründe — 436. — Pyrrho 
und seine Schule — 438. Die Lehre Pyrrho’s: Unmöglichkeit 


Beite 


341 


354 


367 


392 


400 


410 


422 


435 


Inhaltsverzeichniss. IX 


Seit 
des Wissens — 441; Zurückhaltung des Urtheila — 443; Ge- ; 


müthsrube — 445. 
2. Die nenere Akademie . : 447 

Arcesilaus — 448. Balbeitunpt des wi 448. Die Wahr. 
scheinlichkeit, das Handeln — 452. 

Schule des Arcesilaus — 454. Karneades — 454. Seine Lehre: 
a) Widerlegung des Dogmatismus. Gegen die formale Möglich- 
keit des Wissens — 456. Gegen die Begründung (— 460) und 
den Inhalt (— 463) des stoischen Gottesbegrifis. Gegen den 
Polytheismus, die Mantik, den Fatalismus — 466. Kritik der 
sittlichen Grundsätze — 467. Skeptisches Ergebniss, — 468. 
b) Wahrscheinlichkeitslehre — 469. Sittliche und religiöse 
Lebensansicht — 472. — Schule des Karneades: Klitomachus, 
Charmidas u. A. — 477. 


+ Zweiter Abschnitt. 
Eklekticismus, erneuerte Skepsis, Vorläufer des Neuplatonismus. 


A. Eklektieismus. 
1. Entstehungsgründe und Charakter des Eklekticismus . : 482 
Innere Gründe für die Vermischung der philosophischen Ädsklen 
— 482. Aeussere Gründe: Verbreitung der griechischen Philo- 
sopbie unter den Römern — 485; Rückwirkung derselben auf 
die Philosophie — 491. Princip der eklektischen Philosophie 
— 494. Die Skepsis im Eklektieismus, neue Skeptiker — 497. 
Vorläufer des Neuplatonismus — 498. : 
2. Der Eklekticismus im zweiten und ersten Jahrhundert v.Chr. Die 
Stoiker: Panätius und Posidonius . 498 
Philosophische Schulen dieser Zeit; Ahnen der a 
reischen — 498. — Die Stoiker: Panätius — 500. Sein philo- 
sophischer Charakter — 502. Abweichungen vom stoischen 
Dogma — 503. Ethik — 505. Zeitgenossen und Schüler des 
Panätius — 507. Posidonius — 509. Seine Geistesrichtung — 
512. Seine Anthropologie — 515. Weitere Stoiker des ersten 
Jahrhunderts — 519. 
3. Die Akademiker des letzten Jahrhunderts v. Chr. i 522 
Philo von Larissa — 522. Praktische Richtung — 523. Milderung 
der akademischen Skepsis: das Augenscheinliche — 525. — 
Antiochus — 530. Bestreitung der Skepsis — 531. Eklekti- 
eismus: wesentliche Uebereinstimmung der Hauptsysteme — 
534. Erkenntnisstheorie — 535; Physik und Metaphysik — 
536; Ethik — 538. Schule des Antiochus — 540. Eudorus — 
543. Arius Didymus — 545. 
4. Die peripatetische Schule im letzten Jahrhundert v. Chr. . . 548 


A3 


Philos. d. Gr. III. Bd. 1. Abth. 


Inhaltsverzeichniss. 


Die Commentatoren: Andronikus — 549. Boöthus — 552. Aristo, 
Staseas, Kratippus, Nikolaus, Xenarchus u. A. — 554, — Das 
Buch von der Welt: Beurtheilung der Annahmen über seinen 
Ursprung — 558. Sein Inhalt und Standpunkt — 563. Ur- 
sprung und Abfassungszeit — 568. Die Abhandlung über die 
Tugenden und Fehler — 573. 


Cicero. Varro . : 3 : . - - . . Ἶ 

Cicero — ὅ14.. Skepsis — 577; Beschränkung derselben — 578. 
Praktische Abzweckung der Philosophie — 582. Eklektieismus, 
angeborenes Wissen — 583. Ethik — 586. Theologie — 590. 
Anthropologie — 592. 

Varro — 594; über die Religion — 594; die Philosophie und die 
philosophischen Schulen, die ethischen Grundsätze — 596. 

Die Sextier 3 ὅ 

Geschichte der Schule- — 599. Philonopkisckes Stande 602. 


Die ersten Jahrhunderte n. Chr. Die stoische Schule. Seneca 


Die Philosophie der Kaiserzeit; gelehrte Studien; philosophische . 


Lehrstühle — 606. — Die stoische Schule vom 1, --- 8, Jahr- 
hundert — 611. 

Seneca — 616. Aufgabe der Philosophie, Nutzlosigkeit der blos 
theoretischen Forschungen — 618. Dialektik — 622. Physik 
— 622. Metaphysische und theologische Ansichten — 625. Die 
Welt und Natur — 628. Der Mensch — 630. Unsicherheit der 
spekulativen Annahmen — 635. Ethik: stoische Grundsätze — 
636. Milderung und Einschränkung derselben — 637. Specielle 
Moral; Geist derselben — 643; Unabhängigkeit vom Aeusseren, 
Strenge der sittlichen Anforderung — 644; allgemeine Menschen- 
liebe — 646; religiöse Stimmung — 648. 


8. Fortsetzung. Musonius, Epiktet, Mark Aurel 


9. 


ἃ, 


Musonius — 651. Philosophischer Standpunkt — 653, Näheres 
über seine Sittenlehre — 658. 

Epiktetus und Arrianus — 660. Praktischer Zweck der Philo- 
sophie — 661. Untergeordneter Werth des Wissens — 663. 

. Religiöse Weltansicht — 665. Der Mensch — 667. Ethik — 
669. Unabhängigkeit vom Aeusseren, Ergebung in den Welt- 
lauf — 670. Hinneigung zum Cynismus — 672. Milde und 
Menschenfreundlichkeit — 674. 


Marcus Aurelius Antoninus — 675. Praktische Auffassung der 


Philosophie — 676. Theoretische Ueberzeugungen: der Fluss ἡ 


aller Dinge — 678. Die Gottheit, die Vorsehung, die Welt- 
einrichtung — 679. Die Gottverwandtschaft des Menschen — 
681. Ethik: Zurückziehung auf sich selbst — 681. Religiöse 
Ergebung — 683. Menschenliebe — 683. 


Die Cyniker der Kaiserzeit 


574 


599 


606 


651 


684 


Inhaltsverzeichniss. 


Der erneuerte Cynismus und seine Anhänger — 684. Demetrius 
— 687. Oenomaus — 690. Demonax — 691. Spätere Cyni- 
ker — 693. 

10. Die Peripatetiker der ersten Jahrhunderle n. Chr. : 

Die peripatetische Schule des ersten und zweiten Jahrhunderts — 
694. Auslegung der aristotelischen Schriften; Aspasius, Aära- 
stus, Herminus, Achaikus, Sosigenes — 697. Aristokles von 
Messene — 702. Alexander von Aphrodisias: Erläuterung und 
Vertheidigung der aristotelischen Lehre — 705; das Einzelne 
und das Allgemeine, Form und Stoff — 709; die Seele und der 
Nus — 711; Gott und Welt — 714. Ausgang der peripatetischen 
Schule — 716. 

Aıl. Die platonische Schule in den ersten Jahrhunderten n. Chr. 

Die Platoniker dieses Zeitraums — 717. Erklärung platonischer 
Schriften — 719. Widerspruch gegen die Einmischung fremder 
Lehren: Taurus, Attikus — 721; Eklektieismus: Theo, Nigri- 
nus, Severus, Aleinous — 724. 

12. Eklektiker, die keiner bestimmten Schule angehören . 

Dio Chrysostomus — 729. — Lucianus — 732. — Galenus: philo- 
sophischer Charakter — 784: Erkenntnisstheorie — 736; Logik 
— 737; Physik und Metaphysik — 738; Unwerth der Theorie 
— 741; Ethik — 742. — Potamo — 743. 


694 


Druckfehler. 


Seite 43 Zeile 6 statt: „lat.“ lies: 1. lat. 

— 13 v. u; statt: „Bestreitungen“ lies: Bestreitung. 

— 6 v.u. statt: „thesis“ lies: thesi. 

— 18 ist hinter χρῶμα“ beizufügen: διαχριτιχὸν ὄψεως. 


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v. u. ist das Kolon vor =! zu setzen. 

statt: „Stamm“ lies: Samen. 

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v. u. statt: „162“ lies: 126. Α 
v.u.und 7 ν. τι. statt: „nat. qu. III, 10“ lies: nat. qu. II, 10. 
v. u. statt: διείρηται". lies: διείργηται. 

v.u. statt: „von“ lies: vor. 

v. u. statt: „ep. 85, 5“ lies: ep. 89, 5. 

statt: „ep. 95“ lies: ep. 92. 

v. u. statt: „er sei“ lies: es sei. 

ist vor „Grundsätze“ einzuschalten: die. 

statt: „Lotoiden‘“ lies: Latoiden. 

ist „haben“ zu streichen. 

statt: „einem“ lies: einen. 

statt: „jucundias“ lies: jucundius. 

v. u. statt: „in elicere“ lies: inlicere. 

statt: „mittelbare“ lies: unmittelbare. 

statt: „ersten den“ lies: den ersten. 


Dritte Periode. 


Einleitung. 


1. Die griechische Philosophie am Ende des vierten Jahr- 
hunderts; der Zustand Griechenlands seit diesem Zeit- 
punkt. ; 


Durch Plato und Aristoteles hatte die Philosophie unter den 
Griechen ihre höchste Vollendung erreicht. In ihren Händen hatte 
sich die sokratische Begriffsphilosophie zu grossartigen Systemen 
- entwickelt, welche alles Wissen ihrer Zeit umfassten und nach 
festen Gesichtspunkten zu einer einheitlichen Weltanschauung 
verknüpften. Die physikalische Forschung war durch die ein- 
gehendsten ethischen Untersuchungen ergänzt, durch Aristoteles 
war auch sie selbst in allen Theilen umgestaltet, erweitert, be- 
reichert worden; in der Metaphysik war der Grund der philo- 
sophischen Lehrgebäude so tief gelegt, alles Wirkliche so durch- 
greifend auf seine allgemeinsten Princeipien zurückgeführt, wie 
diess unter den Früheren keiner versucht hatte. Eine Masse von 
Erscheinungen, an welchen die ältere Wissenschaft achtlos vor- 
übergegangen war, die des geistigen Lebens vor Allem, waren in 
den Bereich der philosophischen Forschung gezogen, neue Fragen 
waren aufgetaucht, neue Antworten gefunden; alle Gebiete des 
Wissens waren mit neuen Ideen befruchtet und durchdrungen. 
Jener Idealismus, in welchem sich der griechische Geist so schön 
und bezeichnend ausspricht, war von Plato in leuchtender Reinheit 
dargestellt, von Aristoteles mit der sorgfältigsten Beobachtung 
vereinigt worden. Die dialektische Methode war durch Uebung 
und Theorie zur Kunst ausgebildet, an der wissenschaftlichen 
Terminologie, deren eigentlicher Schöpfer Aristoteles ist, ein un- 


schätzbares Werkzeug des Gedankens gewonnen. Der wissen- 
Philos. ἃ. Gr. II. B. 1. Abth. 1 


= 
2 Einleitung. 


schaftliche Besitz des griechischen Volkes hatte sich in wenigen 
Menschenaltern an Werth wie an Umfang vervielfacht, das Erbe, 
welches ein Sokrates von seinen Vorgängern empfangen hatte, 
war in dem, das Aristoteles seinen Nachfolgern hinterliess, kaum 
wieder zu erkennen. 

Aber so gross auch die Fortschritte sind, welche die griechi- 
sche Philosophie im Laufe des vierten Jahrhunderts gemacht hatte: 
nicht geringer waren die Schwierigkeiten, mit denen sie fort- 
während zu kämpfen, die Aufgaben, an deren Lösung sie zu 
arbeiten hatte. Der platonischen Lehre hat schon Aristoteles die 
Schwächen nachgewiesen, welche es ihm unmöglich machten, sich 
bei ihr zu beruhigen '); vom Standpunkt der heutigen Wissen- 
schaft aus wäre natürlich noch weit mehr dagegen einzuwenden. 
Was andererseits Aristoteles betrifft, so konnten wir nicht über- 
sehen, dass auch in seinem System gerade an den wichtigsten 
Punkten hinter einer gewissen Unbestimmtheit der Begriffe sich 
innere Widersprüche verbergen, die bei ihrer Entwicklung das 
Ganze zersetzen müssten; dass es auch seinem Scharfsinn nicht 
gelungen ist, die Elemente, welche in seiner Philosophie verknüpft 
sind, zu einem in sich einstimmigen Ganzen zu verschmelzen, und 
dass eben hieraus die Abweichungen seiner nächsten Nachfolger 
von der ursprünglich aristotelischen Lehre sich erklären 2). Auch 
sind diese Mängel nicht von der Art, dass sie sich so leicht be- 
seitigen liessen; sondern je genauer man die Sache untersucht, 
um so vollständiger kann man sich überzeugen, dass sie mit den 
Grundlagen der beiden Systeme, ja mit der ganzen bisherigen 
Richtung des philosophischen Denkens fest verwachsen sind. Denn 
sie alle führen schliesslich, sofern wir von Einzelnem und Unter- 
geordnetem absehen, auf zwei Quellen zurück: auf die Unvoll- 
kommenheit der erfahrungsmässigen Natur- und Weltkenntniss, 
und auf die Uebereilungen einer idealistischen Begriffsphilosophie. 
Aus jener haben wir die naturwissenschaftlichen Irrthümer eines 
Plato und Aristoteles und die Beschränktheit ihres geschichtlichen 
Gesichtskreises zunächst herzuleiten; diese lassen sich nicht blos 
in der platonischen Ideenlehre und dem ganzen mit ihr gegebenen 


1) Vgl. Bd. II, b, 216 ff. 
2) Α. ἃ. 0. 8. 655 ff. 


Die griech. Philosophie am Ende des 4. Jahrh. 3 


Dualismus von Idee und Erscheinung, Vernunft und Sinnlichkeit, 
Wissenden und Unwissenden, Jenseits und Diesseits erkennen: 
sondern ebendaher stammen auch die entsprechenden Züge des 
aristotelischen Systems, wie wir sie, um nur das Wichtigste zu 
nennen, in dem Verhältniss des Einzelnen und des Allgemeinen, 
der Form und des Stoffes, Gottes und der Welt, der teleologischen 
und der physikalischen Naturerklärung, des vernünftigen und des 
vernunftlosen Seelentheils, des Theoretischen und des Praktischen 
aufgezeigt haben. Beides hängt aber auf's Engste zusammen. Die 
griechischen Philosophen beruhigten sich bei einer unsicheren und 
lückenhaften empirischen Grundlage, weil sie Begriffen, deren 
Ursprung und Haltbarkeit sie nicht schärfer untersucht hatten, zu 
unbedingt vertrauten, und sie hatten dieses unbedingte Zutrauen 
zu der Wahrheit ihrer Begriffe, weil ihre Naturforschung nicht 
vorgeschritten, ihre Geschichtskenntniss nicht umfassend genug 
war, um ihnen den weiten Abstand zwischen den Ergebnissen 
einer genauen Beobachtung und denen der gewöhnlichen unmetho- 
dischen Erfahrung, die Unsicherheit der meisten von den her- 
kömmlichen Annahmen, die Nothwendigkeit eines strengeren in- 
duktiven Verfahrens nahe zu legen. Der gemeinsame Grundfehler 
der platonischen und der aristotelischen Philosophie liegt in dem 
Uebergewicht des von Sokrates auf sie forigeerbten dialektischen 
Verfahrens über die Beobachtung, in der Voraussetzung, dass 
sich die Begriffe, welche das Wesen der Dinge ausdrücken, auf 
rein logischem Wege aus den herrschenden Annahmen und dem 
sprachlichen Ausdruck ableiten lassen. Diese dialektische Ein- 
seitigkeit tritt am Stärksten bei Plato hervor, und sie spricht sich 
hier auf bezeichnende Weise in der Lehre von der Wiedererinne- 
rung aus. Wenn unsere sämmtlichen Begriffe schon beim Eintritt 
in’s Leben in uns liegen und durch die sinnliche Wahrnehmung 
uns nur wieder in's Bewusstsein gerufen werden, so ist es eine 
ganz richtige Folgerung, dass sich der Philosoph, um das Wesen 
der Dinge kennen zu lernen, nicht nach aussen, sondern nach 
innen zu wenden, dass er seine Begriffe nicht aus der Erfahrung 
zu abstrahiren, sondern aus sich selbst zu entwickeln habe. Ebenso 
richtig folgt dann aber auch das Weitere, dass die aus unserem 
Denken geschöpften Begriffe die Norm sind, nach welcher wir die 
Erfahrung beurtheilen, und dass wir, falls beide nicht überein- 
| * 


4 Einleitung. 


stimmen, nicht unsere Begriffe für ungenau, sondern die sinnliche 
Erscheinung für eine unvollkommene Darstellung dessen zu halten 
haben, was unsere Begriffe seinem wahren Wesen nach ausdrücken. 
Die Ideenlehre und alles, was daran hängt, ist die natürliche Con- 
sequenz der sokratischen Begriffsphilosophie, und auch das Harte 
und Irrige in dieser Lehre erklärt sich am Besten aus den Voraus- 
setzungen der sokratischen Dialektik. Von der Einseitigkeit dieser 
Voraussetzungen hat sich aber auch Aristoteles nur theilweise 
freigemacht. Er sucht allerdings die sokratisch-platonische Dia- 
lektik durch eine Beobachtung zu ergänzen, mit der sich das er- 
fahrungsmässige Wissen eines Plato weder an Genauigkeit noch an 
Umfang messen kann; und es lässt sich nicht verkennen, wie da- 
mit jene Umbildung der platonischen Metaphysik zusammenhängt, 
welche dem Einzelnen gegen das Allgemeine das gleiche Recht 
einräumt, das der Philosoph der Beobachtung gegen die Dialektik 
eingeräumt hatte. Aber Aristoteles bleibt in beiden Beziehungen 
auf halbem Weg stehen. In seiner Erkenntnissitheorie weiss er 
sich von der Voraussetzung, dass die Seele ihr Wissen aus sich 
selbst entwickle, dass sie nicht blos die Anlage zum Denken, son- 
dern auch den Inhalt ihrer Gedanken von Hause aus in sich trage, 
nur theilweise loszumachen, in seinem wissenschaftlichen Verfahren 
tritt immer noch die dialektische Erörterung des Sprachgebrauchs 
und ‘der gewöhnlichen Vorstellungen, das, was er selbst den 
Wahrscheinlichkeitsbeweis nennt, an die Stelle einer strengeren 
Induktion 1); und so ernstlich er sich auch anstrengt, über den 
platonischen Dualismus hinauszukommen, so trägt dieser, wie wir 
gesehen haben, doch immer wieder, sowohl in den Grundlagen 
als in den allgemeinsten Ergebnissen seines Systems, den Sieg 
davon: es beginnt mit dem Gegensatz von Form und Stoff, und es 
endigt in dem Gegensatz des ausserweltlichen Geistes und der 
Welt, in dem Begriff der Vernunft, welche auch in den Menschen 
nur von aussenher eintritt, und mit den niedrigeren Bestandtheilen 
seines Wesens nie zur vollen persönlichen Lebenseinheit zusam- 
mengeht. 

Ist es aber auch zunächst die sokratische Begriffsphilosophie, 
von welcher wir diese Züge herzuleiten haben, so lässt sich doch 


1) Vgl. Th. II, b, 134 fl. 170 Β΄, 119. 


Die griech. Philosophie am Ende des 4. Jahrh. ὄ 


nicht verkennen, dass diese Philosophie ihrerseits auch hierin dem 
ganzen Charakter des Volkes entspricht, dem sie angehört. Es 
ist an einer früheren Stelle dieses Werkes 7) bemerkt worden, dass 
die allgemeinste Eigenthümlichkeit des griechischen Wesens in der 
ungebrochenen Einheit von Geistigem und Natürlichem, der un- 
befangenen Voraussetzung ihrer ursprünglichen Zusammengehörig- 
keit und ihrer ungetrübten Uebereinstimmung liege. Wo das ganze 
geistige Leben eines Volks diesen Charakter trägt, da wird er sich 
auch in der Wissenschaft nicht verläugnen; diese Wissenschaft 
wird daher neben den Vorzügen, welche aus der innigen Durch- 
dringung jener beiden Elemente hervorgehen, auch mit den Män- 
geln behaftet sein, die sich aus ihrer unmittelbaren, noch nicht 
mit dem vollen Bewussisein ihres Unterschieds verknüpften Be- 
ziehung unvermeidlich ergeben. Es wird ihr einerseits die unter- 
scheidende Eigenthümlichkeit des geistigen Lebens, der Begriff der 
Persönlichkeit, die Unabhängigkeit der sittlichen Rechte und 
Pflichten von allen äusseren Verhältnissen, der Antheil unserer 
subjektiven Thätigkeit an der Bildung unserer Vorstellungen nur 
allmählig und unvollständig zum Bewusstsein kommen; anderer- 
seits wird sie ebendesshalb auch weniger Anstand nehmen, die 
Bestimmungen des Selbstbewusstseins unmittelbar auf die Dinge zu 
übertragen, die Welt aus idealen, dem menschlichen Geistesleben 
entnommenen Gesichtspunkten zu betrachten, den Inhalt unserer 
Begriffe ohne erschöpfende Prüfung. ihrer objektiven Wahrheit als 
etwas Wirkliches, ja als das Höhere gegen die empirische Wirk- 
lichkeit zu behandeln, die dialektische Zergliederung der Vorstel- 
lungen mit einer Untersuchung der Sache zu verwechseln. Wenn 
die griechische Philosophie in der Zeit ihrer höchsten Vollendung 
von diesen Missgriffen nicht frei blieb, und wenn sich hieran dann 
weiter alle wesentliche Fehler des platonischen und aristotelischen 
Systems anschlossen, so haben wir dafür nicht blos die Urheber 
dieser Systeme und ihre nächsten Vorgänger, sondern die ganze 
geistige Eigenthümlichkeit des Volkes verantwortlich zu machen, , 
dessen grösste Vertreter auf dem wissenschaftlichen Gebiete diese 
Männer gewesen sind. 

Je enger aber die Mängel der platonisch-aristotelischen Philo- 


1) Th. I, 96 ft. 


6 Einleitung. 


sophie mit dem ganzen Charakter des griechischen Denkens zu- 
sammenhängen, um so schwerer musste es diesem auch werden, 
sich wirklich und gründlich von denselben zu befreien. Um diess 
zu erreichen, wäre eine durchgreifende Veränderung der gewohnten 
Denkweise erforderlich gewesen. Die Entstehung unserer Vor- 
stellungen, die ursprüngliche Bedeutung unserer Begriffe hätte 
ungleich genauer untersucht, zwischen dem subjektiven und dem 
objektiven Element derselben weit schärfer unterschieden, die 
Wahrheit vieler metaphysischen Sätze sorgfältiger geprüft werden 
müssen, als diess bisher geschehen war. Die Wissenschaft hätte 
sich an eine Genauigkeit der Beobachtung, eine Strenge des in- 
duktiven Verfahrens gewöhnen müssen, zu der sie es bei den 
Griechen nie gebracht hat. Die Erfahrungswissenschaften hätten 
zu einer Entwicklung kommen müssen, wie sie mit den Methoden 
und den Hülfsmitteln jener Zeit nicht zu erreichen war. Jene 
anthropomorphistische Naturbetrachtung, welche physikalische 
Fragen mit teleologischen oder ästhetischen Voraussetzungen zu 
beantworten erlaubt, hätte verlassen, es hätte aber andererseits 
auch die Untersuchung über die sittliche Natur und Aufgabe des 
Menschen von jener Rücksicht auf blosse Naturverhältnisse rein 
gehalten werden müssen, deren störenden Einfluss wir in dem 
nationalen Particularismus des griechischen Volkes, in dem ein- 
seitig politischen Charakter seiner Sittlichkeit, in der Einrichtung 
der Sklaverei vor uns sehen. Aber wie Vieles musste sich in den 
griechischen Zuständen und Anschauungen verändern, wenn es 
so weit kommen sollte! Liess sich erwarten, dass eine strengere 
naturwissenschaftliche Methode zur Herrschaft gelangen werde, so 
lange die Neigung, das Naturleben nach der Analogie des mensch- 
lichen zu behandeln, durch eine Religion, wie die hellenische, 
genährt wurde? Dass die Sittenlehre von den Schranken der 
griechischen Ethik sich frei mache, wenn dieselben für die prak- 
tischen Zustände ihre volle Geltung behielten? Dass jene schärfere 
Unterscheidung des Subjektiven und Objektiven in unseren Vor- 
stellungen, welche wir selbst bei Aristoteles vermissten, eintreten 
werde, ehe das Selbstbewusstsein überhaupt eine Stärke und Tiefe, 
das Recht und die Bedeutung der Individualität eine Anerkennung 
gewonnen hatte, wie sie erst durch den verbündeten Einfluss der 
christlichen Religion und der germanischen Stammeseigenthümlich- 


Die griech. Philosophie am Ende des 4. Jahrh. T 


keit erreicht wurde? Je vollständiger man sich das nationale Ge- 
präge und die nationalen Lebensbedingungen der griechischen 
Philosophie vergegenwärtigt, um so leichter wird man sich über- 
zeugen, dass zu einer gründlichen Heilung der Gebrechen, welche 
selbst an ihren grössten und herrlichsten Leistungen zum Vorschein 
kommen, nichts geringeres nöthig war, als eine vollständige Um- 
bildung des hellenischen Bewusstseins, ein Umschwung, wie ihn 
die Geschichte erst auf weiten Umwegen nach vielen Jahrhunderten 
vollbracht hat. 

Auf dem Boden des althellenischen Lebens hätte sich diese 
Veränderung unläugbar nicht vollziehen können. Diess schliesst 
nun allerdings für sich genommen die Möglichkeit nicht aus, dass 
unter günstigeren Verhältnissen noch eine weitere Entwicklung 
der griechischen Philosophie in derselben Richtung einer rein 
wissenschaftlichen Forschung hätte eintreten mögen, welche sie 
bisher in der Mehrzahl ihrer Vertreter und zuletzt noch mit dem 
bedeutendsten Erfolge in Aristoteles eingehalten hatte. Zu welchen 
Ergebnissen sich freilich auf diesem Wege hätte gelangen lassen, 
können wir nicht bestimmen. Indessen ist es überflüssig, darüber 
nachzugrübeln. In der Wirklichkeit lässt sich eben von den ge- 
schichtlichen Verhältnissen, unter denen sich die Philosophie zu 
entwickeln hatte, nicht absehen. Sie selbst war nür unter dem 
Einfluss dieser Verhältnisse zu dem geworden, was sie war. Die 
sokratische Begriffsphilosophie, der platonische Idealismus hat 
einerseits die grosse Kulturepoche des perikleischen Zeitalters, den 
hohen Aufschwung Athens und Griechenlands seit den Perser- 
kriegen, andererseits ihr politisches Sinken, ihre sittliche Schwä- 
chung unter und nach dem peloponnesischen Krieg zur Voraus- 
setzung. Aristoteles zeigt sich uns in seiner rein wissenschaft- 
lichen, auf jede unmittelbare praktische Wirksamkeit verzichtenden 
Haltung, mit seinem weiten Gesichtskreis, seinem vielseitigen 
Wissen, seinem gereiften und durchdachten, alle Ergebnisse der 
bisherigen Forschung in sich zusammenfassenden System als den 
Sohn einer Zeit, in welcher eine reiche geschichtliche Ent- 
wieklung zum Abschluss gekommen ist, in welcher die wissen- 
schaftliche Arbeit an die Stelle des frischen politischen Schaffens 
zu treten begonnen hat. Wenn die Blüthe der griechischen Philo- 
sophie von kurzer Dauer war, so gilt das Gleiche auch von der 


8 Einleitung. 


des griechischen Volkslebens, und wenn man genauer zusieht, 
lässt sich nicht verkennen, dass die eine von diesen Erscheinungen 
durch die andere, und dass beide durch dieselben inneren Gründe 
bedingt sind. Die Griechen haben mit ihrem hohen Freiheitsgefühl, 
ihrem lebendigen politischen Sinn, ihrem künstlerischen Bildungs- 
trieb auf dem Gebiete des Staatslebens in ihrer Art ein Höchstes 
und Einziges geschaffen; aber sie versäumten es, den Grund dafür 
breit und tief genug zu legen, ihre politische Ausdauer hielt mit 
ihrer Beweglichkeit und Erregbarkeit nicht gleichen Schritt, sie 
begnügten sich mit staatlichen Bildungen von beschränktem Umfang 
und einfacher Organisation, die nicht alle Theile des griechischen 
Volks zu umfassen und alle berechtigten Interessen gleichmässig 
zu befriedigen vermochten. Aehnlich sehen wir sie auch in der 
Wissenschaft vor der Zeit abschliessen, von Einzelerfahrungen zu 
rasch und unvermittelt zu den allgemeinsten Begriffen aufsteigen, 
auf eine beschränkte und unvollkommene Erfahrung Theorieen 
aufbauen, welche sie nicht zu tragen im Stande ist. Ob und wie 
weit die griechische Wissenschaft bei länger fortdauernder unge- 
störter Entwicklung diese Mängel verbessert haben würde, kann 
man desshalb nicht fragen, weil diese Wissenschaft mit den staat- 
‚lichen, sittlichen, religiösen Zuständen, mit der ganzen Geistes- 
richtung und Bildung des griechischen Volks viel zu enge zusam- 
menhängt, um von ihren Veränderungen nicht auf's Tiefste berührt 
zu werden, und weil es in dem Charakter und der geschichtlichen 
Entwicklung dieses Volks selbst begründet war, dass die Zeit 
seines höchsten Glanzes rasch und für immer vorübergieng. Als die 
griechische Philosophie durch Plato und Aristoteles ihren Höhe- 
punkt erreichte, war Griechenland in allen andern Beziehungen 
bereits unaufhaltsam im Sinken begriffen. Die alte Zucht und Sitte 
war seit dem Beginn des peloponnesischen Kriegs, trotz einzelner 
Wiederherstellungsversuche, zugleich mit dem alten Götterglauben 
hinweggeschwunden, und die neu auftauchende Philosophie mit 
ihrer Ethik konnte der Masse des Volks dafür keinen Ersatz geben. 
Die Kunst, so eifrig sie auch gepflegt wurde, hielt sich doch nicht 
mehr auf der Höhe ihrer eigentlich klassischen Periode. Die staat- 
lichen Zustände wurden immer unbefriedigender. War Griechen- 
land im fünften Jahrhundert durch den Gegensatz Sparla’s und 
Athen’s in zwei grosse politische Gruppen getheilt gewesen, so 


Griechenland seit dem vierten Jahrhundert. 9 


geht im vierten die Zersplitterung immer weiter, und auch der 
Versuch Theben’s unter Epaminondas, eine neue Hegemonie zu 
begründen, führt schliesslich nur zu ihrer Vermehrung. Eines 
eigenen politischen Schwerpunkts ermangelnd, gerathen die Hel- 
lenen in eine freiwillige schmähliche Abhängigkeit von dem be- 
siegten und zerrütteteten Perserreich, und persisches Gold gewinnt 
den Einfluss, welchen die persischen Waffen nicht zu erobern 
vermocht haben. Die kleinliche Eifersucht der einzelnen Staaten 
und Stämme verzehrt in endlosen inneren Fehden die Kraft, welche 
nur der Sammlung und Leitung bedurft hätte, um das Grösste zu 
leisten. Mit der Bürgertugend sinkt der Wohlstand und die krie- 
gerische Tüchtigkeit der Nation, und die zunehmende technische 
Ausbildung der Kriegskunst selbst trägt dazu bei, dass die Ent- 
scheidung der Kriege den freien Bürgerschaften mehr und mehr 
entwunden und in die Hände jener zahlreichen Söldnerschaaren 
gelegt wird, welche unter die verderblichsten Erscheinungen dieser 
Zeit und unter die sichersten Anzeichen der untergehenden Freiheit 
und der heranziehenden Militärmonarchie gehören. Als diese Ge- 
fahr mit dem drohenden Aufsteigen der macedonischen Macht un- 
aufhaltsam näher rückte, da mochte sich wohl der Patriotismus 
noch mit der Hoffnung täuschen, sie durch aufopfernde Hingebung 
abzuwehren: die unbefangene geschichtliche Betrachtung wird in 
dem Misslingen dieses Versuchs nur die natürliche und lange vor- 
bereitete Wirkung von Ursachen sehen können, welche in dem 
Charakter des griechischen Volks und im Verlauf seiner Geschichte 
zu tief begründet waren, als dass die heldenmüthigste Anstrengung 
Einzelner und der verspätete Widerstand der getheilten griechischen 
Staaten den schliesslichen Ausgang für die Dauer in Frage stellen 
konnte. 

Durch die Schlacht bei Chäronea war das Schicksal Griechen- 
lands besiegelt. Zur wirklichen politischen Selbständigkeit hat sich 
dieses Land seitdem nicht wieder erhoben. Alle Versuche zur 
Abschüttlung der macedonischen Oberherrschaft endeten zunächst 
nur mit entkräftenden Niederlagen. Unter den Kämpfen der Dia- 
dochen war dann Hellas, und so namentlich auch Athen, der 
Spielball der wechselnden Machthaber und der fortwährende 
Schauplatz ihrer Kriege. Erst im zweiten Drittheil des dritten 
Jahrhunderts bildete sich in dem achäischen Bunde wieder eine 


10 Einleitung. 


rein griechische Macht, an welche sich nationale Hoffnungen knü- 
pfen liessen. Aber wie dürftig war doch dieser Versuch, wenn 
wir ihn mit dem vergleichen, was die Lage Griechenlands for- 
derte, und wie bald zeigte es sich, dass die Uebel, an denen es 
krankte, auch von dieser Seite her keine Heilung zu hoffen hatten! 
Der alte Erbfehler der Griechen, die innere Zwietracht, machte 
es ihnen auch jetzt unmöglich, sich ihre Selbständigkeit ‚nach 
Aussen, Freiheit und Ordnung im Innern zu sichern; in den un- 
aufhörlichen Reibungen zwischen Achäern, Aetolern, Spartanern 
u. 5. w. verzehrten sich die besten Kräfte; derselbe Mann, welcher 
die Achäer im Kampf um ihre Unabhängigkeit gegen die Macedo- 
nier geführt hatte, rief diese schliesslich, um sich Spärta’s zu er- 
wehren, in den Peloponnes zurück; als das Uebergewicht Macedo- 
niens durch die römischen Waffen gebrochen war, trat an seine 
Stelle eine noch unbedingtere Abhängigkeit von den italischen 
Befreiern, und als im Jahr 146 vor Chr. die Provinz Achaia dem 
römischen Reich einverleibt wurde, war auch der Schatten von 
Freiheit, dessen man sich bisher erfreut hatte, vollends verschwunden. 

So traurig sich aber die Zustände des griechischen Volkes 
in diesem Zeitraum gestalteten, ünd so sichtbar seine innere Kraft 
abnahm, so bedeutend war andererseits die Erweiterung seines 
Gesichtskreises und die Ausbreitung seiner Bildung, welche gleich- 
zeitig eintrat. Wenn die macedonische Eroberung der Selbstän- 
digkeit Griechenlands den Todesstoss gab, so warf sie dafür auch 
die Schranken nieder, welche bisher den Hellenen vom Barbaren 
getrennt hatten; sie erschloss dem Blicke des Griechen eine neue 
Welt, sie eröffnete seiner Betriebsamkeit ein unermessliches Ge- 
biet; sie brachte ihn mit allen den orientalischen Völkern der 
griechisch -macedonischen Reiche in die vielfachste Berührung, 
und wenn sie dadurch zunächst das Uebergewicht der hellenischen 
Bildung unter den Völkern des Ostens begründete, gab sie zu- 
gleich auch den Anstoss zu der langsameren, aber schliesslich 
doch sehr bedeutenden Rückwirkung des Orientalischen auf das 
Hellenische, deren Spuren in der griechischen Philosophie freilich 
erst nach Jahrhunderten bestimmter hervortreten. Den altberühm- 
ten Sitzen der Wissenschaft im griechischen Mutterland stellten 
sich neue zur Seite, die durch ihre Lage, ihre Bevölkerung und 
ihre Verhältnisse auf die Vereinigung griechischer und orienta- 


Charakter der nacharistotelischen Philosophie. 11 


lischer Bildung, auf die geistige Verschmelzung der politisch ver- 
hundenen Völker angewiesen waren. Während Hellas sich zu- 
sehends entvölkerte, waren griechische Einwanderer in grosser 
Anzahl über ganz Westasien und Aegypten zerstreut; während 
die Griechen in ihren Stammsitzen fremden Eroberern unterlagen, 
machten sie die ausgedehntesten geistigen Eroberungen unter den 
Völkern, von denen und mit denen sie unterjocht waren. 


2. Der Charakter und die Hauptformen der nacharistote- 
lischen Philosophie. 


Die Verhältnisse, von denen im Vorstehenden nur ein ganz 
allgemeines Bild gegeben werden konnte, waren auch für die wis- 
senschaftlichen Zustände von eingreifender Bedeutung. Die Philo- 
sophie der Griechen ist ebenso, wie ihre Kunst, eine Tochter 
ihrer politischen Freiheit. In der Bewegung eines Staatslebens, 
das jeden Einzelnen auf sich selbst und seine eigene Tüchtigkeit 
anwies, in dem Wetteifer, den eine ungehemmte Mitwerbung um 
alle Güter des Lebens erzeugt, hatten sie den freien Gebrauch 
ihrer geistigen Kräfte gelernt; aus dem Gefühl ihrer Menschen- 
würde, das für sie weit unmittelbarer, als für uns, an die Rechte 
des Staatsbürgers geknüpft war, aus der Erhebung über die Noth 
des alltäglichen Bedürfnisses war ihnen die Freiheit des Geistes 
entsprungen, sich ohne weiteren Zweck mit den Aufgaben des 
Erkennens zu beschäftigen 1). Durch den Untergang seiner po- 
litischen Selbständigkeit wurde die geistige Kraft des griechischen 
Volks unheilbar gebrochen. Von keinem kräftigen Gemeingeist 
mehr getragen, der Thätigkeit für's Ganze entwöhnt, verlor sich 
die Masse in die kleinen Interessen der Persönlichkeit und des 
Privatlebens; aber auch die Besseren waren durch den Kampf 
gegen den Druck und das Verderben der Zeit viel zu sehr in 
Anspruch genommen, als dass sie sich aus dieser Spannung zu 
einer freien theoretischen Weltbetrachtung erheben konnten. In 
einer Zeit, wie sie der Entstehung des stoischen und epikurei- 
schen Systems vorangieng, liess sich zum Voraus erwarten, dass 
die Philosophie, wenn sie überhaupt noch gepflegt wurde, eine 

1) M. vgl. in dieser Beziehung Arısr. Metapb. I, 2. 982, b, 19 fl.; die 
Stelle ist theilweise schon Bd. II, b, 111, 4 angeführt. 


12 Einleitung. 


vorherrschend praktische Richtung nehmen werde. Was diese 
Zeit zunächst brauchte, war nicht theoretisches Wissen, sondern 
sittliche Aufrichtung und Stärkung; und je weniger nun eine 
solche bei der Volksreligion in ihrem damaligen Zustand zu finden 
war, je vollständiger damals schon für alle Gebildeten die Philo- 
sophie an die Stelle der Religion getreten war, um so natürlicher 
war es, dass diese dem vorhandenen Bedürfniss entgegenkam. 
Fragen wir aber näher, was für eine Richtung des sittlichen 
Strebens unter den gegebenen Umständen möglich und vorzugs- 
weise nothwendig war, so zeigt sich bald, dass es sich hier weit 
weniger um schöpferische Thaten, als um standhafte Ergebung, 
weniger um die Wirksamkeit nach aussen, als um das Innere der 
Gesinnung, weniger um das öffentliche, als um das Privatleben 
handeln konnte. Die öffentlichen Zustände Griechenlands waren 
bereits so hoffnungslos, dass es die Wenigen, welche sich noch 
an ihrer Heilung versuchten, doch nicht weiter, als zur Ehre des 
Märtyrerthums, bringen konnten. So, wie die Dinge lagen, schien 
auch dem Besten nichts anderes übrigzubleiben, als dass er sich 
auf sich selbst zurückziehe, sich in der Sicherheit seines Selbst- 
bewusstseins den äusseren Schicksalen entgegenstelle, seine Zu- 
friedenheit einzig und allein von dem Zustand seines Innern ab- 
hängig mache. Die Apathie der Stoiker, die Selbstgenügsamkeit 
Epikur’s, die skeptische Ataraxie sind die Lehren, welche dem 
Geist und den Verhältnissen jener Zeit entsprachen, und dess- 
halb auch in derselben den allgemeinsten Beifall gefunden haben. 
Ebenso entsprach ihnen aber andererseits auch jenes Zurückgehen 
vom Nationalen auf das allgemein Menschliche, jene Ablösung 
der Moral von der Politik, welche die Philosophie der alexandri- 
nischen und römischen Zeit auszeichnet. Mit der nationalen Selb- 
ständigkeit der Völker wurde auch ihre bisherige Trennung auf- 
gehoben, der Westen und der Osten, Hellenen und Barbaren 
wurden in grossen Reichen vereinigt, in Verkehr gebracht, in den 
wichtigsten Beziehungen einander gleichgestellt. Wenn es die 
Philosophie aussprach, dass alle Menschen gleiches Wesens, gleich- 
berechtigte Bürger Eines Reichs seien, wenn sie das sittliche Le- 
ben als ein Verhältniss des Menschen zum Menschen fasste, wel- 
ches unabhängig von seiner Nationalität und seiner Stellung im 
Staate sei, so hat sie nur zum Bewusstsein gebracht, was in den 


Charakter der nacharistotelischen Philosophie. 13 


thatsächlichen Zuständen theils verwirklicht, theils wenigstens an- 
gelegt war. \ 
Auch die Philosophie selbst aber hatte durch den Gang, wel- 
chen sie seit anderthalbhundert Jahren genommen hatte, der Wen- 
dung, die jetzt eintrat, vorgearbeitet. Schon Sokrates und die 
Sophisten hatten sich, in verschiedenem Sinn freilich, auf die prak- 
tische Philosophie beschränkt; bestimmter hatte die ceynische Schule 
den Stoicismus, die cyrenaische den Epikureismus vorgebildet. 
Diese zwei Schulen hatten aber allerdings für den Gesammtzustand 
der Philosophie im vierten Jahrhundert nur eine untergeordnete 
Bedeutung, die Sophistik andererseits gehörte gegen das Ende 
desselben längst der Vergangenheit an; und wenn ‚Sokrates der 
physikalischen Forschung den Rücken kehrte, so war doch das 
Bedürfniss des Wissens in ihm viel zu kräftig, als dass wir ihn 
in dieser Beziehung den nacharistotelischen Philosophen gleich- 
stellen dürften: er selbst wollte sich nur mit dem beschäftigen, 
was für das menschliche Leben von Werth sei, aber sein wissen- 
schaftliches Prineip schloss ebensowohl eine Reform der theore- 
tischen, als der praktischen Philosophie in sich, wie sie sofort 
durch Plato und Aristoteles in der grossartigsten Weise vollbracht 
wurde. So -wenig aber die griechische Philosophie im Ganzen 
während des vierten Jahrhunderts schon die gleiche Richtung 
nahm, wie in der Folge, so musste doch die platonische und ari- 
stotelische Lehre selbst dazu dienen, sie vorzubereiten. Jener 
dualistische Idealismus, welchen Plato begründet und auch Ari- 
stoteles nicht grundsätzlich überwunden hatte, führt in letzter 
Beziehung auf nichts anderes zurück, als auf den Gegensatz des 
Inneren und Aeusseren, des Denkens und der gegenständlichen 
Welt. Die Gattungen oder Formen, in denen Plato und Aristoteles 
die höchste Wirklichkeit suchen, sind in Wahrheit doch nur dem 
menschlichen Denken entnommen; der Begriff der Vernunft, wenn 
sie auch zur göttlichen oder Weltvernunft erweitert wird, ist 
doch schliesslich vom menschlichen Selbstbewusstsein abstrahirt; 
wenn die Form als solche der Wirklichkeit, der Stoff der blossen 
Möglichkeit oder gar (mit Plato) dem Nichtseienden gleichgesetzt, 
wenn die Gottheit der Welt dualistisch gegenübergestellt wird, so 
heisst diess: der Mensch findet in seinem Denken ein höheres und 
realeres Sein, als alles, was ihm ausser demselben gegeben ist, 


14 Einleitung. 


das wahrhaft Göttliche und Unendliche ist nur der Geist in seiner 
idealen, von allem Sinnlichen abgezogenen und unabhängigen 
Natur. Und wirklich hatten auch Plato und Aristoteles für das 
eigentliche Wesen des Menschen nur die Vernunft erklärt, welche 
von aussen her in den Leib eintritt, an sich selbst aber über die 
Sinnenwelt und das Zeitleben erhaben ist; und für seine höchste 
Thätigkeit das Denken, die von allem Aeusseren abgewendete, 
der inneren Welt der Begriffe zugekehrte Betrachtung. Es war 
nur ein Schritt weiter in dieser Richtung, wenn die nacharistote- 
lische Philosophie den Menschen, in grundsätzlicher Abkehr von 
der Aussenwelt, auf sich selbst wies, um in seinem Innern die 
Befriedigung zu suchen, welche er ausser sich nirgends zu finden 
wusste, 

Diesen Schritt thaten nun jene Schulen, welche in der ersten 
Hälfte des dritten Jahrhunderts auftraten, den Einfluss der älteren 
zurückdrängten, und dieses Uebergewicht, ohne erhebliche Ver- 
änderungen in ihrer Lehre, bis gegen den Anfang des ersten Jahr- 
hunderts vor Chr. behaupteten, die stoische, epikureische und 
skeptische. Diese drei Schulen kommen bei allen ihren sonstigen 
Gegensätzen in zwei Grundzügen überein: in dem Zurücktreten 
des theoretischen Interesses gegen das praktische, und in dem 
eigenthümlichen Charakter ihrer praktischen Philosophie. Der 
erste von diesen Zügen tritt am Unverhülltesten, wie wir finden 
werden, bei den Epikureern hervor; fast ebenso deutlich aber 
auch bei den Skeptikern, wenn dieselben alle Möglichkeit des 
Wissens läugnen, und nur eine Ueberzeugung aus Wahrschein- 
lichkeitsgründen, wie wir deren zum Handeln bedürfen, übrig 
lassen; wie denn auch beide Schulen darin übereinstimmen, dass 
sie die Philosophie nur als ein Mittel zur Erlangung der Glück- 
seligkeit betrachtet wissen wollen. Bei den Stoikern ist allerdings 
das Bedürfniss einer wissenschaftlichen Theorie weit kräftiger. 
Aber doch kann man sich leicht überzeugen, dass es auch bei 
ihnen nicht rein und selbständig, sondern dem praktischen unter- 
geordnet und von ihm beherrscht ist. Für’s Erste nämlich halten 
auch sie sich ebenso, wie Epikur, im theoretischen Theil ihres 
Systems fast durchaus an ältere Lehren; was an und für sich schon 
beweist, dass der Sitz ihrer philosophischen Eigenthümlichkeit 
anderswo liegt, dass sie anderen Untersuchungen einen höheren 


Charakter der nacharistotelischen Philosophie 18 


Werth beilegen, und sich einer grösseren Stärke in denselben 
bewusst sind. Sie selbst erklären ferner ausdrücklich, die Natur- 
lehre sei nur um der Tugendlehre willen nothwendig 1). Weiter 
ist unbestreitbar, dass ihre eigenthümlichsten Bestimmungen, und 
diejenigen, welche ihre geschichtliche Bedeutung vorzugsweise 
begründet haben, in der Ethik zu suchen sind. Aber auch die 
übrigen Theile ihres Systems sind gerade in seinen hauptsächlich- 
sten Unterscheidungslehren durch ihr praktisches Interesse be- 
stimmt. Wir werden diess später im Einzelnen nachweisen; hier 
genügt es, vorläufig daran zu erinnern, dass die wichtigste Frage 
der stoischen Logik, die Frage nach dem Kriterium, durch ein 
praktisches Postulat entschieden wird; dass die Grundbestimmun- 
gen der stoischen Metaphysik in ihrer eigenthümlichen Verbin- 
dung sich nur aus dem Standpunkt ihrer Ethik begreifen lassen; 
dass auch die Stoiker in der eigentlichen Naturwissenschaft sehr 
wenig geleistet, dafür aber in jener Teleologie, der sie einen so 
grossen Werth beilegen, die Natur aus moralischen Gesichtspunk- 
ten erklärt haben; dass ihre natürliche wie ihre positive Theologie 
von dem praktischen Interesse ihres Systems Zeugniss giebt 5). 
So weit daher auch die Stoiker durch ihre wissenschaftlichere 
Haltung und ihre gelehrte Thätigkeit über die Epikureer hinaus- 
gehen, und so entschieden sie mit ihrem Dogmatismus der Skepsis 
entgegentreten, so treffen sie doch in dem wesentlich praktischen 
Charakter ihrer Philosophie mit beiden zusammen. Noch auffal- 
lender ist ihre Verwandtschaft in der näheren Bestimmung der 
praktischen Aufgaben. Die epikureische Ataraxie ist der skep- 
tischen, und beide sind der stoischen Apathie nahe verwandt: die 
drei Schulen sind darüber einig, dass der einzige Weg zur Glück- 
seligkeit in der Gemüthsruhe und in der Abwehr aller der Störun- 
gen bestehe, welche derselben bald aus äusseren Einflüssen, bald 
aus den Bewegungen unseres Innern erwachsen; getheilt sind sie 


1) M. vgl. die später anzuführende Aeusserung Chrysipp’s bei Prur. 
Sto. rep. 9, 6. 

2) Die Religion geht ursprünglich aus dem praktischen Bedürfniss, nicht 
aus dem des Erkennens hervor: die religiöse Fassung und Beschränkung der 
philosophischen Untersuchungen setzt daher immer einen Standpunkt voraus, 
für welchen der Werth dieser Untersuchungen mehr in ihrer praktischen Wir- 
kung liegt, als in dem Wissen als solchem. 


16 Einleitung. 


nur hinsichtlich der Mittel, durch die wir zur Gemüthsruhe ge- 
langen. Auch darin aber stehen sie sich nahe, dass sie alle die 
sittliche Thätigkeit von den äusseren Verhältnissen unabhängig 
machen, die Moral von der Politik ablösen, wenn auch die Stoiker 
allein die Lehre von der ursprünglichen Zusammengehörigkeit 
aller Menschen, den Grundsatz des Weltbürgerthums, ausdrück- 
lich aufgestellt haben. Es zeigt sich so in ihnen als gemeinsamer 
Grundzug jene abstrakte Subjektivität, jene Zurückziehung des 
Menschen auf sich selbst und sein denkendes Selbstbewusstsein, 
welche einerseits sein praktisches Interesse dem theoretischen ge- 
genüber vorandrängt, andererseits ihn die Befriedigung dieses 
Interesses nur in seiner inneren Selbstgewissheit, in seiner durch 
Uebung des Willens und Bildung des Denkens gewonnenen Ge- 
müthsruhe suchen lässt.- 

Den gleichen -Charakter behält die Philosophie auch in den 
nächsten Jahrhunderten bei, wie ja auch die Verhältnisse, aus 
denen er hervorgieng, in dieser Zeit keine’wesentliche Verände- 
rung erlitten. Wir finden jetzt neben den Anhängern der älteren 
Schulen Eklektiker, welche aus allen vorhandenen Systemen das 
Wahre und Wahrscheinliche herausnehmen wollen; aber der ent- 
scheidende Gesichtspunkt ist hiebei das praktische Bedürfniss des 
Menschen, und die letzte Norm der Wahrheit ist das unmittelbare 
Bewusstsein, so dass also auch hier der Schwerpunkt ganz in das 
Subjekt verlegt ist; auch für ihre Moral und ihre natürliche Theo- 
logie hat der Stoicismus diesen Eklektikern den bedeutendsten 
Beitrag geliefert. Wir finden eine neue Schule von Skeptikern, 
welche sich aber in ihrer Richtung von den älteren nicht unter- 
scheiden. Wir finden Neupythagoreer und Platoniker, welche von 
der menschlichen Wissenschaft nicht befriedigt, zu höheren Offen- 
barungen ihre Zuflucht nehmen. Aber wiewohl diese Männer auf 
die platonische und aristotelische Metaphysik zurückgehen, so 
zeigen sie doch ihre wesentliche Verwandtschaft mit den jüngeren 
Schulen nicht allein durch die stoischen Elemente, welche sie in 
ihre Theologie wie in ihre Moral im weitesten Umfang aufgenom- 
men haben, sondern auch durch ihre ganze Richtung: die Wis- 
senschaft ist ihnen noch weit weniger, als den Stoikern, Selbst- 
zweck, und der Naturforschung stehen sie noch weit ferner; ihre 
Philosophie ist von dem religiösen Interesse beherrscht, den Men- 


Charakter der nacharistötelischen Philosophie. 17 


schen in das richtige Verhältniss zur Gottheit zu setzen, das re- 
ligiöse Bedürfniss des Menschen ist die höchste wissenschaftliche 
Auktorität. 

Das Gleiche gilt aber auch von Plotin und seinen Nachfol- ἡ 
gern 1). Es fehlt diesen Philosophen allerdings nicht an einer 
weitschichtigen Metaphysik; und die Sorgfalt, mit der sie diese 
Metaphysik ausarbeiteten, lässt uns ein lebhaftes Interesse für 
wissenschaftliche Vollständigkeit und systematische Verknüpfung 
nicht verkennen. Aber diese wissenschaftlichen Bestrebungen ste- 
hen zu der praktischen Abzweckung ihrer Philosophie doch nur 
in demselben Verhältniss, wie früher im Stoieismus, der sich ja gleich- 
falls an Gelehrsamkeit und an logischer Durcharbeitung des Sy- 
stems mit jeder Schule messen kann. Das philosophische Interesse 
des Erkennens ist allerdings eines von den Elementen, welche den 
Neuplatonismus in’s Leben gerufen haben; allein dieses Interesse 
ist nicht kräftig genug, um einem anderen Elemente, dem prak- 
tisch-religiösen, das Gleichgewicht zu halten, das Denken ist zu 
unselbständig, um der Anlehnung an philosophische und theolo- 
gische Auktoritäten entbehren zu können, das wissenschaftliche 
Verfahren zu unrein, um zu einer unbefangenen Betrachtung der 
Wirklichkeit zu führen. Das letzte Motiv des Systems liegt, wie 
beim Neupythagoreismus, in dem religiösen Bedürfniss. Das Gött- 
liche ist dem mit sich zerfallenen Bewusstsein in ein Jenseits ent- 
rückt, welches dem verständigen Erkennen unzugänglich ist. Die 
Vereinigung des Menschen mit dieser jenseitigen Gottheit zu be- 
wirken, ist die höchste Aufgabe der Philosophie. Hiefür werden 
nun zunächst noch alle Mittel der Wissenschaft eingesetzt: die 
Philosophie sucht sich von dem Wege, auf dem die Entfernung 
des Endlichen vom Urwesen zu Stande kam, Rechenschaft zu ge- 
ben, und die Rückkehr zu demselben in methodischer Stufenfolge 
zu bewirken; und der immer noch nicht erstorbene wissenschaft- 
liche Geist des griechischen Volkes bewährt seine Kraft in diesem 
Versuche noch einmal durch eine in ihrer Art glänzende Leistung. 
Aber wenn schon durch die Fassung der Aufgabe die wissen- 
schaftliche Thätigkeit in den Dienst des religiösen Interesses ge- 
zogen war, so musste es sich im weiteren Verlaufe vollends her- 


1} Vgl. Bd. 1, 123 ἢ, 
Philos. ἃ. Gr. 1. B. 1. Abth. 2 


18 * Einleitung. 


ausstellen, dass eine wissenschaftliche Lösung derselben unter 
den gegebenen Voraussetzungen unmöglich sei: in seiner Idee 
des Urwesens hatte das System mit einem Begriffe begonnen, der 
in dieser Fassung ein Reflex des religiösen Selbstbewusstseins, 
nicht ein Ergebniss wissenschaftlicher Untersuchung ist, und in 
der Lehre 'von der mystischen Vereinigung mit. der Gottheit 
schliesst es mit einem religiösen Postulat, das in seiner UVeber- 
schwänglichkeit seinen rein ‚subjektiven Ursprung nur zu deutlich 
verräth. Der Neuplatonismus steht daher seiner ganzen Anlage 
nach mit der übrigen nacharistotelischen Philosophie auf dem 
gleichen Boden, und es ist kaum nöthig, zum weiteren Beweis 
dieser Verwandtschaft noch einmal auf seine sonstige Ueberein- 
stimmung mit dem Stoicismus zurückzukommen,, welche nament- 
lich in der Ethik hervortritt: so weit die beiden Systeme, der 
Anfangs- und der Schlusspunkt unserer Periode, in ihrem näheren 
Inhalt auseinandergehen, so liegt ihnen doch die gleiche Geistes- 
ricktung zu Grunde, und wir gelangen von dem einen auf gera- 
dem Wege, durch eine stetige Reihe geschichtlicher Zwischen- 
glieder, zu dem andern. 

Der Charakter der nacharistotelischen Philosophie erhält nun 
aber natürlich in den verschiedenen Schulen und Zeitabschnitten 
verschiedene nähere Bestimmungen. Das Gemeinsame ist je- 
nes Nachlassen der wissenschaftlichen Produktivität, welches die 
Einen zur skeptischen Läugnung alles Wissens, die Andern zur 
Anlehnung an ältere Auktoritäten hintreibt; das Uebergewicht des 
praktischen Interesses über das theoretische; die Vernachlässi- 
. gung der Naturforschung und die gegen früher so sehr erhöhte 
Bedeutung der Theologie, welche in der Polemik der Epikureer 
und Skeptiker, wie in der Apologetik der Stoiker und Platoni- 
ker, an den Tag kommt; die negative, auf Abkehr vom Aeus- 
sern, auf Gemüthsruhe und philosophische Selbstgenügsamkeit ge- 
richtete Ethik; die Lostrennung der Moral von der Politik, der 
moralische Universalismus und Kosmopolitismus; mit Einem Wort, 
die Zurückziehung des Menschen auf sich selbst, auf das Innere 
der Gesinnung, das eigene Wollen und Denken, die Vertiefung 
des Selbstbewusstseins, welche aber zugleich auch eine Beschrän- 
kung und Isolirung, mit dem Verlust des lebendigen Interesses an 
der Aussenwelt und an ihrer freien rein wissenschaftlichen Be- 


Entwieklungsgang der nacharistotel, Philosophie. 19 


trachtung erkauft ist. Diese Denkweise wird nun zunächst einfach 
dogmatisch in philosophischen Systemen ausgesprochen; es wird 
in theilweisem Anschluss an ältere Lehren nicht allein die Ethik, 
sondern auch die Logik und die Physik, in dem ihr entsprechen- 
den Sinn bearbeitet; und in der nähern Bestimmung der sittlichen 
Aufgabe treten sich zwei Schulen von scharf ausgeprägter Eigen- 
thümlichkeit gegenüber. Die Stoiker fassen an dem Menschen, 
der seine Befriedigung in sich selbst suchen soll, überwiegend 
᾿ und fast ausschliesslich die allgemeine, die Epikureer die individu- 
‘elle Seite seines Wesens in’s Auge; jene betrachten ihn einseitig 
als denkendes, diese als empfindendes Wesen; jene suchen seine 
Glückseligkeit in der Unterordnung unter das Gesetz des Ganzen, 
in der Unterdrückung aller selbstischen Gefühle und Neigungen, 
in der Tugend, diese in der Unabhängigkeit des Einzelnen von 
allem Aeusseren, in der Ungestörtheit des persönlichen Lebens, 
in der Schmerzlosigkeit; und nach Maassgabe dieser ethischen 
Grundanschauungen gestalten sich auch die theoretischen Voraus- 
setzungen ihrer Lehre. So schroff sich aber beide Schulen be- 
kämpfen, so stehen sie doch auf dem gleichen Boden: die Uner- 
schütterlichkeit des Gemüths, die Freiheit des Selbstbewusstseins 
gegen alles Aeussere ist das Ziel, welchem beide, wenn auch auf 
verschiedenen Wegen, zustreben. Ebendamit entsteht aber die 
Forderung, dieses Gemeinsame als den wesentlichen Zweck und 
Inhalt der Philosophie herauszuheben; und wenn sich die wissen- 
schaftlichen Voraussetzungen der philosophischen Systeme wider- 
sprechen, so lässt sich daraus nur folgern, dass die Erreichung 
jenes Ziels überhaupt nicht an eine bestimmte dogmatische Ansicht 
geknüpft ist, dass wir auf das Wissen überhaupt verzichten kön- 
nen, um eben aus dem Bewusstsein unsers Nichtwissens die Gleich- 
gültigkeit gegen Alles, die unbedingte Gemüthsruhe, zu schöpfen. 
So schliesst sich dem Stoieismus und Epikureismus als die dritte 
Hauptform der damaligen Philosophie die Skepsis an, welche ver- 
einzelter von der pyrrhonischen Schule, mit der bedeutendsten 
Wirkung durch die neue Akademie vertreten wurde. 

Die Entstehung, die Entwicklung und der Kampf dieser drei 
Schulen, neben denen die älteren nur eine untergeordnete Bedeu- 
tung haben, füllt den ersten Abschnitt unserer Periode aus, 


welcher vom Ende des vierten bis gegen den Anfang des ersten 
>) % 


20 Einleitung. 


vorchristlichen Jahrhunderts herabreicht. Die unterscheidende 
Eigenthümlichkeit desselben liegt einerseits in der Herrschaft, an- 
dererseits in dem reinen und gesonderten Bestand der genannten- - 
Richtungen. Seit der Mitte des zweiten Jahrhunderts macht sich 
eine allmählige Aenderung dieses Verhältnisses bemerkbar. Grie- 
chenland war jetzt ein Theil des römischen Reiches und auch 
der geistige Verkehr beider Völker war fortwährend im- Steigen 
begriffen; viele griechische Gelehrte lebten in Rom, nicht selten 
als Hausgenossen vornehmer Römer, andere wurden in ihrer Hei- 
math von römischen Schülern aufgesucht; und je unverkennbarer 
die Kraft und Selbständigkeit des griechischen Geistes im Sinken 
war, um so weniger liess sich erwarten, dass er dem scharf und 
stark ausgeprägten römischen Wesen gegenüber seine alte Ueber- 
legenheit in jeder Beziehung behaupten werde, dass die Griechen 
die Lehrer der Römer sein werden, ohne sich ihren Bedürfnissen 
anzubequemen und ihrerseits eine geistige Rückwirkung von ihnen 
zu erfahren. Auch die griechische Wissenschaft konnte sich dieser 
Einwirkung nicht entziehen; war doch ihre Produktivität schon 
längst erlahmt, und hatte sie doch selbst in der Skepsis unverhüllt 
ausgesprochen, dass sie kein Vertrauen mehr zu sich selbst habe, 
Dem praktischen Sinne des Römers konnte aber nur eine solche 
Philosophie zusagen, welche auf möglichst geradem Wege auf die 
praktischen Ergebnisse lossteuerte; für ihn war das praktische Be- 
dürfniss der letzte Maasstab der Wahrheit; an der Strenge und 
Folgerichtigkeit des wissenschaftlichen Verfahrens lag ihm nicht 
viel, die Unterschiede der Schulen waren für ihn, so weit sie nicht 
in’s Praktische eingriffen, von keiner Erheblichkeit. Wenn die 
griechische Philosophie, von dem Hauche des Römerthums berührt, 
sich dem Eklekticismus zuwandte, so werden wir diess nur na- 
türlich finden können. 

Wie aber die Griechen von dieser Seite her den Einfluss ihrer 
Besieger erfuhren, so begannen sie um dieselbe Zeit an dem an- 
deren Ende der hellenischen Welt die Anschauungen der Völker 
in sich aufzunehmen, welche sie selbst sich durch kriegerische 
wie durch geistige Ueberlegenheit unterworfen hatten, der Orien- 
talen. Zwei Jahrhunderte lang hatte der griechische Geist den 
orientalischen Einflüssen wenigstens auf dem wissenschaftlichen 
Gebiet widerstanden; erst mit seiner zunehmenden inneren Er- 


Entwicklungsgang der nacharistotel. Philosophie φΦῚ 


mattung gelang es diesen allmählig, sich in der griechischen Phi- 
losophie geltend zu machen. Diese Verbindung des Griechischen 
und Orientalischen vollzog sich zuerst und am vollständigsten in 
Alexandrien. In diesem grossen Mittelpunkt des Verkehrs von . 
drei Welttheilen trat der Osten mit dem Westen in eine tiefere 
und dauerndere Berührung, als an irgend einem andern Orte, und 
es war diess nicht blos eine unwillkührliche Folge der gegebenen 
Verhältnisse, sondern auch ein Werk der politischen Berechnung; 
denn die ptolemäische Dynastie hatte schon von ihrem Stifter den 
Regierungsgrundsatz ererbt, das Einheimische mit dem Helleni- 
schen zu verschmelzen, und das Neue in die altehrwürdigen For- 
men ägyptischer Sitte und Götterverehrung zu kleiden. Hier ent- 
stand um den Anfang des ersten vorchristlichen Jahrhunderts jene 
Schule, welche sich selbst bald die platonische, bald die pythago- 
reische nannte, und welche später im Neuplatonismus die Herr- 
schaft über die ganze griechische Philosophie gewann. Aber schon 
der Umstand, dass diese Veränderung der philosophischen An- 
schauungen nicht früher eintrat, kann uns zeigen, dass die äusse- 
ren Verhältnisse dieselbe wohl veranlasst und bedingt haben, dass 
sie aber ungeachtet dieser Verhältnisse nicht eingetreten sein 
würde, wenn nicht der griechische Geist in seiner eigenen Ent- 
wicklung dafür reif gewesen wäre. 

Das Gleiche gilt aber auch von der Entstehung jenes prakti- 
schen Eklektieismus, welchen wir mit dem Einfluss des römischen 
Geistes in Zusammenhang gebracht haben. Auch in der Zeit ihrer 
wissenschaftlichen Ermattung ist die griechische Philosophie nicht 
blos durch die Verhältnisse zu dem, was sie war, gemacht worden, 
sondern sie hat sich unter dem Einfluss dieser Verhältnisse in der 
Richtung entwickelt, welche ihr durch ihren bisherigen Gang vor- 
gezeichnet war. Seit dem Anfang des dritten Jahrhunderts bestan- 
den, wenn wir von den Ueberfesten der kleineren und allmählig 
aussterbenden Schulen absehen,, vier grosse Philosophenschulen 
neben einander: die peripatetische, die stoische, die epikureische 
und die durch Arcesilaus zur Skepsis übergeführte platonische. Sie 
alle hatten fortwährend ihren Hauptsitz in Athen, so dass demnach 
ein lebhafter Verkehr zwischen ihnen und eine durchgängige Ver- 
gleichung ihrer Lehren in hohem Grad erleichtert war. Es war 
natürlich, dass sie nicht zu lange neben einander hergehen konn- 


22 Einleitung. 


ten, ohne Vermittlungs- und Vereinigungsversuche hervorzurufen; 
und die Skepsis selbst musste dazu hinführen, indem sie nach der 
Aufhebung alles Wissens nur die Auswahl des Wahrscheinlichen. 
‚ nach Maassgabe des praktischen Bedürfnisses übrig liess. So sehen 
wir denn seit dem Ende des zweiten Jahrhunderts vor Christus 
die, philosophischen Schulen mehr oder weniger aus ihrer Aus- 
schliesslichkeit heraustreten, und eine eklektische Richtung der 
Philosophie sich bemächtigen, bei der es sich weniger um strenge 
Wissenschaft, als um die Gewinnung gewisser Ergebnisse für den 
praktischen Gebrauch handelt; die Unterscheidungslehren der 
Schulen verlieren von ihrem Werth, und im Glauben an die 
Wahrheit des unmittelbaren Bewusstseins wird das Zusagende aus 
den verschiedenen Systemen ausgewählt. Aber wie diese eklekti- 
sche Denkweise dem Keime nach im Skepticismus gelegen war, so 
hat sie selbst umgekehrt den Zweifel mittelbar in sich; und seit 
dem Anfang der christlichen Zeitrechnung tritt derselbe auch 
wieder in einer eigenen skeptischen Schule hervor, welche sich 
bis in’s dritte Jahrhundert herabzieht. Es ist also einestheils das 
lebhafte Bedürfniss einer Wissenschaft vorhanden, welche zu- 
nächst im praktischen, sittlich-religiösen Interesse verlangt wird; 
andererseits ein Misstrauen gegen die Wahrheit der vorhandenen 
Wissenschaft und der Wissenschaft überhaupt, welches die Einen als 
Skeptiker offen aussprechen, die Andern in der Unruhe ihres Eklek- 
ticismus deutlich genug verrathen. Indem diese beiden Elemente zu- 
sammenwirken, kommt man aufden Gedanken, die Wahrheit, welche 
in der Wissenschaft nicht zu finden ist, ausser derselben, theils in 
den religiösen Ueberlieferungen der griechischen Vorzeit und des 
Orients, theils in einer unmittelbaren göttlichen Offenbarung zu 
suchen, und an dieses Bestreben reiht sich sofort eine solche Vor- 
stellung über die Gottheit und ihr Verhältniss zur Welt an, wie 
sie diesem Offenbarungsglauben gemäss ist: weil der Mensch die 
Wahrheit ursprünglich ausser sich weiss und an der Befähigung 
seines Denkens irre geworden ist, wird die Gottheit als die ab- 
solute Quelle der Wahrheit in’s Jenseits entrückt, weil aber das 
Bedürfniss einer Offenbarung der Wahrheit vorhanden ist, wird 
die Annahme von Mittelwesen zwischen Gott und der Welt, bald 
in einer melaphysischen Form, bald in der populären des Dämo- 
nenglaubens, mit Vorliebe ausgebildet. Diese Denkweise, welche 


Entwicklungsgang der nacharistotel. Philosophie. 23 


sich.unter den älteren Systemen zunächst an das platonische und 
pythagoreische anlehnte, bildet den Uebergang zu dem Neuplato- 
nismus, dessen Auftreten den letzten Abschnitt in der Entwick- 
lung der griechischen Philosophie eröffnet. 

Auch diese Wendung derselben steht nun mit allgemeineren 
geschichtlichen Verhältnissen im,Zusammenhang. Seit dem Ende 
des zweiten Jahrhunderts hatte der Verfall des römischen Reiches, 
die Furchtbarkeit der Gefahren, die es von allen Seiten umgaben, 
der Druck und die Noth der Zeit schreckenerregende Fortschritte 
gemacht. In demselben Maasse, wie alle bisherigen Hülfsquellen 
versiegten, musste der Wunsch und die Sehnsucht nach einer hö- 
heren Hülfe sich steigern. Bei den alten römischen Göttern und 
der bestehenden Religion wusste man diese Hülfe nicht mehr zu 
finden; waren doch trotz derselben die Zustände immer trostloser 
geworden. Um so stärker wuchs die Neigung, welche seit dem 
letzten Jahrhundert der Republik in der römischen Welt verbrei- 
tet und auch bisher schon durch die Verhältnisse der Kaiserzeit 
genährt war, zu auswärtigen Götterdiensten seine Zuflucht zu 
nehmen; und da seit Septimius Severus ein halbes Jahrhundert 
lang meist Orientalen und Halborientalen aufdem Kaiserthron sassen, 
wurde sie jetzt von der höchsten Staatsgewalt selbst begünstigt. 
Während das Vertrauen auf den Staat und die Staatsgötter immer 
mehr schwand, fanden einerseits orientalische Religionen, alte 
und neue Mysterien, fremde heidnische Kulte der verschiedensten 
Art zahlreichen Anhang, andererseits wuchs das Christenthum 
zu einer Macht heran, welche es bald genug in den Stand setzte, 
den Kampf um die Herrschaft mit der Staatsreligion offen aufzu- 
nehmen. Als seit der Mitte des dritten Jahrhunderts eine Reihe 
kräftigerer Kaiser an der neuen Begründung des Reichs arbeitete, 
konnte es sich nicht mehr um Wiederherstellung eines specifisch 
römischen Staalswesens, sondern nur noch darum handeln, die 
verschiedenarligen im römischen Reich vorhandenen Elemente in 
festen Formen der Verwaltung Einem absoluten Willen zu unter- 
werfen, wie diess dann auch durch Diocletian und. Constantin ge- 
schehen ist; der römische Geist machte sich wohl noch als ord- 
nendes und beherrschendes Prineip geltend, aber er stand zugleich 
unter. dem Einfluss eines anderen, ihm ursprünglich fremdartigen 
Geistes: das Kaiserreich war ein künstlich gefügtes, nach einem 


24 Einleitung. 


wohldurchdachten Plane geordnetes Ganzes, aber sein Schwer- 
punkt sollte nicht in ihm selbst liegen, sondern in dem Willen 
eines Fürsten, der über der Staatsordnung und ihren Gesetzen 
stehend, unbedingt und unberechenbar Alles bestimmte. In ähn- 
licher Weise wurden im Neuplatonismus alle Elemente der vor- 
handenen Philosophie zu einem wnfassenden und wohlgegliederten 
Systeme verknüpft, in dem jeder Klasse der Wesen ihre bestimmte 
Stelle angewiesen war; aber der Ausgangspunkt dieses Systems, 
die Alles zusammenschliessende Einheit sollte in einem jenseitigen 
Wesen liegen, das über alles unserer Erfahrung und unseren Be- 
griffen Zugängliche hinausgerückt, in den Process des Weltlebens 
nicht verflochten, von seiner unerreichbaren Höhe aus Alles mit 
unbedingter Ursächlichkeit wirkte. Der Neuplatonismus ist das 
wissenschaftliche Gegenbild des byzantinischen Staatswesens, und 
wie in diesem die römische Staatsidee mit orientalischem Despotis- 
mus verschmolzen ist, so erfüllen sich in jenem die wissenschaft- 
lichen Formen der griechischen Philosophie mit orientalischer 
Mystik. 

Im Neuplatonismus ist die Philosophie unserer Periode 
scheinbar in ihr Gegentheil umgeschlagen; das Selbstvertrauen 
und die Selbstgenügsamkeit des Denkens hat sich in die Hinge- 
bung an höhere Mächte, in die Sehnsucht nach ihrer Offenbarung, 
in ein ekstatisches Heraustreten aus dem Gebiete der bewussten 
Geistesthätigkeit verwandelt; der Mensch hat sich seiner Wahrheit 
an die Gottheit entäussert, diese steht ihm und der gesammten 
Erscheinungswelt in der Jenseitigkeit des abstraktesten Spiritua- 
lismus gegenüber, und alle Anstrengung des Denkens ist nur 
darauf gerichtet, den Hervorgang des Endlichen aus dem unend- 
lichen Wesen zu begreifen, und die Bedingungen seiner Rückkehr 
zum Absoluten festzustellen, ohne dass sich doch weder für die 
eine noch für die andere von diesen Aufgaben eine wissenschaft- 
lich genügende Lösung finden liesse. Indessen ist bereits gezeigt 
worden, und es wird in der Folge noch genauer nachgewiesen 
werden, dass auch diese Gestalt des Bewusstseins wesentlich den 
Charakter der nacharistotelischen Subjektivitätsphilosophie trägt, 
und aus den früheren Systemen naturgemäss hervorgegangen ist. 
Allerdings war aber mit derselben die philosophische Zeugungs- 
kraft des griechischen Volkes erschöpft. Nachdem es den Boden 


Entwicklungsgang der nacharistotel. Philosophie. 25 


seiner nationalen Existenz seit Jahrhunderten Schritt für Schritt 
verloren hatte, wurde ihm durch den Sieg des Christenthums 
der letzte Rest derselben entrissen. Der Neuplatonismus machte 
noch einen aussichtslosen Versuch, die hellenische Bildungsform 
vor dem übermächtigen Gegner zu retten; als er misslungen war, 
gieng mit der griechischen Religion auch die griechische Philoso- 
phie als solche unter. 


20 Stoiker. 


Erster Abschnitt. 


Die griechische Philosophie im dritten und zweiten Jahr- 
hundert v. Chr. Stoicismus, Epikureismus, Skepsis. 


A. Die stoische Philosophie. 


1. Die äussere Geschichte der Schule bis gegen das 
Ende des zweiten Jahrhunderts. 


Eine von den auffallendsten Erscheinungen in der Geschichte 
der nacharistotelischen Philosophie, und eine von denen, welche 
uns die eingreifende Aenderung aller Verhältnisse sofort verge- 
genwärtigen, liegt in dem Umstand, dass so viele ihrer Vertreter 
den östlichen Gegenden ch in denen das Griechische mit 
Orientalischem sich berührte und vermischte. Zwar behauptete 
Athen noch Jahrhunderte lang den Ruhm, dass es der Haupt- 
sitz der hellenischen Philosophie sei; und auch nachdem es den- 
selben mit anderen Städten, wie Alexandria, Rom, Rhodus und 
Tarsus theilen musste, blieb es doch immer eine ihrer bedeutend- 
sten Pflanzstätten. Aber in Athen selbst lehrten jetzt nicht wenige 
Männer, welche uns schon durch ihre Abstammung das Zeitalter 
des Hellenismus erkennen lassen. Es gilt diess, nächst der späteren 
neuplatonischen Schule, von keiner andern in höherem Grade, als 
von der stoischen, und wir werden den Kosmopolitismus dieser 
Schule hiemit immerhin in Verbindung bringen dürfen, so verfehlt 
es auch wäre, einen Zug, der so tief in dem ganzen damaligen 
Weltzustand begründet war, nur aus diesem äusserlichen Verhält- 
niss ableiten zu wollen. Die bedeutenderen Stoiker der vorchrist- 
lichen Zeit gehören fast alle durch ihre Geburt Kleinasien, Syrien 
und den Inseln des östlichen Archipels an; dann kommen die rö- 
mischen Stoiker an die Reihe, neben denen der Phrygier Epiktet 
eine hervorragende Stelle einnimmt; das eigentliche Griechenland 


Zeno. 27 


ist in der Schule fast ausschliesslich durch Männer dritten und 
vierten Ranges vertreten. 

Der Stifter der stoischen Schule, Bein ἢ, des Mna- 
seas Sohn ?), kam aus seiner Vaterstad, dem cyprischen 
Citium 5), ungefähr um’s Jahr 320 vor Christus‘) nach 


1) Für das Leben Zeno's ist unsere Hanptquelle Diogenes. Dieser scheint 
seine Nachrichten meist Antigonus von Karystus (um 250 v. Chr.) zu ver- 
danken, wie sich diess aus der Vergleichung seiner Angaben mit demjenigen 
ergiebt, was Arren. VIII, 345,d. XIH, 563, e. 565, d. 603, 6. 607,e und offen-: 
bar auch II, 55 f. aus Antigonus’ Leben Zeno’s mittheilt. — Von Neueren 
vgl. m. Wasenstass in Paury’s Realencykl. u. d. W. 

2) Dioe. VII, 1. Suın. Ζήνων. Prur. plac. 1,3,29. Pausas. II,8,4. Andere 
nannten ihn Demeas. 

3) Citium, welches von den Alten einstimmig als Zeno's Vaterstadt ge- 
nannt wird, war nach Dioc. VII, 1 ein πόλισμα ᾿Ἑλληνιχὸν Φοίνιχας ἐποίχους 
Zoynzog, d. h..es waren zu seiner ursprünglich griechischen Bevölkerung 
phönieische Einwanderer hinzugekommen; wesshalb seine Bewohner auch 
wohl schlechtweg e ‚Phoenicia profecti heissen (Bo: Fin. IV, 20, 56), und Zeno 
selbst ein Phönicier genannt wird (Dıoe. VU, 5. 15. 25. 30. II, 114. Sum. 
Ziv. Arsen. XIII, 563, 6. Cıc. ἃ. ἃ. O.); auf eine fortdauernde Verbindung 
Citium’s mit Phönicien weist auch Dioe. VII, 6: οἱ ἐν Σιδῶνι Κιτιεῖς. 

4) Die Zeitbestimmungen aus Zeno’s Leben sind sehr unsicher. Sein 
Geburtsjahr wird nicht angegeben. Als er nach Athen kam, soll er dreissig 
(Dıoe. 2), nach Persäus (ebd. 28) jedoch, der als sein Schüler und Lands- 
mann genauer unterrichtet sein konnte, erst 22 Jahre alt gewesen sein. Diese 
Angaben nützen uns aber um so weniger, da wir nicht wissen, wann er nach 
Athen kam. Hätte er wirklich, und zwar nach seinem Unterricht bei Krates, 
noch 10 Jahre lang den Xenokrates (gest. 31°,; v. Chr.) gehört (Tımokrares 
b. Dıoe.2), so könnte er kaum nach 328 in Athen angekommen sein; indessen 
fragt es sich, ob diess richtig ist: da er sich in seiner ganzen Denkweise doch 
überwiegend an Krates und Stilpo anschloss, lässt sich ein so langer Besuch 
der akademischen Schule kaum annehmen, vollends wenn man zu den 10 Jah- 
ren des Xenokrates den Unterricht Polemo’s binzurechnet. Im Ganzen soll 
er 20 Jahre lang die Schulen verschiedener Philosophen besucht haben, ehe 
er seine eigene eröffnete (Ὁ. 4). Er selbst wäre nach AroıLoxıus Ὁ. Dıos. 28 
58 Jahre lang seiner Schule vorgestanden; was sich mit dem eben Augetührten 
selbst dann nur mit Mühe vereinigen lässt, wenn man der Angabe, dass er 
98 Jahre alt geworden sei (D. 28. Lucıax Macrob. 19), Glauben schenkt. 
. Nach Prarsäus (D. 28) wäre er nur 72 (Cuixrox F. Hellen. II, 368, i vermuthet 
willkührlich: 92) Jahre alt geworden, und im Ganzen 50 Jahre in Athen ge- 
wesen. Dagegen spricht nun freilich sein Brief an Antigonus (D. 9), worin er 
selbst sich als achtzigjährig bezeichnet; indessen fragt es sich, ob dieser (von 
Diog. dem Tyrier Apollonius, um 50 v. Chr., entlehnte) Brief ächt ist. Auch 


28 Stoiker. 


Athen '), und schloss sich hier zuerst an Krates, den Cy- 
niker, an). Doch scheinen ihn die Uebertreibungen der 
eynischen Lebensweise schon frühe abgestossen zu ha- 
ben 5). und andererseits war der - wissenschaftliche Trieb in 
ihm zu lebendig, als dass ihm eine so dürftige Lehre, wie die 
eynische, hätte genügen können *). Zu ihrer Ergänzung wandte 
er sich erst an Stilpo, in welchem sich die eynische Ethik mit der 
megarischen Dialektik verbunden hatte; er hörte ferner Polemo, 
angeblich auch Xenokrates und den Dialektiker Diodor, mit dessen 
"Schüler Philo er gleichfalls in Verkehr stand°). Erst nach langer 


das Todesjahr Zeno's ist uns unbekannt. Sein Verhältniss zu Antigonus Gona- 
tas (s. u.) beweist zunächst nur, dass er nicht vor dem Regierungsantritt 
dieses Fürsten (278), vielmehr wahrscheinlich erst längere Zeit nach demselben 
gestorben ist; aus den weiteren Angaben, dass er 98 Jahre alt wurde, und 
den Brief an Antigonus 80jährig schrieb, würde folgen, dass er erst nach 
260 v. Chr. gestorben sei; indessen ist hier, wie gesagt, Alles ungewiss. 
Nach Ὁ. 6 müsste er Ol. 130 (260—256 v. Chr.) noch gelebt haben. Auch 
den Archon Arrhenides, unter dem ihm ein goldener Kranz dekretirt wird 
(D. 10), setzt man in’s Jahr 260, aber auch diess ist unsicher. 

1) Die näheren Umstände werden (b. Dıos.2—5.31f. Vgl. Pwvr. inimie. 
util. c. 2.8. 87. Srxeca tranqu. an. 14, 3) verschieden berichtet. Die Meisten 
lassen ihn in Handelsgeschäften nach Athen kommen, und nach einem Schifl- 
bruch, den er oder doch seine Schiffe erlitten haben, durch Zufall mit Krates 
und der Philosophie bekannt werden. Nach Andern kam er zwar auch mit 
'Waaren dorthin, blieb dann aber nach Beendigung seiner Geschäfte, um sich 
der Philosophie zu widmen. Damit lässt sich endlich auch die Angabe des 
Deuerkius von Magnesia (der auch Trewiet. Or. XXIII, 295, D folgt) verbin- 
den, er habe sich schon in seiner Heimath mit Philosophie beschäftigt, und 
sich zu ihrem gründlicheren Studium nach Athen begeben. Mir ist diess das 
Wahrscheinlichste, weil es von gesuchtem Effekt am Weitesten entfernt ist. 
Von wem Erırnan. Heer. V, 8. 12, b gehört hat, er sei erst in Rom gewesen, 
ehe er nach Athen gieng, ist gleichgültig. 

2) Dıoc. VII, 2 ff. VI, 105. 

3) Ὁ. 3: ἐντεῦθεν ἤχουσε τοῦ Κράτητος, ἄλλως μὲν εὔτονος πρὸς φιλοσοφίαν, 
αἰδήμων δὲ ὡς πρὸς τὴν κυνιχὴν ἀναισχυντίαν, wovon dann ein kleiner Beleg folgt. 

4) Vgl. ausser dem unmittelbar Folgenden auch Dıoe. 25 und D. 15: ἦν 
δὲ ζητητιχὸς χαὶ περὶ πάντων ἀχριβολογούμενος. 

5) D. VII, 2. 4. 16. 20. 24 f. II, 114. 120. Numen. b. Εἴ. pr. ev. XIV, 5, 
9f. 6,6. Polemo nennt auch (το, Fin. IV, 16, 45. Acad. 1, 9, 35. Sreano 
XIII, 1, 67. S. 614 seinen Lehrer; über Xenokrates vgl. m. 8. 27,4. Wie be- 
reit er war, von Anderen zu lernen, zeigt auch das Wort Ὁ. Dros. 25. Prvr. 
Fragm. in Hesiod. 9. ΤῸΝ, 511 W. 


Zeno. 29 


wissenschaftlicher Vorbereitung trat er selbst — bald nach dem 
Anfang des dritten, oder auch noch im letzten Jahrzehend des 
vorangehenden Jahrhunderts — als Lehrer auf. Zum Ort seiner 
Vorträge wählte er die Stoa Poikile; von ihr erhielten seine An- 
hänger den Namen der Stoiker, nachdem man sie anfangs Zenoneer 
genannt hatte '). Sein ernster Charakter, die Strenge seiner Sit- 
ten 2), die Einfachheit seines Lebens 5), die Würde, Anspruchs- 
losigkeit und Leutseligkeit seines Benehmens erwarben ihm die 
allgemeinste Achtung); mit dem König Antigonus Gonatas wett- 


1) D.5. Seinen Unterricht ertheilte er nach dieser Stelle, wie Aristoteles, 
so, dass er sich im Auf- und Abgehen mit seinen Freunden unterhielt, deren 
es aber (D. 14) immer nur zwei oder drei sein durften. Ob er daneben auch 
fürmliche Lehrvorträge hielt, wird nicht angegeben, es ist aber zu vermuthen. 

2) Welche freilich nach dem Maasstab jener Zeit und der griechischen 
Lebensgewohnheiten beurtheilt sein will; m. vgl. was Ὁ. 13. Arnen. XII, 
607, 6. 563, e (hier aber offenbar übertreibend) aus Axrıcoxus Karyst. mit- 
theilt. i 

3) Hierüber 8. m. auch Musonıus b. Sros. Serm. 17,43. Auch seine äusseren 
Verhältnisse scheinen sehr einfach gewesen zu sein. Nach einer Angabe 
(D. 13) hätte er zwar die fabelhafte Summe von 1000 Talenten nach Athen 
mitgebracht und auf Zinsen angelegt; Taeuısr. Or. XXI, S. 252 erwähnt, 
dass er einem Schuldner seine Schuld erlassen habe; einem Dialcktiker soll 
er statt der 100 Drachmen, die er verlangte, ein Honorar von 200 bezahlt 
haben (D. 25); auch hören wir nichts von einem eynischen Bettlerleben oder 
auch nur von eigentlicher Armuth. Aber nach Dıoc. 5. Piur. u. Sen. (8. o. 
28, 1) hatte er sein Vermögen ganz oder grösstentheils verloren; nach Sen. 
consol. ad Helv. 12,5 (womit aber Ὁ. 23 streitet) besass er keinen Sklaven. 
Wäre er wohlhabend gewesen, so würde er die Geschenke des Antigonus wohl 
kaum angenommen haben. — Dass Zeno unverheirathet war, erhellt u. A, 
aus D. 13, 

4) M. 5. hierüber D. 13.16. 24.26 ἢ, Arnen. in den 5, 27, 1 angef. Stellen. 
Sumas. Kremess Strom. 413, A. Als besondere Eigenthümlichkeit Zeno's 
wird angeführt, dass er allem Lärm und Volksgewühl möglichst auswich 
. (D. 14), dass er, gewöhnlich sehr ernst, beim Becher sich gehen liess, und 
wohl auch zu viel that; dass er viele Worte nicht leiden konnte, und jene 
kurze schlagende Ausdrucksweise liebte, welche einem Diogenes und Krates 
nachgerühmt wird (D. 16 ff. 20. 24, wo auch eine Anzahl zenonischer Apoph- 
thegmen; Arnex. a. d. a. Ὁ, Sıor. Serm. 34, 10. 36, 19. 23). Seine Sparsam- 
keit soll er, hierin Phönicier, etwas zu weit getrieben haben (D. 16 redet von 
einer βαρβαριχὴ σμιχοολογία); die Geschenke des Antigonus suchte er nicht, 
und brach mit einem Bekannten, der ihm seine Verwendung bei jenem anbot, 
aber er verschmähte sie auch nicht, ohne dabei doch seiner Würde etwas zu 


30 Stoiker. 


eiferte die Stadt Athen in Zeichen der Anerkennung für den ehr- 
würdigen Philosophen 1). Seiner Darstellung fehlte es an Glätte, 
seiner Sprache an Reinheit ?); nichtsdestoweniger gewann er 
viele Schüler (siehe unten). Bei seiner grossen Mässigkeit er- 
reichte Zeno in ungestörter Gesundheit ein hohes Alter, wiewohl 


vergeben. Den Verlust seines Vermögens ertrug er mit grösstem Gleichmuth 
(D.3. Pur. u. Sen. 8. o. 28, 1). 

1) Antigonus (über den auch Arne. XIII, 603, 6. Arzıan Diss. Epict. 
II, 13, 14. Sımer. in Epiet. Enchir. 283, 6. Ἀεὶ, V. H. IX, 26 z.. vgl.) ver- 
kehrte gerne mit ihm, besuchte seine Vorträge und wollte ihn an seinen Hof 
ziehen; Zeno lehnte diess jedoch ab, und sandte statt seiner zwei seiner 
Schüler. Die Athener (denen er nach Aruıan’s unzuverlässiger Angabe, V. H. 
VII, 14, auch politische Dienste bei Antigonus geleistet haben soll) ehrten ibn 
durch eine öffentliche Belobung, einen goldenen Kranz, eine Bildsäule und 
ein Begrähbniss im Ceramikus; dass sie die Schlüssel der Stadt bei ihm nie- 
dergelegt haben, ist nicht glaublich. (Das Vorstehende nach D. 6—15, wo 
sich auch der Volksbeschluss über Zeno und die Briefe zwischen ihm und 
Antigonus finden; die letztern hat aber schon Brucker Hist. phil. I, 897 mit 
Grund bezweifelt.) Das athenische Bürgerrecht lehnte er ab (Prur. Sto. rep. 
4, 1. S. 1034, nach Astırater). Auch seine Landsleute in Citium liessen es 
an Zeichen ihrer Anerkennung nicht fehlen (D.6. Prix. ἢ. nat. XXXIV, 19, 32), 
wie auch er selbst immer ein Citier sein wollte (D. 12. Pı.vr. a. a. O.). 

2) Er selbst vergleicht b. Dıoe. VII, 18, offenbar sich selbst vertheidigend, 
die λόγοι ἀπηρτισμένοι der ἀσόλοιχοι den elegant geprägten alexandrinischen 
Münzen, welche darum aber nicht besser, sondern im Gegentheil oft leichter 
seien, als die kunstloseren attischen. Im Besonderen wird ihm zweierlei vor- 
geworfen: einestheils der unrichtige Gebrauch und die sprachwidrige Neu- 
bildung von Wörtern, wegen deren ibn Cıc. Tuse. V, 11, 34 einen ignobilis 
verborum opifer nennt, jenes χαινοτομεῖν ἐν τοῖς ὀνόμασι (Gaven Diff. puls. IIT, 1. 
Bd. VIII, 642, K.), das Curysırrus in einer eigenen Schrift x. τοῦ χυρίως χε- 
χρῆσθαι Ζήνωνα τοῖς ὀνόμασιν ablehnte; andererseits der Grundsatz, über dem 
nach Cıc. ad Div. IX,22 er und seine Schule namentlich von den Akademikern 
angegriffen wurde, dass man nichts verbüllen, sondern Allem, auch dem Un- 
anständigsten, seine eigentliche Bezeichnung geben solle. Mit dem ersten 
von diesen Vorwürfen steht dann die weitere Behauptung in Verbindung, auf 
die wir tiefer unten zurückkommen, dass Zeno eigentlich nichts Neues vorge- 
bracht, sondern nur die Gedanken seiner Vorgänger sich angeeignet, und 
diesen Diebstahl durch eine veränderte Terminologie zu verbergen gesucht 
habe. Vgl. Dıoe. VII, 25, wo schon Polemo (wenn ihm diess nämlich nicht 
erst von späteren Akademikern in den Mund gelegt ist) von ihm sagt: χλέπτων 
τὰ δόγματα Φοινιχιχῶς μεταμφιεννὺς, namentlich aber Cıcrro, welcher diesen 
Vorwurf sehr oft, nach dem Vorgang des Antiochus, wiederholt: Pin. V, 25, 
74. IH, 2,5. 1V, 2,3. 3, 7. 26, 72. V, 8,22. 29, 88. Acad. IT, 5, 15. Lege. 
1, 18, 38. 20,53 &. Tune. II, 12, 20, 


’ 


Zeno. Kleanthes. 31 


sein Körper von Hause aus weder kräftig noch schön war). 
Schliesslich veranlasste ihn eine unbedeutende Verletzung, in der 
er einen Wink des Schicksals sah, freiwillig aus dem Leben zu 
scheiden 3). Von seinen nicht sehr zahlreichen Schriften 5), welche 
für uns bis auf wenige Bruchstücke verloren sind, gehörten einige 
noch der Zeit an, in welcher er als Schüler des Krates dem Cy- 
nismus unbedingter beistimmte, als diess später der Fall war 2); 
was man bei der Darstellung seiner Lehre nicht übersehen darf. 
Zeno’s Nachfolger auf dem Lehrstuhl war Kleanthes°) aus 
‚Assos in Troas ©); ein Mann von strengem und festem Charakter, 
seltener Ausdauer, Arbeitsamkeit und Genügsamkeit, aber von 
langsamer Fassungskraft und geringer Beweglichkeit des Den- 
kens, ein Geistesverwandter des Xenokrates, ganz geeignet, die 
Lehre des Meisters festzuhalten und durch das sittliche Ge- 


1) D. 28, 1. Doch wird die Angabe, dass er ἄνοσος geblieben sei, schon 
nach Ὁ. VII, 162. Sror. Floril. 17, 43 nicht ganz streng zu nehmen sein. 

2) Ὁ. 28.31. Lucrax Macrob. 19. Lacranr. Inst. III, 18. Srob, Floril. 
7,45. Scıp.u.d. W. : 

3) Ihr Verzeichniss bei Dıoc. 4, wozu D.34.39 f. 134 noch einige weitere 
hinzugefügt werden; die Διατριβαὶ jedoch (D. 34. Sexr. Pyrrh. II, 205. 245. 
Math. XI, 90), gleichfalls gut eynisch, könnten mit den ἀπομνημονεύματα Kpa- 
tntos (Ὁ, 4), die Τέχνη ἐρωτιχὴ D. 34 mit der Τέχνη D. 4 identisch sein; eine 
Rhetorik, woran bei der letztern zunächst zu denken wäre, scheint wenigstens 
Cicero und dem, welchem er Fin. IV, 3, 7 folgt, von Zeno nicht bekannt ge- 
wesen zu sein, und ob der Ungenannte Rhet. gr. ed. Srexseı. I, 434. 447 un- 
sern Zeno oder einen andern meint, lässt sich nicht bestimmen. Ebenso wird 
die Auslegung Hesiod’s, auf welche man aus Cıc. N. D. I, 14, 36 geschlossen 
hat, von Krıscne Forsch. 367 wohl mit Recht in der Schrift x. τοῦ ὅλου ge- 
sucht, und mit dieser auch die π. φύσεως (ὅτοΒ. Ekl. I, 178) identifieirt. Einige 
weitere Zeugnisse über die zenonischen Schriften weist Faprrc. Bibl. gr. ΠῚ, 
580 f,. Harl. nach. 

4) Diess ergiebt sich wenigstens mit grosser Wahrscheinlichkeit ausD.4: 
ἕως μὲν οὖν τινὸς ἤκουσε τοῦ Κράτητος" ὅτε καὶ τὴν πολιτείαν αὐτοῦ γράψαντος, τινὲς 
ἔλεγον παίζοντες ἐπὶ τῆς τοῦ χυνὺς οὐρᾶς αὐτὴν γεγραφέναι. 

5) Mousıke Kleanthes d. Sto. Erstes (u. einziges) Bdch. Greifsw. 1814. 
Cleanthis Hymn. in Jovem ed. Sturz, ed. πον. cur. Merzporr. Lips. 1835. 

6) Straso XIII, 1, 57. 8. 610. Dios. VII, 168. Aerıan Hist. anim. VI, 50 
u.A. Wie Kırsess Protrept. 47, A dazu kommt, ihn Πισαδεὺς zu nennen, 
lässt sich schwer sagen, ist aber auch ziemlich gleichgültig. Vermuthungen 
darüber b. Monsıkr 8. 67 ff. Derselbe bemerkt 8. 77 richtig, dass auch der 
Pontiker Kleanthes b. Dıioe. IX, 15 mit dem unsrigen Eine Person sein müsse; 
noch richtiger streicht Coser die Worte ὁ Ποντιχὸς hinter Κλεάνθης. 


32 Stoiker. 


wicht seiner Persönlichkeit zu empfehlen, aber zu ihrer 
wissenschaftlichen Fortbildung und tieferen Begründung nicht 
befähigt). Neben ihm sind unter den Schülern Zeno’s die 
bekanntesten: Aristo von Chius?) und Herillus von Kar- 


1) Nach Axrıstnenes (dem Rhodier) b. Dıoe. a. a. Ὁ. war er erst Faust- 
kämpfer, kam mit einem Vermögen von 4 Drachmen nach Athen, und trat 
bier in die Schule Zeno’s ein (nach Hesvca. u. Suıp. u. ἃ, W. erst in die des 
Krates, was aus chronologischen Gründen nicht angeht; umgekehrt macht 
ihn Varer. Max. VILL, 7, ext. 11 zum Schüler des Chrysippus, eine Verwechs- 
lung des Lehrer- und Schülerverhältnisses, die auch sonst vorkommt; vgl. 
Bd. II, b, 751, 4), der er 19 Jahre lang angehört haben soll (D. 176); seinen - 
Lebensunterhalt erwarb er sich durch anstrengende Tagelöhnerarbeit (Ὁ. 168 ἢ, 
vgl. 174. Por. vit. aer. al. 7,5. 8.830. Varer. ἃ. ἃ. Ὁ. Seneca ep. 44, 3. 
Sup. u. A. vgl. Kriscne Forsch. 416); eine ihm angebotene öffentliche Unter- 
stützung zurückzuweisen soll ihn Zeno bestimmt haben, der es sich überhaupt 
angelegen sein liess, seine Willenskraft durch Uebung auf das äusserste Maass 
zu spannen (D. 169 f. Hesvcn.). Um so unwahrscheinlicher ist es, dass er 
von Antigonus 3000 Minen erhielt (D. 169). Ueber die Einfachheit seines 
Lebens, seinen ausdauernden Fleiss, seine Anhänglichkeit an Zeno und seine 
schwere Fassungskraft s.m. Dıos. 168. 170 f. 37. Prur. De audiendo 18. 8.47, 
Cıc. Tusc. Il, 25, 60. Auch er soll es verschmäht haben, athenischer Bürger 
zu werden (Pur. Sto. rep. 4. 8. 1034). Er starb, wie erzählt wird, nachdem 
er aus Anlass einer Erkrankung ein paar Tage gefastet hatte, durch freiwillig 
fortgesetzte Aushungerung (D. 176. Lucıan Macrob. 19. Sros. Floril. 7, 54). 
Sein Alter giebt D. 176 auf 80, Lucıan und VaALer. Max. VII, 7, ext. 11 un- 
wahrscheinlicher auf 99 Jahre an. Ein Verzeichniss seiner ziemlich zahl- 
reichen Schriften, meist moralischen Inhalts, giebt Πτοα. 174 ἔν; Erläuterungen 
und Ergänzungen dazu b. Fasrıc. Bibl. III, 551 f. Harl. Mousıze 8. 90 fi. 
Ueber die Achtung, welche er in der stoischen Schule, und schon bei Chry- 
sippus, trotz dessen wissenschaftlicher Ueberlegenheit, genoss, 8. m. D. VII, 
179. 182. Cıc. Acad. II, 41, 126. In späterer Zeit liess der römische Senat in 
Assos seine Bildsäule aufstellen; vgl. Sımruicıus in Epiet. Enchir. e. 53, 329, b, 
der sie dort noch sah. 

2) Aristo, Miltiades Sohn, aus Chios (über den unter den Neueren am 
Eingehendsten Krıschz Forsch. 405 ff. handelt), wegen seiner Veberredungs- 
kunst die Sirene, aber auch der Kahlkopf zubenannt, war Schüler Zeno’s 
(D. 37. 160. Cıc. N. D. 1, 14, 37. Acad. II, 42, 130. Sex. ep. 94, 2 u. A.), soll 
aber während einer Krankheit desselben zu Polemo übergetreten sein (Droxu.rs 
b. Dıos. 162); und könute man auch dagegen einwenden, dass seine Lehre 
von der zenonischen nicht in der Richtung des Platonismus, sondern in der 
entgegengesetzten abweicht, so konnte ihn doch immerhin Polemo's Verach- 
tung der Dialektik (D. IV, 18; 5. Bd. II, a, 694) wenigstens vorübergehend 
anziehen. Besser bezeugt ist die Anschuldigung, dass er in seinem Verhalten 
gegen die Lust weniger gleichgültig gewesen sei, als man diess nach seinen 


Aristo: Herillus. 33 


thago.'), welche sich in entgegengesetzter Richtung von sei- 
ner Lehre entfernten: jener, indem er sie streng im Cy- 


Grundsätzen hätte erwarten sollen (ErATosTHENES u. ArorLopnanes b. ATHEN. 
VII, 281, c. d); wogegen der Vorwurf unwürdiger Schmeichelei gegen seinen 
Mitschüler Persäus durch das Zeugniss Tımox’s (b. Arnen. VI, 251, c) nicht 
sichergestellt ist. Einen freundschaftlichen Verkehr mit Kleanthes bezeugen 
seine Briefe an diesen, u. T#euıst. Or. XXI, S. 255, b. Seinem Lehrer Zeno 
soll seine Redseligkeit zuwider gewesen sein (D. VII, 18). Er selbst trat in 
dem alten Lokal des Antisthenes, im Cynosarges, als Lehrer auf (D. 161), um 
sich auch dadurch als Abkömmling des Cynismus zu bezeichnen; von seinen 
zahlreichen Schülern (D. 182 vgl. Prur. c. princ. philos. 1, 4. S. 776) nennt 
Dıos. 161 zwei: Miltiades und Diphilus, Arnen. ἃ. ἃ. Ὁ. fügt Apollo- 
phanes und Eratosthenes, den berühmten alexandrinischen Gelehrten, 
hinzu, welche beide einen „Aristo“ geschrieben hatten; von dem letzteren 
erbellt es auch aus Srraso I, 2, 2.8.15. Sur. Ἔρατοσθ., nur dass er nach 
Strabo’s Urtheil in der Philosophie überhaupt nur Dilettant war; Apollo- 
pbanes folgt zwar bei Dıos. VII, 92 Aristo’s Ansicht über die Tugend, 
beschränkte sich aber nicht auf die Ethik: Dıioc. VII, 140 führt seine Physik, 
Tert. De an. 14 seine Annahmen über die Theile der Seele an. Da Era- 
tosthenes Ol. 126, 1 (276 v. Chr.) geboren war, muss Aristo um 250 noch ge- 
lebt haben. Damit stimmt zusammen, dass er als Zeitgenosse und eifriger 
Gegner des Arcesilaus bezeichnet wird (Straso a. a. Ὁ. Dioc. VII, 162 £. 
IV,40; auch IV,33 wird doch wohl auf ihn, nicht auf den Peripatetiker, gehen). 
Nach D. VII, 164 wäre er am Sonnenstich gestorben. Seine Schule war nicht 
allein zu Cicero’s und Strabo’s Zeit längst ausgestorben (Cıc. Legg. I, 13, 38. 
Fin. ΕἸ 11, 35. V, 8, 23. Tusc. V, 30, 85. Off. I, 2,6. Straso a. a. O.), son- 
dern wir können ihre Spuren überhaupt nicht über die erste Generation hinaus 
verfolgen. Die Schriften, welche D. VII, 163 aufzählt, sollen Panätius und 
Sosikrates, mit alleiniger Ausnahme der Briefe an Kleanthes, dem Peripate- 
tiker beigelegt haben. Indessen macht mir Krısche S. 408 ff., auch nach 
Sauppe's beachtenswerther Einsprache (Philodemi De vit. lib.X. Weim. 1853. 
S. 7 f.), wenigstens für einen Theil derselben dieses Urtheil verdächtig; von 
den ὁμοιώματα besonders scheint es mir, dass sich in ihren von Srosäus im 
Florilegium (s. d. Index) aufbewahrten Bruchstücken der Stoiker nicht ver- 
kennen lasse. Aus den Ὅμοια stammen vielleicht auch die Aeusserungen b. 
Sen. ep. 36, 3. 115,8. Prur. De aud. 8,5. 42. De sanit. 20, 5. 133. De exil. 
5, S. 600. praec. ger. reip. 9, 4, S. 804. aqua an ign. util. 12, 2, S. 958. 

1) Herill’s Vaterstadt war nach Ὁ. VII, 37. 165 Karthago (wenn CorEr 
an. der letztern Stelle Χαλχηδόνιος fand, so wird diess die gleiche Verwechslung 
von Χαλχηδὼν oder harynöwv mit Καρχηδὼν sein, vermöge der umgekehrt 
Xenokrates Καρχηδόνιος heisst: s. Bd. II, a, 645, 1); er kam jedoch schon als 
Knabe unter Zeno’s Leitung (D. 166. vgl. Cıc. Acad. II, 42, 129). Die 
Schriften, worin Herillus seine Ansichten niederlegte, zählt Dıoc. a.a.O. auf, 
indem er sie zugleich als ὀλιγόστιχα μὲν δυνάμεως δὲ μεστὰ bezeichnet. Cıc. De 

Philos. d. Gr. III. B. 1. Abth. = 


Σ 


34 Stoiker. 


nismus festhalten, dieser, indem er sie an einem Haupt- 
punkt der peripatetischen auf bedenkliche Weise annähern 
wollte); Persäus, Zeno’s Landsmann und Hausgenosse 5), ne- 


orat. III, 17, 62 redet von einer Schnle der Herillier, die aber (auch nach Fin. 
II, 13, 43) längst aufgehört habe. Wir kennen jedoch keinen Schüler von 
ihm; möglich, dass er überhaupt keine Schule hinterliess, sondern nur als 
Schriftsteller wirkte. 2 

1) Das Nähere hierüber tiefer unten. 

2) Seine Vaterstadt war Citium, sein Vater hiess Demetrius (D. 6. 36), 
er selbst soll den Beinamen Dorotheus geführt haben (Su. Περσ.). Nach 
D. 36. Sorıox u. Nıcıas b. Arne. IV, 162, d. Gerr. II, 18, 8 (aus ihm 
Macro. Sat. I, 11). Orıe. c. Cels. III, 483, ἃ war er erst Zeno’s Sklave, was 
‚sick mit der Angabe, er sei sein Schüler u. Hausgenosse gewesen (D. 36. 13. 
Cıc. N. D. I, 15, 38. Armen. XIII, 607,e. Pausan. II, 8, 4) und von ihm er- 
zogen worden (Svip.), leicht vereinigen lässt; weniger verträgt sich damit und 
mit Dıoc. 6. 9 die Behauptung, er sei ihm von Antigonus als Abschreiber 
geschenkt worden (Ungenannte b. Dıoe. 36). Später lebte er am Hof des An- 
tigonus (Armes. VI, 251, c. XIII, 607, a fl. Tmesıst. Or. XXXU, S.358 u. A.),. 
dessen Sohn Haleyoneus (Aeııan V. H. III, 17 sagt fälschlich: ihn selbst) er 
unterrichtet haben soll (D. 36), und bei dem er sehr in Gunst stand (Prur. 
Arat.18. Arnen. VI, 251,c); als ihm jedoch der Befehl über die macedonische 
Besatzung in Korinth übertragen wurde, liess er sich durch Aratus über- 
rumpeln (243 v. Chr... Nach Pausan. II, 8,4. VII, 8,1 wäre er selbst bei 
dieser Gelegenheit umgekommen; das Gegentheil berichten Pı.yr. Arat. 23. 
Aruen. 1V, 162,.c (nach Hernırrus; die Anekdote selbst freilich bietet wenig 
Bürgschaft) Poryäs. VI,5. In seiner Lebensweise und seinen Ansichten scheint 
er einer ziemlich laxen Auffassung der stoischen Grundsätze gehuldigt zu 
haben (m. vgl. D. 13. 36. Arnen. IV, 162, b f. XIII, 607, a fl; die Ver- 
muthung ὃ. 607, e jedoch ist ebenso unwahrscheinlich als gehässig); um so 
natürlicher ist es, dass er mit Aristo’s Cynismus nicht einverstanden war (die 
Neckerei bei D. VII, 162 beweist allerdings nicht viel), wie denn auch sein 
Schüler Hermagoras gegen die Cyniker schrieb (Sum. Ἕρμαγ. ’Aupı π)); 
dagegen hatte Menedem’s Hass gegen ihn politische Gründe (Ὁ. II, 143 f.). 
Im Uebrigen wird von ihm nur ächt Stoisches berichtet; vgl. Dıoe. VII, 120. 
Cıc. N. D. 1, 15, 38. (daher Mınuc. Ferıx Octav. 21, 3). Pmiropesm. De Mus., 
Vol. Hereul. I, col. 14 (wozu das S. 30, 2 über Zeno’s χυριολεξία Bemerkte 
2. vgl.) Die Schriften, welche D. 36 aufzählt, sind meist ethischen und 
politischen Inhalts; zu denselben kommt die Ethik (Ὁ. 28), die συμποτιχὰ 
ὑπομνήματα oder συμποτιχοὶ διάλογοι, aus denen b. Arnen. IV, 162, b. c. XIII, 
007, a fl. Einiges mitgetheilt wird (ebd. IV, 140, b. e ein paar Notizen aus der 
πολιτεία Λαχωνιχὴ), und die Ἱστορία b. Sun. u. Eunocıa (S. 362), wenn diese 
mit Reeht im Text steht. Ob Cıcrro’s (oder vielmehr Philodem’s) Angabe a. a. O. 
einer von Diogenes übergangenen Schrift, oder vielleicht dem Buche r. ἀσεβείας 
entnommen ist, lässt sich nicht sagen. 


Schüler Zeno’s. 35 


ben dem hier auch der bekannte Dichter Aratus aus Soli 1) zu 
nennen ist; Dionysius aus Heraklea in Pontus, der aber später 
zur eyrenaischen oder epikureischen Schule übertrat 5); Sphärus 
aus Bosporus, welcher erst Zeno’s, dann Kleanthes’ Schule be- 
suchte, der Freund und Rathgeber des unglücklichen spartanischen 
Reformators Kleomenes 3). Von einigen andern zenonischen Schü- 


1) Nach dem Lebensabriss bei Buru.e Arat. Opp. I, 3 war Aratus in Athen 
Schüler des Persius (-äus), mit dem er auch nach Macedonien zu Antigonus 
gieng; was aber doch nur heissen kann, er sei zugleich mit Persäus, und in 
besonderer Verbindang mit diesem, Schüler Zeno’s gewesen. Als solchen 
bezeichnet ihn auch eine andere Vita (ebd. II, 445), indem sie zugleich eines 
von ihm an Zeno gerichteten Briefs erwähnt. Andere Biographen (bei Buark 
II, 431. 442) geben ihm Dionys von Heraklea zum Lehrer, eine dritte Angabe 
(ebd. 8.446. Sup. τι. ἃ. W.) Timon und Menedemus, die er vielleicht vor seiner 
Verbindung mit Zeno gehört hatte. Seinem Stoicismus bat er in dem berühm- 
ten Eingang der Phänomena, welcher dem Hymnus Kleanth’s nahe verwandt 
ist, ein Denkmal gesetzt. Wenn ihm Askterıapes (in der Vita b. Burte 
II, 429) Tarsus zur Vaterstadt gab, so setzt er die bekanntere von den ciliei- 
schen Städten an die Stelle der minder bekannten. 

2) Daher sein Beiname ὃ Meraßdusvos. M. 5. über ihn und seine Schriften 
Dios. VII, 166 ἢ, 37. 23. V, 92. Arnen. VII, 281, ἃ. X, 437, 6. Cıc. Acad. II, 
22, 71. Tuse. II, 25, 60. Fin. V, 31, 94. Vor Zeno soll er den Pontiker 
Heraklides, Alexinus und Menedemus gehört haben. 

3) D. 177 £. Prur. Kleom. 2. 11. Arsen. VIII, 354, 6. Vor seine Ver- 
bindung mit Kleomenes scheint Sphärus’ Anwesenheit in Aegypten zu fallen, 
wo wir ihn bei Athen. und Diog. am Hofe des Ptolemäus treffen, wenn wenig- 
stens richtig ist, dass er (nach Ὁ. VII, 185. Aruen. a. a. Ὁ.) noch Schüler des 
Kleanthes war, als er dorthin gieng; denn schon. beim Regierungsantritt des 
Kleomenes (236 v. Chr.) war Kleanthes schwerlich mehr am Leben, Sphärus 
blieb aber überdiess jedenfalls mehrere Jahre bei diesem Fürsten, und wenn 
erihn auch vor seiner Flucht aus Sparta (221 v. Chr.) verlassen haben sollte, 
war er doch damals nicht mehr ein Mitglied der stoischen Schule in Athen. 
Möglich, dass Sphärus in diesem Fall zunächst im Auftrag des ägyptischen 
Königs zu Kleomenes gekommen war. Nur kann der Ptolemäus, zu dem 
Sphärus gieng, dann nicht, wie Dıoc. 177 sagt, Philopator (der erst 221 v.Chr. 
den Thron bestieg), sondern es muss Ptol. Euergetes, oder gar noch Ptol. 
Philadelphus gewesen sein. Wollte man andererseits der Angabe, dass es 
Philopator war, Glauben schenken, so könnte man annehmen, Spbärus sei κῦ. 
221 mit Kleomenes nach Aegypten gegangen. — Die zahlreichen Schriften des 
Sphäirus (D. 178; die Λαχωνιχὴ πολιτεία auch bei Armen. IV, 141, b) beziehen 
sich auf alle Theile der Philosophie, und auf einige der älteren Philosophen; 
nach Cıc, Tusc. IV, 24, 53 wurden seine Definitionen, von denen dort einige 
mitgetheilt werden, in der stoischen Schule besonders geschätzt. 


3“ 


86 Stoiker. 


lern ἢ) kennen wir kaum mehr, als die Namen. Eine erhebliche 
Fortbildung hat die stoische Lehre durch keinen von ihnen 
erfahren. j 

Es war daher ein Glück für die Schule, dass auf Kleanthes 
ein Mann von der Gelehrsamkeit und der dialektischen Kraft des 
Chrysippus ?) folgte. Dieser Philosoph ist nach dem Urtheil der 
Alten der zweite Begründer des Stoicismus ?). Um das Jahr 280 
v. Chr.) zu Soli in Cilicien 57 geboren 5). hatte er Kleanthes 7), 


1) Athenodorus ans Soli (D. VII, 38. 100 — ebd. 121 scheint ein 
Jiingerer gemeint zu sein); Kallippus aus Korinth, Ὁ. 38; Pbilonides 
aus Theben, der mit Persäus zu Antigonus gieng, D. 9.38; Posidonius aus 
Alexandria, Ὁ. 38. Suıp. u. d. W. (wozu aber BersHaepr z. vgl.); Zeno aus 
Sidon, ein Schüler des Diodorus Kronus, welcher sich an Zeno anschloss, 
D. 38. 16. Sum. u.d. W. Ἴ 

2) Βλαῦξτ De Chrysippo. Annal. Lovan. Vol. IV. Lovan. 1822. 

3) Εἰ μὴ γὰρ ἦν Χρύσιππος οὐχ ἂν ἦν στοά (Ὁ. 183). Cıc. Acad. II, 24, 75: 
Uhrysippum, qui fulcire putatur porticum Stoicorum. Ατπεν, VII, 888, b: 
Χρύσιππον τὸν τῆς στοᾶς ἡγεμόνα u. A. 5. Bacuer S. 16. 

4) Nach Arrouconor b. Dıoc. 184 starb er ΟἹ. 148 (208, v. Chr.) 73 Jahre 
alt, was für sein Geburtsjahr einen Spielraum von 281 — 276 v. Chr. offen 
lässt. Nach Lucıan Macrob. 20 wäre er 81 Jahre alt geworden, nach Varer. 
Max. VIII, 7, ext. 10 vollendete er im 80sten Jahr das 39ste Buch seiner Logik. 

5) So Dıoa. 179. Prur. De exil. 14. S. 605. Srraso XII, 1, 57. 5. 610. 
XIV, 4, 8. 8.671 und weit die Meisten. ALexaxper Polyhistor b. Dios. ἃ. ἃ. Ὁ. 
und Suıp. Ζήν. Διοσχ. nennt ihn einen Tarsenser; und da sein Vater Apollonius 
(so nennt ihn Dıoc. ἃ. ἃ. Ὁ.) aus Tarsus in Soli eingewandert war (Srraro 
S. 671), wäre es immerhin möglich, dass Chrys. in Tarsus geboren und als 
Kind nach Soli gekommen war. 

6) Sonst hören wir über sein früheres Leben nur, dass er sich für den 
Wettlauf ausgebildet habe (D. 179 — doch kann man gegen diese Angabe 
wegen der verwandten über Kleanthes, D. 168, einiges Misstrauen hegen, um 
so mehr, da Chrysippus mit seiner langathmigen Dialektik ebenso zum Dolicho- 
dromen gemacht worden sein könnte, wie der massive Kleanthes zum Faust- . 
kämpfer), und dass sein väterliches Vermögen confiseirt worden sei (HexAro 
bei D. 181). Später finden wir bei ihm eine ärmliche häusliche Einrichtung, 
sofern sein ganzes Hausgesinde in einer alten Dienerin bestand (D. 185. 181. 
183); ob diess aber Armuth oder stoische Einfachheit war, wissen wir nicht; 
das Floril. Monae. (Sro». Floril. ed. Mein. IV, 289) 262 nennt ihn λιτὸς, ἔχων 
χρήματα πολλά. 

7) Hierüber sind alle Zeugen einig; es genügt daher an D. 119 ff. Wann 
und wie er nach Athen kam, wird nicht berichtet; in der Folge erhielt er hier 
das Bürgerrecht (Prur. Sto. rep. 4, 2. $. 1034). 


Chrysippus. j 37 
. 


angeblich auch noch Zeno !) gehört; nach des Ersteren Tod über- 
nahm er die Leitung der stoischen Schule ?). Neben ihm soll er 
auch die Philosophen der mittleren Akademie, Arcesilaus und La- 
eydes, gehört haben °); ihr dialektisches Verfahren hatte er sich 
so vollständig angeeignet, dass die späteren Stoiker klagten, er 
selbst habe durch die Meisterschaft, mit welcher er die philosophi- 
schen Zweifel ausführte, ohne sie doch immer befriedigend lösen 
zu können, Karneades die Waffen gegen ihre Schule in die Hand 
gegeben *). Seine dialektische Schärfe und Gewandtheit ist es 
überhaupt, wodurch er in der Geschichte des Stoicismus vor Allem 
Epoche macht°); auch an Gelehrsamkeit war aber der Mann, 
welcher für einen der arbeitsamsten und kenntnissreichsten im 
Alterthum gilt®), seinen Vorgängern weit überlegen; und bei der 


1) D. 179. Von Seiten der Chronologie können wir diese Angabe, un- 
vollkommen unterrichtet, wie wir sind, nicht prüfen; die Zeugnisse sind ihr 
nicht eben günstig. 

2) Dioc. pro. 15. Straso XIII, 1, 57. 8. 610 u. v. A. 

3) Dıoc. VII, 183. Dass er selbst, wie Ritter III, Ba vermuthet, durch 
die akademische Skepsis eine Zeit lang in seinem Stoieismus schwankend 
wurde, und in dieser Zeit die Schrift gegen die συνήθεια schrieb, ist möglich, 
aber nicht zu einem höheren Grad der Wahrscheinlichkeit zu bringen; dass er 
aber damals auch von Kleanthes sich getrennt und diesem eine eigene Schule 
im Lyceum entgegengestellt habe, liegt wenigstens in dem, was Dıoc. 179.185 
sagt, nicht. 

4) D.184. vgl.IV,62. Cıc. Acad. II, 27,87. Prur. Sto.rep. 10, 3 fi. S. 1036. 
Diese drei Stellen beziehen sich hauptsächlich auf Chrysipp’s 6 Bücher χατὰ 

. τῆς συνηθείας. Dagegen preist ihn sein Schüler Aristokreon b. Pıur. a. a. O. 
2, 5 als τῶν ᾿Αχαδημιαχῶν στραγγαλίδων zorlöx. Vgl. Pıur. comm. not. 1, 4, 
8. 1059. 

5) Noch als Schüler des Kleanthes soll er diesem gesagt haben, er möge 
ihm nur die Lehrsätze geben, die Beweise wolle er schon selbst finden; in der 
Folge gieng über ihn die Rede, wenn die Götter eine Dialektik haben, sei es 
keine andere, als die des Chrysippus (D. 179 f.). Weiter 8. m. Cıc. N. D. I, 
15, 30 (wo ihn der Epikureer Stoicorum somniorum vaferrimus interpres 
nennt). II, 6,16. III, 10, 25. Divin. I, 3,6 (Chr. acerrimo wir ingenio). SENECA 
Benefie. I, 5, 8. 4, 1, der sich nur über seine allzugrosse Spitzfindigkeit be- 
schwert. Dıoxvs. Hal. comp. verb. S. 68 Schäf. (Chrysipp sei der geübteste 
Dialektiker, aber unter allen namhaften Schriftstellern der schlechteste Stylist 
gewesen) u. A. vgl. Krıschne Forsch. I, 445. 

6) Dıos. 180. Arnes. XIII, 565, a. Dawasc. v. Isid. 36. Cıc. Tuse. I, 
45, 108. 


38 Stoiker. 


Unabhängigkeit der Gesinnung, die er auch in seinem sonstigen 
Verhalten an den Tag legte 1), und dem wissenschaftlichen Selbst- 
gefühl, das ihn beseelte ?), ist es sehr natürlich, dass er in man- 
chen Stücken von Zeno und Kleanthes abwich 5). Doch werden 
wir finden, dass die Grundlagen des Systems durch ihn nicht ver- 
rückt, sondern nur seine wissenschaftliche Fassung vervollständigt 
und verschärft wurde. Er hat die stoische Lehre nach allen Seiten 
hin mit solcher Vollständigkeit in’s Einzelne ausgeführt, dass den 
Späteren in dieser Beziehung kaum noch eine Nachlese übrig’ zu 
bleiben schien %). Durch die Masse seiner Schriften 5) that eresselbst 
einem Epikur zuvor 5); uns sind von denselben nur Titel und ver- 
hältnissmässig wenige Bruchstücke übrig 7). Dass freilich mit dieser 
ausserordentlichen schriftstellerischen Fruchtbarkeit die künstle- 
rische Vollendung der chrysippischen Werke nicht gleichen Schritt 
hielt, begreift sich: die Alten klagen einstimmig über ihre nach- 
lässige und unreine Sprache, ihre trockene und doch oft unklare 
Darstellung, über die Weitschweifigkeit, die endlosen Wiederho- 
lungen, die übermässig vielen und langen Citate, die allzu häufige 
Berufung auf Etymologieen, Auctoritäten und andere werthlose 


1) Dıos. 185 hebt es als etwas Besonderes hervor, dass er sich weigerte, 
dem Rufe des Ptolemäus an seinen Hof zu folgen, und dass er von seinen zahl- 
reichen Schriften keine einem Fürsten widmete. 

2) D. 179. 183. 

3) Cıc, Acad. II, 47, 143. Ὁ, 179. Prur. Sto. rep. 4, 1. 5. 1034. Nach 
dieser Stelle hatte Antipater eine eigene Schrift περὶ τῆς Κλεάνθους χαὶ Χρυσίππου 
διαφορᾶς verfasst. 

4) Quid enim est a Chrysippo praetermissum in Stoieis? Cıc. Fin. I, 2, 6. 

5) Nach D. 180 waren es deren nicht weniger als 750. Vgl. VaLer. Max. 
VIII, 7, ext. 10. Lucraw Hermotim. 48, 

6) Den Epikureern schien diess aber doch die Ehre ἤν Meisters zu 
beeinträchtigen; daher der Vorwurf, Chrysipp habe absichtlich mit Epikur in 
die Wette geschrieben (D. X, 26), und die Kritik ArorLonor’s, Ὁ. VII, 181. 

7) Sehr ausführlich und mit holländischer Gelehrsamkeit handelt darüber 
Basuer ὃ, 114— 357, der aber doch noch manches Fragment übergangen hat; 
über die logischen Schriften, deren allein es, nach D. 198, 311 Bücher waren 
(wozu aber das eigene Verzeichniss des Diog. nicht ganz stimmt) Nıcon.ar 
De logieis Chrysippi libris. Quedlinb. 1859 (Gymn.progr.). Praxzı. Gesch. 
d. Log. I, 404 ff, Eine systematische Anordnung aller bekannten Bücher ver- 


sucht Prrerssn Philosophiae Chrysippeae Fundamenta (Hamburg 1827) 
S, 321 ff. 


is, 39 
Beweismittel 1). Aber die stoische Lehre hat durch Chrysippus 


ihre Vollendung erhalten; als er um 206 v. Chr. starb ?), war die 
Gestalt, in welcher sie den folgenden Jahrhunderten überliefert 
wurde, nach allen Seiten hin festgestellt. 

Ein Zeitgenosse Chrysipp’s, etwas älter, als dieser, scheint 
jener Teles gewesen zu sein, aus dessen Schriften uns StopÄus 8) 
Einiges aufbewahrt hat 5); populäre moralische Betrachtungen im 
Sinn des Cynismus und Stoicismus. Derselben Zeit gehört der be- 
rühmte, in allen Zweigen.des Wissens, vorzugsweise jedoch in 
‚den mathematischen Wissenschaften höchst ausgezeichnete Cyre- 


Chrysippus; Teles; Eratosthenes. 


1) M. s. darüber Cıc. De orat. I, 11,50. Dioxvs. Hal. 5. ο. 37,5. Dioe. 
VI, 180 ἢ. X, 27. Gate Differ. puls. II, 10. Bd. VIII, 631 K. Hippoer. et 
Plat. plac. II, 2. IIT, 2 ff, Bd.V, 213. 295 ff. 308 f. 312. 314 f. und was Bauer 
8. 26 ff. weiter anführt. Chrysippus selbst b. Pıvr. Sto. rep. 28,2 meint, übel- 
lautende Wortverbindungen, Solöcismen, dunkle Ausdrücke und Ellipsen haben 
nicht viel auf sich. Ein Beispiel von geschmackloser Häufung und Verwendung 
dichterischer Stellen und von logischem Formalismus giebt das Bruchstück der 
Schrift x. ἀποφατιχῶν, welches BErGK (Commentat. de Chrys. libr. 7. ἀποφατ. 
Cassel 1841. Gymn.progr.) nach Lerroxxe herausgegeben und erläutert hat. 

2) Ueber die Zeitbestimmung 5. m. 8.36,4. Die näheren Umstände seines 
Todes werden bei D. 184 f. verschieden angegeben; aber beide Angaben sind 
unglaubwürdig: die Geschichte mit dem Esel wird bei Lucıav Macrob. 25 
ebenso von dem Komiker Philemon erzählt, die andere Version findet sich bei 
Diogenes selbst IV, 44. 61 ziemlich ähnlich von Arcesilaus u. Lacydes. Ueber 
Chrysipp’s Bildsäule im Ceramikus 5. m. Ὁ. VII, 182. Cıc. Fin. I, 11, 89. 
Pavsar. L 17, 2; eine andere bei Prur. Sto. rep. 2, 5. 

3) Floril. 5, 67. 40, 8. 91, 33. 93, 31. 98, 72. 108, 82. 83. Dazu kommen 
dann noch die Abschnitte aus eines gewissen T’heodorus Auszug aus den 
Schriften des Teles 95, 21. 97, 31. Append. I, 7, 47 (T. IV, 164 Mein.). 

4) Wir sehen diess daraus, dass 40, 8 der angesehenen Stellung gedacht 
wird, deren sich der Athener Chremonides, aus seiner Vaterstadt verbannt, 
jetzt bei Ptolemäus erfreue. Da nun die Verbannung des Chremonides an das 
Ende des sog. chremonideischen Kriegs, 263 v. Chr., fällt, so muss die Schrift 
des Teles x. φυγῆς, der dieses Bruchstück entnommen ist, ungefähr in die 
Zeit zwischen 260 und 250 fallen. Diess wird durch den Umstand bestätigt, 
dass in den sämmtlichen Bruchstücken keine Personen oder Vorgänge aus 
einer späteren Zeit erwähnt werden. Die Philosophen, welche der Verfasser mit 
Vorliebe anführt, sind neben Sokrates die Cyniker, Diogenes, Krates, Metro- 
kles, ferner Stilpo, Bio der Borysthenite, Zeno (von dem 95, 21 eine Erzählung 
über Krates mit einem Ζήνων ἔφη mitgetheilt wird) und (95, 21) Kleanthes, 
Letzterer als noch lebend mit der Bezeichnung: 5 "Aasıog. Ein Schüler oder 
Mitschüler des letztern scheint Teles gewesen zu sein. 


40 Stoiker. 


näer Eratosthenes an), welcher durch Aristo in den Stoieis- 
mus eingeführt war 5). Auch Boöthus, ein Stoiker, der sich in 
manchen Punkten der peripatetischen Lehre annäherte 5), war ein 
Zeitgenosse und vielleicht ein Mitschüler des Chrysippus *). Aus 
Chrysipp’s eigener Schule, die ohne Zweifel sehr zahlreich war °), 
sind uns nur wenige Namen überliefert ©). Die bedeutendsten von 
seinen Schülern scheinen jedenfalls Zeno von Tarsus‘) und 


1) Er war nach Svı». u. ἃ. W. Ol. 126 (276, v. Chr.) geboren und starb 
achtzig (oder, nach Lucıan Macrob. 27: zweiundachtzig) Jahre alt, indem er, 
erblindet, sich selbst aushungerte. 

2) 8. 0. 32, 2. 

3) Wir werden noch Gelegenheit finden, diess an seinen Bestimmungen 
über das Kriterium, an seiner Bestreitung der Weltverbrennung und des 
Weltuntergangs überhaupt, namentlich aber (Kap. 4, Schl.) an seiner Ansicht 
über das Verhältniss Gottes und der Welt nachzuweisen. Nichtsdestoweniger 
wird er unter den Auktoritäten der Schule häufig angeführt, und von Psıro 
incorruptib. m. 947, C unter die ἄνδρες ἐν τοῖς στωϊχσῖς δόγμασιν ἰσχυχότες ge- 
rechnet. 

4) Vgl. Dıoc. 54: ὃ δὲ Χρύσιππος διαφερόμενος. πρὸς αὐτὸν... κριτήριά φησιν 
εἶναι αἴσθησιν καὶ πρόληψιν. Dass er andererseits jünger, als Aratus, war, erhellt 
aus seinem Commentar über dessen Gedicht, worüber der Zusatz am Schluss 
von Gruınus Elem. astron. (Petavii Doctr. temp. III, 147) und die vita Arati II. 
(Bd. II, S.443 des Aratus von Buhle) z. vgl. Letztere bezeichnet ihn vielleicht 
doch nur durch Verwechslung mit dem Peripatetiker Boöthus aus Sidon als 
Sidonier. 

5) Diess lässt sich bei der grossen Bedeutung dieses Philosophen und dem 
Ansehen, dessen er sich in der stoischen Schule von Anfang an erfreute, nicht 
anders annehmen, und es wird durch die Menge derer bestätigt, denen Chry- 
sippus Bücher zuschrieb (m. s. das Verzeichniss, nach D. 189 ff., bei Fassıc. 
Biblioth. III, 549). Nur.stört hier der Umstand, dass wir nur theilweise ent- 
scheiden können, ob das πρὸς „an“ oder „gegen“ bedeutet, und dass nicht 
alle, denen Chrys. Bücher widmete, gerade seine Schüler gewesen sein müssen. 

6) Mit Bestimmtheit können wir ausser Zeno und Diogenes nur Chrysipp’s 
Neffen Aristokreon, dem auch mehrere seiner Schriften bei Diog. zugeeignet 
sind, als seinen Schüler bezeichnen. M. 5. über ihn Ὁ. VII, 185. Prvr. Sto. 
rep. 2, 5. 8. 1033. 

7) Was wir von diesem Philosophen wissen, beschränkt sich auf die An- 
gaben (Ὁ. 35. Sum. Ζήν. Arooz. Eus. pr. ev. XV, 13,7. Axıus Dıipymus ebd. 
XV, 17,2), dass er aus Tarsus (τινὲς bei Sum. sagen angeblich: aus Sidon, 
was jedenfalls Verwechslung mit dem S. 56, 1 genannten ist) gebürtig, Sohn 
des Dioskerides, Schüler und Nachfolger Chrysipp’s gewesen sei, dass er 
wenige Bücher, aber viele Schüler hinterlassen habe, und dass er die Welt- 
verbrennung bezweifelt haben solle. 


Boöthus; Zeno; Diogenes; Antipater. 4 


Diogenes von Seleucia 1) gewesen zu sein, welche ihn beide 
nach einander auf dem Lehrstuhl folgten 9. Diogenes’ Schüler 
und Nachfolger war Antipater von Tarsus 5), mit welchem sein 


1) Nach Dıoe. VI, 81. Locıan Macrob. 20 stammte er aus Seleucia am 


Tigris, heisst aber auch der Babylonier (so bei Dıoe. VII, 39. 55. Cıc. N. D. 


I, 15, 41. Divin. I, 3, 6. Pıuvr. De exil. 14. 8.605 u. A.); Cic. nennt ihn Divin. 
I, 3, 6 Schüler des Chrysippus, Acad. II, 30, 98 den Lehrer des Karneades in 
der Dialektik; Pıvr. Alex. virt. 5. 5, 328 bezeichnet ihn als Schüler Zeno’s 
(von Tarsus), wenn er von diesem sagt: Διογένη τὸν Βαβυλώνιον ἔπεισε φιλοσο- 
φεῖν. Dioe. führt von ihm eine διαλεχτιχὴ τέχνη (VII, 71) und eine τέχνη περὶ 
φωνῆς (VII, 55. 57) an, Cıc. Divin. I, 3, 6 ein Buch über die Weissagung, 
ΑΤΗΕΝ. IV, 168, e eine Schrift x. εὐγενείας, XII, 526, ἃ ein Werk x. νόμων, 
wahrscheinlich dasselbe, welches fach Ciıc. Legg. III, 5, 14, der Lesart der 
Handschriften zufolge, a Dione Stoico verfasst wäre. Cıckro nennt ihn (Off. 
ΠῚ, 12, 51) magnus et gravis Stoicus, Sexeca (De ira III, 38,1) berichtet einen 
Zug von seltenem Gleichmuth bei einer pöbelhaften Beleidigung. Im J. 156); 
v. Chr. war Diog., ohne Zweifel schon hochbetagt (vgl. Cıc. De senect. 7, 23), 
Mitglied der bekannten Philosophengesandtschaft; vgl. Bd. II, b, 753, 1. 2. 
Nach Lucıan a. a. Ὁ. erreichte er ein Alter von 88 Jahren, und so mag er um 
150 v. Chr. gestorben.sein. 

2) Da Cıc.N.D.I, 15,41. Divin. I, 3,6 von Diogenes sagt: (Chrysippum) 
consequens oder subsequens, nahm man früher nicht selten an (was sich auch 
noch Bd. II, b, 752, 2, Schl. eingeschlichen hat), Diogenes sei der unmittel- 
bare Nachfolger Chrysipp's gewesen. Indessen liegt diess nicht nothwendig 
in diesem Ausdruck, selbst wenn er sich nicht blos auf die Nachfolge in der 
Lehre beziehen sollte; und da nun Arıus, Euses und Suipas (s. vorl. Anm.) 
Zeno ausdrücklich Chrysipp’s Nachfolger nennen, und Prvr. (5. vor. Anm.) 
offenbar das Gleiche voraussetzt, müssen wir diess wohl glauben. Dass auf 
Zeno Diogenes folgte, wird nicht ausdrücklich berichtet; da er aber doch 
Schulvorstand war (s. folg. Anm.), lässt es sich nicht anders annehmen. 

3) Cıc. Off. III, 12,51 nennt ihn nur seinen Schüler; dass er aber in 
Athen lehrte, sieht man (wie Zumer üb. d. philosoph. Schulen in Athen. Abh. 
d. Berl. Akad. 1842. Hist.-phil. Kl. S. 103 bemerkt) auch aus der Angabe 
Pruwasc#’s (Ti. Gracch. c. 8), C. Blossius habe ihn hier (denn Athen, nicht 
Rom, ist mit dem ἄστυ gemeint) gehört. Auch was Pıvr. tranqu. an. 9. $.469 
von seinem Ende erzählt, lässt vermuthen, dass er nach seiner Ueberfahrt 
aus Cilicien in Athen geblieben war. Das Gleiche sehen wir (Zuurr a. a. Ὁ.) 
aus der Angabe (Arurx. V, c. 2. 5. 186, a), es habe in Athen eigene Tisch- 
gesellschaften der Diogenisten, Antipatristen u. Panätiasten, d. h. von diesen 
Philosophen (etwa durch Vermächtniss) oder zu ihrem Andenken gestiftete, 
gegeben, aus dem Vorwurf (Prur. garrulit. e. 23. 8. 514. Numes. b. Evs. pr. 
ev. XIV, 8, 6 vgl. Cıc. Acad. II, 6, 17 und in dem Fragment aus Acad. post. I. 
bei Nox. 8. 65), dass Antipater den Karneades nur mit Schriften angegriffen, 
aber nicht mit ihm zu dispntiren gewagt habe, und aus Dıoe. IV, 65. Sros. 


42 Stoiker. 


Landsmann Archedemus häufig zusammengenannt wird '). Mit 
Antipater’s Schüler Panätius trat der Stoicismus in die römische 
Welt ein, und erlitt auch an sich selbst Veränderungen, von denen 
an einem späteren Orte zu sprechen sein wird ?). 


Floril. 119, 19. Nach diesen zwei Stellen machte er seinem Leben freiwillig 


ein Ende. Acad. II, 47,143 nennt Cicero ihn u. Archedemus duo vel prineipes 
dialecticorum , opiniosissimi homines, aus Off. III, 12, 51 fl., wo er gleichfalls 
homo acutissimus heisst, sieht man, dass er manche sittliche Fragen strenger 
beurtheilte, als Diogenes. Unter die magnos stoicae sectae auctores rechnet 
ihn auch Srxeca ep. 92, 5; Erı@rter redet Diss. III, 21, 7 von der φορὰ (Unge- 
stümm) ᾿Αντιπάτρου χαὶ ᾿Αρχεδήμου. Μ. 5. über ihn van Lysven De Panaetio 
33 f., über seine zahlreichen, für uns verlorenen, Schriften Fasrıe. Biblioth. 
III, 538 Harl. 

1) So bei Cicero (s. vor. Anm.), Straso XIV, 4, 14, S. 674, der beide als 
Tarsenser verbindet, ΕΡΙΚΤΕΤ (5. vor. Anm. und Diss. II, 17, 40. 19, 9. ΠῚ, 
2, 13), Dıoc. VII, 55. Auf Gleichzeitigkeit kann man freilich hieraus nicht 
unmittelbar schliessen, sondern zunächst nur auf Gleichartigkeit der Schriften 
und der Richtung. Auch sonst haben wir kein ganz sicheres Datum über die 
Zeit des Archedemus. (Stellen, worin er genannt wird, bei Fasrıc. Bibl. II, 
540. Auch bei Sımer. De coelo, Schol. in Ar. 505, a, 45 scheint er gemeint zu 
sein). Doch steht er b. Dıoc. 134 in einer sonst chronologischen Aufzählung 
zwischen Chrysippus und Posidonius. Auch bei Pı.vr. De exil. 14. 605, wo 
doch kein Anderer gemeint sein wird, folgt er in einer nach der Zeitfolge ge- 
ordneten Reihe auf Antipater. Nach dieser Stelle gründete er in Babylon eine 
stoische Schule. Weil er von Athen aus hierhin gieng, scheint ihn-Plut. für 
einen Athener zu halten. 

2) Als Schüler des Diogenes wird auch der bekannte Grammatiker Apol- 
lodorus aus Athen, der Verfasser der Βιβλιοθήχη, des von Diogenes La£rt. 
u. A. häufig benützten chronologischen Werks und vieler anderen Schriften, 
bezeichnet (Scyusus Chius perieges. V. 20), und diese Angabe verdient vor 
derjenigen des Suspas (’AroA%68. ᾽Ασχλ.), welcher ihn einen Schüler des Pa- 
nätius nennt, desshalb den Vorzug, weil Apollodor’s Chronika Attalus II. 
Philadelphus von Pergamum (158—138 v. Chr.) gewidmet und wahrscheinlich 
1, J. 144 v. Chr., bis wohin sie reichten, verfasst waren (Scymxus a. a. Ὁ. und 
dazu Heyn& in 5. Ausg. Apollodor’s I, 404); dass nämlich beide zugleich wahr 
seien (wie man allgemein annimmt), ist nicht glaublich, da Panätius nach 
Cıc. Divin. I, 3, 6 noch der Schüler von Diogenes’ Nachfolger Antipater, und 
schwerlich älter, als Apollodor, war. Ein zweiter Grammatiker aus der 
Schule des Diogenes ist Zenodotus (Dıoc. VII, 30), falls nämlich dieser der 
Alexandriner Zenodotus (Sup. Ζηνόδ. u. A.) ist; ein dritter vielleicht der be- 
rühmte Aristarchus, welchen Scrusus a. a. OÖ. den Mitschüler (Sup. aller- 
dings den Schüler) Apollodor's nennt; ein vierter Krates von Mallos, welcher 
bei Straso XIV, 5, 16. 8, 676 (mit einem φασὶ) ein Lehrer des Panätius, bei 


Stoiker. 43 


2. Die Quellen der stoischen Philosophie. Die Bestim- 
mungen der Stoiker über Aufgabe und Theile der 
- Philosophie. 


Eine urkundliche Darstellung der stoischen Philosophie wird 
durch den Umstand, dass alle Schriften der älteren Stoiker bis auf 


Sum. u.d. W. ein stoischer Philosoph heisst, nach Varxo lat. IX, 1 sich gegen 
Aristarch auf Chrysippus stützte. — Antipater’s Schüler sind Heraklides 
aus Tarsus (D. VII, 121); Sosısexes (Arex. Arur. De mixt. 142, ἃ, ἢ, wo der 
Ausdruck: Σωσιγένης ἑταῖρος ᾿Αντιπάτρου doch am Natürlichsten auf den be- 
kanntesten Mann dieses Namens in der stoischen Schule, Antipater von Far- 
sus, bezogen wird, wiewohl es allerdings noch mehrere gleichnamige Stoiker 
giebt); C. Blossius aus Cumä (Pur. Ti. Gracch. 8. 17. 20. Var. Max. IV, 
7,1. Cıc. Läl. 11, 57), welcher in der Geschichte des römischen Stoieismus 
noch zu nennen sein wird. — In die Zeit zwischen Chrysipp und Panätius dürfte 
auch der von Dıoc. VII, 39 mit einer Ethik angeführte Eudromus (wofür 
seet. 40 wohl nur durch das vorangehende ’Apyzönos ein Εὔδημος in unsern 
Text kam) gehören. Zwischen Zeno von Tarsus und Diogenes nennt Doc. 
VII, 84 einen Apollodorus, den er oft und mit mehreren Schriften anführt 
(m. s. d. Index), wahrscheinlich denselben, welchem die Bruchstücke bei 
Sros. Ekl. I, 408. 520 angehören; und nach dieser Stelle möchte man geneigt 
sein, ihn für einen Zeitgenossen der genannten Stoiker zu halten. Da wir 
aber doch nicht wissen, ob die Aufzählung in derselben streng chronologisch 
ist, bleibt auch die Möglichkeit offen, dass er mit dem Apollodor, welchen 
wir bei Cıc. N. D. I, 34, 93 finden, identisch, und mithin dem Epikureer Zeno 
gleichzeitig ist. Dios. VII, 39 heisst er ᾿ἀπολλόδ. ὃ "EpiAos; Coser liest da- 
für: ᾿Απολλόδωρος χαὶ Σύλλος, aber wie es scheint nur aus Conjectur (mit 
Rücksicht auf Cıe. a. a.0.: Apollodorum Syllum [oder: Silum] ceteros). Diese 
Vermuthung hat jedoch gegen sich, dass bei dieser Lesart in der Stelle des 
Diogenes, von den vorhergehenden und den folgenden Citaten abweichend, 
die Schrift Apollodor’s nicht genannt wäre, und dass es ein höchst auffallender 
Zufall wäre, wenn sowohl Cicero als Diogenes, bei ganz verschiedenem An- 
lass, gerade Apollodor und Syllus zusammenstellten. Dass aber der Letztere 
vielleicht auch (denn das Wort ist defekt) von Pnınopen. r. θεῶν διαγωγῆς 
(Vol. Hereul. VI) Col. 1 genannt wird, ist für die Stelle des Diogenes natürlich 
gleichgültig. Der bei Dıos. VII, 181 genannte Apollodor aus Athen ist obne 
Zweifel der Epikureer, den wir aus Dıog. X, 2.25 kennen; Keıscne Forsch. 26 
denkt auch in der eiceronischen Stelle an diesen und seinen Partheigenossen 
Syro (st. Syllus), wie mir scheint, mit Unrecht. — Ganz unbekannt ist die 
Zeit des Diogenes aus Ptolemais (Dıos. VII, 41), des Oenopides, welchen 
Sro». Ekl.I, 58 mit Diogenes und Kleanthes, Macrop. Sat. I, 17 mit Kleanthes 
zusammen nennt, und des Nikostratus, den PrıtLopemus π᾿ θεῶν διαγωγῆς 
Tab. I, 2 (Vol. Hercul. VI, 1) und vielleicht auch Arresıvor. Oneiroerit. I, 2, 


44 Stoiker. 


einzelne Bruchstücke schon frühe verloren gegangen sind '), nicht 
wenig erschwert. Diejenigen, von denen wir zusammenhängende 
Werke besitzen, ein Seneca, Epiktet, Mark Aurel, Heraklit, Cor- 
nutus, gehören sämmitlich der römischen Kaiserzeit an; also einer 
Zeit, in der alle Schulen sich fremden Einflüssen zu öffnen, manche 
von ihren ursprünglichen Eigenthümlichkeiten aufzugeben oder 
zurückzustellen, neue‘Elemente in sich aufzunehmen begonnen 
hatten. Das Gleiche gilt aber auch von den Schriftstellern, welche 
als mittelbare Quellen der stoischen Lehre zu betrachten sind, 
einem Cicero, Plutarch, Diogenes, Sextus Empirikus, den Com- 
mentatoren des Aristoteles u. s. w. Auch bei ihnen sind wir nicht 
immer sicher, ob das, was sie uns als stoisch überliefern, durch- 
aus die altstoische Lehre treu wiedergiebt. Bei den meisten und 
wichtigsten Punkten lässt sich diese nun allerdings dennoch im 
Allgemeinen mit hinreichender Gewissheit feststellen, theils durch 
die Uebereinstimmung der verschiedenen Berichte, theils durch 
bestimmte Angaben über die Lehre und die Lehrunterschiede der 
einzelnen Stoiker, eines Zeno, Kleanthes, Chrysippus u. 5. w., 
theils endlich durch die Bruchstücke aus ihren Schriften. Aber 
doch bleibt immer noch ein doppelter Uebelstand übrig. Für's 
Erste nämlich werden uns in der Regel nur die einzelnen Lehr- 
sätze der Stoiker und höchstens noch einzelne Beweise dafür mit- 
getheilt, die innere Verknüpfung dieser Sätze dagegen und ihre 
ursprünglichen Motive müssen wir grossentheils durch eigene 
Schlüsse ergänzen. Hätten wir die Werke eines Zeno und Chry- 


Schl. anführt, Nur so viel sehen wir aus Philodemus, dass Nikostratus vor 
der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts geschrieben haben muss. 
Von ihm ist wahrscheinlich der Nikostratus zu unterscheiden, dessen Schrift 
über die aristotelischen Kategorieen, polemische Ausführungen gegen alle 
Theile derselben, wir aus Sımer. in Categ. Schol. in Arist. 40, a, 24. b, 16. 
41, b, 27. 47, b, 23. 49, b, 43. 72, b, 6. 74, b, 4. 81, b, 12. 83,a,37. 84,8, 28. 
86, b, 20. 87, b, 30. 88, b, 3. 11. 89, a, 1. 91, a, 25. b, 21 kennen, denn dieser 
hatte die Schrift eines gewissen Lucius, also, wie es scheint, eines Römers, 
im weitesten Umfang benützt; römische Schriften über die Kategorieen kann 
es aber vor Philodemus, der ein Zeitgenosse des Cicero und des Rhodiers 
Andronikus war, kaum schon gegeben haben. Stoiker scheinen indessen 
beide, sowohl Lucius, als Nikostratus, gewesen zu sein. 

1) Schon Sıser. in Cat., Schol. in Arist. 49, a, 16 sagt: παρὰ τοῖς Erwi- 
- 4 

w 


χοόϊς, ὧν ἐφ᾽ ἡμῶν χαὶ ἢ διδασχαλία χαὶ τὰ πλεῖστα τῶν συγγραμμάτων ἐπιλέλοιπεν. 


‚Quellen. 45 


sippus in ihrem vollständigen Zusammenhang, so würden wir in 
dieser Beziehung von einer viel gesicherteren Grundlage ausge- 
hen, und weit weniger auf blosse Vermuthung beschränkt sein. 
Zugleich würden wir dann auch in den Stand gesetzt sein, die in- 
nere Entwicklung der stoischen Lehre genauer zu verfolgen, und 
namentlich die Frage zu entscheiden, welche Bestandtheile der- 
selben schon von Zeno, welche dagegen erst von Chrysippus her- 
rühren. Dass wir diess jetzt nur sehr unvollkommen vermögen, 
ist der zweite Hauptübelstand, welcher sich aus der Beschaffenheit 
unserer Quellen ergiebt. Wir wissen wohl, was seit Chrysippus 
stoisches Dogma gewesen ist; aber nur bei wenigen und verein- 
zelten Punkten wird eine Abweichung dieses Philosophen von 
seinen Vorgängern bemerkt, im Uebrigen tragen die Bericht- 
erstatter fast ohne Ausnahme kein Bedenken, was ihnen als stoisch 
bekannt ist, auch schon dem Stifter der Schule beizulegen; ähn- 
lich, wie man alles Pythagoreische mit dem Namen des Pythagoras, 
alle Lehren der platonischen Schule mit dem des Plato zu ver- 
knüpfen pflegte. Und doch lässt sich nicht bezweifeln, dass die 
stoische Lehre durch Chrysippus eine sehr bedeutende Erweite- 
rung, und an mehr als Einem Punkte auch eine Aenderung er- 
fahren hat. Aber wie weit diese Veränderung gieng und worin 
sie bestand, ist uns nur sehr unvollständig überliefert. 

Durch diese Umstände ist uns nun auch der Weg vorgezeich- 
net, welchen wir für unsere Darstellung des Stoicismus einzu- 
schlagen haben. Wären wir über die Entstehung des stoischen 
Systems und über die Gestalt, welche es bei seinen einzelnen 
Hauptvertretern hatte, genügend unterrichtet, so wäre das Natür- 
lichste, zunächst die Beweggründe, welche Zeno zu seiner eigen- 
thümlichen Lehrbildung bestimmten, auseinanderzusetzen, und sein 
System so, wie es ursprünglich aus denselben hervorgieng, dar- 
zustellen; dann die Aenderungen und Erweiterungen, welche 
dieses System bei seinen Nachfolgern erfuhr, Schritt für Schritt 
zu verfolgen. Da es uns aber an den Mitteln für eine solche Be- 
handlung der Aufgabe allzusehr fehlt, müssen wir einem anderen 
Verfahren den Vorzug geben. Wir werden die stoische Lehre, 
deren individuelle Entwicklungsformen wir nicht mehr mit Sicher- 
heit unterscheiden können, zunächst als Ganzes, wie sie sich seit 
Chrysippus im Gesammtbesitz der Schule erhielt, darstellen, und 


46 Stoiker. 


uns begnügen müssen, den besonderen Antheil Einzelner an der= 
selben und ihre Abweichungen von ihr an den Punkten zu be- 
merken, wo uns die Angaben der Alten oder begründete ge- 
schichtliche Vermuthungen dazu in den Stand setzen; und statt 
die Grundzüge des Systems synthetisch aus seinen ursprünglichen 
Motiven und seinem Verhältniss zu den früheren Lehren zu erklä- 
ren, werden wir zunächst an der Hand der Ueberlieferung das 
System so, wie es sich selbst giebt, darlegen, und erst am Schlusse 
mittelst einer Analyse seines Inhalts und seines Baues die leiten- 
den Motive des Stoieismus, den inneren Zusammenhang seiner 
verschiedenen Bestandtheile und seine geschichtliche Stellung 
untersuchen. 

Fragen wir hiefür zunächst, wie die Aufgabe der Philosophie 
von den Stoikern gefasst wird, so sind es drei Punkte, die un- 
sere Aufmerksamkeit auf sich ziehen: die praktische Zweekbe- 
ziehung der Philosophie, die nähere Bestimmung dieser Praxis 
durch den Begriff des vernunftmässigen Handelns, die hieraus 
hervorgehende Begründung derselben auf wissenschaftliche Er- 
kenntniss. 

Der wesentliche Zweck aller Philosophie liegt nach der An- 
sicht der Stoiker in dem sittlichen Verhalten des Menschen. Die 
Philosophie ist Ausübung einer Kunst, und näher der höchsten 
Kunst, der Tugend !), sie ist Erlernen der Tugend; die Tugend 
erlernt man aber nür, indem man sie übt; die Philosophie ist da- 
her selbst eine Tugend 5), und die Theile derselben sind ebenso 


1) Pıur. plac. pro. 2: οἱ μὲν οὖν Στωϊχοὶ ἔφασαν, τὴν μὲν σοφίαν εἶναι θείων 
τε χαὶ ἀνθρωπίνων ἐπιστήμην (hierüber später)’ τὴν δὲ φιλοσοφίαν ἄσχησιν τέχνης 
ἐπιτηδείου" ἐπιτήδειον δ᾽ εἶναι μίαν χαὶ ἀνωτάτω τὴν ἀρετήν ἀρετὰς δὲ τὰς γενίχω- 
τάτας τρεῖς, φυσιχὴν, ἠθιχὴν, λογιχήν ἃ. 5. w. (das Letztere auch bei Dioo. 
VII, 92). 

2) Sexeca ep. 89, 4 ff. Die Weisheit ist das höchste Gut des menschlichen 
Geistes, die Philosophie das Streben darnach; jene wird als Erkenntniss des 
Göttlichen und Menschlichen, diese als studium virtutis oder studium corri- 
gendae mentis definirt. Dieses Tugendstreben lässt sich aber von der Tugend 
selbst nicht trennen: philosophia studium virtutis est, sed per ipsam virtuiem, 
was dann weiter ausgeführt wird. Ders. Fr. 17 (Ὁ. Lacrasr. Inst. ΠῚ, 15): 
philosophia nihil aliud est quam recta vivendi ratio vel honeste vivendi scien- 
tia vel ars rectae vitae agendae. non errabimus, si dixerimus philosophiam 
esse legem bene honesteque vivendi, et qui dixerit illam regulam vitae, suum 
Uli [nomen]) reddidit. Pıur. s. vor. Anm. 


Anfgabe der Philosophie. 47 


viele besondere Tugenden). Der Mittelpunkt, auf den sich 
alle anderen Untersuchungen beziehen, ist das sittliche Leben: 
selbst die Physik, so hoch sie sonst als, das innerste Heiligthum 
der Philosophie gerühmt wird, ist doch nach Chrysippus nur*dess- 
halb nothwendig, weil sie uns die Mittel an die Hand giebt, um 
über die Güter und die Uebel, das, was wir thun und meiden sol- 
len, zu entscheiden ?). Die reine Theorie dagegen, welche ein 
Plato und Aristoteles als den Gipfel und Kern aller menschlichen 
Glückseligkeit gepriesen hatten, genügt einem Chrysippus so we- 
nig, dass er geradezu sagt, wenn der Philosoph nur der For- 
schung leben solle, so heisse das mit anderen Worten, er solle 
seinem Vergnügen leben ὅ). Mit dieser Ansicht stimmen auch, 
wie sogleich gezeigt werden wird, die Erklärungen der Stoiker 
über das Verhältniss der verschiedenen philosophischen Wissen- 
schaften in der Hauptsache überein, wenn auch später zu be- 
rührende Gründe bei ihnen in dieser Beziehung ein gewisses 
Schwanken hervorrufen: und ebenso werden wir finden, dass sich 
der ganze innere Bau und die Grundbestimmungen ihres Systems 
nur unter dieser Voraussetzung befriedigend erklären. Hier ge- 
nügt es, an frühere Bemerkungen hierüber 5). und namentlich 
daran zu erinnern, dass die wichtigsten und eigenthümlichsten 
Bestimmungen, welche die stoische Schule aufgestellt hat, auf 
dem ethischen Gebiet liegen, wogegen sie in der Logik und in 
der Physik mit weit geringerer Selbständigkeit gearbeitet und sich 
meist an ältere Lehren angelehnt hat. Wenn Zeno’s Schüler He- 


1) 8. vorl. Anm. und Dıoc. VII, 46: αὐτὴν δὲ τὴν διαλεχτιχὴν ἀναγχαίαν εἶναι 
χαὶ ἀρετὴν ἐν Elder mepteyouaav ἀρετὰς u. 5. W. 

2) Cnevs. b. Pı.ur. Sto. rep. 9, 6: dd γὰρ τούτοις (sc. τοῖς φυσιχοῖς) συνάψαι 
τὸν περὶ ἀγαθῶν καὶ χαχῶν λόγον, οὐχ οὔσης ἄλλης ἀργῆς αὐτῶν ἀμείνονος οὐδ᾽ ἀνα- 
φορᾶς, οὐδ᾽ ἄλλου τινὸς ἕνεχεν τῆς φυσιχῆς θεωρίας παραληπτῆς οὔσης ἢ πρὸς τὴν 
περὶ ἀγαθῶν ἣ χαχῶν διάστασιν. 

3) Cueys. b. Pı.ur. St. rep. 3, 2: ὅσοι δὲ 
Aeıy μάλιστα τὸν σγολαστιχὸν βίον an’ ἀρχῇ 


πολαμβάνουσι φιλοσόφοις ἐπιβάλ- 
{μοι δοχοῦσι διαμαρτάνειν bmo- 
νοοῦντες διαγωγῆς τίνος ἕνεχεν δεῖν τοῦτο ποιεῖν ἢ ἄλλου τινὸς τούτῳ παραπλησίου 
χαὶ τὸν ὅλον βίου οὕτω πως διελχύσαι" τοῦτο δ᾽ ἔστιν, ἂν σαφῶς θεωρηθῇ, ἡδέως. 
Die διαγωγὴ hatte Aristoteles, dessen Schule diese Bemerkung wohl zunächst 
gilt, allerdings als Selbstzweck behandelt, aber von der ἧἥδονὴ hatte er sie 
sehr bestimmt unterschieden. Vgl. Bd. II, b, 577, 5. 610. 
4) 8. 14 Ὁ 


48 Stoiker. 


rillus das Wissen für das höchste Gut, und somit selbstverständ- 
lich auch für den letzten Zweck der Philosophie hielt, so wird 
diess ausdrücklich als eine Abweichung von der sonstigen Lehre 
der Schule hervorgehoben '). 

Ihre nähere Bestimmung erhält diese Ansicht über die Auf- 
gabe der Philosophie durch die stoische Tugendlehre. Die Philo- 
sophie soll uns zum richtigen Handeln, zur Tugend anleiten. Ein 
richtiges Handeln ist aber nach stoischen Grundsätzen nur das 
vernunftmässige Handeln, und vernunftmässig ist nur dasjenige, 
welches mit der Natur des Menschen und der Dinge überein- 
stimmt: die Tugend besteht darin, dass sich der Mensch den Ge- 
setzen des Weltganzen, der allgemeinen Weltordnung unter- 
wirft?). Diess kann er aber natürlich nur dann, wenn er mit 
dieser Ordnung und ihren Gesetzen bekannt ist. Die Stoiker ge- 
hen daher mit allem Nachdruck auf die sokratischen Sätze von 
der Lehrbarkeit der Tugend, von der Unentbehrlichkeit des Wis- 
sens für die Tugend, ja von ihrer Einheit mit der richtigen Er- 
kenntiniss zurück; sie definiren die Tugend geradezu als Wissen, 
die Fehler als Unwissenheit; und wenn sie andererseits ebenso- 
sehr in die Willensstärke gesetzt wird, so soll doch beides so un- 
zertrennlich sein, dass die rechte Willensbeschaffenheit ohne das 
rechte Erkennen gar nicht denkbar sein soll 5). Aus der prakti- 
schen Aufgabe der Philosophie geht daher für sie die wissen- 
schaftliche unmittelbar hervor; es ist nicht blos die Philosophie 


1) Cıc. Acad. II, 42, 129: Herillum, qui in cognitione et seientia summum 
bonum ponit: qui cum Zenonis auditor esset, vides quamitum ab eo dissen- 
serit, ei quam non multum a Platone. Fin. U, 13, 43: Herillus autem ad 
scientiam omnia revocans unum quoddam bonum vidit. IV, 14, 36: die 
Stoiker verfahren bei ihrer Bestimmung über das höchste Gut nicht minder 
einseitig, als wenn sie ipsius animi, ut fecit Herillus, cognitionem amplexa- 
rentur, actionem relinquerent. V, 25, 73: saepe ab Aristotele, a Theophrasto 
mirabiliter est laudata per se ipsa rerum scientia. Hoc uno captus Herillus 
seientiam summum bonum esse defendit, nec rem ullam aliam per se ewpeten- 
dam. Dıoe. VII, 165: Ἥριλλος .. . τέλος εἶπε τὴν ἐπιστήμην. Ebenso VII, 37. 
Minder getreu Jauer. Ὁ. Stop. ἘΚ]. I, 918: in Gemeinschaft mit den Göttern 
komme man χατὰ Ἥριλλον ἐπιστήμη. Wir werden später noch einmal hierhuf 
zurückkommen. ᾿ 

2) Die Nachweise biefür K. 8. 

3) Auch hierüber später das Genauere. 


N 


Aufgabe der Philosophie; Aristo. 49 


eine Tugend, sondern es ist auch ohne Philosophie keine Tugend 
möglich 1): mag es den Stoikern auch in letzter Beziehung nur 
um die Anleitung zur Tugend, um die Glückseligkeit des sittlichen 
Lebens zu thun sein, so ist doch als das einzige Mittel dazu 
ein umfassender Besitz wissenschaftlicher Erkenntniss unent- 
behrlich. 

Durch diese Bemerkungen ist für die Stoiker zunächst die 
Nothwendigkeit derjenigen philosophischen Wissenschaft darge- 
than, welche sich mit dem Leben und mit den sittlichen Aufgaben 
- und Thätigkeiten des Menschen beschäftigt, der Ethik. Ob neben 
dieser noch ein weiteres Wissen nöthig sei, darüber waren aller- 
dings schon unter den ersten Wortführern der stoischen Schule 
die Ansichten getheilt. Zeno’s Schüler, Aristo von Chius, war der 
Meinung, das Tugendstreben sei die einzige Bestimmung des Men- 
schen ?), die Reinigung der Seele der einzige Zweck aller Re- 
den ?). Diese reinigende Wirkung vermisste er aber nicht allein 
an den dialektischen, sondern auch an den physikalischen Unter- 
suchungen. Jene, glaubte er, schaden mehr, als sie nützen; er 
verglich sie daher mit Spinnnengeweben, die ebenso nutzlos, als 
künstlich seien *), ja selbst mit dem Koth auf der Strasse 5), und 
die, welche sich damit abgeben, mit Leuten, die Krebse essen: 
denn gleich diesen plagen sie sich um ein winziges Stückchen 
Fleisch mit viel Schale ©). Er selbst mochte sie um so entbehrlicher 
finden, je fester er überzeugt war, dass der Weise von allem täu- 
schenden Wahn frei sei”), und dass die Skepsis, für deren Be- 
streitungen die Dialektik zunächst empfohlen wurde, sich einfacher 


1) Nam nec philosophia sine virtute est nec sine philosophia virtus; Sen. 
ep. 89,8. Ebd. 53,8: wir alle liegen im Schlummer des Irrthums; sola autem 
nos philosophia excitabit ... illi te totum dedica u. s. w. Weiteres sogleich. 

2) Ad virtutem capessendam nasci homines, Ariston disseruit. Lactant. 
Inst. VII, 7. Vgl. Sror. Ekl. 4, 111. 

3) Pıur. De audiendo c. 8. 3. 42: οὔτε γὰρ βαλανείου, φησὶν ὃ ᾿Αρίστων, 
οὔτε λόγου μὴ καθαίροντος ὄφελός ἐστιν. 

4) Stos. Floril. 82, 15. Dıoe. VIL, 161. 

5) Sror,. Floril. 82, 11. 

6) Ebd. 7. 

τ) Dıos. VII, 162: μάλιστα δὲ προςείχε στωϊχῷ δόγματι τῷ τὸν σοφὸν ἀδόξα- 
στον εἶναι. 


Philos. ἃ. Gr. IIT. B. 1. Abth. 4 


50 Stoiker, 


durch den gesunden Menschenverstand widerlegen lasse '); dass 
andererseits alle übermässige Spitzfindigkeit die heilsame Wirkung 
der Philosophie in eine verderbliche verwandle ?). Ebensowenig 
wollte Aristo von den sog. encyklischen Wissenschaften wissen; 
die, welche sich ihnen, und nicht der Philosophie widmen, ver- 
gleicht er den Freiern der Penelope, denen statt der Herrin die 
Mägde zufielen ?). Eher hätte er sich vielleicht mit der Physik be- 
freundet, wenn er nicht, mit Sokrates, geglaubt hätte, dieser 
Zweig der Forschung gehe gänzlich über die Kräfte des Men- 
schen *); war er aber einmal dieser Ansicht, so musste er um so 
geneigter sein, auch diese Untersuchungen für nutzlos zu erklären, 
und so wird seine Stellung zu unserer Frage gewöhnlich in der Aus- 
sage zusammengefasst: er habe sowohl den logischen als den phy- 
sikalischen Theil der Philosophie aufgehoben, weil uns keiner von 
beiden etwas nütze, der eine uns nichts angehe, der andere über 
uns hinausgehe 5). Auch die Ethik wollte er aber auf ihren all- 
gemeinen Theil, auf die grundlegenden Untersuchungen über Gü- 
ter und Uebel, Tugend und Laster, Weisheit und Thorheit be- 
schränken, die specielleren Ausführungen dagegen, über die aus 
bestimmten Verhältnissen sich ergebenden sittlichen Aufgaben, 
erklärte er für werthlos und unkräftig, für etwas, das in den 


1) Vgl. Dıos. VII, 163 und dazu was Bd. II, a, 209, 2 über den Cyniker 
, Diogenes angeführt wurde. 

2) Aristo (in den ὋὉμοιώματα) b. Sros. Floril. 82, 16: ὃ ἐλλέβορος ὅλοσχε- 
ρέστερος μὲν ληφθεὶς χαθαίρει, εἰς δὲ πάνυ σμιχρὰ τριφθεὶς πνίγει" οὕτω καὶ ἢ κατὰ 
φιλοσοφίαν λεπτολογία. 

8) ὅ1οβ. a. a. O. 4, 110. 

4) S. folg. Anm. und Cıc. Acad. II, 39, 123: Aristo Chius, qui nihil isto- 
rum (sc. physicorum) sciri putat posse. 

5) Dioc. VII, 160: τόν τε φυσιχὸν τόπον χαὶ τὸν Aoyızov ἀνήρει, (so auch 
VI, 103) λέγων τὸν μὲν εἶναι ὑπὲρ ἥμᾶς, τὸν δ᾽ οὐδὲν πρὸς ἡμᾶς, μόνον δὲ τὸν ἠθιχὸν 
εἶναι πρὸς ἡμᾶς. ὅτοΒ. Floril. 80, 7: ᾿Αρίστων ἔφη τῶν ζητουμένων παρὰ τοῖς 
φιλοσόφοις τὰ μὲν εἶναι πρὸς ἡμᾶς, τὰ δὲ μηδὲν πρὸς ἡμᾶς, τὰ δ᾽ ὑπὲο ἡμᾶς. πρὸς 
ἡμᾶς μὲν τὰ ἠθιχὰ, μὴ πρὸς ἡμᾶς δὲ τὰ διαλεχτιχά" μὴ γὰρ συμβάλλεσθαι πρὸς ἐπα- 
νόρθωσιν βίου" ὑπὲρ ἡμᾶς δὲ τὰ φυσιχά" ἀδύνατα γὰρ ἐγνῶσθαι χαὶ οὐδὲ παρέχειν 
χρείαν. (Mıxuc. Fer. Octav. 13 und Lacranr, Inst. II, 20 übertragen diesen 
Ausspruch auf Sokrates, wie diess auch mit andern ähnlichen geschieht; vgl. 
‘Bd. II, a, 121, 1. 207, 2.) Auch über das Wesen Gottes hatte sich Aristo nach 
Cıc, N. De. I, 14, 37 skeptisch geäussert. 


Aufgabe der Philosophie; Aristo. δῖ 


Mund der Kindermädchen und Knabenaufseher, nicht der Philoso- 
phen gehöre 1); wo die rechte Erkenntniss und Gesinnung sei, 
mache sich diess alles ohne viele Worte von selbst, wo sie fehle, 
seien alle Ermahnungen nutzlos 2). Diese Behauptungen Aristo’s 
werden aber ausdrücklich als eine Eigenthümlichkeit angeführt, 
mit der er in seiner Schule allein stand. Dass die entgegenge- 
setzte Ansicht in derselben die Oberhand hatte, lässt sich schon 
aus seiner Polemik selbst abnehmen, die durchaus den Eindruck 
macht, dass sie nicht blos nach Aussen, gegen Peripatetiker und 
Platoniker, sondern zunächst gegen solche Mitglieder der stoi- 
schen Schule gerichtet sei, welche den specielleren ethischen Er- 
örterungen, den physikalischen und ‚logischen Untersuchungen, 
einen höheren Werth beilegten. Zu diesen gehörten aber ohne 
allen Zweifeln bereits Zeno und Kleanthes. Von dem Ersteren er- 
hellt diess schon daraus, dass er mit der Eintheilung der Philoso- 
phie in Logik, Ethik und Physik seiner Schule vorangegangen 

1) Sexr. Math. VII, 13: χαὶ ᾿Αρίστων δὲ ὃ Χίος οὐ μόνον, ὥς φασι͵ παρῃτεῖτο 
τήν τε φυσιχὴν χαὶ λογιχὴν θεωρίαν διὰ τὸ ἀνωφελὲς χαὶ πρὸς χαχοῦ τοῖς φιλοσοφοῦσιν 
ὑπάρχειν, ἀλλὰ χαὶ τοῦ ἠθιχοῦ τόπου τινὰς συμπεριέγραφε χαθάπερ τόν τε παραινετιχὸν 
- καὶ τὸν ὑποθετιχὸν τόπον" τούτους γὰρ εἰς τίτθας ἂν χαὶ παιδαγωγοὺς πίπτειν. (So 
weit in fast wörtlicher Uebersetzung, also nach der gleichen Quelle, auch 
Sen. ep. 89, 13.) ἀρχείσθα! δὲ ποὸς τὸ μαχαρίως βιῶναι τὸν οἰχειοῦντα μὲν πρὸς 
ἀρετὴν λόγον, ἀπαλλοτοιοῦντα δὲ χκαχίας, χατατρέχοντα δὲ τῶν μεταξὺ τούτων, περὶ 
ἃ οἵ πολλοὶ πτοηθέντες χαχοδαιμονοῦσιν. Sexeca ep. 94,1 fl.: Eam partem philo- 
sophiae, quae dat propria cuique personae praecepta (z. Β. für Eheleute, Eltern 
u. 5. w.) ... quidam solam receperunt. ... sed Ariston Stoicus e contrario 
hanc partem levem existimat et quae non descendat in pectus usque. ad üÜlam 
habentem praecepta |? sollte nicht hiefür vielleicht ad vitam beatam zu lesen 
sein? vgl. Sexr. a. a. O.] plurimum ait proficere ipsa decreta philosophiae con- 
stitutionemque summi boni, quam qui bene intellexit ac didieit, quid in quaque 
re faciendum sit, sibi ipse praecepit. Diess wird dann $. 3. 5—17 nach Aristo 
weiter ausgeführt. 

2) M. vgl. Sexeca a. a. O. z.B. 8. 12: Für wen sollten solche Ermahnun- 
gen nöthig sein, für den, welcher die richtige Ansicht (veras opiniones) über 
Güter und Uebel hat, oder für den, welcher sie nicht hat? qui non habet, nihil 
a te adjuvabitur. aures ejus contraria monitionibus tuis fama possedit. qui habet 
exactum judieium de fugiendis petendisque,. seit, quid sibi faciendum sit, etiam 
te tacente. lota ergo pars isia philosophiae submoveri potest, ὃ. 17: einen 
Wahnsinnigen müsse man nicht ermahnen, sondern heilen. Zwischen der 
allgemeinen Verrücktheit aber und der, welche ärztlich behandelt wird, sei 
kein Unterschied. 


4* 


52 Stoiker. 


war '); ferner aus den Titeln seiner logischen und physikalischen 
Schriften 5); aus den erkenntniss-theoretischen und naturwissen- 
schaftlichen Bestimmungen, welche ausdrücklich auf ihn zurück- 
geführt werden (s. u.); aus der Thatsache, dass er dialektische 
Untersuchungen empfohlen und geübt hat). Auch sein ganzer 
Bildungsgang *) beurkundet einen wissenschaftlichen Sinn und ein 
Interesse, selbst für die Spitzfindigkeiten der Megariker, welche 
von Aristo's Denkweise hierüber weit abliegen 5). Schon Zeno 
hat endlich für die Darstellung seiner Lehre jene knappe und 
schmucklose dialektische Form gewählt, die wir in ihrer höchsten 
Ausbildung bei Chrysippus finden 5). Von Kleanthes kennen wir 
gleichfalls logische und physikalische Werke’), und in seiner 


1) Dıos. VII, 39 ἢ, unter wiederholter Berufung auf Zeno’s Schrift 
π. λόγου. ᾽ 

2) Die logischen π. λέξεων, λύσεις χαὶ ἔλεγχοι, π. λόγου, und wenn sie 
doch eine Rhetorik sein sollte (worüber S. 31, 3 z. vgl.) die τέχνη, die physi- 
schen oder metaphysischen x. τοῦ ὅλου und π. οὐσίας (D. 4. 39 f. 134). 

3) Prur. Sto. rep. 8, 2: ἔλυε δὲ σοφίσματα χαὶ τὴν διαλεχτιχὴν, ὡς τοῦτο 
ποιέίν δυναμένην, ἐχέλευε παραλαμβάνειν τοὺς μαθητάς. Dass er aber bei Gelegen- 
heit nicht blos Sophismen löste, sondern auch erfand, zeigt der ebd, 1 ange- 
führte Fangschluss. Vgl. auch Dıoc. VI, 25. 

4) S. 0.8. 28. 

5) Nach Dıoc. 32 soll er zwar am Anfang seiner Politie die ἐγχύχλιος 
παιδεία für unnütz erklärt haben. Indessen ist darauf nicht viel zu geben. 
Denn theils wissen wir nicht genauer, welchen Sinn und Umfang Zeno’s Aeus- 
serung gehabt hatte, und ob er jene Studien nicht blos (wie Sexseca ep. 88) 
von dem engeren Umkreis der Philosophie ausschliessen wollte, theils stand 
auch die Politie, wie später gezeigt werden wird, dem Cynismus noch näher, 
als andere Schriften. 

6) Belege dafür werden uns später, z. B. in seinem Beweis für das Dasein 
Gottes und seinen Erörterungen über das Gute und die Glückseligkeit, vor- 
kommen. 

7) Logischen Inhalts sind in dem Verzeichniss bei Dıos. 174 f. x. λόγου 
3 B. (Monnıge Kleanth. 102 glaubt, dieses Werk habe vom vernunftgemässen 
Leben gehandelt; gegen diese Annahme spricht aber schon der Titel, und 
sie ist um so unwahrscheinlicher, da die gleichnamigen Schriften des Zeno 
Sphärus und Chrysippus auch nur logischen Inhalts gewesen zu sein scheinen), 

“r. ἐπιστήμης, 7. ἰδίων, π. τῶν ἀπόρων, 7. διαλεχτιχῆς, 7. χατηγορημάτων, 
wozu noch die rhetorischen x: τρόπων und π. μεταλήψεως (sc. ὀνομάτων), die 
letztere aus Arnen. XI, 467, d. 471, b, hinzukommen. Noch wichtiger waren 
aber wohl die physikalischen und theologischen Schriften: x. τῆς τοῦ Ζήνωνος 
φυσιολογίας 2 B., τῶν Ἡραχλείτου ἐξηγήσεις 4 B., πρὸς Δημόχριτον, m. θεῶν, 


Aufgabe der Philosophie. 33 


Eintheilung der Philosophie ') bilden die Logik, die Rhetorik, die 
Physik eigene Fächer; und so wird uns auch in der Physik, na- 
mentlich aber in der Theologie der Stoiker sein Name nicht ganz 
selten begegnen. Noch eingehendere dialektische und naturwissen- 

schaftliche Untersuchungen scheint Sphärus angestellt zu haben 3). 
Die wissenschaftliche Thätigkeit der stoischen Schule hatte sich 
daher auch schon vor Chrysippus diesen Fächern lebhaft genug 
zugewendet, wenn sie auch immerhin gegen die Ethik, als den 
unmittelbarsten und wichtigsten Gegenstand der Philosophie, zu- 
rückstanden. Seitdem vollends jener Philosoph das System zu sei- 
ner allseitigen Vollendung gebracht, und namentlich der Dialektik 
die äusserste Sorgfalt gewidmet hatte, ist ihre Unentbehrlichkeit 
allgemein anerkannt. Es gilt diess zunächst von der Physik, mit 
Einschluss der Theologie. Alle ethischen Untersuchungen müssen 
nach Chrysippus von der Betrachtung der allgemeinen Naturord- 
nung und der Welteinrichtung ausgehen; nur von der Natur- und 
Gotteserkenntniss aus lässt sich über Güter und Uebel und alles, 
was damit zusammenhängt, etwas Haltbares aussagen °). Weniger 
unmittelbar ist der Zusammenhang der Logik mit dem letzten 
Zweck aller philosophischen Untersuchungen. Die Stoiker verglei- 
chen sie mit der Schaale des Ei’s, mit der Mauer einer Stadt oder 


π. μαντιχῆς (bei Cıc. Divin. I, 3, 6, wenn hier eine eigene Schrift gemeint ist), 
nebst der x. γιγάντων (Ὁ. Pıur. De flumin. 5, 3: θεομαχία) und den μυθιχὰ 
(Arsen. XII, 572, e), welche wohl mit der ἀρχαιολογία des Diog. identisch 
sind. 

1) D. 41. 

2) Dıos. VII, 178 ἔν nennt von ihm: 1) Logische und rbetorische Schriften : 
m. τῶν Ἐρετριχῶν φιλοσόφων, π. ὁμοίων, π. ὅρων, π. ἕξεως, π. τῶν ἀντιλεγομένων 
8 Β., π. λόγου, τέχνη διαλεχτιχὴ 2 B., π. χατηγορημάτων, π. ἀμφιβολιῶν. 
2) Physikalische Schriften: x. χόσμου 2 B., π. στοιχείων, π. σπέρματος, π. τύχης, 
π. ἐλαχίστων, πρὺς τὰς ἀτόμους χαὶ τὰ εἴδωλα, m. αἰσθητηρίων, π. Ἡραχλείτου 
5B., π. μαντιχῆς. Dass Sphärus’ Definitionen besonders geschätzt wurden, 
ist schon S. 35, 3 bemerkt. 

3) Cuexs. im 3. B. x. θεῶν (b. Pur. Sto. rep. 9, 4): οὐ γάρ ἐστιν εὑρεῖν τῆς 
δικαιοσύνης ἄλλην ἀρχὴν οὐδ᾽ ἄλλην γένεσιν ἢ τὴν ἐχ τοῦ Διὸς καὶ τὴν Ex τῆς κοινῆς 
φύσεως ἐντεῦθεν γὰρ δεῖ πᾶν τὸ τοιοῦτον τὴν ἀρχὴν ἔχειν, εἰ μέλλομέν τι ἐρεῖν περὶ 
ἀγαθῶν χαὶ χαχῶν. Ders. in den φυσιχαὶ θέσεις (ebd. 5): οὐ γάρ ἐστιν ἄλλως οὐδ᾽ 
οἰχειότερον ἐπελθεῖν ἐπὶ τὸν τῶν ἀγαθῶν καὶ χαχῶν λόγον οὐδ᾽ ἐπὶ τὰς ἀρετὰς οὐδ᾽ 
ἐπὶ εὐδαιμονίαν, ἀλλ᾽ ἢ ἀπὸ τῆς κοινῆς φύσεως χαὶ ἀπὸ τῆς τοῦ χόσμου διοιχήσεως. 
Weiteres oben 47, 2. 


84 Stoiker. 


eines Gartens !), und was sie von ihr rühmen, ist nur, dass sie uns 
zur Auffindung der Wahrheit und zur Vermeidung von Irrthümern 
Hülfe leiste 2). Die Bedeutung der Logik ist für sie wesentlich die 
einer wissenschaftlichen Methodenlehre, ihr eigentliches Ziel ist 
die Technik der Beweisführung, und sie liessen aus diesem Grunde, 
nach aristotelischem Vorgang, der Lehre von den Schlüssen die 
ausführlichste Behandlung zutheilwerden 5). Wie hoch sie aber 
diesen ihren Werth anschlugen, sehen wir schon aus der ausser- 
ordentlichen Sorgfalt, die ihr besonders Chrysippus widmete 3); 
umd so wollten sie auch den Peripatetikern nicht zugeben, dass 
sie blos ein Werkzeug, nicht auch ein Theil der Philosophie sei °). 
Spätere betrachten jene streng dialektische Darstellung, die allen 
Redeschmuck verschmähte, als eine Eigenthümlichkeit der stoi- 
a Bi Hunt Pi 

1) M. 5. die sogleich näher zu besprechenden Stellen b. Srxt. Math. VII, 
17 ἢ. Dıoc. 40. 

2) Von den Haupttheilen der stoischen Logik wird (Dıoe. 42. 46 f.) der 
Lehre π. xavövwv za χριτηρίων nachgerühmt, sie helfe uns die Wahrheit finden, 
sofern sie uns unsere Vorstellungen prüfen lehre; dem ögızov, es gebe An- 
leitung, mittelst der Begriffe die Dinge zu erkennen; der Dialektik, welche 
die ganze formale Logik umfasst, sie verschaffe ἀπροπτωσία (= ἐπιστήμη τοῦ 
πότε del συγχατατίθεσθαι χαὶ μή), ἀνειχαιότης (= ἰσχυρὸς λόγος πρὸς τὸ εἰχὸς, ὥστε 
μὴ ἐνδιδόναι αὐτῷ), ἀνελεγξία (= ἰσχὺς ἐν λόγῳ, ὥστε μὴ ἀπάγεσθαι: ὑπ᾽ αὐτοῦ εἰς 
τὸ ἀντιχείμενον), ἀματαιότης (-Ξ ἕξις ἀναφέρουσα τὰς φαντασίας ἐπὶ τὸν ὀρθὸν λόγον), 
so dass es also doch hauptsächlich das Negative, die Bewahrung vor Irrthum 
ist, worin ihr Nutzen gesucht wird. Vgl. Sen. ep. 89, 9: proprietates verborum 
exigit et structuram et argumentiationes, ne pro vero falsa subrepant. Sexr. 
Math. VII, 23: ὀχυρωτιχὸν “δὲ εἶναι τῆς διανοίας τὸν διαλεχτιχὸν τόπον. Pyrrh. 
II, 247: ἐπὶ τὴν τέχνην τὴν διαλεχτιχήν φασίν ὡρμηκέναι οἱ διαλεχτιχοὶ (die Stoiker) 
οὐχ ἁπλῶς ὑπὲρ τοῦ γνῶναι τί dx τίνος συνάγετα!, ἀλλὰ προηγουμένως ὑπὲρ τοῦ δι᾿ 
ἀποδειχτιχῶν λόγων τὰ ἀληθῆ χαὶ τὰ ψευδὴ χρίνειν ἐπίστασθαι. 

3) Man sieht diess besonders aus Sexrus, z.B. Pyrrh. U, 134— 203. 229 ff. 
Math. VIII, 300 ἢν, und aus dem Verzeichniss der chrysippischen Schriften 
bei Diogenes. 

4) Nur die skeptische Dialektik, welche die Widersprüche ungelöst hin- 
stellt, wird von Chrysippus bei Prur. Sto. rep. 10, 1 getadelt. τοῖς μὲν γὰρ 
ἐποχὴν ἄγουσι περὶ πάντων ἐπιβάλλει, φησὶ, τοῦτο Ποιεῖν, χαὶ συνεργόν ἐστι πρὸς ὃ 
βούλονται: τοῖς δ᾽ ἐπιστήμην ἐνεργαζομένοις χαθ᾽ ἣν ὁμολογουμένως βιωσόμεθα 
(auch ihm ist also die Philosophie wesentlich praktisches Wissen) τὰ ἐναντία 
στοιχειοῦν. Solche müssen ihren Schülern zuerst die positive Wahrheit mit- 
theilen und dann erst die Einwürfe berücksichtigen, um sie zu widerlegen. 

5) M. vgl. über diese Streitfrage zwischen den beiden Schulen die Bd.II,b, 
127, 5 angeführten Stellen. ‘ 


νον 


Theile der Philosophie. - 


schen Schule '), welche desshalb von ihnen vorzugsweise mit dem 
Namen der dialektischen bezeichnet wird 2); und auch wir wer- 
"den hinreichende Gelegenheit finden, uns von ihrer Vorliebe für 
dialektische Beweisführungen ?) und logische Schulformen zu über- 
zeugen, welche bei Chrysippus besonders nicht selten in einen 
pedantischen und geschmacklosen Formalismus übergieng 2). 

| Durch die vorstehenden Erörterungen sind nun auch bereits 
die drei Haupttheile °) der Philosophie festgestellt, welche von den 
Stoikern einstimmig angenommen werden °), die Logik, die Physik 
und die Ethik. Was nun aber das Werthverhältniss und die Rei- 
henfolge dieser drei Theile betrifft, so ergaben sich hierüber aus 
den Voraussetzungen der stoischen Lehre entgegengesetzte An- 
nahmen. Denn darüber zwar konnte man nicht im Zweifel sein, 
und es sind daher auch Alle darüber einverstanden, dass die Logik 
zu den zwei anderen Wissenschaften in einem dienenden Verhält- 
niss stehe, dass sie nur ein Aussenwerk des Systems sei und dess- 
halb, wenn man in der Anordnung seiner Theile vom Geringeren 


1) Z2.B. Cıc. Parad. Pro@m: (ato autem perfectus mea sententia Stoieus .. 
in ea est haeresi, quae nullum sequitur florem orationis neque dilatat argumen- 
tum: minutis interrogatiunceulis, quasi punctis, quod proposuit efüeit, Ders. 
Fin. IV, 3, 7: pungunt quasi aculeis interrogatiuneulis angustis, quibus etiam 
qui assentiuntur nihil commutantur animo. Schon Zeno’s Wortkargheit wird 
hervorgehoben; Dıoc. VII, 18. 20. 

2) Bei Sextus-Empirikus besonders ist Διαλεχτιχοὶ ihre stehende Bezeich- 
nung. Dieselbe findet sich aber auch bei Andern, wie Prur. qu. Plat. X, 1, 2. 
8. 1008. Vgl. auch Cıc. Top. 2, 6. Fin. IV, 3, 6. 

3) Ihre dialektischen Beweise fassten die Stoiker, nach dem Vorgang der 
eristischen Schulen, gerne in die disputatorische Form der Frage, und dess- 
halb wird auch von ihnen, selbst wenn sie diese Form nicht haben, der Aus- 
druck λόγον ἐρωτᾶν (z. B. Dioc. VII, 186) interrogatio (Sen. ep. 82, 9 f. 85, 1. 
87, 11 u. ö.), interrogatiuncula (Cıc. s. vorl. Anm.) gebraucht. 

4) Vorläufig vgl. m. was 5. 39, 1 angeführt wurde. 

5) Μέρη, nach Ὁ. 39 u. A. auch τόποι, εἴδη, γένη genannt. 

6) Ὁ. 39: τριμερῇ φασιν εἶναι τὸν χατὰ φιλοσοφίαν λόγον" εἶναι γὰρ αὐτοῦ τὸ 
᾿ μέν τι φυσιχὸν, τὸ δὲ ἠθιχὸν, τὸ δὲ λογιχόν. οὕτω δὲ πρῶτος διείλε Ζήνων ὃ Κιτιεὺς 
ἐν τῷ περὶ λόγου χαὶ Χρύσιππος ἐν τῷ a περὶ λόγου χαὶ ἐν τῇ & τῶν φυσιχῶν' καὶ 
᾿Απολλόδωρος ὁ "Eros ἐν τῷ πρώτῳ τῶν εἰς τὰ δόγματα εἰςαγωγῶν χαὶ Εὔδρο- 
μος ἐν τῇ ἠθιχῇ στοιχειώσει χαὶ Διογένης ὃ Βαβυλώνιος χαὶ Ποσειδώνιος. SExT. 
Math. VII, 16 f. Sexeca ep. 89, 9. 14 ff.u. A. Wenn Kleanthes statt dessen 
sechs Theile zählte: Dialektik, Rhetorik, Ethik, Politik, Physik, Theologie 
(D. 41), so führen diese sich leicht auf die drei Haupttheile zurück. 


36 Stoiker, 


zum Höheren fortschreitet, die erste, im umgekehrten Fall die 
letzte Stelle einnehme 1). Dagegen waren über das Verhältniss der 
Physik und der Ethik verschiedene Ansichten möglich. Einerseits 
musste die Ethik als die höhere Wissenschaft und als der Ab- 
schluss des Systems erscheinen, denn sie ist es, auf welche die 
ganze philosophische Thätigkeit der Schule hindrängt: die Philo- 
sophie soll ja wesentlich ein praktisches Wissen, Anleitung zur 
Tugend und Glückseligkeit sein. Andererseits soll aber doch die 
Tugend und die Bestimmung des Menschen nur in der Unterord- 
nung unter die Naturgesetze bestehen, welche die Physik zu er- 
forschen hat; diese Wissenschaft hat mithin den höheren Gegen- 
stand, sie stellt die allgemeinen Gesetze auf, von welchen die 
Ethik die Anwendung auf das Verhalten des Menschen macht, und 
somit scheint ihr auch in der Stufenreihe der Wissenschaften die 
oberste Stelle zu gebühren. Diese entgegengesetzten Gesichts- 
punkte mit einander auszugleichen, ist den Stoikern nicht gelun- 
gen. In der Aufzählung der drei Fächer wird bald die Physik der 
Ethik, bald diese jener vorangestellt?); und in den Vergleichungen, 


1) Die Belege sogleich. 

42) "Nach Ὁ. 40 ἢ, stellten Zeno, Chrysippus, Archedemus, Eudemus 
(Eudromus s. 0. 42, 2) u. A. an die erste Stelle die Logik, an die zweite die 
Physik, an die dritte die Ethik; die gleiche Reihenfolge, nur umgekehrt, vom 
Höheren zum Niederen fortschreitend, also Ethik, Physik, Logik, finden wir 
ebd. bei Diogenes von Ptolemais und bei SexecA ep. 89, 9, der aber freilich 
(nat. qu. prol. 1) auch wieder sagt, zwischen dem Theil der Philosophie, 
welcher die Götter, und dem, welcher die Menschen betrefle, sei der Unter- 
schied nicht geringer, als zwischen der Philosophie und den übrigen Fächern, 
ja zwischen Gott und Mensch. Dagegen stellte nach Dıoe. a. a. ©. Apollodor 
die Ethik in die Mitte, wie diess schon in der Aufzählung des Kleanthes 
(vorl. Anm.) geschieht, und ebenso ohne Zweifel Panätius und Posidonius, 
wenn sie mit der Physik begannen; bei ihnen scheint sich diess jedoch nur 
auf die Ordnung im Vortrag zu beziehen, wie sich auch aus Sexr. Math. VII, 
22 f., der doch wohl Posidonius folgt, und dem folg. Anm. Beizubringenden 
ergiebt. Einzelne behaupteten auch (D. 40), die drei Theile lassen sich so 
wenig trennen, dass man sie im Unterricht fortwährend verbinden müsse, Nur 
auf ihre Aufeinanderfolge im Unterricht geht auch die Aussage Chrysipp’s 
b, Prour. Sto. rep. 9,1 ἔν, man müsse mit der Logik anfangen, von da zur Ethik 
‚und zuletzt zur Physik fortgehen, um mit dem theologischen Theil der letztern, 
als der Vollendungsweihe, zu schliessen, und der ihm von Plutarch vorge- 
rückte Widerspruch, dass er doch anderwärts (s. o. 53, 3) die Physik und 


Theile der Philosopbie. ὅτ 


durch welche ihr Verhältniss erläutert wurde '), erscheint das 
'einemal die Ethik, das anderemal die Physik als der Zweck und 
die Seele des garizen Systems. Auch über die beim Unterricht zu 
befolgende Ordnung waren die Meinungen getheilt 5). Wir wer- 
den für die Darstellung des stoischen Systems der Anordnung den 
Vorzug geben, welche mit der Logik beginnt und von dieser zur 
Physik forigeht, um mit der Ethik zu schliessen: nicht allein weil 
diese Reihenfolge die ältesten und bedeutendsten Auctoritäten der 
Schule für sich hat, sondern vor Allem, weil sich das innere Ver- 
hältniss der drei Theile und ihres Inhalts bei derselben am deut- 
lichsten darstellt. Denn mag auch die Physik selbst in wesent- 
lichen Beziehungen durch ethische Motive bestimmt sein, so er- 
scheinen doch in der Ausführung des Systems ihre leitenden 
Gedanken als Voraussetzung der ethischen Lehren; und ist auch 
die Logik später zum Abschluss gekommen, als die andern zwei 
Fächer, so sind diese doch in ihrer wissenschaftlichen Formuli- 
rung durch jene bedingt. Wären wir in dem Falle, die Entstehung 
der stoischen Lehre im Geist ihres Urhebers genau verfolgen zu 


Theologie für die Voraussetzung der Ethik erkläre, liegt insofern nicht un- 
mittelbar vor. Aber doch sieht man auch hieraus, wie sich an diesem Punkte 


bei den Stoikern verschiedenartige Rücksichten durchkreuzten. ᾿ 


1) Bei D. 39. Sexr. Math. VII, 17 f. Prıto mut. nom. 5. 1055, E Hösch. 
(589 M.). De agricult. 189, D (302) wird die Philosophie einem Obstgarten 
verglichen, in welchem die Logik der Umzäunung, die Physik den Bäumen, 
die Ethik den Früchten entsprechen soll, so dass also diese der Schluss und 
Zweck des Ganzen ist; ferner einer wohlbefestigten Stadt, wo die Logik 
gleichfalls die Mauer sein wird, die Stellung der zwei andern Theile dagegen 
nicht klar ist; weiter einem Ei, dessen Schaale die Logik ist, während nach 
Sext. die Physik dem Weissen, die Ethik dem Gelhen, als Sitz des Keims, 
nach Diog. die Ethik dem Weissen, die Physik dem Gelben entspräche. Damit 
nicht zufrieden wollte Posidonius (den Sext. hier unter Angabe seiner Gründe 
ausdrücklich nennt, während Diog. nur überhaupt von den Stoikern redet) 
die Philosophie lieber einem lebenden Wesen vergleichen, die Logik den 
Knochen und Sehnen, die Physik dem Fleisch und Blut,. die Ethik der Seele. 
Auch hier hat aber Diog. eine abweichende Angabe, indem er die Physik der 
Seele, die Ethik dem Fleisch gleichsetzt, und Rırrer ΠῚ, 432 hält diese 
Wendung für die ältere. Wenn jedoch Posidonius wirklich, wie Sextus an- 
giebt, die Vergleichung mit dem ζῷον aufgebracht hat, müsste sie vielmehr 
Jünger sein, denn über Posidonius hat Sextus offenbar das Genauere. 

2) Vgl. die zwei vorhergehenden Anmm. und Srxr. Prren. II, 18. 


8 Stoiker. 


können, so liesse sich vielleicht zeigen, wie sich an seine ethi- 
schen Grundgedanken die physikalischen und logischen Bestand- 
theile des Systems nach und nach anselzten; da wir sie aber zu- 
nächst nur in der systematischen Entwicklung kennen, welche sie 
seit Chrysipp hatte, so werden wir stalt dessen, wie es in dieser 
geschah, vom Umkreis zum Mittelpunkt, von der Logik durch die 
Physik zur Ethik vorzudringen haben, und erst am Schluss unse- 
rer Darstellung den Versuch machen können, ob sich derselbe 
Weg auch in entgegengesetzter Richtung beschreiten, und aus der 
ethischen Richtung des Stoicismus das Eigenthümliche seiner theo- 
retischen Lehre sich erklären lässt. 


3. Die stoische Logik. 


Unter dem Namen der Logik fassien die Stoiker seit Chry- 
sippus eine Masse von wissenschaftlichen Erörterungen zusammen, 
welche wir nur theilweise zur Philosophie rechnen würden, und 
deren Gemeinsames auch nur darin liegt, dass sie sich alle auf die 
formalen Bedingungen des Denkens und der Darstellung beziehen. 
Sie unterschieden nämlich zunächst zwei Theile der Logik, welche 
sie schief genug als die Lehre von der fortlaufenden Rede und 
der Gesprächführung bezeichneten, die Rhetorik und die Dialek- 
tik ); zu ihnen kommt dann noch als Drittes die Lehre von den 
Kriterien, die Erkenntnisstheorie, und als Viertes nach Einigen 
die Erörterungen über die Begriffsbestimmungen ?); von Anderen 


1) Dioc: 41 f.: τὸ δὲ Aoyınov μέρος φασὶν ἔνιοι εἰς δύο διαιρείσθαι ἐπιστήμας, 
εἰς ῥητοριχὴν χαὶ διαλεχτιχήν 2...» τήν τε ῥητοριχὴν ἐπιστήμην οὖσαν τοῦ εὖ λέγειν 
περὶ τῶν ἐν διεξόδῳ λόγων χαὶ τὴν διαλεχτιχὴν τοῦ ὀρθῶς διαλέγεσθαι περὶ τῶν ἐν 
ἐρωτήσει χαὶ ἀποχοίσε: λόγων. ΞΈΝΕΟΑ ep. 89, 17: superest ut rationalem partem 
philosophiae dividam: omnis oratio aut conlinua est aut inter respondentem et 
interrogantem discissa. Hanc διαλεχτιχὴν, Ülam δητοριχὴν placuit vocari. Cıc. 
Fin. II, 6, 17. Orat. 32, 113. Quvaisrır. Inst. II,.20, 7. Nach dieseh Stellen 
verglieh Zeno die Rhetorik der fachen Hand, die Dialektik der Faust, quod 
latius loquerentur rhetores, dialecticei autem compressius. Mit ARISTOTELES 
(Rhet, Anf.) nennen auch Stoiker die Rhetorik ἀντίστροφος τῇ διαλεχτιχῇ (Sor. in 
Hermog. V, 15. Walz; vgl. Ῥβαντι, Gesch. ἃ. Log. I, 413). 

2) Dıos.a. a. O.: die Logik theilen Einige in Rhetorik und Dialektik; 
τινὲς δὲ χαὶ εἰς τὸ δριχὸν εἶδος, To περὶ χανόνων χαὶ χριτηρίων ἔνιοι δὲ τὸ δριχὸν 
πεοιαιροῦσι (wofür wir keinen Grund haben, mit ΜΈΝΔΟΣ περιδιαιροῦσι, oder 


Die Logik und ihre Theile. 59 


wurden diese als besonderer Haupttheil beseitigt, und ebenso auch 
die Erkenntnisstheorie zur Dialektik gerechnet '). Von diesen 
Wissenschaften enthielt aber nicht allein die Rhetorik wohl kaum 
‚etwas anderes, als eine Sammlung von Kunstregeln ohne philo- 
sophischen Werth ?), sondern auch die Dialektik beschäftigte sich 


mit MEızos und Nıcoraı De log. Chrys. libr. 23 παραδιαιροῦσι zu vermuthen). 
Nach diesen Worten müsste das δριχὸν mit der Lehre von den Kriterien zu- 
sammenfallen; im Folgenden jedoch werden beide unterschieden: die Lehre 
von den Kriterien diene zur Auffindung der Wahrheit, za: τὸ ögızov δὲ ὁμοίως 
πρὸς ἐπίγνωσιν τῆς ἀληθείας" διὰ γὰρ τῶν ἐννοιῶν τὰ πράγματα λαμβάνεται. Man 
möchte desshalb statt der Worte: τὸ δριχὸν εἶδος, τὸ περὶ χανόνων vermuthen: 
τὸ δρ. εἶδ. χαὶ τὸ (oder: τό ze) π. χαν. Bei dem δριχὸν (das aber nicht mit 
Nıcouar a. ἃ. Ὁ. an den Anfang, sondern eher an das Ende der Dialektik 
zu stellen sein wird) möchte ich in diesem Fall nicht blos an die Lehre von 
der Definition denken, wiewohl auch schon diese, von Aristoteles in einem 
eigenen Abschnitt am Schluss seiner Analytik (Anal. post. II.) besprochen, 
so behandelt werden konnte; sondern neben der theoretischen Erörterung über 
die Begriffsbestimmung scheint es zugleich Sammlungen von Definitionen 
über verschiedene Gegenstände enthalten zu haben; darauf weisen die chrysip- 
pischen Schriften (D. 199 ἢ, 189): περὶ τῶν ὅρων ζ΄. ὅρων διαλεχτιχῶν στ΄, ὅρων 
τῶν χατὰ γένος ζ΄. ὅρων τῶν χατὰ τὰς ἄλλας τέχνας ἀβ΄. ὅρων τῶν τοῦ ἀστείου β΄. 
ὅρων τῶν τοῦ φαύλου β΄. ὅρων τῶν ἀναμέσων [-ov] β΄, nebst den weiteren 
π. τῶν οὐχ ὀρθῶς τοῖς ὅροις ἀντιλεγομένων ζ΄. Πιθανὰ εἰς τοὺς ὅρους β΄. Auch die 
Schrift π. εἰδῶν χαὶ γενῶν kann man hieher rechnen; vielleicht auch die Ab- 
handlungen über die Kategorieen (D. 191): πιτῶν χατηγορημάτων πρὸς Μητρό- 
δωρον (, πρὸς Πάσυλον π. χατηγορημάτων δ΄. 

1) Denn fehlen konnte diese schon von Zeno angestellte grundlegende 
Untersuchung in keiner Darstellung; dass sie dagegen von Manchen als Theil 
der Dialektik behandelt wurde, sieht man auch aus Diıoc. 43: der von den 
σημαινόμενα handelnde Abschnitt der Dialektik zerfalle εἴς re τὸν περὶ τῶν φαν- 
τασιῶν τόπον καὶ τῶν Ex τούτων ὑφισταμένων λεχτῶν u. 8. w. (was NicoLar $. 23, 
wie mir scheint, willkührlich umändert oder umdeutet), wenn wir damit 
Dioxzes b. Dıoc. 49 vergleichen: ἀρέσχει τοῖς Στωϊχοῖς περὶ φαντασίας χαὶ αἰσθή- 
σεως προτάττειν λόγον, καθότι τὸ χριτήριον ᾧ ἣ ἀλήθεια τῶν πραγμάτων γινώσχεται 
χατὰ γένος φαντασία ἐστὶ καὶ χαθότι ὃ περὶ συγχαταθέσεως χαὶ ὃ περὶ χαταλήψεως χαὶ 
νοήσεως λόγος προάγων τῶν ἄλλων οὐχ ἄνευ φαντασίας συνίσταται. Der Abschnitt 
von der φαντασία, D. 43 als 1611 der Dialektik gezählt, enthielt nach dieser 
Stelle die Erkenntnisstheorie. Seltsam ist Prrersen’s Vermuthung (Phil. 
Chrys. Fund. S. 25), die letztere möge von Chrysippus mit\dem Namen der 
Rbetorik bezeichnet werden. 

2) Wir sind aber über dieselbe nur wenig unterrichtet. Xexeca a a. Ὁ. 
dentet mit den Worten: ῥητοριχὴ verba curat et sensus ἐξ ordinem eine Ein- 
theilung an, welche sich von der aristotelischen (Bd. II, b, 598) nur durch die 


60 Stoiker. 


zu einem guten Theile mit Untersuchungen, welche nur den Ge- 
dankenausdruck betreffen. Die Stoiker definirten die Dialektik- 
als die Wissenschaft oder Kunst, gut zu reden '); und sollte nun 
auch das Gutreden zunächst nur darin bestehen, dass man wahr und 
geziemend rede 2), wird daher die Dialektik insofern auch als die 
Erkenntniss dessen bezeichnet, was wahr oder falsch oder keines 
von beiden sei 5). so glaubten sie doch, die Richtigkeit des Aus- 


------ --- 


Stellung der Haupttheile unterscheidet. Zu diesen drei Theilen fügt Dıoe. 
43 f. einen vierten, vom Vortrag, hinzu (εἶναι δ᾽ αὐτῆς τὴν διαίρεσιν εἴς τε τὴν 
εὕρεσιν χαὶ εἰς τὴν φράσιν χαὶ εἰς τὴν τάξιν καὶ εἰς τὴν ὑπόχρισιν). Derselbe bezeugt 
für die Stoiker die (aristotelische) Unterscheidung der drei Redegattungen 
(συμβουλευτιχὸς, διχανιχὸς, ἐγχώμιαστιχος) und der vier Redetheile: προοίμιον, 


διήγησις, τὰ πρὸς τοὺς avrıdizoug, ἐπίλογος. Definitionen der διήγησις und des 
παράδειγμα führt der Ungenannte b. Srexeer Rhet. gr. I, 434, 23. 447, 11 aus 
Zeno (welchem Zeno, wissen wir nicht) an; Ders. giebt 454, 4 an, nach 
Chrysippus solle der Epilog μονομερὴς sein. Die stoische Definition der Rhe- 
torik (auch bei den Ungenannten Rhet. gr. ed. Warz VII, 8. 105, not. 18) 
wurde schon S. 58, 1 mitgetheilt; eine andere: τέχνη πεοὶ χόσμου [- ον] χαὶ εἴρη- 
μένου λόγου τάξιν, nebst einigem Weiteren führt Pur. Sto. rep. 28. 1 von 
Chrysipp an. Ueber die stoische Rhetorik überhaupt, und namentlich die 
chrysippische, wird bei Cıc. Fin. IV,-3, 7 geurtheilt, sie sei so beschaffen, 
ut si quis obmutescere concupierit, nihil aliud legere debeat. Sie gebe nichts, als 
neue Worte. Seien ja doch auch ihre Ausführungen dürftig im Ausdruck, auf 
knappe spitze Fragen beschrärkt. Diese Verkennung des eigentlich Rhetori- 
schen zeigt sich auch in dem, was Prur. Sto. rep. 28, 2 anführt, und in den 
Anm. 1.2 und S. 58, 1 mitgetheilten Bestimmungen; dagegen haben wir keine 
Veranlassung, umgekehrt mit Prantt a. ἃ. O. 413 über die blos rhetorische 
Geltung der Dialektik bei den Stoikern zu klagen. 

1) Vgl. 8.58, 1 und Arex. Aphr. Top. 3, 0: οἱ μὲν ἀπὸ τῆς Στοᾶς δριζόμενοι 
τὴν διαλεχτιχὴν ἐπιστήμην τοῦ εὖ λέγειν ὁρίζονται, τὸ δὲ εὖ λέγειν ἐν τῷ ἀληθῇ xar 
προςήκχοντα λέγειν εἶναι τιϑέμενοι, τοῦτο δὲ ἴδιον ἡγούμενοι τοῦ φιλοσόφου, χατὰ τῆς 
τελεωτάτης φιλοσοφίας φέρουσιν αὐτὸ καὶ διὰ τοῦτο μόνος ὃ φιλόσοφος κατ᾽ αὐτοὺς 
διαλεχτιχός. Anders hatte Aristoteles den Namen der Dialektik gebraucht, wo- 
gegen sie bei Plato gleichfalls das dem Philosophen eigenthümliche Verfahren 
bezeichnet; s. Bd. II, b, 177. a, 388 ἢ, 

2) S. vor. Anm. und Anon. Prolegg. ad Hermog. Rhet. gr. VII, 8 W: of 
Στωϊχοὶ δὲ τὸ εὖ λέγειν ἔλεγον τὸ ἀληθῇ λέγειν. 

3) D. 42: ὅθεν καὶ οὕτως αὐτὴν [τὴν διαλεχτιχὴν) δρίζονται, ἐπιστήμην ἀληθῶν 
χαὶ ψευδῶν καὶ οὐδετέρων (das Gleiche 5. 62 aus Posidonius und bei Sexr. Math. 
XI, 187. Sum. Διαλεχτιὺ; wobei das seltsame οὐδετέρων wohl desshalb beigefügt 
ist, weil es die Dialektik nicht blos mit Urtheilen, sondern auch mit Begriffen, 
Fragesätzen n. s. w. zu thun hat, nur jene aber wahr oder falsch sind. Vgl. 
*Dıos. 68 u. a. St., worüber tiefer unten. 


᾿ 


Die Logik und ihre Theile. 61 


drucks lasse sich von der des Gedankens nicht trennen. Gedanke 
und Wort sind ihrer Ansicht nach Ein und dasselbe, nur von ver- 
schiedenen Seiten betrachtet. Derselbe Logos, welcher Gedanke 
ist, so lang er in der Brust bleibt, wird zum Worte, wenn er 
aus ihr hervortritt '). Sie gaben daher der Dialektik zwei 
Haupitheile: von dem Bezeichneten und von dem Bezeichnenden, 
den Gedanken und den Worten ?). Beide Theile hatten wieder 


1) Diess ist die Bedeutung der stoischen Unterscheidung zwischen dem 
λόγος ἐνδιάθετος und προφορικός, welche später von Philo zur Erläuterung seiner 
Logoslehre benützt und von Kirchenvätern in die ihrige übertragen wurde, 
welche aber an sich selbst von der aristotelischen (Anal. post. I, 10. 76, b, 24): 
οὐ πρὸς τὸν ἔξω λόγον, ἀλλὰ πρὸς τὸν ἐν τῇ ψυχῇ nicht verschieden ist. M. 8. 
darüber Herakıır Alleg. Hom. ce. 72, 8. 142: διπλοῦς ὃ λόγος. τούτων δ᾽ ol 
φιλόσοφοι (ἃ. h. die Stoiker, zu denen Heraklit selbst gehört) τὸν μὲν ἐνδιάθετον 
χαλοῦσι τὸν δὲ προφοριχόν. ὃ μὲν οὖν τῶν ἔνδον λογισμῶν ἐστιν ἐξάγγελος, ὃ δ᾽ ὑπὸ 
τοῖς στέρνοις χαθεΐρχται. φασὶ ὃὲ τούτῳ χρῆσθαι καὶ τὸ θεῖον. Sexr. Math. VIII, 275 
(vgl. Pyrrh. I, 76): οἱ δὲ Δογματικοὶ ... φασὶν ὅτι ἄνθρωπος οὐχὶ τῷ προφοριχῷ 
λόγῳ διαφέρει: τῶν ἀλόγων ζῴων... ἀλλὰ τῷ ἐνδιαθέτῳ. Nur die Stoiker können 
auch unter den νεώτερο! gemeint sein, welchen Treo Smyex. Mus. c. 18 im 
Unterschied von den Peripatetikern die Ausdrücke λόγος ἐνδιάθετος und προ- 
φοριχὸς beilegt; und ebenso haben wir an sie zu denken, wenn Pıvr. c. princ. 
philos. 2, 1. 5, 777 sagt: τὸ δὲ λέγειν, ὅτι δύο λόγοι εἰσὶν, ὁ μὲν ἐνδιάθετος, ἣγε- 
μόνος ἙἭ μοῦ (der Hermes ψυχοπομπὸς) δῶρον, ὃ δ᾽ ἐν προφορᾷ, διάχτορος καὶ 
ὀργανιχὸς, ἕωλόν ἐστι. Gerade auf den doppelten Logos wird von HERAKLIT 
a. a. Ὁ. die Doppelgestalt des Hermes gedeutet: der Ἕρμῆς Χθόνιος bezeichne 
den ἐνδιάθετος, der. im Himmel wohnende (der Götterbote, der διάκτορος 
Plutarch’s) den προφοριχός. Erst von den Stoikern kam dann diese Unter- 
scheidung auch zu Andern, wie Prur. solert. an, 19,1. 8.973. GaLEn protrept, 
I, 1, Anf. 

2) Ὁ. 43: τὴν διαλεχτιχὴν διαιρεῖσθαι εἴς τε τὸν ment τῶν σημαινομένων χαὶ τῆς 
φωνῆς τόπον. Ders. 02: τυγχάνει δ᾽ αὕτη, ὡς ὃ Χρύσιππός φησι, περὶ σημαίνοντα 
χαὶ σημαινόμενα. SEnEcA a. ἃ. O.: διαλεχτιχὴ in duas ρᾳγέεβ dividitur, in verba 
et significaliones, ὃ. 6. in res, quae dicuntur, et vocabula, quibus dieuntur. Die 
Unterscheidung des σημαῖνον und σημαινόμενον, zu denen als Drittes das τυγ- 
χάνον, das reale Objekt, hinzukommt, wird in anderem Zusammenhang später 
noch zu berühren sein. Eine weit engere und der peripatetischen Logik näher 
stehende Auffassung der Dialektik ist in der Definition bei Sexr. Pyrrh. U, 
213 und der darin entbaltenen Eintheilnng angedentet. Indessen hat schon 
Fapkıcıus 2. d. St. bemerkt, dass sich diese Eintheilung bei dem (eklekti- 
schen) Platoniker Arcısous Isag. c. 3 findet, und da sie nun Sextus nicht 
den Stoikern, sondern allgemeiner den Dogmatikern beilegt, wird sie keinen- 
falls der stoischen Schule als solcher, sondern höchstens einzelnen ihrer spä- 
teren Mitglieder angehören. 


62 Stoiker. 


viele Unterabtheilungen 1); dieselben, sind uns jedoch nur theil- 
weise bekannt ?). Zu der Wissenschaft vom Bezeichnenden, welche 
sie in der Regel der vom Bezeichneten voranstellten 5), rechneten 
die Stoiker nicht allein die Laut- und Sprachlehre, sondern auch 
die Theorie der Dichtkunst und der Musik, indem sie diese Künste 
äusserlich genug unter den Begriff der Stimme und des Tons stell- 
ten %). Was uns aber von ihren Bestimmungen über diese Gegen- 
stände überliefert ist, eine Anzahl von Definitionen, Unterschei- 
dungen, Eintheilungen u. s. w., hat so wenig philosophischen 
Gehalt, dass wir hier nicht länger dabei verweilen können °). Ein 


1) Sex. fährt fort: ingens deinde sequitur utriusque divisio — die er uns 
nur leider nicht mittheilt. 

2) Prrersen’s Versuch (Phil. Chrys. fund. 221 ff.), diese Eintheilung 
im Einzelnen festzustellen, hat viel Unsicheres, wie denn namentlich gleich 
am Anfang die Beziehung von Sexr. Math. VIII, 11 f. auf die Theile der Logik 
verfehlt ist. Vgl. Nıcorar De logie. Chrys. libr. 21 f. Umsichtiger verfährt 
Nıcoraı, doch bleibt auch nach seinen Erörterungen Vieles zweifelhaft. 

3) Dioe. 55. 

4) S. folg. Anm. und D. 44: εἶναι δὲ τῆς διαλεχτικῆς ἴδιον τόπον χαὶ τὸν προ- 
εἰρημένων περὶ αὐτῆς τῆς φωνῆς, ἐν ᾧ δείκνυται ἣ ἐγγράμματος φωνὴ χαὶ τίνα τὰ τοῦ 
λόγου μέρη, καὶ περὶ σολοιχισμοῦ χαὶ βαρβαρισμοῦ καὶ ποιημάτων χαὶ ἀμφιβολιῶν 
καὶ περὶ ἐμμελοῦς φωνῆς χαὶ περὶ μουσιχῆς χαὶ περὶ ὅρων χατά τινας χαὶ διαιρέσεων 
nat λέξεων. Die Lehre von der Begriffsbestimmung und Eintheilung hat frei- 
lich hier, in dem Abschnitt x. φωνῆς, einen so auffallenden Ort, dass man 
geneigt sein könnte, ein Verschen des Berichterstatters auzunebmen. Indessen 
sehen wir aus den späteren, offenbar glaubwürdigen, Mittheilungen s. 60—62, 
dass sie wirklich von Manchen so gestellt wurde. 

5) Nur in Form einer Anmerkung will ich auch hierüber einige Nach- 
weisungen geben. Näheres bei R. Scuwmipr Stoicorum grammatica (Halle 1839). 
Lersch, Sprachphilosophie der Alten, an verschiedenen Orten (8. ἃ, Register). 
Steıstuan Gesch. ἃ. Sprachwissenschaft u. s. w. I, 265—363. Vgl. Nıcorar 
De log. Chrys. libr. 31 f. Dieser Abschnitt der Dialektik begann mit Erör- 
terungen über die Stimme und Sprache. Die Stimme wurde im Allgemeinen 
als Ton, und dieser als bewegte Luft, oder als Hörbares (ἀὴρ πεπληγμένος ἢ 
τὸ ἴδιον αἰσθητὸν ἀχοῆς) definirt, von den thierischen Lauten, die nur ein ἀὴρ 
ὑπὸ ὁρμῆς πεπληγμένος sind, die menschliche Stimme als ἔναρθοος χαὶ ἀπὸ δια- 
νοίας ἐχπεμπομένη unterschieden (D. 55. Sıver. Phys. 97, a, u. nach Dio- 
genes Babylonius; vgl. Sexr. Math. VI, 359. Gerı. N. A. VI, 15, 6 und was 
später über die Stimme als Seelenvermöger anzuführen sein wird); dass die 
Stimme etwas Körperliches sei, wird in verschiedenen Wendungen bewiesen 
(D. 55 f. Pıvr. plae. IV, 20, 2. Gare hist. phil. 27). Sofern eine Stimme ἔναρ- 
θρος, d.h. ans Buchstaben zusammengesetzt ist, heisst sie λέξις, sofern sie 


Be ὦ 


| 


Erkenntnisstheorie, 63 


erheblicheres Interesse haben für uns nur zwei Theile der stoi- 
schen Logik: die Erkenntnisstheorie und der Abschnitt der Dia- 
lektik, welcher vom Bezeichneten handelt, und welcher im We- 
sentlichen unserer formalen Logik entspricht. 


1. Die Erkenntnisstheorie. 


Den Mittelpunkt der stoischen Erkenntnisstheorie bildet die 
Frage nach dem Kriterium oder dem Merkmal, an welchem sich 
das Wahre in unsern Vorstellungen von dem Falschen unterschei- 
den lässt. Dieses Merkmal kann nun natürlich, da jede Erkennt- 
niss eines bestimmten Inhalts daran gemessen werden soll, seiner- 
seits nicht wieder in dem Inhalt, sondern nur in der Form der 


gewisse Vorstellungen ausdrückt, λόγος (Ὁ. 56f., den ὅτι. λόγος ausschreibt; 
vgl. Sexr. Math. I, 155); die volksthümlich bestimmte Ausdrucksweise (λέξις 
χεχαραγμένη ἐθνιχῶς τε χαὶ “Ἑλληνικῶς ἢ λέξις ποταπὴ) heisst διάλεχτος (Ὁ. 56). 
Die Elemente der λέξις sind die 24 Buchstaben, die in 7 φωνήεντα, 6 ἄφωνα 
(u. 11 Halbvokale) zerfallen (D. 57); der λόγος hat fünf Theile, von Chry- 
sippus στοιχεῖα genannt (vier derselben sind auch in der aristotelischen Poetik 
e. 20 f., aber schwerlich von Aristoteles selbst, aufgezählt): ὄνομα, zgosnyopia, 

. (oder πρόςθεσις, wie bei Galen statt πρόθεσις zu lesen ist), ῥῆμα, σύνδεσμος, 
ἄρθρον, wozu Antipater noch die μεσότης (Adverbium) fügte (D. 57 f. GaLen 
De Hippoer. et Plat. VII, 3. Bd. V, 670. Weiteres bei Lexscn Il, 28 ff. Steıs- 
raar 291). Die Namen sind nicht willkührlich gebildet, sondern in den Grund- 
lauten, aus denen sie zusammengesetzt sind, werden gewisse Eigenschaften 
der Dinge nachgealmt (so schon Plato, vgl. Bd. II, a, 402), welche sich dess- 
halb durch etymologische Analyse finden lassen sollen (Orıc. e. Cels. I, 24 
vgl. Avsusrıx. Dialect. e. 6. Opp. T. I, App. 17, c);; doch bemerkt Chrysippus 
b. Varro 1. lat. IX, 1 ausdrücklich, dass auch Aehnliches unähnliche Namen 
führe und umgekehrt, und bei ἀπ... N. A. XI, 12, 1, dass jedes Wort mehr- 
deutig sei. Ebenso haiten die Stoiker nach Sımpi. Cat. 8, X die Polyonymie, 
welche sie Synonymie nannten, beachtet. (Ueber die Etymologie der Alten 
vgl. m. Sreistaar I, 330 ff.) Weiter werden fünf Vorzüge und zwei Fehler 
der Sprache aufgezählt (D. 59. Sexr. Math. I, 210); es wird von der Poösie 
(Ὁ. 60, wo Definitionen von ποίημα und ποίησις), von den verschiedenen Arten 
der Amphibolie (D.62; ausführlicher GaLkx De sophism. p. diet. e. 4. Bd.XIV, 
595 f. vgl. Schol. ad Hermog. Rhet. gr. von Walz VII, 226), von Begriffs- 
bestimmung und Eintheilung (s. vorige Anm.) gehandelt. Auf die letzteren 
werden wir später noch zurückkommen: auch einiges Andere, was wir zur 
Grammatik rechnen würden, die Stoiker selbst aber unter die Lehre vom 
Bezeichneten stellten, wie die Unterscheidung der πτῶσις und xärnyopia, der 
Casus und der Formen des Zeitworts, wird uns später, in der Lehre vom 
Urtheil, vorkominen. Ueber die Tempora vgl. m, Steiwsrnan I, 300 δ᾽ 


64 Stoiker. 


Vorstellungen gesucht werden. Jene Frage ist daher gleichbedeu- 
tend mit der: welche Art von Vorstellungen eine zuverlässige 
Erkenntniss gewähre, welche Thätigkeit des Vorstellungsvermö- 
gens die Bürgschaft ihrer Wahrheit in sich trage; und diess liess 
sich nicht feststellen, wenn nicht der Ursprung der Vorstellungen 
untersucht, die Arten derselben unterschieden, ihr Werth und ihre 
Zuverlässigkeit bestimmt wurde. Die Aufgabe war daher über- 
haupt diese: durch eine Analyse der Vorstellung ein allgemein 
gültiges Merkmal für die Beurtheilung ihrer Wahrheit zu ge- 
winnen. 

Ob die ältesten Stoiker diese Untersuchung schon ihrem gan- 
zen Umfange nach aufgenommen hatten, ist uns nicht überliefert. 
Boethus, welchen Chrysippus desshalb angriff, hatte mehrere Kri- 
terien angenommen, die Vernunft, die Wahrnehmung, die Begierde 
und die Wissenschaft, Andere hatten nur unbestimmt die richtige 
Erkenntniss (ὀρθὸς λόγος) als Merkmal der Wahrheit bezeichnet '); 
und so könnte man vermuthen, dass die Schule vor Chrysippus 
überhaupt noch keine entwickelte Erkenntnisstheorie gehabt habe. 
Indessen werden uns doch schon von Zeno und Kleanthes Bestim- 
mungen berichtet, welche beweisen, dass das Wesentliche der 
späteren Lehre hierüber schon von ihnen aufgestellt war ?). Ihre 
wissenschaftliche Vollendung hat sie allerdings wohl erst durch 
Chrysippus erhalten, und nur in dieser ihrer späteren Gestalt ist 
sie uns genauer bekannt. 

Die Richtung dieser Erkenntnisstheorie bezeichnet sich nun in 
der Hauptsache durch dreiZüge: den Empirismus, welchen die Stoa 
von der cynischen Schule geerbt hat und mit der epikureischen 
theilt; die Erhebung der Erfahrung zum Begriff, durch welche sie 


1) Dıos, VII, 54. 

2) Von Zeno und Kleanthes (wie sogleich gezeigt werden soll) Sätze über 
die φαντασία, welche jedenfalls beweisen, dass schon diese Stoiker ihre Er- 
kenntnisstheorie mit allgemeinen Bestimmungen über die Vorstellung begon- 
nen hatten, und hiebei gleichfalls von sensualistischen Voraussetzungen aus- 
gegangen waren; von Zeno eine Erklärung über das Verhältniss der verschie- 
denen Erkenntnissformen, welche zeigt, dass auch er schon den Fortgang 
von der Wahrnehmung zum Begriff und zur Wissenschaft verlangte, ihren 
Unterschied aber nur in der zunehmenden Stärke der Ueberzengung zu seben 
wusste, 


Erkenntnisstheorie: die Vorstellung. 65 


sich von beiden unterscheidet; die praktische Wendung der Frage 
nach dem Eigenthümlichen der begrifllichen Erkenntniss und dem 
Merkmal der Wahrheit. Ihrer näheren Ausführung nach lautet sie, 
so wie sie uns überliefert ist, folgendermaassen: 

Alle Vorstellungen (φαντασία!) sind ursprünglich aus einer 
Wirkung des Vorgestellten (φανταστὸν) auf die Seele zu erklä- 
ren); denn bei der Geburt gleicht diese einer unbeschriebenen 
Tafel, erst durch die Wahrnehmung wird ein Inhalt in sie einge- 
tragen ?). Diese Wirkung der Gegenstände auf die Seele dachten 
sich die ältesten Stoiker sehr materialistisch: Zeno erklärte die 
Vorstellung für einen Eindruck in der Seele ®), und Kleanthes 
nahm diess so wörtlich, dass er sie mit dem Abdruck eines Siegels 
im Wachs verglich *); da aber Kleanthes ein besonders treuer 


ὯΝ 

1) Prur. plac. IV, 12 (nach Chrysippus). Dros. VII, 50. ΝΈΜΕΒ. nat. 
hom. 76). Die φαντασία ist πάθος ἐν τῇ ψυχῇ γινόμενον, ἐνδειχνύμενον ἑαυτό τε 
χαὶ τὸ πεποιηχός — ähnlich, wird beigefügt, wie das Licht sich selbst und die 
Dinge zeige (Chrys. leitet auch das Wort φαντασία von φῶς her); φανταστὸν 
ist τὸ ποιοῦν τὴν φαντασίαν, also πᾶν 6 τι ἂν δύνηται zıveiv τὴν ψυχήν. Von der 
φαντασία unterscheidet sich das φανταστιχὸν dadurch, dass ihm kein φανταστὸν 
entspricht: es ist διάχενος ἑλχυσμὸς, πάθος ἐν τῇ ψυχῇ ἀπ᾽ οὐδενὸς φανταστοῦ γινό- 
μενον (ungenauer Sexr. Math, VIl, 241: διάχενος ἑλχυσμὸς heisse die φαντασία 
τῶν ἐν ἡμῖν παθῶν, denn diese Definition würde auch auf die Wahrnehmung 
unserer inneren Zustände passen, welche keine leere Erregung sind; s. u. 
65, 2); der Gegenstand einer solchen inhaltslosen Vorstellung (dasjenige, ἐφ᾽ 
᾿ὃ ἑλχόμεθα κατὰ τὸν φανταστιχὸν διάχενον ἑλχυσμὸν) ist ein φάντασμα (Dıos. nennt 
das φάντασμα selbst δόχησις διανοίας, eigentlich ist es aber nur Gegenstand 
derselben); leere Einbildungen, welehe den Eindruck wirklicher Wahrneh- 
mungen machen, heissen bei Dıiog. 51 ἐμφάσεις al ὡσανεὶ ἀπὸ ὑπαρχόντων γινό- 
μεναι. Im weiteren Sinn bezeichnet φαντασία alle V orstellungen, auch die un- 
wirklichen; vgl. Dioc. ui 

2) Puor. plac. IV, 11: οἱ Στ 
Ayswovızov μέρος τῆς ψυχῆς ὥσπερ χάρτης [χάρτην, wie Garten h. phil: 24. Bd. XIX, 
304 liest], ἐνεργῶν εἰς ἀπογραφήν. εἰς τοῦτο μίαν ἑχάστην τῶν ἐννοιῶν ἐναπογρά- ἡ 


ωἴχοί φασιν᾿ ὅταν γεννηθῇ ὃ ἄνθρωπος ἔχει τὸ 


, 


φεταί. πρῶτος δὲ ὃ τῆς ἀπογραφῆς τρόπος ὃ διὰ τῶν αἰσθήσεων u. 5. νυ. (s. u. 67, 1), 
Orıs. 6. Cels. VII, 37. 720, b: sie-lehrten, αἰσθήσει χαταλαμβάνεσθαι τὰ χατα- 
λαμβανόμενα καὶ πᾶσαν κατάληψιν ἠρτῆσθαι τῶν αἰσθήσεων. 

3) Prur. comm. not. 47: φαντασία τύπωσις ἐν ψυχῇ. Ebenso Dios. VII, 
45. 50. Dass diese Bestimmung schon Zeno angehört, sehen wir aus dem 
sogleich Anzuführenden. 

4) Sexr. Math. VII, 228: Κλεάνθης μὲν γὰρ ἤχουσε τὴν τύπωσιν χατὰ εἰςοχήν 
τε χαὶ ἐξοχὴν ὥσπερ χαὶ διὰ τῶν δαχτυλίων γινομένην τοῦ χηροῦ τύπωσιν. Das 
Gleiche ebd. 372. VIII, 400. 

Philos. ἃ. Gr. III. Bd. 1. Abth. I 


66 Stoiker. 


Schüler Zeno’s war, werden wir diese Auffassung für richtig hal- 
ten dürfen. Chrysippus erkannte die Schwierigkeiten dieser An- 
nahme; er selbst bestimmte das Wesen der Vorstellung dahin, dass 
sie die vom Gegenstand in der Seele, oder genauer in ihrem be- 
herrschenden Theile, hervorgebrachte Veränderung sei 1): und 
im Zusammenhang damit rechnete er auch die geistigen Zustände 
und Thätigkeiten ausdrücklich unter die Gegenstände der Wahr- 
nehmung ?), während seine Vorgänger bei ihren Bestimmungen 
nur die Wahrnehmungen der äusseren Sinne in’s Auge gefasst hat- 
ten. Wie freilich jene Veränderung in der Seele erfolge, diess 
scheint auch Chrysippus nicht weiter untersucht zu haben. ᾿ 


1) Sexr. VII, 229 fährt fort: Χρύσιππος δὲ ἄτοπον ἡγεῖτο τὸ τοιοῦτον. Bei 
dieser Vorstellung müsste die Seele, um vielerlei Vorstellungen gleichzeitig 
festzuhalten, viele und entgegengesetzte Formen zugleich annehmen. αὐτὸς 
οὖν τὴν τύπωσιν εἰρῆσθαι ὑπὸ τοῦ Ζήνωνος ὑπενόει ἀντὶ τῆς ἑτερολύσεως, ὥστε εἶναι 
τοιοῦτον τὸν λόγον: φαντασία ἐστὶν ἑτεροίωσις ψυχῆς. Dagegen sei aber eingewen- 
det worden, dass nicht jede Veränderung der Seele eine Vorstellungssei, und 
desswegen haben die Stoiker der Definition die nähere Bestimmung beigefügt: 
φαντασία ἐστὶ τύπωσις ἐν ψυχῇ ὡς ἂν ἐν ψυχῇ, was so viel sei als: φαντ. ἐστὶν 
ἑτεροίωσις ἐν ἡγεμονιχῷ, oder sie haben, was auf dasselbe hinauskommt, in 
Jıeno’s Erklärung der φαντασία als τύπωσις ἐν ψυχῇ die ψυχὴ im engeren Sinn 
von dem ἥγεμονιχὸν verstanden. Da man auch diese Definition noch zu weit 
gefunden habe, sei stoischerseits weiter bemerkt worden, dass mit der ἕτεροί- 
σις hier eine leidentliche Veränderung (ἑτεροίωσις χατὰ πεῖσιν) gemeint sei. 
Auch diess ist freilich, wie Sextus bemerkt, immer noch zu weit, da die Vor- 
stellung nicht die einzige leidentliche Veränderung in der Seele ist; indessen 
findet sich eine nähere Bestimmung schon in der S. 65, 1 angeführten De- 
finition der φαντασία. Mit dem Vorstehenden stimmen die Angaben Ὁ. Sexr. 
Math. VII, 372 fi. VIIL, 400. Dıoc. VII, 45. 50. Arex. Arnr. De an. 135, b, o. 
Βοξτη. De interpr. II, 292 (Schol. in Arist. 100, a, u.) überein. 

2) Chrys. b. Por. Sto. rep. 19, 2: ὅτι μὲν γὰρ αἰσθητά ἐστι τἀγαθὰ καὶ τὰ 
χαχὰ, χαὶ τούτοις ἐχποιεῖ (ist möglich) λέγειν: οὐ γὰρ μόνον τὰ πάθη ἐστὶν αἰσθητὰ 
σὺν τοῖς εἴδεσιν, οἷον λύπη χαὶ φόβος χαὶ τὰ παραπλήσια, ἀλλὰ καὶ χλοπῆς χαὶ μοι- 
χείας καὶ τῶν ὁμοίων ἔστιν αἰσθέσθαι: χαὶ χαθόλου ἀφροσύνης καὶ δειλίας χαὶ ἄλλων 
οὖχ ὀλίγων χαχιῶν" οὐδὲ μόνον χαρᾶς χαὶ εὐεργεσιῶν χαὶ ἄλλων πολλῶν χατορθώ- 
σεων, ἀλλὰ χαὶ φρονήσεως χαὶ ἀνδρείας χαὶ τῶν λοιπῶν ἀρετῶν. Nur darf man diese 
Stelle nicht so verstehen, als ob die Begriffe des Guten und Bösen als 
solche Gegenstand der Wahrnehmung wären (Rırrer III, 558); sondern wahr- 
genommen werden die einzelnen sittlichen Thätigkeiten und Zustände, die 
allgemeinen Begriffe derselben lassen sich nach den Grundsätzen der stoi- 
schen Erkenntnisstheorie erst dureh Abstraktion aus diesen Wahrnehmungen 
gewinnen, Vgl. S. 68, ὃ, 


ΝΠ nn eu 


Wahrnehmung und Begriff. 67 


Schon hieraus ergiebt sich,. dass die Stoiker die Wahrneh- 
mung für die einzige ursprüngliche Quelle unserer Vorstellungen 
erklären mussten: die Seele ist ein leeres Blatt, die Wahrnehmung 
ist es, wodurch dasselbe beschrieben wird. Indessen bleiben sie 
nicht bei ihr stehen. Aus der Wahrnehmung entsteht die Erinne- 
rung, aus vielen gleichartigen Erinnerungen die Erfahrung 1); 
durch Schlüsse aus der Erfahrung bilden sich diejenigen Begriffe, 
welche über das unmittelbar Wahrnehmbare hinausführen. Diese 
Schlüsse beruhen entweder auf Vergleichung, oder auf Zusammen- 
setzung von Wahrnehmungen, oder auf Analogie 592, wozu Andere 
noch die Versetzung und die Entgegensetzung hinzufügen °); die 
durch sie vermittelte Begriffsbildung kommt bald künstlerisch und 
methodisch, bald von Natur und kunstlos zu Stande %. Auf die 


1) Prur. plac. IV, 11, 2: αἰσθανόμενοι y&g τινος οἷον λευχοῦ ἀπελθόντος αὐτοῦ 
wviumv ἔχουσιν, ὅταν δὲ ὁμοειδεῖς πολλοὶ μνῆμαι γένωνται τότε φασὶν ἔχειν ἐμπειρίαν. 

2) θιοα. VII, 52: ἣ δὲ κατάληψις γίνεται nur’ αὐτοὺς αἰσθήσε: μὲν, ὡς λευχῶν 
nor μελάνων χαὶ τραχέων χοὶ λείων" λόγῳ δὲ τῶν δι᾽ ἀποδείξεως συναγομένων, ὥσπερ 
τὸ θεοὺς εἶναι χαὶ ποονοεῖὶν τούτους" τῶν γὰρ νοουμένων τὰ μὲν χατὰ περίπτωσιν (un- 
‘ mittelbare Berührung) ἐνοήθη, τὰ ὃὲ καθ᾽ ὁμοιότητα, τὰ δὲ κατ᾽ ἀναλογίαν, τὰ δὲ 
χατὰ μετάθεσιν, τὰ δὲ χατὰ σύνθεσιν, τὰ δὲ κατ᾽ ἐναντίωσιν. ... νοεῖται δὲ χαὶ κατὰ 
μετάβασιν (Uebergang vom Wahrnehmbaren zum Niehtwahrnelimbaren) τινὰ; 
ὡς τὰ λεχτὰ χαὶ ὃ τόπος. Cıc. Acad. I, 11, 42: comprehensio [= κατάληψις] facta 
sensibus et vera illi [Zenoni) et fidelis videbatur: non quod omnia, quae essent 
in re, comprehenderet, sed quia nihil quod cadere in eam posset relinqueret, 
quodque natura quasi normam scientiae et prineipium swi dedisset, unde postea 
notiones rerum in amimis imprimerentur. Ders. Fin. III, 10, 33 (nach Dioge- 
nes von Seleucia): cumque rerum notiones in animis fiant, si aut usu (Erfah- 
rung) aliquid cognitum sit, aut comjunctione, aut similitudine, aut collatione 
rationis: hoc quarto, quod extremum posui, boni notitia facta est. An diese 
stoische Lehre von der Entstebung der Begriffe schliesst sich auch Sexrus 
Math. III, 40 ἢ IX, 393 ἢ an, wenn er hier sagt: Alle Gedanken entstehen 
entweder κατ᾽ ἐμπέλασιν τῶν ἐναργῶν (ILL, 40: κατὰ περίπτωσιν ἀληθῆ) oder χατὰ 
τὴν ἀπὸ τῶν ἐναργῶν μετάβασιν (vgl. Dıoc. VII, 53), und im letztern Fall ent- 
weder durch Aehnlichkeit, oder durch Zusammensetzung, oder durch Analogie 
(Vergrösserung und Verkleinerung). 

3) Diog. ἃ. ἃ. Ὁ. vgl. das 5. 68, 3 aus Seneca Anzuführende, wo Seneca 
zwar nur von der Analogie redet, aber auch von der Begrifisbildung durch 
Vergleichung und Entgegensetzung Beispiele giebt. 

4) Prur. plac. IV, 11: τῶν δ᾽ ἐννοιῶν al μὲν φυσιχαὶ γίνονται κατὰ τοὺς 
εἰρημένους τρύπους (diess hiesse nach dem Zusammenhang: durch Erinnerung 
und Erfahrung — vielleicht hat aber der Verfasser der Plaeita hier schlecht 
exeerpirt und die Worte beziehen sich ursprünglich anf die verschiedenen 


5 ἢ 


68 Stoiker. 


letztere Art bilden sich die προλήψεις oder die χοιναὶ ἔννοιαι, welche die 
Stoiker als die natürlichen Normen der Wahrheit und Tugend und 
als das Unterscheidende der vernünftigen Wesen betrachteten 1); 
denn wenn es auch nach manchen Aeusserungen scheinen könnte, 
als ob unter den χοιναὶ ἔννοιχι angeborene Ideen verstanden 
würden ?), so wäre diess doch gegen den Sinn und Zusam- 
menhang des Systems; seiner wahren Meinung nach bezeichnen 
dieselben nur solche Begriffe, die vermöge der Natur unseres 
Denkens von Allen gleichmässig aus der Erfahrung abgeleitet 
werden, und selbst die höchsten Ideen, die des Guten und der 
Gottheit, haben keinen anderen Ursprung ?). Auf dem Wege der 


Arten der Begriffsbildung) χαὶ avenırzyvirwg' αἱ δ᾽ ἤδη δι᾽ ἡμετέρας διδασχαλίας 
χαὶ ἐπιμελείας: αὖται μὲν οὖν ἔννοια! χαλοῦνται μόναι, ἐχέϊναι δὲ χαὶ προλήψεις. 


Dioe. VII, 51: [τῶν φαντασιῶν] al μέν εἰσι τεχνιχοὶ αἱ δὲ ἄτεχνοι. 


1) Pıur. plac. IV, 11: ὃ δὲ λόγος χαθ᾽ ὅν προςαγορευόμεθα λογικοὶ ἐχ τῶν 


προλήψεων συμπληροῦσθα: λέγετα: χατὰ τὴν πρώτην ἑβδομαδα (inden sieben ersten 
Lebensjahren). Comm. not. 3, 1: es solle den Stoikern nachgewiesen werden 
τὸ παρὰ τὰς ἐννοίας nat τὰς προλήψεις τὰς χοινὰς φίλοσοφεῖν, ἀφ᾽ ὧν μάλιστα τὴν 
αἵρεσιν... χαὶ μόνην ὁμολογεῖν τῇ φύσει λέγουσιν. Sen. ep. 117, 6: multum dare 
solemus praesumtioni (πρόληψις) omnium hominum; apud nos verilatis argumen- 
tum est, aligquid omnibus videri; so hinsichtlich des Glaubens an Götter und 
an die Unsterblichkeit. Ausserdem vgl. man die vorangehende und folgende 
Anmerkung. Beispiele dieser Berufung auf die communes notitiae und den 
consensus genlium werden uns öfters vorkommen, 

2) Dıoc. VII, 53: φυσιχῶς δὲ νοεΐται δίχαιόν τι χαὶ ἀγαθόν. 54: ἔστι δ᾽ ἣ 
πρόληψις ἔννοια φυσιχὴ τῶν χαθόλου. Aehnlich spricht Chrysippus b. Ῥεῦτ, St. 
rep. 17 von ἔμφυτοι προλήψεις des Guten und Bösen. Vgl. Prur. Fragm. de an. 
VI, 6. T. V, 487 Wytt.: Wie ist es möglich zu lernen, was man nicht weiss? 
Die Stoiker antworten: vermüge der φυσιχαὶ ἔννοια!. 

3) Man vgl. ausser dem oben Angeführten besonders (το, Fin. IH, 10: 
hoe quarto [eollutione rationis] boni notitia facta est; cum enim ab üs rebus, 
quae sunt secundum naturam, adscendif animus collatione rationis, tum ad 
notitiam boni pervenit. Aehnlich Sex. ep. 120, 4 fl. (über die Frage: guomodo 
ad nos prima boni honestique notitia pervenerit?): Hoc nos natura docere non 
potuit: semina nobis scientiae dedit, scientiam non dedit ... nobis videtur ob- 
servatio collegisse [sc. speciem virtutis] et rerum saepe factarum inter se conlatio: 
per analogiam nostri intellectum et honestum et bonum judicant. Der Vorstel- 
lung der körperlichen Gesundheit und Kraft sei die der geistigen nachgebildet, 
aus der Anschauung tugendhafter Handlungen und Personen seien durch 
Steigerung ihrer Vorzüge und Entfernung ihrer Mängel die Begriffe sittlicher 
Vollkommenheit gewonnen worden, die Wahrnehmung von Fehlern, welche 
gewissen Tugenden ähnlich seien, habe zu ihrer genaueren Unterscheidung 


' 
" | 


Wahrnehmung und Begriff. ὁ ’ 69 


kunstmässigen Begriffsbildung entsteht die Wissenschaft, welche 
von den Stoikern als ein sicherer und unumstösslicher Begriff 
oder ein System von solchen Begriffen definirt wird). So ent- 
schieden aber ihre Erklärungen über die Wissenschaft daran fest- 
halten, dass dieselbe ein System von kunstmässigen Begriffen, und 
nicht ohne dialektisches Verfahren möglich sei, so nothwendig 
muss es ihnen andererseits, ihrem ganzen Standpunkt nach, er- 
scheinen, dass die Wissenschaft in ihren Ergebnissen mit den na- 
türlichen Begriffen übereinstimme, denn das Naturgemässe ist in 
allen Gebieten ihr Losungswort; wenn sie daher für ihre eigene 
Lehre auf jene Uebereinstimmung den grössten Werth legten ?), 
so war diess für sie ebenso natürlich, wie es andererseits ihren 
Gegnern nahe lag, den Widerspruch aufzuzeigen, in den sich 
so viele von ihren Behauptungen mit der allgemeinen Meinung 
verwickelten °). 

Diess also sind nach der stoischen Lehre die beiden Quellen 
aller Vorstellungen: die Wahrnehmung und die auf sie gebau- 
ten Schlüsse %). Wie verhalten sich aber diese beiden Elemente 


Anlass gegeben. Auch der Glaube an die Gottheit entsteht ja nach Dios. 
VII,52 erst durch ἀπόδειξις 5. 0.67,2. Vgl. auch Stop. Ekl.1,792: of μὲν Στωϊχοὶ 
λέγουσι: μὴ εὐθὺς ἐμφύεσθαι τὸν λόγον, ὕστερον δὲ συναθροίζεσθαι ἀπὸ τῶν αἰσθήσεων 
χαὶ φαντασιῶν περὶ δεχατέσσαρα ἔτη (nach Plutarch — 5. vorl. Anm. — schon 
bis zum 7ten Jahr). , 

1) Sros. ἘΚ]. 11,128: εἶναι δὲ τὴν ἐπιστήμην χατάληψιν ἀσφαλῆ καὶ ἀμετάπτω- 
τὸν ὑπὸ λόγου" ἑτέραν δὲ ἐπιστήμην σύστημα ἐξ ἐπιστημῶν τοιούτων, οἷον ἣ τῶν 
χατὰ μέρος λογιχὴ ἐν τῷ σπουδαίῳ ὑπάρχουσα᾽ ἄλλην δὲ σύστημα ἐξ ἐπιστημῶν 
τεχνικῶν ἐξ αὐτοῦ ἔχον τὸ βέβαιον ὡς ἔχουσιν αἱ ἀρεταί " ἄλλην δὲ (die Wissenschaft 
im subjektiven Sinn) ἕξιν φαντασιῶν δεχτιχὴν ἀμετάπτωτον ὑπὸ λόγου, ἥντινά 
φασιν ἐν τόνῳ na: δυνάμει (sc. τῆς ψυχῆς oder τοῦ ἡγεμονιχοῦ) χεῖσθαι. Ποῦ. VII, 
41: αὐτήν τε τὴν ἐπιστήμην φασὶν ἢ κατάληψιν ἀσφαλῇ ἣ ἕξιν ἐν φαντασιῶν προς- 
δέξει ἀμετάπτωτον ὑπὸ λόγου. (Diese Erklärung, welcher sich nach Dıoe. VII, 
165 Herillus bediente, stammt wohl jedenfalls von Zeno.) οὐχ ἄνευ δὲ τῆς δια- 
λεχτιχῆς θεωρίας τὸν σοφὸν ἄπτωτον ἔσεσθαι ἐν λόγῳ. 

2) 8.0.8.68, 1. 

3) Bekanntlich der Zweck der plutarchischen Schrift περὶ τῶν χοινῶν ἐν- 
νοιῶν. Aehnlich hält der Peripatetiker Diosrsıanus b. Evsee. pr. ev. VI, 8, 
10 f. Chrysippus entgegen: wie er sich auf die allgemeine Meinung berufen 
und zugleich ihr hundertfach widersprechen, ja alle Menschen, bis auf ein 
paar, für Thoven und Verrückte halten könne? 

4) Vgl. Dıios. 52: ἣ δὲ χατάληψις γίνεται κατ᾽ αὐτοὺς αἰσθήσει μὲν λευχῶν 


u. 8. w., λόγῳ δὲ τῶν dr? ἀποδείξεως συναγομένων, ὥσπερ τὸ θεοὺς εἶναι τι. 5. f. 


70 Stoiker. 


zu einander? Da alle allgemeinen Begriffe dus Wahrnehmungen 
entstanden sein sollen, so könnte man erwarten, dass die Wahr- 
nehmung für das allein ursprünglich und schlechthin Gewisse er- 
klärt würde. Davon sind jedoch die Stoiker weit entfernt. Nur 
der Wissenschaft wollen sie ja eine unumstössliche Sicherheit der 
Ueberzeugung zugestehen. Sie erklärten daher auch geradezu, die 
Wahrheit der sinnlichen Anschauungen sei durch ihr Verhältniss 
zum Denken bedingt 7); denn da Wahrheit und Irrthum nicht den 
unverbundenen Vorstellungen, sondern nur den Urtheilen zukom- 
men, das Urtheil aber erst durch die Denkthätigkeit zu Stande 
kommt, so gewährt die sinnliche Wahrnehmung als solche noch 


kein Wissen, sondern dieses entsteht erst, wenn zu der Wahrneh- 


mung die Thätigkeit des Verstandes hinzutritt 5). Oder wenn wir 
vom Verhältniss unseres Denkens zum Gegenstand ausgehen: da 
nach dem bekannten Grundsatz nur Gleiches von Gleichem er- 
kannt wird, so kann die Vernunft des Weltganzen nur von unse- 
rer Vernunft erkannt werden ?). Andererseits hat aber der Ver- 


1) Sexr. Math. VIII, 10: οἱ δὲ ἀπὸ τῆς στοᾶς λέγουσι μὲν τῶν τε αἰσθητῶν 
τινα χαὶ τῶν νοητῶν ἀληθῆ, οὐχ ἐξ εὐθείας δὲ τὰ αἰσθητὰ, ἀλλὰ χατὰ ἀναφορὰν τὴν 
ὡς ἐπὶ τὰ παραχείμενα τούτοις νοητά. 

2) Sexr. a. ἃ. O. fährt fort: ἀληθὲς γάρ ἐστ! χατ᾽ αὐτοὺς τὸ ὑπάρχον καὶ ἀν- 
τιχείμενόν τινι, χαὶ Ψεῦδος τὸ μὴ ὑπάρχον χαὶ μὴ [dieses μὴ ist offenbar zu strei- 
chen, wie diess auch aus Math. VIII, 85. 88. vgl. XI, 220 hervorgeht, wo die 
gleiche Definition ohne das μὴ angeführt wird] ἀντιχείμενόν τιν!, ὅπερ ἀσώματον 
ἀξίωμα χαθεστὼς νοητὸν εἶναι. Jeder Satz nämlich enthält eine Bejahung oder 
Verneinung, und ist desshalb einem andern entgegengesetzt. Ebd. VIII, 70: 
ἠξίουν ol Στωϊκοὶ χοινῶς Ev λεχτῷ τὸ ἀληθὲς εἶναι χαὶ τὸ ψεῦδος" λεχτὸν δὲ ὑπάρχειν 
φασὶ τὸ χατὰ λογιχὴν φαντασίαν ὑφιστάμενον" λογιχὴν 88 εἶναι φαντασίαν χαθ᾽ ἣν τὸ 
φαντασθέν ἐστι λόγῳ παραστῆσαι. τῶν δὲ λεχτῶν τὰ μὲν ἐλλιπῇ χαλοῦσ: τὰ δὲ αὖτο- 
τελῇ (Begriffe und Sätze; vergl. auch Dıoc. VII, 68)... προςαγορεύουσι δέ τινα 
τῶν αὐτοτελῶν χαὶ ἀξιώματα, ἅπερ λέγοντες ἤτοι ἀληθεύομεν ἢ ψευδόμεθα. Ebenso 
ebd. 14. Dıoc. VII, 65: ἀξίωμα δέ ἐστιν, ὅ ἐστιν ἀληθὲς ἢ ψεῦδος (so auch bei 
Cıc. Tuse. I, 7, 14 u. A. 5. u.) ἢ πρᾶγμα [besser vielleicht: λεχτὸν, wie GELL. 
N. A. XVI, 8, 4 hat] αὐτοτελὲς ἀποφαντὸν ὅσον ἐφ᾽ ἑαυτῷ ὡς ὃ Χρύσιππός φησιν 
ἐν τοῖς διαλεχτιχοῖς ὅροις. Schon Aristoteles hatte bemerkt, dass der Gegensatz 
von Wahrheit und Falschheit erst im Urtheil eintrete; s. Bd. II, b, 156, 2. 
157, 1. Se 
3) Sexr, Math. VII, 93: ὡς τὸ μὲν φῶς, φησὶν ὁ Ποσειδώνιος τὸν Πλάτωνος 


’ " , x “ ... 2 x Pr 
Τίμαιον ἐξηγούμενος, ὑπὸ τῆς φωτοειδοῦς ὄψεως χαταλαμβάνεται, ἣ δὲ φωνὴ ὑπὸ τῆς . 


ἀεροειδοῦς ἀκοῆς, οὕτω χαὶ ἣ τῶν ὅλων φύσις ὑπὸ συγγενοῦς ὀφείλει καταλαμβάνεσθα! 
τοῦ λόγου. Vgl. Plato Rep. VI, 508, B. 


. 


rn ΤῸ ὦ» 


[1] 
Wahrnehmung und Begriff. A 71 


stand keinen anderen Stoff, als den, welchen ihm die Wahrneh- _ 
mung liefert, und die allgemeinen Begriffe werden erst durch 
Schlüsse aus jener gewonnen; das Denkvermögen ist daher zwar 
zur formalen Bearbeitung des Wahrnehmungsstoffes befähigt, aber 
materiell ist es an diesen gebunden, wenn es gleich vom Em- 
pirischen selbst dis zu Vorstellungen soll gelangen können, 
welche nicht unmittelbar in der Wahrnehmung gegeben sind, wie 
die Begriffe des Guten und der Gottheit. Und da nun nach stoi- 
scher Lehre (s. u.) nur das körperliche Ding ein Wirkliches sein 
soll, so kommt jene widerspruchsvolle Unklarheit, welche wir 
selbst bei Aristoteles bemerkt haben 1). dass die Wirklichkeit nur 
im Einzelnen und die Wahrheit nur im Allgemeinen liegen soll, 
hier noch in ganz anderer Weise zum Vorschein, als bei jenem: 
die Stoiker behaupten geradezu, in Fortsetzung des .cynischen 
Nominalismus ?), das Gedachte sei nichts Wirkliches ®); wo man 


1) Bd. II, b, 231 ft. 

2) S. Bd. IJ, a, 211 £. 

3) Dioe. 61: ἐννόημα (der Gedanke im objektiven Siun, das-im Denken 
Vorgestellte) δέ ἐστι φάντασμα διανοίας, οὔτε τὶ ὃν οὐτὲ ποιὸν, ὡσανεὶ δὲ τὴ ὃν χαὶ 


, 


ὡσανεὶ ποιόν. Stop. Ekl.I, 332: τὰ ἐννοήματα φησὶ μήτε τινὰ εἶναι! μήτε ποιὰ, 
᾿΄ N “ ὦ x x e2) " Εν - μὴ π᾿ - u. ‚ ’ 
ὡσανεὶ δὲ τινὰ χαὶ ὡσανεὶ ποιὰ φαντάσματα ψυχῆς" ταῦτα δὲ ὑπὸ τῶν ἀρχαίων ἰδέας 
προςαγορεύξσθαι .... ταῦτα [ταύτας] δὲ οἱ Στωϊκοὶ φιλόσοφοι φασὶν ἀνυπάρχτους 
εἶναι, καὶ τῶν μὲν ἐννοημάτων μετέχειν Ads, τῶν δὲ πτώσεων, ἃς δὴ προςηγορίας 
χαλοῦσ!, τυγχάνειν. (Den letzteren Worten, welche Pranrı. Gesch. d. Log. I 
) ’ ’ 
420, 63 in Schutz nimmt, weiss ich keinen erträglichen Sinn abzugewinnen, 
balte sie daher mit Andern für verderbt oder verstümmelt.) Pur. place. 1, 
10, 4: ol ἀπὸ Ζήνωνος Στωϊχοὶ ἐννοήματα ἡμέτερα τὰς ἰδέας ἔρασαν. Sımrr. Categ. 
20,ε: Χρύσιππος ἀπορεῖ περὶ τῆς ἰδέας, εἰ τόδε τι ῥηθήσεται. συμπαραληπτέον δὲ s 
χαὶ τὴν συνήθειαν τῶν Στωϊκῶν περὶ τῶν γενιχῶν ποιῶν πῶς αἱ πτώσεις χατ᾽ αὐτοὺς 
προφέρονται χαὶ πῶς οὔτινα τὰ χοινὰ παρ᾽ αὐτοῖς λέγεται. Syrran z. Metaph. S. 59 
ΟΡ 5 ΐ ΒΕ Ρ 
(griechisch b. Perersex Philos. Chrys. fund. 80): ὡς ἄρα τὰ εἴδη... οὔτε πρὸς 
τὴν ῥῆσιν τῆς τῶν ὀνομάτων συνηθείας παρήγετο, ὡς Χρύσιππος καὶ ᾿Αργέδημος χαὶ 


. ! Be en ’r h) x In. , ΝΣ Ψ An 
οἱ πλείους τῶν Στωϊχῶν ὕστερον φήθησαν .΄.. οὐ μὴν οὐδὲ νοήματά εἰσι παρ᾽ αὐτοῖς 


αἱ ἰδέαι, ὡς Κλεάνθης ὕστερον εἴρηχε. Was Stobäus und Plutarch hier über die 
Ideen sagen, wird von Prantı a. a. O. beanstandet; allein ihre Meinung wird 
nicht die sein, dass die Stoiker ihren Begriff des ἐννόημα für den platonischen 
der Idee ausgegeben, sondern dass sie behauptet haben, die Ideen seien in 
Wahrheit nur ἐννοήματα, das Gleiche, was auch Antisthenes behauptet 
hatte. Mit den vorstehenden Nachweisungen vgl. m. weiter was 8. 78 f. 
über die Unkörperlichkeit des λεχτὸν (welches = νόημα) beizubringen sein 
wird, in Verbindung mit dem Satze, dass alles Wirkliche körperlich sei. 


12 Stoiker. 


_ dann aber nur um so weniger begreift, wie dem Denken dieses 
Unwirklichen grössere Wahrheit zugeschrieben werden kann, als 
der Wahrnehmung des Körperlichen und Wirklichen. — Fragt 
man aber, worin die eigenlhümliche Form des Denkens bestehe, 
so verweisen die Stoiker zwar auch mit Aristoteles darauf, dass 
im Denken unter der Bestimmung der Allgeeinheit gesetzt ist, 
was sich der Wahrnehmung nur im Einzelnen darstellt); un- 
gleich stärker wird jedoch ein anderes Merkmal betont, die grös- 
sere Sicherheit, welche dem Denken im Vergleich mit der Wahr- 
nehmung zukomme. Nur die unumstössliche Festigkeit der Ueber- 
zeugung ist es, welche in den oben angeführten Definitionen der 
Wissenschaft ?) als das Unterscheidende derselben hervortritt; und 
eben dahin führt auch, was von Zeno erzählt wird®), dass er 
die blosse Wahrnehmung mit den ausgestreckten Fingern be- 
zeichnet habe, die Zustimmung, als die erste Thätigkeit der Ur- 
theilskraft, mit der geschlossenen Hand, den Begriff mit der Faust, 
die Wissenschaft dadurch, dass er die eine Faust mit der andern‘ 
zusammendrückte. Der ganze Unterschied der vier Formen be- 
steht hiernach in der grösseren oder geringeren Stärke der Ueber- 
zeugung, in der Anstrengung und Spannung des Geistes *), es ist 
kein objektiver und qualitativer, sondern nur ein subjekliver und 
gradueller Unterschied. 

Hiezu stimmt es nun auf's Beste, dass auch für die Wahr- 
heit der Vorstellungen in letzter Bezichiß nur ein subjek- 


Ebendahin gehört, was Sexr. Math. VII, 246 als stoisch berichtet: οὔτε δὲ 
ἀληθέϊς οὔτε ψευδεῖς εἶσιν af γενιχαὶ (sc. φαντασίαι). ὧν γὰρ τὰ εἴδη τοῖα ἢ τοῖα τού- 
τῶν τὰ γένη οὔτε τοῖα οὔτε τοῖα: wenn die Menschen in Hellenen und Barbaren 
zerfallen, so sei der γενιχὸς ἄνθρωπος weder das Eine noch das Andere. Je 
weiter sich also ein Begriff von der individuellen Bestimmtheit entfernt, um 
so weiter soll er sich auch von der Waürheit entfernen. 

1) -Dıoc. VII, 54: ἔστι δ᾽ ἣ -πρόληψις ἔννοια φυσιχὴ τῶν χαθόλου. Exc. e 
Joaus. Damasc. (Stob. Floril. ed. Mein. IV, 236) Nr. 84: Χρύσιππος τὸ μὲν 
γενιχὸν MOL νοητὸν. τὸ δὲ εἰδιχὸν χαὶ προςπίπτον ἤδη (PETERSEN 8. 83 vermuthet 
ohne Noth ἡδὺ) αἰσθητόν. 

2) 8.. 69, 1. 

8) Cıc. Acad. I, 47, 145. 

4) ὅτοβ. ΕΚ]. II, 128: die Wissenschaft werde definirt als eine ἕξις 
φαντασιῶν δεχτιχὴ ἀμετάπτωτος ὑπὸ λόγου, ἥντινά φασιν ἐν τόνῳ χαὶ δυνάμει 
χείσθαι. 


Kriterium. re} 


tives Merkmal übriggelassen wird. Schon der allgemeine Be- 
weis für die Möglichkeit des Wissens stützt sich bei den Stoikern 
hauptsächlich auf ein praktisches Postulat: Sie liessen es zwar, 
wie natürlich, besonders seit Chrysippus !), auch an wissenschaft- 
lichen Einwendungen gegen die Skepsis nicht fehlen, die manches 
Treffende brachten ?); aber ihr entscheidendster Grund war doch 
immer der, dass die Erkenntniss der Wahrheit möglich sein müsse, 
weil sonst kein Handeln nach festen Ueberzeugungen und Grund- 
sätzen möglich wäre °), das praktische Bedürfniss ist das letzte 
Bollwerk gegen den Zweifel. Ebendahin verweist uns aber auch 
die speciellere Untersuchung über das Kriterium. Fragen wir 
nämlich, wodurch sich die wahren Vorstellungen von den falschen 

unterscheiden, so wird uns zwar zunächst geantwortet: wahr ist 
diejenige Vorstellung, welche uns ein Wirkliches so darstellt, wie 
es ist*). Damit ist uns indessen natürlich wenig geholfen, wir 
un 


1) Chrysippus bestritt den Arcesilaus nach der Meinung seiner Schule 
mit solchem Erfolge, dass auch Karneades dadurch zum Voraus widerlegt sei, 
und die Stoiker hielten es für eine besondere Gunst der Vorsehung, dass seine 
Wirksamkeit gerade zwischen diese zwei bedeutendsten Skeptiker in die Mitte 
fiel; Prur. Sto. rep. 1,,4 ἢ. S. 1059. Eine Schrift gegen Arc. nennt Dıoc. 198. 

2) Dabin gehört namentlich der Einwurf bei Srxr. Math. VIII, 463 ff. 
Pyrrh. II, 186: die Skeptiker können die Möglichkeit einer Beweisführung 
nicht läugnen, ohne diese ihre Behauptung gleichfalls zu beweisen, mithin 
jene Möglichkeit thatsächlich zuzugeben, und die entsprechende Einwendung 
Antipaters gegen Karneades (Cıc. Acad. II, 9, 28. 34, 109): wer behaupte, 
dass sich nichts sicher erkennen lasse, der müsse doch wenigstens eben dieses 
sicher zu erkennen glauben. Wie die Skeptiker darauf antworteten, und die 
gleiche Wendung für sich ausbeuteten, zeigt Sexr. Math. a.a.O. u. VII, 433 ff. 

3) Prur. St. rep. 10 (8. o. 54, 4). . Ebd. 47, 12: χαὶ μὴν ἔν γε τοῖς πρὸς 
τοὺς ᾿Αχαδημαοὺς ἀγῶσιν ὃ πλεῖστος αὐτῷ τε Χρυσίππῳ χαὶ ᾿Αντιπάτρῳ πόνος 


ee 2 δ re es ἀκορ ἐν 
γέγονε περὶ τοῦ μήτε πράττειν μήτε ὁρμᾶν ἀσυγχαταθέτως, ἀλλὰ πλάσματα λέγειν 
καὶ χενὰς ὑποθέσεις τοὺς ἀξιοῦντας οἰχείας φαντασίας γενομένης εὐθὺς δὁρμᾷν un εἴξαν- 
τας μηδὲ συγχατατιθεμένους. Ders. adv. Col. 26, 3. 8. 1122: τὴν δὲ περὶ πάντων 
ἐποχὴν οὐδ᾽ ol πολλὰ πραγματευσάμενοι χαὶ χατατείναντες εἰς τοῦτο συγγράμματα 
war λόγους ἐχίνησαν: ἀλλ᾽ Eu τῆς Στοᾶς αὐτῆς τελευτῶντες ὥσπερ To 
, gr 2 r νὰ ᾿ ΄ ἘΞ Qs ᾿ ᾿ 
ἀπραξίαν ἐπάγοντες ἀπηγόρευσαν. ἴῃ demselben Sinne weist ErıkTET (ἀββτακ. 
Diss. I, 27, 15 £.) den Skeptiker einfach mit dem Wort ab: οὐχ ἄγω σχολὴν πρὸς 
ταῦτα. Stoisch ist es auch, wenn Cıc. Acad. IT, 10—12 nach Antiochus aus- 
führt, die Skepsis mache alles Handeln unmöglich. 

4) Sext. Math. VII, 244 fi. wird zwar von den ἀληθεῖς φαντασία: zuerst 


nur die Worterklärung gegeben, es seien solche ὧν ἔστιν ἀληθῆ χατηγορίαν 


74 Stoiker. 


müssen nur auf’s Neue fragen, woran sich erkennen lässt, dass 
eine Vorstellung das Wirkliche treu wiedergiebt. Hiefür wissen 
nun aber die Stoiker nicht wieder ein objektives, sondern nur ein 
subjektives Kennzeichen anzugeben, die Stärke, mit der sich ge- 
wisse Vorstellungen uns aufdrängen. An sich ist mit der Vorstel- 
lung als solcher die Ueberzeugung oder der Beifall (συγχατάθεσις) 
noch nicht nothwendig verknüpft, dieser entsteht vielmehr erst 
dadurch, dass sich unser Urtheil auf die Vorstellung richtet, um 
sie entweder anzuerkennen oder zu verwerfen, wie ja überhaupt 
Wahrheit und Irrthum, nach dem früher Bemerkten, nur im Ur- 
theil ihren Sitz haben. Der Beifall ist insofern im Allgemeinen 
ebenso in unserer Gewalt, wie die Willensentscheidung, und der 
Weise unterscheidet sich vom Thoren nicht weniger durch seine 
Ueberzeugung, als durch sein Handeln 1). Ein Theil unserer Vor- 


x 


ποιήσασθαι, hierauf werden unter den wahren Vorstellungen die χαταληπτιχαὶ 
und οὐ χαταληπτιχαὶ, d.h. diejenigen, welche mit einem deutlichen Bewusstsein 
von ihrer Wahrheit verknüpft sind, und die, welche diess nieht sind, unter- 
schieden; schliesslich wird aber die χαταληπτιχὴ φαντασία so definirt: 4 ἀπὸ 
τοῦ ὑπάρχοντος καὶ χατ᾽ αὐτὸ τὸ ὑπάρχον ἐναπομεμαγμένη χαὶ ἐναπεσφραγισμένη, 
ὁποία οὐχ. ἂν γένοιτο ἀπὸ μὴ ὑπάρχοντος. Im Folgenden wird diese Definition 
noch weiter erläutert. Dieselbe Erklärung 8. 402. 426. VII, 85. Pyırh. ΤΙ, 4. 
III, 242. Aususrıw ec. Acad. II, 5, 11. Cıc. Acad. II, 6, 18. Dioe. VII, 46: 
τῆς δὲ φαντασίας τὴν μὲν χκαταληπτιχὴν τὴν δὲ ἀχατάληπτον᾽ χαταληπτιχὴν μὲν, ἣν 
χριτήριον εἶναι τῶν πραγμάτων φασὶ, τὴν γινομένην ἀπὸ ὑπάρχοντος zur” αὐτὸ τὸ 
ὑπάρχον ἐναπεσφραγισμένην καὶ ἐναπομεμάγμένην- ἀκατάληπτον δὲ τὴν μὴ ἀπὸ ὑπάρ- 
χοντος, ἢ ἀπὸ ὑπάρχοντος μὲν, μὴ zart’ αὐτὸ δὲ τὸ ὑπάρχον, τὴν μὴ τρανῆ μηδὲ 
ἔχτυπον. Ebd. 50. 


1) Sext. Math. VIII, 397: ἔστι μὲν οὖν ἣ ἀπόδειξις, ὡς ἔστ᾽ παρ᾽ αὐτῶν 


ἀχούειν, χαταληπτιχῆς φαντασίας συγχατάθεσις, ἥτις διπλοῦν ἔοιχεν εἶναι πρᾶγμα καὶ 
τὸ μέν τι ἔχειν ἀκούσιον, τὸ δὲ ἑχούσιον χαὶ ἐπὶ τῇ ἡμετέρα χρίσει χείμενον. τὸ μὲν 
γὰρ φαντασιωθῆναι ἀβούλητον ἦν χαὶ οὐχ ἐπὶ τῷ πάσχοντ' ἔκειτο ἀλλ᾽ ἐπὶ τῷ φαν- 
τασιοῦντ: τὸ οὑτωσὶ διατεθῆναι! ... τὸ δὲ συγχαταθέσθαι τούτῳ τῷ χινήματι ἔχειτο 
ἐπὶ τῷ παραδεχομένῳ τὴν φαντασίαν. Dios. VII, 51. Cıc. Acad. I, 14, 40: (Zeno) 
ad haec, quae visa sunt, et quasi accepta sensibus assensionem adjungit animo- 
rum; quam esse vult in nobis positam. et voluntariam> Ebd. II, 12, 37. De fato 
19, 43 (Chrysipp sagt): visum objectum imprimet dlud quidem et quasi signa- 
bit in animo suam speciem sed assensio nosira erit in potestate, Pıvr. St. rep. 
47, 1: τὴν γὰρ φαντασίαν βουλόμενος [ὃ Χρύσιππος] οὐχ οὖσαν αὐτοτελῇ τῆς συγ- 
χαταθέσεως αἰτίαν ἀποδειχνύειν εἴρηχεν ὅτι βλάψουσιν οἱ σοφοὶ ψευδεῖς φαντασίας 
ἐμποιοῦντες, ἂν al φαντασίαι ποιῶσιν αὐτοτελῶς τὰς συγχαταθέσεις ἃ. 8. w. Ebd. 
18: αὖθις δέ φησι Χρύσιππος, καὶ τὸν θεὸν ψευδεῖς ἐμποιξῖν φαντασίας χαὶ τὸν σοφὸν 


Kr © 


Kriterium. τὸ 


stellungen ist jedoch von der Art, dass sie uns unmittelbar durch 


sich selbst nöthigen, ihnen Beifall zu schenken, sie nicht blos 
für wahrscheinlich, sondern für wahr ἢ und der wirklichen 
Beschaffenheit der Dinge entsprechend zu erklären. Diese Vor- 


stellungen bringen in uns diejenige Festigkeit der Ueberzeu- 


gung hervor, welche die Stoiker den Begriff nennen, sie heissen 
daher begrifliche Vorstellungen. Wo sich uns mithin eine Vor- 
stellung mit dieser unwiderstehlichen Gestalt aufdrängt, da haben 
wir es nicht mit blossen Einbildungen,, sondern mit etwas Wirkli- 
chem zu thun; wo dieses Merkmal fehlt, können wir auch nicht 
von der Wahrheit unseres Vorstellens überzeugt sein. Stoisch 
ausgedrückt: das Kriterium liegt in der begrifllichen Vorstellung, 
der φαντασία χαταληπτική ?). Hiebei denken nun die Stoiker zu- 


un. ἡμᾶς δὲ φαύλους ὄντας συγκατατίθεσθαι ταῖς τοιαύταις φαντασίαις. Ders. Fragm. 
De an. 2. Bd. V, 486 Wytt.: οὐχ. ἣ ψυχὴ τρέπε: ἑαυτὴν εἰς τὴν τῶν πραγμάτων 
χατάληψιν χαὶ ἀπάτην, κατὰ τοὺς ἀπὸ τῆς στοᾶς. ἜΡΙΚΤΕΥ b. Gell. N. A. XIX, 1, 
15: visa animi, quas φαντασίας philosophi appellant ... nom voluntatis sunt 


‚meque arbitrariae, sed vi quadam sua inferumt sese hominibus noscitandae; pro- 


bationes autem, quas συγχαταθέσεις vocant, quibus eadem visa noscuntur ac di- 
judicantur, voluntariee sunt fiuntque hominum arbitratu. Der Unterschied 
zwischen dem Weisen und Unweisen liege im συγχατατίθεσθαι und προςεπιδοξά- 
ζειν. Das Freiwillige des Beifalls ist natürlich nach Maassgabe der stoischen 
Lehre von der Willensfreiheit zu verstehen. 

1) Ueber den Unterschied dieser beiden Begriffe, des εὔλογον und der 
χαταληπτιχὴ φαντασία, welcher näher darin besteht, dass nur diese, nicht aber 
jenes, unfehlbar ist, s. m. Arne. VIII, 354, 6. Dıoc. VII, 177. Definitionen 
des Wahrscheinlichen b. Dıoc. 75. 76. 

2) M. vgl. ausser 5. 73, 4 Cıc. Acad. I, 11, 41: (Zeno) visis (= φαντασίαις) 
non omnibus adjungebat fidem, sed is solum, quae propriam quandam haberent 
‚declarationem earum rerum, quae viderentur: id autem visum, cum ipsum per 
se cerneretur, comprehensibile (χαταληπτικὴ vavr.). Ebd. II, 12, 38: ut enim 
necesse est lancem in libra ponderibus impositis deprimi, sie animum perspieuis 
cedere ... nom potest objectam rem perspicuam non approbare. Vgl. Fin. V, 
26, 76: percipiendi vis ita definitur a stoieis, ut negent quidgquam posse percipi, 
nisi tale verum, quale falsum esse non possit. Dıoc. VI, 54. Sexr. Math. VII, 
227: χριτήριον τοίνυν vadıy ἀληθείας εἶναι ol ἄνδρες οὗτοι τὴν χαταληπτιχὴν φαντὰ- 
σίαν. Nur eine Verunreinigung der ächten stoischen Lehre war es, wenn 
spätere Stoiker die begriflliche Vorstellung blos unter der Bedingung als Kri- 
terinm gelten lassen wollten, dass kein Gegenbeweis gegen ihre Wahrheit 
vorliege; Sexr. a. a. Ὁ, 255: ἀλλὰ γὰρ ul μὲν ἀρχαιότεροι τῶν Στωϊκῶν χριτήριόν 
φασιν εἶναι τῆς ἀληθείας τὴν χαταληπτιχὴν ταύτην φαντασίαν" οἱ δὲ νεώτεροι προς- 


76 Stoiker. 


nächst an die sinnlichen Wahrnehmungen, da diese nach ihrer 
Ansicht, wie oben gezeigt wurde, den Stoff für unser Erkennen 
allein liefern; keine geringere Gewissheit legten sie aber aller- 
dings auch den Sätzen bei, welche aus jenem ursprünglich Ge- 
wissen theils vermöge der allgemeinen und natürlichen Denk- 
thätigkeit, theils durch wissenschaftliche Beweisführung abgeleitet 
werden; und da sich nun von diesen der eine Theil (die χοιναὶ 
Eyvorzı) zu dem andern wieder wie das Ursprüngliche zum Abge- 
leiteten verhält, so konnte insofern auch gesagt werden, die 
Wahrnehmung und die natürlichen Begriffe seien die Kriterien der 
Wahrheit 1). Wollen wir uns jedoch genauer ausdrücken, so ist 
weder die Wahrnehmung noch die πρόληψις als das eigentliche 
Kriterium zu bezeichnen. Dasjenige vielmehr, woran die Wahr- 
heit einer Vorstellung erkannt wird, ist das χαταλυηπτιχὸν, die ihr 
inwohnende unmittelbare Ueberzeugungskraft. Diese sollte am 
Ursprünglichsten den Wahrnehmungen des äusseren und inneren 
Sinnes zukommen, nächst diesen den gemeinsamen . Begriffen, 
welche sich aus ihnen auf natürlichem Wege bilden, den χοιναὶ 
ἔννοιαι oder προλήψεις. wogegen die kunstmässig gebildeten Be- 
griffe und Sätze ihre Richtigkeit erst durch die wissenschaftliche 
Beweisführung zu .bewähren haben. Dass nun aber den letzte- 
ren nichtsdestoweniger auch wieder eine grössere Festigkeit der 


ετίθεσαν χοὶ To μηδὲν ἔχουσαν ἔνστημα,, weil nämlich Fälle denkbar seien, in 
denen sich eine irrige Anschauung mit der vollen Kraft einer wahren auf- 
dränge. Hiemit war in der That die ganze Lehre vom Kriterium in Frage ge- 
stellt, denn wie soll im einzelnen Fall nachgewiesen werden, dass keine 
Gegeninstanz möglich ist? Dagegen ist es ganz im Sinn der stoischen Lehre, 
wenn s. 257, wie es scheint mit den Worten von einem dieser späteren Stoiker, 
von der begrifflichen Vorstellung gesagt wird: αὕτη γὰρ ἐναργὴς οὖσα χαὶ πληχ- 
τιχὴ μονονουχὶ τῶν τριχῶν, φασι, λαμβάνεται χατασπῶσα. ἡμᾶς εἰς συγχατάθεσιν χαὶ 
ἄλλου μηδενὸς δεομένη εἰς τὸ τοιαύτη προςπίπτειν u. 5, w. Daher Ξιμρι,. phys. 
20, b, m: ἀνήρουν τὰ ἄλλα... πλὴν τὰ ἐναργῆ. 

1) Dios. VII, 54: χριτήριον δὲ τῆς ἀληθείας φασὶ τυγχάνειν τὴν χαταληπτιχὴν 
φαντασίαν, τουτέστι τὴν ἀπὸ ὑπάργοντος, χαθά φησι Χρύσιππος ἐν τῇ δωδεχάτῃ τῶν 
φυσιχῶν χαὶ ᾿Αντίπατοος aut ᾿Απολλόδωρος. ὃ μὲν γὰρ Βοηθὸς χριτήρια πλείονα 
ἀπολείπει, νοῦν χαὶ αἴσθησιν χαὶ ὄρεξιν nal ἐπιστήμην (diess erscheint als eine An- 
näherung an die peripatetische Lehre;) ὃ δὲ Χρύσιππος διαφερόμενος πρὸς αὐτὸν 
ἐν τῷ πρώτῳ περὶ λόγου χριτήοιά φησιν εἶναι αἴσθησιν χαὶ πρόληψιν... ἄλλοι δέ 
τινες τῶν ἀρχαιοτέρων Στωϊχῶν τὸν ὀρθὸν λόγον χριτήριον ἀπολείπουσιν, ὡς ὃ Ποσει- 


x ᾿ 


δώνιος ἐν τῷ περὶ χριτηρίου φησίν. Vgl. oben S. 64. 


Kriterium. Formale Logik. 17 


Veberzeugung zugeschrieben 1), und umgekehri die Zuverlässig- 
keit der sinnlichen Wahrnehmung bestritten wird ?), ist einer von 
den Widersprüchen, an denen das stoische System leidet. Es zeigt 
sich schon hier, was wir noch öfters bemerken werden, dass 
durch dieses System ein zwiefacher Zug hindurchgeht: einerseits 
jene Richtung auf das Ursprüngliche und Unmittelbare, jene Rück- 
kehr zur Natur, jene Abwendung von allem künstlich Ge- 
machten und von Menschen Ersonnenen, welche dem Stoicismus 
vermöge seiner Abkunft aus dem Cynismus eingepflanzt ist, 
andererseits das Bedürfniss, die eynische Naturwüchsigkeit durch 
eine reichere Bildung zu überschreiten, und das, was der Cynis- 
mus als unmittelbare Forderung aufgestellt hatte, wissenschaftlich 
zu begründen. | 

Nur mit dieser letzteren Richtung stimmt nun auch die Sorg- 
falt und Ausführlichkeit überein, mit welcher die Formen und 
Regeln des wissenschaftlichen Verfahrens von den Stoikern unter- 
sucht wurden. Wir sehen dieses Interesse gleich bei der ersten 
Ablösung: des Stoicismus vom Cynismus, bei Zeno und seinen 
nächsten Nachfolgern hervortreten °); nur Aristo widersetzt sich, 
weil er überhaupt beim Cynismus stehen bleiben möchte. In Chry- 
sippus erreichl es sodann seinen Höhepunkt; durch ihn ist die 
formale Logik der Stoiker wohl fast durchaus zum Abschluss ge- 
kommen. In demselben Maasse dagegen, wie sich später der Stoi- 
eismus wieder auf seine eynischen Anfänge und im Zusammenhang 
damit auf das unmittelbare Bewusstsein zurückzieht, verliert auch 
die Logik für ihn ihren Werth, wie sich uns diess seiner Zeit am 
Beispiel eines Musonius, Epiktet u. A. zeigen wird. Zunächst han- 
delt es sich aber für uns um die Logik des Chrysippus, so weit 
uns dieselbe bekannt ist. 


1) 8. 0.8.69, 1. 

2) 8, Κι, τὸ, 2 nnd Cıc. Acad. II, 31, 101: neque nos (die Akademiker) 
contra sensus aliter dieimus, ac Stoici, qui multa falsa esse dicunt, longeque 
aliter se habere, ac sensibus videantur. Die Wahrheit der sinnlichen Wahr- 
nehmung und der aus ihr abgeleiteten Vorstellungen hatte Chrysippus nament- 
lich in der Schrift über die συνήθεια untersucht, und die Einwürfe, welche er 
dagegen’vorbrachte, nicht ganz genügeud gehoben, 5..0. 37, 4. 

3) 5. 5, 49 5. 


73 Stoiker, 


2. Die formale Logik. 


Unter dem Namen der formalen Logik begreifen wir hier, 
wie bemerkt, diejenigen Untersuchungen, welche die Stoiker zu 
der Lehre vom Bezeichneten rechneten '). Den allgemeinen Ge- 
genstand derselben bildet das Gedachte, oder wie die Stoiker es 
nennen, das Ausgesprochene (λεχτόν). Mit diesem Namen bezeich- 
neten sie nämlich den Inhalt des Denkens als solchen, den Gedan- 
ken im objektiven Sinn, in seinem Unterschied von den Dingen, 
auf welche sich die Gedanken beziehen, von den Worten, durch 
welche sie ausgedrückt, und von der Seelenthätigkeit, durch die 
sie erzeugt werden; und sie behaupteten aus diesem Grunde, nur 
das Ausgesprochene sei etwas Unkörperliches, die Dinge dagegen 
sollen immer körperlicher Natur sein (s. u.), und ebenso besteht 
die Denkthätigkeit in einer materiellen Veränderung des Seelen- 
körpers, das gesprochene Wort in einer auf eine gewisse Weise 
bewegten Luft?); wobei dann aber freilich die Frage nicht zu 


1). 8. 0.8. 61, 2. 
2) M. 5. hierüber Sexr. Math. VIII, 11: οἱ ἀπὸ τῆς στοᾶς, τρία φάμενοι 
συζυγεῖν ἀλλήλοις, τό τε σημαινόμενον "χαὶ τὸ σημαῖνον χαὶ To τυγχάνον. ὧν σημαῖ- 


% ΄ \ Fr x “- 
νον μὲν εἶναι τὴν φωνὴν, ... σημαινόμενον ὃὲ αὐτὸ τὸ πρᾶγμα τὸ ὕπ᾽ αὐτῆς 
δηλούμενον, .... τυγχάνον δὲ τὸ ἐχτὸς ὑποχείμενον ... τούτων δὲ δύο μὲν εἶναι 


σώματα, χαθάπερ τὴν φωνὴν καὶ τὸ τυγχάνον, ἕν δὲ ἀσώματον, ὥσπερ τὸ σημαινό- 
μενον πρᾶγμα χαὶ λεχτόν. Sexeca ep. 117, 13 (wo er ausdrücklich die stoische 
Lehre, nicht seine eigene Ansicht, darstellen will): sunt, inquit, naturae 
corporum, ... has deinde sequuntur motus animorum enuntiativi corporum. 
Ich sehe z. B. Cato gehen. corpus est, quod video ... dico deinde: Cato am- 
bulat. non corpus est, inquit, quod nune loquor, sed enuntiativum quiddam de 
corpore, quod alii efjatum vocant, alii enuntiatum, alü edietum. Weiter vgl. 
m. über das λεχτὸν Sexrt. Math. VIII, 70 (oben 70, 2). Pyrrh, II, 52. Dass 
die Stimme (im Unterschied vom λεχτὸν) etwas Körperliches sei, bewiesen die 
Stoiker, wie schon ὃ. 62, 5 bemerkt ist, mit verschiedenen Wendungen. Auf 
den Unterschied des λεχτὸν von der subjektiven Denkthätigkeit bezieht sich 
die Behauptung, die Wahrheit, als dieser bestimmte Zustand der Seele, sei 
etwas Körperliches, das Wahre dagegen unkörperlich (Sexr. Pyrrh. I, 81: 
λέγεται διαφέρειν τῆς ἀληθείας τὸ ἀληθὲς τριχῶς, οὐσία, συστάσει, δυνάμει" οὐσία 
μὲν, ἐπὰ τὸ μὲν ἀληθὲς ἀσώματόν ἐστιν, ἀξίωμα γάρ ἐστι καὶ λεχτὸν, ἣ δὲ ἀλήθεια 
σῶμα, ἔστ: γὰρ ἐπιστήμη πάντων ἀληθῶν- ἀποφαντιχὴ, ἣ δὲ ἐπιστήμη πὼς ἔχον 
ἡγεμονικόν — Ähnlich Math. VII, 38, wo diese Behauptung den Stoikern 
ausdrücklich beigelegt wird); ebenso der verwandte Satz, den Sexzca 
ep. 117 erörtert und seinerseits zwar als werthlose Spielerei behandelt, 


» 


Formale Logik: λεχτόν. “9 


umgehen ist, inwiefern die Gedanken überhaupt noch etwas sein 
können, wenn sie unkörperlich sind, da nach stoischer Annahme 
nur dem Körperlichen Wirklichkeit zukommt '). Das Ausgespro- 
‚chene ist aber entweder vollständig oder unvollständig; vollstän- 
dig, wenn es eime fertige Aussage, unvollständig, wenn es eine 
unfertige Aussage enthält ?). Dieser Theil der Logik zerfällt da- 


aber doch erst nachdem er ihn weitläufig bestritten hat: sapientiam bonum 
esse, sapere bonum non esse, denn dieser Satz wird damit begründet, dass 
nichts ein Gut sein könue, was nicht wirke, und nichts wirken, als ein Kör- 
per; die Weisheit nun sei ein Körper, denn sie sei nichts anderes, als mens 
perfecta (8. 12), das sapere dagegen sei incorporale et aceidens alteri, ὃ, 6. sa- 
pientiae. Das λεχτὸν ist daher, wie ἄμμον. De interp. 15, Ὁ bemerkt, ein 
μέσον τοῦ τε νοήματος χαὶ τοῦ npaynaros; versteht man jedoch unter dem νόημα 
nicht das Denken, sondern das Gedachte, so ist λεχτὸν gleichbedeutend mit 
νόημα. Vgl. Sımer. Categ. 3, α Basil.: τὰ δὲ λεγόμενα χαὶ λεχτὰ τὰ νοήματά ἐστιν, 
ὡς καὶ τοῖς Στωϊχοῖς ἐδόχει, Prur. plac. IV, 11,4, wo das νόημα oder ἐννόημα 
ähnlich, wie bei Sexr. Math. VII, τὸ (5. u. Anm. 2) das λεχτὸν, als φάντασμα 
διανοίας Aoyızod ζῴου definirt wird, und oben 71,3. Wenn Pritor. Anal. pr. 
LX, a. Schol. in Ar. 170, a, 2 sagt, die Stoiker haben die Dinge τυγχάνοντα 
genannt, die Gedanken ἐχφοριχὰ, die φωναὶ λεχτὰ, so ist das Letztere offenbar 
unrichtig, wogegen für die Gedanken allerdings ἐχφοριχὸν in demselben Sinn, 
wie Aszrov, gesagt worden sein mag. 

1) Vgl. 8. 71, 3. Auch innerhalb der stoischen Schule wurde diese Frage 
aufgeworfen; Sexrus wenigstens, welcher die stoische Lehre auch von dieser 
Seite her anzugreifen nicht versäumt hat, redet Math. VIII, 262 von einer 
ἀνήνυτος μάχη über die ὕπαρξις der λεχτὰ, und VIII, 258 bemerkt er: δρῶμεν δὲ 
ὡς εἰσί τινες οἱ ἀνηρηχότες τὴν ὕπαρξιν τῶν λεχτῶν, χοὶ οὐχ ol ἑτερόδοξο: μόνον, οἷον 
οἱ ᾿Επιχούρειοι, ἀλλὰ χοὶ οἱ Στωϊχοι, ὡς οὗ περὶ τὸν Βασιλείδην, οἷς ἔδοξε μηδὲν 
εἶναι ἀσώματον. Doch waren es wahrscheinlich erst jüngere Stoiker, welche, 
von ihren Gegnern gedrängt, diesen Zweifel erhoben: Basilides war der 
Lehrer Mark Aurel's, sonst aber wird ganz unbefaugen von dem Sein der 
λεχτὰ gesprochen. 

2) Sexr. Math. VIII, 70 (s. oben 70, 2): τῶν δὲ λεχτῶν τὰ μὲν ἐλλιπῇ za- 
λοῦσι τὰ ὃὲ αὐτοτελῆ. Als αὐτοτελῆ werden dann die verschiedenen Arten der 
Sätze aufgeführt. Nach der gleichen Quelle (Diokles? vgl. Dıoc. 48), wie es 
scheint, Dıoc. 63: φασὶ δὲ τὸ λεχτὸν εἶναι τὸ χατὰ φαντασίαν λογιχὴν ὑφιστάμενον. 
τῶν δὲ λεχτῶν τὰ μὲν λέγουσιν εἶνα! αὐτοτελῇ ol Στωϊχοὶ, τὰ δ᾽ ἐλλιπῆ" ἐλλιπῆ μὲν 
οὖν ἔστι τὰ ἀναπάρτιστον ἔχοντα τὴν ἐχφορὰν, οἷον Γράφει" ἐπιζητοῦμεν γάρ, Tis; 
αὐτοτελῇ δ᾽ ἐστὶ τὰ ἀπηρτισμένην ἔχοντα τὴν ἐχφορὰν, οἷον Τράφει: Σωχράτης. Wenn 
Ῥπαάντι. S. 438 sagt, die Stoiker theilen die Urtheile (ἀξιώματα) in mangelhafte 
und vollständige ein, so ist diess ungenau: nur die λεχτὰ werden so einge- 
theilt, der Begrifl' des λεχτὸν ist aber ein weiterer, als der des Urtheils: die 
ἀξιώματα sind nur eine bestimmte Art der λεχτὰ αὐτοτελῆ. 


80 Stoiker. 


her den Stoikern in zwei Abschnitte: von den unvollständigen 
und von den vollständigen Aussagen. 

In dem Abschnitt über die unvollständigen Aussagen 
kam zunächst wieder mancherlei vor, was wir mehr zur Gramma- 
tik, als zur Logik rechnen würden, wenn alle derartigen Aussagen 
in zwei Klassen, die der Namen und Eigenschaftswörter und die 
der Zeitwörter 1) (der Bezeichnungen von Substantiellem und 
Accidentellem) ?) getheilt, und die Arten und Formen derselben 
dann weiter unterschieden werden®). Der Sache nach gehören 


1) Prur. qu. Plat. X, 1,2. 8. 1008: Der Satz (πρότασις oder ἀξίωμα) ἐξ 
ὀνόματος καὶ ῥήματος συνέστηχεν, ὧν τὸ μὲν πτῶσιν οἱ διαλεκτικοὶ, τὸ δὲ κατηγόρημα 
χαλοῦσιν. Da die Ausdrücke πτῶσις und χατηγόρημα der stoischen Termino- 
logie angehören, können unter den Dialektikern hier nur die Stoiker gemeint 


sein. Unter den Wörtern der ersten-Klasse unterschieden sie dann das ὄνομα 


und die προςηγορία, indem sie jenes auf die Eigennamen beschränkten, unter " 


diesem alle allgemeinen Bezeichnungen, sowohl substantivische als adjektivi- 
sche, zusammenfassten (Dıoc. 58. Berker’s Anecd. Il, 842); nach ὅτ οβ. Ekl. 
1,332 jedoch hätten sie mit πτῶσις nur die προςηγορία bezeichnet. Zwei Bücher 
Chrysipp's π. τῶν προςηγορικῶν nennt Dıios. 192. Ueber den Begriff des χατη- 
γόρημα oder ῥῆμα, des Zeitworis, s. m. Dıoc. 58.64. Sext. Pyrrh. II, 14. 
Cıc. Tusc. IV, 9, 21. Porruve. Ὁ. Ammon. De interpret. 37, a; nach AProLLoNn. 
De construct. I, 8 wurde jedoch im genaueren Ausdruck nur der Infinitiv 
ῥῆμα, die andern Formen κατηγόρημα genannt. 

2) Dass der Unterschied des ὄνομα und κατηγόρημα von den Stoikern, 
allerdings etwas schief, auf diesen logisch -metaphysischen Gegensatz zurück- 
geführt wurde, sieht man aus Son. Ekl. I, 336 f.: αἴτιον δ᾽ ὃ Ζήνων φησὶν εἶναι 
δι᾽ ὃ, οὗ δὲ αἴτιον συμβεβηκός" καὶ τὸ μὲν αἴτιον σῶμα, οὗ δὲ αἴτιον κατηγόρημα. 
„2. Ποσειδώνιος... τὸ μὲν αἴτιον ὃν χαὶ σῶμα, οὗ δὲ αἴτιον οὔτε ὃν οὔτε σῶμα, 
ἀλλὰ συμβεβηχὸς καὶ κατηγόρημα... Daher für das letztere die Namen σύμβαμα 
und παρασύμβαμα, 8. folg. Aum, 

3) Am Nomen unterschieden sie die Casus; dabei hätten sie nach Aunon, 
a. a. Ὁ. den Nominativ ὄνομα, die übrigen πτώσεις genannt, was sich aber mit 
dem vorhin nachgewiesenen Sprachgebrauch nicht verträgt; bei Dios. 65 
heissen die letztern (die γενιχὴ, δοτιχὴγ αἰτιατικὴ) πλάγιαι πτώσεις. Chrysippus 
verfasste eine eigene Abhandlung über die fünf πτώσεις (Dıos. 192). Hiemit 
stehen dann, weiter die Eintheilungen des χατηγόρημα in Verbindung. Nach 
Dioc. 65 unterschieden die Stoiker unter den Zeitwörtern ὀρθὰ, ἃ. h. solche, 
die ein Objekt zu ihrer Ergänzung nöthig haben (wie δρᾷ, διαλέγεται), ὕπτια 
(wie δρῶμαι), οὐδέτερα (wie φρονεῖν, περιπατεῖν) und ἀντιπεπονθότα (wie κείρεσθαι, 
sich scheeren lassen, πείθεσθαι u. s. w., überhaupt also Passivformen, die aber 
kein blos leidentliches Verhalten bezeichnen); m. vgl. hierüber Psıno | De 
Cherub. 121, €. Orıc. e. Cels. VI, 57; über die ὀρθὰ und ὕπτια 8. m. auch 


ΝΡ TEE TEN tee 


Formale Logik. 91 


aber zu diesem Theil der Logik auch die Untersuchungen über 
Begriffsbestimmung und Eintheilung und die Kategorieenlehre, 
wenn wir auch von denselben nicht sicher wissen, welche Stelle 
sie in der stoischen Logik einzunehmen pflegten !). Auch diese 
Erörterungen bringen jedoch grossentheils wenig Neues; was uns 
wenigstens an stoischen Bestimmungen über die Bildung, das Ver- 
hältniss und die Theilung der Begriffe überliefert ist, unterscheidet 
sich von den entsprechenden aristotelischen Lehren nur durch 
einige Aenderungen sim Ausdruck und eine äusserlichere Be- 
handlung 2). 


 Dionys. Turax. 8. 15. Κ΄, 8806 Bekk. Sımer. Categ. 79, α. ζ.. Dioc. 191 und 
über’alle diese Eintheilungen Lexscn II, 196 ff. Steisteau Gesch. d. Sprachw. 
I, 294 ff. Weiter machten sie einen Unterschied zwischen σύμβαμα und παρα- 
σύμβαμα. Σύμβαμα oder auch χατηγόρημα schlechthin ist das Zeitwort, welches 
mit einem Nominativ, παρασύμβαμα das, welches mit einem andern Casus 
verbunden einen Satz bildet; περιπατέϊ z. B. ist ein σύμβαμα, μεταμέλει ein 
παρασύμβαμα, denn zu jenem wird ein Nominativ (wie Σωχράτης), zu diesem 
ein Dativ (Σωχράτει) gefordert. Ist zur Herstellung eines vollständigen Satzes 
neben der im Nominativ stehenden Subjektsbezeichnung noch eine Objekts- 
bezeichnung nöthig, so heisst das Zeitwort ἔλαττον ἢ σύμβαμα oder EA. ἢ χατη- 
γόρημα (dahin gehört z. B. φιλεῖ, denn einen vollständigen Satz bilden die 
Worte Πλάτων φιλεῖ erst, wenn das Objekt: IR. φιλ. Δίωνα, beigefügt wird); 
findet dasselbe bei einem παρασύμβαμα statt, so heisst es ἔλαττον ἢ παρασύμβαμα 
(solcher Art ist z. B. das Wort μέλει, denn um einen ganzen Satz zu erhalten, 
darf ich nicht blos sagen: Σωχράτει μέλει, sondern ich muss noch beifügen, 
um wen er sich bekümmert: Σωχράτει ᾿Αλχιβιάδους μέλει). So erläutert diese 
Unterscheidung Porrure b. Äwwon. a. a. O. 36, b, f. (den Lesch II, 31 ff. nur 
aus Missverständniss tadelt). Dros. 64 (wo aber der Text offenbar lückenhaft 
und verdorben ist — statt des sinnlosen οἷον τὸ διὰ πέτρας πλεῖν könnte man 
ohne übermässige Kühnheit geradezu vermuthen: τὰ δὲ παρασυμβάματα, was 
wenigstens einen passenderen Sinn gäbe, als die Vorschläge von R. Schuipr 
Sto. gramm. 66. 91 und Lesscn ἃ. ἃ. Ὁ. 33). Arornon. De constr. III, 32. 
8. 299 Bekk. Sum. σύμβαμα (der aber sehr ungenau ist). Prıscran XVII, 
8. 1118, der in seinem gleichfalls ungenauen Bericht auch noch ἀσυμβάματα 
hat. Das Beispiel, mit dem sich Lucran vit. auct. 21 über die stoische Haar- 
spalterei.zwischen σύμβαμα und παρασύμβαμα Instig macht, ist natürlich keine 
Sacherklärung. 

1) Ueber die Kategorieen ist in dieser Beziehung gar nichts überliefert, 
die Definition und Eintheilung behandelten Manche unpassender Weise unter 
dem Abschnitt von der Sprache; s. ὁ. 62, 4. . 

2) Der ὕρος wurde nach Dı00.60. Bekker Anecd. 11,647 von Chrysippus 
definirt: ἰδίου (wie-auch bei Diog. statt χαὶ zu lesen ist) ἀπόδοσις, von Anti- 


Philos. ἃ. Gr. IIT. B. 1. Abth. 6 


s2 Stoiker. 


Wichtiger ist jedenfalls die stoische Kategorieenlehre "). 
Auch in diesem Theil ihrer Logik schliessen sich die Stoiker zu- 
nächst an Aristoteles an; aber sie weichen in dreifacher Beziehung 
von ihm ab. Während Aristoteles seine Kategorieen auf keinen 


pater: λόγος χατ᾽ ἀνάλυσιν (Anecd. ἀνάγχην) ἀπαρτιζόντως ἐχφερόμενος, d.h. ein 
Satz, in dem sich das Subjekt und die sämmtlichen Prädikate, in die es auf- 
gelöst ist, vertauschen lassen. Der δρισμὺς giebt getrennt, was das ὄνομα 
zusammenfasst (Sıner.. Categ. 16, β). Ein unvollkommener ὅρος heisst Öro- 
γραφή. Statt des aristotelischen τί ἦν εἶνα! fanden stoische Logiker das blosse 
τί ἦν des Antisthenes genügend (Arex. Top. 24, m). Der begrifllichen Unter- 
scheidung sinnverwandter Wörter, wie χαρὰ, ἡδονὴ, τέοψις, εὐφροσύνη, legten 
sie, wie ehedem Prodikus, grossen Werth bei (Ar.ex. Top. 96 u.; Beispiele 
werden uns öfters vorkommen). "Weiter wird das Verhältniss von γένος und 
εἶδος beachtet, jenes als Zusammenfassung vieler Gedanken (ἀναφαιρέτων 
ἐννοημάτων, was heissen könnte: Gedanken, die sich als Momente des Begrifis 
nicht von ihm trennen lassen, nur würde diese Erklärung zu dem Folgenden, 
wornach man eher die im γένος enthaltenen Arten darin suchen sollte, nicht 
passen; Prantı S. 422 vermuthet ἃ UN: was aber auch der Erläuterung 
bedürfte) definirt, dieses als τὸ ὑπὸ τοῦ γένους EEE “(Droe. 60 f.); als das 
γενικώτατον wird dasjenige bezeichnet, ὃ γένος ὃν γένος οὐχ ἔχει, als das εἰδικώ- 
τατον das, ὃ εἴδος ὃν εἶδος οὐχ ἔχε: (D. 61 vgl. Sexr. Pyırh. I, 138); es wird 
über die διαίρεσις, ὑποδιαίοεσις und ἀντιδιαίοεσις (Eintheilung in contradietorisch 
Entgegengesetzte) das Bekannte gesagt, und daneben der μερισμὸς noch be- 
sonders genannt (D, 61 δ); es werden endlich bei Srxr. Pyrrh. II, 213, wenn 
hier Stoiker gemeint sind, (die vorangehende Definition der Dialektik findet 
sich, wie schon S. 61, 2 bemerkt wurde, bei Aucınovs Isag. 3, und Derselbe 
nennt auch c. 5 drei von den vier Arten der Eintheilung; statt der vierten hat 
er aber allerdings zwei andere) viererlei Eintheilangen unterschieden; für die 
acht διαιρέσεις, welche Peantı, S. 423 aus Berker’s Anecd. II, 679 anführt, ist 
der stoische Ursprung noch unsicherer. Auch die Bestimmungen über die 
Entgegensetzung der Begriffe, anf welche wir bei der Lehre vom Urtheil zu- 
rückkommen werden, bieten wenig Neues; und ebenso verhält es sich mit 
dem, was über einen verwandten Gegenstand, die στέρησις und ἕξις, b. Smurr. 
Categ. 100, β. ὃ. 101, ε vgl. 102 ß aus Chrysippus π. τῶν χατὰ στέρησιν λεγο- 
uevoy (vgl. Dıos. VII, 190) angeführt wird. 

1) M. s. darüber Perersen Philos. Chrysipp. fund. S. 36—144, welcher 
die Quellen mit gelehrter Sorgfalt ausbeutet, aber durch den Versuch, das 
stoische System aus den Kategorieen zu construiren, sich zu vielen willkühr- 
lichen Combinationen verleiten lässt; Trexperensure Histor. Beitr. I, 217 fl. 
Pranrtı, Gesch. ἃ. Log. I, 426 fl. Unsere Quellen für die Kenntniss der stoischen 
Kategorieenlehre sind, ausser wenigen Andentungen bei Andern: Sımrricrus 
zu den Kategorieen und Prorın ἔπη. VI, 1, 25—30, 


Kategorieenlehre: s3 


höheren Begriff als ihre gemeinsame Gattung zurückführen wollte !), 
stellen die Stoiker einen solchen obersten Gattungsbegriff auf. 
Statt dass ferner Jener zehn Kategorieen zählte, glauben sie mit vier 
ausreichen zu können ?), welche nur theilweise mit den aristote- 
lischen übereinkommen. Wenn endlich Aristoteles die Kategorieen 
neben einander gestellt hatte, so dass jedes Ding in der Beziehung, 
in der es unter die eine fällt, nicht zugleich unter die andere 
fallen kann ?), werden sie sich bei den Stoikern untergeord- 
net, so dass jede vorangehende durch die folgende näher be- 
stimmt wird. 

Als der oberste Begriff wurde von den älteren Stoikern, wie 
es scheint, der Begriff des Seienden bezeichnet; da aber nur das 
Körperliche für ein Seiendes im strengen Sinn gelten sollte, wäh- 
rend sich unsere Vorstellungen auch auf Unkörperliches und 
überhaupt auf Unwirkliches beziehen, so setzte man in der Folge 
an die Stelle des Seienden den unbestimmteren Begriff des Etwas t). 


” 

1) S. Bd. II, b, 185. 

2) An den aristotelischen Kategorieen tadelten sie theils die allzugrosse 
Zahl derselben, theils suchten sie zu zeigen, dass sie doch nicht alle Arten 
des Ausdrucks (als ob es sich nm diesen handelte, erwiedert SımeLicıus Categ. 
5, αὐ unter sich befassen; vgl. Sımer. Categ. 5, α. 15,6. 10, ὃ, welcher diese 
Einwendungen namentlich aus Athenodor und Cornutus (jener unter August, 
dieser unter Nero) anführt. Von denselben werden ebd. 47, ζ. 91, & einige 
Bemerkungen über einzelne der aristotelischen Kategorieen erwähnt. 

3) Dass die aristotelische Kategorieenlehre so gemeint ist, ergiebt sich 
schon ans der Art, wie die Kategorieen eingeführt werden (5. a. a. O. 186, 3), 
noch bestimmter aber aus der (ebd. 189, 2. 290, 1 berührten) Erörterung über 
die Arten der Bewegung Phys. Υ, 2, welche ganz auf der obigen Voraus- 


„setzung ruht. 


\ 


4) Auf die angegebene Weise erklärt es sich, wenn von den Alten bald 
das ὃν, bald das τὶ als der oberste Begrift der Stoiker bezeichnet wird. Jenes 
geschieht bei Dıog. 61: γενικώτατον δέ ἐστιν ὃ γένος ὃν γένος οὐχ ἔχει, οἷον τὸ ὄν. 
Sex. ep. 58, 8 fl.: nune autem genus illud primum quaerimus, ec quo ceterae spe- 
eies suspensae sunt, a quo nascilur omnis divisio, quo universa comprehensa sunt; 
und nachdem bis zum Gegensatz des Körperlichen und Unkörperlichen auf- 
gestiegen ist: quid ergo erit, ex quo haec deducantur? illud, .... quod est [τὸ ὄν) 
νιν quod est aut corporale est aut incorporale. Hoc ergo genus est primum et 
antiquissimum et, ut ita dieam, generale [τὸ yevızwrarov). Gewöhnlicher ist aber 
das and£re. Vgl. Pıor. Enn. VI, 1, 25. 588, A.: χοινὸν τὶ χαὶ ἐπὶ πάντων ἕν γένος 
λαμβάνουσι. Aukx. Arıron, Top. 155. Schol. 278, b, 20: οὕτω δειχνύοις ἂν ὅτι 
un χαλῶς τὸ τὶ οἱ ἀπὸ Στοᾶς γένος τοῦ ὄντος (der Gattnngsbegriff, von welchem 


6* 


s4 Stoiker. 


Das Etwas befasst unter sich das Körperliche und das Unkörper- 
liche, oder das Seiende und das Nichtseiende, und eben diesen 
Gegensatz scheinen die Stoiker für die reale Eintheilung der 
Dinge zu Grunde gelegt zu haben '); sofern es sich dagegen um 
die formalen Grundbegriffe, oder die Kategorieen handelt, werden 
andere Gesichtspunkte vorangestellt, die mit der Unterscheidung 
des Körperlichen und Unkörperlichen nicht in Zusammenhang ge- 
bracht sind. Unter dem Etwas sollen nämlich die folgenden vier 
höchsten Gattungen ?) stehen: das Substrat (τὸ broxeiuzvov), die 
Eigenschaft (τὸ ποιὸν), die Beschaffenheit (τὸ πὼς ἔχον) und die 
beziehungsweise Beschaffenheit (τὸ πρός τι πὼς ἔχον) ὃ). Von die- 


das ὃν eine Art ist) τίθενται" εἰ γὰρ τὶ, δῆλον ὅτι χαὶ ὄν... ἀλλ᾽ Exeivor νομοθε- 
τήσαντες αὐτοῖς τὸ ὃν Kara σωμάτων μόνων λέγεσθαι διαφεύγοιεν ἂν τὸ ἠπορημένον᾽ 
διὰ τοῦτο γὰρ τὸ τὶ γενιχώτερον αὐτοῦ φασιν εἶναι κατηγορούμενον οὐ χατὰ σωμάτων 
μόνον ἀλλὰ χαὶ ἀσωμάτων. 5680]. in Arist. 34, b, 11. Sexr. Pyrrh. II, 86: τὸ τὶ, 
ὅπερ φασὶν εἶναι πάντων γενιχώτατον. Math. X, 234: die Sioiker sagen, τῶν τινῶν 
τὰ μὲν εἶναι σώματα τὰ δὲ ἀσώματα. SEM a. ἃ. Ο. 18.: Stoici volunt superponere 
huic etiamnunc aliud genus magis prineipale ... primum genus Stoicis quibus- 
dam videtur quid, denn „in rerum, inquiunt, natura quaedam sunt, quaedam 
non sunt“; Beispiele des Letztern sind die Centauren, Giganten nnd ähnliche 
Vorstellungen von Unwirklichem. Rırrer ΠῚ, 566 bemerkt mit Recht, die 
Lehre, welche den Begriff des Seienden an die Spitze stellte, müsse die ältere 
gewesen sein, da erst gegen sie der Grund angeführt werde, dass doch auch 
das Nichtseiende gedacht werde. Wahrscheinlich hat Chrysippus diese Aen- 
derung vorgenommen, wenn es sich auch aus Store. ἘΚ]. I, 390 ἢ, nicht sicher 
abnehmen lässt. PETERsEn $. 146 ff. verwirrt die beiden Ansichten, wenn er 
glaubt, die Stoiker haben das Etwas in das Seiende und das Nichtseiende, und 
das Seiende in das Körperliche und Unkörperliche getheilt, wie er auch im 
Weiteren die stoische Lehre mit den Consequenzen verwechselt, durch die sie 
von Prorıs a. a. Ὁ, und Prvr. comm. not. 30 widerlegt wird. Diejenigen, 
welche das Etwas als höchsten Begriff setzten, thaten es ja eben desshalb, 
weil ihnen das Seiende mit dem Körperlichen znsammenfie], sie theilten daher 
nur jenes in das Körperliche oder Seiende, und das Unkörperliche oder 
Nichtseiende. 

1) S. vor. Anm. und 9.78, 1. 

2) So nämlich, als ysvırwrara oder πρῶτα γένη, nicht als Kategorieen, 
scheinen die Stoiker dieselben bezeichnet zu haben; vgl. Sıurr. Categ. 16, ὃ 
(anderswo, wie 51, ß. 79, ß, spricht er in eigenem Namen und nicht von den 
stoischen Kategorieen). M. Avreı VI, 14; χατηγορία passte für sie schon we- 
gen ihres Sprachgebrauchs von χατηγόρημα (5. 0. 8. 80, 1) weniger. 

3) Sımer. f. 16, ὃ: οἱ δέ γε Στωϊχοὶ εἰς ἐλάττονα συστέλλειν ἀξιοῦσι τὸν τῶν 
πρώτων γενῶν ἀριθμόν... ποιοῦνται γὰρ τὴν τομὴν εἰς τέσσαρα᾽ εἰς ὑποχείμενα χαὶ 


Kategorieenlehre. δῦ 


sen vier Begriffen bezeichnet der erste, das ὑποχείμενον 1), die 
Wesenheit der Dinge als solche, die Materie derselben, noch ab- 
gesehen von jeder näheren Bestimmtheit 2), dasjenige, was jedem 
bestimmten Sein zu Grunde liegt, und was allein für ein Substan- 
tielles gelten soll 5). Dabei unterschieden die Stoiker, nach ari- 
stotelischem Vorgang 4), zwischen der allgemeinen Substanz oder 
Materie und der des Einzelwesens: nur jene ist keiner Vermeh- 
rung und keiner Verminderung fähig, der Stoff der Einzelwesen 
dagegen kann sich vermehren und vermindern, ja er unterliegt 
einem so unablässigen Wechsel, dass es bei ihnen nur die Qua- 
lität ist, welche während der ganzen Dauer ihres Daseins 
sich gleich bleibt°). — Die zweite Kategorie, die der Eigen- 


᾿ 


ποιὰ χαὶ πὼς ἔχοντα χαὶ πρός τί πως ἔχοντα. Pror. En. VI, 1, 25, Anf. Prior. 
comm. not. 44, 6. 5, 1083. 

1) Wofür aber nicht blos ausser der Schule, sondern auch von Posımo- 
nıus, das aristotelische οὐσία gesetzt wird, wenn er bei Sror. Ekl. I, 434 f. 
die οὐσία und den ποιὸς (oder die ποιοὶ), die Veränderung der einen und des 
andern, unterscheidet; ebenso ebd. sein Mitschüler Mnesarchus u. A. 

2) Porrayr. bei Sımer. f. 12, ὃ: ἥ τε γὰρ ἄποιος ὕλη... . πρῶτόν ἐστι τοῦ 
ὑποχειμένου σημαινόμενον. Pror. ἃ. ἃ. Ο. ὅ88, Β: ὑποχείμενα μὲν γὰρ πρῶτα τά- 
ξαντες χαὶ τὴν ὕλην ἐνταῦθα τῶν ἄλλων προτάξαντες. GALEN qu. qualit. 5. incorp. 
6. XIX, 478: λέγουσι μόνην τὴν πρώτην ὕλην ἀΐδιον τὴν ἄποιον. Vgl. folg. Anm. 
Dass die Stoiker auch unkörperliche Substrate angenommen haben (Prrersen 
60 f.) scheint zwar aus der Behauptung: unkörperlicher Eigenschaften (8. u. 
90, 3) unabweislich zu folgen, da es aber andererseits der Lehre von der 
alleinigen Realität des Körperlichen..widerspricht, und da kein Berichterstatter 
dieser von den Gegnern, wie man meinen sollte, begierig ergriffenen Annahme 
erwähnt, ist es doch wahrscheinlicher, dass sie dieselbe nicht ausgespro- 
chen hatten. ’ 

3) Sıuer. 44, ὃ: ἔοιχε Στωϊχῇ τινι συνηθείᾳ συνέπεσθαι, οὐδὲν ἄλλο ἢ τὸ ὑπο- 
χείμενον εἶναι νομίζων, τὰς δὲ περὶ αὐτὸ διαφορὰς ἀνυποστάτους ἡγούμενος. Dıoe. 150. 
Stop. Ekl. I, 322 f. 5. Anm. 5. Sros. 824: ἔφησε δὲ ὃ Ποσειδώνιος τὴν τῶν ὅλων 
οὐσίαν χαὶ ὕλην ἄποιον χαὶ ἄμορφον εἶναι, χαθ᾽ ὅσον οὐδὲν ἀποτεταγμένον ἴδιον ἔχει 
σχῆμα οὐδὲ ποιότητα χατ᾽ αὐτὴν [χαθ᾽ αὖτ.]: ἀεὶ δ᾽ ἔν τινι σχήματι χαὶ ποιότητι εἶναι. 
διαφέρειν δὲ τὴν οὐσίαν τῆς ὕλης, 'τὴν οὖσαν χατὰ τὴν ὑπόστασιν, ἐπινοίᾳ μόνον. 
Sıneo. Phys. 50, a, m: τὸ ἄποιον σῶμα τὴν πρωτίστην ὕλην εἶναί φασιν. Weiteres 
über die Materie im nächsten Kap. 

4) Vgl. Bd. II, b, 240, 3 und Porruyr bei Sımrı. Categ. 12, ὃ: διττόν ἐστι 
τὸ ὑποχείμενον οὐ μόνον χατὰ τοὺς. ἀπὸ τῆς στοᾶς ἀλλὰ χατὰ τοὺς πρεσβυτέρους. 
Dexırr. 5. folg. Anm. 

5) Dios. 150: οὐσίαν δέ φασι τῶν ὄντων ἁπάντων τὴν πρώτην ὕλην. So Zeno 
und Chrysippus. ὕλη δέ ἐστιν ἐξ ἧς δτιδηποτοῦν γίνεται, χαλείται δὲ διχῶς οὐσία τε 


86 Stoiker. ΄ 


8 


χαὶ ὕλη, ἥ τε τῶν πάντων χαὶ ἢ τῶν ἐπὶ μέρους. ἣ μὲν οὖν τῶν ὅλων οὔτε πλείων 


οὔτε ἐλάττων γίνεται, ἢ δὲ τῶν ἐπὶ μέρους χαὶ πλείων χαὶ ἐλάττων. ὅτοπ. Ekl. I, 322: 
(Ζήνωνος) οὐσίαν δὲ εἶναι τὴν τῶν ὄντων πάντων πρώτην ὕλην, ταύτην δὲ πᾶσαν 
ἀΐδιον καὶ. οὔτε πλείω γιγνομένην οὔτε ἐλάττω, τὰ ὃὲ μέρη ταύτης οὐχ ἀεὶ ταὐτὰ δια- 
μένειν, ἀλλὰ διαιρείσθα: χαὶ συγχξϊσθοι. Ebenso, nach dem unmittelbar Folgen- 
den, Chrysippus. Ebd. 432 f.: Nach Posidonius gebe es viererlei Veränderun- 
gen: κατὰ διαίρεσιν, χατ᾽ ἀλλοίωσιν (wie wenn aus Wasser Luft wird), χατὰ 
σύγχυσιν (Verbindung mehrerer Stoffe zu einem dritten), κατ᾽ ἀνάλυσιν (Auflö- 
sung des ganzen Wesens, welche Posidon. τὴν ἐξ ὅλων μεταβολὴν nennt). τούτων 
δὲ τὴν χατ᾽ ἀλλοίωσιν περὶ τὴν οὐσίαν γίγνεσθαι (denn nach stoischer Lehre ver- 
wandelten sich die Elementarstoffe in einander), τὰς δὲ ἄλλας τρεῖς περὶ τοὺς 
ποιοὺς λεγομένους τοὺς ἐπὶ τῆς οὐσίας γιγνομένους. ἀχολούθως δὲ τούτοις καὶ τὰς 
γενέσεις συμβαίνειν. τὴν γὰρ οὐσίαν οὔτ᾽ αὔξεσθαι οὔτε μειοῦσθαι... ἐπὶ δὲ τῶν ἰδίως 
ποιῶν (was man nicht von der individuellen Eigenschaft, sondern von dem in- 
dividuell bestimmten Wesen, dem Einzelwesen, zu verstehen hat), οἷον Δίωνος 
καὶ Θέωνος, χαὶ αὐξήσεις χαὶ μειώσεις γίνεσθαι (diese Worte erklärt Pranzz 8.432: 
die qualitative Bestimmtheit lasse eine Zu- oder Abnahme ihrer Intensität zu; 
aber schon der Sprachgebrauch von αὔξησ'ς und μείωσις, über den auch Bd. II, 
b, 290 ἢ. zu vgl., beweist, und sowohl der weitere Zusammenhang als die 
obenangeführte Stelle des Diog. bestätigt, dass sie vielmehr auf die bei den 
Einzelwesen stattfindende Vermehrung und Verminderung der Substanz gehen). 
διὸ ol παραμένειν τὴν ἑχάστου ποιότητα ἀπὸ τῆς γενέσως μέχοι τῆς ἀναιρέσεως. N 
ἐπὶ δὲ τῶν ἰδίως ποιῶν δύο μὲν εἶνα! φασὶ τὰ δεχτιχά μόρια (die Einzelwesen haben 
zwei Bestandtheile, welche der Veränderung fähig sind), τὸ μέν τι χατὰ τὴν τῆς 
οὐσίας ὑπόστασιν τὸ δέ τι χατὰ τὴν τοῦ ποιοῦ. To γὰρ [add. ἰδίως ποιὸν], ὡς πολλά- 
χις λέγομεν, τὴν αὔξησιν χαὶ τὴν μείωσιν ἐπιδέχεσθαι. Pokruyr 8. vor. Anm. 
Drxıer. in Categ. 31, 15. Speng. ὡς ἔστι τὸ ὑποχείμενον διττὸν, οὐ μόνον χατὰ 
τοὺς ἀπὸ τῆς στοᾶς [4844. ἀλλὰ] χαὶ χατὰ τοὺς πρεσβυτέρους, ἕν μὲν τὸ λεγόμενον 
πρῶτον ὑποχείμενον, ὡς ἣ ἄποιος ὕλη, . . . δεύτερον δὲ ὑποχείμενον τὸ ποιὸν ὃ χοινῶς 
ἢ ἰδίως ὑφίσταται, ὑποχείμενον γὰρ καὶ ὃ χαλχὸς zaı ὃ Σωχράτης. Pıur. comm. not. 
44, 4. 8. 1083,‘ welcher die Stoiker behaupten lässt: ὡς δύο ἡμῶν ἕχαστός ἐστιν 
ὑποχείμενα, To μὲν οὐσία τὸ δὲ [add. ποιόν, was wohl besser als ποιότης} χαὶ τὸ 
μὲν ἀεὶ ῥεῖ χαὶ φέρεται, pur’ αὐξόμενον μήτε μειούμενον, μήτε ὅλως οἷόν ἐστι διαμέ- 
νον, τὸ δὲ διαμένει χαὶ αὐξάνεται χαὶ μειοῦται χαὺ πάντα πάσχει τἀναντία θατέρῳ 
συμπεφυχὸς χαὶ συνηρμοσμένον χαὶ συγχεχυμένον (SC. αὐτῷ) χαὶ τῆς διαφορᾶς τῇ 
αἰσθήσει μηδαμοῦ παρέχον ἅψασθαι. Das Letztere ist das Einzelwesen als solches; 
das Erstere der Stoff desselben, von dem Plut. unmittelbar vorber gesagt bat: 
τὰ λήμματα συγχωροῦσιν οὗτοι, τὰς [μὲν] ἐν μέρει πάσας οὐσίας ῥεῖν καὶ φέρεσθαι, 
τὰ μὲν ἐξ αὐτῶν μεθείσας,, τὰ δὲ ποθὲν ἐπιόντα προσδεχομένας" οἷς δὲ πρόςεισι zul 
ἄπεισιν ἀριθμοῖς καὶ πλήθεσιν, ταῦτα μὴ διαμένειν, ἀλλ᾽ ἕτερα γίνεσθαι ταὶς εἰρημέναις 
προσόδοις, ἐξαλλαγὴν τῆς οὐσίας λαμβανούσης. Dass nun freilich von eben diesem 
unablässig sich verändernden Stoff das μήτ᾽ αὐξόμενον “μήτε μειούμενον ausge- 
sagt wird, könnte auffallen. Die Meinung ist aber diese. Dass es zu- und 
abnehme, kann nur von dem Einzelwesen gesagt werden, sofern dieses wäh- 


Br 


Kategorieenlehre. 37 


schaft '), umfasst die wesentlichen Unterschiede, durch welche 
der an sich bestimmungslose Stoff zu etwas Bestimmtem wird 9); 


rend der Zu- und Abnahme doch zugleich Ein und dasselbe Subjekt, dieses 
bestimmte ἰδίως ποιὸν bleibt; sein Stoff dagegen lässt sich, da er immer wech- 
selt, nicht als das mit sich identische Subjekt der Zu- und Abnabme betrach- 
ten. Eben diess führt ALex. Arrr. quaest. nat. I, 5 aus. 

1) Horov oder ποιότης, auch ὃ ποιὸς (sc. λόγος); nach Sımer. 55, α unter- 
schieden manche Stoiker eine dreifache Bedeutung des ποιὸν, die weiteste, 
in der es alle, auch die unwesentlichen und veränderlichen Beschaffenheiten 
(also neben der ποιότης auch das πὼς ἔχον), eine engere, in der es nur die 
beharrlichen Eigenschaften, unter diesen jedoch auch die abgeleiteten und 
unwesentlichen (die σχέσεις, 5. folg. Anm.), und die engste, in der es τοὺς 
ἀπαρτίζοντας (χατὰ τὴν ἐχφορὰν) Hal ἐμμόνως ὄντας χατὰ διαφορὰν ποιοὺς, d.h. 
diejenigen Eigenschaften bezeichnet, welche ein wesentliches Merkmal in 
seiner unterscheidenden Eigenthümlichkeit rein darstellen. Nur in dieser 
letzten Bedeutung soll die‘Substantivform ποιότης gebraucht werden. 

2) Sımer. f. 57, ε (Genaueres über diese Stelle bei PEtrexsex ὃ. 85. 
TRENDELENBURG 223 f.): οἵ δὲ Στωϊκοὶ τὸ χοινὸν τῆς ποιότητος τὸ ἐπὶ τῶν σωμάτων 
λέγουσ!: διαφορὰν εἶναι οὐσίας οὐχ ἀποδιαληπτὴν (trennbar, sc. von der Substanz) 
nad’ ἑαυτὴν, ἀλλ᾽ εἰς ἕν νόημα χαὶ ἰδιότητα [56. μἴαν] ἀπολήγουσαν [οὔτε χρόνῳ οὔτε 
ἰσχύϊ εἰδοποιουμένην, ἀλλὰ τῇ ἐξ αὐτῆς τοιουτότητι, καθ᾽ ἣν ποιοῦ ὑφίσταται γένεσις. 
Statt ἕν νόημα setzt ΡΕΤΕΒΒΕΝ S. 85, unter Zustimmung TRENDELENBURG's und 
Prantr’s (8. 433, 96), ἐννόημα. Mir scheint es Branxpıs Schol. 69, a, 32 mit 
Recht beizubehalten: die ποιότης, ist die Meinung, bildet keine für sich exi- 
stirende, aber eine begriffliche Einheit. Die unwesentlichen Eigenschaften 
rechnen die Stoiker nicht zum ποιὸν, sondern zum πὼς ἔχον. — Derselbe Ge- 
gensatz des Wesentlichen und Unwesentlichen wird auch durch die Unter- 
scheidung der ἕξις und σχέσις ausgedrückt; die ποιότητες, oder die wesentlichen 
Eigenschaften, heissen ἕξεις oder &xr&, die andern σχέσεις : Sımrr. 54, y. 55, ε. 
Welche Eigenschaften aber für wesentlich anzusehen sind, diess ist, wie 
Sımer. 5, 61, ß (Schol. in Arist. 70, b, 43) ausführt, nicht nach ihrer längeren 
oder kürzeren Dauer, sondern darnach zu unterscheiden, ob sie aus der Natur 
- des betreffenden Gegenstandes hervorgehen, oder nicht: 


’ x 14 
S μεν γὰρ σχέσεις 


ταῖς ἐπιχτήτοις χαταστάσεσι χαραχτηρίζεσθαι τὰς δὲ ἕξεις ταῖς ἐξ ἑαυτῶν ἐνεργείαις. 
Eine engere Bedeutung von σχέσις (räumliche Lage oder Gestalt) drückt die 
Definition bei Sror. Ekl. I, 410 aus. — Ebendahin gehört dieUnt erscheidung 
der ἕνωσις und συναφή: nur dasjenige, dessen Einheit in einer wesentlichen 
Eigenschaft liegt, ist ein ἡνωμένον, alles Uebrige entweder ein blosses συνημ- 
μένον oder ἐχ διεστώτων; Srxt. Math. IX, 78 (und ganz ähnlich VII, 102): τῶν 
τε σωμάτων τὰ μέν ἐστιν ἡνωμένα τὰ δὲ ἐχ συναπτομένων τὰ δὲ ἐχ διεστώτων " ἥνω- 
μένα μὲν οὖν ἐστι τὰ ὑπὸ μιᾶς ἕξεως χρατούμενα, χαθάπερ φυτὰ χαὶ ζῷα, die συνά- 
φεια findet bei Ketten, Häusern, Schiffen u. 5. f. statt, die Zusammensetzung 
ἐχ διεστώτων bei Heerden, Heeren u. 5. w. Das Gleiche bei Sexeca ep. 102, 6. 
nat. qu. II, 2. Vgl. Auex. De mixt. 143, a, u: ἀνάγχη δὲ τὸ ἕν σῶμα ὑπὸ μιᾶς, 


88 ι Stoiker. 


ist diese Bestimmtheit die der Art oder Gattung, so heisst die 
Eigenschaft χοινῶς ποιὸν (oder ποιὸς), ist es eine individuelle 
Eigenthümlichkeit, so heisst sie ἰδίως ποιόν 1). Die Eigenschaften 
bilden daher zusammen mit dem Substrat die besonderen und 
Einzelwesen 3), und das ποιὸν entspricht in dieser Verbindung, 
nach TrENDELENBURG’S treffender Bemerkung °?), dem aristotelischen 
εἶδος 4). und wird, wie dieses, als das wirkende und formende 


’ 


ὥς φασιν, ἕξεως συνελέσθαι (1. συνέχεσθαι). Sımpr. 55, ©: τὰς γάρ ποιότητας ἑχτὰ 
λέγοντες οὗτοι [οἱ en ἐπὶ τῶν ἡνομεγῶν μόνων ἑχτὰ ἀπολείπουσιν" ἐπὶ δὲ τῶν 
χατὰ συναφὴν, οἷον νεὼς, καὶ ἐπὶ τῶν κατὰ διάστασιν, οἷον πὴ οἵ μηδὲν εἶναι Exrov 
μηδὲ εὑρίσκεσθαι πνευματιχόν τι ἕν ἐπ᾿ αὐτῶν μηδὲ va λόγον ἔχον ὥστε ἐπί τινα ὑπό- 
στασιν ἐλθεῖν μιᾶς ἕξεως. — Solche ἕξεις, die keiner Steigerung und Verminde- 
‚rung (ἐπίτασις und ἄνεσις) fähig sind, heissen διαθέσεις; die Tugenden z. B., 
welche nach stoischer Lehre überall, wo sie sind, ganz und vollkommen sind, 
sollen διαθέσεις sein, die Künste blosse ἕξεις (Sımer. Categ. 61, β f. Vgl. 72, ὃ. 
73, ß. — Schol. in Arist. 70, b, 28 ff. 76, a, 12. 24 ff. — Sror. ΕΚ]. II, 98. 128. 
Vgl. Prressen 91 ff.). , Anders hatte Aristoteles das Verhältniss dieser Aus- 
drücke bestimmt; vgl. Bd. II, b, 194, 1. 

1) Syrıan z. Arist. Metaph. 5. 21 (bei Petersen $. 90): χαὶ ol Στωϊκοὶ δὲ 
τοὺς χοινοὺς ποιοὺς πρὸ τῶν ἰδίων ποιῶν ἀποτίθενται. Stop. ΕΚ]. I, 434 f. 5. ο. 
S. 86. Sıuer. De an. 61, a, u., wo der ἰδίως ποιὸς durch ἀτομωθὲν εἶδος erklärt 
wird. Dioc. VII, 138. Prur. c. not. 36, 3 u.a. St. 

2) M. 5. hierüber die 5. 86 angeführten Stellen aus Plutarch und Sto- 
bäus, und Sexr. Pyrrh. I, 57: τὰ χιρνάμενα (die sich mischenden Stoffe — es 
handelt sich um die Möglichkeit der Mischung) ἐξ οὐσίας τα ποιοτήτων συγ- 
χκείσθαί φασιν. (Dagegen redet Porrnrr bei Sımer. Categ. 12, ὃ in eigenem Na- 
men.) Die Stoiker unterscheiden daher einerseits die ἕξις von dem, welchem 
sie zukommt (vgl. Prırno nom. mutät. 1063, D, der offenbar den Stoikern fol- 
gend sagt: ἕξεις γὰρ τῶν nat’ αὐτὰς ποιῶν ἀμείνους, ὡς μουσιχὴ μουσιχοῦ U. 5. W.), 
andererseits das Ding und seine οὐσία; Stop. Ekl. 1, 436: μὴ εἶναί τε ταὐτὸν 
τό τε ποιὸν ἰδίως χαὶ τὴν οὐσίαν ἐξ ἧς ἔστι τοῦτο, μὴ μέντοι γε μηδ᾽ ἕτερον, ἀλλὰ 
μόνον οὐ ταὐτὸν, διὰ τὸ χοὶ μέρος εἶναι τῆς οὐσίας χαὶ τὸν αὐτὸν ἐπέχειν τόπον, τὰ δ᾽ 
ἕτερα τινῶν λεγόμενα δεῖν καὶ τόπῳ χεχωρίσθαι χαὶ μηδ᾽ ἐν μέρει: θεωρεῖσθαι. (Vgl. 
Sexr. Pyrrh. III, 170. Math. IX, 336: οἱ δὲ Στωϊχοὶ οὔτε ἕτερον τοῦ ὅλου τὸ μέρος 
οὔτε τὸ αὐτό φασιν ὑπάρχειν, und Sexeca ep. 313, 4 f.) Mnesarchus (ein Mit- 
schüler des Posidonius) vergleicht desshalb a. a. ©. das Verhältniss des Ein- 
zelwesens zu seiner οὐσία mit dem des Bildwerks zu dem Stoff, aus dem es 
gebildet ist. Da der ἰδίως ποιὸς ein Ding von allen anderen unterscheidet, ver- 
steht sich von selbst, was Chrysippus bei PmırLo incorrupt. m, 951, B um- 
ständlich und schwerfällig beweist, ὅτι δύο εἰδοποιοὺς [1. ἰδίως ποιοὺς] ἐπὶ τῆς 
αὐτῆς οὐσίας ἀμήχανον συστῆναι. 

3) Α. ἃ. Ὁ. 5. 222. : 

4) Wie diess auch aus der Anm. 2 angeführten Vergleichung erhellt, 


Kategorieenlehre. 89 


Prineip in den Dingen beschrieben 1); während aber das εἶδος 
der immaterielle Bestandtheil der Dinge ist, so werden die Eigen- 
schaften von den Stoikern für etwas Körperliches, für Luftströ- 
mungen, gehalten ?); das Sein der Eigenschaft im Substrat wird 
daher unter den Begriff der stoflichen Mischung gestellt), und 
das Gleiche wird natürlich von dem Zusammensein mehrerer 
Eigenschaften in Einem Substrat) und dem Sein der einzelnen 
Merkmale in den aus ihnen zusammengesetzten Eigenschafts- 
begriffen 5) gelten müssen: alle diese Verhältnisse haben wir uns 


welche ganz an die Bd. II, b, 241 beigebrachten aristotelischen Bestimmungen 
erinnert. ΄ 

1) Prur. St. rep. 48, 4. 8. 1054: τὴν ὕλην ἀργὸν ἐξ ἑαυτῆς χαὶ ἀχίνητον bro- 
χεῖσθαι ταῖς ποίδτησιν ἀποφαίνουσι, τὰς δὲ ποιότητας πνεύματα οὔσας καὶ τόνους ἀερώ- 
δεις οἷς ἂν ἐγγένωνται μέρεσι τῆς ὕλης εἰδοποιέῖν ἕκαστα χαὶ σχηματίζειν. Esschliesst 
sich insofern, wie auch ὅιμρι. 57, ε ff. bemerkt, an die stoische Lehre an, 
wenn Plotin (Enn. VI, 1, 10. 574, B) die ποιότης auf den Gattungsbegriff der 
δύναμις zurückführt. Doch beziehen sich die von Sımrı. 58, « angeführten 
stoischen Definitionen der δύναμις (A πλειόνων ἐποιστιχὴ συμπτωμάτων, auch mit 
dem Zusatz: χαὶ χαταχρατοῦσα τῶν ἐνεργειῶν) nicht unmittelbar auf die ποιότης. 
Auch mit dem λόγος σπερματιχὸς (8. u.) lässt sich die ποιότης zusammenstellen; 
vgl. Pror. VI, 1, 29. 593, A: εἰ δὲ τὰ ποιὰ ὕλην ποιὰν λέγοιεν, πρῶτον μὲν ol λόγο’ 
αὐτσὶς ἔνυλοι ἀλλ᾽ οὐχ ἐν ὕλῃ γενόμενοι σύνθετόν τι ποιήσουσιν... οὐκ ἄρα αὐτοὶ 
εἴδη οὐδὲ λόγοι. ‘Dioc. VII, 148: ἔστι δὲ φύσις ἕξις [= ποιότης 5. ο.] ἐξ αὑτῆς κινου- 
μένη, κατὰ σπερματιχοὺς λόγους ἀποτελοῦσά τε χαὶ συνέχουσα τὰ ἐξ αὐτῆς α. 8. w. 

2) Prur. a. a. Ὁ. ebd. $ 2: (Χρύσιππος) ἐν τοῖς περὶ ἕξεων οὐδὲν ἄλλο τὰς 
ἕξεις πλὴν ἀέρας εἶναί φησιν ὑπὸ τούτων γὰρ συνέχεται τὰ σώματα, «αὶ τοῦ ποιὸν 
ἕχαστον εἶναι αἴτιος ὃ συνέχων ἀήρ ἐστιν, ὃν σχληρότητα μὲν ἐν σιδήρῳ, πυχνότητα 

δ᾽ ἐν λίθῳ, λευχότητα δ᾽ ἐν ἀργύρῳ χαλοῦσιν. Sımrr. 69, y: ἣ τῶν Στωϊκῶν δόξα 
λεγόντων, σώματα εἶναι τὰ σχήματα ὥσπερ τὰ ἄλλα ποιά. Vgl. ebd. θ7, ε. Ders. 
56,8: πῶς δὲ χαὶ πνευματικὴ ἣ οὐσία ἔστα: τῶν σωματιχῶν ποιοτήτων αὐτοῦ τοῦ 
πνεύματος συνθέτου ὄντος ἃ. 5. w. Weiteres im nächsten Kap. 

8) Auex. Arar. De an. 148, b, m: πῶς δὲ σωζόντων ἐστὶ τὴν περὶ χράσεως 
χοινὴν πρόληψιν τὸ λέγειν χαὶ τὴν ἕξιν τοῖς ἔχουσιν αὐτὴν μεμίχθαι καὶ τὴν φύσιν τοῖς 
φυτοῖς χαὶ τὸ φῶς τῷ ἀέρι χαὶ τὴν ψυχὴν τῷ σώματι; vgl. ebd. 144, a,m, wo den 
Stoikern vorgerückt wird: μεμίχθαι τῇ ὕλῃ λέγειν τὸν θεόν. 

4) Pur. ὁ. not. 86,8: λέγουδιν οὗτοι χαὶ πλάττουσιν ἐπὶ μιᾶς οὐσίας δύο 
ἰδίως γενέσθαι ποιούς (4. h. diess ergiebt sich aus ihrer Annahme, in thesis da- 
gegen hatte es Chrysipp ausdrücklich geläugnet — s. $. 88, 2), καὶ τὴν αὐτὴν 
οὐσίαν ἕνα ποιὸν ἰδίως ἔχουσαν ἐπιόντος ἑτέρου δέχεσθαι καὶ διαφυλάττειν ὁμοίως ἀμ- 
φοτέρους. 

5) Sımer. 70, εἰ χαὶ οἱ Στωΐϊκοὶ δὲ ποιότητας ποιοτήτων ποιοῦσιν ἑαυτῶν []. 
ἐχτῶν] ποιοῦντες ἑχτὰς ἕξεις []. ἑχτὰ χαὶ ἕξεις oder ἕξεις allein]. Die im Text an- 


» 


99 Stoiker. 


hier materialistisch, durch die Lehre von der gegenseitigen Durch- 
dringung der Körper (5. unten) zu erklären). Auf alle Arten 
von Eigenschaften liess sich aber freilich diese Erklärung nicht 
anwenden. Da die Stoiker alles Unkörperliche doch nicht voll- 
ständig beseitigen konnten ?), so mussten sie auch Eigenschaften 
des Unkörperlichen zugeben, die dann natürlich gleichfalls un- 
körperlich sein mussten?); wie man sich aber diese näher zü 
denken habe, wenn doch nur dem Körperlichen Wirklichkeit zu- 
kommen soll, liess sich begreiflicherweise nicht angeben %). — Unter 


5 


gedeutete Erklärung dieser Worte ergiebt sich aus dem Zusammenhang, in 
dem sie bei Simpl. stehen. Ein Eigenschaftsbegriff ist aus mehreren Merk- 
malen, eine Eigenschaft mithin aus mebreren Eigenschaften zusammengesetzt; 
wenn z. B. das Asuzov das χρῶμα δ, so ist das διαχριτιχὸν ὄψεως die ἕξις des 
λευχόν. , 

1) Wie sich diess, auch abgeschen von der eben angeführten Aussage 
Alexander's, aus den Sätzen über die Körperlichkeit der Eigenschaften und 
die Mischung der Stoffe ergiebi; denn wenn diejenige Mischung von Stoffen, 


rnit, re 


bei welcher jeder derselben seine Eigenthümlichkeit behält (die μῖξις und 


χρᾶσις im Unterschied von der παράθεσις und σύγχυσις), in der vollständigen 
Durchdringung eines Körpers durch den andern, ohne Uebergang in einen 
dritten, besteht (Sroz. Ekl. 1, 5376. Auzx. De mixt. 142, a,m. Pıvr. ce. not. 


37, 2 — das Nähere später), wenn ferner die Eigenschaften etwas Stofliches 
sind, und wenn in den oben angegebenen Fällen ihrer Verbindung jede Eigen- 


schaft ihre Eigenthümlichkeit bewahrt, während doch jede sowohl dem Sub- 


strat als den unter ihr befassten Eigenschaften ganz zukommt, so hegt am 
Tage, dass sich dieses Verhältniss nur durch die Annahme einer gegenseitigen 


-Durchdringung der Eigenschaften mit dem Substrat und mit einander erklä- 
ren lässt. 

2) Auch hiefür wird der genauere Nachweis später gegeben werden; 
vorläufig vgl. m., was $. 78, 1. 79, 1 über das λεχτὸν bemerkt ist. 


N 


3) Sımrr. 56, ὃ und ebenso schon 54, ἢ: οἱ δὲ Στωϊχοὶ τῶν μὲν σωμάτων 


x -»Ἥ . τ ΠΣ) x ΄ - 4 
σωματικὰς, τῶν DE ἀσωμάτων ἀσωμάτους εἶναι λέγουσι τὰς ποιότητας. Nur die 


σωματιχαὶ ποιότητες sollen πνεύματα sein; 5.0. 89,2. Die unkörperlichen Eigen- 
schaften nannten sie, im Unterschied von den ἕξεις, &xrz; Dexır. in Categ. 
S. 61, 17 Speng.: θαυμάζω δὲ τῶν Στωϊχῶν χωριζόντων τὰς ἕξεις ἀπὸ τῶν ἑχτῶν᾽ 
ἀσώματα γὰρ μὴ παραδεχόμενοι nal’ ἑαυτὰ, ὅταν ἐρεσγελεῖν δέον fi, ἐπὶ τὰς τοιαύτας 


διαλήψεις ἔογονται. Doch scheint dieser Sprachgebrauch, nach Sıypı. Categ. 


54, y f., unter den Stoikern, bei denen über die Ausdehnung des Begrifls des 


&ztov verschiedene Ansichten herrschten, nicht allgemein gewesen zu sein; 


nach dieser Stelle war es Antipater, welcher die χοινὰ συμπτώματα σωμάτων 
καὶ ἀσωμάτων unter die &xr& mitbefasst wissen wollte. 
4) Vgl. Sımer. 57, &, welcher nach der 5, 87, 2 angeführten Definition der 


Kategorieenlehre. 9 


die zwei übrigen Kategorieen fällt alles dasjenige, was sich als ein 
Unwesentliches oder blos Zufälliges vom Begriff eines Dinges tren- 
nen lässt; sofern dieses dem Dinge für sich zukommt, gehört es 
zum πὼς ἔχον, sofern es en nur im Verhältniss zu einem 
Andern zukommt, zum πούς τί {πὼς ἔχον. Das πὼς ἔχον umfasst da- 
her alle zufälligen Beschaffenheiten, welche von einem Subjekt 
ohne Bezugnahme auf ein Anderes ausgesagt werden können ?): 
die Grösse, die Farbe, der Ort, die Zeit, das Thun, das Leiden, 
das Haben, die Bewegung, der Zustand, also mit Ausnahme der 
Substanz fast die sämmtlichen aristotelischen Kategorieen, sobald 
sie einem Ding nicht blos in Beziehung auf ein anderes zukom- 
men, gehören zum πὼς ἔχον ?), wogegen die blos relativen zufäl- 
ligen Beschaffenheiten und Zustände (wie rechts und links, ‚Vater- 
schaft und Sohnschaft) unter den Begriff des πρός τί πὼς ἔχον ver- 
wiesen werden; von dem Letzteren ist das einfache πρός τὶ zu unter- 
scheiden, welches als keine besondere Kategorie aufgeführt wird, 
da es nicht hlos zufällige, sondern auch wesentliche Eigenschaften 


Qualität fortfährt: ἐν δὲ τούτοις, εἰ μὴ οἷόν τε χατὰ τὸν ἐχείνων λόγον χοινὸν εἶνα! 
ee tg Μη των τε χαὶ ἀσωμάτων, οὐχέτι- ἔσται 1a ς ἣ ποιότης, ἀλλ᾽ ἑτέρως μὲν 
- 


ἐπὶ τῶν σωμάτων ἑτέρως δὲ ἐπὶ τῶν ἀσωμάτ ὧν αὕτη ὑφέστηχε. 


£ ὲ 
1) Sımer. 44, ὃ: ὃ δὲ τὴν στάσιν χαὶ τὴν χάθισιν μὴ προςποιούμενος (hinzu- 
rechnend, sc. τοῖς οὖσιν) ἔοιχε Στωϊκῇ τινι συνηθείᾳ συνέπεσθα: οὐδὲν ἄλλο ἢ τὸ 
ümozellizvov elvaı νομίζων, τὰς δὲ περὶ αὐτὸ διαφορὰς ἀνυποστάτους ἡγούμενος χαὶ 
πὼς ἔχοντα αὐτὰ ἀποχαλῶν ὡς ἐν τοῖς ὑποχειμένοις ἔχοντα αὐτὸ τοῦτο τὸ πὼς ἔχειν. 
2) Dexirr. in Categ. 41, 2 Speng.: el δέ τις εἰς τὸ πὼς ἔχον συντάττοι τὰς 
πλείστας κατηγορίας, ὥσπερ οἱ Erwizo: ποιοῦσιν. Pror. VI, 1, 80. 594, A: πῶς δὲ 
ἕν τὸ πὼς ἔχον, πολλῆς διαφορᾶς ἐν αὐτοῖς οὔσης: ea γὰρ τὸ τρίπηχυ καὶ τὸ λευχὸν 
εἰς ἕν [γένος 5.1]. θετέον], τοῦ μὲν ποσοῦ τοῦ δὲ ποιοῦ ὄντος: πῶς δὲ τὸ ποτὲ χαὶ 
τὸ ποῦ; πῶς δὲ ὅλως πὼς ἔχοντα τὸ χθὲς χαὶ τὸ πέρυσι χαὶ τὸ ἐν Λυχείῳ χαὶ ἐν 
᾿Αχαδηγία ; na ὅλως πῶς ὃὲ ὃ χρόνος πὼς ἔχον: ... τὸ ὃὲ ποιξῖν πῶς πὼς ἔχον... 
χαὶ ὃ Ben οὗ πὼς ἔχων... ἴσως δ᾽ ἂν μόνον ἁρμόσει ἐπὶ τοῦ χεῖσθα: τὸ πὼς ἔχον 
χοὶ ἐπὶ τοῦ ἔχειν - ἐπὶ δὲ τοῦ ἔχειν οὐ πὼς ἔχον ἀλλὰ ἔχον. ὅϑιμνι.. Categ. 94, €: 
die Stoiker rechneten das ἔχειν zum πὼς ἔχον. Wenn Sımer. 10, δ sagt, sie 
haben unter ihren Kategorieen das ποσὸν, den Ort und die Zeit übergangen, 
50 heisst das zur, sie haben diese Begriffe nicht als eigene Kategoriren anfge- 
führt; wo sie dieselben unterbrachten, sagt Sıyeı. selbst a. a. O. εἰ yas τὸ πὼς 
ἔχον νομίζουσιν αὐτοῖς τὰ τοιαῦτα περιλαμβάνειν u. 5. w. Mit Recht bemerkt übri- 
gens TrExDELEnBURG S. 229, da, wo im ποσὸν der artbildende Unterschied 
liege, wie bei mathematischen Begriffen, müsste dasselbe unter das ποῖον 


fallen. 


923 Stoiker. 


(ποιὰ) unter sich begreift, welche ein bestimmtes Verhalten zu 
Anderem in sich schliessen, wie das Wissen oder die Wahr- 
nehmung ᾽). υ 

Zu einander verhalten sich diese vier Kategorieen so, dass 
jede vorangehende in der folgenden enthalten ist und durch diese 
näher bestimmt wird 2).. Die Substanz kommt in der Wirklich- 
keit nie ohne ihre Eigenschaften, sondern immer nur als qualitativ 


, > 


1) Sort. 42, ©: οἱ δὲ Στωϊχοὶ ἀνθ᾽ ἑνὸς γένους δύο κατὰ τὸν τόπον τοῦτον 
ἀριθμοῦνται, τὰ μὲν ἐν τοῖς πρός τι τιθέντες, τὰ δ᾽ ἐν τόϊς πρός τί πως ἔχουσι, χαὶ τὰ 
μὲν πρός τι ἀντιδιαιροῦντες τοῖς zah’ αὑτὰ, τὰ δὲ πρός τί πως ἔχοντα τοῖς κατὰ δια- 
φοράν (vgl. ebd. 44, B: οἱ Στ. νομίζουσ: πάσης τῆς χατὰ διαφορὰν ἰδιότητος ἀπηλ- 
λάχθαι τὰ πρός τί πως ἔχοντα). Zu jenem gehöre Süss und Bitter u. dgl., zu 
diesem δεξιὸς, πατὴρ und Aehnliches. κατὰ διαφορὰν δέ φασ! τὰ χατά τι εἶδος χαραχ- 

᾽ 1 Pop : 
τηριζόμενα. Jedes χαθ᾽ αὑτὸ sei auch χατὰ διαφορὰν (qualitativ bestimmt), ande- 
Perseits jedes πρός τί πως ἔχον auch πρός τι, aber nicht umgekehrt (vgl. 43, $). 
ES - - x ΄ ᾿ ων 
εἰ δὲ δεῖ σαφέστερον μεταλαβέϊν τὰ λεγόμενα, πρός τ' μὲν λέγουσιν ὅσα zur’ οἰχείον 
χαραχτῆρα διαχείμενά πως ἀπονεύει πρὸς ἕτερον (oder wie die Definition bei Sexr. 
Matth. VIII, 454 lautet: πρός τι ἐστὶ τὸ πρὸς ἑτέρῳ νοούμενον). πρός τι δέ πω. 
’ b b ρ x ? 
ἔχοντα ὅσα πέφυχε συμβαίνειν τινὶ χαὶ μὴ συμβαίνειν ἄνευ τῆς περὶ αὐτὰ μεταβολῆς 
"» Β [2 x = s 3 x > }, u 4 ν 4 r 
χαὶ ἀλλοιώσεως μετὰ τοῦ πρὸς τὸ ἐχτὸς ἀποβλέπειν, ὥστε ὅταν μὲν χατὰ διαφοράν τι 
διακείμενον πρὸς ἕτερον νεύσῃ, πρός τι μόνον τοῦτο ἔσται, ὡς ἣ ἕξις χαὶ ἣ ἐπιστήμη, χαὶ 
ἢ αἴσθησις" ὅταν ὃ 
= ΄ ͵ ν » r x er Sr x ᾿ - 
σχέσιν θεωρῆται, πρός τί πως ἔχοντα ἔσται" ὃ γὰρ υἱὸς χαὶ ὃ δεξιὸς ἔξωθέν τινων Ζρος- 
δέονται, πρός τὴν ὑπόστασιν - διὸ καὶ μηδεμιᾶς γινομένης περὶ αὐτὰ μεταβολῆς γένοιτ᾽ 
ἂν οὐχέτι πατὴρ, τοῦ υἱοῦ ἀποθανόντος, 6 δὲ δεξιὸς τοῦ παραχειμένου μεταστάντος" 
τὸ δὲ γλυχὺ χαὶ πιχρὸν οὐχ ἂν ἀλλοῖα γένοιτο εἰ μὴ συμμεταβάλλο: καὶ ἢ πέδι αὐτὰ 


r 
e 
ῃ 
x 
εξ 


μὴ κατὰ τὴν ἐνοῦσαν διαφορὰν χατὰ Ψιλὴν δὲ τὴν πρὸς ἕτερον 


, δύναμις. Das πρός τι in diesem Sinn gehört daher zum ποιὸν, es ist, wie Sımrr. 
43, α sagt, aus dem ποιὸν und dem πρός τι zusammengesetzt, das πρός τί zug 
ἔχον dagegen drückt, mit Hersarr zu reden, nur eine „zufällige Ansicht‘ aus. 
Was Ρβάχτι, I, 437, 108 aus Sımrr. 44, ß anführt, haben wir kein Recht, ge- 
rade auf Stoiker zu beziehen. 

2) TREnDELENBURG 8. 220: „die angegebenen Geschlechter sind derge- 
stalt einander untergeordnet, dass das Vorangehende im Folgenden bleibt, 
aber eine neue Bestimmung hinzutritt. Die zweite Kategorie würde vollstän- 
dig ausgedrückt heissen: ὑποχείμενα ποιά, die dritte ὑποχείμενα ποιά πὼς ἔχοντα, 
die vierte ὑποχείμενα ποιά πρός τι πὼς ἔχοντα.“ TRENDELENBUNG verweist hiebei 
auf Sıner. f. 43, α: ἕπεται δὲ αὐτοῖς χἀχεῖνο ἄτοπον τὸ σύνθετα ποιέῖν τὰ γένη Ex 
προτέρων τινῶν χαὶ δευτέρων ὡς τὸ πρός τι ἐχ ποιοῦ χαὶ τοῦ πρός τι. Pur. 6. not. 
44, 6: τέτταρά γε ποιοῦσιν ὑποχείμενα περὶ ἔχαστον, μᾶλλον δὲ τέτταρα ἕχαστον 
ἡμῶν. Pror. VI, 1, 29. 593, A: ἄτοπος ἣ διαίρεσις... ἐν θατέρῳ τῶν εἰδῶν τὸ 
ἕτερον τιθεῖσα, ὥσπερ ἂν [εἴ] τις διαιρῶν τὴν ἐπιστήμην τὴν- μὲν γραμματιχὴν λέγοι, 
τὴν δὲ γραμματιχὴν nat ἄλλο τι. Sollen die ποιὰ eine ὕλη ποιὰ sein, so seien sie 
aus der ὕλη und dem εἶδος oder λόγος zusammengesetzt. Vgl. 5, 39, 2. 


Kategorieenlehre. Urtheil. 93 


bestimmte, andererseits die Eigenschaft nur an der Substanz vor !); 
das πὼς ἔχον setzt die Substanz als diese bestimmte, das πρός τί 
πὼς ἔχον setzt ein πὼς ἔχον voraus ?). Wir werden später noch 
finden, wie enge diese Bestimmung und die stoische Kategorieen- 
lehre überhaupt mit der metaphysischen Eigenthümlichkeit des 
Systems zusammenhängt. 

Wenden wir uns von den unvollständigen Aussagen zu den 
vollständigen, und zunächst zu den Sätzen ?), so gaben die 
Stoiker, nach ihrer Weise, vor Allem eine möglichst vollständige 
Aufzählung der verschiedenen Arten von Sätzen, die sich aus ihrer 
syntaktischen Form ableiten lassen *). Genaueres wird uns aber 
nur über ihre Lehre vom Urtheil (ἀξίωμαν mitgetheilt, welche 
jedenfalls den wichtigsten und ausgeführtesten Theil dieser Unter- 
suchungen bildete. Ein Urtheil ist eine vollständige Aussage, die 
entweder wahr oder falsch ist). Die Urtheile theilen sich in 


1) S. ο. 87, 2. 

2) Vgl. 8. 91,1. Proriıx VI, 1,30: Warum werden die πὼς ἔχοντα als 
Drittes gezählt, da doch περὶ τὴν ὕλην πὼς ἔχοντα πάντα Die Stoiker unter- 
scheiden vielleicht, und sagen, die ποιὰ seien πεοὶ τὴν ὕλην πὼς ἔχοντα, die 
πὼς ἔχοντα im eigentlichen Sinn dagegen περὶ τὰ ποιά. Allein da die ποιὰ selbst 
nichts anderes sind, als eine ὕλη πὼς ἔχουσα, kommt schliesslich Alles immer 
wieder auf die ὕλη zurück. ' 

3) Ῥβάντι, Gesch. d. Log. I, 440—467. 

4) Bei Dıoc. 66 f. Sexr. Math. VIII, 70 ff. Anmox. De interpr. 4, a (Schol. 
in Arist. 93, a, 22 ff. Ὁ, 20 ff.). Sımer. Categ. 103, «. Bokrn. De interpr. 315 
(324). Cramer Anecd. Oxon. III, 267 vgl. I, 104 werden unterschieden: das 
ἀξίωμα (8. u.), ἐρώτημα (die vollständige, mit Ja oder Nein zu beantwortende 
Frage), πύσμα (unvollständige Frage), προςταχτιχὸν, δρχιχὸν, ἀρατιχὸν (Wunsch), 
εὐχτιχὸν (Gebet), ὑποθετιχὸν (wie ὑποχείσθω τὴν γῆν χέντρου λόγον ἔχειν πρὸς τὸν 
οὐρανὸν), ἐχθετιχὸν (wie ἐχχείσθω εὐθεῖα γραμμὴ), προςαγορευτιχὸν (Anrede), θαυ- 
μαστιχὸν, ψεχτιχὸν, ἐπαπορητιχὸν, ἀφηγηματιχὸν (erklärend), ὅμοιον ἀξιώματι 
(ein ἀξίωμα, welches aber noch einen Zusatz hat, wie der Verwunderungs- 
satz: ὡς Προιαμίδησιν ἐμφερὴς ὁ βουχόλος! bei SEXT. πλεῖον ἢ ἀξίωμα). Ammon. b# 
Waıtz Arist. Org. I, 43, unt. spricht von zehn Formen der Rede bei den 
Stoikern, von denen er aber nur den προςταχτιχὸς und ἐβχτιχὸς (so das Mscpt.; 
Waitz vermuthet: ἐφεχτιχὺς, es ist aber wohl εὐχτιχὸς zu lesen) nennt. Ab- 
bandlungen Chrysipp’s über die befehlenden und fragenden Sätze nennt Dıoe. 
191; auf das Verhältniss des Schwurs zum ἀξίωμα bezieht sich, was Sımrı.. 
a. a. O. mittheilt, und die chrysippische Unterscheidung des ἀληθορχέϊν und 
εὐορχεῖν, ψευδορχεῖν und ἐπιορχεῖν b. Sror. Floril. 28, 15. 

5) Dios. 65: ἀξίωμα δέ ἐστιν 6 darıy ἀληθὲς ἢ ψεῦδος, Fragen dagegen 


und andere äbnliche Sätze sind richt wahr od‘r falsch; ebd. 66. 68. Diese 


9ω Stoiker. 


einfache und zusammengesetzte 1); unter jenen verstehen die Stoi- 
ker die rein kategorischen ?), unter dieser Bezeichnung fassen sie 
das lıypothetische, begründende, copulative, disjunktive, causale 
und vergleichende Urtheil zusammen Ὁ). Bei den einfachen Ur- 
theilen sodann setzen sie an die Stelle des Quantitätsunterschiedes 


den der grösseren oder geringeren Bestimmtheit der Aussage ?), 


Definition des Urtheils wird oft erwähnt; s. 0. 70, 2. Sımrr. Categ. 103, «. 
Cıc. Tusc. I, 7, 14. De fato 10, 20. Grrrı. N. A. XVI, 8, 8.. Schol. in Arist. 
93, b, 35. Das Gleiche besagt der Ausdruck λόγος ἀποφαντιχὸς, λεχτὸν ἀποφαν- 
τὸν Ὁ. Dıos. 65 (5. o. 70, 2). Ger. XVI, 8, 4. Auwon. De interpr. 4, a. Schol. 
in Ar. 93, b, 20. Vgl. Bd. II, b, 156. 


1) Sexr. Math. VIII, 93: τῶν γὰρ ἀξιωμάτων πρώτην σχεδὸν χαὶ χυριωτάτην 


τὰ 


χφέρουσ! διχφορὰν οἱ διαλεχτιχοὶ χαθ᾽ ἣν τὰ μὲν ἐστιν αὐτῶν ἁπλᾷ τὰ δ᾽ οὐχ ἁπλᾶ. 
Ebd. 95. 108, Dioc. 68 die Definitionen beider. 

2) Sexr. a. a. O., nach dem auch Dıoc. a. a. Ὁ. zu verbessern ist; über 
die Lesart vgl. 8. 96, 3. 

3) Πιοο. 69: ἐν δὲ τοῖς οὐχ Arkols τὸ συνημμένον Aal τὸ παρασυνημμένον χαὶ τὸ 
συμπεπλεγμένον χαὶ τὺ αἰτιῶδες καὶ τὸ διεζευγμένον χαὶ τὸ διασαφοῦν τὸ μᾶλλον καὶ τὸ 
διασαφοῦν τὸ ἧττον. Weiteres über das συνημμένον und διεζευγμένον sogleich; über 
das παρασυνημμένον (ein Bedingungssatz, dessen Vordersatz durch ἐπειδὴ einge- 
führt wird) s.m. Dıos. 71.74; über das συμπεπλεγμένον (dessen Merkmal die Ver- 
knüpfung durch zat oder zat ... χαὶ ist) Ὁ. 72. Sext. Math. VII, 124 ἢ. 
Gem.. N. A. XVI, 8,9. Ps. Gauex Elsay. διαλ. 5. 13. Dexırr. in Categ. 27, 3 
Speng. (Schol. in Ar. 44, a, 9 — Prantt S, 446 erklärt diese Stelle nicht ganz 
richtig: sie besagt blos, dass die Stoiker nur das copulative,Urtheil συμπλοχὴ 
genannt wissen wollten); über das αἰτιῶδες (τὸ συντασσόμενον. διὰ τοῦ, διότι" — 
also der Sache fach mit dem παρασυνημμένον identisch) D. 72. 74; über das 
διασαφοῦν τ. u. und das διασαφοῦν τὸ ἧττον D.72f. Vgl. auch Cramer Anecd. 
Oxon. 1, 188 f. Arornox. Synt. (BEexker's Anecd. II) 481 fi. Diess sind aber 
nur die Hauptformen der zusammengesetzten Urtheile; an sich war ihre Zahl, 
sobald man auf verwickeltere Zasammensetzungen eingieng, unbestimmbar: 
Chrysippus hatte berechnet, dass sich 10 Sätze in mehr als 1 Million ver- 
schiedener Verbindungen bringen lassen, der berühmte Mathematiker Hip- 

“parchus wies ihm jedoch nach, dass sich παν 103049 bejahende und 310952 
verneinende ergeben; Purr. Sto. rep. 29, 5. 8. 1047. Qu. symp. VIII, 9, 3, 11. 
S. 732. 

4) Von einer Eintheilung der Urtheile in allgemeine und besondere ist 
niehts überliefert; dagegen nnterschieden sie nach Sexr. Math. VIIL, 9 1. 
(unvollständiger Dıios. 70) ὡρισμένα, wie οὗτος χάθηται, ἀόριστα, wie τὶς χά- 
θηται, nnd μέσα, ννῖδ, ἄνθρωπος χάθηται, Σωχράτης περιπατεῖ, Die ὡρισμένα 
nannten sie (1), 70), sofern das Subjekt derselben im Nominativ steht, xara- 
γορευτιχὰ, die andern, unter derselben Voraussetzung, χατηγοριχά: ein χατα- 


γορευτιχὸν ist οὗτος περιπατεῖ, ein χατηγοριχὺν, Δίων περιπατεῖ. 


Das Urtheil. 95 


während sie zugleich, die Qualität der Urtheile betreffend, den be- 
jahenden und verneinenden '), um der verschiedenen grammati- 
schen Form willen, nicht allein-Jäugnende und privative, sondern 
auch überverneinende beifügen ?). Die bejahenden und vernei- 
nenden Urtheile stehen in contradietorischem, alle andern in con- 
trärem Gegensatz ?). Von zwei Sätzen, die in contradietorischem 
Gegensatz stehen, muss, nach der alten Regel *), der eine wahr, 


1) Das bejahende heisst zutagatızov, das verneinende ἀποφατιχὸν (CHRvsIPr. 
in dem sogleich anzuführenden Bruchstück; Sınrr. Cat. 102, δ. ζ), was Arcı.. 
Dogm. Plat. III, S. 266 Oud. mit dedicativa und abdicativa übersetzt. Ueber 
die Art, wie sie die verneinenden Sätze ausdrückten, s. m. Bo&rn. De Rue 
373, Schol. in Arist. 120, a, u. 

2) D. 69 f. Beispiel des ἀρνητιχόν: οὐδεὶς περιπατεῖ: des στερητιχὸν (Welches 
τ οἴη" mit dem α privativum zusammengesetztes Prädikat hat): ἀφιλάνθρωπός 
ἐστιν οὗτος, des ὑπεραποφατιχὸν (Sätze mit doppelter Negation, die also eigent- 
lich bejahende sind): οὐχὶ ἡμέρα οὐχ ἐστί. 

8) Sext. Math. VIII, 89. Ὁ. 73: ἀντιχείμενα seien ὧν τὸ ἕτερον τοῦ ἑτέρου 
ἐστὶν ἀποφατιχὸν (oder auch, nach der äusserlichen Behandlung dieser Bestim- 
mungen: ὧν τὸ &. τοῦ Er. ἀποφάσει πλεονάζει), wie: „es ist Tag“, „es ist nicht 
Tag“. Aristoteles hatte diesen Gegensatz ἀντίφασις, den conträren ἐναντιότης 
genannt, beide aber unter dem Gattungsbegriff &vrızeiusvov befasst (5. Bd.II, b, 
152 f. 157); die Stoiker wollten den Ausdruck ἀντιχείμενα nnr für den contra- 
dietorischen Gegensatz gelten lassen (Sıner. Cat. 102, 6 — ebd. 102,7 f. eine 
stoische Ausführung darüber, dass der Begriff des ἐναντίον auf verneinende 
Sätze und Begriffe nicht anwendbar sei), was aber nur eine Abweichung im 
Ausdruck ist. Das ἐναντίον nennen sie auch μαχόμενον (AroLrox. Synt. S. 484 
Bekk.). Den Gegensatz unter den Begriffen betreffend unterscheiden sie, im 
Uebrigen den aristotelischen Bestimmungen folgend, zwischen dem ἐναντίον 
und dem ἐναντίως ἔχον: ἐναντία sind solche Begriffe, die einen reinen und un- 
mittelbaren Gegensatz bilden, wie φρόνησις und ἀφρόνησις, ἐναντίως ἔχοντα 
solche, die erst vermittelst jener im Gegensatz stehen, wie φρόνιμος und 
ἄφρων (Sımer. Categ. 98, y fl.), das Eine wird also von den abstrakten, das 
Andere von d&ı konkreten Begriffen ausgesagt. — Dass jedem verneinenden 
Satz ein bejahender entgegenstehe, wird in dem Bruchstück, welches zuerst 
Lerroxsse (Fragments inedits u. s. w. Par. 1838) herausgegeben, Berk (De 
Chrysippi libr. π. &zogar. Cassel 1841. Gymn.progr.) emendirt, erläutert, und 
mit einem hohen Grad von Wahrscheinlichkeit Chrysipp’s Schrift περὶ ars- 
φατιχῶν zugewiesen hat, init ermüdender Weitschweifigkeit an einer Reihe von 
Dichterstellen, von denen jede viermal wörtlich wiederholt ist, nachgewiesen. 
In der Erklärung des Bruchstücks scheint mir bei einem Punkte, wo Berex 
nieht befriedigt, Praxrı. Gesch. ἃ. Log. I, 451 f. das Richtige getroffen zu 
haben. 

4) Bd. II, b, 157, 5. 175, 2. 


᾽ 


96 Stoiker. 


der andere falsch sein 1). Von den zusammengesetzten Urtheilen 
sind die wichtigsten die hypothetischen und die disjunktiven. In 
Betreff der letzteren ist uns jedoch so gut wie nichts überliefert 3). 
Ein hypothetisches Urtheil (συνημμένον) ist dasjenige, dessen zwei 
Glieder durch die Partikel „wenn“ verknüpft sind, und mithin im 
Verhältniss von Grund und Folge, Vordersatz (ἡγούμενον) und 
Nachsatz (λῆγον) stehen ?). In der Richtigkeit der Folgerung be- 
steht die Wahrheit des hypothetischen Urtheils; über die Bedin- 
gungen jedoch, auf denen die Richtigkeit einer Folgerung beruhe, 
waren in der stoischen Schule selbst die Meinungen getheilt ?). 


1) Sıner. Categ. 103, ß. Cıc. de fato 16, 37. N. De. I, 25, 70. Weiteres 
oben 70, 2. 93, 5. 

2) Dass lie Glieder des Disjunktivsatzes, und ebenso ihre contradictori- 
schen Gegensätze, in conträrem Gegensatz stehen,(adversa oder pugnantia ᾿ 
sein) müssen, und dass aus der Wahrheit des einen die Falschheit aller andern 
folge. Ein Disjunktivsatz, welcher die eine oder die andere dieser Bedingungen 
nicht erfüllt, ist falsch (παραδιεζευγμένον). GerL. N. A. XVI, 8, 12 fl. Sexr. 
Pyrrh. II, 191. Auex. Anal. pr. 7, b, m. 

3) Dıoc. 71. Sexr. Math. 109 fl. Garen De simpl. medicam. II, 16. 
Bd. XI, 499. Ps. Gauen Elkay. διαλ. S. 15. Dabei unterschieden die Stoiker 
überflüssiger Weise, aber ihrer sonstigen formalistischen Aeusserlichkeit ent- 
sprechend, den Fall, dass Vorder- und Nachsatz identisch (,,‚el ἡμέρα ἐστὶν, 
ἡμέρα Zar‘) und den, dass sie verschieden sind (,,e! ἡμέρα ἐστὶ, φῶς ἔστιν“). 
Bedingungssätze der ersteren Art heissen διφορούμενα συνημμένα: (SEXT. a. a. Ὁ. 
und VIII, 281. 294. 466. Pyrrh. II, 112. vgl. VIII, 95. Dıoc. 68. Dass in 
allen diesen Stellen nicht διαφορούμενον, sondern das dem Sinn allein ent- 
sprechende διφορούμενον zu lesen ist, erhellt nach Prantrs (S. 445, 122) rich- 
tiger Bemerkung aus dem, was Arex. Top. 7, ἃ, ἃ. Anal. pri. 7, Ὁ, u., über 
die διφορούμενοι συλλογισμοὶ sagt. 

4) Sexr. Matth. VIII, 112: χοινῶς μὲν γάρ φασιν ἅπαντες οἱ Διαλεχτιχοὶ ὑγιὲς 
εἶναι συνημμένον, ὅταν ἀχολουθῇ τῷ ἐν αὐτῷ ἡγουμένῳ τὸ ἐν αὐτῷ λῆγον. περὶ δὲ 
τοῦ πότε ἀχολουθεὶ χαὶ πῶς, στασιάζουσι πρὸς ἀλλήλους χαὶ μαχόμενα τῆς ἀχολουθίας 
ἐκτίθενται χριτήρια. Vgl. Cıc. Acad. II, 47, 143: in hoc ipso, quod in elementis 
dialectici docent, quomodo judicare oporteat, verum falsumne sit, si quid ita 
connerum est, ut how Si dies est, Tucet; quanta contentio est! aliter Diodoro, 
aliter Philoni, Chrysippo aliter place. (Das Weitere, über Chrysipp’s Ab- 
weichungen von Kleantlıes, bezieht sich nicht auf das hypothetische Urtheil.) 
Philo nämlich, bei dem wir aber, ebenso, wie bei Chrysipp’s Büchern gegen 
ihn (Dıos. VII, 191.194), lediglich an den bekannten Dialektiker, den Schüler 
Diodor’s (Bd. 11, a, 178, 1. 193, 2. 3, ebd. über Diodor), zu denken haben, 
hatte alle diejenigen Bedingungssätze für riehtig erklärt, in denen nicht aus 
einem wahren Vordersatz ein falscher Nachsatz gefolgert werde, so dass dem- 


Das Urtheil. 97 


Sofern der Vordersatz etwas aussagt, aus dessen Vorhandensein 
‘auf das im Nachsatz Ausgesagte geschlossen werden kann, wird 
er Anzeichen oder offenbarendes Zeichen genannt 7). 

Auch von der Modalität der Urtheile, welche schon Aristoteles 
und seine nächsten Schüler ‚so vielfach beschäftigte ?), hatte die 
stoische Logik ohne Zweifel ausführlich gehandelt; indessen sind 
uns aus dem Bereiche dieser Erörterungen nur die Bestimmungen 


nach Bedingungssätze, in denen beide Sätze wahr, oder beide falsch sind, oder 
der Vordersatz falsch, der Nachsatz wahr ist, richtig wären (Sexr. a. a. O. 
vgl. VIII, 245 £. 449. Pyrrh. II, 110); und nach Sexr. Pyrıh. II, 104 ff. muss 
diese Bestimmung (vielleicht durch Zeno, über dessen Verkehr mit Philo 
Dıos. VII, 16 zu vergleichen ist) auch in der stoischen Schule Eingang ge- 
funden haben, so klar auch ist, dass nur hätte gesagt werden dürfen, was in 
der Angabe des Dıoc. VII, 81 allein gemeint zu sein scheint: unter der ange- 
gebenen Bedingung können Bedingungssätze richtig sein, nicht: sie seien es. 
Mit mehr Recht beurtheilten Andere die Richtigkeit der Bedingungssätze nach 
der des Zusammenhangs zwischen Vorder- und Nachsatz, indem sie entweder 
sagten, richtig sei ein Bedingungssatz, mit dessen Vordersatz das contradicto- 
tische Gegentheil (ἀντιχείμενον) des Nachsatzes unvereinbar sei, oder: richtig 
sei ein solcher, dessen Nachsatz potentiell (δυνάμει) im Vordersatz enthalten 
sei (Sexr. Pyrrh. II, 111 £.). Die erste von diesen Bestimmungen, welche auch 
Dıoc. 73 allein als die stoische Schullehre aufführt, hatte Chrysippus aufge- 
stellt; und er wollte desshalb (nach Cıc. De fato 6, 12. 8, 15) nicht dulden, 
dass Sätze, bei denen diess nicht der Fall ist, hypothetisch ausgedrückt wer- 
den; man solle z. B. nicht sagen: si quis natus est oriente canicula, is in mari 
non morietur, sondern: non et natus est quis oriente canicula et is in mari mo- 
rietur. Mit der Untersuchung über die Richtigkeit der Bedingungssätze steht 
auch die Bemerkung im Zusammenhang, dass ein wahrer Bedingungssatz im 
Verfolge in einen unwahren umschlagen könne; der Satz z. B. „wenn Dion 
jetzt lebt, wird er auch ferner leben“, könne jetzt wahr sein, aber im letzten 
Moment seines Lebens höre er auf, wahr zu sein. Solche Sätze nannten die 
Stoiker ἀπεριγράφως μεταπίπτοντα, weil sich der Zeitpunkt, in dem sie in un- 
wahre umschlagen, nicht vorherbestimmen lässt (Sımrr.. Phys. 305, a, o. nach 
ALEXANDER). Ueber die μεταπίπτοντα hatte nach Dioxvs. comp. verb. S. 72 
Schäf. Chrysippus geschrieben; Dıoc. VII, 105 f. nennt zwei Bücher darüber, 
*die er aber als unächt bezeichnet. 

1) Nach Sexr. Pyrrh. II, 100. Math. VIII, 143. 156 unterschieden die 
Stoiker zwischen σημεῖα ὑπομνηστιχὰ und 9. ἐνδειχτιχά: die letzteren definirten 
sie als ἐνδειχτιχὸν ἀξίωμα ἐν ὑγιξί συνημμένῳ χαθηγούμενον (oder προχαθηγ.) ἐχχα- 
λυπτιχὸν τοῦ λήγοντος, wobei unter einem ὑγιὲς συνημμένον näher ein solches 
verstanden wird, in dem sowohl Vorder- als Nachsatz wahr sind. Sexr. 
Pyrrh. II, 101. 106. 115. Math. VIII, 249. 

2) S. Bd. II, b, 160 £. 649 Ὁ, 


Philos. d. Gr. III. B. 1. Abth. 7 


98 Stoiker. 


über das Mögliche und Nothwendige bekannt, welche hauptsäch- 
lich Chrysippus, im Streit gegen den Megariker Diodor, aufgestellt 
hat). Auch diese sind aber von keiner grossen Erheblichkeit, so 
viel Gewicht auch die Stoiker darauf legten, um mit ihrer Hülfe 
den Folgerungen zu entgehen, welche sich doch von einer anderen 
Seite her aus ihrem Determinismus unweigerlich ergaben 5). 

In ihrer Syllogistik 5), welcher sie einen besonderen Werth 


1) Diodor hatte behauptet, möglich sei nur, was entweder ist oder sein 
wird (s. Bd. II, a, 192). Die Stoiker, insbesondere Chrysippus, definirten das 
δυνατὸν als dasjenige, was wahr sein kann (τὸ ἐπιδεχτιχὸν τοῦ ἀληθὲς εἶναι), wenn 
die äusseren Umstände diess nicht verhindern, das ἀδύνατον als das, ὃ ur ἐστιν 
ἐπιδεχτιχὸν τοῦ ἀληθὲς εἶναι. Von dem Möglichen nnterschieden sie das οὐχ 
ävayxatov als das, ὃ χαὶ ἀληθές ἐστιν χοὶ ψεῦδος οἷόν τε εἶναι τῶν ἐχτὸς μηδὲν 
ἐναντιουμένων (Prur. Sto. rep. 46, 8. 1055. Dıoc. 75. Borru. De interpr. 374 
Bas. Das Gleiche besagt aber auch die Angabe bei Aurx. Arnr. De fato 
c. 10, S. 30: δυνατὸν εἶναι γενέσθαι τοῦτο ὃ ὑπ᾽ οὐδενὸς χωλύεται γενέσθαι. χἂν μὴ 
γένηται), wogegen das Nothwendige das ist, was wahr ist und entweder an 
sich selbst oder um der äusseren Umstände willen nicht falsch sein kann (Dıos. 
und ΒΟΕΤΗ. ἃ. ἃ. O.). Wahrscheinlich gab es aber auch eine andere Defini- 
tion des Nichtnothwendigen, nach welcher ein solches alles das ist, ὃ ψεῦδος 
οἷόν τε εἶναι τῶν ἐχτὸς μὴ ἐναντιουμένων: παν bei dieser Definition konnte we- 
nigstens gesagt werden (Bo£r#. 429), das Nichtnothwendige sei theils mög- 
lich theils unmöglich, was in diesem Falle der andern Bestimmung, dass das 
Mögliche theils nothwendig theils nicht nothwendig sei, nicht (wie Bo£rn. 
und Prantı S. 463 glauben) widerstreitet: die Begriffe des Möglichen und 
Niebtnothwendigen, so bestimmt, schneiden sich, jener enthält Nothwendiges 
und Niehtnothwendiges, dieser Mögliches und Unmögliches unter sich. Um 
nun seine Definition des Möglichen gegen den χυριεύων Diodor’s (8. ο. a. a. Ὁ.) 
zu schützen, läugnete Chrysippus den Satz: δυνατῷ ἀδύνατον μὴ ἀχολουθεῖν, 
ohne dass er doch, wie es scheint, die in diesem Satz liegende Vermischung 
der Zeitfolge und des Causalzusammenbhangs aufgedeckt hätte (Arex. Anal. 
pri. 57, b, u. folg., nach ihm Priror. Anal. pr. XLII, b. Schol. in Arist. 
163, a, unt. Cıc. De Fato 7, 13. Ep. ad Div. IX, 4; ebendarauf-geht ohne 
Zweifel Prur. ec. not. 2, 3), während Kleanthes, Antipater und Panthödes es 
vorzogen, einen andern von Diodor's Vordersätzen, den Satz, dass alles Ver- 
gangene nothwendig wahr sei, zu bestreiten (Erırrer. Dissert. II, 19, 2. 5). 
Die aristotelische Behauptung (Bd. II, b, 157, 5) jedoch, dass bei Disjunktiv- 
sätzen, die sich auf Künftiges beziehen, zwar die Disjunktion, aber keines 
der beiden Glieder für sich wahr sei, gaben die Stoiker nicht zu; Sıwer. 
Categ. 103, ß. 

2) Wie ihnen diess Prur. Sto. rep. 46. S. 1055 mit Recht vorhält, 

3) Bei Prantı. 8. 467— 496. 


nn 


Schlusslehre. 99 


beilegten, und auf welche sie sich besonders viel zu Gute thaten '), 
berücksichtigten die Stoiker hauptsächlich die hypothetischen und 
disjunktiven Schlüsse ?); nur über diese sind uns wenigstens stoi- 
sche Bestimmungen bekannt ?), und auch wo sie von den Schlüs- 
sen im Allgemeinen reden, entlehnen sie ihre Beispiele immer vom 
hypothetischen Schluss %); ja nach ALExAnper 5) wollten sie nur 
diese Schlüsse als regelrechte Syllogismen gelten lassen °), die 


1) Dıoe. 45. Sexr. Pyrrh. II, 194; vgl. oben S. 54. 

2) Dass diese beiden von den Peripatetikern unter dem Namen der hypo- 
thetischen zusammengefasst wurden, ist schon II, b, 651 bemerkt worden, 
ebenso fassen die Stoiker, z. B. in den fünf ἀναπόδειχτοι (s. u. 101, 3) beide 
zusammen. Vgl. Anm. 5. 

3) Doch scheinen die Kettenschlüsse (s. u. 102, 4) auch in der kategori- 
schen Form behandelt worden zu sein. 

4) Wie Prantt 468, 171 an Dioc. 76. Sexr. Pyrrh. II, 135 f. Arur. 
Dogm. Plat. III, 279 Oud. nachweist. Derselbe beruft sich mit Recht auch 
auf den Umstand, dass Chrysippus die Grundformen des Voraussetzungs- 
schlusses gleich am Anfang seiner Schlusslehre besprochen hatte; Sexr. 
Math. VIII, 223. 

5) Anal. pr. 87, b, m. (107, b): δι᾿ ὑποθέσεως δὲ ἄλλης, ὡς εἶπεν (Arıst. 
Anal. pr. I, 23. 41, a, 37), εἶεν ἂν χαὶ οὃς ol νεώτεροι συλλογισμοὺς μόνους βού- 
λονται λέγειν" οὗτοι δ᾽ εἰσὶν οἱ διὰ τροπιχοῦ, ὡς φασὶ, καὶ τῆς προςλήψεως γινό- 
μενοι, τοῦ τροπιχοῦ ἢ συνημμένου (Bedingungssatz) ὄντος ἢ διεζευγμένου (Dis- 
junktivsatz) ἢ συμπεπλεγμένου (Copulativsatz, wobei wir theils an hypothetische 
Sätze zu denken haben werden, wie das συμπεπλεγμένον b. Sext. Math. VII, 
235, theils an verneinende kategorische, welche die Bedeutung hypothetischer 
haben, wie: es ist nicht A und B zugleich, vgl. DıoG. 80. Sexr. Pyrrh. II, 158. 
Math. VII, 226. Cıc. De fato 6, 12). Dass nämlich diese νεώτεροι Stoiker 
sind, erhellt ausser der stoischen Terminologie auch aus dem Umstand, 
dass die Peripatetiker, an die man sonst allein denken könnte, stets den kate- 
gorischen Schluss für den ursprünglichen hielten. Vgl. Pranrı, 468, 172. 

6) Einen solchen Schluss nannten sie λόγος, wenn er mit bestimmten 
Bezeichnungen ausgedrückt ist („Wenn es Tag ist, ist es hell“ u. s. w.), sein 
allgemeines Schema (wofür sie nicht, wie die Peripatetiker, Buchstaken, son- 
dern Zahlen zu nehmen pflegten: εἰ τὸ πρῶτον, τὸ δεύτερον u. 8. w.) τρόπος, 
einen aus beiden Ausdrucksweisen zusammengesetzten Schluss (,εἰ ζῇ Πλάτων, 
ἀναπνεῖ Πλάτων: ἀλλὰ μὴν τὸ πρῶτον" To ἄρα δεύτερον) λογοτρόπος. Die Vorder- 
sätze heissen λήμματα (im Unterschied vom ἀξίωμα, welches den Satz abge- 
sehen von seiner Stellung im Schluss bezeichnet), im engeren Sinn der Ober- 
satz λῆμμα, der Untersatz πρόςληψις (daher die Partikel δέ γε προςληπτιχὸς 
σύνδεσμος Arorron. Synt. 8. 518 Bekk.), der Schlussatz ἐπιφορά (auch hier 
ἐπιφοριχοὶ σύνδεσμοι, ebd. 519); der hypothetische Obersatz als solcher, in 
seinen verschiedenen Arten, heisst tporıxow, der Vordersatz desselben, wie 


τ 


100 Stoiker. 


kategorischen dagegen rechneten sie zu denen, welche zwar der 
Sache nach richtig seien, denen aber die ordentliche syllogistische 
Form fehle '). Unter denselben werden nun zunächst bündige und 
nicht-bündige ?) unterschieden. Bei den ersteren fassen sodann 
die Stoiker theils die grössere oder geringere Genauigkeit des 
Ausdrucks 3), theils den Unterschied der formellen Richtigkeit und 
materiellen Wahrheit Ὁ) in’s Auge; sie bemerken ferner, dass auch 
die wahren Schlüsse nicht immer eine Erweiterung unseres Wis- 
sens gewähren, und die, welche diess leisten, sich nicht immer auf 
objektiv gültige Beweise, sondern in manchen Fällen auch nur 
auf subjektive Entscheidungsgründe stützen °); der Hauptgesichts- 


bei den Peripatetikern, ἡγούμενον, der Nachsatz (bei diesen ἑπόμενον) λῆγον, 
Dıoe. 76 f. Sexr. Pyrrh. II, 135 f. Math. VIII, 301 ἢ. 227. Arerx. a.a. Ὁ. und 
S. 88, a, m. b, ο. 109, a,m. 7, b,m. Phiror. Anal. pr. LX, a. Schol. in Arist. 
170,a,2 ff. Aumox. zu Anal. pr. 24, b, 19, Arist. Org. ed. Waitz I, 45. Arvr. 
Dogm. Plat. III, 279 Oud. Ps. Garex Εἰς. διαλ. S. 19. 

1) Arex. Anal. pr. 116, b, u., nachdem er der ἀμεθόδως περαίνοντες συλ- 
λογισμοὶ (formell unvollkommene Schlüsse, wie etwa der: A,=B, ΒΞ, 
also Α -- Ο, zu dem der Obersatz fehlen soll: „Zwei Dinge, die einem dritten 
gleich sind, sind einander gleich“; m. 5. über diese ἀμεθόδως περαίνοντες der 
Stoiker a. a. 0. 8, ἃ, u. 22, b,o. Arzx. Top. 10,0. Ps. Garen Εἰς. διαλ. 59) 
erwähnt hat: oüs ὅτι μὲν μὴ λέγουσι συλλογιστιχῶς συνάγειν, ὑγιῶς λέγουσι [οἱ 
νεώτεροι] ... ὅτι δὲ ἡγοῦνται ὁμοίους αὐτοὺς εἶναι τοῖς χατηγοριχσῖς συλλογισμσίς 

. τοῦ παντὸς διαμαρτάνουσιν. 

2) Συναχτιχοὶ oder περαντιχοὶ, und ἀσύναχτοι oder ἀπέραντοι, auch ἀσυλ- 
λόγιστοι: Sext. Pyrrh. II, 137. Math. VIII, 303. 428 £. Dıoc. 77. 

3) Schlüsse, welche der Sache nach bündig sind, aber nicht die strengere 
Schulform haben, heissen περαντιχοὶ im engern Sinn, solche, bei denen diess 
der Fall ist, συλλογιστιχοί, Dioc. 78 vgl. Ps. GaLenx Elsay. διαλ. 58. 

4) Wahr (ἀληθὴς) ist ein Schluss, wenn nicht blos die Folgerung darin 
richtig (ὑγιὴς) ist, sondern auch alle seine einzelnen Sätze, sowohl die Prä- 
missen, als der Schlussatz, materiell wahr sind; die λόγο! συναχτιχοὶ zerfallen 
daher in wahre und nichtwahre. Sexr. Pyrrh. II, 138 ἢ, Math. VIII, 310 £. 
412 fi. Dioc. 79. : 

5) ὅξσχτ. Pyrrh. U, 140 fi. 135. Math. VIII, 305 ff. 313 f. 411 fi.: die wah- 
ren Schlüsse theilen sich in ἀποδειχτιχοὶ und οὐχ ἀποδειχτιχοί. ᾿Αποδειχτιχοὶ sind 
οἵ διὰ προδήλων ἄδηλόν τι συνάγοντες, οὐχ ἀποδ. die, bei welchen diess nicht der 
Fall ist, wie etwa der Schluss: „Wenn es Tag ist, ist es hell, nun ist es Tag, 
also ist es hell“, denn der Schlussatz, „es ist hell“, ist ebenso unmittelbar 
einleuchtend, wie der Untersatz: „es ist Tag“. Die beweisenden sodann 
führen uns theils nur ἐφοδευτιχῶς von den Vordersätzen zum Schlussatz, theils 
ἐφοδευτιχῶς ἅμα χαὶ ἐχχαλυπτιχῶς: Jenes, wenn die Vordersätze auf blossem 


Schlusslehre. 101 


punkt jedoch für die Eintheilung der Schlüsse liegt in ihrer logi- 
schen Form. Für die Grundformen aller Voraussetzungsschlüsse 
galten Chrysippus ') die fünf, welche schon Theophrast aufgestellt 
hatte 2); die Richtigkeit dieser Schlussformen sollte keines Be- 
weises bedürfen, vielmehr sollten alle andern auf sie zurück- 
geführt und durch sie bewährt werden 3) ; dass aber unter densel- 
ben auch ausdrücklich solche hervorgehoben werden, in denen 
ein und derselbe Satz in der Form eines Schlusses tautologisch 
wiederholt wird *), ist nur einer von den Beweisen eines ganz 
äusserlichen und unfruchtbaren Formalismus, an denen die stoische 
Logik so reich ist. Aus diesen fünf einfachen Schlussarten sind 
die „nicht-einfachen“ zusammengesetzt °) und auf sie zurückzu- 


Glauben (πίστις und μνήμη), Dieses, wenn sie auf wissenschaftlicher Noth- 
wendigkeit beruhen. 

1) Andere hatten, nach Dıoc. 79. Sexr. Pyrrh. II, 157, auch noch weitere 
ἀναπόδειχτοι! aufgezählt. Einem von diesen folgt Cicero, wenn er Top. 14, 57 
einen sechsten und siebenten, eigentlich Unterarten des dritten, beifügt. 

2) S. Bd. II, b, 652,3. 

3) M. 5. über diese fünf ἀναπόδειχτοι Chrysipp's (welche hier nicht ein- 
gehender aufgeführt werden sollen, da sie mit den theophrastischen durchaus 
zusammenfallen) Dios. 79—81 (wo aber s. 79 für συλλογισμῶν wohl συλλογιστι- 
χῶν — 8. 0. 100,3 — zu setzen ist). Sexr. Pyrrh. II, 156—159. 201. Math. 
VII, 223— 227. Cıc. Top. 13 ἢ. Sımpr. Phys. 123, b, m (der δεύτερος ἀναπό- 
δειχτος). Ps. Ganen Elsay. διαλ. 17 Β΄, wozu Prante 473, 182 z. vgl. Ueber 
den πέμπτος ἀναπόδειχτος διὰ πλειόνων Sext. Pyrrh. I, 69. Kıeomen. Meteora 
S. 41.47. Peantt 8. 475. 

4) Dabei werden noch zwei Fälle unterschieden: der, dass alle drei 
Glieder des Schlusses, und der, dass nur der Schlussatz und der Untersatz 
identisch sind. Schlüsse der ersteren Art („Wenn es Tag ist, ist es Tag; nun 
ist es Tag; also ist es Tag“) heissen, wie die entsprechenden Urtheile, διφο- 
ρούμενοι, Schlüsse der zweiten Klasse („Es ist entweder Tag oder Nacht; nun 
ist es Tag; also ist es Tag“) ἀδιαφόρως περαίνοντες: die letztere Bezeichnung 
kommt aber auch für beide zusammen vor. M. s. Arzx. Anal. pr. 7, ἃ, ἃ. 
b,u. 53,b,o. Top. 7, u. Schol. in Arist. 294, b, 25. Cıc. Acad. II, 30, 96 
u. a. St. b. Prantı 476, 185. 

5) Cıc. Top. 14, 57: ex his modis conclusiones innumerabiles nascuntur. 
Sext. Math. VIII, 228 f., wo aber auffällt, dass die ἀναπόδειχτοι selbst sich in 
ἅπλοΐ und οὐχ ἀπλσί theilen sollen, während doch die ἁπλοῖ mit den unmittel- 
bar vorher genannten fünf ἀναπόδειχτοι zusammenfallen. Man könnte statt 
ἀναποδείκτων „arodetmtzöv‘ vermuthen; doch ist es auch möglich, dass der 
Ausdruck ἀναπόδειχτοι bald in engerem bald in weiterem Sinn gebraucht 
wurde. 


102 Stoiker. 


führen );. unter denselben werden solche unterschieden, die 
aus gleichartigen, und solche, die aus ungleichartigen Theilen 
bestehen 2); bei den ersteren kommt dann aber freilich wieder 
ein so nutzloser Formalismus zum Vorschein, dass es schwer 
ist, zu sagen, was die Stoiker denn eigentlich damit woll- 
ten ?). Werden zwei oder mehrere Schlüsse, von welchen der 
Schlussatz des vorangehenden erster Vordersatz des folgenden ist, 
durch jedesmalige Weglassung dieser beiden gleichlautenden Sätze 
zu Einem verbunden, so entsteht der Kettenschluss; die von den 
Peripatetikern überlieferten Formen desselben hatten die Stoiker 
in ihrer Weise über das Maass des wissenschaftlichen Bedürfnis- 
ses hinaus verfolgt *). Dass Antipater diesen zusammengesetzten 


1) Dios. 78: συλλογιστιχοὶ [se. λόγοι] μὲν οὖν εἰσιν οἱ ἤτοι Avambdeıntor ὄντες 
ἢ ἀναγόμενοι ἐπὶ τοὺς ἀναποδείχτους χατά τι τῶν θεμάτων ἢ τινά. Mitder Auflösung 
der zusammengesetzten Schlüsse batte sich (wie auch Dıoe. 190 f. 194 f. be- 
weist) nach Garen Hipp. et Plat. II, 3. 8. 224 namentlich Chrysippus viel 
beschäftigt, für dessen Auflösungen Antipater einfachere vorschlug. 

2) Sext. a. a. Ὁ. 229— 243, welcher sein Beispiel zwar von Aenesidemus 
entlehnt, aber ohne Zweifel den stoischen Bestimmungen folgt. Vgl. Praxtı 
479 f. Ein solcher zusammengesetzter Schluss ist auch der b. Sexr. a. a. Ὁ. 
281. 

3) Vgl. Sexr. a. a. O. und dazu Prants, 5. 478 f. 

4) Nachdem Arrx. zu Anal. pr. I, 25. 42, b,5 vom Kettenschluss ge- 
sprochen hat, fährt er S. 94, b, m fort: ἐν τῇ τοιαύτῃ τῶν προτάσεων συνεχείᾳ τό 
τε συνθετιχόν ἐστι θεώρημα ... χαὶ οἱ χαλούμενοι ὑπὸ τῶν νεωτέρων ἐπιβάλλοντές τε 
χαὶ ἐπιβαλλόμενοι. Das συνθετιχὸν θεώρημα nun, dessen Bedeutung (= Ketten- 
schluss) sofort erläutert wird, muss ein peripatetischer Ausdruck sein. Das 
Gleiche bedeuten aber auch die ἐπιβάλλοντές τε χαὶ ἐπιβαλλόμενοι. Dieselben 
finden sich nämlich, wie Alex. weiter erläutert, ἐν ταῖς συνεχῶς λαμβανομέναις 
προτάσεσι χωρὶς τῶν συμπερασμάτων, wie: „A kommt B, B kommt C, C kommt 
D, also kommt A Ὁ zu; ἐπιβαλλόμενος heisst dabei der Schluss, dessen 
Schlussatz, ἐπιβάλλων der, dessen Prämisse weggelassen ist (so, dass dem- 
nach, wenn drei Schlüsse so zusammengezogen sind, der erste ἐπιβαλλόμενος 
ist, der letzte ἐπιβάλλων, der mittlere beides). Solche Schlüsse können, wie 
Alex. ausführt, in den drei aristotelischen Figuren gemacht werden χατὰ τὸ 
παραδεδομένον συνθετιχὸν θεώρημα. ὃ οἱ μὲν περὶ ᾿Αριστοτέλην τῇ χρεία παραμετρή- 
σαντες παρέδοσαν, ἐφ᾽ ὅσον αὐτὴ ἀπήτει, οἱ δὲ ἀπὸ τῆς τοῦ []. στοᾶς] παρ᾽ ἐχείνων 
λαβόντες χαὶ διελόντες ἐποίησαν ἐξ αὐτοῦ τὸ χαλούμενον παρ᾽ αὐτοῖς δεύτερον χαὶ 
τρίτον θέμα καὶ τέταρτον, ἀμελήσαντες μὲν τοῦ χρησίμου, πᾶν δὲ τὸ ὁπωςοῦν δυνά- 
μένον λέγεσθαι ἐν τῇ τοιαύτῃ θεωρία, χὰν ἄχρηστος Ti, ἐπεξελθόντες τε χαὶ ζηλώ- 
σᾶντες. Auf denselben Gegenstand bezieht sich Sımrı. De coelo, Schol. in 
Ar. 483, b, 26; ἣ δὲ τοιαύτη ἀνάλυσις τοῦ λόγου, ἣ τὸ συμπέρασμα λαμβάνουσα χαὶ 


a —— on 


LAT, δος μὰ] 


Schlusslehre. 103 


Schlüssen andererseits auch solche mit einer einzigen Prämisse 
gegenüberstellte '), war eine Bereicherung der Logik von sehr 
zweifelhaftem Werth. Ueber einige andere Punkte der stoischen 
Syllogistik sind wir nur sehr unvollständig unterrichtet ?); wir 
werden aber diesen Verlust um so leichter verschmerzen können, 
da wir uns auch schon in dem Bisherigen hinreichend davon über- 
zeugen konnten, wie begründet die Vorwürfe sind, welche der Schule 
wegen der kleinlichen Sorgfalt gemacht werden, mit der sie auch 
den werthlosesten logischen Formen nachzugehen liebte °). 
Wie die Darstellung der beweiskräftigen Schlüsse, so war 


προςλαμβάνουσα ἄλλην πρότασιν, χατὰ τὸ τρίτον λεγόμενον παρὰ τόϊς Στωϊκοῖς θέμα 
περαίνεται, dessen Regel die sei: wenn aus dem Schlussatz eines Schlusses 
und einem zweiten Satz ein dritter erschlossen werden kann, so kann derselbe 
auch aus diesem zweiten Satz und den Prämissen jenes Schlussatzes er- 
schlossen werden. Diese beiden Stellen scheinen Praxtı bei seiner sonst so 
vollständigen Zusammenstellung entgangen zu sein, sonst würde er wohl bei 
dem πρῶτον, δεύτερον, τρίτον und τέταρτον θέμα, dessen Garen Hipp. et Plat. 
II, 3. Bd. V, 224. Arex. Anal. pr. 53, b, o. erwähnt, nicht an die verschiede- 
nen Formen der ἀναπόδειχτοι (5. ο. 101, 3) denken, statt sie auf die Formeln 
zur Auflösung der zusammengesetzten Schlüsse zu beziehen. Vgl. auch 
Anm. 1. Auf solche zusammengesetzte Schlüsse geht wohl der Ausdruck διὰ 
δύο τροπιχῶν, διὰ τριῶν τροπιχῶν b. Garen ἃ. a. Ὁ. Sexr. Pyrrh. II, 2 und der 
Titel einer chrysippischen Schrift: x. τοῦ διὰ τριῶν (sc. τροπιχῶν oder λημμάτων 
vgl. S. 99, 6) b. Dioc. VII, 191. 

1) M. 5. über diese μονολήμματοι συλλογισμο! (wie: „Aaspa ἔστι, φῶς ἄρα 
ἔστιν“. ἀναπνεῖς, ζῆς ἄρα ). Arzx. Top. 6, u. 274, o. Anal. pr. 7,a,0.8,a,u. 
Sexr. Pyrrh. II, 167. Maih. VIII, 443. Arur. Dogm. Plat. III, 272 Oud. und 
was PrAnts 477, 186 weiter anführt. 

2) M. vgl. darüber, was Pranrı. $. 481 f. aus Sexr. Pyırh. U, 2. Augx. 
Anal. pr. 53,b,o. Garen a. a. Ὁ. Ps, Garen Elgay. διαλ. 57 beibringt. Wenn 
der letzteru Stelle zufolge Posidonius die Vergleichungsschlüsse συναχτιχοὺς 
χατὰ δύναμιν ἀξιώματος nannte, und ebenso nach Schol. in Hermog. Rhet. gr. 
ed. Walz VII, b, 764 bei den Stoikern von einem χατὰ δύναμιν τροπιχὸν ge- 
sprochen wurde, so ist diess das Gleiche, was uns schon S. 100, 1. vorkam, 
wo auch ein Vergleichungsschluss zu den ἀμεθόδως περαίνοντες gerechnet 
wurde, die durch Beifügung eines ἀξίωμα in regelrechte Schlüsse verwandelt 
werden können. In der Lehre vom Beweis wurde nach Prokr. in Euclid. 103, 
unt. auch der τόπος παράδοξος behandelt, wozu insbesondere ihre ethischen 
Paradoxa (s. u.) den Stoikern Anlass geben konnten. 

3) Vgl. Auex. Anal. pr. 95, a, o (8. o. 102, 4). Garen a. a. Ὁ. Hatte 
doch nach Ps. Garen a. a. O. 58 Chrysippus selbst 3 Bücher Συλλογιστιχαὶ 
ἄρχηστοι verfasst. 


104 Stoiker. hu 


auch die Aufzählung und Widerlegung der nichtbeweisenden 1), 
und namentlich die Auflösung der vielen Sophismen, welche sich 
seit der Zeit der Sophisten und Megariker angesammelt hatten, 
für die Stoiker ein Gegenstand der sorgfältigsten Bemühung und 
eine erwünschte Gelegenheit zur Bewährung ihres dialektischen 
Scharfsinns. Auch hierin gieng Chrysippus natürlich Allen vor- 
an 3). Dass er aber doch die Schwierigkeiten nicht immer zu be- 
seitigen wusste, sehen wir an seinem auffallenden Verhalten zu 
den Soriten ?), denen er sich durch Einhalten des Urtheils zu ent- 
ziehen rieth %). Im Uebrigen können wir hier auf die Sophismen, 
mit denen die Stoiker sich abgaben, und die Art ihrer Widerlegung 
nicht eingehen °). 

Durch alle diese Untersuchungen suchten nun die Stoiker 
einen festen Boden für die wissenschaftliche Beweisführung zu 
gewinnen. So gross aber der Werth war, welchen sie dieser bei- 
legten, so gaben doch auch sie mit Aristoteles ®) zu, dass sich 
nicht Alles beweisen lasse. Statt nun aber diese Lücke mit ihm 
durch die Induktion auszufüllen, und sich um eine Vervollkomm- 
nung seiner Theorie derselben zu bemühen, begnügten sie sich 
mit Hypothesen, die ihre Wahrheit theils unmittelbar in sich selbst 


1) Nur für den Zweck ihrer Widerlegung nämlich konnten sie, wie sich 
bei so abgesagten Feinden der Skepsis von selbst versteht, aufgeführt werden, 
und nur in diesem Sinn haben wir es zu verstehen, wenn b. Dioe. 186 ἔ, 
chrysippische Sophismen angeführt sind. 

2) Das Verzeichniss seiner Schriften enthält eine ganze Reihe von Ab- 
handlungen über die Trugschlüsse und über einzelne derselben; über den 
ψευδόμενος z. B. allein fünf. 

3) Ueber welche Bd. II, a, 188, 2. 3 z. vgl. 

4) Cıc. Acad. II, 29, 93: placet enim Chrysippo, quum gradatim interro- 
getur, verbi causa, tria pauca sint, anne multa, aliquanto prius, quam ad 
multa perveniat, quiescere, id est quod ab üs dieitur ἣσυγ ἀζειν. Das Gleiche 
b. Sexr. Math. VII, 416. Pyrrh. II, 253. Auch auf andere Fangschlüsse wurde 
dieses Verfahren angewendet; Sımer. Categ. 6, y. Mit diesem λόγος ἣσυχάζων 
(Dıos. 198) setzt Prantı S. 489 auch den ἀργὸς λόγος (Cıc. De fato 12, 28) in 
Verbindung, da dieser nur die praktische Anwendung von jenem sei; aber 
wie mir scheint, mit Unrecht: den ἀργὸς λόγος, durch welchen der stoische 
Fatalismus ad absurdum geführt werden sollte, konnte Chrysippus nicht gut- 
heissen, und er wird ihm auch nicht beigelegt. 

5) Was wir darüber wissen, findet sich bei Prantt. 5, 485 —49%, 

6) Vgl. Bd. II, b, 170 fi. 


“πα οιίΙι νι νιν 


Werth ihrer Logik. 105 


tragen, theils durch die ihrer Folgesätze beweisen sollten 1): so 
dass ihre Methodologie, ähnlich wie ihre Erkenntnisstheorie, mit 
der Forderung eines unmittelbar Gewissen abschliesst. 

Den Werth dieser ganzen formalen Logik können wir nicht 
hoch anschlagen. So unvollständig wir auch über dieselbe unter- 
richtet sind, so reicht doch das, was wir von ihr wissen, voll- 
kommen aus, um unser Urtheil hierüber festzustellen. Wir sehen 
einerseits allerdings, dass sich die stoische Schule seit Chrysippus 
die äusserste Mühe gab, das wissenschaftliche Verfahren in allen 
seinen Theilen bis in’s Einzelste hinaus auf feste Formen zurück- 
zuführen; wir sehen aber zugleich auch, dass sie hiebei die 
eigentliche Aufgabe der Logik, ein Bild der wirklichen Denk- 
operationen und ihrer Gesetze zu geben, ganz aus den Augen 
verlor, in den leersten und unfruchtbarsten Formalismus verfiel. 
Nicht einmal über die logischen Formen des Denkens kann sie 
neue Entdeckungen von einiger Erheblichkeit gemacht haben, 
denn diese wären von den Schriftstellern, welche so viele der un- 
bedeutendsten Abweichungen von der aristotelischen Logik be- 
richten, gewiss nicht übergangen; sondern ihre ganze Thätigkeit 
auf diesem Felde besteht darin, dass sie die peripatetische Logik 
in eine neue Terminologie kleidet, und einzelne Theile derselben, 
unter Zurückstellung der andern, mit peinlicher Genauigkeit in's 
Einzelne ausführt. So namentlich in der Lehre von den Schlüssen. 
Aber wie es hier keine Verbesserung ist, dass Chrysippus den 
hypothetischen Schluss als Grundform an die Stelle des kategori- 
schen setzte, so hat überhaupt die Logik durch ihn und seine 
'Schule, bei aller Erweiterung ihres Umfangs, an wissenschaftlichem 
Gehalt ohne Zweifel mehr verloren, als gewonnen. So wenig da- 
her die Geschichte der Philosophie diesen von den Stoikern selbst 
so eifrig angebauten und für ihren wissenschaftlichen Standpunkt 
so bezeichnenden Theil ihres Systems mit Stillschweigen übergehen 
darf, so wird sie doch darin immer nur ein Aussenwerk dessel- 


1) Sexr. Math. VIII, 367: ἀλλ᾽ οὐ δεῖ, φασὶ, πάντων ἀπόδειξιν αἰτεῖν, τινὰ 
ὃὲ χαὶ ἐξ ὑποθέσεως λαμβάνειν, ἐπεὶ οὐ δυνήσεται: προβαίνειν ἡμῖν ὃ λόγος, ἐὰν μὴ 
δοθῇ τι πιστὸν ἐξ αὑτοῦ τυγχάνειν. Ebd. 375: ἀλλ᾽ εἰώθασιν ὁποτυγχάνοντες λέγειν, 
ὅτ: πίστις ἐστὶ τοῦ ἐῤῥῶσθαι τὴν ὑπόθεσιν τὸ ἀληθὲς εὑρίσχεσθα: ἐχέῖνο τὸ τοῖς ἐξ ὑπο- 


θέσεως ληφθεῖσιν ἐπιφερόμενον εἶ" γὰρ τὸ τούτοις ἀκολουθοῦν ἐστιν ὑγιὲς, κἀκεῖνα οἷς 


ἀχολουθεῖ ἀληθῇ χαὶ ἀναμφίλεχτα χαθέστηχεν. 


106 Stoiker. 


ben '), und in der übermässigen Sorgfalt, welche ihm seit Chry- 
sippus gewidmet wurde, nur ein Zeichen von der Abnahme der 
wissenschaftlichen Produktivität sehen können. 


4. Die Physik: A. Die letzten Gründe. 


Ungleich wichtiger ist die Physik, und sie wurde auch von 
den Stoikern, trotz ihrer theilweisen Anlehnung an ältere Lehren, 
mit viel grösserer Selbständigkeit behandelt. Die Untersuchungen, 
mit denen sich dieser Theil des stoischen Systems beschäftigte, 
lassen sich in vier Abschnitte vertheilen: über die letzten Gründe; 
über die Entstehung und Beschaffenheit des Weltganzen; über die 
vernunftlose Natur; über den Menschen 5). 

Bei dem ersten von diesen Punkten treten uns wieder drei 
Züge als besonders charakteristisch entgegen: der Materialismus 
des stoischen Systems, seine dynamische Weltansicht und sein 
Pantheismus. 

Wenn wir von der platonischen oder aristotelischen Philo- 
sophie herkommen, erscheint uns an der stoischen kaum irgend 
etwas anderes auffallender, als ihr so schroff ausgesprochener 
Materialismus. Die Stoiker definirten zwar mit Plato 5) das 
Wirkliche als dasjenige, was die Kraft habe, zu wirken oder zu 
leiden, aber diese Eigenschaft fanden sie nur in den Körpern, und 
so ergab sich ihnen der Satz, dass es ausser den Körpern nichts 
Wirkliches geben könne; oder sofern sie dem Unkörperlichen 
1) Wofür ja die Logik auch von den Stoikern selbst erklärt wurde; 
5. 8. 54. 

2) Die Stoiker selbst theilten (Ὁ. 132) die Physik εἰδιχῶς in die τόποι περὶ 
σωμάτων χαὶ περὶ ἀρχῶν χαὶ στοιχείων χαὶ θεῶν χαὶ περάτων χαὶ τόπου χαὶ χενοῦ, 
γενικῶς in die drei Abschnitte: περὶ χόσμου, περὶ στοιχείων und den αἰτιολογιχός. 
Der erste von diesen drei Abschnitten sollte sodann theils solches enthalten, 
was dem Physiker eigenthümlich ist, theils solches, was er mit dem Mathe- 
matiker gemeinschaftlich behandelt (das Astronomische — ausführlich handelt 
über den Unterschied der Astronomie von der Physik Posidonius b. Sımrı. 
Phys. 64, b, m), ebenso der dritte auch solches, womit sich theils die Aerzte 
theils die Mathematiker gleichfalls beschäftigen. Indessen wissen wir nicht, 
wie der Inhalt der Physik näher an jene Abschnitte vertheilt wurde. Jeden- 


falls wären für uns beide Eintheilungen sehr unbequem. 
3) Soph. 247, D vgl. Bd. II, a, 437, 1. 


Materialismus. 107 


nicht alles Sein absprechen wollten, mussten sie doch behaupten, 
nur dem Körperlichen komme ein wesenhaftes und selbständiges 
dem Unkörperlichen dagegen blos ein beziehungsweises Sein zu !). 
Unter dieser Voraussetzung musste nun natürlich Vieles für ein 
Körperliches angesehen werden, was wir nicht so nennen würden, 
wie die Seele, die Tugenden u. s. w.; aber doch kann man, streng 
genommen, nicht sagen ?), dass die Stoiker den Begriff des Kör- 
pers in einer viel weiteren Bedeutung genommen haben, als es 
sonst zu geschehen pflege, denn sie definiren den Körper nicht 
blos ausdrücklich als das räumlich Ausgedehnte ?), sondern sie 
bemühen sich auch, zu zeigen, inwiefern das, was man gewöhn- 
lich für unkörperlich hält, ein Körperliches,, in der eigentlichen 
Bedeutung des Worts, sein könne. Sie»hielten nämlich nicht 
blos alle Substanzen, die Seele des Menschen und die Gottheit 
nicht ausgenommen, für Körper ‘), sondern sie behaupteten das 
Gleiche auch von den Eigenschaften : alle Bestimmtheiten, durch 
welche sich die Dinge von einander unterscheiden, sollien von 


1) Prur. comm. not. 30, 2. 5. 1073: ὄντα γὰρ μόνα τὰ σώματα χαλοῦσιν, 
ἐπειδὴ ὄντος τὸ ποιξῖν τ! χαὶ πάσγειν. Plac. I, 11, 4: ol Στωϊκοὶ πάντα τὰ αἴτια 


e 


σωματιχά- πνεύματα γάρ. IV, 20: οἱ δὲ Στωϊχοὶ σῶμα τὴν φωνήν: πᾶν γὰρ τὸ 


δρώμενον [9 δρῶν] ἢ χαὶ ποιοῦν σῶμα“ ἣ δὲ φωνὴ ποιεῖ χαὶ δρᾷ... ἔτι πᾶν τὸ χινοῦν 
χαὶ ἐνοχλοῦν σῶμά ἐστιν... ἔτι πᾶν τὸ χινούμενον σῶμά ἐστιν. Cıc. Acad. I, 11, 


39: [Zeno] nullo modo arbitrabatur quidquam efiei posse ab ea [natura] quae 
expers esset corporis ... nec vero aut quod efliceret aliquid aut quod efficeretur 
(genauer wäre: in quo eficeretur aliquid vgl. Rırree III, 577) posse esse non 
corpus. SENECA (s.u. 108, 3. 109, 1). ὅτοβ. Ekl. I, 336 (8. ο. 80,2). Ebd. 338: 
Χρύσιππος αἴτιον εἶναι λέγει δι᾽ 6. χαὶ τὸ μὲν αἴτιον ὃν χαὶ σῶμα τι. 5. w. Ποσειδώ- 
wog δὲ οὕτως. αἴτιον δ᾽ ἐστί τινος δι᾽ ὃ ἐχείνο, ἢ τὸ ἀρχηγὸν ποιήσεως, χαὶ τὸ μὲν 
αἴτιον ὃν χαὶ σῶμα, οὗ δὲ αἴτιον οὔτε ὃν οὔτε σῶμα, ἀλλὰ συμβεβηχὸς χαὶ κατηγό- 
ρημα. (Ueber dieses vgl. S. 80, 1. 2.) Dıoc. VII, 56: nach Chrysipp, Diogenes 
(über den auch Sıurr. Phys. 97, a, u.) u. A. sei die Stimme ein Körper, πᾶν 
γὰρ τὸ ποιοῦν σῶμά ἔστι. Ebd. 150: οὐσίαν δέ φασι τῶν ὄντων ἁπάντων τὴν πρώτην 
ὕλην, ὡς χαὶ Χρύσιππος ἐν τῇ πρώτῃ τῶν φυσιχῶν καὶ Ζήνων" ὕλη δέ ἐστιν, ἐξ ἧς 
δτιδηποτοῦν γίνεται... σῶμα δέ ἐστι χατ᾽ αὐτοὺς ἣ οὐσία. Η!τρΡονγντ. Refut. haer. 
I, 21: σώματα δὲ πάντα ὑπέθεντο u. A. 

2) Wie Rırrer III, 577 ff. SchtLEIERMAcHER, Gesch. ἃ. Phil. 129. 

3) Dıoc. VII, 135: σῶμα δ᾽ ἐστὶ (φησὶν ᾿Απολλόδωρος Ev τῇ φυσιχῇ) τὸ τριχῇ 
διαστατόν τι. 8. W. 

4) Vgl. 5. 83 ἢν; über die Körperlichkeit der Gottheit und der Seele wird 
später zu sprechen sein. 


108 Stoiker. 


dem Dasein gewisser Luftsirömungen herrühren !), welche von 
dem Mittelpunkt jedes Dinges aus durch seine ganze Masse sich 
verbreitend und vom Umkreis wieder zum Mittelpunkt zurück- 
kehrend seinen inneren Zusammenhalt bilden 5). Diess musste na- 
türlich bei ihrer Ansicht über die Seele ebensogut von geistigen, 
wie von materiellen Eigenschaften gelten: auch die Tugenden und 
Fehler wurden als Körper bezeichnet ?), und von der Spannung 
hergeleitet, welche der Seele durch die in ihr vorhandenen luft- 
artigen Stoffe mitgetheilt werde %). Aus demselben Gesichtspunkt 


1) S. o. 8. 89 f. und Sexeca ep. 102, 7, welcher mit Bezug auf die 
Unterscheidung der ἡνωμένα u. 5. ἢ, (s. 0, 87, 2) sagt: nullum bonum pultamus 
esse, quod ex distantibus constat. uno enim spiritu unum bonum contineri ac regi 
debet, umum esse umius boni principale. Daher bei Prur. com. not. 50, 1. 
S. 1085 der Vorwurf: τὰς ποιότητας οὐσίας χαὶ σώματα ποιοῦσιν und ebd. 44, 4 
die 8. 86 besprochene Behauptung. Vgl. Anm. 4. 


2) Pnıro Qu. De s. immut. 8. 298, D (das Gleiche in der unächten Schrift 
De mundo 8. 1154, E): ἣ δὲ [sc. ἕξις, was = ποιότης, 8. 0. 87, 2] ἐστὶ πνεῦμα 
ἀντιστρέφον ἐφ᾽ ἑαυτό. ἄρχεται μὲν γὰρ ἀπὸ τῶν μέσων ἐπὶ τὰ πέρατα τείνεσθαι, 
ψαῦσαν δὲ ἄχρας ἐπιφανείας ἀναχάμπτει πάλιν͵ ἄχρις ἂν ἐπὶ τὸν αὐτὸν ἀφίκηται τόπον, 
ἀφ᾽ οὗ τὸ πρῶτον ὡρμίσθη. ἕξεως 6 συνεχὴς οὗτος δίαυλος ἄφθαρτος u. 5. w. Qu. 
mund. 8. incorr. 960, D (De mundo 1169, A): ἣ δ᾽ [ἕξις] ἐστὶ πνευματιχὸς τόνος. 
Dass Philo hier die stoische Lehre wiedergiebt, lässt sich nicht bezweifeln. 
Dieselbe Vorstellung wird uns hinsichtlich des Verhältnisses der Seele zum 
Leibe begegnen, und ebenso wird die Einheit des Weltganzen daraus abge- 
leitet, dass das göttliche πνεῦμα alle seine Theile durchdringt; das Nähere 
hierüber später; vorläufig vgl. m. ArLrx. Arnr. De mixt. 142, a, m: ἡνῶσθαι 
μὲν ὑποτίθεται [Χρύσιππος] τὴν σύμπασαν οὐσίαν πνεύματός τινος διὰ πάσης αὐτῆς 
διήκοντος, ὑφ᾽ οὗ συνάγεταί τε χαὶ συμμένει χαὶ σύμπαθές ἐστιν αὑτῷ τὸ πᾶν. (So ist 
nämlich zu lesen, indem fortgefahren wird: τῶν δὲ u, s. w.; vgl. 143, b, m.) 
Ausführlich bestreitet Auex. 143, Ὁ, mı f. die Behauptung, dass das alldurch- 
dringende πνεῦμα die Dinge zusammenhalte.' 

3) Prur. comm. ποῦ. 45; s. u. 109, 3. Sros. ebd. Sex. ep. 117, 2: placet 
nostris, quod bonum est, esse corpus, quia quod bonum est, facit: quidquid 
facit corpus est. .. sapientiam bonum esse dieunt: sequitur, ut necesse sit llam 
corporalem quoque dicere. Vgl. S. 109, 1. 

4) Diess ist der Begriff’ des τόνος, auf welchem die Stärke Mer Seele, wie die 
des Leibes, beruhen soll; Kı.zanınes b. Prur. Sto. rep. 7,4.8. 1034: πληγὴ πυρὸς 
ὃ τόνος ἐστὶ κὰν ἱχανὸς Ev τῇ ψυχῇ γένηται πρὸς τὸ ἐπιτελεῖν τὰ ἐπιβάλλοντα ἰσχὺς χα- 
λεῖται καὶ χράτος. Stop. ΕΚ]. II, 110: ὥσπερ ἰσχὺς τοῦ σώματος τόνος ἐστὶν ἱκανὸς ἐν 
νεύροις, οὕτω χαὶ ἣ τῆς ψυχῆς ἰσχὺς τόνος ἐστὶν ἱχανὸς ἐν τῷ χρίνειν χαὶ πράττειν χαὶ 
μή. Unter den gleichen Begriff sind aber alle Eigenschaften zu stellen; vgl. 
Anm. 2 und Pı.vr. comm, not. 49, 2. 8. 1085: γῆν μὲν γὰρ ἴσασι καὶ ὕδωρ οὔτε 


Materialismus. > 109 


wird das Gute ein Körper genannt, denn das Gute ist den Stoikern 
nur die Tugend, die Tugend aber ist ein bestimmter Zustand des 
Seelenkörpers '). Ebenso haben wir es zu verstehen, wenn die 
Wahrheit ein Körper sein soll®): die Wahrheit ist nämlich in 
diesem Fall nicht im objektiven, sondern im subjektiven Sinn zu 
nehmen, sie bezeichnet das Wissen, oder die Beschaffenheit der 
wissenden Seele, und da nun diese nach stoischer Lehre auf dem 
. Dasein gewisser EEE Stoffe in der Seele beruht, so kann 
die Wahrheit in diesem Sinn von den Stoikern ein Körper genannt 
werden. Auch die Affekte, die Triebe, die Vorstellungen, die 
Urtheile gelten ihnen für Körper, sofern sie sich diese Zustände und 
Thätigkeiten durch materielle Einflüsse, durch die in die Seele ein 
strömenden πνεύματα, bewirkt denken; und aus dem gleichen Grunde 
werden nicht blos habituelle Fertigkeiten, sondern selbst einzelne 
Handlungen für Körper erklärt ®): das Gehen, das Tanzen u. 5. f. 


αὑτὰ συνέχειν οὔτε ἕτερα; ER: δὲ μετοχῇ χαὶ πυρώδους δυνάμεως τὴν ἑνότητα 
διαφυλάττειν: ἀέρα δὲ χαὶ πῦρ αὑτῶν τ᾽ εἶναι δι᾿ εὐτονίαν ἐχτατιχὰ χαὶ τοῖς δυσὶν ἐχεί- 
νοις ἐγχεχραμένα τόνον παρέχειν χαὶ τὸ μόνιμον χαὶ οὐσιῶδες. Ps. Censorıs. Fragm. 
e. 1. 5, 75 Jahn, der geradezu sagt: Initia rerum eadem elementa ei prineipia 
dieuntur. ea Sioici eredunt tenorem aique materiam. tenorem, qui rarescente 
materia a medio tendat ad summum, eadem concrescenie rursus a summo refe- 
ratur ad medium. Hier ist der tenor oder τόνος dem πνεῦμα völlig gleichge- 
_ setzt; dass aber die intentio dem spiritus mehr als irgend einem andern Körper 
zukomme, sucht auch Sexeca nat. qu. II, 8 f. vgl. VI, 21, 1 zu zeigen. 

1) Sen. ep. 106, 4: banum faecit prodest, enim. quod facit corpus est. bonum 
agitat animum et quodammodo format et continet, quae propria sunt corporis. 
quae corporis bona sunt, corpora sunt: ergo et.quae animi sunt. nam et hoc 
corpus est. bonum hominis necesse est corpus sit, cum ipse sit corporalis. ... 8 
adfectus corpora sumt et morbi animorum et avaritia, erudelitas, indurata vitia 

„ergo et malitia et species ejus omnes ... ergo et bona — wofür dann noch im 
Besonderen angeführt wird, dass das Gute, d.h. die Tugend, auf ige Körper 
wirke, ihn beherrsche und sich in ihm darstelle. Vgl. auch Anm. 3. 5. 108, 3. 

2) Sexr. Math. VII, 38: τὴν ὃὲ ἀλήθειαν οἴονταί τινες, χαὶ ne. οἱ ἀπὸ 


τῆς στοᾶς, διαφέρειν τἀληθοῦς χατὰ τρείς τρόπους... οὐσίᾳ μὲν παρ᾽ ὅσον ἣ μὲν 


τρ 
ἀλήθεια σῶμά ἐστι τὸ δὲ ἀληθὲς ἀσώματον ὑπῆρχε. χαὶ εἰκότως, φασί. τουτὶ μὲν γὰρ 
ἀξίωμά ἔστι, τὸ ὃξ ἀξίωμα λεχτὸν, τὸ ὃὲ λεχτὸν ἀσώματον: ἀνάπαλιν δὲ ἡ ἀλήθεια 
σῶμά ἐστιν παρ᾽ ὅσον ἐπιστήμη πάντων ἀληθῶν ἀποφαντιχὴ δοχεί τυγχάνειν" πᾶσα δὲ 
ἐπιστήμη πὼς ἔχον ἐστὴν ἡγεμονιχὸν .. τὸ δὲ ἡγεμονιχὺὸν σῶμα χατὰ τούτους ὑπῆρχε. 


Ebenso Pyrrh. II, 81; 5. o. 18,1 
3) Pıur. comm. not. 45, 2. $. 1084: ἄτοπον γὰρ εὖ μά 


μάλα, τὰς ἀρετὰς καὶ τὰς 
ἔτι ὃ 


χαχίας͵ ποὺς δὲ ταύταις τὰς τέχνας χαὶ τὰς μνήμας πάσας; ὲ φαντασίας καὶ 1 πάθη 
ι» ϑ ΜΠ ΝΣ 


110 Stoiker. 


würde von den Stoikern wohl so wenig ein Körper genannt wor- 
den sein, als das Weisesein 1), dagegen glaubten sie das, was 
diese Thätigkeiten bewirkt, wie alles Wirkende, als einen Körper 
betrachten zu müssen; und würden nun wir alle jene Thätigkeiten 
einfach auf die Seele als ihren Grund zurückführen, so mussten 
doch die Stoiker, nach ihrer Ansicht vom Substrat und den Eigen- 
schaften, für jede derselben einen besonderen sie verursachenden 
Stoff voraussetzen, durch dessen Anwesenheit sie bewirkt sein 
solite. Wie daher Plato idealistisch gesagt hatte: der Mensch ist 
gerecht, musikalisch u. s. f. dadurch, dass er an der Idee der Ge- 
rechtigkeit, der Musik u. s. w. Theil hat, so sagten die Stoiker 
materialistisch: der Mensch ist tugendhaft, wenn Tugendstoff in 
ihm ist, musikalisch, wenn Musikstoff in ihm ist u. s. w.; und da 
nun diese Stoffe Lebenserscheinungen erzeugen, konnten sie die- 


nor δρμὰς χαὶ συγχαταθέσεις σώματα ποιουμένους ἐν μηδενὶ φάναι χεῖσθαι u. 5. W..... 
οἱ δ᾽ οὐ μόνον τὰς ἀρετὰς χαὶ τὰς καχίας ζῷα εἶναι λέγουσιν, οὐδὲ τὰ πάθη μόνον, 
ὀργὰς καὶ φθόνους χαὶ λύπας χαὶ ἐπιχαιρεχαχίας, οὐδὲ χαταλήψεις χαὶ φαντασίας χαὶ 
ἀγνοίας οὐδὲ τὰς τέχνας ζῷα, τὴν σχυτοτομιχὴν, τὴν χαλχοτυπιχήν" ἀλλὰ πρὸς τού- 
τοῖς χαὶ τὰς ἐνεργείας σώματα χαὶ ζῷα ποιοῦσι, τὸν περίπατον ζῷον, τὴν ὄρχησιν, 
τὴν ὑπόθεσιν, τὴν προσαγόρευσιν. τὴν λοιδορίαν. Plutarch spricht hier freilich 
als Gegner; indessen sagt auch Sexeca ep. 106, 5: non puto te dubitaturum, 
an adfectus corpora sint .. tanquam ira, amor tristitia: si dubitas, vide an 
vultum nobis mutent u. s. w. quid ergo? tam manijestas corpori notas eredis im- 
primi, nisi a eorpore? u.s. w. (8. X. 109, 1). Sror. Ekl. U, 114: die Stoiker 
halten die Tugenden für substantiell identisch (τὰς αὐτὰς χαθ᾽ ὑπόστασιν) mit 
dem Ayzuovızov und insofern, wie dieses, für σώματα und ζῷα. Noch deutlicher 
erklärt sich aber Sex. ep. 113, 1 δ: Desideras tibi scribi a me, quid sentiam 
de hac quaestione jactata apud nosiros: an justitia, an fortitudo, prudentia 
ceteraeque virtutes animalia sint ... me in alia sententia profiteor esse... quae 
sint ergo quae antiquos moverint dicam. animum constat animal esse .. virtus 
autem nihil aliud est, quam animus quodammodo se habens: ergo animal est. 
deinde: vwirtus agit aliquid: agi autem nihil sine impetu (δρμὴ) potest u. 8. w. 
Wendet man aber ein, so wäre jeder Einzelne eine Vielheit von zahllosen 
lebenden Wesen, so wird erwiedert: diess sei unrichtig, denn diese sämmt- 
lichen animalia seien nur Theile des Einen animal, der Seele, sie seien daher 
nicht eine Mehrheit (meulta), sondern Ein und dasselbe lebende Wesen von 
verschiedenen Seiten betrachtet: idem est animus et justus et prudens et Jortis, 
ad stugulas virtutes quodammode se habens (s. 24). Aus demselben Brief s. 23 
erfahren wir, dass Kleanthes die ambulatio für einen spiritus a prineipali usque 4 
in pedes permissus erklärt habe, Chrysipp für das prineipale selbst. | 
1) Worüber das S. 78, 1 aus Sen. ep. 117 Angeführte z. vgl. 


Materialismus. 111 


selben nicht allein als Körper, sondern sogar als lebendige Wesen 
bezeichnen. Nicht minder auffallend, als die angeführten Behaup- 
tungen, lautet für uns der Satz, dass der Tag und die Nacht, ja 
auch die einzelnen Tages- und Nachtzeiten, der Monat und das 
Jahr, die Monatstage und die Jahreszeiten Körper seien '); in- 
dessen wollte Chrysippus mit diesem freilich höchst ungelenken 
Ausdruck wohl schwerlich etwas anderes sagen, als dass das 
Reale, was jenen Namen entspricht, in gewissen körperlichen Zu- 
ständen liege, dass wir mit dem Ausdruck Sommer den Zustand 
der Luft, in welchem dieselbe am Stärksten von der Sonne erhitzt 
ist, oder die Luft in diesem Zustand bezeichnen, mit dem Ausdruck 
Monat den Mond, sofern er während einer bestimmten Zeit die 
Erde beleuchtet u. s. w. ?). Das erhellt aber freilich aus allen die- 
sen Beispielen, wie wenig es den Stoikern möglich war, dem 
Unkörperlichen irgend eine Realität beizulegen. 

Ganz vollständig wollte ihnen diess allerdings mit aller An- 
strengung nicht gelingen. Auch die Stoiker konnten nicht läug- 
nen, dass es gewisse Dinge gebe, die sie unmöglich für Körper 
erklären konnten. Sie rechneten dahin im Besonderen den leeren 
Raum, den Ort, die Zeit und das Gedachte (λεχτὸν) ?); wiewohl 


1) Pıur. comm. not. 45,5. S. 1084: Χρυσίππου Ben ἐν τῷ πρώτῳ 
τῶν φυσιχῶν ζητημάτων οὕτω προσάγοντος" ,,οὐχ ἣ μὲν Ar σῶμά ἐστιν, ἣ δ᾽ ἑσπέρα 
εν R , ἐς ᾿ "» 
χαὶ ὁ ὑρθρος χαὶ τὸ μέσον τῆς νυχτὸς γα πᾳ οὐχ ἔστιν: οὐδὲ Ai Rage: vos 

hi x 
ἐστιν, οὐχὶ δὲ χαὶ ἧ ἐπρνα Ge χαὶ ἢ ea χαὶ BEER ιἰδεχάτη χαὶ ἢ τριαχὰς 
τός.. 
τ; 


2) Dioc. 151 ἤν: χειμῶνα μὲν εἶναί φασι ἐν ee ἧς ἀέρα χατεψυγμένον διὰ 
ἍΦΙῚ μ τ 4 τ 
\ 


ἐ 


N 
τὴν τοῦ ἡλίου πρόσω ἄφοδον, ἔαρ δὲ τὴν εὐχρασίαν τοῦ ἀέρος χατὰ τὴν πρὸς 
πορείαν, θέρος δὲ τὸν ὑπὲρ γῆς ἀέρα χαταθαλπόμενον u. 5. w. ὅτοΒ. ΕΚ]. I, 260 f.: 
Chrysipp definire ἔαρ ἔτους ὥραν χεχραμένην Ex χειμῶνος ah Ah war θέρους 
ἀρχομένου .. θέρος δὲ ὥραν τὴν μάλιστ᾽ ἀφ᾽ ἡλίου διαχεχαυμένην μετόπωρον δὲ ὥραν 
ἔτους τὴν μετὰ θέρος μὲν πρὸ χειμῶνος δὲ κεχραμένην᾽ χειμῶνα δὲ ὥραν ἔτους τὴν 
μάλιστα κατεψυγμένην, ἢ τὴν τῷ περὶ γῆν ἀέρι κατεψυγμένην. Ebd.: nach Empe- 
dokles und den Sioikern entstehe der Winter durch das Vorherrschen der Luft, 
der Sommer durch das des Feuers. Ebd. 8. 556: uetz δ᾽ ἐστὶ, φησὶ en; 
τὸ φαινόμενον τῆς παν τὰν mp0; ἡμᾶς, ἢ σελήνη μέρος ἔχουσα φαινόμενον πρὸς ἡμᾶς. 
Kırosenes Meteora $. 112 unterscheidet vier Bedeutungen von μήν: in den 
zwei ersten bezeichne es etwas Körperliches, in den andern, als Zeitbestim- 
mung, ein Unkörperliches. 

3) Dioc. VII, 140£. ὅτοβ. Ekl.1,392. Sext. Math. X, 218 fl. 227, VI, ı1. 
Vu, 38. Pyrrh. 11, 81. III, 52; vgl. 8. 78, 1. 


112 Stoiker. 


sie aber diese vier Dinge für unkörperlich hielten, wollten sie 
doch nicht behaupten, dass dieselben gar nicht existiren, vielmehr 
wird die letztere Meinung als eine vom Dogma der Schule abwei- 
chende Privatansicht bezeichnet ἢ). Wie diess aber mit den Sätzen 
über die alleinige Realität des Körperlichen vereinigt werden sollte, 
wird uns nicht gesagt. 

Wir müssen die Frage aufwerfen, wie die Stoiker zu diesem 
Materialismus gekommen sind. Man könnte ihn zunächst aus ihrer 
sensualistischen Erkenntnisstheorie ableiten. Aber theils schloss 
diese an sich die Möglichkeit nicht aus, von dem Sinnlichen auf 
ein Uebersinnliches zu schliessen; theils kann man ebensogut auclhı 
umgekehrt sagen, ihr Sensualismus sei eine Folge ihres Materia- 
lismus, sie führen alle Vorstellungen aufdie Wahrnehmung zurück, 
weil sie ausser dem körperlichen kein wesenhaftes Sein kennen. 
Das Richtigere wird daher sein, dass beide, ihr Sensualismus und ihr 
Materialismus, die gleiche Richtung des Denkens erkennen lassen 
und aus den gleichen Ursachen hervorgegangen sind. Nur wird 
es nicht genügen, in dieser Beziehung auf den Zusammenhang der 
Stoiker mit der peripatetischen und der vorsokratischen Philoso- 
phie zu verweisen. Beim ersten Anblick könnte man allerdings 
glauben, mit ihrer übrigen Physik haben sie auch ihren Materialis- 
mus von Heraklit entlehnt; oder könnte man sich denselben aus 
der Entwicklung der platonisch -aristotelischen Metaphysik erklä- 
ren: wenn Aristoteles die platonische Trennung der Form von 
der Materie so weit aufgehoben hatte, dass er jene, mit wenigen 
Ausnahmen, nur in dieser existiren liess,. so mochte es Anderen 
noch folgerichtiger scheinen, auch ihre begriflliche Trennung auf- 
zuheben, und die Form zu einer blossen Eigenschaft der Materie 
zu machen. Lagen doch in der Lehre von der ausserweltlichen 
Gottheit und der leidenslosen Vernunft, ja schon in dem Gegensatz 
der Form und des Stoffes, wie sich nicht läugnen lässt, Schwierig- 
keiten, zu deren Ueberwindung das aristotelische System nicht die 
Mittel darbot 2); wurden doch schon vor Zeno Aristoxenus und 
Dieäarchus, unmittelbar nach ihm Strato, von der peripatetischen 
Grundlage aus zu materialistischen Ansichten geführt ?). Aber doch 


1) Vgl. 8.79, 1. 
2) Vgl. Bd. II, b, 686 ff. 
3) Ebd. 8. 717 f. 


u 


Materialismus. 113 


müssen wir Bedenken tragen, uns bei dieser Erklärung zu beru- 
higen. Der peripatetischen Schule scheint sich der Stifter des 
Stoieismus nach allem, was über seinen Bildungsgang berichtet 
wird, mehr, als allen andern, fernegehalten zu haben; und auch 
in den Angaben über die stoische Lehre weist nichts darauf hin, 
dass dieselbe durch eine Kritik des platonisch -aristotelischen 
Dualismus gewonnen wurde, es erscheint vielmehr darin als eine 
. selbstverständliche, keines weiteren Beweises bedürftige Voraus- 
setzung, dass alles, was wirkt oder leidet, ein Körper sein müsse. 
Was Heraklit betrifft, so setzt der Anschluss der Stoiker an diesen 
_ Philosophen ihren Materialismus eher schon voraus, als dass er 
ihn erklärte. Die lebendige Ueberlieferung der heraklitischen 
Philosophie war ja in der Zeit, als Zeno auftrat, längst erloschen ; 
es kann daher nicht ein unmittelbarer geschichtlicher Zusam- 
menhang.und ein ursprüngliches Abhängigkeitsverhältniss, son- 
dern nur die nachträgliche Wahrnehmung ihrer Verwandtschaft 
gewesen sein, was diesen zu Heraklit zurückführte; seine eigen- 
thümliche Weltanschauung war nicht die Folge, sondern der 
Grund seines Heraklitismus. Mögen mithin diese Momente bei dem 
Materialismus der Stoiker auch mitgewirkt haben, sein entschei- 
.dendes Motiv können sie nicht gewesen sein. Dieses wird viel- 
mehr eben da liegen, wo überhaupt der Mittelpunkt ihres Systems 
liegt, in dem praktischen Charakter der stoischen Philosopkie. Ur- 
sprünglich mit ihrem ganzen Interesse den praktischen Fragen zu- 
gewendet, stellten sich die Stoiker in ihrer theoretischen Welt- 
ansicht zunächst auf den Standpunkt der gewöhnlichen Vorstel- 
lung, welche keine andere Wirklichkeit kennt, als das sinnlich 
wahrnehmbare , körperliche Sein. Sie suchten in der Metaphysik 
vor Allem eine feste Grundlage für’s menschliche Handeln 1); im 
Handeln stehen wir aber dem Objekt unmittelbar und empirisch 
gegenüber, wir müssen es ohne Umstände in seiner sinnlichen 
Realität, wie es sich uns darbietet, anerkennen, und haben nicht 
Zeit, an derselben zu zweifeln; es beweist uns dieselbe praktisch, 
indem es auf uns einwirkt und sich unserer Einwirkung darbietet; 
das unmittelbare Subjekt und Objekt dieser Einwirkung sind aber 
immer nur Körper, und selbst die Wirkung auf das Innere der 


1) S. ο. 54, 4. 
Philos. ἃ. Gr. III. Bd. 1. Abth. 8 


114 Stoiker. 


Menschen stellt sich zunächst als eine körperliche (durch Stimme, 
Geberde u. s. f.) dar, immaterielle Wirkungen kommen in unserer 
unmittelbaren Erfahrung nicht vor. Eben dieser Standpunkt ist 
es nun, welchen die Stoiker einnehmen: ein Wirkliches ist, was 
auf uns wirkt, oder Einwirkungen von uns erfährt, und da nun 
ein solches zunächst nur die Körper sind, die Stoiker aber ver- 
möge ihres einseitig praktischen Standpunktes nicht über dieses 
zunächst Liegende hinausgehen, so müssen sie die Körperwelt für 
das einzige Reale erklären. 

Aus dieser Annahme scheint nun freilich zu folgen, dass nur 
die Einzelvorstellungen wahr seien, die allgemeinen Begriffe da- 
gegen müssten sammt und sonders falsch sein. Denn wenn schon 
alles Vorgestellte (das λεχτὸν) ein Unkörperliches sein soll, und 
somit ein Unwirkliches sein müsste 1), so gilt diess in noch höhe- 
rem Grade von der Vorstellung eines Allgemeinen. Die Einzel- 
vorstellungen haben zwar unmittelbar gleichfalls nur ein Vorge- 
stelltes, also nichts Körperliches, zum Inhalt, aber sie beziehen 
sich doch mittelbar auf ein Körperliches. Den Begriffen dagegen 
entspricht nicht einmal mittelbar ein solches: sie sind rein subjek- 
tive Gedanken, die nichts Wirkliches zum Gegenstand haben. Und 
die Stoiker behaupten diess ja auch ausdrücklich 2). Dass nun. 
aber diesen gegenstandslosen Begriffen nichtsdestoweniger eine 
höhere Wahrheit und Sicherheit zukommen soll, als den Einzel- 
vorstellungen , diess ist, wie schon früher bemerkt wurde, ein 
Widerspruch, zu dessen Lösung das stoische System auch nicht 
das Geringste gethan hat. 

Auf einer andern Seite wurden die Stoiker durch ihren Ma- 
lerialismus zu auffallenden physikalischen Behauptungen hinge- 
trieben. Wenn die Eigenschaften der Dinge und ebenso auch die 
Seele und die ihr analogen Kräfte Körper sind, so ist das Sein der 
Eigenschaften in den Dingen und der Seele im Leibe das Sein 
eines Körpers in einem andern, eine stoflliche Mischung ?); und 
da nun die wesentlichen Eigenschaften eines bestimmten Stoffes 
allen Theilen desselben zukommen, und die Seele allen Theilen 


1) Vgl. 8. 78. 111,3. 
8) 8.8. 71,8, 
3) Vgl. 8. 89, 3. 


rn 


Materialismus. Mischung der Stoffe. 115 


des Leibes innewohnt, ohne dass doch die Seele dasselbe wäre, 
wie der Leib, oder eine Eigenschaft dasselbe, wie eine andere 
mit ihr verbundene Eigenschaft, oder wie die Substanz, der beide 
anhaften, so muss behauptet werden, es können einem Körper 
andere Körper in der Art beigemischt sein, dass sie nicht blos in 
ihre leeren Zwischenräume aufgenommen werden, sondern alle 
ihre Theile durchdringen, ohne doch desshalb mit ihnen zu einem 
und demselben Stoff zusammenzugehen 1); es muss mithin nicht 
allein die Undurchdringlichkeit der Körper geläugnet, sondern es 
muss auch angenommen werden, dass der kleinere Körper, welcher 
einem grösseren so beigemischt wird, sichüber den ganzen Umfang. 
desselben ausdehne. Diess ist die stoische Lehre von der χρᾶσις 
δι᾿ ὅλων, welche sich einerseits von einer blos mechanischen Ver- 
mengung dadurch unterscheiden soll, dass bei derselben jeder 
Theil eines Körpers von einem Theil des ihm beigemischten durch- 
drungen ist, andererseits von der vollkommenen chemischen Mi- 
schung dadurch, dass die Gemischten ihre Eigenthümlichkeit be- 
wahren 2). Aus naturwissenschaftlichen Gründen lässt sich diese 


᾽ 


1) Man nehme 2. Β. ein Stück glühendes Eisen. Dieses ist in allen seinen 
Theilen. schwer, hart, heiss u. s. w. Keine dieser Eigenschaften ist mit der 
andern oder mit dem Eisen selbst identisch, jede durchdningt das ganze Eisen. 
Wird nun jede, wie die Stoiker behaupten, durch die Anwesenheit eines be- 
stimmten Stoffes hervorgebracht, so lässt sich der Folgerung gar nicht ent- 
gehen, dass in dem Eisen, und zwar in allen Theilen desselben, so viele ver- 
schiedene Stoffe, als es Eigenschaften sind, anwesend seien, von denen doch 
keiner seine Eigenthümlichkeit als dieser besondere Stoff aufgiebt. 

2) Dıoc. VII, 151: καὶ τὰς χράσεις δὲ διόλου γίνεσθαι, χαθά φησιν ὃ Χρύσιππος 
ἐν τῇ τρίτη τῶν φυσιχῶν͵ χαὶ μὴ χατὰ περιγραφὴν καὶ παράθεσιν " καὶ γὰρ εἰς πέλαγος 
ὀλίγος οἶνος βληθεὶς ἐπὶ ποσὸν ἀντιπαρεχταθήσεται εἶτα δυμφθαρήσεται. Genauer 
Stop. Ekl. I, 374 f.: die Stoiker unterscheiden die παράθεσις, μῖξις, χρᾶσις, 
σύγχυσις. Die παράθεσις ist σωμάτων συναφὴ κατὰ τὰς ἐπιφανείας, wie bei der 
Vermengung verschiedener Getreidearten; die μῖξις dagegen δύο ἢ χαὶ πλειόνων 
σωμάτων ἀντιπαρέχτασις δι᾽ ὅλων, ὑπομενουσῶν τῶν συμφυῶν περὶ αὐτὰ ποιοτήτων, 
wie bei der Verbindung des Feuers mit dem Eisen und der Seele mit dem 
Körper; näher jedoch soll eine solche Mischung zwischen trockenen Körpern 
μῖξις, zwischen flüssigen, wie Wasser und Wein, χρᾶσις genannt werden. Die 
σύγχυσις endlich ist δύο ἢ χαὶ πλείονων ποιοτήτων περὶ τὰ σώματα μεταβολὴ εἰς 
ἑτέρας διαφερούσης τούτων ποιότητος γένεσιν, wie bei der Mischung von Salben 
oder Arzneien. Wenig abweichend auch Arex. Arır. De mixt. 142, a, m: 
Chrysippus unterscheide drei Arten der μίξις (im weiteren Sinn): die παράθεσις, 


5. Ξ 


116 Stoiker. 


eigenthümliche Annahme, eine von den. vielbestrittenen Unter- 
scheidungslehren des stoischen Systems 1), nicht wohl ableiten; 
vielmehr lassen uns auch die Beweise, mit denen» sie Chrysippus‘ 
gestützt hatte, ihr letztes Motiv in metaphysischen Erwägungen, 


oder diejenige Vermengung mehrerer Substanzen, bei welcher jede derselben 
ihre οἰκεία οὐσία und ποιότης χατὰ τὴν περιγραφὴν (in, gesondertem Dasein) 
behalte, wie bei der Mischung von Bohnen und Waizen (was Chrysipp auch 
χαθ᾽ ὁρμὴν παραχείσθαι nennt); die σύγχυσις, bei welcher sowohl die Substanzen 
als ihre Eigenschaften als solche aufgehoben werden (φθείρεσθαι) und ein dritter 
Körper aus ihnen entstehe, wie bei der Bereitung von Arzneien; die χρᾶσις, 
welche er definire als διὸ [l. δύο] ἢ χαὶ πλειόνων τινῶν σωμάτων ὅλων δι᾽ ὅλων 
ἀντιπαρέχτασιν ἀλλήλοις οὕτως, ὥστε σώζειν ἕχαστον αὐτῶν ἐν τῇ μίξει τῇ τοιαύτῃ 
τήν τε οἰχείαν οὐσίαν nal τὰς ἐν αὐτῇ ποιότητας. Die so gemischten Stoffe können 
daher auch wieder getrennt werden (vgl. auch 143, a, m); aber doch sollen 
sie so verbunden sein, ὡς μηδὲν μόριον ἐν αὐτοῖς εἶναι μὴ μετέχον πάντων τῶν ἐν 
αὐτῷ [1]. τῷ] μίγματι (142, a, u.). — Soll nun eine Mischung dieser Art möglich 
sein, so muss es für's-Erste möglich sein, dass ein Körper alle Theile eines 
andern durchdringe, ohne sich mit ihm zu Einem Stoff zu verbinden; und 
daher die Behauptung: σῶμα διὰ σώματος ἀντιπαρήχειν (Iron. a. a. O.), σῶμα 
σώματος εἶναι τόπον χαὶ σῶμα χωρεέϊν διὰ σώματος χενὸν μηδετέρου περιέχοντος ἀλλὰ 
τοῦ πλήρους εἰς τὸ πλῆρες ἐνδυομένου (Prur. c. not. 37, 2. 8. 1077 — weiter 8. m. 
_ hierüber Arex. a. a. ©. 142, b,m. Tuenıust. Phys. 37, a, o. Sımer. Phys. 123, 
b, m, welche beide auf Alexander a. a. Ο. und im Commentar zur Physik ver- 
weisen, Hırporyr. Refut. haer. I, 21); sodann muss bei dieser gegenseitigen 
Durchdringung, wenn sie zwischen Körpern von ungleicher Grösse stattfindet, 
der kleinere sich über den ganzen Umfang des grösseren ausdehnen, und 
Chrysippus-behauptete diess im weitesten Sinn, οὐδὲν ἀπέχειν φάμενος, οἴνου 
σταλαγμὸν Eva χεράσαι τὴν θάλατταν, ja εἰς ὅλον τὸν χόσμον διατενέϊν τῇ χράσει 
τὸν σταλαγμόν (Prur. ἃ. ἃ. O. s. 10 vgl. ὃ. 7 — das Gleiche über diese παρ- 
ἔχτασις, nebst dem Beispiel vom Weintropfen, b. Arzx, 142, b, o. Dioec. 
a.a.0.). Der grössere Körper sollte nämlich.dem kleineren zu Hülfe kommen, 
um ihm eine Ausdehnung möglich zu machen, die ihm an sich nicht möglich 
wäre (Atex. ἃ. ἃ. O.). Nichtsdestoweniger aber sollen die gemischten Stoffe 
nicht nothwendig einen grösseren Raum einnehmen, als ihn vorher einer von 
ihnen allein eingenommen hatte (Arvex. 142, b, u. Prorın Enn. IV, 7, 8. 
S. 463,C Fie. 860, 14 Cr.). Ueber die Ungereimtheiten, zu welchen diese Be- 
hauptungen hinführen, hatte sich schon Arcesilaus lustig gemacht (Pıur. 
ἃ. ἃ. 0.7); ausführlich bestreitet sie ALEXANDER, ebenso PLUTARCH, SEXTUS 
und Prorin ἃ. ἃ. a. Ὁ. Der ganzen Frage hat der Letztere die Abhandlung 
(Enn. II, 7) περὶ τῆς δι ὅλων χράσεως gewidmet. 

1) Πολλὰ μὲν γὰῤ λέγεται περὶ χράσεως καὶ σχεδὸν ἀνήνυτοι περὶ τοῦ προχει- 
μένου σχέμματός εἰσι παρὰ τόϊς Δογματιχοὶς στάσεις. Sext. Pyrrh, III, 56 vgl. 
vor. Anm. 


+ 
Materialismus, Mischung der Stoffe. 117 


‚wie die oben erörterten, suchen !); dass es wirklich darin liege, 
können wir um so weniger bezweifeln, da sie sich auf diesem 


x 
“ 


1) Nach Arex. 142, a, unt. f. hatte Chrysippus für seine Annahme ange- 
führt: 1) sie entspreche den χοινοὶ ἔννοιαι, wir haben von der χρᾶσις, so wie 
er ihren Begriff bestimmte, eine andere Vorstellung, als von der σύγχυσις und 
der παράθεσις. 2) Manche Körper dehnen sich, unter Beibehaltung ihrer 
Eigenschaften, zu einem weit grösseren Umfang aus, wie der Weihrauch bei 
der Verbrennung oder das Gold in Folge gewisser Zusätze. 3) Die Seele‘ 
durehdringe den ganzen Körper, ohne doch ihre unterscheidende Eigenthüm- 
lichkeit zu verlieren; ebenso die φύσις die Pflanze, die ἕξις das von ihr Zu- 
sammengehaltene; und das Gleiche gelte 4) von dem Feuer im glühenden 
‚Eisen, von Feuer und Luft in Wasser und Erde, von Giften und Riechstoffen 
'in dem damit Vermischten, vom Licht, welches die Luft durchdringe. Von 
diesen Gründen theilt uns aber der erste, welchen man ebensogut für jede 
andere Behauptung geltend machen könnte, offenbar das ursprüngliche Motiv 
der chrysippischen Lehre nicht mit. Ebensowenig ohne Zweifel der zweite, 
denn die Erscheinungen, die dieser beibringt, liessen sich gerade so gut, 
theils durch die Voraussetzung einer blossen Vermengung (παράθεσις) oder 
einer vollkommenen Mischung (σύγχυσις) des Goldes mit anderen Stoffen und 
des Weihrauchs mit der Luft, theils (mit Aurx. 143, a, 0.) durch die Bemer- 

kung erklären, wenn der Weihrauch sich in einen dünneren Körper verwandle, 
müsse er freilich mehr Raum einnehmen. Auch was unter Nr. 4 angeführt ist, 
nöthigt keineswegs,‘neben der mechanischen und der chemischen Mischung 
noch eine dritte anzunehmen, welche in der unmittelbaren Wahrnehmung 50 
wenig Anhalt findet, und zu so erheblichen Schwierigkeiten führt, wie die 
stoische χρᾶσις, ausser sofern man eben von der Voraussetzung der Körper- 
lichkeit aller Eigenschaften ausgeht; abgesehen davon konnte die Wärme 
recht wohl, nach peripatetischer Ansicht, als Eigenschaft’ oder Zustand des 
glühenden, das Licht als ein bestimmter Zustand des durchsichtigen Körpers 
behandelt werden (vgl. Arrx. 143, a, o. b, m), während für Anderes die An- 
nahme einer παράθεσις oder σύγχυσις ausreichte. Selbst der Umstand, welchem 
an sich das meiste Gewicht beizulegen wäre, und welchen die Stoiker geltend 
zu machen auch nicht versäumten (8. ὁ. und Arrx. 143, a,m. b, m. Sros. 
I, 378), dass aus manchen Mischungen die Stoffe, aus denen sie beste en, 
sich wieder ausscheiden lassen, war schwerlich von entscheidender Bedeu- 
tung. So lange sich wenigstens die Kenntniss des Thatbestands in dieser 
Beziehung auf so vereinzelte Fälle und so rohe Versuche beschränkte, wie 
der bei Sroe. angeführte (wenn man in eine Mischung von Wasser und Wein 
einen geölten Schwamm tauche, ziehe sich das Wasser in den Schwamm und 
der Wein bleibe allein zurück), und so lange die von den Stoikern so gut, wie 
von den Peripatetikern, vertheidigte substantielle Umwandlung der Stoffe 
festgehalten wurde, konnte einem Gegner die Antwort nicht schwer werden. 
Dagegen liess sich allerdings das Verhältniss der Seele zum Leib, der Eigen- 
schaft zum Substrat, der φύσις zum φυτὸν, der Gottheit zur Welt, nicht wohl 


φι 
118 Stoiker. 


Wege aus den materialistischen Voraussetzungen des stoischen 
Systems vollständig erklärt. 

So scharf aber dieser Materialismus auch ausgeprägt, und so 
rücksichtslos er durchgeführt ist, so weit sind doch die Stoiker 
andererseits von der mechanischen Naturerklärung entfernt, welche 
wir als die unvermeidliche Folge eines strengeren Materialismus 
zu betrachten gewohnt sind; ihre ganze Weltansicht ist vielmehr 
nichtsdestoweniger eine dynamische, der Begriff der Kraft der 
höhere gegen den des Stoffes. Nur das Körperliche, lehren die 
Stoiker, ist ein Wirkliches. Aber das unterscheidende Merkmal 
des Wirklichen finden sie in der Ursächlichkeit, in der Fähigkeit, 
zu wirken und zu leiden !). Diese Fähigkeit zu wirken kommt 
aber dem Stoffe nur zu, sofern ihm gewisse Kräfte inwohnen, und 
ihm bestimmte Eigenschaften mittheilen; denken wir uns dagegen 
den reinen, eigenschaftslosen Stoff, der allen bestimmten Stoffen 
zu Grunde liegt, und aus dem alle Dinge gebildet sind 5), so haben 
wir das rein Passive, dasjenige, was jede Veränderung erleidet, 
jede Form und Eigenschaft annimmt, an sich selbst dagegen keine 
Eigenschaft besitzt und keine Veränderung zu bewirken im Stande‘ 
ist 5). Erst die Eigenschaften gestalten den wirkungs- und bewe- 


anders, als auf dem von Chrysippus eingeschlagenen Weg erklären, wenn 
man einmal die Körperlichkeit der Seele, der φύσις, der ἕξις, der Gottheit, 
voraussetzte. In dieser Instanz werden wir daher den eigentlichen Grund der 
stoischen Lehre von der χρᾶσις finden und Sımenicıus Recht geben müssen, 
wenn er dieselbe zunächst hieraus ableitet; Phys. 123, Ὁ, m: ro δὲ σῶμα διὰ 
σώματος χωρεῖν ol μὲν ἀρχαΐοι ὡς ἐναργὲς ἄτοπον ἐλάμβανον, οἱ δὲ ἀπὸ τῆς στοᾶς 
ὕστερον προςήχαντο ὡς ἀχολουθοῦν ταῖς σφῶν αὐτῶν ὑποθέσεσιν... σώματα γὰρ 
λέγειν πάντα δοχοῦντες, χαὶ τὰς ποιότητας χχαὶ τὴν Ψυχὴν, χαὺ διὰ παντὸς δρῶντες 
τοῦ σώματος χαὶ τὴν ψυχὴν χωροῦσαν χαὶ τὰς ποιότητας ἐν ταῖς χράσεσι, συνεχώρουν 
σῶμα διὰ σώματος χωρεῖν. 

1) 8. 0. 80, 2. 107, 1. 

2) Μ. 5. über diese ἄποιος ὕλη als das allgemeine ὑποχείμενον oder die οὐσία 
χοινὴ S. 88 ἢν, und Sexr. Math. X, 312: ἐξ ἀποίου μὲν οὖν χαὶ ἑνὸς σώματος τὴν 
τῶν ὅλων ὑπεστήσαντο γένεσιν ol Στωϊκοί. ἀρχὴ γὰρ τῶν ὄντων χατ᾽ αὐτούς ἐστιν ἣ 
ἄποιος ὕλη χαὶ δι" ὅλων τρεπτὴ, μεταβαλλούσης τε ταύτης γίνεται τὰ τέσσαρα στοι- 
χεία, πῦρ ἃ. 5. w. Prur. c. not. 48, 2. 5. 1085: ἣ ὕλη χαθ᾽ αὑτὴν ἄλογος οὖσα 
χαὶ ἄποιος. Μ. Αὐμπει, ΧΙ], 80: μία οὐσία χοινὴ, χἂν διείργηται ἰδίως ποιοῖς σώμασι 
μυρίοις. Diossenes 187: τὰ δὴ τέτταρα στοιχεῖα εἶναι ὁμοῦ τὴν ἄποιον οὐσίαν 
τὴν ὕλην. 


3) 8.8. 119,5. 


- 


Βεύξι τι πὰ κει. 4 119 


gungslosen Stoff 1); alle Eigenschaften setzen aber eine Spannung 
des sie erzeugenden Pneuma, und also auch eine diese Spannung 
bewirkende Kraft voraus ?). Selbst die Gestalt der Körper und die 
Raumerfüllung ist nach der Ansicht der Stoiker etwas Abgeleite- 
tes, eine Folge der Spannung, welche die Theile derselben in 
einer bestimmten Weise auseinanderhält 57}; ja wie neuere Natur- 
philosophen die Materie aus der Expansiv- und Attraktivkraft 
eonstruirten, so führten sie die Dinge auf zwei Kräfte, oder ge- 
nauer auf eine doppelte Art der Bewegung zurück, die Verdich- 
tung und die Verdünnung: jene sollte nach innen gehen, diese 
nach aussen, von jener sollte das Sein, oder was hiemit gleichbe- 
deutend ist, die’Körperlichkeit, von dieser die Eigenschaften der 
Dinge herrühren 4). So entschieden daher die Körperlichkeit alles 
Wirklichen von den Stoikern behauptet wird, so unterscheiden 


sie doch innerhalb des Körperlichen selbst wieder zwei Principien: 


das Leidende und das Wirkende, den Stoff und die Kraft °). Dass 


1) Prur. Sto. rep. 43; 5. o. 89, 1. s 

2) 8. 0. 89, 1..2. 108, 2. 4. 

3) Sımer, Categ. 67, ε (Schol. 74, a, 10): τὸ τοίνυν σχῆμα οἱ Στωϊκοὶ τὴν 
τάσιν παρέχεσθαι λέγουσιν, ὥσπερ τὴν μεταξὺ τῶν σημείων διάστασιν. διὸ χαὶ εὐθεῖαν 
δρίζονται γραμμὴν τὴν εἰς ἄχρον τεταμένην. Wir dagegen ἐροῦμεν nat’ ᾿Αριστοτέλην, 
μὴ εἶναι τάσιν τὴν τοῦ σχήματος αἰτίαν. 

4) ϑιμριν. ebd. 68, ε: οἱ δὲ Στωϊχοὶ δύναμιν, ἢ μᾶλλον κίνησιν τὴν μανωτιχὴν 
χα: πυχνωτιχὴν τίθενται, τὴν μὲν ἐπὶ τὰ ἔσω, τὴν δὲ ἐπὶ τὰ ἔξω: χαὶ τὴν μὲν τοῦ 
εἶναι, τὴν δὲ τοῦ ποιὸν εἶναι. νομίζουσιν αἰτίαν. ΝΈΜΕΒ. nat. hom. ὁ. 2, 8. 29: εἰ 
δὲ λέγοιεν, καθάπερ οἱ Erwixdt, τονιχήν τινα εἶναι κίνησιν περὶ τὰ σώματα, εἰς τὸ ἔσω 
ἅμα χαὶ εἰς τὸ ἔξω χινουμένην, χαὶ τὴν μὲν εἰς τὸ ἔξω μεγεθῶν χαὶ ποιοτήτων ἀπο- 
τελεστιχὴν εἶναι, τὴν δὲ εἰς τὸ ἔσω ἑνώσεως χαὶ οὐσίας. Bestätigt wird diese An- 
gabe durch das, was $. 108, 4 aus Censorin angeführt ist, und Prur. Def. 
orac. c. 28, Schl. 8. 425, der von Chrysipp sagt: πολλάχις εἰρηχὼς, ὅτι ταῖς 
εἰς τὸ αὑτῆς μέσον ἣ οὐσία χαὶ ταῖς ἀπὸ τοῦ αὐτῆς μέσου διοικείται καὶ συνέχεται 
χινήσεσι. 

5) Dıos. VII, 184: δοχεῖ δ᾽ αὐτοῖς ἀρχὰς εἶναι τῶν ὅλων δύο, τὸ ποιοῦν χοὶ τὸ 
πάσχον. τὸ μὲν οὖν πάσχον εἶναι τὴν ἄποιον οὐσίαν τὴν ὕλην, τὸ δὲ ποίοῦν τὸν ἐν 
αὐτῇ λόγον τὸν θεόν. τοῦτον γὰρ ὄντα ἀΐδιον διὰ πάσης αὐτῆς δημπουργεῖν ἕκαστα. 
So lehre Zeno, Kleanthes, Chrysippus, Archedemus, Posidonius. SexT. 
Math. IX, 11: οἱ ἀπὸ τῆς στοᾶς δύο λέγοντες ἀρχὰς, θεὸν καὶ ἄποιον ὕλην, τὸν μὲν 
θεὸν ποιεῖν ὑπειλήφασι τὴν δὲ ὕλην πάσχειν τε χαὶ τρέπεσθαι. Ebenso Auex. Arnr. 
De mixt. 144, a, m. Acmırr. ΤΆΤ. Isag. ec. 3, 124, E. Pıur. pl. phil. I, 3, 39. 
Stop. Ekl. I, 306. Ders. I, 322 (nach dem 5. 86, o aus Zeno Angeführten 


120 Stoiker. 


dagegen dieser wirkenden Ursache, mit Plato und Aristoteles, die 
formale und die Endursache als gleich ursprünglich zur Seite ge- 
stellt werde, wollten sie nicht zugeben. Wenn nämlich eine Ur- 
sache im. Allgemeinen zwar alles dasjenige genannt werden kann, 
was zur Herbeiführung eines bestimmten Erfolges dient 1), wei- 
terhin jedoch zwischen verschiedenen Arten von Ursachen zu un- 
terscheiden ist, welche den Erfolg näher oder entfernter, voll- 


ständig oder theilweise bedingen 2), so lässt sich als die Ursache 


‚im höchsten Sinn , wie die Stoiker glauben, nur die wirkende Ur- 


über die ὕλη): διὰ ταύτης δὲ Sıddeiv τὸν τοῦ παντὸς λόγον ὃν ἔνιοι εἱμαρμένην χαλοῦ- 
σιν, οἷόνπερ ἐν τῇ γονῇ τὸ σπέρμα. SEnECcA ep. 65, 2: dieunt, ut scis, Stoici 
nostri, duo esse in rerum natura, ex quibus omnia fiant: causam et materiam. 
materia jacet iners, res ad omnia parata, cessatura si nemo moveat. causa 
autem, i. e. ratio, materiam format et guocunque vult versat, ex üla varia opera 
producit. esse ergo debet, unde fiat aliquid, deinde a quo fiat. hoc causa est, lud 
materia, was dann sofort mit einem aristotelischen Beispiel, an der Bildsäule, 
ihrem Stoff und dem Künstler erläutert wird. Ebd. 23: universa ex materia 
et ex Deo constant ... potentius autem est ac pretiosius quod facit, quod est 
Deus, quam materia "patiens Dei. 

1) Sen. a. a. Ὁ. 11: nam si, quocumque remoto quid eflici nom potest, id 
causam judicant esse faciendi u.s.w. Sext. Math.IX, 228: εἶ αἴτιόν ἐστιν οὗ παρ- 
ὄντος γίνεται τὸ ἀποτέλεσμα. Diess scheint die allgemeinste stoische Definition 
zu sein; die bei Sexr. Pyrrh. III, 14: τοῦτο, δι᾽ ὃ ἐνεργοῦν γίνεται τὸ ἀποτέλεσμα, 
von Sext. selbst als eine den verschiedenen Schulen gemeinsame bezeichnet, 
drückt bereits einen engeren Begriff, den der wirkenden Ursache aus, die aber 
freilich den Stoikern allein für grundwesentlich gilt. 

2) Sexr. Pyrrh. III, 15 unterscheidet in dieser Beziehung, nach stoischem 
Vorgang, die συνεχτιχὰ, συναίτια und συνεργὰ αἴτια, d. ἢ. die im strengen Sinn 
bewirkenden, die zusammenwirkenden und die mitwirkenden Ursachen; doch 
fallen diese alle unter das δι᾿ ©, von dem dort allein gehandelt wird; Sexeca 
a. a. OÖ. sagt, nach der angegebenen weiteren Definition der Ursache müsste 
auch die Zeit, der Ort, die Bewegung zu den Ursachen gerechnet werden, da 


h 


auch ohne diese nichts geschehen könne; aber es sei (8. 14) zwischen der, 


causa eficiens und superveniens zu unterscheiden. Die letztere Unterscheidung 
fällt mit der von Cıcero De fato 18, 41 aus Chrysipp angeführten der causae 
perfectae et principales von den adjuvantes et proximae und der platonisch- 
aristotelischen des αἴτιον öl ὃ und οὗ οὐχ ἄνευ zusammen, worüber B. II, a, 
487 ff. b, 250, 2 z. vgl. Aehnlich wird bei Prur. Sto. rep. 47, 4f. S. 1056 die 
αἰτία αὐτοτελὴς und προχαταρχτιχὴ unterschieden. Aurx. Arur. De fato 5, 72 
Or. wirft den Stoikern vor: σμῆνος γὰρ αἰτίων καταλέγουσι, τὰ μὲν προχαταρχτι- 
χὰ, τὰ δὲ συναίτια, τὰ δὲ ἑχτιχὰ, τὰ δὲ συνεχτιχὰ, τὰ δὲ ἄλλο τι. Vgl. Orertı 


z. 4. St. 


Die wirkende Ursache. 121 


΄ 


sache betrachten. Die Form wird dem Werke vom Künstler auf- 
geprägt: sie ist nur ein Theil der wirkenden Ursache. Das Urbild 
ist nur ein Werkzeug, dessen er sich bei seinem Schaffen bedient. 
Der Endzweck ist, sofern man dabei an die Absicht des Künstlers 
denkt, eine blosse Gelegenheitsursache; sofern er in dem zu er- 
zeugenden Werke liegen soll, nicht Ursache, sondern Verursach- 
tes. Die eigentliche und unbedingte Ursache kann nur Eine sein, 
wie ja der Stoff auch nur Einer ist: Alles was ist und geschieht, 
muss von der wirkenden Ursache hergeleitet werden 1). 

Wollen wir uns nun von dieser Ursache eine genauere Vor- 
stellung bilden, so liegt zunächst, wie die Stoiker glauben, am 
Tage, dass alle Mirkungen in letzter Beziehung von Einem Princip 
ausgehen: denn wie könnte die Welt diese festgeschlossene Ein- 
heit, dieses durchaus einstimmige Ganze sein, wenn sie nicht von 
einer und derselben Kraft beherrscht würde? ?) Da ferner alles 
Wirkende ein Körperliches ist, müssen wir uns auch die höchste 
wirkende Ursache körperlich denken, und da alle Eigenschaften 
und Kräfte von gewissen feuer - oder dunstartigen Stoffen herrüh- 
ren, kann es sich bei ihr nicht anders verhalten 3. Sehen wir 
doch, dass die Wärme es ist, an welche die Ernährung und das 
Wachsthum, das Leben und die Bewegung allenthalben gebunden 


1) Seneca a. a. O., nach Aufzählung der vier aristotelischen Ursachen, 
denen das platonische Urbild als fünfte beigefügt wird: Diese turba causarum 
umfasse zu viel oder (vgl. vor. Anm.) zu wenig. ‚Sed nos nunc primam et 
generalem quaerimus causam. haec simplex esse debet, nam et materia simplex 
est. quaerimus, quae sit causa, ratio scilicet faciens, id est Deus. ἐβίω enim 
quaecumque retulistis, non sunt multae et singulae causae, sed ex una pendent, 
ex ea, quae faciet u. 5. f. (wie im Text). Vgl. Sror. Ekl. I, 336 ἢ: αἴτιον δ᾽ ὃ 
Ζήνων φησὶν εἶναι δι᾽ 6. ... Χρύσιππος αἴτιον εἶναι λέγε: öl 6. ... Ποσειδώνιος δὲ 
οὕτως. αἴτιον δ᾽ ἐστί τινος δι᾽ ὃ ἐχεῖνο, ἢ τὸ πρῶτον ποιοῦν ἢ τὸ ἀρχηγὸν ποιήσεως. 

2) Cıc. N. De. II, 7, 19, nach einer Erörterung über die consentiens, con- 
spirams, continuata cognatio rerum (die συμπάθεια τῶν ὅλων s. u.), wie sie sich 
in dem Zusammenhang des Irdischen und des Himmlischen, dem regelmässi- 
gen Wechsel der Jahrszeiten, dem ‘Einfluss des Mondes auf Ebbe und Fluth, 
dem Lauf der Gestirne zeige: haec ita fieri omnibus inter se concinentibus 
mundi partibus profecto non possent, nisi ea uno divino et continuato spirit 
continerentur. Das Gleiche wird b. Sexr. Math. IX, 78 fi. ausgeführt. Vgl. 
was 8. 108, 2 aus Alexander mitgetheilt ist, und was tiefer unten über die 
Einheit der Welt beizubringen sein wird. 

3) Was nach dem 8, 89. 107 f. Bemerkten gar keines Beweises bedarf. 


122 Stoiker. 


ist, dass alle Dinge ihre natürliche Wärme in sich haben, und alle 
durch die Himmelswärme erhalten und belebt werden. Was von 
allen Theilen der Welt gilt, das muss auch von dem Weltganzen 
gelten: die Wärme oder das Feuer ist die Kraft, auf welche.wir 
das Leben und den Bestand der Welt zurückführen müssen "). 
Diese Kraft muss aber zugleich als die Seele der Welt, als die 
höchste Vernunft, als ein gütiges, wohlthätiges, menschenfreund- 
liches Wesen, als Gottheit bestimmt werden. Schon die Allge- 
meinheit des Götterglaubens und der Götterverehrung beweist 
diess, wie die Stoiker glauben, unwidersprechlich ?), und eine ge- 
nauere Untersuchung kann es nur bestätigen. Denn der Stoff kann 
sich nicht selbst bewegen und gestalten; nur eine Kraft, die ihn 
durchdringt, wie uns die Seele, kann diess bewirken®). Die Welt 
könnte nicht das Beste und Vollkommenste sein, wenn nicht Ver- 
nunft in ihr wäre 5); sie könnte keine mit Bewusstsein begabten 


1) Cıc.a. a. Ο. 9, 23 fi. (vgl. II, 14, 35 ἢ), wie es scheint nach Klean- 
thes, der 9, 24 genannt ist: alles Lebende, Pflanzen und Thiere, lebe durch 
die Wärme, nam oOmne, quod est calidum et igneum, eietur et agitur motu suo. 
Die Verdauung, der Schlag des Herzens und der Adern sei Folge der Wärme; 
ex quo intelligi debet, eam caloris naturam vim habere in se vitalem per omnem 
mundum pertinentem. Aber noch mehr: omnes partes mundi ... calore fultae 
sustinentur. In Erde und Steinen sei Feuer, sonst könnte man es nicht heraus- 
schlagen; das Wasser, besonders das frische Quellwasser, sei warm, nament- 
lich im Winter, und wie wir uns durch Bewegung erwärmen, so das Meer 
durch.den Wellenschlag. Vom Wasser, aus dem sie ausdünstet, habe auch 
die Luft ihre Wärme. Jam vero religqua quarta pars mundi, ea et ipsa tota 
natura fervida est, et ceteris naturis omnibus salutarem impertit et vitalem calo- 
rem. ex quo concluditur, cum omnes mundi partes sustineantur calore, mundum 
etiam ipsum simili parique natura in tanta diuturnitate servari; eoque magis, ὦ 
quod intelligi debeat, calidum iüllud atque igneum ita in omni fusum esse natura, 
ut in eo insit procreandi vis u. 8. w. 

2) Ueber diesen Beweis e consensu gentium 5. m. Prur. Sto. rep. 38, 3. 
comm. not. 32, 1. Cıc. N. D. II, 2,5. Sexeca Benef. IV,4. Sexr. Math. IX, 
123 fi. 131 ff., wo verschiedene Wendungen desselben, u. A. auch eine zeno- 
nische, angeführt werden. 

3) Wie diess bei Sexr. Math. IX, 75 ff. zwar im Anschluss an die be- 
kannte aristotelische Beweisführung (s. Bd. II, b, 271 £.), aber doch im stoischen 
Sinn ausgeführt wird. 

4) Cıc. N. De. III, 9, 22: Zeno enim ita concludit: quod ratione utitur, 
melius est, gquam id, quod ratione non utitur. nihil autem mundo melius. ratione 
igitur mundus utitur. Dasselbe ebd. II, 8, 21 vgl. 12, 32 und bei Sexr. Math. 


Die wirkende Ursache. 123 


Wesen in sich schliessen) wenn sie selbst ohne Bewusstsein 
wäre !), keine beseelten und vernünftigen Geschöpfe hervorbrin- 
gen, wenn sie nicht beseelt und vernünftig wäre ?); die Wirkun- 
gen, welche die menschliche Kraft so weit übersteigen, könnten 
nicht vorhanden sein, wenn nicht eine Ursache da wäre, deren 
Vollkommenheit ebenso weit über die des Menschen hinausgeht °); 
die Zweckmässigkeit, von welcher die ganze Einrichtung der 
Welt, bis auf’s Kleinste herunter, beherrscht ist, wäre ohne einen 
vernünftigen Welturheber unerklärlich 5); die Stufenreihe der 


kun! 


IX, 104: εἰ τὸ λογιχὸν τοῦ μὴ λογικοῦ χρεῖττόν ἐστιν, οὐδὲν δέ γε χόσμου χρεῖττόν 
ἐστι, λογιχὸν ἄρα ὃ χόσμος ... τὸ γὰρ νοερὸν τοῦ μὴ νοεροῦ χαὶ ἔμψυχον τοῦ μὴ 
ἐμψύχου κρεῖττόν ἐστιν" οὐδὲν δέ γε κόσμου κρεῖττον νοερὸς ἄρα καὶ ἔμψυχός ἐστιν 6 
κόσμος. Ebenso bei Dıoc. 142 f.: dass die Welt ein ζῷον χαὶ λογιχὸν χαὶ ἔμ.- 
ψυχον χαὶ νοερὸν sei, beweise Chrysipp, Apollodor, Posidonius. τὸ γὰρ ζῷον 
τοῦ μὴ ζῴου χρείττον" οὐδὲν δὲ τοῦ χόσμου χρεῖττον" ζῷον ἄρ᾽ ὃ χόσμος. 

1) Cıc. ἃ. ἃ. Ὁ, U, 8, 22: Zeno sagt: nullius sensu carentis pars aliqua 
potest esse sentiens. mundi autem partes sentientes sunt. non igitur caret sensu 
mundus. ‘ 

2) Dioc. 143: ἔμψυχον δὲ [τὸν κόσμον], ὡς δῆλον Er τῆς ἡμετέρας ψυχῆς ἐχεῖ- 
θεν οὔσης ἀποσπάσματος. Sext. Math. IX, 101: Ζήνων δὲ ὁ Κιττιεὺς ἀπὸ Ξενοφῶν- 
τος (vgl. Bd. II, a, 118. 3 und ebd. 439, 1 über Plato) τὴν ἀφορμὴν λαβὼν οὑτωσὶ 
συνερωτᾷ᾽ τὸ προϊέμενον σπέρμα λογικοῦ χαὶ αὐτὸ λογιχόν ἐστιν" ὃ δὲ χόσμος προΐεται 
σπέρμα λογικοῦ. λογικὸν ἄρα ἐστὶν ὃ χόσμος. Der gleiche Beweis schon IX, 77. 
84 f. und bei Cıc. a. a. Ὁ. vgl. ebd. II, 31, 79 und 6, 18, wo gleichfalls 
auf die von Sexr. IX, 94 angeführte xenophontische Stelle (Mem. 1, 4, 8) ver- 
wiesen wird. 

3) Cıc. a. a. Ὁ, IH. 10, 25: is [Chrysippus] igitur: si aliquid est, inquit, 
quod homo eficere non possit, qui id efficit melior est homine. homo autem haec, 
quae in mundo sunt, eflicere nom potest. qui potuit igitur, is praestat homini. 
homini autem praestare quis possit, nisi Deus? est igitur Deus. (Das Gleiche, 
etwas ausführlicher, ebd. II, 6, 16.) Unter diesen Beweis fällt der Sache nach 
auch der von den Stoikern mit Vorliebe behandelte aus der Thatsache der 
Weissagung, auf den wir noch Kap. 5 und 11 kommen werden. 

4) Ueber diese Teleologie wird noch später gesprochen werden. Zur Be- 
weisführung für das Dasein der Götter hatte sie namentlich Kleanthes ver- 
wendet. Die vier Gründe, aus denen er bei Cıc. N. D. II, 5 den Götterglauben 
ableitet, gehören alle der teleologischen Beweisführung an, namentlich aber 
der vierte, von ihm selbst als der Hauptgrund bezeichnete, die geordnete 
Bewegung und die Sehönheit des Himmels. So wenig ein Gebäude ohne 
Baumeister, ebensowenig und noch weniger könne das Weltgebäude ohne 
einen weltregierenden Geist gedacht werden. Hieran schliesst sich dann bei 
Cicero der ebenangeführte Beweis des Chrysippus unmittelbar an. Sehr aus- 


# 


124 Stofker. 


Wesen wäre unvollständig, wenn es nicht ein höchstes Wesen 


gäbe, dessen Vollkommenheit auch in sittlicher und geistiger Be-. 


ziehung keine Steigerung zulässt 1). Wenn endlich diese Voll- 
kommenheit zunächst zwar dem Weltganzen als solchem zu- 
kommt ?), so muss doch in der Welt, wie in jedem zusammen- 
gesetzten Wesen, von den übrigen Theilen der beherrschende 
Theil unterschieden werden, in dem sie ihren ursprünglichen 
Ort hat, und von dem aus alle wirkenden Kräfte durch die 
Welt sich ergiessen 5); mag nun der Sitz dieser weltbeherr- 


schenden Kraft mit Zeno, Chrysippus und der Mehrzahl der 


Stoiker in den Himmel %), oder mit Kleanthes in die Son- 


führlich wird bei demselben N. De. II, 32 — 66, auf stoischer Grundlage, die 
physikotheologische Begründung des Vorsehungsglaubens entwickelt; kürzer 
von ΚΙΒΟΜΕΡΕΒ (Stoiker des 2ten christl. Jahrh.) Meteora 8, 1. Sexeca De 
provid. 1, 1,2—4. nat. qu. I, prooem. 14 f. und bei Sexr, Math. IX, 111 ff. 
Vgl. Ps. Censorın Fragm. 1, 2. S. 75 Jahn. Prur. place. I, 6, 8: der Götter- 
glaube sei aus der Betrachtung der Welt und ihrer Schönheit, namentlich der 
Gestirne, entstanden, was auch Serxr. Math. IX, 26 ff. anführt. 

1) M. 5. wie Kleanthes bei Sexr. Math. IX, 88— 91, und ähnlich schon 
s. 86 f., und der Stoiker bei Cıc. N. De II, 12, 33 ff. diesen schon von Aristo- 
teles (5. Bd. II, Ὁ, 272, 3) ausgesprochenen Gedanken ausführt. Bei Cicero 
werden vier Klassen von Wesen unterschieden: Pflanzen, Thiere, Menschen 
und das Wesen, welches ganz vernünftig und vollkommen ist, die Gottheit. 

2) Vgl. 5. 121,2. 122, 1-4. 123.1.2 u. A. 

3) Sexr. Math. IX, 102 (in Ausführung des $. 123, 2 angeführten zeno- 
nischen Beweises): πάσης γὰρ φύσεως χαὶ ψυχῆς ἣ χαταρχὴ τῆς χινήσεως γίνεσθα!: 
δοχέί ἀπὸ ἡγεμονιχοῦ καὶ πᾶσαι αἱ ἐπὶ τὰ μέρη τοῦ ὅλου ἐξαποστελλόμεναι δυνάμεις 
ὡς ἀπό τινος πηγῆς τοῦ ἡγεμονικοῦ ἐξαποστέλλονται ἃ. 5. w. Cıc. a. ἃ. Ο. 11, 29 
(nach Kleanthes): omnem enim naturam necesse est, quae nom solitaria sit, ne- 
que simplex, sed cum alio juncta atque connexa, habere aliquem in se prineipa- 
tum [= ἥγεμονιχὸν], ut in hominie mentem u. 8. w.... itaque necesse est, lud 
etiam, in quo sit totius naturae principatus, esse omnium optimum. Vgl. folg. 
Anmerk. : 
4) Cıc. Acad. II, 41, 126: Zenoni et reliquis fere Stoieis aether videtur 
summus Deus, mente praeditus, qua omnia regantur. N. De. I, 14, 36: (Zeno) 
aethera Deum dicit. 15, 39: ignem praeterea et eum, quem amtea diei, aethera 
(Ohrysippus Deum dieit esse). Dıos. VII, 138: οὐρανὸς δέ ἐστιν ἣ ἐσχάτη περι- 
φέρεια, ἐν I πᾶν ἵδρυται τὸ θεῖον. Ebd. 139: τὸν ὅλον χόσμον ζῷον ὄντα χαὶ ἔμ- 
Ψυχον χαὶ λογιχὸν ἔχειν ἡγεμονικὸν μὲν τὸν αἰθέρα, χαθά φησιν ᾿Αντίπατρος ... 
Χρύσιππος δ᾽... χαὶ Ποσειδώνιος... τὸν οὐρανόν φασι τὸ ἡγεμονιχὸν τοῦ χόσμου " 
(was aber mit der Behauptung, dass es der Aether sei, zusammenfällt, denn 
der Aether ist eben.der Stofl' des οὐρανὸς, der höchste und reinste Theil des obe- 


Die wirkende Ursache. 125 


ne !), oder mit Archedemus in die Mitte der Welt ?) verlegt 
werden. Dieser Urquell alles Lebens und aller Bewegung, die 
oberste Ursache und die höchste Vernunft ist die Gottheit: die 
eigenschaftslose Materie und die Gottheit sind die letzten Gründe 
der Dinge °). 


ren Feuers — s. u. —; es ist daher kein Widerspruch, sondern nur eine ge- 
nauere Bestimmung, wenn Diogenes fortfährt: ὃ μέντοι Χρύσιππος διαφορώτερον 
πάλιν τὸ καθαρώτερον τοῦ αἰθέρος ἐν ταὐτῷ [= ἐν τῷ οὐρανῷ], ὃ καὶ πρῶτον θεὸν 
λέγουσιν, αἰσθητιχῶς ὥσπερ κεχωρηχέναι διὰ τῶν ἐν ἀέρι καὶ διὰ τῶν ζῴων ἁπάντων. 
χαὶ φυτῶν, διὰ δὲ τῆς γῆς αὐτῆς nad’ ἕξιν. Arıus Dıpymus bei Eus. praep. ev. 
„XV, 15,4: Χρυσίππῳ δὲ [ἡγεμονιχὸν τοῦ χόσμου εἶνα! ἤρεσε] τὸν αἰθέρα τὸν χαθα- 
. ρώτατον χαὶ εἱλιχρινέστατον, ἅτε πάντων εὐχινητότατον ὄντα χαὶ τὴν ὅλην περιάγοντα 
τοῦ χόσμου φύσιν. Ders. ebd. XV, 20, 2: die Seele der Welt sei nach den 
Stoikern der Aether, welcher Erde und Meer umgebe. Corsur. Nat. De. 8. 8 
Os.: Zeus soll im Himmel wohnen, ἐπεὶ Ext ἐστὶ τὸ χυριώτατον μέρος τῆς τοῦ 
χόσμου ψυχῆς. Wenn Terrurzıan (Apologet. 47. Ad nat. Il, 2. 4) statt dessen 
den Stoikern einen ausserweltlichen, die Welt von aussen her drehenden 
Gott zuschreibt, so ist diess nur einer von den vielen Beweisen seiner Leicht- 
fertigkeit und Unwissenheit in Sachen der Philosophie; denn mit der Vermu- 
thung, dass sich diess auf die später zu besprechenden Ansichten des Bo@thus 
beziehe, würden wir der Gelehrsamkeit des Kirchenvaters ohne Zweifel viel 
zu viele Ehre anthun. N“ 

1) στο. Acad. a. a. Ὁ. Cleanthes ... solem dominari et rerum potiri [= 
χρατεῖν τῶν ὄντων] putat. Minder genau (vgl. Krısche Forsch. 428 f.) N. De. I, 
14, 37: er halte den Aether für die eigentliche Gottheit; doch schliesst sich 
beides nicht aus: er identificirte ohne Zweifel den Aether (von αἴθω) mit dem 
calor (s. ο. 8. 122, 1) und liess ihn von der Sonne aus sich verbreiten. Dıoe. 
1589: Κλεάνθης δὲ. [τὸ ἥγεμονιχὸν φησὶ] τὸν ἥλιον. Ar. Dipymus a. a. O.: ny&o- 

γιχὸν δὲ τοῦ χόσμου Κλεάνθε: μὲν ἤρεσε τὸν ἥλιον εἶναι διὰ τὸ μέγιστον τῶν ἄστρων 

ὑπάρχειν χαὶ πλεῖστα συμβάλλεσθαι πρὸς τὴν τῶν ὅλων διοίχησιν ἃ. 5. w. SToB. 
Ekl. I, 452. Ps. Cessorın Fragm. 1,4. Nach Erırnax. Exp. fid. 1090, € 
nannte er die Sonne den δαδοῦχος des Weltalls. 

2) 5108. a. a. O.: ᾿Αρχίδαμος (1. mit Cod. A. ᾿Ἀρχέδημος) τὸ ἡγεμονιχὸν τοῦ 
χόσμου ἐν γῇ ὑπάρχειν ἀπερήνατο. Ebenso, ohne Nennung eines Namens, Ar. 
Dipyuus a. ἃ. Ὁ. Es erinnert diess an die pythagoreische Lehre vom Central- 
feuer, die uns Bd. I, 302 ff. auch in stoisirender Fassung begegnet ist. (Aehn- 
lich hatte Speusippus die Weltseele mit dem Centralfeuer verknüpft. 8. 
Bd. II, b, 655.) Noch grösser zeigt sich diese Verwandtschaft, wenn Sımer.. 
De coelo, Schol. in Ar. 505, a, 45 mit der Angabe Recht hat, Archedemus 
habe mit den Pythagoreern bestritten, ‘dass die Erde in der Mitte der Welt 
liege; nur wird er in diesem Fall das Ayzwovıxbv nicht in dem Innern der Erde 
selbst, sondern eben in dem Centralfeuer, um das sie sich bewegen sollte, 
gesucht haben. 

3) Vgl. 8. 119, 5. 121,1. Arısrokı. bei Evs. pr. ev. XV, 14: ororyeiov 


126 Stoiker, 


In den Aussagen der Stoiker über die Gottheit tritt nun bald _ 
die stoflliche, bald die geistige Seite ihres Gottesbegriffes stärker 
hervor, in der Regel jedoch werden beide zu Ausdrücken ver- 
knüpft, welche ihr Auffallendes eben nur dann verlieren, wenn 
wir sie im Zusammenhang der stoischen Anschauungen auffassen. 
Die Gottheit wird als Feuer, als Aether, als Luft, am Häufigsten 
jedoch als der Hauch oder das Pneuma bezeichnet, das alle Dinge 
ohne Ausnahme, das Schlechteste und Hässlichste so gut, wie das 
Schönste, durchdringe 1). Sie wird aber ebenso auch als die Seele, 
der Geist oder die Vernunft der Welt, als das einheitliche Ganze, 
das alle Keimformen in sich enthalte, als der Zusammenhang 
der Dinge, das allgemeine Gesetz, die Natur, das Verhängniss, 
die Vorsehung, als das vollkommene, selige, allgütige, allwissende 
Wesen beschrieben 35), und es wird natürlich mit leichter Mühe 


εἶναί φασι (die Stoiker) τῶν ὄντων τὸ πῦρ, καθάπερ "Hoazisıros, τούτου δ᾽ ἀρχὰς 
ὕλην χαὶ θεὸν, ὡς Πλάτων u. A. \ 

1) Mehreres siehe 8. 122, 1. 124 ἢ, HırroLyrtes Refut. haer. I, 21: 
Chrysippus und Zeno nahmen an, ἀρχὴν μὲν θεὸν τῶν πάντων, σῶμα ὄντα τὸ 
καθαρώτατον (der Aether). Dıos. 148: Antipater bezöichne die οὐσία θεοῦ 415. 
ἀεροειδής. Stop. ΕΚ]. I, 60: Mnesarchus (Schüler des Panätius) definire die 
Gottheit als τὸν χόσμον τὴν πρώτην οὐσίαν ἔχοντα ἐπὶ πνεύματος. m. ἃ. W. 
als das πνεῦμα, so wie es Urstoff der Welt ist (8. u.) Sexr. Pyrırh, III, 218: 
Στωϊχοὶ δὲ [λέγουσι θεὸν] πνεῦμα διῆχον χαὶ διὰ τῶν εἰδεχθῶν (das Widrige). 
Auex. Αρηπ, zu Metaph. 995, b, 81 (Schol. in Ar. 607, a, 19): τοῖς ἀπὸ τῆς 

Tom ἔδοξεν ὁ θεὸς χαὶ τὸ ποιητιχὸν αἴτιον ἐν τῇ ὕλῃ εἶναι. Derselbe De mixt, 144, 
a, m, wo ihnen zugeschrieben wird: πνεύματι ὡς διὰ πάντων διήχοντι ἀνάπτειν 
τό τε εἶναι ἑκάστου χαὶ τὸ σώζεσθαι χαὶ συμμένειν, vgl. was S. 108, 2 angeführt ist 
und De an. 145, a, o: [τὸν νοῦν] χαὶ ἐν τοῖς φαυλοτάτοις εἶναι θεῖον ὄντα, ὡς τοῖς 
ἀπὸ τῆς στοᾶς ἔδοξεν. Lucıan Hermot. 81: ἀχούομεν δὲ αὐτοῦ λέγοντος, ὡς χαὶ ὃ 
θεὸς οὐχ ἐν οὐρανῷ ἐστιν, ἀλλὰ διὰ πάντων πεφοίτηχεν, οἷον ξύλων χαὶ λίθων χαὶ 
ζῴων, ἄχρι za τῶν ἀτιμωτάτων. Tertunı. ad nation. II, 4: Zeno lasse Gott 
durch die materia mundialis hiudurchgehen, wie Honig durch die Waben. 
Vgl. 8. 89, 3. Kuesens Strom. V, 591, A: φασὶ γὰρ σῶμα εἶναι τὸν θεὸν ol Στωϊ- 
χοὶ χαὶ πνεῦμα χατ᾽ οὐσίαν, ὥσπερ ἀμέλει χαὶ τὴν ψυχήν. Ebd. I, 295, C: (οἱ Zr.) 
σῶμα ὄντα τὸν θεὸν διὰ τῆς ἀτιμοτάτης ὕλης πεφοιτηχέναι λέγουσιν οὐ χαλῶς. Pro- 
trept. 44, A: τοὺς ἀπὸ τῆς στοᾶς, διὰ πάσης ὕλης, καὶ διὰ τῆς ἀτιμοτάτης, τὸ θείον - 
διήχειν λέγοντας. Orıc. c. Cels. VI, 71: τῶν Στωϊκῶν φασχόντων ὅτι ὃ θεὸς πνεῦμά 
ἐστι διὰ πάντων διεληλυθὸς χαὶ πάντ᾽ ἐν ἑαυτῷ περιέχον. Von den Gegnern, wie 
Οκιο. ἃ. ἃ. O. und I, 21. Auex. De mixt. ἃ. ἃ. Ὁ. Pı.ur. comm. not. 48, wird 
ihnen natürlich dieser Materialismus hinreichend vorgerückt. 

2) Sros, ΕΚ]. I, 58; 5. folg. Anm. Diog. 138 (nach Chrysippus und Posi- 


Die Gottheit. 127 


donins): τὸν δὴ χόσμον οἰκεῖσθαι χατὰ νοῦν χαὶ πρόνοιαν... εἰς ἅπαν αὐτοῦ μέρος 
διήχοντος τοῦ νοῦ καθάπερ ἐφ᾽ ἡμῶν τῆς ψυχῆς ἀλλ᾽ ἤδη δύ ὧν μὲν μᾶλλον, δι᾽ ὧν 
δὲ ἧττον. Populärer ebd. 147: θεὸν εἶναι ζῷον ἀθάνατον λογιχὸν τέλειον ἢ νοερὸν 
ἐν εὐδαιμονία, καχοῦ παντὸς ἀνεπίδεχτον, προνοητιχὸν κόσμου TE Kal τῶν ἐν χόσμῳ" 
μὴ εἶναι μέντοι ἀνθρωπόμορφον. εἶναι δὲ τὸν μὲν δημιουργὸν τῶν ὅλων χοὶ ὥσπερ 
πατέρα πάντων χοινῶς τε χαὶ τὸ μέρος αὐτοῦ τὸ διῆχον διὰ πάντων, ὃ πολλαῖς προς- 
“ηγορίαις προςονομάζεσθαι χατὰ τὰς δυνάμεις. Puäpr. Nat. De, (PruLopem. x. εὐσε- 
βείας) 60]. 1 (4) f. (und aus ihm Cıc. N. D. I, 15, 39 £.): nach Chrys. sei Zeus 
die κοινὴ φύσις, εἱμαρμένη, ἀνάγχη τι. 5. w. Ebd. 60]. 3: er halte den νόμος für 
eine Gottheit (Cıc. ἃ. ἃ. O.: legis perpetuae et aeternae vim . . . Jovem dieit esse). 
Tarsıst. De an. 72, b, u.: τοῖς ὑπὸ fl. ἀπὸ] Ζήνωνος .... διὰ πάσης οὐσίας πεφοι- 
τηχέναι τὸν θεὸν τιθεμένοις, χαὶ ποῦ μὲν εἶναι νοῦν, ποῦ δὲ ψυχὴν, ποῦ δὲ φύσιν, ποῦ 
δὲ ἕξιν (hierüber später). Cıc. Acad. II, 37, 119: der Stoiker darf nicht be- 
zweifeln, hunc mundum esse sapientem, habere mentem, quae se et ipsum fabri- 
cata sit, et omnia moderetur, moveat, regat. Ders. N. D. II, 22, 58: ipsius vero 
mundi ... natura non artificiosa solum sed plane artifex ab eodem Zenone di- 
eitur , consultrix et provida utilitatum opportunitatumque omnium. Wie jede 
Natur aus ihrem Stamm sich entwickle: sic natura mundi omnes motus habet 
voluntarios conatusque et appetitiones, quas δρμὰς Graeci vocant, et his con- 
sentaneas actiones sic adhibet ut nosmet ipsi, qui amimis movemur et sensibus; 
wesshalb die mens mundi πρόνοια genannt werde. M. Aurer IV, 40: ὡς ἕν ζῷον 
τὸν χόσμον μίαν οὐσίαν παὶ ψυχὴν μίαν ἐπέχον συνεχῶς ἐπινοεῖν: πῶς εἰς αἴσθησιν 
μίαν τὴν τούτου πάντα ἀναδίδοται χαὶ πῶς δρμῇ μιᾷ πάντα πράσσει. HERAKLIT 
Alleg. Hom. 72. Terrurıran Apologet. 21: hune enim [den λόγος] Zeno 
determinat factitatorem, qui cuncta in dispositione formaverit, eundem et 
fatum vocari et Deum et animum Jovis et necessitatem omnium rerum.‘ haec 
Oleanthes in spiritum congerit, quem permeatorem umiversitatis afırmat. Aehn- 
lieh Lacrant. Inst. IV, 9. I, 5.-, Erırman. Haer. V, 1. 8. 12, a: nach den 
Stoikern sei Gott der νοῦς, welcher der Welt als Seele innwohne und sich 
an die μεριχαὶ οὐσίαι vertheile. Als die Seele der Welt wird Zeus auch von 
Corsurus Nat. De. 2 und bei Pıur. Sto. rep. 39, 2. S. 1052 von Chrysippus 
bezeichnet... Ebd. 34, 5. 5. 1050: ὅτι δ᾽ ἣ χοινὴ φύσις χαὶ ὃ χοινὸς τῆς φύσεως 
λόγος εἱμαρμένη χαὶ πρόνοια χαὶ Ζεύς ἐστιν οὐδὲ τοὺς ἀντίποδας λέληθε" πανταχοῦ 
γὰρ ταῦτα θρυλείται ὑπ᾽ αὐτῶν. ὅτοΒ. ΕΚ]. I, 178: Ζήνων ... [τὴν εἱμαρμένην] δύνα- 
μιν χινητιχὴν τῆς ὕλης κατὰ ταὐτὰ καὶ ὡσαύτως, ἥντινα μὴ διαφέρειν πρόνοιαν χαὶ φύσιν 
χαλέϊν. Ar. Dipymus bei Evs. pr. ev. XV, 15, 2: Gott sorge für die Menschen, 
sei gütig, wohlthätig, menschenfreundlich u. s. w. Der χόσμος heisse Zeus als 
αἴτιος τοῦ ζῆν, εἰμιαρμένη, weil er Alles von Ewigkeit her εἴρομένῳ λόγῳ διοιχεῖ, 
Adrasteia, ὅτι οὐδὲν ἔστιν αὐτὸν ἀποδιδράσχειν, πρόνοια, ὅτι πρὸς τὸ χρήσιμον 
οἰχονομεῖ ἕχαστα. Arıstorses ebd. XV, 14: das Urfeuer enthalte die Ursachen 
und λόγοι von Allem, ihre Verkettung sei das unabänderliche Gesetz und 
Verhängniss der Welt. Sen. Benef. IV, 7, 1: quid enim aliud est natura, quam 
Deus et divina ratio toti mundo et partibus ejus inserta? ... humc eundem et fa- 
tum δὲ dieeris non mentieris, (Aehnlich Fr. 122 bei Lacr. Inst. II, 8, 23.) Nat. 


128 Stoiker. 


r 


gezeigt, dass sich ihr Begriff nicht ohne diese Bestimmungen den- 
ken lasse !). Beiderlei Aussagen werden endlich in der Behaup- 
tung verbunden, Gott sei die feurige Vernunft der Welt, der Geist 
im Stoffe, der vernünftige Hauch, der Alles durchdringe, und je 
nach dem Stoff, dem er inwohnt, verschiedene Namen annehme, 
das künstlerisch bildende Feuer, welches alle Keimformen in sich 


schliessend, nach einem unabänderlichen Gesetze die Welt und 
Η 


΄ 


qu. II, 45, 2: Gott oder Jupiter kann gleich gut Schicksal, Vorsehung, Natur, 
Welt genannt werden So». ΕΚ]. I, 178: ᾿Αντίπατρος ὃ Στωϊχὸς θεὸν ἀπεφήνατο 
τὴν εἱμασμένην. Als der χοινὸς νόμος͵ wird Zeus bei Dıos. VII, 88 bezeichnet, 
und von Kleanthes am Schluss seines Hymnus (5108. ΕΚ]. I, 34) gepriesen, 
und ebenso heisst es bei Cıc. N. ἢ. I, 14, 36 von Zeno: naturalem legem di- 
vinam esse censet, eamque vim obtinere recta imperantem %prohibentemque con- 
traria. Pıvr. c. not. 32, 1. St. rep. 38, 3. 7 (hier nach Antipater): Gott müsse 
als μαχάριος, εὐποιητιχὸς, φιλάνθρωπος, κηδεμονιχὸς, ὠφέλιμος gedacht werden. 
Muson. bei Sro». Floril. 117, 8: Gott ist das Urbild aller Tugenden, μεγαλό- 
φρων, εὐεργετιχὸς, φιλάνθρωπος u. 5. w. Sen. ep. 94, 49: quae causa est Dis 
benefaciendi? natura. errat, si quis illos putat nocere nolle: nom possunt. Wei- 
tere Ausführungen Seneca’s über die wohlthätige Natur der Götter finden sich 
Benef. I, 9. IV, 3—9. 25. 28. Clement. I, 5, 7. nat. qu. V, 18,13 fi. Ueber 
die göttliche Allwissenheit Ders. ep. 83, 1. v. beat. 20, 5. 

1) Nach Cıc. N. Ὁ. II, 30, 75 ff. zerfiel bei den Stoikern (oder doch dem- 
Jenigen, welchen Cicero zunächst im Auge hat, vielleicht Chrysippus =. rpo- 
γοίας) der Beweis des Satzes, dass die Welt durch die göttliche Vorsehung 
regiert werde, in drei Theile. In dem ersten wird gezeigt, w@nn es Götter 
gebe, müsse es auch eine göttliche Vorsehung geben, denn die Götter-müssen 
doch etwas thun, und zwar das Beste, es gebe aber nichts, was besser wäre, 
als die Weltregierung. Wenn ferner die Gottheit das Höchste sei, müsse 
auch die Welt von ihr regiert werden. Das Gleiche wird weiter aus ihrer 
Weisheit und Macht geschlossen, die sich an dem Besten und Grössten am 
Meisten bewähren müsse. Es wird endlich bemerkt, da die Gestirne, der 
Himmel, das Weltganze, alle Kräfte in der Welt göttlich seien, so sei klar, 
᾿ dass Alles von der göttlichen Vernunft regiert werde, Der zweite Theil 
(e. 32 ff.) zeigt, dass die Kraft und Kunst der Natur alle Dinge hervorbringe 
und trage; dann müsse aber um so mehr das so kunstvoll gebildete und so 
harmonisch zusammengesetzte Weltganze von einer natura sentiens gelenkt 
werden; und da nun unläugbar die Welt in allen Theilen nicht schöner und 
zweckmässiger ‚sein könnte, müsse von ibr noch weit mehr, als von irgend 
einem menschlichen Kunstwerk, gelten, dass sie von einer bildenden Ver- 
nunft herrühre. Der dritte Theil (ce. 36 ff.) weist in einer sehr ausführ- 
lichen physikotheologischen Erörterung, auf die wir später noch zurückkom- 
men, nach, quanta sit admirabilitas coelestium rerum'atque terrestrium, x 


Die Gottheit. 129 


die Dinge darin hervorbringe 1). Im Sinne des stoischen Systems 
besagen diese verschiedenen Ausdrücke Ein und dasselbe. Ein 
ganz unerheblicher Unterschied ist es, ob die Urkraft als Hauch, 
oder als Aether, oder als Wärme, oder als Feuer beschrieben 
wird; sie ist Pneuma, sofern die Luftströmungen überhaupt, wie 
wir bereits wissen, dasjenige sind, was den Dingen ihre Eigen- 
thümlichkeit, ihren Zusammenhalt und ihre Gestalt giebt; sie ist 
aber auch Feuer, denn unter jener Luft ist nur die warme Luft 
oder die feurige Flüssigkeit zu verstehen, die bald Aether, bald 
Feuer, bald Wärme genannt ?) und von dem gewöhnlichen Feuer 


1) ὅτοβ. ΕΚ]. I, 58 f.: Διογένης καὶ Κλεάνθης χαὶ Οἰνοπίδης τὴν τοῦ χόσμου 
\ ν ‚ Γ, - 3, \ - ᾽ ν 
ψυχὴν [θεὸν λέγουσι] ... Ποσειδώνιος πνεῦμα νοερὸν χαὶ πυρῶδες, οὐχ ἔχον μὲν 
μορφὴν μεταβάλλον δὲ εἰς ὃ βούλεται χαὶ συνεξομοιούμενον πᾶσιν... Ζήνων ὃ Irwi- 
χὺς νοῦν χόσμου πύρινον. Ebd. 64 (Prour. plac. I, 8, 17): οἱ Στωϊκοὶ νοερὸν [Pr.ur. 
N > r > \ en. ' >_.N\ , ΄ 
κοινότερον] θεὸν ἀποφαίνονται πῦρ τεχνιχὸν ὁδῷ βαδίζον ἐπὶ γενέσει χόσμου (ebenso 
definirt Zeno bei Cıc. N. D. II, 22, 57 die Natur) ἐμπεριειληφὸς [Pl. add. τε] 
πάντας τοὺς σπερματιχοὺς λόγους, 200’ οὖς ἅπαντα [Pl. ἕκαστα] χαθ᾽ εἱμαρμένην 
ῥματικοὺς. λόγους; Ξ BIER ὶ μόρμβεω) 
, x - 5 - x N ve -" x a‘ ‚ 
γίνεται, καὶ πνεῦμα ἐνδιῆχον [Pl. μὲν δι.] δι᾿ ὅλου τοῦ κόσμου, τὰς δὲ προςηγορίας 
μεταλαμβάνον διὰ τὰς τῆς ὕλης, δι᾽ ἧς χεχώρηχε, παραλλάξεις. Nach der gleichen 
Quelle Ατήξνασ. Leg. pro Christ. e. 6. Schl.: εἰ γὰρ ὃ μὲν θεὸς πῦρ τεχνικὸν 
u.s. w. (wortgleich, mit wenigen Varianten, bis γίνεται), τὸ δὲ πνεῦμα αὐτοῦ 
διήχει δι᾿ ὅλου τοῦ χόσμου: ὃ θεὸς εἷς χατ᾽ αὐτοὺς, Ζεὺς μὲν χατὰ τὸ ζέον τῆς ὕλης 
᾽ S x υ x - 
ὀνομαζόμενος, Ἥρα δὲ κατὰ τὸν ἀέρα χαὶ τὰ λοιπὰ καθ᾽ ἕχαστον τῆς ὕλης μέρος, δι᾽ 
ἧς χεχώρηχε, χαλούμενος. Die letztere Angabe, auf die wir später noch zurück- 
kommen müssen, erläutert Dıoe. 147, welcher nach den vor. Anm. angeführten 
Worten fortfährt: Δία μὲν γάρ φασι δι᾿ ὃν τὰ πάντα. Ζῆνα δὲ χαλοῦσι παρ᾽ ὅσον τοῦ 
ζῇν αἴτιός ἐστιν ἢ διὰ τοῦ ζῆν κεχώρηχεν. (Diess auch b. Stop. ΕΚ].1, 48 aus Chrys.) 
᾿Αθηνᾶν δὲ χατὰ τὴν εἰς αἰθέρα διάτασιν τοῦ ἡγεμονιχοῦ αὐτοῦ. Ἥραν δὲ χατὰ τὴν 
εἰς ἀέρα- καὶ Ἥφαιστον zara τὴν εἰς τὸ τεχνιχὸν πῦρ᾽ χαὶ Ποσειδῶνα χατὰ τὴν εἰς 
τὸ ὑγρόν: χαὶ Δήμητραν χατὰ τὴν εἰς γῆν" ὁμοίως δὲ χαὶ τὰς ἄλλας προςηγορίας ἐχό- 
« 7 > In x x - 

βενοί τινος ὁμοιότητος ἀπέδοσαν. PruT. c. not. 48, 2. 5. 1085: τὸν θεὸν... σῶμα 
γοερὸν χαὶ νοῦν ἐν ὕλῃ ποιοῦντες. M. Αὐπει, 5, 82: τὸν διὰ τῆς οὐσίας (der Stoff) 
διήχοντα λόγον τ. 8. w. Porruyr. bei Eus. pr. ev. XV, 16,1: τὸν δὲ θεὸν. 
πῦρ νοερὸν εἰπόντες. Orıs. c. Cels. VI, 71: χατὰ μὲν οὖν τοὺς ἀπὸ τῆς στοᾶς... 
καὶ ὃ λόγος τοῦ θεοῦ ὃ μέχρι ἀνθρώπων za τῶν ἐλαχίστων καταβαίνων οὐδὲν ἄλλο 
ἐστὶν ἢ πνεῦμα σωματιχόν. Auch im Hymnus des Kleanthes bei Sror. Ekl. I, 30 
V.7 fl. tritt diese Verbindung des Physischen und Geistigen im Gottesbegriff 
der Stoiker hervor, wenn Zeus als der ἀρχηγὸς φύσεως geschildert wird, der 
mit dem ewig lebenden Blitze (vgl. Heraklit’s πῦρ ἀείζωον) den zotvog λόγος 
lenke, ὃς διὰ πάντων φοιτᾷ. j 

2) ὅτοβ. ΕΚ]. I, 374: Chrysippus lehrt, εἶναι τὸ ὃν πνεῦμα κινοῦν ἑαυτὸ πρὸς 
ξαυτὸ χαὶ ἐξ αὑτοῦ, ἢ πνεῦμα ἑαυτὸ κινοῦν πρόσωυ καὶ ὀπίσω πνεῦμα δὲ εἴληπται 


Philos. ἃ, Gr. III. Β. 1. Abth. 9 


130 Stoiker. 


ausdrücklich unterschieden 1) wird. Ebenso wird auf der anderen 
Seite durch die Namen: Weltseele, Weltvernunft, Natur, allge- 
meines Gesetz, Vorsehung, Verhängniss das Gleiche bezeichnet: 
die Alles mit absoluter Gesetzmässigkeit bestimmende , die ganze 
Welt durchdringende Eine Urkraft; denn auch die abstrakteren 
Ausdrücke: Gesetz, Vorsehung, Verhängniss, haben für die Stoi- 
ker durchaus reale Bedeutung, und bezeichnen ihnen ursprünglich 
nicht die blosse Form des Weltlaufs und der Welteinrichtung, 
sondern‘ das substantielle Wesen der Welt, als die Macht über 
alles Besondere und Einzelne 5). Soll sich daher die Natur von 
dem Verhängniss, und diese beiden von Zeus doch auch wieder 
unterscheiden ?), so kann doch dieser Unterschied nur darin be- 
stehen, dass diese drei Begriffe das Eine Urwesen auf verschiede- 


διὰ τὸ λέγεσθαι αὐτὸ ἀέρα εἶναι χινούμενον - ἀνάλογον δὲ γίγνεσθαι ἔπειτα [? viel- 
leicht: αὐτὸ oder: πυρὸς ἢ] αἰθέρος, ὥστε χαὶ εἰς χοινὸν λόγον πεσεῖν αὐτά. Dios. 
VII, 187: ἀνωτάτω μὲν οὖν εἶναι τὸ πῦρ ὃν δὴ αἰθέρα καλεῖσθαι. 

1) ὅτοβ. Ekl. I, 538 nach Zeno. Cıc. N. Ὁ. II, 15,.40 nach Kleanthes. 
Der Unterschied wird von beiden dahin angegeben, dass das gewöhnliche 
Feuer (das ἄτεχνον) die Gegenstände, die es ergreift, verzehre, das πῦρ τεχνι- 
»oy, aus welchen die φύσις und die ψυχὴ besteht, dieselben erhalte, belebe 


und wachsen mache. Auch Heraklit hatte unter dem Feuer, das er zum Ur-. 


wesen machte, nicht die Flamme, sondern den Wärmestoff überhaupt ver- 
standen, der ebensogut als luftartiges Wesen, als ψυχὴ, bezeichnet werden 
konnte... 


2) Sexeca De Benef. IV, 7, 2: Gott kann auch das Fatum genannt wer- 


den: nam cum fatum nihil aliud sit quam series implexa causarum, ille est 
"prima omnium causa, ex qua ceterae pendent. Nat. qu.II, 45, 1: vis illum Jatum 
vocare? mon errabis. hic est, 60) quo suspensa sunt omnia, causa causarum. 
Ebenso verhalte es sich mit den Namen der Vorsehung und der Natur. Vgl. 
S. 162, 2. 

3) Stop. Ekl. I, 178 (Pıur. plae. 1, 28, 5): Ποσειδώνιος [τὴν εἱμαρμένην) 
τρίτην ἀπὸ Διός. πρῶτον μὲν γὰρ εἶναι τὸν Δία, δεύτερον δὲ τὴν φύσιν, τρίτην δὲ τὴν 
εἱυαομέψην. Vgl. Cıc. Divin. I, 55, 125, wo die Weissagung, nach Posidonius, 
1) a Deo, 2) a fato, 3) a natura hergeleitet wird. Prur. 6. not. 36, 5. 8. 1077: 
λέγει γοῦν Χρύσιππος, ἐοιχέναι τῷ μὲν ἀνθρώπῳ τὸν Δία καὶ τὸν κόσμον (wofür 
Heise Stoie. de fato ἀοοίν, S. 25, wie mir scheiut ohne Noth, vermuthet: χαὶ 
τῷ μὲν σώματι τὸν χύσμον), τῇ δὲ ψυχῇ τὴν πρόνοιαν: ὅταν οὖν ἐχπύρωσις γένηται 
μόνον ἄφθαρτον ὄντα τὸν Δία τῶν θεῶν ἀναχωρεῖν ἐπὶ τὴν πρόνοιαν, εἶτα ὁμοῦ γενο- 
μέγους ἐπὶ μιᾶς τῆς τοῦ αἰθέρος οὐσίας διατελεῖν ἀμφοτέρους. Anf diesen chrysippi- 
schen Satz bezieht sich Pro incorruptib. m. 901, Β δ, wo die πρόνοια 
gleichfalls die ψυχὴ τοῦ χόσμου genannt wird. 


Die Gottheit. 131 


nen Stufen seiner Offenbarung und Entwicklung darstellen: zur 


. Totalität der Welt entwickelt heisst dasselbe Zeus, als das Innere 


der Welt betrachtet, heisst es Vorsehung oder Verhängniss 1), und 
zum Beweis dieser Identität nimmt sich am Ende jeder Welt- 
periode, wie Chrysippus sagt, Zeus in die Vorsehung zurück ?). 
Aber auch der Gegensatz zwischen der materialistischen und der 
geistigeren Beschreibung der Gottheit verschwindet bei näherer 
Betrachtung, denn nach stoischen Grundsätzen kann dieselbe über- 
haupt nur dann als real gedacht werden, wenn sie als Körper ge- 
dacht wird; wenn sie daher die Seele, der Geist, die Vernunft 
der Welt u. s. f. heisst, so schliesst diess nicht aus, sondern setzt 
vielmehr voraus, dass sie .zugleich ein bestimmter Körper sei, und 
diesen Körper fanden nun die Stoiker in der warmen Flüssigkeit, 
welche sie bald als den alldurchdringenden Hauch, bald als den 
Aether oder das Urfeuer bezeichnen 3). Jede dieser beiden Grund- 
bestimmungen schien ihnen gleich unerlässlich %), und auf stoi- 
schem Standpunkt gleichen sich beide durch die Annahme °) aus, 
dass die Unendlichkeit der göttlichen Vernunft eben auf der Rein- 
heit und Beweglichkeit des Feuerstofls beruhe, aus dem sie be- 


1) So nach Chrysippus. Anders bei Posidonius: hier bezeichnet Zeus 
die Urkraft als solche, die φύσις oder die Naturkraft ihr erstes, die εἱμαρμένη, 
oder die aus den natürlichen Ursachen sich ergebende Weltordnung, ihr 
zweites Erzeugniss. ; 

2) Bei Puor. ἃ. ἃ. O. vgl. Sen. ep. 9, 16: Jovis, cum resoluto mundo et 
Düs in unum confusis paullisper cessante natura acquiescit sibi cogitationibus 
suis traditus. 

ν 3) Vgl. ausser dem vielen früher Angeführten: Cıc. Acad. I, 11, 39: 
(Zeno) statuebat ignem esse ipsam naturam. Dıos. VII, 156: δοχέϊ δὲ αὐτοῖς τὴν 
μὲν φύσιν εἶναι πῦρ τεχνιχὸν 606 βαδίζον εἰς γένεσιν. ὅπερ ἐστὶ πνεῦμα πυροειδὲς χαὶ 
τεχνοειδές. Stop, Ekl. T, 180: Χρύσιππος δύναμιν πνευματικὴν τὴν οὐσίαν τῆς εἷμαρ- 
μένης τάξει τοῦ παντὸς διοιχητιχήν, oder nach anderer Definition Desselben: 
Ξίμαρμένη ἐστὶν ὃ τοῦ χόσμου λόγος, ἢ λόγος τῶν ἐν τῷ χόσμῳ προνοία διοικουμένων 
u. 8. w.; statt λόγος setze er auch ἀλήθεια, φύσις, αἰτία, ἀνάγχη u. A. 

4) 8. 0. 8.121 f. 

5) Cıc. N. D. II, 11, 30: atque etiam*mundi {116 fervor purior, perlueidior 
mobiliorque multo ob easque causas aptior ad sensus commovendos quam_ hic 
noster calor, quo haec quae nota nobis sunt retinentur et vigent. absurdum igitur 
est dicere, cum homines bestiaeque hoc calore teneantur et propterea moveantur 
ae sentiant, mundum ’esse sine sensu, qui integro et puro et libero eodemque 
acerrimo et mobilissimo ardore teneatur. Vgl. Ar. Divyuus in der 8. 124, 4 
angeführten Stelle, und S. 89. 108. 


g* 


132 Stoiker. 


stehe. Wenn es daher Senxeca als wesentlich gleichgültig behan- 
delt, ob die Gottheit für das Fatum oder für das allesdurch- 
dringende Pneuma gehalten werde 1), so folgt er nur den Grund-- 
‘ sätzen seiner Schule; und wenn es andererseits ihre Gegner den 
Stoikern als Widerspruch vorrücken, dass sie dieselbe bald als 
die Vernunft, bald als die Weltseele, bald als das Verhängniss, 
dann wieder als Feuer, als Aether, auch wohl als die Welt selbst 
bezeichnen ?), so ist diess eine Verkennung des Sinnes, in dem 
diese Bezeichnungen von ihnen gebraucht wurden °). 

Je vollständiger aber hiemit die beiden Seiten des Gottes- 
begriffes, die physische und die geistige, zur Einheit zusammen- 
gehen, um so deutlicher stellt sich auch heraus, dass zwischen 
der Gottheit und dem Urstoff kein realer Unterschied stattfindet, 
dass es vielmehr Ein und dasselbe Wesen ist, welches als allge- 
meines Substrat gedacht die eigenschaftslose Materie, als wirkende 
Kraft gedacht der allverbreitete Aether, das allerwärmende Feuer, 
die allesdurchdringende Luft, die Natur, die Weltseele, die Welt- 
vernunft, die Vorsehung, das Verhängniss, die Gottheit ge- 
nannt wird. Stoff und Kraft, Materie und Form sind ja hier 
nicht, wie bei Aristoteles, ursprünglich verschiedene, wenn auch 
von Ewigkeit her verbundene, Principien; sondern die formende 
Kraft wohnt im Stoff als solchem, sie ist an sich selbst etwas 
Körperliches, sie fällt mit dem Aether oder dem Feuerstoff, dem 
Pneuma, zusammen. Der Gegensatz der wirkenden Ursache 
und des Stoffes, der Gottheit und der Materie, führt sich daher 
auf den des Pneuma und der übrigen Stoffe zurück. Auch dieser 


1) Consol. ad Helvid. 8, 3: id actum est, mihi crede, ab illo, quisquis for- 
mator universi fuit, sive üle Deus est potens omnium, sive incorporalis (diess 
freilich ist nicht stoisch) ratio ingentium operum artifex, sive divinus spiritus 
per omnia maxima ac minima aequali intentione [= τόνος] difusus, sive fatum 
et inmutabilis causarum inter se cohaerentium series. Vgl. ὃ. 130, 2. 

2) Cıc. N.D. I, 14 ἢ: Zeno nenne das Naturgesetz göttlich, bezeichne 
aber auch den Aether als Gottheit, dann wieder die Alles durchdringende 
Vernunft (das Weitere, über die Göttlichkeit der Gestirne, wird später anzu- 
führen sein); Kleanthes die Welt, die Vernunft und Seele der Welt, den 
Aether; Chrysippus die Vernunft und die Weltseele, die herrschende 
Vernunft, die communis natura, das Verhängniss, das Feuer und den Aether, 
das Weltganze, das ewige Gesetz. 

3)-Vgl. Krıscne Forsch: 1, 365 ff. 


᾿ 
Gott und Welt. 133 


‚Gegensatz ist aber kein ursprünglicher und letzter: nach stoischer 
Lehre haben sich alle besonderen Stoffe erst im Laufe der Zeit 
aus dem Urfeuer oder der Gottheit entwickelt, und sie werden 
sich am Ende jeder Weltzeit wieder in dasselbe auflösen 1. Es 
ist daher nur ein abgeleiteter und vorübergehender Gegensatz, um 
den es sich hier handelt; fassen wir dagegen den Begriff der 
Gottheit in seiner vollen Bedeutung, so ist sie ebenso als der Ur- 
stoff, wie als die Urkraft zu bezeichnen, die Gesammtheit des 
Wirklichen ist nichts anderes, als das göttliche Pneuma, welches 
sich aus sich heraus und in sich zurückbewegt ?), die Gottheit 
selbst ist das Urfeuer, welches Gott und die Materie dem Keime 
nach in sich trägt ®), die Welt in ihrem pneumatischen Ur- 
zustand *), die allgemeine Substanz, welche in die besonderen 
Stoffe sich umwandelt und sich aus ihnen wiederherstellt, welche 
daher in ihrer reinen Gestalt oder als Gott betrachtet, bald Alles, 
bald nur einen Theil des Wirklichen umfasst 5). 

Schon hieraus ergiebt sich nun, dass die Stoiker auch keinen 
Wesensunterschied zwischen Gott und der Welt zugeben konnten, 
dass ihr System ein streng pantheistisches sein musste. Die 
Welt ist die Gesammtheit des Wirklichen; alles Wirkliche ist aber 
ursprünglich in der Gottheit enthalten, sie ist der Stoff von Allem 
und die wirksame Kraft, welche diesen Stoff zu den Einzelwesen 
gestaltet; es lässt sich daher schlechterdings nichts denken, was 
nicht entweder die Gottheit selbst unmittelbar, oder eine Erschei- 
nungsform der Gottheit wäre. Ihrem Wesen nach sind daher Gott 
und Welt durchaus dasselbe, wie denn auch beide Begriffe von 
den Stoikern ausdrücklich für gleichbedeutend erklärt werden ©); 


1) 8. 8. 130, 3. 131, 2. Weiteres im nächsten Kap. 

2) ΟἬΒΥΒΙΡΡ. s. 8. 129, 2. 

3) ArıstöKues 5. 8. 125, 3. 

4) Msesarcnus bei Stoe. 1, 60; 8. S. 126, 1. 2 

5) Orıe. c. Cels. III, 75. 8. 497, A: Στωϊκῶν θεὸν φθαρτὸν εἰσαγόντων χαὶ 
τὴν οὐσίαν αὐτοῦ λεγόντων σῶμα τρεπτὸν διόλου χαὶ ἀλλοιωτὸν χαὶ μεταβλητὸν zul 
ποτε πάντα φθειρόντων χαὶ μόνον τὸν θεὸν χαταλιπόντων. Ebd. IV, 14: ὃ τῶν Eroi- 
χῶν θεὸς ἅτε σῶμα τυγχάνων ὅτὲ μὲν ἡγεμονιχὸν ἔχει τὴν ὅλην οὐσίαν ὅταν ἣ ἐχπύ- 
βώσις ἦ ὁτὲ δὲ ἐπὶ μέρους γίνεται αὐτῆς ὅταν ἢ διαχόσμησις. 

6) M. vgl. hierüber ausser dem, was 8. 130, 3 aus Chrysippus, ὃ, 132, 2 
aus ihm und Kleanthes angeführt ist, Puaepe. Nat. De. (PuıLopen. π. εὖσε- 


>, 


βείας) col. 5 (8): Διογένης δ᾽ ὃ Βαβυλώνιος ἐν τῷ περὶ τῆς ᾿Αθηνᾶς τὸν χόσμον 


134 Stoiker. 


und wenn sie sich trotzdem auch wieder unterscheiden sollen, so 
kann dieser Unterschied doch immer nur ein abgeleiteter und 


theilweiser sein: das gleiche allgemeine Wesen heisst Gott, wenn‘ 


es in seiner Einheit, Welt, wenn es in seiner Entfaltung, in der 
Mannigfaltigkeit der Formen betrachtet wird, die es im Verlaufe 
seiner Entwicklung annimmt; der Unterschied beider kann daher 
ebensogut auch als eine verschiedene Bedeutung des Ausdrucks 
„Welt“ gefasst werden, sofern damit bald die Gesammtheit des 
Seienden als Ganzes, bald nur das abgeleitete Sein bezeichnet 
wird 19. Nun fällt er allerdings nicht blos in unsere Betrachtungs- 


γράφει τῷ Alt τὸν αὐτὸν ὑπάρχειν, ἢ περιέχειν τὸν Δία καθάπερ ἄνθρωπον ψυχήν. 
Cıc. N. De. II, 17, 45: nichts entspricht der Idee der Gottheit mehr, quam ut 
primum hunc ipsum mundum, quo nihil fieri excellentius potest, animantem esse 
et Deum judicem. Ebd. 13, 34: Die vollkommene Vernunft Deo tribuenda, id 
est mundo. Sen. nat. qu. II, 45, 3: vis Ülum vocare mundum? non falleris. ipse 
enim est hoc quod vides totum, suis partibus inditus et se sustinens et sua. 
Ebd. prolog. 13: quid est Deus? mens universi. quid est Deus? quod vides 
totum et quod non vides totum. sic demum magnitudo sua üi redditur, qua 
nihil majus excogitari potest, si solus est omnia, opus suum et extra et intra tenet. 
Dioe. VII, 148: οὐσίαν δὲ θεοῦ Ζήνων μέν φησι τὸν ὅλον κόσμον χαὶ τὸν οὐρανόν. 
Ar. Dıpyn. bei Eus. praep. ev. XV, 15, 1. 3: ὅλον δὲ τὸν χόσμον σὺν τοῖς ἑαυτοῦ 
μέρεσι προςαγορεύουσι θεόν ... διὸ δὴ καὶ Ζεὺς λέγεται ὁ χόσμος. Orıe. ο. Cels. V,7: 
σαφῶς δὴ τὸν ὅλον κόσμον λέγουσιν εἶναι θεὸν Στωϊχοὶ μὲν τὸ πρῶτον. Auch die 
85,122 f. besprochenen Beweise für das Dasein Gottes setzen durchaus die Identi- 
tät von Gott und Welt voraus. Das Dasein Gottes wird bewiesen, indem die Ver- 
nünftigkeit der Welt bewiesen wird. Eine dichterische Ausführung des stoischen 
Pantheismus giebt Ararus im Eingang der Phänomena, wenn Zeus bier als 
der gepriesen wird, dessen Strassen’ und Märkte, Meer und Hafen voll sind, 
dessen Geschlecht die Menschen sind, und der freundlich den Menschen die 
Zeichen zur Ordnung des Jahres am Himmel befestigt hat. Aus derselben 
Anschauungsweise sind, um Anderes zu übergehen, die bekannten virgili- 
schen Stellen Georg. IV, 220 ff. Aen. VI, 724 ff. geflossen. Auch die runde 
Gestalt des stoischen Gottes (Seneca ep. 113, 22. De m. Claud. 8, 1) Be 
sich auf die Welt als Gott; vgl. Cıc. N. D. I, 17, 46. 

1) Stop. Ekl. I, 444: χόσμον δ᾽ εἶναί φησιν ὃ Χρύσιππος σύστημα ἐξ οὐρανοῦ 
χαὶ γῆς χαὶ τῶν ἐν τούτοις φύσεων: ἢ τὸ Ex θεῶν χαὶ ἀνθρώπων σύστημα χαὶ Ex τῶν 
ἕνεχα τούτων γεγονότων. λέγεται δ᾽ ἑτέρως χόσμος ὃ θεὸς, χαθ᾽ ὃν ἣ διακόσμησις 
γίνεται χαὶ τελειοῦται. Dioc. VII, 137 f.: λέγουσι δὲ χόσμον τριχῶς αὐτόν τὲ τὸν 
θεὸν τὸν &x τῆς ἁπάσης οὐσίας ἰδίως ποιὸν, ὃς δὴ ἄφθαρτός ἐστι χαὶ ἀγέννητος δημε- 
ουργὸς ὧν τῆς διαχοσμήσεως χατὰ Ein τινὰς περιόδους ἀναλίσχων εἰς ἑαυτὸν τὴν 
ἅπασαν οὐσίαν χαὶ πάλιν ἐξ ἑαυτοῦ γεννῶν. χαὶ αὐτὴν δὲ τὴν διαχόσμησιν τῶν ἀστέ- 
ρὼν χόσμον εἶναι λέγουσι χαὶ τρίτον τὸ συνεστηχὸς ἐξ ἀμφοῖν. χαὶ ἔστι χόσμος ἢ 


u κυ Zn EEE 


® Gott und Welt. 135 


weise, sondern er ist auch in der Sache selbst begründet: die Ur- 
kraft als solche, das Urfeuer oder die Urvernunft, ist das ur- 
sprünglich Göttliche, die Dinge, in welche sich dieses Urwesen 
umgewandelt hat, sind nur abgeleiteter Weise göttlich; und inso- 
fern kann die Gottheit, welche in letzter Beziehung das Weltganze 
selbst ist, auch wieder als ein Theil der Welt, als das ἡγεμονικὸν, 
als die Seele der Welt oder der durch Alles hindurchgehende 
feurige Hauch beschrieben werden !). Aber doch ist auch dieser 
Gegensatz theils an und für sich ein blos relativer, denn das, was 
nicht unmittelbar göttlicher Natur ist, ist als eine Erscheinungs- 
form des Urfeuers doch mittelbar göttlich, und wenn auch der Leib 
und die Seele der Welt nicht dasselbe sind, ist doch jener auf 
allen Punkten von dieser durchdrungen 5); theils gilt er jedenfalls 
nur für einen Theil der Weltzustände, wogegen am Ende jeder 
Weltperiode die Gesammtheit der abgeleiteten Dinge in die Ein- 
heit des göttlichen Wesens zurückgeht, und der Unterschied des 
unmittelbar und mittelbar Göttlichen, oder Gottes und der Welt, 
sich wieder aufhebt. Nur von Boethus wissen wir, dass er zwi- ἢ 
schen Gott und der Welt einen Unterschied annahm, durch wel- 
chen er sich von dem stoischen Pantheismus entfernte. Wiewohl 


(nach der ersten Bedeutung des Worts) 6 ἰδίως ποιὸς τῆς τῶν ὅλων οὐσίας 
(die allgemeine Substanz in ihrer bestimmten Qualität), ἢ (zweite Bedeutung), 
ὥς φησι Ποσειδώνιος... σύστημα ἐξ οὐρανοῦ χαὶ γῆς χαὶ τῶν Ev τούτοις φύσεων, ἢ 
(dritte Bedeutung) σύστημα ἐχ θεῶν χαὶ ἀνθρώπων χαὶ τῶν ἕνεχα τούτων γεγονό- 
των. Ar. Dıpysus bei Evs. pr. ev. XV, 15, 1: χόσμος heisse theils τὸ &x πάσης 
τῆς οὐσίας ποιὸν, theils τὸ χατὰ τὴν διαχόσμησιν τὴν τοιαύτην χαὶ διάταξιν ἔχον. 
In jenem Sinn sei die Welt ewig und mit der Gottheit identisch, in diesem 
geworden und veränderlich. (Ebd. auch zwei weitere, mit den chrysippischen 
übereinstimmende Definitionen des χόσμος.) Vgl. auch, was Acn. Tar. Isag. 
ec. 6. 8. 129, B aus dem Mathematiker Diodor anführt. 

1) 8. 8. 126 ff. Wie sehr beides für die Stoiker in einander fliesst, 
kann u. A. Sexeca zeigen, wenn er ἃ. ἃ. O. nat. qu. Prol. 13 f. unmittelbar 
nach einander sagt, Gott müsse die Vernunft der Welt, und: er müsse das 
Weltganze sein, und dann wieder: quid ergo interest inter naturam Dei et 
nostram? mostri melior pars animus est, in ülo nulla pars extra animum est. 
totus est ratio u. 8. w. 

2) Das Verhältniss beider ist, wie schon die stehende Vergleichung mit 
dem Verhältniss von Seele und Leib, und ebenso die $. 126, 1 aus Tertullian 
angeführte zenonische beweist, das einer χρᾶσις δι ὅλων, worüber 8, 114 f. 


2. vgl. 


136 Stoiker. 


er nämlich mit andern Stoikern die Gottheit für eine ätherische 
Substanz hielt !), so wollte er doch nicht zugeben, dass dieselbe 
der ganzen Welt als ihre Seele inwohne, und er wollte die Welt 
desshalb nicht als ein lebendes Wesen bezeichnet wissen 5); 
'er wies vielmehr der Gottheit in der obersten von den himmli- 
schen Sphären, der Fixsternsphäre, ihren Sitz an, und liess sie von 
hier aus auf die Welt wirken ?). Die ‚entgegengesetzte Ansicht 
schien ihm wohl der Unveränderlichkeit und Erhabenheit des gött- 
lichen Wesens zu widerstreiten; wie sehr er aber diese zu wahren 
bemüht war, zeigt sich auch an den Gründen, mit denen wir ihn 
sofort die Lehre seiner Schule vom Weltuntergang bestreiten hö- 
ren werden. 


5. Fortsetzung. B. Die Welt als Ganzes. 


x 


Aus dem Urwesen entwickeln sich die besonderen Dinge 
nach einem inneren Gesetze. Denn da jenes seinem Begriffe nach 
die bildende und schaffende Kraft ist, so muss das Weltganze aus 
ihm mit derselben Naturnothwendigkeit hervorwachsen, wie das 
Thier oder die Pflanze aus dem Samen *%). Das Urfeuer nämlich 


1) ὅτοβ. Ekl. I, 60: Βόηθος τὸν αἰθέρα θεὸν ἀπεφήνατο. 

2) Dıos. 148: Βόηθος δέ φησιν οὐχ εἶναι ζῷον τὸν χόσμον. Das Gleiche läge 
in den Worten bei Puıto incorruptib. m. 953, Ο: ψυχὴ δὲ τοῦ χόσμου χατὰ 
τοὺς ἀντιδοξοῦντας ὃ θεός: indessen sind diese Worte ohne Zweifel nicht 
mehr aus Bo&thus entlehnt. 

3) Diog. 148: Βόηθος δὲ ἐν τῇ περὶ φύσεως οὐσίαν θεοῦ τὴν τῶν ἀπλανῶν 
oycipav, was ebenso zu verstehen sein wird, wie die entsprechenden Bestim- 
mungen anderer Stoiker (oben 124, 4): das ἥγεμονιχὸν der Welt soll hier, im 
reinsten Theil des Aethers, seinen Sitz haben; da aber die Welt kein lebendes 
Wesen sein soll, mithin auch die Gottheit nicht als Weltseele gedacht sein 
kann, muss es nach der Ansicht des Boöthus die Welt von aussenher bewegen. 
Ausdrücklich gesagt ist diess bei Pnıto a. a. Ὁ. S. 953, B, wenn Gott hier als 
der Wagenlenker (also eine von aussen wirkende, nicht eine immanente 
Kraft) dargestellt wird, der die Welt regiere, den Gestirnen und Elementen 
beistehend (παριστάμενος, wie hier zu lesen ist) und mit ihnen mitwirkend. 
Allein diese Stelle, von den Worten: χαὶ μήποτ᾽ εἰχότως an, ist offenbar eigene 
Ausführung dessen, was Philo vorher aus Bo&thus mitgetheilt hat. 

4) Ῥιοο. VII, 136: zart! ἀρχὰς μὲν οὖν χαθ᾽ αὑτὸν ὄντα [τὸν θεὸν] τρέπειν τὴν 
πᾶσαν οὐσίαν δι᾿ ἀέρος εἰς ὕδωρ᾽ χαὶ ὥσπερ ἐν τῇ γονῇ τὸ σπέρμα περιέχεται, οὕτω 
χαὶ τοῦτον σπερματιχὸν λόγον ὄντα τοῦ χόσμου τοιόνδε ὑπολιπέσθαι ἐν τῷ ὑγρῷ εὐ- 
epyov αὐτῷ ποιοῦντα τὴν ὕλην πρὸς τὴν τῶν ἑξῆς γένεσιν u. 5. w. SENECA nat. 


Weltentstehung. 137 


'— so lehren die Stoiker mit Heraklit — verwandelt sich zuerst in 
‚Luft (Cd. h. in luftartigen Dunst), dann in Wasser; aus diesem 
schlägt sich ein Theil als Erde nieder, ein anderer bleibt Wasser, 
ein dritter verdünstet als atmosphärische Luft, welche ihrerseits 
wieder Feuer aus sich entzündet, und aus der wechselnden Mi- 
schung dieser vier Elemente bildet sich, von der Erde als ihrem 
Mittelpunkt aus 1), die Welt 2), indem die Wärme in ihrer Ent- 
wicklung aus dem Wasser die chaotische Masse gestaltet ὅ). Erst 


quaest. III, 13, 1: das Feuer werde die Welt verzehren; hkune evanıdum consi- 
dere et nihil relingui aliud in rerum natura igne restincto quam humorem. in 
hoc futuri mundi spem latere. Sros. ΕΚ]. I, 372, 414, 5. S. 137, 2. 139, 2. 

1) Dass die Weltbildung mit der Erde beginne, sagt auch Stop. ἘΚ]. I, 
442. Vgl. folg. Anmm. 

2) S. vorl. Anm. und Sros. I, 370: Ζήνωνα δὲ οὕτως ἀποφαίνεσθαι διαῤῥήδην - 
τοιαύτην δεήσει εἶναι ἐν περιόδῳ τὴν τοῦ ὅλου διαχόσμησιν Ex τῆς οὐσίας. ὅταν ἐχ 
πυρὸς τροπὴ εἰς ὕδωρ δι᾿ ἀέρος γένηται τὸ μέν τι ὑφίστασθαι χαὶ γῆν συνίστασθαι, Ex 
τοῦ λοιποῦ δὲ τὸ μὲν διαμένειν ὕδωρ, Ex δὲ τοῦ ἀτμιζομένου ἀέρα γίγνεσθαι, ἔχ τινος 
δὲ τοῦ ἀέρος πῦρ ἐξάπτειν. Dıos. VII, 142: γίνεσθαι δὲ τὸν χόσμον ὅταν ἐκ πυρὸς ἢ 
οὐσία τραπῇ δι’ ἀέρος εἰς ὑγρότητα, εἶτα τὸ παχυμερὲς αὐτοῦ συστὰν ἀποτελεσθῇ γῆ 
τὸ δὲ λεπτομερὲς ἐξαερωθῇ καὶ τοῦτ᾽ ἐπιπλέον λεπτυνθὲν πῦρ ἀπογεννήσῃ" εἶτα χατὰ 
μέξιν ἐχ τούτων φυτά τε καὶ ζῷα χαὶ τὰ ἄλλα γένη. Carvs. b. Prur. St. rep. 41, 3. 
8. 1053: ἣ δὲ πυρὸς μεταβολή ἐστι τοιαύτη δι᾽ ἀέρος εἰς ὕδωρ τρέπεται" χἀχ τούτου 
γῆς ὑφισταμένης ἀὴρ ἀναθυμιᾶται᾽ λεπτυνομένου δὲ τοῦ ἀέρος ὁ αἰθὴρ περιχείται 
χύχλῳ. Ders. sagt in den Scholien zu Hesiod’s Theogonie V. 459, ὅτι χαθύ- 
ὕρων ὄντων τῶν ὅλων χαὶ ὄμβρων χαταφερομένων πολλῶν τὴν ἔχχρισιν τούτων 
Κρόνον ὠνομάσθαι. Vgl. auch ΚΙΈΜΕΧΒ Strom. V, 599, C, der hier offenbar 
einer stoischen Erklärung Heraklit's folgt, Sros. I, 312 und die folgenden 
‚Aumm. 

3) Stop. a. a. O. fährt fort: Κλεάνθης ὃὲ οὕτω πώς φησιν᾽ ἐχολογισθέντος τοῦ 
παντὸς συνίζειν τὸ μέσον αὐτοῦ πρῶτον, εἶτα τὰ ἐχόμενα ἀποσβέννυσθα: δι᾽ ὅλου. τοῦ 
δὲ παντὸς ἐξυγρανθέντος, τὸ ἔσχατον τοῦ πυρὸς, ἀντιτυπήσαντος αὐτῷ τοῦ μέσου, 
τρέπεσθαι πάλιν εἰς τοὐναντίον (der Sinn dieser Worte ist wohl: der letzte Rest 
des Urfeuers beginne eine Bewegung in entgegengesetzter Richtung), εἶθ᾽ οὕτω 
τρεπόμενον ἄνω φησὶν αὔξεσθαι!" χαὶ ἄρχεσθαι: διαχοσμέῖν To ὅλον, χαὶ τοιαύτην 
περίοδον ἀεὶ χαὶ διαχόσμησιν ποιουμένου τοῦ ἐν τῇ τῶν ὅλων οὐσία τόνου (über 
diesen, bei Kleanthes, wie es scheint, besonders beliebten Ausdruck 8. m. 
8. 108, 2. 4) μὴ παύεσθαι [sc. διαχοσμούμενον τὸ ὅλον]. ὥσπερ γὰρ ἕνός τινος τὰ 
μέρη πάντα φύεται Ex σπερμάτων ἐν τοῖς χαθήχουσ: χρόνοις, οὕτω χαὶ τοῦ ὅλου τὰ 
μέρη, ὧν χαὶ τὰ ζῷα καὶ τὰ φυτὰ ὄντα τυγχάνει, ἐν τοῖς καθήχουσι χρόνοις φύεται. 
χαὶ ὥσπερ τινὲς λόγοι τῶν μερῶν εἰς σπέρμα συνιόντες μίγνυνται χαὶ αὖθις διαχρίνοντα: 
γενομένων τῶν μερῶν, οὕτως ἐξ ἑνός τε πάντα γίγνεσθαι χαὶ ἐχ πάντων εἰς ἕν συγ- 
χρίνεσθα: (vgl. Heraklit, Bd. I, 467, 1), ὁδῷ χαὶ συμφώνως διεξιούσης τῆ: περιόδου. 


138 Stoiker. 


durch diese Scheidung der Elemente entsteht der Gegensatz des 
thätigen und des leidenden Princips, der Seele der Welt und ihres 
Leibes: das Feuchte, in welches sich das Urfeuer zuerst verwan- 
delt, stellt den Leib dar, die in ihm verborgene Wärme !) die 
Seele ?); oder wenn wir die Elemente in ihrer späteren Vierzahl 
betrachten, so entsprechen die zwei unteren dem Stoffe, die zwei 
oberen der wirkenden Kraft 5). Wie aber dieser Gegensatz erst 


Noch einiges Weitere über die Vorgänge bei der Weltbildung theilt Macro». 
Sat. I, 17, nach dem Folgenden zu schliessen aus Antipater, jedenfalls aus 
einem Stoiker mit. Hier wird nämlich der Mythus von der Geburt des Apollo 
und der Artemis auf die Bildung der Sonne und des Mondes gedeutet. Nam- 
que post chaos, ubi primum coepit confusa deformitas in rerum formas et ele- 
menta nitescere, terraeque adhuc humida substantia in molli atque instabili sede 
nutaret: convalescente paullatim aethereo calore atque inde seminibus in eam- 
igneis defluentibus (die Begattung des Zeus, d. ἢ. des Aethers, mit Leto, der 
Erde) haec sidera edita esse creduntur: et solem masima caloris vi in superna 
raptum: lunam vero humidiore et velut femineo sexu naturali quodam pressam 
tepore inferiora tenuisse, !anguam ille magis substantia patris constet, haec 
matris. — Den Satz, dass mit den übrigen Dingen auch Pflanzen und Thiere 
aus der Mischung der Elemente entstanden seien (Sro». und Dıoe. a. ἃ. a. O.), 
werden wir im Sinn der generatio aequivoca zu verstehen haben; vgl. Lacrast. 
Inst. VII,4, der den Stoikern vorwirft, sie lassen die Menschen wie Schwämme 
aus der Erde wachsen, und Sexr. Math. IX, 28, bei dem Stoiker von den 
Erdgeborenen der Urzeit reden. 

1) Ein Rest von Wärme oder Feuer muss nämlich übrig bleiben, wie 
diess auch Kleanthes und Chrysippus (s. vor. u. folg. Anm.) annahmen, da sonst 
kein wirkendes Prineip mehr da wäre, von dem eine neue Weltbildung aus- 
gehen könnte; vgl. Prıro incorruptib. m. 954, C: wenn die Welt bei der &x- 
πύρωσις ganz vom Feuer verzehrt wäre, müsste dieses selbst erlöschen, und 
dann könnte keine neue Welt entstehen. διὸ χαΐ τινες τῶν ἀπὸ TS TOR .... 
ἔφασαν, ὅτι μετὰ τὴν ἐχπύρωσιν, ἐπειδὰν ὃ νέος χόσμος An δημιουργεῖσθαι, σύμ- 
παν μὲν τὸ πῦρ οὐ σβέννυται, ποσὴ δέ τις αὐτοῦ μοίρα ὑπολείπεται. 

2) Chess. b. Pıur. a. ἃ. O. 41, 6: διόλου μὲν γὰρ ὧν ὃ χόσμος πυρώδης (zur 
Zeit der ἐχπύρωσις) εὐθὺς καὶ ψυχή ἐστιν ἑαυτοῦ χαὶ ἥγεμονιχόν. ὅτε δὲ μεταβαλὼν 
εἰς (τε) τὸ ὑγρὸν χαὶ τὴν ἐναπολειφθείσαν ψυχὴν τρόπον τινὰ εἰς σῶμα nat ψυχὴν 
μετέβαλεν ὥστε συνεστάναι ἐκ τούτων, ἄλλόν τινὰ ἔσχε λόγον. 

3) Neues. nat. bom. c. 5 p. 72: λέγουσι δέ οἱ Στωϊχοὶ, τῶν στοιχείων τὰ μὲν 
εἶναι δραστιχὰ τὰ δὲ παθητιχά" δραστιχὰ μὲν ἀέρα χαὶ πῦρ, παθητιχὰ δὲ γῆν χαὶ 
ὕδωρ. Prur. comm. not. 49, 2. 5. 0. 108, 4. Von hier aus gewinnen wir auch 
einen weiteren Einblick in zwei schon besprochene Punkte der stoischen 
Lehre: wenn wir früher gefunden haben, dass das wirksame Prineip oder die 
Gottheit (und ebenso die menschliche Seele) bald als Feuer bald als Lufthauch 
beschrieben wird, so kann diess jetzt nicht mehr auffallen, da diese beiden 


Entstehung und Untergang der Welt. 139 


in der Zeit ΙΝ ist, so soll er auch seiner Zeit wieder auf- 
hören ἢ): das Urwesen zehrt den Stoff, den es als seinen Leib von 
sich ausgesondert hat, allmählig wieder auf, bis am Ende dieser 
Weltzeit ein allgemeiner Weltbrand alle Dinge in den Urzustand 
zurückführt, in welchem das Abgeleitete aufgehört hat, und nur 
noch die Gottheit oder-das Urfeuer in seiner ursprünglichen Rein- 
heit übrig bleibt 2). Diese Auflösung der Welt in Feuer, oder in 


Elemente gleichmässig die wirkende Kraft vertreten, und ebendamit hängt 

auch die Behauptung, dass die Eigenschaften der Dinge Luftströmungen 

seien, und die ganze Unterscheidung von Substrat und Eigenschaft zusam- 
. men: diese ist der thätige Stoff, jenes der leidende. 

1) Dass die Welt, d.h. die διαχόσμησις, nicht der χόσμος im sbsolnten 
Sinn (hierüber 5. m. S. 134, 1), dem Untergang unterworfen sei, bewiesen die 
Stoiker nach Dios. 141 (wo aber vor den nachstehenden Worten eine Lücke 
im Text zu sein scheint) theils daraus, dass sie geworden sei, theils mit den 
zwei nicht sehr bündigen Schlüssen: οὗ τὰ [vulg. οὗ τε τὰ, Coser: οὗ τά τε] 
μέρη φθαρτά ἐστι, χαὶ τὸ ὅλον: τὰ δὲ μέρη τοῦ χόσμου φθαρτὰ, εἰς ἄλληλα γὰρ 

“ μεταβάλλει. φθαρτὸς ἄρα ὃ χόσμος. Und: εἴ τι ἐπιδεχτιχόν ἐστι τῆς ἐπὶ τὸ χέΐρον 
μεταβολῆς, φθαρτόν ἐστι΄ χαὶ ὁ χόσμος apa ἐξαυχμοῦται γὰρ χαὶ ἐξυδατοῦται. Vgl. 
folg. Anm, (Aırx. Meteor. 90). In anderem Sinn dagegen behauptet Chıysip- 
pus b. Prur. Sto.rep. 44, 2 f. S. 1054, die οὐσία sei ewig, es komme dem Van 
eine ὥσπερ ἀφθαρσία zu. 

2) Prur. St. rep. 39, 2. 8. 1052: [Χρύσιππος] ἐν τῷ πρώτῳ περὶ προνοίας τὸν 
Δία, φησὶν, αὔξεσθαι μέχρις ἂν εἰς αὑτὸν ἅπαντὰ χαταναλώση. „end γὰρ ὃ θάνατος 
μὲν ἐστι ψυχῆς χωρισμὸς ἀπὸ τοῦ σώματος, ἣ δὲ τοῦ χόσμου ψυχὴ οὐ χωρίζεται μὲν, 
αὔξετα: δὲ συνεχῶς μέχρις ἂν εἰς αὑτὴν ἐξαναλώσῃ τὴν ὕλην, οὐ ῥητέον ἀποθνήσχειν 
τὸν χόσμον.“ ὅτοΒ. Ekl. 1,414 (nach Νυμενιῦβ, s. Evs. pr. ev. XV, 18, 1): 
Ζήνωνι χαὶ Κλεάνθει χαὶ Χρυσίππῳ ἀρέσχει τὴν οὐσίαν μεταβάλλειν οἷον εἰς σπέρμα τὸ 
πῦρ (gegen diese Bezeichnung desselben wendet sich Pnıro incorrupt. m. 956, 
Bf.) χαὶ πάλιν ἐχ τούτου τοιαύτην ἀποτελεῖσθαι τὴν διαχόσμησιν οἵα πρότερον ἦν. 
Eine schwungvolle, an die christliche Apokalyptik erinnernde Schilderung 
des Weltbrands giebt Sexeca am Schluss der Consolatio ad Marciam. Weiter 
vgl. man über die ἐχπύρωσις die vorangehenden und folgenden Anmm. und 
Dıos. VII, 142 f. 137 (8. 0.134, 1). Ar. Dıpyu. b. Eus.. pr. ev. XV, 15, 1. 
Piotr. comm. not. 36 (s. 0. 130, 3). Heraxuır. Alleg. Hom. c. 25, 8. 53. Cıc. 
Acad. II, 37, 119. N. Ὁ. II, 46, 118. Sex. Consol. ad Polyb. 1,2. Arzx. Ars. 
in Meteor. 90, a, m., nach dem die Stoiker für ihre Lehre anführten, dass auch 
jetzt schon Wasserflächen vertrocknen oder andererseits an die Stelle des 
festen Landes treten. Sımer. Phys. 111,b,o. De coelo, Schol. in Ar. 487, b, 35. 
489, a, 13. Justix. Apol. I, 20. II, 7. Orıc. c. Cels. III, 75. 497, a. VI, 71, 
Schl. u. a. St. Weil durch die ἐχπύρωσις Alles in die Gottheit aufgelöst wird, 
sagt Puvr. c. not. 17, 3. 8. 1067: ὅταν ἐχπυρώσωσι τὸν χόσμον οὗτοι, χαχὸν μὲν 

οὐδ᾽ ὁτιοῦν ἀπολείπεται, τὸ δ᾽ ὅλον φρόνιμόν ἐστι τηνιχαῦτα χαὶ σοφόν. 


140 Stoiker. 


= 
Aether '), dachten sich die Stoiker durch die gleichen Zwischen- , 
stufen vermittelt, wie den Hervorgang derselben aus dem Ur- 
feuer ?). Kleanthes liess in Folge seiner Ansicht über den Sitz 


ἈΡ 


der weltregierenden Kraft 57 die Weltverbrennung von der Sonne _ 


ausgehen *). Nachdem aber so Alles in die ursprüngliche Einheit 
zurückgekehrt °) und das grosse Weltjahr abgelaufen ist, beginnt 


die Bildung einer neuen Welt ®), welche der vorigen so vollkom- 


1) Neuen. b. Evs. pr. ev. XV, 18, 1: ἀρέσχει δὲ τος πρεσβυτάτοις τῶν ἀπὸ 
τῆς αἱρέσεως ταύτης, ἐξαεροῦσθαι πάντα χατὰ περιόδους τινὰς τὰς μεγίστας, εἰς πῦρ 
αἰθερῶδες ἀναλυο μένων πάντων. Nach PrıLo incorruptib. m. 954, E hatte Klean- 


thes dieses Feuer als φλὸξ, Chrysippus feiner als αὐγὴ bezeichnet. (Ueber 


ἄνθραξ, φλὸξ, αὐγὴ ebd. 953, Ef.) Was 8. 129 über die Gleichheit von πῦρ, 
πνεῦμα, αἰθὴρ u, 5. f. bemerkt wurde, gilt auch hier. 

2) Darauf führt wenigstens der allgemeine Grundsatz (Chrysippus bei 
Sro». Ekl. I, 314), den schon Heraklit ausgesprochen hat, dass beim Ueber- 
gang der Erde und des Wassers in’s Feuer, derselbe Weg rückwärts durch- 
laufen werden müsse, wie bei ihrem Hervorgang aus dem Feuer. 

3) 8.8.1325, 1. 

4) Pur. ὁ. not. 31, 10: ἐπαγωνιζόμενος ὃ Κλεάνθης τῇ ἐχπυρώσει: λέγει τὴν 
σελήνην χαὶ τὰ λοιπὰ ἄστρα τὸν ἥλιον ἐξομοιῶσαι (1. - εἰν) πάντα ἑαυτῷ χαὶ μετα- 
βαλεῖν εἰς ξαυτόν. ! 

5) Dass Alles ohne Ausnahme diesem Schicksal unterliegen muss, 
liegt am Tage, und so wird denn auch ausdrücklich versichert, weder die. 
Menschenseelen noch die Götter werden demselben entgehen. Von den ersteren 
wird diess später noch gezeigt werden; vorläufig vgl. m. Sen. Cons. ad Marc. 
26, 7: nos quoque felices animae et aeterna sortitae (die Worte sind einem Ver- 
storbenen in den Mund gelegt), cum Deo visum sit iterum ista moliri, labentibus 
cunclis et ipsae parca ruinae ingentis accessio in antiqua elementa vertemur. 
Ueber die Götter, zunächst die Gestirne, sagt Chrysippus Ὁ. Prur. Sto. rep. 
38, 5: die Götter seien theils entstanden und vergänglich, theils ungeworden; 
Helios und Selene und die übrigen Gottheiten der gleichen Kategorie seien 
entstanden und werden vergehen, Zeus sei ewig. Vgl. Psıco ineorrupt. m. 
950, Af. Orıc. c. Cels. IV, 68. Prur. Def. orac. 19, $. 420. c. not. 31,5. 
8.1075, wo den Stoikern vorgehalten wird, ihre Götter schmelzen beim Welt- 
brand, wie wenn sie von Wachs oder Zinn wären. Nach PuıtLopvem. π. θεῶν, 
διαγωγῆς Tab. I, 1. Vol. Hercul. VI, 1 hatte schon Zeno das selige Leben der 
Götter auf gewisse lange Zeiträume beschränkt. 

6) Arıus b. Evs. pr. ev. XV, 19: ἐπὶ τοσοῦτο δὲ προελθὼν ὃ χοινὸς λόγος χαὶ 
χοινὴ φύσις μείζων καὶ πλείων γενομένη τέλος ἀναξηράνασα πάντα καὶ εἰς ἑαυτὴν ἀνα- 
λαβοῦσα ἐν τῇ πάσῃ οὐσία γίνεται (sie nimmt die Stelle der gesammten Substanz 
ein), ἐπανελθοῦσα εἰς τὸν πρῶτον ῥηθέντα λόγον χαὶ εἰς τὴν ἀνάστασιν [Ὁ χατάστ. 3] 
ἐχείνην τὴν ποιοῦσαν ἐνιαυτὸν τὸν μέγιστον ; καθ᾽ ὃν ἀπ᾽ αὐτῆς μόνης εἰς αὐτὴν πάλιν 
γίνεται ἣ ἀποχατάστασις (diess auch bei Prıtor. gen. οὐ corr. B. I, Schl. $. 70). 


Untergang und Neubildung der Welt. 141 


men gleich ist, dass alle einzelnen Dinge Personen und Vorgänge 
in derselben genau so, wie früher, wiederkehren 1); und so be- 


ἐπανελθοῦσα δὲ διὰ τάξιν ἀφ᾽ οἵας διαχοσμεῖν ὡσαύτως ἤρξατο χατὰ λόγον πάλιν τὴν 
αὐτὴν διεξαγωγὴν ποιεῖται. Weiter vgl. m. 5. 137 f. Nach Neues. nat. hom, 
6. 38, 8. 147 u. vgl. Crxsorın. di. nat. 18, 11 tritt die ἐχπύρωσις ein, wenn 
alle Planeten genau an denselben Ort zurückgekehrt sind, den sie beim Be- 
ginn der Welt einnahmen, oder mit anderen Worten, wenn ein grosses Jahr 
um ist. Die Dauer eines solchen Weltjahrs soll Diogenes auf 365 grosse Jahre 
Heraklit's, oder 365 X 18000 Sonnenjahre, berechnet haben (Pıvr. pl. I, 
32,3. Sros. Ekl. I, 264). Prur. De Ei. ap. D. 9, g. E. 5. 389 führt die Mei- 
nung an, ὅπερ τρία πρὸς ἕν, τοῦτο τὴν δαχόσμησιν χρόνῳ πρὸς τὴν ἐκπύρωσιν εἶναι. 
Da er aber vorher gesagt hat, die Dauer des χόρος (ἃ. ἢ, der ἐχπύρωσις, 5. Bd. I, 
479, 1) sei die längere, und desshälb werde Apollo, welcher den Zustand der 
vollkommenen Einigung bezeichne, während neun Monaten mit dem Päan, der 
von den Titanen zerrissene Dionysos, das Sinnbild der jetzigen gegensätz- 
lichen Welt, nur drei Monate ‚mit Ditbyramben gefeiert, so scheint hier ein 
Fehler vorzuliegen. Es ist wohl entweder ὅπερ πρὸς τρία ἕν zu lesen, oder die 
Stelle von δίαχόσμησιν und ἐχπύρωσιν zu vertauschen. 

1) Die Annahme wechselnder Weltperioden ist in der ältesten griechi- 
‚schen Philosophie häufig; die Stoiker fanden sie zunächst bei Heraklit vor. 
Die weitere Bestimmung jedoch, dass die aufeinanderfolgenden Welten sich 
bis auf’s Einzelste gleichen, findet sich meines Wissens vor Zeno nur bei der 
pythagoreischen Schule, sei es der ganzen oder einem Theil derselben, und 
sie hängt hier mit der Lehre von der Seelenwanderung und vom Weltjahr 
(s. Bd. I, 328. 311,1 vgl. m. Bd. II, a, 521) zusammen. Eupenus nämlich 
(ich trage diese Angabe hier um so lieber nach, da sie nicht blos in meiner 
eigenen, sondern auch in allen andern Darstellungen der pythagoreischen 
Lehre übersehen ist) sagt bei Sımrr.. Phys. 173, a, m: εἰ δέ τις πιστεύσειε τοῖς 
Πυθαγορείοις, ὡς πάλιν τὰ αὐτὰ ἀριθμῷ, χἀγὼ μυθολογήσω τὸ ῥαβδίον ἔχων ὑμῖν 
καθημένοις οὕτω χαὶ τὰ ἄλλα πάντα ὁμοίως ἕξει, χαὶ τὸν χρόνον εὔλογόν ἐστι τὸν 
αὐτὸν εἶναι (so muss dann auch die Zeit dieselbe sein, welche gegenwärtig ist) 
Ὁ, 5, w. Von den Pythagoreern scheinen die Stoiker diese Annahme entlehnt 
zu haben; sie müsste denn vorher schon mit anderem Orphisch-Pytbagoreischen 
auch Heraklit zugekommen sein. Ihnen musste sie sich um so mehr empfehlen, 
da sie aus ihrem Determinismus sich durchaus folgerichtig ergab. So behaup- 
teten sie denn: μετὰ τὴν ἐχπύρωσιν πάλιν πάντα ταὐτὰ ἐν τῷ χόσμῳ γενέσθαι 
{1. γίνεσθαι oder γενήσεσθαι] var’ ἀριθμὸν, ὡς χαὶ τὸν ἰδίως ποιὸν πάλιν τὸν αὐτὸν 
τῷ πρόσθεν εἶναί τε χαὶ γίνεσθαι ἐχείνῳ τῷ χόσμῳ (Auex. Anal. pr.58, b, u. nach 
Chrysippus π. κόσμου). τούτου BE οὕτως ἔχοντος, δῆλον, ὡς οὐδὲν ἀδύνατον, καὶ 
ἡμᾶς μετὰ τὸ τελευτῆσαι πάλιν περιόδων τινῶν εἰλημμένων χρόνου εἰς ὃν []. ὃ] νῦν 
ἐσμὲν καταστήσεσθαι σχῆμα (Cnkvsirr. π. Προνοίας b. Lacranr. Inst. VII,23 vgl. 
SENEcA ep. 36, 10: veniet iterum qui nos in lucem reponat dies). Dass diess 
überhaupt bei der παλιγγενεσία oder ἀποχατάστασις (wie diese Wiederkehr des 
Früheren genannt wird) mit allen Dingen und Ereignissen bis auf's Kleinste 


142 Stoiker. 


wegt sich die Geschichte der Welt und der Gottheit, wie diess bei 
der Ewigkeit des Stoffes und der wirkenden Kraft nicht anders 
sein kann, in einem endlosen Kreislauf durch die gleichen Mo- 
mente 1). Doch wurde diese Lehre innerhalb der stoischen Schule 
selbst schon ziemlich frühe bezweifelt, und von einigen der be- 
deutendsten unter den jüngeren Stoikern geradezu aufgegeben ?). 


hinans derFall sein sollte, dass in jeder neuen Welt wieder ein Sokrates auf- 
treten, cine Xanthippe heirathen, von einem Anytus und Meletus verklagt 
werden sollte u. 5. w., wird vielfach versichert; m. s. M. Auzer VII, 19. XL 1, 
der eben hieraus den öfters von ihm ausgesprochenen Satz ableitet, es ge- 
schehe in der Welt nichts Neues; Sıuer. Phys. 207, b, o. PurLor. gen. et corr. 
B. II, Schl. S. 70. Tarıay ce. Graec. e.3. S.245, d. Kresens Strom. V, 549, Ὁ. 
Orıc. ὁ. Cels. IV, 68. V, 20. 23. Neues. ἃ. ἃ. OÖ. Prvur. Def. orac. 29, S. 425. 
Dabei warfen die Stoiker die Frage auf, ob der Sokrates z. B., welcher in den ᾿ 
folgenden Welten auftritt, mit dem in der jetzigen identisch (εἷς ἀριϑμῷ) zu 
nennen sei, oder nicht (Sınrı. a. a. O.). Ihre Antwort war: identisch können 
sie nicht sein (denn — sagt PnıL.or. — ἕν χαὶ ταὐτὸν zar’ ἀριθμὸν ist nur, was 
ohne Unterbrechung fortdauert), aber sie seien sich unterschiedslos ähnlich 
(ἀπαράλλαχτοι Orıc. a. d. a. O.); Andere jedoch, wie es scheint jüngere Mit- 
glieder der Schule, gaben der Annahme den Vorzug, dass zwischen beiden 
gewisse unerhebliche Unterschiede stattfinden (Orıe. V, 20. 8. 592, e; allge- 
meiner schreibt diess Arrx. a. a. Ὁ. 59, ἃ, τὰ den Stoikern zu). Diese Behaup- 
tung scheint auch zu der unrichtigen Angabe (Hırror.vr. Refut. haer. I, 21. 
Erirnan. δεν. V, S. 12, b), dass die Stoiker die: Seelenwanderung lehren, 
Anlass gegeben zu haben. — Wenn Neues. a. a. O. sagt: da die Götter dem 
Weltuntergang nicht mit unterliegen, so kennen sie von den früheren Welten 
her den ganzen Verlauf der späteren, so könnte diess höchstens von dem Einen 
höchsten Gott gelten, der aber freilich als die Weltvernunft eine so empirische 
Kenntniss nicht nöthig haben sollte, denn die übrigen Götter überleben den 
Weltbrand nicht; 5, vorl. Anm. * 

1) Ar. Dıp. a. a. O. (8. vorl. Anm.) fährt fort: τῶν τοιούτων περιόδων ἐξ 
ἀϊδίου γινομένων ἀκαταπαύστως. οὔτε γὰρ τῆς ἀρχῆς αἰτίαν χαὶ [del.] πᾶσιν οἷόν τε 
γίνεσθαι οὔτε τοῦ διοιχοῦντος αὐτά. οὐσίαν τε γὰρ τοῖς γινομένοις ὑφεστάναι del πεφυ- 
κυΐαν ἀναδέχεσθαι τὰς μεταβολὰς πάσας καὶ τὸ δημιουργῆσον ἐξ αὐτῆς ἃ. 5. w. Vgl. 
Prior. a. a. O.: ἀπορήσειε 8’ ἄν τις, ὥς φησιν ᾿Αλέξανδρος, πρὸς ᾿Αριστοτέλη. el 
γὰρ ἣ ὕλη ἣ αὐτὴ ἀεὶ διαμένει, ἔστι δὲ καὶ τὸ ποιητιχὸν αἴτιον τὸ αὐτὸ ἀξὶ, διὰ ποίαν 
αἰτίαν οὐχὶ κατὰ περίοδόν τινα πλείονος χρόνου ἐχ τῆς αὐτῆς ὕλης τὰ αὐτὰ πάλιν zart’ 
ἀριθμὸν ὑπὸ τῶν αὐτῶν ἔσται: ὅπερ τινές φασι χατὰ τὴν παλιγγενεσίαν καὶ τὸν μέγαν 
ἐνιαυτὸν συμβαίνειν, ἐν ᾧ πάντων τῶν αὐτῶν ἀποχατάστασις γίνεται. Vgl. auch 
M. Avurrt, V, 82. 

2) Nach Puıto incorruptib. mundi 947, C behauptete ausser Posidonius 
und seinem Lehrer Panätius (von welchem diess auch Dros. VII, 142. Srop. ἡ 
Ekl. T, 414 angiebt) schon Boethus, in Abweichung von der sonstigen Lehre 


Untergang und Neubildung der Welt. 143 


Neben der Weltzerstörung durch Feuer werden auch periodische 
Fluthverheerungen angenommen !), wobei man aber darüber nicht 


x 


der Schule, die Ewigkeit der Welt. Derselbe fügt bei, auch Diogenes von 
Seleucia sei in seinen späteren Jahren dieser Meinung beigetreten; ebenso 
soll nach Nunesivs b. Eus. praep. ev. XV, 18, 2 Zeno von Tarsus die Welt- 
verbrennung unerweislich gefunden haben (φασὶν ἐπισχεῖν περὶ τῆς ἐχπυρώσεως 
τῶν ὅλων). Doch erleiden diese Angaben einige Beschränkung. Den Posi- 
donius führt Dıoc. a. a. Ὁ, ausdrücklich unter den Zeugen für die Weltver- 
brennung auf, und diess bestätigt die Notiz bei Prur. pl. phil. II, 9, 3 (Sro». 
Ekl. I, 380. Evs. pr. ev. XV, 40 — Acsıtı. Tar. Isag. 131, C legt dasselbe irr- 
thümlich den Stoikern überhaupt bei), dass er ausser der Welt nur so viel 
leeren Raum angenommen habe, als für die Welt nöthig sei, um sich bei der 
ἐχπύρωσις darein aufzulösen; der Unterschied aber zwischen seiner und der alt- 
stoischen Ansicht, den Bare (Posidon. Rel. 58) aus Sto.' 1,432 f. (s. ο. 8. 86) 
ableitet, ist in der Wirklichkeit nicht vorhanden. Auch Antipater hielt 
nach Droe. a. a. Ὁ. an der Weltverbrennung fest. Dagegen möchte ich darauf 
kein Gewicht legen, dass es über Panätius bei Cıc. N.D.II, 46, 118 nur heisst: 
addubitare dieebant, und bei Sror. a. a. O. πιθανωτέραν νομίζει τὴν ἀϊδιότητα τοῦ 
κόσμου, bei Dıoc. a. a. Ὁ. bestimmter: ἄφθαρτον ἀπεφήνατο τὸν χόσμον. Beson- 
ders eingehend hatte aber Bo&äthus die Weltverbrennung bestritten. Seine 
Gründe (b. Prıto a. a. Ὁ. 952,C fi. sind diese: 1) Wenn die Welt untergienge, 
so müsste dieser ihr Untergang ohne Ursache erfolgen, denn es giebt keine 
Ursache, die ihn bewirken könnte, weder ausser ihr (wo nichts ist, als das 
Leere), noch in ihr. 2) Von den drei Arten des Untergangs: χατὰ διαίρεσιν, 
λατὰ ἀναίρεσιν τῆς ἐπεχούσης ποιότητος (wie beim Zermalmen einer Figur), χατὰ 
σύγχυσιν (bei chemischer Mischung, 8. o. 115, 2) kann, wie diess des Näheren 
nachgewiesen wird, keine auf die Welt Anwendung finden. 3) Wenn keine 
Welt mehr vorhanden ist, würde. auch die Thätigkeit Gottes.auf die Welt, 
ebendamit aber seine Thätigkeit überhaupt aufhören. 4) Wenn Alles vom 
Feuer verzehrt ist, müsste das Feuer selbst aus Mangel an Nahrung erlöschen, 
dadurch wäre aber auch die Möglichkeit der Palingenesie aufgehoben. (Auch 
dieser Grund und seine weitere Ausführung scheint nämlich noch aus Bo&thus 
genommen zu sein.) — Was die Auflösung der Welt in das unbegrenzte Leere 
betrifft, die bei Prur. plac. II, 9, 2 parall. den Stoikern allgemein beigelegt 
wird, so ist sie ohne Zweifel von der Verdüunung und Ausbreitung des Stoffs 
nicht verschieden, von welcher auch Pnırno a. a. O. 8. 956, D f. sagt, um 
Raum für sie zu schaffen, haben die Stoiker das grenzenlose Leere ausser der 
Welt angenommen; Rırrer III, 599. 703 sucht daher hier wohl ohne Grund 
eine Missdeutung der ächten stoischen Lehre. — Wie Heser Gesch. ἃ. Phil. 
II, 391 läugnen, und Schteiermacher Gesch. der Philos. 8. 129 wenigstens 
bezweifeln kann, dass die Stoiker eine periodische Weltverbrennung im eigent- 
liehen Sinn gelehrt haben, ist Angesichts der angeführten Stellen schwer zu 
begreifen. ; f 

1) Mit rednerischer Fülle wird diese Sintfluth von Sexeca nat. qu. III, 


144 Stoiker. 


ganz einig gewesen zu sein scheint, ob diese das Weltganze oder 
„nur die Erde und ihre Bewohner treffen sollten ἢ). 

Was sich in der Bildung und Auflösung der Welt thatsäch- 
lich bewährt, die Unselbständigkeit alles Einzelnen, die unbedingte 
Abhängigkeit aller Dinge von dem allgemeinen Gesetz und dem 
Lauf des Weltganzen, das ist überhaupt der leitende Gesichtspunkt 
für die stoische Weltansicht. Alles in der Welt erfolgt vermöge 
eines natürlichen und unabänderlichen Zusammenhangs von Ur- 
sachen und Wirkungen, so wie es die Natur und das Gesetz-des 
Ganzen fordert. Diese ausnahmslose Nothwendigkeit alles Seins 
und Geschehens wird in dem Begriff des Verhängnisses oder des 
Schicksals (eiuzousvn) ausgedrückt 5). Seinem physischen Grunde 


27—30 geschildert, und ihre Ursachen erörtert., Regengüsse, Ueberfluthen 
des Meers, Erdbeben sollen dabei mitwirken. Die Hauptsache ist jedoch, dass 
überhaupt eine solche Verwüstung durch die Weltordnung bestimmt ist. Sie 
tritt ein, cum fatalis dies venerit, cum adfuerit illa necessitas temporum (27, 1), 
cum Deo visum, ordiri meliora, vetera finiri (28, 7), sie ist in der Welteinrich- 
tung von Anbeginn an vorherbestimmt und vorbereitet (29, 2 fi. 30, 1), und 
es ist nicht blos ein Andrang der jetzt vorhandenen Wassermassen, sondern 
vor Allem eine Vermehrung derselben, eine Umwandlung der Erde in Wasser, 
die dabei in’s Spiel kommt (29, 4 f.). Der Zweck dieser Fluth ist die Ver- 
tilgung der sündigen Menschheit, u? de integro totae rudes innoziaeque gene- 
rentur [res humanae] nec supersit in deteriora praeceptor (29,5); peracto judieio 
generis humani exstinclisque pariter feris..... . antiquus ordo revocabitur, omne 
ex integro animal generabitur dabiturque terris homo inscius scelerum. Auch 
dieser Stand der Unschuld soll aber freilich nicht lange dauern. Ὁ. 29, 1 be- 
ruft sich dabei Sexeca auf Berosus, demzufolge die Weltverbrennung eintrete, 
wenn alle Gestirne im Zeichen des Krebses, die Fluth, wenn sie in dem des 
Steinbocks stehen. Da nun jenes der Sommer-, dieses der Wintersonnenwende 


entspricht, so ist diess das Gleiche, was Cexsorıx di. nat. 18, 11, wohl nach 


Varro (vgl. Jaux S. VIII f. seiner Ausg.), über das grosse Jahr sagt: cujus 
anni hiemps summa est cataclysmos ... aestas autem ecpyrosis. Vgl. auch 
Herakrır Alleg. Hom. c. 25, 8. 53: wenn ein Element über die andern die 
Herrschaft gewinne, werde die Weltordnung zerstört; sei dieses das Feuer, 
so erfolge die Ekpyrosis; εἰ δ᾽ ἄθρουν ὕδωρ ἐχραγείη, χαταχλυσμῷ Toy κόσμον 
ἀπολεῖσθαι. 

1) Für jenes spricht Heraklit und Censorin, für dieses Seneca’s ganze 
Darstellung. , 

2) Dıos. VII, 149: καθ᾽ εἱμαρμένην δέ φασι τὰ πάντα γίνεσθαι Χρύσιππος 
u. 5. w. ἔστι δ᾽ εἱμαρμέγη αἰτία τῶν ὄντων εἰρομένη ἢ λόγος χαθ᾽ ὃν ὃ κόσμος διεξά- 
yerau.. A. Geur, VI, 2, 8: (Chrysippus) in libro περὶ προνοίας quarto εἱμαρμένην 
esse dieit φυσικήν τινὰ σύνταξιν τῶν ὅλων ἐξ ἀϊδίου τῶν ἑτέρων τοῖς ἑτέροις ἐπαχολου- 


Verhängniss und Vorsehung. 145 


nach ist das Verhängniss nichts anderes, als das Urwesen selbst, 
der Alles durchdringende und bewirkende Hauch, das künstle- 
rische Feuer oder die Weltseele 1); sofern aber die Wirksamkeit 
dieses Wesens eine durchaus vernunft- und gesetzmässige ist, so 
kann es ebenso auch als die Vernunft der Welt, als das allgemeine 
Gesetz, als die vernünftige Form des Weltlaufs bezeichnet wer- 
den ?). Als der Grund der natürlichen Bildungen gedacht, heisst 
das Urwesen, oder das allgemeine Gesetz, die Natur, als der 
Grund der zweckmässigen Welteinrichtung und Weltentwicklung, 
die Vorsehung °); dasselbe wird populärer Zeus oder der Wille 
des Zeus genannt und in diesem Sinne gesagt, dass nichts ohne 


. 


θούντων χαὶ μετὰ πολὺ μὲν οὖν ἀπαραβάτου οὔσης τῆς τοιαύτης συμπλοχῆς. Cıc. 
Divin. I, 55, 125 (nach Posidonius): fatum oder εἱμαρμένη nenne er ordinem 
seriemque causarum, cum causa causae nexa rem ex se gignat. SEN. nat. qu. 
I, 36: guid enim intellegis fatum? existimo necessitatem rerum omnium actio- 
numque, quam nulla vis rumpat. De prov. 5, 8: irrevocabilis humana pariter 
ac divina cursus vehit. üle ipse omnium conditor et rector seripsit quidem fata, 
sed sequitur. semper paret, semel jussit. 

1) Vgl. 8. 130 und ὅτοβ. ΕΚ]. I, 180 (Pıur. plae. I, 28): Χρύσιππος δύναμιν 
πνευματιχὴν τὴν οὐσίαν τῆς εἱμαρμένης τάξει τοῦ παντὸς διοιχητιχήν. 

2) Daher die Definition der εἱμαρμένη von Chıysippus (Prur. und Sron,. 
a. ἃ. a. O.): εἱμαρμένη Eorıv ὃ τοῦ χόσμου λόγος ἢ λόγος (Plut.,vöpos) τῶν ἐν τῷ 
χόσμῳ προνοίᾳ διοιχουμένων: ἢ λόγος καθ᾽ ὅν τὰ μὲν γεγονότα γέγονε τὰ δὲ γιγνό- 
μενα γίγνεται τὰ δὲ γενησόμενα γενήσεται. Statt λόγος, bemerkt Stob., setze 
Chrysipp auch ἀλήθεια, αἰτία, φύσις, ἀνάγχη ἃ. A. THEODORET. cur. gr. aff. 
VI, 14. 8.87: Chrysippus erkläre das eiuapuevov und χατηναγχασμένον für gleich- 
bedeutend, die εἱμαρμένη für eine χίνησις ἀΐδιος συγεχὴς χαὶ τεταγμένη. Zeno 
bezeichne die letztere (wie auch ὅζ1τοΒ. I, 178 sagt) als δύναμις χινητιχὴ τῆς ὕλης, 
auch als φύσις und πρόνοια, seine Nachfolger als λόγος τῶν ἐν τῷ χύσμῳ προνοίᾳ 
διοιχουμένων oder als εἷἱομὸς αἰτίων (diess auch bei Prur. plac. I, 28, 4. ΝΈΜΕΒ. 
nat. hom. c. 36, 8. 143). Auch die τύχη werde von ihnen für eine Gottheit 
(oder wie Sımer. phys. 74, b, u. sagt, für ein θεῖον χαὶ δαιμόνιον) erklärt, wobei 
eben ihre wesentliche Identität mit der Ξἰμαρμένη vorausgesetzt ist. CHRYSIPPUS 
b. Prur. Sto. rep. 34, 8. 8. 1050: τῆς γὰρ χοινῆς φύσεως εἰς πάντα διατεινούσης 
δεήσει πᾶν τὸ ὁπωσοῦν γινόμενον ἐν τῷ ὅλῳ χαὶ τῶν μορίων ὁτῳοῦν zur" ἐχείνην 
γενέσθαι χαὶ τὸν ἐχείνης λόγον χατὰ τὸ ἑξῆς ἀχωλύτως" διὰ τὸ μήτ᾽ ἔξωθεν εἶναι τὸ 
ἐνστησόμενον τῇ οἰχονομίᾳ μήτε τῶν μερῶν μηδὲν ἔχειν ὅπως κινηθήσεται ἢ σχήσει 
ἄλλως [ἢ] χατὰ τὴν χοινὴν φύσιν. ΚαΙΕΑΝΤΗΒΒ Hymn. (b. ὅτου, Ekl. I, 80), V.12. 
18 ff. s. ο. 129, 1, Schl. M. Αὐβει, II, 3 u. A. 

3) Dass übrigens alle diese Begriffe in einander fliessen, ist schon früher 
bemerkt worden. 


Philos. ἃ. Gr. III. B. 1. Abth. 10 


146 Stoiker. 


diesen Willen geschehe 1). In ihrer Wirkung ale bildende Natur- 
kraft führt die allgemeine Vernunft auch den Namen des λόγος 
σπερματιχός. Sie heisst so zunächst in Beziehung auf das Welt- 
ganze, sofern sich nicht allein bei der Weltbildung Alles aus dem 
Urfeuer, wie aus einem Samen, mit innerer Gesetzmässigkeit ent- 
wickelt, sondern auch in der jetzigen Weltordnung alle Bildung 
und Gestaltung, alles Leben und alle Vernunft aus ihr entspringt, 
sofern daher das Urfeuer oder die Vernunft den Keim von Allem 
in sich enthält ?); in demselben Sinn ist aber auch von den in der 
Natur oder der Gottheit enthaltenen λόγοι arspuarızoi als einer 
Vielheit die Rede, und in der Lehre vom Menschen bezeichnen 
. die λόγοι σπερματιχοὶ das Zeugungsvermögen als einen Theil der 
Seele, den wir uns in demselben Verhältniss zur Einzelseele den- 
ken müssen, wie jene erstgenannten λόγοι σπέρμ. zur Weltseele ?). 
Wir haben daher unter diesem Namen überhaupt die schaffende 


1) Prvur. ὁ. not. 34, 5. 8. 1076: εἰ δὲ, ὥς ons: Χρύσιππος, οὐδὲ τοὐλάχιστόν 
ἐστι τῶν μερῶν ἔχειν ἄλλως ἀλλ᾽ ἢ ara τὴν Διὸς βούλησιν u. 5. w. vgl. St. rep. 
34, 2 (gleichfalls aus Chrysippus): οὕτω δὲ τῆς τῶν ὅλων οἰχονομίας προαγούσης; 
ἀναγκαῖον χατὰ ταύτην, ὡς ἄν ποτ᾽ ἔχωμεν, ἔχειν ἣμᾶς, εἴτε παρὰ φύσιν τὴν ἰδίαν 
νοσοῦντες, εἴτε πεπηρωμένο!, εἴτε γραμματιχοὶ γεγονότες ἢ μουσιχοί..... χατὰ τοῦτον 
δὲ τὸν λόγον τὰ παραπλήσια ἐροῦμεν χαὶ περὶ τῆς ἀρετῆς ἡμῶν χαὶ περὶ τῆς χαχίας 
καὶ τὸ ὅλον τῶν τεχνῶν χαὶ τῶν ἀτεχνιῶν, ὡς ἔφην... οὐθὲν γὰρ ἔστιν ἄλλως τῶν 
κατὰ μέρος γενέσθαι, οὐδὲ τοὐλάχιστον, ἀλλ᾽ ἢ κατὰ τὴν χοινὴν φύσιν καὶ κατὰ τὸν 
ἐχείνης λόγον ebd. 8 (5. vorl. Anm.). Ebd. 47, 4. 8. 

Kreante. Hymn. V. 15: οὐδέ τι γίγνεται ἔογον ἐπὶ χθονὶ σοῦ δίχα, δαΐμον, 
οὔτε κατ᾽ αἰθέριον θεῖον πόλον οὐτ᾽ ἐνὶ πόντῳ, 
πλὴν ὁπόσα ῥέζουσι χαχοὶ σφετέρησιν ἀνοίαις. 

Auf die letztere Beschränkung werden wir später noch zurückkommen. 

2) M. 8. was 8. 136, 4. 137,2. 139,2. 122, 1. Schl. 127. 123, 2 aus 
Dıoe. VII, 136. Stos. Ekl. I, 372.414. Cıc. N.D. II, 10, 28. 22, 58. Sextr. 
Math. IX, 101 angeführt ist. M. Aurer IV, 14: ἐναφανισθήσῃ τῷ γεννήσαντα, 
μᾶλλον δὲ ἀναληφθήσῃ εἰς τὸν λόγον αὐτοῦ τὸν orepuatızov χατὰ μεταβολήν. Ebd, 
21: al ψυχαὶ... εἰς τὸν τῶν ὅλων σπερματιχὸν λόγον ἀναλαμβανόμενα!. 

3) 8: ο. 129, 1 die Definition der Gottheit aus Sros. PLur. ATHENA#, 
M. Aureı. IX, 1: ὥρμησεν [ἢ φύσις) ἐπὶ τήνδε τὴν διαχόσμησιν συλλαβοῦσά τινας 
λόγους τῶν ἐσομένων χαὶ δυνάμεις γονίμους ἀφωρίσασα ἃ. 5. w. Ebd. VI, 24: 
Alexander und sein Stallknecht ἐλήφθησαν εἰς τοὺς αὐτοὺς τοῦ χόσμου σπερματι- 
χοὺς λόγους — also ganz dasselbe, wie IV, 14 der σπερμ. A. in der Einzahl. 
Dioc. VII, 148: ἔστι δὲ φύσις ἕξις ἐξ αὑτῆς χινουμένη κατὰ σπερματιχοὺς λόγους 
u.s.w. Ebd. 157: μέρη δὲ ψυχῆς λέγουσιν ὀχτὼ, τὰς πέντε αἰσθήσεις χαὶ τοὺς ἐν 
ἡμῖν σπερματιχοὺς λόγους καὶ τὸ φωνητιχὸν χαὶ τὸ λογιστιχόν. 


Verhängniss und Vorsehung. 147 


und gestaltende Naturkraft zu verstehen, welche theils in ihrer 
Einheit das Universum, theils in ihren a Ausflüssen die 
Einzeldinge Velen diese Kraft wird der stoischen Meta- 
physik gemäss zugleich als der Urstoff oder der materielle Keim 
der Dinge vorgestellt; ebenso ist sie aber andererseits die Form 
derselben, oder das ihre Form und Beschaffenheit bestimmende 
Gesetz, der λόγος, nur dass man sich die Form nicht abgelöst vom 
Stoffe denken darf: wie der Luft- und Feuerstoff des Urwesens 
als solcher die Weltvernunft und die Weltseele, das formende 
und bildende Element sein soll, so ist auch in den Samen der 
Einzelwesen die luftartige Substanz, in welcher die Stoiker das 
eigentliche σπέρμα suchten 1). an sich selbst der Keim, aus wel- 
chem sich das betreffende Wesen nach einer inneren Gesetz- 
mässigkeit entwickelt 52. Diese seine innere Form allein ist in 
jedem Ding das Bleibende bei dem beständigen Wechsel der 
Stoffe ®), in ihr allein liegt auch die Identität des Weltganzen, 
denn die Materie desselben ist in einem unaufhörlichen Uebergang 
aus einer Form in die andere begriffen *), nur das allgemeine 
Gesetz dieses Processes bleibt unabänderlich ein und dasselbe. 
Dass nun die Welt wirklich nicht blos überhaupt von der 
göttlichen Vorsehung beherrscht werde, sondern dass auch Alles 
ohne Ausnahme ihren unverbrüchlichen Gesetzen unterworfen sei, 
diess ergab sich für. die Stoiker freilich aus allen Voraussetzungen 
ihres Systems so unweigerlich, dass eine besondere Beweisfüh- 
rung dafür entbehrlich scheinen konnte. Indessen versäumten 
sie es nicht, den Einwürfen gegen ihre Ansicht mit ausführlicher 
Rechtfertigung entgegenzutreten °). Aecht stoisch berief sich 
Chrysippus in dieser Beziehung vor Allem auf die allgemeine 


1) Wie das Urfeuer oder der Aether der Same der Welt heisst (5. o. 136, 4f.), 
80 ist nach Chrysippus bei Dıos. 159 das eigentliche σπέρμα im Samen von 
Pflanzen und Thieren πνεῦμα χατ᾽ οὐσίαν. 

2) Der Ausdruck σπέρμ. λόγος wird daher auch für den Samen oder das 
‚ Ei selbst gebraucht, wenn der ozeaw. %. (b. Prur. quaest. conviv. II, 3, 3, 4) 
als γόνος ἐνδεὴς γενέσεως definirt wird. 

3) 8.8.85, 5. 

4) Wie sich uns dieses ausser dem, was vorhin über die Geschichte der 
Welt angeführt wurde, auch in der Lehre von der beständigen Umw andlung 
der Elemente zeigen wird. 

5) Vgl. O. Heinz Stoicorum de fato doctrina (Naumb. 1859) S. 29 ff. 
10 * 


148 Stoiker, 


Ueberzeugung der Menschen, wie sie sich in den Namen des Ver- 
hängnisses und der Schicksalsmächte ausspreche 1), und in Dich- 
terworten niedergelegt sei ?). Dass ferner die göttliche Weltre- 
gierung aus dem stoischen Begriff der göttlichen Vollkommenheit 
folge, war leicht zu zeigen °); und wenn die Stoiker das Dasein 
der Götter auf teleologischem Wege bewiesen, so war ebendamit 
auch das Walten der Vorsehung dargethan ἢ). Auch seinen De- 
terminismus glaubte aber Chrysippus, schon auf rein logischem 
Wege, vertheidigen zu können. Denn da jedes Urtheil entweder 
wahr oder falsch sei °), so müsse diess auch von solchen Urthei- 
len gelten, die sich auf einen zukünftigen Erfolg beziehen; solche 
Sätze können aber nur dann wahr sein, wenn das Eintreten des 
Erfolgs nothwendig, und nur dann falsch, wenn es unmöglich 
sei. Alles, was geschieht, müsse demnach mit Nothwendigkeit 
aus den Ursachen, durch die es bedingt sei, hervorgehen ®). 
Der gleiche Schluss, nur vom Sein auf's Bewusstsein über- 
getragen, liegt dem Beweis aus dem göttlichen Vorherwis- 
sen ‘) zu Grunde; wie dort vorausgesetzt wurde: wenn etwas 
wahr ist, ehe es eintritt, so sei es nothwendig, so hier: es 
sei nothwendig, wenn es wahrheitsgemäss gewusst werden 
kann, ehe es eintritt. An diesen Beweis schliesst sich dann 


1) M. s. hierüber, was der Peripatetiker Dıoszsıaxus b. Eus. pr. ev. 
VI, 8, 7 fi. und ebenso Sro». Ekl. 1,180 über seine Etymologieen von εἱμαρμένη, 
πεπρωμένη, Χρεὼν (Heise 8. 32, 1 vermuthet hier wegen’ TuEoporET eur. gr, 
affect. VI, 11. S. 87, 4, der die eusebianische Stelle ausschreibt, τὸν χρόνον 
χατὰ τὸ χρεὼν, es ist aber vielmehr, wie bei Turo». a. a. Ὁ, Gaisf., zu lesen: τὶ 
χρεὼν χατὰ τὸ χρέος) Δσίράι, Κλωθὼ u. 5. w. mittheilt, und das 8. 144, 2. 145, 2 
Angeführte; auch Ps. Arısror. De mundo e. 7. 401, b, 8 ff. In etwas anderer 
Wendung wird der Beweis des Vorsehungsglaubens aus dem consensus gentium 
bei Sen. Benef. IV, 4 geführt. 

2) Homerische Stellen, die er für sich anführte, Ὁ. Evs. a. a. 0.8, 1, 

3) M. vgl. hierüber Cic. N. D. II, 30, 76 ff. 

4) Dieses beides wird daher auch in der Regel zusammengenommen. Vgl. 
die S. 123, 4 angeführten Stellen. 

5) S. 0. 70,2. 93,5. Anders Aristoteles (5, Bd. Il, b, 157,5) und die 
Peripatetiker (über diese Sımrı. Categ. 10%, β). ᾿ 

6) Cıc. De fato 10, 20. 

7) Aurx. De fato 8. 92 Or.: τὸ δὲ λέγειν εὔλογον εἶναι τοὺς θεοὺς τὰ ἐσόμενα 
προειδέναι... χαὶ τοῦτο λαμβάνοντας χατασχευάζειν πειοᾶσθαι δι᾿ αὐτοῦ τὸ πάντα 
ἐξ ἀνάγχης τε γίνεσθαι χαὶ καθ᾽ εἱμαρμένην οὔτε ἀληθὲς οὔτε εὔλογον. 


Begründung des Vorsehungsglaubens. 149 


weiter der aus der Weissagung an, auf welchen die Stoiker 
grossen Werih legten '); denn so wenig das Zufällige mit 
Sicherheit vorhergewusst werden kann, ebensowenig kann es 
vorhergesagt werden. Den eigentlichen lesen des stoischen Fa- 
talismus spricht aber erst der Satz aus, dass nichts ohne ausrei- 
chende Ursache geschehen, oder unter den gegebenen Umständen 
anders ausfallen könne, als es ausfällt ?); denn diess ist, wie die 
Stoiker glauben, ebenso unmöglich, als dass etwas aus nichts 
werde 5), und wenn es möglich wäre, so würde es die Einheit 
des Weltganzen zerstören, welche eben nur in dieser festge- 
‚schlossenen Verkettung aller Ursachen, in der ausnahmslosen 
Nothwendigkeit aller Dinge‘ und aller ihrer Veränderungen be- 
steht %). Der Determinismus des stoischen Systems ist die un- 


4) Vgl. Cıc. Ν. Ὁ. II, 65, 162. De fato 3, 5 fl. (die vorangegangene Aus- 
einandersetzung fehlt leider). Diosestas b. Evs. pr. ev. IV, 3, 1 δι: Chrysippus 
beweist aus der Mantik, dass Alles χαθ᾽ εἱμαρμένην geschehe; denn wenn nicht 
Alles vorherbestimmt wäre, könnte die Weissagung nicht wahr sein. Arex. 
De fato e. 21. 8. 96: οἱ δὲ FENDER» τὴν μαντιχὴν χαὶ χατὰ τὸν αὑτῶν λόγον μόνον 
σώζεσθαι: λέγοντες αὐτὴν καὶ ταύτη πίστει: τοῦ πάντα χαθ᾽ εἱμαρμένην γίνεσθαι χρώμε- 
«νοι ἃ. 85. w. Vgl. folg. Anm. Ueber die stoischen Beweise für die Möglichkeit 
und Wirklichkeit der Weissagung und den Erweis des Daseins Gottes aus der 
Thatsache der Weissagung wird Kap. 11 noch zu sprechen sein. 

2) Pıur. De fato 11, 8. 574: χατὰ δὲ τὸν ἐναντίον (sc. λόγον, nach der 
stoischen Ansicht) μάλιστα μὲν χαὶ πρῶτον εἶνα: δόξειε τὸ μηδὲν ἀναιτίως γίγνεσθαι, 
ἀλλὰ χατὰ προηγουμένας αἰτίας δεύτερον δὲ τὸ φύσει διοικεῖσθαι τόνδε τὸν χόσμον, 
σύμπνουν χαὶ συμπαθῇ αὐτὸν αὑτῷ ὄντα: in dritter Linie kommen dann die Be- 

᾿ς trachtungen, die mehr nur eine hachträgliebe Bestätigung (μαρτύρια) jener 

Ansicht seien: die Mantik, die Ergebung des Weisen in den Weltlauf, der 
Satz, dass jedes Urtheil wahr oder falsch sei. Neues. nat. hom. e. 35, 5, 139: 

\ εἶ γὰρ τῶν αὐτῶν αἰτίων περιεστηχότων, ὥς φασιν αὐτοὶ, πᾶσα ἀνάγχη τὰ αὐτὰ 

᾿ Ὑίνεσθαι u. 5. w. 

᾿ 8) Αυεχ. De fato ce. 22, 8. 172 (vgl. ebd. ο. 15, 8. 54): ὅμοιόν τε εἶναί φασ! 

᾿ καὶ ὁμοίως ἀδύνατον τὸ ἀναιτίως τῷ γίνεσθαί τι ἐχ μὴ ὄντος. 

| 4) Aurx. a.a.0. 8.70: φασὶ δὴ τὸν χόσμον τόνδε ἕνα ὄντα .... χαὶ ὑπὸ 

᾿ φύσεως διοιχούμενον ζωτιχῆς τε χοὶ λογιχῆς nat νοερᾶς ἔχειν τὴν τῶν ὄντων διοίχησιν 

‚ ἀΐδιον χατὰ εἴρμόν τινὰ χαὶ, τάξιν προϊοῦσαν, so dass Alles darin als Ursache und 
Wirkung verknüpft, und nichts aus diesem Zusammenhang abgelöst sei, ἀλλὰ 


᾿ 

{ 

k 

ΡΝ , - er - ὧ " ᾽ ὡ ἰδ. DIL SEE δὲ, 

F παντί τε τῷ γινομένῳ ἕτερόν τι ἐπαχολουθεῖν, ei a ἐξ αὐτοῦ ἐπ᾽ ἀνάγχης ὡς 
> x 

᾿ αἰτίου, χοὶ πᾶν τὸ γινόμενον ἔχειν τι πρὸ αὐτοῦ, ᾧ ὡς alzt ῳ συνήρτηται" undev γὰρ 


\ ἀναιτίως μήτε εἶναι μήτε γίνεσθαι τῶν ἐν τῷ κόσμῳ, διὰ τὸ μηδὲν εἶναι ἐν αὐτῷ ἀπο- 
| λελυμένον τε χαὶ χε χωρισμένον τῶν in τῶν ar ἀντ wu διασπ ἄσθαι Ὑ γὰρ χαὶ δι αι- 


ἔν" καὶ μηχέτι τὸν χόσμον ἕνα μένειν Ast, χατὰ μίαν τάξιν τε nat οἰχονομίαν διοι- 


180 Stoiker. 


mittelbare Folge seines Pantheismus; die göttliche Kraft, welche 
in der Welt waltet, könnte nicht die einheitliche absolute Ursache 
aller Dinge sein, wenn es irgend etwas gäbe, was in irgend einer 
Beziehung unabhängig von ihr wäre, wenn nicht Ein unabänder- 


licher Causalzusammenhang Alles umfasste. 

Es ist desshalb auch nicht das Einzelne als solches, auf das 
sich die göttliche Vorsehung hier bezieht, sondern das Einzehte 
immer nur in seinem Zusammenhang mit dem Ganzen. Da Alles 
in jeder Beziehung durch diesen Zusammenhang bestimmt ist, so 
ist freilich Alles von der allgemeinen Weltordnung umfasst, und 
insofern kann gesagt werden, die Götter sorgen nicht blos für das 
Ganze, sondern auch für alle Einzelnen '). Ebensogut lässt sich 
aber auch umgekehrt behaupten, die göttliche Thätigkeit gehe 
nicht auf das Einzelne, sondern nur auf das Ganze, nicht auf das 
Kleine, sondern auf das Grosse 5). Sie richtet sich unmittelbar 
immer nur auf das Ganze, auf das Einzelne nur durch Vermittlung 
des Ganzen, sofern jenes in diesem enthalten und durch seinen 
Zustand bestimmt ist ?). Der stoische Vorsehungsglaube geht 


χκούμενον, εἰ ἀναίτιός τις εἰςάγοιτο κίνησις u.s. w. Vgl. vorl. Anm. und Cıc. Divin. 
I, 55, 125. De fato 4,7 f. M. Auren X, 5. 

1) Der Stoiker bei Cıc. N. D. II, 65, 164: nec vero universo generi homi- 
num solum, sed etiam singulis a Düis immortalibus consuli et provideri solet. 

2) Seseca nat. qu. II, 46: singulis non adest [Jupiter], et tamen (so Hase) 
vim et causam et manum omnibus dedit. Cıc. a. a. ©. 66, 167: magna Dü 
curant, parva negligunt. Vgl. ebd. III, 35, 86: at enim minora Dü negligunt 

. ne in regnis quidem reges omnia minima curant. sie enim dieitis. 

3) So erklärt Cicero selbst seinen Satz von der Fürsorge der Götter für 
die Einzelnen, wenn er ihn (mit einem auf die chrysippische Schule hinweisen- 
den Sorites, vielleicht nach Chrysippus περὶ προνοίας) so beweist: wenn die 
Götter für alle Menschen sorgen, müssen sie auch für die auf unserer Halb- 
kugel sorgen, also auch für die einzelnen Städte, also auch für die einzelnen 
Menschen darin. So überflüssig diese umständliche Ableitung an sich ist, so 
zeigt sie doch, wie die Sorge für die Einzelnen hier gemeint ist, eben als ver- 
mittelt durch das Ganze. Vgl. M. Aurer, VI, 44: εἰ μὲν οὖν ἐβουλεύσαντο περὶ 
ἐμοῦ χαὶ τῶν ἐμοὶ συμβῆναι ὀφειλόντων οἱ θεοὶ, χαλῶς ἐβουλεύσαντο .... εἰ δὲ μὴ 
ἐβουλεύσαντο rar’ ἰδίαν περὶ ἐμοῦ, περί γε τῶν χοινῶν πάντως ἐβουλεύσαντο, οἷς κατ᾽ 
ἐπαχολούθησιν καὶ ταῦτα συμβαίνοντα ἀσπάζεσθα: χαὶ στέργειν ὀφείλω. Aechnlich 
IX, 28. So werden wir auch finden, dass die Stoiker sich die Weissagung, 
welche für sie der Hauptbeweis der speeiellen Vorsehung ist, durch den 
Naturzusammenhang bedingt denken. Die Voraussetzungen ihres Systems 
ohnedem machen jede andere Vorstellung von der Sache unzulässig. 


Vorsehungsglaube; Determinismus. 151 


durchaus vom Standpunkt des Weltganzen aus; das Einzelwesen, 
und auch der Mensch, kann darin nur als ein unselbständiger 
Theil dieses Ganzen in Betracht kommen. 

Mit dieser Theorie verwickelten sich nun aber die Stoiker in 
die gleiche Schwierigkeit, welche noch jede deterministische An- 
sieht gedrückt hat: den sittlichen Anforderungen gerecht zu wer- 
den und die Möglichkeit der sittlichen Zurechnung zu wahren: 
und diese Schwierigkeit musste für sie um so dringender werden, 
je höher sie jene Anforderungen spannten und je strenger sie die 
überwiegende Mehrzahl der Menschen beurtheilten '). Ihr zu ent- 
gehen, scheint namentlich Chrysippus die äussersten Anstrengun- - 
gen gemacht zu haben ?). Einen Zufall konnte er allerdings nicht 
annehmen, er suchte vielmehr zu zeigen, dass auch das schein- 
bar Zufällige immer seine verborgenen Gründe habe °); aber doch 
wollte er auch nicht zugeben, dass Alles nothwendig sei: noth- 
wendig sollte nämlich nur das heissen, was von keinen äusse- 
ren Bedingungen abhängt *), und daher immer wahr ist, also nur 
das Ewige und Unveränderliche, nicht das, was in der Zeit ein- 
tritt, mag es auch noch so unabwendbar sein °); und in ähnlicher 


1) Wie diess Arzx. a. a. O. c. 28, S. 88 f. treffend bemerkt. 

2) Auf ihn werden wir wenigstens der Mehrzahl nach die stoischen Ant- 
worten auf die πολλὰ ζητήματα φυσιχά τε χοὶ ἠθιχὰ χαὶ διαλεχτιχὰ, zu denen nach 
Prur. De fato c. 8, 5. 568 die Lehre vom Verhängniss Anlass gab, mit Wahr- 
scheinlichkeit zurückführen können. 

3) S. 0. 146, 1 und Chrysippus Ὁ. Prur. Sto. rep. 23, 2f. S. 1045. Ebd. 
8.6 (wo der Zufall gleichfalls nicht, wie Plut. meint, eingeräumt, sondern 
auf den ἄδηλος λόγος zurückgeführt wird). Als allgemeinen Grund dafür 
machte er geltend: τὸ γὰρ ἀναίτιον ὅλως ἀνύπαρχτον εἶναι χαὶ τὸ αὐτόματον. Da- 
her die stoische Definition der τύχη als αἰτία ἀπρονόητος za ἄδηλος ἀνθρωπίνῳ 
λογισμῷ b. Prur. De fato ο. 7, 5. 572. plac. I, 29, 3 (ὅτοβ. ΕΚ]. I, 218). Arex. 
De fato 85. 24.- Sıner. Phys. 74, b, u. Vgl. 8. 145 2. 

4) Arzx. a.a.0. Die Stoiker behaupten, auch solches, was nicht ge- 
schieht, sei möglich, wenn es an sich geschehen könnte, und διὰ τοῦτο φασὶ 
finde τὰ γενόμενα χαθ᾽ εἱμαρμένην, χαίτοι ἀπαραβάτως γινόμενα, ἐξ ἀνάγχης γίνεσθαι, 
ὅτι ἔστιν αὐτοῖς δυνατὸν γενέσθαι χαὶ τὸ ἀντιχείμενον. Vgl. Cıc. Top. 15,59, welcher 
nach Unterscheidung der eigentlich wirkenden und der unterstützenden Ur- 
sachen (die guaedam afferunt per se adjuvantia etsi non necessaria) beifügt: ex 
hoc genere causarum ex aeternitate pendentium fatum a Stoieis nectitur. 

5) Arex. De fato c. 10, 8.32. Vgl. Cıc. De fato 17, 39. 18, 41 u. oben 
8. 98, 1. Daher bei Pıvr. plac. a. a. Ὁ, (ähnlich Neses. nat. hom. c. 39, 


152 Stoiker. 


Weise suchte er den Begriff des Möglichen zu retten, so wenig 
er auch eigentlich im stoischen System Raum findet 1). Was so- 
dann insbesondere die menschlichen Handlungen betrifft, so konn= 
ten die Stoiker zwar eine Freiheit des Willens im eigentlichen 
Sinn nicht anerkennen ?); aber sie waren der Meinung, der un- 
terscheidende Charakter desselben werde dadurch nicht beein- 
trächtigt: wirke auch in Allem eine und dieselbe allesbestimmende 
Macht, so wirke sie doch in jedem Wesen seiner eigenthümlichen 
Natur gemäss, im Organischen anders, als im Unorganischen, im 
Thier anders, als in der Pflanze, im Vernünftigen anders, als im 
Vernunftlosen °); und sei auch jede Handlung durch gewisse im 
Zusammenhang der Dinge und in der Beschaffenheit des Handeln- 
den liegende Ursachen bestimmt, so sei sie doch nichtsdestoweni- 
ger freiwillig, aus dem eigenen Trieb und Entschluss hervorge- 
gangen 2). Unfreiwillig wäre sie nur, wenn sie aus den äusseren 
Ursachen allein, und nicht blos unter Mitwirkung derselben aus 
unserem Willen entsprungen wäre °). Nur auf die Freiwilligkeit 


8. 149): ἃ μὲν γὰρ εἶναι zar’ ἀνάγχην, ἃ δὲ χαθ᾽ εἱμαρμένην, ἃ δὲ χατὰ προαίρεσιν, 
ἃ δὲ χατὰ τύχην, ἃ ὃὲ χατὰ τὸ αὐτόματον, was offenbar genauer ist, als 5108. 
Ekl. I, 176 und die 5, 145, 2 angeführte Angabe Theodoret's. 

1) M. 5. was 8. 98, 1 angeführt ist. Dass dieser Versuch ganz illusorisch 
sei, wird Ohrysippus natürlich von Gegnern, wie Prur. Sto. rep. c. 46 f. 
Auzx. a. a. O. nachdrücklich vorgehalten. Nach dem Letzteren wusste er 
selbst sich nur mit der schlechten Auskunft zu helfen: auch bei dem, was 
χαθ᾽ εἱμαρμένην geschehe, stehe nichts im Wege, dass auch das Gegentheil 
geschehen könnte, sofern das, was sein wirkliches Geschehen verhindere, uns 
unbekannt sei. 

2) S. o., namentlich ὃ, 146, 1. 

3) Curysıpr. b. Gerr. N. A. VII, 2,6 fi. Auex. De fato c. 36, 8. 112. 

4) Gert. ἃ. ἃ. Ὁ. Aırx. 8. ἃ. Ὁ, ο. 18. Ebd. ο. 88 (wozu Heme 5, 43 
z. vgl... ΝΈΜΕΒ. nat. hom. c. 35, $. 138. 140. Aurx. theilt ο. 33 eine längere 
Beweisführung mit, die aber schliesslich doch nur auf den Sata hinauskommt: 
πᾶν τὸ καθ᾽ ὁρμὴν γινόμενον ἐπὶ τοῖς οὕτως ἐνεργοῦσιν εἶναι. Nemes. beruft sich 
neben Chrysippus auf Philopator, einen Stoiker des zweiten Jahrhunderts 
n. Chr., von dem er bemerkt, er habe folgerichtig das ἐφ᾽ ἡμῖν auch dem Leb- 
losen beigelegt. 

5) Cıc. De fato 18, 41 δ᾿: Um der necessitas zu entgehen, oder das Fatum 
zu behaupten, unterscheide Chrysippus die causae principales et perfectae von 
den causae adjuvantes; seine Meinung sei nicht die, dass Alles dem Verhäng- 
niss gemäss erfolge causis perfectis et prineipalibus, sed causis adjuvantibus. 
(Vgl. 8, 151, 4). Seien auch diese nicht in unserer Gewalt, so sei es doch 


Determinismus. 153 


‚kommt es aber, wie die Stoiker glauben, auch bei der sittlichen 
'Zurechnung an: was aus unserem Willen hervorgeht, wird uns 
als unsere That zugerechnet, gleichviel, ob wir anders handeln 
konnten, oder nicht ). Lob und Tadel, Belohnung und Strafe 
drücken nur das Urtheil über die Beschaffenheit gewisser Personen 
und Handlungen aus 5), dass diese auch anders sein könnten, ist 
nicht nöthig. Müsste ja doch sonst auch die Tugend und Schlech- 
tigkeit für etwas erklärt werden, was nicht in unserer Ge- 
walt liegt und nicht zugerechnet werden kann; denn wer ein- 
mal tugendhafl oder schlecht ist, bei dem ist ebendamit das 
Gegentheil ausgeschlossen °), und die höchste Trefllichkeit, die 
der Götter, ist eine ganz unabänderliche *). Ja Chrysippus °) 
suchte zu zeigen, dass seine Lehre vom Verhängniss mit den sitt- 
lichen Thätigkeiten und der sittlichen Zurechnung sich nicht allein 
vertrage, sondern $ie sogar geradezu voraussetze; denn mit der 


"Weltordnung sei auch das Gesetz, und mit diesem der Unterschied 


des Sittlichen und Unsittlichen, Lobens- und Tadelnswerthen ge- 
geben ®); und wenn das Verhängniss nicht ohne eine Welt, und 


unser Wille, unsere Zustimmung zu den gegebenen Eindrücken. Weil Chry- 
sippus wenigstens auf die Freiwilligkeit noch ein grosses Gewicht legte, sagt 
Ozsosaus b. Eus. pr. ev. VI, 7, 3. 10 von ihm, er mache den Willen zu einem 
ἡμίδουλον. 

2. Ger. VI, 2,.13,. (το, ἃ. 4..0. 

2) Vgl. Aurx. c. 84, 8. 106, der die Stoiker sagen lässt: τὰ μὲν τῶν ζῴων 
ἐνεργήσει μόνον, τὰ δὲ πράξε: τὰ λογιχὰ, χαὶ τὰ μὲν ἁμαρτήσεται τὰ δὲ κατορθώσει. 
ταῦτα γὰρ τούτοις χατὰ φύσιν μὲν, ὄντων δὲ χαὶ ἁμαρτημάτων χαὶ χατορθωμάτων, za 
τῶν τοιαύτων φύσεων χαὶ ποιοτήτων μὴ ἀγνουμένων, χαὶ ἔπαινο: μὲν χαὶ ψόγοι nal 
τιμαὶ καὶ χολάσεις. 

3) ALEX. c. 26, 8, 82. 

4) Dass sich die Stoiker auch hierauf beriefen, sieht man aus Avex. 
c. 32, 8. 102. ᾿ 

5) Denn auf diesen werden wir die Beweisführungen, welche ich auch 
als Proben des Formalismus und der steifen Schulsprachbe mittheilen will, die 
seit Chrysippus bei den Stoikern einheimisch waren, ihrem ganzen Ton nach 
mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zurückführen. 

6) Arex. ἃ. ἃ. Ὁ. c. 35: λέγουσι γάρ᾽ οὐχ ἔστι τοιαύτη μὲν ἣ εἱμαρμένη, οὐχ 
ἔστι δὲ πεπρωμένη" (es findet nicht statt, dass eine εἱμαρμένη ist, aber keine 
πεπρωμένη) οὐδὲ ἔστ! πεπρωμένη, οὐχ ἔστι δὲ αἶσα οὐδὲ ἔστ' μὲν αἶσα, οὐχ ἔστι δὲ 
νέμεσις" οὐχ (l. οὐδὲ, ἔστι μὲν νέμεσις, οὐχ ἔστι δὲ νόμος οὐδὲ ἔστι μὲν νόμος, οὐχ 
ἔστι δὲ λόγος ὀρθὸς προςταχτιχὸς μὲν ὧν ποιητέον ἀπαγορευτιχὸς δὲ ὧν οὐ ποιητέον 


154 Stoiker. 


die Welt nicht ohne Götter gedacht werden könne, die Götter 
aber gut seien, so sei in der Anerkennung des Verhängnisses 
auch die des Guten, und mithin auch des Gegensatzes von Tugend 
und Schlechtigkeit, Löblichem und Verwerflichem, enthalten '). 
Warfen aber die Gegner ein, wenn Alles vom Schicksal bestimmt 
sei, so sei die eigene Thätigkeit überflüssig, da das einmal Be- 
stimmte unter allen Umständen geschehe, so erwiederte Chrysip- 
pus: es sei zwischen einfacher und zusammengesetzter Vorher- 
bestimmung zu unterscheiden; die Folgen der menschlichen 
Handlungen seien aber nur in ihrem Zusammenhang mit diesen 
Handlungen, diese seien daher so gut, wie sie selbst, vorherbe- 
stimmt 5). Nur um so deutlicher zeigt sich aber auch hierin, dass 


ἀλλὰ ἀπαγορεύεται μὲν τὰ ἁμαρτανόμενα, προςτάττεται δὲ τὰ κατορθώματα’ οὐχ ἄρα 
ἔστι μὲν τοιαύτη ἣ εἱμαρμένη, οὐχ ἔστι ÖL ἁμαρτήματα χοὶ χατορθώματα ἀλλ᾽ εἶ 
ἔστιν ἁμαοτήματα χαὶ χατορθώματα, ἔστιν ἀρετὴ καὶ χαχία" εἰ δὲ ταῦτα, ἔστι χαλὸν 
καὶ αἰσχρόν" ἀλλὰ τὸ μὲν καλὸν ἐπαινετὸν, τὸ ὃε αἰσχρὸν ψεχτόν " οὐχ ἄρα ἔστι τοιαύτη 
μὲν ἣ εἱμαρμένη, οὐχ ἔστι δὲ ἐπαινετὸν χαὶ ψεχτόν. Das Lübliche aber verdiene 
eine τιμὴ oder eine γέρως ἀξίωσις, das Tadelnswerthe eine χόλασις, d.h. eine 
ἐπανόρθωτις. 

1) Ebd. c. 37, 5.118: Ein zweiter Beweis ἀπὸ τῆς αὐτῆς παλαίστρας sei 
dieser: οὐ πάντα μὲν ἔστι χαθ᾽ εἱμαρμένην, οὐχ ἔστι δὲ ἀκώλυτος χαὶ ἀπαρεμπόδιστος 
ἥ τοῦ χόσμου διοίχησις" οὐδὲ ἔστι μὲν τοῦτο, οὐχ ἔστι δὲ χόσμος΄ οὐδὲ ἔστι μὲν χόσ- 
μος, οὐχ εἰσὶ δὲ θεοί" (demn der χόσμος ist nach Chrysipp’s Definition eben das 
aus Göttern und Menschen u. s. w. bestehende Ganze; 8. o. 134, 1) εἰ δέ εἶσι 
θεοὶ, εἰσὶν ἀγαθοὶ οἵ θεοί. ἀλλ᾽ εἰ τοῦτο, ἔστιν ἀρετή: ἀλλ᾽ εἰ ἔστιν ἀρετὴ. ἔστι 
φρόνησις. ἀλλ᾽ εἰ τοῦτο, ἔστιν ἢ ἐπιστήμη ποιητέων τε χαὶ οὐ ποιητέων: ἀλλὰ ποιητέα 
μέν) ἔστ: τὰ χατορθώματα, οὐ ποιητέα δὲ τὰ ἁμαρτήματα ἃ. 8. νγ. (ähnlich, wie 
vorhin) οὐχ ἄρα πάντα μὲν γίνεται χαθ᾽ εἱμαρμένην, οὐχ ἔστι δὲ γεραίρειν χαὶ 
ἐπανορθοῦν. 

2) Cıc. De fato 12, 28 fi. Dioczsıan. b. Eus. pr. ev. VI, 8, 16 ff. ϑξχεοι. 
nat. qu. II, 37 ἢ. Solche Dinge, die nur zusammen vom Schicksal bestimmt 
sind, nannte Chrysippus συγχαθειμαρμένα (confatalia). Der gegen ihn ge- 
richtete Schluss (den Praxtı Gesch. d. Log. 1, 489 irrig als einen von den 
'Stoikern selbst aufgestellten behandelt) heisst bekanntlich ἀργὸς λόγος (ignava 
ratio). Neben dem λόγος ἀργὸς nennt Pıur. De fato e. 11, 8. 574 auch den 
θερίζων und dem λόγος παρὰ τὴν εἷμαρμένην als solche, deren Sophismen sich 
nur vom Standpunkt der Willensfreiheit aus lösen lassen. Der letztere enthielt 
vielleicht den (von Oexowmaus b. Eos. pr. ev. VI, 7, 12 ff. ausgeführten) Ge- 
‘danken, dass der Mensch durch sein Handeln die εἱμαρμένη vereiteln könnte, 
wenn er das unterliesse, woraus die vorherbestimmten Erfolge hervorgehen; 
der θερίζων, auch von Dıios. 25. 44. Lucran vit. auct. 22 neben andern Trug- 
schlüssen genamnt (aber von Chrysippus gewiss so wenig, wie diese, für einen 


a nn 


Determinismus. Einheit der Welt. 155 


‘es nicht in der Absicht der Stoiker liegt, dem Menschen eine an- 
‚dere Stellung zum Verhängniss zu geben, als den übrigen Wesen; 


auch ihm sind alle seine Handlungen und Schicksale durch den 


Zusammenhang der Dinge vorgezeichnet, und die Einzelnen un- 
terscheiden sich in dieser Beziehung nur dadurch, dass die Einen 
aus eigenem Antrieb und mit innerer Zustimmung, die An- 
dern widerwillig und gezwungen der ewigen Weltordnung 
folgen 1). 
Da nun so Alles in der Welt von Einer und derselben gött- 
lichen Kraft bewirkt wird, so ist die Welt ihrer Form nach orga- 
nische Einheit, ihrer Beschaffenheit nach vollkommen. Die Einheit 
der Welt, eine von den Unterscheidungslehren der Stoiker gegen 
die Epikureer, folgte unmittelbar aus der Einheit des Urstoffs und 
der Urkraft 57; im Besonderen wurde sie aus dem durchgängigen 
Zusammenhang, oder wie die Stoiker diess ausdrücken, aus der Sym- 
pathie aller ihrer Theile, und namentlich aus dem Zusammentreffen 


andern Zweck, als den seiner Auflösung, behandeit), lautete nach Ammon. 
De interpr. 106, a: Entweder wirst du erndten oder nicht erndten, also kannst 
du nicht sagen, du werdest vielleicht erndten. Diess weist zunächst auf Dio- 
dor’s Läugnung des Möglichen (Bd. 11, a, 192), vielleicht wurde der Schluss 


“ aber auch ähnlich, wie der ἀργὸς λόγος, verwendet, in welchem Fall auch 


Chrysipp’s Antwort wohl die gleiche, wie dort, war. 

1) Dueunt volentem fata, nolentem trahunt (Ses. ep. 107, 11 nach Klean- 
thes, dessen Verse b. Ερικτ. Man. 52), oder wie diess bei Hırroı.rr. Refut 
Haer. I, 21 sehr anschaulich dargestellt wird: τὸ χαθ᾽ εἱμαρμένην εἶνα! πάντη 
διεβεβαιώσαντο παραδείγματι χρησάμενοι τοιούτῳ, ὅτι ὥσπερ ὀχήματος ἐὰν ἢ ἐξηρτη- 
μένος χύων, ἐὰν μὲν βούληται ἕπεσθα!, χαὶ ἕλχεται χαὶ ἕπεται ἑκὼν, ... ἐὰν δὲ μὴ 
βούληται ἕπεσθαι, πάντως ἀναγχασθήσεται, τὸ αὐτὸ δήπου χαὶ ἐπὶ τῶν ἀνθρώπων" 
χαὶ μὴ βουλόμενοι γὰρ ἀχολουθεῖν ἀναγχασθήσονται πάντως εἰς τὸ πεπρωμένον εἰς- 
ελθεῖν. Den gleichen Gedanken führt M. Arzeı VI, 42 aus. Alle, sagt er, 
müssen für das Ganze arbeiten, ἐχ περιουσίας di zat ὃ μεμφόμενος zaı 6 ἀντιβαίνειν 
πειρώμενος καὶ ἀναιρέϊν τὰ γινόμενα. χαὶ γὰρ τοῦ τοιούτου ἔχρηζεν ὃ κόσμος. Nache 
des Menschen sei es, dafür zu sorgen, dass er in einer würdigen Rolle an der 
‘gemeinsamen Arbeit theilnehme. 

2) Nach allem Früheren bedarf diess keines besonderen Beweises; ebenso 
wird ja auch umgekehrt aus der Einheit der Welt auf die der weltbildenden 
Kraft geschlossen; s. o. 121, 1. 2. Doch vgl. m. Pıvr. Def. orac. 29, 
8,425. M. Auer, ΥἹ, 88: πάντα ἀλλήλοις ἐπιπέπλεχται: καὶ πάντα κατὰ τοῦτο φίλα 
ἀλλήλοις ἐστὶ ... τοῦτο δὲ διὰ. τὴν τονιχὴν χίνησιν καὶ σύμπνοιαν χαὶ τὴν ἕνωσιν τῆς 
οὐσίας. Dens. VII, 9 


186 Stoiker. 


der irdischen und der himmlischen Erscheinungen bewiesen '). 
Ihre Vollkommenheit ergab sich im Allgemeinen gleichfalls aus 


nn .... . 


1) Sexr. Math. IX, 78 f.: τῶν σωμάτων τὰ μέν ἐστιν ἡνωμένα, τὰ δὲ ἐχ συνα- 
πτομένων τὰ δὲ ἐχ διεστώτων ... ἐπεὶ οὖν χοὶ ὃ χόσμος σῶμά ἐστιν, ἤτοι ἡνωμένον 
ἐστὶ σῶμα ἢ ἐχ συναπτομένων ἢ ἐχ διεστώτων" οὔτε δὲ ἐχ συναπτομένων οὔτε ἐχ 
διεστώτων, ὡς δείχνυμεν ἐχ τῶν περὶ αὐτὸν συμπαθειῶν" χατὰ γὰρ τὰς τῆς σελήνης 
αὐξήσεις χαὶ φθίσεις πολλὰ τῶν τε ἐπιγείων ζῴων χαὶ θαλασσίων φθίνει τε χαὶ αὔξεται, 
ἀμπώτεις τε χαὶ πλημμυρίδες (Ebbe und Fluth) περί τινα μέρη τῆς θαλάσσης γίνον- 
ται. Ebenso trefien die Veränderungen in der Atmosphäre mit dem Auf- und 
Untergang von Gestirnen zusammen. Ἐξ ὧν συμφανὲς, Gr: ἡνωμένον τι σῶμα 
χαθέστηχεν ὁ χόσμος, ἐπὶ μὲν γὰρ τῶν dr συναπτομένων ἢ διεστώτων οὐ συμπάσχει 
τὰ μέρη ἀλλήλοις. Dioc. VIL, 140: ἐν δὲ τῷ χόσμῳ undtv εἶναι χενὸν ἀλλ᾽ ἡνῶσθαι 
αὐτόν, τοῦτο γὰρ ἀναγχάζειν τὴν τῶν οὐρανίων πρὸς τὰ ἐπίγεια σύμπνοιαν χαὶ συν- 
τονγίαν. Ebd. 148: ὅτι θ᾽ εἷς ἐστι Ζήνων φησὶν ἐν τῷ περὶ τοῦ ὅλου χαὶ Χρύσιππος 
καὶ ᾿Απολλόδωρος ... χαὶ Ποσειδώνιος. Arex. De mixt. 142, a (8. ο. 108, 2) Cıc. 
N. Ὁ. II, 1, 19 (8. ο. 121, 2). Ερικτεν, Diss. I, 14, 2: οὐ δοχέϊ σοι, ἔφη, ἡνῶσθαι 
τὰ πάντα: Δοχέΐ, ἔφη" τί δέ; συμπαθεῖν τὰ ἐπίγεια τοῖς οὐρανίοις οὐ δοχεῖ σοι: Δοχεῖ, 
ἔφη — wofür dann, wie bei Cicero, die dem Wechsel der Jahrszeiten, den 
Mondsphasen und der Annäherung oder Entfernung der Sonne entsprechenden 
Veränderungen in der Pflanzen- und Thierweit angeführt werden. M. Aurer 
IV, 40 (s. 0.8. 127). Man sieht aus diesen Stellen, um was es sich für die 
Stoiker bei dem Streit über die Einheit der Welt handelt, nämlich nicht blos 
um die Möglichkeit weiterer Welten ausser der Gesammtheit dessen, was wir 
wahrnehmen, sondern um die bestimmtere Frage, ob die uns sichtbaren Him- 
melskörper unter einander und mit der Erde in einem wesentlichen Zusam- 
menhang stehen, Ein organisches Ganzes (ζῷον Dıos. VII, 143 u. A.) bilden. 
Ebenso erläntert sich aus dem Angeführten der Begriff der συμπάθεια. Unter 
der Sympathie verstehen die Stoiker nicht den magischen Zusammenhang, 
welchen der neuere Sprachgebrauch mit diesem Wort bezeichnet, sondern das 
naturgemässe Zusammentreffen gewisser Erscheinungen in den verschiedenen 
Theilen der Welt, den consensus, concenius, die cognatio, conjunctio, continuatio 
naturae, durch welche der Ausdruck von (το. N. Ὁ. III, 11, 28. Divin. II, 15, 
34. 69, 142 erklärt wird. In diesem Sinne führt noch M. Auer IX, 9 aus, 
dass Alles dem Verwandten zustrebe, das Feuer nach oben, die Erde nach 
unten, dass Thiere und Menschen Gemeinschaft unter einander suchen, und 
zwischen den höchsten Wesen, den Gestirnen, sogar eine ἕνωσις &x διεστη- 
χότων, eine συμπάθεια ἐν διεστῶσι stattfinde. Auch die letztere Bemerkung geht 
nooh nicht wirklich über den Begriff des natürlichen Zusammenhangs hinaus, 
doch bildet sie bereits die Brücke zu der späteren, neuplatonischen Vorstel- 
lung von der Sympathie als einer nicht mehr physikalisch, sondern nur aus 
psychischen Zusammenhängen erklärbaren Wirkung in die Ferne. Auch Epi- 
kur b. Dios. X, 50 gebraucht συμπάθεια von einer natürlichen Verbindung, 
dem Zusammenhang zwischen den einzelnen Theilen eines Körpers. 


EEE 


Einheit und Vollkommenheit der Welt. 157 


der Betrachtung der letzten Gründe '); die Stoiker suchten sie 
aber auch im Einzelnen nachzuweisen, und sie hielten sich hiefür, 
nach dem Vorgang früherer Philosophen, theils an ihre Schönheit, 
theils an ihre Zweckmässigkeit ®). Auf die erstere bezieht sich 
die Behauptung des Chrysippus, dass die Natur viele Thiere um 
ihrer Schönheit willen geschaffen habe, den Pfau z. B. wegen sei- 
nes Schwanzes °), und der Satz Mark Aurel’s, dass auch dasje- 
nige, was nur nebenher und für keinen besonderen Zweck hervor- 
gebracht wird, selbst das scheinbar Hässliche oder Abschreckende 
in der Natur, seinen eigenthümlichen Reiz habe 5); aus derselben 
Rücksicht mögen es sich die Stoiker erklärt haben, dass, wie sie 
bemerkten, keine zwei Dinge in der Welt sich vollkommen gleich 

sind 5). Der Hauptbeweis für die Schönheit der Welt lag ihnen 
aber in der Gestalt, der Grösse und der Pracht, des Himmels- 
gebäudes °). Der andere Gesichtspunkt tritt nicht blos in einzel- 
nen Aeusserungen hervor, sondern die stoische Naturbetrachtung 
trägt überhaupt, .aus ähnlichen Gründen wie die sokratische, we- 


1) Vgl.M. Auseı. VI, 1: ἣ τῶν ὅλων οὐσία (der Stoff der Welt) εὐπειθὴς 
καὶ εὐτρεπής᾽ 6 δὲ ταύτην διοικῶν λόγος οὐδεμίαν ἐν ἑαυτῷ αἰτίαν ἔχει τοῦ χαχο- 
ποιέίν. χαχίαν γὰρ οὐχ ἔχει, οὐδέ τι χαχῶς ποιεῖ, οὐδὲ βλάπτεταί τι ὑπ᾽ ἐχείνου. 
πάντα δὲ χατ᾽ ἐκεῖνον γίνεται καὶ περαίνεται. 

2) Vgl. folg. Anm. und Dıoe. 149: 
στοχάζεσθαι χαὶ ἡδονῆς, ὡς δῆλον ἐκ τῆς τοῦ ἀνθρώπου δημιουργίας. 

3) Prur. St. rep. 21, 8 ἢ, 8. 1044: εἰπὼν [Χρύσιππος] ὅτι ... φιλοχαλεῖν ... 
τὴν φύσιν τῇ ποικιλία χαίρουσαν εἰχός' ἐστι, ταῦτα χατὰ λέξιν εἴρηχε' „yevorco δ᾽ 
μάλιστα τούτου ἔλφασις ἐπὶ τῆς χέρχου τοῦ ταώ.“ Vgl. den Stoiker b. Cıc. Fin. 
HI, 5, 18: jam membrorum ... alia videntur propter eorum usum a natura 
esse donata, ... alia autem nullam ob utilitatem, quasi ad quendam ornatum, 
ut cauda pavoni, plumae versicolores columbis, viris mammae atque barba. 


ri 


αὐτὴν δὲ [τὴν φύσιν] χαὶ τοῦ συμφέροντος 


ı 


ἂν 


4) ΠΙ, 2, wo an Beispielen gezeigt wird, ὅτι zat τὰ ἐπιγινόμενα τοῖς φύσει 
γινομένοις ἔχει τι εὔχαρι χαὶ ἐπαγωγόν .... σχεδὸν οὐδὲν οὐχὶ καὶ τῶν κατ᾽ ἐπαχο- 
λούθησιν συμβαινόντων ἡδέως πως διασυνίστασθαι. 

5) Cıc, Acad. Il, 26, 85. ΞΈΝΕΟΑ ep. 113, 16. Der Letztere rechnet diese 
Mannigfaltigkeit der Naturgebilde zu den Thatsachen, welche uns mit Be- 
wunderung gegen den göttlichen Künstler erfüllen müssen, er scheint sie also 
zunächst unter den ästhetischen Gesichtspunkt zu stellen. Vgl. Chrysippus 
in der vorletzten Anm. | 

6) Prur. plac. I, 6, 2: χαλὸς δὲ ὁ χόσμος᾽ δῆλον δ᾽ dr τοῦ σχήματος καὶ τοῦ 
χρώματος χαὶ τοῦ μεγέθους χαὶ τῆς περὶ τὸν χόσμον τῶν ἀστέρων ποιχιλίας. Die 
Welt habe die vollkommenste Gestalt, die einer Kugel, die berrliche tiefhlaue 
glänzende Farbe des Himmels u. s. w. 


158 Stoiker, 


gen des vorherrschend praktischen Standpunkts und Interesses 
dieser Schule, einen wesentlich teleologischen Charakter, Wie 
ihr die Zweckmässigkeit der Welteinrichtung der sicherste Beweis _ 
für das Dasein einer Gottheit war, so sollte sich umgekehrt das 
Walten der Gottheit in der Welt vor Allem durch die Zweckbe- 
ziehung aller Dinge beurkunden 1). Diese Zweckbeziehung fass- 
ten die Stoiker nun zunächst, wie Sokrates, sehr äusserlich, wenn 
sie ausführten, dass jedes Ding in der Welt einem andern zuliebe 
geschaffen sei, die Pflanzen zur Nahrung der Thiere, die Thiere 
zur Nahrung und zum Dienste des Menschen ?), die ganze Welt 
um der Menschen und der Götter willen ?); ja sie geriethen in 
ihrem Bestreben, jedem Ding seinen Endzweck nachzuweisen, 


_— 


1) M. vgl. hierüber die Stellen, welche 5. 123, 4 angeführt sind, beson- 
ders Cıc. N. D. U, 32 fi. [ 

2) Μ. 5. die folgenden Anmm. und Per. bei Porrurr. De abstin. III, 20: 
ἀλλ᾽ ἐχεῖνο νὴ Δία τοῦ Χρυσίππου πιθανὸν 7 [ἦν], ὡς ἡμᾶς αὐτῶν καὶ ἀλλήλων ol 
θεοὶ χάριν ἐποιήσαντο, ἡμῶν δὲ τὰ ζῷα, συμπολεμένν μὲν ἵππους χαὶ" συνθηρεύειν 
χύνας, ἀνδρείας δὲ γυμνάσια παρδάλεις χαὶ ἄρχτους χαὶ λέοντας u.s.w. Cıc. Ν. Ὁ. 
II, 14, 37: seite enim Chrysippus: ut elypei causa involuerum, vaginam autem 
gladii, sie praeter mundum cetera omnia aliorum causa esse generata, ut eas 
fruges et fructus, quos terra gignit, animantium causa, animantes autem homi- 
num, ut equum vehendi causa, arandi bovem, venandi et custodiendi canem. 
Ders. Of. 1, 7, 22: placet Stoieis, quae in terris gignantur ad usum hominum 
omnia ereari, 

3) Cie. Fin. Il, 20, 67: proeclare enim Chrysippus, cetera nata esse ho- 
minum causa et Deorum, eos autem communitatis et societatis suae. N.D. II, 
53, 133 (in der Darstellung der stoischen Lehre): Warum ist dieses ganze 
Weltgebäude gebildet? Nicht um der Pflanzen und Thiere, sondern um der 
vernünftigen Wesen, der Götter und Menschen, willen. Daher wird denn 
ec. 54—61 eingehend gezeigt, wie sich die Fürsorge der Götter für den Men- 
schen sowohl in dem Bau und der Einrichtung seines Leibes, als in seiner 
geistigen Begabung so glänzend bewähre, schliesslich aber e. 61, 154 f. die 
ganze Erörterung wieder in dem Satze zusammengefasst: omnia, quae sint 
in hoc mundo, quibus utantur homines, kominum causa facta esse et parata. 
Wie eine Stadt und was darin ist, zum Gebrauch der Bewohner, so sei die 
Welt für die Götter und Menschen da. Selbst die Gestirne und ihre Be- 
wegungen, quamquam etiam ad mundi eohaerentiam pertinent, tamen et spec- 
taculum hominibus praebent. Die Erde aber vollends mit ihren Pflanzen und 
Thieren ist nur den Menschen zuliebe geschaffen. Orıc. c. Cels. IV, 74.8.559, 
b: die Stoiker behaupten, die Vorsehung habe Alles um der vernünftigen 
Wesen willen gemacht.. M. Auzer V, 16. 30. Daber die 8.134, 1 angeführten 
Definitionen des χόσμος. Vgl. auch Gert. VII (VI), 1, 1. 


Vollkommenheit der Welt. 159 


nicht selten in das vollkommen Lächerliche und Geschmacklose !). 
Indem sie nun aber weiter fragten, wozu denn die Menschen und 
die Götter da seien, so mussten sie nothwendig an einen Punkt 
kommen, auf dem sie über die relativen Zweckbeziehungen zu der 
Idee eines absoluten Zweckes hinausgeführt wurden. Die Men- 
schen und die Götter selbst sollten um ihrer wechselseitigen Ge- 
meinschaft willen da sein 2). Oder, wie philosophischer gesagt 
wird: die Bestimmung des Menschen ist die Betrachtung und 
Nachahmung der Welt, er selbst hat nur als ein Theil des Ganzen 
seine Bedeutung, nur dieses Ganze ist vollkommen und ist Selbst- 
zweck 5). 

Je nachdrücklicher aber diese Vollkommenheit des Welt- 
ganzen von den Stoikern betont wird, um so weniger können sie 
auch die Aufgabe umgehen, zu zeigen, inwiefern sie mit den 
mancherlei Uebeln in der Welt vereinbar ist. Durch die Auf- 
merksamkeit, welche sie dieser Frage zuwandten, sind sie 


nächst Plato *) die Schöpfer der sogenannten Theodicee gewor- 
— i 


1) So zeigt Chrysippus b. Pıvr. Sto. rep. 32, 1. $. 1049, wie nützlich 
uns die Hähne seien; das Pferd soll zum Reiten, der Stier zum Pflügen, der 
Hund zum Jagen von der Natur bestimmt sein (s. vorl. Anm.); vom Schwein 
meinte er (KrLrmess Strom. VII, 718, B sagt: Kleanthes), es sei lediglich zur 
Nahrung für den Menschen geschaffen, und die Seele sei ihm statt des Salzes 
gegeben, damit es nicht faule (Cie. N. Ὁ, II, 64, 160. Fin. V, 13, 38. Pıuur, 
qu, conviv. V, 10, 3, 6. 5. 685. Porruyr. De abstin. UI, 20); ebenso die 
Austern, das Geflügel u. s. w. (Porruvr. a. a. O.). Dass er in ähnlicher Weise 
selbst den Nutzen der Mäuse und Wanzen zu rühmen wusste, wird S. 161,1 
gezeigt werden. Nach diesem Vorgang, und dem des xenophontischen So- 
krates (s. Bd. II, a, 116 £.), setzt dann auch der Stoiker Cıcero’s N. D. II, 63, 
158 ff. auseinander, dass die Schafe zu nichts Anderem da seien, als zur Be- 
kleidung, die Hunde zur Bewachung und Unterstützung der Menschen, die 
Fische zum Essen, selbst die Raubthiere zu allerlei Gebrauch und jedenfalls 
zur Uebung der Tapferkeit u. s. w.; und ähnlich Erıkrer Diss. 11, 8, 7, dass 
der Esel geschaffen sei, weil wir einen Lastträger brauehten, und weil er als 
soleher auch musste gehen können, und zum Gehen des Vorstelluugsver- 
mögens bedurfte, so habe er auch dieses erhalten, 

2) 8.8. 158, 3. 

3) Cıc. N.D. I, 14, 37: apse autem homo ortus est ad mundum contem- 
plandum et imitandum, nullo modo perfeetus, sed est quaedam particula perfecti, 
sed mundus quoniam omnia complexus est, nec est quidquam, quod non insit in 
eo, perfectus undique est. 

4) Ueber diesen vgl. m, Bd, II, a, 601 ἢ, 


100 Stoiker. 


den 1). Die Richtung, in welcher sich diese zu bewegen hatte, war 
ihnen durch ihr ganzes System vorgezeichnet. Sofern dieses System 
alles Einzelne dem Gesetz des Ganzen unterordnet, waren die 
Klagen über das Uebel in der Welt im Allgemeinen mit der Be- 
merkung zurückzuweisen, dass auch die Unvollkommenheit des 
Einzelnen zur Vollkommenheit des Ganzen nothwendig sei 9; 
dieser Satz konnte aber in der weiteren Ausführung verschieden 
gefasst werden, je nachdem jene Nothwendigkeit unter den phy- 
sikalischen oder unter den teleologischen Gesichtspunkt gestellt 
wurde. In dem erstern Fall wurde das Uebel als eine Naturnoth- 
wendigkeit, der uns auch die Gottheit nicht habe entziehen kön- 
nen, entschuldigt, in dem andern als die Bedingung oder das 
Mittel für die Verwirklichung des Guten gerechtfertigt. Beide 
Gesichtspunkte begegnen sich bei den drei Hauptfragen der 
Theodicee, nach dem physischen Uebel, nach dem moralischen 
Uebel, und nach dem Verhältniss der äusseren Zustände zu der 
sittlichen Würdigkeit. Das physische Uebel konnte den Stoikern 
um so weniger zum Anstoss gereichen, da sie dasselbe, wie wir 
in der Ethik finden werden, gar nicht als ein wirkliches Uebel 
anerkannten; es genügte daher für sie, wenn sie nachwiesen, 
dass die Uebel dieser Art, wie z. B. die Krankheiten, aus natür- 
lichen Ursachen mit Nothwendigkeit hervorgehen, und nur als 
die unvermeidliche Folge zweckmässiger Einrichtungen von der 
Natur geordnet seien °); doch unterliessen sie es nicht, auch auf 


1) Wir sehen diess aus den verhältnissmässig reichhaltigen Nachrichten 
über die stoische T'heodicee. Dass namentlich Chrysippus vielfach περὶ τοῦ 
μηδὲν ἐγχλητὸν εἶναι μηδὲ μεμπτὸν κόσμῳ geschrieben hatte, sagt Prur. St. rep. 
37,1. 8. 1051. 

2) 8.8. 159, 3 und Chrysippus bei Pur. St. rep. 44, 6: τέλεον μὲν ὃ κόσμος 
σῶμά ἐστιν, οὐ τέλεα δὲ τὰ τοῦ χόσμου μέρη τῷ πρὸς τὸ ὅλον πως ἔχειν χαὶ μὴ nah" 
αὑτὰ εἶναι. Vgl. auch den Satz b. Prur. solert. anim. e. 2, 9. 8. 960, dass die 
Thiere ohne Vernunft sein miissen, weil dem Vernünftigen Vernunftloses ent- 
gegengeseizt sein müsse. 

3) Gere. VII (VD), 1,7 δι: Chrysippus handelte in seiner Schrift περὶ προ- 
voi&; unter Anderem auch darüber: εἰ al τῶν ἀνθρώπων νόσοι κατὰ φύσιν γίνονται. 
existimat autem non fuisse hoc principale naturae consilium, ut faceret homines 
morbis obnoxios +... sed cum multa, inquit, atque magna gigneret pareretque 
aptissima et utilissima, alia quoque simul agnata sunt incommoda üs ipsis, quae 
faciebat cohaerentia: eaque non per naturam sed per sequelas quasdam neces- 


Theodicee. ‚161 


den Umstand, dass Vieles nur durch verkehrten Gebrauch nach- 
theilig für uns werde '), und auf den Nutzen mancher Dinge, die 
man für Uebel zu halten pflegt ?), hinzudeuten. Schwieriger war 
für die Stoiker, wie für Andere, die Rechtfertigung des morali- 
schen Uebels; und das um so mehr , da es gerade nach ihrer An- 
sicht so ausserordentlich gross und verbreitet in. der Welt ist °). 
Die Verantwortlichkeit für dasselbe von der Gottheit oder dem 
Naturgesetz auf den Menschen zu wälzen, war ihnen durch ihren 
Determinismus verboten; wenn sie daher diesen Ausweg auch 
nicht ganz verschmähen, eine Mitschuld der Gottheit am Bösen 
läugnen, und auf den freien Willen und die Absicht der Menschen 
verweisen *), so treffen sie doch darin mit andern deterministi- 


sarias facta dieit, quod ipse appellai zara rapazoroölngıw ... proinde morbi quo- 
que et aegritudines partae sunt dum salus paritur. M.Avreu VI, 36: alle Uebel 
seien ἐπιγεννήματα τῶν σεμνῶν χαὶ χαλῶν. Prur. an. procr. c. 6, 9. 5. 1015: 
αὐτοὶ δὲ (die Stoiker) κακίαν χαὶ χαχοδαιμονίαν τοσαύτην ... zur ἐπαχολούθησιν 
γεγονέναι λέγουσιν. Sex. nat. qu. VI, 8,1. 

1) Vgl. Sex. nat. qu. V, 18,4f. 13 ff., wo u. A.: non ideo non sunt ista 
natura bona, si vitio male utentium nocent ... si beneficia naturae utentium 
pravitate perpendimus, nihil non nostro malo accepimus. 

| So bemerkt Chıysippus bei Prur. St. rep. 21, 4, die Wanzen leisten 
uns den Dienst, dass sie uns an zu langem Schlaf hindern, und die Gefräs- 
sigkeit der Mäuse erinnere uns daran, unsere Sachen nicht herumliegen zu 
lassen, und ebd. 32, 2 sagt er, die Kriege dienen der Welt ebenso, wie die 
Aussendung von Kolonieen den Staaten, als ein Mittel gegen Uebervölkerung. 
Vgl. was 5. 158, 2. 159, i argeführt ist. Aehnlich M. Aurer VIII, 50, in 
Beziehung auf Unkraut u.dgl.: die Abfälle im Haushalt der Natur haben auch 
benützt werden müssen. 

3). Ein Umstand, dessen sich z. B. Pur. c. not. 19, 5. 1067 mit Geschick 
gegen die stoischen Auskünfte bedient. 

4) Kreastm. hymn. v. 17 (s. ο. 146, 1). Pıvr. St. rep. 33, 2: Chrysippus 
sagt, ὡς τῶν αἰσχρῶν τὸ dziov παραίτιον γίνεσθαι οὐχ εὔλογόν ἐστιν, das Gesetz 
sei an seiner Uebertretung, die Götter an der Gottlosigkeit unschuldig. Ders. 
b. Gerz. VII, 2,7 fl.: quanguam ita sit, ut ratione quadam necessaria et prin- 
cipali coacta atque connexa sint fato omnia, ingenia tamen ipsa mentium nosira- 
rum perinde sunt fato obnoxia, ut proprietas eorum est ipsa et qualilas ... su@ 
scaevitate et voluntario impetu in assidua delicta et in errores se ruunt. Daher 
heisst es nachher in einer Stelle, die Gell. griechisch anführt: ὡς τῶν βλαβῶν 
ἑχάστοίς παρ᾽ αὐτσίς γινομένων χαὶ χαθ᾽ ὁρμὴν αὐτῶν ἁμαρτανόντων τε χαὶ βλαπτο- 
μένων καὶ χατὰ τὴν αὐτῶν διάνοιαν χαὶ πρόθεσιν, und bei Pı.ur. Sto. rep. 47, 13. 
S. 1057 sagt Chrys., möge auch die Gottheit den Menschen irrige Einbil- 
dungen vorspiegeln, so sei es doch ihre Schuld, wenn sie denselben Beifall 

Philos. ἃ. Gr. IIT. Bd. 1. Abth. 11 


162- Stoiker., 


schen Systemen zusammen, dass diess nicht ihr letztes Wort ist "). 
Die eigentliche Lösung der Schwierigkeit liegt für sie theils in 
dem Satze, dass es auch der Gottheit nicht möglich gewesen sei, Ὁ 
die menschliche Natur frei von Fehlern zu erhalten 5). theils in 
der Erwägung, dass das Böse um des Guten selbst willen, als das 
Gegenglied zum Guten nothwendig sei ?), und dass es von der 
Gottheit im letzten Erfolge zum Guten gelenkt werde %. Auch die 
dritte von den obenberührten Fragen, die nach dem Verhältniss 
der Würdigkeit zur Glückseligkeit, hat den Scharfsinn des Chry- 
sippus und seiner Nachfolger beschäftigt. Sie ganz abzuweisen 
hätte ihrer sonstigen Teleologie nicht entsprochen; und wirklich 


geben. Vgl. Erırr. Enchir. c. 27: ὥσπερ σχοπὸς πρὸς τὸ ἀποτυχεῖν od τίθεται, 
οὕτως οὐδὲ χαχκοῦ φύσις (ein seiner Natur nach Böses) ἐν χόσμῳ γίνεται. Ders. 
Diss. I, 6, 40. Solche Aeusserungen enthalten auch eine gewisse Rechtfer- 
tigung der Angabe b. Prour. vlac. 11, 27,3, die freilich jedenfalls sehr ungenau ist, 
nach den Stoikern τὰ μὲν εἱμάρθαι τὰ δὲ ἀνειμάρθαι. Weiteres oben, 5. 152, 4. 5. 

1) Wie diess im Grunde Chrysippus selbst anerkennt, wenn er b. Geı1. 
a.a. O. sagt, auch das sei vom Verhängniss bestimmt, dass Schlechte irren 
und fehlen, und den Menschen hiebei dem abwärts rollenden Stein vergleicht, 
den ja auch seine eigene Schwere bewege. 

2) Cnrxsırr. Ὁ. Prur. St. rep. 36, 1: χαχίαν δὲ χαθόλου ἄραι οὔτε δυνατόν 
ἐστιν οὔτ᾽ ἔχει χαλῶς ἀρθῆνα!. Ders. b. Gere. VII, 1, 10: wie die Krankheiten 
als Nebenfolge aus der menschlichen Natur hervorgehen, sic herele, inquit, 
dum virtus hominibus per consilium naturae gignitur vitia ibidem per affinitatem 
contrariam nata sunt. 

3) Cnrxs. b. Prur. St. rep. 35, 3 (e. not. 13, 2): γίνεται γὰρ αὐτή πως [ἢ 
καχία] χατὰ τὸν τῆς φύσεως λόγον χαὶ ἵνα οὕτως εἴπω οὐχ ἀχρήστως γίνεται πρὸς τὰ 
ὅλα, οὐδὲ γὰρ ἂν τἀγαθὸν ἦν. ce. not. 14, 1: wie in der Komödie auch das Un- 
gereimte zur Schönheit des Ganzen beitrage, οὕτω Ψέξειας ἂν αὐτὴν ἐφ᾽ ἑαυτῆς 
τὴν χαχίαν" τοῖς δ᾽ ἄλλοις οὐχ ἄχρηστός ἐστιν. Aehnlich M. Auer VI, 42, Gent. 
VI, 1,2: (Chrysippus) nihil est prorsus istis, inquit, insubidius, qui opinantur, 
bona esse potwisse, si non essent ibidem mala: nam cum bona malis contraria 
sint, utraque necessum est opposita inter se et quasi mutuo adverso quaeque fulta 
nixu (Heraklit’s ἀντίξουν συμφέρον, vgl. Bd. I, 465, 3) consistere: nullum adeo 
contrarium est sine contrario altero. Ohne Unrecht, Feigheit u. s. f. könnte 
die Aufgabe der Gerechtigkeit, der Tapferkeit u. s. w. nicht zum Bewusstsein 
kommen; wenn es kein Böses gebe, wäre (wie Prur. e. not. 16, 2. S. 1066 
beifügt) die φρόνησις als ἐπιστήμη ἀγαθῶν χαὶ χαχῶν unmöglich. 

4) Kıeantn. hymo, 18: ἀλλὰ σὺ χαὶ τὰ περισσὰ ἐπίστασαι ἄρτια θέϊναι 

ἢ χοὶ χοσμεῖν τὰ ἄχοσμα χαὶ οὐ φίλα σοὶ φίλα ἐστίν" 

ὧδε γὰρ εἰς ἕν ἅπαντα συνήρμοχας ἐσθλὰ χαχσίσιν, 
ὥσθ᾽ ἕνα γίγνεσθαι πάντων λόγον αἰὲν ἐόντα, 


Theodicee. 163 


‚wollten sie auch einen Theil der äusseren Uebel als göttliche Strafe 
betrachtet wissen 1); nur um so mehr musste sich ihnen aber die 
Forderung aufdrängen, die Erscheinungen, welche sich nicht 
unter diesen Gesichtspunkt stellen liessen, das Unglück tugend- 
hafter und das Glück schlechter Menschen zu erklären. Diese 
Aufgabe scheint die Stoiker wirklich in einige Verlegenheit ge- 
setzt zu haben, wenigstens lauten ihre Antworten zum Theil sehr 
unbefriedigend ?). Im Geiste des Systems lag jedoch nur die Eine 
Antwort, dass weder dem Guten ein wirkliches Uebel, noch dem 
Schlechten ein wirkliches Glück widerfahren könne °), dass daher 


1) Prur. St. rep. 35, 1: τὸν θεὸν χολάζειν φηδὶ τὴν χαχίαν χαὶ πολλὰ ποιξῖν 
ἐπὶ χολάσει τῶν πονηρῶν ... ποτὲ μὲν τὰ δύςχρηστα συμβαίνειν φησὶ τοῖς ἀγαθοῖς οὐχ 
ὥσπερ τοῖς φαύλοις χολάσεως χάριν ἀλλὰ κατ᾽ ἄλλην οἰχονομίαν ὥσπερ ἐν ταῖς πόλε- 
σιν ... [τὰ καχὰ] ἀπονέμεται κατὰ τὸν τοῦ Διὸς λόγον ἤτοι: ἐπὶ κολάσει ἢ χατ᾽ ἄλλην 
ἔχουσάν πως πρὸς τὰ ὅλα οἰκονομίαν. Ebd. 15, 2: ταῦτά φησι τοὺς θεοὺς ποιεῖν 
ὅπως τῶν πονηρῶν χολαζομένων οἱ λοιποὶ παραδείγμασι τούτοις χρώμενοι ἧττον 
ἐπιχειρῶσι τοιοῦτόν τι ποιεῖν, wogegen am Anfang desselben Kap. die gewöhn- 
lichen Vorstellungen von göttlichen Strafen, schwerlich im Widerspruch hie- 
mit (wie Plut. will), lächerlich gemacht werden. Vgl. auch quaest. rom. 51. 
8. 277. 

2) So sagt Curysırrus b. Piotr. St. rep. 37, 2 auf die Frage, wie man 
sich das Unglück Tugendhafter zu erklären habe: πότερον ἀμελουμένων τινῶν 
χαθάπερ ἐν. οἰχίαις μείζοσι παραπίπτει τινὰ πίτυρα χαὶ ποσοὶ πυροί τινες τῶν ὅλων 
εὖ οἰχονομουμένων: ἢ διὰ τὸ χαθίστασθαι ἐπὶ τῶν τοιούτων δαιμόνια φαῦλα ἐν οἷς 
τῷ ὄντι γίνονται: ἐγχλητέαι ἀμέλειαι: ähnlich der Stoiker b. Cıc. N. D. II, 66 
(s. 0. 150, 2): magna Dii curant, parva negligunt — in einem so streng deter- 
ministischen System ofienbar schlechte Auskünfte. Noch ungenügender lautet 
es, wenn Sex. Benef. IV, 32 das unverdiente Glück schlechter Leute damit 
rechtfertigt, dass es ihnen um ihrer edeln Vorfahren willen zu Theil werde. 
Aber auch der triftigere Grund Chrysipp’s (Pıur. a. a. O.): πολὺ καὶ τὸ τῆς 
ἀνάγχης μεμῖχθαι stimmt nicht ganz zu dem Satze (Pı.vr. ὁ. not. 34, 2): οὐ γὰρ 
N γε ὕλη τὸ καχὸν ἐξ ἑαυτῆς παρέσχηχεν, ἄποιος γάρ ἐστι χαὶ πάσας ὅσας δέχεται 
διαφορὰς ὑπὸ τοῦ χινοῦντος αὐτὴν χαὶ σχηματίζοντος ἔσχεν —; und ebensowenig 
verträgt sich Sexeca’s: non potest artifec mutare materiam (De prov. 5, 9) 
mit seinen sonstigen Lobpreisungen der Welteinrichtung und ihrer Vollkom- 
menheit. Der Stoff ist ja bei den Stoikern in letzter Beziehung von der Welt- 
vernunft, der Gottheit, nicht verschieden. Nur berechtigen uns solche Wider- 
sprüche nicht, (mit Heıss Stoic, de fato doctr. 46) zu bezweifeln, dass Seneca 
hier wirklich als Stoiker spricht. Chrysippus selbst sagt ja der Sache nach 
dasselbe, und das Gleiche ist uns schon 8. 162, 1. 2. vorgekommen. 

3) Denn, wie M. Aurer IX, 16 sagt: οὐχ ἐν πείσει, ἀλλ᾽ ἐνεργεία, τὸ τοῦ 
λογικοῦ πολιτικοῦ ζῴου χαχὸν χαὶ ἀγαθὸν, ὥσπερ οὐδὲ ἢ ἀρετὴ χαὶ καχία αὐτοῦ ἐν 
πείσει, ἀλλὰ ἐνεργεία. Weiteres in der Ethik. 


11} 


104 Stoiker. 


das scheinbare Unglück von dem ‘Weisen theils als ein blosser 
Naturerfolg, theils als eine heilsame Uebung seiner sittlichen 
Kräfte zu betrachten sei, dass es nichts gebe, was nicht ein Stoff - 
für vernünftiges Rihdekt werden könnte ’), dass alles, was uns 
widerfährt, richtig behandelt, zu unserem Glück diene, und an- 
dererseits nichts, was mit sittlicher Schlechtigkeit erkauft wird, 
wünschenswerth sei 2); und 'hiemit liess sich auch die Annahme 
göttlicher Strafen durch den Satz verknüpfen, dass eben das, was 
dem Guten eine Kraftübung ist, von dem Schlechten als wirkliches 
Unglück, und insofern als Strafe empfunden werde; doch ist uns 
nicht überliefert, ob den angeführten Andeutungen Chrysipp’s 
wirklich dieser Sinn zu Grunde liegt. Wenn es aber bei dieser 
ganzen Untersuchung nicht ohne Schwanken und Widerspruch ab- 
gieng, wenn die physikalische und die teleologische Betrachtungs- 
weise sich in derselben vielfach durchkreuzten, wenn die göttliche 
Wirksamkeit bald als der zweckthätige Wille behandelt wurde, 
der Alles mit unbeschränkter Macht auf’s Beste einrichtet, bald 
auch wieder als beschränkt durch die unabänderliche Ordnung 
der Natur 5), so ist‘ diess ein Mangel, mit welchem die stoische 
Theodicee nicht allein steht. 


1) M. Aurer VIII, 35: ὃν τρόπον ἐχείνη [ἢ φύσις] πᾶν τὸ OURRERER χαὶ ἀντι- 
βαΐνον ἐπιπεριτρέπει χαὶ Kate εἰς τὴν elmasudunv καὶ μέρος ἑαυτῆς Mor, οὕτως 
χαὶ τὸ λογιχὸν ζῷον δύναται πᾶν χώλυμα ὕλην ἑαυτοῦ ποιεῖν καὶ χρῆσθαι αὐτῷ ἐφ᾽ 
οἷον ἂν χοὶ ὥρμησεν. 

2) Der Ausführung dieser Gedanken ist Sexeca’s Schrift De providentia 
gewidmet. Die Gründe, durch welche hier das äussere Unglück tugend- 
hafter Menschen mit der göttlichen Weltregierung in Einklang gebracht wird, 
sind im Wesentlichen diese: 1) dem Weisen kann kein wirkliches Uebel zu- 
stossen, denn er ist als solcher gegen alle äusseren Schicksale gewaffnet, und 
kann nichts vom Schicksal erdulden, was er nicht aus sittlichen Gründen 
auch sich selbst zufügt (c. 2. 6); 2) das Unglück ist daher für ihn nur eine 
‚erwünschte Uebung seiner Kräfte, ein göttliches Erziehungsmittel, denn nur 
im Unglück bewährt sich die Tugend; ein Held im Kampf mit dem Schicksal 
ist ein spectaculum Deo dignum (c. 1. 2—4 vgl. ep. 85, 39); 3) das Unglück 
der Rechtschaffenen zeigt, dass der äussere Zustand weder ein Gut noch ein 
Uebel ist (e. 5); 4) endlich ist Alles eine natürliche Folge natürlicher Ur- 
sachen (ce. 5). In demselben Sinn erklärt sich ΕΡΙΚΤΕΤ Diss. III, 17. I, 6, 37. 
I, 24, 1. Ὁ. ὅτου. Ekl. 1, 132 u.ö. M. Avker, IV, 49. VII, 68. 54. X, 33. 

3) Vgl PuıLopes. π. θεῶν διαγωγῆς 60]. 8. Vol. Here. VI, 53: ἰδιωτικῶς 
ἅπαντος αὐτῷ [θεῷ] δύναμιν ἀναθέντες, ὅταν ὑπὸ τῶν ἐλέγχων πιέζωνται, τότε κατα- 


ἐλ 7 


Physik: die Materie; Veränderung und Bewegung. 165 


6. Fortsetzung. Die Natur, die Elemente, das Welt- 
gebäude, die vernunftlosen Wesen. 


Wenden wir uns von den bisher besprochenen Fragen zu der 
Naturlehre im engeren Sinn, so sind zunächst einige Bestimmun- 
gen über die allgemeinen Bedingungen des natürlichen Daseins 
zu berühren. Doch zeigt die stoische Physik in denselben keine 
bedeutende Eigenthümlichkeit. Der Stoff oder die Substanz aller 
Dinge ist körperlich 2). Alles Körperliche ist in's Unendliche theil- 
bar, ohne dass es doch jemals wirklich unendlich getheilt wäre 5). 
Zugleich ist aber auch. alles einer Umwandlung unterworfen, 
durch welche die verschiedenen Stoffe in einander übergehen °). 
Die Stoiker unterschieden daher, mit Aristoteles, im Gegensatz 
zur mechanischen Physik, von der räumlichen Bewegung die 
qualitative Veränderung *), indem sie zugleich von jeder von bei- 
den verschiedene Formen aufzählten °); als die ursprünglichste 


φεύγουσιν ἐπὶ τὸ διὰ τοῦτο φάσχειν τὰ συναπτόμενα (das Passende) μὴ ποιεῖν, ὅτι 
οὐ πάντα δύναται. 

1) S. ο. 5, 107. 85, 5 Definitionen des Körpers, der Fläche u. 5. w. bei 
Dioc. 135; vgl. Srto2. Ekl. I, 410. 

2) Ῥιοα. 150, wo zwischen Apollodor und Chrysippus keine wirkliche ἡ 
Verschiedenheit stattfindet. 5108. ΕΚ]. I, 344. Prur. e. not. 38, 3. 8. 1079. 
Sexrt. Math. X, 142. Ebenso schon Aristoteles; 5. Bd. 1J, b, 296 ἢ. 

3) Pıur. place. I, 9, 2: οἕ Στωϊκοὶ τρεπτὴν καὶ ἀλλοιωτὴν καὶ μεταβλητὴν χαὶ 
ῥευστὴν ὅλην δι᾽ ὅλου τὴν ὕλην. Dioc. 150. Sex. nat. qu. III, 101. 3: fiunt omnia 
ex omnibus, ex aqua aör, ex aöre aqua, ignis ex aöre, ex ine aöer ... ex aqua 
terra fit, cur non aqua fiat eterra? .„.. omnium elementorum in alternum re- 
cursus sunt u.8. f. Aehnlich Erıkrer bei Sroz. Floril. 108, 60. Vgl. S. 85, 5. 
169, 1. Auch diese Bestimmung ist nicht blos von Heraklit, sondern auch 
von Aristoteles entlehnt ; s. Bd. I, 461 ἢ. I, b, 314 ff. 

4) Nur die erstere scheinen sie χίνησις genannt zu haben, während Ari- 
stoteles unter diesem Namen alle Arten der Veränderung befasste; Bd. II, b, 
290 f. 

5) Definitionen der χίνησις (deren Gruhdformen die geradlinige und die 
krummlinige Bewegung sind), der φορὰ und der μονὴ giebt Sror. ἘΚ]. I, 404. 
408 f. aus Chrysipp und Apollodor; Distinktionen zwischen μένειν, ἠρεμεῖν, 
ἡσυχάζειν, ἀχινητεῖν, die aber eigentlich nur den Sprachgebrauch betreffen, bei 
Sıuer. Categ. 110, ß, Schol. in Arist. 92, b, 30. Ueber die Arten der μεταβολὴ 
vgl. m. was S. 85, 5 aus Posidonius angeführt ist. — Eine Abweichung der 
Stoiker von den Peripatetikern in der näheren Erklärung des Satzes, dass 


166 Stoiker. ΄ 


Bewegung wollten aber auch sie die räumliche betrachtet wis- 
sen !). Unter den Begriff der Bewegung stellten sie auch das 
Wirken und Leiden ?). Jede Wirkung ist durch Berührung be- - 
dingt °); da aber die Bewegungen der verschiedenen Naturdinge 
verschiedene Ursachen und einen verschiedenen Charakter haben, 
so sind dem entsprechend auch verschiedene Arten des Wirkens 
zu unterscheiden 2). In allem diesem findet sich kaum irgend eine 
erhebliche Abweichung von Aristoteles. Eigenthümlicher lauten 
die Annahmen der Stoiker über die Mischung der Stoffe, welche 
uns in ihrem Zusammenhang mit den Lehren, durch die sie 
veranlasst wurden, schon S. 114 f. vorgekommen sind. Auch in Be- 
treff des Raumes und der Zeit fanden sie einige Aenderungen der 
aristotelischen Bestimmungen nöthig. Der Raum (τόπος) ist nach 
ihrer Definition das von einem Körper Erfüllte °), die Entfernung 


die Bewegung eine unvollendete Energie sei (Bd. II, b, 264, 1. 266, 3), und 
ihre Behauptung, χινεῖσθα! sei der weitere, χινεῖν der engere Begriff, bespricht 
Sıser. Cat. 78, ß. 

1) Sıner. Phys. 310, b, o.: οἱ δὲ ἀπὸ τῆς στοᾶς χατὰ πᾶσαν χίνησιν ἔλεγον 
ὑπεῖνα: τὴν τοπιχὴν, ἢ χατὰ μεγάλα διαστήματα ἢ χατὰ λόγῳ θεωρητὰ ὑφισταμένην. 
Vgl. Bd. II, b, 291 £. 

2) Sımer. Categ. 78, 5 (Schol. 78, a, 23): Plotin u. A. übertragen aus der 
stoischen Lehre in die aristotelische die Annahme: τὸ χοινὸν τοῦ ποιεῖν χαὶ 
πάσχειν εἶναι: τὰς κινήσεις. 

3) Sıurr. ἃ. ἃ. Ὁ, 77, β, Schol. 77, b, 88. Simpl. selbst widerspricht 
dieser Behauptung, die aber schon Aristoteles aufstellt; 5. Bd. U, Ὁ, 268 f. 
317 £. 

4) Sıuer. a. a. Ὁ. 78, 8 (Schol. 78, a, 28): Die Stoiker (welche nach 
S. 84, &, Schol. 79, a, 16, diese Kategorieen überhaupt sehr eingehend be- 
handelten) stellten als διαφοραὶ γενῶν auf: τὸ ἐξ αὐτῶν χινεῖσθαι, ὡς ἣ μάχαιρα 
τὸ τέμνειν Ex τῆς οἰχείας ἔχει χατασχευῆς — τὸ δι᾽ ἑαυτοῦ ἐνεργεῖν τὴν κίνησιν, ὡς al 
φύσεις καί αἱ ἰατριχαὶ δυνάμεις τὴν ποίησιν ἀπεργάζονται: z. Β. der Samen bei seiner 


Entwicklung zur Pflanze — τὸ ἀφ᾽ ἑαυτοῦ ποιεῖν oder ἀπὸ ἰδίας δρμῆς ποιεῖν, wo- 
. x > ἃ -Ὁ e - : N > x 2 - 
von eine besondere Art τὸ ἀπὸ λογιχῆς δρμῆς sei, — τὸ χατ᾽ ἀρετὴν ἐνεργέϊν. Es 


ist diess nur eine Anwendung der später zu besprechenden Unterscheidung 
von ἕξις, φύσις, ψυχὴ, ψυχὴ λογιχὴ auf den vorliegenden Fall. Mit dem Gegen- 
satz des ποιέίν und πάσχειν steht die 5, 80, 3 berührte grammatische Unter- 
scheidung der ὀρθὰ und ὕπτια in Verbindung; vgl. Sımre. 8. 79, α. ζ, Schol. 
78, b, 17 ff. 30. 

5) Sros. Ekl. I, 382: Ζήνων χαὶ ol ἀπ᾽ αὐτοῦ ἐντὸς μὲν τοῦ χόσμου μηδὲν εἶναι 
χενὸν ἔξω δ᾽ αὐτοῦ ἄπειρον. (Diess auch bei Tuenıst. Phys. 40, b,u. Pıur. plac. 
I, 18, 4. Ebd. ce. 20 das Folgende mit dem Eingang: οἱ Στωϊχοὶ καὶ Ἐπίχουρος). 


Bewegung; Raum; Zeit. 167 


zwischen den Grenzen eines Körpers 1); von dem Raum unter- 
schieden sie aber noch das Leere, welches innerhalb des Welt- 
ganzen nicht vorkommen, Fa ον desselben dagegen sich in's 
Unendliche ausdehnen soll 2); und sie behaupteten desshalb, der 
Raum sei, wie die Körperwelt selbst, begrenzt, das Leere πε δ 
grenzt 5). Mit dem Raum wurde auch die Zeit zu dem Unkörper- 
lichen gerechnet %); aber doch wird auch dieser Begriff, um ihm 
eine reale Bedeutung zu geben, möglichst konkret gefasst: Zeno 
hatte die Zeit als die Ausdehnung der Bewegung beschrieben, 
Chrysippus sagte bestimmter: die Ausdehnung der Bewegung der 
Welt °). Die unendliche Theilbarkeit des Raumes und der Zeit 


‘ 


διαφέρειν δὲ χενὸν τόπον χώραν" χαὶ τὸ μὲν χενὸν εἶναι ἐρημίαν σώματος, τὸν δὲ 
τόπον τὸ ἐπεχόμενόν ὑπὸ σώματος, τὴν δὲ χώραν τὸ ἐκ μέρους ἐπεχόμενον (Ρπῦτ. 
fügt bei: wie ein halbleeres Fass). Stos. I, 390: Chrysippus definirte den 
τόπος: To χατεχόμενον δι᾽ ὅλου ὑπὸ ὄντος, ἢ τὸ οἷον χατέχεσθαι ὑπὸ ὄντος χαὶ δι᾽ 
ὅλου κατεχόμενον εἴτε ὑπὸ τινὸς εἴτε ὑπὸ τινῶν. Sei aber von dem οἷόν τε χα- 
τέχεσθαι ὑπὸ ὄντος nur ein Theil wirklich erfüllt, so sei dieses Ganze weder 
xsvov noch τόπος, sondern ἕτερόν τι οὐχ ὠνομασμένον, doch möge es vielleicht 
χώρα genannt werden, so dass der τόπος einem vollen, das χενὸν einem leeren, 
die χώρα einem theilweise gefüllten Gefäss gleiche. Uebereinstimmend Sexr. 
Math. X, 3. Pyrrh. III, 124 ff. Kreomen. Meteor. S. 2. 4. Sur. Categ. 91, ὃ: 
nach den Stoikern rapupistaraı ruls σώμασιν ὃ τόπος χαὶ τὸν ὅρον ἀπ᾿ αὐτῶν 
προςλαμβάνει τὸν μέχρ: τοσοῦδε, χαθόσον συμπληροῦνται [- οὗται)] ὑπὸ τῶν σω- 
μάτων. 

1) Wie der stoische Begriff‘ des Raums von Tarwıst. Phys. 38, b, m. 
Sıser. Phys. 133, a, m. gefasst wird. 

2) S. vorl. Anm. Ebd. und του. 140 (wo aber statt ἀσώματον δὲ stehen 
sollte: xevov δὲ) Definitionen des zevöv. Weiteres 5, 178, 4.5. Auf diese Annah- 
men bezieht sich das der vorl. Anm. zufolge von Chrys. und angeblich schon 
von Zeno über den theilweise erfüllten Raum Bemerkte: die Welt und das 
Leere zusammen bilden einen solchen, sonst aber kommt er nicht vor. 

3) ὅτοβ. ΕΚ]. I, 392 nach Chrysippus. 

4) S. o. 113, 3. 

5) Sımer. Cat. 88, ζ. Schol. 80, a, 6: τῶν ὃξ Στωϊκῶν Ζήνων μὲν πάσης 
ἁπλῶς χινήσεως διάστημα τὸν χρόνον εἶπε (vgl. Ρυυτ. Plat. quaest. VIII, 4, 3), 
Χρύσιππος δὲ διάστημα τῆς τοῦ χόσμου χινήσεως. Vgl. ebd. 89, α. ß. ϑιμρι. Phys. 
165, a, u. Etwas vollständiger Sro». ΕΚ]. I, 260: ὃ δὲ Χρύσ. χρόνον εἶναι κινή- 
σεως διάστημα, χαθ᾽ ὅ ποτε λέγεται μέτρον τάχους τε καὶ βραδύτητος, ἢ τὸ παραχο- 
λουθοῦν διάστημα τῇ τοῦ χόσμου χινήσει. Hiemit stimmt überein, was ebd. 250 
(Ρεῦτ. place. I, 22, 2). 254. 256. 258. Dıoc. 141, von Zeno, Chrysippus, Apol- 
lodor, Posidonius angeführt ist. An denselben Orten finden sich auch einige 
weitere Bemerkungen über die Zeit, die aber ziemlich unerheblich sind, wie 


168 . Stoiker. 


wird von den Stoikern behauptet). Tiefergehende Untersuchun- 
gen scheinen sie aber über diese Gegenstände nicht angestellt zu 
haben. 


Für die nähere Ausführung ihrer Kosmologie legen die Stoi- 


ker die Lehre von den vier Elementen 5) zu Grunde, welche seit 
Plato und Aristoteles allgemein anerkannt waren; und die gleiche 
Lehre drängten sie auch Heraklit auf, dem sie in der Physik vor- 
zugsweise folgen wollten ὅ). Es ist schon früher gezeigt worden, 
in welcher Ordnung und durch welche Stufen dieselben bei der 
Weltbildung aus dem Urfeuer hervorgehen sollten %). In der glei- 
chen Reihenfolge gehen sie auch jetzt in einander über, und in 
dieser fortwährenden Umwandlung der Stoffe, diesem unablässigen 
Wechsel der Gestalten, welche der Urstoff annimmt, dieser Flüs- 


z. B. dass die Zeit als Ganzes, ebenso die Vergangenheit und Zukunft, unbe- 
grenzt, die Gegenwart begrenzt sei, dass sich das Jetzt nieht genau fixiren 
lasse, dass es nur die Grenze der Vergangenheit und Zukunft sei (Archede- 
mus bei Prur. c. not. 38, 6. 8. 1081), halb in jener halb in dieser liege 
(Chrysippus ebd. 38, 8) u. dgl. 

1) Sexr. Math. X, 142. Prur. comm. not. 41, S. 1081. Sroe. I, 260. 

2) Ueber den Begriff des στοιχεῖον, dessen Definition Aristoteles (Metaph. 
I, 3. 938, b, 8) folgt, und seinen Unterschied von ἀρχὴ s. m. Dıos. 134. 136. 
Doch wird der letztere nicht immer festgehalten: bei Sroe. ΕΚ]. I, 312 f. un- 
terscheidet Chrysippus eine dreifache Bedeutung des Worts: im absoluten 
Sinn sei das Feuer, in einem andern die vier Elemente, in einem dritten jeder 
Stoff, aus dem etwas entsteht, storyslov zu nennen. . 

3) S. Bd. I, 471. Lassarıe Herakleitos II, 84 ἢ, 

4) Vgl. S. 137. Wie dort nachgewiesen wurde, soll das Urfeuer erst 
δι᾿ ἀέρος (indem es zunächst in Luft, und diese in Wasser übergeht — nicht 
„durch die Luft als ein schon bestehendes Medium hindurch“, wie LassaLLE 
Herakl. II, 86 ungenau sagt) sich in Wasser umsetzen, und dann aus diesem 
die drei übrigen Elemente sich entwickeln. Dabei findet freilich die Unbe- 
quemlichkeit statt, dass das Feuer einerseits aus dem Wasser entstehen soll, 
während doch andererseits, wie a. a. O. gezeigt ist, ein Theil des Urfeuers 
als Seele der Welt von Anfang an fortbestehen musste. Dass dagegen das 
sinnliche Feuer bei der Entstehung der obereu Elemente aus dem Wasser 
gar nicht wiedergewonnen werde (LassarLz a. a. O. 88) ist unrichtig, und 
die Erklärung, welche Lassalle hiefür giebt, entbehrlich: wenn Chrysippus 
sagt, aus der Luft werde Aether, so steht hier αἰθὴρ, wie so oft, gleiehbe- 
deutend mit πῦρ, welches a. a. O. in den Auszügen des Diogenes und Stobäus 
dafür gesetzt ist, oder genauer für die im oberen Weltraum befindliche warme 
oder feurige Substanz, die allerdings von dem irdischen Feuer unterschieden 
wird, aber doch demselben Element angehört. 


IE 


Elemente. 169 


sigkeit aller seiner Theile, bewährt und erhält sich die Einheit des 
Ganzen ?). Die unterscheidende Eigenthümlichkeit des Feuers ist 
die Wärme, der Luft die Kälte, des Wassers die Feuchtigkeit, der 
Erde die Trockenheit ?); diese Eigenschaften kommen jedoch in 
.den Elementen nicht immer gleich rein zur Erscheinung °), und 
desshalb umfasst jedes von ihnen verschiedene Arten und For- 


1) Chrysippus bei Sror. Ekl. I, 312: πρώτης μὲν γιγνομένης τῆς Er πυρὸς 
χατὰ σύστασιν εἰς ἀέρα μεταβολῆς, δευτέρας δ᾽ ἀπὸ τούτου εἰς ὕδωρ, τρίτης δ᾽ ἔτι 
μᾶλλον χατὰ τὸ ἀνάλογον συνισταμένου τοῦ ὕδατος εἰς γῆν. πάλιν δὲ ἀπὸ ταύτης δια- 
λυομένης χαὶ διαχεομένης πρώτη μὲν γίγνεται χύσις εἰς ὕδωρ, δευτέρα δὲ ἐξ ὕδατος 
εἰς ἀέρα, τρίτη δὲ nat ἐσχάτη εἰς πῦρ. Wegen dieser beständigen Umwandlung 
"heisst der Urstoff ebd. 316 (wo aber der Text sichtbar verdorben, und dess- 
halb nur theilweise verständlich ist) ἣ ἀρχὴ χαὶ ὃ λόγος χαὶ ἣ ἀΐδιος δύναμις... 
εἰς αὑτήν τε πάντα χαταναλίσχουσᾷ χαὶ τὸ []. ξξ] αὑτῆς πάλιν ἀποχαθιστᾶσα τεταγ- 
μένως χαὶ ὁδῷ. ΕΡΙΚΤΕῚ bei Stor. Floril. 108, 60: nieht allein Menschen und 
Thiere sind in unablässiger Umwandlung begriffen, ἀλλὰ χαὶ τὰ dein, χαὶ vn 
Δί᾽ αὐτὰ τὰ τέτταρα στοιχεῖα ἄνω χαὶ χάτω τρέπεται χαὶ μεταβάλλει: χαὶ γῆ τε ὕδωρ 
γίνεται καὶ ὕδωρ ἀὴρ, οὗτος δὲ πάλιν εἰς αἰθέρα μεταβάλλει" χαὶ ὁ αὐτὸς τρόπος τῆς 
μεταβολῆς ἄνωθεν χάτω. (Ueber diesen Fluss aller Dinge auch M. Αὐβει, II, 3. 
ὙΠ, 19. IX, 19. 28 £. u. A.) Cıc. N. De. II, 33, 84: et cum quatuor sint genera 
corporum , vicissitudine eorum mundi continuata (= συνεχὴς vgl. Sex. nat. qu. 
II, 2, 2: continuatio est partium inter se non intermissa conjunctio) natura est. 
nam ex terra aqua, ex aqua oritur aer, ex aöre aether: deinde retrorsum vieis- 
sim ex aethere aör, ex aöre aqua, ex aqua terra infima. sic naturis his, ex quibus 
'omnia constant, sursum , deorsum, ultrö eitrogue commeantibus mundi partium 
conjunctio continetur. Vgl. S.165, 3 und was Bd.T, 470 ff. aus Heraklit, Bd. II, 
'b, 338 f. aus Aristoteles angeführt ist. 

2) Dioe. 137: εἶναι δὲ τὸ μὲν πῦρ τὸ θερμὸν, τὸ δ᾽ ὕδωρ τὸ ὑγρὸν, τόν τ᾽ ἀέρα 
τὸ ψυχρὸν χαὶ τὴν γῆν τὸ ξηρόν. Prur. Sto. rep. 43, 1. 5. 1053: die Luft sei nach 
Chrysippus φύσει ζοφερὸς und πρώτως ψυχρός. Ders. De primo frig. 9, 1. 17, 1. 
S. 948. 952. Garten simpl. medic. II, 20. Bd. XI, 510. Sen. nat. qu. III, 10, 
1.4: aör.... frigidus per se et obscurus .. . natura enim aöris gelida est. Vgl). 
Anm. 3. Οἵα. N.D. II, 10, 26. Auch Aristoteles hatte von den vier Eigen- 
schaften, durch’deren Paarung die Elemente entstehen sollten, jedem Element 
Eine als Grundbestimmung zugetheilt, nur dass er dem Wasser die Kälte, der 
Luft die Feuchtigkeit zuwies. 5. Bd. II, b, 338. 

3) So ist die Luft, wie Sex. nat. qu. III, 10 ausführt, in ihrem oberen 
Theile wegen der Nähe der Feuerregion und der Gestirne am Wärmsten, 
Trockensten und Dünnsten, im unteren dicht und neblicht,. aber doch wegen 
der Ausdünstung der Erde, der Wärmestrahlung u. s. w. wärmer als in dem 
inittleren, der an Trockenheit und Dichtigkeit zwischen jenem in der Mitte 
steht, an Kälte beide übertrifft. Ebenso wird von mehr oder weniger reinem 
Aether, d.h. Feuer, gesprochen; 8. o. 124, 4. 


170 Stoiker. 


men !). Von den vier Grundeigenschaften der Elemente hatte nun 
schon Aristoteles die Wärme und Kälte als die wirkenden, die 
Trockenheit und Feuchtigkeit als die leidentlichen behandelt 2). 
Noch entschiedener thun diess die Stoiker, wenn sie in den zwei 


Elementen, denen dieselben ursprünglich zukommen sollen, den 


Sitz aller wirkenden Kraft suchen. und sie von den zwei anderen 
unterscheiden, wie die Seele vom Leibe °). In ihrem materialisti- 
schen System treten die feineren Stoffe den gröberen gegenüber 
an die Stelle der unkörperlichen Kräfte. Auf dem gleichen Ver- 
hältniss der Stoffe beruht aber auch ihre Stelle im Weltganzen: 
Feuer und Luft sind leicht, Wasser und Erde schwer, jene be- 
wegen sich von der Mitte der Welt weg *), diese gegen sie 
hin °); und es bilden sich so, von oben nach unten, oder was 


1) Chrysippus bei Sros. I, 314: λέγεσθαι δὲ πῦρ τὸ πυρῶδες πᾶν χαὶ ἀέρα 
τὸ ἀερῶδες καὶ ὁμοίως τὰ λοιπά. So werden bei PuıLo incorruptib. m. 958, E ἢ, 
der hierin sichtbar stoischen Vorgängern folgt, drei Arten des Feuers unter- 
schieden: ἄνθραξ, φλὸξ, αὐγή; dabei scheint aber überdiess blos das irdische 
Feuer berücksichtigt zu sein, welches nur einen kleinen Theil der gesammten 
Feuermasse bildet. 

2) S. Bd. II, b, 335, 2 

.3) 8. 8. 108, 4. 126, 2. 129, 1. 138, 2. 

4) Doch werden wir diese Bestimmung nur mit der Einschränkuug zu 
verstehen haben, welche die Rücksicht auf die Einheit der Welt nötbig macht. 
Würden die oberen Elemente sich schlechthin vom Centrum wegbewegen, so 
würde das Weltgebäude sich auflösen. Die Meinung kann daher nur die sein, 
dass innerhalb des alle Elemente zusammenhaltenden Bandes 
jener Unterschied der natürlichen Bewegungen stattfinde, und es kann inso- 
fern auch allen Körpern eine natürliche Bewegung nach der Mitte als die 
Grundeigenschaft zugeschrieben werden, welche dem Gegensatz des Schwe- 
ren und Leichten selbst vorangeht. Vgl. Chrysippus bei Prur. Sto. rep. 44, 
6f. 8. 1054: Die Welt strebe in allen ihren Theilen nach ihrem Zusammen- 
halt, nicht nach ihrer Auflösung. οὕτω δὲ τοῦ ὅλου τεινομένου εἰς ταὐτὸ χαὶ χινου- 
μένου χαὶ τῶν μορίων ταύτην τὴν χίνησιν ἐχόντων ἐχ τῆς τοῦ σώματος φύσεως, πιθα- 
νὸν, πᾶσι τοῖς σώμασιν εἶναι τὴν πρώτην χατὰ φύσιν χίνησιν πρὸς τὸ τοῦ χόσμου 
μέβον, τῷ μὲν χόσμῳ οὑτωσὶ χινουμένῳ πρὸς αὑτὸν, τοῖς δὲ μέρεσιν ὡς ἂν μέρεσιν 
οὖσιν. , Aocnıur. Tat. Isag. 132, A: die Stoiker ern. die Welt bleibe im 
Leeren, ἐπεὶ πάντα αὐτοῦ τὰ μέρη ἐπὶ τὸ μέσον νένευχε. Den gleichen Grund giebt 
Κυξομ. Meteora 8. 5 an. 

5) Stop. Ekl. I, 346 (Prur. pl. I, 12, 4). Zeno ebd. 406: οὐ πάντως δὲ σῶμα 
βάρος ἔχειν, ἀλλ᾽ ἀβαρῇ εἶναι ἀέρα χαὶ πῦρ... φύσει γὰρ ἀνώφοιτα ταῦτ᾽ εἶναι διὰ τὸ 
μηδενὸς μετέχειν βάρους. Prur. Sto. rep. 42, 5. 1053: In der Schrift π. χινήσεως 


Elemente. 171 


dasselbe ist, von aussen ‘nach innen, die vier Schichten des 
Feuers, der Luft, des Wassers und der Erde '). Das Feuer des 
Umkreises wird mit dem Namen des Aethers bezeichnet 3); den 
äussersten Theil desselben nannte Zeno den Himmel 5); von dem 
irdischen Feuer unterscheidet sich der Aether nicht blos durch 
seine grössere Reinheit *), sondern auch dadurch, dass die Be- 
wegung des letzteren geradlinig ist, die seinige kreisförmig 5). 
Einen so wesentlichen Unterschied beider, wie ihn Aristoteles ge- 
rade auf diese Verschiedenheit ihrer Bewegung gestützt hatte ©), 


bezeichne Chrysippus das Feuer als ἀβαρὲς und ἀνωφερὲς, χαὶ τούτῳ παραπλη- 
σίως τὸν ἀέρα, τοῦ. μὲν ὕδατος τῇ γῇ μᾶλλον προςνεμομένου, τοῦ ὃ re 05 τῷ πυρί’ 
(so auch bei Αση. Tar. Isag. I, 4, in Petav, Doctr. temp. III, 75); in den 
Φυσιχαὶ Τέχνα: dagegen neige er sich zu der Ansicht, dass die Luft an sich 
selbst weder schwer noch leicht sei — was aber doch wohl nur besagen will, 
sie sei keines von beiden schlechthin, sofern sie mit dem Feuer verglichen 
schwer, im Vergleich mit Wasser und Erde leicht ist. 

1) Dioa. 137: ἀνωτάτω μὲν οὖν εἶναι τὸ πῦρ ὃ δὴ αἰθέρα καλεῖσθαι, ἐν ᾧ πρώ- 
τὴν τὴν τῶν ἀπλανῶν σφαῖραν γεννᾶσθαι, εἶτα τὴν τῶν πλανωμένων. μεθ᾽ ἣν τὸν 
ἀέρα, εἶτα τὸ ὕδωρ, ὑποστάθμην δὲ πάντων τὴν γῆν, μέσην ἁπάντων οὖσαν. Ebd. 
155. Vgl. 5. 172,4. Zu diesen Hauptmassen der vier Elemente werden dann 
alle kleineren Massen derselben, die in anderen Theilen der Welt sind, hin- 
gezogen, weil alle ihrem natürlichem Ort zustreben; τυρὶ. M. Aurer ΙΧ, 9. 

2) 8. vor. Anm. Seneca nat. qu. VI, 16, 2 (fotum hoc coelum, quod igneus 
aether, mundi summa pars, elaudit) und 5. 169, 1, wo dasselbe bei Stobäus 
πῦρ, bei Cicero Aether genannt wird; auch $. 124, 4. Das Gleiche besagt es, 
wenn Zeno bei Stop. ΕΚ]. 1, 558, 554 (und ganz ähnlich Kleanthes bei Cıc. 
N.D. U, 15, 40 f. und Ace». Tar. Isag. 135, C) sagt, die Gestirne besteben 
aus Feuer, aber nicht dem πῦρ ἄτεχνον, sondern dem πῦο reyvıxov, demsel- 
u. was in den Pflanzen die φύσις, in den Thieren die ψυχὴ sei. Vgl. 

υ 808, Ὁ 

3) Bei Acn. Tar. Isag. 130, A definirt er den οὐρανὸς als αἰθέρος τὸ ἔσχα- 
τον, ἐξ οὗ χαὶ ἐν ᾧ ἐστὶ πάντα ἐμφανῶς. Aehnlich Dıios. 138 (8. o. 124, 4). 
Kreonen. Meteora 8. 7. Sonst steht aber das Wort auch in weiterem Sinn; 
vgl. vor. Anm. u, A. 

4) Vgl. 8. 124, 4. 

5) Sto. I, 346: τὸ μὲν περίγειον φῶς κατ᾽ εὐθεῖαν, τὺ δ᾽ αἰθέριον περιφερῶς 
χινεῖται. Vgl. 5, 172,4. Nur auf das irdische Feuer wird es sich beziehen, 
wenn nach Sıor. ΕΚ]. I, 356 Zeno sagte, das Feuer bewege sich in gerader 
Linie; Kleanthes legte die Gestalt, welche er ihm nach dieser 
Stelle zuschrieb, nach Prvr. plae. II, 14, 2. Sros. 1,516. Ach. Tar. Isag. 
133, B auch den Gestirnen bei. 

6) S. Bd. Il, Ὁ, 329 ἢ, 


172 J τς Stoiker. 


brauchten die Stoiker darum noch nicht zuzugeben '): sie konn- 
ten immerhin annehmen, dass das Feuer ausserhalb seines natür- 
lichen Orts auf dem kürzesten Wege diesem zustrebe, innerhalb 
desselben sich kreisförmig bewege. 

Schon durch diese Bestimmungen über die Elemente war es 
nun gegeben, dass sich die Stoiker auch in ihren Vorstellungen 
über das Weltgebäude von Aristoteles und der herrschenden 
Ansicht nicht weit entfernen konnten. In der Mitte des Welt- 
ganzen ruht die Erdkugel ?), um sie ist das Wasser, hierauf die 
Luft gelagert. Diese drei Sphären bilden den ruhenden Kern der 
Welt 3); um sie bewegt sich kreisförmig der Aether, in welchem 
die Gestirne befestigt sind; zu oberst auf Einer Fläche die sämmt- 
lichen Fixsterne, unter der Fixsternsphäre auf sieben verschiede- 
nen Sphären die Planeten: Saturn, Jupiter, Mars, Merkur, Venus, 
hierauf die Sonne, und zu unterst, an die Luftregion angrenzend, 
der Mond 2). Die Welt bildet daher, wie bei Aristoteles, eine aus 


1) Dass sie ihn bestritten, bemerkt ausser Andern ORrıc. c. Cels. IV, 56, 
namentlich aber Cıc. Acad. I, 11, 39: Zeno habe neben den vier Elementen 
die quinta natura entbehrlich gefunden; statuebat enim ignem esse ipsam na- 
turam, quae quidque gigneret, et mentem atque sensus. 

2) Die kugelförmige Gestalt der Erde versteht sich von selbst, und wird 
von Acn. Tar. Isag. 126, C. Prur. place; III, 10,1. 9,3 u. A. auch erwähnt. 
Ausführlich beweist sie Kıeox. Meteora 8.40 ff. wohl nach Posidonius, dem er 
überhaupt, wie am Schluss seiner Schrift bemerkt ist, das Meiste in dersel- 
ben entnommen hat. 

3) Dass die Erde unbeweglich in der Mitte ruhe, sagt auch Hrrakır 
Alleg. Hom. ce. 36 und Dıoc. 145; der Grund davon liegt nach Sros. I, 408 
in ihrer Schwere; als schwer hält sie sich nothwendig in der Mitte des 
Ganzen. Weitere Beweise für ihre Lage in der Mitte bei KLeomen. Meteora 
S.47 ff. 

4) ὅτοβ. ΕΚ]. I, 446: τοῦ δὲ... χόσμου τὸ μὲν εἶναι περιφερόμενον περὶ τὸ 
μέσον, τὸ 8’ ὑπομένον, περιφερόμενον μὲν τὸν αἰθέρα, ὑπομένον δὲ τὴν γῆν χαὶ τὰ ἐπ᾽ 
αὐτῆς ὑγρὰ χαὶ τὸν ἀέρα. Die Erde sei die matürliche Unterlage, gleichsam das 
Knochengerüste der Welt; um sie sei das Wasser gegossen, aus dem ihre 
Erhöhungen als Inseln hervorragen, denn Insel sei auch das sogenannte 
Festland. ἀπὸ δὲ τοῦ ὕδατος τὸν ἀέρα ἐξῆφθαι χαθάπερ ἐξατμισθέ vra σφαιριχῶς χαὶ 
περιχεχύσθαι, ἐκ δὲ τούτου τὸν αἰθέρα ἀραιότατόν τε χαὶ εἰλιχρινέστατον. Er be- 
wege sich kreisförmig über der Welt. Hierauf das im Text Mitgetheilte über 
die Gestirne, nach denen die Sphäre der Luft komme, dann die des Wassers, 
und zuletzt, in der Mitte der Welt, die Erde. (Ebenso Acnını, Tar. Isag. 
126, B.) Vgl.8. 171,1. Etwas abweichend Kreonwen. Meteora c. 3, 8. 16 f., 


Weltgebänude. 173 


vielen in einander gefügten Sphären bestehende Kugel 1); dass 
sie nicht unbegrenzt sein kann (wie Demokrit und Epikur woll- 
ten), folgt schon aus der Natur des Körpers ?). Der Raum inner- 
halb der Welt ist durch den Stoff derselben vollkommen ausgefüllt, 
ohne dass irgendwo ein leerer Zwischenraum wäre °); aagegen 
hielten die Stoiker ein Leeres ausser der Welt schon desshalb für 
nöthig, weil die Welt sonst bei. der Weltverbrennung keinen 
Raum hätte, in den sie sich auflösen könnte %), und sie glaubten 
dasselbe unbegrenzt setzen zu müssen, weil dem Unkörperlichen 
und Nichtseienden weder eine Grenze, noch sonst eine Bestimmt- 
heit zukommen könne °). Wiewohl aber die Welt im Leeren ist, 


welcher die Sonne in die Mitte der Planeten, zwischen Mars und Venus, setzt, 
Dass Archedemus der Erde nicht die mittlere Stelle einräumen wollte, ist schon 
S. 125, 2 bemerkt worden. Ziemlich unklar ist die Angabe b. Acn. Tar. Isag. 
e.7, 131, B: wie vom Mittelpunkt aus die Peripherie, so sei nach den Stoikern 
von der Erde aus zuerst der äusserste Umkreis entstanden, verglichen mit 
dem, was ὃ. 137, 2. 3 angeführt ist. 

1) Stop. I, 356. Prur. plac. II, 2, 1. I, 6, 3. Dios. 140. Kueouen, 
Meteora ὃ. 39. 46 f. Heraxuır Alleg. Hom. ce. 46 ff. Ebd. über die Vollkom- 
menheit dieser Gestalt, und ihre Zweckmässigkeit für die Bewegung. Dass 
Kleanthes der Welt eine kegelförmige Gestalt gab, wird durch Acanır. Tar. 
Isag. 130, C. Pivr. plac. II, 2, 1 (Garen hist. phil. c. 11), verglichen mit 
dem S. 171, 5 Angeführten, wahrscheinlich. Nach Aca. Tar. 152, A (der doch 
wohl die Stoiker meint) sollte die Axe der Weltkugel aus einem durch sie 
hindurchgehenden Luftstrom bestehen. — Ueber die Eintheilung der Himmels- 
kugel durch die fünf Parallelkreise, und die der Erde in fünf (oder sechs) 
Zonen 8. m. Dıoc. 155 f. Srraso II, 2, 3. 8. 95 £. 

2) Stop. I, 392. Sımer. Phys. 111, b,o. Dioc. 143. 150 vgl. Bd. II, b, 
294 f. 

3) Dioe. 140 (8. ο. 156, 1). Sro». I, 382. Prur. plac. I, 18,4. Sexr. 
Math. VII, 214. Tueovorer cur. gr. aff. IV, 14. 8. 58. Hırroryr. Refut. haer. 
I, 21. Sen. nat. qu. II, 7, der (mit Aristoteles, 8. B. II, b, 300) bemerkt, die 
Bewegung lasse sich auch ohne das Leere durch die ἀντιπερίστασις erklären. 
Eine Reihe von Gründen gegen die Annahme eines Leeren in der Welt, welche 
hauptsächlich von der Einheit der Welt und der nothwendigen Continuität des , 
Pneuma darin hergenommen sind, bei Kreosen. Meteora 8. 4 ἢ, 

4) Vgl. 5. 142, 2. Kreomen, Meteora 8. 2 ἢ, 5 f., wo auch noch weitere 
Gründe. 

5) Chrysippus bei ὅτοβ. I, 392: das Leere und das Unkörperliche über- 
haupt sei unbegrenzt. ὥσπερ γὰρ τὸ μηδὲν οὐδέν ἐστι πέρας, οὕτω χαὶ τοῦ μηδενὸς, 
οἷόν ἐστι τὸ χενόν. Begrenzen liesse es sich nur durch Erfüllung. Achnlich 
Kıeomep, Met. 8.6f. Weiter 8. m. über das unendliche Leere ausser der 


1τὰ Stoiker. 


bewegtsie sich doch nicht; denn da nur die eine Hälfte ihrer Grund- 
bestandtheile schwer, die andere leicht ist, ist sie selbst weder 
das Eine noch das Andere !). a 

Die Gestirne sind kugelförmige Massen ?); das Feuer, wor- 
aus sie bestehen, das aber nicht bei allen gleich rein ist ?), nährt 
sich, wie schon Heraklit annahm *), von den Ausdünstungen der 
Erde una der Gewässer °). Hiemit wird dann auch ihr Umlauf in 


Welt: Dıoe. 140. 143. Sros, I, 260. 382. Pruvr. Sto. rep. 44, 1. 1054. c. not. 
80,2. 8.1073. plac. I, 18, 4. 11, 9, 2 f. Tueoporer ἃ. ἃ. Ὁ. und 8.166, 5. Dass 
Posidonius die Unendlichkeit des Leeren bestritt, ist schon 8. 142, 2 bemerkt. 
Wenn Chrysippus trotz derselben behauptete, die Welt nehme die Mitte des 
Raums ein (worüber auch 5. 170, 4 z. vgl.), so sieht Prur. Def. orac. 28, 8. 425. 
Sto. rep. 44, 2 f. darin mit Recht einen seltsamen Widerspruch. 

.1) Acsıtr. Tar. Isag. 126, A. 132, A vgl. 5. 170, 4. Stop. I, 408. Nach 
demselben 5. 442. Prur. c. not. 30, 2. 10. 8. 1073. plac. II, 1,6 £. 1, 5,1. 
Dıog. 143. Sexr. Math. IX, 332. Acn. Tar. 129, D hatten die Stoiker ver- 
schiedene Bezeichnungen für die Welt, je nachdem das Leere in ihren Begriff 
aufgenommen wurde, oder nicht: mit dem Leeren heisst sie πᾶν, ohne dasselbe 
ὅλον (τὸ ὅλον, τὰ ὅλα findet sich sehr häufig bei den Stoikern). Von dem πᾶν 
wurde behauptet, es sei weder körperlich noch unkörperlich, da es aus beider- 
lei Bestandtheilen zusammengesetzt ist; Prur. 6. not. a. a. Ὁ. 

2) Dıos. 145. Prur. plae. II, 14,1. 22, 3. 27,1. Sros. I, 516. 540. 554 ἢ. 
Acn. Τὰν. 133, D. Vgl. jedoch, was 8. 171,5 von Kleanthes angeführt ist, 
womit aber Sror. I, 554: er habe den Mond für πιλοειδὴς (ballförmig — die 
Handschriften haben πηλόειδ) gehalten, nicht recht stimmt. 

3) Nach Cıc. N. D. II, 15, 40. Dios. 144 f. ὅτοβ. ΕΚ]. I, 314. 519. 538 ἢ, 
554 f. 564. Prur. fac. lunae 5, 1. 21, 13. 8. 921. 935. plac. II, 25, 3. 30, 3, 
Gates hist. phil. 15. Paıwo De somn. 587, B. Acnırı. Tar. Isag. 124, Ὁ. 
133, C vgl. oben 8. 171, 2. 137, 3 bestehen die Gestirne im Allgemeinen aus 
Feuer, oder genauer aus πῦρ reyvıxov, aus Aether; das reinste Feuer hat die 
Sonne, der Mond dagegen ist aus trübem Feuer und Luft gemischt, oder wie 
es auch heisst, er ist erdartiger, indem er (wie Prix. Hist. nat. II, 9, 46 ohne 
Zweifel nach stoiseher Lehre sagt) bei seiner Erdnähe mit den Dünsten der 
Erde auch erdige Bestandtheile aufnimmt. Damit wurde es vielleicht in Ver- 
bindung gebracht, dass er (τοῦ. 145) sein Licht von der Sonne erhält; nach 
Posidonius (Ὁ. Prur. fac. Innae 16, 12. S. 929. Kirowmen. Meteor» 8, 106) 
wird er von ihr nicht blos auf der Oberfläche beleuchtet, sondern auch im 
Inneren eine Strecke weit durchleuchtet. Kı.erowen. 8. 100 f. glaubt, er habe 
neben dem Sonnenlicht auch eigenes. 

4) 5. Bd. I, 474 f. vgl. was ebd. 390 über Xenophanes angeführt ist. 

5) Dıoe. 145. ὅτοβ. I, 532. 538 ἢ, 554 f. Floril. 17, 43. Prvur. De Is. 41, 
S. 367. Sto. rep. 39, 1. qu. conv. VIII, 8, 2,4. plac. II, 17, 2. 20, 3. 23,5. 
Garex hist. phil. 14. Porreys. antr. Nymph. e. 11. Crc. N. Β, IH, 14, 37. 


Gestirne. 175 


Verbindung gebracht: ihre Bahnen sollen sich so weit erstrecken, 
als der Raum, in dem sie ihre Nahrung finden 1). Nicht blos die 
Sonne, sondern auch den Mond, sollen die .Stoiker für grösser ge- 
halten haben, als die Erde 529. Dass die Gestirne lebendige, 
vernünftige, göttliche Wesen seien, hatten schon Plato und Aristo- 


II, 15, 40. 46, 118. Sex. nat. qu. VI, 16,2. Heraruır. Alleg. Hom. c. 36, 
S. 74. c. 56, 8. 117, meist mit der näheren Bestimmung, dass die Sonne durch 
die Ausdünstungen des Meers genährt werde, der Mond durch die der süssen 
Gewässer, die übrigen Gestirne durch die der Erde. Auch ursprünglich sollen 
die Gestirne aus solchen Ausdünstungen entstanden sein; Cnrys. b. Prur. 
Sto. rep. 41,3, welcher dem $. 137, 2 Angeführten noch beifügt: ol δ᾽ ἀστέρες 
&x θαλάσσης μετὰ τοῦ ἡλίου ἀνάπτονται. Prur. ebd. 2: ἔμψυχον ἡγείται τὸν ἥλιον, 
πύρινον ὄντα χαὶ γεγενημένον du τῆς ἀναθυμιάσεως εἰς πῦρ μεταβαλούσης. Ders. 
6. not. 46, 2, 5. 1084: γεγονέναι δὲ χαὶ τὸν ἥλιον ἔμψυχον λέγουσι τοῦ ὑγροῦ μετα- 
βάλλοντος εἰς πῦρ νοερόν. 

1) Stop. I, 532. Cıc, a.a. ©. Μάλοκοβ. Sat. I, 23, Anf. nach Kleanthes 
und Posidonius. Pur. place. II, 23,5. Aehnlich schon Diogenes von Apol- 
lonia; s. Bd. I, 198. Weiteres über die Bahnen der Gestirne, ohne besondere 
Eigenthümlichkeit, bei Sros. I, 448. 538. Prur. pl. II, 15, 2. 16, 1. Dioc. 
144. Kıromep. Meteora I, 3f. Auch über Sonnen- und Mondsfinsternisse 
findet sich b. Dioe. 145 ἢ, Sros. I, 538. 560. Pıur. fac. lunae 19, 12. S. 932. 
plac. II, 29,5. Kıeomen. 8. 106. 115 f. nur das Bekannte, und ebenso un- 
erheblich sind einige andere Bemerkungen des Posidonius und Chrysippus b. 
Stos. I, 518 f. Acnınn. Tar. Isag. 8. 132, B. 165, C. Was Kreoszn. Met. 
S. 51. Prokr. in Tim. 277, E. Srraro II, 5, 14. 5, 119 aus Posidonius über 
Beobachtungen des Kanobus mittheilt, hat für uns hier kein Interesse. 

2) So Sroe. I, 554 (Pror. pl. 1, 26, 1), Diese Angabe scheint jedoch nur 
hinsichtlich der Sonne, auf welche sie auch von Dioe. 144 beschränkt wird, 
richtig zu sein. Dass diese viel grösser sei, als die Erde, bewies Posidonius 
nicht allein aus ihrer ausser der Erde noch auf den ganzen Himmel sich er- 
streckenden Lichtwirkung, sondern auch aus der kegelförmigen Gestalt des 
Erdschattens bei Mondsfinsternissen (Dioc. a. a. Ὁ. Macro». Somn. I, 20 vgl. 
Herakrır. Alleg. Homer. c. 46. KırEeosmen. Meteora II, 2); nach Kreouen. 
8. 79 gab er ihr eine Bahn, welche das 10000fache des Erdumkreises betragen 
sollte, und einen Durchmesser von drei (oder vier) Millionen Stadien. Den 
Mond dagegen nennt der Stoiker b. Cıc. N. D. II, 40, 103 nur mehr als halb 
so gross, Kıeome». Met. 8. 97 ff. (wohl nach Posidonius) beträchtlich kleiner, 
als die Erde. Die übrigen Sterne sind nach Kreomen. 8. 96 f. theilweise 80 
gross oder grösser, als die Sonne. Die Entfernung des Mondes von der Erde 
schätzte Posidonius nach Prix. H. nat. II, 23, 85’ auf zwei Millionen, die der 
Sonne vom Mond auf 500 Mill. Stadien. Den Umfang der Erde berechnete er 
nach Kreouro. a. a. Ὁ, 8. 50 f. auf 240000, nach Srrano II, 2, 2. S. 95 auf 
180000 Stadien. 


{τ Stoiker. 


teles angenommen; für die Stoiker ergab es sich, neben der be- 
wunderungswürdigen Regelmässigkeit ihrer Bahnen und Bewe- 
gungen, schon aus der Natur ihres körperlichen Stoffes 7). Auch 
die Erde soll aber von dem belebenden Geiste erfüllt sein, wie sie 
denn sonst unmöglich die Pflanzen damit beseelen und selbst die 
Gestirne nähren könnte ?). Auf der Einheit des Pneuma, das alle 
seine Theile durchdringt, beruht ja überhaupt nach stoischer An- 
sicht die Einheit des Weltganzen. 

Sehr eingehend scheinen sich die Stoiker, und namentlich 
der gelehrte Posidonius 5), auch mit den Untersuchungen beschäf- 
tigt zu haben, welche unter dem Namen der Meteorologie zusam- 
mengefasst werden. Für die Kenntniss ihrer philosophischen 
Eigenthümlichkeit hat jedoch dieser Theil ihrer Lehren ge- 
ringe Bedeutung; wesshalb es genügen mag, unten die Gegen- 
stände, auf die er sich bezog, und die Orte zu verzeichnen, an 
denen das Nähere darüber zu finden ist 5). Das Gleiche gilt von 


1) M. s. darüber Sroe. I, 66. 446. 518. 532. 538 f. 554 f. Floril. 17, 43. 
Prur. Sto.rep. 39, 1. 41, 2. c.not.46,2 (8. o. 174,5). plac.1I, 20,3. Dıoc. 145. 
Präne. Nat. De. (PuıLopew. x. εὐσεβ.) col. 3. Cıc. N.D. I, 14, 36. 39. II, 15, 
39. 42. ce. 16, 43. c. 21, 54. Acad. 11, 37, 119. Poreavr. ἃ. ἃ. Ὁ. Acnıcr. Tar. 
Isag. ce. 13. 5. 134, A. Die Sonne wird desshalb in mehreren dieser Stellen, 
nach Kleanthes und Chrysippus, ein νοερὸν ἄναμμα (oder ἔξαμμα) ἐχ θαλάττης 
genannt. 

2). Ausführlich verbreitet sich hierüber Sex. nat. qu. VI, 16. Weiter vgl. 
m. was ὃ. 122, 1 aus Cıc. N. Ὁ. II, 9, S. 129, 1 aus Dıoc. 147 angeführt ist. - 

3) Von ihm nennt Dıoc. VII, 152. 138 eine μετεωρολογιχὴ oder μετεωρολο- 
γικὴ στοιχείωσις, Derselbe VII, 135 eine Schrift περὶ μετεώρων in mehreren 
Büchern, Aurx. Ὁ. Sımer. Phys. 64, b, m eine ἐξήγησις μετεωρολογιχῶν, welche 
dem Titel nach auch ein Commentar zur aristotelischen Meteorologie sein 
könnte; aus dieser Schrift hatte Geminus einen Auszug gemacht, von dem 
eine dort mitgetheilte längere Stelle, über das Verhältniss der Astronomie zur 
Physik, entlehnt ist. Ob diese verschiedenen Titel wirklich drei verschiedene 
Schriften bezeichnen, lässt sich nicht ausmachen. Aus Posidonius stammt 
wohl das meiste von dem, was die Späteren aus der stoischen Meteorologie 
mittheilen. Auch für Seneca’s naturales quaestiones, in denen er öfters genannt 
ist (I, 5, 10. 13, II, 26, 4. 54, 1. IV, 3, 2. VI, 21,2. 24,6. VII,20,2.4) scheint 
Posid., namentlich durch seine meteorologischen Werke, die Hauptquelle ge- 
bildet zu haben. 

4) M. vgl. über die Milchstrasse, welche Posidonius mit Aristoteles 
(8. Bd. U, b, 364) u. A. für eine Ansammlung feuriger Dünste bielt, Sron. 1, 
576. Prur, plac. III, 1, 10. Macros, Somn. Scip. I, 15; über die Kometen, 


Meteorologie. 177 


den wenigen weiteren Annahmen aus dem Gebiete der unorgani- 
schen Physik, die uns von den Stoikern überliefert sind), um 
des Geographischen, Historischen und Mathematischen, was na- 
mentlich aus Posidonius ziemlich reichlich mitgetheilt wird 5), hier 
nicht zu erwähnen. 

Der Pflanzen- und Thierwelt wandte die stoische Schule ge- 
ringe Aufmerksamkeit zu, wie wir diess mit hinreichender Sicher- 
heit daraus abnehmen können, dass uns weder von Schriften der- 
selben aus diesem Gebiete etwas bekannt ist, noch auch eigen- 
thümliche Bestimmungen von einiger Bedeutung erhalten sind. 
Das Erheblichste ist, dass die sämmtlichen Naturdinge in vier 


welche in ähnlicher Weise erklärt werden, Sror. I, 580 (plac. III, 2, 84. — 
ob der hier erwähnte Diogenes, der die Kometen für wirkliche Sterne hielt, 
der Stoiker oder der Apolloniate ist, lässt sich nicht ausmachen, das Erstere 
ist aber wahrscheinlicher, da unmittelbar vorher Boäthus genannt ist). 
Arrıan b. 5108. I, 584 ff. Dioc. VII, 152, namentlich aber Sex. nat. qu. VII. 
Durch den Letzteren (VII, 19—21. 30, 2) erfahren wir, dass Zeno die Erschei- 
nung des Kometen mit Anaxagoras und Demokrit (s. Bd. 1, 694, 8. 613, 3) aus 
dem Zusammentreten mehrerer Sterne erklärte, die Mehrzahl der Stoiker 
jedoch, und namentlich Panätius und Posidonius (Genaueres über diesen 
Schol. in Arat. V. 1091) sie für vorübergehende Phänomene hielt; Seneca 
selbst erklärt sich für die Ansicht, sie seien eigentliche Gestirne. Ueber die 
Feuer- und Lichterscheinungen, welche zwywviat, δοχοὶ u. 5. f. heissen, 
8. m. Arcıan b. Sro». I, 584 ff. Sex. nat. qu. I, 1. 14. 15, 4; über das σέλας 
Dıoc. 153. Sex. I, 15; über den Hof (ἅλως) Sen. I, 2. Arex. Arne. Meteorol. 
116, a, 0.; den Regenbogen  Dioc. 152. Sen. 1, 3—8; die virgae und 
parhelia Sex. I, 9—13. Schol. in Arat. V. 880 (Posidonius); über Gewitter, 
Blitz, Donner, Wetterleuchten, Gluth- und Wirbelwinde Sro». I, 596. 598 
(plac. III, 3,4). Aukıay ebd. 602 fi. Sen. II, 12—31. 51—58 (c. 54 die An- 
sicht des Posidonius). UI, 1, 3. Dioe. 153 f.; Regen, Reif, Hagel, Schnee 
Dıoe. 155. Sen. IV, 3—12; Erdbeben Dioc. 154. plac. III, 15, 2. Sen. 
VI, 4—31 (m. 5. besonders ce. 16. 21, 2) vgl. auch Srraso II, 3, 6. 85. 102; 
Winde place. III, 7, 2. Sex. V, 1—17. Stravo I, 2, 21. 8. 29. III, 2, 5. S. 144; 
Gewässer Sen. III, 1—26; Nilüberschwemmungen ebd. IV,1f. Srraro 
XVII, 1,5. S. 790. Kreonmep. Meteora 5. 32; Ebbe und Fluth Srraso I, 
3,12. 8.55. 111, 3, 3. 8: 153.5, 8£.8.:173 f. Ueber die Jahrszeiten 
8. 111,2. 

1) Wie die Erklärung der Farben als πρῶτοι σχηματισμοὶ τῆς ὕλης Ston. 
I, 804, plac. I, 15,5, und die Beschreibung der Töne als sphärischer Wellen- 
bewegungen in der Luft b. Prur. ρίας. IV, 19,5. Dıoc. 158. 

2) Vgl. Baxz Posidonii Rhod. Reliquiae 5, 87—184. Mürzer Fragm. 
Hist. Graee. III, 245 fi. 

Philos. ἃ. Gr. III. B. 1. Abth. 12 


178 Stoiker. 


Klassen getheilt werden: das Unorganische, die Pflanzen, die 
Thiere, die vernünftigen Wesen. Bei den Wesen der ersten Klasse 
sollte das, was sie zur Einheit zusammenhält, eine blosse Eigen- . 
schaft (15) sein, bei denen der zweiten eine bildende Kraft (φύσις), 
bei der dritten eine Seele, bei der vierten eine vernünftige Seele ᾽). 
Durch diese Eintheilung waren die allgemeinsten Fächer für 
eine Betrachtung der verschiedenen Naturreiche aus dem Ge- 
sichtspunkt einer stufenweise aufsteigenden Entwicklung der le- 
bendigen Kräfte gegeben. Aber ein ernstlicher Versuch zur 
Durchführung dieses Gedankens ist offenbar in der stoischen 
Schule nicht gemacht worden; uns ist von ihren Annahmen über 
die organischen Wesen ausser dem Menschen nur äusserst wenig 
überliefert 3). 


1) Sext. Math. IX, 81: τῶν ἡνωμένων σωμάτων (über die ἕνωσις 5. m. 
S. 87, 2) τὰ μὲν ὑπὸ ψιλῇς ἕξεως συνέχεται τὰ δὲ ὑπὸ φύσεως τὰ δὲ ὑπὸ ψυχῆς" καὶ 
ἕξεως μὲν ὡς λίθοι χαὶ ξύλα, φύσεως δὲ, χαθάπερ τὰ φυτὰ, ψυχῆς δὲ τὰ ζῷα. Pur. 
virt. mor. ὁ. 12. 5. 401: χαθόλου δὲ τῶν ὄντων αὐτοί τέ φασι καὶ δῆλόν ἐστιν ὅτι τὰ 
μὲν ἕξει διοικεῖται, τὰ δὲ φύσει, τὰ δὲ ἀλόγῳ ψυχῇ, τὰ δὲ χαὶ λόγον ἐχούσῃ καὶ 
διάνοιαν. Tnmenıst. De an. 72, b, u. (8. 0.8. 127). M. Aurer VI, 14. Psro 
Qu. De. 5. immut. 298, Ὁ. (De mundo 1154, E.) Leg. alleg. 1091, D, incor- 
ruptib. m. 947, A. Prorıy Enn. IV, 7, 8, 8. 463, C. Bas. 861 Cr. (Etwas 
anders Cıc. N. D. 11,12, 33 fl. s. o. 124, 1.) Ueber den Unterschied der φύσις 
und ψυχὴ, von denen jene aus feuchterem, kälterem und dichterem πνεῦμα 
bestehen soll, als diese, vgl. m. auch Prvr. Sto.rep. 41, 1 f. comm.not. 46, 2. 
Garen Hipp. et Plat. V, 3. Bd. V, 521. Qu. animi mores u. s.f. e. 4. Bd. IV, 
783. τ. a. St. Die ἕξις und der νοῦς, als das unterste und das oberste Glied 
der Reihe, werden sich bei Dıos. 139 entgegengesetzt; von der φύσις findet 
sich ebd. 156 die Definition: πῦρ τεχνιχὸν ὁδῷ βαδίζον εἰς γένεσιν, 148 diese: 
ἕξις ἐξ αὑτῆς κινουμένη χατὰ σπερματιχοὺς λόγους ἀποτελοῦσά τε χαὶ συνέχουσα τὰ ἐξ 
αὑτῆς ἐν ὡρισμένοις χρόνοις χαὶ τοιαῦτα δρῶσα ἀφ᾽ οἵων a7 πεχρίθη. Dass es übrigens 
nur Eine und dieselbe Kraft ist, welche bald als ἕξις baid als φύσις u. 8. f. 
wirkt, braucht nach allem Bishberigen kaum noch bemerkt zu werden; saurer 
vgl. m.,Dıoc. 138 f. Tuxsust. a. a. Ὁ. Sexr. Math. IX, 84. 

2) Dabin gehört die Annahme, welche sich auch in der peripatetischen 
Schule findet (s. Bd. II, b, 762), aber doch auch für stoisch zu halten sein 
wird, und für die Stoiker sogar, bei ihrer Lehre vom Pneuma, eine besondere 
Bedeutung hatte, dass in den Venen das Blut, in den Arterien der spiritus 
ströme (Sen. nat. qu. II, 15, 1); die Erklärung des Schlafes, des Todes, des 
Alters b. Pur. plae. V, 23, 4. 30, ὃ; die Behauptung, Be den T'hieren nicht 
blos die Vernunft (hierüber Prur. solert. an. 2, 9. 6, 1. 11, 2. S. 960, 963. 967), 
sondern auch (nach Chrysippus b. Gauex Hippoer. et Plat. II, 3. V, 1.6. 


Pflanzen und Thiere. Der Mensch. 179 


7. Fortsetzung: Der Mensch. 


Erst in der Lehre vom Menschen gewinnt das stoische System 
wieder ein eigenthümliches Interesse. Die Richtung dieser Lehre 
war durch die des ganzen Systems bestimmt. Einerseits musste 
der Materialismus des letzteren in der Anthropologie auf’s Stärkste 
zum Vorschein kommen; andererseits musste aber auch hier die 
Ueberzeugung, dass alle Wirkungen auf wirkende Kräfte und alle 
Einzelkräfte auf Eine Urkraft hinweisen, zu einer dynamischen 
und monistischen Auffassung des Seelenlebens hinführen. Dass 
die Seele körperlicher Natur sei, ergab sich für die Stoiker schon 
aus den allgemeinen Voraussetzungen ihres Materialismus. Indes- 
sen liessen sie es sich angelegen sein, diese Behauptung auch durch 
eigenthümliche anthropologische Gründe zu stützen. Was mit dem 
Körper in Wechselwirkung steht, sagen sie, was ihn berührt und 
sich von ihm trennt, das ist ein Körper, wie könnte also die Seele 
ein unkörperliches Wesen sein? ') Was sich in den drei Rich- 
tungen des Raums ausdehnt, ist körperlich; die Seele dehnt sich 
aber in diesen drei nn durch den ganzen Leib aus ἢ). 
Wir sehen ja aber auch, dass es nichts anderes, als die Lebens- 
wärme ist, der wir Leben und Bewegung verdanken 5), dass das 


Bd. V, 309. 429. 431. 476) die Affekte (oder wie Galen auch sagt: der θυμὸς 
und die ἐπιθυμία) fehlen, da ja auch diese beim Menschen aus der vernünftigen 
Seele entspringen sollten; Posidonius jedoch widersprach dieser Behauptung 
(Gaves $. 476), und ein Ayswovızov wollte auch Chrysippus den Thieren zuge- 
stehen (Cuarcın. in Tim. S. 148, b), ja in dem Verhalten des Hundes beim 
Nachspüren wies er sogar einen unbewussten Schluss nach (Sexr. Pyırh. 
I, 69). Vgl. auch S. 192, 2. 

1) ΚΎΒΑΝΤΗΕΒ Ὁ. Nenes. nat. hom. 5. 33 (und ebenso b. Terturr. De an. 
ἃ. 5): οὐδὲν ἀσώματον συμπάσχε: σώματι οὐδὲ ἀσωμάτῳ σῶμα ἀλλὰ σῶμα σώματι" 
συμπάσχει δὲ ἣ ψυχὴ τῷ σώματ: νοσοῦντι καὶ τεμνομένῳ χαὶ τὸ σῶμα τῇ ψυχῆ᾽ al- 
σχυνομένης γοῦν ἐρυθρὺν γίνεται καὶ φοβουμένης ὠχρόν" σῶμα ἄρα ἣ ψυχή. Cunvsıre. 
b. ΝΈΜΕΒ. 5. 84: 6 θάνατός ἐστ! χωρισμὸς ψυχῆς ἀπὸ σώματος" οὐδὲν δὲ ἀσώματον 
ἀπὸ σώματος χωρίζεται" οὐδὲ γὰρ ἐφάπτεται σώματος ἀσώματον 7 δὲ ψυχὴ καὶ 
ἐμάπωιται χαὶ χωρίζεται τοῦ σώματος" σῶμα ἄρα ἣ ψυγή. Dasselbe führt Teetor.:r.. 
a.a.0. an. 

2) Neues. nat. hom. c. 2, S. 30. 

3) Dioe. 157. Cıc, N. Ὁ. III, 14, 36. 


12 * 


180 Stoiker., 


Leben durch die Lebensluft erhalten wird, und mit ihr ent- 
weicht 10; und ebenso zeigt die Erfahrung, dass sich geistige 


Eigenschaften auf dem physischen Wege der Zeugung fortpflan-- 


zen, dass es mithin ein körperliches Substrat sein muss, dem sie 
anhaften ?). Wie daher der Geist überhaupt nach stoischer Lehre 
nichts anderes als der feurige Hauch ist, so wird auch die 
menschliche Seele von unsern Philosophen bald als Feuer, bald 
als Hauch, bald genauer als der'warme Hauch beschrieben 5), der 
sich in ähnlicher Weise durch den Körper verbreiten und den 
Körper zusammenhalten soll, wie sich die Seele der Welt durch 


1) Zexo b. Terror. a. a. O. (und ganz ähnlich bei Cuarcın. in Tim, 
S. 306 Meurs.): quo digresso animal emoritur, corpus est; consito autem spiritu 
digresso animal emoritur; ergo consitus spiritus corpus est; consitus autem spi- 
ritus anima est; ergo corpus est anima. Curvsıre b. Cnaccın. a, a. Ὁ. 

2) Kırantues b. Neues. a. a. O. 32: οὐ μόνον ὅμοιοι τοῖς γονεῦσι γινόμεθα 
χατὰ τὸ σῶμα, ἀλλὰ καὶ χατὰ τὴν Ψυχὴν, τοῖς πάθεσι, τοῖς ἤθεσι, ταῖς διαθέσεσι" 
σώματος δὲ τὸ ὅμοιον χοὶ ἀνόμοιον, οὐχὶ δὲ ἀσωμάτου: σῶμα ἄρα ἣ ψυχή. Das 
Gleiche b. TErTULL. a. ἃ. Ο. 

3) Caevsırrus b. Gauex Hippscer. et Plat. III, 1. Bd. V, 287: ἣ ψυχὴ 
πνεῦμά ἐστι σύμφυτον ἣμῖν συνεχὲς παντὶ τῷ σώματι διῆχον. Zenxo s. Anm. 1. 
Macros. Somn. I, 14: Zenon [divit animam] coneretum corpori spiritum. ... 
Boöthos (womit doch wohl der Stoiker, nicht der Peripatetiker aus dem ersten 
Jahrhundert gemeint ist) ex aöre et igne 86. constare]. Dioseses b. GaLEN 
ἃ. ἃ. Ο. II, 8, S. 282: τὸ χινοῦν τὸν ἄνθρωπον τὰς κατὰ προαίρεσιν κινήσεις ψυχιχή 
τίς ἐστιν ἀναθυμίασις. Cıc. N. D. III, 14, 36. Tuse. I, 9, 19. 18, 42: Zeno halte 
die Seele für Feuer, Panätius für brennende Luft. Droce. L. VII, 156 £. (nach 
Zeno, Antipater, Posidonius): sie sei das πνεῦμα σύμφυτον, πνεῦμα ἔνθερμον. 
Sror. Ekl. I, 796 (Pror. pl. IV, 3, 3). Corsur. N. Ὁ. 5. 8 Osann: χοὰ γὰρ al 
ἡμέτεραι ψυχαὶ πῦο εἰσι. Ar. Dipyaus b. Evs. pr. ev. XV, 20, 1: Zeno nenne die 
Seele αἴσθησιν ἢ ἀναθυμίασιν (1. αἰσθητιχὴν avadun. vgl. 8. 2 und Ps. Prur. Vita 
Hom. c. 127: τὴν ψυχὴν οἱ Στωϊκοὶ δρίζονται πνεῦμα συμφυὲς χαὶ ἀναθυμίασιν αἰσθη- 
τικὴν ἀναπτομένην ἀπὺ τῶν ἐν σώματι ὑγρῶν). Lossın. ebd. 91, 1. 8. Arex. De 
an. 127, Ὁ, u.:. οὗ ἀπὸ τῆς στοᾶς πνεῦμα αὐτὴν λέγοντες εἶναι συγχείμενόν πως ἔχ τε 
πυρὸς za: ἀέρος. Da aber nicht jedes πνεῦμα Seele ist, so wurde die letztere als 
ein πνεῦμα πὼς ἔχον bezeichnet (Prorıs. Enn. IV, 7, 4. S. 458, Ef.). Diese 
eigenthümliche Beschaffenheit des Seelenstoffs sollte nun in seiner grösseren 
Wärme und Feinheit liegen; vgl. Prur. Sto. rep. 41, 2. S. 1052: Chrysippus 
halte die ψυχὴ für ein ἀραιότερον πνεῦμα τῆς φύσεως χαὶ λεπτομερέστερον. Aehn- 
lich zaıLen Qu. an. mores u. 5. w. ec. 4. Bd. IV, 783: die Stoiker erklären so- 
wohl die φύσις als die ψυχὴ für ein πνεῦμα, das aber bei jener feuchter und 
kälter, bei dieser trockener und wärmer sei. Ueber das πνεῦμα σύμφυτον vgl. 
m. Bd. II, b, 374, 2. 745, 3. 762. 


TEE Ὁ 


Die Seele. 181 


die Welt verbreitet und sie zusammenhält 1). Diesen Wärmestoff 
denken sich die Stoiker an das Blut gebunden; von der Ausdün- 
stung des Blutes soll sich die Seele ebenso nähren, wie die ihr 
verwandten Gestirne von den Dünsten der Erde °). Mittelst der 
gleichen Voraussetzung erklären sie sich auch die Entstehung der 
Seele: im Samen wird ein Theil derselben auf das Erzeugte über- 
getragen 5), aus diesem entwickelt sich im Mutterleibe zunächst 
eine Pflanzenseele, erst durch die Einwirkung der äusseren Luft 
nach der Geburt wird diese zur animalischen Seele gestaltet 
und verdichtet %). Schon dadurch war nun den Stoikern die An- 
nahme nahe gelegt, dass der Sitz der Seele nicht im Gehirn, son- 
dern in der Brust sei, von welcher nicht allein der Athem und 
die Blutwärme, sondern auch die Stimme, diese unmittelbarste 


1) Carvsırrts s. vor. Anm. Näher wird diese Verbreitung von Jausr. b. 
Srog. Ekl. I, 870. 874 und Taenıst. de an. f. 68 a, m. vgl. Proris 1.78, 
S. 463, Ο (860, 9 Creuz.) als χρᾶσις, d.h. als Stoffdurchdringung (5. 0.8. 118 6), 
bezeichnet. Dass der Körper von der Seele zusammengehalten werde, nicht 
die Seele vom Körper, ist ein Streitpunkt der Stoiker gegen die Epikureer; 
Posıp. b. Acnırr. Tar. Isagoge ce. 13, 5. 133, E. Sext. Math. IX, 72. 

2) Garen Hippocr. et Plat. II, 8. S. 282 f. nach Zeno, Kleanthes, Chry- 
sippus und Diogenes. Loxciıx ἢ. Eus. pr. ev. XV, 21,3. M. Auker V, 33. 
vr19° Ps Pivr. V. Hom. 127, s. vörl. Anm. ᾿ 

3) Zeno bezeichnete den Samen als πνεῦμα μεθ᾽ ὑγροῦ ψυχῆς μέρος χαὶ ἀπό- 
orasua ... μίγμα τῶν τῆς ψυχῆς μερῶν (Arıus Drivrucs b. Eus. pr. ev. XV, 
20, 1), als σύμμιγμα χαὶ zegasıka τῶν τῆς ψυχῆς δυνάμεων (Prur. coh. ira 15, 
S. 462), ähnlich Chrysippus b. Dioc. 159; vgl. Terturr. De an. e. 27. Nach 
Sphärus b. Dıos. 159 wird der Samen aus allen Theilen des Leibes ausge- 
schieden und kann ebendesshalb auch alle erzeugen (wie schon Demokrit 
wollte; vgl. Th. I, 615, 1). Dass die Seele durch die Zeugung entstehe, be- 
weist Panätius bei Cıc. Tuse. I, 31, 79 aus der geistigen Achnlichkeit der 
Kinder und Eltern. Vgl. 5. 108, 2. Ueber den mütterlichen Antheil an der 
Seele s. m. Ar. Dı». a. a. Ο. 

4) Prer. Sto. rep. 41,1. 8. δ. 1052 f. e. not. 46, 2. δι 1084. De primo 
frig. 2, 5. 5. 946: οἱ Irwixot χαὶ τὸ πνεῦμα λέγουσιν ἐν τοῖς σώμασι τῶν βρεφῶν τῇ 
περιψύξει στομοῦσθα: χαὶ μεταβάλλον ἐχ φύσεως γίνεσθα: ψυχήν. Achnlich Pıoris 
Enn. IV, 7, 8. 5. 463, Ο (861, 7 Cr.), vgl. Hırrouvr. Refut. baer. ὁ. 21. S. 40, 
45 Dunck. Terrurı. De an. ce. 25. Den Widerspruch, dass die animalische 
Seele, die als solche wärmer und dünner ist, als die vegetative, aus dieser 
durch Abkühlung und Verdichtung entstehen soll, lässt Plutarch nicht unbe- 
merkt. Einiges Weitere, über die Entwicklung des Foetus, b. Prur. plac. 
V, 16,2. 17,1. 24,1. 


182 Stoiker. 


Erscheinung des Gedankens, auszugehen schien '). Diese An- 
nahme hängt aber auch mit dem ganzen Standpunkt ihrer Anthro- 
pologie zusammen: denn für die niedrigeren Funktionen hatten. 
auch Plato und Aristoteles das Herz als Centralorgan betrachtet, 
und der Vernunft hatte jener nur desshalb ihren Sitz im Gehirn 
angewiesen, um sie von der thierischen Seele zu unterscheiden ὃ); 
indem daher die Stoiker die Vernunftthätigkeit der sinnlichen 
näher rückten, und beide aus Einer Quelle ableiteten, so war es 
natürlich, dass sie diese Vorstellung verliessen. Vom Herzen aus 
sollten sich die verschiedenen Theile der Seele als Luftströmun- 
gen in die einzelnen Organe ergiessen. Solcher Theile zählten 
die Stoiker ausser dem herrschenden Theil oder der Vernunft 
(ἡγεμονικὸν, διανοητικὸν, λογιστικὸν oder λογισμὸς) noch sieben: die 
fünf Sinne, die Zeugungskraft und das Sprachvermögen °), dem 


1) Zwar war die stoische Schule über diese Frage nicht ganz einig; ein 
Theil derselben (Prvr. pl. phil. IV, 21,5 sagt es irriger Weise von der ganzen 
Schule) suchte nämlich den Sitz der Seele im Gehirn (Sexr. Math. IX, 119. 
Diogenes Sel. b. Pnäpe. (Puıtopen.) Fragm. de nat. De. col. 6, wozu Krısche, 
Forschungen I, 488 f. zu vergl. Curysırr. Ὁ. Garen a. a. Ὁ, III, 8. 8. 349 ff. — 
denn dass diese Polemik Chrysipp’s gegen Stoiker gerichtet ist, lässt sich 
nicht bezweifeln), wofür als Beweis die Erzählung von der Geburt der Pallas 
angeführt wird, welche Chrysippus a. a. O. weitschweifig erörtert. Indessen 
sehen wir aus Garen ἃ. ἃ. Ὁ. 1, 6. UI, 2. 5. III, 1. 8. 185. 214f. 241. 287. 
Terruuı. De an. c. 15, Schl., dass die angesehensten Stoiker, wie Zeno, Chry- 
sippus, Diogenes, Apollodorus, für das Herz stimmten. Der Hauptbeweis 
dafür ist, dass die Stimme nicht aus der Schädelhöhle, sondern aus der Brust 
komme. Chrysippus konnte sich die Schwäche dieses Beweises nicht ganz 
verbergen, gab aber die Behauptung selbst nicht auf (Garen a. a. Ὁ. δ, 254 f. 
261), indem er neben Anderem (wie die seltsame und kleinliche Bemerkung 
über ἐγὼ s. u. 184, 1) dafür geltend machte (a. a. Ὁ, II, 7, 268. IH, 1, 290 8. 
c. 5, 321 ff. ο. 7, 335. 343 £. IV, 1, 362 £.), dass nach allgemeinem, durch 
zahllose Dichterstellen von ihm belegtem, Zugeständniss die Willens- und 
Gemüthsbewegungen vom Herzen ausgehen. 

2) S. Th. II, a, 539. 548 ἢν b, 402, 1. 421, 1. Der Vernunft hatte Aristo- 
teles gar kein körperliches Organ gegeben; s. 11, b, 439, 1. 

3) Prur, plac. IV,4, 2. Ebd. ce. 21: Für den höchsten Theil der Seele 
halten die Stoiker das ἡγεμονικὸν, welches die φαντασίαι, συγκαταθέσεις, αἰσθη- 
σεις, δρμιαὶ erzeuge; diess nennen sie λογισμός. Von ihm erstrecken sich, wie 
die Arme eines Polypen, die sieben Theile der Seele in den Leib; diese wer- 
den daher sämmtlich als πνεῦμα διατεῖνον ἀπὸ τοῦ ἡγεμονικοῦ (μέχρις ὀφθαλμῶν, 
των, μυχτήρων, γλώττης, ἐπιφανείας, παραστατῶν, φάρυγγος γλώττης "καὶ “τῶν 


Die Seele und ihre Theile. 183 


sie nach ihrer Ansicht vom Verhältniss des Gedankens zur Rede 1) 
einen besonderen Werth beilegen mussten ?). Dabei bemühten sie 
sich aber, die Einheit des Seelenwesens strenger festzuhalten, als 
Plato und Aristoteles; das ἡγεμονικὸν ist ihnen die Grundkraft, 
alle übrigen Kräfte sind blosse Theile und Ableger von jener °), 
auch die Empfindung und Begierde wird in ausdrücklichem Ge- 
gensatz zu der platonisch -aristotelischen Lehre von ihr her- 
geleitet *), und’in ihr wird das Ich oder die Persönlichkeit 


οἰχείων ὀργάνων) definirt. Garen ἃ. ἃ. Ὁ. III, 1, 287 ἢ, (s. S. 183, 3). Dioe. 
110. 157. Porenvr und Jausrıch b. Sron. I, 836. 874 ἢ, 878. Cnarcıp. in 
Tim. 307 Meurs. Nıxomacaus Ὁ. Jauer.. Theol. Arithm. 5.80. Doch herrschte 
auch hierüber kein vollkommenes Einverständniss in der stoischen Schule: 
nach Terrors. De an. 14 nahm Zeno nur drei Seelentheile an, während ein- 
zelne, wohl von den jüngeren Stoikern, deren zehn zählten, Panätius, wie 
wir seiner Zeit finden werden, nur sechs, und Posidonius sich von der stoi- 
schen Anthropologie noch weiter entfernte. Was Sıor. I, 828 von Aristo sagt, 
geht wohl auf den Peripatetiker; 5. Bd. II, b, 752, 1. 

1) Worüber S. 61,1. vgl. 

2) Vgl. Kırantm. hymn. 4: ἐχ σοῦ γὰρ γένος ἐσμὲν ἰῆς μίμημα λαχόντες 
μοῦνοι, ὅσα ζώει τε καὶ ἕρπει θνητ᾽ ἐπὶ γαῖαν. 

8) 8. 8. 182, 8 und Οδβηυβ. b. GavEen ἃ, ἃ. Ὁ. II, 1. Κ, 287 (vgl. 
8.180, 3): ταύτης οὖν [τῆς ψυχῆς] τῶν μερῶν ἕχάστῳ διατεταγμένον [- ὧν] μορίῳ, 
τὸ διῆχον αὐτῆς εἰς τὴν τραχέϊαν ἀρτηρίαν φωνὴν εἶναι, τὸ δὲ εἰς ὀφθαλμοὺς ὄψιν 
US. w. χαὶ τὸ εἰς ὄρχεις, ἕτερόν τιν᾽ ἔχον τοιοῦτον λόγον, σπερματικὸν, εἰς ὃ δὲ 
συμβαίνει πάντα ταῦτα, ἐν τῇ καρδία εἶναι, μέρος ὃν αὐτῆς τὸ ἡγεμονιχόν. Puur. 
plae.IV,4, 2: τοῦ ἡγεβονιχοῦ ἀφ᾽ οὗ ταῦτα πάντα ἐπιτέτακται [- ταται] διὰ τῶν οἰχείων 
ὀργάνων προςφερῶς ταῖς τοῦ πολύποδος πλεχτάναις. Vgl. ϑεχτ. Math. IX, 102. 
Aıerx. Αρηξ, bestreitet daher De an. 146, a, u. b, ο. den (stoischen) Satz, dass 
die ψυχιχὴ δύναμις nur Eine, und jede besondere Seelenthätigkeit nur eine 
Wirkung des πὼς ἔχον ἥγεμονιχὸν sei, und umgekehrt sagt TerrunL.ıan De 
an. 14 über die Theile der Seele ganz stoisch: hujusmodi autem non tam 
partes animae habebuntur, quam vires et efficaciae et operae ... mon eılim 
membra sunt substantiae animalis, sed ingenia (Anlagen). Vgl. Jausr. b. 5108. 
I, 874 £.: Nach den Stoikern verhalten sich die Seelenkräfte zur Seele, wie die 
Eigenschaften zu ihrem Substrat, ihr Unterschied beruhe theils nur darauf, 
dass die πνεύματα, worin sie bestehen, sich in verschiedene Körpertheile er- 
giessen, theils sei er nur der mehrerer Qualitäten in Einem Subjekt: das 
Letztere, wenn das ἡγεμονιχὸν die φαντασία, συγχατάθεσις, δρμὴ, λόγος um- 
fassen solle. 

4) Prur. virt. mor. ec. 3,8. 441 (über Zeno, Aristo, Chrysippus): νομί- 
ζουσιν οὐχ εἶναι τὸ παθητιχὸν zur ἄλογον διαφορᾷ τινι καὶ φύσε: ψυχῆς τοῦ λογικοῦ 


0. 
᾿ , ET ω r an A 1. ar $ ΡΥ. 
οιαχεχρίμενον, ἀλλὰ τὸ αὐτὸ τῆς ψυχῆς μερος, 007 χαλοῦυσ'! DLAVOLAV Aal NYEp.OVLZOV, 


184 Stoiker. 


gesucht, deren Sitz bei den Früheren immer unsicher geblieben 
war N). 

Zu der Weltseele verhält sich die Einzelseele, wie der Theil 
zum Ganze "Ἢ Die Seele des Menschen ist nicht blos in derselben 
Art, wie alle andern lebendigen Kräfte, ein Theil und Ausfluss 
der allgemeinen Lebenskraft, sondern sie steht durch ihre Ver- 
nünftigkeit in einem besonderen Verwandtschaftsverhältniss mit 
dem göttlichen Wesen 5), welches um so stärker hervortritt, je 


διόλου τρεπόμενον χαὶ μεταβάλλον ἔν τε τοῖς πάθεσι χαὶ ταῖς χατὰ ἕξιν ἢ διάθεσιν 
μεταβολαῖς χαχίαν τε γίνεσθαι χαὶ ἀρετὴν χαὶ μηδὲν ἔχειν ἄλογον ἐν ἑαυτῷ. plac. 
phil. IV, 21,1. Garen ἃ. ἃ. Ὁ. IV, 1. 5, 864 f.: Chrysippus spreche bald so, 
als ob er eine eigene δύναμις ἐπιθυμητιχὴ ἢ θυμοειδὴς anerkenne, bald, als ob 
er sie läugne. Offenbar ist aber das Letztere seine Meinung. Vgl. ebd. V, 6, 
476: 6 δὲ Χρύσιππος οὔθ᾽ ἕτερον εἶναι ne τὸ παθητιχὸν τῆς ψυχῆς τοῦ λογιστιχοῦ 
χαὶ τῶν ἀλόγων ζῳων ἀφαιρεῖται τὰ πάθη. S.0.178,2. 74Μ81. b. Stop. Ekl.I, 890. 
Dioe. VII, 159. Orıe. e. Ceis. V, 47 (τοὺς ἀπὸ τῆς στοᾶς ἀρνουμένους τὸ τριμερὲς τῆς 
Ψυχῆς) und was später über die stoische Lehre von den Affekten anzuführen 
sein wird. Dass Kleanthes anderer Ansicht ‚gewesen sei, sucht Posıpoxıus 
b. Garen a. ἃ. Ὁ. c. 6. 476 aus einer Stelle desselben darzuthun, worin er den 
θυμὸς im Zwiegespräch mit dem λόγος aufführt; aber diess heisst eine redneri- 
sche Wendung mit einer philosophischen Ansicht verwechseln. 

1) Cneys. b. Gates a. a. Ο. II, 2, 215: οὕτως δὲ χαὶ τὸ a λέγομεν χατὰ 
τοῦτο [die in der Brust wohnende Grundkraft] δειχνύντες αὑτοὺς ἐν τῷ ἀπο- 
φαίνεσθαι τὴν διάνοιαν εἶναι. 

2) Kurantues V. 4. 5. 188, 2. Erikter Diss. I, 14, 6: αἱ ψυχαὶ συναφεῖς 
τῷ θεῷ ἅτε αὐτοῦ μόρια οὖσαι χαὶ ἀποσπάσματα. Ders. I, 8, 11f. M. Aureı 
II, 4. V, 27, wo die Seele μέρος, ἀπόῤῥοια, ἀπόσπασμα θεοῦ, XII, 26, wo der 
νοῦς des Menschen sogar θεὸς genannt wird. Sex. ep. 41, 2: sacer intra nos 
spiritus sedet ... in unoquoque virorum bonorum, „‚quis Deus incertum est, 
habitat Deus“. Ders. ep. 66, 12: ratio autem nihil aliud est, quam in corpus 
humanum pars divini spiritus mersa u. A.; s. auch was aus Anlass der Lehre 
von Gott angeführt wurde. Die Vernunft, das Denken und die Tugend der 
menschlichen Seele sind daher (wie diess Jauer. b. ὅτοβ. ΕΚ]. I, 886 als stoi- 
sche Ansicht bezeichnet) denen der Weltseele gleichartig. Aus dieser Gott- 
verwandtschaft leitet Posidonius in einer berühmt gewordenen Vergleichung 
(8. 0. 70, 3) die Befähigung der Seele zur Erkenntniss der Natur, Cicero Legg. 
I, 8, 24 f. die Allgemeinheit des Glaubens an Gott her. Sofern nun alle Seelen 
Theile des göttlichen Geistes sind, können sie auch alle zusammen als Eine 
Seele oder Vernunft betrachtet werden; M. Aurkr. IX, 8: εἰς μὲν τὰ ἄλογα ζῷα 
μία ψυχὴ διήρηται" εἰς δὲ τὰ λογιχὰ μία λογιχὴ ψυχὴ μεμέρισται. XII, 30: ἕν φῶς 
ἡλίου, κἂν διείρηται τοίχοις, ὄρεσιν, ἄλλοις μυρίοις" μία οὐσία χοινὴ, χἂν διείργηται 
ἰδίως ποισὶς σώμασι μυρίοις" μία ψυχὴ, χἂν φύσεσι διείργηται μυρίαις χαὶ ἰδίαις περι- 


- 


ἜΝ 


Die Einzelseele und die Weltseele. 185 


ausschliesslicher wir das Göttliche, die Vernunft, in uns walten 
lassen ). Nur um so weniger-kann sie sich aber, nach der An- 
sicht der Stoiker, dem Gesetz dieses Wesens, der allgemeinen 
Nothwendigkeit oder dem Verhängniss entziehen, und nur eine 
Täuschung ist es, wenn ihr die gewöhnliche Vorstellung von der 
Freiheit eine vom Weltlauf unabhängige Ursächlichkeit beilegt. 
In Wahrheit ist der menschliche Wille so gut, wie alles Andere 
in der Welt, in die unverbrüchliche Kette der natürlichen Ur- 
sachen verflochten, mögen wir nun die Gründe, die ihn bestim- 
men, kennen oder nicht; seine Freiheit besteht nur darin, dass 
er nieht von Aussen, sondern unter der Mitwirkung der äus- 
seren Umstände durch seine eigene Natur bestimmt wird 2). Auf 
diese Selbstbestimmung wird aber allerdings der höchste Werth 
gelegt; nicht blos unsere Handlungen stammen von ihr her, und 
können uns nur desshalb als die unsrigen zugerechnet werden °), 
sondern auch unsere Urtheile sind, wie die Stoiker glauben, von 
ihr abhängig: die Seele selbst ist es, welche sich der Wahrheit 
oder dem Irrthum zuwendet, unsere Ueberzeugung ist ebensosehr 
in unserer Gewalt, wie unser Handeln *), beide sind gleichsehr 
ein naturnothwendiges Erzeugniss ‘unseres Willens. Und so we- 
nig die Einzelseele eine vom Ganzen unabhängige Thätigkeit be- 
sitzt, so wenig kann sie auch dem Schicksal des Ganzen entgehen: 
auch sie soll, nach der allgemeinen Lehre der Schule, am Ende 
der Weltzeit, welcher sie angehört, in den Urstoff oder die Gott- 
heit zurückkehren, und nur darüber waren die Stoiker unter 
sich nicht ganz einig, ob alle Seelen so lange dauern sollten, 
wie diess Kleanthes, oder nur die der Weisen, wie Chrysippus 
glaubte ®). Die Consequenz des Systems lässt sich in diesen 


γραφαῖς. Diese Einheit ist aber, wie schon diese Vergleichungen zeigen, 
durchaus im Sinn des stoischen Realismus zu fassen: die allgemeine Seele, 
als ätherische Substanz gedacht, ist der Stoff der Einzelseelen. Vgl. auch 
M. Auer VIII, 54. 

1) In diesem Sinne nennt z. B. Sex. ep. 31, 11 den animus rectus, bonus 
magnus einen Deus in corpore humano hospitans. 

2) Das Nähere hierüber 148 f. 153 f. 161 f. 


3) 8.8. 152 ἢ, 
4) 8. 8. 14,1. " 
5) Dioe. 156 f. Prur. ἢ. p. suav. vivi 31,2. 8. 1107. place. IV, 7, 2. Ar. 


Dıpymus b. Evs. praep. ev. XV, 20,3 f. Sex. consol. ad Mare. c. 26,7. ep. 


156 Stoiker. 


"Sätzen, wie überhaupt in der stoischen Anthropologie, nicht ver- 
kennen !); und wenn man vielleicht von einem gewissen Stand- 


102, 22 #. 117,6. Cıc. Tuse. I, 31, 77 ff. Wenn sich Sexeca (ad Polyb. 9, 2. 
ep. 65, 24. 71, 16. 36, 9 und bei Terrrrr. De an. c.42. resurr. carn. 6. 1) und 
ebenso M. Aurer (TIL, 3. VII, 32. VII, 25. 58) auch wieder zweifelhaft über 
die Fortdauer nach dem Tode zu äussern scheint, so ist diess nur χατ᾽ ἄνθρωπον 
geredet, um die Todesfurcht für alle Fälle zu.verbannen; dass Dieselben an 
manchen Stellen (Sex. ep. 71. 102, Anf. M. Avrer II, 17. Υ, 4.13) den Unter- 
gang der Seele gleich nach dem Tode voraussetzen, ist eine unrichtige Angabe 
Tıepemann’s Sto. Philos. II, 155; dagegen sehen wir aus M. Avrer TV, 14. 21, 
dass dieser die Seelen einige Zeit nach dem Tode, und nicht erst beim Welt- 
brand, in die Weltseele zurückkehren liess. Auch diess ist aber nur eine 
Umbildung der allgemein stoisehen Lehre. Nach Srxeca Consol. ad Marc. 
25, 1 nämlich sollen die Seelen der Guten nach dem Tode (wie in der katholi- 
schen Lehre vom Fegfener) einer Reinigung unterliegen, und dann erst unter 
die Seligen sich erheben, was hier ohne Zweifel auch pbysikalisch motivirt 
wurde: wenn die Seele, zugleich stoflich und sittlich (denn beides fällt auf 
diesem Standpunkt zusammen) geläutert ist, steigt sie durch ihre Leichtigkeit 
in den Aether auf, nach M. Aurel, um bier in dem σπερματιχὸς λόγος τῶν ὅλων 
zu verfliessen, nach der herrschenden Lehre, um bis zum Weltbrand fortzu- 
leben. Der Aether wird auch bei Qıc. Tuse. I, 18, 42. Lacranr. Inst. VII, 20, 
vgl. Prur. n. p. suav. vivi 31,2. S. 1107 den seligen Geistern zum Aufent- 
haltsort angewiesen: die Seelen erheben sich, wie Cie. sagt, die dicke untere 
Luft durchdringend, zum Himmel, bis sie in eine ihnen selbst gleichartige 
Umgebung (die junct er anima tenui et ardore solis temperato ügnes) gelangen; 
hier kommen sie naturgemäss zur Ruhe, indem sie sich von denselben Stoffen 
nähren, wie die Gestirne. Nach Chrysippus b. Eustara. zu Il. XXIII, 65 sollen 
sie dort auch die Kugelgestalt der Gestirne annehmen. Nach Terrurr. De 
an. 54 vgl. Lucan. Phars. IX, 5 ff. wohnen sie unter dem Monde. Wenn Zeno 
daneben auch von den Inseln der Seligen redete (Lacr. Inst. VII, 7. 20), so 
geschah diess wohl nur, um die Volksvorstellung in die seinige umzudeuten. 
Auch die Seelen der Unweisen und Schlechten sollten aber noch eine Zeit lang 
nach dem Tode fortdauern, nur dass sie, als schwächer, sich nicht bis zum 
Weltbrand erhalten (Ar. Div. a. a. O. TuEoDoRET cur. gr. aff. V, 23. 8. 73), 
und sie sollen in dieser Zeit, wie Sex. ep. 117, 6 andeutet, Terrurr. a, a. Ὁ. 
und Lacranz a. ἃ. a. OÖ. bestimmt sagen, in der Unterwelt bestraft werden. 
Wenn Terrurı. einen Theil von den Seelen der Unweisen in der Erdregion 
sich aufhalten und bier von den vollendeten Weisen unterrichtet werden lässt, 
so bezieht sich diess wohl auf die von Seneca erwähnte Reinigung. Ueber die 
angebliche Seelenwanderung der Stoiker s. m. 8. 141,1 g. E. 

1) Der eigenthümliche Einfall dagegen, dessen Sesrca ep. 57, 7 als 
stoisch erwähnt: animam hominis magno pondere extriti permanere non posse 
εἰ statim spargi, quia non fuerit Wi ewitus liber, war, wie auch Seneca zeigt, 


 Determinismus; Fortleben nach dem Tode. 187 


punkt aus geneigt sein könnte, theils den Determinismus, theils 
die Läugnung einer endlosen Fortdauer nach dem Tode in einem 
System von so streng ethischer Richtung unbegreiflich zu finden, 
so liegt vielmehr gerade bei diesen Punkten ihr Zusammenhang 
mit der stoischen Ethik deutlich am Tage: beide Annahmen muss- 
ten sich den Stoikern, ähnlich wie in der neueren Zeit einem 
Spineza und Schleiermacher, besonders auch desshalb empfehlen, 
weil sie ihrer ethischen Grundanschauung entsprachen, der zu- 
folge der Einzelne sich nur als ein Werkzeug der allgemeinen 
Vernunft, ein unselbständiges Moment im Weltganzen betrachten 
soll. Da die Stoiker überdiess ein Fortleben im Jenseits zugaben, 
welches zwar nicht von unbegrenzter, aber doch von unbestimmt 
langer Dauer sein sollte, so liess sich auch von ihrer Ansicht 
dieselbe praktische Anwendung machen, wie von dem gewöhn- 
lichen Unsterblichkeitsglauben. Wenn Seneca 1) dieses Leben als 
das Vorspiel eines besseren, den Leib als eine Herberge bezeich- 
net, aus welcher der Geist in seine höhere Heimatlı zurückkehre ; 
wenn er sich auf den Tag freut, welcher die Fesseln des Körpers 
zerreissen werde, den Geburtstag der Ewigkeit, wie er ihn, mit 
den alten Christen auch im Ausdruck zusammentreffend, nennt 2): 
wenn er den Frieden der Ewigkeit schildert, der uns drüben er- 
warte, die Freiheit und Seligkeit des himmlischen Lebens, das 
Licht der Erkenntniss, dem dort alle Geheimnisse der Natur sich 
aufschliessen ?); wenn er auch das Wiedersehen nach dem Tode, 


durch die stoischen Voraussetzungen nicht gefordert, und gebört doch wohl 
nur Einzelnen in der Schule. 

1) Vgl. Baur, Seneca und Paulus iu Hilgenfeld’s Zeitschr. f. wissenseh. 
Theol. I, 2, 221 ff. 

2) Ep. 102, 22 ff.: cum wenerit dies ille, qui mixtum hoe dieini humanique 
secernat, corpus.hic, ubi inveni, relinguam , ipse me Dis reddam ... per has 
mortalis vitae moras Üli meliori vitae longiorique proluditur. Wie das Kind im 
mütterlichen Leibe, sic per hoc spatium, quod ab infantia patet in senectutem, 
in alium maturescimus partum. Was wir besitzen, und der Leib selbst, ist 
nur das Gepäck, welches wir in der Fremde zurücklassen, in die wir es ja 
auch nicht mitgebracht haben. dies iste, quem tamguam ertremum rejormidas, 
asterni matalis est. ep. 120, 14 f.: der Leib ist ein dreze hospitium, ein edler 
Geist fürchtet sich nicht, ihn zu verlassen. scif enim, quo eriturus sit, qui, 
unde venerit, meminit. Vgl, ep. 65, 16 ff. 

3) Consol. ad Mare. 24, 5: imago dumtaxat flü tui perült ... ipse quidem 


1585 Stoiker. 


das Zusammensein der vollendeten Seelen nicht vergisst 1); wenn 
er den Tod zugleich als den grossen Gerichtstag auffasst, an dem 
über Jeden das Urtheil gesprochen werde 5), und aus dem Ge- 
danken an’s Jenseits die Kraft zu einem sittlichen Leben herlei- 
tet ?); wenn er selbst über den dereinsligen Untergang der Seele 
sich mit dem Gedanken beruhigt, dass sie in einer anderen Gestalt 
wieder aufleben werde *), so werden wir hierin nichts finden 


aeternus meliorisgue nunc status est, despoliatus oneribus alienis et sibi relictus. 
Unser Leib ist nur eine Fessel und Finsterniss für den Geist. nititur illo unde 
dimissus est. ibi Ülum aeterna requies manet u.s. w. Ebd. 26, 7: nos quoque 
. felices animae et aeterna sorlitae. Ebd. 19, 6: excessit filius tuus terminos intra 
quos servitur. excepit illum magna et aeterna par. Keine Furcht, keine Sorge, 
keine Begierde, kein Neid, keine Beleidigung stört seine Ruhe u. s. w. Ebd. 
26, 5. Consol. ad Polyb. 9, ὃ. 8: nune animus fratris mei velut ex diutino car- 
cere emissus, tandem sui juris et arbitrü, gestit et rerum naturae spectaculo 
Jruittur ..... fruiur nume aperto et libero coelo .... et nune ülie libere vagatur 
omniaque rerum naturae bona cum summa voluptate perspieit. ep. 79, 12: tune 
animus noster habebit, quod gratuleiur sibi, cum emissus his tenebris ... totum 
diem admiserit et coelo redditus suo fuerit u. s. w. ep. 102, 28: aligquando natu- 
rae tibi arcana reiegentur, discutietur ista caligo et lux undique clara percutiet, 
was Sen. dann weiter ausführt. 

1) Consol. ad Marc. 25, 1 f., wo Sen. schildert, wie der Geschiedene nach 
vollendeter Läuterung inter felices currit animas (den Beisatz jedoch: excepit 
Ülum coetus sacer hat Haase mit Recht als Glossem bezeichnet), wie sein Gross- 
vater ihm das Himmelsgebäude zeigt u. 5. f. ἘΔ. 26, 3. 

2) Ep. 26, 4: velut adpropinquet experimentum et ille laturus sententiam de 
omnibus annis meis dies ..... quo remotis strophis ac fucis de me judicaturus 
sum ἃ. 5. w. Vgl. die hora deeretoria ep. 102, 24. 

3) Ep. 102, 29: Ahaee cogitatio (an den Himmel und das jenseitige Leben) 
nihil sordidum animo subsidere sinit, nihil humile, nihil erudele. Deos rerum 
omnium esse testes ait. illis nog adprobari, ilis in futurum parari jubet et 
aeternitatem mente proponere. 

4) Ep. 36, 10: mors „.. intermittit vitam non eripit: veniet iterum qui nos 
in lucem reponat dies, quem multi recusarent, nisi oblitos reduceret. sed postea 
diligentius docebo omnia, quae videntur perire, muiari. aequo amimo debet re- 
diturus exire. Zurückkehren kann aber freilich die Seele, nach stoischer 
Lehre, erst nach dem Weltbrand, sufern in jeder künftigen Welt die gleichen 
Personen wiederkommen, wie in der jetzigen (s. S. 141, 1); so lange die letz- 
tere dauert, erhalten sich wenigstens die besseren Seelen, und nur die Be- 
standtheile des Körpers werden für neue Gebilde verwendet, Die angeführte 
Stelle, und ebenso ep. 71,13 f., muss sich demnach entweder auf die physische 
Seite des Todes oder auf die Wiederkehr der Persönlichkeit nach dem Welt- 
brand beziehen. : 


EEE 


Leben nach dem Tode. Ethik. 159 


können, was der stoischen Lehre widerstrebte, so stark auch die 
Anklänge an platonische, ja an christliche Anschauungen sind, 
die hier hervortreten, und so wahrscheinlich es immerhin ist, dass 
Seneca in diesem Fall das Dogma seiner Schule gerade nach der 
Seite hin ausführt, auf welcher es sich mit dem Platonismus be- 
rührte, dem er allerdings näher steht, als die älteren Vertreter des 
Stoieismus. 

Von den weiteren psychologischen Annahmen der Stoiker wird 
uns mit Ausnahme zweier Punkte, welche theils früher 1) bespro- 
chen wurden, theils später noch zu berühren sein werden, über 
die Entstehung der Vorstellungen und über die Affekte, nur wenig 
und Unbedeutendes mitgetheilt 2). 


8. Die Ethik. I. Die allgemeinen Grundzüge der stoi- 
schen Ethik. A. Das sittliche Ideal als solches. 


So ausführlich auch Physik und Logik von den Stoikern be- 
handelt wurden, so liegt doch der eigentliche Kern ihres Systems, 
wie wir schon früher gezeigt haben, in der Ethik, und selbst die 
Physik, dieser „göttlichste Theil der Philosophie* ist in letzter 


1) 8. 65 ff. 

2) Dahin gehört neben den Definitionen der αἴσθησις b. Dıoc. 52, und 
der Bemerkung, dass zwar der äussere Eindruck in den Sinneswerkzeugen, 
die Empfindung selbst dagegen im ἥγεμονιχὸν seinen Sitz habe (Pr.ur. plac. 
123 1), das Folgende. Beim Sehen sull das ὁρατιχὸν πνεῦμα, welches vom 
ἡγεμονικὸν in die Augen geht, durch seine τονιχὴ zivnsıs (über den τόνος 8. 0. 
108, 4) die Luft vor dem Auge kegelförmig gestalten, und mittelst dieses 
Luftkegels sich mit den Dingen berühren; da hiebei vom Auge selbst Licht- 
strahlen ausgehen, ist auch die Finsterniss sichtbar (Dıos. 158. Aurx. Arne. 
De an. 149, a, m. f. Pr.or. plac. IV, 15). Das Hören wird durch die sphä- 
rische Wellenbewegung der Luft bewirkt, die sich zu den Ohren fortpflanzt 
(D:o«. 158 vgl. Prvr. pl. IV, 19, 5). Ueber die Stimme (auch pwv&:v genannt) 
s. m. Prur. plac. IV, 20, 2#21, 4. Dıoc. 55 f. und oben 182, 3. 62, 5. Die 
Krankheiten entstehen durch Veränderungen des Pneuma (Dıoe. 158); der 
Schlaf ἐχλυομένου τοῦ αἰσθητιχοῦ τόνου περὶ τὸ ἡγεμονιχόν (Dios. 158, ganz 
gleich Texrurr. De an. 43), und in ähnlicher Weise der Tod ἐχλυομένου τοῦ 
τόνου χαὶ παριξμένου (Jamer. b. Stop. Ekl. I, 922, der zwar die Stoiker nicht 
nennt, aber von den verschiedenen Meinungen über die Ursache des Todes, 
die er dort anführt, wohl jedenfalls diese bei ihnen gefunden hat); beim Men- 
schen freilich ist dieses Erlöschen der animalischen Lebenskraft nur eine 
Befreiung der vernünftigen Seele; s. o. 


190 Stoiker. 


Beziehung nur die wissenschaftliche Vorbereitung für jene. In 
der Eihik muss daher der Geist des stoischen Systems am Un- 
mittelbarsten zum Vorschein kommen, und ebenso lässt sich zum 
Voraus erwarten, dass dieser Theil desselben mit besonderer 
Sorgfalt behandelt sein werde. Dass diess auch wirklich der Fall 
war, sehen wir aus unseren Quellen, welche gerade hier reich- 
lich genug fliessen, um uns von dem Inhalt der stoischen Sitten- 
lehre mit genügender Vollständigkeit zu unterrichten; dagegen 
lauten die Nachrichten über die formale Gliederung derselben so 
verworren und widerspreehend, und die Steiker selbst scheinen 
auch wirklich hierin so ungleich verfahren zw sein, und Wieder- 
hoiungen so wenig gescheut zu haben, dass es kaum möglich sein 
dürfte, für die Darstellung ihrer Lehren sich an eine von den 
überlieferten Eintheilungen zu halten 1). Indem wir daher unsern 


Δ 2 


1) Die Hauptstelle b. Dıos. VII, 84 lautet: τὸ ὃξ ἠθικὸν μέρος τῆς φιλο- 
σοφίας διαιροῦσιν εἴς τε τὸν περὶ δρμῆς χαὶ εἰς τὸν περὶ ἀγαθῶν χαὶ χαχῶν τόπον 
καὶ τὸν περὶ παθῶν χαὶ περὶ ἀρετῆς χοὶ περὶ τέλους πεοί τε τῆς. πρώτης ἀξίας καὶ 
τῶν πράξεων za περὶ τῶν χαθηχόντων προτοοπῶν τε χαὶ ἀποτροπῶν. χαὶ οὕτω δ᾽ 
ὑποδιαιοοῦσιν ol περὶ Χούσιππον χαὶ "Ἀρχέδημον zal Ζήνωνα τὸν Ῥαρσέα καὶ ᾿Απολ- 
λόδωρον χαὶ Διογένην χαὶ ᾿Αντίπατοον χαὶ Ποσειδώνιον: ὃ μὲν γὰρ Κιττιεὺς Ζήνων 
χαὶ ὁ Κλεάνθης ὡς ἂν ἀοχαιότεροι ἀφελέστεοον περὶ τῶν πραγμάτων διέλαβον. Man 
kann hier allerdings über die Interpunktion des ersten Satzes, und) demge- 
mäss anch über den Sinn desselben zweifelhaft sein; doch weist schom die 
Ausidrucksweise darauf hin, dass die drei ersten Glieder die Haupteintheilung, 
die seehs folgenden die weitere Unterabtheilung (ὑποδιαιροῦσ!ιν) enthalten, dass 
demnach die Ethik des Chrysippus und seiner Nachfolger in die drei Haupt- 
theile περὶ ὁρμῆς, m. ἀγαθῶν za χαχῶν, π. παθῶν, zerfiel, von denen freilich 
schwer zu sagen ist, wie die weiter genannten Abschnitte unter sie vertheilt 
wurden. Hiemit stimmt ΕΡΊΚΤΕΥ Diss. II, 2 theilweise zusammen, wenn er 
in der Anleitung zur Tugend drei τόπο: unterscheidet: 5 περὶ τὰς ὀρέξεις καὶ 
τὰς ἐχχλίσεις, der im Folgenden auch ὃ x. τὰ πάθη genannt wird, 6 περὶ τὰς 
δρμὰς χαὶ ἀφορμὰς χαὶ ἁπλῶς ὃ περὶ τὸ χαθῆχον, und endlich ὃ περὶ τὴν ἀνεξαπα- 
τησίαν καὶ ἀνειχαιότητα καὶ ὅλως ὃ περὶ τὰς συγχαταθέσεις. Der erste von diesen 
Theilen würde dem dritten des Diog., der zweite seinem ersten entsprechen; 
dagegen scheint der Abschnitt π᾿ ἀγαθῶν χαὶ χαχῶν nicht in dem dritten Epik- 
tet’s zu stecken, welcher sich vielmehr nach dem Folgenden auf die von Diog. 
nieht ausdrücklich erwähnte dialektische Sicherung der sittlichen Grundsätze 
bezieht, sonderu cher in dem ersten, von den ὀρέξεις und ἐχκλίσεις handeluden 
Hauptstück. Von den beiden Genannten weicht dann wieder Srogävs ab. 
In seiner Uchersicht über die stoische Ethik ΕΚ]. II, ec. ὃ. δ᾿, handelt er zuerst 
S. 90 ff, von den Gütern, den Uebeln und den Adiaphoren, dem Begehrens- 


Ethik. Theile derselben. 191 


Stoff so vertheilen, wie er uns den deutlichsten Einblick in die 
Eigenthümlichkeit und den inneren Zusammenhang der stoischen 
Sätze zu gewähren scheint, so unterscheiden wir zunächst die 
allgemeine und die specielle Moral. Innerhalb der ersteren sondern 
wir sodann die Bestimmungen, welche das sittliche Ideal der Stoiker 
als solches darstellen, von denen, welche dasselbe mit Rücksicht 
auf das praktische Bedürfniss modifieiren. Jene selbst endlich las- 
sen sich auf drei Gesichtspunkte zurückführen: die Untersuchung 
über das höchste Gut, über die Tugend und über den Weisen. 

Die Untersuchung über die Bestimmung und die sittliche 
Aufgabe des Menschen knüpft sich bei den Stoikern, wie in der 


und Verabscheuenswerthen, dem letzten Ziel und der Glückseligkeit, und.er 
bespricht in diesem Abschnitt auch die Tugendlehre ausführlich; hierauf geht 
er 8. 158 zu der Lehre vom χαθῆχον und von den Trieben über, wendet sich 
weiter 9. 166 zu den Affekten (πάθη) als einer Unterart des Triebs, schiebt 
sodann 8. 186 fi. eine Erörterung über die Freundschaft und einiges Andere 
ein, und schliesst endlich 8. 192 bis 242 mit einer ausführlichen Abhandlung 
über die ἐνεργήματα (κατορθώματα, ἁμαρτήματα, οὐδέτερα), deren grösserer Theil 
der Schilderung des Weisen und des Thoren gewidmet ist. Vergleichen wir 
weiter Sex. ep. 95, 65, so wird hier aus Posidonius angeführt, dass nicht nur 
‘die praeceptio, sondern auch die suasio, consolatio und exhortaiio, ferner die 
causarum inquisitio (die aber von Posidon. nicht wohl eiymologia, wie Haask 
liest, sondern nur a@etiologia genannt worden sein kann) und die Ethologie 
(Beschreibung der sittlichen Zustände) nothwendig sei; bestimmter werden 
ep. 89, 14 drei Theile der Moral namhaft gemacht, von denen der erste den 
Werth der Dinge bestimmen, der zweite de actionibus, der dritte de impetu 
(περὶ δρμῆς) handeln solle; wiewohl aber zwei Glieder der letzteren Einthei- 
lung mit den zwei ersten von den Haupttheilen des Diogenes übereinkommen, 
so ist diess doch bei dem dritten nicht mehr der Fall, dieses findet sich viel- 
mehr nur unter den Unterabtheilungen des Diog. (περὶ τῶν πράξεων), und auch 
der erste Theil Seneca’s hat unter diesen sein genaueres Gegenbild (περὶ τῆς 
πρώτης ἀξίας). Seine Quelle hat Sen. leider nicht genannt, und so sind wir 
auch nicht sicher, ob seine Eintheilung rein stoischen Ursprungs ist; die 
gleiche wird uns später bei dem eklektischen Akademiker Eudorus (unter Au- 
gustus) begegnen. Keiner von den angeführten Eintheilungen lassen sich die 
drei von Cıc. ΟΥ̓, II, 5, 18 genannten sittlichen Aufgaben, oder die drei Stücke 
gleichsetzen, welche Erıkr. Enehir. e. 51 (76) aufzählt, und in denen Pr- 
TERSEN phil. Chrys. fund. S. 260 die drei Haupttheile der Ethik bei Seneca 
wiederfindet. Aus diesem Gewirre zwiespältiger Angaben auch nur die Haupt- 
eintheilung der stoischen Ethik festzustellen, scheint mir unmöglich, und 
nur so viel geht daraus hervor, dass die Stoiker hierin selbst nicht einig 
waren. Perersex’s Versuch ἃ, a, Ὁ, 5, 258 ff. ist, wie ich glaube, verfehlt, 


192 Stoiker. 


gesammten Moralphilosophie seit Sokrates, an die Frage über den 
Begriff des Guten und über die Bestandtheile des höchsten Guts, 
oder der Glückseligkeit '). Diese glauben sie aber nur in der 
vernunftmässigen Thätigkeit oder der Tugend suchen zu dürfen. 
Der allgemeine Grundtrieb aller Wesen nämlich, so wird diess 
ausgeführt 5), ist der Selbsterhaltungstrieb und die Selbst- 
liebe 3). Hieraus folgt unmittelbar, dass jedes Wesen nach dem 


1) ὅτοβ. Ekl. 11, 138: τέλος δέ φασιν εἶναι! τὸ εὐδαιμονέίν, οὗ ἕνεχα πάντα 
πράττεται, αὐτὸ δὲ πράττεται μὲν, οὐδενὸς δὲ ἕνεχα. 

2) Dıoc. VII, 85 ff. Cıc. Fin. II, ὅ ff. Geur. N. A. ΧΙΙ, ὅ, 7 fi. Dass die 
beiden Ersteren derselben Quelle folgen, erhellt ausser ihrer übrigen zum 
Theil wörtlichen Uebereinstimmung namentlich aus der gleichmässig einge- 
fügten Abweisung der epikureischen Behauptung, dass das Verlangen nach 
Lust der Grundtrieb sei. Da sich Dıoc. ausdrücklich auf Chrysippus π. τέλους 
beruft, ist wohl eben dieser jene Quelle. Von ihm führt Prur. Sto. rep. 12, 4 
an: ὡς οἰχειούμεθα πρὸς αὑτοὺς εὐθὺς γενόμενοι καὶ τὰ μέρη χαὶ τὰ ἔχγονα τὰ ἑαυτῶν. 
Eine ganz unwesentliche Differenz ist die von Arex. Aphr. De an. 154, u. 
angeführte, dass bald unbestimmter die Selbstliebe, bald genauer die Erhal- 
tung der eigenen Natur als Grundtrieb bezeichnet wurde, 

3) Dıioc. VII, 85: τὴν δὲ πρώτην ὁρμήν φασι τὸ ζῷον ἴσχειν ἐπὶ τὸ τηρεῖν ἑαυτὸ, 
οἰχειούσης αὐτῷ [αὑτῷ] τῆς φύσεως ἀπ᾽ ἀρχῆς, καθά φησιν ὃ Χρύσιππος ἐν τῷ πρώτῳ 
περὶ τελῶν, πρῶτον οἰχεῖον εἶναι λέγων παντὶ ζῴῳ τὴν αὑτοῦ σύστασιν χαὶ τὴν ταύτης 
συνείδησιν. οὔτε γὰρ ἀλλοτριῶσαι εἰχὸς ἦν αὑτοῦ [Coser mit Unrecht: αὐτὸ] τὸ 
ζῷον, οὔτε ποιῆσα: ἂν []. ποιήσασαν sc. τὴν φύσιν] αὐτὸ μήτ᾽ ἀλλοτριῶσαι μήτ᾽ οὐχ 
[dieses οὐχ, aus der nächsten Sylbe entstanden, ist offenbar zu streichen] 
οἰχειῶσαι. ἀπολείπεται τοίνυν λέγει» συστησαμένην αὐτὸ οἰχείως πρὸς ἑαυτό" οὕτω 
γὰρ τά τε βλάπτοντα διωθεῖται zaı τὰ οἰχεῖα προςίεται. Ebenso Cıc. a. ἃ. O. 5, 10. 
Auf den Begriff’ des οἰχέῖον hatte schon Antisthenes, aber ohne diese genauere 
Begründung, den des Guten zurückgeführt (s. Bd. I, a, 215); hier verbindet 
sich damit der akademische Grundsatz des naturgemässen Lebens (ebd. 680. 
695), welchen namentlich Polemo, Zeno’s Lehrer, vorgetragen hatte. Einige 
Schwierigkeit machte dabei den Stoikerın die Frage, ob denn alle lebenden 
Wesen von ihrer eigenen Natur ein Bewusstseiu (συνείδησις, sensus) haben; 
denn ohne ein solches schien ihnen die natürliche Selbstliebe unmöglich zu 
sein. Sie glaubten aber diese Frage (nach Sexeca ep. 121,5 ff. vgl. Cıc. a. a.0.) 
unbedingt bejahen zu dürfen, und sie beriefen sich hiefür auf die instinktiven 
Thätigkeiten, durch welche schon Kinder und Thiere ihre körperlichen Bewe- 
gungen regeln, sich vor Gefahren schützen, Nützliches erstreben, die Kunst- 
triebe der Thiere u. s. w., ohne im Uebrigen zu Jäugnen, dass die Vorstellung 
der Thiere und Kinder über sich selbst noch undeutlich sei, dass sie nur ihre 
constitutio selbst, noch nicht den Begriff derselben (constitutionis finitio SEX. 
s. 11) kennen. Die constitutio oder σύστασις definirten die Stoiker nach Sen. 
s. 10: prineipale animi quodam modo se habens erga corpus. 


Das höchste Gut. 5 198 


‚strebt, und dass für jedes dasjenige einen Werth (ἀξίχ) hat, was 
seiner Natur gemäss ist 7). dass mithin das höchste Gut und der 
höchste Zweck ?), oder die Glückseligkeit, nur in dem naturge- 
mässen Leben liegen kann °). Naturgemäss kann aber für den 
"Einzelnen immer nur das sein, was mit dem Gang und Gesetz des 
Weltganzen, oder mit der allgemeinen Weltvernunft überein- 
stimmt *), und für das bewusste und vernünftige Wesen nur das- 
jenige, was aus der Erkenntniss dieses allgemeinen Gesetzes, aus 
vernünftiger Einsicht hervorgeht °). Denn bei der Frage nach 
dem Naturgemässen handelt es sich um die Uebereinstimmung mit 


1) Cıe. Fin. II, 5, 17. 6, 20. 

2) Welche Begriffe wir hier gleichbedeutend gebrauchen, ohne die Haar- 
spalterei weiter zu berücksichtigen, mit der die Stoiker (Stor. ΕΚ]. II, 136) 
dreierlei Bedeutungen des τέλος zählten, zwischen τέλος und σχοπὸς unterschie- 
den u. s. w. 

3) ὅτοβ. II, 134. 138. Diöc. VII, 88. 94. Pıvr. e. not.”27, 9. Cıc. Fin. 
IH, 7, 26 vgl. 10, 33. Sen. v. beat. 3, 3 vgl. ep. 118,8 fi. Ebd. und bei Sexr. 
Pyrrh. III, 171 f. Math. XI, 30. Sros. II, 78 f. 96 u. ö. finden sich formelle 
Definitionen des ἀγαθὸν, des τέλος, der εὐδαιμονία. Die letztere wird gewöhnlich, 
nach Zeno’s Bestimmung, durch εὔροια βίου umschrieben. Verschiedene For- 
meln für den Begriff des naturgemässen Lebens, von Kleanthes, Antipater, Ar- 
chedemus, Diogenes, Panätius, Posidonius u. A. b. Krem. Ar.. Strom. II, 416 
Sylb. Sror. 134. Dıoc. a. a. O., welche alle derselben Quelle zu folgen 
scheinen. 

4) Dioe. VII, 88: διόπερ τέλος γίνεται τὸ ἀχολούθως τῇ 
χατά τε τὴν αὑτοῦ χαὶ χατὰ τὴν τῶν ὅλων, οὐδὲν ἐνεργοῦντας ὧν 


εἶναι δ᾽ αὐτὸ τοῦτο τὴν τοῦ εὐδαίμονος ἀρετὴν χαὶ εὔροιαν βίου, 
ται χατὰ τὴν συμφωνίαν τοῦ παρ᾽ ἑχάστῳ δαίμονος πρὸς τὴν τὸ 
τοῦ βούλησιν. 

5) ὅτοβ. II, 160 (vgl. 158): διττῶς θεωρεῖσθαι τήν τε ἐν τοῖς Aoyızdis γιγνο- 
μένην δρμὴν χαὶ τὴν ἐν τοῖς ἀλόγοις ζῴοις. Dıoc. 86: Die Pflanze wird ohne Trieb 
und Empfindung von der Natur bewegt, das Thier vermittelst des Triebs. Für 
dieses ist daher τὸ χατὰ τὴν φύσιν und τὸ χατὰ τὴν δομὴν dasselbe. Bei den ver- 
nünftigen Wesen kommt zur Beherrschung des Triebs die Vernunft hinzu; für 
sie ist ein Naturgemässes nur das Vernunftgemässe. Ganes Hippoer. et Plat. 
V,2. S. 460: Chrysipp sagt, Auäs οἰχειοῦσθα: πρὸς μόνον To χαλόν. M. AukeEL. 
VI, 11: τῷ λογιχῷ ζῴῳ ἣ αὐτὴ πρᾶξις χατὰ φύσιν ἐστὶ χαὶ χατὰ λόγον. Daher die 
Definitionen des tugendhaften oder naturgemässen Lebens: ζῆν κατ᾽ ἐμπειρίαν 
τῶν ᾿φύσε: συμβαινόντων (Chrysippus b. ὅτοβ. 184. D:ioc. 87. Kreuess ἃ. ἃ. Ὁ. 
— ebd. ähnliche von Diogenes, Antipater, Archedemus, Posidonius) und des 
Guten: τὸ τέλειον χατὰ φύσιν λογιχοῦ ὡς λογιχοῦ (Dioc. 94). 


Philos. d. Gr. IH. B. 1. Abth. 13 


194 j Stoiker. 


der Grundzusammensetzung jedes Wesens, diese liegt aher für. 
den Menschen nur in der Vernunft ). Ob man daher den Grund- 
satz‘des naturgemässen Lebens mit Zeno in der Forderung seiner. 
Uebereinstimmung mit sich selbst ausdrückte, oder statt dessen 
mit Kleanthes Uebereinstimmung des Lebens mit der Natur ver- 
langte, und ob man im letztern Fall die φύσις auf die Natur über- 
haupt oder mit bestimmterer Unterscheidung theils auf die ge- 
meinsame, theils auf die menschliche Natur bezog ?), die Meinung 


1) Sen. ep. 121, 14: omne animal primum constitutioni suae coneiliari: ho- 
minis autem constitutionem rationalem esse: et ideo conciliari hominem sibi non 
tanguam animali sed tanquam rationali. ea enim parte sibi carus est homo, qua 
homo est. Ders. ep. 92, 1 f.: Der Leib dient der Seele, der unrernünftige Theil 
der Seele dem vernünftigen. Hieraus folgt: in hoc uno positam esse beatam 
vitam, ut in nobis ratio perfecta sit. Aehnlich ep. 76, 8 fi. M. Arrer VI, 44: 
συμφέρει δὲ ἑκάστῳ τὸ χατὰ τὴν ἑαυτοῦ χατασχευὴν καὶ φύσιν - ἣ δὲ ἐμὴ φύσις λογιχὴ 
χοὰ πολιτιχή. Vgl. VIII, 7. 12. 

2) Nach ὅτοβ. II, 132 £. Dioc. VII, 89 wären die älteren Stoiker in dem 
Ausdruck ihres Prineips nicht ganz einig gewesen: Zeno nämlich, berichtet 
Stob., habe als das τέλος nur das ὁμολογουμένως ζῆν bezeichnet, erst Kleanthes 
dem ὁμολογουμένως die Worte τῇ φύσει beigefügt, Chrysipp und seine Nach- 
folger die Formel durch verschiedene (für ihren Sinn unerhebliche) Zusätze 
erweitert. Diog. lässt 8. 87 schon den Zeno das ὁμολογουμένως τῇ φύσει aus- 
sprechen, dagegen sagt er 8. 89, unter dieser φύσις verstehe Chrysippus τήν τε 
χοινὴν χαὶ ἰδίως τὴν ἀνθρωπίνην, Kleanthes τὴν κοινὴν μόνην οὐχέτι δὲ χαὶ τὴν ἐπὶ 
μέρους. Diese Differenzen haben aber schwerlich viel auf sich. Bezeichnet 
auch das einfache ὁμολογουμένως ζὴν zunächst ohne Zweifel nur das ἀχόλουθον 
ἐν βίῳ, das ζῆν nad’ ἕνα λόγον χαὶ σύμφωνον (Sror. II, 132. 158), die ὁμολογία 
παντὸς τοῦ βίου (Πιοα. VII, 89), die vita sibi concors, die concordia animi (SEN. 
ep. 89, 15. vita be. 8, 6), jenes unum hominem agere, welches sich nach Sen. 
ep. 120, 22 nur bei dem Weisen findet, mit Einem Wort: Gleichmässigkeit des 
Lebens, Consequenz, so liegt doch am Tage, dass diese nur da möglich ist, wo 
alle einzelnen Handlungen dem gemäss sind, was durch die Natur des Han- 
delnden gefordert ist; wesshalb denn auch bei Sros. U, 158 dem ἀχόλουθον ἐν 
βίῳ das ἀκολούθως τῇ ἑαυτῶν φύσει zur Seite steht. Wenn daher Kleanthes die 
Formel Zeno’s durch den Zusatz: (δμολογουμένως) τῇ φύσει erweiterte (den aber 
nach Diog. 87, wie bemerkt, schon Zeno hatte), so gieng er damit nur auf die 
nächste Bedingung des ὁμολογουμένως ζὴν zurück. Dass aber Kleanthes hiebei 
unter der φύσις nur die Natur überhaupt, nicht die menschliche Natur verstan- 
den habe, können wir dem Laörtier nicht unbedingt glauben. Er mag immer- 
hin in seiner Formel nur von der χοινὴ φύσις oder dem χοινὸς νόμος, mit dessen 
Preise auch sein bekannter Hymnus schliesst, ausdrücklich gesprochen haben, 
aber unmöglich kann es seine Absicht gewesen sein, die menschliche Natur, die 


| 


Das höchste Gut. 195 


kann immer nur die sein, dass sich das Leben des Einzelnen dem 
Ziele der Glückseligkeit in demselben Maass nähere oder von ihm 
entferne, in dem es mit den allgemeinen Gesetzen des Weltlaufs 
und der vernünftigen Menschennatur übereinstimmt oder im Zwie- 
spalt liegt. Die Vernünftigkeit des Lebens aber, die Ueberein- 
stimmung mit der allgemeinen Weltordnung, ist mit Einem Worte 
die Tugend. Das stoische Moralprincip liess sich daher auch kurz 
in dem Satz ausdrücken, die Tugend allein sei ein Gut, die Glück- 
seligkeit bestehe ausschliesslich in der Tugend 3). Oder wenn das 
Gute, nach dem Vorgang des Sokrates, als das Nützliche definirt 
wurde ?), so war zu sagen: nur die Tugend sei nützlich, der 
Vortheil sei von der Pflicht nicht verschieden, für den Schlechten 
dagegen sei nichts von Nutzen °), denn für das vernünftige Wesen 
liege Gut und Uebel nicht in dem, was ilım widerfährt, sondern 
einzig und allein in seinem Thun %). So ergiebt sich hier eine 
Lebensansicht, wornach die Glückseligkeit mit der Tugend, das 
Gute und Nützliche mit der pflicht- und vernunftmässigen Thätig- 


ja nur eine bestimmte Erscheinung der allgemeinen ist, auszuschliessen; Chry- 
sippus hat demnach durch seine Fassung die seines Lehrers zwar genauer be- 
stimmt, aber ihr nicht widersprochen. 

1) θιοα. VII, 30. 94. 101. Stop. II, 200 f. 138. Sexr. Pyırh. III, 169 ff. 
Math. XI, 184, Cıc. Tuse. II, 25, 61. Fin. IV, 16, 45. Acad. I, 10. Parad. 1. 
Sex. Benef. VII, 2, 1. ep. 71,4. 74, 1. 76, 11. 85, 17. 120, 3. 118, 10 fi. (wo 
namentlich auch das Verhältniss der Begriffe honestum, bonum, secundum natu- 
ram besprochen wird) u. A. Zum Beweis ihres Satzes bedienten sich die Stoi- 
ker jener Kettenschlüsse, die bei ihnen überhaupt so beliebt sind. M. s. Chry- 
sippus b. Pıur. Sto. rep. 13, 11: τὸ ἀγαθὸν αἱρετόν: τὸ δ᾽ αἱρετὸν ἀρεστόν" τὸ δ᾽ 
ἀρεστὸν ἐπαινετόν: τὸ δ᾽ ἐπαινετὸν χαλόν. (Dasselbe b. Cıc. Fin. III, 8, 27 
und IV, 18, 50, wo ich aber statt zötosius vermuthen möchte: validius.) 
Ferner: τὸ ἀγαθὸν χαρτόν᾽ τὸ δὲ χαρτὸν σεμνόν" To δὲ σεμνὸν χαλόν. (Das Gleiche, 
etwas erweitert, Cıc. Ταβο, V, 15, 43.) Vgl. 5108. II, 126: πᾶν ἀγαθὸν αἱρετὸν 
εἶναι, ἀρεστὸν γὰρ zul δοχιμαστὸν χαὶ ἐπαινετὸν ὑπάρχειν: πᾶν δὲ χαχὸν φευχτόν. Ein 
anderer hergehöriger Sorites, b, Sex. ep. 85, 2, wird uns noch vorkommen. 

2) Stor. Il, 78. 94 ἢ, Dioc. VII, 94. 98. Sexr. Pyrrh. 11I, 169. Math. XI, 
22. 25.30. Die gleiche Bestimmung verband Diogenes nach Cie. Fin. Ill, 10, 33 
mit der 5. 193,5 angeführten Definition des Guten als des Vollkommenen 
durch die Bemerkung, das Nützliche sei ein molus aut status natura absoluti. 

3) Sext. a. ἃ. ἃ. O. Son. II, 188 (μηδένα φαῦλον μήτε ὠφελείσθαι μήτε ὦφε- 
Aeiv. εἶναι γὰρ τὸ ὠφελεῖν ἴσχειν zar’ ἀρετὴν, χαὶ τὸ ὠφελεῖσθαι χινεῖσθαι κατ᾽ ἀρετήν). 
202. Prur. Sto. rcp. 12. comm. not. 20, 1. Cıc. Oft. II, 3,10. III, 3, 11. 7, 84. 

4) M. Auer, IX, 16. 


13% 


196 Stoiker. 


keit schlechthin zusammenfällt, so dass es weder ausser der 
Tugend ein Gut giebt, noch innerhalb ihrer und für sie ein 
Uebel. 


Wenn daher die gewöhnliche Denkweise und auch die Mehr- 


zahl der Philosophen verschiedene Arten und Grade von Gütern 
unterschied, und neben den geistigen und sittlichen Eigenschaften 
auch körperliche Vorzüge und äussere Dinge zu den Gütern 
rechnete, so liessen die Stoiker jenen Unterschied und diese Zu- 
sammenstellung schlechterdings nicht gelten. Auch sie wollten 
zwar einen gewissen Unterschied unter den Gütern nicht läug- 
nen; die verschiedenen Arten derselben werden nach ihrer Weise 
in formalistischen Eintheilungen aufgeführt 1). Aber diese Unter- 


1) M. 8. darüber Dıoa. 94 ff. Sro. II, 96 ff. 124 f. 130. 136 £. Sexr. Pyrrh. 


III, 169 ff. Math. XI, 22 ff. Cıc. Fin. III, 16, 55. Sex. ep. 66, 5. Das Gute ist, 


wie es hier definirt wird, entweder ὠφέλεια oder οὐχ ἕτερον ὠφελείας (mit der 
ὠφέλεια, dem an und für sich Guten, unzertrennlich verbunden, wie der tugend- 
hafte Mensch mit der Tugend, die ein Theil von ibm ist; vgl. Sexrus a. ἃ. a. Ὁ. 
und oben 88, 2), oder was dasselbe: es ist ἀρετὴ ἢ τὸ μετέχον ἀρετῆς (ext. 
Math. XI, 184). Näher wird dreierlei Gutes unterschieden: τὸ ὑφ᾽ οὗ ἢ ἀφ᾽ οὗ 
ἔστιν ὠφελεῖσθαι, τὸ καθ᾽ ὃ συμβαίνει ὠφελεῖσθαι, τὸ οἷόν τε ὠφελεῖν. Unter die erste 
Bedeutung des Guten fällt nur die Tugend, unter die zweite auch die tugend- 
"haften Handlungen, unter die dritte, ausser diesen beiden, die tugendhaften 
Subjekte, Menschen, Götter und Dämonen. Eine zweite Eintheilung der Güter 
(Dıoe. Sros. Sexr. P. III, 181) ist die in Güter der Seele, äussere Güter (wie 
der Besitz tugendhafter Freunde und eines tugendhaften Vaterlands), und 
solche, die keines von beiden sind (τὸ αὐτὸν ἑαυτῷ εἶναι σπουδαῖον χαὶ εὐδαίμονα, 
die Tugend und Glückseligkeit als Verhältniss des Einzelnen: zu sich selbst, 
sein individueller Besitz, betrachtet). Die Güter der Seele werden sodann in 
διαθέσεις (die Tugenden), ἕξεις (die ἐπιτηδεύματα, für welche Sror. II, 100. 128 
vgl. 122 die Mantik, die φιλογεωμετρία u. dgl. als Beispiel anführt; diese sind 
nicht so unwandelbar, wie die Charaktereigenthümlichkeit, daher nach dem 
S. 87, 2, Schl. berührten Sprachgebrauch blosse ἕξεις), und das, was weder ἕξις 
noch διάθεσις ist, die Thätigkeit selbst. — Eine dritte Eintheilung der Güter 
(Dios. und Cıc. a. a. O. Sros. 80. 100. 114) unterscheidet τελιχὰ oder dt αὑτὰ 
αἱρετὰ (die sittliche Thätigkeit), ποιητιχὰ (z. B. Freunde und die Dienste, die sie 
uns leisten), τελιχὰ χαὶ ποιητιχά (die Tugenden selbst); eine vierte und fünfte 
die μιχτὰ (wie εὐτεχνία und εὐγηρία) und ἁπλᾶ oder ἄμιχτα (wie die Wissen- 
schaft), und die ἀεὶ παρόντα (die Tugenden) und οὐχ ἀεὶ παρόντα („olov χαρὰ, 
περιπάτησις“). Die entsprechenden Eintheilungen der Uebel geben Diogenes 
und Stobäus. Dazu fügt der Letztere II, 126 f. 136 f. die ἀγαθὰ ἐν χινήσει (χαρὰ 
u. 8. w.) und ἐν σχέσει (εὔταχτος ἧσυχία u. 5. f.), welche letzteren wieder theil- 


Güter und Uebel. 197 


schiede kommen schliesslich doch nur darauf hinaus, dass das 
‚Eine unmittelbar an sich selbst gut und nützlich ist, das Andere 
ein Mittel für jenes. Mehrere gleich ursprüngliche Güter scheinen 
den Stoikern mit dem Begriff des Guten zu streiten. Ein Gut ist 
nach ihrer Ueberzeugung nur dasjenige, was einen unbedingten 
Werth hat; was nur um eines Andern willen oder im Vergleich 
mit einem Andern von Werth ist, verdient diesen Namen gar 
nicht; der Unterschied des Guten von dem Nichtguten liegt nicht 
blos im Grad, sondern in der Art; was nicht an und für sich ein 
Gut ist, kann es unter keinen Umständen werden !). Dasselbe 
gilt aber natürlich auch von den Uebeln: was nicht an sich ein 
Uebel ist, kann durch sein Verhältniss zu Anderem nicht dazu 
gemacht werden. Als ein Gut ist daher nur das absolut Gute 
oder die Tugend zu betrachten, als ein Uebel nur das absolute 
Uebel, die Schlechtigkeit ?); alle anderen Dinge dagegen, wie 
eingreifend ihr Einfluss auf unseren Zustand auch sein mag, ge- 
hören weder zu den Gütern noch zu den Uebeln, sondern zu 
dem Gleichgültigen, den Adiaphora 5): weder Gesundheit, noch 


weise, wie die Tugend und die sittlich behandelten Kunstfertigkeiten, zu- 
gleich ἐν ἕξει seien; ferner die ἀγαθὰ χαθ᾽ ἑαυτὰ (die Tugenden) und πρὸς τί πως 
ἔχοντα (Ehre, Wohlwollen, Freundschaft); die Güter, welche zur Glückseligkeit 
nothwendig sind (die Tugenden und tugendhaften Thätigkeiten), und welche 
diess nicht sind (χαρὰ, ἐπιτηδεύματα). --- Weit beschränkter ist die Aufzählung 
Seneca’s, wenn sie sich gleich ais eine allgemeine giebt. Dieser nennt nämlich 
a. a. Ὁ. prima bona, tanquam gaudium, pax, salus patriae; secunda, in materia 
infeliei expressa, tanguam tormentorum patientia; tertia, tanguam modestus in- 
cessus u. dgl. 

1) Cie. Fin. III, 10, 33: ego assentior Diegeni, qui bonum definüt id quod 
esset natura absolutum [αὐτοτελές] ... hoc autem ipsum bonum non accessione ne- 
que crescendo aut cum ceteris comparando sed propria vi et sentimus et appel- 
lamus bonum. ut enim mel, etsi duleissimum est, suo tamen proprio genere sapo- 
ris, non comparatione cum aliis, dulce esse sentitur, sic bonum hoc de quo agimus 
est illud quidem plurimi aestimandum sed ea aestimatio genere valet non magni- 
tudine u. 5. w. - 

2) Sex. Benef. VII, 2, 1: nec malum esse ullum nisi turpe, nec bonum nisi 
honestum. Aurx. Arnr. De Fato c. 28, 8. 88: ἣ μὲν ἀρετή τε χαὶ ἣ χαχία μόναι 
war’ αὐτοὺς ἣ μὲν ἀγαθὸν ἣ δὲ χαχόν. Vgl. 8. 195. 198, 2. 

3) Sext. Math. XI, 61 (nachdem zwei nicht hieher gehörige Bedeutungen 
des ἀδιάφορον angegeben sind): χατὰ τρίτον δὲ χαὶ τελευταΐον τρόπον φασὶν adız- 
φορον τὸ μήτε πρὸς εὐδαιμονίαν wire πρὸς χαχοδαιμονίαν συλλαμβανόμενον. Dahin 


198 Stoiker. 


Reichthum, noch Ehre, noch das Leben selbst ist ein Gut, ebenso- 
wenig sind aber auch die entgegengesetzten Zustände, Armuth, 
Krankheit, Schmach, Tod, ein Uebel 19), sondern diese, wie jene, 
sind an sich gleichgültige Dinge, ein Stoff, der gleichsehr zum 
Guten, wie zum Schlechten benützt werden kann 5). Die Akade- 
miker und Peripatetiker, welche auch äussere und vom Zufall 
abhängige Dinge zu den Gütern rechnen, werden von unseren 
Philosophen auf's Lebhafteste bestritten. Was mit der sittlichen 
Beschaffenheit des Menschen in keinem Zusammenhang stehe, ja 
vielleicht geradezu mit sittlichen Nachtheilen erkauft sei, das, 


gehören äussere Güter, Gesundheit u. s. w. ᾧ γὰρ ἔστιν εὖ χαὶ χαχῶς χρῆσθαι 
τοῦτ᾽ ἂν εἴη ἀδιάφορον" διὰ παντὸς δ᾽ ἀρετῇ μὲν χαλῶς, χαχία δὲ χαχῶς, ὑγεία δὲ χαὶ 
τοῖς περὶ σώματι ποτὲ μὲν εὖ ποτὲ δὲ χαχῶς ἔστι χρῆσθαι. Ebenso Pyrrh. IH, 177. 
Aehnlich, mit derselben Begründung, Dios. 102 f., welcher die οὐδέτερα defi- 
nirt: ὅσα μήτ᾽ ὠφελεῖ μήτε βλάπτει. Stop. II, 142: ein ἀδιάφορον sei τὸ μήτε ἀγα- 
θὸν μήτε κακὸν, χαὶ τὸ μήτε αἱρετὸν μήτε φευχτόν. Prur. Sto. rep. 81, 1: ᾧ γὰρ 
ἔστιν εὖ χρήσασθαι χαὶ χαχῶς τοῦτό φασι un’ ἀγαθὸν εἶναι μήτε χαχόν u. A, 

1) Vom Tode beweist diess Zeno b. Sen. ep. 82, 9 mit dem Schlusse, des- 
sen Bündigkeit er doch selbst nicht ganz getraut zu haben scheint: nullum 
malum gloriosum est; mors autem gloriosa est (es giebt einen ruhmvollen Tod); 
ergo mors non est malum. Sonst treten in den stoischen Ausführungen hierüber 
‘besonders die zwei Erwägungen hervor: dass etwas Naturgemässes kein Uebel 
sein könne, und dass das Leben als solches kein Gut sei; auch andere Gründe 
zur Beschwichtigung der Todesfurcht werden aber nicht verschmäht. M. vgl. 
Sen. ep. 30, 4 fl. 77, 11f. 82,8 ff. cons. ad Mare. 19,3 ff. M. Aurer IX, 3. 
VIH, 58 und andere Stellen, die man bei Baumnaver Vet. philosoph. doctr. de 
morte voluntaria S. 211 fi. findet. 


2) Chrysippus b. Prur. Sto. rep. 15, 4: alle Tugend werde zerstört, ἂν ἢ 
τὴν ἡδονὴν ἢ τὴν ὑγείαν 7] τι τῶν ἄλλων͵ ὃ μὴ καλόν ἐστιν, ἀγαθὸν ἀπολίπωμεν. Ders. 
b. Dems. 6. not. ὃ, 2: ἐν τῷ zart’ ἀρετὴν βιοῦν μόνον ἐστὶ τὸ εὐδαιμόνως, τῶν ἄλλων 
οὐδὲν ὄντων πρὸς ἡμᾶς οὐδ᾽ εἰς τοῦτο συνεργούντων. (Ebenso Sto. rep. 17, 3.) Sen. 
vita be. 4, 3: das einzige Gut sei die honestas, das einzige Uebel die turpitudo, 
cetera vilis turba rerum, nec detrahens quiequam beatae vitae nec adjieiens. Ders. 
ep. 66, 14: zwischen der Freude des Weisen und der Standhaftigkeit, mit der 
er Schmerzen erträgt, ist kein Unterschied guantum ad ipsas virtutes, plurimum 
inter illa, in quibus virtus utraque ostenditur .... virtutem maleria non mutat. 
ep. 71, 21: dona ista aut mala non efheit materia, sed virtus. ep. 85, 39: Tu 
illum [sapientem] premi putas malis? utitur. Ders. ep. 44. 120, 3. Prur. e. 
not. 4, 1. Sto. rep. 18,5. 31, 1. Chrysippus b. Ps. = Pıur. De nobilit. 12, 2. 
Dios. 102 f. Sros. II, 90. Sexr. a. a. Ὁ, und Pyrrh. III, 181. Avkx, Arne. Top. 
43, m. 107, m. 


Güter und Uebel. 199 


sagen sie, könne kein Gut sein '); wenn die Tugend den Men- 
schen glückselig mache, müsse sie ihn auch für sich allein voll- 
kommen glückselig machen, denn glückselig könne überhaupt nur 
der sein, der es ganz sei; werde umgekehrt irgend etwas, das’der 
Mensch nicht in seiner eigenen Gewalt hat, ein Einfluss auf seine 
Glückseligkeit eingeräumt, so werde der unbedingte Werth der 
Tugend beeinträchtigt, und der Mensch könne nie zu der unerschüt- 
terlichen Sicherheit des Gemüths kommen, ohne die keine Glückse- 
ligkeit denkbar sei ?). Am Allerwenigsten darf aber ihrer Ansicht 


1) Sexr. Matlı. XI, 61 (s. o. 197, 3). Dıos. 103: das Gute kann nur nützen, 
nie schaden; οὐ μᾶλλον δ᾽ ὠφελεῖ ἢ βλάπτει ὃ πλοῦτος καὶ ἣ ὑγίεια" οὐχ ἄρ᾽ ἀγαθὸν 
οὔτε πλοῦτος οὔθ᾽ ὑγίεια. Ferner: ᾧ ἔστιν εὖ καὶ χαχῶς χρῆσθαι, τοῦτ᾽ οὐχ ἔστιν ἀγα- 
θόν" πλούτῳ δὲ χαὶ ὑγιεία ἔστιν εὖ χαὶ χαχῶς χρῆσθαι τι. 5. w. SEN. ep. 87, 11 ff., 
wo für den Satz, dass nichts ausser der Tugend ein Gut sei, die nachstehenden 
Beweise aus der Ueberlieferung der Schule (interrogationes nostrorum), zu- 
nächst, wie es scheint, nach Posidonius (vgl. s. 31. 35. 38) angeführt werden: 
1) Quod bonum est, bonos facit; foriuita bonum non faciunt; ergo non sunt bona. 
(Aehnlich M. Auer, II, 11. IV, 8: was den Menschen nicht schlechter macht, 
mache auch das menschliche Leben nicht schlechter.) 2) Quod contemptissimo 
ceuique contingere ae turpissimo potest, bonum non est; opes autem et lenoni et 
lanistae conlingunt; ergo u.s. w. (So auch M. Aurer V, 10.) 3) Bonum ex malo 
non fit ; divitiae fiunt, fiunt autem er avaritia; ergo u. 5. w. (Achnlich b. ALrx. 
Ara. Top. 107, m: τὸ διὰ χαχοῦ γινόμενον οὐχ ἔστιν ἀγαθόν᾽ πλοῦτος δὲ zur διὰ 
πορνοβοσχίας χαχοῦ ὄντος γίνεται u.s.w.) 4) Quod dum consequi volumüs in multa 
mala ineidimus, id bonum non est; dum divitias autem consequi volumus, in 
multa mala ineidimus u. 5. w. -5) Quae neque magnitudinem animo dant nec 
fidueciam nee securitatem, contra autem insolentiam, tumorem, arrogantiam creant, 
mala sunt; a fortuitis autem (vorher war in dieser Beziehung nicht blos Reich- 
thum, sondern auch Gesundheit genannt worden) in haee impellimur ; ergo non 
sunt bona. Dass der Reichthum kein Gut sei, beweist Diogenes b. Cıc. Fin. 
UI, 15,49; dass Armuth und Schmerz keine Uebel seien, wird mit dem Schluss 
dargethan, welchen Sex. ep. 85, 30 anführt und vertheidigt: quod malum ‚est, 
nocet. quod nocet, deteriorem faeit. dolor et paupertas deteriorem non faciunt: 
ergo mala non sunt. Auch vom theologischen Standpunkt aus wird der stoische 
Satz bewiesen: die Natur, sagt M. Avrer, H, 11. IX, 1, hätte unmöglich zu- 
geben können, dass Güter und Uebel den Guten und Schleehten gleicherweise 
zufallen; was daher beiden gleichsebr zutheilwerde, wie Leben und Tod, Ehre 
und Schande, Lust und Mühsal, Reichthum und Armuth, das könne weder ein 
Gut noch ein Uebel sein. Gegen den Werth des Nachruhms Ders. IV, 19 u. ὃ. 

2) Diess wird den Akademikern (über welche Bd. II, a, 663. 681 z. vgl.) 
bei Cıc. Tusc. V, 13,39 ἢ, 18,51 fl. Sex. ep..85, 18.f. 71,18. 92, 14 fi. ent- 
gegengehalten. In der letztern Stelle wird die Annahme, dass die Glückselig- 


200 Stoiker. 


nach die Lust für ein Gut oder gar mit Epikur für den letzten 
und höchsten Lebenszweck erklärt werden. Wer die Lust auf 


den Thron setzt, der macht die Tugend zur Sklavin '), wer sie- 


auch nur überhaupt für ein Gut hält, der läugnet den richtigen 
Begriff des Guten und den eigenthümlichen Werth der Tugend 3), 
er verweist uns auf's Leiden, statt auf’s Handeln ?), er verlangt, 
dass das vernünftige Wesen nach dem Unvernünftigen, der gott- 


keit durch äussere Güter vermehrt werden könne, und mithin eines Gradunter- 
schieds fähig sei, mit Sätzen zurückgewiesen, wie diese (s. 4. 24): guid potest 
desiderare is, cui omnia honesta contingunt? ... et quid stultius turpiusve, quam 
bonum rationalis animi ex irrationalibus nectere? .... non intenditur virtus, ergo 
ne beata quidem vita, quae ex virtute est. Vgl. ep. 72, 7: cui aliquid accedere 
potest, id, inperfectum est. ᾿ 

1) Wie diess Kleanthes b. Cıc. Fin. II, 21, 09 rednerisch ausführt. Vgl. 
Sen. Benef. IV, 2, 2: [virtus] non est virtus si sequi potest. primae partes ejus 
sumt: ducere debet, imperare, summo loco stare: tu illam m signum petere. 
Ders. vita be. 11, 2. 13,5. 14, 1u. ὃ. 

2) Man vgl. hierüber die 8. 198,2 angeführten Worte Chrysipp’s bei Pıur. 
Sto. rep. 15, und zu ihrer Erläuterung Sex. Benef. IV, 2, 4: non indignor, quod 
post voluptatem ponitur virtus, sed quod omnino cum voluptate conferatur con- 
temptrix ejus et hostis et longissime ab illa resiliens, und denselben vita be. 15,1: 
pars honesti non potest esse nisi homestum, nee summum bonum habebit sinceri- 
tatem suam, si aliquid in se viderit dissimile meliori. Mit jener Aeusserung des 
Chrysippus stände es nach Puor. (a. a. O. 15, 3. 13, 3. comm. not. 25, 2) im 
Widerspruch, dass Chrysipp auch wieder sagte: wenn die Lust zwar für ein 
Gut, aber nicht für das höchste Gut (das τέλος) erklärt werde (die peripate- 
tische Ansicht), liesse sich vielleicht die Gerechtigkeit’retten, indem sie im 
Vergleich mit der Lust als das höhere Gut betrachtet würde. Allein diess war 
wohl nur eine vorläufige und versuchsweise Einräumung, von der Chrysippus 
im Verfolge nachwies, dass sie in Wirklichkeit doch unzulässig sei, weil schon 
diese Behauptung sich mit dem wahren Begriff des Guten nicht vertrage und 
den specifischen Vorzug der Tugend von allem Andern (worüber 85. 197, 1 
z. vgl.) in einen blossen Gradunterschied verwandle. Mit mehr Recht tadelt es 
Pror. Sto. rep. 15, 6 f. an Chrysippus, dass er gegen Aristoteles behauptete, 
wenn man die Lust für das höchste Gut halte, werde zwar die Gerechtigkeit, 
nicht aber die übrigen Tugenden, unmöglich gemacht; denn gerade der Stoi- 
ker durfte die verschiedenen Tugenden am Wenigsten in dieser Art trennen. 
Der Eifer des Widerspruchs hat den Philosophen hier offenbar, wie so oft, 
weiter geführt, als er vor seinen eigenen Grundsätzen verantworten konnte, 

3) M. Avker, VI, 51: ὃ μὲν φιλόδοξος ἀλλοτρίαν ἐνέργειαν ἴδιον ἀγαθὸν ὑπο- 
λαμβάνει: ὃ δὲ φιλήδονος ἰδίαν πεῖσιν " ὁ δὲ νοῦν ἔχων ἰδίαν πρᾶξιν. Vgl. IX, 16: οὐχ 
ἐν πείσει, ἀλλ᾽ ἐνεργείᾳ, τὸ τοῦ λογιχοῦ πολιτικοῦ ζῴου χαχὸν χαὶ ἀγαθόν. 


re ee en.» 


Güter und Uebel: die Lust. 201 


verwandte Geist nach den Genüssen des Thiers strebe ἢ. Nicht 
einmal in dem Sinn darf die Lust Ziel unseres Strebens sein, dass 
zugleich in der Tugend die unerlässliche Bedingung der wahren 
Lust anerkannt wird. Sie ist diess allerdings ?): mit der sittlichen 
Handlungsweise ist immer eine eigenthümliche Befriedigung, eine 
unerschütterliche Heiterkeit und Gemüthsruhe, mit der unsittlichen 
eine innere Unseligkeit verbunden, und es kann insofern gesagt 
werden, nur der Weise kenne eine wahre und dauernde Freude °). 
Aber auch dieser Genuss der sittlichen Vortrefllichkeit darf nicht 
der Zweck, sondern nur eine natürliche Folge der tugendhaf- 
ten Thätigkeit sein, wenn nicht der selbständige Werth der Tu- 
gend nothleiden soll *). Noch weit weniger kann die Lust über- 
haupt als ein Theil des höchsten Guts der Tugend zur Seite gesetzt 
oder für unzertrennlich von der Tugend erklärt werden. Lust. 
und Tugend sind dem Wesen und der Art nach verschieden: die 
Lust kann unsittlich, das sittliche Handeln mit Beschwerden und 


1) Sen. ep. 92, 6—10. vita be. 5, 4. 9, 4. Posidonius b. Sex. ep. 92, 10. 

2) Sofern wir nämlich den Ausdruck in seiner gewöhnlichen Bedeutung 
nehmen; die Stoiker allerdings wollen diess, wo sie strenger sprechen, nicht 
erlauben. Da sie mit ἡδονὴ einen Affekt, also etwas Naturwidriges und Tadelns- 
werthes bezeichnen, sagen sie, der Weise empfinde Freude (χαρὰ, gaudium), 
aber nicht Lust (ἡδονὴ, Zäetitia, voluptas); vgl. Sex. ep. 59, 2. Dıoc. 116. Atex. 
Arne. Top. 96, u., wo auch die Definitionen von χαρὰ, ἡδονὴ, τέρψις, εὐφροσύνη. 

3) Sen. ep. 23, 2 fi. 27, 3. 59, 2. 14 ff. 72,8. vita be. 3,4. 4,4. De ira 
II, 6, 2. 

4) Dioc. 94: ein Gut sei die Tugend; ἐπιγεννήματα δὲ τήν τε χαρὰν χαὶ 
τὴν εὐφροσύνην χαὶ τὰ παραπλήσια. Sen. Benef. IV, 2,3: Es frage sich, utrum vir- 
tus summi boni causa sit, an ipsa summum bonum. Seneca kann natürlich nur 
das Letztere behaupten; vgl. De vita be. 4, 5: der Weise erfreue sich seiner 
Gemüthsruhe und Heiterkeit non ut bonis, sed ut ex bono suo ortis. Ebd. 9, 1: 
non, si voluptatem praestatura virtus est, ideo propter hane petitur ... voluptas 
non est merces nec causa virtutis, sed accessio, nec quia delectat placet, sed si pla- 
cet et delectat. Das höchste Gut bestehe nur in der geistigen Vollkommenheit 
und Gesundheit selbst, in ipso judieio et habitu optimae mentis, in der sanitas 
et libertas animi u. s. w., es werde nichts begehrt, als die Tugend: ipsa pretium 
sui. Ebd. 15, 2: ne gaudium quidem, quod ex virtute oritur, quamvis bonum sit, 
absohıti tamen boni pars est, non magis quam laetitia et tranquillitas ... sumt 
enim ista bona, sed consequentia sumnbum bonum, non consummantia. Fbenda- 
hin gehört der Satz b. Sro. II, 184. 188 (vgl. M. Auser VII, 74): πάντα τὸν 
ὁντινοῦν ὠφελοῦντα ἴσην ὠφέλειαν ἀπολαμβάνειν παρ᾽ αὐτὸ τοῦτο, aus dem 8, 195,3 
angeführten Grunde. 


202 Stoiker. 


Schmerzen verknüpft sein; die Lust findet sich bei den Schlech- 
testen, die Tugend nur bei den Guten; die Tugend ist erhaben, 
unermüdlich, unzerstörbar, die Lust niedrig, weichlich, vergäng- 
lich. Wer die Lust für ein Gut hält, der muss ihr dienen, wem 
die Tugend das Höchste ist, der wird sie beherrschen und im 
Zaum halten ἢ). Die Lust darf daher in keiner Beziehung in un- 
sere sittliche Zweckbestimmung mitaufgenommen werden: sie ist 
nicht Zweck, sondern Folge unserer Thätigkeit ?), nicht ein Gut, 
sondern etwas durchaus Gleichgültiges, und nur darüber sind die 
Stoiker nicht ganz einig, ob alle Lust naturwidrig sei 5), wie der 
Rigorist Kleanthes im Geist des Cynismus behauptete, oder ob es 
auch eine naturgemässe und wünschenswerthe Lust gebe *). Die 
Tugend ihrerseits bedarf keiner anderweitigen Zuthaten , sondern 
trägt alle Bedingungen der Glückseligkeit in sich selbst 57: wie 
die Strafe des Bösen, so liegt der Lohn der guten Handlung un- 
mittelbar in ihrer inneren Beschaffenheit, darin, dass jenes nalur- 
widrig, diese naturgemäss ist ©); und so unbedingt ist diese 


1) Sex. vita be. c, 7 f. 10—12. Vgl. M. Aue VI, 10. Zu den stoischen 
Gründen gegen die Gleichstellung von Lust und Schmerz mit Gut und Uebel 
gehört wohl auch der Schluss bei Kı.enexs Strom. IV, 483, C, weleher mit dem 
dritten von den $. 199, 1 angeführten Argumenten grosse Aehnlichkeit hat: 
wenn der Durst ein Schmerz, das Trinken eine Lust sei, so sei-jener die Ur- 
sache von dieser Lust; ἀγαθοῦ δὲ ποιητιχὸν τὸ κακὸν οὐχ ἂν γένοιτο u. 8. W. 

r DS r e - 

2) Dıoc. 85: ὃ δὲ λέγουσί τινες, πρὸς ἡδονὴν γίγνεσθαι τὴν πρώτην δρμὴν τοῖς 
ζῴοις, ψεῦδος ἀποφαίνουσιν. ἐπιγέννημα γάρ φασιν, εἰ ἄρα ἐσὴν, ἡδονὴν εἶναι, ὅταν 
αὐτὴ χαθ᾽ αὑτὴν ἣ φύσις ἐπιζητή x ἐναρμόζ τὴ os ἀπολάβη. Vgl 

ἢ κα ἣν ἣ φύσις ἐπιζητήσασα τὰ ἐναρμόζοντα τῇ συστάσει ἀπολάβη. Val. 
5.201, 4. 

3) Die Lust im weiteren Sinn nämlich; in der engeren Bedeutung, wor- 
nach unter ndovn ein bestimmter Aflfekt zu verstehen ist, verwerfen sie,+wie 
wir finden werden, die Lust unbedingt. Vgl. S. 201, 2. 

4) Srxr. Math. XI, 73: τὴν ἡδονὴν ὃ μὲν ’Erizougog ἀγαθὸν εἶναί φησιν" ὁ δὲ 

? x r κὰλλ ὯΝ Ὁ , [73 ” z ent 5» x - - ‚ar 

εἰπὼν «»μανείην μᾷλλον ἢ ἡσθείην'“ (Antisthenes) κακόν" οἱ ὃὲ ἀπὸ τῆς στοᾶς adız- 
φορον χαὶ οὐ προηγμένον. ἀλλὰ Κλεάνθης μὲν μήτε κατὰ φύσιν αὐτὴν εἶναι μήτε ἀξίαν 
ἔχειν αὐτὴν ἐν τῷ βίῳ, καθάπερ δὲ τὸ χάλλυντρον χατὰ φύσιν μὴ εἶναι" ὃ δὲ ᾿Αρχέ 
Y. ἢ τῷ βίῳ, καθάπερ δὲ τὸ κάλλυντρον χατὰ φύσιν μὴ εἶναι" ὁ δὲ ᾿Αρχέ- 
δημος χατὰ φύσιν μὲν εἶναι ὡς τὰς ἐν μασχάλῃ τρίχας, οὐχὶ δὲ καὶ ἀξίαν ἔχειν. Παναί- 
τιος δὲ τινὰ μὲν κατὰ φύσιν ὑπάρχειν τινὰ δὲ παρὰ φύσιν. 

5) Wesshalb sie auch als τέχνη εὐδαιμονίας ποιητιχὴ definirt wurde; Arex. 
Arnr. De an. 156, b, o. 9 

6) Ῥιοα, 89: τήν τ᾽ ἀρετὴν διάθεσιν εἶναι ὁμολογουμένην χαὶ αὐτὴν δι᾽ αὑτὴν 
εἶναι αἱρετὴν, οὐ διά τινα φόβον ἣ ἐλπίδα ἢ τι τῶν ἔξωθεν ἐν αὐτῇ τ᾽ εἶναι τὴν εὐ- 
δαιμονίαν, ἅτ᾽ οὔση [--ς] ψυχῇ [- ἧς] πεποιημένη [-ς] πρὸς ὁμολογίαν παντὸς τοῦ 


Güter und Uebel: die Lust. 203 


Autarkie der Tugend '), dass die Glückseligkeit, welche sie ge- 
währt, auch durch ihre eigene Dauer nicht vermehrt werden 
soll 2). Eben weil hier nur die vernünftige Selbstbestimmung als 
ein Gut anerkannt wird, weiss sich der Mensch in ihr schlechthin 
unabhängig von allem Aeusseren, schlechthin frei und in sich be- 
friedigt 9). 

βίου. Sex. De element. I, 1, 1: guamvis enim recte factorum verus Fructus sit 
Ffetisse, nec ullum virtutum pretium dignum ülis extra ipsas sit. Dasselbe ep. 
81, 19. ep. 94, 19: aequitatem per se expetendam nec melu nos ad illam σοφὲ nec 
mercede conduei. non esse justum, eui quieguam in hac virtute placet praeter 
ipsam. Ders. ep. 87, 24: maxzimym scelerum supplieium in ipsis est. Benef. IV, 
12: quid reddat benefieium? die tu mihi, quwid reddat justitia u. 3. w. si grieguam 
praeier ipsas, ipsas non expetis. M. Au. IX, 42: τί γὰρ πλέον θέλεις εὖ ποιήσας 
ἄνθρωπον: οὐχ ἀρχῇ τούτῳ, ὅτι: κατὰ φύσιν τὴν σήν τι ἔπραξας, ἀλλὰ τούτου μισθὸν 
ζητεῖς; Wenn der Mensch Gutes thut, πεποίηχε πρὸς ὃ χατεσχεύασται καὶ ἔχει τὸ 
ἑαυτοῦ. Ders. VII, 19. VIII, 2. Vgl. S. 195, 3. 201. 4. 

1) Der bekannte Satz: αὐτάρχη εἶνα! τὴν ἀρετὴν πρὸς εὐδαιμονίαν Ὠιοῦ. 
VII, 127. Cıc. Parad. 2 u. A. Vgl, Sen. ep. 74, 1: qui omne bonum honesto 
eircumseripsit intra ® felix est u.s. w. Selbst von einzelnen Tugenden wird, 
vermöge des Satzes vom Zusammenhang aller Tugenden (s. u.), diese Autarkie 
ausgesagt; so von der prudentia (φούνησις) mittelst des Schlusses, den Sex. 
ep. 85, 2 berichtet: Qui prudens est, et temperans est. qui temperans, est et 
constans. qui constans est, inperturbatus est. qui inperturbatus est, sine tristitia 
est. qui sine tristitia est, beatus est: ergo prudens beatus est, et prudentia ad 
beatam witam satis est. Aehnlich (ebd. s. 24) in Betreff der Tapferkeit. Für die 
Gegner bildete natürlich diese Autarkie der Tugend einen Hauptangriffspunkt. 
Ausführlich bestreitet sie z. B. Arex. Arur. De an. 156, u. ff., welcher ihr 
namentlich entgegenhält, dass weder die Dinge, welche die Stoiker selbst für 
naturgemäss und wünschenswerth erklären (die προηγμένα 8. u.), noch auch 
audererseits die natürlichen Bedingungen der tugendhaften Thätigkeit für die 
Glückseligkeit gleichgültig sein können, und dass es nicht angebe, (die lctztern 
mit den Stoikern 'blos als negative Bedingungen (ὧν οὐχ ἄνευ) derselben gelten 
lassen zu wollen. Weiter s. m. Pıvr. c. not. 4f. 11, 1 u.a. St. 

2) Prur. Sto. rep. 26. e. not. 8, 4 (wo Chrysipp der Widerspruch vorge- 
rückt wird, dass er bald eine Vermehrung der Glückseligkeit durch die Zeit- 
dauer läugne, bald eine blos momentane Weisheit und Glückseligkeit für 
werthlos erkläre). Cıc. Fin. II, 14, 45 f. Sex. ep. 74, 27. 93,6. Benef. V, 
17,6. M. Auser XII, 35. Die Stoiker stellen sich hiemit namentlich Aristo- 
teles entgegen; vgl. Bd. II, b, 475. 

3) Dieser Gedanke wird besonders von den Stoikern der römischen 
Periode, Seneca, Epiktet und M. Aurel vielfach ausgesprochen. Da ich aber 
auf diese Männer später ausführlicher zurückkommen werde, enthalte ich 


mich bier der näheren Nachweisungen. 
\ 


204 ΐ Stoiker. 


Dieses Glück des Tugendhaften wird aber hier — und es ist 
diess ein für den Stoicismus sehr bezeichnender Zug — weit mehr 
in dem Negativen der Unabhängigkeit und Gemüthsruhe, als in 
dem Positiven des Genusses gefunden, den die sittliche Thätigkeit 
mit sich bringt. In der Unruhe des Gemüths, sagt CıcEro, wo er 
als Stoiker spricht, besteht die Unseligkeit, in ihrer Beschwichti- 
gung die Glückseligkeit. Was kann dem zum Glücke fehlen, 
fragt er, den seine Tapferkeit vor Kummer und Furcht, seine 
Selbstbeherrschung vor leidenschaftlicher Lust und Begierde be- 
wahrt? 7) Wie sollte der nicht schlechthin glücklich sein, der in 
keiner Beziehung vom Glück, sondern einzig und allein von sich 
selbst abhängt? *) Von Unruhe frei zu sein, erklärt SEeneEcA, ist 
der eigenthümliche Vorzug des Weisen °); das ist der Gewinn, 
den wir von der Philosophie haben, dass wir ohne Furcht leben, 
dass wir die Uebel des Lebens überwinden %). Lauter aber, als 
durch alle einzelne Erklärungen, wird diese überwiegend nega- 
tive Auffassung der sittlichen Ziele durch den ganzen Charakter 
der stoischen Ethik bezeugt, und schon die Eine Lehre von der 
Apathie des Weisen legt es deutlich an den Tag, dass es eben die 
Freiheit von Störungen, die unbedingte Sicherheit und Selbstge- 
wissheit des Tugendhaften ist, welche für unsere Philosophen den 
höchsten Werth hat. 

Sofern nun das Gute in der allgemeinen Weltordnung be- 
gründet ist, welcher der Einzelne sich zu unterwerfen hat, tritt 
es dem Menschen als Gesetz gegenüber; weil aber dieses Gesetz 
das Gesetz seiner eigenen Natur ist, so ist das Gute der natür- 
liche Gegenstand seines Begehrens, es entspricht seinem natür- 
lichen Triebe. Der erstere Gesichtspunkt, welcher der Moral- 
philosophie freilich nie fremd war, ist doch von den Stoikern mit 


1) Tusc. V, 15, 43. 14, 42. 

2) Parad. 2. 

3) De constant. 13, 5; vgl. 75, 18: ewspectant nos, si ex hac aliquando 
fuece in illud evadimus sublime et excelsum, tranquillitas animi et expulsis erro- 
ribus absoluta libertas. quaeris, quae sit ista? non homines timere nom Deos. 
nee turpia velle nec nimia. in se ipsum habere maxımam potestatem: inaestima- 
hile bonum est, suum fieri. Aehnliches häufig. 

4) Vgl. vor. Anm. und ep. 29, 12: quid ergo ... philosophia praestabit? 
seilicet ut malis tibi placere, quam populo, ... ut sine metu Deorum hominumque 
vivas, ut aut vincas mala aut finias. 


Die Glückseligkeit. Das Gesetz. 205 


besonderer Vorliebe verfolgt worden !), und diese Betrachtung des 
Sittlichen bildet einen von den Punkten, an denen sich der Stoi- 
eismus in der Folge theils mit der römischen Rechtswissenschaft, 
theils mit der jüdisch - christlichen Sittenlehre berührte. Wie die 
weltordnende Vernunft von der stoischen Schule als das gemein- 
same Gesetz aller Wesen aufgefasst wird ?), so sieht sie auch in 
den sittlichen Anforderungen der Vernunft das gebietende und 
verbietende Gesetz der Gottheit 5). Indem dieses göttliche Gesetz 
vom Menschen erkannt und anerkannt wird, entsteht das mensch- 
liche %). Das Rechts- und Sittengesetz ist mithin ein Gebot, das 
für jedes Vernunftwesen als solches unbedingt gilt°). Der Mensch 
kann sich nicht als vernünftig fühlen, ohne sich zugleich sittlich 
verpflichtet zu fühlen °%). Ebendesshalb ist aber die Erfüllung die- 


1) Vgl. Krische Forschungen 368 fl. 475 f. 

2) Vgl. 8. 127. 

3) Der νόμος ist nach stoischer Definition (b. Sros. ΕΚ]. Il, 190. 204. 
Floril. 44, 12 und in dem Fragment des Chrysippus, welches Marcıas in Di- 
gest. I, 3,2 und der Scholiast des Hermogenes bei SrEnGEL Zuvay. τεχν. 177. 
Krısche Forsch. 475 mittheilt) der λόγος ὀρθὸς προςταχτιχὸς μὲν τῶν ποιητέων, 
ἀπαγορευτιχὸς δὲ τῶν οὐ ποιητέων, und er ist ebendesshalb ein σπουδαΐον oder 
ἀστεῖον, etwas sittlich Werthvolles und den Menschen Verpflichtendes. Die 
letzte Quelle dieses λόγος kann aber selbstverständlich nur in dem λόγος 
χοινὸς, der göttlichen oder Weltvernunft, liegen: das allgemeine Gesetz ist 
nach Dıos. VII, 88 (welcher hier, nach dem S. 127 aus Cıc.N.D. I, 15, 40 
Angeführten, zunächst Chrysippus zu folgen scheint) ὃ ὀρθὸς λόγος διὰ πάντων 
ἐρχόμενος, ὃ αὐτὸς ὧν τῷ A, es ist die ratio summa insita in natura, quae 
jubet ea, quae jacienda sunt, prohibetque contraria (Cıc. Legg. 1, 6, 18; vgl. 
was 5, 128 über Zeno aus N. D. I, 14, 36 angeführt ist), oder wie es bei Ciıc. 
Legg. II, 4, 8. 10 heisst: es ist nichts von Menschen Gemachtes, sed aeternum 
quiddam , quod, universum mundum regeret imperandi prohibendique sapientia, 
die mens omnia ratione aut cogentis aut vetantis Dei, die ratio recta summi 
Jovis (ähnlich Fin. IV, 5, 11; in dem Bruchstück bei Lacranr. Instit. VI, 8 u. 
ö.), und es ist ebendesshalb, wie Chrysipp a. a. Ὁ, nach Pindar (b. Pı.aro 
Gorg. 484, B) sagt, πάντων βασιλεὺς θείων τε χοὺ ἀνθρωπίνων πραγμάτων. 

. 4) Cıc. Leg. I, 6, 18. II, 4, 8. 5, 11. 

5) Oder wie diess auch ausgedrückt wird (Sro». II, 184): das δίχαιον ist 
φύσει καὶ μὴ θέσει. 

6) Wie diess bei Cie. Legg. 1, 12, 33 in dem Sorites bewiesen wird, dem 
man seinen stoischen Ursprung sofort ansicht: quibus ratio a natura data est, 
üisdem etiam recta ratio data est: ergo et lex, quae est recta ratio in jubendo et 
vetando: siler, jus quoque. At omnibus ratio. jus igitur datum est omnibus, 


206 Stoiker. 


ses Gesetzes eine Forderung, welche dem Menschen nicht blos 
von aussenher, sondern durch seine eigene Natur gestellt wird. 
Das Gute ist für ihn das Erstrebenswerthe, der natürliche Gegen- 
stand seines Wollens, ebenso umgekehrt das Schlechte das, wo- 
von sein Wille sich abwendet 17: jenes ruft sein Streben (ὁρμιὴ). 
dieses sein Widerstreben (ἀφορμιὴ}) hervor 5), und wie die sittliche 


Auf diesem Begriff des Gesetzes beruht, wie wir finden werden, die stoische 
Bestimmung des χατόρθωμα als εὐνόμημα,, des ἁμάρτημα als ἀνόμημα. 

1) Das Gute allein oder die Tugend ist ein aloerov, das Schlechte ein 
φευχτόν (8. ο. 195, 1. 202,6 und Sror. Ekl. II, 202.). Ein αἱρετὸν ist aber 
(ebd. 126. 132), ὃ αἵρεσιν εὔλογον κινεῖ, oder genauer τὸ ὁρμῆς αὐτοτελοῦς χινη- 
tızov, und das αἵοετὸν wird insofern von dem ληπτὸν unterschieden: ein αἷρε- 
τὸν ist nur das sittlich Gute, ein ληπτὸν alles, was einen Werth hat, also auch 
äussere Güter. Weiter unterschieden die Stoiker, nach Sror. II, 140. 194, 
mit unnützer Subtilität zwischen dem αἱρετὸν und αἱρετέον (und ebenso zwi- 
schen dem ὀρεχτὸν und ὀρεχτέον, ὑπομενετὸν und ὑπομενετέον u. 5. W.), indem 
sie jene Ferm für das Gute als solches (z. B. die φρόνησις), diese für den Be- 
sitz des Guten (z. B. das φρονεῖν) gebrauchten. 

2) Die ὁρμὴ wird bei Sros. II, 160 f. definirt: φορὰ ψυχῆς ἐπί τι, die 
ἀφορμὴ (welche auch bei Erıxrer Enchir. 2, 2. Diss. ΠῚ, 2, 2. 22, 36 u. ὃ. der 
ὁρμὴ entgegengestellt wird) nach der wahrscheinlichsten Ergänzung des 
Textes: φορὰ διανοίας ἀπό τινος. Vgl. S. 207,3. Weiter wird hier (um an 
diesem Ort anzuknüpfen, was sich den Mittheilungen des Stobäus über die 
stoische Lelire von den Trieben sonst noch entnehmen lässt) zunächst zwischen 
den Trichen der vernunftlosen und denen der vernunftbegabten Wesen unter- 
schieden. Nur auf die Vermunftwesen wird es sich beziehen, wenn gesagt 
wird, der Trieb werde durch die Vorstellung dessen, was zu thun sei, (die 
φαντασία δρμητιχὴ τοῦ χαθήχοντος) hervorgerufen, und wenn weiter bemerkt ist: 
jeder Trieb schliesse ein zustimmendes Urtheil (συγχατάθεσις) in sich, aber zu 
demselben komme hier noch das χινητιχὸν hinzu; die συγχατάθεσις gehe auf 
gewisse Sätze (in denen allein Wahrbeit und Unwahrheit ihren Sitz haben; 
s. 0. 93, 5. 70, 2), die δρμὴ (wie auch II, 196 — vgl. vor. Anm. Schl, — aus- 
geführt ist) auf χατηγορήματα (d.h. Thätigkeiten; χατηγόρημα bezeichnet das 
Zeitwort, das eine Thätigkeit ausdrückt, s. o. 80, 1. 2), sofern jeder Trieb 
und jedes Verlangen auf das Haben des Guten gerichtet ist, Die ὁρμὴ λογιχὴ 
wird als φορὰ διανοίας ἐπί τι τῶν ἐν τῷ πράττειν definirt, und auch ὁρμὴ πραχτιχὴ 


genannt (weil nur das Vernunftwesen einer πρᾶξις fühig ist); bezieht sich die 
φορὰ διανοίας auf ein Zukünftiges, so wird die δὁρμὴ zur ὄρεξις (wofür unser 
Text zweimal ὄρουσις hat). Von den mancherlei Arten der δρμὴ πραχτιχὴ nennt 
Stob. die πρόθεσις, ἐπιβολὴ, παρασχευὴ, ἐγχείρησις, αἵρεσις, πρόθεσις, βούλησις, 
θέλησις, deren Definitionen er anführt, und wendet sich dann zu der Lehre 
von den Affekten, da auch sie eine Art der ὁρμὴ seien. Unter dem Begriff der 
ὁρμὴ werden demnach bier Gefühls- und Willensthätigkeiten zusammenge- 


Die Triebe 207 


Anforderung ursprünglich aus dem -Naturtrieb des vernünftigen 
Wesens hervorgieng, so ist sie auch das Ziel, auf welches sein 
Streben sich naturgemäss richtet ἢ. ° 

So natürlich diess aber für das Vernunftwesen auch sein 
mag, so ist doch der Mensch nicht blos Vernunftwesen ?); es sind 
daher in ihm neben den vernünftigen auch vernunftlose Triebe ὅ); 
er ist nicht von Hayse aus tugendhaft, sondern er wird es erst 
durch Ueberwindung der Affekte. Der Affekt oder die Leiden- 
schaft 4) ist die vernunft- und naturwidrige Gemüthsbewegung, 


fasst, wie sich diess uns auch durch die Lehre von den Affekten, deren Begrifl 
gleichfalls Beides umfasst, noch weiter bestätigen wird. 

1) Sros. II, 116 (und ähnlich 108): πάντας γὰρ ἀνθρώπους ἀφορμὰς ἔχειν 
ἐχ φύσεως πρὸς ἀρετὴν χαὶ olovaı τὸ []. τὸν] τῶν ἡμιαμβειαίων λόγον ἔχειν κατὰ τὸν 
Κλεάνθην, ὅθεν ἀτελεῖς μὲν ὄντας εἶναι φαύλους, τελειωθέντας δὲ σπουδαίους. Dios. 
89 (8. ο. 202, 6): die Seele ist auf die Uebereinstimmung des Lebens mit sich 
selbst (die Tugend) angelegt; nur anderweitige Einflüsse verderben sie, ἐπεὶ 
ἣ φύσις ἀφορμὰς δίδωσιν ἀδιαστρόφους. SEX. ep. 108, 8: facile est auditorem con- 
eitare ad cupiditatem recti. ommibus enim natura fundamenta dedit semenque 
virtutum. Vgl. auch Anm. ὃ. 

2) Eben diess unterscheidet ihn nach der Darstellung bei Cıc. N. De. U, 
12, 34 von der Gottheit, dass diese schlechthin vernünftig, von Natur gut 
und weise ist. 

3) Chrysipp b. Gaues De Hippoer. et Plat. IV, 2 (Bd. V, 368 Kühn): τὸ 
λογιχὸν ζῷον ἀχολουθητιχὸν φύσει ἐστὶ τῷ λόγῳ χαὶ χατὰ τὸν λόγον ὡς ἂν 
ἡγεμόνα πραχτικόν- πολλάχις μέντοι χαὶ ἄλλως φέρεται ἐπί τινα καὶ ἀπό τινων 
(so ist nämlich zu interpungiren; es geht auf die δρμὴλ und ἀφορμὴ, nach der 
S. 206, 2 angeführten Definition) ἀπειθῶς τῷ λόγῳ ὠθούμενον ἐπὶ πλεῖον u. 8: W. 
Hieraus ergiebt sich, dass wir auch die chrysippische Definition der ὁρμὴ 
(Ὁ. Pıur. Sto. rep. 11, 6): τοῦ ἀνθρώπου λόγος προςταχτιχὸς αὐτῷ τοῦ ποιεῖν nicht 
(mit Baummauee Vet. philosoph. doctrina de morte voluntaria S. 74) so auf- 
fassen dürfen, als ob der Mensch nur vernünftige, nicht auch unvermünftige 
Triebe hätte; sondern entweder redet Chrysippus hier nur von dem Trieb, 
welcher dem Menschen eigenthümlich und für ihn naturgemäss ist, oder λόγος 
steht hier in der allgemeineren Bedeutung: Vorstellung, Gedanke. Alle 
Triebe beruhen ja (nach $. 206, 2) auf einem Urtheil. Dass die ögw nicht als 
solche vernunftgemäss ist, sondern diess erst durch die Richtung wird, welche 
ihr der Mensch giebt, erhellt auch aus Cic. Fin. III, 7, 23: wie die Glieder 
uns zu einer gewissen Art des Gebrauchs gegeben seien, so sei uns auch die 
δρμὴ nieht zu jeder beliebigen Verwendung, sondern nur für eine bestimmte 
Art des Lebens (das vernünftige Leben) gegeben. 

4) Um mit diesen Wörtern das griechische πάθος zu bezeichnen, für 
welches unser heutiger psychologischer Sprachgebrauch keinen ganz ent- 


208 Stoiker. 


der Trieb, welcher das rechte Maass überschreitet 1); der peripa- 
tetischen Annalıme von der Naturgemässheit gewisser Affekte 
wird von der Stoa durchaus widersprochen 5). Der Sitz der Af- 
fekte, wie aller Triebe und aller Seelenthätigkeit überhaupt °), 
ist die Vernunft des Menschen, das ἡγεμονικόν *). Der Affekt ist 
derjenige Zustand des ἡγεμονικὸν, in welchem dasselbe durch das 
Uebermaass eines Triebes zum Vernunftwidrigen fortgerissen 
wird, er beruht ebenso, wie andererseits die Tugend, auf einer 
mit ihm vorgehenden Veränderung, nicht auf der Wirkung einer 
eigenen, von ihm verschiedenen .Kraft °). Nur die Vorstellung 
kann es daher auch sein, welche ihn, wie den Trieb überhaupt ®), 
hervorruft: alle Affekte entspringen aus einem Fehler des Ur- 


5 


sprechenden Ausdruck bietet, wie denn schon Cicero (vgl. Fin. III, 10, 35) 
um einen solchen verlegen war. 

1) Dıioe. VII, 110: ἔστι δὲ αὐτὸ τὸ πάθος zarı Ζήνωνα ἣ ἄλογος χαὶ παρὰ 
φύσιν ψυχῆς χίνησις 7) δομὴ πλεονάζουσα. Dieselben Definitionen b. Sror. II, 36. 
166 (nur dass hier, wie auch bei Mark Auker. Π δ) statt ἄλογος steht: ἀπειθὴς 
τῷ αἱοοῦντι λόγῳ). Cıc. Tuse. III, 11, 24. IV, 6, 11. 21, 47, welche sie gleich- 
falls Zeno beilegen. Curvsırr. b. Gaurn de Hipp. et Plat. 1V, 2. 4. V, 2,4. 
(Bd. V, 368 f. 385. 432. 458 Kühn.) u. ö. vgl. Dens. b. Prvr. virt. mor. 10, 
Schl. 8. 450. Sex. ep. 75,12 u.A. Eine ähnliche Definition’ schreibt Sros 
II, 36 schon dem Aristoteles zu, aber in seinen uns erhaltenen Schriften findet 
sie sielı wenigstens genau so nicht, und es fragt sich, ob sie in einer ver- 
lorenen (HrerEx z.d. St. vermuthet, in dem Buch περὶ παθῶν δὄργῆς Dıoe. V, 23) 
stand, und ob diese ächt war. . 

2) Cıc. Acad. I, 10, 39: cumque eas perturbationes [πάθη] antiqui naturales 
esse dicerent et rationis erpertes aliaque in parte animi eupiditatem alia ratio- 
nem collocarent, ne his quidem assentiebatur [Zeno]. nam et perturbatiomes vo- 
luntarias esse putabat opinionisque judieio suscipi et omnium perturbationum 
arbitrabatur esse matrem immoderatam quandam intemperantiam. Fin. II, 10, 
35: nec vero perturbationes animorum .... vi aliqua nalurali moventur, Tuse. 
IV, 28, 60: ipsas perturbationes per se esse vitiosas, nec habere quidguam aut 
naturale aut necessarium. Vgl. vor. Anm. Weiteres später. y 

3) 8.0.8. 183, 4. 206, 2. 

4) Chrysippus b. Garrx a. a. Ὁ, II, 7, 8. 335. V, 1 (s.u.). V, 6. 8. 476 
und oben ὃ, 183, 4. 

5) Prur. virt. mor. 3, 8. 441 (der Anfang dieser Stelle wurde schon 
8. 183, 4 angeführt, das Weitere lautet:) λέγεσθαι δὲ [τὸ ἡγεμονικὸν] ἄλογον, 
Ὅταν τῷ πλεονάζοντι τῆς ὁρμῆς ἰσχυρῷ γενομένῳ χαὶ χρατήσαντι πρός τι τῶν ἀτόπων 
παρὰ τὸν αἱοοῦντα λόγον ἐχφέρηται" χαὶ γὰρ τὸ πάθος τι. 5. w. (5. ἃ. 209, 1). 

6) 8.8. 206, 2. 


Der Affekt. 209 


theils, aus einer falschen Meinung über Gut und Uebel, und sie 
werden insofern auch wohl geradezu als Urtheile oder Meinungen 
bezeichnet 1); der Geiz z. B. als eine falsche Meinung über den 
Werth des Geldes ?), die Furcht als eine falsche Meinung in Be- 
treff bevorstehender, die Bekümmerniss in Betreff gegenwärtiger 
Uebel 5). Doch ist die Meinung hiebei, wie schon aus der allge- 
meinen Ansicht der Stoiker über die Triebe %) hervorgeht, nicht 
die, als ob der Affekt selbst ein blos theoretisches Verhalten 
wäre, sondern die Wirkungen der falschen Vorstellung, die Ge- 
fühle und Willensbewegungen, welche sie hervorruft, werden in 
seinen Begriff ausdrücklich miteingeschlossen °); und dass diess, 


1) Dıoe. VII, 111: δοχεῖ δ᾽ αὐτοῖς τὰ πάθη χρίσεις εἶναι, καθά φησι Χρύσιππος 
ἐν τῷ περὶ παθῶν. Prur. virt. mor. c. ὃ, 8. 441: τὸ πάθος εἶναι λόγον πονηρὸν χαὶ 
ἀχόλαστον ἐχ φαύλης χαὶ διημαρτημένης κρίσεως σφοδρότητα χαὶ ῥώμην προςλαβόντα. 
Sros. II, 168: ἐπὶ πάντων δὲ τῶν τῆς ψυχῆς παθῶν ἐπὶ δόξας αὐτὰ λέγουσιν εἶναι: 
[wofür man vermuthen möchte: πάντων --- παθῶν δόξας αἰτίας λέγ. εἶν.] παρα- 
λαμβάνεσθα: [add. δὲ] τὴν δόξαν ἀνὴὴ τῆς ἀσθενοῦς ὑπολήψεως: vgl. Cıc. Tuse. IV, 
7, 14: sed omnes perturbationes judicio censent fieri et opinione ..... opinatio- 
nem autem volunt esse imbecillam assensionem. Ders. ebd. III, 11, 24: est ergo 
causa omnis in opinione, nec vero aegritudinis solum, sed etiam rekiquarum 
omnium perturbationum. Fin. III, 10, 35: perturbationes autem nulla naturae 
vi commoventur; omniaque ea sunt opiniones ac judicia levitatis. Acad. 1, 10 
(s. 0. 208, 2). Weiter s. m. Anm. 5 ff.). ö 

2) Dioe. a. a. Ο. 

3) Cıc. Tuse. III, 11, 25. IV, 7, 14. Posınox. bei Garen a. a. Θ. IV, 7. 
S. 416: Chrysippus definirt die Bekümmerniss (7): δόξα πρόςφατος χαχοῦ 
παρουσίας. ’ 

4) Oben 5. 206, 1. 

5) Cıc. Tusec. IV, 7, 15: sed quae judieia quasque opiniones perturbationum 
esse αἰαὶ, non in eis perturbationes solum positas esse dieunt, verum ila etiam, 
quae eficiuntur perturbationibus, ut aegritudo quasi morsum quendam doloris 
efficiat; metus recessum quendam animi et fugam; laetitia profusam hilaritatem ; 
libido effrenatam appetentiam. Gaues. Hippoer. et Plat. IV, 3. 8. 377: (Ζήνωνι 
καὶ πολλοῖς ἄλλοις τῶν Στωϊκῶν,) οἷ οὐ τὰς χρίσεις αὐτὰς τῆς ψυχῆς, ἀλλὰ καὶ (viel- 
leicht zu streiehen] τὰς ἐπὶ ταύταις ἀλόγους συστολὰς χαὶ ταπεινώσεις χαὶ δείξεις 
[sowohl für dieses δείξεις als für das λήξεις in der gleich anzuführenden plut- 
archischen Stelle schlägt Tauror Etudes sur Aristote $. 249 δέσεις vor; weit 
näher liegt aber δήξεις, was auch durch den morsus doloris bei Cicero bestätigt 
wird, dem eine ähnliche 'stoische Aeusserung, wie Galen und Plutarch, vor- 
zuschweben scheint] ἐπάρσεις τε χαὶ διαχύσεις ὑπολαμβάνουσιν εἶναι τὰ τῆς ψυχῆς. 
πάθη. Prur. virt. mor. 10, 8. 449 f.: τὰς ἐπιτάσεις τῶν παθῶν καὶ τὰς σφοδρότητας 
οὔ φασι γίνεσθαι κατὰ τὴν χρίσιν, ἐν ἢ τὸ ἀμαρτητιχὸν, ἀλλὰ τὰς λήξεις [δήξεις) καὶ 

Philos. d. Gr. III. Bd. 1. Abth. 14 


210 Stoiker. 


wie GALEn behauptet 1), nur von Zeno, nicht auch von Chrysippus 
geschehen sei, ist nicht glaublich ?). Die Stoiker stimmten daher 


τὰς συστολὰς χαὶ διαχύσεις εἶναι τὰς τὸ μᾶλλον χαὶ τὸ ἧττον τῷ ἀλόγῳ δεχομένας. 
Dasselbe liegt aber schon in den $. 208, 1 angeführten Definitionen des 
Affekts. Weiteres in den folgenden Anmm. und in dem, was über die De- 
finitionen der einzelnen Affekte beizubringen sein wird. Auf diese pathologi- 
sche Wirkung der Vorstellungen bezog es sich nach Stop. Ekl. I, 170 ἢ, 
(dessen lückenhafter Text nach der auf die gleiche Quelle zurückweisenden 
Darstellung Cıcero’s Tusc. IV, 7, 14 zu ergänzen ist), wenn gewisse Affekte 
als δόξα πρόςφατος, opinio recens boni (oder: mali) praesentis definirt wurden, 
wei! nämlich das πρόςφατον das χινητιχὸν συστολῆς ἀλόγου ἢ ἐπάρσεως sei. 

1) De Hippoecr. et Plat. V, 1. S. 429: Χρύσιππος μὲν οὖν ἐν τῷ πρώτῳ περὶ 
παθῶν ἀποδειχνύναι πειρᾶται, χρίσεις τινὰς εἶναι τοῦ λογιστιχοῦ τὰ πάθη, Ζήνων δ᾽ 
οὐ τὰς χρίσεις αὐτὰς, ἀλλὰ τὰς ἐπιγιγνομένας αὐταῖς συστολὰς χαὶ λύσεις, ἐπάρσεις 
τε χαὶ τὰς πτώσεις τῆς ψυχῆς ἐνόμιζεν εἶναι τὰ πάθη. Vgl. IV, 2. 5. 367. IV, 8. 
S. 377. 

2) Dass Chrysippus an der Stelle, auf welche Galen sich beruft, die 
Affekte für χρίσεις erklärt hatte, wird auch durch Dıoc. 111 (8. ο. 209, 1) und 
die 5. 209, 3 angeführte Definition bestätigt. Andererseits sagt aber GaLen 
selbst a. a. O. IV, 2. 5. 367, dass er die λύπη als μείωσις ἐπὶ φευχτῷ δοκχοῦντι, 
die ἡδονὴ als ἔπαρσις ἐφ᾽ αἱρετῷ δοχοῦντι ὑπάρχειν bezeichne, und IV, 6. S. 403 
hält er ihm vor, dass er selbst die Affekte von der ἀτονία und ἀσθένεια ψυχῆς 
herleite, was er sofort mit Stellen aus Chrysippus belegt. Dass ferner Chry- 
sippus mit den zenonischen Definitionen des Affekts einverstanden war, haben 
wir schon 5. 208, 1 gesehen; ebenso weist es auf ibn, wenn b. Sros. II, 166 
der Affekt durch πτοία (heftige Gemüthsbewegung) definirt wird; denn wie es 
hier heisst: πᾶσαν πτοίαν πάθος εἶναι χαὶ πάλιν πάθος πτοίαν, so sagt Chrysippus 
b. Gares a. ἃ. O.IV, 5. 8. 392: οἰχείως δὲ τῷ τῶν παθῶν γένει ἀποδίδοται χοὶ ἣ 
πτοία κατὰ To ἐνσεσοβημένον τοῦτο χαὶ φερόμενον εἰχῆ. Ja er hebt wiederholt und 
bestimmt den Unterschied zwischen Affekt und Irrthum hervor, dass dieser 
in mangelnder Erkenntniss bestehe, jener in einem Widerstreben gegen die 
Aussprüche der Vernunft, einer Störung des natürlichen Verhältnisses der 
Triebe (τὴν φυσιχὴν τῶν δρμῶν συμμετρίαν ὑπερβαίνειν), und er zeigt, dass die 
beiden zenonischen Definitionen hierauf zurückzuführen seien (Ὁ. GaLEN 
ἃ. ἃ. Ο. IV,2. 8. 368 f. IV, 4. S. 385; ebenso Sror. II, 170); und anderswo 
(Ὁ. Pror. virt. mor. 10, S. 450) führt er aus, wie der Affekt die Besinnung 
raube und zu vernunftwidrigem Thun fortreisse. Auch was S. 209, 5 aus 
Cicero und Stobäus angeführt wurde, ist eine Erläuterung chrysippischer 
Bestimmungen, deren Quelle Chrysippus selbst sein wird; wäre er es aber 
auch nicht unmittelbar, so sagt uns doch Gauex selbst a. a. O. IV, 4. 5. 390, 
seine Lehre über die Affekte sei in der stoischen Schule nach ihm allgemein 
anerkannt gewesen. Wenn daher Chrysippus die Affekte als χρίσεις bezeich- 
nete, so kann er nicht die Absicht gehabt haben, die Erregung des Triebs 


Der Affekt. 211 


auch dem sokratischen Satze, dass Niemand freiwillig fehle, trotz 
ihres Determinismus ursprünglich nicht bei '), wenn ihn auch 
jüngere Mitglieder der Schule zur Entschuldigung menschlicher 
Fehler benützen ?), denn mit der Freiwilligkeit der Affekte fürch- 
teten sie auch ihre sittliche Unzulässigkeit und die Möglichkeit 
ihrer Ueberwindung aufgewc.: zu müssen °); wie vielmehr alles, 
was aus unserem Willen und Trieb hervorgeht, von ihnen für ein 
Freiwilliges erklärt wird *), so sollen auch die Affekte in unserer 
Gewalt sein, und wie bei allen unseren Ueberzeugungen °), soll 
es auch bei denen, aus welchen die Affekte entspringen, auf uns 
ankommen, ob wir ihnen zustimmen oder nicht ὅ). Ebensowenig 
geben sie zu, dass zur Ueberwindung der Affekte nichts weiter 
nöthig sei, als Belehrung, denn alle Affekte beruhen, wie sie sa- 


und Gefühls dadurch auszuschliessen, sondern was er mit dieser Bezeichnung 
ausdrücken wollte, ist nur dieses, dass die Affekte als Vorgänge in dem Einen 
Seelenwesen (wir würden sagen: als Zustände des Bewusstseins) durch Vor- 
stellungen hervorgerufen werden. Diess erhellt deutlich daraus, dass such 
die Erscheinungen, in welchen sich gerade der pathologische Charakter der 
Affekte äussert, von ihm zum Beweis seines Satzes gebraucht werden. Vgl. 
seine Worte bei Garen a. a. O. IV,.6. 409: τῷ [l. τό] τε γὰρ θυμῷ φέρεσθαι χαὶ 
ἐξεστηχέναι χαὶ οὐ παρ᾽ ἑαυτοῖς οὐδ᾽ ἐν ἑαυτοῖς εἶναι nal πάνθ᾽ ὅσα τοιαῦτα φανερῶς 
papTupei τῷ χρίσεις εἶναι τὰ πάθη χἀν τῇ λογιχῇ δυνάμει τῆς ψυχῆς συνίστασθαι χκα- 
θάπερ χαὶ τὰ οὕτως ἔχοντα. Anderntheils hatte aber auch Zeno den Antheil der 
Vorstellungen an den Affekten nicht geläugnet, wie diess aus den S. 210, 1. 
209, 5 abgedruckten Aeusserungen Garen’s deutlich hervorgeht. 

1) ὅτοβ. ΕΚ]. II, 190 (Floril. 46, 50): der Weise übt nach stoischer Lehre 
keine Nachsicht, denn diess würde voraussetzen, τὸν ἡμαρτηχότα μὴ παρ᾽ αὑτὸν 
ἡμαρτηχέναι, πάντων ἁμαρτανόντων παρὰ τὴν ἰδίαν χαχίαν. 

2) ΕΡΙΕΤΕΤ Diss. I, 18, 1—7. 28, 1—10. I, 26. Μ, Auser II, 1. IV, 8. 
VI, 14. XI, 18. XII, 12. 

3) Dieses Motiv erhellt namentlich aus den 8. 208, 2 angeführten eicero- 
nischen Stellen und aus Sen. De ira II, 2, 1: der Zorn vermöge (nach e. 1) 
nichts für sich, sondern nur animo adprobante ... nam si invitis nobis nascitur, 
numquam rationi succumbet. ommes enim motus qui non voluntate nostra fiunt 
invicti et inevitabiles sunt u. 5. w. 

4) 8. ο. 152, 4.5. 

5) 8.8.74, 1. f 

6) Cıc. Acad. I, 10, 39: perturbationes voluntarias esse. Tusc. IV, 7, 14: 
die Affekte stammen aus dem Urtheil. itague eas definiunt pressius, ut intelli- 
gatur non modo quam vitiosae, sed etiam quam in nostra sint potestate; worauf 
die S. 209, 5 berührten Begriffsbestimmungen folgen. 


14 * 


212 Stoiker. 


gen, auf dem Mangel an Selbstbeherrschung !) und sie unter- 
scheiden sich gerade dadurch von blossen Irrthümern, dass sie 
sich gegen die richtigere Einsicht behaupten und ihr widerstre- 
ben ?). Wie aber freilich in der Vernunft ungeordnete und ver- 
nunftwidrige Triebe entstehen können, diess zu erklären, haben 
die Stoiker, so viel uns bekannt ist, keinen ernstlichen Versuch 
gemacht. ΐ 

‚ Da die Affekte durch Vorstellungen hervorgerufen werden, 
so wird auch die nähere Beschaffenheit derselben durch die Vor- 
stellungen bedingt sein, von denen sie ausgehen. Nun beziehen 
sich alle unsere Triebe auf Güter und Uebel, sie bestehen in dem 
Streben nach dem, was uns als ein Gut, dem Widerstreben gegen 
das, was uns als ein Uebel erscheint °). Diese Güter und Uebel 
sind aber theils gegenwärtige, theils zukünftige. Hieraus ergeben 
sich vier Hauptklassen falscher Vorstellungen, und ihnen enl- 
sprechend vier Gattungen der Affekte. Aus der unvernünftigen 
Meinung über Güter entspringt, wenn sie auf gegenwärtige geht, 
die Lust, wenn auf künftige, die Begierde; die unrichtige Vor- 
stellung nn Uebel erzeugt Bekümmerniss, die zukünf- 
tiger Furcht %). Schon Zeno hatte diese vier Hauptarten der 
Affekte unterschieden °), die gleiche Eintheilung finden wir bei 


1) Cıc. Tuse. IV, 9, 22: omnium autem afjeclionum fontem esse dieunt in- 
temperantiam (ἀκράτεια), quae est a tota mente et a recta ratione defectio sic 
aversa a praescriptione rationis, ut nullo modo adpetitiones animi nec regi nee 
contineri queant. 

2) Stop. Ekl. II, 170 (wohl nach Chrysippus, von dem 5, 210, 2 Ver- 
wandtes anzuführen war): πᾶν γὰρ πάθος βιαστιχόν ἐστιν, ὡς nal πολλάχις δρῶντας 
τοὺς ἐν τοῖς πάθεσιν ὄντας ὅτι συμφέρει τόδε οὐ ποιεῖν, ὑπὸ τῆς σφοδρότητος ἐχφερο- 
μένους... ἀνάγεσθαι πρὸς τὸ ποιέῖν αὐτό .... πάντες δ᾽ οἱ ἐν τοῖς πάθεδιν ὄντες 
ἀποστρέφονται τὸν λόγον, οὐ παραπλησίως δὲ τοῖς ἐξηπατημένοις ἐν ὁτωοῦν, ἀλλ᾽ 
ἰδιαζόντως. ol μὲν γὰρ ἠπατημένοι... διδαχθέντες .. ἀφίστανται τῆς χρίσεως" ol 
δ᾽ ἐν τοῖς πάθεσιν ὄντες, χἂν μάθε χὰἂν μεταδιδαχθῶσιν, ὅτι οὐ δεῖ λυπεῖσθαι ἢ 
φοβείσθαι ἢ ὅλως ἐν τοῖς πάθεσιν εἶναι τῆς ψυχῆς, ὅμως οὐχ ἀφίστανται τούτων ἀλλ᾽ 
ἄγονται ὑπὸ τῶν παθῶν εἰς τὸ ὑπὸ τούτων χρατεῖσθαι τυραννίδος. Anders auch hier 
en welcher Diss. I, 28, 8 aus Anlass der Medea meint: TRIER δείξον 
αὐτῇ ἐναργῶς, ὅτι ἐξηπάτηται, χαὶ οὐ ποιήσ 

8) S.0.206,2. Das Gleiche drückt die Bezeichnung der Güter und Uebel 
als αἱρετὸν und φευχτὸν (Stop. II, 126. 142, s. o. 195, 1. 197, 3) aus. 

4) Stos. II, 166 f. Cıc. Tuse. III, 11. IV, 7, 14 f. 15, 43. Fin. Ill, 10, 35. 

5) Sie fand sich nach Dioc, 110 in der Schrift περὶ παθῶν. 


Die Affekte ὁ 213 


seinem Schüler Aristo !) und seitdem ganz allgemein. Dagegen 
tritt in der Definition der einzelnen Affekte das früher bespro- 
chene Schwanken hervor, dass ihr Wesen von den Einen (zu- 
nächst Chrysippus) mehr in der Vorstellung gesucht wird, von 
der sie ausgehen, von den Andern in dem Gemüthszustand, den 
diese Vorstellung hervorruft ?). Die vier Hauptklassen der Affekte 
wurden dann weiter in zahlreiche Unterarten getheilt, bei deren 
Aufzählung sich aber unsere Philosophen mehr von dem Sprach- 
gebrauch, als von psychologischen Erwägungen leiten lassen °). 


1) Bei Kremens Strom. II, 407, A in den Worten: πρὸς ὅλον τὸ τετράχορ- 
δον, ἧδονὴν, λύπην, φόβον, ἐπιθυμίαν, πολλῆς δεῖ τῆς ἀσχήσεως καὶ μάχης. 

2) Auf Chrysippus werden die Definitionen der λύπη oder ἄση (Cicero: 
aegritudo): .. δόξα πρόςφατος χαχοῦ nagousiag‘ (ausführlicher Cıc. Tuse. IV, 7, 
14: opinio recens mali praesentis, in quo demitti contrahique animo rectum esse 
videatur) und der φιλαργυρία: ,, ὑπόληψις τοῦ τὸ ἀργύριον χαλὸν εἶναι“ (5. ο. 209, 
2. 8) ausdrücklich zurückgeführt; ähnlich, bemerkt Dios. 110, sei die μέθη, 
die ἀχολασία und die übrigen Leidenschaften definirt worden. Ihm gehören 
hiernach, und nach dem früher Bemerkten, auch die Tuse. IV, 7, 14. III, 
11,25 angeführten Definitionen der ἡδονὴ (laetitia, voluptas gestiens): opinio 
recens boni praesentis, in quo efferri reetum esse videatur,; der Furcht: opinio 
impendentis mali, quod intolerabile esse videatur (womit die προςδοχία χαχοῦ 
b. Dıos. 112 zusammenfällt); der Begierde (eupiditas, libido, ἐπιθυμία): opinio 
venturi boni, quod sit ex usu jam praesens esse atque adesse. Häufiger ist jedoch 
die Angabe (Dioe. 111 ff. ὅτοβ. 172 ἢ. Cıc. Tuse. III, 11), die λύπη werde 
als συστολὴ ψυχῆς ἀπειθὴς λόγῳ (kürzer: συστολὴ ἄλογος) bezeichnet, der φόβος 
als ἔχχλισις ἀπειθὴς λόγῳ, die ἥδονὴ (auch nach Arzx. Arar. Top. 96, u.) als 
ἄλογος ἔπαρσις ἐφ᾽ αἱρετῷ δοχοῦντι ὑπάρχειν (wovon bei Cıc. a. a. Ὁ, und Fin. II, 
4, 13 zwei verschiedene Uebersetzungen), die ἐπιθυμία als ὄρεξις ἀπειθὴς λόγῳ, 
immoderata appetitio opinati magni boni. Diese letzteren Definitionen scheinen 
schon Zeno anzugehören; wahrscheinlich hatte sie aber auch Chrysippus sich 
angeeignet, und jene Zusätze, welche wir bei Stobäus finden, über die jeden 
Affekt erzeugende Vorstellung, beigefügt. 

3) Näheres darüber theilen Dioe. VII, 111 ff. ὅτοβ. Il, 174 ff. mit. Unter 
die λύπη stellen Beide die Unterarten: ἔλεος, φθόνος, ζῆλος, ζηλοτυπία, 
ἄχθος, ἀνία, ὀδύνη, denen Diog. nöch die ἐνόχλησις und σύγχυσις, Stob. πένθος, 
ἄχος, ἄση beifügt; unter den φόβος Beide: δεῖμα, ὄχνος, αἰσχύνη, ἔχπληξις 
θόρυβος, ἀγωνία, Stob. noch δέος und δεισιδαιμονία: unter die ἥ δον ἡ Diog. die 
χήλησις, ἐπιχαιρεχαχία, τέρψις, διάχυσις, Stop. die ἐπιχαιρεχαχίαι, ἀσμενισμοὶ, 
γοητείαι χαὶ τὰ ὅμοια: unter die ἐπιθυμία Dios. σπάνις, μῖσος, φιλονειχία, 
ὀργὴ, ἔρως, μῆνις, θυμός, Stop. ὀργὴ χαὶ τὰ εἴδη αὐτῆς (θυμὺς, χόλος, μῆνις, 
χότος, πιχρία ἃ. 5. νν.)}, ἔρωτες σφοδροὶ, πόθοι, ἵμεροι, φιληδονίαι, φιλοπλουτίαι, 
φιλοδοξίαι. Die stoischen Definitionen aller dieser Begriffe, die ohne Zweifel 


214 i Stoiker, 


Indessen handelt es sich für die Stoiker bei der Lehre ven 
den Affekten weit weniger um ihre psychologische Erklärung, als 
um ihre moralische Würdigung. Dass nun diese nur sehr ungün- 
stig ausfallen konnte, folgt schon aus unseren bisherigen Nach- 
weisungen. Die Affekte sind Triebe, welche das natürliche Maass 
überschreiten, das richtige Verhältniss der Seelenkräfte aufheben, 
der Vernunft widersprechen, sie sind mit Einem Wort Verfehlun- 
gen !), Störungen der geistigen Gesundheit, und wenn sie habi- 
tuell werden, förmliche Seelenkrankheiten ®). Vom stoischen 


mit der ganzen Eintheilung auf Chrysippus zurückzuführen sind, findet man 
bei den Genannten. Die griechische Lexikographie würde wohl diesen, wie 
den stoischen Definitionen überhaupt, manchen nützlichen Wink entnehmen 
können. 

1) Prur. virt. mor. 10. 8. 449: πᾶν μὲν γὰρ πάθος ἁμαρτία χατ᾽ αὐτούς ἐστι, 
χαὶ πᾶς ὃ λυπούμενος ἢ φοβούμενος ἢ ἐπιθυμῶν ἁμαρτάνει. Die Stoiker wollen 
desshalb auch im Ausdruck zwischen den Affekten und den erlaubten Ge- 
müthsbewegungen, wie 2. B. zwischen der Lust und der Freude (s. o. 201, 2), 
der Furcht und der Vorsicht (εὐλάβεια), der Begierde und dem Willen (βούλησις 
Droe. 116, cupere et velle Sex. ep. 116, 1), der αἰσχύνη und der αἰδὼς (Prur. 
vit. pud. c. 2, 5. 529) streng unterschieden wissen. 

2) M.s.über diesen bei den Stoikern so beliebten Satz: Dıoc. 115. Sros. 
II, 182. Cıc. Tuse. IV, 10 £. III, 10, 23 (dessen auffallende Uebereinstimmung 
mit Stobäus auch hier auf mittelbare oder unmittelbare Benützung der gleichen 
Quelle hinweist). Garen Hippocr. et Plat. V,2. 8.432 fi. Sex. ep. 75, 11 f. Die 
Stoiker unterschieden nach diesen Stellen zunächst zwischen den einfachen 
Affekten und den Krankheiten der Seele. Die Affektesind nach Seneca motus ant- 
mi inprobabiles soluti et coneitati; wiederholen sie sich und werden sie vernach- 
lässigt, so entstehen die inveterata vitia et dura, die Krankheiten. Die Seelen- 
krankheit wird daher definirt: δόξα ἐπιθυμίας ἐῤῥυηχυῖα εἰς ἕξιν καὶ ἐνεσχιῤῥωμένη 
'χαθ᾽ ἣν ὑπολαμβάνουσι τὰ μὴ αἱρετὰ σφόδρα αἱρετὰ εἶναι (Stob.; Uebersetzungen 
dieser Definition bei Cicero und Seneca); das Gegenstück dazu, eine aus 
falscher Furcht entsprungene Verirrung, ist die opinio vehemens inhaerens at- 
que insita de re non fugienda tanquam fugienda, wie Misogynie, Misanthropie 
u.s. w. Sofern das fehlerhafte Verhalten auf einer Schwäche beruht, welche 
uns verhindert, der besseren Erkenntniss zu folgen, heissen die krankhaften 
Seelenzustände ἀῤῥωστήματα, uegrotationes (Dios. Stop. Cıc. Tuse. IV, 13, 29); 
natürlich ist aber diese Unterscheidung sehr schwankend. Derselbe Febler 
wird bald zu den νόσοι bald zu den ἀῤῥωστήματα gerechnet, und Cicero (ce. 11, 
24. 13, 29) bemerkt wiederholt, dass sich beide nur in Gedanken trennen 
lassen. Wie es ferner gewisse Dispositionen (εὐεμπτωσίαι) für körperliche 
Krankheiten giebt, so auf geistigem Gebiete die εὐχαταφορίαι εἰς πάθος. (Dios. 
Stog. Cıc. e. 12). Mit der Unterscheidung der Affekte und Krankheiten fällt 


Die Affekte. . 215 


"Standpunkt aus kann daher nur ihre gänzliche Unterdrückung 
verlangt, und nur da, wo sie gelungen ist, eine wahre Tugend 
‚anerkannt werden. Sind die Affekte ‚etwas Naturwidriges und 
Krankhaftes, so muss der Weise von ihnen frei sein 1); haben 
wir Alles nach seinem wahren Werth schätzen, in Allem die un- 
verbrüchliche Naturordnung erkennen gelernt, so wird nichts uns 
in die Aufregung des Affekts versetzen können ?). - Wenn daher 
Plato und Aristoteles zwar eine Mässigung, aber keine Ausrottung 
der Affekte gefordert hatten, so wird diese Beschränkung von un- 
sern Philosophen auf's Lebhafteste bekämpft. Ein mässiges Uebel, 
sagen sie, bleibt doch immer ein Uebel; das Fehlerhafte und 
Vernunftwidrige darf überhaupt nicht, auch nicht im geringsten 
Maass, zugelassen werden °). Wird umgekehrt der Affekt wirk- 
lich gemässigt und der Vernunft unterworfen, so ist er kein Affekt 


nach Ciıc. e. 13 die der vitia und morbi der Sache nach zusammen: jene be- 
stehen in dem Widerspruch des Verhaltens gegen die Grundsätze, der incon- 
stantia et repugnantia, ebenso die vitiositas in dem habitus in tota vita incon- 
stans, diese in der corruptio opinionum. Damit stimmt aber nicht, dass die 
καχίαι διαθέσεις, die νόσοι ebenso, wie die ἀῤῥωστήματα und εὐχαταφορία!, blosse 
ἕξεις sein sollen (Stop. II, 100; über den „Unterschied von ἕξις und διάθεσις s. m. 
8. 87,1, Schl.), wesshalb Hrıse (De font. Tuscul. Disputat. Weimar 1863. 
S, 18) bier einen Verstoss auf Seiten Cicero’s vermuthet. Die Unweisen, 
welche der Weisheit nahe sind, sollen von den Seelenkrankheiten, nicht aber 
von Affekten frei sein (Sex. Cıc.). Die Vergleichungspunkte zwischen den 
geistigen und körperlichen Krankheiten hatte Chrysippus mit übermässiger 
Sorgfalt erörtert, und Posidonius hatte ihm theilweise widersprochen (GALEN 
a.a.0. Cıc. e. 10, 23. 12, 27); für uns hat diese Differenz kaum ein Interesse. 

1) Cıc. Acad. 1, 10, 38: cumgue perturbationem animi illi [superiores] ex 
homine non tollerent, ... sed eam comtraherent in angustumque deducerent; hie 
omnibus his quasi morbis voluit carere sapientem. Ebd. 11, 43, 135 u. a. St. 
Dass aber die den Affekten zu runde liegenden Gemüthsbewegungen dennoch 
als unvermeidlich anerkannt wurden, werden wir später finden. 

2) Cıc. Tuse. IV, 17, 37 £. 

3) Cıc. Tuse. III, 10, 22: omne enim malum, etiam mediocre, magnum 
est. nos autem id agimus, ut id, in sapiente nullum sit omnino. Ebd. IV, 17, 39: 
modum tu adhibes vitio? an vitium nullum est non parere rationi? u. 5, w. c, 18, 
42: nihil interest, utrum moderatas perturbationes approbent, an moderatam 
injustitiam u. s. w. qui enim vitiis modum apponit, is partem suscipit vitiorum. 
Sen. ep. 85, 5 ff., wo u. A.: Mässigung der Affekte sei soviel als: modice ın- 
saniendum, modice aegrotandum. ep. 116, 1: ego non video, quomodo saluhris 
esse aut utilis possit ulla mediocritas morbi. 


216 Stoiker. 


mehr; dieser Name kommt ja nur dem übermässigen und ver- 
nunftwidrigen Trieb zu 1). Die peripatetische Behauptung voll- 
ends, dass gewisse Affekte nicht allein zulässig, sondern auch- 
nützlich und nothwendig seien, erscheint den Stoikern höchst ver- 
kehrt 2). Nützlich ist, ihren Grundsätzen zufolge, nur was sitt- 
lich gut ist; der Affekt aber ist unter allen Umständen fehlerhaft; 
sollte ein Affekt Nutzen bringen, so müsste die Tugend durch 
Fehler zu fördern sein ?). Das allein richtige und sittlich zuläs- 
sige Verhalten zu den Affekten ist ihre unbedingte Bekämpfung: 
der Weise ist, wie die Stoiker lehren, affektlos *). Er fühlt zwar 
den Schmerz, aber er betrachtet ihn nicht als ein Uebel, er leidet 
desshalb auch keine Qual und kennt keine Furcht °); er kann 
zwar geschmäht und misshandelt, aber er kann nicht verletzt 
und beschimpft werden °); er ist ohne Eitelkeit, denn Ehre und 
Schande berühren ihn nicht; er geräth nie in Zorn, und er be- 
darf dieses vernunftlosen Antriebs auch nicht zur Tapferkeit und 
zur Bekämpfung des Unrechts 1); er empfindet aber auch anderer- 
seits kein Mitleid 8), und übt keine Nachsicht 9), denn was er bei 


1) Sen. De ira I, 9, 2 ἢν, zunächst mit Beziehung auf den Zorn. Vgl. ep. 
85, 10. 

2) Sehr ausführlich handeln darüber, hauptsächlich aus Anlass der Frage 
über den Nutzen des Zorns, Cıc. Tuse. IV, 19—26 vgl. Off. I, 25, 88 f. Sex. 
De ira I, 5—21. II, 12 u. ὃ. 

3) In diesem Sinn bält Sen. I, 9, 1. 10, 2 der Behauptung, dass die 
Tapferkeit den Zorn nicht entbehren könne, entgegen: nunguam virtus vitio 
adjuvanda est se contenta .*. .. absit hoc a virtute malum, ut unquam ratio ad 
vitia confugiat. 

4) Dıos. VII, 117: φασὶ δὲ χαὶ ἀπαθῇ εἶναι τὸν σοφὸν, διὰ τὸ ἀνέμπτωτον 
(fehlerfrei) εἶναι. Von dieser Apathie des Weisen sei aber die Gefühllosigkeit 
und Härte, die ein Fehler ist, zu unterscheiden. ö 

5) Chrysipp. b. Sros. Floril. VII, 21: ἀλγεῖν μὲν τὸν σοφὸν μὴ βασανίζεσθαι 
δέ" μὴ γὰρ ἐνδιδόναι τῇ ψυχῇ. Sen. De prov. 6, 6. ep. 85, 29. Cıc. Tuse. II, 12, 
29. 25, 61. IL, 11,25 u. A. 

6) Pur. Sto. rep. 20,12. Musoxıvs b. Sro». Floril. 19,16. Sen. De const. 
2.3.5.7. 12f. (Der zweite Titel dieser Schrift lautet: nee injuriam nee con- 
tumeliam accipere sapientem.) 

7) S. Anm. 2. 3 und Cie. Tuse. III, 9, 19. 

8) Cıc. Tuse. IH, 9, 20 f. Sex. De element. II, 5 f. Dıios. VI, 123. 

9) ὅτοβ. ΕΚ]. II, 190. Floril. 46, 50. Sex. ἃ. ἃ. Ὁ. c. 5,2. ο. 7. Dioe. 
a.2.0. Ger. N. A, XIV, 4, 4. 


Apathie. Die Tugend. 217 


sich selbst für kein Uebel erachten würde, wegen dessen kann er 
nicht Andere bemitleiden, er kann sich um ihretwillen so wenig, 
als um seiner selbst willen, einer krankhaften Erregung über- 
lassen, und wenn die Gerechtigkeit Strafe fordert, wird ihn seine 
Empfindung nicht zur Vergebung verleiten. Die weitere Anwen- 
dung dieser Grundsätze kennen zu lernen, werden wir auch spä- 
ter noch Gelegenheit finden. 

Hiernach bestimmt sich nun die Tugend zunächst monde als 
Freiheit von Affekten, als Apathie 1). Das Positive zu dieser Ne- 
gation ist, sofern wir auf den Inhalt der tugendhaften Thätigkeit 
sehen, die Unterwerfung unter das allgemeine Gesetz der Natur, 
sofern wir ihre Form in’s Auge fassen, die vernunftmässige 
Selbstbestimmung 5): die Tugend ist ausschliesslich Sache der Ver- 
nunft ®), ja sie selbst ist gar nichts anderes, als die richtig be- 
schaffene Vernunft %). Näher enthält die Tugend zwei Elemente, 
ein theoretisches und ein praktisches. Die Wurzel und Bedingung 
alles vernunftmässigen Handelns ist nach der Ansicht der Stoiker, 
welche sich hierin an die bekannten sokratischen Sätze und an 
die cynisch - megarische Lehre anschliessen, die richtige Er- 
kenntniss: eine natürliche oder durch blosse Uebung erwor- 
bene Tugend wird von ihnen ausdrücklich verworfen, die 
Tugend überhaupt in sokratischer Weise als Wissenschaft, die 
Untugend als Unwissenheit definirt 5). und ihre Lehrbarkeit be- 


1) Ps. Prur. v. Hom. 134: οἱ μὲν οὖν Erwixdt τὴν ἀρετὴν τίθενται ἐν τῇ 
‚arabeia. 

2) 8.0. 8. 193 ff. Arzx. Arne. De an. 156, b, o.: Die naar gehe 
auf die &x λογὴ τῶν χατὰ φύσιν. Dios. VII, 89 (vgl. Prur. aud. po. ce. 6, 8. 24): 
τήν τ᾽ ἀρετὴν διάθεσιν εἶναι ὁμολογουμένην u. A. 

3) Cıc. Acad. I, 10, 38: cwmque superiores (Aristoteles u. A.) non omnem 
virtutem in ratione esse dicerent, sed quasdam virtutes natura aut more per- 
fectas: hie [Zeno] omnes in ratione ponebat. 

4) Cıc. Tuse. IV, 15, 34: ipsa virtus brevissime recta ratio dici potest. 
Vgl. Sex. ep. 113, 2: virtus autem nihil aliud est quam animus quodammodo 
se habens, und was ὃ. 108, 3. 109, 3 weiter angeführt ist. 

5) Der nähere Nachweis hiefür wird sogleich in den stoischen Definitionen 
der verschiedenen Tugenden und Fehler gegeben werden; vorläufig vgl. m. 
ausser Anm. 3 Dıoc. VII, 93: εἶναι δ᾽ ἀγνοίας τὰς χαχίας, ὧν αἱ ἀρεταὶ ἐπιστῆμαι. 
ὅτοβ. Ekl. II, 108: ταύτας μὲν οὖν τὰς ῥηθείσας ἀρετὰς τελείας εἶναι λέγουσι περὶ τὸν 
βίον χαὶ συνεστηχέναι ἐχ θεωρημάτων. Damit streitet es nicht, dass b. Sron, II, 


218 Stoiker. 


hauptet '); selbst der abgesagte Feind aller blos «theoretischen 
Forschung, der Chier Aristo, war in dieser Beziehung mit der 
übrigen Schule einverstanden, wenn er alle Tugenden aufdie Weis- 
heit zurückführte ®), und ebendesshalb die Mehrheit dersel- 
ben läugnete 5). So entschieden aber die Stoiker daran festhalten, 
dass sich alle Tugend auf's Wissen gründen müsse, und ihrem 
inneren Wesen nach nichts anderes sei, als ein Wissen, so wenig 
wollen sie doch bei dem Wissen als solchem stehen bleiben, oder 
dasselbe mit Plato und Aristoteles über die praktische Thätigkeit 
stellen; wie wir vielmehr schon früher gesehen haben, dass das 
Wissen überhaupt nur ein Mittel für das vernunftmässige Handeln 
sein soll *), so wird es auch ausdrücklich als eine Abweichung 
von der Lehre der Schule bezeichnet, wenn Zeno’s Zuhörer He- 
rillus aus Karti. go die Wissenschaft für das Lebensziel und für 
das einzige unbedingte Gut erklärte °); und mag auch die Tugend 
ein Wissen genannt werden, so wird sie doch zugleich wesentlich 
als Gesundheit und Stärke des Geistes, als die richtige, mit ihrer 
Natur übereinstimmende Beschaffenheit der Seele beschrieben δ), 


92. 110 von den Tugenden, welche τέχναι und ἐπιστῆμαι sind, andere unter- 
schieden werden, und dass ebenso Hekato b. Dıoc. VII, 90 die Tugenden in 
die ἐπιστημονιχαὶ χαὶ θεωρηματιχαὶ (σύστασιν ἔχουσα: dx θεωρημάτων) und die 
ἀθεώρητο! theilt, denn unter den letztern werden nach eben diesen Stellen 
nicht die tugendhaften Thätigkeiten selbst, sondern nur die aus ibnen ent- 
springenden Zustände (Gesundheit der Seele, Seelenstärke u. 8. w.) verstanden. 
Ueber die Gesundheit der Seele in ihrem Verhältniss zur Tugend vgl. m. το. 
Tuse. IV, 13, 30. 

1) Dıoc. VII, 91, nach Kleanthes, Chrysippus u. A. Ps. Prur. v. Hom. 144. 

2) 8. u. $. 222, 4. 

3) Prur. Sto. rep. 7. Dıoc. VII, 161. Garen a. a. O. ebd. VII, 2, 8.595. 
Weiteres später. 

4) 8. 46 fi. 

5) 8.0.8. 48, 1. Dros. VII, 165 (vgl. 37): Ἥριλλος δὲ ὁ Καρχηδόνιος τέλος 
εἶπε τὴν ἐπιστήμην, ὅπερ ἐστὶ ζῆν ἀεὶ πάντα ἀναφέροντα πρὸς τὸ μετ᾽ ἐπιστήμης ζῆν 
χαὶ μὴ τῇ ἀγνοία διαβεβλημένον. εἶναι δὲ τὴν ἐπιστήμην ἕξιν ἐν φαντασιῶν προςδέξει 
ἀμετάπτωτον ὑπὸ λόγου. (Ueber diese Definition vgl. m. 8. 69, 1). 

6) Kıeantees b. Pur. Sto. rep. 7: Der τόνος (über welchen 8. 108, 4 z. 
vgl.), wenn er in genügendem Maasse in der Seele vorhanden ist, ἰσχὺς 
καλεῖται χαὶ κράτος" ἣ δ᾽ ἰσχὺς αὕτη καὶ τὸ χράτος ὅταν μὲν ἐπὶ τοῖς ἐπιφανέσιν ἐμ.- 
μενετέοις ἐγγένηται ἐγχράτειά ἐστιν u. 8. w. Ebenso leitete nach Ganex Hippoer. 
et Plat. IV, 6, 5. 403 ἢ, (8. ο. 210, 2) Chrysippus das Gute in unsern Hand- 
lungen von der εὐτονία und ἰσχὺς, das Verfehlte darin von der ἀτονία χαὶ 


Die Tugend. 219 


und es wird von dem Menschen gefordert, dass er nie aufhöre zu 
wirken und für das gemeine Beste zu arbeiten 1). Die Tugend 
erscheint daher nach stoischen Grundsätzen als eine solche Ver- 
knüpfung des Praktischen mit dem Theoretischen, wornach das 
Handeln zwar durchaus auf die wissenschaftliche Erkenntniss ge- 
gründet ist, umgekehrt aber diese am sittlichen Handeln ihr Ziel 
findet, sie ist mit Einem Wort die auf vernünftiger Einsicht beru- 
hende Willenskraft 5). Auch diese Bestimmung darf aber nicht 
so verstanden werden, als ob das sittliche Wissen dem Wollen 
vorangienge und erst nachträglich auf dasselbe bezogen würde, 
oder als ob umgekehrt der Wille sich des Wissens nur als eines 
Hülfsmittels bediente. Für die Stoiker sind beide nicht blos un- 
zertrennlich, sondern Ein und Dasselbe: die Tugend lässt sich 
nicht ohne Wissenschaft, die Wissenschaft nicht ohne Tugend 
denken 5); die eine wie die andere ist die richtige Beschaffenheit 
der Seele, oder besser, die richtig beschaffene Seele selbst, die 
Vernunft, welche so ist, wie sie sein soll %); die Tugend kann da- 
her gleich gut als Wissenschaft und als Geistesstärke bezeichnet, 
und welches von diesen zwei Elementen das ursprünglichere sei, 
kann auf diesem Standpunkt gar nicht gefragt werden. 

Nur von hier aus lässt sich auch verstehen, was in der stoi- 
schen Schule über die einzelnen Tugenden und ihr gegenseitiges 
Verhältniss gelehrt wird. Als die gemeinsame Wurzel derselben 
hatte Zeno, an Aristoteles anknüpfend °), die Einsicht, Kleanthes 


" 


ἀσθένεια τῆς ψυχῆς her, und nach Dems. VII, 1, 590 führte er den Unterschied 
der einzelnen Tugenden auf qualitative Veränderungen in der Seele zurück. 
Von Aristo (s. u. 220, 1) wurde die Tugend als Gesundheit, bei Sro». II, 104 
wird sie als διάθεσις ψυχῆς σύμφωνος αὐτῇ, bei Dıos. 89 als διάθεσις ὁμολογουμένη 
definirt. 

1) Sen. De otio 1 (28), 4: Stoici nostri dieunt: usque ad ultimum vitae 
finem in actu erimus, non desinemus communi, bono operam dare u.-s. w. nos 
sumus, apud quos usque eo nihil ante mortem otiosum est, ut, si res patitur, 
non sit ipsa mors otiosa. 

2) Wie sich diess ausser allem Bisherigen auch aus den sogleich anzu- 
führenden Definitionen der Tugenden ergiebt. 

3) Vgl. 8. 49, 1. 46,2 u. a. St. 

4) Vgl. S. 217,4. Sex. ep. 65, 6, wo nach der Schilderung einer edeln 
und grossen Seele beigefügt wird: talis animus virtus est. 

5) Vgl. Bd. II, b, 502 ff. 


220 Stoiker. 


die Stärke der Seele, Aristo bald die Gesundheit, bald die Kennt- 
niss des Guten und Bösen bezeichnet '). Die Späteren, seit Chry- 


sippus, fanden sie in dem Wissen oder der Weisheit, indem sie- 


unter der letzteren eben das vollkommene Wissen, die Wissen- 
schaft von dem Göttlichen und Menschlichen verstanden %. Aus 
dieser ihrer gemeinschaftlichen Quelle sollte nun eine Vielheit 
von Tugenden hervorgehen, welche nach Plato’s Vorgang unter 
vier Grundtugenden °) zusammengefasst werden: die Einsicht, die 


1) Prur. virt. mor. 2: ᾿Αρίστων δὲ ὃ Χίος τῇ μὲν οὐσία μίαν χαὶ αὐτὸς ἀρετὴν 
ἐποίει καὶ ὑγείαν ὠνόμαζε τὰ. 8. ν. Ders. über Zeno (8. u. 222, 4) und über 
Kleanthes (5. 218, 6). Nach GaLex beschrieb Aristo die Eine Tugend als 
die Wissenschaft des Guten und Bösen; Hippoer. et Plat. V, 5, Schl. 8. 468: 
χάλλιον οὖν ᾿Αοίστων ὃ Χίος, οὔτε πολλὰς εἶναι: τὰς ἀρετὰς τῆς ψυχῆς ἀποφηνάμενος, 
ἀλλὰ μίαν, ἣν ἐπιστήμην ἀγαθῶν τε χαὶ καχῶν εἶναί φησιν. ὙΠ, 2, Anf.8.595: νομίσας 
γοῦν ὃ ᾿Αρίστων, μίαν εἶναι τῆς ψυχῆς δύναμιν, F λογιζόμεθα, χαὶ τὴν ἀρετὴν τῆς 
ψυχῆς ἔθετο μίαν, ἐπιστήμην ἀγαθῶν χαὶ χαχῶν. Mit der Angabe Plutarch’s lässt 
sich diese Aussage durch die Annahıne vereinigen, Aristo habe die Gesundheit 
der Seele eben in der richtigen Ansicht über das Gute und Böse gesucht. 
Vielleicht hatte schon Zeno die φρόνησις als ἐπιστήμη ἀγαθῶν χαὶ χαχῶν 
definirt. 

2) Vgl. δ, 217,5 und Cıc. Off. 1, 43, 153: princepsque omnium virtutum 
est illa sapientia, quam σοφίαν Graeci vocant: prudentiam enim, quam Graeci 
φρόνησιν dieunt, aliam quandam intelligimus; quae est rerum excpetendarum 
Jugiendarumque scientia. illa autem sapientia, quam prineipem diei, rerum est 
divinarum aique humanarum scientia. Die gleiche Definition der Weisheit, 
theilweise mit der Erweiterung: nosse divina et humana et horum causas, ebd. 
11, 2,5. Sen. ep. 85, 5. Prur. plac. prooem. 2 (8. o. 46, 2) vgl. Srtr4so I, 1, 1. 
Wahrscheinlich stammt diese Definition von Chrysippus; und Derselbe ist es 
ohne Zweifel, welcher den Unterschied der σοφία und φρόνησις in der stoischen 
Schule feststellte, wiewohl ihm mit dieser Unterscheidung selbst schon Aristo 
vorangegangen war (s. u. 222, 4). Da er nämlich, wie wir finden werden, die 
besonderen Tugenden dadurch zu Stande kommen liess, dass zu dem gemein- 
samen Wesen der Tugend ein artbildender Unterschied hinzutrete, so konnte 
er für dieses nicht wohl den gleichen Ausdruck gebrauchen, wie für eine von 
jenen. Auch in Zeno’s unten anzuführenden Definitionen sollte daher, wie die 
Späteren woliten (Pıvr. virt. mor. 2), φρόνησις die Bedeutung von ἐπιστήμη 
‚haben. 

3) ᾿Αρεταὶ πρῶται Dios. 92. Stop. II, 104. Wenn der Erstere sagt, Posi- 
donius zähle vier Tugenden, Kleanthes, Chrysippus, Antipater mehrere, so 
:kann sich diess nur darauf beziehen, dass diese die Unterarten der Haupt- 
tugenden besonders aufführten, wogegen Posidonius, wohl im Zusammenhang 
mit seiner platonischen Anthropologie, mit Plato bei den vier Kardinaltugen- 


<A 


Die Tugenden. 221 


Tapferkeit, die Gerechtigkeit, die Selbstbeherrschung '). Die 
Einsicht ist das Wissen von dem Guten und Bösen und dem, was 
keines von beiden ist (dem Gleichgültigen) 2); die Tapferkeit das 
Wissen von dem, was man zu wählen und zu meiden, und dem, 
was man weder zu wählen noch zu meiden hat; oder wenn wir 
statt des Wissens das ihm entsprechende Verhalten setzen wollen: 
die Tapferkeit ist der furchtlose Gehorsam gegen das Vernunft- 
gesetz, im Ausharren und Dulden °). Die Selbstbeherrschung ist 
das Wissen von 'dem, was zu wählen und zu fliehen, und was 
weder zu wählen noch zu fliehen ist 4); die Gerechtigkeit das 


den stehen blieb. — Neben dieser die stoische Tugendlehre beherrschenden Ein- 
theilung haben wir schon S. 46, 2. 47,1 die Dreitheilung: logische, physische, 
ethische Tugend, gefunden; d. h. die Theile der Philosophie wurden ebenso, 
wie die Philosophie als Ganzes, unter den Begriff der Tugend gestellt, ohne 
dass uns doch gesagt würde, ob und wie diese Dreitheilung mit jener Vier- 
theilung in Verbindung gebracht wurde. — Die Zweitheilung des Panätius: 
theoretische und praktische Tugend (deren auch Seneca ep. 94, 45 sich be- 
dient), wird uns als Annäherung an die peripatetische Ethik später vor- 
kommen. : 

1) Dass dieses Schema schon von Zeno aufgestellt war, erhellt ausser 
Pur. βίο, rep. 7, 1 auch aus dem 5. 222, 4 Angeführten. 

2) ᾿Ἐπιστήμη ἀγαθῶν καὶ χαχῶν χαὶ οὐδετέρων, oder ἐπιστ. ὧν ποιητέον χαὶ οὐ 
ποιητέον χαὶ οὐδετέρων ; 5ὅτοΒ, 102 (der noch beifügt, zur vollständigen Definition 
gehöre noch der Zusatz, welcher auch bei den Definitionen der übrigen Tugen- 
den hinzugedacht werden müsse: φύσει πολιτικοῦ ζῴου, indessen ist diess eigent- 
lich entbehrlich, denn von gut und schlecht kann überhaupt nur bei einem 
solchen Wesen gesprochen werden). Dıos. 92. Sexr. Math. XI, 170. 246. 
Cıc. (oben 220, 2). 

3) ᾿Επιστήμη δεινῶν καὶ οὐ δεινῶν καὶ οὐδετέρων (Sron. 104); ἐπιστ. ὧν al- 
perdov καὶ ὧν εὐλαβητέον χαὶ οὐδετέρων (Doc. a. a. Ο.); ἐπιστ. ὧν χρὴ θαῤῥεῖν ἢ μὴ 
θαῤῥεῖν (Gares Hipp. et Plat. VII, 2, 597). Cıc. Tuse. IV, 24,53 (ν6}.Υ͂, 14,41): 
(Chrysippus) fortitudo est, inquit, scientia perferendarum rerum, vel (nach 
(Sphärus) affectio animi in patiendo ac perferendo summae legi parens sine 
timore. Noch stärker tritt das letztere Merkmal in der Definition hervor, 
welche Cıc. Off. I, 19, 62 den Stoikern beilegt: virtus propugnans pro ae- 
quitate, 

4) ᾿Επιστήμη αἱρετῶν χαὶ φευχτῶν χαὶ οὐδετέρων, Stos. 102. Genau so lautet 
aber die Definition der φρόνησις bei Cicero (5. 8. 220, 2) und nicht viel anders 
die ebenangeführte der Tapferkeit bei Diogenes. Da sich alle Pflichten auf 
die ποιητέα und οὐ ποιητέα zurückführen, mussten unvermeidlich die Definitio- 
nen der übrigen Tugenden mit denen der φρόνησις und dadurch auch mit ein- 
ander bis zu einem gewissen Grade zusammenfliessen, 


222 Stoiker. 


Wissen, welches Jedem zutheilt, was ihm gebührt 1). In entsprechen- 
der Weise werden die Hauptfehler auf den Begriff der Unwissen- 
heit zurückgeführt ?). Doch stammen diese Definitionen wahr- ΄ 
scheinl'ich erst von Chrysippus 3); von seinen Vorgängern sind 
uns andere überliefert, welche nach Maassgabe ihres Tugend- 
begriffs von jenen bald mehr bald weniger abweichen %), In 
diesen Rahmen wurde dann weiter eine grosse Menge von einzel- 


1) Ἐπιστήμη ἀπονεμητιχὴ τῆς ἀξίας ἑχάστῳ, Stop. a. ἃ. Ο. — Derselbe giebt 
S. 104 auch noch die Unterscheidung der vier Tugenden, dass sich die Ein- 
sicht auf die χαθήχοντα beziehe, die Selbstbeherrschung auf die Triebe, die 
Tapferkeit auf die ὑπομοναὶ, die Gerechtigkeit auf die ἀπονεμήσεις. Weiter 
vgl. m. über die unterscheidende Eigenthümlichkeit der vier Tugenden Sros. 
112 (unten 5. 225). 

2) Dıos. 93. Sror. 104. Die πρῶται χαχίαι sind: ἀφροσύνη, δειλία, &xo- 
Aasia, ἀδικία; die Definition der ἀφροσύνη lautet: ἄγνοια ἀγαθῶν καὶ χαχκῶν χαὶ 
οὐδετέρων, entsprechend bei den übrigen, vgl. 5, 217, ὅ. 

τ 8) Wie schon daraus hervorgeht, dass ihnen allen der Begriff der ἐπιστήμη 
zu Grunde gelegt wird; vgl. S. 220, 2. 

4) Ueber Zeno sagt Plut. virt. mor. c. 2. $. 441: δριζόμενος τὴν φρόνησιν 
ἐν μὲν ἀπονεμητέοις διχαιοσύνην᾽ ἐν δὲ αἱρετέοις, σωφροσύνην" ἐν δὲ ὑπομενετέοις, 
ἀνδοίαν (ebenso ir Betreff der Gerechtigkeit Sto. rep. 7, 2, wogegen die Tapfer- 
keit hier φρόνησις ἐν ἐνεογητέοις heisst); über Aristo ebd. 5. 440, dass nach 
ihm ἣ ἀρετὴ ποιητέα μὲν ἐπισχοποῦσα χαὶ μὴ ποιητέα χέλληται φρόνησις" ἐπιθυμίαν 
δὲ χοσιοῦσα χαὶ τὸ μέτριον χαὶ τὸ εὔχαιοον ἐν ἡδοναῖς δρίζουσα, σωφροσύνη" χοινω- 
γήμασι δὲ χαὶ συμβολαίοις ὁμιλοῦσα τοῖς πρὸς ἑτέρους, δικαιοσύνη. Genaueres er- 
fahren wir über diesen aus Ganzen Hippoer. et Plat. VII, 2. 5. 595: Da die 
Seele nach Aristo nur Ein Vermögen, die Denkkraft habe, so nehme er auch 
nur Eine Tugend an, die ἐπιστήμη ἀγαθῶν χαὶ χαχῶν. ὅταν μὲν οὖν αἱρεῖσθαί τε 
δέῃ τἀγαθὰ χαὶ φεύγειν τὰ χαχὰ, τὴν ἐπιστήμην τήνδε καλέΐ σωφροσύνην" ὅταν δὲ 
πράττειν μὲν τἀγαθὰ, μὴ πράττειν δὲ τὰ καχὰ, φρόνησιν" ἀνδρείαν δ᾽ ὅταν τὰ μὲν 
θαῤῥῇ τὰ δὲ φεύγη᾽ ὅταν δὲ τὸ χατ᾽ ἀξίαν ἑκάστῳ ven, δικαιοσύνην - Evi δὲ λόγῳ, 
γινώσχουσα μὲν ἣ ψυχὴ χωρὶς τοῦ πράττειν τἀγαθά τε χαὶ χαχὰ σοφία τ᾿ ἐστὶ χαὶ ἐπι- 
aim, πρὸς δὲ τὰς πράξεις ἀφιχνουμένη τὰς χατὰ τὸν βίον ὀνόματα πλείω λαμβάνει 
τὰ προειρημένα. Von Kleanthes wissen wir aus Prur. Sto. rep. 7, 4 (8. 0. 
218,6), dass die Seelenstärke ihm zufolge, ὅταν μὲν ἐπὶ τοῖς ἐπιφανέσιν ἐμμενετέοις 
ἐγγένηται, ἐγχράτειά ἐστιν᾽ ὅταν δ᾽ ἐν τοῖς ὑπομενετέοις, ἀνδρεία" περὶ τὰς ἀξίας δὲ, 
δικαιοσύνη" περὶ τὰς αἱρέσεις καὶ ἐχχλίσεις, σωφροσύνη. Bei ihm tritt also, wenn 
Plutarch vollständig berichtet, die ἐγχράτεια, die Beharrlichkeit, an die Stelle 
der φρόνησις, was zu seinem die Willenskraft, nicht das Wissen, betonenden 
Tugendbegriff gut passt. Von Sphärus theilt Cıc. Tuse. IV, 24, 53 nicht 
weniger 515 drei Definitionen der Tapferkeit mit, von denen eine ChrySippus 
wiederholt hatte (s. 5, 221, 3). 


. Die Tugenden. 223 


nen Tugenden vertheilt, deren Spaltung und Begriffsbesiimmung 
besonders Chrysippus mit der logischen Pedanterie, die wir an 
ihm gewohnt sind, auf’s Aeusserste trieb '); von einem Theile 
derselben sind uns durch Diogenes und Stobäus die Definitionen 
überliefert 2). Ebenso hatten die Stoiker auch ihre Klassifikation 
der Fehler in’s Einzelne ausgeführt 5). 

Welche Bedeutung nun aber dieser Unterscheidrng verschie- 
dener Tugenden zukomme, worauf sie in letzter Beziehung be- 
ruhe, und wie sich dieselben theils zu einander, theils zu dem 
gemeinsamen Wesen der Tugend verhalten, darüber hatte sich 
Zeno nicht näher erklärt. Prurarch wenigstens wirft ihm vor %), 
dass er die Tugenden einerseits zwar als verschieden, wenn auch 
untrennbar, behandle, andererseits aber doch in allen nur ge- 
wisse Aeusserungen δε Einsicht finde. Eine genauere Bestim- 
mung versuchte Aristo. Nach seiner Auffassung ist die Tugend 
_ an sich selbst nur Eine; wenn wir von mehreren Tugenden reden, 
so wollen wir damit blos die Verschiedenheit der Gegenstände 


1) Pror. virt. mor. ce. 2, 5. 441 wirft ihm vor, dass er ein σμῆνος ἀρετῶν 
οὐ σύνηθες οὐδὲ γνώριμον geschaffen habe: nach der Analogie von πραότης, av- 
δρεία u. 5. f. bilde er auch eine χαριεντότης, ἐσθλότης, μεγαλότης, καλότης, ἐπιδε- 
ξιότης, εὐαπαντησία, εὐτραπελία τι. dgl. Bei Stos. II, 118 treffen wir unter den 
stoischen Tugenden eine ἐρωτιχὴ als ἐπιστήμη νέων ip εὐφυῶν u. s. w., und 
eine συμποτιχὴ als ἐπιστήμη τοῦ πῶς δεῖ rs τὰ συμπόσια χαὶ τοῦ πῶς δεῖ 
συμπίνειν. Der ἐρωτιχὴ und συμποτιχὴ ἀρετὴ erwähnt auch Prızonem. De Mus. 
(Vol. Here. I) col. 15 f.; über die συμποτιχὴ hatte nach Arnen. 162, b schon 
Persäus in seinen συμποτιχοὶ διάλογοι ausführlich gehandelt; und da nach stoi- 
scher Lehre (bei Sex. ep. 123, 15. ὅ'ζτοβ. a. a. Ὁ.) nur der Weise richtig zu lie- 
ben und richtig zu zechen versteht, so gehören freilich auch diese Künste zur 
vollständigen Beschreibung der Weisheit. 

2) Unter die φρόνησις stellt Sroz. 106 die εὐβουλία, εὐλογιστία, ἀγχίνοια, 
κεν εὐμηχανία; unter die σωφροσύνη die εὐταξία, χοσμιότης͵ αἰδημοσύνη, ἐγ- 
χράτεια : unter die ἀνδρεία die χαρτερία, θαῤῥῥαλεότης, μεγαλοψυχία, εὐψυχία, φιλο- 
πονία: Aal die διχαιοσύνη die Ken (über die nich Dıoe. 119), χρηστότης, 
εὐχοινωνησία, εὐσυναλλαξία. Theilweise abweichend Dıos, 126. Von allen diesen 
Tugenden theilt Stobäus, von einigen auch Diogenes Definitionen mit. In 
denen des Stobäus werden dieselben durchweg als ἐπιστήμη, bei Diogenes mehr 
als ἕξις oder διάθεσις bezeichnet; sonst lauten sie aber bei beiden fast ganz 
gleich. Eine Definition der εὐταξία b. Cıc. Off. I, 40, 142. 

3) Dıoe. 93. Stop. 104. 

4) Sto. rep. 7 


224 Stoiker. 


bezeichnen, an welchen jene Eine Tugend sich bethätigt 1); ihr 
Unterschied liegt nicht in ihrer inneren Beschaffenheit, sondern 
nur in den äusseren Bedingungen ihres Erscheinens, er drückt 
nur ein bestimmtes Verhältniss zu Anderem, oder wie Herbart 
sagen würde: eine zufällige Ansicht aus ?). Auf die gleiche Vor- 
stellung würde die Art hinführen, wie Kleanthes das Verhältniss 
der Grundtugenden bestimmt 5). Dagegen widersprach ihr Chry- 
sippus: wenn wir mehrere Tugenden unterscheiden, so gründet 
sich diess, wie er glaubt, auf einen inneren Unterschied dersel- 
ben *), jede von ihnen wird zu dieser bestimmten, und ebenso 
auch jeder Fehler zu diesem bestimmten, durch eine eigenthüm- 
liche qualitative Veränderung in der Beschaffenheit der Seele °); 
es genügt mit anderen Worten, damit eine der besonderen Tu- 
genden entstehe, nicht an der blossen Anwendung dessen, worin 
alle Tugend besteht, auf einen besonderen Gegenstand, sondern 
es muss zu jenem Gemeinsamen noch ein weiteres inneres Merk- 
mal, ein artbildender Unterschied, hinzukommen, die Tugenden 
verhalten sich zu einander als verschiedene Arten innerhalb Einer 
Gattung. Aber doch haben alle dasselbe Ziel, welchem sie nur 
auf verschiedenen Wegen zustreben, und sie setzen alle die 


x 


1) Pror. virt. mor. 2: ᾿Αρίστων δὲ ὁ Χίος τῇ μὲν οὐσία μίαν χαὶ αὐτὸς ἀρετὴν 
> r nn ‚ Bd 
ἐποίει χαὶ ὑγείαν ὠνόμαζε: τῷ δὲ πρός τι διαφόρους χαὶ πλείονας, ὡς εἴ τις ἐθέλοι τὴν 
ὅρασιν ἡμῶν λευχῶν μὲν ἀντιίλαμ γὴν λευχοθέαν χαλεῖν, μελάνων δὲ μελανθέαν 

ρασιν ἡμῶν λευχῶν μὲν ἀντιλαμβανομένην λευχοθέαν χαλεῖν, μελάνω με 

“ - ” x x 4 ᾿ 
ἢ τι τοιοῦτον ἕτερον. χαὶ γὰρ ἣ ἀρετὴ ἃ. 8. w. (5. ο. 222, 4)" χαθάπερ τὸ μαχαίριον 
ἕν μέν ἐστιν, ἄλλοτε δὲ ἄλλο διαιρεῖ" καὶ τὸ πῦρ ἐνεργεῖ περὶ ὕλας διαφόρους μιᾷ φύσει 


2) Gates Hippocr. et Plat. VII, 1, 5. 590: νομίζει! γὰρ ὃ ἀνὴρ ἐχέϊνος, μίαν 
οὖσαν τὴν ἀρετὴν ὀνόμασι πλείοσιν ὀνομάζεσθαι χατὰ τὴν πρός τι σχέσιν. Vgl. 
Anm. 5 und Πτοο. VII, 161: ἀρετάς τ᾽ οὔτε πολλὰς εἰςῆγεν, ὡς 6 Ζήνων, οὔτε μίαν 
πολλοῖς ὀνόμασι χαλουμένην, ὡς οἱ Μεγαριχοὶ, ἀλλὰ χαὶ []. χατὰ] τὸ πρός τί πως ἔχειν 
(8011. πολλοῖς ὀνόμ. χαλουμένην). 

. 3) 8. 8. 222, 4. 

4) Ihre Verschiedenheit fällt, stoisch gesprochen, unter die Kategorie des 
rotoy, nicht, wie Aristo wollte, unter die des πρός τί πως ἔχον. 

5) Gates 8, a. O. fährt fort: ὃ τοίνυν Χρύσιππος δείχνυσιν, οὐχ ἐν τῇ πρός τι 
σχέσει γενόμενον τὸ πλῆθος τῶν ἀρετῶν τε χαὶ χακιῶν, ἀλλ᾽ ἐν ταῖς οἰχείαις οὐσίαις 
ὑπαλλαττομέναις κατὰ τὰς ποιότητας. Prur. Sto. rep. 7,3: Χρύσιππος, ᾿Αρίστωνι μὲν 
ἐγχαλῶν, ὅτι μιᾶς ἀρετῆς σχέσεις ἔλεγε τὰς ἄλλας εἶναι. Ders. virt. mor. 2: Χρύσιπ- 
πος δὲ χατὰ τὸ ποιὸν ἀρέτὴν ἰδία ποιότητι συνίστασθαι νομίζων. 


Die Tugenden: ihr gegenseitiges Verhältniss. 225 


“gleiche sittliche Gesinnung und Ueberzeugung voraus !), welche 
ihrerseits nur da ist, wo'sie vollkommen ist, und sofort aufhört, 
wenn sie um einen ihrer Bestandtheile verkürzt wird ?). Sie un- 
terscheiden sich zwar von einander, sofern jede ihren eigenthüm- 
lichen Zweck hat, auf den sie sich zunächst richtet; aber sie 
treffen auch wieder zusammen, weil keine ihren Zweck verfolgen 
kann, ohne die aller andern mitzuverfolgen °). Kein Theil der 
Tugend kann daher von den übrigen getrennt werden; wo Eine 
Tugend ist, da sind alle, ebenso umgekehrt, wo Ein Fehler ist, 
alle andern, und selbst in jeder einzelnen tugendhaften Handlung 
sind alle Tugenden enthalten, denn die sittliche Beschaffenheit, 
aus der sie hervorgeht, schliesst alle in sich %). Was die Tugend 


1) Stoz. II, 110: πάσας δὲ τὰς ἀρετὰς, ὅσαι ἐπιστῆμαί εἰσι χαὶ τέχναι (über die- 
sen Zusatz vgl. m. 8. 217, 5) χοινά τε θεωρήματα ἔχειν χοὶ τέλος, ὡς εἴρηται (5. 108 
— das Gleiche wird 8. 112 f. nach Panätius weiter ausgeführt), τὸ αὐτὸ, διὸ 
καὶ ἀχωρίστους εἶναι" τὸν γὰρ μίαν ἔχοντα πάσας ἔχειν, καὶ τὸν χατὰ μίαν πράττοντα 
χατὰ πάσας πράττειν. )1οα. 125: τὰς 


> 


ἀρετὰς λέγουσιν ἀνταχολουθεῖν ἀλλήλαις καὶ 
τ 


τῶν ποιητέων. τὰ δὲ ποιητέα χαὶ αἱρετέα ἐστὶ χαὶ ὑπομενητέα χαὶ ἐμμενητέα χαὶ ἀπονε- 
μητέα, mit jenem Wissen und Thun sind mithin alle vier Grundtugenden ge: 
geben. 

2) Cıc. Parad. 3, 1: una virtus est consentiens cum ratione et perpetua con- 
stantia. nihil huic addi potest, quo magis virtus sit; nihil demi, ut virtutis nomen 
relinquatur. Aehnlich Sen. ep. 66, 9 (s. u. 229). 

3) Sros. 112 (vgl. Dios. 126): διαφέρειν δ᾽ ἀλλήλων τοῖς χεφαλαίοις. φοονή- 
σεως γὰρ εἶναι: χεφάλαια τὸ μὲν θεωρεῖν χαὶ πράττειν ὃ ποιητέον προηγουμένως, “χατὰ 
δὲ τὸν δεύτερον λόγον τὸ θεωρεῖν χαὶ ἃ BEI ἀπονέμειν, χάριν τοῦ ἀδιαπτώτως πράττειν 
ὃ ποιητέον - τῆς 6: σωφροσύνης ἴδιον χεφάλαιόν ἐστι τὸ παρέχεσθαι τὰς δρμὰς εὐστα- 
θεῖς χαὶ θεωρέϊν αὐτὰς προηγουμένως, χατὰ δὲ τὸν δεύτερον λόγον τὰ ὑπὸ τὰς ἄλλας 
ἀρετὰς, ἕνεχα τοῦ ἀδιαπτώτως ἐν ταῖς ὁρμαῖς ἀναστρέφεσθαι" ebenso die Tapferkeit, 
welche πᾶν ὃ δεῖ ὑπομένειν, die Gerechtigkeit, welche τὸ χατ᾽ ἀξίαν ἑλάστῳ zum 
Hauptstück hat. Pı.ur. Alex. virt. 11, 5. 332: die Stoiker lehren, dass μία μὲν 
ἀρετὴ πρωταγωνιστέ: πράξεως ἑχάστης, παρακαλεῖ δὲ τὰς ἄλλας καὶ συντείνει πρὸς τὸ 
τέλος. 

4) 8. Anm. 1 und Sros. 116: φασὶ δὲ χαὶ πάντα ποιεῖν τὸν συφὸν χατὰ πάσας 
τὰς ἀρετάς: πᾶσαν γὰρ πρᾶξιν τελείαν αὐτοῦ εἶναι. Ῥυῦτ. Sto. rep. 27, 1 (vgl. Alex. 
virt. ἃ. ἃ. O.): τὰς ἀρετάς φησιν [Χρύσιππος] ἀντακολουθέιν ἀλλήλαις, οὐ μόνον τῷ 
τὴν [1. τὸν] μίαν ἔχοντα πάσας ἔχειν, ἀλλὰ χαὶ τῷ τὸν χατὰ μίαν ὁτιοῦν ἐνεργοῦντα 
χατὰ πάσας ἐνεργέϊν᾽ οὔτ᾽ ἄνδρα φησὶ τέλειον εἶναι τὸν μὴ πάσας ἔχοντα τὰς ἀρετὰς, 
οὔτε πρᾶξιν τελείαν, ἥτις οὐ χατὰ πάσας πράττεται τὰς ἀρετάς. Dass Chrysippus, wie 
Plutarch im Folgenden bemerkt, doch auch wieder einräumte, der Wackere 


Philos. d. Gr. III. B. 1. Abth. 15 


226 Stoiker. 


zur Tugend, den Fehler zum Fehler macht, das ist einzig und 
allein die Gesinnung 1): der Wille, welchem die Mittel zur Aus- 
führung fehlen, ist so viel werth, wie die That 2), die schlechte 
Begierde so strafbar, als ihre Befriedigung 5). Tugendhaft ist daher 
nur diejenige Handlung zu nennen, welche nicht blos an sich 
selbst gut ist, sondern auch aus dem Wollen des Guten hervor- 
geht; und wenn der Unterschied der Pflichterfüllung und Pflicht- 
verletzung (κατόρθωμα und ἁμάρτημα) zunächst allerdings auf der 
objektiven Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmurg unserer 
Handlungen mit dem Sittengesetz beruht 4), so ist doch eine 
‚wahre und vollkommene Pflichterfüllung nur die, welche aus 
einem sittlich vollkommenen Charakter entspringt °). 


sei nicht immer muthig, der Schlechte nicht immer feig, ist eben ein von der 
Erfahrung abgedrungenes, dem stoischen Dogma widersprechendes Zuge- 
ständniss. 

1) Cıc. Acad. I, 10, 38: nee virtutis usum modo [Zeno dicebat], ut supe- 
riores (denen-aber der Stoiker offenbar unrechtthut), sed ipsum habitum per se 
esse praeclarum. Ders. Parad, 3, 1: nec enim peccata rerum eventu, sed vitüis ho- 
minum metienda sunt. Sen. Benef. VI, 11, 3: voluntas est, quae apud nos ponit 
ofieium, wie diess Kleanthes in einer hier angeführten Parabel von zwei Skla- 
ven erläutert hatte, von welchen der eine den, welchen er holen soll, eifrig 
sucht, und nicht findet, der andere, statt ihn zu suchen, müssiggeht, und ihm 
dann zufällig begegnet. Ebd. I, 5, 2: eine Wohltbat ist nur ipsa tribuentis vo- 
luntas. 6, 1: non quid fiat aut quid detur refert, sed qua mente u. a. 81." 

2) M. vgl. in dieser Beziehung ausser dem eben Angeführten auch das 
Paradoxon: qui libenter beneficium aceipit, reddidit, welches Sen. a. a. Ὁ, II, 31,1 
mit dem Satz rechtfertigt: cum omnia ad animum referamus, fecit quisque 
quantum voluit, 

3) Kleanthes b. Srob. Floril. 6, 19: 

ὅστις ἐπιθυμῶν ἀνέχετ᾽ αἰσχροῦ πράγματος 
οὗτος ποιήσει τοῦτ᾽ ἐὰν χαιρὸν λάβη. 

4) Ueber den Begriff des χατόρθωμα und ἁμάρτημα vgl. m. Prur. Sto. rep. 
11,1: τὸ χατόρθωμά φασι νόμου πρόςταγμα εἶναι, τὸ δ᾽ ἁμάρτημα νόμου ἀπαγόρευμα. 
Zu den Schlechten verhalte sich das Gesetz nur verbietend, nicht gebietend; 
οὐ yap δύνανται χατορθοῦν. Chrysipp ebd. 15, 10: πᾶν ver χαὶ εὐνόμημα 
χαὶ διχαιοπράγημά ἐστι. Sron. II, 192: ἔτι δὲ τῶν ἐνεργημάτων φασὶ τὰ μὲν εἶναι 
χατορθώματα, τὰ δὲ ἁυαοτήματα, τὰ δ᾽ οὐδέτερα. (Beispiele der letztern das Spre- 
chen, Geben u. 5. f.) ... πάντα δὲ τὰ χατορθώματα διχαιοπραγήματα εἶναι χαὶ εὐνοή- 
ματα [εὐνομήμ.] χαὶ εὐταχτήματα τι. 5. w. τὰ δὲ ἁμαρτήματα ἐχ τῶν ἀντιχειμένων 
ἀδικήματα χαὶ ἀνομήματα χαὶ ἀταχτήματα. 

5) Auf diese Bestimmung bezieht sich nach der einen Seite hin die Unter- 
scheidung des χατόρθωμα und des χαθῆχον. Wenn nämlich ein χαθῆχον (über 


ὦ u 


Einheit der Tugend. 227 


- Dieser Charakter kann aber, wie die Stoiker glauben, nur 
ganz oder gar nicht vorhandensein; denn die Tugend ist, wie wir 
so eben gehört haben, ein untheilbares Ganzes, man kann sie 
nicht blos theilweise haben, sondern'nur haben oder nicht ha- 
ben !). Wer die rechte Gesinnung, die richtige Schätzung der 
Güter und Uebel hat, der besitzt sie, wer dieselbe nicht hat, dem fehlt 


sie, ein Drittes giebt es nicht: die Tugend ist keiner Steigerung. 


und keiner Verminderung fähig ?), und zwischen Tugend und 


dessen Begriff später ausführlicher zu sprechen sein wird) im Allgemeinen jede 
Pflichterfüllung, d. ἢ. jede vernunftgemässe Handlung ist, so ist ein χατόρθωμα 
nur die vollkommene Pflichterfüllung oder die tugendhafte Handlung; vgl. 
Stop. 158: τῶν δὲ χαθηχόντων τὰ μὲν εἶναί φασι τέλεια, ἃ δὴ χαὶ κατορθώματα Ad- 
γεσθαι. χατορθώματα δ᾽ εἶναι τὰ κατ᾽ ἀρετὴν ἐνεργήματα ... τὸ δὲ χαθῆχον τελειωθὲν 
χατόρθωμα γίνεσθαι. Aechnlich S. 184: das χατόρθωμα sei ein καθῆχον πάντας ἐπέ- 
χον τοὺς ἀριθμούς. Cıc. Fin. III, 18, ὅ9: quoniam enim videmus esse quiddam, 
quod recte factum appellemus, id autem est perfectum ofieium; erit autem etiam 


inchoatum; ut, si juste depositum reddere in recte factis sit, in ofieüis (χαθήχοντα) ' 


ponatur depositum reddere. Oft. I, 3, 8: et medium quoddam ofieium dieitur et 
perfectum, jenes heisse χατόρθωμα, dieses, das commune, χκαθῆχον. Einer tugend- 
haften Handlung ist aber nur der fähig, welcher eine tugendhafte Gesinnung 
hat, nur der Weise; vgl. Cıc. Fin. IV, 6, 15: wenn unter dem naturgemässen 
Leben das vernünftige verstanden wird, rectum est, quod χατόρθωμα dicebas, 
contingitque sapienti soli. Oft. III, 3, 14: illud autem ofieium, quod reetum üidem 
[Stoiei] appellant, perfectum atque absolutum est, et, ut üidem dieunt, omnes nu- 
meros habet, nec praeter sapientem cadere in quemquam potest. Daher Off. III, 
4, 16: Wenn man die Decier und Seipionen tapfer, Fabrieius und Aristides ge- 
recht, Cato und Lälius weise nenne, so solle ihnen damit nicht die Weisheit 
im eigentlichen Sinn und die, Tugend des Weisen zugeschrieben werden; sed 
ex mediorum ofheiorum frequentia simiitudinem quandam. gerebant speciemque 
sapientum. 

1) 8. 0.. 225, 2. 

2) Vgl. folg. Anm. und Sıser. Categ. 61,ßf. (Schol. in Arist. 70, Ὁ, 28 8): 
die Stoiker sagen: τὰς μὲν ἕξεις ἐπιτείνεσθαι δύνασθαι: χαὶ ἀνίεσθαι" τὰς δὲ διαθέσεις 
ἀνεπιτάτους εἶναι χαὶ ἀνέτους. Die Geradheit 2. B. sei eine διάθεσις, keine blosse 
ἕξις. οὑτωσὶ δὲ καὶ τὰς ἀρετὰς διαθέσεις εἶναι, οὐ χατὰ τὸ μόνιμον ἰδίωμα, ἀλλὰ κατὰ 
τὸ ἀνεπίτατον χαὶ ἀνεπίδεχτον τοῦ μᾶλλον" τὰς δὲ τέχνας, ἤ 
μὴ, (add. οὐχ) εἶναι, διαθέσεις. (Vgl. hiezu 5. 817, 2, Schl.) Ebd. 72, ὃ (Schol. 
76, a, 12): τῶν Στωϊκῶν, οἵτινες διελόμενοι χωρὶς τὰς ἀρετὰς ἀπὸ τῶν μέσων τεχνῶν 


τοι δυςχινήτους οὔσας ἢ 


ταύτας οὔτε ἐπιτείνεσθαι λέγουσιν οὔτε ἀνίεσθαι, τὰς δὲ μέσας τέχνας χαὶ ἐπίτασιν καὶ 
ἄνεσιν δέχεσθαι φασίν. Simpl. wendet (73, α f. Schol. 76, a, 24 fl.) dagegen ein: 
diess wäre richtig, wenn die Tugend nur in einer theoretischen Ueberzeugung 
bestände, denn eine solche müsse wahr oder falsch, und könne nicht mehr oder 


10." 


228 | Stoiker. 


Schlechtigkeit liegt nichts in der Mitte 1). Ist dem aber so, und 

ist zugleich der Werth der Handlungen ausschliesslich ‚nach der 

Gesinnung zu beurtheilen, so folgt unabweisbar, dass er gleich- 
falls keinen Gräändtersunitd zulässt; wenn ΤΗΝ die Gesin- 

nung nur eines von beiden, entweder gut oder schlecht, sein kann, 

so wird das Gleiche auch von den Handlungen gelten müssen; 

und wenn die gute Gesinnung , oder die Tugend, nichts Schlech- 

tes, die schlechte Gesinnung nichts Gutes an sich hat, so wird es 

sich auch mit den Handlungen nicht anders verhalten: die gute 

Handlung ist unbedingt löblich, die schlechte unbedingt verwerf- 

lich, denn jene kommt nur da vor, wo die Tugend rein und ganz 

ist, diese nur da, wo sie ganz fehlt. Alle guten Handlungen auf 
der einen, alle Verfehlungen auf der andern Seite stehen mithin, 

nach einem bekannten Paradoxon, sich an Werth gleich: der 

Maasstab der sittlichen Beurtheilung ist ein absoluter, und wenn 

unser Verhalten diesem Maasstab nicht durchaus entspricht, so 

widerspricht es ihm durchaus ?). 


weniger wahr sein (eben der Grund, welchen die Stoiker von ihrer Voraus- 
setzung aus geltend machten; s. S. 228, 2); anders verhalte es sich aber, wenn 
sie Sache der Uebung sei. — Ein weiterer Unterschied der ἀρετὴ von der τέχνη, 
dass dieser als natürliche Vorbereitung nur eine einfache ἐπιτηδειότης, jener 
eine ἀξιόλογος προχοπὴ vorangehe (Sımer. Categ. 62, ß f. Schol. 71, a, 88), mag 
ebenso, wie die Definitionen der τέχνη, welche Orymrıopor in Gorg. 53 f. 
(Jahrbb. für Philol. Supplementb. XIV, 239) von Zeno, Kleanthes und Chry- 
sippus anführt (die zenonische auch bei Sexr. Pyrrh. III, 241. Math. VII, 
109. 373, vollständiger bei Lucıan Paras. 6. 4 vgl. Cıc. Acad. II, 7, 22) hier 
nur beiläufig berührt werden. 

1) Dıoc. VII, 127: ἀρέσχει δὲ αὐτοῖς μηδὲν μέσον εἶναι ἀρετῆς χαὶ καχίας" τῶν 
Περιπατητιχῶν μεταξὺ ἀρετῆς χαὶ χαχίας εἶναι λεγόντων τὴν προχοπήν ὡς γὰρ δεῖν, 


φασιν, ἢ ὀρθὸν εἶναι ξύλον ἢ στρεβλὸν, οὕτως ἢ δίχαιον ἢ ἄδιχον οὔτε δὲ δικαιότερον 


οὔτε ἀδικώτερον, καὶ ἐπὶ τῶν ἄλλων ὁμοίως. Aehnlich Sen. ep. 71, 18: quod sum- 
mum bonum est supra se gradum non habet ... hoc nec remitti nec intendi posse, 
. non magis, quam regulam, qua rectum probari solet, flectes. quiequid ex illa mu- 
taveris injuria est recti, Stos. II, 116: ἀρετῆς δὲ χαὶ χαχίας οὐδὲν εἶναι μεταξύ. 

2) Das vielbesprochene Paradoxon (Ὁ. Cic. Parad. 3. Fin. IV, 27 f. Dıoe, 
101. 120. Sros. 218. Pı.vur. Sto. rep. 13, 1. Sexr. Math. VII, 422. Sex. ep. 66, 
5 fl. u. A.) lautet: ὅτι ἴσα τὰ ἁμαρτήματα χαὶ τὰ κατορθώματα. Begründet wurde 
es nach Dioc. einerseits mit dem Satze: πᾶν ἀγαθὸν ἐπ᾽ ἄχρον εἶναι αἱρετὸν χαὶ 
μήτε ἄνεσιν μήτε ἐπίτασιν δέχεσθαι, andererseits mit der Bemerkung, auf die auch 
Sexrtus und Sıyer. in Categ. Schol. in Arist. 76, a, 30 hinweist: wenn Wahr- 


Gleichheit der Taspmlen und Fehler. 229 


Me 0 un Vorstehenden folgt nun unmittelbar, dass auch 
unter den Personen nur Ein durchgreifender sittlicher Unter- 
schied möglich ist, der Gegensatz der ee und Schlech- 


EAISEE 2 


heit und Falschheit keinen Gradunterschied zulassen, so müsse diess auch von 
dem Verfehlten in unsern Handlungen gelten. Ob Jemand hundert Stadien 
vom Ziel entfernt sei, oder eines, so sei er eben nicht bei demselben. Aehnlich 
Srosius: die Stoiker erklären die Verfehlungen für ἴσα, wenn auch nicht für 
ὅμοια; πᾶν γὰρ τὸ ψεῦδος ἐπίσης ψεῦδος suußeßnzev (ein Satz, den auch Aurx. in 
Metaph. S. 258,3 Bon. 667, a, 19 Brand. als stoisch anführt), jede ἁμαρτία aber 
sei Folge einer διάψευσις. Unmöglich können aber die χατορθώματα ungleich 
sein, wenn die Verfehlungen gleich seien; πάντα γάρ ἐστι τέλεια, διόπερ οὔτ᾽ ἐλ- 
λείπειν οὔθ᾽ ὑπερέχειν δύναιτ᾽ ἂν ἀλλήλων. Besonders ausführlich haben sich 
Cicero und Seneca mit unserer Frage beschäftigt. Die Erörterung des Erste- 
‚ren in den Paradoxa führt, was die Tugenden betrifft, auf den 3, 225, 2 ange- 
führten Satz zurück, aus dem sofort folgt, dass nih:il recto rectius und bono melius 
sein könne. Die Gleichheit der Fehler ergiebt sich theils aus der der Tugen- 
den, theils aus der Erwägung, dass alles, was verboten ist, gleichsehr verboten 
sei. Ebenso fasst sich die Begründung, welche De Fin. angeführt wird, in dem 
Satze zusammen, alle Verfehlungen seien gleich, quia nec honesto quidguam 
honestius, nec turpi turpius. Seneca wirft ep. 66, 5 die Frage auf,’ wie trotz 
des Untersehieds unter den Gütern (s. o. 196, 1 Schl.) doch alle an Werth sich 
gleich sein können, und er antwortet gleichfalls: ein ursprünglich Gutes sei 
nur die richtig beschaffene Seele, oder was dasselbe, die Tugend. Diese nehme 
nun zwar, nach Maassgabe der Thätigkeiten, die ihr obliegen, verschiedene 
Gestalten an, aber sie könne weder zu- noch abnehmen. Dieses nicht: de- 
erescere enim summum bonum non potest, nec virtuti ire retro licet. Ebensowenig 
aber auch jenes, qguando incrementum maximo non est: nihil invenies rectius 
reclo, non magis Juam verius vero, quam temperato temperatius. Alle Tugend 
bestehe in modo, in einer certa mensura. Quid uccedere perfecto potest? nihil, 
aut perfectum non erat, cui accessit: ergo ne virtuti quidem, cui si quid adiei pot- 
est, defwit ... ergo virtutes inter se pares sunt et opera virtutis et ommes homines, 
quibus ülae contigere ... una indueitur kumanis virtutibus regula. una enim est 
ratio recta simplexque. nihil est divino divinius, coelesti coelestius. mortalia mi- 
nuuntur „.. crescunt u. 5. w. divinorum una natura est. ratio autem nihil aliud 
est, quam in corpus humanum pars divini spiritus mersa ... nullum porro inter 
divina discrimen est: ergo nec inter bona. Ebd. 5. 32: omnes virtutes rationes 
sunt: rationes sumt rectae: si rectae sımt, et pares sumt. qualis ratio est, tales et 
actiones sunt: ergo omnes pares sunt — gleich‘ nämlich an sittlichem Werth; 
ceterum magna habebunt diserimina variante materia u. s. w. Von demselben 
Standpunkt aus vertheidigt Seneca ep. 71 die Gleichheit aller Güter und aller 
guten Handlungen; so namentlich s. 18 ff., wo dem $. 228,1 Angeführten noch 
beigefügt wird: δὲ rectior ipsa [virtus] non potest fieri, ne quae ab illa quidem 
"fiunt, alia aliis rectiora sunt. 


2330 Stoiker. 


ten; dass dagegen innerhalb jeder von diesen zwei Klassen kein 
Gradunterschied stattfindet. Wer die Tugend besitzt, der kann sie 
nur vollkommen besitzen, wem sie fehlt, dem muss sie ganz feh- 
len, und ob er ihrem Besitz näher oder ferner steht, darauf kommt 
nichts an: wer eine Elle unter dem Wasser ist, der ertrinkt gerade 
so gut, wie der, welcher fünfhundert Klafter darunter ist, wer 
blind ist, der sieht gleich wenig, ob er sein Gesicht morgen oder 
ob er es niemals erlangen wird!). Die Gesammtheit der Menschen 
zerfällt demnach den Stoikern in zwei Klassen, die Weisen und 
die Thoren 37: und diese zwei Klassen werden von ihnen als völ- 
lig getrennt und jede in ihrer Art als schlechthin vollendet be- 
schrieben: in dem Weisen soll gar keine Thorheit Raum finden, 
in dem Thoren keinerlei Weisheit ?). Der Weise soll von Fehler 
und Irrthum durchaus frei sein, Alles was er thut, ist vollkommen, 
alle Tugenden sind in ihm vereinigt; er hat von Allem die richtige 
Ansicht, und über nichts eine falsche Meinung, oder überhaupt 
eine blosse Meinung; der Schlechte umgekehrt kann nichts recht 
thun, hat alle Fehler an sich, besitzt über gar nichts ein richtiges 


1) Pıvur. ὁ. not. 10, 4: ναὶ, φασὶν" ἀλλὰ ὥσπερ 6 πῆχυν ἀπέχων ἐν θαλάττῃ τῆς 

ἐπιφανείας οὐδὲν ἧττον πνίγεται τοῦ χαταδεδυχότος ὀργυιὰς πενταχοσίας, οὕτως οὐδὲ 
οἱ πελάζοντες ἀρετῇ τῶν μαχρὰν ὄντων ἧττόν εἶσιν ἐν καχία᾽ χοὶ χαθάπερ ol τυφλοὶ 
τυφλοί εἰσι χἂν ὀλίγον ὕστερον ἀναβλέπειν μέλλωσιν, οὕτως οἱ προκόπτοντες ἄχρις οὗ 
τὴν ἀρετὴν ἀναλάβωσιν ἀνόητοι χαὶ μοχθηροὶ διαμένουσιν. Dros. 127 (5. ο. 228,1). 
5'ΤΌΒ. II, 236: πάντων τε τῶν ἁμαρτημάτων ἴσων ὄντων χαὶ τῶν χατορθωμάτων χαὶ 
τοὺς ἄφρονας ἐπίσης πάντας ἄφρονας εἶναι: τὴν αὐτὴν χαὶ ἴσην ἔχοντας διάθεσιν. ΟἿ. 
Fin. III, 14, 48: consentaneum est his quae dieta sunt, ratione ülorum, qui ilum 
bonorum finem quod appellamus ertremum quod ultimum erescere putent posse, 
üsdem placere, esse alium alio etiam sapientiorem, itemque alium magis alio vel 
peccare vel recte facere. quod nobis non licet dicere, qui crescere bonorum finem 
non putamus. Und nun folgen dieselben Vergleichungen, wie bei Plutarch. 
Sen. ep. 66, 10 (s. vor. Anm.): wie die Tugenden sich gleich sind, so auch 
omnes homines, quibus ilae contigere. Ep. 79, 8: das Vollendete lässt keine Stei- 
gerung zu: quicungue fuerint sapientes pares erunt et aequales. 

2) ὅτοβ. II, 198: ἀρέσχει γὰρ τῷ τε Ζήνων! χαὶ τοῖς ἀπ᾿ αὐτοῦ Στωϊχοῖς φιλοσό- 
por, δύο γένη τῶν ἀνθρώπων εἶναι, τὸ μὲν τῶν σπουδαίων τὸ δὲ τῶν φαύλων" χαὶ τὸ 
μὲν τῶν σπουδαίων διὰ παντὸς τοῦ βίου χρῆσθα: ταῖς ἀρεταῖς τὸ δὲ τῶν φαύλων ταῖς 
χαχίαις. 

8) Prur. aud. poöt. 7, δι 25: μήτε τι φαῦλον ἀρετῇ προςεῖναι μήτε χαχίᾳ χρη- 
στὸν ἀξιοῦσιν, ἀλλὰ πάντως μὲν ἐν πᾶσιν ἁμαρτωλὸν εἶναι τὸν ἀμαθῆ, περὶ πάντα δ᾽ 
αὖ χατορθοῦν τὸν ἀστεῖον. : 


Weise und Thoren. | 231 


Wissen, ist durchaus ungebildet, gewaltthätig, grausam, undank- 
bar u.s. w. '). Die Stoiker lieben es, diese Vollkommenheit des 
‚Weisen im Gegensatz zu der μδιμμε αρησν Fehlerhaftigkeit des Tho- 
ren in den bekannten Paradoxen auszudrücken ?). Der Weise 
allein soll frei sein, weil er allein sich aus sich selbst bestimmt °); 
er allein schön, weil nur die Tugend wahrhaft schön und liebens- 
‚würdig ist *); er allein reich und glücklich (εὐτυχὴς). weil die 
geistigen Güter die werthvollsten sind, der wahre Reichthum in 
der Bedürfnisslosigkeit besteht °); ja absolut reich, denn wer von 
Allem die richtige Ansicht hat, der hat Alles in seinem geistigen 
Besitz ©), und wer von Allem den rechten Gebrauch macht, der 
verhält sich zu Allem als Eigenthümer 7). Nur die Weisen ver- 
stehen zu gehorchen , aber auch nur sie zu herrschen; sie allein 
sind daher Könige, Feldherrn, Steuermänner u. 5. f. °); ebenso 
sind sie die alleinigen Redner, Dichter, Wahrsager u. s. w. °), 
und da nur ihre Ansicht über die Götter und die Gottes- 
verehrung die richtige, nur bei ihnen eine wahre Frömmigkeit 
möglich ist, so sind sie auch die alleinigen Priester und Freunde 
der Götter, wogegen alle Thoren nothwendig gottlos, unheilig, 
Feinde der Götter sein sollen !°). Nur der Weise ist der Dank- 


1) Srog. Ekl. II, 116 ἡ. 120. 196. 198 ff. 220. 232 £. Dıioc. VII, 117 ff. 125. 
Cıc. Acad. I, 10, 58. II, 20, 66. Pur. Sto. rep. 11,1. Sen. Benef. IV, 26 £. 
Sexr. Math. VII, 434. 

2) M. vgl. zum Folgenden die reichhaltige, aber ungeordnete Sammlung 
von Aussprüchen über Weise und Unweise bei Baumuauer Vet. philosoph. 
doctr. de morte volunt. 169 ff. 

3) Dioe. 121. 32 ἢ Οἷα. Acad. II, 44, 136. Parad. 5: ὅτι μόνος ὃ σοφὸς 
ἐλεύθερος καὶ πᾶς ἄφρων δοῦλος. 

4) Ῥυῦτ. ο. not. 28, 1. Cıc. Acad. ἃ. a. O. Sexr. Math. XI, 170. 

5) Cıc. Parad. 6. Acad. a. ἃ. Ὁ. Kleanthes b. Sroe. Floril. 94, 28. Sexr. 
a. 8. Ὁ. Arex. Arns. Top. 79, ὁ. m. | 

6) Sen. Benef. VII, 3,2f. 6,3. 8, 1. 

7) Cıc. Acad. a. a. 0. Dioc. VII, 125. 

8) (το. ἃ. ἃ. Ὁ. Diıoc. VII,:122. Sros.'II, 206. Pıur. Arat. 23; über die 
sämmtlichen bisher Bere Bestimmungen: Pı.ur. c. not. 3,2. De adulat. 
16, 5. 58 tranqu. an. 12, 8.472. Ps. Pur. De nobilit. 17, 2. Cıc. Fin. II, 
22, 75. Hosaz ep. I, 1, 106 SA. Sat. I, 3, 124 ff. u. A. 

9) Ῥεῦτ. trang. an. 12. Cıc. Divin. II, 63, 129. Sros, 1], 122 vgl. Ps.- 
Pıur. νυ. Hom. 143. 

10) Stos. II, 122£. 216. Dioe. 119. Sen. provid. 1,5. Dass die Weisen 


232 Stoiker. 


barkeit, der Liebe, der Freundschaft fähig 1), nurihm kann eine 
Wohlthat erwiesen werden, für den Schlechten dagegen ist nichts 
nützlich und brauchbar u. s. w. ?). Um es mit Einem Wort zu 
sagen: der Weise ist schlechthin vollkommen, schlechthin leidens- 
ünd bedürfnisslos, schlechthin glückselig ?), er steht, wie die Stoa 
abschliessend erklärt, selbst hinter Zeus an Glückseligkeit nicht 
zurück *) — denn der einzige Unterschied, der der Zeit, soll ja 
zur Vermehrung der Glückseligkeit nichts beitragen °). Der Un- 
weise dagegen ist durchaus thöricht, unglückselig und verkehrt, 
oder wie der stoische Kraftausdruck lautet: jeder Unweise ist ein 
Verrückter, denn verrückt ist, wer über sich selbst und das, was 
ihn zunächst angeht, kein Bewusstsein hat ). 

Diese Behauptung musste um so tiefer einschneiden, je weniger 
die Stoiker ausser ihrer eigenen oder einer der ihrigen verwandten 
Philosophie eine wirkliche Tugend und Weisheit zugaben, und je 
ungünstiger sie überhaupt über den sittlichen Zustand der Mensch- 
heit urtheilten. Dass dieses Urtheil nur ein sehr herbes sein 
konnte, diess war in ihrem ganzen Standpunkt begründet. Eine 
Philosophie, welche ihr sittliches Ideal den herrschenden Begriffen 
so schroff entgegenstellt, kann einerseits nur aus einer durch- 
greifenden Missbilligung der bestehenden Zustände entsprungen 


Freunde der Götter seien, und die Götter der Weisen, führt auch Prıtopemus 
π. θεῶν διαγωγῆς Vol. Hercul. VI, 29 als stoisch an. 

1) Sen. ep. 81, 11 f. Sroe. II, 118. 

2) Sex. Benef. V, 12,3 fl. Prur. St. rep. 12,1. ce not. 20,1 und oben 195,3. 

3) ὅτοβ. II, 196 f. Prur. Stoie. abs. poöt. die. ο. 1.4 u. A. Vgl. das Frü- 
here über die Apathie und die Autarkie der Tugend. 

4) Chrysippus b. Prur. Sto. rep. 13, 2. e. not. 33, 2. Stop. II, 198. Sen. 
prov. 1,5: bonus ipse tempore tantum a Deo difiert. Ebd. 6, 4 ff., wo Jupiter 
den Tugendhaften sogar sagt: hoc est, quo Deum antecedatis: üle extra patien- 
tiam malorum est, vos supra patientiam. Ep. 73, 11f. De const. 8,2. Cıc. Ν. Ὁ. 
II, 61, 153. Erıkrer Diss. I, 12, 26. Man. 15. Horaz ep. I, 1, 106 fl. 

5) 8. 8. 203,2 und Sen. ep. 53, 11: non multo te Di antecedent ... diutius 
erunt: at mehercules magni artifieis est elusisse totum in exiguo. tantum sapienti 
sua, quantum Deo omnis aetas patet. 73,15: Jupiter quo antecedit virum bonum? 
diutius bonus est: sapiens nihillo se minoris aestimat, quod virtutes ejus spatio 
breviore cluduntur. 

6) πᾶς ἄφρων μαίνεται Cıc. Parad. 4. Tuse. III, 5, 10. Dios. VII, 124. 
Stor. ΕΚ], II, 124. Horaz Sat. II, 3, 43. 


Weise und Thoren. Menschliche Sündhaftigkeit. 233 


sein, und andererseits muss sie dazu hinführen. Nach stoischem 
Maasstab musste ja die überwiegende Mehrzahl, ja fast die Ge- 
sammtmasse der Menschen der Klasse der Unweisen zugezählt 
werden; und wenn nun alle Unweisen gleichsehr und durchaus 
schlecht sind, so konnte man in der Menschheit nur ein Meer von 
Verkehrtheit und Lastern erblicken, aus dem höchstens einige 
wenige Schwimmer an weit zerstreuten Punkten auftauchen 1). 
Der Mensch wandelt, wie schon Kleanthes klagt ?), sein Leben 
lang in Schlechtigkeit; kaum dass Einzelne nach langem Irrthum 
am Abend ihres Lebens zur Tugend durchdringen. Dass diess die 
allgemeine Ansicht seiner Schule war, wird durch ihre Sätze über 
die Verrücktheit der Unweisen und die Seltenheit des Weisen ?) zur 
‘'Genüge erwiesen. Kein Anderer aber aber hat dieses Urtheil öfter 
und stärker ausgesprochen, als Seneca. Wir sind schlecht, sagt er, 
wir sind schlecht gewesen, und wir werden schlecht sein. Unsere 
Voreltern haben über den Verfall der Sitten geklagt, wir kla- 
gen darüber und unsere Nachkommen werden darüber zu klagen 
haben. In Wahrheit sind es nur geringe Schwankungen, denen 
der sittliche Zustand unterliegt: die Erscheinungsformen des Bö- 
sen wechseln, seine Macht bleibt dieselbe %). Alle sind schlecht, 
und wer noch nichts Böses gethan hat, der wäre doch im Stand, 


1) Wie diess der Peripatetiker DiosExtan Ὁ. Evs. praep. ev. VI, 8, 10 
Chrysippus vorhält: πῶς οὖν οὐδένα φὴς ἄνθρωπον, ὃς οὐχὶ μαίνεσθα! σοι δοχέϊ κατ᾽ 
ἴσον ᾽Ορέστῃ χαὶ ᾿Αλχμαίωνι, πλὴν τοῦ σοφοῦ; ἕνα δὲ ἢ δύο μόνους φὴς σοφοὺς γεγο- 
νέναι: Aehnlich Pıvr. Sto. rep. 31,5. 

2).Bei Sexr. Math. IX, 90 (im Zusammenhang der S. 124, 1 berührten Be- 
weisführung): der Mensch kann nicht das vollkommenste Wesen sein, οἷον εὖ- 
θέως, ὅτι διὰ χαχίας πορεύεται τὸν πάντα χρύνον, el δὲ μή γε, τὸν πλεῖστον - καὶ γὰρ εἴ 
ποτε περιγένοιτο ἀρετῆς, ὀψὲ χαὶ πρὸς ταῖς τοῦ βίου δυσμαῖς περιγίνεται. 

3) Ich werde auf diesen Punkt im nächsten Kapitel noch einmäl zurück- 
kommen; vorläufig vgl. m. Anm. 1 und Sexr. Math. IX, 133: εἰσὶν ἄρα σοφοί" 
ὅπερ οὐχ ἤρεσχε τοῖς ἀπὸ τῆς στοᾶς, μέχρι τοῦ νῦν ἀνευφρέτου ὄντος χατ᾽ αὐτοὺς τοῦ 
σοφοῦ. Auex. Arnrop. De fato c. 28, 8. 90: τῶν δὲ ἀνθρώπων οἱ πλεῖστοι καχοὶ, 
μᾶλλον δὲ ἀγαθὸς μὲν εἷς ἢ δεύτερος ὑπ᾽ αὐτῶν γεγονέναι μυθεύεται, ὥσπερ τι παρά- 
Sokov ζῷον χαὶ παρὰ φύσιν, σπανιώτερον τοῦ Φοίνιχος ... οἱ δὲ πάντες καχοὶ χαὶ ἐπί- 
σης ἀλλήλοις τοιοῦτοι, ὡς μηδὲν διαφέρειν ἄλλον ἄλλου, μαίνεσθαι δὲ ὁμοίως πάντας. 
Puiwopes. De Mus. (Vol. Here. I) 60]. 11. 18: der Stoiker dürfe sich nicht auf 
das Urtheil der Menge (den eonsensus gentium) stützen, da er ja diese durch- 
weg für verrückt und gottverhbasst halte. 

4) Benef. I, 10, 1 --- 8. 


234 Stoiker. 


65 zu thun; Alle sind undankbar, habsüchtig, feige, gottlos u.s. w., 
Alle sind verrückt ἢ). Wir alle haben gefehlt, der Eine leichter, 
‘der Andere schwerer, und wir werden alle fehlen bis an’s Ende 
unseres Daseins 5); Einer drängt den Andern zum Bösen, und die 
Menge der Schlechten duldet es nicht, dass Einzelne sich bes- 
sern 5); wer über die Laster der Menschen zürnen wollte, statt 
ihre Irrthümer zu beklagen, der fände in der Masse der Frevel 
kein Ende *). Einem Seneca bot allerdings sein Zeitalter zu der- 
artigen Ergüssen nur allzu reichliche Veranlassung; aber auch 
seinen Vorgängern konnte es in dem ihrigen nicht daran fehlen, 
und alle Voraussetzungen des stoischen Systems machten es bei 
folgerichtigem Denken unmöglich, die grosse Mehrzahl der Men- 
schen für etwas anderes, als für eine Schaar von Thoren und 
Sündern zu halten. Selbst die berühmtesten Namen wussten die 
Stoiker von diesem Urtheil nicht auszunehmen. Fragte man sie 
um Beispiele der Weisheit, so verwiesen sie auf einen Sokra- 
tes, Diogenes, Antisthenes °), und in späterer Zeit auf einen 
Cato ὅ); dagegen mussten sie den grössten Staatsmännern und 
Helden der Vorzeit nicht blos mit Plato die philosophische, son- 
dern alle und jede wahre Tugend absprechen ’), und kaum das 
Zugeständniss will sich mit ihren Sätzen von der Gleichheit aller 


N 


1) De ira III, 26, 4 f. Benef. V, 17, 3. 

2) De element. I, 6, 3 vgl. De ira II, 28, 1. III, 27, 3. 

3) Ep. 41, 9. v. be. 1, 4. 

4) M. s. die pathetische Schilderung De ira II, 8—10, wo u. A.: ferarum 
iste conventus est ... certatur ingenti quidem nequitiae certamine: major cotidie 
peccandi cupiditas, minor verecundia est u. 5. W. 

5) Dıioe. VII, 91: τεκμήριον δὲ τοῦ ὑπαρχτήν εἶναι τὴν ἀρετήν φησιν ὃ Ποσει- 
δώνιος ἐν τῷ πρώτω τοῦ ἠθιχοῦ λόγῳ τὸ γενέσθαι ἐν προχοπῇ τοὺς περὶ Σωχράτην, 
Διογένην χαὶ ᾿Αντισθένην. (Ueber die Beschränkung, die auch hierin noch liegt, 
wird sogleich gesprochen werden.) Erıxr. Man. 15, der neben Diogenes auch 
Heraklit als θείο! nennt. 

6) M. s. über ibn die maasslusen Lobsprüche seines Bewunderers SesecA 
z. B. De eonst. 7, 1: der Weise sei kein unwirkliches Ideal, wenn er auch, wie 
alles Grosse, nur selten vorkomme. ceterum hie ipse M. Cato vereor ne supra 
nostrum exemplar sit. Ebd. 2, 1: Catonem autem certius exemplar sapientis viri 
nobis Deos immortales dedisse quam Ulixen et Herculem prioribus seeulis. 

7) Prutarch prof. in virt. 2, 5. 76. Cıc. Of. III, 4, 16 (8. 226,5, Schl.) 
u. A. 


- Weise und Thoren. Fortschreitende. 235 


Nichtweisen vertragen , dass die allgemeinen Fehler den δυλούν 
‚geringerent Maasse beiwohnen als den Andern 7). ET" 
Sind aber die beiden sittlichen Zustände so schroff geschie- 
den, so ist natürlich kein allmähliger Uebergang von dem einen 
zum andern möglich. Mochten daher die Stoiker auch einen Fort- 
schritt von der Thorheit und Schlechtigkeit zur Weisheit anneh- 
men ?), so mussten sie doch den wirklichen Eintritt in die letztere 
für etwas Momentanes erklären °): die Fortschreitenden ohne 
Ausnahme gehören noch zu den Thoren *), und der weise Gewor- 
dene soll sich seines neuen Zustandes im ersten Anfang nicht be- 
wusst sein °); der Uebergang in denselben erfolgt so rasch, und 


1) Sen. Benef. IV, 27, 2: itaque errant ili, qui interrogant Stoicos: quid 
ergo? Achilles timidus est? quid ergo? Aristides, cui justitia nomen dedit, inju- 
stus est? u. 5. w. non hoc dieimus, sie omnia vitia esse in omwibus, quomode in 
quibusdam singula eminent: sed malum ac stultum nullo vilio vacare ... omnia in 
omnibus vitia sunt, sed non omnia in singulis exstant (d.h. nicht 4116 sind in 
Jedem gleich hervorragend). Es bedarf kaum der Bemerkung, wie nahe diese 
Behauptung mit der augustinischen Lehre von den 'I'ugenden der Heiden, die 
stoische Schilderung des Thoren mit der christlichen Ausicht über den Un- 
wiedergeborenen, und der ganze Dualismus der Weisen und Thoren mit dem 
Dualismus der Glaubigen und Unglaubigen verwandt ist. 

2) Pur. c. not, 10, 1. prof. in virt. 12, 8. 82. Sen. ep. 75,8 ff. u. a. Si. 

3) Pur. c. not, 9 (s. Anm. 5) Stoie. abs. poet. die. ο, 2 Εἰ, wo die 
Stoiker darüber ἐν μου werden, dass Jemand ihrer Meinung nach hässlich, 
arm, schlecht, elend u. s. f. zu Bett gehen, und am andern Morgen weise, 
tugendhaft, reich, gldckaclig, als König u. s. w. aufstehen könne. Dasselbe 
prof. in virt. ec. "1, 5. 75, wo auch die Bemerkung Zeno’s, man könne an seinen 
Träumen sehen, ob man im Guten fortschreite. 

4) 8. 0. 228, 1. Pi.ur. prof. iv virt. e. 1, Auf. ec. not. 10, 2 fi. (vgl. 
S. 230,1). Sex. ep. 75, 8. 

5) Pror. c. not. 9, 1: τῆς ἀρετῆς χαὶ τῆς εὐδαιμονίας παραγινομένης πολλάχις 
οὐδ᾽ αἰσθάνεσθαι τὸν χτησάμενον οἴονται διαλεληθέναι δ᾽ αὐτὸν ὅτι μιχρῷ πρόσθεν 
ἀθλιώτατος ὧν καὶ ἀφρονέστατος νῦν δμοῦ φρόνιμος χαὶ μαχάριος γέγονεν. Aechnlich 
Sto. rep. 19, 3. Zur Erläuterung dieser Angabe verweist Rırrer III, 657 sehr 
richtig neben Sros. II, 234 (γίγνεσθαι δὲ χαὶ διαλεληθότα τινὰ σοφὸν νομίζουσι 
κατὰ τοὺς πρώτους χρόνους) auf ΡΗπιῸ de agric. 8.325 (211, A Hösch.): die 
noch ungeübten Vollkommenen παρὰ τοῖς φιλοσόφοις διαλεληθότες εἶναι λέγονται 
σοφοί. τοὺς γὰρ ἄχρ; σοφίας ἄχρας ἐληλαχότας καὶ τῶν ὅρων αὐτῆς ἄρτι πρῶτον arba- 
μένους ἀμήχανον εἰδέναι, φασὶ, τὴν ἑαυτῶν τελείωσιν. μὴ γὰρ κατὰ τὸν αὐτὸν χρόνον 
ἄμφω συνίστασθαι, τήν τε πρὸς τὸ πέρας ἄφιξιν καὶ τὴν τῆς ἀφίξεως κατάληψιν, ἀλλ᾽ 
εἶναι μεθόριον ἄγνοιαν ἃ. κ. w. Auch Szs. ep. 75, 9 erörtert. diesen Gegenstand, 


236 Stoiker. 


in dem früheren Zustand sind so wenig Anknüpfungspunkte für 
den neuen gegeben, dass das Selbstbewusstsein mit der thatsäch- 
lichen Aenderung in der Beschaffenheit des Menschen nicht glei- 
chen Schritt hält, diese vielmehr erst aus der nachfolgenden Er- 
fahrung erkannt wird. 

In dieser Schilderung des Weisen hat der moralische Idealis- 
mus des stoischen Systems seinen Gipfel erreicht. Der tugendhafte 
Wille erscheint hier so vollständig abgelöst von allen sinnlichen 
Lebensbedingungen,, so schlechthin frei von allen Schranken des 
natürlichen Daseins, das Individuum ist so rein zum Organ des 
allgemeinen Gesetzes geworden, dass wir uns nur fragen müssen, 
mit welchem Recht ein solches Wesen noch ein Individuum ge- 
nannt würde, ob und wie es als Mensch unter Menschen lebend 
gedacht werden könne?‘ Aber auch den Stoikern selbst musste 
sich diese Frage aufdrängen, und wenn sie nicht von vorne herein 
auf die praktische Durchführbarkeit, und ebendamit auch auf die 
wissenschaftliche Wahrheit ihres Ideals verzichten wollten, so 
konnten sie sich der Aufgabe nicht entziehen, seine Vereinbarkeit 
mit den Bedürfnissen des menschlichen Lebens und den Bedin- 
gungen der Wirklichkeit nachzuweisen. Machten sie aber einmal 
diesen Versuch, so konnte es nicht fehlen, dass sienun doch wieder 
eine gewisse Verständigung mit den Meinungen und Neigungen der 
Menschen suchten, gegen die sie erst eine so schroff abweisende 
Stellung eingenommen hatten; es konnte diess um so weniger aus- 
bleiben, je grösser der Werth war, der von ihrem System selbst theils 
auf seine praktische Wirkung, theils aufseine Uebereinstimmung mit 
demallgemeinen Urtheil gelegt wurde. Geht daher auch die ursprüng- 
liche Richtung der stoischen Moral auf die ganz reine und unbe- 
dingte Unterwerfung des Einzelnen unter das allgemeine Gesetz, 
so macht doch in ihrer weiteren Ausführung das Recht der Indi- 
vidualität seinen Einfluss unvermerkt geltend, und aus diesen 


nur dass er diejenigen, welche das Bewusstsein ihrer Vollendung noch nicht 
erreicht haben, nicht den Weisen, sondern erst den Fortschreitenden, als 
höchste Klasse derselben, zuzählt. Praxrı's Vermuthnyg, dass der σοφὸς 
διαλεληθὼς mit dem unter dem Namen διαλανθάνων bekannten Fangschluss 
combinirt worden sei, (Gesch. der Logik I, 490, 210) kann ich mir nicht an- 
eignen. 


Milderung des sittlichen Idealismus. 237 


entgegengesetzten Strömungen erzeugt sich eine Abweichung von 
der geraden Linie des Systems, deren verschiedene Ausbeugun- 
gen nach der Seite der gewöhnlichen Lebensansicht wir zunächst 
in’s Auge fassen müssen. - 9 


μοΥ͂ 


9. Fortsetzung. Β. Die Milderung des sittlichen Idealis- 
mus durch die Rücksicht auf das praktische Bedürfniss. 


Die ganze Ethik der Stoiker wurzelt in dem Satze, dass nur 
die Tugend ein Gut, nur die Schlechtigkeit ein Uebel sei. Eben 
dieser Satz brachte aber. die Stoiker nicht blos mit der gewöhn- 
lichen Meinung in auffallenden Widerstreit, sondern er war auch 
in ihrem System selbst nicht ohne Schwierigkeiten. Für’s Erste 
nämlich ist die Tugend in ihrem Dasein an gewisse Bedingungen 
geknüpft, und sie hat gewisse Folgen, die sich nicht von ihr 
trennen lassen; und wir haben früher gesehen, dass die Stoiker 
auch diese unter die Güter mitaufnahmen 1). Weiter aber soll die 
Tugend desshalb das einzige Gut sein, weil nur das Naturgemässe 
ein .Gut und nur das vernünftige Handeln für den Menschen 
naturgemäss sei. Allein lässt sich dieses so unbedingt und aus- 
schliessend behaupten? Der Grundtrieb ist nach stoischer Lehre 
der Selbsterhaltungstrieb; dieser schliesst aber offenbar auch die 
Erhaltung und Förderung des sinnlichen Lebens in sich. Pie 
Stoiker konnten daher nicht umhin, auch physische Güter und 
Thätigkeiten unter die naturgemässen Dinge zu rechnen: zu dem 
ersten Naturgemässen soll vor Allem die Gesundheit, die rich- 
tige sinnliche Wahrnehmung u. s. w. gehören ?), und derselbe 


Ἀ 


1).3. 196, 1. 

2) Cıc. Fin. ΠῚ, 5, 17. Ger. N. A. X11,5, 7: der ursprüngliche Gegenstand 
der natürlichen Selbstliebe sind die πρῶτα χατὰ φύσιν, und jene Selbstliebe 
besteht darin, ut omnibus corporis sui commodis gauderet [unnsquisque], ab 
incommodis omnibus abhorreret. Sros. ΕΚ]. II, 142: Einiges ist naturgemäss, 
Anderes naturwidrig, noch Anderes keines von beiden. Zu dem Naturge- 
mässen gehört Gesundheit, Stärke u. dgl. Ebd. 8. 148: τῶν δὲ χατὰ φύσιν ἀδια- 
φόρων ὄντων τὰ μέν ἐστι πρῶτα χατὰ φύσιν τὰ δὲ κατὰ μετοχήν. πρῶτα μέν ἐστι κατὰ 
φύσιν χίνησις ἢ σχέσις χατὰ τοὺς σπερματιχοὺς λόγους γινομένη, οἷον ὑγεία καὶ 
αἴσθησις, λέγω δὲ τὴν χατάληψιν χαὶ ἰσχύν. χατὰ μετοχὴν δὲ... οἷον χεὶρ ἀρτία 
καὶ σῶμα ὑγιαῖνον χαὶ αἰσθήσεις μὴ πεπηρωμέναι. ὁμοίως δὲ καὶ τῶν παρὰ φύσιν 


238 Stoiker. 


Satz musste sich der Schule auch aus dem praktischen Ge- 
sichtspunkt empfehlen, denn wenn unter den Dingen als sol- 
chen kein Werthunterschied ist, so ist auch keine vernünf- 
tige Auswahl und kein Handeln nach Gründen möglich '). 
Nun verwahren sie sich freilich gegen die Meinung, als ob das 
erste Naturgemässe schon das Vollendete oder Gute sei, wie ja 
auch auf der theoretischen Seite in der sinnlichen Wahrnehmung 
zwar die Quelle alles Wissens, aber doch nicht die Wahrheit lie- 
gen soll: wenn der Mensch das allgemeine Gesetz des Handelns 
erkannt hat, so wird er ihrer Ansicht nach ihm gegenüber alles 
Sinnliche und blos Individuelle gering achten, es für ein blosses 
Mittel im Dienste der Tugend und Vernunft ansehen 2). Aber wie 
diess möglich sein soll, lässt sich schwer angeben. Wie vielmehr 
schon die gleichzeitigen Gegner der Stoa daran Anstoss nahmen, 
dass das erste Naturgemässe in keiner Beziehung unter die Zwecke 
des naturgemässen Lebens gehören solle 5), so werden auch wir 
einige Bedenken nicht unterdrücken können, wenn uns gesagt 
wird: alle Pflichten beziehen sich auf die Erlangung jenes ur- 
sprünglich Naturgemässen, aber doch dürfe dasselbe nicht für das 


— ὄ-ὄ- 


χατ᾽ ἀνάλογον. Vgl. ebd. S. 60, wo die Aufzählung der πρῶτα χατὰ φύσιν 
gleichfalls stoisch ist, und oben 8. 192. 

1) Οἷς. Fin. II, 15, 50: Deinceps explicatur differentia rerum; quam si 
non ullam esse diceremus, confunderetur omnis vita, ut ab Aristone: nee ullum 
sapientiae munus aut opus invenirelur, cum inter res eas, quae ad vitam 
degendam pertinerent, nihil omnino interesset neque ullum delectum adhiberi 
oporieret. Den gleichen Grund kehrte ja die Stoa (8. o. 8. 73, 3) auch gegen 
die theoretische Adiaphorie der Skeptiker, mit welcher die praktische Ari- 
sto’s, von der skeptischen Ataraxie nur dem Namgn nach verschieden, um 
so mehr zusammenhängt, da auch Aristo zur Skepsis binneigte; vgl. ὃ. 
50, 4, 

2) Cıc. Fin. III, 6, 21: prima est enim conciliatio [οἰχείωσις) hominis ad 
ea quae sunt seeundum nuturam. simul auiem cepit intelligentiam wel notionem 
potius, quam appellant ἔννοιαν εἰ, viditque rerum agendarum ordinem et ut 
ita dicam concordiam , multo eam pluris aestimavii guam omnia üla quae pri- 
mum dilexerat: atque ita cognitione et ratione collegit ui statuerel in eo colloca- 
tum summum Ülud hominis per se laudandum et ewpetendum bonum ,.. cum 
igitur in eo sit id bonum , quo veferenda sint omnia ... quanquam. post oritur, 
tamen id solum vi sua et dignitate ewpetendum est, eorum autem quae sunt 
prima naturae propter se nihil ewpetendum u. s. w. Aehnlich Geur. a. a. Ὁ. 

3) Psor. comm. not. ο, 4 f. Cıc. Fin. IV, 17. V, 24, 72. 29, 89. 


Ξ Das Wünschenswerthe und Verwerfliche. 239 


Ziel unseres Handelns gehalten werden %); nicht das Naturgemässe 
selbst, sondern die vernünftige Auswahl und Zusammenfassung 
des Naturgemässen sei das Gute 5). Wussten sich aber auch die 
Stoiker über diese Bedenken wegzusetzen, so konnten sie sich 
doch nicht verbergen, dass dasjenige,’ was sich auf unser sinnli- 
ches Wohl bezieht, wenigstens einen gewissen Werth habe, und 
in allen den Fällen zu begehren sei, in denen kein höheres Gut 
darunter Noth leidet, und dass ebenso umgekehrt das, was unse- 
rem sinnlichen Wohl widerstreitet, abgesehen von höheren Pflich- 
ten, im Unwerth (ἀπαξία) sei, und desshalb mit Recht gemieden 
werde 5). Diese Dinge und Thätigkeiten sollen allerdings nicht 
zu dem absolut Werthvollen oder den Gütern gerechnet wer- 
den %); und es war insofern ein Hinüberschwanken von der stoi- 
schen Lehre zur peripatetischen, wenn Kleanthes’ Mitschüler He- 
rillus die leiblichen und äusseren Güter als einen zweiten oder 
Unterzweck neben der Tugend aufführte °). Aber doch sind die 


1) Cıc. Fin, III, 6, 22: ut recte diei possit, omnia officia eo referri, ut 
adipiscamur principia naturae : nec tamen ut hoc sit bonorum ultimum, propterea 
quod non inest in primis naturae conciliationibus homesta actio. consequens enim 
est et post oritur u. 8. W. 

2) Ptor. ce. not. 26, 2: el γὰρ αὐτὰ μὲν [τὰ] πρῶτα χατὰ φύσιν ἀγαθὰ μή 
ἐστιν, ἢ δ᾽ εὐλόγιστος ἐχλογὴ καὶ λῆψις αὐτῶν καὶ τὸ πάντα τὰ παρ᾽ ἑαυτὸν ποιεῖν 
ἕχαστον ἕνεχα τοῦ τυγχάνειν τῶν πρώτων χατὰ φύσιν τι. 5. w. εἴπερ γὰρ οἴονται, 
μὴ στοχαζομένους μηδ᾽ ἐφιεμένους τοῦ τυχέϊν ἐχείνων τὸ τέλος ἔχειν, ἀλλ᾽ οὗ δεῖ 
ἐχείνα ἀναφέρεσθαι, τὴν τούτων ἐχλογὴν, χαὶ μὴ ταῦτα. τέλος μὲν γὰρ τὸ ἐχλέγε- 
σθαι χαὶ λαμβάνε:ν ἐχεῖνα φρονίμως " ἐχέίνα δ αὐτὰ καὶ τὸ τυγχάνειν αὐτῶν οὐ τέλος, 
ἀλλ᾽ ὥσπερ ὕλη τις ὑπόχειται τὴν ἐκλεχτιχὴν ἀξίαν ἔχουσα. Cıc. 5. 5. 288, 2. 

3) Cıc. a. ἃ. Ο. 6, 20. Prour. a. a. Ὁ. 5τοβ. U, 142. Dıioe. VII, 105. Wei- 
teres sogleich. 8 

4) 5, S. 197 fl. und Sror. II, 132: διαφέρειν δὲ λέγουσιν αἱρετὸν χαὶ ληπτὸν 

.. rat χαθόλου τὸ ἀγαθὸν τοῦ ἀξίαν ἔχοντος. 

5) Dıos. VII, 165:Herillus lehrte, διαφέρειν τέλος καὶ ὑποτελίδα (über diesen 
Ausdruck vgl. auch Sros. II, 60). τῆς μὲν γὰρ καὶ τοὺς μὴ σοφοὺς στοχάζεσθαι, 
τοῦ δὲ μόγον τὸν σοφόν. Daher wirft ihm Cıc. Fin. IV, 15, 40 vor: γαοὶέ enim 
le duo sejuneta ultima bonorum, sofern er nämlich das Aeussere weder gering- 
schätze, noch mit dem letzten Zweck in Verbindung setze. Doch lässt ihn 
Dioe. a. a. Ὁ. auch lehren: τὰ μεταξὺ ἀρετῆς nat καχίας ἀδιάφορα εἶναι, und Cac. 
Off. I, 2, 6 nennt ihn sogar neben Pyrrho und Aristo als Adiaphoristen, Hie- 
nach erscheint Herill's Abweichung vom ächten Stoicismus nicht sehr bedeu- 
tend. Nach Cıc. Fin. II, 13, 43 vgl. Of. a. a. Ὁ. fand er überdiess seit Chry- 
sipp's Zeit keinen Anklang mehr. 


9210 Stoiker. 


Stoiker darum nicht gesonnen, mit dem gleichzeitigen Aristo von 
Chius, welcher die Stoa auch hierin auf dem Standpunkt der ey- 
nischen Philosophie festzuhalten strebte, jeden Werthunterschied 
unter den sittlich gleichgültigen Dingen zu läugnen !), und eben 
in dieser Gleichgültigkeit gegen alles Aeussere das höchste Le- 
bensziel zu suchen ?). Wie vielmehr ihre Tugend im Vergleich 
mit der eynischen den positiveren Charakter des thatkräftigen 
Willens trägt, so suchen sie auch zu den äusseren Gegenständen 
und Bedingungen dieser Thätigkeit ein bestimmtes Verhältniss, 
das für die Erwählung oder Verwerfung, überhaupt für die prak- 
tische Entscheidung massgebend sein kann. Sie theilen demnach 
die gleichgültigen Dinge selbst wieder in drei Klassen. Zu der 
ersten gehört alles dasjenige, was zwar vom sittlichen oder ab- 
soluten Standpunkt aus weder ein Gut noch ein Uebel ist, was 
aber doch einen gewissen Werth hat, mag ihm nun dieser an und 
für sich, wegen seiner Angemessenheit an die menschliche Natur, 
oder mag er ihm nur als einem Hülfsmittel des sittlichen und na- 
turgemässen Lebens, oder in beiden Beziehungen zukommen. Die 
zweite Klasse umfasst umgekehrt alles das, was an sich selbst 
oder in seinem Verhältniss zu höheren Zwecken naturwidrig und 
schädlich zu sein pflegt; die dritte diejenigen Dinge und Thätig- 


1) Cıc. Legg. 1, 21, 55: “δὲ, ut Chius Aristo dirit, solum bonum esse dice- 
ret quod honestum esset malumque quod turpe, ceteras res omnes plane pares ac 
ne minimum quidem utrum adessent an abessent interesse. Ebd. 13, 38. Fin. 
IV, 17, 47: ut Aristonis esset explosa sententia dieentis, nihil difierre aliud ab 
alio nec esse res ullas praeter virtutes et vitia intra quas quidquam ommino in- 
teresset. Ebd. IL, 13, 43. II, 3, 11 f. 15, 50. IV, 16, 43. 25, 68, V, 25, 73. 
Acad. II, 42, 130. Office. a. a. O. Fragm. Hortens. b. Noxx. Praefract. Dioc. 
VII, 160. Sexr. Math. XI, 64. Cıc. stellt den Aristo gewöhnlich mit Pyrrho 
zusammen. . 

2) Dıioc. a. a. O.: τέλος ἔφησεν εἶναι τὸ ἀδιαφόρως ἔχοντα ζῇν πρὸς τὰ μεταξὺ 
ἀρετῆς καὶ χαχίας μηδὲ ἡντινοῦν ἐν αὐτοῖς παραλλαγὴν ἀπολείποντα ἀλλ᾽ ἐπίσης ἐπὶ πάν- 
των ἔχοντα. Cıc. Acad.a.a. O. huie summum bonum est in his rebus (die sittlichen 
Adiaphora) neutram in partem moveri; quae ἀδιαφορία ab ipso dieitur. Chry- 
sippus b. Pıor. e. not. 27, 2: die Adiaphorie gegen das, was weder gut noch 
schlecht ist, setze den Begriff des Guten voraus, und doch solle nach Aristo 
das (iute nur in jener Adiaphorie bestehen. Sro». I, 920. KLemexs Strom. II, 
416, Οὐ Ueber Chrysipp’s Polemik gegen diese Adiaphorie s. m. auch Cıc, 
Fin. IV, 25, 68. 


Das Wünschenswerthe und Verwerfliche. 21 


keiten, die nicht einmal in diesem bedingten Sinn einen Werth 
oder Unwerth haben. Die erste Klasse wird als das Vorzügliche 
oder Wünschenswerthe (rgonyuvov), die zweite als das Verwerf- 
liche (ἀποπροηγμένον), die dritte als das Mittlere bezeichnet 3); 
das Letztere heisst im engern Sinn ἀδιάφορον ?), und zu demsel- 
ben wird neben dem schlechthin Gleichgültigen auch alles das ge- 
zählt, was nur einen so geringen Werth oder Unwerth hat, dass 
es weder Verlangen noch Abscheu zu erwecken geignet ist, 
und es wird insofern das προηγμένον und ἀποπροηγμένον auch als 
dasjenige definirt, was einen bedeutenden Werth oder Unwerth 
habe ?). Zu dem Wünschenswerthen rechneten die Stoiker theils 
geistige Eigenschaften und Zustände, wie gute Anlagen und 
Kunstfertigkeiten, auch den Fortschritt zur Tugend, sofern dieser 
doch noch nicht die Tugend selbst ist, theils körperliche Vorzüge, 
die Schönheit, Stärke, Gesundheit und das Leben selbst, theils 
endlich äussere Güter, wie Reichthum, Ehre, edle Abkunft, Ver- 
wandte τι. 5. w.; zu dem Verwerflichen die enigegengesetzten Dinge 


Ι 

1) Dios. VII, 105: τῶν ἀδιαφόρων τὰ μὲν λέγουσι προηγμένα τὰ δὲ ἀποπροηγ- 
μένα. προηγμένα μὲν τὰ ἔχοντα ἀξίαν - ἀποπροηγμένα δὲ τὰ ἀπαξίαν ἔχοντα. Unter 
der ἀξία aber, deren drei Bedeutungen erörtert werden, verstehen sie hier: 
μέσην τινὰ δύναμιν ἢ χρείαν συμβαλλομένην πρὸς τὸν χατὰ φύσιν βίον. 107: τῶν 
προηγμένων τὰ μὲν δι᾽ αὑτὰ προῆχται, τὰ δὲ δι᾽ ἕτερα, τὰ δὲ δι᾽ αὑτὰ καὶ δι᾽ ἕτερα 
ον ν δι᾿ αὑτὰ μὲν ὅτι χατὰ φύσιν ἐστί. δι᾽ ἕτερα δὲ ὅτι περιποιεῖ χρείας οὐχ ὀλίγας. 
ὁμοίως δὲ ἔχει χαὶ τὸ ἀποπροηγμένον χατὰ τὸν ἐναντίον λόγον. Wesentlich gleich, 
es scheint nach derselben Quelle, nur ausführlicher ὅτοβ, Ekl. II, 142 ff.; 
vergl. ferner Cıc. Acad. I, 10, 36 f. Fin. III, 15, 50 ff. IV, 26, 72. Sexr. Pyrrh. 
IIT, 191. Math. XI, 60 ff. Arzx. Arnr. De an. 157, m. u. A. Ueber den Begriff 
des πδοηγμένον und seinen Unterschied vom ἀγαθὸν erklärt sich Zeno b. Stop. 156 
(Cıc. Fin. III, 16, 52): προηγμένον δ᾽ εἶναι λέγουσιν, ὃ ἀδιάφορον ὃν ἐχλεγόμεθα χατὰ 
προη γούμενον λόγον ... οὐδὲν δὲ τῶν ἀγαθῶν εἶναι προηγμένον, διὰ τὸ τὴν μεγίστην 
ἀξίαν αὐτὰ ἔχειν. τὸ δὲ προηγμένον, τὴν δευτέραν χώραν καὶ ἀξίαν ἔχον, συνεγγί- 
ζειν πως τῇ τῶν ἀγαθῶν φύσει" οὐδὲ γὰρ ἐν αὐλῇ τὸν προηγούμενον εἶναι. τὸν βασι- 
λέα, ἀλλὰ τὸν μετ᾽ αὐτὸν τεταγμένον. 

2) ὅτοβ, II, 142: ἀδιάφορα δ᾽ εἶναι λέγουσι τὰ μεταξὺ τῶν ἀγαθῶν καὶ τῶν 
χαχῶν, διχῶς τὸ ἀδιάφορον νοεῖσθαι φάμενοι, καθ᾽ ἕνα μὲν τρόπον τὸ μήτε ἀγαθὸν 
μήτε χαχὸὺν χαὶ τὸ μήτε αἱρετὸν μήτε φευχτόν᾽ χαθ᾽ ἕτερον δὲ τὸ μήτε ὁρμῆς μήτε 
ἀφορμῆς κινητικόν (- τὰ χαθάπαξ ἀδιάφορα). Ebenso Dioc. VII, 104. Noch eine 
dritte Bedeutung unterscheidet Sexr. M. ΧΙ, 60, sie ist aber nur eine Unter- 
ἢ abtheilung der zweiten. 

3) Vor. Anm, und Sror, II, 144. 156. Sexr. P. III, 191. M. XI, 62, 


Philos. ἃ. Gr. III. B. 1. Abth. 16 


242 Stoiker. 


uud Zustände; zu dem schlechthin Gleichgültigen alles das, was 
auf unsere Wahl keinerlei bestimmenden Einfluss haben kann, wie 
etwa die Frage, ob die Zahl meiner Haare gerade oder ungerade ᾿ 
ist, ob ich ein Blatt vom Boden aufheben oder liegen lassen, ob 
ich dieses oder jenes Geldstück zu einer Zahlung verwenden 
soll 1). Nun wollten sie allerdings den blos relativen Werth des 
προηγμένον von dem absoluten des sittlich Guten streng unter- 
schieden, und nur dieses ein Gut genannt wissen, weil es allein 
unter allen Umständen nützlich und nothwendig sei, wogegen 
auch die vorzüglichsten von den sittlich gleichgültigen Dingen 
unter Umständen nachtheilig, und auch die verwerflichsten dersel- 
ben, wie Krankheit, Armuth u. s. f., unter Umständen nützlich 
sein können ?). Ebensowenig wollten sie zugeben, dass die Selbst- 
genügsamkeit des Weisen durch die Anerkennung eines Wün- 
schenswerthen ausser ihm nothleide: der Weise brauche diese 
Dinge, sagte Chrysippus ?), doch ohne ihrer zu bedürfen. Aber 
doch geräth ihre Lehre vom Guten durch die Behauptungen über 
das Wünschenswerthe und Verwerfliche sichtbar in’s Schwanken; 
zwischen die Güter und Uebel hat sich in demselben ein Drittes 
von zweifelhafter Beschaffenheit in die Mitte gedf&ingt, und wie 
wir oben gesehen haben, dass sie auf dieses den Namen des Adia- 
phoron nur im weiteren Sinn anwenden wollten, so konnten sie 
auch andererseits die Bezeichnung des Guten für das Wünschens- 
werthe nicht schlechthin zurückweisen *), und manche von den 


1) Dioc. VII, 106. Sros. II, 142 ff. Cıc. Fin. III, 15, 51. Sexr. a.d.a.O. 
Prur. Sto. rep. 30 u. A. Nicht ganz einig waren die Stoiker darüber, ob der 
Nachruhm nach dem Tode zu dem Wünschenswerthen zu rechnen sei; nach 
Cıc. Fin. III, 17, 57 verneinte es Chrysippus und Diogenes, wogegen es:die 
Jüngeren, von dem Akademiker Karneades gedrängt, zugaben. Sex. ep. 102,3 ft. 
führt sogar das als stoischen Satz aus, dass der Nachruhm ein Gut sei. Doch 
steht bonum hier wohl ungenau für das προηγμβένον. 

2) Cıc. Fin. III, 10, 34. 16, 52. Sexr. M. XI, 62 u. A. 5. $. 198 ἢ. 241, 2.» 

3) Bei Sex. ep. 9, 14: sapientem nulla re egere [δείσθαι), et tamen multis il; 
rebus opus esse [χρῆναι]. 

4) Prur. Sto. rep. 30, 4: ἐν δὲ τῷ πρώτῳ περὶ ἀγαθῶν τρόπον τινὰ συγχωρεῖ 
καὶ δίδωσι τοῖς βουλομένοις τὰ προηγμένα καλεῖν ἀγαθὰ καὶ χαχὰ τἀναντία ταύταις 
ταῖς λέξεσιν - ἔστιν, εἴ τις βούλεται, χατὰ τὰς τοιαύτας παραλλαγὰς (mit Rücksicht 
auf die Grösse des Unterschieds zwischen dem προηγμένον nnd ἀποπροηγμ.) τὸ 
μὲν ἀγαθὸν αὐτῶν λέγειν τὸ δὲ χαχὸν ... ἐν μὲν τοῖς σημαινομένοις οὐ διαπίπτοντος 


Das Wünschenswerthe und Verwerfliche. 243 


Dingen, welche sie sonst für gleichgültig zu erklären pflegten, 
vom höchsten Gut nicht unbedingt ausschliessen 1). Dass es sich 
aber dabei doch nicht blos um die Namen handelte, zeigt sich, 
wenn wir die konkreten Fälle in’s Auge fassen; wenn wir nicht 
blos einen Seneca 3) den äusseren Besitz in aristotelischer Weise 
als ein Hülfsmittel der Tugend vertheidigen, einen Hekato und 
selbst einen Diogenes mehr als zweideutige Urtheile über erlaub- 
ten und unerlaubten Gewinn fällen hören 5), nicht blos von Pa- 
nätius Einzelnes vernehmen, was mit der Strenge der stoischen 
Grundsätze nicht übereinstimmt *%), sondern auch von Chrysippus 
erfahren, er habe es für verrückt erklärt, Gesundheit, Reich- 
thum und Schmerzlosigkeit nicht zu begehren °), er habe dem 
Staatsmann erlaubt, Reichthum, Ehre u. s. w. wie wirkliche 
Güter zu behandeln °), er, und die ganze stoische Schule mit 
ihm, habe auch solchen Erwerb des Weisen würdig gefunden, 
an dem sonst in der öffentlichen Meinung der Griechen ein Flecken 


αὐτοῦ τὰ δ᾽ ἄλλα στοχαζομένου τῆς χατὰ τὰς ὀνομασίας συνηθείας. Vgl. S. 242, 1. 
Cıc. Fin. IV, 25, 68 und die früheren Nachweisungen über die Eintheilung der 
Güter 5, 196, 1. Nach Dıoc. 103 hätte auch Posidonius die leiblichen und 
äusseren Vorzüge zu den ἀγαθὰ gerechnet; bei Sex. ep. 87, 35 jedoch beweist 
er ausdrücklich, dass sie diess nicht seien. 

1) Sen. ep. 95, 5: Antipater quoque inter magqnos sectae hujus auetores ali- 
quid se tribuere dieit externis (nämlich zur Vollständigkeit des höchsten Guts), 
sed eriguum admodum. Seneca deklamirt hier im Sinn des strengeren Stoieis- 
mus gegen diese Ketzerei, aber De vita be. 22, 5 sagt er selbst: apud me 
divitiae aliquem locum habent, nur nicht summum ac postremum — welches 
Letztere aber kein Philosoph jemals behauptet hat. 

2) De vita beata e. 21 ἢ, 

3) Cıc. Off. III, 12, 51. 13, 55. 23, 91. 15, 63. 23, 89: Diogenes von 
Selencia erklärt es für erlaubt, wissentlich falsches Geld auszugeben, bei 
einem Kauf wesentliche Mängel des Kaufobjekts zu verschweigen u. dgl., 
Hekato aus Rhodus (ein Schüler des Panätius) meint nicht blos im Allgemei- 
nen, der-Weise werde auf gesetzliche und rechtliche Art für sein Vermögen 
besorgt sein, sondern er glaubt auch, bei grosser Theurung werde derselbe 
seine Sklaven lieber verhungern lassen, als mit zu grossen Opfern erhalten. 

4) Nach Crc. Off. II, 14,51 wollte er dem Sachwalter gestatten, sich auch 
mit der Wahrheit in Widerspruch zu setzen, wenn nur seine Behauptung sich 
wenigstens wahrscheinlich machen lasse. 

5) Pıur. Sto. rep. 30, 2. 

6) Ebd. c. 5. 


16 * 


2141. Stoiker. 


haftete 179. er habe sich nicht gescheut, zu behaupten, dass es 
besser sei, unvernünftig zu leben, als gar nicht 22. Wir können - 
es uns nicht verbergen: indem die Stoiker ihr System mit dem‘ 
gewöhnlichen Urtheil und den Bedingungen des praktischen Han- 
delns ausgleichen wollen, werden sie zu Zugeständnissen ge- 
drängt, die durch ihren Widerspruch gegen frühere Bestimmun- 
gen deutlich genug zeigen, dass der Bogen bei diesen zu stark 
gespannt war. 

Durch diese Lehre über das Wünschenswerthe und Verwerf- 
liche erhält nun auch der Begriff der Pflicht eine weitere Bestim- 
mung. Wir haben früher gefunden, dass die Stoiker unter der 
Pflicht, oder dem Geziemenden 5) überhaupt die vernunftgemässe 
Handlung verstehen, welche dadurch zur guten That oder zum 
χατόρθωμα wird, dass sie mit der rechten Gesinnung begangen 
wird *). Dieser Begriff bezeichnet also überhaupt den Inhalt der 
tugendhaften Thätigkeit. Als solcher ergab sich nun damals nur 
das ganz Einfache: das Gute oder Vernünftige. Jetzt zeigt sich 
in ihm selbst eine Zweiheit, als unmittelbare Folge von der Zwei- 


1) Nach Prur. Sto. rep. 20, 3. 7. 10 f. c. 30,3. Dıoc. VII, 188 f. So». 
II, 224 f. nahmen die Stoiker, nach dem Vorgang Chrysipp’s, drei Arten des 
anständigen Erwerbs an: durch wissenschaftlichen Unterricht, durch Freund- 
schaft mit Reichen, durch Herrschaft, Staats- und Fürstendienst. War nun 
auch die erste und letzte Erwerbsart in der alexandrinischen Zeit nieht mehr 
so verrufen, wie früher, so waren sie doch immer noch anrüchig, namentlich 
war aber die zweite dem Tadel ausgesetzt. Noch mehr verstösst es gegen die 
griechische Sitte, wenn Chrysippus nach Pur. Sto. rep. 30 vom Weisen 
sagte: χαὶ χυβιστήσειν τρὶς ἐπὶ τούτῳ λαβόντα τάλαντον, wozu Bd. II, a, 60, 3 
z. vgl. Chrysippus selbst setzt bei Diogenes auseinander, was man gegen die 
genannten Erwerbsarten und gegen den Gelderwerb überhaupt auf stoischem 
Standpunkt einwenden könnte; aber diese Bedenken müssen ibm nicht ent- 
scheidend erschienen sein. 

2) B. Prur. Sto. rep. 18, 1. 3. c. not. 12, 4: λυσιτελεῖ ζῆν ἄφρονα μᾶλλον ἢ 
μὴ βιοῦν z&v μηδέποτε μέλλῃ φρονήσειν, oder wie diess ebd. 11, 8 ausgedrückt 
wird: Heraklit und Phereeydes hätten wohlgethan, ihre Weisheit fahren zu 
lassen, wenn sie damit auch ihre Krankheiten hätten loswerden können, und 
der Verständige würde lieber ein Thor in Menschengestalt, als ein Weiser in 
Thiergestalt sein. Σ 

3) Καθῆχον ; nach Dioc. 108 hatte schon Zeno diese Bezeichnung aufge- 
bracht. 

4) 5. 226, 5. 


Vollkommene und mittlere Pflichten. 2345 


heit des Guten und des Wünschenswerthen. Wäre das Gute der ein- 
zige erlaubte Gegenstand unseres Strebens, so könnte es auch nur 
Eine Pflicht geben, die Verwirklichung des Guten, und die ver- 
schiedenen Thätigkeiten, welche hiefür nothwendig sind, könnten 
sich doch nur hinsichtlich ihres Stoffes, aber nicht hinsichtlich ihrer 
sittlichen Nothwendigkeit unterscheiden. Giebt es dagegen neben 
dem absolut Guten auch noch relative Güter, die zwar nicht unbe- 
dingt, aber doch in allen den Fällen zu begehren sind, in welchen 
sie sich ohne Nachtheil für das absolut Gute oder die Tugend er- 
streben lassen, und giebt es ebenso neben der Schlechtigkeit, als 
dem absoluten Uebel, auch noch relative Uebel, die wir unter der- 
selben Bedingung zu vermeiden Grund haben, so wird sich auch 
der Umfang unserer Pflichten in derselben Weise erweitern, und 
den unbedingten Pflichten wird eine Anzahl bedingter Pflichten 
zur Seite treten, welche im Unterschiede von jenen die Aneig- 
nung des Wünschenswerthen und die Abwehr des Verwerflichen 
zum Inhalt haben. Als eine Pflicht im weiteren Sinn, oder ein 
Geziemendes, wird auf diesem Standpunkt alles Naturgemässe be- 
trachtet, und der Begriff des Geziemenden desshalb selbst auf 
Pflanzen und Thiere ausgedehnt 1); unter den geziemenden und 
pflichtmässigen Thätigkeiten werden dann aber solche unterschie- 
den, die immer, und solche, die nur in gewissen Fällen gelten ; 
jene nannten die Stoiker auch vollkommene, diese, mittlere 
Pflichten ?), und als eine Eigenthümlichkeit der letzteren gaben 


a 


1) Dios. 107: χαθῆχον φασὶν εἶναι ὃ πραχθὲν εὔλογόν τιν᾽ ἴσχει ἀπολογισμὸν 
οἷον τὸ ἀχόλουθον ἐν τῇ ζωῇ (ebenso Cicero; 5. folg. Anm.), ὅπερ χαὶ ἐπὶ τὰ φυτὰ 
χαὶ ζῷα διατείνει: δρᾶσθα: γὰρ χἀπὶ τούτων χαθήχοντα. Stop. 158: ὁρίζεται δὲ τὸ 
καθῆχον τὸ ἀκόλουθον ἐν ζωῇ, ὃ πραχθὲν εὔλογον ἀπολογίαν ἔχει" παρὰ τὸ καθῆχον 
62 ἐναντίως. τοῦτο διατείνει χαὶ εἷς τὰ ἄλογα τῶν ζῴων, ἐνεργεῖ γάρ τι χἀχεῖνα ἀχο- 
λούθως τῇ ἑαυτῶν φύσει" ἐπὶ δὲ τῶν λογιχῶν ζῴων οὕτως ἀποδίδοται, τὸ ἀκόλουθον 
ἐν βίῳ. Das χαθῆχον ist also überhaupt das Naturgemässe, mit welchem ja das 
ἀκόλουθον zusammenfällt (5. 0. 194, 2); vgl. Πιοα, 108: ἐνέργημα δ᾽ αὐτὸ [ro 
χαθῆχον] εἶναι ταῖς χατὰ φύσιν χατασχευαῖς οἰχεῖον. 

2) Dıoe. VII, 109: τῶν χαθηχόντων τὰ μὲν ἀεὶ χαθήχε: τὰ δὲ οὐχ ἀεί" καὶ ἀεὶ 
μὲν χαθήχει τὸ χατ᾽ ἀρετὴν ζῆν οὐχ ἀεὶ δὲ τὸ ἐρωτᾶν τὸ ἀποχρίνεσθαι καὶ περιπατεῖν 
καὶ τὰ ὅμοια. Cıc. Fin. III, 17, 58: est autem oflicium quod, ita factum est, ut 
ejus facti probabilis ratio reddi possit. ex quo intelligitur, offieium medium 
quoddam esse, quod neque in bonis ponatur neque in contrarüs .... quoniam 
enim videmus u. 8, w. (8. 8. 226, 5) ... quoniamque non dubium est, quin in 


246 Stoiker. 


sie an, dass in Betreff ihrer durch besondere Umstände ein Ande- 
res zur Pflicht werden könne, als was ohne solche besondere Um- 


stände Pflicht ist '). Pflichtmässig im weiteren Sinn, oder gezie- 


mend, ist jede Handlung, welche in der Wahl eines Wünschens- 
werthen (προηγμένον) oder der Vermeidung eines Verwerflichen 
besteht: eine vollkommene Pflicht dagegen wird nur durch die 
tugendhafte Handlung erfüllt: das tugendhafte Leben, das Wollen 
des Guten, ist die einzige vollkommene Pflicht 59). In diese ganze 
Lehre kommt übrigens dadurch einige Verwirrung, dass die Stoi- 
ker den Maasstab für die Unterscheidung der vollkommenen und 


üs quae media dieimus sit aliud sumendum aliud rejieiendum, quidquid ita fit 
aut dieitur communi ofieio continetur, Ebenso Ofl. I, 3, 8 (ebd.) Acad. 1, 
10, 37: dem προηγμένον und ἀποπροηγμένον entsprechend habe Zeno zwischen 
das recte factum und das peccatum als media quaedam das ofieium und contra 
oficium gestellt. Sro». II, 158: τῶν δὲ χαθηχόντων τὰ μὲν εἶναί φασι τέλεια, ἃ δὴ 
χαὶ κατορθώματα λέγεσθαι. ... οὖχ εἶναι ὃδὲ χατορθώματα τὰ μὴ οὕτως ἔχοντα, ἃ δὴ 
οὐδὲ τέλεια χαθήχοντα προςαγορεύουσιν, ἀλλὰ μέσα, οἷον τὸ γαμέϊν, τὸ πρεσβεύειν, 
τὸ διαλέγεσθαι, τὰ τούτοις ὅμοια. 


1) Stop. 160 (5. folg. Anm.). Dıoe. ἃ. a. O.: τὰ μὲν εἶναι χκαθήχοντα ἄνευ - 


περιστάσεως, τὰ δὲ περιστατιχά. χαὶ ἄνευ μὲν περιστάσεως τάδε, ὑγείας ἐπιμελεῖσθαι 
χαὶ αἰσθητηρίων χαὶ τὰ ὅμοια" χατὰ περίστασιν δὲ τὸ πηροῦν ἑαυτὸν χαὶ τὴν χτῆσιν 
διαῤῥιπτεῖν. ἀνάλογον δὲ χαὶ τῶν παρὰ τὸ χαθῆχον. Diese Unterscheidung passt 
natürlich nur auf das μέσον χαθῆχον, denn die unbedingte Pflicht des tugend- 
haften Lebens kann durch keinerlei Umstände aufgehoben werden, 

2) M. vgl. hierüber ausser dem, was so eben und S. 226, 5 angeführt ist, 
noch Dıoe. 108: τῶν γὰρ χαθ᾽ ὁρμὴν ἐνεργουμένων τὰ μὲν χαθήχοντα εἶναι, τὰ δὲ παρὰ 
τὸ καθῆχον, τὰ δ᾽ οὔτε χαθήχοντα οὔτε παρὰ τὸ χαθῆχον. χαθήχοντα μὲν οὖν εἶναι ὅσα 
ὃ λόγος aipet (fordert; vgl. 5. 208, 1 den αἱρῶν λόγος) ποιέϊν, ὡς ἔχει τὸ γονεῖς 
τιμᾷν, ἀδελφοὺς, πατρίδα, συμπεριφέρεσθαι φίλοις. παρὰ τὸ χαθῆχον δὲ, ὅσα μὴ 
alpet λόγος, z. B. Vernachlässigung der Eltern u. s. w.; οὔτε δὲ χαθήχοντα οὔτε 
παρὰ To χαθῆχον, ὅσα οὔθ᾽ aipei λόγος πράττειν οὔτ᾽ ἀπαγορεύει, οἷον χάρφος 
ἀνελέσθαι τι. 5. w. Nehmen wir hiezu das früher Angeführte, $o gehören zum 
χαθῆχον sowohl die Thätigkeiten, welche ein sittlich Gutes, als auch die, 
welche ein blosses προηγμένον bezwecken, und mit Rücksicht auf die letzteren 
wird das χαθῆχον ausdrücklich zu den Mitteldingen, den Adiaphora im weite- 
ren Sinn, gerechnet; vgl. Cıc. oben 245, 2. Sro». 158 £.: diejenigen χαθήχοντα, 
welche nicht zugleich κατορθώματα sind, seien οὐδὲ τέλεια, ἀλλὰ μέσα. ... παρα- 
μετρεῖσθαι 6: τὸ μέσον χαθῆχον ἀδιαφόροις τισὶ χαλουμένοις δὲ πωρὰ φύσιν χαὶ κατὰ 
φύσιν, τοιαύτην δ᾽ εὐφυΐαν προςφερομένοις, ὥστ᾽ εἰ μὴ λαμβάνοιμεν αὐτὰ ἣ διωθοί- 
μεθα ἀπερισπάστως (wenn wir ohne besondere Veranlassung, oder wie es bei 
Dioe. 109 — 5, vor. Anm. — heisst, ἄνευ περιστάσεως, sie verschmähen oder 
verwerfen) μὴ εὐδαιμονεῖν. 


Vollkommene und mittlere Pflichten. 247 


unvollkommenen Pflichten von der objektiven und der subjektiven 
Seite der Handlungen zugleich hernehmen, ohne diese beiden 
Gesichtspunkte klar auseinanderzuhalten, und demgemäss mit jenen 
Ausdrücken sowohl den Unterschied der unbedingten und bedingten 
Pflicht, als den der Moralität und Legalität bezeichnen 1). Noch be- 
denklicher aber, als dieser formelle Mangel, ist es, dass hier Dinge 
von sehr verschiedenem sittlichem Charakter unter dem Begriffe 
der Pflicht zusammengefasst werden. Wurde einmal dasjenige, 
was blos bedingten Werth hat, in den Kreis des pflichtmässigen 
Handelns mitaufgenommen,, so konnte wohl keine Distinktion der 
Schule verhindern, dass demselben in der praktischen Anwen- 
dung der stoischen Lehre nicht selten eine Berechtigung zuerkannt 
wurde, auf die es bei der strengen Verfolgung der sonst geltend- 
gemachten Grundsätze keinen Anspruch hatte. 

Hiemit stimmt es nun vollkommen überein, wenn das stoische 
System auch nach der subjektiven Seite hin durch eine Milderung 
seines Rigorismus dem Leben und dem praktischen Bedürfniss 
wieder näher zu kommen sucht. In der reinen Consequenz des- 
selben lag hier nur jene unbedingte Ausschliessung des sinnlichen 
Elements, welche die Forderung der Apathie ursprünglich aus- 
drückt. Aber wie die Schroffheit der stoischen Güterlehre durch 
die Annahme der προηγμένα gemildert worden war, so wurde 
auch jene Forderung nach zwei Seiten hin gemildert, indem theils 
von den verbotenen Affekten wenigstens die ersten Anfänge unter 
anderem Namen geduldet, theils trotz der Verbannung der Affekte 
doch auch wieder gewisse Gemüthsbewegungen für zulässig, ja 
für wünschenswerth erklärt wurden. In der ersteren Beziehung 
gaben die Stoiker zu, dass auch der Weise Schmerz empfinde, 
dass auch er bei gewissen Dingen nicht ganz ruhig bleiben werde 
u.s. w. ?), und sie fanden eben hierin einen Unterschied ihrer 


1) Nach der letzteren Seite hin musste das χαθῆχον und χατόρθωμα schon 
8. 226 besprochen werden. 

2) Sen. de ira I, 16, 7: wenn der Weise etwas Empörendes sieht, non .. 
tangetur animus ejus eritque solito commotior? fateor, sentiet levem quendam 
tenuemque motum. nam, ut dieit Zeno, in sapientis quoque animo etiam cum 
vulnus sanatum est, cicatriw manet. Ebd. 11, 2 f. ep. 57, 3 f. De const. 10, 4. 
Sros. Floril. 7, 21. Pıur. e. not. 25,5. Epiktet b. Geur. N. A. XIX, 1, 17 ἢ, 
vgl. 8. 216, 5. 6. 


248 Stoiker. 


Moral von der cynischen 1); es kann ihrer Ansicht nach nicht 
verlangt werden, dass man von solchen Gemüthsbewegungen 


ganz frei bleibe, sondern nur, dass man ihnen seine Zustimmung 


versage, sie nicht Herr werden lasse 5). Auf das Andere bezieht 
sich die Lehre von den εὐπάθειαν oder den vernunftmässigen Stim- 
mungen, die sich im Gegensatz zu den Affekten auch beim Wei- 
sen, und nur bei diesem, finden sollten; die Stoiker zählten der- 
selben drei Hauptarten, nebst mehreren Unterarten 5). Soll auch 
dieses Zugeständniss die Affektlosigkeit des Weisen desshalb nicht 
aufheben, weil jenes Erlaubte eben kein Affekt sei, so ist doch 
die Grenzlinie zwischen beiden so schwer zu ziehen, dass die erst 
so scharf betonte Unbedingtheit des Gegensatzes zwischen Weisen 
und Thoren auch nach dieser Seite hin in der Wirklichkeit en 
zu verschwinden droht. 

Diese Gefahr erscheint noch dringender, wenn wir die Ver- 
legenheit bemerken, in welche die Stoiker durch die Anforderung 
geriethen, ihren Weisen in der Erfahrung aufzuzeigen. Es sind 
nicht blos Andere, welche versichern, dass sich nach ihrem eige- 
nen Zugeständniss in der bekannten Geschichte Keiner oder so 
gut wie Keiner nachweisen lasse, der jenes hohen Namens ganz 


1) Sen. brevit. vitae c. 14, 2: hominis naluram cum Stoieis vincere cum 
Cynieis excedere. Achnlich ep. 9, 3: hoc inter nos et illos (Stilpo, überhaupt 
die Cyniker) interest: noster sapiens vincit quidem incommodum omne, sed sen- 
tit; ülorum ne sentit quidem. 


2) M. vgl. hierüber ausser Sex. De ira II, 2—4 namentlich was Gert. 
a. a. Ὁ. aus Epiktet anführt. Auch der Weise, heisst es hier, wird bei schreck- 
haften Eindrücken paulisper moveri et contrahi et pallescere, non opinione ali- 
cujus mali perceßta, ‚sed quibusdam motibus rapidis et inconsultis, ofieium 
mentis atque ralionis praevertentibus. Aber was ihn vom Unweisen unterschei- 
det, ist, dass nur dieser, nicht aber jener, solchen Vorstellungen (φαντασίαι) 
Beifall giebt (συγκατατίθεται, προςεπιδοξάζει). 

3) Dioe. VII, 115 ἢ: εἶναι δὲ χαὶ εὐπαθείας φασὶ τρεῖ ie, χαρὰν, εὐλάβειαν, 
βούλησιν" καὶ τὴν μὲν χαρὰν ἐναντίαν φασὶν εἶναι τῇ ἡδονῇ οὖσαν εὔλογον ἔπαρσιν" 
τὴν δὲ εὐλάβειαν τῷ φόβῳ οὖσαν εὔλογον ἔχχλισιν... τῇ δὲ ἐπιθυμία ἐναντίαν φασὶν 
εἶναι τὴν βούλησιν οὖσαν εὔλογον ὄρεξιν. Unterarten der βούλησις sind: εὔνοια, 
εὐμένεια, ἀσπασμὺὸς, ἀγάπησις: der εὐλάβεια: αἰδὼς, ἁγνεία; der χαρά: τέρψις, 
εὐφροσύνη; εὐθυμία. Dieselben drei εὐπάθειαι nennt ΟἿο. Tusc. IV, 6, 19. f. mit 
der Bemerkung, dass sie nur dem Weisen zukommen. Vgl. auch Sro». 92 
und über die Heiterkeit des Weisen Sen. ep. 59, 14 ff. 72, 4. 8. 


Milderung der Apathie. Unwirklichkeit des Weisen. 249 


würdig wäre '), sondern auch ihre eigenen Aussagen stimmen 
damit überein ®). Wagten sie doch selbst einen Sokrates, Dio- 
genes und Antisthenes nur als Fortschreitende, nicht als voll- 
endet Tugendhafte zu bezeichnen ®). Nur mochte es hiegegen 
wenig helfen, zu Herakles und Odysseus *), oder mit Posido- 
nius >) zu dem mythischen goldenen Zeitalter zu flüchten, in dem 
wohl die Weisen geherrscht haben werden. Denn das Bild jener 
Hero@n musste man erst gründlich umdeuten, wenn es mit dem 
des stoischen Weisen übereinstimmen sollte; was aber Posidonius 
betrifft, so liess sich ihm vom stoischen Standpunkt selbst aus mit 
gutem Grund entgegnen: Tugend und Weisheit sei Sache der 
freien Uebung; da diese den ersten Menschen nothwendig fehlte, 
so habe ihr Zustand nur ein Stand der unschuldigen Unwissenheit, 
nicht der Vollkommenheit sein können 5). Giebt es aber in der 
Wirklichkeit gar keine Weise, so ‘hebt die Scheidung der Men- 
schen in Weise und Thoren sich selbst auf: alle Menschen gehö- 
ren zu den Thoren, der Begriff des Weisen ist ein unwirkliches 
Ideal. Nur um so schwieriger wird es aber dann sein, die Sätze 
von der Gleichheit aller Thoren auf der einen, aller Weisen auf 


1) M. 5. ausser dem, was $. 232 fl. beigebracht ist, Pıvr. Sto. rep. 
31, 5: χαὶ μὴν οὔθ᾽ αὑτὸν ὃ Χρύσιππος ἀποφαίνει σπουδαῖον, οὔτε τινὰ τῶν 
αὑτοῦ γνωρίμων ἢ χαθηγεμόνων. Cıc. Acad. II, 47, 145. Quisrtir. Instit. XII, 
1, 18. 

2) Sen. tranqu. an. 7, 4: ubi enim istum invenies, quem tot seculis quaeri- 
mus (den Weisen)? ep. 42, 1: scis quem nume virum bonum dicam? hujus 
secundae notae. nam ille alter fortasse tamquam phoenix semel anno quingente- 
simo nascitur (vgl. S. 233, 3), wie ja alles Grosse selten sei. Doch vgl. m. 
auch 8. 234, 6. 

3) 8. o. 234, 5; auch Cıc. Fin. IV, 20, 56. 

4) Hos enim, sagt Sex. De const. 2, 1 von den Genannten, Stoiei nostri 
sapientes pronuntiaverunt, invietos laboribus u. s. w. Näheres über beide b. 
Herakuır Alleg. Hom. c. 33. e. 70 ff. Ich komme hierauf noch zurück. 

5) Bei Sen. ep. 90, 5 ff. Von diesen Weisen der Urzeit hatte Posidonius 
hach dieser Stelle alle möglichen nützlichen Erfindungen hergeleitet. An ihn 
haben wir wohl auch bei den „jüngeren Stoikern“ zu denken, welche nach 
Sexr. Math. IX, 28 den Glauben an Götter durch sie gestiftet sein liessen. 

6) Srn. ἃ. ἃ. O. 8. 44 mit den Sätzen: non dat natura virtulem, ars est 
bonum fieri ... ignorantia rerum innocentes erant ... virtus non contingit 
animo nisi instituto et edoclo et ad summum adsidua exercitatione perducto. ad 
hoc quidem, sed sine hoc nascimur u. 8. w. 


250 Stoiker. 


der anderen Seite durchzuführen; vermag vielmehr die Philoso- 
phie statt der wirklichen Weisheit nur einen Fortschritt zu diesem 
Ziel hin zu bewirken, so wird sie doch auch diese ihre Leistung 
unmöglich so gering anschlagen können, dass zwischen dem 
eifrigen Schüler und dem verstockten Verächter ihrer Lehren 
kein wesentlicher Unterschied übrig bliebe. Es war daher ganz 
natürlich, dass sich die Stoiker trotz jener Sätze doch wieder ge- 
drungen fanden, unter den Schlechten, wie andererseits unter 
den Guten, Unterschiede anzuerkennen, die freilich dem System 
zu Gefallen bei jenen auf die leichtere oder schwerere Heilbar- 
keit der sittlichen Gebrechen, bei diesen auf sittlich gleichgültige 
Eigenschaften beschränkt wurden '), und dass sie namentlich den 
Zustand der προχοπὴ, den in der Wirklichkeit allein vorkommen- 
den Fortgang zur Weisheit, dieser selbst fast bis zur Ununter- 
scheidbarkeit nahe rückten. Denn wenn es eine Stufe der προχοπὴ 
giebt, auf welcher sich der Mensch von allen Affekten befreit hat, 
alle seine Pflichten erfüllt, alles Nothwendige weiss, und selbst 
gegen die Gefahr eines Rückfalls gesichert ist *), so wird sich 
ein solcher weder durch den Mangel an Uebung, noch durch das 


1) ὅτοβ. Ekl. II, 236: ἴσων δὲ ὄντων τῶν ἁμαρτημάτων εἶναί τινὰς ἐν αὐτοῖς 
διαφορὰς, χαθόσον τὰ μὲν αὐτῶν ἀπὸ σχληρᾶς χαὶ δυσιάτου διαθέσεως γίγνεται τὰ δ᾽ 
οὔ. (Vgl. 5... 214, 2, über den Unterschied von Affekt und Seelenkrankheit.) 
war τῶν σπουδαίων γε ἄλλους ἄλλων προτρεπτιχωτέρους γίγνεσθαι χαὶ πιστιχωτέρους 
ἔτι δὲ χαὶ ἀγχινουστέρους, χατὰ τὰ μέσα τὰ ἐμπεριλαμβανόμενα τῶν ἐπιτάσεων συμ- 
βαινουσῶν d. ἢ. die Tugendhaften sind nicht alle gleich zuverlässig u. 8. w., 
aber diese Gradunterschiede beziehen sich nieht anf die Weisheit (oder 
andererseits die Thorheit) selbst, denn diese lässt dem früher Angeführten 
zufolge keine Steigerung zu, sondern nur auf solche Eigenschaften, die in 
dem sittlichen Gesammtzustand mitbegriffen, aber nicht selbst unmittelbar 
sittlicher Natur sind. Weiter vgl. man Cıc. Fin. IV, 20, 56 und 5. 235, 1. 

2) Sroe. Serm. 7, 21: 6 δ᾽ ἐπ᾽ ἄχρον, φησὶ [Χρύσιππος] προχόπτων ἅπαντα 
πάντως ἀποδίδωσι τὰ χαθήχοντα καὶ οὐδὲν παραλείπει" τὸν δὲ τούτου βίον οὐχ εἶναί 
πω φησὶν εὐδαίμονα ἀλλ᾽ ἐπιγίγνεσθα: αὐτῷ τὴν εὐδαιμονίαν ὅταν al μέσαι πράξεις 
αὖται προςλάβωσι: τὸ βέβαιον χαὶ ἑχτιχὸν χαὶ Wiav πῆξίν τινα λάβωσιν. Von Chry- 
sippus stamımt wohl die Eintheilung der Fortschreitenden in drei Klassen, über 
welche Sen. ep. 75, 8 ff. ausführlich berichtet. Von denen der höchsten Stufe 
heisst es hier: omnes jam affectus ae vitia posuerunt, quae erant complectenda 
didicerunt, sed üÜlis adhue inexperta jiducia est. bonum suum nondum in usu 
habent. jam tamen in ila quae fugerunt recidere non possunt, jam ibi sunt unde 
non esi reiro lapsus, sed hoc ülis de se nondum liquet δὲ... scire se nesciunt. 


Die Fortschreitenden. 251 


Fehlen eines deutlichen Bewusstseins über sich selbst von dem 
Weisen unterscheiden lassen — haben wir doch längst gehört, 
dass die Glückseligkeit durch die Zeitdauer nicht vermehrt werde, 
und dass auch der Weise zuerst seiner Weisheit sich noch nicht 
bewusst sei ἢ). Sollte aber die höchste Stufe der Annäherung 
hinter dem wirklichen Besitz der Weisheit auch noch darin zu- 
rückstehen, dass jene ihres Bestandes nicht schlechthin sicher, 
und dass sie zwar von Gemüthskrankheiten, aber nicht von Affek- 
ten frei wäre ?), so kommen doch diese vorübergehenden Affekte 
den Gemüthsbewegungen, welche sich auch beim Weisen finden, 
so nahe, dass sich kaum noch ein erheblicher Unterschied zwi- 
schen beiden entdecken lassen will; und wenn der Fortgeschrit- 
tene bis zur Freiheit von krankhaften Gemüthszuständen gelangt 
ist, so kann auch die Gefahr des Rückfalls nicht mehr gross sein. 
Die Stoiker waren aber überdiess darüber keineswegs einig, ob 
selbst der wirklich Weise in dieser Beziehung ausser aller Gefahr 
sei, indem zwar Kleanthes mit den Cynikern die Tugend für un- 
verlierbar erklärte, Chrysippus dagegen für gewisse Fälle die 
Möglichkeit ihres Verlustes zugab °). Auch dieses Zugeständniss 


1) 8. 8. 208, 2. 232, 5. 

2) Sen. a. a. Ὁ. 10: quidam hoc profieientium genus de quo locutus sum üta 
complectuntur, ut illos dicant jam efugisse morbos animi, afectus nondum, 
(über diese Distinktion vgl. m. 8. 214, 2) et adhue in lubrico stare, quia nemo 
sit extra periculum malitiae, nisi qui totam eam excussit. Dieser Ansicht tritt 
SENEcA ep. 72, 6 bei. 

3) Dıoe. VII, 127: τὴν ἀρετὴν Χρύσιππος μὲν ἀποβλητὴν, Κλεάνθης δὲ ἀνα- 
πόβλητον: ὃ μὲν, ἀποβλητὴν, διὰ μέθην χαὶ μελαγχολίαν: ὁ δὲ, ἀναπόβλητον, διὰ 
βεβαίους καταλήψεις. Der letzteren Ansicht waren die Cyniker gewesen (5. Bd. 
II, a, 221, 6); wenn Chrysippus sie verliess, so gehürt auch diess zu den 
Punkten, an denen die ursprüngliche Verwandtschaft des Stoicismus mit dem 
Cynismus durch ihn gelockert wurde. SEnEcA ep. 72, 6 äussert 510} im Sinn 
des Kleanthes; er hält ja aber anderswo selbst den Fortschreitenden der ober- 
sten Klasse für geschützt vor Rückfällen. Dagegen sagt Sıyrı. Categ. 102, 
α. β (Schol. in Arist. 86, a, 48. b, 30) zuerst zwar, die Stoiker erklären die 
Tugend für unverlierbar, beschränkt diess dann aber dahin, dass auch nach 
ihnen ἐν χαιροῖς (besser Basil. am Rand: χάροις, im Starrkrampf) χαὶ μελαγ- 
χολίαις u. 5. w. mit dem gesamten Vernunftleben (der λογικὴ ἕξις) auch die 
Tugend verloren gehe, und zwar keine Schlechtigkeit, aber eine ἕξις μέση, an 
ihre Stelle trete. Mit der vorliegenden Frage hängt auch die zusammen, ob 
der Weisg verrückt werden kömne, was bei Dıoc. VII, 118, doch nicht ohne 


252 Stoiker. 


gehört unter die Züge, welche uns die nothgedrungene Milderung 
der stoischen Strenge erkennen lassen. 


10. Fortsetzung. I. Die angewandte Moral. 


Alles Bisherige betraf die allgemeinen Grundsätze der Stoi- 

ker über das Ziel und die Bedingungen der sittlichen Thätigkeit. 
Ob es an der Darstellung dieser Grundsätze genüge, oder ob 
auch ihre Anwendung auf die besonderen Lebensverhältnisse in 
der Aufgabe der Sittenlehre liege, darüber war die Schule anfangs 
nicht ganz einig. Aristo, auch hierin Cyniker !), war der Mei- 
nung, dieser ganze Theil der Moral sei nutzlos und entbehrlich, 
der Philosoph habe sich auf das, was auch praktisch allein wirke, 
die sittliche Grundanschauung zu beschränken ?). Indessen fand 
diese Ansicht innerhalb der stoischen Schule keinen Anklang. 
Selbst ein Geistesverwandter Aristo’s, wie Kleanthes, wollte jenen 
specielleren Ausführungen ihren Werth nicht absprechen, wofern 
man nur ihren Zusammenhang mit den allgemeinen Grundsätzen 
nicht aus den Augen verliere 5), und dass ihnen seit Chrysippus 
eine eingehende Aufmerksamkeit zugewandt wurde, lässt sich 
nicht bezweifeln. Posidonius rechnet die Vorschrift, die Ermah- 
nung, die Berathung ausdrücklich unter die Aufgaben der Sitten- 


bedenkliche Klauseln, geläugnet wird; auch Auıx. Arur. De an. 156, b, u. 
hat die Behauptung zu bekämpfen, dass der Weise selbst im Wahnsinn 
tugendhaft handle. 

1) Vgl. Bd. II, a, 207. 

2) Das Genauere hierüber ist schon 5, 51 nach Sexrus und SenxecA mit- 
getheilt worden. Der Letztere nennt ep. 95, 1 den angewandten Theil der 
Moral, welchen Aristo verworfen habe, paraenelice oder pars praeceptiva, 
Sextus. redet von zwei τόποι, dem παραινετιχὸς und dem ὑποθετιχὸς, indessen 
scheinen beide Ausdrücke wesentlich das Gleiche zu bezeichmen, denn ὑπο- 
θετιχὸς heisst: anrathend, vgl. Muson. b. Sros. Floril. 117, 8: wer selbst nicht 
hinreichend unterrichtet ist, der wird wohlthun ζητῶν λόγων ἀκούειν ὑποθετιχῶν 
παρὰ τῶν πεποιημένων ἔργον εἰδέναι τίνα μὲν βλαβερὰ τίνα δὲ ὠφέλιμα ἀνθρώποις. 
Der ὑποθετιχὸς τόπος ist also das Gleiche, wie die suasio des Posidonius (b. Sen. 
ep. 95, 65 s. 85. 191, Anm.). 

3) Senzca ep. 94, 4: Cleanthes utilem quidem judicat et hane partem, 
sed inbecillam, nisi ab universo fluit, nisi deereta ipsa philusophiae et capita 
cognovit. 


Die angewandte Moral. 253 


lehre 1); sein Lehrer Panätius hatte in seinen drei Büchern von 
den Pflichten, welchen Cicero’s bekanntes Werk nachgebildet 
ist 2), den paränetischen Theil der Moral ausführlich behan- 
delt 3); auch in der von Diogenes berichteten Eintheilung der 
Ethik %, welche er selbst auf Chrysippus zurückführt, ist Raum 
für derartige Erörterungen °), und wie frühe dieselben in der 
stoischen Schule Platz griffen, diess beweist, neben dem Wider- ΄ 
spruch Aristo’s, welcher ihr Dasein doch voraussetzt, das Bei- 
spiel seines Mitschülers Persäus, dessen Vorschriften für Trink- 
gelage uns schon früher ©) begegnet sind. Ebenso kann sich die 
weitausgesponnene Tugendlehre des Chrysippus und seiner Nach- 
folger 77 einer vielfachen Berücksichtigung der besonderen im 
Leben vorkommenden Fälle nicht wohl entschlagen haben. So 
kennen wir ja auch‘ eine Menge Einzelvorschriften, welche uns 
theils von Anderen als stoisch überliefert, theils in den Schriften 
eines Seneca,, Epiktet und Mark Aurel, und bei Cicero von den 
Pflichten niedergelegt sind. Namentlich die Casuistik wurde von den 
Stoikern zuerst eingehend bearbeitet 5). In der späteren Zeit beson- 


1) Vgl. 8. 190, 1. 

2) Μ. 8. darüber Cıc. Off. I, 2, 7. 3,9. III, 2, 7. Cicero selbst sagt hier, 
dass er sich vorzugsweise an Panätius De offieiis (περὶ τῶν χαθηχόντων) halte, 
nur nicht-als blosser Uebersetzer, sondern correctione quadam adhibita; vgl. 
S. 255, 1. 

3) Cıc. Of. I, 3, 7: omnis de oficio duplex est quaestio: unum genus 
est, quod pertinet ad finem bonorum; alterum, quod positum est in praeceptis, 
quibus in omnes partes usus vitae conformari possit. Er wolle sich mit den 
ofieia, quorum praecepta traduntur, die zur institutio vitae comwmunis gehören, 
beschäftigen. Hierin geht nun Cicero sehr in’s Einzelne; er handelt 2. B, von 
Spiel und Unterhaltung (I, 29, 103); von den eigenthümlichen Pflichten der 
Jünglinge und Greise, der Beamten, Bürger und Fremden (I, 34); von der 
äusseren Erscheinung, dem Gang, der Gesprächführung (I, 36 £.); von den 
Mitteln, durch die man Andere für sich gewinnt (II, 6, 21 fi.) u.s. w. Aehn- 
lich muss es auch Panätius gemacht haben. 

4) Oben 5. 190, 1. 

5) So namentlich in den Abschnitten περὶ τῶν χαθηχόντων und π. προτρο- 
πῶν τε καὶ ἀποτροπῶν. 

6) 8. 228, 1. 

7) Worüber 8. 223, 1. 2 zu vergleichen ist. 

8) Nach Cıc. Of. 1, 2,7 ff. ad Att. XVI, 11 hatte Panätius für den dritten 
Haupttheil seiner Schrift von den Pflichten eine Untersuchung über die Col- 


254 Stoiker. 


ders, seit die allgemeineren Untersuchungen durch Chrysippus zum 
Abschluss gebracht waren, scheint die Vorliebe für die speciellen 
Erörterungen aus dem Gebiete der angewandten Moral bei den 
Stoikern zugenommen zu haben 1); und so waren es wohl auch 
nur jüngere Mitglieder der Schule, welche zu der unwissenschaft- 
lichen Behauptung?) fortgiengen, man sollte sich auf die Vor- 
“schriften für die besonderen Fälle, die ja doch allein praktischen 
Werth haben, beschränken. In dieser Ausbreitung der Sittenlehre 
lässt sich neben der Bemühung um wissenschaftliche Vollständig- 
keit das Bestreben nicht verkenzen, alle Seiten der menschlichen 
Thätigkeit sittlichen Gesichtspunkten zu unterwerfen; in dem tu- 
gendhaften Manne wird, wie die Stoiker glauben, Alles zur Tu- 
gend ?), und es wird daher auch Alles in die Sittenlehre hinein- 
gezogen; und die stoische Schule hat sich dadurch ohne Zweifel 
um die Klärung und Befestigung der sittlichen Begriffe, nicht blos 
für ihre eigene, sondern auch für die Folgezeit, kein geringes 
Verdienst erworben. Aber je weiter sie sich in dieser Weise auf 
alle Einzelheiten des täglichen Lebens einliess, um so unvermeid- 
licher war es, dass nicht allein die Reinheit des wissenschaftlichen 
Verfahrens nicht selten einer empirischen Reflexion, sondern 
auch die Strenge der stoischen Grundsätze vielfach praktischen 
Rücksichten weichen musste. 


lisionen zwischen dem anscheinenden Nutzen und der Pflicht beabsichtigt, 
dieselbe jedoch niemals ausgeführt; dagegen sehen wir aus Off. I, 45, 159. 
III, 12, 50 ff. 13, ὅδ. 23, 89 ff., dass nicht blos die Schüler des Panätius, 
Posidonius und Hekato, sondern auch schon Diogenes von Seleueia und Anti- 
pater von Tarsus, die sittlichen Collisionsfälle vielfach besprochen hatten, 

1) Wie sich diess aus allem Bisherigen ergiebt. Das Werk des Panätius 
besonders diente ausser Cicero auch noch Andern zum Vorbild. Antipater 
von Tyrus, ein Zeitgenosse Cicero’s, hatte es durch Erörterungen über die 
Sorge für Gesundheit und Vermögen (Cıc. Off. II, 24, 86), Hekato in seinen 
Büchern von den Pflichten durch casuistische Untersuchungen (ebd. II, 23, 
89 fl.) ergänzt. Auch Brutus, welcher in der Moral wohl ebenso, wie sein 
Lehrer Antiochus, einem gemilderten Stoicismus huldigte, und von dem Sen. 
ep. 95, 45 sagt, er habe in seiner Schrift π. τοῦ χαθήχοντος über das Verhalten 
der Eltern, Kinder, Brüder Regeln gegeben, mag Panätius gefolgt sein. 

2) Bei Sen. ep. 94, 1. 95, 1. 

3) 5108. II, 128: “ἐν ἕξει δὲ (nicht blos ἐν σχέσει, vgl. S. 196, unt.) od μόνας 
εἶναι τὰς ἀρετὰς ἀλλὰ χαὶ τὰς ἄλλας τέχνας τὰς ἐν τῷ σπουδαίῳ ἀνδρὶ, ἀλλοιωθείσας 
ὑπὸ τῆς ἀρετῆς καὶ γενομένας ἀμεταπτώτους, οἷονεὶ γὰρ ἀρετὰς γίγνεσθαι. 


Angewandte Moral: der Einzelne. 255 


In welcher Ordnung und nach welcher Eintheilung die Stoi- 
ker in dem paränetischen Theil ihrer Ethik das Einzelne zu be- 
handeln pflegten, und ob überhaupt in dieser Beziehung bei ihnen 
Gleichmässigkeit herrschte, wird uns nicht berichtet '). Für den 
Zweck unserer gegenwärtigen Darstellung wird es am bequemsten 
sein, zunächst die Bestimmungen, welche die sittliche Thätigkeit 
des Einzelnen ats solchen betreffen, von den auf das menschliche 
Gemeinleben bezüglichen zu unterscheiden, und hierauf schliess- 
lich die Grundsätze der Schule über das Verhalten des Menschen 
gegenüber vom Weltlauf und der allgemeinen Nothwendigkeit zu 
besprechen. 


1. Der Einzelne als solcher. 


Es lag in der ganzen Richtung des stoischen Systems, dass 
es in der Ethik dem Einzelnen, seinen Thätigkeiten und Pflichten, 
grössere Aufmerksamkeit zuwandte, als die frühere Philosophie. 
Die letztere hatte diese Seite zwar gleichfalls nicht vernachlässigt, 
und namentlich Aristoteles war durch seine Untersuchungen über 
die einzelnen Tugenden genauer auf die individuelle Sittlichkeit 
eingegangen; aber doch wirkt auch bei ihm die Anschauungs- 
weise des klassischen Griechenthums, 'an dessen Grenze er steht, 
noch stark genug nach, um den Einzelnen gegen die Gesammt- 
heit, die Ethik gegen die Politik sichtbar zurücktreten zu lassen. 
In der nacharistotelischen Zeit musste sich dieses Verhältniss um- 
kehren: mit dem Verfall des öffentlichen Lebens bei den Griechen 
musste auch das wissenschaftliche Interesse am Staat abnehmen, 
in demselben Maasse dagegen die Einzelpersönlichkeit und die 
Verhältnisse des Privatlebens in den Vordergrund gerückt werden. 
Dieser Zug lässt sich schon bei den älteren Schulen, der akade- 


1) Nur über die Schrift des Panätius wissen wir aus Cıc. Off. I, 3, 9. III, 
2,7 ff. 7,33, dass sie in ihren drei Büchern ihren Gegenstand zuerst aus dem 
Gesichtspunkt der Pflicht, dann aus dem des Nutzens behandelte; der dritte 
Punkt, welchen Panätius als Gegenstand seiner Untersuchung bezeichnet 
hatte, die Collision zwischen Pflicht und Nutzen, war, wie bemerkt, unaus- 
geführt geblieben. Cicero fügt noch Erörterungen der zwei Fragen bei, welche 
von zwei Pflichten und welche von zwei Nützlichkeitsrücksichten im Col- 
lisionsfall den Vorzug verdiene (I, 3, 10. ec. 43 fi. II, 25); im Uebrigen scheint 
er in seinen ersten zwei Büchern der Ordnung des Panätius zu folgen. 


256 Stoiker. 


mischen und peripatetischen, bemerken: die letztere besonders 
war hierin auf dem Wege, welchen ihr Stifter ihr eröffnet hatte, 
schon in seinen ersten Schülern weiter fortgegangen. Bei den. 
Stoikern war er durch den ganzen Geist ihres Systems gefordert. 
Wenn die Glückseligkeit des Menschen einzig und allein durch 
den Zustand seines Innern bedingt ist, und nichts Aeusseres Ein- 
fluss darauf haben kann, wird sich auch die Wissenschaft, welche 
ihn zur Glückseligkeit führen soll, in erster Linie mit seiner eige- 
nen sittlichen Thätigkeit, mit der menschlichen Gesellschaft dage- 
gen nur insofern zu beschäftigen haben, wiefern die Thätigkeit 
für dieselbe in der sittlichen Aufgabe des Einzelnen mitenthalten 
ist. Wir sehen daher in der stoischen Philosophie, bei verhältniss- 
mässiger Hintansetzung der Politik, die Untersuchung über die Ob- 
liegenheiten der Einzelnen als solcher eine grosse Breite gewinnen. 
Weit das Meiste von dem, was uns aus dem angewandten Theil ihrer 
Sittenlehre überliefert ist, bezieht sich hierauf, und wie tief sie 
sich dabei auf alle möglichen Einzelheiten einliessen, haben wir 
schon früher gehört !). Indessen stand die wissenschaftliche Aus- 
beute dieser Erörterungen Allem nach mit ihrer Ausführlichkeit 
nicht im Verhältniss. Halten wir uns z. B., um uns von Panätius’ 
Schrift über die Pflichten eine Vorstellung zu bilden, an die zwei 
ersten Bücher der ciceronischen, so wird hier, nach einigen zin- 
leitenden Erörterungen, zuerst (I, 5—42) nach dem Schema der 
vier Grundtugenden das sittliche Verhalten als solches (das hone- 
stum) beschrieben; es wird bei der ersten derselben, der Ein- 
sicht, der Forschungseifer empfohlen, vor unnützen Grübeleien 
gewarnt; es wird die Gerechtigkeit und die Ungerechtigkeit in 
ihren verschiedenen Aeusserungen und mit Rücksicht auf die 
hauptsächlichsten im Leben vorkommenden Fälle ihrer Anwen- 
dung beschrieben; ebenso, als Unterarten derselben, die Freige- 
bigkeit, die Wohlthätigkeit, das Wohlwollen; und es wird bei 
diesem Anlass auch von der menschlichen Gemeinschaft in ihren 


1) Oben 8. 223. 253. Chrysippus hatte, wie aus dem Bruchstück bei 
Arne. XIII, 565, a erhellt, unter Anderem das Abscheeren des Barts des 
Breiteren bestritten, und Arex. Arur. Top. 46, m führt als Beispiel überflüs- 
siger Untersuchungen die der Stoiker ἐν τοῖς περὶ χαθηχόντων an, ob es sich ge- 
zieme, bei Tisch seinem Vater das grössere Stück vorwegzunehmen, in der 
Schule eines Philosophen die Beine übereinanderzulegen u. dgl. 


Angewandte Moral: der Einzelne. 257 


ı verschiedenen Formen gesprochen (ce. 16—18, 60). Indem sich 
der Philosoph weiter Ce. 18, 61) zur Tapferkeit wendet, macht er 
zunächst auf ihren unzertrennlichen Zusammenhang mit der Ge- 
rechtigkeit aufmerksam; er schildert sie sodann, wie sie sich 
theils als Seelengrösse und Standhaftigkeit in der Unabhängigkeit 
‚vom Aeussern, theils als thatkräftiger Muth zeigt; und er erörtert 
bei dieser Gelegenheit mancherlei Fragen, die sich hier ergeben: 
über wahren und falschen, bürgerlichen und kriegerischen Muth, 
über die Ausschliessung des Zorns von der Tapferkeit u. A. Als 
der Gegenstand der vierten Haupttugend Ce. 27-ff.) wird endlich 
im Allgemeinen das Schickliche (decorum, πρέπον») bezeichnet, 
und das ihm entsprechende Verhalten in der Beherrschung der 
sinnlichen Triebe, in Scherz und Spiel, in der ganzen persönli- 
chen Haltung beschrieben; es wird auf die eigenthümlichen An- 
forderungen eingegangen, welche sich aus der Individualität, dem 
Lebensalter, der bürgerlichen Stellung ergeben; es wird vom 
äusseren Anstand, der Rede und Gesprächführung, der häuslichen 
Einrichtung, vom Takt im Benehmen 1), von anständigem und 
unanständigem Erwerb gehandelt ?). Im zweiten Buch seines 
Werkes untersucht dann Cicero zunächst das Verhältniss des 
Vortheils zur Pflicht; und nachdem er ausführlich genug 5) ge- 
zeigt hat, dass den Menschen die meisten Vortheile und Nach- 
theile durch andere Menschen erwachsen, wendet er sich zu den 
Mitteln, durch welche wir Andere für uns gewinnen können, 
durch welche Zuneigung, Vertrauen, Bewunderung erworben 
wird, er setzt die verschiedenen Arten von Verdiensten, um Ein- 
zelne und um den Staat, auseinander, und benützt zugleich die 
Gelegenheit, seinem Groll gegen Gewaltherrschaft und demagogi- 
sche Volksschmeichelei Luft zu machen. Die Grundsätze, von 
welchen diese ganze Darstellung geleitet wird, sind von der Art, 
dass sich auch von Seiten unserer heutigen sittlichen Bildung nur 
selten eine Einsprache dagegen erheben wird; aber wenn auch in 


1) Εὐταξία, εὐχαιρία,, talis ordo actionum ut in vita omnia sint apta inter se 
et convenientia 1, 40, 142. 144. 


2) I, 43 ff. der eiceronischen Schrift übergehe ich, weil dieser Abschnitt, 
wie bemerkt, bei Panätius fehlte. 


3) Panätius selbst aber, nach c. 5, 16, noch viel ausführlicher, 
Philos. ἃ. Gr. III. B. 1. Abth. 17 


258 Stoiker. 


der Fassung und Begründung der Lebensregeln, und namentlich 
in den Definitionen der verschiedenen Tugenden, die stoische 
‘Grundlage sich nicht verkennen lässt, so ist doch in den sittlichen 
Urtheilen selbst nur sehr wenig zu finden, was vom Standpunkt 
der platonischen oder arisiotelischen Ethik aus anders hätte lauten 
müssen 1). Aehnlich verhält es sich auch mit Anderem, was uns 
über die Bestimmungen mitgetheilt wird, durch welche die Stoi- 
ker ihre Schilderung des Weisen weiter ausführten ?). So schroff 
ihre Grundsätze mitunter lauten, so zeigt sich doch, dass sie in 
der Anwendung derselben von den allgemein geltenden sittlichen 
Begriffen sich nicht zu weit entfernten. 

Eigenthümlicher, aber auch auffallender, ist einiges Andere. 
Das zwar möchten wir den Stoikern nicht zu hoch anrechnen, 
dass sie die Lüge unter Umständen für erlaubt hielten ®), denn 


- 1) Dahin gehört das Verbot, den Feinden zu zürnen (I, 25, 88), welches 
ausdrücklich an die Differenz der Stoiker und Peripatetiker über die Zulässig- 
keit der Affekte (s. o. 8. 215 £.) erinnert. 

2) So Dıos. 117 f.: der σοφὸς oder σπουδαῖος sei ohne Eitelkeit (ἄτυφος), 
ernsten Wesens (αὐστηρὸς), ohne Falsch (ἀχίβδηλος) und von aller Neigung zu 
leerem Schein frei; er halte sich von den Geschäften des Lebens ferne (sei 
ἀπράγμων), um nichts Pflichtwidriges thun zu müssen. Vgl. S. 274, 1. Ferner 
Stop. II, 240: der Weise sei sanftmütbig (πρᾷος), ruhig (ἡσύχιος) und anstän- 
dig (κόσμιος), er verhetze Niemand-gegen Andere und lasse sich nicht ver- 
hetzen, er schiebe nie auf, was er zu thun habe. 

3) Chrysippus b. Prvur. Sto. rep. 47, 1: βλάψουσιν οἱ σοφοὶ ψευδεῖς φαντασίας 
ἐμποιοῦντες, ἂν αἱ φαντασία: ποιῶσιν αὐτοτελῶς τὰς συγχαταθέσεις" πολλάχις γὰρ ol 
σοφοὶ ψεύδει χρῶνται πρὸς τοὺς φαύλους χαὺ φαντασίαν παριστᾶσι πιθανὴν, οὐ μὴν 
τίαν τῆς συγχαταθέσεως" ἐπεὶ καὶ τῆς ὑπολήψεως αἰτία τῆς ψευδοῦς ἔσται χαὶ τῆς 
ἀπάτης. ὅ1οΒ. Il, 230: μὴ ψεύδεσθαι τὸν σοφὸν ἀλλ᾽ ἐν πᾶσιν ἀληθεύειν" οὐ γὰρ ἐν 
τῷ λέγειν τι ψεῦδος τὸ ψεύδεσθα! ὑπάρχειν, ἀλλ᾽ ἐν τῷ διαψευστῶς τὸ ψεῦδος λέγειν 
καὶ ἐπὶ ἀπάτη τῶν πλησίον. τῷ μέντο: ψεύδει ποτὲ συγχρήσασθα!: [].--σεσθα!:] νομίζουσιν 
αὐτὸν χατὰ πολλοὺς τρόπους ἄνευ συγχαταθέσεως χαὶ γὰρ χατὰ στρατηγίαν πρὸς τῶν 
ἀντιπάλων, καὶ χατὰ τὴν τοῦ συμφέροντος προύρασιν (was man aber nicht mit Rır- 
TER III, 662 einfach übersetzen darf, „um des Vortbeils willen“; es wird sich 
vielmehr auf solche Fälle beziehen, wie die bei Xexornox Mem. IV, 2, 17 und 
Pı.aro Rep. II, 382, C. 11I, 389,'B. IV, 459, C angeführten, in denen der Vor- 
theil des Anderen selbst oder des Gemeinwesens eine Tänschung fordert) χαὶ 
χατ᾽ ἄλλας olxovonias τοῦ βίου πολλάς. Nach Maassgabe dieser Stellen ist es 
auch zu erklären, wenn Pro. in Aleib. (Opp. ed. Cous. III, 64) von den Stoi- 
kern sagt, sie verwerfen, im Gegensatz zu den Früheren, die Annahme einer 
erlaubten Lüge, οὔτε γὰρ ἐξαπατᾷν ἔστι δικαίως κατ᾽ αὐτοὺς οὔτε βιάζεσθαι οὔτε ἀπο- 


Angewandte Moral: Cynismus. 259 


der gleichen Meinung ist Sokrates und Plato 7), und wenn wir ehr- 
lich sein wollen, so müssen wir bekennen, dass auch unsere Moral 
in dieser Beziehung zwar in der Theorie sehr rigoristisch, in der 
Praxis dagegen nur allzu weitherzig zu sein pflegt. Sehr anstössig 
sind dagegen manche Behauptungen über das Verhalten des Weisen 
zu den sog. Mitteldingen,, ‘welche den Stoikern beigelegt werden. 
Jene Unabhängigkeit von allem Aeussern, jene Gleichgültigkeit 
gegen Alles, ausser dem eigenen sittlichen Zustand, welche sich 
in der Lehre von den Adiaphoren und von der Apathie des Weisen 
. ausspricht, war in der Schule, aus der die stoische zunächst her- 
vorgieng , mit der ganzen Einseitigkeit des cynischen Lebens und 
der eynischen Grundsätze verknüpft gewesen; und war diese. 
Einseitigkeit im Stoicismus allerdings durch andere Elemente ge- 
mildert und ergänzt worden, so war ihm dach der Zug zu der- 
selben von seinem Ursprung her zu tief eingepflanzt, und sie liess 
sich von den gemeinsamen Grundanschauungen der beiden Schu- 
len zu schwer treünen, als dass sich ihr die stoische ganz. hätte 
entziehen können. Sie forderte das cynische Leben zwar nicht 
von ihren ‚Mitgliedern, ja sie erklärte wohl auch ausdrücklich, 
dass es nur in Ausnahmsfällen zn ergreifen sei 3), aber doch blieb 
es immer ihr Ideal, und wenn sie auch zugab, dass der Weise 
nicht Cyniker zu werden brauche, meinte sie doch, wenn er es 
einmal sei, so werde er es auch bleiben °). Ein Antisthenes und 
Diogenes gehörten so gut, wie ein Sokrates, zu ihren Vorbildern °), 


στερέϊν, ἀλλ᾽ ἑχάστη τῶν πράξεων τούτων ἀπὸ μοχθηρᾶς πρόεισιν ἕξεως χαὶ ἀδιχός 
ἐστιν. Es handelt sich hier um einen blossen Wortstreit: die Stoiker waren in 
der Sache mit Plato einverstanden, die erlaubte Unwahrheit sollte nur, aus 
den von Chrysipp und Stobäus angegebenen Gründen, nicht Lüge oder Betrug 
genannt werden. 

1) S. vor. Anm. und Bd. II, a, 101, 1. 375, 5. 568. 605, 4. 

2) Cıc. Fin. III, 20, 68: Cynicorum autem rationem atque vitam alii cadere 
in sapientem dieunt, si quis ejusmodi forte casus inciderit, ut id faciendum sit, 
alii nullo modo. Die Letzteren müssen aber doch in der Minderheit gewesen 
sein; vgl. folg. Anm. 

3) Dıo. 121: χυνιεῖν τ᾽ αὐτόν [τὸν σοφόν]᾽ εἶναι γὰρ τὸν χυνισμὸν σύντομον Er’ 
ἀρετὴν 6dov, ὡς ᾿Απολλόδωρος (über den 5. 48 2. vgl.) ἐν τῇ ἠθιχῇ. Sıop. 238: 
χυνιεῖν τε τὸν σοφὺν λέγουσιν, ἴσον τῷ ἐπιμένειν τῷ χυνισμῷ, οὐ μὴν σοφὸν ὄντ᾽ ἂν ἄρ- 
ξασθαι τοῦ χυνισμοῦ. 

4) S. ο. 234,5. Nach den Epigrammen Tımox’s b, θιοσ. VII, 16. Arnen. 


17 * 


260 Stoiker. 


und auch wer mit Sexeca ) der Ansicht war, der Philosoph solle 
sich der herrschenden Sitte nicht entziehen, und aus Rücksicht 
auf Andere selbst solches, was er an sich nicht billige, mit- 
machen, hörte darum nicht auf, die Bedürfnisslosigkeit eines Dio- 
genes mit allen ihren Auswüchsen auf’s Höchste zu bewundern 2). 
Strenger Denkende ohnedem neigten auch in ihren Lebensvor- 
schriften zum Cynismus ὅ). und wirklich ist in der späteren Zeit 
aus der Stoa eine Schule jüngerer Cyniker hervorgegangen. Bei 
dieser nahen Verwandtschaft mit dem Cynismus kann es uns nicht 
Wunder nehmen, wenn wir auch von der Verachtung der gebil- 
deten Sitte und der Verletzung berechtigter Gefühle, durch 
welche jener uns abstösst, bei unsern Philosophen noch genug 
antreffen, um ihren Gegnern willkommenen Anlass zu Vorwürfen 
zu bieten. Chrysippus fand manche Dinge, worin die religiöse Sitte 
der Griechen eine Verunreinigung sah, durchaus unanstössig, da ja 
das Beispiel der Thiere beweise, dass sie ganz naturgemäss seien 5). 
Derselbe wollte die Sorge für verstorbene Angehörige nicht blos 
auf das einfachste Begräbniss beschränkt, sondern auch wohl 
ganz hintangesetzt wissen, ja er machte sogar den abscheulichen 
Vorschlag, den er des Breiteren ausmalte, das Fleisch von abge- 
nommenen Gliedern und Leichnamen, selbst denen der nächsten 
Verwandten, zur Nahrung zu verwenden 5). Besonderen Anstoss 


IV, 158, a. Sexr. Math. XJ/172 hätte die zenonische Schülerschaft selbst ein 
ganz cynisches Ansehen gehabt. Doch möchte ich darauf, wenn auch die An- 
gabe wenigstens theilweise und für die erste Zeit der stoischen Schule richtig 
sein mag, bei der Würdigung des Systems kein grosses Gewicht legen. 

1) Ep. 5,1 ff. 103, 5. Fr. 19£. b. Lacranr. Inst. III, 15. 

2) M. s. hierüber tranqu. an. 8, 4 ff. Benef. V, 4,3. 6, 1. ep. 90, 14. Doch ᾿ 
ist Seneca ep. 29,1 mit der Gewohnheit der Cyniker, ihre Ermahnungen an 
Alle ohne Unterschied zu richten, nicht einverstanden. 

3) Wie wir diess bei Musonius und Epiktet finden werden. 

4) Prur. Sto. rep. 22 (es handelt sich um Verunreinigung der Tempel 
durch Berührung mit Todten oder, Wöchnerinnen und um unreine Speisen); in 
andern Fällen freilich wollte er, wie ihm Plutarch hier vorwirft, diese Instanz 
nicht gelten lassen. 

5) M. s. ausser Dıoc. VII, 188 und Sexr. Pyrrh. III, 207 Chrysipp’s eigene 
Worte bei Sexr. Pyrrh. III, 247 ἢ. (Math. XI, 193 £.). Die Mehrzahl der Stoi- 
ker scheint die Zulässigkeit des Genusses von Menschenfleisch auf den Fall 
eines ausserordentlichen Nothstands beschränkt zu haben; Dıos. 121. In dem 


Angewandte Moral: Cynismus. 261 


gaben aber die Stoiker, und vor Allem Chrysippus, durch ihre 
Behandlung der geschlechtlichen Verhältnisse; und wir können 
nicht läugnen, die Sätze, welche ihnen in dieser Beziehung bei- 
gelegt werden, lauten theilweise höchst verfänglich. Die cynische 
Behauptung, dass man von allem, was an sich erlaubt sei, un- 
gescheut und :ohne Umschweife reden dürfe, wird auch Stoikern 
zugeschrieben '). In seiner Politie soll Zeno durch Vorschläge 
über die Kleidung der Frauen den Anstand und das Schaamgefühl 
verletzt haben ?); und für den Staat der Weisen hatte er, und 
nach ihm Chrysippus, allgemeine Weibergemeinschaft verlangt °). 
Die Stoiker fanden ferner, wie behauptet wird, nicht allein die 
gewöhnliche Unzucht und das Gewerbe einer Hetäre *), sondern 
sogar die Schändlichkeiten der Knabenliebe zulässig °); ja die 
Häupter der Schule hielten die Ehe unter den nächsten Blutsver- 
wandten für naturgemäss °), und selbst die hässlichen Schaam- 
losigkeiten eines Diogenes fanden an Chrysippus 7), und vielleicht 
schon an Zeno ®) ihre Vertheidiger. Man würde hier freilich den 
Stoikern wohl jedenfalls Unrecht thun, wenn man in solchen 
Sätzen etwas anderes sehen wollte, als rein theoretische Conse- 
quenzen; der sittliche Charakter eines Zeno, Kleanthes, Chrysip- 


Zusammenhang dieser Erörterungen hatte wohl Chrysippus auch von der Be- 
handlung der Todten bei den verschiedenen Völkern gesprochen (Cıc. Tuse. I, 
45, 108): er wollte damit beweisen, dass in dieser Beziehung keine natürliche 
Uebereinstimmung herrsche. 

1) Cıc. Off. I, 35, 128, doch mit der Beschränkung: Q'ynieci, aut si qui fue- 
runt Stoici paene C'yniei. 

2) Bios. VII, 33: χαὶ ἐσθῆτι δὲ τῇ αὐτῇ χελεύει χρῆσθα: χαὶ ἄνδρας χαὶ yuvaixas 
χαὶ umdtv μόριον ἀποχεχρύφθαι. Das Letztere sollte aber doch wohl nur bedingter 
Weise, für gewisse Fälle, gelten, wie die Entblössung der Frauen bei Plato 
zum Zweck der Gymnastik. 

3) Dıoc. 33. 131 vgl. Bd. II, a, 232, 3. 

4) Sexr. Pyrrh. III, 201. 

5) Sexr. Pyrrh. III, 200. 245. Math. XI, 190. Cuemext. Homil. V, 18. 

6) Sexr. Pyrrh. I, 160. III, 205. 246. Math. XI, 191. Pıvr. Sto. rep. 22. 
Cresext. Hom. V, 18. 

7) Puur. a. α΄ Ὁ. 21,1; vgl. Bd. II, a, 229, 

8) Doch legt Sexrus (Pyrrh. III, 206: τό τε BEINEN ... ὃ Ζήνων οὐχ 
ἀποδοχιμάζει) vielleicht ihm, als Vertreter der Schule, bei, was nur Chrysippus 
gesagt hatte. 


262 ‘ Stoiker 


pus ist über jeden Zweifel erhaben; nur um so merkwürdiger ist 
es aber, wenn auch diese Männer sich zu Annahmen hingedrängt 
sahen, vor denen dem einfachen Gefühl schaudern muss. Nun 
lässt sich allerdings nicht unbedingt annehmen , dass die Behaup- 
tungen, welche ihnen zur Last gelegt werden, in ihrem Munde 
den Sinn hatten, den unsere Berichterstatter darin suchen; von 
einzelnen ihrer Aeusserungen ist vielmehr sogar zu vermuthen, 
dass sie nicht allein keine anerkannt unsittliche Handlung recht- 
fertigen, sondern vielmehr umgekehrt solches, was die gewöhn- 
liche Sitte gestattete, durch den Nachweis, es sei zwischen ihm 
und dem anerkannt Unsittlichen kein wesentlicher Unterschied, 
widerlegen sollten. Es gilt diess namentlich von Zeno’s Aussagen 
über die Knavenliebe 1); und es war insofern keineswegs gegen 
den Sinn der älteren Stoa, und nicht im Widerspruch mit dem 
Satz, dass dem Weisen die Liebe gestattet sei 5), wenn spätere 
Stoiker alle und jede Unzucht, und namentlich die Auswüchse 


der Knabenliebe, auf’s Entschiedenste bekämpften 5). Ebenso wer- 
\ 


1) Seine Worte b. Sexrus Math. XI, 190. Pyrrh. III, 245 (nach Prur. qu. 
conv. III, 6, 1, 6 ans der Politie) lauten: διαμηρίζειν δὲ μηδὲν μᾶλλον μηδὲ ἧσσον 
παιδιχὰ ἢ μὴ παιδιχὰ μηδὲ θήλεα ἢ ἄρσενα. οὐ γὰρ ἄλλα παιδιχσῖς ἢ μὴ παιδιχσὶς 
οὐδὲ θηλείαις ἢ ἄῤῥεσιν, ἀλλὰ τὰ αὐτὰ πρέπε: τε καὶ πρέποντά ἐστι, und: διαμεμή- 
ριχας τὸν ἐρώμενον: οὐχ ἔγωγε" πότερον οὐχ ἐπεθύμησας αὐτὸν διαμηρίσαι: χαὶ μάλα. 
ἀλλὰ ἐπεθύμησας παρασχεῖν σοι αὐτὸν ἢ ἐφοβήθης χελεῦσαι; μὰ Al. ἀλλ᾽ ἐχέλευσας: 
χαὶ μάλα. εἶτ᾽ οὐχ ὑπηρέτησέ σοι: οὐ γάρ. Die Ausdruckwseise ist hier aller- 
dings cynisch genug, die Meinung aber gewiss nieht die, welche Sexrus 
darin findet: Zeno «will nicht die Knabenschändung als erlaubt darstellen, 
sondern vielmehr umgekehrt darthun, dass der, welcher die Unzucht über- 
haupt für erlaubt hält, auch diese Unzucht nicht verbieten könnte, dass die 
Begierde und der Versuch der vollendeten That gleich zu achten sei. 

2) M. s. darüber folg. Anm. und die dort angeführten Stellen aus Diog. 
Stob. Cic. Plut. 

3) So Musonius b. Stos. Serm. 6, 61, vgl. Cıc. Fin. III, 20, 68: ne amores 
quidem sanctos alienos a sapiente esse volunt. Auch nach Dıoc. VII, 129 £. 
Sro». II, 238 geht die Liebe nur auf die Schönheit der Seele; wenn sie daher 
auch nach Πιοα. und Stop. a. ἃ. a. O. Arrx. Arne. Top. 75 o. Cıc. Tuse. 
IV, 34, 72 als ἐπιβολὴ φιλοποιίας διὰ χάλλος ἐμφαινόμενον definirt wurde, die 
ἔμφασις χάλλους nach Prur. c. not. 28 zur Liebe reizen sollte, so wurde doch 
zugleich gesagt: hässlich seien die Schlechten und Unvernünftigen, schön 
die Weisen. Dass trotzdem, wie Plutarch hier den Stoikern vorhält, be- 

* hauptet wurde: τοὺς ἐρασθέντας αἰσχρῶν παύεσθαι χαλῶν γενομένων, haben wir 


Angewandte Moral: Cynismus. 263 


den die Behauptungen über Zulässigkeit der Ehe mit Blutsver- 
"wandten durch genauere Erläuterungen wesentlich gemildert 1). 
Zeno’s Anträgen auf Weibergemeinschaft endlich muss der platoni- 
sche Vorgang und alles, was sich für diesen sagen lässt, billig zu 
Gute kommen ?). Aber doch bleibt auch bei der unbefangensten 
Beurtheilung der stoischen Sätze immer noch genug übrig, was 
unser höchstes Befremden erregen müsste, wenn wir es uns nicht 
aus den Voraussetzungen der stoischen Lehre ohne Mühe erklä- 
ren könnten. Eine Moral, welche zwischen dem Inneren und 
Aeusseren so schroff trennt, welche nur jenes als wesentlich, 
dieses als durchaus gleichgültig betrachtet, für welche nichts 
ausser der tugendhaften Gesinnung einen Werth hat, und welche 
gerade in der Unabhängigkeit von allem Andern ihr höchstes Ziel 
findet — eine solche Moral musste unvermeidlich an allen den 
Punkten in’s Schwanken gerathen, bei denen die sittliche Aufgabe 
gerade darin besteht, dass die Sinnlichkeit zum Werkzeug und 
zur Erscheinung des Geistes gemacht, die natürlichen Triebe und 
Verhältnisse in die Sphäre des freien Wollens erhoben werden; 
und wenn ihr vorherrschender Zug hiebei dahin gieng, der Sinn- 
lichkeit weniger Rechte einzuräumen, als ihr naturgemäss zu- 


wohl nach Analogie der platonischen Auseinandersetzung Symp. 203, E ἢ 
zu verstehen. Die Liebe wird durch die Wahrnehmung der εὐφυΐα πρὸς ἀρετὴν 
(Dıog.) erregt, und ihr Ziel ist die Ausbildung dieser Anlage zur wirklichen 
Tugend; so lange aber dieses Ziel noch nicht erreicht ist, ist der Geliebte 
noch unweise und somit auch noch hässlich; wenn es andererseits erreicht 
ist, so hat das Streben, in welchem der Eros besteht, seinen Gegenstand ver- 
loren, die Liebe des Erziehers zum Zögling geht in die Freundschaft zwischen 
Gereiften über. 

1) Vgl. Oxıc. c. Cels. IV, 45: die Stoiker verlegen das Gute und Böse 
nur in die Gesinnung, und erklären die äussere Handlung als solche, abge- 
sehen von der Gesinnung, für gleiebgültig; εἶπον οὖν ἐν τῷ περὶ ἀδιαφόρων 
τόπῳ, ὅτ: τῷ ἰδίῳ λόγῳ (die-Handlung für sich genommen) θυγατράσι μίγνυσθαι 
ἀδιάφορόν ἐστιν, εἰ χαὶ μὴ χρὴ ἐν ταῖς χαθεστώσαις πολιτείαις τὸ τοιοῦτον ποιεῖν. 
χαὶ ὑποθέσεως χάριν ... παρειλήφασι τὸν σοφὸν μετὰ τῆς θυγατρὺς μόνης χαταλε- 
λειμμένον παντὸς τοῦ τῶν ἀνθρώπων γένους διεφθαρμένου, χαὶ ζητοῦσιν εἰ χαθηχόν- 


r 


τὼς ὃ πατὴρ συνελεύσεται τῇ θυγατρὶ ὑπὲρ τοῦ un ἀπολέσθαι ... τὸ πᾶν τῶν ἀν- 
θρώπων γένος. 

2) Wie streng er an sich bei den Frauen Zucht und Anstand gewahrt 
wissen wollte, zeigt das Bruchstück bei Kremens Paedag. III, 253 C über 
Kleidung und Haltung der Jungfrauen. 


2641 | Stoiker. 


kommen, so konnte es doch nicht fehlen, dass in einzelnen Fällen 
auch umgekehrt solches, dessen Zusammenhang mit der Gesin- 
nung nicht unmittelbar auf der Hand liegt, in seiner sittli- " 
chen Bedeutung verkannt und als ein Gleichgültiges behandelt 
wurde. 

Die gleiche Bemerkung werden wir nun auch bei einzelnen 
von den Bestimmungen der Stoiker über 


2. die menschliche Gemeinschaft 


machen können. Doch ist es nicht ihre Absicht, den Menschen 
von dem natürlichen Zusammenhang mit Andern loszureissen; 
je vollständiger er vielmehr das Werk der sittlichen Befreiung in 
sich selbst vollbracht hat, um so stärker wird, wie sie glauben, 
der Trieb zur Gemeinschaft in ihm wirken. Durch diese Bestim- 
mung entstehen in der stoischen Ethik zwei relativ enigegenge- 
setzte Richtungen, auf individuelle Unabhängigkeit und auf Ge- 
staltung eines menschlichen Gemeinlebens; und wenn auch die 
erstere unverkennbar die überwiegende und ursprünglichere ist, so 
istdoch auch die zweite nichtetwa nur auf Nebenwegen eingeführt, 
auch sie ist vielmehr als eine durchaus berechtigte Folge des stoi- 
schen Standpunkts, und namentlich dem Epikureismus gegenüber 
als ein wesentliches Kennzeichen desselben zu betrachten. Indem 
der Stoicismus dem vernünftigen Denken und Wollen allein einen 
unbedingten Werth beilegt, so macht er den Menschen unabhän- 
gig von allem Aeussern, und auch von anderen Menschen; weil 
es aber eben nur das vernünftige Denken und Wollen ist, das 
diesen Werth hat, so ist in dieser Denkweise mit der Freiheit des 
Einzelnen zugleich die Anerkennung einer Gemeinschaft zwischen 
Allen und die Forderung begründet, dass ein Jeder seine beson- 
deren Zwecke den Zwecken und Bedürfnissen der Gesammtheit 
unterordne. Denn vernünftig handelt und denkt der Mensch nur, 
sofern sein persönliches Thun dem allgemeinen Gesetz gemäss ist; 
dieses ist aber ein und dasselbe für alle Vernunftwesen; sie alle 
sollen daher dasselbe anstreben, und sich als bestimmt durch das 
gleiche Gesetz, als Theile Eines wesentlich zusammengehörigen 
Ganzen anerkennen, der Mensch soll nicht sich selbst leben, son- 
dern der Gemeinschaft. 


Die menschliche Gemeinschaft. 265 


Die Stoiker selbst haben diesen Zusammenhang sehr klar 
dargelegt. Der Trieb nach Gemeinschaft ist ihrer Ansicht nach 
unmittelbar mit der Vernunft selbst gegeben; denn in seiner Ver- 
nunft weiss sich der Mensch als Theil des Ganzen, und ebendamit 
als verpflichtet, seinen eigenen Vortheil dem des Ganzen unter- 
zuordnen 1); wie alles Verwandte sich anzieht, so vor Allem 
das Vernünftige, denn die vernünflige Seele ist in allen Wesen 
eine und dieselbe, und aus dem Bewusstsein dieser ihrer Einheit 
folgt unmittelbar der Trieb nach Gemeinschaft zwischen den ein- 
zelnen Vernunftwesen 2); sie alle stehen unter der Vernunft, sie 
alle haben mithin Ein Recht und Gesetz °), und sie wirken, sofern 
sie diesem Gesetz folgen, iminer für das Ganze: der Weise ist, 
wie ein stoischer Satz lautet *), niemals Privatmann. Oder wenn 
wir dieses Verhältniss mehr teleologisch ausdrücken wollen 5): 
während alles Uebrige um der vernünftigen Wesen willen da ist, 
so sind sie für einander da, ihre Gemeinschaft ist mithin das un- 


1) Cıc. Fin. Il, 19.64: mundum autem censent regi numine Deorum eum- 
que esse quasi communem urbem et civitatem hominum et Deorum; et unum- 
quemque nostrüm ejus mundi esse partem, ex quo illud consequi, ut communem 
utilitatem nostrae anteponamus. 

2) M. Auer IX, 9. XII, 30. Sen. ep. 95, 52: die ganze Welt ist Eines, 
membra sumus corporis magni. natura nos cognatos edidit; daher die Liebe 
der Menschen zu einander, die Geselligkeit, Recht und Billigkeit. ep. 48, 2: 
alteri vivas oportet, si vis tibi vivere. haec societas ... nos homines hominibus 
miscet et judicat aliquod esse commune jus generis humani. 

3) Cıc. Legg. 12, 33: quibus enim ratio a natura data est, üsdem etiam 
recta ratio data est: ergo et lex, quae est recta ratio in jubendo et vetando (vgl. 
S. 205, 3): sölex, jus quoque. at omnibus ratio. jus igitur datum est omnibus. 
Ebd. 7, 23: est igitur ... prima homini cum Deo rationis societas. inter quos 
autem ratio, inter eosdem etiam recta ratio communis est. quae cum sit lex, lege 
quoque consociati homines cum Diis putandi sumus. inter quos porro est com- 
munio legis, inter eos communio juris est. quibus autem haec sünt inter eos 
communia, et civitatis ejusdem habendi sunt. Ps.=Prur. v. Hom. 119: es ist 
stoische Lehre, ἕνα μὲν εἶναι τὸν κόσμον, συμπολιτεύεσθαι δὲ ἐν αὐτῷ θεοὺς καὶ 
ἀνθρώπους, διχαιοσύνης μετέχοντας φύσει. Es wird hierüber auch später noch 
zu sprechen sein. 

4) Bei Cıc. Tuse. IV, 23, 51. 

5) Vgl. Cıc. Fin. III, 20, 67. Off. I, 7, 22. Sex. Clement. I, 3, 2. Benef. 
VII, 1,7. M. Arkeı V, 16. 30. VI, 55. VIII, 59. IX, 1. XI, 18. Dıos. VII, 129. 
Sexr. Math. IX, 131. 


266 Stoiker. 


mittelbarste Gebot der Natur 1); mit den Thieren stehen wir in 
keinem Rechtsverhältniss, mit uns selbst auch nicht 5), nur gegen 
andere Menschen und gegen die Götter ?) können wir Gerechtig- 
keit üben. Auf dem Zusammenhalten der Menschen und ihrer 
gegenseitigen Unterstützung beruht ja auch alle ihre Macht über 
‘ die Natur: vereinzelt wäre der Mensch das hülfloseste aller Ge- 
schöpfe *). Dieses Bewusstsein von der Zusammengehörigkeit 
aller vernünftigen Wesen hat namentlich noch der letzte der 
Stoiker, Mark Aurel, sehr nachdrücklich ausgesprochen. Die 
Vernünftigkeit ist ihm als solche unmittelbar auch Geselligkeit 
(VI, 14. X, 2), vernünftige Wesen können wir nur vom Stand- 
punkt der Gemeinschaft aus (κοινωνικῶς) behandeln (VI, 23), das 
Vernünftige kann sich nur im Wirken für die Gemeinschaft wohl 
fühlen (VII, 7), denn alle Vernunftwesen sind verwandt (III, 4), 
alle bilden Ein gesellschaftliches Ganzes (πολιτικὸν σύστημαν. von 
dem jedes einzelne ein wesentliches Ergänzungsstück (συμπληρω- 
τικὸς IX, 23), Einen Leib, von dem jedes ein organischer Theil 
(μέλος, nicht blos μέρος) ist CH, 1. VII, 13). Der Trieb nach Ge- 
meinschaft ist daher der Grundtrieb des Menschen CVI, 55), jede 
Thätigkeit desselben soll mittelbar oder unmittelbar dem Ganzen 
dienen (IX, 23), er soll seine Mitmenschen von Herzen lieben, 
er soll ihnen nicht um des äusseren Anstands willen wohlthun, 
sondern weil er selbst von der Freude des Wohlthuns ergriffen 


1) Es sollen daher, nach Cıc. Fin. III, 21, 69, sowohl die ὠφελήματα und 
βλάμματα (sittliche Güter und Uebel), als die εὐχρηστήματα und δυςχρηστήματα 
(sonstige Vortheile und Nachtheile), allen Menschen gemein sein. 

2) Nach Ρεῦτ. Sto. rep. 16 läugnete Chrysippus, dass der Mensch sich 
selbst Unrecht thun könne; wenn er diess Demselben zufolge an andern Stel- 
len zu behaupten scheint, so redueirt sich doch dieser Widerspruch, den ihm 
Plutarch so hoch anrechnet, auf den Doppelsinn von adızeiv, das bald „Un- 
recht thun“, bald auch allgemeiner „verletzen“ bedeutet. Ein Rechtsver- 

'hältniss im eigentlichen Sinn ist nur zu Anderen möglich, die Gerechtigkeit 
daher nach der stoischen Fassung ihres Begrifis wesentlich die auf die Ge- 
meinschaft bezügliche Tugend; 5. Cıc. $. 267, 3. 

3) Auch mit diesen nämlich steht der Mensch, den angeführten Stellen 
zufolge, in Rechtsgemeinschaft, es gibt daher (Sexr. IX, 131) auch eine Ge- 
rechtigkeit gegen die Götter, die Frömmigkeit ist (s. o. 223, 2) nur ein Theil 
der Gerechtigkeit. 

4) Wie Sen. Benef, IV, 18 ausführt. 


Die menschliche Gemeinschaft. 267 


ist, weil er sich selbst damit wohlthut 1); was dagegen seine Ver- 
bindung mit Anderen stört, kann nur dazu führen, ihn wie ein 
abgehauenes Glied von dem Leibe zu sondern, aus dem Alle ihre 
Lebenskraft ziehen (VIII, 34), und wer sich auch nur von Einem 
seiner Mitmenschen abtrennt, der scheidet sich von dem Stamme 
der Menschheit selbst ab (XI, 8). Wir werden auch in dem gleich 
Folgenden sehen, dass diese Aeusserungen des philosophischen 
Kaisers dem Standpunkt des Stoicismus durchaus entsprechen. 

In unserem Verhalten gegen unsere Mitmenschen werden 
von den Stoikern als Grundbestimmungen die zwei Pflichten der 
Gerechtigkeit und der Menschenliebe hervorgehoben. Diese zwei 
Tugenden bezeichnet Cicero, ohne Zweifel nach Panätius 5), als 
diejenigen, welche die menschliche Gesellschaft zusammenhalten 5), 
und er hat desshalb beiden eine ausführliche Besprechung gewid- 
met %). Dabei wurden aber die Stoiker durch die Voraussetzun- 
gen ihres Systems nach entgegengesetzten Seiten hingezogen. 
Einestheils mussten sie von dem Weisen jene strenge Gerechtig- 
keit verlangen, welche kein Mitleid und keine Nachsicht kennt °); 
und insofern hat ihre Sittenlehre etwas Herbes, einen Anschein 
von Härte und Inhumanität. Andererseits sind aber durch den 
Satz von der natürlichen Zusammengehörigkeit aller Menschen 
alle Tugenden der umfassendsten und rückhaltslosesten Menschen- 
liebe gefordert: Wohlthätigkeit, Milde, Sanftmuth, ein unbe- 
schränktes Wohlwollen, die Bereitwilligkeit, Anderen zu verzei- 
hen, was sich irgend verzeihen lässt. Die späteren Stoiker be- 
sonders, ein Seneca, Epiktet, Mark Aurel, Musonius sind es, bei 


᾿ 


1) VII, 13: Wenn du dich nur für einen Theil der menschlichen Ge- 
sellschaft hältst, nicht für ihr Glied, οὕπω ἀπὸ καρδίας φιλεὶς τοὺς ἀνθρώπους" 
οὔπω σε χαταληπτιχῶς εὐφραίνει τὸ εὐεργετεῖν ἔτ: ὡς πρέπον αὐτὸ ψιλὸν moris" οὔπω 
ὡς αὑτὸν εὖ ποιῶν. 

2) Vgl. 5. 253, 2. 

3) Off. I, 7, 20: De tribus autem reliquis [virtutibus, den drei übrigen, 
ausser der Einsicht] latissime patet ea ratio, qua societas hominum inter ipsos 
et vitae quasi commumitas continetur, cujus partes duae sunt: justitia, in qua 
virtutis splendor est masimus, ex qua viri. boni nominantur, et huic conjuncta 
beneficentia, quam eandem vel benignitatem τοὶ liberalitatem appellari licet. 

4) Der ersten Oft. I, 7—13, der zweiten ebd. c. 14—17. 

5) 8. o. 216, 8. 9. 


268 Stoiker. 


welchen uns diese Seite der stoischen Sittenlehre entgegentritt 1), 
und es ist ganz glaublich, dass sie dieselbe kräftiger ausgebildet 
haben, als ihre Vorgänger. Doch lässt sich nicht verkennen, dass 
sie nicht blos in der Eigenthümlichkeit jener Männer, sondern 
auch in dem Geist und der Lehre des stoischen Systems selbst be- 
gründet ist ?). Natürlich entsteht dann aber die Frage, wie sich 
beides, die unbeugsame Gerechtigkeit und die verzeihende Milde, 
vereinigen lässt. Seneca, welcher diese Frage eingehend unter- 
sucht hat, giebt zur Antwort: nicht die Strenge, nur die Grau- 
samkeit stehe im Widerspruch mit der Milde, denn keine Tugend 
widerspreche der andern; der Weise werde jedem Unglücklichen 
zu Hülfe kommen, aber er werde seinen Affekt nicht theilen, ihn 
nicht bejammern und bemitleiden; er werde nicht Nachsicht üben, 
aber er werde schonen, berathen und bessern. Er-werde die 
Strafe dem nicht erlassen, dem sie nach seiner Ueberzeugung 
gebühre, aber er werde gerade aus Gerechtigkeitsgefühl auf die 
menschliche Schwäche und auf die Umstände jede zulässige Rück- 
sicht nehmen 3). Alle Bedenken sind freilich hiemit nicht besei- 
tigt, aber die, welche noch übrig bleiben, betreffen doch weit 
mehr die stoische Forderung der Apathie, als die Vereinbarkeit 
der zwei Tugenden, welche unser Verhalten zu anderen Menschen 
beherrschen sollen 2). 

Die Gemeinschaft, zu der alle vernünftigen Wesen bestimmt 
sind, wird nun natürlich vor Allem unter denen stattfinden, 


1) Wir werden später noch Anlass haben, diess im Einzelnen näher 
nachzuweisen. Hier genüge es daher vorläufig, an die drei Schriften Seneca’s 
De Benefieiis, De clementia und De ira zu erinnern. Ueber den Werth der 
Gnade sagt er z. B. De clement. I, 3, 2: nullam ex omnibus virtutibus magis 
homini convenire, cum sit nulla humanior. 

2) Und so findet sie sich ja auch schon vor ihnen. Panätius z. B. scheint 
sie nach dem eben Angeführten, und nach Cıc. Off. I, 25, 88, in ihrem vollen 
Werth anerkannt zu haben. 

3) De clement. II, 5—8. 

4) Unter den Zügen, welche den Stoicismus nach der ebenbesprochenen 
Seite bezeichnen, verdient hier auch noch der scharfe Tadel erwähnt zu wer- 
den, welchen Sexeca (ep. 7, 3 ff. 95, 33. tranqu. an. 2, 13) über die Gladia- 
torenspiele, aber auch über die römische Kriegslust (ep. 95, 30) ausspricht. 
Anderes, wie das Verhalten der Stoiker zur Sklaverei und die Forderung der 
Feindesliebe, wird später besprochen werden. 


Die Freundschaft. 269 


welche sich ihrer vernünftigen Natur und Bestimmung klar be- 
wusst sind, unter den Weisen. Alle Weisen und Tugendhaften 
sind mit einander befreundet, weil sie: in ihrer Lebensansicht 
übereinstimmen, und weil sie alle in einander die Tugend zu 
lieben haben '); alles Thun des Weisen dient daher auch dem 


"Besten aller andern, oder wie die Stoiker diesen Gedanken in 


ihrer Weise zuspitzen: wenn ein Weiser irgendwo auch nur den 
Finger vernünftig bewegt, so nützt diess allen Weisen in der 
ganzen Welt 5). Andererseits weiss aber auch nur der Weise auf 
die rechte Art zu lieben, eine wahre Freundschaft findet sich nur 
unter den Weisen °®). Der Weise allein besitzt auch die Kunst, 
Freunde zu erwerben *), denn Gegenliebe wird nur durch Liebe _ 
gewonnen °). Ist aber die ächte Freundschaft eine Verbindung 

der Weisen und Guten, so steht ihr Werth ausser Zweifel; und 
so wird sie denn von den Stoikern ausdrücklich unter die Güter 
gerechnet °). Nur zeigt sich gleich hier auch die Schwierigkeit, 


1) ὅτοβ. II, 184: τήν τε ὁμόνοιαν ἐπ a are εἶναι χοινῶν ἀγαθῶν, διὸ χαὶ 
τοὺς σπουδαίους πάντας ὁμονοέῖν ἀλλήλοις διὰ τὸ συμφωνεῖν ἐν τοῖς χατὰ τὸν βίον. 
Cıc. N. D. I, 44, 121: censent autem [Stoici] sapientes sapientibus etiam ignotis 
esse amicos, nihil est enim virtute amabilius. quam qui adeptus erit, ubieungue 
erit gentium, a nobis diligetur. Aehnlich Off. I, 17, 55. Weiter vgl. m. was 
S. 262, 3 über die stoische Lehre von der Liebe beigebracht ist. 

2) Prur. e. not. 22, 2. Denselben Gedanken drückt der Satz (ebd. 33, 2) 
aus, dass der Weise der Gottheit (dem Weltganzen) so viel nütze, als sie ihm. 

3) Sen. Benef. VII, 12, 2. ep. 81, 11 f. 123, 15, vgl. 9,5. So. II, 118 
s. 0. 232, 1. Dioc. 124. Nach Dioc. 32 f. wurde es Zeno, ähnlich wie So- 
krates (s. Bd. II, a, 100, 4), zum Vorwurf gemacht, dass er behaupte, nur die 
Guten (srovöcior) seien unter einander Mitbürger, Freunde, Verwandte, alle 
Schlechten dagegen seien sich feind und fremd. 

4) Er ist, wie Sen. ep. 9, 5 sagt, faciendarum amicitiarum artifex. 

5) Si vis amari, ama, sagt Hekato b. Sen. ep. 9, 6, 

6) Schon $. 196, 1 ist uns die Freundschaft in der stoischen Aufzählung 
der Güter vorgekommen. Genauer sagt Sros. 186 f.: die Freundschaft um 
des gemeinsamen Vortheils willen sei kein Gut, διὰ ro μηδὲν &x διεστηχότων 
ἀγαθὸν εἶναι, dagegen gehöre die Freundschaft, sofern man damit das freund- 
schaftliche Verhältniss zu Andern bezeichne, zu den äusseren, sofern man 
die eigene freundschaftliche Gesinnung darunter verstehe, zu den geistigen 
Gütern. Ueber den Werth der Freundschaft auch Sex. 99, 3. Definirt wird 
die Freundschaft als χοινωνία βίου (Stop. 130), χοϊνωνία τῶν zara τὸν βίον, χρω- 
μένων ἡμῶν τοῖς φίλοις ὡς ἑχυτσῖς (Dioc. 124). Achnliche Definitionen giebt 
Stoz. ἃ, ἃ. Ὁ. vun den Arten der Freundschaft: γνωριμότης, συνήθεια ἃ. 8. W. 


270 Stoiker. 


diese Anerkennung des Gemeinschaftsbedürfnisses mit der Bedürf- 
nisslesigkeit des Weisen zu vereinigen. Wenn der Weise sich 
selbst schlechthin genug ist, wie kann ihm ein Anderer nützen? 
wie kann er seinerseits eines Andern bedürfen? Es lautet ziemlich 
unbefriedigend, wenn Seneca im Namen seiner Schule auf die 
erste von diesen Fragen antwortet: der Weise könne nur vom. 
Weisen die rechte Anregung zur Bethätigung seiner Kräfte er- 
halten 1). und auf die zweite: der Weise genüge sich selbst zur 
Glückseligkeit, aber nicht zum Leben 5); denn gerade der Weise 
wird in Allem Anregung zur tugendhaften Thätigkeit finden, und 
wenn die Freundschaft keine Bedingung der Glückseligkeit ist, 
so kann sie auch kein Gut sein. Auch was Seneca weiter be- 
merkt, reicht nicht aus. Der Weise, sagt er ®), wolle nicht ohne 
Freund sein, aber er könne es. Allein die Frage ist nicht, ob 
er es überhaupt kann, sondern ob er es ohne alle Einbusse für 
seine Glückseligkeit kann. Ist diess zu verneinen, so genügt 
er sich selbst nicht durchaus; ist es umgekehrt zu bejahen, wird 
der Weise, wie Seneca meint, den Verlust seines Freundes gleich- 
müthig ertragen , und sich mit dem Gedanken trösten, dass er in 
jedem Augenblick einen andern haben könne, wenn er wolle, so 
ist es mit der Freundschaft nicht weit her. Wenn ferner ein 
Weiser dem anderen dadurch nützen soll, dass er ihm manche 
Kenntnisse und Methoden mittheile, denn auch der Weise sei nicht 
allwissend 5), so wäre zu enigegnen, dass er als Weiser zwar 
nicht im Besitz alles Wissens, aber doch jedenfalls im Besitz alles 
des Wissens sein muss, welches zur Tugend und Glückseligkeit 
beiträgt; und wenn beigefügt wird, was der eine vomanderen lernt, 
das lerne er doch nur durch seine eigene Kraft, er sei also in 
Wahrheit nur er selbst, der sich nütze, so ist hiebei übersehen, dass 
die eigene Thätigkeit des Lernenden als solchen durch die des 


Ueber die Unbedingtheit der Lebensgemeinschaft zwischen Freunden vgl. m. 
SEN. ep. 47, 2. 3, 2. Benef. VII, 4, 1. 12,1. 

1) ep. 109, 3. 11. 

2) ep. 9, 13: se conientus est sapiens ad beate vivendum, non ad vivendum. 
ad hoc enim maultis Uli rebus opus est, ad illud tantum animo sano et erecto el 
despiciente Jortunam. 

3) Ep. 9,5. i 
4) Sen. ep. 109, 5. 


Die Freundschaft. 271 


Lehrers bedingt ist. So wahr und so schön endlich Seneca aus- 
führt: die Freundschaft trage ihren Werth unmittelbar in sich 
selbst, jeder Weise müsse wünschen, Seinesgleichen zu finden, 
denn der Gute habe eine natürliche Liebe zum Guten, nicht dess- 
halb brauche der Weise einen Freund, um, Jemand zu haben, der 
ihn in Krankheit pflege und ihm in Noth zu Hülfe komme, son- 
dern um Jemand zu haben, den er pflegen, dem er helfen, für den 
er leiden und sterben könne !); so schön diess, wie gesagt, ist, 
so ist doch damit das wissenschaftliche Bedenken nicht beseitigt, 
dass derjenige, welcher einen Andern auch nur als Gegenstand 
für seine sittliche Thätigkeit nöthig hat, nicht in jeder Beziehung 
auf sich allein gestellt ist. Soll die Freundschaft, einer früher 
angeführten Distinktion gemäss ?), unter die äusseren Güter ge- 
hören, so macht sie den Menschen bis zu einem gewissen Grade 
von etwas ausser ihm abhängig; sucht man ihr Wesen in dem 
Innerlichen der freundschaftlichen Gesinnung, so ist doch diese 
theils durch das Vorhandensein solcher bedingt, auf die sie sich 
beziehen kann, theils schliesst sie an sich selbst das Bedürfniss, er- 
wiedert zu werden, und sich im gegenseitigen Verkehr zu äussern, 
so unweigerlich in sich, dass auch sie sich mit der absoluten 
Selbstgenügsamkeit des Einzelnen nicht verträgt. 


Die Freundschaft unter den Weisen ist indessen nicht die 
einzige Art der siltlichen Gemeinschaft, welche den Stoikern we- 
sentlich und nothwendig erscheint. Wenn der Mensch überhaupt 
zur Verbindung mit andern Menschen, zu einem durch Recht und 
Gesetz geordneten Gemeinleben bestimmt ist, wie könnte er sich 
der allgemeinsten Rechtsanstalt, dem Staat, entziehen? ?) wenn 
die Tugend nicht in müssiger Beschaulichkeit, sondern im Han- 
deln besteht, wie dürfte er die Gelegenheit versäumen, durch 
Betheiligung am Staatsleben das Gute zu befördern und das Böse 


1) Ep. 109, 13. 9, 8. 10, 12. 18. 
2) 8. 0. 270, 6. 


3) Sros. II, 208: τὸν γὰρ νόμον εἶναι, χαθάπερ εἴπομεν, 
= 


ἶναι τὴν πόλιν λόγον 


σπουδαῖον, ὁμοίως 
ὃὲ χαὶ τὴν πόλιν. ἱχανῶς δὲ χαὶ ᾿Ἀλεάνθης περὶ τὸ σπουδαῖον € 
ἠρώτησε τοῦτον" πόλις μὲν τὶ [von Meineke mit Unrecht gestrichen] ἔστιν οἴχη- 
τήριον χατασχεύασμα εἰς ὃ χαταφεύγοντας ἔστι δίχην δοῦναι χαὶ λαβεῖν, οὐχ ἀστέϊον 
δὴ πόλις ἐστίν: τ΄. 8. w. Vgl.S. 190. Floril. 44, 12 und oben $. 205, 4, 


272 Stoiker. 


zu hindern? !) wenn die Gesetze dem Wohl und der Sicherheit 
der Bürger dienen, wenn sie ihre Tugend und Glückseligkeit be- 
fördern , wie sollte er sie nicht für etwas Schönes und Löbliches- 
halten? 2) Und aus demselben Grunde wird er auch die Ehe nicht 
verschmähen, und weder sich selbst die Theilnahme an einer so 
naturgemässen und innigen Gemeinschaft, noch dem Staat eine 
Nachkommenschaft und der menschlichen Gesellschaft das Beispiel 
eines schönen Familienlebens versagen dürfen 5). Demgemäss be- 
schäftigten sich die Stoiker auch in ihren Schriften und Lehrvor- 
trägen vielfach mit dem Staat und dem Hauswesen 3). In der Ehe 


1) Prur. Sto. rep. 2, 3: Chrysippus empfehle das politische Leben, und 
stelle den βίος σχολαστιχὸς mit dem βίος ἡδονιχὸς auf Eine Linie. Dios, VII, 
121: πολιτεύεσθαί φασι τὸν σοφὸν ἂν μή τι χωλύῃ, ὥς φησι Χρύσιππος Ev πρώτῳ 
Περὶ βίων" χαὶ γὰρ κακίαν ἐφέξειν χαὶ ἐπ᾽ ἀρετὴν παρορμήσειν. Sen. De otio 3, 2: 
Epicurus ait: ‚non accedet ad rempublicam sapiens, nisi si quid intervenerit.“ 
Zenon ait: „accedet ad rempublicam, nisi si quid impedierit.““ Cıc. Fin. ΠῚ, 
20, 68: da der Mensch für andere Menschen da ist, consentaneum est huic 
naturae, ut sapiens velit gerere et administrare rempublicam; atque, ut e natura 
vivat, uxorem adjungere et velle ex ea liberos procreare. So. Il, 184: τό τε 
δίκαιόν φασι φύσει εἶναι καὶ μὴ θέσει. ἑπόμενον δὲ τούτοις ὑπάρχειν χαὶ τὸ πολιτεύ- 
εσθαι τὸν σοφὸν ... χαὶ τὸ νομοθετεῖν τε χαὶ παιδεύειν ἀνθρώπους u. 8. f. 

2) Cıc. Legg. II, 5, 11. 

3) Dioc. nach dem eben Angeführten: χαὶ γαμήσειν, ὡς ὃ Ζήνων φηυὶν Ev 
πολιτεία, χαὶ παιδοποιήσεσθαι. Ders. 120: die Stoiker betrachten die Liebe zu 
Kindern, Eltern und Geschwistern als naturgemäss. Chrysippus b. Hırran. 
adv. Jovin. I, 191: der Weise soll heirathen, um nicht den Zeus Gamelios 
und Genethlios zu beleidigen. Antipater (wir erfahren nicht, ob der bekannte 
Schüler des Diogenes von Seleucia, oder der jüngere Stoiker Antipater aus 
Tyrus, dessen Cıc. Off. II, 24, 86 erwähnt) b. ὅτοβ. Floril. 67, 25 (vgl. 70,13): 
Weib und Kinder gehören zur Vollständigkeit des Lebens und Hauswesens, 
der Bürger sei dem Staat Kinder schuldig, die Familienliebe die reinste. Mu- 
sonius ebd. 67, 20 (vgl. 75, 15): der Philosoph solle für die Ehe, wie für alle 
naturgemässen Lebensverhältnisse, ein Muster sein, und durch Begründung 
eines Hauswesens seine Bügerpflicht erfüllen, die Liebe zu Frau und Kin- 
dern sei die innigste. Ciıc. 8. vorl. Anm. 

4) Prur. Sto. rep. 2, 1: ἐπεὶ τοίνυν πολλὰ μὲν, ὡς Ev λόγοις, αὐτῷ Ζήνωνι, 
πολλὰ δὲ Κλεάνθει, πλείστα δὲ Χρυσίππῳ γεγραμμένα τυγχάνει περὶ πολιτείας χαὶ 
τοῦ ἄρχεσθαι χαὶ ἄρχειν χαὶ δικάζειν χαὶ ῥητορεύειν. Vgl. die Büchertitel b. Dıoc. 
VII, 4. 166. 175. 178. Das Verzeichniss des Diogenes nennt von Chrysippus 
keine politischen Schriften; dasselbe ist aber bekanntlich nicht vollständig 
erhalten; VII, 34. 131 führt Diog. Chrysipp's Schrift π. πολιτείας an, die auch 
von Prur. Sto, rep. 21, 1.3.5 u.ö. eitirt wird. Nach Cıc. Legg. III, 6, 14 


Ν Die Familie und das Staatsleben. 273 


verlangten sie Keuschheit und Mässigung der Begierde: die Liebe 
sollte Sache der Vernunft, nicht des Affekts, sein, nicht den kör- 
perlichen Reizen gelten, nicht den sinnlichen Genuss als solchen 
suchen ἢ). Aus ihrer Politik wird uns berichtet ?), dass sie einer 
aus den drei einfachsten Staatsformen gemischten Verfassung 
den Vorzug gegeben haben. Doch wollten sie sich auch andere 
Verfassungszustände gefallen lassen: der Weise wird nach Chry- 
sippus, wofern sein Vortheil diess ‚erheischt, den Beruf eines 
Fürsten nicht verschmähen, und wenn er selbst nicht herrschen 
kann, am Hof und im Feldlager der Fürsten, zumal guter Fürsten, 
sich aufhalten ®). Aber das eigentliche Ideal der Stoiker war 
keine der bestehenden Staatsformen, sondern jener Staat der 
Weisen, welchen Zeno allerdings noch als Cyniker beschrieben %), 
den aber auch Chrysippus ausdrücklich anerkannt hatte °), ein 
Staat ohne Ehe, ohne Familie, ohne Tempel, ohne Gerichtshöfe, 
ohne Gymnasien, ohne Münze °), ein Staat, dem keine anderen 
Staaten gegenüberstehen, weil alle Grenzen der Völker in einer 
allgemeinen Verbrüderung aller Menschen sich aufheben 79. Schon 


waren zwar Diogenes (so ist nämlich wahrscheinlich statt: Dio zu lesen) und 
Panätius bis auf seine Zeit die einzigen Stoiker, welche auf die Einzelheiten 
der Gesetzgebung genauer eingegangen waren, aber auch Andere hatten viel 
Politisches geschrieben. 

1) Vgl. das Bruchstück aus Sexeca De matrimonio, bei Hıeron. adv. 
Jovin. I, 191 (Fr. 81 ff. Haase), wo namentlich auch, wie bei einem Theil 
der Essäer, in Beziehung auf schwangere Frauen gänzliche Enthaltsamkeit 
verlangt wird. — Auch über die Erziehung der Kinder ist uns, aus Chrysipp’s 
Schrift darüber, Einiges, doch Unerhebliches überliefert; vgl. Quıntir. Inst. 
I, 11, 17. 1,4. 16. 3, 14. 10. 32. Basuer De Chrysippo (Annal. Lovan. IV.) 
S. 335 f. Dass er die ersten Anfänge: der körperlichen Erziehung, auch schon 
im Mutterleibe, vernachlässigt habe, macht Garex Hippoer. et Plat. V, 1. 
S. 465 f. mit Posidonius Chrysippus zum Vorwurf. 

2) Dıoc. VII, 131. 

3) Bei Pı.ur. Sto. rep. 20, 3—5. 7. 30, 3. c. not. 7, 6. 

4) Dıoc. VII, 4. 

5) Dıioc. VII, 131. 

6) Dıioc. 33: χοινάς τε τὰς yuvalzas δογματίζειν ὁμοίως ἐν τῇ Πολιτείᾳ χαὶ 
χατὰ τοὺς διαχοσίους στίχους, μήθ᾽ ἱερὰ μήτε δικαστήρια μήτε γυμνάσια ἐν τοῖς πό- 
λεσιν οἰκοδομεῖσθαι ... νόμισμα δ᾽ οὔτ᾽ ἀλλαγῆς ἕνεχεν οἴεσθαι δεῖν κατασχευάζειν 
οὔτ᾽ ἀποδημίας. Vgl. ebd. 131. 

7) Prur. Alex. virt. I, 6. 8. 329; s. Bd. II, a, 232, 3. Ich komme noch 
einmal hierauf zurück. 


Philos. ἃ. Gr. III. Bd. 1. Abth. 18 


274 Stoiker. 


hieraus würden wir schliessen müssen, dass es in der stoischen 
Philosophie zu keiner reinen und vollen Betheiligung an Staat 
und Familie kommen konnte, denn jener ideale Staat ist in Wahr- 
heit kein Staat mehr; und nach derselben Seite musste nicht blos 
der ganze Geist des stoischen Systems, sondern auch der Zustand 
der Zeit hindrängen, der es seine Entstehung und Ausbildung 
verdankte. Wenn schon Plato für den Philosophen in den Staa- 
ten seiner Zeit keinen Raum zu politischer Thätigkeit gefunden 
hatte, um wie viel mehr musste diess bei den Stoikern der Fall 
sein, welche die Glückseligkeit noch weit ausschliesslicher von 
der Zurückziehung des Menschen in sein Inneres erwarteten, 
welche den Weisen der Masse der Unweisen noch weit schroffer 
entgegenstellten, und welche grösstentheils unter noch viel un- 
günstigeren öffentlichen Zuständen lebten, als Plato. Ihnen musste 
das Privatleben des Philosophen ohne allen Vergleich anziehender 
erscheinen, als das des Staatsmanns. Der Verständige meidet, wie 
Chrysippus anräth !), die Geschäfte, er zieht sich in gefahrlose 
Musse zurück, und mager es immerhin für seine Pflicht halten, sich 
dem Staatsleben nicht zu entziehen, so kann er doch nur in den 
Staaten daran theilnehmen, an denen ein Fortschritt zur Vollkom- 
menheit wahrzunehmen ist ?). Aber wo wären solche Staaten, 
nach stoischem Maasstab, zu finden? Musste sich doch schon 
Chrysippus überzeugen, dass sich der Staatsmann entweder den 
Göttern oder dem Volke missfällig machen müsse ?), und spätere 
Stoiker erklären aus diesem Grunde geradezu, der Philosoph thue 
besser, sich überhaupt nicht mit Staatsgeschäften zu befassen 2). 
Die Arbeit für's Gemeinwesen, sagen sie, sei doch nur dann 


1) B. Pıur. Sto. rep. 20, 1f.: οἶμαι γὰρ ἔγωγε τὸν φρόνιμον xalı ἀπράγμονα 
εἶναι χαὶ ὀλιγοπράγμονα καὶ τὰ αὑτοῦ πράττειν, ὁμοίως τῆς τε αὐτοπραγίας χαὶ ὀλιγο- 
πραγμοσύνης ἀστείων ὄντων. ... τῷ γὰρ ὄντι φαίνεται! ὃ χατὰ τὴν hauylav βίος ἀχίν- 
δυνόν τι χαὶ ἀσφαλὲς ἔχειν U. 5. W. 

2) ὅτοβ. Ekl. II, 180: πολιτεύεσθαι τὸν σοφὸν χαὶ μάλιστα ἐν ταῖς τοιαύταις 
πολιτείαις ταῖς ἐμφαινούσαις τινὰ προχοπὴν πρὸς τὰς τελείας πολιτείας. 

3) ὅτοβ, Floril. 45, 29: Auf die Frage, wesshalb er sich der politischen 
Thätigkeit enthalte, habe er geantwortet: διότι εἰ μὲν πονηρὰ πολιτεύεται [- σεται] 
τοῖς θεσὶς ἀπαρέσει, εἰ δὲ χρηστὰ, τοῖς πολίταις. 

4) Sen. ep. 29, 11: guwis enim placere potest populo, cui placet virtus? malis 
artibus popularis favor quaeritur. similem te iüllis facias oportet ... conciliari 
nisi turpi ratione amor turpium non potest. 


Die Familie und das Staatsleben. 275 


Pflicht, wenn ihr nichts im Weg stehe, aber in der Wirklichkeit 
werde ihr immer etwas, und vor Allem der Zustand aller vorhan- 
denen Staaten, im Weg stehen 1). Wer als Philosoph die Men- 
schen belehre und bilde, der nütze dem Staat jedenfalls ebenso- 
viel, wie ein Krieger oder Sachwalter oder Beamter ?). Im Zu- 
sammenhang damit räth Epiktet ®) auch von der Ehe und Kinder- 
zeugung ab: wäre auch, meint er, in einem Staate von Weisen 
nichts dagegen einzuwenden, so verhalie es sich doch anders in 
unsern gewöhnlichen Verhältnissen; da dürfe sich der wahre 
Philosoph nicht in persönliche Verbindungen und Geschäfte ver- 
wickeln, die ihn dem Dienste der Gottheit entziehen könnten. 
Schon die letztere Aeusserung kann jedoch zeigen, dass es kei- 
neswegs blos die Ungunst der Zeit ist, welche den Stoiker von 
der Sorge für Haus und Staat zurückhält, dass ihm diese Thätig- 
keit vielmehr auch an und für sich schon als eine untergeordnete 
und beschränkte erscheint; und es wird diess auch unumwunden 
ausgesprochen, wenn uns Seneca und Epiktet sagen, wer sich als 
Bürger der Welt fühle, für den sei jeder einzelne Staat ein viel 
zu kleiner Wirkungskreis, als dass er sich nicht lieber dem Welt- 
ganzen widmen sollte %); der Mensch sei wohl zur Thätigkeit be- 


1) Sex. De otio 3, 3 (vgl. S. 272, 1): um sich dem Privatleben zu wid- 
men, bedarf es eines besondern Grundes. causa autem üla late patet: si res- 
publica corruptior est quam ut adjuvari possit, si occupata est malis ... si parum 
habebit [sc. sapiens] auctoritatis aut virium nee illum admissura erat respublica, 
si valitudo üÜlum impediet. Ebd. 8, 1: negant nostri sapientem ad quamlibet rem- 
publicam accessurum: quid autem interest, quomodo sapiens ad otium veniat, 
utrum quia respublica üli deest, an quia ipse reipublicae, si omnibus defutura 
respublica est. (So ist wohl zu interpungiren.) semper autem deerit fastidiose 
quaerentibus. interrogo ad quam rempublicam sapiens sit accessurus, ad Atheni- 
ensium u.8s.w.? si percensere singulas voluero, nullam inveniam, quae sapientem 
aut quam sapiens pati possil. Aehnlich Arnexovor b. Sex. tranqu. an. 3, 2. 

2) Aruenönor a. ἃ. 0.3, 3 ἢ. 

3) Diss. III, 22, 67 £. 

4) Sex. De otio 4, 1: Duas respublicas animo complectamur, alteram ma- 
gnam et vere publicam, qua Di atque homines continentur, in qua non ad hunc 
angulum respieimus aut ad illum, sed terminos civitatis nostrae cum sole meti- 
mur: alteram cui nos adseripsit condieio nascendi. (Glaubt man hier nicht fast 
Augustin De civitate Dei zu hören?) Manche dienen dem grossen, Andere 
dem kleinen Staat, Manche auch beiden. majori reipublicae et in otio deser- 
vire possumus, immo vero nescio an in otio melius. Ep. 68, 2: cum sapienti rem- 


18% 


276 Stoiker. 


stimmt, aber die höchste Thätigkeit sei eben die wissenschaft- 
liche Forschung '). Das Urtheil hierüber musste freilich je nach 
der Eigenthümlichkeit und den Verhältnissen der Einzelnen ver- 
schieden ausfallen: der Philosoph auf dem Throne musste eher, 
als der Freigelassene Epiktet, geneigt sein, sich neben dem Welt- 
bürger auch als Römer zu fühlen ?), und die Anforderungen an 
den philosophischen Staatsmann herabzustimmen °). Aber doch 
lässt sich nicht verkennen, wohin der Zug des stoischen Systems 
geht. Eine Philosophie, welche nur auf die sittliche Ausbildung 
der Gesinnung Werth legt, alle äusseren Zustände dagegen für 
etwas Gleichgültiges ansieht, kann unmöglich den Sinn und das 
Geschick für die Bewältigung aller der äusserlichen Interessen 
und Verhältnisse erzeugen, mit denen es der Politiker zu thun 
hat; ein System, das die Masse der Menschen als Thoren be- 
trachtet, das ihnen jedes gesunde Streben und jedes richtige 
Wissen abspricht, kann unmöglich zu einer ungetheilten Wirk- 
samkeit für den Staat führen, dessen Gang und Einrichtung doch 
durch diese Masse, durch die Rücksicht auf ihre Bedürfnisse, 
Vorurtheile und Gewohnheiten bedingt ist. Mögen daher auch 
unter den Stoikern der Römerzeit tüchtige Staatsmänner gewesen 
sein, so war es doch nicht die stoische Philosophie, sondern nur 
das Römerthum , was sie dazu gemacht hat; jene für sich konute 
wohl treffliche Männer bilden, aber keine Staatsmänner. Wirk- 


publicam ipso dignam dedimus, id est mundum, non est extra rempublicam, 
etiamsi recesserit: immo fortasse relicto uno amgulo in majora atque ampliora 
transit u. s. w. Erıkr. Diss. III, 22, 83 f.: Du frägst, ob der Weise sich mit 
dem Staat beschäftigen werde? Aber welcher Staat wäre grösser, als der, 
mit dem er sich beschäftigt? er, der sich nicht an die Bürger Einer Stadt 
wendet, um über Staatseinkünfte und dergleichen, sondern an alle Menschen, 
um über Glückseligkeit und Unseligkeit, Freiheit und Knechtschaft zu ihnen 
zu sprechen. τηλιχαύτην πολιτείαν πολιτευσαμένου ἀνθρώπου, σύ μου πυνθάνῃ, εἰ 
πολιτεύσεται: πυθοῦ μου nat, εἰ ἄρξει" πάλιν ἐρῶ σοι μωρὲ, ποίαν ἀρχὴν μείζονα, 
ἧς ἄρχει: ὶ 
1) Sen. De otio 5, 1. 7. 6, 4. 

2) M. Αὐπει, VI, 44: πόλις χοὶ πατρὶς ὡς μὲν ᾿Αντωνίνῳ μοι ἣ Ῥώμη, ὡς 
δὲ ἀνθρώπῳ ὃ χόσμος. τὰ ταῖς πόλεσιν οὖν τούταις ὠφέλιμα μόνα ἐστί μοι ἀγαθά. 

gl. I 


I, 5: πάσης ὥρας φρόντιζε στιβαρῶς ὡς “Ῥωμαῖος χαὶ ἄῤῥην. 

o Ὁ 2x S,S2. \ AN in 4 RER. 

3) A. a. O. IX, 29: ὅρμησον ἐὰν διδῶται χαὶ μὴ περιβλέπου εἴ τις εἴσεται, 
\ 


Das Staatsleben. Kosmopolitismus. 277 


lich hat ja auch von den alten Meistern der Schule nicht Einer 
eine öffentliche Wirksamkeit gehabt oder gesucht; und wenn 
ihnen die Gegner dieses Verhalten als eine Verletzung ihrer 
Grundsätze vorrücken 1). so kann ein Seneca ohne Zweifel mit 
mehr Recht umgekehrt schliessen, der wahre Sinn ihrer Grund- 
sätze sei nach ihrem thatsächlichen Verhalten zu bestimmen 2). 
Das Positive, was in der stoischen Philosophie an die Stelle 
der Politik tritt, ist der Kosmopolitismus. Keines der früheren 
Systeme hatte den Gegensatz der Nationalitäten zu überwinden ge- 
wusst; selbst Plato und Aristoteles theilen noch das Vorurtheil des 
Hellenenthums gegen die Barbaren; nur die Cyniker zeigen sich 
auch darin als Vorgänger der Stoa, dass sie das Bürgerthum in 
der besonderen Vaterstadt dem Weltbürgerthum gegenüber gering 
achten 3); aber theils ist diese Idee durch sie noch nicht zu der 
kulturgeschichtlichen Bedeutung gelangt, welche sie später ge- 
wonnen hat, theils hat sie auch an sich selbst im Cynismus mehr 
nur den negativen Sinn, die Unabhängigkeit des Philosophen von 
Vaterland und Heimath, nicht den positiven, die wesentliche Zu- 
sammengehörigkeit aller Menschen auszudrücken. Erst durch die 
stoische Philosophie ist der Gedanke des Weltbürgerthums mit 
einem positiven-Inhalt erfüllt und in’s Grosse fruchtbar gemacht 
worden. Hiebei liegt es nahe, sowohl auf die geschichtlichen 
Verhältnisse, unter denen die stoische Philosophie entstanden ist, 
als auf die Person ihres Stifters zu verweisen. Die Ueberwindung 
der nationalen Gegensätze musste der Philosophie allerdings um 
vieles leichter werden, nachdem der geniale macedonische Erobe- 
rer die spröden Nationalitäten in seinem Weltreich nicht blos zur 
staatlichen Verbindung, sondern auch zu einer gemeinsamen Bil- 
dung vereinigt hatte *%); und der stoische Kosmopolitismus kann 
insofern zur Bestätigung des Satzes benützt werden, dass die Phi- 
losophie immer nur die geschichtlich vorhandenen Zustände ab- 
spiegele. Wiefern andererseits die Persönlichkeit des Philosophen 


1) Por. Sto. rep. 2, 1. 

2) De otio 6, 5. tranqu. an. 1, 10. 

3) Vgl. Bd. II, a, 231. 

4) Dieser Zusammenhang ist schon in Prurarcr's Zusammenstellung 
Alexander’s mit den Stoikern (s. u. 281, 1) angedeutet. 


273 Stoiker. 


für den Inhalt seiner Lehre bestimmend wurde, musste der Halb- 
grieche Zeno eher geneigt sein, den Unterschied von Hellenen 
und Barbaren niedrig anzuschlagen, als seine rein griechischen 
Vorgänger. So entscheidend aber auch wenigstens das erste von 
diesen Momenten ohne Zweifel auf den stoischen Kosmopolitismus 
eingewirkt hat, so klar liegt doch auch der Zusammenhang des- 
selben mit dem Ganzen des Systems vor Augen. Wenn die mensch- 
liche Gemeinschaft überhaupt nach dem früher Bemerkten nur auf 
der Gleichheit der Vernunft in den Einzelnen beruht, so haben 
wir keinen Grund, diese Gemeinschaft auf Ein Volk zu beschrän- 
ken, oder uns dem einen verwandter zu fühlen, als dem andern: 
alle Menschen stehen sich, abgesehen von dem, was sie selbst 
aus sich gemacht haben, gleich nahe, da alle gleichmässig an der 
Vernunft theilhaben, alle sind Glieder Eines Leibes, denn dieselbe 
Natur hat sie aus einerlei Stoff für die gleiche Bestimmung gebil- 
det !); oder wie diess Epiktet ?) religiös ausdrückt, alle sind 
Brüder, denn alle haben in gleicher Weise Gott zum Vater. Der 
Mensch ist daher, wer und was er auch sonst sei, einfach als 
Mensch Gegenstand unserer Theilnahme °). Selbst Feindschaft 
und Misshandlung darf unser Wohlwollen nicht auslöschen %); 


1) Sen. ep. 95, 52 (s. ο. 265, 2). Mark Aukkr s. 5. 266. 

2) Diss. I, 13, 3 vgl. 3, 1 f. und unten 8. 280, 6. 

3) Sen. ep. 95, 52, wo nach dem $.265, 2 Angeführten fortgefahren wird: 
ex illius [naturae] constitutione miserius est nocere quam laedi. ex Ülius imperio 
paratae sint juvantis manus. ille versus et in pectore et in ore sit: homo sum, 
nihil humanı a me alienum puto. v. be. 24, 3: hominibus prodesse natura me 
jubet, et servi liberine sint hi, ingenui an libertini, justae libertatis an inter 
amicos datae, quid, refert? ubicumque homo est, ἰδὲ beneficü locus est. De 
element. I, 1, 3: nemo non, cui alia desint, hominis nomine apud me gratiosus 
est. Deiral,5 vgl. folg. Anm. 


4) Sen. De otio 1, 4 (8. o. 219, 1): Stoiei nostri dieunt ... nom desinemus 
communi bono operam dare, adjuvare singulos, opem ferre etiam inimieis. 
Aehnliche Erklärungen von Musonius, Epiktet und Mark Aurel werden uns 
später noch vorkommen. Von Seneca gehört hieher besonders die Schrift De 
ira; z.B. 1, 5, 2: quid homine aliorum amantius? quid ira infestius? homo in 
adjutorium mutuum genitus est, ira in exitium. hie congregari vult, üÜla disce- 
dere. hic prodesse, illa nocere. hie etiam ignotis succurrere, ila etiam carissi- 
mos perdere. Ebd. II, 32,1: es sei nicht ebenso löblich, Verletzungen mit 
Verletzungen, als Wohlthaten mit Wohlthaten zu erwiedern. lic vinci turpe 


Kosmopolitismus. 279 


und Niemand steht so niedrig, dass er nicht auf die Liebe und Ge- 
rechtigkeit seiner Mitmenschen Anspruch hätte 1): auch der Sklave 
ist ein Mensch, der sich unsere Achtung verdienen, sein Recht 
von uns fordern kann ?). Diese Anerkennung der allgemeinen 
Menschenrechte geht zwar bei unsern Philosophen (welche den 
gesellschaftlichen Einrichtungen und Begriffen ihrer Zeit hierin 
um so weniger widersprechen mochten, je weniger ihnen über- 
haupt an den äusseren Zuständen gelegen ist) ?) noch nicht so 
weit, dass sie die Sklaverei überhaupt missbilligten, aber doch 
können sie das Geständniss ihrer Unrechtmässigkeit nicht ganz 
unterdrücken *), und sie bemühen sich, dieses Unrecht sowohl in 


est, hic vincere. inhumanum verbum est ... ultio ettalio. ..... magni animi 
est injurias despicere. Aehnlich sagt aber auch Cıc. Off. I, 25, 88: heftiger 
Zorn gegen die Feinde sei zu tadeln: nihil enim laudabilius, nihil magno et 
‚praeclaro viro dignius placabilitate atque clementia. Auch wo Strenge nöthig 
sei, dürfe man nicht im Zorn strafen, da ein solcher Affekt überhaupt unzu- 
lässig sei. Vgl. hierüber 8. 216, 7. 

1) Sen. ep. 95, 52; s. 278, 3. Cic. Oft. I, 13, 41. 

2) Cıc. a. a. O.: auch gegen Sklaven sei Gerechtigkeit zu beobachten. 
Namentlich gehört aber hieher die ausführliche Untersuchung der Frage, ob 
ein Sklave seinem Herrn Wohlthaten erweisen könne, welche Sexeca Benetf. 
II, 18—28 nach Hekato’s Vorgang anstellt. Wer diess läugne, sagt hier 
Seneca (18, 2), der sei ignarus juris humani. refert enim cujus animi sit, qui 
praestat, non cujus status: nulli praeclusa virtus est, omnibus patet, ommnes ad- 
mittit, ommes invitat, ingenuos, libertinos, servos, reges, ewules. non eligit 
domum nec censum, nudo homine contenta est. Die Sklaverei, führt er ferner 
aus, betreffe nicht den ganzen Menschen, nur sein Leib gehöre seinem Herrn, 
sein Inneres ihm selbst (ce. 20). Er bemerkt, die Verpflichtungen des Sklaven 
haben ihre Grenze, und es stehen ihnen gewisse Rechte gegenüber (c. 21 f. 
vgl. De element. I, 18, 2). Er führt zahlreiche Beispiele der Aufopferung und 
des Edelmuths von Sklaven an, um schliesslich wieder auf die Sätze zurück- 
zukommen: eadem omnibus prineipia eademque origo, nemo altero nobilior, nisi 
eui rectius ingenium ... unus omnium parens mundus est ... neminem despe- 
zeris ... sive libertini ante vos habentur sive servi sive exterarum homines: 
erigite audacter animos et quiequid in medio sordidi est transilite: exspectat vos 
in summo magna nobilitas u. s. w. &Aehnlich ep. 31, 11. v. be. 24,3 (8. o. 
278, 3). Vgl. auch ep. 44 die Ausführung des Satzes, dass es nicht auf 
Stand und Geburt ankomme, und was $. 231, 3 angeführt ist. 

3) Wahrhaft frei soll ja nur der Weise sein, alle Unweise sind 
Thoren. 

4) Bei Dıoc. 122 wird wenigstens die δεσποτεία, der Besitz und die Be- 
herrschung von Sklaven, etwas Schlechtes genannt. 


250 Stoiker. 


der Theorie, als in der Praxis zu mildern '). Sind aber alle Men- 
schen als Vernunftwesen sich gleich, so bilden auch alle nur Ein 
Gemeinwesen: die Eine Vernunft ist das gemeinsame Gesetz für 
alle, solche aber, die unter einerlei Gesetz stehen, sind Genossen 
Eines Staates 2). Konnten daher die Stoiker selbst die Welt im 
weiteren Sinne wegen der Zusammengehörigkeit aller ihrer Theile 
einem Staatswesen vergleichen ?), so wird noch weit mehr die 
Welt im engeren Sinn, oder die Gesammtheit der vernünftigen 
Wesen, Einen Staat bilden *), zu dem sich alle Einzelstaaten 
nur verhalten, wie die Häuser einer Stadt zum Ganzen °), und 
wenigstens der Weise wird diesen grossen Staat, dem alle Men- 
schen schlechthin angehören, weit über den engen stellen, in 
welchen ihn der Zufall der Geburt versetzt hat ©); aber auch für 


1) Nach Sex. Benef. III, 22, 1.- Cıc. ἃ. ἃ. Ὁ. hatte Chrysippus den Sklaven 
als perpetuus mercenarius definirt, und daraus gefolgert, er sei auch als 
solcher zu behandeln: operam exigendam, justa praebenda. Sehr humane An- 
sichten über die Behandlung der Sklaven spricht Seneca ep. 47 aus: auch hier 
stellt er dem Sklaven den Menschen entgegen („servi sunt.“ immo homines), 
und will den Sklaven als niedriger stehenden Freund, und sofern alle Menschen 
unter derselben höheren Macht stehen, als conservus betrachtet wissen, 

2) M. Auren IV, 4: εἰ τὸ νοερὸν ἣμῖν zorvov, χαὶ ὃ λόγος χαθ᾽ ὃν λογιχοί 
ἐσμεν χοινός" εἰ τοῦτο, χοὶ ὃ προςταχτιχὸς τῶν ποιητέων ἣ μὴ λόγος χοινός᾽ el τοῦτο, 
χαὶ ὃ νόμος χοινός" εἰ τοῦτο, πολῖταί ἐσμεν" εἰ τοῦτο, πολιτεύματός τινος μετέχομεν" 
εἰ τοῦτο, ὃ χόσμος ὡσανεὶ πόλις ἐστί. 

3) Vgl. 5. 265, 1. 8. 276, 2 und Prur. ὁ. not. 34, 6, welcher die Stoiker 
behaupten lässt: τὸν χόσμον εἶναι πόλιν χαὶ πολίτας τοὺς ἀστέρας. M. AukEL 
X, 15: ζῆσον ... ὡς ἐν πόλει τῷ χόσμῳ. IV, 8: ὃ χόσμος ὡσανεὶ πόλις. 

4) M. Αὐπει, IV, 4 (s. Anm.2) und II, 16, Schl. Cıc. Fin. III, 20, 67: Chıy- 
sipp sagt, die Menschen seien für einander da; quoniamque ea natura esset 
hominis ut ei cum genere humano quasi civile jus intercederet, qui id conser- 
varet, eum justum, qui migraret, injustum fore. Daher auch im Folgenden: 
in urbe mundove communi. Vgl. Anm. 6 und 5. 265, 2. Sen. De ira II, 31, 7: 
nefas est nocere patriae: ergo civi quoque ... ergo et homini, nam hie in majore 
tibi urbe civis est. Muson. b. ὅτοβ. Floril. 40, 9: νομίζει [ὃ ἐπιεικὴς] εἶναι πολίτης 
τῆς τοῦ Διὸς πόλεως ἣ συνέστηχεν ἐξ ἀνθρώπων τε χαὶ θεῶν. Erıkr. Diss. II, 5, 26. 
Ar. Dıpyuus b. Evs. pr. ev. XV, 15, 4. 

5) M. Auer III, 11: ἄνθρωπον πολίτην ὄντα πόλεως τῆς ἀνωτάτης ἧς al 
λοιπαὶ πόλεις ὥσπερ οἰχίαι εἰσίν. 

6) Sex. De ot. 4. ep. 68, 2; s. ο. 275, 4. vit. be. 20, 3. 5: unum me dona- 
vit omnibus [natura rerum] et uni mihi omnis ..... patriam meam esse mundum 
sciam et praesides Deos. tranqu. an. 4, 4: ideo magno animo nos non umius 


Kosmopolitismus. 281 


das Ganze wird er nur darauf hinarbeiten können, dass sich Alle 
als Bürger Eines Staates erkennen, und statt trennender Gesetze 
und Verfassungen als Eine Heerde unter dem gemeinsamen Ge- 
setze der Vernunft zusammenwohnen 1). So erweitert sich hier 
das sittliche Bewusstsein zur Allgemeinheit; indem sich der 
Mensch von allem Aeusserlichen auf das Innere seiner geistigen 
und sittlichen Natur zurückgezogen hat, wird es ihm möglich, die 
gleiche Natur auch in allen Andern zu erkennen, und sich durch 
die Einheit ihres Wesens und ihrer Bestimmung mit ihnen zu 
Einem Ganzen verbunden zu wissen. 

Doch auch hiemit ist die sittliche Aufgabe nicht erschöpft. 
Die gleiche Vernunft, wie im Menschen, waltet rein und voll- 
kommen im Weltganzen, und wenn es der Beruf des Menschen 
ist, die Vernunft in seinem eigenen Thun darzustellen und in 
Anderen anzuerkennen, so ist es nicht minder seine Pflicht, sich 
der allgemeinen Vernunft und dem von ihr gelenkten Weltlauf zu 
unterwerfen. Wir müssen daher zum Schlusse auch diesen Punkt 
noch in’s Auge fassen. 


3. Der Mensch und der Weltlauf. 


So entschieden Grundsätze der stoischen Ethik das sittliche 
Handeln verlangen, so kommt sie doch ihrer ganzen Anlage nach 
nur in der Forderung einer unbedingten Ergebung in den Welt- 
lauf zum Abschluss; und auch diese Forderung ist ebensosehr in 
der geschichtlichen Stellung dieser Philosophie, wie in ihren 
wissenschaftlichen Anschauungen begründet. Eine Zeit, in wel- 


urbis moenibus clusimus, sed in totius orbis commercium emisimus patriamque 
nobis mundum professi sumus, ut liceret latiorem virtuti campum dare. Erıkr. 
Diss. III, 22, 83. Ebd.], 9: wenn die Lehre von der Gottverwandtschaft des 
Menschen wahr ist, so ist dieser nicht Athener oder Korinthier, sondern nur 
χόσμιος und υἷος θεοῦ. Muson. a. a. O.: die Verbannung ist kein Uebel, denn 
χοινὴ πατρὶς ἀνθρώπων ἁπάντων ὃ χόσμος ἐστίν, Aehnlich Cıc. Parad. 2: sie ist 
keines für die, qui omnem orbem terrarum unam urbem esse ducunt. 

1) Prur. Alex. M. virt. I, 6, 8. 329: χαὶ μὴν ἣ πολὺ θαυμαζομένη πολιτεία 
τοῦ τὴν Στωϊκῶν αἵρεσιν χαταβαλλομένου Ζήνωνος εἰς ἕν τοῦτο συντείνει κεφάλαιον, 
va μὴ χατὰ πόλεις μηδὲ χατὰ δήμους οἰχῶμεν, ἰδίοις ἕκαστοι διωρισμένοι διχαίοις, 
ἀλλὰ πάντας ἀνθρώπους ἡγώμεθα δημότας χαὶ πολίτας εἷς δὲ βίος ἥ nat χόσμος 
ὥσπερ ἀγέλης συννόμου νόμῳ χοινῷ τρεφομένης. 


2323 Stoiker. 


cher die politische Freiheit der Völker unter der Wucht der ma- 
cedonischen, dann der römischen Weltherrschaft, und selbst die 
“ der römischen Sieger unter dem Despotismus des Kaiserreiches ἡ 
erstickte, in welcher die Gewalt, als lebendiges Fatum, jede be- 
deutendere Selbstthätigkeit niederdrückte, eine solche Zeit liess 
dem, welcher sich ein höheres Ziel gesteckt hatte, als das persön- 
liche Wohlsein, kaum etwas anderes übrig, als die fatalistische 
Ergebung in den Gang der Dinge, auf den ja doch Einzelnen und 
ganzen Völkern keine bemerkbare Einwirkung möglich zu sein 
schien. Die Stoa folgte insofern dem Zug ihres Zeitalters, wenn 
sie eben diesen Fatalismus zum Dogma machte. Sie folgte aber 
ebenso auch, wie nach allem Bisherigen klar ist, der inneren 
Nothwendigkeit ihres Systems. Denn wenn alles Einzelne in der 
Welt nur eine Folge von der allgemeinen Verkettung der Ur- 
sachen und Wirkungen, nur der Vollzug des allgemeinen Gesetzes 
ist, was bleibt uns im Verhältniss zu dieser absoluten Nothwen- 
digkeit übrig, als unbedingte Unterwerfung, und wie dürfte uns 
diese Unterwerfung ein Opfer kosten, wenn jenes Gesetz wirklich 
nichts anderes, als die allgemeine Vernunft ist? Die Ergebung 
in den Weltlauf ist daher eine von den nachdrücklichsten Forde- 
rungen der stoischen Sittenlehre, die Verse des Kleanthes 1), 
worin er sich der Führung des Schicksals ohne allen Vorbehalt 
überlässt, sind ein Thema, das von den Schriftstellern der Schule 
unermüdlich wiederholt wird. Der Tugendhafte, sagen sie, wird 
die Gottheit auch darin ehren, dass er seinen Willen dem ihrigen 
unterordnet; er wird das, was sie will, für besser halten, als 
was er selbst will; er wird bedenken, dass Alle unter allen Um- 
ständen dem Verhängniss folgen müssen, dass es aber das Vor- 
recht der vernünftigen Wesen ist, ihm freiwillig zu folgen; dass 
es nur Einen Weg zur Freiheit und Glückseligkeit giebt: nichts 
zu wollen, als was in der Natur der Dinge liegt, was auch ohne 


1) Bei Erixter Man. c. 52, unvollständiger bei dems. Diss. IV, 1, 131. 
4, 34, von Sexeca ep. 107, 11 übersetzt (vgl. S. 155, 1). Die Verse lauten: 
ἄγου δέ μ᾽ ὦ Ζεῦ κοὶ σύγ᾽ ἣ Πεπρωμένη 
ὅποι ποθ᾽ ὑμῖν εἶμι διατεταγμένος" 
ὡς ἕψομαί γ᾽ ἄοχνος" ἣν δὲ μὴ θέλω, 
χαχὸς γενόμενος οὐδὲν ἧττον ἕψομαι. Vgl. 8. 1588, 1. 


Der Mensch und der Weltlauf. 233 


unser Wollen sich vollbringt *). Verwandte Aeusserungen finden 
sich natürlich auch sonst, aber doch lässt sich nicht verkennen, 
dass diese Forderung von der stoischen Philosophie mit ganz be- 
sonderem Nachdruck geltend gemacht wird, und mit ihrer ganzen 
Weltanschauung auf’s Engste zusammenhängt. In der Ergebung 
in das Schicksal vollendet sich die stoische Schilderung des Wei- 
sen: mit ihr ist die Ruhe und die Seligkeit des Gemüths, die Milde 
und Menschenliebe, die Erfüllung aller Pflichten, jener Einklang 
des Lebens gegeben, in dem nach stoischer Definition die Tugend 
besteht 2); wie die Sittlichkeit mit der Anerkennung des allge- 


1) Sex. provid. 5, 4. 8: boni viri laborant, impendunt, impenduntur, et 
volentes quidem, non trahuntur a fortuna u. 8. w..... quid est boni viri? prae- 
bere se fato. vit. be. 15, 5: Deum sequere ... quae autem dementia est, potius 
trahi quam sequi? ... quiequid ex universi constitutione patiendum est, magno 
excipiatur animo. ad hoc sacramentum adacti sumus, ferre mortalia ... in 
regno nati sumus: Deo parere libertas est. ep. 97, 2: non pareo Deo, sed ad- 
sentior. ex animo illum, non quia necesse est, seguor u.8. w. Vgl. ep. 74, 20. 
76, 23. 107,9 ff. u. a. St. Erırter Diss. II, 16, 42: τόλμησον ἀναβλέψας πρὸς 
τὸν θεὸν εἰπεῖν, ὅτι χρῶ por λοιπὸν εἰς ὃ ἂν θέλῃς. ὁμογνωμονῶ σοι, σός εἶμι. οὐδὲν 
παραιτοῦμαι τῶν σοι δοχούντων᾽ ὅπου θέλεις, ἄγε. I, 12, 7: der Tugendhafte ord- 
net seinen Willen dem göttlichen unter, wie ein guter Bürger dem Gesetz. 
IV, 7,20: κρεῖττον γὰρ ἡγοῦμαι ὃ ὃ θεὺς ἐθέλει, ἢ [ὃ] ἐγώ. IV, 1,131, mit Beziehung 
auf die Verse Kleanth’s: αὕτη ἣ ὁδὸς ἐπ᾽ ἐλευθερίαν ἄγει, αὕτη μόνη ἀπαλλαγὴ 
δουλείας. Man. 8: θέλε γίνεσθαι τὰ γινόμενα ὡς γίνεται καὶ εὐροήσεις. Aehnlich 
fragm. 184 (b. ὅ:τοβ. Floril. 108, 60). M. Αὐπει, X, 28: μόνῳ τῷ λογιχῷ ζῴῳ 
δέδοται τὸ ἑχουσίως ἕπεσθαι τοῖς γινομένοις" τὸ δὲ ἕπεσθαι ψιλὸν πᾶσιν ἀναγχαῖον. 
Ders. VIII, 45. X, 14. Weiteres oben, 8. 147 ff. 

2) M. vgl. hierüber Sen. ep. 120, 11. Sen. untersucht hier die Frage, 
wie die Menschheit zum Begriff der Tugend gekommen sei, und er ant- 
wortet: durch den Anblick tugendhafter Menschen. ostendit ilam nobis ordo 
ejus et decor et constantia et ommium inter se actionum concordia et magni- 
tudo super omnia efferens sese. hine intellecta est illa beata vita, secundo defluens 
cursu, arbitrü sui tota. quomodo ergo hoc ipsum nobis adparuit? dicam: num- 
quam vir ille perfectus adeptusque virtutem fortunae maledixit. numquam acci- 
dentia tristis excepit. civem esse se umiversi et militem credens labores velut im- 
peratos subüt. quiequid inciderat, non tamquam malum aspernatus est et in se 
casu delatum, sed. quasi delegatum sibi ... necessario itaque magnus adparuit, 
qui numgquam malis ingemuit, numquam de fato suo questus est: fecit multis 
intellectum sui et non aliter quam in tenebris lumen efulsit, advertitque in se 
omnium anmimos, cum esset placidus et lenis, humanis divinisque rebus pariter 
aequus u. 8. W, 


284 Stoiker. 


meinen Gesetzes beginnt, so kommt sie in der unbedingten Unter- 
werfung unter seine Fügungen zum Abschluss. 


Nur dann würde diese Ergebung einem thätigen Widerstand 


gegen das Schicksal weichen müssen, wenn der Mensch in Ver- 
hältnisse käme, die ihn nöthigten, Unwürdiges zu thun oder zu 
dulden 1). Der erstere Fall kann nun freilich eigentlich nie ein- 
treten, da sich auf stoischem Standpunkt, wie wir schon früher 
gehört haben, keine Lebenslage denken lässt, die nicht als Stoff 
zu tugendhafter Thätigkeit zu benützen wäre. Dagegen erscheint 
es den Stoikern allerdings möglich, dass auch der Weise vom 
Geschick in eine Lage versetzt wird, die unerträglich für ihn ist, 
und in diesem Fall erlauben sie ihm, sich derselben durch Selbst- 
mord zu entziehen ?). Wie wichtig dieser Punkt in der stoischen 
Ethik ist, wird uns klar werden, wenn wir uns von Seneca sagen 
lassen, dass auf der Möglichkeit eines freiwilligen Austritts aus 
dem Leben die Freiheit des Weisen von allem Aeusserem wesent- 
lich mit beruhe ?); wenn wir Denselben die That des jüngeren Cato 
nicht blos überhaupt loben, sondern als die Spitze seines Kampfes 
mit dem Schicksal, als den höchsten Triumph des menschlichen 


1) Zum Folgenden vgl. m. Bausmauver Vet. philosophorum praecipue 
Stoicorum doctrina de morte voluntaria. (Utr. 1842.) S. 220 fi. 

2) Dios. VII, 130: εὐλόγως τέ φασιν ἐξάξειν ἑαυτὸν τοῦ βίου τὸν σοφὸν 
(ἐξαγωγὴ ist bei den Stoikern der stehende Ausdruck für den Selbstmord; zahl- 
reiche Nachweisungen über diesen und andere Ausdrücke dafür giebt Baun- 
HAUER 5. 243 fl.) χαὶ ὑπὲρ πατρίδος καὶ ὕπερ φίλων χἂν ἐν σχληροτέρα γένηται ἀλγη- 
δόνι ἢ πηρώσεσιν ἢ νόσοις ἀνιάτοις. Stop. ΕΚ]. II, 226. Vgl. den Komiker 
ΞΟΡΆΤΕΒ b. Aruen. IV, 160, ἢ, der einen Herrn seine Sklaven bedrohen lässt, 
er werde sie einem Zenon eer Er’ ἐξαγωγῇ verkaufen. Weiteres sogleich. 

3) Ep. 12, 10: malum est in necessitate vivere. sed in necessitate vivere 
necessitas nulla est. quidni nulla sit? patent undique ad libertatem viae multae, 
breves, facıles. agamus Deo gratias, quod nemo in vita teneri potest. calcare 
ipsas necessitates licet. Ders. lässt provid. c. 6,6 zum Schluss seiner Theodicee 
die Gottheit sagen: contemnite mortem quae vos aut finit aut transfert ... ante 
omnia cavi, ne quis vos teneret invitos: patet ewitus ... nihil feci faeilius, quam 
mori. prono animam loco posui: trahitur. attendite modo et videbitis, quam 
brevis ad libertatem et quam expedita ducat via u.s. w. Vgl. ep. 70, 14: wer 
das Recht zum Selbstmord läugnet, non ridet se liberiatis viam eludere. nil 
melius aeterna lex fecit, quam quod unum introitum nobis ad vitam dedit, exwitus 
multos. ep. 65, 22. 117, 21 f. 120, 14 ἢ. M. Auer V, 29. VIII, 47. X, 8. 32. 
UI, 1. Erıkter Diss. I, 24, 20. III, 24, 95 ff. 


ze. 


Selbstmord. 235 


Willens preisen hören '); wenn wir sehen, wie die ersten Meister 
der Schule diese ihre Lehre praktisch gemacht haben: wie ein Zeno 
im hohen Alter sich erhängt, weil er den Finger gebrochen hat, ein 
Kleanthes bei noch unbedeutenderem Anlass eine Hungerkur bis zur 
Aushungerung fortsetzt, um den Weg zum Tode nicht blos halb 
zurückzulegen, wie noch in späterer Zeit Antipater ihrem Bei- 
spiel gefolgt ist ?). Der Selbstmord erscheint hier nicht blos als 
ein unter Umständen zulässiger Ausweg, sondern schlechtweg als 
die höchste Bethätigung der sittlichen Freiheit; und so wenig 
auch Jedem die wirkliche Betretung dieses Weges angerathen 
wird ®), so wird doch von Jedem verlangt, dass er der Gelegen- 
heit zu einem schönen Tode nicht ausweiche, wenn keine höhere 
Pflicht ihn im Leben festhält *), und dass er sich den Tod durch 
eigene Hand als Unterpfand seiner Unabhängigkeit für den Fall 
der Noth offen halte. Diesen Nothfall kann aber das System nicht 
in dem begründet finden, was den Menschen wahrhaft unglücklich 
macht, in der sittlichen Schlechtigkeit oder der Thorheit: gegen 
diese stehen uns andere Mittel zu Gebot, und von dieser kann 
auch der Tod nicht befreien, da er den Schlechten um nichts 
besser macht; sondern nur dann wird für den Stoiker ein genü- 
gender Grund zum Austritt aus dem Leben gegeben sein, wenn ihm 
Umstände, die ausser seiner Gewaltliegen, das längere Verweilen in 
demselben nicht mehr wünschenswerth erscheinen lassen 5). Dazu 
können nun alle möglichen Dinge Anlass geben. Cato tödtete sich 
wegen des Untergangs der Republik, Zeno wegen einer leicht zu 


1) De provid. 2.9 f. vgl. ep. 71, 16. 

2) M. 8. die Stellen, welche 85. 31, 2. 32, 1. 41, 3 angeführt sind. Auch 
Eratosthenes (s. o. 40, 1) gehört hieher. 

3) M. vgl. in dieser Beziehung Epiktet’s Erklärungen gegen einen Selbst- 
mord aus blosser Lebensverachtung, Diss. 1, 9, 10 ff. Hiegegen kehrt er (mit 
Praro, Phädo 61, E ff.) die Forderung der Ergebung in den göttlichen Willen. 
Aehnlich II, 15,4 ff. Vgl. M. Avser V, 10. 

4) So Muson. b. ὅτοβ, Floril.7, 24 f., wo einerseits steht: ἅρπαζε τὸ χαλῶς 
ἀποθνήσχειν ὅτε ἔξεστι, μὴ μετὰ μιχρὸν τὸ μὲν ἀποθνήσχειν σοι παρῇ, τὸ δὲ χαλῶς 
υμηχέτι ἐξῇ, andererseits: wer durch sein Leben Vielen nütze, dürfe nur dann 
den Tod wählen, wenn er dadurch noch Mehreren nütze. 

5) Vgl.M. Aurer V, 29: du kannst schon hier leben, als ob du vom 


“. . Pr 3 ES \ N , te; δ “ 7 « 
Körper frei wärest; ἐὰν ὃξ μὴ ἐπιτρέπωσι, τότε χαὶ tod ζῆν ἔξιθι- οὕτως μέντοι, ὡς 


μηδὲν xaxov πάσχων. 


256 Stoiker. 


ertragenden Verletzung. Nach Seneca ist ein genügender Grund 
zum Selbstmord vorhanden, sobald wir eine erhebliche Störung 
in unserer Thätigkeit und unserer Gemüthsruhe zu befürchten - 
haben 1). Altersschwäche, unheilbare Krankheit, welche die gei- 
stige Thätigkeit beeinträchtigt, ein hoher Grad von Dürftigkeit, 
die Tyrannei eines Despoten, der wir uns auf keine andere Weise 
entziehen können, berechtigt, und verpflichtet selbst nach Um- 
ständen, diesen Ausweg zu ergreifen ?); und versichert der Phi- 
losoph auch, er würde diess nicht thun, um sich Leiden, sondern 
nur, um sich einer Hemmung in der. Verfolgung der eigentlichen 
Lebenszwecke zu entziehen, so ist er doch zugleich der Meinung, 
Jeder habe das Recht, statt einer schmerzlichen Todesart, die ihm 
drohe, eine leichtere zu wählen, der Unbill des Schicksals und 
der Grausamkeit der Menschen auszuweichen °). Diogenes nennt 
neben Schmerz und Krankheit auch den Fall, dass der Selbst- 
mord um Anderer willen zur Pflicht wird %). Nach einer an- 
deren Darstellung °) hätten die Stoiker fünf Fälle angenommen, 
in denen es erlaubt sei, sich zu tödten: wenn man dadurch An- 
dern einen wichtigen Dienst leiste (wie bei einer Aufopferung 
für's Vaterland); wenn man sonst zu einer unerlaubten Handlung 
gezwungen würde; wegen Armuth, langwieriger Krankheit und 
eintretender Geistesschwäche. Fast in allen diesen Fällen handelt 
es sich um Dinge, welche die Stoiker zu dem Gleichgültigen 
rechneten, und so entsteht die scheinbare Parodoxie, welche denn 
auch ihre Gegner den Stoikern vorzurücken nicht versäumt ha- 
ben, dass nicht die absoluten, sittlichen Uebel, sondern nur 


1) Ep. 70, s. u. 287, 2. Die Hemmung der vernunftgemässen Thätigkeit 
bezeichnet auch Kızmexs als den eigentlich entscheidenden Grund, Strom. 
IV, 485, A: αὐτίχα εὔλογον ἐξαγωγὴν τῷ σπουδαίῳ συγχωροῦσι χαὶ ol φιλόσοφο: 
(4, h. die Stoiker), εἴ τις τοῦ πράσσειν αὐτὸν οὕτως τηρήσειεν (]. οὕτω στεοήσειεν), 
ὡς μηχέτι ἀπολελεῖφθαι αὐτῷ μηδὲ ἐλπίδα τῆς πράξεως. 

2) Ep. 58, 33 ff. 98, 16. 11,9. De ira III, 15, ὃ £. 

3) M. s. hierüber einerseits ep. 58, 36, andererseits cp. 70, 11 f. 18. 

4) S. 0. 284, 2. 

5) Orrmrıonor. in Phaed. 3 ff. (Schol. in Arist. 7, b, 25 fi.). Die beliebte 
Vergleichung des Lebens mit einem Gastmahl wird hier so ausgeführt, dass 
die fünf Gründe zum Selbstmord fünf Anlässen zum Verlassen eines Mahls 
gegenübergestellt werden. 


Selbstmord. 237 


äussere Zustände zum Selbstmord ein Recht geben sollen 1). In- 
dessen verliert dieser Satz sein Auffallendes, wenn wir uns er- 
innern, dass auch das Leben und der Tod für den Stoiker eben- 
sogut Adiaphora sind, wie alles andere Aeussere ?). Für ihn han- 
delt es sich bei der Frage über den Selbstmord gar nicht um ein 
wirkliches Gut, sondern nur um die Wahl zwischen zwei sittlich 
gleichgültigen Dingen, von denen das eine, das Leben, nur so 
lange vorzüglicher ist, als der Tod, so lange die wesentlichen 
Bedingungen für ein naturgemässes Leben vorhanden sind 5). Er 
wählt sich, wie Seneca sagt *), seine Todesart ebenso gut, wie 
ein Schiff zur Reise oder ein Haus zum bewohnen. Er verlässt 


1) Prur. e. not. 11, 1: παρὰ τὴν ἔννοιάν ἐστιν, ἄνθρωπον ᾧ πάντα τἀγαθὰ 
πάρεστι καὶ μηδὲν ἐνδεῖ πρὸς εὐδαιμονίαν χαὶ τὸ μαχάριον, τούτῳ χαθήχειν ἐξάγειν 
ἑαυτόν" ἔτι δὲ μᾶλλον, ᾧ μηθὲν ἀγαθόν ἐστι μηδ’ ἔσται τὰ δὲ δεινὰ πάντα nal τὰ 
δυσχερῆ καὶ χαχὰ πάρεστι χαὶ παρέσται διὰ τέλους, τούτῳ μὴ καθήχειν ἀπολέγεσθαι 
τὸν βίον ἂν μή τι νὴ Δία τῶν ἀδιαφόρων αὐτῷ προςγένηται. Ebd. 22, 1. 33,3. 
Sto. rep. 14, 3. Arex. Ἄρηπ. De an. 156, b, m. 158, b, o. 

2) Vgl. Prur. Sto. rep. 18, 5: ἀλλ᾽ οὐδ᾽ ὅλως, φασὶν, οἴεται δεῖν Χρύσιππος 
οὔτε μονὴν ἐν τῷ βίῳ τοῖς ἀγαθοῖς, οὔτ᾽ ἐξαγωγὴν τοῖς χαχσῖς πάραμετρεῖν, ἀλλὰ τοῖς 
μέσοις χατὰ φύσιν. διὸ χαὶ τοῖς εὐδαιμονοῦσι γίνεται ποτὲ χαθῆχον ἐξάγειν ἑαυτοὺς, χαὶ 
μένειν αὖθις ἐν τῷ ζῆν τοῖς χαχοδαιμονοῦσιν. Ebd. 14, 8. Sex. ep. 70, 5: simul 
atque occurrunt molesta et tranquillitatem turbantia, emittit se. nec hoc tantum 
in mecessitate ultima facit, sed cum primum üli coepit suspecia esse fortuna, 
diligenter eircumspieit, numquid illo die desinendum sit. nihil existimat sua re- 
ferre, faciat finem an accipiat, tardius fiat an citius. non tamquam de magno 
detrimento timet: nemo multum ex stillieidio potest perdere. Vgl. was Derselbe 
ep. 77, 6 mittheilt. ; 

3) Vgl. Cıc. Fin. III, 18, 60: sed cum ab his [den media] omnia profieis- 
cantur ofieia, non sine causa dieitur, ad ea referri omnes nostras cogitationes: 
in his et excesssum e vita et in vita mansionem. in quo enim plura sunt, quae 
secundum naturam sunt, hujus oficium est in vita manere; in quo autem aut 
sunt plura contraria aut fore videntur, hujus oficium est e vita excedere. e quo 
apparet, et sapientis esse aliquando offieium excedere e vita, cum beatus sit, et 
stulti manere in vita, cum sit miser .... et quoniam excedens e vita et ma- 
nens aeque miser est [stultus], nee diuturnitas magis ei vitam fugiendam facit, 
non sine causa dieitur, is qui pluribus naturalibus frui possint esse in vita 
manendum. Sros. 226: die Guten können Gründe haben, das Leben zu ver- 
lassen, und die Schlechten, darin zu bleiben, selbst wenn sie nie weise wer- 
den sollten; οὔτε γὰρ τὴν ἀρετὴν χατέχειν ἐν τῷ ζῇν, οὔτε τὴν κακίαν Erardeıv" 
τόϊς δὲ χαθήχουσι καὶ τόϊς παρὰ τὸ χαθῆχον μετρεῖσθαι τήν τε ζωὴν nat τὸν θάνατον. 

4) Ep. 70, 11. 


2585 Stoiker. 


das Leben, wie ein Gastmahl, wenn es ihm Zeit scheint, er legt 
seinen Leib, wenn er ihm nicht mehr passt, ab, wie ein abgetra- 
genes Kleid, er zieht aus demselben aus, wie aus einer unbe-- 
wohnbar gewordenen Behausung '). Eine andere Frage ist es 
aber freilich, ob das Leben in dieser Weise als etwas Gleichgül- 
tiges behandelt werden kann, und ob es sich mit der unbedingten 
Ergebung des Stoikers in den Weltlauf verträgt, was das Schick- 
sal nach seinen unabänderlichen Gesetzen über ihn verhängt hat, 
durch eigenmächtiges Eingreifen von sich abzuschütteln. Wenn 
ihm die Lehre seiner Schule diess erlaubt, so zeigt sich hierin 
nur, wie wenig die zwei Hauptrichtungen der stoischen Sitten- 
lehre, auf Unabhängigkeit des Einzelnen und auf Unterordnung 
unter das Ganze, zur widerspruchslosen Einheit zusammen- 
gehen. 


11. Das Verhältniss der stoischen Philosophie zur 
Religion. 


Wir konnten die Philosophie der stoischen Schule nicht dar- 
stellen, ohne zugleich ihre Theologie darzustellen. Keines der 
früheren Systeme ist mit der Religion so eng verwachsen, wie 
das ihrige. Ihre ganze Weltanschauung geht von der Betrachtung 
des göttlichen Wesens aus, das alle endlichen Wesen aus sich er- 
zeugt und in sich umschliesst, das sie mit seiner Kraft durch- 
dringt, mit seinem unabänderlichen Gesetze beherrscht, und so in 
ihnen allen nur sich selbst zur Erscheinung bringt. Sie ist daher 
von Hause aus eine religiöse, und es giebt kaum irgend eine ein- 
greifendere Bestimmung in dem stoischen System, welche nicht 
mit seiner Theologie im Zusammenhang stände. Auch die unmit- 
telbar theologischen Erörterungen, wie die Beweisführung für das 
Dasein der Gottheit und das Walten der Vorsehung, die Unter- 
suchung über das Wesen der Gottheit, über die Art ihres Wirkens 
und ihrer Gegenwart in der Welt, über das Verhältniss der 
menschlichen Selbstthätigkeit zu der göttlichen Weltordnung, 
über die mancherlei Fragen der Theodicee, nehmen in demselben 
einen breiten Raum ein; und wie die Physik der Stoiker von dem 


1) Teres b. 5108. Floril. 5, 67. 5, 127 Mein, 


Die Religion. 289 


dem Hervorgang der Dinge aus der Gottheit und ihrer Rückkehr 
in die Gottheit, als dem Anfangs- und Endpunkt der Weltentwick- 
lung, umfasst ist, so beginnt auch ihre Ethik mit dem Gedanken 
des göttlichen Gesetzes, das als die ewige Vernunft die Handlun- 
gen der Menschen leiten soll, und sie kommt in der Forderung 
der Unterwerfung unter den göttlichen Willen, der Ergebung in 
den Weltlauf, zum Abschluss. Ebendamit erhalten alle sittlichen 
Pflichten eine religiöse Begründung, alle tugendhaften Handlun- 
gen sind eine Erfüllung des göttlichen Willens und Gesetzes; je- 
ner Kosmopolitismus besonders, welcher den eigentlichen Höhe- 
punkt der stoischen Moral bildet, wird mit Vorliebe an das 
gemeinsame Verhältniss aller Menschen zur Gottheit geknüpft. 
Ebenso ruht aber andererseits die innere Sicherheit des Philoso- 
phen, das Gefühl seiner Freiheit und Unabhängigkeit, wesentlich 
auf der Ueberzeugung von seiner Verwandtschaft mit der Gott- 
heit. Der Stoicismus ist mit Einem Wort nicht blos ein philoso- 
phisches, sondern zugleich ein religiöses System; er ist als sol- 
ches, wie diess schon die Bruchstücke des Kleanthes !) beweisen, 
bereits von seinen ersten Vertretern aufgefasst worden, und er 
hat in der Folge gemeinschaftlich mit dem Platonismus den Besten 
und Gebildetsten, so weit der Einfluss griechischer Kultur reichte, 
beim Verfall der alten Nationalreligionen einen Ersatz, ihrem 
Glaubensbedürfniss eine Befriedigung, ihrem sittlichen Leben eine 
Stütze geboten. 

An sich ist nun diese philosophische Religion unabhängig von 
den positiven Ueberlieferungen. Die stoische Theologie enthält 
keine Bestimmung von einiger Bedeutung, welche wir statt der 
wissenschaftlichen und allgemein sittlichen Gründe aus einer An- 
lehnung an den Volksglauben herzuleiten veranlasst wären. Auch 
die wahre Gotiesverehrung konnte aufstoischem Standpunkt nur in 


1) Der bekannte Hymnus an Zeus b. Stop. ΕΚ]. I, 30 und die S. 282, 1 
angeführten Verse. Nicht ohne Bedeutung ist hiebei auch die dichterische 
Darstellungsform, deren sich Kleanthes bediente. Er behauptete nämlich 
(nach Prıropem. De Mus., Vol. Here. I, col. 28): ἀμείνονά γε εἶναι τὰ ποιητιχὰ 

“ καὶ μουσιχὰ παραδείγματα χαὶ τοῦ λόγου τοῦ τῆς φιλοσοφίας, ἱκανῶς μὲν ἐξαγγέλλειν 
δυναμένου τὰ θεῖα χαὶ ἀνθρώπινα, μὴ ἔχοντος δὲ ψιλοῦ τῶν θείων μεγεθῶν λέξεις 
οἰκείας. τὰ μέτρα χαὶ τὰ μέλη χαὶ τοὺς ῥυθμοὺς ὡς μάλιστα προςιχνέϊσθαι πρὸς τὴν 
ἀλήθειαν τῆς τῶν θείων θεωρίας. 


Philos. ἃ, Gr. III. B. 1. Abth. 19 


290 Stoiker. 


dem geistigen Kultus der Gotteserkenntniss und des sittlich from- 
men Lebens gesucht 7), für ein gottgefälliges Gebet konnte hier 
nur dasjenige angesehen werden, welches nicht äusseren Gü- 
tern gilt, sondern der tugendhaften und gottergebenen Gesin- 
nung ?). Indessen waren die Stoiker doch von zwei Seiten her 
veranlasst, sich näher an die Volksreligion anzuschliessen. Denn 
theils war es für ein System, welches auf die allgemeine Meinung 
der Menschen, gerade auch zur Begründung des Götterglaubens °), 
ein so grosses Gewicht legte, höchst bedenklich, die herrschenden 
Vorstellungen über die Götter schlechtweg für irrig zu erklären; 
theils schien auch der ethische Standpunkt der stoischen Philoso- 
phie mehr die Vertheidigung, als die Zerstörung des Volksglau- 
bens zu fordern, der doch immerhin eine Schutzwehr gegen die 
Zügellosigkeit der menschlichen Begierden darbot Ὁ. Ja ich 
möchte gerade aus diesem praktischen Interesse ihre theologische 
Orthodoxie vorzugsweise herleiten. Wie die Römer die Aufrecht- 
haltung der überlieferten Religionsgebräuche selbst da noch noth- 
wendig und heilsam fanden, als ihnen die griechische Bildung den 


1) Man vgl. in dieser Beziehung ausser dem berühmten Ausspruch des 
Stoikers bei Cıcero N. D. II, 28, 71 (cultus autem Deorum est oplimus idemque 
castissimus atque sanctissimus plenissimusque pietatis, ut eos semper pura integra 
incorrupta et mente et voce veneremur) namentlich auch Erıxrer Man. 31, 1: 
N θεοὶ h) ἘΣ Ὑ Ὧν Δ΄" Bin BR an ὦ 0 LTE Ir 
τῆς περὶ τοὺς θεοὺς εὐσεβείας ἴσθι ὅτι τὸ χυριώτατον ἐχεῖνό ἐστιν, ὀρθὰς ὑπολήψεις 
περὶ αὐτῶν ἔχειν... χαὶ σαὐτὸν εἰς τοῦτο κατατεταχέναι, τὸ πείθεσθαι αὐτοῖς χαὶ 


ἦν 
᾿ 


εἴχειν ἐν πᾶσι τοῖς γινομένοις τι. 5. w. Dens. Diss. II, 18, 19. Weiteres 5. 291, 5. 

2) M. Aurer IX, 40: man solle die Götter nicht bitten, uns etwas zu 
geben oder uns vor etwas zu bewahren, sondern nur bitten: διδόναι αὐτοὺς τὸ 
μμήτε φοβεῖσθαί τι τούτων μήτε ἐπιθυμεῖν τινος τούτων, man solle ihnen seine Ge- 
bete anheimgeben. Dıos. VII, 124: man solle (wie schon Sokrates gewollt 
hatte; s. Bd. II, a, 119) nur um das Gute überhaupt bitten (denn so wird die 
Stelle doch wohl zu verstehen sein). 

3) 8. ο. 122, 2. Ebendahin gehört die Notiz b. Sexrus Math. IX, 28, dass 
einige von den jüngeren Stoikern (vielleicht Posidonius, dessen Annahmen über 
den Urzustand schon $. 249, 5 berührt wurden) den Götterglauben von den 
Weisen des goldenen Zeitalters hergeleitet haben. 

4) In diesem Sinn tadelt Erıkrer Diss. II, 20, 32 f. diejenigen, welche 
die Volksgötter bezweifeln, ohne zu bedenken, dass sie damit vielleicht 
Manchem das nehmen, was ihn vom Bösen abgehalten habe — dasselbe ar- 
gumentum ab utili, welches heute noch der Kritik, in der Regel nicht so 
leidenschaftslos wie von dem frommen Stoiker, entgegengehalten wird. 


Die Religion. 291 


Glauben an die Götter längst geraubt hatte 1). so mochten die 
Stoiker befürchten, mit der Verehrung der Volksgötter auch die- 
jenige Scheu vor der Gottheit und dem göttlichen Gesetz auszu- 
rotten, auf welche sie selbst ihre Sittenlehre gründeten. 

Dabei konnten sie freilich nicht läugnen, dass sehr Vieles im 
Volksglauben mit ihren Grundsätzen nicht übereinstimme, dass 
weder die herkömmliche Aeusserlichkeit der Götterverehrung, 
noch die mythischen Vorstellungen von den Göttern zu billigen 
seien; und sie verhehlten diess auch so wenig, dass man wohl 
sieht, nicht die Furcht (zu der damals auch kein Anlass mehr 
war), sondern eine wirkliche Ueberzeugung hat ihre sonstige 
Anlehnung an die Ueberlieferung hervorgerufen. Zeno untersagte 
die Errichtung von heiligen Gebäuden, denn was Baumeister und 
Handwerker machen, das sei nichts Heiliges 5). Seneca läugnet 
den Nutzen des Gebets 5); er findet es thöricht, vor den Göttern, 
diesen allgütigen Wesen, sich zu fürchten 3): er will, dass die 
Gottheit nicht durch Opfer und Ceremonien, sondern durch Rein- 
heit des Lebens, nicht in Tempeln von Stein, sondern in dem 
Heiligthum der eigenen Brust verehrt werde °); er spricht mit 


1) Sehr bezeichnend sind in dieser Beziehung die Aeusserungen des 
skeptischen Pontifex Cotta b. Cıc. N. D. I, 22, 61. III, 2. 

2) Prur. St. rep. 6, 1. Dıoc. VII, 33, 8. ο. 273, 6. 

3) ep. 41, 1: non sunt ad, coelum elevandae manus nec exoramdus aedituus, 
ut nos ad aures simulacri, quasi magis ewaudiri possimus, admittat; prope est 
a te Deus, tecum est, intus est. Nat. qu. II, 35, 1: was haben die Expiationen 
τι. 8. w, zu bedeuten, wenn das Fatum unabänderlich ist? sie sind nihil aliud, 
quam aegrae mentis solatia. Vgl. auch 5. 290, 2. 

4) Benef. IV, 19, 1: Deos nemo sanus timet. furor est enim metuere salu- 
taria nec quisguam amat quos timet. Die Götter wollen nicht blos, sondern 
sie können ihrer Natur nach nicht schaden (De ira II, 27, 1. Benef. VII, 1,7. 
ep. 95,49). Es bedarf kaum der Bemerkung, wie sehr diese Sätze gerade dem 
Geiste der römischen Religion, in welcher die Furcht ein so wesentlicher Be- 
standtheil der religio ist, widerstreiten. 

5) Ep. 95, 47: Quomodo sint Di colendi, solet praeeipi: accendere aliquem 
lucernas sabbatis prohibeamus, quoniam nec lumine Di egent et ne homines qui- 
dem delectantur fuligine. vetemus salutationibus matutinis fungi et foribus ad- 
sidere templorum: humama ambitio istis ofieiis capitur: Deum colit, qui novit. 
vetemus lintea et strigiles ferre et speculum tenere Junoni: non quaerit ministros 
Deus: quidni? ipse haumano generi ministrat, ubique et omnibus praesto est. .... 
primus est Deorum cultus Deos credere. deinde reddere ilis majestatem suam, 


19 * 


292 Stoiker. 


tiefer Geringschätzung von den Götterbildern und ihrer An- 
betung '), mit herbem Spott von den unwürdigen Fabeln der 
Mythologie ?); er bezeichnet die Götter des Volks unumwunden 
als Geschöpfe des Aberglaubens, welche der Philosoph nur um 
des Herkommens willen anrufe ®). Aber auch der Stoiker bei 
Cicero und seine alten Gewährsmänner geben zu, dass der Glaube 
des Volks und die Darstellungen der Dichter von Aberglauben 


reddere bonitatem u. s. w. vis Deos propitiare? bonus esto. satis ülos coluit, 
quisquis imitatus est. Fr. 123 (Ὁ. Lacranr. Inst. VI, 25, 3): vultisne vos Deum 
cogitare magnum et placidum .... non immolationibus et sanguine multo colen- 
dum — quae enim ex trucidatione immerentium voluptas est? — sed mente pura, 
bono honestogue proposito. non templa ili congestis in altitudinem saxis ex- 
struenda sunt: in suo cuique consecrandus est pectore. Vgl. auch Benef. VII, 
7,3: der einzig würdige Tempel der Gottheit sei das Weltganze. 

1) Fr. 120 (b. Lacr. II, 2, 14), wo Seneca darauf hinweist, wie ungereimt 
es sei, die Bilder anzubeten und vor ihnen zu knieen, deren Verfertiger man 
als Handwerker geringachte. Besonders scharf und eingehend hatte er sich 
aber hierüber in der Abhandlung „De superstitione“ geäussert, aus der 
Ausvstin Civ. Ὁ. VI, 10 Mehreres (Fr. 31 f. Haase) mittheilt. Die unsterb- 
lichen Götter, sagt er hier, verlege man in schlechte leblose Stoffe, man gebe 
ihnen nicht allein menschliche und thierische, sondern oft auch ganz aben- 
teuerliche Gestalten, und verehre als Gott, was man, wenn es lebendig würde, 
ein Ungethüm nennen würde. Ganz thöricht und abscheulich sei aber vollends 
die Art, wie diese Götter verehrt werden: durch Selbstpeinigung und Ver- 
stümmlung, durch alberne und selbst sittenlose Komödien, die er des Näheren 
schildert. Der Weise könne solche Dinge nur mitmachen tamquam legibus 
Jussa, non tamquam Dis grata. War doch schon der von ihnen so bewun- 
derte Heraklit den Stoikern in der Bestreitung des Bilderdiensts und der 
Opfer vorangegangen; s. Bd. I, 491, 2. 3. 

2) Fr. 119 (Ὁ. Lacr. I, 16,10): quid ergo est, quare apud poötas salacissimus 
Jupiter desierit liberos tollere? utrum sexagenarius factus est et üli lex Papia 
Fibulam imposuit? an impetravit jus trium liberorum? an ... timet, ne quis 
sibi Jaciat, quod ipse Saturno? Aehnlich Fr. 39 (b. Ausustıy a. a. Ὁ.) drevit. 
vitae 16, 5. v. be. 26, 6 (die ineptiae poetarum, welche in den Erzählungen 
von Jupiters vielfachem Ehebruch u. s. w. nur der Sünde einen Freibrief aus- 
stellen). 

3) Bei Aucustis a. a. O. Fr. 33: quid ergo tandem? veriora tibi videntur 
T. Tatii aut Romuwli aut Tulli Hostilii somnia? Cloacinam Tatius dedicavit 
Deam, Picum Tiberinumque Romulus, Hostilius Pavorem atque Pallorem, te- 
ierrimos hominum adfectus ... haec numina potius credes et coelo recipies? 
Fr. 39: omnem istam ignobilem Deorum turbam, quam longo aevo longa super- 
stitio congessit, sic adorabimus ut meminerimus cultum ejus magis ad morem 
quam ad rem pertinere. 


Die Religion. 293 


und unwürdigen Mährchen voll seien '); und von Chrysippus 
wird ausdrücklich berichtet, dass er den Geschlechtsunterschied 
der Götter und die sonstigen Anthropomorphismen für kindische 
Erfindungen erklärt habe ?), von Zeno °), dass er die Volksgötter 
nicht als solche habe gelten lassen, sondern ihre Namen auf Natur- 
dinge übertragen, von Aristo *), dass er der Gottheit Gestalt und 
Empfindung abgesprochen habe 5). Nichtsdestoweniger wollten die 
StoikerdieherrschendenVorstellungen nichtschlechthin fallen lassen, 
sie glaubten vielmehr in der unangemessenen Form einen wesent- 
lich wahren Inhalt zu entdecken, und sie waren demgemäss be- 
müht, die relative Berechtigung des bestehenden Glaubens dar- 
zuthun. Wiewohl sie. nämlich den Namen der Gottheit im vollen 
und ursprünglichen Sinn nur dem Einen Urwesen zugestehen 
konnten, so nahmen sie doch keinen Anstand, auch alles das- 
jenige, worin sich die Eine göttliche ‚Kraft auf besondere Art 
kundgiebt, in beschränkter und abgeleiteter Weise ein Göttliches 
zu nennen; und wenn aus diesem Göttlichen Götter, und zwar 
menschenähnliche Götter, gemacht wurden, so fanden sie auch 
diess in Betracht der Gottverwandtschaft des Menschen nicht un- 


1) N. De. II, 24, 63: alia quoque ex ratione et quidem physica fluwit multi- 
tudo Deorum;; qui induti specie humana fabulas poötis suppeditaverunt hominum 
autem vitam superstitione omni referserunt. atque hic locus a Zenone tractatus 
post a Cleanthe et Chrysippo pluribus verbis ewplicatus est .... physica ratio non 
inelegans inclusa est in impias fabulas. Noch stärker äussert sich der Stoiker, 
ohne Zweifel nach griechischem Vorbild, c. 28, 70 über die commentitü et ficti 
Dei, die superstitiones paene aniles, die futilitas summaque levitas der anthropo- 
morphischen und anthropopathischen Darstellungen. 

2) Psiprus (Philodemus) col. 2 seiner Fragmente nach Perzssen’s Er- 
gänzung; vgl. Cıc. N. Ὁ. II, 17, 45. Dıos. VII, 147, welche beide bezeugen, 
dass die Stoiker sich die Götter nicht menschenähnlich zu denken wissen, und 
Lacranr. De ira Dei c. 18 g. E.: Stoici negant habere ullam formam Deum. 

3) Der Epikureer b. Cıc. N. D. I, 14, 56. Näheres hierüber sogleich. 

4) Cıc. a. a. Ο, 37, wozu Krıscne Forsch. I, 406. 415 ἢ. 2. vgl. 

5) Kreumens freilich sagt Strom. VII, 720, D: οὐδὲ αἰσθήσεων αὐτῷ [τῷ θεῷ] 
εἴ, χαθάπερ ἤρεσε τοῖς Erwindiz, μάλιστα ἀχοῆς χαὶ ὄψεως" μὴ γὰρ δύνασθαί ποτε 
ἑτέρως ἀντιλαμβάνεσθαι. Allein nach allem Angeführten kann diess nur ein 
Missverständniss sein: er verwechselt wohl das, was stoische Schriftsteller 
bedingungsweise, zur Widerlegung der Vorstellung, als ob die Gottheit sehe 
und höre, oder Andere (vgl, Sexr. Math. IX, 139 fl.) gegen sie gesagt hatten, 
mit ihrer eigenen Meinung. 


294 Stoiker. 


gerechtfertigt 1). Sie unterschieden demnach mit Plato von dem 
ungewordenen und unvergänglichen Gott die gewördenen und 
vergänglichen Götter 5), von Gott als dem Schöpfer und Beherr- 
scher der ganzen Welt seine Untergötter °), d. h. sie unterschie- 
den.zwischen der allgemeinen in der Welt wirkenden göttlichen 
Kraft als Einheit und den einzelnen Theilen und Aeusserungen 
derselben %); und wenn sie jene mit dem Namen des Zeus be- 
zeichneten, so deuteten sie auf diese die übrigen Göttergestalten. 

Im Besonderen sind es viererlei Dinge, welchen die Stoi- 
ker die Göttlichkeit in diesem abgeleiteten Sinne zuerkannten. 
Zunächst und vor Allem die Gestirne, die schon Plato als die ge- 
wordenen Götter, und Aristoteles als ewige göttliche Wesen be- 
zeichnet hatte, deren Anbetung überhaupt der Naturverehrung 
der Alten so nahe lag. Sie schienen ihnen nicht blos 
durch ihren Glanz und ihre sinnliche Wirkung, sondern noch 
mehr durch die Gesetzmässigkeit ihrer Bewegung zu beweisen, 
dass sie von dem reinsten Stoffe, und von allem Gewordenen der 
göttlichen Vernunft am Meisten theilhaftig seien °); und es war 
ihnen mit dieser Behauptung ein solcher Ernst, dass ein stoischer 
Philosoph von der schwerfälligeren Frömmigkeit des Kleanthes 
sich so weit vergessen konnte, den grossen Entdecker der Lehre 
vom Umlauf der Erde um die Sonne, Aristarchus von Samos, als 
einen antiken Galilei vor allen Hellenen der Gottlosigkeit anzu- 
klagen, weil er die Hestia des Weltalls aus ihrer Stelle verrücken 
wolle 5). Zu dieser Vergötterung der Gestirne gehört es auch, 
wenn Zeno (oder seine Schule) die Jahre, Monate und Jahres- 


1) Prur. place. 1, 6, 16, in einer offenbar aus guter Quelle geflossenen 
Darstellung der stoischen Theologie: man habe die Götter als menschenähn- 
lich dargestellt, διότι τῶν μὲν ἁπάντων τὸ θεΐον κυριώτατον, τῶν δὲ ζῴων ἄνθρω- 
πος χάλλιστον χαὶ χεχοσμημένον ἀρετὴ διαφόρως κατὰ τὴν τοῦ νοῦ σύστασιν (τὸ χρά- 
τιστον — diese Worte sind wohl, als Wiederholung aus dem Folgenden, zu 
streichen). τοῖς οὖν ἀριστεύουσι τὸ χράτιστον ὁμοίως καὶ χαλῶς ἔχειν διενοήθησαν. 

2) Prur. St. rep. 88, ὅ f. ὁ. not. 81, ὅ. Def. orac. 19, 5. 420. 

3) Die numina, quae singula adoramus et colimus, welche von dem Deus 
omnium Deorum abhängig sind, welche er ministros regni sui genwit (Sex. Fr. 
26. 16 b. Lacr. Inst. I, 5, 26 £.). 

4) Dıioc. VII, 147. 

5) 8. 0. 8. 176, 1. 

6) Prur. de facie lunae 6, ὃ. 


Religion: die gewordenen Götter. 295 


zeiten Götter nannte !), wobei wir uns nur erinnern müssen, dass 
diese von dem stoischen Realismus auf ihre materiellen Träger, 
die Himmelskörper, zurückgeführt wurden ?). — Wie die Gestirne 
die reinste Erscheinung, so sind die Elemente die ersten besonde- 
ren Gestaltungen des göttlichen Wesens, und die allgemeinsten 
Substrate für die Wirksamkeit der göttlichen Kräfte; natürlich, 
dass der Alles durchdringende göttliche Geist nicht blos in seiner 
Urgestalt, sondern auch in den abgeleiteten Formen der Luft, des 
Wassers, der Erde, des elementarischen Feuers verehrt wurde °). 
— Auch alles Uebrige jedoch, was durch seine Brauchbarkeit für 
die Menschen ein besonderes Maass der wohlthätigen göttlichen 
Kraft offenbart, schien den Stoikern eine göttliche Ehre zu ver- 
dienen, die sich freilich eigentlich nicht auf diese Dinge, als 
solche, sondern auf die in ihnen wirkenden Kräfte beziehen sollte; 
sie nahmen daher keinen Anstand, die Früchte und den Wein und 
andere Gaben der Götter mit Götternamen zu bezeichnen %). — 
Wie hätten sie sich dann aber der Anerkennung entziehen kön- 
nen, dass mit anderen wohlthätigen Wesen namentlich auch die 
Helden der Vorzeit religiös zu verehren seien, die von der Sage 
als Wohlthäter der Menschheit gepriesen wurden, da sich doch in 
ihnen der göttliche Geist nicht blos unter den niedrigeren Formen 
der ἕξις, wie in den Elementen, oder der φύσις, wie in den Pflan- 
zen, sondern in der vernünftigen Seele selbst darstellte? Solche 
vergötterte Menschen lieferten ihrer Ansicht nach, welche hierin 
mit der bekannten Theorie des Euemerus zusammentrifft, einen 
bedeutenden Beitrag zu der Masse der Volksgottheiten, und sie 
selbst hatten gegen diesen Kultus nichts einzuwenden °). Fügen 


1) Cıc. N. D. I, 14, 86. 

2154 088..111. 

3) Cıc.N.D.I, 15,39 f. UI, 26. Dioc. VII, 147 u. A. 8. u. 

4) Prur. De Is. c. 66. Cıc. a. a. O. II, 23, 60. I, 15, 38, wo diese Ansicht 
namentlich Zeno's Schüler Persäus beigelegt wird. Krıscne (Forschungen 
I, 442) erinnert hiebei mit Recht an die Behauptung des Prodikus, dass die 
Alten Alles, was den Menschen nütze, vergöttert haben, worüber Bd. I, 782 
z. vgl. 

5) Puäpr. (Philodemus) Nat. De. col. 3. (τὸ. N. D. I, 15, 38 ἢ, wo diese 
Behauptung im Besondern dem Persäus und Chrysippus zugeschrieben wird. 
Ebd. II, 24, 62, nachdem von der Vergötterung des Herkules, Bacchus, Ro- 


296 Stoiker. 


wir dazu noch die Personifikationen menschlicher Eigenschaften 
und Gemüthszustände 1), so werden wir uns überzeugen, welche 
reichliche Gelegenheit die Stoiker hatten, um allenthalben in der 
Natur und der Menschenwelt göttliche Wirkungen und Kräfte 
und mithin Götter im weiteren Sinn aufzuzeigen ?). Ein Pantheis- 
mus, wie der ihrige, konnte den schrankenlosesten Polytheismus 


mulus u. s. w. gesprochen ist: guorum cum remanerent animi (was ja nach 
Chrysippus nur den Guten zu Theil wird) atque aeternitate fruerentur, Di 
rite sunt habiti, cum et optimi essent et aeterni. Dıoc. VII, 151. Vgl. S. 296, 2. 


1) Diess geschieht in dem Bericht der plutarchischen Placita I, 6, 9 ff. 
Die Götterlehre, heisst es hier, sei in drei Formen überliefert: der physischen, 
der mythischen, und der durch die Gesetze bestätigten (die theologia eivilis), 
und die sämmtlichen Götter zerfallen in sieben Klassen (εἴδη): 1) τὸ ἐχ τῶν 
φαινομένων χαὶ μετεώρων: die Beobachtung der Gestirne und der Regelmässig- 
keit in ihren Bewegungen, in dem Wechsel der Jahreszeiten u. 5. f. habe zum 
Glauben an Götter geführt, und demgemäss seien Himmel und Erde, Sonne 
und Mond α. 8. f. verehrt worden; 2) und 3) τὸ βλάπτον χαὶ ὠφελοῦν: wohl- 
thätige Wesen seien Zeus, Here, Hermes, Demeter, verderbliche die Erinnyen, 
Ares u.s.f.; 4) und 5) die πράγματα (Thätigkeiten), wie die Ἐλπὶς, Δίχη, 
Εὐνομία, und die πάθη, wie Ἔρως, ᾿Αφροδίτη, Πόθος:; 6) ro ὑπὸ τῶν ποιητῶν 
πεπλασμένον (τὸ μυθιχὸν), wie die von Hesiod zum Behuf seiner Genealogieen 
erdichteten Götter: Koios, Hyperion u. s. w.; 7) die wegen ihrer Verdienste 
um die Menschheit verehrten Menschen, wie Herakles, die Dioskuren Dio- 
nysos. Diese Uebersicht will aber allerdings nicht blos dasjenige aufzählen, 
was göttliche Verehrung verdient, sondern alles, dem sie tbatsächlich zu 
Theil geworden ist; und so ist auch solches darein aufgenommen, was die 
Stoiker unmöglich als ein Göttliches anerkennen konnten, wie die vermeintlich 
verderblichen Gottheiten und die Affekte (m. s. über diese was $.291,4. 292,3 
angeführt ist), nebst den rein mythischen Göttern. Dagegen konnten die 
Stoiker die Verehrung der personificirten Tugenden sich wohl gefallen lassen. 
Die Elementargötter, wie Here, sind in der obigen Aufzählung mit denen der 
Früchte unter der Kategorie des Nutzbringenden zusammengefasst. In anderer 
Weise hatte Dionysius (wir wissen nicht ob der bekannte Schüler Zeno’s — 
oben 35, 2 — oder ein Späterer) beide zusammengenommen, wenn er nach 
Terturr. ad nat. II, 2 vgl. ο. 14 dreierlei Götter zählte: die sichtbaren, wie 
Sonne, Mond u. 8. w., die unsichtbaren, wie Neptun (d.h. die Naturkräfte, 
wie sie in den Elementen, und ebenso wohl auch in den Gewächsen wirken) 
und die facti, die vergötterten Menschen. 


ἔπος εἰπεῖν, τῷ λόγῳ (den Worten nach) θεῶν τὸν οὐρανὸν, τὴν γῆν, τὸν ἀέρα, τὴν 
BEN 


θάλατταν. οὐδένα τῶν τοσούτων ἄφθαρτον οὐδ᾽ ἀΐδιον ἀπολελοίπασι πλὴν μόνου τοῦ 
) T ἴ ἢ 
Atos, εἰς ὃν πάντας χαταναλίσχουσι τοὺς ἄλλους. 


Götter und Dämonen. 297 


in sich aufnehmen, wenn man sich einmal die doppelte Freiheit 
erlaubte, den Namen der Gottheit von dem Wesen, dem er allein 
ursprünglich und im strengen Sinn zukam, auf abgeleitete Wesen 
zu übertragen, und das Unpersönliche, was Erscheinung der gött- 
lichen Kraft ist, als Gott zu personifieiren. 

Mit der Heroönverehrung hängt auch die Lehre von den 
Dämonen zusammen 1). Die Seele ist nach stoischer Ansicht, wie 
wir wissen, göttlichen Ursprungs und Wesens, ein Theil und 
Ausfluss der Gottheit. Näher jedoch kommt diese Würde, sofern 
wir in der Seele selbst die Vernunft als leitenden Theil von den 
übrigen unterscheiden können, nur ihr zu; und da es nun die 
Vernunft allein ist, welche den Menschen vor Uebeln bewahrt 
und zur Glückseligkeit führt, so mag sie füglich, im Anschluss 
an den Volksglauben , als der Schutzgeist oder der Dämon des 
Menschen bezeichnet werden. Es sind daher nicht blos jüngere 
Mitglieder der stoischen Schule, wie Posidonius, Seneca, Epiktet, 
Antoninus, welche die volksthümlichen Vorstellungen vom Dämon, 
nach Plato’s Vorgang ?), in diesem Sinn deuten °); sondern das 


1) M. vgl. darüber jetzt: Wachsmurn, Die Ansichten der Stoiker über 
Mantik und Dämonen (Berl. 1860) S. 29—39. 

2) Tim. 90, A; 5. Bd. II, a, 604. 

3) Posıpox. b. Garen Hippoer. et Plat. V, 6. 8.469: τὸ δὴ τῶν παθῶν 
αἴτιον, τουτέστι τῆς τε ἀνομολογίας χαὶ τοῦ χαχοδαίμονος βίου, τὸ μὴ χατὰ πᾶν 
ἕπεσθαι τῷ ἐν αὑτῷ δαίμονι συγγενεῖ τε ὄντι καὶ τὴν ὁμοίαν φύσιν ἔχοντι τῷ τὸν ὅλον 
χόσμον διοικοῦντι, τῷ δὲ χείρονι χαὶ ζῳώδε: ποτὲ συνεχχλίνοντας φέρεσθαι. SE. ep. 
41, 2 (nach dem $. 291, 3 Mitgetheilten): sacer intra nos spiritus sedet, malo- 
rum bonorumque nostrorum observator et custos. hic prout a nobis tractatus est, 
ita nos ipse-tractat. Vgl. ep. 31, 11: quid aliud voces hunc (den animus rectus, 
bonus, magnus) quam Deum in corpore humano hospitantem? (Aehnlich, wie 
Kant die sittliche Idee ein Urbild, welches die Menschheit angenommen habe, 
die sittliche Gesinnung einen guten uns regierenden Geist nennt.) ErıkKr. Diss. 
I, 14, 12 ff.: ἐπίτροπον [ὃ Ζεὺς] ἑχάστῳ παρέστησε τὸν ἑχάστου δαίμονα, χαὶ παρέ- 
δωχε φυλάσσειν αὐτὸν αὐτῷ χαὶ τοῦτον ἀχοίμητον χαὶ ἀπαραλόγιστον. Wer sich in 
sein Inneres zurückzieht, ist nicht allein, ἀλλ᾽ ὃ θεὸς ἔνδον ἐστὶ χαὶ ὁ ὑμέτερος 
δαίμων ἐστί. Ihm hat Jeder den Eid der Treue zu leisten, wie der Soldat dem 
Cäsar; aber !xet μὲν (beim Fahneneid) ὀμνύουσιν, αὐτοῦ μὴ προτιμήσειν ἕτερον" 
ἐνταῦθα δ᾽ αὑτοὺς ἁπάντων --- so dass sich also der Dämon im Innern in den 
αὐτὸς auflöst. M. Avreı V, 27: ὃ δαίμων, ὃν ἑχάστῳ προστάτην χαὶ ἡγεμόνα ὃ 
Ζεὺς ἔδωχεν, ἀπόσπασμα ἑαυτοῦ. οὗτος δέ ἐστιν ὃ ἑχάστου νοῦς καὶ λόγος. Vgl. II, 
13. 17. III, 3, Schl. 5. 6. 7. 12. 16. 0; 10. VIII, 46. 


298 Stoiker. 


Gleiche thut auch schon Chrysippus, wenn er die Eudämonie darein 
setzt, dass der Dämon des Menschen, welcher in diesem Fall doch 
nur sein eigener Wille und Verstand sein kann, mit dem Willen 
der Gottheit übereinstimme 1). Dass jenen Vorstellungen durch 
diese Deutung ein ihnen fremder Sinn unterschoben werde, des- 
sen waren sich die Stoiker ohne Zweifel in diesem so wenig, wie 
in anderen Fällen, bewusst; nur folgt daraus nicht, dass auch sie 
selbst die Meinungen des Volks über die Schutzgeister theilten ?). 
Ihr System liess aber allerdings nieht blos die Möglichkeit offen, dass 
neben der Menschenseele und den Gestirngeistern auch noch wei- 
tere vernünftige Seelen existiren, und dass diesen gleichfalls eine 
bestimmte Thätigkeit in der Welt angewiesen sei, welche wir uns 
aber natürlich von der allgemeinen Nothwendigkeit umschlossen 
und in die Kette der Ursachen und Wirkungen eingereiht zu 
denken haben; sondern solche Wesen konnten sogar zur Voll- 
ständigkeit des Weltganzen erforderlich zu sein scheinen 5}. 
Wenn uns daher berichtet wird, dass die Stoiker das Dasein von 
Dämonen angenommen haben, welche an den Menschen Antheil 
nehmen und für sie sorgen *), so haben wir keinen Grund, dieser 


1) Μ. 8. die S. 193, 4 aus Dıoc. VII, 88 (der wenigstens im unmittelbar 
Vorhergehenden Chrysippus περὶ τέλους als Quelle genannt hat) angeführten 
Worte, die ihre Erläuterung, wenn sie einer solchen bedürften, in den obigen 
des Posidonius finden würden. 

2) Nur in diesem Sinn haben wir es daher zu verstehen, wenn Sex. ep. 
110, 1 sagt: sepone in praesentia, quae quibusdam placent, unicuique nostrüm 
paedagogum dari Deum, non quidem ordinarium, sed hune inferioris notae ... 
ita tamen hoc seponas volo, ut memineris, majores nostros, qui crediderunt, 
Stoicos fuisse: singulis enim et Genium et Junonem dederunt (nämlich die alten 
Römer, nicht die Stoiker). 

3) Vgl. Sexr. Math. IX, 86, wo im Zusammenhang der 5. 124,1 berührten 
Beweisführung gesagt wird: wenn es auf der Erde und im Meer lebende 
Wesen gebe, müssen auch in der Luft, die so viel reiner sei, νοερὰ ζῷα sein, 
dann aber auch im Aether. Diese seien die Götter, jene die Dämonen. 

4) Droc. VII, 151: φασὶ δ᾽ εἶναι nal τινας δαίμονας ἀνθρώπων συμπάθειαν 
ἔχοντας, ἐπόπτας τῶν ἀνθρωπείων πραγμάτων za ἥρωας τὰς ὑπολελειμμένας τῶν 
σπουδαίων ψυχάς. Prur. De Is. 25, S. 360: Plato, Pythagoras, Xenokrates 
und Chrysippus halten mit den alten Theologen (bei denen Wachsmurn 8. 32,40 
mit Recht zunächst an die Orphiker denkt) die Dämonen für stärker, als die 
Menschen u. s. w. — woraus sich aber nicht abnehmen lässt, was Chrysippus, 
und zwar in eigenem Namen, über sie ausgesagt hatte. Def. orac. 19, $. 420: 


Dämonen. 299 


Aussage zu misstrauen. Auch die Annahme, dass ein Theil dieser 
Dämonen seiner Natur nach geneigt sei, zu schaden, und dass 
diese Plagegeister von den Göttern zur Bestrafung der Goitlosen 
verwendet werden 1), hat auf stoischem Standpunkt nichts Auffal- 
lendes, da in einem so streng deterministischen System solche 
Dämonen doch immer nur als Naturkräfte, dem Zusammenhang 
des Ganzen gemäss, wirken, nicht störend in diesen Zusammen- 
hang eingreifen können, und insofern mit Blitzen, Erdbeben, 
Seuchen u. dgl. auf Einer Linie stehen. Dagegen lautet eine 
Aeusserung Chrysipp’s über schlechte Dämonen, welche die ihnen 
anvertrauten Geschäfte vernachlässigen ?), allerdings so, als sei 
sie nur bedingungs- und versuchsweise, nicht ernstlich, gemeint; 
und über die jüdisch-christlichen Vorstellungen von Dämonen und 
Teufelsbesitzungen machten sich die späteren Stoiker lustig °). 
Auch ohne die Dämonen hatte aber das stoische System Ge- 
genstände genug, auf die es den Volksglauben deuten konnte, um 
einen philosophischen Inhalt in ihm aufzuzeigen. Dieser Inhalt 
ist aber hier freilich , wie wir bereits gehört haben, fast bis zur 
Unkenntlichkeit entstellt; es bedarf daher einer wissenschaftlichen 
Vermittlung zwischen dem philosophischen und dem gewöhnlichen 


die Stoiker halten die Dämonen für vergänglich. Place. I, 8, 2: Θαλῆς, Πυθα- 
yöpas, Πλάτων, οἱ Στωϊκοι, δαίμονας ὑπάρχειν οὐσίας ψυχιχάς. Eine eigene 
Schrift περὶ ἡρώων χαὶ δαιμόνων, die aber wohl nach seiner Weise mehr gelehrte 
als dogmatische Ausführungen enthielt, hatte Posidonius verfasst; Macro». 
Sat. I, 23 theilt daraus eine Etymologie von δαίμων mit. 

1) Prur. Quaest. rom. 51, S. 277: χαθάπερ ol περὶ Χρύσιππον οἴονται φιλό- 
σοφοι φαῦλα δαιμόνια περινοστεῖν, οἷς οἱ θεοὶ δημίοις χρῶνται χολασταῖς ἐπὶ τοὺς 
ἀνοσίους καὶ ἀδίχους ἀνθρώπους. Ders. Def. orac. 17, 5. 419: φαύλους ... δαί- 
μονας οὐκ Ἐμπεδοχλῆς μόνον... ἀπέλιπεν, ἀλλὰ χαὶ Πλάτων χαὶ Ξενοχράτης χαὶ 
Χρύσιππος, was an sich freilich, schon wegen der Ausdehnung dieser Aussage 
auf Plato, wenig beweisen würde. Auf jene’ Strafdämonen wurden wohl die 
verderblichen Götter der Mythologie (oben 296, 1) von solchen, die sie nicht 
ganz beseitigt wissen wollten, gedeutet. Die Dämonen dagegen, welche nach 
Sırzust. De mundo ὁ. 19, S. 266 f. die Seelen im Jenseits reinigen, und an 
welche Vırroıson zum Cornutus 5, 553 erinnert, stammen nicht aus dem 
Stoieismus, sondern aus Praro Rep. X, 615, E und dem späteren Neu- 
platonismus. 

2) B. Prur. Sto. rep. 37, 2 (8. o. 163, 2). 

3) Terrucı. Test. an. 3, nachdem er von den Dämonen und ihrer Aus- 
treibung gesprochen hat: aliqui Chrysippi sectator illudit ea. 


900 Stoiker. 


Bewusstsein, damit das erstere seine Gedanken in den Gebilden 
des letzteren wiedererkenne. Diese Vermittlung liegt nun für 
die Stoiker, wie später für ihre jüdischen und christlichen Nach- 
folger auf diesem Wege, in der allegorischen Auslegung, 
von welcher sie zuerst, so viel uns bekannt ist, diesen ausge- 
dehnten Gebrauch gemacht haben, um die Kluft zwischen einer 
älteren und einer von ihr wesentlich abweichenden neuen Bil- 
dungsform zu überbrücken !). Schon Zeno, noch mehr aber 


1) Die Stoiker sind allerdings nicht die ersten, welche diese Erklärung 
der Mythen und der mythischen Göttergestalten aufgebracht haben. Wie die 
Philosophie vor ihrer endgültigen Ablösung von der Mythologie, bei einem 
Pherecydes, Empedokles, den Pythagoreern, ihre Begriffe nicht selten bewusst 
oder unbewusst in die Bilder der letzteren legte, und auch später noch bis- 
weilen, wie in den platonischen Mythen, die Hülle der Diehtung umwarf: so 
suchte man umgekehrt, nachdem der Bruch mit der mythischen Ueberlieferung 
eingetreten war, vielfach die Weite desselben sich selbst oder Andern dadurch 
zu verbergen, dass man die eigenen Ueberzeugungen für den eigentlichen 
Sinn des Volksglaubens ausgab; wobei im Allgemeinen vorausgesetzt wird, 
die ersten Urheber des letztern haben auch für ihre Person diesen Sinn hinein- 
legen wollen. So entstand die Umdeutung der Mythen in den zwei Formen 
der natürlichen Erklärung und der allegorischen Auslegung. Jene führte sie 
auf geschichtliche Thatsachen, diese auf allgemeine Wahrheiten, auf natur- 
wissenschaftliche oder moralische, überhaupt also philosophische, Sätze zu- 
rück; beide aber giengen darauf aus, hinter ihrem buchstäblichen Sinn ihre 
verborgene Meinung auszumitteln. Diese Umdeutung der Mythen ist uns 
schon bei einigen von den älteren Philosophen, wie Demokrit (Bd. I, 641), 
Metrodor von Lampsakus und andere Anaxagoreer (ebd. 703 — nach Hezsrcn. 
ἀγαμέμνονα deutete er auch Agamemnon auf den Aether), begegnet. Besonders 
beliebt scheint sie in der sophistischen Periode gewesen zu sein, wie diess 
unter Anderem aus Euripides (5. Bd, II, 11 f.) und selbst Herodot (ebd, 19), 
Pıaro Theät. 153, C. Rep. II, 378, Ὁ. Phädr. 229, C. Krat. 407, A. Io 530, C, 
auch Gorg. 493, A, ΧΈΝΟΡΗΟΝ Symp. 3, 6 hervorgeht; eine besondere Auf- 
forderung dazu lag in der Ansicht des Prodikus über die Entstehung des 
Götterglaubens (Bd. I, 782). Plato missbilligt diese Mythenerklärung (s. Bd. 
II, a, 605, 3), Aristoteles benützt sie gelegentlich, um eine Ahnung der Wahr- 
heit in den Volksvorstellungen nachzuweisen, ohne dass er ihr doch einen 
höheren Werth beilegte (Bd. II, b, 630); dagegen haben wir schon früher 
(Bd. II, a, 236 f.) gesehen, wie eifrig sich der Stifter der eynischen Schule 
und einzelne seiner Nachfolger damit beschäftigten. An sie schlossen sich 
die Stoiker auch hierin zunächst an, aber sie verfolgten diese Erklärungsweise 
Allem nach viel weiter, und batten mit derselben, wie mit ihrem ganzen 
System, einen ungleich grösseren Einfluss auf die Folgezeit, als die Cyniker. 


Allegorie. 301 


Kleanthes, Chrysippus und ihre Nachfolger bemühten sich, in 
den Göttern des Volksglaubens und in den Erzählungen von 
diesen Göttern naturphilosophische und moralische Ideen (den 
λόγος φυσικὸς, die physica ratio) nachzuweisen 1). welche unter 
bildlicher Hülle darin niedergelegt seien 3). Sie hielten sich da- 
bei namentlich an die homerischen und hesiodischen Gedichte, 
diese Bibel der Griechen 5), ohne jedoch die übrige Mythologie 
von dem Bereich ihrer Erklärung auszuschliessen. Ein Haupt- 
mittel für ihre Deutungen waren ihnen, wie neueren Symboli- 
kern, jene willkührlichen etymologischen Spielereien, von denen 
uns so viele Beispiele überliefert sind %). Dabei wussten sie, wie 
die meisten Allegoristen, hermeneutische Grundsätze aufzustellen, 
die in thesi verständig genug lauten °), ihre Praxis zeigt aber 


1) το. N. Ὁ. II, 24, 63; s. o. 293,1. Ebd. III, 24, 63. 

2) Und eben diess ist der Begriff der Allegorie: ὃ γὰρ ἄλλα μὲν ἀγορεύων 
τρόπος, ἕτερα δὲ ἂν λέγει σημαίνων, ἐπωνύμως ἀλληγορία καλεῖται (HERAKLIT 
Alleg. Hom. ce. 5, ὃ. 6); wesshalb jede Art bildlichen Ausdrucks unter dieser 
Bezeichnung befasst werden kann. Früher war dafür, nach Prvr. aud. po. 
ce. 4, 8. 19, ὑπόνοια üblich gewesen, welches auch bei Praro Rep. II, 378, Ὁ 
vgl. Io 530, Ὁ. Xex. Symp. 3, 6 steht. 

3) Schon Zeno schrieb in diesem Sinn über alle Theile der homerischen 
Gedichte und deutete hesiodische Mythen (Dıo Caevsosr. Or. 53, $. 275. 
Dıos. VII, 4. Keıscne Forsch. 393 ff.); ebenso Kleanthes (Dıoe. VII, 175. 
Prior. [Philodem.] De nat. De. col. 3. Pıur. aud. po. 11, 5.81. De fluv. 5,3. 
S. 1003. Keıscne 433) und Persäus (Dıo ἃ. ἃ. Ο.). Chrysippus erklärte 
homerische, hesiodische, orphische und musäische Dichtungen (Präne. col, 3. 
Garen Hippoer. et Plat. III, 8. Bd. V, 349 ἢ. Krısche 391. 479) und Dio- 
genes folgte ihm Ar (Pnäpe. col.5f. Cıc. N.D.I, 15, 41). Vgl. auch 
Prur. Def. orac. 12, S. 415 f. und über die theologische Literatur der Stoiker 
überhaupt Be zum Cornutus ὃ. XXXIX ff. An diese griechischen Vor- 
gänger schloss sich unter den Römern Varro an, über dessen Auffassung der 
Mythen und seine Schriften Preı.rer Röm. Mythol. 29 fi. zu vergleichen ist. 
Aus derselben schöpften die beiden Stoiker, deren Werke wir noch besitzen, 
Heraklitus (wahrscheinlich unter August) für seine Homerischen Allegorieen 
(Ausg. von Meurer) und Cornutus für sein Werk über die Natur der Götter, 
welches aus Vır.oisonx’s hinterlassenen Papieren Osanx herausgegeben hat. 

4) Ueber dieselben auch Cıc. N. D. III, 24, 63. 


5) Corx.-c. 17, 8. 80: δεῖ δὲ μὴ συγχέϊν τοὺς μύθους, μηδ᾽ Rn τέρου τὰ ὀνό- 
ματα ἐφ᾽ ἕτερον μεταφέρειν, μηδ᾽ εἴ τι προξτεπλάσθη ταῖς χατ᾽ αὐτοὺς παραδε nr 
γενεαλογίαις ὑπὸ τῶν μὴ συνέντων ἃ αἰνίττονται χεχρημένων δ᾽ αὐτοῖς ὡς τοῖς πλάσ- 


μασιν, ἀλόγως τίθεσθαι. 


302 Stoiker. 


nur zu deutlich, dass ihnen auch diese scheinbar wissenschaft- 
lichen Grundsätze nur ein Mittel zu desto ausschweifenderer Will- 
kühr waren. Denn wenn sie auch in manchen Deutungen den 
ursprünglichen Grundlagen mythologischer Bildungen nahe ka- 
men, so wussten sie sich doch theils von der verkehrten Vor- 
stellung nicht loszumachen, als ob die Urheber der Mythen ihres 
philosophischen Inhalts als solchen sich bewusst gewesen wären, 
und ihn erst nachträglich in die bildliche Hülle gelegt hätten 1); 
theils erlaubten sie sich auch in unzähligen Fällen so bodenlose 
Erklärungen, wie sie keinem möglich sind, der eine gesunde 
Vorstellung über die Natur und den Ursprung der Mythen besitzt. 
Und dass diesem Verfahren auch die Theorie entspreche, dafür 
soll schon der Stifter der Schule, nach dem Vorgang des Anti- 
sthenes, durch die Behauptung gesorgt haben, welche gleichfalls 
in der Folge hinsichtlich der jüdischen und christlichen Religions- 
urkunden wiederholt wurde, dass Homer nur in einem Theil sei- 
ner Aussprüche der Wahrheit, in andern der gewöhnlichen Mei- 
nung gemäss rede ?). Wir sehen so die Stoiker mit dem Apparat 
zur umfassendsten allegorisch - dogmatischen Exegese schon voll- 
ständig ausgerüstet. 

Fragen wir nun, wie sie von hier aus die griechische Götter- 
lehre im Besonderen auflassten, so zieht vor Allem der Gegensatz 
zwischen Zeus und den übrigen Göttern unsere Aufmerksamkeit 
auf sich. Aus ihrem pantheistischen Monotheismus ergab sich von 
selbst, dass der Unterschied beider, in der griechischen Mythologie 
nur ein gradueller, zu einem specifischen, ja absoluten erhoben 
und mit der Unterscheidung des unvergänglichen Gottes von den 
gewordenen Göttern gleichgesetzt werden musste. Zeus ist den 


1) Wer Beweise dafür sucht, findet sie namentlich bei Heraklit und Cor- 
nutus in Menge, vgl. auch Sen. nat. qu. II, 45, 1: die Alten hahen ja nicht 
geglaubt, dass Jupiter mit der Hand Blitze schleudere; sed eundem, quem 
nos, Jovem intellegumt, rectorem custodemque universi, animum ac spiritum 
mundi u. 85. w. 

2) Dıo Curysosr. Or. 53, 8. 276 R. über Zeno’s Commentare zu den ho- 
merischen Gedichten: ὃ δὲ Ζήνων οὐδὲν τῶν τοῦ “Ομήροου λέγει, ἀλλὰ διηγούμενος 
χαὶ διδάσκων, ὅτι τὰ μὲν χατὰ δόξαν, τὰ δὲ χατὰ ἀλήθειαν γέγραφεν... ὃ δὲ λόγος 
οὗτος ᾿Αντισθένειός ἐστι πρότερον... ἀλλ᾽ ὃ μὲν οὐχ ἐξειργάσατο αὐτὸν οὐδὲ χατὰ 


τῶν ἐπὶ μέρους ἐδήλωσεν. 


Mythendeutung. 303 


Stoikern, wie ihrem Vorgänger Heraklit, das Eine Urwesen, wel- 
ches alle Dinge und alle Götter hervorgebracht hat und wieder 
in sich zurücknimmt, das Weltganze als Einheit, das Urfeuer, der 
Aether, der Weltgeist, die allgemeine Vernunft, das allgemeine 
Gesetz oder Verhängniss u. 5. w. ). Alle übrigen Götter sind als 
Theile der Welt auch nur Theile und Erscheinungsformen des 
Zeus, nur besondere Benennungen des Einen Gottes, des viel- 
namigen ?): derjenige Theil des Zeus, welcher sich in Luft ver- 
wandelt, heisst Here (Ἥρα von ἀὴρ). und in seinen unteren, mit 
Dünsten erfüllten Schichten, Hades, der, welcher in elementarisches 
Feuer übergeht, Hephäst, der, welcher zu Wasser wird, Poseidon, 
der Erde gewordene, Demeter, Hestia und Rhea. Der Theil end- 
lich, welcher in der obersten Region bleibt, wird im engeren 
Sinn als Athene bezeichnet, und da nun der feinere Stoff für die 
Stoiker mit dem Geiste zusammenfällt, so ist nicht allein Zeus die 
Weltseele, sondern auch Athene die Vernunft, die Einsicht, die 
Vorsehung °). Derselbe Zeus ist aber auch, in anderer Beziehung, 


1) Besondere Belege sind nach dem Früheren kaum nöthig; ausser denS. 126, 
1. 129,1. 130,3. 139,2. 140,5 angeführten Stellen vgl. m. noch den Hymnus des 
KreantHues. Chrysippus b. Stop. ΕΚ]. I, 48. Arar. Phaen. Anf. Prvr. aud. 
poet. e. 11, 8.31. VaArro ἢ. Ausvsr. Civ. D. VII, 5. 6. 9.28. Serv. in Georg. 
1,5.  Beeraetir.:c.-15, 8. 31. 0.23, 49. ο; 24, 50. Corn. 8. 7 ff. 26 fl. 35.38. 
Ebd. findet man auch die oft berührten Etymologieen des Zeusnamens: Zeus 
von ζῆν oder ζέειν, die Flexionsformen Διὸς u. s. w. von διὰ, ὅτι δι᾽ αὐτὸν τὰ 
πάντα u.8.f. Vgl. Vınıoısox und Osanx z. d. St. des Cornutus, die auch für's 
Folgende, in ilıren Anmerkungen zu den betreffenden Stellen, weitere Belege 
geben. Dieselben z. Corn. S. 6 über die Ableitung des θεὸς von θέειν oder 
τιθέναι, des αἰθὴρ von αἴθειν oder ἀεὶ θέειν u. 5. f, Ein Theil dieser Etymologien 
ist bekanntlich schon platonisch. 

2) Πολυώνυμος, wie ihn KrLeantues V. 1 anredet, vgl. Dıog. 147. Corn. 
ο. 9,26 ἢ. τ. A. Die weitere Ausführung dieser pantheistischen Idee findet 
sich in der Lehre der neuplatonischen Mystik von der Allnamigkeit Gottes. 

3) M. s. hierüber Dioe. a. a. Ὁ, Cıc. N. Ὁ. II, 26, 66. Prior. (Philodem.) 
Fragm. col. 2—5. Herakı.. ο. 25, S. 53; im Besondern: über Here HrrAkı. 
e. 15. ec. 41, 8.85. Corn. ce. 3; über Hephäst Hrrakt. e. 26, 55 f. c. 43, 91 f. 
Corn. c. 19, 8.98 fl. Prur. De Is. ὁ. 66, S. 377 (Dıoc. a. a. O. verwechselt 
vielleicht, wie diess Krıscne $. 399 annimmt, das gewöhnliche Feuer mit 
dem πῦρ τεχνιχόν: doch ist es auch möglich, dass der künstlerische Gott der 
Mythologie in der stoischen Schule selbst, die sich in ihren Deutungen gar nicht 
immer gleich blieb, bald so bald so erklärt wurde); über Poseidon Herakt.. 


304 Stoiker. 


Hermes, Dionysos, Herakles '). Dass die Weltordnung auf dem 
Gleichgewicht der Elemente beruhe, wie die Vorsehung dieses fest- 
gesetzt hat, ist durch die homerische Erzählung von der Fesselung 
und Befreiung des Zeus 2), die Entstehung und Reihenfolge der 
Elemente ist durch die Aufhängung der Here °), die Ordnung der 
Weltsphären durch die goldene Kette, an der die Olympier Zeus 
herabzuziehen versuchen 4), angedeutet. Die Lahmheit Hephäst's 
geht theils auf den Unterschied des irdischen Feuers vom himm- 
lischen, theils darauf, dass jenes das Holz so wenig entbehren 
kann, als der Lahme den hölzernen Stab; und wenn Hephäst bei 
Homer vom Himmel geschleudert ist, so heisst diess, in der Urzeit 
haben die Menschen ihr Feuer an dem himmlischen Blitze und an 
den Sonnenstrahlen (durch Brennspiegel, wie Heraklit meint) an- 
gezündet°). Auf das Verhältniss des Aethers zu der von ihm um- 
gebenen Luft wurde die Verbindung der Here mit Zeus 5), und so 


c. 7, 15. c. 38, 77. c. 46, 117. Corn. ec. 12. Prur. De Is. c. 40, Schl. 8. 367; 
über Hades (den Cıc. a. a. O. zum Repräsentanten der terrena vis macht) 
Herakr. c. 23 f., S. 50. ce. 41, 87. Corx. c. 5; über Demeter und Hestia Corn. 
c. 28, S. 156 ff. Pıur. ἃ. 8. Ο.; über Athene Hrrakr. c. 19, 39 f. c. 28, 59. 
e. 61,123 f. Corn. c. 20, 108 ff. Wenn bei Heraktıır. c. 25, 53 Athene mit- 
telst einer gezwungenen Wendung zur Erde gemacht wird, so geschieht diess 
nur. der betreffenden homerischen Stelle zulieb. Dass schon Zeno in dieser 
Weise die Einzelgötter als Theile der allgemeinen göttlichen Kraft oder des 
Zeus behandelt hatte, macht Krische Forsch. 399 f. durch Vergleichung von 
Präpe. col. 5 mit den angeführten Stellen des Cicero und Diogenes wahr- 
scheinlich. 

1) Sex. Benef. IV, 8, 1: Hune [Jovem] et Liberum patrem et Herculem et 
Mercurium nostri putant. Liberum patrem, quia omnium parens sit. ... Her- 
culem, quia vis ejus invicta sit, quandoque lassata fuerit operibus editis, in 
ignem recessura. Mercurium, quia ratio penes Ülum est numerusque et ordo et 
scientia. Auch die Zurückführung des Helios auf Zeus b. Macro», Sat, I, 23 
scheint stoischen Ursprungs zu sein. 

2) Hera. c. 25, 52 ff. vgl. 11. I, 395 ft. 

3) Ebd. c. 40, 83 ff. vgl. II. XV, 18 ff. 

4) Ebd. c. 37, 73 ἢ. vgl. Il. VIII, 18 ff. 

5) Ηρμπακι, c. 26, 54 δ᾿, welcher die gleiche Erklärung hier auf den My- 
thus von Prometheus anwendet (anders deutet diesen Corn. e. 18, 96 £.); Conx. 
c. 19, 8. 98 f., wo auch noch einiges Weitere. Ueber die Lahmheit Hephäst's 
auch Pırvr. fac. lunae 5, 3. S. 922. 

6) Nach Eustath. in Il. S. 93, 46, der hier doch wohl einer stoischen Deu- 
tung folgt, ist Here die Gattin des Zeus, weil die Luft vom Aether umgeben 


Mythendeutung. 305 


unter Anderem auch der bekannte Vorgang auf dem Ida gedeu- 
tet 1); die noch anstössigere Darstellung des berufenen samischen 
Bildes sollte nach Chrysippus ausdrücken, dass die befruchtenden 
Kräfte (die λόγοι σπερματιχοὶ) von der Gottheit in die Materie 
übergehen ?). Eine ähnliche Bedeutung giebt Heraklit der Er- 
zählung von Proteus °) und der vom Schild des Achilleus: wenn 
Hephäst in diesem Schilde ein Bild der Welt verfertigt, so heisst 
diess, durch die Einwirkung des Urfeuers sei die Materie zur 
Welt gestaltet worden %). Ebenso war die homerische Theomachie 
von Manchen kosmisch, auf eine Conjunction der sieben Planeten, 
die der Welt grosses Unheil bringen würde, gedeutet worden °); 
Heraklit jedoch giebt einer halb physischen, halb moralischen Er- 
klärung den Vorzug, welche vielleicht schon Kleanthes aufgestellt 
hatte €). Ihr zufolge wird Ares und Aphrodite von Athene, d.h. 
die Unbesonnenheit und Ausschweifung wird von der Besonnenheit 


ist, aber sie verträgt sich nicht mit ihm, weil beide Elemente doch auch wie- 
der entgegengesetzt sind. 

1) Herakr. c. 39, 78 ff. (vgl. Prur. aud. po. 4, 5. 19), wo diese Erklärung 
sehr eingehend ausgeführt wird. Der Auftritt auf dem Ida soll den Uebergang 
vom Winter zum Frühling darstellen, die Haare der Here sind das Laub der 
Bäume u. s. w. 

2) M. 5. Dıoc. VII, 187 ἢ vgl. Procem. 5. Orıc. c. Cels. IV, 48. TuEoPrBIL. 
ad Autol. III, 8. S. 122, C. Crement. Homil. V, 18. 

3) K. 64 fi. Proteus bedeutet nach dieser Erklärung die ungeformte 
Materie, die Gestalten, die er annimmt, die vier Elemente u. s. w. 

4) M. 5. die ausführliche Auseinandersetzung Alleg. Hom. c. 43—51, 
S. 90 ΕἾ, von welcher im Obigen natürlich nur der Hauptinhalt angegeben 
werden konnte. 

5) Nach HErakLır c. 53, 112. 

6) Von Kleanthes wissen wir aus Ps.-Prur. De fluv. 5, 3. 5. 1003, dass 
er eine Θεομαχία geschrieben hatte, aus welcher dort ein Bruchstück, einen 
Theil der Prometheussage in einer offenbar jüngeren und bereits apologetisch 
umgebildeten Gestalt enthaltend, mitgetheilt wird. Nun scheint allerdings 
die Theomachie, welche Kleanthes (denn der Stoiker wird ja doch wohl ge- 
meint sein) hier erklärte, nicht die homerische, sondern der Kampf der Götter 
mit den Titanen und Giganten, und das entsprechende Buch von dem περὶ 
γιγάντων (Dıos. VII, 175) nicht verschieden gewesen zu sein. Aber vielleicht 
war er bei dieser Gelegenheit auch auf jene zu sprechen gekommen. Jeden- 
falls ist die moralische Deutung, welche Heraklit von dem Götterkampf bei 
Homer giebt, ganz im Styl der sogleich anzuführenden, wahrscheinlich 
Kleanthes entnommenen, Deutung der Heraklessage. 


Philos. ἃ. Gr. II. B. 1. Abth. 20 


306 Stoiker. 


bekämpft; Leto, die Vergessenheit, von Hermes, dem offenbarenden 
Worte 1); Apollo, die Sonne, von Poseidon, dem Wassergott, mit 
dem er sich aber verträgt, weil die Sonne sich von den Dünsten 
des Wassers nährt; Artemis, der Mond, von Here, der Luft, die 
er durchschneidet, und die ihn oft verdunkelt; der Fluss, das 
irdische Wasser, von Hephäst, dem irdischen Feuer ?). Dass 
Apollo die Sonne sei, Artemis der Mond, wird von keiner Seite 
bezweifelt 3); den letzteren zugleich auch in der Athene zu su- 
chen, macht natürlich unsern Mythologen keine Schwierigkeit 4). 
Ueber Namen, Gestalt und Attribute jener Götter hatten die Stoi- 
ker, und so namentlich schon Kleanthes, für welchen die Sonne 
als Sitz der weltregierenden Kraft besondere Wichtigkeit hatte 5), 
viel gegrübelt %. Die Erzählung von der Geburt der Lotoiden 


1) Weiteres über Hermes Alleg. Hom. c. 72, 141. 

2) Alleg. Eom. c. 54 ff. 

3) M. vgl. 2. B. ausser dem eben Angeführten Hesakr. c. 6, 5, 11 fi. 
Cornur. c. 32, 8. 191 ff. c. 34, 206 ff. Cıc.N.D.U, 27, 68. Ῥηῖρε. (Philodem.) 
Nat. De. 60]. 5 (nach Diogenes). Auch bei Prior. col. 2 (τοὺς δὲ τὸν ᾿Απόλλω) 
dürfte das τοὺς, wenn ἥλιον zu kühn scheint, in φῶς zu verwandeln sein, 
denn auf-die Erde kann Apollo nicht wohl gedeutet worden sein. 

4) Pur. fac. lunae 5, 2. 5. 922: die Stoiker rufen den Mond als Artemis 
und Athene an. 

5) Vgl. 5. 125, 1. 

6) Den Namen Apollo erklärt Kleanthes bei Macror. Sat. I, 17 ὡς ar’ 
ἄλλων χαὶ ἄλλων τόπων τὰς ἀνατολὰς ποιουμένου, Chrysippus (vom privativen ἃ 
und πολὺς) ὡς οὐχὶ τῶν πολλῶν καὶ φαύλων οὐσιῶν τοῦ πυρὸς ὄντα. Die letztere 
Erklärung führt Prorı. V, 5, 6. S. 525 als pythagoreisch an, und Chrysippus 
könnte sie immerhin von den Pythagoreern, ebenso können sie aber umge- 
kehrt die Neupythagoreer von Chrysippus entlehnt haben. In Nachahmung 
derselben lässt dann Cicero a. a. Ὁ. seinen Stoiker Sol von solus herleiten. 
Den Beinamen Apollo’s, Loxias, bezieht Kleanthes bei Macro». a. a. Ὁ. auf 
die ἕλιχες λοξαὶ der Sonnenbahn, oder die λοξαὶ ἀχτῖνες der Sonne, Oenopides 
auf den λοξὸς χύχλος (die Ekliptik), das Beiwort Λύχιος erklärte Kleantbes da- 
von, quod veluti lupi pecora rapiunt, ita ipse quoque humorem eripit radüs, 
Antipater ἀπὸ τοῦ λευχαίνεσθαι πάντα φωτίζοντος ἡλίου. Bei demselben scheint 
Macrobius die Ableitung des Πύθιος von πύθειν (weil die Sonnenhitze Fäulniss 
bewirkt) gefunden zu haben. Noch andere Erklärungen dieser sowohl als der 
übrigen Bezeichnungen Apollo’s, des Namens der Artemis und ihrer Beinamen, 
der Attribute und Symbole dieser Götter, finden sich in Menge bei Gorsurus 
ce. 32.34 und bei Macrosıus a. a. O., der doch wohl auch das meiste Derartige 
aus stoischen Quellen geschöpft hat. 


Mythendeutung. 307 


und von der Erlegung des Drachen Pytho ist nach Antipater eine 
symbolische Darstellung von Vorgängen, welche sich bei der 
Weltbildung und der Entstehung von Sonne und Mond zutru- 
gen 1); einfacher finden Andere in der Abstammung der beiden 
Gottheiten von Leto den Gedanken, dass Sonne und Mond aus 
der Nacht hervortreten 9. Von dem gleichen Standpunkt aus 
sieht Heraklit, nicht gegen den ursprünglichen Sinn des Mythus, 
in den sehnelltödtenden Pfeilen Apollo’s ein Bild verheerender 
Seuchen °); verifrt sich dann aber freilich in eine seltsame Art 
von natürlicher Erklärung, wenn er aus der homerischen Stelle 
über die Versöhnung Apollo’s (Il. I, 53 ff.) herausliest, dass 
. Achilleus durch die ärztliche Kunst, welche er von Chiron er- 
lernt hatte, der Seuche gesteuert habe 5). — Annehmbarer lautet 
es, dass die Unterredung der Athene mit Achilleus und des 
Hermes mit Odysseus in Selbstgespräche der beiden Helden ver- 
wandelt: werden °); dagegen zeigt sich die stoische Auslegungs- 
kunst wieder in ihrem vollen Glanze, wenn wir die Etymologieen 
kennen lernen, welche von den verschiedenen Namen und Bei- 
namen der Athene versucht wurden °), wenn wir erfahren, dass 


1) Der erste von diesen Mythen wird bei Macro. Sat. I, 17 in allen sei- 
nen einzelnen Zügen im Sinn der früher (8. 137,3) angeführten kosmogonischen 
Annahmen erklärt, ebenso die hieran sich anschliessende Erzählung von der 
Tödtung des Pytho dahin, dass der Drache die fauligen Dünste der anfangs 
noch sumpfigen Erde bedeute, welche durch die Sonnenstrahlen (die Pfeile 
Apollo’s) überwunden wurden. Da Macrobius diese Erklärung ausdrücklich 
Antipater zuschreibt, ist es wahrscheinlich, dass er auch die erste von ihm 
hat. Eine andere bei Demselben, nach welcher der Drache die Sonnenbahn 
bezeichnet, ist vielleicht gleichfalls stoisch. 

2) Diess deutet Corsutus c. 2, S. 10 an, wenn er Leto, als Andw, auf die 
Nacht bezieht, weil man Nachts im Schlaf Alles vergesse. Die gleiche Ab- 
leitung, nur mit anderer Anwendung fanden wir 5, 306, ob. 

3) Ὁ. 8 ff.; m. s. namentlich 5. 16 f. 22. 28. Ebd. e. 12 f. S. 24. 28 wird 
der Klang der apollinischen Pfeile auf die Sphärenharmonie gedeutet. 

4) C. 15, 8. 81. 

5) Α. ἃ. Ο. e. 19 ἢ 72. 8.39 ff. 141 ff.; auch hier freilich mit allerlei 
Schnörkeln. 

6) M. 5. darüber Corxur. ce. 20, 105 ff. und VırLoıson z. d. St. Gleich 
der Name Athene erfährt hier die verschiedensten Ableitungen: von ἀθρεῖν (so 
auch bei Herakı. c. 19, 40. Tzerz. in Hesiod. ’E. x. “Hy. 70. Etymol. M. 
’Abnvä) von θῆλυς oder θηλάζειν (᾿Αθήνη = ἀθήλη oder ἀθηλᾶ, ἣ. μὴ θηλάζουσα); 

20 * 


308 Stoiker. 


2. B. der Name Τριτογένεια auf die drei Theile der Philosophie 
gehen sollte 1), die Heraklit freilich selbst in den drei Köpfen des 
Cerberus angezeigt findet ?), oder wenn wir die weitschweifige ᾿ 
Auseinandersetzung lesen, durch welche Chrysippus darzuthun 
sucht, dass die Erzählung von dem Hervortreten der Göttin aus 
dem Haupte des Zeus seiner Ansicht über den Sitz der Vernunft 
nicht widerspreche®). Dass Dionysos der Wein sein soll, Demeter 
die Frucht, ist bereits bemerkt worden *); aber wie in dieser die 
Erde und ihre nährende Kraft °), so wurde in jenem zugleich das 
Princip des Naturlebens überhaupt, der zeugende und ernährende 
Lebenshauch gefunden °), und da dieser nach Kleanthes von der 
Sonne ausgeht, konnte Kleanthes um so eher auch diese in dem 
Weingott dargestellt finden ”). Die Mythen von der Geburt des 


vgl. Pnäoe. Nat. De. col. 6. Arnenac. Leg. pro Christ, c. 17, 8. 78 Otto, 
TzeErz. a. a. O.), von θείνω, weil die Tugend sich nicht niederwerfen lasse, 
von αἰθὴρ und ναίω, so dass ᾿Αθηναία = Αἰθεροναῖα. 

1) Diese Erklärung, welche sich der Bd. I, 638, 3 angeführten von De- 
mokrit anschliesst, hatte nach Psäne. col. 6 Diogenes aufgestellt. Auch 
Corsterus erwähnt ihrer c. 20, 108, doch ist sie ihm selbst zu gesucht, er will 
den Namen von τρέϊν herleiten, weil sie die Schlechten zittern mache. 

2) Ὁ. 33, 5. 69. 

3) Sie findet sich, grossentheils wörtlich, bei Garen Hipp. et Plat. III, 8. 
S. 349—353; nach Pninvr. (Philodem.) a. a. O. (vgl. Cıc. N.D. I, 15, 41) hatte 
sie schon Diogenes besprochen. Er selbst jedoch hatte der andern Erklärung 
den Vorzug gegeben, nach welcher Athene desshalb aus dem Haupte des Zeus 
hervorgeht, weil der Aether, den sie darstellt, die oberste Stelle in der Welt 
einnimmt. Corsur. c. 20, 103 f. lässt uns zwischen dieser Deutung und der 
Annahme, dass die Alten den Kopf für den Sitz des ἡγεμονιχὸν hielten, die 
Wahl; Herakuır. c. 19, 40 giebt diesen, Eustarz. in Il. 93, 40 ff. jenen 
Grund an. 

4) 295, 4. Vgl. Corn. c. 30, S. 172 ff. 

5) 8. 0. 303, 3. Prur. De Is. c. 40, Schl. S.367: Demeter und Kore seien 
τὸ διὰ τῆς γῆς χαὶ τῶν χαρπῶν διῆχον πνεῦμα. ῬΗΪΡΕ, col. 2: τὴν Δήμητρα γῆν ἢ 
τὸ ἐν αὐτῇ γόνευμα [γόνιμον πνεῦμα]. Ueber Demeter als γῆ μήτηρ oder Δηὼ 
μήτηρ Corn. c. 28, 5. 156 f. und VırLoison z. ἃ. St. 

6) Prur. a. a. O.: Dionysos sei τὸ γόνιμον πνεῦμα χαὶ τρόφιμον. 

7) Macro». Sat. I, 18. Kleanthes leitete den Namen Dionysos von διανύσαι 
ab, weil die Sonne täglich den Lauf um die Welt vollbringe: dass die Identi- 
fieirung des Apollo mit Dionysos vor und nach ihm häufig war, ist bekannt, 
und wird gerade von Macrobius a. a. O. ausführlich nachgewiesen, Auch 
Szrvıus zu Georg. I, 5 sagt, die Stoiker haben die Sonne, Apollo und Bacchus, 


Mythendeutung. 309 


Dionysos, seiner Zerreissung durch die Titanen, seinem Gefolge 
u. s. w. 1), vom Raub der Persephone ?), von der Stiftung des 
Getreidebaues °) boten ebenso, wie die Namen der betreffenden 
Gottheiten, reichen Stoff zu Deutungen im Geschmack der Schule. 
— Die Moiren bezeichnen, wie schon ihre Namen besagen, die 
gerechte und unverbrüchliche Fügung des Schicksals 4); die Cha- 
riten, über deren Namen, Zahl und Eigenschaften Chrysippus auf’s 
Umständlichste gehandelt hatte °), stellen die Tugenden der Wohl- 
thätigkeit und Dankbarkeit dar °); die Musen den göttlichen Ur- 
sprung der Bildung’). Ares ist der Krieg °), Aphrodite die zügel- 


ebenso den Mond, Diana, Ceres, Juno und Proserpina für identisch erklärt 
haben. Weitere Etymologieen von Διόνυσος giebt Corn. c. 30, 173. 

1) Ausführlich handelt darüber Corsurtus c. 30, welcher die Geschichte 
und die Attribute des Dionysos durchaus auf den Wein deutet; mit ihm be- 
zieht auch Herakt. c. 35, S. 71 f. die Erzählung von Dionysos und Lykurg 
auf die Weinlese. 

2) Corn. c. 28, S.163 ff., welcher ebenso den Demeter-Mythus und Kultus 
in allen Einzelheiten auf den Ackerbau, den Raub der Persophone auf die 
Aussaat der Frucht bezieht. Diess auch bei Cıc. N. D. II, 26, 66. Nach Prur. 
De Is. 66, 8, 377 hatte schon Kleanthes die Φερσεφόνη τὸ διὰ τῶν χαρπῶν φερό- 
μενον xat φονευόμενον πνεῦμα genannt. Eine etwas andere Deutung erhält die 
Sage vom Raub der Persephone in der Stelle eines Mai’schen Mythographen 
VII, 4. S. 216, welche Osanx zu Cornutus ὃ. 343 anführt. 

3) Die Triptolemossage, von Corxutus a. a. Ὁ. S. 161 historisch, als 
Erzählung von der Erfindung des Fruchtbaus durch Triptol., gefasst. 

4) Chrysippus b. 5108. I, 180. Eus. pr. ev. VI, 8,7 ff, (TsEoporer cur. 
gr. aff. VI, 14. S. 87) s. o. 145, 2 vgl. denselben bei Prur. Sto. rep. 47, 5. 
Cors. ce. 135, 8.38 ff. und dazu Praro Rep. X, 617, C. 

5) Nach Sen. Benef. I, 3, 8 f. 4, 4 hatte er ein volles Buch (wahrschein- 
lich einer, sonst freilich nicht erwähnten, Schrift über die Wohlthaten) mit 
diesen ineptiae angefüllt, ita ut de ratione dandi accipiendi reddendique benefieüi 
pauca admodum dicat, nec his fabulas, sed haec fabulis inserit. Einen Theil 
davon hatte dann Hekato in sein Werk über diesen Gegenstand aufgenommen. 

6) Chrysippus b. Präve. (Philodem.) col. 4. Weiteres b. Sen. a. a. Ὁ. 
Corn. c. 15,55 ff. Verwandter Art ist die Erklärung der homerischen Ara 
(Cors. ο. 12, 37. Ηξβακι, ce. 37, 75 ff.), die ja aber von Hause aus nur flüch- 
tige Personifikationen sind. 

7) Cors. c. 14, 43 ff., der gleichfalls Zahl und Namen derselben ausführ- 
lich bespricht. (Vgl. Prıtovem. De Mus., Vol. Herc. I, col. 15: Erato solle 
die Bedeutung der Musik für die ἐρωτιχὴ ἀρετὴ bezeichnen.) Ebd. c. 10, 33 
über die Erinnyen, c. 29, 171 über die Horen. 

8) Herakı. c. 31,63. Prur. Amator. 13, 15. S. 757. 


310 Stoiker. 


lose Begierde, oder überhaupt das unverständige Verhalten 1); 
nach anderer Deutung jedoch ist jener, wie bei Empedokles, die 
trennende, diese die verbindende Naturkraft ?). Die Erzählungen - 
von der Verwundung der beiden Gottheiten durch Diomedes °), 
von ihrem ehebrecherischen Verhältniss und ihrer Fesselung 
durch Hephäst 5) werden in verschiedener Weise, moralisch, 
physisch, technisch, historisch, gedeutet. — Bei einer anderen 
Gottheit, bei Pan, legte schon der Name die Beziehung auf das 
All nahe; die dichtbehaarten Bocksfüsse desselben von der Dich- 
tigkeit der Erde, die menschliche Gestalt der oberen Theile da- 
“ gegen davon zu erklären, dass die weltregierende Kraft oben 
wohne °), diese und ähnliche Deutungen °) kosten den Stoiker 
keine Ueberwindung. Hiegegen ist es fast noch ein Kleines, wenn 
der Titane Ἰάπετος als Ἰάφετος die Sprache, und Κοῖος nach jo- 
nischem Dialekt die ποιότης darstellen soll 9. Nehmen wir dazu 
noch die mancherlei mehr oder weniger künstlichen Auslegungen 


1) Herakr.. c. 28, 60. 30, 62 und oben S. 305. 

2) Ebd. c. 69, 136. In diesem Sinn konnte Aphrodite dann auch mit Zeus 
identificirt werden, wie bei Puäpr. Nat. De. col. 1: ἀνάλογον εὖν .. . θαι 
[PETERsEN ergänzt: εὐνομεῖσθαι, es ist aber wohl ὀνομάζεσθαι zu lesen] τὸν Δία 
χαὶ τὴν χοινὴν πάντων φύσιν χαὶ εἱμαρμένην καὶ ἀνάγχην χαὶ τὴν αὐτὴν εἶναι χαὶ Εὐ- 
νομίαν χαὶ Δίχην χαὶ “Ομόνοιαν χαὶ Εἰρήνην χαὶ ᾿Αφροδίτην χαὶ τὸ παραπλήσιον πᾶν. 

3) Die des Ares, νείατον ἐς χενεῶνα, ‚bedeutet nach Herakr. c. 31, 64, 
dass Diomedes ἐπὶ τὰ χενὰ τῆς τῶν ἀντιπάλων τάξεως παρειςελθὼν die Feinde 
schlug; die der Aphrodite, d. h. der ἀφροσύνη (ebd. 80, 62), dass er vermöge 
seiner Kriegserfahrung die ungeordneten Haufen der Barbaren besiegt habe. 


4) Bei Prur. aud. po. c. 4, 5. 19 findet sich die Erklärung, welche doch 
wohl stoisch ist, dass die Verbindung von Ares und Aphrodite eine Con- 
Junction der beiden Planeten bedeute; Herakt. c. 69, 136 lässt uns die Wahl, 
ob wir sie auf die Vereinigung der φιλία und des νεῖκος, aus welcher die Har- 
monie hervorgehe, oder darauf beziehen wollen, dass das Erz (Ares) im Feuer 
(Hephäst) zu Werken voll Schönheit (Aphrodite) verarbeitet werde. Letztere 
“ Auslegung hat auch Corn. c. 19, 102, während er zugleich das Verhältniss von 
Ares und Aphrodite als Verbindung von Stärke und Anmuth deutet. 

5) Corn. c. 27, 148 ff. vgl. Praro Krat. 408, C. 

6) Dass z. B. seine Geilheit die Fülle der σπερματιχοὶ λόγοι in der Natur, 
sein Aufenthalt in der Einöde die Einzigkeit der Welt bedeute u. s. w. 

7) Corn. c. 17, 91 ἢ vgl. Osann z. ἃ. St., welcher verwandte Deutungen, 
vielleicht auch stoischen Ursprungs, in den Scholien zur Theogonie, und im 
Etymol. M. s. v. Kotos nachweist. 


Mythendeyutung. 311 


der Mythen über Uranos und Kronos '), so haben wir zwar die 
uns bekannten stoischen Erklärungen der mythologischen Ueber- 
lieferungen noch lange nicht erschöpft, aber doch die hervortre- 
tendsten Proben derselben wohl in ausreichender Menge bei- 
gebracht. 


Neben der Göttersage wurden auch die Erzählungen von 
den Hero@n in der stoischen Schule eingehend besprochen; und 
es sind hier besonders die zwei Gestalten des Herakles und Odys- 

.seus, die sie mit Vorliebe behandelten, um ihr Ideal des Weisen 
an ihnen aufzuzeigen ?). Doch vermischen sich ihnen auch hier 
verschiedenartige Gesichtspunkte. Nach Cornutus 5) ist der Gott 
Herakles von dem gleichnamigen Heros zu unterscheiden. Jener 
ist nichts anderes, als die Vernunft, welche unüberwindlich in 


1) Abgesehen von den Etymologieen des Wortes οὐρανὸς b. Corn. c. 1, 
und von der naheliegenden Bemerkung Pıvr. pl. I, 6, 9 ἢ, dass der Himmel 
wegen des befruchtenden Regens zum Vater, die Erde, weil sie Alles hervor- 
bringt, zur Mutter aller Dinge gemacht worden seien, gehört hieher Cıc. N. D. 
II, 24, 63 f. (wozu Kriscae Forsch. 397 £.), wo vielleicht nach Zeno ausgeführt 
wird: Uranos sei der Aether; er werde entmannt, weil er zur Hervorbringung 
aller Dinge keines Zeugungsglieds bedürfe.. Kronos sei die Zeit (so auch 
Hesakt. c. 41, 86 f., indem er zugleich Rhea auf die ewig fortfliessende Be- 
wegung bezieht u. A.); er verschlinge seine Kinder, wie die Zeit die einzelnen 
Zeiträume, und werde von Zeus gefesselt, indem der ungemessene Verlauf der 
Zeit durch den Umlauf der Gestirne gebunden werde. — Eine zweite Erklärung 
giebt Cors. c. 7, 21 ff., nachdem er sich schon ce. 3, 10 fi. in etymologischen 
Deutungen des Kronos und der Rhea versucht hat. Ihm ist Kronos (von 
χραίνειν) die Naturordnung, welche den allzuheftigen atmosphärischen Er- 
güssen (dem Samenerguss des Uranos auf Gäa) durch Verminderung der 
Dunstmassen ein Ende macht (m..vgl. biezu, was ὃ. 137, 2 aus Chrysippus 
beigebracht ist); und er wird von Zeus gefesselt, indem der Wechsel in der 
Natur gehemmt wird. — Macxor. Sat. I, 8 endlich (ein stoisches Vorbild ver- 
räth dieser schon durch die chrysippische Definition der Zeit: certa dimensio, 
quae ex coeli conversione colligitur; vgl. S. 167, 5) erklärt: vor der Scheidung 
der Elemente sei noch keine Zeit gewesen; nachdem die Samen aller Dinge in 
ausreichender Menge vom Himmel auf die Erde geflossen und die Elemente 
entstanden waren, sei diesem Process ein Ende gemacht, und die thierische 
Erzeugung dem Geschlechtsprocess zugewiesen worden (die Entstehung der 
Aphrodite aus dem Samen des Uranos). 


2) Vgl. S. 249, 4 und Sex. Benef. I, 13, 3. 
3) C. 31, 187 ff. 


΄ 


312 Stoiker. 


der Welt waltet 15; und der Grammatiker bemüht sich, seine At- 
tribute und seine Geschichte in diesem Sinn zu deuten. Kleanth’s 
Erklärung der zwölf Arbeiten jedoch ist selbst ihm, so gross auch 
seine Verehrung gegen diesen Stoiker war ?), zu viel. Das We- 
sentliche derselben hat uns wohl Heraklit aufbewahrt. Ihm zu- 
folge war Herakles ein Lehrer der Menschheit, eingeweiht in die 
himmlische Weisheit; er bezwang den Eber, den Löwen und den 
Stier, d. ἢ. die Lüste und Leidenschaften der Menschen; er ver- 
trieb den Hirsch, d. h. die Feigheit; er säuberte den Stall des 
Augias vom Schmutze, oder ohne Bild: das Leben der Menschen 
von Widerwärtigkeiten; er verscheuchte die Vögel, die windigen 
Hoffnungen, und brannte die vielköpfige Hyder der Lust aus; er 
brachte den Hüter der Unterwelt mit seinen drei Häuptern, alle 
‘drei Hauptstücke der Philosophie, an’s Licht. Keinen andern Sinn 
hat auch die Verwundung der Here und des Hades durch Hera- 
kles: Here, die Luftgöttin, bedeutet die Nebel der Unwissenheit, 
und in dem dreizackigen Pfeil lässt sich die himmelanstrebende 
dreitheilige Philosophie, wie der Stoiker glaubt, nicht verkennen, 
wenn aber auch Hades von diesem Pfeil niedergestreckt wird, so 
heisst diess, auch das Verborgenste sei der Philosophie zugäng- 
lich ®). In ähnlicher Weise legt Heraklit, gewiss nicht zuerst, 
die Odyssee aus *). In Odysseus ist, wie er sagt, ein Vorbild 
aller Tugenden und ein Feind aller Laster dargestellt; er flieht 
das-Land der Lotophagen, das der schlechten Genüsse; er blen- 
det den wilden Zorn, den Cyklopen; er bindet die Winde, indem 
er zuerst durch Sternkunde die Schiffahrt sichert; er überwindet 
den Zauber der Lust im Hause der Circe, durchforscht das Ver- 
borgene, bis in den Hades, lernt von den Sirenen die Geschichte 
aller Zeiten, rettet sich aus der Charybde der Ausschweifung und 
aus der Scylla der Schaamlosigkeit, besiegt, der Sonnenrinder 


1) Prur. De Is. 40, Schl. 8. 367: er sei τὸ πληχτιχὸν χαὶ διαιρετιχὸν πνεῦμα, 
Sen. Benef. IV, 8, 1; s. o. 304, 1 und was VırLoısox zum Cornutus $. 366 aus 
Schol. Apollon. anführt: bei den Physikern (d. h. Stoikern) bedeute Her. die 
Einsicht und Stärke. 

2) Vgl. Pers. Sat. V, 63 f. 

3) Herakrır c. 33 f. 8. 67 ff., der sich im Eingang ausdrücklich auf die 
δοχιμώτατοι Στωϊκῶν beruft. 

4) C. 70—73, 8. 137 fi. 


Mythendeutung. Mantik. 313 


sich enthaltend, die sinnliche Begierde. Man sieht auch hier, wie 
sich der ganze Inhalt der Mythen den Stoikern in Allegorieen 
auflöste, zugleich aber auch, wie wenig sie sich bewusst waren, 
dass sie denselben damit etwas Fremdartiges unterschieben, und 
wie sie die gleichen Personen, deren geschichtliches Dasein sie 
festhalten wollen, doch zugleich zu blossen Symbolen philosophi- 
scher Begriffe verflüchtigen. 

Ich bin auf diese stoische Theologie genauer eingegangen: 
nicht blos weil es lehrreich ist, sie im Einzelnen und im Ganzen 
mit verwandten Erscheinungen bis auf unsere Tage herab zu ver- 
gleichen, sondern auch desshalb, weil sie ein sehr bezeichnender 
und nicht unwichtiger Theil des stoischen Systems ist. Denn so 
viel uns darin als eine augenfällige und höchst werthlose Spielerei 
erscheinen muss: den Stoikern selbst war es mit ihren Erklärun- 
gen bitterer Ernst. Sie galten ihnen für das einzige Mittel, um 
den Glauben ihres Volkes zu retten, um die härtesten Vorwürfe 
von den Ueberlieferungen und den Dichterwerken abzuwehren, 
mit denen der Grieche sich von Kindesbeinen an genährt hatte 1). 
Mit diesen Ueberlieferungen gänzlich zu brechen, konnten sie sich 
nicht entschliessen, ihre wissenschaftlichen und sittlichen Ueber- 
zeugungen wollten sie ihnen nicht zum Opfer bringen: kann es 
uns Wunder nehmen, wenn sie das Unmögliche versuchten, das 
Widersprechende zu vereinigen, und wenn dieser Versuch sie zu 
Gewaltsamkeiten und Künsteleien jeder Art hindrängte? 

Sehr bezeichnend für die Stellung der Stoiker zur positiven 
Religion sind auch ihre Ansichten über die Mantik 2). Welche 
grosse Bedeutung sie der Weissagungskunst beilegten, erhellt 
schon aus dem Fleisse, den die Häupter der Schule ihrer Bespre- 
chung zuwandten. Nachdem bereits Zeno und Kleanthes zu den 
späteren Lehren den Grund gelegt hatten, war es Chrysippus, 
welcher dem stoischen Dogma auch nach dieser Seite hin seine 
endgültige Gestalt gab ?). Weiter kennen wir besondere Schrif- 


1) Man höre in dieser Beziehung, wie sich Heraklit ce. 74, 146 ff. über 
die platonischen und epikureischen Angriffe auf Homer äussert. 

2) Worüber jetzt Wacasmura in der $S. 297, 1 genannten Abhandlung zu 
vergleichen ist. 

3) So Cıc. Divin. I, 3, 6. Derselbe nennt hier von Chrysippus zwei Bü- 


314 Stoiker. 


ten über diesen Gegenstand von Sphärus, Diogenes, Antipater, 
und zuletzt noch eine ausführliche von Posidonius 1); auch Boe- 
thus und in anderem Sinne Panätius hatten sich eingehend mit ΄ 
demselben beschäftigt ?). Die gewöhnlichen Vorstellungen von 
Vorbedeutungen und Orakeln konnten sich unsere Philosophen 
nun freilich nicht aneignen, und die gemeine Wahrsagerei wollten 
sie nicht gutheissen: die Voraussetzung, dass die Gottheit in 
menschlicher Weise für bestimmte Zwecke auf Einzelnes wirke, 
und Dem oder Jenem einen bestimmten Erfolg ausnahmsweise 
vorherverkündige, mit Einem Wort, das Wunderbare des gewöhn- 
"lichen Weissagungsbegriffs, konnte in einem so streng geschlos- 
senen physikalischen System keinen Raum finden 5). Hieraus nun 


cher über die Weissagung, welche u. ἃ. T. περὶ μαντιχῆς (wie WACHSMUTH 
8. 12 f. nachweist) auch von Diıoc. VII, 149. Varro b. Lacranr. Inst. I, 6, 9. 
Pnor. Amphiloch. quaest. (Monxtraucon Bibl. Coisl. S. 347). Prıtopem. π. 
θεῶν διαγωγῆς, Vol. Hereul. VI, 49. col. 7, 33 angeführt werden, und aus 
denen Cicero noch Divin. I, 38, 82. II, 17, 41. 49, 101. 15, 35. 63, 130 und 
vielleicht De fato 7 f. geschöpft hat. Ferner ein Buch περὶ χρησμῶν (auch 
Divin. I, 19, 37. II, 56, 115. 65, 134. Suı». νεοττὸς u. A.) und eines περὶ ὀνείρων 
(vgl. Cıc. Divin. I, 20, 39. II, 70, 144. 61, 126. 63, 130. I, 27, 56 vgl. mit 
SuID. τιμωροῦντος); in jenem hatte er Orakel, namentlich apollinische, in die- 
sem weissagende T'räume in grosser Anzahl gesammelt. 

1) Eine Schrift des Sphärus r. μοντικῆς nennt Dıoc. VII, 178; ein gleich- 
namiges Buch des Diogenes von Seleucia Cıc. Divin. I, 3, 6 vgl. I, 38, 83 f. 
II, 17, 41. 43, 90. 49, 101; zwei Bücher Antipater’s r. navrızjs, worin viele 
Traumdeutungen zusammengetragen waren, Derselbe Divin. I, 3, 6 vgl. I, 
20, 39. 38, 83 ἢ, 54, 123. II, 70, 144. 15, 35. 49, 101; Posidonius’ fünf Bücher 
r. μαντιχῆς Dios. VII, 149. Cıc. Divin. I, 3, 6 vgl. I, 30, 64. 55, 125. 57, 130. 
II, 15, 35. 21, 47. De fato 3. Boeru. De Diis et praesens. (in dem Orelli’schen 
Cicero V, 1) 8. 395. 

2) Boäthus hatte in seinem Commentar zu Aratus die Vorzeichen der 
Witterung zu bestimmen und zu erklären versucht; Cıc. Divin. I, 8, 14. II, 
21, 47; über Panätius’ Einwürfe gegen die Mantik wird sogleich zu spre- 
chen sein. 

3) στο. Divin. I, 52, 118: non placet Stoieis, singulis jecorum fissis aut 
avium cantibus interesse Deum; neque enim decorum est, nec. Dis dignum, nec 
‚fieri ullo pacto potest. Ebd. 58, 132: nune Üla testabor, non me sortilegos, ne- 
que eos, qui quaestus causa hariolentur, ne psychomantia quidem „.. agmoscere. 
Aehnlich Sen. Nat. qu. 11, 32, 2 (s. u..317, 3), wo der Unterschied der stoi- 
schen von der gewöhnlichen Ansicht dahin angegeben wird, dass nach jener 
die Augurien nicht guia significatura sunt, fiant, sondern quia facta sunt signi- 


Mantik. 315 


aber mit ihren epikureischen Gegnern zu folgern, dass es mit der 
Weissagung überhaupt nichts sei, konnten die Stoiker sich nicht 
entschliessen. Der Glaube an eine so ausserordentliche Fürsorge 
der Gottheit für die Menschen erschien ihnen viel zu tröstlich, als 
dass sie darauf hätten verzichten mögen 1); sie priesen nicht allein 
die Weissagung als den augenscheinlichsten Beweis für das Dasein 
der Götter und das Walten einer Vorsehung ?), sondern sie schlos- 
sen ebenso auch umgekehrt: wenn es Götter gebe, müsse es auch 
eine Weissagung geben, da den Göttern ihre Güte nicht erlauben 
würde, den Menschen eine so unschätzbare Gabe zu versagen °). 


Jieent; vgl. c. 42: es sei eine ungereimte Meinung, dass Jupiter die Blitze 
schleudere, welche den Unschuldigen so oft treffen, als den Schuldigen; es 
sei diess nur ad coörcendos animos imperitorum ersonnen. 


1) Vgl. Diosenıas b. Eus. pr. ev. IV, 3, 5: τὸ χρειῷδες αὐτῆς [der Mantik] 
χαὶ βιωφελὲς, δι᾿ ὃ χαὶ μάλιστα Χρύσιππος δοχεῖ ὑμνεῖν τὴν μαντικήν, und M. Αὐπει, 
IX, 27: auch der Schlechten nehmen die Götter sich an durch Weissagungen 
und Träume. ; 

2) Cıc. N. D- UI, 5, 13, wo unter ‚den vier Gründen, aus denen Kleantbes 
den Götterglauben ableitete, die praesensio rerum futurarum die erste, die 
ausserordentlichen Naturerscheinungen, nicht allein Gewitter, Erdbeben und 
Seuchen, sondern auch Blutregen, Missgeburten, vorbedeutende Meteore u. 
dgl. die dritte Stelle einnehmen; Ebd. 65, 162, wo der Stoiker von der Weis- 
sagung sagt: mihi videtur vel maxime confirmare, Deorum providentia consuli 
rebus humanis. Sexr. Math. IX, 132: wenn es keine Götter gäbe, wären alle 
die mancherlei Arten der Weissagung nichtig, die doch allgemein anerkannt 
seien. Cıc. Divin. I, 6 (8. folg. Anm.) und was Κ, 149, 1. 2 angeführt ist. 

3) Cıc. Divin. I, 5. 9: ego enim sie ewistimo: si sint ea genera divinandi 
vera, de quibus accepimus quaeque colimus, esse Deos, vicissimque si Dü sint, 
esse qui divinent. Arcem tu quidem Stoicorum, inquam, Quinte, defendis. Ebd. 
38, 82: stoischer Beweis für die Divination: δὲ sunt Dii neque ante declarant 
hominibus quae futura sunt, aut non diligunt homines, aut quid eventurum sit 
ignorant, aut existimant, nihil interesse hominum, scire quid futurum sit, aut 
non censent esse suae majestatis praesignificare hominibus quae sunt futura, aut 
ea ne ipsi quidem Dü praesignificare possunt. At neque non diligunt nos u. S. w. 
non igitur sunt Dii nec significant futura (οὐκ ἄρα εἰσὶ μὲν θεοὶ οὐ προσημαίνουσι 
δὲ — die bekannte chrysippische Ausdrucksweise für: οὐχ, εἰ θεοί εἰσιν, οὐ 
προσημαίνουσι vgl. 8. 96, 4): sunt autem Di: significant ergo: et non, si signi- 
ficant, nullas vias dant nobis ad significationis scientiam, frustra enim significa- 
rent: nec, si dant vias, non est divinatio: est igitur divinatio. Dieses Beweises, 
sagt Cicero, bediene sich Chrysippus, Diogenes, Antipater; dass er von dem 
ersten derselben herstammt, siebt man ihm leicht an. Auf denselben Beweis 


316 Stoiker. 


Auch der Begriff des Schicksals und die Natur des Menschen 
schien Posidonius zur Annahme der Weissagung hinzuführen Ἶ). 
Denn wenn alles, was geschieht, aus der unzerreissbaren Ver- 
kettung der Ursachen hervorgehe, so müsse es auch Zeichen ge- 
ben, an denen sich das Vorhandensein der Ursachen erkennen 
lasse, aus welchen gewisse Erfolge sich entwickeln werden ?); und 
wenn die Seele des Menschen göttlicher Natur sei, werde sie auch 
die Fähigkeit besitzen, unter Umständen solches zu schauen, was 
ihr für gewöhnlich entgehe 5). Und damit auch der Erfahrungs- 
beweis für die Wahrheit ihres Glaubens nicht fehle, hatten die 
Stoiker Fälle von eingetroffenen Weissagungen in Menge gesam- 
melt 4); aber freilich so kritiklos, dass wir uns über ihre Leicht- 
gläubigkeit nicht genug wundern könnten, wenn wir nicht wüss- 


ten, wie schlecht es in jener Zeit mit der historischen Kritik im 


Allgemeinen bestellt war, und wie gerne die Menschen das glau- 
ben, was mit ihren Vorurtheilen übereinstimmt 5). 


Wie lässt sich nun aber beides vereinigen, einerseits der 
Glaube an die Weissagung, andererseits die Verwerfung wunder- 
barer, auf einer unmittelbaren göttlichen Wirkung beruhender 
Vorbedeutungen? Die Stoiker schlagen hiezu den Weg ein, den 


kommt dann Cicero II, 17, 41. 49, 101 wieder zurück. Vgl. ebd. I, 46, 104: 
id ipsum est Deos non putare, quae ab üs significantur, contemnere. Dıoc. VII, 
149: χαὶ μὴν χοὺὰ μαντιχὴν ὑφεστάναι πᾶσάν φασιν, “εἰ χαὶ πρόνοιαν εἶναι. Andere 
lesen jedoch ἣ χαὶ πρόνοιαν εἶναι: in diesem Fall wäre der Schluss der umge- 
kehrte, nicht von der Vorsehung auf die Mantik, sondern von der Mantik 
auf die Vorsehung. 

1) Cic. Divin. I, 55, 125: primum mihi videtur, ut Posidomius facit, « Deo 
... deinde a fato, deinde a natura vis omnis divinandi ratioque repetenda. 

2) Cıc. a. a. O. 55, 126 f. " 

3) Ebd. 57, 129. 

4) S. o. 513, 3. 314, 1. 

5) Beispiele solcher Erzählungen, welchen die Stoiker das höchste Ge- 
wicht beilegten, während die Gegner freilich theils die Erzählungen für falsch, 
theils die Weissagungen für trügerisch oder ihr Eintreffen für zufällig er- 
klärten (Cıc. Divin. I, 19, 37. II, 11, 27. 56, 115. De fato 3, 5), giebt Cicero 
Divin. I, 27, 56 (Suın. τιμωροῦντος), II, 65, 134 (vgl. Sup. νεοττὸς). ΤΙ, 70, 144 
aus Chrysippus, I, 54, 123 aus Antipater, I, 30, 64. De fato 3, 5 aus Posido- 
nius. Auch in anderen Fällen bat er aber ohne Zweifel aus den gleichen 
Quellen geschöpft. 


Mantik. 317 


ihr System ihnen allein übrig liess. Das Wunderbare, was sie 
als solches nicht annehmen konnten, wird für ein natürlich Ge- 
setzmässiges ausgegeben 1). es wird spekulativ dedueirt, und der 
treflliche Panätius ist der einzige, von dem uns berichtet wird, 
dass er auch hier durch Bestreitung der Vorbedeutungen, der 
Weissagung und der Astrologie die Selbständigkeit seines Urtheils 
gewahrt habe ?). Wie in neuerer Zeit Leibniz und so viele An- 
dere vor und nach ihm die Wunder durch die Annahme ihrer 
Präformation aus zufälligen und übernatürlichen in gesetzmässige 
Erfolge, in Glieder des allgemeinen Naturzusammenhangs ver- 
wandeln zu können geglaubt haben, so suchten schon die Stoiker 
die Vorzeichen und die Weissagung durch die Voraussetzung 
eines natürlichen Zusammenhangs zwischen dem Zeichen und dem 
Geweissagten zu retten, und die Vorbedeutungen als die natür- 
lichen Symptome gewisser Vorgänge zu begreifen °); und sie be- 


1) In anderem Sinn und ausser diesem theologischen Zusammenhang 
hatte schon Aristoteles das Wunderbare für etwas vom allgemeineren Stand- 
punkt aus Natürliches erklärt, und derselbe hatte natürlich erklärbare Ahnun- 
gen innerhalb gewisser Grenzen zugegeben, worin seine Schule ihm folgte; 
vgl. Bd. II, b, 327, 1. 424. 720, auch 745, 5. 


2) Cıc. Divin. I, 3, 6 (nach dem vorhin Angeführten): sed a Stoicis vel 
princeps ejus disciplinae Posidonii doctor discipulus Antipatri degeneravit Pa- 
naetius, nec tamen ausus est negare vim esse divinandi, sed dubitare se dixit. 
Ebd. I, 7, 12. II, 42, 88. Acad. II, 33, 107. Dıoc. VII, 149. ErıpHan. adv. haer. 
Aus ihm scheint Cicero, wie Wacnsmurn a. a. Ὁ, richtig bemerkt, die ein- 
gehende Bestreitung der Astrologie Divin. II, 42—46 der Hauptsache nach 
entnommen zu haben; vgl. c. 42, 88. 47, 97. Cic. sagt aber dabei ausdrück- 
lich, Panätius sei der einzige Stoiker, der dieselbe verwerfe. 

3) Sex. nat. qu. II, 32, 3: nimis ülum [Deum] otiosum et pusillae rei mini- 
strum facis, si aliis somnia alüs exta disponit. ista nihilominus divina ope ge- 
runtur. sed non a Deo pennae avium reguntur nec pecudum viscera sub securi 
Formantur. alia ratione fatorum series explicatur ... quidquid fit alicujus rei 
Futurae signum est ... cujus rei ordo est etiam praedictio est u. s. w. Cıc. Divin. 
1, 52, 118 (nach dem 85, 314, 3 Angeführten): sed ita a prineipio inchoatum 
esse mundum, ut certis rebus certa signa praecurrerent alia in extis, alia in 
avibus u. 8. w. Posidonius ebd. 55, 125 ff. (5. ο. 316, 2). Dasselbe besagt es, 
wenn die Vorbedeutungen (nach Cıc. Divin. II, 15, 33. 69, 142) auf die συμπά- 
θεια τῆς φύσεως (worüber 8. 156, 1 z. vgl.) begründet wurden, von welcher der 
Gegner dort freilich nicht ohne Grund bezweifelt, dass sie z. B. zwischen 
einem Riss in der Leber des Opfertbiers und einem vortheilhaften Geschäft, 


318 Stoiker. 


schränkten sich hiebei nicht auf solche Fälle, in denen jener Zu- 
sammenhang nachweisbar stattfindet 1), sondern sie forderten ihn 
auch da, wo er durchaus undenkbar ist: auch der Vögelflug und 
die Eingeweide der Opferthiere sollten natürliche Vorzeichen 
kommender Ereignisse sein, auch zwischen dem Stande der Sterne 
und der Individualität derer, welche unter demselben geboren 
sind, ein ursächlicher Zusammenhang stattfinden 5). Wandte man 
ein, dass es in diesem Falle weit mehr Vorzeichen geben müsste, 
so antworteten die Stoiker: es gebe aueh wirklich unzählige, wir 
wissen nur die wenigsten zu deuten 5). Fragte man, woher es 
komme, dass z. B. bei der Opferschau dem Wahrsager gerade die 
Thiere unter die Hände kommen, in deren Eingeweiden solche 
Vorzeichen sich finden, so nahm ein Chrysippus und seine Nach- 
folger keinen Anstand, zu behaupten, die gleiche Sympathie aller 


Dinge, welche das Vorzeichen hervorrufe, leite auch den Opfern- 


den bei der Auswahl des Opferthiers *); wie gewagt aber freilich 
diese Annahme sei, zeigte sich darin, dass sie zugleich noch die 
zweite Antwort bereit hielten: erst wenn das Opferthier gewählt 
sei, gehe die entsprechende Veränderung seiner Eingeweide vor 
sich °). Für diese Vorstellung konnte man sich nur noch auf die 
göttliche Allmacht berufen; womit man aber die ganze Deduktion 
der Vorbedeutungen aus dem Naturzusammenhang thatsächlich 


oder zwischen einem geträumten Ei und einem gefundenen Schatz statt- 
finde. 

1) Wie in dem S. 314, 2 von Bo&thus Angeführten. 

2) Vgl. S. 317, 2. 321, 4 und Cıc. Divin. II, 43, 90, nach welchem Dio- 
genes von Seleucia den Astrologen wenigstens so viel zugab, dass sich aus 
dem Stand der Sterne bei seiner Geburt abnehmen lasse, quali quisque natura 
et ad quam quisque mazxime rem aptus futurus sit. Mehr allerdings wollte er 
schon desshalb nicht einräumen, weil Zwillinge nicht selten in ihrem Lebens- 
gang und ihren Schicksalen sich in hohem Grad unterscheiden. 

3) Sex. nat. qu. II, 32,5 ἢ. 

4) Cıc. a. a. Ὁ. II, 15, 35: Chrysippus, Antipater und Posidonius be- 
haupten: ad hostiam deligendam ducem esse vim quandam sentientem atque di- 
vinam, quae toto confusa mundo sit, wie schon I, 52, 118 ausgeführt war. 

5) Cıc. II, 15, 35: ud vero multum etiam melius, quod ... dieitur ab 
illis (vgl. I, 52, 118 f.): cum immolare quispiam velit, tum fieri extorum muta- 
tionem, ut aut absit aliquid, aut supersit: Deorum enim numini parere 
omnia. Vgl. 8. 317, 3. 


Mantik, 319 


wieder zurücknahm 1). Das Bedenken ohnedem, dass eine unab- 
änderliche Vorherbestimmung aller Erfolge die eigene Thätigkeit 
überflüssig machen würde, konnten sie, wie wir schon früher ge- 
sehen haben 5). nicht wirklich beseitigen; und ebensowenig na- 
türlich den damit zusammenhängenden Einwurf 5), dass unter der 
gleichen Voraussetzung die Weissagung selbst ganz nutzlos sei 2). 
Die Stoiker selbst freilich beruhigten sich auch hier bei der Er- 
wägung, dass die Weissagung und das durch sie bedingte Ver- 
halten der Menschen in die Reihe der vom Schicksal bestimmten 
Ursachen mit aufgenommen sei °). 

In dem Vermögen zur Erkenntniss und Deutung der Vor- 
zeichen besteht nun die Mantik 5). Dieses Vermögen ist aber nach 
der Ansicht der Stoiker theils Sache der natürlichen Begabung, 
theils Kunst und Wissenschaft 72. Die natürliche Weissagung be- 


1) Aehnlich lautet es, wenn bei Ciıc. I, 53, 120 die Augurien so vertheidigt 
werden: wenn ein Thier die Theile seines Körpers beliebig bewegen könne, 
um wie viel leichter müsse diess dem allmächtigen Gott sein (dessen Leib 
ja nach stoischer Lehre die ganze Welt ist). 

2) 8.0.8. 154. 

3) Bei στο. Divin. II, 8, 20. Diocensan b. Evs. pr. ev. IV, 3,5 ff. Aurx. 
Arır, De fato c. 31, S. 96 £. 

4) Gerade auf dem Nutzen der Weissagung beruht aber der ganze von 
der göttlichen Güte ausgehende Beweis ihrer Wirklichkeit. Vgl. Cıc. I, 38, 83 
und oben 315, 1. 

5) Vgl. Sex. nat. qu. II, 37, 2. 38, 2: efugiet pericula si expiaverit prae- 
dictas divinitus minas. at hoc quoque in fato est, ut ewpiet u.s. w. Diese Ant- 
wort hatte wahrscheinlich schon Chrysippus gegeben, von dem auch aus Ciıc. 
Divin. II, 63, 130 und Pnıtopen. π. θεῶν διαγ. Vol. Here. VI, col. 7, 33 hervor- 
geht, dass er die Wirkung der Sühnungen vertheidigte. In der oben ausge- 
drückten allgemeineren Form finden wir sie bei ALExAnDEr und EuszsIus 
a. d. a. O., wohl gleichfalls aus Chrysippus. Vgl. 8, 154. 

6) Sie ist nach der Definition b. Sexr. Math. IX, 132, welche Cıc. Divin. 
II, 63, 130 Chrysippus zuschreibt, ἐπιστήμη (Cie. wohl genauer: vis δύναμις, 
da es ja ausser der wissenschaftlichen auch eine natürliche Weissagung giebt) 
θεωρητιχὴ χαὶ ἐξηγητιχὴ τῶν ὑπὸ θεῶν ἀνθρώποις διδομένων σημείων. Vgl. Stop. 
Ekl. II, 122. 238. Eus. pr. ev. IV, 8, 5. 

7) Prur. vita Hom. 212, 5. 1238: [τῆς μαντιχῆς] τὸ μὲν τεχνιχόν φασιν εἶναι 
οἵ Στωϊκοί" οἷον ἱεροσχοπίαν χαὶ οἰωνοὺς χαὶ τὸ περὶ φήμας καὶ κληδόνας καὶ σύμ- 
βολα͵ ἅπερ συλλήβδην τεχνιχὰ προςηγόρευσαν᾽" τὸ δὲ ἄτεχνον χαὶ ἀδίδακτον, τουτέστιν 
ἐνύπνια παὶ ἐνθουσιασμούς." Uebereinstimmend damit Cıc. Divin. I, 18, 34. Ih 
11, 26 ἢ. 


320 Stoiker. 


ruht, wie diess auch schon ‚Andere gesagt hatten 7), auf der 
Gotiverwandtschaft der menschlichen Seele ?); sie erfolgt bald 
im Schlaf, bald in der Entzückung 5), denn der Sinn für die - 
höheren Offenbarungen wird uns um so reiner aufgehen, je voll- 
ständiger unser Geist sich aus der Sinnenwelt und aus allen auf 
das Aeussere gerichteten Gedanken zurückzieht *). Ihrer objek- 
tiven Ursache nach wurde dieselbe auf eine Einwirkung zurück- 
geführt, welche die Seele theils von der Gottheit oder dem allge- 
meinen, durch die ganze Welt verbreiteten Geiste °), Iheils auch 
von den in der Luft sich aufhaltenden Seelen, d. h. den Dämonen 
“erfahre ©); doch sollten auch äussere Eindrücke dazu mitwirken, 


1) M.vgl. das Bd. II, b, 272, 5 angeführte aristotelische Bruchstück, wel- 
ches alte und verbreitete Meinungen im Sinn der platonisch-aristotelischen 
Lehre erläutert, ohne sie doch wirklich zu vertreten. 

2) Cıc. Divin. I, 30, 64 (s. Anm. 6) II, 10, 26: Das naturale genus divi- 
nandi sei das, guod animus arriperet aut exciperet extrinsecus a divinitate, 
unde omnes animos haustos aut acceptos aut libatos haberemus. Prur. place. V, 1 
(wo aber die Worte χατὰ θειότητα τῆς ψυχῆς u. 5. f. nur das vorhergehende χατὰ 
τὸ ἔνθεον u. s. w. glossiren). Gates hist. phil. 5, 320. i 

3) Cıc. Divin. I, 50, 115. Derselbe und Pur. a. ἃ. a. St., wozu die man- 
cherlei stoischen Erzählungen von weissagenden Träumen und Ahnungen bei 
Cıc. I, 27, 56 ff. 30, 64. II, 65, 134. 70, 144 zu vergleichen sind. 

4) M. s. hierüber, ausser den eben angeführten Stellen, Cıc. Divin. I, 49, 
110. 50, 113. 51, 115, besonders aber I, 57, 129. Daher auch die Weissagung 
der Sterbenden (ebd. 30, 63 f. nach Posidonius; vgl. Arısr. a. a. Ὁ.) und der 
Satz (ebd.'53, 121 s. u. 322, 2), dass man wahrere Träume habe, wehn man 
reinen Gemüths einschlafe. 

5) Man vgl. was Anm. 2. 8, 318, 4 aus Cıc. Divin. II, 10, 26. 15, 35 an- 
geführt ist, und den instinctus afflatusque divinus ebd. I, 18, 34. 

6) Nach Cıc. Divin. I, 30, 64 liess Posidonius die weissagenden Träume 
auf dreierlei Wegen zu Stande kommen: uno, quod praevideat animus ipse per 
sese, quippe qui Deorum cognatione teneatur: altero, quod plenus aör sit immor- 
talium animorum, in quibus tanguam insignitae notae veritatis appareant: tertio, 
quod ipsi Dii cum dormientibus colloguantur. Von diesen drei Wegen ent- 
spricht nun nicht allein der erste, sondern auch der zweite, den stoischen 
Voraussetzungen, wie denn desshalb auch bei Sros, ΕΚ]. II, 122. 238 die 
Mantik als ἐπιστήμη θεωρηματιχὴ σημείων τῶν ἀπὸ θεῶν ἢ δαιμόνων πρὸς ἀνθρώ- 
πινον βίον συντεινόντων definirt wird. Dagegen kann Posidonius nur in Anbe- 
quemung an die Volksvorstellung von Göttererscheinungen geredet haben; 
als Stoiker musste er diese auf jene Berührung mif dem Weltgeist deuten, 
die schon der erste seiner drei Wege in sich schliesst. 


Mantik. 321 


den Menschen in Enthusiasmus zu versetzen 1). Die künstliche 
Weissagung, oder die Weissagung als Kunst, gründet sich auf 
Beobachtung und Vermuthung ?). Wer freilich alle Ursachen in 
ihrer Verkettung durchschaute, der würde zu derselben keiner 
Beobachtung bedürfen, sondern die ganze Reihe der Ereignisse 
aus ihren Ursachen abzuleiten im Stande sein; da diess aber der 
Gottheit allein möglich. ist, bleibt den Menschen nur übrig, die 
Ereignisse, welche sich für die Zukunft vorbereiten, aus den Zei- 
chen zu erschliessen, durch welche sie sich ankündigen °). Diese 
Zeichen können nun von der verschiedensten Art sein, und dem- 
gemäss wurden alle möglichen Formen der Wahrsagerei von den 
Stoikern zulässig befunden: die Opferschau, die Wahrsagung 
aus Blitzen und sonstigen Himmelserscheinungen, aus dem Vögel- 
flug, aus Vorbedeutungen aller Art %). Von der Masse derartigen 
Aberglaubens, welchen die Stoiker sich gefallen liessen und in 
Schutz nahmen, kann uns das erste der ciceronischen Bü- 
cher über die Weissagung einen Begriff geben. Da aber die 
Deutung dieser Zeichen Sache der Kunst ist, so kann es auch bei 
dieser, wie bei jeder Kunst, geschehen, dass der Einzelne in ihrer 
Auslegung fehlgeht °); zur Sicherung derselben dient theils die 


1) Als solche unterstüzende Umstände nennt der-Stoiker bei Cıc. Divin. 
I, 50, 114 ἢ, vgl. 36, 79 ἢ Musik, den Eindruck der Natur in Gebirgen und 
Wäldern, an Flüssen und Meeren, die aus der Erde aufsteigenden Dünste. 
Wenn derselbe aber auch (ebd. 18, 34) Orakel durch’s Loos gelten lassen will, 
so würde es der stoischen Theorie schwer geworden sein, diese anders, als 
etwa auf den S. 318, 4 besprochenen Wegen, zu rechtfertigen. 

2) Cıc. I, 18, 34. 33, 72. 

3) Ebd. I, 56, 127. 

4) Die obengenannten Arten zählt Cıcero I, 11, 26 auf, nachdem er vor- 
her (I, 33 ff.) im Einzelnen ausführlich davon gehandelt hat. Aehnlich Ps. 
Pur. v. Hom. 212; s. o. 319, 7. ὅτοβ. Ekl. II, 238 nennt als Arten der Man- 
tik beispielsweise τό τε ὀνειροχριτιχὸν, χαὶ To οἰωνοσχοπιχὸν, χαὶ θυτιχόν. SEXT, 
Math. IX, 132 sagt: wenn keine Götter wären, so wäre weder die μαντιχὴ, 
noch die θεοληπτιχὴ, ἀστρομαντιχὴ, λογιχὴ (d. ἢ. wohl, wenn das Wort richtig 
ist, die Erklärung der λόγια vgl. Fapıc. z. d. St.), die πρόῤῥησις δι᾿ ὀνείρων. --- 
Eine Theorie der Träume giebt Macro. Somn. Seip. I, 3; wir wissen aber 
nicht, ob und in wie weit Stoisches darin ist. Die Auseinandersetzung über 
die vorbedeutenden Blitze bei Sex. nat. qu. II, 39, 1. 41 ff. unterscheidet er 
selbst ausdrücklich von den Lehren der Philosophen. 

5) Cıc. I, 55, 124. 56, 128 u. ö. 

Philos. ἃ. Gr. III. Bd. 1. Abth. 21 


322 Stoiker. 


Ueberlieferung, welche die Bedeutung jedes Vorzeichens aus viel- 
jähriger Erfahrung feststellt 1), theils ist, wie die Stoiker glauben, 
auch die sittliche Beschaffenheit des Wahrsagers für die kunst- 
mässige so wenig, als für die natürliche Weissagung gleichgültig: 
Reinheit des Herzens ist eine von den wesentlichen Bedingungen 
seines Erfolgs ?). 

So entschieden sich aber auch in dieser Bestimmung der sitt- 
liche Geist der stoischen Frömmigkeit bewährt, und so viele Mühe 
sich andererseits die Stoiker gegeben haben, ihren Weissagungs- 
glauben mit ihrer philosophischen Weltansicht in Einklang zu 
bringen, so klar liegt doch am Tage, dass diess weder bei diesem 
noch bei irgend einem anderen wesentlichen Bestandtheil des 
Volksglaubens auch nur nothdürftig gelingen konnte. Wenn un- 
sere Philosophen sich nichtsdestoweniger an diesem aussichtslosen 
Versuche mit der äussersten Anstrengung abarbeiteten, so beweist 
diess allerdings, wie ernstlich es ihnen um die Versöhnung der 
Philosophie und der Religion zu thun war. Zugleich spricht sich 
aber in diesen Bemühungen auch das Gefühl aus, dass die Wis- 
senschaft, welche mit so kühnem Selbstvertrauen aufgetreten war, 
doch nicht ganz genüge, dass sie der Anlehnung an die religiösen 
Ueberlieferungen, des Glaubens an göttliche Offenbarungen be- 
dürfe; und wir werden nicht fehlgehen, wenn wir es uns gerade 
aus diesem praktischen Bedürfniss erklären, dass Männer von so 
scharfem Verstande, wie Chrysippus, sich selbst über die Grund- 
losigkeit der Wege verblenden konnten, die sie zur Vertheidigung 
haltloser und veralteter Vorstellungen einschlugen. Nur um so 
deutlicher kommt aber hierin theils das Uebergewicht des prakti- 
schen über das wissenschaftliche Interesse im Stoieismus, theils 
seine innere Verwandtschaft mit den Schulen zum Vorschein, 
welche die Wahrheit des Erkennens in Frage stellten, und seine 
Mängel durch eine höhere Offenbarung ergänzen wollten. Die 


1) Ebd. I, 56, 127. 

2) Cıc. I, 53, 121: ut igitur qui se tradet quieti praeparato animo cum 
bonis cogitationibus tum rebus (z. B. die Nahrung; vgl. c. 29, 60. 51, 115) ad 
tranquillitatem accomodatis, certa et vera cernit in somnis: sie castus animus 
purusque vigilantis et ad astrorum et ad avium reliquorumque signorum et ad 
extorum veritatem est paratior. 


Zusammensetzung des Systems. 323 


stoische Lehre von der Divination ist die unmittelbare Vorgänge- 
rin des neupythagoreischen und neuplatonischen ÖOffenbarungs- 
glaubens. Ben 


12. Der innere Zusammenhang und die geschichtliche 
Stellung der stoischen Philosophie. 


Nachdem wir im Bisherigen das stoische System im Einzelnen 
untersucht haben, werden wir jetzt über die innere Anlage des- 
selben, die Bedeutung und das Verhältniss seiner verschiedenen 
Bestandtheile, wie über seine geschichtliche Stellung ein bestimm- 
teres Urtheil fällen können. Sein eigenthümlicher Charakter zeigt 
sich nun vor Allem in den drei Zügen, auf welche auch schon 
beim Beginn dieser Darstellung 1) hingewiesen wurde: in seiner 
vorherrschend praktischen Richtung; in der näheren Bestimmung 
dieser Praxis durch die stoischen Grundsätze über das Gute und 
die Tugend; in ihrer wissenschaftlichen Begründung durch Logik 
und Physik. Die wissenschaftliche Erkenntniss ist den Stoikern, 
wie dort gezeigt wurde, nicht Selbstzweck, sondern nur ein 
Mittel zur Erzeugung des richtigen sittlichen Verhaltens: alle 
philosophische Forschung steht mittelbar oder unmittelbar im 
Dienste der Tugend; und hat auch die Stoa diesen Grundsatz in 
der ersten und dann wieder in der letzten Zeit ihres Bestehens 
mit der grössten Entschiedenheit und Ausschliesslichkeit behaup- 
tet, so haben wir doch gefunden, dass ihn selbst der Haupt- 
vertreter ihrer wissenschaftlichen und gelehrten Bestrebungen, 
Chrysippus, gleichfalls nicht verläugnete. Fragen wir dann wei- 
ter, welches Verhalten das richtige sei, so antworten die Stoiker 
zwar im Allgemeinen: die natur- und vernunftgemässe Thätigkeit, 
oder die Tugend. Näher jedoch liegt darin ein Doppeltes. Die 
Tugend ist Hingebung des Einzelnen an das Ganze, Gehorsam 
gegen das allgemeine Gesetz; sie ist aber ebensosehr auch Ueber- 
einstimmung des Menschen mit sich selbst, Herrschaft seiner hö- 
heren Natur über die niedere, seiner Vernunft über die Affekte, 
Erhebung über alles, was nicht zu seinem wahren Wesen gehört. 
Beide Bestimmungen finden darin ihre Ausgleichung, dass es 


1) 8.46 f. 
21 * 


324 Stoiker. 


eben ein vernünftiges Wesen ist, an welches das Sittengesetz sich 
wendet, dass dieses Gesetz das seiner eigenen Natur ist, und 
durch seine eigene Thätigkeit sich vollbringt. Aber doch lassen " 
sich in der stoischen Ethik deutlich genug zwei Strömungen er- 
kennen, welche nicht ganz selten auch wohl in Collision kommen: 
die Forderung, dass der Einzelne für das Ganze, für die mensch- 
liche Gesellschaft lebe, und die, dass Jeder für sich lebe, sich 
von allem, was nicht er selbst ist, unabhängig mache, sich in 
dem Gefühl seiner Tugend schlechthin befriedige. Die erste von 
diesen Richtungen lehrt den Menschen die Gemeinschaft mit An- 
deren suchen, die zweite setzt ihn in den Stand, sie zu entbehren; 
aus jener gehen die Tugenden der Gerechtigkeit, der Geselligkeit, 
der Menschenliebe hervor, aus dieser die innere Freiheit und 
Glückseligkeit des Tugendhaften; jene gipfelt im Kosmopolitismus, 
diese in der Selbstgenügsamkeit des Weisen. Sofern nun die Tu- 
gend alles umfasst, was von dem Menschen gefordert werden kann, 
hängt seine Glückseligkeit von ihr allein ab: nichts ausser der 
Tugend ist ein Gut, nichts ausser der Schlechtigkeit ein Uebel, 
was mit unserer sittlichen Beschaffenheit nicht zusammenhängt, 
ist uns gleichgültig. Sofern sie sich andererseits auf die mensch- 
liche Natur gründet, steht sie mit allem andern Naturgemässen 
auf Einer Linie, und wenn auch ihr eigenthümlicher Werth nicht 
aufgegeben werden darf, so lässt sich doch nicht verlangen, dass 
wir gegen jenes schlechthin gleichgültig seien, dass es nicht einen 
Werth oder Unwerth für uns habe, und unser Gemüth irgendwie 
in Bewegung setze: die Lehre von den Adiaphoren und die 
Affektlosigkeit des Weisen kommt in’s Schwanken. Sehen wir 
endlich auf die Art, wie die Tugend im Menschen ist, so erhalten 
wir verschiedene Bestimmungen, je nachdem wir dieselbe ihrem 
Wesen oder ihrer Erscheinung nach betrachten. Da die Tugend 
in der vernunftgemässen Thätigkeit besteht, die Vernunft aber nur 
Eine ist, so scheint es, auch die Tugend bilde eine untheilbare 
Einheit, man könne sie daher nur ganz besitzen oder gar nicht; 
und hieraus ergiebt sich der Gegensatz der Weisen und Unweisen 
mit allen den Schroffheiten und Härten, welche wir bei den Stoi- 
kern aus demselben hervorgehen sahen, ganz folgerichtig. Fasst 
man andererseits die Bedingungen in’s Auge, an welche der Er- 
werb und Besitz der Tugend durch die Natur des Menschen ge- 


Zusammenhang des Systems. 325 


knüpft ist, so muss man sich überzeugen, dass der Weise, wie ihn 
die Stoiker schildern, in der wirklichen Erfahrung nicht vor- 
kommt, und man kann sich dem Zugeständniss, dass der Gegen- 
satz von Weisen und Thoren ein viel flüssigerer sei, als es zuerst 
schien, nicht mehr entziehen. Alle Hauptzüge der stoischen Ethik 
lassen sich so aus der Einen Grundbestimmung, dass die ver- 
nünftige Thätigkeit oder die Tugend das einzige Gut sei, unge- 
zwungen ableiten. 

Diese Ethik bedarf aber nicht allein zu ihrer eigenen wissen- 
schaftlichen Begründung einer bestimmten theoretischen Welt- 
ansicht, sondern sie wird auch ihrerseits auf die Richtung und 
die Ergebnisse der theoretischen Untersuchung maassgebend ein- 
wirken. Wird es als die Aufgabe des Menschen erkannt, seine 
Handlungen mit den Gesetzen des Weltganzen in Uebereinstim- 
mung zu bringen, so muss auch verlangt werden, dass er si 
bemühe, die Welt und ihre Gesetze zu erkennen; und je weiter 
diese Erkenntniss fortschreitet, um so höher werden auch die 
Formen des wissenschaftlichen Verfahrens für ihn im Werth stei- 
gen. Wird ferner vom Menschen gefordert, dass er nichts anderes 
sein solle, als ein Werkzeug des allgemeinen Gesetzes, so ist es 
nicht mehr als folgerichtig, wenn für das Universum eine unbe- 
dingte Gesetzmässigkeit alles Geschehens, ein unverbrüchlicher 
Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen vorausgesetzt, ünd 
schliesslich Alles auf Eine höchste, allwirkende Ursache zurück- 
geführt, Alles zu Einer Substanz zusammengefasst wird; hat im 
menschlichen Leben der Einzelne den Gesetzen des Ganzen ge- 
genüber kein Recht, so darf auch im Weltlauf das Einzelne gegen 
die Nothwendigkeit des Ganzen keine Macht haben. Soll anderer- 
seits beim Menschen Alles auf-die Kräftigkeit seines Wollens an- 
kommen, so wird auch im Weltganzen die wirkende Kraft für das 
Höchste und Letzte erklärt werden müssen, und es wird sich so 
jene dynamische Weltansicht ausbilden, in der wir eine von den 
bezeichnendsten und durchgreifendsten Eigenthümlichkeiten der 
stoischen Physik erkannt haben 1). Wird endlich dem praktischen 
Interesse ein so einseitiges Uebergewicht eingeräumt, wie diess 
hier der Fall ist, so wird der Theorie immer jene realistische 


1) Vgl. S. 118 fi. 


326 Stoiker, 


Auffassung der Dinge zunächst liegen, welche in dem stoischen 
Materialismus und Sensualismus einen so schroffen Ausdruck ge- 
funden hat 19; während doch zugleich der Materialismus durch . 
den Gedanken des Weltgesetzes, der Alles durchdringenden gött- 
lichen Kraft und Vernunft, der Sensualismus durch die Forderung 
der Begriffsbildung und durch die umfassende Anwendung des 
demonstrativen Verfahrens überschritten und beschränkt, die Wahr- 
heit unseres Erkennens selbst auf ein praktisches Postulat ge- 
gründet, die grössere oder geringere Sicherheit desselben an der 
Kräftigkeit der subjektiven Ueberzeugung gemessen wird. Lassen 
-sich aber diese verschiedenen Elemente nicht vollständig 'und 
widerspruchslos vereinigen, liegt die dynamische Weltansicht bei 
den Stoikern mit ihrem Materialismus, die logische Methode 
mit ihrem Sensualismus innerlich unverkennbar im Streite, so - 
zeigt sich darin nur um so deutlicher, dass es nicht ein rein 
vissenschaftliches, sondern ein praktisches Motiv ist, welches 
die innerste Wurzel ihres Systems bildet. 

Diess darf nun natürlich nicht so verstanden werden, als ob 
die stoische Schule ihre ethischen Grundsätze zuerst unabhängig 
von ihrer theoretischen Weltansicht ausgebildet und erst nach- 
träglich mit derselben verknüpft hätte. Der Stoicismus als solcher 
entstand vielmehr erst durch diese eigenthümliche Verbindung des 
Praktischen mit dem Theoretischen. Der leitende Gedanke Zeno’s 
liegt in dem Versuche, durch wissenschaftliche Erkenniniss der 
Weltgesetze die Alleinherrschaft der Tugend zu begründen; und 
zum Stifter einer neuen Schule wurde er nur dadurch, dass er 
dem Cynismus jene wissenschaftlichen Ideen und Bestrebungen 
zuführte, mit denen er selbst sich in der Schule eines Polemo, 
Stilpo und Diodor, und in dem Studium der älteren Philosophen 
erfüllt hatte. Diese Elemente sind daher hier nicht blos äusserlich 
verknüpft, sondern sie durchdringen und bedingen sich gegen- 
seitig, und wie wir in der Physik und Erkenntnisstheorie der 
Stoiker den praktischen Standpunkt ihres Systems wahrnehmen 
können, so hat andererseits die eigenthümliche Ausbildung ihrer 
Ethik alle jene Bestimmungen über das Weltganze und die darin 
wirkenden Kräfte zur Voraussetzung, welche den wichtigsten 


1) M. 5. darüber 5. 112 ἢ, 


Zusammenhang des Systems. 327 


Bestandtheil der stoischen Physik bilden. Nur durch diese wissen- 
schaftliche Grundlegung wurde der Stoicismus in den Stand ge- 
setzt, die Einseitigkeit der cynischen Ethik wenigstens in dem 
Maass, in dem er diess wirklich gethan hat, zu verbessern, und 
sich den Bedürfnissen der menschlichen Natur so weit anzube- 
quemen, dass er in's Grosse wirken konnte; nur auf dieser Ver- 
bindung der Ethik mit der Metaphysik beruht jene religiöse Hal- 
tung des stoischen Systems, welcher es einen grossen Theil seiner 
geschichtlichen Bedeutung zu verdanken hat; nur dadurch konnte 
es in einer Zeit, deren wissenschaftliche Kraft zwar im Abnehmen, 
deren wissenschaftliches Interesse aber doch noch sehr lebendig 
war, diese einflussreiche Stellung einnehmen. Aber dass die 
stoische Physik und Metaphysik gerade diese Wendung nahm, dass 
Zeno und seine Nachfolger aus den früheren Systemen, an welche 
sie sich im weitesten Umfang anschlossen, gerade diese und keine 
andern Bestimmungen aufnahmen, und sie in dieser bestimmten 
Richtung fortbildeten, diess werden wir doch in letzter Beziehung 
aus ihrem ethischen Streben herzuleiten haben. Was diesem ver- 
wandt war und es unterstützte, konnten sie sich aneignen, was 
ihm widerstrebte, mussten sie zurückweisen. Ist daher auch das 
stoische System als solches nur durch eine Verbindung ethischer 
und theoretischer Elemente entstanden, in welcher beide durch 
einander näher bestimmt wurden, so ist es doch der ethische Ge- 
sichtspunkt, von dem seine Bildung zunächst ausgieng, und der 
ihren Verlauf und ihre Ergebnisse in erster Stelle beherrschte. 
Um eine genauere Vorstellung über die Entstehung des Stoi- 
eismus, über die Voraussetzungen, durch die sie bedingt, die 
Gründe, von denen sie geleitet war, zu erhalten, müssen wir sein 
Verhältniss zu seinen Vorgängern in’s Auge fassen. Die Stoiker 
selbst führten ihren philosophischen Stammbaum in gerader Linie 
auf Antisthenes, und durch diesen auf Sokrates zurück '). 80 


1) Ist uns auch nicht bekannt, ob Diogenes einer stoischen Quelle folgt, 
wenn er die stoische Schule B. VII unmittelbar an die cynische anknüpft, so 
stammt diese Verknüpfung doch jedenfalls aus einer Zeit, in der man wissen 
musste, wie die Stoiker selbst ihr Verhältniss zu den ‚älteren Schulen auf- 
fassten, und damit stimmt ganz überein, was S. 234, 5 aus Posidonius an- 
geführt ist. So sagt, um Anderer nicht zu erwähnen, Dıos. auch VI, 14 £. 
von Antisthenes: δοχεῖ δὲ χαὶ τῆς ἀνδρωδεστάτης στωϊχῆς χατάρξαι ... οὗτος ἣγή- 
σατο χαὶ τῆς Διογένους ἀπαθείας χαὶ τῆς Κράτητος ἐγχρατείας καὶ τῆς Ζήνωνος χαρ- 


328 Stoiker. 


klar aber auch ihr Zusammenhang mit beiden vorliegt, so ver- 
fehlt wäre es doch, ihre Lehre nur für eine Erneuerung der cy- 
nischen, oder auch der ursprünglich sokratischen zu halten. Von 
beiden hat sie allerdings sehr wesentliche Bestandtheile in sich 
aufgenommen. Cynisch ist die Selbstgenügsamkeit der Tugend, 
die Unterscheidung der Güter, der Uebel und der Adiaphora, die 
idealistische Schilderung des Weisen, die ganze Zurückziehung 
von der Aussenwelt auf das philosophische Selbstbewusstsein und 
die Stärke des sittlichen Willens; cynisch die nominalistische An- 
sicht von den allgemeinen Begriffen, cynisch neben : manchen 
Einzelheiten der Ethik auch in der Religionsphilosophie der Ge- 
gensatz des Einen Gottes gegen die Vielheit der Volksgötter, 
nebst der allegorischen Mythenerklärung ; sokratisch und ceynisch 
ist die Gleichstellung der Tugend mit der Einsicht, die Einheit 
und Lehrbarkeit der Tugend; ächt sokratisch auch die teleologi- 
sche Beweisführung für das Dasein Gottes, überhaupt die teleolo- 
gische Weltbetrachtung und der Vorsehungsglaube der Stoiker Ὁ); 
dass ihre Ethik in der Gleichstellung des Nützlichen und des 
Guten dem Sokrates folgte, ist schon früher bemerkt worden. 
Wie gross aber nichtsdestoweniger der Unterschied, zunächst 
zwischen der stoischen und der cynischen Philosophie ist, diess 
können wir uns am Besten an dem Verhältniss Aristo’s zu der 
übrigen Schule anschaulich -machen. Wenn Aristo nicht allein 
von der Physik und der Dialektik, sondern auch von den speciel- 
leren ethischen Ausführungen nichts wissen wollte, so folgte er 
ganz den Grundsätzen des Antisthenes; wenn er die Einheit der 
Tugend so streng festhielt, dass alle Tugenden in Eine und die- 
selbe zusammenflossen, so hatte auch Jener sich ähnlich geäussert; 
wenn er jeden Werthunterschied unter den sittlich gleichgültigen 
Dingen läugnete, und gerade in dieser Adiaphorie die höchste 
Sittlichkeit sah, so wird diess schon von den Alten für eynisch er- 
klärt ?). Wenn umgekehrt die grosse Mehrzahl der Stoiker die- 


teplas, αὐτὸς ὑποθέμενος τῇ πόλει τὰ θεμέλια, und Juvenar XIII, 121 nennt die 
stoischen Dogmen ὦ eynicis tunica (die gewöhnliche Tracht im Unterschied 
vom Tribon) distantia. 

1) Vgl. Krısche, Forschungen I, 363 f. und oben $. 123, 2. 

2) M. vgl. über Aristo 5, 49 f. 223 ἢ, 240 und dazu Bd. II, a, 206 ἢ. 
214, 6. 221. 


Zusammenhang des Systems. 329 


sen Behauptungen widersprach, so sind eben damit die Punkte 
bezeichnet, an denen der Stoieismus sich vom Cynismus trennte 1). 
Der Cyniker stellt sich in dem Gefühl seiner sittlichen Freiheit, 
seiner unbesiegbaren Willensstärke, der ganzen Welt entgegen; 
er bedarf zu seiner Tugend keiner wissenschaftlichen Erkenntniss 
der Welt und ihrer Gesetze, er nimmt auf nichts, was ausser ihm 
ist, Rücksicht, er gestattet nichts einen Einfluss auf sein Handeln 
und legt nichts einen Werth bei; er bleibt aber ebendesshalb auch 
mit seiner Tugend auf sich selbst beschränkt: sie macht ihn un- 
abhängig von Menschen und Umständen, aber sie hat nicht die 
Kraft und nicht das Interesse, in das menschliche Leben nachhal- 
tig einzugreifen, es mit neuen sittlichen Ideen zu erfüllen. Der 
Stoicismus verlangt zwar gleichfalls, dass die Tugend sich selbst 
genug sei, und er will so wenig, als der Cynismus, irgend etwas 
ausser ihr für ein Gut im strengen Sinn gehalten wissen. Aber 
doch stellt sich der Einzelne der Aussenwelt hier lange nicht so 
schroff entgegen, wie dort. Der Stoiker ist zu gebildet, er weiss 
sich zu sehr als Theil des Weltganzen, um den Werth der wissen- 
schaftlichen Weltbetrachtung zu verkennen, oder die natürlichen 
Bedingungen der sittlichen Thätigkeit als ein Gleichgültiges bei 
Seite zu setzen; was er anstrebt, ist nicht blos das Negative, die 
Unabhängigkeit von allem Aeusseren, sondern ein Positives, das 
naturgemässe Leben, und als naturgemäss betrachtet-er nur das- 
jenige Leben, welches mit den Gesetzen des Weltganzen, wie mit 
denen des menschlichen Wesens, übereinstimmt. Der Stoicismus 
geht daher nicht allein durch seine wissenschaftlichere Haltung 
weit über den Cynismus hinaus, sondern auch seine Sittenlehre 
selbst ist von einem freieren und milderen Geiste erfüllt. Wie 
durchgreifend der Unterschied beider in der ersteren Beziehung 
ist, und wie wenig sich der Stoieismus als philosophisches System 
blos aus dem Cynismus erklären lässt, fällt in die Augen, wenn 
wir z. B. die Grundsätze der Stoiker über die Nothwendigkeit 
und den Werth des wissenschaftlichen Erkennens mit den sophi- 


1) Aristo kann daher nicht mit Krıscnhe Forsch. 411 als der ächteste 
Vertreter des ursprünglichen Stoieismus behandelt werden, er bezeichnet viel- 
mehr nur eine Reaktion des eynischen Elements im Stoieismus gegen die an- 
derweitigen Bestandtheile dieser Philosophie. 


990 Stoiker. 


stischen, alle Wissenschaft aufhebenden Behauptungen des Anti- 
sthenes, die ausgebildete logische Form des stoischen Lehrgebäu- 
des mit dem Rohzustand des cynischen Denkens, die ausgeführten - 
metaphysischen und psychologischen Untersuchungen, die reiche 
Gelehrsamkeit der chrysippischen Schule mit der cynischen Ver- 
achtung aller Theorie und aller gelehrten Forschung zusammen- 
halten. Auch in der Ethik zeigt sich aber der Unterschied der 
beiden Schulen bedeutend genug. Die stoische Moral erkennt den 
äusseren Dingen und Zuständen wenigstens einen bedingten Werth 
oder Unwerth zu, die cynische gar keinen; jene verbietet die ver- 
- nunftwidrige Gemüthserregung, diese alle und jede 1); jene weist 
den Einzelnen an die menschliche Gesellschaft, diese isolirt ihn; 
jene lehrt ein Weltbürgerthum in dem positiven Sinn, dass wir 
uns mit allen Andern zusammengehörig fühlen sollen, diese nur 
in dem negativen der Gleichgültigkeit gegen Vaterland und Hei- 
math; jene erhält durch das lebendige Bewusstsein vom Zusam- 
menhang des Menschen mit dem Weltganzen ein pantheistisch- 
religiöses, durch ihre Anlehnung an die positive Religion ein 
theologisch beschränktes Gepräge, diese durch die Befreiung des 
Weisen von den Vorurtheilen des Volksglaubens, um die es ihr 
ausschliesslich zu thun ist, einem freigeisterischen Charakter. Der 
Stoicismus hat in allen diesen Beziehungen den ursprünglichen 
Geist der sokratischen Philosophie reiner bewahrt, als der Cynis- 
mus, der sie zum Zerrbild übertrieb. Aber doch weicht er auch 
von ihr nach zwei Seiten hin ab. In theoretischer Beziehung hat 
die stoische Lehre einestheils eine systematische Form und Aus- 
breitung erhalten, wie sie Sokrates nicht anstrebte, und sie hat 
namentlich in der Physik ein Feld bearbeitet, welchem dieser sich 
grundsätzlich ferne hielt, so lebhaft dann auch wieder ihr Vor- 
sehungsglaube und ihre teleologische Naturbetrachtung an ihn er- 
innert. Anderntheils ist aber das wissenschaftliche Interesse bei 
Sokrates, trotz seiner materiellen Beschränkung auf die Ethik, 
doch ursprünglicher und stärker, als bei den Stoikern, welche die 
wissenschaftliche Forschung ausdrücklich nur als ein Mittel für 
die Lösung der sittlichen Aufgaben bezeichnen, und es konnte 
sich desshalb an den sokratischen Grundsatz des begriflichen 


1) M. 5. hierüber S. 247. 


Zusammenhang des Systems. 331 


Wissens, wie einfach er auch lautet, eine so reiche Entwicklung 
der Spekulation anschliessen, dass alles, was die Stoiker in dieser 
Beziehung geleistet haben, doch nur als ein Bruchtheil dessen er- 
scheint, wozu Sokrates den Anstoss gegeben hat. Die stoische 
Ethik ist nicht blos ungleich entwickelter und weit sorgfältiger 
in's Einzelne ausgeführt, als die sokratische, sondern sie zeigt 
sich darin auch strenger, dass sie den Grundsatz, die Tugend al- 
lein für ein unbedingtes Gut gelten zu lassen, rücksichtslos fest- 
hält, ohne der gewöhnlichen Denkweise Zugeständnisse zu ma- 
chen, wie sie ihr Sokrates mit seiner eudämonistischen Begrün- 
dung der Sittenlehre gemacht hatte. Dafür ist sie aber auch, wie 
sich nicht verkennen lässt, von der Freiheit und Heiterkeit der 
sokratischen Lebensansicht weit entfernt, und wenn sie die 
Schroffheiten des Cynismus immerhin sehr erheblich gemildert 
hat, so hat sie doch seine obersten Grundsätze sich viel zu voll- 
ständig angeeignet, um nicht auch von seinen Folgerungen einen 
grossen Theil auf sich nehmen zu müssen. 

Fragen wir nun, inwiefern die Stoiker von anderer Seite zu 
dieser Umbildung und Erweiterung des sokratischen Standpunkts 
veranlasst werden konnten, so haben wir für die praktische Ten- 
denz ihres Systems neben der allgemeinen Richtung der nach- 
aristotelischen Philosophie nur an den Vorgang des Cynismus zu 
denken; seine theoretische Ausbildung dagegen knüpft zunächst 
theils an die Megariker, theils an Heraklit an. Auf jene weist der 
persönliche Zusammenhang Zeno’s mit Stilpo; .auf diesen der Um- 
stand, dass die Stoiker selbst ihre Physik von Heraklit herleiteten, 
und in Commentaren zu dem Werke dieses Philosophen vortru- 
gen 1). Der megarische Einfluss ist jedoch schwerlich sehr hoch 
anzuschlagen. Zeno mochte immerhin von dieser Seite her einen 


1) Zeno’s Bekanntschaft mit Heraklit ergiebt sich, auch abgesehen von 
dem Zeugniss des Νυμεχιῦβ b. Euvs. pr. ev. XIV, 5, 10, dem an sich kein 
grosser Werth beizulegen sein dürfte, aus der Thatsache, dass nicht allein 
die Ethik, sondern auch die Physik der stoischen Schule von ihm begründet 
wurde (vgl. 8. 31, 3. 52, 1.2. 107,1. 119, 5. 122,4. 123,1. 2. 124,4. 127. 
129, 1 u. A.). Von Kleanthes nennt Dıoc. VII, 174. IX, 15, von Aristo der- 
selbe IX, 5, von Sphärus VII, 178. IX, 15 eigene Schriften über Heraklit, 
von Chrysippus sagt Ρηχρεῦβ (Philodem.) Fragm. col. 4, er habe die alten 
Mythen auf heraklitische Lehren zurückgeführt, 


332 Stoiker. 


Anstoss zu der dialektischen Richtung erhalten haben, welche 
schon bei ihm in der Vorliebe für gedrängte, scharf zugespitzte 
Syllogismen hervortritt 17): indessen bedurfte es dazu in der nach- 
aristotelischen Zeit der Megariker nicht mehr, und so wird auch 
der grösste Dialektiker der Schule, Chrysippus, nicht allein in 
keinen persönlichen Zusammenhang mit jenen gebracht, sondern 
er erscheint auch in seiner Logik unverkennbar zunächst als der 
Fortsetzer des Aristoteles. Ungleich grösser und allgemein an- 
erkannt ist die Bedeutung, welche die Lehren des alten ephesi- 
schen Naturphilosophen für die Stoiker gewannen. Ein System, 
welches die Unterordnung alles Besonderen unter das Gesetz des 
Ganzen so stark betonte, welches aus dem Fluss aller Dinge nur 
die allgemeine Vernunft als das Ewige und Sichselbstgleiche her- 
aushob — ein ihnen so verwandtes System musste sich den Stoi- 
kern zu sehr empfehlen, als dass sie nicht an dasselbe anzuknüpfen 
versucht hätten, und wenn uns vielleicht der hylozoistische Mate- 
rialismus dieser Lehre zurückschrecken würde, so haben wir doch 
schon früher gesehen, dass gerade hierin für die Stoiker ein 
weiterer Anziehungspunkt liegen musste. Es giebt daher ausser 
der Dreizahl der Elemente kaum irgend einen Zug der herakli- 
tischen Physik, welchen sich die Stoiker. nicht angeeignet hätten: 
das Feuer oder der Aether als Urstoff, die Einheit dieses Stoffes 
mit der allgemeinen Vernunft, dem Weltgesetz, dem Verhängniss, 
der Gottheit, der Fluss aller Dinge, die stufenweise Umwandlung 
des Urstoffs in die Elemente und der Elemente in den Urstoff, der 
regelmässige Wechsel von Weltbildung und Weltverbrennung, die 
Einheit und Ewigkeit des Weltganzen, die Beschreibung der Seele 
als feurigen Hauchs, die Identität des Gemüths mit dem Dämon, 
die unbedingte Herrschaft des allgemeinen Gesetzes über den 
Einzelnen, diese und manche andere zunächst aus Heraklit ent- 
nommene Bestimmungen des stoischen Systems ?) beweisen zur 
Genüge, wie viel dieses seinem Vorgänger zu verdanken hat. 


1) Beispiele sind uns öfters vorgekommen; so $. 122, 4. 123, 1. 2. 198, 1; 
vgl. auch Sen. ep. 83, 9. 

2) Ausser meteorologischen und sonstigen naturwissenschaftlichen Ein- 
zelheiten, welche die Stoiker von Heraklit entlehnt haben mögen, gehört 
hieher auch Heraklit’s Stellung zur Volksreligion (8. Bd. I, 490 £.). 


Verhältniss zu Früheren. 333 


Doch dürfen wir nicht übersehen, dass weder seine dialektische 
Form bei Heraklit eine Analogie hat, noch sein ethischer Kern 
sich auf die wenigen und unentwickelten Andeutungen dieses 
Philosophen zurückführen lässt, während andererseits die Physik 
für die Stoiker, bei aller ihrer Wichtigkeit, doch in letzter Be- 
ziehung blosse Hülfswissenschaft der Ethik ist, und die Anleh- 
nung an Heraklit an und für sich schon ihre untergeordnete Be- 
deutung und den Mangel eines selbständigen Interesses für dieses 
Gebiet beweist. Auch das aber ist unverkennbar, dass die Stoiker 
selbst in .der Physik nur theilweise Heraklit folgen, und dass 
wirklich heraklitische Sätze im Zusammenhang ihrer Lehre nicht 
selten eine veränderte Bedeutung erhalten. Um untergeordnete 
Differenzen zu übergehen, so ist die stoische Naturlehre nicht 
blos informeller Beziehung viel ausgebildeter und hinsichtlich ihres 
Umfangs viel reichhaltiger als die heraklitische, sondern auch die 
ganze Weltansicht des späteren Systems ist mit dem des früheren 
gar nicht so ‚unmiltelbar identisch, als man wohl glauben möchte. 
Der Fluss aller Dinge, welchen die Stoiker mit Heraklit lehren 1), 
hat für sie lange nicht die durchgreifende Bedeutung, wie für 
jenen; denn wenn auch die Materie des Weltganzen in immer 
neue Formen übergeht, ist sie ihnen doch zugleich das bleibende 
Substrat und Wesen der Dinge 5). und ebenso behandeln sie auch 
die Einzelsubstanzen als etwas körperlich Beharrendes °). ‚Von 
dem Stoff unterscheiden sie ferner das wirkende Princip, die Ver- 
nunft oder die Gottheit, weit bestimmter, als Heraklit, und sie 
lassen den gleichen Unterschied in der Zweiheit von Substrat und 
Eigenschaft auch in die einzelnen Dinge sich fortsetzen. Dadurch 
ist es ihnen nun möglich gemacht, die Vernunft in der Welt, im 
Unterschied von der blossen blindwirkenden Naturkraft, viel 
schärfer hervorzuheben, als ihr Vorgänger; während sich daher 
dieser, so viel wir wissen, auf die physikalische Naturbetrachtung, 
die Beschreibung der elementarischen und meteorologischen Pro- 


1) Vgl. S. 86. 

2) Vgl. 8. 85, 2.3. 5. 118, 2. 

8) Als Beispiel dieses Unterschieds mag der heraklitische Satz von dem 
täglichen Erlöschen der Sonne dienen, von dem Jedermann zugeben wird, 
dass er im stoischen System nicht wohl möglich war. 


334 Stoiker. 


cesse, beschränkte hatte, so trägt die stoische Physik einen we- 
sentlich teleologischen Charakter, sie findet in der Beziehung der 
ganzen Welteinrichtung auf den Menschen ihr Ziel, und sie hat 
diesen Gesichtspunkt sogar sehr einseitig, und mit Vernachlässi- 
gung der eigentlichen Naturforschung, verfolgt. Aus diesem 
Grunde hat auch die Idee der allwaltenden Vernunft oder des all- 
gemeinen Gesetzes bei beiden nicht ganz den gleichen Inhalt: 
Heraklit erkennt diese Vernunft zunächst und hauptsächlich in der 
gleichmässigen Aufeinanderfolge der Naturerscheinungen, in der 
Regelmässigkeit des Verlaufs, durch welchen jeder einzelnen Er- 
scheinung ihre Stelle im Ganzen, ihr Umfang und ihre Dauer be- 
stimmt ist, überhaupt in der Unveränderlichkeit des Naturzusam- 
menhangs; die Stoiker schliessen bei ihren Beweisen für das 
Dasein der Gottheit und das Walten der Vorsehung diese Seite 
zwar nicht aus, aber den Hauptnachdruck legen sie doch immer 
auf die Zweckmässigkeit der Welteinrichtung. Die weltregierende 
Vernunft erscheint daher bei jenem mehr als Naturkraft, bei die- 
sen als zwecksetzende Intelligenz; für Heraklit ist die Natur das 
Höchste, der Gegenstand eines selbständigen und unbedingten 
Interesses, und darum auch das unendliche Wesen nichts anderes, 
als die weltbildende Kraft; die Stoiker betrachten die Natur vom 
Standpunkt des Menschen aus, als Mittel für das Wohl und die 
Thätigkeit des Menschen, ihre Gottheit wirkt daher auch in der 
Natur nicht als blosse Naturkraft, sondern wesentlich als die Weis- 
heit, welche für das Wohl des Menschen sorgt: der höchste Be- 
griff des heraklitischen Systems ist der der Natur oder des Ver- 
hängnisses; das stoische hat diesen zwar ebenfalls aufgenommen, 
aber es hat ihn zugleich zu der höheren Idee der Vorsehung fort- 
gebildet. 

Wir werden nicht fehlgehen, wenn wir diese Umbildung der 
heraklitischen Physik bei den Stoikern neben dem Einfluss der 
sokratisch -platonischen Teleologie vor Allem aus der aristoteli- 
schen Philosophie herleiten. Ihr gehört die Vorstellung von der 
eigenschaftslosen Materie nebst der Unterscheidung des stoflichen 
und des formenden Prineips ursprünglich an; sie hat die teleolo- 
gische Betrachtungsweise umfassender, als irgend ein anderes 
System, auf die Naturwissenschaft angewendet; und wenn aller- 
dings die äusserliche Fassung dieser Teleologie eher an die 


Verhältniss zu Früheren. 335 
populär-theologischen Reden des Sokrates oder auch an Plato er- 
innert, als an Aristoteles, so ist dagegen der stoische Begriff der 
zweckmässig bildenden Naturkraft, wie ihn namentlich die Vor- 
stellung von dem künstlerischen Feuer und den λόγοι σπερματιχοὶ 
enthält, wesentlich aristotelisch. Ja auch solche Bestimmungen, 
die in theilweisem Gegensatz gegen Aristoteles aufgestellt sind, 
knüpfen doch wieder an ihn an: so wird der Aether als besonde- 
rer, von den vier Elementen verschiedener Körper geläugnet, 
aber der Sache nach unter dem Namen des künstlerischen Feuers 
wieder eingeführt; so wird der peripatetischen Lehre von der 
Entstehung der vernünftigen Seele durch den stoischen Traducia- 
nismus widersprochen, aber auch dieser lehnt sich an den aristo- 
telischen Satz 1) an, dass der Keim der thierischen Seele in der 
vom Samen umschlossenen warmen Luft (rvsöux, wie bei den 
Stoikern) liege, welche Aristoteles ganz ebenso vom Feuer unter- 
scheidet, wie Zeno und Kleanthes die beiden Arten des Feuers 
unterschieden haben. Selbst die entschiedenste Abweichung von 
der aristotelischen Lehre, die Verwandlung der menschlichen 
Seele und des göttlichen Geistes in einen Körper, konnte sich an 
Aristotelisches anschliessen, wie ihr ja aus diesem Grund auch die 
peripatetische Schule auf halbem Wege entgegenkommt ?): wenn 
Aristoteles den Aether als den göttlichsten Körper, die aus ihm 
gebildeten Gestirne als göttliche und selige Wesen beschrieb, 
wenn er die wirkenden und bewegenden Kräfte von den himm- 
lischen Sphären zu der irdischen herabsteigen liess ?), wenn er 
auch den Seelenkeim, nach dem eben Bemerkten, in einem äthe- 
rischen Stoff suchte, so mochten Andere hieran um so eher mate- 
rialistische Vorstellungen anknüpfen, je schwerer es ist, sich den 
ausserweltlichen Verstand des Aristoteles zu denken, der selbst 
unkörperlich sich mit der Körperwelt berühren und sie um- 
schliessen soll, und in der menschlichen Seele die persönliche 
Lebenseinheit mit dem jenseitigen Ursprung der Vernunft zu ver- 
einigen. Noch unmittelbarer hatte die aristotelische Theorie über 
die Entstehung der Vorstellungen und Begriffe der stoischen vor- 

1) Bd. II, b, 374, 2. 
2) M.s. a. a. O. 8. 717. 719. 732. 742 ἢ. 
3) A. a. 0. 5. 332. 348 f. 356 f. 360, 


336 Stoiker. 


gearbeitet; die Stoiker thaten hier kaum etwas anderes, als dass 
sie, ihrem Standpunkt gemäss, wegliessen, was ihr Vorgänger 
über den ursprünglichen Besitz und die unmittelbare Erkenntniss - 
der Wahrheit durch die Vernunft gesagt hatte. Wie enge sich die 
formale Logik der Stoiker an Aristoteles hält, ist schon früher 
gezeigt worden; sie haben hier nur auf aristotelischer Grundlage 
fortgebaut, und selbst ihre Zuthaten betreffen mehr die Grammatik, 
als die eigentliche Logik. Am Geringsten erscheint der materielle 
Einfluss der peripatetischen Lehre auf die stoische in der Ethik, 
in welcher die Schroffheit des stoischen Tugendbegriffs, die gänz- 
“liche Unterdrückung der Affekte, die unbedingte Ausschliessung 
alles Aeusseren aus dem Kreise der sittlichen Güter, die dualisti- 
sche Trennung der Weisen und der Thoren, die Polemik gegen 
das blos theoretische Leben mit der Behutsamkeit und Allseitig- 
keit der aristotelischen Sittenlehre, mit ihrer sorgsamen Beachtung 
der allgemeinen Meinung und der praktischen Ausführbarkeit, mit 
ihrer Anerkennung des Sittlichen in allen Formen auf der einen, 
mit ihrer Anpreisung der rein theoretischen Thätigkeit auf der 
andern Seite auffallend contrastirt. Hier ist es daher wohl haupt- 
sächlich die formelle Behandlung der ethischen Stoffe, und na- 
mentlich die psychologische Analyse der einzelnen sittlichen 
Thätigkeiten, für welche die Stoiker von Aristoteles gelernt ha- 
ben. Dagegen werden wir gerade in diesem Gebiete die Spuren 
des Unterrichts, welchen Zeno bei Polemo und vielleicht auch 
noch bei Xenokrates genossen hatte, vorzugsweise zu suchen ha- 
ben. Der speculative Theil der platonischen Lehre konnte für 
solche Sensualisten und Materialisten, wie die Stoiker, weder in 
seiner ursprünglichen Gestalt, noch in der pythagoraisirenden 
Fassung der älteren Akademie grossen Reiz haben; dagegen 
musste sie am Platonismus die sokratische Begründung der Tu- 
gend durch das Wissen, die verhältnissmässige Geringschätzung 
der äusseren Güter, die Flucht aus der Sinnlichkeit, der Schwung 
und die Reinheit des sittlichen Idealismus, an der älteren Aka- 
demie noch besonders die Forderung des naturgemässen Lebens, 
die Lehre von der Selbstgenügsamkeit der Tugend, und die zu- 
nehmende Beschränkung der Philosophie auf die praktischen Fra- 
gen ansprechen. Findet auch jene durchgängige Uebereinstim- 
mung der stoischen‘und der akademischen Moral, welche spätere 


Verhältniss zu Früheren. 337 


Eklektiker behaupteten 1), allerdings nicht statt, so scheint doch 
die Stoa von dieser Seite her Anregungen erhalten und Elemente 
in sich aufgenommen zu haben, welche sie in ihrem entschiede- 
neren Geiste weiter verfolgte. So gehört namentlich der Grund- 
satz des naturgemässen Lebens ursprünglich der Akademie an, 
wennihn auch die Stoiker eigenthümlich und theilweise abweichend 
auffassten. Neben den ethischen Lehren mag auch die Stellung, 
welche sich die alte Akademie zur positiven Religion gab, auf die 
Orthodoxie der Stoiker Einfluss gehabt haben; der entschiedenste 
Vertreter der letzteren, Kleanthes, ist in seinem ganzen philoso- 
phischen Charakter ein Gegenbild des Xenokrates. Die neuere 
Akademie, in ihrem Ursprung jünger als der Stoicismus, hat zwar 
durch Chrysippus nicht unbedeutend auf diesen eingewirkt; doch 
zunächst nur indirekt, sofern sie die Stoiker durch ihren dialek- 
tischen Widerspruch nöthigte, auch ihrerseits die dialektische Be- 
gründung, und ebendamit auch die systematischere ‚Ausführung 
ihrer Lehren zu versuchen 329. Aehnlich scheint es sich in der 
Ethik mit dem Epikureismus zu verhalten: dieser Gegensatz trug 
ohne Zweifel wesentlich dazu bei, der stoischen Sittenlehre ihre 
Strenge und Schroffheit zu erhalten, wogegen wir nicht bestim- 
men können, ob er in derselben Weise auch schon auf ihre Ent- 
stehung Einfluss gehabt hat. 

Mit Hülfe dieser Bemerkungen werden wir uns nun den 
Stoicismus geschichtlich ausreichend erklären können. Einer sitt- 
lich verweichlichten und politisch gedrückten Zeit angehörig, 
fasste Zeno den Gedanken, sich selbst und alle, die ihm zu folgen 
vermöchten, von der Entartung und dem Druck dieser Zeit durch 
eine Philosophie zu befreien, welche dem Menschen durch Rein- 
heil und Stärke des sittlichen Willens Unabhängigkeit von allem 
Aeusseren und ungestörte innere Befriedigung verschaffen sollte. 
Dass sein Streben diese praktische Richtung nahm, dass er sich 
nicht das Wissen als solches, sondern wesentlich nur die sittliche 
Wirkung des Wissens zum Ziel setzte, diess mag man zunächst 
aus dem persönlichen Charakter des Philosophen, weiterhin aus 


1) So namentlich Antiochus und auch Cicero in manchen Stellen, s. o. 
30, 2 und den Abschnitt über Antiochus. 
2) Vgl. 8. 37, 8. 4. 
Philos. ἃ, Gr. III. B. 1. Abth. 22 


398 Stoiker. 


den allgemeinen Verhältnissen einer Zeit erklären, welche gerade 
auf edleren und ernsteren Naturen zu schwer lasten musste, um 
sie nicht statt der interesselosen Betrachtung zu Kampf und Wider- 
stand herauszufordern, während doch das Verhängniss der mace- 
donischen, dann der römischen Gewaltherrschaft zu unwidersteh- 
lich wirkte, um dem äusseren Kampf eine Aussicht offen zu lassen. 
Nur darf man nicht übersehen, dass auch die Philosophie selbst, 
nach dem früher Bemerkten, auf einem Punkt angelangt war, auf 
dem sie für die theoretischen Aufgaben keine befriedigende Lö- 
sung mehr zu finden wusste, und sich desshalb naturgemäss der 
praktischen Seite zuwandte. In diesem Tugendstreben musste 
sich nun Zeno zunächst von derjenigen Philosophie angezogen 
finden, welche eine verwandte Richtung mit der grössten Ent- 
schiedenheit ausgebildet hatte, von der cynischen und der für ihn 
ohne Zweifel mit dem Cynismus identischen 1) altsokratischen ; 
zugleich aber um einen positiveren Inhalt und eine wissenschaft- 
lichere Begründung der Tugend bemüht, suchte er sich auch aus 
allen übrigen Systemen anzueignen, was mit der ursprünglichen 
Anlage seines Denkens übereinstimmte, und mittelst dieser all- 
seitigen Benützung der bisherigen Leistungen, den Blick fort- 
während auf das praktische Endziel der Philosophie gerichtet, ein 
neues umfassenderes Ganzes zu gestalten, dessen Ausbau in der 
Folge Chrysippus vollendet hat. In formeller Beziehung hatte 
dieses System der peripatetischen Philosophie weit am Meisten zu 
verdanken; seinem materiellen Inhalt nach lehnte es sich, aus den 
früher erörterten Gründen, nächst dem Cynismus am Unmittelbar- 
sten an Heraklit an; aber so wenig die stoische Moral mit der 
eynischen, ebensowenig fällt die stoische Physik mit der herakliti- 
schen durchaus zusammen, und wenn die Abweichung von beiden 
zunächst allerdings durch das stoische Prineip selbst bestimmt ist, so 
ist doch weiterhin auf die Physik und Metaphysik die peripatetische, 
auf die Ethik die akademische Lehre von unverkennbarem Ein- 


1) Hierauf. weist auch die Erzählung b. Dıoc. VI, 3, dass Zeno zuerst 
durch die xenophontischen Denkwürdigkeiten für die Philosophie gewonnen, 
und auf die Frage nach einem Vertreter dieser Denkweise an Krates gewiesen 
worden sei. Auch nach dem, was ὃ. 234, 5. 327, 1 angeführt ist, wurden die 
Cyniker in der stoischen Schule als die ächten Sokratiker betrachtet. 


,Ἅ 


Geschichtliche Stellung des Stoieismus, 339 


fluss. Der Stoicismus erscheint so weder blos als eine Fortsetzung 
des Cynismus, noch als eine einzeln stehende Neuerung, sondern 
er hat ebenso, wie jede epochemachende Gestalt des Denkens, 
das Frühere in sich verarbeitet, um ein Neues zu begründen, und 
wie viel Schönes und Inhaltreiches er auch hiebei zur Seite liegen 
liess, so hat er doch alles das in sich aufgenommen, wovon er 
für die neue Wendung Gebrauch machen konnte, die nun eben in 
der Entwicklung des griechischen Denkens an der Reihe war. 
Auch das lag aber freilich in der Zeit, dass die-Vielseitigkeit 
eines Plato und Aristoteles nicht mehr zu erreichen war. Der Stoi- 
eismus ist derselben näher gekommen, als irgend ein anderes von 
den nacharistotelischen Systemen; aber in seiner praktischen Auf- 
fassung der Philosophie, in seinem Sensualismus und Materialis- 
mus, in der idealistischen Selbstgenügsamkeit, welche den Weisen 
über alle Schwächen und Bedürfnisse der menschlichen Natur 
hinaushebt, in dem Kosmopolitismus, der das politische Interesse 
zurückdrängt, und in so manchen anderen Zügen drückt auch er 
den Charakter einer Zeit aus, in welcher der Sinn für die rein- 
wissenschaftliche Forschung und die Freudigkeit des praktischen 
Schaffens gebrochen war, dafür aber im Zusammensturz der Ein- 
zelstaaten und ihrer Freiheit die Idee der Menschheit zu lebendi- 
gerer Anerkennung gelangte. In dieser Zeit hat der Stoicismus 
die sittlichen und religiösen Ueberzeugungen auf’s Kräftigste ver- 
treten; aber auch hiebei wusste er sich von Einseitigkeit und 
Uebertreibung nicht freizuhalten. Der Mensch soll durch sittliches 
Wollen und durch vernünftige Einsicht frei und glücklich werden. 
Aber dieser Gedanke wird hier mit solcher Schroffheit verfolgt, 
dass die natürlichen Bedingungen des menschlichen Daseins und 
die Rechte der Individualität zu kurz kommen. Der Mensch wird 
nur als Organ des allgemeinen Gesetzes betrachtet, und so wenig 
ihm die stoische Physik, dem Weltlauf gegenüber, eine Freiheit 
des Wollens übrig lässt, ebensowenig lässt ihm die stoische Ethik, 
der Pflicht gegenüber, eine Freiheit des Handelns; sie kennt nur 
die gemeinsame sittliche Verpflichtung, das Recht des Ein- 
zelnen, seiner Eigenthümlichkeit gemäss zu handeln und sich 
zu entwickeln, ist für sie so gut wie gar nicht vorhanden. 
So wenig aber der Einzelne hier zu bedeuten hat, so hoch 
ist doch die Stellung, welche das Menschengeschlecht in der 
22 * 


340 Stoiker. 


Welt einnimmt; der Einzelne soll sich dem Gesetz des Ganzen 
unterordnen, aber das Weltganze wird in der teleologischen Na- 
turbetrachtung, dem Vorsehungs- und Weissagungsglauben der 
Stoiker in einer Weise auf die Zwecke des Menschen bezogen, 
gegen welche die strengere Forschung allerdings viel einzuwen- 
den hätte. In beiden Beziehungen tritt der Epikureismus dem 
Stoicismus auf’s Entschiedenste entgegen, während er in der all- 
gemeinen Richtung auf eine Lebensphilosophie , welche den Men- 
schen von allem Aeusseren unabhängig und in sich selbst glück- 
selig machen soll, mit ihm übereinstimmt. 


Epikureer. 341 


B. Die epikureische Philosophie. 


1. Epikur und seine Schule ἢ). 


Epikur, der Sohn des Atheners Neokles ?), war in Samos °) 
im J. 341/2 v. Chr. geboren 3). Seine Jugendbildung scheint un- 
genügend °), seine Kenntniss der früheren Philosophen nicht sehr 
gründlich gewesen zu sein, als er selbst in der Rolle des Lehrers 


1) M. vgl. zum Folgenden, und zu diesem ganzen Abschnitt, die werth- 
volle Abhandlung von StEısHart in Ersch und Gruber’s Eneyklopädie Sect. I, 
Bd. 35, S. 459— 477. 

2) Dıos. X, 1 u. A. Als Athener, und zwar aus dem Demos Gargettos, 
wird er häufig bezeichnet: Dioc. a. a. Ὁ. Lucker. Nat. rer. VI, 1 ff. Cıc. ad 
Fam. XV, 16. Aerıan V.H.IV, 13 u ὃ. 

3) Dıog. 1. Sıraso XIV, 1, 18. 5. 638. Sein Vater war nach diesen 
Stellen und Cıc. N. D. I, 26, 72 als Kleruche dorthin gezogen. Dass diess 
schon vor seiner Geburt geschehen war, zeigt STEINHART S. 461. 

4) Arotrnovor b. Diog. X, 14, welcher als Epikur’s Geburtstag den 
7ten Gamelion Ol. 109, 3 nennt. Gefeiert wurde er (Epikur’s Testament, Dıoe. 
18): τῇ προτέρα δεχάτη τοῦ Γαμηλιῶνος. Da der Gamelion der siebente Monat 
des attischen Jahrs ist, so muss Epikur’s Geburt in den Anfang des Jahrs 
341 v. Chr. oder die letzten Tage des vorangehenden Jahrs fallen. 

5) Sein Vater war nach Srraso a. a. Ὁ. Cıc. a. a. O. Schullehrer (γραμ- 
ματοδιδάσχαλος), und er hatte ihn darin unterstützt (Herwıreus u. Tımox b. 
Dıos. 2 f. Arues. XIII, 588, a); seine Mutter soll mit Hersagen von mysti- 
schen Sprüchen (χαθαρμοὶ) Geld verdient, und er selbst sich bei diesem Ge- 
werbe betheiligt haben (Dıoc. 4). Mag aber auch der letzteren, offenbar aus 
feindseliger Quelle geflossenen Nachricht kein Werth beizulegen sein, so 
waren doch Epikur’s Verhältnisse in seiner Jugend einer gründlichen wissen- 
schaftlichen Ausbildung Allem nach nicht günstig. Dass dieselbe mangelhaft 
war, müssten wir, zumal bei einem Manne, dessen Urtheil so subjektiv-ist, 
schon aus den abschätzigen Aeusserungen über gelehrte Bildung abnehmen, 
die uns noch begegnen werden; es wird aber auch ausdrücklich versichert; 
Sexr. Math. I, 1: ἐν πολλοῖς γὰρ ἀμαθὴς ’Erlxoupos ἐλέγχεται, οὐδὲ ἐν ταῖς κοιναῖς 
ὁμιλίαις (im sprachlichen Ausdruck; vgl. den Dıioc. 4. 13 erwähnten Tadel 
des Dionys von Halikarnass und des Aristophanes) χαθαρεύων. Cıc. Fin. I, 7, 
26: vellem equidem, aut ipse docirinis fwisset instructior — est enim ... non 
satis politus üs artibus, quas qui tenent erudili appellantur — aut ne deter- 
ruisset alios a studiis. Arues. XIII, 588, a: ἐγχυχλίου παιδείας ἀμύητος ὦν. 


942 ν Epikureer. 


auftrat: doch war er schwerlich so ganz Autodidakt, wie er diess 
später sein wollte: es werden uns wenigstens die Männer genannt, 
welche ihn schon frühe nicht allein in die demokritische, sondern 
auch in die platonische Philosophie eingeführt hatten 1); und steht 
es auch keineswegs sicher, dass er in der Folge, bei einem Be- 
such in Athen ?), Xenokrates gehört hat ?), so lässt sich doch 
seine Bekanntschaft mit den Schriften der Philosophen, von denen 
er wichtige Theile seiner Lehre entlehnt hat, wie vor Allem 
Demokrit’s %), nicht bezweifeln. Nachdem er schon in einigen 


1) Nach seiner eigenen Aussage (Dıoc. 2) war er erst 14 (Sum. 'Erix. 
sagt: 12) Jahre alt, als er anfieng zu philosophiren, d. ἢ. über philosophische 
Fragen (angeblich aus Anlass der hesiodischen Verse über das Chaos) über- 
"haupt nachzudenken. Später rühmte er sich, dass er das, was er war, ohne 
Lehrer durch sich seibst geworden sei, und wollte auch seinen nachweis- 
lichen Lehrern nichts zu verdanken haben (Cıc. N. D. I, 26, 72 ἔ, 33, 93. 
Sexr. Math. I, 2 ff., der einige seiner Schmähreden über Nausiphanes anführt. 
Diog. 8. 13. Pur. n. p. suav. v. 18, 4. vgl. auch Srn. ep. 52, 3.) Indessen 
steht es ausser Zweifel, dass er in seiner Jugend den Unterricht des Plato- 
nikers Pamphilus und jenes Nausiphanes genossen hatte, welcher bald Demo- 
kriteer bald Pyrrhoneer genannt wird (m. s. darüber Cıc. u. Sexr. a. ἃ. a. Ὁ. 
Dıoc. X, 8. 13. 14. IX, 64. 69. prooem. 15. Sum. 'Erix. Kress. Strom. I, 
301,D. Vgl. Bd. I, 662, 4). Zwei weitere angebliche Lehrer Epikur’s, Nausi- 
kydes (Dıoe. prooem. 15) und Praxiphanes (ebd. X, 13), sehen fast aus, als 
ob sie beide durch Theilung und Verdoppelung aus Nausiphanes entstanden 
wären. 

2) Wohin er nach Heraklides Lembus b. Dıoc. 1 in seinem 18ten Jahr 
kam. Vgl. Srtraso a. a. O: τραφῆναί φασιν ἐνθάδε (in Samos) καὶ ἐν Τέῳ καὶ 
ἐφηβεῦσαι ᾿Αθήνησι. 

3) Nach Cıc. ἃ. ἃ. O. läugnete er es, während Andere es behaupteten; 
zu den Letzteren gehört Demetrius aus Magnesia b. Dıoe. 13. 

4) Demokrit soll ihn nach Hermippus (D. 2) zuerst bestimmt haben, sich 
der Philosophie zu widmen; doch ist diess wohl blosse Vermuthung. Neben 
Demokrit wird bei Dıos. 4 Aristippus als ein solcher genannt, dessen Lehre 
er sich angeeignet habe. Epikur selbst soll sich auch über Demokrit ab- 
schätzig geäussert haben (Cıc. N. D. I, 33, 93. Dıoc. 8), und durch Dioe. 9 
wird diese Angabe nicht widerlegt; wahrscheinlich ist sie aber auf verein- 
zelten Tadel zu beschränken, der immerhin (wie ihm Prur.n. p. suav. v. 18,5 
vorwirft) rechthaberisch gewesen sein kann, oder es wird auf Epikur über- 
getragen, was nur von Epikureern, wie Kolotes (vgl. Prur. adv. Col. 3, 3. 
S. 1108), gilt. Prur. a. a. O. sagt nicht blos, dass Epikur sich längere Zeit 
einen Demokriteer genannt habe, sondern er führt auch Stellen des Leonteus 
und Metrodor an, welche Epikur’s Verehrung für Demokrit bezeugen, und 


ἃ Epikur’s Leben. 343 


‚kleinasiatischen Städten als Lehrer thätig gewesen war !), kam 
er um 306 v. Chr.?) nach Athen und gründete hier eine eigene 
Schule °). Der Sitz dieser Schule war Epikur’s Garten %), ihr 
geistiger Mittelpunkt die Persönlichkeit des Meisters; um ihn 
sammelte sich ein Freundeskreis, welchen die Anhänglichkeit an 
ihren ‚fast vergötterten Lehrer, die Gleichheit der Grundsätze und 
der Genuss eines gebildeten Verkehrs mit seltener Innigkeit zu- 
sammenhielt °). Dass an diesem Verein und seinen philosophi- 
schen Bestrebungen nicht allein Frauen 5), sondern auch Hetären 
theilnahmen °), wird den Epikureern zwar von ihren Gegnern als 


denselben als Vorgänger Epikur’s anerkennen. Auf entschuldigende Aeus- 
serungen Epikur’s über gewisse Irrthümer Demokrit’s scheint sich PrıLopen. 
π. παῤῥησίας, Vol. Herc. V, 2, col. 20 zu beziehen. Auch Luckzz III, 370. 
V, 620 spricht von Demokrit mit hoher Achtung, und PnıLopemus De Mus,., 
Vol. Here. I, col. 36 nennt ihn ἀνὴρ οὐ φυσιολογώτατος μόνον τῶν ἀρχαίων ἀλλὰ 
χαὶ τῶν ἱστορουμένων οὐδενὸς ἧττον πολυπράγμων (so nämlich sind die Worte 
zu ergänzen). 

1) Dioe.1f. 15 und nach ihm Suıp. nennt Kolophon Mytilene und Lamp- 

sakus. Dass Epikur in der letzteren Stadt längere Zeit gelebt und sich hier- 
mit Idomeneus und Leonteus befreundet habe, sagt auch Straso XIII, 1, 19, 
8. 589. 
2) So Dıoc. 2 nach Heraklides und Sotion. Ihm zufolge kehrte Epikur 
unter dem Archon Anaxikrates (Ol. 118, 2. 307/, v. Chr.) nach Athen zurück. 
Dann dürfen wir aber in der Angabe (D. 15 nach Apollodor’s Chronik), dass 
er 32jährig in Mytilene aufgetreten sei, und hier und in Lampsakus 5 Jahre 
gelehrt habe, die Zahlen nicht voll nehmen. 

3) Doch, wie es scheint, nicht sofort, denn D. 2 sagt nach Heraklides: 
μέχρι μέν τινος χατ᾽ ἐπιμιξίαν τοῖς ἄλλοις φιλοσοφέϊν, ἔπειτ᾽ ἰδία πως τὴν ἀπ᾽ αὐτοῦ 
χληθεῖσαν αἵοεσιν συστήσασθαι. 

4) Μ. 5. über diesen berühmten Garten, von welchem die Epikureer auch 
wohl οἱ ἀπὸ τῶν χήπων heissen: D. 10. 17 f. Prix. Η. ἢ. XIX, 4, 51. Cıc. Fin. 
I, 20, 65. V, 1, 3. ad Fam, XIII, 1. Sex. ep. 21, 10. SteınHarr $. 462, 45. 
463, 72. Epikur hatte denselben um 80 Minen (1800 Thlr.) erkauft. 

5) Es wird hierüber, wie auch über Epikur’s eigenen Charakter, später 
gesprochen werden. 

6) Wie Themista oder Themisto, die Frau des Leonteus (D. 5. 25. 26. 
Krey. Strom. IV, 522, D). 

7) Ὁ. 4.6.7. Kreomen. Meteora 8. 92 Balfor. Pıur. ἢ. p. suav. vivi 
4,8. 16, 1. 6. lat. viv. 4, 2. Die bekaunteste von ihnen ist Leontion, welche 
mit Epikur’s Schüler Metrodor zusammenlebte (D. 6. 23), und gegen Theo- 
phrast, nicht ohne Geist, schrieb (Cıc. N.D. I,33,93. Puıs. hist. nat. praef. 29). 


3414 Epikureer. . 


eine grosse Unwürdigkeit vorgerückt, indessen kann es in den 
damaligen Zuständen der griechischen Gesellschaft nicht so sehr 
auffallen. Sechsunddreissig Jahre lang wirkte Epikur hier, und 
es gelang ihm, seiner Schule in dieser Zeit ein so festes Gepräge 
aufzudrücken, dass wir es noch nach Jahrhunderten unverändert 
wiedererkennen. Im J. 270 Τὴ erlag er einer Krankheit, deren 
Beschwerden und Schmerzen er mit grosser Standhaftigkeit er- 
tragen hatte ?). Aus der Masse seiner Schriften °) sind uns nur 
wenige, von kleinerem Umfang, erhalten %). Die ungünstigen Ur- 
theile von Gegnern über Epikur’s Schreibart 5) werden durch 
diese und andere Ueberreste seiner Werke ©) im Ganzen be- 
stätigt. 


M. 5. über sie noch D. 5. Paıtopem. π. παῤῥησίας Vol. Here. V, 2. Fr. 9. 
Arne. XIII, 593, b, der von ihrer Tochter Dana& eine That: aufopfernder 
Hingebung erzählt. Was er ihr selbst ebd. 588, b vorwirft, ist schwerlich für 
ein geschichtliches Zeugniss zu halten. 

1) Ol. 127, 2 unter dem Archon Pytharatus, 72jährig (D. 15 nach Apol- 
lodor. Cıc. De fato 9, 19). 

2) D.15.22. Cıc. ad Fam. VII, 26. Fin. II, 30, 96. Sen. ep. 66, 47. 92,25. 
Dass er seinem Leben selbst ein Ende gemacht habe (Baumnaver Vett. philos. 
doctr. de morte volunt. 322) liegt nicht in Hermippus’ Bericht D. 15. 

3) Er war nach Dioc. pro. 16. X, 26 neben Chrysippus der grösste Viel- 
schreiber unter den alten Philosophen, und seine Werke füllten 300 Rollen. 
Die Titel der geschätztesten giebt D. 27 f. vgl. Fasrıc. Bibl. gr. III, 595 ft. 
Harl. 

4) Die drei Lehrbriefe bei Dıoc. 35 ff. 84 ff. 122 ff. und die χύριαι δόξαι, 
ein Abriss seiner Ethik, dessen auch Ciıc. N. D. I, 30, 85 erwähnt, ebd. 139 fi. 
Von den 37 Büchern r. φύσεως ist das 216 und 1116 in Bruchstücken aus einer 
herceulanensischen Handschrift (Vol. Hercul. II und in der Separatausgabe 
Orelli’s) herausgegeben. 

5) Aristophanes bei Dıoc. 13, der sie ἰδιωτιχωτάτη nennt, KLEOMED. 
Meteora $. 91, der sich namentlich über seine schlechte und oft niedrige Aus- 
drucksweise beklagt, und als Belege die Phrasen: ‚‚oxgxog εὐσταθῇ χαταστή- 
para‘, „ca περὶ ταύτης πιστὰ ἐλπίσματα, .,λίπασμα ὀφθαλμῶν“ (für die 
Thränen), )γἱερὰ ἀναχραυγάσματα(“, ,, γαργαλισμοὺς σώματος“, ., ληχίσματα an- 
führt. Auch in dieser Beziehung wie in seiner schriftstellerischen Fruchtbar- 
keit, ist ihm Chrysippus zu vergleichen; s. o. 39, 1. 

6) Wie die Bruchstücke bei Dıos. 5.7 ἢ, Sonst sind uns, ausser dem 
Testament und dem Brief an Idomeneus, D. 16—22, besonders von Seneca 
zahlreiche Aeusserungen Epikur’s aufbewahrt. 


Epikur's Schüler. 345 


Von Epikur’s zahlreichen Schülern ') sind die bekanntesten: 
Metrodorus ?) und Polyänus °), welche beide schon vor ihm 
starben; Hermarchus %), der nach seinem Tode die Leitung der 


1) Ueber dieselben Fasrıc. Biblioth. gr. III, 598 ff. Harl. Dass es ihrer 
sehr viele waren, sagt nicht blos Dıosexes, welcher jedenfalls übertreibt, 
wenn mit den Freunden Epikur’s, die ganze Städte füllen würden (X, 9), seine 
persönlichen Schüler, und nicht die Epikureer überhaupt, mit Einschluss der 
späteren, gemeint sind, sondern auch (το. Fin. I, 20,65, der seinen Epikureer 
von magni greges amicorum reden lässt, die sich in Epikur’s Haus zusammen- 
gefunden haben. Seiner Freunde in Asien und Aegypten erwähnt auch Prur. 
lat. viv. 3, 1. Wenn nichtsdestoweniger er selbst sowohl als Metrodor b. Sex. 
ep. 79,15 f. bezeugen, sie seien in Griechenland fast unbeachtet geblieben, 
so wird diess nicht so ganz wörtlich zu nehmen sein; das aber kann immerhin 
sein, dass ihnen von Seiten der Gelehrten nur geringe Beachtung zu Theil 
wurde, wenn auch ihre Schule zahlreich genug war. 

2) Aus Lampsakus (Steaso XIII, 1, 19. S. 589), neben Epikur selbst der 
berühmteste Lehrer der Schule; Cıc. Fin. II, 28, 92 nennt ihn paene alter Epi- 
curus und ebd. 3, 7 berichtet er, dass ihm Epikur den Namen eines Weisen 
zuerkannt habe (vgl. auch Dıoc. 18. Sex. ep.52,3). Weiteresüberihn und seine 
Schriften bei Dıoc. X, 6. 18 f. 21—24. PmıtLopem. De vitiis IX (Vol. Here. III) 
col. 12. 21. 27. Arsen. VII, 279 ἢ. Pur. n. p. suav. vivi 7, 1. 12, 2. 16, 6. 9. 
adv.Col.33,2.6. Sex. ep. 98,9. 99,25. Bruchstücke aus letzteren finden sich bei 
Plutarch, Seneca, Philodemus u. A.; ob jedoch die Fragmente einer Schrift 
π. αἰσθητῶν im 6ten Band der Volumina Herculanensia ihm gehören, ist sehr 
unsicher. Nach Dıos. 23 starb er sieben Jahre vor Epikur im 53sten Lebens- 
jahr, war also 330 oder 329 v. Chr. geboren. Für die Erziehung seiner Kin- 
der (wohl von Leontion, die er nach D. 23 zur παλλαχὴ, nach Sen. Fr. 45, bei 
Hıerox. adv. Jovin. 1, 191 zur Frau gehabt hatte) trifft Epikur in seinem 
Testament (D. 19. 21) Vorsorge. 

3) Athenodor’s Sohn, gleichfalls aus Lampsakus (D. 24), nach Cıc. Acad. 
II, 33, 106. Fin. I, 6, 20 ein tüchtiger Mathematiker, der sich aber durch 
Epikur von seiner Wissenschaft abbringen liess. Dıoc. a. a. O. nennt ihn 
ἐπιεικὴς καὶ φιλήχοος, Merrodor b. PnıLovem. π. παῤῥησίας (Vol. Herc. V, a) 
60]. 6 ἀποφθεγματίας, Sex. ep. 6, 6 ihn, Metrodor und Hermarchus, viros 
magnos; PritLopem. a. a. 0. (Vol. V, b) Fr. 49 lobt seine Freimüthigkeit gegen 
seinen Lehrer. Auch von ihm wird in Epikur’s Testament (D. 19) ein Sohn 
erwähnt, dessen Mutter, nach der hämischen Bemerkung bei Pr.ur. ἢ. p. suav. 
v. 16,6 zu schliessen, ebenfalls eine von den Hetären gewesen zu sein scheint, 
welche der Schule beigetreten waren. 

4) Der Name dieses Mannes, früher Hermachus geschrieben, lautet in 
den neueren Ausgaben des Diogenes, Cicero, Seneca: Hermarchus. Die 
letztere Form wird durch die herculanensischen Bruchstücke aus PrıLopemus 
(π. θεῶν διαγωγῆς, Vol. VI, col. 13, 20. De vitiis IX, Vol. III, col. 25, 1) und 


346 Epikureer. 


Schule übernahm '); Kolotes ?), gegen den noch vierhundert 
Jahre später Plutarch schrieb. Auch sonst sind uns aber viele 
derselben, wenigstens dem Namen nach bekannt ®). Der äussere 


die Inschrift einer Bildsäule von ihm (Antiquitatt. Hercul. V, 17) sicherge- 
stellt. Seine Vaterstadt war Mytilene, sein Vater Agemarchus (D. 17. 15. 24); 
seine Bücher verzeichnet Dıos. 24 f. Als einen seiner ältesten und treusten 
Schüler bezeichnet ihn Epikur in seinem Testament (D. 20) durch die Worte: 
μετὰ τοῦ συγχαταγεγηραχότος ἡμῖν ἐν φιλοσοφίᾳ. Ueber seinen Charakter vgl. m. 
Sen. ep. 6, 6 (vor. Anm.). 52, 4. 

1) Gemäss den in Epikur’s Testament (D. 16 fi.) gegebenen Bestim- 
mungen. 

2) Kolotes aus Lampsakus (D. 25); einiges Weitere über ihn und einige 
seiner Schriften bei Prur. adv. Col. 17,5 f. 1,1. ἢ. p. suav. v. 1, 1 π. ὃ. (vgl. 
d. Index). Macrop. Somn. Scip. I, 2. Vol. Hereul. IV, Introd. in Polystr. 
S. II. 

3) Dahin gehören vor Allem Epikur’s Brüder Neokles, Chäredemus 
und Aristobulus; vgl. Ὁ. 3. 28. Prur. ἢ. p. suav. v. 5, 3 (wo ᾿Αγαθόβουλος 
offenbarer Schreibfehler ist). 16, 3. De lat. viv. 3, 2. Ferner Idomeneus 
aus Lampsakus (D. 25. 22. 23.5. Pıur. adv. Col. 18, 3. Sıraso XII, 1, 19. 
S. 589. Arnen. VII, 279 f£ PnıLopen. π. παῤῥησίας Fr. 72. Vol. Here. V, 2. 
Sen. ep. 21,3f.7. 22,5. Pnor. Lex. und Su. unter Πύθια χαὶ Δήλια), aus 
dessen geschichtlichen Schriften mancherlei Notizen (Ὁ. MürLrer Fragm. Hist. 
gr. II, 489 ff.) mitgetheilt werden; Leonteus, gleichfalls aus Lampsakus 
(D. 5. 25 f. Pur. adv. Col. 3, 3. Straso a. a. O.); Hrroporvs (D. 4 f. 34 f.); 
Pythokles (D.5f.83. Prur.n. p. su. v. 12, 1. adv. Col. 29, 2. Puıtopem. 
π. παῤῥησ. Fr. 6); Apelles (Prur.n. p. su. v. 12, 1), Menökeus (Ὁ. 121 £.), 
Nikanor (D. 20); Timokrates, der Bruder Metrodor's, welcher aber in 
der Folge von Epikur abfiel, und sowohl mit Epikur selbst als mit seinem 
Bruder bittere Streitschriften wechselte (Ὁ. 4. 6 ff. 23 ἢ, 28. Cıc. N.D.TI, 33, 
93. Pur. ἢ. p. suav. v. 16, 9. adv. Col. 32, 7. Comment. in Hesiod. Fr. 7,1. 
PuıtLovem. π. παῤῥης.) Vol. Here. V, ἃ, col. 20). Von diesem Timokrates muss 
der Potamier (also Athener) Timokrates verschieden sein, welchen Epikur 
b. Dıoc. 16 und Cıc. Fin. II, 31, 101 mit Amynomachus zu seinem Erben 
und Testamentsvollstrecker einsetzt. Wahrscheinlich sind aber diese beiden 
gleichfalls Schüler des Philosophen. Weiter werden genannt: Mithras, ein 
'Syrer, Beamter des Lysimachus (D. 4. 28. Prur. adv. Col. 33, 2. n. p. suav. 
v. 15,5); Mys, ein Sklave Epikur’s, dem er in seinem Testament (D. 21) mit 
einigen Andern, vielleicht gleichfalls Anhängern seiner Lehre, die Freiheit 
schenkt (über ihn D. 3. 10. Geur. II, 18,8. Macxor. Sat. I, 11); die S. 343, 
6. 7 besprochenen Frauen. Auch Anaxarchus, an den Epikur, Timar- 
chus, an den Metrodor einen Brief richtete (Prur. adv. Col. 17, 3 f.), der 
früh verstorbene Hegesianax (Ders. n. p. suav. v. 20, 5), der Dichter 
Menander, dessen bewunderndes Epigramm auf Epikur in der Anthologie steht, 


Epikureische Schule. 347 


Sammelpunkt der Schule blieb der Garten, welcher ihr im Testa- 
ment ihres Stifters vermacht war '). Auf Hermarchus folgte als 
Haupt derselben Polystratus ?), neben dem Hippoklides ge- 
nannt wird °); diesem Dionysius, ihm Basilides *). Dem 
zweiten Jahrhundert scheint Protarchus aus Bargylium °), und 
sein Schüler Demetrius der Lakonier ©) anzugehören. Wir 
können jedoch die Lebenszeit dieser Männer nicht näher bestim- 
men; und in noch höherem Grade gilt diess von einigen Andern, 
deren Namen uns überliefert sind 7). 


vielleicht auch Dionysius ὃ Μεταθέμενος (s. ο, 35, 2) und einige Andere 
wären hier zu nennen. 

1) Dıos. 16 fi. Zu Cicero’s Zeit war dieses Grundstück mit dem darauf 
befindlichen, mittlerweile in Verfall gerathenen Hause („parietinae“) in die 
Hände eines vornehmen Römers, C. Memmius, gekommen, der es als Bau- 
platz benützen wollte; nachdem er diesen Plan aufgegeben hat, verwendet 
sich Cıc. ad Fam. XIII, 1 (vgl. ad Att. V, 11) bei ihm um Zurückgabe an die 
Schule. Ob sie erfolgt ist, erfahren wir (auch aus Ser. ep. 21, 10) nicht. 

2) D. 25. Ob Polystr. noch ein persönlicher Schüler Epikur’s war, sagt 
Diog. nicht, ich möchte es aber vermuthen. Bruchstücke einer Schrift des- 
selben, π. ἀλόγου καταφρονήσεως, enthält der vierte Band der Vol. Hereul. 

3) Von Varer, Max. I, 8, ext. 17, demzufolge diese beiden Männer, an 
dem gleichen Tage geboren und gestorben, ihr ganzes langes Leben hindurch 
unzertrennlich in Vermögensgemeinschaft lebten. — Gleichzeitig wäre, nach 
dem ältern Text des Dıos. (X, 25), Lysias, bei dem Hermarchus gestorben 
wäre, wie Faprıc. Bibl. gr. III, 606 glaubt, der bei Arnen. V, 215, b genannte 
Tyrann von Tarsus; indessen liest Coger für: παρὰ Λυσίᾳ ,γπαραλύσει"“. 

4) Ὁ. 25. Bei Dionysius haben wir aber schwerlich an den Νεταθέμενος 
(oben 5, 35, 2) zu denken, denn diess würde Diog. wohl sagen, und auch 
ehronologisch ist es sehr unwahrscheinlich. 

5) Straso XIV, 2, 20. 5, 658. Er ist wohl der Protarchus, von welchem 
Sımer. Phys. 78, a, u. Tuesıst. Phys. 27, a, ο. ein Wort anführen. 

6) Ueber ihn Straso a. a. O. D. 26. Sext. Empir. Pyrrh. III, 137. Math. 
VIII, 348. X, 219, auch Erorıan Lex. Hippocer. Κλαγγώδη. Demetr. war nach 
diesen Stellen einer der ausgezeichneteren Epikureer. Ob ein Werk über 
Mathematik, von dem sich unleserliche Reste in Hereulanum gefunden haben 
(Vol. Here. IV. Introd. in Polystr. III, 2), von ihm oder einem Andern (etwa 
dem von Sreaso XII, 3, 16. S. 548 genannten) herrührte, lässt sich nicht aus- 
machen. 

7) Die beiden Ptolemäus aus Alexandrien (D. 25), Diogenes von 
Tarsus (Ὁ. VI, 81. X, 26. 97. 118 £. 136. 138), Orion (D. 26), Timagoras 
(Cıc. Acad. II, 25, 80). Metrodor von Stratonice, welcher — ein sehr sel- 
tenes Beispiel unter den Epikureern — von Epikur (d. h. seiner Schule) zu 


348 Epikureer. 


Noch vor der Mitte des zweiten Jahrhunderts soll der Epiku- 
reismus auch in Rom Fuss zu fassen begonnen haben 1). Sicherer 
ist es, dass diess nicht zu lange nach diesem Zeitpunkt geschehen 
ist. Als der erste, welcher der epikureischen Lehre durch Schrif- 
ten in lateinischer Sprache unter den Römern Eingang verschaffte, 
wird uns C. Amafinius genannt ?); und es wird beigefügt, dass 
sie hier bald zahlreiche Anhänger gefunden habe, denen sie sich 
nicht blos durch ihren Inhalt, sondern auch durch ihre Einfachheit 
und leichte Verständlichkeit empfahl °). 


Karneades übergieng (D. 9), wird unter den Schülern des letztern noch zu 
erwähnen sein. 

1) Nach Arnex. XII, 547, a, den Arrısn V. H. IX, 12 ausschreibt, wur- 
den unter dem Consulat des L. Postumius (173 oder 155 v. Chr.; 8. Criston 
F. Hellen. z. d. J.) zwei Epikureer, Aleius und Philiskus, wegen ihres 
schlechten Einflusses auf die Jugend aus Rom ausgewiesen. Nun ist diese 
Angabe freilich unverkenrbar einem den Epikureern sehr feindseligen Schrift- 
steller entnommen; bei Sun. vollends (’Erizoupog T. 1, Ὁ, 419 f. Bernh.) steht 
sie mit so abenteuerlichen Uebertreibungen zusammen, dass man wohl gegen 
sie misstrauisch werden könnte. Doch ist sie mit ihrer genauen Zeitangabe 
schwerlich ganz aus der Luft gegriffen. Dass in einzelnen Städten scharfe 
Beschlüsse gegen den Epikureismus gefasst wurden, sagt auch Pur. n. p. 
suav. v. 19, 4; und dass man in Rom gerade um jene Zeit gegen Neuerungen 
sehr auf der Hut war, sehen wir aus der bekannten Untersuchung gegen die 
Bacchanalien, 186 v. Chr., und der später zu erwähnenden Ausweisung der 
Philosophen und Rhetoren, 161 v. Chr. 

2) Dieser Mann scheint nach Cıc. Tuse. IV, 3, 6 nicht lange nach der 
bekannten Philosophengesandtschaft des Jahrs 156 v. Chr. aufgetreten zu sein; 
das Gegentheil folgt auch nicht daraus, dass Lucr. V, 336 von sich rühmt, 
er habe primus cum primis die epikureische Lehre lateinisch dargestellt. 
Seine Werke hatten nach Cie. einen bedeutenden Erfolg (eujus libris editis 
commota multitudo contulit se ad eam potissimum disciplinam). Nach Acad. I, 
2, 5 f. hatte er namentlich die Physik nach Epikur bearbeitet. Cicero be- 
schwert sich hier über ihn und Rabirius (wir wissen nicht welchen, und ob er 
auch Epikureer war), qui nulla arte adhibita de rebus ante oculos positis vulgari 
sermone disputant: nihil definiunt, nihil partiuntur u. s. w. Vgl. 'Tuse. II, 3,7. 
Auch Cassıus (Cie. ad Fam. XV, 19) nennt ihn und Catius (s. u. 351, 1) mali 
verborum interpretes. 

3) Cıc. Tuse.1V, 3,7: post Amafinium autem multi ejusde:n aemuli rationis 
multa cum scripsissent, Italiam totam occupaverunt, quodque maxumum argu- 
mentum est non diei la subtiliter, quod et tam facile ediscantur et ab indoctis 
probentur, id illi firmamentum esse disciplinae putant. Vgl. Fin. I, 7, 25 die 
Frage: cur tam multi sint Epicurei. 


Epikureer des 2. und 1. Jahrhunderts v. Chr. 349 


Gegen das Ende des zweiten Jahrhunderts lehrte in Athen 
Apollodorus'), einer der fruchtbarsten philosophischen Schrift- 
steller; sein Schüler Zeno aus Sidon, der bedeutendste unter den 
damaligen Epikureern, wirkte lange mit Erfolg durch Lehre und 
Schriften 5). Gleichzeitig treffen wir Phädrus inRom und Athen 5), 


1) Mit dem Beinamen ὃ χηποτύραννος, der Verfasser von mehr als vier- 
hundert Büchern D. 25. 2. 13. VII, 181. Ueber seine Lebenszeit s. m. die 
folg. Anm. 

2) Dass Zeno ein Sidonier und der Schüler Apollodor’s war, sagt Dıoe. 
VII, 35. X, 25 und Peoxt. in Euclid. 55, m f., und dass diese Aussage nicht 
auf den uns aus Cicero bekannten Zeno, sondern auf einen älteren Gleich- 
namigen gehe (wie früher Einzelne wollten, indem sie Apollodor D. X, 25 
irrthümlich als persönlichen Schüler Epikurs bezeichnet glaubten), lässt sich 
nicht annehmen, theils weil uns von einem solchen jede Spur fehlt, theils 
weil Diogenes in diesem Fall VII, 35 den Lehrer Cicero’s, der ihm 
doch unmöglich unbekannt sein konnte, übergangen hätte. Nach Cıc. 
Acad. I, 12, 46 hatte er noch Karneades gehört und bewundert; und 
da nun Karn. 129 v. Chr. gestorben ist, kann er nicht wohl später, als 
150 v. Chr., geboren sein. Wir werden daher Apollodor, falls Zeno 
wirklich sein Nachfolger war, noch ganz oder fast ganz in’s zweite Jahr- 
hundert zu setzen haben. Doch fehlt es für Zeno’s Schulführung an 
bestimmten Zeugnissen. Bei seinem ersten Besuch in Athen (18,9 v. Chr.) 
hörte ihn Cicero gemeinschaftlich mit Attieus (Cıc. a. a. ©. Fin. I, 5, 16, 
Tusc. III, 17, 38 — das Gleiche sagt N. D. I, 21, 58 Cotta von sich. Vgl. 
auch N. D. I, 34, 93); dagegen kann er unmöglich (wie noch Keıscnz Forsch. 
26 will) der Xeno oder Zeno sein, von dem Cicero ad Att. V, 10. 11. XVI, 3 
50 und 43’v. Chr. als einem noch Lebenden redet. Cic. nennt ihn N. D, I, 21 
princeps Epieureorum (ebenso Philo von Larissa coryphaeus Epicureorum), 
Tuse. a. a. Ὁ. acrieulus sener, istorum (Epikureer) acutissimus; Dios. X, 25 
bezeichnet ihn als πολυγράφος ἀνήρ; durch Peokt. in Euelid. 55, m. f. 59 m. 
60 ο. m. erfahren wir von einer Schrift Zeno’s, worin er die Gültigkeit der 
mathematischen Beweise angriff, und einer eigenen Gegenschrift des Posido- 
nius; Philodem’s Abhandlung π. παῤῥησίας (Vol. Here. V, a) war dem Titel 
zufolge ein Auszug aus Zeno. — Mit Zeno ist jener Aristio oder Athenio 
gleichzeitig, welcher während des mithridatischen Kriegs in Athen eine Rolle 
spielte, und bald Peripatetiker bald Epikureer genannt wird (s. Bd. II, b, 
759, 2 und Prur. Sulla 12. 14. 23). Vielleicht bezieht sich auf die Zeit seiner 
Gewaltherrschaft die Behauptung (Dewmergıus Magnes b. Arnes. XIII, 611, b), 
dass der Stoiker Theotimus, der gegen Epikur geschrieben hatte, auf Zeno’s 
Betrieb getödtet worden sei. 

3) Auch ihn hatte Cicero in Athen (N. Ὁ. I, 33, 93. Fin. I, 5, 16. Υ͂, 1, 8. 
Legg. I, 20, 53), aber vorher schon, als angehender Jüngling, in Rom ge- 
hört, wo sich demnach Phädrus damals (um 90 v. Chr.) aufgehalten haben 


350 Epikureer. 


etwas später Philodemus 1) und Syro (oder Sciro) 2) in Rom, 
Patro °), den Nachfolger des Phädrus, in Athen. Nicht gering 


muss (ad Fam. XIII, 1); als er zum zweitenmal mit ihm verkehrte, war er 
bereits alt. Nach Pnueson b. Pnor. Bibl. Cod. 97. 5. 84, a, 17 folgte ihm 
Patron Ol. 177, 3 (70 v. Chr.) in der Leitung der Schule, die er, wenn Zeno 
vor ihm Schulvorstand war, nur wenige Jahre geführt haben kann. Doch 
steht jenes, wie bemerkt, nicht sicher. Den Charakter des Phädrus rühmt 
Cicero (a. d. a. O.); Philipp. V, 5, 13 nennt er ihn einen nobilis philosophus. 
Aus einer Schrift des Phädrus über die Götter (welche vielleicht Cıc. ad Att. 
- XIII, 39 gemeint ist) glaubte man die ciceronische Darstellung N. De. I, 10, 
25 — 15, 41 und die Bruchstücke herleiten zu dürfen, welche erst DrumuoxD 
(Herculanensia. Lond. 1810), dann Prrersex (Phaedri ... de nat. De. fragm. 
Hamb. 1833. Gymn.progr.) herausgegeben, Kriscne (Forschungen u. 8. w. 
1 Th.) vielfach erläutert hat. Indessen haben Srexeer (Aus ἃ. Herculan. 
Rollen. Philodemus π. εὐσεβείας. Abh. 4. Münchn. Akad. philos.-philol. Kl. 
X, 1, 127 ff.) und Saurpe (De Philodemi libro ... de pietate. Gött. Leetions- 
verz. für Sommer 1864) gezeigt, dass die neapolitanischen Herausgeber (Vol. 
Here. coll. alt. T. II. 1862) Recht haben, wenn sie darin vielmehr Ueberbleibsel 
von Philodemus περὶ εὐσεβείας sehen. 

1) Philodemus (über welchen Vol. Herc.I,1 ff. Gros Philod, Rhet. CXII £., 
namentlich aber Prerrer Allg. Encyklop. Sect. III, Bd. XXIII, 345 ff. z. vgl.) 
stammte aus Gadara in Cölesyrien (Straso XVI, 2,29. S. 759, der jedoch dieses 
Gadara nach Philistäa verlegt; Ausführliches hierüber Vol. Here. Ia, ἃ. O.), 
lebte zu Cicero’s Zeit in Rom, und wird von diesem als ein gelehrter und lie- 
benswürdiger Mann gelobt (Fin. II, 35, 119. or. in Pison. c.28). Neben seinen 
philosophischen Werken hatte er auch Gedichte, zierlich, aber mitunter etwas 
lüstern, verfasst (Cıc. in Pis. Hor. Sat. I, 2, 121). Von den letzteren ist eine 
Anzahl Epigramme (in der Anthologie vgl. Vol. Herc. a. a. O.) erhalten; von 
seinen philosophischen Werken (deren eines Dıoc. X, 3. 24 nennt) fanden sich 
in Herculanum nicht weniger als 36 Bücher (Vol. Here. IV, Introd. in 
Polystr. III), von denen ein Theil, so weit er lesbar war, veröffentlicht ist. 
Rhet. IV haben Srexerr und Gros, De vitiis X SaurrE, die Bruchstücke περὶ 
εὐσεβείας (s. vor. Anm.) PETERSEn und Saupre besonders herausgegeben. 

2) Cıc. Acad. Il, 33, 106. Fin. II, 35, 119. ad Fam. VI, 11. Nach Vıseıt. 
Catal. 7, 9. 10, 1 Donar. vita Virg. 79. Serv. ad Eel. VI, 13. Aen. VI, 264 
war er der Lehrer Virgil’s. Der Name wird verschieden geschrieben: Syro, 
Siro, Seiro, Seyro. — Etwas älter ist der Grammatiker Pompilius Andro- 
nicus aus Syrien, welcher nach Surronx illustr. grammat. c. 8 gleichzeitig 
mit Gnipho, dem Lehrer Cäsar's (ebd. 7), in Rom, dann in Cumä lebte, aber 
über der epikureischen Philosophie sein Fach vernachlässigte. 

3) Cıc. ad Fam. XIII, 1. ad Att. V, 11. VII, 2. ad Quint. fratr. I, 2, 4 (wo 
neben ihm ein Epikureer Plato aus Sardes genannt ist) und oben 347, 1. 
349, 3. 


Epikureer des 1. Jahrhunderts v. Chr. 351 


ist die Zahl der römischen Epikureer, welche uns aus dieser Zeit, 
fast ausschliesslich durch Cicero, bekannt sind '); keiner von 
ihnen hat aber einen grösseren Ruhm erworben, als T. Lucre- 


1) Die bedeutendsten derselben sind wohl, ausser Lucrez, T. Albutius 
(στο. Brut. 35, 131, wo er perfectus Epicureus genannt wird; ebd. 26, 102. 
Tuse. V,37,108. N. D. I, 33, 93. Fin. I, 3, 8 f. [De orat. III, 43, 171.] in Pison. 
38, 92. Office. II, 14, 50. Orator 44, 149. in Caeeil. 19, 63. provine. cons. 7, 15. 
De orat. II, 70, 281) und C. Vellejus. Der letztere stammte (wie KrıschE 
Forseh. 20 aus einer Glosse zu Nat. De I, 29, 82 und Cıc. N. D. I, 28, 79 vgl. 
mit Divin. I, 36, 79’zeigt) aus Lanuvium, und galt in seiner Zeit für einen der 
ausgezeichnetsten Epikureer (N.D. I, 6, 15. 21,58 vgl. De orat. III, 21, 78). 
Weiter kennen wir aus Cıcero als Epikureer die nachstehenden Zeitgenossen 
desselben: C. Catius, aus dem insubrischen Gallien, dessen Cicero (ad Fam. 
XV, 16 vgl. 19) als eines unlängst Gestorbenen erwähnt. Quisrir. X, 1, 124 
nennt ihn levis quidem sed non injucundus tamen auctor, der Comment. Cruqu. 
zu Horaz Sat. II, 4, 1 sagt, er habe 4 Bücher de rerum natura et de summo 
bono geschrieben. C. Cassius, der-bekannte Führer der Verschwörung 
gegen Cäsar, über dessen Epikureismus Cıc. ad Fam. XV, 16. 19. Prur. 
Brut. 37. C. Vibius Pansa, deri. J. 43 v. Chr. als Consul bei Mutina ge- 
fallene (Crc. ad Fam. VII, 12. XV, 19). Garrus (wir wissen nicht, welcher) 
ad Fam. VII, 26. L. Piso, der Gönner Philodem’s (Crc. in Pison. c. 28, 8. 0. 
350, 1; ebd. 9, 20. 16, 37. 18, 42. 25, 59. post redit. 6, 14). Statilius 
(Prur. Brut. 12; ein anderer scheint Cato min. 65 f. gemeint zu sein). 
L. Manlius Torquatus, dem Cıc. Fin. I, 5, 13 ff. die Vertretung der epi- 
kureischen Lehre überträgt. (Weitere Notizen über diese Männer geben die 
Register zu Cicero an die Hand.) Auch T. Pomponius Atticus, der be- 
kannte Freund Cicero’s, stand unter allen Philosophenschulen der epi- 
kureischen am Nächsten; bei Cıc. Fin. V, 1, 3 nennt er sie nostri familiares, 
Legg. I, 7, 21 condiseipuli; Zeno und Phädrus hatte er gehört, mit diesem und 
Patro war er nahe befreundet. Indessen scheint sein Verhältniss zur Philo- 
sophie überhaupt ein zu freies gewesen zu sein, als dass er sich einer bestimm- 
ten Schule zugezählt hätte, wie diess auch Cıc. ad Fam. XIII, 1 behauptet. 
- Aehnlich kann es sich mit seinem Freund L. Saufejus (Nepos Att. 12. Cıc. 
ad Att. IV, 6 u. ö.) verhalten haben. Noch weniger sind wir berechtigt, den 
C. Sergius Orata (Cıc. Fin. II, 22, 70. Off. III, 16, 67. De orat. I, 39, 178), 
den L. Thorius Balbus (Fin. a. a. Ὁ.) und Postumius (ebd.) als Epiku- 
reer zu bezeichnen. Auch von L. Papirius Pätus ergiebt es sich aus Cıc. 
ad Fam. IX, 17—26, und selbst aus der Hauptstelle, ep. 25, und von C. Tre- 
batius aus Cıc. ad Fam. VII, 12 nieht mit Sicherheit; C. Memmius kann 
nach der Art, wie sich Cıc. ad Fam. XIII, 1 gegen ihn äussert, damals kein 
Mitglied der epikureischen Schule gewesen sein, wenn auch Lucrez, als er 
ihm sein Gedicht widmete (De rer. nat I, 24 ff. V, 9 u. ö.), die Hoffnung hegte, 
ihn für dieselbe zu gewinnen. 


- 99 9 Epikureer. 


tius Carus ἢ). Sein Lehrgedicht, in dem er sich, was den Inhalt 
betrifft, genau an Epikur’s Physik gehalten zu haben scheint, ist 
eben desshalb für uns eine der schätzbarsten Quellen zur Kennt-- 
niss der epikureischen Lehre. Gleichzeitig mit ihm hielt sich in 
Rom der berühmte Arzt Asklepiades aus Bithynien ?) auf, 
welcher nach den physikalischen Lehrbestimmungen, die ihm bei- 
gelegt werden, zu schliessen, zwar kein reiner Epikureer war, 
aber doch mit der epikureischen Schule im Zusammenhang stand °). 


1) Nach Hıeros. in Eus. Chron. Ol. 171,2 (95 v. Chr.) geboren und in 
seinem 44sten Jahr, also 51 v. Chr., gestorben. Wenn ihn die vita Virgilii 
699 a. u. c. geboren werden lässt, so ist dafür einfach 659 zu setzen. Dass 
er vor Cäsar’s Ermordung gestorben war, erhellt auch aus Neros Att. 12. Die 
Angabe (Hırron. a. a. O.), er sei im Wahnsinn durch Selbstmord umgekom- 
men, wird von Tevrrer, in Paury’s Realencykl. IV, 1195 ff. (auf den ich über- 
haupt in Betreff alles Weiteren verweisen will) mit Recht bezweifelt. 

2) Nach Sexr. Math. VII, 201 f. ein Zeitgenosse des Antiochus von 
Askalon, von dem dort eine gegen ihn gerichtete Aeusserung angeführt wird; 
von Garten Isag. c. 4. Bd. XIV, 683 unter die Häupter der logischen Schule 
der Aerzte gerechnet. Seine medicinischen Lehren werden von Galen häufig 
berücksichtigt; auch die plutarchischen Placita nennen ihn öfters. 

3) Dieser Bestimmungen sind es näher drei: seine Atomenlehre, seine 
Erkenntnisstheorie und sein psychologi scher Materialismus. — Für die Grund- 
bestandtheile aller Körper hielt er Atome, welche sich allerdings von den 
demokritischen dadurch unterscheiden sollten, dass sie theils erst durch den 
Zusammenstoss und die Zersplitterung grösserer Massen entstanden, theils 
nicht, wie jene, qualitativ gleichartig und unveränderlich (ἀπαθεῖς) sein sollten. 
(Sexr. Pyrrh. III, 32 f. Math. IX, 363. X, 318 vgl. VIII, 220. ΠΙ, 5. Gates 
ἃ. ἃ. 0.c.9. 8.698. Dioxvs. Alex. b. Eus. pr. ev. XIV, 23, 4. Cör. Auseusas. 
De passion. acut. I, 14, angef. von Fassıc. zu Pyrrh. III, 32; der Letztere be- 
zeichnet wohl irrthümlich die Urkörperchen des Asklepiades als qualitäts- 
los, nur durch Grösse, Gestalt, Anzahl und Ordnung sich unterscheidend.) 
Schloss er sich aber auch hierin zunächst an Heraklides (s. Bd. II, a, 686) an, 
mit dem er gewöhnlich zusammengestellt wird, und von dem er auch den 
Namen ὄγχοι für seine Atome entlehnte, so ist doch wahrscheinlich, dass der 
Epikureismus, in welchem damals allein die lebendige Ueberlieferung der 
Atomenlchre sich erhalten hatte, ihn darauf führte. — Mit Epikur behauptete 
er ferner (Anrıocnus b. Sexr. Math. VII, 201): τὰς μὲν αἰσθήσεις ὄντως χαὶ ἀλη- 
θῶς ἀντιλήψεις εἶναι, λόγῳ δὲ μηδὲν ὅλως ἡμᾶς χαταλαμβάνειν: und wenn er zu- 
gleich zeigte, dass unsere Sinne die Grundbestandtheile der Dinge nicht 
unterscheiden können (a. a. Ὁ. 91), so musste diess ja auch Epikur, mit 
Demokrit, in Betreff der Atome zugeben. — Bestimmter weicht Askl. dadurch 
von Epikur ab, dass er eine vom Körper verschiedene Seele ganz läugnete, 


΄ 


Epikureer der Kaiserzeit. 353 


Auch aus den folgenden Jahrhunderten sind uns manche Anhän- 
ger der epikureischen Lebensphilosophie bekannt '), doch scheint 
keiner darunter zu sein, welcher auch nur mit einem Zeno oder 
Phädrus an wissenschaftlicher Bedeutung zu vergleichen wäre. 
Unter den Antoninen durch die Gründung eines öffentlichen 
Lehrstuhls in Athen neu befestigt 2), erhielt sich die epikureische 


und alle Arten der Vorstellungen, sammt der Seele selbst, auf die Sinnes- 
thätigkeit zurückführte (Sexr. Math. VII, 380. Prur. plac. IV, 2, 6. Cör. 
Avurer. a. a. O., b. Fassıc. z. d. St. des Sext. Terrunn. De an. 15); doch be- 
gegnet er sich mit ihm wenigstens in dem Allgemeinen des Materialismus. — 
Was (abgesehen von seinen medieinischen Ansichten) sonst noch von Askl. 
angeführt wird, dass er, wie Heraklit, eine beständige Veränderung der Dinge 
behauptet habe, steht mit epikureischen Grundsätzen wenigstens nicht im 
Widerspruch. 


1) So nennt Quiwrir, Inst. VI, 3, 78 einen Epikureer L. Varus, einen 
Freund August’s, vielleicht denselben, der nach Dosxar. v. Virgil. 79. Serv. 
zu Ekl. ΥἹ, 13 gemeinschaftlich mit Virgil Syro gehört haben soll. Dagegen 
ist Horaz, trotz ep. I, 4, 15, kein Epikureer, sondern, wie er selbst sagt 
(ep. I, 1,13), ein Mann, der überall her nimmt, was er für sich verwenden 
kann, und so denn auch vorkommenden Falls (wie Sat. I, 5, 101 u. ö.) Epi- 
kureisches; und ähnlich mag es sich mit seinem Gönner Mäcenas verbalten 
haben. Aus der Zeit Caligula’s kennen wir einen Senator Pompedius als 
Epikureer (Josera. Antiquitt. IX, 1,5); unter Nero Aufidius Bassus, einen 
Freund Seneca’s (Sen. ep. 30, 1. 3.5 f. 14), den älteren Celsus (Οπια. ce. Cels. 
I, 8), und Diovorvus, dessen Selbstmord Sex. v. be. 19, 1 bespricht; unter 
Vespasian oder seinen Söhnen Pollius (Star. Silv. II, 2, 113). In der ersten 
Hälfte des zweiten Jahrhunderts klagt der Stoiker KLeomepes Meteora 5. 87 
über die Verehrung, die Epikur gezollt werde; der zweiten mag jener Anto- 
nius angehören, den Gates De propr. an. affeet. Anf. Bd. V, 1 f. nennt, gegen 
das Ende desselben scheint Zexosıus gelebt zu haben, den nach Sımern. Phys. 
113,b,u. Alexander von Aphrodisias bestritt. Aus der ersten Hälfte des dritten 
Jahrh. haben wir an Diogenes von Laörte, wenn auch nicht einen entschie- 
denen Epikureer, doch jedenfalls einen Freund des Epikureismus. Von An- 
deren, die als Epikureer bezeichnet werden, wie Athenäus, dessen Epigramm 
auf Epikur Dıos. X, 12 anführt, Autodorus (Dıoc. V, 92; dass er mit dem 
Antidorus, nach dem eine epikureische Schrift ebd. X, 28 benannt ist, identisch 
sei, ist eine sehr unsichere Vermuthung) und Hermodorus (b. Lucian lca- 
romen. 16), ist uns die Lebenszeit nicht näher bekannt. Diokles den 
Magnesier, welchen Diogenes viel benützt, für einen Epikureer zu halten, 
giebt uns Dıos. X, 11 ἢ, kein Recht. 


2) Es wird hievon in einem späteren Abschnitt zu sprechen sein. 
Philos. ἃ. Gr. III. Bd. 1. Abth. 23 


354 Epikureer. 


Schule, die meisten anderen überlebend, bis in’s vierte Jahrhun- 
dert n. Chr. 3). \ 


2. Charakter und Theile der epikureischen Lehre. 
Kanonik. 


Die wissenschaftliche Bedeutung und Entwicklungsfähigkeit 
des Epikureismus steht mit seiner weiten Verbreitung und seiner 
langen Dauer ausser allem Verhältniss. Keine andere Schule hat 
sich so wenig um eine tiefere Begründung ihrer Lehre bemüht, 
‘keine ist so unbedingt bei den Aussprüchen ihres Stifters stehen 
geblieben, wie die epikureische. Epikur selbst.behandelte seine 
Lehrsätze so dogmatisch, und war von ihrer Vortrefllichkeit so fest 
überzeugt, dass er seine Schüler Abrisse derselben geradezu aus- 
wendig lernen liess ?); und bei der abgöttischen Verehrung, 
welche diese, nicht gegen seinen Willen, ihm zollten ®), wagten 


1) Aus der ersten Hälfte des dritten bezeugt diess Dıoe. X, 9: ἥ re διδαχὴ 
πασῶν σχεδὸν ἐχλιπουσῶν τῶν ἄλλων ἐςαξὶ διαμένουσα χαὶ νηρίθμους ἀρχὰς ἀπο- 
λύουσα ἄλλην ἐξ ἄλλης τῶν γνωρίμων. Weniger sicher ist das Zeugniss des 
Lacrant. Inst. III, 17, der freilich die grosse Verbreitung des Epikureismus 
bezeugt, und ihn als noch fortlebend zu behandeln scheint, von dem wir aber 
doch nicht gewiss wissen, ob er dabei nicht blos Aelteren (wie Cıc. 8. ©. 
348, 3) folgt. 

2) Cıc. Fin. I, 7, 20: quis enim vestrüm non edidieit Epieuri κυρίας δόξας 
Ὁ. 12 (nach Diokles). Epikur selbst ermahnt ebd. 83. 85. 35 ἢ, seine Schüler 
wiederholt, das, was er ihnen mittheilt, ihrem Gedächtniss fest einzuprägen, 
und seine letzte Bitte an seine Freunde war (D. 16): τῶν δογμάτων μεμνῆσθαι. 

3) Er selbst bezeichnet sich und Metrodor bei Cıc. Fin. 11, 8, 7 als Weise; 
Pur. n. p. suav. v. 18, 5 führt von ihm die selbstgefälligen Aeusserungen an: 
ὡς Κολώτης μὲν αὐτὸν φυσιολογοῦντα προσχυνήσειεν γονάτων ἁψάμενος: Νεοχλῆς δὲ 
ὃ ἀδελφὸς εὐθὺς Ex παίδων ἀποφαίνοιτο μηδένα σοφώτερον Ἐπικούρου γεγονέναι μηδ᾽ 
εἶναι" ἣ δὲ μήτηρ ἀτόμους ἔσχεν ἐν αὑτῇ τοσαύτας, οἷαι συνελθοῦσαι σοφὸν ἂν ἐγέν- 
vnoav. Vgl. Dens. frat. am. 16. 5. 487. adv. Col. 17,5. Κυξομενυ. Meteora 
S. 89 f. In der epikureischen Schule wurde noch zu Epikur’s Lebzeiten nicht 
allein sein Geburtstag, sondern auch der Zwanzigste jedes Monats ihm und 
Metrodor zu Ehren festlich begangen, und in seinem Testament verordnet er 
diese doppelte Feier ausdrücklich auch für die Zukunft (D. 18 vgl. στο. Fin. 
1I, 31,101. Por. n. p. suav. v.4,8. Prix. ἢ. nat. XXXV, 5. Arnen. VII, 
298, ἃ: Ἐπιχούρειός τις εἰχαδιστής). Epikur’s Bild wurde überall angebracht 
(Cıc. Fin. V,1,3. Prix. ἃ. ἃ. O.). Welche übertriebene Vorstellungen von 
Epikur’s Bedeutung in der Schule herrschten, zeigen die schwungvollen Lob- 


Stabilität der epikureischen Lehre. 355 


sie sich auf keinem Punkte von ihm zu entfernen. Während 
schon zu Cicero’s Zeit Epikur’s und Metrodor’s Schriften ausser 
ihrer Schule kaum einen Leser fanden 1), wird noch im ersten 
und zweiten Jahrhundert nach Christus von den Epikureern be- 
zeugt, dass sie an der Lehre ihres Stifters unverbrüchlich fest- 
hielten 2); und es musste ihnen diess um so leichter werden, je 
weniger sie in der Regel, nach dem Vorgang des Meisters 5), um 
die Leistungen anderer Philosophen sich bekümmerten und ihre 
Verdienste zu würdigen wussten *). Für uns erwächst daraus der 


preisungen bei Lucker. I, 62 ff. III, 1 ff. 1040 £. V, 1 ff. VI, 1 ff. “Schon 
Metrodor b. Pur. adv. Col. 17, 4 preist τὰ Ἐπιχούρου ὡς ἀληθῶς θεόφαντα 
ὄργια. 

1) Cıc. Tuse. II, 3, 8. 

2) Sen. ep. 33, 4 stellt in dieser Beziehung die wissenschaftliche ‚Selb- 
ständigkeit der Stoiker der epikureischen Abhängigkeit von dem Stifter der 
Schule entgegen: non sumus sub rege: sibi quisque se vindicat. apud istos quie- 
quid dieit Hermarchus, quiequid Metrodorus, ad unum refertur. ommia quae 
quisguam in illo contubernio locutus est, unius duetu et auspicüs dieta sunt. 
Umgekehrt belobt Νυμεκιῦβ b. Evs. pr. ev. XIV, 5, 3 ἢ, die Epikureer, so wenig 
er ihre Grundsätze auch gutheissen kann, doch wegen der Orthodoxie, mit 
der sie an den Aussprüchen ihres Meisters festhalten, und in der nur die Py- 
thagoreer (nach der späteren Vorstellung von.denselben) mit ihnen zu ver- 
gleichen seien. Bei ihnen finde es sich, μηδ᾽ αὐτσῖς εἰπεῖν πω ἐναντίον οὔτε ἀλλή- 
λοις οὔτε ἘἜπιχούρῳ μηδὲν [μηδένα] εἰς μηδὲν, ὅτου καὶ μνησθῆναι ἄξιον, ἀλλ᾽ ἔστιν 
αὐτός παρανόμημα, μᾶλλον δὲ ἀσέβημα, καὶ χατέγνωσται τὸ χαινοτομηθέν. So 
gleiche die epikureische Schule einem von demselben Geist beseelten, durch 
keine Partheiung gestörten Staatswesen. 

3) Es ist schon 8. 342, 1. 4 bemerkt worden, dass Epikur seinen Lehrern, 
Pamphilus und Nausikydes, nichts zu verdanken haben wollte, und nur über 
Demokrit sich mit wirklicher Anerkennung geäussert hatte. Alle übrigen 
Philosophen dagegen waren nicht allein seiner Geringschätzung, sondern 
auch seinen Schmähreden ausgesetzt. Vgl. Bd. 1, 733 ἢ. II, b, 6, 8 f. Dıoc. 8, 
der (freilich aus Timokrates) mittheilt, was er alles über Plato, Aristoteles 
und Andere gesagt hatte. Cıc. N.D. I, 33, 93: cum Epicurus Aristotelem vexa- 
rit contumeliosissime, Phaedoni Socratico turpissime maledixerit. Pıur. n. p. 
suav. v. 2, 2: Mit Epikur und Metrodor verglichen, sei Kolotes noch artig; 
τὰ γὰρ ἐν ἀνθρώποις αἴσχιστα ῥήματα, βωμολοχίας, ληχυθισμοὺς u. 8. w. συναγα- 
γόντες ᾿Αριστοτέλους καὶ Σωχράτους χαὶ Πυθαγόρου καὶ Πρωταγόῤου καὶ Θεοφράστου 
καὶ Ἡραχλείδου χαὶ Ἱππάρχου, χαὶ τίνος γὰρ οὐχὶ τῶν ἐπιφανῶν, κατεσχέδασαν. 

4) Cıc. N. Ὁ. II, 29, 73: nam vobis, Vellei, minus notum est, quem ad 
modum quidque dicatur; vestra enim solum legitis, vestra amatis, ceteros causa 
incognita condemnatis. Ebd. I, 34, 93: Zeno schmähte nicht allein die gleich- 


23 * 


356 . Epikureer. 


Vortheil, dass wir bei den Epikureern weit sicherer sind, als bei 
den Stoikern, in der Lehre der Schule immer auch die ihres Stif- 
ters zu kennen; aber auf den wissenschaftlichen Gehalt des Epi- 
kureismus wirft diese philosophische Unfruchtbarkeit seiner An- 
hänger, diese mechanische Ueberlieferung unveränderlicher Lehr- 
sätze, das ungünstigste Licht, und die Anhänglichkeit an den 
Gründer der Schule kann schliesslich doch weder der Geistes- 
trägheit seiner Nachfolger zur Entschuldigung, noch der Philo- 
sophie selbst, die ihre Jünger so wenig zur Selbständigkeit zu 
‚erziehen wusste, zur Empfehlung gereichen. 

Der Mangel an wissenschaftlichem Sinn, welcher hierin zum 
Vorschein kommt, spricht sich auch in Epikur’s Ansicht über die 
Aufgabe der Philosophie aus. Konnten wir schon bei den Stoikern 
eine Unterordnung des theoretischen Interesses unter das prak- 
tische bemerken, so geht diese bei Epikur zur völligen Gering- 
schätzung aller wissenschaftlichen Bestrebungen als solcher fort. 
Der Zweck der Philosophie ist die Glückseligkeit des Menschen, 
und sie selbst ist nichts anderes, als die Thätigkeit, welche uns 
mittelst der Rede und des Denkens zur Glückseligkeit verhilft 1). 
Dazu trägt aber das Wissen, wie Epikur glaubt, nicht unmittel- 
bar an sich selbst bei, sondern nur dadurch, dass, und in dem 
Maasse, wie es uns zu dem richtigen praktischen Verhalten an- 
leitet, oder die Hindernisse desselben entfernt; sofern dagegen 
eine wissenschaftliche Thätigkeit nicht diesem Zweck dient, er- 
scheint sie ihm überflüssig und werthlos ?). Er verachtete daher 


zeitigen Philosophen, sondern er nannte auch Sokrates einen scurra Attieus 
u.s. ἡ. Macro. Somn. I, 2 (Spöttereien des Kolotes über den Mythus der 
platonischen Republik). 

1) Sexr. Math. XI, 169: ’Erixoupos ἔλεγε τὴν φιλοσοφίαν ἐνέργειαν εἶναι 
λόγοις χαὶ διαλογισμοὶς τὸν εὐδαίμονα βίον περιποιοῦσαν. Vgl. Epik. b. Dıoc. 122, 
wo die Aufforderung, in der Jugend wie im Alter Philosophie zu treiben, 
durch. die Erwägung begründet wird, dass es nie zu früh oder zu spät zur 
Glückseligkeit sei. 

2) Schon Κα. 344, 5 wurde gezeigt, dass Epikur's eigene Bildung sehr 
mangelhaft war. Diese seine Mängel macht er nun zum Prineip. Nullam eru- 
ditionem, sagt der Epikureer b. Cıc. Fin. I, 21, 71, esse duwit, nisi quae beatae 
vitae disciplinam adjuvaret. Was die Kenntniss der Dichter solle, in quibus 
nulla solida utilitas omnisque puerilis est delectatio, was die Musik, Geometrie, 


Aufgabe der Philosophie. 357 


die gelehrte Bildung, die Untersuchungen der, Grammatiker und 
Geschichtsforscher , und sah es wohl gar für ein Glück an, wenn 
man sich die Unbefangenheit des Sinnes nicht mit dem gelehrten 
Wust verdorben habe !). Nicht anders urtheilte er über die 
mathematischen Wissenschaften, deren er selbst ganz unkundig 
war ?). Diese Berechnungen, meinte er, gehen von ganz falschen 
Voraussetzungen aus 5), jedenfalls aber tragen sie zur mensch- 
lichen Glückseligkeit nichts bei, es sei daher unnütz und ungebil- 
det, sich damit zu befassen *). Auch die Theorie der Musik und 
der Dichtkunst fand er höchst langweilig, wenn.er sich schon 
die Musik selbst und das Schauspiel zur Unterhaltung gefallen 
lassen wollte °); und ebenso schien ihm die Rhetorik als kunst- 


Arithmetik, Astronomie, quae et a Jfalsis initüs profecta vera esse non 
possunt, et, si essent vera, nihil aferrent, quo jucundias, i. 6. quo melius 
viveremus. 

1) Cıc. Fin. II, 4, 12: vestri quidem vel optime disputant, nihil opus esse 
eum, philosophus qui futurus sit, scire literas. Sie holen ihre Philosophen, 
wie die Römer den Cineinnatus, vom Pflug. In diesem Sinn hatte Epikur 
(nach Dioc. 6. Pı.ur. ἢ. p. suav. v. 12, 1) an Pythokles geschrieben: παιδείαν 
δὲ πᾶσαν (die παιδεία ἐγκύχλιος, die gelehrte Bildung), warapıe, φεῦγε τὸ ἀχάτιον 
ἀράμενος; und an Apelles (Pıur. ἃ, ἃ. O. Arnen. XIII, 588, a): μακαρίζω σε, 
ὦ οὗτος, ὅτ: καθαρὸς πάσης αἰτίας (Plut. erläuternd: τῶν μαθημάτων ἀποσχόμενος) 
ἐπὶ φιλοσοφίαν ὥρμησας. Ebenso meinte Metrodor (Ὁ. Pıur. a. ἃ. O.), wenn 
man auch keine Zeile im Homer gelesen hätte, und nicht wüsste, ob Hektor 
Trojaner oder Grieche war, dürfte man sich darüber keinen Kummer machen. 
Nur die Kunst des Lesens und Schreibens, die γραμματιχὴ im niedrigsten Sinn, 
wollte Epikur gelten lassen (Sexr. Math. I, 49). 

2) Sexr. Math. I, 1. Ciıc. Fin. I, 6, 20. 

3) Cıc. Fin. I, 21 (s. ο. 356, 2), was wir bei einem so rohen Empiriker, 
wie Epikur, wohl zunächst darauf zu beziehen haben, dass die mathematischen 
Bestimmungen auf die Erscheinungen nicht genau passen. Daher Acad. II, 
33, 106 (vgl. Fin. 1, 6, 20): Polyaenus ... Epicuro adsentiens totam geometriam 
falsam esse eredidit. Zeno's Schrift gegen die Mathematik ist schon 8. 349, 2 
erwähnt worden. Vgl. auch Proxr. in Euclid. 8. 85 o. 

4) 8. 0. 356, 2 Epikur an Apelles (Anm. 1). Sexr. Math. 1, 1: er ver- 
werfe die Mathematik ὡς τῶν μαθημάτων μηδὲν συνεργούντων πρὸς σοφίας τελείω- 
σιν. Desshalb nennt Epikur b. Dıioc. 93 die Astronomie τὰς ἀνδραποδώδεις τῶν 
ἀστρολόγων τεχν!τείας. Vgl. Dens. b. Dioc. 79 f. 113. 

5) Prur. ἃ. ἃ. Ὁ. 13,1. Sehr ausführlich hatte Philodemus in seiner 
Schrift x. μουσιχῆς, wie wir diess aus den Bruchstücken ihres 4ten Buchs, Vol. 
Here. I, sehen, über den Werth der Musik gehandelt, und dabei namentlich 


358 Epikureer. 


mässige Anleitung zur Beredsamkeit ebenso werthlos, wie die 
Prunkreden, die man aliein auf diesem Weg lerne: die gericht- 
liche und politische Rede sei ja doch nur Sache der Uebung ΄ 
und der augenblicklichen Erregung, und der gewandte Rhetor sei 
desshalb noch lange kein guter Staatsmann 1). Um nichts besser 
steht es aber auch mit der Mehrzahl der dialektischen Unter- 
suchungen. Epikur selbst war kein grosser Dialektiker, und so 
hielt er auch nichts auf die Dialektik. Die Definitionen, meinte 
er, nützen nicht viel, die Theorie der Eintheilung und der Beweis- 
führung sei entbehrlich; der Philosoph thue am Besten, sich ein- 
fach an die Worte zu halten, und all diesen logischen Ballast bei 
Seite zu lassen 5). Von allen den Fragen, mit denen die stoische 
Logik sich beschäftigte, wurde bei Epikur nur die erkenntniss- 
theoretische, und auch sie oberflächlich genug, behandelt 8). Un- 
gleich grösser ist allerdings die Bedeutung, welche er der Naturlehre 
zuerkennt *). Aber auch sie soll diese Bedeutung nicht an und 
für sich haben, sondern nur wegen ihres praktischen Nutzens. 
Die Erkenntniss der natürlichen Ursachen ist das einzige Mittel, 
um die Seele von den Schrecken des Aberglaubens zu befreien; 
diess ist aber auch ihr alleiniger Zweck: wenn uns der Gedanke 


die Ansicht, welche eine ethische Wirkung von ihr erwartet, bestritten (z. B. 
600]. 1 ff. 24. 28 f.). Auch gegen Tischgespräche über Musik erklärt er sich 
(col. 38), wie Epikur b. Prur. ἃ. ἃ. Ὁ. Damit streitet es nicht, dass nach 
Droc. 121 nur der Weise über Dichtkunst und Musik richtig sprechen soll, 
denn diess wird eben darin bestehen, dass er Epikur’s Ansicht darüber aus- 
führt. - 

1) Puınopeu. De Rhet. Vol.’Here. IV, col. ὃ ἔν 12 f. (unter Berufung auf 
Epikur). Die gleiche Polemik zieht sich auch durch die weiteren Bruchstücke 
dieser Schrift ebd. V,a, z. B. 60]. 6. 

2) Cic. Fin. 1, 7, 22: In der Logik iste 'vester plane, ut mihi quidem vide- 
tur, inermis ac nudus est. tollit definitiones; nihil de dividendo ac partiendo 
docet; non quomodo efficiatur coneludaturque ratio, tradit, non qua via captiosa 
solvantur, ambigua distinguantur, ostendit. Ebd. 19, 63: in dialectica autem 
vestra nullam ewistimavit [ Epie.] esse nec ad melius vivendum nec ad commodius 
disserendum viam. Acad. Il, 30, 97: ab Epieuro, qui totam dialecticam et con- 
temnit et inridet. DıoG. 31: τὴν διαλεχτιχὴν ὡς παρέλχουσαν ἀποδοχιμάζουσιν " 
ἀρχεῖν γὰρ τοὺς φυσιχοὺς χωρεῖν χατὰ τοὺς ἐῶν πραγμάτων φθόγγους. 

3) Vgl. S. 360 ἢ, 

4) Cıc. Fin. I, 19, 63: in physicis plurimum posuit (Epie.). Ebd. 6, 17: 
in physicis, quibus mazxime gloriatur, primum totus est alienus. 


Aufgabe und Theile der Philosophie. 359 


an die Götter und an den Tod nicht belästigte, sagt Epikur, so 
bedürften wir keiner Naturforschung ἢ. Nur von der Unter- 
suchung über die Begierden wird auch noch der weitere Nutzen 
"erwartet, dass sie uns zur Mässigung derselben und zur Beschrän- 
kung auf das natürliche Bedürfniss anleite ?). So wird die ein- 
seitig praktische Fassung der Philosophie, welche schon im 
Stoieismus hervorgetreten war, von den Epikureern auf die Spitze 
getrieben. 

Dem entspricht es nun vollkommen, wenn sie in der weite- 
ren Ausführung ihres Systems die Logik nur sehr dürftig und 
unvollständig behandelten, und auch bei ihrer tiefer in’s Einzelne 
eingehenden Bearbeitung der Physik nicht von dem wissenschaft- 
lichen Interesse der Naturforschung, sondern ganz und gar von dem 
praktischen der Aufklärung ausgiengen. An die herkömmliche Ein- , 
theilung der Philosophie in diese drei Zweige schlossen auch sie sich 
an °); aber indem sie den ersten derselben auf die Untersuchung 


x 


1) Epik. b. Dıoc. X, 82. 85: μὴ ἄλλο τι τέλος ἐκ τῆς περὶ μετεώρων γνώσεως 

. νομίζειν δεῖ εἶναι ἥπερ ἀταραξίαν χαὶ πίστιν βέβαιον χαθάπερ χαὶ ἐπὶ τῶν λοιπῶν. 

Ders. 112 ἢ: εἰ μηθὲν ἡμᾶς al περὶ τῶν μετεώρων ὑποψίαι ἠνώχλουν χαὶ al περὶ 

θανάτου... οὐχ ἂν προςεδεόμεθα φυσιολογίας, nur weil man ohne Naturkennt- 

niss nicht frei von Furcht sein kann, ist diese nothwendig. Das Gleiche bei 

Prur, ἢ. p. suav. v. 8,7. Vgl. Dıioc. 79. 143. Cie. Fin. IV, 5, 11. Luceker. 
L,62 ff. IH, 14 ff. VI, 9 δὲ u. ö. 

2) So bei (το. Fin. I, 19, 63 f., wo der Epikureer einen fünffachen, oder 
wenn wir von der Kanonik (die hier mit zu ihr gerechnet wird) abschen, einen 
vierfachen Nutzen der Physik aufzählt: die fortitudo contra mortis timorem, 

die constantia contra metum religionis, die sedatio animi omnium rerum occul- 
tarum ignoratione sublata, die moderatio natura cupiditatum generibusque ea- 
rum explicatis (oder, wie es vorher heisst: morati melius erimus, eum didiceri- 
mus, quid natura desideret). 'Theils kommen wir jedoch auch bei dieser (in 
unserem Text berücksichtigten) Fassung nicht über die praktische Abzweckung 
der Naturforschung hinaus; theils führt von den zwei Stücken, welche hier zu 
der epikurischen Bestimmung hinzugefügt werden, das erste (die sedatio animi 
u. 8. w.) auf das Gleiche, wie jene, die Beseitigung des Aberglaubens, die 
Untersuchung über die Begierden ihrerseits konnte ebensogut zur Ethik ge- 
rechnet werden. 

3) Dios. 29 ἢ. : διαιρεῖται τοίνυν [ἢ φιλοσοφία] εἷς τρία, τό τε χανονιχὸν χαὶ 
φυσιχὸν χαὶ ἠθιχόν. Die Kanonik nennen sie auch: περὶ χριτηρίου χοὶ ἀρχῆς καὶ 
στοιχειωτιχὸν, die Physik: περὶ γενέσεως χαὶ φθορᾶς χαὶ περὶ φύσεως, die Ethik: 


περὶ αἱρετῶν χαὶ φευχτῶν χαὶ περὶ βίων χαὶ τέλους. 


360 Epikureer. 


über die Kennzeichen der Wahrheit beschränkten, und desshalb 
auch nicht Logik oder Dialektik, sondern Kanonik genannt wissen 
wollten, so schrumpfte er ihnen zu einer blossen Einleitung in 
die übrigen zwei Theile zusammen 1), welche sie mit der Physik 
zu verbinden pflegten ?); diese selbst aber zogen sie, dem eben 
Angeführten zufolge, so ganz in den Dienst der Ethik, dass man 
wohl versucht sein könnte, die letztere mit einigen Neueren ὅ) 
in der Darstellung des Systems den zwei andern Theilen, oder 
doch der Physik *), vorangehen zu lassen. Indessen folgte die 
Schule selbst nicht ohne Grund der gewöhnlichen Anordnung’); denn 
wenn auch die ganze Richtung der epikureischen Physik und Ka- 
nonik, wie die der stoischen, nur aus ihrer Ethik vollständig zu 
erklären ist, so setzt doch diese in ihrer Schulform jene beiden 
voraus, und so werden auch wir besser thun, sie vorläufig voran- 
zustellen, und die Nachweisung ihrer Abhängigkeit von der Ethik 
einem späteren Orte vorzubehalten. 

Beginnen wir mit der Kanonik, so sollte sich diese, wie 
bemerkt, auf die Untersuchung über das Kriterium, oder die Er- 
kenntnisstheorie, beschränken, denn die ganze formale Logik, die 
Lehre von der Begriffsbildung und den Schlüssen, wurde von 
Epikur übergangen °). Auch die Erkenntnisstheorie musste aber 
bei ihm sehr einfach ausfallen. Wenn selbst die Stoiker ihrer 
idealistischen Ethik und ihrer pantheistischen Metaphysik einen 
sensualistischen Unterbau gaben, so musste sich Epikur für die 


1) Dıos. 30: τὸ μὲν οὖν χανονικὸν ἐφόδους ἐπὶ τὴν πραγματείαν ἔχει. 

2) Dıoc. ἃ. a. Ο.: εἰώθασι μέντοι τὸ χανονιχὸν ὁμοῦ τῷ φυσιχῷ συντάττειν. 
Cıc. Fin. I, 19; 5. ο. 359, 2. Daher Sexr. Math. VII, 14: Manche rechnen 
den Epikur zu denen, welche nur zwei Theile der Philosophie zählen, die 
Physik und die Ethik, während er nach Andern zwar die stoische Logik ver- 
worfen, aber die Dreitheilung der Philosophie der Sache nach beibehalten 
hätte. Genauer Sen. ep. 89, 11: Epicurei duas partes philosophiae putaverunt 
esse, naturalem atque moralem: rationalem removerumt, deinde cum ipsis rebus 
cogerentur, ambigua secernere, falsa sub specie veri latentia coarguere, ipsi 
quoque locum, quem de judicio et regula appellant, alio nomine rationalem in- 
duzxerumt; sed eum accessionem esse naturalis partis existimant. 

3) Rırrer III, 463. ScHLEIErMACcHER Gesch. d. Phil. 85. 123. 

4) So SteinHArrt in der mehrerwähnten Abhandlung. 

5) Dıioc. 29 f. Sexr. Math. VII, 22. 

6) Cıc, Fin. I, 7, 22 s. o. 358, 2. 


Kanonik. Wahrnehmung. 361 


theoretische Begründung einer Lebensansicht, welche Alles auf 
die Empfindung der Lust und der Unlust bezog, noch viel unbe- 
dingter auf die sinnliche Wahrnehmung stützen. Wie uns nur 
die sinnliche Empfindung belehren kann, was angenehm und un- 
angenehm, begehrens- oder verabscheuungswerth ist, so muss 
auch unser Urtheil über Wahrheit und Falschheit ausschliesslich 
auf ihr beruhen: das Kriterium ist in theoretischer Beziehung die 
Wahrnehmung, in praktischer das Gefühl der Lust und der Un- 
lust 7). Wollen wir den Sinnen nicht glauben, so werden wir, 
nach der Meinung unsers Philosophen, der Vernunfterkenntniss 
noch weit weniger verirauen können, denn diese ist ganz und gar 
aus der sinnlichen abzuleiten; es bliebe uns mithin überhaupt kein 
Merkmal der Wahrheit und keine Möglichkeit einer festen Ueber- 
zeugung, wir würden dem unbeschränkten Zweifel anheimfallen. 
Ist aber dieser Zweifel schon an sich selbst der Widerspruch, 
dass er zu wissen behauptet, man könne nichts wissen, so wider- 
spricht er ebensosehr auch der menschlichen Natur, denn er 
würde nicht blos alles Wissen, sondern auch jede Möglichkeit 
des Handelns, alle Bedingungen des menschlichen Lebens auf- 
heben 3). Dem zu entgehen, müssen wir zugeben, dass die Wahr- 
nehmung als solche immer und unter allen Umständen wahr sei: 
und auch die Sinnestäuschungen dürfen uns in dieser Ueberzeu- 
gung, wie Epikur glaubt, nicht irre machen, denn auch bei diesen 
liegt der Fehler nicht in der Wahrnehmung als solcher, sondern 
nur in unserem Urtheil: was unsere Sinne aussagen, ist nur, dass 
ein Gegenstand so oder so auf uns eingewirkt, dass dieses oder 
jenes Bild unsere Seele berührt hat, und diess ist immer richtig; 


1) Cıc. Fin. I, 7, 22 f. Sexr. Math. VII, 203. Wenn Epikur nach Dioe. 31 
und Cıc. Acad. II, 46, 142 statt der obigen zwei auch wieder drei Kriterien 
zählte, die αἴσθησις, die πρόληψις und die πάθη, so ist diess nur ungenauer 
ausgedrückt, denn die πρόληψις ist, wie wir gleich sehen werden, selbst erst 
aus der Wahrnehmung abgeleitet. 

2) Epikur b. Dıoc. X, 146. Luce. IV, 467—519. Cıc. Fin. I, 19, 64. 
Ebenso wendet Kolotes "Ὁ. Prur. adv. Col. 24, 3 gegen die cyrenaische Skepsis 
(vgl. Bd. II, a, 251) ein: μὴ δύνασθαι ζῆν μηδὲ χρῆσθαι τόϊς πράγμασιν. Der 
sensualistische Dogmatismus wird hier ebenso, wie bei den Stoikern, durch 
ein praktisches Postulat, die Nothwendigkeit einer festen Ueberzeugung für's 
menschliche Leben, begründet. 


362 ΄ Epikureer. 


nur folgt daraus durchaus nicht, dass auch der Gegenstand selbst 
genau so beschaffen ist, wie er sich uns darstellt, und dass An- 
dere genau den gleichen Eindruck von demselben erhalten müs- - 
sen, wie wir, denn es können von einem und demselben Dinge 
verschiedene Bilder ausgehen, und diese Bilder selbst können 
sich auf dem Wege zu unserem Auge und Ohr verändern, es 
können auch blosse Bilder, denen kein fester Körper entspricht, 
unsere Sinne treffen; wenn wir nun das Bild mit der Sache, den 
subjektiven Eindruck mit dem Objekt selbst verwechseln, so sind 
wir allerdings im Irrthum, aber diese Täuschung kann nicht un- 
seren Sinnen, sondern nur unserer Meinung zur Last gelegt 
werden 1). Wie könnte auch, fragt Epikur ?), das Zeugniss der 
Sinne widerlegt werden? Durch die Vernunft? diese ist selbst 
von den Sinnen abhängig, und kann nicht gegen die zeugen, von 
deren Glaubwürdigkeit ihre eigene bedingt ist. Oder durch ein- 
ander? Aber die verschiedenartigen Wahrnehmungen beziehen 
sich‘ nicht auf dasselbe, die gleichartigen haben gleiche Geltung. 
Es bleibt daher nur übrig, dass wir jeder Sinnesempfindung Glau- 
ben schenken; sie ist das unmittelbar Gewisse, und wird desshalb 
von Epikur mit dem Namen der Augenscheinlichkeit (ἐνάργεια) 
bezeichnet °); ja ihre Wahrheit steht ihm so fest, dass er behaup- 
tet, selbst die Einbildungen der Wahnsinnigen und die Traum- 
erscheinungen seien wahr, denn sie seien von etwas Wirklichem 
veranlasst *): erst durch das Hinausgehen über die Wahrnehmung 
soll ein Irrthum möglich werden. 

An sich selbst ist aber freilich dieses Hinausgehen nothwen- 
dig. Durch die Wiederholung der gleichen Anschauung entsteht 


1) Epikur b. Dıoc. X, 50 ff. 147. Sexr. Math. VII, 203—210. VIII, 9. 
63.185. Prur. adv. Col. 4, 3. 5,2 f. 25, 2 f. plac.IV,9,2. Luck. IV, 377—519. 
Cıc. Acad. II, 25, 79 f. ce. 32, 101. Fin. I, 7, 22. N. Ὁ. I, 25, 70. Terrutt. De 
‘ an. 17. Genaueres über die sinnliche Wahrnehmung tiefer unten. 

2) Dıioc. X,31f. Luck. IV, 480 ff. 

3) Sext. Math. VII, 203. 216 u.a. St. Auch Dıoe. X, 52 ist für ἐνεργείας 
mit CoBET ἐναργείας zu lesen. Ausser dieser eigenthümlichen Bezeichnung 
setzt Epikur für die Wahrnehmung bald αἴσθησις bald φαντασία (Sexrus 
a. a. O.); den sinnlichen Eindruck bezeichnet er durch φανταστιχὴ ἐπιβολὴ 
Dıos. 50 ff. 3 

4) Dıos. 32. 


Begriff. 363 


‚der Begriff (πρόληψις)., welcher demnach nichts andexes ist, als 
das im Gedächtniss festgehaltene allgemeine Bild des Wahrgenom- 
menen %). Auf diesen gedächtnissmässigen Vorstellungen beruht 
alles Reden und Denken, denn sie allein sind das, was wir ur- 
sprünglich mit dem Namen der Dinge bezeichnen; die Sprache ist 
nur ein Mittel, um die Erinnerung an bestimmte Anschauungen 
hervorzurufen 5). Sie sind die Voraussetzung alles wissenschaft- 
lichen Erkennens °); sie bilden nächst der Wahrnehmung den 
Maasstab für die Wahrheit unserer Ueberzeugungen %); und auch 
von ihnen gilt, wie von jener, der Satz, dass sie an und für sich 
wahr und keines Beweises bedürftig sind °), denn sie sind für sich 
genommen ebenso, wie die Anschauungen, Abspiegelungen der 


μι 


1) Πιοα. 33: τὴν δὲ πρόληψιν λέγουσιν olovei χατάληψιν ἢ δόξαν ὀρθὴν ἣ 
ἔννοιαν ἢ χαθολιχὴν νόησιν ἐναποχειμένην, τουτέστι μνήμην τοῦ πολλάχις ἔξωθεν 
φανέντος. Nach dieser Stelle ist auch die Darstellung Cıcero’s N.D. I, 16, 
43 ἔν zu berichtigen, der die πρόληψις wie einen angeborenen Begriff be- 
schreibt. - ἃ 

2) Dıos. a. a. O.: ἅμα γὰρ τῷ ῥηθῆναι ἄνθρωπος εὐθὺς χατὰ πρόληψιν καὶ ὃ 
τύπος αὐτοῦ νοξῖται προηγουμένων τῶν αἰσθήσεων. παντὶ οὖν ὀνόματι τὸ πρώτως 
ὑποτεταγμένον ἐναργές ἐστι χαὶ οὐχ ἂν ἐζητήσαμεν τὸ ζητούμενον, εἰ μὴ πρότερον 
ἐγνώχειμεν αὐτό... οὐδ᾽ ἂν ὠνομάσαμέν τι μὴ πρότερον αὐτοῦ χατὰ πρόληψιν τὸν 
τύπον μαθόντες. Daher in Epikur’s Brief an Herodot b. Dıios. X, 37 die Er- 
mahnung: πρῶτον μὲν οὖν τὰ ὑποτεταγμένα τοῖς φθόγγοις δεῖ εἰληφέναι ὕπως ἂν τὰ 
δοξαζόμενα ἢ ζητούμενα ἢ ἀπορούμενα ἔχωμεν εἰς ὃ ἀνάγοντες ἐπιχρίνειν U. 5. W. 
Jede Vorstellung soll auf bestimmte Anschauungen zurückgeführt werden, 
denn abgesehen von der Anschauung kommt unsern Vorstellungen keine 
Realität zu, oder wie diess b. Sexr. Pyrrh. II, 107. Math. VIII, 13. 258 aus- 
gedrückt ist, die Epikureer läugneten, dass es ein λεχτὸν gebe, dass zwischen 
der Sache und dem Wort der Begriff als Drittes in der Mitte stehe. Vgl. auch 
Sexr. VII, 267. 

3) θιοα. 33, 5. Anm.2. Sexr. Math. I, 57 (XI, 21): οὔτε ζητέϊν οὔτε ἀπορέϊν 
ἔστι κατὰ τὸν σοφὸν ᾿Επίχουρον ἄνευ προλήψεως. Ebd. VIH, 337. 8.521. Pour. 
De an. Fr. 6: die Schwierigkeit, dass jedes Lernen schon ein Wissen voraus- 
zusetzen scheint, beantworten die Stoiker mit den φυσιχαὶ ἔννοιαι, die Epiku- 
reer mit den προλήψεις (welche demnach gleichfalls für die natürliche Norm 
der Wahrheit gelten). 

4) Vgl. 8. 361, 1. Dıog, a. a. O. ἐναργεῖς οὖν εἰσιν αἱ προλήψεις καὶ τὸ δοξα- 
στὸν ἀπὸ προτέρου τινὸς ἐναργοῦς ἤρτηται, ἐφ᾽ ὃ ἀναφέροντες λέγομεν. 

5) 8. vor. Anm. und Epik. b. Dıos. 88: ἀνάγχη γὰρ τὸ πρῶτον ἐννόημα χαθ᾽ 
ἕχαστον φθόγγον βλέπεσθαι χαὶ μηθὲν ἀποδείξεως προςδείσθαι, εἴπερ ἕξομεν τὸ ζητού- 
μενον ἢ ἀπορούμενον χαὶ δοξαζόμενον ἐφ᾽ ὃ ἀνάξομεν. 


364 Epikureer. 


Dinge in der Seele, die subjektive Thätigkeit, welche die gegen- 
ständlichen Eindrücke verändert, ist noch nicht eingetreten. 
Ebendesswegen können aber auch die Begriffe nicht genügen. 
Wir müssen von den Erscheinungen zu ihren verborgenen Grün- 
den, von dem Bekannten zu dem Unbekannten fortgehen '). Nur 
legt Epikur den logischen Denkformen viel zu geringen Werth 
bei, um die Methode dieses Fortgangs genauer zu untersuchen ?). 
Die Gedanken ergeben sich seiner Meinung nach von selbst aus 
den Wahrnehmungen, und wenn auch die Reflexion dabei nicht 
unthätig ist, so bedarf sie doch keiner wissenschaftlichen Lei- 
tung 5). Was auf diesem Wege erreicht wird, soll aber auch 
nicht der Gedanke, als ein Höheres, über der Anschauung Ste- 
hendes, sein, sondern nur die Meinung (ὑπόληψις, δόξα), welche 
ohne ein Merkmal der Wahrheit in sich selbst erst durch die 
Wahrnehmung beglaubigt werden muss. Diejenige Meinung ist 
für wahr zu halten, welche durch das Zeugniss der Sinne unter- 
stützt, oder wenigstens nicht widerlegt wird, diejenige für falsch, 
bei welcher das Umgekehrte der Fall ist 3). Wir setzen voraus, 


1) Dıoc. 33 (vgl. 38. 104): περὶ τῶν ἀδήλων ἀπὸ τῶν φαινομένων χρὴ 
σημειοῦσθαι. 

2) 5. ο. 358, 2. Doch geht Steismaut (a. ἃ. O. 8. 466) zu weit, wenn er 
sagt, Epikur habe im Denken alles Gesetz und alle Regel verworfen. 

3) Dios. 32: χαὶ γὰρ χαὶ ἐπίνοιαι πᾶσαι ἀπὸ τῶν αἰσθήσεων γεγόνασι, χατά τε 
περίπτωσιν (wahrscheinlich: Zusammentreffen mehrerer Wahrnehmungen, von 
der σύνθεσις, ihrer freien Verknüpfung, noch zu unterscheiden) χαὶ ἀναλογίαν 
nor ὁμοιότητα χαὶ σύνθεσιν, συμβαλλομένου τι χαὶ τοῦ λογισμοῦ. Vgl. S. 358, 2. 
363, 5, und mit dem, was Epikur über die Entstehung der Gedanken aus den 
Wahrnehmungen sagt, die entsprechende Lehre der Stoiker, oben 8. 67 f. 

4) Dioc. 88 f.: χαὶ τὸ δοξαστὸν ἀπὸ προτέρου τινὸς ἐναργοῦς ἤρτηται... τὴν δὲ 
δόξαν χαὶ ὑπόληψιν λέγουσιν. ἀληθη τέ φασι χαὶ ψευδῆ" ἂν μὲν γὰρ ἐπιμαρτυρῆται ἢ μὴ 
ἀντιμαρτυρῆται ἀληθῆ εἶναι- ἐὰν δὲ μὴ ἐπιμαρτυρῆται ἢ ἀντιμαρτυρῆται ψευδῇ τυγχάνειν. 
Sexr. Math. Υ̓]1,211: τῶν δοξῶν χατὰ τὸν ᾿Επίχουρον al μὲν ἀληθεῖς εἰσιν αἱ δὲ ψευ- 
δεῖς" ἀληθείς μὲν αἵ τε ἐπιμαοτυρούμεναι χαὶ οὐχ ἀντιμαρτυρούμεναι πρὸς τῆς ἐναργείας, 
ψευδεῖς δὲ αἵ τε ἀντιμαρτυρούμεναι χαὶ οὐχ ἐπιμαρτυρούμεναι πρὸς τῆς ἐναργείας. 
Rırter III, 486 bemerkt, diese Angaben stimmen nicht zusammen, nach 
Sextus sei nur die Meinung wahr, welche bestätigt und nicht widerlegt wird, 
nach Diogenes die, welche bestätigt oder nicht- widerlegt wird. Indessen 
will auch Sextus nur das Letztere sagen, wie aus dem zweimaligen re χαὶ 
erhellt: αἵ τε ἐπιμαρτ. u. 5. f. heisst: sowohl die bestätigten, als die nicht 
widerlegten. Das Gleiche sagt Epikur selbst b. Dıos. 50. 51. 


Meinung. 365 


dass auf gewisse gegenwärtige Vorstellungen gewisse andere fol- 
gen werden, dass uns z. B. der Thurm, der sich uns in der Ent- 
fernung als rund darstellt, auch aus der Nähe rund erscheinen 
werde; wenn die wirkliche Anschauung dieser Erwartung ent- 
spricht, ist unsere Meinung wahr gewesen, andernfalls unwahr 1). 
Oder wir setzen für gewisse Erscheinungen verborgene Ursachen 
voraus, wie z. B. den leeren Raum als Ursache der Bewegung; 
wenn sich nun alle Erscheinungen dieser Erklärung fügen, wer- 
den wir unsere Voraussetzung für richtig zu halten haben, wo 
nicht, für unrichtig ®). Im ersteren Fall ist die Wahrheit der 
Meinung daran zu erkennen, dass sie von der Erfahrung be- 
stätigt, im anderen daran, dass sie von ihr nicht widerlegt 
wird ?). Es sind hier die Grundzüge einer rein sensualistischen 
Erkenntnisstheorie angedeutet; aber um diese Andeutungen zur 
wirklichen Theorie zu entwickeln, dafür ist das Interesse des 
Philosophen an diesen Fragen zu oberflächlich. 

Auch um die Lösung der Schwierigkeiten, von denen seine 
Ansicht gedrückt wird, scheint sich Epikur nur wenig bemüht 
zu haben. Wenn alle Wahrnehmungen als solche wahr sind, so 
folgt unmittelbar der Satz des Protagoras, dass für Jeden das 
wahr ist, was ihm als wahr erscheint, dass mithin auch wider- 
sprechende Vorstellungen über denselben Gegenstand wahr sind, 
die Sinnestäuschungen, von denen uns doch die Erfahrung so 
zahllose Beispiele zeigt, werden unmöglich. Dem sucht nun 
Epikur allerdings dadurch zu entgehen, dass er den verschiede- 
nen Vorstellungen verschiedene Objekte giebt; was unsere Sinne 


1) Erıkur b. Dıioc. 50 f. Ebd. 33 f. Sexr. VII, 212. Den Gegenstand 
unserer zukünftigen Wahrnehmungen nennt Epikur b. Dıoc. 38 To προςμένον 
(das Bevorstehende). Diog. selbst X, 34 giebt von diesem Ausdruck eine 
schiefe Deutung, durch welche sich wohl auch Srrısmarr ἃ. ἃ. Ὁ, 8. 466, 
Anm. 90 hat täuschen lassen. 

2) Sexrt. a. a. 0. 213 f. 

3) Die zwei Kriterien der Wahrheit, das Bestätigt- und das Nichtwider- 
legtwerden, beziehen sich daher, wie diess Sexrus a. a. O. ausdrücklich 
sagt, nicht auf denselben Fall: unsere Erwartung in Betreff äusserer Erschei- 
nungen muss, um wahr zu sein, bestätigt, unsere Vorstellung von den ge- 
heimen Ursachen der Erscheinungen darf nicht widerlegt werden; jenes Merk- 
mal bezieht sich auf die Meinungen über das προςμένον, dieses auf die über 
das ἄδηλον (Dıos. 38). 


966 Epikureer. 


unmittelbar berührt, das ist, wie schon bemerkt wurde, nicht der 
Gegenstand selbst, sondern nur das Bild desselben: solcher Bilder 
sind es aber unzählig viele, von denen jeder Wahrnehmung ein 
anderes zu Grunde liegt, und sind sich nun auch die von dem 
gleichen Gegenstand ausgehenden Bilder in der Regel sehr ähn- 
lich, so ist es doch auch möglich, dass sie aus verschiedenen Ur- 
sachen von einander abweichen. Wenn sich daher der gleiche 
Gegenstand Verschiedenen verschieden darstellt, so haben sie 
eben in Wahrheit nicht dasselbe, sondern Verschiedenes wahrge- 
nommen, denn es waren verschiedene Bilder, von denen sie afli- 
cirt wurden, und wenn uns unsere Wahrnehmung getäuscht hat, 
so lag die Schuld nicht an unseren Sinnen, die uns etwas Un- 
wirkliches vorgespiegelt, sondern an unserem Urtheil, das sich 
einen unbegründeten Schluss von dem Bild auf den Gegenstand 
erlaubt hat 15. Indessen ist die Schwierigkeit damit, wie man 
leicht sieht, nur weiter zurückgeschoben. Die Wahrnehmung soll 
das Bild, von welchem die Sinneswerkzeuge getroffen werden, 
immer treu wiedergeben, aber die Bilder geben den Gegenstand 
nicht immer gleichmässig und treu wieder. Wie lassen sich nun 
die treuen Bilder von den untreuen unterscheiden? Hierauf hat 
das System keine Antwort; denn wenn gesagt wurde, der Weise 
wisse beide zu unterscheiden ?), so war damit nur auf ein objek- 
tives Kriterium verzichtet, und die ganze Entscheidung über 
Wahrheit und Irrthum in das Subjekt verlegt. Ebendamit waren 
aber auch alle unsere Vorstellungen von den Eigenschaften der 
Dinge für etwas blos Relatives erklärt, denn wenn uns die Wahr- 
nehmung nicht die Dinge selbst, sondern nur diejenigen Bilder 
der Dinge zeigt, von denen wir eben berührt werden, so heisst 
diess: sie stellt uns die Dinge nicht nach ihrem Ansich, sondern 
immer nur nach ihrem zufälligen Verhältniss zu uns dar. Wenn 


1) M. vgl. hierüber die Stellen, welche S. 362, 1 angeführt sind, nament- 
lich Sexr. VII, 206 fi. 

2) Cıc. Acad. II, 14,45 (welche Aeusserung doch wohl diesem Gedanken- 
zusammenhang angehört): nam qui voluit subvenire erroribus Epieurus εἶδ, 
qui videntur conturbare veri cognitionem, dixitque sapientis esse opinionem a 
perspieuitate sejungere, nihil profeeit, ipsius enim opinionis errorem nullo modo 
sustulit, 


Relativität der Wahrnehmungen. 367 


daher Epikur läugnete, dass die Farbe den Körpern an und für 
sich zukomme, da sie ja im Dunkeln von den Einen bemerkt 
werden, von den Anderen nicht 1), so spricht sich darin eine 
riehtige Folgerung aus seiner Erkenntnisstheorie aus. Auf die 
gleiche Ansicht musste er, wie sein Vorgänger Demokrit, durch 
seine atomistische Physik geführt werden, denn da den Atomen 
nur wenige von den Eigenschaften zukommen sollen, die wir an 
den Dingen wahrnehmen, so mussten alle übrigen für etwas er- 
klärt werden , was nicht’ das Wesen der Dinge angehe, sondern 
nur ihre Erscheinung 5). Indessen ist der speculative Sinn bei 
Epikur viel zu schwach, und das Bedürfniss einer unmittelbaren 
sinnlichen Gewissheit zu stark, als dass er sich dieser Richtung 
auf die Dauer hinzugeben vermocht hätte, und wenn er auch ein- 
zelnen Eigenschaften der Dinge blos relative Geltung zugesteht, 
so will er doch im Allgemeinen die Gegenständlichkeit dessen, 
was wir an ihnen wahrnehmen, nicht bezweifeln °). 


3. Die epikureische Physik. 


Wenn Epikur und seine Nachfolger die Dialektik gering- 
schätzten, so legten sie dagegen der Physik einen bedeutenden 


1) Puur. adv. Col. 7, 2 (vgl. ὅτοβ. ΕΚ]. I, 366. Lvcr. II, 795 ff.): 6 ’Er!- 
χουρος οὐχ εἶναι λέγων τὰ χρώματα συμφυῆ τοῖς σώμασιν, ἀλλὰ γεννᾶσθαι κατὰ ποιάς 

ἘΣ x r ᾿ x με ! . ΕῚ un ea ΡΥ we. 
τινας τάξεις χαὶ θέσεις πρὸς τὴν obıv. Denn, sagt Epik., οὐχ οἶδα ὅπως δεὶ τὰ Ev 
σχότει ταῦτα ὄντα οἦσαι χρώματα ἔχειν, oft sehen ja hier die Einen noch Farben, 

ἌΡ n δ a x «ἢ ΕΣ Ὁ “Ἄ \ W ER e a > ® ΣΟΙ 
Andere keine; οὐ μᾶλλον οὖν ἔχειν ἢ μὴ ἔχειν χρῶμα ῥηθήσεται τῶν “σωμάτων 
ἕχαστον. 

2) Sımer. Categ. 109, ß (Schol. in Arist. 92, a, 10): da Demokrit und Epi- 
kur den Atomen alle Eigenschaften ausser der Gestalt und der Art ihrer Zu- 
sammensetzung absprechen, ἐπιγίνεσθαι λέγουσι τὰς ἄλλας ποιότητας, τάς τε 
΄ - = ᾿ iin \ \ . 
ἁπλᾶς, οἷον θερμότητας χαὶ λειότητας, χαὶ τὰς χατὰ χρώματα χαὶ τοὺς χυμούς. 
Luceer. a. ἃ. Ὁ. Weiteres unten. 

3) M. vgl. ausser den früher angeführten Aeusserungen über die Wahrheit 
der Sinnesempfindung auch die Worte Epikur’s h. Dıioc. 68: ἀλλὰ μὴν χαὶ τὰ 
σχήματα χαὶ τὰ χρώματα χαὶ τὰ μεγέθη χαὶ τὰ βάρεα χαὶ ὅσα ἄλλα χατηγορεῖται 
χατὰ τοῦ σώματος ὡς ἂν εἰς αὐτὸ βεβηχότα καὶ πᾶσιν ἐνόντα ἢ τοῖς δρατοῖς καὶ κατὰ 
Zi » 0 in an an € ‚er r ? 7 nr ᾿ ΕῚ \ DS 
τὴν αἴσθησιν αὐτὴν γνωστσῖς, οὐθ᾽ ὡς χαθ᾽ ἑαυτάς εἰσι φύσεις δοξαστέον (οὐ γὰρ δυνα- 


τὸν ἐπινοῆσαι τοῦτο), οὔθ᾽ ὅλως ὡς οὐχ εἰσὶν, οὐθ᾽ ὡς ἕτερά τινα προςυπάρχοντα 
r > x ’. er Fr Pr‘ 
τούτῳ ἀσώματα οὔθ᾽ ὡς μόρια τούτου, ἀλλ᾽ ὡς τὸ ὅλον σῶμα χαθόλου μὲν ἐκ τούτων 


πάντων τὴν ἑαυτοῦ φύσιν ἔχον ἀΐδιον τι. 8. w. 


ῃ 


968 Epikureer. 


Werth bei. Aber sie fanden diesen, wie früher gezeigt wurde, 
ausschliesslich in dem praktischen Nutzen, welchen die Kenntniss 
der natürlichen Ursachen als Heilmittel gegen den Aberglauben 
gewähre. Ohne diesen Zweck wäre die Naturforschung ganz ent- 
behrlich 1). Von diesem Standpunkt aus konnte es sich natürlich 
nicht um eine gründliche und vollständige Erklärung der Erschei- 
nungen, sondern nur im Allgemeinen um die Aufstellung einer 
solchen Weltansicht handeln, durch welche die Nothwendigkeit 
übernatürlicher Ursachen beseitigt würde, ohne dass eine sichere 
und genügende Lösung aller wissenschaftlicheu Probleme als sol- 
cher nothwendig erschienen wäre ?). So ausführlich sich daher 
auch schon Epikur selbst mit der Physik beschäftigte ®), so wenig 
hielt er doch eine Sicherheit der naturwissenschaftlichen Ergeb- 
nisse im Einzelnen für nothwendig, oder auch nur für möglich. 
Ueber die allgemeinen Gründe der Dinge können und sollen wir 
uns allerdings eine feste Ueberzeugung bilden, weil davon die 
Ueberwindung der religiösen Vorurtheile und der aus ihnen ent- 
springenden Furcht abhängt. Die Erforschung des Einzelnen da- 
gegen leistet uns diesen Dienst nicht, sie wird vielmehr jene Vor- 
urtheile bei dem, welcher sich nicht vorher schon davon freige- 
macht hat, nur verstärken; hier genügt es daher unserem Philoso- 
phen, wenn nachgewiesen wird, dass sich verschiedene natürliche 
Ursachen der Erscheinungen denken lassen, dass wir mancherlei 
Wege einschlagen können, um der Einmischung der Götter, den 


‘Mythen des Vorsehungsglaubens zu entgehen 3); einen von diesen 


1) Epik. b. Dıos. 143: οὐχ ἦν τὸν φοβούμενον περὶ τῶν χυριωτάτων λύειν μὴ 
χατειδότα τίς ἣ τοῦ σύμπαντος φύσις ἀλλ᾽ ὑποπτευόμενόν τι τῶν χατὰ τοὺς μύθους. 
ὥστε οὐχ ἣν ἄνευ φυσιολογίας ἀχεραίας τὰς ἡδονὰς ἀπολαμβάνειν. Weiteres 8. 358 f. 

2) Οὐ γὰρ δὴ ἰδιολογίας καὶ χενῆς δόξης ὃ βίος ἡμῶν ἔχει χρείαν, ἀλλὰ τοῦ 
ἀθορύβως ἡμᾶς ζῆν. Epik. b. Dıoc. 87. 

3) Dıoc. 27 ἢ, erwähnt von ihm ausser einigen kleineren Werken 37 Bücher 
περὶ φύσεως. 

4) Epik. b. Dıoc. 18 ἢ: χαὶ μὴν χαὶ τὴν ὑπὲρ τῶν χυριωτάτων αἰτίαν ἐξαχρι- 
βῶσαι φυσιολογίας ἔργον εἶναι δεῖ νομίζειν χαὶ τὸ μακάριον ἐν τῇ περὶ τῶν μετεώρων 
γνώσει ἐνταῦθα πεπτωχέναι" nal ἐν τῷ, τίνες φύσεις αἱ θεωρούμεναι χατὰ τὰ μετέωρα 
ταυτί, χαὶ ὅσα συγγενῆ πρὸς τὴν εἰς ταῦτα ἀχρίβειαν - ἔτι δὲ χαὶ τὸ πλεοναχῶς ἐν τοῖς 
τοιούτοις εἶναι (offenbar zu lesen: μὴ εἶναι!) χαὶ τὸ ἐνδεχομένως καὶ ἄλλως πὼς 
ἔχειν, ἀλλ᾽ ἁπλῶς μὴ εἶναι ἐν ἀφθάρτῳ καὶ μαχαρία φύσει τῶν διάκρισιν ὑποβαλλόν- 


Physik, ihr Werth und Verfahren. 369 


Wegen für den allein möglichen ausgeben, heisst in den meisten 
Fällen, wie er meint, über die Grenzen der Erfahrung und des 
menschlichen Wissens hinausgehen, und in die Willkühr der my- 
thologischen Erklärung zurückfallen 7). Es ist möglich, dass die 
Welt sich bewegt, aber auch, dass sie stille steht; es ist möglich, 
dass sie die runde, aber auch dass 516 die dreieckige oder sonsteine 
beliebige Gestalt hat; es ist möglich, dass die Sonne und die Sterne 
bei ihrem Untergang erlöschen und bei ihrem Aufgang sich neu 
entzünden, es ist aber auch möglich, dass sie unter der Erde ver- 
schwinden, und wieder hervorkommen, oder dass ihr Auf- und 
Untergang irgend welche andere Gründe hat; es ist möglich, dass 
die Zu- und Abnahme des Mondes auf einer Drehung des Mond- 
körpers, es ist aber auch möglich, dass sie auf einer Gestaltung 
‚der Luft, oder auf wirklicher Zu- oder Abnahme, oder auf sonst 
einer Ursache beruht; es ist möglich, dass der Mond mit fremdem, 
es ist aber auch möglich, dass er mit eigenem Licht leuchtet, denn 
wir finden in der Erfahrung sowohl Körper, die eigenes, als 


τῶν ἢ τάραχον μηθέν" καὶ τοῦτο, χαταλαβεῖν τῇ διανοία ἔστιν ἁπλῶς οὕτῶς εἶναι. τὸ 
δ᾽ ἐν τῇ ἱστορία πεπτωχὺὸς τῆς δύσεως χαὶ ἀνατολῆς χαὶ τροπῆς χαὶ ἐχλείψεως χαὶ ὅσα 
συγγενῆ τούτοις μηθὲν ἔτι πρὸς τὸ μαχάριον τῆς γνώσεως συντείνειν (wie ganz anders 
Aristoteles! 5. Bd. II, Ὁ, 113, 3. 114, 3. 359, 2), ἀλλ᾽ ὁμοίως τοὺς φόβους ἔχειν 
τοὺς ταῦτα χατιδόντας τίνες δὲ αἱ φύσεις ἀγνοοῦντας καὶ τίνες al κυριώταται αἰτίαι, zal 
εἰ (wie wenn) μὴ προήδεσαν ταῦτα, τάχα δὲ zart πλείους, ὅταν τὸ θάμβος dx τῆς 
τούτων προχατανοήσεως μὴ δύνηται τὴν λύσιν λαμβάνειν χατὰ τὴν περὶ τῶν χυριωτά- 
τῶν οἰχονομίαν. (Vgl. Licr. VI, 50 ff. V, 82 ff.) διὸ δὴ καὶ πλείους αἰτίας εὑρίσκο- 
μὲν τροπῶν τι. 8. w. χαὶ οὐ δεῖ νομίζειν τὴν ὑπὲρ τούτων χρείαν ἀκρίβειαν μὴ ἀπει- 
ληφέναι ὅση πρὸς τὸ ἀτάραχον καὶ μαχάριον ἡμῶν συντείνει u.s. ν. Ebd. 104: χαὶ 
nur’ ἄλλους δὲ τρόπους πλείονας ἐνδέχεται χεραυνοὺς ἀποτελεῖσθαι. μόνον ὃ μῦθος 
ἀπέστω. ᾿ 

1) A. ἃ. Ο. 87: πάντα μὲν οὖν γίνετα! ἀσείστως κατὰ πάντων, κατὰ πλεοναχὸν 
τρόπον ἐχχαθαιρομένων συμφώνως τοῖς φαινομένοις, ὅταν τις τὸ πιθανολογούμενον 
ὑπὲρ αὐτῶν δεόντως χαταλίπη. ὅταν δέ τις τὸ μὲν ἀπολίπῃ τὸ ὃξ ἐχβάλη ὁμοίως σύμ- 
φωνον ὃν τῷ φαινομένῳ δῆλον ὅτι χαὶ ἐχ παντὸς ἐχπίπτει φυσιολογήματος ἐπὶ δὲ τὸν 
μὖθον χαταῤῥεί. 5. 98: οἱ δὲ τὸ ἕν λαμβάνοντες (die, welche sich nur Eine Er- 
klärung jeder Erscheinung gefallen lassen wollen) τοῖς τε φαινομένοις μάχονται 
καὶ τοῦ τί δυνατὸν ἀνθρώπῳ θεωρῆσαι διαπεπτώχασιν" sie folgen bei der Natur- 
forschung (wie schon damals der rohe Epirismus einer systematischeren, auf 
den innern Zusammenhang der Dinge gerichteten Forschung en'gegenhielt) 
willkührlichen apriorischen Voraussetzungen (ἀξιώματα χενὰ χαὶ νομοθεσίαι 
Epik. a. a. O. 86). Aehnlich 94. 104. 113. Leck. VI, 703 ff. u. ö. 

Philos. d. Gr. III. Bd. 1. Abth. 24 


370 Epikureer: 


solche, die fremdes Licht haben 1) u. 5. w. u.s. w. Man sieht 
deutlich, die naturwissenschaftlichen Fragen, für sich genommen, 
haben für Epikur gar keinen Werth; wenn nur überhaupt eine 
natürliche Erklärung der Erscheinungen möglich ist, welche im 
einzelnen Fall gewählt wird, ist ihm gleichgültig. 

Um so entschiedener wird dagegen allerdings jenes Allge- 
meine betont. Die Grundrichtung der epikureischen Physik liegt 
in dem Bestreben, alle Erscheinungen, im Gegensatz gegen die 
Teleologie der religiösen Weltansicht, auf rein natürliche Ur- 
sachen zurückzuführen. Nichts ist ihr zufolge verkehrter, als die 
Meinung, dass die Einrichtung der Natur auf das Beste des Men- 
schen, oder überhaupt auf irgend einen Zweck berechnet sei, 
dass wir die Zunge haben, um zu sprechen, die Ohren, um zu 
hören u. s. w., denn in der Wirklichkeit verhält es sich vielmehr 
umgekehrt: wir sprechen, weil wir eine Zunge, wir hören, weil 
wir Ohren haben; die natürlichen Kräfte haben rein nach dem 
Gesetz der Nothwendigkeit gewirkt, unter den mancherlei Pro- 
dukten, die sie hervorgebracht haben, waren nothwendig auch 
solche, die zweckmässig zusammengesetzt sind, und es ergaben 
sich namentlich auch für den Menschen mancherlei Mittel und 
Kräfte; dieses Ergebniss ist aber durchaus nicht für einen beab- 
sichtigten, sondern für einen rein zufälligen Erfolg der natur- 
nothwendigen Wirkungen anzusehen, die Götter, deren Seligkeit 
mit der Sorge um die Menschen und ihr Wohl sich nicht verträgt, 
müssen wir bei der Naturerklärung ganz aus dem Spiel lassen ?). 


1) Epik. Ὁ. Dıioc. 88. 92—95. Noch viele ähnliche Beispiele liessen sich 
beibringen, wie diess spätere Nachweisungen zeigen werden. Für die An- 
nahme, dass die Sonne beim Untergang erlösche, soll Epikur nach Kreouen, 
Meteora S. 89 auch das Mährchen (worüber Posınon. b. Srraso III, 1, 5. 
S. 138) angeführt haben, dass man an der Küste des Oceans das Meer zischen 
höre, wenn sie hineinsinke. 


2) Dieser Grundsatz wird besonders von Lucrez vielfach ausgeführt z. B. 
I, 1021: nam certe neque consilio primordia rerum 
ordine se suo quaeque sagaci mente locarunt, 
nec quos quaeque darent motus pepigere profeeto: 
sed quia multa modis multis mutata per omne 
ex infinito vexantur percia plagis, 
omne genus motus et coetus ewperiundo, 


Mechanische Naturerklärung. 371 


Je vollständiger sich aber Epikur’s naturwissenschaftliches. Inter- 
esse auf diese allgemeine Anschauung beschränkt, um so geneig- 
ter musste er sein, für ihre weitere Durchführung sich an ein 
älteres System anzulehnen; und da kam keines seiner eigenen 
Richtung mehr entgegen, als die demokritische Naturlehre, welche 
ihm neben der entschiedenen Verbannung der Teleologie auch 
durch ihren Materialismus, und vor Allem durch ihre Atomistik 
zusagen musste: wie Epikur im Einzelwesen den letzten prakti- 
schen Zweck fand, so hatte Demokrit theoretisch in dem absolut 
Einzelnen, oder in den Atomen das ursprünglich Wirkliche er- 
kannt; seine Physik schien sich als die natürlichste Grundlage 
für die epikureische Ethik darzubieten. Wenn daher schon die 
Stoiker in der Physik einem Heraklit gefolgt waren, so schliesst 
sich Epikur noch weit enger an Demokrit an; was er zu der 
Theorie des Letztern hinzugethan hat, ist mit Ausnahme einer 


einzigen Bestimmung in philosophischer Beziehung ganz uner- 
heblich. 
Mit seinem Vorgänger trifft Epikur zunächst schon in der 


tandem deveniunt in tales disposituras, 
qualibus haec rebus consistit summa creata. 
V, 156: dieere porro hominum causa voluisse [501], Deos] parare 
praeclaram mundi naturam u. 5. W. 
desiperest. quid enim immortalibus atque beatis 
gratia nostra queat largirier emolumenti, 
ut mosira quiequam causa gerere adgrediantur? 
quidve novi potuit tanto post ante quietos 
in clicere, ut cuperent vitam mutare priorem® ..... 
exemplum porro gignundis rebus et ipsa 
notities hominum Dis unde est insita primum, 
... si non ipsa dedit specimen natura creandi? 


M. vgl. ferner IV, 820 ff. V, 78 fl. 195 ff. 419 ff. Auch hiebei folgt er aber 
nur Epikur. Die Himmelserscheinungen, sagt Dieser z. B. b. Dioe. 76 f., 
write λειτουργοῦντός τινος νομίζειν δεῖ γίνεσθαι xt διατάττοντος ἢ διατάξαντος χαὶ 

ἦτε λειτουργοῦντός τινος νομίζειν Get γίνεσθαι χαὶ διατάττοντος ἢ διατάξαντος χαὶ 
ἅμα τὴν πᾶσαν μαχαριότητα ἔχοντος μετ᾽ ἀφθαρσίας" οὐ γὰρ συμφωνοῦσι πραγματεῖαι 

\ "> χ4 x Kr - , 555} ῃ \ 7 \ 
χαὶ φροντίδες χαὶ ὀργαὶ χαὶ χάριτες τῇ μαχαοιότητι, ἀλλ᾽ ἀσθενεία χαὶ φόβῳ καὶ προς- 
δεήσει τῶν πλησίον ταῦτα γίνεται. Ebd. 97: ἣ θεία φύσις πρὸς ταῦτα μηδαμῆ προς- 
ἀγέσθω, ἀλλ᾽ ἀλειτούργητος διατηρείσθω χαὶ ἐν τῇ πάσῃ μαχαριότητι. Ebd. 118. 
Mit diesen Ausführungen stimmt Cıc. N. D. I, 20, 52 ff. und Prvr. plae. 1, 7, 
7 fl. (auch II, 3, 2. Sro». I, 442) durchaus überein. Weitere Belege sind ent- 
behrlich. 


24 ὃ 


372 | Epikureer. 


Behauptung zusammen, dass es keine andere, als die körperliche 
Realität gebe. Jede Substanz, sagt er mit den Stoikern, muss auf 
Anderes wirken und Einwirkungen von Anderem erfahren; was 
aber wirkt oder leidet, ist ein Körper; es giebt mithin keine an- 
dere, als körperliche Substanzen 1). Nur etwas Aceidentelles an 
den Körpern, kein fürsichseiendes Unkörperliches sind die ver- 
schiedenen Eigenschaften der Dinge, sowohl die wesentlichen, 
als die zufälligen; jene nennt Epikur ouu.ßeßnxöra, diese συμπτώ- 
ματα ?). Neben den Körpern ist aber zur Erklärung der Erschei- 
.nungen noch ein Zweites nöthig, der leere Raum. Dass es einen 
solchen giebt, diess erhellt schon aus dem Gewichtsunterschied der 
Körper, denn wo sollte dieser sonst herrühren? ?) noch augen- 
scheinlicher aber aus der Bewegung, die ohne ein Leeres ganz 


1) Luck. I, 440: praeterea per se guodeunque erit aut faciet quid 

aut alüs fungi (πάσχειν) debebit agentibus ipsum, 

aut erit, ut possint in eo res esse gerique. 

at facere et fungi sine corpore mulla potest res, 

nec praebere locum Pporro nisi inane vacansque. 

ergo praeler inane et corpora tertia per se 

nulla potest rerum in numero natura relinqui. 
Epikur b. Dıioc. 67: χαθ᾽ ἑαυτὸ δὲ οὐχ ἔστι νοῆσαι τὸ ἀσώματον πλὴν ἐπὶ τοῦ χενοῦ. 
τὸ δὲ χενὸν οὔτε ποιῆσαι οὔτε παθεῖν δύναται, ἀλλὰ χίνησιν μόνον δι᾽ ἑαυτοῦ τοῖς 
σώμασι παρέχεται. ὥσθ᾽ οἱ λέγοντες ἀσώματον εἶναι τὴν ψυχὴν ματαιάζουσιν. οὐθὲν 
γὰρ ἂν ἐδύνατο ποιεῖν οὔτε πάσχειν εἰ ἦν τοιαύτη. 

2) Dıoc. 68 ff. 40. Lucr. I, 449 ff., welcher für συμβεβηκότα conjuneta 
setzt, für συμπτώματα eventa. Zu den letzteren rechnet Lucrez hier (459 ff.) 
namentlich auch die Zeit, weil dieselbe nichts für sich sei,-sondern nur an 
der Bewegung und Ruhe uns zum Bewusstsein komme. Achnlich zeigt Epikur 
b. Dıoc. 72 f. (vgl. Sror. I, 252), dass wir die Zeit aus Tagen und Nächten 
und ihren Theilen, aus den Zuständen der Empfindung oder Empfindungs- 
losigkeit, der Bewegung und Rule zusammensetzen, dass sie mithin nur ein 
Produkt (σύμπτωμα) dieser Erscheinungen sei; und da nun diese selbst gleich- 
falls συμπτώματα sind, so definirt sie der Epikureer Demetrius (b. Sexr. Math. 
X, 219. Pyrrh. III, 137) als σύμπτωμα συμπτωμάτων παρεπόμενον ἡμέραις τε χαὶ 
νυξὶ zat ὥραις καὶ πάθεσι χαὶ ἀπαθείαις καὶ χινήσεσι χαὺ μοναῖς. Die Unterscheidung 
der abstracten und der sinnlichen oder ungetheilten Zeit (Sreısnart a. a. Ὁ, 
466) kann ich in dieser Weise bei Dıos. 47 nicht finden: die χρόνοι διὰ λόγου 
θεωρητοὶ sind nur unmerklich kleine Zeittheile, die tempora multa, ratio quae 
comperit esse, welche nach Luck. IV, 792 in jeder gegebenen Zeit enthalten 
sind. 


3) Lvor. I, 358 ff, Vgl. was Bd. I, 591 f. über Demokrit angeführt ist. 


Die Atome und das Leere. 373 


undenkbar wäre !). Dagegen scheint unserem Philosophen der 
Geist, als bewegende Ursache, ganz entbehrlich; Alles, was ist, 
besteht nur aus den Körpern und dem Leeren, ein Drittes giebt 
es nicht ?). Die Begriffe des Körperlichen und des Leeren hatte 
nun Demokrit auf die des Seienden und des Nichtseienden zurück- 
geführt 3). Epikur kann diese metaphysische Begründung seiner 
ganzen Richtung nach entbehren; er hält sich an die gewöhn- 
lichen Vorstellungen von dem leeren Raum und dem raumerfül- 
lenden Stoffe 5), und er beweist diese Vorstellungen einfach aus 
der Beschaffenheit der Erscheinungen. Um so nothwendiger er- 
scheint ihm dafür die demokritische Zertheilung des Körperlichen 
- in unzählig viele Urkörper oder Atome. Alle Körper, die wir 
wahrnehmen, sind aus Theilen zusammengesetzt); gienge jedoch 
diese Theilung in’s Unendliche, so würde sich Alles am Ende, wie 


x 


1) Lvor. ἃ. ἃ. Ὁ. und I, 329 ff. Dioc. 40. 67. Sexr. Math. VII, 213. 
VII, 329. Auf den gleichen Grund führt auch -das Meiste von dem zurück, 
was Lvcr. I, 346 ff. 532 ff., wohl gleichfalls nach Epikur, weiter bemerkt: 
ohne leere Zwischenräume könnte sich die Nahrung nicht durch den ganzen 
Körper der Pflanzen und Thiere verbreiten, der Schall, die Kälte, das Feuer, 
das Wasser nicht durch feste Körper hindurchdringen, kein Körper zertrüm- 
mert oder zertheilt werden. (Diess auch bei Turnuıst. 40, b, u. Sımer. De 
eoelo, Schol. in Arist. 484, a, 26.) 

2) Luce. I, 440 fi. Dıioc. 39 f. Pur. adv. Col. 11,5. 

3) 8. Bd. I, 578 fi. 

4) Der Körper wird von Epikur (Sexr. Math. I, 21. X, 240. 257. XI, 226) 
als τὸ τριχῇ διαστατὸν μετὰ ἀντιτυπίας oder als σύνοδος χατὰ ἀθροισμὸν μεγέθους 
χαὶ σχήματος χαὶ ἀντιτυπίας χοὶ βάρους definirt; das Leere ist nach Sexr. X, 2 
die φύσις ἀναφὴς oder ἔρημος παντὸς σώματος; sofern dasselbe von einem Körper 
eingenommen ist, heisst es τόπος (welcher nach Tueuıst. phys. 38, b,m. SımprL. 
phys. 133, a, m. als διάστημα τὸ μεταξὺ τῶν ἐσχάτων τοῦ περιέχοντος gefasst 
wurde), sofern Körper durch dasselbe hindurchgehen (ywaetv) χώρα, so dass 
also diese drei Ausdrücke, wie auch Sros. Ekl. I, 388 richtig sagt, nur ver- 
schiedene Namen für die gleiche Sache sind. Auf dasselbe kommt die Angabe 
b. Prur. plac. I, 20 hinaus. 


5) Daher b. Dıoc. 69 ἄθροισμα und συμπεφορημένον zur Bezgichnung der 
Körper, bei Dıoc. 71 der Satz, dass alle Körper συμπτώματα (etwas Gewor- 
denes) seien; vgl. Sexr. Math. X, 42: alle Veränderungen in den Körpern 
beruhen nach Epikur auf der Ortsveränderung der Atome. Pıur. amator. 
24, 3. 8. 769: bei Epikur komme es nur zur ἁφὴ und περιπλοχὴ, nicht zur 
ἑνότης. ΄ 


374 Epikureer. 


Epikur mit Demokrit !) meint, in das Nichtseiende auflösen, und 
ebenso müsste umgekehrt Alles aus einem Nichtseienden gewor- 
den sein, während doch das der erste Grundsatz des Physik ist, 
dass nichts aus nichts und nichts zu nichts werden kann ?). Wir 
müssen demnach annehmen, dass die Urbestandtheile der Dinge 
weder geworden sind, noch vergehen, noch in ihrem Bestande 
verändert werden können ?). Diese Urkörper haben keinen leeren 
Raum in sich, und ebendesshalb können sie nicht zertheilt oder 
zerstört, oder irgendwie verändert werden %). Sie sind so klein, 
. dass wir sie nicht wahrnehmen können, denn es ist Thatsache, 


1) Vgl. Bd. I, 585. 

2) Epik. b. Dioc. 40 f.: τῶν σωμάτων τὰ μέν ἐστι συγχρίσεις τὰ δ᾽ ἐξ ὧν al 
συγχρίσεις πεποίηνται" ταῦτα δέ ἐστιν ἄτομα χαὶ ἀμετάβλητα εἴπερ μὴ μέλλει πάντα 
εἰς τὸ μὴ ὃν φθαρήσεσθαι, ἀλλ᾽ ἰσχύοντα ὑπομένειν ἐν ταῖς διαλύσεσι τῶν συγχρίσεων 

. ὥστε τὰς ἀρχὰς ἀτόμους ἀναγχαῖον εἶναι σωμάτων φύσεις. Ebd. 56. Luca. I, 
147 Ε΄, I, 551 fi. 751. 790 ff. u.ö. Viele weitere Beweisgründe für die An- 
nahme von Atomen b. Lvcr. I, 498 fi.: Da der Körper und der Raum, in wel- 
chem die Körper sind, zwei verschiedenartige Dinge seien, so müsse jedes 
von beiden ursprünglich ohne alle Beimischung des andern sein. Wenn es 
solehes gebe, das aus Vollem (solidum, srspeov) und Leerem bestehe, müsse 
es auch ein Volles als solches und ein Leeres als solches geben; die Körper 
aber, in denen kein Leeres ist, können nicht aufgelöst werden (so auch Epi- 
kur b. Dıoc. 41), seien mithin ewig, und sie müssen es sein, wenn wir dem 
Werden aus nichts entgehen sollen. Ohne ein Leeres könnte es keine weichen, 
ohne ein Festes keine harten Körper geben. Wenn es keine unzerbrechlichen 
letzten Theile gäbe, müsste schon längst Alles zerstört sein. Die Regelmässig- 
keit der Erscheinungen setze unveränderliche Grundstoffe voraus. Alles Zu- 
sammengesetzte müsse am Ende aus einfachen kleinsten Theilen bestehen. 
Wenn es kein Kleinstes gäbe, wären in jedem Körper unendlich viele Theile, 
also in dem kleineren so viele, wie in dem grösseren (vgl. Epik. b. Dıoe. 56). 
Wenn die Natur nicht Alles in seine kleinsten Theile auflöste, könnte sie 
nichts Neues daraus machen (weil sie dann nicht die elementaren, sondern 
irgendwie geformte Stoffe zur Verfügung hätte). Auch diese, ihrem Werth 
nach sehr ungleichen, Gründe hat Lucrez ohne Zweifel von Epikur selbst ent- 
nommen. Dass Allem ein unveränderliches Sein zu Grunde liegen müsse, und 
nichts aus nichts werde, führt auch Prur. Ὁ. Evs. pr. ev. I, 8, 9 als epiku- 
reisch an. 

3) Erıkur und Lucrez a.d.a. Ὁ. Luce. I, 529. Sexrt. Math. IX, 219. 
X, 318. Srtos. Ekl. I, 306. Prur. pl. phil. I, 3, 29. 


4) Epik. b. Dıos. 41. Luc. I, 528 ff. Sımer, De coelo, Schol. in Arist. 
484, a, 23 ff. u. a. St. 


Atome. 375 


dass wir sie nicht sehen; doch darf man sie darum nicht für ma- 
thematische Atome halten, sondern sie führen diesen Namen nur 
desshalb, weil ihre physikalische Beschaffenheit jeder Theilung 
widerstrebt 1). Sie sind ferner ohne Farbe, Wärme, Geruch oder 
sonst eine von den Eigenschaften, welche erst den bestimmten 
Stoffen zukommen 3); und sie können schon aus diesem &runde 
auch nicht in den vier Elementen gesucht werden, die ja ohnedem 
alle, wie der Augenschein zeigt, vergehen und entstehen °); nur 
die allgemeinen Eigenschaften alles Körperlichen müssen auch sie 
haben. Diese aber sind: die Gestalt, die Grösse und die Schwere 2). 
Die Atome müssen nicht blos überhaupt eine Gestalthaben, wie jeder 
Körper, sondern es müssen auch unbestimmbar viele Unterschiede 
der Gestalt unter ihnen stattfinden, da sich sonst die zahllosen Unter- 
schiede unter denDingen nicht erklären liessen; doch können es die- 
ser verschiedenen Gestalten nicht wirklich unendlich viele sein, wie 
Demokrit gewollt hatte, weder in einem begrenzten Körper, wie 
sich diess von selbst versteht, noch auch in dem Ganzen °); denn 
eine unbegrenzte Menge derselben würde die Ordnung der Welt, 
in der Alles zwischen gewisse äusserste Grenzen eingeschlossen 
ist, unmöglich machen ©). Ebenso müssen sich die Atome hin- 
sichtlich ihrer Grösse unterscheiden, denn nicht alle Stoffe las- 
sen sich in gleich grosse Theile theilen; nur muss auch die- 
ser Unterschied gewisse Grenzen haben, denn so wenig ein 


1) Dıos. 44.55 f. Lucr. I, 266 ff., wo mit vielen Analogieen dargethan 
wird, dass es auch unsichtbare Körper geben könne; Sros. ἃ, ἃ. O. Pıur. 
a.a. Ὁ. Sımer. Phys. 216, a, u. A 

2) Dıoc. 44. 54. Luck. II, 736 ff. 841 ff. Prur. ἃ. ἃ. Ὁ. Vgl. S. 367, 2. 

3) Lucx. V, 235 fi. 

4) Dıoc. a. a. Ὁ. Prur. plae. I, 3, 29. Wenn die Plaeita u. A. behaupten, 
Demokrit habe den Atomen nur Grösse und Gestalt beigelegt, Epikur die 
Schwere hinzugefügt, weil sonst ihre Bewegung unerklärlich wäre, so ist 
diess unrichtig; vgl. Bd. I, 591 ἢ, 

5) -Dıos. 42. Luce. II, 333 ff. 478 fi. Prur. place. I, 3, 30 (wo es aber 
gegen den Sinn wäre, mit SrtEısuarr a. a. O, S. 473, Anm. 94 ἢ statt μὴ zu 
lesen). Ares. Arne. b. Prıvor, gen. et corr. 3, b, o. Vgl. Cıc. N. D. I, 24, 66. 
Dass Lucrez II, 333 ff. die Verschiedenheit der Figuren ebenso gross setze, als 
die Menge der Atome (Rırrer IV, 101), kann ich nicht finden. 

6) Zu diesem von Lucrzz I, 500 fl. ausgeführten Grunde vgl. m. was 
Bd. II, b, 210 aus Aristoteles angeführt ist. 


376 Epikureer. 


Atom gross genug sein kann, um wahrgenommen zu werden, 
ebensowenig kann es, nach dem Obenbemerkten, unendlich klein 
sein!). Aus dem Grössenunterschied der Atome folgt dann weiter 
die Ungleichheit ihres Gewichts ?). Was endlich die Zahl der 
Atome betrifft, so muss diese unendlich, und ebenso muss der 
leere Raum unbegrenzt sein. Denn da alles Begrenzte durch An- 
deres begrenzt ist, so kann man sich keine Grenze des Weltalls 
denken, jenseits deren nicht wieder etwas wäre, also überhaupt 
keine Grenze desselben. Diese Unbegrenztheit muss ebensowohl 
xon der Masse der Atome, als vom Raum gelten. Denn wenn un- 
begrenzt viele Atome in einem begrenzten Raum nicht Platz hät- 
ten, so würde umgekehrt eine begrenzte Zahl von Atomen im 
unbegrenzten Raum sich zerstreuen, so dass es nie zur Bildung 
einer Welt kommen könnte °?). In allen diesen Bestimmungen 
schliesst sich Epikur genau an Demokrit an, und mit demselben 
stimmte er ohne Zweifel auch in der Art überein, wie er die 
Eigenschaften der Dinge aus ihrer Atomenzusammensetzung er- 
klärte 9). 


1) Ὅτοα. X,55 f. Luck. II, 381 ff. 

2) 8. o. 375,4 und die S. 378, 3 anzuführenden Stellen. Nach diesen 
Stellen und Pruvr. plac. I, 12, 5 ist auch der Text des ὅτοβάυβ ΕΚ]. I, 346 zu 
berichtigen. 

3) Epik. b. Dıioc. 41: ἀλλὰ μὴν καὶ To πᾶν ἄπειρόν ἐστι᾽ τὸ γὰρ πεπερασμένον 
ἄχρον ἔχει" τὸ δ᾽ ἄχρον παρ᾽ ἕτερόν τι θεωρέϊται. ὥστε οὐχ ἔχον ἄχρον πέρας οὐχ ἔχει, 
πέρας δ᾽ οὐχ ἔχον ἄπειρον ἂν εἴη καὶ οὐ πεπερασμένον, und das Weitere, wie im 
Text. Den gleichen Beweis giebt Luck. I, 951 ff. 1008—1020. Weiter fügt 
er bei (984 ff. 1021 ff.): wenn der Raum begrenzt wäre, würden sich alle 
Körper vermöge ihrer Schwere in dem unteren Theile desselben ansammeln, 
und ihre Bewegung aufhören; wenn die Masse des Stoffs nicht unbegrenzt 
wäre, könnte den Körpern das, was sie an einander abgeben, nicht immer 
wieder ersetzt werden. Ausserdem vgl. m. Prur. adv. Col. 13, 3. b. Evs. pr. 
ev. 1, 8, 9. plac. I, 3,28. Arzx. b. Sıuer. Phys. 107, b, u. (welcher den oben 
aus Epikur angeführten Beweis als den Hauptgrund der Epikureer bezeichnet) 
u. A. 

4) Wir haben darüber nur wenige Nachrichten; indessen wurde schon 
S. 367, 2 gezeigt, und es versteht sich ohnedem von selbst, dass er alle Eigen- 
schaften der Körper auf die Gestalt und Ordnung der Atome zurückführte, aus 
denen sie bestehen. Wo er daher verschiedenartige Eigenschaften bei dem- 
selben Körper fand, da nahm er an, er sei aus verschiedenerlei Atomen zu- 
sammengesetzt, von denen bald die einen bald die andern auf andere Körper 


Atome; ihre Abweichung. 377 


‚Dagegen entfernt er sich nicht unbedeutend von seinem Vor- 
gänger bei der Frage nach der Entstehung der Dinge aus den 
Urgründen. Die Atome, so lehren beide zunächst noch gemein- 
schaftlich, waren von Ewigkeit her vermöge ihrer Schwere in 
einer Bewegung nach unten begriffen 1). Dass alle Körper sich 
im leeren Raum nach unten bewegen, diess hielt Epikur für ganz 
selbstverständlich, denn das, was schwer ist, meinte er, müsse 
doch fallen, wenn es nicht gestützt werde 5). Er widersprach da- 
her der aristotelischen Ansicht, nach welcher die Schwere in dem 
Streben nach der Mitte besteht, und ebenso, natürlich, der wei- 
teren Annahme, dass nur gewissen Körpern diese Bewegung, 
anderen die nach dem Umkreis natürlich sei °). Dem Einwurf 
aber, dass es im unendlichen Raum kein oben und unten gebe *), 
weiss er nur den Augenschein entgegenzuhalten, welcher uns 


einwirken. So behauptete er z. B. vom Wein: οὐχ εἶναι θερμὸν αὐτοτελῶς τὸν 
οἶνον, ἀλλ᾽ ἔχειν τινὰς ἀτόμους ἐν αὑτῷ θερμασίας ἀποτελεστιχὰς, ἑτέρας δ᾽ αὖ 
ψυχρότητος: je nach der verschiedenen Constitution wirke er daher auf die 
Einen abkühlend, auf die Andern erhitzend (Prvr. qu. conv. III, 5, 1, 4. adv. 
Col. 6). Diess trifft mit dem zusammen, was Bd. I, 597, 1. 2 über Demokrit 
mitgetheilt ist. 

1) Dioc. 43.47. Cıc. N. D. I, 20, 54. ἃ. ἃ. Wie der Begriff der Bewegung 
selbst von Epikur bestimmt wurde, wird uns nicht mitgetheilt. Dagegen er- 
fahren wir aus ΤΉΕΜΙΒΤ, phys. 52, b, u., dass er gegen den von der Bewegung 
hergenommenen Beweis des Aristoteles (Phys. VI, 1) für den Satz, dass keine 
stetige Grösse aus untheilbaren Theilen zusammengesetzt sein könne, ein- 
wandte: was sich durch eine gegebene Linie bewegt, das bewege sich zwar 
durch die ganze Linie, aber nicht durch die einzelnen untheilbaren Grössen, 
aus denen sie bestehe, sondern in diesen sei es immer nur als ein solches, das 
sich bewegt habe. Auf die gleiche Frage bezieht es sich, wenn die Epikureer 
nach Sımer. phys. 219, b, o. behaupteten, durch untheilbare Räume 'bewege 
sich Alles gleich schnell (wäs freilich mit dem aus Themist. Angeführten sich 
nicht reimt). Ueber eine solche Logik hat es natürlich Themistius nicht schwer 
sich lustig zu machen. 

2) Cıc. Fin. I, 6, 18. Lucezz I, 1074 fl. 

3) Luce. II, 1052 ff., dessen Text jedoch lückenhaft ist. Sımer. De coelo, . 
Schol. in Arist. 510, b, 30. 486, a, 7, der aber in beiden Stellen Epikur unge- 
nau mit Andern (Demokrit und Strato) zusammenfasst. Ueber dieselbe Frage 
stritt, nach Sınmrr. Phys. 113, b, u., noch um das Ende des zweiten Jahr- 
hunderts n. Chr. Alexander von Aphrodisias gegen den Epikureer Zenobius. 

4) Wie schon Aristoteles gegen Demokrit bemerkt hatte; s. Bd. II, 
b, 312. 


375 Epikureer. 


zeige, dass immer das Eine über unserem Kopf, das Andere unter 
unsern Füssen sei ἢ. Während nun aber Demokrit die Atome 
in ihrem Falle auf einander treffen, und in Folge dessen eine ° 
Wirbelbewegung entstehen liess ?), so scheint diess Epikur un- 
möglich; denn da das Leere den Atomen keinen Widerstand 
leiste, so müssen sie alle gleich schnell fallen, es sei daher nicht 
denkbar, dass sie, bei derselben senkrechten Bewegung nach 
unten, zusammenstossen ὅ). Um nun doch ihren Zusammenstoss 
möglich zu machen, nahm er an, dass die Atome in ihrem Fall 
um ein Kleinstes von der senkrechten Linie abweichen. Diese 
“ Annahme schien ihm auch desshalb unerlässlich, weil die Freiheit 
des menschlichen Willens nicht zu retten wäre, wenn Alles dem 
Gesetz der Schwere schlechthin folgte, und aus dem gleichen 
Grunde sollte jene Abweichung selbst von keiner Naturnothwen- 
-digkeit, sondern rein von der willkührlichen Selbstbestimmung 
der Atome herrühren ?). In Folge ihres Zusammenstosses soll 
dann, wie bei Demokrit, ein Theil der Atome abprallen,, die 
leichteren aufwärts gedrängt werden, und aus diesen beiden Be- 
wegungen eine Wirbelbewegung sich erzeugen °). Wo diess ge- 
schieht, entsteht eine Zusammenhäufung von Atomen, die durch 
ihre eigenthümliche Bewegung sich von der übrigen Masse aus- 
sondert, und eine eigene Welt bildet). Dass dieser Weltbildungs- 
process ohne Anfang und Ende sein muss, folgte unmittelbar aus 
der Ewigkeit und Unvergänglichkeit der Atome °); dass es der 
Welten unendlich viele geben müsse, wird aus der Unendlichkeit 
der Atomenmasse auf der einen, des leeren Raums auf der andern 


1) Bei Dıos. 60 vgl. Pror. def. orac. 28, S. 425. 

2) Bd. I, 604 ἢ, 

3) Epik. b. Dıoc. 43. 61. Luce. II, 225 fl. Prur. c. not. 43, 1. 8. 1082, 
Diese Einwendung selbst hat Epikur, wie schon Bd. II, b, 211, 1. 312, 3 ge- 
zeigt ist, von Aristoteles entlehnt. ’ 

4) Luce. II, 216 ff. 251 fl. Cıc. Fin. I, 6,18. N.D. 1, 25,69. De fato 
10, 22. Prur. an. procr. 6, 9. 8. 1015. solert. anim. 7, 2. ὃ. 964. plae. I, 12,5. 
28, 4. Sros. Ekl. I, 346. 394. 

5) Dıos. 44 vgl. 62.90. Prur. plae. I, 12, 5. fac. lunae 4, 5. 85, 921. 
Sros. I, 346. Luer. V, 432 fi. Das Nähere sogleich. 

6) Πιοα. 73 f. Luck. I, 1021 ff. (8. 0. 370, 2). Prur. def. or. 19, 8. 420. 

7) Cıc. Fin. I, 6, 17 u. A, s. 0, 377,1. 


Zusammenstoss der Atome. Die Welten. 379 


Seite bewiesen !). In der Beschaffenheit dieser Welten musste die 
grösste Mannigfaltigkeit vorausgesetzt werden, denn es war nicht 
zu erwarten, dass die zahllosen Atomenverbindungen, welche nur 
das Ungefähr zusammengeführt hat, gleich ausfallen würden; an- 
dererseits liess sich aber auch keine durchgängige Ungleichheit 
derselben behaupten: Epikur nahm daher an, dass die Welten 
zwar im Allgemeinen sowohl hinsichtlich ihrer Gestalt, als hin- 
sichtlich ihrer Einrichtung höchst verschieden seien, dass aber 
einzelne auch der unsrigen ähnlich sein mögen ?); und da in der 
unendlichen Zeit für alle denkbaren Atomenverbindungen Raum 
war, so soll nie etwas geschehen, was noch niemals dagewesen 
wäre 5). Darin jedoch gleichen sich alle Welten, dass sie nicht 
allein geworden, sondern auch vergänglich sind, und ebenso, wie 
die übrigen Einzelwesen, einer allmähligen Zu- und Abnahme 
unterliegen *), wie diess nach allen Voraussetzungen des Systems 
nicht anders angenommen werden konnte. Zwischen die einzelnen 
Welten schiebt Epikur mit Demokrit die leeren Intermundien ein, 
in denen aber von Zeit zu Zeit durch Atomenanhäufung neue 
Welten entstehen sollen °). 

Die Entstehung unserer Welt wird so geschildert. Als sich 
in irgend einem Zeitpunkt — Lucrez °) glaubt, es sei noch nicht 


1) Dıoe. 45.73 f. Luc. 11, 1048 ff. Prur. plac. II, 1,3. Dass unter 
diesen Welten nicht etwa nur Weltkörper gemeint sind, braucht kaum be- 
merkt zu werden; b. Dıoc. 88 definirt Epikur die Welt ausdrücklich als einen 
Theil des Himmels, welcher eine Erde und Gestirne umfasse, eine bestimmte 
Gestalt habe und gegen andere Theile des Himmels abgegrenzt sei. 

2) Dıoc. 45. 74. 88. Prur. plac. II, 2, 2. 7,3. Sros. I, 490. Cıc,N.D. 
II, 18, 48. Acad. II, 40, 125. 

3) Prur. b. Evs. pr. ev. I, 8, 9: Epik. sagt, ὅτι οὐδὲν ξένον ἀποτελεῖται ἐν 
τῷ παντὶ παρὰ τὸν ἤδη γεγενημένον χρόνον ἄπειρον. 

4) Dı06.73£. 891. Lucr. II, 1105 ff. V,91 fl. 235 ff., wo die Vergänglichkeit 
der Welt ausführlich bewiesen wird; u. A. Cıc. Fin. I, 6, 21. Sros. I, 418: 
Epikur lasse die Welt auf die verschiedenste Weise zu Grunde gehen (d. h. 
wohl: er stelle darüber verschiedene Vorstellungen als gleich möglich auf). 
Prur. plac. II, 4, 2. 

5) Bei Dıos. X, 89. 

6) V, 324 ff. mit der Begründung, dass sonst die geschichtliche Erinne- 
rung (welche für ihn schon mit dem trojanischen Krieg und dem Zug gegen 
Theben aufhört) viel weiter hinaufreichen müsste, Künste und Wissenschaften 
nicht so jungen Ursprungs sein könnten, ? 


380 Epikureer. 


sehr lange her — in diesem bestimmten Theile des Raumes durch 
den Zusammenstoss eine Anhäufung von Atomen der verschieden- 
sten Gestalt und Grösse gebildet hatte, ergaben sich zunächst aus 
dem Aufeinandertreffen, dem Druck und dem Abprall der rasch 
fallenden Urkörperchen nach allen Seiten hin Atomenbewegungen 
der verschiedensten Art. Im Verlaufe derselben drängten sich die 
grösseren Atome vermöge ihrer Schwere nach unten, und drück- 
ten dadurch die mit ihnen vermischten kleineren und leichteren 
nach oben, zuerst und am stärksten die feurigen, welche den 
Aether, nächstdem die, welche die Luft bilden ). Als der Druck 
'nach oben nachliess, verbreiteten sich diese Massen, von den 
untenher nachrückenden gedrängt, seitwärts, und es entstand so 
der Feuer- und Laftkreis. Zunächst nach ihnen stiegen die Atome, 
aus welchen die Sonne und die Gestirne wurden, in die Höhe, und 
gleichzeitig sank die Erde, deren Inneres dadurch theilweise ent- 
leert war, an den Stellen ein, wo jetzt das Meer ist. Durch die 
Einwirkung der Aetherwärme und der Sonnenhitze zog sich der 
Erdkörper noch weiter zusammen, das Meer wurde aus demsel- 
ben ausgepresst, und die Erdoberfläche nahm eine unebene Gestalt 
an 2). Durch diejenigen Körper, welche ihren äussersten Umkreis 


1) M. 5. hierüber auch Luc. II, 1112 ff., wo der Grundsatz, dass die 
gleichartigen Stoffe sich zusammenfinden, (wie schon von Demokrit; 8, Bd. 1, 
606) in diesem Sinn erläutert wird. 


2) Luor, V, 416—508. Pıvr. plac.I, 4. Die letztere Durstellung habe 
ich in unserem 1. Bd. 604 f. auf die ältere Atomistik bezogen. Ich glaube sie 
aber jetzt doch zunächst aus dem Epikureismus ableiten und ihre Ueberein- 
stimmung mit dem, was andere Stellen dem Leueippus beilegen, aus der be- 
kannten Abhängigkeit Epikur’s von Demokrit erklären zu müssen. Denn 
theils ist ihre Verwandtschaft mit der Stelle aus Lucrez doch noch grösser 
(m. vgl. z. B. plac. 4, 6 mit Lucr. V, 483 ff.), theils verräth eine andere Stelle, 
in welcher der Verfasser der Placita gleichfalls nicht berichtend, sondern in 
eigenem Namen spricht, I, 7, 7 fi. den Epiknureer ganz unverkennbar, theils 
hat die ganze änsserliche Aufzählung philosophischer und physikalischer 
Fragen mit der Art, wie Epikur im Brief an Pythokles (Dıos. 88 ff.) die 
Gegenstände aneinanderreiht, und wie der Epikureer bei Cicero im ersten 
Buch der Natura Deorum die Ansichten der Philosophen aufführt, eine be- 
achtenswerthe Achnlichkeit. — Ganz vollständig stimmt übrigens Epikur's 
Vorstellung von der Weltbildung mit der demokritischen nicht überein: wenn 
Epikur b. Dıos. 90 die Annahme bestreitet, dass eine Welt sich durch andere 


Weltbildung. Weltgebäude. 351 


bilden, ist die Welt gegen die übrigen Welten und den leeren 
Raum ausser ihr abgeschlossen 7). 

Fragen wir weiter, wie wir uns die Einrichtung der Welt 
vorzustellen und zu erklären haben, so wird Epikur nicht müde, 
uns immer auf’s Neue die zwei Grundsätze einzuschärfen, die wir 
bereits kennen: dass wir die Dinge zwar keinenfalls von einer 
absichtlichen Veranstaltung der Gottheit, sondern einzig und allein 
von den mechanischen Ursachen herleiten dürfen, welche die 
Atomenlehre aufzeigt; dass aber abgesehen davon für die Erklä- 
rung der Erscheinungen allen möglichen Annahmen der weiteste 
Spielraum gelassen werden müsse, und dass nichts verkehrter sei, 
als wenn man sich durch ausschliessliche Bevorzugung einer ein- 
zigen diese ausgedehnte Möglichkeit natürlicher Erklärung ver- 
kürze ?2). Ebendamit verliert aber für ihn die naturwissenschaft- 
liche Forschung als solche ihren Werth, und auch für uns hat 
es kein grosses Interesse, seiner Physik weit in’s Einzelne zu fol- 
gen. Er verwahrt sich dagegen, dass man das Himmelsgebäude 
für ein Werk der Gottheit halte ®), oder den Gestirnen selbst 
Leben und Vernunft beilege 3); im Uebrigen aber lässt er uns 
fast bei allen den Fragen, mit denen sich die damalige Astronomie 
beschäftigte, zwischen den verschiedensten Annahmen seiner Vor- 
gänger, guten und schlechten gleichsehr, mit einer Oberflächlich- 
keit und Leichtfertigkeit die Wahl, welche sich nur durch eine 
völlige Gleichgültigkeit gegen derartige Untersuchungen erklären 


vergrössern könne, und dass Sonne und Mond möglicherweise erst auf diesem 
Wege in unsere Welt aufgenommen worden sein könnten, so hat er dabei 
wahrscheinlich Demokrit im Auge (vgl. was Bd. I, 608, 1 aus Orıc. Philosoph. 
S. 17 angeführt ist). Doch nimmt auch Lvcr. IT, 1105 ff. eine Vergrösserung 
der schon gebildeten Welt von aussenher an. 

1) M. 5. über diese moenia mundi, welche nach Lucrez mit dem Aether 
oder dem Feuerkreis zusammenfallen müssen, Epik. b. Dıioc. 88. Ders. 
π. φύσεως XI (Vol, Here. II) col. 2. Puur, place. II, 7, 3. Lucr. I, 73. 11, 1144. 
V, 454, 

2) Μ΄ 8. hierüber S. 368 fi. 

3)-5: 8.1370, 2, 

4) Bei Dios. 77. 81. Lvor. V, 78 ff. 114 ff., wo dieser Widerspruch auch 
näher begründet wird. Bei den ζῷα οὐράνια in der, wie es scheint, defekten 
Stelle Prur. plac. V, 20, 2 werden wir keinenfalls an die Gestirne denken 
dürfen. 


3832 Epikureer. 


lässt '). Wie es mit seinen eigenen astronomischen Kenntnissen 
bestellt war, erhellt aus der berüchtigten Behauptung ?), dass 
Sonne, Mond und Gestirne entweder gar nicht, oder nur um We- 
niges grösser, wo nicht gar kleiner seien, als sie uns erscheinen. 
Dass die Erde von der Luft getragen in der Mitte der Welt ruht, 
was nach ihren Voraussetzungen über die Schwere der Körper 
eigentlich unmöglich ist ?), meint die epikureische Physik aus der 
allmählichen Abnahme im Gewicht der sie umgebenden Körper 
erklären zu können %). Wie sie sich in ihrem meteorologischen 
-Theile die atmosphärischen und tellurischen Erscheinungen zu- 
rechtlegt, können wir hier um so weniger im Einzelnen nach- 
weisen, da auch bei diesen von dem Grundsatz, mehrfache Er- 
klärungen als gleich möglich nebeneinanderzustellen, der freieste 
Gebrauch gemacht ist 57. 


1) Beispiele sind uns schon S. 369 f. vorgekommen. Eine vollständige 
Uebersicht über den astronomischen Theil der epikureischen Physik verlohnt 
sich für uns kaum der Mühe; ich will daher hier nur die Orte angeben, wo 
sich das Nähere darüber findet. Ueber die Substanz der Gestirne s. m. Provr. 
plac. II, 13, 9; über Auf- und Untergang derselben, Dıoc. 92. Luc. V, 648 ff. 
Kreouep. Meteora 8. 87 f.; über ihren Umlauf und die Umbiegung_ ihrer 
Bahnen D. 92 f. 112—114. Luce. V, 509 ff. 612 fi.; über das Licht des Mon- 
des und seinen Wechsel D. 94 f. L. V, 574. 703 ff.; das Gesicht im Monde 
D. 95; die Sonnen- und Mondsfinsternisse D. 96. L. V, 749 ff.; den Wechsel 
der Tageslänge D. 98. L. V, 678 fi. 

2) Bei Dıo«. 91. Cıc. Acad. II, 26, 82. Fin. I, 6, 20. Sex. qu. nat. I, 3, 10. 
Kreonen. Met. II, 1, Anf. 5. 65. Prur. plac. II, 21, 4. 22, 4. Lvcr. V, 564 ff. 
Den Körper der Sonne soll Epikur nach Prvr. plac. 11,20, 9. Sros. I, 530 
(mit Diogenes von Apollonia; s. Bd. I, 197) für eine erdartige, schwammige, 
mit Feuer gesättigte Masse gehalten haben. Nach Lvcr. V, 471 ff. stehen 
Sonne und Mond an Dichtigkeit zwischen Aether und Erde in der Mitte. 

3) Noch undenkbarer ist aber freilich, dass die Welt selbst ruhe, wie 
doch gleichfalls stillschweigend vorausgesetzt wird, sondern sie müsste in 
beständigem Fall durch den unendlichen Raum begriffen sein, dann aber bei 
ihrer Masse nothwendig sehr bald auf andere Massen stossen. 

4) Luor. V, 534 fl. vgl. Erıkur b. Dioc. 74 und x. φύσεως XI, col. 1. In 
der letztern Stelle, deren Text aber unvollständig ist, stützt sich Epikur auch 
darauf, dass die Erde von den Grenzen der Welt gleich weit entfernt sei. 

5) Das Genauere giebt: über die Wolken Dıoc. 99. Lvcr. VI, 451 ft. 
Prvr. plae. III, 4, 3; Regen D. 100. L. VI, 495 δ΄; Donner D. 100.103. L. VI, 
96 f}.; Blitz D. 101 ff. L. VI, 160 ff.; Gluthwinde D.104 f. L. VI, 423 ff. plac. 
II, 3, 2; Erdbeben D. 105. L. VI, 535 ff. plac. III, +5, 11. Sen. nat. qu. VI, 


Weltgebäude. Pflanzen und Thiere. 383 


Aus der jugendkräftigen Erde sprossten nicht allein die 
Pflanzen empor 1), sondern dieselbe brachte auch die Thiere her- 
vor, welche ja doch, sagt Lucrez, unmöglich vom Himmel ge- 
fallen sein können 3); und in ähnlicher Weise werden in anderen 
Welten, wenn auch nicht nothwendig in allen, lebende Wesen 
entstanden sein 5). Unter denselben waren anfangs, wie schon 
Empedokles angenommen hatte *), allerlei seltsam zusammenge- 
setzte oder verstümmelte Gestalten, es erhielten sich aber nur 
die, welchen es ihre Natur möglich machte, sich zu ernähren, 
fortzupflanzen und vor Gefahren zu schützen. So abenteuerliche 
Geschöpfe jedoch, wie die Centauren oder die Chimära, kann es 
nie gegeben haben , weil die Wesen, aus denen man sie sich zu- 
sammengesetzt denkt, unter ganz verschiedenen Lebensbedingun- 
gen stehen °). 

Wie nun so die epikureische Physik die Entstehung der 
Thiere und Menschen rein natürlich zu begreifen bemüht ist, so 
sucht sie auch über den ursprünglichen Zustand und die ge- 
schichtliche Entwicklung der Menschheit, unter Beseitigung aller 
mythischen Annahmen, eine möglichst naturgemässe Vorstellung 
zu gewinnen: und man kann nicht läugnen, dass sie in dieser 


20,5; Winde Ὁ. 106; Hagel D. 106. plac. III, 4, 3; Schnee, Thau, Reif, Eis 
D. 107—109; Regenbogen D. 109 f.; Hof des Mondes D. 110; Kometen 
D. 111; Sternschnuppen D. 114. Weiter finden wir bei Lucrez Erörterungen 
über die Vulkane (VI, 639 ff), über die Nilüberschwemmungen (VI, 712 ff.), 
den Avernersee und ähnliche Gewässer (VI, 738—839), über den Magnet, 
dessen Wirkung durch die Hypothese der Poren und Ausflüsse sehr künstlich 
erklärt wird (VI, 906—1087), über die angebliche Erkältung der Brunnen im 
Sommer (VI, 840 ff.). 

1) Lvcr. II, 1157 ff. V,780 fl. Sonst erfahren wir aber über die Pflanzen 
nur, dass ihnen die Epikureer so wenig, wie die Stoiker, eine Seele beilegten. 
Prur. plac. V, 26, 3. 

2) Luc. II, 1100 ff. V,787 fl., wo auch Näheres über die Art, wie wir uns die 
erste Entstehung und Ernährung der lebenden Wesen zu denken haben (Lucr. 
meint, aus der Erde selbst sei eine Art Milch für sie gequollen), und über das 
spätere Nachlassen der Produktionskraft der Erde. 

3) Epik. b. Dıos. 74. 

4) S. Bd. I, 537 f. Die Erzeugung der lebenden Wesen aus der Erde 
lehrte ausser ihm auch Anaximander, Parmenides, Anaxagoras, Diogenes von 
Apollonia, Demokrit; vgl. I, 172. 413. 697. 198. 615. 

5) Luck. V, 834—921. 


381 Epikureer. 


Beziehung trotz der materialistischen Einseitigkeit, welche sich 
auch hier nicht verbirgt, im Ganzen sehr gesunde Ansichten gel- 
tend gemacht hat. Die Menschen der Urzeit waren, wie Lucrez - 
glaubt, zwar weit kräftiger und stärker, als die jetzigen; aber 
noch ganz roh und unwissend lebten sie wie die Thiere, und 
unter beständigem Kampf mit den Thieren, ohne Recht und Ge- 
selligkeit in den Wäldern ἢ). Die ersten und wichtigsten Schritte 
zur Gesittung machten die Menschen, als sie den Gebrauch des 
Feuers lernten, als sie Hütten zu bauen und sich in Felle zu 
. kleiden begannen, als die Ehe und das häusliche Leben anfieng ?), 
als die Sprache, ursprünglich gleichfalls nicht durch Ueberein- 
kunft, sondern ebenso, wie die Töne der Thiere, als der natür- 
liche Ausdruck für gewisse Vorstellungen und Empfindungen, 
sich entwickelte 3). Je älter das Menschengeschlecht wurde, um 
so mehr lernte es Fertigkeiten und Künste, welche zur Erhaltung 
des Lebens und zum Lebensgenuss dienen; es erlernte dieselben 
zunächst an der Hand der Erfahrung, durch seine Natur genö- 
thigt, durch das Bedürfniss gedrängt; was so gefunden war, wurde 
dann durch Nachdenken vervollkommnet, indem die Begabteren 
den Uebrigen als Lehrer vorangiengen %). In derselben Weise ent- 


1) V, 922-1008. M. vgl. hiemit, was Praro Polit. 274, B. Arısr. Polit. 
II, 8. 1269, a, 4 sagt. Die Schilderung des Lucrez scheint Horaz Serm. I, 3, 
99 fl. zu berücksichtigen. 

2) M. s. hierüber Luce. V, 1009— 1025. 

3) Seine Ansicht über die Entstehung der Sprache fasst Epikur selbst bei 
Dıoc. 75 f. dahin zusammen: τὰ ὀνόματα ἐξ ἀρχῆς μὴ θέσει γενέσθαι, ἀλλ᾽ αὐτὰς 
τὰς φύσεις τῶν ἀνθρώπων χαθ᾽ ἕχαστα ἔθνη ἴδια πασχούσας πάθη χαὶ ἴδια λαμβανού- 
σας φαντάσματα ἰδίως τὸν ἀέρα ἐχπέμπειν, ... .. ὕστερον δὲ κοινῶς χαθ᾽ ἕχαστα τὰ 
ἔθνη τὰ ἴδια τεθῆναι πρὸς τὸ τὰς δηλώσεις ἧττον ἀμφιβόλους γενέσθαι ἀλλήλοις χαὶ 
συντομωτέρως δηλουμένας. Wer endlich etwas Neues aufgebracht habe, habe 
auch wohl neue Wörter in Umlauf gesetzt, die er bald unwillkührlich bald 
mit Ueberlegung gebildet hatte. Ausführlicher setzt Lucr. V, 1026—1088 
auseinander, dass die Sprache durchaus natürlichen Ursprungs sei. Ueber die 
Stimme Ders. IV, 522 ff. Prur. plae. IV, 19, 2. 

4) Epik. b. Dıoc. 75: ἀλλὰ μὴν ὑποληπτέον χοὶ τὴν τῶν ἀνθρώπων [Cobet 
streicht 7. &.] φύσιν πολλὰ χαὶ παντοῖα ὑπὸ τῶν αὐτὴν πεοιεστώτων [Cobet: ὑπὸ 
τῶν αὐτῶν, was aber keinen guten Sinn giebt] πραγμάτων διδαχθῆναί τε nat 
ἀναγκασθῆναι" τὸν δὲ λογισμὸν τὰ ὑπὸ ταύτης παρεγγυηθέντα χοὶ ὕστερον ἐπαχριβοῦν 
χαὶ προςεξευρίσχειν, ἐν μέν τισι θᾶττον ἐν δέ τισι βοαδύτερον. Luce. V, 1450: alle 


Geschichtsansicht. Die Seele. 3s5 


wickelte sich das gesellschaftliche Leben. Einzelne gründeten 
Burgen und warfen sich zu Herrschern auf; aber mit der Zeit 
erregte die Macht der Könige die Eifersucht, und sie wurden er- 
schlagen. Um der Anarchie, die nun entstand, zu steuern, wählte 
man Obrigkeiten und sorgte durch Strafgesetze für Ordnung )). 
Dass Epikur ebenso auch die Religion rein natürlich erklärt, wird 
später noch gezeigt werden. 


Der Naturalismus, aus welchem diese Geschichtsansicht her- 
vorgegangen ist, muss nun vor Allem in der Psychologie zum 
Vorschein kommen. Nach allem Bisherigen konnte diese nur rein 
materialistisch ausfallen. Die Seele ist, wie alles Wirkliche, ein 
Körper; im Besonderen beriefen sich die Epikureer für diesen 
Satz, in Uebereinstimmung mit den Stoikern, auf die Wechsel- 
wirkung von Seele und Leib ?). Dieser Körper muss aber aus den 
feinsten, leichtesten und beweglichsten Atomen bestehen; diess 
erhellt aus der Schnelligkeit der geistigen Bewegungen, aus der 
augenblicklichen Auflösung der Seele nach dem Tode, und dar- 


Künste usus et impigrae simul experientia mentis paulatim docuit. Ebd. 1103: 
inque dies magis hi vietum vitamque priorem — commutare novis monstrabant 
rebu’ benigni, — ingenio qui praestabant et corde vigebant. Diesen Voraus- 
setzungen gemäss sucht nun Lucrez die verschiedenen Erfindungen zu er- 
klären. Man erhielt das erste Feuer durch Blitze oder durch Entzündung von 
Aesten, die der Sturm an einander rieb, man lernte von der Sonne kochen 
(V, 1089 ff.). Zur Bearbeitung der Metalle, erst der leichtflüssigeren, nachher 
auch des Eisens, gaben Waldbrände Veranlassung, durch welche Erze ge- 
schmolzen wurden (V, 1239— 1294). Zur Hülfe im Krieg wurden Pferde und 
Elephanten verwendet; anfangs versuchte man es aber auch mit Stieren und 
reissenden Thieren (V, 1295 ff.). Erst kleidete man sich in Felle, dann in 
geflochtene, erst später in gewobene Stoffe (V, 1009. 1348 ff. 1416 ff... Den 
ersten Anstoss zu Pflanzung und Feldbau gab die natürliche Fortpflanzung 
der Gewächse (V, 1359 ff.). Die erste Musik war Nachahmung des Vogel- 
gesangs, das erste Instrument das Rohr, durch das man den Wind pfeifen 
hörte; aus dieser Naturmusik ist die künstliche allmählig erwachsen 
(V, 1377 8). Zeitmaass und Ordnung lernte man von den Gestirnen 
(V, 1434 ff... Verhältnissmässig spät kam die Dichtkunst und die Schreib- 
kunst auf (V, 1438 ff.). — M. vgl. hiezu was Bd. I, 633, 3. 4 aus Demokrit 
angeführt ist. 
1) Luck. V, 1106 fl. 
2) Lvcor. III, 161 ff. Dioe. 67: s. o. 372, 1. 


Philos. d. Gr. III. B. 1. Abth. Ὁ 


or 


336 \ Epiknreer. 


aus, dass der entseelte Körper so schwer ist, wie der beseelte "). 
Epikur beschrieb daher die Seele, auch hierin mit den Stoikern 
zusammentreffend, als einen feuer- und luftartigen Stoff ?), oder 
genauer als zusammengesetzt aus einem feurigen, einem lufligen, 
einem dunstartigen und einem vierten, namenlosen Stoffe, welcher 
aus den allerfeinsten und beweglichsten Atomen bestehen und die 
Ursache der Empfindung sein sollte ®). Je nachdem in der Mi- 
schung dieser Stoffe der eine oder der andere überwiegt, bestimmt 
sich das Temperament der Menschen so oder anders *). Diesen 
Seelenstoff denkt sich Epikur, wie die Stoiker, als Ableger der 
elterlichen Seelen durch die Zeugung entstanden °), und durch 
den ganzen Leib verbreitet ©), mit dem desshalb auch die Seele 
wachsen soll 75; zugleich macht er aber eine ähnliche Unterschei- 
dung, wie sie jene durch ihre Lehre vom ἡγεμονικὸν gemacht 
hatten °): nur der vernunftlose Theil der Seele soll den ganzen 
Körper als sein Lebensprineip durchdringen, der vernünftige da- 
gegen in der Brust seinen Sitz haben 5). Diesem allein gehört 


1) Luck. ΠῚ, 177 ff. vgl. Dıoc. 63. 

2) B. Dıoc. 63: ἣ ψυχὴ σῶμά ἐστι λεπτομερὲς παρ᾽ ὅλον τὸ ἄθροισμα (der - 
Leib) παρεσπαρμένον: προςεμφερέστατον ὃὲ πνεύματι θερμοῦ τινα κρᾶσιν ἔχοντι. 66: 
ἐξ ἀτόμων αὐτὴν συγχέϊσθα: λειοτάτων χαὶ στρογγυλοτάτων πολλῷ τινι διαφερουσῶν 
τῶν τοῦ πυρός. 

3) Luce. ΠΙ; 231 fi. 269 fi. Pıur. plac. IV, 3, 5 (ὅτ:ο8. I, 798); vgl. 
AuEx. ArHr. De an. 127, b, u. 

4) Luce. II, 288 ff. 

5) Nach Puur. plae. V, 3,5 hielt er den Samen für ein ἀπόσπασμα ψυχῆς 
χαὶ σώματος, und da er (ebd. 5, 1) auch ein weibliches σπέρμα annahm, so 
muss er die Entstehung der Seele des Kindes aus einer Mischung von Seelen- 
atomen der beiden Eltern hergeleitet hahen. Der Fötus sollte, wie bei Demo- 
krit (Bd. 1, 615, 1), schon im Mutterleib gesäugt werden. Ebd. V, 16, 1. 

6) Dıoc. 63. s.o. Luck. III, 216. 276 ff. 323 ff. 370 ff. 

7) MErRoDor (oder wer sonst) x. αἰσθητῶν (Vol. Here. VI) col. 7. 

8) Und insofern widerspricht Luck. III, 98 ff. der Behauptung (worüber 
Ba. I, 323. II, b, 717 £.), dass die Seele die Harmonie des Körpers sei, wie- 
wohl Epikur (Ὁ. Psıror. De an. E, 1, u.) einen von den platonischen Einwürfen 
dagegen bestritten hatte. 

9) Dıos. 66. Luce. IN, 94 ff. 136 ti. 396 ff. 613 f. Pror. plac. IV, 4, 3. 
Luer. neunt den vernünftigen Theil animus oder mens, den unvernünftigen 
anima. Die Angabe pl. phil. IV, 23, 2, dass Epikur die Empfindung in die 
Sinneswerkzu ıge selbst (mithin in die unvernünftige Seele) verlege, weil das 


Psychologie. 337 


die geistige Thätigkeit, die Wahrnehmung und die Vorstellung, 
die Bewegung des Willens und des Gemüths an, von ihm hängt 
in letzter Beziehung auch das-Leben selbst ab, und wenn gleich 
beide zusammen nur Ein Wesen ausmachen, so können sie sich 
doch in verschiedenem Zustand befinden, der Geist kann heiter 
sein, während der Körper und die vernunftlose Seele Schmerz 
empfindet, und umgekehrt, ja es können Theile der vernunftlosen 
Seele durch körperliche Verstümmelung verloren gehen, ohne 
dass darum die vernünftige und mit ihr das Leben entweicht 1). 
Nur wenn das Band zwischen Seele und Leib ganz gelöst wird, 
vermag auch die Seele nicht länger fortzudauern, sondern ihre 
Atome, von der schützenden leiblichen Umhüllung nicht mehr zu- 
sammengehalten, zerstreuen sich vermöge ihrer Leichtigkeit und 
Beweglichkeit augenblicklich; in Folge dessen geht dann aber 
auch der Leib, da er seinerseits die Seele gleichfalls nicht ent- 
behren kann, in Verwesung über ?). Glaubt man aber, durch 
diese Ansicht würde dem Menschen die trostloseste Aussicht in 
die Zukunft eröffnet, so findet Epikur diess unbegreiflich, da ja 
mit dem Leben auch jede Empfindung eines Uebels aufhöre °), 


ἡγεμονιχὸν leidenslos sei, kann nach dem sogleich Anzuführenden nicht wohl 
richtig sein. . 

1) Ῥιοα. und Lvcr. ἃ. 4. ἃ. Ὁ. Auch im Schlaf soll nach Lvcr. IV, 913 ff. 
(vgl. Terrurr. De an. 43) ein Theil der anima den Körper verlassen, ein an- 
derer in den Körper zurückgedrängt werden, und nichts anderes wollen wohl 
auch die etwas unklaren Worte Epikur’s b. Dıoc. 66 besagen. , 

2) Epik. b. Dıos. 64 f. Sehr ausführlich beweist Luck. III, 417—827 die 
Sterblichkeit der Seele, die sich übrigens auf epikureischem Standpunkt von 
selbst verstand. Andere Stellen, wie Prur. ἢ. p. suav. vivi 27, '1. 3. 30,5. 
Sexr. Math. IX, 72, brauchen kaum angeführt zu werden. Sehr bezeichnend 
tritt aber hier gerade der Gegensatz des Stoieismus und Epikureismus hervor. 
Dort ist es die Seele, welche den Leib, hier der Leib, welcher die Seele zu- 
sammenhält; dort überlebt daher die Seele den Leib, hier ist diess unmöglich. 
Im Stoieismus fühlt sich der Geist als die Macht über das Aeussere, und so 
auch über den eigenen Körper; im Epikureismus stellt er sich ihm gleich und 
macht sich von ihm abhängig. 

3) Epik. b. Dıoc. 124—127; z. B. τὸ φρικωδέστατον οὖν τῶν καχῶν ὃ θάνα- 
τος οὐδὲν πρὸς ἥμᾶς" ἐπειδήπερ “ὅταν μὲν ἡμείς ὦμεν ὃ θάνατος οὐ πάρεστιν. 
ὅταν δὲ ὃ θάνατος παρῇ τόθ᾽ ἡμεῖς οὐχ ἐσμέν. Ders. b. Sexr. Pyrrh. III, 229 
(Auex. Artnr. Anal. pri. 117, . Top. 9,u. Gerr. N. A. II, 8, 1. Stop. Serm. 

25 * 


335 Epikureer. 


und die Zeit, in der wir nicht mehr sind, uns so wenig berühre, 
wie die, in der wir noch nicht gewesen sind 1); ja er ist der 
Meinung, seine Lehre allein vermöge uns über den Tod zu 
beruhigen, da sie allein die Furcht vor der Unterwelt und ihren 
Schrecknissen gründlich aufhebe ?). Diess werden wir nun auch 
ganz natürlich finden; um so auffallender erscheint beim ersten 
Anblick jene Unterscheidung der vernünftigen und der unver- 
nünftigen Seele in einer so durchaus materialistischen Psycho- 
logie; indessen ist sie doch um nichts befremdender, als die ent- 
sprechenden Bestimmungen der stoischen Lehre, und wenn sich 
diese aus dem ethischen Gegensatz der Sinnlichkeit und der Ver- 
nunft erklären, so werden wir auch in Epikur’s Ethik dem glei- 
chen Gegensatz zwischen der allgemeinen und der sinnlichen Seite 
des Geistes begegnen. So theilt Epikur mit-den Stoikern auch 
die Annahme einer himmlischen Herkunft des Menschen ?), und 
soll auch damit hier zunächst nur gesagt sein, dass der Mensch, 
wie die lebenden Wesen überhaupt, ätherische Stoffe in sich habe, 
so knüpft sich doch hieran, ähnlich wie bei den Stoikern, die 
ebenbesprochene Unterscheidung des Edleren und Unedleren im 
Menschen, welche in letzter Beziehung doch nichts anderes ist, 
als ein materialistischer Ausdruck für den Unterschied des Geistes 
von der Materie. 


Von den Erscheinungen des Seelenlebens bringt Epikur zu- 
nächst die sinnliche Wahrnehmung mit den allgemeinen Grund- 
lagen seiner Naturlehre durch die demokritische Lehre von den 
Idolen in Verbindung. Von der Oberfläche der Körper — diess 
ist das Wesentliche dieser Vorstellung — lösen sich beständig 
ungemein feine Theilchen ab, welche vermöge dieser ihrer Fein- 
heit die weitesten Räume in unendlich kleiner Zeit, durch’s Leere 


118, 30): ὃ θάνατος οὐδὲν πρὸς ἡμᾶς" τὸ γὰρ διαλυθὲν ἀναισθητεῖ, τὸ δὲ ἀναισθητοῦν 
οὐδὲν πρὸς ἣμᾶς. Lock. III, 828—975. 
1) Lvcr. III, 830 fi. 
2) Dıoc. 81. 142. Luck. 1Il, 37 fi. 
3) Lucn. II, 991: denique coelesti sumus omnes semine oriundi u. 8. W. 
999: cedit item retro de terra quod fuit ante 
in terras: et quod missum est ex aetheris oris 
id rursum coeli rellatum templa receptamt. 


Psychologie: die Wahrnehmung. 359 


dringend '), durcheilen. Viele von diesen Ausflüssen werden nun 
allerdings bald nach ihrer Entstehung durch irgend einen Widerstand 
aufgehalten oder in Verwirrung gebracht; in anderen dagegen be- 
wahren die Atome noch längere Zeit dieselbe Stellung und Ver- 
bindung , welche sie in den Körpern selbst gehabt haben, so dass 
sie ein Bild von den Dingen gewähren, welchem nur die körper- 
liche Dichtigkeit fehlt. Indem diese Bilder durch die verschiede- 
nen Sinneswerkzeuge in die Seele eindringen, entstehen unsere 
Vorstellungen von den Dingen ?). Auch diejenigen Vorstellun- 
gen, denen kein wirkliches Objekt entspricht, sind auf solche der 
Seele gegenwärtige Bilder zurückzuführen °); denn theils dauern 
die Bilder der Dinge oft länger, als die Dinge selbst %), theils ent- 
stehen durch zufällige Verbindung von Atomen nicht selten Bilder 
in der Luft, die von keinem ihnen ähnlichen Körper herrühren, 
theils vermischen sich auch verschiedenartige Bilder auf dem 
Wege zu unseren Sinnen; die Vorstellung eines Centauren z. B. 
entsteht dadurch, dass das Bild eines Menschen sich mit dem eines 
Pferdes — nicht etwa nur in unserer Vorstellung, sondern vorher 
schon im Idol — verbindet 9). Wenn uns endlich unsere Wahr- 
nehmung wirkliche Gegenstände unrichtig oder unvollständig 
darstellt, so haben wir auch dieses nur daraus zu erklären, dass 
die Bilder derselben verändert oder verstümmelt worden sind, ehe 
sie unsere Sinne erreicht haben °). Und in dieser Erklärung 


1) Demokrit, von dem Epikur diese Theorie im Uebrigen entlehnt hat, 
lässt sie statt dessen die vor ihnen liegende Luft gestalten; s. Bd. 1, 627. 

2) Epik. b. Dioc. X, 46—50. 52 f. und in den Bruchstücken des zweiten 
Buchs περὶ φύσεως. Luck. IV, 26—266. 722 ff. vgl. VI, 921 ff. Cıc. ad Famil. 
XV, 16. Pıur. qu. conv. VIII, 10, 2,2. plac. IV, 8, 1. 19,2. Sexr. Math. 
VII, 206 ff. Gerz. N. A. V, 16. Maceros,. Sat. VII, 14. Zu der Lehre von den 
Idolen gehört auch, was Lucr. IV, 267 ff. 568 ff. Pıur. plac. IV, 14, 2 über 
die Spiegelbilder und das Echo sagt. 

3) So z. B. die Vorstellungen der Träumenden und Verrückten, aber 
überhaupt alle leeren Einbildungen Dıioc. 32. Luck. 1V, 730 ff. 

4) Pıur. def. orac. 19, 8. 420: εἰ δὲ χρὴ γελᾷν ἐν φιλοσοφία τὰ εἴδωλα γελα- 
στέον τὰ κωφὰ καὶ τυφλὰ χαὶ ἄψυχα, ἃ ποιμαίνουσιν (sc. οἱ ᾿Επιχούρειοι) ἀπλέτους 
ἐτῶν περιόδους ἐμφαινόμενα χαὶ περινοστοῦντα πάντη τὰ μὲν ἔτι ζώντων τὰ δὲ πάλαι 
καταχαέντων ἢ χατασαπέντων ἀποῤῥυέντα. 

5) Luck. ἃ. ἃ. Ο. 

6) Sextr. ἃ. ἃ. Ὁ. Luck. IV, 351 fl. 


390 Epikureer. 


unserer Vorstellungen lässt sich die epikureische Schule auch 
durch die Thatsache nicht stören, dass wir die Vorstellungen aller 
möglichen Dinge beliebig in uns hervorrufen können; diess soll 
vielmehr nur davon herrühren, dass wir beständig von unendlich 
vielen Bildern umgeben sind, welche wir aber nur dann wahr- 
nehmen, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf sie richten; ebenso 
wird die scheinbare Bewegung der Gestalten, welche wir im 
Traum sehen, aus der raschen Aufeinanderfolge ähnlicher Idole 
erklärt, die uns als eine Veränderung eines und desselben Bildes 
erscheine 1). Doch soll neben dem blossen Aufnehmen der uns 
von aussen gegebenen Bilder auch eine selbstthätige Bewegung 
in Beziehung auf dieselben stattfinden, welche sich an die durch 
den äusseren Eindruck in der Seele bewirkte Bewegung zwar‘ 
anschliesse, aber doch nicht als ihre blosse Fortsetzung zu be- 
trachten sei; aus dieser Selbstthätigkeit entspringt die Meinung, 
und ebendesshalb ist die Meinung nicht ebenso nothwendig und 
ausnahmslos wahr, wie die Sinnesempfindung, sondern sie kann 
mit dieser übereinstimmen oder nicht übereinstimmen, wahr oder 
faisch sein ?). Die Bedingungen ihrer Wahrheit oder Unwahrheit 
sind schon früher untersucht worden 5). 

Aus dem Vorstellen geht auch das Wollen und Handeln her- 
vor, indem die Seele durch die Vorstellungen in Bewegung ge- 
setzt wird, und diese Bewegung sich von ihr aus dem’ Körper 
mittheilt %). Genauere psychologische Untersuchungen über das 
Wesen des Willens scheint aber Epikur nicht angestellt zu haben; 


1) Lucr. IV, 766—819 und über das unausgesetzte Ausströmen von Bil- 
dern V.141 ff. Dioc. 48. 

2) Epik. b. Dıoc. X, 51: τὸ δὲ διημαρτημένον οὐχ ἂν ὑπῆρχεν, el μὴ ἔλαμ- 
βάνομεν χαὶ ἄλλην τινὰ χίνησιν ἐν ἣμῖν αὐτοῖς συνημμένην μὲν, διάληψιν (al.: διά- 
λειψιν; der Sinn scheint bei beiden Lesarten der gleiche: eine von dem sinn- 
lichen Eindruck getrennte Bewegung) δ᾽ ἔχουσαν. χατὰ δὲ ταύτην τὴν συνημμένην 
τῇ φανταστιχῇ ἐπιβολῇ (sinnlicher Eindruck) διάληψιν. (al.: διάλειψιν) δ᾽ ἔχουσαν 
ἐὰν μὲν μὴ ἐπιμαρτυρηθῇ ἢ ἀντιμαρτυρηθῇ τὸ ψεῦδος γίνεται, ἐὰν δὲ ἐπιμαρτυρηθῇ ἢ 
μὴ ἀντιμαρτυρηθῇ τὸ ἀληθές. 

3) Was die Terminologie betrifft, so nannte Epikur nach Prur. place. ΕΥ̓͂, 
8, 2. Dıoc. 32 das Wahrnehmungsvermögen αἴσθησις, die Wahrnehmung 
ἐπαίσθημα. 

4) Luce. IV, 874 fl. Vergl. Gavex de Hippoer. et Plat. V, 2. Bd. V, 
567 K. 


Die Wahrnehmung; der Wille. 391 


sein einziges Interesse liegt hier in der Rettung der Willens- 
freiheit. Diese hält er für unbedingt nothwendig, wenn etwas in 
unseren Handlungen unser eigenes Werk sein soll, wenn wir auf 
die sittliche Zurechnung nicht verzichten, und uns nicht einer 
trostlosen unerbittlichen Nothwendigkeit preisgeben wollen 1). 
Um sie möglich zu machen, hatte Epikur, wie wir früher gesehen 
haben, den Zufall in die Bewegung der Atome eingeführt; aus 
demselben Grunde bestreitet er die Wahrheit der disjunktiven 
Sätze, welche sich auf Zukünftiges beziehen 2). Doch wollte er 
in letzterer Beziehung ohne Zweifel?) eigentlich nicht die formale 
Richtigkeit der Disjunktion, sondern nur die materielle Wahrheit 
der beiden Satzglieder angreifen; d. h. er läugnete nicht, dass 
von contradictorisch entgegengeseizten Fällen der eine oder der 
andere eintreten müsse, dass es wahr sei, wenn gesagt wird: 
Epikur wird morgen entweder leben oder nicht leben, sondern 
er bestritt nur die ‘beiden Sätze, jeden für sich genommen, er 
läugnete sowohl die Wahrheit des Satzes: Epikur wird leben, als 
die des entgegenstehenden: Epikur wird nicht leben, weil sowohl 
der eine als der andere erst durch das wirkliche Eintreten des 
jetzt noch ungewissen Erfolgs wahr werde *). Hierüber wird er 


1) B. Dıoc. 133 f.: τὸ δὲ παρ᾽ ἡμᾶς ἀδέσποτον- ᾧ χαὶ To μεμπτὸν χαὶ τὸ ἐν- 
αντίον παραχολουθεῖν πέφυχεν. ἐπεὶ χρεῖττον ἦν τῷ περὶ θεῶν μύθῳ χαταχολουθεῖν, 
ἢ τῇ τῶν φυσιχῶν εἱμαρμένῃ ee 

2) Cıc. N. D. I, 25, 70: (Epieurus) pertimuit, ne, si concessum esset hujus- 
modi aliquid: aut vivei cras aut non vivet Epicurus, alterutrum fieret neces- 
sarium; totum hoc: aut etiam aut non negavit esse necessarium. Dasselbe Acad. 
II, 30. 97. De fato 10, 21. 

3) Vgl. Sreinuarr $. 466 des mehrerwähnten werthvollen Artikels. 

4) Wenigstens sagt Cıc. de fato 16,37 mit Beziehung auf die vorliegende 
Frage: nisi forte volumus Epieureorum opinionem sequi, qui tales propositiones 
nec veras nec fulsas esse dicunt, aut cum id pudet üÜlud tamen dieunt, quod est 
impudentius, veras esse ex contrarüs disjunctiones, sed quae in his enuntiata 
essent ecorum neutrum esse verum. Cıc. thut nun zwar hiezu den Ausruf: ὁ αὐ. 
mirabilem licentiam et miserabilem inscientiam dicendi! indessen hat er dazu 
kein Recht, denn der Satz: es wird entwedew A oder B erfolgen, ist nicht 
gleichbedeutend mit dem Satze: es lässt sich entweder von A oder von B be- 
haupten, dass es erfolgen werde; Epikur konnte daher recht wohl jenen zu- 
geben, und diesen läugnen. Wirklich folgt er auch hierin nur dem Aristoteles; 
s. Bd. Il, b, 157, 5 


392 Epikureer. 


daher weniger zu tadeln sein, als dafür, dass er die Natur des 
Willens und den Begriff der Freiheit nicht gründlicher untersucht, 
und dass er überhaupt auch die Psychologie ebenso dürftig und 
oberflächlich behandelt hat, wie die ganze Physik. 


4. Die Religionsphilosophie. 


Epikur selbst freilich ist von den Ergebnissen seiner physi- 
kalischen Untersuchungen vollkommen befriedigt. Durch seine 
Ansicht über die Gründe der Dinge hofft er nicht allein den Aber- 
glauben der polytheistischen Götterverehrung, sondern auch das 
Vorurtheil von dem Walten einer Vorsehung gründlich beseitigt zu 
haben. Diese beiden Meinungen stellt er nämlich ganz auf die gleiche 
Linie. Die Vorstellungen des Volks von den Göttern sind so verkehrt, 
dass Epikur glaubt, nur wer sie annehme, begehe eine Gottlosig- 
keit, nicht wer sie zerstöre 1); die Religion hat, wie Lucrez 
sagt 2), die grössten Uebel verursacht, und der Mann, welcher 
sie durch eine natürliche Weltanschauung verdrängt hat, ist als 
der Sieger über den gefährlichsten Feind der Menschheit zu prei- 
sen; auch Epikur’s wegwerfende Urtheile über die Dichtkunst 
galten zunächst den religiösen Irrthümern, die von ihr genährt 
werden 5). Aber auch der Vorsehungsglaube ist, wie er glaubt, 
um nichts besser, als die Volksreligion, auch er wird von den 
Epikureern als ein Mährchen bezeichnet *), und in der fatalisti- 


1) B. Dıos. X, 123: οἵους δ᾽ αὐτοὺς [τοὺς θεοὺς] ol πολλοὶ νομίζουσιν οὐχ 
εἰσίν" οὐ γὰρ φυλάττουσιν αὐτοὺς οἵους νομίζουσιν. ἀσεβὴς δὲ οὐχ ὃ τοὺς τῶν πολλῶν 
θεοὺς ἀναιρῶν ἀλλ᾽ ὃ τὰς τῶν πολλῶν δόξας Beats προςξάπτων. Vgl. Cıc. N.D. 1, 
16, 42 £. 

2) III, 14 ff. VI, 49 ff., besonders aber in der berühmten Stelle I, 62 ff.: 

Humana ante oculos foede cum vita jaceret 

in terris oppressa gravi sub relligione, 

quae caput a coeli regionibus ostendebat 

horribili super aspectu mortalibus instans u. s. w. bis zu 
V. 101: tantum relligio potuit suadere malorum. Vgl. auch Epik. b. Dioc. 81 
und oben $. 359, 1. 370, 2. 

3) Herakuır. Alleg. Homer. ce. 4: ([Ἐπίχουρος) ἅπασαν ὁμοῦ ποιητιχὴν ὥσπερ 
ὀλέθριον μύθων δέλεαρ ἀφοσιούμενος. Ebd. c. 75. 

4) Ρυῦτ. def. orac. 19, 8. 420: Ἐπιχουρείων δὲ χλευασμοὺς χαὶ γέλωτας οὔτι 
φοβητέον οἷς τολμῶσι χρῆσθαι χαὶ κατὰ τῆς προνοίας ὖθον αὐτὴν ἀποχαλοῦντες. 


Die Religion. 393 


schen Form, die er bei den Stoikern hatte, sogar für noch 
schlimmer erklärt als der Volksglaube ἢ. Wie könnte auch, 
fragen sie, die göttliche Vorsehung die Schöpferin einer Welt 
sein, in der so unzählig viel Uebles ist, in der so oft der Edle 
misshandelt wird, das Laster triumphirt? wie könnte eine Welt 
um des Menschen willen geschaffen sein, deren kleinerer Theil 
überhaupt für den Menschen bewohnbar ist? wie sollte eine Na- 
tur seinem Besten dienen, die sein Leben und seine Werke so 
tausendfältig gefährdet, ja die ihn hülfloser als jedes Thier, in die 
Welt schickt? Wie sollen wir uns andererseits Wesen vorstellen, 
welche das unendliche Weltall zu regieren, und Alles an allen 
Orten zugleich allgegenwärtig zu schaffen im Stande wären? ?) 
Was hätte diese Wesen zur Weltschöpfung bestimmen sollen, und 
woher konnten sie wissen, was und wie sie es schaffen sollten, 
wenn ihnen nicht die Natur mit ihrem Beispiel vorangieng ? 5) 
Wie könnte endlich die Gottheit das selige Wesen sein, das sie 
doch sein muss, wenn sie die ganze Last der Fürsorge für alle 
Dinge und Vorgänge in der Welt auf sich nehmen, oder gar 
selbst in dem Körper der Welt sich mit herumwälzen müsste? 5) 
wie könnten auch wir einem solchen Gott gegenüber, der sich 
um Alles kümmert, ohne Furcht sein?°?) — Mit den Göttern 
des Volks werden natürlich auch die Dämonen®), mit der 
Vorsehung wird auch die Nothwendigkeit des Gebets 7 und 


n. p. suav. vivi 21, 2: διαβάλλοντες τὴν πρόνοιαν ὥσπερ παισὶν "Eurouoav ἣ 
Ποινὴν ἀλιτηριώδη za τραγιχὴν ἐπιγεγραμμένην. Bei Cıc. N. D. I, 8, 18 nennt der 
Epikureer die πρόνοια eine anus fatidica, wozu sie freilich von dem Weis- 
sagungsaberglauben der Stoiker nicht selten gemacht wurde. 


1) S. 0. 391, 1. 

2) Lucr. V, 196 ff. II, 1090 ff. Prur. plae. I, 7, 10. Vgl. auch die Dispu- 
tation des Stoikers und Epikureers b. Lucıan Jup. trag. c. 35 ff., namentlich 
c. 46 ἢ, 

3) Luck. V, 165 ff. (vgl. 5. 370, 2). Prur. plac. I, 7, 8 £. 

4) Dıos. 76 f. 97. 113. (8. 5. 370, 2). Cıc. N.D. I, 20, 52 ff. Pıur. plac. 
iR 

5) Cıc. a. a. O. 54. 

6) Prur. def. orac. 19. plac. I, 83. 

7) Gegen diese richtet Hermarchus b. Pxoxı.. in Tim. 66, E den Fang- 
schluss: wenn zu Allem Gebet nöthig sei, sei es auch zum Gebet selbst nöthig, 
und so fort in’s Unendliche, 


394 Epikureer. 


die Weissagung geläugnet 1), welche die Stoiker aus jener 
"abgeleitet hatten. Alle diese Vorstellungen sind nach Epikur nur 
aus Unwissenheit und Furcht entstanden: die Bilder, welche in 
Träumen geschaut werden, wurden mit wirklichen Wesen ver- 
wechselt, die Regelmässigkeit in der Bewegung der Himmels- 
körper wurde von den Unwissenden auf Götter zurückgeführt, 
Vorgänge, die mit anderen zufällig zusammentrafen, wurden für 
Vorzeichen derselben gehalten, schreckenerregende Naturerschei- 
nungen, wie Gewitter und Erdbeben, erzeugten in den Gemüthern 
die Furcht vor höheren Mächten 22. Die Furcht ist daher auch 
fortwährend die Grundstimmung der Religion 5), wie umgekehrt 
die Befreiung von dieser Furcht die wesentlichste Aufgabe der 
Philosophie ist. 

Nichtsdestoweniger wollte auch Epikur den Glauben an 
Götter nicht aufgeben *). Dass diess nur eine unwahre Anbe- 
quemung an die allgemeine Meinung gewesen sei °), ist gewiss 
ein ungerechter Vorwurf; denn theils machen die epikureischen 
Erklärungen über die Götter durchaus den Eindruck der Aufrich- 
tigkeit, theils konnte auch der erklärte Atheismus in jener Zeit 
schwerlich Gefahr bringen, und wäre wohl jedenfalls ebenso 
leicht verziehen worden, als der epikureische Deismus, der ja die 
Volksgötter gleichfalls ganz unumwunden läugnete. Wir können 
aber auch noch nachweisen, was Epikur zu der Annahme von 
Göttern veranlasste. Einestheils schien ihm nämlich die Allge- 
meinheit des Götterglaubens seine objektive Wahrheit zu bewei- 
sen, und er erklärte aus diesem Grunde das Dasein der Götter 


1) Dıog. 135. Luce. V, 379 ff. (gegen die vorbedeutenden Blitze). Pıur. 
plac. V, 1,2. Cıc. N.D. 1, 20, 55. Divin. II, 17,40. TertuLr. De an. 46. 


2) Luck. V, 1159—1238, vgl. IV, 88 ἢ, VI, 49 ff. Sexr. Matth. IX, 25. 
VI, 19, und die Vorbedeutungen betreffend Dioc. 98. 115. 

3) Diese Ansicht tritt besonders bei Lucrez (s. o. 392, 2) hervor, der 
kaum jemals der Religion erwähnt, ohne die Angst und Scheu, durch welche 
sie das Menschengeschlecht niedergedrückt habe, mit den stärksten Farben zu 
schildern. M. s. auch Prur. ἢ. p. suav. v. 21, 10. Cıc. N. D. I, 20, 54. 

4) Er hatte darüber eigene Schriften, περὶ θεῶν und π. ὁσιότητος, verfasst; 
Dioc. 27. Cıc. N. D. I, 41, 115. Puur. n. p. suav. v. 21, 11. 

5) Posıvoxius b. Cıc. N. D. I, 44, 123 vgl. 30, 85. ΗΙ, 1,3. Puur. 
2.2. Ὁ; 


Die Götter. 395 


für etwas unmittelbar Gewisses, in unseren natürlichen Begriffen 
(πρόληψις) Begründetes !); was er mit seiner. sensualistischen 
Erkenninisstheorie ohne Zweifel durch die Annahme ausglich, 
dass die πρόληψις, welche uns vom Dasein der Götter überzeugt, 
aus der wirklichen Anschauung göttlicher Wesen, aus der Wahr- 
nehmung jener Bilder entstanden sei, von denen schon Demokrit 
den Götterglauben hergeleitet hatte ?). Neben diesem theoreti- 
schen Grunde wirkte aber bei Epikur auch das ästhetisch -reli- 
giöse Interesse, sein Ideal der Glückseligkeit in den Göttern ver- 
wirklicht anzuschauen °); und dasselbe Ideal ist es, durch welches 
der ganze Inhalt seiner Vorstellung über die Götter bestimmt 
wird. Seine Götter sind daher durchaus menschenähnlich. Nur 
solche menschenähnliche Wesen kennt die religiöse Vorstellung; 


1) Epik. b. Dıoc. 123: θεοὶ μὲν γὰρ εἰσίν. ἐναργὴς μὲν γάρ ἐστιν αὐτῶν 7] 
γνῶσις. Ausführlicher der Epikureer Ὁ. Cıc. N. Ὁ. I, 16, 48: solus enim 
[Epieurus] vidit, primum esse Deos quod in omnium animis eorum notionem 
impressisset ipsa natura. quae est enim gens aut quod genus hominum quod non 
habeat sine doctrina antieipationem quandam Deorum? quam appellat πρόληψιν 
Epieurus u. s. w. Diese Angaben sind freilich mit Vorsicht aufzunehmen, da 
Cicero seine Vorstellung von den angeborenen Begriffen einzumischen seheint; 
da er sich aber ausdrücklich, wohl nach Phbilodemus, auf Epikur’s Schrift 
περὶ χανόνος beruft, so werden wir doch annehmen dürfen, was auch Dıoc. 124 
bestätigt, dass der Götterglaube von Epikur auf eine allgemeine πρόληψις ge- 
gründet wurde. 

2) Für diese Ansicht spricht neben der Consequenz des epikureischen 
Systems namentlich auch die Stelle bei Cıc. N.D.I, 18, 46, wo über die Ge- 
stalt der Götter bemerkt ist: a natura habemus omnes omnium gentium speciem 
nullam aliam nisi humanam Deorum. quae enim alia forma oceurrit unquam 
aut vigilanti cuiquam aut dormienti? Die φυσιχὴ πρόληψις wird bier auf die 
Wahrnehmung der εἴδωλα zurückgeführt. Ebenso ebd. 19, 49 und bei Luck. 
VI, 76: de corpore quae sancto simulacra feruntur in mentes hominum divinae 
nuntia formae. 

3) Vgl. Dıioe. 121. Cıc. N.D. I, 17, 45: si nihil aliud quaereremus, nisi 
ut Deos pie coleremus et ut superstitione liberaremur, satis erat dietum; nam et 
praestans Deorum natura hominum pietate coleretur, cum et aeterna esset et 
beatissima ... et metus omnis a vi atque ira Deorum pulsus esset. Ebd. 20, 56: 
wir fürchten die Götter nicht, ef pie sancteque colimus naturam excellentem at- 
que praestantem. Ebd. 41, 115 f. Sen. Benef. IV, 19, 3: Epikur hat jede Be- 
ziehung der Gottheit zur Welt abgebrochen. Nichtsdestoweniger verlangt er, 
dass man sie verehre, wie einen Vater, propter majestatem ejus ewimiam sin- 
gularemque naturam. 


396 Epikureer. 


oder wie Epikur diess auffasst: nur solche erscheinen uns in den 
Bildern der Götter, die sich uns bald im Schlaf, bald in wachem 
Zustande darstellen; und auch das Nachdenken überzeugt uns, 
dass die menschliche Gestalt die schönste ist, dass ihr allein die 
Vernunft inwohnt, und dass sie sich für selige Wesen am meisten 
eignet 1). Gieng doch Epikur so weit, dass er seinen Göttern 
selbst den Geschlechtsunterschied beilegte”). Aber doch soll alles 
das von ihnen entfernt werden, was für die göttliche Natur nicht 
passt. Die zwei wesentlichsten Merkmale des Göttlichen sind aber 
‚nach Epikur die Unvergänglichkeit und die Seligkeit 5). Diese 
würden beide, wie er glaubt, nothleiden, wenn wir den Körpern 
der Götter die dichte Leiblichkeit der unsrigen zuschreiben woll- 
ten; wir können ihnen daher nur ein Analogon unseres Leibes, 
eine ätherische, aus den feinsten Atomen bestehende Gestalt bei- 
legen *). Natürlich taugen sie aber mit diesen ätherischen Leibern 
nicht in eine Welt, die der unsrigen ähnlich wäre, ja sie dürfen 
überhaupt in keiner Welt wohnen, wenn nicht der endliche Un- 
tergang derselben auch sie ereilen, und die Furcht davor ihre 
Seligkeit trüben soll; Epikur weist ihnen daher die Intermundien 
als Wohnort an, wo sie, wie Lucrez sagt, von keinem Unwetter 
belästigt, unter ewig heiterem Himmel hausen °). Ebensowenig 
kann den Göttern eine Sorge um die Welt und die Angelegen- 


1) Cic. N. D. I, 18, 46; 5. o. Divin. II, 17, 40. Sexr. Pyrrh. III, 218. 
Pıvr. pl. phil. 1, 7, 18 (Sro». 1, 66). Präopr. (Pbilodem.) fragm. col. 7 f. 
METRoDoR π. αἰσθητῶν (Vol. Herc. VI) col. 10 ff. Ebd. col. 16. 21 gegen die 
Kugelgestalt der stoischen Götter, d. ἢ. der als Götter verehrten Gestirne. 

2) Cıc. N. D. I, 34, 95. 

3) Epik. b. Dıios. 123: πρῶτον μὲν τὸν θεὸν ζῷον ἄφθαρτον καὶ μαχάριον 
νομίζων ... μηδὲν μήτε τῆς ἀφθαρσίας ἀλλότριον μήτε τῆς μαχαριότητος ἀνοίχειον 
αὐτῷ πρόςαπτε ἃ. 5. w. Ebd. 139. Cıc. N. Π.1, 17, 45. 19, 51. Luck. II, 646 £. 
V, 165 u. A. 

4) Cıc. N. Ὁ. II, 23, 59. I, 18, 49. 25, 71. 26, 74f. Divin. II, 17, 40. 
Luck. V, 148 ff. MerTRovor. r. αἰσθητ. col. 7. Pı.ur. ἃ. ἃ. Ὁ, Epikur hat, wie 
Cıc. sagt, monogrammos Deos, seine Götter haben nur quasi corpus und quasi 
sanguinem, sie sind perlucidi et perflabiles, oder nach Lucr. tenues, so dass 
sie nicht berührt werden können, und ebendesshalb (vgl. Metrodor) unzer- 
störbar. ὦ 

5) Cıc. Divin. II, 17, 40. Luck. II, 646 fl. ΠΙ, 18 δ΄. V, 140 δ΄. Sen. 
Benef. IV, 19, 2. 


Die Götter. 397 


heiten der Menschen auferlegt werden, wenn wir nicht ihre Se- 
ligkeit durch die mühseligste Geschäftigkeit zerstören wollen; 
sondern völlig frei von Sorgen. und Mühen, schlechthin unbe- 
kümmert um die Welt müssen sie in seliger Betrachtung ihrer 
unveränderlichen Vortrefllichkeit das reinste Glück geniessen '). 
Wie sich die epikureische Schule dieses Glück ausmalte, 
sagt uns namentlich Philodemus 522. Die Götter sind frei vom 
Schlafe, der ja doch immer ein theilweiser Tod ist, und des- 
sen Wesen, die ohne jede Anstrengung leben, entbehren kön- 
nen. Dagegen glaubt der Epikureer, dass sie der Nahrung doch 
bedürfen, nur dass diese natürlich ihrer Leiblichkeit angemessen 
sein muss. - Ebenso brauchen sie Wohnungen °), wie ja jedes 
Wesen seinen Aufenthaltsort hat. Wollten wir ihnen ferner die 
Sprache nehmen, so würden wir sie des höchsten Genusses, der 
Unterhaltung mit Ihresgleichen, berauben; ja Philodemus findet es 
sogar wahrscheinlich, dass sie sich der griechischen oder einer 
nahe verwandten Sprache mit der höchsten Vollkommenheit be- 
dienen %). Er denkt sich seine Götter mit Einem Wort wie eine 
Gesellschaft epikureischer Philosophen, die Alles hat, was sie sich 


1) Epik. b. Dioe. 77. 97. 139. Cıc. N. D. I, 19, 51 ff. (wo u. A.: nos au- 
tem beatam vitam in animi securitate et in omnium vacatione munerum ponimus, 
was daher Beides den Göttern vor Allem beizulegen sei). Legg.I, 7,21. Luck. 
II, 646 ff. III, 1092. IV, 83. VI, 57. Sex. Benef. IV, 4,1. 19,2 u.A. Vgl. 
8. 370. 393, 4. 395, 3. 

2) In den Bruchstiicken seiner Schrift: περὶ τῆς τῶν θεῶν εὐστοχουμένης 
διαγωγῆς, χατὰ Ζήνωνα (so wird der Titel von dem Herausgeber, Vol. Here. VI, 
'ergänzt) col. 12 ff. 

3) Auf diese nämlich, nicht auf gemeinsame Mahle, werden nach dem 
unmittelbar Folgenden die χλίσια (wenn die Ergänzung richtig ist) der Götter 
zu beziehen sein, von denen nach col. 13, 20 Hermarchus und Pythokles ge- 
sprochen hatten. 

4) Col. 14 mit dem naiven Grunde: λέγονται μὴ πολὺ διαφερούσαις χατὰ τὰς 
ἀρθρώσεις χρῆσθαι φωναῖς, χαὶ μόνον οἴδαμεν γεγονότας θεοὺς ᾿Ἑλληνίδι γλώττῃ 
χρωμένους. Das Erstere scheint auf die Wörter zu gehen, die Homer aus der 
Göttersprache anführt, das Andere auf Erzählungen von Göttererscheinungen; 
denn an Menschen, welche nachmals Götter geworden wären, zu denken (wie 
der neapolitanische Herausgeber), verbieten alle Voraussetzungen des Systems. 
Auf diese „‚nudoroyix ᾿Επιχούρου““ bezieht sich die skeptische Frage, ob die 
Gottheit mit Sprache begabt oder sprachlos sei, welche Sexr. Math. IX, 178, 
wahrscheinlich nach Karneades, stellt. 


395 Epikureer. 


wünschen mag: ewiges Leben, keine Sorge, und fortwährende 
Gelegenheit zu angenehmer Unterhaltung. Nur solche Götter sind 
auch, wie die Epikureer meinen 1), nicht zu fürchten, nur sie 
werden frei und rein, blos um ihrer Vortrefllichkeit willen ver- 
ehrt ?). Dieser Götter sind es aber unzählige; denn wenn die 
Zahl der sterblichen Wesen unbegrenzt ist, so erfordert das Ge- 
setz der Gleichheit, dass die der unsterblichen nicht geringer 
sei ?), und wenn wir uns nur eine beschränkte Zahl von Göttern 
vorstellen, so rührt diess nur daher, dass wir die unzähligen 
-Bilder, die von den Göttern aus unsere Seele treffen,.um ihrer 
Aehnlichkeit willen verwechseln 3). Wiewohl sich aber die Epi- 


1) Cıc. N. D. I, 20, 54 ff. Sen. Benef. IV, 19, 1. 

2) Ueber diese Götterverehrung sagt PuiLopem. De Mus. IV (V. Here. I) 
col. 4: die Gottheit bedürfe ihrer zwar nicht, uns aber sei es naturgemäss, sie 
ihr zu erweisen, μάλιστα μὲν ὁσίαις ποολήψεσιν [nicht: θεολήψ.], ἔπειτα δὲ καὶ 
τοῖς χατὰ τὸ πάτριον παραδεδομένοις ἑκάστῳ τῶν χατὰ μέρος. 

3) Cıc. ἃ. a. O. I, 19, 50, wo aber der Zusatz: et si quae interimant u. 8. f. 
nur auf Cicero’s Rechnung kommt, denn Epikur kann seine müssigen Götter 
nicht als die welterbaltenden Wesen beschrieben haben. 

4) Cıc. N. D. I, 19, 49: (Epicurus) docet eam esse vim et naturam Deorum 
ut primum non sensu sed, mente cernatur: nee soliditate guadam nec ad nume- 
rum ut ea, quae ille propter firmitatem στερέμνια appellat, sed imaginibus 
similitudine et transitione perceptis: cum infinita simillimarum imaginum species 
ex innumerabilibus individuis existat et ad Deos (statt dieses sinnstörenden 
‚Deos ist wohl nos zu lesen, m. s. die Commentatoren in der Ausg. v. Moser 
und Ürrvzer) afluat, cum mazimis voluptatibus in eas imagines mentem inten- 
tam inficamque nostram intelligentiam capere quae sit et beata natura et aeterna. 
Diese Worte wollen wohl besagen: die Vorstellung der Götter entstehe uns 
nicht, wie die der massenhaften Körper, dadurch, dass mehrere von dem- 
selben Gegenstand ausgehende Bilder unsere Sinne treffen (nee soliditate nec 
ad numerum vgl. hiezu Dioc. X, 50), sondern dadurch, dass von unzähligen 
göttlichen Individuen Bilder ausgehen, die sich so ähnlich sind, dass sie den 
gleichen Eindruck des Seligen und Unvergänglichen in uns hervorbringen. 
Nach dieser eiceronischen Stelle ist wohl auch die des Diogenes X, 139 zu 
berichtigen. Die Worte lauten: ἐν ἄλλοις δέ φησι, τοὺς θεοὺς λόγῳ θεωρητοὺς 
εἶναι: οὺς μὲν χατ᾽ ἀριθμὸν ὑφεστῶτας, οὗς δὲ κατὰ ὁμοειδίαν ἐχ τῆς συνεχοῦς 
ἐπιῤῥύσεως τῶν ὁμοίων εἰδώλων ἐπὶ τὸ αὐτὸ ἀποτετελεσμένους ἀνθρωποειδῶς. Die 
Gleichheit der meisten Ausdrücke lässt keinen Zweifel darüber übrig, dass 
diese Stelle auf dieselbe (vielleicht auch von Pur. plac. I, 7, 18 benützte) 
Quelle zurückzuführen ist, wie die eiceronische, aber in den Worten oög μὲν 
χατ᾽ ἀρ. ὕφεστ. besagt sie das Gegentheil von dieser und von der epikureischen 


Die Götter. 399 


kureer den Stoikern gegenüber rühmten, durch diese Theologie 
nicht blos mit dem Anthropomorphismus der Volksreligion über- 
einzustimmen, sondern ihren Polytheismus mit der Annahme un- 
zähliger Götter noch zu überbieten 1), und wiewohl sie auch dem 
herkömmlichen Kultus sich nicht entziehen wollten 35). so hatten 
sie doch nicht das gleiche Interesse, wie jene, ihre Uebereinstim- 
mung mit dem Volksglauben wirklich nachzuweisen. Während 
sich daher die Stoiker für diesen Zweck kopfüber in die Allegorie 
stürzlen, so wird uns von einem ähnlichen Bestreben der Epiku- 
reer nichts berichtet, und nur der Dichter der Schule giebt ein- 
zelne allegorische Deutungen von Volksvorstellungen und Mythen, 
und zwar mit mehr Geschmack und Geschick, als die stoischen 
Allegoriker zu zeigen pflegen °). Im Uebrigen hat die Schule, 


Lehre. Hier muss also ein Fehler stecken, mag er nun dem Diogenes selbst 
oder seinen Abschreibern zur Last fallen. Dieser Fehler ist aber nicht in dem 
χατ᾽ ἀριθμὸν zu suchen, welches vielmehr auch Cicero durch ad numerum 
wiedergiebt, und die Vermuthung Srrınnarr's (a. a. O. S. 477), dass dafür 
das ungeschickte χαθ᾽ ἁρμὸν oder χαθ᾽ ἁρμοὺς (in den Fugen der Welten) zu 
lesen sei, ist gewiss nicht richtig, vielmehr scheint in dem theilenden oög 
μὲν — οὖς δὲ ein Missverständniss zu liegen, das durch Wortkritik schwer zu 
heilen ist: statt οὺς μὲν zar’ ἀριθμ. könnte man vermuthen: οὐ (oder οὐ μέντοι) 
%. ἀρ. 

1) M. vgl. Pniprus (Prinoven. π. εὐσεβείας) Fragm. col. 7 (10), wo gegen 
die Stoiker gesagt wird: ἐπιδειχνύσθωσαν τοῖς πολλοῖς Eva μόνον [se. θεὸν] ἅπαντα 
λέγοντες οὐ πολλοὺς οὐδὲ πάντας ὅσους ἣ χοινὴ φήμη παρέδωχεν, ἡμῶν οὐ μόνον 
ὅσους φασὶν οἱ Πανέλληνες ἀλλὰ χαὶ πλείονας εἶναι λεγόντων. ἔπειθ᾽ ὅτι τοιούτους 
οὐδὲ μεμήκασιν ἀπολείπειν, οἵους σέβονται πάντες χαὶ ἣυ εἰς ὁμολογοῦμεν" ἀνθρωποει- 
δεῖς γὰρ ἐχεῖνοι οὐ νομίζουσιν ἀλλὰ ἀέρα χαὶ πνεύματα χαὶ αἰθέρα, ὥστ᾽ ἔγωγε χαὶ 
τεθαῤῥηχότως εἴπαιμι τούτους Διαγόρου μᾶλλον πλημμελεῖν. Es wird sodann weiter 
ausgeführt, wie wenig die Natursubstanzen der Stoiker die Bedeutung von 
Göttern haben können, und dabei namentlich hervorgehoben (col. 9): τὰ dei« 
τοιαῦτα χαταλείπουσιν ἃ καὶ γεννητὰ χαὶ φθαρτὰ φαίνεται, τοῖς δὲ πᾶσιν ἡμεῖς ἀχολού- 
θως ἀϊδίους χἀφθάρτους εἶναι δογματίζομεν. Wir haben hier also die gleiche Er- 
scheinung, die wir auch in neuerer Zeit erlebt haben, dass sich Deisten und 
Pantheisten gegenseitig der Gottlosigkeit beschuldigen, jene weil sie die 
Persönlichkeit, diese weil sie die lebendige Wirksamkeit an der Gottheit des 
Gegners vermissen. 

2) 8. 0. 398, 2. j 

3) So wird Lvcr. II, 598 ff. die Göttermutter auf die Erde gedeutet II, 655 
die Bezeichnung Neptun, Ceres, Bacchus für das Meer, das Getreide, den 
Wein, gestattet, und III, 976 ff, werden die Mythen von den Strafen in der 


400 Epikureer. 


wie auch Lucrez selbst, gegen die Volksreligion durchaus die ne- 
gative Stellung einer aufklärenden Polemik, und eben hierin liegt 
ohne Zweifel eines ihrer wesentlichsten Verdienste. 


5. Die epikureische Ethik. A. Die allgemeinen Grund- 
sätze. 


Die Physik sollte den Menschen von den Vorurtheilen be- 
freien, welche seinem Glück im Wege stehen, die Ethik soll ihn 
positiv über das Wesen der Glückseligkeit und die Mittel zu ihrer 
- Erreichung belehren. War nun schon in den theoretischen Thei- 
len des Systems das Bestreben hervorgetreten, die Einzelwesen 
allein als das ursprünglich Wirkliche darzustellen, alle gemein- 
same Ordnung dagegen nur aus dem zufälligen Zusammentreffen 
der Einzelwirkungen abzuleiten, so muss sich die gleiche Richtung 
auf dem ethischen Gebiete darin geltend machen, dass die indivi- 
duelle Empfindung zur Norm und das Wohl des Individuums zum 
Zweck aller menschlichen Thätigkeit gemacht wird. Aber wie die 
Physik von der äusseren Erscheinung auf ihre verborgenen, nur 
dem Denken zugänglichen Gründe, und von der scheinbar zufälli- 
gen Bewegung der Atome zu einem Ganzen von gesetzmässigen 
Wirkungen geführt hatte, so kann auch die Ethik weder bei der 
sinnlichen Seite des Menschen, noch bei der selbstsüchtigen Be- 
ziehung des Einzelnen auf sich selbst stehen bleiben; indem 
vielmehr der Begriff des Wohlbefindens näher bestimmt wird, so 
zeigt sich, dass dasselbe nur durch die Erhebung über die Sinn- 
lichkeit und die blos individuellen Zwecke, nur durch die gleiche 
Zurückziehung des Bewusstseins in sich selbst und sein allgemei- 
nes Wesen zu erreichen ist, welche die Stoiker für das einzige 
Mittel zur Glückseligkeit erklärt hatten. Wir haben diese Ent- 
wicklung des epikureischen Standpunkts in ihren wesentlichen Zü- 
gen darzustellen. 

Das einzige unbedingte Gut ist nach Epikur’s Ansicht die 
Lust, das einzige unbedingte Uebel der Schmerz '). Ein Beweis 


Unterwelt geistvoll auf die Qualen gedeutet, welche schon in der Gegenwart 
aus Aberglauben und thörichten Leidenschaften entspringen. 
1) Epik. b. Dıos. 128 f. τὴν ἡδονὴν ἀρχὴν χαὶ τέλος λέγομεν εἶναι τοῦ μαχα- 
r - > x > \ ‚ - S > / 
ρίως ζῆν... πρῶτον ἀγαθὸν τοῦτο χαὶ σύμφυτον ... πᾶσα οὖν ἡδονὴ .. ἀγαθόν .. 


Ethik. Das höchste Gnt. 401 


dieses Satzes schien dem Philosophen kaum nöthig, da uns diese 
Ueberzeugung unmittelbar durch die Natur gegeben sei, und in 
‚allem unserem Thun und Lassen als massgebend vorausgesetzt 
werde 1); sofern aber ein solcher verlangt wurde, berief er sich 
auf die Thatsache, dass alle lebenden Wesen vom ersten Augen- 
blick ihres Daseins an die Lust suchen und den Schmerz fliehen ?), 
dass daher die Lust überhaupt das natürliche Gut, oder der natur- 
gemässe und in sich befriedigte Zustand jedes Wesens sei °). 
Hieraus ergiebt sich im Allgemeinen der Grundsatz, in welchem 
Epikur mit den älteren Hedonikern übereinstimmt, dass die Lust 
das Ziel aller unserer Thätigkeit sein müsse. 

Indessen erhält dieser Grundsatz im epikureischen System 
mehrere sehr eingreifende nähere Bestimmungen. Für's Erste 
nämlich ist weder die Lust noch der Schmerz etwas Einfaches, 
sondern es giebt verschiedene Arten und Grade der Lust und des 
Schmerzes, und es kann der Fall eintreten, dass wir eine Lust 
nur durch Verzicht auf andere, oder nur mit Schmerzen erkaufen, 
dass wir umgekehrt einem Schmerz nur durch Uebernahme eines 
anderen oder durch Verzicht auf eine Lust entgehen können. In 
diesem Fall räth uns Epikur, das Verhältniss der verschiedenen 
Lust- und Schmerzempfindungen abzuwägen, und mit Rück- 
sicht auf den Nutzen und Schaden, den uns die einzelnen ge- 
währen, je nach Umständen das Gute wie ein Uebles und das 
Ueble wie ein Gutes zu behandeln, der Lust zu entsagen,, wenn 
uns von ihr grösserer Schmerz droht, und zur Erlangung grösse- 


καθάπερ καὶ ἀλγηδὼν πᾶσα zaröv. Ebd. 141. Cıc. Fin. I, 9, 29. Tuse. V, 26,73: 
cum praesertim omne malum dolore definiat, bonum voluptate. 

1) B. Dıos. 129: ταύτην γὰρ ἀγαθὸν πρῶτον χαὶ συγγενικὸν ἔγνωμεν χαὶ ἀπὸ 
ταύτης χαταρχόμεθα πάσης αἱρέσεως χαὶ φυγῆς καὶ ἐπὶ ταύτην καταντῶμεν ὡς κανόνι 
τῷ πάθει τὸ ἀγαθὸν χρίνοντες. Prur. adv. Col. 27, 1. 

2) Dıoe. 137. Cıc. Fin. I, 7, 23. 9, 30. I, 10, 81 f. Sexr. Pyrrh. Ill, 194. 
Math. XI, 96. 

3) Vgl. Sros. Ekl.II, 58: τοῦτο δ᾽ [das τέλος] οἱ κατ᾽ ᾿Επίχουρον φιλοσοφοῦν- 
τες οὐ προςδέχονται λέγειν ἐνεργούμενον, διὰ τὸ παθητικὸν ὑποτίθεσθαι τὸ τέλος, οὐ 
πραχτιχόν" ἡδονὴ γάρ᾽ ὅθεν χαὶ τὴν ἔννοιαν ἀποδιδόασι τοῦ τέλους, τὸ οἰχείως διατε- 
θεῖσθαι ἐξ ἑαυτοῦ πρὸς αὑτὸν χωρὶς τῆς ἐπ᾽ ἄλλο τι ἁπάσης ἐπιβολῆς. Auex. Arne. 
De an. 154, a, u.: τοῖς δὲ περὶ ᾿Επίχουρον ἡδονὴ τὸ πρῶτον οἰκεῖον ἔδοξεν εἶναι 
ἁπλῶς προϊόντων δὲ διαρθροῦσθαι ταύτην τὴν ἥδονήν φασιν. 


Philos. ἃ. Gr. IH. Β. 1. Abth. .26 


402 Epikureer. 


rer Lust Schmerzen zu übernehmen 1). Weiter findet er aber mit 
Plato, dass jede positive Lust auf einem Bedürfniss, mithin auf 
einem Schmerz beruhe, der durch sie gehoben werden soll; und 
er schliesst. hieraus, dass das eigentliche Wesen und Ziel aller 
Lust nur in der Schmerzlosigkeit bestehe ?), dass das Gute nichts 
anderes sei, als die Freiheit von Uebeln ®). Während daher die 
Cyrenaiker nicht die Ruhe der Seele, oder die Schmerzlosigkeit, 
sondern nur die sanfte Gemüthsbewegung , oder die positive Lust 
“ als Zweck gesetzt hatten, und ebendesshalb die Glückseligkeit 
nicht in dem Gesammtzustand des Menschen, sondern in der 
Summe der einzelnen Genüsse suchten, so will Epikur zwar bei- 
des anerkennen, sowohl die Lust der Ruhe, als die der Bewe- 
gung, sowohl die negative, als die positive Lust *); aber beide 
stehen, nach dem eben Angeführten, nicht auf gleicher Linie, 
sondern der wesentliche und mittelbare Grund der Glückseligkeit 
liegt in der Ruhe des Gemüths, oder in der Ataraxie, die positive 
Lust ist nur eine mittelbare Bedingung derselben, sofern sie uns 
von der Unlust des unbefriedigten Bedürfnisses befreit °). Die 
Ataraxie beruht aber ebenso wesentlich auf der geistigen Be- 


1) Bei Dıoc. 129 f. Cıc. Fin. I, 14, 48. Tuse. V, 33, 9%. BEN 
De otio 7, 3. 

2) Epik. b. θιοα. 139 (Gerr. N. A. II, 9, 2): ὅρος τοῦ μεγέθους τῶν ἡδονῶν 
ἣ παντὸς τοῦ aAyoüvrog ὑπεξαίρεσις. Ders. b. Dioc. 128: τούτων γὰρ [τῶν ἐπι- 
θυμιῶν] ἀπλανὴς θεωρία πᾶσαν αἵρεσιν χαὶ φυγὴν ἐπαναγαγεῖν οἶδεν ἐπὶ τὴν τοῦ σώ- 
ματος ὑγίειαν χαὶ τὴν τῆς ψυχῆς ἀταραξίαν. ἐπεὶ τοῦτο τοῦ μαχαρίως ζῆν ἐστι τέλος. 
τούτου γὰρ χάριν ἅπαντα πράττομεν ὅπως μήτε,ἀλγῶμεν μήτε ταρβῶμεν᾽ ὅταν δὲ 
ἅπαξ τοῦτο περὶ ἡμᾶς γένηται λύεται πᾶς ὃ τῆς ψυχῆς χειμὼν οὐχ ἔχοντος τοῦ ζῴου 
βαδίζειν ὡς πρὸς ἐνδέον τι... τότε γὰρ ἡδονῆς χρείαν ἔχομεν, ὅταν ἐχ τοῦ μὴ παρεῖναι 
τὴν ἡδονὴν ἀλγῶμεν" ὅταν δὲ μὴ ἀλγῶμεν οὐχέτι τῆς ἡδονῆς δεόμεθα. Ebd. 131.144. 
vgl. Ῥεῦτ. ἢ. p. suav. v. 3, 10. Srtos. Serm. 17, 35. Luck. II, 14 ff. Cıc. Fin. 
L,.11, 87. 

3) Epikur und Metrodor b. Prur. a. a. 0.7, 1£. 

4) Dıoc. 136, wo u. A. die Worte Epikur’s angeführt werden: ἣ μὲν γὰρ 
ἀταραξία χαὶ ἀπονία χαταστηματιχαί εἶσιν ἡδοναὶ, ἣ δὲ χαρὰ χαὶ εὐφροσύνη κατὰ 
κίνησιν ἐνεργείᾳ βλέπονται. Rırrer III, 469 vermuthet statt ἐνεργ. ἐναργεία, aber 
ἐνεργεία gibt einen ganz passenden Sinn: sie stellen sich in bewegter Thätig- 
keit dar. Sen. ep. 66, 45: apud Epicurum duo bona sunt, ex quibus summum 
illud beatumgue componitur, ut corpus sine dolore sit, animus sine perturbatione. 

5) Daher Sen. brevit. v. 14, 2: cum Epicuro quiescere. Benef. IV, 4, 1: 


quae maxima Epicuro felieitas videlur, nihl agit. 


Das höchste Gut. 403 


schaffenheit des Menschen, wie umgekehrt die positive Lust in- 
nerhalb dieser sensualistischen Systeme auf den sinnlichen Reiz 
begründet werden muss. Wie es daher folgerichtig gewesen war, 
wenn Aristippus die körperliche Lust für die höchste hielt, so ist 
es umgekehrt von Epikur consequent, sie der geistigen unterzu- 
ordnen. Wenn wir die Lust für den höchsten Zweck erklären, 
sagt er, so meinen wir nicht die Lüste der Ausschweifenden, 
überhaupt nicht den (sinnlichen) Genuss, sondern diess, dass der 
Körper von Schmerzen und das Gemüth von Unruhe frei ist. Denn 
nicht Trinkgelage und Schmausereien, nicht der Genuss von Kna- 
ben und Weibern, nicht die Freuden der Tafel machen das Leben 
angenehm, sondern ein nüchterner Verstand, welcher die Gründe 
unseres Thuns und Lassens erforscht, und die grössten Feinde 
unserer Ruhe, die Vorurtheile vertreibt. Die Wurzel aber von 
dem Allem und das grösste Gut ist die Einsicht 19). Sie allein ist 
es, die uns frei macht, ihren Besitz uns zu erwerben, ist es nie zu 
früh, noch zu spät ?). Unsere unentbehrlichen Bedürfnisse sind 
einfach, denn zur Freiheit von Schmerzen ist nur Weniges nöthig, 
alles Uebrige dagegen gewährt theils nur eine Abwechslung im 
Genuss, durch welche dieser selbst nicht vermehrt wird, theils 
beruht es gar auf leerer Meinung ®). Dieses Wenige ist aber 


1) B. Πιοσ. 131 f. In ähnlichem Sinn äussert sich Metrodor Ὁ, KtEmEns 
Strom. V, 614, B, wenn er im Anschluss an den platonischen Phädrus die 
Philosophen selig preist, welche zur Anschauung des Ewigen sich erhebend 
allen Uebeln entronnen seien, χαθαροὶ χαὶ ἀσήμαντοι τούτου, ὃ νῦν σῶμα περι- 
φέροντες ὀνομάζομεν. Vgl. Dens. b. Prur. adv. Col. 17, 4: ποιήσωμέν τι χαλὸν ἐπὶ 
καλσίς, μονονοὺ καταδύντες ταῖς ὁμοιοπαθείαις χαὶ ἀπαλλαγέντες ἐχ τοῦ χαμαὶ βίου 
εἰς τὰ Ἐπιχούρου ὡς ἀληθῶς θεόφαντα ὄργια. 

2) Epik. b. θιοα. 122: μήτε νέος τις ὧν μελλέτω φιλοσοφεῖν μήτε γέρων ὑπάρ- 
χων χοπιάτω φιλοσοφῶν’ οὔτε γὰρ ἄωρος οὐδείς ἐστιν οὔτε πάρωρος πρὸς τὸ κατὰ 
ψυχὴν ὑγιαῖνον. Wer sagt, es sei für ihn zu früh oder zu spät zum Philosophi- 
ren, der sagt, πρὸς εὐδαιμονίαν ἢ μήπω παρέϊναι τὴν ὥραν ἢ μηχέτι εἶναι. Ders. 
b. Sen. ep. 8, 7: philosophiae servias oportet, ut tibi contingat wera libertas. 

3) Epik. b. Dıos. 127: τῶν ἐπιθυμιῶν al μέν εἰσι φυσιχαὶ al δὲ χεναί" καὶ τῶν 
φυσιχῶν al μὲν ἀναγχαΐαι αἱ δὲ φυσιχαὶ μόνον. τῶν δὲ ἀναγχαίων αἱ μὲν πρὸς εὐ- 
δαιμονίαν εἰσὶν ἀναγχαΐαι, al δὲ πρὸς τὴν τοῦ σώματος ἀοχλησίαν, αἱ δὲ πρὸς αὐτὸ 
τὸ ζῆν. Ebd. 149, wo noch Näheres über die einzelnen Klassen. Ebd. 144. 
Lvor. II, 20 ff. Cıc. Fin. I, 13, 45. Tuse. V, 33, 94. Pruvr.n. p. su. v. 3, 10 
Eustrar. Eth. N. 48, b, o. Sen. vita be. 13, 1. 


26 * 


404 j Epikureer. 


leicht zu erreichen: die Natur sorgt genügend für unser Glück, 
wenn wir nur ihre Gaben dankbar zu würdigen wissen, und des- 
sen, was wir haben, nicht über dem vergessen, was wir wün- 
schen 'J; wer naturgemäss lebt, ist nie arm, und der Weise 
braucht bei Wasser und Brod Zeus nicht zu beneiden 5); das 
Glück hat daher wenig Macht über ihn, die Hauptsache liegt am 
Verstande 5). und wenn es mit diesem recht bestellt ist, kann 
man sich auch äussere Unfälle gefallen lassen 5). Auch der kör- 
perliche Schmerz erscheint unserem Philosophen nicht so un- 
. widerstehlich, dass er das Glück des Weisen trüben könnte; und 
so unnatürlich er die stoische Apathie findet’), so ist doch auch er 
der Meinung, der Weise könne selbst auf der Folter glücklich sein, 
er könne die heftigsten Schmerzen verlachen, ja er könne mitten 
unter Qualen ausrufen: ach wie süss!) Lässt sich in dem letzteren 
Ausdruck allerdings die Hohlheit eines erzwungenen Pathos, und 
selbst in den schönen Aeusserungen des sterbenden Philosophen 
über die Schmerzen seiner Krankheit 79 ein Zug selbstgefälliger 
Uebertreibung nicht verkennen, so ist doch der Grundsatz, um 
den es sich handelt, im Geist der epikureischen Philosophie be- 
gründet und durch das eigene Verhalten ihres Urhebers bestätigt. 
Die Hauptsache ist nach Epikur nicht der körperliche Zustand, 
sondern die Beschaffenheit des Innern, denn die körperliche Lust 
ist von kurzer Dauer und hat viel Störendes an sich, die geisti- 


1) Vgl. Sex. Benef. III, 4, 1 (Epieuro, ... qui adsidue queritur, quod 
adversus praeterita simus ingrati); Epik. b. Dems. ep. 15,10 (stulta vita ingrata 
est et trepida, tota in futurum fertur) und die Ausführung bei Luce. III, 929 ff. 

2) Dıios. 11. 130 f. 144. 146. Sros. Floril. 17, 23. 30. 34. Sen. ep. 2, 5. 
16, 7. 25, 4. 

3) Dıos. 144: βραχεία σοφῷ τύχη παρεμπίπτει, τὰ δὲ μέγιστα χαὶ χυριώτατα ὃ 
λογισμὸς διῴχηχε. (Dasselbe b. ὅτοβ. Ekl. II, 354. Cıc. Fin. I, 19, 63. Sen. 
De const. 15, 4 u. A.) Epikur und Metrodor b. Cıc. Tusc. V, 9, 26 f. und 
Pur. aud. po. 14, S. 37. 

4) -Dıios. 135: χρεῖττον elvar νομίζων εὐλογίστως ἀτυχεῖν ἢ ἀλογίστως εὐτυχεῖν. 

5) Ῥεῦτ. ἢ. p. su. vivi 20, 4. 

6) Dios. 118. Prur. ἃ. ἃ. O. 3,9. Sex. ep. 66, 18. 67, 15. Cıe. Tusc. 
V, 26, 73. 

7) Dıioe. 22 (Cıc. Fin. II, 30, 96. Tuse. II, 7, 17. M. Aurer IX, 41. Sen. 
ep. 66, 47. 92, 25. Pror.n. p. suav. v. 18, 1, der aber die Worte Epikur's auf 
eine gehässige Weise entstellt). 


Körperliche und geistige Lust. 405 


a 


gen Genüsse allein sind rein und unvergänglich; ebenso sind aber 
andererseits auch die geistigen Schmerzen die schwereren, denn 
der Leib leidet nur von den.gegenwärtigen Uebeln, die Seele 
auch von den vergangenen und zukünftigen 1); die Lust des 
Fleisches kommt in einem Leben von begrenzter Dauer nie 
zum Abschluss, nur das Denken vermag, eben indem es uns 
über die Beschränktheit unseres leiblichen Daseins beruhigt, ein 
in sich vollendetes Leben hervorzubringen, welches der unbe- 
grenzten Zeitdauer nicht bedarf ?). 

Dabei kann nun das epikureische System nach seinen Vor- 
aussetzungen allerdings nicht läugnen, dass die körperliche Lust 
die ursprünglichere,, ja dass sie allein die letzte Quelle aller Lust 
sei, und sowohl Epikur, als sein Lieblingsschüler Metrodorus 
haben diess schroff genug ausgesprochen, wenn Jener sagt, er 
wüsste sich das Gute nicht zu denken, wenn er von allem Sinnen- 
genuss absehen sollte ?), Dieser sogar: alles Gute beziehe sich 
auf den Bauch 5). Indessen glaubten sich die Epikureer dadurch 
nicht genöthigt, den Vorrang der geistigen Empfindungen vor den  _ 
körperlichen aufzugeben; hatten doch auch die Stoiker trotz ihrer Ὁ 
 sensualistischen Erkenntnisstheorie auf die Forderung des be- 
griflichen Wissens, und trotz ihrer naturalistischen Begründung 
der Sittenlehre auf die Unterordnung der Sinnlichkeit unter die 


1) Dios. 137: ἔτι πρὸς τοὺς Κυρηναϊχοὺς διαφέρεται. οἱ μὲν γὰρ χείρους τὰς 
σωματιχὰς De mäbvag de λέγουσι τῶν ψυχιχῶν .. ὁ δὲ τὰς Ψυχιχάς. τὴν γοῦν σάρχα διὰ 
τὸ παρὸν μόνον χειμάζειν, τὴν δὲ ψυχὴν χαὶ διὰ τὸ παρελθὸν χαὶ τὸ παρὸν χαὶ τὸ 
μέλλον: οὕτως οὖν χαὶ μείζονας ἡδονὰς εἶναι τῆς ψυχῆς. Das Weitere b. Prur. 
ἃ. 8. Ὁ. 3, 10 ἢ, Cıc. Tusc. V, 33, 96. Die körperliche Lust bezeichneten die 
Epikureer mit ἥδεσθαι, die geistige mit χαίρειν Prur. a. a. Ὁ. 5,1. 

2) B. Dıog. 145. Den Ausdruck σὰρξ für den Leib, im Unterschied von 
der Seele, scheint zuerst Epikur aufgebracht zu haben, der hiefür eines an- 
deren Ausdrucks, als σῶμα, bedurfte, denn ein σῶμα ist auch die Seele. 
M. vgl. Dıoc. 137. 140. 144 f. Metrodor b. Prvr. Colot. 31, 2 (aber n. p. suav. 
v. 16, 9 hat Plut. für σαρχὶ: γαστρὶ). 

3) Dıos. X, 6 aus Epikur περὶ τέλους: οὐ γὰρ ἔγωγε ἔχω τί νοήσω τἀγαθὸν 
ἀφαιρῶν μὲν τὰς διὰ χυλῶν ἡδονὰς, ἀφαιρῶν δὲ χαὶ τὰς δι᾽ ἀφροδισίων χαὶ τὰς δὲ 
ἀχροαμάτων καὶ τὰς διὰ μορφᾶς (- ἧς). Dasselbe etwas ausführlicher b. Cic. Τ 80. 
III, 18, 41. 

4) B. Pı.ur. a. a. O. 16, 9: ὡς χαὶ ἐχάρην καὶ ἐθρασυνάμην ὅτι ἔμαθον παρ᾽ 
Werne ὀρθῶς γαστρὶ (doch vgl. vorl. Anm.) Yapikesdaı und: περὶ γαστέρα γὰρ, 
ὦ φυσιολόγε Τιμόχρατες, τὸ ἀγαθόν. Vgl. ebd. 8,1. 


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406 Epikureer. 


Vernunft nicht verzichtet, Aber ein eigenthümlicher Inhalt blieb 
freilich den geistigen Genüssen und Schmerzen nicht übrig, ihr 
unterscheidendes Merkmal konnte daher nur darin gesucht wer-- 
den, dass zu der gegenwärtigen Lust oder Unlust theils die Er- 
innerung, theils die Hoffnung oder die Furcht hinzutritt '), und 
ihre höhere Bedeutung liess sich nur mit der grösseren Stärke 
und Dauer begründen , welche diesen ideellen Gefühlen im Ver- 
gleich mit den unmittelbar gegenwärtigen sinnlichen Reizen zu- 
komme?). Nur nebenbei wird auch die Erinnerung an philoso- 
phische Reden als Gegengewicht gegen den Schmerz erwähnt °); 
eigentlich ist es aber nicht ihr Inhalt, sondern nur das Formelle 
der grösseren Festigkeit und Stärke, was die geistige Lust oder 
Unlust auszeichnet. Epikur kann sich daher auch dem Zugeständ- 
niss nicht entziehen, dass wir keinen Grund hätten, die grob 
sinnlichen Genüsse zu verwerfen, wenn uns diese von der Furcht 
vor den höheren Mächten, vor dem Tod und vor Leiden freima- 
chen könnten *), und ebenso weiss er uns gegen den Schmerz nur 
mit dem unsicheren Troste zu waffnen, dass die heftigsten Schmer- 
‚zen entweder nicht lange anhalten, oder unserem Leben ein Ende 
machen, die minder heftigen zu ertragen seien, weil sie‘die über- 
wiegende Lust nicht ausschliessen °); so dass es also nicht eine 
der Sinnlichkeit sich entgegenstemmende geistige Kraft, sondern 
nur die richtige Berechnung der sinnlichen Zustände und Wir- 


1) Vgl. 5. 405,1 und Epik. b. Pıur. n. p. suav. v. 4, 10: τὸ γὰρ εὐσταθὲς 
σαρχὸς κατάστημα καὶ τὸ περὶ ταύτης πιστὸν ἔλπισμα τὴν ἀκροτάτην χαρὰν χαὶ Be- 
βαιοτάτην ἔχει τοῖς ἐπιλογίζεσθαι δυναμένοις. Ebd. 5, 1: τὸ μὲν ἡδόμενον τῆς σαρχὸς 
τῷ χαίροντι τῆς ψυχῆς ὑπερείδοντες, αὖθις δ᾽ ἐχ τοῦ χαίροντος εἰς τὸ ἡδόμενον τῇ 
ἐλπίδι τελευτῶντες. ‘ 

2) M. vgl. ausser dem, was 405, 1. 2 beigebracht ist, auch Cıc. Fin. I, 
17, ὅδ: animi autem voluptates et dolores nasei fatemur e corporis voluptatibus 
et doloribus; nur ein Missverstand sei es, wenn manche Epikureer diess nicht 
zugeben; darum können aber doch die geistigen Genüsse und Schmerzen, aus 
dem oben angegebenen Grunde, die stärkeren sein. 

3) In Epikur’s letztem Brief b. Dıoc. 22, wo er nach einer Beschreibung 
seiner schmerzhaften Krankheit fortfährt: ἀντιπαρετάττετο δὲ πᾶσι τούτοις τὸ 
χατὰ ψυχὴν χαῖρον ἐπὶ τῇ τῶν γεγονότων ἡμῖν διαλογισμῶν μνήμῃ. 

4) Β. Dıoc. 142 (Cıc. Fin. II, 7. 21). 

5) B. Dıioc. 140. 133. Cıc. Fin. I, 15, 49. Prur. aud. po. 14, S. 36. 
M.'Auren VII, 33. 64. 


Die Lust und die Tugend. 407 


kungen ist, die uns den Sieg über den unmittelbaren Eindruck 
verschaffen soll. 

Auf keinem anderen Wege lässt sich auch die Nothwendig- 
keit der Tugend im epikureischen System begründen. Epikur ist 
mit den strengsten Moralphilosophen darüber einig, dass die Tu- 
gend von der Glückseligkeit so wenig zu trennen sei, als diese 
von jener !), und auch Gegner müssen ihm das Zeugniss geben, 
seine Sittenlehre sei rein und ernst, und in ihren Ergebnissen der 
stoischen nicht entgegengesetzt ?). Um so schroffer widerspricht 
sie ihr dagegen in ihrer Begründung. Die Tugend um ihrer selbst 
willen verlangen, heisst, wie er glaubt, leeren Einbildungen 
nachjagen; nur wer sich die Lust zum Ziel setzt, hat einen reel- 
len Zweck seiner Thätigkeit ?). Nur bedingter Weise, als Mittel 
zur Lust, kann die Tugend einen Werth haben %); oder wie diess 
auch ausgedrückt wird °): nicht die Tugend für sich genommen 


1) B. Dioc. 140: οὐχ ἔστιν ἡδέως ζῆν ἄνευ τοῦ φρονίμως καὶ χαλῶς χαὶ δικαίως 
οὐδὲ φρονίμως χαὶ χαλῶς χαὶ διχαίως ἄνευ τοῦ ἡδέως. Dasselbe 8. 182. 188, Οτο. 
Tusc. V, 9, 26. Fin. I; 16, 50. 19, 62. Sen. ep. 85, 18. 

2) Sen. vit. be. 13, 1 (vgl. 12, 4): in ea quidem ipse sententia sum (invü Ay 
hoc nostris popularibus — die Stoiker — dicam) sancta Epicurum et ven 
praecipere, et si propius accesseris tristia: voluptas enim illa ad parvum et exile 
revocatur, et quam nos virtuti legem dieimus eam üle dieit voluptati ... itaque 
non dico, quod pierique nostrorum, sectam Epieuri flagitiorum magistram esse, 
sed illud dieo: male audit, infamis est, et immerito. ep. 33, 2: apud me vero 
Epicurus est et fortis, licet manuleatus sit. So fübrt auch Seneca nicht selten 
Aussprüche Epikur’s für sich an, und ep. 6, 6 nennt er den Metrodor, Her- 
marchus, Polyänus magnos viros. Vgl. Οἵα. Fin. II, 25, 81. 

3) Epik. b. Prur. adv. Col. 17, 3: ἐγὼ δ᾽ ἐφ᾽ ἡδονὰς συνεχεῖς παραχαλῶ,, χαὶ 
οὐχ ἐπ᾽ ἀρετὰς, κενὰς χαὶ ματαίας χαὶ ταραχώδεις ἐχούσας τῶν χαρπῶν τὰς ἐλπίδας. 

4) Ῥιοα. 138: διὰ δὲ τὴν ἡδονὴν. χαὶ τὰς ἀρετὰς δεῖν αἱρείσθαι οὐ δι᾽ αὗτάς" 
ὥσπερ τὴν ἰατριχὴν διὰ τὴν ὑγίειαν, χαθά φησι χαὶ Διογένης. Cıc. Fin. I, 18, 42 
(vgl. ad Att. VII, 2): östae enim vestrae eximiae pulchraeque virtutes nisi vo- 
luptatem efiicerent, quis eas aut laudabiles aut expetendas arbitraretur? ut enim 
medicorum scientiam non ipsius arlis sed bonae valetudinis causa probamus 
τι. 8. w.: sic sapientia, quae ars vivendi putanda est, non expeteretur si nihil 
eficeret; nunc expetitur quod est tanquam artifex conquirendae et comparandae 
voluptatis. Auex. Arur. De an. 156, b: [ἢ ἀρετὴ] περὶ τὴν ἐκλογήν ἐστι τῶν ἡδέων 
χατ᾽ ᾿Ἐπίχουρον. 

5) Sen. ep. 85, 18: Epicurus quoque judicat, cum virtutem habeat beatum 
esse, sed, ipsam virtutem nom satis esse ad beatam vitam, quia beatum eficiat 
voluptas quae ex virtute est, non ipsa virtus. 


408 Epikureer. 


macht glücklich, sondern nur die Lust, welche aus ihr hervor- 
geht. Diese Lust selbst aber kann das epikureische System nicht 
in dem Bewusstsein der Pflichterfüllung oder des tugendhaften 
Handelns als solchem suchen, sondern nur in der Befreiung von 
Unruhe, Furcht und Gefahr, die sich aus der Tugend als ihre 
Folge ergiebt; die Weisheit und Einsicht trägt zu unserem Glück 
bei, weil sie uns von der Furcht vor den Göttern und vor dem 
Tode, von unmässigen Begierden und eiteln Wünschen frei macht, 
weil sie uns den Schmerz als etwas Untergeordnetes oder Vor- 
übergehendes ertragen lehrt, weil sie uns den Weg zu einem hei- 
teren und naturgemässen Leben zeigt 1); die Selbstbeherrschung, 
weil sie uns dasjenige Verhalten gegen Lust und Schmerz lehrt, 
bei dem uns die meisten Genüsse und die wenigsten Leiden zu 
Theil werden 2); die Tapferkeit, weil sie uns befähigt, Furcht 
und Schmerzen zu überwinden °); die Gerechtigkeit, weil sie al- 
lein es uns möglich macht, ohne jene Furcht vor Göttern und 
Menschen zu leben, die den Verbrecher nie verlässt %). Die Tu- 
gend ist dem Epikur nie Selbstzweck , sondern immer nur Mittel 
_ für den ausser ihr liegenden Zweck des glückseligen Lebens, aber 
sie ist ihm allerdings ein so sicheres und unentbehrliches Mittel, 
' dass er sich weder die Tugend ohne Glückseligkeit zu denken 
weiss, noch die Glückseligkeit ohne Tugend, und so wenig er es 
eigentlich dürfte, so verlangt doch auch er, dass man das Rechte 
nicht nach dem Buchstaben, sondern nach dem Geist der Gesetze, 
nicht blos aus Rücksicht auf Andere, nicht aus Zwang, sondern 
aus Freude am Guten selbst thue °). 


1) Dıoc. 132 f. Cıc. Fin. I, 13, 43 f. 19, 62. 

2) Cıc. Fin. I, 13, 47. 

3) Cıc. a. a. 0. 13,49. Dios. 120: τὴν δὲ ἀνδρείαν φύσει μὴ γίνεσθαι, Ao- 
γισμῷ δὲ τοῦ συμφέροντος. 

4) Cıc. Fin. I, 16, 50. Dioc. 144. Ῥιυῦτ. ἢ. p. suav. vivi 6, 1. ὅν. ep. 
97, 13. 15. Lucr. V, 1152 ἢ, der u. A. bemerkt, der Verbrecher könne nie 
ruhig sein, da ja Manche im Schlaf oder im Delirium der Krankheit sich 
selbst verrathen. Auf die Frage aber, ob der Weise das Verbotene thun 
würde, wenn er gewiss wüsste, dass diess verborgen bleibe, wollte sich 
Epikur nicht einlassen (Pıur. Col. 34, 1). 

5) So wenigstens PsıLopem. De Rhet. Vol. Here. V, a, col. 25: man solle 
die Gesetze halten τῷ μὴ τὰ διωρισμένα μόνον, ἀλλὰ καὶ τὰ τὴν ὁμοείδειαν αὐτοῖς 


Darı Weihe 409 


Epikur glaubt desshalb auch von seinem Weisen ganz Aehn- 
liches rühmen zu können, wie die Stoiker von dem ihrigen. Wie 
"wir so eben gesehen haben, dass er ihm eine Herrschaft über den 
Schmerz zuschreibt, welche der stoischen Apathie in nichts nach- 
steht, so bemüht er sich überhaupt, sein Leben möglichst voll- 
kommen und in sich befriedigt zu schildern. Ist er auch nicht frei 
von Affekten, und namentlich für die edleren Gemüthsbewegun- 
gen, wie die des Mitleids, empfänglich, so soll doch seine philo- 
sophische Thätigkeit nicht dadurch gestört werden 1), und ver- 
schmäht er auch den Genuss nicht, so ist er doch, wie wir bereits 
wissen, durchaus Herr über seine Begierden, und weiss diese 
durch den Gedanken so zu mässigen, dass sie nie einen schäd- 
lichen Einfluss auf sein Leben gewinnen können. Er allein hat 
ferner eine unerschütterliche Festigkeit der Ueberzeugung ?), er 
allein weiss das Richtige in der rechten Art zu thun: nur der 
Weise versteht dankbar zu sein, wie Metrodor sagt ?). Ja er ist 
so erhaben über die gewöhnlichen Menschen, dass Epikur seinem 
Schüler verspricht, bei fleissiger Beachtung seiner Lehre werde 
er wie ein Gott unter den Sterblichen wandeln *%), und das 
Schicksal kann ihm so wenig anhaben, dass auch unser Philosoph 
den Weisen unter allen Umständen glücklich preist °). Wenn 
endlich die Weisheit selbst an gewisse äussere Bedingungen ge- 
knüpft wird, wenn zugegeben wird, dass sich die Anlage zu 
derselben nicht in jedem Volk und in jedem Körper vorfinde °), 
so soll sie doch da, wo sie ist, ihres Bestandes schlechthin sicher 
sein, und auch die Zeit kann ihr keinen Abbruch thun, denn theils 


ἔχοντα διαφυλάττειν, χἀχεῖνα μὴ μόνον συνειδότων, ἀλλὰ χὰν λανθάνωμεν ἅπαξά 
παντας, καὶ μεθ᾽ ἡδονῆς, οὐ δι᾽ ἀνάγχην, καὶ βεβαίως, ἀλλ᾽ οὐ σαλευομένως. 

1) Dıoc. 117. 118. 119. 

2) Prur. adv. Col. 19, 2. 

3) Dıoc. 118. Sen. ep. 81, 11. Doch wurde der stoische Satz von der 
Gleichheit der Tugenden und der Fehler auf epikureischer Seite verworfen; 
Dioe. 120. 

4) B. Dıoc. 135 vgl. Pıur. ἢ. p. su. vivi 7, 3. Locr. II, 323; vgl. die 
folg. Anm. 

5) Cıc. Fin. I, 19, 61. V, 27, 80: semper beatum esse sapientem. 'Tusc. V, 
9, 26 ἢ, Stos. Serm. 17, 30. Anderes ὃ. 404. 

6) Dıoc. 117. 


410 Epikureer. 


ist die Weisheit, wie Epikur mit den Stoikern lehrt, unverlier- 
bar '), theils wird von der Glückseligkeit des Weisen, gleichfalls 
stoisch, gesagt, sie könne durch die Zeitdauer nicht vermehrt | 
werden, das zeitlich begrenzte Leben könne ebenso vollendet 
sein, wie wenn es unbegrenzt wäre ?). So tritt hier, trotz der 
verschiedenen Grundlage und Richtung des Philophirens, doch 
das gleiche Bestreben hervor, welches. die nacharistotelische 
Philosophie überhaupt auszeichnet, das Bestreben, den Menschen 
frei auf sich selbst zu stellen, und in der Unendlichkeit seines 
denkenden Selbstbewusstseins von dem Aeusseren schlechthin un- 


- abhängig zu machen °). . 


6. Fortsetzung. B. Die besonderen sittlichen Ver- 
hältnisse. 


Durch diese allgemeinen Grundsätze ist nun auch dem Ein- 
zelnen der epikureischen Lebensphilosophie seine Richtung vor- 
gezeichnet. Epikur hat zwar seine Ansicht ohne Zweifel zu keiner 
systematischen Theorie der sittlichen Thätigkeiten und Zustände 
entwickelt, so ausführlich auch seine Schüler, wenigstens in der 
späteren Zeit, sich auf die Beschreibung sittlicher Zustände und auf 
einzelne Fragen der Moral einliessen *), und andererseits sind 
uns seine vereinzelten Aussprüche und Vorschriften nur sehr un- 


1) Dios. 117: τὸν ἅπαξ γενόμενον σοφὸν μηχέτι τὴν ἐναντίαν λαμβάνειν διά- 
θεσιν μηδ᾽ ἐπαλλάττειν ἑκόντα. Doch scheint der letztere Beisatz einen unfrei- 
willigen Verlust der Weisheit, etwa durch Wahnsinn, offen zu lassen. 


2) Dıoc. 126. 145. Cıc. Fin. I, 19, 63. 

3) Vgl. auch $. 403, 2. 

4) Wir sehen diess namentlich aus den Ueberbleibseln von Philodem’s 
Schrift zept χαχιῶν χαὶ τῶν ἀντιχειμένων ἀγαθῶν χαὶ τῶν ἐν οἷς εἰσὶ καὶ περὶ & (Vol. 
Here. III). Das 10te Buch dieser Schrift giebt eine Schilderung des ὑπερήφανος 
und verwandter Febler in der Manier der theophrastischen Charaktere, das 
9te eine kleinliche Kritik der.xenophontischen und aristotelischen Oekonomik. 
(An der letzteren wird z. B. unter Anderem col. 11, 30 getadelt, dass sie ver- 
langt, der Hausherr solle früher, als seine Dienerschaft, aufstehen, und 
später, als sie, zu Bette gehen; diess, meint Philodemus, sei ταλαίπωρον χαὶ 
ἀνοίχειον φιλοσόφου.) Wir finden somit auch in der epikureischen Schule die- 
selbe in’s Einzelne gehende Ausbreitung der Moralphilosophie, wie sie uns 
früher in der stoischen begegnet ist. 


Sittenlehre: der Einzelne, 411 


vollständig überliefert; aber was uns davon bekannt ist, ent- 
spricht der Vorstellung, die wir uns nach jenen allgemeinen An- 
sichten bilden mussten. Epikur’s Lebensregeln zielen alle dahin, 
den Menschen durch Mässigung seiner Begierden und Leiden- 
schaften zur Glückseligkeit zu führen. Der Weise ist genügsam, 
denn er sieht ein, dass zur Befriedigung der natürlichen Begier- 
den und zur Befreiung von Schmerzen nur Weniges nöthig ist; 
dass nur der eingebildete Reichthum keine Grenze kennt, der 
naturgemässe sich leicht erwerben lässt '); dass die einfachste 
Nahrung den gleichen Genuss gewährt, wie die üppigste, unserer 
Ruhe und Gesundheit aber um Vieles zuträglicher ist ?); dass 
daher nicht Vermehrung des Besitzes, sondern Beschränkung der 
Begierden wahrhaft reich macht ?), und dass der, welcher sich 
mit Wenigem nicht begnügt, sich mit nichts begnügen wird 2). 
Er weiss mit Epikur von Wasser und Brod zu leben °), und sich 


1) θιοα. 144. 146. 130. Sros. Floril. 17, 23. Sen. ep. 16,7. Luc. II, 
20 fi. III, 59 ff. V, 1115 f. Pnırop. De vit.IX, col. 12: φιλοσόφῳ δ᾽ ἐστὶ πλούτου 
μιχρόν: ὃ παρεδώχαμεν ἀχολούθως [so nämlich, nicht εὐχαίρως ist das defekte 

. wg zu ergänzen] τοῖς χαθηγεμόσιν Ev τοῖς περὶ πλούτου λόγοις. Vergl. 
S. 403, 3. 404. 4 

2) Dıoe. 180 £. 

3) Sros. Floril. 17, 24. 37. Sen. ep. 21, 7. 14, 17; vgl. ep. 2, 5: honesta, 
inquit, res est laeta paupertas; ep. 17, 11: multis parasse divitias non finis 
miseriarum fuit, sed, mutatio. 

4) Sros. Floril. 17, 30, vgl. Sen. ep. 9, 20: si cui sua non videntur am- 
plissima, licet totius mundi dominus sit tamen miser est. 

5) Dıos. 11. Srtos. Floril. 17, 34. Cıc. Tusc. V, 31, 89. Sen. ep. 25, 4. 
Epikur selbst lebte sehr mässig, und der Vorwurf der Ueppigkeit, welcher 
ihm und seinen Freunden früher gemacht wurde, ist schon von Gassexpı (De 
vita et mor. Epic. 153 ff.) erschöpfend widerlegt worden. Zwar behauptet 
Timokrates unter Berufung auf Epikur’s Briefe, er habe eine Mine täglich für 
seinen Tisch verwendet. Diess müsste sich aber, wenn es nicht eine blosse 
Erfindung des schmähsüchtigen Mannes ist, jedenfalls auf den ganzen epi- 
kureischen Verein, und es könnte sich auch auf ihn nur unter ausnahmsweisen 
Umständen beziehen, wie etwa bei der Belagerung Athen’s durch Demetrius 
Poliorcetes, wo eine solche Hungersnoth in Athen herrschte, dass ein Modius 
Waizen 300 Drachmen kostete, und Epikur seinen Freunden die Bohnen, von 
denen sie sich nährten, kopfweise zuzählte (Pıur. Demetr. 33 f.). Was Timo- 
krates b. Dıos. 6 weiter behauptet: αὐτὸν δὶς τῆς ἡμέρας ἐμεῖν ἀπὸ τρυφῆς, ist 
unbedingt für eine aus der Luft gegriffene Verläumdung zu halten. Epikur's 
Mässigkeit wird auch von Sen. v. be. 12, 4. 13, 1 ἢ, anerkannt. Er selbst that 


412  Epikureer. 


dabei Zeus an Glückseligkeit gleich zu achten '). Er flieht die 
Leidenschaften, welche die Ruhe des Gemüths und das Glück des 
Lebens zerstören; er hält es für thöricht, mit Sorgen für die Zu- 
kunft die Gegenwart zu vergeuden, und den Mitteln zum Leben 
das Leben selbst zu opfern, das wir doch nur Einmal geniessen 
können ?); er giebt sich keiner leidenschaftlichen Liebe und kei- 
ner verbotenen Äusschweifung hin °); er geizt nicht nach Ruhm, 


sich gerade hierauf etwas zu Gute, und nicht obne Selbstgefälligkeit rühmt 
er sich bei Ses. ep. 18, 9: non toto asse pasci, Metrodorum, qui nondum tan- 
tum profecerit, toto, und bei Dıoc. 11: er sei mit Wasser und gewöhnlichem 
Brod zufrieden. Ebd. schreibt er: πέμψον μοι τυροῦ Kudviov, Tv’ ὅταν βούλωμαι 
πολυτελεύσασθαι, δύνωμαι. Um so weniger haben wir ein Recht, mit Prur. 
n. p. suav. v. 5, 3, dem hierin gleichfalls Timokrates (b. Dıoe. 7) vorangieng, 
die Krankheiten, an denen Epikur und einige seiner Schüler starben, mit 
ihrer angeblichen Schlemmerei in Verbindung zu bringen. 

1) Sros. Floril. 17, 30 u. A.; s. o. 404, 2. 

2) Epikur und Metrodor b. 5108. Floril. 16, 28. 20 vgl. Pıur. trangqu. an. 
16, 8. 474: ὃ τῆς αὔριον ἥχιστα δεόμενος, ὥς φησιν "Erixoupos, ἥδιστα πρόςεισι 
πρὸς τὴν αὔριον. 

3) Auch hier sind zwar gegen Epikur, schon von Timokrates b. Dıoe. 6, 
schwere Anschuldigungen erhoben worden (gegen die ihn Gassexpr a. a. Ὁ, 
174 ff. in Schutz nimmt). Indessen kann weder das Zeugniss eines Timokrates, 
noch die Aufnahme von Hetären in die epikureische Gesellschaft (worüber 
S. 343 8) zur Begründung derselben irgend ausreichen: Chrysippus b. Sro». 
Floril. 63, 31 nennt Epikur sogar geradezu ἀναίσθητος. Von der Strenge un- 
serer Moral war er allerdings weit entfernt. In der Aeusserung, welche 
8.405, 3 angeführt ist, rechnet‘ er die ἡδοναὶ δι᾽ ἀφροδισίων zu den wesentlichen 
Bestandtheilen des Guten, bei Eustrar. in Eth. N. 48, b, o. werden dieselben 
zwar nicht den ἧδοναὶ ἀναγχαῖαι, aber doch den ἧδονοὶ φυσιχαὶ (oben 403, 3) 
beigezählt; ebenso behandelt sie Lucrez V, 1050 ff., und von Epikur führt 
PıurtArcH nicht allein eine Untersuchung über die zweckmässigste Zeit des 
Liebesgenusses (qu. Conv. III, 6, 1, 1), sondern sogar die widerwärtige Er- 
örterung an: εἰ γέρων ὃ σοφὸς ὧν χαὶ μὴ δυνάμενος πλησιάζειν ἔτι ταῖς 
τῶν χαλῶν ἁφαΐς χαίρει χαὶ ψηλαφήσεσιν (n. p. suav. v. 12, 3). Aber natur- 
gemäss ist der Geschlechtsgenuss nach Epikur nur dann, wenn er weder 
sonstige Nachtheile mit sich bringt (Dios. 118), noch in leidenschaft- 
liche Gemüthsbewegung versetzt. Epikur verbietet daher nicht blos jeden 
gesetzwidrigen Umgang mit Frauen (D. 118), sondern er erklärt auch: οὐχ 
ἐρασθήσεσθα! τὸν σοφόν (Ὁ. 118. Sros. Floril. 63, 31). Der Eros ist nämlich 
nach seiner Definition (bei Auzx. Arıır. Top. 75, 0.) σύντονος ὄρεξις ἀφροδισίων 
(vgl. PLur. amator. 19, 16. 8. 765), also ein leidenschaftlicher, beunruhigen- 
der Zustand, welchen er von seinem Weisen ebenso fernhalten muss, wie um- 


Sittenlehre: der Einzelne. 413 


und kümmert sich um die Meinung der Menschen nur so weit, dass 
er nicht verachtet sein will, denn damit wäre auch seine Sicher- 
heit gefährdet 17); er weiss Beleidigungen mit Ruhe zu ertra- 
gen ?); er macht sich keine Sorge um das, was nach seinem Tode 
mit ihm vorgeht °); er beneidet Niemand um Güter, deren er 
selbst nicht achtet %). Wie Epikur über Schmerzen hinwegzu- 
kommen, wie.er sich von der Furcht vor den Göttern und vor 
dem Tode zu befreien weiss, ist schon früher gezeigt worden °), 
und ebenso wurde nachgewiesen, dass er uns mit seinen Grund- 
sätzen dieselbe Unabhängigkeit und Glückseligkeit zu verschaffen 
glaubt, wie die Stoiker mit den ihrigen. Aber während der Stoi- 
cismus diese Unabhängigkeit nur durch Unterdrückung der Sinn- 
lichkeit zu gewinnen hofft, so genügt dem Epikureismus ihre 
Mässigung und Beschränkung: die Begierden sollen nicht ausge- 
rottet, sondern in das richtige Verhältniss zu dem gesammten 
Lebenszweck und Lebenszustand, in das zur vollen Gemüthsruhe 
nothwendige Gleichgewicht gebracht werden. Epikur ist daher 
trotz seiner eigenen Einfachheit weit entfernt, einen reicheren 
Lebensgenuss unter allen Umständen zu verwerfen: der Weise 
wird nicht als Cyniker oder als Bettler leben °); er wird die 
Sorge für Erwerb nicht vernachlässigen, nur dass er sich darum 


gekehrt die Stoiker, bei ihrer siitlichen Auffassung des Eros, ihn demselben 
zuschreiben. In diesem Sinn behandelt Luckezz a. a. Ὁ. diesen Gegenstand. 
Er weiss die Unruhe und Verblendung, welche die Liebe mit sich bringe, die 
Abhängigkeit, in welche sie den Mann versetze, die Nachtheile für sein Ver- 
mögen und seinen guten Ruf nicht stark genug zu schildern, und räth, lieber 
durch Venus volgivaga die Begierde zeitig zu beschwichtigen, jedenfalls aber 
den Genuss, den er nicht missbilligt, in leidenschaftsloser Weise zu suchen. 


1) Dioe. 120. 140 ἢ. Cıc. Tusc. 11, 12, 28. "Luck. III, 59 ff. 993 ff. 

2) Sen. De const. 16, 1. 

3) θιοα. 118: οὐδὲ ταφῆς φροντιεῖν. 

4) Luck. ΠῚ, 74 fl. 

5) Vgl. S.406.387 f. Doch mag hier noch ein weiterer Beleg Platz finden. 
Bei Prur. n. p. suav. v. 16, 3 berichtet er, ὅτι νόσῳ νοσῶν ἀσχίτη τινὰς ἑστιάσεις 
φίλων συνῆγε, καὶ οὐχ ἐφθόνει τῆς προςαγωγῆς τοῦ ὑγροῦ τῷ ὕδρωπι, καὶ τῶν 
ἐσχάτων Νεοχλέους λόγων μεμνημένος ἐτήχετο τῇ μετὰ δαχρύων ἡδονῇ. Etwas süss- 
liches und selbstgefälliges lässt sich freilich auch in dieser Aeusserung nicht 
verkennen. 

6) Dıos, 119. Puınopem. De vit. IX, col. 12 fi. 27, 40, 


414 Epikureer. 


keine unverhältnissmässige Mühe giebt, und den Erwerb durch 
Unterricht jedem anderen vorzieht '); er wird den Schmuck der 
Kunst nicht verschmähen, wiewohl er sich zu trösten weiss, wenn 
er ihn entbehren muss ?); er wird die Genügsamkeit überhaupt 
nicht darin suchen, dass er Weniges gebraucht, sondern dar- 
in, dass er Weniges bedarf, und eben diese Bedürfnisslosigkeit 
ist es, die auch dem -üppigeren Genuss erst seine Würze giebt °). 
Nicht anders verhält er sich auch zum Tode; er fürchtet ihn nicht, 
ja er sucht ihn, wenn ihm kein anderer Weg offen steht, um un- 
erträglichen Leiden zu entgehen; aber dieser Fall wird nicht 
leicht eintreten, weil er auch unter körperlichen Schmerzen glück- 
lich zu sein gelernt hat: die stoische Empfehlung des Selbstmords 
findet bei Epikur keinen Anklang 2). 

So vollständig aber der Weise sich selbst genügen mag, so 
wenig will ihn doch Epikur von der Verbindung mit Anderen 
losreissen. Zwar konnte er jene natürliche Zusammengehörigkeit 


1) Dıos. 120: χτήσεως προνοήσεσθαι χαὶ τοῦ μέλλοντος. 121: χρηματίσεσθαί 
τε ἀλλ᾽ ἀπὸ μόνης σοφίας ἀπορήσαντα. Das μόνης möchte aber doch die im Text 
angedeutete Beschränkung verlangen. Nur in diesem Sinn trägt PnıLopem. 
a. a. 0. 23, 23 ff. den Satz vor, indem er zugleich bezeugt, dass Epikur selbst 
von seinen Schülern Geschenke angenommen habe (vgl. Prur. adv. Col. 18,3). 


“Weiter s. m. col. 15, 31 £. 


, In 


2) Dıos. 121: εἰκόνας τε ἀναθήσειν εἰ ἔχοι: ἀδιαφόρως ἕξειν ἂν μὴ σχοίη 
(CoBET unverständlich : ἀδιαφόρως ἂν σχοίης). " 

3) Epik. b. Dioe. 130: χαὶ τὴν αὐτάρχειαν δὲ ἀγαθὴν μέγα νομίζομεν οὐχ ἵνα 
πάντως τοῖς ὀλίγοις χρώμεθα, ἀλλ᾽ ὅπως ἐὰν μὴ ἔχωμεν τὰ πολλὰ τοῖς ὀλίγοις 
χρώμεθα πεπεισμένοι γνησίως ὅτι ἥδιστα πολυτελείας ἀπολαύουσιν οἱ ἥχιστα αὐτῆς 
δεόμενοι, ; 

4) Der Epikureer b. Cıc. Fin. 1, 15, 49: 8ὲ tolerabiles sint [dolores] fera- 
mus, sin minus, aequo animo e vita, cum ea non placeat, tanquam e theatro 
ereamus. Epikur b. Sen. ep. 12, 10: malum est in necessitate vivere, sed in 
mecessitate vivere mecessitas nulla est. Dagegen ep. 24, 22: objurgat Epieurus 
non minus eos, qui mortem concupiscunt, quam eos, qui timent, et ait: ridieu- 
lum est currere ad mortem taedio vitae, cum genere vitae ut currendum esset ad 
mortem efjeceris u. s. w. Dioc. 119 lesen die älteren Ausgaben: χαὶ πηρωθεὶς 
τὰς ὄψεις μεθέξειν αὐτὸν τοῦ βίου, CoBEr: μετάξειν αὑτὸν τοῦ βίου. Statt πηρωθεὶς 
wird übrigens πηρωθέντα, oder, was ich vorziehe, statt μετάξειν „„perager‘ 
stehen müssen. Jedenfalls wurde aber der Selbstmord von Epikur nur für 
äusserste Fälle gestattet: als zu Seneca’s Zeit ein Epikureer Diodor sich 
selbst tödtete, wollten seine Mitschüler nicht anerkennen, dass diess den 
Vorschriften Epikur’s entspreche (Sen. v. Ὁ. 19, 1). 


Menschliche Gesellschaft. Der Staat. 415 


aller Vernunftwesen, welche die Stoiker annahmen, nicht zu- 
geben !), aber doch vermag auch er sich ein menschliches Leben 
“nur innerhalb der menschlichen Gesellschaft zu denken. Nur dass 
er nicht allen Formen des Gemeinlebens den gleichen Werth zu- 
erkennt. Den geringsten Reiz hat für ihn der Staat und die 
bürgerliche Gesellschaft. Der Zweck dieser Verbindung ist nach 
Epikur nur der äusserliche des Schutzes; ‚das Recht ist ursprüng- 
lich nur ein Vertrag zu gegenseitiger Sicherung ?), die Gesetze sind, 
wie diess auch ausgedrückt wird, um der Weisen willen gemacht, 
nicht damit diese kein Unrecht thun, sondern damit sie kein Unrecht 
leiden möchten °). Recht und Gesetz ist aus diesem Grunde nicht 
an und für sich, sondern nur um eines Andern willen verbindlich, 
die Ungerechtigkeit nicht an und für sich, sondern nur desshalb 
zu verwerfen, weil der Verbrecher von der Furcht vor Ent- 
deckung und Strafe nie schlechthin frei wird %). Ebensowenig 
giebt es ein durchaus allgemeines und unumstössliches Recht, 
sondern in einem Rechtsverhältniss stehen wir theils überhaupt 
nur zu den Wesen und zu den Völkern, welche in den Sicher- 
heitsvertrag einzutreten befähigt und gewillt waren, theils kann 
dre nähere Bestimmung dieses Verhältnisses, die das positive 
Recht bildet, bei Verschiedenen verschieden sein, und mit den 
Umständen wechseln: was als zweckmässig zur gegenseitigen 
Sicherung erkannt wird, muss für Recht gelten, und wenn sich 
ein Gesetz unzweckmässig zeigt, so ist es auch nicht mehr ver- 
bindlich ®). Der Weise wird sich daher nur in dem Fall und 
nur insoweit mit politischer Thätigkeit befassen, als diess zu 
seiner Sicherheit nothwendig ist: die Herrschergewalt ist ein Gut, 
sofern sie uns vor Verletzung sicherstellt, wer sie dagegen an- 
strebt, ohne diesen Zweck dadurch zu erreichen, der handelt 


1) Erızr. Diss. II, 20,6: ᾿Επίχουρος ὅταν ἀναιρεῖν θέλη τὴν φυσιχὴν κοινωνίαν 
ἀνθρώποις πρὸς ἀλλήλους u. 5. w. 

2) Dıos, 150.154. Ausführlich beschreibt Lucrrz V, 1106 fl. aus diesem 
Gesichtspunkt die Entstehung der Staaten. 

3) Stoe. Floril. 43, 139, 

4) Dıoc. 150 f. Lvcr. V, 1149 ff. Sex. ep. 97, 13. 15, Prur. adv. Col. 34. 
Vgl. 8. 408, 4. 

5) Dıoe. 150—153. 


ι 


416 Epikureer. 


thöricht !). Und da nun in der Regel der Privatmann viel ruhiger 
und sicherer lebt, als der Staatsmann, so war es natürlich, dass _ 
die Epikureer von den Staatsgeschäften abmahnten, welche ihrer 
Meinung nach der eigentlichen Bestimmung des Menschen, der 
Weisheit und Glückseligkeit, nur im Weg ständen ?). Ihr Wahl- 
spruch ist das λάθε βιώσας 5), als das wünschenswertheste Lebens- 
loos erscheint ihnen der goldene Mittelstand *), undnur in dem Fall 
rathen sie zur Betheiligung an Staatsgeschäften, wenn besondere 
Umstände diess nothwendig machen °), oder wenn Jemand eine 
so unruhige Natur hat, dass er es in der Unthätigkeit des Privat- 
lebens nicht aushält 57; wogegen sie sonst von der Unmöglich- 
keit, der Menge zu gefallen, viel zu fest überzeugt sind, um auch 
nur den Versuch dazu zu wagen °). Aus demselben Grunde scheinen 
sie Lobredner der Monarchie-gewesen zu sein: wie der strengen 
und kräftigen Sittenlehre des Stoicismus jene unbeugsame repu- 
blikanische Gesinnung entsprach, die wir namentlich in Rom so 
oft mit stoischer Philosophie verknüpft finden, so war es umge- 
kehrt dem weichen und furchtsamen Geist des Epikureismus ge- 
mäss, den Schutz der monarchischen Verfassung aufzusuchen; aus 
dem, was uns über ihre politischen Grundsäize mitgetheilt wird, 


1) Dıoc. 140 f. 

2) Prur. adv. Col. 31. 33, 4 f. n. p. suav. viv. 16, 9. Erıkter Diss. I, 
23,6. Luck. V, 1125 f. Cıc. pro Sext. 10, 23. PriopEw. x. ῥητοριχ. (Vol. 
Here. IV) col. 14: οὐδὲ χρησίμην ἡγούμεθα τὴν πολιτιχὴν δύναμιν, οὔτ᾽ αὐτοῖς τοῖς 
χεχτημένοις οὔτε ταῖς πόλεσιν, αὐτὴν χάθ᾽ αὑτήν" ἀλλὰ πολλάκις αἰτίαν nat συμφορῶν 
ἀγηχέστων, wogegen sie mit Rechtschaffenheit verbunden den Staaten aller- 
dings nütze, den Staatsmännern selbst aber bald nütze bald schade. 

3) Prur. De latenter vivendo vgl. namentlich e. 4. Das wahre Musterbild 
eines Epikureers ist in dieser Beziehung T. Pomponius Attieus, über dessen 
Verhalten während der Bürgerkriege, und über seine Zurückziehung vom 
öffentlichen Leben, Neros Att. 6 ff. zu vergleichen ist. 

4) Metrodor b. Sror. Floril. 45, 26: ἐν πόλει μήτε ὡς λέων ἀναστρέφου μήτε 
ὡς κώνωψ τὸ μὲν γὰρ ἐχπατεῖται τὸ δὲ χαιροφυλαχεῖτα!. 

5) Den Unterschied, welcher in dieser Beziehung zwischen der epi- 
kureischen und der stoischen Lehre stattfindet, drückt Seneca in der S. 272,1 
angeführten Stelle sehr treflend aus. 

6) Pıur. tranqu. an. c. 2, S. 465 ἢ. 

7) Epikur b. Sen. ep. 29, 10: nunguam vwolui populo placere, nam quae 
ego scio non probat populus, quae probat populus ego nescio. Aehnliche Aus- 
sprüche von Stoikern wurden früher angeführt. 


Staat und Familie. 417 


geht wenigstens so viel hervor, dass sie es des Weisen nicht un- 
würdig fanden, Fürsten den Hof zu machen, und unter allen Um- 
ständen widerstandslosen Gehorsam gegen die bestehenden Ge- 
walten empfahlen 1). 

Mit dem Staat soll Epikur auch das Familienleben verworfen 
haben ?). Diess ist nun zwar, so allgemein hingestellt, eine 
Uebertreibung: aber doch scheint so viel richtig, dass er der 
Meinung war, der Weise thue in der Regel besser, wenn er sich 
der Ehe und Kinderzeugung enthalte, weil sie zu viele Störungen 
für ihn mit sich bringen °). Ebenso ist ganz glaublich, dass er 
die Liebe der Eltern zu den Kindern für kein dem Menschen an- 
geborenes Gefühl gelten lassen wollte *); diess ist aber nur eine 
einfache Folge seines Sensualismus, welche ihn durchaus nicht 
nöthigte, die elterliche Liebe selbst aufzugeben; von ihm selbst 
wird bezeugt, dass ihm gerade die Familiengefühle nichts weniger 
als fremd waren °). 

Als die höchste Form des menschlichen Gemeinlebens be- 
trachtet aber Epikur die Freundschaft, und auch diess ist be- 
zeichnend für ein System, welches von der atomistischen Be- 


1) Dioe. 121: χαὶ μόναρχον Ev χαιρῷ θεραπεύσειν [τὸν σοφόγ]. Luck. V, 1125: 
ut satius multo jam sit parere quietum, quam regere imperio res velle et regna 
tenere. 

2) Erıkr. Diss. I, 23, 3 (gegen Epikur): διατί ἀποσυμβουλεύεις τῷ σοφῷ 
Texvorpopeiv; τί φοβῇ μὴ διὰ ταῦτα εἰς λύπας Euren; II, 20, 20: ᾿Επίχουρος τὰ μὲν 
ἀνδοὸς πάντ᾽ ἀπεχόψατο χαὶ τὰ οἰχοδεσπότου χαὶ φίλον. Schon dieser letztere Bei- 
satz beweist aber, wie vorsichtig diese Angaben aufzunehmen sind. 

3) Dıos. 119. Auch hier bringt aber die Lesart grosse Unsicherheit her- 
ein. Der frühere Text lautet: χαὶ μὴν χαὶ γαμήσειν χαὶ τεχνοποιήσειν τὸν σοφὸν, 
ὡς Ἐπίχουρος ἐν ταῖς διαπορίαις χαὶ ἐν ταῖς περὶ φύσεως. χατὰ περίστασιν δέ ποτε 
βίου οὐ γαμήσειν. Coser giebt statt dessen: χαὶ μηδὲ γαμήσειν μηδὲ τεχνοποιήσειν 
τὸν σοφὸν... χατὰ περίστασιν δέ ποτε βίου γαμήσεϊν. Wie es mit der handschrift- 
lichen Begründung dieser Lesart bestellt ist, erfahren wir leider nicht; dem Sinne 
nach verträgt sie sich gut mit Hırron. adv. Jovin. I, 191, der aus Sexrca De 
matrimonio mittheilt: Epieurus ... raro dieit sapienti ineunda conjugia, quia 
multa incommoda admixrta sumt nuptüs. Wie Reichthum, Ehrenstellen, Gesund- 
heit, ia et uxores sitas in bonorum malorumque confinio. grave autem esse viro 
sapienti venire in dubium, utrum bonam an malam duclurus sit. 

4) Pur. adv. Col. 27,6. De am. prol. 2, S. 495. Erıkrer Diss. I, 23, 3. 

5) Dioc. 10: ἥ τε πρὸς τοὺς γονέας εὐχαριστία χαὶ ἣ πρὸς τοὺς ἀδελφοὺς εὖ- 
ποιΐα. Diog. selbst verweist hiefür auf Epikur’s Testament, ebd. 18. 

Philos. ἃ. Gr. ΠΤ. Bd. 1. Abth. 27 


418 Epikureer. 


trachtung des Individuums ausgeht; ein solches wird folgerichtig 
auf die freigewählte, nach der Individualität und der individuellen 
Neigung gebildete Verbindung mit Andern grösseren Werth legen, 
als auf diejenige, worin sich der Mensch vor aller Wahl als Glied 
eines natürlichen oder geschichtlichen Ganzen gesetzt und be- 
stimmt findet. Auch die Freundschaft kann .hier freilich nur sehr 
äusserlich, mittelst der Reflexion auf ihren Nutzen, begründet 
werden, zu welcher dann noch die natürliche Wirkung gemein- 
samer Genüsse hinzukommt 1); indessen wird im weiteren Ver- 
laufe so von ihr gesprochen . dass dieser wissenschaftliche Mangel 
auf ihre ethische Auffassung keinen Einfluss gewinnt. War es 
auch nur ein Theil der Schule, und offenbar nicht der folgerich- 
tigere, welcher behauptete, die Freundschaft werde zwar zunächst 
um des eigenen Nutzens und Vergnügens willen gesucht, sie gehe 
aber in der Folge in eine uneigennützige Liebe über ?); ist ebenso 
die Annahme eines stillschweigenden Vertrags unter den Weisen, 
kraft dessen sie einander nicht weniger als sich selbst lieben, 
augenscheinlich nur ein Nothbehelf ®), so waren die Epikureer 
doch der Meinung, dass sich auch mit ihrer eudämonistischen 
Ableitung der Freundschaft die höchste Werthschätzung derselben 
vertrage. Denn die freundschaftliche Verbindung mit Andern 


1) Dıioe. 120: χοὶ τὴν φιλίαν διὰ τὰς χρείας [γίνεσθαι]. ... συνίστασθαι δ᾽ 
αὐτὴν χατὰ χοινωνίαν ἐν ταῖς ἡδοναῖς. Epik. ebd. 148 (auch bei Οτο. Fin. I, 20, 68): 
χαὶ τὴν ἐν αὐτοῖς τοῖς ὡρισμένοις (Cie.: in hoc ipso vitae spatio) ἀσφάλειαν φιλίας 
μάλιστα χτήσει SE νομίζειν συντελουμένην. (CoBEr jedoch liest: φιλίας μάλιστα 
κατιδεῖν εἶναι συντελ., in welchem Fall aber statt φιλίας eher φιλία zu setzen, 
oder χτήσει vor χατιδεῖν beizubehalten sein wird.) Sex. ep. 9, 8: der Weise 
braucht einen Freund non ad hoc quod Epicurus dicebat in hac ipsa epistola 
(ein Brief, worin die cynische Selbstgenügsamkeit Stilpo’s getadelt war), ut 
habeat, qui sibi aegro assideat, succurrat in vincula conjecto vel inopi: sed ut 
habeat aliquem, cui ipse aegro assideat, quem ipse eircumventum hostili custo- 
dia liberet. Cıc. Fin. I, 20, 66: cum solitudo et vita sine amicis insidiarum et 
metus plena sit, ratio ipsa monet amicitias comparare, quibus partis confirmatur 
animus et a spe pariendarum voluptatum sejungi non potest ἃ. 8. w. Aus dem 
gleichen Gesichtspunkt führt PnıLovew. De vit. IX (V. Here. III) col. 24 aus, 
dass es weit vortheilbafter sei, die Freundschaft zu pflegen, als sich ihr zu 
entziehen. 

2) Cıc. Fin. I, 20, 69. 

3) Ebd. 70. 


Die Freundschaft. 419 


gewähre ein so angenehmes Gefühl der Sicherheit, dass sie die 
höchsten Genüsse in ihrem Gefolge habe; und da nun diese Ver- 
bindung nur dann Bestand haben könne, wenn die Freunde ein- 
ander ebensosehr lieben, als sich selbst, so sei die Gleichheit der 
Freundesliebe und der Selbstliebe durch die letztere selbst gefor- 
dert 1). Auch diese Deduktion lautet gezwungen genug; es ist 
aber auch unverkennbar, dass es nicht diese Erwägungen sind, 
durch die Epikur’s Ansicht über den Werth der Freundschaft be- 
stimmt wird, dass diese vielmehr allen jenen Nothstützen des Sy- 
stems vorangeht. Was Epikur begehrt, ist zunächst allerdings der 
Genuss für sich selbst. Aber.dieser Genuss ist für ihn vor Allem 
durch die innere Sicherheit des Gemüths, die Beseitigung der 
Furcht vor Störungen, bedingt. Um sich nun hiefür nur auf die 
eigene Kraft zu verlassen, dazu ist er zu weich, zu abhängig von 
dem Aeussern. Er bedarf einer Unterstützung durch Andere, 
nicht blos um bei ihnen in Noth und Bedrängniss Hülfe zu finden 
und sich mit dieser Aussicht über die Unsicherheit der Zukunft 
zu beruhigen; sondern ebensosehr und noch mehr, um durch ihre 
Anerkennung seiner selbst und seiner Grundsätze sicher zu wer- 
den, um durch sie den inneren Halt zu bekommen, den er für " 
sich allein nicht hätte. Die Zustimmung seiner Freunde muss ihm 
die Wahrheit seiner Ueberzeugungen verbürgen, erst im Zusam- 
menleben mit ihnen gewinnt sein eigenes Bewusstsein die Festig- 
keit, durch die es ihm möglich ist, sich über die wechselnden 
Lebenszustände zu erheben. Die allgemeinen Gedanken für sich 
allein sind ihm zu abstrakt, zu unlebendig; der Philosoph, welcher 
nur das Einzelwesen für wirklich, nur die Anschauung für un- 
bedingt wahr gelten lässt, kann seines Standpunkts nicht voll- 
kommen froh und gewiss werden, wenn er ihm nicht in andern 
Persönlichkeiten unmittelbar gegenwärtig entgegentritt ?). Der 
Genuss, den er sucht, ist der Selbstgenuss der gebildeten Persön- 


1) Ebd. 67. 

2) Das gleiche Bedürfniss spricht sich auch in dem Rath aus, den Epikur 
ertheilt (Ὁ. Sex. ep. 11,8. 25,5), dass sich Jeder irgend einen ausgezeichneten 
Mann (so zu sagen als Schutzheiligen) wählen solle, den er sich immer vor- 
halte, um gleichsam unter seiner Aufsicht zu leben. Der Einzelne bedarf 
einer fremden Persönlichkeit zu seiner moralischen Unterstützung. 


21 ὃ 


490 Epikureer. 


lichkeit; wo aber dieser Gesichtspunkt maassgebend ist, da wird 
immer dem persönlichen Verhältniss der Geselligkeit und der 
Freundschaft ein besonderes Gewicht beigelegt werden 1). Epikur 
äussert sich daher über den Werth und die Nothwendigkeit der 
Freundschaft in einer Weise, die weit über seine eudämonistische 
Ableitung derselben hınausgeht. Die Freundschaft ist ihm unbe- 
dingt das höchste von allen Lebensgütern ?); es ist viel wichtiger 
mit wem wir essen und trinken, als was wir essen und trinken °); 
nöthigenfalls selbst die grössten Schmerzen oder den Tod für den 
Freund zu erdulden, wird der Weise kein Bedenken tragen 2). 
Dass auch das Verhalten Epikur’s und seiner Schule diesen 
Grundsätzen entsprach, ist anerkannt. Die epikureische Freund- 
schaft ist kaum weniger berühmt, als die pythagoreische °), und 
lässt sich auch in dem Verhältniss Epikur’s zu seinen Freun- 
den eine geschmacklose Süsslichkeit und eine Neigung zu gegen- 
seitiger weichlicher Bewunderung nicht verkennen °), so haben 


1) Um hiefür Beispiele aus der neueren Zeit zu haben, denke man nur 
an die Kreise der französischen Freidenker, die in so vielen Beziehungen das 
Gegenstück der Epikureer sind, dann eines Rousseau, Mendelssohn, Jakobi 
u. A. Ebendamit hängt es zusammen, dass in allen diesen Kreisen, wie bei 
den Epikureern, die Frauen (und mitunter auch, wie dort, sehr emaneipirte 
Frauen) eine so bedeutende Rolle spielen. Wo die Philosophie sich auf den 
gebildeten Verkehr und die Conversation zurückzieht, ist diess ganz natürlich. 

2) B. Dıoa. 148: ὧν ἣ σοφία παρασχευάζεται εἰς τὴν τοῦ ὅλου βίου μαχαριότητα 
πολὺ μέγιστόν ἐστιν ἣ τῆς φιλίας χτῆσις. Cıc. Fin. II, 25, 80: Epikur erhebe die 
Freundschaft bis in den Himmel. Bei Dıos. 120 liest Cosrr statt des früheren 
φίλον τε οὐδένα χτήσεσθαι [τὸν σοφὸν], welches durchaus unstatthaft ist: φίλων 
τ᾽ οὐδὲν χτήσεσθαι, mit Angabe einer Lücke vor φίλῳν. 

3) B. Sen. ep. 19, 10 mit dem Beisatz: nam sine amico visceratio leonis 
ac lupi vita est. 

4) Pıur. adv. Col. 8,7. Dıoc. 121. Dass dieser Satz nicht aus wahrer 
Gesinnung hervorgegangen sei (Rırrer III, 474), ist eine Vermuthung, zu der 
wir kein Recht haben. Nur dass er ineonsequent sei, könnte man sagen; in- 
dessen wird sich auch dieses nach dem oben Ausgeführten nur theilweise be- 
haupten lassen. 

5) Der Epikureer b. Cıc. Fin. I, 20, 65: at vero Epieurus una in domo et 
ea quidem angusta quam magnos quantaque amoris conspiratione consentientes 
tenuit amicorum greges, quod fit etiam nunc ab Epicureis. Ebd. II, 25, 80 f. 

6) Beispiele der übertriebenen Verehrung, welche Epikur sich erweisen 
liess, sind uns schon 8. 354, 3 vorgekommen. Ebenso hätschelt aber auch er 


Freundschaft. Allgemeine Menschenliebe. 421 


wir doch keinen Grund, desshalb die Reinheit seiner Gesinnung 
zu verdächtigen. Schon die Eine schöne Aeusserung über die 
Gütergemeinschaft ’) kann beweisen, wie edel Epikur das Freun- 
desverhältniss auffasste, und dass er sich auch um die innere 
Vervollkommnung seiner Freunde bemüht habe, wird versi- 
chert 3). 

Auch sonst wird nicht blos Epikur selbst ein milder, wohl- 
wollender und menschenfreundlicher Sinn nachgerühmt °), son- 
dern das gleiche Gepräge trägt seine Lehre, wenn sie der stoi- 
schen Unerbittlichkeit die Pflicht des Mitleids und der Versöhn- 
lichkeit 5) entgegenstellt, dem Egoismus ihrer eigenen Theorie 


seine Freunde. So in den Brucbstücken aus Briefen an Leontion, Themista, 
Pythokles bei Dıoe. 5, die auch von seiner gespreizten, auf Stelzen gehenden 
Ausdrucksweise eine Vorstellung geben. Als Metrodor sich für einen ge- 
fangenen Freund, übrigens erfolglos, bemüht hatte, wusste Epikur, nach 
Pur. n. p. suav. v. 15, 5 (adv. Col. 33, 2), nicht genug δὰ rühmen, „wg εὖ τε 
not νεανιχῶς ἐξ ἄστεως ἅλαδε χατέβη Midew τῷ Σύρῳ βοηθήσων.“ Ebd. 15, 8 be- 
dankt er sich für ein Geschenk mit den Worten: δαΐως τε χαὶ μεγαλοπρεπῶς 
ἐπεμελήθητε ἡμῶν τὰ περὶ τὴν τοῦ σίτου χομιδὴν, χαὶ οὐρανομήχη σημεῖα ἐνδέδειχθε 
τῆς πρὸς ἐμὲ εὐνοίας. Ueber Pythokles schrieb er, als dieser noch nicht 
18 Jahre alt war: οὐχ εἶναι φύσιν ἐν ὅλη τῇ Ἑλλάδ: ἀμείνω, χαὶ τερατιχῶς αὐτὸν 
εὖ ἀπαγγέλλειν, καὶ πάσχειν αὖ τὸ τῶν γυναιχῶν, εὐχόμενος ἀνεμέσητα εἶναι πάντα 
nor ἀνεπίφθονα τῆς ὑπερβολῆς τοῦ νεανίσχου (Pıur. adv. Col. 29, 2), und über 
Denselben sagte er nach PuıLopen. π. παῤῥησίας Fr. 6 (V. Here. V, 2, 11): ὡς 
διὰ Πυθοχλέα τύχην θεώσει παρὰ τὸ τεθεμισμένον. M. vgl. auch, was 8. 413, 3 an- 
geführt ist. 

1) Dıios. 11: τόν τε ᾿Επίχουρον μὴ ἀξιοῦν εἰς τὸ χοινὸν χατατίθεσθα: τὰς οὐσίας 
καθάπερ τὸν Πυθαγόῤαν χοινὰ τὰ τῶν φίλων λέγοντα. ἀπιστούντων γὰρ εἶναι τὸ 
τοιοῦτον εἰ δ᾽ ἀπίστων οὐδὲ φίλων. 

2) ΡΗΙΠΟΡΕΜ., x. παῤῥησ. (V. Ἡ. V, 2) Fr. 15. 72. 73 nennt ihn und Metro- 
dor als Muster einer taktvollen Freimüthigkeit gegen Freunde, wie umgekehrt 
(Fr. 49) auch diese gegen ihn sich offenen Tadel erlaubt haben, der freilich 
wohl milde genug ausgefallen sein wird. Einer moralischen Ermahnung an 
einen Freund ist vielleicht auch der Spruch Ὁ. Sex. ep. 28, 9: initium salutis 
est notitia peccati, entnommen. 

3) Nicht nur Dıoserxes (9 ἢ) rühmt von ihm sein unübertrefliches Wohl- 
wollen gegen Jedermann, seine Milde gegen seine Sklaven, von denen mehrere 
seine Schüler und Freunde waren, seine allgemeine Menschenfreundlichkeit: 
auch Cıcero nennt ihn Tuse. II, 19, 44 vir optimus und Fin. II, 25, 80: bonum 
virum et comem et humanum. 

4) Dıos. 118: οὔτε χολάσειν οἰχέτας ἐλεήσειν μέντοι, χαὶ συγγνώμην τινὶ ἕξειν 
τῶν σπουδαίων. 121: ἐπιχαρίσεσθαί τινι ἐπὶ τῷ διορθώματι. 


422 Epikureer. 


den Grundsatz 1), dass es höheren Genuss gewähre, Wohlthaten 
zu erweisen, als Wohlthaten zu empfangen; und fehlt es uns auch 
an einer grösseren Anzahl von Einzelaussprüchen in dieser Rich- 
tung, so bürgt uns doch der ganze Charakter seiner Schule für 
den humanen und freundlichen Geist seiner Ethik 2). Gerade 
hierin möchten wir auch ihre geschichtliche Bedeutung hauptsäch- 
lich suchen: durch ihren Eudämonismus hat sie unstreitig vielfach 
geschadet, und die Verweichlichung der klassischen Völker theils 
beurkundet, theils befördert; aber indem sie den Menschen von 
der Aussenwelt in sich selbst zurückführte, und ihn in der schö- 
nen Menschlichkeit eines gebildeten, in sich befriedigten Gemüths 
das höchste Glück suchen lehrte, so hat sie in ihrer weicheren 
Weise so gut, wie der Stoieismus in seiner strengeren, zur Ent- 
wicklung und zur Verbreitung einer freien und universellen Sitt- 
lichkeit beigetragen. 


7. Das Ganze der epikureischen Philosophie und ihre 
geschichtliche Stellung. 


Man hat der epikureischen Philosophie nicht selten den Vor- 
wurf gemacht, dass es ihr an Zusammenhang und Consequenz 
fehle. Dieser Vorwurf ist auch nicht ohne Berechtigung. Wenn 
wir mit der Forderung einer durchgängigen wissenschaftlichen 
Begründung und einer strengen theoretischen Folgerichtigkeit in 
der Ausführung an diese Philosophie herantreten, so werden wir 


τῷ 


1) Prior. n. p. su. vivi 15, 4 (ähnlich e. prince. philos. 3, 2. 8. 118) αὐτοὶ 
δὲ δήπου λέγουσιν ὡς τὸ εὖ ποιεῖν ἥδιόν ἐστι τοῦ πάσχειν. Vgl. auch Arex. Arur. 
Top. 128, ο. Einen ähnlichen Ausspruch berichtet Aer. V. H. XIII, 13 von 
Ptolemäus Lagi; noch näher liegt aber die Vergleichung des Worts in der 
Apostelgeschichte 20, 35. 

2) Cıc. Fin. II, 25, 81: ei ipse bonus vir fuit et multi Epicurei fuerunt et 
hodie sunt, et in amieitiis fideles et in omni vita constantes et graves nec voluptate 
sed οἤῥοϊο consilia moderantes. Ein bekanntes Beispiel eines durch vortrefl- 
lichen Charakter, ächte Menschenfreundlichkeit und opferwillige Freundes- 
treue ausgezeichneten Epikureers ist Atticus. Neben ihm können wir aber 
auch auf Horaz verweisen, von dem STEINHART a. a. O. S, 470 mit Recht sagt: 
„Findet sich wohl bei irgend einem Dichter des Alterthums mehr wahrhafte 
Humanität und richtiger sittlicher Takt, als, namentlich in den Episteln, bei 
dem so sehr zu Epikur hinneigenden Horatius ὃ" 


Widersprüche des Systems. 423 


uns von derselben vielfach unbefriedigt finden müssen. Es ist 
nicht schwer, Epikur die Widersprüche nachzuweisen, in die er 
sich verwickelt, wenn er den Sinnen allein und unbedingt ver- 
trauen will, und doch über die sinnliche Erscheinung auf die ver- 
borgenen Gründe der Dinge zurückgeht; wenn er die logischen 
Formen und Gesetze verachtet, und doch sein ganzes System auf 
Schlüsse aus dem Gegebenen gründet; wenn er alle unsere Wahr- 
nehmungen für wahr, aber einen Theil der Eigenschaften, welche 
sie uns an den Dingen zeigen, für blos relativ hält; wenn er nur 
die physischen Ursachen und Gesetze anerkennen, und alle will- 
kührlichen und eingebildeten Wirkungen zurückweisen will, wäh- 
rend er selbst in seiner Lehre von der Abweichung der Atome 
und vom menschlichen Willen die unerklärliche Willkühr selbst 
zum Gesetz macht; wenn er alle Lust und Unlust auf die körper- 
lichen Empfindungen zurückführt, und doch die geistigen Zustände 
für das Höhere und Wichtigere erklärt; wenn er aus dem Prineip 
der Selbstsucht Vorschriften der Humanität, der Gerechtigkeit, 
der Liebe, der Freundestreue, selbst der Aufopferung ableitet. 
Nur vergesse man nicht, dass auch die Stoiker, denen man doch 
- Schärfe und Folgerichtigkeit des Denkens nicht absprechen kann, 
in ähnliche Widersprüche gerathen, dass auch sie ein System des 
Rationalismus auf sensualistischem Grund aufführen, eine ideali- 
stische Moral auf eine materialistische Metaphysik bauen, das all- 
gemeine Gesetz und die Vernunft für das allein Bestimmende und 
dabei doch die Körperwelt für das allein Wirkliche ausgeben, 
eine rigoristische Tugendlehre aus dem Selbsterhaltungstrieb ab- 
leiten u. s. w., ihres widerspruchsvollen Verhältnisses zur positi- 
ven Religion nicht zu gedenken. Würden wir nun den Stoikern 
Unrecht zu thun glauben, wenn wir wegen dieser wissenschaft- 
lichen Mängel und Widersprüche die Einheit und den inneren 
Zusammenhang ihres Systems läugnen wollten, so fordert die Ge- 
rechtigkeit, dass wir auch den Epikureismus, dessen Mängel 
in dieser Beziehung vielleicht noch augenfälliger, aber doch 
wesentlich gleicher Art sind, nicht sofort verurtheilen, son- 
dern ihm erst zu seiner Vertheidigung das Wort gönnen. 
Diese wird aber davon ausgehen müssen, dass es überhaupt 
nicht rein wissenschaftliche Gesichtspunkte sind, durch welche 
die Ausführung des epikureischen Systems bestimmt ist. Epikur 


424 Epikureer. 


sucht in der Philosophie eine Anleitung zur Glückseligkeit, eine 
Schule der Lebensweisheit. Alles Wissen hat für ihn nur inso- 
weit einen Werth, wiefern es diesem Zweck dient, und die gleiche 
Zweckbeziehung ist es, von welcher auch die Richtung und das 
Ergebniss seiner wissenschaftlichen Thätigkeit abhängt. Haben 
wir nun schon bei den Stoikern gesehen, wie aus ihrer einseitig 
praktischen Fassung der philosophischen Aufgabe die verhältniss- 
mässige Zurücksetzung 'der Logik und der Physik gegen die 
Ethik, die Anlehnung an eine ältere physikalische Theorie, der 
sensualistische Dogmatismus und der Materialismus ihres Systems 
hervorgieng, so mussten alle diese Folgerungen bei Epikur um 
so schroffer heraustreten, da er die Glückseligkeit nicht mit den 
Stoikern in der Unterordnung unter das allgemeine Gesetz, son- 
dern nur in der individuellen Befriedigung, oder der Lust suchte. 
Für ihn hatte die Erkenniniss der allgemeinen Gesetze nicht den 
gleichen Werth, wie für jene, er hatte daher auch nicht dasselbe 
Bedürfniss einer logischen Technik, und konnte weit ausschliess- 
licher bei der sinnlichen Empfindung als der alleinigen und un- 
fehlbaren Quelle alles Wissens stelren bleiben; er brauchte 
ebensowenig vom nackten Materialismus zu einer Ansicht fortzu- 
gehen, welche die Materie selbst beseelte, und zur Trägerin der 
Vernunft machte; je ausschliesslicher vielmehr Alles auf rein 
mechanische Ursachen zurückgeführt war, um so vollständiger 
mochte er das Individuum mit seinem Streben nach Glückseligkeit 
von allen übernatürlichen Mächten befreit und rein auf sich selbst 
und seine natürlichen Kräfte gestellt glauben; und da nun keines 
der älteren Systeme diesen Standpunkt der mechanischen Natur- 
erklärung so rein durchgeführt hatte, wie das atomistische, da 
eben dieses den epikureischen Ansichten über den absoluten 
Werth des Individuums die stärksten metaphysischen Stützen bot, 
so war es ganz natürlich, wenn sich Epikur ebenso eng an De- 
mokrit anschloss, als die Stoiker an Heraklit, nur dass er sich 
(durch sein praktisches Interesse wohl noch mehr als durch phy- 
sikalische Erwägungen) bestimmen liess, mit der Lehre von der 
Abweichung der Atome die Folgerichtigkeit der demokritischen 
Naturlehre zu zerstören 1). Wie sich aus dem Princip des Eudä- 


1) Vgl. 8. 378. 


Zusammenhang des Systems. 425 


monismus die unterscheidenden Bestimmungen der epikureischen 
Ethik, in ihrem Gegensatz gegen die stoische, entwickelten, 
braucht hier kaum angedeutet zu werden. Weil aber die Glück- 
seligkeit von Epikur nicht in dem sinnlichen Genuss als solchem, 
sondern in der Ruhe und Heiterkeit des Gemüths gesucht wurde, 
so erhielt seine Sittenlehre, trotz ihres Eudämonismus, doch 
wieder jenen edleren Charakter, den wir in ihren Sätzen über das 
Verhalten des Weisen zu körperlichen Schmerzen und Begierden, 
zu Armuth und Reichthum, Leben und Tod, in der milden Huma- 
nität der epikureischen Schule, in ihrem warmen und ausgebilde- 
ten Sinn für Freundschaft nachgewiesen haben. Wenn endlich 
dem Geist der epikureischen Aufklärung jeder religiöse Glaube 
widersprach, der ein Eingreifen der Gottheit in den Weltlauf, eine 
Einwirkung derselben auf das Wohl und Wehe des Menschen be- 
hauptete, so konnte doch.ein so unkritischer Empirismus an der 
Annahme solcher Götterwesen, von denen keine derartigen Ein- 
griffe zu befürchten waren, keinen Anstoss nehmen; diese An- 
nahme musste sich vielmehr auf diesem Standpunkt theils als die 
wahrscheinlichste Hypothese zur Erklärung des Götterglaubens 
empfehlen, theils kam sie auch dem in Epikur selbst, wie es 
scheint, sehr lebendigen Bedürfniss entgegen, einen Gegenstand 
der Verehrung, eine Bürgschaft für die Wirklichkeit seines prak- 
tischen Ideals zu haben. So zieht sich durch dieses System, trotz 
seiner wissenschaftlichen Lücken und Widersprüche, doch ein 
fest ausgeprägter Standpunkt hindurch, alle seine wesentlichen 
Bestimmungen dienen demselben letzten Zwecke, und mögen 
wir auch die folgerichtige Entwicklung einer wissenschaftlichen 
Weltansicht in ihm vermissen, so fehlt es ihm doch keineswegs 
an derjenigen Consequenz, welche aus der durchgeführten Be- 
ziehung des Einzelnen auf ein bestimmtes praktisches Ziel her- 
vorgeht. 

Wollen wir nun den Epikureismus in einen grösseren ge- 
schichtlichen Zusammenhang einreihen, so zieht zunächst sein 
Verhältniss zum Stoicismus unsere Aufmerksamkeit auf sich. Der 
Gegensatz der beiden Schulen liegt auf der Hand, und ist auch 
von uns an allen bezeichnenden Punkten hinreichend bemerkt 
worden. Ebenso bekannt ist es, wie heftig sich beide während 
ihrer ganzen Dauer befehdeten, wie vornehm besonders die Stoi- 


426 Epikureer. 


ker auf den Epikureismus herabsahen, und wie viel Uebles, auch 
in sittlicher Hinsicht, sie ihm nachsagten. Auch hiefür giebt un- 
sere bisherige Darstellung manche Belege. Nichtsdestoweniger 
zeigen sie sich doch wieder in so vielen Beziehungen verwandt, 
dass wir sie nur als zusammengehörige Glieder Einer Reihe, und 
ihre Differenz nur als einen Gegensatz innerhalb derselben Haupt- 
richtung betrachten können. Beide stimmen zunächst schon in dem 
allgemeinen Charakter ihres Philosophirens überein. Bei beiden 
überwiegt das praktische Interesse über das theoretische, beide 
behandeln die Physik und die Logik als blosse Hülfswissenschaf- 
ten der Ethik, und die Physik insbesondere vorherrschend nach 
ihrer Bedeutung für die Religion; beide legen aber dabei der 
Physik weit höhere Wichtigkeit bei, als der Logik, und wenn die 
epikureische Vernachlässigung der logischen Technik stark genug 
gegen den Fleiss absticht, womit sich die Stoiker ihrer Bearbei- 
tung unterzogen haben, so treffen doch beide Theile darin wieder 
zusammen, dass sie nur in der Untersuchung über das Kriterium 
grössere Selbständigkeit an den Tag legen. Dieses selbst wird 
von beiden sensualistisch gefasst, und beide haben hiezu, allen 
Anzeichen nach, die gleichen Gründe: ihr Sensualismus ist eine 
Folge ihres einseitig praktischen Standpunkts. So wird auch die 
Skepsis von beiden Seiten gleichmässig mittelst des praktischen 
Postulats widerlegt, dass ein Wissen möglich sein müsse, weil 
sonst keine Sicherheit des Handelns möglich wäre. Selbst darin 
gehen sie noch zusammen, dass sie nicht bei der sinnlichen 
Erscheinung, als solcher, stehen bleiben wollen, wenn gleich 
Epikur mit der stoischen Ansicht über den Vorzug der begriff- 
lichen Erkenntniss vor der sinnlichen so wenig, als mit der logi- 
schen Analyse der Denkformen einverstanden ist. Dass sich mit 
dem Sensualismus sowohl im stoischen als im epikureischen Sy- 
stem ein entschiedener Materialismus verknüpft, wird man natür- 
lich finden, merkwürdig ist aber, dass dieser Materialismus von 
beiden auch durch die gleiche, ihrem praktischen Standpunkt ent- 
sprechende Definition des Wirklichen begründet wird '). In der 
näheren Bestimmung und Ausführung dieses Standpunkts gehen 


1) Vgl. 8. 107, 1 mit 372,1. x 


Verhältniss zum Stoicismus. 427 


nun allerdings beide fast‘noch weiter auseinander, als die zwei 
älteren Physiker, deren Führung sie sich anvertraut haben, und 
es kommt namentlich in dem Gegensatz zwischen der stoischen 
Teleologie und der mechanischen Physik Epikur’s, zwischen dem 
fatalistischen Pantheismus auf der einen, dem deistischen Atomis- 
mus und Indeterminismus auf der andern Seite, zwischen der spe- 
kulativen Orthodoxie der Stoiker und der irreligiösen Aufklärung 
der Epikureer, der ganze Abstand beider Schulen von einander 
zum Vorschein. Dafür begegnen sie sich aber in dem Theile der 
Physik, welcher für die Ethik der wichtigste ist, in der Antlıro- 
pologie, wieder darin, dass beide die Seele für eine feuer- und 
luftartige Substanz halten, und selbst der von der Wechselwirkung 
zwischen Seele und Leib hergenommene Beweis für diese Ansicht 
ist beiden gemeinsam; ebenso unterscheiden aber auch beide 
zwischen den höheren und den niedrigeren Bestandtheilen der 
Seele, und auch die Epikureer führen unter dieser Form die Vor- 
stellung von der Erhabenheit der Vernunft über die Sinnlichkeit 
und den Glauben an die himmlische Abkunft der Seele in die 
Psychologie ein. DerSchauplatz des lebhaftesten Kampfes zwischen 
beiden Schulen ist die Ethik, aber doch stehen sie sich auch in 
dieser viel näher, als man auf den ersten Anblick glauben sollte. 
Zunächst freilich scheint es, ein schrofferer Gegensatz lasse sich 
gar nicht denken, als das epikureische Princip der Lust, und das 
stoische der Tugend, und es ist auch ganz wahr, beide stehen 
sich diametral entgegen. Nichtsdestoweniger handelt es sich 
nicht blos im Allgemeinen bei beiden um dasselbe, um die Glück- 
seligkeit des Menschen, sondern auch die Bedingungen der Glück- 
seligkeit werden von beiden in verwandtem Geiste bestimmt. Nach 
Zeno ist die Tugend das höchste und einzige Gut, nach Epikur 
ist es die Lust; aber indem jener die Tugend wesentlich in der 
Zurückziehung aus der Sinnlichkeit oder der Apathie, und dieser 
die Lust in der Gemüthsruhe oder der Ataraxie sucht, so stimmen 
beide darin überein, dass der Mensch eine unbedingte und blei- 
bende Befriedigung nur dann finde, wenn er durch sein Wissen 
zur Sicherheit eines in sich beruhenden Selbstbewusstseins und 
zur Unabhängigkeit von allen äusseren Reizen und Schicksalen 
gelangt ist. Es ist die gleiche Unendlichkeit der auf sich selbst 
und ihr Denken beschränkten Subjektivität, welche beiden Syste- 


428 Epikureer. 


men als gemeinsame Voraussetzung zu Grunde liegt, und beide 
haben diesen Gedanken unter derselben Form, an dem Ideal des 
Weisen, und grossentheils mit’ den gleichen Zügen ausgeführt; ἡ 
denn auch der epikureische Weise ist, wie wir gesehen haben, 
über Schmerz und Bedürfniss erhaben, auch er erfreut sich einer 
unverlierbaren Vortrefllichkeit, auch er wandelt wie ein Gott an 
Einsicht und Glückseligkeit unter den Menschen. Selbst die ver- 
schiedene Würdigung der Lust und der Tugend, gleicht sich im 
weiteren Verlaufe wenigstens theilweise aus, wenn wir sehen, 
. dass weder die Stoiker die Glückseligkeit von der Tugend, noch 
die Epikureer die Tugend von der Glückseligkeit zu trennen 
wissen. Wenn endlich beide Systeme zwar eine gemeinnützige 
Thätigkeit empfehlen, aber zum Staatsleben kein rechtes Herz zu 
fassen wissen, so mag immerhin die Anerkennung einer natür- 
lichen Gemeinschaft unter den Menschen, das positivere Verhält- 
niss zu Staat und Familie, der grundsätzlich ausgesprochene Kos- 
mopolitismus die Stoiker, die Pflege der Freundschaft und die 
menschenfreundliche Milde ihrer Moral die Epikureer auszeich- 
nen: neben diesen Eigenthümlichkeiten lässt sich aber doch das 
Gemeinsame nicht verkennen, dass beide den politischen Charak- 
ter der antiken Sittlichkeit aufgeben, und sich mit ihrem tiefsten 
Interesse vom öffentlichen Leben abwenden, um dafür in dem rei- 
nen Verhältniss des Menschen zum Menschen die Grundlage für 
einen moralischen Universalismus zu gewinnen. Das Gesammt- 
gewicht aller dieser verwandtischaftlichen Züge ist gewiss bedeu- 
tend genug, um die Behauptung zu rechtfertigen, dass der Stoi- 
eismus und der Epikureismus trotz ihres tiefgreifenden Gegen- 
satzes doch wesentlich auf dem gleichen Boden stehen, und dass 
ihr Gegensatz selbst nur desshalb so scharf gespannt sei, weil es 
ein und dasselbe Princip ist, in dessen verschiedene Seiten sie 
sich theilen. Beiden ist die abstrakte Subjektivität, das zur Allge- 
meinheit gebildete Selbstbewussisein das Höchste, und nicht blos 
die sinnlichen Zustände, sondern auch die wissenschaftliche Er- 
kenntniss der Dinge und die Darstellung der sittlichen Idee in 
einem äusseren Gemeinwesen haben jenem gegenüber nur unter- 
geordnete Bedeutung; in diesem Selbstbewusstsein besteht die 
Glückseligkeit; die Erzeugung desselben im Menschen ist der 
Zweck der Philosophie, und nur weil und wiefern es diesem 


Verhältniss zum Stoicismus. 429 


Zweck dient, hat das Wissen einen Werth. Was die beiden Schu- 
len trennt, ist nur ihre Ansicht über die Bedingungen, unter 
‘denen jene Sicherheit des Selbstbewusstseins gewonnen wird: 
während sie die Stoiker durch die absolute Unterordnung des 
Einzelnen unter das Gesetz des Ganzen zu erreichen hoffen, sind 
die Epikureer umgekehrt der Meinung, der Mensch könne nur 
dann befriedigt in sich selbst sein, wenn er durch nichts ausser 
ihm Liegendes beschränkt wird, die Befreiung des individuellen 
Lebens von aller Abhängigkeit und allen Störungen sei die erste 
Bedingung der Glückseligkeit; jene erklären daher die Tugend, 
diese das individuelle Wohlbefinden, oder die Lust, für das höchste 
Gut. Weil aber die Lust selbst von den Epikureern im Wesent- 
lichen verneinend, als Schmerzlosigkeit, gefasst, und auf das Ganze 
des menschlichen Lebens bezogen wird, so erscheint sie ihnen 
durchaus bedingt durch die Mässigung der Begierden, durch die 
Gleichgültigkeit gegen äussere Uebel und sinnliche Zustände, 
durch die Einsicht und das der Einsicht ensprechende Handeln, 
mit Einem Wort durch die Tugend und Weisheit; und so kommen 
sie mit einem Umweg am Ende zu dem gleichen Resultat, wie die 
Stoiker, zu der Ueberzeugung, dass die Glückseligkeit nur dem 
zu Theil werde, welcher schlechthin unabhängig von allem Aeus- 
sern und schlechthin einig mit sich selbst ist: 

Zu der älteren Philosophie steht der Epikureismus in einem 
ähnlichen Verhäliniss, wie der Stoicismus. Zwar zollte Epikur 
selbst, und ebenso dann auch seine Schule, kaum dem Einen oder 
dem Andern von seinen Vorgängern die verdiente Anerkennung '); 


1) Es ist schon 8, 342, 1. 4 nachgewiesen worden, dass Epikur zwar 
Demokrit’s Verdienste um seine Philosophie anerkannte, wenn auch vielleicht 
nicht ohne sie in seinem eigenen Interesse zu schmälern, dass er aber im 
Uebrigen durchaus Autodidakt sein wollte. Er wollte aber von den früberen 
Philosophen, mit Ausnahme jenes Einen, nicht allein nichts gelernt haben, 
sondern er äusserte sich auch über sie mit einer Selbstüberhebung und einer 
Tadelsucht, die ihre Personen so wenig, wie ihre Ansichten, mit Schmähun- 
gen und übeln Nachreden verschonte. Bei Dıos. 8 wird ihm, ausser seinen 
Schmähreden gegen Nausiphanes (s. ο. 342, 1), noch weiter vorgeworfen, er 
habe die Platoniker Διονυσοχόλαχας, Plato selbst ironisch den „goldenen * 
Plato, Heraklit χυχητὴς, Demokritos Ληρόχριτος, Antidoros Σαινίδωρος, die 
Cyniker ἐχθροὺς τῆς Ἑλλάδος, die Dialektiker πολυφθονέρους, Pyrrho ἀμαθὴς 


430 Epikureer. 


diess beweist aber natürlich nur für seine persönliche Eitelkeit, 
nicht gegen den Einfluss der früheren Philosophie auf die seinige., 
Der Epikureismus geht, wie der Stoicismus, von dem Bestreben ἡ 
aus, die Wissenschaft von der metaphysischen Speculation zu der 
einfacheren Form einer praktischen Lebensweisheit zurückzufüh- 
ren. Beide wenden sich daher von Plato und Aristoteles, deren 
Leistungen sie merkwürdig vernachlässigen, zu Sokrates und zu 
denjenigen sokratischen Schulen zurück, welche ohne umfassen- 
dere wissenschaftliche Begründung bei der Ethik stehen geblieben 
waren; nur brachte es ihre materielle Differenz mit sich, dass 
Epikur ebenso an Aristipp anknüpfte, wie Zeno an Antisthenes. 
Von den Cyrenaikern hat Epikur nicht blos in der Moral das 
Princip des Hedonismus, sondern auch in der Erkenntnisstheorie 
die Behauptung aufgenommen, dass die Sinnesempfindung die ein- 
zige Quelle unserer Vorstellungen, und dass alle Empfindung als 
solche wahr sei, und auch den Satz kann er nicht ganz zurück- 


und ἀπαίδευτος genannt, Aristoteles und Protagoras Ausschweifungen und 
Unwürdigkeiten ihrer Jugend fälschlich vorgerückt. Diogenes will nun zwar 
davon nichts gelten lassen, Epikur’s unübertreffliche Menschenfreundlichkeit 
sei ja bekannt. Aber diese Freundlichkeit gegen seine Verehrer und auch 
gegen unbetheiligte Dritte schliesst bei einem so eiteln und eigenliebigen 
Manne (m. vgl. hierüber 5. 354, 3) Gehässigkeit und Ungerechtigkeit gegen 
seine Vorgänger, deren unpartheiische Würdigung ihm auch schon die Ober- 
flächlichkeit seines Wissens und die Einseitigkeit seines Standpunkts unmög- 
lich machen musste, keineswegs aus. Auch Sext. Math. I, 2 bezeugt τὴν 
πρὸς τοὺς περὶ Πλάτωνα χαὶ ᾿Αριστοτέλη χαὶ τοὺς δμοίους δυςμένειαν, Prour. adv. 
Col. 26, 1 führt einen ungerechten Vorwurf gegen Arcesilaus an, und Cıc. 
N.D. I, 33, 93 sagt: cum Epieurus Aristotelem vexarit contumeliosissime, Phae- 
doni Socratico turpissime maledixerit u. s. w. Von seinen Aeusserungen über 
Aristoteles sind uns selbst Bd. II, b, 6, 3. 4. I, 733, 3 Proben vorgekommen. 
Auch die ungesalzenen Witze, welehe bei Diog. angeführt sind, passen voll- 
kommen für den Mann, welchen Cıc. N. D. II, 17, 46 einen homo non aptissi- 
mus ad jocandum minimeque resipiens patriam nennt, der selbst aber ohne 
Zweifel auf derartige Scherze sich ebensoviel zu Gute that, wie auf die 
schwülstige Eleganz, die 8. 420, 6 berührt wurde. Epikur folgten dann seine 
Schüler. Von Zeno sagt (το. N. D. I, 34, 93: non eos solum, qui tum erant, 
Apollodorum, Silum, ceteros figebat maledietis, sed Socratem ipsum . « « « scur- 
ram Atticum fuisse dieebat (über die sokratische Ironie hatte nach Cıc. Brut. 
85, 292 schon Epikur sich tadelnd geäussert), Uhrysippum numquam nisi 
Chrysippam (al. Chesippum) vocabat. 


Verhältniss zu Aristipp und Demokrit, 431 


weisen, dass die Empfindungen zunächst nur von unseren sub- 
jektiven Zuständen und daher nur von den relativen Eigenschaf- 
ten der Dinge Kunde geben 1); mit den Cyrenaikern lehrt er, 
dass die wahre Lust nur durch philosophische Einsicht gewonnen 
werde, und dass diese Einsicht vor Allem die Befreiung des Gei- 
stes von Leidenschaften, Furcht und Aberglauben zu bewirken 
habe. Indessen weiss er sich doch keineswegs unbedingt an sie 
anzuschliessen. Sein ethisches Princip unterscheidet sich von dem 
eyrenaischen, wie früher gezeigt wurde, durch die wichtige Be- 
stimmung, dass nicht der sinnliche und einzelne Genuss, sondern 
nur die Gemüthsruhe als Gesammtzustand der letzte Zweck und 
das höchste Gut sein soll; ebendamit war es ihm aber auch un- 
möglich gemacht, mit den Cyrenaikern bei der Empfindung als 
solcher, bei dem vereinzelten subjektiven Eindruck stehen zu 
bleiben, er musste vielmehr eine auf wirklicher Erkenniniss der 
Dinge beruhende Ueberzeugung anstreben, denn nur auf eine 
solche liess sich eine gleichmässige und gesicherte Gemüthsstim- 
mung gründen. Epikur weicht daher nicht allein in Betreff der 
Sinnesempfindung dadurch von Aristipp ab, dass er alle Empfin- 
dungen auf äussere Eindrücke, deren treue Darstellung sie sein 
sollen, zurückführt, sondern er sieht sich auch genöthigt, der 
eyrenaischen Verachtung aller physikalischen Theorieen ebenso 
entgegenzutreten, wie die Stoa der cynischen Verachtung der 
Wissenschaft entgegentrat, und in der demokritischen Physik den 
wissenschaftlichen Unterbau für seine Ethik zu suchen, den jene 
ihrerseits im heraklitischen System fand. So eng er sich aber, 
gerade wegen der Schwäche seines naturwissenschaftlichen Inter- 
esse’s, an Demokrit hält, so wenig lässt sich doch verkennen, 
dass diese ganze physikalische Theorie für ihn blosses Mittel für 
ethische Zwecke, und insofern von durchaus relativem Werth ist; 
und so bedenkt er sich denn auch nicht im Geringsten, die ganze 
Consequenz derselben durch die Annahme der Atomenabweichung 
und der Willensfreiheit aufzuheben. Die Vorstellung, als ob Epi- 
kur nur eine zweite Auflage von Demokrit wäre, ist nicht blos 
zum voraus unwahrscheinlich, denn die Geschichte kennt über- 


1) M. vgl. in dieser Beziehung mit den $. 365 f. gegebenen Belegen über 
Epikur Bd. II, a, 250 ἢ, 


432 Epikureer. 


haupt keine solche Wiederholungen, sondern sie ist auch that- 
sächlich unrichtig; eine genauere Beobachtung zeigt uns, dass 
selbst da, wo die beiden Philosophen in ihren einzelnen Behaup- 
tungen übereinstimmen, doch die Bedeutung dieser Behauptungen 
und der ganze Geist ihrer Systeme auf’s Weiteste auseinander- 
geht. Demokrit will eine Erklärung der natürlichen Erscheinun- 
gen aus natürlichen Ursachen, eine Naturwissenschaft rein 
um ihrer selbst willen; Epikur will eine Naturansicht, welche 
ihm den Dienst leistet, von dem inneren Leben des Menschen stö- 
. rende Vorstellungen fern zu halten. Die Physik steht hier durch- 
aus im Dienste der Ethik, und mag sie auch materiell einem 
älteren System entnommen werden, ihre ganze Stellung und Be- 
handlung gehört einem wesentlich neuen Standpunkt an, sie hat 
die sokratische Einkehr des Menschen in sich selbst und die 
sophistische Verwandlung der Naturphilosophie in eine subjektive 
Aufklärung zu ihrer geschichtlichen Voraussetzung, und sie selbst 
ist an ihrem Orte nur aus jener allgemeinen Abwendung des 
Denkens von der reinen Theorie zu erklären, welche die ge- 
meinsame Eigenthümlichkeit der nacharistotelischen Philosophie 
ausmacht. 

Ausser den genannten hat sich der Epikureismus, so viel 
bekannt ist, mit keinem der früheren Systeme ausdrücklich in 
Zusammenhang gesetzt, und selbst seine Polemik gegen dieselben 
scheint in der Regel nur in allgemein absprechenden oberfläch- 
lichen Urtheilen bestanden zu haben. Aber doch lässt sich nicht 
verkennen, dass auch der Epikureismus die von Sokrates ausge- 
gangene Denkweise nicht blos in ihrer eyrenaischen Abzweigung, 
sondern auch in dem platonisch -aristotelischen Hauptstamm vor- 
ausseizi. Wenn Plato und Aristoteles das immaterielle Wesen 
der Dinge von der sinnlichen Erscheinung unterschieden und ihm 
allein absolute Wirklichkeit zuerkannt hatten, so wird diese An- 
sicht von Epikur zwar ebenso, wie von Zeno, auf dem metaphy- 
sischen Gebiete durch seinen Materialismus bekämpft, aber auch 
er kommt trotz dem in praktischer Beziehung durch alle jene 
Bestimmungen auf sie zurück, durch welche sich seine Lehre von 
der eyrenaischen unterscheidet und der stoischen annähert. Es ist 
schon früher bemerkt worden, dass jene Gleichgültigkeit gegen 


Verhältniss zu Plato und Aristoteles. 433 


die unmittelbaren sinnlichen Zustände, jene Zurückziehung des 
Bewusstseins auf sich selbst, jene Befriedigung des denkenden 
Subjekts in sich , welche Epikur nicht minder bestimmt verlangt, 
'als die Stoiker und die gleichzeitigen Skeptiker, nichts anderes 
sei, als eine Consequenz des platonisch - aristotelischen Spiritua- 
lismus, und dass auch der Materialismus der. nacharistotelischen 
Systeme keineswegs aus einem einfachen Rückfall in die vor- 
sokratische Naturphilosophie, sondern vielmehr nur aus der ein- 
seitig praktischen Fassung jenes Spiritualismus zu erklären sei; 
dass diese Systeme denGeist in der Natur, und auch in der mensch- 
lichen Natur selbst, nur desshalb läugnen, weil sie die Erhebung 
über die Sinnlichkeit ausschliesslich im Selbstbewusstsein und der 
subjektiven Thätigkeit suchen. Die Richtigkeit dieser Bemerkung 
lässt sich gerade an der epikureischen Lehre, trotz der Härte und 
Schroffheit ihres Materialismus, nachweisen. Denn wesshalb will 
Epikur alle unkörperlichen Ursachen und alle Teleologie mit 
dieser Unerbittlichkeit aus der Physik entfernt wissen, und sich 
ganz strenge auf die mechanische Naturerklärung beschränken, 
als desshalb, weil er durch die Annahme von anderen, als mecha- 
nisch wirkenden Kräften, die Sicherheit des Selbstbewusstseins 
gefährdet glaubt, weil er den festen Boden der Wirklichkeit an 
jenseitige Mächte zu verlieren, das menschliche Leben unbe- 
rechenbaren Einflüssen preiszugeben fürchtet, sobald er ein Un- 
körperliches zugiebt? wie wenig bleibt er andererseits in seiner 
Lebensansicht bei der sinnlichen Gegenwart stehen, wenn er 
seinen Weisen völlig frei von allem Aeusseren in sich selbst 
ein vollkommenes Glück geniessen lässt! Nur dasselbe Ideal 
stellen aber auch die epikureischen Götter dar, welche in ihrer 
isolirten Selbstanschauung mit nichts anderem grössere Aehnlich- 
keit haben, als mit dem gleichfalls aller Einwirkung auf den 
Weltlauf sich enthaltenden, nur sich selbst denkenden Gotte des 
Aristoteles. Das Fürsichsein des denkenden Geistes wird aller- 
dings nur von dem letzteren rein und würdig, von Epikur da- 
gegen selbst wieder sinnlich, und darum widerspruchsvoll, ja 
ungereimt dargestellt, aber der Zusammenhang beider Vorstellun- 
gen ist doch nicht zu verkennen. Ein analoges Verhältniss findet 
überhaupt zwischen der epikureischen und der platonisch-aristo- 
Philos. ἃ. Gr. III. Bd. 1. Abth. 28 


434 Epikureer. 


telischen Philosophie statt 1); aber so wenig auch jene mit dieser 
an Tiefe und Umfang des wissenschaftlichen Geistes zu verglei- 
chen ist, so dürfen wir sie doch nicht für eine blosse Entartung 
der Philosophie halten, wir müssen vielmehr auch in ihr ein be- 
rechtigtes, wenn auch einseitig ausgebildetes, Glied in der Ent- 
wicklung des griechischen Denkens anerkennen. 


1) Man vgl. in dieser Beziehung auch was ὃ, 403, 1 aus Metrodor ange- 
führt ist. 


Skepsis. 435 


€. Die Skepsis. Pyrrho und die neuere Akademie. 


1. Pyrrho. 


Sowohl der Stoieismus, als der Epikureismus war für sein 
Glückseligkeitsstreben von bestimmten dogmatischen Voraussetzun- 
gen ausgegangen; die skeptischen Schulen suchen dasselbe Ziel 
durch die Aufhebung jeder dogmatischen Veraussetzung zu er- 
reichen. So verschieden aber die Wege auch sein mögen, das 
Endergebniss ist das gleiche, dass die Glückseligkeit nur in 
der Erhebung des Geistes über alles Aeussere, in der Zurück- 
ziehung des Menschen auf sein denkendes Selbsibewussisein lie- 
gen könne. Die nacharistotelische Skepsis bewegt sich nicht nur 
im Allgemeinen in derselben Richtung, wie die gleichzeitigen 
dogmatischen Systeme, sofern auch sie die Aufgabe der Philo- 
sophie wesentlich praktisch fasst, und den Werth der theoreti- 
schen Untersuchungen nach ihrem Einfluss auf das Verhalten und 
die Glückseligkeit des Menschen bemisst; sondern sie trifft mit 
ihnen auch in der ethischen Lebensansicht selbst zusammen, denn, 
das Ziel, zu dem sie uns hinführen will, ist das gleiche, wie es 
jene anstreben, die Ruhe des Gemüths, die Ataraxie. Der Unter- 
schied ist nur, dass die Epikureer, wie die Stoiker, die Gemüths- 
ruhe durch die Kenntniss der Welt und ihrer Gesetze bedingt 
glauben, wogegen die Skeptiker der Meinung sind, nur durch den 
Verzicht auf alles Wissen lasse sie sich fest begründen; und dass 
in Folge dessen auch die ethische Stimmung selbst bei jenen auf 
einer positiven Ueberzeugung in Betreff des höchsten Gutes be- 
ruht, bei diesen nur auf der Gleichgültigkeit gegen alles, was 
den Menschen als ein Gut erscheint. So wichtig aber dieser 
Unterschied der Standpunkte an sich ist, so wenig lässt sich doclı 
verkennen, dass die Skepsis in beiden Beziehungen nur den glei- 
chen Weg verfolgt, auf dem wir den Stoicismus und Epikureis- 
mus getroffen haben, dass sie jene Zurückziehung des Menschen 
auf sich selbst, welche wir als den gemeinsamen Grundzug dieser 

28 * 


436 Skepsis. 


beiden Systeme bemerkt haben, nur auf den äussersten Punkt 
treibt, wenn sie jeden Anspruch auf ein Wissen und alles Inter- 
esse an den Dingen aufgiebt. Diese drei Richtungen des Denkens 
gehören daher nicht blos Einer Zeit an, sondern sie sind sich 
auch innerlich so verwandt, dass wir sie als die drei Zweige m 
selben Stamm es betrachten müssen. 

Die frühere Philosophie bot der Skepsis mehr mehr als Einen An- 
knüpfungspunkt. Einerseits hatte die megarisc rische Dialektik und 
die cynische Lehre eine Wendung genommen, die zur Aufhebung 
aller Begriffsverbindung und alles Wissens geführt hatte 1), an- 
dererseits soll Pyrrho durch die demokritische Schule den Antrieb 
zu seinem Zweifel erhalten haben ?); namentlich mochte aber die 


1) 8. Bd. II, a, 186 fi. 209 fl. 

2) Nachdem sehon Demokrit der sinnlichen Wahrnehmung jede Wahrheit 
abgesprochen hat!e (Bd. I, 629 f.), wurde dieses skeptische Element von Me- 
trodor stärker betont (Bd. I, 631, 1. 662, 1 und Arıstokt. b. Eus. pr. ev. XIV, 
19,5. Sexr. Math. VII, 88. Erırman. Exp. δᾶ. 1088, A), ohne dass wir doch 
diesen Philosophen, welcher im Uebrigen der demokritischen Physik huldigt 
(Bd. I, 661, 4. 5), und von dem viele, in allem Wesentlichen hiemit überein- 
stimmende, physikalische Sätze angeführt werden (Prur. b. Evs. a. a. Ὁ. 1, 
8,11. Ders. fac. lun. 15, 8. ὃ. 928. plac. phil. an vielen Stellen. Ses. nat. 
qu. VI, 19). desshalb für einen wirklichen Skeptiker halten dürften. Von ihm 
soll nun die Skepsis durch Vermittlung des Anaxarchus zu Pyrrho gekommen 
sein (s. u. 438, 3. 4), und hiemit liesse sich auch die skeptische Ataraxie com- 
combiniren: da sich die Ataraxie auch bei Epikur, dem Schüler des Demo- 
kriteers Nausiphanes, findet, so könnte man vermuthen, dass schon vor Pyrrho 
in der demokritischen Schule eine der pyrrhonischen verwandte Lehre aus- 
gebildet gewesen sei, der Epikur seine Ataraxie entnommen habe. Indessen 
ist dieser Zusammenhang doch unsicher. Von Demokrit haben wir seiner Zeit 
gesehen, dass sein Zweifel nur der Wahrnehmung, nicht der Vernunfterkennt- 
niss galt; nicht anders verhält es sich wohl auch, wie bemerkt, mit Metrodor: 
die skeptische Aeusserung, welche Bd. I, 631, 1 angeführt ist, geht, wie es 
scheint, nur auf den gewöhnlichen Stand des menschlichen Wissens, das an 
den Sinnen haftende Vorstellen; zum Denken dagegen hatte er ein besseres 
Zutrauen, und nur in diesem Sinn sagte er wohl (nach Arıstorr. a. a. O.), 
ὅτι πάντα ἐστὶν, ὃ ἂν τις νοήσα!, dass jedes so sei, wie man es denkt. Von 
Anaxarchus wird nur berichtet (Srxr. Matth. VII, 87), dass er die Welt einer 
Skenograpbie verglichen habe, was um nichts skeptischer lautet, als die ent- 
sprechenden platonischen Aeusserungen über die sinnliche Erscheinung. Mögen 
daher diese Männer auch einen Beitrag zum Pyrrhonismus geliefert haben, so 
lässt sich doch eine einfache Uebertragung der Skepsis von der demokritischen 


Entstehnngsgründe. , 437 


kühne Entwicklung der platonischen und aristotelischen Spekula- 
tion bei solchen, die ihr nicht zu folgen wussten, die Wirkung 
hervorbringen, dass sie gegen alle Spekulation misstrauisch wur- 
den, und am Ende die Möglichkeit des Wissens überhaupt be- 
zweifelten, wie wir ja auch sonst nicht selten auf Zeiten einer 
angestrengten philosophischen Produktivität skeptische Theorieen 
folgen sehen. Noch stärker scheint aber in der Folge der Anstoss 
gewirkt zu haben, welcher von der stoischen und epikureischen 
Philosophie ausgieng. Da diese Systeme der Skepsis in ihrer 
praktischen Richtung verwandt sind, so war es natürlich, dass 
diese aus ihnen neue Nahrung zog, während zugleich die un- 
genügende wissenschaftliche Begründung ihres sensualistischen 
Dogmatismus und der Gegensatz ihrer ethischen und physikali- 
schen Behauptungen die skeptische Dialektik herausforderte. 
Wenn sich im Stoieismus und Epikureismus die individuelle und 
die allgemeine Seite des subjektiven Geistes, die atomistische 
Isolirung des Individuums und seine pantheistische Hingebung an 
das Ganze mit gleichen Ansprüchen unversöhnt gegemüberstanden, 
so hebt sich dieser Gegensatz in der Skepsis zur Neutralität auf: 
weder das stoische noch das epikureische Princip hat Anspruch auf 
Geltung, weder der unbedingte Werth der Lust, noch der der 
Tugend, weder die Wahrheit der sinnlichen, noch die der Ver- 
nunfterkenntniss, weder die atomistische, noch die herakliüsch- 
pantheistische Physik lässt sich beweisen, und das einzige, was 
sich in dem allgemeinen Schwanken aufrecht erhält, ist jene ab- 
strakt in sich beruhende Subjektivität, welche der gemeinsame 
Ausgangs- und Zielpunkt der zwei feindlichen Systeme gewe- 
sen war. 

Wie bedeutend diese Rückwirkung des Stoicismus und Epi- 
kureismus auf die Skepsis war, lässt sich am Besten daraus ab- 
nehmen, dass diese erst nach dem Auftreten jener Systeme durch 
die neuere Akademie zu einer nachhaltigen Ausbreitung und 
einer umfassenderen wissenschaftlichen Begründung gelangt ist, 
wogegen vor diesem Zeitpunkt zwar ihre leitenden Gesichtspunkte 


Schule auf Pyrrho nicht annehmen. Was endlich die Atararaxie betrifft, so 
kann Epikur diese Bezeichnung unmittelbar von Pyrrho entlehnt haben, den 
er nach Dıos, IX, 64, 69 kannte und schätzte. 


438 Pyrrho. 


durch Pyrrho aufgestellt wurden, ohne dass es jedoch zu einer 
dauernden skeptischen Schule und zu einer entwickelten skepti- 
schen Theorie gekommen wäre. 

Pyrrho war aus Elis gebürtig 1), und konnte schon dadurch 
frühzeitig mit der elisch-megarischen Dialektik, dieser Vorgän- 
gerin der späterin Skepsis, bekannt geworden-sein, wenn es auch 
nicht richtig zu sein scheint, dass er den Megariker Bryso zum 
Lehrer gehabt hat ?). Er schloss sich sodann an den Demokriteer 
Anaxarchus an, und begleitete ihn und das Heer Alexander’s bis 
nach Indien 5). Doch hat er von ihm für seine skeptische Lehre 
ohne Zweifel einen geringeren Beitrag erhalten, als für seine 
ethische Lebensansicht %). Später lebte er in seiner Vater- 


1) Arıstokr. Ὁ. Eus. pr. ev. XIV, 18, 1. Dioc. IX,61u.A. Was wir 
über das Leben and die Persönlichkeit Pyrrho’s wissen, verdanken wir fast 
ausschliesslich Diogenes, der seine Angaben neben Antigonus dem Karystier, 
seiner Hauptgaelle, aus Apollodor, Alexander Polyhistor, Diokles u. A. ge- 
schöpft hat. 

2) Ich habe schon Bd. II, a, 178, 3 auf die chronologischen Schwierig- 
keiten dieser Angabe aufmerksam gemacht. Von den zwei Annahmen, welche 
ich dort cffen gelassen habe, dass entweder Pyırrho mit Unrecht zum Schüler 
Bryso’s. oder dieser mit Unrecht zum Sohne Stilpo’s gemacht worden sei, ist 
mir jetzt die erste wahrscheinlicher: Diıoc. IX, 61 entlehnt die Angabe aus 
Alexanders διαδοχαὶ, und der Art solcher Diadochenverzeichnisse entspricht 
es ganz, wenn man dem Skeptiker, dessen Zusammenhang mit den Megarikern 
zum voraus feststand, den letzten von diesen zum Lehrer gab. 

3) D. IX, 61. Arıstorr. a. a. Ο. 18, 20. 17,8, von denen wir auch er- 
fahren, dass Pyrrho ursprünglich Maler war. Suıpas Πύῤῥων schreibt nur den 
Diogenes, in dem überlieferten Text mit einigen Schreibfehlern, ab. 

4) Ausser der wenig beweisenden Aeusserung, welche 8.436,2 aus Sextus 
angeführt wurde, ist uns von Anaxarchus kein Beleg der skeptischen Denkart 
überliefert, welche ihm Sexrus auch Math. VII, 48 zuschreibt, und da der 
letztere sich auf keinen besseren Beweis zu stützen weiss, so können wir nicht 
annehmen, es seien ihm welche bekannt gewesen. Anaxarchus scheint daher 
den Skeptikern nicht mit mehr Recht beigezählt zu werden, als so viele An- 
dere, welche die späteren auktoritätsbedürftigen Philosophen dieser Riehtung 
wegen irgend eines vereinzelten Wortes zu ihren Vorgängern gestempelt 
haben. Andere Angaben lassen ihn als Anhänger der demokritischen Schule 
erscheinen: bei Prur. tranqu. an. 4, S. 466. Varer.M. VIII, 14, ext. 2 trägt 
er Alexander die Lehre von der unendlichen Zahl der Welten vor, und 
Kreuens Strom. I, 287, B theilt von ihm ein Bruchstück über die roAup&din 
mit, welches im Anschluss an demokritische Aussprüche (Bd. I, 633, 2) aus- 


Sein Leben. 439 


stadt 1), von seinen Mitbürgern geehrt 3), aber in ärmlichen Ver- 
hältnissen ?), welche er mit der ihn auszeichnenden Gemüths- 
ruhe *) ertrug. Er starb, wie es scheint, um 275— 270 v. Chr., 


führt, dass die Vielwisserei nur dann nützlich sei, wenn man einen verständi- 
gen Gebrauch von ihr mache. An Demokrit kounte Anaxarch auch, ähnlich 
wie Epikur, anknüpfen, wenn er die Glückseligkeit für das höchste Ziel un- 
seres Strebens erklärte; diese Behauptung wird es nämlich sein, welche ihm 
den Beinamen ὃ südatuovıxog (b. KLEmEns a.2.0. Arsen. VI, 250, f. XII, 548, Ὁ. 
Ael. V.H. IX, 37) zugezogen hat. Dagegen wich erim Weiteren in doppelter 
Beziehung von ihm ab. Einestheils wird ihm von Krearca. b. Arsen. XII, 
548, b eine lüsterne Ueppigkeit nachgesagt, wie sie von Demokrit’s ernstem 
und reinem Geist weit abliegt; auch nach Prvr. Alex.52 hatte er in Asien die 
Bedürfnisslosigkeit des Philosophen mit einem weichlichen Leben vertauscht, 
und Tımox b. Pıor. virt. mor. 6. 5. 446 «βαρύ: die φύσις ἡδονοπλὴξ habe ihn 
gegen sein besseres Wissen fortgezogen. Anderntheils sollier eine Adiaphorie, 
welche unverkennbar über Demokrit’s Ataraxie hinausgeht, an Pyrrho gelobt 
haben (Dıoe. IX, 63), und an ihm selbst rühmt Timon ἃ. ἃ. O. sein χύνεον 
(= κυνιχὸν) μένος. Er stellt sich dem äusseren Schmerz mit jenem verachtenden 
Stolz gegenüber, den sein vielbewundertes Wort unter den Keulenstössen 
Nikokreon’s ausspricht (Dıoe. IX, 59. Pror. virt. mor. c. 10. 8.449. Kresens 
Strom. IV, 496, ἢ. Varer. M. III, 3, ext. 4. Prim. hist. nat. VII, 87. TerruLı. 
Apologet. 50. Dıo Chrys. or. 37, 5, 126 R.); aber mit derselben Verachtung 
behandelt er auch die Menschen, und während er dem macedonischen Eroberer 
gegenüber den Freimüthigen spielt, der sich etwas gegen ihn herausnimmt, 
verderbt er ihn durch wohlberechnete Schmeichelei (vgl. Prur. Alex. 52, ad 
prince. iner. 4. S. 781. απ, conv. IX, 1, 2,5. Aer. V.H.IX, 37. Arsen, VI, 
250, f). Seine Adiaphorie war daher jedenfalls der Veredlung sehr bedürftig, — 
M. vgl. über Anaxarchus Luzac Lect. Att. 181 ff. 


1) Dıoc. IX, 64, 109. 


2) Nach Dıios. 64 machten sie ihn zum Oberpriester und bewilligten ihm 
zuliebe den Philosophen Steuerfreiheit. Nach Diokles (D. 65) schenkten ihm 
auch die Athener wegen des Verdienstes, das er sich durch Tödtung eines 
thraeischen Fürsten Kotys erworben hatte, das Bürgerrecht. 


3) Dıoe. 66. 62. 


4) Beispiele derselben giebt Dıoc. 67 f. Dass er jedoch, wie Antıconus 
ebd. 62 behauptet, die Adiaphorie weit genug getrieben habe, um Wagen und 
Abgründen nicht auszuweichen, und nur durch seine Freunde vor Schaden 
bewahrt worden sei, klingt höchst unglaublich, und wurde von Aenesidemus 
mit Recht bestritten. Er hätte auch ein merkwürdiges Glück haben müssen, 
um bei einem so sinnlosen Verhalten 90 Jahre alt zu werden, vollends wenn 
er sich, wie Dıoc. 63 sagt, oft allein herumtrieb. 


440 Pyrrho. 


in hohem Alter 1). Schriften hatte er nicht hinterlassen 2); schon 
die Alten kannten daher seine Lehre nur aus denen seiner 
Schüler, von welchen Timon aus Phlius der bedeutendste ist ?); 
neben ihm sind uns noch einige andere dem Namen nach bekannt 2). 


1) Alle Zeitbestimmungen sind aber hier sehr schwankend. Sein Todes- 
und Geburtsjahr wird nicht angegeben, und die Notiz bei Suıpas, dass er 
Ol. 111 (336, v. Ch.) und später gelebt habe, nützt uns nichts. Wenn er aber 
(nach Dıos. 62) gegen 90 Jahre alt wurde, und wenn man ferner annimmt, er 
habe sich gleich bei Alexander’s Aufbruch nach Asien an Anaxarch ange- 
schlossen, und sei damals 24—30 Jahre alt gewesen, ergiebt sich das Obige. 

2) Dıog. pro. 16. 102. Arıstokr. b. Eus. pr. ev. XIV, 18, 1, wogegen 
Sexr. Math. I, 282 (vgl. PLur. Alex. fort. 1,10. 8.331) nicht angeführt werden 
kann: Sextus sagt ja nicht, dass das angebliche Gedicht an Alexander sich 
erhalten habe; die ganze Angabe ist aber auch unsicher. 

3) Timon (über den Wacnsmurn De Timone Phliasio, Lpz. 1859) war 
aus Phlius gebürtig (Dıoc.IX,109 u.A.) Zuerst Chortänzer (D.109. Arısrokt, 
b. Eus. pr. ev. XIV, 18, 12), soll er dieses Gewerbes überdrüssig nach -Megara 
gegangen sein. um Stilpo zu hören (D. 109); und da Stilpo’s Lehrtbätigkeit 
wahrscheinlich noch in’s dritte Jahrhundert herabreicht (Bd. II, a, 176, 4), 
Timon’s Geburt aber (s. u.) annähernd 325—315 v. Chr. zu setzen sein wird, 
kann ich Pserrer’s (Hist. phil. gr. et rom. 398) und Wacssumern's (5, 5) Ur- 
theil, dass die Sache chronologisch unmöglich sei, nicht beistimmen, auch 
das Gegentheil aber freilich, bei der Unsicherheit aller dieser Zeitbestimmun- 
gen, nicht behaupten. In der Folge wurde er mit Pyrrho bekannt, zog mit 
seiner Gattin nach Elis, und war sein unbedingter Bewunderer (D. 109. 69. 
Arıscokr.. a. a. O. 11. 14. 21); trat sodann selbst in Chaleis als Lehrer auf, 
und nachdem er sich dadurch ein Vermögen erworben hatte, brachte er sein 
übriges Leben in Athen zu (D. 110. 115). Aus Dıoc. 112. 115 geht hervor, 
dass er den Arcesilaus, welcher Mi v. Chr. starb, überlebt hat, und 
fast 90 Jahre alt wurde, und so mag denn sein Tod annäherungsweise um 
230, seine Geburt um 320 v. Chr. fallen. Ueber seine Persönlichkeit und 
seinen Charakter vgl. m. Dıoc. 110. 112—115. Arnex. X, 438, a, den Aer. 
V.H.II, 41 ausschreibt. Von seinen zahlreichen, theils in Prosa theils in den 
verschiedensten dichterischen Formen verfassten Schriften sind die bekannte- 
ste die Sillen, nach denen er selbst der Sillograph heisst, eine mit Witz und 
Schärfe geschriebene Satyre auf frühere und gleichzeitige Philosophen. Man 
vgl. über dieselben (nach D. 110 ff. u.A.) Wacnsuurn 8.9 ff. 3f. Ihre Ueber- 
bleibsel hat Derselbe S. 51 ff. gesammelt. 

4) Dıioe. 67—69 nennt als seine Schüler neben Timon einen Eury- 
lochus, der es aber in der Kunst des Gleichmuths nicht weit gebracht habe; 
ferner Philo aus Athen, Hekatäus aus Abdera, den bekannten Historiker 
(über den MürLer Fragm. Hist. gr. II, 384 ff. z. vgl.) und Nausiphanes den 
Lehrer Epikur’s, der noch als junger Mensch von ihm gewonnen worden sein 


Seine Schule. 441 


Seine Schule war aber von kurzer Dauer 1); bald nach Timon 
scheint sie erloschen zu sein ?); wer zur Skepsis hinneigte, 
schloss sich jetzt wohl der neueren Akademie an, gegen deren 
Stifter schon Timon seine Eifersucht nicht verborgen hatte 5). 
Das Wenige, was uns von Pyrrho’s Lehre überliefert: ist, 
fasst sich in die drei Bestimmungen zusammen, dass wir von der 
Beschaffenheit der Dinge nichts wissen können, dass daher das 
richtige Verhalten zu ihnen in der Zurückhaltung alles Urtheils 
bestehe, und dass aus dieser immer und nothwendig die Ataraxie 


soll. Die letztere Angabe lässt sich aber, da Pyrrho nicht wohl vor 322 νυ, Chr. 
nach Elis zurückgekehrt sein kann, und andererseits Epikur vor 310 die 
Schule des Nausiphanes verlassen haben muss (8. o. $. 343, 2), nur unter der 
Voraussetzung halten, Nausiphanes sei wenige Jahre nach Pyrrho seinerseits 
als Lehrer aufgetreten; nach Dıoc. 64 müsste auch Epikur, noch während er 
Nausiphanes’ Schüler war, Pyrrho’s Bekanntschaft gemacht hahen. Uebrigens 
soll Nausiphanes Pyrrho’s Lehre nicht gebilligt, sondern nur seine Gemüths- 
stimmung bewundert haben (Dıoe. a. a. O.), so dass er nicht eigentlich sein 
Schüler genannt werden kann. — Der Numenius, welchen D. 102 vgl. 68 
unter Pyrrho’s συνήθεις aufführt, wird als solcher dadurch verdächtig, dass 
auch Aenesidemus diesen zugezählt ist, und es fragt sich, ob er nicht, wie 
dieser, erst einer späteren Zeit der skeptischen Schule angehört. 

1) Nach Dıos. 115 hatte Menodotus (ein Skeptiker aus der zweitenHälfte 
des zweiten Jahrhunderts n. Chr.) behauptet, Timon habe keinen Nachfolger 
hinterlassen, die Schule sei vielmehr von ihm bis auf Ptolemäus, ἃ, ἢ, bis in 
die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts v. Chr., unterbrochen gewesen. 
Sotion und Hippobotus dagegen hatten als seine Schüler Dioskurides, 
Nikolochus, Euphranor und Praylus genannt. Ebenso folgte sein 
Sobn, der Arzt Xanthus, der Lebensweise seines Vaters. (Dıos. 109; dass 
jedoch Timon selbst gleichfalls Arzt gewesen sei, wie Wachsmuta 8.5 ver- 
muthet, folgt aus den Worten: ἰατριχὴν ἐδίδαξε, nicht sicher, da diese 
auch bedeuten können: er liess ihn die Arzneikunst erlernen.) Der Pyrrho 
dagegen, welchen Sup. Πύῤῥων Φλιάσ. als Timon’s Schüler nennt, verdankt 
sein Dasein, wie BerxHarpy z.d.S. richtig bemerkt, einer Verwechslung: 
es muss heissen, Τίμων... .. μαθητὴς Πύῤῥωνος. Wenn Aratus von Soli ihn 
gehört hat (Sup. Άρατος vgl. Dios. IX, 113), so schloss er sich doch seinen 
Ansichten nicht an; 8. 0.35, 1. 

2) Bei Dıos. 116 wird zwar noch, natürlich gleichfalls nach Hippobotus 
und Sotion, Eubulus der Schüler Euphranor's genannt, wenn aber an diesen 
sofort, als sein Zuhörer, Ptolemäus angeknüpft wird, so kann auch jenen 
zwischen beiden, also während einer Zeit von etwa 150 Jahren, kein Skeptiker 
der pyrrhonischen ἀγωγὴ bekannt gewesen sein. 

3) Vgl. Dıos. 114 f. 


442 Pyrrho. 


hervorgehe. Wer glückselig leben will, — denn davon geht auch 
die Skepsis aus — der muss nach Timon dreierlei in’s Auge 
fassen: wie die Dinge beschaffen sind, wie wir uns zu ihnen’ 
verhalten sollen, welcher Gewinn uns aus diesem Verhalten er- 
wächst ἢ. Auf die erste von diesen drei Fragen lässt sich jedoch 
der pyrrhonischen Lehre zufolge nur antworten, dass die Dinge 
unserem Wissen schlechthin unzugänglich sind, dass wir von 
jeder Eigenschaft, welche wir einem Ding beilegen, ebenso gut 
auch das Gegentheil aussagen können ?). Zur Begründung dieses 
Satzes scheint Pyrrho ausgeführt zu haben, dass weder die sinn- 
liche, noch die Vernunfterkenntniss ein sicheres Wissen ge- 
währe °), denn jene zeige uns die Dinge nicht wie sie an sich 
sind, sondern immer nur, wie sie uns erscheinen *), diese beruhe 


selbst da, wo man ihrer am Sichersten zu sein glaubt, im sitt- 


lichen Gebiete, nicht auf wirklichem Wissen, sondern nur auf 
Herkommen und Gewöhnung °), es lasse sich daher jeder Be- 
hauptung mit gleichem Recht eine entgegengesetzte gegemüber- 
stellen ©). Kann aber weder die Wahrnehmung noch die Ver- 
nunft, jede für sich genommen, ein zuverlässiges Zeugniss ab- 
legen, so können es auch beide zusammen nicht, und es ist so 


1) Arıstort. b. Eus. pr. ev. XIV, 18, 2: ὃ δέ γε μαθητὴς αὐτοῦ Τίμων φησὶ 
δεῖν τὸν μέλλοντα εὐδαιμονήσειν εἰς τρία ταῦτα βλέπειν" πρῶτον μὲν ὁποία πέφυχε 
τὰ πράγματα: δεύτερον δὲ, τίνα χρὴ τρόπον ἣμᾶς πρὸς αὐτὰ διαχέῖσθαι" τελευταῖον 
δὲ τί περιέσται τοῖς οὕτως ἔχουσιν. 

2) Απιβτοκι. ἃ. ἃ. O.: τὰ μὲν οὖν πράγματά φησιν αὐτὸν (Pyrrho) ἀποφαίνειν 
ἐπίσης ἀδιάφορα χαὶ ἀστάθμητα καὶ ἀνεπίχριτα, διὰ τοῦτο [to] μήτε τὰς αἰσθήσεις 
ἡμῶν μήτε τὰς δόξας ἀληθεύειν ἢ ψεύδεσθαι. Dioc. IX, 61: οὐ γὰρ μᾶλλον τόδε ἢ 
τόδε εἶναι ἕχαστον. GeuL. ΧΙ, ὅ, 4: Pyrrho soll gesagt haben, οὐ μᾶλλον οὕτως 
ἔχει τόδε ἢ ἐχείνως ἢ οὐθετέρως. 

3) Μ. 5. die ebenangeführte Stelle des Arısroxtes und die un anzu- 
führende Aeusserung b. Dıoc. IX, 114. 

4) Tımox b. Dıioe. IX, 105: τὸ μέλι ὅτι ἐστὶ γλυχὺ οὐ τίθημι" τὸ δ᾽ ὅτι pal- 
vera: ὁμολογῶ. 

5) Dıoc. IX, 61: οὐδὲν γὰρ ἔφασχεν οὔτε χαλὸν οὔτε αἰσχρὸν οὔτε δίκαιον οὔτε 
ἄδικον, χαὶ ὁμοίως ἐπὶ πάντων, μηδὲν εἶναι τῇ ἀληθεία, νόμῳ δὲ χαὶ ἔθει πάντα τοὺς 
ἀνθρώπους πράττειν, οὐ γὰρ μᾶλλον τόδε ἢ τόδε εἶναι ἕκαστον. Sext. Math. ΧΙ, 140: 
οὔτε ἀγαθόν τί ἐστι φύσει οὔτε χαχὸν, ἀλλὰ πρὸς ἀνθρώπων ταῦτα νόῳ χέχριται χατὰ 
τὸν Τίμωνα. 

6) So sind wohl die Worte Aenesidem’s b. Dıos. IX, 106 zu verstehen: 


, 


οὐδέν φησιν δρίζειν τὸν Πύῤῥωνα δογματικῶς διὰ τὴν ἀντιλογίαν. Vgl. Anm. 2. 


[2 


Seine Skepsis. 443 


auch der dritte Weg abgeschnitten, auf dem wir möglicherweise 
zum Wissen gelangen könnten '). Wie viel von den sonstigen 
Gründen der späteren Skepsis auf Pyrrho’s Rechnung zu setzen 
ist, lässt sich nicht mehr ausmachen; die kurze Dauer und ge- 
ringe Ausbreitung der pyrrhonischen Schule macht es wahr- 
scheinlich, dass die skeptische Theorie bei ihm noch nicht sehr 
ausgebildet war, und das Gleiche kann man auch aus ihrer wei- 
teren Entwicklung in der Akademie abnehmen; die zehn Wen- 
dungen oder Tropen, in welche die skeptischen Einwürfe in der 
Folge zusammengefasst werden, dürfen wir wohl sicher erst dem 
Aenesidemus zuschreiben ?). Mag daher auch manches Einzelne 
in dieser späteren Beweisführung von Pyrrho und seinen Schülern 
herrühren °), so sind wir doch nicht mehr im Stande, es auszu- 
scheiden. 

Steht es nun so mit unserem Wissen um die Dinge, so bleibt 
uns zu denselben — und diess ist die Antwort auf die zweite der 
obigen Fragen — nur ein durchaus skeptisches Verhalten übrig. 
Wie die Dinge beschaffen sind, können wir schlechterdings nicht 


1) Dıos. IX, 114 über Timon: συνεχές τε ἐπιλέγειν εἰώθει πρὸς τοὺς τὰς 
αἰσθήσεις μετ᾽ ἐπιμαρτυροῦντος τοῦ νοῦ ἐγχρίνοντας: συνῆλθεν ᾿Ατταγᾶς τε χαὰὶ Νου- 
μήνιος. Der Sinn dieses Sprichworts ist im Obigen erklärt. 

2) Zwar bringt Dıoe. IX, 79 ff. diese Tropen schon im Leben Pyrrho’s, 
aber da er hier überhaupt die skeptische Ansicht darstellen will, für deren 
Urheber ihm Pyrrho gilt, so kann man daraus nichts schliessen. SexTus 
Pyrrh. I, 36 legt sie nur im Allgemeinen den älteren Skeptikern bei, unter 
diesen verstand er jedoch nach Math. VII, 345 den Aenesidemus und seine 
nächsten Nachfolger; auf Aenesidem führt sie auch Arıstoktes a.a.O. 18, 11 
zurück, sie konnten aber um so eher für pyrrhonisch gehalten werden, da 
sowohl Aenesidem selbst (Dioc. IX, 106) als die Späteren (Favorın b. Ger. 
ΧΙ, ὅ, 8. vgl. PsıLosre. vit. soph. I, S. 491) skeptische Ausführungen jeder Art 
λόγοι oder τρόποι Πυῤῥώνειοι zu nennen pflegten. Dass sie so, wie sie bei 
Sextus und Diog. vorliegen, nicht pyrrhonisch sein können, ist augenschein- 
lich, da sie ganz bestimmt auf spätere Lehren Rücksicht nehmen. 

3) So führt Sexr. Math. VI, 66 und. gleichlautend X, 197 einen Beweis 
gegen die Realität der Zeit aus Timon an, und derselbe berichtet Math. IV, 2, 
dass Timon in seinen Streitschriften gegen die Physiker vor Allem das Recht 
bestritten habe, irgend eine unbewiesene Voraussetzung zu machen; d.h. er 
suchte den Dogmatisnus dadurch zu widerlegen, dass er nachwies, jeder 
Beweis setze schon ein Bewiesenes, mitbin einen andern Beweis voraus, und 
so in’s Unendliche. 


444 Pyrrho. ᾿ 


wissen, wir dürfen daher auch nichts über ihre Beschaffenheit 
glauben oder behaupten, wir können von keinem Ding sagen, es 


sei, oder es sei nicht, wir müssen uns vielmehr jedes Urtheils ent- 


halten, indem wir zugeben, dass von allem, was uns als wahr 
erscheint, ebenso gut auch das Gegentheil wahr sein kann ἢ). 
Alle unsere Aussagen drücken demnach (wie mit den Cyrenaikern 
gelehrt wird) nur unsere subjektive Vorstellung , nicht eine ob- 
jektive Realität aus: wir können allerdings nicht läugnen, dass 
uns etwas so oder so erscheine, aber wir werden nie sagen 
dürfen, es sei so ?); ja auch dieses selbst, dass uns eine Sache 
so oder so erscheine, kann keine Behauptung, sondern nur ein 
Bekenntniss des Einzelnen über seinen Gemüthszustand sein ?), 
und ebenso darf der allgemeine Grundsatz des Nichtentscheidens 
nicht als Lebrsatz, sondern nur als Bekenntniss, und desshalb 
gleichfalls nur problematisch , ausgesprochen werden *%). Doch 
müssen wir es dahingestellt sein lassen, wie weit die spitzfindigen 
Wendungen des Ausdrucks, wodurch sich die Skeptiker nach 
dieser Seite hin den Griffen ihrer Gegner zu entziehen suchten °), 


1) Arıstoxr. ἃ. 8. Ὁ. 18, 3 (nach dem Obigen): διὰ τοῦτο οὖν μηδὲ πιστεύειν 
αὐταῖ: δεῖν, ἀλλ᾽ ἀδοξάστους χαὶ ἀχλινεῖς χαὶ ἀχραδάντους εἶναι περὶ ἑνὸς ἑχάστου 
λέγοντας ὅτι οὐ μᾶλλον ἔστιν ἢ οὐχ ἔστιν, ἢ καὶ ἔστι: καὶ οὐκ ἔστιν, ἢ οὔτε ἔστιν οὔτ᾽ 
οὖχ ἔστιν. Πιοα. IX, 61 s.0. Ebd. το: das οὐ μᾶλλον bedeute nach Timon in 
seinem Python τὸ μηδὲν ὁρίζειν ἀλλὰ anpogbereiv. 

2) Aenzsınem b. Dioc. IX, 106: οὐδὲν δρίζειν τὸν Πύῤῥωνα Kl διὰ 
τὴν ἀντιλογίαν, τοῖς δὲ φαινομένοις ἀκολουθεῖν. Tımon ebd. 105; s. o. 442, 4. 

3) Dioc. IX, 103 f.: περὶ μὲν ὧν ὡς ἄνθρωποι πάσχομεν ὁμολογοῦμεν. . περὶ 
δὲ ὧν οἱ δογματιχοὶ διαβεβαιοῦνται τῷ λόγῳ φάμενοι κατειλῆφθαι ἐπέχομεν περὶ τού- 
των ὡς ἀδήλων" μόνα δὲ τὰ πάθη γινώσχομεν. τὸ μὲν γὰρ ὅτι δρῶμεν ὁμολογοῦμεν 
χαὶ τὸ ὅτι τόδε νοοῦμεν γινώσχομεν, πῶς δ᾽ δρῶμεν ἢ πῶς νοοῦμεν ἀγνοοῦμεν" χαὶ 
ὃτι τόδε λευχὸν φαίνεται διηγηματιχῶς λέγομεν οὐ διαβεβαιούμενοι εἰ χαὶ ὄντως ἐστί 

. χαὶ γὰρ τὸ φαινόμενον τιθέμεθα οὐχ, ὡς χαὶ τοιοῦτον ὄν: χαὶ ὅτι πῦρ καίει 
αἰσθανόμεθα, εἰ δὲ φύσιν ἔχει καυστιχὴν, ἐπέχομεν τ. 5. W. 

4) Dıoa. a. a. O.: περὶ δὲ τῆς Οὐδὲν δρίζω φωνῆς χαὶ τῶν ὁμοίων λέγομεν ὡς 
οὐ δογμάτων οὐ γάρ εἰσιν ὅμοια τῷ λέγειν ὅτι σφαιροειδής ἐστιν ὃ χόδμος" ἀλλὰ γὰρ 
τὸ μὲν ἄδηλον, αἱ δὲ ἐξομολογήσεις εἰσίν. ἐν ᾧ οὖν λέγομεν μηδὲν ὁρίζειν οὐδ᾽ αὐτὸ 
τοῦτο ὁριζόμεθα. Auch diess giebt Diog. wohl in seiner späteren Form, viel- 
leicht nach Sexrus Pyrrh. I, 197, doch der Sache nach mit dem aus Timo und 
Pyrrho Angeführten übereinstimmend. 

5) Hierüber später. 


Zu a A EEE 


Skepsis. Ataraxie. 445 


schon aus der pyrrhonischen Schule herstammen; die meisten der- 
selben sind offenbar erst in dem Streit mit den Dogmatikern auf- 
gesucht worden, dessen lebhaftere dialektische Entwicklung kaum 
"älter sein dürfte, als die Ausbildung der stoischen Erkenntniss- 
theorie durch οὐδ όώροι und die dadurch hervorgerufene Dia- 
lektik des Karneades. In diesem Verzicht auf jede feste Ueber- 
zeugung besteht die Aphasie, oder Akatalepsie, die Zurückhaltung 
unserer Beistimmung, (ἐποχὴ), welche schon Pyrrho und Timon 
in theoretischer Beziehung für das allein richtige Verhalten er- 
klärten 1). und welcher die ganze Schule ihre verschiedenen 
Namen ?) verdankte. 

Aus dieser Aphasie nun, lehrt Timon, indem er sich zu seiner 
dritten Frage wendet, entwickelt sich nothwendig die Unerschüt- 
terlichkeit des Gemüths, oder die Ataraxie, welche allein zur 
wahren Glückseligkeit führen kann °). Ihre Meinungen und Vor- 
urtheile beunruhigen die Menschen und verleiten sie zu leiden- 
schaftlichen Bestrebungen; wer _ als „Skeptiker : auf alle‘ Meinung 
verzichtet hat, der allein ist im Stande, die Dinge mit unbedingter 
Gemüthsruhe zu "betrachten , ohne 4 er durch irgend eine Lei- 
denschaft oder Begierde gestört würde *). Er hat erkannt, dass 


1) Dıos. IX, 61. 107. Arısrorr. ἃ. ἃ. Ὁ. Die Ausdrücke ἀφασία, ἀχατα- 
ληψία, ἐποχὴ bezeichnen durchaus dasselbe; die Späteren setzen dafür auch 
ἀῤῥεψία, ἀγνωσία τῆς ἀληθείας u. dgl. Wenn Timon, wie es nach Aristokles 
und Diog. 107 scheint, erst aus Anlass der dritten von seinen Fragen der 
Aphasie erwähnte, so ist diess jedenfalls ungenau. 

2) Πυῤῥώνειοι, σχεπτικοὶ, ἀπορητιχοὶ, ἐφεχτιχοὶ, ζητητιχοί. vgl. Dos. 69 f. 
u. A. 

3) ArısTokL. a, a. Ὁ. 2: τοῖς μέντοι διαχειμένοις οὕτω περιέσεσθαι Τίμων φησὶ 
πρῶτον μὲν ἀφασίαν ἔπειτα δ᾽ ἀταραξίαν. Dios. 107: τέλος δὲ οἱ σχεπτιχοί φασι τὴν 
ἐποχὴν, ἢ σκιᾶς τρόπον ἐπαχολουθεῖ ἣ ἀταραξία, ὥς φασιν οἵ τε περὶ τὸν Τίμωνα καὶ 
Αἰνεσίδημον. Statt Ataraxie Ka auch Apathie, Dıos. 108. Cıc. Acad. II, 
42, 130. 

4) Tımos b. Arıstorr. a. a. O. 18, 14 über Pyırbo: 

ἀλλ᾽ οἷον τὸν ἄτυφον ἐγὼ ἴδον ἠδ᾽ ἀδάμαστον 
πᾶσιν, ὅσοις δίμνανται ὁμῶς ἄφατοί τε φατοί τε (so Wachsw. 8. 62), 
λαῶν ἔθνεα χκοῦρα, βαρυνόμεν᾽ ἔνθα χαὶ ἔνθα 
En παθέων δόξης τε καὶ εἰκαίης νομοθήχης. 
Ders. b. Sexrus Math. ΧΙ 1: der Skeptiker lebe 
ῥῆστα μεθ᾽ ἣσυχίης 


446 Pyrrbo. 


es nur ein eitler Wahn ist, als ob ein äusserer Zustand vor 
dem andern etwas voraus habe !), dass dagegen in Wahrheit nur 
die Stimmung unseres Gemüths oder die Tugend einen Werth - 
hat 2), und indem er sich so auf sich selbst zurückzieht, erreicht 
er die Glückseligkeit, welche das Ziel aller Philosophie ist 5). 
Sofern aber absolute Unthätigkeit nicht möglich ist, wird ein sol- 
cher zwar dem Wahrscheinlichen, und insofern auch dem Her- 
kommen folgen *), aber er wird sich dabei bewusst sein, dass 
dieses sein Verhalten nicht auf dem Grund einer sicheren Ueber- 
. zeugung beruht °). Nur in dieses Gebiet der unsicheren Meinung 
gehören alle positiven Urtheile über gut und böse, und nur in 
dieser bedingten Weise will Timon das Gute und Göttliche als 
Lebensnorm aufstellen ©); das eigentliche Ziel dieser Skepsis da- 
gegen ist das rein negative der Adiaphorie, und dass sich die 
pyrrhonische Schule dem Leben auch nur so weit genähert hat, 
um für die unvermeidlichen Thätigkeiten und Begierden statt der 
Apathie die blosse Metriopathie zum Grundsatz zu machen, ist 


αἰεὶ ἀφροντίστως χαὶ ἀχινήτως χατὰ ταὐτὰ 
μὴ προςέχων δειλοῖς ἡδυλόγου σοφίης. Ders. b. Πιοα. 65. 

1) Cıc. Fin. II, 13, 43: quae (das Aeussere) φιοά Aristoni et Pyrrhoni 
omnino visa sunt pro nihilo, ut inter optime valere et gravissime aegrotare nihil 
prorsus dicerent interesse. 1II, ὃ, 11: cum Pyrrhone et Äristone qui omnia ex- 
aequent. Acad. II, 42, 130: Pyrrho autem ea ne sentire quidem sapientem, quae 
ἀπάθεια nominatur. ErıKrer. fragm. 93 (b. Srtog. Serm. 121, 28): Πύῤῥων ἔλεγεν 
μηδὲν διαφέρειν ζῇν ἢ τεθνάναι. 

2) Cıc. Fin. IV, 16, 43: Pyrrho .. qui virtute constituta nihil omnino quod 
appetendum sit relinquat. Dasselbe ebd. II, 13, 43. III, 4, 12. 

3) 8. 0. 442, 1. 445, 3. 

4) Dıioc. 105: ὃ Tiewv ἐν τῷ Πύθωνί φησι μὴ ἐχβεβηχέναι [sc. τὸν Πύῤῥωνα) 
τὴν συνήθειαν. χαὶ ἐν τοῖς ἰνδαλμσὶς οὕτω λέγει" ἀλλὰ τὸ φαινόμενον παντὶ σθένει 
οὗπερ ἂν ἔλθη. (Vgl. Sexr. Math. VII, 30.) Ebd. 106 von Pyırho: τοῖς δὲ 
φαινομένοις ἀχολουθεῖν. Vgl. S. 439, 4. 

5) 8. 0.444, 2. 8. 

6) Sexr. Math. XI, 20: κατὰ δὲ τὸ φαινόμενον τούτων ἕχαστον ἔχομεν ἔθος 
ἀγαθὸν ἢ χαχὸν ἢ ἀδιάφορον προςαγορεύειν: χαθάπερ χαὶ ὃ Τίμων ἐν τοῖς ἰνδαλμοῖς 
ἔοιχε δηλοῦν ὅταν HT 

ἦ γὰρ ἐγὼν ἐρέω ὥς μοι χαταφαίνεται εἶναι 
μῦθον ἀληθείης ὀρθὸν ἔχων κανόνα" 

ὡς ἣ τοῦ θείου τε φύσις καὶ τἀγαθοῦ αἰεὶ, 
ἐξ ὧν ἰσότατος γίγνεται ἀνδρὶ βίος. 


Die neuere Akademie. 447 


nicht zu erweisen !). ‘Sie scheint auch nach dieser Seite hin nur 
zu geringer Entwicklung gelangt zu sein. 


3, Die neuere Akademie. 


Erst die platonische Schule war es, in welcher die skeptische 


Theorie sorgfältiger begründet und ausgeführt wurde. Wir haben 
schon früher bemerkt, dass diese Schule nach Xenokrates mehr 
und mehr von spekulativen Untersuchungen abgekommen war, 
und sich auf die Ethik beschränkt hatte. Die gleiche Richtung 
hielt sie nun auch fest, als sie bald nach dem Anfang des dritten 
vorchristlichen Jahrhunderts einen neuen wissenschaftlichen Auf- 
schwung nahm; aber statt dass sie früher die theoretische Wis- 
senschaft nur vernachlässigt hatte, warf sie sich jetzt auf ihre 
Bestreitung, um eben durch die Ueberzeugung von der Unmög- 
lichkeit des Wissens zur Sicherheit und Glückseligkeit des Lebens 
zu gelangen. Inwieweit hiebei der Vorgang Pyrrho’s mitgewirkt 
hat, lässt sich nicht mehr durch Zeugnisse nachweisen; aber der 
Natur der Sache nach ist es nicht wahrscheinlich, dass der ge- 
lehrte _Urheber dieser Richtung in der Akademie die Ansichten 
eines Philosophen nicht berücksichtigt haben sollte, dessen Wir- 
ken in dem nahen Elis er noch erlebt hatte, und dessen bedeu- 
tendster Schüler, ihm selbst wohlbekannt, als fruchtbarer Schrift- 
steller neben ihm in Athen wirkte 529. Noch bestimmter erhellt 
aus der ganzen Gestaltund Richtung der neuakademischen Skepsis 
der Antheil, welchen das stoische System an ihrer Entstehung 
gehabt hat, indem es durch die Zuversichtlichkeit seines Dogma- 


1) Zwar entschuldigte sich Pyrrho nach einer von Antigonus dem Kary- 
stier aufbewahrten Anekdote (b. Arıstokr. a. a.0. 18, 19. Dıios. IX, 66) über 
einer Gemüthsbewegung mit den Worten: es sei schwer, den Menschen ganz 
auszuziehen, diess beweist aber nur, dass er eben diess anstrebte, und noch 
keine prineipielle Vermittlung zwischen der von seinem System geforderten 
Apathie und dem praktischen Bedürfniss gefunden hatte. Auch was Rırter 
ΠῚ, 451 anführt, beweist nicht, dass die Lehre von der Metriopathie schon 
Pyrrho und seiner Schule angehört. 

2) Vgl. θιοα. IX, 114 f. Ich kann daher Tessemann’s Meinung (Gesch. 
d. Phil. IV, 190), dass Arcesilaus ganz unabhängig von Pyrrho auf seine An- 
sichten gekommen sein könne, nicht beitreten. 


448 Arcesilaus. 


tismus den Widerspruch und Zweifel hervorrief, ohne dass man 
desshalb auf geschichtlich unwahrscheinliche Vermuthungen über 
das persönliche Verhältniss des Arcesilaus zu Zeno zurückzugehen 
nöthig hätte 1). 

Diese Beziehung der neuakademischen Lehre zum Stoieis- 
mus lässt sich gleich an dem ersten Urheber derselben ?), an 
Arcesilaus°), nachweisen. Die Zweifel dieses Philosophen 


1) Zwar behauptet Numen. b. Eos. pr. ev. XIV, 5, 10. 6, 5, Zeno und 
" Arcesilaus haben zusammen den Polemo gehört, und die Eifersucht dieser 
beiden Schulgenossen habe den Keim zum Streit der Stoa mit der Akademie 
gelegt; und das Gleiche hatte wohl schon Antiochus behauptet, wenn sich 
auch Cic. Acad. 1, 9, 35 nur für die Schulgenossenschaft der beiden Philo- 
sophen auf ihn beruft. Vgl. Acad. II, 24, 76. Indessen ist darauf nichts zu 
geben. Dass sowohl Zeno als Arcesilaus den Polemo gehört haben, steht 
allerdings ausser Zweifel; dass sie ihn aber in derselben Zeit hörten, ist kaum 
glaublich, und wenn auch, so kann der wissenschaftliche Gegensatz der bei- 
den Schulen keinenfalls blos auf das persönliche Verhältniss ihrer Stifter zu- 
rückgeführt werden. 

2) Als Stifter der neuen (mittleren, zweiten) Akademie bezeichnet den 
Arc. Cıc. De orat. II, 18, 68. Dioe. IV, 28. Eus. pr. ev. XIV, 4, 16. Sexr. 
Pyrrh. 1, 220. Kurness Strom. I, 301, C. 

3) Arcesilaus (über den Gerrers De Arcesila. Gött. 1842. Gymn.progr.) 
war zu Pitane in Aeolien geboren (StraBo XII, 1, 67. S. 614. Dıoc. IV, 28). 
Sein Geburtsjahr wird nicht angegeben; aber da ihm Lacydes nach Dıos. 
IV, 61 Ol. 134, 4 (24°/, v. Chr.) folgte, und er selbst das 75ste Jahr erreicht 
hatte (D. 44), so muss es zwischen 316 und 314, am Wahrscheinlichsten 
315 v. Chr. fallen. Nachdem er in seiner Vaterstadt den Unterricht eines Ma- 
thematikers Autolykus genossen hatte, begab er sich nach Athen, wo er erst 
Tbeophrast hörte, aber von Krantor für die Akademie gewonnen wurde 
(D. 29 ἢ Numen. b. Evs. XIV, 6, 2 f.). Mit ihm lebte er in der vertrautesten 
Verbindung (s. Bd. Il, 650, 3), und durch ihn wurde er wohl hauptsächlich in 
die akademische Lehre eingeführt; da aber Polemo der Vorsteher der Akademie 
war, wird er gewöhnlich sein Schüler genannt (s. vor. Anm. und Cıc. De orat. 
III, 18, 67. Fin. V, 31, 94. Srraso a. a. O.). Nach seinem Tode hörte er ver- 
muthlich auch Krates; dass er dagegen Pyrrho, Menedemus, Diodor gehört 
habe, sagt weder Dıoc. 33 noch selbst Numen. b. Eus. a.a. O. XIV, 5, 10 δ, und 
wenn es der letztere auch meinen sollte, würden wir darin nur ein Missver- 
ständniss der Angabe, dass er sie benützt habe, sehen dürfen. Mit ungewöhn- 
licher Denksebärfe, schneidendem Witz und grosser Redegabe ausgerüstet 
(D. 30. 34. 37. Cıc. Acad. II, 6, 18. Νυμεν. b. Eus. XIV, ὁ, 2 ἢ. Witzworte 
von ihm bei D. 43. Pıur. De sanit. 7, S. 126. qu. conv. VII, 5, 3, 7. I, 1. 10,4, 
Stob. Floril. ed. Mein. IV, 193, 28 aus Joh. Dam.), kenntnissreich, namentlich 


3estreitung des Dogmatismus. 449 


richteten sich zwar sowohl _gegen die Vernunfterkenntniss, als. 
gegen die sinnliche Wahrnehmung '); doch war es hauptsächlich 
die stoische Lehre von der begrifllichen Vorstellung, die er an- 
griff ?), und nach allem, was uns von ihm überliefert ist, scheint 
es, dass er mit dieser auch jede Möglichkeit einer Vernunft- 
erkenntniss umgestossen zu haben überzeugt war, dass er mithin 
den stoischen Sensualismus als die allein denkbare dogmatische 
Erkenntnisstheorie voraussetzte, ohne auf die platonische und 
aristotelische irgend Rücksicht zu nehmen. Es werden uns we- 
nigstens durchaus keine eigenthümlichen Gründe gegen die reine 
Vernunfterkenntniss von ihm überliefert, vielmehr wird nur ge- 


sagt, dass er die skeptischen Sätze des Plato und Sokrates, des | 


Anaxagoras, Empedokles, Demokrit, Heraklit und Parmenides 
wiederholt habe °), die sämmtlich nicht_der vernünftigen, sondern, 


auch der Mathematik kundig (s. o. und D. 32), und in den Dichtern seines 
Volkes bewandert (D. 30 ff., der auch seiner eigenen dichterischen Versuche 
erwähnt und einige Epigramme von ihm mittheilt), scheint er sich schon frühe 
hervorgethan zu haben; aus Prur. adv. Col. 26, S. 1121 erhellt, dass er noch 
zu Lebzeiten Epikur’s, also vor 270 v. Chr., mit seiner skeptischen Theorie 
aufgetreten war, und bedeutenden Erfolg erlangt hatte. Wenn jedoch Apollo- 
dor seine ἀχμὴ Ol. 120 (300—296 v. Chr.) setzte (Dıoe. 45), so ist diess offen- 
bar zu früh. Nach dem Tode des Krates (dessen Jahr aber nicht angegeben 
wird) kam die Leitung der Schule an Arcesilaus (D. 32), durch den sie zu 
bedeutender Blüthe gelangte (Srraso I, 2, 2. S. 15. D.37. Nunmen. b. Evs. 
XIV, 6, 14; vgl. vor. Anm.). Den öffentlichen Angelegenheiten hielt er sich 
ferne, und lebte in gelehrter Zurückgezogenheit (D.39), wegen seines reinen, 
gleichmüthigen, milden, menschenfreundlichen und liebenswürdigen Charak- 
ters auch von Gegnern geschätzt (D. 37 ff., wo manche einzelne Züge, 44. 
VI, 171. IX, 115. Cic. Fin. V, 31, 94. Pur. De adulat. 22, S. 63. coh. ira 
13, S. 461. Ariıan. V. H. XIV, 26; iber sein Verhältniss zu Kleanthes 
D. VII, 171. Pıuvr. De adulat. 11, S. 55). Schriften hatte er nicht hinter- 
lassen (Ὁ. 32. Pı.vur. Alex. virt. 4, 5. 328). 

1) Cıc. De orat. III, 18, 67: Arcesilas primum .. ex varüs Platonis libris 
sermonibusque Socraticis hoc maxime arripuit, nihil esse certi quod aut sensibus 
aut animo percipi possit: quem ferumt .. aspernatum esse omne animi sensus- 
que judiecium, primumque instituisse, .. . non quid, ipse sentiret ostendere, sed 
contra id, quod quisque se sentire diwisset, disputare. Eben diess ist jene 
calumniandi licentia, die ihm nach Aususrim. c. Acad. III, 17, 39 (der bier 
ohne Zweifel Cicero folgt) zum Vorwurf gemacht wurde, jenes contra omnia 
velle dicere quasi ostentationis causa. 

2) Vgl. auch Nunen. b. Ecs. pr. ev. XIV, 6, 12, nnd oben 8. 73, 1. 

3) Prur. adv. Col. 26, 2. Cic. Acad. I, 12,44. Was Rırrer III, 678 in 

Philos. d. Gr. III. Bd. 1. Abth. 29 


450 Arcesilaus. 


der sinnlichen Erkenntnis gelten. Er selbst wollte freilich mit 
dieser auch jene aufheben 1). und die Meinung, als ob er den 
Zweifel nur als Vorbereitung oder Versteck für den ächten Pla- 
tonismus gebraucht hätte ?), widerstreitet allen glaubwürdigen 
Angaben über seine Lehre; nur um so deutlicher sieht man aber, 
dass ihm die Annahme einer von der Erfahrung unabhängigen 
Vernunfterkenntniss gar keiner Widerlegung mehr zu bedürfen 
schien. Den stoischen Sätzen über die begriflliche Vorstellung 
hielt nun Arcesilaus zunächst schon im Allgemeinen die Behaup- 
tung entgegen, dass sich ein Mittleres zwischen der blossen Mei- 
nung und der Wissenschaft, eine dem Unweisen mit dem Weisen 
gemeinsame Art der Ueberzeugung, wie die stoische χατάληφψις, 
nicht denken lasse, denn die Ueberzeugung des Weisen sei 
immer ein Wissen, die_des Thoren sei immer ein Meinen ὅ). In- 
dem er sodann auf den Begriff der φαντασία χαταληπτικὴ näher 
eingieng, suchte er zu zeigen, dass dieser Begriff_einen inneren 
Widerspruch enthalte, denn das Begreifen (κατάληψις) sei eine 
Beistimmung (συγχατάθεσις). die Beistimmung beziehe sich aber 
nicht auf Wahrnehmungen, sondern auf Gedanken und allgemeine 
Sätze %). Wenn endlich die Stoiker als das unterscheidende Merk- 
mal der wahren oder begrifllichen Vorstellung die Ueberzeugungs- 
kraft betrachteten, die ihr allein, im Unterschied von jeder an- 
deren, beiwohne, so bemerkte der Skeptiker hiegegen: solche 
Vorstellungen gebe es nicht, keine wahre Vorstellung sei von der 
Art, dass nicht auch eine falsche ebenso beschaffen sein könnte °). 


der letztern Stelle findet, dass Arc. zur Bestreitung der philosophischen Lehren 
den Widerstreit derselben unter einander angeführt habe, steht so wenig darin, 
dass er sich vielmehr nach derselben cher auf ihre Uebereinstimmung hin- 
sichtlich des Zweifels berufen hätte. 

1) Ciıc. De orat. III, 18 5. 5. 449, 1. 

2) Bei Sexr. Pyrrh.'I, 234 f. Dioxı.es aus Knidos bei Numen. in Eus. pr. 
ev. XIV, 6,5. Aucusris. c. Acad. III, 17, 38. Für einen treuen Anhänger der 
alten Akademie hält den Arcesilaus auch Grrr&ss a. a. Ὁ, 16 fl., dessen Be- 
weisführung indessen leicht zu entkräften ist. 

3) Sexr. Math. VII, 153. 

4) Α. ἃ. Ὁ. 154. 

5) Cıc. Acad. II, 24, 77. Zeno hatte behauptet: die begriffliche Vorstel- 
lung sei ein solcher Eindruck eines Wirklichen, wie man ihn von einem Un- 
wirklichen nicht erhalten könne; Arc. bemühte sich zu zeigen, nullum tale 


Bestreitung des Dogmatismus. 451 


Ist aber keine Sicherheit der Wahrnehmung möglich, so ist, wie 
unser Philosoph glaubt, auch kein Wissen möglich 1), und da nun 
der Weise — hierin ist Arcesilaus mit den Stoikern einverstanden 
— immer nur dem Wissen beipflichten soll, nicht der blossen 
Meinung, so bleibt ihm nichts übrig, als sich aller und jeder 
Zustimmung zu enthalten, und auf jede feste Ueberzeugung zu 
verzichten ?). Es ist also überhaupt unmöglich, etwas zu wissen, 
und auch nicht einmal dieses selbst, dass wir nichts wissen kön- 
nen, können wir gewiss wissen ?). Wenn daher Arcesilaus in 
seinen Vorträgen keine bestimmte Ansicht aufstellte, sondern 
immer nur fremde disputirend widerlegte *), so war diess seiner 
Theorie ganz gemäss, und auch die tadelnden Aeusserungen über 
die-Dialektik, welche von ihm berichtet werden °), stehen damit, 


ME BERN 
visum esse a vero, ut non ejusdem modi etiam a falso posset esse. Ebenso Sext. 
a. a. O., mit dem Beisatz, dass diess Are. in den verschiedensten Wendungen 
dargethan habe. Zu diesen mögen wohl auch Ausführungen über die Sinnes- 
. täuschungen und die Widersprüche in den Aussagen unserer Sinne gehört 
haben, wie wir sie bei Sexr. VII, 408 ff. und sonst den Akademikern zuge- 
schrieben finden. Vgl. Cıc. N. D. I, 25, 70: urguebat Arcesilas Zenonem, cum 
ipse falsa omnia diceret, quae sensibus viderentur, Zenon autem nonnulla visa 
esse falsa, non omnia. Auf diese Einwürfe gegen Zeno bezieht sich wohl 
auch Pur. De an. (Fr. VII), 1: ὅτι οὐ τὸ ἐπιστητὸν αἴτιον τῆς ἐπιστήμης ὡς "Ap- 
εσίλαος" οὕτω γὰρ χαὶ ἀνεπιστημοσύνη τῆς ἐπιστήμης αἰτία φανεῖται. Was nämlich 
Arcesilaus hier beigelegt wird, ist nur die Behauptung, dass das ἐπιστητὸν 
Ursache der ἐπιστήμη sei, und diess ist es, wenn es eine φαντασία χαταληπτιχὴ 
hervorbringt. Der Zusammenhang, in dem dieser Satz bei Arc. stand, war 
daher wohl etwa dieser: wenn es ein Wissen gäbe, müsste es Dinge geben, 
welche ein Wissen hervorbringen. Solche Dinge giebt es aber nicht, da es 
keinen Gegenstand giebt, über den nicht ebensogut eine falsche, als eine 
wahre Meinung möglich wäre. 

1) Sext. 155: μὴ οὔσης δὲ χαταληπτιχῆς φαντασίας οὐδὲ χατάληψις γενήσεται" 
ἦν γὰρ καταληπτιχῇ φαντασία συγχατάθεσις. μὴ οὔσης δὲ χαταλήψεως πάντα ἔσται 
ἀχατάληπτα. 

2) Sext. ἃ. ἃ. O. Ciıc. Acad. ἃ. ἃ. Ο. und I, 12, 45. II, 20, 66 f. Pıur. 
adv. Col. 24, 2. Ers. pr. ev. XIV, 4, 16. 6,4. Dasselbe wird von Sexr. Pyrrh. 
I, 233 so ausgedrückt: nach Arc. sei die ἐποχὴ im Allgemeinen und in jedem 
besonderen Fall das Gute, die συγχατάθεσις das Ueble. 

3) Cıc. Acad. I, 12, 45. 

4) Cıc. Fin. II, 1,2. V,4, 11. De orat. III, 18, 67. Diıoc. IV, 28. Vgl. 
Pror. c. not. 37, 7. 

5) Sror. Floril. 82, 4: ᾿Αρχεσίλαος ὃ φιλόσοφος ἔφη τοὺς διαλεχτιχκοὺς ἐοικέναι 
τος ψηφοπαίχταις (Taschenspieler), οἵτινες χαριέντως παραλογίζονται. Ebd; 10 

29 " 


452 Arcesilans. 


falls sie ächt sind "), schwerlich im Widerspruch: er konnte 
immerhin die Beweise der Stoiker und die Sophismen der Eristi- 
ker für werthlos halten, wenn er auch von der Unmöglichkeit, 
auf anderem Wege ein wirkliches Wissen zu gewinnen, überzeugt 
war, ja er konnte gerade aus ihrer Unfruchtbarkeit den Schluss 
ziehen, dass das Denken so wenig, wie die Sinne, zur Wahrheit 
führe. ‚Zwischen seinem Endergebniss und dem eines Pyrrho ist 
kein wesentlicher Unterschied ?). 

Behaupteten nun aber die Gegner, mit dem Wissen würde 
auch jede Möglichkeit des Handelns abgeschnitten ?), so gab diess 
Arcesilaus keineswegs zu. Damit nämlich eine Willensbewegung 
und ein Handeln zu Stande komme, sagte er, sei durchaus keine 
feste Ueberzeugung nothwendig, sondern die Vorstellung setze 
den Willen unmittelbar in Bewegung, auch wenn wir die Frage 
über ihre Wahrheit ganz unentschieden lassen *). Wir brauchen kein 


(unter der Ueberschrift: ᾿Αρχεσιλάου Ex τῶν Σερήνου ἀπομνημονευμάτων): δια- 
λεχτιχὴν δὲ φεῦγε, συγχυχᾷ τἄνω χάτω. 

I) Die Quelle derselben (welche ja doch wohl auch für den ersten die 
Anekdotensammlnng des Serenus sein wird) ist eine sehr unsichere, um so 
mehr, da Arcesilaus nichts Schriftliches hinterlassen hatte, und man könnte 
geradezu vermuthen, sie gehören, statt Arc., dem Chier Aristo (vgl. ὃ. 49 £.). 
Indessen, so gut ein Chrysippus (nach $. 54, 4) die skeptische Dialektik miss- 
billigte, kann auch Arcesilaus die stoiseche und die megarische missbilligt 
baben. Macht doch auch Cicero Acad.-II, 28, 91, gerade im Interesse der 
akademischen Skepsis, und wahrscheinlich nach Karneades (s. u. 459, 4), der 
Dialektik den Vorwurf, dass sie kein Wissen verschaffe. 

2) Wie diess nicht blos Nrxesıus b. Eus. pr. ev. XIV, 6, 4 f., sondern 
auch Sexr. Pyrrh. I, 232 ausdrücklich anerkennt. Auch was die späteren 
Skeptiker sonst als ihren Unterschied von den Akademikern anzugeben 
pflegen, dass sie den Grundsatz des Zweifels selbst wieder skeptisch, als 
etwas ihnen so Scheinendes, aussprechen, jene dogmatisch, trifft bei Arc. 
nicht zu (8. S. 451, 3), und Sextus selbst wagt es ἃ. ἃ, Ὁ. nur schüchtern 
(πλὴν εἰ μὴ λέγοι τις ὅτι πι. 5, w.) zu behaupten. Wegen dieser Verwandtschaft 
mit Pyrrho nannte der Stoiker Aristo den Arc. (nach Il. VI, 181): πρόσθε Πλά- 
των, ὄπιθεν Πύῤῥων, μέσσος Διόδωρος (Sex. a. a. 0. Numen. b. Eus. pr. ev. 
XIV, 5, 11. .Dioe..IV, 33). 

3) Dass eben dieses der Hauptgrund der Stoiker und Epikureer gegen 
die Skeptiker war, ist früher gezeigt worden. 

4) Pı.ur. adv. Col. 26, 3 f., wo Arcesilaus gegen die Vorwürfe des Kolotes 
in Schutz genommen wird: die Gegner der Skeptiker können nicht beweisen, 
‚dass die ἐποχὴ zur Unthätigkeit führe, denn πάντα πειρῶσι καὶ στρέφουσιν αὐτοῖς 


Die Wahrscheinlichkeit. 45: 


Wissen zu besitzen, um vernünftig zu handeln, sondern es ge- 
nügt hiefür die Wahrscheinlichkeit, der auch ein solcher folgen 
kann, welcher sich der Unsicherheit alles Wissens bewusst ist. 
Die Wahrscheinlichkeit ist daher die höchste Norm für das prak- 
tische Leben 1). Wie Arcesilaus selbst diesen Grundsatz auf das 
ethische Gebiet anwandte, darüber sind wir nur dürftig unter- 
richtet, doch sind uns einige Aussprüche von ihm überliefert ?), 
welche sämmtlich jenen schönen maashaltenden Geist der akade- 
mischen Sittenlehre verrathen, der sich auch im Leben des Philo- 
sophen nicht verläugnete °). 


οὐχ ὑπήχουσεν ἣ ὁρμὴ γενέσθαι συγχατάθεσις οὐδὲ τῆς ῥοπῆς ἀρχὴν ἐδέξατο τὴν 
αἴσθησιν, ἀλλ᾽ ἐξ ἑαυτῆς ἀγωγὸς ἐπὶ τὰς πράξεις ἐφάνη μὴ δεομένη τοῦ προςτίθεσθαι. 
Die Vorstellung entstehe und wirke auf den Willen, auch ohne συγχατάθεσις. 
Da schon Chrysippus diese Behauptung bestritt (Pıur. Sto. rep. 47, 12, s. ὁ. 
73, 3), lässt sich nicht bezweifeln, dass sie schon von Arcesilaus aufgestellt 
wurde. 

1) Sexr. Math. VII, 158: ἀλλ᾽ ἐπεὶ μετὰ τοῦτα ἔδει χαὶ περὶ τῆς τοῦ βίου 
ιεξαγωγῆς ζητεῖν ἥ τις οὐ χωρὶς χριτηρίου πέφυχεν ἀποδίδοσθαι; ἀφ᾽ οὗ χαὶ ἣ εὐ- 
arovia, τουτέστι τὸ τοῦ βίου τέλος, ἠρτημένην ἔχει τὴν πίστιν, φησὶν ὅ ᾿Αρχεσίλαος, 


200 


ὅτι 6 περὶ πάντων ἐπέχων χανονιεὶ τὰς αἱρέσεις χαὶ φυγὰς χαὶ κοινῶς τὰς πράξεις τῷ 

εὐλόγῳ,, κατὰ τοῦτό τε προερχόμενος τὸ χριτήριον χατορθώσει" τὴν μὲν γὰρ εὐδαιμο- 
νίαν περιγίνεσθαι διὰ τῆς φρονήσεως, τὴν δὲ φρόνησιν κινεῖσθα: ἐν τοῖς χατορθώμασι, 
τὸ δὲ χατόρθωμα εἶναι (nach stoischer Definition) ὅπερ πραχθὲν εὔλογον ἔχει τὴν 
ἀπολογίαν. ὃ προσέχων οὖν τῷ εὐλόγῳ χατορθώσε: χαὶ εὐδαιμονήσει. Dass Arc. die 
Wabrscheinlichkeit aufgehoben habe (Nrurx. b. Eus. pr. ev. XIV, 6, 4), ist 
ein Missverständniss. 

2) B. Prur. trang. an. 9 g. E. S. 470 räth er, sich lieber mit sich selbst 
und dem eigenen Leben als mit Kunstwerken und sonstigen Aussendiugen zu 
beschäftigen; b. Sro». Floril. 95, 17 sagt er, die Armuth sei zwar beschwer- 
lich, aber zugleich eine Erziehung zur Tugend; ebd. 43, 91, wo am meisten 
Gesetze seien, sei auch am meisten Gesetzesübertretung; ein Wort über das 
_Thörichte der Todesfurcht überliefert Pıur. Cons. ad Apoll. 15, S. 110; eine 
scharfe Aeusserung gegen Ehebrecher und Ausschweifende Ders. De sanit. 7, 
S. 126. qu. conv. VII, 5,3,7. — Ganz vereinzelt steht die Angabe Terrunrıan's 
ad nation. II, 2: Arcesilaus nehme drei Arten von Göttern an (d. h. er theilte 
die Volksgötter in drei Klassen): die olympischen, die Gestirne, die titanischen. 
Diess weist auf Erörterungen über den Götterglauben, welchen er in diesem 
Fall auch in skeptischem Sinn besprochen haben müsste. Dass er seine Kritik 
des Dogmatismus neben der stoischen Erkenntnisstheorie auch auf die Physik 
ausdehnte, sieht man aus der Bemerkung über die stoische Lehre von der 
κρᾷσις δι᾽ ὅλου (8. ο. 115, 2 Schl.), welche Pıvr. c. not. 37, 7 anführt. 

3) Vgl.8. 448,3 g.E. 


454 Sehule des Arcesilaus. 


Vergleicht man mit dieser Theorie des Arcesilaus diejenige, 
welche ein Jahrhundert später von Karneades vorgetragen 
wurde, so findet man die gleichen Grundzüge wieder, aber Alles 
ist viel vollständiger ausgearbeitet und umfassender begründet. 
Von den nächsten Nachfolgern des Arcesilaus 7) wissen wir nur, 
dass sie an seiner Lehre festhielten; wie wenig sie dagegen zu 
ihrer weiteren Entwicklung gethan haben, lässt sich aus dem auf- 
fallenden Stillschweigen der Alten über ihre Leistungen, und aus 
dem Umstand abnehmen, dass immer nur Karneades ?) als der 


1) Gerrers De Arcesilae successoribus (mit Einschluss des Karneades). 
Gött. 1845. — Dem Arcesilaus folgte Lacydes aus Cyrene, welcher nach 
26jähriger Schulführung Ol. 134, 4 (24°, v. Chr.) starb, nachdem er die 
Schule noch bei Lebzeiten (aber doch wohl kurz vor seinem Tode) den 
Phocäern Telekles und Euandros übergeben hatte (D. IV, 59—61). Was 
jedoch Dıoe. ἃ. ἃ. Ὁ. Nunen. b. Evs. pr. ev. XIV, 7. Prur. De adulat. 22, S.63. 
Azuıan. V.H.II,4l. Arnen. X, 438, a. XIII, 606,c. Prix. h. nat. X, 22, 51 
über ihn mittheilen, bezieht sich meist auf die eine oder die andere auffallende 
Eigenheit, die er gehabt zu haben scheint, ist übrigens mit Vorsicht aufzu- 
nehmen; so namentlich der Klatsch, den Diog. 59 kürzer berichtet, Numenius 
mit unausstehlicher Geschwätzigkeit ausmalt. Diog. nennt ihn ἀνὴρ σεμνότατος 
nor οὐκ ὀλίγους ἐσχηχὼς ζηλωτάς- φιλόπονός τε Ex νέου χαὶ πένης μὲν, εὔχαρις δ᾽ 
ἄλλως χαὶ εὐόμιλος. Zu seinen Bewunderern gehörte der pergamenische Atta- 
lus I; einen Besuch an seinem Hof jedoch lehnte er mit einer geschickten 
Wendung ab (D. 60, den Gerrers Κ, 5 auffallend missversteht). In seiner 
Lehre entfernte er sich schwerlich von Arcesilaus; die Angabe, er habe die 
neue Akademie eröffnet (D. 59), rührt vielleicht nur daher, dass er ihre 
Grundsätze zuerst schriftlich darstellte (Suın. Aax.: ἔγραψε φιλόσοφα χαὶ περὶ 
φύσεως --- letzteres bei dem Skeptiker etwas befremdend). Nach Dioe. VII, 183 
(s. 0.37,3) scheint er noch bei Lebzeiten des Arcesilaus in der Akademie gelehrt 
zu haben. Neben ihm werden Panaretus (Aruen. XII,552,d. Aer. V.H.X,6), 
Demophanes und Ekdemus oder Ekdelus (Pur. Philop. 1. Arat. 5. 7) als 
Schüler des Arc. genannt. Lacydes’ ausgezeichnetster Schüler soll nach Evs. 
XIV,7,12 Aristippus aus Cyrene (dessen auch Dioe.II,83 erwähnt) gewesen 
sein; einen zweiten, Paulus, von dem Aehnliches erzählt wird, wie von dem 
Eleaten Zeno (s. Bd. I, 420 u.), nennt Timotheus b. Kırmess Strom. 496, D; 
seine Nachfolger waren, wie bemerkt, Telekles und Euandros, welche 
der Schule, wie es scheint, gemeinsam vorstanden, von denen aber nach Cıc. 
Acad. II, 6, 16. Dioc. 60. Evus. a. a. O. Euander seinen Genossen überlebt zu 
haben scheint, da er dort allein genannt wird; ihm folgte Hegesinus (D. 60. 
Cıc. a. a. O.), oder wie er bei Kremexs Strom. I, 301, C heisst, Hegesilaus, 
der Lehrer und Vorgänger des Karneades. Indessen ist uns über diese Männer 
ausser ihren Namen nichts überliefert. 

2) Karneades, der Sohn des Epikomus oder Philokomus, war in Cyrene 


Karneades. 4153 


Foribildner der akademischen Skepsis genannt wird. Um so 
grösser erscheint die Bedeutung dieses Mannes, welcher desshalb 
‚auch wohl der Stifter der dritten oder neuen Akademie heisst 1); 
und schon die Bewunderung, welche die Mitwelt und die Nach- 
welt seinem Talent zollte ?), und der blühende Zustand, in dem 


geboren (Dıoe. IV, 62. Srraso XVII, 3, 22. S. 838. Cıc. Tusc. IV, 3, 5. u. A.); 
nach Arorronor (Ὁ. Dıoc. 65) starb er Ol. 162, 4 (129,5. v. Chr.) 85 Jahre alt 
(ebenso hoch giebt Lucıan Macrob. 20 sein Alter an, unwahrscheinlicher Cıc. 
Acad. II, 6, 16. Varer. Max. VIII, 7, 5 ext. auf 90 Jahre), so dass demnach 
seine Geburt 21?/, v. Chr. fallen würde. Spätere Verehrer fanden etwas Be- 
deutsames darin, dass er, wie Plato, an einem apollinischen Feste, den Kar- 
neen, zur Welt gekommen sei (Prur. qu. conv. VII, 1, 2,1). Ueber sein 
Leben ist uns nur wenig überliefert. Er war Schüler und Nachfolger des He- 
gesinus (vor. Anm.), hatte aber daneben auch den Unterricht des Stoikers 
Diogenes in der Dialektik benützt (Cıc. Acad. II, 30, 98) und mit eisernem 
Fleisse (D. 62 f.) die philosophische Literatur und namentlich die Schriften 
des Chrysippus studirt, dem er am meisten zu verdanken bekanntz (D. 62. 
Pur. Sto. rep. 10, 44. Eus. pr. ev. XIV, 7, 18). Im J. 15°/6 v. Chr., wo er 
demnach ohne Zweifel schon Schulvorstand war, nahm er an der bekannten 
Philosophengesandtschaft theil, und brachte durch die Gewalt seiner Rede, 
und namentlich durch die Schärfe und Kühnheit, mit der er die geltenden 
“ sittlichen Grundsätze in Frage stellte, bei seinen römischen Zuhörern den 
tiefsten Eindruck hervor (s. Bd. II, b, 753, 1. 2). Kurz vor seinem Tode, wie 
es scheint, (möglicherweise aber auch früher und nur vorübergehend) soll er 
erblindet sein (D. 66). Schriften hatte er (abgesehen von einigen Briefen, 
deren Aechtheit zweifelhaft gewesen zu sein scheint) nicht hinterlassen: die 
Aufzeichnung seiner Lehre war das Werk seiner Schüler, namentlich des 
Klitomachus (D. 66. 67. Cıc. Acad. 11, 31, 98. 32, 102). Seinen Charakter 
betreffend, können wir aus einigen Aeusserungen vermuthen, dass es ihm 
neben der Schärfe und Heftigkeit, welche er besonders im Disputiren bewies 
(Ὁ. 63. Ger. N.A. VI, 14, 10), auch an der seinen Grundsätzen entsprechen- 
den Gemüthtsruhe nicht fehlte (vgl. D. 66); auch was Dioc. 64 anführt (9 
συστήσασα φύσις χαὶ διαλύσει) scheint mir nicht Todesfurcht, sondern einfache 
Ergebung in den Naturlauf zu verrathen, noch weniger wird man in deu 
Aeusserungen über Antipater’s Selbstmord (ebd. und etwas anders bei ὅτου. 
Floril. 119, 19) einen zaghaft unternommenen und wieder aufgegebenen Nach- 
ahmungsversuch, und nicht vielmehr einen, allerdings nicht sehr geistreichen, 
Spott über eine Handlung zu schen haben, welche einem Karneades nur wider- 
sinnig erscheinen konnte. Dass er trotz seiner Rede gegen die Gerechtigkeit 
(s. u.) ein rechtschaffener Mann war, werden wir Quıstirıan (XI, 1, 35) gerne 
glauben. 
1) Sexr. Pyrrh. I, 220. Eus. pr. ev. XIV, 7, 12. Lucıan. Macrob. 20. 
2) Seine Schule hegte gegen ihn eine solche Bewunderung, dass sie ihn 


456 Karneades. 


er seine Schule hinterliess 1), können uns davon überzeugen. 
Ein Schüler und Geistesverwandter des Chrysippus 2). hat 
Karneades nicht blos die negative Seite der skeptischen An- 
sicht nach allen Beziehungen mit einem Scharfsinn ausgeführt, 
der ihm die erste Stelle unter den alten Skeptikern sichert, 
sondern auch das Positive, was die Skepsis übrig liess, die Lehre 
von der Wahrscheinlichkeit, zuerst genauer untersucht, und die 
Grade und Bedingungen der Wahrscheinlichkeit festgestellt, und 
er hat durch beides diese ganze Denkweise zu ihrer wissenschaft- 
lichen Vollendung gebracht. 

Was nun zuerst den negativen Theil dieser Untersuchungen, 
die Widerlegung des Dogmatismus, betrifft, so richten sich die 
Angriffe unseres Philosophen theils gegen die formale Möglichkeit 
des Wissens überhaupt, theils gegen die materiellen Hauptresultate 
der damaligen Wissenschaft, und in beiden Beziehungen hat er es, 
ebenso wie seine Vorgänger und seine Nachfolger, vorzugsweise 
mit den Stoikern zu thun, so wenig er sich auf sie beschränkt 
hat ?). — Um die Unmöglichkeit des Wissens zunächst im Allge- 


nicht blos wegen seines Geburtstags (wenn dieser nicht am Ende aus seinem 
Namen herausgesponnen ist) als Günstling Apollo’s mit Plato zusammenstellte 
(s. vorl. Anm.), sondern dass auch die Sage gieng, bei seinem Tod sei eine 
Mondsfinsterniss (welcher Sum. Καρν. noch eine Verdunklung der Sonne bei- 
fügt) eingetreten, συμπάθειαν, ὡς ἂν εἴποι τις, αἰνιττομένου τοῦ μεθ᾽ ἥλιον χαλ- 
λίστου τῶν ἄστρων (D. 64). Aber auch Srraso XVII, 3, 22. S. 838 sagt von 
ihm: οὗτος δὲ τῶν ἐξ ᾿Αχαδηυίᾶς ἄοιστος φιλοσόφων ὁμολογεῖται, und über die 
Schärfe seiner Dialektik, die Gewalt und Anmuth seiner Rede, welche auch 
durch ein ungewöhnlich starkes Organ unterstützt wurde (m. s. die artige 
Anekdote bei Prur. garrulit. 21, S. 513. Dioc. 63), ist unter den Alten nur 
Eine Stimme. Vgl. Dioc. 62 ἢ, Cıc. Fin. III, 12, 41. De orat. U, 38, 161. III, 
18, 68. Gert. N: A. VI, 14, 10. Numen. b. Eus. pr. ev. XIV, 8, 2.5 ff. Lacranr. 
Inst. V, 14. Prur. Cato maj. 22. Der letztere sagt über den Erfolg, den er in 
Rom hatte: μάλιστα δ᾽ ἣ Καρνεάδου χάρις, ἧς δύναμίς te πλείστη καὶ δόξα τῆς 
δυνάμεως οὐχ ἀποδέουσα, ... ὡς πνεῦμα τὴν πόλιν ἠχῆς ἐνέπλησε. καὶ λόγος κατεῖχεν, 
ὡς ἀνὴρ Ἕλλην εἰς ἔχπληξιν ὑπερφυὴς, πάντα χηλῶν καὶ χειρούμενος, ἔρωτα δεινὸν 
ἐμβέβληχε τοῖς νέοις, ὑφ᾽ οὗ τῶν ἄλλων ἡδονῶν καὶ διατριβῶν ἐχπεσόντες ἐνθουσιῶσι 
περὶ φιλοσοφίαν. 

1) Cıc. Acad. II, 6, 16. s 

2) 5. S. 455, m. 

3) Sexr. Math. VII, 159: ταῦτα χαὶ ὃ ᾿λρχεσίλαος. ὃ δὲ Καρνεάδης οὐ μόνον 
τοῖς Στωϊκοῖς ἀλλὰ χαὶ πᾶσι τοῖς πρὸ αὐτοῦ ἀντιδιετάσσετο περὶ τοῦ χριτηρίου. Math. 
IX, 1 macht es Sextus der Schule des Karneades sogar zum Vorwurf, dass sie 


Unmöglichkeit des Wissens. 457 


meinen darzuthun, verweist uns Karneades einmal schon auf die 
Thatsache, dass es keine Art der Ueberzeugung gebe, die uns 
nicht bisweilen täuschte, mithin auch keine, der eine Bürgschaft 
für ihre Wahrheit beiwohnte 1). Indem er sodann auf das Wesen 
der Vorstellung näher eingeht, führt er aus: unsere Vorstellungen 
bestehen nur in der Veränderung, welche der äussere Eindruck 
in der Seele hervorbringe, sie müssten daher, um uns ein wahres 
Wissen zu gewähren, nicht blos sich selbst, sondern auch den 
Gegenstand, der sie verursacht, offenbaren. Diess sei aber keines- 
wegs immer der Fall, da viele Vorstellungen anerkanntermaassen 
Falsches von den Dingen aussagen. Das Kennzeichen der Wahr- 
heit könnte mithin nicht in der Vorstellung, als solcher, sondern 
nur in der wahren Vorstellung liegen 529. Aber die wahre Vor- 
stellung mit Sicherheit von der falschen zu unterscheiden, sei 
unmöglich. Denn auch abgesehen von den Träumen, den Visio- 
nen, den Vorstellungen der Verrückten, überhaupt von allen den 
leeren Einbildungen, die sich uns mit dem Schein der Wahrheit 
aufdrängen °), sei es doch unläugbar, dass viele falsche Vorstel- 
lungen den wahren ununterscheidbar ähnlich seien, und der 
Uebergang vom Wahren zum Falschen mache sich überhaupt so 
allmählig, der Zwischenraum zwischen beiden sei durch so un- 
endlich viele Mittelglieder, durch so unmerkliche Unterschiede 
ausgefüllt, dass sie sich völlig in einander verlieren, und die 
Grenzscheide beider Gebiete schlechthin nicht zu erkennen sei 3). 


durch ausführliches Eingehen auf die Voraussetzungen der einzelnen Systeme 
ihre Untersuchungen zu sehr in die Länge gezogen habe. Dass aber die 
Stoiker der Hauptgegenstand dieser Angriffe sind (Cıc. Tuse, V, 29, 82. N. Ὁ. 
II, 65, 162. Pıur. garrul. 23, 8.514. Aucvstı. ὁ. Acad. III, 17, 39), wird 
uns alles beweisen, was wir von Karn. zu berichten haben. 

1) Sexr. a. a. O.: χαὶ δὴ πρῶτος μὲν αὐτῷ χαὶ χοινὸς πρὸς πάντας ἐστὶ λόγος 
χαθ᾽ ὃν παρίσταται ὅτι οὐδέν ἐστιν ἁπλῶς ἀληθείας χριτήριον, οὐ Ayo 05 0 Du Pr 
οὐ φαντασία οὐχ ἄλλο τι τῶν ὄντων' πάντα γὰρ ταῦτα συλλήβδην διαψεύ 

2) Sexr. ἃ. ἃ. Ο. 160— 163. 

3) Μ. 5. über diese Sexr,. VII, 403 ff. Cıc. Acad. II, 15, 47 f. 28, 89, wo 
Karneades zwar nicht genannt, aber doch ohne Zweifel gemeint ist, denn 
theils stimmen die weiteren skeptischen Gründe bei Cicero mit denen, welche 
Sextus dem Karneades beilegt, zusammen, theils sind die hier angeführten 
schon von Antiochus, welcher es zunächst mit Karneades zu thun hatte, wider- 
legt worden. 


4) Nach Cıc. Acad. II, 13, 40 f 26, 83 beruht die akademische Beweis- 


458 Karneades. 


Dieser Satz wurde von Karneades nicht blos an den sinnlichen 
Wahrnehmungen, sondern auch an den von der Erfahrung ent- 
nommenen allgemeinen Vorstellungen und den Verstandesbegriffen 
ausführlich nachgewiesen !). Er zeigte, dass wir Gegenstände, 
die sich so ähnlich sind, wie ein Ei dem andern, nicht unterschei- 
den können, dass auf eine gewisse Entfernung die bemalte Fläche 
als erhabener Körper, der viereckige Thurm als rund erscheine, 
dass sich das Ruder im Wasser gebrochen, der schillernde Hals 
der Taube in der Sonne verschiedenfarbig darstelle, dass wir 
-irn Vorüberfahren glauben, die Gegenstände am Ufer bewegen 
sich u. 5. w.?), und dass in allen diesen Beziehungen den falschen 
Vorstellungen ganz dieselbe Ueberzeugungskraft und dieselbe 
Stärke des Eindrucks zukomme, wie den wahren °); dass es sich 
aber auch mit den Denkbestimmungen nicht anders verhalte, dass 
manche dialektische Schwierigkeiten durchaus unlösbar seien *), 


führung auf den vier Sätzen: dass es falsche Vorstellungen gebe, dass diese 
nicht gewusst, d. h. als wahr erkannt werden können, dass von zwei Vor- : 
stellungen, die sich nicht unterscheiden, nicht die eine gewusst werden könne, 
die andere nicht, dass es endlich keine wahre Vorstellung gebe, der sich nicht 
eine falsche zur Seite stellen lasse, die ihr ununterscheidbar ähnlich sei. Da 
jedoch von diesen Sätzen der zweite und dritte von keiner Seite, der erste pur 
von Epikur, in Betreff der sinnlichen Wahrnehmungen, bestritten wurde, so 
ruht alles Gewicht auf dem vierten, in dem auch Sexrus VII, 164. 402 und 
Nuumen. b. Eus. pr. ev. XIV, 8,4 den Nerv der Beweisführung des Karn. suchen. 

1) Cıc. Acad. II, 13, 42: dividunt enim in partes et eas quidem magnas: 
primum in sensus, deinde in ea, quae ducuntur a sensibus et ab omni consuetu- 
dine, quam obscurari volunt, (die συνήθεια, gegen welche schon Chrysippus 
so scharfe Angriffe gerichtet hatte; 5. o. 37, 4. 76, 8) tum perveniunt ad eam 
partem, ut ne ratione quidem et conjectura ulla res percipi possit. haec autem 
universa concidunt etiam minutius. 

2) Sexr. VII, 409 ff. Cıc. Acad.'II, 26, 84 ff. 7, 19. 25, 79...Nunen. b. 
Evs. pr. ev. XIV, 8,5. Damit hängt vielleicht auch zusammen, was GarLEN 
De opt. doctr. c. 2 Bd. I, 45 K. anführt, Karn. habe den Satz, dass zwei 
Grössen, die einer dritten gleich sind, einander gleich sind, eingehend bestritten. 
Seine Behauptung ist wohl eigentlich die, dass wir möglicherweise den Unter- 
schied zweier Grössen von einander bemerken können, deren Unterschied von 
einer dritten, mittleren, wir nicht bemerken, dass also zwei Grössen einer dritten 
gleich erscheinen können, ohne einander gleich zu sein, oder zu erscheinen. 

3) Sexr. 402. 408. 

4) Als Beispiel einer solchen wird bei Cıc. Acad. II, 30, 95 ff. (nach Kar- 
neades, wie er s. 98 selbst sagt) der sog. ψευδόμενος ausführlich erörtert. 


Unmöglichkeit des Wissens. 459 


dass sich zwischen viel und wenig, überhaupt zwischen allen 
quantitativen Gegensätzen, keine feste Grenze ziehen lasse (der 
sog. Sorites), und dass es, die unerlaubteste Auskunft sei, wenn 
sich Chrysippus den gefährlichen Folgerungen, die sich hieraus 
ergeben konnten, durch die Vorschrift entziehen wollte, an den 
bedenklichsten Stellen die Entscheidung zurückzuhalten 1). Aus 
diesen Thatsachen schloss nun Karneades zunächst in Betreff der 
sinnlichen Wahrnehmung, dass es keine φαντασία χαταληπτικὴ 
im stoischen Sinn gebe, d. h. dass keine Wahrnehmung an sich 
selbst Merkmale enthalte, an denen sie sich mit Sicherheit als 
wahr erkennen liesse 2); ebendamit ist aber seiner Meinung nach 
schon an und für sich die Möglichkeit ausgeschlossen, dass ein 
Merkmal zur Unterscheidung des Wahren und Falschen im Ver- 
stand liege, denn der Verstand — diese Voraussetzung theilt er 
mit seinen Gegnern — muss seinen Stoff aus der Wahrnehmung 
schöpfen ὅ). die Dialektik ‚prüft nur die formale Richtigkeit der 
Gedankenverbindungen, aber sie liefert uns keinen eigenthümlichen 
Inhalt %); so dass wir also der unmittelbaren Beweise über die 
Unsicherheit der Denkbestimmungen nicht einmal bedürften. Das 
gleiche Ergebniss lässt sich übrigens auch von der subjektiven 
Seite her gewinnen, wenn wir fragen, wie der Einzelne zu sei- 
nem Wissen gelange. Denn ein Wissender könnte er erst sein, 
nachdem er sich seine Ansicht gebildet hat, während er sich mithin 
für eine bestimmte Ansicht entscheidet, ist er noch unwissend, 
welches Vertrauen kann aber das Urtheil eines Unwissenden an- 
sprechen? °) 


1) Sexr. 416 ff. Cıc. a. a. O. 29, 92. Da schon Chrysippus dem Sorites 
zu begegnen suchte, war dieser, von dem eleatischen Zeno (vgl. Bd. I, 428 f.) 
begründete, Fangschluss wahrscheinlich auch von Arcesilaus gegen die Stoiker 
gebraucht wurde. 

2) Sext. VII, 164. Aucustın. Acad. II, 5, 11. 

3) Sexr. 165. 

4) Cıc. Acad. II, 28, 91, welcher hier zunächst zwar Philo, weiterhin 
aber mit ihm Karneades zu folgen scheint. Der letztere äussert sich auch bei 
Sro». Floril. 93, 13 (vgl. Prur. ὁ. not. 2, 4) in ähnlichem Sinn über die Dia- 
lektik, indem er sie einem Polypen vergleicht, der seine eigenen Arme auf- 
fresse: sie könne, ist die Meinung, nur Täuschungen aufdecken, nicht die 
Wahrheit finden. 

5) Cie. Acad. Il, 36, 117. Karneades ist auch hier allerdings nicht ge- 


460 Karneades. 


‘Wenn Karneades in diesen formalen Untersuchungen über 
die Möglichkeit des Wissens vorzugsweise auf die Stoiker Rück- 
sicht nimmt, und seinerseits die allgemeine Voraussetzung des 
Sensualismus: mit ihnen theilt, so finden wir ihn auch in der Pole- 
mik gegen die materiellen Ergebnisse der dogmatischen Philo- 
sophie in einem ähnlichen Verhältniss zu diesen seinen Haupt- 
gegnern. Wie die Physik überhaupt seit dem Anfang unserer 
Periode gegen die Ethik zurückgesetzt wurde, so hat auch Kar- 
neades der letzteren mehr Fleiss zugewendet, als der ersteren 1); 
sofern er aber auf die Physik eingieng, scheint er sich ganz gegen 
die stoische Behandlung derselben gerichtet zu haben, und diesem 
Umstand haben wir es zu verdanken, dass wir von seinen phy- 
sikalischen, oder richtiger theologischen Untersuchungen ausführ- 
licher unterrichtet sind, als von den ethischen. Reiche Veranlas- 
sung zur Bewährung seines Scharfsinns bot ihm in dieser Bezie- 
hung die stoische Theologie und Teleologie 5), und auf seinem 
Standpunkt musste es ihm nicht schwer werden, die schwachen 
Seiten derselben aufzudecken. Wenn sich die Stoiker zur Be- 
gründung des Götterglaubens auf den consensus gentium beriefen, 
so lag es nahe, ihnen zu antworten ὅ), die Allgemeinheit jenes 
Glaubens sei weder erwiesen, noch auch wirklich vorhanden, 
keinenfalls könnte aber die Vorstellung der unwissenden Masse 
etwas entscheiden. Wenn jene in dem Eintreffen der Vorzeichen 
und Weissagungen einen Hauptbeweis für das Walten der gött- 
lichen Vorsehung fanden, so bedurfte es der gleich zu erwähnen- 
den ausführlichen Kritik der Divination kaum, um diesen Grund 
zu entkräften *). Aber auch der eigentliche Angelpunkt des 


nannt, aber dass auch dieser Grund der Schrift eines Akademikers entnommen 
ist, lässt sich kaum bezweifeln, und dass er von Karn. herrührt, ist wenig- 
stens wahrscheinlich. \ 

1) Dioe. IV, 62. 

2) Cıc. N. D. I, 2, 5, nach kurzer Schilderung der stoischen und der ver- 
wandten Theologie: contra quos Carneades ita multa disserwt, ut exeilaret 
homines non socordes ad veri investigandi eupiditatem. 

3) Cıc. N. D. I, 28, 62 f. vgl. III, 4, 11; auch hier fehlt zwar der Name 
des Karneades, da aber Cicero doch ausdrücklich bemerkt, er wolle die aka- 
demische Ansicht vortragen, werden wir zunächst an ihn zu denken haben. 

4) Μ. 5. hierüber Cie. N. D. II, 5, 11 fl. 


Kritik des Götterglaubens. 461 


stoischen Götterglaubens, die Lehre von der Beseeltheit und Ver- 
nünftigkeit des Weltganzen und von der Zweckmässigkeit der 
Welteinrichtung, wurde von Karneades in Anspruch genommen. 
Wo zeigt sich denn, fragte er, jene Zweckmässigkeit,in der Welt? 
woher alle die Dinge, welche dem Menschen Verderben und Gefahr 
bringen, wenn es wahr ist, dass ein Gott die Welt um des Menschen 
willen gemacht hat? 10. Oder wenn die Vernunft als das höchste 
Geschenk der Gottheit gepriesen wird, sehen wir denn nicht, 
dass die Mehrzahl der Menschen ihre Vernunft nur gebraucht, 
um schlimmer zu sein als die Thiere? Für diese würde also die 
Gottheit mit ihrer Gabe schlecht gesorgt haben ?). Ja selbst 
wenn wir die nächste Schuld von dem Missbrauch der Vernunft 
dem Menschen zuschieben wollten: warum hat ihm die Gottheit 
eine Vernunft gegeben, die so gemissbraucht werden konnte? ?) 
Aber die Stoiker sagen ja selbst, es finde sich nirgends ein Wei- 
ser; dieselben lehren, die Thorheit sei das grösste Unglück; wie 
kann da noch davon die Rede sein, dass für die Menschen, 
welche demnach sammt und sonders im tiefsten Elend sind, von 
den Göttern auf’s Beste gesorgt sei? *) Doch gesetzt auch, die 
Götter haben nicht Allen Tugend und Weisheit verleihen können, 
so hätten sie wenigstens darauf bedacht sein müssen, dass es den 
Tugendhaften gut gienge. Statt dessen zeigt die Erfahrung in 
hundert Fällen, dass der rechtschaffene Mann elend umkommt, 
dass das Verbrechen gelingt und der Verbrecher die Früchte sei- 
ner Unthaten ungestört geniessen kann. Wo bleibt da die Wirk- 


1) Der Akademiker b. Cıc. Acad. II, 38, 120. Dass diese Gründe von 
Karneades herrühren, sehen wir aus Pıur. b. Poren. De abstin. III, 20, wo 
derselbe das Dasein des Ungeziefers, der Giftpflanzen, der reissenden Thiere 
u. s. w. gegen dieStoiker geltend macht. Bei demselben bemerkt Karn. gegen 
die Behauptung Chrysipp's, dass das Schwein dazu da sei, um geschlachtet 
zu werden: nach dieser Annahme würde es eben dadurch das erreichen, wozu 
es bestimmt sei; dieses zu errreichen, sei aber einem Wesen vortheilhaft; es 
müsste mithin dem Schwein vortheilhaft sein, geschlachtet und verzehrt zu 
werden. 

2) Cıc. N.D. III, 25, 655— 70. Ich setze auch hier voraus, dass die Grund- 
gedanken der eiceronischen Darstellung der Schule des Karneades wirklich 
angehüren. 

3A. ἃ. Ὁ. 51; 10. 

4) Ebd. 32 79. 


462 Karneades. 


samkeit der Vorsehung? !) Wie aber dem Angeführten zufolge 
der Thatbestand ein ganz anderer ist, als die Stoiker- voraussetzen, 
so ist auch ihre Erklärung dieses Thatsächlichen durchaus unbe- 
rechtigt. Wollen wir auch zugeben, dass Zweckmässigkeit in 
der Einrichtung der Welt sei, dass die Welt das schönste und 
beste sei, was es giebt: warum sollte es undenkbar sein, dass 
die Natur auch ohne einen Gott, nach physikalischen Gesetzen, 
diese Welt hervorbrachte? Wollen wir auch den Zusammenhang 
des Weltganzen anerkennen, warum sollte dieser nicht durch 
blosse Naturkräfte, ohne eine Weltseele oder eine Gottheit, be- 
wirkt sein können? Wer kann sich rühmen, die Natur und ihre 
Kräfte so genau zu kennen, dass er die Unmöglichheit dieser An- 
nahme beweisen könnte? ?) Das Vernünftige, folgert Zeno, ist 
besser als das Unvernünftige, die Welt ist das Beste, also ist die 
Welt vernünftig. Der Mensch, sagt Sokrates, kann seine Seele 
nur von der Welt haben, also muss die Welt beseelt sein. Aber 
wer sagt dir denn, entgegnet der Akademiker 5), dass die Ver- 
nunft auch für die Welt das beste sein muss, wenn sie es für uns 
ist? dass die Natur beseelt sein muss, um eine Seele zu erzeu- 
gen? Was der Mensch nicht hervorbringen konnte, behauptet 
Chrysippus, das kann nur ein höheres Wesen, nur die Gottheit 
hervorgebracht haben. Auch diesem Schlusse wird jedoch von 
akademischer Seite die gleiche Verwechslung der Standpunkte 
schuldgegeben, wie dem vorigen. Mag es immerhin ein höheres 
Wesen, als der Mensch, geben, warum soll diess gerade ein 
menschenähnliches, vernünftiges Wesen, eine Gottheit, warum nicht 
die Natur sein? %) Und nicht anders verhält es sich auch mit der 
Behauptung, dass ebenso, wie jedes Haus zum Bewohnen bestimmt 
ist, so auch die Welt eine Wohnung der Götter sein müsse. Ganz 
richtig, liess sich hierauf antworten °), wenn die Welt ein Haus 
wäre, aber eben ob sie diess ist, ob sie für einen bestimmten 


1) Ebd. 32, 80 ff. 

2) Cıc. Acad. II, 38, 120 f. N. D. III, 11, 28. 

3) Cıc. N.D.II, 8, 21 ff. 10, 26. 11,27. Aehnlich schon Alexinus; 5. Bd. 
II, a, 189, 5. 

4) Cıc. a-a.'0. ΠῚ; 10, 25 £. 

5) A.a. 0. 


Kritik des Götterglaubens. 463 


Zweck gebaut, und nicht einfaches, zweckloses Naturprodukt ist, 
"eben das steht in Frage. 

Die akademische Skepsis begnügt sich indessen nicht damit, die 
Beweiskraft der Gründe zu bestreiten, auf welche die Stoiker den 
Glauben an eine Gottheit gestützt hatten, sie sucht auch den Gottes- 
begriff selbst als unhaltbar darzustellen. Der Weg, welchen Karnea- 
des zu diesem Zweck einschlägt, ist im Wesentlichen derselbe, auf 
dem sich auch in unserer Zeit die Angriffe gegen die Persönlich- 
keit Gottes bewegt haben. Wenn sich die gewöhnliche Ansicht 
unter der Gottheit das unendliche Wesen denkt, welches aber zugleich 
als ein besonderes Wesen, mit den Eigenschaften und unter den 
Lebensbedingungen der Einzelpersönlichkeit, vorgestellt wird, so 
zeigt Karneades, dass die zweite von diesen Bestimmungen der 
ersten widerspreche, dass es nicht möglich sei, die Züge des per- 
sönlichen Daseins auf die Gottheit zu übertragen, ohne ihre Un- 
endlichkeit zu beschränken. Wie wir uns nun auch die Gottheit 
denken wollen, jedenfalls müssen wir sie als lebendes Wesen 
denken; jedes lebende Wesen ist aber leidensfähig, jedes ist zu- 
sammengesetzt und theilbar, mithin auch zerstörbar 1). Jedes le- 
bende Wesen hat ferner nothwendig eine sinnliche Natur an sich, 
und weit entfernt, der Gottheit die Sinne abzusprechen, müssten 
wir ihr vielmehr, wie unser Philosoph glaubt, im Interesse der 
göttlichen Allwissenheit mehr, als nur unsere fünf, beilegen. Was 
aber der Sinnesempfindung fähig ist, das ist auch der Veränderung 
fähig, denn die Empfindung ist (der chrysippischen Definition zu- 
folge) eine Veränderung in der Seele; und dasselbe muss auch 
der Lust und der Unlust fähig sein, da sich eine Empfindung ohne 
diese nicht denken lässt. Alles Veränderliche ist aber ein Ver- 
gängliches, alles was für Unlust empfänglich ist, ist auch für die 

“ Verschlimmerung empfänglich, aus welcher die Unlust entsteht, 
und ein solches ist es auch für den Untergang ?). Wie die Sinnes- 
empfindung, so gehört ferner das Begehren des Naturgemässen 
und das Vermeiden des Naturwidrigen zu den Bedingungen des 


1) A, a. Ὁ. Ill, 12, 29 ἢν 14, 34. 

2) Cıc. N. D. III, 13, 32 f. ausführlicher Sexrtus Math. IX, 139— 147. 
Auch hier wird Karneades ($. 140) ausdrücklich genannt, und auch ohne das 
würde die Uebereinstimmnng mit Cicero beweisen, dass wir seine Lehre vor 


uns haben. 


401 Karneades. 


Lebens; naturwidrig ist aber für jedes Wesen, was die Kraft hat, 
es zu vernichten, alles Lebendige ist mithin der Vernichtung aus-' 
gesetzt 1). Gehen wir weiter vom Begriff des lebendigen zu dem ΄ 
des vernünftigen Wesens fort, so müssten der Gottheit nothwendig 
zugleich mit der Seligkeit alle Tugenden beigelegt werden. Wie 
kann man aber, fragt unser Philosoph mit Aristoteles, Gott eine 
Tugend zuschreiben? Jede Tugend setzt eine Unvollkommenheit 
voraus, in deren Ueberwindung sie besteht; enthaltsam ist nur 
der, welcher auch unenthaltsam, ausdauernd nur der, welcher 
auch weichlich sein könnte, tapfer nur der, dem ein Uebel Gefahr 
droht, grossherzig nur der, welchen Unfälle treffen können; einem 
Wesen, für welches die Lust schlechthin keinen Reiz, der Schmerz 
und die Beschwerde, die Gefahr und das Unglück schlechthin 
nichts furchtbares haben könnte, würden wir keine von jenen Tu- 
genden zuschreiben. Ebenso wenig könnten wir die Einsicht 
einem Wesen beilegen, das nicht für Lust und Unlust empfänglich 
wäre. Denn die Einsicht ist das Wissen um das Gute und Böse 
und das sittlich Gleichgültige; wie kann man aber davon wissen, 
wenn man nie Lust und Schmerz erfahren hat, oder wie lässt sich 
denken, dass ein Wesen, wie man diess von der Goltheit annimmt, 
nur Lust empfinde, aber keine Unlust, da doch jene nur im Gegen- 
satz zu dieser erkannt wird, und da die Möglichkeit einer Lebens- 
förderung immer auch die einer Lebenshemmung voraussetzt? 
Nicht anders verhält es sich auch mit der Klugheit (εὐβουλία). Klug 
ist nur, wer immer das Zweckmässige findet. Aber wenn er es 
finden soll, darf es ihm nicht schon vorher, bekannt sein. Die 
Klugheit kann mithin nur einem Wesen zukommen, dem manches 
verborgen ist. Ein solches Wesen könnte aber nie wissen, ob ihm 
nicht früher oder später etwas den Untergang bringen werde, es 
wäre mithin auch für Furcht empfänglich. Ein Wesen aber, das 
von der Lust versucht und von Schmerzen gestört werden kann, 
ein Wesen, das mit Gefahren und Beschwerden zu kämpfen hat, 
ein Wesen, das Unlust und Furcht empfindet, ein solches Wesen, 
schliesst Karneades, ist endlich und vergänglich; können wir uns 
daher die Gottheit nicht ohne diese Beschränkungen denken, so ist 


1) Cıc. a. a. 0. Weitere Beweise für die Vergänglichkeit aller lebenden 


Wesen sind ebdas. angedentet. 


Kritik des Götterglanbens. 465 


sie überhaupt undenkbar, der Begriff der Gottheit hebt sich selbst 
auf 7). Aber auch schon desshalb kann Gott keine Tugend haben, 
weil die Tugend über dem ist, der sie hat, über Gott aber kann 
nichts sein 5). Wie verhält es sich ferner bei Gott mit der Sprache? 
Dass es ungereimt ist, ihm eine Sprache beizulegen °?), war leicht 
zu zeigen; ihn sprachlos (ἄφωνος) zu nennen, scheint aber der 
allgemeinen Annahme gleichfalls zu widersprechen %). Ganz ab- 
gesehen endlich von allen näheren Bestimmungen ergiebt sich die 
Undenkbarkeit des Gottesbegriffs, wenn wir fragen, ob die Gott- 
heit begrenzt oder unbegrenzt, ob sie körperlich oder unkörper- 
lich sei. Sie kann nicht unbegrenzt sein, denn das Unbegrenzte 
ist nothwendig unbewegt, weil es keinen Ort hat, und unbeseelt, 
weil es vermöge seiner Unendlichkeit kein von der Seele durch- 
drungenes Ganzes bilden kann, die Gottheit dagegen denken wir 
uns bewegt und beseelt; sie kann aber auch nicht begrenzt sein, 
denn alles Begrenzte ist ein Beschränktes. Sie kann ferner nicht 
unkörperlich sein, denn das Unkörperliche wäre, wie Karneades 
mit den Stoikern annimmt, ohne Seele, Empfindung und Wirkung; 
sie kann aber auch kein Körper sein, denn die zusammengesetzten 
Körper sind der Veränderung und dem Untergang unterworfen, 
die einfachen (Feuer, Wasser u. s. w.) sind ohne Leben und Ver- 
nunft °). Lässt sich aber keine der Bestimmungen durchführen, 


1) Sexrus Math. IX, 152—175, wo der gleiche Nachweis auch noch an 
der σωφροσύνη gegeben wird. Kürzer Cıc. N.D. Ill, 15, 38. Zwar ist in keiner 
von diesen beiden Darstellungen der Name des Karneades hier wiederholt, da 
aber beide Schriftsteller diese Beweise an derselben Stelle einer längeren Aus- 
führung bringen, in welcher vorher und nachher Karn. ausdrücklich genannt 
wird, steht es ausser Zweifel, dass sie ihm angehören. 

2) Sexr. IX, 176 ἢ Der Satz sieht etwas sophistisch aus, aber es ist 
darin die tiefgreifende Frage angedeutet, welche die spätere, namentlich die 
mittelalterliche Philosophie so viel beschäftigt hat, wie sich die allgemeine 
Seite des göttlichen Wesens zu der individuellen verhält, ob das Gute und 
Vernünftige für Gott ein von seinem Willen unabhängiges Gesetz ist, oder 
nicht. 
3) Wie diess Epikur that; vgl. S. 397, 4. 

4) Sext. 178 f. 

5) Sexr. a. a. O. 148—151. 180 f. Dass diese Erörterung Karneades an- 
gehört, ergiebt sich auch bier aus ihrer Uebereinstimmung mit Cıc. N. 1), 12, 
29—31. 14, 34, der seine Auseinandersetzung mit den Worten einführt: zlla 
autem, quae Carneades afferebat, quemadmodum dissolwitis? Auch Sextus selbst 

Philos. ἃ. Gr. III. Bd. 1. Abth. 30 


466 Karnendes. 


unter denen wir uns die Gottheit denken müssten, so kann das 
Dasein derselben nicht behauptet werden. 

Noch leichteres Spiel hat der Skeptiker natürlich bei der 
Kritik des polytheistischen Götterglaubens und seiner stoischen 
Vertheidigung. Unter den Gründen, welche Karneades gegen 
denselben gebrauchte, werden besonders jene Soriten erwähnt, 
durch die er zu zeigen suchte, dass es dem Volksglauben an jedem 
Merkmal zur Unterscheidung des Göttlichen und Ungöttlichen fehle. 
Wenn Zeus ein Gott ist, sagte er, so muss es auch sein Bruder 
Poseidon sein, wenn es dieser ist, so müssten auch die Flüsse und 
Bäche Götter sein; wenn Helios ein Gott ist, müsste auch die Er- 
scheinung des Helios über der Erde, der Tag, ein Gott sein, dann 
aber auch der Monat und das Jahr, der Morgen, der Mittag und 
der Abend τι. 5. νν. ἢ). Der Polytheismus wird hier dadureh wider- 
legt, dass die wesentliche Gleichartigkeit des vermeintlich Gött- 
lichen mit dem anerkannt Ungöttlichen nachgewiesen wird. Dass 
diess übrigens nicht der einzige Beweis des scharfsinnigen Kriti- 
kers war, lässt sich voraussetzen ?). 

Schr nachdrücklich hatte Karneades ferner die Weissagung 
angegriffen, auf welche die Stoiker so grossen Werth legten °). 
Er wies nach, dass dieselbe gar keinen eigenthümlichen Stoff habe, 
dass über alles, was Gegenstand einer kunstmässigen Beurtheilung 
ist, die Sachverständigen richtiger urtheilen, als die Wahrsager 5), 
dass das Vorherwissen von zufälligen Erfolgen unmöglich sei, von 
nothwendigen und unvermeidlichen unnütz, ja schädlich, sein 


scheint aber nicht blos einzelne seiner Beweise ($. 140), sondern die ganze 
Reihe derselben von 8. 137 an dem Karneades zuzuschreiben, wenn er ὃ. 182 
fortfährt: ἠρώτηνται δὲ χοὶ ὑπὸ τοῦ Καρνεάδου χαὶ σωριτιχῶς τινες U. S. W. 

1) Sexr. 182---190, weiter ausgesponnen b. Cıc. N.D. ΠΙ, 17, 43 ff. Auch 
Sextus bemerkt übrigens 190: χαὶ ἄλλους δὴ τοιούτους σωρείτας ἐρωτῶσιν ol περὶ 
τὸν Καρνεάδην εἰς τὸ μὴ εἶναι θεούς. 

2) So gehört vielleicht auch ihm oder seiner Schule die gelehrte Ausfüh- 
rung bei Cıc. N. D. III, 21, 53— 23, 60, worin die Uneinigkeit der mythischen 
Ueberliefernngen an der Mehrheit gleichnamiger Götter nachgewiesen wird. 
Dass dieselbe aus einer griechischen Schrift geflossen ist, zeigt ihr Inhalt, und 
Cicero selbst sagt es am Schluss ziemlich deutlich. 

ἢ 


3) Μ. 5. ausser dem gleich Folgenden auch Cıc. Divin. !, 4, 7. 7, 12. 


4) Cıc. Divin. II, 3, 9 ff. 


Der Götterglaube; die Weissagung. 467 


würde 1), dass sich keinerlei Causalzusammenhang zwischen der 
Vorbedeutung und dem bedeuteten Erfolg denken lasse ?); hielten 
ihm aber die Stoiker Beispiele eingetroffener Weissagungen ent- 
gegen, so erkärte er dieses Eintreffen für zufällig 5). zugleich 
aber auch ohne Zweifel einen grossen Theil jener Erzählungen für 
unwahr 2). 

Mit diesen Angriffen auf die Mantik steht bei Karneades viel- 
leicht auch die Vertheidigung der Willensfreiheit in Verbindung. 
Er widerlegte den stoischen Fatalismus durch die Thatsache der 
freien Selbstbestimmung, und da sich die Stoiker für ihre Lehre 
auf das Causalitätsgesetz beriefen, so nahm er auch dieses in An- 
spruch °); natürlich konnte aber seine Absicht dabei nicht die sein, 
etwas Positives über das Wesen des menschlichen Willens zu be- 
.haupten, sondern nur die, den stoischen Lehrsatz zu bestreiten, 
und wenn er auch in seinem Theil an der alten akademischen Lehre 
von der Willensfreiheit festhielt, konnte er sie doch keinenfalls 
für mehr, als blos wahrscheinlich halten. | 

Nicht ganz so ausführlich, wie über die bisher besprochenen 
Punkte, sind wir über die Gründe unterrichtet, mit denen Kar- 
neades die herrschenden sittlichen Grundsätze in Frage stellte; 
doch kennen wir dieselben hinreichend, um die Richtung seiner 
Skepsis auch nach dieser Seite hin zu beurtheilen. In der zweiten 
von den berühmten Reden, welche er im Jahr 156 v. Chr. zu Rom 
hielt ®), führte er aus: es gebe kein natürliches Recht, alle Gesetze 
seien vielmehr nur positive bürgerliche Einrichtungen, nur um 
ihrer Sicherheit und ihres Vortheils willen zum Schutze der 
Schwachen von den Menschen aufgestellt, und es werde desshalb 
Jeder für einen Thoren gehalten, welcher die Gerechtigkeit dem 


5 

1) Ebd. Υ, 18 ff. Doch ist Karneades hier nicht mehr genannt. 

2) Ebd. I, 13, 23 vgl. 49, 109. 

3) Α. ἃ. O. und II, 21, 48. 

4) Vgl. Cıc. a. a. O. II, 11, 27 u.ö. 

5) Cıc. De Fato 11, 23. 14, 31. Die Willensfreiheit, sagt er hier, lasse 
sich vertheidigen, wenn man auch zugebe, dass jede Bewegung ihre Ursache 
habe, denn es sei nicht nothwendig, dass dieses Gesetz auch von unserem 
Willen gelte. Er will also dasselbe auf die körperliche Bewegung beschrän- 
ken, es nicht als unbedingt gültig anerkennen. 

6) Lacraxz Institt. V, 14 nach Cıc. de Rep. III, 4. Prur. Cato maj. c. 22. 
Quismir. Institt. XIi, 1, 35. 


30 * 


465 Karneades. 


alleinigen unbedingten Zweck, dem Vortheil, vorziehe. Zur Be- 
gründung dieser Behauptung berief er sich auf die Thatsache, dass 
die Gesetze mit den Umständen wechseln und in verschiedenen 
Ländern sehr verschieden lauten; er verwies ferner auf das Bei- 
spiel aller mächtigen Völker, wie eben das römische, die sammt 
und sonders nur durch Ungerechtigkeit gross geworden seien; zu 
dem gleichen Zweck dienten ihm endlich die mancherlei casuisti- 
schen Fragen, wie sie schon die Stoiker aufgeworfen hatten, indem 
er natürlich in allen diesen Fällen der Meinung war, dass es klüger 
sei, das nutzbringende Unrecht zu begehen, (z. B. zur Rettung 
des eigenen Lebens einen Andern zu ermorden), als den Vortheil 
dem Rechte zu opfern, dass daher die Klugheit mit der Gerechtig- 
keit in einem unversöhnlichen Streit liege '). | 

Aus dieser ganzen Kritik des Dogmatismus konnte nun Kar- 
neades natürlich nur dasselbe Resultat ziehen, wie seine Vor- 
gänger: dass schlechthin kein Wissen möglich sei, dass mithin der 
Verständige Alles von allen Seiten betrachten, aber seine Zustim- 
mung durchaus zurückhalten, und eben dadurch sich gegen jeden 
Irrthum decken müsse 2); und er hält diese Forderung so streng 


1) Lacr. a. a. Ο. ὁ. 16. Cıc. De Rep. III, 8—12. 14. 17 ἔς ed. Maj. Fin. II, 
18, 59; über jene casuistischen Fälle vgl. m. Cıc. Off. III, 13. 23, 89 ff. und 
oben 5. 253, 8. Gerade Karneades war es vielleicht, welcher die späteren 
Stoiker zur eingehenderen Behandlung der Casuistik veranlasste. 

2) Cıc. Acad. II, 34, 108, vgl.ebd.31,98. Bei Demselben ad Att. XIII, 21 
vergleicht er diese ἐποχὴ dem Anhalten des Wagenlenkers oder der gedeckten 
Stellung des Faustkämpfers. Auf die ἐποχὴ bezieht es sich ohne Zweifel auch, 
wenn Aurx. Arur. De an. 154, a, u. sagt, die Akademiker halten für das 
πρῶτον οἰχεῖον die ἀπροςπτωσία. πρὸς ταύτην γάρ φασιν ἡμᾶς οἰχείως ἔχειν πρώτην, 
ὥστε μηδὲν προςπταίϑν. Die ἀπροςπτωσία oder ἀπροπτωσία (welches blos eine 
andere Aussprache für &rgosrr., wie ἀπρόπτωτος für ἀπρόςπτωτος, zu sein 
scheint) ist nämlich nach stoischer Definition (bei Dıos. VII, 46) die ἐπιστήμη 
τοῦ πότε δέϊ συγχατατίθεσθαι χοαὶ μή, sie besteht also darin, dass man keiner 
Behauptung voreilig beistimmt; nach skeptischer Ansicht thut man diess aber 
nur dann nicht, und bleibt nur dann vor Irrthum (vor dem προςπταίειν) be- 
wahrt, wenn man überhaupt keiner seine Zustimmung gewährt, Die ἀπρος- 
πτωσία ist daher auf diesem Standpunkt gleichbedeutend mit der ἐποχὴ oder 
der ἄγνοια; welche Max. Trr. Diss. 35, 7, Schl. als Ziel des Karneades be- 
zeichnet. — Im Zusammenhang mit dieser Ansicht befolgte Karm., wie vor 
ihm Arcesilaus, das Verfahren, dass er für und wider jeden Gegenstand (wie 
dort in Rom über die Gerechtigkeit) sprach, ohne selbst eine Entscheidung 


Ethische Skepsis. Wahrheit und Wahrscheinlichkeit. 469 


fest, dass er den Einwurf, wenigstens von der Unmöglichkeit einer 
festen Ueberzeugung müsse der Weise fest überzeugt sein, durch- 
aus nicht zugab 1). Aber wenn schon jene weit entfernt waren, 
darum allen Vorstellungen den gleichen Werth beizulegen, und 
ein Handeln und Meinen ohne Gründe zu verlangen, so fasst Kar- 
neades eben diesen Punkt noch bestimmter in's Auge, indem er 
die Bedingungen und Grade der Wahrscheinlichkeit festzustellen, 
und dadurch einen Leitfaden für die Weise der Ueberzeugung, 
welche seine Lehre allein übrig lässt, zu gewinnen bemüht ist. 
Mögen wir noch sosehr auf’s Wissen verzichten, so bedürfen wir 
doch einer Anregung und Unterlage für’s Handeln, wir bedürfen 
gewisser Voraussetzungen, von denen unser Streben nach Glück- 
seligkeit ausgeht ?). Wir müssen daher gewissen Vorstellungen 
so viel Gewicht beilegen, dass wir uns durch sie bestimmen lassen ; 
nur werden wir uns wohl hüten, sie darum für wahr, für etwas 
Gewusstes und Begriffenes, zu halten, wir werden auch bei ihnen 
nicht vergessen, dass selbst unsere wahren Vorstellungen nur so 
beschaffen sind, wie auch falsche beschaffen sein können, dass 
sich ihre Wahrheit nie mit Sicherheit erkennen lässt, wir werden 
daher unsere Zustimmung zurückhalten, und ihnen nicht die Wahr- 
heit, sondern nur den Schein der Wahrheit (das 9% φαίνεσθαι). 
oder die Wahrscheinlichkeit (ἔμφασις, πιθανότης) zugestehen >). 


zu geben. Cıc. Ν. Π.1, 5, 11. Acad. II, 18, 60. Divin. I, 72, 150. ltep. II], 
5,8. Tusc. V,4, 11. Eos. pr. ev. XEV, 7, 12. 

1) Cıc. Acad. II, 9, 28. 

2) Sexr. Math. VII, 166: ἀπαιτούμενος δὲ χαὶ αὐτός [ὁ Καρνεάδης] τι κριτήριον 
πρός τε τὴν τοῦ βίου διεξαγωγὴν χαὶ πρὸς τὴν τῆς εὐδαιμονίας περίχτησιν δυνάμει 
ἀπαναγχάζεται χαὶ καθ᾽ αὑτὸν περὶ τούτου διατάττεσθαι u. 5. w. Cıc. Acad. II, 
31, 99 (nach Klitomachus): etenim contra naturam esset, si probable nihil 
esset, et sequilur omnis vitae .. eversio. Ebd. 101. 32, 104: nam cum (denu 
diess ist für das sichtbar verdorbene nec ut der besten Handschriften die wahı 
scheinlichste Emendation) placeat, eum qui de omnibus rebus contineat se ab 
assentiendo , moveri tamen et agere aliquid, reliquit ejusmodi visa, quibus ad 
actionem exeitemur u. 8. w. Daher die Versicherung (ebd. 103. Sror. Floril 
ed. Mein. IV, 234, Nr. 21. 24), die Akademiker wollen der Geltung der sinn- 
lichen Wahrnehmung nicht zu nahe treten: als Erscheinung unseres Be 
wusstseins und Norm des Handelns liessen sie sie stehen, sie läugneten nur, 
dass sie ein Wissen im strengen Sinn gewähre, sie behaupteten (Stob.), die 
Sinne seien ὑγιεῖς, aber nicht ἀχριβεῖς. 

3) Sext. und Cıc. a. ἃ. a. 0. 


470 Karneades. 


Wenn es sich nämlich bei jeder Vorstellung um zweierlei handelt, 
um ihr Verhältniss zu dem vorgestellten Gegenstand, vermöge 
dessen sie entweder wahr oder falsch ist, und um ihr Verhältniss 
zu dem vorstellenden Subjekt, vermöge dessen sie als wahr oder 
als falsch erscheint, so ist das erstere Verhältniss, aus den früher 
entwickelten Gründen, unserer Beurtheilung gänzlich entzogen, 
das zweite dagegen, das Verhältniss der Vorstellung zu uns selbst, 
fällt in den Bereich unseres Bewusstseins 1). So lange nun eine 
wahr scheinende Vorstellung nur dunkel und undeutlich ist, wie 
etwa die Anschauung entfernter Gegenstände, macht sie auf uns 
keinen grossen Eindruck, wenn dagegen der Schein der Wahrheit 
sehr stark wird, so bewirkt sie in uns einen Glauben ?), welcher 
entschieden genug ist, uns in unserem Verhalten zu bestimmen, 
wenn er auch nicht die unumstössliche Sicherheit des Wissens er- 
reicht 5). Dieser Glaube hat aber ebenso, wie die Wahrscheinlich- 
keit selbst, verschiedene Grade. Der geringste Grad von Wahr- 
scheinlichkeit entsteht dann, wenn eine Vorstellung an und für 
sich zwar den Eindruck der Wahrheit hervorbringt, ohne dass sie 
jedoch mit andern Vorstellungen im Zusammenhang stände; der 
nächst höhere Grad, wenn jener Eindruck durch die Ueberein- 
stimmung aller mit ihr in Verbindung stehenden Vorstellungen 


1) Sexr. a. a. Ὁ. 167 — 170. 

2) A.a.0. 171—173, oder wie diess bei (το, Acad. Il, 24, 78 ausgedrückt 
ist: es sei möglich, nihil percipere et tamen opinari; wobei es unerheblich 
ist, dass Philo und Metrodor gesagt hatten, Karneades habe diess bewiesen, 

'Klitomachus (um der skeptischen ἐποχὴ nichts zu vergeben): hoc magis ab eo 
disputatum quam probatum. Acad. Il, 48, 148. 21, 67 wird jener Satz Karnea- 
des ohne Beschränkung beigelegt, und desshalb auch zugegeben: adsensurum 
(aliquando, wie die zweite Stelle beifügt) non percepto, i. 6. opinaturum sa- 
pientem. 

3) Vgl. Aususrın e. Acad. II, 11, 26 (der Sache nach ohne Zweifel, und 
vielleicht auch in den Worten, nach Cicero): id probabüe vel veri simile Aca- 
demiei vocant, quod nos ad agendum sine adsensione potest invitare. sine ad- 
sensione autem dico, ut id quod agimus non opinemur verum esse aut nom τὰ 
scire arbitremur, agamus tamen. Das Gleiche besagt die Angabe Euskz»’s pr. 
ev. XIV, 7,12: Karn. habe es für unmöglich erklärt, über Alles seine Ueber- 
zeugung zurügkzuhalten, und behauptet, πάντα μὲν εἶναι ἀκατάληπτα, ob πάντα 
δὲ ἀδηλα. Vgl. Cıc. Acad. II, 17, 54, wo der Antiocheer gegen die Neu- 
akademiker einwendet: ne hoc quidem cernunt, omnia se reddere incerta, quod 


nolunt; ea dico incerla, quae ἄδηλα Graeci. 


Wahrscheinlichkeit. 471 


beslätigt wird, der dritte und höchste Grad, weun eine Unter- 
suchung der letzteren auch für sie alle dieselbe Bestätigung er- 
geben hat. Im ersten Fall heisst die Vorstellung wahrscheinlich 
(πιθανὴν). im zweiten wahrscheinlich und unwidersprochen (πιθανὴ 
χαὶ ἀπερίσπαστος), im dritten wahrscheinlich unwidersprochen und 
geprüft (πιθχνὴ καὶ ἀπερίσπαστος χαὶ περιωδευμιένη) 1). Innerhalb 
jeder von diesen drei Klassen sind wieder verschiedene Abstufungen 
der Wahrscheinlichkeit möglich 5). Die Merkmale, auf welche bei 
Untersuchung der Wahrcheinlichkeit zu achten ist, scheint Kar- 
neades im Sinn der aristotelischen Logik im Einzelnen untersucht 
zu haben °). Je nachdem nun eine Frage grössere oder geringere 
praktische Wichtigkeit hat, oder je nachdem uns auch die Umstände 
eine genaue Untersuchung erlauben, oder nicht, werden wir uns 
an den einen oder den anderen Grad der Wahrscheinlichkeit hal- 
ten %); wiewohl aber keiner derselben von der Art ist, dass er 
jede Möglichkeit des Irrthums ausschlösse, so wird uns dieser Um- 
stand doch die Sicherheit des Handelns nicht rauben, sobald wir 
uns einmal überzeugt haben, dass nun einmal eine absolute Ge- 
wissheit unserer praktischen Voraussetzungen nicht möglich ist °), 
und ebenso wenig werden wir Bedenken lragen, etwas in jener 
bedingten Weise zu bejahen oder zu verneinen, die nach dem 
Auseinandergesetzten allein zulässig ist: wir werden keiner Vor- 
stellung in dem Sinne beistimmen, dass wir sie für wahr, wohl 
aber vielen in dem, dass wir sie für höchst wahrscheinlich er- 
klären °). ᾿ 


1) Sexr. a. a. Ὁ, 173. 175— 182. Pyrrh. 1, 227 vgl. Cıc. Acad. H, 11, 33. 
31, 99 £. 32, 104. 

2) Sexr. a. a. Ὁ. 173. 181. 

3) M.s.a.a. O0. 176 ff. 183. 

4) Δ. ἃ. O. 184 ff. 

5) A. a. 0.174. Cıc. Acad. II, 31, 99 £. 

6) Cıc. ἃ. ἃ. Ὁ. 32, 103 f. 48, 148. Durch diese Erläuterung hebt sich 
von selbst der Vorwurf der Inconsequenz, welcher dem Karneades bei Cıc. 
Acad. II, 18, 59. 21, 67. 24, 78 (8. 0. 470, 2) desshalb gemacht wird, weil er 
im Unterschied von Arcesilaus zugegeben habe, dass der Weise bisweilen der 


Meinung folgen und gewissen Vorstellungen seine Zustimmung geben werde, 
wie diess a. a. Ὁ, 24, 78 im Grunde anerkannt ist. Behauptet gar Nunen. b. 
Eus. pr. ev. XIV, 8,7 ἢν, er habe seinen Vertrauten im Geheimen seine eigenen 
Ueberzeugungen mitgetheilt, so ist diess bei ihm ebenso unrichtig, als bei 


4723 Karncades. j 


Unter die Fragen, hinsichtlich deren eine möglichst begrün- 
dete Ueberzeugung für uns Bedürfniss ist, musste nun Karneades 
seiner ganzen Richtung nach vor Allem die sittlichen Grundsätze 
rechnen 1); das Leben und Handeln war es ja gerade, dem seine 
Lehre von der Wahrscheinlichkeit dienen sollte 9. So hören wir 
denn auch, dass er die Grundfrage der Ethik, die Frage über das 
höchste Gut, eingehend besprochen hatte ?). Er unterschied in 
dieser Beziehung sechs, oder beziehungsweise vier verschiedene 
Ansichten. Wenn nämlich der ursprüngliche Gegenstand unseres 
Begehrens im Allgemeinen nur dasjenige sein kann, was unserer 
Natur entspricht und desshalb unsern Trieb in Bewegung setzt, 
so kann dieses, wie er glaubt, entweder in der Lust, oder in der 
Schmerzlosigkeit, oder in dem ersten Naturgemässen gesucht wer- 
den; für jeden von diesen drei Fällen ergeben sich dann aber 
wieder entgegengesetzte Bestimmungen, je nachdem das höchste 
Gut in die Erreichung eines der genannten Zwecke, oder in die 
auf denselben gerichtete Thätigkeit als solche gesetzt wird. Da 
jedoch das Letztere nur von den Stoikern geschehen ist, sofern 
diese die naturgemässe Thätigkeit oder die Tugend für das höchste 
Gut halten, so beschränken sich diese sechs möglichen Ansichten 


Arcesilaus (oben 450, 2), wie ausser allem Bisherigen auch aus S. 473, 2 her- 
vorgeht. 

1) Vgl. Sexr. Pyrrh. I, 226: ἀγαθὸν γάρ τί φασιν εἶναι ol ᾿Αχαδημαΐχοι χαὶ 
χαχὸν, οὐχ ὥσπερ ἡμεῖς, ἀλλὰ μετὰ τοῦ πεπεῖσθαι ὅτι πιθανόν ἐστ! μᾶλλον ὃ λέγου- 
σιν εἶναι ἀγαθὸν ὑπάρχειν ἢ τὸ ἐναντίον καὶ ἐπὶ τοῦ χαχοῦ ὁμοίως. 

2) Vgl. 8. 469, 2. 470, 8. 

3) Hier ensteht nun freilich die Frage, woher der Skeptiker seine Wahr- 
scheinlichkeitsüberzeugung in sittlichen Dingen schöpfen soll; und da die 
sinnliche Wahrnehmung hierüber, wie es scheint, nicht entscheiden kann, so 
schliesst GErrers (De Arc. successor. 20 ἢ), Karneades habe eine eigene 
Quelle der Ueberzeugung im Geist angenommen. Allein für diese Vermuthung 
fehlt es uns an allen Anhaltspunkten in äusseren Zeugnissen; denn auf die 
hypothetische Aeusserung über die Willensfreiheit b. Cıc. De fato II, 23 (s. o. 
467, 5) kann sie sich nicht stützen. An sich selbst aber ist es nicht nothwen- 
dig, dass Karneades, welcher ja keinerlei psychologische Theorie zu besitzen 
behauptete, über die obige Frage sich überhaupt aussprach. Falls er es aber 
that, konnte er so gut, wie die Stoiker, und noch weit leichter, sich auf die 
Erfahrung berufen, und sich bei der Thatsache beruhigen, dass gewisse Dinge 
für den Menschen befriedigend oder unbefriedigend seien, seine Glückseligkeit 


fördern oder stören. 


Sittenlehre. 473 


in der Wirklichkeit auf vier, die theils in ihrer einfachen Gestalt, 
theils in ihrer Zusammensetzung alle vorhandenen Vorstellungen 
über das höchste Gut unter sich begreifen 1). Welche von ihnen 
den Vorzug verdiene, darüber hatte sich Karneades zwar so skep- 
tisch ausgesprochen, dass selbst Klitomachus versicherte, seine 
wahre Meinung nicht zu kennen ?), und nur versuchsweise, für 
den Zweck der Widerlegung, soll er den Stoikern die Behauptung 
entgegengestellt haben, dass das höchste Gut in dem Genusse der 
Dinge bestehe, welche den ursprünglichen Naturtrieben Befriedi- 
gung gewähren ?). Indessen wird die Sache doch auch wieder so 
dargestellt, als hätte unser Philosoph eben diese Behauptung in 
eigenem Namen vorgetragen, und zwar angeblich in dem Sinn, 
dass er die Befriedigung der Naturtriebe abgesehen von der Tugend 
als letzten Zweck bezeichnet hätte *); zugleich hören wir aber 
auch, er habe sich der Meinung des Kallipho zugeneigt, welche 
von der Ansicht der älteren Akademie nicht wesentlich verschieden 
gewesen zu sein scheint °). In der Richtung der alten Akademie 
und ihrer Metriopathie liegt auch, was weiter aus der Ethik des 
Karneades mitgetheilt wird: dass er dem Schmerz über das Unglück 
durch den Gedanken an die Möglichkeit seines Eintretens vorbeugen 


1) Cıc. Fin. V, 6, 16—8, 23, vgl. Tusc. V, 29, 84, nach Antiochus. Rırrzr 
III, 686 hat die Eintheilung des Karneades, die er sonst wohl kaum so unbe- 
dingt der Oberflächlichkeit und Ungenauigkeit beschuldigt haben dürfte, nicht 
ganz richtig dargestellt. 

2) Cıc. Acad. II, 45, 139. 

3) Cıc. Acad. II, 42, 131: introducebat etiam Carneades, non quo probaret, 
sed, ut opponeret Stoicis, summum bonum esse frui üis rebus, quas primas natura 
conciliavisset (olzeıoöv). Ebenso Fin. V, 7, 20. Tusc. V, 30, 84. Von der stoi- 
schen Bestimmung unterscheidet sich diese eben dadurch, dass es nicht die 
naturgemässe Thätigkeit als solche, sondern der Genuss der natürlichen Güter 
sein soll, in dem das höchste Gut besteht. 


4) Cıc. Fin. II, 11, 35: ἑέα tres sunt fines ewpertes honestatis, unus Aristippi 
vel Epieuri (die Lust), alter Hieronymi (die Schmerzlosigkeit), Carneadis tertius 
(die Befriedigung der natürlichen Triebe); vgl. ebd. V, 7, 20. 8, 22. 

5) Cıc. Acad. II, 45, 139: ut Calliphontem sequar, cujus quidem sententiam 
Carneades ita studiose defensitabat, ut eam probare etiam videretur. Kallipho 
aber wird unter die gerechnet, welche die honestas cum aliqua accessione, oder 
wie es Fin. V, 8, 21. 25, 73. Tusc. V, 30, 85 heisst, die voluptas cum homestate 
für das höchste Gut gehalten haben. Vgl. Bd. II, b, 759, 4. 


474 Karneades. 


wollte 1), und dass er nach der Zerstörung Karthago's vor Klito- 
machus eindringlich ausführte, der Weise werde selbst durch den 
Untergang seiner Vaterstadt nicht in Kunmer gerathen ?). Fassen . 
wir alle diese Angaben zusammen, so erhalten wir eine Ansicht, 
die wir des Philosophen nicht unwürdig und seinem Standpunkt 
ganz angemessen finden werden. Seinen skeptischen Grundsätzen 
gemäss konnte Karneades keiner von den verschiedenen Meinungen 
über das Wesen und Ziel der sittlichen Thätigkeit wissenschaftliche 
Sicherheit zuerkennen, und den Stoikern insbesondere gieng er 
auch hier mit scharfen Einwürfen zu Leibe. Der Widerspruch, 
“ dass sie die Auswahl des Naturgemässen für die höchste sittliche 
Aufgabe erklärten, und doch das erste Naturgemässe selbst nicht 
unter die Güter gerechnet wissen wollten ?), wurde ihnen von 
Karneades so nachdrücklich vorgehalten, dass durch diesen Angriff 
Antipater zu der Auskunft hingedrängt worden sein soll, nicht die 
Gegenstände, auf welche jene Auswahl sich bezieht, sondern nur 
die Auswahl selbst sei ein Gutes *). Er seinerseits behauptete, sei 
es wegen diesem Zurückgehen der stoischen Ethik auf das Natur- 
gemässe, sei es wegen der damit zusammenhängenden Lehre über 
das Wünschenswerthe und das Verwerfliche, die stoische Güter- 
lehre unterscheide sich von der peripatetischen nur in den Wor- 
ten °). Sofern aber ein wirklicher Gegensatz zwischen ihnen 


1) Pror. trangu. an. 16, S. 475. 

2) Cıc. Tusc. III, 22, 54. Man bemerke, dass diese Ausführung des Kar- 
neades ausdrücklich nur unter den Gesichtspunkt der Ueberzeugung durch 
Wahrscheinlichkeit gestellt wird; er habe, heisst es, den Satz angegriffen 
videri fore in aegritudine sapientem patria capta. Sonstige ethische Aus- 
sprüche des Karn., wie der bei Pıvur. De adulat. 16, S. 51, haben nichts 
Charakteristisches. 

3) 8. ο. 8. 288. 

4) Prur. c.not. 27,14 f. vgl. 5.οβ. Ekl.TI, 134. Doch giebt diess Plutarch 
selbst nur als die Meinung Einzelner; mir ist es wahrscheinlicher, dass schon 
Chrysippus diese Bestimmung aufgestellt, und Antipater sie nur gegen Karn. 
vertheidigt und erläutert hatte. Karneades selbst schreibt ja dieselbe in der 
obenangeführten Eintheilung der ethischen Standpunkte den Stoikern der 
Sache nach bereits zu. 

5) Cıc. Fin. III, 12, 41: Carneades tuus ... rem in summum diserimen 
adduxit, propterea quod pugnare non destitit, in omni hac quaestione, quae de 
bonis et malis appelletur, non esse rerum Stoicis cum Peripateticis controversiam, 


sed nominum. 


Sittenlehre. 475 


stattfindet, schien ihm der Stoicismus die wirklichen Bedürfnisse 
der menschlichen Natur zu verkennen: wenn die Stoiker z.B. den 
guten Ruf für etwas Gleichgültiges erklärten, so trieb sie Karnea- 
des mit dieser Behauptung so in die Enge, dass sie von da an, wie 
CıcEro versichert), dieselbe beschränkten und dem guten Namen 
wenigstens unter den wünschenswerthen Dingen (den προηγμένα) 
einen selbständigen Werth beilegten; und wenn Chrysippus für die 
Uebel des Lebens in dem Gedanken einen Trost fand, dass kein 
Mensch davon frei bleibe, so war er der Meinung, diess könnte 
höchstens der Schadenfreude ein Trost sein, gerade diess sei ja 
das Traurige, dass alle einem so harten Verhängniss unterliegen ?). 
Aber auch von den übrigen Ansichten über das Sittliche konnte er 
um so unumwundener zugeben, dass sie es nicht weiter, als zur 
Wahrscheinlichkeit, bringen können, je weniger ihm die Glück- 
seligkeit des Menschen von einer ethischen Theorie abzuhängen 
schien ®). Insofern ist die Angabe des Klitomachus, so weit es 
sich um eine bestimmte Entscheidung über das höchste Gut handelte, 
ohne Zweifel richtig. Aber wie überhaupt die Läugnung des Wis- 
sens nach der Meinung unseres Philosophen eine Ueberzeugung 
aus Wahrscheinlichkeitsgründen nicht ausschliessen sollte, so gilt 
diess namentlich auch von den ethischen Ueberzeugungen; und da 
wurde ihm jene vermittelnde Ansicht, welche ihm zugeschrieben 
wird, nicht blos durch die Ueberlieferung der akademischen Schule 
an die Hand gegeben, sondern sie lag auch an und für sich dem, 
der die entgegengesetzten Systeme der Lustlehre und des Stoieis- 
mus skeptisch- vernichtet hatte, als positiver Ueberrest derselben 
am Nächsten; wobei wir für den Widerspruch, dass die Befriedi- 
gung der Naturtriebe bald mit der Tugend, bald ohne dieselbe als 
das Princip des Karneades bezeichnet wird, wohl nur die unge- 
naue Darstellung Cicero’s verantwortlich zu machen haben; seine 
eigentliche Meinung kann jedenfalls nur die sein, dass die Tugend 
eben in der auf den Besitz des Naturgemässen gerichteten Thälig- 


1) Fin. III, 17, 57. 

2) Cıc. Tusc. III, 25, 59. 

3) Cıc. Tusc. V, 29, 83: et guoniam videris hoc velle, ut, quaecumque dis- 
sentientium philosophorum sententia sit de finibus, tamen virtus satis habeat ad 
vitam beatam praesidiü, quod, quidem Carneadem disputare solitum accepimus 


τι, ὃ. W. 


476 Karneades 


keit bestehe, und somit von diesem, als dem höchsten Gut, nicht 
zu trennen sei 1). Ebendesshalb aber gewährt sie, nach seiner 
Ueberzeugüng, alles, was zur Glückseligkeit nöthig ist 2). Wenn 
daher dem Karneades bezeugt wird, dass er trotz seines ethischen 
Skepticismus ein durchaus rechtschaffener Mann gewesen sei °), 
so haben wir nicht allein keinen Grund, dieser Aussage über seinen 
persönlichen Charakter zu misstrauen, sondern wir können der- 
selben auch die Anerkennung seiner philosophischen Gonsequenz 
hinzufügen; denn so widerspruchsvoll uns auch eine Ansicht er- 
scheinen mag, welche die Sicherheit des praktischen Verhaltens 
“auf eine Theorie des absoluten Zweifels gründen will, so haben 
wir doch schon früher gesehen, dass es in der ganzen Richtung 
der nacharistotelischen Skepsis lag, diesen Widerspruch auf sich 
zu nehmen. Diese Richtung hat sich in Karneades vollendet, und 
auch die wissenschaftlichen Mängel seiner Theorie haben sich ihm 
in folgerichtiger Entwicklung derselben ergeben. 

Aus dem gleichen Gesichtspunkt werden wir auch der Angabe 
Glauben schenken dürfen, dass Karneades ebenso, wie die späteren 
Skeptiker, trotz der scharfen Kritik, welche er über die populäre 
und die philosophische Theologie ergehen liess, doch das Dasein 
göttlicher Mächte zu läugnen nicht die Absicht hatte %); er verhielt 
sich auch hierin als ächter Skeptiker: er verzichtete darauf, etwas 


1) Ausdrücklich sagt er auch Fin. V, 7, 18 ff., wie Jeder das höchste Gut 
bestimme, bestimme er auch das honestum (das χαλὸν, die Tugend), und wie 
er die stoische Ansicht so darstellt, dass sie das konestum und donum in die 
auf Erreichung des Naturgemässen gerichtete Thätigkeit setze, so sagt er von 
der, welche sie in den Besitz des Naturgemässen setzt, nach ihr seien die 
prima secundum naturam die prima in animis quasi virtutum igniculi et semina, 

2) S. 0.475, 3 und Puvr. trangu. an. 19, S. 477, wo aber doch nur das 
Wort über die Weihrauchbüchsen Karneades, das Weitere Plutarch anzuge- 
hören scheint, so dass wir nicht ganz sicher sind, ob jenes bei ihm die gleiche 
Bedeutung hatte, die es bei Plut. erhält. 

3) Quinricr. Instit. XII, 1, 35 8. o. 454, 2 Schl. 

4) Cıc. N.D. III, 17, 44: haec Carneades ajebat, non ut Deos tolleret, quid 
enim philosopho minus conveniens? sed. ut Stoicos nihil de Düs ewplicare con- 
vinceret. In diesem Sinne versichert der Akademiker bei Cicero fortwährend 
(z. B. I, 22, 62), er wolle den Götterglauben nicht zerstören, er find« nur die 
Beweise dafür unzureichend. Ebenso Sexrus Pyrrh. III, 2: τῷ μὲν βίῳ χατα- 
χολουθοῦντες ἀδοξάστως φαμὲν εἶναι θεοὺς χαὶ σέβομεν θεοὺς χαὶ mpuvoriv αὐτοὺς 


φαυέν. 


\ 
Sittlicher und religiöser Standpunkt. Bedeutung. 477 


über die Gottheit zu wissen, aber er liess sich vom praktischen 
Standpunkt aus den Götterglauben als eine mehr oder weniger 
wahrscheinliche und nützliche Meinung gefallen. 

Alles zusammengenommen wird man die philosophische Be- 
deutung des Karneades und der Schule, deren Haupt er war, nicht 
so gering anschlagen dürfen, wie diess geschehen ist, wenn der 
neueren Akademie ein seichter Zweifel schuldgegeben, und die 
Lehre des Karneades von der Wahrscheinlichkeit nicht aus dem 
Interesse des Philosophen, sondern nur aus dem des Rhetors her- 
geleitet wurde 1). Zu der letzteren Behauptung liegt um so weni- 
ger ein Grund vor, je bestimmter Karneades selbst erklärte, dass 
ihm die Anerkennung einer Ueberzeugung durch Wahrscheinlich- 
keit um der praktischen Aufgabe und Thätigkeit willen unerlässlich 
scheine, und je vollständiger er hierin mit der ganzen übrigen 
Skepsis, nicht blos der akademischen, sondern auch der pyrrho- 
nischen und der späteren, zusammentrifft. Was ihn in dieser Be- 
ziehung von Anderen unterscheidet, ist nur die Gründlichkeit, mit 
der er die Stufen und Bedingungen der Wahrscheinlichkeit unter- 
sucht hat, diese wird man aber doch dem Philosophen am Wenig- 
sten zum Vorwurf machen wollen, Ebensowenig möchte ich die 
Zweifel seicht nennen, welche das Alterthum in dem weiteren Ver- 
laufe nur sehr unvollständig zu lösen gewusst hat, und welche 
auch wirklich nicht wenige der eingreifendsten Probleme durch 
sehr treffende kritische Bemerkungen beleuchten. Man wird aller- 
dings in der skeptischen Verzichtleistung auf alles Wissen und in 
der Beschränkung auf eine mehr oder weniger unsichere Meinung 
ein Zeichen von der Ermattung des wissenschaftlichen Geistes und 
von dem Erlöschen der philosophischen Produktivität finden müs- 
sen, aber man darf darum nicht übersehen, dass die Skepsis der 
neueren Akademie nicht blos der Richtung entsprach, welche die 
gesammte Philosophie unter den Griechen in naturgemässem Ver- 
laufe genommen hatte, sondern dass sie auch mit einem Scharfsinn 
und einer wissenschaftlichen Tüchtigkeit vertreten wurde, die uns 
ein wirklich bedeutendes Glied der philosophischen Entwicklung in 
ihr erkennen lassen. ᾿ 

In Karneades hatte diese Skepsis ihren Höhepunkt erreicht. 


1) Rırrer III, 730. 694. 


478 Schule des Karneades. 


Sein Nachfolger Klitomachus !) ist durch die schriftliche Dar- 
stellung der Lehren bekannt, welche Karneades aufgestellt hatte ?); 
zugleich hören wir aber von einer genauen Kenntniss der peri- 
patetischen und stoischen Philosophie; und war es hiebei auch 
zunächst ohne Zweifel nur darauf abgesehen, den Dogmatismus 
dieser Schulen zu widerlegen, so scheint es doch, dass Klitomachus 
hiebei auf den Zusammenhang ihrer Lehren tiefer eingieng, als 
diess sonst von blossen Gegnern zu geschehen pflegte ?). Von 
seinem Mitschüler Charmidas (oder Charmadas) *) kennen wir 
"nur eine für die Beurtheilung seines philosophischen Standpunkts 
ganz unerhebliche Aeusserung °); ebenso ist uns von den übrigen 


1) Klitomachus stammte aus Karthago (daher bei Max. Tyr. Diss. 10, 3: 
Κλειτομάχου τοῦ Λίβυος), und hiess ursprünglich Hasdrubal. Schon zu Hause 
hatte er sich mit wissenschaftlicher Forschung beschäftigt. und wie es scheint 
in seiner Muttersprache Schriften verfasst (τῇ ἰδία φωνῇ ἐν τῇ πατρίδι ἐφιλοσόφει). 
Vierzig (nach St£rn. Byz. De urb. Καρχηδὼν: 28) Jahre alt kam er nach Athen, 
wurde von Karnvades in die griechische Wissenschaft eingeführt, und widmete 
sich ihr mit solchem Eifer und Erfolg, dass er (auch nach Cıc. Acad. II, 6, 17. 
31, 98. Artur. IX, 402, e) ein sehr geachteter Philosoph und ein sehr frucht- 
barer Schriftsteller wurde (Dıoe. IV, 67). Schriften von ihm nennt, ausser 
der schon erwähnten Trostschrift, Cıc. Acad. II, 31, 98. 32,102. Dıoe. II, 92. 
Er starb (nach 5108. Floril. VII, 55 durch Selbstmord) nicht vor dem Jahr 110 
(wie Zuuer bemerkt, üb. ἃ. philosoph. Schulen in Athen, Abh. d. Berl. Akad., 
Jahrg. 1842, Hist.-philol. Kl. .5. 67), da ihn nach Cıc. De orat. I, 11, 45 
L. Crassus während seiner Qnästur, welche frühestens in dieses Jahr fällt, in 
Athen sah. Er muss aber damals sehr alt gewesen sein. 

2) Dioe. IV, 67, vgl. Cıc. Acad. II, 32, 102. 

3) Darauf weist wenigstens die eigenthümliche Bemerkung des Diogenes 
ΙΝ, 64: ἀνὴρ ἐν ταῖς τρισὶν αἱρέσεσι διαπρέψας, Ev τε τῇ ᾿Αχαδημαϊκῇ χαὶ περιπατητιχῇ 
χα! στωϊχῇ. 

4) Nach Cıc. Acad. II, 6, 17. De orat. I, 11, 45. Orator 10, 51 war auch 
Charmadas noch ein Schüler des Karneades, dem er nicht blos in seiner Lehre, 
sondern auch in seiner Darstellung folgte. Den Klitomachus muss er über- 
lebt haben, da er.auch noch neben Philo als Lehrer thätig war (s. u. 480, 1); 
die Leitung der Schule übernahm jedoch nach Klitomachus Philo (Evs. pr. ev. 
XIV, 8, 9). Nach Cıc. De orat. II, 88, 360. Tuse. I, 24, 59 zeichnete er sich 
durch ein ungewöhnlich starkes Gedächtniss aus. 

5) Cıc. De orat. I, 18, 84: Charmadas habe behauptet, eos qui rhetores 
nominabantur et qui dicendi praecepta traderent nihil plane tenere, neque posse 
quemguam facultatem assequi dicendi, nisi qui philosophorum inventa didieis- 
sent. Auch Sexr. Math. II, 20 erwähnt der Polemik des Klitomachus und 


Klitomachns, Charmidas u. A. 479 


Schülern des Karneades 1). was ihre Philosophie betrifft, nur das 
Wenige überliefert, was tiefer unten noch anzuführen sein wird. 
Mag nun auch auf die Angabe des Porysıus über des Herabsinken 
der akademischen Schule in leere Spitzfindigkeiten und über die 
Verachtung, welche sie sich dadurch zugezogen haben soll ?), 


Charmidas gegen die Rhetoren, mit denen ja auch er selbst, und so wohl die 
ganze Schule, der er angehört, sich herumschlägt. Ihr Mitschüler Agnon 
verfasste nach Qvisritr. II, 17, 15 eine eigene Schrift „Klage gegen die Rlıeto- 
rik“*. Wenn aber Rırter III, 695 hierauf die Angabe gründet: Charmidas 
habe die Philosophie empfohlen, weil sie der einzige Weg zur Beredsamkeit 
sei, und so den Zweck der akademischen Wahrscheinlichkeitslehre offeuer 
bekannt, so legt er viel zu viel in eine Aeusserung, die in Wahrheit gar 
nichts enthält, was nieht auch die Stoiker, wie vor ihnen sehr entschieden 
schon Plato, gesagt hätten. 

1) Ausser Klitomachus und Charmadas werden uns von Cıc. Acad. II, 
6, 16 Hagnon und Melanthius aus Rhodus genannt; der erstere wird 
auch von Quintilian (8. vor. Anm. und Arnen. XII, 602, ἃ angeführt. Weiter 
sagt Cicero, auch Metrodorus von Stratonice habe für einen Bekannten 
des Karneades gegolten; er war zu ihm aus der epikureischen Schule überge- 
treten (Dıos. X, 9). Von diesem Metrodor ist nicht blos Metrodorus aus 
Skepsis, der Schüler des Charmadas (s. u. 480, 1), sondern ohne Zweifel auch 
derjenige Metrodor zu unterscheiden, welcher auch als Maler ausgezeichnet, 
168 v. Chr. den Aemilius Paulus nach Rom begleitete (Prix. h. nat. XXXV, 
11, 135); jener muss jünger, dieser scheint älter, als der Stratonicenser, ge- 
wesen zu sein. Ein Zuhörer des Melanthius (Dioe. II, 64), aber auch noch 
des Karneades selbst in dessen späteren Jahren (Pıur. an seni s. ger. resp. 
13, 1. S. 791; s. u. 484, 2), war Aeschines aus Neapel, nach (το. De orat. 
I, 11,45 gleichfalls gegen das Ende des zweiten Jahrhunderts ein angesehener 
Lehrer der akademischen Schule in Athen. Einem andern seiner Schüler, 
Mentor, verbot Karneades seine Schule, weil er ihn bei seiner Conceubine 
getroffen hatte (Dioc. IV, 63 ἢ, Nunen. b. Evs. pr. ev. XIV, 8, 7). 

2) Exe. Vatic. XII, 26: χαὶ me ἐχείνων [τῶν ἐν ᾿Αχκαδημίᾳ] τινὲς βουλόμενοι 
Wi τε τῶν προφανῶς χαταληπτῶν εἶναι δοχούντων χαὶ περὶ τῶν ἀκαταλήπξων εἰς 
ἀπορίαν ἄγειν τοὺς προςμαχομένους τοιαύταις χρῶνται παραδοξολογίαις Kor τοιαύτας 
εὐποροῦσι πιθανότητας, ὥστε διαπορεῖν, ἀδύνατόν [1. εἰ δυνατόν] ἐστι, τοὺς ἐν ᾿Αθήναις 
ὄντας ὀσφραίνεσθαι τῶν ἑψομένων ὠῶν ἐν Bein χαὶ διστάζειν, ‚pe πω χαθ᾽ ὃν 
χαιρὸν ἐν ᾿Αχαδημία διαλέγονται περὶ τούτων οὐχ, ὑπὲρ ἄλλων ἄρ᾽ ἐν οἴκῳ χαταχείμενοι 
τούτους διατίθενται τοὺς λόγους" ἐξ ὧν δι᾽ ὑπερβολὴν τῆς παραδοξολογίας εἰς διαβολὴν 
ἤχασι τὴν ὅλην αἵρεσιν, ὥστε χαὶ τὰ χαλῶς ἀπορούμενα παρὰ τοῖς ἀνθρώποις εἰς 
ἀπιστίαν ἦχθαι, καὶ γωρὶς τῆς ἰδίας ἀστοχίας καὶ τοῖς νέοις τοιοῦτον ἐντετόχασι ζῆλον, 
ὥστε τῶν μὲν ἠθιχῶν χαὶ πραγματιχῶν λόγων μηδὲ τὴν τυχοῦσαν ἐπίνοιαν ποιεῖσθαι, 
U’ ὧν ὄνησις τοῖς φιλοσοφοῦσι, περὶ δὲ τὰς ἀνωφελεῖς καὶ π παραδόξους εὑρεσιολογίας 


χενοδοξοῦντες χατατρίβουσι τοὺς βίους. Wie wenig diese Aensserung für einen 


450 Schule des Karneades. 


kein grosses Gewicht zu legen sein, so lässt sich doch annehmen, 
dass dieselbe nach Karneades keinen wesentlichen Fortschritt mehr _ 
auf dem von ihm und von Arcesilaus eröffneten Wege gemacht 
hat. Ja sie hielt sich überhaupt nicht mehr lange in dieser Rich- 
tung, vielmehr begann schon ein Menschenalter nach dem Tode 
ihres berühmtesten Lehrers, ja schon bei seinen persönlichen 
Schülern 1), jener Eklekticismus in ihr hervorzutreten, dessen 


. geschichtlich unbefangenen Bericht gelten kann, zeigt schon der Umstand, 
dass andernfalls in der Zeit des Karneades, dessen Zeitgenosse Polybins war, 
und auf den sich die Bemerkung über die Begeisterung der Jugend für die 
skeptische Lehre wahrscheinlich bezieht, nicht so geringschätzig von der 
Akademie gesprochen werden konnte; die ganze Darstellung trägt aber auch 
sosehr die Farbe gegnerischer Uebertreibung, dass wir aus ihr kaum ein 
treueres Bild von der Akademie gewinnen werden, als etwa von der neueren 
deutschen Philosophie aus den Urtheilen der einseitigen Praktiker oder 
Schlosser’s Diatriben gegen die „Staatssophisten“. 

1) Dass auch schon unter diesen die Neigung vorhanden war, die Wahr- 
scheinlichkeitslehre im Verhältniss zur Skepsis stärker zu betonen, und 
wenigstens für den praktischen Theil der Philosophie die früheren Systeme 
eklektisch zu benützen, wird ausser dem, was so eben über Klitomachus ange- 
führt wurde, und was 5. 484,2 über Aeschines anzuführen sein wird, auch durch 
den Umstand wahrscheinlich gemacht, dass manche von den alten Gelehrten 
mit Philo und Charmidas die vierte, mit Antiochus die fünfte Akademie 
beginnen liessen (Sexr. Pyrrh. I, 220. Eus. pr. ev. XIV, 4, 16). Noch früher 
soll Metrodorus von dem Standpunkt des Karneades zurückgewichen sein; 
vgl. Ausustıs e. Acad. III, 18, 41, welcher nach Besprechung des Antiochus 
und seines Abfalls von der Skepsis fortfährt: guamquam et Metrodorus id antea 
Ffacere tentaverat, qui primus dieitur esse confessus, non decreto placuisse Aca- 
demicis, nihil posse comprehendi, sed necessario contra Stoicos hujusmodi eos 
arma sumsisse. Augustin hat diese Angabe wahrscheinlich einem verlorenen 
Abschnitt der eiceronischen Academiea entnommen, und so werden wir sie 
für zuverlässig halten dürfen. Der Metrodor, von dem sie handelt, ist wohl 
der Stratonicenser (oben 479,1), dessen Cicero Acad. II, 6,16 in einem unserer 
Stelle verwandten Zusammenhang erwähnt, und vielleicht in der Umarbeitung 
dieses Buchs noch eingehender erwähnt hatte. Ausser ihm könnte man an 
den Skepsier denken (m. 8. über diesen Srraso XII, 1, 55. S. 609. XVI,4, 16. 
S. 775. Puur. Lucull. 22. Dıioc. V, 84. Cıc. De orat. II, 88,360. 90, 365. 
III, 20, 75. Tuse. I, 24, 59. Prim. hist. nat. VII, 24, 89. Quintır. X, 6,4. XI, 
2,22. Mürrer Hist. gr. II, 203 £.), welcher erst in Chalcedon Rhetorik lehrte, 
nachher in die Dienste des Mithridates trat, und auf dessen Befehl, wie es 
scheint schon in höherem Alter, 70 v. Chr. getödtet wurde. Als Akademiker 
wird dieser von Cıc. De orat. III, 20, 75 bezeichnet, und er scheint es auch zu 


Schule des Karneades. 481 


gleichzeitige allgemeinere Verbreitung einen neuen Abschnitt in 
der Geschichte der nacharistotelischen Philosophie bezeichnet. 


sein, der ebd. I, 11, 45 als Schüler des Charmadas aufgeführt ist (mit Char- 
madas wird er auch II, 88, 360, zunächst allerdings nur wegen ihres beider- 
seitigen grossen Gedächtnisses, zusammengestellt); die Aeusserung, welche 
Augustin anführt, könnte in der Schrift περὶ συνηθείας (Srraso 8.775) gestanden 
haben. Indessen ist er uns sonst nur als Rhetor und Politiker bekannt. Aehn- 
lich, wie mit der obigen Ad&usserung, verhält es sich auch mit dem, was Cıc. 
Acad. II, 24, 78 (s. ο. S. 470, 2) sagt; auch hier wissen wir nicht, welcher 
Metrodor gemeint ist; nur das ist zu vermnthen, dass es derselbe, wie bei 
Augustin, ist. 


Philos. d. Gr. III. B. 1. Abth. 31 


4823 Eklekticismus. 


Tweiter Abschnitt. 


Eklekticismus, erneuerte Skepsis, Vorläufer des Neuplato- 
nismus. 


A. Eklekticismus. 


1. Entstehungsgründe und Charakter des Eklektieismus. 


Diejenige Form der Philosophie, welche um den Anfang un- 
serer Periode hervortrat, hatte sich im Laufe des dritten und 
zweiten Jahrhunderts in ihren drei Hauptzweigen vollendet. Diese 
drei Schulen waren bis dahin neben einander hergegangen, indem 
sich jede in ihrer Reinheit zu erhalten strebte, und gegen die an- 
dern, wie gegen die frühere Philosophie, nur eine angreifende 
oder abwehrende Stellung einnahm. Aber die Natur der Sache 
bringt es mit sich, dass Geistesrichtungen, die einem verwandten 
Boden entsprossen sind, nicht zu lange in dieser ausschliessenden 
Haltung beharren können. Die ersten Begründer einer Schule 
und ihre nächsten Nachfolger legen gewöhnlich im Eifer der selbst- 
thätigen Forschung alles Gewicht auf das Eigenthümliche ihrer 
Denkweise, an dem Gegner sehen sie nur die Abweichungen von 
dieser ihrer Wahrheit; die Späteren dagegen, welche jenes Eigen- 
thümliche nicht mehr mit der gleichen Anstrengung gesucht, und 
daher auch nicht mit der gleichen Stärke und Einseitigkeit ergriffen 
haben, werden auch in den gegnerischen Behauptungen das Ge- 
meinsame und Verwandte leichter erkennen, und andererseits 
untergeordnete Eigenthümlichkeiten des eigenen Standpunkts leich- 
ter aufopfern; der Streit der Schulen selbst wird sie nöthigen, 
übertriebene Beschuldigungen und unbedingte Verwerfungsurtheile ἡ 
durch stärkere Betonung dessen, worin sie mit Andern zusammen- 
treffen, zurückzuweisen, unhaltbare Behauptungen aufzugeben 
oder zurückzustellen, anstössige Sätze zu mildern, ihren Systemen 
die‘schroffsten Spitzen abzubrechen; mancher Einwurf des Gegners 


Entstehungsgründe. 483 


wird haften, und indem man ihm durch eine neue Wendung zu 
entgehen sucht, hat man mit dem Einwurf selbst auch die Voraus- 
setzungen desselben theilweise zugegeben. Es ist daher eine all- 
gemeine und natürliche Erfahrung, dass sich im Streit der Partheien 
und Schulen ihre Gegensätze allmählig abstumpfen, dass das Ge- 
meinsame, was ihnen zu Grunde liegt, mit der Zeit deutlicher 
erkannt, eine Vermittlung und Verschmelzung versucht wird. So 
lange nun die philosophische Produktivität in einem Volke noch 
lebendig ist, wird der Fall entweder gar nicht, oder nur vorüber- 
gehend eintreten, dass seine ganze Wissenschaft von diesem 
Eklekticismus ergriffen würde, weil sich bereits neue Richtungen 
in ihrem Jugendlaufe versuchen, ehe die nächst vorangehenden 
entschieden zu altern begonnen haben. Sobald dagegen der wissen- 
schaftliche Geist ermattet, und ein längerer Zeitraum ohne neue 
Schöpfungen nur durch die Verhandlungen zwischen den vorhan- 
denen Schulen ausgefüllt wird, so wird das natürliche Ergebniss 
dieser Verhandlungen, die theilweise Vermischung der streitenden 
Partheien, in weiterem Umfang hervortreten, und die gesammte 
Philosophie wird jene eklektische Haltung annehmen, die in ihrer 
allgemeinen Ausbreitung immer das Vorzeichen, entweder einer 
tiefgreifenden Umwälzung oder des gänzlichen Verfalls ist. Eben 
dieses war aber der Fall, in dem sich die griechische Philosophie 
in den letzten Jahrhunderten vor Christus befand. Alle die Ur- 
sachen, welche die Auflösung der klassischen Bildung überhaupt 
herbeiführten, hatten auch auf den philosophischen Geist lähmend 
gewirkt; auf die Umgestaltung der Philosophie, welche das Ende 
des vierten und den Anfang des dritten Jahrhunderts bezeichnet, 
folgte Jahrhunderte lang keine neue Systemsbildung; und hatten 
die nacharistotelischen Systeme an und für sich schon das rein 
theoretische Interesse an der Betrachtung der Dinge verloren, und 
durch ihre Beschränkung auf das Leben und die Zwecke des Men- 
schen ein Nachlassen des wissenschaftlichen Bestrebens beurkundet, 
so konnte die lange Stockung der philosophischen Produktion nur 
dazu dienen, den wissenschaftlichen Sinn noch mehr abzustumpfen 
und die Möglichkeit der wissenschaftlichen Erkenntniss überhaupt 
in Frage zu stellen. Dieser Sachverhalt fand seinen richtigen Aus- 
druck in dem Skepticismus, welcher den dogmatischen Systemen 
mit immer bedeutenderem Erfolg entgegentrat. Nur die Rückseite 
915 


484 Eklektieismus. 


des Skeptieismus war aber der Eklektieismus, welcher seit dem 
Anfang des ersten vorchristllichen Jahrhunderts die Skepsis zurück- 
drängte, und die früher getrennten Richtungen des Denkens ver- 
knüpfte. Die Skepsis hatte alle dogmatischen Ansichten zunächst 
in der Art einander gleichgestellt, dass sie allen gleichmässig die 
τ wissenschaftliche Wahrheit absprach. Dieses Weder-noch wird 
im’ Eklekticismus zum Sowohl-als-auch; aber auch für diesen 
Uebergang hatte die Skepsis den Weg gebahnt, denn sie selbst 
hatte es in der reinen Negation nicht ausgehalten, und desshalb 
in ihrer Lehre von der Wahrscheinlichkeit wieder eine positive 
Ueberzeugung als praktisches Postulat aufgestellt. Diese Ueber- 
zeugung sollte nun freilich nicht mit dem Anspruch auf volle Ge- 
wissheit auftreten; indessen lässt sich schon in der Entwicklung 
der skeptischen Theorie von Pyrrho zu Arcesilaus und von Arcesi- 
laus zu Karneades eine steigende Werthschätzung der Wahrschein- 
lichkeitserkenntniss nicht verkennen; es durfte nur um einen ᾿ 
Schritt weiter gegangen, die skeptische Theorie gegen das prakti- 
sche Bedürfniss entschiedener zurückgestellt werden, und das 
Wahrscheinliche erhielt die Bedeutung des Wahren, die Skepsis 
schlug wieder in ein dogmatisches Fürwahrhalten um. Aber doch 
musste der Zweifel in diesem Dogmatismus noch so weit nach- 
wirken, dass kein einzelnes System als solches für wahr anerkannt 
wurde, sondern das Wahre aus allen Systemen nach Maassgabe 
des subjektiven Bedürfnisses und Urtheils ausgeschieden werden 
sollte. Eben dieses war ja auch das Verfahren der Skeptiker bei 
der Ausmittlung des Wahrscheinlichen gewesen: wie sie ihren 
Zweifel an der Kritik der vorhandenen Ansichten entwickeln, so 
suchen sie auch das Wahrscheinliche zunächst in den vorhandenen 
Systemen, ‚zwischen denen sie aber sich selbst die Entscheidung 
vorbehalten. So hatte es Karneades, wie wir gesehen haben '), 
bei den ethischen Fragen gemacht, auf die er sich mit zunehmen- 
den Jahren, wie erzählt wird, von seiner früheren Vorliebe für 
die Bekämpfung fremder Meinungen zurückkommend, immer mehr 
beschränkte 3). Aehnlich scheint Klitomachus neben der Bestrei- 


‘ 


1) 8.472 £. 
2) Prur. an seni 5. ger. resp. 13,1. $. 791: ὃ μὲν οὖν ᾿Αχαδημαϊχὸς Αἰσχί- 
ng, σοφιστῶν τινων λεγόντων, ὅτι προςποιεῖται γεγονέναι Καρνεάδου, μὴ γεγονὼς, 


Entstehungsgründe. 485 


iung der dogmatischen Schulen zugleich ein positives Verhältniss 
zu ihnen gesucht zu haben '); und von einem andern Schüler des 
Karneades, Aeschines, erfahren wir, dass er sich nur an diese 
Seite seiner Lehre gehalten habe 2). Der Skepticismus bildet so 
die Brücke von dem einseitigen Dogmatismus der stoischen und 
epikureischen Philosophie zum Eklektieismus, und es ist in dieser 
Beziehung nicht für zufällig zu halten, dass es gerade die Nach- 
folger des Karneades waren, von denen diese Denkweise haupt- 
sächlich ausgieng, und dass sie bei ihnen selbst zunächst an den 
Punkt anknüpft, auf den schon die Stoiker und Epikureer ihren 
Dogmatismus und die Akademiker selbst ihre Wahrscheinlichkeits- 
lehre in letzter Beziehung gestützt hatten, an die Nothwendigkeit 
bestimmter Ansichten für's Leben. Weiterhin war es jedoch über- 
haupt der Zustand der damaligen Philosophie und der Streit der 
philesophischen Schulen, der zuerst die Entstehung und Verbrei- 
tung der Skepsis, in der Folge die eklektische Richtung in der 
Philosophie hervorrief. 

Den bedeutendsten äusseren Anstoss zu dieser Veränderung 
gab die Beziehung, in welche die griechische Wissenschaft und 
Bildung zu der römischen Welt trat 5). Die erste Kunde von grie- 
chischer Philosophie war den Römern ohne Zweifel von Unter- 
italien aus zugekommen: der Stifter der italischen Schule, Py- 
thagoras, ist der ‚erste Philosoph, dessen Name in Rom genannt 
wird 4). Von den Lehren der griechischen Philosophen kann man 
aber hier vor dem Beginn des zweiten vorchristlichen Jahrhun- 
deris nur ganz Aeusserliches und Vereinzeltes vernommen haben. 
Diess musste sich jedoch ändern, als nach dem zweiten punischen 


μαθητής" ἀλλὰ τότε γε, εἶπεν, ἐγὼ Καρνεάδου διήχκουον, ὅτε τὴν ῥαχίαν χαὶ τὸν 
ψόφον ἀφειχὼξ ὃ λόγος αὐτοῦ διὰ τὸ γῆρας εἰς τὸ χρήσιμον συνῆχτο χαὶ κοινωνιχόν 

1) Vgl. 5. 478, 8. 

2) S. vorl. Anm. 

3) Zu dem Folgenden vgl. m. Rırter IV, 79 ff. 

4) Die Nachweisungen darüber sind schon Bd. I, 225, 4. 354, 2, Schl. 
vgl. 244, 3 gegeben worden. Noch früher fällt allerdings die Anwesenheit des 
Ephesiers Hermodorus in Rom, welcher die Decemvirn bei Abfassung der 
zwölf Tafeln unterstützte (m. s. meine Dissertation De Hermodoro, Marb. 
1859, 5.8 ἢ, 16 £.); wenn diess aber auch wirklich der bekannte Freund Hera- 
klit's war, haben wir doch keinen Grund zu der Annahme, dass er den Römern 
von der Physik dieses Philosophen erzählt habe. 


486 Eklekticismues. 


Kriege die römische Staatskunst und die römischen Waffen immer 
weiter nach Osten vordrangen; als die Kriege mit Macedonien 
und Syrien angesehene Römer in grosser Anzahl nach Griechen- 
land führten, während andererseits griechische Gesandte und 
Staatsgefangene '), bald auch Sklaven, immer häufiger in Rom 
erschienen; als Männer von der Bedeutung des älteren Scipio 
Africanus, des T. Quinctius Flamininus und des Aemilius Paulus 
der griechischen Literatur sich mit Vorliebe zuwandten; als seit 
dem Anfang des zweiten Jahrhunderts durch Ennius, Pacuvius, 
Statius, Plautus und ihre Nachfolger die griechische Dichtkunst 
in mehr oder weniger freier Nachahmung auf römischen Boden 
verpflanzt, durch Fabius Pietor und andere Annalisten die römi- 
sche Geschichte in griechischer Sprache erzählt wurde. Die phi- 
losophische Literatur der Griechen stand mit den übrigen Zweigen 
in einem viel zu engen Zusammenhang, die Philosophie nahm als 
Unterrichtsmittel und als Gegenstand des allgemeinen Interesse’s 
in dem ganzen hellenischen Bildungsgebiet eine viel zu bedeutende 
Stelle ein, als dass solche, die einmal an dem griechischen Gei- 
stesleben Gefallen fanden, sich ihr auf die Dauer hätten ver- 
schliessen können, mochte auch das eigene Bedürfniss wissen- 
schaftlicher Forschung in ihnen noch so schwach sein. So finden 
wir denn auch noch vor der Mitte des zweiten Jahrhunderts mehr- 
fache Spuren von der beginnenden Bekanntschaft der Römer mit 
griechischer Philosophie. Schon 155, oder sogar schon 173 v. 
Chr. soll die Lehrthätigkeit epikureischer Philosophen ihre Aus- 
weisung aus Rom veranlasst haben ?). Nicht sehr lange vor- oder 
nachher, 161 v. Chr., wird durch einen Senatsbeschluss den „Phi- 
losophen und Rhetoren“ der Aufenthalt in Rom verboten ?), was 


1) Wie die tausend Achäer, welche 168 v. Chr. nach Italien abgeführt 
und 17 Jahre dort festgehalten wurden, durchaus Männer von Ansehen und 
Bildung (unter ihnen war bekanntlich Polybius), deren vieljährige Anwesen- 
heit in Italien nicht ohne Rückwirkung auf Rom bleiben konnte, wenn auch 
die wenigsten derselben in dieser Stadt selbst ihren Aufenthaltsort hatten. 

2) S. 0. 348, 1. 

3) Der betreffende Senatsbeschluss findet sich bei Surronx. De ol. orat. 1. 
Geur. N. A. XV, 11 (vgl. auch Crixtox F. Hellen, zu 161 v. Chr.). Dieselben 
theilen noch ein zweites verwandtes Aktenstück mit, ein Edikt der Censoren 
Cn. Domitius Ahenobarbus und L. Licinius Crassus, worin sie den Lehrern 


Die griechische Philosophie in Rom. 487 


doch immer beweist, dass man Grund hatte, von denselben einen 
Einfluss auf die Jugendbildung zu besorgen. Aemilius Paulus, 
der Besieger Macedoniens, gab seinen Söhnen griechische Lehrer, 
und nahm zu diesem Zwecke den Philosophen Metrodorus mit 
sich ). Auch sein Begleiter in dem macedonischen Feldzug, Sul- 
pieius Gallus, hat vielleicht neben den. astronomischen Kenntnis- 
sen, durch die er sich auszeichnete, auch philosophische An- 
schauungen der Griechen sich angeeignet ?). Doch sind diess 
immer erst vereinzelte Anzeichen der Bewegung, welche seit der 
Mitte des zweiten Jahrhunderts in grösserem Umfang hervortritt. 
Wenn sich bisher verhältnissmässig nur Wenige mit griechischer 
Philosophie beschäftigt hatten, so gewinnt jetzt das Interesse an 
derselben allgemeinere Verbreitung ; griechische Philosophen 
kommen nach Rom, um ihf Glück dort zu versuchen, oder wer- 
den von einzelnen angesehenen Männern dorthin gezogen; junge 
Römer, welche eine Rolle im Staat spielen oder sich in der ge- 
bildeten Gesellschaft auszeichnen wollen, glauben den Unter- 
‚richt eines Philosophen nicht entbehren zu können, und bald 
wird es üblich, diesen nicht blos in Rom, sondern auch in 
Athen, der hohen Schule griechischer Wissenschaft, aufzusuchen. 
Schon die bekannte Philosophengesandtschaft des Jahrs 156 v. 


und Besuchern der neuentstandenen lateinischen Rhetorenschulen wegen die- 
ser Abweichung von der consuetudo majorum ihr ernstliches Missfallen zu 
erkennen geben. Aber abgesehen davon, dass die rhetores latini, denen dieser 
Erlass auch nach Cıc. De orat. III, 24, 93 f. allein galt, mit der griechischen 
Philosophie doch wohl nur in mittelbarem Zusammenhang standen, ist der 
Erlass auch erst um’s Jahr 95 v. Chr. ergangen, wie aus Cıc. a. a. O. ver- 
glichen mit I, 7, 24 hervorgeht. Crıxtox F. Hellen. setzt ihn sogar erst 
92 v. Chr. 

1) Pras. h. nat. XXXV, 135 vgl. m. Prur. Aem. P. 6. Der letztere nennt 
unter den Griechen, mit denen Aem. seine Söhne umgeben habe, Grammatiker, 
Sophisten und Rhetoren; Plinius giebt die bestimmtere Nachricht, dass er 
nach der Besiegung des Perseus (168 v. Chr.) sich von den Athenern einen 
guten Maler und einen tüchtigen Philosophen ausgebeten habe. Sie schickten 
ihm Metrodorus, welcher beides in Einer Person war. Vgl. 8. 479, 1. 

2) Seine Kenntniss der Astronomie rühmt Cıc. Off. I, 6, 19; nach Lıvıvs 
XLIV, 37 soll er vor der Schlacht bei Pydna eine Sonnenfinsterniss vorherge- 
sagt haben, vielleicht hat er sie aber auch nur, nachdem sie eingetreten war, 
erklärt. 


488 Eklektieismus. 


Chr. !) zeigte durch den ausserordentlichen Eindruck, welchen 
besonders Karneades hervorbrachte, was für günstige Aussichten 
die griechische Philosophie in Rom hatte; und so wenig wir auch 
die Wirkung dieses vorübergehenden Ereignisses überschätzen 
dürfen, so lässt sich doch immerhin annehmen, dass es dem vor- 
her schon erwachten Interesse für Philosophie einen erheblichen 
Anstoss gab und es in weitere Kreise verbreitete. Nachhaltiger 
wirkte ohne Zweifel der Stoiker Panätius bei seiner, wie es 
scheint, mehrjährigen Anwesenheit in der Hauptstadt des römi- 
schen Reiches; ein Mann, den seine philosophische Eigenthüm- 
lichkeit vorzüglich befähigte, dem Stoicismus bei seinen römischen 
Zuhörern Eingang zu verschaffen 5). Bald nach ihm war C. Blossius 
aus Cumä, ein Schüler des Stoikers Antipater, in Rom, der Freund 
und Rathgeber des Tiberius Gracchus 5), welcher durch ihn gleich- 
falls mit dem Stoicismus bekannt geworden sein muss *). Ueberhaupt 
beginnt jetzt jene Einwanderung griechischer Gelehrten, die in der 
Folge immer grössere Umrisse annahm). Unter den Römern selbst 
. nahmen Männer, welche durch ihren Geist und ihre Stellung so ent- 
schieden hervorragten, wie der jüngere Scipio Africanus, wie sein 
Freund, der weise Lälius, wie L. Furius Philus, wie Tiberius 
Gracchus, die philosophischen Studien unter ihren Schutz °). 


1) Die Nachweisungen darüber wurden schon Bd.II,b, 753,1, γε]. 5, 455, 2 
dieses Theils, gegeben. 

2) Das Nähere darüber später, in dem Abschnitt über Panätius. 

3) Prur. Tib. Graechus 8. 17. 20. Var. Max. IV, 7, 1. Οἱο, Läl. 11, 37. 
Nach Gracchus Ermordung (133 v. Chr.) gerieth auch Blossius in Gefahr; er 
verliess Rom und gieng nach Kleinasien zu Andronicus, nach dessen Unter- 
gang er sich selbst entleibte. 

4) Dass Gracchus überhaupt durch die Fürsorge seiner Mutter ausge- 
zeichnete Griechen zu Lehrern erhalten hatte (Cıc. Brut. 27, 104 vgl. Prur. 
Ti. Graech. 20), ist bekannt. 

5) Will doch Porysıvs XXXII, 10 schon viel früher, als Seipio erst 
18 Jahre alt war, zu ihm und seinem Bruder gesagt haben: περὶ μὲν γὰρ τὰ 
μαθήματα, περὶ ἃ νῦν δρῶ σπουδάζοντας ὑμᾶς χαὶ φιλοτιμουμένους, οὐχ ἀπορήσετε 
τῶν συνεργησόντων ὑμῖν ἑτοίμως, χαὶ σοὶ χἀχείνῳ: πολὺ γὰρ δή τι φῦλον ἀπὸ τῆς 
“Ἑλλάδος ἐπιῤῥέον ὁρῶ χατὰ τὸ παρὸν τῶν τοιούτων ἀνθρώπων. 

6) Cıc. De orat. II, 37, 154: et certe non tulit ullos haec civitas aut gloria 
clariores, aut auctoritate graviores, aut humanitate politiores P. Africano, 
C. Laelio, L. Furio, qui secum eruditissimos homines ex Graecia palam semper 
habuerunt. De rep. ΠῚ, 3, 5: quid P. Scipione, quid -C. Laelio, quid L. Philo 


Die griechische Philosophie in Rom. 489 


An sie schliesst sich Scipio’s Neffe Tubero 1) an, der Schüler 
des Panätius, welcher mit den Schwiegersöhnen des Lälius, dem 
Q. Mucius Scävola 5) und C. Fannius°), nebst P. Rutilius Rufus %), 


perfectius cogitari potest? qui .... ad domesticum majorumque morem etiam 
hance a Socrate adventiciam doctrinam adhibuerunt. Dem Furius Philus legt 
Cicero dort den Inhalt des karneadeischen Vortrags gegen die Gerechtigkeit, 

‚dem er selbst angewohnt habe, in den Mund, indem er ihn zugleich in der 
eonsuetudo contrarias in partes disserendi dem Akademiker folgen lässt; 
ἃ. ἃ. Ὁ. c.5,8f. Lacr. Inst. V, 14. Ueber Sceipio’s und Lälius’ Verbindung 
mit Panätius wird auch später noch zu sprechen sein. Lälius hatte nach Cıc. 
Fin. I, 8, 24 auch noch den Diogenes gehört; was wir wohl auf dessen An- 
wesenheit in Rom i. J. 156 zu beziehen haben. 

1) Qu. Aelius Tubero, durch seine Mutter der Enkel des Aemilius Pau- 
lus, war ein sehr eifriger Stoiker, der seine Grundsätze auch im Leben, nicht 
ohne Uebertreibung, durchführte. M. 5. über ihn Cıc. Brut. 31, 117. De orat. 
III, 23, 87. pro Mur. 36, 75f. Acad. I, 44, 135. Tusc. IV, 2,4. Sen. ep. 95, 
72 f. 98, 13. 104, 21. 120,19. Pror. Lucull.39. Ῥομρον. De orig. juris I, 40. 
Gere. N. A. I, 22,7. Vauer. Max. VII, 5, 1. Einer an ihn gerichteten Schrift 
des Hekato erwähnt Ciıc. ΟἿ. III, 15, 63, einer solchen des Posidonius 
Ps.-Prur. De nobilit. 18, 3. 

2) Einer von den berühmtesten älteren Rechtskundigen und von den 
Begründern der wissenschaftlichen Jurisprudenz bei den Römern (BEerxnarpy 
Grundr. d. röm. Lit. 676 u. A.), Schwiegersohn des Lälius (Cıc. De orat. I, 
9, 35). Nach (τσ. a. a. Ὁ. 17, 75 hatte auch er den Panätius gehört, und ebd. 
10, 43 nennt er die Stoiker Stoici nostri. 

3) C. Fannius, des Marcus Sohn, der Schwiegersohn des Lälius, war 
durch diesen veranlasst worden, den Panätius zu hören (Cıc. Brut. 26, 101), 
und wird von Ciıc. auch Brut. 31, 18 als Stoiker bezeichnet. Ein von ihm ver- 
fasstes geschichtliches Werk nennt Cicero öfters; ebenso Prur. Ti. Gracch. 4. 
Ueber sein Consulat Ders. €. Gracch. 8. 11. 12. 

4) Es ist diess der Rutilins, welcher sich auch durch kriegerische Ver- 
dienste (Varer. Max. II, 3, 2. Sarıust. Jug. 54. 56 ἢ), hauptsächlich jedoch 
durch die Reinheit seines Charakters bekannt gemacht hat. Wegen der Un- 
partheilichkeit, mit der er als Proconsul die Bewohner Kleinasiens gegen die 
Erpressungen der römischen Ritterschaft geschützt hatte, wurde i.J. 92 v.Chr. 
durch einen der schaamlosesten Urtheilssprüche die Verbannung über ihn 
verhängt, welche er mit der Heiterkeit des Weisen ertrug. Er gieng nach 
Smyrna, wo er auch starb, indem er die ihm von Sulla angebotene Rückkehr 
ablehnte. M. 5. darüber Cıc. Brut. 30, 115. N. D. III, 32,80. in Pison. 39, 95. 
Rabir. Post. 10, 27. pro Balbo 11, 28 (vgl. Tacır. Ann. IV, 43). Sen. ep. 24,4. 
79, 14. 82, 11. Benef. VI, 37,2 u.a. St. Varer. Max. II, 10,5 u.A. Cicero 
nennt ihn Brut. 30, 114 doctus vir et graecis literis eruditus, Panaetü auditor, 
prope perfectus in Stoicis. Seine Bewunderung für seinen Lehrer Panätius und 


490 Eklekticismus. 


L. Aelius 7) und Andern ?), die lange Reihe der römischen 
Stoiker eröffne. Noch grössere Verbreitung gewann um die 
gleiche Zeit der Epikureismus, welcher früher, als die übrigen 
Systeme, durch lateinisch geschriebene Werke auch bei Andern, 
als griechisch Gebildeten, Eingang fand 5). Etwas später scheint 
die akademische und peripatetische Schule, deren Grundsätze 
freilich auch den Zuhörern des Panätius nicht unbekannt geblie- 
ben sein können, durch namhafte Lehrer in Rom vertreten wor- 
den zu sein; aus jener ist (abgesehen von der Philosophengesandt- 
“ schaft) Philo; aus dieser Staseas der Erste, dessen Anwesenheit 
in Rom uns bekannt ist). Aber schon um ein Merkliches früher 
hatte Klitomachus zwei Römern Schriften gewidmet °), und Kar- 
neades selbst war, wie erzählt wird, in Athen von römischen 
Reisenden aufgesucht worden °). Bald nach dein Anfang des er- 
sten vorchristlichen Jahrhunderts besuchte Posidonius (s. u.) die 
Weltstadt; vor der Mitte desselben treffen wir in ihr die 
Epikureer Philodemus und Syro ”). Indessen war es um diese 


seine Bekanntschaft mit Posidonius erhellt aus Cıc. Off. III, 2, 10. Er hinter- 
liess Denkwürdigkeiten und Geschichtswerke; s. Bers#arpy a. a. Ὁ, 8. 203. 
526, auch Cıc. Fin. I, 3, 7. 

1) M. 5. über diesen Gelehrten, den Vorgänger und Lehrer Varro’s, Cıc. 
Brut. 56, 205 ἢ, auch Acad. I, 2, 8. ad Herenn. IV, 12. 

2) Wie M. Vigellius (Cıc. Orat. III, 21, 78) und Sp. Mummius, der Bruder 
des Eroberers von Korinth, welcher seinen Stoieismus (Cıc. Brut. 25, 94), der 
Zeit nach zu schliessen, gleichfalls Panätius zu verdanken haben wird. 

3) 8. 0.8. 348 und (το. Tuse. IV, 3, 6: itaque ülius verae elegantisque 
philosophiae (der stoischen, peripatetischen und akademischen)... nulla fere 
sunt aut pauca admodum latina monumenta ... cum interim illis silentibus 
O©. Amafinius extitit dicens u. s. νυ. 

4) Das Nähere tiefer unten. Philo (und mit ihm vielleicht sein Schüler 
Antiochus) kam 88 v. Chr. nach Rom; Staseas erscheint bei Cıc. De orat. I, 
22, 104 schon um 92 v. Chr. dort. 

5) Dem Dichter Lueilius (148—102 v. Chr.), und vorher dem L. Censo- 
rinus, welcher 149 v. Chr, Consul war; Cıc. Acad, II, 32, 102. 

6) So viel nämlich mag, selbst wenn diese bestimmte Thhatsache erdichtet 
sein sollte, immerhin der Angabe Cicero’s (De orat. III, 18, 68), dass @. Me- 
tellus (Numidicus) als junger Mensch den greisen Karneades mehrere Tage in 
Athen gehört habe, Wahres zu Grunde liegen. Als Anhänger der Lehre 
des Karneades wird von Cıc. Acad. II, 48, 148 auch Catulus, der bekannte 
College des Marius im cimbrischen Kriege, bezeichnet. 

7) S. o. S. 350. 


Die griechische Philosophie in Rom. 491 


Zeit schon sehr gewöhnlich, dass junge Römer die griechische 
Wissenschaft an der Quelle aufsuchten, indem sie sich zum Zweck 
ihrer Studien an die Hauptsitze derselben, vor Allem nach Athen, 
begaben 1). Um den Anfang der Kaiserzeit vollends wimmelte es 
in Rom von griechischen Gelehrten jeder Art > und es befanden 
sich unter diesen denn doch nicht blos solche, die ein oberfläch- 
liches Wissen handwerksmässig verwertheten °); während gleich- 
zeitig noch an anderen Orten des Westens mit der übrigen Wis- 
senschaft auch die Philosophie der Griechen sich einbürgerte und von 
diesen Mittelpunkten aus sich weiter verbreitete*). Mit der Kennt- 
niss der griechischen Philosophie gieng natürlich auch die ihrer 
Literatur Hand in Hand; und seit Lucretius und Cicero trat ihr 
eine römische zur Seite °), welche hinter der gleichzeitigen grie- 
chischen kaum zurücksteht, wenn sie auch der früheren weder 
an wissenschaftlicher Schärfe noch an schöpferischer Eigenthüm- 
lichkeit zu vergleichen ist. 

Beim Beginn dieser Bewegung verhielten sich nun die Römer 


1) Die bekanntesten Beispiele sind die des Cicero und Attieus; es werden 
uns aber auch noch viele weitere begegnen. Im Allgemeinen vgl. m. Cıc. Fin. 
V, 1, wo Cicero sein eigenes Zusammensein mit Studiengenossen in Athen 
(77 v. Chr.) schildert, und über ‚eine etwas spätere Zeit Acad. I, 2, 8, wo er 
Varro sagen lässt: sed meos amicos, in quibus est studium, in Graeciam mitto, 
ut eo a fontibus potius hauriant, quam rivulos consectentur. 

2) Die Sache ist bekannt; beispielshalber vgl. m. Srraso XIV, 5, 15. 
8. 675: ΤῬαοσέων γὰρ χαὶ ᾿Αλεξανδρέων ἐστὶ μεστή [ἢ Ῥώμη]. 

3) Mehrere in Rom lebende griechische Philosophen aus der Zeit August's 
und Tiber’s werden uns später vorkommen. 

4) Der bedeutendste derselben war die alte Griechenstadt Massilia, von 
der Straso IV, 1,5. $. 181 sagt: πάντες γὰρ ol yaplevreg πρὸς τὸ λέγειν τρέπονται 
χαὶ φιλοσοφεῖν: früher schon eine Pflanzstätte griechischer Bildung in Gallien, 
habe es diese Stadt jetzt so weit gebracht, dass die vornehmen Römer ihre 
Studien hier, statt in Athen, machen. 

5) Dass diese beiden die ersten nennenswerthen philosophischen Schrift- 
steller in lateinischer Sprache sind, ist wohl sicher; die wenigen früheren 
Versuche scheinen höchst ungenügend gewesen zu sein (s. ο. 348, 2). Beide 
nehmen auch diese Ehre ausdrücklich für sich in Anspruch; vgl. Luc. V, 336: 
hanec (die epikureische Lehre) primus cum primis ipse repertus nunc ego sum 
in patrias qui possem vertere voces. Cıc. Tuse. I, 3, 5: phülosophia jacuit usque 
ad hanec aetatem nec ullum habuit lumen literarum Latinarum ... in quo eo 
magis nobis est elaborandum, quod multi jam esse libri Latini dieuntur scripti 
inconsiderate ab optimis ülis quidem viris, sed non satis eruditis. 


492 Eklekticismus. 


zu den Griechen nur als Schüler, welche die Wissenschaft ihrer 
Lehrer aufnahmen und nachbildeten; und bis zu einem gewissen 
Grade blieb dieses Verhältniss während ihres ganzen Verlaufes, 
da der wissenschaftliche Sinn und Geist in Rom niemals auch nur 
zu der Stärke und Selbständigkeit gelangte, welche er sich in 
Griechenland selbst in der späteren Zeit noch bewahrt hatte. 
Aber auf die Dauer konnte diese Einwirkung der griechischen 
Philosophie doch nicht ohne Rückwirkung auf sie selbst bleiben. 
Mochten nun geborene Römer, wie, Cicero und Lucrez, die grie- 
.chische Wissenschaft für ihre Landsleute bearbeiten, oder moch- 
ten sie griechische Philosophen, wie Panätius und Antiochus, den 
Römern vortragen, in dem einen, wie in dem andern Fall war es 
unvermeidlich, dass sich ihre Darstellungen mehr oder weniger 
durch die Rücksicht auf den Geist und das Bedürfniss der römi- 
schen Zuhörer und Leser bestimmen liessen. Selbst die rein grie- 
chischen Philosophenschulen in Athen, Rhodus und an anderen 
Orten konnten sich dieser Rücksicht schon wegen der grossen 
Anzahl von vornehmen jungen Römern nicht enischlagen, die 
sie besuchten; denn diese Schüler waren es natürlich, von wel- 
chen den Lehrern am meisten Ehre und Vortheil zufloss. Noch 
höher jedoch, als diese Rücksichten, werden wir den unbewuss- 
ten Einfluss des römischen Geistes, nicht blos bei den philosophi- 
renden Römern, sondern auch bei den griechischen Philosophen 
im Römerreich, anschlagen müssen; denn wie gross auch die 
Ueberlegenheit der griechischen Bildung über die römische und 
die literarische Abhängigkeit der Eroberer von den Besiegten 
sein mochte, so lag es doch in der Natur der Sache, dass auch 
Griechenland von seinen stolzen Schülern geistige Einwirkungen 
erfuhr, und dass die Klugheit und Willenskraft, welcher Grie- 
chenland trotz seiner Wissenschaft unterlegen war, in den Augen 
der Ueberwundenen im Vergleiche mit jener nicht wenig im Werthie 
steigen musste. Dem römischen Geist aber entsprach es, die 
Geltung der Philosophie, wie aller anderen Dinge, zunächst nur 
nach ihrer praktischen Brauchbarkeit zu bemessen, den wis- 
senschaftlichen Meinungen als solchen dagegen, wenn sich von 
ihnen kein erheblicher Einfluss auf das menschliche Leben wahr- 
nehmen liess, keine Bedeutung beizulegen. Aus dieser Quelle 
waren jene Vorurtheile gegen die Philosophie entsprungen, welche 


a) 


Die griechische Philosophie in Rom. 493 


anfangs selbst zu obrigkeitlichem Einschreiten geführt hatten 1). 
Der gleiche Standpunkt liess sich jedoch auch bei der Beschäfti- 
gung mit der Philosophie festhalten. So weit es sich in ihr nur 
um wissenschaftliche Fragen handelte, konnte sie kaum für mehr 
gelten, als für eine anständige Unterhaltung: einen ernstlichen 
Werth erhielt sie in den Augen des Römers nur dadurch, dass sie 
sich als praktisches Bildungsmittel bewährte. Die Befestigung der 
sittlichen Grundsätze und die Vorbildung für den Beruf des Red- 
ners und des Staatsmanns, diess sind die Gesichtspunkte, welche 
ihm die philosophischen Studien zunächst und zumeist empfehlen 
konnten. Ebendesshalb musste er aber auch geneigt sein, sie 
diesen Gesichtspunkten gemäss zu behandeln. An der wissen- 
schaftlichen Begründung und folgerichtigen Durchführung eines 
philosophischen Systems war ihm wenig gelegen, das, worauf 
es ihm allein oder fast allein ankam, war seine praktische 
Brauchbarkeit; der Streit der Schulen, meinte er, drehe sich 
grösstentheils nur um unwesentliche Dinge, und er selbst konnte 
desshalb keinen Anstand nehmen, aus den verschiedenen Syste- 
men, unbekümmert um den tiefer liegenden Zusammenhang der 
einzelnen Bestimmungen, das brauchbar Scheinende auszuwählen. 
Jener Proconsul Gellius, welcher den Philosophen in Athen den wohl- 
meinenden Vorschlag machte, sich über ihre Streitpunkte gütlich 
zu vertragen, und sich selbst ihnen zum Mittelsmann anbot ?), hat 
die ächt römische Auffassung der Philosophie doch eigentlich nur 
etwas zu unumwunden ausgesprochen. Wäre nun auch der Ein- 
fluss dieses Standpunkts an der griechischen Wissenschaft ohne 


1) M. vgl. in dieser Beziehung was Pıvr. Cato maj. 22 von Cato’s Ver- 
halten zu der Philosophengesandtschaft erzählt, von der er gleich anfangs 
befürchtet habe, μὴ τὸ φιλότιμον ἐνταῦθα τρέψαντες οἱ νέοι τὴν ἐπὶ τῷ λέγειν δόξαν 
ἀγαπήσωσι μᾶλλον τῆς ἀπὸ τῶν ἔργων χαὶ τῶν στρατειῶν, und die er dann 
vollends, nachdem er von dem Inhalt ihrer Vorträge gehört hatte, möglichst 
schnell abzufertigen rieth; ferner Denselben Ὁ. Geu«.. XVIU, 7, 3; Neros b. 
Lacranr. III, 15, 10 und das S. 486, 3 angeführte Edikt der Censoren, worin 
den Rednerschulen vorgeworfen wird: ibi homines adolescentulos totos dies 
desidere. In noch höherem Grad, als die Rhetorik, musste natürlich dem 
römischen Staats- und Kriegsmann die Philosophie als ein Müssiggang er- 
scheinen. 

2) Cıc. Legg. 1, 20, 53. Gellius war 682 a.u.c., 72 v. Chr., Consul; 


5. CLıntox Fasti Hellen. z. d. J. 


494 ; Eklektieismus. 


Zweifel ohne bedeutendere Wirkung vorübergegangen, wenn er 
sie in einem früheren Zeitpunkt getroffen hätte, so verhielt es 
sich doch anders, nachdem sie selbst schon in die Richtung ein- 
gelenkt hatte, welche dem römischen Wesen vorzugsweise ent- 
sprach. Wenn schon der innere Zustand der philosophischen 
Schulen, und namentlich die letzte bedeutende Erscheinung auf 
diesem Gebiete, die Lehre des Karneades, zum Eklekticismus 
hinführte, so musste er sich unter dem Zusammentreffen der in- 
neren Beweggründe mit den äusseren Einflüssen nur um so ra- 
-scher und erfolgreicher entwickeln. 

Wiewohl aber dieser Eklekticismus zunächst nur als das Er- 
zeugniss geschichtlicher Verhältnisse erscheint, welche mehr zur 
äusserlichen Verknüpfung als zur inneren Vermittlung verschieden- 
artiger Standpunkte hinführten, so fehlt es ihm doch nicht ganz 
an einem eigenthümlichen Princeip, welches bis dahin noch nicht 
in dieser Weise vorhanden gewesen war. Fragen wir nämlich, 
nach welchem Gesichtspunkt die Lehren der verschiedenen Systeme 
ausgewählt werden sollten, so genügte es nicht, sich an dasjenige 
zu halten, worin alle zusammentrafen, denn hiemit wäre man auf 
wenige Sätze von unbestimmter Allgemeinheit beschränkt ge- 
blieben. Aber auch die praktische Brauchbarkeit der betreffenden 
Annahmen konnte nicht als das letzte Merkmal ihrer Wahrheit 
betrachtet werden; denn eben die praktische Aufgabe des Menschen 
und der Weg zu ihrer Lösung war ein Hauptgegenstand des Strei- 
tes, es fragte sich daher, nach welcher Norm die praktischen 
Zwecke und Verhältnisse selbst bestimmt werden sollen. Diese 
Norm konnte nun hier in letzter Beziehung nur im unmittelbaren 
Bewusstsein gesucht werden. Wenn verlangt wird, dass der Ein- 
zelne aus den verschiedenen Systemen das Wahre für seinen 
Gebrauch auswähle, so wird ebendamit vorausgesetzt, dass Jeder 
schon vor der wissenschaftlichen Entscheidung den Maasstab zur 
Unterscheidung des Wahren und Falschen in sich trage, dass die 
Wahrheit dem Menschen unmittelbar in seinem Selbstbewusstsein 
gegeben sei; und eben diese Voraussetzung ist es, worin die 
Eigenthümlichkeit und Bedeutung dieser eklektischen Philosophie 
vorzugsweise zu liegen scheint. Zwar hatte schon Plato angenom- 
men, dass die Seele das Bewusstsein der Ideen aus dem früheren 
Leben in das jetzige mitbringe, und ähnlich hatten die Stoiker von 


Prineip und Charakter. 495 


Begriffen gesprochen, die dem Menschen von Natur eingepflanzt 
seien; aber weder jener noch diese hatten damit ein unmittelbares 
Wissen im strengen Sinn zu lehren beabsichtigt, denn die Erinne- 
rung an die Ideen fällt für Plato mit der dialektischen Begriffs- 
bildung zusammen, und sie entsteht nach ihm nur durch Vermitt- 
lung aller der sittlichen und wissenschaftlichen Thätigkeiten,, die 
er als Vorstufen der Philosophie betrachtet; die natürlichen Be- 
griffe der Stoiker aber sind, wie früher gezeigt wurde, nicht an- 
geborene Ideen, sondern ebensogut, wie die wissenschaftlichen 
Gedanken, nur auf kunstlosere Weise, aus der Erfahrung abge- 
leitet. Das Wissen soll hier also doch immer aus der Erfahrung 
sich entwickeln, durch den Verkehr mit den Dingen vermittelt und 
bedingt sein. Diese Vermittlung des Wissens hat zuerst die Skepsis 
geläugnet, indem sie das Verhältniss unserer Vorstellungen zum 
Vorgestellten für unerkennbar erklärte, und alle unsere Ueber- 
zeugungen ausschliesslich von subjektiven Gründen abhängig 
machte. Kann aber auch auf diesem Wege zunächst nicht ein 
. Wissen von der Wahrheit, sondern nur der Glaube an die Wahr- 
scheinlichkeit begründet werden, so tritt doch dieser Glaube für 
den, der auf’s Wissen verzichtet hat, an die Stelle des Wissens; 
und so ergiebt sich als das natürliche Erzeugniss der Skepsis jenes 
Vertrauen auf dasjenige, was dem Menschen unmittelbar in seinem 
Selbstbewusstsein gegeben und vor aller wissenschaftlichen Unter- 
suchung gewiss ist, worin wir bei Cicero und Andern den letzten 
Halt in dem eklektischen Schwanken zwischen den verschiedenen 
Ansichten erkennen werden '). Nun werden wir allerdings diesem 
Princip des unmittelbaren Wissens-nur einen sehr bedingten Werth 
beilegen können. Was damit behauptet wird, ist im Grunde doch 
nur dieses, dass dem unphilosophischen Bewusstsein die letzte 
Entscheidung über die Fragen der Philosophie zustehen solle; und 
ist auch der allgemeine Gedanke, dass sich jede Wahrheit dem 
menschlichen Selbstbewusstsein zu bewähren habe, durchaus be- 


1) Der Eklekticismus des letzten Jahrhunderts vor Christus steht in dieser 
Beziehung zu der vorangehenden Skepsis in einem ähnlichen Verhältniss, wie 
in neuerer Zeit die Philosophie der schottischen Schule zu Hume, und er darf 
so wenig, wie diese, für eine blosse Reaktion des Dogmatismus gegen den 
Zweifel gehalten werden, sondern er ist ebensosehr selbst ein Erzeugniss dieses 
Zweifels, 


496 Eklektieismus. 


gründet, so tritt doch dieser Gedanke hier in einer schiefen und 
einseitigen Fassung auf, und die ganze Voraussetzung eines un- 
mittelbaren Wissens ist unrichtig: ‘eine genauere Beobachtung ΄ 
zeigt, dass sich jene vermeintlich unmittelbaren und angeborenen 
Ideen gleichfalls durch die mannigfaltigsten Vermittlungen gebildet 
haben, und dass es nur der Mangel an einem deutlichen wissen- 
schaftlichen Bewusstsein ist, der sie als unmittelbar gegebene er- 
scheinen lässt. Jenes Zurückgehen auf das unmittelbar Gewisse 
ist insofern zunächst als ein Zeichen des wissenschaftlichen Ver- 
- falls, als ein Selbstzeugniss von der Ermattung des Denkens zu 
betrachten. Zugleich liegt aber darin ein Moment, welches nicht 
ohne Bedeutung für den weiteren Gang der philosophischen Ent- 
wicklung ist. Indem das Innere des Menschen als der Ort betrachtet 
wird, wo das Wissen von den wesentlichsten Wahrheiten ursprüng- 
lich seinen Sitz habe, so wird dem stoischen und epikureischen 
Sensualismus die Behauptung entgegengestellt, dass im Selbstbe- 
wusstsein eine eigenthümliche Erkenntnissquelle gegeben sei; und 
wenn auch dieses höhere Wissen ein gegebenes, eine Thatsache 
der inneren Erfahrung sein soll, wenn dieser Rationalismus inso- 
fern wieder in den Empirismus des unmittelbaren Bewusstseins 
umschlägt, so ist es doch nicht mehr blos die Wahrnehmung, aus 
der alle Wahrheit hergeleitet wird. Diese Berufung auf das un- 
mittelbar Gewisse kann desshalb als eine Reaktion gegen den sen- 
sualistischen Empirismus der vorhergehenden Systeme betrachtet 
werden. Weil es aber bei dem innerlich Gegebenen als solchem 
bleibt, seine tiefere wissenschaftliche Begründung und Entwicklung 
jedoch fehlt, so werden die philosophischen Ueberzeugungen nicht 
wirklich in ihrem Ursprung aus dem menschlichen Geiste erkannt, 
sondern sie erscheinen als etwas dem Menschen von einer über 
ihm stehenden Macht Geschenktes; und dadurch bildet das ange- 
borene Wissen den Uebergang zu derjenigen Form der Philosophie, 
welche nur desshalb auf das Selbstbewusstsein zurückgeht, um in 
ihm die Offenbarung der Gottheit zu empfangen. Wie dann hieran 
auch der Glaube an äussere Offenbarungen und die Anlehnung 
der Philosophie an die positive Religion anknüpft, wird später 
gezeigt werden; hier will ich nur noch darauf aufmerksam machen, 
dass auch wirklich bei einem Plutarch, einem Apulejus, einem 
Maximus, einem Numenius, überhaupt bei den Platonikern der 


Prineip und Charakter. 497 


zwei ersten Jahrhunderte nach Christus, Eklekticismus und Offen- 
barungsphilosophie Hand in Hand gehen. 

Wie aber der Eklektieismus nach dieser Seite hin den Keim 
der Denkweise in sich trägt, welche sich später im Neuplatonismus 
so kräftig entwickelt hat, so hat er andererseits auch die Skepsis, 
welcher er selbst seine Entstehung grossentheils zu verdanken 
hat, in sich aufbewahrt. Denn jene Ungenügsamkeit, die es dem 
Denken nicht gestattet, sich in einem bestimmten System zu be- 
friedigen, hat ihren letzten Grund doch nur darin, dass es den 
Zweifel an der Wahrheit der dogmatischen Systeme nicht völlig 
überwunden hat, dass es ihm seine Anerkennung im Einzelnen 
nicht versagen kann, wenn es ihn auch im Prineip nicht gut heisst. 
Die Skepsis ist daher nicht blos eine von den Ursachen, welche die 
Entwicklung des Eklekticismus bedingt haben, sondern dieser hat 
sie fortwährend als ein Moment seiner selbst in sich, und sein 
eigenes Thun dient dazu, sie wach zu halten; das eklektische Hin- 
und Herschwanken zwischen den verschiedenen Systemen ist nichts 
anderes, als die Unruhe des skeptischen Denkens, nur gedämpft 
durch den Glauben an das ursprüngliche Wahrheitsbewusstsein, 
dessen Aeusserungen aus den mancherlei wissenschaftlichen Theo- 
rieen zusammengesucht werden sollen. Je ungründlicher aber der 
Zweifel durch ein so principloses Philosophiren beschwichtigt war, 
um so weniger liess sich erwarten, dass er für immer verstummen 
würde. Wenn man die Wahrheit, welche in keinem einzelnen 
System zu finden sein sollte, aus allen Systemen zusammenzulesen 
unternahm, so gehörte nur eine mässige Aufmerksamkeit dazu, 
um zu bemerken, dass die Bruchstücke der verschiedenen Systeme 
sich gar nicht so unmittelbar vereinigen lassen, dass jeder philo- 
sophische Satz seinen bestimmten Sinn eben nur in dem Zusammen- 
hang dieses bestimmten Systems hat, Sätze aus verschiedenen 
Systemen dagegen ebenso, wie diese selbst, einander ausschliessen; 
dass der Widerspruch der entgegengesetzten Theorieen ihre Auk- 
torität aufhebt, und dass der Versuch, die übereinstimmenden 
Sätze der Philosophen als anerkannte Wahrheit zu Grunde zu 
legen, an der Thatsache ihrer Nichtübereinstimmung scheitert. 
Nachdem daher die akademische Skepsis in dem Eklekticismus des 
ersten vorchristlichen Jahrhunderts erloschen war, so erhob sich 
der Zweifel seit dem Anfang der christlichen Zeitrechnung in der 

Philos, ἃ. Gr. TII. Bd. 1. Abth. 32 


499 Eklektieismus. 


Schule des Aenesidemus auf's Neue, um sich erst im dritten Jahr- 
hundert zugleich mit allen anderen Theorieen in den Neuplatonis- 
mus zu verlieren; und kein anderer Beweisgrund hat für diese 
neuen Skeptiker ein grösseres Gewicht, als der, welchen der 
Vorgang des Eklekticismus an die Hand gab: die Unmöglichkeit 
des Wissens wird aus dem Widerspruch der. philosophischen Sy- 
steme dargethan, die vermeintliche Uebereinstimmung derselben 
hat sich in die Erkenntniss ihrer Unvereinbarkeit aufgelöst. 

So berechtigt jedoch die Erneuerung des Skeptieismus im 
Verhältniss zu dem unkritischen eklektischen Philosophiren er- 
scheint, so konnte er doch nicht mehr die Bedeutung erlangen, 
die er in der neuakademischen Schule gehabt hatte. Die Ermattung 
des Denkens, welche wir auch an dieser späteren Skepsis selbst 
nachweisen können, machte eine positive Ueberzeugung zu sehr 
zum Bedürfniss, als dass sich Viele dem reinen Zweifel zuzuwenden 
vermocht hätten. Wenn daher der Glaube an die Wahrheit der 
bisherigen Systeme erschüttert war, und wenn auch ihre eklekti- 
sche Verknüpfung nicht ganz genügen konnte, zur selbständigen 
Erzeugung eines neuen aber die Kraft fehlte, so hatte diess im 
Allgemeinen nur die Wirkung, dass sich das Denken mehr und 
mehr nach einer ausser ihm selbst und der bisherigen Wissenschaft 
liegenden Erkenntnissquelle umzusehen begann, welche theils in 
der inneren Offenbarung der Gottheit, theils in der religiösen 
Ueberlieferung gesucht wurde. Hiemit war dann der Weg be- 
treten, durch dessen entschiedenere Verfolgung der Neuplatonis- 
mus in dem folgenden Zeitabschnitt die letzte Epoche der griechi- 
schen Philosophie eröffnet. 


2. Der Eklektieismus im ersten und zweiten Jahrhundert 
vor Christus. Die Stoiker: Panätius und Posidonius. 


Von den philosophischen Schulen, welche sich um die Mitte 
des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts noch auf dem Schauplatz 
der Geschichte behauptet hatten, scheint die epikureische an der 
wissenschaftlichen Bewegung nur in geringem Maasse theilgenom- 
men zu haben. Sie vertheidigte ihren eigenen Standpunkt mit 
Lebhaftigkeit gegen abweichende Ansichten 1), aber eine Fort- 


1) Wir sehen diess ausser Lucrez/auch aus den Fragmenten des Philode- 


Die epikureische Schule. 499 


bildung desselben versuchte sie so wenig, dass es vielmehr ihr 
höchster Stolz war, die Lehre ihres Stifters ganz rein und unver- 
ändert festzuhalten 7). So gelang es ihr denn auch wirklich, sich 
gegen die Einwirkung anderer Systeme vollständig abzuschliessen, 
und wir kennen keinen einzigen Epikureer, der sich in irgend 
einer erheblichen Beziehung von Epikur entfernt hätte 52). Unter 


mus und aus den epikureischen Ausführungen bei Cicero Nat. D. I. Fin. I, 
8 ff. nebst N. D. I, 34, 93 (8. o. 429, 1, Schl.). 

1) Vgl. S. 355, 2. 

2) Rırrer IV, 89—106 glaubt zwar bei Lucrez mancherlei Abweichungen 
von dem reinen Epikureismus wahrzunehmen, die er aus dem Einfluss anderer 
Systeme herleitet. Dieselben sind jedoch schwerlich von Bedeutung. Rırrer 
bemerkt (8. 94), die Natur und ihre Bestandtheile werden von Lucrez theils 
auf eine viel lebendigere, theils auf eine mannigfaltigere Weise geschildert, 
als die todte und einförmige Physik der Epikureer zu verstatten scheine. Die 
Natur werde von Lucrez als Einheit gedacht, die frei über Alles walte, die 
Sonne als ein Wesen beschrieben, welches die Geburten der Erde ausbrüte, 
die Erde in belebter Darstellung als die Mutter der lebendigen Wesen darge- 
stellt, selbst die Vermuthung, dass die Gestirne lebendige Wesen seien, weise 
er nicht zurück (V, 523 ff.). Das letztere jedoch kann schon nach V, 122 Β΄. 
nicht seine Meinung sein: was er wirklich sagt, ist nur das gleiche, was 
auch Epikur bei Dıoc. X, 112 in einer seiner hypothetischen Naturerklärungen, 
mit Rücksicht auf frühere Annahmen (Bd. I, 198), äussert. Was die übrigen 
Punkte betrifft, so bemerkt RırrEr selbst, die Beschreibungen des Dichters 
können auch nur bildlich gemeint sein; und ebenso verhält es sich mit der 
Stelle, die bei einem Epikureer vielleicht am Meisten auffallen könnte, 
V, 554 ἢ, wo Lucrez die epikureische Annahme, dass die Erde von der Luft 
getragen werde (Dıoc. X, 74), mit der Bemerkung in Schutz nimmt, die Luft 
werde von der Erde nicht gedrückt,,weil diese mit ihr ursprünglich zusam- 
mengehöre, wie ja auch uns das Gewicht unserer Glieder nicht zur Last sei. 
Sosehr diess an die stoische Sympathie des Weltganzen erinnert, so will doch 
Lucerez davon nichts wissen, wie er ja auch desshalb die Theile der Welt nur 
als quasi membra bezeichnet, jedenfalls ist dieser Gedanke ohne Folgen für 
seine übrige Naturlehre, er behauptet vielmehr seiner eigentlichen Meinung 
nach die Einheit der Natur ganz in demselben Sinn, wie Epikur, im Sinn 
eines durch die Gleichheit der physikalischen und mechanischen Gesetze be- 
wirkten Zusammenhangs. Auch die Lehre von der freiwilligen Bewegung der 
Atome (Lucr. II, 133. 251 ff.) ist epikurisch, und wenn andererseits ein Unter- 
schied von Epikur darin liegen soll, dass Lucrez die Gesetzmässigkeit der 
Naturerscheinungen fester halte, als jener (Rırter 97), so haben wir schon 

„8.368,4. 370 die Erklärung Epikur's gehört, welche durch sein ganzes System 
bestätigt wird, dass in den allgemeinen Ursachen unbedingte Nothwendigkeit 
walte, wenn auch die einzelnen Erscheinungen verschiedene Erklärungen zu- 


32 * 


500 Die Stoiker seit der Mitte des zweiten Jahrhunderts. 


den übrigen Schulen war es zuerst die stoische, welche in theil- 
weiser Abweichung von ihren älteren Lehrern fremdartige Elemente 
aufnahm. In noch höherem Maasse geschah diess aber in der Folge 
von der akademischen; sie ist seit dem ersten vorchristlichen Jahr- 
hundert der Hauptsitz des Eklekticismus. Die Peripatetiker scheinen 
im Allgemeinen die Lehrüberlieferung ihrer Schule reiner bewahrt 
zu haben; aber doch werden wir finden, dass es auch unter ihnen 
nicht an solchen fehlte, welche einer eklektischen Verknüpfung 
derselben mit anderen Standpunkten geneigt waren. 

In der stoischen Schule knüpft sich das Hexvortreten des 
Eklekticismus an die Namen des Panätius und Posidonius. | 

Panätius 1) war, wie es scheint, um 180 v. Chr. in Rho- 
dus geboren ?), und war durch Diogenes und Antipater in die 
stoische Philosophie eingeführt worden ?). In der Folge gieng er 


lassen. Dass Lucrez II, 333 ff. von Epikur abweichend ebenso viele ursprüng- 
liche Figuren der Atome annehme, als es Atome giebt (R. 5, 101), ist ein 
entschiedenes Missverständniss, dem die (von R. unrichtig aufgefasste) Stelle 
II, 478 ff. ausdrücklich widerspricht. Wie wenig auch die Ethik des römischen 
Epikureers von der altepikureischen verschieden ist, wäre an den Punkten, 
die Rırrer $. 104 f. anführt, unschwer nachzuweisen, und so werden wir 
wohl zu der Behauptung berechtigt sein, weder Lucrez noch seine epi- 
kureischen Landsleute seien der bekannten Stabilität dieser Schule untreu 
geworden. 

1) Van Lyapen De Panaetio Rhodio. Leyden 1802. 

2) Ueber seine Vaterstadt ist kein Zweifel; statt aller Andern s.m. SrrABo 
XIV, 2, 13. S. 655. Dagegen wird uns weder über sein Geburts- noch über 
sein Todesjahr etwas mitgetheilt, und beide lassen eich nur annähernd daraus 
bestimmen, dass er Diogenes aus Seleucia noch hörte, 143 v. Chr., als ein 
offenbar schon anerkannter Philosoph, Scipio nach Alexandrien begleitete, 
und um 110 v. Chr. (8. u.) nicht mehr am Leben war. Van Lyxpen setzt als 
die Grenzen seines Lebens 185—112 v.Chr. — Wenn ὅσιν. u. ἃ, W. von dem 
berühmten Panätius einen zweiten, jüngeren, den Freund Seipio’s, unter- 
scheidet, so ist diess nur ein Beweis seiner Unwissenheit, wie diess Van LYxDEN 
S. 5 ff. zum Ueberfluss nachweist. 

3) Den Diogenes nennt als seinen Lehrer Sum. Ilavair., den Antipater 
Cıc. Divin. I, 3, 6. Ausser ihnen hatte er nach Sreauo XIV, 5, 16. 8.676 auch 
den Krates aus Mallos (s. o. 42, 2) in Pergamum gehört; auch Polemo der 
Perieget ist aus chronologischen Gründen eher für seinen Lehrer, alsfür seinen 
Schüler zu halten; der Text des Suivas, welcher das letztere aussagt, (Πολέμ.. 
Eöny:) scheint verdorben. Vgl. Berxuarpy z. ἃ, St, v. Lyspen 36 ἢ, 


Φ Panätius. 501 


nach Rom !), wo er längere Zeit, als Hausgenosse des Scipio 
Africanus, verweilte ?), einen Scipio und Lälius zu Freunden und 
Zuhörern hatte 5). und nicht wenige strebsame junge Männer für 
den Stoicismus gewann %). Ihn wählte auch Seipio zum Begleiter, 
als er 143 v. Chr. an der Spitze einer Gesandtschaft in den Osten 
und insbesondere nach Alexandrien abgeordnet wurde 5). Nach 
Antipater’s Tod übernahm er die Leitung der Schule in Athen ©), 
welcher er, wie es scheint, bis gegen 112 v. Chr. vorstand 7). 


1) Ob diess vor oder erst nach der alexandrinischen Reise geschah, und 
ob Panätius aus eigenem Antrieb oder auf fremde Aufforderung Rom besuchte, 
wird nicht überliefert. Pıuvr. c. prine. philosoph. 1, 12. S. 777 setzt voraus, 
dass Pan. nicht in Rom war, als ihn Seipio einlud, ihn zu begleiten. *Aber 
doch muss er ihn schon näher gekannt haben, um eine solche Einladung an 
ihn zu richten. 

2) S. folg. Anm. und Cic. pro Mur. 31, 66. Verr. Paterc. I, 13,3. Wie 
lange Panätius inRom war, wissen wir nicht; da er aber doch wohl spätestens 
nach der alexandrinischen Reise, also 142, wahrscheinlich schon vorher, dort- 
hin kam, und da andererseits der nach 81 v. Chr. gestorbene Rutilius Rufus 
ihn, wie es scheint, noch in Rom gehört hat (s. o. 489, 4), was kaum vor 
135—130 v. Chr. geschehen sein kann, so ist zu vermuthen, dass er eine 
Reihe von Jahren hier wirkte. 

3) Cıc. Fin. IV, 9, 23. II, 8, 24. Off. I, 26, 90. II, 22, 76. Geur. N. A. 
XVII, 21, 1. Suıp. Παναίτ. Πολύβιος. 

4) S. ο. 489 ἢ. 

5) Cıc. Acad. II, 2,5. Posidon. b. Prur. a. ἃ. O. und Apophthegm. reg. 
et imp. Seip. min. 13 f. 8. 200. Arnen. XII, 549, ἃ (wo Ποσειδώνιος für Πα- 
ναίτιος jedenfalls ein Gedächtnissfehler ist, der aber auch XIV, 657, £ wieder- 
holt wird). Vgl. Justin. hist. XXXVIII, 8. 

6) Diess wird zwar nicht ausdrücklich berichtet, aber es ergiebt sich aus 
dem Zusammentreffen der Angaben, er sei in Athen gestorben (Suın.), er sei 
nicht wieder nach Rhodus zurückgekehrt (Cıc. Tuse. V, 37, 107), man habe 
ihm in Athen das Bürgerrecht angeboten, das er:jedoch nicht angenommen 
habe (Prokr. in Hesiod. ’E. x. “Hu. 707, wohl nach Plutarch), es habe in 
Athen eine Tischgesellschaft der lanätiasten gegeben (Armen. V, 186, a). 
Wenn endlich Mnesarchus, welcher um 110 in Athen lehrte, der Zuhörer des 
Panätius genannt wird (Cıc. De orat. I,11,45), so wird er auch wohl sein, und 
nicht Antipaters, Nachfolger gewesen sein. 

7) Viel früher können wir seinen Tod nicht wohl setzen, da er nach Cıc. 
Off. III, 2,8 nach Abfassung seines Werks über die Pflicht, welches er doch 
auch nicht ganz jung geschrieben haben kann, noch 30 Jahre gelebt hat, und 
da auch Posidonius sonst kaum noch sein Schüler hätte sein können; viel später 
aber auch nicht, da Crassus, welcher als Quästor (110 v. Chr., oder nicht 
lange nachher) nach Athen kam, nicht mehr Panätius, sondern Mnesarchus 


΄ 


502 Panätius, » 


Dass er früher in gleicher Eigenschaft in seiner Vaterstadt thätig war, 
ist nicht wahrscheinlich 1). Als Lehrer und als Schriftsteller 9, 
als Gelehrter und als Philosoph genoss er grosses Ansehen 5), und 
es hat wohl kein Anderer seit Chrysippus mit ἀδωμυ" Erfolge 
für die Verbreitung des Stoicismus gewirkt. 

Das stoische System hatte aber unter seinen Händen nicht 
unerhebliche Veränderungen erfahren. War auch Panätius mit 
seinen Grundzügen einverstanden, und fand er auch keinen seiner 
Theile entbehrlich *), so geht doch sein eigenes Interesse unver- 
kennbar., wie diess im Geist jener Zeit lag, vorzugsweise auf die 
praktische Seite der Philosophie °); und im Zusammenhang damit 
bemühte er sich, von der Gewohnheit seiner Schule abweichend, 
sie durch eine fasslichere und geschmackvollere Darstellung dem 


dort traf (Cıc. De orat. I, 11, 45, vgl. Zumer Abh, d. Berl. Akad. 1842, Histor.- 
philol. Kl. S. 104). 

1) Suıpas (Ποσειδών. ’Arap.) setzt es zwar voraus, wenn er von Posido- 
nius sagt: σχολὴν δ᾽ ἔσχεν Ev “Ῥόδῳ, διάδοχος γεγονὼς χαὶ μαθητὴς Παναιτίου. 
Allein Cıc. Tuse. V, 37, 107 rechnet ihn zu denen, gni semel egressi numquam 
domum reverterunt, und andererseits scheint Suidas anzunehmen, dass Posid, 
in Rhodus der unmittelbare Nachfolger des Panätius gewesen sei, was der Zeit 
nach unmöglich ist. 

2) Ueber seine Schriften 5. m. van Lyspen 8. 78—117. 62 ff. Die be- 
kanntesten derselben sind die Bücher περὶ τοῦ χαθήχοντος (s. ο. 253 f. 256 £.), 
nach Cıc. Off. III, 2, 7 anerkannt das gründlichste Werk über diesen Gegen- 
stand. Weiter werden angeführt: ein Werk über die Philosophenschulen 
(π. αἱρέσεων), π. εὐθυμίας, m. προνοίας", π. μαντιχῆς, eine politische Schrift (Cıc. 
Legg. III, 6, 14) und ein Brief an Tubero. 

3) Es bedarf diess nach dem Bisherigen kaum eines besondereh Nach- 
weises. Cicero z.B. nennt ihn Divin. I, 3, 6 (vgl. II, 47,97. Acad. II, 33, 107) 
vel princeps ejus [sc. Stoicae] diseiplinae, Legg. a. a. O. magnus homo et inpri- 
mis eruditus, Fin. IV, 9, 23 inprimis ingenuus et gravis, Off. II, 14, 51 gravis- 
simus Stoicorum, SEnEcA ep. 33, 4 stellt ihn und Posidonius mit Zeno, Klean- 
thes und Chrysippus zusammen. 

4) Was sich bei dem princeps Stoicorum im Grunde von selbst versteht, 
und ausser allem Andern auch durch das S. 56, 2 Angeführte bestätigt wird. 

5) Sind uns auch von Panätius einige physikalische Sätze überliefert, so 
bezieht sich doch das meiste und eigenthümlichste, was von ihm mitgetheilt 
wird, auf Anthropologie, Theologie und Moral; auch seine Schriften, die wir 
kennen, ausser der einen historischen, sind theils ethischen, theils theologi- 
schen Inhalts; dagegen wird keine einzige dialektische Bestimmung von ihm 
angeführt, 


Praktische Richtung. Eklektieismus. 303 


allgemeinen Verständniss näher zu bringen '). Diesem prakti- 
schen Interesse entspricht es aber immer, wenn die wissenschaft- 
lichen Gegensätze zurückgestellt werden, eine Ausgleichung und 
Verknüpfung der verschiedenen Ansichten versucht wird. So 
nahm denn auch Panätius zu der Lehre seiner Vorgänger eine 
freiere Stellung ein ?); er wollte auch anderen Philosophen die 
ihnen gebührende Anerkennung nicht entziehen, er schätzte Ari- 
stoteles und Xenokrates, Theophrast und Dicäarch, und Plato 
zollte er eine so hohe Bewunderung, dass man glauben sollte, er 
hätte sich eher zu ihm, als zu Zeno, halten müssen ®). Wer die 
Verdienste der früheren Philosophen so unbefangen zu würdigen 
wusste, von dem lässt sich erwarten, dass er nicht allzu ängst- 
lich an der Lehrüberlieferung einer einzigen Schule festhielt; und 
wirklich werden uns von Panätius manche Abweichungen von den 
stoischen Dogmen berichtet. Er nahm die Zweifel des Boethus 
gegen die Lehre von der Weltverbrennung wieder auf 4). und 
wenn er auch nur sagte, die Ewigkeit der Welt sei ihm wahr- 
scheinlicher, so lässt sich doch annehmen, dass er bei dieser 
Frage der aristotelischen Ansicht vor der stoischen den Vorzug 
gab. Im Zusammenhang damit wollte er auch die Fortdauer nach 
dem Tode nicht blos auf eine gewisse Zeitdauer beschränken, son- 
dern er läugnete sie gänzlich °). Weiter wird von ihm berichtet, 


Bulle, Ein. IV, 28,.29:. Off. 1,2, 7. II,.10; 35. 

2) Dass er überhaupt ein kritisch freier Kopf war, erhellt auch aus an- 
deren Spuren; s: u. 512,1. 

3) Cıc. Fin. IV, 28, 79: semperque habuit in ore Platonem, Aristotelem, 
Nenocratem, Theophrastum, Dicaearchum, ut ipsius scripta declarent. Tuse. 
1, 32, 79 (5. Anm. 5). Von Crantor’s Schrift über die Betrübniss sagte er (Cic. 
Acad. 11, 44, 135): man sollte sie wörtlich auswendig lernen. Nach Prokı. 
in Tim. 50, B scheint er einen Commentar zu Plato’s Timäus geschrieben zu 
haben; doch liegt in den Worten des Proklus: Παναίτ. χοὶ ἄλλοι τινὲς τῶν IMa- 
τωνιχῶν nicht notliwendig, dass Proklus ihn selbst zu den Platonikern rech- 
nete, sondern man kann auch übersetzen: Panät. und einige Andere, aus der 
platonischen Schule. 

4) 8. 0. 142, 2. 

5) Diess wird durch die Stelle Cıc. Tuse. I, 32,78 wahrscheinlich. Nach- 
dem hier die stoische Lehre von einer beschränkten Fortdauer der Seele ab- 
gewiesen ist, fährt Cıc. fort: M. num quid igitur est causae, quin amicos nostros 
Stoicos dimittamus, eos dico, qui ajunt animos manere, e corpore cum excesserint, 


sed non seniper? A. istos vero u. 5. w. M. bene reprehendis ... credamus igiur 


504 Panätius. 


dass er statt der herkömmlichen acht Theile der Seele deren nur 
sechs zählte, indem er das Sprachvermögen zur Bewegungskraft 
rechnete, die Geschlechtsfortpflanzung aber nicht der Seele, son- 
dern der vegetabilischen Natur zuschrieb 1); zwei Annahmen, von 


Panaetio a Platone suo dissentienti? quem enim omnibus locis divinum, quem 
sapientissimum, quem sanctissimum, quem- Homerum philosophorum appellat, 
hujus hanc unam sententiam de immortalitate animorum non probat. Volt enim, 
quod nemo negat, quiequid natum sit interire: nasci autem animos .... 
alteram autem adfert rationem: nihil esse, quod doleat, quin id aegrum 
esse quoque possit; quod autem in morbum cadat, id etiam interiturum: dolere 
autem amimos, ergo etiam interire. Nun hätte allerdings, wie ich Heme (De 
fontibus Tuscul. Disput. Weimar 1863. S. 8 f.) zugeben muss, auch ein or- 
thodoxer Stoiker die Lehre von der Unsterblichkeit, sofern diese nicht blos 
eine Fortdauer nach dem Tode, sondern eine endlose Fortdauer behauptet, 
bestreiten müssen. Aber dass die Einwürfe des Panätius nicht blos diesen 
Sinn haben, sieht man schon aus der Art, wie Cicero sie einführt. Er unter- 
scheidet ja den Panätius ganz deutlich von denjenigen Stoikern, qui ajunt 
animos manere. Diese sind im Vorhergehenden abgethan, und nun bleiben 
nur noch zwei mögliche Ansichten, die des Plato und die des Panätius, die- 
jenige, welche eine endlose Fortdauer nach dem Tode behauptet, und die, 
welche sie ganz läugnet. Das Gleiche erbellt ferner aus den Einwürfen selbst, 
welche Cic. aus Panätius anführt, namentlich dem zweiten: wer die Seelen 
bis zur Weltverbrennung fortdauern liess, der musste die Läugnung ihrer un- 
beschränkten Fortdauer nicht darauf gründen, dass die Seele erkranken und 
sterben könne, sondern darauf, dass sie sich dem Schicksal des Ganzen nicht 
zu entziehen vermöge, denn sie erlag seiner Ansicht nach nicht innerer Er- 
krankung und Auflösung, sondern äusserer Gewalt. Wenn endlich Panätius - 
die Weltverbrennung aufgab, so fiel ebendamit für ihn jedes Motiv weg, der 
Seele eine beschränkte Fortdauer beizulegen, er hatte vielmehr nur noch die 
Wahl zwischen gänzlicher Läugnung oder unbeschränkter Behauptung der- 
selben. Auch Tuse. I, 18, 42 scheint dafür zu sprechen, dass Panätius eine 
Auflösung der Seele gleich nach dem Tode annahm. Is autem animus, heisst 
es hier, qui, si est horum quatuor generum, ex quibus omnia constare dicuntur, 
ex inflammata anima constat, ut potissimum videri video Panaetio, superiora 
capessat necesse est. nihil enim habent haec duo genera proni et supera semper 
petunt. ita, sive dissipantur, procul a terris id evenit, sive permanent et con- 
servant habitum suum, hoc etiam magis necesse est ferantur in coelum. Wenn 
Cie. hier bemerkt: Die Ansicht des Panätius von der Natur der Seele voraus- 
gesetzt, müsse man ihre Erhebung in den Himmel selbst für den Fall zugeben, 
dass sie sich nach dem Tod auflöse, so wird man schliessen müssen, dass es 
gerade Panätius war, bei dem er die Annahme einer solchen Auflösung der 
Seele gefunden hatte. 

1) Neues. de nat. hom. c. 15 δ, 96: Παναίτιος δὲ ὃ φιλόσοφος τὸ μὲν φωνη- 


Verhältniss zur stoischen Lehre. 5305 


denen zwar die erste nicht viel auf sich hätte 1), die zweite dage- 
gen mit der Unterscheidung der ψυχὴ und der φύσις einen psycho- 
logischen Dualismus voraussetzt, welcher der stoischen Lehre 
ursprünglich fremd ist ?). Panätius folgt hier ebenso, wie in sei- 
ner Ansicht von der Unsterblichkeit, der peripatetischen Lehre. 
An dieselbe erinnert in seiner Ethik die Eintheilung der Tugen- 
den in theoretische und praktische °). Dass er auch in der Be- 
stimmung des höchsten Guts die stoische Strenge verliess, und 
sich der akademischen und peripatetischen Ansicht zuwandte, ist 
nicht wahrscheinlich %), wenn er auch vielleicht den Unterschied 
des Vorzüglichen und Verwerflichen etwas stärker betont hat; 
und ebenso mag die Angabe, er habe die Apathie des Weisen 
geläugnet 5), darauf zurückzuführen sein, dass er den Unter- 
schied zwischen der stoischen Erhebung über den Schmerz und 


Tırov τῆς καθ᾽ δρμὴν χινήσεως μέρος εἶναι βούλεται, λέγων ὀρθότατα, To δὲ σπερμα- 
τιχὸν οὐ τῆς ψυχῆς μέρος ἀλλὰ τῆς φύσεως. Tertunr. De an. 14. 

1) Rırrter, III, 698 sucht wohl zu viel darin. 

2) Die ächte stoische Psychologie leitet alle Lebensthätigkeiten vom 
Ayswovızbv her, und hat bei ihrem Materialismus gar keinen Anlass zur Unter- 
scheidung der Ψυχὴ und der φύσις, vielmehr soll diese nach der Geburt in jene 
verwandelt werden; s. o. 181, 4. N 

3) Dioc. VII, 92. 

4) Zwar behauptet Dıoc. VII, 128: ὃ μὲν zo: Παναίτιος καὶ Ποσειδώνιος οὖχ͵ 
αὐτάρχη λέγουσι τὴν ἀρετὴν ἀλλὰ χρείαν εἶναι φασὶ καὶ ὑγιείας καὶ ἰσχύος χαὶ χορη- 
γίας. Da jedoch diese Angabe hinsichtlich des Posidonius nach Sen. ep. 87, 
31. 38 (s. ο. 199, 1) entschieden falsch ist, so hat Trysemann Gesch. ἃ. Phil. 
IV, 382 ganz Recht mit der Bemerkung, dass wir ihr auch hinsichtlich des 
Panätius nicht trauen können. Nach Pıur. Demosth. 13 suchte er die Ueber- 
zeugung, dass nur das χαλὸν ein δι᾽ αὑτὸ αἱρετὸν sei, auch bei Demosthenes 
nachzuweisen; um so weniger wird er selbst sie bezweifelt haben. Vgl. auch 
S. 505, 2. Wenn Rırrer III, 699 in dem Satze b. Sexr. Math. XI, 73, dass es 
nicht blos eine naturwidrige, sondern auch eine naturgemässe Lust gebe, eine 
offenbare Abweichung von dem älteren Stoieismus finden will, so ist diess 
nach eben dieser Stelle und dem, was ὃ. 202 weiter angeführt wurde, zu be- 
streiten: die stoische Lehre ist nur, dass die Lust ein Adiaphoron sei, dem 
widerspricht aber die Annahme einer naturgemässen Lust nicht; nur wenn 
man unter der Lust im engeren Sinn den Aflekt der ἡδονὴ versteht, ist sie, wie 
jeder Affekt, naturwidrig. Vgl. 8. 201, 2. 

5) A. Gere. XII, 5, 10: ἀναλγησία enim atque ἀπάθεια non meo tantum, 
inquit, sed, quorundam etiam ex eadem porticu prudentiorum hominum sicuti 
Judieio Panaetii ... improbata abjectaque est. 


Φ 


ὅ00 Panätius. 


der cynischen Gefühllosigkeit nachdrücklicher hervorhob. Doch 
lässt sich aus diesen Angaben immerhin vermuthen, er habe die 
Schroffheiten der stoischen Ethik zu mildern gesucht, und unter 
den verschiedenen möglichen Auffassungen ihrer Sätze denjenigen 
den Vorzug gegeben, welche ihn mit der gewöhnlichen Ansicht 
am Wenigsten in Streit brachten. Auf dieses Bestreben weist 
auch die Richtung, in der er sein berühmtes Werk über die 
Pflicht, das Vorbild des ciceronischen, ausführte; denn dieses 
sollte ausdrücklich nicht für die vollendeten Weisen, sondern nur 
„für die im Fortschritt zur Weisheit Begriffenen bestimmt sein, und 
aus diesem Grunde nicht vom χατόρθωμα handeln, sondern nur 
vom χαθῆχον 1). Indessen enthält diess alles doch keine wirkliche 
Abweichung von der stoischen Ethik, und auch was uns sonst 
über die Moral des Panätius berichtet wird, stimmt mit dieser zu- 
sammen ?). Dagegen setzte er sich mit der Lehre seiner ganzen 
Schule durch seine früher erwähnten Zweifel an der Mantik in 
Widerspruch ?). Er scheint hier die Kritik des Karneades wieder 
aufgenommen zu haben %). So gross aber auch bei der Mehrzahl 


1) Diess ergiebt sich wenigstens aus Cıcero’s Darstellung Off. III, 3,13 f. 
Auch bei Sen. ep. 116,5 will Panätius zunächst nur für die, welche noch nicht 
weise sind, Vorschriften geben, wenn er einem jungen Mann auf die Frage, 
ob der Weise sich verlieben werde, antwortet: sie, beide werden jedenfalls 
besser thun, sich vor einer solchen Gemüthsbewegung zu hüten, da sie noch 
keine Weise seien. Weiteres über Panätius’ Schrift S. 253. 255 ἢ. 

2) Bei Krem. Avex. Strom. II, 416, B. Sros. ΕΚ]. II, 114 stellt er die 
Forderung des naturgemässen Lebens auf, b. Cıc. Off. III, 3, 11. 7, 34 erklärt 
er das Nützliche für identisch mit dem Guten, b. Sros. Ekl. II, 112 vergleicht 
er die eiazelnen Tugenden mit Schützen, die von verschiedenen Standpunkten 
aus nach Einem Ziel schiessen. Auch was Cıc. Off. II, 14, 51 anführt, streitet 
nicht mit den stoischen Grundsätzen; ächt zenonisch ist die Aeusserung Ὁ, 
II, 17, 60. 

3) Auch hierüber lauten übrigens die Berichte nicht ganz einstimmig. 
Dıoc. VII, 149 sagt schleehtweg: ἀνυπόστατον αὐτήν [τὴν μαντιχὴν)] φησι, da- 
gegen Cıc. Divin. I, 3, 6: nec tamen ausus est negare vim esse divinandi, sed 
dubitare se dieit. Ebenso Acad. II, 33, 107. Doch sehen wir ans Divin. I, 7, 
12, dass er seine Zweifel ziemlich bestimmt vortrug, und aus Div. II, 42, 88. 
47, 97, dass er wenigstens die astrologische Wahrsagung positiv verwarf. 

4) Vgl. Cıc. Divin. I, 7, 12: quare omittat urguere Carneades, quod facie- 
bat etiam Panaetius requirens, Juppiterne cornicem a laeva, corvum ab dextera 
canere jussisset. 


Verhältniss zur stoischen Lehre. 307 


der Stoiker die Werthschätzung der Divination war, so steht die- 
selbe doch in keinem so nahen Zusammenhang mit ihrem philoso- 
phischen Prineip, dass wir den Panätius wegen seiner freieren 
Ansieht über diesen Punkt des Abfalls von den Grundsätzen sei- 
ner Schule beschuldigen dürften, wie ihn denn auch diese un- 
streitig als den Ihrigen anerkannt hat 1). Sein Verhältniss zur 
Stoa ist daher immerhin ein anderes, als das des Antiochus zu 
der neueren Akademie, er ist in der Hauptsache dem Stoicismus 
treu geblieben; aber doch lässt sich in seiner Lehre und in seinem 
Verhalten gegen die früheren Philosophen die Neigung zu einer 
Verständigung mit den Ansichten nicht verkennen, gegen welche 
der Stoicismus bisher blos eine abwehrende Stellung eingenommen 
hatte 3). 

Dass übrigens Panätius mit dieser Denkweise unter den Stoi- 
kern jener Zeit nicht allein stand, wenn sie auch bei ihm ohne 
Zweifel am Entschiedensten hervortrat, darauf weist auch das 
hin, was uns über seine Mitschüler Heraklides und Sosigenes mit- 
getheilt wird. Jener bestritt den altstoischen Satz von der Werth- 
gleichheit aller Verfehlungen ®); von diesem wird gesagt, dass 
er mit Andern die aristotelische Ansicht über die Mischung der 
Stoffe mit der chrysippischen, nicht ohne Widerspruch, zu ver- 
binden versucht habe *). Aber über keinen: von diesen Zeitgenos- 
sen des Panätius ist uns Weiteres bekannt. Von seiner eigenen 


1) 8. 0. 502,3. 

2) Einiges Weitere, was aus Panätius angeführt wird, ist.für seine phi- 
losophische Eigenthümlichkeit unerheblich; van Lyapex 72 f. nennt in dieser 
Hinsicht: seine Ansicht über die Kometen (Sen. nat. qu. VII, 30, 2); die An- 
nahme, dass Attika wegen seines gesunden Klima’s begabte Menschen erzeuge 
(Proxt. in Tim. 50, C, nach Praro Tim. 24, C); die Behauptung, dass die 
heisse Zone bewohnt sei (Acn. Tar. Isag., in Petav. Doctr. temp. III, 96). 

3) Dioe. VII, 121. 

4) Auex. Arnr. π᾿ μίξεως 142, a, m: von den Stoikern nach Chrysippus 
οἵ μὲν Χρυσίππῳ συμφέρονται (nämlich in Betreff der Mischung, worüber 
8. 114 ff. 2. vgl.), οἱ δέ τινες αὐτῶν, τῆς ᾿Αριστοτέλους δόξης ὕστερον ἀχοῦσαι 
δυνηθέντες, πολλὰ τῶν εἰρημένων ὑπ᾽ ἐχείνου περὶ χράσεως καὶ αὐτοὶ λέγουσιν. ὧν 
εἷς ἐστι χαὶ Σωσιγένης, ἑταῖρος ᾿Αντιπάτρου (vgl. 8. 43). Weil sie aber doch 
wegen ihrer sonstigen Voraussetzungen Aristoteles nicht durchaus folgen 
können, verwickeln sie sich (denn diess scheint der Sinn des fehlerhaften 
Textes zu sein) in Widersprüche. 


508 Schule des Panätius, 


Schule lässt sich annehmen, dass in ihr die Auffassung und Be- 
handlung der stoischen Lehre herrschend war, welcher er selbst 
huldigte. Doch müssen wir auch in dieser Beziehung die Unvoll- ΄ 
ständigkeit der geschichtlichen Ueberlieferung bedauern. Sind 
uns auch ziemlich viele von seinen zahlreichen Schülern dem Na- 
men nach bekannt '), so ist doch Posidonius der einzige, über 


1) Es sind in dieser Beziehung zu nennen: 1) Griechen: Mnesarchus, 
der Nachfolger des Panätius in Athen (Cıc. De orat. 1, 11, 45 vgl. 18, 83), wo 
Ihn auch Antiochus hörte (Cıc. Acad. I, 22,69. Nunex. b. Eus. pr. ev. XIV, 
9, 2, aus ihm Αὐσύῦβτιν c. Acad. III, 18, 40). Cıc. a. a. O. vgl. Fin. I, 2, 6 
nennt ihn und Dardanus, welcher gleichfalls ein Schüler des Panätius 
gewesen sein wird, tum principes Stoicorum. Apollonius aus Nysa in 
Phrygien, τῶν Παναιτίου γνωρίμων ἄριστος (Srrapo XIV, 1, 48. 5. 650), uns 
jedoch nicht weiter bekannt. Demetriws der Bithyner (Dıoc. V, 84), neben 
dem auch sein Vater Diphilus als Stoiker bezeichnet wird; ihm gehören, wie 
es scheint, die zwei Epigramme Anthol. gr. II, 64 Jac. Hekato aus Rho- 
dus, dessen Schrift über die Pflichten, Tubero gewidmet, Cıc. Off. III, 15, 63. 
23, 89 ff. auführt; derselben Schrift, wenn nicht einem eigenen Werke über 
die Wohlthätigkeit,, scheint das, was Sex. Benef. I, 3, 9. II, 18, 2. 21, 4. 
III, 18, 1. VI, 37, 1. ep. 5, 7. 6, 7. 9,6 aus ihm mittheilt, grösstentheils ent- 
nommen zu sein; verschiedene andere, zum Theil umfangreiche Werke, führt 
Diogenes an (s. d. Index). Plato aus Rhodus Dioe. ΠῚ, 109. Posidonius 
(s. u.). Skylax aus Halikarnass,‘ein Freund, und wohl auch Schüler, des 
Panätius, als Astronom und Politiker ausgezeichnet, und ebenso, wie Panätius, 
ein Gegner der Astrologie (Cıc. Divin. II, 42, 88). Auch der Dichter Anti- 
pater aus Sidon (Dioc. IIl, 39), von welchem die Anthologie mehrere Epi- 
gramme enthält (m. s. die Nachweisung bei Jacoss Anthol. gr. XIII, 846) 
gehört der Generation nach Panätius an: nach Cıc. De orat. III, 50, 194 war 
er um 92 v. Chr. schon bekannt, aber noch am Leben, und Derselbe bezieht 
sich De fato 3, 5 auf einen Vorfall aus seinem Leben, den, wie es scheint, 
Posidonius angeführt hatte. Gleichzeitig oder wenig jünger muss der Dio- 
timus oder Theotimus sein, welcher nach Dıoc. X, 3 Epikur sittenlose 
Briefe unterschoben hatte (vielleicht der gleiche, welchen Sexr. Math, VII, 140 
anführt); denn nach Arnex. XIII, 611, b wurde er desshalb auf Betrieb des 
Epikureers Zeno hingerichtet; s. o. 349, 2, Schl. Auch Nestor aus Tarsus 
(Srraso XIV, 5, 14. S. 674) mag in diese Zeit fallen. — Hiezu kommen nun 
2) die Römer, welche Panätius in Rom, einzelne vielleicht auch später in 
Athen, zu Schüler» hatte. Die bedeutendsten von diesen, Q. Aelius Tubero, 
Q. Mucius Scävola, C. Fannius, P. Rutilius Rufus, L. Aelius, 
M. Vigellius, Sp. Mummius sind schon $. 489 £ genannt worden. Weiter 
gehören hieher: Sextus Pompejus (Otc. De orat. a. a. Ὁ. und I, 15, 67. 
Brut. 47, 175. Off. I, 6, 19. Philipp. 12, 11, 27), ein ausgezeichneter Kenner 
des bürgerlichen Rechts, der Geometrie und der stoischen Philosophie, und 


Suuule des Panätius; Posidonius. 509 


dessen Ansichten uns Näheres mitgetheilt wird; von Panätius, 
Nachfolger Mnesarchus können wir nur vermuthen, dass der 
Stoieismus, den sein Zuhörer Antiochus (s. u.) mit der akademi- 
schen Lehre so leicht zu vereinigen wusste, auch schon nach sei- 
ner Darstellung nicht zu weit von ihr ablag ἢ); von Hekato wis- 
sen wir, dass er von der Strenge der stoischen Sittenlehre in 
ihrer Anwendung auf’s Einzelne auf bedenkliche Weise abwich ?), 
worin ihm aber freilich schon Diogenes vorangegangen war; etwas 
Genaueres ist uns jedoch über keinen von beiden überliefert. 
Etwas besser sind wir über Posidonius unterrichtet 5), 
einen Syrer aus Apamea *), dessen vieljährige Lehrthätig- 
keit die erste Hälfte des ersten Jahrhunderts ganz oder fast 
ganz ausgefüllt "zu haben scheint 5). Ein Schüler des Pa- 


L. Lueilius Balbus (De orat. III, 21, 78. Brut. 42, 154); denn dass auch 
die zwei letztern ihren Stoicismus Panätius verdanken, ist durchaus wahr- 
scheinlich; dagegen scheint Ὁ. Lueilius Balbus (Cıc. N. D. I, 6, 15) hiefür 
zu jung zu sein; wenn daher De orat. III, 21, 78 (angeblich 91 v. Chr.) von 
„den zwei Balbus“ als Stoikern gesprochen wird, so muss noch ein Dritter 
dieses Namens gemeint sein. 

1) Was sonst von ihm angeführt wird, beschränkt sich auf eine Aeusse- 
rung gegen die unphilosophische Rhetorik b. Cıc. De orat. I, 18, 83, eine 
logische Bemerkung bei ὅτοβ. Ekl. I, 436, eine Definition der Gottheit ebd. 60; 
diese Aeusserungen enthalten aber nichts, was von der allgemein stoischen 
Lehre abwiche. 

2) S. ο. 243, 8. 

3) ΒΑΚΕ Posidonii Rhodii reliquiae doctrinae. Leyden 1810. MüLLER 
Fragm. Hist. graec. III, 245 ff. 

4) Straso XIV, 2, 13. 8.655. XVI, 2, 10. S. 753. Arnen. VI, 252, e. 
Lucıas Macrob. 20. Suın. u. ἃ. W. 

5) Genauere Angaben darüber sind nicht vorhanden; einer annähernden 
Berechnung lassen sich die drei Data zu Grunde legen, dass Posid. Schüler 
des Panätius war, dass er 84 Jahre alt wurde (Lucıan a. a. O.), und dass er 
nach Suıp. unter dem Consulat des M. Marcellus (51 v. Chr.) nach Rom ge- 
kommen sein soll. Hiernach glaubt ΒΑΚΕ, und seither fast Alle, er möge 
135 v. Chr. geboren, 51 v. Chr. gestorben sein. Mir ist indessen die Angabe 
des Suidas verdächtig, theils weil es nicht eben wahrscheinlich ist, dass Po- 
sidonius als ein Greis von mehr als 80 Jahren noch einmal nach Rom reiste, 
theils weil Suidas so redet, als ob dieser Besuch des Posidon. in Rom der ein- 
zige, oder doch bekannteste wäre (ἦλθε δὲ χαὶ εἰς Ρώμην, ἐπὶ Mapxov Μαρχέλ- 
λου), theils weil man eine Spur dieser Anwesenheit bei Cicero, dessen philo- 
sophische Schriften fast alle, und ein grosser Theil der Briefe, später ge- 


510 Posidonius. 


nätius D) bereiste auch er die westlichen Länder bis nach 
Gades ?), doch nicht um hier einen Wirkungskreis für seine Lehr- 
thätigkeit zu suchen °); diesen fand er vielmehr, vielleicht schon 


schrieben sind, zu finden erwarten müsste. Der Marcus Marcellus ist viel- 
leicht durch irgend ein Versehen aus Marius (8. u. A. 2) entstanden. Mürter 
“ἃ. 2.0. S. 245 glaubt, Posidon. sei etwa 10 Jahre jünger, als nach der ge- 
wöhnlichen Annahme. Er stützt sich hiefür theils auf die Aussage des Arnen. 
XIV, 657, f, dass Strabo B. VII den Posidonius gekannt zu haben bezeuge, 
theils auf Srraso XVI, 2, 10. S. 753 (Ποσειδ. τῶν καθ᾽ ἡμᾶς φιλοσόφων πολυ- 
μαθέστατος), theils auf Prur. Brut. 1, wo aus Posid. etwas angeführt werde, 
was erst nach Cäsar’s Tod geschrieben zu sein scheine. Allein das letztere ist 
nicht richtig: was aus Posidon. angeführt ist, enthält keine Hindeutung auf 
Cäsar’s Ermordung. Aus dem χαθ᾽ ἡμᾶς könnte man höchstens folgern, dass 
die Lebenszeit des Posidonius mit der Strabo’s (geb. um 54 v. Chr.) sich noch 
berührt hatte, was aber auch dann der Fall war, wenn jener um 50 v. Chr. 
gestorben ist. Indessen zeigt WYTTExgBacH bei Bake S. 263 f., dass es nicht 
selten, und auch bei Strabo, in weiterem Sinn steht. Die Bekanntschaft des 
Strabo mit Posid. ist selbst dann unwahrscheinlich, wenn dieser erst um 
40 v. Chr. starb, denn damals war Strabo erst 14 Jahre alt, und es lässt sich 
kaum denken, dass ein Knabe dieses Alters schon aus weiter Ferne nach 
Rhodus zu Posidonius geschickt wurde; die Angabe steht aber überdiess bei 
Athenäus in der gleichen Stelle, in der er auch behauptet, dass Posidonius 
mit Scipio in Aegypten gewesen sei (s. 0. 501,5), und kann gerade so gut, 
wie diese Behauptung, auf einem Versehen beruhen; sie bezieht sich vielleicht 
nicht einmal auf eine Stelle in dem verlorenen Theil von Strabo’s Ttem Buch, 
sondern auf o. 3, 4. 5. 297 (ἔχ τε ὧν εἶπε Ποσειδώνιος). Für mich ist das Haupt- 
bedenken gegen Müllers Annahme der Umstand, dass Posid. unter dieser 
Voraussetzung nicht wohl noch ein Schüler des Panätius sein könnte, dessen 
Tod wir aus den 8.501, 7 angegebenen Gründen nicht über 110 v.Chr. werden 
herabrücken dürfen. 

1) Cıc. Off. JII, 2, 8. Divin. I, 3, 6. 

2) Die Spuren dieser Reise sind in Srraso’s Anführungen aus Posidonius 
erhalten. Wir sehen aus ihm, dass sich Posid. in Spanien, namentlich Gades, 
längere Zeit aufhielt (III, 1, 5. S. 138. c. 5, 7—9. $. 172. 174. XI, 1, 66. 
S. 614), von da an der afrikanischen Küste hin. nach Italien fuhr (II, 2, 6. 
XVII, 3, 4. 8.144.827), dass er Gallien (IV, 4, 5. 8.198), Ligurien (II, 3, 18. 
S. 165), Sicilien (VI, 2, 7. S. 273), die liparischen Inseln (VI, 2, 11. 85. 277), 
die Ostküste des adriatischen Meers (VII, 5, 9. 8.316) besuchte. Dass er Rom 
bei dieser Gelegenheit nicht übergieng, versteht sich von selbst. Ein zweites- 
mal kam er von Rhodus aus, unter Marius letztem Consulat (86 v. Chr.), in 
Geschäften nach Rom (Prur. Mar. 45), wogegen der angebliche Besuch i.J.51 
mir, wie bemerkt, unwahrscheinlich ist. ; . 

3) Es ist uns wenigstens von einer solchen nicht das Geringste bekannt, 


κ ΄ 
Posidoninus, 511 


früher 1). in Rhodus, wo er so heimisch wurde, dass er auch wohl 
geradezu ein Rliodier genannt wird 5). Sein Name zog zahlreiche 
Schüler, und namentlich auch viele Römer herbei; wiewohl er.da- 
her nicht in Rom selbst wirkte, so ist er doch ohne Zweifel zu den 
Männern zu zählen, welche für die Verbreitung der stoischen Philo- 
sophie unter den Römern am Meisten gethan haben °); auch noch 
später gilt er für eine der ersten stoischen Auktoritäten 5), und seine 
zahlreichen Schriften gehörten zu den gelesensten wissenschaft- 
lichen Werken 5). 


der Hauptzweck der Reise bestand vielmehr Allem nach in geographischer 
und geschichtlicher Forschung. Ihre Zeit scheint in den Anfang des ersten Jahr- 
bunderts, bald nach dem Cimbernkriege, zu fallen; vgl. Srraso VII, 2,2. 293. 

1) Ueberliefert ist nichts darüber, und an sich ist es sehr denkbar, dass 
Posid. schon bald nach Panätius’ Tode sich selbständig als Lehrer niederliess. 
Dass er jedoch in Rhodus die Schule des Panätius übernommen habe, fanden 
wir schon S. 502, 1 unwahrscheinlich. 

2) Aruen. VI, 252, ὁ. Lucrax Macrob. 20. -Suım. Aus Luc. a. a, O. 
Straro XIV, 2, 13. S. 655. VII, 5, 8. 5, 316. Prur. Mar. 45 ergiebt Sich, dass 
er das rhodische Bürgerrecht erhielt, und öffentliche Aemter, sogar das eines 
Pıytanen, bekleidete. ͵ 

3) Man kann diess schon aus der Art abnehmen, wie Cicero seiner er- 
wähnt, der ihn durchaus als einen seinen römischen Lesern wohlbekannten 
Mann behandelt; vgl. 2. B. N. D. I, 44, 123: familiaris omnium nostrüm Posi- 
donius. Er selbst hatte ihn 77 v. Chr. in Rhodus gehört (Prur. Cie. 4, Ciıc. 
N. De. I, 3, 6. Tusc. I, 25, 61. De Fato 3, 5. Brut. 91, 316), und stand fort- 
während mit ihm in Verbindung (Fin. 1, 2, 6: legimus tamen Diogenem u. 8. w. 
in primisque familiarem nostrum Posidonium). Im J. 59 v. Chr. schickte er 
Posidonius die Denkschrift über sein Consulat, um sie zu bearbeiten, was 
dieser jedoch ablehnte, weil sie dadurch nicht gewinnen könnte; ep. ad Att. 
II, 1 — das letzte bestimmte Datum aus dem Leben des Posidonius. Vor ihm 
hatte Pompejus den Philosophen kennen gelernt, und ihm wiederholte Beweise 
seiner Hochschätzung gegeben (Straro XI, 1, 6. 8. 492. Prur. Pomp. 42. 
Cıc. Tuse. a. ἃ. Ὁ. Pıın. hist. nat. VII, 112); bekannt ist der Besuch des 
Pompejus bei ihm, welchen Cıc. Tusc. a. a. O. als einen Beweis stoischer 
Seelenstärke unter Schmerzen anführt. Auch mit dem älteren Schüler des 
Panätius, Rutilius Rufus, war er bekannt; Cıc. Off. III, 2, 10. 

4) Sexeca nennt ihn als solche wiederholt (ep. 33, 4. 104, 21. 108, 38) 
neben Zeno, Chrysippus, Panätius; und ep. 90, 20 sagt er von ihm: Posido- 
nius, ut mea fert opinio, ex his, qui plurimum philosophiae contulerunt. 

5) Ueber die uns bekannten Schriften 5. m. Bake 8.235 ff. MüLuer 248. 
Es sind deren mehr als zwanzig, zum Theil umfangreiche Werke. Welche 
Fundgrube gelehrter Kenntnisse die Späteren daran hatten, sieht man aus den 


Br 


512 Posidonius. 


In seiner Auffassung des Stoicismus folgt Posidonius im We- 
sentlichen der Richtung seines Lehrers Panätius. An kritischer 
Schärfe und an Freiheit des Geistes steht er zwar hinter diesem 
ebenso zurück !), wie er ihn an Gelehrsamkeit übertraf 2); und 
er tritt desshalb auch der Ueberlieferung seiner Schule nicht mit 
derselben Unabhängigkeit gegenüber, wie jener. Bei einigen 
wichtigen Punkten, in denen Panätius die altstoische Lehre ver- 
lassen hatte, kehrte er zu ihr zurück. Er wollte die Weltver- 
brennung nicht bestreiten ?), und die abergläubische Theorie der 


zahlreichen Anführungen bei Cicero, Strabo, Seneca, Plutarch, Athenäus, 
Galen (De Hippocratis et Platonis plaeitis), Diogenes, Stobäus u. A. Vieles 
ist aber auch ohne Zweifel aus dieser Quelle in andere Darstellungen überge- 
gangen, ohne dass sie genannt würde. 

1) Panätius übte nicht blos an den Dogmen seiner Schule, wie wir ge- 
sehen haben, freie Kritik, sondern er verhielt sich auch zu geschichtlichen 
und literarischen Ueberlieferungen skeptischer, als diess im Alterthum ge- 
wöhnlich ist, wie die Bd. II, a, 47. 172, 2. Ὁ, 751, 2 (wozu in diesem Band 
8. 32,2 g. E. 2. vgl.) angeführten Fälle und Prur. Aristid. 1 beweisen. (Dass 
er dagegen den platonischen Phädo für unächt hielt, wie das Epigramm 
Anthol. IV, 233 Jac. Nr. 548. Davıp und Askrerıus Schol. in Arist. 30, b, 8. 
576, a, 39 behaupten, ist sicher ein Missverständniss der Bd. II, a, 172, 2 an- 
geführten Angabe.) Posidonius zeigt sich nicht blos in seiner Vertheidigung 
der Mantik, wie wir gleich finden werden, sehr leichtgläubig, sondern er 
liess sich auch in andern Fällen fabelhafte Angaben zu bereitwillig gefallen, 
‘wie ihm Srraso bei gegebener Gelegenheit (II, 3, 5. S. 100. 102. III, 2,9. 147. 
III, 5, 8. 173 vgl. auch XVI, 2, 17. S. 755) vorrückt. 

2) Ueber die umfassende Gelehrsamkeit des Posid. ist bei den alten Zeu- 
gen nur Eine Stimme. Srraso XVI, 2, 10. S. 753 nennt ihn ἀνὴρ τῶν χαθ᾽ ἡμᾶς 
φιλοσόφων πολυμαθέστατος, und Gauen sagt (De Hippoecr. et Plat. VIII, 1. Bd.V, 
652 K.): Ποσειδώνιος ὃ ἐπιστημονιχώτατος τῶν Στωϊκῶν διὰ To γεγυμνάσθαι κατὰ 
γεωμετρίαν. Seine Kenntniss der Geometrie rühmt derselbe ebd. auch IV, 4. 
S. 390; Einzelnes aus seinen geometrischen Werken findet sich bei Proxrus 
(Base 8. 178ff.). Ein Beweis seines astronomischen Wissens ist die Himmels- 
kugel, welche Cıc. N. D. II, 34, 88 beschreibt. Von seinen geographischen 
Forschungen (Baxe 87 ff.) geben Srrano’s zahlreiche Anführungen Zeugniss; 
über die naturwissenschaftliche Untersuchung, welche er hiebei mit der geo- 
graphischen Beschreibung verband, vgl. m. 5. 514,4. Eine Masse geschicht- 
lichen Wissens muss in dem grossen Geschichtswerk niedergelegt gewesen 
sein, dessen 49stes Buch Arnenärs IV, 168, ἃ anführt; dasselbe scheint die 
Zeit von Alexander d, Gr. bis in die Gegenwart des Schriftstellers umfasst zu 
haben; Näheres bei ΒΑΚΕ S. 133 fl. 248 ff. MüLer 249 ff. 

3) Die näheren Nachweisungen hierüber sind schon 8, 142, 2 gegeben. 


v 
Charakter seiner Philosophie. 513 


Mantik hat er noch mit einigen weiteren Gründen und Annahmen 
‚bereichert 1); wie er denn überhaupt diesem Glauben einen Werth 
beilegte, in dem man nicht blos den Stoiker, sondern auch den 
syrischen Hellenisten zu erkennen geneigt sein möchte. Auch der 
Dämonenglaube wurde von ihm in Schutz genommen ?). Aber im 
Ganzen lässt sich doch in seiner Denkweise der Schüler des Pa- 
nätius nicht verkennen. Die Hauptaufgabe der Philosophie liegt 
auch für ihn ausgesprochenermassen in der Ethik, sie ist die 
Seele des ganzen Systems 5); eine Ansicht, welche an und für 
sich schon eine gewisse Zurückstellung der dogmatischen Gegen- 
sätze hervorzurufen geeignet war. Auch für Posidonius hat fer- 
ner der Schmuck der Rede und die Gemeinverständlichkeit des 
Vortrags einen Werth, wie sie ihn für die älteren Stoiker nicht 
gehabt hatten: er ist nicht blos Philosoph, sondern auch Redner, 
und auch in seinen wissenschaftlichen Darstellungen hat er diesen 
Charakter nicht verläugnet %). Wenn er es endlich an Gelehr- 
samkeit den meisten Philosophen zuvorthat, so lag doch hierin 
für ihn die Versuchung, auch in der Philosophie mehr in die 
Breite als in die Tiefe zu arbeiten, und es lässt sich wirklich 
nicht verkennen, dass er den Unterschied zwischen philosophi- 
scher Forschung und gelehrtem Wissen zu verwischen geneigt 


Dass Posid. den Zeugnissen zufolge, welche dort beigebracht wurden, den 
leeren Raum ausser der Welt, von der Annahme seiner Schule abweichend, 
begrenzt setzte, ist eine sehr unwesentliche Differenz. 

1) Näheres darüber findet sich in den Stellen, welche $. 314, 1 angeführt 
sind. Wir erfahren daraus, dass Posid. nicht allein im 2ten Buch seines φυσιχὸς 
λόγος, sondern auch in einem eigenen Werke, von der Weissagung gehandelt 
hatte; dass er den Glauben an dieselbe durch weitere Beweise zu begründen, 
und ihre Möglichkeit näher zu erklären suchte (8. ο. 316, 1. 318, 4. 5. 320, 6); 
dass er endlich in der Annahme von Erzählungen über eingetroffene Weis- 
sagungen und Träume gerade so unkritisch verfuhr, wie seine Vorgänger 
Antipater und Chrysippus (vgl. S. 316, 5). 

2) Vgl. 5. 297, 3. 298, 4 

3) 8. ο. 57, 1. 

4) Vgl. ὅΤΈΑΒο III, 2, 9. S. 147: Ποσειδώνιος δὲ τὸ πλῆθος τῶν μετάλλων 


(in Spanien) ἐπαινῶν χαὶ τὴν ἀρετὴν οὐχ ἀπέχεται τῆς συνήθους ῥητορείας, ἀλλὰ 
συνενθουσιᾷ ταῖς ὑπερβολαῖς. Auch die erhaltenen Bruchstücke sind theilweise 
blühend, immer gut geschrieben, und zeigen keine Spur von der schmuck- 
losen, am Liebsten in schulmässiger Schlussform sich bewegenden Darstellung 
des Zeno und Chrysippus. 


Philos. d. Gr. II. B. 1. Abth. 33 


514 Posidonius, 


war ); und wenn das naturwissenschaftliche Interesse bei ihm 
stärker war, alses in der stoischen Schule zu sein pflegte, so konnte 
auch dieser Umstand dazu beitragen, die Reinheit seines Stoieis- 
mus zu trüben, und ihn den Reripatetikern näher zu bringen ?). 
Nicht geringer war aber auch bei ihm, nach Panätius Vorgang, 
die Bewunderung für Plato 5), und von seinem Commentar über den 
Timäus %) können wir vermuthen, dass er in demselben die stoi- 
sche Lehre mit der platonischen zu vereinigen bemüht war. Auch 
‚seine Uebereinstimmung mit Pythagoras ist ihm von Werth ὅ), 
und selbst Demokrit wird von ihm unter die Philosophen gerech- 


1) Nach $rx. ep. 88, 21. 24 rechnete er die Mathematik und überhaupt 
alle freien Künste zur Philosophie, und Derselbe bestreitet ep. 90, 7 ff. die 
Behauptung, welche Posid. eingehend zu begründen versucht hatte, dass 
selbst die handwerksmässigen Künste von den Philosophen des goldenen Zeit- 
alters erfunden seien. Von ihm stammt vielleicht auch, was Srraso I, 1, 1 
sagt: da die Philosophie Kenntniss des Göttlichen und Menschlichen sei (s. 0. 
220, 2), so komme die πολυμάθεια keinem andern zu, als dem Philosophen, die 
Geographie sei mithin ein Theil der Philosophie. 

2) ὅτβαβο II, 3, 8. 5. 104: πολὺ γάρ ἐστι τὸ αἰτιολογιχὸν παρ᾽ αὐτῷ (Str. 
redet zunächst von seinen geographischen Arbeiten) χαὶ τὸ ἀριστοτελίζον, ὅπερ 
ἐχχλίνουσιν οἱ ἡμέτεροι (die Stoiker) διὰ τὴν ἐπίχρυψιν τῶν αἰτίων. Einiges Ein- 
zelne, was Posidon. von Aristoteles entlehnt hatte, giebt Sımrr. Phys. 64, b, m 
(aus Geminus’ Abriss seiner Meteorologie). De coelo, Schol. in Arist. 517, a, 
31. Auzex. Arnr. Meteorol. 116, a, o 

3) GALEN up. et Plat. IV, 7. 8. 421: χαίτοι χαὶ τοῦ Taken θαυμαστῶς 
τράψαντος; ὡς χαὶ ὃ Ποσειδώνιος ἐπισημαίνεται θαυμάζων τὸν ἄνδρα χαὶ θεῖον ἀπο- 
καλεῖ, ὡς χαὶ πρεσβεύων αὐτοῦ τά τε περὶ τῶν παθῶν δόγματα χαὶ τὰ περὶ τῶν τῆς 
ψυχῆς δυνάμεων u.s. w. Ebd. V,.6. 5. 412: ὥσπερ ὃ Πλάτων ἣἡμᾶς ἐδίδαξε. 

4) Sexr. Math. VII, 93. Provr. proer. an. 22, S. 1028, Tueo ὅμυεν. De 
mus. c. 46, $. 162 Bull. Herwras in Pnäoe, 5, 114 Ast, wenn bier nicht etwa 
ein eigener Commentar zum Phädrus gemeint ist. 

5) Garen ἃ. ἃ. Ο. IV,7. 8.425. V,6. 8.478. Was Pıur. ἃ. a. Ὁ: aus 
Posidonius anführt, gehört zur Erklärung des Timäus, nicht unmittelbar zu 
seiner eigenen Ansicht, das Pythagoreische b. Sexrus a. a. O., wie die Ver- 
gleichung der Stelle Math. IV, 2 ff. zeigt, nicht mehr zu dem Citat aus Posi- 
donius. Auch die Bemerkung b. Tneo Surrx. a. a. O., dass Tag und Nacht 
dem Geraden und Ungeraden entsprechen, offenbar gleichfalls dem Commentar 
zum Timäus entnommen, soll zunächst nur dazu dienen, den platonischen 
Aeusserungen einen physikalischen Sinn unterzulegen, und kann desshalb für 
eine eigene Anschliessung des Posid. an das pythagoreische Zahlensystem 
(Rırter III, 701) nichts beweisen. 


Philosophischer Charakter. Anthropologie. 515 


net 1), denen ihn frühere Stoiker schon wegen seines Verhältnis- 
ses zu Epikur kaum beigezählt haben würden ?). Damit war von 
selbst gegeben, dass er die übrigen Systeme dem Stoicismus, und 
diesen seinerseits jenen, näher rücken musste. Eine beson- 
dere Veranlassung dazu scheint ihm, wie seinem Zeitgenossen 
Antiochus (s. u.), der Streit gegen die Skepsis gegeben zu haben: 
um die Einwürfe zurückzuweisen, welche von dem Widerstreit 
der philosophischen Systeme hergenommen wurden, behauptete 
man, in der Haupisache seien sie einig ®). Doch scheint es 
nicht, dass er sich in materieller Beziehung viele Abweichungen 
vom altstoischen System erlaubte; wenigstens berichten unsere 
Quellen nur eine einzige von Bedeutung, seine platonisirende 
Anthropologie. Während die stoische Lehre im Gegensatz zu der 
platonisch-aristotelischen eine Mehrheit seelischer Kräfte läugnete, 
und alle Lebenserscheinungen auf die Eine vernünftige Grund- 
kraft zurückführte, so war Posidonius der Meinung, aus Einem 
Princip lassen sich die Thatsachen des Seelenlebens nicht erklä- . 
ren. Er fand es mit Plato undenkbar, dass die Vernunft Ursache 
des Vernunftwidrigen und Leidenschaftlichen sein sollte 4); er 
glaubte, die Thatsache, dass unsere Affekte nicht selten mit un- 

serem Willen im Streit liegen, lasse sich nur aus einem ursprüng- | 
lichen Gegensatz der wirkenden Kräfte im Menschen begreifen °); 
er zeigte, dass die leidenschaftlichen Gemüthsbewegungen nicht 
blos von unsern Vorstellungen über Güter und Uebel herrühren 


1) Sen. ep. 90, 32, 

2) Noch weiter würde dieser Eklekticismus gegangen sein, wenn Posi- 
donius wirklich, wie Rırrer III, 702 sagt, die griechische Philosophie aus 
orientalischer Ueberlieferung abgeleitet hätte. Diess ist jedoch in dieser All- 
gemeinheit nicht richtig, nur von Demokrit erzählte er, dass er seine Atomen- 
lehre von dem angeblichen phönicischen Philosophen Mochus entlehnt habe 
8. Bd. I, 579); daraus lässt sich aber nicht auf die philosophische Richtung 
des Posid., sondern nur auf seine historische Unkritik schliessen, die auch 
sonst durch Cicero und Strabo reichlich belegt ist. 

3) Darauf deutet die Stelle Dıoe. VII; 129 hin: δοχεῖ δ᾽ αὐτοῖς μήτε διὰ τὴν 
διαφωνίαν ἀφίστασθαι φιλοσοφίας, ἐπεὶ τῷ λόγῳ τούτῳ προλείψειν ὅλον τὸν βίον, ὡς 
χαὶ Ποσειδώνιός φησιν ἐν τοῖς προτρεπτιχοῖς. 

4) Ganex de Hipp. et Plat. (wo dieser Gegenstand sehr ausführlich ver- 
handelt wird) IV, 3. S. 377 £. V, 5, 401, 

5) A.a. Ὁ. IV, 7, 424 f. 


33 * 


516 Posidonius. 


können, denn sobald diese Vorstellungen vernünftiger Art seien, 
erzeugen sie keine leidenschaftliche Bewegung, auch haben sie 
diese Folge nicht bei Allen in gleicher Weise, und selbst der vor- 
handene Affekt schliesse eine gleichzeitige entgegengesetzte Ver- 
nunftthätigkeit nicht aus 1); er bemerkte endlich, der Umstand, 
dass frische Eindrücke stärker auf das Gemüth wirken, liesse sich 
"unter Voraussetzung der stoischen Theorie nicht erklären, denn 
unser Urtheil über den Werth der Dinge werde durch die Zeit- 
dauer nicht verändert). Aus allen diesen Gründen entschied sich 
“Posidonius für die platonische Ansicht, dass die Affekte nicht von 
der vernünftigen Seele, sondern von dem Muth und dem Begeh- 
rungsvermögen, als zwei eigenthünlichen Kräften , herrühren 5), 
welche im Unterschied von der Vernunft durch die Beschaffenheit 
des Körpers bestimmt sein sollten %); doch wollte er diese drei 
Kräfte nicht als Theile der Seele, sondern nur als verschiedene 
Vermögen eines und desselben Wesens betrachtet wissen, dessen 
Sitz er der herrschenden Meinung seiner Schule gemäss in’s Herz 


1) A. a. 0. IV, 5, 397 £. e. 7, 416. V, 6, 473 £. 

2) A.a. 0. IV, 7,416f. Einige weitere Gründe übergehe ich. Wenn 
jedoch Rırrer III, 703 den. Posidonius sagen lässt: um die Lehre von den 
leidenden Gemüthsstimmungen zu begreifen, bedürfe es keiner weitläufigen 
Gründe und Beweise, so kann ich diess in der Aeusserung b. Garen V, 178 
Ch. (502 K.) nicht finden. Posid. tadelt hier den Chrysippus, dass er sich auf 
Dichterstellen auch bei der Frage über den Sitz der Seele und überhaupt nicht 
blos bei solchen Punkten berufe, welche sich einfach aus der unmittelbaren 
Wahrnehmung oder dem Selbstbewusstsein entscheiden lassen; und als ein Bei- 
spiel der letzteren führt er die Gemüthszustände an, indem er von ihnen sagt, 
sie bedürfen οὐ μαχρῶν λόγων οὐδ᾽ ἀποδείξεων, μόνης δὲ ἀναμνήσεως ὧν ἑχάστοτε - 
πάσχομεν. Das heisst aber nicht: um sie zu begreifen bedürfe es keiner 
Beweise, sondern: ihre thatsächliche Beschaffenheit werde uns unmittel- 
bar durch das Selbstbewusstsein bekannt. 

3) Garen a. a. O. V, 1, 429: Χρύσιππος μὲν οὖν... ἀποδεικνύναι πειρᾶται 
κρίσεις τινὰς εἶναι τοῦ λογιστικοῦ τὰ πάθη, Ζήνων δ᾽ οὐ τὰς χρίσεις αὐτὰς ἀλλὰ τὰς 
ἐπιγιγνομένας αὐταῖς συστολὰς χαὶ λύσεις ἐπάρσεις τε χαὶ τὰς πτώσεις τῆς ψυχῆς 
ἐνόμιζεν εἶναι τὰ πάθη. ὃ Ποσειδώνιος δ᾽ ἀμφοτέροις διενεχθεὶς ἐπαινεῖ τε ἅμα χαὶ 
προςίεται τὸ Πλάτωνος δόγμα καὶ ἀντιλέγει τοῖς πεοὶ τὸν Χούσιππον οὔτε χρίσεις 
εἶναι τὰ πάθη δειχνύων οὔτε ἐπιγιγνόμενα χρίσεσι, ἀλλὰ κινήσεις τινὰς ἑτέρων δυνάμεων 
ἀλόγων ἃ ὃ Πλάτων ὠνόμασεν ἐπιθυμητιχήν τε nat θυμοειδῆ. Ebd. IV, 8, 139 u. ö. 

4) Α. ἃ. Ο. V, 5, 464: ὡς τῶν παθητιχῶν χινήσεων τῆς ψυχῆς ἑπομένων ἀεὶ τῇ 
διαθέσει τοῦ σώματος. 


Anthropologie. Ethik. 517 


verlegte *). Hiemit brachte er dann auch die aristotelische Lehre 
von den drei Stufen des Seelenlebens in Verbindung, indem er die 
Begierde dem Pflanzenleben, den Muth dem höheren Thierleben 
zutheilte 2). Diese Abweichung von der stoischen Ueberlieferung 
hatte nun zwar auf die übrigen Lehren des Posidonius nicht den 
Einfluss, den man nach seinen eigenen Aeusserungen erwarten 
könnte; so entschieden er vielmehr die Abhängigkeit der Ethik 
von der Ansicht über die Affekte anerkannte °), so wird uns doch 
aus seiner eigenen Sittenlehre nichts berichtet, was mit der stoi- 
schen Moral im Widerspruch stände; denn die Angabe des Dıo- 
ΘΈΝΕΒ ἢ), dass er die Tugend nicht für das einzige Gut und für 
hinreichend zur Glückseligkeit gehalten habe, haben wir bereits 
als unglaubwürdig erkannt’), und wenn er der Meinung war, dass 
manche Dinge selbst zur Erhaltung des Vaterlandes nicht gethan 
werden dürfen 5), so ist diess, wenn überhaupt, jedenfalls nur 
eine solche Abweichung von dem Cynismus der ältesten Stoiker, 
die wir als eine dem Geist des Systems nicht widersprechende Ver- 
besserung betrachten können 7). Nichtsdestoweniger dürfen wir 


1) A.a. O. VI, 2,515: ὃ δ᾽ ᾿Αριστοτέλης te χαὶ ὃ Ποσειδώνιος εἴδη μὲν ἣ 
μέρη ψυχῆς οὐχ ὀνομάζουσιν, ὃ 
ὁρμωμένης. 
2) A. 4. Ο. V, 6, 476: ὅσα μὲν οὖν τῶν ζῴων δυςχίνητ᾽ ἐστὶ χαὶ προςπεφυχότα 


, N} ἢ ἡ -- 2 ’ 2, - δί 
υνάμεις δ᾽ εἶναί φασι μιᾶς οὐσίας Er τῆς χαρδιας 


δίχην φυτῶν πέτραις ἤ τισιν ἑτέροις τοιούτοις, ἐπιθυμίᾳ μόνη διοικεῖσθαι λέγει αὐτὰ, 
τὰ δ᾽ ἄλλα τὰ ἄλογα σύμπαντα ταῖς δυνάμεσιν ἀμφοτέραις χρῆσθαι τῇ τ᾽ ἐπιθυμητιχῇ 
καὶ τῇ θυμοειδεῖ, τὸν ἄνθρωπον δὲ μόνον ταῖς τρισὶ, παρειληφέναι γὰρ χαὶ τὴν λογι- 
στιχὴν ἀρχήν. Ob und wie dagegen mit dieser platonisch -aristotelischen 
Psychologie die zwölf Theile der Seele zusammenhängen, welche Terrurr. 
De an. 14 unserem Stoiker beilegt, und inwieweit dieser Annahme, neben 
dem Missverständlichen, was sie zu enthalten scheint, Richtiges zu Grunde 
liegt, getraue ich mir nicht zu entscheiden. Die Stelle lautet: Dividitur autem 
(se. anima) in partes ... decem apud quosdam Stoicorum, et in duas amplius 
apud Posidonium, qui a duobus exorsus titulis, principali, quod ajunt nyswov:- 
»ov, et a rationali, quod ajunt λογικὸν, in duodecim exinde prosecuit. 

3) A. a. 0. IV, 7, 421. V, 6, 469. 471 ἢ. 

4) VII, 103. 128. 

5) 8. 0.505, 4. 199, 1. 

6) Cıc. Oft. I, 45, 159. 

7) Auch der Widerspruch des Posid. gegen eine ungenügende Erklärung 
der Forderung des naturgemässen Lebens (GaLes ἃ. 8. Ὁ. V, 6. S. 470) berührt 
den Kern der stoischen Ansicht nicht, und seine eigene Definition des höchsten 
Guts bei Kremess Strom. II, 416, B (τὸ ζῆν θεωροῦντα τὴν τῶν ὅλων ἀλήθειαν 


518 Posidonius 


die platonisirende Anthropologie unseres Philosophen nicht für 
eine blos vereinzelt® Einmischung»fremdartiger Elemente in das 
stoische System halten, sondern in dieser Anschliessung an Plato ΄ 
und Aristoteles kommt eine geschichtlich nicht unwichtige innere 
Umbildung des Stoicismus zum Vorschein. Dieses System hatte in 
seinem theoretischen Theile die platonisch-aristotelische Zweiheit 
von Form und Stoff, Geist und Materie, aufgehoben, und im Zu- 
sammenhang damit auch im Menschen jede Mehrheit der geistigen 
Kräfte geläugnet. Zugleich hatte es aber auf dem praktischen Ge- 
τ biete eine Zurückziehung des Selbstbewusstseins aus der Aeusser- 
lichkeit gefordert, und einen ethischen Dualismus begründet, wie 
ihn weder Plato noch Aristoteles gekannt hatte. Der Widerspruch 
dieser beiden Bestimmungen macht sich jetzt fühlbar, der mora- 
lische Dualismus, welcher die Grundrichtung der stoischen Philo- 
sophie bezeichnet, wirkt auf die theoretische Weltansicht zurück, 
und nöthigt die Steiker, auch in dieser, zunächst wenigstens für 
ihren anthropologischen Theil, den Gegensatz der Principien wie- 
der einzuführen; — denn dass es nicht sowohl die platonische 
Trichotomie von Vernunft, Muth und Begierde, als vielmehr die 
zweitheilige Unterscheidung des Vernünftigen und des Unvernünf- 
tigen in der menschlichen Seele ist, an der es dem Posidonius 
liegt, lässt sich unschwer bemerken '). Unser Philosoph selbst 
hat diesen Zusammenhang klar angedeutet, wenn er an seiner 
Lehre von den Affekten und ihrem Verhältniss zur Vernunft als 
ihren Hauptnutzen das rühmt, dass sie uns lehre, den Unterschied 
des Göttlichen und Vernünftigen in uns von dem Unvernünftigen 
und Thierischen zu erkennen, nur dem Dämon in uns, nicht dem 
Schlechten und Ungöttlichen zu folgen ?). Hiemit ist nicht allein 


χαὶ τάξιν χαὶ συγχατασχεύαζειν αὑτὸν χατὰ To δυνατὸν, χατὰ μηδὲν ἀγόμενον ὑπὸ τοῦ 
ἀλόγου μέρους τῆς Ψυχῆς) ist nur eine formelle Erweiterung der älteren Bestim- 
mungen. Ebenso ist die S. 214, 2, Schl. berührte Differenz mit- Chrysippus 
hinsichtlich der Seelenkrankheiten ganz unerheblich. 

1) Dieser Dualismus spricht sich auch in der Notiz bei Pur. utr. an. an 
corp. 5. aegr. ὁ. 6. (Fragm. 8. 700) aus, dass Posid. alle menschlichen Thätig- 
keiten und Zustände in ψυχιχὰ, σωματιχὰ, swparına περὶ ψυχὴν und ψυχιχὰ περὶ 
σῶμα getheilt habe. : 

2) Garen V, 6. 8. 469: τὸ δὴ τῶν παθῶν αἴτιον, τουτέστι τῆς τε ἀνομολογίας 
χαὶ τοῦ καχοδαίμονος βίου, τὸ μὴ κατὰ πᾶν ἕπεσθαι τῷ ἐν αὑτῷ δαίμονι: συγγενεῖ τε 


Psychologischer Dualismus. 519 


der psychologische Dualismus, welcher bei Posidonius den eigent- 
lichen.Kern der platonisirenden Trichotomie bildet, deutlich aus- 
gesprochen, sondern es ist zugleich es, gesagt, dass dieser 
Dualismus dem Philosophen hauptsächlich desshalb nothwendig 
scheint, weil er die anthropologische Voraussetzung des ethischen 
Gegensatzes von Sinnlichkeit und Vernunft ist. Den ersten An- 
satz zu dieser Wendung konnten wir schon bei Panätius in der 
Unterscheidung der ψυχὴ und der φύσις bemerken; in ihrer wei- 
teren Entwicklung bei Epiktet und Antonin werden wir tiefer un- 
ten eine von den Erscheinungen finden, welche den Uebergang der 
Stoa zum Neuplatonismus vorbereiten. Die Psychologie des Posi- 
donius erweist sich so als ein Glied eines grösseren geschicht- 
lichen Zusammenhangs; dass sie für die spätere Auffassung der 
stoischen Lehre nicht ohne Bedeutung war, lässt sich auch aus 
der Angabe GarEn’s ') abnehmen, er habe unter den Stoikern 
seiner Zeit keinen getroffen, der auf die Bedenken des Posidonius 
gegen die altstoische Theorie zu antworten gewusst hätte ?). 
Posidonius ist der einzige von den Stoikern des ersten vor- 
christlichen Jahrhunderts, über dessen philosophische Ansichten 
uns Näheres mitgetheilt wird. Die Verbreitung der Schule in die- 
sem Zeitraum wird durch die grosse Zahl ihrer uns bekannten 
Mitglieder ?) bezeugt; nur ein Theil dieser Männer scheint sich 


ὄντι χαὶ τὴν ὁμοίαν φύσιν ἔχοντι τῷ τὸν ὅλον κόσμον διοιχοῦντι, τῷ δὲ χείρονι χαὶ 
ζῳώδει ποτὲ συνεχχλίνοντας φέρεσθαι. οἱ δὲ τοῦτο παριδόντες οὔτε ἐν τούτοις βελ- 
τιοῦσ: τὴν αἰτίαν τῶν παθῶν, οὔτ᾽ ἐν τοῖς περὶ τῆς εὐδαιμονὶ ag not ὁμολογίας ὀρθο- 
δοξοῦσιν. οὐ γὰρ βλέπουσιν ὅτι πρῶτόν ἐστιν ἐν αὐτῇ τὸ χατὰ μηδὲν ἄγεσθαι ὑπὸ τοῦ 
ἀλόγου τε χαὶ χαχοδαίμονος καὶ ἀθέου τῆς νυγῆς. Vgl. ebd. 5. 410 ἔν und was oben, 
S. 517, 7, aus Klemens angeführt ist. Im Gegensatz zu der sittlichen Würde 
des Geistes nennt Posidonius bei Sex. ep. 92,10 den Leib inutilis caro et fluida, 
receptandis tantum cibis habilis. 

\ 1) A.a. 0. IV, 5, Schl. 8, 402 ἢ, 

2) In dem Vorstehenden ist nur herausgehoben, was Posidonius im Ver- 
gleich mit der älteren stoischen Lehre eigenthümlich ist; die Punkte, worin 
er als Zeuge für dieselbe angeführt wird, und als solcher auch in früheren 
Abschnitten dieser Schrift öfters genannt wurde, verzeichnet Bakr; bei Dem- 
selben und vervollständigt bei Mürter Fragm. Hist. gr. III, 252 fl. sind die 
geschichtlichen und geographischen Bruchstücke zu finden. 

3) Ausser denen, welche schon 8. 508 f. angeführt wurden, gehören 
hieher: A. Griechen: Dionysius, welchen Atticus in Athen hörte (Cıc. 
Tuse,. II, 11, 26), möglicherweise derselbe, dessen Dıos. VI, 43. IX, 15 er- 


320 Stoiker des ersten Jahrhunderts v. Chr. 


aber überhaupt selbständig mit der Philosophie beschäftigt zu ha- 
ben, und auch unter jınen war schwerlich einer, der an wissen- 


wähnt, vielleicht der Nachfolger des Mnesarchus (s. o. 508, 1) in der Leitung 
der athenischen Schule. (Zumert, Abh. d. Berl. Akad. Hist.-phil. Kl. 1842, 105, 
schiebt zwischen beide Apollodorus Ephillus ein, dass diess aber wenig- 
stens sehr unsicher ist, wurde schon 8. 43 nachgewiesen.) Weiter die drei 
Schüler des Posidonius: Asklepiodotus (Sex. nat. qu. II, 26, 6. VI, 17,3 
u.ö.), Phanias (Dioe. VII, 41) und Jason, der Sohn seiner Tochter, welcher 
nach ihm Vorstand der Schule in Rhodus war (Suıp. u. d. W.); auch der Leo- 
'nides, welchen Straso XIV, 2, 13. 5, 655 als einen Stoiker aus Rhodus be- 
zeichnet, war vielleicht ein Schüler des Posidonius. Ferner die zwei Lehrer 
des jüngeren Cato: Athenodorus, mit dem Beinamen Kordylio, aus Tarsus, 
welchen Cato aus Pergamum nach Rom mitnahm und bis zu seinem Tod bei 
sich hatte (Srraso XIV, 5, 14. S. 674. Prur. Cato min. 10. 16), früher Vor- 
steher der pergamenischen Bibliothek, in der er zenonische Schriften will- 
kührlich purificirte (Dıos. VII, 34); und Antipater aus Tyrus (Prur. Cato 4. 
Straso XVI, 2, 24. 5. 757), ohne Zweifel derselbe, welcher nach Cıc. Off. II, 
24, 86 kurz vor Abfassung dieser Schrift in Athen starb, und wie es scheint 
gleichfalls über die Pflichten geschrieben hatte; eine Schrift von ihm περὶ 
χόσμου führt Dıos. VII, 139 u.ö.an, wogegen von zwei andern (ebd. 150. 157) 
unsicher ist, welchem Antipater sie gehören. Etwas jünger scheint nach 
Straso a. a. Ὁ. Apollonius aus Tyrus gewesen zu sein, von dem ebd. und 
bei Dıos. VII, 1. 2. 6. 24, vielleicht auch bei Paor. Cod. 161. 8. 104, b, 15,' 
Schriften namhaft gemacht werden. Diodotus, welcher Cicero (um 85 
v. Chr.) unterrichtete, auch später sein Hausgenosse war, zuletzt erblindet 
um 60 v. Chr. bei ihm starb und von ihm beerbt wurde (Cıc. Brut. 90, 809. 
Acad. II, 36, 115. N. D. I, 3, 6. ad Div. XIII, 16. IX, 4. Tusc. V, 39, 113, ad 
Att. II, 20); einen Schüler von ihm, einen Freigelassenen Apollonius, nennt 
Cıc. ad Div. XII, 16. ; Apollonides, der Freund Cato’s, welcher in seinen 
letzten Tagen um ihn war (Pur. Cato min. 65 ἢ). Athenodorus, der Sohn 
Sandon’s, aus Tarsus oder der Nachbarschaft, vielleicht ein Schüler des Po- 
sidonius, der Lehrer des Kaisers Augustus, über den Srraso XIV, 5, 14. 
S. 674. Lucıan Macrob. 21. 23. Dıo Carvsosr. or. 33, 5. 24R. Aerıan. V.H. 
XII, 25. Prur. Apophthegm. reg. Cäs. Aug. 7. 8. 207. qu. conv. II, 1, 13, 3. 
S. 634. Dıo Cass. LII, 36. LVI, 43. Zosım. Hist. I, 6. Sum. ᾿Αθηνόδ. Näheres 
mittheilt. Vgl. Mürner Fragm. Hist. gr. III, 485 f. Ob ihm oder einem andern 
Gleichnamigen (wie etwa dem obenerwähnten Lehrer Cato’s) die Schriften und 
Aussprüche angehören, die von Athenodor angeführt werden, lässt sich bei 
den meisten nicht sicher ausmachen; doch ist es mir wahrscheinlich, dass bei 
Ses. tranqu. an. 3, 1—8. 7, 2. ep. 10,5 unter dem Athenodorus obne weitere 
Bezeichnung unser Athenodor verstanden ist, da dieser in jemer Zeit doch 
wohl der in Rom bekannteste Mann dieses Namens war, und dass er gleich- 
falls derjenige ist, welcher über die aristotelischen Kategorieen geschrieben 


Stoiker des ersten Jahrhunderts v. Chr. >21 


schaftlicher Bedeutung mit Panätius und Posidonius zu vergleichen 
gewesen wäre. Um so mehr ist zu vermuthen, dass die meisten 


x 


hatte, und dem schon Cornutus in Einzelnem widersprach; Sımpr. Categ. 5, α. 
15, ὃ. 41, y. (Schol. in Arist. 47, Ὁ, 20. 61, a, 25 f.) 82, ε. 47, ζ. Porra. ἐξήγ. 
4, b. 21, b (Schol. in Arist. 48, b, 12. Prantr Gesch. d. Log. I, 538, 19). 
Einige Fragmente geschichtlichen und geographischen Inhalts stellt MüLLer 
8. ἃ. Ὁ, zusammen. Welcher Athenodor bei Dıoc. III, 3. V, 36. VI, 81. IX, 42, 
und ob derselbe auch VII, 68. 121 gemeint ist, mag dahingestellt bleiben. 
Dagegen ist unser Athen. wohl der Athenodorus Calvus, welcher Cicero für 
seine Schrift von den Pflichten an die Hand gieng (Cıc. ad Att. XVI, 11. 14). 
Derselben Zeit gehört Theo der Alexandriner an, der nach Suı». u. d. W. 
unter August lebte, einen Auszug aus Apollodor’s Physik und eine Rhetorik 
schrieb. (Von zwei anderen Stoikern dieses Namens, dem Antiochener, dessen 
Sum. Θέων Σμυρν., und dem Tithoräer, dessen Dıoe. IX, 82 erwähnt, kennen 
wir die Zeit nicht, doch muss der letztere älter sein, als Aenesidem.) Zur 
stoischen Schule rechnet sich endlich auch Strabo, der bekannte Geograph, ᾿ 
welcher um 60—54 v. Chr. (so τακτὸν F. Hellen. III, 581 [553] auf Grund 
seiner eigenen Angaben X, 4, 10. XII, 3, 33. 5. 477 f. 557) zu Amasea in Pon- 
tus (StraBo XII, 3, 15. 39. S. 547. 561) geboren, unter August und Tiber in 
Rom lebte (am Schluss seines 6ten Buchs nennt er Tiberius als den gegenwär- 
tigen Herrscher, und Germanicus als dessen Sohn, diese Stelle muss demnach 
zwischen 14 u. 19 n. Chr. niedergeschrieben sein). Als Stoiker verräth er sich 
nicht allein durch Aeusserungen, wie I, 1, 1. 8. 2 (die stoische Definition der 
Philosophie) I, 2, 2. S. 15, sondern er nennt auch I, 2, 34. 8.41 und XVI, 4, 27. 
8.784 Zeno ὃ ἡμέτερος. Vgl.8.514,2. Indessen hatte er auch den Peripatetiker 
Xenarchus gehört (XIV, 4, 4. S. 670), und den noch angeseheneren Boöthus 
entweder zum Mitschüler oder wahrscheinlicher (denn das συνεφιλοσοφήσαμεν 
XVI, 2, 24. S. 757 erlaubt auch diese Deutung) gleichfalls zum Lehrer gehabt. 
(Von einem dritten Lehrer, Aristodemus, sagt er XIV, 1, 48. S. 650 nicht, 
worin ihn dieser unterrichtete, und welcher Schule er angehörte.) — B. Unter 
den Römern dieser Zeit kennen wir als Anhänger der stoischen Lehre: 
Q. Lueilius Balbus, den Cic. N. 1), I, 6, 15 als einen ausgezeichneten 
Stoiker rühmt, und dem er im zweiten Buch dieser Schrift die Vertretung der 
stoischen Schule übertragen hat. M, Poreius Cato Uticensis, schon von 
Cıc. Parad. Proöm. 2 als perfectus Stoicus, Brut. 31, 118 als perfectissimus 
Stoicus bezeichnet, und pro Mur. 29, 61 wegen der stoischen Schroffheiten an- 
gegriffen, De Finibus Wortführer seiner Schule, deren Schriften er (III, 2, 7) 
eifrig studirt, nach seinem Tode eines der stoischen Ideale (8. 0. 234,6). Seine 
Lehrer Antipater und Athenodorus und sein Freund Apolloriides sind uns vor- 
hin vorgekommen. Ueber seinen Stoieismus 5. m. auch Pr.ıx. H. nat. VII, 30, 
113. XXXIV, 8,92. M. Fon ius, ein leidenschaftlicher Bewunderer Cato's, 
über den Pıur. Brut. 34. Cato min. 32.46. Cäsar 21. Pomp. 73. Sueros. 
Octav. 13, Vater. Max. II, 10, 8. Dio Cass. XXXVIII, 7. XXXIX, 14 zu 


522 Philo. 


derselben der Richtung folgten, welche jene der stoischen Schule 
gegeben hatten, dass mithin diese Schule überhaupt um jene Zeit 
zwar im Ganzen an der Lehre des Zeno und Chrysippus festhielt, 
aber doch fremdartige Elemente weniger streng, als früher, ab- 
wehrte, und theils in ihrer gelehrten Thätigkeit, theils in der 
praktischen Anwendung ihrer Grundsätze sich mit anderen Schu- 
len vielfach friedlich berührte. 


3. Die Akademiker des letzten Jahrhunderts v. Chr. 


Noch entschiedener bat sich aber diese Annäherung und 
theilweise Verschmelzung der philosophischen Schulen, wie be- 
merkt, in der Akademie vollzogen. Es ist schon früher gezeigt 
worden, wie kräftig hier dem Eklektieismus theils durch die aka- 
demische Skepsis selbst, theils durch die mit ihr verknüpfte Theo- 
rie der Wahrscheinlichkeit vorgearbeitet war. und wie desshalb 
einzelne Spuren dieser Denkweise schon unter den ersten Schü- 
lern des Karneades hervortreten ἢ). Bestimmter entwickelt sie 
sich seit dem Anfang des ersten vorchristlichen Jahrhunderts 
durch Philo und Antiochus: i 

Philo ?), durch seine Geburt dem thessalischen Larissa ange- 
- hörig 5), war der Schüler und Nachfolger des Klitomachus in 
Athen *). Im mithridatischen Kriege flüchtete er sich mit anderen 
römisch Gesinnten nach Rom), und er erwarb sich hier als Leh- 


vergleichen ist. Von Anderen, welche auch bisweilen den Stoikern zugezählt 
werden, wie Varro und Brutus, wird später zu sprechen sein. 

1) 8. 480, 1. 484 f. 

2) C. F. Hermann De Philone Lariss&o. Gött. 1851. Ders. De Philone 
Lariss. disputatio altera. Ebd. 1855. Krıscne über Cicero’s Akademika, 
Göttinger Studien II, 126—200. 1845. 

3) ὅτοβ, Ekl. II, 38. \ 

4) Cıc. Acad.II, 6, 17: Clitomacho Philo vester operam multos annos dedit. 
Prur. Cie. 3. Sros. a. a. O. Dass er ihm als Schulvorstand folgte, sagt Evs. 
pr. ev. XIV, 8, 9 (nach Numenius); dass er der bedeutendste Akademiker 
seiner Zeit war, Cıc. Brut. 89, 306 (princeps Academiae). Acad. II, 6, 17 
(Philone autem vivo patrocinium Academiae non defuit). In Athen war Antio- 
chus sein Schüler (8. u.). Neben der Philosophie lehrte er auch mit Eifer 
Rhetorik (Cıc. De orat. III, 28, 110). u 

5) Cıc. Brut. 89, 306. Ueber seine dortige Lehrthätigkeit in Philosophie 
und Rhetorik Tuse. II, 3, 9. 11, 26. 


Philosophischer Standpunkt. 323 


rer und als Mensch grosse Achtung 1): durch ihn wurde Cicero 
für die Lehre der neuen Akademie, so wie Philo dieselbe aufge- 
fasst hatte, gewonnen ?). Ob er wieder nach Athen zurückkehrte, 
erfahren wir nicht; jedenfalls scheint er aber die römische Reise 
nicht lange überlebt zu haben 5). Als Philosoph hatte er, wie 
erzählt wird, zuerst die Lehre des Karneades ihrem ganzen Inhalt 
nach eifrig vertreten; in der Folge jedoch war er an derselben 
irre geworden, und ohne sie ausdrücklich aufzugeben, suchte er 
doch eine grössere Festigkeit. der Ueberzeugung, als die Grund- 
sätze seiner Vorgänger zuliessen %). War es auch an sich nicht 
gegen den Sinn der Skepsis, wenn er die Philosophie unter den 
praktischen Gesichtspunkt stellte), so erhält doch diese Betrach- 
tungsweise bei ihm eine Wendung, welche über dieselbe hinaus- 
führte: es genügt ihm nicht, wie einem Pyrrho, durch Zerstörung 
des Dogmatismus die Hindernisse wegzuräumen, mit deren Ent- 
fernung jenem zufolge die Glückseligkeit von selbst eintritt, son- 
dern er findet hiefür eine eingehende Anweisung zum rechten 


1) Puur. Cie. 3: Φίλωνος διήχουσε τοῦ ἐξ ᾿Αχαδημίας, ὃν μάλιστα Ῥωμαΐοι 
τῶν Κλειτομάχου συνήθων χαὶ διὰ τὸν λόγον ἐθαύμασαν χαὶ διὰ τὸν τρόπον ἠγάπησαν. 
Cıec, Acad. I, 4, 13: P’hllo, magnus vir. Vgl. folg. Anm., auch ὅτοβ. ΕΚ]. II, 40. 

2) Prur. a. a. Ὁ. Cıc. Tusc.a.a. 0. N.D.],7, 16. Brut. a. a. ©. totum 
ei me tradıdi. . 

3) Der mithridatische Krieg brach 88 v. Chr. aus, und wahrscheinlich 
kam Philo gleich am Anfang desselben nach Rom. Nachher hören wir noch 
von einer Schrift, die er verfasst hatte, während Antiochus mit Lucullus in 
Alexandrien war (Cıc. Acad. II, 4, 11); was nach Zumrr (Abh. ἃ. Berl. Akad. 
1842. Hist.-phil.Kl. 8.67) in’s Jahr 84, nach Huamans a. a. O. 1, 4 u. A. in's 
Jahr 87 fallen würde. Als Cicero 79 v. Chr. nach Athen kam, kann er nicht 
dort gewesen sein, da er sonst bei Prur. Cie. 4. Cıc. Brut. 91, 315. Fin. V, 
1,1 erwähnt sein würde; ob er nun in Rom geblieben, oder, was mir wahr- 
scheinlicher ist, nicht mehr am Lebgn war. 

4) Numen. b. Eus. pr. ev. XIV, 9, 1: beim Beginn seiner Lehrthätigkeit 
warf sich Philo voll Eifers in die Vertheidigung der akademischen Lehre, xx: 
τὰ δεδογμένα τῷ Κλειτομάχῳ möge χαὶ τοῖς Στωιχοῖς ἐχορύσσετο νώροπι χαλχῷ. 
Späterhin jedoch οὐδὲν μὲν χατὰ τὰ αὐτὰ ἑαυτῷ ἐνόει, ἢ δὲ τῶν παθημάτων 
αὐτὸν ἀνέστρεφεν ἐνάργειά τε χοὶ ὁμολογία. πολλὴν δῆτ᾽ ἔχων ἤδη τὴν διαίσθησιν 
ἐπεθύμει, εὖ οἶσθ᾽ ὅτι, τῶν ἐλεγξόντων τυχεῖν, ἵνα μὴ ἐδόχει μετὰ νῶτα βαλὼν αὐτὸς 
ξχὼν φεύγεν. Dass sich Philo anfangs unbedingter, als früher, zur akademi- 
schen Skepsis bekannt hatte, folgt auch aus Cıc. Acad. II, 4, 11 f. s.u. 526, 2. 

5) Denn dasselbe hatte schon Pyrrho gethan; s. 8. 442, 1. 


324 Philo. 


Verhalten nothwendig. Der Philosoph, sagt er, sei einem Arzte 
zu vergleichen: wie für diesen die Gesundheit, so sei für jenen 
die Glückseligkeit der Endzweck seiner ganzen Thätigkeit '); und 
aus dieser Zweckbestimmung leitet er die sechs Theile der Philo- 
sophie ab, welche er nach Stosäus annahm ?), und in denen er 
selbst die Ethik ihrem ganzen Umfang nach behandelte 5). Wo 
das Interesse für systematische Lehrbildung, wenn auch zunächst 
nur auf dem Gebiete der praktischen Philosophie, so stark war, 
da musste nothwendig auch der ‚Glaube an die Möglichkeit des 


1) Sros. Ekl. II, 40 f.: ἐοιχέναι δέ φησι τὸν φιλόσοφον ἰατρῷ ..... χαὶ γὰρ 
τῇ ἰατρικῇ σπουδὴ πᾶσα περὶ τὸ τέλος, τοῦτο δ᾽ ἦν ὑγίεια, καὶ τῇ φιλοσοφίᾳ περὶ τὴν 
εὐδαιμονίαν. 


2) Es sind diess αἴθ folgenden. Das erste, was noththue, sagt er, sei diess, 
dass der Kranke bewogen werde, sich der ärztlichen Behandlung zu unter- 
werfen, und dass entgegenstehende Rathschläge bekämpft werden — der 
λόγος προτρεπτιχὸς (παρορμῶν ἐπὶ τὴν ἀρετὴν), welcher theils den Werth der 
Tugend (oder vielleicht richtiger: der Philosophie) nachzuweisen, theils die 
Anschuldigungen gegen die Philosophie zu widerlegen habe. (Diesem philo- 
nischen προτρεπτιχὸς war vielleicht, wie Κὶ ΕΙΒΟΗΈ a. ἃ. O. 8.191. Hremann 
I, 6. II, 7 vermuthet, Cicero’s Hortensius nachgebildet.) Sei diess erreicht, 
so müssen, zweitens, die Heilmittel in Anwendung gebracht werden, indem 
theils die falschen und schädlichen Meinungen entfernt, theils richtige mitge- 
theilt werden — ὃ περὶ ἀγαθῶν χαὶ καχῶν τόπος. Das Dritte ist der λόγος περὶ 
τελῶν. (In diesem Theil der philonischen Ethik vermuthet Hermanx U, 7 die 
Quelle des 4ten Buchs von Cicero’s Schrift De Finibus; es lässt sich diess aber 
nicht allein nicht beweisen, sondern es ist auch nicht wahrscheinlich, dass 
schon Philo, und nicht erst Antiochus, behauptet hat, die stoische Ethik 
stimme mit der akademisch-peripatetischen in allem Wesentlichen so vollstän- 
dig überein, dass Zeno keinen Grund gehabt habe, sich von der Akademie zu 
trennen.) Der vierte Theil handelt περὶ βίων, und soll die θεωρήματα δι᾽ ὧν 
ἣ φυλαχὴ γενήσεται τοῦ τέλους, zunächst für das Verhalten der Einzelnen auf- 
stellen. Die gleiche Aufgabe hat in Betreff des Gemeinwesens der fünfte 
Theil, der zoXttızös. Um endlich neben den Weisen auch für die μέσως διαχεί- 
μενοι ἄνθρωποι zu sorgen, welche den grundsätzlichen Untersuchungen nicht 
zu folgen vermögen, ist als Sechstes der ὑποθετιχὸς λόγος nöthig, der die 
Ergebnisse der Ethik in Regeln für die einzelnen Fälle ausmünzt. 

3) Diess erhellt deutlich aus den Schlussworten des Stobäus $. 46 (oder 
seiner Quelle): οὕτως μὲν οὖν ἣ Φίλωνος ἔχει διαίρεσις. ἐγὼ δ᾽ εἰ μὲν ἀργοτέρως 
διεχεῆχην, ἀρχεσθέὶς ἂν αὐτῇ συνεῖοον ἤδη τὰ περὶ τῶν ἀρεσχόντων, τῇ τῆς ξξαμερείας 
ἐπιχουφιζόμενος περιγραφῇ ἃ. Ss. w. Wer vollends [ἢ ebenbesprochenen Ver- 
muthung Herwans’s über Fin. V beitritt, der hat um so weniger das Recht, es 
(mit Demselben II, 5) zu bestreiten. 


ι Standpunkt. Erkenntnisstheorie. 525 


wissenschaftlichen Erkennens verstärkt, die Neigung zur Skepsis 
geschwächt werden 1): und so sehen wir denn auch wirklich, dass 
Philo von dem Standpunkt, welcher die Möglichkeit des Wissens 
einfach bestritten hatte, zurücktrat. Die stoische Erkenntniss- 
theorie konnte er sich allerdings nicht aneignen: gegen die Lehre 
von der begrifflichen Vorstellung machte er mit Karneades gel- 
tend, dass es keine Vorstellung gebe, die so beschaffen sei, wie 
eine falsche nicht beschaffen sein könne 3); und die Wahrheit der 
Sinnesempfindung, von welcher die Stoiker in letzter Beziehung 
alle Vorstellungen herleiteten, bestritt er mit allen jenen Grün- 
den, welche ihm seine akademischen Vorgänger an die Hand ga- 
ben ®). Und so wenig er sich mit den Gegnern der bisherigen 
akademischen Lehre vertragen wollte, ebensowenig wollte er sich 
von dieser Lehre selbst lossagen; als vielmehr sein Schüler Antio- 
chus den Satz aufstellte, dass die akademische Schule seit Arcesi- 


1) Auch diesen Zusammenhang läugnet zwar Hermann a. a. O.; allein 
wenn wir doch (aus Sroe. a. a. O.) wissen, dass Philo den letzten Zweck der 
Philosophie in die Glückseligkeit setzte, und dass er diese durch richtige 
sittliche Ansichten (ὑγιῶς ἔχουσαι δόξαι, θεωρήματα ἐπὶ βίου), ja durch ein 
ganzes Lehrgebäude solcher Ansichten, bedingt glaubte, so lässt sich die 
Folgerung gar nicht ablehnen, dass er richtige Ansichten auch für möglich 
halten musste, und mithin wenigstens für das praktische Gebiet den Stand- 
punkt des reinen Zweifels nicht festhalten, und sich auch nicht mit einer 
blossen Wahrscheinlichkeit begnügen konnte; und der Augenschein zeigt ja 
auch, dass er diess nicht gethan hat. 

2) Cıc. Acad. II, 6, 18: cum enim ἐξα negaret, quwiequam esse, quod com- 
prehendi posset, ... si ülud esset sicut Zeno definiret (s..o. 8. 75, 2), tale visum 
.... visum igitur inpressum efictumque ex eo, unde esset, quale esse non posset 
ex e0, unde non esset ..... hoe cum infirmat tollitque Philo, judieium tollit 
incogniti et cogniti. Das heisst aber nicht, wie Hermann II, 11 erklärt, Philo“ 
habe behauptet, selbst wenn es ein visum, wie das von Zeno geforderte, gäbe, 
wäre doch keine comprehensio möglich; sondern vielmehr: wenn das Begreif- 
liche ein visum inpressum u. s. w. sein solle, so gebe es kein Begreifliches — 
das Gleiche, was auch Sexr. Pyrrh. I, 235 (s. u. 526, 3) sagt. Ueber die ent- 
sprechenden Sätze des Karneades s. m. ὃ. 457 f. 

3) Sind wir auch hierüber nicht direkt unterrichtet, so folgt es doch mit 
grosser Wahrscheinlichkeit aus dem, was sich über den Inhalt des verlorenen 
ersten Buchs von Cicero’s Academica priora und des entsprechenden zweiten 
der Academica posteriora theils aus Acad. II, 25, 79, theils aus den erhaltenen 
Bruchstücken bei Nonius abnehmen lässt (m. vgl. die Nachweisungen von 
Keiscae a, a. 0, 5. 154 ἢ, 182 f. Heemann II, 10). 


526 Philo. 


laus ihrer ursprünglichen Richtung untreu geworden sei, und dass 
man desshalb von der neuen Akademie zur alten zurückkehren 
müsse, erhob Philo gegen diese Forderung, wie gegen jene Be- 
hauptung, den lebhaftesten Widerspruch: die neue Akademie, 
versicherte er, sei von der älteren nicht verschieden, und es 
könne sich nicht darum handeln, jene zu dieser zurückzuführen, 
sondern einzig und allein darum, die eine ächt akademische An- 
sicht festzuhalten 1). Aber wenn wir näher zusehen, so wird 
diese Uebereinstimmung der neuen Akademie mit Plato, wie die 
Philo’s mit der neuen Akademie, nur durch eine Erschleichung 
erreicht, welche schon seine Zeitgenossen zu rügen nicht ver- 
fehlt haben ?). Die Skepsis, glaubte Philo, sei zwar den Stoikern 
gegenüber vollkommen begründet, denn die begriflliche Vorstel- 
lung, welche sie zum Kriterium gemacht hatten, sei als solches 
nicht zu brauchen; aber an sich selbst seien die Dinge nicht un- 
erkennbar ?); und im Zusammenhang damit behauptete er, die 
akademische Skepsis sei auch von Anfang an nur in diesem Sinne 


1) στο, Acad. I, 4, 13: Antiochi magister Philo ... negat in libris, quod 
coram etiam ex ipso audiebamus, duas Academias esse, erroremque eorum, qui 
ta putartınt (wie Antiochus s. u.), coarguit. Das Gleiche behauptet dann 
Cicero, als Anhänger der philonischen Lehre (zu der neuen Akademie hat er 
sich im unmittelbar Vorangehenden bekannt), c. 12, 46. Nur auf diesen 
Gegensatz bezieht es sich auch, wenn Cıc. Acad. II, 6, 17 sagt: Philone autem 
vivo patroeinium Academiae non defuit: die Akademie, welche er vertheidigt, 
ist die neue, die des Klitomachus und Karneades, welche er gegen Antiochus 
in Schutz nimmt. Vgl. Aususrıs ce. Acad. III, 18, 41: Auie (Antiochus) arreptis 
iterum illis armis et Philon restitit donee moreretur, et omnes ejus reliquias Tul- 
lius noster oppressit. Aus Philo stammt wohl auch die Ausführung Cicero’s 
b. Aususrin. III, 7, 15 über den Vorzug der akademischen Schule vor allen 
andern. 

2) Als Philo’s Schrift in die Hände des Antiochus gekommen sei (erzählt 
Cıc. Acad. II, 4, 11) sei dieser ganz stutzig geworden, und habe Philo’s und 
Klitomachus’ vieljährigen Schüler, Heraklit von Tyrus, gefragt, viderenturne 
ila Philonis, aut ea num vel e Philone vel ex ullo Academico audivisset aliquan- 
do? was auch dieser verneint habe. Ebd. wird Philo's Behauptung über die 
Lehre der (neueren) Akademie als Unwahrheit bezeichnet, und dieser Vorwurf 
6, 18 wiederholt. 

3) Sexr. Pyrrh. I, 235: οἱ δὲ περὶ Φίλωνά φασιν, ὅσον μὲν ἐπὶ τῷ Στωιχῷῶ 
χριτηρίῳ, τουτέστι τῇ χαταληπτιχῇ φαντασίᾳ, ἀκατάληπτα εἶναι τὰ πράγματα, ὅσον 
δὲ ἐπὶ τῇ φύσει τῶν πραγμάτων αὐτῶν χαταληπτά. Doch muss hiebei der Ausdruck 
χαταληπτὸς in etwas weiterem Sinn genommen werden; vgl. 8. 528, 1. 


Erkenntnisstheorie, 327 


gemeint gewesen: es sei nicht ihre Absicht, alle und jede Erkenn- 
barkeit der Dinge zu läugnen !), sondern nur im Gegensatz gegen 
die Stoiker, und mit Beziehung auf die stoischen Kriterien, habe 
sie dieselbe geläugnet ?), dabei aber als esoterische Lehre ihrer 
Schule den ächten Platonismus sich vorbehalten 5). Nachdem nun 
die Gefahr von den Stoikern nicht mehr so dringend erschien, 
fand er es jetzt an der Zeit, auf den ursprünglichen Besitzstand 
der platonischen Schule zurückzugehen %); nur dass er natürlich 
in dieser Wiederherstellung des Alten nicht ein Aufgeben der von 
der neueren Akademie eingeschlagenen Richtung sehen konnte, 
da ja diese den ursprünglichen Platonismus gar nicht verlassen 
haben sollte 5). Fragen wir nun aber, worin denn dieser ächte 
Platonismus bestehen sollte, so lautet die Antwort nicht sehr be- 
friedigend. Einerseits läugnete Philo, in Uebereinstimmung mit. 
seinen neuakademischen Vorgängern, die Möglichkeit eines voll- 
kommenen Wissens, eines Begreifens, nicht blos mit der Be- 
schränkung auf die stoische Erkenntnisstheorie, sondern ganz 


1) Cıc. Acad. II, 4, 12: Die Ausführungen des Antiochus gegen Philo 
wolle er übergehen, minus enim acer adversarius est is, qui ista, quae sunt 
heri defensa (die reine, karneadeische Skepsis, deren Vertreter in der ersten 
Ausgabe der Academica Catulus war), negat Academicos omnino dicere; vgl. 
ebd. 6, 18. 

2) So wird die Entstehung und Abzweckung der akademischen Skepsis 
bei Avcvustıy c. Acad. II, 6, 14 dargestellt, dem diese Auffassung ohne Zweifel 
durch Cicero’s Vermittlung aus Philo zukam. Vgl. νου]. Anm. 

3) Diese Behanptung begegnet uns öfters (s. ο. 450, 2); dass sie in letzter 
Beziehung von Philo herstammt, wird theils durch ihren Zusammenhang mit 
allen übrigen Voraussetzungen desselben, theils dadurch wahrscheinlich, dass 
sie sich nicht allein bei August. c. Acad. III, 17, 38. 18, 40 findet, sondern 
dieser sich auch c. 20, 43 dafür ausdrücklich auf Cicero beruft. 

4) Aususe. III, 18,41 (gewiss nach Cicero): Antiochus Philonis auditor, 
hominis quantum arbitror circumspectissimi, qui jam veluti aperire cedenti- 
bus hostibus portas coeperat et ad, Platonis auctoritatem Academiam legesque 
revocare (da er die Feinde im Rückzug sah, hatte er die Thore der von ihnen 
belagerten Stadt wieder zu öffnen und die durch den Krieg unterbrochene 
frübere Ordnung wiederherzustellen angefangen). 

4) Insofern kann Prur. Luce. 42. Brut. 2 Philo den Vörateher der neuen, 
Antiochus den der alten Akademie nennen, und ebenso Cicero Acad. I, 4, 13. 
II, 22, 70 Antiochus als denjenigen bezeichnen, welcher durch die Erneuerung 
der alten Akademie von Philo abfiel, während er selbst umgekehrt in seinem 
Rücktritt von Antiochus zu Philo ein remigrare in novam domum e vetere sieht, 


528 ; Philo. 


allgemein, indem er mit jenen ein sicheres Merkmal zur Unter- 
scheidung von wahr und falsch vermisste 1). Nichtsdestoweniger 
wollte er aber doch nicht auf alle Sicherheit der Ueberzeugung 
verzichten, und nicht einräumen, dass mit der Begreiflichkeit der 
Dinge alles Wissen überhaupt stehe und falle. Zwischen ungewiss 
und unbegreiflich, meinte er, sei ein grosser Unterschied; wer 
die Dinge für unbegreiflich halte, müsse darum noch lange nicht 
behaupten, dass sich gar keine Gewissheit erreichen lasse; es 
gebe eine Augenscheinlichkeit, die doch noch etwas anderes sei, 
‘als ein Begreifen, eine der Seele eingeprägte Wahrheit, an die 
wir uns halten, wenn wir sie auch nicht zu begreifen im Stande 
seien ?). Wie wir von dieser Wahrheit Kunde erhalten, scheint 
Philo nicht näher angegeben, und namentlich darüber sich nicht 
‚erklärt zu haben, welcher Antheil bei der Bildung augenschein- 
licher Ueberzeugungen einerseits den Sinnen, andererseits der 
Vernunft zukomme 5); aber wenn er von einer Wahrheit sprach, 


1) Diess erhellt deutlich aus Cıc. Acad. II, 22, 69. Nachdem Cicero, als 
Philoneer, den Satz: nihil esse, quod percipi possit, mit dem alten skeptischen 
Grunde, der Unauffindbarkeit eines Kriteriums zur Unterscheidung des Wahren 
und Falschen, vertheidigt hat, fährt er hier fort: sed prius pauca cum An- 
tiocho, qui haec ipsa, quae a me defenduntur, et didieit apud Philonem tam 
diu, ut constaret diutius didieisse neminem, et scripsit de his rebus acutissime; 
et idem haec non acrius accusavit in senectute gquam antea defensitaverat. ..«. 
quis enim iste dies inluxerit, quaero, qui ii ostenderit eam, quam multos annos 
esse negitavisset, veri et falsi notam? Vgl. folg. Anm. 

‘ 2) Auf Philo scheint sich zu beziehen, was der Vertreter des Antiochus 
bei Cıc. Acad. II, 10, 32 sagt, nachdem er vorher von der absoluten Skepsis 
der neueren Akademie gesprochen hat: alii autem elegantius, qui etiam que- 
runtur, quod eos insimulemus omnia incerta dicere, quantumque intersit inter 
incertum et id, quod percipi non possit, docere conantur atque distinguere. 
Jedenfalls aber muss auf ihn gehen, was ce. 11, 34 beigefügt wird: simili in 
errore versantur, cum convitio veritatis coacti perspicua (= ἐναργὲς, ἐνάργεια) ἃ 
perceptis volunt distinguere et conantur ostendere esse aliquid perspieui, verum 
lud quidem inpressum in animo atque mente, neque tamen id percipi ae con- 
prendi posse. Karneades und Klitomachus, welche unserem Wissen im besten 
Fall einen hohen Grad von Wahıscheinlichkeit zugestehen, können sich noch 
nicht so ausgesprochen haben. ᾿ 

3) Man müsste wenigstens in diesem Fall erwarten, dass seine Bestim- 
mungen darüber in den gegen ihn gerichteten eiceronischen Erörterungen be- 
rührt würden. 


Erkenntnisstheorie, 529 


die der Seele eingeprägt sei 7), so können wir kaum an etwas 
anderes denken, als an jenes unmittelbare Wissen, welches bei 
seinem Schüler Cicero, wie wir finden werden, eine so grosse 
Rolle spielt. Wenn er sich aber dabei doch nicht getraute, die- 
sem Wissen die volle Sicherheit des begrifllichen Erkennens zuzu- 
schreiben, und desshalb in der Augenscheinlichkeit eine Art der 
Ueberzeugung aufstellte, deren Sicherheit über die blosse Wahr- 
scheinlichkeit hinausgehen, aber die unbedingte Gewissheit des 
Begriffs nicht erreichen sollte, so ist diess für die Mittelstellung 
unseres Philosophen zwischen Karneades und Antiochus sehr be- 
zeichnend ?), und es war insofern nicht ohne Grund, wenn Philo 
als der Stifter der vierten Akademie sowohl von seinen Vorgän- 
gern, als von seinem Nachfolger unterschieden wird °?); wie an- 
derntheils eben diese Bezeichnung uns mit zum Beweis für die 
Ansicht dient, dass zwischen der Lehre Philo’s und der des Kar- 
neades wirklich ein erheblicher Unterschied stattgefunden habe. 
Jenes unmittelbar Gewisse mochte nun Philo, wie Cicero nach 
ihm, vor Allem in den Aussagen des sittlichen Bewusstseins su- 
chen, und so konnte ihm seine Erkenntnisstheorie als Grundlage 
für die praktische Philosophie dienen, deren Bedürfniss seinerseits 
schon bei ihrer Entstehung von maassgebendem Einfluss gewesen 
zu sein scheint *). Aber an sich selbst war Philo’s wissenschaft- 
liche Stellung für die Dauer nicht haltbar. Wer eine Gewissheit 
annahm, wie sie Philo durch seine Lehre vom Augenscheinlichen 


1) Eine Bestimmung, auf deren Bedeutung Herumann II, 13 mit Grund 
aufmerksam macht. - 

2) Dieses Urtheil glaube ich trotz Hermann’s Widerspruch, 8. ἃ. Ὁ, II, 13, 
aufrechthalten zu sollen; denn dass Philo’s perspiewitas mit der unbedingten 
Sicherheit, welche nach Plato der Anschauung der Ideen beiwohnt, zusammen- 
falle, und das begriflliche Wissen der Stoiker an Wahrheit übertreffe, kann 
ich nicht zugeben. Wäre diess Philo’s Meinung gewesen, so hätte er unmög- 
lich allgemein, wie er es gethan hat (8, S. 528, 1. 525, 2), behaupten können, 
es gebe keine ποέα veri et falsi, nihil esse quod percipi possit; wenn er vielmehr 
auch an der stoischen φαντασία χαταληπτιχὴ die Merkmale der wahren Eırkennt- 
niss, und ebendamit die nota veri et falsi vermisste, so hätte er dieselben nur 
um so mehr an demjenigen Wissen, dem er jene unbedingte Sicherheit bei- 
legte, aufzeigen müssen. 

3) Vgl. S. 480, 1. 

4) ὃ. S. 524 £. 

Philos. ἃ ' ἂν. III. Bd. 1. Abth. 34 


530 Antiochus. 


behauptete, der konnte nicht ohne Widerspruch läugnen ὴ dass es 
uns an jedem sicheren Merkmal zur Unterscheidung des Wahren 
und Falschen fehle, er durfte sich überhaupt nicht länger zu den 
Grundsätzen der neueren Akademie bekennen; wer umgekehrt 
diess that, der konnte folgerichtig nicht über die Wahrscheinlich- 
keitslehre des Karneades hinausgehen. Wusste man sich daher 
bei der letzteren nicht mehr zu beruhigen, so blieb nur übrig, 
mit dem ganzen Standpunkt der neuakademischen Skepsis zu bre- 
chen, und die Befähigung zur Erkenntniss der Wahrheit für das 
menschliche Denken auf’s Neue in Anspruch zu nehmen. Diesen 
weiteren Schritt that Antiochus 1) aus Askalon 5). 

Dieser Philosoph hatte lange Zeit den Unterricht Philo’s ge- 
nossen, und war selbst schon in Schriften für die akademische 
Skepsis aufgetreten, als er an derselben irre zu werden be- 
gann °). Zu dieser Wendung mag aber doch bei ihm der Umstand 
wesentlich beigetragen haben, dass er neben Philo auch den Stoi- 
ker Mnesarchus gehört hatte *), welcher als Schüler des Panätius 
zwar die neuakademischen Zweifel bekämpft, zugleich aber jener 
Verschmelzung des Stoicismus‘ mit der platonischen Lehre, die 
sich in der Folge bei Antiochus vollzog, vorgearbeitet haben wird. 
Mit Philo scheint auch Antiochus im mithridatischen Kriege nach 
Rom gekommen zu sein, und hier die Bekanntschaft des Lucullus 
gemacht zu haben, in dessen Begleitung wir ihn bald nachher zu 
Alexandria treffen 5); und jetzt erst kam es zwischen ihm und 
Philo zum offenen Bruche 5). In der Folge stand er an der Spitze 


1) D’ArLemann De Antiocho Ascalvnita. Marb. 1856. Krıscae Gött. Stud. 
II, 160— 170. 

2) Sreaso XVI, 2, 29. 5. 759. Prur. Luc. 42. Cic. 4. Brut. 2, AELIAN 
Υ. Η. ΧΙ, 25. ᾿Ασχαλωνίτης ist sein gewöhnlichster Beiname. 

3) S. ο. 526, 1. 527, 4. 528, 1. Οἵ. Acad. II, 2, 4. 19, 63. 

4) Nuwen. b. Eus. pr. ev. XIV, 9, 2. Ausustın. 6. Acad. III, 18, 41, ohne 
Zweifel nach Cicero, vgl. Cıc. Acad. II, 22, 69: quid? eum Mnesarchi poenite- 
bat? quid? Dardani? qui erant Athenis tum principes Stoicorum. Doch habe 
er-sich erst später von Philo getrennt. Ueber Mnesarchus s. m. S. 508, 1. 

5) Cıc. Acad. II, 4, 11 s. 0. 523, 3; ebd. 2, 4. 19, 61. 

6) Nach Cıc. a.a.0. bekam Ant. in Alexandrien zuerst die Schrift Philo’s 
zu sehen, worin dieser Ansichten vortrug, welche jener mit der ihm bekannten 
Lehre Philo’s so wenig zusammenzureimen wusste, dass er kaum an die Aecht- 
heit der Schrift glauben wollte (s. o. 526, 2), und diess veranlasste Antiochus 


Bestreitung der Skepsis. 531 


.der platonischen Schule in Athen, wo Cicero (7°/s v. Chr.) ein 
Halbjahr lang sein Schüler war ἢ. Etwa zehn Jahre später 
starb er ?). 

Durch Antiochus ist nun die Akademie von der skeptischen 
Richtung , welcher sie sich seit Arcesilaus ergeben hatte, so ent- 
schieden abgelenkt worden, dass sie im Ganzen genommen nie 
wieder zu derselben zurückkehrte; und er wird desshalb als der 
Stifter der fünften Akademie bezeichnet 5). Seit er sich von der 
Skepsis des Karneades losgesagt hatte, machte er ihre Bestreitung 
zu seiner eigentlichen Lebensaufgabe *). Der Skeptiker hebt, wie 
Antiochus glaubt, mit der Gewissheit auch die von ihm selbst be- 
hauptete Wahrscheinlichkeit auf, denn wenn sich das Wahre nicht 
als solches erkennen lässt, so lässt sich auch nicht sagen, dass 
etwas wahr zu sein scheine °); er widerspricht ebendamit nicht 


zu einer Gegenschrift, Sosus (über die auch Nat. De I, 7,16), auf welche 
Philo wieder geantwortet zu haben scheint (s. o. 526, 1). Bezog sich nun 
auch die Verwunderung des Antiochus zunächst auf Philo’s Behauptung von 
der Identität der alten und neuern Akademie, der philonischen und karnea- 
deischen Lehre, so muss doch seine Schrift jene ganze Bestreitung der akade- 
mischen Skepsis enthalten haben, welche Cicero Acad. II, 5 ff. den Lucullus, 
angeblich aus mündlichen Vorträgen des Antiochus (s. 5, 12. 19, 61), mit- 
theilen lässt. Vgl. Keıscne a. a. Ὁ. 168 ff. Von der zweiten Bearbeitung der 
Academica sagt Cıc. ad Att. XIII, 19 ausdrücklich: quae' erant contra ἀχατα- 
ληψίαν praeclare collecta ab Antiocho, Varroni dedi; Varro war aber in derselben 
an die Stelle des Lucullus getreten. 

1) Prur. Cie. 4. Cıc. Fin. V, 1, 1. Brut. 91, 315 vgl. Acad. I, 4, 13, 
II, 35, 113. Legg. I, 21, 54. Auch Atticus hatte ihn hier kennen gelernt; 
Legg. a. ἃ. O. 

2) Wir sehen diess aus Cıc. Acad. II, 2, 4, und bestimmter aus c. 19, 61: 
haec Antiochus fere et Alexandreae tum et multis annis post multo etiam ad- 
severantius, in Syria cum esset mecum, paulo ante quam est mortuus, vgl. m. 
Pıur. Luc. 28, wornach Antiochus der Schlacht bei Tigranocerta, vielleicht 
als Augenzeuge, erwähnt hatte. Da diese Schlacht d. 6. Oktbr. 685 a.u.c. 
(69 v. Chr.) stattfand, muss Antiochus mindestens bis in’s folgende Jahr ge- 
jebt haben. Dagegen hörte Brutus einige Jahre später nicht mehr Antiochus, 
sondern seinen Bruder Aristus, in Athen (Cıc. Brut. 97, 332, womit Tusc. V, 
8, 21 nicht streitet). Genauere Zeitbestimmungen über das Leben des Antio- 
chus sind uns nicht möglich. 

3) 8. 0. 480, 1. 

4) Vgl. Cıc. Acad. II, 6, 12. Ausustın. c. Acad. II, 6, 15: nihil tamen 
magis defendebat, quam verum percipere posse sapientem. 

5) Cıc. Acad. II, 11, 33. 36. 17,54 18, 59. 34, 109. 

34 * 


532 Antiochus. 


allein dem natürlichen Bedürfniss nach Erkenntniss 1), sondern er 
macht auch alles Handeln unmöglich; denn die Auskunft, dass 
wir auch ohne Wissen und Beistimmung doch im Handeln der 
Wahrscheinlichkeit folgen können, liess Antiochus so wenig, als 
Chrysipp, gelten, theils weil es, nach dem eben Bemerkten, ohne 
Wahrheit auch keine Wahrscheinlichkeit gebe, theils weil es un- 
möglich sei, ohne Beistimmung und Ueberzeugung zu handeln, 
oder andererseits dem Augenscheinlichen, dessen Möglichkeit ein 
Theil der Gegner zugab ?), nicht beizupflichten 5). Gerade dieses 
- praktische Interesse ist aber auch für ihn von dem entscheidend- 
sten Gewicht: die Betrachtung der Tugend ist, wie es bei Cicero 
heisst, der stärkste Beweis für die Möglichkeit des Wissens, denn 
„wie sollte der Tugendhafte seiner Pflichterfüllung ein Opfer brin- 
gen, wenn er keine feste und unumstössliche Ueberzeugung hätte, 
wie wäre überhaupt eine Lebensweisheit möglich, wenn der Zweck 
und die Aufgabe des Lebens unerkennbar wäre? 5) Doch glaubt 
er seinen Gegnern auch auf dem theoretischen Gebiete gewachsen 
zu sein. Der ganze Streit dreht sich hier um die Behauptung, 
gegen welche Karneades seine Angriffe vorzugsweise gerichtet 
hatte, dass die wahren Vorstellungen Merkmale an sich haben, 
an denen sie sich von den falschen mit Sicherheit unterscheiden 
lassen °). Hiegegen hatten nun die Skeptiker zunächst die ver- 
schiedenen Fälle von Sinnestäuschungen und ähnlichen Irrthümern 
geltend gemacht. Das Vorkommen dieser Irrthümer will Antio- 
chus nicht läugnen, aber darum sind, wie er glaubt, die Aus- 
sprüche der Sinne noch lange nicht zu verwerfen, sondern nur 
das folgt, dass die Sinne gesund sein müssen, dass alle Hinder- 
nisse der richtigen Beobachtung zu entfernen, alle Vorsichtsmaass- 
regeln zu befolgen sind, wenn das Zeugniss der Sinne Gültigkeit 
"haben soll 6). An sich selbst sind die Sinne für uns eine Quelle 


1) A. a. ©. 10, 30 £. 

2) 8. 0. 528, 2. 

3) A.a. 0.8, 24. 10, 32. 12, 37 {δ 

4) A.a. 0.8, 23 vgl. 9, 27. 

5) S. S. 457 ff. und Cıc. Acad. I, 6, 18. 13, 40. In der ersten von diesen 
Stellen sagt Lucullus mit Bezichung auf Philo's Einwendungen gegen die be- 
griffliche Vorstellung (s. ο. 525, 2): omnis oratio contra Academiam suscipitur 
a nobis, ut relineamus eam definitionem, quam Philo voluit evertere. 

6) A.a. Ὁ, 7, 19. 


Bestreitung der Skepsis. 933 


wahrer Vorstellungen, denn wenn die Empfindung auch zunächst 
‚nur eine in uns selbst vorgehende Veränderung ist, so offenbart 
sie uns doch zugleich auch dasjenige, durch welches diese Verände- 
rung bewirkt wird 1). Ebenso müssen wir, wie Antiochus freilich 
leicht genug sagt, auch den allgemeinen Begriffen ihre Wahrheit 
zugestehen,, wenn wir nicht alles Denken, alle Künste und Fer- 
tigkeiten unmöglich machen wollen ?). Halten uns aber die Geg- 
ner die Einbildungen der Träumenden oder Verrückten entgegen, 
so erwiedert er, diesen allen fehle jene Augenscheinlichkeit, 
welche den wahren Anschauungen und Begriffen eigen sei ?); und 
suchen sie uns mit ihrem Sorites (5. 0.) in Verlegenheit zu brin- 
gen, so giebt er zur Antwort: aus der Aehnlichkeit vieler Dinge 
folge noch lange nicht ihre Ununterscheidbarkeit, und wenn wir 
in einzelnen Fällen allerdings unser Urtheil zurückzuhalten genö- 
thigt seien 4), so brauchen wir darum doch nicht immer darauf zu 
verzichten °). Auch die Skeptiker selbst jedoch können ihre 
Grundsätze, wie er ihnen nachweist, so wenig durchführen, dass 
sie sich vielmehr in die auffallendsten Widersprüche verwickeln. 
Oder wäre’es kein Widerspruch, zu behaupten, dass sich nichts 
behaupten lasse, von der Unmöglichkeit einer festen Ueberzeugung 
überzeugt zu sein? °) kann der, welcher keinen Unterschied von 
Wahrheit und Irrthum zugiebt, mit Definitionen und Eintheilun- 
gen, überhaupt mit einer logischen Beweisführung streiten, von 
der er durchaus nicht weiss, ob ihr Wahrheit zukommt? 7 Wie 
kann endlich beides zugleich behauptet werden: dass es falsche 
‘ Vorstellungen gebe, und dass zwischen wahren und falschen kein 
Unterschied sei, da doch der erste von diesen Sätzen eben diesen 


1) Sext. Math. VII, 162 ἢ, 

2) Cıc. a..a. O0. 7,21 £. \ 

3) Α. ἃ. O. 15, 47 ἢ. 16, 51 fi. Nach 16,-49 hatte sich Antiochus mit 
diesem Einwurf sehr ausführlich beschäftigt. 

.4) Dass sich Antiochus dieser Auskunft, nach dem Vorgang des Chrysip- 
pus (s. o. 104, 4), auch bei rein dialektischen Einwürfen, wie der sog. Ψευδό- 
μενος, bediente, sieht man aus Cıc, Acad. II, 29, 95 fl. 

5) A. a. 0. 16,49 £. 17, 54 fl. 
6) A.a. O. 9, 29. 34, 109, 
7). Ava. 0. 14, 48, 


534 Antiochus. 


Unterschied voraussetzt? !) Man wird wenigstens einem Theil 
dieser Gründe, wie namentlich den zuletzt angeführten, zugeben 
müssen, dass es ihnen nicht an Schärfe fehlt, wogegen andere 
freilich sehr oberflächlich, und mehr Postulate, als Beweise, zu 
nennen sind. 

Wie dem aber sein mag, jedenfalls glaubte sich Antiochus 
dadurch berechtigt, die Forderung, dass wir uns jeder Zu- 
stimmung enthalten sollen, zurückzuweisen ?), und seiner- 
seits statt des skeptischen Nichtwissens ein dogmatisches Wissen 
anzustreben. . Doch war er nicht schöpferisch genug, um ein 
'eigenthümliches System selbständig zu erzeugen; er wandte 
sich daher zu den vorhandenen Systemen, nicht um einem einzel- 
nen derselben ausschliesslich zu folgen, sondern um das Wahre 
aus allen aufzunehmen; und da es nun der Widerspruch der phi- 
losophischen Ansichten gewesen war, welcher der Skepsis die 
grösste Berechtigung zu geben schien, so glaubte Antiochus seine 
eigene Ueberzeugung nicht besser begründen zu können, als 
durch die Behauptung, dass dieser Widerspruch theils gar nicht 
stattfinde, theils nur unwesentliche Punkte betreffe, dass dagegen 
in der Hauptsache die bedeutendsten Philosophenschulen überein- 
stimmen , und nur in den Worten sich unterscheiden. Er selbst 
zählte sich zwar zur Akademie; er wollte den Platonismus, den 
seine Vorgänger seit Arcesilaus verlassen hatten, wiederherstel- 
len, von der neuen Akademie zur alten zurückkehren °). Aber 
diess schliesst seiner Meinung nach einen gleichzeitigen Anschluss 


1) Α. ἃ. O. 14, 44. 34, 111 mit der Bemerkung, diese Einwendung habe 
den Philo am Meisten in Verlegenheit gesetzt. 

2) Cıc. a. ἃ. Ὁ. 21, 67 £., welcher das Verhältniss des Arcesilaus, Karnea- 
des und Antiochus so formulirt: Arcesilaus mache den Schluss: si ulli rei 
sapiens adsentietur unquam, aligiando etiam opinabitur; nunquam autem opi- 
nabitur; nulli igitur rei adsentietur. Karneades gebe zu, dass der Weise bis- 
weilen zustimme, und somit auch meine. Die Stoiker und Antiochus läugnen 
das Letztere, aber sie bestreiten auch, dass aus dem Zustimmen das Meinen 
mit Nothwendigkeit folge, denn man könne Falsches und Wahres, Erkenn- 
bares und Unerkennbares unterscheiden. Die letzte Frage ist daher immer 
die, ob es überhaupt ein solches, das sich mit Sicherheit als wahr erkennen 
lässt, eine φαντασία χαταληπτιχὴ, giebt. Vgl. S. 532, 5. 531, 4. 

3) 5. ο. 527, 4. Cıc. Acad. I, 12, 43, Fin. V, 3, 7. Brut. 91, 315. Ausustın 
δ, Acad. II, 6, 15. III, 18, 41. 


Eklektieismus. . 338 


an Zeno und Aristoteles nicht aus. Die akademische und die peri- 
patetische Lehre sind, wie er sagt, eine und dieselbe Form der 
Philosophie, die nur verschiedene Namen führt, ihre Verschieden- 
heit liegt nicht in der Sache, sondern nur im Ausdruck ἢ). Nicht 
anders verhält es sich auch mit den Stoikern: auch sie sollen sich 
die ganze aliademisch-peripatetische Philosophie angeeignet, und 
nur die Worte verändert haben ?), oder wenn zugegeben wird, 
dass Zeno auch in der Sache manches Neue gebracht habe °), so 
soll dieses dech so untergeordneter Art sein, dass die stoische 
Philosophie trotzdem nur als eine verbesserte Form der akademi- 
schen, nicht als ein neues System zu betrachten sei ἢ). Antiochus 
selbst hat so viele stoische Lehren aufgenommen, dass Cicero über 
ihn urtheilt, er wolle zwar ein Akademiker heissen, sei jedoch 
mit Ausnahme weniger Punkte ein reiner Stoiker 5). Doch sind 
diese Punkte, wie uns ein Ueberblick über seine Lehre zeigen 
wird, von solcher Bedeutung, dass wir ihn in Wahrheit so wenig 
einen Stoiker, als einen Akademiker oder Peripatetiker, sondern 
trotz der Verwandischaft seiner Denkweise mit dem Stoicismus nur 
einen Eklektiker nennen können. 

Antiochus theilte die Philosophie in die herkömmlichen drei 
Theile ®); dass er diesen jedoch durchaus nicht den gleichen Werth 
beilegte, drückte er schon durch ihre Stellung aus, indem er ‘der 


1) Cıe. Acad. I, 4, 17. 6, 22. II, 5, 15. 44, 136. Fin, V, 3,7. 5, 14. 8, 21 
vgl. IV, 2,5. 

2) Cıc. Acad. II, 5, 15. 6, 16, Fin. V, 8, 22. 25, 74. 29, 88. N.D.I, 7, 16. 
Legg. I, 20, 54. Sexr. Pyrrh. I, 235. 

3) Acad. I, 9, 35 ft. 

4) Ebd. 12, 43: verum esse autem arbitror, ut Antiocho nostro familiari 
placebat, correctionem veteris Academiae potius quam aligquam novam disciplinam 
putandam [Stoicorum philosophiam). 

5) Δοδά. 11, 48,182: Antiochum, qui appellabatur Academicus, erat quidem, 
si perpauca mutavisset, germanissimus Stoicus (oder, wie es 45, 137 heisst: 
Stoicus perpauca balbutiens). Vgl. Prur. Cie. 4: als Cicero den Antiochus 
hörte, hatte dieser bereits die neue Akademie verlassen, τὸν Στωϊχον ἐχ μετα- 
βολῆς θεραπεύων λόγον Ev τοῖς πλείστοις. Sext. Pyrrh. I, 235: ὃ ᾿Αντίογος τὴν 
Στοὰν μετήγαγεν εἰς τὴν ᾿Αχαδημίαν, ὡς καὶ εἰρῆσθαι ἐπ᾽ αὐτῷ, ὅτι ἐν ᾿Αχαδημία 
φιλοσοφεῖ τὰ Στωϊχά. Ausust. c. Acad. III, 18, 41. 

6) Cıc. Acad. I, 5, 19 (vgl. UI, 36, 116). Fin, V,4,9. Dass diese beiden 
Darstellungen die Ansichten des Antiochus wiedergeben sollen, sagt Cicero 
ausdrücklich Acad. I, 4, 14. Fin. V, 3, 8, 


536 Antiochus. N. 


Ethik, als dem wichtigsten Theile, die erste, der Physik die zweite 
und der Logik die dritte Stelle anwies '). Am meisten lag ihm an der 
Erkenntnisstheorie und der Ethik 2); die letztere besonders nennt 
Cicero in seinem Sinne den wesentlichsten Theil der Philosophie ?). 
In seiner Erkenntnisstheorie ist dann wieder die Hauptsache jene 
Widerlegung des Skepticismus, die wir bereits kennen; im Uebri- 
gen hielt er sich nach Cicero’s Aussage *) streng an die Grund- 
sätze des Chrysippus, und dem widerspricht es nicht, dass er 
auch die platonische Theorie vortrug; denn für das Wesentliche 
an der letzteren scheint er nur die allgemeinen Bestimmungen ge- 
halten zu haben, worin sie nicht blos mit der peripatetischen, son- 
dern auch mit der stoischen Lehre zusammentraf: dass alles Wis- 
sen zwar von der sinnlichen Wahrnehmung ausgehe, an sich selbst 
jedoch Sache des Verstandes sei °), die Ideenlehre dagegen liess 
er fallen ©), und so konnte ihm, in seinem Vereinigungsbestreben, 
am Ende auch wohl die stoische Erkenntnisstheorie nur als eine 
Erweiterung und nähere Bestimmung der platonisch-aristotelischen 
erscheinen °). In derselben oberflächlichen Weise weiss Antio- 
chus auch die platonische Metaphysik nicht blos mit der aristoteli- 
schen, sondern selbst mit der stoischen zu vereinigen, wenn er, 
oder Varro in seinem Namen, bei Cicero?) die angeblich identi- 


1) So wenigstens Acad. I, 5 ff., nicht nur in der Aufzählung, sondern 
auch, und zwar wiederholt, in der Darstellung‘der drei Theile. 

2) Antiochus b. Cıc. Acad.II, 9,29: etenim duo esse haec maxima in philo- 
sophia, judicium veri et finem bonorum u. 8. W. 

3) Acad. I, 9, 34. 

4) Acad. II, 46, 142: Plato autem omne judicium veritatis veritatemque 
ipsam, abductam ab opinionibus et a sensibus, cogitationis ipsius et mentis esse 
voluit. numquwid horum probat noster Antiochus? üle vero ne majorum quidem 
suorum, ubi enim aut Xenocratem sequitur ... aut ipsum Aristotelem . .? 
a Chrysippo pedem nusquam. So wird auch c. 28—30 Antiochus durchaus 
von der Voraussetzung aus bestritten, dass er die dialektischen Regeln des 
Chrysippus anerkenne. 

5) Acad. I, 8, 30: tertia deinde philosophiae pars ... sic tractabatur ab 
utrisque (Plato und Aristoteles): guanguam oriretur a sensibus tamen non esse 
Judieium veritatis in sensibus. mentem volebant rerum esse Judicem u. 8. W. 
Ganz ähnlich spricht aber der Schüler des Antiochus 11, 42 auch über Zeno. 

6) 5. Acad. I, 8, 30 vgl. mit 9, 33 und die vorletzte Anm. 

7) Vgl. Acad. I, 11,42 £. 

8) Acad. I, 6, 24 fl. 


Erkenntnisstheorie; Physik. 937 


sche Lehre des Plato und Aristoteles so darstellt: Es gebe zwei 
Naturen, die wirkende und die leidende, die Kraft und den Stoff, 
beide seien aber nie ohne einander: Was aus beiden zusammen- 
. gesetzt ist, heisse ein Körper oder eine Qualität ἢ. Unter diesen 
Qualitäten seien die einfachen und die zusammengesetzten zu un- 
terscheiden; jene die vier, oder nach Aristoteles fünf, Urkörper, 
diese alles Uebrige; von den ersteren seien Feuer und Luft die 
wirkenden, Erde und Wasser die empfangenden und leidenden. 
Ihnen allen liege jedoch die eigenschaftslose Materie als das Sub- 
strat zu Grunde, das unvergänglich, aber in’s Unendliche theil- 
bar, in beständigem Wechsel seiner Formen die bestimmten Kör- 
per (qualia) hervorbringe. Alle diese zusammen bilden die Welt; 
die ewige Vernunft, welche die Welt beseelt und bewegt, werde 
die Gottheit oder die Vorsehung, auch wohl die Notliwendigkeit 
und wegen der Unerforschlichkeit ihrer Wirkungen bisweilen 
selbst der Zufall genannt. Wer die Grundlehren der älteren Sy- 
steme so durchgreifend zu verkennen, Späteres und Früheres so 
willkührlich durch einander zu wirren wusste, dem konnte der 
Gegensatz .des stoischen Systems gegen das platonische und aristo- 
telische nicht mehr besonders bedeutend erscheinen, und so wird 
denn über die stoische Physik in der mehrerwähnten Darstellung?) 
nur gesagt, Zeno habe das fünfte Element des Aristoteles (den 
Aether) beseitigt, auch habe er sich von den Früheren dadurch 
unterschieden, dass er nur die Körper für etwas Wirkliches ge- 
halten habe. Wie tief auch schon dieser Eine Unterschied ein- 
greift, scheint der Eklektiker nicht zu ahnen. Wirft er doch den 
Verstand mit der Sinnlichkeit ausdrücklich zusammen 5). und von 
Aristoteles sagt er, er lasse die Geister aus Aether bestehen, wo- 
für dann Zeno das Feuer gesetzt habe *). Dass Antiochus auf 


1) Cie. sagt ausdrücklich: qualitas, und da er bei dieser Gelegenheit 
das Wort gualitas, wie er selbst bemerkt, als Uebersetzung des griechischen 
ποιότης, neu in die lateinische Sprache einführt, muss er bei seinem Vorgänger 
wirklich dieses Wort, nicht etwa ποιὸν, gefunden haben. 

2) A. 8. 0. 11,89, 

3) Acad. II, 10, 30 sagt Lucullus: mens enim ipsa, quae sensuum fons 
est, alque etiam ipsa sensus est u. 8. W. 

4) Acad.-I, 7, 27. 11, 39. 


838 ; Antiochus. 


die specielle Physik nicht eingieng, können wir wohl mit Sicher- 
heit annehmen. 

Auch in der Moral bleibt Antiochus seinem eklektischen Cha- 
rakter getreu. Er geht mit den Stoikern von der Selbstliebe und 
dem Selbsterhaltungstrieb als dem Grundtrieb der menschlichen 
Natur aus, und gewinnt von hier aus den stoisch-akademischen 
Grundsatz des naturgemässen Lebens '). Auch das ist noch ebenso 
gut stoisch, als akademisch, dass das Naturgemässe für jedes 
Wesen nach seiner eigenthümlichen Natur bestimmt werden soll, 
- dass daher das höchste Gut für den Menschen darin gefunden 
wird: der allseitig vollendeten Menschennatur gemäss zu leben ?). 
Doch ist hierin bereits der Punkt angedeutet, an welchem unser 
Philosoph vom Stoicismus abgeht. Während nämlich die Stoiker 
nur das Vernünftige im Menschen als sein wahres Wesen anerkannt 
hatten, so bemerkt Antiochus, auch die Sinnlichkeit gehöre mit 
zur vollständigen Menschennatur, der Mensch bestehe aus Leib 
und Seele, und haben auch die Güter des edelsten Theils den 
höchsten Werth, so seien doch die des Leibes darum nicht werth- 
los, und nicht blos um eines Anderen willen, sondern an und für 
sich selbst zu begehren 3). Das höchste Gut besteht demnach ihm 
zufolge in der Vollendung der menschlichen Natur nach Leib und | 
Seele, in der Erwerbung der höchsten geistigen und körperlichen 
Vollkommenheit 4), oder nach anderer Darstellung °), in dem 
Besitz aller geistigen, körperlichen und äusseren Güter. Diese 
Bestandtheile des höchsten Guts sind nun allerdings von ungleichem 
Werthe: den höchsten Werth haben die geistigen Vorzüge, und 
unter diesen selbst die sittlichen (voluntariae) einen höheren, als 
die blossen Naturgaben 5); wiewohl aber die leiblichen Güter und 


1) Cic. Fin. V, 9—11. 

2) Vivere ex hominis natura undique perfecta et nihil requirente (Cıc. 
2.8..0, 9,26). 

3) Acad. I, 5, 19. Fin. V, 12, 34. 13, 38. 16, 44. 17, 47: Schönheit, Ge- 
sundheit, Stärke u. s. f. werden um ihrer selbst willen begehrt; quoniam enim 
natura suis ommibus expleri partibus vult, hunc statum corporis per se ipsum 
ewpetit qui est maxime e natura. Ebenso Varro, wie später gezeigt werden wird. 

4) Fin. V, 13, 37. 16, 44. 17, 47. 

5) Acad. I, 5, 19. 21f. in der Schilderung der akademisch-peripatetischen 
Philosophie. 

6) Fin. V, 13, 38. 21, 58. 60. 


Ethik. 539 


Uebel nur geringen Einfluss auf unser Wohl haben, wäre es doch 
verkehrt, ihnen alle Bedeutung abzusprechen '), und wenn den 
Stoikern zuzugeben ist, dass die Tugend für sich allein zur Glück- 
seligkeit genüge, so sind doch zur höchsten Stufe derselben auch 
noch andere Dinge nothwendig ?). Durch diese Bestimmungen, 
in denen er mit der alten Akademie übereinkommt 5), hofft unser 
-Philosoph’zwischen der peripatetischen Schule, welche dem Aeus- 
seren seiner Meinung nach zu viel 4). und der stoischen, welche 
ihm zu wenig Werth beilegte °), die richtige Mitte zu treffen; dass 
es aber freilich seiner ganzen Darstellung an Schärfe und Festig- 
keit fehlt, ist nicht zu verkennen. | 

Die gleiche Bemerkung wiederholt sich im weiteren Verlaufe. 
Wenn Aristoteles dem Wissen, Zeno dem Handeln den Vorrang 
eingeräumt hatte, so stellt Antiochus beide Zwecke neben ein- 
ander, indem beide auf ursprünglichen Naturtrieben beruhen °). 
Wenn die Stoiker die Einheit, die Peripatetiker die Mehrheit der 
Tugenden behauptet hatten, so entscheidet sich Antiochus dahin, 
dass zwar alle Tugenden unzertrennlich zusammenhängen, dass 
sich aber doch jede derselben in einer eigenthümlichen Thätigkeit 
darstelle °), ohne dass mit Plato eine tiefer gehende Begründung 
ihres Unterschieds versucht würde. Wenn die stoische Schule 
selbst nicht ganz darüber im Reinen war, ob die Gemeinschaft mit 
anderen Menschen ein Gut im strengen Sinn, etwas an und für 


1) Fin. V, 24, 72. 

2) Acad. I, 6, 22: in una virtute esse positam beatam vitam, nec tamen 
beatissimam, nisi adjungerentur et corporis et cetera quae supra dicta sumt ad 
virtutis usum idonea. 11, 43, 134. Fin. V, 27, 81. 24, 71. 

8) Vgl. Bd. II, a, 681, 5. 

4) Fin. V, 5, 12. 25, τὸ; Aristoteles selbst wird hiebei von seiner Schule 
getrennt, und neben ihm nur Theophrast, doch auch er schon mit einer ge- 
wissen Einschränkung, als urkundliche Quelle der peripatetischen Lehre an- 
erkannt, sodass auch hier, wie der akademischen Schule gegenüber, Antiochus 
seine Neuerung als blosse Wiederherstellung des Ursprünglichen betrachtet 
wissen will. 

5) Fin. V, 24, 72. 

6) Fin. V, 21, 58: actionum autem genera plura, ut obscurentur etiam mi- 
nora majoribus. marimae autem sunt ... primum consideratio cognitioque rerum 
coelestium u. s. w. deinde rerum publicarum administratio . .. reliquaeque vir- 
tutes et actiones virtutibus congruentes; vgl. 18, 48. 20, 55. 23, 66. ' 

7) Fin. V, 28, 66 £. 


540 Antiochus. 


sich Begehrenswerthes sei, oder nicht, so sucht Antiochus auch 
hier zu vermitteln; während er nämlich den Werth und die Noth- 
wendigkeit dieses Verhältnisses in vollem Maass anerkennt 7), ἡ 
unterscheidet er doch zweierlei an und für sich werthvolle Dinge, 
solche, die unmittelbar einen Bestandtheil des höchsten Guts bilden 
(die Vorzüge der Seele und des Leibes), und solche, die als 
Gegenstand der sittlichen Thätigkeit zu begehren sind; nur in die 
letztere Klasse stellt er die Freunde, die Angehörigen, das Vater- 
land 9. Mit den Stoikern wollte auch Antiochus nur den Weisen 
. als Herrscher, als frei reich und schön gelten lassen; mit ihnen 
erklärte er alle Unweisen für Sklaven und Verrückte; mit ihnen 
verlangte er von dem Weisen eine vollkommene Apathie 5), so 
entschieden er sich auch damit der altakademischen Lehre ent- 
gegenstellte, und so wenig er selbst bei seinen Ansichten über das 
höchste Gut zu so schroffen Behauptungen ein Recht hatte. Wenn 
er aber doch dabei den so eng damit verknüpften Satz von der 
Gleichheit aller Fehler lebhaft bekämpfte *%), so kann uns auch 
dieser Zug zeigen, dass er es mit der wissenschaftlichen Folge- 
richtigkeit nicht sehr genau nahm. 

Indessen war diess nicht diejenige Eigenschaft, von welcher 
der Erfolg eines Philosophen in jener Zeit vorzugsweise abhieng. 
Unter den akademischen Zeitgenossen des Antiochus, die uns ge- 
nannt werden, scheinen nur die älteren an der Lehre des Karnea- 
des festgehalten zu haben °); bei der jüngeren Generation da- 


1) Fin. V, 23, 66 ff. Acad. I, 5, 21. 

2) Fin. V, 23, 68: ita πὲ ut duo genera propter se expetendorum reperian- 
tur, unum, quod est in üs, in quibus completur lud extremum, quae sunt aut 
animi aut corporis: haec autem, quae sunt extrinsecus ... ut amiei, ut parentes, 
ut liberi, ut propingui, ut ipsa patria, sunt Üla quidem sua sponte cara, sed 
eodem in genere, quo illa, non sunt u. 8. W. 

3) Acad. II, 44, 135 ἢ, 

4) Ebd. 43, 135 ἢ, 

5) Es gilt diess von Heraklitus aus Tyrus, der uns durch Cıc, Acad. 
II, 4, 11. als vieljähriger Schüler des Klitomachus und Philo und als ein 
angesehener Vertreter der neueren Akademie bekannt ist; sie nämlich ist mit 
der philosophia, quae nunc prope dimissa revocatur, gemeint, wie diess so- 
gleich gezeigt werden soll; eine Missdeutung dieses Ausdrucks hat Zumer 
(über den Bestand der philos. Schulen in Athen. Abh. d. Berl. Akad. 1842. 


Hist.-philol. Kl. 67 1.) verleitet, den Schüler des Klitomachus und Pbilo für 


Schule des Antiochus. 41 


gegen !) machte Antiochus solches Glück, dass nach CicEro’s 
Zeugniss die neuakademische Lehre zu seiner Zeit fast allgemein 


einen Peripatetiker zu halten. Ebenso wird unter den Römern, die sich mit 
griechischer Philosophie beschäftigten, Ο. Cotta (der 76 v. Chr. Consul war) 
von Cıc. N. D. I, 7, 16 f. zwar als ein Bekannter des Antiochus, aber als ein 
Schüler und Anhänger Philo’s bezeichnet, welcher a. a. O. I, 21 ff. die epi- 
kureische, III, 1 ff. die stoische Theologie vom Standpunkt der neueren Aka- 
demie aus kritisirt. Als Zuhörer Philo’s führt Crc. Acad. II, 4, 11 auch den 
Publius und Cajus Selius und den Tetrilius Rogus auf. Sonst wird aus jener 
Zeit noch Diodorus, ein Partheigänger des Mithridates, genannt, welcher 
sich zur akademischen Schule gehalten habe (Straso XII, 1, 66. 5. 614); 
dieser Mann kann aber kaum zu den Philosophen gezählt werden. | 

1) Dahin gehört vor Allem Aristus, der Bruder des Antiochus, welcher 
ihm auf dem Lehrstuhl in Athen folgte (Cıc. Brut. 97, 332. Acad. II, 4, 12. 
1,3, 12. Tusc. V,8,21. Por. Brut.2); 51 v.Chr. wird er von Cicero (ad Att. V, 
10. Tusc.V, 8, 22) noch dort getroffen, und als der einzige bezeichnet, welcher 
daselbst von dem im Ganzen unbefriedigenden Zustand der Philosophie eine 
‚Ausnahme mache. Ferner Sosus, ein Landsmann des Antiochus (Stern. ΒΥ. 
De urb. ᾿Ασχαλὼν), und wahrscheinlich sein Schüler oder Mitschüler, da er 
(Cıc. Acad. II, 4, 12) seine Schrift gegen Philo „Sosus“ nannte; Dio und 
Aristo, welche wir bei Cıc. a. a. Ὁ. mit Antiochus in Alexandrien treffen; 
Dio ist ohne Zweifel derselbe, welcher nach $Srrazo XVII; 1, 41. 796. Cıc. 
pro Coel. 21 als Mitglied einer alexandrinischen Gesandtschaft in Rom umkam, 
und wohl auch der von Pıvr. qu. conv. pro. 3 genannte Verfasser von Tisch- 
gesprächen; den Aristo hält Zumrt ἃ. ἃ. O. für den Peripatetiker, dessen Dıoc. 
VII, 164 (und Arutes. Dogm. Plat. III, 277, Hild.) als eines Alexandriners 
erwähnt (den ΖΌΜΡΤ aber zugleich mit dem von Srraso XIV, 2, 19. 8, 658 
genannten Koöer, oder seinem gleichnamigen Lehrer, d. h., wie ich glaube, 
dem Aristo aus Julis — s. Bd. II, b, 750, 4 — zusammenwirft); allein der 
Aristo und Dio, welche an den Verhandlungen des Antiochus mit seinem 
Schulgenossen Heraklit theilnehmen, und denen jener, wie Cic. sagt, secun- 
dum fratrem plurumum tribuebat, müssen beide gleichsehr Akademiker &e- 
wesen sein, ‚und wenn diess nicht seine Meinung wäre, müsste es Cicero 
ausdrücklich gesagt haben. Der Nachfolger des Aristus scheint Theomnestus 
zu sein, welchen Brutus 44 v.Chr. in Athen hörte (Pur. Brut. 24), und dessen 
auch PutLoste. v. Soph. I, 6 erwähnt. Um dieselbe Zeit lebte in Alexandrien, 
am Hofe des Ptolemäus XII Dionysos, Demetrius (Lecıan De calumn. 16), 
über den uns aber sonst nichts bekannt ist; jedenfalls ein würdigeres Mitglied 
der Schule, als der von Pıur. Anton. 80 genannte Philostratus. Unter den 
Römern war neben Cicero auch Varro, über den noch besonders zu sprechen 
sein wird, ein Schüler des Antiochns; seinen Bruder Aristus hatte M. Brutus 
gehört (Cıc. Brut. 97, 332. Acad. I, 3, 12. Fin. V, 3, 8. Tusc. V, 8, 21. Prur. 
Brut. 2), welchen Cicero Acad. a. a. O. ad Att. XIII, 25 ausdrücklich als An- 


542 Schule des Antiochus. 


verlassen war 1). Das Gleiche bezeugt ein halbes Jahrhundert 
später AEnEsıDEmus ?), und mit diesen Aussagen stimmt alles zu- 
sammen, was uns über die Richtung der akademischen Schule bis“ 
gegen das Ende des ersten Jahrhunderts bekannt ist. Unsere 
Kenntniss derselben in dieser Zeit ist allerdings sehr lückenhaft ®); 


tiocheer mit Varro, parad. pro. 2 auch mit sich selbst zusammenstellt, Brut. 
31, 120. 40, 149 zur alten Akademie zählt; einen Satz des Antiochus legt er 
ihm Tusc. a. a. O. in den Mund. Sein Talent und sein Wissen rühmt Cıc. ad 
Att. XIV, 20. ad Div. IX, 14. Brut. 6, 22. Fin. III, 2,6, seine Schriften Acad. 
I, 3, 12. Tusc. V, 1,1. Fin. I, 3,8; weiter vgl. m. über die letzteren Sex. 
consol. ad Helv. 9, 4. ep. 95, 45. Quistir. X, 1, 123. Charısıus 8. 83. 
Priscıax. VI, S. 679. Dıonep. 8. 378. (Das Vorstehende nach Kriscae Gött. 
Stud. II, 163 ff.) Mit Cicero hörte auch M. Piso nach Cıc. Fin. V, 1 ff. den 
Antiochus, zu dem er sich ebd. 3, 7 f. bekennt, und dessen ethische Grund- 
sätze er c. 4—25 auseinandersetzt, doch so, dass er der peripatetischen Schule, 
in die ihn sein Hausgenosse Staseas aus Neapel eingeführt hatte (a. a. O. 3, 8. 
25, 75. De orat. 1, 22, 104), damit nicht untreu werden will. Vgl. ad Att. 
XII, 19 (wornach er nicht mehr am Leben war, als Cicero De finibus schrieb). 

1) Acad. II, 4, 11 nennt nämlich Cicero, wie bemerkt, den Tyrier Hera- 
klit: homo same in ista philosophia, quae nunec prope dimissa revocatur, pro- 
batus et nobilis. Dass nun mit dieser Philosophie nur die neuakademische 
gemeint sein kann, ergiebt sich aus dem ganzen Zusammenhang. Denn wenn 
von einem Schüler desKlitomachus und Philo gesprochen wird, so kann unter 
der Philosophie, in der er sich auszeichnete, doch nur die dieser Männer, und 
nicht eine solche verstanden werden, von der in der ganzen Stelle weit und 
breit nirgends die Rede ist. Es ist also die neuakademische Lehre, welche 
zu Cicero’s Zeit fast aufgegeben, eben durch ihn erneuert wurde. Wollte man 
aber diesem Zeugniss Augustin’s Aussage c. Acad. III, 18, 41 (s. ο. 526, 1) 
entgegenhalten, wonach Cicero nur die reliquiae der von Philo bekämpften 
antiocheischen Irrlehre vollends zu unterdrücken gehabt hätte, so würde man 
dieser augustinischen Phrase ein Gewicht beilegen, das ihr um so weniger 
zukommt, je augenscheinlicher auch die Vorstellung, alsob der Eklektieismus 
des Antiochus durch Cicero beseitigt worden sei, falsch ist. 

2) Bei Pnor. Cod. 212, 8. 170,14: οἱ δ᾽ ἀπὸ τῆς ᾿Αχαδημίας, φησὶ, μάλιστα 
τῆς νῦν, χαὶ Στωϊχαϊς συμφέρονται ἐνίοτε δόξαις, χαὶ εἰ χρὴ τἀληθὲς εἰπεῖν, Στωϊκοὶ 
φαίνονται μαχόμενοι Στωϊκοῖς. Ebenso urtheilte Cicero u. A. über Antiochus; 
δ. 0.835, 8. 

3) Von den Vorstehern der athenischen Schule kennen wir zwischen 
Theomnestus (s. 0.) und Ammonius, dem Lehrer Plutarch’s, keinen einzigen; 
von sonstigen Akademikern aus der Zeit August’s und Tiber’s, neben Arius 
Didymus und Eudorus, nur Dereyllides und Thrasyllus. Auch von diesen 
wissen wir aber sehr wenig. Von Dercyllides, dessen Zeitalter sich nicht 
einmal näher bestimmen lässt, der aber doch früher, als Thrasyllus, zu sein 


Eudorus. 343 


dass sich aber der Eklektieismus des Antiochus fortwährend in ihr 
erhielt, sehen wir an Eudorus und Arius Didymus, zwei Männern, 
welche beide zur Zeit des Kaisers Augustus gelebt habe. 
Eudorus), aus Alexandrien 2), wohl der ältere von beiden ὃ), 
wird als Akademiker bezeichnet 4). aber neben platonischen °) 
hatte er auch aristotelische Schriften erklärt ©), und eingehend 


scheint, sehen wir aus Arzısus Introd. in Plat. 4. Prokt. in Tim. 7, B. 
Porrnvr. b. Sıner. Phys. 54, b, o. ὅθ, b, o., dass er ein grösseres Werk über 
platonische Philosophie verfasst hatte, dem vielleicht auch das grosse astro- 
nomische Bruchstück bei TuEo Smyrn. Astron. 6. 40 f. und das kleinere bei 
Prost. in Prar. Remp. (aus A. Mar Class. auct. I, 362 von Marrın zu Theo 
S. 74 angeführt) entnommen ist. Thrasyllus war in Rhodus, vielleicht, 
seiner Vaterstadt, mit Tiberius bekannt geworden, dem er sich als Astrolog 
unentbehrlich zu machen wusste (was jedoch über die Proben seiner Kunst 
erzählt wird, ist schon bei Tacır. Ann. VI, 20. Suerox. Tiber. 14, und noch 
mehr bei Dıo Cass. LV, 11. LVIII, 27 sagenhaft ausgeschmückt). Er lebte 
dann, seit den letzten Jahren August’s (Sueron. Aug. 98. Dıo Cass. LVII, 15), 
in Rom, und starb ein Jahr vor Tiber, 36 n. Chr. (Dıo LVIII, 27). Uns ist er 
hauptsächlich durch seine Eintheilung der platonischen Gespräche in Tetra- 
logieen (s. Bd. II, a, 327,1) bekannt. Als pythagoraisirenden Platoniker nennt 
ihn Porruve. v. Plot. 20. Da aber sowohl Thrasyllus als Dereyllides mehr 
Grammatiker, als Philosophen, gewesen zu sein scheinen, mag es hier ge- 
nügen, in Betreff des Ersteren auf K. F. Hermans De Thrasyllo (Ind. Schol. 
Gotting. 1852), Müruer Fragm. Hist. gr. III, 501, Marrın zu Theo Astron. 
S. 69 f., Dereyllides betreffend, auf den Letztern 8. 72 ff. zu verweisen. 

1) Ueber ihn: Rörer im Philologus VII, 534 f. 

2) ὅτοβ. ΕΚ]. II, 46; s. u. 544, 2. 

3) Ganz genau lässt sich seine Lebenszeit nicht bestimmen. Srraro 
XVII, 1, 5. 8. 790 bezeichnet ihn als seinen Zeitgenossen; dass er jünger war, 
als der Rhodier Andronikus, schliesst Branpıs (über die griech. Ausleger des 
aristot. Organons. Abh. d. Berl. Akad. v. J. 1833. Hist.-phil. Kl. 5. 275) aus 
der Art, wie ihn Sıweuicrus Schol. in Arist.61,a,26. 73, b, 18 mit Andronikus 
zusammenstellt, und wenigstens die letztere Stelle scheint mir beweisend. 
Wenn andererseits Sroräus a. a. O. aus Arius Didymus entnommen ist (hier- 
über sogleich), muss er vor diesem geschrieben haben. 

4) (Ar. Dıp. bei) ὅτοβ. a. a. O.: Εὐδώρου τοῦ ᾿Αλεξανδρέως, ἀχαδημιχοῦ 
φιλοσόφου. ϑίμρι,. 5080]. in Arist. 63, ἃ, 48. Acnırı. Tar. Isag. II, 6 (in Petav 
Doctr. temp. III, 96. Auch Isag. I, 2. 13. $. 74. 79 wird Eud. angeführt). 

5) Auf eine Erklärung des Timäus scheint sich Prur. De an. procr. 3, 2. 
16, 1. 8. S. 1013. 1019 £. zu beziehen. 

6) Sein Commentar zu den Kategorieen wird von Sımurricıus in dem 
seinigen ziemlich oft angeführt; vgl. Schol.' in Arist. 61, a, 25 ff. 63, a, 43. 
66, b, 18, 70, b, 26. 71, b, 22. 73, b, 18. 74, b, 2 und Categ. ed. Basil. 44, ε. 


544 Eudorns. 


von der pytkagoreischen Lehre gesprochen, die er im Sinn des 
späteren platonisirenden Pythagoreismus auffasste 7). Lässt uns 
nun schon diese vielfache Beschäftigung mit älteren Philosophen, 
und namentlich die Bearbeitung der aristotelischen Kategorieen, 
vermuthen, dass Eudor’s Platonismus nicht ganz rein war, so be- 
stätigt sich diess durch die Mittheilungen des SrosÄus über eine 
encyklopädische Schrift desselben, worin er, Wie gesagt wird, 
die gesammte Wissenschaft problematisch behandelt hatte, d. h. 
über die Fragen, mit denen es die verschiedenen Theile der Philo- 
sophie zu thun haben, eine Uebersicht gab, und die Antworten 
der bedeutendsten Philosophen auf dieselben zusammenstellte ?). 
In dem Abriss der Ethik, welcher uns aus dieser Schrift mitgetheilt 
wird, ist die Eintheilung wie die Terminologie mehr stoisch, als 
platonisch 55; und ähnlich wird es sich wohl auch mit den ethischen 


65,2. Dass er auch die Metaphysik erklärte, folgt aus ALex. Metaph. 44, 23 
Bon. Schol. 552, b, 29 nicht mit Sicherheit. 

1) M. 8. das Bruchstück, welches aus Sımer. Phys. 39, a, in Bd. I, 260 
mitgetheilt ist. 

2) Ekl. II, 46: ἔστιν οὖν Εὐδώρου τοῦ ᾿Αλεξανδρέως ἀχαδημιχοῦ φιλοσόφου 
διαίρεσις τοῦ κατὰ φιλοσοφίαν λόγου, βιβλίον ἀξιόχτητον, ἐν ᾧ πᾶσαν ἐπεξελήλυθε 
προβληματιχῶς τὴν ἐπιστήμην. Die obige Erklärung dieses Ausdrucks ergiebt 
sich aus 8. 54 ff., wo der Verfasser, nachdem er Eudor’s Eintheilung der Ethik 
dargestellt hat, fortfährt, ἀρχτέον δὲ τῶν προβλημάτων, und nun die Ansichten 
der verschiedenen Philosophen, zuerst über das τέλος, dann über die Güter 
und Uebel, endlich über die Frage, εἰ πᾶν τὸ καλὸν SL’ αὑτὸ αἱρετὸν, angiebt. 
Auch diese Abschnitte sind wahrscheinlich (von Arius Didymus, den Stobäus 
hier ausschreibt) noch aus Eudorus entlehnt. 

3) Nachdem End. die gesammte Philosophie in Ethik, Physik und Logik 
getheilt hat, unterscheidet er in der Ethik drei Theile: περὶ τὴν θεωρίαν τῆς 
χαθ᾽ ἕχαστον ἀξίας, π. τὴν ὁρμὴν, π. τὴν πρᾶξιν (θεωρητιχὸν, δρμητιχὺν, πραχτιχόν). 
Der erste von diesen Theilen zerfällt dann wieder in zwei Abschnitte: über 
die Zwecke des Lebens und über die Hülfsmittel zu ihrer Erreichung, und 
jeder von diesen in eine Anzahl weiterer Unterabtheilungen, unter denen neben 
Anderem die ächt stoischen Titel περὶ τῶν προηγουμένων, περὶ ἔρωτος, περὶ 
συμποσίων (5. ο. 228, 1. 253, 6. 262, 3) vorkommen. Auch, die Tugendlehre, 
einer von den Abschnitten der zweiten Abtheilung (diese nämlich muss mit 
den Worten 8. 50: τὸ μέν ἐστι περὶ τῶν ἀρετῶν u. 5. w., vor denen wahrschein- 
lich ein οὗ oder τούτου δὲ ausgefallen ist, getheilt werden), weist zunächst auf 
die stoische Fassung, wenn unter den vier Kardinaltugenden an die Stelle der 
platonischen σοφία die φρόνησις tritt. Der zweite Haupttheil der Ethik hat 
theils von der δρμὴ überhaupt, theils von den πάθη zu handeln, die ganz 


Eudorus. Arius Didymus. 545 


Ausführungen selbst verhalten haben ), so dass demnach Eudorus 
in dieser Beziehung ganz dem Vorgang des Antiochus folgte. Dass 
er sich übrigens nicht auf die Ethik beschränkt hatte, erhellt ausser 
dem schon Angeführten noch aus einigen weiteren Spuren ?). 

Der Richtung des Antiochus gehört auch Arius Didymus °) 


stoisch als ὁρμὴ πλεονάζουσα und ἀῤδῥώστημα definirt werden. Der dritte Haupt- j 
theil wird mittelst einiger Unterabtheilungen in acht τόποι getheilt, den παρα- 
μυθητιχὸς, παθολογιχὸς, περὶ ἀσχήσεως, περὶ χαθηχόντων, περὶ κατορθωμάτων, 
περὶ χαρίτων, περὶ βίων, περὶ γάμου. Wie nahe diese ganze Eintheilung der 
stoischen steht, wird aus unsern früheren Nachweisungen, S. 190 f. hervor- 
gehen. Mit dem, was dort aus Senzca ep. 84, 14 mitgetheilt ist, trifft Eudorus 
in seiner Haupteintheilung so vollständig zusammen, und der Anfang dessen 
besonders, was Stobäus aus ihm anführt, hat mit der Stelle Seneca’s so auf- 
fallende Aehnlichkeit, dass entweder Seneca dem Eudorus, oder beide einer 
gemeinsamen, dann jedenfalls stoischen, Quelle folgen müssen. 

1) Man sieht diess auch aus dem en Abschnitt des Stobäus, der, 
wie bemerkt, gleichfalls von Eudorus herzustammen scheint, besonders aus 
8.60: ὑποτελὶς δ᾽ ἐστὶ τὸ πρῶτον οἰχέϊον τοῦ ζῴου πάθος, ἀφ᾽ οὗ κατήρξατο συναι- 
σθάνεσθαι τὸ ζῷον τῆς συστάσεως αὑτοῦ, οὔπω λογιχὸν ὃν ἀλλ᾽ ἄλογον, χατὰ τοὺς 
φυσιχοὺς Aut σπερματιχοὺς λόγους ... γενόμενον γὰρ τὸ ζῷον κχειώθη τινὶ πάντως 
εὐθὺς ἐξ ἀρχῆς. M. vgl. hiezu 5. 192 f. Wie sich Eudorus hiebei an Antiochus 
anschloss, zeigt die Vergleichung der unmittelbar folgenden Worte (ὅπερ ἐστὶ 
ὑποτελὶς, zeirar δ᾽ Ey τινι τῶν τριῶν: ἢ γὰρ ἐν ἡδονῇ ἢ ἐν ἀοχλησίᾳ ἢ ἐν τοῖς πρώτοις 
χατὰ φύσιν) mit dem, was Cıc. Fin. V, 6, 16 ff. (5. ο. 5. 472) zunächst aus 
Antiochus mittheilt. 

2) Nach ὅτβαβο XVII, 1,5. 790 beschuldigten Eudorus und der Peri- 
patetiker Aristo wegen einer Schrift über den Nil sich gegenseitig des Plagiats 
(welcher Recht hatte, will Strabo nicht entscheiden, doch sagt er, die Sprache 
der Schrift sei mehr die Aristo’s), und Acsıcr. Tar. Isag. 96 erwähnt, dass 
Eud. mit Panätius die heisse Zone für bewohnt halte, 

8) Es ist diess ohne Zweifel derselbe ᾿Αρέϊος aus Alexandrien, welcher 
uns (aus Prur. Anton. 80 f. Reg. apophth. Aug. 3, 5, S. 207. praec. ger. reip. 
18, 3. S. 814. Sen. consol. ad Mare. 4, 2f. Sueron. Octav. 89. Dio Cass. 
LI, 16. LII, 36. Asuıan. V. H. XII, 25. Tuesıst. or. X, 130, b, Pet. vgl. 
Strauo XIV, 5, 4. S. 670) als philosophischer Lehrer und Vertrauter des Au- 
gustus und als Freund des Mäcenas bekannt ist, und welcher von dem ersteren 
so hoch geschätzt wurde, dass er bei Plutarch und Dio den Alexandrinern 
nach der Einnahme ihrer Stadt erklärt, er verzeihe ihnen um ihres Gründers 
Alexander, ihrer schönen Stadt, und ihres Mitbürgers Arius willen. Ans 
einer Trostschrift desselben an Livia, nach dem Tode des Drusus, theilt 
Seneca ein grösseres Bruchstück.mit. Nun wird allerdings Arius in keiner 
von den angeführten Stellen mit dem Beinamen Didymus bezeichnet, und 
dass er Akademiker war, könnte man höchstens aus Prur. Anton. 80 ver- 


Philos. ἃ. Gr. IIT. B. 1. Abth. 35 


᾿ 


546 Arius Didymns. 


an. Auch von ihm kennen wir zwar nur geschichtliche Darstel- 
lungen der älteren Lehren, die wahrscheinlich alle einem und 
demselben Werk entnommen sind); aber unter denselben befindet 


muthen; umgekehrt sagen die Stellen, welche ihn Didymus und Akademiker 
nennen (s. folg. Anın.) nichts von seiner alexandrinischen Abkunft und seiner 
Verbindung mit Augustus. Aber da seiner persönlichen Verhältnisse immer 
nur kurz gedacht wird, folgt daraus nichts gegen die Einerleiheit des Ar. Di- 
dymus mit dem Alexandriner Arius, während andererseits für dieselbe spricht, 
dass den Arius Didymus seine aus seinen Bruchstücken erkennbare Denk- 
weise, und namentlich seine gleich zu besprecbende Darstellung der peri- 
patetischen Ethik, der- Schule des Antiochus, und somit auch ungefähr der 
Zeit des Augustus, zuweisen. 

1) Die vorhandenen Anführungen (vgl. Meısege in Mützell’s Zeitschr. f. 
d. Gymnasialw. 1859, S. 563 f.) sind diese. 1) Eine Darstellung der stoischen 
Ansichten von Gott und der Welt ἀπὸ τῆς ἐπιτομῆς ᾿Αρείου Διδύμου, b. Eus. pr. 
ev. XV, 15. 2) Die stoische Psychologie aus der ἐπιτομὴ "Ap. Διδ. ebd. c. 20; 
aus derselben Quelle scheint aber auch schon e. 18 £., über die Weltverbren- 
nung und Welterneuerung, genommen zu sein. 3) Der gleichen Schrift gehört 
ohne Zweifel der Bericht über die platonische Ideenlehre an, welchen Evs. 
ἃ. 2.0. XI, 23, 2 f. ἐχ τῶν Διδύμῳ περὶ τῶν ἀρεσχόντων Πλάτωνι συντεταγμένων, 
Stop. Ekl. I, 350 ohne Namen anführt; ebenso 4) die Aeusserungen über zwei 
Sinnsprüche der sieben Weisen, die Kr.emexs Strom. I, 300, B aus Didymus 
mittheilt, und 5) eine Angabe über Theano ebd. 309, C aus Δίδυμος ἐν τῷ περὶ 
Πυθαγοριχῆς φιλοσοφίας. Endlich führt 6) Sron. Floril. 103, 28 ἐχ τῆς Διδύμου 
πιτομῆς eine Stelle über die peripatetische Lehre von der Eudämonie an; die- 
selbe Stelle findet sich aber, nach Meınexe’s Wahrnehmung, in der Darstel- 
lung der peripatetischen Ethik bei Sror. Ekl. II, 274 f., und dadurch wird 
bewiesen, dass nicht allein dieser ganze Abschnitt, von $. 242—334, sondern 
auch der entsprechende über die stoische Lehre, Κα, 90—242, aus der Epitome 
des Arius entlehnt ist. Ebendaher hat dann aber Stob. wahrscheinlich auch 
die vier vorangehenden Sectionen des gleichen (6ten) Kapitels von S. 32 an. 
Wir besitzen demnach sehr beträchtliche Bruchstücke aus dem Werk unseres 
Philosophen, welche beweisen, dass dasselbe eine umfassende Uebersicht 
über die Lehren der sämmtlichen früheren Philosophen enthielt. Aus diesem 
Werke mag (wie ΜΈΙΝΕΚΕ vermuthet), ein grosser Theil der namenlosen Ex- 
cerpte über griechische Philosophen bei Stobäus herstammen; aber im Ein- 
zelnen lässt sich in dieser Beziehung nichts bestimmen. Ob Terrurrıan dort 
oder anderswo her hat, was er De an. 54 angiebt, dass nach Arius die Seelen 
sich nach dem Tode in die Luft erheben, ist ziemlich gleichgültig. — Unser 
Arius Didymus steckt wohl auch, wie längst vermuthet wurde, in Surpas’ 
Δίδυμος ᾿Ατήϊος [ἢ λττιος)] χρηματίσας, φιλόσοφος ἀχαδημαῖχός; aber von den 
Schriften, die er ihm beilegt, Πιθανὰ und Σοφισμάτων λύσεις, kommen die 
Πιθανὰ bei ihm auch unter dem Namen Δίδυμος νέος, ᾿Αλεξανδοεὺς, γραμματιχὺς, 
ὃς ἐσοφίστευσεν ἐν Ῥώμῃ, vor. 


Arius Didymus. 547 


sich eine Uebersicht über die peripatetische Ethik, welche dieselbe 
der stoischen so vielfach annähert, und mit der Auffassung des 
Antiochus, so wie diese von Cicero dargestellt wird, so vollkom- 
men zusammentrifft, dass kaum ein Zweifel darüber möglich ist, 
wo wir ihre letzte Quelle zu suchen haben 2); und gerade in ihr 


1) Schon Bd. II, b, 688, 2 habe ich gezeigt, dass die Darstellung bei Stobäus 
von Antiochus abhängig zu sein scheine, nur dass ich dort, mit ΜΕΙΝΕΚ π᾿ 5 
Abhandlung noch unbekannt, die unmittelbare Quelle derselben in der Schrift 
eines jüngeren Peripatetikers, statt der des Arius, suchte. Wollen wir auf 
den Inhalt dieser Darstellung näher eingeben, so lässt sich die Uebereinstim- 
mung mit Antiochus und die Abhängigkeit von ihm von Anfang bis zu Ende 
nachweisen. Wie Antiochus in seinem Bericht über die peripatetische (für ihn 
mit der akademischen zusammenfallende) Ethik den doppelten Zweck ver- 
folgte, die platonisch-aristotelische Lehre gegen die stoischen Angriffe zu 
vertheidigen, und sie mit der stoischen zu verknüpfen (s. o. 8. 538 ff.), so 
finden wir das Gleiche bei Arius. Zur Grundlage nimmt er, wie jener, die 
allseitig anerkannte Forderung des naturgemässen Lebens, und zwar in ihrer 
stoischen Fassung: die φυσιχὴ οἰχείωσις ist der Gesichtspunkt, nach dem ent- 
schieden wird, was ein Gut, ein δι᾽ αὑτὸ αἱρετὸν sei, der Selbsterhaltungstrieb 
wird als Grundtrieb anerkannt, φύσει γὰρ χειῶσθει πρὸς ἑαυτὸν (Stop. 246 ἢ. 
252. 258 vgl. was 5. 192, 3 über die $boiker, S. 538 f. über Antiochus ange- 
führt 15). Mit Antiochus sucht er nun aber zu zeigen, dass gerade nach 
diesem Gesichtspunkt Angehörige, Freunde, Volksgenossen, die menschliche 
Gemeinschaft überhaupt um ihrer selbst willen zu begehren seien; ebenso 
Lob und Ruhm, Gesundheit, Stärke, Schönheit, körperliche Vorzüge jeder 
Art; nur seien die Güter der Seele ohne Vergleich mehr werth, als alle andern 
(8. 246— 264). Mit Antiochus (8. o. 539, 6) stellt er die πολιτιχαὶ χαὶ κοινωνιχαὶ 
und die θεωρητιχαὶ πράξεις als gleich ursprüngliche Aufgaben zusammen 
(S. 264 δ); mit ihm (s. o. 540, 2) unterscheidet er zweierlei Güter, solche, die 
als Bestandtheile (συμπληρωτιχὰ) der Glückseligkeit zu betrachten sind, und 
solche, die nur etwas dazu beitragen (συμβάλλεσθαι); die leiblichen Güter will 
er nicht, wie Cicero’s Antiocheer, der ersten, sondern der zweiten Klasse 
zuzählen, ὅτι ἢ μὲν εὐδαιμονία βίος ἐστὶν ὃ δὲ βίος ἐκ πράξεως συμπεπλήρωται 
(8. 266 £. vgl. S. 274 f. die Unterscheidung der χαλὰ und ἀναγχαΐα, der μέρη 
εὐδαιμονίας und ὧν οὐχ ἄνευ), widerspricht aber doch zugleich, mit Aristoteles, 
der Annahme, dass der Tugendhafte auch unter den äussersten Leiden glück- 
selig sei, dem stoischen Satz von der Unverlierbarkeit und Autarkie der Tu- 
gend, und der Behauptung, dass zwischen Glückseligkeit und Unseligkeit 
nichts in der Mitte liege (S. 282 ff. vgl. S. 314), so dass er sich in dieser Be- 
ziehung weniger streng zeigt, als Antiochus (5. 0. 539, 2). Für die Tugend- 
lehre benützt er neben Aristoteles namentlich Theophrast (s. Bd. II, b, 690, 1), 
wie auch der Schüler des Antiochus bei Cıc. Fin. V,5 nur aus diesen beiden 
schöpfen will fs. o. 539, 4); in der Oekonomik und Politik hält er sich ganz 


35 * 


548 Peripatetiker. 


spricht Arius so, dass wir in dem, was er peripatetisch nennt, 
seine eigene Ueberzeugung erkennen müssen ?). Wir dürfen da- 
her auch den Arius zu der Schule des Antiochus rechnen, und 
wir finden durch sein Beispiel die Ansicht bestätigt, dass der 
Eklektieismus, den dieser Philosoph in die Akademie eingeführt 
hatte, auch nach seinem Tode, und bis über den Anfang der christ- 
lichen Zeitrechnung herab, seine Herrschaft in ihr behauptete. 
Wie wenig er sie aber in der Folgezeit verlor, wird später gezeigt 
werden. 


4. Die peripatetische Schule im letzten Jahrhundert 
v. Chr. 


Gleichzeitig mit der Wendung, welche in der akademischen 
Schule durch Antiochus eintrat, nahm auch die peripatetische einen 
neuen Aufschwung und eine theilweise veränderte Richtung. Wie 
Antiochus die Akademie zu der Lehre ihres Stifters zurückführen 
wollte, so wandten sich auch die Peripatetiker auf’s Neue den 
Werken des Aristoteles zu: die Erklärung dieser Schriften ist es, 
auf die sie Jahrhunderte lang, bis in die Zeiten des Neuplatonismus 
herab, ihre ganze Kraft richten und in der ihre hauptsächlichste 
Leistung besteht. Es zeigt sich so auch hier die Erscheinung, 
welche für jene ganze Zeit so bezeichnend ist: je unabweisbarer 
sich das Gefühl der geistigen Ermattung aufdringt, je stärker das 
Misstrauen gegen die eigene wissenschaftliche Kraft wird, dessen 
grundsätzlicher Ausdruck die Skepsis gewesen war, um so leb- 
hafter tritt das Bedürfniss hervor, zu den alten Meistern zurück- 
zukehren, und sich an sie anzulehnen. Doch hat keine andere 
Schule das Geschäft der Auslegung so eifrig und sorgsam betrie- 


an Aristoteles, nur dass er die dritte von den richtigen Verfassungen nicht 
Politie, sondern Demokratie, ihr fehlerhaftes Gegenbild Ochlokratie nennt. 
Dagegen sehen wir ihn 5, 266 vgl. 286 die εὔλογος ἐξαγωγὴ im stoischen Sinn 
vertheidigen. Stoisch ist auch was ὃ. 314 über den Unterschied der χατορθώ- 
para und χαθήχοντα, des tugendhaften Lebens, welchem jene, und des μέσος 
βίος, welchem diese zukommen, angeblich aus der peripatetischen Lehre ge- 
sagt wird (8. ο. 5. 244 f.); und ebenso kommt in dem Satze 5. 280, dass die 
προχοπὴ eine unvollendete Tugend sei, wenigstens die stoische Terminologie 
herein. 

1) Vgl. namentlich 5. 268 f., wo er auch aus der indirekten in die direkte 
Rede übergeht; ebenso 8, 322. 


Andronikus, 549 


ben, und keine eine so lange und zusammenhängende Reihe von 
Erklärern hervorgebracht, wie die peripatetische 1). 

An der Spitze derselben steht Andronikus aus Rhodus, 
welcher im zweiten Viertheil des ersten vorchristlichen Jahr- 
hunderts Schulvorstand in Athen war ?). Durch seine Ausgabe 
der aristotelischen Schriften ?), zu welcher ihm der Grammatiker 


1) Ueber dieselben: Zumer über d. Bestand ἃ. philosoph. Schulen iu 
Athen. Abhandl. d. Berliner Akademie 1842." Hist.-philol. Kl. 93 f. Branpıs 
über die griech. Ausleger d. arist. Organens, ebd. 1833, 273 f. 

2) Andronicus war nach Pruvr. Sulla 25 ein Zeitgenosse des Tyrannio (s.u. 
550, 1). Seinen Geburtsort bezeichnet der stehende Beiname ὃ Ῥόδιος; unter 
den berühmten Philosophen aus Rhodus nennt ihn schon Srraso XIV, 2, 13. 
S. 655. Dass er Vorsteher der peripatetischen Schule (doch wohl in Athen) 
war, sagt Davıp, Schol. in Arist. 24, a, 20. 25, b, 42. Aumox. De interpret. 
ebd. 94, a, 21. 97, a, 19. Er wird hier der ἑνδέχατος ἀπὸ τοῦ ᾿Αριστοτέλους ge- 
nannt; nach dem Scholion bei Waıtz (Arist. Org. I, 45 unt.) jedoch, welches 
gleichfalls Ammonius beigelegt wird, wäre erst sein Schüler Boöthus dieser 
elfte gewesen. Je nachdem man nun der einen oder der anderen Angabe den 
Vorzug giebt, und hiebei Aristoteles selbst mitzählt, oder nicht, würden zu 
den uns bekannten Schulvorstehern (Aristoteles, Theophrast, Strato, Lyko, 
Aristo, Kritolaus, Diodor, Erymneus, Andronikus), einer, zwei oder drei 
fehlen, welche ich aber selbst in dem letztern Fall nicht mit Zuurr (5. Bd. ΠΡ, 
752, 2) zwischen Aristo und Kritolaus, sondern in die offenbare Lücke zwi- 
schen Erymneus und Andronikus einschieben möchte. Das Wahrscheinlichste 
ist aber, dass nur zwei fehlen, und dass desshalb, je nachdem man zählte, 
sowohl Andronikus als Boöthus der elfte (nicht nach Aristoteles, soudern: 
von Arist. an gerechnet, ἀπὸ .’Agısr.) genannt werden konnte. 

3) Porrnvr. v. Plot. 24 sagt, er habe Plotin’s Schriften geordnet, pıur- 
σάμενος ... ᾿λνδρόνιχον τὸν περιπατητιχὸν, welcher τὰ ᾿Αριστοτέλους χαὶ Θεοφρά- 
στου RS πραγματείας διεῖλε, τὰς οἰχείας ὑποθέσεις εἰς ταὐτὸν συναγαγών. Sowohl 
diese Aussage, als die Plutarch’s (Sulla 26): παρ᾽ αὐτοῦ [Τ υραννίωνος] τὸν 
Ῥόδιον ᾿Ανδρόνιχον εὐπορήσαντα τῶν ἀντιγράφων (durch Tyrannio mit Abschriften 
versehen) εἰς μέσον θεῖναι, lässt sich nur von einer wirklichen Ausgabe der 
aristotelischen Werke verstehen, zumal wenn man hinzunimmt, dass nach 
Plutarch die Peripatetiker vor Andronikus wegen ihrer mangelhaften Bekannt- 
schaft mit diesen Werken von der Lehre ihres Stifters abgekommen sein sollen. 
Wenn derselbe den ebenangeführten Worten dann noch beifügt: za: ἀναγράψαι 
τοὺς νῦν φερομένους πίναχας, so werden wir uns unter diesen Schriftenverzeich- 
nissen eine Zugabe zu den Ausgaben zu denken haben, die sich aber wahrschein- 
lich nicht auf blosse Aufzählung der Schriften beschränkte, sondern zugleich 
Untersuchungen über die Aechtheit, den Inhalt und die Anordnung derselben 
enthielt. Jedenfalls hatte Andronikus solche Untersuchungen angestellt, wie, 
schon seine Verwerfungsurtheile über die sog. Postprädicamente (SımrL. Categ., 


550 Andronikus. 


Tyrannio !) die Hülfsmittel geliefert hatte ?), erwarb er sich um . 
die allgemeinere Verbreitung und das gründlichere Studium der- 
selben ein bedeutendes Verdienst °); zugleich zeigte er aber auch 
durch seine Untersuchungen über ihre Aechtheit und Anordnung 5) 
und durch seine Commentare °) über mehrere von ihnen der peri- 


Schol. in Arist. 81, a, 27) und über das Buch περὶ ἑρμηνείας (s. Bd. II, b, 51, 1), 
und die nähere Begründung derselben beweisen; auch der Satz (bei Davın 
Schol. in Arist. 25, b, 41), dass das Studium der Philosophie mit der Logik zu 
.beginnen habe, mag in diesem Zusammenhang vorgetragen worden sein; da- 
gegen kann Davıp, was er ebd. 24, a, 19 über die Eintheilung der aristoteli- 
schen Schriften sagt, schon wegen der Anführung der Schrift rzept κόσμου 
nicht von Andronikus haben, und die Schrift des letztern De divisione (BoErn. 
De divis. 5. 638) kann nicht die Eintheilung der aristotelischen Bücher be- 
handelt haben. 

1) Dieser Gelehrte war aus Amisus im Pontus gebürtig; bei dessen Er- 
oberung durch Lucullus (71 v. Chr.) von Muräna zu seinem Sklaven gemacht, 
dann freigelassen, lehrte er in Rom, erwarb sich hier ein bedeutendes Ver- 
mögen und eine sehr ansehnliche Bibliothek, und starb in hohem Alter (Scıp. 
u. d.W. Pıvr. Lueull. 19). Nach Srraso XII, 3, 16. 8. 548 hat ihn dieser 
noch gehört, Dass er der peripatetischen Schule angehörte, wird nirgends 
gesagt, doch weist seine Beschäftigung mit den aristotelischen Werken darauf 
‘hin, dass er, wie so viele Grammatiker, mit ihr zusammenhieng. Von ihm 
ist sein gleichnamiger Schüler, der Freigelassene der Terentia, dessen Cicero 
öfters erwähnt, zu unterscheiden; vgl. Sup. Tupav. νεώτ. 

2) Tyrannio hatte sich Gelegenheit verschafft, Apellikon’s Bibliothek, 
die Sulla nach Rom gebracht batte (s. Bd. II, b, 80 f.), zu benützen, und ausser 
ihm liessen auch noch Andere aus derselben Abschriften aristotelischer Werke 
anfertigen (Straro XIII, 2, 54. 8. 609); durch,ihn erhielt dann, wie bemerkt, 
Andronikus, von welchem wir nicht wissen, ob er gleichfalls nach Rom ge- 
kommen war, die seinigen. 

3) Diess nämlich wird man immerhin zugeben können, wenn auch die 
weitergehende Behauptung, dass die aristotelischen Hauptwerke der peri- 
patetischen Schule vor Andronikus ganz gefehlt haben, sich nicht halten lässt 
(s. Bd. II, b, 80 ff.). 

4) S. ο. 549, 3. 

5) Am Häufigsten wird von diesen seine Erklärung der Kategorieen an- 
geführt, deren Dexıre. in Categ. 8. 25, 25 Speng. (Schol. in Arist. 42, a, 30). 
Sımpr.. in Categ., Schol.40,b, 23. 61,a, 25 ff. und an vielen andern (gegen 30) 
Stellen erwähnt. 8.6,e. 7, ὃ (Schol. 41, Ὁ, 25. 42, a, 10) scheint Sıyrr. die 
Arbeit des Andron. als blosse Paraphrase zu bezeichnen ("Avöp. παραφράζων τὸ 
τῶν Κατηγοριῶν βιβλίον); indessen sieht man aus anderen Angaben, wie die 
‚sogleich anzuführenden, dass die Paraphrase nur ein Theil der Aufgabe war, 
die sich Andr, gestellt hatte, und dass er daneben auch auf die Worterklärung, 


Andronikus. >51 


patelischen Schule den Weg, auf dem sich ihre Kritik und Exegese 
von da an bewegte. Dass er sich übrigens nicht auf die blosse 
Erklärung beschränkte, sondern die Selbständigkeit, mit der er 
als Kritiker bei erheblichen Fragen von der Ueberlieferung ab- 
gieng, auch als Philosoph zu behaupten suchte, sehen wir aus 
verschiedenen, nicht ganz unwichtigen Bestimmungen, durch die 
er sich, zunächst in Betreff der Kategorieen, von Aristoteles ent- 
fernte 1). Sein ganzer Standpunkt war aber allerdings, wie wir 


die Texteskritik, die Frage über die Acchtheit einzelner Abschnitte (5. S. 549, 3), 
und die philosophische Untersuchung des Inhalts eingieng. Vgl. Braxpıs 
‚a. ἃ. Ὁ, 273 f. Dass Andr. auch die Physik erklärt hatte, folgt aus Sımrr. 
Phys. 101, a, o. 103, b, m. 216, a, o. m. nicht ganz sicher, wiewohl es durch 
die erste von diesen Stellen wahrscheinlich wird; Simpl. scheint aber diesen 
Commentar nicht selbst in Händen gehabt zu haben, da er ihn sonst wohl 
öfter anführen würde. Auf eine Auslegung der Schritt von der Seele weisen 
die Bemerkungen über Arist. De an. I, 4. 408, b, 32 ff. und die hier be- 
sprothene xenokratische Definition der Seele, welche Tu=nısr. De an. 71,b, m. 
72, a, o. aus Andron. anführt. Die Definition des πάθος bei Asras. in Eth. N. 
(8. u. 552, 4, Schl.) stammt vielleicht aus einem Commentar zur Ethik- 
Vof den zwei noch vorhandenen Schriften, welche den Namen des Andronikus 
tragen, ist die eine, die Abhandlung De animi atfectionibus, das Werk des 
Andronikus Kallistus aus dem löten Jahrhundert, die audere, ein Commentar 
zur nikomachischen Ethik, keinenfalls das unseres Andr. 

1) Nach Sımer. Categ. 15, ε (Schol. 47, b, 25) betrachtete er mit Xeno- 
krates (vgl. Bd. II, a, 667, 3 — diese Eintheilung ist aber überhaupt plato- 
nisch, wie diess ausser dem ebd. 446, 7 Angeführten namentlich auch aus der 
Angabe Hexrwono's b. Sıner. Phys. 54,b, ὁ. hervorgeht) als die Grundkatego- 
rieen das χαθ᾽ αὑτὸ und das πρός τι (dessen aristotelische Definition er bei 
Sıuer. Cat. 51, β. y, Schol. 66, a, 39. Porenyr. ’Ediy. E. τ. χατηγ. 43, a er- 
läutert); das χαθ᾽ αὑτὸ muss er dann aber noch weiter getheilt haben, denn 
nach Sıuer. 8. 67, y. 69, α Schol. 75, b, 10. 74, b, 29 fügte er zu den vier 
aristotelischen Arten der Qualität (s. Bd. II, b, 194, 1) noch eine fünfte, unter 
welche die Dichtigkeit, Schwere u. s. f. fallen sollte, die aber, wie er be- 
merkte, sich auch unter die παθητιχοὶ ποιότητες rechnen lasse, und nur mit 
Beziehung auf die durch weitere Theilung sich ergebenden Kategorieen kann 
er gesagt haben (Sımer. 40, ζ. Schol. 59, b, 41 vgl. 60, a, 38), die Relation sei 
die letzte von allen Kategorieen. Es werden ferner von ihm Bemerkungen 
über die ἕξις (Sımrı.. 55,8. Schol. 68,a,7) und über diejenigen Begriffe erwähnt, 
welche er unbestimmte Grössen nannte, und desshalb nicht blos zur Relation, 
sondern auch zur Quantität rechnen wollte (ebd. 36, ὃ. Schol. 58, a, 37). End- 
lich wollte er an die Stelle des ποῦ und ποτὲ den Raum und die Zeit setzen, 
und sowohl jene als die übrigen Orts- und Zeitbestimmungen diesen Katego- 


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4 


952 Bo&thus der Peripatetiker. 


annehmen müssen, der des Peripatetikers, wenn er auch die 
Lehre seiner Schule in einzelnen Punkten zu verbessern bestrebt 
war. 

Das Werk des Andronikus wurde von seinem Schüler Bo&- 
thus aus Sidon 1) fortgesetzt, der oft mit ihm zusammen genannt 
wird. Auch er hat sich als Ausleger der aristotelischen Schriften 
einen bedeutenden Namen gemacht ?): am Bekanntesten ist sein 
Commentar zu den Kategorieen °); weitere Spuren finden sich 
von Erklärungen der Physik und der ersten Analytik, vielleicht 
auch der Bücher von der Seele und der Ethik *%). In seiner Auf- 


rieen unterordnen (Sımpr. 34, β. 36, ß. 87, α. 88, α. β. 91. β, Schol. 57, a, 24. 
58, a, 16. 79, ἃ, 1. 30. 37. 80, b, 3). M. vgl. zu dem Vorstehenden Braxpıs 
ἃ. ἃ. Ο. 8. 273f. Prantr Gesch. d. Log. I, 537 ἢ, 

1) Seiner Herkunft aus Sidon gedenkt schon Srraeo XVI, 2, 24. 5, 757; 
Andronikus nennt als seinen Lehrer Auuon. in Categ. 5 (bei Zumrr a.a.0.94); 
dass er auch Nachfolger desselben war, scheint sich aus dem S. 449, 2 ange- 
führten Scholion desselben Schriftstellers zu ergeben. Dieser Annahme steht 
aber im Wege, dass in den Jahren 45 und 44 v.Chr. sowohl von Cicero selbst 
(Off. I, 1, 1), als von Tresonxıus (in Cicero’s ep. ad Fam. XI, 16), nur Kra- 
tippus als Lehrer der peripatetischen Philosophie in Athen genannt, Bo&@thus 
nicht erwähnt wird, während doch dieser Philosoph, den noch Srrano a.a.0. 
als seinen eigenen Lehrer bezeichnet (ᾧ συνεφιλοσοφήσαμεν ἡμεῖς τὰ "Apısro- 
τέλεια), diesen Zeitpunkt um mindestens ein Jahrzehend, vielleicht um meh- 
rere, überlebt hat. Dazu komnit, dass es Strabo wohl sagen würde, wenn er 
ihn in Athen gehört hätte. Boöthus muss also anderswo Lehrer der Philo- 
sophie gewesen sein. - 

2) Sımer. in Categ. 1, α. 41, ß. Schol. 40, a, 21. 61, a, 14 nennt ihn θαυ- 
μάσιος und ἐλλόγιμος, und 8. 209, ß. Schol. 92, a, 42 rühmt er seine ἀγχίνοια: 
vgl. 8.3, y, Schol. 29, a, 47: τὰ τοῦ Βοηθοῦ πολλῆς ἀγχινοίας γέμοντα. 

3) Nach Sımer. 1, & einer von denen, welche βαθυτέραις περὶ αὐτὸ (das 
aristotelische Buch) ἐννοίαις ἐχρήσαντο, zugleich aber (ebd. 7,y. Schol. 42,a,8) 
eine fortlaufende Erklärung χαθ᾽ ἑχάστην λέξιν. Auch dieser Commentar wird’ 
von Simplieius, auch von Dexippus, in den ihrigen ziemlich oft angeführt. 
Eine eigene Abhandlung über das πρός τι nennt Sımer. 42, α. Schol. 61, b, 9. 

4) Auf einen Commentar zur Physik weisen die Anführungen bei Turxıst, 
Phys. 21, ἃ, m. 48, a, u. b, m, welche Sımericıus (Pbys. 46, a, u. 180, a, 0. 
181, b, m) ohne Zweifel aus Themist. entlehnt hat, da er in der letzten von 
diesen drei Stellen ausdrücklich die Worte des Themist., und nur in ihnen die 
des Boöthus, anführt, und überhaupt von Bo&thus in der Physik nur das 
giebt, was er bei seinem Vorgänger vorfand. Eine Erklärung der ersten 
Analytik lassen die Anführungen des falschen Garen Elsay. διαλ. 8. 19 und 
ἌΜΜΟΝ, in Arist. Org. ed. Waitz I, 45 unt. aus der Schlusslehre vermuthen; 


x 


Bo&thus der Peripatetiker. 553 


fassung der peripatetischen Lehre zeigt er gleichfalls, 50. weit wir 
darüber urtheilen können, verhältnissmässig viele Selbständigkeit, 
und eine Hinneigung zu jenem Naturalismus, der schon bei den 
nächsten Nachfolgern des Aristoteles das platonisch-idealistische 
Element derselben zurückgedrängt hatte, und der in der Folge 
besonders bei Alexander von Aphrodisias hervortritt. Es spricht 
sich diess schon darin aus, dass er das Studium der Philosophie 
nicht mit der Logik, sondern mit der Physik beginnen wollte 1). 
Wenn er ferner läugnete, dass das Allgemeine von Natur früher 
sei, als das Einzelne ?), und wenn er als eine Substanz im stren- 
gen Sinn (πρώτη οὐσία.) nicht die Form gelten liess, sondern nur 
den Stoff, und nach einer Seite hin auch das aus Stoff und Form 
Zusammengesetzte ?), so setzt diess eine von der aristotelischen 
abweichende und dem stoischen Materialismus näher stehende An- 
sicht über den Werth und die Ursprünglichkeit des Stofllichen in 
den Dingen voraus. Die gleiche Denkweise kommt in den Aeusse- 
rungen über die Unsterblichkeit zum Vorschein, durch die er sich 
auf die Seite derer stellte, welche die aristotelische Lehre im Sinn 
ihrer einfachen Läugnung verstanden %), und damit stimmt auch 


eine Auslegung der Bücher über die Seele, wenn auch weniger sicher, was 
SımeL. De an. 69, Ὁ, o. über seine Bedenken gegen die Unsterblichkeit, eine 
solche der nikomachischen Ethik, was Arzx. De an. 154, a, u. von seinen Be- 
merkungen über die Selbstliebe und das πρῶτον οἰχεῖον, Asras. Schol. in Eth.N. 
(Classical Journal XXIX, 106 und bei Rose Aristot. pseudepigr. 109) über 
seine und Andronikus’ Definition des πάθος mittheilt. 

1) Davın, Schol. in Ar. 25, b, 41. Für das Folgende ist die Zusammen- 
stellung Praxtr’s Gesch. d. Log. I, 540 ff. dankbar benützt. 

2) Dexıpr. in Categ. 54 u. Speng., Schol. in Ar. 50, b, 15 ff. 

. 9) Sımer.. Categ. 20, ß f. Schol. 50, a,2- Am Anfang dieser Stelle weist 
Boöthus die Untersuchung über νοητὴ und σωματιχὴ οὐσία ganz ab, aber nur 
als nicht 'hieher gehörig. Mehr nur den Sprachgebrauch betrifit es, dass er 
(bei Tresıst. Phys. 21, a,m. Sımer. Phys. 46, a, u.) den Stoff nur in seinem 
Verhältniss zu der Form, die er noch nicht angenommen hat, ὕλη, im Ver- 
hältniss zu der ihm mitgetheilten Form dagegen ὑποχείμενον genannt wissen 
wollte. Auch was Sımer. 24, ζ f. Schol. 53, a, 38—45 aus Boöthus anführt, 
scheint mir nicht sehr erheblich. 

4) Sıner. De an. 69, b, ο.: ἵνα μὴ ὡς ὃ Βοηθὸς οἰηθῶμεν τὴν ψυχὴν, ὥσπερ 
τὴν ἐμψυχίαν, ἀθάνατον μὲν εἶναι ὡς αὐτὴν μὴ ὑπομένουσαν τὸν θάνατον ἐπιόντα, 
ἐξισταμένην δὲ ἐπιόντος ἐχείνου τῷ ζῶντι ἀπόλλυσθαι. Es bezieht sich diess auf 
Plato’s ontologischen Beweis für die Unsterblichkeit: Boethus giebt diesem 


954 Peripatetiker des ersten Jahrhunderts v. Chr. 


überein, ‚dass er, das Ethische betreffend, behauptete, der ur- 
sprünglichste Gegenstand seines Begehrens (das πρῶτον oixeiov) sei 
naturgemäss für Jeden er selbst, alles Uebrige nur wegen seiner ° 
Beziehung zu ihm 1). Auch sonst suchte Bo&thus die aristoteli- 
schen Bestimmungen da und dort zu berichtigen ?), während er 
sie in andern Fällen, namentlich gegen die Stoiker, in Schutz 
nahm °); doch ist das, was uns in dieser Beziehung überliefert 
ist, für die Beurtheilung seiner philosophischen Eigenthümlichkeit 
von geringer Bedeutung. ῖ 

Ein dritter Erklärer aristotelischer Schriften, welcher den 
Genannten ziemlich gleichzeitig zu sein scheint, ist Aristo 2). 


zu, dass, genau gesprochen, nicht die Seele, sondern nur der Mensch sterbe, 
aber er meint, die Fortdauer der Seele folge daraus nicht. 

1) Diese Ansicht schreibt Arex. De an. 154, a, u. Xenarchus und Boöthus 
zu, welche sich dafür auf Arısr. Eth. N. VIII, 1. 1155, b, 16 ff. IX, 8. 1168, a, 35 fi. 
(unser Text nennt, offenbar durch Verwechslung der alphabetischen Bücher- 
bezeichnungen Θ I mit den entsprechenden Zahlzeichen, das 9te und 10te Buch) 
beriefen. 

2) Dahin gehört eine Bemerkung bei Sımrr. Categ. 109, b, ß. Schol. 
92, a, 33 (zu Kateg. 14. 15, b, 1 ff.) über die Anwendbarkeit des Gegensatzes 
von ἠρεμία und χίνησις auf die qualitative Veränderung; der Nachweis, in dem 
ihm schon Theophrast vorangegangen war, dass die Schlüsse der zweiten und 
dritten Figur vollkommene seien (Aumon. zu Analyt. pr. I, 1. 24, Ὁ, 18 bei 
Warrz Arist. Org. I, 45); die aus der stoischen Logik (s. o. 101, 3) geschöpfte 
Lehre von den hypothetischen Schlüssen als den ἀναπόδειχτοι, und zwar πρῶτοι 
ἀναπόδειχτοι (Ps. Ganen Elcay. διαλ. S. 19 Min., bei Prantr 8. 554); die Be- 
merkungen über die Frage, ob die Zeit eine Zah! oder ein Maass sei, und ob 
sie auch ohne die zählende Seele existirte, Ὁ. Tuemist. Phys. 48, a, u. b, m. 
Sımer. Phys. 180, a, ο. 181, Ὁ, m. Sıner. Categ. 88, ß, Schol. 79, b, 40. 

3) So vertheidigt er bei Sımrr. 43, α. β. Schol. 62,a, 18.27 die peripateti- 
sche Lehre vom πρός τι gegen die stoische vom πρός τί πὼς ἔχον, indem er 
zugleich die aristotelische Definition, in derschon von Andronikus vorgeschlage- 
nen Weise, genauer zu fassen suchte (Sımer. 51, ß. Sehol. 66, a, 34 vgl. Sımrı. 
41,ßf. 42, «. Schol. 61, a, 9. 25 fi. b, 9). Er fand ferner die Trennung des 
ποιέίν und πάσχειν, als zwei verschiedener Kategorieen (Sımer. 77, 8. Schol. 
77, Ὁ, 18 ff.), und ebenso die Kategorie des Habens, welche er besonders ein- 
gehend untersuchte (Sınrı. 94, ε. Schol. 81, a, 4), wohlbegründet. 

4) Von Sımer. 41, y. Schol. 61, a, 25 neben Bo&thus, Eudorus, Androni- 
kus und Athenodor unter den παλαιοὶ τῶν Κατηγοριῶν ἐξηγηταὶ genannt, und 
somit wohl jedenfalls Verfasser eines Commentars zu dieser Schrift, nicht 
einer blossen Abhandlung über das πρός τι, welches allerdings seine Erwäh- 
nung bei Simplieius, sowohl hier, als S. 48, α. 51, ß. Schol. 63, b, 10. 66, a, 
37 ff. allein veranlasst. (In der letztern Stelle wird die auch von Andronikus 


Βοδέμιβ; Aristo; Staseas; Kratippus. 355 


Indessen ist uns von ihm nur wenig bekannt, und dieses Wenige 
lässt uns keinen grossen Philosophen in ihm vermutben. Auch von 
den übrigen Peripatetikern des ersten vorchristlichen Jahrhun- 
deris, eitem Staseas !), Kratippus ?), Nikolaus aus Da- 


und Boöthus gegebene Definition des πρός τί πὼς ἔχον zunächst aus ihm ange- 
führt, mit dem Zusatz: die gleiche gebe Andronikus, woraus aber doch nicht 
folgt, dass er älter war, als dieser.) Er ist wohl jener Alexandriner Aristo, 
welcher nach Arures. Dogm. Plat. III, S. 277 Hild., schon von diesem mit 
Recht dafür getadelt, den aristotelischen Schlussformen (vielleicht in einem 
Commentar zur ersten Analytik) drei modi der ersten und zwei der zweiten 
Figur, beifügte, und dem auch im Folgenden (wo Praxtı, Gesch. ἃ. Log. I, 
590, 23 das Aristo der Handschriften statt Aristoteles wiederherstellt) eine 
Berechnung der syllogistischen Figuren beigelegt wird. In diesem Fall werden 
wir auch bei dem alexandrinischen Peripatetiker Aristo, den Dıoc. VII, 164 
nennt, an ihn zu denken haben. Weiter s. m. ὃ. 545, 2 Sen. ep. 29, 6. 

1) Staseas aus Neapel, der Lehrer und Hausgenosse Piso’s (Cıc. De orat. 
I,22,104, Fin. V,3,8. 25,75 s.0.541,1, Schl.), wird von Cicero gleichfalls ein 
nobilis Peripateticus genannt, aber doch an ihm getadelt, dass er den äusseren 
Schicksalen und den leiblichen Zuständen zu viel Gewicht beigelegt habe 
(Fin. V, 25, 75). Sonst führt ihn noch Cexsorım. Di. nat. 14, 5. 10, aber mit 
‚ einer ganz unerheblichen Annahme, an. Da ihn Piso schon De orat. a. a. O., 
d.h. um 92 v. Chr. hört, muss er mindestens so alt, wie Androrikus, ge- 
wesen sein. 

2) Dieser Philosoph begegnet uns zuerst in den Jahren 50—46 in seiner 
Vaterstadt Mytilene (Cıc. De Univ. 1. Brut. 71, 250. Pıvr. Pomp. 45). Bald 
darauf muss er aber nach Athen übergesiedelt sein, wo ihm Cicero von Cäsar 
das römische Bürgerrecht erwirkte, zugleich aber den Areopag veranlasste, 
ihn zu bitten, dass er in Athen bleibe (Prour. Cie. 24). Hier hörte ihn um 
diese Zeit Cicero’s Sohn (Cıc. Off. I, 1, 1. III, 2,5. ep. ad Fam. XII, 16. XVI, 
21), und besuchte ihn Brutus (Prur. Brut. 24). Von seiner wissenschaftlichen 
Bedeutung spricht Cicero, der ihm sehr befreundet war, mit der höchsten 
Anerkennung (Brut, 71, 250. Off. I, 1, 1. II, 2, 5. Divin. I, 3, 5. De Univ. 1), 
doch ist dieses Lob schwerlich ganz unbefangen. Ueber seine Ansichten ist 
uns nichts überliefert, als was Cıc. Divin. I, 3, 5. 32, 70 ἢ, (vgl. Terrurr. De 
an. 46) mittheilt: dass er eine Weissagung im Traum und in der Entzückung 
(furor) zugab, dass er dieselbe mit der peripatetischen Lehre vom göttlichen 
Ursprung des Geistes begründete, und mit den vielen Fällen von eingetroffenen 
Weissagungen belegte. Die Anthropologie, die er dabei voraussetzt, ist die 
aristotelische: animos hominum quadam ex parte extrinsecus (= θύραθεν, aus 
dem göttlichen Geiste) esse tractos et haustos ... eam partem, quae sensum, 
quae motum, quae adpetitum habeat, non esse ab actione corporis sejugatam; 
mehr platonisch lautet aber der Zusatz: quae autem pars animi rationis atque 
intellegentiae sit particeps, eam tum mazime vigere, cum plurimum 'absit ὦ 
corpore. 


δ86 Peripatetiker des ersten Jahrhunderts n. Chr. 


maskus !) und Andern ?) ist uns zu wenig Philosophisches von 
einiger Bedeutung überliefert, als dass wir bei ihnen zu verwei- 


1) Nikolaus (über den Mürrter Hist. gr. III, 343 ff.), um 64 v. Chr. in 
Damaskus geboren (daher ὃ Δαμασχηνὸς Arne. IV, 153, f u.ö. Sreraso XV, 
1, 72. S. 719), und von seinem Vater Antipater, einem wohlhabenden und 
angesehenen Mann, sorgfältig erzogen, lebte viele Jahre am Hof des jüdischen 
Königs Herodes als einer seiner Vertrauten, und kam in seiner Begleitung, 
und einige Jahre später (8 v. Chr.) zum zweitenmal, in seinen Geschäften, 
nach Rom, wo er sich die Gunst des Augustus erwarb. Ebendahin begleitete 
er nach dem Tode Herodes d. Gr. dessen Sohn Archelaus, und von dieser 
“Reise scheint er nicht mehr zurückgekehrt zu sein, sondern die letzte Zeit 
seines Lebens in Rom zugebracht zu haben. M.s. die Nachweisungen, aus 
Sum. ᾿λντίπατρος und Νιχόλ., Nıxor. Fragm. 3—6 (den Excerpta de virtutibus 
entnommen), JoserH. Antiquit. XII, 3, 2. XVI, 2,3. 9,4. 10,8. XVII, 5, 4. 
9,6. 11, 3°(der ebenso, wie Suidas, den eigenen Angaben des Nikolaus folgt) 
bei Mörrer. Die Annahme, er sei ein Jude gewesen, die noch Rexax Vie de 
Jesus 5, 33 theilt, wird schon durch das widerlegt, was bei Suıp. ’Avriz. über 
ein Opfer für Zeus und über die Götter zu lesen ist. Ein Anhänger der peri- 
patetischen Lehre (Περιπατητιχὸς nennt ihn Arnen. VI, 252, f. 266,e. X, 41, 6. 
XII, 543, a. IV, 153, f), der er sich schon frühe angeschlossen hatte (Sup, 
Νιχολ.), widmete ihr Nikol. auch einen Theil seiner schriftstellerischen Thätig- 
keit: seine Schrift πεοὶ ᾿Αριστοτέλους φιλοσοφίας (der vielleicht auch entnommen 
ist, was in der Unterschrift zu Theophrast’s metaphysischem Bruchstück, 
S. 323 Brand., aus seiner θεωρία τῶν ᾿Αριστοτέλους μετὰ τὰ φυσιχὰ angeführt 
wird) nennt Sımpr. De coelo, Schol. in Ar. 493, a, 23; eine zweite, περὶ τοῦ 
Παντὸς, welche περὶ πάντων τῶν ἐν τῷ χόσμῳ χατ᾽ [nicht: χαὶ] εἴδη handelte, 
Ders. ebd. 469, a, 6; eine dritte, περὶ θεῶν, aus der er Angaben über Xeno- 
phanes und Diogenes von Apollonia mittheilt, Sıner. Phys. 6, a, o. b, o. 82,8, 
u. Ὁ, m; ein ethisches Werk περὶ τῶν ἐν τοῖς πραχτιχσῖς χαλῶν (= περὶ τῶν χαθη- 
χόντων), eine πολύστιχος πραγματεία, Sımpr. in Epict. Enchir. 194, c; hier hatte 
er vielleicht auch über Epikur gesagt, was Dıoc. X, 4 erwähnt. Indessen 
wird in keiner dieser Stellen ein philosophischer Satz von ihm angeführt, wie 
denn Nikolaus ohne Zweifel weit mehr Gelehrter, als Philosoph war. Dass 
ihn Sei. Περιπατητιχὸς ἢ Πλατωνιχὸς nennt, könnte auf eine Verbindung des 
Peripatetischen mit Platonischem hinweisen, wenn darauf überhaupt etwas zu 
geben wäre. Als Geschichtschreiber wird er von Josern. Antiquitt. XVI, 7,1 
wegen seiner Partheilichkeit für Herodes getadelt, und ebenso war ohne 
Zweifel sein Leben August's eine reine Lobschrift. Im Uebrigen s. m. über 
seine geschichtlichen Werke Mürter. Meyer’s Vermuthung, dass er die 
Schrift περὶ φυτῶν verfasst habe, wurde schon Bd. II, b, 69, 3 berührt. 

2) Dahin gehört der Besitzer der theophrastischen Bibliothek, Apelliko 
von Teos (s. Bd. II, b, 80 δ); aber wenn sich dieser Mann auch zeitenweise 
mit peripatetischer Philosophie abgab (Aruxx. V, 214, d), und eine Schrift 
über Hermias und Aristoteles verfasste (Asıstoxı., b. Eus. pr. ev. XV, 2,9), so 


Nikolaus; Xenarchus. 997 


len Anlass hätten. Doch mag des Xenarchus !) und seiner 
Schrift gegen die aristotelischen Annahmen über den Aether ?) 
hier erwähnt werden, sofern dieser Widerspruch gegen eine so 
tiefeingreifende Bestimmung der aristotelischen Physik einen wei- 
teren Beleg dafür liefert, dass sich doch auch die peripatetische 
Schule durch die Lehre ihres Stifters nicht so unbedingt binden 


nennt ihn doch Srraso XIII, 2, 54 5, 609 gewiss mit Recht φιλόβιβλος μᾶλλον 
7) φιλόσοφος. Ebensowenig wird der Bd. II, b, 759, 2 besprochene Athenio 
oder Aristio, selbst wenn er wirklich peripatetische Philosophie gelehrt hat, 
unter den Philosophen eine Stelle verdienen. Etwas jünger ist Alexander, 
der Lehrer und Freund des M. Crassus, des Triumvirn (Prur. Crass. 3); Athe- 
näus aus dem cilieischen Seleucia, zur Zeit Cäsar’s (Srraso XIV, 5, 4. 
S. 670); Demetrius, der Freund Cato’s, welcher in seinen letzten Tagen 
um ihn war (Prur. Cato min. 65. 67 8); Diodotus, der Bruder des Boethus 
von Sidon (Srraso XVI, 2, 24. S. 757). Ob der Athenodorus, dessen περί- 
πατοι Diogenes anführt, ein Peripatetiker, oder der 5. 520, u. besprochene 
Stoiker, der Sohn Sandon’s, war, und wann er im ersteren Fall gelebt hat, 
lässt sich, wie dort bemerkt ist, nicht ausmachen. — In Rom müsste es nach 
Cicero schon um den Anfang des ersten Jahrhunderts Kenner der aristoteli- 
schen Schriften und der aristotelischen Philosophie gegeben haben, wenn 
M. Antonius und Q. Lutatius Catulus wirklich so gesprochen hätten, 
wie er sie De orat. II, 36, 152 ff. sprechen lässt; indessen haben wir keine 
Bürgschaft dafür, dass diese Darstellung geschichtlich treu ist; vielmehr 
deutet, Antonius betreffend, Cicero selbst hier und c. 14, 59 verständlich ge- 
nug an, dass von seiner Kenntniss der griechischen Literatur nichts bekannt 
war; und wenn es sich mit Catulus immerhin anders verhalten haben mag, 
sind wir doch schwerlich berechtigt, ihm eine genauere Kenntniss der griechi- 
schen, und insbesondere der peripatetischen Philosophie zuzuschreiben. Der 
einzige römische Anhänger der letztern, von dem uns aus dem ersten Jahr- 
hundert v.Chr. berichtet wird, ist jener Piso, über den schon 8.541, 1, Schl. 
gesprochen wurde; auch er hatte aber, wie dort gezeigt ist, zugleich den An- 
tiochus gehört, dessen eklektische Grundsätze ihm Cicero in den Mund legt. 

1) Xenarchus aus Seleucia in Cilieien brachte den grösseren Theil seines 
Lebens als Lehrer in Alexandria, Athen und Rom zu; die erste von diesen 
Städten war es wohl, in der ihn Strabo gehört hat. Mit Arius befreundet und 
von Augustus wohlgelitten starb er in bohem Alter in Rom. (Srrauo XIV, 
5, 4. 8. 670.) 

2) Μ. 5. über diese Schrift und die darin entwickelten Einwürfe gegen 
die aristotelische Lehre Damasc. De coelo, Schol. in Arist. 456, a, 6. 460, b, 15. 
Sımer. De Coelo, Schol. 470, b, 20 — 472, a, 22. 472, b, 38 ff. 473, a, 9. 43. 
b, 24. Simpl. nennt dieselbe: al πρὸς τὴν πέμπτην οὐσίαν ἀπορίαι, τὰ πρὸς τὴν 
π. οὖσ. ἠπορημένα oder γεγραμμένα. Sonst wird noch seine Ansicht über das πρῶ- 


τον οἰχέϊον (5. ο. 554, 1) angeführt. 


558 Die Schrift Περὶ Κόσμου. 


liess, um sich nicht mancherlei Abweichungen von derselben zu 
erlauben. 

Ein weit stärkerer Beweis für diese Thatsache liegt aber in 
einer Schrift, welche vielleicht noch aus dem ersten vorchristlichen 
Jahrhundert stammt, in dem unter Aristoteles Namen überliefer- 
ten Buch von der Welt. An die Aechtheit dieser Schrift, 
die auch in neuerer Zeit noch einzelne Vertheidiger gefunden 
hat ?), ist nicht zu denken. Ebensowenig kann man sie aber 
einer anderen Schule, als der peripatetischen, zuweisen, und 
“statt einer dem Aristoteles unterschobenen Schrift das Werk eines 
jüngeren Philosophen, welches sich selbst nicht für aristotelisch 
ausgab, oder die Bearbeitung eines solchen Werkes darin sehen. 
Wenn vielmehr in neuerer Zeit ihr Verfasser bald in Chrysip- 
pus ?), bald in Posidonius 4). bald in Apulejus 5) gesucht wurde, 
so stehen jeder von diesen Vermuthungen die gewichtigsten Be- 
denken entgegen. Von Chrysippus ist es höchst unwahrschein- 
lich, dass er eine Schrift unter fremdem Namen, ganz undenkbar, 
dass er sie unter dem des Aristoteles in die Welt geschickt hätte; 
dass aber diess bei der unsrigen der Fall war, ist unbestreitbar ©), 


% 


1) Weisse Aristoteles von der Seele und von der Welt. 1839, 8. 373 ff. 
Staur Aristoteles bei den Römern. 1834. 8.163 ff. Osann Beiträge 2. griech, 
u. röm. Literaturgesch. 1835. I, 143 fi. Pefiersen in der Anzeige dieser 
Schrift, Jahrb. f. wissensch. Krit. 1836, 1, 550 ff. Iprrer Aristot. Meteorol. 
II, 286 ἢ. F. Giesever üb. ἃ. Verf. ἃ. Buchs v.d. W. Zeitschr. f. Alterthumsw, 
1838, Nr. 146 ff. Spencer De Arist. libro X hist. anim. Heidelb. 1842. 5. 9 ff. 
Hırpesrann Apulej. Opera I, 44 ff. Rose De Arist. libr. ordine et auet. 8. 36. 
90 ff. Adam De auctore libri pseudo-aristoteliei I. K. Berl. 1861. Bartu£fLesmy 
Saınt-Hıraıre Meteorologie d’Aristote, Par. 1863, 5. LXXXVII ff. 

2) Zuletzt noch, und in sehr zuversichtlichem Ton, ist sie von WEISSE 
a. a. O. behauptet worden. Ich werde es mir jedoch hier um so eher ersparen 
dürfen, diesem verfehlten Rettungsversuch seine Blössen im Einzelnen nach- 
zuweisen, da diess schon von Osans, Sraur, Apam 8. 14 ff. u. A. ausreichend 
geschehen ist, und da die sachlich entscheidenden Punkte ohnedem im Folgen- 
den zur Sprache kommen werden. 

3) Osann ἃ. ἃ. Ο., der diese Vermuthung ausführlich zu begründen sucht. 

4) IpeteEr a. a. OÖ. nach ALDoprAnNDINUS, HuErıus, Herssıus. 

5) Staur ἃ. a. OÖ. und in anderer Weise Apauı. Dem Ersteren folgt, ohne 
ihn zu nennen, BartasftLemY Saıyt - HıLnaıee. 

6) Osans zwar erklärt sich $. 191 sehr entschieden gegen die Annahme, 
dass sie dem Aristoteles absichtlich unterschoben sei. In ihrer Darstellungs- 


Ihr Ursprung. 559 


und wenn Osann ihre Widmung an Alexander 177 von dem übrigen 
Werke trennen will, so ist diess ein Gewaltstreich, zu dem wir 
auch nicht das entfernteste Recht haben ?). Wenn sich ferner die 
Darstellung des Chrysippus, nach dem einstimmigen Zeugniss der 
Alten und nach den uns noch vorliegenden Proben, ebenso durch 
ihre lehrhafte Weitschweifigkeit, wie durch ihre dialektische Pe- 
danterie und ihre Verachtung alles Redeschmucks auszeichnete ?), 
so zeigt unsere Schrift so durchaus die entgegengesetzten Eigen- 
schaften, dass es schon desshalb ganz unmöglich ist, sie die- 
sem Stoiker beizulegen. Nicht minder entschieden ist aber diese 
Annahme auch durch ihren Inhalt ausgeschlossen. Dass sie man- 
che stoische Lehrbestimmungen aufgenommen hat, und dass sie 
diese zum Theil in den Formeln ausdrückt, welche sich seit Chry- 
sippus in der stoischen Schule fortgepflanzt hatten, ist freilich 
unläugbar ; nichtsdestoweniger widerspricht sie aber, wie sogleich 


weise und ihrem Inhalt trete das Unaristotelische so grell hervor, dass nur ein 
mit Aristoteles gänzlich unbekannter Mann oder ein Thor den Wahn hätte 
hegen können, es werde die Schrift für eine aristotelische angesehen werden. 
Allein dieser Grund — der einzige, den er beibringt — würde viel zu viel 
beweisen. Wie viele unterschobene Werke giebt es nicht, denen wir die 
Unterschiebung auf den ersten Blick ansehen! Daraus folgt aber nicht, dass 
sie keine Unterschiebungen, sondern nur, dass sie ungeschickte Unterschie- 
bungen sind. Im vorliegenden Fall war ja aber die Unterschiebung nicht 
einmal plump genug, um nicht Unzählige, und selbst in unserer Zeit noch 
Philosophen und Kritiker, wie Weisse, zu täuschen. Und konnte denn eine 
handgreiflich unaristotelische Schrift leichter für aristotelisch gehalten werden, 
wenn sie anonym war, als wenn sie selbst sich für ein Werk des Aristoteles 
ausgab? 

1) Natürlich Alexander den Grossen; denn dass dieser Alexander auch 
irgend ein anderer uns nicht näher bekannter Mann dieses Namens sein könnte, 
wird kein Leser des Buchs Osanx (8. 246) so leicht glauben. 

2) Osans 8. 246 f. hat auch weiter keinen Beweis dafür, als dass jene 
Widmung mit seiner Vermuthung über den Verfasser des Buchs unvereinbar 
ist. Abgesehen davon findet sich, weder in den äusseren Zeugnissen noch in 
der inneren Beschaffenheit der Stelle eine Spur davon, dass sie ursprünglich 
gefehlt hätte. Auch c. 6. 398, b, 10 wird aber so gesprochen, als sollte das 
Perserreich als noch bestehend gedacht werden, und. wenn der Vf. bei ver- 
hältnissmässig vielen Beziehungen auf Aeltere jede bestimmte Anspielung auf 
Nacharistotelisches sorgfältig vermieden hat, sieht man auch daraus, dass er 
seine Arbeit für aristotelisch ansgeben will, 

3) Vgl. 8. 38 ἢ 


560 Die Schrift Περι Κόσμου. 


nachgewiesen werden soll, den wichtigsten Unterscheidungsleh- 
ren der stoischen Schule gegen die peripatetische so entschieden, 
dass sie jedem Anderen eher beigelegt werden könnte, als Chry- 
sippus. Wollen wir endlich der bestimmteren Nachweisung über 
die Abfassungszeit unseres Buches hier noch nicht vorgreifen, so 
genügt zur Widerlegung von Osann’s Hypothese auch schon die 
Bemerkung, dass Chrysipp’s Schrift von der Welt aus mindestens 
zwei Büchern bestand, und dass solches aus ihr angeführt wird, 
. was sich in der unsrigen gar nicht findet !). — Die gleichen Gründe 
gelten aber grossentheils auch gegen diejenigen, welche in Posi- 
donius den Verfasser der pseudoaristotelischen Abhandlung ver- 
muthen. Die blühende Sprache derselben liesse sich ihm aller- 
dings immerhin weit eher zutrauen, als Chrysippus, und im Ein- 
zelnen findet sich manches darin, was statt der Zeit des Chrysip- 
pus annähernd in die des Posidonius verweist; ja wir werden noch 
finden, dass ihr Verfasser diesen Philosophen in einem bedeuten- 
den Theil seiner Arbeit aller Wahrscheinlichkeit nach unmittelbar 
benützt hat. Aber dass er Aristoteles eine Schrift unterschoben 
haben sollte, ist von Posidonius gerade so unwahrscheinlich, als 
von Chrysippus; und wenn wir allerdings an einzelnen Punkten 
bei jenem eine Hinneigung zur akademischen und peripatetischen 
Philosophie bemerken konnten, so geht diese doch lange nicht so 
weit, dass er mit unserem Verfasser den Grundlehren seiner 
Schule untreu geworden wäre, die substantielle Gegenwart Gottes in 
der Welt, die Weltzerstörung und Weltverbrennung aufgegeben, 
den Aether von dem Feuer und allen elementarischen Körpern 
überhaupt unterschieden hätte 5). — Bei Apulejus freilich würde 
dieser Anstoss wegfallen: in seiner Schrift von der Welt hat er 
sich ja den Inhalt der aristotelischen jedenfalls vollständig ange- 
eignet. Aber was berechtigt uns, ihn nicht blos für den Ueber- 
setzer und Bearbeiter, sondern auch für den Verfasser der letzte- 
ren zu halten? Wenn sie sich vor Apulejus allerdings, in den 


1) ὅτοβ. Ekl. I, 180. Arex. Arne. Anal. pr. 58, b, u. (s.o. 141, 1. 145, 1). 
Gegen Osanv vgl. m. Perersex S. 554 fi., GIEsELER, SPENGEL, ADam 
a. d. a. O. 

2) In diesem Sinn erklären sich gegen die Posidonius-Hypothese: Bakr 
Posidon. rel. 237 f. Sprenger 8. 17. Apanı SS. 32. 


Ihr Ursprung. 561 


uns erhaltenen Ueberresten der alten Literatur, nicht erwähnt 
findet ), so folgt daraus nicht, dass sie nicht vorhanden war; 
und wenn Apulejus im Eingang seiner lateinischen Recension so 
spricht, als wäre dieselbe nicht eine blosse Uebersetzung, sondern 
eine selbständige Arbeit, auf aristotelischer und theophrastischer 
Grundlage 5). so fehlt doch jeder Beweis dafür, dass er es mit 
dem schriftstellerischen Eigenthumsrecht strenge genug nahm, und 
von leerer Ruhmredigkeit frei genug war, um nicht auf die unter- 
geordneten Veränderungen und Zuthaten, durch welche sich sein 
Werk von dem aristotelischen unterscheidet ®), schon den An- 
spruch eigener Urheberschaft zu gründen 3). Eine genauere Un- 
tersuchung lässt darüber keinen Zweifel, dass seine lateinische 
Schrift von der Welt nicht, wie Sraur und BARTHELEMY SAINT- 
HıraırE wollen, das Vorbild, sondern eine blosse Ueberarbeitung 
der griechischen ist, die sich in unserer aristotelischen Sammlung 
befindet; denn durchweg hat diese die kürzere, schärfere, ur- 
sprünglichere Ausdrucksweise, jene.den Charakter einer umschrei- 


1) Die Anführung bei Justin eohort. ad Gr. c,5 nämlich kann nicht für 
früher gelten, als Apulejus, da der Aechtheit dieser Schrift, wie neuerdings 
wieder ἀρὰν 8. 3 ff. gegen ΒΈΜΙΒΟΗ gezeigt hat, entscheidende Gründe ent- 
gegenstehen. 

2) Am Schluss der Widmung an Faustinus, welche im Uebrigen von der 
des falschen Aristoteles an Alexander sich nur durch unbedeutende Aenderun- 
gen und Auslassungen unterscheidet: quare [nos Aristotelem prudentissimum 
et doctissimum philosophorum] et Theophrastum auctorem secuti, quantum Pos- 
sumus cogitatione contingere, dieemus de omni hac coelesti ratione u. 8. w. Die 
eingeklammerten Worte fehlen in den besten Handschriften, sind aber doch 
wohl ächt. 

3) Ueber dieselben Hır.pesraxn Apul. Opp, I, XLVII ἢ, 

4) Das Alterthum hatte hierüber bekanntlich weit weniger strenge Be- 
griffe, als wir, und noch ganz andere Leute, als Apulejus, verfahren in dieser 
Beziehung mit einer Unbefangenheit, die uns überraschen muss. Eudemus 
z. B. scheint nirgends gesagt zu haben, dass seine Physik nur eine neue Aus- 
gabe der aristotelischen sei, und ebensowenig sagt er es in seiner Ethik, er 
redet hier vielmehr, auch wo er sich noch so genau an Aristoteles hält, ganz 
als selbständiger Schriftsteller in eigenem Namen; ebenso der Verfasser der 
grossen Moral. Auch Cicero hat grosse Abschnitte seiner Schriften geradezu 
aus dem Griechischen übersetzt oder höchstens ausgezogen, ohne seine Quellen 
auch nur zu nennen. Und hätte denn Apulejus mit dem Aristoteles et Theo- 
phrastus auctor die Quellen einer Schrift, die stoischen Schriftstellern und 
stoischer Lehre so viel entnommen hat, wirklich genanut ? 

Philos. ἃ. Gr. II. Bd. 1. Abth. 36 


362 Die Schrift Περὶ Κόσμου. 


benden Uebersetzung;, die blühende Sprache der ersteren geht in 
der zweiten nur zu oft in einen Schwulst über, der mitunter ohne 
Vergleichung des griechischen Textes fast unverständlich ist; und 
während in der lateinischen sich nichts findet, was sich nicht als 
Bearbeitung oder Uebersetzung der griechischen begreifen liesse, 
hat diese umgekehrt Stellen, die unmöglich aus der lateinischen 
geflossen sein können, vielmehr ihrerseits dem Lateiner offenbar 
vorlagen 1). Diess aber zuzugeben, und nun Apulejus auch zum 
Verfasser unseres griechischen Buches zu machen, welches er 
-selbst dann in der Folge in’s Lateinische übertragen habe 2), geht 
gleichfalls nicht. Denn für’s Erste giebt man damit den einzigen 
Grund, der die Hypothese seiner Urheberschaft wenigstens schein- 
bar stützen könnte, die Glaubwürdigkeit seiner eigenen Aussagen, 
selbst auf: man hält es für unmöglich, dass er seine Schrift als 
selbständige Arbeit dargestellt haben sollte, wenn sie blosse Ueber- 
arbeitung einer fremden war, aber man traut ihm unbedenklich 
zu, dass er das eigene Werk in dessen griechischem Original 
Aristoteles unterschoben habe; um ihn von dem Vorwurf der 
Prahlerei rein zu waschen, schreibt man ihm eine Fälschung 
zu). Zweitens aber würde diese Annahme zu der Unwahrschein- 
lichkeit führen, dass Apulejus, der lateinische Rhetor, in der 
griechischen Sprache sich ungleich besser einfacher und schärfer 
ausgedrückt hätte, als in seiner Muttersprache, dass er das, was 
in der griechischen Schrift vollkommen klar ist, trotzdem, dass er 
selbst sie verfasst hatte, in ihrer lateinischen Ueberarbeitung nicht 
selten bis zur Unverständlichkeit verdunkelt hätte. Um endlich 
Anderes zu übergehen, so können wir Apulejus, nach den Proben 
seiner philosophischen Befähigung, die in seinen übrigen Werken 
vorliegen, eine immerhin so bedeutende Leistung, wie die Schrift 


1) Drei der schlagendsten sind x. Κόσμου 392, a, 5. 400, a, 6. b, 23 mit 
den entsprechenden Stellen bei Apul. De mundo e. 1. 33. 35, 8. 341 f. 419 f. 
425 Hild. verglichen. Im Uebrigen kann ich für das Obige auf Avam S. 38 fl. 
verweisen. 

2) Αρὰν ἃ. ἃ. O.S. 41 fi. 

3) Und bei dieser Fälschung müsste er überdiess noch möglichst zweck- 
widrig verfahren sein; denn wenn er die griechische Ausgabe seines Buchs 
für das Werk des Aristoteles, die lateinische für sein eigenes Werk erklärte, 
so wird jede von diesen zwei Aussagen durch die andere aufgehoben. 


Ihr Charakter. 563 


von der Welt, kaum zutrauen, und wir müssten andererseits in 
dieser Schrift, wenn sie von ihm herrührte, viel bestimmtere Spu- 
ren jener platonisirenden Metaphysik und Theologie, und nament- 
lich auch j jener Dämonologie zu finden erwarten, die uns bei Apu- 
lejus in der Folge noch begegnen werden. Auch dieser Versuch, 
einen bestimmten Verfasser für unser Buch aufzuzeigen, wird 
daher für verfehlt zu halten sein, und die Frage wird für uns 
überhaupt nicht die sein können, von wem es verfasst ist, sondern 
nur die, welcher Zeit und welcher Schule sein Verfasser ange- 
hört hat. 

Dass nun dieser Verfasser sich selbst zu den Peripatetikern 
rechnete, wird schon durch den Namen des Aristoteles, den es 
an der Stirne trägt, wahrscheinlich; denn durch diesen Namen 
wendet es sich zunächst an die peripatetische Schule mit dem An- 
spruch, für eine ächte Urkunde ihrer Lehre zu gelten. Das Gleiche 
hestätigt aber auch sein Inhalt. So weit auch die Weltanschauung, 
die es vorträgt, von der ächt aristotelischen abliegt, und mit so 
vielen fremdartigen Bestandtheilen sie versetzt ist, so sind doch 
ihre Grundzüge der aristotelischen Lehre entnommen, und sie 
steht dieser mindestens ebenso nahe, als z. B. die Philosophie des 
Antiochus der platonischen. Die metaphysischen Grundlagen des 
aristotelischen Systems lässt der Verfasser allerdings, im Geist 
jener Zeit, unberücksichtigt, aber in seiner Vorstellung über das 
Weltganze und sein Verhältniss zur Gottheit schliesst er sich zu- 
nächst an Aristoteles an. Aristotelisch ist es, wenn er den Ab- 
stand unserer Welt von der höheren, ihre Wandelbarkeit und 
Unvollkommenheit, im Gegensatz zu der Reinheit und Unveränder- 
lichkeit der himmlischen Sphären hervorhebt!), wenn er die Voll- 
kommenheit des Seins mit der Entfernung vom äussersten Himmel 
stufenweise abnehmen lässt 2), wenn er den Unterschied des 
Aethers, aus welchem die himmlischen Körper bestehen, von den 
vier Elementen, in unverkennbarem Widerspruch gegen die stoi- 
‚ sche Lehre, nachdrücklich behauptet 5). Während ferner das 


1) €. 6, 397. b, 30 ff. 400, a,5f. 21 fl. 

2) C. 6. 397, b, 27 ff. 

3) C. 2, 392, a, 5. 29 ff. ο. 3. 392, b, 35; vgl. Bd. II, b, 329 ff. Wie 
eng sich unsere Schrift hiebei an die aristotelischen Darstellungen anschliesst, 


36 * 


564 Die Schrift Περὶ Κόσμου. 


göttliche Wesen, der stoischen Lehre zufolge, die ganze Welt, 
bis auf das Hässlichste und Geringste hinaus, durchdringen sollte, 
so findet unser Verfasser diese Vorstellung der göttlichen Majestät 
durchaus unwürdig; er seinerseits erklärt sich statt dessen auf's 
bestimmteste für die aristotelische Annahme, dass Gott, von aller 
Berührung mit dem Irdischen entfernt, an den äussersten Grenzen 
der Welt seinen Sitz habe, und von hier aus, ohne sich selbst zu 
bewegen, durch eine einfache Wirkung die Bewegung des Welt- 
ganzen, so mannigfaltig sie sich auch in der Welt gestalten mag, 
hervorbringe 1). Noch weniger kann er natürlich die Gleichstel- 
lung Gottes und der Welt zugeben: eine stoische Definition, 
welche dieselbe ausspricht, eignet er sich nur in der Art an, dass 
er ihre pantheistischen Bestimmungen zuvor ausmerzt ?). Auch 


ist schon ἃ. ἃ. Ὁ. ὃ, 332,5 bemerkt. Dass sie dann auch wieder (392, b, 35. 
a, 8) von fünf στοιχεῖα, Aether, Feuer u: 5. f. redet, ist unerheblich: auch 
Aristoteles hatte den Aether πρῶτον στοιχεῖον genannt (vgl. Bd. II, b, 332,6), und 
wenn er ihn als ἕτερον σῶμα χαὶ θειότερον τῶν χαλουμένων στοιχείων bezeichnet 
(gen. an. II, 3. 736, b, 29), so meint sie 392, a, 8 dasselbe mit στοιχεῖον ἕτερον 
τῶν τεττάρων, ἀχήρατόν τε χαὶ θεῖον. Auch Osann 8. 168. 203 f. giebt übrigens 
zu, dass die Ansicht der Schrift II. K. über den Aether aristotelisch ist, um 
so mehr ist aber zu verwundern, dass er glauben konnte, dieselbe Ansicht 
könne auch Chrysippus vorgetragen haben, da doch unsere Schrift ausdrück- 
lich gegen die stoische Gleichstellung des Aethers mit dem Feuer (5. ο. 171, 
1.2) auftritt, und da wir auch aus το. Acad. I, 11, 39 sehen, dass dieses 
einer der bekanntesten Streitpunkte zwischen den Stoikern und Peripatetikern 
war. Die Frage ist auch wirklich nicht unwichtig, denn an der Unterschei- 
dung des Aethers von den vier Elementen hängt für Aristoteles der Gegensatz 
des Diesseits und Jenseits. 

1) Es gehört hieher das ganze sechste Kapitel. Auch hier ist die Polemik 
gegen den Stoicismus unverkennbar (m. vgl.8.397, b, 16 ff. 398,a,1 ff. b,4— 22. 
400, b,6 ff.), und die Annahme (Osanx 207), dass die Abweichung von demselben 
nur eine Anbequemung an die Volksreligion sei, durchaus unzulässig; von 
der Volksreligion handelt es sich hier gar nicht, sondern von der aristoteli- 
schen Theologie, wollte sich aber Chrysippus an die Volksreligion anlehnen, 
so wissen wir bereits, dass er diess ohne Widersprüche gegen die Grundbe- 
stimmungen seines Systems zu thun wusste. Als ein besonderes Anzeichen 
des peripatetischen Ursprungs unserer Schrift ist aus dieser Auseinander- 
setzung anzuführen, dass die Stelle 398, b, 16 ff. auf De motu anim. 7. 701, b, 
1 ff. Rücksicht zu nehmen scheint. 

2) Die Schrift II. K. beginnt, nach der Einleitung ce. 1, mit Definitionen 
des κόσμος; in denen sie sich nicht blos überhaupt an die Stoiker, sondern 


Ihr Charakter. 565 


darin zeigt sich endlich der Verfasser als Peripatetiker, dass er 
die Ewigkeit und Unvergänglichkeit der Welt, gleichfalls eine 
Unterscheidungslehre dieser Schule gegen den Stoicismus, aus- 
drücklich vertheidigt 1). So wenig aber die Schrift hiernach von 
einem Stoiker, oder gar von einem Haupte der stoischen Schule, 
wie Posidonius oder Chrysippus, verfasst sein kann, so bedeutend 
tritt doch in ihr das Bestreben hervor, die stoische Lehre mit der 
aristotelischen zu verbinden, und eben die Bestimmungen, denen 
eine unbedingte Anerkennung verweigert worden ist, theilweise 
in sie aufzunehmen. Mit den stoischen Schriften, die der Verfas- 
ser benützte, ja ausschrieb ?), hat er sich auch stoische Lehren 
in umfassender Weise angeeignet; und es gilt diess nicht blos von 
den kosmologischen, astronomischen und meteorologischen Ein- 
zelnheiten, die Osann geltend macht °), sondern auch von solchen 
Bestimmungen, welche in das ganze System tief eingreifen. Gleich 
am Anfang der kosmologischen Darstellung *) treflen wir eine 
chrysippische Definition des χόσμος. An einem späteren Orte wird 
im Geist und nach dem Vorgang des stoischen Systems ausgeführt, 
wie es eben der Gegensatz unter den Elementen und Theilen der 
Welt sei, auf dem die Einheit und Erhaltung des Ganzen beruhe °), 
diese Einheit selbst wird mit dem stoischen Begriff der Sympathie 
bezeichnet °), und damit uns seine Uebereinstimmung mit den 
Stoikern nicht entgehe, hat der Verfasser nicht unterlassen, die 
grosse Auktorilät dieser Schule, den Heraklit, ausdrücklich als 


noch bestimmter an diejenige Darstellung stoischer Lehren anschliesst, von 
welcher uns Sror. ΕΚ]. 1, 444 Bruchstücke erhalten hat. Nur um so bemer- 
kenswerther sind aber die Aenderungen, welche sie dabei nöthig findet. Κόσμον 
δ᾽, heisst es bei Stob., εἶναί φησιν ὃ Χρύσιπποξ σύστημα ἐξ οὐρανοῦ χαὶ γῆς χαὶ τῶν 
ἐν τούτοις φύσεων, A τὸ ἐχ θεῶν χαὶ ἀνθρώπων σύστημα χαὶ ἐχ τῶν ἕνεχα τούτων 
γεγονότων. λέγεται δ᾽ ἑτέρως χόσμος ὃ θεὸς, χαθ᾽ ὃν ἣ διαχόσμησις γίνεται χαὶ τε- 
λειοῦται. Unsere Schrift nimmt die erste von diesen Definitionen wörtlich auf, 
die zweite übergeht sie, statt der dritten aber sagt sie: λέγεται δὲ χαὶ ἑτέρως 
κόσμος ἣ τῶν ὅλων τάξις τε χαὶ διαχόσμησις, ὑπὸ θεῶν τε χαὶ διὰ θεῶν φυλαττομένη. 

1) C. 4, Schl. ce. 5, Anf. Ebd. 8397, a, 14 £. b, 5. 

2) Der Nachweis hiefür wird tiefer unten gegeben werden. 

3) 8. 208 M. 

4) C. 2, Anf. 5. 0. 564, 2. 

5) C. 5. 


6) C. 4, Schl.: al τῶν παθῶν ὁμοιότητες. 


966 Die Schrift Περὶ Κόσμου. 


Zeugen für sich anzuführen ). In seiner Ansicht über die Ele- 
mente schliesst er sich an die Stoiker an, wenn er als die Grund- 
eigenschaft der Luft, von Aristoteles abweichend, die Kälte be- 
zeichnet ?). Den steischen Begriff des Pneuma, für den es ja 
auch in der peripatetischen Lehre nicht an Anknüpfungspunkten 
fehlte, weiss er sich anzueignen 53). Am auffallendsten ist jedoch 
seine Annäherung an den Stoicismus in der Theologie. Wird auch 
der stoische Pantheismus als solcher, die Verbreitung der gött- 
lichen Substanz durch die Welt, zurückgewiesen, so will sich 
doch der Verfasser seine Sätze ganz gerne gefallen lassen, sobald 
sie statt des göttlichen Wesens auf die göttliche Kraft bezogen 
werden %), und er lehrt demnach, dass sich die von der Gottheit 
ausgehende Wirkung zunächst zwar nur auf die äusserste Sphäre 
der Welt, weiterhin jedoch von dieser auf die inneren Sphären 
erstrecke, und so durch das Ganze fortpflanze °). Gott ist daher 
das Gesetz des Ganzen ®), von ihm geht die Ordnung der Welt aus, 
vermöge deren sie sich in den verschiedenen Gattungen von We- 
sen mittelst ihrer eigenthümlichen Besamung gliedert”), und in 
Folge dieser seiner allwaltenden Wirkung führt Gott die mancher- 
lei Namen, deren Aufzählung und Erklärung in der Schrift II. K. 
das Gepräge des ächtesten Stoicismus trägt. Der Name, die Prä- 
dikate und die Herkunft des Zeus werden hier ganz im stoischen 
Sinn erklärt, die ἀνάγχη, die εἱμαρμένη, die πεπρωμένη, die Ne- 


1) Ὁ. 5, 396, b, 13 vgl. c. 6, Schl. 

2) Ὁ. 2.392, b,5: ὃ ἀὴρ... ζοφώδης ὧν χοαὶ παγετώδης τὴν φύσιν. Ebenso, 
wie 8. 169, 2 gezeigt ist, die Stoiker, wogegen Aristoteles (vgl. Bd. II, b, 
338, 2) die Kälte für die Grundbestimmung des Wassers, die Feuchtigkeit für 
die der Luft hält. 

3) C. 4. 394, b, 9: λέγεται δὲ χαὶ ἑτέρως πνεῦμα ἥ TE ἐν φυτοῖς χαὶ ζῴοις χαὶ 
διὰ πάντων διήχουσα ἔμψυχός τε χαὶ γόνιμος οὐσία. Vgl. hiezu was 5. 126, 1. 
176, 2. 308, 5 angeführt ist. 

4) C. 6. 397, b, 16: διὸ χαὺ τῶν παλαιῶν εἰπεῖν τινὲς προήχθησαν ὅτι πάντα 
ταῦτά ἐστι θεῶν πλέα τὰ χαὶ δι᾽ ὀφθαλμῶν ἰνδαλλόμενα Hy χαὶ δι᾽ ἀχοῆς χαὶ πάσης 
αἰσθήσεως, τῇ μὲν θείᾳ δυνάμει πρέποντα καταβαλλόμενοι λόγον οὐ μὴν τῇ γε οὐσία. 

5) C. 6. 398, b, 6 ff. 20 ff. vgl. 396, b, 24 fi. 

6) C. 6. 400, b, 8: νόμος γὰρ ἡμῖν ἰσοχλινὴς ὃ θεός. Der Begriff des νόμος 
für die Weltordnung ist bekanntlich vorzugsweise stoisch. 

7) C. 6. 400, b, 31 ff. Auch diese Darstellung erinnert an Stoisches, an 
die Lehre von den λόγοι σπερματιχοί. 


Ihr Charakter. 567 


mesis, die Adrasteia, die Moiren werden mittelst stoischer Ety- 
mologieen auf ihn gedeutet, es werden zur Bestätigung der philo- 
sophischen Lehren Dichtersprüche, in der Weise des Chrysippus, 
emgestreut 1). Man sieht deutlich, der Verfasser will zwar die 
peripatetische Lehre festhalten, aber er will mit ihr auch von der 
stoischen alles, was dieser Vereinigung nicht allzusehr widerstrebt, 
verbinden 52. Dass auch Plato mit seinen Sätzen übereinstimme, 
wird am Schluss der Schrift durch die rühmende Anführung einer 
Stelle aus den Gesetzen (IV, 715, E) angedeutet; an denselben 
erinnert es, wenn Gott nicht blos als der Allmächtige und Ewige, 
sondern auch als das Urbild der Schönheit gepriesen wird °). Na- 
türlich war aber dieser, wie jeder Eklekticismus, nur durch Ab- 
schwächung des streng philosophischen Interesse’s und der philo- 
sophischen Bestimmtheit möglich, und so sehen wir denn in der 
Schrift II. K. neben der wohlfeilen Gelehrsamkeit, die sie beson- 
ders c. 2—4 ausbreitet, das populär theologische Element dem 
eigentlich philosophischen gegenüber entschieden im Uebergewicht. 
In den Erörterungen über die Jenseitigkeit des göttlichen Wesens 
nimmt diese Religiosität sogar eine mystische Färbung an, wenn 
es die Würde Gottes und seine Erhabenheit über jede Berührung 
mit der Welt ist, welche den Hauptgrund gegen die Immanenz des 
göttlichen Wesens abgiebt. Wir sehen hier, wie der Eklekticis- 
mus den Uebergang von der reinen Philosophie zu der religiösen 
Spekulation der Neuplatoniker und ihrer Vorgänger vermittelte. 
Indem man den Weg der strengeren Forschung verliess, und nur 
diejenigen Ergebnisse der Spekulation festhielt, welche sich dem 
allgemeinen Bewusstsein als wahr und nützlich empfahlen, musste 
nothwendig an die Stelle der Metaphysik die Theologie treten, in 
der die Mehrzahl der Menschen ihr theoretisches Bedürfniss befrie- 
digt; und wenn nun dieser Theologie zu gleicher Zeit die aristo- 


1) €. 7 vgl. Osans 8. 219 ff. 

2) Dass er aber dadurch Peripatetiker zu sein aufhöre, und mithin 
„Zellerus ipse suam sententiam egregie refellere videtur“ (Anam S. 34) ist eine 
seltsame Einwendung. Als ob es noch nie vorgekommen wäre, dass ein Philo- 
soph die Lehren der Schule, der er angehört und angehören will, mit fremd- 
artigen Bestandtheilen versetzte. 

3) C.6. 399, b, 19: ταῦτα χρὴ καὶ περὶ θεοῦ διανοεῖσθαι δυνάμει μὲν ὄντος 


ἰσχυροτάτου, κάλλει δὲ εὐπρεπεστάτου, ζωῇ ὃὲ ἀθανάτου, ἀρετῇ δὲ χρατίστου u. 8. ν΄. 
᾿ 7 " τ u ἵ 


568 Die Schrift Περὶ Κόσμου. 


telische Lehre von der Jenseitigkeit Gottes und die stoische Idee 
seiner allgegenwärtigen Wirkung in der Welt zu Grunde gelegi 
wurde, so ergab sich für sie von selbst eine Weltansicht, bei wel- 
cher der peripatetische Dualismus und der substantielle Pantheis- 
mus der stoischen Schule sich in einem System des dynamischen 
Pantheismus ausglichen 7). 

Welcher Zeit nun der in unserem Buche vorliegende'Versuch 
ihrer Ausgleichung angehört, lässt sich zwar nicht ganz genau 
sagen, aber doch annäherungsweise bestimmen. Seine Ueber- 
-arbeitung durch Apulejus beweist, dass es um die Mitte des zwei- 
ten christlichen Jahrhunderts als aristotelische Schrift im Umlauf 
war. Es kann sich also nur fragen, wie lange vor diesem Zeit- 
punkt es verfasst ist. Dass wir nun hiebei nicht über das erste 
vorchristliche Jahrhundert hinaufgehen dürfen, diess wird schon 
durch den Stand seiner äusseren Bezeugung wahrscheinlich. Wenn 
uns die erste sichere Spur seines Daseins erst bei Apulejus begeg- 
net, wenn ein Cicero und Antiochus, denen es sich doch durch 
seine Mittelstellung zwischen peripatetischer und stoischer Lehre, 
durch seine Uebersichtlichkeit, seine Gemeinverständlichkeit und 
seine rednerische Sprache so sehr hätte empfehlen müssen, noch 
durch keine Andeutung verrathen, dass es ihnen bekannt sei, so 
lässt sich kaum annehmen, es sei vor dem Anfang des ersten vor- 
christlichen Jahrhunderts verfasst worden. Noch bestimmter wer- 
den wir aber durch seinen ganzen Charakter in dieses oder das 
nächstfolgende Jahrhundert verwiesen. Denn ehe der Versuch 
gemacht werden konnte, dem Stifter der peripatetischen Schule so 
weitgehende Zugeständnisse an den Stoicismus in den Mund zu 
legen, musste die Eigenthümlichkeit der beiden Schulen schon in 
hohem Grade verwischt und die Kenntniss derselben verdunkelt 
sein, es musste mit Einem Wort der philosophische Eklekticismus 
zu einer Entwicklung gekommen sein, wie er sie allen andern 
Spuren zufolge nicht vor der Zeit des Akademikers Antiochus er- 


1) Die oben entwickelte Ansicht über den Charakter der Schrift I. K. 
ist im Wesentlichen schon von Petersen a. a. O. 8. 557 fl. vorgetragen wor- 
den. Dass sie sich mir bei der ersten Bearbeitung dieses Werks unabhängig 
von Petersen ergeben hatte, auf dessen Abhandlung ich erst durch Apası auf- 
merksam gemacht wurde, wird für ihre Richtigkeit sprechen. 


Abfassungszeit. 369 


reicht hat. Wenn daher Rose 1) die Abfassungszeit unserer Schrift 
bis über die Mitte des dritten vorchristlichen Jahrhunderts hinauf- 
rücken will, so müssten die Beweise für diese Behauptung sehr 
stark sein, um der entgegengesetzten Wahrscheinlichkeit das 
Gleichgewicht zu halten. Diess ist aber so wenig der Fall 5), dass 


1) De Arist, libr. ord. et auct. 36. 97 ff. 

2) Rose’s Beweise sind diese. 1) Die Stelle IT. K. ο. 6. 399, b, 33 — 400, 
a, 3 werde schon in der pseudoaristotelischen Schrift π. θαυμασίων axousu.arwv 
e. 155, 8. 846 abgeschrieben, welche keinenfalls jünger sei, als Antigonus 
aus Karystos (gest. um 220). Allein welche von jenen zwei Schriften aus der 
anderen, und ob überhaupt eine von ihnen aus der andern, und nicht beide 
aus einer gemeinschaftliehen Quelle geschöpft haben, lässt sich durch die 
Vergleichung der betreffenden Stellen nicht ausmitteln; überdiess ist aber 
auch das Alter der aristotelischen Schrift x. 8. ἀχ, ganz unsicher, dass sie von 
Antigonus benützt wurde, lässt sich nichtdarthun, und wenn selbst ihr Grund- 
stock so weit hinaufreichen sollte, wissen wir doch nicht, wie viele spätere 
Zusätze, und wann sie dieselben erhielt. (Vgl. WEsTERMAanN Παραδοξόγραφο: 
8. XXV ff.) Mit diesem Grund lässt sich daher nichts anfangen. — 2) Weiter 
bemerkt R., wenn II. K. e. 3. 393, b, 18 die Breite der bewohnten Erdfläche, 
ὥς φασιν ol εὖ γεωγραφήσαντες, auf fast 40000, ihre Länge auf etwa 70000 Sta- 
dien angegeben wird, so beweise diess, dass unsere Schrift nicht allein vor 
Hipparchus, sondern auch vor Eratosthenes verfasst sei; denn Eratosthenes 
habe ihre Länge auf 77800, ihre Breite auf 38000 Stad. berechnet, Hipparchus, 
welchem die Späteren meist folgten, jene auf 70000, diese auf 30000 Stad. 
(Straso I, 4, 2.8.62 ff. IL, 5,7. S. 113 8). Aber woher wissen wir denn, 
dass unser Verfasser sich gerade an diese Vorgänger halten musste, wenn er 
jünger, als sie war? Rose führt selbst an, dass Andere auch nach Hipparchus 
andere Bestimmungen aufstellten,- Artemidor z. B., mit der Angabe unseres 
Buchs übereinstimmend, für die Länge über 68000, für die Breite über 39000 
St. (Prıs. H. nat. II, 108, 242 f.). Von Posidonius wissen wir nur, dass er die 
Länge auf etwa 70000 berechnete (Srraso II, 3, 6. $. 102), was er in Betreff 
der Breite annahm, wird nicht überliefert. Was daher aus der Abweichung 
"unserer Schrift von Eratosthenes und Hipparchus für ihre Abfassungszeit fol- 
gen soll, lässt sich nicht absehen. — 8) Nach e. 3. 393, b, 23 unserer Schrift 
ist, wie R. sagt, zwischen dem.kaspischen und dem schwarzen Meer στενώτα- 
τος ἰσθμός: diess konnte aber nicht mehr behauptet werden, nachdem Era- 
tosthenes die Breite dieser Landenge auf 1000 (?), Posidonius dieselbe auf 
1500 Stadien angegeben hatte (Srtraso XI, 1,5. 5. 491). Allein unser Verfasser 
behanptet es auch nicht, sondern er sagt: die Grenzen Europa’s seien μυχοὶ 
Πόντου θάλαττά τε Ὑρχανία, χαθ᾽ ἣν στενώτατος ἰσθμὸς εἰς τὸν Πόντον διήχει, d.h. 
das kaspische Meer an der Stelle, wo die Landenge zwischen ihm und dem 
Pontus am schmalsten ist. Was Ross 5. 98 f. weiter bemerkt, werde ich über- 
gehen dürfen, da es, selbst seine Richtigkeit vorausgesetzt, jedenfalls nur die 


‘ 


570 Die Schrift Περὶ Κόσμου. 


wir vielmehr durch entscheidende Thatsachen zu der Annahme 
genöthigt sind, das Buch von der Welt sei jünger, als Posidonius, 
von dem der Verfasser eine oder mehrere Schriften benützt, und 
aus dem er vielleicht den grössten Theil dessen, was er uns Na- 
turwissenschaftliches mittheilt, entlehnt hat 1). Diese Schrift wird 


Möglichkeit, nicht die Wahrscheinlichkeit oder die Wahrheit seiner Annahme 
beweisen würde. 

1) Es ist auch schon Anderen aufgefallen, wie viele Berührungspunkte 
unsere Schrift mit den Bruchstücken des Posidonius darbietet; und diese Er- 
scheinung verdient auch wirklich alle Beachtung. So findet sich II. K. e. 4. 
395, a, 32 die Definition: ἔρις μὲν οὖν ἐστὶν ἔμφασις ἡλίου τιήματος ἢ σελήνης, ἐν 
νέφει νοτερῷ καὶ χοίλῳ χαὶ συνεχεϊ πρὸς φαντασίαν ὡς ἐν κατόπτρῳ θεωρουμένη κατὰ 
χύχλου περιφέρειαν, Diese so eigenthümliche Definition führt Dıoc. VII, 152, 
mit denselben Worten und nur ganz wenigen und unerheblichen Abweichun- 
gen, aus Posidonius’ δίετεωρολογιχὴ an. — C.4. 394, b, 21 ff. führt unsere 
Schrift aus, dass von den östlichen Winden χαϊχίας der heisse, welcher von 
dem Ort des Sonnenaufgangs im Sommer herweht, ἀπηλιώτης der von den 
ἰσημεριναὶ, εὖρος der von den χγειμεριναὶ ἀνατολαὶ herkommende; von den west- 
lichen ἀργέστης der von der θερινὴ δύσις, ζέφυρος der von der ἰσημερινὴ, λὲν 
der von der χειμερινὴ δύσις ausgehende. Genau dieselben Bestimmungen führt 
STRABO I, 2, 21. S. 29 aus Posidonius an. — C. 4. 395, b, 33 lesen wir: die 
Erdbeben entstehen dadurch, dass Winde in die Höhlungen der Erde einge- 
schlossen werden und nun einen Ausgang suchen; τῶν δὲ σεισμῶν οἱ μὲν εἰς 
πλάγια σείοντες χατ᾽ ὀξείας γωνίας ἐπιχλίνται χαλοῦνται, οἱ δὲ ἄνω ῥιπτοῦντες χαὶ 
χάτω χατ᾽ ὀρθὰς γωνίας βράσται, οἱ δὲ συνιζήσεις ποιοῦντες εἰς τὰ χσῖλα χασματίαι" 
οἱ δὲ χάσματα ἀνοίγοντες χαὶ γῆν ἀναῤῥηγνύντες ῥῆχται χαχοῦνται. Damit vgl. m. 
Dios. VII, 154: τοὺς σεισμοὺς δὲ γίνεσθαι πνεύματος εἰς τὰ κοιλώματα τῆς γῆς ἐν- 
δύοντος ἢ [καὶ] καθειρχθέντος, χαθά φησι Ποσειδώνιος ἐν τῇ ὀγδόη εἶναι δ᾽ αὐτῶν 
τοὺς μὲν σεισματίας, τοὺς δὲ χασματίας, τοὺς δὲ χλιματίας, τοὺς δὲ βρασματίας, 
auch Sen. nat. qu. VI, 21, 2. — C.4, Anf. wird bemerkt, es gebe zweierlei 
Ausdünstungen, trockene und feuchte; aus diesen entstehe Nebel, Thau, Reif, 
Wolken, Regen u. 5. w., aus jenen Winde, Donner, Blitz u.s.f. Hiezu vgl. 
Sen. nat. qu. II, 54: nunc ad opinionem Posidonü revertor: e terra terrenisque 
omnibus pars humida eflatur, pars sicca et fumida: haec fulminibus alimentum 
est, illa imbribus (was Posidon. selbst natürlich viel ausführlicher auseinander- 
gesetzt haben wird). Wenn trockene Dünste in Wolken eingeschlossen wer- 
den, durchbrechen sie dieselben, und dadurch entstehe der Donner, Auch 
mit dieser Erklärung des Donners trifft unsere Schrift zusammen c. 4. 395, a, 
11: εἱληθὲν δὲ πνεῦμα Ev νέφει παχέϊ τε χαὶ νοτερῷ καὶ ἔξωθεν δι᾽ αὐτοῦ βιαίως 
ῥηγνύον τὰ συνεχῆ πιλήματα τοῦ νέφους, βρόμον καὶ πάταγον μέγαν ἀπειργάσατο, 
βροντὴν λεγόμενον. Mit der Erklärung des Schnee’s, welche Dıios. VII, 153 
wohl in abgekürztem Ausdruck aus Posidonius anführt, kommt die etwas 
ausführlichere II. K. 4, 394, a, 32 überein; die Definition des σέλας bei Dios. 


Abfassungszeit. 571 


demnach keinenfalls vor der Mitte des ersten vorchristlichen Jahr- 
hunderts verfasst sein; wahrscheinlich ist sie aber hoch etwas jün- 


ara. O., welche doch wohl, wie das meiste Meteorologische in seiner Dar- 
stellung des Stoicismus, ebenfalls Posidonius entnommen ist, kehrt II. K. 4. 
395, b, 3 wieder. Auch was unser Buch c. 2. 391, b, 16. 392, a, 5 über die 
Gestirne und den Aether sagt, erinnert an die Beschreibung des ἄστρον, welche 
Stos. ἘΚ]. I, 518 aus Posidonius mittheilt. — Dass sich nun unsere Schrift in 
diesen Fällen mit Posidonius nicht blos zufällig begegnet, ist augenscheinlich. 
Ebensowenig wird sich ihr Zusammentreffen aus der gemeinsamen Abhängig- 
keit von einer dritten Darstellung aleiten lassen, die nichts geringeres, als 
eine vollständige Meteorologie hätte sein müssen; denn theils lässt sich Posi- 
donius, der gerade in diesen Dingen sich eines hohen Ansehens erfreut, eine 
solche Abhängigkeit nicht zutrauen, theils wäre es in diesem Fall unerklär- 
lich, dass immer nur er, und nicht sein Vorgänger, als Quelle genannt wird, 
während er diesem doch so unselbständig gefolgt sein müsste, um ihn sogar 
wörtlich auszuschreiben. Noch unbaltbarer ist Rose’s Annahme (a. a. O. 
S. 96), Posidonius habe dasjenige, worin er sich mit unserer Schrift berührt, 
aus ihr entlehnt. Von Posidonius wissen wir, dass er über Meteorologie, 
Geographie, Astronomie umfassende und auf eigener Forschung beruhende 
Werke geschrieben hatte, deren Inhalt weit über den unseres Buches hinaus- 
gieng, wogegen unsere Schrift in allem, was sie über diese Gegenstände sagt, 
den Charakter einer Uebersicht trägt, in welcher nicht Untersuchungen ge- 
führt, sondern nur Ergebnisse zusammengestellt werden; wie könnten wir 
es da glaublich finden, dass Posid. seine Ansichten aus diesem Compendium 
geschöpft, und nicht vielmehr der Verfasser des letztern die seinigen aus den 
Werken des Posidonius entlehnt habe? Und wenn diess je der Fall gewesen 
wäre, wie sollen wir es uns erklären, dass die Späteren dieselben immer nur 
auf Posidonius zurückführen, ihrer ursprünglichen, längst bekannten, durch 
den Namen des Aristoteles empfohlenen Quelle mit keiner Sylbe gedenken? 
Aher wollten wir uns auch darüber hinwegsetzen, so würde diese Annahme 
noch immer nicht ausreichen, um die Ursprünglichkeit und das höhere Alter 
unserer Schrift zu retten, wenn man nicht (mit Rose) auch von der Darstel- 
lung der stoischen Kosmologie bei Sros. ΕΚ], I, 444 annimmt, sie sei gleich- 
falls aus unserem Buche geflossen. Dass jedoch diese Darstellung einer solchen 
Annahme durchaus widerstrebt, wird sogleich gezeigt werden. Wer wird aber 
überhaupt glauben, dass nicht der Peripatetiker, welcher stoische Lehren 
dem Aristoteles unterschiebt, aus stoischen Schriften, sondern diese aus jenem 
geschöpft haben? — Doch ich habe mich wohl schon zu lange bei einer Hypo- 
these aufgehalten, die augenscheinlich nur eine Anskunft der Verlegenheit 
ist. Die obenangeführten Stellen setzen es ausser Zweifel, dass unser Ver- 
fasser den Posidonius vielfach benützt und selbst ausgeschrieben hat. Steht 
diess aber einmal fest, so werden wir alle seine geographischen und meteoro- 
logischen Ausführungen (c. 3. 4) mit der grössten Wahrscheinlichkeit von 
dem stoischen Philosophen herleiten, dessen Leistungen auf diesen Gebieten 


5723 Die Schrift Περὶ Κόσμου. 


ger; doch wird man ihre Entstehung nicht über das erste Jahr- 
hundert nach dem Anfang unserer Zeitrechnung herabrücken dür- 


bekannt sind. Auf ihn weist namentlich auch die ausführliehe Erörterung 
über die Meere: Posid. hatte ein eigenes Werk über den Ocean geschrieben, 
und darin namentlich ausgeführt, was auch unsere Schrift e. 3. 392, b, 20 
stark betont, dass die ganze bewohnte Erde vom Meer umflossen sei (STRABO 
II, 2, 1.5. 8. 94. 100. I, 1,9. 3, 12. 8. 6. 55). — Auch von einem weiteren 
Theil unserer Schrift möchte ich aber vermuthen, dass sein Inhalt aus Posi- 
donius entlehnt sei. Schon Osann (S. 211 fl.) hat nachgewiesen, dass der 
Abschnitt c. 2, Anf. — c. 3, 392, b, 34 mit der obenberührten Darstellung bei 
Stoe. I, 444 ἢ, fast Punkt für Punkt zusammentrifft, wenn auch in der Fassung 
‚und Anordnung einzelne Abweichungen vorkommen; und dass auch hier un- 
sere Schrift nicht Original, sondern nur Nachbildung sein kann, erhellt schon 
aus dem, was 8.564, 2 angeführt ist. Denn als seine Quelle nennt der Auszug 
bei Stob., zunächst für die zwei ersten von seinen drei Definitionen des χόσμος, 
den Chrysippus, diese Anführung konnte er aber nieht aus unserer Schrift 
schöpfen; ebenso fehlt in dieser die zweite von jenen Definitionen, und die 
dritte hat (wie a. a. O. gezeigt ist) eine Fassung erhalten, welche sich nur aus 
der Absicht des Peripatetikers erklären lässt, dje ihm durch eine stoische 
Quelle an die Hand gegebenen Bestimmungen mit seinem eigenen Standpunkt 
in Einklang zu bringen. Nun giebt freilich die Stelle des Stobäus sich selbst 
nur als einen Bericht über stoische Lehre, und man sieht deutlich, dass sie 
nicht wörtlich aus einer stoischen Schrift entnommen ist. Ebenso klar ist 
aber auch, und ihr Zusammentreffen mit unserem Buche setzt es vollends 
ausser Zweifel, dass sie ein Auszug aus einer solchen ist. Dass nun aber diese 
Chrysipp’s Schrift περὶ χόσμου sei, wie ΟΒΑΝΝ annimmt, ist mir zweifelhaft. 
Stob. selbst schreibt die zwei ersten Definitionen des χόσμος Chrysipp zu. Aber 
diese Angabe kann er auch einem Dritten verdanken; und dass dem wirklich 
so ist, und dieser Dritte Niemand anders ist, als Posidonius, ist mir aus drei 
Gründen wahrscheinlich. Für’s Erste nämlich werden die gleichen Definitio- 
nen, welche nach Sros. Chrysippus aufgestellt hatte, von Diogenes VII, 138 
aus der μετεωρολογιχὴ στοιχείωσις des Posidonius angeführt; dieser muss sie 
also hier wiederholt, er wird aber dabei wohl Chrysippus als ihren Urheber 
genannt haben. Sodann hängt der Abschnitt unserer Schrift, welcher mit der 
Stelle des Stobäus zusammentriftt, mit den folgenden, in denen wir die Be- 
nützung des Posidonius nachweisen konnten, so eng zusammen, dass sich 
keine Fuge zwischen dem aus Posidonius und dem aus einer anderen Quelle 
Entlehnten zeigen will. Dazu komnit endlich, dass die Ausführung über die 
Inseln und darüber, dass das vermeintliche Festland auch Insel sei (Sros. 446. 
II. K. e. 3. 392, b, 20 ff), wie bemerkt, für Posidonius ganz besonders zu 
passen scheint. Es ist mir daher wahrscheinlich, dass es dieselbe Schrift des 
Posidonius, seine μετεωρολογιχὴ στοιχείωσις, ist, aus deren ersten Abschnitten 
Stobäus einen Auszug giebt, und welche der Verfasser des Buchs π᾿ χύσμου 
ihrem ganzen Umfang nach benützt hat; in welchem Falle dann freilich von 


Die Abhandlung Il. ᾿Αρετῶν. 973 


fen ). Wie dem aber sein mag: jedenfalls ist sie ein merk- 
würdiges Denkmal des Eklekticismus, welcher um diese Zeit auch 
in der peripatetischen Schule Eingang gefunden hatte. 

Ein weiteres Ueberbleibsel desselben besitzen wir wahrschein- 
lich in der kleinen Abhandlung über die Tugenden und Fehler, welche 
sich gleichfalls in unserer aristotelischen Sammlung befindet. Der 
Tugendlehre wird hier die platonische Unterscheidung der drei 
Seelenkräfte und der vier Haupttugenden zu Grunde gelegt; auf 
diese sucht aber der Verfasser die von Aristoteles behandelten 
Tugenden zurückzuführen, ebenso die entsprechenden Fehler auf 
die schlechte Beschaffenheit der betreffenden Seelentheile ?), indem 
er zugleich die Merkmale und Aeusserungen der verschiedenen 
Tugenden und Fehler, in der beschreibenden Manier der späteren 
Ethik, wie sie namentlich in der peripatetischen Schule seit Theo- 
‚Pphrast üblich gewesen zu sein scheint, übersichtlich aufzählt. An 
den Stoicismus finden sich bei ihm kaum äusserliche Anklänge °). 
Indessen ist diese kleine Schrift zu unbedeutend, um iger bei 
ihr zu verweilen 2). 


allem dem Wissen, das er c. 2—4 auskramt, nicht viel auf seine eigene Rech- 
nung zu setzen sein wird. 

1) Eine genauere Bestimmung ihrer Abfassungszeit wird kaum möglich 
sein. Dass ihr Verfasser vor Strabo geschrieben habe, könnte man desshalb 
vermuthen, weil seine Beschreibung der Meere c.3. 393, a, 26 weniger genau 
ist, als die Strabo’s II, 5, 19 ἢ, S. 122 f. Indessen ist dieser Schluss um 80 
unsicherer, wenn sich der Verfasser in dem geographischen Theil seiner Arbeit 
einfach an Posidonius gehalten hat. 

2) Dem λογιστιχὸν wird die φρόνησις zugetheilt, dem θυμοειδὲς die πραότης 
und ἀνδρεία, dem ἐπιθυμητικὸν die σωφροσύνη und ἐγχράξεια, der ganzen Seele die 
διχαιοσύνη, ἐλευθεριότης, μεγαλοψυχία, ebenso die ihnen gegenüberstehenden Fehler. 
Von diesen Tugenden und Fehlern werden dann ziemlich äusserlich gehaltene 
Definitionen gegeben, und schliesslich wird gezeigt, in welehem Verhalten 
sie sich äussern, wobei dann noch viele Unterarten derselben aufgeführt 
werden. 

3) Wie etwa dieses, dass die ganze Auseinandersetzung am Anfang und 
Schluss der Schrift an den Gegensatz der ἐπαινετὰ und ψεχτὰ angeknüpft wird. 

4) Auch ihr Ursprung steht nicht ganz sicher; doch macht theils ihre 
Aufnahme in die aristotelische Sammlung theils die ganze Art, wie sie ihren 
Gegenstand behandelt, wahrscheinlich, dass sie aus der peripatetischen, nicht 
der akademischen Schule herstammt, und wenn sich ihre Entstehungszeit 
nicht genauer bestimmen lässt, werden wir sie doch im Allgemeinen der 


574 Cicero, 


5. Cicero. Varro., 


Aus dem Vorstehenden wird erhellen, wie im letzten Jahr- 
hundert vor Christus die drei wissenschaftlich bedeutendsten Philo- 
sophenschulen in einem bald stärker bald schwächer entwickelten 
Eklekticismus zusammentrafen. Um so leichter musste sich diese 
Denkweise solchen empfehlen, denen es von Hause aus mehr um 
die praktisch verwendbaren Früchte der philosophischen Studien, 
als um strenge Wissenschaft zu thun war. Eben diess war nun bei 
τ €icero der Fall 1). 

Cicero’s Jugend fällt in eine Zeit, in der nicht allein der Ein- 
fluss der griechischen Philosophie auf die römische Bildung, son- 
dern auch die Annäherung und theilweise Verschmelzung der 
philosophischen Schulen sich schon kräftig zu entwickeln begonnen 
hatte ?). Er selbst hatte die verschiedensten Systeme theils aus 
den Schriften ihrer Stifter und Wortführer, theils auch durch seine 
Lehrer kennen gelernt. Im ersten Jünglingsalter hatte sich ihm 
durch Phädrus die epikureische Lehre empfohlen 55; hierauf führte 
ihn Philo von Larissa in die neue Akademie ein *), zu deren Ge- 
nossen er selbst sich fortwährend gezählt hat; um die gleiche Zeit 
genoss er den Unterricht des Stoikers Diodotus, welcher auch 


Periode des Eklektieismus zuweisen können. Ein früherer Peripatetiker würde 
schwerlich so unbefangen, als ob es sich von seibst verstände, an Plato an- 
geknüpft haben, wie diess hier c. 1. 1249, a, 30 geschieht: τριμεροῦς δὲ τῆς 
ψυχῆς λαμβανομένης χατὰ Πλάτωνα u. 5. w. Auf die spätere Zeit weist auch, 
dass bei der Beschreibung der Frömmigkeit und Gottlosigkeit (e.4. 1250, b, 20. 
e. 7. 1251, a, 31), vielleicht nach dem Vorgang des pythagoreischen goldenen 
Gedichts (V. 3), zwischen den Göttern und den Eltern die Dämonen genannt 
werden. 

1) Ueber Cieero als Philosophen vgl. m. neben Rırrer (IV, 106—176) 
Hersart Werke XII, 167 ff. Künser M. T. Ciceronis in pbilosophiam merita, 
Hamb. 1825 (immer noch als fleissige Materialiensammlung brauchbar); über 
seine philosophischen Schriften Haxp in Ersch u. Gruber’s Allg. Encykl, Sect. 
I, 17, 226 ft. 

2) Cicero ist bekanntlich d. 3ten Jan. 648 a. u. c. (106 v. Chr.) geboren, 
also einige Jahre nach dem Tode des Panätius. 

3) Ep. ad Fam. XIII, 1: a Phaedro, qui nobis, cum pueri essemus, ante- 
quam Philonem cognovimus, valde ut philosophus‘.... probabatur, 

4) Vgl. 8. 523, 1. 2. 


Cicero. 375 


später in seiner nächsten Nähe blieb 1); vor dem Beginn seiner 
öffentlichen Laufbahn ?) besuchte er Griechenland, hörte in Athen 
ausser seinem alten Lehrer Phädrus auch Zeno den Epikureer 5), 
mit besonderem Eifer jedoch den Hauptbegründer des akademi- 
schen Eklekticismus, Antiöchus %), und trat mit Posidonius in eine 
Verbindung, welche bis zum Tod dieses Philosophen fortdauerte°). ἢ 
Auch in der philosophischen Literatur hatte er sich so weit umge- 
sehen, dass wir ihm das Lob einer umfassenden Belesenheit nicht 
versagen können; wenn auch allerdings seine Kenntniss derselben 
weder selbständig noch gründlich genug ist, um ihn einen grossen 
Gelehrten zu nennen ©). Er selbst sucht seinen Ruhm nicht so- 
wohl in eigener philosophischer Forschung, als vielmehr in der 
Kunst, mit der er die griechische Philosophie in ein römisches 
Gewand gekleidet und seinen Landsleuten zugänglich gemacht 
habe’). Zu dieser schriftstellerischen Thätigkeit kam er jedoch erst 
in höherem Alter, als er nothgedrungen der öffentlichen Wirk- 
samkeit entsagt hatte®), und so drängen sich seine vielseitigen 
und ziemlich umfangreichen philosophischen Arbeiten in den Zeit- 
raum weniger Jahre zusammen 5). Unsere Bewunderung für die 


1) 5. S. 520, m. 

2) 78 und 77 v. Chr., also in seinem 29 — 30sten Lebensjahr; Prur. 
Cie. 3£. 

3) S. 0. 349, 2. 3. 

4) 8.8. 531, 1. 

5) 8.8. 511,3. ᾿ 

6) Die philosophischen Schriftsteller, die er am häufigsten anführt und 
benützt, sind: Plato, Xenophon, Aristoteles (von dem er aber doch haupt- 
sächlich nur populäre und rhetorische Werke gekannt zu haben scheint), dann 
Theophrast und Dieäarchus mit ihren politischen Schriften, Krantor, Panätius, 
Hekato, Posidonius, Klitomachus, Philo, Antiochus, Philodemus (s. o. 
349, 3). 

7) Ueber das Verdienst, welches er in dieser Beziehung für sich in An- 
spruch nimmt, äussert sich Cicero öfters, indem er seine philosophische 
Schriftstellerei gegen Tadel vertheidigt, z. B. Fin. I, 2, 4 ff. Acad. 1, 3, 10. 
Tuse. I, ı ff. N.D.I,4. Of. I, 1, 1£. 

8) Acad. a.a. O. Tuse. I, 1,1. 4,7. N.D.a.a. Ο. 

9) Die ältesten derselben (wenn wir von den zwei politischen Werken 
absehen), die Consolatio, der Hortensius und die erste Ausgabe der Academica, 
fallen in das Jahr 709 a. u. e., 45 v. Chr. Da nun Cicero schon ἃ. 7ten Dezbr, 


376 Cicero. 


Raschheit seines Arbeitens wird aber freilich bedeutend ermässigt, 
wenn wir näher zusehen, wie er bei der Abfassung seiner philo- 
sophischen Werke verfuhr. In dem einen Theil derselben spricht 
er seine Ansichten nicht unmittelbar aus, sondern er lässt jede 
der bedeutendsten Philosophenschulen durch einen ihrer Anhän- 
ger die ihrigen entwickeln 1); und hiefür scheint er fast durchaus 
einzelne ihm zur Hand liegende Darstellungen im weitesten Um- 
fang benützt, und sich selbst in der Hauptsache auf die Zusam- 
menstellung, Darlegung und Erläuterung ihres Inhalts beschränkt 
zu haben ?). Auch da aber, wo er in eigenem Namen redet, 
schliesst er sich nicht selten an ältere Schriften so enge an, dass 
seine eigenen nicht viel mehr sind, als selbständige Bearbeitungen 
von jenen ?). Doch erwächst daraus für die Kenntniss seines eige- 
nen Standpunkts kein erheblicher Nachtheil, da er-das Fremde 
doch nur dann als Eigenes vortragen kann, wenn er damit über- 
einstimmt, und da er auch in den dialogischen Darstellungen in 


43 v. Chr. ermordet wurde, so nimmt seine Thätigkeit als philosopbischer 
Schriftsteller nur einen Zeitraum von etwa drei Jahren ein. 


1) So in den Academica, De Finibus, De natura Deorum, De Divinatione. 
Vgl. ad Att. XI, 19. 

2) Dieses Verfahren lässt sich ihm namentlich in Betreff des ersten Buchs 
De natura Deorum und der Academica nachweisen (s. o. 349, 3. 530, 6 und ad 
Att. ἃ. ἃ. Ὁ. Krısche Forsch. 23 fi. Ueb. Cic. Academica; Gött. Stud. II, 
192 £.); es wird sich aber auch mit andern Darstellungen ebenso verhalten, 
und neben den Schriften mag er auch die Vorträge seiner Lehrer für sich ver- 
wendet haben. Er selbst erhebt sehr mässige Ansprüche an philosophische 
Selbständigkeit, wenn er Fin. I, 2, 4 nur sagt: non interpretum fungimur mu- 
nere, sed tuemur ea, quae dicta sunt ab üs, quos probamus, eisque nostrum 
Judieium et nostrum scribendi ordinem adjungimus. Ad Att. XII, 52 bekennt er 
gar: ἀπόγραφα sumt: minore labore fiunt: verba tantum affero, quibus abundo. 

3) In dieser Weise benützte er das Werk des Panätius über die Pflichten für 
das seinige (s. 0. 253,1. 255,1), Krantor περὶ πένθους für seine Consolatio (Prın. 
h. nat. I, praef. 22. vgl. Bd. II, a, 650, 3) und die Tusculanen (Heıse De font. 
Tuse, Disput. 11 δ): und auch wo wir die griechischen Schriften, die er vor 
Augen hatte, nicht namhaft machen können, lässt sich doch oft wenig- 
stens das darthun, dass er überhaupt griechische Vorbilder gehabt hat, wie 
diess Hrıne in der ebengenannten Abhandlung von dem ersten und vierten 
Buch der Tusculanen nachweist, dessen Ansicht ich nur in Betreff des Panätius 
als Quelle für I, 12—22, nach dem $. 503, 5 Bemerkten, nicht beitreten 
kann, 


— 


a ag Standpunkt. 917 


der Regel hinreichend andeutet, welche von den dargelegten An- 
sichten er gutheisst. 

Dieser Standpunkt lässt sich nun im ec als ein auf 
Skepsis gegründeter Eklektieismus bezeichnen. Auf eine Neigung 
zur Skepsis weist schon die ebenberührte Gewohnheit, das Für 
und Wider ohne Schlussentscheidung zusammenzustellen; denn 
woher rührt dieses Verfahren, welches nicht mit der indirekten 
Gedankenentwicklung der platonischen Dialogen, oder mit der 
sokratischen Gesprächführung, von der es Cicero selbst ableitet 1), 
sondern nur mit den Wechselreden des Karneades zu vergleichen 
ist 2) — woher anders rührt es, als daher, dass der Philosoph 
durch keine Ansicht befriedigt ist, dass er an jedem gegebenen 
System das Eine oder das Andere auszusetzen hat? Cicero be- 
kennt sich aber auch ausdrücklich zur neueren Akademie °), und 
entwickelt in eigenem Namen die Gründe, mit denen sie die Mög- 
lichkeit des Wissens bestritten hatte %). Für ihn selbst scheint einer 
der Hauptgründe, wenn nicht der Hauptgrund, seines Zweifels in 
der Uneinigkeit der Philosophen über die wichtigsten Fragen zu 
liegen; wenigstens hat er diesen Punkt nicht allein mit Vorliebe 
verfolgt °), sondern er bemerkt auch ausdrücklich, dass er ihm 
weit grösseres Gewicht beilege, als allem, was über die Sinnes- 
täuschungen und die Unmöglichkeit fester Begriffsbestimmung von 
den Akademikern gesagt worden war®). Der Skeptieismus ist 
daher bei ihm weniger die Frucht einer selbständigen Forschung, 


2 2000.1,4.8. V,4,11.N.D.L5, 11. 

2) Vgl. Tuse. V, 4, 11: quem morem cum Carneades acutissime copiosissi- 
meque tenuisset, fecimus et alias saepe et nuper in Tusculano, ut ad eam con- 
suetudinem dispuiaremus. 

3) Acad. II, 20. 22,69. I, 4, 13 12,43.46. N.D. I, 5, 12. Offie. III, 
4, 20. 

4) Acad. 11,20 ff. Auf eine genauere Auseinandersetzung dieser Gründe 
glaube ich hier nicht eingehen zu sollen, da sie nicht für originell zu halten 
sind, und desshalb in der Hauptsache schon S$. 457 fl. angeführt wurden. 

5) A.a. Ὁ. 33, 107. c.36 ff. N. D.I, 1,1. 6, 13. vgl. III, 15, 39. 

6) Acad. II, 48, 147: posthac tamen, cum haec quaeremus, potius de dis- 
sensionibus tantis summorum virorum disseramus, de obscuritate naturae deque 
errore tot philosophorum, qui de bonis contrarüsque rebus tantopere discrepant, 
ut cum plus uno verum esse non possit, jacere mecesse, sit tol tam nobiles disci- 
plinas, quam de oculorum sensuumque religiorum mendaciis et de sorite aut 
pseudomeno, quas plagas ipsi contra se Stoici texuerunt. 

Philos. ἃ. Gr. III. Ba. 1. Abth. 37 


578 Cicero. 


als die Folge der Unentschiedenheit, in welche ihn der Widerstreit 
der philosophischen Ansichten versetzt, er ist nur die Rückseite 
seines Eklekticismus, nur ein Zeichen derselben Abhängigkeit von 
seinen griechischen Vorgängern, welche sich in diesem ausspricht: 
sofern sich die Philosophen vereinigen lassen, wird das Gemein- 
same aus ihren Systemen zusammengestellt, sofern sie sich wider- 
streiten, wird auf ein Wissen über die streitigen Punkte verzich- 
tet, weil sich die Auctoritäten gegenseitig neutralisiren. 

Schon hierin liegt es, dass der Zweifel bei Cicero weit nicht 
- die durchgreifende Bedeutung haben kann, die er in der neueren 
Akademie gehabt hatte, und so sehen wir ihn denn auch wirklich 
seine Skepsis in doppelter Hinsicht beschränken: sofern er theils 
überhaupt der Wahrscheinlichkeitserkenntniss einen grösseren 
Werth beilegt, als die Akademiker, theils namentlich für gewisse 
Theile der Philosophie von seinen skeptischen Grundsätzen so gut 
wie keinen Gebrauch macht. Liegt es auch noch innerhalb des 
akademischen Princips, wenn er auf den Einwurf, dass die Skep- 
sis alles Handeln unmöglich mache, mit Karneades antwortet, zum 
Handeln sei keine volle Gewissheit, sondern nur eine überwie- 
gende Wahrscheinlichkeit erforderlich ), so können wir doch 
nicht mehr dasselbe von der Erklärung sagen, die er über den 
Zweck seiner disputatorischen Methode abgiebt. Dieses Verfahren 
soll ihm dazu dienen, durch eine Prüfung der verschiedenen An- 
sichten diejenige ausfindig zu machen, welche am meisten für 
sich hat ?). Der Zweifel ist also nur die Vorbereitung einer posi- 
tiven Ueberzeugung, und wenn auch dieser Ueberzeugung nicht 
die volle Sicherheit des Wissens, sondern nur eine annäherungs- 
weise Gewissheit zukommen soll, so wissen wir ja bereits, dass 
schon diese für das praktische Leben, das Endziel der ceiceroni- 
schen Philosophie, ausreicht. Es lässt sich nicht verkennen, die 


1) Acad. Il, 31. c. 53, 105. 108. N. D. I, 5, 12. 

2) Tuse. I,4,7: ponere jubebam de quo quis audire vellet: ad id aut sedens 
aut ambulans disputabam ... fiebat autem ita, ut cum is qui audire vellet dixis- 
set quid sibi videretur, tum ego contra dicerem. haec est enim, ut scis, vetus el 
Socratica ratio contra alterius opinionem disserendi. nam ita facillime quid veri 
simillimum esset inveniri posse Socrates arbitrabatur. Ebenso V, 4, 11: dieses 
Verfahren gewähre den Vortheil, ut nostram ipsi sententiam tegeremus, errore 
alios levaremus, et in omni disputatione quid esset simillimum veri quaergremus. 


Philosophischer Standpunkt. 579 


beiden Elemente der akademischen Philosophie, die Bestreitung 
des Wissens und die Behauptung einer Wahrscheinlichkeitserkennt- 
niss, stehen hier in einem andern Verhältniss, als bei Karneades: 
während für diesen der Zweifel selbst, die Zurückhaltung des Ur- 
theils, das eigentliche Ziel der philosophischen Untersuchung ge- 
wesen war, die Theorie der Wahrscheinlichkeit dagegen sich nur 
in zweiter Reihe, aus der Erwägung dessen ergeben hatte, was 
der Zweifel noch übrig liess, so erscheint dem Cicero die Auf- 
findung des Wahrscheinlichen als die ursprüngliche Aufgabe der 
Philosophie, und nur als ein Mittel und eine Bedingung für die 
Lösung dieser Aufgabe hat ihm der Zweifel einen Werth. Cicero 
selbst erklärt daher auch geradezu, seine Skepsis gelte eigentlich 
nur der stoischen Forderung eines absoluten Wissens, mit den 
Peripatetikern dagegen, welche die Anforderungen an das Wissen 
weniger hoch spannen, sei er im Grunde einverstanden 1). Selbst 
diese gemässigte Skepsis erleidet aber noch weitere Einschränkun- 
gen. So schwankend sich unser Philosoph in dieser Beziehung 
auch äussert, so geht er doch, Alles zusammengenommen, nur 
hinsichtlich der rein theoretischen Untersuchungen mit den Neu- 
akademikern Hand in Hand, die praktischen Grundsätze dagegen 
und die mit ihnen unmittelbar zusammenhängenden philosophischen 
und religiösen Ueberzeugungen will er nicht auf die gleiche Weise 
in Frage gestellt wissen. Der Dialektik macht er den Vorwurf, 
dass sie kein reales Wissen, sondern nur formale Regeln über die 
Bildung der Sätze und Schlüsse gewähre 5); von der Pnysik, mit 
Einschluss der Theologie, urtheilt er, es sei ihr ungleich leichter, 
zu sagen, was die Dinge nicht sind, als was sie sind 5), es wäre 
vermessen, sich eines Wissens, selbst über ihre allgemeinsten 
Grundsätze, zu rühmen 3), kein menschliches Auge sei scharf 
genug, um das Dunkel zu durchdringen, von welchem die Natur 
der Dinge umhüllt sei?); und wenn wir auch diese Aeusserungen 


1) Fin. V, 26, 76. 

2) Acad. II, 28, 91, vgl. S. 459, 4. 

3) N. D. I, 21, 60: omnibus fere in rebus et maxime in physicis, quid non 
sit citius, quam quid sit dixerim. 

4) Acad. II, 36, 116: esine quisguam tanto inflatus errore, ut sibi se üla 
scire persuaserit? 

5) Acad. II, 39, 122: Zatent ista omnia, Luculle, „crassis occultata et cir- 

37 ἡ 


380 Cicero, 


hinsichtlich der Theologie noch zu beschränken haben werden, so 
halten ihnen doch in Betreff der eigentlichen Naturforschung keine 
anders lautenden Erklärungen das Gegengewicht. In der Ethik 
dagegen findet er zwar gleichfalls einen höchst bedenklichen Zwie- 
spalt der Philosophen bei den wichtigsten Fragen 1), und er selbst 
kann sich in ihrer Beantwortung, wie wir sogleich finden werden, 
des Schwankens nicht erwehren; aber doch sieht man bald, dass 
er hier dem Zweifel lange nicht die Berechtigung zugesteht, wie 
in dem rein theoretischen Gebiete. Was er bei Gelegenheit seiner 
Erörterungen über die Gesetze sagt, dass er die neuakademischen 
Zweifel hiebei nicht weiter zu berücksichtigen gedenke ?), das 
scheint er sich überhaupt für seine Moralphilosophie zur Regel 
gemacht zu haben, denn in keiner der hergehörigen Schriften 
wird auf die Bedenken Rücksicht genommen, welche Cicero selbst 
früher erhoben hat, sondern nachdem der Zweifel in den akade- 
mischen Untersuchungen Raum gehabt hat, sich auszusprechen, 
so wird in den moralischen Erörterungen in durchaus dogmati- 
schem Ton, wenn auch ohne ganz sichere Haltung, vom höchsten 
Gut und den Pflichten gehandelt 8), und im Zusammenhang damit 
sehen wir unsern Philosophen auch über die Gottheit und die 
menschliche Seele Ansichten vortragen, welche affenbar nicht 
blos die Bedeutung unsicherer Vermuthungen für ihn haben, wenn 
er gleich bei denselben auf absolute Sicherheit des Wissens ver- 
zichtet. Er sagt allerdings auch hiebei oft genug, dass er nur 
der Wahrscheinlichkeit folge, nur seine persönliche Meinung aus- 
spreche *). Aber dass er wirklich ein folgerichtiger Anhänger des 


eumfusa tenebris“, ut nulla acies humani ingeni tanta sit, quae penetrare in 
coelum, terram intrare possit. corpora nostra non novimus u. 85. w. 8. 124: 
satisne tandem ea nota sunt nobis, quae nervorum natura sit, quae venarum? 
tenemusne quid animus sit? u. 5. w. 

1) Acad. II, 42. c. 48, 147. 

2) Legg.1,13,39: perturbatricem autem harum omnium rerum Academiam 
hanc ab Arcesila et Carneade recentem exoremus ut sileat. nam si invaserit in 
haec „. nimias edet ruinas quam quidem ego placare cupio, submovere non 
audeo. 

3) Der Nachweis hiefür wird sogleich gegeben werden. 

4) So N.D.I, 1, 2: quod maxime veri simile est et quo onınes duce nalura 
venimus, Deos esse; und am Schluss der Schrift, III, 40, 95: ita discessimus, 
ut Vellejo Cottae disputatio verior, mihi Balbi ad veritatis similitudinem vide- 


Philosophischer Standpunkt. ösil 


Karneades gewesen sei 1), diess liesse sich aus derartigen Aeusse- 
rungen doch nur dann schliessen, wenn sein ganzes Verfahren 
mit denselben übereinstimmte. Dem ist jedoch nicht so. Seine 
Ueberzeugungen sind allerdings nicht so festund entschieden, dass 
er ihnen unbedingt vertraute, und er ist derselben nie so sicher, 
dass er sich nicht die Möglichkeit vorbehielte, über die gleichen 
Gegenstände ein andermal auch eine andere Meinung zu haben; 
ja er ist oberflächlich genug, sich dieser Unbeständigkeit noch zu 
rühmen 52. Aber auch sein Zweifel ist zu ungründlich, um ihn 
von Behauptungen abzuhalten, welche ein Neuakademiker nicht 
mit solcher Bestimmtheit vortragen durfte. Nennt er auch das 
Dasein der Götter nur wahrscheinlich, so fügt er doch sofort bei, 
mit dem Glauben an die Vorsehung werde alle Frömmigkeit und 
Gottesfurcht, die menschliche Gemeinschaft und die Gerechtigkeit 
aufgehoben 5); was er unmöglich sagen konnte, ‘wenn jener 
Glaube für ihn nur den Werth einer, sei es noch so wahrschein- 
lichen, Vermuthung hatte. Wenn er sich ferner für die Wahrheit 
des Götterglaubens auf seine Allgemeinheit beruft, so thut er diess 
ohne jede Einschränkung in eigenem Namen 2). Ebenso verhält 
es sich, wie wir finden werden, mit seiner Ausführung des teleo- 
logischen Beweises, mit seinen Aeusserungen über die Einheit 
Gottes und die göttliche Weltregierung, über die Würde des Men- 
schen und die Unsterblichkeit der Seele. An eine folgerichtige 
Skepsis ist hier nichtzu denken: der Philosoph misstraut wohl dem 
menschlichen Erkennen und hält im Allgemeinen eine grössere 
oder geringere Wahrscheinlichkeit für das höchste, was sich er- 
reichen lässt; aber er behält sich dabei vor, von dieser Ansicht in 
allen den Fällen eine Ausnahme zu machen, wo ein überwiegen- 
des sittliches oder gemüthliches Bedürfniss eine festere Ueberzeu- 
gung verlangt. 


retur esse propensior. Tusc. IV, 4, 7: sed defendat quod quisque sentit; sunt 
enim judicia libera: nos .... quid sit in quaque re maxime probabiüe semper 
requiremus. V, 29, 82 f. Acad. II, 20, 66: ego vero ipse et maynus quidem sum 
opinator, non enim sum sapiens u. 8. w. Vgl. 8. 583, 1. 

1) Burmeister, Cie. als Neuakademiker. Oldenb. 1860 (Gymn.progr.). 

2) Tusc. V, 11, 33 s. u. 585, 1. 

ΠΡ 2,3 f 

4) 8. 8.585, 4. 586, 1. 


5823 Cicero. 


Diese zuversichtlichere Behandlung der praktischen Fragen 
hat aber bei Cicero um so mehr zu bedeuten, je ausschliesslicher 
sich, seiner Ansicht nach, die ganze Aufgabe der Philosophie in 
ihnen zusammenfasst. Giebter auch zu, dass das Wissen an und für 
sich ein Gut sei, ja dass es den reinsten und höchsten Genuss ge- 
währe '), und dehnt er auch dieses Zugeständniss ausdrücklich 
mit auf die Physik aus ?), so erscheint ihm doch nicht die Erkennt- 
niss als solche, sondern ihre Einwirkung auf's Leben als der letzte 
Zweck der philosophischen Untersuchung. Das Wissen vollendet 
sich nur im Handeln, dieses hat daher höheren Werth, als jenes ?); 
die Untersuchung über das höchste Gut ist die wichtigste und für 
die ganze Philosophie entscheidende 5): die beste Philosophie ist 
die des Sokrates, welche sich nicht um Dinge bekümmert, die 
über unsern Gesichtskreis hinausliegen, und von der Unsicherheit 
des menschlichen Wissens überzeugt, sich ganz den sittlichen Auf- 
gaben zuwendet °). Der eigentliche Zweck der Philosophie lässt 
sich also trotz der Beschränktheit unseres Erkennens erreichen; 
wir wissen nichts absolut gewiss, aber wir wissen doch das Wich- 
tigste so gewiss, als wir es zu wissen brauchen; der Skepticismus 
ist hier nur die Unterlage für eine Denkweise, welche sich bei 
dem praktisch Nützlichen beruhigt, und eben weil diese Richtung 
auf’s Praktische dem Sinn des Römers und des Geschäftsmanns am 
meisten zusagte, war wohl Cicero auch empfänglicher für die 
Lehre des Karneades, als er es sonst gewesen sein würde: weil 
ihm die rein theoretischen Untersuchungen zum Voraus werthlos 
und transcendent erscheinen, so lässt er sich auch den wissen- 
schaftlichen Beweis ihrer Unmöglichkeit gefallen, sobald dagegen 
seine praktischen Interessen vom Zweifel berührt werden, tritt er 
den Rückzug an, und giebt sich lieber bei einem schlechten Aus- 
weg zufrieden, als dass er die unerlässlichen Folgerungen aus 
seinen eigenen skeptischen Behauptungen einräumte. 


1) Fin. I, 7, 25. Tusc. V,24 ἢ N.D. II, 1,3 vgl. ἃ: folg. Anm. 

2) Acad. II, 41, 127. Tusc. V, 3, 9. 24, 69. Fin. IV, 5, 12. Fragm. aus 
dem Hortensius Ὁ. Auctstın. De trin. XIV, 9. 

3) Of. I, 43, 153 vgl. ο. 9, 28. c. 21, 71. 

4) Fin. V, 6, 15: hoc [summo bono] enim constituto in philosophia consti- 
tuta sunt omnia u. δ. W. 

5) Acad. I, 4, 15 vgl. m. Fin. II, 1, 1. Tusc. V, 4, 10. 


Aufgabe der Philosophie. Erkenntnissquelle. 533 


Fragt man nun, woher wir unsere positiven Ueberzeugungen 
schöpfen sollen, so haben wir bereits die Erklärung vernommen, 
dass sich das Wahrscheinliche am Besten durch Vergleichung und 
Prüfung der verschiedenen Ansichten finden lasse: das Positive zu 
Cicero’s Zweifeln ist jener Eklektieismus, den wir sogleich noch 
weiter kennen zu lernen Gelegenheit haben werden 1). Aber um 
zwischen den entgegengesetzten Meinungen zu entscheiden, müssen 
wir den Maasstab der Entscheidung in Händen haben, und da nun 
die philosophische Untersuchung eben’ in jener Prüfung der ver- 
schiedenen Ansichten bestehen soll, so muss dieser Maasstab 
schon vor jeder wissenschaftlichen Untersuchung gegeben sein. 
Als unmittelbar gegeben erscheint nun ein Doppeltes: das Zeug- 
niss derSinne und das Zeugniss des Bewusstseins. Auch das erstere 
wird von Cicero, trotz der vielen Klagen über die Sinnestäuschun- 
gen, nicht verschmäht; er findet, dass es gegen die Natur wäre, 
dass es alles Leben und Handeln unmöglich machen müsste, wenn 
man keine Ueberzeugung annehmen (probare, nicht assentiri) 
wollte, und dass unter dem, was sich uns mit der grössten Wahr- 
scheinlichkeit aufdrängt, die sinnliche Gewissheit eine der ersten 
Stellen einnehme ?); er gebraucht aus diesem Grunde den sinn- 
lichen Augenschein als Beispiel der höchsten Gewissheit °); und 
er selbst beruft sich in allen seinen Schriften mit Vorliebe auf die 
Erfahrung und die geschichtlichen Thatsachen. Das Hauptgewicht 


1) Hier genüge es daher an den charakteristischen Aeusserungen Off. III, 
4, 20: nobis autem nostra Academia magnam licentiam dat, ut quodcunque ma- 
xzime probabile occurrat id nostro jure liceat defendere. Tusc. V, 11,33: 7% 
quidem tabellis obsignatis agis mecum et testificaris quid dixerim aliquando aut 
scripserim. cum aliis isto modo, qui leyibus impositis disputant, nos in diem 
vivimus; quodcungque nostros animos probabilitate percussit id dieimus; itaque 
soli sumus liberi. 

2) Acad. II, 31, 99: tale visum nullum esse, ut perceptio consequeretur, ut 
autem probatio, multa. etenim contra naturam esset, si probubile nihil esset, et 
sequitur omnis vitae .. eversio. itaque et sensibus probanda multa sunt u. 5. w. 
quaecunque res eum [sapientem] sic attinget, ut sit visum illud probabüe neque 
ulla re impeditum, (vgl. Karneades) movebitur. non enim est e saxo sculptus 
aut e robore dolatus. habet corpus, habet animum: movetur mente, movetur sen- 
sibus: ut ei multa vera videantur u. 8. w. neque nos contra sensus aliter dieimus, 
ae Stoiei u. 8. f. 

3) A. a. 0. c. 37, 119. 


δ54 j Cicero. 


musste er jedoch, seiner ganzen Richtung nach, auf die andere 
Seite, auf das Zeugniss unseres Inneren legen, denn nicht die 
äussere, sondern die sittliche Welt ist es, der sein Interesse an- 
gehört, und in seiner Sittenlehre selbst schliesst er sich durch- 
aus an diejenigen Philosophen an, welche die Unabhängigkeit 
vom Aeussern und die Herrschaft über die Sinnlichkeit zu ihrem 
Wahlspruch gemacht haben. Alle unsere Ueberzeugung beruht 
daher nach Cicero in letzter Beziehung auf der unmittelbaren in- 
neren Gewissheit, auf dem natürlichen Wahrheitsgefühl oder dem 
‚angeborenen Wissen, und es wird diese Ansicht, welche in der 
späteren, namentlich der christlichen Philosophie so bedeutenden 
Einfluss gewonnen hat, von ihm zuerst mit Bestimmtheit ausge- 
sprochen !); denn war ihm auch Plato und Aristoteles, Zeno und 
Epikur mit verwandten Lehren vorangegangen, so werden doch 
unsere früheren Untersuchungen gezeigt haben, dass keiner von 
diesen ein angeborenes Wissen im strengen Sinn gelehrt hat: die 
Erinnerung an die Ideen muss nach Plato durch methodisches Stu- 
dium geweckt und ihr Inhalt festgestellt werden, zu den unbe- 
weisbaren Principien erheben wir uns nach Aristoteles auf dem 
wissenschaftlichen Wege der Induktion, selbst die πρόληψις Epi- 
kur’s und die χοιναὶ ἔννοια! der Stoiker sind nur aus der Erfahrung 
abstrahirt. Hier dagegen wird ein aller Erfahrung und Wissen- 
schaft vorangehendes Wissen um die wichtigsten Wahrheiten be- 
hauptet. Die Keime der Sittlichkeit sind uns angeboren, würden 
sie sich ungestört entwickeln, so wäre die Wissenschaft entbehr- 
lich; nur durch die Verkrümmung dieser natürlichen Anlage 
entsteht das Bedürfniss einer künstlichen Bildung zur Tugend ?). 
Das Rechtsbewusstsein ist dem Menschen von Natur eingepflanzt, 
erst in der Folge bildet sich ein Hang zum Bösen, der es ver- 
dunkelt °). Die Natur hat unserem Geiste nicht blos eine sittliche 


1) Möglich allerdings, dass er dabei Philo und Antiochus folgte; inwie- 
weit diess aber der Fall war, lässt sich nicht mehr sicher ausmitteln. 

2) Tuse. III, 1, 2: sunt enim ingeniis nostris semina innata virtutum; quae 
si adolescere liceret, ipsa nos ad beatam vitam natura perduceret; nur die Ver- 
dunklung des natürlichen Bewusstseins durch üble Gewöhnung und falsche 
Meinungen mache eine Lehre und Wissenschaft nöthig. 

3) Legg. I, 13, 33: atque hoc in omni hac disputatione sic intelligi volo, 
Jus quod dicam natura esse, tantam autem esse corruptelam malae consuetudinis, 


” - - 
Angeborenes Wissen. Bieh] 


Anlage, sondern auch die sittlichen Grundbegriffe selbst vor aller 
Unterweisung als ursprüngliche Mitgift verliehen, nur die Ent- 
wieklung dieser angeborenen Begriffe ist es, die uns obliegt 2); 
unmittelbar mit der Vernunft sind auch die Triebe gegeben, welche 
den Menschen zur sittlichen Gemeinschaft mit Andern und zur Er- 
forschung der Wahrheit hinziehen ?). Das Wesen der sittlichen 
Thätigkeit lässt sich daher nicht allein aus der Anschauung aus- 
gezeichneter Menschen, sondern auch aus dem allgemeinen Be- 
wusstsein mit grösserer Sicherheit abnehmen, als aus jeder Be- 
griffsbestimmung, und je näher der Einzelne noch der Natur steht, 
um so reiner wird er diese in sich abspiegeln: wir lernen von den 
Kindern, was der Natur gemäss ist ?). Auf dem gleichen Grunde 
ruht der Glaube an die Gottheit: vermöge der Gottverwandtschaft 
des menschlichen Geistes ist das Gottesbewusstsein unmittelbar mit 
dem Seibstbewusstsein gegeben; der Mensch darf sich nur seines 
eigenen Ursprungs erinnern, um zu seinem Schöpfer geführt zu 
werden *). Die Natur selbst belehrt uns daher über das Dasein 
Gottes’), und der stärkste Beweis für diese Wahrheit ist ihre all- 


ut ab ea tanquam igniculi ewstinguantur a natura dati exorianturque et confir- 
mentur vitia contraria. 


1) Fin. V, 21, 59: /natura homini] dedit talem mentem, quae omnem vir- 
tutem accipere posset, ingenuitque sine doctrina notitias parvas rerum 
mazimarum et quasi instituit docere et induxit in ea quae inerant tanquam 
elementa virtutis. sed virtutem ipsam inchoavit, nihil amplius. itaque nostrum 
est (quod nostrum dico, artis est), ad ea principia quae accepimus consequentia 
exquirere, quoad sit id quod volumus effectum. 

2) Fin. II, 14, 46: eademque ratio fecit hominem hominum appetentem 
τ. 5. γγ. ... eadem natura cupiditatem ingenuit homini veri inveniendi u. 5. f. 
Weitere Belege für diese Sätze sind leicht zu finden. 

3) A. a. O. 14,45: [honestum] quale sit non tam definitione qua sum usus 
intelligi potest ... gquam communi omnium judieio atque optimi cujusque studüs 
atque factis. Ueber denselben Gegenstand ebd. V, 22, 61: indicant pueri in 
quibus ut in speculis natura cernitur. 

4) Legg. I, 8, 24: animum ... esse ingeneratum a Deo: ex quo vere vel 
agnatio nobis cum coelestibus vel genus τοὶ stirps appellari potest. itaque ex tot 
generibus nullum est animal praeter hominem quod habeat notitiam aliquam Dei. 
ipsisque in hominibus nulla gens est neque tam immansueta neque lam fera, quae 
non, etiamsi ignoret qualem habere Deum deceat, tamen habendum sciat. er quo 
effieitur illud, ut is agnoscat Deum, qui unde ortus sit quasi recordetur ac noscat. 

5) Tusc. I, 16, 36: Deos esse natura opinamur; vgl. N. D. 1, 1, 2. 


586 Cicero, 


gemeine Anerkennung; denn das, worin Alle ohne Verabredung 
übereinstimmen, muss immer als Ausspruch der Natur gelten '). 
Auch die Unsterblichkeit der Seele soll zu diesen angeborenen 
Wahrheiten gehören, von denen wir uns aus der allgemeinen 
Uebereinstimmung überzeugen ?), und ebenso scheint Cicero die 
Freiheit des Willens einfach als innere Thatsache vorauszusetzen °). 
Es wird hier also, mit Einem Wort, sowohl die Philosophie als die 
Sittlichkeit auf das unmittelbare Bewusstsein gegründet, dieses ist 
der feste Punkt, von welchem die Prüfung der philosophischen 
Ansichten ausgeht, und zu dem sie zurückkehrt. 

Die materiellen Ergebnisse der ciceronischen Philosophie 
haben wenig Eigenthümliches, und können desshalb hier nur kurz 
besprochen werden. Von den philosophischen Hauptwissenschaften 
wird die Dialektik nur in der schon erwähnten skeptischen Weise 
berücksichtigt. Aus dem Gebiete der Physik sind es blos theologi- 
sche und psychologische Untersuchungen, welche für Cicero einen 
Werth haben; anderweitige Fragen, wie die über die Vier- oder 
die Fünfzahl der Grundstoffe, über das stoflliche und das wirkende 
Princip und Aehnliches, werden nur in flüchtiger geschichtlicher 
Berichterstattung oder in skeptischer Vergleichung der verschie- 
denen Ansichten berührt. Die Hauptsache ist unserem Philosophen 
die Ethik. Ich beginne daher mit dieser. 

Cicero entwickelt seine sittlichen Grundsätze, wie seine ganze 


1) Tuse. I, 13, 30: firmissimum hoc aferri videtur, cur Deos esse creda- 
mus, quod nulla gens tam fera, nemo omnium tam sit immanis, cujus menten 
non imbuerit Deorum opinio. multi de Dis prava sentiunt; id enim vitioso more 
‚Jeri solet (man bemerke auch bier die Unterscheidung von mos und natura): 
omnes tamen esse vim et naturam divinam arbitrantur. nec vero id, collocutio 
hominum aut consensus effecit: nom institutis opinio est confirmata non legibus. 
omni autem in re consensio omnium gentium lex naturae putanda est (vgl. $. 35: 
omnium consensus naturae vox est). M.s. auch die vorletzte Anm. Wenn Cicero 
anderwärts seinen Akademiker diesen Beweis aus dem consensus gentium, wel- 
cher sowohl dem Epikureer als dem Stoiker in den Mund gelegt war (N.D. 
I, 16, 43 £. II, 2, 5), in Anspruch nehmen lässt (N. D. I, 23, 62. III, 4, 11), 
so deutet er doch auch hier an (I, 23, 62. III, 40, 95), was die Stellen der 
andern Schriften ausser Zweifel stellen, dass Cotta über diesen Punkt nicht 
seine Meinung ausspricht. 

2) Tusc. I, 12 £. 15, 35 £. 

3) De fato ὁ. 14. 


Moral. 957 


philosophische Ansicht, an der Kritik der vier gleichzeitigen 
Theorieen, der epikureischen, stoischen, akademischen und peri- 
patetischen. Von diesen vier Systemen tritt er nun dem ersten mit 
Bestimmtheit entgegen. Die epikureische Lustlehre scheint ihm 
‘ der natürlichen Bestimmung und den natürlichen Bedürfnissen des 
Menschen, den Thatsachen des sittlichen Bewusstseins und der 
sittlichen Erfahrung so auffallend zu widersprechen !), dass wir 
nicht nöthig haben werden, auf das Einzelne der Bemerkungen 
näher einzugehen, die er ihr im zweiten Buch der Schrift De Finibus 
und an andern Orten, durchschnittlich mehr im Tone des Redners, 
als in deın strengeren des Philosophen, entgegensetzt. Dagegen 
lauten seine Urtheile über die drei andern Ansichten keineswegs 
gleichmässig. Schon über das gegenseitige Verhältniss derselben 
kommt er nicht ganz mit sich in’s Reine. Denn bleibt er auch hin- 
sichtlich der Akademiker und Peripatetiker der Behauptung seines 
Lehrers Antiochus treu, dass diese zwei Schulen, wie überhaupt, 
so namentlich in ihrer Sittenlehre zusammenstimmen, und dass 
sich die weichlichere Moral eines Theophrast und späterer Peri- 
patetiker von der akademischen nicht weiter entferne, als von der 
altaristotelischen ?), so schwankt er doch darüber, ob er den 
Unterschied der Stoiker von diesen zwei Schulen für wesentlich 
oder für unwesentlich, für eine Abweichung in der Sache oder in 
den Worten erklären soll. Einerseits behauptet er wiederholt in 
eigenem Namen und mit aller Bestimmtheit, Zeno habe, in der 
Sache mit seinen Vorgängern ganz einig, nur die Ausdrücke ver- 
ändert ?), andererseits weiss er doch ein ziemlich langes Ver- 
zeichniss der Punkte aufzustellen, worin sich die stoische Moral 
von der akademisch-peripatetischen unterscheidet *), und von 
diesem Gegensatz, wie wir gleich sehen werden, mit voller An- 
erkennung seiner Bedeutung zu sprechen. Es ist gewiss die 
schlechteste Auskunft, wenn Cicero diesen Widerspruch damit 
entschuldigt, dass er als Akademiker der jeweiligen Wahrschein- 


1) Fin. 1,7, 23 £. II, 14 u. A. 

2) Acad. I, 6, 22. Fin. V, 3,7 £. 5, 12, vgl. 25, 75. Tusc. IV, 3, 6. V, 30, 
85. Off. III, 4, 20. 

3) Fin. IH, 3, 10 ἢ, IV, 20—26. V, 8, 22. 25, 74. 29, 88. Of. I, 2, 6. Tuse. 
V, 11, 34. 

4) Acad. 1, 10. 


88 Cicero, 


lichkeit ohne Rücksicht auf Consequenz zu folgen das Recht habe 7). 
Aber auch für sich selbst weiss er bei dieser Erörterung keinen 
ganz festen Standpunkt zu finden. So weit freilich die beider- 
seitigen Behauptungen übereinstimmen, in dem allgemeinen Grund- 
satz des naturgemässen Lebens und in der unbedingten Werth- 
schätzung der Tugend, ist er seiner Sache ganz sicher 35); sobald 
dagegen die Wege auseinandergehen, weiss er nicht mehr, welchem 
er folgen soll. Die Erhabenheit, die Folgerichtigkeit und die 
Strenge der stoischen Sittenlehre erregt seine Bewunderung; es 
erscheint ihm grossartiger, die Tugend für genügend zur Glück- 
seligkeit zu halten, zwischen dem Guten und dem Nützlichen nicht 
zu unterscheiden, als der entgegengesetzten Ansicht der Peri- 
patetiker beizupflichten 5); er findet ihre Zulassung der Affekte 
weichlich, ihre sittlichen Grundsätze bedenklich, denn was seiner 
Natur nach fehlerhaft sei, wie die Affekte, das dürfe man nicht 
blos beschränken, noch weniger als ein Hülfsmittel der Tugend 
pflegen, sondern nur ausrotten *); er wirft ihnen den Widerspruch 
vor, dass sie Güter annehmen, die der Glückselige entbehren, 
Uebel, die er ertragen könne, dass sie von der Glückseligkeit des 
Tugendhaften als solcher noch eine höchste Glückseligkeit, von 
dem vollendeten Leben ein mehr als vollendetes unterscheiden °). 
Er will daher seinerseits lieber der grösseren Denkweise folgen, 
er will den Weisen unter allen Umständen, auch im Stier des 
Phalaris, glücklich sprechen ©); er will selbst die bekannten 
stoischen Paradoxa wenigstens versuchsweise auf sich nehmen ). 
Untersuchen wir jedoch diesen Stoicismus genauer, so zeigt sich, 
dass er unserem Philosophen gar nicht so fest steht, als man nach 
diesen Aeusserungen glauben.könnte. Ein Weltmann, wie Cicero, 
kann sich nicht verbergen, dass die stoischen Anforderungen für 
die Menschen, so wie sie einmal sind, viel zu hoch sind, dass der 


1) ’Tuse. VW, 11,'33'8.'0..583, 1. 

2) Acad. I, 6, 22. Fin. IV, 10 u. A. 

3) Tuse. V, 1, 1. 25, 71. Off. III, 4, 20. M. vgl. zu dem Folgenden Rırres 
IV, 134 ff. 157 ft. 

4) Tuse. IV, 18 fi. Of. I, 25, 88 vgl. Acad. I, 10, 35. 38. 

5) Fin. V, 27 £. Το. V, 8—12. 15 ἢ 

6) Tuse. V, 26. 

7) Paradoxa, 


Moral. 559 


stoische Weise in der Wirklichkeit nicht gefunden wird ’), dass 
sich die stoische Moral nicht in’s tägliche Leben übertragen lässt 2); 
er kann unmöglich zugeben, dass alle Weisen gleich glückselig, 
‘alle Unweisen schlechthin elend seien, dass zwischen der ver- 
stocktesten Schlechtigkeit und dem leichtesten Vergehen kein 
Werthunterschied stattfinde ®). Er glaubt aber auch zeigen zu 
können, dass die stoische Strenge wissenschaftlich nicht gerecht- 
fertigt sei, ja dass sie den eigenen Voraussetzungen der Stoiker 
widerspreche; denn wenn der erste Grundsatz der des naturge- 
mässen Lebens sei, so gehöre zu dem, was der menschlichen 
Natur gemäss ist, auch das sinnliche Wohlbefinden, es gehöre 
dazu auch die Gesundheit, die Freiheit von Schmerzen, die un- 
getrübte Gemüthsstimmung, nicht einmal die Lust sei schlechthin 
zu verachten. Nicht das heisse naturgemäss leben, dass man sich 
von der Natur losreisse, sondern dass man sie pflege und erhalte 2). 
Diese Gründe ziehen unsern Eklektiker so stark auf die Seite der 
Peripatetiker, dass er sich wohl auch geradezu für einen der 
Ihrigen erklärt °). Das Wahre ist aber schliesslich doch nur in 
dem Bekenntniss ausgesprochen, dass ihn bald die Betrachtung 
seiner eigenen und der allgemein menschlichen Schwäche zu der 
laxeren, bald der Gedanke an die Erhabenheit der Tugend zu der 
strengeren Ansicht hinführe 5), wobei er sich über sein Schwanken 
durch die Ueberzeugung trösten mochte, dass dasselbe doch auf 
das praktische Verhalten keinen wesentlichen Einfluss üben werde, 
da auch bei der peripatetischen Ansicht der Tugend jedenfalls ein 
ungleich höherer Werth beigelegt werde, als allem Andern ἴ). 

Es dürfte schwer sein, in diesen Sätzen irgend ein neues 
Princip, und überhaupt in der ciceronischen Sittenlehre eine andere 
Eigenthümlichkeit, als die des Eklektikers und Popularphilosophen 


1) Läl. 5, 18 vgl. Off. III, 4, 16. 

2) Fin. IV, 9, 21. 

3) Fin. IV, 9, 21. 19, 55. 28, 77 £. vgl. Of. I, 8, 27. 

4) Fin. IV, 11—15. Cato 14, 46. Tusc. II, 13, 30. 

5) Im vierten Buch DeFinibus wird die peripatetische Ansicht von Cicero 
vorgetragen. 

G) Tusc. V, 1, 3. 

7) Of. III, 3, 11. 


590 1 Cicero. 


zu entdecken; denn auch das, worauf Rırter !) Gewicht legt, 
dass bei Cicero das Ehrenvolle (honestum) an die Stelle des 
Schönen (zx%öv) trete, und dass er im Zusammenhang damit dem 
Ruhm einen grösseren Werth beilege, als die Griechen, — auch 
dieses ist theils nur eine Verschiedenheit des Sprachgebrauchs, 
welche auf den Inhalt des Moralprincips keinen Einfluss hat, theils 
nur ein Zugeständniss an den römischen Volksgeist, das bei dem 
Mangel an einer wissenschaftlichen Begründung höchstens nur als 
ein weiterer Beweis von der Unsicherheit des ciceronischen Philo- 
sophirens in Betracht kommen könnte. Um so weniger werden 
wir hier auf das Einzelne der eiceronischen Pflichten- und Staats- 
lehre weiter, als diess schon früher geschehen ist ?), einzugehen 
Anlass haben. So treffend auch manche von seinen Bemerkungen 
über diese Gegenstände sein mögen, so will sich doch zu wenig 
Zusammenhang derselben mit bestimmten philosophischen Grund- 
sätzen zeigen, um ihnen eine Bedeutung für die Geschichte der 
Philosophie beizulegen. Dagegen müssen wir Cicero’s Ansichten 
über die Gottheit und über das Wesen der Seele noch kurz be- 
rühren. 

Der Glaube an eine Gottheit scheint unserem Philosophen, 
wie schon oben bemerkt wurde, nicht blos durch das unmittelbare 
Bewusstsein, sondern auch durch das sittliche und politische 
Interesse gefordert zu werden. Mit der Religion, glaubt er, würde 
die Treue und die Gerechtigkeit und alles menschliche. Gemeinleben 
untergehen ?). Aber auch die übrigen Beweise für das Dasein 
Gottes werden nicht schlechthin von ihm verschmäht, und nament- 
lich der teleologische Beweis wird trotz der akademischen Kritik, 
die ihn in seiner stoischen Form trifft *), mit voller Ueberzeugung 
vorgetragen °). Was das Wesen der Gottheit betrifft, so ist es 
Cicero ohne Zweifel ernst mit der Erklärung, die er seinem Aka- 
demiker in den Mund legt, dass sich darüber nichts mit vollkom- 


1) IV, 162 fi. 

2) 8. 256 ἢ. 

3) N.D.1, 2, 4, vgl. Il, 61, 153. Daher N. Ὁ. III, 2, 5. Legg. I, 7, 15 
die Aeusserungen über die politische Nothwendigkeit der Religion. 

4) N. D. III, 10, 24. 11, 27. 

5) Divin. II, 72, 148. Tusc. I, 28 £. 


Theologie. >91 


mener Sicherheit bestimmen lasse 1); sofern aber das Wahr- 
scheinliche ausgemitielt werden soll, glaubt er nicht blos die Ein- 
heit Gottes voraussetzen zu dürfen ?), sondern auch seine Gei- 
‘ stigkeit ?), die er aber freilich nicht ganz streng fasst, wenn er 
die Möglichkeit offen lassen will *), dass der göttliche Geist mit 
den Stoikern als Luft oder Feuer, oder dass er mit Aristoteles — 
so wie er diesen verstanden hat °) — als ätherisches Wesen ge- 
dacht werde; in dem Traume Scipio’s wird, gleichfalls dem miss- 
verstandenen Aristoteles gemäss, der äusserste Himmel selbst für 
den höchsten Gott erklärt ©%). Indessen hatte diese nähere Bestim- 
mung der Vorstellung von der Gottheit für Cicero selbst wohl 
schwerlich vielen Werth. Ungleich wichtiger ist ihm der Vor- 
sehungsglaube, wenn er ihh gleich von seinem Akademiker eben- 
falls bezweifeln lässt °): da er die Religion vorzugsweise aus dem 
praktischen Gesichtspunkt betrachtet, so fasst sich ihm in dem 
Glauben an eine göttliche Weltregierung die ganze Bedeutung 
derselben zusammen 5); als das Abbild der göttlichen weltregieren- 
den Weisheit wird das Rechts- und Sittengesetz betrachtet). Zur 
Volksreligion war auf diesem Standpunkt nur ein negatives oder 
äusserliches Verhältniss möglich, wenigstens wenn man den Ge- 


1) N.D. I, 21, 60 £. vgl. III, 40, 95. 

2) Tuse. I, 23. 27. Legg. I, 7, 22. Somn. Seip. (Rep. VI, 17) 8, 8 u. ὃ. 

3) Tusec. I,27,66: nec vero Deus ipse qui intelligitur a nobis alio modo intel- 
ligi potest, nisi mens soluta quaelam et libera, segregata ab omni concretione 
mortali, omnia sentiens et movens ipsaque praedita motu sempiterno. Rep. VI, 
17,8. Leg. II, 4, 10 u. A. 

4) Tusc. I, 26, 65 vgl. ce. 29. 

5) Tuse. I, 10, 22. N.D. I, 13, 33. Acad. I, 7, 22. 

6) Rep. VI, 17, 4. 

7) N. Ὁ. III, 10. 25—39. Wenn Rırter IV, 147. 150 aus diesen Stellen 
herausliest, dass Cicero die Vorsehung bezweifle und das Natürliche und Gött- 
liche sich entgegensetze, dass er auf der einen Seite einen naturlosen Gott, 
auf der andern eine gottlose Natur habe, so kann ich nicht beistimmen, denn 
nichts berechtigt uns, angesichts so vieler entgegengesetzten Erklärungen 
(wie gleich N. Ὁ. III, 40), Cicero’s eigene Ansicht mit der bier vorgetragenen 
zu identifieiren. 

8) Viele Stellen, in denen Cicero von der Vorsehung handelt, sind bei 
Künser a. ἃ. Ο. S. 199 angeführt; ich verweise hier nur auf Tusc. 1, 49, 118, 
N.D.1, 2,3. Legg. I, 7. III, 1,3. 

9) Legg. 1], 4, 8. 


# 


592 Cicero. 


waltsamkeiten der stoischen Orthodoxie nicht zu folgen wusste; 
wenn daher Cicero die bestehende Religion und selbst die be- 
stehende Superstition im Staate aufrecht erhalten wissen will, so 
geht er doch dabei durchaus nur von politischen Erwägungen 
aus !); er für seine Person macht nicht blos keinen Versuch, den 
Polytheismus und seine Mythen in stoischer Weise zu rechtfertigen, 
sondern er zeigt auch durch manche Aeusserungen, und vor 
Allem durch die scharfe Kritik, welche er im dritten Buch De 
natura Deorum über den volksthümlichen Götterglauben, und im 
zweiten De divinatione über die Mantik ergehen lässt, wie ferne 
er selbst der Volksreligion steht. Die Ehrfurcht vor der Gottheit, 
welche sich mit einer richtigen Naturansicht verträgt und mit der 
wahren Sittlichkeit zusammenfällt, soll gefördert, die bestehende 
Religion soll zum Besten des Gemeinwesens erhalten, der Aber- 
glaube dagegen soll mit der Wurzel ausgerottet werden ?), diess 
ist mit zwei Worten das theologische Glaubensbekenntniss Cicero’s. 

Mit dem Glauben an die Gottheit hängt nun nach Cicero’s 
Ansicht, wie schon gezeigt wurde, die Ueberzeugung von der 
Würde der menschlichen Natur auf’s Engste zusammen. Auch 
diese Ueberzeugung heftet sich ihm ungleich mehr an die innere 
Erfahrung und das sittliche Selbstbewusstsein, als an eine philo- 
sophische Theorie über das Wesen der Seele. Wenn wir die Fülle 
unserer Anlagen, die Erhabenheit unserer Bestimmung, den hohen 
Vorzug, welchen uns die Vernunft verleiht, in's Auge fassen, so 
werden wir uns unserer höheren Natur und Abstammung bewusst?). 
Demgemäss betrachtet Cicero die Seele, an die stoische und plato- 
nische Lehre anknüpfend, als einen Ausfluss der Gottheit, als ein 
Wesen von überirdischer Abkunft *), ohne dass er sich doch be- 
mühte, diese Vorstellung genauer auszuführen, und namentlich 
das Verhältniss zwischen jener überirdischen Abstammung der 


1) Ν. Ὁ. II, 2,5. Legg. II, 7 f. 13, 32. Divin. II, 12, 28. 33, 70. 72, 148. 

2) Divin. II, 72, 148 £. N. Ὁ. II, 28, 71 (oben 290, 1). 

3) Legg. I, 7 ἢ. 22 ἢ Rep. VI, 17, 8. 

4) Tuse. I, 27: animorum nulla in terris origo inveniri potest u. 5. w. Ebd. 
25, 60. Legg. I, 8, 24: exstitisse guandam maturitatem serendi generis humani, 
quod sparsum in terras atque satum divino auctum sit animorum mumere. cCum- 
que alia quibus cohaerent homines e mortali genere sumserint, quae fragiia 
essent et caduca, animum tamen esse ingeneratum a Deo. Vgl. Cato 21, 77. 


Anthropologie. 593 


Seele und der materiellen des Leibes zu bestimmen. Wie er aber 
über das Wesen Gottes unsicher ist, so äussert er sich auch 
schwankend über das Wesen der Seele, und wenn auch seine 
Neigung unverkennbar dahin geht, sie für eine immaterielle, oder 
doch für eine von jedem irdischen Stoff verschiedene Substanz zu 
erklären 1), so will er doch auch die Möglichkeit, dass sie aus 
Luft oder Feuer bestehe, nicht schlechthin zurückweisen; nur die 
gröbere Stofllichkeit des Körpers spricht er ihr unbedingt ab ?). 
Die Unsterblichkeit der Seele vertheidigt er ausführlich, theils aus 
dem unmittelbaren Bewusstsein und der allgemeinen Ueberein- 
stimmung °), theils mit den platonischen Beweisen *); wenn er 
nebenbei die Todesfurcht auch für den Fall zu beschwichtigen sucht, 
dass die Seelen im Tod untergehen °), so ist diess nur die Vor- 
sicht des Akademikers und des praktischen Mannes, der die sittliche 
Wirkung seiner Reden von allen theoretischen Voraussetzungen 
möglichst unabhängig machen möchte. Wie die Unsterblichkeit, 
so sucht Cicero auch die Willensfreiheit im gewöhnlichen Sinne zu 
beweisen, ohne dass doch aus der lückenhaft überlieferten Schrift, 
welche er diesem Gegenstand gewidmet hat 5), eine selbständige 
psychologische Forschung hervorgienge. 

Diese Züge werden genügen, um die Stellung, welche wir 
Cicero angewiesen haben, zu rechtfertigen, und ihn neben seinem 
Lehrer Antiochus als den eigentlichsten Vertreter des philosophi- 
schen Eklekticismus in dem letzten Jahrhundert vor dem Anfang 
unserer Zeitrechnung zu beurkunden. Wie wenig er aber mit die- 
ser Art des Philosophirens unter seinen Zeit- und Volksgenossen 
allein steht, wird aus unsern früheren Nachweisungen über die 
Schule des Antiochus °) hervorgehen. Unter den römischen An- 


2): Zuse>],.27; 29,70. 

2) Tuse. I, 25, 60: non est certe nec cordis nec sangquinis nec cerebri nec 
atomorum. anima sit animus ignisve nescio; nec me pudet, ut istos, fateri, me 
nescire quod nesciam. Ebd. 26, 65. 29, 70. 

3) Tusc. I, 12 ff. Lael. 6. 4. Cato c. 21 fl. 

4) Tusc. I, 22 ff. Rep. VI, 17, 8. Cato 21, 78. 

5) Tuse. I, 34 ff. Ep. ad Famil. V, 16. 

6) De fato. Die Hauptsätze dieser Schrift, e. 11, sind dem Karneades 
entnommen. 

7) 8. 540 ff. 

Philos. ἃ. Gr. III. B. 1. Abth. 33 


ῃ 


ὅ94 Varro. 


hängern dieser Denkweise war neben Cicero sein gelehrter Freund 
M. Terentius Varro !) wohl der bedeutendste. Seine Haupt- 

leistung liegt freilich auf einem anderen Gebiete ?); als Philosoph 
stand er, wie sich annehmen lässt, hinter Cicero nicht blos an 
weitgreifender Wirkung, sondern auch an Selbständigkeit des Ur- 
theils zurück, wenn auch vielleicht seine geschichtliche Kenntniss 
der griechischen Philosophie gründlicher und vollständiger war. 
Aber doch musste immer auch die philosophische Richtung, der 
ein so berühmter Gelehrter 57) und ein so vielbenützter Schriftstel- 
ler folgte, von Einfluss sein. Diese Richtung war nun nach Ci- 
cero’s Versicherung *) die des Antiochus, welchen Varro in 
Athen gehört hatte °); und damit streitet es nicht, dass in Varro’s 
Behandlung der Götterlehre, seinem freien Urtheil über die My- 
thologie und seiner ganzen Stellung zur Volksreligion %), wie in 


1) Das Leben Varro’s fällt, wenn er 729 a. u. c. fast 90jährig starb 
(Hıeron. zu Eus. Chron. Ol. 188 f. vgl. Pıw. ἢ. nat. XXIX, 18, 65, nach dem 
er im 83sten Jahr noch als Schriftsteller thätig war, und Var. Max. VIH, 
7,3: er habe ein Säculum gelebt und geschrieben), zwischen 115 und 25 v. 
Chr. Im Uebrigen vgl. m. über ihn die römischen Litteraturgesehichten, Bäur 
in Paury's Realencykl. d. klass. Alterth. VI, 1688 ff. und die dort Angeführ- 
ten, KriıscHae in den Gött. Stud. 1845, II, 172 f., Rırscht „die Schriftstellerei 
des M. Ter. Varro“, Rhein. Mus. N. F. VI, 481 -- 800. 

2) Wie ihn diess Cıc. Acad. I, 2, 4 ff. selbst aussprechen lässt, wiewohl 
er vorher auch sein philosophisches Wissen gerühmt hat. 

3) Doctissimus Romanorum nennt ihn’ Senzca ad Helv. 8, i mit Recht; 
ebenso sagt Cıc. Acad. Fr. 36 (Ὁ. Ausustın. Civ. Ὁ. VI, 2) von ihm: komine 
omnium facile acutissimo et sine ulla dubitatione doctissimo, und Ausustın 
a. a. O., er sei doctrina aique sententüs ita refertus, dass er in sachlicher Be- 
ziehung ebenso viel leiste, wie Cicero als Stylist. 

4) Ad Att. XIII, 12: ergo illam ἀχαδημιχὴν ... ad Varronem transferamus. 
etenim sunt "Ἀντιόχεια, quae iste valde probat.‘ Ebd. 19. Ebd. 25. Varro ist be- 
kanntlich in der zweiten Bearbeitung der Academica (Acad. I, 4 fi.) die 
Lehre ‚des Antiochus in den Mund gelegt. Mit dem, was 8. 537 über An- 
tiochus angeführt ist, stimmt auch Acad. I, 2, 6: nostra tu physica nosti: quae 
cum conlineaniur ex eflectione et ex materia ea, quam fingit et format ejfectio 
u. 8. Ὑ-. 

5) Cıc. Acad. I, 8,12. 1,1. 8. ad Famil. IX, 8. Avsusr. Civ. D. XIX, 3, 2: 
Varro asserit, auetore Antiocho, magistro Ciceromis et suo. 

6) Nach Aucustin. Civ. D. VI, 2 fi. (vgl. Prerver Röm. Mythol. 29 ff.) 
hatte Varro von den 41 Büchern seiner Antiquitates (deren Inhalt und Ein- 
theilung ebd. angegeben wird) 16 den res divinae, und unter diesen die drei 


Theologie. 595 


letzten den Göttern gewidmet. Hier unterschied er nun (c. 5) drei Arten der 
Theologie: die mythische, oder die der Dichter, die physische, oder die der 
Philosophen, die bürgerliche, oder die der Staaten. In der ersten sei vieles, 
was der Würde und dem Wesen der Gottheit zuwiderlaufe; in hoc enim est, 
ut Deus alius ex capite alius ex femore sit alius ex guttis sanguinis natus: in 
hoc, ut Dii furati sint, ut adulteraverint, ut servierint homini: denique in hoc 
omnia Diis attribuuntur, quae non modo in hominem, sed etiam quae in con- 
temtissimun hominem eadere possunt. Der zweiten gehören die Untersuchun- 
gen der Philosophen über die Natur und den Ursprung der Götter an: ana 
sempiterno fuerint, an ex igne sint, ut credit Heraclitus; an ex numeris, ut 
Pythagoras; an ex atomis, ut ait Epicurus. sic alia, quae facilius intra parietes 
in schola, quam extra in foro ferre possunt aures. Für diese philosophische 
Theologie fallen demnach die Götter mit den Theilen der Welt, den Gestir- 
nen, Elementen u. s. w. zusammen. Tertium genus est, quod in urbibus cives, 
mazime sacerdotes, nosse atque administrare debent. in quo est, quos Deos 
publice colere, quae sacra et sacrificia facere quemque par sit. Von diesen drei 
Formen der Theologie sei prima mazxime accomodata ad theatrum, secunda 
ad mundum, tertia ad urbem. Die letztere sei (c. 6) aus den zwei ersten ge- 
mischt; denn ea, quae scribunt poetae, minus esse, gquam ut populi sequi debeant; 
quae autem philosophi, plus quam ut ea vulgum scrutari expediat (womit nicht 
streitet, dass Varro, wie Aug. beifügt, auch wieder gesagt hatte, physicos 
utilitatis causa scripsisse, poetas delectationis: nützlich sind ihre Lehren nur 
denen, die sie verstehen, nicht dem Volke). Diese öffentliche Religion be- 
trachtete aber Varro als eine rein bürgerliche Einrichtung, und ebendesshalb 
hatte er (a. a. OÖ. c. 4) über die res humanae vorher gehandelt, als über die 
divinae, weil die Staaten früher seien, quam ea quae a civitatibus sunt insti- 
tuta; denn er wollte (wie man auch aus c. 7 ff. sieht) in seinem Werke nur 
die theologia eivilis darstellen: δὲ de omni natura Deorum et hominum seribe- 
remus (wenn er diese Gegenstände philosophisch behandeln wollte), prius 
divina absolvissemus, quam humana attigissemus. Unter seinen römischen 
Landsleuten war Varro sowohl in der Unterscheidung der dreifachen Theo- 
logie, als in dem Urtheil über die Mythologie der Pontifex Maximus Mucius 
Scävola (s. ο. 489, 2) vorangegangen, über den Aucusrıx C. Ὁ. IV, 27 be- 
richtet: relatum est in literas (wohl von Varro), doctissimum pontificem Scaevo- 
lam disputasse, tria genera tradita Deorum: unum a poätis, alterum a phüo- 
sophis, tertium a principibus civitatis. primum genus nugatorium dieit esse, 
quod multa de Diis fingantur indigna: secundum non congruere civitatibus, 
quod habeat aliqua supervacua, aliqua etiam quae obsit populis nosse. Was ist 
nun das letztere? fragt Augustin. Haec, inquit: non esse Deos Herculem, 
Aesculapium, Castorem, Pollucem: proditur enim a doctis, quod. homines fue- 
rint, et humana conditione defecerint. Ferner: quod eorum, qui sint Diü, non 
habeant civitates vera simulacra; quod verus Deus nec sexum habeat, πες aeta- 
tem nee definita corporis membra. Ist nun schon hiemit einsehr unumwundenes 
- Urtheil über die Volksreligion ausgesprochen, so erklärte sich Scävola noch 


. > 
38 * 


596 Varro. j 


seinen sonstigen Ansichten ), auch der Einfluss des Stoieis- 
mus stark hervortritt, da ja Antiochus gleichfalls die stoische Lehre 
mit der peripatetischen zu verbinden suchte. Er selbst hatte sich 
in seiner Schrift über die Philosophie, so weit Aususrisus darüber 
berichtet ?), ganz im Sinn des Antiochus ausgesprochen 3). Der 
alleinige Zweck der Philosophie ist, wie er hier ausführt, die 
Glückseligkeit des Menschen; für erheblich sind mithin nur die- 
jenigen Lehrunterschiede der philosophischen Schulen zu halten, 
welche sich auf die Bestimmung des höchsten Gutes beziehen 4). 
‘So gross daher auch die Zahl der möglichen Sekten an sich ist — 
Varro zählte deren, zum Theil freilich nach sehr äusserlichen 
Theilungsgründen, nicht weniger als 2885) — so lassen sich doch 


stärker über die Darstellungen der Dichter. Diese verwarf er gänzlich, quia 
sic videlicet Deos deformant, ut nec bonis hominibus comparentur, cum alium 
Faciunt furari, alium adulterare; sie item aliquid aliter, turpiter atque inepte 
dicere ac facere; tres inter se Deas certasse de praemio pulchritudinis, vietas 
duas a Venere Trojam evertisse; Jovem ipsum converti in bovem aut cygnum, 
ut cum aliqua concumbat; Deam homini nubere, Saturnum liberos devorare: 
nihil denique posse confingi miraculorum atque vitiorum, quod non ibi reperia- 
tur, atque a Deorum natura longe absit. Beide aber, sowohl Varro als Seä- 
vola, folgten in diesen Ansichten den Stoikern, und zunächst ohne Zweifel 
Panätius, dessen Schüler Scävola war, und dessen aufgeklärte Denkweise 
uns aus seinen Aeusserungen sichtbar entgegentritt; die Unterscheidung der 
dreifachen Theologie ist uns schon 8. 296, 1 als stoisch vorgekommen. 

1) Vgl. O. MürLer zu Varro De lingua lat. S. V f., welcher nur Cicero’s 
Aussagen desshalb nicht bezweifeln sollte. Gegen ihn Krıscae ἃ. ἃ. Ὁ, Varro 
hatte auch einen Stoiker, L. Aelius Stilo, zum Lehrer Cıc. Brut. 56, 205. 
Acad. 1, 2, 8. 

2) Civ. Ὁ. XIX, 1—3. 

3) M. vgl. zum Folgenden, was 8. 535 ff. über Antiochus beigebracht 
ist; wobei zu bemerken ist, dass Varro’s Buch nach Cıc. Acad. I, 2, 4 fi. 
Jünger ist, als die dort benützten ciceronischen Darstellungen, von denen 
ohnedem auch nur die eine Varro in den Mund gelegt wird. 

4) A.a.0. 1, 3: neque enim existimat ullam philosophiae sectam esse dicen- 
dam, quae non eo distet a ceteris, quod diversos habeat fines bonorum et malo- 
rum. quandoquidem nulla est homini causa philosophandi, nisi ut beatus sit: 
quod autem beatum facit, ipse est finis boni: nulla est igitur causa philosophandi, 
nisi Jinis boni: quamobrem quae nullum boni finem sectatur, nulla philosophiae 
secta dicenda est. 

5) Für ihre Ableitung geht Varro ἃ, ἃ. Ο. 1,2 so zu Werke. Es gebe, 
sagt er, vier natürliche Gegenstände des Begehrens: die sinnliche Lust, die 
Schmerzlosigkeit, diese beiden Stücke zusammen, und als Viertes die prima 


Ethik. 597 


alle auf wenige Hauptklassen zurückführen, wenn -wir mit Besei- 
tigung dessen, was die Fassung des höchsten Gutes selbst nicht 
berührt '), uns nur an die Hauptfrage halten. Diese betrifft aber 
das Verhältniss der Tugend zu dem ersten Naturgemässen ?), mit 
welchem auch über ihr Verhältniss zu allem hierin Begriffenen, 
und so namentlich auch zu der Lust und der Schmerzlosigkeit, ent- 
schieden ist. Soll das erste Naturgemässe um der Tugend willen, 
oder die Tugend um des Naturgemässen willen, oder sollen beide 
um ihrer selbst willen begehrt werden? Diess ist nach Varro die 
Grundfrage der ganzen Philosophie 3). Zur Beantwortung dieser 
Frage geht er nun auf den Begriff des Menschen zurück, da sich 
nur von bier aus entscheiden lasse, was für den Menschen das 
höchste Gut sei. Der Mensch ist aber weder blos Leib noch blos 
Seele, sondern er besteht aus beidem zusammen. Sein höchstes 
Gut muss daher sowohl aus Gütern des Leibes als aus Gütern der 
Seele bestehen, und es ist desshalb beides, das erste Naturge- 
mässe und die Tugend, um seiner selbst willen zu begehren 2). 


naturae überhaupt, welche ausser jenen auch alle andern natürlichen Vorzügs 
des Leibes und der Seele umfassen. Jedes dieser vier Stücke könne ferner um 
der Tugend (der zur Natur mittelst der Belehrung hinzukommenden Trefllich- 
keit) willen, oder es könne die Tugend um seinetwillen, oder es können beide 
selbständig begehrt werden. So erhalten wir zunächst 12 mögliche Sekten. 
Diese werden zu 24, sofern man sich jeder derselben entweder blos um des 
eigenen oder auch um fremden Wohls willen anschliesst. Diese 24 spalten 
sich wieder in 48, von welchen die eine Hälfte ihr Ziel als wahr verfolgt, wie 
die sämmtlichen dogmatischen Philosophen, die andere nur als wahrschein- 
lich, wie die neue Akademie. Da sich ferner jede derselben sowohl der ge- 
wöhnlichen, als der eynischen Lebensweise (habitus et consuetudo) bedienen 
kann, so ergeben sich statt der 48 sechsundneunzig. Weil es endlich in jeder 
dieser Sekten theils auf das theoretische (ofiosus), theils auf das praktische 
(negotiosus), theils auf ein aus beiden zusammengesetztes Leben abgesehen 
sein kann, müssen wir auch diese Zahl noch verdreifachen, und erhalten 
so 288. 

1) Dass es sich mit der Mehrzahl der von ihm genannten Unterschiede 
so verhalte, zeigt Varro selbst a. a. Ο. 1, 3. c. 2, Anf. 

2) Den prima naturae, primigenia naturae = τὰ πρῶτα χατὰ φύσιν 8. 0. 
‚192, 3. 237, 2. 238, 2. 

Θ᾽ ΑΓ ἃ, Ὁ. ο. 2. . 

4) C. 3,1. Dass hiebei die prima naturae, zu denen Varro im Vorher- 
gehenden auch die natürlichen Vorzüge und Anlagen des Geistes gezählt hat, 
Jetzt der Gesammtheit der leiblichen Güter gleichgesetzt werden, ist eine Un- 


ὅ95 Varro. 


Aber das höchste von diesen Gütern ist die Tugend, die durch 
Unterricht erworbene Lebenskunst). Indem sie das Naturgemässe, 
welches auch schon vor ihrer Entstehung vorhanden war, in sich 
aufnimmt, so begehrt sie nun Alles um ihrer selbst willen; und 
während sie sich als das vorzüglichste Gut betrachtet, geniesst sie 
doch auch alle übrigen Güter, und legt jedem den ihm nach sei- 
nem Verhältniss zu den andern zukommenden Werth bei, bedenkt 
sich aber desshalb auch nicht, die geringeren, wenn es sein muss, 
den höheren aufzuopfern. Wo die Tugend fehlt, da mögen noch 
-so viele anderweitige Güter sein, sie dienen doch dem, der sie 
besitzt, nicht zum Besten, sie sind nicht seine Güter, weil er von 
ihnen einen schlechten Gebrauch macht. In dem Besitze der Tu- 
gend und der sie bedingenden leiblichen und geistigen Vorzüge 
besteht die Glückseligkeit; diese steigt, wenn noch andere Güter, 
deren die Tugend an sich entbehren könnte, hinzukommen; sie 
ist vollendet, wenn sich alle Güter der Seele und des Leibes voll- 
ständig zusammenfinden ?). Zu dieser Glückseligkeit gehört aber 
auch die Geselligkeit, die Gesinnung, welche Andern um ihret- 
willen die gleichen Güter wünscht, wie sich selbst; und mit der 
Familie und dem Staat, dem Jeder angehört, soll sich diese Ge- 
sinnung auch auf die Menschheit, ja auf die ganze Welt, Himmel 
und Erde, Götter und Menschen, erstrecken ?). Ihre äussere 
Bethätigung hat sie weder in dem theoretischen noch in dem prak- 
tischen Leben als solchem, sondern in der Verknüpfung beider zu 


genauigkeit, welche wir Varro selbst, und nicht blos Augustin, zuzurechnen 
haben werden, 

1) Virtutem, quam doctrina inserit velut artem vivendi — virtus ὃ, 6. ars 
agendae vitae a. a. O. 

2) Haec ergo vita hominis, quae virtute et aliis animi et corporis bonis, sine 
quibus virtus esse non potest, (dahin gehört, wie im Folgenden erläutert wird, 
‘das Leben, die Vernunft, das Gedächtniss) fruitur, beata esse dieitur: si vero 
et aliis, sine quibus esse virtus potest, vel ullis vel pluribus, beatior: si autem 
prorsus omnibus, ut nullum omnino bonum desit vel animi vel corporis, beatis- 
sima. c, 3,1. Ebd. das Weitere. 

3) Varro ist also mit dem stoischen Kosmopolitismus ganz einverstanden; 
ebenso leitet er aber auch aus demselben den Satz ab, dass sich der Mensch 
überall heimisch fühlen könne: die Verbannung, sagt er bei Sen. ad Helv. 
8, 1, sei an sich kein Uebel, guod quocunque venimus eadem rerum natura 
ulendum est. 


Die Sextier. 599 


suchen. Ihres Prineips aber muss sie durchaus sicher sein: die 
Grundsätze über Güter und Uebel dürfen uns nicht blos für wahr- 
scheinlich gelten, wie den Akademikern, sondern sie müssen uns 
zweifellos feststehen. Diess ist die Lehre der alten Akademie, zu 
welcher sich Varro mit seinem Lehrer Antiochus bekennt 1). Eine 
bemerkenswerthe philosophische Eigenthümlichkeit tritt in dieser 
Erörterung allerdings nicht hervor: sie enthält keine neuen Ge- 
danken, und was in der Ausführung der ihm von Antiochus über- 
lieferten Ansichten Varro selbst angehört, zeichnet sich weder 
durch Schärfe des Urtheils, noch durch Gewandtheit der Darstel- 
lung aus. Aber so viel sieht man wenigstens, dass Varro jener 
Ansichten sich durch eigenes Nachdenken bemächtigt hatte, und 
dass die ganze Richtung des Antiochus seiner Denkungsart ent- 
sprach: was sie ihm und seinen Landsleuten empfehlen musste, 
war ohne Zweifel vor Allem die praktische Zweckbestimmung der 
Philosophie und jene Rücksicht auf die Bedürfnisse des Lebens, 
welche in ihren Annahmen über die verschiedenen Bestandtheile 
des höchsten Gutes und das Werthverhältniss derselben her- 
vortritt. 


6. Die Sextier. 


, 


Eine eigenthümliche Stelle nimmt unter den römischen Philo- 
sophen die Schule der Sextier ein. Auch diese Schule war aber 
nicht so unabhängig von der gleichzeitigen griechischen Philoso- 
pbie, und ihre Leistungen nicht so bedeutend, dass sie eine ein- 
greifendere Wirkung auszuüben und eine längere Dauer zu gewin- 
nen vermocht hätte. Ihr Stifter Quintus Sextius war ein 
Römer von guter Abkunft, welcher die politische Laufbahn ver- 
schmäht hatte, um sich ganz der Philosophie zu widmen ?). Sein 


1) Ασα. a.a. Ο. 8, 2. 
2) S. folg. Anm. und Pıur. prof. in virt. 5, 8. 77: χαθάπερ φασὶ Er 


t. 
> - δὲ 
1 en ame ιχότα τὰς ἐν τῇ πόλει τιμὰς χαὶ ἀρχὰς διὰ φιλοσοφίαν „evo 


u 
ξ 


φιλοσοφεῖν αὖ πάλιν δυςπαθοῦντα χαὶ χρώμενον τῷ λόγῳ χαλεπῷ τὸ πρῶτον, ὀλίγον 
δεῆσαι χαταβαλεῖν ἑαυτὸν ἐχ τινος διήρους. Auf diesen Uebergang von der prakti- 
schen Thätigkeit zur Philosophie scheint sich auch Prix. h. nat. XVII, 28, 
274 zu beziehen. Plin. erzählt hier, wie sich Demokrit durch die bekannte 
(auch von Thales erzählte) Spekulation mit Oel (s. Bd. I, 580) bereichert, dann 
aber seinen Gewinn den Betheiligten zurückgegeben habe, und führt fort: hoc 


600 Die Sextier. 


Leben fällt seinem grösseren Theile nach in die zweite Hälfte des 
ersten vorchristlichen Jahrhunderts ). Nach seinem Tode scheint 
sein Sohn die Leitung der Schule übernommen zu haben ?). Als 
ihre Anhänger werden Sotion aus Alexandrien, dessen begei- 
sterter Schüler Seneca im Beginn seines Jünglingsalters gewesen 
war 3), Cornelius Celsus, ein fruchtbarer Schriftsteller %), 
L. Crassitius aus Tarent°), Fabianus Papirius °) genannt. 


yostea Sextius 6 Romanis sapientiae adsectatoribus Athenis fecit eadem ratione; 
„was doch wohl nicht heissen soll, er habe die gleiche Spekulation gemacht, 
sondern nur, er habe in ähnlicher Weise die, welche ihn wegen seiner Be- 
schäftigung mit der Philosophie tadelten, zum Schweigen gebracht, und seiner- 
seits auf den Gewinn verzichtet. 

1) Sen. ep. 98, 13: ‚Honores reppulit pater Sextius, qui ita natus, ut rem- 
„ publicam deberet capessere, latum clavum divo Julio dante non recepit. Da diess 
spätestens 43 v. Chr. geschehen sein muss, und Sextius damals doch wohl 
mindestens 25—27 Jahre alt war (vgl. Orr Charakter u. Urspr. ἃ. Sprüche ἃ, 
Sextius S. 1), so wird man seine Geburt annähernd 70 v. Chr. setzen können. 
Wenn Evs. Chron. zum Jahr 2 n. Chr. ihn erst um diese Zeit berühmt werden 
lässt, geht er sicher zu weit herab. Dass Seneca den älteren Sextius noch 
persönlich gekannt habe, ist nicht wahrscheinlich; die Stellen, welche Orr 
S. 2, 10 anführt, sprechen eher für das Gegentheil: ep. 59, 7. 64,2 fi. De ira 
II, 36, 1 beziehen sich nur auf seine Schrift; De. ira III, 36, 1 kann einer 
Schrift oder mündlicher Ueberlieferung, ep. 73, 12 mag der letzteren entnom- 
men sein; ep. 108, 17 berichtet Sen. über die Lehre des Sextius, wie er selbst 
sagt, nach Sotion. ' 

2) Eine ausdrückliche Ueberlieferung darüber liegt nicht vor, aber da 
die Schule durchaus als die Schule der Sextier bezeichnet (s. folg. Anmm.), 
und der ältere Sextius als Philosoph durch den Beisatz pater von seinem 
Sohn unterschieden wird (Sen. ep. 98, 13. 64, 2), so ist es ganz wahr- 
sceheinlich. 

3) Sen. ep. 108,17 ff. 49,2. Das Lebensalter, in dem er Sotion hörte, 
bezeichnet Seneca ep. 108 mit juvenis, ep. 49 mit puer. Es mag also um 
18—20 n. Chr. gewesen sein. Auf die gleiche Zeit führt ep. 108, 22 vgl. m. 
Tac. Ann. I, 85. Ueber die Verschiedenheit dieses Sotion von dem Peri- 
patetiker s. m. Bd. II, b, 756, 3. 

4) Quistır. X, 1, 124: Seripsit non parum multa Cornelius Celsus, Sextios 
secutus, non sine cultu ac nitore. 

5) Ein Grammatiker, der sich bereits als Lehrer, besonders in Smyrna, 
einen bedeutenden Namen erworben hatte, als er dimissa repenie schola tran- 
sit ad Quinti Septimü [l. Sextü] phüosophi sectam. Surrox. De illustr. 
gramm. 18. 

6) Dieser Philosoph, dessen Sexeca brevit. v. 10, 1. ep. 11, 4. 40, 12. 
100, 12 als eines von ilım selbst gekannten und gehörten verstorbenen Zeit- 


Die Sextier. 601 


Indessen erlosch sie mit diesen Männern: so lebhaft auch der Bei- 
fall war, den sie anfangs gefunden hatte, so war sie doch in Se- 
neca’s späteren Jahren schon längere Zeit ausgestorben '). Auch 
ihre Schriftwerke sind bis auf einzelne Aussprüche des älteren 
Sextius, Sotion und Fabianus verloren gegangen ?). 


genossen erwähnt, war nach eben diesen Stellen ein Mann von vortrefllichem 
Charakter, non ex his cathedrariis philosophis, sed ex veris et antiquis (brevit. 
v. 10). Auch sein Vortrag und seine Darstellung wird von Seneca ep. 40, 12. 
58, 6. 100 in hohem Grade gerühmt, und ep. 100, 9 wird er als ein Schrift- 
steller bezeichnet, dem in stylistischer Beziehung nur Cicero, Pollio und 
Livius vorzuziehen seien, wenn auch gewisse Mängel bei ihm zugegeben 
werden. Ebd. sagt Sen., er habe ungefähr ebensoviel Philosophisches ge- 
schrieben, als Cicero; ausserdem erwähnt er a. a. O. 1 seine libri artium civi- 
lium. Die Vorträge an’s Volk, deren ep. 52, 11 gedacht wird, scheinen philo- 
sophischen Inhalts gewesen zu sein. Dass er ein Schüler des (älteren) Sextius 
war, durch den er bestimmt worden zu sein scheint, sich statt der Rhetorik 
der Philosophie zu widmen, sagt der ältere Sexeca Controvers. II, praef. 
Ueber seine Schreibart äussert dieser sich weniger günstig. Einige Aeus- 
serungen von ihm bei Sen. cons. ad Marc. 23, 5. brevit. v. 10,1. 13,9. nat. 
qu. III, 27, 3. 

1) Ses. nat. qu. VII, 32, 2: Sextiorum nova et Romani roboris secta inter 
initia sua, cum magno impetu coepisset, exstincia est. 

2) Von diesen drei Philosophen hat Seneca, von Sotion auch Stobäus im 
Florilegium, von Sextius (wenn dieser mit dem „Pythagoreer Sextus“ gemeint » 
ist) Antonius und Maximus u. A. (m. 5. die Zusammenstellung bei Orerıı 
Opuse. vet. sentent. I, 244. Murrach Fragm. Philos. Graec. 522, über den 
Ursprung dieser Sprüche unten S. 605, 4) Einzelnes aufbewahrt. Ausserdem 
ist uns in Rurın’s lateinischer Uebersetzung eine Spruchsammlung erhalten, 
welche zuerst von Orıc. 6. Cels. VIII, 30 mit der Bezeichnung Σέξτου γνῶμαι 
angeführt, von Porruye. ad Marcellam ohne Nennung des Verfassers öfters 
benützt wird (abgedruckt bei Orerrı 1, 249 ff. Murracn 523 ff. u. A.), und 
von der auch eine syrische Bearbeitung (b. Lacarpe Analecta Syr. Lpz. 1858) 
vorhanden ist. Diese Sammlung, bald γνῶμαι oder sententiae, bald enchiri- 
dion, seit Rufin auch Annulus genannt, wurde von den Christen viel ge- 
braucht; ihr Verfasser heisst theils Sextius oder Sextus, theils Sixtus oder 
Xystus, und während ihn die Meisten als pythagoreischen Philosophen be- 
zeichnen, sehen Andere in ihm den römischen Bischof Sixtus (oder Xystus, 
um 120 ff... Von den neueren Gelehrten hielten viele, wie noch LAsTEYRıE 
(Sentences de Sextius Par. 1842 — mir nur durch Orr bekannt), die Sprüche 
für das Werk eines heidnischen Philosophen, und näher eines der beiden 
Sextier. (Dass auch ich dieser Meinung sei, habe ich erst durch Orr I, 10 
erfahren; in Wahrheit erwähnt meine 1. Ausgabe zwar die „Sittensprüche* 
des Sextius, d. h. die von Seneca überlieferten, aber nicht das Enchiridion, 


602 Die Sextier. 


Was sich aus denselben über die Lehre der Schule abnehmen 
lässt, dient dem Urtheil Sexeca’s zur Bestätigung, dass dieselbe 


dessen Unächtheit mir ausser Zweifel zu stehen schien.) Dagegen glaubt 
Rırter IV, 178, sie seien die christliche Ueberarbeitung eimer Grundschrift, 
die einem Scxtus, möglicherweise auch unserem Sextins, angehören möge, 
in die aber so viel Christliches eingemischt sei, dass sie als Geschichtsquelle 
ganz unbrauchbar geworden sei. Ewaup (Gött. Anz. 1859, I, 261 fl. Gesch. 
ἃ. V. Isr. VII, 321 ff.) seinerseits erklärt die syrische Recension der Spruch- 
sammlung für die treue Uebersetzung eines christlichen Originals, dessen 
Werth er nicht genug zu rühmen weiss, und dessen Urheberschaft er dem 
römischen Sixtus zuschreibt. MEınkap Orr endlich führt in drei Gymnasial- 
programmen (Charakter und Ursprung d. Sprüche des Philosophen Sextius. 
Rottweil 1861. Die syrischen „Auserlesenen Sprüche“ u. 5. w. Ebd. 1862. 
Die syrischen Auserl. Spr. u. s. w. ebd. 1863) als Ergebniss einer sehr ein- 
gehenden Untersuchung die Ansicht aus, dass die Sentenzen von dem jüngeren 
Sextius verfasst seien, bei welchem die ursprüngliche Richtung der Sextier- 
schule theils durch pythagoreische, theils und besonders durch jüdische Ein- 
flüsse wesentlich modificirt und auf eine rein monotheistische Grundlage ge- 
stellt worden sein soll. Allein so überzeugend er gegen Ewald in der syrischen 
Recension eine spätere Ueberarbeitung nachgewiesen hat, in welcher das von 
Rufin übersetzte Original verwässert und sein ursprüngliches Gepräge ver- 
wischt wird, so unhaltbar ist doch, wie mir scheint, seine eigene Hypothese. 
Für's Erste wäre nämlich die Voraussetzung, dass einer von unsern zwei 
Sextiern Verfasser der Spruchsammlung sei, auch in dem Fall höchst un- 
sicher, wenn diese Schrift selbst sich einem von ihnen mit Bestimmtheit bei- 
legte, da dieselbe doch erst im dritten Jahrhundert auftaucht. Aber wir 
wissen ja nicht einmal, ob der angebliche Verfasser der Sentenzen einer der 
Sextier sein soll. Sodann nöthigt Ott’s Ansicht, zwischen der Lehre des 
älteren Sextius (welcher, um nur diess Eine anzuführen, dem strengen Mono- 
theismus der Sentenzen fernestehend, bei Sen. ep. 73, 12 den höchsten Gett 
Jupiter nennt) und der seines Sohnes einen tiefgreifenden Unterschied anzu- 
nehmen, während doch alle alten Zeugnisse ohne Ausnahme nur von Einer 
Schule der Sextier wissen, und während man auch bei Sen. nat. qu. VII, 32 
(vor. Anm.) dem Sinn und dem Ausdruck gleichsehr Gewalt anthun muss, um 
in der nova Sextiorum schola die Schule des jüngeren Sextius, im Unterschied 
von der seines Vaters, zu finden, zumal da auch das Prädikat Romani roboris 
mit dem, was Seneca sonst von dem älteren Sextius sagt (ep. 59, 7: Sextium 
... virum acrem, Graecis verbis, Romanis moribus philosophantem) durchaus 
übereinstimmt, dagegen für eine Mischung von stoisch-pythagoreischer Philo- 
sophie mit jüdischen Dogmen weit weniger passen würde. Was endlich jeden 
weiteren Grund entbehrlich mAcht: die Beziehungen auf christliche An- 
schauungen und auf neutestamentliche Stellen sind in den Sentenzen so un- 
verkennbar, dass weder an einen rein römischen noch an einen jüdisch-römi- 


Standpunkt. 603 


zwar von bedeutender sittlicher Wirkung und altrömischer Kraft, 
aber ihrem Inhalt nach von der stoischen nicht verschieden gewe- 
sen sei 1). Das einzige, was die Sextier von den älteren Stoikern 
unterscheidet, ist die Entschiedenheit, mit der sie sich auf die 
Sittenlehre beschränkten, auch hierin treffen sie ja aber mit dem 


schen Ursprung derselben gedacht werden kann. Lautet es auch ebensogut 
jüdisch, als christlich, wenn 's. 309 von dem tabernaculum corporis, 8. 21. 
380. 396 vom Wort Gottes, s. 29 f. von den Engeln, s. 295. 336 f. von den 
bösen Dämonen gesprochen wird, so weist doch schon die ausserordentlich 
starke Betonung des Gegensatzes von Glauben und Unglauben, welche sich 
durch die Sentenzen hindurehzieht, weit mehr auf einen christlichen Verfasser, 
als auf jüdische Einflüsse (jüdisch ist mehr der Gegensatz von gerecht und 
ungerecht), und s. 349 f. 371 erinnert an die Christenverfolgungen. Das Ent- 
scheidende sind aber die zahlreichen neutestamentlichen Reminiscenzen. Man 
vgl. 5. 10. 265 mit Matth. 18, 8 f. 19, 12; s. 17 mit Matth. 22, 21; s. 27 mit 
1 Joh. 1,5. Jac. 1, 17; s. 34 mit Matth. 5, 26; s. 53 mit Joh. 1, 12; s. 102 
mit Matth. 15, 11; 5. 125 (homini Dei) mit 1 Tim. 6, 11. 2 Tim. 3,17 (Stellen, 
die, wenn auch keine von ihnen dem Verfasser vorgeschwebt haben sollte, 
jedenfalls den ἄνθρωπος θεοῦ für den christlichen Sprachgebrauch erweisen); 
s. 183 mit Matth. 19, 23; s. 224 mit Matth. 5, 28; s. 233 mit Matth. 10, 8; 
s. 324, wo man in den Worten αὖ aliis ministrari das eharakteristische öt«zovn- 
θῆναι des evangelischen Ausspruchs noch deutlich erkennt, mit Matth. 20, 28. 
Die meisten von diesen Parallelen sind so schlagend, dass sie einen vollkom- 
menen Beweis herstellen. Unsere Sentenzensammlung kann daher so, wie sie 
vorliegt, nur von einem Christen verfasst sein, und da sie einige von den 
jüngsten Schriften unseres neutestamentlichen Kanon berücksichtigt, und ihr 
eigenes Dasein sich erst gegen die Mitte des dritten Jahrhunderts nachweisen 
lässt, so ist sie wohl keinenfalls lange vor dem Ende des zweiten, möglicher- 
weise erst im dritten verfasst worden. Wenn aber doch die eigenthümlich 
christlichen Lehren in ihr durchaus fehlen, und nicht einmal der Name Christi 
genannt wird, so kann diess nur beweisen, dass der Verfasser selbst seine 
Arbeit nicht für das Werk eines Christen, sondern für das des heidnischen 
Philosophen gehalten wissen will, dessen Namen er ihr vorgesetzt hat, und 
durch dessen Auktorität er zunächst die allgemeinen Grundsätze des Monotheis- 
mus und der christlichen Moral und Ascese empfehlen lassen will. Dabei ist 
immerhin wahrscheinlich, dass er den grösseren Theil seiner Sprüche von 
Philosophen, und so namentlich auch von Sextius (dem Vater) entlehnt hat; 
da wir aber durch ihn selbst von keinem einzigen erfahren, wo er ihn her hat, 
so ist seine Schrift, wie Rırrer richtig urtheilt, als Quelle für die Geschichte 
der Philosophie gänzlich unbrauchbar. 

1) Nat. qu. VII, 32. ep. 59, 7 (8. 8. 601, 1. 602 u.) ep. 64, 2: liber Qu. 


Sextii patris, magni, si quid mihi credis, viri, et, licet neyet, Stoici. 
. 


604 Die Sextier. 


späteren Stoicismus und den Cynikern der Kaiserzeit zusam- 
men. Scheinen sie auch die physikalische Forschung nicht un- 
bedingt missbilligt zu haben 1), so hatten und suchten sie doch 
anderswo ihre Stärke. Ein Sextius, ein Sotion, ein Fabianus wa- 
ren Männer, welche durch ihre Persönlichkeit einen ergreifenden 
moralischen Eindruck hervorbrachten ?); und auf diese persön- 
liche Wirkung legten sie weit grösseren Werth, als auf die wis- 
senschaftliche Forschung: die Affekte, ‚sagt Fabianus, müsse man 
nicht mit Spitzfindigkeiten, sondern mit Begeisterung bekämpfen 5), 
und über die gelehrten Bestrebungen, welche keine sittliche Ein- 
wirkung bezwecken, urtheilte er, es wäre vielleicht besser, gar 
keine Wissenschaft zu treiben, als eine solche %). Das Leben des 
Menschen ist, wie Sextius ausführt 5), ein beständiger Kampf mit 
der Thorheit, nur wer immer schlagfertig dasteht, kann den Fein- 
den, die ihn von allen Seiten umdrängen, siegreich begegnen. 
Erinnert nun schon dieses an den Stoicismus, und insbesondere an 
den der römischen Periode, so tritt uns derselbe noch bestimmter 
aus dem Satze des Sextius entgegen, dass Jupiter nicht mehr ver- 
möge, als ein tugendhafter Mann 5). An dieses Stoische schliessen 
sich auch zwei weitere Züge auf’s Beste an, welche Sextius zu- 
nächst von der pythagoreischen Schule entlehnt zu haben scheint: 


1) Von Fabianus wenigstens sehen wir aus Sexeca nat. απ. III, 27, 3, 
dass er sich über das diluvium (s.o. 143 f.) etwas abweichend von seiner eige- 
nen Ansicht geäussert hatte, er muss also diese stoische Annahme im Allge- 
meinen getheilt haben. 

2) M. vgl. über Sextius ausser dem, was S. 601, 1. 603, 1 angeführt ist, 
SEN. ep. 64, 3: quantus in ülo, Di boni, vigor est, quantum animi! Andere 
Philosophen instituunt, disputant, cavillantur, non faciunt animum, quia non 
habent: cum legeris Sextium, dices: vivit, viget, liber est, supra hominem est, 
dimittit me plenum ingentis fidueiae; über Fabianus oben, 600, 6; über Sotion 
SEN. ep. 108, 17. 

3) Sen. brevit.v. 10,1: solebat dicere Fabianus ..., contra adfectus impetu 
non subtilitate pugnandum, nec minutis volneribus, sed incursu avertendam 
aciem non probam: cavillationes enim contundi debere, non vellicari. 

4) Ebd. 13, 9. 

5) Bei Sex. ep. 59, 7. 

6) Sex. ep. 73, 12: solebat Sextius dicere, Jovem plus non posse, quam 
bonum virum, was dann Seneca in dem $. 232, 4. 5 besprochenen Sinn weiter 
ausführt. 


Sittenlehre. 605 


der Grundsatz, am Schluss jedes Tages sich selbst über den sitt- 
lichen Ertrag desselben Rechenschaft abzulegen 1), und die Ver- 
werfung der thierischen Nahrung. Doch war es erst Sotion, wel- 
cher die letztere mit der Lehre von der Seelenwanderung begrün- 
dete; Sextius stützte sie nur auf die Erwägung, dass man sich 
durch das Schlachten der Thiere an Grausamkeit, durch das Ver- 
zehren ihres Fleisches an überflüssige und der Gesundheit unzu- 
trägliche Genüsse gewöhne 2). Was uns sonst von der Moral der 
Sextierschule überliefert ist, zeigt keine erhebliche Eigenthüm- 
lichkeit); und auch in den griechischen Sextus- oder Sextius- 
sprüchen, deren Herkunft überdiess gleichfalls höchst unsicher 
ist 4), findet sich nichts, was uns nicht bei vielen anderen Philo- 
sophen, namentlich solchen aus der späteren stoischen und plato- 
nischen Schule, in ähnlicher Weise begegnete°). Eine bemer- 


1) M. 5. darüber Sen. De ira III, 36, 1 womit das pythagoreische goldene 
Gedicht V. 40 fi. zu vergleichen ist. 

2) Sen. ep. 108, 17 ff. Die Erörterungen Sotion’s, durch welche sich 
Seneca selbst eine Zeitlang von der Fleischnahrung hatte abhalten lassen, 
werden hier ausführlicher dargestellt, von Sextius heisst es: hic homini satis 
alimentorum citra sanguinem esse credebat et erudelitatis consuetudinem fieri, ubi 
in voluptatem esset adducta laceratio. adiciebat, contrahendam materiam esse 
luxuriae. colligebat, bonae valitudini contraria esse alimenta varia et nostris 
aliena corporibus. Damit würde übereinstimmen, was Oßıe. c. Cels. VIII, 30, 
zunächst aus den unächien Sentenzen, anführt: ἐμψύχων χρῆσις μὲν ἀδιάφορον, 
ἀποχὴ δὲ λογιχώτερον. 

3) Es gehören hieher die Aussprüche Sotion’s im Florilegium des Stozäus, 
welche doch wohl unserem Sotion angehören: die Empfehlung der Bruderliebe 
84, 6— 8.17.18; die Aeusserungen gegen die Schmeichelei (14, 10), den Zorn 
(20, 53 £.), die Bekümmerniss (108, 59), und über tröstenden Zuspruch 
(113, 15). Keiner dieser Aussprüche enthält etwas, woran man die Schule, 
der ihr Urheber angehörte, erkennen könnte. 

4) Denn auch von denen, welche sich nicht in der Uebersetzung Rufin’s 
finden, wissen wir nicht, woher sie den späten Schriftstellern zukamen, 
denen wir sie verdanken, und ob mit dem Pythagoreer Sextus, dem sie bei- 
gelegt werden, unser Sextius gemeint ist. Mir ist das Wahrscheinlichste, 
dass auch diese einer, von der rufinischen nur etwas abweichenden, Recension 
der Sentenzen entnommen sind. 

5) Dieselben zerfallen (abgesehen von dem ebenberübrten Ausspruch bei 
Orıc. e. Cels. VIII, 30 und von einer lexikalischen Bemerkung, die Porrz. 
qu. Homer. 26 schwerlich aus unserem Sextus anführt), in moralische und 
religiöse. Was nun jene über die Nothwendigkeit der Bildung, über die 


606 Die Sextier. 


kenswerthere Abweichung vom Stoieismus ist es, wenn die Sextier 
wirklich, wie diess berichtet wird '), die Unkörperlichkeit der 
Seele behaupteten; aber schliesslich würde dieser Umstand doch 
nur beweisen, dass sie mit der stoischen Ethik, der eklektischen 
Richtung der Zeit folgend, auch Bestimmungen aus der platonisch- 
aristotelischen Lehre zu verbinden wussten. Etwas Neues und 
Hervorstechendes lässt sich daher in ihrer Schule nicht finden; sie 
ist eine Abzweigung der stoischen, welche es ohne Zweifel nur 
der Persönlichkeit ihres Stifters zu verdanken hatte, dass sie eine 
Zeitlang für sich bestand; aber doch sieht man an ihrer Berührung 
mit dem Pythagoreismus und Platonismus, wie leicht sich in .jener 
Zeit Systeme, die von ganz verschiedenen spekulativen Voraus- 
setzungen ausgegangen waren, auf dem Boden der Moral zusam- 
menfinden konnten, nachdem man einmal die theoretischen Unter- 
scheidungslehren gegen die verwandten praktischen Bestrebungen 
zurückzustellen begonnen hatte, und wie dem ethischen Dualis- 
mus der Stoa ein natürlicher Zug zu den Ansichten inwohnte, 
welche gegen den materialistischen Monismus ihrer Metaphysik 
und ihrer Anthropologie im stärksten Gegensatz standen. 


rm 


7. Die ersten Jahrhunderte nach Christus. Die stoische 
Schule. Seneca. 


Die Denkweise, welche im ersten Jahrhundert v. Chr. inner- 
halb der griechisch-römischen Philosophie zur Herrschaft gekom- 


Frauen, über die Freundschaft, über die Armuth sagen, enthält gar nichts 
Besonderes; aber auch diese tragen in den Sätzen, dass eine gute Gesinnung 
das beste Opfer sei, dass man nicht fromm sein könne, ohne rechtschaffen zu 
sein, dass man auch durch Schweigen zur rechten Zeit Gott ehre, nichts vor, 
was zur Zeit der Sextier irgend neu gewesen wäre. 

1) Craupıan. Mauerr. De statu animae II, 8: incorporalis, inquiunt (die 
beiden Sextius), omnis est anima et illocalis atque indeprehensa vis quaedam ; 
quae sine spatio capaz corpus haurit et continet. (Das letztere erinnert an die 
stoische Lehre, dass die Seele den Leib zusammenhalte.) Mamertus ist nun 
freilich kein durchaus zuverlässiger Zeuge; sucht er doch ebd. auch von 
Chrysippus zu beweisen, dass er die Seele für unkörperlich halte, da er ja die 
Ueberwindung der Sinnlichkeit durch die Vernunft verlange. Aber seine Aus- 
sage über die Sextier lautet doch zu bestimmt, als dass wir sie auf eine ähn- 
liche Schlussfolgernng, und nicht vielmehr auf Ueberlieferung, zurückführen 
müssten. 


Die ersten Jahrhunderte n. Chr. 607 


men war, behauptete sich auch in den nächstfolgenden Jahrhun- 
derten. Zwar bekannten sich weit die meisten von ihren Vertre- 
tern zu einer von den vier grossen Schulen, unter welche. das 
Gebiet der griechischen Wissenschaft seit dem dritten Jahrhundert 
vertheilt war. Ja die Sonderung dieser Schulen wurde durch zwei 
Umstände sogar auf’s Neue befestigt; einestheils durch die gelehrte 
Beschäftigung mit den Schriften ihrer Gründer, welcher die Peri- 
patetiker besonders seit Andronikus sich mit so grossem Eifer hin- 
gaben; andererseits durch die Errichtung öffentlicher Lehrstühle 
für die verschiedenen Systeme, welche im zweiten Jahrhundert 
nach dem Anfang unserer Zeitrechnung stattfand '). Jene gelehrie 
Thätigkeit musste dazu führen, dass die Eigenthümlichkeit der ver- 
schiedenen Systeme schärfer erkannt und die Vorstellung, hinter 
welche sich der Eklektieismus eines Antiochus und Cicero zurück- 
gezogen hatte, als ob es sich zwischen ihnen mehr nur um Ab- 
weichungen in den Worten, als in der Sache selbst. handle, wider- 
legt wurde; und sie konnte gegen die eklektischen Neigungen der 
Zeit um so eher ein Gegengewicht bilden, da es bei ihr neben der 
Erklärung zugleich auch auf die Vertheidigung der alten Schul- 
häupter und ihrer Lehre abgesehen war. Oeffentliche Lehrer der 
Philosophie wurden in Rom, wo im ersten Jahrhundert nicht blos 
der Stoicismus, sondern auch die Philosophie überhaupt vielfach 
mit politischem Misstrauen betrachtet worden war, und wieder- 
holte Verfolgungen zu bestehen ‚gehabt hatte ?), wie es scheint, 


1) M. 5. darüber: O. MürLer Quam curam resp. ap. Graec. et Rom. literis 
«ον impenderit (Gött. Einladungsschrift 1837) 5. 14 ff. Zumer üb. ἃ. Bestand 
ἃ. philos. Schulen in Athen. Abh. ἃ. Berl. Akad. 1842. Hist.-phil. Kl. S. 44 ff. 
Wepre De Academia literaria Atheniensinm seculo secundo p. Chr. constituta 
(Marb. 1858) und die S. 1 f. von ihm Angeführten. 

2) Dass unter Tiberius der Stoiker Attalus aus Rom verwiesen (Sen. 
suasor. 2), und unter Claudius Seneca verbannt wurde (s.u.), wird man nicht 
aus einer grundsätzlichen Ungunst gegen die Philosophie herzuleiten haben. 
Dagegen häufen sich unter Nero die Maassregeln gegen Männer, welche die 
Unabhängigkeit ihrer Gesinnung in der stoischen Schule gewonnen oder be- 
festigt hatten: Thrasea Pätus, Seneca, Lucanus, Rubellius Plautus werden 
getödtet, Musonius, Cornutus, Helvidius Priscus verbannt (das Nähere später); 
und wenn auch diese Verfolgungen zunächst politische oder persönliche Gründe 
haben, so tritt doch bereits auch ein allgemeines Misstrauen zunächst gegen 
die stoische Philosophie hervor, die Stoicorum adrogantia sectaque, quae tur- 


608 Die ersten Jahrhunderte n. Chr. 


zuerst von Hadrian 1), in den Provinzen von Antoninus Pius ange- 
stellt 3), für den Unterricht in der Rhetorik hatten schon einige 
ihrer Vorgänger in ähnlicher Weise Sorge getragen °), und die 
längstbestehende Stiftung des alexandrinischen Museums und sei- 
ner für Gelehrte der verschiedensten Fächer bestimmten Unter- 
stützungen hatte sich auch in der Römerzeit erhalten %). Durch 


bidos et negotiorum adpetentes faciat (wie Tigellinus bei Tac. Ann. XIV, 57 
dem Nero einflüstert), und Seneca (ep. 5, 1 ff. 14,15. 103,5) findet es nöthig, 
den Schüler der Philosophie vor jedem auffallenden und herausfordernden Auf- 
treten um so mehr zu warnen, da ein solches schon Manchem verderblich ge- 
worden sei und die Philosophie ohnediess mit Missgunst betrachtet werde. 
Vespasian wurde nach der Hinrichtung des Helvidius Priseus durch die poli- 
tische Unzufriedenheit, welche stoische und eynische Philosophen zur Schau 
trugen, veranlasst, alle Lehrer der Philosophie, mit Ausnahme des Musonius, 
aus Rom zu verbannen, zwei derselben liess er sogar deportiren (Dıo Cass. 
LXIV, 13), und diesem Vorgang folgte später Domitian, indem er, durch 
Junius’ Rustieus’ Lobsprüche auf Thrasea und Helvidius gereizt, nicht allein 
Rusticus und den Sohn des Helvidius hinrichten liess, sondern auch alle Philo- 
sophen aus Rom verwies (Geiz. N, A. XV, 11,3. Serros. Domit. 10. Pıix. 
ep. III, 11. Dro Cass. LXVII, 13). Aber einen bleibenden Nachtheil scheinen 
diese vereinzelten und vorübergehenden Maassregeln den philosophischen 
Studien nicht gebracht zu haben. 

1) Vgl. Srarrıan. Hadr. 16: doctores, qui professioni suae inhabiles vide- 
bantur, ditatos honoratosque a professione dimisit, was doch nur möglich war, 
wenn sie vorher angestellt waren. Weniger beweist das Vorhergehende: 
omnes professores et honoravit et divites fecit. Dass sich diese Aussagen nicht 
blos auf Grammatiker, Rhetoren u. s. f., sondern auch auf Philosophen be- 
ziehen, ergiebt sich aus dem Zusammenhang. 

2) Carırouin. Ant. P. 11: rhetoribus et philosophis per omnes provineias 
et honores et salaria detulit. Ausserdem wwrde den Lehrern der Wissenschaften 
und den Aerzten Abgabenfreiheit ertheilt; diese Vergünstigung wird jedoch 
in einem Resceript Antonin’s an das commune Asiae (aus Mopesrın. excus. II. 
Digest. XXVII, 1, 6, 2 angeführt), in Betreff der übrigen auf eine nach der 
Grösse der Städte bestimmte Zahl beschränkt, nur für die Philosophen sollte 
sie unbeschränkt gelten διὰ τὸ σπανίους εἶναι τοὺς φιλοσοφοῦντας. 

3) So hören wir namentlich von Vespasian (Suerrox. Vesp. 18), dass er 
primus e fisco latinis graecisque rhetoribus (zunächst vielleicht nur Einem für 
jede Sprache) annua centena (100000 Sestert.) constituit. Der erste i. J. 69 so 
angestellte lateinische Rhetor war nach Hırrox. Eus. Chron. zu a. 89 p. Chr. 
Quintilian, ein zweiter, unter Hadrian, Castrieius (Gerr. N. A. XIII, 22). 

4) Vgl. Zumer ἃ. ἃ. Ὁ. Partner Das alexandrin. Museum (Berl. 1838) 
5.91 fl. O. Mürzer a. a. 0.8.29 f. Aus der Angabe (Dıo Cass. LXXVH, 7), 
dass Caracalla den Peripatetikern in Alexandria (aus Hass gegen Aristoteles, 


Philosophische Lehrstühle. 609 


Mark Aurel wurden in Athen, welches dadurch auf's Neue für 
den Hauptsitz der philosophischen Studien erklärt war 1), aus 
den vier bedeutendsten Philosophenschulen öffentliche Lehrer be- 
stellt 2); und es wurde damit die Trennung dieser Schulen nicht 


wegen der angeblichen Vergiftung Alexanders) ihre Syssitieen und sonstigen 
Vortheile entzogen habe, schliesst Parrser 8. 52 mit Wahrscheinlichkeit, 
dass auch dort (aber vielleicht doch erst seit Hadrian oder einem seiner Nach- 
folger) die in's Museum aufgenommenen Philosophen nach Schulen eingetheilt 
gewesen seien. — Eine ähnliche Anstalt, wie das Museum, das Athenäum, 
errichtete Hadrian in Rom (Avrer. Vıcror Caes. 14 vgl. Dıo Cass. LXXI, 
17. Carırousm. Pertin. 11. Gord. 3. Laupeip. Sever. 35). Doch wird nichts 
darüber berichtet, dass mit demselben gleichfalls Gehalte für Gelehrte ver- 
bunden waren. 

1) Ueber den Zulauf, den Athen um die Mitte des 2ten Jahrhunderts 
hatte, vgl. m. auch Paıroste. v. Soph. II, 1, 6, der zur Zeit des Herodes Atti- 
cus von den Θράχια χαὶ Ποντιχὰ μειράχια χὰξ ἄλλων ἐθνῶν βαρβάρων ξυνεῤῥυηχότα 
reden lässt, welche die Athener für Geld aufnehmen. 

2) Dass M. Aurel in Athen für die vier Schulen der Stoiker, Platoniker, 
Peripatetiker und Epikureer gleichmässig Lehrer mit einem Gehalt von je 
10000 Drachmen angestellt hatte, ergiebt sich aus Pnıroste. v. Soph. II, 2. 
Lucıas Eunuch. 3; nach Dıo Cass. LXXI, 31 war es bei seiner Anwesenheit 
in Athen, nach der Unterdrückung des von Avidius Cassius angestifteten Auf- 
stands (176 n. Chr.), dass Markus „der ganzen Menschheit in Athen Lehrer 
gab, welche er mit einem Jahresgehalt ausstattete.*“ Nach Lucıan ἃ. ἃ. Ὁ. 
scheint jede von den genannten Schulen nicht blos Einen, sondern zwei 
öffentliche Lehrer gehabt zu haben, denn es wird dort erzählt, in welcher 
unwürdigen Weise nach dem Absterben „des einen der Peripatetiker“ zwei 
Bewerber um die erledigte Stelle mit ihren 10000 Drachmen sich vor der 
. Wahlbehörde gezankt haben. Zuuer a. ἃ. O. S. 50 stellt nun die Vermuthung 
auf, es seien nur vier kaiserliche Gehalte bewilligt gewesen, aber wenn der 
jeweilige Scholarch einer Schule dieser Unterstützung nicht bedurfte, habe 
man neben ihm noch einen zweiten Lehrer ernannt, und so habe eine Schule 
deren zwei zugleich haben können, einen von der Schule gewähiten und einen 
vom Kaiser ernannten. Allein die lucianische Stelle ist dieser Ansicht nicht 
günstig. Wenn hier von den Philosophen, welche der Kaiser mit dem Gehalt 
von 10000 Drachmen angestellt habe, gesprochen, und dann fortgefahren 
wird: χαί τινά φασιν αὐτῶν ἔναγχος ἀποθανέϊν, τῶν Περιπατητιχῶν οἶμαι τὸν ἕτερον, 
so setzt diess offenbar voraus, dass sich unter den vom Kaiser Besoldeten 
zwei Peripatetiker befunden haben, in welchem Fall dann aber auch die 
übrigen Schulen unter denselben zwei Vertreter gehabt haben müssen. — Die 
Ernennung der anzustellenden Philosophen batte M. Aurel nach ῬΗΊΠΟΒΤΗ, 
a. a. O. dem Herodes Attikus übertragen; bei Lucıan Eun. c. 2 f. machen die 
Bewerber vor den ἄριστοι χαὶ πρεσβύτατοι χαὶ σοφώτατοι τῶν ἐν τῇ πόλει ihre An- 

Philos. d. Gr. IH. Bd. 1. Abth. 39 


610 Die ersten Jahrhnnderte n. Chr. 


blos als eine thatsächlich bestehende anerkannt, sondern ihr auch 
für die Zukunft ein Rückhalt gegeben, den wir gerade unter den 
damaligen Verhältnissen nicht gering anzuschlagen haben werden. 
Bei der Besetzung der Lehrstellen wurde sogar von dem Bewer- 
ber das ausdrückliche Bekenntniss zu dem System verlangt, für das 
er angestellt sein wollte ἢ). Aeusserlich ‚blieben demnach die 
Schulen in diesem Zeitraum, wie bisher, scharf gesondert. 

So wenig jedoch diese Sonderung früher das Aufkommen 
einer eklektischen Richtung verhindert hatte, so wenig stand sie 
“auch ihrer Fortdauer im Wege. Die verschiedenen Schulen waren 
sich trotz aller Trennung und Befehdung innerlich doch näher ge- 
kommen. Sie gaben ihre Unterscheidungslehren nicht geradezu 
auf; aber sie pflanzten viele derselben, und gerade die auffallend- 
sten, theils nur historisch in gelehrter Ueberlieferung fort, ohne 
sich tiefer daran zu betheiligen, theils stellten sie sie gegen die 
wesentlichen praktischen Ziele und Grundsätze, in denen man sich 
gegenseitig näher stand, zurück, theils liessen sie sich auch man- 
cherlei Milderungen und Aenderungen darin gefallen, und ohne 
im Ganzen auf ihre Eigenthümlichkeit zu verzichten, gestatteten 
sie doch auch solchen Bestimmungen Eingang, die ursprünglich 
auf einem anderen Boden erwachsen sich mit derselben streng- 
genommen nicht wohl vertrugen. Nur die epikureische Schule 
hielt sich fortwährend ausser dieser Bewegung, aber auch ausser- 
halb jeder nennenswerthen wissenschaftlichen Thätigkeit ?). Unter 
den drei übrigen dagegen ist keine, bei der die obengeschilderte 


sprüche geltend (wobei man an den Areopag, die βουλὴ, oder ein eigenes 
Wabhleollegium, vielleicht unter Betheiligung der betreffenden Philosophen- 
schulen, und unter dem Vorsitz eines kaiserlichen Beamten, denken kann); 
als man sich aber nicht einigt, wird die Sache zur Entscheidung nach Rom 
verwiesen. Die kaiserliche Bestätigung war aber ohne Zweifel jedenfalls 
nöthig, und in einzelnen Fällen wurden die Lehrer wohl auch unmittelbar 
vom Kaiser ernannt; auf das Eine oder das Andere kann es sich beziehen, 
wenn Alexander von Aphrodisias in der Widmung seiner Schrift περὶ εἱμαρμένης 
dem Septimius Severus und seinem Sohn Caracalla dankt, ὑπὸ τῆς ὑμετέρας 
μαρτυρίας διδάσχαλος αὐτῆς (der aristotelischen Philosophie) χεχηρυγμεένος. 

1) Vgl. Lucıan a. ἃ. O. 4: τὰ μὲν οὖν τῶν λόγων προηγώνιστο αὐτσίς χαὶ τὴν 
ἐμπειρίαν ἑχάτερος τῶν δογμάτων ἐπεδέδειχτο χαὶ ὅτι τοῦ ᾿Αριστοτέλους χαὶ τῶν 
ἐχείνῳ δοχούντων εἴχετο. 


2) Vgl. 8. 353. 


'Eklektieismus. 611 


Neigung der Zeit nicht in der einen oder der anderen Weise zum 
Vorschein käme. Bei den Peripatetikern ist es die Beschränkung 
auf die Kritik und Erklärung der aristotelischen Schriften, worin 
der Mangel an eigener wissenschaftlicher Schöpferkraft vorzugs- 
weise an den Tag tritt; bei den Stoikern die Zurückziehung auf 
eine Moral, in welcher die Schroffheiten des ursprünglichen Sy- 
stems vielfach beseitigt werden, und die frühere Strenge allmählig 
einem weicheren und milderen Geiste Platz macht; bei den Aka- 
demikern die Aufnahme stoischer und peripatetischer Elemente, 
mit welcher sich dann eine zunehmende Hinneigung zu jenem 
Offenbarungsglauben verknüpft, der im dritten Jahrhundert durch 
Plotin zur Herrschaft kam. Dass übrigens keiner von diesen Zü- 
gen der einen oder der anderen Schule ausschliesslich eigen ist, 
wird aus ihrer eingehenderen Betrachtung erhellen. 

Beginnen wir hiefür mit den Stoikern, so ist uns vom An- 
fang des ersten bis gegen die Mitte des dritten Jahrhunderts eine 
erhebliche Anzahl von Männern bekannt, die dieser Schule ange- 
hörten ). Die bedeutendsten von ihnen, und diejenigen, welche 


1) An die S. 519 f. Genannten schliesst sich von den uns bekannten 
Stoikern zunächst Heraklitus an. Dieser Gelehrte (über dessen „Homeri- 
sche Allegorieen“ S. 301 ff. 2. vgl.) scheint um die Zeit des Augustus gelebt 
zu haben, da der jüngste von den vielen Schriftstellern, welche er nennt, 
Alexander von Ephesus (Alleg. Hom. ο. 12, S. 26) ist, der von Strazo XIV, 
1, 25. 5, 042 zu den νεώτεροι gerechnet, von Cıc. ad Att. II, 22 wahrscheinlich 
gemeint, von Avureı. Vıcror De orig. gent. rom. 9, 1 mit einer Geschichte des 
marsischen Kriegs (91 ff. v. Chr.) angeführt, in der ersten Hälfte oder um die 
Mitte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts geblüht haben muss. — Unter 
Tiber lehrte Attalus in Rom, dessen Seneca ep. 108, 3. 13 f. 23 als seines 
von ihm eifrig benützten und bewunderten stoischen Lehrers erwähnt, und 
von dem er hier und sonst (s. den Index) Aussprüche anführt, welche im Geist 
der stoischen Sittenlehre besonders auf Einfachheit des Lebens und Unab- 
hängigkeit des Charakters dringen. Mit dieser Moral werden wir auch die 
Deklamationen über die Fehler und Thorheiten der Menschen und die Uebel 
des Lebens (a. a. Ὁ. 108, 13) bei seinem Schüler Seneca wiederfinden; was 
dagegen Dieser nat. qu. II, 48, 2. 50, 1 aus seinen Untersuchungen über die 
"-vorbedeutenden Blitze mittheilt, beweist, dass er weit tiefer, als Seneca, in 
dem Weissagungsaberglauben der Schule steckte. Auf Sejan’s Betrieb musste 
er Rom verlassen (Sex. Rhet. suasor. 2). — Etwas jünger ist Chäremon, der 
Lehrer Nero’s (Stı. ᾿Αλέξ, Aly.), nachher (wie wir annehmen müssen) Vor- 
steher einer Schule in Alexandrien (Ders. Διονύσ. ᾽Αλεξ.), dessen Bruchstücke 


39 * 


612 Stoiker der Kaiserzeit. 


uns von dem Charakter dieses späteren Stoicismus das deutlichste 
Bild geben, sind Seneca, Musonius, Epiktet und Mark Aurel. 


(Ὁ. Mürzer Fragm. Hist. gr. III, 495 ff.) jedoch nichts Pbilosophisches ent- 
halten; seiner Schriften erwähnt Porrnyr. b. Evs. h. ecel. VI, 19, 8 neben 
denen des Cornutus in einem Zusammenhang, der vermuthen lässt, dass er 
sich ähnlich, wie dieser, mit allegorischer Mythenerklärung beschäftigt 
hatte; was Orıc. c. Cels. I, 51 aus seiner Schrift über die Kometen anführt, 
zeigt ihn ebenfalls als Freund der Divination. Von dem bei Srrazo XVII, 1,29, 
S. 806 tadelnd erwähnten Chäremon unterscheidet ihn MüLLer aus chronolo- 
"gischen Gründen mit Recht; wahrscheinlich ist er auch von dem ἱερογραμματεὺς 
b. Evs. pr. ev. V, 10, 3. Tzerz. Hist. V, 403 zu unterscheiden. — Chäremon’s 
Nachfolger in Alexandrien war sein Schüler Dionysius; m. s. über ihn 
Sorp. u. ἃ. W., der ihn γραμματιχὸς nennt; er war also wohl mehr Gelehrter, 
als Philosoph. — Seneca’s wird unten ausführlicher gedacht werden; zur ἢ 
stoischen Schule gehörte, ausser Claranus (Sen. ep. 66, 1. 5; denselben hat 
man auch, aber wohl mit Unrecht, in dem griechischen Philosopken Cöranus 
Tac. Ann. XIV,59 vermuthet; ein Stoiker war dieser aber auch ohne Zweifel), 
wohl auch Seneca’s Verwandter Annäus Serenus (Sen. ep. 63, 14. De const. 
1, 1. De tranqu. an. 1. De otio), sein Freund Crispus Passienus (nat. qu. 
IV, praef. 6. Benef. I, 15,5 vgl. epigr. sup. exil. 6), und der in Neapel von 
ihm gehörte Metronax (ep. 76, 1—4); den Lucilius sucht er in den ihm 
gewidmeten Briefen in dieselbe einzuführen. Gleichzeitig mit ihm ist Serapio 
aus dem syrischen Hierapolis (Sex. ep. 40, 2. Stern. Brz. De urb. Ἵεράπ.), 
und L. Annäus Cornutus aus Leptis (Suıp. Kopv.), oder dem nahen Thestis 
(Stern. Brz. Θέστις) in Afrika, welcher von Nero wegen eines Einwurfs gegen 
seine dichterischen Plane verbannt (nach Suidas’ unrichtiger Angabe getödtet) 
wurde (Dıo Cass. LXII, 29), nach Hırrox. im Chron. 68 n. Chr. (doch vgl. 
Reısarus z.d. St. Dio’s, der 66 n. Chr. vermutket). Von den rhetorischen 
und philosophischen Schriften, die ihm Suıp. beilegt, ist Eine, über die 
Götter (s. o. 301 ff.), erhalten, ohne Zweifel sein eigenes Werk, nicht blos 
ein Auszug aus demselben. Wenn ihn die vita Persii Sueton. als Tragicus be- 
zeichnet, nimmt Osanx zu Corn. De nat. De. XXV daran mit Recht Anstoss. 
Weiteres über ihn und seine Werke bei Marrısı De L. Ann. Cornuto (Lugd. 
Bat. 1825 — mir nur aus dritter Hand bekannt). VırLoisox und Osans ἃ. ἃ. Ὁ. 
Praef. XVII ff. O. ὅλην zu Persius Prolegg. VI ff. Schüler des Cornutus 
waren (v. Persii) Claudius Agathinus (so schreibt Osanx a. a. Ὁ. XVII, 
von ὕλην S.XXVII abweichend, den Namen nach Garen Definit. 14. Bd. XIX, 
353 K.) aus Sparta, ein namhafter Arzt, und Petronius Aristokrates aus 
Magnesia, „duo doctissimi et sanctissimi viri“, und die zwei römischen Dichter 
A. Persius Flaccus (geb. 34, gest. 62 n. Chr.; über ihn die vita und Jaun 
a. a. Ὁ. II ff.) und M. Annäus Lucanus, der Bruderssohn Seneca’s, 
39 n. Chr. geb., 65 n. Chr. als Theilnehmer der pisonischen Verschwörung 
getödtet (m. 5. über ihn die zwei vitae, welche zuletzt Weser, Marb. 1856 f. 
herausgegeben hat, die vita Persii, Tacır. Ann. XV, 49, 56 £. τὸ und andere 


Stoiker der Kaiserzeit. 613 


Heraklit dagegen ist mehr nur Sammler und Bearbeiter eines über- 
lieferten Stoffes, und das Gleiche gilt von Kleomedes. Auch von 


von W:sBer zusammengestellte Angaben), von denen der erstere besonders, 
wie er Sat. V selbst sagt, mit der höchsten Verehrung an ihm bieng. — Zur 
stoischen Schule hielten sich ferner, neben dem verächtlichen P. Egnatius 
Celer (Tac. Ann. XVI, 32. Hist. IV, 10.40. Dıo Cass. LXII, 26. Juvenar. 
III, 114 £.), die zwei freimüthigen Republikaner, Thrasea Pätus (Tac. Ann. 
XVI, 21 ££. vgl. XII, 49. XIV, 48 f. XV, 23. διὸ Cass. LXI, 15.20. LXII, 26. 
LXVI, 12. Suerox. Nero 37. Domit. 10. Prix. ep. VIIL, 22,3. VI, 29,1. VII, 
19, 3. Pıur. praec. ger. reip. 14, 10. 8.810. Cato min. 25.37. Juvenar.V,36. 
Erıkr. Diss. I, 1,26 u. A. Jans a. a. Ὁ. XXXVIIL f.) und sein Schwiegersohn 
Helridius Priscus (Tac. Ann. XVI, 28—35. Hist. IV,5f. 9.53. Dial. de 
orat. 5. Surrox. Vesp. 15. διὸ Cass. LXVI, 12. LXV, 7), von denen der 
erste auf Nero’s, der zweite, schon unter Nero verbannt, nicht ohne eigene 
Schuld auf Vespasian’s Befehl hingerichtet wurde., Auch Rubellius 
Plautus (Tac. Ann. XIV, 22. 57—59), welchen gleichfalls Nero tödten liess, 
wird als Stoiker bezeichnet, — Unter Nero nnd seinen Nachfolgern lebte end- 
lich Musonius Rufus und sein Schüler Epiktet, welche uns beide, nebst 
Musonius’ Schüler Pollio und Epiktet’s Schüler Arrianus, später noch 
vorkommen werden. — Ein Zeitgenosse Epiktet’s ist Euphrates, der Lehrer 
des jüngeren Plinius, welcher ihn wegen seines Vortrags und seines Charakters 
gleichsehr bewundert, früher in Syrien, nachher in Rom (Puıx. ep. I, 10); 
derselbe, welchen Philostratus im Leben des Apollonius von Tyana und der 
Verfasser der Briefe des Apollon. als Hauptgegner dieses Wundertbäters auf- 
treten lässt. Eine Aeusserung von ihm führt Erıkter Diss. IV, 8, 17 fi. an, 
der ebd. III, 15, 8 (Enchir. 29, 4) gleichfalls seinen Vortrag preist. Seiner 
leidenschaftlichen Feindschaft mit Apollonius gedenkt Phırosıe. auch v.Soph. 
I, 7,2. Derselbe nennt ihn hier und I, 25, 5 einen Tyrier, während er nach 
Stern. Bvz. De urb. ’Exıoav. ein Syrer aus Epipbania, nach Euvnar. v. philos. 
8.6 ein Aegyptier gewesem wäre. In hohem Alter erkrankt nahm er Gift, 
118 n. Chr. (Dıo Cass. LXIX, 8). Ein Schüler von ihm war Timokrates aus 
Pontus (Pnn.oste. v. soph. 1, 25, 5). — Unter Domitian und Trajan finden wir 
weiter Artemidorus, den Schwiegersohn des Musonius, welcher nach dem, 
was sein Freund und Bewunderer Pıinıus ep. III, 11 über ihn sagt, ohne 
Zweifel gleichfalls Stoiker war, und die von Prur. qu. conv. 1, 9, 1 Genanu- 
ten: Themistokles und Philippus, denen wir die beiden Krinis (Erıkr. 
Diss. III, 2, 15. Dioc. L. VII, 62. 68. 76) werden beifügen dürfen. Auch der 
von Domitian getödtete Junius Rusticus (Tacır. Agric. 2. Sterox. Domit. 
10. Dıo Cass. LXVII, 13. Pris. a. a. O.), dessen Process zur Ausweisung der 
Philosophen Anlass gab, war ohne Zweifel Stoiker. Die beiden Plinius 
dagegen wird man nicht zu dieser Schule rechnen dürfen, wenn sich auch 
einzelnes Stoische bei ihnen findet, und der jüngere den Euphrates zum Lehrer 
hatte. — Unter Hadrian lebte wohl Philopator (s. o. 152, 4), dessen Schüler 
Galen’s Lehrer war (Garten. cogn, an. morb.8. Bd. V,41 K.); unter demselben, 


614 Stoiker der Kaiserzeit. 


Cornutus wissen wir aber, dass er seine Thätigkeit grossentheils 


oder Antoninus Pius, mag Kleomedes seine Κυχλιχὴ θεωρία μετεώρων ge- 
schrieben haben, da er in dieser Schrift zwar vieler früheren Astronomen, 
nicht aber des Ptolemäus erwähnt; er folgte in ihr, wie er am Schlusse selbst 
sagt, hauptsächlich Posidonius. In die gleiche Zeit fallen die stoischen Lehrer 
M. Aurel’s: Apollonius (M. Auer, I, 8. 17. Dıo Cass. LXXI, 35. Carırorım. 
Ant. Philos. 2. 3. Ant. Pi. 10. Europ. VIII, 12. Lucıan. Demon. 31. Hıeron. 
Chron. zu Ol. 232, Sysceur. S.351 — ob er aus Chaleis oder Chalcedon oder 
Nikomedien stammte, kann hier ununtersucht bleiben); Junius Rustieus, 
dem sein kaiserlicher Schüler besonderes Vertrauen schenkte (M. Av. I, 7.17. 
Dıo a. a. OÖ. Carıror. Ant. Phil. 3); Claudius Maximus (M. Avs. I, 15.17. 
ΥΠΙ, 25. Carırtor. a.a.0.); Cinna Catulus (M.Aur. 1,18. Carırtor.a.a. O.); 
ihnen sind wahrscheinlich auch Diognetus (nach Carıror.. c.4, wo doch wohl 
der gleiche gemeint ist, sein Lehrer im Malen, aber nach M. Avr.I, 6 der, 
welcher ihm zuerst Neigung zur Philosophie einflösste), Basilides aus 
Seythopolis (von Hırrox. Chron. zu Ol. 232 und Srsc. 5. 351 als Lehrer 
M. Aurel’s bezeichnet, und wohl derselbe, den Sexr. Math. VIII, 258 — s. o. 
79, 1 — anführt) und einige Andere (Bacchius, Tandasis, Marcianus; 
M. Aurel hörte diese, wie er I, 6 sagt, auf Diognet’s Antrieb) beizufügen. An 
sie schliesst sich dannM. Aurelius Antoninus (s.u.)an. Unter seiner Regie- 
rung sollauch Lucius, der Schüler des Tyriers Musonius, gelebt haben, welchen 
Pıtoste. v. Soph. II, 1, 8 f. als Freund des Herodes Attikus bezeichnet, und 
mit M. Aurel, als dieser schon Kaiser war, in Rom zusammentreffen lässt; 
ohne Zweifel derselbe, von dem Sroe. Floril. Exc. e Jo. Damase. 7, 46. Bd. IV, 
162 Mein. einen Bericht über eine Unterredung mit Musonius anführt (seiner 
Unterredungen mit Musonius erwähnt auch Philostratus); denn dass er in 
unserem Text des Stob. Λύχιος heisst, ist unerheblich. Sowohl hier als bei 
Philostr. erscheint er als Stoiker oder Cyniker, und so war er vielleicht der 
Lucius, dessen schon S. 42, 2, Schl. zugleich mit Nikostratus gedacht wor- 
den ist, (Branpıs üb. ἃ. Ausleger ἃ. arist. Org., Abh. ἃ. Berl. Akad. 1833. 
hist.-phil. Kl. S.279 hält beide wegen der Art, wie sie Sımpr. Categ. 7,8. 1,« 
mit Attikus und Plotin zusammen nennt, für Akademiker, es scheint mir 
jedoch nicht, dass diess hieraus abgenommen werden kann.) Der Musonius 
aber, welcher sein Lehrer genannt wird, muss entweder von Musonius Rufus 
verschieden sein, oder man muss, auch abgesehen von dem Τύριος des Philo- 
stratus, annehmen, dass seine Erzählung ungenau sei, denn da Muson. Rufus 
das erste Jahrhundert wohl kaum überlebt hat, so ist es nicht denkbar, dass 
sein Schüler nach 161 nach Rom gekommen sei. Mir ist das Wahrscheinlich- 
ste, dass der Lehrer des Lucius kein anderer ist, als Musonius Rufus, und 
dass auf denselben auch die Anekdote bei Gerr. N. A. IX, 2, 8 geht, das Prä- 
dikat Τύριος aber durch Verwechslung aus Τυῤῥηνὸς entstanden ist (gesetzt 
auch Philostratus selbst schon habe diese Verwechslung begangen), und das 
Zusammentreffen des Lucius mit M. Aurel entweder gar nicht, oder doch vor 
M. Aurel’s Regierungsantritt stattgefunden hat; theils weil man bei Musonius 


Cornutus. 615 


grammatischen und rhetorischen Arbeiten widmete 1), und so 
scheint er sich auch mit der Philosophie mehr in der Weise des 
Gelehrten, als des selbständigen Denkers, beschäftigt zu haben. 
Seine Schrift über die Götter begnügt sich, die Lehre seiner Schule 
wiederzugeben, und wenn er in einer Abhandlung über die Kate- 
gorieen nicht blos Aristoteles, sondern auch seinem stoischen Geg- 
ner Athenodor ?) widersprochen hatte ?), so sehen wir doch aus 
‚dem Wenigen, was uns daraus mitgetheilt wird, dass auch diese 


doch am Natürlichsten an den berühmtesten Mann dieses Namens, den ein- 
zigen uns bekannten, denkt, theils und besonders, weil das, was Lucius 
seinem Musonius in den Mund legt, mit dem bei Sros». Floril. 29, 78 von Mu- 
sonius Angeführten ganz übereinstimmt. — Aus der ersten Hälfte des dritten 
Jahrhunderts kennen wir durch Lonxcısus b. Poren. v. T}ot. 20 eine Reihe 
diesem Schriftsteller gleichzeitiger und etwas älterer Philosophen, unter denen 
sich auch ziemlich viele Stoiker befinden. Als solche, die auch schrift- 
stellerisch thätig gewesen seien, nennt er Themistokles (nach Syaceuı. 
Chronogr. S. 361, Β um 228 ἢ. Chr.) und Phöbion, nebst zwei kürzlich erst 
verstorbenen (μέχρι πρῴην ἀχμάσαντες), Annius und Medius (von Medius 
hatte Porphyr, nach Proxı. in Plat. remp. 8. 415 u., in seinen Σύμμιχτα 
Προβλήματα eine Unterredung mit Longinus erwähnt, worin er die stoische 
Lehre von den acht Theilen der Seele gegen diesen vertheidigte); als solche, 
die sich auf die Lehrthätigkeit beschränkt haben, Herminus, Lysimachus 
(nach Poren. a. a. Ὁ. 3 wahrscheinlich in Rom), Athenäus, Musonius. 
Etwas jünger (um 260) ist der von Porrnyrk b. Evs. pr. ev. X, 3, 1 genanute 
athenische Stoiker Kalietes. Ganz unbekannt ist uns die Lebenszeit des 
Aristokles aus Lampsakus, von welchem Suıp. u. 4, W. eine Erklärung 
einer logischen Abhandlung Chrysipp’s nennt; des Antibius und Eubius 
aus Askalon, und des Publius (Πόπλιος) aus Hierapolis, bei Stern. Brz. De 
urb. ᾿Ασχαλ. ἹἹεράπ.; der beiden Proklus aus Mallos in Cilieien b. Svin. 
Πρόχλ. Einen der letzteren nennt Prokr. in Tim. 166, B nebst Philonides 
unter den ἀρχαῖοι; ist mit diesem der Schüler Zeno’s (s. o. 36, 1) gemeint, so 
möchte man auch den Proklus weiter hinaufrücken; doch kann er keinenfalls 
älter, als Panätius, sein, da Sup. doch wohl von ihm ein ὑπόμνημα τῶν Ato- 
γένους σοφισμάτων erwähnt. 

1) M. vgl. die Nachweisungen über seine rhetorischen Schriften, seiue 
Erklärung der virgilischen Gedichte und ein grammatisches Werk bei Jaux 
Prolegg. in Persium XIII ff. Osann a. a. O. XXILf. 

2) Vgl. S. 520 unt. 

3) Sımer, Categ. 5, α. 18, ὃ. 47, ζ. 91, α. (Schol. in Arist. 30, b, unt. 47, 
Ὁ, 22. 57,a, 16. 80, a, 22.) Porr#. in Categ. 4, b (Schol. in Ar. 48, b, 12); 
ebd. 21. Vgl. Braxvıs üb. die griech. Ausl. d. arist. Org. Abh. ἃ, Berl. Akad. 
1833, hist.-phil. Kl. S. 275. 


616 Cornutus, 


ihren Gegenstand vorzugsweise vom Standpunkt des Grammatikers 
aus behandelt hatte 1). Eine nicht unerhebliche Abweichung von 
der stoischen Ueberlieferung ist es, wenn er wirklich gelehrt hat, 
dass die Seele zugleich mit dem Körper sterbe ?); doch steht diess 
nicht ganz sicher ὅ), so möglich es auch ist, dass er sich in dieser 
Frage Panätius anschloss. Werden stick seine ethischen Vor- 
träge von Persıus wegen ihres wohlthätigen Einflusses auf die Zu- 
hörer gerühmt 4), so werden wir ihm doch auch auf diesem Ge- 
biete schwerlich eine bedeutende Eigenthümlichkeit und eine ein- 
greifendere geschichtliche Wirkung zuschreiben dürfen; hätte er 
sie gehabt, so würde er auch stärkere Spuren derselben zurück- 
gelassen haben. 

Anders verhält es sich mit Seneca°). Dieser Philosoph er- 


1) Porcır. 4, b sagt von ihm und Athenodor: τὰ ζητούμενα περὶ τῶν λέξεων 
χαθὺ λέξεις, οἷα τὰ χύρια κοὶ τὰ τροπιχὰ χαὶ ὅσα τοιαῦτα... τὰ τοιαῦτα οὖν προ- 
φέροντες χοὶ ποίας ἐστὶ χατηγορίας ἀποροῦντες χαὶ μὴ εὑρίσκοντες ἐλλιπῆ φασιν εἶναι 

τὴν διαίρεσιν. Ebenso Sıser. 5, ἃ vgl. 91, x, wo Corn. den Ort vom ποῦ und 
die Zeit vom ποτὲ trennen will, weil der ΘΒ πες Ausdruck hier ein anderer 
sei, als dort. 

2) Jaugr. b. Stop. Ekl. I, 922: Liegt die Ursache des Todes in der Ab- 
haltung der belebenden Luft, dem Erlöschen der Lebenskraft (τόνος) oder 
Lebenswärme? ἀλλ᾽ εἰ οὕτως γίγνεται ὃ θάνατος, προαναιρεῖται ἢ συναναιρέεῖται ἣ 
ψυχὴ τῷ σώματι, καθάπερ Κουρνοῦτος οἴεται. 

3) Wenn es nämlich auch wahrscheinlich unser Cornutus ist, auf welchen 
die Aussage Jamblich’s geht, so ist doch immerhin möglich, dass das, was 
er gesagt hatte, sich nicht auf die vernünftige, menschliche, sondern auf die 
animalische Seele bezog. Die Annahmen, aus denen Jamblich seine Behaup- 
tung ableitet, treffen mit der stoischen Schullehre zusammen, nach welcher 
der Tod erfolgt, ὅταν παντελῶς γένηται ἣ ἄνεσις τοῦ αἰσθητιχοῦ πνεύματος (Prur. 
plac. I, 23, 4). 

4) Sat. V, 34 ff. 62 fl. 

5) Die umfangreiche Literatur über Seneca findet sich bei Bärr u. d. W. 
in Pauly’s Realencykl. ἃ. klass. Alterth, VI, a, 1037 fl. Weiter vgl. m. über 
Seneca’s Philosophie Rırrer IV, 189 ff. Baur, Seneca und Paulus in Hilgen- 
feld’s Zeitschr. f. wissensch. Theol. I, 161 ff. 441 ff. 1858. Dörcexs L. A. 
Senecae disciplinae moralis cum Antoniniana contentio et comparatio. Lpzg. 
1857. Horzuerr Der Philosoph L. A. Seneca. Rast. u. Tüb. 1858.°1859. 
(Noch unvollendet; Gymn.progr.); über Seneca’s Leben und Schriften, ausser 
den vielen älteren Arbeiten, Binr a. a. Ὁ. Bersuarpr Grundr. ἃ, röm. Lit. 
4.A. 8.811 ff. — Zu Corduba geboren, ritterlichen Standes, der zweite Sohn 
des bekannten Rhetor’s M. Annäus Seneca (Sen. epigr. s. exil. 8, 9. Fr. 88. ad 


Seneca. 617 


freut sich nicht allein bei der Mitwelt und der Nachwelt eines hohen 
Ansehens ἢ). und er ist nicht blos für uns, bei dem Untergang der 
meisten stoischen Schriften, von besonderer Wichtigkeit, sondern 
er ist auch wirklich ein sehr tüchtiger Vertreter seiner Schule und 
einer von den einflussreichsten Wortführern der Richtung, welche 
dieselbe in der römischen Welt und namentlich in der Kaiserzeit 


Helv. 18, 1 ff. Tacır. Ann. XIV, 53 u. A.), kam Lueins Annäus Seneca als 
Kind mit seinen Eltern nach Rom (ad Helv. 19, 2). Seine Geburt muss nach 
den Angaben n. qu. I, 1, 3. ep. 108, 22 ‚vgl. m. Tac. Ann. 11, 85 in die ersten 
Jahre der christlichen Zeitrechnung fallen. In jüngeren Jahren und auch 
noch später durch häufige Krankheit gestört (ad Helv. 19, 2. ep. 54, 1. 65, 1. 
78, 1 ff. 104, 1), ergab er sich mit grossem Eifer den Wissenschaften (ep. 78,3 
vgl. 58,5), vor Allem der Philosophie (ep. 108, 17), in welche ihn Sotion, 
der Schüler des Sextius (s. o. 600, 3) und der Stoiker Attalus (5. 8. 611,1) ein- 
führte. In der Folge ergriff er den Beruf eines Sachwalters (ep. 49, 2), ge- 
langte zur Quästur (ad Helv. 19, 2) und verheirathete sich (vgl. De ira III, 
36, 3. ep. 50, 2 und über ein Kind, Marcus, epigr. 8. ad Helv. 18, 4 ff., über 
ein zweites, kurz vorher gestorbenes, ebd. 2, 5. 18, 6), in seiner äusseren 
Lage vom Glücke begünstigt (ebd. 5,4. 14, 3). Von Caligula bedroht (Dıo 
LIX, 19), unter Clandius»(41 n. Chr.) auf Messalina’s Betrieb nach Corsica 
verbannt (Dıo LX, 8. LXI, 10. Sex. epigr. s. exilio. ad Polyb. 13, 2. 18, 9. 
ad Helv. 15, 2 ἢ), wurde er erst nach ihrem Sturze durch Agrippina zurück- 
berufen (50 n. Chr.); zugleich wurde ihm die Prätur übertragen und die Er- 
ziehung Nero’s anvertraut (Tac. Ann. XII, 8). Nach Nero’s Regierungsantritt 
war er längere Zeit neben Burrhus der Lenker des römischen Reichs und des 
jungen Herrschers (Tac. XII, 2. Weiteres über Seneca’s öffentliches Leben $ 
und seinen Charakter tiefer unten). Mit dem Tode dieses Freundes war aber 
auch sein Einfluss zu Ende: Nero beseitigte den Rathgeber, der ihm längst 
lästig geworden war (Tac. XIV, 52 ff.), und benützte die erste Gelegenheit, 
sich des gehassten (vgl. XV, 45. 56) und vielleicht auch gefürchteten Mannes 
zu entledigen: die Verschwörung Piso’s gab i. J. 65 den Vorwand zu dem 
Blutbefehl, welchem sich der Philosoph mit männlicher Standhaftigkeit unter- 
warf. Seine zweite Gattin, Paulina (ep. 104, 1 ff.), die mit ihm sterben wollte, 
wurde daran verhindert, nachdem sie sich bereits die Pulsadern geötinet hatte 
(Tac. Ann. XV, 56—64). 

1) Ueber die anerkennenden Urtheile der Alten, eines Quistirıan (welcher 
Inst. X, 1, 125 ff. an Seneca als Schriftsteller und Philosophen zwar Manches 
tadelt, aber doch zugleich seine grossen Vorzüge — ingenium facile et copio- 
sum, plurimum studi, multa rerum cognitio — und den ausserordentlichen 
Beifall, den er fand, bezeugt), Prisıus (ἢ. nat. XIV, 5, 51), Tacırus (Ann, 
XII, 3), Coruserra (R. R. III, 3), Dio Cass. (LIX, 19) und der christlichen 
Schriftsteller vgl. m. Horzuear I, 1 f. Andere freilich, wie Ger. N. A. XII, 2 
und Froxto ad Anton. 4, 1, S, 123 fl. sprechen von ihm höchst abschätzig. 


618 Seneca. 


nahm. Für ihren ersten Begründer wird er allerdings nicht zu hal- 
ten sein; so unvollständig uns vielmehr auch die Geschichte des 
römischen Stoicismus bekannt ist, so können wir doch deutlich ° 
wahrnehmen, wie seit Panätius mit der zunehmenden Beschrän- 
kung auf die Ethik auch die Neigung zu einer Milderung der stoi- 
schen Strenge und zur Annäherung an andere Systeme im Wach- 
sen ist; und wenn die Sittenlehre des Stoicismus andererseits auch 
wieder bei den Sextiern und in dem erneuerten Cynismus (5. u.) 
eine Verschärfung erfährt, so wird doch die Zurückstellung der 
Schultheorieen, die Hervorhebung des allgemein Menschlichen, im 
unmittelbaren Bewusstsein Begründeten, für’s sittliche Leben Wich- 
igen, die universalistische Ausbildung der Moral, das Streben 
nach gemeinverständlicher, praktisch wirksamer Darstellung auch 
von dieser Seite her gefördert. Diese Züge entwickeln sich dann 
aber bei Seneca und seinen Nachfolgern noch stärker, und so 
wenig dieselben die Lehre ihrer Schule aufgeben wollen, so schroff 
sie mitunter die stoischen Grundsätze aussprechen, so geht doch 
im Ganzen genommen der Stoicismus bei ihnen mehr und mehr in 
die Form der allgemeinen sittlich-religiösen Ueberzeugung über, 
und in dem Inhalt seiner Lehren treten neben der inneren. Freiheit 
des Einzelnen die Grundsätze der allgemeinen Menschenliebe, der 
Nachsicht gegen die menschliche Schwachheit, der Ergebung in 
die göttlichen Führungen vorzugsweise hervor. 

Bei Seneca spricht sich die freiere Stellung zu der Lehre seiner 
Schule, welche er für sich in Anspruch nimmt 1), schon in seinen 


1) Dass Sen. Stoiker ist und sein will, bedarf keines Beweises; zum 
Ueberfluss vergleiche man das nos und nostri ep. 113, 1. 117, 1.6 u. o., und 


die Lobsprüche, welche dem Stoieismus De const. 1, 1. cons. ad Helv. 12, 4. 


Clement. II, 5, 3. ep. 83, 9 ertbeilt werden. Zugleich spricht er sich aber 
über das Recht eines selbständigen Urtheils und über die Aufgabe, durch 
eigene Forschung die Erbschaft der Vorgänger zu vermehren, mit aller Ent- 
schiedenheit aus (v. be. 3, 2. De otio 3, 1. ep. 33, 11. 45, 4. 80, 1. 64, 7 8); 
er nimmt, wie wir finden werden, keinen Anstand, Lehrsätzen und Gewohn- 
heiten seiner Schule zu widersprechen, und ebenso will er ohne Bedenken 
sich aneignen, was er irgendwo, sei es auch ausser derselben, Brauchbares 
findet (ep. 16,7. Deira 1, 6,5). Sehr häufig verwendet er in diesem Sinne 
namentlich Aussprüche Epikur’s, den er auch in Betreff seines persönlichen 
Werthes mit einer au dem Stoiker fast überraschenden Billigkeit beurtheilt (s. o. 
407, 2), und wenn er hiecbei vielleicht auch auf die Vorliebe seines Freundes 


Philosophischer Charakter. 619 


Ansichten über den Zwe£K und die Aufgabe der Philosophie aus. 
Wenn in der ursprünglichen Richtung des Stoicismus bereits 
ein Uebergewicht des praktischen Interesse’s über das theoretische 
begründet war, so verstärkt sich diess bei ihm in dem Maasse, dass 
er auch von dem, was die älteren Lehrer der Schule zu den we- 
sentlichen Bestandtheilen der Philosophie gerechnet hatten, Man- 
ches für unnütz und entbehrlich ansieht. Wiederholt er auch im 
Allgemeinen die stoischen Bestimmungen über den Begriff und die 
Theile der Philosophie 1), so hebt er doch ihre sittliche Abzweckung 
noch stärker, als die Früheren, hervor: der Philosoph ist ein Er- 
zieher der Menschheit ®), die Philosophie ist Lebenskunst, Sitten- 
lehre, Tugendstreben 5); es handelt sich in ihr nicht um ein Spiel 
des Scharfsinns, sondern um Heilung schwerer Uebel 5), sie will 
uns nicht reden lehren, sondern handeln °), und alles, was man 
lernt, bringt nur dann einen Nutzen, wenn man es auf seinen 
sittlichen Zustand anwendet %). Nach ihrem Verhältniss zu diesem 
letzten Zweck ist der Werth jeder wissenschaftlichen Thätigkeit zu 
beurtheilen: was unseren sittlichen Zustand nicht berührt, das ist 
unnütz, und der Philosoph weiss nicht lebhaft genug gegen die 
Verkehrtheit derer zu eifern, welche sich mit solchen Dingen ab- 
geben, so wenig er selbst es sich versagen kann, eben in seinem 
Eifern zu zeigen, wie wohl er auch darin bewandert ist. Was 
nützen uns, fragt er, alle jene Untersuchungeu, mit denen sich 
die Alterthümler beschäftigen ? wer ist je dadurch besser und ge- 


Lucilius für Epikur Rücksicht nahm, so lässt sich doch zugleich die Absicht 
nicht verkennen, durch diese anerkennende Behandlung des vielgeschmähten 
Gegners seine eigene Unbefangenheit an’s Licht zu stellen. 

1) M. vgl. über jenen, was S. 46, 2, über. diese, was ὃ. 55, 6. 58, 1. 61,2, 
191 angeführt ist, und ep. 94, 47 f. 95, 10. 

2) Ep. 89, 13: Aristo behauptete, der paränetische Theil der Ethik sei 
Sache des Pädagogen, nicht des Philosophen, tamguam quiequam aliud sit 
sapiens quam generis humani paedagogus. 

3) 8.8.46, 2. 49, 1. ep. 117, 12. 94, 39. 

4) Ep.117,33: adice nunc, quod adsuescit animus delectare se potius quam 
sanare et philosophiam oblectamentum facere, cum remediam sit. 

5) Ep. 20, 2; facere docet philosophia, non dicere u. s. w. 24, 15. 

6) Ep. 89, 18: quwiequid legeris ad mores statim referas. Ebd. 23: haec 
alüs die ... omnia ad mores οἱ ad sedandam rabiem adfectuum referens. Aelın- 
lich 117, 33. ’ 


620 Seneca. 


rechter geworden? 1) Wie gering erscheint nicht der Werth der 
sogenannten freien Künste, wenn wir erwägen, dass es die Tugend 
allein ist, auf die es ankommt, dass sie unser ganzes Gemüth für 
sich in Anspruch nimmt, und dass zur Tugend nur die Philosophie 
führt! 2) Wie viel Ueberflüssiges hat aber auch die Philosophie in 
sich aufgenommen, wie viel Sylbenstechereien und unfruchtbare 
Spitzfindigkeiten! Wie manches Derartige ist selbst in die stoische 
Schule eingedrungen! ?) Seneca seinerseits will davon auch in 
solchen Fällen nichts hören, in denen die Spitzfindigkeiten, über 
- die er klagt, mit den Voraussetzungen der stoischen Lehre sicht- 
bar genug zusammenhängen *); und ebenso kommt er über die 
dialektischen Einwendungen ihrer Gegner leicht genug weg: nicht 
allein die Trugschlüsse, welche den Scharfsinn eines Chrysippus 
und seiner Nachfolger lebhaft genug beschäftigten, gelten ihm für 


Taschenspielereien, die es sich nicht verlohne zu untersuchen °), 
” 


1) Brevit. v.13, wo nach einer reichen Beispielsammlung von werthlosen 
antiquarischen und historischen Notizen geschlossen wird: cujus ista errores 
minuent, cujus cupiditates prement? quem fortiorem, quem justiorem, quem 
liberaliorem facient? 

2) Ausführlich wird diess ep. 88 erörtert. Die Grammatik, zeigthier Seneca, 
die Musik, die Geometrie, die Arithmetik, die Astronomie seien höchstens eine 
Vorbereitung auf den höheren Unterricht, aber an sich selbst von untergeord- 
netem Werth (5. 20). ‚Seis quae recta sit linea: quid tibi prodest, si quid in vita 
rectum sit, ignoras? u. 5. w. (s. 13). una re consummatur animus, sciertia 
bonorum ac malorum immutabili, quae soli philosophiae conpetit: nihil autem 
ulla ars alia de bonis ac malis quaerit (s.28). magna et spatiosa res est sapientia. 
vacuo üli loco opus est: de divinis humanisque discendum est, de praeteritis, de 
Juturis, de caducis, de aeternis u. s. w. ἃ. 85. w. haec tam multa, tam magna 
ut habere possint liberum hospitium, supervacua ex animo tollenda sunt. non 
dabit se in has angustias virtus: lacum spatium res magna desiderat. expellantur 
omnia. totum pectus ili vacet (5. 33—35). 

3) Vgl. ep. 88, 42. 

4) M. 8. was 8. 78, 1 aus ep. 117, 5. 109, 3 aus ep. 113 angeführt ist. In 
beiden Fällen lässt er sich auf die Auseinandersetzung und die Bestreitung 
der stoischen Bestimmungen des Langen und Breiten ein, um dann schliess- 
lich ihre Urbeber und sich selbst anzuklagen, dass sie, statt das Nüthige und 
Heilsame zu treiben, ihre Zeit mit so nutzlosen Fragen verderben. Ebenso 
ep. 106 u. ὃ. 8. 5. 621, 2. 

5) Ep. 45, 4: Seine Vorgänger, die grossen Männer, haben manches 
Problem übriggelassen, et invenissent forsitan necessaria, nisi δὲ supervacua 
quaesissent. multum ülis temporis verborum cavillatio eripuit et captiosae dispu- 


Praktischer Zweck der Philosophie. 621 


sondern auch jene eingreifenden Erörterungen der Skeptiker, die 
der älteren Stoa so viel zu schaffen machten, und die eleatischen 
Bedenken gegen die sinnliche Erscheinung werden von ihm einfach 
zu den überflüssigen Grübeleien gerechnet, mit denen man sich 
nur um das bringe, was zu wissen uns noththue 1). Die Weisheit, 
sagt er, sei eine einfache Sache und bedürfe keiner grossen Ge- 
lehrsamkeit; nur unsere Unmässigkeit sei es, welche die Philoso- 
phie so in’s Breite ausdehne; für’s Leben seien ja doch die Schul- 
fragen grossentheils werthlos ?), ja sie schaden mehr, als sie 
nützen, weil sie den Sinn klein und schwächlich machen, statt ihn 
zu erheben 5). Wir dürfen zwar Seneca selbst mit solchen Erklä- 
rungen, wie sich uns theils bereits gezeigt hat, theils noch weiter 
zeigen wird, nicht so ganz strenge beim Wort nehmen, aber doch ist 
es unverkennbar, dass er die Philosophie grundsätzlich auf die 


tationes, quae acumen inritum ... exercent. Nicht die Wortbedeutungen, 
sondern die Sachen, das Gute und Schlechte, solle man unterscheiden, mit 
den Sophismen, den acetabula praestigiatorum, sich nicht herumschlagen, 
deren Unkenntniss nichts schade und deren Kenntniss nichts nütze: quid me 
detines in eo, quem tu ipse ψευδόμενον adpellas ...? ecce tota mihi vita mentitur 
u.s. w. AÄehnlich ep. 48. 49, 5 fi. 

1) Ep. 88, 43: audi, quantum mali faciat nimia substilitas et guam infesta 
veritati sit: Protagoras sagt, man könne für und wider Alles disputiren, Nau- 
siphanes, Alles sei ebensogut nicht, als es sei, Parmenides, nichts sei, als 
das Weltganze, Zeno von Elea, nihil esse (!). circa eadem fere Pyrrhonei ver- 
santur et Megarici et Eretrici et Academici, qui novam induxerunt scientiam, 
nihil scire. haec omnia in illum supervacuum studiorum liberalium gregem conice 
u. 8. w. non facile dixerim, utris magis irascar, iÜlis, qui nos nihil scire volue- 
runt, an ülis, qui ne hoc quidem nobis reliquerunt, nihil scire. 

2) Ep. 106, 11, nach einer eingehenden Besprechung des Satzes, dass das 
Gute ein Körper sei (s. ο. 109, 1. 3. 108, 3: Zatrumeulis ludimus. in superva- 
caneis subtilitas teritur: non faciunt bonos ista, sed doctos. apertior res est sapere, 
immo simplieior. paucis' est ad mentem bonam uti literis: sed nos ut cetera in 
supervacaneum diffundimus, ita philosophiam ipsam. quemadmodum omnium 
rerum, sic literarum quoque intemperantia laboramus: non vitae sed scholae 
discimus. Vgl. ep. 47,4 f. 87,38 ff, 88, 36: plus scire velle quam sit satis, in- 
temperantiae genus est. 

3) Ep. 117, 18£., nach der Erörterung über die Behauptung, die sapientia, 
nicht aber das sapere, sei ein Gut: omnia ista circa sapientiam, non in ipsa 
sunt: at nobis in ipsa commorandum est .... haec vero, de quibus paulo ante 
dieebam, minuunt et deprimunt, nec, ut putatis, exacuunt, sed extenuant. 
Ebenso ep. 82, 22, 


622 Seneca. 


sittlichen Aufgaben beschränken will, und alles Andere nur so 
weit gelten lässt, als es mit jenen in einem nachweisbaren Zusam- 
menhang steht. 
Dieser Grundsatz muss nun unsern Philosophen vor Allem 
von dem Theil der Philosophie abziehen, welchen schon die älteren 
Stoiker zwar sehr eifrig gepflegt, aber schliesslich doch nur als 
ein Aussenwerk ihres Systems betrachtet hatten, von der Logik. 
Führt sie daher Seneca auch unter den drei Haupttheilen der Phi- 
losophie auf), so wird doch ihr Inhalt in seinen Schriften nur 
flüchtig und vereinzelt berührt. Er äussert sich bei Gelegenheit 
im Sinn seiner Schule über die Entstehung der Begriffe und über 
die Beweiskraft der allgemeinen Meinung ?); er spricht von dem 
obersten Begriff und den allgemeinsten ihm untergeordneten Be- 
griffen ?), er zeigt überhaupt, dass ihm die logischen Bestimmun- 
gen seiner Schule wohl bekannt sind %); aber er selbst hat keine 
Neigung, sich eingehender damit zu befassen, weil dieses ganze 
Gebiet von dem, um was es ihm in letzter Beziehung allein zu 
thun ist, von der sittlichen Aufgabe des Menschen, seiner Mei- 
nung nach zu weit abliegt. 
Ungleich grösser ist der Werth, welchen er der Physik bei- 
legt, wie er ihr auch in seinen Schriften grösseren Raum gewid- 
met hat. Ihr rühmt er nach, dass sie dem Geiste die Erhabenheit 
der Gegenstände mittheile, mit denen sie sich beschäftige °); ja in 


1) S.o. 55, 6. 58, 1. 61, 2. Anderswo jedoch (ep. 95, 10) wird die Philo- 
sophie, und ebenso ep. 94, 45 (wie schon von Panätius, s. 8. 505) die Tugend, 
mit den Peripatetikern in die theoretische und die praktische getheilt, was 
gerade einem solchen, welcher der Logik keinen selbständigen Werth bei- 
legte, um so näher lag. 

2) 8. 0.68, 8. 1. 

3) Ep. 58, 8 ff. (5. o. 83, 4): der höchste Begriff ist der des Seienden, 
dieses ist theils körperlich, theils unkörperlich, das Körperliche theils leben- 
dig theils leblos, das Lebendige theils beseelt theils unbeseelt (ψυχὴ und φύσις 
s. 8. 178, 1) das Beseelte theils sterblich theils unsterblich. Vgl. ep. 124, 14. 

4) Ausser dem, was 5. 620, 4. 621, 2. 3 angeführt ist, vgl. m. in dieser 
Beziehung auch ep. 113, 4 ἵν, und dazu $. 88, 2; ep. 102,6 f. nat. qu. II, 2, 2 
und dazu 8. 87, 2. 108, 1. 

5) Ep. 117, 19: de Deorum natura quaeramus, de siderum alimento, de 
his tam varüs stellarum discursibus u. s. w. ista jam a formatione morum reces- 
serunt: sed levant animum et ad, ipsarum quas tractant rerum magnitudinem 
adtollunt. 


Die Dialektik; die Physik. 623 


dem Vorwort zu seinem naturwissenschaftlichen Werke!) geht er 
sogar zu der Behauptung fort, die Physik sei um ebensoviel höher, 
als die Ethik, um wieviel das Göttliche, mit dem sie es zu thun 
habe, höher sei, als das Menschliche; sie allein führe uns aus 
dem irdischen Dunkel in das Licht des Himmels, sie zeige uns das 
Innere der Dinge, den Urheber und die Ordnung der Welt, und 
es verlohnte sich nicht zu leben, wenn uns ihre Forschungen 
verschlossen wären; was es denn Grosses wäre, die Leidenschaf- 
ten zu bekämpfen, sich von Uebeln zu befreien, wenn der Geist 
dadurch nicht zur Erkenntniss des Himmlischen vorbereitet, in 
den Verkehr mit der Gottheit eingeführt würde, wenn wir uns 
nur über das Aeussere erhöben, und nicht auch über uns selbst? 
u.s. w. Indessen bemerkt man bald, dass diese Deklamationen 
mehr eine vorübergehende Stimmung, als die eigentliche Meinung 
des Philosophen aussprechen. Anderswo rechnet Seneca die phy- 
sikalischen Untersuchungen, die wir ihn kaum erst so hoch stel- 
len hörten, doch auch wieder zu den Dingen, welche über das 
Wesentliche und Nothwendige hinausgehen, und mehr Sache der 
Erholung als der eigentlichen philosophischen Arbeit sind, wenn er 
auch ihren sittlich erhebenden Einfluss auf den Geist nicht über- 
sieht ?); er erklärt für die wesentliche Aufgabe des Menschen die 
sittliche, und empfiehlt die Naturforschung nur als Hülfsmittel für 


1) Nat. χὰ. I prol. Vgl. VI, 4, 2: „Quod, inquis, erit pretium operae“? 
quo nullum majus est, nosse naturam. Der höchste Gewinn dieser Forschung 
sei, quod hominem magnificentia sui detinet, nec mercede, sed miraculo colitur. 
Ep. 95, 10 u. A. 

2) Ep. 117, 19 (s. o. 622, 5): die Dialektik hat es nur mit dem 
Aussenwerk der Weisheit zu thun. etiam si quid evagari libet, amplos 
habet illa [die sapientia] spatiososque secessus: de Deorum natura quae- 
ramus, de siderum alimento u. s. w. &Aehnlich wird ep. 65, 15 eine 
Erörterung über die letzten Gründe mit der Erklärung vertheidigt: ego 
quidem priora illa ago et tracto, quibus pacatur animus, et me prius 
scrutor, deinde hunce mundum. ne nunc quidem tempus, ut existimas, perdo. 
ista enim omnia, si non concidantur nee in hanc subtilitatem inutilem distra- 
hantur , adtollumt et levant animum. Im der Betrachtung der Welt und ihres 
Urhebers erhebe man sieh über die Bürde des Leibes, man lerne seine höhere 
Abkunft und Bestimmung kennen, den Körper und das Körperliche gering- 
schätzen und sich von ihm freimachen. So hoch hier die spekulativen Unter- 
suchungen gestellt werden, so weiss sie Seneca doch in letzter Beziehung nur 
durch ihre sittliche Wirkung auf den Menschen zu rechtfertigen. 


ι 


624 Seneca. 


diese 1); er macht es sich zur Pflicht, seine naturwissenschaft- 
lichen Auseinandersetzungen von Zeit zu Zeit durch moralische 
Betrachtungen und Nutzanwendungen zu unterbrechen, weil Alles ἡ 
auf unser Heil bezogen werden müsse ?). Der Zusammenhang 
zwischen den theoretischen und den praktischen Lehren des stoi- 
schen Systems wird von ihm zwar nicht aufgegeben, aber er er- 
scheint doch lockerer, als bei einem Chrysippus und seinen Nach- 
folgern. 

In den uns erhaltenen Schriften hat Seneca nur den Theil der 
Physik ausführlicher behandelt, welchen die Alten mit dem Namen 
der Meteorologie zu bezeichnen pflegen. Ihm hat er in seinen letz- 
ten Lebensjahren ?) die sieben Bücher naturwissenschaftlicher 
Untersuchungen gewidmet. Indessen entspricht der Inhalt dieser 
Schrift den hochtönenden Verheissungen, mit denen sie eröffnet 
war, nur sehr unvollkommen 1): es sind Erörterungen über eine 
Menge einzelner Naturerscheinungen, mehr in der Weise gelehr- 
ter Liebhaberei als selbständig eindringender Naturforschung an- 


1) Nat. qu. III praef. 10. 18: quid praecipuum in rebus humanis est? .... 
vitia domuisse ... erigere animum supra minas et promissa fortumae u. 5. w. 
u.s. w. ad hoc nobis proderit inspicere rerum naturam, weil man den Geist 
dadurch vom Körper und von allem Niedrigen ablöse, und weil die hier ge- 
wonnene Uebung des Denkens auch den sittlichen Ueberzeugungen zu Gute 
komme. x 

2) M. vgl. nat. qu. III, 18. IV, 13. V, 15. 18. VI, 2.32, besonders aber 
II, 59. Nachdem er ausführlich von den Blitzen gehandelt hat, lässt er sich 
hier einwerfen: viel nöthiger wäre es, die Furcht vor ihnen zu beseitigen, und 
wendet sich nun dazu mit den Worten: sequar quo vocas: omnibus enim rebus 
omnibusque sermonibus aliquid salutare miscendum est. cum imus per occulta 
naturae, cum divina tractamus, vindicandus est a malis suis animus ac subinde 
firmandus u. 5. w. 

3) Diess erhellt aus II, praef. Anf. und aus der Beschreibung des Erd- 
bebens, welches i. J. 63 Pompeji und Herculanum zerstörte, VI, 1. 26, ΤᾺ 
Ueber die Erdbeben hatte Sen. schon in jüngeren Jahren eine Abbandlung 
verfasst nat. qu. VI, 4, 2. 

4) Wer die Probe machen will, der lese den Anfang der Schrift, und er 
wird sich des Gefühls einer fast komischen Enttäuschung nicht erwehren 
können, wenn der Verfasser nach den oben besprochenen Deklamationen über 
die Erhabenheit der Naturforschung, nach dem Schlusssatze: si nihil aliud, 
hoc certe sciam, omnia angusta esse, mensus Deum, fortfährt: nunc ad pro- 
positum veniam opus. audi quid, de ignibus sentiam, quos aör iramsversos 
ayıt. 


Gott und die Materie. 625 


gestellt; Seneca’s philosophischer Standpunkt wird von ihnen 
wenig berührt, und würde keine erhebliche Veränderung erlei- 
den, wenn auch der grössere Theil ihrer’ Ergebnisse anders lau- | 
tete. Für uns fallen sie um so weniger in’s Gewicht, da das mei- 
ste, was sie bringen, Posidonius und andern Vorgängern ent- 
nommen zu sein scheint). Aehnlich verhielt es sich wohl auch mit 
anderem Naturwissenschaftlichen, was von ihm erwähnt wird 5). 
Wichtiger sind in philosophischer Beziehung die metaphysischen 
und theologischen Ansichten, die er bei Gelegenheit äussert. Doch 
sind auch hier keine eingreifenderen Abweichungen von der stoi- 
schen Ueberlieferung zu verzeichnen. Mit den Stoikern setzt Se- 
neca die Körperlichkeit alles Wirklichen voraus ὅ), mit ihnen 
unterscheidet er vom Stoffe die in ihm wirkende Kraft, von der 
Materie die Gottheit *), aber er thut diess doch nur in dem glei- 
chen Sinn, wie sie: das Wirkende ist der spiritus, der Hauch, 
welcher die Stoffe gestaltet und zusammenbhält °), und auch die 
Gottheit ist der Geist nicht als unkörperliches Wesen, sondern als 
das durch die ganze Welt räumlich und stoflich sich verbreitende 
Pneuma °). So folgt er auch der stoischen Lehre vom Verhält- 


1) Vgl. hierüber und über den Inhalt der Nat. qu. 85. 176, 8. 4. 

2) Nach Prim. h.n. I, 9. 36. IX, 53, 167 hatte ihn dieser für seine An- 
gaben über die Wasserthiere und die Steine zu Rathe gezogen; derselbe VI, 
17, 60 und Serv. zu Aen. IX, 31 nennen eine Schrift De situ Indiae, Serv. 
Aen. VI, 154 eine De situ et sacris Aegyptiorum, Cassıopor. De art. lib. ο. 7 
eine De forma mundi. 

3) M. s. die 8. 108, 3. 109, 1. 3 angeführten Stellen aus ep. 106. 113.117, 
wo Sen. zwar einigen Folgesätzen des stoischen Materialismus widerspricht, 
ihn selbst aber ausdrücklich vorträgt. 

4) Vgl.S. 119,5 — 121, 1, auch 163, 2; Beweise für das Dasein Gottes 
122, 2. 148,1. 123, 4. 

5) 8. 108, 1. Ueber den Begriff des spiritus bei Seneca wird aus Anlass 
seiner Psychologie gesprochen werden. 

6) Sen. spricht sich hierüber zwar nicht ganz ausdrücklich aus, es er- 
giebt sich aber unzweifelhaft daraus, dass alles Wirkende ein Körper sein 
soll (ep. 417, 2); dass auch von der Welt gelten muss, was Sex. ep. 102,7 
sagt: die Einheit jedes Dings beruhe auf dem spiritus, der es zusammenhält; 
dass die Seele, welche ihm gleicher Substanz mit der Gottheit, ja ein Theil 
der Gottheit ist, von Seneca, wie wir finden werden, mit der ganzen stoischen 
Schule materialistisch gedacht wird; dass auch die sichtbaren Dinge av: 
drücklich als Theile der Gottheit bezeichnet werden (5. 8. 133, 6); dass nuı 

Philos. ἃ. Gr. III. B. 1. Abth. 40 


626 Seneca,. 


niss Gottes und der Welt: Gott ist nicht blos die Vernunft der 
Welt, sondern die Welt selbst, das Ganze der sichtbaren wie der 
unsichtbaren Dinge 1). Weit stärker hebt aber Seneca allerdings 
die sittliche und geistige Seite der stoischen Gottesidee hervor, 
und dem entsprechend stellt er die Wirksamkeit der Gottheit in 
der Welt mit Vorliebe unter den Begriff der Vorsehung, die Ein- 
richtung der Welt unter den teleologischen Gesichtspunkt. Gott 
ist die höchste Vernunft, der vollkommene Geist, dessen Weis- 
heit, Allwissenheit, Heiligkeit, vor Allem aber seine wohlthuende 
- Güte vielfach gepriesen wird 2); er liebt uns wie ein Vater, und 
will auch von uns nicht gefürchtet, sondern geliebt sein ®); und 
ebendesshalb ist die Welt, deren Schöpfer und Lenker er ist 2), 
so schön und vollkommen, und der Weltlauf so untadelhaft, wie 
diess Seneca vielfach nachweist 5). Wie Seneca’s Weltansicht 
überhaupt an dem sittlichen Leben des Menschen ihren Mittelpunkt 
hat, so tritt auch in seinem Gottesbegriff das Physische gegen das 
Ethische zurück: die Fürsorge der Gottheit für den Menschen, 
ihre Güte und Weisheit ist es, worin sich ihm ihre Vollkommen- 
heit vorzugsweise offenbart; und damit ist dann von selbst gege- 
ben, dass die persönliche Auffassung der Gottheit, nach der sie 
als weltbildende und weltregierende, nach sittlicher Zweckbestim- 
mung wirkende Vernunft von der Welt unterschieden wird, bei 
ihm gegen die pantheistische, für welche die Gottheit nicht blos 
die Seele, sondern auch der Stoff der Welt sein soll, im Ueber- 


ein körperlicher Gott die Körperwelt mittelst des Weltbrands in sich zurück- 
nehmen kann (S. 131, 2). Wenn daher Sen. ad Helv. 8, 3 (8. o. 132, 1) die 
platonische Auffassung der Gottheit als unkörperlicher Vernunft und die 
stoische, nach der sie der allwärts verbreitete spiritus ist, nebeneinander- 
stellt, ohne sich zu entscheiden, so entspricht doch nur die zweite seiner 
eigenen Meinung. 

1) Vgl. 5. 133, 6. 135, 1, auch Fr. 16 (Ὁ. Lacr. Inst. I, 5, 27): quamvis 
ipse per totum se corpus (sc. mundi) intenderat, und dazu die stoische Lehre 
vom Pneuma und τόνος. 

2) Belege sind uns schon 8. 126, 2, Schl. 137, 1 vorgekommen. „Weitere 
lassen sich leicht finden; vgl. Hoı.zuerk I, 99 ft. 

8) De prov. 15 f. 2, 6. Benef. II, 29, 4—6. IV, 19,1. De ira II, 27,1 u.ö. 
vgl. S. 291, 4. 

4) Fr. 26 b. Lacr. Inst. I, 5, 26. v. be. 8, 4, 

5) Vgl. 5. 157,5. 164, 2. 123, 4. 


Gottesbegrift. 627 


gewicht ist. Viel zu weit jedoch geht es, wenn behauptet worden 
ist ), Seneca habe die stoische Gottesidee verlassen, und dadurch 
auch der Moral eine neue Richtung gegeben: während für den 
ächten Stoicismus Gott und die Materie dem Wesen nach Eins 
seien, erscheinen sie bei Seneca wesentlich verschieden, Gott sei 
ihm das unkörperliche Wesen, das durch seinen freien Willen 
die Welt gebildet habe, es sei nicht mehr der stoische, sondern 
der platonische Gott, den er habe. Unsere früheren Nachweisungen 
werden vielmehr gezeigt haben, dass einestheils diejenige Betrach- 
tung der Gottheit, welche dieser Darstellung zufolge Seneca ei- 
genthümlich sein soll, auch denälteren Stoikern keineswegs fremd 
ist, dass auch sie die Güte, die Menschenfreundlichkeit, die Weis- 
heit Gottes sehr entschieden hervorheben, auch sie ihn als den 
Geist betrachten, der Alles lenkt, die Vernunft, die Alles auf's 
Zweckmässigste eingerichtet hat, dass auch für sie der Vorse- 
hungsglaube vom höchsten Werth ist, und auf’s Lebhafteste von 
ihnen vertheidigt wird, auch ihnen das Welt- und Sittengesetz 
mit dem Willen der Gottheit zusammenfällt ?), dass andererseits 
Seneca weit entfernt ist, die Bestimmungen seiner Schule fallen 
zu lassen, nach denen der Unterschied der wirkenden Kraft und 
des Stoffes, der Gottheit und der Materie, erst ein abgeleiteter ist, 
und desshalb im Laufe der Weltentwicklung sich auch wieder auf- 
hebt ?), dass auch er die Gottheit in dem körperlich gedachten 
Pneuma, nicht in dem körperlosen Geist sucht ®), die Theile der 
Welt für Theile der Gottheit, Gott und Welt für dasselbe erklärt), 


1) Horzuene 1, 33. 36. 91 ff. II, 5 ff. 

2) Vgl. 5. 126, 2. 146, 1. 147, £. 150, 1. 157 ff. 460 ff. 

3) Ep. 9, 16 (8. o. 131, 2), wo Sen. genau das Gleiche sagt, was 8. 130,3 
aus Chrysippus angeführt ist; ebenso stimmt Holzherr’s Hauptbeweisstelle 
für den Wesensunterschied Gottes und der Materie, ep. 65, wie aus 8. 119, 
5 ff. hervorgehen wird, mit der Lehre der stoischen Schule, auf welche sich 
Sen. ja auch ausdrücklich beruft, vollständig überein, und wenn er De prov. 
5,9 (n. qu. I, praef. 16 kann als blosse Frage nichts beweisen) für die Theo- 
dicee den Satz aufstellt, der göttliche Künstler sei von seinem Stoff abhängig, 
so folgt er hierin, wie 5, 163, 2 gezeigt ist, nicht allein Plato, sondern auch 
Chrysippus. 

4) 8. 5. 625, 6. 

5) 8.0. 133, 6. 135, 1. 127 unt. ep. 92, 30: fotum hoc, quo continemur, 
et unum est et Deus: et socii sumus ejus et membra. 


40 * 


625 Seneca. 


zwischen der Natur, dem Verhängniss und der Gottheit keinen 
wesentlichen Unterschied findet 1). den Willen der Gottheit auf. 
das Weltgesetz, die Vorsehung auf die unabänderliche Verkettung 
der natürlichen Ursachen zurückführt ?). Findet daher auch im- 
merhin zwischen seiner Theologie und der altstoischen ein gewis- 
ser Unterschied statt, so besteht dieser doch nicht darin, dass 
irgend eine wesentliche Bestimmung der letzteren von ihm aufge- 
geben oder eine neue eingeführt würde, sondern nur darin, dass 
er von den Bestandtheilen des stoischen Goitesbegriffs die ethi- 
schen verhältnissmässig stärker betont, und denselben dadurch 
theils der gewöhnlichen Vorstellungsweise, theils der sokralisch- 
platonischen Lehre etwas näher gebracht hat. Dieses selbst nun 
ist zunächst eine Folge des Verhältnisses, in welchem das mora- 
lische und das spekulative Element bei ihm stehen: wie dieses 
gegen jenes, so treten auch die metaphysischen und physikali- 
schen Bestimmungen der stoischen Theologie in seiner Darstellung 
gegen die ethischen zurück. Um so leichter konnte aber aller- 
dings der Dualismus der stoischen Ethik auch auf seine Theologie 
zurückwirken, und es lässt sich nicht verkennen, dass der Gegen- 
satz Gottes und der Materie, gerade im Zusammenhang mit dem 
ethischen Gegensatz der Sinnlichkeit und Vernunft, von ihm 
stärker hervorgehoben wird, als ihre ursprüngliche Einheit °); 
hat er aber auch nach dieser Seite hin die Grenzen der stoi- 
schen Lehre erreicht, so hat er sie doch nicht wirklich über- 
schritten. 

Auch in Seneca’s Welt- und Naturansicht findet sich nichts, 
was mit den stoischen Grundsätzen im Widerspruch stände. Seine 
Aeusserungen über die Entstehung, das Ende und die Neubildung 


1) 5. 5. 127 unt. 130, 2. Benef. IV, 8, 2: nec natura sine Deo est nec Deus 
sine natura, sed idem est utrumque, distat oficio .... naturam voca, fatum, 
fortunam, omnia ejusdem Dei nomina sunt varie utentis sua potestate. 

2) A. d.a. O. und 5. 144, 2. 150, 2 vgl. 154, 2. 155, 1. Auf das Gleiche 
führt Benef. VI, 23, wenn sich Sen. auch zunächst so ausdrückt, als ob der 
Wille der Götter Urheber der Weltgesetze wäre. 

3) Es gehört hieher namentlich ep. 65 woraus die Hauptsätze schon 
8. 119, 5 angeführt sind. 


Die Gottheit, Die Welt. 629 


der Welt ), über ihre Gestalt 5). über ihre aus Gegensätzen sich 
herstellende, in dem unablässigen Wechsel aller Dinge sich erhal- 
tende Einheit 5), ihre in der Mannigfaltigkeit ihrer Gebilde sich 
bewährende Schönheit 4), über die vollendete Zweckmässigkeit 
ihrer Einrichtung 5), an der uns auch die Uebel in .ihr nicht irre 
machen dürfen ©%), dienen den sonstigen Nachrichten über die 
Lehre seiner Schule zur Bestätigung und Ergänzung. Der Klein- 
lichkeit und Aeusserlichkeit, in welche die stoische Teleologie 
. schon frühe geratlen war, stellt er zwar die Sätze entgegen, die 
Welt sei nicht blos für den Menschen geschaffen , sie trage viel- 
mehr ihren Zweck in sich selbst, und folge ihren eigenen Ge- 
setzen 1). es sei eine Beschränktheit, wenn man sie unter den 
Begriff des Nützlichen stelle, statt ihre Herrlichkeit als solche zu 
bewundern °), aber er will damit doch nicht läugnen, Jass bei 
der Welteinrichtung auf das Wohl des Menschen Rücksicht genom- 
men sei, und dass die Götter den Menschen ohne Unterlass die 
grössten Wohlthaten erweisen ®). Auch was er über das Welt- 
gebäude und seine Theile, über die Elemente, ihre Eigenschaften 
und ihren Uebergang in einander 15), über die Gestirne, ihren 


1) 8. 0. 136, 4. 131,2. 139, 2. 140,5. 141 u. 143, 1. Mit diesen Lehren 
steht bei Seneca die Annahme in Verbindung, dass die Menschheit, wie die 
Welt überhaupt, um so unverdorbener gewesen sei, je näher sie ihrem Ur- 
sprung war, Posidonius’ übertriebenen Vorstellungen hierüber jedoch wider- 
spricht er; vgl. ep. 90, namentlich von 8. 36 an, und oben ὃ. 249, 6. 


2) Fr. 13 und S. 133, 6, Schl. vgl. m. 8. 173, 1. 

3) N. qu. III, 10.1.3. VII, 27, 3 1. v. be. 8, 4 f. ep. 107, 8 und oben 
165, 3. 169, 1. 

4) S. ο. 157,5. Benef. IV, 28, 

5) Mit dem, was in dieser Beziehung S. 157 f. angeführt ist, vgl. ın. Se. 
Benef. IV, 5. ad Marc. 18 u.a. St. Aecht stoisch ist namentlich die in der 
letzteren Stelle ausgesprochene Auffassung der Welt als einer urbs Dis homint- 
busque communis; vgl. S. 265, 1. 3. 276, 2. 280, 3. 

6) Ueber die stoische Theodicee und Seneca’s Betheiligung an derselben, 
(über die sich freilich noch Vieles beibringen liesse) s. m. S. 159 ff. 

7) De ira II, 27, 2. ἢ. qu. VII, 30, 3. Benef. V]l, 20. 

8) Benef. IV, 23 f. 

9) Benef. a. a. ©. VI, 23, 3 ff. I, 1,9. IT, 29, 4 ἢ. IV,5. n. qu. V, 18 u.ö. 

10) S.8.165, 3 (n. qu. IIl, 10, 1.3). 169, 2.3 (n. qu. II, 10). 171,2. n. qu. 
U, 6. ep. 31,5. 


630 Seneca. 


Umlauf, ihre göttliche Natur 1), ihren Einfluss auf die irdischen 
Dinge 3), über die Erde, und den sie beseelenden Geist ®), über 
den stetigen, durch keine leeren Räume unterbrochenen Zusam-- 
menhang des Weltganzen *) sagt, weicht von der stoischen Ueber- 
lieferung höchstens in Einzelheiten ob, welche für das Ganze sei- 
ner Weltanschauung von keiner Erheblichkeit sind°); und ebenso 
schliesst er sich ihr in dem Wenigen an, was wir in Betreff der 
irdischen Wesen, ausser dem Menschen, bei ihm finden ©). 
Weiter entfernt er sich von der Lehre der älteren Stoiker in 
. ‚seinen Ansichten über die menschliche Natur. Die Grundlage der- 
ΠΟ selben bildet die stoische Psychologie mit ihrem Materialismus; 
aber der Dualismus der stoischen Ethik, dessen Rückwirkung auf 
seine theoretische Weltansicht sich schon in seiner Theologie fühl- 
bar machte, gewinnt auf seine Anthropologie einen noch stärke- 
ren und unmittelbareren Einfluss, und es kreuzen sich so in der- 
selben zwei Richtungen: einerseits will er das ganze Seelenleben, 
mit seiner Schule, ‚aus einem einzigen, materiell gedachten Prin- 
cip ableiten, andererseits aber wird der ethische Gegensatz des 
Innern und Aeussern, der ja gerade in der stoischen Lehre so 
scharf gespannt ist, auch in das ursprüngliche Wesen des Men- 
schen übergetragen und ads ihm begründet, und es tritt so jenem 
altstoischen Monismus ein Dualismus gegenüber, welcher sich der 


1) N. qu. VI, 16, 2. VII, 1, 6. 21,4. Benef. IV, 23, 4. VI, 21—23. 

2) Bei diesem Einfluss denkt Sen. (z. B. Benef. ἃ. ἃ, ἃ. Ο. n.q. I, 11. 
1II, 29, 2) zunächst an die natürliche Einwirkung der Gestirne, damit ver- 
knüpft sich ihm aber, in der Weise seiner Schule, die Annahme einer natür- 
lieben Vorbedeutung durch dieselben, welche sich nur, wie er glaubt, so 
wenig, wie jene Einwirkung, auf die fünf Planeten beschränkt; n. q. II, 32, 
6 f. ad Marc. 18, 8. 

3) N. qu. VI, 16. II,5; über die Ruhe der Erde De provid. 1, 1, 2. ep. 
98, 9. n. qu. 1, 4 vgl. VII, 2, 3. 

4) N. qu. II, 2—7 (vgl. S. 173, 3). 

5) So hinsichtlich der Kometen, die er für Wandelsterne mit sehr grossen 
Bahnen hält, n. qu. VII, 22 fi. 

6) Mit der Unterscheidung von ἕξις, φύσις u. s. w. (s. 0. 178, 1) trifft Sen. 
durch die $. 622,3 erwähnte Eintheilung der Wesen zusammen; mit Chrysippts 
(s. 8. 178, 2) legt er den Thieren zwar ein principale bei, spricht ihnen aber 
ausser der Vernunft auch die Affekte ab (De ira I, 3), und damit stimmt über- 
ein, was ep. 121, 5 ff. 124, 16 fi. über das Seelenleben der Thiere bemerkt ist, 


Der Mensch. 631 


platonischen Anthropologie nähert und an sie anlehnt. Die Seele, 
sagt Seneca zunächst mit den Stoikern, ist ein Körper, denn 
unmöglich könnte sie sonst auf den Körper einwirken 1), nur dass 
sie freilich von allen Stoffen der feinste, noch feiner, als selbst 
das Feuer um die Luft, sein muss 2). Sie besteht mit Einem 
Wort aus dem warmen Hauche, oder dem Pneuma 5). Hatte jedoch 
diese Annahme schon die älteren Stoiker nicht gehindert, die 
göttliche Natur und Würde des menschlichen Geistes in vollem 
Maass anzuerkennen, so ist Seneca vollends so erfüllt von dersel- 
ben, dass er keinen anderen Satz öfter und nachdrücklicher aus- 
spricht. Die Vernunft des Menschen ist ihm ein Ausfluss der 
Gottheit, ein Theil des göttlichen Geistes, der einem menschlichen 
Leib eingepflanzt ist, ein Goit, der in ihm Herberge genommen 
hat; und auf diese unsere Gottverwandischaft gründet er eines- 


1) Ganz unzweideutig äussert er sich hierüber in der 5. 109, 1 angeführ- 
ten Stelle aus ep. 106, und dass er hier nur aus einer von ihm selbst nicht 
getheilten stoischen Prämisse argumentire (Hoı.zazerr II, 47), ist nicht richtig; 
er spricht vielmehr durchaus in eigenem Namen, und wenn er schliesslich die 
Untersuchung der Frage, ob das Gute ein Körper sei, für werthlos erklärt 
(8. 0. 620, 4), so folgt daraus nicht, dass er selbst es nicht dafür hält, noch 
weit weniger, dass es ihm mit dem Satze, welcher für diese Untersuchung 
zwar zu Hülfe genommen wird, aber seinerseits ganz unabhängig von ihr ist, 
die Seele sei ein Körper, nicht ernst ist. Das Gleiche gilt von dem weiteren 
Satze a. a. O., dass die Affekte und Seelenkrankheiten Körper seien, und von 
dem Grunde, der dafür angeführt wird, dass sie Veränderungen der Miene, 
Erröthen und Erbleichen u. s. w. bewirken, und- dass sich nicht aunehmen 
lasse, tam manifestas notas corpori inprimi nisi a corpore. Auch diess spricht 
Sen. durchaus als seine eigene Ansicht aus. Sind aber die Affekte etwas Kör- 
perliches, so ist es auch die Seele, denn der Affekt ist ja nur der animus quo- 
danımodo se habens (8. o. 109, 3), und kann nur Körperliches auf den Körper 
wirken, so muss die Seele etwas Körperliches sein, wie diess schon Kleanthıes 
gezeigt hatte (s. 5. 179, 1). 

2) Ep. 57,8: So wenig die Flamme oder die Luft einem Druck und Stoss 
ausgesetzt ist, sic animus, qui ex tenuissimo constat, deprehendi non potest .... 
animo, qui adhuc tenuior est igne, per omne corpus fuga est. 

3) Ep. 50, 6: Wenn man krummes Holz gerade biegen kann, quanto fa- 
eilius animus accipit formam, flexibilis et omni humore obsequentior! quid enim 
est aliud animus quam quodam modo se habens spiritus? videg autem tanto spi- 
ritum esse faciliorem onıni alia materia, quanto tenuior est. Vgl. hiezu 8.180,53. 
150, 1, wo die ganz gleichen Bestimmungen als allgemein stoisch nachge- 
wiesen sind, 


632 Seneca. 


theils die Forderung der Erhebung über das Irdische und der Ach- 
tung der Menschenwürde in jedem Menschen, anderntheils die 
innere Freiheit dessen, welcher sich seines höheren Ursprungs ° 
und Wesens bewusst ist 1). Dieser Gedanke nimmt nun aber bei 
Seneca eine Wendung, durch die er von der altstoischen Lehre 
nach der Seite des Plaionismus hin abbiegt. Das Göttliche im Men- 
schen ist nur seine Vernunft; der Vernunft stehen aber die unver- 
nünftigen Triebe, die Affekte, gegenüber, und gerade in der 
Bekämpfung der Affekte sieht Seneca, wie wir finden werden, 
mit der ganzen stoischen Schule, die wichtigste sittliche Aufgabe. 
Die älteren Stoiker hatten sich nun dadurch in dem Glauben an 
die Einartigkeit des menschlichen Wesens nicht irre machen las- 
sen. Aber schon Posidonius hatte gefunden, dass sich die Affekte 
nicht erklären lassen, wenn man nicht der Vernunft mit Plato 
unvernünftige Seelenkräfte beigebe 52. Aehnliche Erwägungen 
mussten auf Seneca’s Ansicht über die menschliche Natur um so 
stärker einwirken, je lebhafter in ihm das Gefühl ihrer sittlichen 
Schwäche und Unvollkommenheit ist, je unbedingter es ihm fest- 
steht, dass kein Mensch ohne Fehler sei, dass alle Laster in allen 
angelegt seien, dass die Uebermacht des Bösen im Ganzen der 
menschlichen Gesellschaft nie gebrochen werden werde, die Kla- 
gen über den Sittenverfall nie verstummen werden ὅ), und dass 
auch nach der Erneuerung” der Welt die anfängliche Unschuld nur 
von kurzer Dauer sein werde *). Eine so durchgreifende Erschei- 
nung kann unmöglich für etwas Zufälliges gehalten werden: wenn 
nur Wenige den Kampf mit der Sünde bestehen, Keiner oder fast 
Keiner von diesem Kampfe frei wird, so muss im Menschen neben 
dem Göttlichen auch ein Ungöttliches, neben der Vernunft, aus 
welcher Irrthum und Sünde sich nicht herleiten lassen, ein Ver- 
nunftloses und der Vernunft Widerstrebendes sein °). Diesen un- 


1) Einige seiner Aeusserungen hierüber wurden schon 85, 184, 2. 185, 1. 
627,5 angeführt; weiter vgl. m. ad Helv. 6,7. 11,6 ἢν n. qu. I praef. 12. ep. 
41,5. 44,1. 65, 20 f. 120, 14 u. a. St. 

2) Vgl. 8.516 £. 

3) Vgl. 8. 233 f. Benef. VII, 27. ep. 94, 54 u. a. St. Unerheblicher sind 
Aeusserungen, wie ep. 11, 1—7. 57, 4. 

4) N, qu. III, 30, 8. vgl. S. 143, 1. 

5) Seneca selbst freilich scheint diess nicht zuzugeben. Zrras, sagt er 


Der Mensch. 633 


vernünftigen Bestandtheil des menschlichen Wesens findet nun 
Seneca zunächst in dem Leibe, dessen Gegensatz gegen den Geist 
er weit stärker betont, als diess von den älteren Stoikern gesche- 
hen zu sein scheint. Der Leib, oder wie er ihn auch wohl ver- 
ächtlich nennt, das Fleisch, ist etwas so Werthloses, dass wir 
nicht gering genug von ihm denken können '); er ist eine blosse 
Hülle der Seele, eine Behausung, in der sie nur für kurze Zeit 
eingekehrt ist, und sich nie wahrhaft heimisch fühlen kann, ja 
eine Last, von der sie gedrückt wird, eine Fessel, nach deren 
Lösung, ein Kerker, nach dessen Oeffnung sie sich sehnen muss ?); 
mit ihrem Fleische hat sie zu kämpfen, durch ihren Leib ist sie 
Angriffen und Leiden ausgesetzt, an sich selbst ist sie rein und 
unverletzlich 5), ebenso erhaben über ihren Leib, wie die Gott- 
heit über den Stoff 5). Das wahre Leben der Seele beginnt daher 
erst mit dem Austritt aus dem Leibe, und so wenig auch Seneca 
die stoische Annahme einer begrenzten Fortdauer nach dem Tode 


ep. 94, 55, si ewistimas nobiscum vitia nasci: supervenerunt, ingesta sunt ... 
nulli nos vitio natura conciliat: illa integros ac liberos genuit. Allein diese Aeus- 
serung ist nach Maassgabe des stoischen Determinismus zu beurtheilen. Die 
Fehler stehen freilich mit unserer natürlichen Bestimmung im Widerspruch, 
und sie sind uns nicht angeboren, sondern entwickeln sich allmählig. Aber . 
diess schliesst die Annahme nicht aus, dass sie sich aus natürlichen Ursachen 
entwickeln. 

- 1) Ep. 65, 22: numguam me caro ἰδία conpellet ad metum ... numquam 
in honorem hujus corpusculi mentiar. cum visum erit, distraham cum illo socie- 
tatem ... contemptus corporis sui certa libertas est. Ueber den Ausdruck caro 
vgl. m. ad Marc. 24, 5. ep. 74, 16. 92, 10 und oben 405, 2. 

2) Ep. 92, 13. 33: der Leib ist ein Kleid, ein velamentum der Seele, ein 
omus necessarium. 102, 26: der Todestag ist aeterni natalis. depone onus: quid 
cunctaris? 120, 14: nec domum esse hoc corpus, sed hospitium et quidem breve 
hospitium. 65, 16: corpus hoc animi pondus ac poena est: premente ilo ur- 
getur , in vinculis est, nisi accessit philosophia u. 5. w. ebd. 21: ich will nicht 
ein Sklave meines Körpers sein, guod equidem non aliter adspicio quam vinclum 
aliquod libertati meae eircumdatum ... in hoc obnoxio domicilio animus liber 
habitat. ep. 102, 22. ad Marc. 24, 5. ad Polyb. 9, 3. s. ο. 187, 2. 3. 

3) Ad Marc. 24, 5: omne Üli cum hac carne grave certamen est, ne abstra- 
hatur et sidat. ad Helv. 11, 7: corpusculum hoc, custodia et vinculum amimi, 
huc atque illue jactatur ... unimus quidem ipse sacer et aeternus est et cui nom 
possit inici manus. 

4) Ep. 65, 24: quem in hoc mundo locum Deus obtinet, hunc in homine 
animus. N. qu. pracf. 14, 


634 Seneca. 


mit dem platonischen Unsterblichkeitsglauben vertauschen will 7), 
so stark nähert er sich doch dem letzteren, wie schon früher ge- 


zeigt wurde ?), in der Schätzung des Verhältnisses, welches zwi- ΄ 


schen dem gegenwärtigen und dem zukünftigen Leben stattfindet, 
und auch in Betreff seiner Dauer unterschieben sich ihm unwill- 
kührlich Ausdrücke, die ein Stoiker strenggenommen nicht ge- 
brauchen dürfte ®); selbst an die Präexistenz der Seele, die als 
persönliche freilich in seinem System keinen Raum fand, finden 
sich Anklänge, wenn die Erinnerung an ihre höhere Abkunft von 
ihr verlangt, ihre Erhebung zum Himmel als eine Rückkehr in 
ihre ursprüngliche Heimath dargestellt wird, bei der sie den Kör- 
per zurücklässt, wo sie ihn gefunden hat %). Wie sich dann 
aber bei Plato mit dem anthropologischen Gegensatz von Seele 
und Leib der psychologische verschiedener Seelentheile verknüpft 
hatte, so kann sich auch Seneca dieser Folgerung nicht ganz ent- 
ziehen. Mit Posidonius 5) folgt er der platonischen Unterschei- 
dung eines vernünftigen und eines unvernünftigen Bestandtheils 
der Seele, von denen der letztere selbst wieder in Muth und Be- 
gierde zerfällt °); und wenn er sie alle ausdrücklich in das ἦγε- 
w.ovızöv verlegt, und insofern an der Lehre seiner Schule gegen 
Plato und Aristoteles festhält, so bleibt doch immer zwischen sei- 
ner Ansicht und der des Chrysippus der erhebliche Unterschied, 
dass er in jenem Mittelpunkt der Persönlichkeit selbst eine Mehr- 
heit ursprünglicher Kräfte annimmt, während jener eine und die- 


1) 8. 0. 140, 5. 185, 5. 
2) 8.187 ἢ 
3) Immortalis, aeternus ep. 57, 9 und.oben 187, 3. 


4) Ad Marc. 24, 5. ep. 79, 12. 102, 22. 120, 14; 8. 0. 187, 2. 3. ep. 65, 
16: die Seele will revertt ad illa quorum fuit. 92, 30 f. 

δ) 8. 0.515 fl. 

6) Ep. 94, 1: puto inter me teque conveniet, externa corpori adquiri, cor- 
pus in honorem animi coli, in animo esse partes ministras, per quas movemur 
alimurque, propter ipsum principale nobis datas (die sieben abgeleiteten 
Seelenkräfte — s. o. 182, 3 — oder ihnen analoge). in hoc prineipali est ali- 
quid inrationale, est et rationale: illud huie servit. Ebd. 8: inrationalis pars 
animi duas habet partes, alteram animosam, ambitiosam, inpotentem, positam 
in adfectionibus, alteram humilem, languidam, voluptatibus deditam. Vgl. 
ep. 71, 27. 


” 


Der Mensch. Unsicherheit der Spekulation. 635 


selbe Grundkraft, die Vernunft, durch die in ihr vorgehenden 
Veränderungen auch Affekt und Begierde erzeugen liess 1). 

Lässt sich nun in diesen Abweichungen von der älteren stoi- 
schen Lehre die Zeit des Eklektieismus nicht verkennen, so kommt 
auch die skeptische Rückseite dieses Eklektieismus. bei Seneca in 
der Unsicherheit zum Vorschein, mit der er sich bisweilen über 
die gleichen Gegenstände ausspricht, über die er sonst im Tone 
der vollen dogmatischen Ueberzeugung zu reden pflegt. Kann man 
auch daraus nichts schliessen, dass er in der Zuschrift an seine 
Mutter, um den Trost, welchen die Abhängigkeit aller Dinge von 
der Gottheit gewährt, sich für alle Fälle zu sichern, nicht darüber 
entscheiden will, was Gott sei?), so lautet es doch unläugbar 
skeptisch, wenn er anderswo, aus Anlass der Frage über die Zahl 
der obersten Ursachen, erklärt: man müsse sich begnügen, unter 
den widerstreitenden Ansichten die wahrscheinlichste zu wählen, 
die wahrste zu bestimmen, gehe über unsere Kräfte ?). Ebenso 
sagt er von der Seele, was und wo sie sei, werde Niemand er- 
gründen; der Eine stelle diese der Andere jene Bestimmung auf; 
wie aber die Seele, welche über sich selbst nicht im Reinen sei, 
über Anderes Gewissheit gewinnen könne? ®) Wir werden Se- 


1) 8.8. 183, 4. 

2) Vgl. 5. 132,1. 

3) Ep. 65, 10 (in dem 8. 119, 5 ff. berührten Zusammenhang): fer ergo 
judex sententiam et pronuntia, quis tibi videatur verisimillimum dicere, non 
quis verissimum dicat. id enim tam supra nos est quam ipsa veritas, und nach- 
dem er die stoischen Einwendungen gegen die platonischen Annahmen aus- 
einandergesetzt hat: aut fer sententiam aut, quod facilius in ejusmodi rebus est, 
nega tibi liquere et nos reverti jube. Für die Würdigung dieser Aeusserung 
darf man übrigens nicht übersehen, dass in ihr die platonische Stelle, welche 
Sen. im Vorhergehenden angeführt hat, Tim. 29, C, deutlich nachklingt. 

4) N. qu. VII, 25, 1: multa sunt, quae esse concedimus, qualia sunt, igno- 
ramus. habere nos animıdm ... omnes fatebuntur: quid tamen sit animus üle 
rector dominusque nostri, non magis tibi quisquam expediet, quam ubi sit: alius 
Ülum dicet spiritum esse, alius concentum quendam, alius vim divinam et Dei 
partem, alius tenuissimum aörem, alius incorporalem potentiam. non deerit, 
qui sanguinem dicat, qui calorem: adeo animo non potest liquere de ceteris re- 
bus, ut.adhue ipse se quaerat. Weniger würde, für sich genommen, De element. 
I, 3,5, noch weniger ep. 121, 12 beweisen. Auch das ist unerheblich, dass 
ep. 102, Anf. ein Uusterblichkeitsglaube, der mehr auf Wunsch und Auktorität, 
als auf Beweisen beruht, ein bellum somnium genannt wird. 


636 Seneca. 


neca freilich um so vereinzelter Aeusserungen willen, denen der 
Dogmatismus seines ganzen sonstigen Verfahrens gegenübersteht, 
nicht zum Skeptiker machen dürfen; aber das beweisen sie doch 
immerhin, dass er von lebhaften skeptischen Anwandlungen nicht 
frei ist, und dass es, ganz wie bei Cicero und andern Eklekti- 
kern, vor Allem der Widerstreit der philosophischen Ansichten 
ist, welcher den Dogmatismus des Stoikers in’s Schwanken bringt. 

Reiner ist Seneca’s Stoieismus in dem Gebiete, auf welches 
er selbst das grösste Gewicht legt, in der Ethik. Der Idealismus 
. der stoischen Sittenlehre findet an ihm, in seiner Grossartigkeit 
wie in seinen Schroffheiten, einen eifrigen und beredten Wort- 
führer. Er erklärt mit den Stoikern, es gebe kein Gut, als die 
Tugend, weil sie allein für den Menschen naturgemäss sei; er 
weiss die Befriedigung, die sie gewährt, die Unabhängigkeit von 
allen äusseren Schicksalen, die Unverletzbarkeit des Weissen mit 
glänzenden, selbst grellen Farben zu schildern; er ist überzeugt, 
dass der Tugendhafte in nichts hinter der Gottheit zurückstehe, ja 
in gewisser Beziehung sie noch übertreffe 1); er verlangt von uns 
nicht blos Mässigung, sondern unbedingte Ausrottung der Affek- 
te; er vertritt die bekannten auffallenden Behauptungen über die 
Einheit und Gleichheit aller Tugenden, über die mangellose Voll- 
kommenheit des Weisen, über das Elend, die Fehlerhaftigkeit 
und Verrücktheit aller Unweisen, überhaupt alle die Grundsätze, 
in denen sich die stoische Eigenthümlichkeit ausgeprägt halte, mit 
der vollen Entschiedenheit eigener Ueberzeugung und dem vollen 
Pathos des Redners 3). Doch lässt sich auch bier nicht verkennen, 


1) S. 8. 232, 4 f. und ep. 53, 11: est aliguid, quo sapiens antecedat Deum: 
üÜle beneficio naturae non timet, suo sapiens. 

2) Die bezeichnendsten Aeusserungen Seneea’s über alle diese Fragen 
wurden schon früher angeführt; ich begnüge mich daher hier, auf diese An- 
führungen zu verweisen und sie durch einige weitere zu ergänzen, denen sich 
aber freilich noch viele beifügen liessen, da Seneca an unzähligen Orten auf 
die leitenden Gedanken seiner Sittenlehre zu sprechen kommt. Ueber den 
Grundsatz des naturgemässen Lebens und seine Ableitung aus dem Selbst- 
erhaltungstrieb vgl. m. S. 198, 3. 194. 1. 2. 192, 3. v. be. 8. Benef. IV, 25, 1. 
ep. 122, 5 £.; über das Gute und die Güter: 5. 195, 1. 196, 1. 197, 2. ep. 76, 
7 Β΄; über die Autarkie der Tugend und gegen die Aufnahme der äusseren und 
leiblichen Dinge, der Lust und Unlust unter die Güter und Uebel: 8. 198— 203. 
Benef. VII, 8 ff. ep. 74. 76, 20 fl. 71, 17 ἢ; über die Gemüthsruhe als Haupt- 


Moral: Stoieismus. 637 


dass den Beweggründen, welche ihm die stoische Lehre empfeh- 
len mussten, auch wieder Erwägungen und Neigungen anderer 
Art entgegentreten. Die stoische Sittenlehre ist auf Wesen be- 
rechnet, die einer reinen und vollkommenen Tugend fähig sind; 
wie sollte sie sich unverändert auf uns Menschen anwenden las- 
sen, wenn wir wirklich sammt und sonders so schlecht und 
schwach sind, wie Seneca behauptet, und wenn diese Mängel, 
wie er gleichfalls sagt, so tief in unserer Natur wurzeln? 1) Die 
Glückseligkeit des Weisen ist durch seine Weisheit, die Autarkie 
des Tugendhaften ist durch eine Tugend bedingt, welche den 
stoischen Anforderungen entspricht; was nützen sie uns, wenn 
diese Tugend und Weisheit in der wirklichen Welt nie oder fast 
nie zu finden ist? 2) Durch diese Gründe hatten sich schon die 
älteren Lehrer der Schule, wie wir gesehen haben, zu eingrei- 
fenden Milderungen ihrer ursprünglichen Anforderungen bestim- 
men lassen; um so näher musste das gleiche Verfahren einem 
Seneca liegen. So sehen wir ihn denn nicht allein. den Zugeständ- 
nissen, welche schon seine Vorgänger der menschlichen Schwäche 


bestandtheil der Glückseligkeit: 8. 204, 8 ἢ, Ueber das Wesen und die Ver- 
werflichkeit der Affekte: S. 214, 2. 211,3. 215,3 ff. De ira II, 2—4. I, 9, 4; 
über Wesen und Ursprung der Tugend: S. 217,4. 219, 1.4. 207,1. ep. 94, 
29; über die Weisheit und die Haupttugenden: ep. 89, 5. 95, 55. 120, 11. 
115, 3 (unerheblicher ist die Eintheilung der Tugenden v. be. 25, 6 f.). 67, 6. 
10. 88, 29 ἢ. Benef. Il, 34, 3; über die Gesinnung als Sitz aller Tugend, die 
Gleichheit aller Tugenden und Fehler, aller Güter und Uebel: S. 226, 1. 2. 
228, 1. 2; über Weise und Thoren: 5. 230—232. 235, 1. Benef. IV, 26 £. V, 
15, 1. ep. 9, 14 u. ὃ. 

1) M. 8. hierüber $. 233 ff. 632. Die dort angeführten Aeusserungen 
Seneca’s stimmen oft fast wörtlich mit denen des Apostels Paulus über die 
allgemeine Sündhaftigkeit zusammen, und es ist diess einer der schlagendsten 
von jenen Berührungspunkten zwischen beiden, welche die Sage von ihrem 
persönlichen und brieflichen Verkebr sammt ihrem unterschobenen Brief- 
wechsel hervorgerufen haben (über die Baur Zeitschr. f. w. Theol. I, 161 ff. 
und A. Freurr Seneque et St. Paul, Par. 1853, I, 269 ff... Geschichtlich ge- 
nommen beweist dieses Zusammentreffen freilich zunächst nur, dass beiderlei 
Darstellungen aus gleichartigen Zuständen, Erfahrungen und Stimmungen her- 
vorgegangen sind, und dass zwei Schriftsteller in keinerlei unmittelbarem 
Zusammenhang zu stehen brauchen, um in manchen Sätzen bis auf die Worte 
hinaus zusammenzutreffen. 

2) Wie diess Seneca einräumt, s. 0, 249, 2. 6. 


638 Seneca. 


gemacht hatten, beistimmen, sondern in manchen Aeusserungen 
auch noch’ weiter, als sie, von der ursprünglichen Strenge des 
Systems sich entfernen. Mit den älteren Stoikern legt er auch 
noch anderen Dingen, als der Tugend !), einen gewissen Werth 
bei, und dass er diese Dinge auch wohl zu den Gütern im weite- 
ren Sinn zählt 5), hat nicht viel auf sich ®). Dagegen will es 
schon nicht mehr recht zusammenstimmen, wenn er das einemal 
die cynische Bedürfnisslosigkeit nicht hoch genug zu preisen weiss, 
das anderemal aber Anbequemung an die bestehende Sitte, vor- 
'sichtiges Vermeiden alles Aufsehenerregenden anräth *). Jeden- 
falls aber hören wir mehr die Sprache des Peripatetikers als des 
Stoikers, wenn Seneca trotz aller Deklamationen über die Selbst- 
genugsamkeit der Tugend und die Gleichgültigkeit alles Aeus- 
sern 5) doch auch wieder der Meinung ist, das Glück könne für- 
seine Gaben keinen besseren Verwalter finden, als den Weisen, 
erst der Reichthum gebe Gelegenheit, eine Reihe von Tugenden 
zu entfalten, die äusseren Güter fügen doch noch etwas zu der 
Heiterkeit hinzu, die aus der Tugend entspringe ©). Aehnlich 
verhält es sich mit dem, was er über die äusseren Uebel sagt. 
Es lautet grossarlig genug, wenn wir den Philosophen das Schick- 
sal zum Kampf heraüsfordern, wenn wir ihn die Erhabenheit des“ 
Schauspiels rühmen hören, welches der Weise, mit dem Unglück 
ringend, den Göttern darbiete 75; aber dieser hohe Ton stimmt 
sich nur zu sehr in’s Kleine und Weichliche um, wenn Seneca — 


1) Den produeta (προηγμένα), über welche ep. 74, 17. 87, 29. v. be. 22,4, 
Sen. nennt sie auch potiora und commoda. 


2) Benef. V, 13, 1 unterscheidet er mit den Akademikern und Peripateti- 
kern bona animi, corporis, fortunae; anderwärts jedoch (ep. 74, 17. 76, 8. 
124, 13) bemerkt er ausdrücklich, alles Andere, ausser der Tugend, werde 
nur uneigentlich (precario) ein Gut genannt. 

3) Dasselbe findet sich ja auch bei Chrysippus und Andern. S. o. 242, 4, 

4) Vgl. S. 260, 2 und Benef. VII, 8 f. ep. 20, 9. 62, 3, und andererseits 
S. 260, 1. ep. 14, 14. 

5) Z.B. ep. 92, 5 (8. o. 243, 1). ep. 62, 3: Dbrevissima ad divitias (zum 
wahren Reichthum) per comtemptum divitiarum via est. Weitere Nachweisun- 
gen 8. 198 ff. 636 unt. 

6) V. be. 21f. ep.5 

7) Provid. 2, 6 ff. ep. 64, 4, 85, 39; s. o. 164, 2. 198, 2. 


i 
Moral: Milderung der stoischen Grundsätze, 639 


um Unbedeutenderes !) zu übergehen — so oft er uns sonst auch 
versichert, dass die Verbannung kein Uebel, und für den Wei- 
sen jedes Land eine Heimath sei 2), doch über seinem eigenen 
Exil in unmännlichen Jammer ausbricht 5), oder wenn der höfische 
Grundsatz eingeschärft wird, dass man ‚zu den Beleidigungen, 
welche sich Höherstehende erlauben, eine gute Miene machen 
müsse 3); wenn er angelegentlich beweist, dass es keine ruhige- 
ren Bürger und keine gehorsameren Unterthanen gebe, als die 
Philosophen 5), und wenn sogar der sonst so vergötterte Cato 
darüber getadelt wird, dass er sich in den politischen Kämpfen 
seiner Zeit nutzlos geopfert habe °). Müssen wir auch seinen Be- 
merkungen hierüber in der Sache theilweise Recht geben, so ist 
doch eine andere Frage, ob sie mit seinen sonstigen Erklärungen 
und mit den stoischen Grundsätzen übereinstimmen. Seneca hilft 
sich in solchen Fällen wohl mit dem Bekenntniss, er selbst sei 
kein Weiser, und werde es auch nie werden, er befinde sich erst 
auf dem Wege zur Weisheit, und sei zufrieden, wenn es bei ihm 
nur immer etwas besser gehe °); aber theils haben sich seine Zu- 
geständnisse an die menschliche Schwachheit ausdrücklich mit auf 
den Weisen bezogen, theils führt uns diese Auskunft zu der Frage 
nach der Wirklichkeit des stoischen Weisen zurück, welche Se- 


1) Wie ep. 53, wo die unglaublichen Beschwerden (incredibilia sunt, quae 
tulerim) einer kurzen Seefahrt geschildert werden. 

2) So nicht blos in späteren Schriften, wie Benef. VI, 27, 2. ep. 24, 3 
85, 4, sondern auch und besonders während seiner Verbannung selbst, in der 
Trostschrift an seine Mutter; vgl. namentlich 4, 2 f. 5,4. 6,1. 8,3 fl. 10, 2. 
12,5 ff. 

3) Ad Polyb. 2, 1. 13,3. 18,9 und in den Epigrammen aus dem Exil. 
Die Zuschrift an Polybius soll Sen. wegen ihrer Schmeicheleien gegen diesen 
Freigelassenen und seinen Herrn später zu vernichten gesucht haben (Π τὸ 
LXI, 10). 

4) De ira II, 33. ep. 14, 7; vgl. auch die Ermahnungen zur Vorsicht ep. 
103,5. 14,14, Anderswo freilich (wie De ira III, 14, 4) lautet Seneca’s Urtheil 
wieder ganz anders. 

5) Ep. 73, wo u. A. versichert wird, dass die Herrscher (damals Nero) 
von den Philosophen, welche ihnen ihre Musse verdanken, wie Väter verehrt 
werden u. dgl. 

6) Ep. 14, 12 ff., womit man um des Contrastes willen ep. 95, 69 ff, De 
const. 2, 2. De provid. 2. 9 ff. vergleiche. 

7) V. be. 16f. vgl. ep. 57, 3. 89. 2. ad Helv. 5, 2. 


6140 » Seneea. 


neca, wie bemerkt, zu bejahen kaum den Muth hat. Treten aber 
in Folge dessen bei ihm die Fortschreitenden an die Stelle der 
Weisen 1). so werden die Anforderungen des Systems an den 
Menschen, so wie er in der Wirklichkeit ist, schon dadurch noth- 
wendig herabgestimmt, und wenn es erst schien, als ob er durch 
vollkommene Weisheit und Tugend Gott gleich werden könne und 
solle, so zeigt es sich schliesslich, dass wir uns bescheiden müs- 
sen, den Göttern so weit maehzueifern, als die menschliche 
Schwachheit diess verstattet ?). ‚Anderswo stellt dann Seneca die 
Sache freilich auch wieder so dar, als ob nichts leichter wäre, als 
das natur- und vernunftmässige Leben, als ob es einzig und allein 
am Wollen läge, nicht am Können °?); aber diese Huldigung, 
welche der Philosoph seiner Schule und sich selbst bringt, wird 
uns seine Abweichung vom Geiste des ursprünglichen Stoicismus 
nicht verbergen können. Jenes stolze Vertrauen auf die Macht 
des sittlichen Willens und der Einsicht, von welchem die stoische 
Ethik ausgieng, ist bei ihm tief erschüttert. Wäre dem nicht so, 
so könnte er sich über die Schwäche und Schlechtigkeit der Men- 
schen und über die Unvermeidlichkeit dieser Mängel nicht so stark 
äussern. Eine verwandte Abweichung ist es, wenn sich Seneca 
trotz seiner erhabenen Aussprüche über die Glückseligkeit des 
Weisen und über die göttliche Vorsehung durch die Betrachtung 
der menschlichen Leiden zu der Klage fortreissen lässt *), dass 
das ganze Leben eine Qual, dass in den Stürmen desselben der 
Tod der einzige Zufluchtsort sei. Es wäre allerdings verfehlt, 
wenn man daraus schliessen wollte, es sei ihm nicht ernst mit 
den Grundsätzen, die er so oft und so nachdrücklich ausspricht; 
aber wie er in seinem Leben von dem Einfluss seiner Stellung und 
von den Fehlern einer Zeit, zu deren besten Männern er trotzdem 


1) Vgl. ep. 72, 6 ff. 75,8 ff. 42, 1 und 8. 248—251. 

2) Benef. I, 1,9: hos seguamur duces, quantum humana imbeeillitas pati- 
tur. v. be. 18, 1: cum potuero, vivam quomodo oportet. 

3) Ep. 41, 9. 116, 8. De ira II, 13, 1 fl. 

4) Ad Polyb. 9, 6 f.: omnis vita supplicium est ... in hoc tam procelloso 

. mari navigantibus nullus portus nisi mortis est. Ebd. 4, 2f. Doch wäre 

hierauf, bei dem rednerischen Charakter dieser Trostschrift, weniger zu geben. 
Aber Aehnliches findet sich auch sonst. So ad Mare. 11, 1: ἐοέα flebilis vita 
est u. 8. w. ep. 108, 37. 102, 22: gram terrenoque detineor carcere. 


Schwankungen in der Moral. Charakter. 641 


gehört, sich nicht frei genug hielt, um seinen Charakter ohne alle 
Schwankungen und Widersprüche durchzuführen '), so war er 


1) Seneca’s Charakter ist bekanntlich in älterer und neuerer Zeit nicht 
selten auf’s Stärkste verunglimpft, andererseits aber auch wieder übermässig 
gepriesen worden. Ist nun auch hier nicht der Ort zur vollständigen Erledi- 
gung dieser Streitfrage oder zur Aufzählung ihrer Literatur, so will ich doch 
die entscheidenden Punkte kurz berühren. Nun wäre es freilich verfehlt, 
Seneca’s Leben für durchaus tadellos zu halten. Er selbst macht nicht diesen 
Anspruch; er redet von den anni inter vana studia consumpti (n. qu. III, 
praef. 1); er bekennt unumwunden, dass er von der Vollkommenheit des 
Weisen noch weit entfernt, mit vielen Fehlern behaftet sei, dass seine Worte 
strenger seien, als sein Leben, dass sein Besitz weit grösser, sein Haushalt 
und seine Lebensweise viel üppiger sei, als sich diess eigentlich mit seinen 
Grundsätzen vertrage (v. be. 17. ep. 6,1 u.ö. 8. S. 639, 7); und mag auch in 
dem, was sein Todfeind Suilius b. Tacır. Ann. XIII, 42, und aus derselben oder 
einer gleich feindseligen Quelle Dıo Cass. LXI, 10 (falls dieser hier in eigenem 
Namen redet) über sein kolossales Vermögen (angeblich 300 Mill. Sestertien), 
über seine Habsucht und seinen Luxus sagt, Vieles übertrieben oder erdichtet 
sein, so müssen wir doch annehmen, dass der „überreiche und übermächtige* 
(Tac. XV, 64, Schl.) Minister Nero’s dem äusseren Besitz einen ungleich grös- 
seren Werth beilegte, und vielleicht auch abgesehen von dem, was in seiner 
Stellung unvermeidlich war, einen üppigeren Gebrauch davon machte, als 
man von dem Stoiker erwarten sollte. Ueber seinen Reichthum und die Pracht 
seiner Landhäuser und Gärten vgl. m. auch ἢ. qu. II, praef. 2. ep. 77, ὃ, 
namentlich aber Tacır. XIV, 52 fi.; nach Dıo LXII, 2 war die Härte, mit der 
er ein Anlehen von 10 Mill. Sestertien zurückforderte, eine von den Veran- 
lassungen des britannischen Aufstands unter Nero. Ebenso mag es sein, dass 
er als Hofmann und Reichsbeamter zu manchem Unrecht schwieg oder die 
Hand bot: wenn er sich einmal überhaupt auf diese Stellung einliess, war 
diess kaum zu vermeiden, sie abzulehnen konnte aber, selbst wenn Seneca 
‘die moralische Stärke dazu gehabt hätte, auch wieder als Pflichtverletzung 
gegen das Gemeinwesen erscheinen. Indessen ist es schwer, hierüber zu ur- 
theilen: wenn z.B. er und Burrhus Nero’s Neigung zu Acte begünstigten (Tac. 
XIU, 12 £. vgl. e. 2. XIV, 2), so findet Tacitus, dass diess das beste gewesen 
sei, was sie nach der Lage der Dinge thun konnten; wenn sie Nero’s Auftreten 
im Circus zuliessen, so belehrt uns derselbe (XIV, 14), dass sie nicht die 
Macht hatten, es zu verhindern (eine unwürdigere Rolle weist ihnen Dro LXI, 
20 an; indessen wird Seneca bei Tac. XIV, 52 gerade das Gegentheil zum 
Vorwurf gemacht). Ob sie in den Plan zu Agrippina’s Ermordung eingeweiht 
waren (wie Dıo LXI, 12 behauptet), weiss Tacırus (XIV, 7) nicht zu sagen; 
als ihr Rath verlangt wurde, scheint ihnen allerdings kaum etwas anderes, 
als schweigende Zustimmung, übrig geblieben zu sein; vor seinem Tode redet 
Sen. (Tac. XV, 62), als ob er sich keine Mitschuld an dem Verbrechen vorzu- 

Philos, ἃ. Gr. IIT. Bd. 1. Abth. 41 


612 Seneen. 


auch als Philosoph den eklektischen Neigungen seines Volks und 
seines Zeitalters nicht so fremd, dass wir von ihm eine ausnahms- 
lose Folgerichtigkeit der Ansichten erwarten dürften; nimmt man 
vollends hinzu, wie leicht ilın das Streben nach rednerischer Wir- 


werfen hätte; aber dass er sich demselben nicht nachdrücklicher widersetzt 
und es nachträglich sogar vertheidigt hat (Tac. XIV, 11), bleibt immer ein 
dunkler Flecken in seinem Leben. Ebenso wird ihm die unwürdige Schmei- 
chelei gegen Claudius und seinen Freigelassenen Polybius (in der eonsolatio 
- ad Polybium), durch welche er sich die Rückkehr aus,der Verbannung zu er- 
wirken suchte, und der Kleinmuth, den er bei diesem Unglück an den Tag 
legt, mit Recht verübelt, besonders wenn man ihnen den ebenso unwürdigen 
Hohn gegen den todten Despoten (in dem Zudus de morte Claudü) und die 
tapferen Erklärungen ad Helv. 4 ff. u. ö. (s. 0. 639,2) gegenüberhält. Anderer- 
seits ist aber der Vorwurf geschlechtlicher Ausschweifungen bei Suilius und 
Dio a. d. a. O. nicht allein durchaus unerwiesen, sondern auch allem An- 
scheine nach vollständig aus der Luft gegriffen; seinen und Burrhus’ Einfluss 
auf Nero bezeichnet Tacırus (XIII, 2) als einen sehr günstigen, er selbst beruft 
sich (ebd. XV, 61) auf seinen Freimuth gegen denselben, wovon Taeitus auch 
XV, 23 ein Beispiel anführt, und auch Dıo LXI, 18 erzählt einen Fall, wo er 
durch ein freimüthiges Wort Nero’s Grausamkeit Einhalt that. Derselbe sagt 
von ihm, trotz aller sonstigen Gehässigkeit, LIX, 19: πάντας μὲν τοὺς χαθ᾽ 
ἑαυτὸν Ῥωμαίους πολλοὺς δὲ χαὶ ἄλλους σοφία ὑπεράρας: noch weit schwerer 
wiegt aber das Urtheil des Tacırus. Dieser nennt ihn XV, 23 einen vir egre- 
gius, XIII, 2 rühmt er seine comitas honesta, XV, 62 lässt er ihn vor seinem 
'Tode seinen Freunden guod unum jam et pulcherrimum habebat, imaginem vitae 
suae vermachen, und c. 65 berichtet er, bei der pisonianischen Verschwörung 
haben Manche den Thron ihm bestimmt gehabt, quasi in sontibus elaritudine 
virtutum ad summum fastigium delecto. Seneca selbst macht durch seine 
Schriften, so viel auch Deklamatorisches darin ist, nicht allein den Eindruck 
eines Mannes, dem seine sittlichen Grundsätze und Bestrebungen Sache einer 
ernsten Ueberzeugung sind, sondern er giebt uns auch einzelne Züge an die 
Hand, die auf seinen Charakter ein vortheilhaftes Licht werfen. So wissen 
wir, dass er sich in der Schule des Sextius die Gewohnheit täglicher genauer 
Selbstprüfung angeeignet hatte (De ira III, 36 f.), dass er sich in seiner Jugend 
aus Begeisterung für die Philosophie Jahre lang, nach Sotion’s Vorschrift, 
des Fleisches enthielt, und die einfache Lebensweise, welche ihm der Stoiker 
Attalus angerathen hatte, in manchen Stücken bis in’s Alter beibehielt (ep. 
108, 13—23). Seine Mässigkeit bezeugt auch Tacır. XV, 63 (corpus senile 
ei parvo victu tenuatum; dagegen kann man XV, 45, wo er ebenso, wie bei 
der beabsichtigten Abtretung seiner Güter an Nero — XIV, 53 f. Surron. 
Nero 35 — Klugheitsrücksichten folgt, nicht anführen). Einer der an- 
sprechendsten Züge in seinem Leben ist endlich das schöne Verhältniss zu 
seiner trefllichen Gattin Paulina, worüber ep. 104, 2.4f. Tac. XV, 63 f. =. vgl. 


Specielle Moral: Grundzüge derselben. 643 


kung zu Uebertreibungen nach der einen oder der anderen Seite 
hin verleitet, so begreift es sich, dass er auch bei solchen Fra- 
gen, über die er in der Hauptsache mit sich im Reinen ist, doch 
in seinen Aeusserungen sich nicht immer gleich bleibt. 

In der weiteren Ausführung seiner Sittenlehre treten bei Se- 
neca, wie sich erwarten lässt, dieselben Grundzüge hervor, 
welche den Stoicismus im Allgemeinen bezeichnen; doch wurde 
schon früher angedeutet, dass er und die jüngeren Stoiker über- 
haupt sich in der näheren Fassung derselben von den älteren etwas 
unterscheiden: ohne die Ethik ihrer Schule an irgend einem er- 
heblichen Punkte zu verlassen oder zu verändern, pflegen sie 
doch diejenigen Bestimmungen stärker zu betonen, welche den 
Zuständen und Bedürfnissen ihrer Zeit vorzugsweise entsprechen. 
Dieser Bestimmungen sind es nun hauptsächlich drei. In der Zeit 
eines schaudererregenden Sittenverfalls, schwerer Bedrückung, 
despotischer Willkührherrschaft, musste es sich für den ernster 
Denkenden vor Allem darum handeln, dass er einen festen Grund 
in sich selbst gewinne, und sich gegen das Verderben seiner Um- 
gebung wie gegen die Macht des Schicksals eine unüberwindliche 
Zuflucht in dem eigenen Inneren gründe. Wandte er sodann An- 
deren seine Aufmerksamkeit zu, so mussten einestheils alle äusse- 
ren Unterschiede unter den Menschen ihre Bedeutung verlieren, 
wo man jeden Tag die grellsten Glückswechsel mitansah 1), wo 
alle nationalen und gesellschaftlichen Gegensätze in gemeinsamer 
Erniedrigung untergiengen, wo die Verworfensten so oft vom 
Glück auf’s Höchste begünstigt waren, die Besten dem Unrecht 
erlagen; und es musste insofern der Grundsatz, alle Menschen 
als solche sich gleichzustellen, und nur ihrer sittlichen Ungleich- 
heit einen Werth beizulegen, neue Nahrung gewinnen. Andern- 
theils aber mussten die sittlichen wie die gesellschaftlichen Zu- 
stände der Zeit ein lebhaftes Gefühl der menschlichen Schwäche 
und Hülfsbedürftigkeit hervorrufen, die stoische Strenge musste 
gegen das Mitleid mit den Gebrechen der Menschheit, die stoische 
Selbstgenügsamkeit gegen die Forderung menschenfreundlicher 


1) Gerade aus dieser Erfahrung zieht Sex. trangn. an. 11, 8 ff. 16,1. 
ep. 74,4 u. ö., zunächst in Beziehung auf das eigene Verhalten eines Jeden, 
die Nutzanwendung, dass man dem Aeusseren keinen Werth beilegen dürfe. 


4 5 


644 Seneca. 


Theilnahme und Hülfleistung zurüektreten, der Kosmopolitismus 
der Schule musste hauptsächlich nach der Seite des Gefühls, in 
der Form allgemeiner Menschenliebe, ausgebildet werden. Je ΄ 
weniger endlich die Verhältnisse dem Einzelnen zu thatkräftigem 
Eingreifen in den Weltlauf Gelegenheit boten, je schwerer das 
gemeinsame Verhängniss auf Allen lastete und je unaufhaltsamer 
es sich erfüllte, um so mehr musste die Neigung zum öffentlichen 
Leben sich verlieren, und die Vorliebe für die Ruhe des Privat- 
lebens zunehmen, um so stärker aber auch die Nothwendigkeit 
- der Ergebung in das Schicksal und der Zusammenhang der sitt- 
lichen Haltung mit der religiösen Ueberzeugung, welchen der 
Stoicismus nie verkannt hat, sich aufdrängen. 

Alles dieses lässt sich nun auch in Seneca’s moralischen 
Schriften wahrnehmen. Die Unabhängigkeit von allem Aeusseren, 
welche Weisheit und Tugend’ uns verschaffen, ist von keinem An- 
deren schwunghafter gepriesen worden, als von ihm, keiner for- 
dert uns dringender auf, unser Glück rein und ganz in uns selbst 
zu suchen, in unserer inneren Freiheit und Seligkeit allem, was 
das Schicksal über uns verhängen möge, kühn entgegenzutreten ?). 
Aber weil es eben nur seine sittliche Beschaffenheit ist, welche 
dem Menschen diese Freiheit verleiht, so dringt er zugleich mit 
allem Nachdruck auf die gewissenhafte Erfüllung der Bedingun- 
gen, an die sie geknüpft ist, und er nimmt es damit um so ern- 
ster, je fester er überzeugt ist, dass sich dem Hange des Menschen 
zum Bösen nur durch den angestrengtesten Kampf der Sieg abge- 
winnen lasse ?). Alle sind, wie er glaubt, krank und der Hei- 
lung bedürftig; die Bekämpfung unserer Fehler ist die Hauptauf- 
gabe der Philosophie, die Erkenntniss derselben die erste Bedin- 
gung der Besserung °), und noch in seinen alten Tagen berichtet 


1) Zahlreiche Belege hiefür finden sich S. 198 ff. 216 f. 232. 636, 1. 2. 
Zu den entschiedeneren Erklärungen in diesem Sinn gehören: De provid. 2, 
9 fi. De const. 3,5. 4, 2. 5,4. 8,2f. 19,4. v. be. 4,2 f. brevit. v.5, 2. ad 
Helv. 5. Benef. III, 20, 1. ep. 53, 11. 59, 8. 64,4. 74, 19. 75, 18. 85, 39. 
- 2) Zum Folgenden vgl. Baur Seneca und Paulus, Zeitschr. ἔν wissensch. 
Theol. I, 190— 204. 

3) Ausser dem, was S. 233 f. 632 angeführt ist, vgl. m. in dieser Be- 
ziehung noch Stellen, wie ep. 50, 4: quid nos decipimus? non est extrinsecus 
malum nostrum: intra nos est, in visceribus ipsis sedet, et ideo difieulter ad 


Innere Freiheit des Weisen; sittliche Strenge. 615 


er von sich selbst, dass er sichtbar. ein anderer Mensch werde, 
da er jetzt einsehe, wo es ihm fehle ἢ. Er weiss uns daher die 
Nothwendigkeit einer strengen Selbstprüfung und einer unablässi- 
gen Arbeit an uns selbst ?) nicht dringend genug an’s Herz zu 
legen: er empfiehlt uns, was er selbst sich zur Pflicht gemacht 
hatte, sich jeden Abend über den verflossenen Tag genaue 
Rechenschaft abzulegen ?); er verweist uns auf unser Gewissen, 
dem nichts, was wir thun, verborgen bleiben könne 5). er erin- 
nert an die Gölter, die allgegenwärtigen Zeugen unserer Reden 
und Thaten °), an den Todestag, jenen grossen Gerichtstag, an 
dem es sich zeigen werde, was am Menschen ächt oder gemacht 
5615) — er will mit Einem Wort die Glückseligkeit des Weisen 
als den Preis der nackhaltigsten sittlichen Thätigkeit betrachtet 
wissen, und er findet ebendesshalb neben den allgemeinen Grund- 
sätzen der Tugend auch alle jene Untersuchungen über die einzel- 
nen Lebensverhältnisse und jene auf bestimmte Fälle berechneten 


sanitatem pervenimus, quia nos aegrotare nescimus. ep. 28, 9: initium est salu- 
tis notitia peccati (nach Epikur) .... ideo quantum potes te ipse coargue, inquire 
in te,u.s.w. v. be. 1,4: Einer steckt den Andern an: sanabimur, δὲ modo 
separemur ἃ eoetu, Aehnlich ep. 49, 9. 7,1. 94,52 ff. 95, 29 f. 

1) In der merkwürdigen, so auffallend an christliche Anschauungen er- 
innernden Stelle ep. 6, 1: Intellego, Lueili, non emendari me tantum, sed 
transfigurari. Vieles sei zwar immer noch der Besserung bedürftig; et höc 
ipsum argumentum est in melius translati animi, quod vitia sua, quae adhuc 
ignorabat, videt. quibusdam aegris gratulatio fit, cum ipsi aegros se esse sense- 
runt. Ueber das transfigurari (μεταμορφοῦσθαι) vgl. ep. 94,48, wo aus Aristo an- 
geführt wird: qui didieit et facienda ac vitanda percepit, nondum sapiens est, 
nisi in ea quae didicit, animus ejus transfiguratus est. Dieser Ausdruck be- 
zeichnet demnach die innere Umwandlung des ganzen Willens und der Gesiu- 
nung, im Unterschied von blos theoretischer Ueberzeugung auf der einen, 
blos vereinzelter Verbesserung auf der andern Seite. 

2) Worüber auch ep. 50, 5 ff. 51, 6. 13 (nobis quoque militandum est... 
proice quaecumque cor tuum laniant u. s. w.) 2. vgl. 

3) De ira III, 36 vgl. S. 605, 1. 

4) Ep. 28, 9.41, 2; s. 0. 644, 3. 297,3. ep. 43,4: die Menschen leben 
so, dass fast keiner die Oeffentlichkeit alles seines Thuns ertragen würde. 
quid autem prodest recondere se et oculos hominum auresque vilare? bona con- 
scientia turbam advocat, mala etiam in solitudine anzia atque sollicita est ... ὁ 
ie miserum, si contemnis hune testem! 

5) Vita be. 20, 5. ep. 83, 1. 

6) Ep. 26, 4 fl. 5. o. 188, 2. 


646 Seneca. Ὶ 


Ratbschläge nothwendig 1), denen er selbst einen so grossen Theil 
seiner Schriften gewidmet hat 5). 

Je vollständiger aber der Einzelne seiner sittlichen Bestim- ἡ 
mung entspricht, um so enger wird er sich auch mit Anderen 
"verknüpft finden, um so reiner wird er dieses Verhältniss auflas- 
sen, um so vollständiger wird er es auf alle Menschen ausdehnen. 
Die stoischen Grundsätze über die natürliche Verwandtschaft aller 
Menschen und über die uneigennützige Unterstützung, welche wir 
allen ohne Ausnahme schuldig sind, haben an Seneca einen ihrer 
. beredtesten Verkündiger gefunden 5); in der Auffassung dieses Ver- 
hältnisses tritt aber durchaus das Politische gegen das allgemein 
Menschliche, und die Strenge des Sittenrichters gegen eine liebevolle 
Sanftmuth zurück, welche nicht allein von dem menschenfreund- 
lichen Gemüth des Philosophen, sondern auch von seiner genauen 
Kenntniss und unbefangenen Beurtheilung der menschlichen Natur 
Zeugniss giebt. Zu dem Staatsleben kann Seneca, wie diess ge- 
rade in seiner Zeit und nach seinen Erfahrungen am Wenigsten 
zu verwundern ist, kein rechtes Herz fassen; er findet die Masse 
der Menschen zu schlecht, als dass man sich ohne sittlichen Scha- 
den von ihren Neigungen abhängig machen könnte, den Zustand 
des Gemeinwesens zu trostlos, um seine Kraft daran zu verschwen- 
den; der Einzelstaat erscheint ihm neben dem grossen Mensch- 
heits- und Weltstaat, die Thätigkeit des Staatsmanns neben der 
eines Lehrers der Menschheit zu gering, als dass er sich auf sie 
beschränken möchte 5). Viel grösseren Reiz haben für ihn diejeni- 


1) Sehr ausführlich verbreitet er sich hierüber im 94sten und 95sten Brief, 
von denen jener die Unentbehrlichkeit der speciellen Lebensvorschriften, die- 
ser die der allgemeinen ethischen Grundsätze (der decreta) beweist. In beiden 
macht er namentlich das geltend, dass man bei der Grösse des menschlichen 
Verderbens und dem überwältigenden Einfluss der Gesellschaft kein Gegen- 
mittel unbenützt lassen dürfe; 94, 52 f. 68 ff. 95, 14 ff. 29 ff. 

2) So namentlich in der Schrift De benefieiis und in den Briefen. 

3) Wie schon S. 265, 2. 5. 266, 1. 278, 3 nachgewiesen ist. 

4) Vgl. 8.274—276, ep. 14, 4 ff. (vgl. 8. 639,6), die politischen Zustände 
betreffend auch De element. I, 3, 4 ff., wo wir in dem, was Seneca über die 
Bedeutung des Herrschers für das Gemeinwesen sagt, abgesehen von einzelnen 
Uebertreibungen im Ausdruck, keineswegs blos die Sprache des Hofmanns 
schen dürfen; wie es vielmehr nach den thatsächlichen Verhältnissen ganz 
richtig war, 50 .war es ohne Zweifel auch seine eigene Uecberzeugung, dass in 


Menschliche Gemeinschaft; allgemeine Menschenliebe. 647 


gen Verbindungen, welche auf freier Wahl beruhend sich nach 
dem Bedürfniss und der Eigenthümlichkeit der Einzelnen richten. 
Der Ehe hat er eine eigene Schrift gewidmet '), und nach allem, 
was wir davon wissen, ist zu vermuthen, dass Seneca den Werth 
des ehlichen Lebens, den er ja selbst auch reichlich erfahren hatte, 
vollkommen zu würdigen wusste. Sehr lebhaft erscheint ferner 
bei ihm der Sion für Freundschaft, und wir haben schon früher 
gesehen, dass er Mühe hat, sein Freundschaftsbedürfniss und seine 
edle Auffassung dieses Verhältnisses mit der Selbstgenügsamkeit 
des Weisen auszugleichen ?). Die eigentliche Krone seiner Sitten- 
lehre liegt aber in der allgemeinen Menschenliebe, der rein 
menschlichen Theilnahme, welche sich allen ohne Unterschied, 
auch den Geringsten und Verachtetsten, zuwendet, welche auch 
im Sklaven den Menschen nicht vergisst 5); in jener Milde der 
Gesinnung, der nichts mehr widerstrebt, als Zorn und Hass, Ge- 
waltthat und Grausamkeit *), nichts naturgemässer und des Men- 
schen würdiger erscheint, als verzeihende Gnade, selbstlose, im 
Verborgenen beglückende, die göttliche Güte gegen Gute und 
Schlechte nachahmende Wohlthätigkeit; die der menschlichen 
Schwäche eingedenk, lieber schont, als straft, auch die Feinde 


dem damaligen Römerreich der Kaiser (wie er c.4 sagt) das zusammenhaltende 
Band des Staates, dass die paxw romana, die dominatio urbis an seine Erhal- 
tung geknüpft sei: olim enim ita se induit reipublicae Caesar, ut seduei alterum 
non possit sine utriusque pernicie. nam ut illi viribus opus est, ita et huiec capite. 
War aber einmal auf die Republik verzichtet, so musste die öffentliche Thätig- 
keit gerade für die Besseren den grössten Theil ihres Reizes verlieren. 

1) Ibre Bruchstücke, welche aber grösstentheils in Anführungen aus an- 
dern Schriftstellern und Beispielen von guten und schlechten Frauen bestehen, 
bei Haase III, 428 fl. Ueber die darin ausgesprochene Auflassung der Ehe 
vgl. m. 8. 273, 1, über Seneca’s zweite Frau (von der ersten*kennen wir nicht 
einmal den Namen) S. 642 unt. 616, 5, Schl. 

2) 8. 5. 269 ff. 

3) Auch hiefür sind ausreichende Belege schon $. 278 f. 265,:2 gegeben. 

4) Eine Denkweise, die sich (wie schon 3.268, 4 bemerkt ist) namentlich 
auch in der entschiedenen Verwerfung der unmenschlichen Gladiatorenspiele 
und in dem Tadel der römischen Kriegslust äussert. Aus demselben Grunde 
und zugleich wegen seiner Leidenschaftlichkeit und seines Mangels an Selbst- 
beherrschung, werden über Alexander d. Gr. jene scharfen Urtheile gefällt, 
die Seneca’s Rhetorik einen so willkommenen Stoff bieten; Benef. I, 13, 3. 
Clement. 1, 25. De ira III, 17, 1. 23, 1. nat. qu. VI, 23, 2: ὅ. 


648 Seneca. 


von ihrem Wohlwollen nichtausschliesst, auch die Verletzung nicht 
mit Verletzung erwiedern will 1). Seneca’s Ausführungen hierüber 
gehören zu den schönsten Zeugnissen für die Reinheit der sitt- ᾿ 
lichen Begriffe, zu der es das klassische Alterthum gebracht hat. 
Ihrem Inhalt nach entsprechen sie, wie früher gezeigt wurde, 
durchaus den stoischen Grundsätzen; aber doch lässt sich nicht 
verkennen, dass sie aus einer etwas anderen Lebensanschauung 
und einer weicheren Stimmung hervorgegangen sind, als sie bei 
den älteren Stoikern zu Hause war. Das Gemeinschaftsbedürfniss 
ist bei Seneca stärker, als bei jenen, wenn auch die gesellige 

Natur und Bestimmung des Menschen von beiden gleich entschie- 
den anerkannt wird, die gemeinnützige Thätigkeit erscheint bei 
den Aelteren mehr als Sache der Pflichterfüllung, bei ihm mehr 
als Sache der Neigung, der Menschenliebe und des Wohlwollens, 
und ebendesshalb legt er gerade auf die Tugenden des menschen- 
freundlichen Gemüths den Hauptnachdruck. Wie enge übrigens 
diese Milderung der stoischen Strenge bei Seneca mit seinem tie- 
feren Gefühl der menschlichen Unvollkommenheit zusammenhängt, 
wurde schon früher angedeutet. 

Aus derselben Quelle werden wir nun auch die religiöse Hal- 
tung seiner Sittenlehre abzuleiten haben. Auch in ihr folgt er 
durchaus der gemeinsamen Richtung seiner Schule ?). Der Wille 
der Gottheit ist ihm das höchste Gesetz, ihr zu gehorchen und 
nachzuahmen das allgemeinste, mit der Forderung des natur- 


1) M. vgl. hierüber, ausser dem, was $. 278, 4 angeführt ist: De element. 
1,3, 2 (s. ο. 268, 1). Ebd, II, 4 fi. (über die Vereinbarkeit der Milde mit der 
Gerechtigkeit und ihren Unterschied von tadelnswerther Nachsicht: diese 
straft nicht, wo sie sollte, jene berücksichtigt bei der Strafe alle wirklich 
vorhandenen Milderungsgründe, sie will nur das vollständige Recht verwirk- 
lichen; vgl. 8. 268.) Ebd. I, 6. De ira II, 9, 4. 10, 1f, 28. ID, 27,3 (die 
Schwäche der Menschen, man soll dem Irrthum nicht zürnen, sondern ver- 
zeihen). Benef. IV, 25 fi. (inwieweit, nach dem Vorgang der Götter, auch 
Undankbaren Wohlthaten zu erweisen seien). VII, 31 f. (vineit malos pertinax 
bonitas. Wie die Götter ihre Woblthaten trotz alles Undanks unvermindert 
fortdauern, über Würdige und Unwürdige regnen lassen, und den Irrthum 
derer, die sie verkennen, milde ertragen, so sollen wir es auch machen, und 
den Undank durch Wohlthaten, wie der Landmann den unfruchtbaren Boden 
durch Anbau, überwinden), II, 9 f. (verborgene Wohlthaten), 

2) Vgl. 8. 289, 


' 
- Religiöser Charakter. 649 


gemässen Lebens gleichbedeutende 1) Gebot 5); er erkennt in der 
Vernunft und dem Gewissen den uns inwohnenden göttlichen 
. Geist 5); er gründet die Gleichheit aller Menschen auf den Satz, 
dass der Gott im Innern die Seele des Sklaven so gut zur Woh- 
nung nehmen könne, wie die des Ritters, die Verbindung des 
Einzelnen mit der Menschheit auf den Gedanken an die Götter, 
welche mit uns dem Weltstaat angehören und ihn regieren 4); er 
dringt nachdrücklich auf eine willige und freudige Ergebung in 
die Fügungen der Vorsehung, und sieht in dieser Gesinnung die 
sicherste Grundlage für die Freiheit und Gemüthsruhe des Wei- 
sen °), zugleich will er uns aber als letzte Auskunft den freiwilli- 
gen Austritt aus dem Leben offen halten °), und uns überhaupt an 
die Todesverachtung gewöhnen, ohne welche, wie er sagt, keine 
Glückseligkeit möglich ist,’). In allen diesen Erklärungen ist 
nichts, was nicht aus dem ächten Geiste der stoischen Lehre ge- 
flossen wäre. Auch der Satz, dass Niemand ohne den Beistand 
der Gottheit gut sein könne, ist bei Seneca durchaus im Sinne die- 
ses Systems zu verstehen: der göttliche Beistand, welchen er ver- 
langt, ist kein übernatürlicher, sondern er fällt mit dem Gebrauch 
unserer Vernunft und ihrer natürlichen Kräfte zusammen °). Soll 


1) Die Gottheit fällt ja hier mit der Natur, also auch der Wille der Gott- 
heit mit dem Naturgesetz zusammen. 

2) Benef. IV, 25, 1: propositum est nobis secundum rerum naturam vivere 
et Deorum exemplum sequi. Ebd. VII, 31, 2. v. be. 15, 4—7. ep. 16,5 vgl. 
Benef. VI, 23, 1. provid. 5, 8. 

3) 8. Ὁ. 297, 3. 298, 2. 

4) Ep. 31, 11. v. be. 20, 5. De otio 4, 1; s. o. 280, 6. 275, 4. 

5) Vgl. 8. 283, 1. 2. 

6) 8. 0. 284, 3. 

7) N. qu. VI, 32, 5: si volumus esse felices, si nec hominum nec Deorum 
nec rerum timore versari, si despicere fortunam supervacua promittentem, levia 
minitantem, si volumus tranquille degere et ipsis Dis de felicitate controversiam 
agere, anima in expedito est habenda’u. s. w. 

8) Es ergiebt sich diess ganz klar aus dem Zusammenhang der Stellen, 
in denen er jenen Satz ausspricht. Nachdem er ep. 41, 2 (in den 8. 291, 3. 
297,3 mitgetheilten Worten) gesagt hat, es wohne in uns ein göttlicher Geist 
(mit dem nichts anderes, als die Vernunft und das Gewissen des Menschen 
gemeint ist), fährt er fort: bonus vero vir sine Deo nemo est: an potest aliqwis 
supra fortunam nisi ab ülo adjutus exsurgere? ille dat consilia magnifica et 
erecia. in unoquoque virorum bonorum „quis Deus incertum est, habitat Deus,“ 


650 Ν Seneca. 


sich daher Seneca’s Lehre von dem älteren Stoicismus durch ihren 
religiösen Charakter unterscheiden, so darf diess keinenfalls so 
verstanden werden, als ob er durch denselben zu materiellen 
Abweichungen von dem stoischen System veranlasst würde; son- 
dern eigenthümlich ist ihm nur die Bedeutung, welche das reli- 
giöse Elenent im Verhältniss zum philosophischen für ihn gewon- 
nen hat, sein Unterschied von den Früheren ist ein blos quantita- 
tiver. Dass aber die religiöse Betrachtungsweise bei ihm diese 
grössere Stärke erlangt, werden wir theils aus der praktisch- 
populären Haltung seiner Philosophie, theils aus jenem lebhaften 
Gefühl der menschlichen Schwäche und Unvollkommenheit herzu- 
leiten haben, welches ihn naturgemäss bestimmen musste, öfter 
und nachdrücklicher auf den Rückhalt zu verweisen, den das sitt- 
liche Leben des Menschen in dem Glauben an die Gottheit und an 
ihr Walten in der Welt und im menschlichen Geist findet. Wie 
rein übrigens Seneca die Religion auffasst, wie frei er nicht blos 
über dem Glauben des Volks, sondern auch über den Täuschun- 
gen der stoischen Orthodoxie steht, wie sich ihm die Vielheit der 
Götter in die Einheit des göttlichen Wesens, die äusserliche Got- 
tesverehrung in den geistigen Kultus der Erkenntniss Gotles und 
der Nachahmung seiner sittlichen Vollkommenheit auflöst, ist schon 
früher gezeigt werden 7). Seneca zeigt sich auch in diesem Stücke 
als einen würdigen Vertreter des römischen Stoicismus, welchem 
eine reinere und freiere Religionsansicht schon bei seiner Entste- 
hung durch Panätius eingepflanzt worden war, und in welchem sie 
sich, wie das Beispiel eines Scävola, Varro, Cicero beweist, fort- 


Aehnlich ep. 73, 15: non sunt Di fastidiosi non invidi: admittunt et adscendenti- 
bus manum porrigunt. miraris hominem ad Deos ire (durch Erhebung des 
Geistes und Willens)? Deus ad homines venit, immo, quod est propius, in 
homines venit: nulla sine Deo mens bona est. semina in corporibus humanis di- 
vina dispersa sunt, quae si bonus eultor exeipit, similia origini prodeunt et paria 
his, ex quibus orta sunt, surgunt u.s. w. Die Handreichung der Gottheit be- 
steht demnach darin, dass ein Ausfluss der Gottheit als λόγος σπερματιχὸς sich 
mit einem menschlichen Leibe verbindet, inder geistigen Anlage des Menschen. 

1) 8. 291 f. 294, 3. 302, 1. 304, 1. 314,3. 317,3. 319,5. Auch in den 
zuletzt angeführten Stellen wird die Weissagung und die Kraft der Sübnungen 
doch nur schr bedingt vertheidigt, während Sen. anderswo ähnliehe Dinge 


einfach als Lächerlichkeiten behandelt (nat. qu. IV, ὁ). 


Religiüser Charakter. 651 


während erhalten hatte 1). Mit Panätius ist er überhaupt in seiner 
ganzen Denkweise verwandt. Beide stellen die theoretischen Leh- 
ren ihrer Schule gegen die praktischen zurück und suchen diese 
ihrerseits durch eine gemeinverständliche Behandlung und eine 
in’s Einzelne gehende Anwendung möglichst fruchtbar zu machen; 
und in diesem Bestreben tragen sie kein Bedenken, auch auf an- 
dere, als stoische Vorgänger zurückzugehen, und von der stoi- 
schen Ueberlieferung an einzelnen Punkten sich zu entfernen. 
Doch sind die Abweichungen von derselben bei Panätius weit er- 
heblicher, als bei Seneca; und andererseits ist bei diesem die 
ethische Grundstimmung des ursprünglichen Stoicismus, das Ver- 
trauen auf die sittliche Kraft des Menschen, viel tiefer erschüttert, 
das Gefühl der menschlichen Schwäche und Fehlerhaftigkeit viel 
lebhafter, als diess bei jenem der Fall gewesen zu sein scheint, 
und indem die Heilung der sittlich kranken Menschheit als die 
Hauptaufgabe der Philosophie betrachtet wird, entwickelt sich 
jene Verschmelzung der Philosophie mit der Religion und jene 
Rückwirkung des ethischen Dualismus auf die Metaphysik, durch 
welche sich der spätere Stoicismus dem Platonismus mehr und 
mehr annäherte. 


8. Fortsetzung. Musonius, Epiktet, Mark Aurel. 


Den gleichen Charakter behauptete der Stoicismus in der 
Hauptsache während des ganzen weiteren Verlaufs seiner Ge- 
schichte, nur dass die Züge, durch welche schon Seneca von der 
ursprünglichen Richtung seiner Schule abwich, in der Folge noch 
stärker hervortreten. Ich werde mich daher in Betreff der übri- 
. gen uns bekannten stoischen Philosophen kürzer fassen dürfen. 

Ein jüngerer Zeitgenosse Seneca’s ist Musonius Rufus ?), 


1) Vgl.8.317,2.506,3.591f.594,6. Wenn ich im Obigen neben Seävola und 
Varro auch Cicero nenne, so rechtfertigt sich diess theils durch seinen eigenen 
Zusammenhang mit der stoischen Schule, theils durch seine Darstellung der 
stoischen Theologie im 2ten Buch De natura Deorum, aus der $. 290, 1. 293, 1 
einige bezeichnende Stellen angeführt sind. 

2) C.Musonii Rufi reliquiae et apophthegmata c. annot. edid. J. Vexmuizen 
Peerıkaure (Harlem 1822). Vorangeschickt ist $. 1—137 Prrrı NieuwLanDıt 
Dissertatio de Musonio Rufo (erschien zuerst 1783). Nach ihm Moser in den 
Studien von Daub und Creuzer VI, 74 fl. 


652 Musonius. 


der als ein angesehener, auch wegen seines Charakters in der 
höchsten Achtung stehender Lehrer der Philosophie 1) unter Nero 
und Vespasian in Rom lebte ?). Dieser Philosoph beschränkt sich 


1) Tac. Ann. XIV, 59. XV, 71 u. A. vgl. folg. Anm. Dagegen hatte Dio 
Chrysostomus in jüngeren Jahren, als er der Philosophie noch fremd war, 
gegen Musonius geschrieben; Synes. Dio ὃ, 8. 37; b. 

2) Musonius Rufus, Capito’s Sohn (Suiv.), wahrscheinlich Eine Person 
mit dem Cajus Musonius, dessen Pin. ep. III, 11, 5.7 mit Verehrung erwähnt, 
stammte aus einer etrurischen ritterlichen Familie (Tac. Ann. XIV, 59. Hist. 
III, 81. Pnu.oste. Apollon. VII, 16), und näher aus Volsinii (Suıp. vgl. das 
Epigramm Anthol. lat. I, 79. Bd. 1, 57 Burm.). Sein Geburtsjahr ist unbe- 
kannt; da er aber schon um 65 n. Chr. durch seinen Ruhm als Lehrer der Philo- 
sophie die Eifersucht Nero’s erregte (Tac. Ann. XV, 71), und nach Jursas. Ὁ. 
Sup. damals ein öffentliches Amt bekleidete, wird es kaum später, als 20— 30 
n. Chr., zu setzen sein. Ein Anhänger der stoischen Schule, mit Rubellius 
Plautus (bei dem wir ihn i. J. 63 in Kleinasien treffen), Thrasea Pätus und 
Soranus (dessen Tod er in der Folge an dem elenden Egnatius Celer, seinem 
Ankläger, durch gerichtliche Verfolgung rächte) befreundet (Tac. Ann. XIV, 
59. Hist. III, 81. LV, 10. 40. Ερικτευ. Diss. I, 1, 26), wurde er von Nero 1. ὦ. 
65 verbannt (Tac. Ann. XV, 71. Dio Cass. LXII, 27. Muson. b. Sro». Floril. 
40, 9. 5. 75. Tuxnıst. or. VI, 72, d. VII, 94, a — dass ihn Sum. Μουσών. und 
Kogvoüros statt dessen getödter werden lässt, ist ein handgreiflicher Irrthum, 
vielleicht aus Justin. Apol. II, 8 entstanden); nach PrırLostr. a. a. Ὁ, war 
sein Verbannungsort Gyara, welches um seinetwillen von allen Seiten besucht 
worden sein soll; Derselbe Apoll. V, 19 und der angebliche Lucıax in s. Nero 
lassen einen Musonius bei der beabsichtigten Durchstechung des Isthmus 
Strafarbeit verrichten; weiter nennt Pıutostr. a. a. O. IV, 35. 46 einen Ba- 
bylonier Musonius, einen bewunderungswürdigen Philosophen, welchen Nero 
in’s Gefängniss geworfen habe. Ob aber damit unser Musonius gemeint, und 
demnach der Βαβυλώνιος bei Philostratus in einen Βουλσίνιος zu verwandeln 
oder sonst zu beseitigen ist (m. 5. darüber NıruwLann 8. 30 fl.), ist um so 
gleichgültiger, da diese Angaben gerade so werthlos sind, als die ungereimten 
Briefchen, die Musonius mit Apollonius gewechselt haben soll. Wie sich der 
„Tyrier* Musonius zu dem unsrigen verhält, lässt sich, wie S. 614 ἢ gezeigt 
ist, nicht ganz sicher ausmachen; er scheint aber mit ihm identisch zu sein. 
Wahrscheinlich von Galba zurückberufen (vgl. Erır. Diss. III, 15, 14. Tac. 
Hist. ΠῚ, 81), wurde Musonius von Vespasian, als dieser die Philosophen aus 
Rom verwies, allein ausgenommen (Dıo Cass. LXVI, 16); nach Trenxist. or. 
XII, 173, c stand er mit Titus in persönlicher Verbindung. Wie lange er ge- 
lebt hat, wissen wir nicht; wenn er aber wirklich der von Plinius genannte 
ist, muss er Trajan’s Regierung noch erlebt haben. Von Schriften, die er 
verfasst hätte, wird nichts berichtet: was Stobäus aus ihm mittheilt, lautet 
als Bericht eines Schülers über seine Lehrvorträge, und weist auf Denk wür- 
digkeiten, wie die xenophontischen, oder die Arrian’s über Epiktet. Solche 


Praktischer Standpunkt. 6553 


nun noch entschiedener,, als Seneca, auf die sittlichen Aufgaben. 
Auch er geht allerdings von der allgemeinen Grundlage des stoi- 
schen Systems aus, und auch seinen theoretischen Theilen blieb 
er nicht fremd. Erıkter erzählt, dass er seine Schüler in der 
Handhabung der logischen Formen geübt und zur Genauigkeit 
darin angehalten habe ?); auf die stoische Erkenntnisstheorie mit 
ihrem Empirismus weist eine Aeusserung über die Entstehung der 
sittlichen Begriffe 2). Ebenso berührt er Lehren der Physik: er 
spricht von der unabänderlichen Nothwendigkeit des Weltlaufs, 
von dem unablässigen Wechsel aller Dinge, dem Himmlisches und 
Irdisches unterworfen sei, von dem regelmässigen, durch die 
gleichen Stufen nach oben und unten sich vollziehenden Ueber- 
gang der vier Elemente in einander 5), von der göttlichen Natur 
der Gestirne *); und wie diese sich von Dünsten nähren, so, 


ἀπομνημονεύματα Mouswviou legt nun Summas Πωλίων dem Asinius Pollio (zur 
Zeit des Pompejus) bei; so ungereimt diess aber auch ist, so wahrscheinlich 
ist es, dass ein Pollio sie verfasst hatte; nur wird man diesen nicht (mit 
Aelteren und Neueren) in dem Claudius Pollio suchen dürfen, welcher nach 
Prix. ep. VII, 31, 5 einen Ziber de vita Anni (ältere Lesart: Musonü) Bassi 
geschrieben hatte, sondern eher in dem Grammatiker Valerius Pollio, der 
(Suıp. a. a. O.) unter Hadrian lebte, und ein Philosoph genannt wird. 

1) Diss. I, 7, 32: Als ihn Rufus tadelte, dass er nicht zu finden wusste, 
was in einem Schluss fehlte, habe er sich entschuldigt: μὴ γὰρ ro Καπιτώλιον 
ἐνέπρησα:; worauf dieser erwiederte: ἀνδράποδον, ἐνθάδε τὸ παραλειπόμενον Karı- 
τώλιον ἐστιν (hier ist das Fehlende das Capitolium, das, worauf es ankommt). 

2) B. Sros. Floril. 117, 8. $. 89 (Mein.): der Mensch kann zur Tugend 
gelangen; οὐ γὰρ ἑτέρωθέν ποθεν ταύτας ἐπινοῆσαι τὰς ἀρετὰς ἔχομεν [εἴχ.], ἢ ar’ 
αὐτῆς τῆς ἀνθρωπείας φύσεως, ἐντυχόντες ἀνθρώποις τοισῖςδέ τισιν, οἵους ὄντας 
αὐτοὺς θείους χαὶ θεοειδεῖς ὠνόμαζον. Eine ganz ähnliche Erklärung Seneca’s ist 
uns ὃ. 68, 3 vgl. 283, 2 vorgekommen. 

3) ὅτοβ. Floril. 108, 60. Dieses Bruchstück trägt mit noch einigen an- 
dern (Floril. 19, 13. 20, 60. 61. Ekl. II, 356) die Ueberschrift: Ῥούφου ἐχ τῶν 
Ἐπιχτήτου περὶ φιλίας. Dass aber damit nichts anderes bezeichnet werden soll, 
als ein dem Epiktet (d. ἢ. einem verlorenen Abschnitt von Arrian’'s Disser- 
tationen) entnommener Bericht über eine Aeusserung des Musonius (vgl. 
SchwEiısuÄuser zu Epiktet III, 195), lässt sich um so weniger bezweifeln, da 
gerade bei Epiktet Musonius immer nur Rufus genannt wird, während doch 
schon die Vergleichung von Diss. III, 23, 29 mit Gerr. N. A. V, 1 sicherstellt, 
dass er gemeint ist. 

4) Denn diese sind die Götter, welchen (bei Sror. Floril. 17, 48, 5, 286) 
die Ausdünstung der Erde und der Gewässer als Nahrung genügt. 


654 Musonius. 


glaubt er, den Stoikern und Heraklit folgend, nähre sich auch die 
Seele von der Ausdünstung des Blutes, je leichter und reiner da- 
her die Nahrung sei, um so trockener und reiner bleibe die Seele '). 
Solche Bestimmungen ohnedem, welche mit der Ethik in näherem 
Zusammenhang stehen, wie die über die Güte und die sittliche 
Vollkommenheit Gottes, und über die natürliche Verwandtschaft 
des Menschen mit der Gottheit ®), über die göttliche Allwissen- 
heit ὅ), über das göttliche Gesetz, dessen Ausfluss die sittliche 
Pflicht ist*), über die Tugend als eine Nachahmung der Gottheit °), 
müssten wir bei ihm voraussetzen, wenn uns auch keine bestimm- 
ten Aeusserungen darüber vorlägen. Auch der Volksreligion zollt 
er die Anerkennung, welche den stoischen Grundsätzen entsprach, 
ohne dass er sich doch, wie es scheint, mit ihrer- spekulativen 
Rechtfertigung und Ausdeutung beschäftigt hätte °%). Aber um 


1) Stop. ἃ. ἃ. Ο.; über die entsprechenden stoischen Lehren s.m. 8. 174,5. 
181, 2. Eine ganz unerhebliche Bemerkung ist die, dass die Gottheit der 
Denkkraft den bestverwahrten Ort im Leibe angewiesen habe (Floril. 79, 51. 
S. 94), mag nun damit die Brust oder der Kopf (hierüber vgl. S. 182, 1) ge- 
meint sein. 

2) Floril. 117, 8. 5. 88: der Mensch allein auf der Erde ist ein μίμημα 
θεοῦ (ebenso 17, 43. 8. 286); wie es in Gott nichts höheres giebt, als die Tu- 
gend (Mus. zählt ausdrücklich die vier Grundtugenden auf), wie sie allein ihn 
zu dem vollkommenen, über alle Schwächen erhabenen, wohlthätigen und 
menschenfreundlichen Wesen macht, als das wir uns Gott denken, so ist auch 
für den Menschen nur das tugendhafte Verhalten naturgemäss. 

3) Sros. Floril. Exe. Jo. Dam. II, 13, 125. Bd. IV, 218 Mein. Musonius 
schliesst hier aus der Allwissenheit der Götter, dass sie keiner Beweisführung 
bedürfen, und er macht davon die 5. 656, 5 zu besprechende Anwendung; 
auch für die ethische Ermahnung liess sich ja aber der Gedanke an die All- 
wissenheit der Götter sehr eindringlich verwenden. 

4) A. a. Ὁ. 79, 51. 8. 94. 

5) Vgl. Anm. 2 und Prur. De aere alieno 7, 1. 8.830, wo ein Kapi- 
talist zu Musonius, welcher Geld entlehnen will, sagt: ὃ Ζεὺς ὃ σωτὴρ, ὃν σὺ 
μιμῇ χαὶ ζηλοῖς, οὐ δανείζετᾶι, und dieser lächelnd erwiedert: οὐδὲ δανείζει. 

6) Es ist aber in dieser Beziehung aus unsern Bruchstücken nur wenig 
anzuführen. Die Gottheit wird Zeus, das göttliche Gesetz Gesetz des Zeus 
genannt (Floril. 79, 51. S. 94), die Gestirne als Götter behandelt (s. ο. 653,4); 
und wie Chrysippus die Ehelosigkeit als Beleidigung des Zeus Gamelios ge- 
tadelt hatte (8. ο. 272, 3), so macht Muson. gegen das Aussetzen der Kinder 
u.A. geltend, dass es ein Frevel an den πατρῷοι θεοὶ und dem Ζεὺς ὁμόγνιος sei 
(Floril. 75, 15), und für die Ehe, dass Hera, Eros und Aphrodite sie unter 


Aufgabe der Philosophie. 655 


wissenschaftliche Untersuchung als solche, um ein Erkennen, das 
seinen Zweck in sich selbst trüge, ist es Musonius nicht zu thun. 
Man sieht diess schon daraus, dass in den vielen Aussprüchen 
und Erörterungen, welche uns von ihm überliefert sind 19, die 
theoretischen Lehren seiner Schule immer nur beiläufig und flüch- 
tig berührt werden. Er hat sich aber auch selbst darüber mit aller 
Bestimmtheit ausgesprochen. Die Menschen sind in sittlicher Be- 
ziehung als Kranke zu betrachten; um geheilt zu werden, bedür- 
fen sie einer fortwährenden ärztlichen Behandlung ?). Diesem 
Bedürfniss soll nun die Philosophie entgegenkommen. Die Philo- 
sophie ist der einzige Weg zur Tugend °), und es ist aus diesem 
Grunde für Jedermann, selbst für das weibliche Geschlecht, Be- 
schäftigung mit derselben nothwendig *); ebenso ist aber auch 
umgekehrt die Tugend der einzige Zweck und Inhalt der Philoso- 
phie: Philosophiren heisst, die Grundsätze eines pflichtmässigen 
Verhaltens kennen lernen und ausüben °). Ein Philosoph und ein 


ihrem Schutz haben; wobei die Bemerkung: θεοὶ γὰρ ἐπιτροπεύουσιν αὐτὸν, χαθὸ 
νομίζονται παρ᾽ ἀνθρώποις, μεγάλοι, auch wenn man ihr durch die Conjectur 
νομίζεται ihr Auffallendes nimmt, doch immerhin auf den Unterschied der 
volksthümlichen und der philosophischen Göttervorstellung hindeutet. In 
ähnlicher Weise macht Mus. Floril. 85, 20, Schl. gegen die Ueppigkeit geltend, 
dass sie an der Erfüllung, wie der übrigen, so auch der gottesdienstlichen 
Pflichten, hindere. 

1) Es sind deren, alle zusammengenommen, über fünfzig, und darunter 
viele ziemlich umfangreiche; bei Vexnvızen Prexı.Kamr füllen sie 135 Seiten. 

2) Pror. coh. ira 2, 8. 453: x μὴν ὧν γε μεμνήμεθα Μουσωνίου καλῶν ἕν 
ἐστιν, ὦ Σύλλα, τὸ δεῖν ἀεὶ θεραπευομένους βιοῦν τοὺς σώζεσθαι μέλλοντας. GELL. 
N. A.V, 1,2 s. u. 657,1. Dieser Gesichtspunkt, unter welchen zuerst die 
Cyniker die Philosophie gestellt hatten (s. Bd. II, a, 238, 4), tritt überhaupt 
seit dem ersten vorchristlichen Jahrhundert in bezeichnender Weise hervor; 
Beispiele sind uns schon 8.524, 1. 644, 3 vorgekommen, und werden uns noch 
weiter, bei Stoikern, Platonikern und Neupythagoreern, vorkommen. 

3) Sro». Floril. 48, 67, wo u. A.: δίχαιος δὲ πῶς ἂν εἴη τις μὴ ἐπιστάμενος 
διχαιοσύνην ὁποῖόν τί ἐστι: dieses aber sei ohne Philosophie unmöglich. Ebenso 
in Betreff der σωφροσύνη und der übrigen Tugenden. Daher: πῶς χαὶ τίνα 
τρόπον δύναιτο ἂν τις βασιλεῦσαι ἢ βιῶναι χαλῶς, el μὴ φιλοσοφήσειεν ; 

4) Floril. Jo. Damase. II, 13, 123. 126 (IV, 212 ff. 220 ff. Mein.). 

5) Α. ἃ. O. II, 13, 123, Schl. S. 216: φιλοσοφία χαλοχἀγαθίας ἐστὶν ἐπιτή- 
δευσις χαὶ οὐδὲν ἕτερον. (Ebenso Floril. 48, 67.) Ebd. 11, 13, 126. 5, 221: ζητέϊν 
χοὶ σχοπέϊν ὅπως βιώσονται χαλῶς͵ ὅπερ τὸ φιλοσοφεῖν ἐστι. Floril. 67, 20, Schl.: 


656 Musonius. 


rechtschaffener Mann ist daher gleichbedeutend 1), Tugend und 
Philosophie sind nur verschiedene Bezeichnungen für die gleiche 
Sache. Wenn aber Sokrates und Plato diesen Satz so verstanden’ 
hatten, dass die Tugend nur die Frucht eines gründlichen Wis- 
sens sein sollte, so schliesst Musonius umgekehrt mit den Cyni- 
kern, die wahre Weisheit lasse sich ohne viel Wissen durch sitt- 
liche Anstrengung erreichen. Die Philosophie bedarf weniger 
Lehren, sie kann die Theoreme entbehren, auf welche sich die 
Sophisten so viel einbilden; das Nothwendige lässt sich wohl auch 
bei der Schaufel und beim Pflug lernen ?). Die Tugend ist weit 
mehr Sache der Uebung, als des Unterrichts, denn die lasterhaf- 
ten Gewohnheiten der Menschen lassen sich nur durch die ent- 
gegengesetzte Gewöhnung überwinden 5). Die Anlage zur Tugend, 
der Keim derselben ist allen Menschen von Natur eingepflanzt *); 
hat man einen guigearteten und unverdorbenen Schüler vor sich, 
so bedarf es keiner langen Beweisführung, um ihm die richtigen 
sittlichen Grundsätze, die richtige Schätzung der Güter und Uebel 
beizubringen; wenige überzeugende Beweise sind vielmehr besser, 
als viele, die Hauptsache ist aber, dass das Verhalten des Lehrers 
mit seinen Grundsätzen übereinstimme, und dass ebenso der Schü- 
ler seiner Ueberzeugung gemäss lebe °). Auf dieses praktische 
Ziel soll daher nach Musonius aller Unterricht hinstreben: der 
Lehrer der Philosophie, sagte er, solle nicht Beifall bewirken, 
sondern Besserung; er solle seinen Zuhörern die sittliche Arznei 


οὐ γὰρ δὴ φιλοσοφεῖν ἕτερόν τι φαίνεται ὃν ἢ τὸ ἃ πρέπει χαὶ ἃ προςήχει λόγῳ μὲν 
ἀναζητεῖν ἔργῳ δὲ πράττειν. 

1) Floril. 79, 51: τὸ δέ γε εἶναι ἀγαθὸν τῷ φιλόσοφον εἶναι ταὐτόν ἐστι. 
Aehnlich 48, 67: der gute Fürst sei nothwendig Philosoph und der Philosoph 
eigne sich nothwendig zum Fürsten. Vgl. S. 655, 3. 

2) Α. ἃ. 0.56, 18. 8. 338 f. Muson. führt hier aus, dass der Beruf des 
Landmanns für den Philosophen vorzugsweise passe. 

3) A. a. O. 29, 78, womit der Bericht des Lucius (s. ο. ὃ. 614) in den 
Exc. e Jo. Damasc. I, 7, 46 (Bd. IV, 162 f. Mein.) ganz übereinstimmt. 

4) Πάντες φύσει πεφύχαμεν οὕτως ὥστε ζῆν ἀναμαρτήτως χαὶ χαλῶς ..... φυσι- 
χὴν εἶναι ὑποβολὴν τῇ τοῦ ἀνθρώπου ψυχῇ πρὸς καλοχἀγαθίαν χοὶ σπέρμα ἀρετῆς 
ἑχάστῳ ἡμῶν Eveivar, wie diess b. ὅτοβ. ΕΚ]. II, 426 f. daraus bewiesen wird, 
dass die Gesetze von Allen ein sittliches Verhalten fordern, und Alle auf die 
Ehre eines solcben Anspruch machen. Vgl. hiezu S. 207,1. 

5) Sros, Floril. Exe. e Jo. Dam. II, 13, 125 (IV, 217 ff. M.). 


Aufgabe der Philosophie. 657 


geben, deren sie bedürfen; wenn er diess in der rechten Art 
thie, so werden sie nicht Zeit haben, seinen Vortrag zu bewun- 
dern, sondern sie werden ganz mit sich selbst und ihrem Gewis- 
sen beschäftigt, von Gefühlen der Schaam, der Reue, der Erhe- 
bung erfüllt sein 1). In diesem Sinn suchte er selbst auf seine 
Schüler zu wirken: er sprach ihnen so eindringlich an’s Herz, 
dass jeder Einzelne sich persönlich getroffen fühlte 9), er er- 
schwerte ihnen den Eintritt in seine Schule, um die kräftiger an- 
gelegten’ Naturen von den schwächeren und weichlicheren zu 
scheiden 5). er suchte durch den Gedanken an das Schwere, was 
ihnen das Leben bringen werde, ihre Willenskraft zu stählen 4): 
und wir werden gerne glauben, dass der Einfluss eines solchen 
Unterrichts auf den Charakter derer, die ihn genossen, ein sehr 
bedeutender und nachhaltiger gewesen ist. Aber wir werden nicht 
erwarten, dass ein Philosoph, _welcher die wissenschaftlichen 
Aufgaben gegen die praktische Einwirkung so entschieden zurück- 
stellte, sich durch neue Gedanken, oder auch nur durch die tie- 
fere Begründung und die folgerichtige Durchführung einer schon 
bestehenden Lehre auszeichnen werde. Wenn wir daher auch in 
den meisten von den Bruchstücken des Musonius die Reinheit der 
Gesinnung und die Richtigkeit des sittlichen Urtheils anerkennen 
müssen, so können wir doch ihren wissenschaftlichen Werth nicht 
hoch anschlagen. Das Meiste darin ist nur eine Anwendung der 
bekannten stoischen Grundsätze, welche mitunter so tief in's Ein- 
zelne geht, dass der Philosoph, nach dem Vorgang des Chrysip- 
pus, selbst Vorschriften über den Haar- und Bartwuchs nicht zu 
gering findet °); in einzelnen Punkten: werden diese Grundsätze 


1) Bei Gert. N. A. V, 1. Epıkr. Diss. III, 23, 29. 

2) Erızr. a. a. O. τοιγαροῦν οὕτως ἔλεγεν, ὥσθ᾽ ἕχαστον ἡμῶν χαθήμενον 
ὑΐεσθαι ὅτι τίς ποτε αὐτὸν διαβέβληχεν- οὕτως ἥπτετο τῶν γινομένων, οὕτω πρὸ 
ὀφθαλμῶν ἐτίθει τὰ ἑκάστου χαχά. 

3) Ebd. II, 6, 10. 

4) Ebd. I, 9, 29: οὕτω χαὶ “Ῥοῦφος πειράζων με εἰώθει λέγειν - συμβήσετά! σοί 
τοῦτο καὶ τοῦτο ὑπὸ τοῦ δεσπότου. κἀμοῦ πρὸς αὐτὸν ἀποχριναμένου, ὅτι ἀνθρώπινα" 
τί οὖν, ἔφη, ἐχεῖνον παραχαλῶ (dich besser zu behandeln), παρὰ σοῦ αὐτὰ λαβεῖν 
δυνάμενος: 

5) Floril. 6, 62, wo Mus., wie früher Chrysippus (8. o. 256, 1), gegen das 
Haar- und Bartscheeren eifert. 

Philos. ἃ. Or. III. Bd. 1. Abth. ° 42 


653 Musonius. 


überspannt, Musonius geht über die Grenzen des Stoieismus hin- 
aus, und nähert sich theils der cynischen Einfachheit, theils auch 
der neupythagoreischen Ascese; in anderen Fällen sehen wir ihn 
aber auch aus denselben so reine und zugleich so humane Vor- 
schriften ableiten, wie sie selbst in der stoischen Schule nicht all- 
gemein waren. Als sein leitender Gedanke erscheint die innere 
Freiheit des Menschen. Diese ist aber an zwei Bedingungen ge- 
knüpft: die richtige Behandlung dessen, was in unserer Gewalt 
ist, und die Ergebung in das, was nicht in unserer Gewalt ist. 
In unserer Gewalt ist die Verwendung unserer Vorstellungen, und 
darauf beruht alle Tugend und Glückseligkeit. Alles Uebrige ist 
. nicht in unserer Gewalt, dieses sollen wir daher dem Weltlauf an- 
heimgeben, und was er auch bringe, uns willig gefallen lassen ?). 
Von diesem Standpunkt aus beurtheilt Musonius den Werth der 
Dinge; er erklärt mit seiner Schule die Tugend für das einzige 
Gut, die Schlechtigkeit für das einzige Uebel, alles Andere dage- 
gen, Reichthum und Armuth, Lust und Schmerz, Leben und Tod 
für gleichgültig ?); er verlangt, dass wir uns gegen die Leiden 
des Lebens nicht durch äussere Mittel, sondern durch Erhebung 
über das Aeussere und Gleichgültigkeit gegen das Aeussere schü- 
izen ὅ); dass wir z. B. die Verbannung für kein Uebel ansehen, 
sondern uns in der ganzen Welt heimisch fühlen *), dass wir den 


- Ν 


1) Stop. Ekl. II, 356: τῶν ὄντων τὰ υὲν ἐφ᾽ ἡμῖν ἔθετο ὃ θεὸς τὰ δ᾽ οὔ. ἐφ᾽ 
ἡμῖν μὲν τὸ χάλλιστον χαὶ σπουδαιότατον, ᾧ δὴ χαὶ αὐτὸς εὐδαίμων ἐστὶ, τὴν χρῆσιν 
τῶν φαντασιῶν. τοῦτο γὰρ ὀρθῶς γιγνόμενον ἐλευθερία ἐστὶν εὔροια εὐθυμία εὐστάθεια, 
τοῦτο δὲ χαὶ δίχη ἐστὶ χαὶ νόμος καὶ σωφροσύνη χαὶ ξύμπασα ἀρετή. τὰ δ᾽ ἄλλα 
πάντα οὐχ ἐφ᾽ ἡμῖν ἐποιήσατο. οὐχοῦν χαὶ muss συμψήφους χρὴ τῷ θεῷ γενέσθαι χαὶ 
ταύτῃ διελόντας τὰ πράγματα τῶν μὲν ἐφ᾽ ἡμῖν πάντα τρόπον ἀντιποιεῖσθαι, τὰ δὲ μὴ 
ἐφ᾽ ἡμῖν ἐπιτρέψαι τῷ χόσμῳ,, χαὶ εἴτε τῶν παίδων δέοιτο εἴτε τῆς πατρίδος εἴτε τοῦ 
σώματος εἴτε ὁτουοῦν, ἀσμένους παραχωρέϊν. Vgl. Floril. 7, 23 (μὴ δυςχέραινε ταῖς 
περιστάσεσιν); ebd. 108, 60, wo aus dem Gedanken an die Nothwendigkeit des 
Weltlaufs und des Wechsels aller Dinge die Nutzanwendung gezogen wird, die 
Bedingung eines harmonischen Lebens sei das ἑχόντα δέχεσθαι τἀναγχαῖα. 

2) Floril. 29, 78. 5. 15 vgl. Gerı. N. A. XVI, 1. 

3) 8. ο. 657, 4. 

4) M. vgl. die ausführliche Erörterung Sros. Floril. 40, 9, welche schliess- 
lich in den Satz ausläuft: da die Verbannung dem Menschen keine der vier 
Tugenden ranbe, so raube sie ihm überhaupt kein wirkliches Gut; den Guten 
könne sie mithin nicht beschädigen, den Schlechten beschädige nicht sie, 


sondern seine Schlechtigkeit. 


Ethik. 659 


Tod nicht suchen und ihm nicht ausweichen 1). Um aber diese 
Stärke der Gesinnung zu erreichen, bedarf der Mensch nicht allein 
der anhaltendsten sittlichen Uebung und der unausgesetzten Auf- 
merksamkeit auf sich selbst ?), sondern auch der leiblichen Abhär- 
tung ?). Musonius ermahnt uns daher, körperliche Anstrengun- 
gen, Entbehrungen und Beschwerden jeder Art ertragen zu ler- 
nen 4), er will uns in Nahrung, Kleidung und häuslicher Einrich- 
tung so viel als möglich auf den Naturzustand zurückführen °), ja 
er geht so weit, dass er mit Sextius und den Neupythagoreern von 
allem Fleischgenuss abräth, weil dieser für den Menschen nicht 
naturgemäss sei, und weil er auch, wie er meint, trübe Dünste 
erzeuge, welche die Seele verdunkeln und die Denkkraft schwä- 
chen ©). Auf der andern Seite kann er es aber doch nicht gut 
heissen, wenn manche Stoiker die Unabhängigkeit des Weisen so 
weit treiben, dass sie selbst von der Ehe abmahnten; vielmehr 
ist er ein warmer Lobredner einer so naturgemässen und in siti- 
licher Beziehung so wohlthätigen Gemeinschaft, und giebt für sie 
sehr reine und gesunde Vorschriften ”). Noch entschiedener wi- 
dersetzt er sich den unsittlichen Abwegen, welche die älteren 
Stoiker nicht unbedingt ausgeschlossen hatten, indem er alle Un- 


1) Vgl. S.285,4. Damit stimmt es überein, wenn Mus. bei Erıkter Diss. 
I, 1, 26 ἢ, den Thrasea tadelt, dass er lieber zu sterben, als verbannt zu sein 
wünschte, da man weder das Schwerere statt des Leichteren wählen dürfe, 
noch das Leichtere statt des Schwereren, sondern die Pflicht habe, ἀρχεῖσθαι 
τῷ δεδομένῳ. Ebenso passt es aber auch für ihn, wenn er, wie Tacır. Ann. 
XIV, 59 mit einem ferunt angiebt, den Rubellius Plautus abhielt, sich durch 
einen Aufstand der ihm von Nero drohenden Ermordung zu entziehen. 

2) Vgl. Sroz. Floril. 29, 78 und das Wort b. Gern. N. A. XVII, 2,1: 
remittere animum quasi amittere est. 

3) Denn der Leib, sagt er bei Sroe. a. ἃ. O., müsse zum brauchbaren 
Werkzeug des Geistes gemacht werden, und mit ihm werde auch die Seele 
gekräftigt. 

4) Stop. a. ἃ. 0. 

5) ὅτοβ. Floril. 1, 84. 18, 38. 85, 20. 94, 23. 

6) Ebd. 17, 43, 5. o. 654, 1. 

7) Ebd. 67, 20. 69, 23. 70,14. Er selbst war verheirathet: nach Prın. 
ep. III, 11 (wo doch wohl, wie bemerkt, unser Musonius gemeint ist) war 
Artemidorus (s. o. 5. 613) sein Schwiegersohn, und in dem Programm Anthol, 
lat. 1, 79 (Bd. I, 57 Burm.) nennt sich Festus Avienus: Musont soboles, lareı 
cretus Volsiniensi. 


42 ὃ 


660 Musouius. 


zucht, in und ausser der Ehe '), und ebenso die im Alterthum so 
verbreitete, selbst von Plato und Aristoteles gebilligte Sitte der 
Abtreibung und Aussetzung von Kindern ?), bekämpft. Die milde - 
Gesinnung, welche ihn hierin leitet, spricht sich auch in dem Satz 
aus, dass es des Menschen unwürdig sei, sich für Beleidigungen 
zu rächen; theils weil solche Verfehlungen in der Regel aus Un- 
wissenheit entspringen, theils weil der Weise nicht wirklich ver- 
letzt werden könne, und nicht das Erleiden, sondern das Begehen 
des Unrechts für ein Uebel und eine Schande zu halten sei). Wenn 
. er jedoch mit diesem Grundsatz auch die gerichtliche Klage wegen 
Verletzungen ausschliessen will, so erkennt man auch hierin die 
Einseitigkeit eines Standpunkts, für welchen die Erhebung über 
das Aeussere in Gleichgültigkeit gegen dasselbe und Verkennung 
seines Zusammenhangs mit dem Innern umsehlägt. 

An Musonius schliesst sich sein berühmter Schüler Epiktet 
an, ein Phrygier, der unter Nero und seinen Nachfolgern in Rom 
lebte, unter Domitian nach Nikopolis gieng, und unter Trajan’s 
Regierung gestorben zu sein scheint %). In den Reden dieses Philo- 


,. 1) Ebd. 6, 61. 

2) A.a. 0.75, 15. 84, 21. 

3) A. a. 0. 19, 16. 40, 9, Schl. 20, 61. 

4) Epiktet’s Vaterstadt war Hierapolis in Phrygien (Srın. Ἐπί). Er 
selbst war ein Sklave des Epaphroditus, des Freigelassenen Nero’s (Scıp. 
Erıxr. Diss. I, 19, 19 fi. vgl. I, 1, 20. I, 26,11. Gert. N. A. II, 18,10. Macro. 
Sat. I, 11, 45. Sımer. in Epiet. Enchirid. e. 9, S. 102 Heins.), schwächlichen 
Körpers und lahm (Sımer. a. a. O. vgl. Epikt. Enchir. 9. Cersus b. Orıc. c. 
Cels. VII,7. Scın. u.A.; nach Simpl. war er von Jugend auf lahm, nach Suid. 
wurde er es durch Krankheit, nach Celsus durch Misshandlung von Seiten 
seines Herrn, der ihn freilich, auch nach dem 8. 657, 4 Angeführten, hart 
behandelt haben mag), und lebte in tiefer Armuth (Sısrr. a. a. O. und zu 
c. 35, 7.8.272. Macro. ἃ. ἃ. Ο.). Noch als Sklave hörte er Musonius (Erıkr. 
Diss. I,7,32. 9,29. IlL,6,10. 23,29). In der Folge muss er frei geworden sein. 
Unter Domitian musste mit den übrigen Pbilosophen (s. o. 607, 2, Schl.) auch 
Epiktet Rom verlassen (Gerr. N. A. XV, 11, 5. Lucıas. Peregr. 18); er begab 
sich nach Nikopolis in Epirus (Gerı. a. a. O. Sum.), wo ihn Arrian hörte 
(Erıkr. Diss. II, 6, 20. I, praef.). Nach Suıp. und Trexiısr. or. V, 63 hätte er 
bis unter Mark Aurel’s Regierung gelebt; diess ist aber chronologisch unmög- 
lich. Selbst Srartıan’'s Angabe (Hadr. 16), dass Hadrian in summa familiari- 
tate mit ihm verkehrt habe, ist verdächtig, da Hadrian’s Regierungsantritt 
(117 n. Chr.) von der Zeit, in welcher Epiktet den Musonius in Rom gehört 


Epiktet. 661 


sophen, welche sein Bewunderer Arrianus 1) aufgezeichnet hat ?), 
wird die Aufgabe der Philosophie gleichfalls durchaus auf ihre 
sittliche Wirkung beschränkt. Philosophiren heisst nach Epiktet: 


haben kann, um mehr als 50 Jahre entfernt ist; doch kann es immerhin seiu, 
dass seine letzten Lebensjahre noch auf Hadrian berabreichen. Er selbst er- 
wähnt Diss. IV, 5, 17 vgl. III, 13, 9 Trajan’s. Von dem Ansehen, in dem 
Epiktet bei Zeitgenossen und Späteren stand, zeugt u. A. Geıxnıus, welcher 
ihn II, 18, 10 phülosophus nobilis, XVII, 19, 4 maimus phiosophorum nennt, 
und M. Aurer.. (xp. ἕαυτ. 1, 7), der seinem Lehrer Rustieus noch im Alter da- 
für dankt, dass er ihn mit Epiktet’s Denkwürdigkeiten bekannt gemacht habe. 
Weiter vgl. m. Lucıan. adv. Ind. 13 (welcher von einem Bewunderer Epiktet's 
erzählt, der seinen irdenen Leuchter um 3000 Drachmen erstand). Sınrı. in 
Enchir. Praef. S. 6 f. und viele Andere. 

1) Flavius Arrianus (den Namen Flavius bezeugt Dıo Cass. LXIX, 15) 
war in dem bithynischen Nikomedien geboren und aufgewachsen, wo er auch 
Priester der Demeter und Kore war (Arrian. b. Pnor. Cod. 93). Unter Trajan 
treffen wir ihn bei Epiktet in Nikopolis (vor. u. folg. Anm., vgl. Lucıax. 
Alex. 2 u. A.); unter Hadrian, um 133 n. Chr., hält er als Präfekt von 
Kappadocien die feindseligen Albaner im Zaum (Dıo Cass. a. a. O.). In 
der Folge stieg er bis zum Consulat auf (Pnor. c0d.58. Sum.); ἀνὴρ Ῥωμαίων 
ἐν τοῖς πρώτοις nennt ihn auch Lucıan. Alex. 2. Schon hieraus sieht man, dass 
er, obwohl einer nikomedischeu Familie angehüörig (Pnor. cod. 58), das römi- 
sche Bürgerrecht besass, mag nun er selbst oder einer seiner Vorfahren (etwa 
von einem der flavisehen Kaiser) dasselbe erhalten haben. Auch athenischer 
Bürger war er, und wurde nach dem Manne, dem er als Schriftsteller und 
Feldherr nacheiferte, Ξενοφῶν oder νέος Zev. genannt (Arrıan. De venat. 1, 4. 
5,6. Puor. a. a. Ὁ. Srin.). Nach Pnor. a. a. Ὁ. und Suıp. hätte er bis unter 
Mark Aurel gelebt, Ueber seine Schriften vgl. Farrıc. Biblioth. V, 91 ff. Harl. 
Müuver Fragm. Hist. gr. III, 586. Der Arrian, dessen Meteorologie öfters 
angeführt wird, ist nicht der Stoiker; vgl. Ivener Arist. Meteor. I, 138. 

2) Es sind diess die Διατριβοὺ und das "Eyysiziötov. Die ersteren schrieb 
Arrian, wie er im Vorwort bemerkt, nach Epiktet’s Vorträgen, zunächst zu 
eigenem Gebrauch, möglichst wortgetreu nieder und veröffentlichte sie erst, 
als ohne sein Zuthun Abschriften davon genommen worden waren. Das 
„Handbuch“ stellte er später, zum Theil aus den Dissertationen, zusammen 
(Sımer.. in Epiet. Man. praef. Anf. nach einem Brief Arrian’s an Massalenus). Auch 
über das Leben und das Ende Epiktet’s hatte er geschrieben (Sınrı.. a. a. O.). 
Die letztere Schrift ist wohl mit den 12 Büchern "Ouiia: "Ertzritov, welche 
Pnor.Cod.58 nennt, identisch, von den 8 Büchern der Διατριβαὶ, die derselbe 
angiebt, haben wir noch vier und aus den übrigen zahlreiche Bruchstücke, 
meist bei Stobäus. Ich führe Arrian’s Schriften über Epiktet einfach unter 
Epiktet's Namen an, Dass er selbst Vieles geschrieben habe (Svin.), ist oflun- 
bar falsch. 


662 Epiktet. 


lernen, was zu begehren oder zu meiden ist !). Der Anfang der 
Philosophie ist das Bewusstsein der eigenen Schwäche und Hülfs- 
bedürftigkeit: wer gut werden soll, der muss erst überzeugt sein, 
dass er schlecht sei?). Der Philosoph ist ein Arzt, zu dem nicht 
die Gesunden kommen, sondern die Kranken 5); er soll seine 
Schüler nicht blos belehren, sondern er soll ihnen helfen, er soll 
sie heilen; was nützt es da, seine Gelehrsamkeit vor ihnen zu zei- 
gen, Lehrsätze, und wenn sie noch so wahr sind, zu entwickeln, 
durch Proben des Scharfsinns sie zum Beifall fortzureissen? Das 
Wichtigste und Nothwendigste ist vielmehr, dass er ihnen in’s Ge- 
wissen rede, dass er sie zum Gefühl ihres Elends und ihrer Unwis- 
senheit bringe, dass er den ernsten Entschluss zur Besserung in 
ihnen hervorrufe, dass er sie nicht in ihren Meinungen, sondern 
in ihrem Verhalten, zu Philosophen mache 2). dass er mit Einem 


1) Diss. III, 14, 10: χαὶ σχεδὸν τὸ φιλοσοφεῖν τοῦτ᾽ ἔστι, ζητέϊν πῶς ἐνδέχεται 
ἀπαραποδίστως ὀρέξει χρῆσθαι καὶ ἐχχλίσε:, 

2) Diss. II, 11, 1: ἀρχὴ φιλοσοφίας παρά γε τοῖς ὡς BEL χαὶ κατὰ τὴν θύραν 
fnicht: θήραν! ἁπτομένοις αὐτῆς συναίσθησις τῆς αὐτοῦ ἀσθενεί ME rar ἀδυναμίας περὶ 
τὰ ἀναγκαῖα. Fr. 3 (ὅτοΒ. Floril. 1, 48): εἰ βούλει ἀγαθὸς εἶναι, πίστευσον ὅτι 
χαχὺς εἴ. Vgl. Seneca, oben 8. 644, 5. 

3): Diss. III, 23, 30: ἰατρέϊόν ἐστιν, ἄνδρες, τὸ τοῦ φιλοσόφου σχολέξίον- οὐ 
δεῖ ἡσθέντας ἐξελθεῖν, ἀλλ᾽ ἀλγήσαντας. ἔρχεσθε γὰρ οὐχ ὑγιεῖς τι. 5. w. Vgl. Fr.17 
(ὅτοβ. Flor. IV, 94) und Musonius, oben . 655, 2. 657, 1. 

4) Diss. III, 23, 31 fährt Epikt. fort: Ihr kommt nicht als Gesunde, ἀλλ᾽ 

μὲν ὦμον ἐχβεβληχὼς, ὃ δ᾽ ἀπόστημα ἔχων, ὃ δὲ σύριγγα ΩΝ ὃ δὲ χεφαλαλγῶν. 
πὸ ἐγὼ καθίσας ὑμῖν me γοημάτια χαὶ een γος W’ ὑμεῖς ἐπαινέσαντές με 
ἐξέλθητε, ὃ μὲν τὸν ὦμον ἐχφέρων οἷον εἰςήνεγχεν, ὃ δὲ τὴν χεφαλὴν ὡςαύτως ἔχου- 
σαν; u: 58. w. Und desshalb sollen die jungen Leute weite Reisen machen, 
Eltern und Angehörige verlassen, ihr Vermögen aufwenden, um deinen schönen 
Redensarten Beifall zuzurufen? (Ebenso III, 21, 8.) τοῦτο Σωχράτης ἐποίει: 
τοῦτο Ζήνων: τοῦτο Κλεάνθης: Aehnlich, um andere Aeusserungen zu über- 
gehen, II, 19. Epiktet lässt sich hier fragen, was er vom χυριεύων (s. Bd. II, a. 
192, 4) halte? und er antwortet, er habe sich noch keine Ansicht darüber 
gebildet, aber er wisse, dass sehr viel darüber geschrieben sei. Ob er Anti- 
pater’s Schrift darüber gelesen habe? Nein, und er wolle sie auch nicht lesen; 
was denn der Leser davon habe? Φλυαρότερος ἔσται χοὶ ἀχαιρότερος, ἢ νῦν ἐστι. 
Solche Dinge seien gerade so viel wert, als die Gelehrsamkeit der Gramma- 
tiker über Helena und die Insel der Kalypso. Aber auch mit den ethischen 
Lehren verhalte es sich in der Regel nicht anders. Man erzähle einander die 
Grundsätze eines Chrysippus und Kleanthes, wie man sich eine Geschichte 
aus Hellanikus erzähle; wenn man aber einen dieser Philosophenschüler 


Aufgabe der Philosophie. Logik. 663 


Wort jenen tiefen sittlichen Eindruck auf sie hervorbringe, den 
Epiktet selbst von Musonius erfahren hatte, und den ebenso seine 
Schüler von ihm erfuhren 1). z 

Auf diesem Standpunkt konnte natürlich auch Epiktet dem 
theoretischen Wissen als solchem nur einen sehr untergeordneten 
Werth beilegen; und es musste diess vor Allem von dem Theile 
der Philosophie gelten, welcher mit der Ethik anerkanntermaassen 
in dem entferntesten Zusammenhang stand, von der Logik. Die 
Hauptsache in der Philosophie ist die Anwendung ihrer Lehren; 
dieser zunächst steht der Beweis derselben; erst in dritter Reihe 
kommt die Lehre vom Beweis, die wissenschaftliche Methodik, denn 
diese ist nur um der Beweise, und die Beweise sind nur um der 
Anwendung willen nöthig 5). So nützlich und unentbehrlich da- 


während eines Schiffbruchs oder eines Verbörs vor dem Kaiser daran erinnern 
wollte, dass Tod und Verbannung kein Uebel seien, würde er es für eine em- 
pörende Verhöhnung halten. Was denn aber eine solche Philosophie nütze? 
Die That müsse zeigen, zu welcher Schule Einer gehöre. Aber da erweisen 
sich die meisten, welche sich Stoiker nennen, vielmehr als Epikureer, oder 
höchstens als Peripatetiker der schlafisten Art. Zrwixov δὲ δείξατέ μοι, εἴ τινα 
ἔχετε .... δείξατέ μοι τινὰ νοσοῦντα χαὶ εὐτυχοῦντα, κινδυνεύοντα χαὶ εὐτυχοῦντα 
5 


‚ » 4. ὃ - - - 
u.8. w. ψυχὴν δειξάτω τις ὑμῶν ἀνθρώπου θέλοντος ὁμογνωμονῆσαι τῷ θεῷ ... 


μὴ ὀργισθῆναι, μὴ φθονῆσαι... θεὺν ἐξ ἀνθρώπου ἐπιθυμοῦντα γενέσθαι... δείξατε. 
ἀλλ᾽ οὐχ ἔχετε. τί οὖν αὑτοῖς ἐμπαίζετε; ἃ.5.γγ. καὶ νῦν ἐγὼ μὲν παιδευτής εἶμι ὑμέτερος" 
ὑμεῖς δὲ παρ᾽ ἐμοὶ παιδεύεσθε. Meine Absicht ist, ἀποτελέσαι ὑμᾶς ἀχωλύτους, 
ἀναναγχάστους, ἀπαραποδίστους, ἐλευθέρους; εὐροοῦντας, εὐδαιμονοῦντας, εἰς τὸν θεὸν 
ἀφορῶντας ἐν παντὶ μιχρῷ χαὶ μεγάλῳ. Eure Absicht ist, diess zu lernen. διὰ τί 
οὖν οὐχ ἀνύεται: εἴπατέ μοι τὴν αἰτίαν. Es kann nur an euch oder an mir liegen, 
oder auch an beiden. τί οὖν; θέλετε ἀρξώμεθά ποτε τοιαύτην ἐπιβολὴν χομίζειν 
ἐνταύθα- τὰ μέχρι νῦν ἀφῶμεν" ἀρξώμεθα μόνον, πιστεύσατέ por χαὶ ὄψεσθε. Ein 
weiteres Beispiel von der Art, wie Epiktet seine Schüler ermahnte, giebt 
Diss. I, 9, 10— 21, 

1) Ueber Musonius vgl. S. 657; über Epiktet Arrran. Diss. Praef. 
5 ἴ: ἐπὲι χαὶ λέγων αὐτὸς οὐδενὸς ἄλλου δῆλος ἣν ἐφιέμενος, ὅτι μὴ χινῆσαι τὰς 
γνώμας τῶν ἀχουόντων πρὸς τὰ βέλτιστα. Sollten seine Reden in Arrian’s Autf- 
zeichnung diess nicht leisten: ἀλλ᾽ ἐχεῖνο ἴστωσαν ol ἐντυγχάνοντες, ὅτ:, αὐτὸς 
ὁπότε ἔλεγεν αὐτοὺς, ἀνάγχη ἦν τοῦτο πάσχειν τὸν ἀχροώμενον αὐτοῦ, ὅπερ ἐχέϊνος 
αὐτὸν παθεῖν ἠβούλετο, 

2) Man. c. 52. Anderswo (Diss. III, 2. II, 17, 15f. .29 £. 8. o. 190, 1) 
unterscheidet Epiktet drei Aufgaben der Philosophie: das Erste und Noth- 
wendigste ist, dass sie uns von Affekten frei macht, das Zweite, dass sie uns 
unsere Pflichten kennen lehrt, das Dritte, dass sie unsere Ueberzeugungen 


664 Epiktet. 


her die Logik auch sein mag, um uns vor Täuschungen zu bewah- 
ren, und so notwendig immerhin Genauigkeit und Gründlichkeit 
auch in ihr ist 1), so wenig ist sie doch Selbstzweck: nicht darauf - 
kömmi es an, dass wir den Chrysippus zu erklären und dialekti- 
sche Schwierigkeiten zu lösen wissen, sondern darauf, dass wir 
den Willen der Natur kennen und befolgen, dass wir in unserem 
Thun und Lassen das Richtige ireffen 5): der alleinige unbedingte 
Zweck ist die Tugend, ein Werkzeug in ihrem Dienste die Dia- 
lektik 9); die Kunst der Rede ohnedem nur ein untergeordnetes 
Hülfsmittel, welches mit der Philosophie als solcher gar nichts zu 
“schaffen hat). Diesen Grundsätzen gemäss scheint sich auch 
Epiktet mit dialektischen Fragen nicht viel beschäftigt zu haben; 
wenigstens enthalten die schriftlichen Denkmale seiner Lehre keine 
einzige logische oder dialektische Erörterung. Selbst die Zurück- 
weisung der Skepsis macht ihm geringen Kummer: er erklärt es 
für die grösste Verstocktheit, augenscheinliche Dinge zu läugnen; 
er meint, er habe nicht Zeit, sich mit solchen Einwendungen her- 
umzuschlagen, er für seine Person habe noch nie einen Besen 
ergriffen, wenn er ein Brod nehmen wollte; er findet, dass es die 
Skeptiker ebenso machen, dass sie gleichfalls den Bissen in den 
Mund stecken, und nicht in die Augen); er hält ihnen höchstens 
den alten Einwurf entgegen, dass sie die Möglichkeit des Wissens 
nicht läugnen können, ohne seine Unmöglichkeit zu behaupten °). 
Von der eigentlichen Bedeutung der Skepsis und von der Noth- 
wendigkeit ihrer wissenschaftlichen Widerlegung hat er keine 
Ahnung. Ebensowenig ist es ihm um naturwissenschaftliche For- 
schung zu thun, vielmehr stimmt er ausdrücklich dem Satze des 
Sokrates bei, dass die Untersuchung über die letzten Bestand- 


durch unumstössliche Beweise befestigt; und er dringt darauf, dass man sich 
mit diesem letzten Punkt nicht cher befasse, als bis man mit den zwei ersten 
im Reinen sei. 

1) Diss. I, 7. ec. 17. I, 25. 

2) Diss. I, 4, 5 ff. II, 17,27 M. I, 2. e. 21, 1. I1)19 (8. vor. Ann.) 
e. 18, 17 ἢ. Man. 46. 

3) Diss. I, 7, 1. Man. 52. 

4) Diss. I, 8, 4 fl II, 23. 

5) 1,5. 27, 15 fl. II, 20, 28. 

6) 11, 20, 1 M, 


Logik. Die Welt und die Gottheit. 6653 


theile und Gründe der Dinge unser Vermögen übersleige, und 
keinenfalls einen praktischen Werth hätte 1). Setzt er daher auch 
im Allgemeinen die stoische Weltansicht voraus, so hat er doch 
nicht allein keine eigenen Untersuchungen in diesem Gebiete an- 
gestellt, sondern auch ia der Lehre seiner Schule sind es nur we- 
nige Punkte, nur die allgemeinen Grundlagen der stoischen Welt- 
anschauung, und insbesondere die theologischen Bestimmungen, die 
seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Er ist erfüllt von dem Ge- 
danken an die Gottheit, die unsere Reden und Gesinnungen kennt, 
von der alles Gute herkommt, in deren Dienst der Philosoph 
steht, ohne deren Auftrag er nicht an sein Werk gehen, die er un- 
ablässig vor Augen haben soll ?). Er beweist das Walten der 
_Vorsehung aus der Einheit, der Ordnung und dem Zusammenhang 
des Weltganzen); er rühmt die väterliche Fürsorge Gottes für die 
Menschen, die sittliche Vollkommenheit, die ihn zum Vorbild für 
uns macht ἢ. Er erkennt in der Welt das Werk der Gotiheit, 
welche Alles auf's Beste eingerichtet, das Ganze fehlerlos und 
vollkommen, alle seine Theile dem Bedürfniss des Ganzen ent- 
sprechend gebildet, welche alle Menschen zur Glückseligkeit be- 
stimmt, und mit den Bedingungen derselben ausgerüstet hat °); 
er feiert im Geist seiner Schule die Zweckmässigkeit der Weitein- 
richtung, die uns auf jedem Schritte, wie er sagt, so augenschein- 
lich entgegentritt, dass unser ganzes Leben ein unablässiger Lob- 
gesang auf die Gottheit sein sollte °), und er verschmäht es nicht, 


1) Fr. 75 (Stor. Flor. 80, 14): τί μοι μέλει, φησὶ, πότερον ἐξ ἀτόμων, ἣ ἐξ 
ὁμοιομερῶν, ἢ ἐχ πυρὸς χοὶ γῆς συνέστηχε τὰ ὄντα; οὐ γὰρ ἀρχεὶ μαθεῖν τὴν οὐσίαν 
τοῦ ἀγαθοῦ χαὶ χαχοῦ τι. 5. w. τὰ δ᾽ ὑπὲρ ἡμᾶς γαίρειν ἐᾶν; ἅτινα τυχὸν μὲν ἀχατά- 
ληπτά ἐστιν ἀνθρωπίνη γνώμη" ξὲ δὲ καὶ τὰ μάλιστα θείη τις εἶναι χαταληπτὰ, ἀλλ᾽ 
οὖν τί ὄφελος χαταληφθέντων:; τ. 5. ἢ. Diese Erörterung giebt sich selbst aller- 
dings durch das φησὶν welches auch naclıher wiederholt wird, zunächst als Er- 
läuterung der sokratischen Ansicht; aber doch lässt sich nicht verkennen, dass 
Epiktet selbst diesen Standpunkt sich aneignet. 

2) Ich werde hierauf in der dritten Abtheilung dieses Abschnitts noch 
einmal zurückkommen; vorlänfig vgl. m. Diss. III, 22, 2. 23, 53. 21,18. II, 
14, 11. 18, 19. 19, 29. I, 16. 

3) Diss. I, 14. 16. Man. 31, 1. 

4) Diss. I, 6, 40. 9, 7. IL, 14, 11 A. 

5) Diss. IV, 7, 6. III, 24, 2£. 


6) Diss. I, 16. 


666 Epiktet. 


diese Zweckmässigkeit, mit ihr, selbst in dem Kleinsten und 
Aeusserlichsten aufzuzeigen 1); er lässt sich in seinem Glauben 
auch durch die scheinbaren Uebel und Ungerechtigkeiten in der- 
Welt nicht stören, da er von der Stoa auch diese mit der Voll- 
kommenheit Gottes und seiner Werke vereinigen gelernt hat?). 
Dieser Vorsehungsglaube wird aber von Epiktet ächt stoisch zu- 
nächst immer auf das Weltganze bezogen, auf das Einzelne dage- 
gen nur wiefern es durch den Zusammenhang des Ganzen bestimmt 
ist: wenn er uns zur Ergebung in den Willen der Gottheit er- 
mahnt, so fällt diess in seinem Sinne mit der Forderung, dass 
man sich in die Naturordnung finde, zusammen °); die Dinge, 
sagt er mit Musonius, können nicht anders geschehen, als sie ge- 
schehen, dem Wechsel, dem Gestirne und Elemente unterliegen, 
können wir uns nicht entziehen *), gegen die Weltordnung, der 
Alles dient und gehorcht, dürfen wir uns nicht auflehnen 5). So 
erwähnt er auch ausdrücklich der Lehre, in welcher es sich am 
Stärksten ausspricht, dass nichts Einzelnes mehr sei, als ein ver- 
schwindendes Moment im Flusse des Ganzen, der Lehre von der 
Weltverbrennung 5). Und wie sich Epiktet's religiöse Ueberzeu- 
gung nach dieser Seite an die Physik anschliesst, so schliesst sie 
sich andererseits, nach stoischer Sitte, an die Volksreligion an. 
Der stoische Pantheismus nimmt auch bei ihm den Polytheismus in 
sich auf: von dem göttlichen Urwesen sind die abgeleiteten Göt- 
terwesen zu unterscheiden ‘), und wenn Alles von göttlichen Kräl- 


1) Vgl. Diss. I, 16, 9 fi. und oben $. 159, 1, Schl. 

2) M. s. hierüber S. 161, 4. 164, 2. 671,5. 

3) Diss. I, 12, 15 £. 28£. II,5, 24. 6,9 ff. 

4) In dem schon ὃ. 169, 1. 653, 3 erwähnten Bruchstück, welches an- 
fängt: ὅτι τοιαύτη ἣ τοῦ χόσμου φύσις χαὶ ἦν χαὶ ἔστι χαὶ ἔσται" χαὶ οὐχ οἷόν τε ἄλλως 
γίγνεσθαι τὰ γιγνόμενα, ἢ ὡς νῦν ἔχει. 

5) Fr. 186 (ὅτοβ. Flor. 108, 60): πάντα ὑπαχούει τῷ χόσμῳ καὶ ὑπηρετεῖ, 
Erde, Meer, Gestirne, Pflanzen, Thiere, unser eigener Leib. Unser Urtheil 
allein darf sich ihm nicht widersetzen. χαὶ γὰρ ἰσχυρός ἐστ: χαὶ χρείσσων, χαὶ 
ἄμεινον ὑπὲρ ἡμῶν βεβούλευται, μετὰ τῶν ὅλων zart μᾶς συνδιοικῶν. Auch für 
Epiktet fällt also, wie für seine ganze Schule, Gott mit der Welt zusammen. 

6) Diss. III, 13, 4 ff., wo ähnlich, wie in der S$. 131, 2 angeführten Stelle 
Seneca’s, der Zustand des Zeus nach der Weltverbrennung geschildert wird. 

7) Daher Diss. IV, 12, 11: ἐγὼ δ᾽ ἔχω τίνι με δεῖ ἀρέσχειν, τίνι ὑποτετάχθα!:, 
ἐχεῖνον, 11, 17, 25: τῷ Alt... τοῖς ἄλλοις θεοῖς, 


᾽ 


τίν: πείθεσθαι. τῷ θεῷ Ra τοῖς μετ 


Die Welt und die Gottheit. Der Mensch. 667 


ten erfüllt ist, so ist auch Alles voll von Göttern und Dämonen )). 
Die Wohlthaten dieser Götter geniessen wir unablässig, in allem, 
was aus der Natur und was von anderen Menschen uns zufliesst; 
sie zu läugnen ist um so unverantwortlicher, je grösser der Scha- 
den ist, den man damit bei so Vielen anrichtet ?). Doch ist Epik- 
tet’s Verhältniss zur Volksreligion im Ganzen ein sehr freies: er 
berührt die Volksgötter verhältnissmässig nur selten und flüchtig, 
ohne sich auf die allegorische Mythendeutung seiner Schule weiter 
einzulassen, und redet statt dessen gewöhnlich nur im Allgemei- 
nen von den Göttern oder der Gottheit oder auch von Zeus; er 
hat zwar mit Sokrates den Grundsatz, die Götter dem Herkommen 
gemäss nach Kräften zu verehren °), aber er weiss dabei recht 
wohl} dass der wahre Gottesdienst in Erkenntniss und Tugend 
besteht %); die Fabeln über die Unterwelt, die Anbetung verderb- 
licher Wesen tadelt er °); und wenn er den Weissagungsglauben 
nicht antastet, so verlangt er doch, dass man die Weissagung 
entbehren könne, dass man ohne Furcht und Begierde, mit dem 
Erfolge zum voraus einverstanden, von ihr Gebrauch mache, dass 
man nicht erst die Wahrsager frage, wo es sich um Erfüllung 
einer Pflicht handelt °). 

Vom höchsten Werth ist Epiktet der Glaube an die Gottver- 
wandtschaft des menschlichen Geistes: der Mensch soll sich seiner 
höheren Natur bewusst werden, er soll sich als einen Sohn Got- 
tes, als einen Theil und Ausfluss der Gottheit betrachten, um aus 
diesem Gedanken das Gefühl seiner Würde und seiner sittlichen 
Verpflichtung, die Unabhängigkeit von allem Aeussern, die brü- 
derliche Liebe zu seinen Mitmenschen und das Bewusstsein seines 


und II, 13, 4 ff. neben Zeus auch Here, Athene, Apollo, überhaupt die Götter, 
welche die Weltverbrennung nicht überdauern. 

1) Diss. III, 13, 15: πάντα θεῶν μεστὰ χαὶ δαιμόνων. 

2) A.a. ©. III, 13, 32 ff. (vgl. S. 290, 4), wo als Beispiel der Götter, deren 
Läugnung Epikt. tadelt, ausdrücklich Demeter, Kore und Pluton genannt wer- 
den; unverkennbar behält sich aber der Stoiker dabei die herkömmliche Um- 
deutung dieser Götter in den φυσιχὸς λόγος vor. 

3) Man. 31,5. Α 

4) Man. 31, 1 vgl. Diss. II, 18, 19; s. 0. 290,1. 

ΒΡ 13, 15, I, 19,692) 16. 

6) Diss. II, 7. Man. 32. 


668 Epiktet. 


Weltbürgerthums zu schöpfen 1); und in demselben Sinne verwen- 
det Epiktet, nach der Art seiner Schule, auch die Vorstellung 
vom Dämon, indem er unter diesem eben nur das Göttliche im’ 
Menschen versteht 5). Dagegen suchen wir genauere anthropolo- 
gische Untersuchungen vergebens bei ihm: selbst eine Frage, wie 
die nach der Unsterblichkeit, wird nur flüchtig berührt, und wenn 
auch aus seinen Aeusserungen darüber hervorgeht, dass er, vom 
stoischen Dogma abweichend, auf eine persönliche Fortdauer nach 
dem Tode verzichtet hat, so finden sich doch auch wieder Aus- 
sprüche, die folgerichtig auf die entgegengesetzte Annahme füh- 
ren würden ὅ). Ebensowenig wird die Frage der Willensfreiheit 


1) 'Dise:\I, 3:'e49. δ. 12, 26. e. 13,3. 14, ΒΝ ΤΙ, ΒΡ ΡΗ 
vgl. 8.184, 2. 

2) Diss. I, 14, 12 ff, vgl. S. 297, 3. 

3) Epiktet's Ansicht über das Schieksal der Seele nach dem Tode ist 
sicht ganz leicht anzugeben. Einerseits behandelt er nämlich (worauf ich auclı 
au einem späteren Orte noch zurückkonımen werde) die Seele als ein Wesen, 
welches dem Leibe von Hause aus fremd, sich sehnt, ihn zu verlassen, und zu 
seinem Ursprung zurückzukehren. So Fr. 176 (Ὁ. M. Avker. IV, 41): Ψυχάριον 
et, βαστάζον νεχρόν, vgl. Diss. II, 19, 27: ἐν τῷ σωματίῳ τούτῳ τῷ νεχρῷ, ebd. 1, 
19, 9, namentlich aber Diss, I, 9, 10 ff. Er habe sich gedacht, sagt er hier sei- 
nen Schülern, sie würden, ἐπιγνόντες τὴν πρὸς τοὺς θεοὺς συγγένειαν, χαὶ ὅτι δεσμά 
τινα ταῦτα προτηρτήμεθα, τὸ σῶμα καὶ τὴν χτῆσιν αὐτοῦ...., diese Last abschütteln 
wollen, χαὶ ἀπελθεϊν rang τοὺς συγγενξῖς, sie würden ihm sagen: οὐχέτι ἀνεχόμεθα 
μετὰ τοῦ σωματίου τούτον δεδειχένοι... οὐχ... συγγενεῖς τινες τοῦ θεοῦ ἐσμεν κἀχεῖ- 
θεν ἐληλύθαμεν; ἄφες ἡμᾶς ἀπελθεῖν ὅθεν ἐληλύθαμεν" ἄφες λυθῆναί ποτε τῶν δεσμῶν 
τούτων er seinerseits würde sie zu ermahnen haben, dass sie den Ruf der Gott- 
heit abwarten; wenn dieser an sie ergehe, würde er ihnen zu sagen haben, τότ᾽ 
ἀπολύεσθε πρὸς αὐτόν. Nach diesen Aeusserungen müsste man annehmen, Epik- 
tet lasse die Seele mit Plato und der Mehrzahl der Stoiker nach-dem Tode in 
ein besseres Leben bei der Gottheit übergehen. Andere Stellen jedoch machen 
es zweifelhaft, ob er dabei an eine persönliche Fortdauer gedacht hat. Diss. 
1II, 13, 14 sagt er: wenn die Gottheit dem Menschen seinen Lebensunterhalt 
nicht mehr gewähre, so habe man diess so anzusehen, als ob sie die Thüre öfl- 
nete, und ihm zuriefe, zu kommen; und auf die Frage: wohin denn? lautet die 
Antwort: εἰς οὐδὲν δεινόν. ἀλλ᾽ ὅθεν ἐγένου, εἰς τὰ φίλα χαὶ συγγενῆ, εἰς τὰ στοιχεῖα. 
ὅσον ἦν ἐν σοὶ πυρὸς, εἰς πῦρ ἄπεισιν" ὅσον ἦν γηδίου, εἰς γήδιον ὅσον πνευματίου, εἰς 
da aber bei der Voraussetzung ihrer persönlichen Fortdauer diess gerade vor 
Allem gesagt sein müsste, so kann man nur schliessen, Epiktet lasse sie gleich- 
falls in die Elemente, Feuer und Luft, übergehen; als Pneuma, auch als Feuer, 
wird ja die Seele von den Stoikern allgemein beschrieben, und Epiktet wird 


Der Mensch. ° Ethik. 669 


genauer erörtert; indessen hat die Annahme, dass sich Epiktet 
von dem Determinismus seiner Schule nicht entfernte ), um 50 
mehr für sich, da er wiederholt einschärft,. alle Verfehlungen 
seien unfreiwillig, eine blosse Folge der unrichtigen Vorstellun- 
gen, denn es sei unmöglich, nicht zu begehren, was man für ein 
Gut hält 9. Wie dieser Determinismus mit den sitilichen Bedürf- 
nissen und Ermahnungen zu vereinigen ist, wird von unserem 
Philosophen nirgends angedeutet. 

Auch in der Ethik dürfen wir aber von Epiktet keine tiefer- 
gehenden Untersuchungen erwarten. Wer sich in der Philosophie 
auf das praktisch Nutzbare beschränken, die theoretische For- 
schung dagegen nur nebenher als Hülfsmittel für jenes betreiben 
will, dem fehlt es nothwendig auch für die Sittenlehre an der ei- 
gentlich wissenschaftlichen Grundlage und Behandlungsweise: es 
bleibt ihm daher nur übrig, sie in letzter Beziehung auf das un- 
mittelbare Bewusstsein zu gründen. So versichert denn auch Epik- 
tet mit seinem Lehrer Musonius, die allgemeinen sittlichen Begriffe 
und Grundsätze seien allen Menschen angeboren, und darüber 
seien auch alle einverstanden, aller Streit beziehe sich blos auf 
ihre Anwendung in gegebenen Fällen; die Philosophie solle diese 
natürlichen Begriffe nur entwickeln, und uns dazu anleiten, dass 
wir das Einzelne richtig darunter befassen, dass wir z. B. unter 
den Begriff des Guts nicht die Lust oder den Reichthum stellen 
u. 5. w. Dabei wird zwar anerkannt, dass jene angeborenen 


sich hierin von seiner Schule nicht getrennt haben; die Sehkraft, nach stoi- 
scher Lehre ein Ausfluss des nyswovızov, wird Diss. II, 23, 3 ausdrücklich als 
ein den Augen inwohnendes Pneuma bezeichnet. Die gleiche Ansicht ergiebt 
sich aus Diss. III, 24, 93: τοῦτο θάνατος, μεταβολὴ μείζων, οὐχ ἐχ τοῦ νῦν ὄντος εἷς 
τὸ μὴ ὃν, ἀλλ᾽ εἰς τὸ νῦν μὴ ὄν. οὐχέτι οὖν ἔσομαι: οὔκ" ἔση, ἀλλ᾽ ἄλλο τι, οὗ νῦν ὃ 
χόσμος χοείαν ἔχει. Hier wird wohl eine Fortdauer des Menschen behauptet, 
aber dieselbe ist keine persönliche, sondern nur eine Fortdauer seiner Sub- 
stanz, er wird ἄλλο τι, ein anderes Individuum. 

1) Es erhellt diess auch daraus, dass Epiktet den Vorzug des Menschen 
vor den Thieren nicht in den freien Willen setzt, sondern in das Bewusstsein 
(die δύναμις παραχολουθητιχὴ); Diss. I, 6, 12 ff. II, 8, 4 fl. 

2) I, 18, 1—7. 28, 1— 10. II, 26. III, 3, 2, III, 7,15. Mit dem Obigen 
streitet es nicht, wenn Epiktet auch wieder sagt (Fr>180 bei Gerz. XIX, 1; 5.0. 
74, 1), die Zustimmung sei Sache unsers freien Willens, denn das Gleiche be- 
haupteten die Stoiker überhaupt trotz ihres Determinismus, 


670 Epiktet. 


Begriffe für sich allein nicht ausreichen, dass in der Anwendung 
derselben die täuschende Meinung sich einmische; aber da über 
die allgemeinen Grundsätze selbst, wie Epiktet glaubt, kein Streit 
ist, so hofft er den Zwiespalt der sittlichen Vorstellungen in der 
einfachen sokratischen Weise, von dem allgemein Anerkannten 
ausgehend, durch kurze dialektische Erörterung zu lösen 5); die 
schulmässigen Beweisführungen, die systematische Behandlung der 
Ethik erscheinen ihm zwar nicht werthlos, sofern sie immerhin 
unsere Ueberzeugung befestigen, aber auch nicht unentbehrlich °). 

Wollen wir etwas näher auf den Inhalt von Epiktet’s Sitten- 
lehre eingehen, ‘so können wir als den Grundzug derselben das 
Bestreben bezeichnen, den Menschen durch Beschränkung auf sein 
sittliches Wesen frei und glücklich zu machen, woraus dann die 
doppelte Forderung hervorgeht, alle äusseren Erfolge mit unbe- 
dingter Ergebung zu ertragen, und allen auf das Aeussere ge- 
richteten Begierden und Wünschen zu entsagen. Das ist nach 
Epiktet der Anfang und die Summe aller Weisheit, dass wir zu 
unterscheiden wissen, was in unserer Gewalt ist, und was 
nicht in unserer Gewalt ist *), der ist ein geborener Philosoph 
welcher schlechthin nichts anderes begehrt, als frei zu leben, 
und sich vor keinem Begegniss zu fürchten 5). In unserer Ge- 
walt ist aber nur Eines, unser Wille, oder was dasselbe ist, 
nur der Gebrauch unserer Vorstellungen, alles Uebrige dagegen, 
wie es auch heissen möge, ist für uns ein Aeusseres, ein solches, 
das nicht in unserer Gewalt ist ©). Nur jenes darf daher einen 
Werth für uns haben, nur in ihm dürfen wir Güter und Uebel, 
Glück und Unglück suchen 77, und wir können es auch, denn 
alles Aeussere betrifft nicht unser Selbst ®), unsern Willen dage- 


1)u],/22, Δ δυῶν II, 11400. 17,218, 

2) A.d. a. O., besonders II, 11, und II, 12,5 £. 

3) Vgl. 3. 663, 2. 

4) Man. 1,1. 48, 1. Diss. I, 1, 21. 22,9 f. Vgl. was S. 658, 1 aus Epik- 
tet’s Munde von Musonius angeführt ist. 

5) Diss. II, 17, 29 vgl. I, 4, 18, 

6) Vgl. Anm. 4 und Man, 6. Diss. I, 25, 1, 12, 84, II,5,4£. II,3,1. 
14 ff. IV, 1,100 u. A. 

7) Vor. Anm. und Man. 19. Diss. Ill, 22, 38 Β΄. II, 1,4. I, 20,7 u. A. 

8) I, 1,21 ff. ©, 18, 17, 29, 24. II, 5,4. Man. c. 9 u. A. 


Ethik. 67 


gen, unser eigentliches Wesen, kann nichts in der Welt, ja nicht 
die Gottheit könnte ihn zwingen 1); nur auf dem Willen beruht 
aber unsere Glückseligkeit, nicht die äusseren Dinge als solche 
machen uns glücklich oder unglücklich, sondern allein unsere 
Vorstellungen von den Dingen, und nicht darauf kommt es an, 
wie sich unsere äussere Lage gestaltet, sondern nur darauf, wie 
wir unsere Vorstellungen zu beherrschen und zu gebrauchen wis- 
sen 3). So lange wir etwas ausser uns begehren oder meiden, 
hängen wir vom Glück ab; haben wir dagegen erkannt, was un- 
ser ist, und was nicht, beschränken wir uns mit unseren Wün- 
schen auf unsere eigene vernünftige Natur, richten wir unser 
Streben und Widerstreben ?) auf nichts, was nicht von uns selbst 
abhängt, dann sind wir frei und glückselig und kein Schicksal 
kann uns etwas anhaben: mag geschehen, was da will, so trifft 
es doch nie uns und das, wovon unser Wohl abhängt %). Und je 
vollständiger wir uns so in unserer Gesinnung von dem Aeusseren 
unabhängig gemacht haben, um so weniger werden wir uns auch 
der Einsicht verschliessen, dass alles, was geschieht, im Zusam- 
menhang der Dinge nothwendig, und insofern an seinem Orte 
naturgemäss ist, wir werden erkennen, dass sich an jedes Be- 
gegniss eine sittliche Thätigkeit anknüpfen und auch das Unglück 
als Bildungsmittel verwenden lässt; wir werden uns aus diesem 
Grunde in unser Schicksal unbedingt ergeben, das, was die Gott- 
heit will, für besser halten, als was wir wollen, und gerade darin 
uns frei fühlen, dass wir mit Allem, so wie es ist und geschieht, 
zufrieden sind: der Weltlauf wird unseren Wünschen entsprechen, 
weil wir ihn unverkürzt in unseren Willen aufgenommen haben 5}. 


1) I, 1, 23. 17, 27. II, 23, 19. III, 3, 10. 

2) Man. 5.16.20. Diss. I, 1, 7 ff. II, 1,4. c. 16, 24. III, 3,18. 26,34 f. u. A. 

3) Hierüber s. m. 5. 206, 2. 

4) Man. 1. 2. 19. Diss. 1,1, 7 ff. 21 δὲ c. 18, 17. 19, 7. 22, 10 ff. 25, 1 ff. 
II, 1,4. 5,4. 23, 16 ff. III, 22, 38. IV, 4, 28 u. ö. αἰ... N. A. XVII, 19, 5, wo 
aus Epiktet angeführt ist, die schlimmsten Fehler seien die Unduldsamkeit 
gegen fremde Fehler und die Unenthaltsamkeit gegenüber von Dingen und 
Genüssen; die Kunst, glückselig und ohne Fehler zu leben, sei in den zwei 
Worten ἀνέχου und ἀπέχου beschlossen. 

5) 8. ο. 282, 1. 283, 1. Man. 8. 10. 53. Diss. I, 6, 37 fl. 12, 4 ff. 
24,1. IL, 5, 24 ff. 6, 10. 10,4 ἢ, 16,42. III, 20. IV, 1,99. 131. 7,20 u, A. 
Mit diesem Grundsatz hängt auch zusammen, dass Epiktet den Selbstmord, 


672 Epiktet. 


Auch die schwersten Erfahrungen werden den Weisen in dieser 
Stimmung nicht irre machen: nicht allein sein Vermögen, seinen 
Leib, seine Gesundheit und sein Leben, auch seine Freunde, seine 
Angehörigen, sein Vaterland wird er als etwas betrachten, das 
ihm nur geliehen, nicht geschenkt ist, dessen Verlust sein inne= 
res Wesen nicht berührt); und ebensowenig wird er sich durch 
fremde Fehler in seiner Gemüthsruhe stören lassen, er wird nicht 
erwarten, dass seine Angehörigen fehlerfrei seien ?), er wird 
nicht verlangen, dass ihm selbst kein Unrecht widerfahre, er wird 
selbst den grössten Verbrecher nur für einen Unglückliehen und 
Verblendeten halten, dem er nicht zürnen darf ?), denn er findet 
alles das, worüber die Meisten ausser sich kommen, in der Natur 
der Dinge gegründet. So gewinnt der Mensch hier seine Freiheit, 
indem er sich mit seinem Wollen und Streben schlechthin auf sich 
selbst zurückzieht, alle äusseren Erfolge dagegen als ein unver- 
meidliches Schicksal mit vollkommener Ergebung sich aneignet. 
Man wird nicht läugnen können, dass diese Grundsätze im 
Ganzen die stoischen sind, aber man wird auch nicht übersehen, 
dass durch die Moral Epiktet’s nicht ganz derselbe Geist hindurch- 
geht, wie durch die des ursprünglichen Stoicismus. Einerseits 
neigt sich unser Philosoph dem Cynismus zu, wenn er die theore- 
tische Wissenschaft, wie wir gesehen haben, geringschätzt; wenn 
er die Gleichgültigkeit gegen das Aeussere und die Ergebung in 
den Weltlauf so weit treibt, dass der Unterschied des Naturge- 
mässen und Naturwidrigen, des Wünschenswerthen und des Ver- 
 werflichen, diese Hauptunterscheidungslehre der stoischen Moral 
gegen die cynische, seine Bedeutung für ihn fast verliert *); wenn 


welchen er mit seiner Schule als letzte Zuflucht offen hält, doch nur dann ge- 
statten will, wenn ihn die Umstände unzweideutig fordern. M. s. Diss. I, 24, 20. 
9,16. II, 15, 4 fi. 6, 22. III, 24, 95 ff. 

1) Man. 1,1. c.3. οὐ 11. c.14. Diss. I, 15. 22, 10. III, 3,5 u. A. 

2) Man. 12, 1. 14 — noch weniger kann natürlich Mitleid über äusseres 
Unglück Anderer zugegeben werden, wenn Epiktet auch human und inconse- 
quent genug ist, den Ausdruck des Mitgefühls dennoch zu gestatten; Man. 16. 

3) Diss. I, 18. ce. 28. 

4) Jene Unterscheidung, bemerkt er in dieser Beziehung II, 5, 24 f., gelte 
nur, wiefern der Mensch für sich und abgesehen von seiner Stelle im Natur- 
zusammenhang betrachtet werde. τί εἴ; ἄνθρωπος. εἰ μὲν ὡς ἀπόλυτον σχοπεῖς; 


ΣΝ 


χατὰ φύσιν ἐστὶ ζῆσαι μέχρι γήρως, πλουτεῖν, ὑγιαίνειν" εἰ δ᾽ ὡς ἄνθρωπον σχοπείς 


Hinneigung zum Cynismus. 673 


er es erhaben findet, selbst diejenigen äusseren Güter, welche 
uns das Schicksal ohne unser Zuthun darbietet, zu verschmähen 1); 
wenn er in der Erhebung über die Gemüthsbewegungen bis zur 
Unempfindlichkeit fortgehen will 2); wenn er uns das Mitleid und 
die Theilnahme für die Unsrigen wenigstens in Betreff ihrer äus- 
seren Lage untersagt ?); wenn er glaubt, der vollendete Weise 
werde sich der Ehe und der Kinderzeugung in dem gewöhnlichen 
Zustand der menschlichen Gesellschaft enthalten, da sie ihn seinem 
höheren Beruf entziehen, ihn von anderen Menschen und ihren 
Bedürfnissen abhängig machen, und für einen Lehrer der Mensch- 


2 2, 


χαὶ χινδυνεῦσαι, νῦν δ᾽ ἀπορηθῆναι, πρὸ ὥρας δ᾽ ἔστιν ὅτε ἀποθανεῖν. τί οὖν ἀγα- 
γαχτεὶς ;.... ἀδύνατον γὰρ ἐν τοιούτῳ σώματι, ἐν τούτῳ τῷ περιέχοντι, τούτοις τοῖς 
συζῶσι, μὴ συμπίπτειν ἄλλοις ἄλλα τοιαῦτα. σὸν οὖν ἔργον, ἐλθόντα εἰπεῖν ἃ δεῖ, 
διαθέσθαι ταῦτα ὡς ἐπιβάλλει. Was dem Menschen für ein Loos zufalle (war 
schon 5. 3 vgl. c. 6, 1 gesagt), sei gleichgültig; τῷ πεσόντι δ᾽ ἐπιμελῶς χαὶ 
τεχνικῶς χρῆσθαι, τοῦτο ἤδη ἐμὸν Eoyov ἐστίν. Mit ähnlichen Bemerkungen war 
Epiktet allerdings bis zu einem gewissen Grade schon Chrysippus vorange- 
gangen, von dem er Diss. II, 6, 9 die Worte anführt: μέχρις ἂν ἀδηλά μοι ἧ τὰ 
ἑξῆς, ἀέὲὶ τῶν εὐφυεστέρων ἔχομαι πρὸς τὸ τυγχάνειν τῶν χατὰ φύσιν" αὐτὸς γάρ μ᾽ ὃ 
θεὸς τῶν τοιούτων ἐχλεχτιχὸν ἐποίησεν. εἰ δέ γε ἤδειν ὅτι νοσεῖν μοι χαθείμαρται νῦν͵ 
χαὶ ὥρμων ἂν ἐπ᾽ αὐτό. χαὶ γὰρ ὃ ποὺς, el φρένας εἶχεν, ὥρμα ἂν ἐπὶ τὸ πηλοῦσθαι. 
Es konnte überhaupt in einem so streng deterministischen System, wie das 
stoische, dem Gegensatz des Naturwidrigen und Naturgemässen folgerichtig 
immer nur eine relative Geltung eingeräumt werden: vom Standpunkt des 
Ganzen aus erscheint hier alles, was geschieht, als naturgemäss, weil als 
nothwendig. Aber so wenig sich die älteren Stoiker durch ihren Determinis- 
mus vom Handeln abhalten liessen, ebensowenig liessen sie sich auch durch 
denselben in der Ueberzeugung von dem verschiedenen Werthverhältniss der 
Dinge irre machen, ohne die keine Auswahl unter denselben, und mithin auch 
kein Handeln möglich wäre (vgl. 5. 238, 1). Wenn diese Folgerung bei 
Epiktet stärker hervortritt, so dass er sich der Adiaphorie Aristo’s und der 
Cyniker annähert, so kommt darin nur der ganze Charakter seiner ethischen 
Lebensansicht zum Vorschein, in welcher die stoische Zurückziehung von der 
Aussenwelt zur Gleichgültigkeit gegen dieselbe, die Ergebung in das Schick- 
sal zu thatlosem Dulden gesteigert, oder doch auf dem Wege dazu be- 
griffen ist. 

1) Man. 15. 

2) Diss. III, 12, 10: übe dich, Beleidigungen zu ertragen; εἶθ᾽ οὕτω προ- 
Prien, ἵνα, κἂν πλήξη σέ τις, εἴπης αὐτὸς πρὸς αὑτὸν ὅτι δόξον Avdpıävrag περι- 
εἰληφέναι. 

3) 8. ο. 672, 2. 

Philos. d. Gr. IH. B. 1. Abth. 40 


671 Epiktet. 


heit, seiner geistigen Nachkommenschaft gegenüber, keinen Werth 
“haben 1); wenn er uns ebenso von der Betheiligung am Staats- 
leben abräth, weil ihm jedes menschliche Gemeinwesen im Ver- - 
gleich mit dem grossen Weltstaat zu gering ist ?); wenn er sein 
‘philosophisches Ideal ausdrücklich unter dem Namen und in der 
Gestalt des Cynismus ausführt ®). Auf der andern Seite herrscht 
aber bei Epiktet unstreitig eine weichere und mildere Stimmung, 
als in der älteren Stoa; der Philosoph stellt sich der unphilosophi- 
schen Welt nicht mit jenem stolzen Selbstvertrauen entgegen, das 
. sie zum Kampf herausfordert, sondern die Ergebung in das Unver- 
. meidliche ist sein erster Grundsatz; er tritt nicht als der zürnende 
Sittenprediger auf, welcher die Verkehrtheit der Menschen in dem 
schneidenden Tone der bekannten stoischen Sätze über die Thoren 
bestraft, sondern als der liebevolle Arzt, der ihre Uebel zwar heilen 
möchte, der sie aber weniger darum anklagt, als bemitleidet, der 
selbst dem grössten Unrecht nicht zürnt, sondern es lieber als un- 
freiwilligen Irrthum entschuldigt *); und wenn unserer Verbin- 


1) III, 22, 67 ff. vgl. S. 275. Epiktet selbst war unverheirathet (Lucıas. 
Demon. 55 vgl. Sımer.. in Epiet. Enchir. c. 33, 7. S. 272). III, 7, 19. I, 28, 4£. 
hält er dann freilich auch wieder den Epikureern entgegen, ihre Verwerfung 
der Ehe und des Staatslebens untergrabe die menschliche Gesellschaft, und 
bei Lucıan a. a. Ὁ. ermahnt er den Cyniker Demonax, eine Familie zu be- 
gründen, πρέπειν γὰρ καὶ τοῦτο φιλοσόφῳ ἀνδρὶ ἕτερον ἀνθ᾽ αὑτοῦ καταλιπέϊν τῇ 
φύσει (worauf dieser ihm antwortet: „nun gut, so gieb mir eine von deinen 
Töchtern“). Es ist diess aber nur der gleiche Widerspruch, den wir überhaupt 
in der stoischen Behandlung dieser Fragen wahruehmen konnten. Der Grund- 
satz des naturgemässen Lebens und das Bedürfniss der menschlichen Gesell- 
schaft verlangt das Familienleben, die Unabhängigkeit und Selbstgenügsamkeit 
des Weisen verbietet es. Bei Epiktet ist aber offenbar der letztere Gesichts- 
punkt im Uebergewicht, und es entsteht so eine ähnliche Ansicht, wie sie um 
dieselbe Zeit und später in der katholischen Kirche herrschend war: die Ehe 
wird empfohlen, aber die Ehelosigkeit gilt für das Bessere und Höhere, und ἡ 
wird allen denen angerathen, die sich als Lehrer in den Dienst der Gottheit 
stellen. 

2) Vgl. S. 275, 4. 

3) III, 22. TV, 8, 30. I, 24, 6. 

4) M. s. hierüber, ausser S. 662, 3, die Stellen, welche S. 669, 2 ange- 
führt sind, z. B. I, 18, 3: ri ἔτι τοῖς πολλοῖς γαλεπαίνομεν: χλέπται, φησὶν, εἰσὶ 
χαὶ λωποδύται. τί ἔστι τὸ χλέπται χαὶ λωποδύται; πεπλάνηνται περὶ ἀγαθῶν χαὶ 
χαχῶν. χαλεπαίνειν οὖν DEI αὐτοῖς ἢ ἐλεεῖν αὐτούς: Es gebe ja kein grösseres 
Unglück, als über die wichtigsten Fragen im Irrthum zu sein, nieht die rechte 


Allgemei enscheuflüebe. 675 


dung mit anderen Menschen er daraus entspringenden Pflich- 
ten gedacht wird, so stellen: sich Epiktet auch diese Verhältnisse 
vorzugsweise von der Seit Gemüths, als Sache der liebreichen 
Gesinnung dar: wir solle seren, Verpflichtungen gegen die 
Götter, gegen unsere Angehörigen, gegen unsere Mitbürger nach- 
kommen, denn wir dürfen nicht gefühllos sein, als ob wir- von 
Stein wären 1); wir sollen alle Menschen, und wenn sie auch un- 
sere Sklaven wären, als Brüder behandeln, denn sie alle stam- 
men gleichsehr von Gott ab °); sollen selbst denen, welche 
uns misshandeln, die Liebe ein rs oder eines Bruders nicht 
versagen °). Wie diese Sinneswe t Epiktet's religiöser Stim- 
mung zusammenhängt, und wie sich von hier aus auch in dem 
theoretischen Theile der Philosophie eine Abweichung vom älte- 
ren Stoicismus vorbereitet, wird später noch zu berühren sein. 
Epiktet’s grösster Verehrer war nun Marcus Aurelius 
Antoninus *), und auch in seiner Auffassung des Stoicismus und 


Willensbeschaffenheit zu haben; warum man denen zürne, die dieses Unglück 
betroffen habe, man solle sie doch lieber bemitleiden. Und schliesslich zürne 
man ihnen doch nur, weil man sich von der Anhänglichkeit an die Dinge 
nieht losmachen könne, deren sie uns berauben; μὴ θαύμαζέ σου τὰ, ἱμάτια καὶ 
τῷ χλέπτῃ οὐ χαλεπανεῖς" μὴ θαύμαζε τὸ κάλλος τῆς γυναιχὸς χαὶ τῷ μοιχῷ οὐ χα- 
λεπανείς .... μέχρι δ᾽ ἂν ταῦτα θαυμάζης; σεαυτῷ χαλέπαινε μᾶλλον ἢ ἐχείνοις. 

1) Diss. III, 2, 4: das Erste ist die Affektlosigkeit, das Zweite die Pflicht- 
erfüllung: οὐ det γάρ με εἶναι ἀπαθῆ ὡς ἀνδριάντα u. 8. w. 

2) I, 13, wo Epiktet üem Herrn, der gegen seine Sklaven heftig ist, zuruft: 
ἀνδράποδον, οὐχ ἀνέξη τοῦ ἀδελφοῦ τοῦ σαὐτοῦ ὃς ἔχει τὸν Δία πρόγονον, ὥσπερ vlog 


ἐχ τῶν αὐτῶν σπερμάτων γέγονε χαὶ τῆς αὐτῆς ἄνωθεν χαταβολῆς: ... οὐ μεμνήσῃ τίς 
εἶ καὶ τίνων ἄρχεις: ὅτι συγγενῶν, ὅτι ἀδελφῶν φύσει, ὅτι τοῦ Διὸς ἀπογόνων: ... Öpäg 


ποῦ βλέπεις : ὅτι εἰς τοὺς ταλαιπώρους τούτους νόμους τοὺς τῶν νεχρῶν : εἰς δὲ τοὺς 
τῶν θεῶν οὐ βλέπεις: Vgl. hiezu, was S. 279,2 aus Seneca, 280, 4. 6 aus Epiktet 
angeführt ist. 

3) II, 22, 54: δαίρεσθαι δεῖ αὐτὸν (der Cyniker, der wahre Weise) ὡς ὄνον 
χαὶ δαιρόμενον φιλέϊν αὐτοὺς τοὺς δαίροντας, ὡς πατέρα πάντων, ὡς ἀδελφόν. Vgl. 
Fr. 70 b. Sroe. Floril. 20,61, und über andere Stoiker, welche sich in dem glei- 
chen Sinn äussern, $. 278, 4. 

4) M. Annius Verus (denn so hiess er ursprünglich) wurde den 25. April 
121 v. Chr. zu Rom geboren (Carıtouin. Ant. Philos. 1), wo seine Familie, mit 
seinem Urgrossvater aus Spanien eingewandert, zu hohem Rang emporgestie- 
gen war (a. a. O.). Seiner sorgfältigen Erziehung kam seine eigene Lernbe- 
gierde entgegen; sehr frühe zog ihn die Philosophie an, und schon im zwölften 
Jahre nahm er die Philosophentracht an, und unterzog sich Entbehrungen, 


43 * 


ἐν Mark £ 


in seiner ganzen Denkweise st 
setzt er im Allgemeinen die stoi 
liegen doch nur die Bestimmungeı 
zu dem sittlichen und religiösen L 


ihm sehr nahe. ‚Mit jenem 
hre voraus, aber ihm selbst 
elben am Herzen, welche- 
in näherer Beziehung ste- 


deren Uebermaass er nur auf Bitten seiner Mutter beschränkte (ebd. ce. 2); 
seine Lehrer überhäufte er noch als Kaiser mit Beweisen der Dankbarkeit und‘ 
Verehrung (ebd. c. 3. vgl. Aut. Pi. 10. Psıroste. v. Soph. II, 9 und Dıo Cass. 
LXXI, 1, welche über Sextus das Gleiche erzählen, wie Cap. über Apollonius; 
vgl. S. 614). Von Philosophen hö usser den 5. 614 genannten Stoikern, 
die Platoniker Sextus (aus Chär kel Plutarch’s, M. Auzeı I, 9. Carı- 
tor. 3, Dıo und PHıLosTe. a. . Eurror. VII, 12. Sup. Μάρχ.) und 
Alexander (M. Aureı 1, i2. PaıLoste. v. soph. Il, 5, 2 £.), doch diesem wohl 
erst später, und den Peripatetiker Claudius Severus (Carıror. 3); unter den 
früheren Philosophen machte keiner auf ihn einen tieferen Eindruck, als 
Epiktet, wie diess schon ὃ. 660, 4 g. E. nach M. Aur. I, 7 bemerkt ist. 
Auf Hadrian’s Anordnung (über dessen Vorliebe für ibn Carımor. 1. 4. 
Dıo Cass. LXIX, 15) von Antoninus Pius adoptirt, nahm er den Namen 
M. Aurelius an, nachdem er vorher eine Zeit lang den seines mäütterlichen 
Grossvaters Catilius geführt hatte; bei seiner Thronbesteigung fügte er 
ihm noch den Beinamen Antoninus bei (Carızor. 1.5.7. Dıo Cass. a. a. O.). 
Sein späteres Leben gehört der römischen Kaisergeschichte an, welche 
uns auf dem Tbrone der Cäsaren wohl manche kräftigere Fürsten, aber keinen 
edleren und reineren Charakter, keinen Mann von milderer Gesinnung, stren- 
gerer Gewissenhaftigkeit und Pflichttreue zeigt. Indem ich daher auf Dıo 
Cassıcs (B. LXXI), Carıtorinus (Ant. Pbilos.; Ant. Pi.; Ver. Imp.) und Vur- 
carıus (Avid. Cass.), und auf die bekannten Bearbeitungen dieses Theils der 
römischen Geschichte verweise, willich hier das seltene Verbältniss, in dem 
M. Aurel als Cäsar und thatsächlicher Mitregent mit seinem gleich vortref- 
lichen Adoptiv- und Schwiegervater (138—161) stand, und dem er selbst I, 16. 
VI, 30 seiner Selbstgespräche ein so schönes Denkmal gesetzt hat, sowie seine 
eigene, von grossen Öffentlichen Unglücksfällen (Hungersnoth und Pest in 
Rom 165/;), schweren Kriegen (mit den Parthern 162 ff., den Markmannen 
166 ff. 173 #.), gefährlichen Aufständen (die Bukolen in Aegypten um 170; 
Avidius Cassius in Syrien 175) heimgesuchte, durch die Schlaffheit seines Mit- 
regenten Verus (gest. 172), die Sittenlosigkeit seiner Gemahlin Faustina, die 
Bösartigkeit und die Ausschweifungen seines Sohnes Commodus verbitterte 
Regierung nur kurz berühren. Den 17. März 180 starb M. Aurel, während des 
Feldzugs gegen die Markmannen, in Wien. Ein Denkmal seiner Sinnesweise 
und seiner Philosophie sind die aphoristischen Aufzeiehnungen, meist aus sei- 
nen späteren Jahren, welche in den Handschriften den Titel εἰς ἑαυτὸν oder 
χαθ᾽ ἑαυτὸν führen, aber auch unter anderen Bezeichnungen angeführt werden 
(Baca 5. 6 f.). Neuere Monograpliieen über ibn von N. Bacn De M. Aur. An- 
tonino, Lpz. 1826. Dürcens, 8. 0. 616, 5. 


Aufgabe der Philosophie. 677 


hen. Zum Dialektiker und Physiker fühlt er sich nicht berufen 1), 
und wenn er auch den Werth dieser Wissenschaften im Allgemei- 
nen einräumt ?), ist er doch der Meinung, seine eigentliche Be- 
stimmung könne man ohne vieles Wissen erreichen ?), nicht dar- 
auf komme es an, dass man Alles über und unter der Erde er- 
grüble, sondern dass man mit dem Dämon im Innern verkehre und 
ihm in Lauterkeit diene %); je grösser die Schwierigkeiten seien, 
welche sich derErforschung des Wirklichen entgegenstellen, um so 
mehr solle man sich an das halten, was in dem Wechsel der Dinge 
und der Ansichten uns allein Beruhigung verschaffen könne, an 
die Ueberzeugung, dass uns nichts widerfährt, was nicht der Na- 
tur des Weltganzen gemäss wäre, und dass Niemand uns zwingen 
kann, gegen unser Gewissen zu handeln °). Nur diese prakti- 
schen Ueberzeugungen sind es daher, um die es ihm bei seiner 
Beschäftigung mit der Philosophie zu thun ist. Die Philosophie 
- soll uns im Fluss der Erscheinung einen festen’ Halt, gegen die 
Eitelkeit alles Endlichen einen Schutz gewähren. Was ist das 
menschliche Leben? fragt er: ein Traum und ein Dunst, ein 


1) VII, 67: χαὶ μὴ, ὅτι ἀπήλπιχας διαλεχτιχὸς χαὶ φυσιχὸς ἔσεσθαι, διὰ τοῦτο 
ἀπογνῷς,, χαὶ ἐλεύθερος καὶ αἰδήμων χαὶ κοινωνιχὸς χαὶ εὐπειθὴς θεῷ. 

2) So sagt er VIII, 13, der stoischen Dreitheilung der Philosophie ent- 
sprechend: διηνεχῶς καὶ ἐπὶ πάσης, εἰ οἷόν τε, φαντασίας φυσιολογέϊν, παθολογεῖν, 
διαλεχτιχεύεσθα!:. 

3) 8. vorl. Anm.; vg?. 1, 17, wo er es unter den Wohlthaten der Götter 
aufführt, dass er in der Rede- und Dichtkunst und ähnlichen Studien, die ihn 
andernfalls vielleicht festgehalten haben würden, keine grösseren Fortschritte 
gemacht habe, und dass er (ebd. g. E.), als er sich der Philosophie zuwandte, 
es vermied, ἀποχαθίσαι ἐπὶ τοὺς συγγραφεῖς, ἢ συλλογισμοὺς ἀναλύειν, ἢ περὶ τὰ με- 
τεωρολογιχὰ χαταγίνεσθαι. 

4) 11,18 vgl. II, 2. 8: ἄφες τὰ βιβλία ... τὴν δὲ τῶν βιβλίων δόξαν ῥίψον. 

πράγματα ἐν τοιαύτη τρόπον τινὰ ἐγχαλύψε: ἐστὶν, ὥστε φιλο- 
& τόϊς τυχοῦσιν, ἔδοξε παντάπασιν ἀκατάληπτα εἶναι. πλὴν αὖ- 
τοῖς γε τόϊς Στωϊχοσίς δυςχατάληπτα δοχεῖ" χαὶ πᾶσα ἣ ἡμετέρα συγκατάθεσις με- 
ταπτωτή᾽ ποῦ γὰρ ὃ ἀμετάπτωτος: Gehen wir weiter zu den äusseren Dingen 
fort, so sind sie alle vergänglieh und werthlos; fassen wir die Menschen in's 
Auge, so sind auch die Besten kaum zu ertragen. ἐν τοιούτῳ οὖν ζόφῳ χαὶ ῥύπῳ 
χαὶ τοσαύτῃ δύσει ... τί ποτ᾽ ἐστὶ τὸ ἐχτιμηθῆναι, ἢ τὸ ὅλως σπουδασθῆναι δυνάμενον, 
οὐδ᾽ ἐπινοῶ. Es bleibt nur übrig, seine natürliche Auflösung in Ruhe abzuwar- 
ten, bis dahin aber τούτοις μόνοις προςαναπαύεσθαι" Evi μὲν τῷ, ὅτι οὐδὲν ouußr- 
σεταί μοι, ὃ οὐχὶ χατὰ τὴν τῶν ὅλων φύσιν ἐστίν - ἑτέρῳ δὲ; ὅτι ἔξεστί μοι μηδὲν πράσ- 


σειν παρὰ τὴν ἐμὸν θεὸν χαὶ δαίμονα. οὐδὲὶς γὰρ 9 ἀναγχάσων τοῦτον παραβῆναι. 
» ᾿ 


675 . | Mark Aurel, 


Streit und eine Wanderschaft in der Fremde. Nur Eines vermag 
uns durch dasselbe zu geleiten, die Philosophie. Diese aber be- 
steht darin, dass wir den Dämon in unserem Innern rein und lau- 
ter bewahren, erhaben über Lust und Schmerz, unabhängig von 
fremdem Thun und Lassen; dass wir alles, was uns begegnet, als 
göttliche Schickung annehmen, und das natürliche Ende unseres 
Daseins heiteren Muthes erwarten 1). Die Aufgabe der Philosophie 
liegt also in der Bildung des Charakters und der Beruhigung des 
Gemüths; nur nach ihrem Verhältniss zu dieser Aufgabe‘ist der 
Werth aller wissenschaftlichen Untersuchungen und Lehrsätze zu 
beurtheilen. 

Für diesen Zweck sind nun unserem Philosophen aus dem 
theoretischen Theile des stoischen Systems hauptsächlich drei 
Punkte von Wichtigkeit. Einmal die Lehre von dem Fluss aller 
Dinge, von der Hinfälligkeit alles Daseins, von dem Kreislauf des 
Werdens und Vergehens, in dem nichts Einzelnes Bestand hat), 
aber Alles im Lauf der Zeiten wiederkehrt °); von der unablässi- 
gen Umwandlung, welcher selbst die Elemente unterliegen *), von 
dem Wechsel, der auch das Weltganze seiner dereinstigen Auf- 
lösung entgegenführt °). An diese Lehren knüpft sich ihm die 
Betrachtung, was für ein unbedeutender Theil des Ganzen, was 
für eine verschwindende Erscheinung im Strome des Weltlebens 
jeder Einzelne ist ©), wie verkehrt es ist, sein Herz an das Ver- 
gängliche zu hängen, es als ein Gut zu‘begehren oder als ein 


. 
© ο alle ῥέουσα u. 8. w. 


1) UI, 17: τοῦ ἀνθρωπίνου βίου ὃ μὲν χρόνος στιγμή᾽ ἣ δὲ 
ὸ ἃ δὲ «ἢ ἧς ψυχῆς ὅ ὄνειρος χαὶ 


συνελόντι δὲ εἰπεῖν, εὐνῇ τὰ μὲν τοῦ σώματος ποταμὸς; τ 
τῦφος - ὃ δὲ βίος πόλεμος καὶ ξένου ἐπιδημία" ἣ ὑστεροφημία δὲ λήθη. τί οὖν τὸ παρα- 
πέμψαι δυνάμενον ; ἕν χαὶ μόνον, φιλοσοφία. τοῦτο δὲ ἐν τῷ τηρεῖν τὸν ἔνδον δαίμονα 
ἀνύβριστον χοὶ ἀσινῆ τ. 58. w. ἔτι δὲ τὰ συμβαίνοντα χαὶ ἀπονεμόμενα δεχόμενον, ὡς 
ἐχεῖθέν ποθεν ἐρχόμενα, ὅθεν αὐτὸς ἦλθεν: ἐπὶ πᾶσι δὲ τὸν θάνατον ἵλεῳ τῇ γνώμῃ 
περιμένοντα, ὡς οὐδὲν ἄλλο, ἢ λύσιν τῶν στοιχείων, ἐξ ὧν ἕχαστον ζῷον συγχρίνεται. 
Aehnliche Aeusserungen über die Eitelkeit und Flüchtigkeit des Lebens und 
die Werthlosigkeit alles Aeussern II, 12. 15. IV, 3, Schl. (ὃ χόσμος ἀλλοίωσις" 
ὁ βίος ὑπόληψις). IV, 48. V, 33. VI, 36 u. ὃ. 

2) IV, 36. 43. V, 13. 23. VIII, 6. IX, 19. 28 u. ö, 

3) II, 14. VIII, 6 

4) II, 17, Schl. IV, 46, 

5) V, 18. 32. 

6) Υ͂, 24. IX, 32. 


Theologie und Anthropologie. 679 


Uebel zu fürchten !), wie wenig wir uns beschweren dürfen, wenn 
auch wir keine Ausnahme von dem Gesetz machen, das für alle 
Theile der Welt gilt und gelten muss, auch wir unserer Auflösung 
entgegengehen ?). Je lebhafter aber das Bewusstsein von der 
Wandelbarkeit alles Endlichen in ihm ist, um so grössere Bedeu- 
tung hat für ihn andererseits die Ueberzeugung, dass dieser Wech- 
sel von einem höheren Gesetze beherrscht werde und den Zwecken 
der höchsten Vernunft diene; und so schliessen sich hier jene 
Sätze über die Gottheit und die Vorsehung, über die Einheit und 
Vollkommenheit der Welt an, auf die Mark Aurel so oft zurück- 
kommt. Der Glaube an Götter ist dem Menschen so unentbehrlich, 
dass es sich nicht verlohnte in einer Welt ohne Götter zu leben °); 
und ebensowenig können wir daran zweifeln, dass ihre Vorsehung 
Alles umfasst, Alles auf's Vollkommenste und Wohlthätigste ein- 
gerichtet hat *), mag sich nun diese Fürsorge auf den Einzelnen 
unmittelbar als solchen, oder mag sie sich nur durch Vermittlung 
. des Naturzusammenhangs auf ihn beziehen 5). Derselbe göttliche 
Geist geht durch Alles bindurch: wie der Stoff der Welt Einer ist, 


1) IV, 42. V, 23. VI, 15. iX, 28. 

ΠΥ Schl. VIIIK18.’X, 7. 31. XH, 21: 

3) ll, 11. Fragt man aber, woher wir vom Dasein der Götter wissen, die 
wir doch nicht sehen, so antwortet M. A. (XII, 28): wir glauben an sie, weil 
wir die Wirkung ihrer Macht erfahren; was aber das Nichtsehen betreffe, so 
sei diess theils nicht richtig, denn sie (d. h. ein Theil von ihnen, die Gestirne) 
seien auch sichtbar, theils glauben wir ja an unsere Seele gleichfalls ohne sie 
zu sehen; vgl. Xexorn. Mem. IV, 3, 14. 

4) II, 3: τὰ τῶν θεῶν προνοίας μεστά. XI, 5: πάντα χαλῶς καὶ φιλανθρώπως 
διατάξαντες οἱ θεοί. II, 4. 11. VI, 44 u. A. 

5) Zwischen diesen beiden Annahmen will uns M. Aurel die Wahl lassen, 
wogegen er die dritte, dass die Götter sich um nichts bekümmern, als eine 
frevelhafte und alle Religion vernichtende beseitigt, wiewohl er auch für die- 
sen Fall daran festhält, dass selbst dann der Mensch immer noch selbst für 
sich und sein wahres Wohl sorgen könnte; VI, 44 8. ο. 150, 3. Ebenso IX, 28: 
ἤτοι ἐφ᾽ ἕχαστον ὁρμᾷ ἢ τοῦ ὅλου διάνοια, dann gieb dich damit zufrieden; ἢ ἅπαξ 
ὥρμησε, τὰ δὲ λοιπὰ κατ᾽ ἐπαχολούθησιν i.. τὸ δὲ ὅλον, εἴτε θεὸς, εὖ ἔχει πάντα - εἴτε 
τὸ εἰχῆ, μὴ χαὶ σὺ εἰχῆ. Daher III, 11: διὸ δεῖ ἐφ᾽ ἑχάστου λέγειν, τοῦτο μὲν παρὰ 
θεοῦ Arc‘ τοῦτο ὃὲ χατὰ τὴν σύλληξιν za τὴν συμμηρυομένην σύγχλωσιν τι. 5. ν»ν. Die 
gleiche Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer göttlicher Ur- 
sächlichkeit, Gott und Verhängniss, begegnete uns schon 8. 316, 1. 180, ὃ 1. 


650 Mark Aurel. 


so ist es auch ihre Seele ’); es ist Eing vernünftig wirkende Kraft, 
welche alle Dinge durchdringt, alle Keimformen in sich trägt, und 
Alles in festbestimmter Abfolge hervorbringt ?). Die Welt bildet 
daher ein wohlgeordnetes lebendiges Ganzes, dessen Theile durch 
ein inneres Band in Uebereinstimmung und Zusammenhang erhal- 
ten werden °); und Alles darin ist auf’s Schönste und Zweck- 
mässigste eingerichtet, das Schlechtere um des Besseren, das Ver- 
nunftlose um des Vernünftigen willen gemacht *). Auch das, was 
uns lästig und zwecklos erscheint, hat für den Haushalt des Gan- 
zen seinen guten Zweck, auch die Uebel, welche mit der göttli- 
“ chen Güte und Weisheit zu streiten scheinen, sind theils nur die 
unvermeidliche Rückseite des Guten, theils nur ein solches, von 
dem das innere Wesen und die wahre Glückseligkeit des Menschen 
nicht berührt wird °). Und nicht zufrieden, in dem gewöhnlichen 
Verlaufe der Dinge die Spuren der göttlichen Vorsehung zu er- 
kennen, will Antonin, im Geist seiner Schule, auch die ausser- 
ordentlichen Offenbarungen der Gottheit in Träumen und Weis- 
sagungen 5), über die er selbst Erfahrungen gemacht zu haben 
glaubte 7), nicht läugnen; über das Verhältniss dieser Offenbarun- 
gen zum Naturzusammenhang 5) jedoch spricht er sich so wenig, 
als über das seiner Götter zu den Volksgöttern 59, näher aus, und 


1) XII, 30. IX, 8. IV, 40; 5. o. 134, 2. 127, m, 

2) S.o. 146, 2.3. Ὁ, 32: τὸν διὰ τῆς οὐσίας διήχοντα λόγον χοὶ διὰ παντὸς 
τοῦ αἰῶνος χατὰ περιόδους τεταγμένας οἰκονομοῦντα τὸ πᾶν. 

3) IV, 40 5. ο. 127, m. Weiteres S. 155, 2. 156, 1. 

4) S. o. 157,1. V, 16.30 u. A. 

5) Vgl. 8. 160,3. 161, 2. 162, 8. 164, 1f. IL, 11: τοῖς μὲν κατ᾽ ἀλήθειαν 
nardis ἵνα μὴ περιπίπτῃ ὃ ἄνθρωπος, ἐπ᾽ αὐτῷ To πᾶν ἔθεντο" τῶν δὲ λοιπῶν εἴ τι 
χαχὸν ἣν χοὶ τοῦτο ἂν προΐδοντο, ἵνα ἐπῇ πάντη τὸ μὴ περιπίπτειν αὐτῷ © δὲ χείρω 
μὴ ποιεῖ ἄνθρωπον, πῶς ἂν τοῦτο βίον ἀνθρώπου χείρω ποιήσειεν: XII, 5 u. ἃ. St. 

6) IX, 27: auch den Schlechten muss man freundlich sein; χαὶ οἱ θεοὶ δὲ 
παντοίως αὐτοῖς βοηθοῦσι, δι᾿ Ovelpwy, διὰ μαντειῶν. 

7) 1,17, 5. E., wo der βοηθήματα δι᾽ ὀνείρων erwähnt wird, die ihm selbst, 
unter Anderem gegen Blutspeien und Schwindel, zutheilgeworden seien. 

8) Welches die älteren Stoiker so viel beschäftigt hatte (8. o. 8. 316 f.). 

9) M. Aurel redet immer nur im Allgemeinen von den θεοὶ oder dem θεὸς; 
für den er auch oft „Zeus“ setzt; in Betreff der Volksgötter folgte er ohne 
Zweifel, wie Epiktet, den allgemeinen Annahmen seiner Schule, hielt aber 
ebendesswegen um so mehr au dem bestehenden öffentlichen Kultus fest, der 
für ihn als Oberhaupt des römischen Staats ohnedem eine politische Noth» 


Theologie und Anthropologie, 681 


in anderen Stücken will er von dem Aberglauben seiner Zeit nichts. 
wissen !). — Für die ursprünglichste Offenbarung der Gottheit 
gilt ihm aber der menschliche Geist selbst, als ein Theil und Aus- 
fluss der Gottheit, der Dämon in unserem Innern, von dem allein 
unser Glück und unsere Unseligkeit abhängt; und diese Lehre von 
der Gottverwandtschaft des Menschen ist der dritte von den Punk- 
ten, welche als maassgebend für seine Weltanschauung hervor- 
treten 2); wogegen er von der stoischen Lehre über die Fortdauer 
nach dem Tode durch die Annahme abweicht, dass die Seelen 
einige Zeit nach der Trennung vom Körper in ähnlicher Weise 
in die Weltseele oder die Gottheit zurückkehren, wie der Leib in 
die Elemente °). 

Der Schwerpunkt seiner Philosophie liegt aber für Antoninus, 
wie bemerkt, in dem sittlichen Leben des Menschen, und hier ge- 


᾿ 
wendigkeit war, und so begreift es sich, wenn ihm das Christenthum als Auf- 
lehnung gegen die Staatsgesetze, die Standhaftigkeit der christlichen Märtyrer 
als ein grundloser Trotz (ψιλὴ παράταξις XI, 3) erschien, der durch Strenge zu, 
brechen sei: unter seiner Regierung fanden bekanntlich heftige Christenver- 
folgungen statt. 

1) I, 6 rübmt er an Diognet, ihm verdanke er τὸ ἀπιστητιχὸν τοῖς ὑπὸ τῶν 
τερατευομένων χαὶ γοήτων περὶ ἐπωδῶν χαὶ περὶ δαιμόνων ἀποπομπῆς χαὶ τῶν 
τοιούτων λεγομένοις. 

2) M. vgl. übei*diese Bestimmung, auf die er sehr oft zurückkommt, was 
S. 184, 2. 297, 3 angeführt ist. - 

3) Einige Stellen, woraus sich diese Ansicht bei M. Aurel ergiebt, sind 
schon S. 186 nachgewiesen. Die entscheidendste ist IV, 21: wie die bLeiber, 
welche begraben werden, zwar noch eine Zeit lang dauern, dann aber ver- 
wesen, οὕτως al εἰς τὸν αἰθέρα μεθιστάμεναι ψυχαὶ, ἐπὶ ποσὸν συμμείνασαι, μετα- 
βάλλουσι καὶ χέονται χαὶ ἐξάπτονται, εἰς τὸν τῶν ὅλων σπερματιχὸν λόγον ἀναλαμ- 
βανόμεναι, καὶ τοῦτον τὸν τρόπον χώραν ταῖς προςσυνοιχιζομέναις παρέχουσι. Auf 
den gleichen Vorgang bezieht sich IV, 14: ἐνυπέστης [= ἐν τῷ ὅλῳ ὑπέστης] ὡς 
μέρος. ἐναφανισθήσῃ τῷ γεννήσαντι" μᾶλλον δὲ ἀναληφθήσῃ εἰς τὸν λόγον αὐτοῦ τὸν 
σπερματιχὸν χατὰ μεταβολήν. V, 18: ἐξ αἰτιώδους χαὶ ὑλιχοῦ συνέστηχα᾽" οὐδέτερον 
δὲ τούτων εἰς τὸ μὴ ὃν φθαρήσετα! ὥσπερ οὐδὲ ἐχ τοῦ μὴ ὄντος ὑπέστη ἃ. 8. W. 
Weiter vgl, XII, 5: wie es sich mit der göttlichen Gerechtigkeit vertrage, dass 
auch die frömmsten Leute sterben, um.nicht wiederzukehren (ἐπειδὰν ἅπαξ 
ἀποθάνωσι μηχέτι αὖθις γίνεσθαι, ἀλλ᾽ eis τὸ παντελὲς ἀπεσβηχέναι) } worauf nicht 
etwa geantwortet wird, diese Voraussetzung sei falsch, sondern vielmehr um- 
gekehrt: τοῦτο δὲ εἴπερ χαὶ οὕτως ἔχει, εὖ ἴσθι, ὅτι, εἰ ὡς [2] ἑτέρως ἔχειν ἔδει, 
ἐποίησαν &v. Ferner Il, 17, Schl. V, 33. VII, 18. IX, 32. X, τ. 81. ΣΙ, 9, XI, 
ἃ; 21. 31. 


632 Mark Aurel. 


rade tritt auch seine Verwandtschaft mit Epiktet am Stärksten her- 
vor; doch brachte es schon der Gegensatz ihrer Nationalität und 
ihrer Lebensstellung mit sich, dass der römische Kaiser in seiner 
Weltansicht einen kräftigeren Charakter zeigt, und die Pflichten 
des Einzelnen gegen die menschliche Gesellschaft nachdrücklicher 
festhält, als der phrygische Freigelassene. Im Uebrigen erschei- 
nen auch bei ihm als die ethischen Grundbestimmungen die Zurück- 
ziehung des Menschen auf sich selbst, die Ergebung in den Wil- 
len der Gottheit, die innigste und schrankenloseste Menschen- 
liebe 1). Was kümmerst du dich um Fremdes, ruft er dem Men- 
schen zu, ziehe dich in dich selbst zurück, nur in deinem Innern 
findest du Ruhe und Wohlsein; besinne dich auf dich selbst, pflege 
den Dämon in dir, löse dein wahres Selbst von allem dem ab, was 
ihm nur äusserlich anhängt; bedenke, dass nichts Aeusseres deine 
Seele berühren kann, dass es nur deine Vorstellungen sind, welche 
dich belästigen, dass nichts dir schadet, wenn du nicht meinst, 
es schade dir; erwäge, dass Alles wandelbar und nichtig ist, dass 
nur in deinem Innern eine unversiegbare Quelle des Glücks strömt, 
dass die leidenschaftslose Vernunft die einzige Burg ist, in welche 
sich der Mensch flüchten muss, wenn er unüberwindlich werden 
will 3). Seine vernünftige Thätigkeit ist ja das einzige, worin ein 
vernunftbegabtes Wesen sein Glück und’ seine Güter zu suchen 
hat ®); alles Andere dagegen, alles, was mit der sittlichen Be- 
schaffenheit des Menschen in keinem Zusammenhang steht, ist we- 


1) M. Aurel selbst hebt öfters diese Stücke, bald alle drei, bald zwei 
davon, als die Hauptsache hervor. So in den Καὶ 677, 5. 678, 1 angeführten 
Stellen die Reinheit und Freiheit des inneren Lebens und die Ergebung in den 
Weltlauf, III, 4 neben ihnen die Erinnerung an die Verwandtschaft aller 
Menschen und die Pflicht der Fürsorge für alle. Das Gleiche liegt der Sache 
nach in der Aeusserung V, 33: das Wesentliche sei, θεοὺς μὲν σέβειν χαὶ εὑ- 
φημεῖν, ἀνθρώπους δὲ εὖ ποιεῖν, καὶ ἀνέχεσθαι αὐτῶν χαὶ ἀπέχεσθαι (vgl. hiezu 
S. 671, 4)" ὅσα δὲ Euros ὅρων τοῦ χρεαδίου χαὶ τοῦ πνευματίου, ταῦτα μεμνῆσθαι 
ufte σὰ ὄντα, μήτε ἐπὶ σοί. Daer aber nicht auf systematische Aufzählung aus- 
geht, kann man in dieser Beziehung keine durchgängige Gleichmässigkeit bei 
ihm erwarten. 

2) II, 13. III, 4. 12. IV, 3. 7. 8. 18. V, 19. 34. VII, 28. 59. VIII, 48. 
XI, 3 u. ö. 

3) 8. 0. 193, 5. 194, 1. 195, 4. 


Ethik. 693 


der ein Guj noch ein Uebel ). Wer sich auf sein inneres Wesen 
beschränkt, und sich von allem Aeusseren losgemacht hat, in dem 
ist jeder Wunsch und jede Begierde erloschen, er ist in jedem 
‘ Augenblick mit der Gegenwart zufrieden, er schickt sich mit un- 
bedingter Ergebung in den Weltlauf, er glaubt, dass nichts ge- 
schehe, als der Wille der Gottheit, dass das, was .dem Ganzen 
frommt und in seiner Natur liegt, auch für ihn selbst das Beste 
sei, dass dem Menschen nichts begegnen könne , was er nicht zum 
Stoff für eine vernünftige Thätigkeit machen könnte °); er kennt 
aber auch andererseits für sich selbst keine ‚höhere Aufgabe, als 
die, dem Gesetz des Ganzen zu folgen, den Gott in seinem Busen 
durch strenge Sittlichkeit zu ehren, in jedem Augenblick als Mann 
Cund als Römer, fügt der kaiserliche Philosoph bei) seine Stelle 
auszufüllen ®), und dem Ende seines Lebens, ob es nun früher 
oder später eintreie, mit der ruhigen Heiterkeit enigegenzusehen, 
welche sich einfach in dem Gedanken an das Naturgemässe befrie- 
digt%). Wie könnte sich aber der Mensch als Theil der Welt füh- 
len, und dem Weltgesetz unterordnen, ohne sich zugleich auch 
als Glied der Mensckheit zu betrachten, und in dem Wirken für 
die Menschheit seine schönste Aufgabe zu finden 5), und wie 
könnie er dieses, wenn er nicht auch seinem engeren Vaterland 
alle die Aufmerksamkeit zuwendet, welche seine Stellung von ihm 
fordert? ©) Nicht einmal die unwürdigen Mitglieder der mensch- 
lichen Gesellschaft will Antonin von seiner Liebe ausschliessen. 
Er erinnert uns, dass es dem Menschen gezieme, auch die Strau- 
chelnden zu lieben, auch der Undankbaren und feindselig Gesinn- 
ten sich anzunehmen; er heisst uns bedenken, dass alle Menschen 
unsere Verwandte seien, dass in allen derselbe göttliche Geist 
lebe; dass man nicht erwarten könne, keine Schlechtigkeit in der 


1) 8.8. 199, 1. 200, 3. VIII, 10. IV, 39. 

ΙΣΤ 12:412,8.,16:.1V ‚28..49. Vi; 45,406, VI, 7.250 6: vgl. 
S. 164,1.2. Daher der Grundsatz (X, 40 vgl. V, 7), dass man die Gottheit 
um keinen äusseren Erfolg, sondern nur um die Gesinnung bitten solle, welehe 
nichts Aecusseres weder begehrt noch fürchtet. 

ἌΣ 070..18..056..17.: ΗἹ,. 5. 166Ὁ.1Δ. 

4) II, 12. 14. 17. II, 3. IX, 3. ΧΙ; 3 vgl. S. 679, 2. 

5) Das Nähere hierüber wurde schon 8. 265 {. 280 beigebracht, 


b) Vgl. S. 276, 2. 3. 


6954 Mark Aurel. 


Welt zu finden, dass aber auch die Fehlenden doch ‚nur unfrei- 
willig und nur desshalb fehlen, weil sie ihr wahres Bestes nicht 
erkennen; dass der, welcher Unrecht thut, nur sich selbst be- 
schädige, unser eigenes Wesen dagegen durch keine Handlung 
eines Andern Schaden leiden könne; er verlangt daher, dass wir 
uns durch nichts im Gutesthun irre machen lassen, dass wir die 
Menschen entweder belehren oder ertragen, und ihre Fehler, statt 
darüber zu zürnen oder zu erstaunen, nur bemitleiden und ver- 
zeihen 1). Es ist bekannt, in welchem Umfang Antonin selbst 
dieser Vorschrift nachzukonmen gewusst hat. Aus seinem Leben 
wie aus seinen Worten tritt uns ein Adel der Seele, eine Reinheit 
der Gesinnung, eine Gewissenhaftigkeit 5), eine Pflichttreue, eine 
Milde, eine Frömmigkeit und Menschenliebe entgegen, die wir 
in jenem Jahrhundert und auf dem römischen Kaiserthron doppelt 
bewundern müssen. Dass sie selbst in den Zeiten des tiefsten Sit- 
tenverfalls noch einen Musonius, einen Epiktet, einen Mark Aurel 
bilden konnte, wird der stoischen Philosophie stets zum unver- 
gänglichen Ruhme gereichen. Aber einen wissenschaftlichen Fort- 
schritt hat sie durch diese Männer nicht gemacht; und wenn aller- 
dings die Härte der stoischen Sittenlehre durch sie gemildert wurde, 
wenn die Gefühle des Wohlwollens und der opferwilligen Men- 
schenliebe bei ihnen eine Stärke und Innigkeit erlangten, wie sie 
uns im älteren Stoicismus nicht begegnet, so kann uns doch selbst 
dieser Gewinn, so gross er an sich selbst ist, für den Mangel einer 
methodischeren und erschöpfenderen philosophischen Forschung 
nicht entschädigen °). 


9. Die Cyniker der Kaiserzeit. 


Von diesem späteren Stoicismus unterscheidet sich nun der 
gleichzeitige Cynismus nur durch die Einseitigkeit und Rücksichts- 


1) VII, 22: ἴδιον ἀνθρώπου To φιλεῖν χαὶ τοὺς πταίοντας u. 8. w. ebd. ὁ. 26. 
II, 1.16. II, 11, g.E. IV, 3. V, 25. VII, 8. 14. 59. IX, 4.42. XI, 18. XII, 12 
u. ὃ. 

2) Wie sie sich unter Anderem in den wiederholten Aeusserungen der 
Unzufriedenheit mit sich selbst (IV, 37. V,5. X, 8), und der Aufforderung zu 
strenger Selbstprüfung V, 11 ausspricht. 

3) Einiges Weitere, was Mark Aurel's Anthropologie und Theologie be- 
trifft, wird im dritten Abschnitt noch besprochen werden. 


Spätere Cyniker, 685 


losigkeit, mit der er die gleiche Richtung verfolgt hat. Der Stoi- 
eismus hatte sich ursprünglich aus dem Cynismus herausgebildet, 
indem der ceynischen Lehre von der Unabhängigkeit des tugend- 
haften Willens die Grundlage einer umfassenden wissenschaftlichen 
Weltbetrachtung gegeben, und sie selbst in Folge dessen mit den 
Anforderungen der Natur und des menschlichen Lebens in ein an- 
gemesseneres Verhältniss gesetzt ward. Wurde diese theoretische 
Begründung der Sittlichkeit vernachlässigt, so trat der Stoicismus 
wieder auf den Standpunkt des Cynismus zurück: der Einzelne 
war auch für seine sittliche Thätigkeit auf sich selbst und sein per- 
sönliches Tugendstreben beschränkt, statt die Regeln seines Ver- 
haltens aus der Einsicht in die Natur der Dinge und des Menschen 
zu schöpfen, musste er sich an sein unmittelbares Bewusstsein, 
seinen persönlichen Takt und sittlichen Trieb halten, die Philoso- 
phie wurde aus einer Wissenschaft und einer auf Wissenschaft 
gegründeten Lebensrichtung zu einer blossen Charakterbestimmt- 
heit, wenn nicht gar zu einer äusseren Form, und es war nicht - 
zu vermeiden, dass sie in dieser einseitig subjektiven Fassung mit 
der allgemeinen Sitte und auch mit berechtigten sittlichen Anfor- 
derungen nicht selten in Streit gerieth. Wir konnten diese Hin- 
neigung des Stoicismus zum Cynismus schon bei den späteren 
Stoikern, namentlich bei Musonius und Epiktet, bemerken, von 
welchen der Letztere ja auch ausdrücklich den wahren Philoso- 
phen als Cyniker beschreibt und bezeichnet. Auf demselben Wege 
treffen wir die Schule der Sextier, ohne dass sich doch diese, so 
viel uns bekannt ist, Cyniker genannt hätten. Bald nach dem An- 
fang der christlichen Zeitrechnung taucht aber auch der Name der 
Cyniker wieder auf, und es sammelt sich unter diesem Namen eine 
zahlreiche Schaar, theils von wirklichen, theils von blos angeb- 
lichen Philosophen, welche sich mit offener Geringschätzung aller 
rein wissenschaftlichen Thätigkeit die praktische Befreiung des 
Menschen von unnöthigen Bedürfnissen, eiteln Bestrebungen und 
störenden Gemüthsbewegungen zur einzigen Aufgabe setzen, und 
welche dabei noch weit mehr, als die Stoiker, in bestimmt ausge- 
sprochenem, auch in Tracht und Lebensweise sich darstellendem 
Gegensatz gegen die Masse der Menschen und ihre Gewohnheiten, 
als berufsmässige Sittenprediger und moralische Aufseher über die 
Anderen auftreten. Dass sich unter diesem Aushängeschild eine 


0850 Spätere Cyniker. ΄ 


Menge unreiner Elemente versteckte, dass ein grosser, vielleicht 
der grössere Theil dieser antiken Bettelmönche durch Aufdring- 
lichkeit, Unverschämtbeit, Marktschreierei, durch ein pöbelhaf- . 
tes und ungesittetes Betragen, durch Schmarotzen und trotz des 
Bettlerlebens auch durch Gewinnsucht den Namen der Philosophie 
in Verachtung brachte, ist nicht zu läugnen, und schon aus dem 
einzigen Lucian zu beweisen '); doch spricht eben dieser ander- 
wärts 2) von dem ächten Cyniker mit hoher Achtung, und in 
seinem Demonax schildert er ‚einen solchen in den glänzendsten 
Farben. Auch diese besseren Cyniker haben aber wenig wissen- 
schaftliche Bedeutung. 

Die Ersten, welche den Namen und die Lebensweise der Cy- 
niker wieder annahmen, begegnen uns um die Mitte und vor der 
Mitte des ersten christlichen Jahrhunderts 5), und als der bedeu- 


1) Z.B. De morte Peregrini; Piscat. 44 f. 48; Symp. 11 ἢ. Fugit. 16. 
Aechnliche Klagen werden aber auch von Anderen erhoben. Schon Seneca 
warnt seinen Lucilius ep. 5, 1 vor der auffallenden Lebensweise derer, qui 
non proficere sed conspiei eupiumt, vor dem cultus asper, dem intonsum cap, 
der neglegentior barba, dem indietum argento odium, dem ceubile humi positum, 
et quiequid aliud ambitio perversa via sequitur, lauter Züge des neuen Cynis- 
mus, und auf denselben bezieht sich ohne Zweifel auch ep. 14, 14 (vgl. 103, 5): 
non conturbabit sapiens publicos mores nec populum in se vitae novitate convertei. 
Auch Epiktet III, 22, 50 unterscheidet scharf zwischen der inneren Freiheit 
und den übrigen sittlichen Eigenschaften des wahren Cynikers, und dem, was 
Manche an ihre Stelle setzen: πηοίδιον χαὶ ξύλον καὶ γνάθοι μεγάλαι" καταφαγεῖν 
πᾶν ὃ ἐὰν δῷς, ἢ ἀποθησαυρίσαι, ἢ τοῖς ἀπαντῶσι λοιδορέϊν ἀκαίρως, ἢ χαλὸν τὸν 
ὦμον δεικνύειν, und um dieselbe Zeit sagt Dıo Curvsosr. or. 34, 8. 33 R., mit 
Beziehung auf seine Philosophentracht, er wisse wohl, dass man die, welche 
sich in derselben blicken lassen, Cyniker zu nennen und für μαινομένους τινὰς 
ἀνθρώπους χαὶ ταλαιπώρους zu halten pflege. Aus diesen Stellen, denen ich hier 
nur noch Lucran Dial. mort. 1, 1.2 und Garen dign. an. pece, 3. Bd. V, 71 
beifügen will, sieht man auch, worin die äusseren Merkmale des eynischen 
Lebens bestanden: in dem oft sehr zerlumpten Philosophenmantel, dem un- 
verschnittenen Bart und Haar, dem Stab und Ranzen, und dem ganzen rauhen 
Bettlerleben, dessen Ideale ein Krates und Diogenes waren. 

2) Im Cynieus. 

3) Cicero behandelt den Cynismus noch durchaus als eine der Vergangen- 
heit angehörige Erscheinung; doch scheint Off. I, 41, 148 (Oynicorum vero 
ratio iota est ejicienda; est enim inimica verecundiae) bereits gegen Lobredner 
des eynischen Lebens gerichtet zu sein. Etwas später nennt Brutus (Prur. 
Brut. 34) den M. Favonius, dessen 5, 521 unter den Stoikern erwähnt wurde 


Demetrius. ἡ 687° 


tendste Mann dieser Schule in dem bezeichneten Zeitpunkt er- 
scheint Demetrius, der Freund des Seneca und Thrasea Pätus 1). 


mit Ausdrücken, welche den Cyniker bezeichnen, ἁπλοχύων und ψευδοχύων, 
doch kann man daraus noch nicht schliessen, dass es damals schon eine eyni- 
sche Schule gab. Unter Augustus soll jener Menippus gelebt haben, der bei 
Lucian eine so grosse Rolle spielt (Schol. in Luc. Piscat. 26. IV, 97 Jac.), 
und derselbe soll auch der Lycier Menippus sein, dessen Abenteuer mit einer 
Lamie Prrwoste. Apoll. IV, 25 erzählt, indem er ihn zugleich einen Schüler 
des Cynikers Demetrius nennt. (Derselbe ebd. IV, 39. V, 43.) Von diesen 
Angaben ist aber nicht allein die zweite, auch abgesehen von der Lamie, schon 
desshalb offenbar falsch, weil Demetrius nieht unter Augustus gelebt hat, 
gesetzt auch dieser Cyniker habe einen Schüler Namens Menippus gehabt; 
sondern auch die erste, allgemein (auch Bd. II, a, 206, 2) angenommene, ist 
gewiss unrichtig. Der Menippus, welchem Lucian im Ikaromenippus und 
einem grossen Theil der Todtengespräche die Hanptrolle übertragen hat, ist un- 
verkennbar der durch seine Satyren bekannte Cyniker des dritten Jahrhunderts 
v. Chr. (der auch schon eine Νέχυια geschrieben hatte; Dıoc. VI, 101), wie 
er denn auch von Lucıan (bis Aceus. 33) Μένιππός τις τῶν παλαιῶν χυνῶν 
μάλα ὑλαχτιχὸς genannt und seines Selbstmords (Dial. mort. 10, 11) erwähnt 
wird. Der angebliche Zeitgenosse des Augustus scheint nur aus einer will- 
kührlichen Combination dieses Menippus mit dem des Philostratus, welcher 
dann überdiess viel zu früh gesetzt wurde, entstanden zu sein. Die ersten 
geschichtlich nachweisbaren Cyniker sind die folg. Anm. zu nennenden. 

1) Dieser Zeitgenosse Seneca’s, welcher seiner oft erwähnt, war nach 
Sex. Benef. VII, 11 schon unter Caligula in Rom; der letztere bot ihm ein Ge- 
schenk von 200000 Sestertien an, welches er aber ausschlug. Ebendaselbst 
treffen wir ihn unter Nero (Sex. Benef. VII, 1, 3. 8, 2. ep. 67, 14. 91, 19); aus 
dieser Zeit stammen die Aeusserungen Sexeca’s über seine Armuth und seine 
Lebensweise v. be. 18, 3 (hoc pauperiorem quam ceteros Cynicos, quod, 
cum sibi interdixerit habere, interdixit et poscere), ep. 20, 9 (ego certe aliter 
audio, quae dieit Demetrius noster, cum illum vidi nudum, quanto minus, quam 
in stramentis, incubantem), ep. 62, 3 (er lebe, non tamquam contempserit 
omnia, sed tamguam alüs habenda permiserit), das Wort bei Erıkrer Diss, I, 
25, 22 und die Anekdote bei Lucıan. Saltator. 63. Bei dem Tode des Thrasea 
Pätus (67 n. Chr.) war er als vertrauter Freund desselben zugegen (Tac. Ann. 
XVI, 34 f.); um so mehr war es ihm übelzunehmen, dass er nach Vespasian’s 
Regierungsantritt die Vertheidigung des Egnatius Celer übernahm (Tac. Hist. 
IV, 40 vgl. Ann. XVI, 32). Wegen seiner beleidigenden Aeusserungen über 
Vespasian wurde er (71 n. Chr.) auf eine Insel verwiesen, seine förtgesetzten 
Schmähungen jedoch nicht weiter geahndet (Dıo Cass. LXVI, 13. Sueron. 
Vesp. 13). Bei Lucıan. adv. Ind. 19 erscheint er in Korinth; bei PrıLostk,. 
Apoll. IV, 25. V, 19 begegnen wir ihm unter Nero in Korinth und Athen, 
später wird er von Apollonins von Tyana dem Titus empfohlen (VI, 31), und 
ist noch unter Domitian in der Gesellschaft dieses Wunderthäters (VII, 42. 


688 Spätere Cyniker. 


So sehr aber dieser Philosoph auch von Seneca bewundert wird 7, 
und so vortheilhaft ohne Zweifel seine Bedürfnisslosigkeit von der 
Ueppigkeit der damaligen römischen Welt abstach, so wird doch 
sein philosophisches Verdienst nicht hoch anzuschlagen sein. Was 
wenigstens von ihm überliefert ist, zeigt keine bemerkenswerthen 
Gedanken, und dass nicht mehr überliefert ist, lässt vermuthen, 
es seien auch keine von ihm bekannt gewesen. Er ermahnt seine 
Schüler, sich nicht um vieles Wissen zu bemühen, sondern we- 
nige Lebensregeln für den praktischen Gebrauch einzuüben ?), er 
wendet sich mit nachdrucksvoller Beredsamkeit an ihr sittlickes Be- 
wusstsein 5); er äussert mit cynischer Derbheit seine wegwerfende 
Meinung über Andere 3); er stellt sich despotischer Drohung mit 


VII, 10 ff.); indessen ist darauf nicht zu gehen. Als Cyniker wird er von den 
meisten, die seiner erwähnen, bezeichnet. Von Schriften, die er hinterlassen 
hätte, ist nichts bekannt. — Zeitgenossen des Demetrius waren nach Eunar. 
v. soph. prooem. 8. 6, ausser Menippus, auch Musonius und Karneades. 
Von diesen drei Namen verdankt er aber die zwei ersten ohne Zweifel nur 
Philostratus (5. vor. Anm. und S. 652, 2), von dem wir nicht wissen, wie viel 
dem, was er über sie sagt, Geschichtliches zu Grunde liegt; wie es sich mit 
dem dritten verhält, lässt sich um so weniger beurtheilen, da desselben sonst 
nirgends Erwähnung geschieht. Dass es aber zur Zeit des Demetrius auch 
noch andere Cyniker in Rom gab, erhellt schon aus der oben angeführten 
Stelle aus Sen. v. be. 18, 3. Einen derselben, Namens Isidorus, der von 
Nero wegen eines beissenden Wortes aus Italien verbannt wurde, nennt 
Surron. Nero 39. 

1) Benef. VII, 1,3 nennt er ihn vir meo judicio magnus etiamsi maximis 
comparetur; ebd. 8,2 sagt er von ihm: quem mini videtur rerum natura nostris 
tulisse temporibus, ut ostenderet, nec ilum a nobis corrumpi nec nos ab ülo 
corrigi posse, virum exactae, licet neget ipse, sapientiae U. 8. W. Vgl. ep. 62. 
Nach Pıurrtoste. Apoll. IV, 25 hatte auch Favorinus seiner lobend erwähnt. 
In einem weniger glänzenden Licht erscheint er in dem, was so eben aus 
Tacitus, Dio Cassius und Sueton angeführt wurde. 

2) Sex. Benef. VII, 1,3 f. Das Weitere jedoch, von 8, 5 an, ist ebenso, 
wie c. 9. 10, Seneca’s eigene Ausführung. 

3) A. a. 0. 8, 2: er war eloquentiae ejus, quae res fortissimas deceat, non 
coneinnatae nec in verba sollicitae, sed ingenti animo, prout inpetus tulit, res 
suas prosequentis. 

4) Vgl. Lucıas. adv. Indoct. 19, wo er einem schlechten Vorleser das 
Buch aus der Hand nimmt und zerreisst; ferner was vorhin über seine Aeus- 
serungen gegen Vespasian angeführt ist, und Sen. ep. 91, 19, der von ihm 
anführt: eodem loco sibi esse voces imperitorum, quo ventre redditos erepitus. 
„quid enim, inquit, mea refert, sursum isti an deorsum sonent?“ Wenn Sen. 


Demetrius. | 689 


Todesverachtung entgegen !); er will äussere Unfälle als sittliches 
Bildungsmittel willkommen heissen, und sich unter allen, auch 
den schmerzlichsten Erfahrungen, willig und freudig in den Wil- 
len der Gottheit ergeben 5). Darin ist nichts, was nicht auch ein 
Stoiker sagen konnte, und auch die Geringschätzung des gelehr- 
ten Wissens theilt Demetrius wenigstens mit dem Stoicismus seiner 
Zeit; das Eigenthümliche seines Cynismus liegt daher nur in der 
Schroffheit, mit der er seine Grundsätze im Leben ausprägte. 

Von den Cynikern der nächstfolgenden Zeit ?) wissen wir 


freilich dieser Ausdrucksweise das Prädikat: eleganter ertheilt, so ist diess 
Geschmackssache. 

1) Bei Erıer. Diss. I, 25, 22 sagt er Nero: ἀπειλέίς μοι θάνατον, acı δ᾽ ἣ 
φύσις. 

2) Sex. Provid. 8, 8. 5, 5. ep. 67, 14, 

3) An die 5. 687, 1 genannten Cyniker schliessen sich, so weit unsere 
unvollständige Kenniniss dieser Schule reicht, die folgenden an. Zunächst 
unter Vespasian Diogenes und Heras, von denen wegen ihrer Schmähun- 
gen gegen die kaiserliche Familie jener ausgepeitscht, dieser enthauptet wurde 
(Dıo Cass. LXVI, 15), und wahrscheinlich auch der mit Demetrius verbannte 
Hostilius (ebd. e. 13). Unter Domitian oder Trajan werden wir, falls er 
(wie es denn doch scheint) eine geschichtliche Person ist, den Didymus mit 
dem Beinamen Planetiades zu setzen haben, welchem Pıur. De def. orac. (ce. 7. 
8.413) einen Ausfall gegen die Orakel in den Mund legt; unter Hadrian neben 
Oenomaus (s. u.) auch jenen Demetrius, von dem Lrcısx. Tox. 27 δ΄. 
erzählt, dass er nach Alexandria gekommen sei, um sich unter der Leitung 
eines gewissen Rhodius (oder eines Rhodiers) der eynischen Philosophie zu 
widmen, dass er seinen schuldlos verbafteten Freund Antiphilus mit der äusser- 
sten Aufopferung im Kerker gepflegt, am Ende sich selbst, um sein Loos zu 
theilen, angeklagt, und als ihre Unschuld an den Tag kam, die bedeutende 
Entschädigung, die er erhielt, seinem Freund überlassen habe, selbst aber zu 
den Brahmanen nach Indien gegangen sei. Geschichtlich scheint nämlich 
auch dieser Vorfall in der Hauptsache zu sein (vgl. c. 12), und wenn bei der 
Abfassung der Schrift, deren Zeitpunkt uns freilich nicht näher bekannt ist, 
Antiphilus noch in Aegypten lebte (c. 34), so mag seine und Demetrius’ 
Jugend in die angegebene Zeit fallen. Auch Agathobulus in Aegypten 
(Lucıax. Demon. ὃ. Peregrin. 17), vielleicht auch Timokrates von Hera 
klea (Ders. Demon. 3. Alex. 57. De saltat. 69), werden den Cynikern dieser 
Zeit beizuzählen sein. Unter Antoninus Pius und seinen Vorgängern lebte 
Demonax (s. u.), gleichzeitig Peregrinus mit dem Beinamen Proteus, 
dessen Gauklerleben und Selbstverbrennung Lucıax (Peregr. Prot. vgl. Fugit. 
1.2. Demon. 21. adv. Ind. 14) schwerlich erdiehtet, wenn auch ohne Zweifel 
ausgeschmückt, hat. Auch sein ebenso unwürdiger Bewunderer Theagenes 


Philos. ἃ. Gr. ΠῚ. Β. 1. Abth. 44 


690 Spätere Cyniker. 


einiges Nähere über Ὁ 6 ἢ 0 πὶ ἃ 15 von Gadara, der unter Hadrian’s 
Regierung gelebt haben soll 1). Jurıan wirft diesem Manne vor, 

er zerstöre in seinen Schriften die Ehrfurcht vor den Göttern, er 
verachte die menschliche Vernunft, und trete alle göttlichen und 
menschlichen Gesetze mit Füssen ?), seine Tragödien seien über 
alle Beschreibung schändlich und ungereimt?); und mag nun auch 
an diesem Urtheil der Abscheu des frommen Kaisers vor dem Ver- 
ächter. der Volksreligion keinen geringen Antheil haben, so müs- 
sen wir doch immerhin vermuthen, dass sich Oenomaus in auf- 
fallender Weise von der herrschenden Sitte und Denkweise ent- 
fernte. In den ausführlichen Bruchstücken aus seiner Schrift 


> 


(Luc. Peregr. 3 ff.), und die Philosophen gleichen Schlags Honoratus (Ders. 
Demon. 19, wo von ihm erzählt wird, dass er in ein Bärenfell gekleidet ge- 
wesen sei, und dass ihn Demonax desshalb ᾿Αρχεσίλαος genannt habe) und 
Herophilus (Icaromen. 16) scheinen geschichtliche, Krato dagegen (Ders. 
De Saltat. 1 ff.) eine erdichtete Person zu sein. Der Zeit der Antonine gehört 
Pankratius, der in Athen und Korinth lebte (PsıLaste. v. Soph. I, 23, 1), 
und Orescens, der Ankläger des Märtyrers Justin (Justıx. Apol. Il, 8. 
Tarıan. adv. gent. 19. Evs. ἢ. 600]. IV, 16 u. A.) an. Nach derselben ist in 
unserer Kenntniss cynischer Philosophen eineLücke von zweihundert Jahren, 
aber die Fortdauer der Schule lässt sich nicht bezweifeln. — Wann jener 
Asklepiades, welcher nach Terrurı. ad nat. 11, 14 mit einer Kuh weite 
Länder durchzog, der von Arzan. IV, 162, Ὁ mit einer τέχνη ἐρωτιχὴ angeführte 
Sphodrias, und die bei Pror. eod. 167. S. 114, Ὁ, 23 unter den Quellen des 
Stobäus genannten Cyniker Hegesianax, Polyzelus, Xanthippus, 
Theomnestus gelebt haben, wissen wir nicht. 

— 1) In diese Zeit versetzt ihn Srxerrıvs 5.849, B; die Angabe des, Suipas 
Olvöu., dass er um Weniges älter gewesen sei, als Porphyr, ist vielleicht 
daraus erschlossen, dass Eusebius (dessen bestimmtere Angabe aber ohne 
Zweifel Syncellus vor sich hatte) praep. ev. V, 19 ff. ihn unmittelbar vor Por- 
phyr bespricht, und ihn e. 18, 3 τὶς τῶν νέων nennt. 

2) Orat. VII, S. 209, B Spanh. vgl. VI, 199, A. 

3) A.a. 0.5. 210, Ὁ. Wenn Surmas Διογένης ἢ Οἰνόμ. einen Tragödien- 
schreiber Oenomaus nennt, der auch Diogenes geheissen, und nach dem Sturz 
der dreissig Tyrannen in Athen gelebt habe, so scheint dieser Angabe eine 
verworrene Erinnerung an unsere Stelle zu Grunde zu liegen, da in dieser erst 
von Tragödien, welche dem Diogenes, oder auch seinen Schüler Philistus 
(Philiskus) zugeschrieben wurden (vgl. Bd, II, a, 204, 2), dann von denen des 
Oenomaus gesprochen wird. 


Oenomaus. 691 


gegen die „Gaukler*!), die uns Eusesıus aufbewahrt hat ?), 
treffen wir eine ebenso heftige als freimüthige Polemik gegen die 
heidnischen Orakel, im Sinn cynischer Freigeisterei ?), welche 
aber auf keine eigentlich philosophischen Gründe gestützt wird; 
und im Zusammenhang damit wendet sich Oenomaus auch gegen 
den stoischen Fatalismus, und preist statt dessen die Willensfrei- 
heit als das Steuer und die Grundlage des menschlichen Lebens, 
indem er dieselbe ebensogut, wie unsere Existenz selbst, für eine 
unwidersprechliche Thatsache des Selbstbewussiseins erklärt, und 
die Unvereinbarkeit des Vorherwissens mit der Freiheit, des Ver- 
hängnisses mit der sitilichen Zurechnung darthut 2). Wir werden 
in diesen Aeusserungen die Selbständigkeit des Mannes nicht ver- 
kennen, der sich trotz seines Cynismus weder von Antisthenes 
noch von Diogenes abhängig machen will °); aber zu tieferem 
Eingehen in philosophische Fragen war er ohne Zweifel weder ge- 
neigt noch geeignet. ᾿ 

Auch der bekannte, von Lucıan verherrlichie Demonax 6} 


1) Der Titel dieser Schrift lautete nach Evs. praep. ev. V, 18, 8. 21, 4. 
VI, 6, 52. TueoporEr cur. Graec. affeet. (Paris 1642) VI, 8. 561: γοήτων 
φωρὰ, ungenauer nennt sie JuLıan VII, 209, B τὸ χατὰ τῶν χρηστηρίων. 

2) Praep. evang. V, ec. 19—36. VI, 6. 

3) Ganz ähnliche Aeusserungen legt Por. def. orac. 7. $. 413 dem Ver- 
treter des Cynismus in den Mund; weiter vgl. m. 5. 692, 6 und Bd.II, a, 234 ff. 

4) A. a. 0. VI, 7, 11 f. (darnach TaEoDorrr a. a. Ὁ.) mit dem Satze: ἰδοὺ 
γὰρ, ᾧ τρόπῳ ἡμῶν αὐτῶν ἀντειλήμμεθα, τούτῳ χὶ τῶν ἐν ἡμῖν αὐθαιρέτων χαὶ 
βιαίων. Vom Selbstbewusstsein war aber schon vorher gesagt: οὐχ ἄλλο ἱχανὸν 
οὕτως ὡς ἣ συναίσθησίς τε χαὶ ἀντίληψις ἡμῶν αὐτῶν. 

5) Β. Jurıan Orat. VI, 5. 187, C: 6 χυνισμὸς οὔτε ᾿Αντισθενισμός ἐστιν οὔτε 
Διογενισμός. 

6) Dieser Philosoph, dessen Leben Lucian zwar im Ton der Bewunde- 
rung, aber im Wesentlichen, wie es scheint, mit geschichtlicher Treue be- 
schrieben hat, war aus Cypern gebürtig, brachte jedoch den grössten Theil 
seines Lebens in Athen zu; als ihm die Schwäche des Alters empfindlich zu 
werden anfıeng, machte er, fast hundertjährig, seinem Leben durch Aus- 
hungerung ein Ende. (Luc. Demon. 3. 63 ff.) Der Zeitpunkt seines Todes 
lässt sich so wenig, wie der seiner Geburt, genau bestimmen; da er aber 
einerseits den Demetrius, Epiktet und Apollonius von Tyana noch kannte 
(Demon. 3. 31), andererseits mit Herodes Attikus, als dieser bereits seine an- 
gesehene Stellung einnahm, verkehrte (ebd. 24. 33), so wird sein Leben an- 
nähernd zwischen 50 und 150 n. Chr. zu setzen, vielleicht noch um einige 
Jahre, oder auch ein Jahrzehend, herabzurücken sein. 


44 * 


692 Spätere Cyniker. 


zeichnet sich weit mehr durch seinen Charakter als durch seine 
Wissenschaft aus 7). Von Oenomaus unterscheidet er sich haupt- 
sächlich dadurch, dass er die Schroffheiten der cynischen Denk- ° 
weise zu mildern, und sie mit dem Leben und seinen Bedürf- 
nissen zu versöhnen bemüht ist, im Uebrigen stimmt er mit dem- 
selben vielfach überein. Wenn sich schon Oenomaus weder streng 
an ein bestimmtes System gehalten, noch auch überhaupt um ein 
systematisches Wissen bemüht hatte, so war Demonax nach der 
Versicherung Lucıan’s ?) ein solcher Eklektiker, dass sich schwer 
_ entscheiden liess, welchem von seinen philosophischen Vorgän- 
gern er den Vorzug gab; er selbst gab sich in seiner äusseren 
Erscheinung als Cyniker, ohne doch die gefallsüchtigen Ueber- 
treibungen der Parthei gut zu heissen, wählte sich aber in seinem 
Wesen mehr die milde und maasshaltende Gesinnung des Sokrales 
zum Vorbild 59). und war weitherzig genug, neben einem Sokra- 
tes und Diogenes auch den Aristippus hochzuschätzen %). Sein 
Hauptbestreben war auf die Befreiung des Menschen von allem 
Aeusseren gerichtet; denn glückselig, sagte er, sei nur der Freie, 
frei aber sei nur, wer nichis hoffe und nichts fürchte, indem er 
von der Vergänglichkeit und Geringfügigkeit alles Menschlichen 
überzeugt sei®). Zu den wesentlichen Bedingungen dieser Unab- 
hängigkeit scheint er nun, im Geist des ächten Cynismus, nameni- 
lich auch die Befreiung von den Vorurtheilen der Volksreligion 
gerechnet zu haben; wenigstens erzählt sein Biograph, dass er 
angeklagt wurde, weil er nie opferte und die eleusinischen Wei- 
hen verschmähte, und er selbst giebt sich in seiner Verantworlung 
durchaus keine Mühe, seine geringe Meinung von dem öffentlichen 
Kultus zu verbergen °). Auch sein Selbstmord und seine Gleich- 


1) Ueber seinen milden, menschenfreundlichen, liebenswürdigen Charak- 
ter, seine ungetrübte Heiterkeit, seine Bemühungen für das sittliche Wohl 
seiner Umgebungen und die ausserordentliche Verehrung, die er sich dadurch 
erwarb, vgl. m. Luc. a. a. O. c. 5—11. 57. 63. 67. 

2) Demon. 5. 

3) A. a. 0.5—9. vgl. 19. 21. 48. 

4) Demon. 62. 

5) A..a..0. 20. 

6) Ebd. 11. Auf’den Vorwurf, dass er der Athene nicht opfere, antwortet 
er hier, er babe es bisher unterlassen, οὐδὲ γὰρ δεῖσθα: αὐτὴν τῶν παρ᾽ ἐμοῦ 
θυσιῶν ὑπελάμβανον, auf den andern, in Betreff der Mysterien, er habe sich 


Demonax. 693 


gültigkeit gegen seine Bestattung ') lassen uns den Schüler des 
Antisthenes und Zeno erkennen. Eine wissenschaftliche Bedeu- 
tung hat aber Demonax so wenig, als ein Anderer von dieser 
Richtung, und nur desswegen sind diese Erneuerer des Cynismus 
nicht ohne alle Bedeutung für die Geschichte der Philosophie, weil 
sich auch in ihrem Auftreten theils die praktische Genügsamkeit 
der Zeit und ihre Abwendung von der reinen Wissenschaft, theils 
die Neigung zum Eklekticismus und zu einer wohlfeilen Zurück- 
ziehung auf das unmittelbare Bewusstsein ausspricht. 

Gerade desshalb aber, weil dieser Cynismus weit mehr eine 
Lebensweise, als eine wissenschaftliche Ueberzeugung ist, konnte 
er sich, den Wechsel der philosophischen Systeme überdauernd, 
bis in die letzten Zeiten der griechischen Philosophie erhalten. 
Noch in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts fand sich der 
Kaiser JuLıan zu den zwei Vorträgen gegen die Cyniker veran- 
lasst, welche uns von dem geistigen Werth dieser Schule in jener 
Zeit ein so unvortheilhafies, aber in der Hauptsache wohl nicht 
unrichtiges Bild geben ?). Einige Jabrzehende später bezeugt Au- 
eustin, alle Philosophenschulen, ausser der cynischen, peripate- 
tischen und platonischen, seien ausgestorben 5); und noch um den 
Anfang des sechsten Jahrhunderts begegnet uns in Athen ein ey- 
nischer Ascet Salustius %). Mit dem Untergang des Heidenthums 
gieng natürlich auch diese Schule als solche zuEnde; das einzige, 


nieht aufnehmen lassen, weil es ihm unmöglich wäre, nicht mit den Unein- 
geweihten davon zu reden, wenn die Mysterien schlecht seien, um sie zu 
warnen, wenn sie gut seien, um sie damit bekannt zu machen. 

1) Ebd. 65 £. 

2) Or. VI εἰς τοὺς ἀπαιδεύτους zuvag. Or. VII πρὸς 'Πράχλειον Kuvırov, πῶς 
χυνιστέον. Beispielshalber vgl. m. aus der letzteren S. 204, C f. 223, B ft. Als 
Cyniker seiner Zeit nennt Julian S. 224, C ausser Heraklius noch Askle- 
piades, Serenianus und Chytron, or. VI, 198, a Iphikles (aus Epirus, 
dessen freimüthige und erfolgreiche Vorstellungen bei dem Kaiser Valentinian 
1, δ, 375 Amsmıan. Mawc. XXX, 5, 8 erzählt). Einen Cyniıker Demetrius 
Chytras, der schon hochbejahrt unter Constantius auf eine politisch-religiöse 
Anklage hin gefoltert, aber schliesslich freigelassen wurde, kennen wir aus 
Anumıan. XIX, 12, 12. 

3) ©. Acad. III, 19, 42: itaque nune philosophos non fere videmus, nisi 
aut Cynicos aut Peripaleticos aut Platonicos. Et Uynicos quidem, quia eos vilae 
quaedam delectat liherias alque licentia. 

4) Daussc. v. Isidori 89.492. 250. 


094 Peripatetiker der Kaiserzeit. 


was sie Eigenthümliches hatte, die cynische Lebensweise, hatte 
ja die christliche Kirche schon längst im Mönchsthum in sich auf- 
genommen '). 


10. Die Peripatetiker der ersten Jahrhunderte n. Chr. 


Die Richtung, welche die peripatetische Schule im ersten 
vorchristlichen Jahrhundert genommen hatte, behauptete sich in 
ihr während ihres ganzen ferneren Bestehens %). Von den Mit- 
gliedern derselben, die uns bekannt sind ®), werden die meisten, 


1) Schon Jursan vergleicht a. a. O. 224, A die Cyniker mit den ἀποταχτι- 
σταὶ (= qui saeculo renunciaverunt) der Christen. 

2) Zum Folgenden vgl. Farrıc. Bibl. gr. III, 458 ff. Harl. Braspıs und 
Zuuer in den 8.549, 1 genannten Abhandlungen. PraxtL Gesch. d. Logik 
1, 545 fi. 

3) Unsere Kenntniss der peripatetischen Schule in diesem Zeitraum ist 
schr lückenhaft. Nach den $. 548 ff. Genannten finden wir um die Mitte des 
ersten christlichen Jahrhunderts Alexander von Aegä, den Lehrer Nero's 
(Sum. "AR. Aly.), von dem Sımpr. Categ. 3, α (Schol. in Arist. 29, a, 40) aus 
einem Commentar zu den Kategorieen, Arex. Arnr. b. Sıner. De coelo, Schol. 
494, Ὁ, 28 aus einem solchen zu den Büchern vom Himmel Bemerkungen an- 
führen; Demselben, glaubt IpeLer Arist. Meteorol. I, XVI Εἰ, sei vielleicht 
der Commentar zur Meteorologie beizulegen, welcher unter dem Namen des 
Alexander von Aphrodisias überliefert ist, indem er, wie es scheint, bei dem 
Sosigenes, den jener seinen Lehrer nennt, an den bekannten Astronomen zur 
Zeit Cäsar’s denkt; wir werden jedoch finden, dass gerade der Aphrodisier 
einen Sosigenes zum Lehrer gehabt hat. Gegen das Ende des gleichen Jahr- 
hunderts begegnet uns bei Prur. qu. conviv. IX, 6. 14, 5 ein Peripatetiker 
Menephylus, vielleicht Vorsteher der athenischen Schule, und bei Dem- 
selben frat. am. 16, 5. 487 der Peripatetiker Apollonius, einer der „jünge- 
ven.Philosophen“, welchem nachgerühmt wird, dass er seinem Bruder Sotion 
zu grösserem Ansehen, als sieh selbst, verholfen habe. Es könnte diess 
möglicherweise der Alexandriner Apollonius sein, von dem Smupr. in Categ, 
Schol. in Arist. 63, b, 3 eine Schrift über die Kategorieen anführt. Ein 
Sotion ist uns schon Bd. II, b, 756,3 (vgl. S. 600, 3 dieses Bandes) als Ver- 
fasser des Κέρας ᾿Αμαλθείας vorgekommen; in Demselben,habe ich dort den- 
jenigen vermuthet, von dem Arzx. Arnr. Top. 213, o., wie es scheint aus 
einem Commentar zur Topik, und Sımpr. Categ. 41, y, Schol. in Ar. 61, a, 22 
aus einem solchen zu den Kategorieen ein paar unbedeutende und schiefe Be- 
merkungen mittheilen. Auf sein Sammelwerk scheint sich Prix. h. nat. praef. 24 
zu beziehen; in diesem Fall dürfte Sotion etwa in die Mitte des ersten Jahr- 
hunderts zu setzen sein, was sich auch mit der Annahme, dass er der von 
Plutarch genannte Bruder des Apollonius sei, ven dem übrigens Plut. nicht 


Peripatetiker der Kaiserzeit. 695 


sofern überhaupt etwas Näheres über ihre Leistungen berichtet 
wird, mit Erläuterungsschriften zu den aristotelischen Werken 


sagt, ob er gleichfalls Peripatetiker war) gut vertragen würde. Auch seinen 
- eigenen Bruder, Lamprias, bezeichnet Pıvr. qu. conv. II, 2,2 vgl.I, 8, ὃ 
als Peripatetiker; dagegen ist der ebd. VII, 10, 2, 1 als δαιμονιώτατος "Apısro- 
τέλους ἐραστὴς aufgeführte Favorinus doch wohl nur der bekannte, später 
zu besprechende Akademiker. — Im ersten Viertheil des zweiten Jahrhunderts 
muss Aspasius als Lehrer thätig gewesen sein, da Garen (De cogn. an. 
morb. 8. Bd. V, 42) im ersten Jünglingsalter einen Schüler dieses Philogbphen 
zum Lehrer hatte, und Herminus (b. Sımrr.. De coelo, Schol. 494, b, 31 ff.) ihn 
anführt; über seine Commentare zu Aristoteles wird sogleich zu sprechen sein, 
Ebenso über Adrastus aus Aphrodisias (Davıp Schol. in Ar. 30, a, 9. Anon. 
ebd. 32, b, 36. Stmrr. Categ. 4, y, ebd. 45. Acı. Tar. Isag. c. 16. 19. S. 136. 
139), der mit jenem zusammen genanut wird (Garen De libr. propr. c. 11. 
Bd. XIX, 42 f. Porrn. v. Plot. 14); dass er auch der Zeit nach nicht weit von 
ihm entfernt ist, wird theils durch diese Zusammenstellung, theils durch seine 
später nachzuweisende Benützung bei Theo Smyrnäus wahrscheinlich. Wäre 
er der bei Arnkn. XV, 673,e (wo unser Text "Aöpavrov hat) erwähnte Verfasser 
einer (schon Bd. 11, b, 684 m. berührten) Erläuterungsschrift zur theophrasti- 
schen und aristotelischen Ethik, so würden wir ihn in die Zeit des Mark Aurel 
oder Antoninus Pius, wahrscheinlich jedoch (wegen seiner Benützung durch 
Theo und Galen) ınehr in die des letztern zu setzen haben. Unter Trajan und 
Hadrian setzt Suipas u. d. W. den Rhetor Aristokles aus Pergamum; nach 
Pritoste. v. soph. II, 3 war er ein Zeitgenosse des Herodes Attikus, also 
etwas jünger, hatte sich aber nur in seiner Jugend mit peripatetischer Philo- 
sophie beschäftigt. Auf ihn, und nicht den Messenier, bezieht sich wohl auch, 
was Syxes.Dio 8. 12R. über Aristokles’ Abfall von der Philosophie zur Rhetorik 
sagt. — Um 140—150 lebte Claudius Severus, der Lehrer Mark Aurel's 
(Carıror. Ant, Philos. 3 vgl. Garen De praenot. ce. 2. Bd. XIV, 613) und die 
von Lucıan Demon. 29. 54 erwähnten, Agathokles und Rufinus; um die- 
selbe Zeit und später Herminus, nach Arex. Arur. b. Sınrr. De coelo Schol. 
494, b, 31 fi. der Lehrer dieses Peripatetikers, und wie es scheint der Schüler 
des Aspasius, Allem nach derselbe, den Lucıax Demon. 56 einen schlechten 
Menschen nennt, (gerade über die Kategorieen, welche nach dieser Stelle 
Herminus im Munde zu führen pflegte, hatte der Lehrer Alexanders einen 
vielbenützten Commentar geschrieben). Gleichzeitig ist Eudemus, ein 
Bekannter Galen's, welcher von diesem Arzte um 165, in seinem 63sten Jahre, 
zu Rom in einer Krankheit behandelt wurde (GaLex De praenot. c. 2 f. 
Bd. XIV, 605—619. De anatom. administr. I, 1. Bd.II, 218 u.ö., s.d. Register). 
Auch der Kleodemus Lucıan’s (Philops. 6 ff. Symp. 6. 15) müsste in diese 
Zeit fallen. Dieser ist aber ohne Zweifel eine erdichtete Person. — Ein Zeit- 
genosse Mark Aurel's (161—180) ist Alexander von Damaskus, welchen 
Gauex (De praenot. ec. 5. De anatom. administr. I, 1. Bd. XIV, 627 f. II, 218) 
als den Lehrer des Consularen Flavius Boötlhus (der auch Bd. XIV, 612) 
und als damaligen öffentlichen Lehrer der peripatetischen Philosophie in 


696 Peripatetiker der Kaiserzeit. 


genannt, und unter diesen sind es wieder die logischen Bücher 
des Philosophen, mit denen sich diese Erklärer vorzugsweise be- 


Athen bezeichnet, nebst dem Stadtpräfekten Paulus (a. a. O. XIV, 612) und 
dem Mytilenäer Premigenes (Garen sanit. tu. V, 11. Bd. VI, 365. 367); 
unter denselben Kaiser und seinen Nachfolger Commodus werden wir die 
Lehrer des Alexander von Aphrodisias, Aristokles von Messene (s. u.) und 
Sosigenes zu setzen haben; dass Alexander den letzteren gehört hatte, sagt 
nicht blos er selbst Meteorol. 116,a,0. und bei Pzıror. Schol. in Ar. 158, b, 28, 
sondern auch der Bearbeiter seines Commentars zur Metaphysik S. 432, 12 
-Bon. (741, b, 48 Bekk.) und Taenıst. De an. 79, a, u.; wenn es bei Psruno- 
ALEX. Metaph. 636, 21 (797,.b, 6 Bekk.) heisst: ὕστερος γὰρ Σωσιγένης ᾿Αλεξάν- 
ὅρου τῷ χρόνῳ, so ist diess jedenfalls entweder ein Versehen des Epitomators 
oder ein Schreibfehler. Unter Septimius Severus, und genauer (wie Zumpt 
a, a. 0. S. 98 zeigt) zwischen 198 und 211 wurde Alexander von Aphro- 
disias der Lehastuhl für peripatetische Philosophie in Athen übertragen (s. o. 
609, 2, Schl.).. Er, und nicht ein sonst unbekannter Peripatetiker Namens 
Aristoteles, ist auch mit dem νεώτερος ᾿Αριστοτέλης ὃ ἐξηγητὴς TOD φιλοσόφου | 
᾿Αριστοτέλους bei Srrıan (zu Metaph. XIII, 3. 1078, a, 24. Arist. Metaph. ed. 
Brandis 11, 297, 28) gemeint, wie ausser der Stelle selbst ihre Vergleichung 
wit Ar,ex. Metaph. 715, 18 ff. Bon. ausser Zweifel stellt. Ebenso sagt Davın 
in Categ. Schol. 28, a, 21, man nenne Alex. auch Aristoteles, οἷον δεύτερον 
ὄντα ᾿Αριστοτέλην. --- Neben diesen Peripatetikern, deren Zeit sich wenigstens 
“annähernd bestimmen lässt, werden noch ziemlich viele andere genannt, von 
denen wir kaum mehr sagen können, als dass sie den zwei ersten Jahrhunderten 
n. Chr. angehören müssen. Dahin gehört Acaaızus (von Fapeıc, Biblioth. gr. 
III, 536 Harl. irrthümlich für einen Stoiker gehalten), von welchem Sıuer. in 
Categ., Schol. 61, a, 22. 66, a, 42. b, 35. 73, b, 20. 74, b, 21 Bemerkungen 
tiber die Kategorieen, ohne Zweifel aus einem Coinmentar über diese Schrift, 
anführt; in der ersten von diesen Stellen unterscheidet er ihn als einen Jün- 
geren von den alten Erklärern, Andronikus, Boöthus u. 5. w. Derselbe ist es 
vielleicht auch, welchen Dıoe. VI, 99 mit einer Ethik anführt. Ferner De- 
metrius von Byzanz (Dıoc. V, 83), falls er nicht der 8. 557 Genannte ist, 
Euarmostus, dem Aspasius bei Arex.z. Metaph. 44, 23 Bon. 552, b, 29 Bekk. 
schuldgiebt, dass er und Eudorus eine Lesart in der Metaphysik verändert 
haben, der also wohl jedenfalls noch in’s erste Jahrhundert gehört. Die von 
Arex. ἄρηπ. De an. 154, b, o. angeführten, Sokrates (wohl der von Dıoc. 
II, 47 genannte Peripatetiker aus Bitbynien) und Virginius Rufus, viel- 
leicht auch der ebd. 162, b, u. genannte Polyzelus. Der Ptolemäus, über 
welchen Bd. II, b, 43, m. zu vergleichen ist. Artemon, der Sammler aristo- 
telischer Briefe (Bd. II, b, 44, 1), ist wohl älter, als Andronikus; von Nikan- 
der, welcher (nach Su». ᾿Αἰσχρίων) über die Schüler des Aristoteles schrieb, 
und dem alexandrinischen Peripatetiker Strato (Dıoc. V, 61 — bei TERTULL. 
De an. 15 ist nicht er, sondern der Schüler des Erasistratus, welchen Diıos, 
ebd. gleichfalls nennt, gemeint), wissen wir nicht, ob sie vor oder nach dem 


Aspasius. Adrastus. 697 


schäftigt zu haben scheinen. Doch ist das, was in dieser Bezie- 
hung von Peripatetikern des ersten Jahrhunderts !) mitgetheilt 
wird, sehr unerheblich. Aus dem zweiten werden von Aspasius 
Erklärungen der Kategorieen 5), der Schrift περὶ Egunveixz 9), 
der Physik *), der Bücher vom Himmel °), der Metaphysik ©) er- 
wähnt‘); scheint er aber auch die aristotelischen Schriften sorg- 
fältig erklärt, und namentlich auch auf die verschiedenen Lesarten 
geachtet zu haben, so ist doch nichts von ihm überliefert, was 
eine selbständige Untersuchung philosophischer Fragen bewiese. 
Mehr Eigenthümliches wird von Adrastus 5) berichtet. Aus sei- 
ner Schrift über die Ordnung der aristotelischen Werke 5) werden 
Bemerkungen über die Reihenfolge, die Titel und die Aechtheit 
derselben angeführt 19), weiter geschieht eines Commentars zu den 


Anfang der christlichen Zeitrechnung gelebt haben. Ob Julianus von 
Tralles, dessen Annahme über die Bewegung des Himmels durch die platoni- 
sehe Weltseele Arzx. Arnr. bei Sıuer. De coelo, Schol. 491, b, 43 bespricht, 
Peripatetiker oder Platoniker war, und ob diese Anführung auf einen Com- 
mentar zu den Büchern vom Himmel oder auf einen solchen zum Timäus geht, 
lässt sich aus der Stelle nicht abnehmen. 

1) Alexander von Aegä und Sotion; s. S. 694, 3. 

2) Garen De libr. propr. c. 11. Bd. XIX, 42 £. 

3) Βοξτη. De interpret. II (Opp. Basil. 1570) S. 291, u. 302, m. 303, u. 
316, m. 321, m. 333, u. 347, u. 356, u. Boöthius äussert sich übrigens wie- 
derholt, und nicht ohne Grund, sehr ungünstig über seine Erklärungen, 

4) Sımer. Phys. 28, b, o. 96, a,u. b, o. 99, b, u. 127,a, u. b,m. 190, 8,0. 
132, b, u. 133, a,o.m. 135,a, ο. u. 138,b, u. 151, a, u. 168, b, u. 172, a, ὃ. 
178, a,m. 192, b, u. 199, a, Ὁ. 214, a, u. 219, a, 0. 222, a, οἱ 223, b, u. 239, 
a, 0. ἢ, 0. 

5) Sımer, De coelo, Schol. in Arist. 494, b, 31. 513, b, 10. 

6) Arex. in Metaph. 31, 23. 44, 23. 340, 10 Bon. 543, a, 31. 552, b, 29. 
704, b, 11 Bekk. 

7) Als Auszug aus einem Commentar des Aspasius geben sich auch die 
Scholien zu den vier ersten Büchern und zu Theilen des 7ten und 9ten Buchs 
der nikomachischen Ethik, welche Hasz im Classical Journal Bd. XX VIII und 
XXIX veröffentlicht hat, die übrigens von keinem grossen Werth sind, 

8) Ueber ihn Marrıs zu Theo Smyın. Astronomia 8. 74 ff. 

9) Περὶ τῆς τάξεως τῶν ᾿Αριστοτέλους συγγραμμάτων (Sımer. Phys. 1, b, m. 
Categ. 4, {; ungenauer ist die Bezeichnung Categ. 4, y: π. τ. τάξ. τῆς "Aptor. 
φιλοσοφίας). 

10) Nach Sısıer. Categ. 4, y wollte er die Kategorieen (von denen er ebd. 
4,% vgl. Schol, in Arist. 33, b, 30. 39, a, 19. 142, b, 38 noch eine zweite Ro- 


698 Peripatetiker der Kaiserzeit. 


Kategorieen Erwähnung’), und aus einem solchen zur Physik 
theilt Sınpuicius 3) eine Auseinandersetzung über die Begriffe der 


Substanz, der wesentlichen und der zufälligen Eigenschaft mit, 


welche die aristotelischen Bestimmungen und Ausdrücke gut er- 
läutert. Nehmen wir hinzu, was über seine mathematischen Kennt- 
nisse, seine harmonischen und astronomischen Schriften, seinen 
Commentar zum Timäus berichtet wird und aus denselben erhalten 
ist 5), so werden wir das Lob, welches Sınpricıus diesem Peripa- 
ietiker spendet 5), für vollkonmen gerechtfertigt erkennen müs- 
sen. Aber doch war es Allem nach mehr die treue Ueberlieferung 
und verständige Erläuterung der aristotelischen Lehre, als neue 
und eigenthümliche Untersuchungen, wodurch er es verdient hat. 


cension namhaft macht) allen übrigen aristotelischen Schriften voranstellen 
und auf sie die Topik folgen lassen, und er gab desshalb den Kategorieen die 
Ueberschrift: πρὸ τῶν τόπων (Anon. Schol. 32, b, 36, dessen Angabe vor der 
Davın’s ebd. 30, a, 8 den Vorzug verdient, da dieser, oder vielleicht auch nur 
sein Abschreiber, Adrast's und des angeblichen Archytas Bestimmungen ofen- 
bar verwechselt). In derselben Schrift hatte er 40 Bücher der Analytik er- 
wähnt, von denen nur unsere vier ächt seien (s. Bd. II, b, 52, 1), und sich 
über die Titel der Physik und ihrer Haupttheile geäussert (Sımer. Phys. 1, Ὁ, m. 
2,2, 0. vgl. Bd. II, b, 60). 

1) Gaven libr. propr. 11. XIX, 42 £. 

2) Phys. 26, b, m. Dass diese Erörterung einem Commentar zur Physik 
entnommen ist, erhellt aus den Worten, mit denen Simpl. sie einführt: ὃ δὲ 
"Abpaotos βουλόμενος δηλῶσαι To „orep Ov‘‘ (bei Arist. Phys. I, 3. 186, a, 33) 
παρεξῆλθεν μὲν ὀλίγον τῶν προχειμένων u. 5, w. Simpl. scheint aber diesen Com- 
mentar, den er sonst nie anführt, nicht selbst in Händen gehabt, sondern die 
Stelle von Porphyr, der ihrer, wie er bemerkt, erwähnt hatte, entlehnt zu 
haben. Der Auszug aus Adrast geht wohl bis zu den Worten: οὐδὲ λέγεται 
ὕπερ τὸ συμβεβηχός. ' » 

3) Als Mathematiker bezeichnet Craupıan. MamERT. De statu an. I, 25 
den Adrastus, wenn sich diess auf den unsrigen hezieht; aus seinem Commen- 
tar zum Timäus führt Porrx. in Ptol. Harm. Wallis. Opp. III, 270 eine Be- 
stimmung über die Consonanz an, seine Harmonik in drei Büchern soll noch 
handschriftlich vorhanden sein (Fasıc. Bibl. gr. III,459.653); der ersten von 
diesen Schriften sind ohne Zweifel die Anführungen bei Proxı.. in Tim. 192,C. 
197, C. 198, E, und wohl auch bei Acn. Tar. Isag. c. 19. 8. 136 (80) entnom- 
men; eine Abhandlung über die Sonne nennt Ac#. Tar. ce. 19, 8.139 (82). 
Endlich hat Marrız a. a. Ὁ. nachgewiesen, dass der grösste Theil von Theo’s 
Astronomie aus einer Schrift des Adrastus entlebnt ist. 

4) Categ. 4, y: ᾿Αδρ. 5 ᾿Αφροδισιεὺς, ἀνὴρ τῶν γνησίων Περιπατητιχῶν 
γεγονώς. 


ΕΒ τ:-ὄ-ἅῬ---- 


‚ Adrastus. 699 


Wie er in den einzelnen Bestimmungen, welche von ihm überlie- 
fert sind, fast durchaus Aristoteles folgt, so schliesst er sich auch 
in seiner allgemeinen Ansicht über die Welt und die Gottheit an 
ihn an. Die Welt, deren Bau er nach aristotelischem Muster be- 
schreibt '), ist durch das höchste Wesen auf’s Beste eingerichtet, 
und wird von ihm in der ihr zukommenden Weise, im Kreise be- 
wegt. Eine Folge des Gegensatzes unter den irdischen Elemen- 
ten und der verschiedenartigen Wirkungen, welche die Planeten- 
sphären bei der Mannigfaltigkeit ihrer Bewegungen auf sie aus- 
üben, ist der Wechsel in der diesseitigen Welt ®), dabei verwahrt 
sich aber der Peripatetiker ausdrücklich gegen die Meinung, als 
ob die himmlischen Körper um des Geringeren und Vergänglichen 
willen geschaffen seien, jene haben vielmehr ihren Zweck in sich 
selbst, und ihr Einfluss auf das Irdische sei nur eine naturnoth- 
wendige Wirkung °). Alles diess ist aristotelisch, auch die ari- 
stotelische Sphärentheorie suchte Adrast im Prineip festzuhalten, 
indem er sie mittelst sinnreicher Abänderungen mit den Annahmen 
der späteren Astronomen verknüpfte 3). Er erscheint daher, ab- 


1) M. s. die Ausführungen über die Kugelgestalt des Weltganzen und der 
Erde, die Lage der letzteren im Mittelpunkt des Ganzen, ihre im Vergleich 
mit diesem verschwindende Kleinheit, bei Tueo Suyes. Astron. c. 1—4. 

2) A.2. 0. c. 22. 

3) A. a. O.: Unter dem Monde herrscht der Wechsel, das Entstehen und 
Vergehen. τούτων δὲ, φησὶν (sc. Adrastus), αἴτια τὰ πλανώμενα τῶν ἄστρων. 
ταῦτα δὲ λέγοι τις ἂν, οὐχ ὡς τῶν τιμιωτέρων χαὶ θείων χαὶ ἀϊδίων ἀγεννήτων τε χαὶ 
ἀφθάρτων ἕνεχα τῶν ἐλαττόνων χαὶ θνητῶν χαὶ ἐπιχήρων πεφυχότων, ἀλλ᾽ ὡς ἐχείνων 
μὲν διὰ τὸ χάλλιστον χαὶ ἄριστον χαὶ μαχαριώτατον ἀεὶ οὕτως ἐχόντων, τῶν δὲ ἐν- 
ταῦθα χατὰ συμβεβηχὸς ἐκείνοις ἑπομένων. Die Kreisbewegung der Welt setze 
einen ruhenden Mittelpunkt voraus, also ein Element, dessen natürliche Be- 
wegung gegen die Mitte gehe; dann müsse es aber auch eines geben, dessen 
Bewegung gegen den Umkreis hingeht, und weiter die zwischen beiden liegen- 
den. Diese Elemente seien nun ihrer Natur nach veränderlich; wirklich her- 
beigeführt werde ihr Wechsel durch den der Jahreszeiten, der seinerseits 
durch die wechselnde Stellung der Planeten, besonders der Sonne und des 
Mondes, bedingt sei. Vgl. hiezu Bd. II, b, 334, 4. 359 f. 

4) Bei Theo c. 32, wozu c. 18 und Marrıx 5. 117 f. z. vgl. Adrast nimmt 
hier an, jeder Planet sei auf der Oberfläche einer Kugel befestigt, welche sich 
ihrerseits von der oberen zur unteren Begrenzungsfläche einer bohlen, mit der 
Fixsternsphäre concentrischen, Sphäre erstrecke. Die letztere soll sich nun 
in der Richtung der Ekliptik, aber langsamer, als die Fixsternsphäre, von 


“00 Peripatetiker der Kaiserzeit, 


gesehen von seinen mathematischen und sonstigen gelehrten Kennt- 
nissen, durchaus nur als ein geschickter Erklärer und Vertheidi- 
ger der aristotelischen Annahmen. — Nicht einmal so viel lässt 
sich Herminus nachrühmen. Was uns aus seinen Commentaren 
zu den logischen Schriften des Aristoteles mitgetheilt wird '), ist 
theils unbedeutend, theils kommt darin eine äusserliche und for- 
malistische Behandlung der logischen Fragen und mancherlei Miss- 
versländniss der aristolelischen Sätze zum Vorschein ?). Dass er 


Ost nach West drehen (oder vielleicht auch, sagt Adr., in dieser Riebtung von 
der Fixsternsphäre mit berumgeführt werden, während sie selbst sich von 
West nach Ost dreht); gleichzeitig aber soll die den Planeten tragende Kugel 
(welche den Epieykeln Hipparch’s entspricht) innerhalb der hohlen Sphäre sich 
in der Art bewegen, dass der Planet einen Kreis beschreibt, dessen Durch- 
messer von einem Punkt ander äusseren Grenze der planetarischen Hohlsphäre 
bis zu dem ihm gegenüberliegenden an ihrer inneren Grenze sich erstreckt, 
dessen Mittelpunkt daher von dem der concentrischen Sphären um den Halb- 
messer der den Planeten tragenden Kugel abliegt; so dass demnach Adrast 
auch der Hypothese der Ekkentren in seiner Theorie Rechnung getragen hatte. 
Dass übrigens diese Theorie, abgesehen von ihren sonstigen Mängeln, nur 
die scheinbaren Umläufe der Sonne und des Mondes erklären würde, bemerkt 
Marrın 8. 119, 

1) Am Häufigsten wird unter diesen die Erklärung der Kategorieen 
angeführt; s. folg. Anm. und Sıwrr. in Categ. Schol. in Arist. 40, a, 17. 42, a, 
13. 46, a, 30. b, 15. (14, ὃ Basil.) 47, b, 1. 56, b, 39 und S. 3, ε Bas. Poren. 
ἐξήγ. 33, a. Schol. 58, b, 16. Ferner die der Schrift x. “Ἑρμηνείας: Boüre. De 
interpret. II-(Opp. Basil. 1570), 298, ο. 347, m. 356, m. 387,m. 394,u. 400,0. 
401,0. (Schol. 125,a,u.). Ammon. De interpret. 43, α, Schol. 106, b, 5. Weiter 
vgl.m.folg. Anm. Ebd. und b. Arex. Anal. pri. 28, b, u. über seine Erklärung 
der Analytik, b. Arex. Top. 271, u. 274, m über die der Topik. 

2) M. 5. hierüber Prastr Gesch. d. Log. I, 545 ff. Was von Herminus’ 
Logik etwa anzuführen sein mag, ist dieses. Die Schrift über die Kategorieen, 
welche er als Grundlegung der Dialektik betrachtete, und daher mit Adrastus 
πρὸ τῶν τόπων überschrieb (Davıp Schol. in Arist. 81, b, 25, nach dem er eben 
hieraus die Voranstellung der Lehre von den Gegensätzen Categ. c. 10 er- 
klärte), soll weder ontologisch von den obersten Gattungen des Wirklichen, 
noch blos von den Redetheilen handeln, sondern von den für jede Klasse des 
Wirklichen geeigneten Bezeichnungen (Porn. ἐξήγ. 4, b. Schol. 31, b, u. vgl. 
ebd. Z. 22. Davın Schol. 28, b, 14); dabei wollte er es dahingestellt sein 
lassen, ob es nur so viel oberste Gattungen gebe, als aristotelische Katego- 
rieen (Sımer,. Schol. 47, b, 11 ff.). Wenn Aristoteles De interpret. 1, Anf. sagt, 
die psychischen Vorgänge, welche durch die Worte bezeichnet werden, seien 
bei Allen die gleichen, so wollte diess Herminus nicht zugeben, weil es in 


Herminus; Achaikus; Sosigenes. 701 


die Endlosigkeit der Bewegung des Himmels nicht von der Ein- 
wirkung des ersten Bewegenden, sondern von der ihm inwohnen- 
den Seele herleitete 1). ist eine Abweichung von der aristoteli- 
schen und eine Annäherung an die platonische Lehre, der schon 
Alexander widersprochen hatte 2). Aus Achaikus Commentar 
zu den Kategorieen ist uns nur wenig und Unerhebliches überlie- 
fert?). Auch aus Sosigenes’ logischen Schriften wird nicht viel 
mitgetheilt %); dagegen erhalten wir durch seine Erläuterung und 
Beurtheilung der aristotelischen Sphärentheorie °) eine sehr gün- 
stige Meinung von seinen mathematischen Kenntnissen und von 
der Sorgfalt, mit der er dieselben zur Erklärung des Aristoteles 


diesem Fall nicht möglich wäre, den gleichen Ausdruck in verschiedenem 
Sinne zu nehmen, wesshalb er a. a. O. 16, a, 6 statt ταὐτὰ πᾶσι παθήματα ψυγῆς 
„raüra‘‘ Jas (BoErn. De interpret. 303, o., Schol. 101, b,u. Ammon. De inter- 
pret.21,a. Schol. 101,b,6). In Betreff der sog. unendlichen Sätze unterschied 
er die drei Fälle, dass das Prädikat, oder das Subjekt, oder beide unendliche 
(negativ ausgedrückte) Begriffe seien, wollte aber fälschlich nicht blos die 
der ersten, sondern auch die der zweiten und dritten Klasse den entsprechen- 
den verneinenden Urtheilen gleichstellen (ΒΟΕΤΗ. 388, m). Zu Anal. pri. 26, 
b, 37 stellte er eine unfruchtbare Untersuchung darüber an, welcher Begrift 
in Schlüssen der zweiten Figur der Ober- und welcher der Unterbegrifi' sei 
(Arex. Anal. pri. 23, b, m., Schol. 153, Ὁ, 27. Pranrtı. 555 £.). 

1) Sımer. De eoelo, Schol. 491, b, 45, nach einem Bericht Alexanders, 
der sich aber, wie es scheint, nicht auf einen Commentar, sondern auf die 
Vorträge des Herminus bezog, wie auch ebd.494,b, 31 ff. nur aus diesen eine 
Aussage desselben über die Lesart des Aspasius mitgetheilt wird. 

2) Doch werden wir finden, dass sich dieser Widerspruch auf die An- 
nahme einer eigenen Seele im Fixsternhimmel nicht erstreckte. 

3) Die betrefienden Stellen sind schon S. 696 verzeichnet. 

4) Aus einem Commentar zu den Kategorieen theilt Porrnyr. ἐξήγ. 2,b 
(Schol. 31, b, u.) und nach ihm Dexırr, in Categ. S. 7, 20 ff. Speng. seine Be- 
denken über die Frage mit, ob das λεγόμενον eine φωνὴ oder ein πρᾶγμα oder 
ein νόημα sei, worüber er aber nicht in’s Reine gekommen sei; eine Bemer- 
kung über Analpyt. pr. I, 9, Anf. giebt Prıtor. Anal. pr. XXXII, b, Schol. 158, 
b, 28 nach Alexander. 

5) Bei Sımri.. De coelo, Schol. 498, a, 45. 500, a, 40 — 504, b, 41, wo 
Simpl. dem Sosigenes nicht blos in dem, wofür er sich ausdrücklich auf ihn 
beruft, sondern durchaus zu folgen scheint; vgl. Ps. ALex. Metaph. 677, 25 ff. 
Bon. (807, a, 29 Bekk.), der am Schluss seiner Erörterung (681, 19 Bon. 808, 
b, 31 Bekk.) Sosigenes gleichfalls nennt. Dass dieser Sosigenes der Lehrer 
Alexander's, nicht der alexandrinische Astronom aus Cäsar’s Zeit ist (wie ich 
mit Andern noch Bd. II, b, 355 annahm), steht mir jetzt ausser Zweifel. 


702 ; Peripatetiker der Kaiserzeit. . 


verwandte '). In philösophischer Beziehung sind jedoch für uns 
die wichtigsten von diesen jüngeren Peripatetikern Aristokles und 
Alexander von Aphrodisias, weil uns erst von ihnen wieder Erör- 
terungen vorliegen, welche von den Einzelheiten der Logik und 
der Physik zu allgemeineren, für die ganze Weltansicht maassge- 
benden Untersuchungen fortgehen. 

Aristokles aus Messene in Sicilien 3), der Lehrer des Ale- 
xander von Aphrodisias 5), ist uns zwar hauptsächlich durch die 


1) Solche mathematisch-naturwissenschaftliche Untersuchungen enthielt 
auch Sosigenes’ Schrift περὶ ὄψεως, aus deren drittem Buch Taeuıst. Phys. 
79, a, u. über das Leuchten mancher Körper im Dunkeln, und aus dem achten 
Auzx. Meteorol. 116, a, o. über den Hof um Sonne und Mond Einiges mit- 
theilt. 

2) Suı., ἀριστοχλ. 

3) Dass er dieses war, wird, so wie unsere Texte jetzt lauten, nur in 
dem älteren (bekanntlich aus dem Lateinischen zurückübersetzten) Texte von 
Sısıer.. De coelo, S.34, b, unt. gesagt, in der akademischen Scholiensammlung 
dagegen 477, a, 30 heisst es: ὃ ᾿Αλέξανδρος, ὡς φησὶ, χατὰ τὸν αὐτοῦ διδάσχαλον 
᾿Ἀριστοτέλην, ebenso bei Οὐυπιρ, c. Julian. II, 61, D: γράφει τοίνυν ᾿Αλέξανδρος 
ὃ ᾿Αριστοτέλους μαθητὴς, und auch bei-Arex. De an. 144, a f. (s.u. 703, 4) wird 
dem gedruckten Text zufolge Aristoteles der Lehrer Alexanders genannt. 
Nichtsdestoweniger hat es Alles für sich, dass der ältere Simplieiustext, 
welcher sich denn doch ohne Zweifel gleichfalls auf Handschriften gründet, 
gegen den akademischen Recht hat, und dass auch in den zwei anderen Stellen 
statt „"Apısroredous‘‘ zu lesen ist: ᾿Αριστοχλέους. Denn 1) fehlt von einem 
Peripatetiker Aristoteles, welcher der Zeit nach der Lehrer des Alexander von 
Aphrodisias sein könnte, jede Spur; dass es nämlich mit seiner vermeintlichen 
Erwähnung bei Syrian nichts ist, wurde schon 5. 696, u. bemerkt; und 2) ist 
es höchst unwahrscheinlich, dass ein Abschreiber den allbekannten Namen 
des Aristoteles in den unbekannten des Aristokles verwandelt haben sollte, 
wogegen das Umgekehrte sehr leicht geschehen konnte, und auch sonst oft 
geschehen ist: so zeigt Mürzer Fragm. Hist. gr. II, 179. IV, 330, dass bei 
Ps.-Pıur. Parallel. 29, 8.312 und Arosror. XIV, 70 ᾿Αριστοτέλης steht, während 
Stor. Floril. 64, 37 und Arsen. $. 385 das richtigere ᾿Αριστοχλῆς (der Histori- 
ker Aristokles aus Rhodus) haben, und dass ebenso die Scholiasten zu Pindar 
Olymp. VII, 66 zwischen den beiden Namen, von welchen nur der des Aristo- 
kles richtig ist, schwanken; Rose Arist. pseudepigr. 615 f., dass auch bei 
Ps.-Prur. De fluv. 25, 5. S. 1055. Schol. Vatic. in Euripid. Rhes. 28. AxsoB. 
adv. nat. III, 31. Macroe. Sat. I, 18. Kremenss Protrept. 17, Ὁ. Serv. zu Aen. 
I, 372. Schol. in Theoer. XV, 64. Proxr. in Tim. 27,A. Schol. Laur.in Apollon. 
Rhod. IV, 973. Schol. Bob. in Cie. pro Arch. S. 358 Or. Synag. lex. Seguer. 
(Bekker, Anecd. gr.) 451, 31 f., vielleicht auch Proxr. Chrestom. (Phot. 


Aristokles. 703 


Bruchstücke eines geschichtlichen Werkes bekannt, welche Euse- 
gıus 7) erhalten hat, und diese enthalten, seiner Abzweckung 
gemäss, keine eigenen philosophischen Untersuchungen. Aristo- 
kles berichtet und bestreitet die Lehren anderer Schulen, der Elea- 
ten und der Skeptiker, der Cyrenaiker und Epikureer, auch den 
stoischen Materialismus, und andererseits vertheidigt er Aristote- 
les gegen mancherlei Anschuldigungen ?); das ganze Werk muss 
eine vollständige kritische Uebersicht über die Systeme der griechi- 
schen Philosophen gewesen sein. Doch ist es bemerkenswerth, 
wie sich der Peripaletiker in diesen Bruchstücken über Plato äus- 
sert. Er bezeichnet denselben als einen ächten und vollkommenen 
Philosophen , und begleitet seine Lehre, so weit sich nach den 
dürftigen Auszügen darüber urtheilen lässt, mit eigener Zustim- 
mung °). Er scheint demnach anzunehmen, dass die platonische 
und die aristotelische Philosophie in der Hauptsache einig seien; 
eine Behauptung, die uns sonst in jener Zeit mehr nür in der plato- 
nischen Schule begegnet. Derselbe Aristokles weiss aber die peri- 
patetische Lehre auch mit der stoischen auf eine Art zu verbinden, 
welche beweist, dass der Verfasser der Schrift von der Welt mit 
dieser Richtung nicht allein stand. In einer merkwürdigen Stelle 
des ALExAnDER von Aphrodisias *) wird uns berichtet: Um den 


Biblioth. 320, a, 31) der Aristoteles der Handschriften und Ausgaben in jenen 
Aristokles zu verwandeln ist. 

1) Praep. ev. XI, 3. XIV, 17—21. XV, 2.14. Der Titel dieses Werks 
lautete nach Evs. XI, 2, 5: περὶ φυσιολογίας, nach Dems. XIV, 17,1. XV, 2.14, 
Sup. ᾽λριστοχλ.: περὶ φιλοσοφίας. Bei Euseb.a.d.a.O. wird das 7te und Ste, bei 
Sup. Σωτάδας das 6te Buch dieses Werkes angeführt. Weiter nennt Sup, von 
ihm eine Ethik in 9 Büchern; was er ihm sonst zuschreibt, scheint theils dem 
Pergamener theils dem Rhodier Aristokles zu gehören. 

2) 8. Bd. II, b, 6f. 32, 2. 36, 3. 

3) Eus. XI, 3, 1; dagegen bezieht sich 8. 2 auf Sokrates. 

4) Diese Stelle befindet sich-in dem zweiten Buche x. ψυχῆς 8. 144, 
a, unt. — 145,a,o. Nachdem hier Alexander über den leidenden und den 
thätigen Verstand im Sinn des Aristoteles gehandelt hat, fährt er, wie unser 
gedruckter Text lautet, so fort: ἤχουσα δὲ περὶ νοῦ τοῦ θύραθεν παρὰ "Apıaro- 
τέλους ἃ διεσωσάμην. Erscheinen aber diese Worte an und für sich schon 
seltsam, so wird durch das, was darauf folgt, und namentlich durch S. 145, 
a, 0., jeder Zweifel darüber gehoben, dass die Darstellung, welche sie ein- 
führen, nicht dem Aristoteles, sondern einem Lehrer des Alexander beigelegt 
werden soll, aus dessen Munde sie dieser aufgezeichnet hat, wiewohl er selbst 


704 Peripatetiker der Kaiserzeit. 


Schwierigkeiten der aristotelischen Lehre über die von aussen in 
den Menschen kommende Vernunft zu entgehen, habe Aristokles 
folgende Ansicht aufgestellt. Der göttliche Verstand, habe er ge- 
sagt, sei in allen, auch den irdischen Körpern, und wirke bestän- 
dig in der ihm eigenthümlichen Weise. Von dieser seiner Wirk- 
samkeit in den Dingen stamme nicht allein die Vernunftanlage im 
Menschen, sondern auch alle Verbindung und Trennung der Stoffe, 
also überhaupt die ganze Gestaltung der Welt her; sei es nun, 
dass er diese für sich allein, oder dass er sie in Verbindung mit 
den Einflüssen der Himmelskörper bewirke, oder dass aus letzte- 
ren zunächst die Natur enistehe, und diese in Verbindung mit dem 
Nus Alles bestimme. Finde nun diese an sich allgemeine Wirk- 
samkeit des Nus in einem bestimmten Körper ein zu ihrer Auf- 
nahme geeignetes Organ, so wirke der Nus in diesem Körper als 
der ihm inwohnende Verstand, und es entstehe eine individuelle 
Denkthätigkeit. Diese Empfänglichkeit für die Aufnahme des Nus 
ist, wie Aristokles glaubt, durch die stoflliche Zusammensetzung 
der Körper bedingt, und hängt namentlich davon ab, ob dieselben 
mehr oder weniger Feuer in sich haben; diejenige‘ körperliche 
Mischung, welche ein Organ für den thätigen Verstand darbietet, 
wird der potentielle Verstand genannt, und die Wirkung des thä- 
tigen göttlichen Verstandes auf den potentiellen menschlichen, wo- 
durch dieser zur Aktualität erhoben wird, und das individuelle 
Denken zu Stande kommt, besteht in nichts anderem, als darin, 
dass die Alles durchwaltende Thätigkeit des göttlichen νοῦς in be- 
stimmten Körpern auf besondere Weise zur Erscheinung kommt ?). 
Alexander selbst bemerkt über diese Annahmen seines Lehrers, 
sie stehen mit der stoischen Lehre in einer bedenklichen Verwandt- 
schaft °), und auch wir werden uns die Aehnlichkeit des in der 
ganzen Körperwelt, und besonders im feurigen Element wirken- 
den Nus mit der stoischen Weltvernunft, welche zugleich das Ur- 


ihr nicht beistimmte; und dass dieser kein anderer, als Aristokles sein kann, 
und demnach für "Agısror. ᾿Αριστοχλέους zu setzen ist, wurde schon S. 702, 3 
gezeigt. Mit dem, was unsere 1. Ausgabe hierüber bemerkte, erklärt sich 
auch Branpıs Gesch. ἃ, Entwickl. ἃ. griech. Philos. II, 268 einverstanden. 

1) A. a. Ο. 144, b med. 

2) A. a. O. 145, a, ο.: ἀντιπίπτειν ἐδόχειϊἷμοι τότε τούτοις, τὸν νοῦν χαὶ ἐν Tai; 
φαυλοτάτοις εἶναι θέΐον ὄντα, ὡς τοῖς ἀπὸ τῆς στοᾶς ἔδοξεν τι. 8. W. 


Alexander von Aphrodisias. 705 


feuer ist, nicht verbergen können. Wie der heraklitische Hylo- 
zoismus bei der Entstehung des stoischen Systems durch die Lehre 
des Aristoteles über den Nus befruchtet worden war, so sehen 
wir jetzt diese Lehre in der peripatetischen Schule selbst, und 
auch bei einem so angesehenen Verireter derselben, wie Aristo- 
kles, mit der stoischen Weltanschauung in eine Verbindung tre- 
ten, welche die spätere Vereinigung dieser Systeme durch den 
Neuplatonismus vorbereitet '). 

Strenger undreiner ist der Aristotelismus des Alexander von 
Aphrodisias ?). Dieser tüchtige, von der Folgezeit durch die 
Ehrennamen des Auslegers und des zweiten Aristoteles ausge- 
zeichnete 5), Peripatetiker hat sich unstreitig um die Erklärung der 
aristotelischen Werke, von denen er einen grossen Theil mit aus- 
führlichen, in die Worte wie in die Gedanken des Verfassers sorg- 
fältig eingehenden Erklärungen versehen hat *), ein bedeutendes 


Υ 


1) Vgl. 5. 567 £. 

2) Ueber Alexander’s persönliche Verhältnisse ist nichts überliefert. 
Seine Zeit lässt sich nach der $. 609, 2, Schl. berührten Angabe De fato, 
Anf. bestimmen. Von seiner Vaterstadt Aphrodisias (nicht: Aphrodisium; 
vgl. Aumon. De interpret. 12, b. 81, a. 161, b) ist ᾿Αφροδισιεὺς sein stehender 
Beiname (schon er selbst bezeichnet sich Metaph. 501, 8 Bon. 768,a, 20 Bekk. 
mit den Prädikaten: ἰσχνὸς φιλόσοφος λευχὸς ᾿Αφροδισιεὺς); welches Aphrodisias 
aber damit gemeint ist, lässt sich nicht ausmachen. — Ueber seine Schriften 
vgl. m. Fasrıc. Bibl. gr. V, 650 ff. Harl. und die dort Angeführten. 

3) Vgl. Sreran und Davın in den S. 696 angeführten Stellen; Sımrr. 
De an. 13, b, u.: ὃ τοῦ ᾿Αριστοτέλους ἐξηγητὴς ᾿Αλέξ. Tarsıst. De an. 94, a, ο.: 
ὃ ἐξηγητὴς ᾿Αλέξι; ebenso Puınor. gen. et corr. 15, a, 0. 48, a, ο. 50, b, m. 
Anuox. De interpr. 32, b: ὃ ᾿Αφροδισιεὺς ἐξηγητὴς. Auch ὃ ἐξηγητὴς schlechtweg 
wird er genannt, z. B. bei O1.ymrıonor. Meteorol. 59, a. II, 157 u. Id. Da- 
gegen ist ebd. 12, a. I, 185, Id. mit dem ἐξηγητὴς, der etwas über Alexander’s 
Erklärung bemerkt, ein weit Jüngerer, ein Lehrer des Verfassers, gemeint, 
wie man schon aus der Anführungsformel ἔφη (nicht: φησὶν) sieht; man kann 
daher aus dieser Stelle nicht mit Ipeer schliessen, der Erklärer der Meteoro- 
logie sei von dem Aphrodisienser zu unterscheiden. — Alexander’s Commen- 
tare las schon Plotin, nebst denen des Aspasius, Adrastus u. A. mit seinen 
Schülern; Poren, v. Plot. 14. 

4) Die noch vorhandenen Commentare Alexander’s erstrecken sich 
auf folgende Schriften: 1) B. 1 der ersten Analytik. 2) Topik (theilweise 
überarbeitet; s. Beannıs 8. 297 der $. 549, 1 genannten Abhandlung). 
3) Meteorologie. Dass dieser Commentar nicht von einem andern Alexan- 
der herrührt, wurde schon 5. 694, 3 und vor. Aum. bemerkt. Auch die Citate 

Philos. d. Gr. III. Bd. 1. Abth. 45 


706 Alexander von Aphrodisias. 


Olympindor's aus dem „Aphrodisienser“ passen fast durchaus auf unsern 
Alexander- Commentar; m. vgl. zu Orymr. I, 133 Id., Arnex, 126, a, m; 
zu Ol. 1,202, wo Iprter ganz grundlos eine Differenz zwischen Olympiodor’s ΄ 
Citat und unserem Commentar findet, Alex. 82, a, u.; zu Ol. 1, 293 ἢ, 
Alex. 100, b; zu Ol. II, 157, Alex. 124, b; zu Ol. II, 200, Alex. 132, a, m.; 
wenn daher diesem auch wieder Einzelnes beigelegt würde, was sich in 
unserem Commentar nicht findet (Iper.er ἃ. ἃ. Ὁ. I, XVII), so würde diess eher 
auf eine spätere Bearbeitung oder Lücken in unserem Text hinweisen; indessen 
fragt es sich, ob bei Ouyme. I, 187 unter dem ἐξηγητὴς Alexander gemeint ist, 
und ob das, was Derselbe I, 148 von ihm (vielleicht aus dritter Hand) anführt, 
gerade in seiner Meteorologie stand: Sımer. De coelo 95, a (Schol. 492, b, 1), 
τ auf den sich Ipzter auch stützt, geht jedenfalls auf die Auslegung der Bücher 
vom Himmel. 4) II. αἰσθήσεως, von Alex. selbst De®n. 133, a, ο. qu. nat. 
I, 2, Schl. $. 19 Sp. angeführt. 5) Metaphysik; der Commentar zu B.I—-V 
ist ganz, das Weitere in einer verkürzenden Bearbeitung erhalten; der erste 
Theil und Auszüge aus dem zweiten sind in den Scholien von Brandis abge- 
druckt, beide vollständig in der Separatausgabe von Bonitz. — Eine Erklärung 
der σοφιστιχοὶ ἔλεγχοι, welche gleichfalls Alexanders Namen trägt, ist 
anerkannt unächt; vgl. Braxpıs a. a. Ὁ, S. 298. Verlorene Commentare 
werden zu folgenden Schriften angeführt: 1. Die Kategorieen, von Sıurr. 
Categ. 1, α. 3, α. ε. 23, y und oft; Dexırr. Categ. 6, 15. 40, 23. 55, 13 Speng. 
Davın Schol. 51, b, 8. 54, b, 15. 26. 65, b, 47. 81, b, 33. 2. Π. ἑρμηνείας: 
Auson. De interpret. 12, b. 14, a. 23, b. 32, Ὁ. 46, b. 54, b. 81,a. 161, b. 
194, b. Borrt#. De interpr. (Bas. 1570) 291, u. 292, o. m. 294, m. 298, o. 
u.-s. w. Mıcn. Eraes. Schol. in Arist. 100, a, unt. 3. Das zweite Buch der 
ersten Analytik Pmitor. Schol. in Ar. 188, b, 3. 191, a, 47. Anon. Paris. 
(ein Commentar unter Alexander’s Namen, aber viel später, über den Braxpıs 
a. a. OÖ. S. 290). Schol. 188, a, 19. 191, a, 10. b, 28u.ö. 4. Die zweite 
Analytik: Ps.-Arex. in Metaph. 442, 9 Bon. 745, b, 7 Bekk. Pnıtor. in 
post. Analyt. Schol. 196, a, 33. 200, b, 30. 203, b, 18. 211,b, 34 u.o. Eustkar. 
in libr. II. Anal. post. 1,8, ο. ἃ. 5,a,o. 11,a,o. und öfters; vgl. ΕἌΒΕΙΟ. 
a. a. Ὁ. 666. Prantı Gesch. d. Log. I, 621, 18. 5. Die Physik: Sımer. 
Phys. ὃ, Ὁ, ο. 4, a, o. 5, Ὁ, τι. 6,a, o. und an sehr vielen anderen Stellen, be- 
sonders zu den drei ersten Büchern; Prınor. Phys.B, 16,0. M,18,m. N, 13, m. 
T,1,u. 4, u. 9,0. 5. Die Schrift vom Himmel: Arex. Meteorol. 76, a, ο. 
Ps.-ALex. Metaph. 677, 27. 678, 7 Bon. (807, a, 36. b, 11 Bekk.). Sıuer. De 
coelo, Schol. 468, a, 11 ff. (Damasc. ebd. 454, b, 11.) 470, b, 15 — 473, a, u. 
485, a, 28 ff.u.0. 6. De generatione et corruptione Ps.-Arzx. a. a. Ὁ. 
645, 12 Bon. 799, b, 1 Bekk. Ueberschrift zu ALrx. qu. nat. II, 22. Prior. 
gen. et corr. 14,a,u. 18, ἃ, ο. 18,b,o. ἃ. ὃ. 7. De anima Sımpr. Dean. 
18, a,u. b, u. 25, b, m. 27, b, m. u. oft; Trewıst. De an. 94, a, 0. Pnhiror. 
De an. A, 10, m. 16, o.m. B, 1,m. ἃ. 9. Ps.-Arrx. Metaph. 473, 6. 405, 28. 
410, 20. 560, 25 Bon. (734, a, 28. 735, a, 32. 783, b, 23 Bekk. — die erste 
Stelle fehlt bei ihm) vgl. Boxırz Alex. comm. in Metaph. XXII, Erklärungen 
der kleineren antbropologisehen Schriften, ausser der noch vorhandenen der 


Schriften. 707 


Verdienst erworben !). Seine eigenen Schriften 50 wollen aber auch 


Abhandlung De sensu, werden nicht erwähnt. Ueber angebliche Commentare 
zur Rhetorik und Po&tik 5. m. Fasrıc. 665. 667. — Dass Alex. auch andere 
als die aristotelischen Schriften erklärt habe, kann man aus der ungereimten 
Behauptung Davıp’s, Schol. in Ar. 28, a, 24, er habe nicht blos die des Stagi- 
riten Aristoteles, sondern auch die der andern Männer dieses Namens er- 
läutert, nicht schliessen; auch die Erörterung über die harmonischen Zablen 
des Timäus, deren Prıtor. De an. D, 6, m erwähnt, muss sich im Commentar 
zu der Schrift von der Seele gefunden haben. _ 

1) M. vgl. hierüber, und gegen Rırrer’s (IV, 264) geringschätziges Ur- 
theil über Alexander: Branpıs a. a. Ὁ. S. 278. ScHwEGLER ἃ, Metaphysik d. 
Arist. 1. B. Vorr. Κα. VIII. Bosırz Alex. comm. in Metaph. praef. I. Pranrı. 
Gesch. d. Log. I, 621. 

2) Wir besitzen deren ausser den Commentaren noch vier: περὶ ψυχῆς 
2 B. (bei Taxuıst. Opp. Venet. 1534. 8. 123 8); π. εἱμαρμένης (ebd. 163 ff. 
u. ὃ. zuletzt von Orelli, Zür. 1824); φυσιχῶν χοὶ ἠθικῶν ἀποριῶν καὶ λύσεων 
4B. (quaestiones naturales u. 5. w. Ausg. von Spengel, Münch. 1842, der im 
Vorwort, nebst Fagsıc. a. a. Ὁ. 661 ἢν, auch über den Titel und die früheren _ 
Ausgaben das Nöthige mittheilt); =. αἰξεως (der aldinischen Ausgabe der 
Meteorologie angehängt, im Anfang abgebrochen). Die Probleme dagegen 
(ἰατρικῶν καὶ φυσικῶν προβλημάτων 2 B. — m. vgl. über sie Fanrıc. 662 f. und 
mit Beziehung auf Busemaker’s Ausgabe, im 4ten Band des Didot’schen Ari- 
stoteles, Peantr Münchn. Gel. Anz. 1858, Nr. 25), und eine Schrift über die 
Fieber (Fasrıc. 664) gehören keinenfalls unserem Alexander. — Von ver- 
lorenen Schriften werden erwähnt: eine Abhandlung über die Differenz 
des Aristoteles und seiner Schüler hinsichtlich der Schlüsse mit Prämissen 
von ungleicher Modalität (Arex. Anal. pr. 40, b, m. 83, a, o. vgl. Bd. II, b, 
161); dieselbe meint ohne Zweifel Prıtor. Anal. pr. XXXII, b, Scho]. 158, b, 28 
(ἔν τινι μονοβίβλῳ), dagegen müssten die σχόλια λογιχὰ (Arex. Anal. pr. 83, 
a, o. Schol. 169, a, 14) davon verschieden sein, mir scheinen jedoch hier die 
Worte ἐπὶ πλέον δὲ εἴρηταί μοι Ev τοῖς σχολίοις τοῖς λογικοῖς Glossem zu sein. 
Ferner eine Schrift περὶ δαιμόνων (ΜΙΟΗΛΈΓ,, oder wer der Verfasser dieses 
Simpl. De anima beigedruckten Commentars ist, zu der Schrift x. τῆς χαθ᾽ 
ὕπνον μαντιχῆς S. 148, b, 0.); gegen Zenobius den Epikureer (worin er nach 
Sımer. Phys. 113, Ὁ, u. den Unterschied des Oben, Unten u. 8. f. als einen 
natürlichen nachzuweisen gesucht hatte). Dagegen ist die Abhandlung über 
den Sitz des yewovızov, deren der Commentar zu der Schrift r. ζῴων χινήσεως 
(hinter Sıser. De an.) 154, b, o. 155, a, o. gedenkt, von der Ausführung 
Alexander’s De an. I, g.E. S. 140 ff., uni das von Eustear. in Eth. N. 179, a, 0. 
angeführte μονοβιβλίον, worin gegen die Stoiker gezeigt war, dass die Tugend 
zur Glückseligkeit nicht ausreiche, von dem Abschnitt derselben Schrift über 
diesen Gegenstand, welcher auch den entsprechenden selbständigen Titel 
führt, 5. 156 ff., ohne Zweifel nicht verschieden. Ueber einen Aufsatz von 
den Tugenden, der handschriftlich noch vorhanden ist, über die sehr zweifel- 


45 * 


cos Alexander von Aphrodisias. 


nichtmehr sein, als Erläuterungen und Vertheidigungen der aristote- 
lischen Lehre. In diesem Sinn hat er in seinen noch vorhandenen 
Commentaren die Logik '), die Meteorologie und Metaphysik be- 
handelt, in den zwei Büchern über die Seele und in manchen Stel- 
len der naturwissenschaftlichen Untersuchungen die Anthropologie 
und Psychologie seines Meisters ausgeführt, in den drei ersten 
Büchern der letztgenannten Schrift viele physikalische Fragen be- 
sprochen, ebenso im vierten manche Bestimmungen der peripate- 
tischen Ethik, im Gegensatz gegen die Einwendungen der Stoiker, 
erörtert, ebd. I, 18 die Nothwendigkeit und Ewigkeit der Weli 
gegen die Platoniker vertheidigt, in der Schrift regt μίξεως die 
stoische Lehre von der gegenseitigen Durchdringung der Kör- 
per bestritten, in der Abhandlung über das Verhängniss ?) die 
Willensfreiheit gegen den stoischen Fatalismus verfochten. Die 
Blössen des Gegners werden in dieser Abhandlung mit Gewandt- 
heit und Schärfe aufgezeigt, aber eine gründlicher eindringende 
Erforschung des menschlichen Willens dürfen wir in ihr nicht su- 
chen; das Hauptgewicht legt Alexander auf die praktischen Folge- 
sätze des Fatalismus ®), wobei er auch die theologischen Gründe 


hafte, von Pserrus angeführte, Schrift von den Kräften der Steine, über die 
gewiss unächten „allegorischen Mythendeutungen“ (Ps.-Arex. Probl. I, 87) 
und über einige von Casırı genannte arabische Schriften, die sich wohl auch 
alle mit Unrecht Alexander beilegen, 5. m. Farıc. V, 667 f. 658, o. 


1) Ueber seine Logik 5. m. Pranrt Gesch. d. Log. I, 622 ff. Doch ist 
ausser den unten zu besprechenden Bestimmungen über das Verhältniss des 
Einzelnen und des Allgemeinen nicht viel daraus hervorzuheben. Das Be- 
achtenswertheste ist wohl die Unterscheidung der analytischen und syntheti- 
schen Methode (Anal. pr. 3, b, unt. folg. vgl. δὲ. qu. I, 4. 8. 13 ἢ. Speng.), 
wiewohl auch sie der Sache nach sich schon bei Aristoteles findet (s. Bd.II,b, 
175 £.); der Begriff des subeonträren Gegensatzes, der von Alex. wenigstens 
zuerst erwähnt wird (ΒΟΈΤΗ. De interpr. 347, m.); die Behauptung, dass nur 
die kategorischen Schlüsse reine und eigentliche seien (Top. 6, u.). 

2) IM. εἱμαρμένης, vgl. De. an. II, 8. 159 ff. qu. nat. I, 4, II, 4 fi. II, 13. 
Auszüge aus der erstgenannten Schrift giebt Texxemann V, 186 ff., kürzere 
Rırrer IV, 265 f. Ich glaube mich mit dem im Text Bemerkten um so mehr 
begnügen zu sollen, da die Schrift keine wesentlich neuen Gedanken enthält, 
und da sie überdiess durch die Ausgabe von Orerrı allgemein zugänglich ge- 
macht ist. 


3) De fato ο. 16 ff. 


Philosophischer Standpunkt. v9 


nicht vergisst, dass derselbe die Vorsehung und die Gebetserhö- 
rung aufhebe 1); weiter macht er dann wiederholt und nachdrück- 
lich den Grundsatz geltend, dass die allgemeine Meinung der Men- 
schen und die angeborenen Vorstellungen, welche sich namentlich 
in der Sprache ausdrücken, ein hinreichender und unumstösslicher 
Beweis der Wahrheit seien 9. Der Peripatetiker zieht sich hier 
also in derselben Weise auf das unmittelbare Bewusstsein zurück, 
wie wir diess in der sonstigen Popularphilosophie seit Cicero so 
oft getroffen haben. Mehr eigenthümliche Ansichten treten bei 
Alexander in der Erörterung einiger anderen, metaphysischen, 
psychologischen und theologischen Fragen hervor. Die Lehre des 
Aristoteles vom Geist, dem göttlichen wie dem menschlichen, hat, 
wie früher gezeigt wurde, viel Unklares, und sowohl seine 
Aussagen über das Verhältniss der Gottheit zur Welt, als die über 
das Verhältniss der menschlichen Vernunft zu der göttlichen und 
zu den niederen Theilen der Seele leiden an einer mystischen Un- 
bestimmtheit. Diese selbst aber hängt mit den Grundbestimmungen 
des Systems über Form und Materie zusammen, und lässt sich ohne 
Umbildung derselben schwer entfernen. Indem daher Alexander 
um eine solche Auffassung der peripatetischen Lehre bemüht ist, 
durch welche jenes mystische Element so viel, wie möglich, be- 
seitigt, und ein durchaus natürlicher Zusammenhang der Erschei- 
nungen hergestellt werden soll, kann er eingreifende Abweichun- 
gen von der Lehre seines Meisters, so wenig er sich diess auch 
gestehen will, nicht vermeiden. Aristoteles hatte zwar die Ein- 
zelwesen für das wahrhaft Substantielle, aber doch zugleich das 
Allgemeine für den eigentlichen Gegenstand des Wissens erklärt; 
er hatte zugegeben, dass die Formen, mit Ausnahme der reinen 
Vernunft und der Gottheit, vom Stoff nicht getrennt seien, aber 
er hatte trotzdem das eigentliche Wesen der Dinge nur in ihnen 
gesucht. Alexander geht einen Schritt weiter. Von den zwei 


1) De fato 17. De an. 162, a, m. 

2) De fato e. 2, Anf. e.7. 6. 8, Anf. vgl. ο. 5. 12, Schl, 14, Auf. u. A. 
De An. 161,a, m. Doch soll die Sprache selbst nichts Angeborenes sein, son- 
dern nur das Sprachvermögen qu. nat. IH, 11. Boiru. De interpret. 301, u. 
302,0. 323, m. Die widersprechende Angabe des Aumox. De interpr. 32, b, 
Schol. in Ar. 103, b, 28 wird von Püasrı ἃ. ἃ. Ὁ. 624, 27 mit Recht ver- 
worfen. 


710 Alexander von Aphrodisias. 


widerstreitenden Bestimmungen, dass dem Einzelnen die höhere 
Wirklichkeit, dem Allgemeinen die höhere Wahrheit zukomme, 
giebt er die zweite auf, um die erste zu reiten. Das Einzelne, 
behauptet er, hierin von Aristoteles abweichend 1), sei nicht nur 
für uns, sondern auch an sich, früher, als das Allgemeine, denn 
wenn jenes nicht wäre, könnte auch dieses nicht sein 3), und er 
will desshalb nicht allein die unkörperlichen Wesen, wie die Gott- 
heit, unter dem Begriff der Einzelsubstanz mitbefassen 5), sondern 
auch für den eigentlichen Gegenstand der allgemeinen Begriffe 
gleichfalls das Einzelne gehalten wissen, nur dass von diesem in 
denselben blos die Bestimmungen in Betrachi gezogen werden, 
welche in mehreren Einzelwesen gleichmässig vorkommen, oder 
doch vorkommen können *). Die allgemeinen Begriffe sind daher, 


1) Vgl. Bd. II, b, 138, 2. 

2) Sımen. Categ. 21, β: ὃ μέντοι ᾿Αλέξανδρος ἐνταῦθα καὶ τῇ φύσει ὕστερα τὰ 
χαθόλου τῶν καθέκαστα εἶναι φιλονεικεί, ἀπόδειξιν μὲν οὐδεμίαν χομίζων σχεδὸν, τὸ 
δὲ ἐν ἀρχῇ λαμβάνων, ὅταν λέγῃ, τὸ εἶναι καὶ τὴν οὐσίαν τὰ χοινὰ παρὰ τῶν καθ᾽ 
ἕχαστα λαμβάνειν .... χοινοῦ γὰρ ὄντος, φησὶν, ἀνάγχη καὶ τὸ ἄτομον εἶνα!,, ἐν 
Ἱὰρ τοῖς κοινοῖς τὰ ἄτομα περιέχεται" ἀτόμου δὲ ὄντος, οὐ πάντως τὸ κοινὸν, εἴγε τὸ 
χοινὸν ἐπὶ πολλοῖς. Ebd. ζ: (Αλέξ.) καὶ τῇ φύσει προτέρας βουλόμενος εἶναι τὰς 
ἀτόμους οὐσίας τῶν κοινῶν. μὴ οὐσῶν γὰρ τῶν ἀτόμων, οὐδὲν εἶναι δύναται, φησὶ, 
τῶν ἄλλων. Hiemit übereinstimmend Dexırr. Categ. c. 12. 54, 22 fi. Speng. 
(Schol. in Ar. 50, b, 15 fi.), welcher Alexander in dieser Beziehung mit Bo&thus 
(5. 0. 553, 2) zusammenstellt; Davın in Categ., Schol. 51, b,10. Diesen Aus- 
sagen (mit Prantt 1, 623) desshalb den Glauben zu versagen, weil Alex. dooh 
die Unkörperlichkeit des Begriffs behaupte (vgl. Bo£rz. in Porph. a se transl. 
S. 55 m. f.), haben wir kein Recht, denn theils ist das ἄτομον nicht nothwendig 
ein körperliches (s. folg. Anm.), theils kann, wie ΒΟΗ͂ΤΗ. a. a. Ὁ. unter Be- 
rufung auf Alexander ausführt, auch von Körperlichem der Begriff der un- 
körperlichen Form abstrahirt werden. 

3) Sımrı. Categ. 21, B: ὃ μέντοι ᾿Αλέξανδρος χαὶ τὸ νοητὸν καὶ χωριστὸν εἶδος 
ἄτομον οὐσίαν λέγεσθαί φησι. Ebd. 28, 1: ὡς δὲ ᾿Αλέξ, ἐξηγείται τὴν ἄτομον οὐσίαν, 
φιλοτιμούμενος τὸ πρώτως χινοῦν ἐν αὐτῇ τιθέναι, χαλεπώτεραι γίνονται αἱ ἀπορίαι. 

4) Alex. führt diess qu. nat. I, 3 aus. Die Begrifisbestimmungen, sagt 
er hier, beziehen sich weder auf die Einzelwesen, noch auf ein für sich be- 
stehendes Allgemeines, ἀλλ᾽ εἰσὶν ol ὁρισμοὶ τῶν Ev τοῖς χαθέχαστα κοινῶν, ἢ τῶν 
χαθέχαστα χατὰ τὰ ἐν αὐτοῖς χοινά -.... λέγονται δὲ "τῶν νοημάτων χαὶ τῶν χοινῶν 
οἱ ὁρισμοὶ, ὅτι νοῦ τὸ χωρίσαι τὸν ἄνθρωπον (das Wesen des Menschen) ἀπὸ τῶν 
σὺν οἷς ὑφέστηχεν ἄλλων καὶ χαθ᾽ αὑτὸν λαβεῖν" ὃ δὲ τοῦ ὑφεστῶτος μὲν μετ᾽ ἄλλων, 
νοουμένου δὲ χωρὶς ἐχείνων [καὶ ἄλλων, wohl zu streichen], χαὶ οὐχ ὡς ὑφέστηχεν, 
δροισμὸς νοήματος εἶναι δοχεὶ χϑὰ χοινοῦ. Vgl. Sımer. Phys. 16, b, u. 


Einzelues und Allgemeines, Form und Stoff. 71 


wie er bemerkt, als allgemeine nur in dem Verstande, welcher sie 
aus den Einzeldingen abstrahirt, sobald dieser aufhört, sie zu den- 
ken, hören sie auf, zu existiren; erst unser Denken ist es, wel- 
ches die mit der Materie verbundenen Formen von ihr ablöst, und 
ihnen in ihrem Fürsichsein Wirklichkeit giebt 1). Diese Untrenn- 
barkeit der Form von der Materie muss um so mehr auch von der 
Seele gelten, je entschiedener Alexander an der aristotelischen 
Bestimmung festhält, dass die Seele nichts anderes sei, als die 
Form des organischen Körpers 5). Als die Form des Körpers ist 
sie mit demselben so eng verbunden, dass sie nicht ohne ihn sein 
kann, ihre Entstehung und Beschafienheit ist durch ihn bedingt, 
und keine Seelenthätigkeit ist ohne eine körperliche Bewegung 
möglich ?). Auch die höchsien Seelenthätigkeiten machen davon 


“ 


1) De an. 139, Ὁ, m.: τῶν γὰρ ἐνύλων εἰδῶν οὐδὲν χωριστὸν ἢ λόγῳ μόνον, 
τῷ φθορὰν αὐτῶν εἶναι τὸν ano τῆς ὕλης χωρισμόν... ὅταν μὴ νοῆται τὰ τοιαῦτα 
εἴδη οὐδὲ ἔστιν αὐτῶν τι νοῦς, εἴγε ἐν τῷ νοεῖσθαι αὐτοῖς ἣ τοῦ νοητσῖς εἶνα: ὑπόστασις. 
τὰ yap χαθόλου καὶ κοινὰ τὴν μὲν ὕπαρξιν ἐν τοῖς καθέχαστά τε χαὶ ἐνύλοις ἔχει, 
νοούμενα δὲ χωρὶς ὕλης χοινά τε χαὶ χαθὄόλου γίνεται, χαὶ τότε ἔστι νοῦς ὅταν νοῆται, 
εἰ δὲ μὴ νοοῖτο οὐδὲ ἔστιν ἔτι. ὥστε χωρισθέντα τοῦ νοοῦντος αὐτὰ 
νοῦ φθείρεται, εἴγε ἐν τῷ νοεῖσθαι τὸ εἶναι αὐτοῖς. ὅμοια δὲ τούτοις χαὶ τὰ ἐξ 
ex ὁποία ἐστι τὰ μαθηματικά. Ebd. 145, b, unt.: τὰ μὲν γὰρ ἔνυλα εἴδη 
ὕπο τοῦ νοῦ νοητὰ γίνεται ὄντα δυνάμει: νοητά. χωρί ἰζων γὰρ αὐτὰ τῆς ὕλης ὃ νοῦς, 
μεθ᾽ ἧς ἐστιν αὐτῆς (1. αὐτοῖς) τὸ εἶναι, ἐνεργείᾳ νοητὰ αὐτὸς αὐτὰ ποιεῖ ἃ. 8. w. Auf 
dieses Verhältniss der εἴδη ἔνυλα zu ihrem Stoffe beziehen sich auch die Er- 
örterungen nat. qu. I, 17. 26. Alex. zeigt hier, die Form sei im Stoffe nicht 
ὡς ἐν ὑποχειμένῳ, d.h. nicht als in einem solchen, das ohne sie bestände, und 
ru dem sie erst hinzukäme, nicht χατὰ συμβεβηχὸς (m. vgl. über diese Bedeu- 
tung des Ausdrucks Bd. II, b, 230, 4), da der Stofl erst durch die Form dieser 
bestimmte Stoff werde, die Form ihrerseits nur als die Forin dieses Körpers 
das sei, was sie ist. 

2) De an. 123, a, u. 124, b, unt. f. u.ö. vgl: qu. nat. I, 17, 8. 61. I, 26, 
8. 83. 

3) De an. 126, a, die Ausführung des Satzes, ὅτι ἀχώριστος ἣ Ψυχὴ τοῦ 
σώματος, οὗ ἐστι ψυχή. Ebd. 125, a, ο.: dass die Seele nicht eine für sich be- 
stehende Substanz, sondern die Form des Leibes ist, sieht man an ihrer 
Thätigkeit; οὐ γὰρ οἷόν ze ἐνέργειάν τινα ψυχικὴν γενέσθαι χωρὶς σωματιχῆς κινή- 
σεως. Diess wird dann im Einzelnen nachgewiesen, und daraus geschlossen, 
ὡς τοῦ σώματος ἐστὶ τὰ (nämlich seine Form) χοαὶ ἀχώριστος αὐτοῦ" μάτην γὰρ εἴη 
χωριστὴ μηδεμίαν τῶν οἰχείων ἐνεργειῶν za0" αὑτὴν ἐνεργῆσα: δυναμένη. Ebd. 148, 
a, 0.: die Seele ist δύναμίς τις χαὶ οὐσία ἐπὶ τούτοις (die Theile des Leibes) γινο- 


ΟὟ ug er 3 ἀπ οὐ νον μα νκυς ὼὲ. 
μένη. καὶ ἔστι τὸ σῶμα καὶ ἢ τούτου χρᾶσις αἰτία τῇ ψυχῆ τῆς ἐξ ἀρχῆς γενέσεως, wie 


ῃ 


712 Alexander von Aphrodisias, 


keine Ausnahme. Die aristotelische Lehre von den Theilen der 
Seele wird allerdings auch von Alexander vertheidigt 1); um so 
stärker betont er es aber, dass die höheren Seelenkräfte nicht 
ohne die niederen sein können, und dass eben hierauf die Einheit 
der Seele beruhe 2); und während Aristoteles den Nus nach sei- 
nem Wesen wie nach seinem Ursprung von allen übrigen Kräften 
sehr bestimmt unterschieden hatte, stellt ihn Alexander in Eine 
Reihe mit denselben. Der Verstand ist nämlich im Menschen zu- 
nächst nur als Anlage vorhanden, der νοῦς ὑλικὸς χαὶ φυσικὸς, das 
blos potentielle Denken. Durch die Entwicklung dieser Anlage 
entsteht die wirkliche Denkthätigkeit, der Verstand als wirksame 
Eigenschaft, als thätige Kraft, der νοῦς ἐπίκτητος oder νοῦς χαθ᾽ 
ἕξιν 9). Dasjenige aber, was die Entwicklung des potentiellen 
Verstandes bewirkts was ihn zur Wirklichkeit bringt, wie das 
Licht die Farben, der νοῦς ποιητικὸς, ist nach Alexander kein 
Theil unserer Seele, sondern nur das auf sie einwirkende und in 
Folge dieser Einwirkung von ihr gedachte göttliche Wesen *). So 


man diess daran sehe, dass die Beschaffenheit der Seelen der der Leiber ent- 
spreche. ἃς δέ φαμεν τῆς ψυχῆς ἐνεργείας εἶναι, οὐχ εἰσὶ τῆς ψυχῆς αὐτῆς καθ᾽ 
αὑτὴν, ἀλλὰ τοῦ ἔχοντος αὐτήν .... πᾶσαι γὰρ al τῆς ψυχῆς χηινήσεις τοῦ συναμ- 
φοτέρου τοῦ ζῶντος εἰσίν. Vgl. qu. nat. II, 2. ΞΊΜΡΙ,.. Phys. 225, a, m., und über 
die aristotelische Lehre, der Alex. hier folgt, Bd. II, b, 459. — Wegen dieser 
Untrennbarkeit von Seele und Leib will Alex. ihr Verhältniss auch nicht nach 
der Analogie des zwischen dem Künstler und seinem Werkzeug bestehenden 
(8. Bd. II, Ὁ, 376 £.) gedacht wissen, denn der Künstler sei vom Werkzeug 
verschieden, die Seele dagegen sei in dem Leibe, und zunächst in dem Cen- 
tralorgan, als seine Form und die ihm inwohnende Kraft; als Organe lassen 
sich nur die übrigen Theile des Leibes betrachten; De an. 127, a, u. b, ο. vgl. 
Sıner. De an. 13, b, u.: Alex. ἀξισΐ μὴ ὡς ὀργάνῳ χρῆσθαι τῇ ψυχῇ" μὴ γὰρ 
γίνεσθαι ἕν τι ἐκ τοῦ χρωμένου χαὶ τοῦ ὀργάνου. 

1) De an. 128 ἢ, 146, a, m. 

2) A.a. 0.128, a,u. b, o. 141, a, u. 

3) ΔΑ. ἃ. 0.138, a, f. 143, b. In diesen Bestimmungen Alexander’s liegt 
die Quelle für die bekannte Lehre der arabischen und scholastischten Philo- 
sophen vom intellectus acquisitus. 

4) A.a. 0.139, b. 143, Ὁ ἢ. Z. Β. 5. 139, b, m.: ἀπαθὴς δὲ ὧν (ὃ ποιητιχὸς 
νοῦς) χαὶ μὴ μεμιγμένος ὕλῃ τινὶ χαὺ ἀφθαρτός ἐστιν, ἐνέργεια ὧν χαὶ εἶδος χωρὶς 
δυνάμεώς τε χαὶ ὕλης. τοιοῦτον δὲ ὃν δέδειχται ὕπ᾽ ᾿Αριστοτέλους τὸ πρῶτον αἴτιον ὃ 
nal χυρίως ἐστὶ νοῦς τι. 5. w. 5. 144, a, ο.: τοῦτο δὴ τὸ νοητόν τε τῇ αὐτοῦ φύσει 


χαὶ ar’ ἐνέργειαν νοῦς, αἴτιον γινόμενον τῷ ὑλικῷ νῷ τοῦ χατὰ τὴν πρὸς τὸ τοιοῦτον 


Die Seele, der Nus. 713 


wird die mystische Einheit der menschlichen Vernunft mit der 
göttlichen hier durchbrochen; auf der einen Seite steht der Mensch, 
auf der andern die auf ihn einwirkende Gottheit. Die menschliche 
Seele ist daher ein durchaus endliches Wesen: die Seele der Göt- 
ter (d. h. wohl der Gestirne) könnte nach Alexander nur im un- 
eigentlichen Sinn (ὁμωνύμως) Seele genannt werden 1). In Ueber- 
einstimmung damit verlegt unser Philosoph auch den Sitz der Ver- 
nunft, welcher Aristoleles ein körperliches Organ abgesprochen 
hatte 2), mit den Stoikern in das Herz °), und sagt ganz allgemein 
und unbedingt von der menschlichen Seele, was Aristoteles nur 
von einem Theil derselben gesagt hatte, dass sie mit ihrem Körper 
vergehe *). — Das Bestreben, welches sich in diesen Bestimmun- 


εἶδος ἀναφορὰν χωρίζειν τε at μιμεῖσθαι χαὶ νοέίν χαὶ τῶν ἐνύλων εἰδῶν ἕχαστον χαὶ 
ποιεῖν νοητὸν αὐτὸ, θύραθεν ἐστι λεγόμενος νοῦς 6 mag, οὖχ ὧν μόριον χαὶ 
δύναμίς τις τῆς ἡμετέρας ψυχῆς, ἀλλ᾽ ἔξωθεν γινόμενος ἐν ἣμῖν, ὅταν αὐτὸ νοῶμεν 
_. ἋΣ ec = N 2. dr = NV di B h 

. χωριστὸς δέ ἐστιν ἡμῶν τοιοῦτος ὧν εἰχότως. Wegen dieser Behauptung 
wird Alex. von den späteren Auslegern vielfach angegriffen; vgl. ΤΗΕΜΙΒΊ. 
De an. 89,b, u. (wo er nicht genannt, aber jedenfalls mit gemeint ist). Sımer.. 
Phys. 1, a, m. 59, a,m. Pnıtor. De an. F, 11,0. G, 7,u. H, 8) u. Ὁ; 2, u. 
3, o (Anführung aus Ammonius). 10, u. ἢ, Alexander’s Gesammtansicht über 
den Nus fasst PsıLor. a. a. Ὁ, Ὁ, 2, u. so zusammen: πρῶτον σημαινόμενον 
λέγει τοῦ νοῦ τὸν δυνάμει νοῦν, ὅςπερ ἐστὶν ἐπὶ τῶν παίδων ... δεύτερον σημαι- 

ἜΑ N 3 - ««ῃν € TE ns πε EVEN --" Ὡς > ͵ 

νόμενον τοῦ δυνάμει []. τοῦ Br ὃ χαθ᾽ ἕξιν νοῦς, ὕςπερ ὁ ἐπὶ τῶν τελείων ἀνθρώπων 
. τρίτον an αινόμενόν ἐστι τοῦ νοῦ ὃ ἐνεργείᾳ νοῦς, ὅ ἐστιν ὃ θύραθεν, ὃ παν- 


εἰ 


Base: . ὃ χυβερνῶν τὸ πᾶν. Ueber seine Erklärung des Einzelnen in den 
betreffenden aristotelischen Stellen vgl. m. Denselben weiter Ὁ, 4, u. 5, 0. 
8,o0.ım. " 

1)'De an. 128 a, u 

2) Vgl. Bd. II, b, 439, 1. 

3) Dean. 141, a, u.; man bemerke hier auch das stoische ἥγεμονιχὸν und 
das platonische Aoyıstızov statt des aristotelischen νοῦς. 

4) A.a. O. 127, a, ο: οὖσα δὲ ἣ ψυχὴ εἶδος τοῦ σώματος .. ., τῷ ἀχώριστον 
εἶναι τοῦ γεν: γρβῆψς τὸ τοιοῦτον εἶδος χαὶ TERN ἂν τῷ jenen, ὅση γε αὐτῆς 
φθαρτοῦ Tg εἴδός ἐστιν. qu. nat. II, 10: 9 ψυχὴ οὖν ἔνυλον εἴδος ὃν ἀδύνατον 
αὐτὸ za’ αὑτὸ εἶναι. ὃ γὰρ ὕλης δεῖται πρὸς τὸ εἶναι, ταύτης τὶ ὃν sr die 
Form derselben), ἀδύνατον τοῦτο χωρισθὲν αὐτῆς αὐτὸ χαθ᾽ αὑτὸ εἶναι. Alex. 
schliesst hier daraus, dass die Seele sich nicht für sich bewegen könne, es 
folgt aber auch, dass sie nicht ohne Leib existiren kann. Diese Läugnung 
der Unsterblichkeit, welche Alex. im Commentar zu der Schrift von der Seele 
auch bei Aristoteles nachzuweisen suchte, wird von Späteren öfters erwähnt; 
vgl. Davın, Schol. in Arist. 24, b, 41. 26, b, 13. Phıror. De an. A,5,0. E, 8,u. 
Q, 4, m. 


714 Alexander von Aphrodisias. 


gen ausspricht, die Erscheinungen unter Entfernung alles Ueber- 
natürlichen auf natürliche Ursachen zurückzuführen, lässt sich 
auch in der Lehre des Aphrodisiers über die Vorsehung und über 
das Verhältniss Golies und der Welt wahrnehmen. Alles, was 
in der Welt geschieht, leitet er mit Aristoteles von der Wirkung 
her, welche sich von der Gottheit aus zunächst in den Himmel, 
und von da in verschiedenen Abstufungen in die elementarischen 
Körper verbreite 1); dieser ganze Verlauf soll aber durchaus als 
ein Naturprocess gefasst werden: in jedem der Elemente ist mehr 
oder weniger seelische Kraft, je nachdem es durch seine höhere 
oder tiefere Stelle im Weltgebäude und durch seine feinere oder 
gröbere Beschaffenheit dem ersten Träger dieser Kraft, dem Him- 
mel, näher oder ferner sielıi, und ebenso ist sie an die aus ihnen 
zusammengeseizten Körper in reichlicherem oder geringerem 
Maasse vertheilt, sie haben eine vollkommenere oder unvollkom- 
menere Seele, je nachdem sie aus reineren oder unreineren Stof- 
fen bestehen, und je nachdem ihnen insbesondere mehr oder we- 
niger von dem edelsten Elemente, dem Feuer, beigemischt ist 5). 
In dieser göttlichen Kraft besteht das Wesen der Natur ?); mit der 


1) Die Bewegung des Himmels selbst erklärte Alex. mit Aristoteles daraus, 
dass das σῶμα zuxkogopntizov das Verlangen habe, der höchsten, ewigen und 
unbewegten Substanz (die er sich aber nach Sızırr. Phys. 319, b, o., nieht mit 
Aristoteles ausser dem Himmel, sondern der äussersten Sphäre als Ganzem 
inwohnend dachte) möglichst ähnlich zu werden, was bei dem seiner Natur 
nach Bewegten nur durch ewige gleichmässige Bewegung geschehen könne; 
und da nuu ein Verlangen eine Seele voraussetzt, so sagt er, das θείον σῶμα 
Bei ἔμψυχον χοὶ χατὰ ψυχὴν χινούμενον. Aehnlich soll jede der sieben Planeten- 
ephären (auf welche demnach Alex. die 55 aristotelischen wieder zurückführt) 
ἐφέσει καὶ ὀρέξει τινὸς οὐσίας (ihres Sphärengeistes) in einer der des Fixstern- 
himmels entgegengesetzten Richtung bewegt, zugleich aber von ihm mit 
herumgeführt werden — eine doppelte Bewegung, die nothwendig war, weil 
es sonst in der Welt unter dem Monde nicht zum regelmässigen Wechsel des 
Entstehens und Vergehbens koınmen könnte. (Qu. nat. 1, 25.) Alex. legt also 
dem πρῶτος οὐρανὸς, hierin von Aristoteles abweichend, eine Seele bei, in 
welcher das Verlangen nach jenem, das Arist. dem Stoffe selbst zugeschrieben 
hatte (Bd.II, b, 280), seinen Sitz haben soll; sein (S. 701, 1 berührter) Wider- 
spruch gegen Herminus bezieht sich nur darauf, dass dieser von jener Seele 
auch solches herleitete, was nach Alex. Wirkung des ersten Bewegenden ist. 

2) Qu. nat. Il, 3. 

3) Qu. nat. a. a. 0.8. 90. De an. 159, b, o.: τῆς θείας δυνάμεως τῆς ἐν τῷ 


- 


Ν Vorsehung. 715 


letzteren fällt aber auch die Vorsehung oder das Verhängniss zu- 
sammen !). So wenig daher Alexander ein Verhängniss im stoi- 
schen Sinne zugiebt, ebenso wenig weiss er sich mit dem gewöhn- 
lichen Vorsehungsglauben zu befreunden. Dieser Glaube scheint 
ihm nicht nur mit der Freiheit des menschlichen Willens unver- 
einbar; — denn die freien Handlungen, zeigt er, könne selbst 
die Gottheit nicht vorherwissen, da sich auch ihre Macht nicht auf 
das Unmögliche erstrecke 5); — sondern er widerstreitet auch 
richtigen Begriffen von Gott und der Welt. Denn unmöglich lässt 
sich annehmen, dass das Sterbliche und Geringere der Zweck, die 
Thätigkeit des Höheren, der Gottheit, blosses Mittel, und nur 
jenem zuliebe da sei?); ebenso wenig kann man aber auch von 
der Welt sagen, dass sie zu ihrer Einrichtung und Erhaltung einer 
Vorsehung bedürfe, sondern ihr Dasein und Sosein ist eine Folge 
ihrer Natur 3). Will daher Alexander die Vorsehung auch nicht 
ganz läugnen, so will er sie doch auf die Welt unter dem Monde 
beschränken, weil nur für diese durch ein ausser ihr selbst Lie- 
gendes gesorgt werde, das sie in ihrem Sein und ihrer Ordnung 
zu erhalten bestimmt sei, durch die Planetenwelt °); und wider- 
spricht er auch der Vorstellung, als sei die Vorsehung nur eine 
zufällige Wirkung der Gottheit, so will er sie doch ebensowenig 
als eine absichtliche Thätigkeit, sondern nur als einen von ihr 
vorhergewussten und gewollten Naturerfolg betrachtet wissen ®). 


γεννητῷ σώματι ἐγγινομένης ἀπὸ τῆς πρὸς τὸ θέίον [sc. σῶμα] γειτνιάσεως, ἣν καὶ 
φύσιν χαλοῦμεν. r 

1) De fato c. 6, Anf.: λείπεται δὴ λοιπὸν τὴν εἱμαρμένην dv τοῖς φύσει γινο- 
μένοις εἶναι λέγειν, ὡς εἶναι ταὐτὸν εἱμαρμένην τε χαὶ φύσιν, was dann weiter aus- 
geführt wird. De an. 162, a, u.: λείπεται ἄρα τὴν εἱμαρμένην μηδὲν ἄλλο A τὴν 
οἰχείαν φύσιν εἶναι ἑχάστου u. 5. w. 

2) De fato c. 30. 

3) Qu. nat. II, 21, S. 128 ff.; vgl. was S. 699 aus Adrast angeführt ist, 
mit dem Alex. freilich nicht durchaus übereinstimmt, denn von den Planeten 
nimmt er an, dass sie um des Irdischen willen ihre doppelte Bewegung haben; 
8. 8. 714, 1. 

4) A. a. Ο. II, 19. 

5) A.a. O. und I, 25,8. 79 ἢ, Nur im weiteren Sinn soll der Begriff der 
Vorsehung, der letzteren Stelle zufolge, auf die gesammte Körperwelt ange- 
mwandt werden. 

6) Qu. nat. II, 21,8. 124 (, 131 f. Alex. bemerkt hier, die Frage, ob die 


716 Ausgang der peripatetischen #chule. 


Man wird diese Ansichten über die Vorsehung im Ganzen nicht 
unaristotelisch nennen können; aber indem sie die aristotelische 
Lehre durchaus nur nach der physikalischen Seite hin verfolgen, 
geben auch sie einen Beleg für den Naturalismus des Philosophen, 
welcher sich in seiner Erklärung des Seelenlebens dem stoischen 
Materialismus, und in seiner ganzen Weltansicht dem Standpunkt 
Strato’s des Physikers annähert. 

Alexander von Aphrodisias ist der letzte namhafte Lehrer 
aus der peripatetischen Schule, der uns bekannt ist. Von den we- 
. nigen, welche nach ihm aus der ersten Hälfte des dritten Jahrhun- 
derts genannt werden !), war wohl keiner von einiger Bedeu- 
tung 5). Seit der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts scheint 
sich die peripatetische Schule allmählig in die neuplatonische ver- 
loren zu haben, in welcher die Kenntniss der aristotelischen 
Schriften gleichfalls eifrig gepflegt wurde; es wird zwar immer 
noch von Peripatetikern gesprochen °), und es fehlt auch wirk- 
lich nicht an Männern, welche die aristotelischen Schriften erklä- 


Vorsehung χαθ᾽ αὑτὸ oder χατὰ συμβεβηχὸς erfolge, sei von keinem seiner Vor- 
gänger genauer untersucht, und er selbst giebt die obige Entscheidung nur 
hypothetisch, aber- doch drückt sie offenbar seine eigene Meinung aus. 

1) Loxcınus b. Poren. v. Plot. 20 führt unter den Philosophen seiner Zeit, 
die er dort aufzählt, drei Peripatetiker auf: Heliodorus aus Alexandria, 
Ammonius (nach Par.oste. v.soph. 11, 27,6 wohl in Athen) und Ptolemäus; 
von diesen hatte aber nur der erste philosophische Schriften hinterlassen, über 
die beiden andern bemerkt Longin, sie seien zwar sehr kenntnissreiche Leute 
gewesen, namentlich Ammonius (von welchem diess auch Prunoste. a. a. Ὁ. 
bestätigt), aber geschrieben haben sie nur Gedichte und Prunkreden, denen 
sie wohl selbst kaum so viel Werth beigelegt haben würden, um der Nachwelt 
durch diese Geisteserzeugnisse bekannt werden zu wollen. Weiter nennt 
Porphyr b. Eus: pr. ev. X, 3, 1 als seinen Zeitgenossen den Peripatetiker 
Prosenes in Athen, vielleicht dortigen Schulvorsteher. 

2) Auch Anatolius aus Alexandrien, der um 270 Bischof von Laodicea 
wurde, der aber nach Evs. ἢ. ecel. VII, 32,6 in der peripatetischen Philosophie 
sich so auszeichnete, dass man ihn in seiner Vaterstadt zum peripatetischen 
Schulhaupt hatte machen wollen, scheint seine Hauptstärke in den mathema- 
tischen Wissenschaften gehabt zu haben. Ein Bruchstück aus seinen xavöves 
περὶ τοῦ πάσχα führt Eus. ἃ. ἃ. O. 14 fl. an; auch das Bruchstück b. Faskıc. 
Bibl. gr. III, 462 f. gehört vielleicht ibm, die bei James. Theovl. Arithmet. 
(s. d. Ind.) dagegen einem Jüngeren, dem Lehrer Jamblich's. 

3) Vgl. S. 695, ὃ. 


Platoniker der ersten Jahrhunderte. 717 


ren, und in einzelnen Zweigen, wie Logik, Physik und Psycho- 
logie, zu Führern wählen '), aber von solchen Philosophen, 
welche in ihrer ganzen Weltansicht der peripatetischen Lehre ge- 
folgt wären, hören wir nur noch ganz vereinzelt ?). 


11. Die platonische Schule in den ersten Jahrhunderten 


n. Chr. 


Unsere Kenntniss der akademischen Schule wird an dem 
Punkte, wo wir sie zuletzt verlassen haben, so lückenhaft, dass 
uns ein halbes Jahrhundert lang von keinem ihrer Lehrer auch nur 
der Name bekannt ist ?). Erst in den letzten Jahrzehenden des 
ersten Jahrhunderts kommt wieder einiges Licht in dieses Dunkel; 
und von da an lässt sich die Schule durch eine fortlaufende Reihe 
platonischer Philosophen bis in die Zeiten des Neuplatonismus herab 
verfolgen *). In ihrer Denkweise blieb sie im Ganzen der eklekti- 


1 


1) So nach Plotin’s Vorgang Porphyrius, Jamblichus, Themistius, De- 
xippus, Syrianus, Ammonius, Simplieius, die beiden Olympiodorus und 
andere Neuplatoniker, denen auch Johannes Philoponus beizufügen ist; im 
Abendland Boäthius, und die von ihm Angeführten: Vietorinus und Vegetius 
Praetextatus. Von diesen Männern wird, so weit sie überhaupt in den Bereich 
der gegenwärtigen Darstellung fallen, später zu sprechen sein. 

2) Ein solcher Peripatetiker begegnet uns noch um das Ende des fünften 
Jahrhunderts in dem Araber Dorus, welchen nach Damasc. b. Sup. u. d.W. 
vgl. v. 1514, 131 Isidorus vom aristotelischen System zum platonischen, d.h. 
neuplatonischen, überführte. 

3) Zum Folgenden Fasrıc. Bibl. III, 159 ff, Zuuer 8.59 fl. der mehr- 
erwähnten Abhandlung (s. o. 549, 1). 

4) Nach den ὃ, 542 fi. namhaft gemachten Platonikern ist der nächste, 
welchen wir kennen, Ammonius aus Aegypten, der Lehrer Plutarch's, wel- 
cher in Athen, wahrscheinlich als akademischer Schulvorstand, lehrte, und 
ebendaselbst starb, nachdem er wiederholt das Amt eines Strategen bekleidet 
hatte (Prur. qu. symp. II, 1. VIII, 3, Anf. IX, 1, Anf. 2, Anf. 5, 1,5. De Ei 
e.1f. 8. 385, wo ein angebliches Gespräch mit ihm während Nero’s Anwesen- 
heit.in Griechenland, 63 ἢ. Chr., berichtet wird. Def. orac. c. 4. 9. 20. 33. 38. 
46. De adulat. 31, 3. 70. Themistokl. ο. 32, Schl. Euxar. v. Soph. prooem. 
5.8). An ihn schliesst sich Plutarchus an, auf den ich später ausführlicher 
zurückkomme. Ein Freund und Mitschüler des letzteren ist Aristodemus 
aus Aegium, den Pıur. adv. Col. 2 ἄνδρα τῶν ἐξ ᾿Αχαδημίας οὐ ναρθηχοφόρον, 
ἀλλ᾽ ἐμμανέστατον ὀργιαστὴν Πλάτωνος nennt, und dem er hier und in der Schrift 
gegen Epikur (n. p. suav. v.) eine Rolle im Gespräch übertragen hat, Unter 
Hadrian scheint der Syrer Apollonius, den Srarrıan. Hadr. 2 als Pla- 


718 Platoniker. 


schen Richtung getreu, welche sie seit Philo und Antiochus ein- 
geschlagen hatte. Aber theils geschah diess nicht, ohne dass Ein- 


toniker nennt, und Gajus, dessen Schüler Galen in früher Jugend hörte, 
(Gar. cogn. an. morb. 8. Bd. V,41; Weiteres 3. 719, 3) gelebt zu haben; in’s 
achte Jahr des Antoninus Pius (145 n. Chr.) setzt Hırrox. Chron. Eus. den 
Calvisius Taurus aus Berytus (Eus. a. a. O.. Sum. Taöp.) oder Tyrus 
(Paıtoste. v. soph. II, 1,34); da er aber den Herodes Attikus, der 143 Consul 
war, zum Schüler hatte (Prıtoste. a. a. O.), muss er schon geraume Zeit vor- 
her aufgetreten sein (Zumer 8. 70). Gerrıus, gleichfalls sein Schüler, nennt 
ihn oft (s.d. Index); aus N. A.1,26. II,2,1. VII,10,1. 13,1 £. XVII, 8, 1 sieht 
“ man, dass er Schulvorstand war. Ueber seine Schriften tiefer unten. In die 
gleiche Zeit gehört Nigrinus, der uns durch Lucıax (Nigrin.) als ein in Rom 
lebender Platoniker bekannt ist; Sextus aus Chäronea, ein Neffe Plutarch’s, 
Lehrer des Mark Aurel und Verus (Carıror. Antonin. Philos. 3. Verus 3. 
Sum, Max. und Zeir., bei dem aber, durch ihn selbst oder durch seine Ab- 
schreiber, der Chäroneenser und der Skeptiker Sextus Empirikus durchein- 
andergewirrt sind; M. Auzer. 1, 9. ῬΗΙΠΟΒΤΕ. v. soph.I1,9. Dıo Cass. LXXL 1. 
Eureor. VIII, 12, vgl.8.676); Alexander aus Seleueia in Cilicien, mit dem 
Beinamen Peloplaton, der in Antiochien, Rom, Tarsus und anderen Orten 
lehrte, und gleichfalls bei Mark Aurel in Gunst stand (Prıtoste. v. soph. II, 5. 
M. Aveer. I, 12); Albinus, dessen Unterricht Galen 151/2 n. Chr. in Smyrna 
aufsuchte (Gar. De libr. propr. 2. Bd. XIX, 16 — Weiteres über Albinus 
später); Demetrius (M. Aurer VIII, 25); Apulejus aus Madaura, Maxi- 
mus aus Tyrus (über beide später), vielleicht auch Aleinous und Severus, 
deren Schriften uns unten noch begegnen werden. Unter Antoninus Pius oder 
seinem Nachfolger scheint auch Theo der Smyrnäer (über ihn Marrın Theon. 
Astron. 5 fi.) gelebt zu haben, da er einerseits Adrastus benützt (5. o. 698, 3), 
andererseits auf Ptolemäus noch keine Rücksicht nimmt. Als Platoniker be- 
zeichnet ihn Prot.. in Tim.26, A und der Titel seines Hauptwerks: τὰ χατὰ τὸ 
μαθηματιχὸν χρήσιμα εἰς τὴν τοῦ Πλάτωνος ἀνάγνωσιν in manchen Handschriften; 
das erste Buch dieses Werks bildete die Arithmetik, welche Burrıarors, das 
vierte die Astronomie, welche Marrın zuerst herausgegeben hat, die drei 
übrigen sind verloren. Auf einen Commentar zu einer platonischen Schrift, 
vielleicht der Republik (vgl. Tseo Astron. c. 16, S. 203, und dazu Marrın 
S. 22 f. 79), scheint sich Proxr. a. a. Ὁ. zu beziehen. Unter Mark Aurel’s 
Regierung wird neben Attikus (Hırrox. Chron. Eus. zum 16ten Jahr des 
Markus, 176 n. Chr., Poren. v. Plot. 14 — Weiteres später) auch Daphnus 
(ein Arzt aus Ephesus, Arnen. I, 1, 6) zu setzen sein; ein Schüler des Attikus 
ist Harpokration aus Argos (Proxt. in Tim. 93, Bf. Sur. u. d. W.), nach 
Sum. συμβιωτὴς Καίσαρος, aber doch wohl kaum der von Carıron. Ver. 2 als 
Grammatiker bezeichnete gleichnamige Lehrer des Verus; Suıp. nennt von 
ihm ein ὑπόμνημα εἷς Πλάτωνα in 24, λέξεις Πλάτωνος in zwei Büchern. Indie Zeit 
Mark Aurel’s scheinen annäherungsweise auch die später zu Besprechenden, 
Numenius, Kropins, Celsus zu fallen; an das Ende des 2ten Jahrhunderts 


Commentatoren. 719 


zelne gegen diese Trübung des reinen Platonismus Einsprache 
erhoben hätten; theils verband sich mit jener Verknüpfung der 
philosophischen Lehren seit dem Ende des ersten Jahrhunderts in 
zunehmendem Maasse die religiöse Mystik, durch deren stärkeres 
Anwachsen der eklektische Platonismus eines Antiochus und seiner 
Nachfolger in den Neuplatonismus übergeführt wurde. Jener 
Widerspruch gegen die Vermischung der platonischen Lehre mit 
anderen Standpunkten wurde vorzugsweise durch die genauere 
Kenntniss ihrer ältesten Urkunden hervorgerufen und genährt. 
ı Wie die Peripatetiker dieser Zeit den aristotelischen, so sehen wir 
jetzt auch die Akademiker den platonischen Schriften grössere Auf- 
merksamkeit zuwenden; und wenn sich auch die wissenschaftliche 
Thätigkeit der Schule nicht mit dem gleichen Eifer und der gleichen 
Ausschliesslichkeit auf die Werke ihres Stifters warf, wie bei jenen, 
so gewann ihre Auslegung doch immerhin eine beachtenswerthe 
Ausdehnung und Bedeutung. An die früheren 'Bearbeiter der 
platonischen Schriften 1) schliesst sich unter den Späteren zunächst 
Plutarch an, sofern er nicht blos überhaupt an zahllosen Stellen 
auf Aussprüche Plato’s zurückgeht, sondern auch einzelne Punkte 
seiner Lehre und einzelne Abschnitte seiner Werke eingehend be- 
sprochen hat?). Als Commentatoren Plato’s werden ferner Gajus und 
Taurus bezeichnet 5); von Albinus besitzen wir noch eine, übrigens 


der von Arrx. ArHe,qu.n. I, 13 wegen einer Behauptung über die Farbenlebre 
Epikur's angegriffene, ihm gleichzeitige, Censorinus. In der ersten Hälfte 
und um die Mitte des dritten Jahrhunderts lebten in Athen Diodotus und 
Eubulus, zwei Diadochen der platonischen Schule, von denen der letztere 
noch nach 263 vorkommt (Loxcım. b. Porrn. v.Plot.20. Porph. selbst ebd. 15, 
wo auch über die wenigen und nicht bedeutenden Schriften des Eubulus). 
Ihnen fügt Loxeınus ebd. als Platoniker, die schriftstellerisch thätig gewesen 
seien, Euklides, Demokritus und Proklinus in Troas bei. Von Am- 
monius Sakkas, Origenes und Longinus wird später zu sprechen sein. 
Wann der von Ῥποκι, in Tim. 319, F mit einer Annahme über Tim. 41, D an- 
geführte ᾿Αχύλλας gelebt hat, und ob er jünger oder älter, als Plotin, ist, 
lässt sich nicht ausmachen. 

1) Dercyllides, Thrasyllus, Eudorus; s. 9. 542 f. 

2) So namentlich in den Πλατωνιχὰ ζητήματα und der Schrift περὶ τῆς ἐν 
Τιμαίῳ ψυχογονίας. 

3) In dem Scholion b. Fasrıc. III, 158: τὸν μὲν Πλάτωνα ὑπομνηματίζουσε 
πλεῖστοι. Χρησιμώτεροι δὲ Γάϊος, ᾿Αλβῖνος, Ποισχιανὸς (Zeitgenosse des Simpli- 
cius), Ταῦρος, Πρόχλος u.s. w. Gajus nennt auch ΤΌΒΡΗ. v. Plot. 14 unter 


720 Platoniker. 


ziemlich werthlose, Einleitung in die platonischen Gespräche Ἶ), 
auch-Commentare, insbesondere, wie es scheint, zum Timäus und 
zum Phädo,hatte er verfasst, dochist das Wenige, was daraus ange- 
führt wird, von keiner Erheblichkeit ?). Severus’ Auslegung .des 
Timäus ist uns durch Proklus bekannt °). Theo’s und Harpo- 
kration’s Schriften zur Erläuterung Plato’s wurden schon erwähnt %); 
von Attikus kennen wir Erklärungen des Timäus und des Phädrus°), 
von Numenius und Longinus, ausser ihren sonstigen der platoni- 
schen Lehre gewidmeten Schriften, Commentare zum Timäus °). 
Auch der mündliche Unterricht in der platonischen Schule bestand 


denen, deren Commentare Plotin gelesen habe; auf eine Erklärung des Timäus 
bezieht sich wohl Proktr. in Tim. 104, A; von Taurus führt Gert. N. A, VII, 
14,5 das erste Buch eines Commentars zum Gorgias und XVII, 20 seine münd- 
liche Erklärung des Gastmahls an, und aus dem ersten Buch einer Erklärung 
des Timäus werden in den Bekker’schen Scholien zu Plato 8. 436 f. und bei 
Prior. De aetern. mundi VI, 21 Bruchstücke mitgetheilt. Ebendaher stammt 
ohne Zweifel, was Jauegr. b. Stoz. ΕΚ]. I, 906 anführt. 

1) Jetzt im 6ten Band der Hermann’schen Ausgabe Plato’s S. 147 ff.; über 
die früheren Ausgaben und die Handschriften vgl. m. ebd. Praef. XV ἢ. 

2) Seiner Commentare wurde schon $.719,3 gedacht. ‚Auf einen solchen 
zum Timäus wird sich beziehen, was Proxr. in Tim. 67,C sagt, der Platoniker 
Albinus halte die Welt zugleich für entstanden und unentstanden, sofern sie 
zwar ohne Anfang in der Zeit, aber doch von einer höheren Ursache hervor- 
gebracht sei (so schon Xenokrates und Krantor, dann Eudorus 5. Bd. II, a. 
677,1. 508, 2); ebenso $. 104, A (nach Gajus und Albinus rede Plato theils 
ἐπιστημονιχῶς theils εἰχοτολογιχῶς vgl. Tim. 29, B) und 314, A (nach Albinus 
und Attikus sei nur der Nus unsterblich, die vernunftlosen Seelentheile Sterb- 
lich); dagegen weist auf eine Erklärung des Phädo, was Terrurr. De an. 28. 
29 über seine Vertheidigung der platonischen Lehre von dem Uebergang der 
Seelen aus dem Jenseits in’s Diesseits und umgekehrt (Phädo 70, € ff.) be- 
richtet. Ob er in einer Auslegung der Republik (zu X, 617, D £.) oder anders- 
wo ausgeführt hatte, dass die eigene Verschuldung die Seelen in’s Irdische 
herabziehe (Jasper. Ὁ. Sror. Ekl. I, 896), mag dahingestellt bleiben. 

3) In Tim. 63, A. 70,A. 78, B. 88, Ὁ. 168,D. 186, E. 187, B. 192, B.D. 
198, B. Ef. 804, B. Ich werde auf ihn noch zurückkommen. 

4) S. 718. 

5) Ueber die erstere vgl. m. ἃ, Index zu Proxt. in Tim., die andere wird 
ebd. 315, A genannt. 

6) M. 5. das Register zu Prokr.. in Tim., der auch seine Anführungen aus 
Numenius doch einem Commentar, nicht den sonstigen Schriften dieses Pla- 
tonikers entnommen zu haben deheint. Ob auch Kronius Commentare ge- 
schrieben hatte, lässt sich aus Porrx. v. Plot. 14 nicht entscheiden. 


Taurus. Attikus. «21 


ohne Zweifel grossentheils im Lesen und Erklären der platonischen 
Werke 1). Durch diese eingehende Beschäftigung mit den Quellen 
der akademischen Lehre musste man sich denn freilich überzeugen, 
dass manches, was sich in der Folge für platonisch ausgegeben 
hatte, von Plato’s Ansichten weit abliege; und so hören wir auch 
von Einzelnen, welche gegen die herrschende Vermengung der 
verschiedenen Systeme Verwahrung einlegten.X Taurus schrieb 
über den Unterschied der platonischen und aristotelischen Philo- 
sophie, und gegen die Stoiker 59); über seine eigene Auffassung 
des platonischen Systems ist aber nur wenig überliefert, und eine 
bemerkenswerthe Eigenthümlichkeit kommt darin nicht zu Tage °). 
Mit ihm stellte sich auch Attikus der Neigung zur Verknüpfung 
platonischer und peripatelischer Annahmen entgegen. In den 
Bruchstücken einer Schrift, welche er diesem Zwecke gewidmet 
hatte *), erscheint er als ein enthusiastischer Bewunderer Plato’s, 


’ 


1) Es folgt diess theils aus dem zahlreichen Auftreten der Commentare 
und Erläuterungsschriften, theils aus Angaben, wie die 5. 719, 3 angeführte 
über Taurus und Poren. v. Plot. 14. Auch aristotelische Schriften las Taurus 
mit seinen Schülern (bei Gert. XIX, 6, 2. XX, 4 die Probleme). 

2) Jenes nach Sum. Ταῦρ., dieses nach Ger. N. A. X, 5,5. Ausserdem 
verfasste er nach Suid. eine Abhandlung περὶ σωμάτων καὶ ἀσωμάτων und viele 
andere Schriften. 

3) Durch seinen Schüler Gerıus, der seiner oft erwähnt, erfahren wir, 
dass er eine gründliche Vorbildung für die Philosophie verlangte, und ihre 
blos rhetorische Behandlung nicht leiden konnte (N. A. I, 9,8. X, 19. XVII, 
20, 4 £.); dass er spitzfindigere dialektische und speciellere physikalische Er- 
örterungen nicht verschmähte (VII, 13. XVII, 8. XIX, 6); dass er die Affekte 
nicht ausgerottet, aber gemässigt, und desshalb leidenschaftliche Gemüths- 
bewegungen, wie den Zorn, ganz beseitigt wissen wollte (I, 26, 10); dass er 
Epikur’s Lustlehre und Vorsehungsläugnung verabscheute (IX, 5, 8), um das 
noch Unerheblichere II, 2. VII, 10. 14, 5. VII, 6. XII, 5. XVIH, 10. XX, 4 
zu übergehen. Weiter erhellt aus dem Bruchstück bei Paıtor. De aetern. m. 
VI, 21, dass er (mit Andern s. o. 720, 2) eine zeitliche Weltentstehung läug- 
nete; aus denen in den Bekker’schen Scholien zu Plato 8. 436 f., dass er die 
fünf Sinne an die vier Elemente vertheilte, indem er das Riechbare zwischen 
Wasser und Luft in die Mitte stellte, und dass er auch den Himmel, unter 
Bestreitung des aristotelischen Aethers, aus Erde und Feuer bestehen liess; 
aus Jauer. b. Sror. Ekl. I, 906, dass seine Schüler nicht einig darüber waren, 
ob die Seelen zur Vollendung des Weltganzen oder zur Offenbarung des gött- 
lichen Lebens auf die Erde gesandt werden. 

4) Bei Eus. pr. ev. XI, 1.2. XV, 4—9; ebd. e. 13 und wahrscheinlich auch 

Philos. ἃ. Gr. III. Bd. 1. Abth. 46 


122 Platoniker. 


der um die Reinheit der akademischen Lehre bekümmert, die peri- 
‚ patetische mit leidenschaftlicher Befangenheit angreift, und ihr 
insbesondere die Niedrigkeit ihres sittlichen Standpunkts, die Läug- 
nung der Vorsehung und Unsterblichkeit vorrückt "); von den 
sonstigen Lehren des Aristoteles ist es namentlich die Annahme 
eines fünften Körpers und die Ewigkeit der Welt, die seinen Wider- 
spruch bervorrufen, die letztere um so mehr, da er es hier auch 
mit einem Theil seiner eigenen Schule zu thun hat ?). Mit den 
aristotelischen Bestimmungen über die Unsterblichkeit bestreitet 
er auch die Behauptung, dass die Seele äls solche unbewegt sei, 
um statt dessen den platonischen Begriff des Sichselbstbewegenden 
aufrechtzuhalten °)5“ dabei beschränkte er aber die Fortdauer nach 
dem Tode auf den vernünftigen Theil der Seele, und liess diesen 
bei jedem Eintritt in das irdische Leben mit der im Körper wohnen- 
den vernunftlosen Seele, welche nun erst zur Ordnung gebracht 
werden sollte, sich verbinden *), so dass er sich demnach die Ent- 
stehung des Einzelnen der des Weltganzen ähnlich dachte. Auch 
dem aristotelischen Gottesbegriff hatte er ohne Zweifel wider- 
sprochen, doch ist darüber nichts überliefert; nur über seine eigene 
Ansicht wird uns mitgetheilt, dass er den Weltbildner mit dem 
Guten zusammenfallen liess, die übrigen Ideen dagegen, als Ur- 


schon c. 12. In der ersten von diesen Stellen wird das Thema der Schrift 
durch die Worte bezeichnet: πρὸς τοὺς διὰ τῶν ᾿Αριστοτέλους τὰ Πλάτωνος 
ὑπισχνουμένους. Was in den Ueberschriften mehrerer Kapitel und ΧΥ͂, ὅ, 1, 
6, 1 von Plato und Moses steht, gehört natürlich Euseb und seinen Ab- 
schreibern. 

1) XV, 4.5.9. 

2) Gegen den aristotelischen Aether und die damit zusammenhängenden 
Ansichten über die Gestirne wendet er sich b. Eus. XV, 7. 8, gegen die Ewig- 
keit der Welt ebd. ο. 6. Ein Weltende wollte er aber darum, wie wir finden 
werden, doch nicht zugeben. Die gleichen Ansichten hatte er in seinem Com- 
mentar zum Timäus vorgetragen. Der ungeordnete Stoff, sagte er hier im 
Anschluss an Plutarch, und die ihn bewegende unvollkommene Seele seien 
freilich ungeschaffen, aber die Welt als geordnetes Ganzes und ihre Seele 
seien in einem bestimmten Zeitpunkt gebildet (Proxr. in Tim. 84, F. 87, A. 
116, B. F. 119, B vgl. 99, C. 170, A. 250, B. Jaweı.. b. ὅτοβ. Ekl. I, 894); 
unvergänglich können sie darum aber doch sein, nämlich (nach Tim. 41, A f.) 
_ durch den Willen des Schöpfers (Prorr.. a. a. O. 304, B). 

3) Eus. XV, 9, 4 ff. 
4) Prort. 311, A. Jawer.a.a. O0. 910. 


x 


Attikus. 723 


bilder des Besonderen, von ihm unterschied 1). Was sonst über 
seine Erklärung des Timäus angeführt wird 9), ist unerheblich; . 
aus seinen Einwendungen gegen die aristotelischen Bestimmungen 
über die Homonymität °) sieht man, dass er seine Bestreitung der 
Gegner auch auf die Logik ausdehnte. Aber ein bedeutender Er- 
folg liess sich von derselben schon desshalb nicht erwarten, weil 
er selbst dem Eklektieismus, den er bekämpfte, näher stand, als 
er wusste. Er eifert gegen die Vermengung der platonischen 
Lehre mit der peripatetischen; aber er selbst vermengt sie mit der 
stoischen, wenn er der aristotelischen Güterlehre eine Autarkie 
der Tugend enigegenstellt, welche sich von der stoischen höch- 
stens in den Worten unterscheidet). Noch deutlicher verräth sich 
jedoch der Standpunkt der späteren Popularphilosophie in dem 
Satze, dass die Glückseligkeit des Menschen von den Philosophen 
einstimmig als der letzte Zweck der Philosophie anerkannt werde’). 
Gerade dieser einseitig praktische Standpunkt war es ja gewesen, 
welcher mit der Gleichgültigkeit gegen ein strengeres wissenschaft- 
liches Verfahren die eklektische Verschmelzung widerstrebender 
Lehrsätze hervorgerufen hatte. Sehr wissenschaftlich scheint aber 
auch Attikus nicht verfahren zu sein: der Hauptinhalt seiner Ein- 
würfe gegen Aristoteles besteht, so weit wir sie kennen, in Klagen 
über die moralische und religiöse Verderblichkeit seiner Lehren; 
seinen durchdachtesten Erörterungen setzt er Gründe entgegen, 
wie den, wodurch er die zeitliche Entstehung der Welt mit ihrer 
endlosen Fortdauer zu vereinigen sucht, dass nämlich Gott ver- 
möge seiner Allmacht auch das Gewordene vor dem Untergang be- 
‘ wahren könne‘). Wo man es sich mit der Beweisführung so leicht 
machte, und die letzte Entscheidung so unbedenklich von dem 
praktischen Bedürfniss hernahm, da hatte man in der That kein 


1) Prokr. a. a. 0.93, C. 111,C. 119, B vgl. 131, C. 

2) Bei Proxı. 87, Β, 315, A. 7, C. 30, D. 83, C.D. 129, Ὁ. 187, B. 
234, D. 

3) Bei Sıyrı. Categ. 7, ὃ. 8, ἃ und Porrn. ἐξήγ. 9, a, Schol. 42, b, 9 
(Prantr Gesch. ἃ. Log. I, 618, 2 f.). Dieselben scheinen einer eigenen Schrift 
über die Kategorieen entnommen zu sein. ) 

4) Eus. XV, 4, 1.7 fi. 

5) A.a.0.XV,4,1 vgl.5, 1. 

6) Δ. 8. Ο. 60, ὅ ff. vgl. Ρβοκι,. in Tim. 304, B. 


194 Platoniker, 


Recht, gegen die Verschmelzung der verschiedenen Systeme, für 
welche eben dieses Bedürfniss maassgebend gewesen war, Ein- 
sprache zu erheben. 

Dieser Eklektieismus behauptete denn auch bei der Mehrzahl 
der Akademiker fortwährend seine Herrschaft. Männer, wie 
Plutarchus, Maximus, Apulejus, Numenius, sind freilich Platoni- 
ker, aber ihr Platonismus hat so viele fremdartige Elemente in sich. 
aufgenommen, dass wir in ihnen nach dieser Seite hin nur die 
Fortsetzer der durch Antiochus begründeten Richtung sehen kön- 
nen. Da uns aber diese Philosophen später noch unter den Vor- 
läufern des Neuplatonismus begegnen werden, so mag das Nähere 
über sie bis dahin aufgespart bleiben. Auch in Betreff Theo’s des 
Smyrnäers wird es genügen, daran zu erinnern, dass er, wie 
schon früher gezeigt wurde 1), mit seinem Platonismus die um- 
fassendste Benützung einer peripatetischen Schrift nicht unverträg- 
lich fand, während er zugleich im ersten Buche seines Werkes mit 
Vorliebe alt- und neupythagoreischer Ueberlieferung folgt 5}. 
Ueber Nigrinus ist trotz Lucıan’s Mittheilungen (im Nigrinus) 
wenig zu sagen: seine Schilderung zeigt uns einen Mann von vor- 
treMicher Gesinnung, der sich aus einer üppigen und sittenlosen 
Zeit zur Philosophie geflüchtet und bei ihr innere Befriedigung und 
Freiheit gefunden hat; aber die Reden, welche er von ilım berichtet, 
könnten fast ebensogut einem Musonius oder Epiktet in den Mund 
gelegt sein. Dagegen ist hier noch des Severus und des Aleinous 
zu erwähnen, zweier Platoniker, deren Zeitalter uns zwar nicht 
näher bekannt ist, welche aber doch mit der grössten’ Wahrschein- 
lichkeit in’s zweite Jahrhundert gesetzt werden. Von dem ersten 
derselben, Severus, hat Euse£sıvs’?) aus einer Schrift über die 
Seele ein Bruchstück aufbewahrt, worin die platonische Lehre von 
der Zusammensetzung der Seele aus der leidensfähigen und der 


1) 8.698, 3 ff. Auch De Mns. c. 6. c. 13, 8. 94. 97. e. 19. 6. 22, 8. 117. 
c. 40, 8. 169 wird Adrastns benützt. 

2) Was Theo in seinem, gewöhnlich unter den zwei Titeln περὶ ἀριθμητιχῆς 
und r. μουσικῆς angeführten ersten Buch über Zahlen und Tonverhältnisse sagt, 
ist wohl grösstentheils pythagoreisch, wie er auch De mus. e. 1. 12 u.ö. 
andeutet. In philosophischer Beziehung tritt das Nenpythagoreische besonders 
De Arithn. ce. 4. De Mus. e. 38 ff. hervor. 

3) Praep. ev. XIII, 17. 


Theo, Nigrinus, Severus, Aleinous. 125 


leidenslosen Substanz mit der Bemerkung angegriffen wird, diese 
Annahme würde die Unvergänglichkeit derselben aufheben, denn 
zwei so verschiedenarlige Bestandtheile müssten nothwendig ihre 
naturwidrige Verbindung 'wieder auflösen. Severus selbst be- 
schrieb die Seele als eine unkörperliche mathematische Figur '). 
Eine Weltentstehung im eigentlichen Sinn gab er nicht zu, wenn 
auch die jetzige Welt entstanden sein sollte; er nahm nämlich mit 
den Stoikern an, dass die Welt, an sich ewig, in bestimmten 
Perioden ihren Zustand verändere, indem er sich hiefür auf den 
Mythus des platonischen Politikus berief ?). An die Stoiker erinnert 
es auch, dass er das Etwas (τὶ) als den obersten Gattungsbegriff 
bezeichnete, unter dem das Seiende und das Werdende stehen °). 
So vereinzelt diese Angaben auch sind, so beweisen sie doch 
immerhin, dass Severus die Lehre Plato’s mit einer gewissen Selb- 
ständigkeit behandelte. Von Alcinous haben wir noch einen 
Abriss der platonischen Lehre *), der zwar an sich selbst geringen 
Werth hat, und grossentheils nur aus älteren Darstellungen zu- 
sammengeschrieben zu sein scheint °), der aber doch für die Rich- 
tung des damaligen Platonismus bezeichnend genug ist. Gleich am 
Anfang dieser Schrift fällt uns die stoische Definition der Weisheit 
als Wissenschaft der göttlichen und menschlichen Dinge (c. 1), 
und die peripatetische Eintheilung der Philosophie in die theoreti- 
sche und die praktische (c. 2) in's Auge, denen als Drittes die 
Dialektik vorangestellt wird Ce. 3). Die theoretische Philosophie 
theilt dann Alcinous wieder (Ce. 3. 7) mit Aristoteles in Theologie, 
Physik und Mathematik, ohne sich doch selbst an diese Einthei- 
lung zu halten °%); ebenso die praktische, peripatetisch, in Ethik, 


1) Jausı. Ὁ. Stop. ΕΚ]. I, 862. Pxokı. in Tim. 186, E. 187, A f. 

2) Pxokı. a. a. 0. 88, Df. 168, D. Dass die Welt trotzdem nur durch 
den Willen der Gottheit unvergänglich sein sollte (ebd. 304, B), war wohl nur 
ein Zugeständniss an die Aussprüche Plato’s. 

3) Ῥποκι,. 70, A vgl. oben 85. 83, 4. 

4) Jetzt im 6ten Band von Hursans’s Ausgabe Pläto’s $. 152 M. Ebd. 
5. XVII über den Titel des Schriftchens. 

5) Der Anfang des 12ten Kapitels findet sich fast, wörtlich in einem 
Bruchstick des Arius Didymus bei Eus. pr. ev. XI, 23, 2 £. 

6) Statt einer Darstellung der Mathematik wird nämlich e. 7 nur ein 
Auszug aus'den Aeusserungen der platonischen Republik über dieselbe und 


ihre Theile eingeschoben. 


726 Platoniker, 


Oekonomik und Politik Ce.3) 1). In der Dialektik giebt er zunächst 
eine Erkenntnisstheorie, welche stoische und aristotelische Be-- 
stimmungen mit den platonischen verbindet, und die φυσικὴ ἔννοια 
der Stoiker mit der Erinnerung an die Ideen zusammenwirft; das 
Erkenntnissvermögen betreffend, unterscheidet er im Menschen 
(der aristotelischen Lehre vom thätigen und leidenden Nus ent- 
sprechend) eine doppelte Vernunft, diejenige, welche dem Sinn- 
lichen, und die, welche dem Uebersinnlichen zugewandt ist ?). 
Weiter wird dann die ganze aristotelische Logik, mit den Schluss- 
“ figuren und den zehen Kategorieen, sammt verschiedenen späteren 
peripatetischen und stoischen Zuthaten, Plato unterschoben 5). 
In dem Abschnitt über die theoretische Philosophie werden drei 
Ursachen aufgezählt: die Materie, die Urbilder und das schöpferi- 
sche Princip oder die Gottheit; die Gottheit wird Ce. 10) aristo- 
telisch als der thätige Verstand beschrieben, welcher unbewegt 
nur sich selbst denkt; ein dreifacher Weg zur Erkenntniss Goltes 
wird angenommen ; der Weg der Entschränkung, der Analogie 
und der Erhebung 4); die Ideen werden für ewige Gedanken Got- 
tes, zugleich aber auch für Substanzen erklärt, ihr&mfang wird 
mit Ausschluss der künstlichen oder naturwidrigen Dinge auf die 
natürlichen Gattungen beschränkt, neben den Ideen sollen dann 
aber auch noch die der Materie inwohnenden Formen des Aristo- 
teles Raum finden (c. 9). Von der Materie sagt Alcinous, mit 
einer ihm geläufigen aristotelischen Bezeichnung, sie sei dasjenige, 
was weder körperlich, noch unkörperlich, sondern der Möglich- 
keit nach im Körper sei (e.8,Schl.). Die Ewigkeit der Welt glaubt 
er Cc. 14) auch als platonische Lehre behaupten zu können, und 
er schliesst daraus richtig, dass auch die Weltseele nicht von Gott 
geschaffen, sondern gleichfalls ewig sei; nur will es hiemit nicht 
recht übereinstimmen, dass sie doch von Gott ausgeschmückt und 
gleichsam aus einem tiefen Schlaf erweckt sein soll, um in der 


1) M. vgl. über die peripatetischen Eintheilungen Bd. II, b, 123 ff. Pla- 
tonisch ist keine derselben. 

2) C. 4. Einiges Weitere, nicht sehr Klare, über νόησις und αἴσθησις, 
λόγος ἐπιστημονιχὸς und δοξαστιχὸς, übergehe ich. 

3) C.5f. Genaueres bei Praxtı Gesch. ἃ. Log. I, 610 L. 

4) Bei dem zweiten hat der Verfasser die Stelle der platonischen Rep. VI, 
508, B, bei dem dritten Symp. 208, E ff. im Auge. 


Alcinous. 127 


Hinwendung zu Gott die idealen Formen von ihm zu empfangen, 
dass sich Alcinous überhaupt von der Vorstellung einer einmaligen 
göttlichen Weltbildung doch nicht losmachen kann (ebd.). Dass 
Aleinous Untergötter oder Dämonen annimmt, welchen die Welt 
unter dem Mond zur Verwaltung übertragen sei, und dass er diese 
in stoischer Weise als Elementargeister fasst (c. 15), kann bei 
einem Platoniker dieser Zeit nicht überraschen. Ebenso ist es dem 
Eklektieismus derselben angemessen, wenn er in die platonische 
Ethik die aristotelische Bestimmung der Tugend als μεσότης Ce. 30) 
einschwärzt, und unter den vier Grundtugenden die stoisch-peri- 
patetische „Einsicht“ an die Stelle der platonischen „Weisheit“ 
setzt '). Noch das Eine und das Ändere liesse sich beibringen, 
doch wird schon das Angeführte hinreichend zeigen, wie geneigt 
Alcinous ist, mit der alt-akademischen Lehre, der er freilich im 
Ganzen folgt, auch noch andere Elemente zu verbinden, und wie 
sehr es ihm an einem klaren Bewusstsein über die Eigenthümlich- 
keit des platonischen Systems fehlt. | 


12. Eklektiker, die keiner bestimmten Schule angehören: 
NER Dio, Lucianus, Galenus, Potamo. 


Alle bisher besprochene Philosophen zählten sich selbst zu 
einer der bestehenden Schulen, wenn sie sich dabei auch manche 
Abweichungen von ihrer ursprünglichen Lehre erlaubten. Weit 
kleiner ist die Zahl derer, die überhaupt keiner bestimmten Schule 
angehören, sondern in freierer Stellung von allen das, was ihnen 

ä De ee ε;χζενουκρουννωκαΣο βοῦν Zur FR j 
wahr schien, entlehnen wollten. Denn sosehr auch der innere 
Zusammenhalt der Schulen und die Holgerichigkei der Systeme 
gelockert war, so war doch das Bedürfniss maassgebender Auk- 
en σ΄ ς 2 Ἢ \ rt 
torilät in jener wissenschaftlich ermatteten Zeit viel zu stark, als 
dass es Viele gewagt hätten, sich von dem Herkommen loszusa- 
gen, welches nun einmal von jedem Lehrer der Philosophie den 
Anschluss an eine der älteren Schulen und ihre eberlieferung, 


1) C. 29 wird die φρόνησις als die τελειότης τοῦ λογιστιχοῦ (wofür im Fol- 
genden auch das stoische ἡγεμονιχὸν steht) bezeichnet, und ganz stoisch (vgl. 
8. 220, 2. 221, 2) als ἐπιστήμη ἀγαθῶν χαὶ χαχῶν χαὶ οὐδετέρων definirt; c. 30 
wird von dem Verhältniss der φρόνησις zu den Tugenden der unteren Seelen- 
tbeile in einer Weise gesprochen, welche ganz an Anısr. Eth. N. VI (5, Bd. II, b, 
502 fl.) erinnert. 


ΤᾺ Philosophirende Khetoren. 


verlangte. Suchte man sich doch selbst da noch mit Auktoritäten 
der Vorzeit zu decken, wo man sich. der Abweichung von al- 
len gleichzeitigen Schulen bewusst war, wie sich diess bei den 
neuen Pythagoreern zeigt, wenn sie für eine Fortsetzung der alt- 
pythagoreischen, bei den Skeptikern, wenn sie für eine solche 
der pyrrhonischen Schule gelten wollten. Es sind daher nur 
wenige unter den Philosophen jener Zeit, die so ausser dem her- 
kömmlichen Schulverband stehen, und diese selbst sind fast durch- 
aus Männer, welche die Philosophie nicht zu ihrer selbständigen 
Lebensaufgabe gemacht hatten, sondern sich nur im Zusammen- 
hang mit einer sonstigen Kunst oder Wissenschaft mit ihr be- 
schäftigten. 

Eine Veranlassung zu solcher beiläufigen Beschäftigung mit 
der Philosophie boten in jener Zeit theils die Naturwissenschaften, 
theils und besonders die immer noch so eifrig gepflegte, und auch 
in den öffentlichen Unterricht aufgenommene Rhetorik 1). Wenn 
man von den Rhetoren die zierliche Form der Darstellung und 
des Vortrags lernte, so fand man einen bedeutenden Inhalt für 
dieselben, so_wie die Unterrichtsfächer damals vertheilt waren, 
nur bei den Philosophen. Es war daher kaum möglich, in der 
Rhetorik über das Aeusserlichste hinauszukommen, wenn man 
sich nicht auch irgendwie in der Philosophie umsah; und wenn 
diess von den Meisten ohne Zweifel flüchtig und oberflächlich ge- 
nug geschah 5), so konnte es doch nicht ausbleiben, dass Ein- 
zelne von der Philosophie ernstlicher in Anspruch genommen und 
bleibend festgehalten wurden. In dieser Art wandte sich gegen 
das Ende des ersten Jahrhunderts Dio "um die Mitte des zweiten 
Lucianus von der Rhetorik zur Philosophie. Doch ist keiner von 


1) Wie gross in der Kaiserzeit die Zahl der Rhetorenschulen und ihrer 
Lehrer, wie lebhaft fortwährend die Betheiligung an den Leistungen und dem 
Wettstreit berühmter Redekünstler (jetzt σοφισταὶ genannt) war, und wie ihnen 
die Schüler von allen Seiten zuströmten, sieht man namentlich aus PnıtLosrra- 
zus’ vitae sophistarum. Die Anstellung öffentlicher Lehrer für die Redekunst 
ist auch schon $. 608, 1—3 berührt worden. Weiteres in den S. 607, I ange- 
führten Schriften. 

2) Auf solche Rhetorenschüler, welche nur nebenher etwas Philosophie 
treiben wollten, beziehen sich z. B. die tadeluden Aeusserungen des Calvisius 
Taurus b, ὅθι. N. A. 1,9, 10. XVII, 20, 4. X, 19, 1; die letztere Stelle vgl. 
in. I, 9, 8 beweist zugleich, wie gewöhnlich diess war. 


Dio Chrysostomus. 729 


beiden als Philosoph so bedeutend, dass wir länger bei ihm zu 
verweilen hätten. Dio, mit dem Beinamen Chrysostomus 1), 
wollte zwar seit seiner Verbannung nicht mehr blos Redner, son- 
dern vor Allem Philosoph sein 5), wie er denn auch in der cyni- 
schen Philosophentracht auftrat ?); allein seine Philosophie ist 
sehr einfach, und beschränkt sich ausschliesslich auf solche mora- 
lische Betrachtungen, wie sie damals nicht blos in den verschiede- 
nen Philosophenschulen fast gleichlautend zu finden waren, son- 


dern auch. ausserlralb derselben nicht selten vorkommen. Mit theo- 
retischen Untersuchtngen giebt er sich nicht ab; sein ganzes Be- 
streben geht vielmehr dahin, die von allen Besseren längst aner- 


kannten Grundsätze seinen Zuhörern und Lesern eindringlich an’s 
Herz zu legen, und auf gegebene Fälle anzuwenden ἢ). Die 


’ 
1) Die Quellen für Dio’s Leben sind ausser seinen eigenen Schriften 


Puıroste. v. Soph. 1, 7 (ganz unzuverlässig sind die Angaben desselben 
v. Apoll. V, 27 fi. auch v. Soph. I, 7, 4 Sch]. aber sieht gar nicht geschichtlich 
aus); Syn&s. Dio; Pnor. Cod. 209; Suın. u. d. W.; Pris. ep. X, 81 ἢ (85 f.); 
Lucran. Peregr. 18. Paras. 2. Schol. in Luc. 8. 117. 248 Jac.; Eunar. v.soph. 
prooem. 8. 2 und einige späte biographische Notizen bei Kayser zu Philostr. 
v. Soph. S. 168 fi. und in Dısporr’s Ausgabe Dio’s II, 361 ff. Was sich hier- 
aus ergiebt, hat nach Fasrrıc. Bibl. V, 122 fi. Kayser a. a. Ὁ. zusammenge- 
stellt. Hier genügt die Bemerkung, dass er, zu Prusa in Bithynien geboren, 
unter Domitian (nach Esrer. De exil. Dion., Braunschw. 1840, S. 5 fl. — im 
Dindorf’schen Dio I, XXVII fi. — 82 n. Chr.) aus Rom, wo er Rhetorik lehrte, 
verbannt oder flüchtig, viele Jahre lang weite Länder, bis zu den Geten, 
durchwanderte, nach Domitian’s Ermordung nach Rom zurückkehrte, und bei 
Trajan (auch nach Trexısr. or. V, 63) sehr in Gunst stand. 

2) Dio versichert öfters, seine Zuhörer sollen bei ihm nicht Schönrednerei 
suchen, er wolle, wie jeder rechte Philosoph, auf ihren sittlichen Nutzen aus- 
gehen, ein Seelenarzt sein (or. 33, Anf. or. 34, 8. 34 R. or. 35, Anf.); er tritt 
überhaupt als der Mann auf, welchem die Gottheit den Beruf übertragen habe, 
die Lehren der Philosophie Allen zu verkündigen (or. 13, 8.431. or. 32, 657 fl. 
u. ö.). Er selbst datirt dieses Auftreten von seiner Verbannung (or. 13, 422f.); 
ebenso führt Syxes. Dio 8.13 ff. aus, wie ihn sein Schicksal von der Sophistik 
(ἃ. b. Rhetorik) zu der Philosophie geführt habe, die er früher in einigen 
Reden (χατὰ τῶν φιλοσόφων und πρὸς Μουτώνιον) lebhaft angegriffen hatte. 

3) Or. 72. or. 34, S. 33. vgl. or. 1, S. 60. 

4) So Srxes. 8. 14 f. ganz richtig: 5 δ᾽ οὖν Δίων ἔοιχε θεωρήμασι μὲν τεχνι- 
nö ἐν φιλοσοφία μὴ προςταλαιπωρῆσαι μηδὲ προςανασχεῖν φυσικοῖς δόγμασιν, ἅτε 
ὀψὲ τοῦ χαιροῦ μετατεθειμένος (se. ἀπὸ σοφιστιχῆς πρὸς φιλοσοφίαν)" ὄνασθαι δὲ τῆς 


- . Ey } ε ΄ 2 “Ὁ 5 ia δῖ δ EL τ Br file , «ἘΣ 
στοᾶς ὅσα εἰς ἦθος τείνει χαὶ ἠῤῥενῶσθα: παρ᾽ οντινοῦν τῶν 87 ἑαυτοῦ, ἐπιθέσθα! Bi 


ῥΌ 


730 Dio Chrysostomus. 


Philosophie hat, wie er sagt 1), die Aufgabe, die Menschen von 
ihren sittlichen Gebrechen zu heilen, sie besteht darin, dass man 

sich bestrebt, ein rechtschaffener Mensch zu sein; sein philoso- 
phisches Ideal ist Sokrates, so wie sich ihn die spätere Popu- 
larphilosophie dachte, als einen vortrefllichen Sittenlehrer, bei 
dem aber von eigenthümlichen wissenschaftlichen Gedanken und 
Bestrebungen nicht die Rede ist 55; neben ihm Diogenes, dessen 
Bedürfnisslosigkeit er so unbedingt bewundert, dass er für das 
Ungesunde und Verzerrte in seiner Erscheinung kein Auge hat, 
τ und auch das Abstossendste, was von ihm erzählt wird, löblich 
zu finden weiss ὅ). Er führt aus, dass mit der Tugend und Ein- 
sicht auch die Glückseligkeit gegeben sei *); er schildert den Tu- 
gendhaften in seiner sittlichen Grösse und seinem Wirken für An- 
dere 5); er zeigt mit den Stoikern, dass die wahre Freiheit mit 
der Vernünftigkeit, die Sklaverei mit der Unvernunft zusammen- 
falle ©); er stellt über die Begierden, Leidenschaften und Fehler 
der Menschen, über Ueppigkeit, Habsucht, Ruhmsucht, Vergnü- 
gungssucht, Bekümmerniss, Treulosigkeit u. s. w. Betrachtungen 
an, wie sie in den Schulen üblich waren °); er ruft seine Leser von 
der in der Gesellschaft herrschenden Lebensweise, mit ihren Thor- 
heiten, ihrem Sittenverderben, ihren künstlichen Bedürfnissen, zur 
Einfachheit des Naturstandes zurück ®); er wendet sich mit ernsten 


τῷ νουθετεῖν ἀνθρώπους ... εἰς ὃ χρήσασθαι προαποχειμένῃ τῇ παρασχευῇ τῆς 
γλώττης. Ν 

1) Or. 13, 8. 431 vgl. or. 70. 71 und oben 729, 2. 

2) Vgl. or. 13, 423 ff. or. 12, 374 ff. or. 54. 55 60, S. 312. u. a. St. 

3) M. 5. über ihn or.6. 8.9.10 und die geschmacklose Schilderung seiner 
angeblichen Unterredung mit Alexander or. 4. Or. 6, S. 203 wird Diog. sogar 
um die Bd. II, a, 209, 3 besprochenen Dinge bewundert. 

4) Or. 23, besonders ὃ. 515 f. or. 69, 368 ἢ, wo die φρόνιμοι und die 
ἄφρονες in stoischem Sinn besprochen werden. 

5) Or. 78, 428 f. 

6) Or. 14. 15. 80. 

7) Z. B. or. 5, 192. or. 16. 17. 32. 66—68. 74. 79. 

8) M. vgl. hierüber, ausser den obenangeführten Stellen über Sokrates 
und Diogenes, die gelungene Schilderung eines unschuldigen Naturlebens in 
dem Evßoixog (or. 7), dessen Abzweckung Syaes. Dio S.15 f. richtig beurtheilt. 
In demselben Sinn hatte Dio auch die jüdischen Essäer empfohlen (Srass. 
8. 16). 


Dio Chrysostomus. τὸ} 


und verständigen Worten gegen die Sittenlosigkeit seiner Zeit 1), 
bei Gelegenheit aber auch mit dem kleinmeisterlichen Eifer des 
Stoikers gegen so gleichgültige Dinge, wie das Abscheeren des 
Bartes ?); er preist den Segen der bürgerlichen Ordnung 5), giebt 
den Städten nützliche Rathschläge *), bespricht nach aristoteli- 
schem Muster den Unterschied und das Werthverhältniss der Staats- 
verfassungen 5) — kurz er verbreitet sich über alle möglichen 
Fragen der Moral und des praktischen Lebens. Aber von wirk- 
licher und selbständiger Philosophie ist in diesen wohlmeinenden, 
wortreichen, meist auch ganz verständigen Erörterungen wenig 
zu finden: wo Dio über gegebene besondere Fälle hinausgeht, 
bewegt er sich in Gemeinplätzen, welche im Sinn eines gemilder- 
ten Stoicismus oder der xenophontischen Moral behandelt wer- 
den ©. Plato war ihm zwar neben Demosthenes stylistisches Mu- 
ster ), und in Dio’s moralischen Ausführungen lässt sich der 
Einfluss seiner Philosophie und seiner Schriften nicht verkennen; 
aber an die spekulativen Bestimmungen seines Systems finden sich 
bei ihm kaum vereinzelte Anklänge °), und in Betreff der platoni- 
schen Republik ist er der Meinung, sie enthalte allerdings zu viel, 
was mit ihrem eigentlichen Thema, der Frage über die Gerech- 
tigkeit, nichts zu schaffen habe°). Häufiger begegnen wir bei 
Dio stoischen Lehren: was er über die Goitverwandischaft des 
menschlichen Geistes, über die uns angeborene Gotteserkenntniss, 
über die natürliche Zusammengehörigkeit aller Menschen sagt 15), 
erinnert neben dem xenophontischen Sokrates zunächst an die 
Stoiker; noch bestimmter der Satz, dass die Welt ein gemeinsames 
Haus für Götter und Menschen, ein Götterstaat, ein von Einer 
S 


1) So or. 7, 268 ff., wo das Unwürdige und Verderbliche der so allgemein 
geduldeten öffentlichen Unzucht sehr gut auseinandergesetzt wird. 
2) Or. 36, 81 f. 35, Schl. 
3) Or. 36, 83 ἢ. 
4) Or. 33 ἢ, 88. 40 u. ὅ. 
5) Or. 3, 115 f. Ueber das Königthum, im Unterschied von der Tyıan 
nis, handeln or. 1—4. 62. 
6) Seine Bewunderung KXenophon’s spricht er or. 18, 481 aus. 
7) Vgl. PnıtLoste. v. Soph. 1, 7, ὃ. 
8) Wie or. 30, 550 vgl. m. Phädo 62, B u. a. St. 
9) Or. 7, 267. 
10) Or. 12; vgl. besonders S. 384 f. 391 ἢ, 397. or. 7, 270, 


132 Dio Chrysostomus. 


Seele durchwaltetes Wesen sei ἢ). und die Zurückführung des 
Dämon auf das eigene Innere des Menschen ?). Selbst die stoische 
Lehre von der Weltverbrennung und Weltbildung wird wenigstens 
versuchsweise vorgetragen °). Aber von wirklichem Werth ist für 
Dio offenbar nur jenes Allgemeine, was er für alle Menschen als 
ihre angeborene Ueherzeugung in Anspruch nimmt, und dessen 
Läugnung er den Epikureern so sehr verübelt %), der Glaube an 
die Goitheit und ihre Fürsorge für die Menschen: sein Stand- 
punkt ist durchaus der des Popularphilosophen, welcher die zum 
Gemeingut gewordenen wissenschaftiichen Ergebnisse praktisch 
verwerthei, ohne sie durch neue und eigene Untersuchungen zu 
bereichern. 

Eine ähnliche Stellung zur Philosophie giebt sich Lucia- 
nus °), so weit auch im Uebrigen sein schriftstellerischer Charak- 
ter von dem Dio’s abliegt, und so hoch er an Geist und Geschmack 
über ihm steht. Auch er gieng erst in reiferen Jahren von der 


1) Or. 30, 557. or. 36, 8. 83. 88 vgl. or. 74, S. 405. 12, 390 u. 

2) Or. 4, 165 vgl. or. 23. 25. 

3) Or. 36, 97 £. 

4) Or. 12, 390 £. 

5) Was wir über Lucian’s Leben und Persönlichkeit wissen, verdanken 
wir fast ausschliesslich seinen eigenen Schriften. Aus ihnen ergiebt sich — 
um mich hier auf das Hauptsächlichste zu beschränken — dass er in Samosata 
geboren (Hist. scrib. 24. Pise. 19), und erst für die Bildhauerkunst bestimmt, 
sich den gelehrten Studien gewidmet (Somn. 1 ff. 14), und als Rhetor einen 
Theil des römischen Reichs mit Ruhm und Gewinn durchzogen hatte, als er, 
etwa vierzigjährig, seiner Angabe nach zunächst durch Nigrinus (s. 0.718.724), 
für die Philosophie gewonnen wurde, und philosophische Gespräche zu schrei- 
ben anfieng (bis Accus. 27 f. 30 ff. Apol. 15. Nigrin. 4 f. 35 ff. Hermot. 13). 
Die Zeit seiner Geburt lässt sich so wenig, wie die seines Todes, genauer 
bestimmen. Aus Alex. 48 sieht man, dass er diese Schrift nach Mark Aurel’s 
Tode verfasst hat. Als älterer Mann bekleidete er in Alexandria das angesehene 
und einträgliche Amt eines Schriftführers beim Gerichte des Statthalters (Apol. 
12 vgl. c. 1.15); noch später sehen wir ihn die lange unterbrochenen Vor- 
träge wieder aufnehmen (Here. 7). Weiter ist von seinem Leben nichts be- 
kannt; Suıpas’ Angabe, dass er zur wohlverdienten Strafe für seine Schmähungen 
gegen das Christenthum von wüthenden Hunden zerrissen worden sein solle, 
ist ohne Zweifel um nichts glaubwürdiger, als die meisten ähnlichen Erzäh- 
lungen über die mories persecuiorum. — Unter Lucian’s Schriften befindet sich 
ziemlich viel Unächtes oder doch Angezweileltes. 


Lnejianus. 133 


Rhetorik zur Philosophie über, und er eignete sich von derselben 
nur das.an, wovon er sich theils für sein persönliches Verhalten 
theils für die neue, seiner Eigenthümlichkeit vorzugsweise zusa- 
gende, Form seiner Schriftstellerei einen Gewinn versprach. Die 
wahre Philosophie besteht seiner Ansicht nach in jener praktischen 
Lebensweisheit, welche er in seinem Demonax und Nigrinus- 
schildert, in einer Gemüthsstimmung und Willensrichtung, welche 
an kein philosophisches System gebunden ist; die Unterscheidungs- 
lehren und sonstigen Besonderheiten der Schulen dagegen erschei- 
nen ihm unerheblich, und sofern man sich damit wichtig macht 
und sich darum streitet, lächerlich. So kann er versichern, dass 
es die Philosophie sei, die ihn der Rhetorik abtrünnig gemacht 
habe, dass er sie stets bewundert und gepriesen und sich von den 
Schriften ihrer Lehrer genährt, dass er sich vom Lärm der Ge- 
richishöfe in die Akademie und das Lyceum geflüchtet habe 3), 
wiewohl er keine Schule und keinen Philosophen mit seinem Spotie 
verschont ?), und diejenigen besonders zur Zielscheibe seines 
Witzes wählt, welche durch auffallende Gewohnheiten und auf- 
dringliches Wesen das meiste Aufsehen erregten und der Satyre 
den dankbarsten Stoff boten °). Da er sich aber fast durchaus auf 
die satyrische Darstellung fremder Verkehrtheiten beschränkt, 
mit seinen eigenen Ansichten dagegen nur selten hervortritt, so 
lässt sich sein Standpunkt zwar im Allgemeinen bestimmen, aber 
nicht durch eine genauere Angabe seiner Ueberzeugungen darstel- 
len. Er schätzt die philosophische Gesinnung, die Unabhängigkeit 
des Charakters, die Bedürfnisslosigkeit, Redlichkeit und Men- 
schenfreundlichkeit, wo er sie findet, bei dem Cyniker, wie bei 
dem Platoniker; er spendet auch Epikur wegen seiner religiösen 
Vorurtheilslosigkeit und seines unerbittlichen Kampfes gegen den 
Aberglauben hohes Lob *). Aber seine eigentliche Meinung spricht 


1) Piseat. 5 f. 29. bis Accus. 32 u. a. St. vgl. vor. Anm. 

2) Belege sind überflüssig, Hauptschriften dieser Art die βίων πρᾶσις, die 
δραπέται, das συμπόσιον, der Ἑρμότιμος, ᾿ἸΙκαρομένιππος, Εὐνοῦχος, ᾿Αλιεὺς, 
mehrere Todtengespräche. 

3) So vor Allem die Cyniker; s. o. 686, 1. 

4) Alex. ο. 17. e. 25: Ἐπιχούρῳ, ἀνδοὶ τὴν φύσιν τῶν πραγμάτων χαθεωρα- 


x “4 >». ΕΓ) ν Ὑ ἣ δ. ᾽ - 
χότι χαὶ μόνῳ τὴν ἐν αὐτοῖς ἀλήθειαν εἰδότι. ec. 61: Ἐπιχούρῳ, ἀνδρὶ ὡς ἀληθῶς 


731 Luceianus. 


er schliesslich doch wohl nur da aus, wo er ausführt, dass er die 
Philosophie zwar als die wahre Lebenskunst verehre, dass aber 
unter der Menge philosophischer Schulen die Philosophie zu fin-- 
den unmöglich sei, da es kein Merkmal derselben gebe, welches 
nicht durch ein weiteres sichergestellt werden müsste; dass sie 
alle sich um geträumte Schätze streiten und mit nutzlosen Dingen 
ihre Zeit verderben, der beste Philosoph aber der sei, welcher im 
Bewusstsein seines Nichtwissens auf den Anspruch einer besonde- 
ren Weisheit verzichte, und statt der spekulativen Grübeleien sich 
an den sittlichen Gewinn der Philosophie halte ). 

Die Beschränkung der Philosophie auf eine Moral, der es 
um’ keine tiefere wissenschaftliche Begründung zu thun ist, stützt 
sich hier auf eine skeptische Ansicht über das menschliche Er- 
kenntnissvermögen. Noch stärker entwickelt werden wir dieses 
skeptische Element bei Favorinus treffen, welcher desshalb 
erst unter der skeptischen Schule besprochen werden soll. Durch 
selbständige Forschung hat sich allerdings keiner von diesen aus 
den Rednerschulen hervorgegangenen Halbphilosophen verdient 
gemacht, aber doch zeigt sich auch an ihnen die Neigung jener 
Zeit, die Philosophie auf das Nützliche und Gemeinverständliche 
zurückzuführen, und der Zusammenhang dieser Popularphiloso- 
phie mit dem durch die Skepsis verbreiteten Misstrauen gegen 
alle philosophischen Systeme. 

Weit grösser ist die wissenschaftliche Bedeutung des Clau- 
dius Galenus 2); und ist es auch zunächst die Heilkunde, der 


ἱερῷ καὶ θεσπεσίῳ τὴν φύσιν za μόνῳ μετ᾽ ἀληθείας τὰ χαλὰ ἐγνωχότι χαὶ παραδεδω- 
χότι χαὶ ἐλευθερωτῇ τῶν δμιλησάντων αὐτῷ γενομένῳ. 

1) Piscat. 11, 29 ff. und der ganze Hermotimus; so namentlich ce. 15. 
25 f. 52 f. τὸ ff. 84 vgl. Bis accus. 34. 

2) Was sich über Galen’s Leben, fast ganz aus seinen eigenen Schriften, 
ausmitteln lässt, ist in Ackermann’s Hist. literaria Galeni zusammengestellt, 
welche zuerst in Fasrıc. Bibl. gr. V, 377 ff. Harl., revidirt im ‚1. Band der 
Küns’schen Ausgabe Galen’s S. XVII—CCLXV erschien, und auf dieselbe 
will ich hier, die übrige massenhafte Literatur über Galen übergehend, auch 
in Betreff seiner Schriften verweisen. — I. J. 131 n. Chr. zu Pergamum ge- 
boren, hatte Galen, dessen Vater selbst ein tüchtiger Architekt und Mathe- 
matiker war, eine sorgfältige Erziehung erhalten, und war bereits auch in 
die Philosophie eingeführt worden, als er in seinem 17ten Jahr das Studium 
der Heilkunde begann. Beiderlei Studien setzte er nach seines Vaters Tod in 


Galenus., 135 


er seinen ausserordentlichen Ruhm und Einfluss zu verdanken hat, 
so weiss er selbst doch auch den Werth der Philosophie vollkom- 
‚men zu würdigen 1), und er hat sich mit ihr eingehend genug 
beschäftigt?), um unter den Philosophen seines Jahrhunderis seine 
eigene Stellung einzunehmen °). Er selbst steht zwar der peripa- 
tetischen Schule am nächsten, doch hat er auch von anderen so 
viel aufgenommen, dass wir seinen Standpunkt im Ganzen nur als 
einen Eklekticismus auf peripatetischer Grundlage bezeichnen 
können. Unter die Eklektiker stellt den Galenus schon der Um- 
stand, dass er eine ganze Reihe ausführlicher Erklärungen und 
Auszüge von platonischen, aristotelischen, theophrastischen, eu- 


Smyrna, das medieinische noch an: mehreren anderen Orten, besonders im 
Alexandria, fort (151 ff.), und gieng von hier i. J. 158 zum Betrieb seiner 
Kunst wieder in seine Vaterstadt. Im J. 164 begab er sich nach Rom, wo er 
sich durch seine ärztlichen Erfolge grossen Ruhm erwarb, kehrte 168 nach 
Pergamum zurück, wurde aber bald nachher von Mark Aurel und Verus 
auf’s Neue nach Italien berufen. Wann er dieses wieder verliess, ist nicht 
bekannt, überhaupt lässt sich sein Leben von hier an nicht mehr zusammen- 
hängend verfolgen. Eines Vortrags, den er unter Pertinax hielt, erwähnt er 
De libr. propr. c.13. Bd. XIX, 46K.; die Bücher De antidotis schrieb er (I, 13. 
Bd. XIV, 10) unter Severus (dagegen beweist Theriac. ad Pis. c. 2. Bd. XIV, 
217 wegen der Unächtheit dieser Schrift nichts). Sein Leben hätte er nach 
einer Angabe (des von Ackermann a. ἃ. Ὁ. XL f. besprochenen Anonymus) 
auf 87 Jahre gebracht; Suıpas jedoch giebt nur 70 an, so dass er demnach 
wahrscheinlich 200 n. Chr. gestorben ist. 

1) Protrept. 1, Schl. Bd. I, 3 nennt er sie τὸ μέγιστον τῶν θείων ἀγαθῶν, 
und in einer eigenen Abhandlung (Bd.I, 53 ff.) legt er seinen Standesgenossen 
an’s Herz, ὅτι ἄριστος ἰατρὸς χαὶ φιλόσοφος. 

2) Galen hatte noch sehr jung in seiner Heimath durch Schüler des 
Stoikers Philopator, des Platonikers Gajus, und des Peripatetikers Aspasius, 
und durch einen epikureischen Philosophen die Hauptformen der damaligen 
Philosophie kennen gelernt (cogn. an. morb. 8. Bd. V, 41 f.); später hörte er 
in Smyrna den Albinus (8. o. 718, m.); von dem Peripatetiker Eudemus, viel- 
leicht gleichfalls seinem Lehrer (das διδάσχαλε De praenot. ad Epig. c. 4. 
Bd. XIV, 624 kann freilich auch blosser Ehrentitel sein), erzählt er, dass ihm 
derselbe in der Philosophie mehr zugetraut habe, als in der Mediecin (8. ἃ. O.c.2. 
S. 608). Galen’s philosophische Schriften waren sehr zahlreich; der grösste 
Theil derselben ist aber verloren. 

3) Ueber Galen’s philosophische Ansichten vg]. m. K. Srrenser Beitr. z. 
Gesch. d. Mediein I, 117— 195. 


ποῦ Galenns. 


demischen und chrysippischen Schriften verfasst hat 1), während 
er doch zugleich erklärt, dass ihn keine von allen diesen Schulen 


völlig befriedige ?). Nur dem Epikur ist er, wie fast alle diese - 


eklektischen Philosophen, durchaus abgeneigt, wie er ihn auch 
_ eigens bekämpft hat ?); ebenso erscheint ihm aber auch die Skepsis 
der neueren Akademie als eine Verirrung, die er mit aller Ent- 
schiedenheit bestreitet %). Er seinerseits findet den Menschen, 
trotz der Beschränktheit seines Wissens, doch mit den Mitteln zur 
Erkenntniss der Wahrheit hinreichend ausgerüstet: die sinnlichen 
Erscheinungen erkennen wir durch die Sinne, deren Täuschungen 
“ sich mit der nöthigen Vorsicht wohl vermeiden lassen, Uebersinn- 
liches mit dem Verstande; und wie die sinnliche Wahrnehmung 
eine unmittelbare Ueberzeugungskraft (ἐνάργεια. mit sich führt, 
so ist auch der Verstand im Besitze gewisser Wahrheiten, die un- 
mittelbar und vor allem Beweis feststehen, gewisser natürlicher 
Grundsätze , welche sich durch die allgemeine Uebereinstimmung 
bewähren; aus diesem Augenscheinlichen wird das Verborgene 
durch logische Schlussfolgerung erkannt. Das Kennzeichen der 
Wahrheit ist daher für alles dasjenige, was durch sich selbst klar 
‚ist, die unmittelbare Gewissheit, theils die der Sinne, theils die 
des Verstandes, für das Vene die Uebereinstimmung mit 


1) Garen De libr. propr. e. 11. 14—16. Bd. XIX, 41 f. 46 f., wo eine 
grosse Anzahl solcher Werke aufgezählt ist. 

2) Α. ἃ. Ο. c.11, $.39f., zunächst. mit Beziehung auf die Lehre vom 
Beweis: er habe sich darüber bei den Philosophen Raths erholt, aber hier 
sowohl wie in anderen Theilen der Logik so viel Streit unter ihnen, und inner- 
halb der einzelnen Schulen selbst, gefunden, dass er dem Pyrrhonismus an- 
heimgefallen wäre, wenn ihn nicht die Sicherheit der mathematischen Wissen- 
schaften davor bewahrt hätte. 

3) Galen erwähnt in den erhaltenen Schriften Epikur’s nur selten, und 
fast durcbaus bei untergeordneten Punkten; dagegen nennt er De libr. propr. 
ce. 17. Bd. XIX, 48 nicht weniger als sechs Schriften gegen Epikur und seine 
Lustlehre. 

4) In der Schrift x. ἀρίστης διδασχαλίας (Bd. I, 40 fl.) gegen Favorinus; 
cogn. an. pece. 6. 6. Bd. V, 93 fl. Auch über Klitomachus hatte er geschrie- 
ben; De libr. propr. ec. 12, S. 44. Sein Haupteinwurf gegen die Skeptiker ist 
der, dass sie ihren Standpunkt nicht begründen können, ohne sich damit an 
das Urtheil Anderer zu wenden, und bei diesen die Fähigkeit zur Unterschei- 
dung von wahr nnd falsch vorauszusetzen. 


Pe Ze; 


R 


ΩΣ 


Erkenntnisstheorie; Logik. 737 


jenem 1). Diese Berufung auf das unmittelbar Gewisse, auf die 
Sinne und die einstimmige Meinung der Menschen, dieser Empi- 
rismus des inneren und äusseren Sinns entspricht ganz dem 
Standpunkt eines Cicero und der späteren eklektischen Popular- 
philosophie. 

Unter den drei Haupttheilen der Philosophie legt Galen der 
Logik ?), als dem unentbehrlichen Hülfsmittel jeder wissenschaft- 
lichen Forschung, einen hohen Werth bei °). Er selbst hat eine 
grosse Anzahl von logischen Schriften verfasst °), was uns jedoch 
davon übrig ist °), lässt uns den Verlust der übrigen nicht sehr 
bedauern. In der Kategorieenlehre, welche er mit Andern für 
den Anfang und die Grundlage der gesammten Logik erklärt °), 
scheint er eine Vermittlung zwischen Aristoteles und den Stoikern 
versucht zu haben ‘); übrigens haben die Kategorieen für ihn nur 


᾿ 
1) De opt. disc. ο. 4. Bd.I, 48 f. De opt. secta 2. I, 108 f. cogn. an. pecc. 
8. ἃ. Ὁ, De Hippocr. et Plat. IX, 7. Bd. V, 777 f. Als unmittelbar gewisse 
Prineipien nennt Galen 'Therap. meth. I, 4. B. X, 36 die ἀρχαὶ Aoyızat: dass 
Grössen, die einer dritten gleich sind, sich selbst gleich seien, dass nichts 


ohne Ursache geschehe, dass man Alles entweder bejahen oder verneinen 


müsse u. S. w. ΄ 

2) Ueber*Galen’s Logik vgl. m. Prastı, Gesch. d. Log. I, 559 ff. 

3) De elem. ex Hippocr. I, 6. B. I, 460. quod opt. med. sit qu. philos. 
B.1,59f. constit. art. med. c. 8, Schl. I, 253 f. Hippoer. et Plat. IX, 7, Schl. 
8, Anf. B. V, 782. 

4) Ihr Verzeichniss bei Gar. De libr. propr. ce. 11.15 f. B. XIX, 41 f. 
47 f. vgl. Prantu S. 559 f. 

5) Die kleine Schrift π. τῶν χατὰ τὴν λέξιν σοφισμάτων (Bd. XIV, 582 fl), 
welche schon Arzx. sophist. el. 8, b. 45, a (Schol. 298, b, 14. 312, b, 29) an- 
führt. Sonst werden aber Galen’s logische Schriften und Commentare von den 
griechischen Auslegern (mit Ausnahme der Anm. 7 zu besprechenden Stelle) 
niemals erwähnt. 

6) Therap. meth. II, 7. B. X, 145. 148. puls. diff. II, 9. B. VIII, 622. 624. 
Ob Galen selbst über die Kategorieen geschrieben hatte, wird aus seiner eige- 
nen Aussage libr. propr. 11, S. 42 nicht ganz klar; ihr Sinn scheint mir aber 
doch der zu sein, dass er die Kategorieen früher zwar nicht commentirt, später 
aber über die schwierigen Fragen darin etwas niedergeschrieben habe, woraus 
sich dann die c. 15 genannten 4 B. ὑπομνήματα zu den Kategoricen erklären 
würden. Anderer Meinung ist PrantL 560, 79. 

7) Davın wenigstens Schol. in Ar. 49,a,29 schreibt ihm fünf Kategorieen 
zu: οὐσία, ποσὸν, ποιὸν, πρός τι, πρός τί πως ἔχον, was zwar mit der anders- 


wo (therap. meth. II, 7. 129 £. 146. 156) vorkommenden Unterscheidung der 
Philos. d. Gr. III. B. 1. Abth. 47 


733 Galenus. 


logische, nicht reale Bedeutung '). In der Syllogistik und Apo- 
diktik, welche ihm für den Haupitheil der Logik gilt, sucht er die 
Sicherheit des geometrischen Verfahrens zu erreichen 5); in ma- 
terieller Beziehung stelit er sich gegen Chrysippus auf die Seite 
des Aristoteles und Theophrast 5); dass er selbst aber aus den fünf 
Schlussformen, welche Theophrast der aristotelischen ersten Figur 
beigefügt hatte %), eine eigene vierte Figur bildete °), ist ein sehr 
zweifelhaftes Verdienst. Was sonst aus Galen’s Logik mitgetheilt 
wird oder sich bei ihm selbst findet, ist theils so unerheblich, 
theils so fragmenlarisch, dass es hier genügen mag, in Betreff 
desselben auf Prantr’s sorgfältige Zusammenstellung zu verweisen, 

Auch in der Physik und Metaphysik folgt Galen, schon als 
Arzt und Naturforscher, vorzugsweise dem Aristoteles, ohne sich 
doch durchaus an ihn zu binden. Er wiederholt die aristotelische 
Lehre von den vier Ursachen, vermehrt diese aber durch Hinzu- 
fügung der Mittelursache (des δι᾿ οὗ» auf fünf %). Als die wich- 
tigste von diesen betrachtet er mit Plato und Aristoteles die End- 
ursache °); ihre Erkenntniss bildet, wie er sagt, die Grundlage 
der wahren Theologie, dieser die Heilkunst weit überragenden 
Wissenschaft 9. Den Spuren der schöpferischen Weisheit, welche 
Alles gebildet'hat, geht er in der Betrachtung der lebenden We- 


οὐσία! und der συμβεβηχότα, und der letzteren in ἐνέργειαι, πάθη und διαθέσεις 
sich nicht unmittelbar vereinigen lässt, aber darum doch schwerlich aus der 
Luft gegriffen ist; vgl. puls. diff. II, 10. B. VIII, 632. 

1) Er unterscheidet sehr bestimmt zwischen dem γένος und der Kategorie: 
was unter dieselbe Kategorie fällt, kann verschiedenen Gattungen angehören; 
puls, diff. II, 9 £. 8. 622 ἢ, 632. Was Prantt S, 565 weiter.ebendaher (8, 625, 
633) über die Differenzirung der Gattungen zu Arten anführt, ist altperi- 
patetisch. 

2) Libr. propr. 11, 8.39 f. vgl. foet. form. c. 6. Β, IV, 695. 702, 

3) Hippoer. et Plat. II, 2. B. V, 213. 

4) S. Bd. II, b, 650, 4. 

5) Ueber diese vierte Figur Galen’s, welche bisher nur aus Averro&s be- 
kannt war, jetzt aber durch ein griechisches Bruchstück bei Mınas in s. Aus- 
gabe der pseudogalenischen Εἰςαγωγὴ διαλεχτιχὴ S. ve f. bestätigt und erläutert 
wird, s. m. die gründliche Untersuchung von Praxts S. 570 fl, 

6) De usu part. corp. hum. VI, 13. B. III, 465. 

Tr 8.1 Ὁς 

8) Ebd, XVIL 1. B. IV, 360 


"θυ u re .ᾧ πν., 


Metaphysik und Physik. 739 


sen mit Vorliebe nach 1); zugleich aber ist er überzeugt, wenn 
schon hier, auf dem geringsten Theile der Welt, und in diesen 
schmutzigen Stoffen, eine so wunderbare Vernunft wirksam sei, so 
müsse dieselbe in überschwänglichem Maasse in dem Himmel und 
seinen Gestirnen sein, die so viel herrlicher und bewunderungs- 
würdiger seien ?). In welcher Weise sie der Welt inwohnt, 
wird nicht näher untersucht; aber Galen’s Ausdrücke weisen auf 
eine Anlehnung an die stoische Vorstellung, nach welcher die 
Welt von dem göttlichen Geiste substantiell durchdrungen ist 57. 
Dem stoischen Materialismus jedoch tritt er entgegen, indem er 
beweist, dass die Eigenschaften der Dinge keine Körper seien %); 
ebenso widerspricht er den stoischen Ansichten über die ursprüng- 
liche Beschaffenheit des Stoffes, wenn er gegen die Atomistiker 
und die älteren Physiologen, und unter diesen auch gegen die 
stoisch-heraklitische Annahme Eines Urstoffs, die Lehre des Hip- 
pokrates und Aristoteles von den vier Elementen vertheidigt 5). 
Was von seinen Einwürfen gegen die aristotelischen Erörterungen 
über Raum, Zeit und Bewegung mitgetheilt wird °), ist unerheb- 


1) A. «0.8. 358 fi. u. ὃ. 
2) A.2.0. 


3) 8. 358: τίς δ᾽ οὐχ ἂν εὐθὺς ἐνεθυμήθη νοῦν τινα δύναμιν ἔχοντα θαυμαστὴν 


von den himmlischen Körpern aus, ἐν οἷς εἰχὸς, ὅσῳ πέρ ἐστι zal ἣ τοῦ σώματος 
οὐσία χαθαρωτέρα, τοσούτῳ χαὶ τὸν νοῦν ἐνοιχεῖν πολὺ τοῦ χατὰ τὰ γήϊνα σώματα 
βελτίω τε χοὶ ἀχριβέστερον. Und doch sei auch hier, vor allem im menschlichen 
Leibe, ἐν βορβόρῳ τοσούτῳ, ein νοῦς περιττὸς, um wie viel mehr in den Ge- 
stirnen! Auch durch die Luft οὐχ ὀλίγος τις ἐχτετάσθαι δοχέϊ νοῦς, denn wie 
könnte sie sonst von der Sonne durehleuchtet und durchwärmt werden? 

4) Quod qualitates sint incorporeae,. B. XIX, 463 ff. 

5) De constit. artis med. c.7f. B.I, 245 ff. De elementis ebd. 413 fl. 
Werden auch unter den hier bekämpften Ansichten die Stoiker nicht genannt, 
so ist doch die heraklitische Lehre vom Urstofl, welche Galen bestreitet (De 
el. I, 4. $. 444), auch die ihrige. Vgl. auch Hippoer. et Plat. VIII, 2 f. B. V, 
665 fi. 

6) In Betrefi des Raums vertheidigt er bei Sımer. Phys. 133, b, m. 
Tuexıst. Phys. 38, b, u. die von Aristoteles bestrittene Bestimmung, dass er 
der Zwischenraum zwischen den Grenzen der Körper sei; ein Missverständ- 
niss der aristotelischen Bemerkung, dass die Zeit nicht ohne Bewegung sei, 
und den Einwurf, dass die aristotelische Definition der Zeit einen Zirkel ent- 
halte, berühren Sımer. Phys. 167, a, u. 169, b,m. Tursıst. Phys. 45, a, m. 


47 * 


740 Galenus, 


lich, Wichtiger erscheint Galen’s Abweichung von Aristoteles in 
Betreff der Seele und ihrer Wirksamkeit; gerade hier lauten aber 
auch seine Aeusserungen so schwankend, dass man wohl sieht, 
wie sehr es ihm unter dem Widerstreit der Meinungen an einem 
festen Haltpunkt gefehlt hat. Was die Seele ihrem Wesen nach 
sei, ob körperlich oder unkörperlich, ob vergänglich oder unver- 
gänglich, darüber getraut er sich nicht blos keine bestimmte Be- 
hauptung, sondern auch nicht einmal eine Vermuthung, welche 
auf Wahrscheinlichkeit Anspruch machte, aufzustellen, indem er 
jeden sicheren Nachweis hierüber vermisst 1). Die Annahme Pla- 
to’s, dass die Seele ein unkörperliches Wesen sei und ohne den 
Körper leben könne, scheint ihm bedenklich; denn wodurch soll- 
ten sich, fragt er, unkörperliche Substanzen von einander unter- 
scheiden, wie kann ein unkörperliches Wesen über den Körper 
verbreitet sein, wie kann ein solches vom Körper so afficirt wer- 
den, wie diess bei der Seele im Wahnsinn, in der Trunkenheit 
und in ähnlichen Zuständen der Fall ist? ?) Insofern möchte man 
geneigt sein, der peripatetischen Lehre beizupflichten, wornach 
die Seele die Form ihres Körpers ist; dieses würde aber freilich 
auf die Ansicht führen, welche von den Stoikern behauptet und 
von manchen Peripatetikern getheilt wird, dass die Seele nichts 
anderes sei, als die Mischung der körperlichen Stoffe, und von 
ihrer Unsterblichkeit könnte daun nicht die Rede sein 5). Galen 
getraut sich nicht, diesen Punkt zu entscheiden, und ebenso we- 
nig beabsichtigt er, die Unsterblichkeit zu behaupten oder zu 
läugnen 4). Nicht anders geht es ihm auch mit der Frage nach der 
Entstehung der lebenden Wesen. Er bekennt unumwunden, dass 
er hierüber durchaus nicht mit sich im Reinen sei. Einerseits 


46, a, 0. (Schol. 388, b, 20. 26), eine Einwendung gegen Arıst. Pbys. VIL 1. 
242, a,5. Sımer. Phys. 242, b, m. Simpl. bezieht sich hiebei S. 167, a, u. auf 
„das achte Buch von Galen’s Apodiktik, und so fanden sich wohl alle. jene 
Bemerkungen in dieser Schrift. 

1) De foet. form. c. 6. B. IV, 701. 

2) Quod animi mores corp. temp. 5604. c. 3.5. B. IV, 775 f. 785 f. de loc. 
aff: ΤΠ θὲ MUN1278, 

3) Qu. an. mores u. s. w. c. 3. 4. 8. 773 f. 780. 

4) S.o. und ἃ. ἃ. O. c. 3 Anf.: ἐγὼ δὲ οὔθ᾽ ὡς ἔστιν [ἀθάνατον τὸ λαγιστιχὸν) 


οὔθ᾽ ὡς οὐκ ἔστιν ἔχω διατείνασθαι, 


Psychologie. Unwerthb der Theorie. - 74 


findet er in der Bildung des menschlichen Körpers eine Weisheit 
und Macht, welche er der vernunftlosen Pflanzenseele des Embryo 
nicht zutrauen kann, andererseits zwingt ihn doch die Aehnlich- 
keit der Kinder mit den Eltern, sie von dieser herzuleiten ;. wollte 
man ferner annehmen, die vernünftige Seele baue sich ihren Leib, 
so steht dem im Wege, dass wir seine Einrichtung von Natur so 
äusserst unvollkommen kennen; was endlich noch übrig bliebe, 
mit manchen Platonikern die Weltseele die Körper der lebendi- 
gen Wesen bilden zu lassen, das scheint ihm fast gottlos, da man 
jene göttliche Seele nicht in so niedere Geschäfte verwickeln 
dürfe 1). Bestimmter erklärt sich Galen für die platonische Lehre 
von den Theilen der Seele und ihren Sitzen ?), welche er auch 
wohl mit der entspr echenden aristotelischen verknüpft 5), nur bringt 
seine Unsicherheit über das Wesen der Seele auch diese Annahme 
nothwendig in’sSchwanken. Auch darüber will unser Philosoph, wie 
er sagt, nicht entscheiden, ob den Pflanzen eine Seele zukomme =, 
anderswo jedoch erklärt er sich mit Bestimmtheit für die stoische 
Unterscheidung zwischen der ψυχὴ und der φύσις 5). | 
Wir werden uns über das Schwankende und Fragmenlarische 
dieser Bestimmungen um so weniger wundern, wenn wir hören, 
welchen Werth Galen überhaupt den theoretischen Untersuchun- 
gen.beilegt. Die Frage nach der Einheit der Welt, die Frage, ob 
sie entstanden sei oder nicht, und ähnliche, meint er, seien für 
den praktischen Philosophen werthlos; von dem Dasein der Gölter 
und von dem Walten einer Vorsehung müssen wir uns freilich zu 
überzeugen suchen, die Natur der Götter dagegen brauchen wir 
nicht zu kennen; ob sie einen Leib haben, oder keinen, habe auf 


1) De foet. form. ce. 6. B. IV, 693 ft. 

2) M. vgl. hierüber ausser der Schrift De Hippoeratis et Platonis placitis, 
welche diesen Gegenstand in nicht weniger als neun Büchern mit ermüdender 
Weitschweifigkeit erörtert: qu. animi mores u. s. w. c. 3. Dass die drei Theile 
der Seele nicht blos drei Kräfte Einer Substanz, sondern drei verschiedene 
Substanzen seien, sagt Galen de Hipp. et Plat. VI, 2u.a.a. O. 

3) In Hippocr. de alim. III, 10. B. XV, 293. in Hippoer. de humor. I, 9. 
B. XVI, 93. 

4) De substant. facult. nat. ce. 1. B. IV, 757 f. vgl. in Hippocratis de 
epidem. libr. VI, Sect. V,5. B. XVII, b, 250. 

5) De natur. facult. 1, 1. B. II, 1. 


112 Galenus; Ethik, 


unser Verhalten keinen Einfluss; ebenso sei es in sittlicher und 
politischer Beziehung gleichgültig, ob die Welt durch eine Gott- 


heit, oder ob sie durch eine blindwirkende Ursache gebildet wor- 


den sei, wenn nur die Zweckmässigkeit ihrer Einrichtung aner- 
kannt werde. Selbst die Frage, welche er so weitläufig erörtert 
hat, nach dem Sitz der Seele, soll nur für den Arzt, nicht für 
den Philosophen von Interesse sein 1), während umgekehrt nur die 
theoretische Philosophie, aber weder die Heilkunde noch die Moral, 
eine bestimmte Ansicht über das Wesen der Seele nöthig haben 
soll 2). Wir bedürfen in der That keines weiteren Beweises, um 
zu wissen, dass ein Philosoph, welcher den Werth der wissen- 
schaftlichen Untersuchungen so ganz nach ihrem unmittelbar nach- 
weislichen Nutzen abmisst, nicht über einen unsicheren Eklekti- 
cismus hinauskommen konnte. Nur würden wir uns sehr täuschen, 
wenn wir desshalb selbständige ethische Forschungen bei ihm 
suchen wollten. Galen’s zahlreiche Schriften aus diesem Ge- 
biete ?) sind für uns alle bis auf zwei *) verloren gegangen, was 
wir aber theils aus diesen, theils aus andern gelegenheitlichen 
Aeusserungen von seinen sittlichen Ansichten erfahren, enthält 
nur Nachklänge von älteren Lehren. So treffen wir bei Gelegen- 
heit die peripatetische Eintheilung der Güter in geistige, leibliche 
und äussere °), bei einem andern Anlass die platonische Lehre 
von den vier Grundtugenden °), dann wieder den aristotelischen 
Satz, dass alle Tugend im Mittelmaass bestehe °). Die Frage, ob 
die Tugend ein Wissen oder etwas anderes sei, entscheidet Galen 
dahin: im vernünftigen Theil der Seele sei sie ein Wissen, in den 


1) De Hippocr. et Plat. IX, 6. B. V, 779 ἢ. 

2) De subst. facult. nat. B. IV, 764. 

3) De propr. libr. 13. 17. 

4) De cognoscendis eurandisque animi morbis. De animi peccatorum digno- 
tione atque medela. 

5) Protrept. 11, Anf. B. I, 26 £. 

6) De Hippoer. et Plat. VII, ı ἢ, B. V, 594. 


7) In Hippoer. de humor. I, 11 Schl. B. XVI, 104: ὥσπερ γὰρ τὸ μέσον 
ἐστὶν αἱρετὸν ἐν πᾶσιν, οὕτω χαὶ τὸ ὑπερβάλλον ἢ ἐλλειπὲς φευχτόν. ἀρεταὶ δὲ πᾶσαι ἐν 
μέσῳ συνίσταντα: al δὲ χαχίαι ἔξω τοῦ μέσου. Diese Worte beziehen sich zwar zu- 
nächst anf die körperlichen Zustände, aber ihre Fassung lautet ganz all- 


gemein. 


Potamo. 43 


unvernünftigen Theilen blos eine Kraft und Beschaffenheit 1). Die 
eklektische Neigung des Mannes kommt auch in diesem Theil sei- 
ner Lehre zum Vorschein. 

Gegen das Ende des zweiten Jahrhunderts wird nun auch der 
Name des Eklekticismus ausgesprochen. Der Alexandriner Po- 
tamo, der um diese Zeit lebte, wollte eine neue Schule begrün- 
den, die er die eklektische nannte ?); und was über seine Lehre 
berichtet wird, ‚zeigt allerdings, dass er diesen Namen richt ohne 
Grund gewählt hatte; denn dieselbe ist, so weit sich darüber ur- 
theilen lässt, aus stoischen und platonisch-peripatetischen Ele- 
ınenten unsystematisch genug zusammengesetzt. Bei der Frage 
nach dem Kriterium ersetzte er die „begriflliche Vorstellung“ der 
Stoiker, nur im Ausdruck abweichend, durch die „genaueste 
Vorstellung.* Den zwei obersten Gründen der Stoiker, welche 
sie freilich auf eine noch höhere Einheit zurückgeführt hatten, 


v 


1) De Hippoecr. et Plat. V,5. VII, 1. B. V, 468. 595. 

2) Ῥιοα. prooem. 21: ἔτι δὲ πρὸ ὀλίγου χαὶ ἐχλεχτική τις αἵρεσις εἰςήχθη ὑπὸ 
Ποτάμωνος τοῦ ᾿Αλεξανδρέως, ἐχλεξαμένου τὰ ἀρέσχοντα ἐξ ἑχάστης τῶν αἱρέσεων. 
Sup. αἵρεσις schreibt diess und das Weitere ab; dagegen sagt derselbe u. d. W. 
Ποτάμ..: Ποτ. ᾿Αλεξανδρεὺς γεγονὼς πρὸ Αὐγούστου χαὶ μετ᾽ αὐτὸν, indem er beifügt, 
derselbe habe einen Commentar zu Plato’s Politie geschrieben. Wäre nun diese 
Angabe richtig, so müsste dieser Potamo von dem des Diogenes verschieden 
sein; mir ist es jedoch wahrscheinlicher, dass er mit ihm identisch, und die 
Angabe über seine Lebenszeit falsch oder an den falschen Ort gerathen ist; sie 
bezog sich vielleicht ursprünglich auf den gleichnamigen Mytilenäer, einen 
Rhetor aus Tiber’s Zeit, von dem Suidas unmittelbar nachher redet. Ein dritter 
Potamo, ein Mündel Plotin’s (b. Porrr. v. Plot. 9), welcher jedenfalls jünger 
als der unsrige sein müsste, ist in den neueren Ausgaben in einen Polemo 
verwandelt. Indessen ist aus Anlass dieser verschiedenen Angaben eine Menge 
von Vermuthungen über Potamo aufgestellt worden, worüber Fasıc. Bibl. gr. 
ΠῚ, 184 ἢ. Harl. J. Sısox hist. de l’&cole d’Alexandrie I, 199 ff. zu vergleichen 
sind. Nach der Art, wie sich Diogenes ausdrückt, kann Potamo nicht wohl 
früher, als in die letzten Jahrzehende des zweiten Jahrhunderts, gesetzt wer- 
den; dass er auch nicht später lebte, wäre erwiesen, wenn wir versichert sein 
könnten, dass er der Potamo ist, von dem Sınrı. De eoelo, Schol. in Ar. 513, 
b, 8. 515, a, 42 nach Alexander einige mathematische Bemerkungen anführt; 
über das erste Drittheil des dritten Jahrhunderts können wir ihn aber, da ihn 
Diogenes kennt, keinenfalls herabrücken. — Verwandter Richtung scheint 
Plotin’s Zeitgenosse Trypho gewesen zu sein, welchen Poren. v. Plot. 17 


στωιχός τε χαὶ Πλατωνιχὸς nennt. 


“14 " Potamo. 


dem Stoff und der wirkenden Kraft, fügte er die Qualität und den 
Raum bei. Das höchste Gut sollte in der Vollendung des Lebens 
bestehen, deren wesentlichste Bedingung in der Tugend liege, . 
für die aber mit Aristoteles und der Akademie ein naturgemässer 
Zustand des leiblichen Lebens und die dazu dienlichen äusseren 
Güter doch auch unentbehrlich gefunden wurden 1). Auf eine be- 
deutende Wirkung hätte sich eine so oberflächliche und an eige- 
nen Gedanken so arme Philosophie nicht Rechnung machen dür- 
fen, wenn auch die bald nachher durch den Neuplatonismus her- 
beigeführte Wendung nicht eingetreten wäre, und so ist auch von 
Potamo’s Schule nichts weiter bekannt. 


- ’ er r Σ - - 

1) Dioe. a. ἃ. O.: ἀρέσχει δ᾽ αὐτῷ, καθά φησιν Ev τῇ στοιχειώσει, χριτήρια τῆς 
Χ) der e er τὶ δι £ ὅτ" 5 Η . ἢ σις oT of PT τὶ δὲ ὡς ὃ 5 
ἀληθείας εἶναι, To μὲν ὡς ὑφ᾽ οὗ γίνεται ἣ κρίσις, τουτέστι τὸ ἥγεμονιχὸν, τὸ δὲ ὡς ÖL 
τ J ’ > “ ΠῚ .. 
οὗ, οἷον τὴν ἀχριβεστάτην φαντασίαν. ἀρχάς τε τῶν ὅλων τήν τε ὕλην χαὶ τὸ ποιοῦν, 

r x 5 ἫΝ \ = \ r ee} Tr 

ποιότητά τε χαὶ τόπον" ἐξ οὗ γὰρ καὶ ὑφ᾽ οὗ χαὶ ποίῳ χαὶ ἐν ᾧ. τέλος δ᾽ εἶναι ἐφ᾽ ὃ 
πάντα ἀναφέρεται, ζωὴν χατὰ πᾶσαν. ἀρετὴν τελείαν, οὐχ ἄνευ τῶν τοῦ σώματος χαὶ 


-» . ΄ 
τῶν ἐχτός. 


Zusätze. 


x 


8. 346, Z. 1 ist hinter „Anthologie“ beizufügen: „II, 136 Jac.)“, und hinter 
„steht“: „und der nach Srraro XIV, 1, 18. S. 638 ein συνέφηβος Epi- 
kur’s war.“ 

S. 352, Z. 15 v. u. ist dem Citat aus Galenus beizufügen: „Ps. Ga:.en. Theriac. 
ad Pis. c. 11. Bd. XIV, 250.* 

S. 353, Z. 14 v. u. ist hinter „mag“ beizufügen: „neben dem jüngeren Celsus 
(Orıe. ο. Cels. I, 8. 68), dem Zeitgenossen des Lucrax (Alex. 1. 21. 61) 
und GaLex (libr. propr. 17. Bd. XIX, 48), der aber von dem später zu 
besprechenden Christengegner zu unterscheiden ist.“ 

S. 354, Anm. 1 ist beizufügen: „JuLias (Fragm. or. 8. 301, C Spanh.) und 
Aususrix (c. Acad. III, 19, 42) dagegen behandeln den, Epikureismus 
als erloschen.“ 

S. 551, Anm. 1, Schl. ist beizufügen: „Noch erheblicher ist aber seine Abwei- 
ehung von der aristotelischen Ansicht über die Seele, welche GaLEN 
qu. an. mores u. 8. w. c. 4. Bd. IV, 782 f. K. berichtet. Dieser sagt 
nämlich, wie Andronikus überhaupt sich frei und ohne verdunkelnde 
Umschweife auszusprechen pflege, so erkläre er auch die Seele unum- 
wunden für die χρᾶσις [se. τοῦ σώματος] oder die δύναμις ἑπομένη τῇ 
κράσει.“ 

S. 613,2. 10 und 9 v. u. ist hinter „qu. conv.* beizufügen: „VII, 7, 1.5. und 
hinter „Genannten®: „Diogenianus.* 

S. 614, Z. 2 ist hinter „mag“ beizufügen: „Hierokles (Gell. N. A. IX, 5, 8) 
in Athen gelehrt, und“, 


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In demselben Verlage sind erschienen: 


Zeller. Dr. E., das theologische System Zwingli’s. gr. 8. (Be- 
sonderer Abdruck aus Jahrg. 1853 der,theol. Jahrb.) 25 Ngr. 
Die Metaphysik des Aristoteles. Grundtext, Überse- 
_  tzung und Commentar nebst erläuternden Abhandlungen. Von 
Professor Dr. A. Schwegler. gr. 8. I. Band, Grundtext und 
kritischer Apparat, 1 Thlr. 15 Ngr. II. Band, Übersetzung, 
4 Thlr. 6 Ngr. III. IV. Bd., Commentar, 1.2. Hälfte, 3 Thlr. 3 Ngr. 
Eusebii Pamphili historiae ecelesiasticae libri X. 
Recognovit Alb. Schwegler, antt. litt. in academia Tubing. prof. 
Accedit brevis adnotatio critica. gr. 8. broch. 1 Thlr. 24 Ngr. 
Schwegler. Dr. F. C. A., das nachapostolische Zeitalter in den 
Hauptmomenten seiner Entwicklung. Zwei Bände. gr. 8. 
3 Thlr. 25 Ngr. 
—— der Montanismus und die christliche Kirche des zweiten 
Jahrhunderts. gr. 8. „1 Thlr. 221,2 Ngr. 
Biedermann, A. E., die freie Theologie, oder Philosophie 
und Christenthum in Streit und Frieden. gr. 8. 1 Thlr. 4 Ngr. 
Fichte, Dr. J. H., über den gegenwärtigen Standpunkt der Phi- 
losophie. Akademische Antritisrede, gehalten in der Aula der 
Universität zu Tübingen am 4. Nov. 1842. gr.8. br. 71,2 Νρυ. 
MHeiff, Dr. 3. Fr., das Shitem dev Willensbeftimmungen oder die 


Grundwiljenichaft ver Philofophie. gr. 8. br. 1 Thle. 
—— über einige wichtige Punkte in der PBhilofophie. Eine Differ- 
tation. gr. 8. brod). 5 12 Ngr. 
Sigwart, Dr. H. © ®W. v., Prof, das Problem von der Freiheit 
und der Unfreiheit des menjchlichen Wollens. gr. 8. 1 Thlr. 


Snellmann. J. W., Doc. der Philosophie an der Universität 
Helsingfors, Versuch einer speculativen Entwicklung der Idee 


der Persönlichkeit. gr. 8. 1 Thlr. 4 Ngr. 
Springer. A. H., die Hegel’sche Geschichtsanschauung. Eine 
historische Denkschrift. gr. 8. broch. 15 Ngr. 


Vifcher, Dr. Fr. Th., Prof., ἔς Gänge. Zwei Bände. 8. 
2 Thlr. 10 Ngr. 


Baur, Dr. F. Chr., Lehrbuch der christlichen Dogmengeschichte. 
Zweite, neu bearbeitete und erweiterte Ausgabe. gr. 8. 
broch. 1 Thir. 24 Ngr. 


Baur, Dr. F. Chr., kritische Untersuchungen der kanonischen 
Evangelien, ihr Verhältniss zu einander, ihren Charakter und 
Ursprung. gr. 8. - 2 Thlr. 27 Ngr. 


-- — Der Gegensatz des Katholieismus und Protestantismus nach 
den Principien und Hauptdogmen der beiden Lehrbegriffe. 
Mit besonderer Rücksicht auf Herrn Dr. Möhler’s Symbolik. 
Zweite verbesserte, mit einer Übersicht über die neuesten, 
auf die Symbolik sich beziehenden, -Controversen vermehrte, 
Auflage. er. 8. 2 Thlr. 18 Ngr. 


—— Erwiederung auf Hermm Dr. Möhler’s neueste Polemik 
gegen die protestantische Lehre und Kirche in seiner Schrift: 
Neue Untersuchungen der Lehrgegensätze zwischen den Ka- 
tholiken und Protestanten. Eine Vertheidigung meiner Sym- 
bolik gegen die Kritik des Herrn Professor Dr. Baur in Tü- 
bingen. Von Dr. J. A. Möhler. gr. 8. 18 Ngr. 


—— Das Ciwistliche des Platonismus, oder Sokrates und Chri- 
stus. Eine religionsphilosophische Untersuchung. gr. 8. 18 Ngr. 

— — - Über den Ursprung des Episcopats in der christlichen Kirche. 
Prüfung der neuestens von Herrn Dr. Rothe aufgestellten 
Ansicht. gr. 8. 1 Thlr. 
τος - Die ignatianischen Briefe und ihr neuester Kritiker. Eine 
τ Streifschrift gegen Herrn Bunsen. gr. 8. broch. - 27 Ngr. 
τ Das Markusevangelium nach seinem Ursprung und Charak- 
ier. Nebst einem Anhang über das Evangelium Marcions. 


gr. 8. broch. 1 Thlr. 4 Ngr. 
-- - Die Epochen der kirchlichen Geschichtschreibung. gr. 8. 
broch. 1 Thlr. 6 Ngr. 


— - Die Tübinger Schule und ihre Stellung zur Gegenwart. 
Zweite, neu durchgesehene und mil einigen Zusätzen ver- 
mehrie Auflage. S. broch. 18 Ngr. 


- An Herrn Dr. Karl Hase. Beantwortung des Sendschrei- 
bens die Tübinger Schule. 8. broch. 12 Ngr. 


Worte der Erinnerung an Ferdinand Christian von Baur, Doctor 
u. ordentl. Prof. der Theologie an der Universität Tübingen οἷο. 
8. broch. 41,2 Ngr. 
mit Portrait 15 Ngr. 


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σις Die Philosophie der Griechen. ὕο1. 5]... 


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