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DR. BERNARD BOLfAlfO^^
PARADOXIEN
DES UNENDLICHEN
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HERAUSGEGEBEN AUS DEM SCHRIFT-
UCHEN NACHLASSE DES VERFASSERS
VON
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DR. FR. PRIHONSKY
Je suis tellemeDt pour rinfini actael, qu'au lieu
d'admettre, qne la natnrc Pabhorre, comme l'on dit
▼nlgairement, je tiens qu'elle Taf fecte par-tout, p ^ «r
mieiix marquer lei perf ections de son Auteiir. {Ltihtiim,
Optra omnüt studio Luäov. DuUnt, Tom» II, pari i.
LEIPZIG
BEI C. H. RECLAM S E N.
1851
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DRÜCK VON RADELLI & HILLE IN LEIPZIG
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I Vorwort des Herausgebers.
•^ Die merkwürdige Abhandlung über die Paradoxieii
\ des Unendlichen begann ihr Verfasser bereits im Jahre
^ ^847 während eines ländlichen Aufenthaltes in Gesellschaft
1 des Herausgebers auf der anmutigen Villa zu Liboch bei
^ Melnik^ vollendete sie aber erst, durch Arbeiten anderer
Art unterbrochen, in den Sommermonaten des folgenden
Jahres, dem letzten seines Lebens. Er betätigte mit diesem
Werke nicht nur, daß seine geistigen Vermögen trotz des
bereits vorgerückten Alters (er stand damals in seinem
67. Jahre) und der sichtlichen Abnahme der körperlichen
r* Kräfte an ihrer Frische und Regsamkeit noch «immer nichts
I verloren hatten; sondern er lieferte hiermit zugleich der
2 gelehrten Welt einen neuen Beweis, welch ungemeine Ein-
j sichten in die abstraktesten Tiefen der Mathematik, der
^» reinen Naturwissenschaft und Metaphysik ihm waren zuteil
- geworden. Wahrhaftig, hätte Bolzano nichts anderes ge-
schrieben und uns hinterlassen als diese Abhandlung allein:
er müßte, wie wir fest glauben, schon am ihretwillen defn
: ausgezeichneten Geistern unseres Jahrhunderts beigezählt
5 werden! Die interessantesten und verwickeltsten Fragen,
welche die Bearbeiter jener apriorischen Wissenschaften in
bezug auf den Begriff des Unendlichen von jeher beschäf-
tigten, versteht er mit bewundernswerter Leichtigkeit zu
lösen und mit solch einer Klarheit vor den Augen des
Lesers zu entfalten, daß auch. derjenige, der nur nicht ganz
ein Fremdling auf diesem Gebiete ist und von den hierher*
einschlagenden Dingen nur weniges begriffen hat, dem
Vortrage des Verfassers zu folgen und seine Lehrsätze,
VI Vorwort.
mindestens ihrem großen Teile nach, verständlich zu finden
vermag. Der Kenner überdies muß, v wofern er der Ab-
handlung einige Aufmerksamkeit schenket (und sollten wir
dies nicht von einem jeden ' Gelehrten erwarten dürfen?),
bald gewahr werden, von welcher Wichtigkeit die hier an-
gedeuteten und in anderen Werken Bolzanos (seiner Logik
insbesondere und Athanasia) umständlicher auseinanderge-
setzten Ansichten seien, und wie es mit ihnen auf nichts
Geringeres abgesehen sei, als auf eine völlige Umgestaltung
aller bisherigen wissenschaftlichen Darstellung.
Der Herausgeber erhielt diese Abhandlung im Manu-
skripte aus dem Nachlasse des Verfassers von dessen Erben
mit der Verbindlichkeit, sie sobald als möglich zum Drucke
zu fördern, und übernahm diese Verpflichtung um so bereit-
williger, je mehr sie mit seinen innersten Gefühlen (Bolzano
war sein unvergeßlicher Lehier und Freund) zusammen-
stimmte. Gern hätte er sich auch derselben schon früher
entledigt, wären ihm nicht bedeutende Hindernisse in den
Weg getreten, die er nicht eher als im Verlaufe dieses
Jahres hat beseitigen können. Nun eirst sah er sich in den
Stand gesetzt, die lange bereits besorgte Abschrift nach
dem nicht immer sehr lesbaren, hier und da sogar in-
korrekten Manuskripte zu verbessern, eine genaue Inhalts-
anzeige zur leichteren Benutzung des Büchleins zu fertigen
und einen tauglichen Veriagsort dafür aufzusuchen. Er
wählte Leipzig; weil er einerseits von diesem Umstände
eine größere Verbreitung der Abhandlung selbst erwartet,
andererseits eben hiermit die berühmte Bücherstadt, die
Zierde und den Stolz seines neuen Vaterlandes (er ist ein
geborener Böhme), zu ehren gedenkt: denn er lebt des
Glaubens, es werde einst, wird nur erst Bolzanos hoher
Genius allgemeine Anerkennung finden, Leipzig eben nicht
zum letzten Ruhme gereichen, zur Erscheinung dieser Para-
doxien beigetragen zu haben.
»
Budissin, am lo. Juli 1850«
Inhalt
§ I. Warum sich der Verfasser ausschließlich nur piit der Be-
trachtung der Paradozien des Unendlichen befassen wolle.
§ a — lo. Begriff des Unendlichen nach der Auffassung der Mathe-
matiker und Erörterung desselben.
§ II. Wie Hegel und andere Philosophen das Unendliche sich
denken.
§ 12. Andere Erklärungen des Unendlichen und ihre Beurteilung.
§ 13. Gegenständlichkeit des vom Verfasser aufgestellten Be-
griffes, nachgewiesen an Beispielen aus dem Gebiete des
Nichtwirklichen. Die Menge von Wahrheiten und Sätzen an
sich ist unendlich.
§ 14. Widerlegung einiger gegen diesen Begriff erhobener Ein-
würfe.
§ 15. D\e Menge der Zahlen ist unendlich.
§ 16. Die Menge der Größen überhaupt ist unendlich.
§ 17. Die Menge der einfachen Teile, sowohl derjenigen, aus
denen Zeit und Raum überhaupt bestehen, als auch die Menge
der Zeit- und Raumpunkte, die zwischen zwei einander noch
so n^ihestehende Zeit- und Raumpunkte fallen, ist unendlich.
§ 18. Nicht eine jede Größe, Idie wir als die Summe einer im-
endlichen Menge anderer, die alle endlich sind, betrachten^
ist selbst eine unendliche.
§ 19. Es gibt unendliche Mengen, die größer oder kleiner sind
als andere unendliche Mengen.
§ äo. Ein merkwürdiges Verhältnis zweier unendlicher Mengen
zueinander, bestehend darin, daß es möglich ist, jedes Ding
der einen Menge mit dem der anderen zu einem Paare so
zu verbinden, daß kein einziges Ding in beiden Mengen ohne
Verbindung bleibt, auch kein einziges in zwei oder mehreren
Paaren vorkommt.
Vm Irih^it'
§21. Dennoch können beide unendliche Mengen, obschon mit
Hinsicht auf die Vielheit ihrer Teile gleich, in einem Verhält-
nisse der Ungleichheit ihrer Vielheiten stehen, so daß die
eine sich nur als ein Teil der anderen herausstellen kann.
§ 22 u. 23. Warum sich bei endlichen Mengen ein anderer Fall
ergäbe, und wie es komme, daß dieser Grund bei unendlichen
Mengen wegfalle.
§ 24. Zwei Summen von Größen, welche einander paarweise
gleich sind, dürfen, wenn ihre Menge unendlich ist, nicht
sofort gleichgesetzt werden, sondern nur dann erst, wenn
beide Mengen gleiche Bestimmungsgründe haben.
§. 25. Es gibt auch ein Unendliches auf dem Gebiefe der Wirk-
lichkeit.
§ 26. Der Grundsatz der durchgängigen Bestimmtheit alles Wirk-
lichen widerstreitet dieser Behauptung nicht
§ 27. Wohl aber irren diejenigen Mathematiker, die von unend-
lich großen Zeitlängen, welche gleichwohl von beiden Seiten
begrenzt sind, oder was noch öfter geschieht, die von un-
endlich kleinen Zeitteilen sprechen. Ebenso, die von unend-
lich großen und unendlich kleinen Entfernungen reden. Auch
Physiker und Metaphysiker irren, wenn sie voraussetzen oder
behaupten, es gäbe Kräfte im Weltall, die uneddlichemai
größer oder kleiner sind als andere.
§ 28. Die vorzüglichsten Paradoxien des Unendlichen auf dem
Gebiete der Mathematik; zuvörderst in der allgemeinen Größen-
und insbesondere, in der Zahlenlehre.
Wie si<^ das Paradoxon einer Rechnung des Unendlichen
auflösen lasse.
§ 29. Es besteht in der Tat eine Rechnung mit unendlich Großem.
§ ^. Ebenso eine Rechnung mit unendlich Kleinem.
§ 31 u. 32. Falschheit einiger Begriffe, die selbst Mathematiker
von unendlich Kleinem und unendlich Großem hegen.
§ 3(3. Vorsicht, die bei der Rechnung mit dem Unendlichen zu
beobachten ist, um nicht auf Irrwege zu geraten.
§ 34. Genauese Bestimmung des Begriffes der Null. Die Null
darf nie als Divisor angewendet werden in einer Gleichung,
welche etwas mehr als eine bloß identische sein' soll.
§ 35. Widersprüche, die aus der hier und da aufgestellten Be-
hauptung entstehen, daß unendlich kleine Größen, wenn man
sie mit gewissen anderen durch Addition oder Subtraktion
verbindet, zu Null werden oder verschwinden.
Inhalt IX
§ 36. Diese Widersprüche werden nicht vermieden durch die
Annahme einiger Mathematikeri dafi die unendlich kleinen
Grööen blööe Nullen, die unendlich großen aber Quotienten
wären, welche aus einer endlichen Größe durch die Division
mit einer bloßen Null hervorgehen.
§ 37- Wie der Verf. die Methode des Rechnens mit dem Unend-
lichen auffassen zu müssen gemeint sei, um sie von allepi
Widerspruche zu befreien.
§ 38. Paradoxien des Unendlichen im angewandten Teile der
Größenlehre, und zwar in der Zeit- und Raumlehre.
Schon der Begriff des Kontinuums oder der stetigen Aus-
dehnung enthält scheinbare Widersprüche. Wie diese auf-
zulösen seien.
§ 39. Paradoxien im Begriffe der Zeit.
§ 40. Paradoxien im Begriffe des Raumes.
§ 41. Wie die meisten Paradoxien der Raumlehre in dem Be-
griffe des Verf. vom Räume ihre Erklärung finden.
§ 42 u. 43. Wie eine unrichtige Auffassung der Lehre vom un-
endlich Großen einige Mathematiker zu unrichtigen Vorstel-
lungen veranlaßt haben«
^ 44. J. Schulzes Berechnung der Größe des unendlichen Raumes,
und worin der Fehler dieser Berechnung eigentlich bestehe.
§ 45. Auch die Lehre vom unendlich Kleinen ward Veranlassung
zur Behaqptung so mancher Ungereimtheit.
§ 46. Was von dem Satze Galileis zu halten sei: der Umfang des
Kreises ist so groß wie dessen Mittelpunkt.
§ 47. Beleuchtung des Lehrsatzes, daß die gemeine Zykloide in
dem Punkte, wo sie auf ihre Grundlinie trifft, eine unendlich
große Krümmung habe.
§ 48. Wie es komme, daß manche räumliche Ausdehnungen, die
sich durch einen unendlichen Raum verbreiten, gleichwohl
nur eine endliche Größe haben; andere dagegen, die in einem
endlichen Räume beschränkt sind, doch eine unendliche Größe
besitzen; und noch manche andere eine endliche Größe be-
halten, ob sie gleich unendlich viele Umgänge um einen Punkt
herum machen.
^ 49.^ Noch einige paradoxe Verhältnisse räumlicher Ausdehnun-
gen, die eine unendliche Größe besitzen.
"§ 50. Paradoxien des Unendlichen auf dem Gebiete der Physik
und Metaphysik.
X Inhalt
Welche Wahrheiten man anerkennen mfisse, um diese Para-
dozien richtig zu beurteilen.
Beweis, daß es nicht zwei durchaus gleiche Dinge, somit
auch nicht einander, durchaus gleiche Atome (einfache Sub-
stanzen) im Weltali gäbe; femer
daß es notwendig einfadie Substanzen gäbe, und dafi diese
Substanzen veränderlich säen.
§ 51, Vorurteile, über die man sich wegsetzen mfisse, um die
hierher gehörigen Paradoxien richtig zu beurteilen.
Es gibt keine tote, bloß träge Materie.
§ 52. Es ist ein Vorurteil der Schule, daß die Annahme einer
unmittelbaren Einwirkung der Substanzen unerlaubt sei.
i* 53« Ebenso ist es ein Vorurteil zu glauben, daß unmittelbare
Einwirkungen in die Feme nicht möglich ätien.
I 54. Ein Durchdringen der Substanzen muß unbedingt geleugnet
werden.
§ 55« Vorurteil von der vollkommenen Unräumlichkeit geistiger
Wesen, insofern sie nicht einmal den Ort eines Punktes sollen
einnehmen können.
Zwischen den geschaffenen Substanzen gibt es keine
anderen als Gradunterschiede.
§ 56. Das große Paradoxon von der Verbindung zwischen den
geistigen und materiellen Substanzen behebt sich nach dieser
Ansicht von selbst.
§ 57. Irrtümliche Vorstellung von der Konstruktion des Weltalls
aus bloßen Kräften ohne Substanzen.
§ 58* Es gibt keine höchste, aber auch keine niedrigste Stufe des
Daseins in Gottes Schöpfung.
§ 59. Mit der stetigen Erfüllung des unendlichen Raumes durch
Substanzen besteht recht gut ein verschiedener Grad von
Dichtigkeit der Körper, und es ist nicht nötig anzunehmen,
daß Substanzen einander durchdringen.
§ 60. Jede Substanz der Welt steht mit jeder anderen in stetem
Wcchaelverkehr.
§ 6i. Es gibt darunter herrschende Substanzen, aber keine von
diesen letzteren besitzt Kräfte, welche die der beherrschten
um ein Unendliches übertreffen.
§ 62. Ob in einem jeden beliebigen Inbegriffe von Substanzen
eine herrschende vorhanden sein müsse.
Inhalt. XI
§ 63. Aufier den herrschenden Substanzen gibt esr noch einen
anderen Weltstoff, den Äther, der ohne ausgezeichnete Sub-
stanzen allen übrigen Weltraum erfüllt und alle Weltkörper
verbindet.
Unter den Substanzen findet ein Anziehen und Abstoßen
statt, un4 wie sich der Verf. dasselbe vorstelle.
Woher es komme, daß Stoffe, die sich in ihren Kräften,
namentlich in dem Grade ihrer gegenseitigen Anziehungen
voneinander unterscheiden, in ihrem Gewichte gleichwohl
einander durchgängig gleichen, oder daß ihre Gewichte sich
wie die Massen verhalten.
§ 64. Worin sich* die Herrschaft gewisser Substanzen oder Atome
über andere äußere, und was davon die Folge sei.
§ 65. Keine ausgezeichnete Substanz erHlhrt eine solche Ver-
änderung, daß sie durch diese von allen Teilen ihrer nächsten
Umgebung frei würde.
§ 66. Wo ein Körper aufhöre und ein anderer anfange; oder die
Frage über die Grenzen des Körpers.
§ 67. Ob und wenn Körper in einer unmittelbaren Berührung
miteinander stehen. «
§ 68. Mögliche Arten der im Weltall stattfindenden Bewegungen.
§ 69. Ob ein Atom im Weltall zu irgendeiner Zeit eine voll-
kommen gerade oder vollkommen krumme Linie beschreibe.
Ob bei des Verf. Ansichten von der Unendlichkeit des
Weltalls ein Fortrücken des Ganzen nach irgendeiner ge-
gebenen Richtung oder auch eine jdrehende Bewegung
desselben um eine gegebene Weltachse oder einen Weit-
mittelpunkt statthaben könne.
§70. Zwei durch Euler berühmt gewordene Paradoxien.
\ •
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§ I.
Nicht zwar, wie Kästner sagt, alle, aber gewiß die
meisten paradoxen Behauptungen, denen wir auf dem Ge-
biete der Mathematik begegnen, sind Sätze, die den Begriff
des Unendlichen entweder unmittelbar enthalten oder
doch bei ihrer versuchten Beweisführung in irgendeiner
Weise sich auf ihn stützen. Noch unstreitiger ist es, daß
gerade diejenigen mathematischen Paradoxien, die unsere
größte Beachtung verdienen, weil die Entscheidung hoch-
wichtiger Fragen in mancher anderen Wissenschaft, wie in
der Metaphysik und Physik, von «ner befriedigenden Wider-
legung ihres Scheinwiderspruches abhängt, unter dieser
Gattung sich finden.
Und dieses, ist eben der Grund, warum ich mich in der
vorliegenden Abhandlung ausschließlich nur mit der Be-
trachtung der Paradoxien des Unendlichen befasse. Daß
es aber nicht möglich sein würde, den Schein des Wider-
spruches, der an diesen mathematischen Paradoxien haftet,
als das, was er ist, als einen bloßen Schein zu erkennen,
wenn wir uns nicht vor allem deutlich machten, welchen
Begriff wir doch eigentlich mit dem Unendlichen verbinden,
erachtet man von selbst. Dies also schicken wir voraus.
Daß man das Unendliche allem bloß Endlichen ent-
gegensetze, sagt schon das Wort. Und durch den Umstand,
daß wir die Benennung des Ersten aus jener des Zweiten
Bolzano, Parndoxien des Unendlichen. 1
2 Inbegriff.
ableiten, verrät sich überdies, daß wir uns auch den Be-
griff des Unendlichen als einen solchen denken, der aus
jenem des Endlichen erst durch Hinzufügung eines neuen
Bestandteiles (dergleichen ja auch der bloße BegriÖ der
Verneinung schon ist) hervorgehe. Daß endlich beide
Begriffe auf Mengen, näher auf Vielheiten (d. h. auf
Mengen von Einheiten), somit auch auf Größen angewandt
werden, läßt sich schon aus dem Grunde nicht ableugnen,
weil es jti eben die Mathematik, d. h. die Größenlehre
ist, wo wir am häufigsten von dem Unendlichen sprechen,
indem wir endliche sowohl als unendliche Vielheiten, und
nebst den endlichen Größen auch nicht nur unendlich
große, sondern selbst unendlich kleine Größen zum
Gegenstande unserer Betrachtung und — Berechnung so-
gar erheben. — Ohne noch anzunehmen, daß jene beiden
Begriffe (des Endlichen nämlich und des Unendlichen) sich
stets nur auf Gegenstände anwenden lassen, an denen in
irgendeinem Betrachte sich Größe und Vielheit nach-
weisen läßt, dürfen wir hoffen, daß eine genauere Unter-
suchung der Fr^ge, unter welchen Umständen wir eine
Menge für endlich oder für unendlich erklären, uns auch
darüber, was das Unendliche überhaupt sei, Aufschluß
gewähren werde.
§ 3. .
Zu diesem Zwecke müssen wir jedoch bis zu einem der
einfachsten Begriffe unseres Verstandes zurückgehen, um
uns über das Wort, das wir zu seiner Bezeichnung ge-
brauchen wollen, erst zu verständigen. Es ist der Begriff,
der dem Bindewort und zugrunde liegt, den ich jedoch,
wenn er so deutlich hervortreten soll, als es die Zwecke
der Mathematik sowohl als auch der Philosophie in un-
zähligen Fällen erheischen, am füglichsten durch die Worte:
ein Inbegriff gewisser Dinge oder ein aus gewissen
Teilen bestehendes Ganze, glaube ausdrücken zu
können, wenn nämlich festgesetzt wird, daß wir diese Worte
Inbegriff. 3
in einer so weiten Bedeutung auslegen wollen, daß sich
behaupten lasse, in allen Sätzen, wo man das Bindewort
und anzuwenden pflegt, also z. B. in den gleich folgenden:
„Die Sonne, die Erde und der Mond — stehen in
gegenseitiger Einwirkung aufeinander**; „die Rose und
der Begriff einer Rose — sind ein paar sehr ver-
schiedene Dinge"; „die Namen Sokrates und Sohn des
Sophroniskus — bezeichnen einerlei Person" — sei der
Gegenstand, von dopi^jusui in diesen Sätzen spricht, ein
gewisser Inbegriff von Dingen, ein aus gewissen
Teilen bestehendes Ganze: im ersten namentlich sei es
dasjenige Ganze, das Sonne, Erde-uQd Mond miteinander
bilden, von welchem man aussagt, daß es ein Ganzes sei,
dessen Teile in gegenseitiger Einwirkung aufeinanderstehen;
im zweiten sei es der InbegriflF, den die zwei Gegenstände
„die Rose und der Begriff einer Rose" miteinander aus-
machen, worüber man urteile, daß sie zwei sehr verschiedene
Dinge wären usw. Schon dieses wenige dürfte zur Ver-
ständigung über den hier in Rede stehenden Begriff ge-
nügen, wenn wir noch allenfalls beifügen, daß jeder be-
liebige Gegenstand A mit allen beliebigen andern B^C^D , . , .
in einen Inbegriff vereinigt werden könne oder (noch rich-
tiger gesprochen) an sich selbst schon einen Inbegriff bilde,
von dem sich manche mehr oder weniger wichtige Wahr-
heit aussagen lasse, sofern nur jede der Vorstellungen A^
B^ C^ D . , , . in der Tat einen anderen Gegenstand vor-
stellt, oder sofern nur keiner der Sätze: A ist dasselbe mit
B^ A ist dasselbe mit £*, B ist dasselbe mit C usw. wahr
ist. Denn ist z. B. A dasselbe Ding mit B^ dann ist es
allerdings ungereimt, von einem Inbegriffe der Dinge A und
B zu reden.
§4.
Es gibt Inbegriffe, die, obgleich dieselben Teile A^ 5, C,
Z) . . . . enthaltend, doch nach dem Gesichtspunkte (Begriffe),
unter- dem wir sie so eben auffassen, sich als verschieden
1*
Menge, Summe, Gröfie.
(wir nennen es wesentlich verschieden) darstellen, z. B. eid
ganzem und ein in Stücke zerbrochenes Glas als Trinkgefäfi
betrachtet. Wir nennen dasjenige, worin der Grund dieses
Unterschiedes an solchen Inbegriffen besteht, die Art der
Verbindung oder Anordnung ihrer Teile. Eänen In-
begriff, den wir einem solchen Begriffe unterstellen, bei
dem die Anordnung seiner Teile gleichgültig ist (an dem
sich also nichts für uns Wesentliches ändert, wenn sich bloß
diese ändert), nenne ich eine Mengg : und eine Menge,
deren Teile alle als Einheiten einer gewissen Art A^ d. h.
als Gegenstände, die dem Begriffe A unterstehen, betrachtet
werden, heißt eine Vielheit von A,
§5.
Bekanntlich gibt es auch Inbegriffe, deren Teile selbst
noch zusammengesetzt, d. h. abermals Inbegriffe sind. Unter
ihnen auch solche, die wir aus einem Gesichtspunkte be-
trachten, für den sich nichts an ihnen Wesentliches ändert,
wenn wir die Teile der Teile als Teile des Ganzen selbst
auffassen. Ich nenne sie, mit einem von Mathematikern
erborgten Worte, Summen. Denn das eben ist der Begriff
einer Summe, daß A-^{B-\-C) = A-\-B-\-C sein müsse.
§6.
Betrachten wir einen Gegenstand als gehörig zu einer
Gattung von Dingen, deren je zwei, M und iV, niemals ein
anderes Verhältnis zueinander haben können, als daß sie
einander entweder gleich sind, oder daß sich das eine von
ihnen als eine Summe darstellt, die einen dem andern
gleichen Teil in sich faßt, d. h. daß entweder Af = iv oder
iW = iV-|-v oder N=M-\-fA^ wo von den Teilen v und /x
abeimals dasselbe gelten muß, daß sie nämlich einander
entweder gleich, oder der eine als ein in dem andern ent-
haltener Teil, anzusehen sind: so betrachten wir diesen
Gegenstand als eine Größe.
Reihe. 5
§7-
Wenn ein gegebener Inbegriff von Dingen A^
ByC^D^E^F . . . . L^M^N von einer solchen Beschaffen-
heit ist, daß sich für jeden Teil M irgendein und auch nur
ein anderer N nachweisen läßt von der Art, daß wir nach
einem für alle Teile des Inbegriffes gleichen Gesetze
entweder N durch sein Verhältnis zu Af, oder M durch sein
Verhältnis zu iV bestimmen können: so nenne ich diesen
Inbegriff eine Reihe, und sein^ Teile die Glieder dieser
Reihe; jenes Gesetz, nach welchem entweder N durch sein
Verhältnis zu il/, oder M durch sein Verhältnis zu N be-
stimmbar ist, das Bildungsgesetz der Reihe; das eine
dieser Glieder, welches man will, nenne ich (ohne durch
diese Benennung den Begriff einer wirklichen Zeit- oder
Raumfolge bezeichnen zu wollen) das vordere oder vor-
hergehende, das andere das hintere oder nachfolgende;
jedes Glied My welches sowohl ein vorderes als ein nach-
folgendes hat, d. h. das nicht nur selbst aus einem andern,
sondern aus welchem auch wieder ein anderes nach dem
für die Reihe geltenden Bildungsgesetze ableitbar ist, nenne
Tch ein inneres Glied der Reihe, wonach man von selbst
schon erachtet, welche Glieder ich, falls sie vorhanden
sind, äußere, welches das erste oder das letzte Glied
nenne*).
§8.
Denken wir uns eine Reihe, d^ren erstes Glied eine
Einheit von der Art A ist, jedes nachfolgende aber aus
seinem vorhergehenden auf die Weise abgeleitet wird, daß
wir einen ihm gleichen Gegenstand nehmend, denselben
mit einer neuen Einheit von der Art A zu einer Summe
verbinden: so werden offenbar alle in dieser Reihe vor-
kommenden Glieder — mit Ausnahme des ersten, das eine
*) Nähere Erläuterungen über diese wie über einige schon in
den vorigen Paragraphen aufgestellten Begriffe sind in der Wis-
senschaftslehre zu suchen.
Endliche und unendliche Vielheiten.
bloße Einheit von der Art A darbietet — Vielheiten
von der Art A sein und dies zwar solche, die ich end-
liche oder zählbare Vielheiten, auch wohl geradezu
(und selbst mit Inbegriff des ersten Qliedes) Zahlen, be-
stimmter: ganze Zahlen nenne.
§9.
Nach der verschiedenen Beschaffenheit des hier durch
A bezeichneten Begriffes kann es eine bald größere, bald
geringere Menge der Gegenstände, welche er unter sich
faßt, d. h. der Einheiten von der Art A^ und darum auch
eine bald größere, bald geringere Menge der Glieder in
der besprochenen Reihe geben. Namentlich kann es der-
selben auch so viele geben, daß diese Reihe, sofern sie
diese Einheiten alle erschöpfen (in sich aufnehmen) soll,
durchaus kein letztes Glied haben darf; wie wir dies in
der Folge noch umständlicher nachweisen wollen. Dies
also vorderhand vorausgesetzt, werde ich eine Vielheit,
die größer als jede endliche ist, d. h. eine Vielheit, die so
beschaffen ist, daß jede endliche Menge nur einen Teil von
ihr darstellt, eine unendliche Vielheit nennen.
S lO.
Man wird mir, wie ich hoffe, zugeben, daß die hier auf-
gestellte Erklärung der beiden Begriffe einer endlichen
und einer unendlichen Vielheit den Unterschied zwischen
denselben in Wahrheit so bestimme, wie ihn diejenigen,
die diese Ausdrücke in einem strengen Sinne gebrauchten,
sich gedacht haben. Man wird auch zugeben, daß in diesen
Erklärungen kein versteckter Zirkel liege. Es handelt sich
also nur noch darum, ob wir durch eine bloße Erklärung
dessen, was eine unendliche Vielheit heiße, imstande sein
werden, zu bestimmen, was ein Unendliches überhaupt
sei. So wäre es, falls es sich zeigen sollte, es gebe streng
genommen nichts anderes, als eben nur Vielheiten, auf
Das Unendliche Überhaupt.
welche der Begriff des Unendlichen in seiner eigentlichen
Bedeutung angewandt werde, d. h. wenn es sich zeigen
sollte, daß die Unendlichkeit eigentlich nur eine Beschaffen-
heit von Vielheiten ist^ oder daß wir alles, was wir für
unendlich erklären, nur darum so nennen, weil und in-
wiefern wir daran eine Beschaffenheit gewahren, die sich
als eine unendliche Vielheit ansehen l^ßt. Das ist nun,
däucht mir, wirklich. Der Mathematiker gebraucht dieses
Wort offenbar nie in einem anderen Sinne; denn es sind
überhaupt fast nur Größen, mit deren Bestimmung er sich
beschäftigt, wozu er sich der Annahme einer aus ihnen^
die von derselben Art ist, zur Einheit und des Begriffes
einer Zahl bedient. Findet er eine Größe, größer als jede
Anzahl der zur Einheit angenommenen, so nennt er sie un-
endlich groß; findet er eine so klein, daß jedes Vielfache
derselben kleiner ist als die Einheit, so nennt er sie un-
endlich klein; und außer diesen beiden Gattungen des
Unendlichen und den von ihnen noch ferner abgeleiteten
Arten unendlich großer und unendlich kleiner Größen von
höherer Ordnung, die alle aus demselben Begriffe her-
vorgehen, gibt es für ihn sonst kein Unendliches.
§ II.
Mit diesem den Mathematikern so wohl bekannten Un-
endlichen nun sind einige Philosophen, zumal der neueren
Zeit, wie Hegel und seine Anhänger, noch nicht zufrieden-
zustellen, nennen es verächtlich das schlechte Unendliche
und wollen noch ein viel höheres, das wahre, das quali-
tative Unendliche kennen, welches sie namentlich in
Gott und überhaupt im Absoluten nur finden. Wenn sie,
wie Hegel, Erdmann u. a. sich das mathematische Un-
endliche nur als eine Größe denken, welche veränder-
lich ist und in ihrem Wachstume keine Grenze hat (was
freilich manche Mathematiker, wie wir bald sehen werden,
als die Erklärung ihres Begriffes aufgestellt haben): so
pflichte ich ihnen in ihrem Tadel dieses Begriffes einer in
8 Mangelhafte Definitionen des Unendlichen.
das Unendliche nur wachsenden, nie es erreichenden
Größe selbst bei. Eine wahrhaft unendliche Größe,
z. B. die Länge der ganzen beiderseits grenzenlosen Ge-
raden (d. h. die Größe desjenigen Raumdinges, das alle
Punkte enthält, die durch ihr bloßes begrifflich vorstellbares
Vterhältnis zu zwei gegebenen bestimmt sind), braucht eben
nicht veränderlich zu sein, wie sie es denn in dem hier
angefahrten Beispiele in der Tat nicht ist; und eine Größe,
die nur stets größer angenommen werden kann, als wir sie
schon genommen haben, und größer als jede gegebene
(endliche) Größe zu werden vermag, kann dabei gleichwohl
beständig eine bloß endliche Größe verbleiben, wie dieses
namentlich von jeder Zahlgröße i, 2, 3, 4 , gilt. Was
ich nicht zugestehe, ist bloß; daß der Philosoph einen
Gegenstand kenne, dem er das Prädikat der Unendlichkeit
beizulegen berechtigt sei, ohne in diesem Gegenstande in
irgendeiner Beziehung erst eine unendliche Größe oder
doch Vielheit nachgewiesen zu haben. Wenn ich dartun
kann, daß selbst in Gott als in demjenigeQ Wesen, das wir
als die vollkommenste Einheit betrachten, sich Gesichts-
punkte nachweisen lassen, aus welchen wir eine unendliche
Vielheit in ihm erblicken, und daß es eben nur diese Ge-
sichtspunkte sind, aus denen wir ihm Unendlichkeit bei-
legen: so wird es kaum nötig sein, noch ferner darzutun,
daß ähnliche Rücksichten auch in allen anderen Fällen, wo
der Begriff der Unendlichkeit in seinem guten Rechte ist,
zugrunde liegen. Ich sage nun: wir nennen Gott unendlich,
weil wir ihm Kräfte von mehr als einer Art zugestehen
müssen, die eine unendliche Größe besitzen. So müssen
wir ihm eine Erkenntniskraft beilegen, die wahre Allwissen-
heit ist, also eine unendliche Menge von Wahrheiten, weil
alle überhaupt, umfaßt usw. Und welcher wäre denn der
Begriff, den man uns statt des hier aufgestellten von dem
wahren Unendlichen aufdringen will? Es soll das All sein,
das jedes beliebige Etwas umfaßt, das absolute All, außer
dem es nichts gibt. Nach dieser Angabe wäre es ein Un-
endliches, das auch nach unserer Erklärung unendlich Vieles
Mangelhafte Definitionen des Unendlichen. 9
in sich schließt. Es wäre ein Inbegriff von nicht nur allen
wirklichen Dingen, sondern auch allem demjenigen, was
keine Wirklichkeit hat, den Sätzen und Wahrheiten an sich.
Und so dürfte denn — auch abgesehen von all den übrigen
Irrtümern, die man in diese Lehre vom All verwoben
hat — kein Grund vorhanden sein, unsem Begriff von
dem Unendlichen zu verlassen, um jenen anzunehmen.
§ 12.
Doch auch so manche andere Erklärungen von dem Un-
endlichen, die selbst von Mathematikern und in der Meinung
aufgestellt wurden, daß sie nur die Bestandteile dieses einen
und desselben Begriffes darböten, kann ich nicht umhin,
als unrichtig zu verwerfen.
I . In der Tat haben, wie ich nur eben vorhin erwähnte,
einige Mathematiker, unter ihnen selbst Cauchy (in seinem
Cours d' Analyse u. m. a. Schriften), der Verfasser des Ar-
tikels „Unendlich" in Klügeis Wörterbuche, geglaubt,
das Unendliche zu erklären, wenn sie es als eine veränder-
liche Größe beschreiben, deren Wert unbegrenzt wächst
und füglich größer werden könne, als jede gegebene,
noch so große Größe. Die Grenze dieses unbegrenzten
Wachsens sei die unendlich große Größe. So sei die
Tangente des rechten Winkels, als stetige Größe gedacht,
unbegrenzt, ohne Ende, im eigentlichen Sinne unend-
lich. Das Fehlerhafte dieser Erklärung erhellt schon dar-
aus, weil das, was die Mathematiker eine veränderliche
Größe nennen, eigentlich nicht eine Größe, sondern der
bloße Begriff, die bloße« Vorstellung von einer Größe
ist, und zwar eine solche Vorstellung, die nicht eine einzige,
sondern eine unendliche Menge voneinander verschiedener,
in ihrem Werte, d. h. in ihrer Großheit selbst sich unter-
scheidendef Größen unter sich befaßt. Was man unend-
lich nennt, sind ja nicht jene verschiedenen Werte,
welche der hier zum Beispiel angeführte Ausdruck tang, (p
für verschiedene Werte von (p darstellt, sondern nur jener
10 Mangelhafte Definitionen des Unendlichen.
einzelne Wert, von dem man (obgleich in diesem Falle mit
Unrecht) sich vorstellt, daß jener Ausdruck ihn für den
Wert ^ = ^- annehme. Auch ist es wohl ein Widefspruch,
von der Grenze eines unbegrenzten Wachsens und bei der
Erklärung des unendlich Kleinen ebenso von der Grenze
einer unbegrenzten Abnahme zu reden. Und wenn man
jene fOr^das unendlich Große erklärt: so sollte man der
Analogie nach diese, d. h. die bloße Null (ein Nichts) für
das unendlich Kleine erklären; was doch gewiß unrichtig
ist und weder Cauchy noch Grunert zu saged sich er-
lauben.
2. War die soeben betrachtete Erklärung zu weit, so
ist dagegen die von Spinoza und vielen anderen Philo-
sophen sowohl als Mathematikern angenommene, daß nur
dasjenige unendlich sei, was keiner ferneren Ver-
mehrung fähig ist, oder dem nichts mehr beigefügt
(addiert) werden kann, viel zu enge. Der Mathematiker
erlaubt sich zu jeder Größe, auch der unendlich großen,
noch andere, und nicht nur endliche, sondern selbst andere
schon bereits unendliche Größen zuzusetzen, ja er verviel-
fältigt die unendliche Größe sogar unendlichemal usw. Und
wenn einige noch darüber streiten, ob dies Verfahren auch
ein gesetzmäßiges sei: welcher Mathematiker, der nur nicht
alles Unendliche verwirft, wird nicht zugeben müssen, daß
die Länge einer nur nach der einen Seite hin begrenzten,
nach der andern aber in das Unendliche fortlaufenden
Geraden unendlich groß sei, und gleichwohl durch Zusätze
nach der ersten Seite hin vergrößert werden könne?
3. Nicht befriedigender ist die Erklärung jener, die sich
genau an die Bestandteile des Wortes halten und sagen^
unendlich sei, was kein Ende hat. Dächten sie dabei
nur an ein Ende in der Zeit, ein Aufhören: so könnten
nur Dinge, die in der Zeit sind, endlich oder unendlich
heißen. Allein wir fragen auch bei Dingen, die in keiner
Zeit sind, z. B. bei Linien oder Größen überhaupt, ob sie
endlich oder unendlich sind. Nehmen sie aber das Wort
Mangelhafte Definitionen des Unendlichen. 11
in einem weiteren Sinne, etwa gl eich geltend mit Grenze
Oberhaupt: so erinnere ich erstlich, daß es gar manche
Gegenstände gibt, bei denen man füglich nicht nachweisen
kann, daß sich an ihnen eine Grenze befinde, ohne dem
Worte eine höchst schwankende, alles verwirrende Bedeu-
tung, unterzuschieben, und die gleichwohl niemand zu den
unendlichen zählt. So hat doch wohl ein jeder einfache
Teil der Zeit oder des Raumes (ein Punkt in der Zeit oder
im Räume) keine Grenzen, wird vielmehr selbst gewöhn-
lich nur als Grenze (einer Zeitlänge oder Linie) betrachtet,
ja von den meisten geradezu so definiert, nicht anders als
ob dies zu seinem -Wesen gehörte; noch niemandem aber
fiel ein (es wäre denn etwa Hegel), in dem bloßen Punkte
eine Unendlichkeit sehen zu wollen. Ebensowenig kennt
der Mathematiker an der Kreislinie und an so vielen anderen
in sich zurückkehrenden LinieÄ und Flächen eine Grenze,
und betrachtet sie doch nur als endliche Dinge (es müßte
denn sein, daß er auf die unendliche Menge der in ihnen
enthaltenen Punkte zu sprechen käme, in welchem Betrachte
er aber auch an jeder begrenzten Linie etwas Unendliches
anerkennen muß). Zweitens bemerke ich, daß es gar viele
Gegenstände gäbe, die unleugbar begrenzt sind und dabei
doch als Größen angesehen werden, die zu den unend-
lichen gehören. So ist es nicht nur bei der schon früher
erwähnten Geraden, die nur nach einer Seite zu in das
Unendliche reicht, sondern auch bei dem Flächenraume,
den ein paar unendliche Parallelen, oder die beiden in das
Unendliche reichenden Schenkel eines auf einer Ebene ver-
zeichneten Winkels, zwischen sich einschließen, u. m. a. So
werden wir auch in der rationalen Psychologie eine Er-
kenntniskraft schon dann unendlich groß nennen, wenn sie,
auch ohne allwissend zu sein, nur irgendeine unendliche
Menge von Wahrheiten, z. B. nur die ganze unendliche
Reihe der Dezimalstellen, welche die einzige Größe ^ ent-
hält, zu überschauen vermag.
4. Am gewöhnlichsten^ heißt es: unendlich groß sei,
was größer ist als jede angebliche Größe. Hier bedarf
12 Mangelhafte Definitionen des Unendlichen.
es vor allem einer genaueren Bestimmung darüber, was
man sich bei dem Worte angeblich denke? Soll es nur
so viel bedeuten, daß etwas möglich sei, d. h. Wirklichkeit
haben könne, oder nur, daß es nichts Widersprechen-
des sei? Im ersten Falle beschränkt man den Begriff des
Endlichen einzig auf jene Gattung von Dingen, die zu
den Wirklichkeiten gehören, entweder zu aller Zeit
wirklich sind, oder doch zu gewissen Zeiten wirklich ge-
wesen sind oder noch werden sollen, oder wenigstens
irgend einmal zur Wirklichkeit gelangen könnten. In
diesem Sinne scheint in der Tat Fries (Naturphilosophie
§ 47) das Unendliche genommen zu haben, wenn er es das
Unvollendbare nennt. Der Sprachgebrauch aber wendet
den Begriff des Endlichen und ebenso auch jenen des Un-
endlichen auf beides, sowohl auf Gegenstände an, denen
Wirklichkeit zukommt, wie namentlich auf Gott, als auch
auf andere, bei denen von gar keiner Existenz derselben
gesprochen werden kann, dergleichen die bloßen Sätze und
Wahrheiten an sich, samt ihren Bestandteilen, den Vor-
stellungen an sich; indem wir endliche sowohl als unend-
liche Mengen derselben annehmen. Versteht man aber
unter dem Angeblichen alles dasjenige, was sich nur eben
nicht widerspricht: dann legt man es schon in die Er-
klärung des Begriffes, daß es kein Unendliches gäbe; denn
eine Größe, die größer sein soll, als eine jede, die sich
nicht widerspricht, müßte auch größer als sie selbst sein,
was freilich ungereimt ist. Allein es gibt noch eine dritte^
Bedeutung, in der man das Wort angeblich nehmen
könnte, wenn man darunter nur etwa solches verstände,
was eben uns nur gegeben werden kann, d. h. ein
Gegenstand unserer Erfahrung zu werden vermag. Doch
ich frage jeden, ob er die Worte endlich und unend-
lich nicht jedenfalls in einem solchen Sinne nehme, und
— soll in der Wissenschaft ein nützlicher Gebrauch von
ihnen gemacht werden — auch notwendig nur in einem
solchen Sinne nehmen müsse, dabei sie jedenfalls eine ge-
wisse innere Beschaffenheit der Gegenstände, die wir so
Es gibt unendliche Mengen. 13
nennen, keineswegs aber ein bloßes Verhältnis derselben
zu unserem Erkenntnisvermögen, zu unserer Sinn-
lichkeit sogar (ob wir Erfahrungen über sie einziehen
können oder nicht können) betreffen. Somit kann denn
die Frage, ob etwas endlich oder unendlich sei, gewiß
nicht davon abhängen, ob der in Rede stehende Gegen-
stand eine Größe besitze, die wir noch wahrzunehmen (etwa
zu überschauen oder nicht zu überschauen) vermögen.
§ 13-
Sind wir nun mit uns einig geworden, welchen Begriff
wir mit dem Worte unendlich verbinden wollen, und
haben wir uns auch die Bestandteile, aus denen wir diesen
Begriff zusammensetzen, zu einem klaren Bewußtsein er-
hoben: so ist die nächste Frage, ob er auch Gegen-
ständlichkeit habe, d. h. ob es auch Dinge gebe, auf die
«r sich anwemden läßt, Mengen, die wir in der erklärten
Bedeutung unendlich nennen dürfen? Und dieses wage
ich mit Entschiedenheit zu bejahen. Es gibt schon im
Reiche derjenigen Dinge, die keinen Anspruch auf
Wirklichkeit, ja nur auf Möglichkeit machen, un-
streitig Mengen, die unendlich sind. Die Menge der
Sätze und Wahrheiten an sich ist, wie sich sehr leicht
einsehen läßt, unendlich; denn wenn wir irgendeine Wahr-
heit, etwa den Satz, daß es Wahrheiten überhaupt gebe,
oder sonst jeden beliebigen, den ich durch A bezeichnen
will, betrachten: finden wir, daß der Satz, welchen die
Worte ^A ist wahr* ausdrücken, ein von A selbst ver-
schiedener sei; denn dieser hat offenbar ein ganz anderes
Subjekt als jener. Sein Subjekt nämlich ist der ganze Satz
A selbst. Allein nach eben dem Gesetze, wie wir hier aus
dem Satze A diesen von ihm Verschiedenjen, den ich B
nennen vriil, ableiten, läßt sich aus B wieder ein dritter
Satz C ableiten, und so ohne Ende fort. Der Inbegriff all
dieser Sätze, deren jeder folgende zu dem nächst vorher-
gehenden in dem nur eben angegebenen Verhältnisse steht,
14 £s gibt unendliche Mengen.
daß er denselben zu seinem Subjekte erhebt und von dem-
selben aussagt, daß er ein wahrer Satz sei, dieser Inbegriff
— sage ich -— umfaßt eine Menge von Teilen (Sätzen),
die größer als jede endliche Menge ist. Denn ohne meine
Erinnerung bemerkt der Leser die Ähnlichkeit, welche die
Reihe dieser Sätze nach dem soeben angegebenen Bildungs-
gesetze mit der im § 8 betrachteten Reihe der Zahlen hat;
eine Ähnlichkeit, bestehend darin, daß es zu jedem Gliede
der letzteren ein ihm entsprechendes der ersteren gibt, daß
es somit für jede auch noch so große Anzahl auch eine
ihr gleiche Anzahl verschiedener Sätze gibt, und daß wir
immer noch neue Sätze darüber bilden können, oder besser
zu sagen, daß es solche Sätze, gleichviel ob wir sie bilden
oder nicht, an sich selbst gäbe. Woraus denn folgt, daß
der Inbegriff all dieser Sätze eine Vielheit besitze, die
größer als jede Zahl, d. h. die unendlich ist.
§ 14.
Aber wie einfach und einleuchtend auch der eben ge-
lieferte Beweis ist: doch gibt es eine beträchtliche Anzahl
gelehrter und sehr scharfsinniger Männer, die den Satz
selbst, den ich hier dargetan zu haben glaube, nicht nur
für paradox, sondern geradezu für falsch erklären. Sie
leugnen, es gäbe irgendein Unendliches. Nicht nur
unter den Dingen, die Wirklichkeit haben, sondern auch
unter den übrigen gibt es nach ihrer Behauptung kein
einzelnes, auch keinen Inbegriff mehrerer, an dem sich in
irgendeinem Betrachte eine unendliche Menge von Teilen
annehmen ließe. Die Gründe, welche sie gegen das Un-
endliche im Reiche der Wirklichkeit erheben, wollen wir
später betrachten, weil -wir auch später erst die Gründe
für das Vorhandensein eines solchen Unendlichen vor-
bringen werden. Hier also laßt uns nur die Gründe ver-
nehmen, durch welche dargetan werden soll, daß es nirgends,
nicht einmal unter den Dingen, die keinen Anspruch auf
Wirklichkeit machen, etwa^ Unendliches gäbe. i. ^Eine
is gibt unendliche Mengen. 15
unendliche Menge**,, sagt man, ,,kann es schon aus dem
Grunde nirgends geben, weil eine unendliche Menge nie
in ein Ganzes vereinigt, nie in Gedanken zusam-
mengefaßt werden kann." — Diese Behauptung muß
ich geradezu als einen Irrtum bezeichnen, als einen Irrtum,
den die falsche Ansicht erzeugte, daß man, um ein aus
gewissen Gegenständen <r, ä, ^, rf . . . . bestehendes Ganze zu
denken, zuvor sich Vorstellungen, die einen jeden dieser
Gegenstände im einzelnen vorstellen (Einzelvorstellungen
von ihnen), gebildet haben müsse. So ist es durchaus nicht;
ich kann mir die Menge, den Inbegriff oder, wenn man so
lieber will, das Ganze der Bewohner Prags oder Pekings
denken, ohne mir einen jeden dieser Bewohner im einzelnen,
d. h. durch eine ausschließlich ihn nur betreffende Vor-
stellung, vorzustellen. Ich tue das wirklich jetzt eben, in-
dem ich von dieser Menge derselben spreche und z. B. das
Urteil fälle, daß ihre Anzahl in Prag zwischen den beiden
Zahlen looooo und 120000 liege. Es ist nämlich, sobald
wir erst eine Vorstellung A besitzen, die jeden der Gegen-
stände a, Ä, c, rf . . . ., sonst aber nichts anderes vorstellt,
überaus leicht zu einer Vorstellung zu gelangen, welche
den Inbegriff, den alle diese Gegenstände zusammen aus-
machen, vorstellt. Dazu bedarf es in der Tat nichts anderen,
als den Begriff, den das Wort Inbegriff bezeichnet, mit
der Vorstellung A in der Art zu verbinden, wie es die
Worte: der Inbegriff aller A, andeuten. Durch diese
einzige Bemerkung, deren Richtigkeit jedem, wie ich glaube,
einleuchten muß, fällt alle Schwierigkeit weg, die man bei
dem Begriffe einer Menge, wenn sie aus unendlich vielen
Teilen besteht, finden will; sobald nur ein Gattungsbegriff,
der jeden dieser Teile, sonst aber nichts anderes umfaßt,
vorhanden ist, wie dieses bei dem Begriffe: „Die Menge
aller Sätze oder Wahrheiten an sich,* der Fall ist,
wo der benötigte Gattungsbegriff kein anderer als der schon
vorliegende: „ein Satz oder eine Wahrheit an sich* ist. —
Allein ich darf noch einen zweiten Irrtum, den man in
jenem Einwurfe verrät, nicht ungerügt lassen.
16 £ä gibt unendliche Mengen.
Es ist die Meinung, „daä eine Menge nicht vorhanden
wäre, wenn nicht erst jemand, der sie denkt, vorhanden
wäre/ Wer dies behauptet, der sollte, um so folgerecht
zu sein, als man es überhaupt bei einem Irrtum sein kann,
nicht nur behaupten, daß es keine unendliche Mengen
von Sätzen oder Wahrheiten an sich gäbe, sondern er
sollte behaupten, daß es überhaupt gar keine Sätze und
Wahrheiten* an sich gäbe. Denn wenn wir den Begriff von
Sätzen und Wahrheiten an sich zu einem klaren Bewußt-
sein bei uns erhoben haben und an der Gegenständlich-
keit desselben in der Tat gar nicht zweifeln: so können
wir wohl schwerlich auf Behauptungen, wie die nur an-
geführte ist, geraten, oder doch sicher nicht bei denselben
beharren. Um dies auf eine jedem einleuchtende Weise zu
zeigen, erlaube ich mir die Frage aufzuwerfen, ob an den
Polen der Erde nicht auch sich Körper, flüssige sowohl als
feste, befinden, Luft, Wasser, Steine u. dgl., ob diese Körper
nicht nach gewissen Gesetzen aufeinander einwirken, z. B.
so, daß die Geschwindigkeiten, die sie einander bei ihrem
Konflikte mitteilen, sich verkehrt wie ihre Massen ver-
halten u. dgl., und ob dieses alles erfolge, auch wenn kein
Mensch noch irgendein anderes denkendes Wesen da ist,
das es beobachtet? Bejaht man dieses (und wer müßte es
nicht bejahen?): dann gibt es auch Sätze und Wahrheiten
an sich, die alle diese Vorgänge ausdrücken, ohne daß
irgend jemand sie denkt und kennt. Und in diesen Sätzen
ist häufig von Ganzen und Mengen die Rede; denn jeder
Körper ist doch ein Ganzes und bringt gar viele seiner
Wirkungen nur durch die Menge der Teile, aus denen er
besteht, hervor. Es gibt also Mengen und Ganze, auch
ohne daß ein Wesen, welches sie denkt, da ist. Und
wenn dies nicht wäre, wenn diese Mengen nicht selbst da
wären: wie könnten die Urteile, welche wir über sie fällen,
wahr sein? Oder vielmehr, was müßte der Sinn dieser
Urteile sein, wenn sie erst dadurch wahr werden sollten,
daß jemand da ist^ der diese Vorgänge wahrnimmt? Wenn
ich sage: ,, Dieser Block löste sich vor meinen Augen von
Es gibt unendliche Mengen. 17
jenem Felsen ab und stürzte, die Luft durchschneidend,
herunter''; so mOfite dies ungefähr folgenden Sinn haben:
Indem ich gewisse einfache Wesen dort oben zusammen-
dachte, entstand eine Verbindung derselben, die ich Block
nenne; diese Verbindung entfernte sich von gewissen
anderen, die sich, indem ich sie zusammen dachte, zu einem
Ganzen vereinigten, welches ich einen Felsen nenne; usw.
2. Allein man dürfte sagen: „es bleibe bei allem dem
wahr, daß es nur unser Werk, und zwar ein großenteils
sehr willkürliches Werk sei, ob wir gewisse einfache Gegen-
stände in einen Inbegriff zusammendenken oder nicht zu-
sammendenken wollen; und nur erst, wenn wir dies tun,
entstehen Verhältnisse zwischen ihnen. Der mittelste Atom
in diesem an meinem Rocke befindlichen Knopfe und der^
mittelste Atom in jenem Turmknopfe dort gehen einander
nicht das geringste an und stehen in gar keiner Verbindung
miteinander; erst durch mein gegenwärtiges Zusammen-
denken derselben entsteht eine Art Verbindung zwischen
ihnen.** — Auch diesem muß ich widersprechen. Die bei-
den Atome waren, noch ehe das denkende Wesen ihre
Vorstellungen zusammenfügte, in gegenseitiger Einwirkung
aufeinander, z. B. durch die Kraft der Anziehung u. dgl.;
und wenn anders jenes denkende Wesen infolge seiner
Gedanken nicht auch noch Handlungen vornimmt, die eine
Änderung in den Verhältnissen zwischen den beiden Atomen
bewirken: so ist es durchaus unwahr, daß erst durch jenes
Zusammendenken derselben Verhältnisse unter ihnen ent-
ständen, die außerdem nicht da wären. Soll ich mit Wahr-
heit urteilen, daß Jener Atom der niedere, dieser der höhere
sei, und daß somit dieser durch jenen um irgendein Kleines
in die Höhe gezogen werde usw.: so müßte dies alles statt-
finden, auch wenn ich nicht daran gedacht hätte.
3. Doch andere sagen: „Nicht, daß ein Inbegriff von
einem denkenden Wesen wirklich gedacht werde, ist
dazu notwendig, daß er bestehe: wohl aber ist dazu not-
wendig, daß er gedacht werden könne. Und weil nun kein
Wesen möglich ist, das eine unendliche Menge von Dingen
Bolzano, Paxadoxien des Unendlichen. 2
18 Es gibt unendliche Mengen.
jedes im einzelnen sich vorzustellen und diese Vorstellungen
dann zu verbinden vermag: so ist auch kein Inbegriff, der
eine unendliche Menge von Dingen als Teile in sich faßte,
möglich.*
Wie irrig die hier wiederholte Voraussetzung sei, daß
zu dem Denken eines Inbegriffs das Denken aller seiner
Teile im einzelnen, d. h. das Denken eines jeden einzelnen
Teiles vermittels einer denselben vorstellenden Einzelvor-
stellung erfordert werde, haben wir Nr. i schon gesehen;
auch brauchen wir nicht erst auf das allwissende Wesen
als auf ein solches zu verweisen, dem selbst die Auffassung
einer unendlichen Menge von Dingen, jedes im einzelnen,
keine Mühe verursacht. Allein wir dürfen nicht einmal die
erste Voraussetzung zugeben, nämlich, dafi das Vorhanden-
sein eines Inbegriffes von Dingen auf der Bedingung be-
ruhe, daß ein solcher Inbegriff gedacht werden kann.
Denn das ,yGedachtrwerden- können einer Sache"^
kann nie den Grund ihrer Möglichkeit enthalten; sondern
es ist vielmehr gerade umgekehrt die Möglichkeit einer
Sache erst der Grund davon, daß ein vernünftiges Weseni
wenn es sich nicht eben irrt, dier Sache möglich oder wie
man (nur undgentlich) sagt, sie denkbar findet, sie denken
kann. Von der Richtigkeit dieser Bemerkung und von der
gänzlichen Unhaltbarkeit der freilich sehr verbreiteten An-
sicht, welche ich hier bekämpfe, wird man sich noch völliger
überzeugen, wenn man sich die Bestandteile, aus welchen
der höchst wichtige Begriff der Möglichkeit besteht, deut-
lich zu machen sucht Daß man möglich dasjenige nennt,
was sein kann, ist offenbar keine Zerlegung dieses Be-
griffes; denn in dem Worte können steckt der Begriff der
Möglichkeit noch ganz. Aber noch unrichtiger wäre es,
die Erklärung aufstellen zu wollen, daß möglich dasjenige
sei, was gedacht werden kann. Denken im eigent-
lichen Sinne des Wortes, wo es auch schon das bloße
Vorstellen befaßt, können wir uns auch das Unmögliche;
und denken es uns ja wirklich, so oft wir darüber urteilen,
und es z. B. eben für unmöglich erklären; wie wenn wir
. £s gibt unendliche Mengen. 19
sagen, daß es keine Größe gebe und geben könne, welche
durch o oder ^ — i vorgestellt wird. Aber auch wenn man
unter dem Denken hier nicht ein bloßes Vorstellen, son-
dern ein eigentliches Fürwahrhalten versteht, ist es falsch,
daß alles möglich sei, was wir für wahr halten können.
Durch Irrtum halten wir ja zuweilen auch das Unmögliche,
z. B. daß wir die Quadratur des Zirkels gefunden hätten,
für wahr. Es müßte also gesagt werden (wie ich schon
oben verbessernd annahm), möglich sei dasjenige, worüber
ein denkendes Wesen, wenn es der Wahrheit gemäß urteilt,
das Urteil ausspricht, daß es sein könne, d. h. daß es mög-
lich sei. Eine Erklärung, die einen offenbaren Zirkel ent-
hält! Wir sind also wohl genötigt, die Beziehung auf ein
denkendes Wesen bei der Erklärung des Möglichen ganz
aufzugeben und uns nach einem anderen Merkmale umzu-
sehen. Möglich ist, hört man zuweilen auch sagen, „was
sich nicht widerspricht'^ Allerdings ist alles, was
einen Widerspruch schon in sich selbst enthält, z. B. daß
eine Kugel keine Kugel sei, unmöglich. Aber nicht alles
Unmögliche ist nur eben von solcher Art, daß der Wider-
spruch schon in den bloßen Bestandteilen, aus welchen
wir die Vorstellung desselben zusammengesetzt haben, vor-
kommt. Daß ein Körper, der von sieben ebenen Seiten-
flächen eingeschlossen ist, von gleichen Seitenflächen ein-
geschlossen sei, ist unmöglich; aber das Widersprechende
liegt nicht schon in den Worten, die hier verbunden wer-
den, offen zutage. Wir müssen also unsere Erklärung er-
weitem. Wollten wir aber sagen, unmöglich sei, was mit
irgendeiner Wahrheit im Widerspruche steht: so würden
wir alles, was jiicht ist, auch eben darum schon für un-
möglich erklären, weil der Satz, daß es ist, der Wahrheit,
daß es nicht ist, widerspräche. Wir würden also gar
keinen Unterschied zwischen dem Möglichen und dem Wirk-
lichen, ja dem Notwendigen sogar zulassen, was wir doch
alle tun. Wir sehen demnach, das Grebiet der Wahrheiten,
denen das Unmögliche widerspricht, müsse nur auf eine
gewisse Gattung derselben beschränkt werden; und nun
2*
20 I^ie Menge aller Zahlen.
kann es uns kaum mehr entgehen, welche Gattung von
Wahrheiten dies sei. Es sind die reinen Begriifswahr-
heiten. Was irgendeiner reinen Begriffs Wahrheit wider-
spricht, ist das Unmögliche zu nennen; möglich also«
was mit keiner reinen Begriffswahrheit im Widerspruche
steht. Wer einmal eingesehen hat, dies sei der richtige
Begriff der Möglichkeit, dem kann es kaum mehr in den
Sinn kommen, die Behauptung aufzustellen, daß etwas nur
erst dann möglich sei, wenn es gedacht, d. h. von einem
denkenden Wesen, das sich in seinem Urteile nicht irrt,
für möglich angesehen wird. Denn dieses hieße ja sagen:
„Ein Satz widerspricht nur erst dann keiner reinen Be-
griffswahrheit, wenn es keiner reinen Begriffswahrheit
widerspricht, daß es ein denkendes Wesen gäbe, welches
von diesem Satze der Wahrheit gemäß das Urteil fällt, daß
er keiner reinen Begriffswahrheit widerspreche.* Wer sieht
nicht, wie gar nicht zur Sache gehörig diese Einmengung
eines denkenden Wesens hier sei? — Ist es aber ent-
schieden, daß nicht das Denken die Möglichkeit erst
mache: wo bleibt noch irgendein Grund, aus dem ver-
meintlichen Umstände, daß eine unendliche Menge von
Dingen nicht zusammen gedacht werden kann, zu fol-
gern, daß es dergleichen Mengen nicht geben könne?
§ 15-
Ich betrachte es nun als genügend dargetan und ver-
teidigt, daß es unendliche Mengen, wenigstens unter den
Dingen, die keine Wirklichkeit haben, gäbe; daß nament-
lich die Menge aller Wahrheiten an sich eine unendliche
sei. Man wird in ähnlicher Weise, wie § 13 geschlossen
wurde, auch zugeben, daß die Menge aller Zahlen (der
sogenannten natürlichen oder ganzen, deren Begriff wir
§ 8 erklärten) unendlich sei. Aber auch dieser Satz klingt
paradox, und wir dürfen ihn eigentlich als die erste
der auf dem Gebiete der Mathematik erscheinenden Para-
<loxien betrachten; denn die vorhin betrachtete gehört
Die Menge aller Größen. 21
eigentlich noch in eine allgemeinere Wissenschaft als in die
Größenlehre.
„Wenn jede Zahl**, dürfte man sagen, „ihrem Begriffe
nach eine bloß endliche Menge ist, wie kann die Menge
aller Zahlen eine unendliche sein? Wenn wir die Reihe
der natürlichen Zahlen:
I, 2, 3, 4, 5, 6,
betrachten: so werden wir gewahr, daß die Menge der
Zahlen, die diese Reihe, anzufangen von der ersten (der
Einheit) bis zu irgendeiner, z. B. der Zahl 6, enthält, immer
durch diese letzte selbst ausgedrückt wird. Somit muß ja
die Menge aller Zahlen genau so groß als die letzte der-
selben und somit selbst eine Zahl, also nicht unendlich
sein."
Das Täuschende dieses Schlusses verschwindet auf der
Stelle, sobald man sich nur erinnert, daß in der Menge
aller Zahlen in der natürlichen Reihe derselben keine die
letzte stehe; daß somit der Begriff einer letzten (höchsten)
Zahl ein gegenstandloser, weil <^inen Widerspruch in sich
schließender, Begriff sei. Denn nach dem, in der Erklärung
jener Reihe (§8) angegebenen Bildungsgesetze; derselben
hat jedes ihrer Glieder wieder ein folgendes. Dies Para-
doxon wäre denn also durch diese einzige Bemerkung schon
als. gelöst zu betrachten.
§ i6.
Ist die Menge der Zahlen (nämlich der sogenannten
ganzen Zahlen) unendlich: so ist um so gewisser die Menge
der Größen (nach der § 6 und Wissenschaftslehre § 87
vorkommenden Erklärung) eine unendliche. Denn jener
Erklärung zufolge sind nicht nur alle Zahlen zugleich auch
Größen, sondern es gibt noch weit mehr Größen als Zahlen,
weil auch die Brüche -J-, iifti, ..._^, ingleichen die
sogenannten irrationalen Ausdrücke ya, ^2, :nr, ^,
Größen bezeichnen. Ja dieser Erklärung zufolge ist
22 * Z^it und Raum.
es auch kein Widerspruch, von Größen zu reden, welche
unendlich groß, und anderen, welche unendlich
klein sind, sofern man unter der unendlich großen
Größe nur eine solche versteht, die hei der einmal zu-
grunde gelegten Einheit als ein Ganzes erscheint, von
welchem jede endliche Menge dieser Einheiten nur ein Teil
ist; unter der unendlich kleinen Größe aber eine solche,
bei der die Einheit selbst als ein Ganzes erscheint, von
welchem jede endliche Vielheit dieser Größe nur einen
Teil ausmacht. — Die Menge aller Zahlen zeigt sich sofort
als ein nicht zu bestreitendes Beispiel einer unendlich
großen Größe. Als einer Größe, sage ich; freilich aber
nicht als Beispiel einer unendlich großen Zahl; denn eine
Zahl ist diese unendlich große Vielheit allerdings nicht zu
nennen, wie wir nur eben im vorigen Paragraphen be-
merkten. Wenn wir dagegen die Größe, die in Beziehung
auf eine zur Einheit angenommene andere unendlich groß
erscheint, nun selbst zur Einheit machen . und die vorhin
als Einheit betrachtete mit ihr messen: so wird sich diese
jetzt als unendlich klein darstellen.
§ 17-
Eine höchst wichtige Gattung unendlich großer Größen,
die gleichfalls noch nicht in das Gebiet des Wirklic|;^en
gehören, obwohl sie Bestimmungen am Wirklichen sein
können, sind Zeit und Raum. Weder die Zeit noch der
Raum ist etwas Wirkliches; denn sie sind weder Sub-
stanzen noch auch Beschaffenheiten an den Substanzen;
sondern sie treten bloß als Bestimmungen an allen unvoll-
kommenen (begrenzten, endlichen oder — was auf. dasselbe
hinausläuft — abhängigen, geschaffenen) Substanzen auf;
indem sich jede der letzteren fortwährend in einer gewissen
Zeit und auch in einem gewissen Räume befinden muß;
dergestalt, daß jede einfache Substanz zu jedem Zeit-
punkte, d. h. in jedem einfachen Teile der Zeit, sich in
irgendeinem einfachen Teile des Raumes, d. h. in irgend-
Zeit und Raum. 28
einem Punkte desselben aufhalten muß. In der Zeit nun
sowohl als auch im Räume ist die Menge der einfachen
Teile oder Punkte, aus denen jene und dieser bestehen,
unendlich. Ja nicht nur die Menge der einfachen Teile,
aus denen die ganze Zeit und der ganze Raum zusammen-
gesetzt ist, d. h. die Menge der Zeit- und Raumpunkte,
welche es überhaupt gibt, ist . unendlich groß; sondern
schon die Menge der Zeitpunkte, die zwischen je zwei
einander auch noch so nahestehenden Zeitpunkten a und ß^
ingleichen die Menge der Raumpunkte, die zwischen je
zwei einander auch noch so nahestehenden Raumpunkten
a und b liegen, ist unendlich. In eine Verteidigung dieser
Sätze brauche ich mich um so weniger einzulassen, da es
kaum irgendeinen Mathematiker gibt, der, falls er nur nicht
jedes Unendliche überhaupt leugnet, sie uns nicht zuge-
stände. — Die Gegner aller Unendlichkeit aber retten
sich, um das hier so klar vorliegende Unendliche nicht zu-
gestehen zu müssen, hinter den Vorwand, '„daß wir der
Punkte in Zeit und Raum freilich wohl immer mehrere,
als wir uns schon gedacht, hinzu denken können, daß
aber die Menge derer, die es in Wirklichkeit gibt, doch
stets nur eine endliche bleibt". Darauf entgegne ich aber,
daß weder die Zeit noch der Raum, somit auch weder die
einfachen Teile der Zeit noch jene des Raumes etwas
Wirkliches sind; daß es somit ungereimt sei, von einer
endlichen Menge derselben, die in der Wirklichkeit be-
stehen, zu reden; noch ungereimter aber, sich vorzustellen,
daß diese Teile erst durch unser Denken ihre Wirklich-
keit erhalten. Denn daraus würde folgen, daß die Be-
schaffenheiten der Zeit sowohl als jene des Raumes von
unserem Denken oder Fürwahrhalten abhängen, und daß
somit das Verhältnis des Durchmessers zum Umfange des
Kreises rational war, solange wir aus Irrtum dafür hielten,
es wäre rational, und daß der Raum alle diejenigen Eigen-
schaften, die wir erst in der Folgezeit kennen lernen wer*
den, auch dann erst annehmen werde! — Berichtigen aber
die Gegner den obigen Ausdruck dahin, daß nur ein
24 Summe von unendlicti vielen Größen.
Denken, welches der Wahrheit gemäfi ist, die wahren Eigen-
schaften der Zeit und des Raumes bestimme: so sagen sie
etwas ganz Tautologisches, daß nämlich das, was wahr ist,
wahr sei; woraus gewiß nicht das geringste gegen die .von
uns behauptete Unendlichkeit der Zeit und des Raumes
geschlossen werden kann. ' Es ist somit jedenfalls ab-
geschmackt, zu sagen, daß Zeit und Raum nur so viel
Punkte enthielten, als wir uns eben denken.
§ i8.
Wiewohl eine jede Größe, Oberhaupt jeder Gegenstand,
der uns in irgendeiner Beziehung für unendlich gelten soll,
sich in eben dieser Beziehung muß betrachten lassen, als
ein aus einer unendlichen Menge von Teilen bestehendes
Ganzes: so gilt doch nicht umgekehrt, daß jede Größe,
welche wir als die Summe einer unendlichen Menge anderer,
die alle endlich sind, betrachten, selbst eine unendliche
sein müsse. So wird z. B. allgemein anerkannt, daß die
irrationalen Größen, wie y2, in bezug auf die bei ihnen
zugrunde liegende Einheit endliche Größen sind, obgleich
sie angesehen werden können als zusammengesetzt aus
einer unendlichen Menge von Brüchen von der Form
lO ' lOO ' lOOO lOOOO
deren Zahler und Nenner ganze Zahlen sind; ebenso, daß
die Summe der unendlichen Reihe Summanden von der
Form: a-(-ae-|-ae*-j-.... in inf. der endlichen Größe
gleichkomme, so oft e <^ i ist*). In der Behauptung
I "~" e
*) Da der gewöhnliche Beweis für die Summierung dieser
Reihe nicht völlig strenge scheint, sei es erlaubt, bei dieser Ge-
legenheit folgenden anzudeuten. Nehmen wir a = i- und e positiv
an (weil die Anwendung auf andere Fälle sich von selbst ergibt),
und setzen wir als symbolische Gleichung
(i) S — I 4- e -f e- + . . . , . in inf.,
Summe von unendlich vielen Gröfien. 25
also, daß eine Summe von unendlich vielen endlichen
so ist wenigstens so viel gewiß, daß S eine positive, gleichviel
ob endliche oder unendlich große, Größe bezeichne. — Es ist
aber auch für jeden beliebigen ganzzähligen Wert von n
S = i + e + e'+... + en— I + e» -h en+i -|- . . . in inf.
oder auch
(2) S = ^ ^^° + en + en+i + .... in ini, »
wofür wir auch
(3) S = ^ + P
schreiben können, wenn wir den Wert der unendlichen Reihe
1
en _)- en+i in inf. durch P bezeichnen; wobei wir wenigstens
dies sicher wissen, daß P eine von e und n abhängige, meßbare
oder unmeßbare, jedenfalls aber positive Größe bezeichnet. Die-
selbe unendliche Reihe können wir aber auch auf folgende Art
darstellen: .
en -j- en-^-i _}-.... in inf. = en [i -f- e + in inf.].
Hier hat nun die aus unendlich vielen Gliedern bestehende Summe
in den Klammem auf der rechten Seite der Gleichung, nämlich
[i + e + e^ + in- inf.]
zwar ganz das Aussehen der in der symbolischen Gleichung
(t) = S gesetzten Reihe, ist aber gleichwohl mit ihr nicht für
einerlei zu halten; indem die Menge der Summanden hier und
in (i), obwohl beidemal unendlich, doch nicht dieselbe ist; son-
dern hier unstreitig um n Glieder weniger hat als in (i).
Wir können also mit voller Zuversicht nur die Gleichung
8
[i -{- e + e' -i- in inf.] = S — P ansetzen, .wobei wir annehmen
8
dürfen, daß P jedenfalls eine von n abhängige, stets positive Größe
bezeichne. Sonach erhalten wir
(4) S = ^-^+en[s-P
oder
en
I — e
^n 8
— e«P, oder endlich
I eil '
(5) S = — i ^— P.
^' I — e I — en
26 Vergleichung unendlicher Mengen.
Größen selbst doch nur eine endliche Größe gäbe, liegt
sicher nichts Widersprechendes, weil sie sonst nicht als
wahr sich erweisen ließe. Das Paradoxe aber, das man
in ihr gewahren dürfte, geht nur daraus hervor, daß man
vergißt, wie die hier zu addierenden Glieder immer kleiner
und kleiner werden. Denn daß eine Summe von Addenden,
deren jeder folgende z. B. die Hälfte von dem nächstvor^
hergehenden beträgt, nie mehr betragen könne, als das
Doppelte des ersten, kann wohl niemand befremden, in-
dem bei jedem auch noch so späten Gliede dieser Reihe
zu jenem Doppelten immer gerade so viel noch mangelt,
als dieses letzte Glied beträgt.
§ 19-
Schon bei den bisher betrachteten Beispielen des Un-
endlichen konnte uns nicht entgehen, daß nicht alle unend-
liche Mengen in Hinsicht auf ihre Vielheit einander
gleich zu achten seien; sondern daß manche derselben
größer (oder kleiner) als eine andere sei, d.h. die andere
als einen Teil in sich schließe (oder im Gegenteile sich
Die beiden Gleichungen (3) und (5) geben durch Verbindung
e _^p e ^
I — e I — en
oder
I pn 8 en
P + — ^ P = 4-_£_
• I __ en ' I — e
woraus zu ersehen, daß, wenn wir n beliebig groß annehmen
e*^
und dadurch den Wert von — •■ — unter jede beliebige, auch noch
so kleine Größe ^j^ herabdrücken, auch jede der Größen P und
P für sich unter jeden beliebigen Wert herabsinken müs§e.
Ist aber dieses, so belehrt jede der beiden Gleichungen (3) und
(5), daß, weil doch S bei einerlei e nur einen unveränderlichen
Wert haben, somit nicht von n abhängen kann, S= sei.
Vergleichung unendlicher Mengen. 27
selbst in der andern als bloßer Teil befinde). Auch dieses
ist eine Behauptung, die vielen paradox klingt. Und frei-
lich alle, die das Unendliche als etwas Solches erklären,
das keiner weiteren Vermehrung fähig ist, müssen es nicht
nur paradox, sondern geradezu widersprechend finden,
daß ein Unendliches größer sei als ein anderes. Allein
wir haben schon oben gefunden, daß diese Ansicht auf
einem Begriffe von dem Unendlichen beruhe, der mit dem
Sprachgebrauche des Wortes gar nicht übereinstimmt. Nach
unserer nicht nur d&m Sprachgebrauche, sondern auch dem
Zwecke der Wissenschaft entsprechenden Erklärung kann
niemand etwas Widerstreitendes, ja nur Auffallendes in
dem Gedanken finden, daß eine unendliche Menge größer
als eine andere sein soll. Wem muß es z. B. nicht ein-
leuchten, daß die Länge der
b a
! ' R-
nach der Richtung aR unbegrenzt fortlaufenden Geraden
eine unendliche sei? Daß aber die von dem Punkte b aus
nach derselben Richtung hinlaufende Gerade bR noch um
das Stück ba größer, denn aR zu nennen sei? Vnd daß
die nach beiden Seiten aR und aS hin unbegrenzt fort-
laufende Gerade um eine Größe, die selbst noch unendlich
ist, größer zu nennen sei? usw.
§ 20.
Übergehen wir nun zur Betrachtung einer höchst merk-
würdigen Eigenheit, die in dem Verhältnisse zweier Mengen,
wenn beide unendlich sind, vorkommen kann, ja eigent-
lich immer vorkommt, die man aber bisher zum Nachteil
für die Erkenntnis mancher wichtigen Wahrheiten der Meta-
physik sowohl als Physik und Mathematik übersehen hat,
und die man wol^l auch jetzt, indem ich sie aussprechen
werde, in einem solchen Grade paradox finden wird, daß
es sehr nötig sein dürfte, bei ihrer Betrachtung uns etwas
28 Vergleichnng anendiicher Mengen.
länger zu verweilen. Ich behaupte nämlich: zwei Mengen,
die beide unendlich sind, können in einem solchen Ver-
hältnisse zueinander stehen, daß es einerseits möglich ist,
jedes der einen Menge gehörige Ding mit einem der anderen
?u einem Paare zu verbinden mit dem Erfolge, daß kein
einziges Ding in beiden Mengen ohne Verbindung zu einem
Paare bleibt, und auch kein einziges in zwei oder mehreren
Paaren vorkommt; und dabei ist es doch andererseits
möglich, daß die eine dieser Mengen die andere als einen
bloßen Teil in sich faßt, so daß die Vielheiten, welche sie
vorstellen, wenn wir die Dinge derselben alle als gleich,
d. h. als Einheiten betrachten, die mannigfaltigsten Ver-
hältnisse zueinander haben. "^
Den Beweis dieser Behauptung werde ich durch zwei
Beispiele führen, in welchen das Gesagte unwidersprechlich
stattfindet.
I. Nehmen wir zwei beliebige (abstrakte) Größen, z. B.
5 und 12: so leuchtet ein, daß die Menge der Größen,
welche es zwischen Null und 5 gibt (oder die kleiner als
5 sind), ingleichen auch die Menge der Größen, die kleiner
als 12 sind, unendlich sei; und ebenso gewiß ist die letzte
Menge ftr größer als die erste zu erklären, da diese ja
unwidersprechlich nur ein Teil von jener ist. Wir können
sogar, wenn wir an die Stelle der Größen 5 und 12 was
immer für andere setzen, nicht umhin zu urteilen, daß jene
beiden Mengen nicht immer dasselbe Verhältnis gegenein-
ander behalten, sondern vielmehr in die verschiedenartigsten
Verhältnisse treten. Allein nicht minder wahr als alles dieses
ist auch nachstehendes : Wenn x was immer für eine zwischen
Null und 5 gelegene Größe bezeichnet, und wir bestimmen
das Verhältnis zwischen x und y durch die Gleichung
5y=i2x,
so ist auch y eine zwischen Null und 12 liegende Größe;
und umgekehrt, so oft y zwischen Null und 12 liegt, so
liegt X zwischen Null und 5. Auch folgt aus jener Glei-
chung, daß zu jedem Werte von x nur ein Wert von y^
Vergleichung unendlicher Mengen. 29
und umgekehrt gehöre. Aus diesem beiden ist aber klar,
daß es zu jeder in der Menge der zwischen Null und 5
liegenden Größen = x eine in der Menge der zwischen
o und 12 liegenden Größen = ^ gebe, die sich mit jen^r
zu einem Paare verbinden läßt, mit dem Erfolge, daß nicht
ein^ ein2iges der Dinge, aus denen diese beiden Mengen
bestehen, ohne Verbindung zu einem Paare bleibt und
auch kein einziges in zwei oder mehreren Verbindungen
auftritt.
2. Das zweite Beispiel werde von einem räumlichen
Gegenstande entlehnt. Wer es schon weiß, daß die Be-
schaffenheit des Raun\es auf jene der Zeit, und die Be-
schaffenheiten der Zeit auf jene der abstrakten Zahlen und
Größen sich gründen, brauchte freilich nicht erst aus einem
Beispiele zu ersehen, daß es dergleichen unendliche Mengen,
wie wir soeben unter den Größen Oberhaupt gefunden, auch
in der Zeit und in dem Räume gäbe. Doch ist es wegen
der richtigen Anwendung, die wir von unserem Satze in der
Folge zu machen haben, nötig, wenigstens einen Fall, wo
solche Mengen vorhanden sind, im einzelnen zu betrachten.
Es seien also a, b, c drei beliebige Punkte in einer Ge-
raden, und das Verhältnis der Entfernungen ab \ ac ein
ganz beliebiges, doch so, daß ac die größere von beiden
bezeichne. Dann wird, obgleich
b
a '
die Mengen der Punkte, welche in den ab und ac liegen^
beide unendlich sind, dennoch die Menge der Punkte in ac
jene der Tunkte in ab übertreffen, weil in der ac nebst
allen Punkten der ab auch noch alle der bc liegen, die in
ab nicht anzutreffen sind. Ja wir können sogar nicht um-
hin, wenn das Verhältnis der Entfernungen abiac beliebig
abgeändert wird, zu urteilen, daß auch das Verhältnis dieser
zwei Mengen ein sehr verschiedenes sein werde. Gleich-
wohl gilt auch von diesen zwei Mengen dasselbe, was vor-
so Vergleichung unendlicher Mengen.
hin von den zwei Mengen der Größen, die zwischen o und 5
und zwischen o und 12 liegen, in Hinsicht auf die Paare,
welche sich aus je einem Dinge der einen und je einem
der anderen Menge bilden lassen, erwiesen wurde. Denn
sei X irgendein Punkt in der ab: so wird, wenn wir in der
Richtung ax den Punkt y so nehmen, daß das Verhältnis
ab : ac = ax : ay
bestehe, auch y ein' Punkt in ac sein. Und wenn umgekehrt
y ein Punkt m ac ist, wird x^ wenn wir nur ax aus ay
nach derselben Gleichung bestimmen, ein Punkt der ab sei.
Auch wird ein jedes andere x ein anderes y und umgekehrt
ein jedes andere y ein anderes x bestimmen. Aus diesen
beiden Wahrheiten aber ist abermals zu ersehen, daß sich
zu jedem .Punkte der a b ein Punkt der a c, und zu jedem
der ac ein Punkt der ab auswählen lasse, mit dem Erfolge,
daß von den Paaren, die wir aus je zwei solchen Punkten
bilden, behauptet werden kann, es sei kein einziger Punkt
weder in der Menge der Punkte von a b, noch in der Menge
der Punkte von ac^ der nicht in einem dieser Paare er-
schiene, und^auch kein einziger, der zwei- oder mehrmal
daselbst erschiene.
§ 21.
Bloß aus dem Grunde also, weil zwei Mengen A und B
in einem solchen Verhältnisse zueinander stehen, daß wir
zu jedem in der einen A befindlichen Teile «, nach einer
gewissen Regel verfahrend, auch einen in B befindlichen
Teil b mit dem Erfolge aussuchen können, daß die sämt-
lichen Paare (a-f-b), die wir so bilden, jedes in*^ oder B
befindliche Ding enthalten und jedes nur einmal enthalten —
bloß aus diesem Umstände ist es — so sehen wir — noch
keineswegs erlaubt zu schließen, daß diese beiden Men-
gen, wenn sie unendlich sind, in Hinsicht auf die
Vielheit ihrer Teile (6. h. wenn wir von allen Verschieden-
heiten derselben absehen) einander gleich seien ; sondern
Vergleichung unendlicher Mengen. 31
sie können trotz jenem Verhältnisse zwischen ihnen, das
für sich selbst allerdings beiderseits gleich ist, ein Verhält-
nis der Ungleichheit in ihren Vielheiten haben, so daß die
eine derselben sich als ein Ganzes, davon die andere ein
Teil, herausstellen kann. Auf eine Gleichheit dieser Viel-
heiten wird erst geschlossen werden dürfen, wenn irgend-
ein anderer Grund noch dazukommt, wie etwa, daß beide
Mengen ganz gleiche Bestimmungsgründe, z. B. eine ganz
gleiche Entstehungsweise haben.
§ 22.
Das Paradoxe, das — wie ich gar nicht in Abrede
stelle — diesen Behauptungen anklebt, geht einzig aus dem
Umstände hervor, daß jenes gegenseitige Verhältnis, welches
wir an den zwei miteinander verglichenen Mengen finden,
bestehend darin, daß wir die Teile derselben mit dem schon
mehrmals erwähnten Erfolge paarweise zusammenstellen
können, in jedem Falle, wo diese Mengen endlich sind,
allerdings hinreicht, um sie in Hinsicht auf die Vielheit
ihrer Teile für völlig gleich zu erklären. Zwei endliche
Mengen nämlich, wenn sie von einer solchen Beschaffenheit
sind, daß wir zu jedem Dinge a der einen, eines der anderen
b auffinden und zu einem Paare vereinigen können, mit
dem Erfolge, daß in keiner der beiden Mengen ein Ding
zurückbleibt, für das sich kein entsprechendes in der anderen
vorfände, und daß es auch keines gibt, das in zwei oder
mehreren Paaren erschiene, sind ihrer Vielheit nach ein-
ander immer gleich. Es gewinnt also den Anschein, daß
dieses auch der Fall sein sollte, wenn diese Mengen, statt
endlich, unendlich sind.
So scheint es, sage ich; aber bei einer näheren Be-
trachtung zeigt sich^ daß es keineswegs so zu sein brauche,
indem der Grund, warum es bei allen endlichen Mengen
eintrifft, nur eben in ihrer Endlichkeit liegt, bei den un-
endlichen also wegfällt: Sind nämlich beide Mengen A
und B endlich, oder (denn auch schon dieses genügt) wissen
32 VergleichuDg unendlicher Mengen.
wir nur von der einen A^ daß sie endlich sei, und sehen
wir, um beide Mengen jetzt nur in Hinsicht auf ihre Viel-
heiten zu betrachten, von allem Unterschiede zwischen den
Dingen, aus denen sie bestehen, ab: so müssen wir, indem
wir irgendein beliebiges Ding in der Menge A durch i,
irgendein anderes durch 2 bezeichnen usw. dergestalt, daß
wir jedem folgenden immer die Zahl der Dinge, die wir
bisher betrachtet haben (dasselbe mit dazu genommen), zu
seiner Bezeichnung erteUen, irgend einmal bei einem Dinge
in A anlangen, nach dessen Bezeichnung keines mehr übrig
ist, welches noch unbezeichnet wäre. Dies unmittelbar zu-
folge des Begriffes einer endlichen oder zählbaren Vielheit.
Erhielt nun dieses soeben besprochene Letzte in A die
Zahl n zu seiner Bezeichnung: so ist die Anzahl der Dinge
in A = n. Weil nun zu jedem der Dinge in A eines in B
zu finden sein soll, das sich mit ihm in ein Paar vereinigen
läßt: so muß, wenn wir ein jedes der Dinge aus B mit
eben dem Zeichen bezeichnen, welches dasjenige aus A an
sich hat, mit dem es zu einem Paare vereinigt wird, sich
finden, daß es der Dinge in B^ die wir auf solche Weise
verbraucht haben, gleichfalls n gibt; indem ein Jedes der-
selben ein Zeichen erhielt, das zu erkennen gibt, wie viele
wir bisher verbraucht. Somit erhellt, daß es der Dinge in
B sicher nicht weniger gibt als h; denn diese Zahl führt
eines (dasjenige, was wir zuletzt gebrauchten) wirklich.
Aber es gibt derselben auch nicht mehr; denn gäbe es nur
noch ein einziges über die bisher verbrauchten, so gäbe
es zu diesem keines in A^ mit dem es zu einem Paare
könnte vereinigt werden; was der Voraussetzung wider-
spricht. Demnach ist die Zahl der Dinge in B weder
kleiner noch größer als », also =n. Beide Mengen haben
somit eine und dieselbe, oder wie man auch sprechen kann,
die gleiche Vielheit. Dieser Schlußsatz fällt offenbar weg,
sobald die Menge der Dinge in A eine unendliche ist;
denn nun gelangen nicht nur wir Zählenden nie an ein
Letztes in A, sondern es gibt, kraft der Erklärung einer
unendlichen Menge, an und für sich kein solches letztes
I
Vergleichung unendlicher Mengen. 83
Ding in Ay d. h. so viele man auch bereits bezeichnet habe,
so gibt es immer noch andere zu bezeichnen; daher ent-
fällt denn auch, trotzdem daß es in der Menge der B gleich-
falls an Dingen nie fehlt, welche mit denen in A zu neuen
und immer neuen Paaren vereinigt werden können, doch
aller Grund zu schließen, daß die Vielheit beider Mengen
ein und dieselbe sei.
§ 23.
Das nun Gesagte zeigt wohl, daß der Grund, der die
notwendige Gleichheit endlicher Mengen bewirkt, sobald
das mehr besprochene Verhältnis zwischen denselben statt
hat, bei den unendlichen Mengen wegfällt; es zeigt
uns aber noch nicht, wie und wodurch bei letzteren oft
eine Ungleichheit herbeigeführt werde. Dies wird uns erst
aus Betrachtung der angeführten Beispiele ersichtlich. Diese
lehren uns nämlich, daß die aus den zwei zu vergleichenden
Mengen genommenen Teile a und Ä, die wir zu einem
Paare (a-j-b) verbinden, in ihren Mengen nicht ganz
in derselben Weise erscheinen. Denn wenn die Teile
a' und b' noch ein zweites Paar bilden, und wir vergleichen
die Verhältnisse, in welchen a und a in der Menge A, b
und V aber in der Menge B erscheinen, untereinander: so
zeigt sich alsbald, daß sie verschieden sind. Heben wir
(in dem ersten Beispiele) aus der Menge der Größen, die
zwischen o und 5 liegen, ganz nach Belieben zwei, etwa
die Größen 3 und 4, hervor: so sind die ihnen zugehörigen
(mit ihnen Paare bildenden) iii B offenbar
— . 3 und — . 4 d. i. 7^ und 9f .
Verstehen wir nun (wie wir sollen) unter dem Verhält-
nisse zwischen zwei Dingen den Inbegriff aller an ihrem
Vereine sich kundgebender Beschaffenheiten, so dürfen wir
an dem Verhältnisse, in welchem die Teile 3 und 4 in der
einen, und 7^ und 9|- in der anderen Menge zueinander
stehen, nicht etwa einseitigerweise bloß dasjenige Verhält-
Bolzano, Paradoxien des Unendlichen. 3
34 Vergleichung unendlicher Mengen.
nis, das man das, geometrische zu nennen pflegt, be-
achten, sondern auf alles hierzu Gehörige sehen, nament-
lich also auch darauf, daß der arithmetische Unterschied
zwischen den Größen 3 und 4 ein ganz anderer sei als
zwischen den Größen 7^ und pf ; indem jener = i, dieser
= 2|- ist. Obwohl also jede Größe in A oder B mit einer
und nur einer einzigen in B oder A zu einem Paare sich
vereinigen läßt: so ist doch die Menge der Größen in B
eine andere (größere) als in A^ weil auch der Abstand,
welchen je zwei solcher Größen in B voneinander haben,
ein anderer (größerer) ist als der Abstand, welcher die
zwei ihnen zugehörigen ,in A voneinander trennt. Und
hieraus folgt natürlich, daß je 2;wei dieser Größen in B
eine andere (größere) Menge von solchen Größen noch
zwischen sich haben, als es in A der Fall ist; und so-
mit ist kein Wunder, daß auch die ganze Menge der
Größen in B eine andere (größere) ist als in A. — Ganz
ähnlich verhält es sich in dem zweiten Beispiele: daher wir
über dasselbe nichts weiter sagen wollen, als daß die Punkte
in a6, die mit den Punkten in ac in Paare zusammen-
gedacht worden sind, einander alle näher stehen als die
ihnen zugehörigen in ac\ indem der Abstand je zweier
dort zu dem A'bstande Je zweier hier sich immer wie abiac
verhält.
§ 24.
Dürfen wir nun den Satz des § 20 durch das Bisherige
als zur Genüge erwiesen und erläutert ansehen: so ergibt
sich als eine der nächsten Folgerungen aus demselben,
daß wir zwei Summen von Größen, welche ein-
ander paarweise (d. h. je eine aus der einen mit je einer
aus der anderen) gleich sind, wenn ihre Menge un-
endlich ist, nicht sofort schon einander gleich-
setzen dürfen; es sei denn, daß wir uns erst überzeugt
hätten, daß auch die unendliche Vielheit dieser Größen in
beiden Summen die nämliche sei. Daß die Summanden
ihre Summe bestimmen, und daß somit gleiche Summanden
Unendliches auf deni Gebiete der Wirklichkeit. 35
auch gleiche Summen geben, ist wohl ganz unstreitig und
gilt nicht nur, wenn die Menge dieser Summanden endlich,
sondern auch, wenn sie unendlich ist. Nur muß, weil es
verschiedene unendliche Mengen gibt, im letzteren Falle
auch erwiesen sein, daß die unendliche Menge dieser Sum-
manden in der einen Summe genau die nämliche wie in
der anderen sei. Dies aber schließen zu dürfen, ist es
nach unserem Satze keineswegs schon genug, wenn sich
auf irgendeine Weise zu jedem in der einen Summe be-
findlichen Gliede ein ihm gleiches auch in der anderen
ausfindig machen läßt; sondern dies wird mit Sicherheit
erst dann gefolgert werden können, wenn beide Mengen
gleiche BestimmungsgrQnde haben. In welche Un-
gereimtheiten die Rechnung mit dem Unendlichen ver-
wickle, wenn man dies übersieht, werden wir in der Folge
aus manchem Beispiele ersehen.
§ 25.
Ich komme nun zu der Behauptung, daß es ein Unend-
liches nicht bloß unter den Dingen, die keine Wirklichkeit
haben, sondern auch auf dem Gebiete der Wirklich-
keit selbst gäbe. Wer immer nur, es sei durch eine
Reihe von Schlüssen aus reinen BegrifTs^ahrheiten, oder
auf sonst eine andere Weise, zu der hochwichtigen Ober-
zeugung gelangt ist, daß ein Gott .sei, ein Wesen, welches
den Grund seines Seins in keinem anderen hat, und eben
deshalb ein allvollkommenes ist, d. h. alle VoUkommen-
heiten und Kräfte, welche nur nebeneinander vorhanden
sein können, und jede derselben in jenem höchsten Grade,
in welchem sie nur nebeneinander sein können, in sich
vereinigt: der nimmt schon eben hiermit das Dasein eines
Wesens an, welches in mehr als einem Betrachte, in seinem
Wissen, in seinem Wollen, in seinem Wirken nach
außen (in seiner Macht) Unendlichkeit hat, unendlich
vieles (nämlich das All der Wahrheiten) weiß, unend-
lich vieles (nämlich die Summe alles nur an sich möglichen
36 Unendliches auf dem Gebiete der Wirklichkeit.
Guten) will, und alles, was. es will, durch seine Kraft
nach aufien zu wirken, in Wirklichkeit setzt. Aus dieser
letzteren Eigenschaft Gottes ergibt sich die weitere Folge,
daß es auch auQer ihm Wesen, nämlich geschaffene
gibt, die wir im Gegensatz zu ihm nur endliche Wesen
nennen; an denen sich aber dennoch manches Unendliche
nachweisen läßt. Denn schon die Menge dieser Wesen
muß eine unendliche sein; ingleicben die Menge der Zu-
stände, die jedes einzelne dieser Wesen während einer
auch noch so kurzen Zeit erfährt, muß (weil jede solche
Zeit der Augenblicke unendlich viele enthält) unendlich
groß sein usw. Auch auf dem Gebiete der Wirklichkeit
begegnen wir also überall einer Unendlichkeit.
§26.
Doch dieses zuzugestehen, weigern sich selbst mehrere
derjenigen Gelehrten, welche bei Dingen, die keine Wirk-
lichkeit haben (wie bei den bloßen Sätzen und Wahrheiten
an sich), ein Unendlichkeit nicht ableugnen zu können ein-
sehen. Denn ein Unendliches sogar auf dem Gebiete der
Wirklichkeit zuzulassen, das, meinen sie, werde durch den
uralten Grundsatz, daß alles Wirkliche eine durch-
gängige Bestimmtheit haben muß, verboten. Allein
ich glaube, schon in der Wissenschaftslehre (Bd. I, §45)
gezeigt zu haben, daß dieser Grundsatz in eben dem Sinne,
in dem er von .allen wirklichen Dingen gilt, auch von
den unwirklichen gelte. Oberall nämlich gilt er bloß in
dem Sinne, daß jedem Gegenstande (jedem beliebigen Etwas)
von je zwei widersprechenden Beschaffenheiten die eine
zukomme, die andere abgesprochen werden müsse. Wäre
es demnach gegründet, daß wir durch die Annahme einer
Unendlichkeit bei Dingen, die Wirklichkeit haben, gegen
diesen Grundsatz verstoßen: so dürften wir auch bei den
unwirklichen Objekten unseres Nachdenkens von keiner
Unendlichkeit sprechen, also nicht einmal eine unendliche
Menge von Wahrheiten an sich oder von bloßen Zahlen
Unendliches und durchgängige Bestimmtheit. " 37
zulassen. Doch wir verstoßen gegen den angezogenen
Grundsatz dadurch allein, daß wir etwas fOr unendlich er-
klären, noch gar nicht. Wir sagen da nur, es gäbe an
diesem Gegenstande in einem gewissen Betrachte eine Viel-
heit von Teilen, die größer als jede beliebige Zahl ist;
also wohl allerdings eine Vielheit, die sich durch eine
bloße Zahl nicht bestimmen läßt. Daraus folgt aber
noch gar nicht, daß diese Vielheit etwas auf keine Art
zu Bestimmendes sei; folgt durchaus nicht, daß es auch
nur ein einziges Paar einander kontradiktorisch entgegen-
stehender Beschaffenheiten b und Nicht-Ä gäbe, deren beide
ihr müßten abgesprochen werden. Was keine Farbe hat,
z. B. ein Satz, das läßt sich freilich nicht durch die An-
gabe seiner Farbe; was keinen Ton von sich gibt, nicht
durch die Angabe seines Tones bestimmen usw. Aber
deshalb sind dergleichen Dinge noch gar nicht unbestimm-
bar und machen keine Ausnahme von jenem Grundsatze,
daß von den beiden Prädikaten b oder Nicht-d (blau oder
nicht-blau, wohllautend oder nicht-wohllautend usw.), wenn
wir sie nur so auslegen, wie wir es müssen, damit sie
kontradiktorisch bleiben, jedem Dinge eines derselben zu-
kommt. Ganz in der gleichen Weiscj wie Nichtblau oder
Nichtwohlriechend .eine Bestimmung (freilich nur eine sehr
weite) des pythagoräischen Lehrsatzes ist, ist auch dje bloße
Angabe, daß die Menge der Punkte zwischen m und n un-
endlich sei, eine von den Bestimmungen dieser Menge. Und
es bedarf oft gar nicht vieler Angaben, um eine dergleichen
unendliche Menge von Dingen vollständig, d. h. so zu
bestimmen, daß alle ihre Beschaffenheiten bloß aus den
etlichen, die man soeben angab, schon von selbst folgen.
So haben wir die soeben erwähnte unendliche Menge von
Punkten zwischen m und n schon auf das vollkommenste
bestimmt, sobald wir nur die zwei Punkte m und n selbst
(etwa durch eine auf sie sich beziehende Anschauung) be-
stimmen. Denn dann ist ja bloß durch jene wenigen Worte
von jedem anderen Punkte schon genau entschieden, ob
er zu dieser Menge gehöre oder nicht.
38 Unendliche Zeitlängen, Entfernungen, Kräfte.
§27.
Durfte ich in dem Bisherigen so manche Annahme eines
Unendlichen gegen ungerechte Bestreiter desselben ver-
teidigen: so muß ich gegenwärtig mit gleicher Offenheit
bekennen, daß viele Gelehrte, besonders aus der Klasse
der Mathematiker, auf der entgegengesetzten Seite zu
weit -gegangen sind; indem sie bald ein unendlich
Großes, bald ein unendlich Kleines in Fällen an-
genommen haben, wo meiner innersten Überzeugung nach
keines besteht.
1. Gegen die Annahme einer unendlich großen Zeit-
länge, wenn man darunter eine Zeitlänge versteht, welche
entweder keinen Anfang oder kein Ende oder gar weder
das eine noch das andere hat (also die ganze Zeit oder
der Inbegriff aller Zeitpunkte überhaupt ist), habe auch ich
nichts einzuwenden: wohl aber finde ich es nötig, sich das
Größenverhältnis, das eine zwischen zwei Zeitpunkten
gelegene Entfernung oder" Zeiüänge zu jeder anderen
zwischen zwei Zeitpunkten gelegenen Entfernung oder Zeit-
länge hat, als ein bloß endliches, durch bloße Begriffe
völlig bestimmbares Größenverhältnis zu denken, also nie
eine durch Anfang und Ende begrenzte Zeitdauer als un-
endlichemal größer oder kleiner denn eine andere der-
gleichen Zeitdauer vorauszusetzen. Gerade dies aber tun
bekanntlich gar viele Mathematiker, indem sie nicht nur
von unendlich großen Zeiträumen, die gleichwohl von beiden
Seiten begrenzt sein sollen, sondern noch öfterer von un-
endlich kleinen Zeitteilen sprechen, im Vergleiche mit
denen dann jede endliche Zeitlänge, z. B. einer Sekunde,
schon eben darum als unendlich groß zugestanden werden
müßte.
2. Ein Ähnliches gilt von den Entfernungen zwi-
schen je zweien Punkten im Räume, die meiner An-
sicht nach immer in einem bloß endlichen (durch reine
Begriffe völlig bestimmbaren) Verhältnisse zueinander stehen
können, während nichts gewöhnlicher bei unseren Mathe-
Unendliche Zeitlängen, Entfernungen, Kräfte. 39
matikem ist, als von unendlich großen und unendlich
kleinen Entfernungen zu reden.
3. So ist es endlich auch mit den in der Metaphysik
sowohl als Physik anzunehmenden Kräften im Weltall,
deren keine wir als unendlichem al größer oder kleiner als
eine andere, wohl aber alle in einem durch bloße Begriffe
völlig bestimmbaren Verhältnisse zu jeder anderen voraus-
setzen müssen; wie oft man sich auch das Gegenteil zu
tun erlaubt. Die Gründe, aus denen ich dies alles be-
haupte, werde ich hier allerdings niemandem ganz deutlich
zu machen vermögen, der die Begriffe, welche ich mit den
Worten: Anschauung und Begriff, Ableitbarkeit eines
Satzes aus anderen, objektive Abfolge einer Wahrheit
aus anderen Wahrheiten u. m. a. verbinde, endlich auch die
Erklärungen von Zeit und Raum noch gar nicht kennt.
Wer jedoch wenigstens die beiden Abhandlungen: „Ver-
such einer objektiven Begründung der Lehre von
der Zusammensetzung der Kräfte"*), und „Versuch
einer objektiven Begründung der Lehre von den
drei Dimensionen des Raumes'***) gelesen, dürfte
nachstehenden Beweis- nicht völlig unverständlich finden.
Aus den Erklärungen der Zeit und des Raumes ergibt
sich unmittelbar, daß alle abhängigen (d. h. geschaffenen)
Substanzen fortwährend in gegenseitiger Einwirkung auf-
einander stehen; ingleichen, daß es verstattet sei, von je
zwei Zeitpunkten a und ß, wie nahe oder ferne sie auch
einander stehen mögen, den Zustand der Welt in dem
früheren a als eine Ursache und den Zustand der Welt
in dem späteren ß als eine (wenigstens mittelbare) Wirkung
zu betrachten, sofern wir nur noch die in der Zwischen-
zeit aß etwa stattgefundenen unmittelbaren Einwirkungen
Gottes mit zu der Ursache rechnen. Hieraus folgt weiter,
daß aus der Angabe der beiden Zeitpunkte a und /S, aus
der Angabe der sämtlichen Kräfte, welche die geschaffenen
*) Prag 1842. In Kommission bei Kronberger & Rziwnas.
**) Prag 1843. J^ Kommission bei Kronberger & Rziwnas.
40 Unendliche Zeitlängen, Entfernungen, Kräfte.
Substanzen in dem Zeitpunkte a gehabt, aus der Angabe
der Orte, wo eine jede sich befunden, endlich aus An-
gabe der göttlichen Einwirkungen, welche die eine oder
die andere jener Substanzen innerhalb aß erfuhr, — so-
wohl die Kräfte, die eben diese Substanzen in dem Zeit-
punkte ß erhielten, als auch die Orte, die ihnen zuteil
wurden, in der Art ableitbar seien, wie eine Wirkung
(gleichviel ob eine mittel- oder unmittelbare) aus ihrer voll-
ständigen Ursache ableitbar sein muß. Dies nun wieder
erheischt, daß alle Beschaffenheiten der Wirkung sich aus
Beschaffenheiten ihrer Ursache ableiten lassen, vermittels
eines aus lauter reinen Begriffen zusammengesetzten Ober-
satzes von der Form: Jede Ursache von der Beschaffen-
heit u, u', u" hat eine Wirkung von der Beschaffen-
heit w, w', w" Eine leichte Folge hieraus, die wir
gerade zu unserem Zwecke benötigen, ist: Jeder Umstand
an der Ursache, der für die Wirkung nicht gleichgültig,
d. h. der so geartet ist, daß die Wirkung nicht fortwährend
gleich verbleibt, wie er auch immer sich ändere, muß sich
durch bloße Begriffe, bei denen höchstens einige solche
Anschauungen, welche auch zur Bestimmung der Wirkung
erforderlich sind, zugrunde gelegt werden, vollständig be-
stimmen lassen.
Nach diesen Vorausschickungen nun sind unsere oben
aufgestellten Behauptungen leicht zu begründen. Denn
gäbe es
I. auch nur zwei Zeitpunkte a und ß, deren Entfernung^
voneinander unendliche Male größer oder kleiner als die
Entfernung zweier anderer y und d wäre: so würde hier-
aus die Ungereimtheit hervorgehen, daß sich der Zustand
der Welt, der in dem Zeitpunkte ß eintreten soll, schlechter-
dings nicht bestimmen ließe aus jenem Zustande derselben,
der in dem Zeitpunkte a stattfand, die in der Zwischenzeit
eingetretenen göttlichen Einwirkungen sowohl als auch die
Größe der Zeitlänge aß dazugerechnet. Auch zur Be-
stimmung des Zustandes nämlich, in welchem sich die ge-
schaffenen Wesen, ja nur die Größen ihrer Kräfte in
Unendliche Zeitlängen, Entfernungen, Kräfte. 41
*
einem einzigen Zeitpunkte a befinden, ist die Zugrunde-
legung einer eigenen Zeiteinheit nötig; denn weil diese
Kräfte bloße Veränderungskräfte sind, so kann ihre
Größe unmöglich anders als durch Berücksichtigung einer
gegebenen Zeitlänge, innerhalb deren sie* eine gegebene
Wirkung zustande bringen, beurteilt werden. Nehmen wir
also (was uns vetrstattet sein muß) die Zeitlänge yd zu
dieser Zeiteinheit an: so wird selbst in dem günstigsten
Falle, wenn sich bei dieser Zeiteinheit alle Kräfte der ge-
schaffenen Substanzen, wie sie im Zeitpunkte a bestehen,
genau bestimmen ließen, und wenn auch alles andere, was
zur vollständigen Ursache des in dem Zeitpunkte ß einge-
tretenen Weltzustandes gehört, sich ganz genau bestimmen
ließe, doch die Entfernung, in welcher dieser Zeitpunkt selbst
von a steht, durch jene Zeiteinheit sich nicht bestimmen
lassen, indem sie bloß als eine unendlich große oder un-
endlich kleine sich herausstellt. Soll also umgekehrt
verstattet sein, jeden beliebigen Zustand der Welt' (unter
den schon mehrmal erwähnten Bedingungen) als Ursache
von jedem beliebigen späteren zu betrachten: so darf es
auch nicht zwei Zeitpunkte a und ß geben, deren Entfernung
voneinander im Vergleiche zu der Entfernung, darin ein
Paar andere y und d stehen, sich als unendlich groß oder
klein herausstellen würde.
2. Gäbe es auch nur zwei Punkte im Räume a und b,
deren Entfernung voneinander sich im Vergleiche zu einem
Paare anderer c und d unendlich groß oder klein erfände:
so würde es zur Bestimmung des Zustandes der Welt in
irgendeinem Zeitpunkte a unter anderem auch gehören, die
Größe der Kraft (etwa der Anziehung oder der Abstoßung)
zu bestimmen, welche die in jenem Zeitpunkte soeben in
dem Orte a befindliche Substanz A auf die in dem Orte
b befindliche B ausübt. Dies aber würde sich, wenn wir
(wie jedenfalls erlaubt ist) die Entfernung c d zur Längen-
einheit annehmen, selbst in dem günstigsten Falle, daß es
bei allen übrigen Kräften gelänge, bei dieser einen Kraft
als etwas Unmögliches erweisen. Denn wenn die Kraft
42 Unendliche Zeitlängen, Entfernungen, Kräfte.
der Anziehung oder Abstoßung, welche die Substanz A auf
eine der B sonst völlig ähnliche Substanz -in zur^ Längen-
einheit angenommener Entfernung (=cd) ausübt, auch
eine ganz bestimmte Größe hätte: so wäre doch, und zwar
gerade darum, 'weil diese Größe bestimmt ist, die Größe
der Anziehung oder Abstoßung, mit welcher A auf B wirkt,
unbestimmbar, wenn das Verhältnis der Entfernungen
ab:cdy von welchem sie jedenfalls abhängt, unendlich
und somit unbestimmt wäre.
3. Gäbe es endlich auch nur eine einzige Kraft ^, die
sich in ihrem Vergleiche mit einer anderen / als unendlich
groß oder klein darböte: so würde, wenn wir den Zeit-
punkt, wo dieses Verhältnis statt hat, durch a bezeichnen,
für diesen Zeitpunkt selbst in dem günstigsten Falle, daß
alle übrigen Kräfte bei den zu ihrem Maße gewählten Zeit-
und Raumeinheiten sich als endlich erwiesen hätten, wo
denn somit auch / eine endliche Größe wäre, die Größe k
sich eben darum als eine unendlich große oder kleine, d. h.
als unbestimmbar herausstellen. Hierdurch aber würde der
«
ganze Weltzustand im Zeitpunkte a als unbestimmbar er-
scheinen, somit die Unmöglichkeit der Ableitung irgend-
eines späteren Weltzustandes, als einer durch ihn hervor-
gebrachten Wirkung, eintreten.
§28.
In dem vorstehenden glaube ich nun die Grundregeln
festgestellt zu haben, nach denen sich alle befremdend
klingende Lehren, die wir noch in der Folge aufzuführen
haben, beurteilen lassen und entschieden werden muß, ob
sie als Irrtümer aufgegeben oder als Sätze, die trotz ihrem
Anscheine der Widersinnigkeit doch Wahrheiten sind, bei-
behalten werden müssen. Die Ordnung, in der wir diese
Paradoxa vorführen, mag das wissenschaftliche Gebiet,
welchem sie angehören, und ihre eigene größere oder
geringere Wichtigkeit bestimmen.
Die erste und umfassendste Wissenschaft, auf deren
Rechnung des Unendlichen. 43
Gebiete uns Paradoxien des Unendlichen begegnen, ist —
wie uns schon einige Beispiele zeigten — die allgemeine
Größenlehre, wo es an solchen selbst in der Zahlen -
lehre nicht fehlt. Mit diesen wollen wir also beginnen.
Schon der^ Begriff einer Rechnung des Unend-
lichen hat, ich gestehe es, den Anschein, einen Selbst-
widerspruch zu enthalten. Denn etwas berechnen wollen,
heißt doch, eine Bestimmung desselben durch Zahlen
versuchen. Wie aber will man das Unendliche durch Zahlen
zu bestimmen versuchen — jenes Unendliche, das unserer
eigenen Erklärung nach stets etwas Solches sein muß, das
wir als eine aus unendlich vielen Teilen bestehende Menge,
d. h. als eine Menge betrachten, die größer als eine jede
Zahl isf, die sonach unmöglich durch die Angabe einer
bloßen Zahl bestimmt werden kann? — Doch diese Be-
denklichkeit verschwindet, wenn wir erwägen, daß eine
regelrecht vorgehende Rechnung des Unendlichen nicht
eine Berechnung, was eben an ihm durch keine Zahl be-
stimmbar ist, nämlich nicht die Berechnung der unendlichen
Vielheit an sich, sondern nur eine Bestimmung des Ver-
hältnisses zwischen dem einen und dem anderen Unend-
lichen bezwecke; eine Sache, die in gewissen Fällen aller-
dings ausführbar ist, wie wir durch mehrere Beispiele zeigen
wollen.
§ 29.
Wer zugesteht, daß es unendliche Vielheiten und somit
auch unendliche Größen überhaupt gäbe, der kann auch
nicht mehr in Abrede stellen, daß es unendliche Größen
gäbe, die sich durch ihre Größe (Großheit) selbst gar
mannigfach unterscheiden. Wenn wir z. B. die Reihe der
natürlichen Zahlen durch
1 , 2, 3, 4, n, n -f- 1, . . . in inf.
darstellen: so wird die Zeichnung
i-j_2-j-3-|-4-j- -|-n-|-(n-|- i)~|-. . . r. in inf.
44 Rechnung mit unendlich Großem.
die Summe dieser natQrlicben Zahlen; folgende Zeichnung
aber
iO_|.30^30_^40^...n«+(n+i)ö+...ininf.
in welcher die einzelnen Addendi i®, 2^, 3® • • • insgesamt
bloße Einheiten vorstellen, die bloße Men«ge aller natür-
o
liehen Zahlen darbieten. Bezeichnen wir diese durch N,
und bilden wir also die bloß symbolische Gleichung
10 + 20-1-3^+ + nO+(n4-i)o+...ininf. = N...(i),
und bezeichnen wir ebenso die Menge der natürlichen Zahlen
n
von (n-|-i) durch N, und bilden somit die Gleichung
(n+ i)0-j-.(n + 2)0-f (n+3)«+ . . .in inf. = N .'. . . (2):
so erhalten wir durch Abzug die gewiß ganz untadehafte
Gleichung
i0^20 + 30 + ... + nO = n = N — N....(3),
I • o
aus der wir also ersehen, wie zwei unendliche Größen N
n
und N zuweilen einen ganz bestimmten endlichen Unter-
schied haben.
Bezeichnen wir dagegen die Größe, welche die Summe
o
aller natürlichen Zahlen darbietet, durch S, oder setzen die
bloß symbolische Gleichung
o
i+2 + 3-f -f-n-f-(n+i)4- ... ininf. = S (4)
o
an: so werden wir wohl auf der Stelle begreifen, daß S
o
weit größer sein müsse als N; aber nicht ebenso leicht
wird es uns gelingen, den Unterschied zwischen diesen
beiden unendlichen Größen oder auch ihr (geometrisches)
Verhältnis zueinander auf eine genaue Art zu bestimmen.
Denn wollten wir, wie es wohl manche getan, die Gleichung
|^ N-(N+.i)
Rechnung mit unendlich Grofiem. 45
'S
aufstellen: so hätten wir zu ihrer Rechtfertigung kaum
einen anderen Grund, als weil* bei jeder endlichen Menge
von Gliedern die Gleichung:
, , n.(n4-i)
besteht, woraus zu folgen scheint, daß bei der ganzen un-
o
endlichen Menge der Zahlen nur n in N übergehe. Allein
so ist es in der Tat nicht; weil es ja ungereimt ist, bei
einer unendlichen Reihe von einem letzten Gliede derselben,
o
das den Wert N hätte, zu reden.
Die bloß symbolische Gleichung (4) inzwischen zugrunde
gelegt, wird allerdings erlaubt sein, durch sukzessive Mul-
o
tiplikation beider Glieder mit N auch folgende Gleichungen
abzuleiten:
lO.N-f 20.N + 30.N-f...ininf. = (N)2
lO. (N) 2 + 20. (N)2+30.(N)2_J>. . .in inf.=(N)3 usw.
wodurch wir uns überzeugen, daß es auch unendliche Größen
von sogenannten höheren Ordnungen gäbe, deren die
eine die andere unendlichemal übertrifft. Daß es aber auch
unendliche Größen gibt, die jedes beliebige rationelle so-
wohl als irrationelle Verhältnisse a : ß zueinander haben,
o
folgt ja schon daraus, weil, sofern N nur irgendeine sich
o
immer gleichbleibende unendliche Größe bezeichnet, a • N
o
und ß • N ein Paar gleichfalls unendliche Größen sind, die
sich wie a:ß verhalten.
Nicht minder einleuchtend wird man es wohl auch finden,
daß die ganze Menge, (Vielheit) von Größen, die zwischen
zwei gegebenen, z. B. 7 und 8, liegen, ob sie gleich eine
unendliche ist, und somit durch keine auch noch so
große Zahl bestimmt werden kann, doch lediglich nur von
der Größe des Abstandes jener zwei Grenzgrößen vonein-
46 Rechnung mit unendlich Kleinem.
ander, d. h. von der Größe 8 — 7 abhänge und somit eine
gleiche sein müsse, so oft hur dieser Abstand gleich ist.
Dieses vorausgesetzt, wird es, wenn wir die Menge aller
zwischen a und b liegenden Größen durch
Mult. (b — a)
bezeichnen, unzählige Gleichungen von folgender Form
geben:
Mult. (8 — 7) = Mult. (13 — 12);
ingleichen auch von der Form ^
Mult. (b — a) : Mult. (d — c) = b — a:d — c,
gegen deren Richtigkeit sich nichts Stichhaltiges einwenden
läßt.
§ 30.
Und wie nun schon diese wenigen Beispiele genügend
dartun, daß eine Rechnung mit unendlich Großem
bestehe, so auch besteht eine mit dem unendlich Kleinen.
o
Denn ist N unendlich groß, so stellt ja
I
N
notwendig eine Größe vor, die unendlich klein ist, und wir
werden wenigstens in der allgemeinen Größenlehre keinen
Grund haben, eine solche Vorstellung für durchaus gegen-
standlos zu erklären. Denn um ein einziges Beispiel zu
geben, wenn man die Frage aufwirft, welche Wahrschein-
lichkeit es hat, daß jemand, der eine Kugel auf das Gerate-
wohl abschießt, sie dergestalt abschießen werde, daß ihr
Mittelpunkt auf seinem Wege genau durch den Mittelpunkt
jenes auf diesem Baume hängenden Apfels hindurchgehen
werde: so muß jeder zugestehen, daß die Menge aller hier
möglichen Fälle von einer gleichen oder noch geringeren
Wahrscheinlichkeit unendlich sei, woraus denn folgt, daß
der Grad jener Wahrscheinlichkeit eine Größe habe = oder
Rechnung mit unendlich Kleinem. 47
<^ irgendein — . Hiermit ist aber auch schon erwiesen, daß
wir der unendlich kleinen Größen unendlich viele habeii,
deren die eine zur anderen jedes beliebige Verhältnis haben,
namentlich auch unendlichemal größer sein kann; daher
denn auch unendlich viele Ordnungen wie unter den un-
endlich großen, so eben unter den unendlich kleinen Größen
bestehen; und es wird unter Beobachtung gewisser Regeln
allerdings möglich sein^ gar manche richtige Gleichungen
zwischen Größen von dieser Art zu finden.
Ist es z. B. erst entschieden, daß der Wert einer ver-
änderlichen Größe y von einer -anderen x in der Art ab-
hänge, daß zwischen beiden fortwährend die Gleichung
besteht :
y = X* -f- ax^ ~|- b x^ -|- ex -|- d
und verträgt es sich mit der- Natur jener besonderen Gat-
tung von Größen, welche hier x und y bezeichnen, daß sie
auch unendlich klein werden, also auch unendlich kleine
Zuwächse annehmen können: so muß, wenn wir x um
einen durch dx bezeichneten unendlich kleinen Teil zu-
nehmen lassen und die Veränderung, welche dann^ erfährt,
durch dy bezeichnen, notwendig auch folgende Gleichung
bestehen:
y-4-dy = (x-f dx)*-f a(x-|-dx)3-f b(x + dx)2
+ c(x + dx)-fd,
aus der unwidersprechlich auch die nachstehende fließt:
d>x
(4x3 -|_ ßax^ -|- 2bx -[- c) -|~ (6x2 _|_ ^ax -j- b) dx
■ +(4x-f-a)dx» + dx8,
die das Verhältnis der beiden unendlich kleinen Größen als
ein nicht nur von a, A, c und x^ sondern auch von dem
Werte der Veränderlichen dx selbst abhängiges darstellt.
48 Falsche Rechnungen mit Unendlichem.
§ 31-
Allein die meisten Mathematiker, welche sich an die
Rechnung mit dem Unendlichen gewagt, gingen viel weiter,
als es nach den hier aufgestellten Grundsätzen geschehen
darf. Nicht nur erlaubten sie sich ohne Bedenken bald
ein unendlich Großes, bald ein unendlich Kleines bei Größen
vorauszusetzen, die ihrer Natur nach eines solchen unfähig
sind (wovon erst in der Folge Beispiele angeführt werden
sollen): sondern sie nahmen sich auch heraus, Größen,
welche aus der Summierung einer unendlichen Reihe her-
vorgehen, einander bald gleichzusetzen, bald wieder die
eine als größer oder kleiner denn die andere zu erklären,
bloß weil in beiden sich Glieder, welche in einem solchen
Verhältnisse der Gleichheit oder Ungleichheit stehen, paar-
weise aufweisen lassen, obwohl ihre Mengen offenbar un-
gleich waren; sie wagten es, auszusprechen, daß nicht nur
jede unendlich kleine Größe in der Summterung mit einer
endlichen, oder auch jede von einer höheren Ordnung
neben einer von niederer Ordnung, sondern auch jede
unendlich große Größe von niederer Ordnung in der
Summierung neben einer von höherer Ordnung gleich
einer blqßen Null verschwinde; sie verfielen, um ihre
auf diesen Satz gestützte Rechnungsmethode nur einiger-
maßen zu rechtfertigen, auf die Behauptung, daß es er-
laubt sei, auch eine bloße Null als Divisor zu betrachten,
und daß^der Quotient
im Grunde nichts anderes als eine unendlich große
Größe, der Quotient — aber eine ganz unbestimmte
o
Größe bezeichne. Wir müssen nachweisen, wie falsch
und irreführend diese Begriffe sind, weil sie auch heutzu-
tage noch mehr oder weniger im Schwange sind.
Falsche Rechnungen mit Unendlichem. 49
Erst noch 1830 versuchte in Gergonnes Annales de
Mathematique (T. 20, Nr. 12) ein mit M, R, S. Unterzeichneter
zu beweisen, daß die bekannte unendliche Reihe
a— a-j-a — a-)-a — a~f- in inf .
den Wert — habe ; indem er, diesen Wert = x gesetzt,
2
schließen zu dürfen glaubte, daß
x = a — a-j-a — a-|-...in inf. = a — (a — a-(-a — a
-|- ... in inf.)
und die in den Klammern eingeschlossene Reihe identisch
mit der zu berechnenden, somit abermals = jt: zu setzen sei,
welches denn
x = a — X
und somit x = — gibt.
2
Der Fehlschluß liegt hier nicht tief verborgen. Die Reihe
in den Klammem hat offenbar nicht mehr dieselbe Glieder-
menge, wie die zuerst =^x gesetzte; sondern ihr fehlt das
erste a. Ihr Wert hätte also, falls er überhaupt angeblich
wäre, durch x — a bezeichnet werden müssen; was aber
die identisehe Gleichung
x = a-|-x — a
gegeben hätte.
„Aber eben darin", dürfte man sagen, „liegt etwas Para-
doxes, daß diese Reihe, die doch gewiß nicht unendlich
groß ist, keinen genau bestimmbaren, meßbaren Wert haben
sollte, zumal da sie durch eine in das Unendliche fort-
gesetzte Division von 2 = i -{- i in a hervorgehe ; ein Ur-
sprung, der ganz für die Richtigkeit der Voraussetzung
spricht, daß ihr wahrer Wert doch nur -— sei.**
2
9olzano, Paradosden des Unendlichen. ^
50 Falsche Rechnungen mit Unendlichem.
löh erinnere, es sei' doch eine an sich nicht unbegreif-
liche Sache, daß^ es auch Größenausdrücke gäbe, die
keine wirkliche. Größe bezeichnen, wie wir denn schon
die Null selbst als einen solchen allgemein anerkennen und
anerkennen müssen.
Eine Reihe insonderheit, wenn wir erklären, sie nur
als eine Größe, nämlich nur als die Summe ihrer Glieder
betrachten zu wollen, muß kraft des Begriffes einer Summe
(die zu den Mengen, d. h. zu denjenigen Inbegriffen gehört,
bei denen auf keine Ordnung ihrer Teile geachtet werden
soll) von einer solchen Beschaffenheit sein, daß sie keine
Veränderung in ihrem Werte erfährt — welche Veränderung
wir auch in der Aufeinanderfolge ihrer Glieder vornehmen
mögen. Bei Größen muß namentlich sein:
(A-fB)+C = A + (B + C) = (A + C)-f B.
Dies Merkmal nun bietet uns einen klaren Beweis dar,
daß die hier' in Rede stehende Zeichnung:
a — a-|-a — a-j-a — a-(-...in inf .
kein Ausdruck einer wirklichen Größe sei Denn sicher
würden wir an der hier vorgestellten Größe, falls eine
vorgestellt würde, nichts ändern, wenn wir jene Zeichnung
so abänderten:
(i) (a — a) -j- (a — a) -|- (a — a) -j- in inf. ;
weil hier nichts anderes geschah, als daß je zwei unmittel-
bar einander folgende Glieder in eine Teilsumme vereinigt
wurden: was gewiß möglich sein muß, weil die gegebene
Reihe wirklich kein letztes Glied haben soll. Dadurch
erhalten wir aber
o-|-o-|-o-|- in inf.,
was offenbar nur «=o ist.
Ebensowenig kann jedoch an der Größe, die jener Aus- J
druck vorstellt, falls er in Wirklichkeit eine vorstellt, sich
etwas ändern, wenn wir ihn so umformen:
Falsche Rechnungen mit Unendlichem. 51
(2) a + (— a + a)-h(— a-f a) + (— 'a + a) + ....ininf.
wo wir, mit Übergebung des ersten, je zwei der folgenden
Glieder in eine Teilsumme verbinden, oder auch so:
(3) — a-f(a— a) + (a — a) + (a — a)-f in inf .
•
was man aus (i) erhält, wenn man die Glieder in jedem
Paare versetzt, und mit dem so gewonnenen Ausdrucke
dann dieselbe Veränderung vornimmt, durch welche (2) aus
(i) hervorging. Wäre somit der gegebene Größenausdruck
nicht gegenstandslos, so müßten die Ausdrücke (i),
(2) und (3) alle dieselbe Größe bezeichnen; weil doch ein-
leuchtend ist, daß die Vorstellung einer Summe von einer
und derselben Menge von Größen nicht mehrere vonein-
ander verschiedene Größen vorstellen kann, wie es z.B.
, ' I
wohl bei den Vorstellungen y-j- i, arc. Sin. = — u. a. m. der
Fall ist. Allein die hier vorliegende Größen Vorstellung :
I — i"[-i — ^"l~^ — ^ ^ ^^^*
müßte, wenn sie nicht durchaus gegenstandslos ist, mit
demselben Rechte, mit dem wir sie etwa der Null gleich-
setzen wollten (die man in uneigentlichem Sinne freilich
auch eine Größe zu nennen pflegt), auch =-j-a und auch
= — a gesetzt werden; was durchaus ungereimt ist, und
uns somit zu dem Schlüsse berechtigt, daß wir hier eine
schlechterdings gegenstandslose Vorstellung vor uns haben.
Daß die besprochene Reihe durch eine;' in das Unend-
liche fortgesetzte Division von 2 = i -[- 1 in a zum Vor-
schein komme, ist wahr; aber alle Reihen, welche auf eine
solche Art zum Vorschein kommen, können begreiflicher-
weise gerade darum, weil jene Division stets einen Rest
(hier abwechselnd bald — a bald -\- a) zurückläßt, den wahren
Wert des Quotienten (hier — j höchsten^ nur dann angeben,
wenn die durch fernere Division hervortretenden Reste
4*
52 Falsche Rechnungen mit Unendlichem.
kleiner als jede auch moch so kleine Größe werden; wie
dieser Fall bei der § i8 betrachteten Reihe ^a-f-ae-f-ae"^
-f- ... in inf., welche durch Division von i — e in a erzeugt
wird, stattfindet, so oft e <] i ist. Wenn aber, wie in dem
vorliegenden Falle, e = i, oder wenn gar e > i ist, wo die
Reste somit nur um so höher steigen, je weiter das Ge-
schäft des Dividierens fortgesetzt wird, ist nichts begreif-
a
Hoher, als daß der Wert der Reihe dem Quotienten -. —
nicht gleichgestellt werden könne. Oder wie sollte z. B.
die Reihe mit abwechselnden Vorzeichen:
I — lo -|- loo — looo -|- loooo — looooo -|~ . . . in inf.,
welche durch eine in das Unendliche fortgesetzte Division
von I -f- lo in I entsteht, = — gesetzt werden dürfen? Wer»
' V ' II
vollends wollte die aus lauter positiven Gliedern zusammen-
gesetzte Reihe
I -j- lo -}- loo -|- looo -j- ... in inf.
dem negativen Werte — — gleichschätzen, bloß weil
9 I — lo
durch Entwicklung auf diese Reihe leitet? Gleichwohl nimmt
solche Summierungen der vorhin erwähnte M, R, S, noch
immer in Schutz, und will z. B. die Richtigkeit der Gleichung
I — 2-|-4 — 8-|-i6 — 32-|-64 — i28-|-...in inf. = —
nur aus dem Grunde erweisen, weil ja doch
x=i — 2-J-4 — 8-J-16 — 32 -[-64 — ...
= 1 — 2(1 2-f-4 84-16 — 32-|-...)=I — 2X
Wäre; wobei abermal übersehen* ist, daß die in den Klam-
mem tathaltene Reihe gar nicht die nämliche mit der ur-
sprünglich angenommenen sei, weil sie nicht mehr die
Falsche, Rechnungen mit Unendlichem. 53
«
nämliche Menge der Glieder hat. Daß auch dieser Größen-
ausdruck gegenstandslos sei, erhellt auf ähnliche Art, wie
bei dem früher betrachteten, weil er zu widersprechenden
Ergebnissen führt. Denn einerseits müßte sein:
I — 2-|-4 — 8-|-i6 — 32 -(-64 — ...
= i+(-2 + 4) + (-8+i6)-H(- 32 + 64) + ...
= i-(-2-{-8-j-32-|-64-f----
andererseits ebenso gewiß:
= (i-2) + (4-8) + (i6 — 32) + (64 — 128) + ...
= — I — 4 — 16 — 64 — ...
'\
so daß sich also durch einen doppelten berechtigten Vor-
gang einmal ein unendlich großer positiver, das andere Mal
ein unendlich großer negativer Wert desselben Ausdruckes
ergäbe.
§ 33.
Wollen wir also in unseren Rechnungen mit dem Un-
endlichen nicht auf Irrwege geraten: so dürfen wir nie uns
erlauben, zwei unendlich große Größen, die aus Summie-
rung der Glieder zweier unendlicl^er Reihen entstanden
sind, schon darum für gleich, oder die eine für größer
oder kleiner als die andere zu erklären, weil je ein Glied
in der einen je einem in der anderen Reihe entweder gleich
oder größer oder kleiner als das der letzteren ist. Wir
dürfen ebensowenig die eine Summe für die größere er-
klären, bloß weil sie die sämtlichen Glieder der anderen
und nebstdem noch gar viele, sogar unendlich viele Glieder
(die alle positiv sind) in sich schließt, welche der anderen
fehlen. Denn auch bei alledem kann sie noch kleiner, ja
unendlichemal kleiner sein als diese. Ein Beispiel liefert
uns die sehr bekannte Summe der Quadrate aller natür-
lichen Zahlen, verglichen mit der Summe der ersten Po-
tenzen dieser Zahlen. Gewiß kann niemand in Abrede
stellen, daß jedes Glied der Reihe aller Quadrate
54 Falsche Rechnungen mit Unendlichem.
-}-... in Inf. =
1 + 4 + 9+16 + 25 + 36 + 49 + 64
81 -|- 100
— . . . in inf. =
2
weil es ja gleichfalls eine natürliche Zahl ist, auch in der
Reihe aller ersten Potenzen der natürlichen Zahlen
1+2 + 3 + 4 + 5 + 6+ 7 + 8 + 9+ 10 + 11 + 12
I
-}- 13 + 14 + 15 + 16 ... in inf. = S
I
erscheine; ingleichen daß in der letzteren Reihe S nebst
allen Gliedern der S noch gar viele (ja unendlich viele)
Glieder erscheinen, die in der Reihe S fehlen, weil sie nicht
eben Quadrat:;ahlen sind. Gleichwohl ist S', die Summe
aller Quadratzahlen, nicht etwa kleiner, sondern unstreitig
I
größer als S, die Summe der ersten Potenzen aller Zahlen.
Denn erstlich ist, trotz allem Anscheine des Gegenteils, die
Gliedermenge in beiden (noch nicht als Summe betrach-
teten und somit nicht in beliebige Mengen von Teilen zer-
legbaren) Reihen gewiß dieselbe. Dadurch, daß wir jedes
I a
einzelne Glied der Reihe S in der S auf das Quadrat er-
heben, ändern wir bloß die Beschaffenheit (die Größe) dieser
Glieder, nicht ihre Vielheit. Ist aber die Menge der Glieder
I a a
in S und S dieselbe: so liegt am Tage, daß S viel größer
I
als S sein müsse, indem, mit Ausnahme des ersten Gliedes,
a
jedes der übrigen in S entschieden größer als das gleich-
I 9
vielste in S ist; so zwar, daß S als Größe betrachtet das
z
ganze S als einen Teil in sich faßt, und noch einen zweiten
Teil hat; der für sich selbst abermals eine unendliche Reihe
z
von gleicher Gliederzahl mit S darbietet, nämlich:
o, 2, 6, 12, 20, 30, 42, 56 ... n (n — i) ... in inf.,
J
Die Null. 5^
darin, mit Ausnahme der zwei ersten, alle folgenden Glieder
I
größer als die gleichvielsten in S sind, so daß die Summe
I
der ganzen Reihe unstreitig abermals größer als S ist.
I
Ziehen wir daher von diesem Reste die Reihe S zum zweiten-
mal ab; so erhalten wir als zweiten Rest eine Reihe von
derselben Gliedermenge
— I, o, 3, 8, 15, 24, 35, 48 . . . n (n — 2) . . in inf.
darin, mit Ausschluß der drei ersten Glieder, abermals alle
I
folgenden größer als die gleichvielsten in S sind; so daß
auch dieser dritte Rest ohne Widerspruch größer als S zu
schätzen ist. Da sich nun diese Schlüsse ohne Ende fort-
setzen lassen, so erhellt, daß die Summe S unendlichemal
I
größer sei als die Summe S; indem wir allgemein
S — mS = (i— m) + (22 — 2m) + (32 — 3m) + (42 — 4m)
-|- . . . (m2 — m2) -|- . . . -^ n (n — m) -[- • • in inf.
haben, in welcher Reihe nur eine endliche Menge von Glie-
dern, nämlich nur die m — i ersten negativ, das m**" — o,
alle folgenden aber positiv sind und ins Unendliche wachsen.
§ 34.
Ehe wir die Unrichtigkeit der übrigen, schon in § 31
erwähnten Behauptungen in das gehörige Licht stellen
können, müssen wir den Begriff der Null etwas genauer,
als man gewöhnlich tut, bestimmen*).
*) Sehr gern räume ich Herrn M. Ohm das Verdienst ein, in
seinem sehr schätzbaren „Versuche eines vollkommen kon-
sequenten Systems der Mathematik'* (2. Aufl. Berlin 1828)
der erste gewesen zu sein, der auf die Schwierigkeiten in dem
Begriffe der Null das mathematische Publikum aufmerksam ge-
macht hat.
56 Die Null.
Unstreitig wollen alle Mathematiker mit dem Zeichen o
nur einen solchen Begriff verbunden wissen, daß es, A sei
was immer für ein Größenausdruck, unentschieden ob einer
wirklichen Größe entsprechend, oder ganz gegenstandslos,
erlaubt bleibe, die beiden Gleichungen
I. A — A = o, ^ IL A + o = A
zu schreiben. Hier wird nun jeder zugestehen, daß dieses
nur verstattet sein könne, wenn wir das Zeichen o selbst
nicht als die Vorstellung einer wirklichen Größe, sondern
als bloße Abwesenheit einer Größe und die Zeichnung A + o
als eine Forderung betrachten, zu der etwaigen Größe, die
A bezeichnet, in Wahrheit weder etwas zusetzen noch
abziehen zu wollen. Irrig )väre es aber zu glauben, daß
schon die bloße Erklärung, daß Null eine gegenstandslose
Größenvorstellung sei, zur vollständigen Bestimmung des
Begriffes, den Mathematiker mit diesem Zeichen verbinden,
hinreiche. Denn offenbar gibt es noch andere in der Mathe-
matik übliche Größenbezeichnungen, wie namenüich das in
der Analysis so ungemein wichtig gewordene Zeichen y — i,
die gleichfalls gegenstandslos sind, die wir desungeachtet
nicht als gleichgeltend mit o ansehen und behandeln dürfen.
Bestimmen wir aber die Bedeutung des Zeichens o genauer
durch die Erklärung: es solle so aufgefaßt werden, daß die
zwei Gleichungen I und II allgemein gelten: so stellen wir
einen Begriff auf, der einerseits völlig so weit ist, als der
bisherige Gebrauch und das Interesse der Wissenschaft es
fordert, und andererseits doch auch enge genug ist, upi
jeden Mißbrauch desselben zu verhindern.
Es ist aber, näher betrachtet, nicht bloß der Begriff der
Null, der durch die festgesetzte Allgemeingültigkeit der
beiden Gleichungen I und II auf eine eigene Weise be-
stimmt wird, sondern es erfahren auch die Begriffe des
Addierens und des Subtrahierens, welche hier unter
den Zeichen -f- und — auftreten, durch die Festsetzung
dieser Gleichungen eine eigentümliche Erweiterung, die sehr
zum Vorteile der Wissenschaft gereicht.
Division mit Null. 57
Derselbe Vorteil der Wissenschaft verlangt noch über-
dies, man möge auch den Begriff der Multiplikation so
weit auffassen, daß sich, was auch A sei (ob eine endliche
oder unendUch große oder unendlich kleine Größe, oder
auch eine bloße gegenstandslose Größenvorstellung wie
y — I oder o) die Gleichung
m. oXA = AXo = o
ansetzen lasse.
Endlich müssen wir auch im Interesse der Wissenschaft
fordern, man möge auch den Begriff der Division so all-
gemein fassen, als es nur möglich ist, um nicht mit einer
der drei schon aufgestellten Gleichungen in Widerspruch
zu geraten, also au(h in der Gleichung
(4)
IV. Bxi;^)=mxB=A
dem Zeichen B einen so weiten Umfang zu geben, als es
nur jene drei Gleichungen in der ihnen schon zugestandenen
Allgemeinheit erlauben. Diese erlauben nun immerhin, daß
B jede beliebige endliche sowohl als unendlich große oder
unendlich kleine wirkliche Größe, auch wohl die imaginäre
y — I bezeichne; schlechterdings aber nicht, daß B = o
gesetzt werde, d. h. daß wir die Null oder irgendeinen der
Null gleichgeltenden Ausdruck jemals als einen Divisor
anwenden. Denn da nach III 0(^ = sein muß, was
immer A sei; so müßte, wenn wir in IV B = o setzten,
auch bI-^j = o sein, welches mit der in IV geforderten
Gleichung B i — j = A nur in dem einzigen Falle, wenn auch
A = o wäre. Obereinstimmen würde. Wir müssen also, um
nicht in Widersprüche zu geraten, die Regel festsetzen,
daß man die Null oder einen der Null gleichgelten-
den Ausdruck nie als Divisor anwenden dürfe in
einer Gleichung, welche noch etwas anderes als
eine bloß identische sein soll, wie etwa
' 58 Division mit Null.
A A
o o
Dafi die Beobachtung dieser Regel durchaus notwendig sei,
beweisen nebst dem soeben Gesagten gar viele höchst un-
gereimte Folgerungen, die sich aus völlig richtigen Vorder-
sätzen ergeben, sobald wir uns Divisionen mit Null erlauben.
Sei a was immer für eine reelle Größe: so stellt sich,
wenn das Dividieren durch einen der Null gleichgeltenden
Ausdruck, z. B. i — i, erlaubt sein soll, nach der bekannten,
gewiß ganz regelrechten Divisfonsmethode folgende Glei-
chung dar:
--^ = a + a+ + a-l7--^
wo der Summanden von der Form a jede beliebige Anzahl
auftreten kann. Ziehen wir nun zu beiden Seiten den
a
gleichen Größenausdruck ab : so ergibt sich die höchst
I — I
ungereimte Gleichung:
a -|~ a -|- . . . -|- a = d.
Sind a und b ein Paar verschiedene Größen: so gelten
die zwei identischen Gleichungen:
a — b = a — b
b — a = b — 2i, Also durch Addition auch
a-^a = b — b oder
a(i — i) = b(i — i)
Ist es nun erlaubt, die beiden Glieder einer Gleichung
durch einen der Null gleichgeltenden Faktor zu dividieren,
so erhalten wir das ungereimte Ergebnis a = Ä, was immer
a und b sein mögen. Doch es ist allgemein bekannt, daß
man nur allzu leicht bei größeren Rechnungen auf ein un-
richtiges Ergebnis stößt, wenn man einen gemeinschaftlichen
Faktor aus beiden Gliedern der Gleichung entfernt, ohne
sich erst Oberzeugt zu haben, daß er nicht Null sei.
. *
Vernachlässigang von unendlich Kleinen. 59
§ 35-
Es wird nun leicht sein zu zeigen, wie unrichtig die
von so manchen aufgestellte Behauptung sei, dafi nicht nur
eine unendlich kleine Größe von höherer Ordnung in der
Verbindung . durch Addition oder Subtraktion mit einer
anderen von niederer Ordnung oder mit einer endlichen,
sondern auch jede endliche, ja selbst unendlich große von
jeder beliebig hohen Ordnung in ihrer Verbindung durch
Addition oder Subtraktion mit einer anderen unendlich
großen von höherer Ordnung gleich einer bloßen Null
verschwinde. Soll dies nun so verstanden werden —
und in dem gewöhnlichen Vortrage, der noch etwas un-
vorsichtiger als die soeben gebrauchten Ausdrücke lautet,
warnt man vor einer solchen Mißdeutung nicht — soll dieses,
sage ich, so ausgelegt werden, daß man aus dem Komplexe
der beiden Größen M + m, deren die erste unendlichemal
größer ist als die zweite, diese schlechterdings weglassen
dürfe, auch wenn in dem Verfolge der Rechnung die Größe M
vielleicht selbst (etwa durch Abzug einer ihr gleichen) weg-
fällt: dann brauche ich die Irrigkeit dieser Regel nicht erst
zu beweisen.
Doch man wird sagen: So sei es nicht gemeint. Wenn
man die Größen M und M + m für gleich erkläre, so meine
man nicht, daß sie ein gleiches Resultat gewähren, wenn
sie in fortgesetzter Rechnung neue Verbindungen durch
Addieren oder Subtrahieren eingehen; sondern ihre Gleich-
heit bestehe nur darin, daß sie bei dem Geschäfte des
Messens, namentlich durch eine Größe iV, welche von
gleichem Range mit ihnen, in einem endlichen (also völlig
bestimmbaren) Verhältnisse zu einer von ihnen z. B. zu M
steht, gleiche Ergebnisse darbieten. Dies wäre in der Tat
das Geringste, was man zu der Erklärung, daß ein Paar
Größen gleich groß sind, zu fordern berechtigt ist. Aber
leisten denn M und M + m auch nur so viel? Steht die
eine derselben, z. B. if, in einem irrationalen Verhältnisse
zum Maße A^, so kann es sich allerdings treffen, daß wir
' 60 Vernachlässigung von unendlich Kleinen.
bei der gewöhnlichsten Weise des Messens, welche zu jeder
beliebigen auch noch so großen Zahl q eine andere p von
der Beschaffenheit sucht, dafi
^ M^ p + i
q^N^ q
sei; und es kann sich fügen, daß auch — == — fortwährend
N
in denselben Grenzen verbleibt, d. h. daß sich auch
' p ^ M±m p-j-i
q^ N ^ q
M .
findet. Ist aber das Verhältnis ^ rational: so gibt es ein
^, für welches
N"~ q
und dagegen — ^~ entweder > oder <[— ist; wo also
ein Unterschied zwischen diesen Größen selbst im Vergleiche
zu bloßen Zahlen (endlichen Größen) sich kund gibt. Wie
also dürften wir sie einander gleich nennen?
§36.
Um solche Widersprüche zu vermeiden, nahmen nach
Eulers Vorgange mehrere Mathematiker ihre Zuflucht zu
der Erklärung, daß die unendlich kleinen Größen in der Tat
bloße Nullen, die unendlich großen Größen aber die
Quotienten wären, welche aus einer endlichen Größe durch
die Division mit einer bloßen Null hervorgehen. Durch
diese Feststellung hatte man das Verschwinden oder Weg-
werfen einer unendlich kleinen Größe in ihrer Verbindung
durch Addition zu einer endlichen mehr als gerechtfertigt;
desto schwieriger aber war es, das Dasein der unendlich
großen Größen, ingleichen die Möglichkeit des Hervorgehens
Widerlegung von Euler. 61
einer endlichen Größe durch die Division zweier unendlich
kleiner oder auch großer Größen und das Vorhandensein
unendlich kleiner und großer Größen höherer Ordnungen
begreiflich zu machen. Denn die unendlich große Größe
kam auf diese Art durch eine Division mit Null oder einem
der Null gleichgeltenden Größenausdrucke (der eigentlich
eine gegenstandslose Vorstellung ist), also auf eine durch
die Gesetze des Rechnens verbotene Weise zum Vorschein;
an allen jenen endlichen oder auch unendlichen Größen
aber, die man durch 'Division einer unendlichen in eine
andere unendliche Größe hervorgenen ließ, haftete die Makel
der illegitimen Geburt vervielfacht.
Was noch am meisten für die Richtigkeit dieser Rech-
nung mit Nullen zu sprechen scheint, ist wohl die Art, wie
man den Wert einer von der veränderlichen x abhängigen
Größe yy der durch die Gleichung
bestimmt werden »soll, in dem besonderen Falle berechnet,
wenn ein gewisser Wert von x = a entweder den Nenner
dieses Bruches allein oder den Nenner und den Zähler zu-
gleich zu Null macht. In dem ersten Falle, wenn $a = o
wird, Fa aber eine endliche Größe verbleibt, schließt man,
daß y unendlich groß geworden sei. In dem zweiten
Falle dagegen, wenn sowohl 0a als Fa=o sind, schließt
man, daß die beiden Ausdrücke 0x und Fx den Faktor
von der Form {x — a) ein- oder edichemal enthalten und
somit von der Form
<&x = (x — a)"«99x; Fx = (x — a)*«fx
sein müssen: wo allenfalls tpx oder fx auch Korfst^nte vor-
stellen können. Ist nun m'^n, so schließt man, daß, auch
Fx
nach einer den Wert des Bruches ^— nicht ändernden Auf-
hebung der gemeinschaftlichen Faktoren im Nenner und im
Zähler, der erstere für x = a immer noch zu Null werde,
52 Widerlegung von Euler.
und bleibt somit bei der Behauptung, dafi der Wert x = a
ein unendlich großes y gäbe. Ist aber w = «, so sieht man,
Fx fx fa
da -^— = — sein muß, die endliche Größe, die — aus-
0x (px 9?a
drückt, als den richtigen Wert von y an. Und ist endlich
w <[ «, so schließt man, weil jetzt
Fx (x — a)**-"* • f x
4^x 9?x
für x = a zu Null wird, daß der Wert x = a die Größe y
zu Null mache.
Über dies Verfahren denke ich so. Wenn der zu x=a
gehörige Wert von y in den angegebenen Fällen für oo groß
erklärt wird: so kann das offenbar nur dann und dann nur
zufällig wahr sein, wenn die Größe y zu der Art derer
gehört, die auch unendlich groß werden können; allein es
bleibt dabei, daß dieses Ergebnis aus dem gegebenen Aus-
drucke, der hier eine Division durch Null verlang^, nicht
hervorgeht. Bloß aus dem Umstände, daß gesagt wird,
der Wert von y sei immer der nämliche, den der gegebene
Fx
Ausdruck ^— angibt, läßt sich nur schließen auf die Be-
schaffenheit der Größe y für alle jene Werte von x, die
eine wirkliche Größe vorstellen, nicht aber für solche, bei
denen dieser Ausdruck gegenstandslos wird; wie dies
der Fall ist, wenn sein Nenner oder auch nur sein Zähler
oder gar beide zugleich Null werden. Wohl läßt sich sagen,
daß die Größe y in dem zuerst erwähnten Falle, wo nur
0x = o ist, größer, und in dem zweiten Falle, wo nur
Fx = o ist, kleiner als jede gegebene werde, endlich im
Fx
dritten Falle, wo ^— eine gleiche Anzahl von Faktoren von
der Form {x — a) im Nenner und Zähler enthält, dem Werte
fa
— so nahe komme, als man will, indem man x dem Werte a
9?a ' '
so nahe rückt, als man will: allein aus allem diesem, folgt
Widerlegung von Euler. 68
nichts für die Beschaffenheit dieses Wertes dort, wo der
Fx
Ausdruck ^— gegenstandslos ist, d. h. gar keinen Wert
darstellt, weil er entweder die Form o selbst oder die Form
c o
— oder gar die Form — annimmt. Denn der Satz von der
o o
Gleichheit des Wertes zweier Brüche, deren der eine sich
von dem anderen nur durch die Aufhebung eines gemein-
schaftlichen Faktors im Nenner und Zähler unterscheidet,
gilt wohl in allen Fällen, nur in dem Falle nicht, wo dieser
Faktor eine Null ist; weil sonst mit eben dem Rechte, mit
rt 2 • O 2
dem wir behaupten wollten, daß = — ist, auch be-
3-0 3
hauptet werden dürfte, daß jede beliebige Größe, z. B.
iooo== — sei. Denn sicher ist doch sowohl 3000 «0 = 0,
o
2 • o 2
als auch 2 • o = o. Wenn also = — gesetzt werden darf,
3-0 3
so darf auch ,
2 X (3000 • o) (2 • 3000) • o 2 • 3000
iif 1 = :i r^ { = il :::== lOOO
3 X (2 • o) (3 • 2) • o 3.2
gesetzt werden.
Der Fehlschluß, der hier in die Augen springt, fällt oben
nur deshalb minder auf, daß man die Division mit dem
einer Null gleichgeltenden Faktor (x — a) in einer Form
vornimmt, die diesen Nullwert verhüllt. Und weil die Fort-
schaffung desselben in jedem anderen Falle erlaubt ist, so
nimmt man um so zuversichtlicher an, sie auch in diesem
Falle sich erlauben zu dürfen, weil der für y sich heraus-
stellende Wert gerade so ausfällt, wie man ihn zu erwarten
berechtigt zu sein glaubt; nämlich wenn er ein endlicher
ist, genau wie das Gesetz der Stetigkeit ihn fordert. Null,
wenn die nächststehenden bis auf Null abnehmen, und un-
endlich groß, wenn die nächststehenden in das Unendliche
zunehmen. Allein hierbei vergißt man, daß das Gesetz der
I
64 Differentialrechnung.
Stetigkeit keineswegs von allen veränderlichen Größen be-
obachtet werde, ingleichen daß eine Größe, welche so klein
wird, als man nur will, indem man x dem Werte a so nahe
bringt, als man will, darum noch eben nicht für x^=a zu
Null werden müsse; und daß sie ebensowenig, wenn sie
in das Unendliche wächst, während sich x* dem Werte a
nähert, für ä^^=a in Wahrheit unendlich werde. Es gibt
Ja namentlich in der Geometrie unzählig viele Größen, die
kein Gesetz der Stetigkeit kennen, z. B. die Größen der
Linien und Winkel, die zur Bestimmung der Umfangslinien
und Oberflächen der Polygone und Polyeder dienen u. m. a.
§ 37-
Obgleich wir der bisherigen Darstellungs weise der Lehre
von dem Unendlichen so viele wichtige Mängel, wie ich
glaube, nicht mit Unrecht vorwerfen mögen: so ist es doch
bekannt, daß man meistens ganz richtige Ergebnisse
erhält, wetin man die Regeln, die in der Rechnung mit
dem Unendlichen allgemein eingeführt sind, mit der ge-
hörigen Vorsicht befolgt. Solche Ergebnisse hätten sich
nimmer darbieten können, wenn es nicht eine Weise der
Auffassung und Handhabung dieser Rechnungsmethode
gäbe, die wirklich untadelhaft ist; und gern will ich glauben,
daß es im Grunde nur diese gewesen sein ^ürfte, die den
scharfsinnigen Erfindern jener Methode im Geiste vor-
geschwebt, ob sie auch nicht sogleich imstande waren,
ihre Gedanken hierüber mit aller Deutlichkeit auseinander-
zusetzen; eine Sache, die in schwereren Fällen insgemein
erst nach wiederholten Versuchen gelingt
Sei es mir denn verstattet, hier nur in wenigen Umrissen
anzudeuten, wie ich diese Methode des Rechnens glaube
auffassen zu müssen, damit sie vollkommen zu rechtfertigen
wäre. Es wird genügen, von dem Verfahren zu sprechen,
das bei dem sogenannten Differential- und Integral-
kalkül zu beobachten ist, denn die Methode des Rechnens
mit dem unendlich Großen ergibt sich dann schon durch
Differentialrechnung. 65
den bloßen Gegensatz leickt, zumal nach allem, was Cauchy
hierüber schon geleistet.
Ich also bedarf hier schlechterdings nicht der so beengen-
den Voraussetzung, die man wohl sonst für nötig erachtete,
daß die in Rechnung zu nehmenden Größen unendlich
klein werden können; eine Beschränkung, wodurch alle be-
grenzte Zeit- und Raumgrößen, auch alle Kräfte begrenzter
Substanzen, also im Grunde alle Größen, an deren Be-
stimmung uns gerade am meisten liegt, aus dem Bereiche
dieser Rechnungsmethode im Vorhinein ausgeschieden wer-
den. Ich begehre nichts anderes, als daß diese Größen,
falls sie veränderlich und doch nicht frei veränderlich,
sondern von einer oder mehreren anderen Größen abhängig
sind, ihre Abgeleitete {une fonction derivee nach der La-
grangeschen Erklärung) haben; wenn nicht für alle Werte
ihrer Bestimmenden, wenigstens für alle diejenigen, auf
welche die Rechnung als gültig angewandt werden soll.
Mit anderen Worten, wenn x eine der frei veränderlichen
Größen und y=fx eine von ihr abhängige bezeichnet: so
muß, wenn unsere Rechnung für alle innerhalb x = a }xnd
x=^b liegende Werte von x ein richtiges Resultat geben
soll, y in einer solchen Art von x abhängen, daß für alle
innerhalb a und b gelegenen Werte von x der Quodient
Ay^ f(x + Ai) — fx
Ax~ Ax
welcher zum Vorschein kommt, indem wir den Zuwachs
von y durch .den ihm zugehörigen von x dividieren, einer
entweder konstanten oder doch nur von x allein abhängigen
Größe f'x so nahe kommt, als man will, wenn man nur
A^ klein genug nimmt, und dann noch immer so nahe
bleibt oder noch näher rückt, wenn /\x noch kleiner ge-
macht wird*).
*) Es läßt sich zeigen, daß alle abhängig veränderlichen
Größen, wenn sie nur überhaupt bestimmbar sind, an dies
Gesetz gebunden sein müssen in der Art, daß Ausnahmen davon,
wenn auch in einer unendlichen Menge, stets nur für isoliert"
stehende Werte ihrer frei Veränderlichen eintreten dürfen.
Bolzano, Parado^cien des Unendlichen. 5
66 Ditferentialrechnung.
Ist eine Gleichung zwischen x und y gegeben, so ist
es insgemein eine sehr leichte und bekannte Sache, diese
Abgeleitete von y zu finden. Wäre z. B,
(i) y^=ax2-|-a^
so hätte man hier für jedes A^, das nur nicht Null ist,
(2) . (y_|_Ay)8 = a(x + Ax)2+a^
woraus sich nach bekannten Regeln
Ay 2ax-[-aAx
(3)
Ax 3y' + 3yAy+Ay»
2ax ^^3ay2Ax — 6axy Ay — 2ax Ay*
3y2 9y* + 9y^Ay4-3y^Ay
i
ergjbt. Und die gesuchte abgeleitete Funktion der ^
oder (nach Lagrangescher Bezeichnung) y wäre
2ax
eine ' Funktion, die aus dem Ausdrucke von
Ay
. Ax
hervorgeht, wenn wir nach der gehörigen Entwicklung des-
selben, nämlich nach einer solchen, dabei wir im Zähler
und Nenner die in J^x oder in Ajv multiplizierten Glieder
von den übrigen trennen, also in dem Ausdrucke
2ax-{-aAx
3y* + 3yAy + Ay'^
beides, A^ sowohl als Ajv = o setzen.
Von welchem vielfältigen Nutzen die Findung dieser
Abgeleiteten sei; aufweiche Weise jeder einem endlichen
Zuwachse von x entsprechende endliche Zuwachs der y
vermittels solcher Abgeleiteten sich bei*echnen lasse; und
wie, wenn umgekehrt nur die abgeleitete f'x gegeben ist,
Differentialrechnung. 67
auch die ursprüngliche Funktion fx bis auf eine Konstante
bestimmt werden kann — brauche ich nicht zu sagen.
Weil wir aber, wie nur eben angemerkt wurde, die ab-
geleitete Funktion einer abhängigen Größe y in bezug auf
ihre Veränderliche x erhalten, sobald wir in dem Ausdrucke
Ay
Ax
falls er erst so entwickelt wurde, daß weder l\x noch Ay
irgendwo als .Divisoren erscheinen, das l\x sowohl als
auch das A^ = o setzen: so durfte es wohl nicht so un-
schicklich sein, die Abgeleitete durch eine Zeichnung, wie
etwa folgende:
dy
dx
darzustellen, wenn wir hierbei erklären, einerseits, daß
' Ay
alle in der Entwicklung von -r-=^ vorkommenden A^, A^ oder
die allenfalls statt ihrer angeschriebenen dx^ dy als bloße
Nullen angesehen und behandelt werden sollen; — ander-
dy
seits aber, daß man die Zeichnung -r^ nicht etwa als einen
dy
Quotienten von dx in dy^ sondern nur eben für ein Sym-
bol der abgeleiteten von y nach x anzusehen habe.
Daß einem solchen Verfahren noch keineswegs der Vor-
wurf gemacht werden könnte, es nehme Verhältnisse zwischen
Größen an, die gar nicht vorhanden sind (Null zu Null), ist
klar; denn man will jene Zeichnung ja eben für nichts anderes
.als für ein bloßes Zeichen angesehen wissen.
Ebenso untadelhaft wird es femer sein, wenn man die
zweite abgeleitete Funktion von y nach x^ d. h. diejenige
bloß von X abhängige (oder vielleicht auch ganz konstante)
Größe, welcher der Quotient
A^y
Ax«
5*
68 DiiFerentialrechnung.
so nahe kommt, als man will, sobald man nur auch Ajr so
klein, als man will» nehmen darf, durch
d^y
dx2
bezeichnet und dies so auslegt, daß man die in der Ent-
Wicklung von -7—=^ vorkommenden Größen Ax, A^y als bloße
d*y
Nullen betrachten und behandeln, in der Zeichnung 3-=^
aber nicht eine Division von Null in Null, sondern nur das
Symbol der Funktion erblicken müsse, in welche die Ent-
wicklung von r^ nach der soeben verlangten Verände-
rung übergeht.
dy d^y
Diese Bedeutungen der Zeichen -~~^ -— einmal
dx dx*
vorausgesetzt, können wir strenge dartun, daß eine jede von
einer anderen frei Veränderlichen jc auf eine bestimmbare Art
abhängige veränderliche Größe
y = fx
höchstens mit Ausnahme gewisser isoliert stehender Werte
von X und Ax an die Gleichung
f^ I A ^ f ( A dfx Ax2 d2fx . Ax3 dHx
f(x + Ax) = fx4-Ax.-j t-tH -TT
^ ' ^ ' dx ' 1-2 dx* ' i'2-3 dx^
, . Ax° d°f(x-[-;iAx)
' ' i«2...n ' dx"
worin fJi<^i ist, gebunden sei*).
*) Der Beweis dieses Satzes für jede, gleichviel ob uns be-
kannte durch die bisherigen Zeichen darstellbare oder nicht dar-
stellbare Art der Abhängigkeit der y von x^ lange schon vom
Verfasser niedergeschrieben, wird vielleicht ehestens veröflFent-
licht werden. H.
Diff eren tialrechnung. 6 9
Wie viele wichtige Wahrheiten der allgemeinen Größen-
lehre (besonders der sogenannten höheren Analysis) durch
diese einzige Gleichung begründet werden können, ist nie-
mandem unbekannt. Aber auch in der angewandten Größen-
lehre, in der Raumlehre (Geometrie) und in der Kräften-
lehre (Statik, Mechanik usw.) bahnt diese Gleichung den
Weg zur Lösung der schwierigsten Probleme, z. B. von der
Rektifikation der Linien, der Komplanation der Flächen,
der Kubierung der Körper, ohne irgendeiner hier wider-
sprechenden Voraussetzung eines unendlich Kleinen, noch
sonst eines anderen angeblichen Grundsatzes zu bedürfen,
dergleichen der bekannte archimedische u. a. m. sind.
Ist es aber erlaubt, Gleichungen von der Art, wie z. B.
die Formel für die Rektifikation der Kurven bei einem recht-
winkligen Koordinatensysteme
in der vorhin erklärten Bedeutung aufzustellen: so wird es
auch, ohne Gefahr zu irren, möglich sein, Gleichungen von
der Art, wie etwa folgende, niederzuschreiben:
d(a-f- bx -)- cx2-|- dx^-|- — ) = bdx -j- acxdx -|- 3dx2dx-|-. . ;
ds2 = dx« -f dy2 -j- dz^;
oder wenn r den Halbmesser des KrOmmungskreises bei
einer Linie von einfacher Krümmung bezeichnet,
ds»
; u. a. m.
d^y -dx
worin wir die Zeichen dx^ dy^ dz^ds^ d^y usw. fortwährend
nicht als Zeichen wirklicher Größen, sondern sie vielmehr
als der Null gleichgeltend b^rachten, und in der ganzen
Gleichung nichts anderes sehen, als einen Zeichenkom-
plex, der so geartet ist, daß sich, wenn wir mit
demselben nur lauter Veränderungen vornehmen,
welche die Algebra mit allen Zeichen wirklicher
70 Differentialrechnung.
Gröfien erlaubt (hier also auch ein Dividieren mit dx
u. dgl.) — nie ein unrichtiges Ergebnis herausstellt,
wenn es zuletzt gelingt, die Zeichen dx^ dy usw.
auf beiden Seiten der Gleichung verschwinden zu
sehen.
Daß dieses so sei und sein müsse, ist leicht zu begreifen.
Denn wenn z. B. die Gleichung:
ds
=y[-+(^)l
dx
untadelig ist: wie sollte nicht auch die Gleichung
ds2 = dx2 4-dy2
untadelig sein; da sich nach der soeben erwähnten Ver-
fahrungsart aus dieser sofort auch jene ableiten läßt?
Endlich ist leicht zu erachten, daß es auch keine Irrung
herbeiführen könne^ wenn wir in irgendeiner Gleichung,
welche die Zeichen dx^ dy enthält, zur Abkürzung
alle diejenigen A<fdenden, von welchen wir mit Bestimmtheit
vorauswissen, daß sie am Schlüsse der Rechnung als der
Null gleichgeltendwegfallen werden, gleich anfangs weglassen.
So können wir es, z. B. wenn wir durch irgendeine Rechnung
erst auf die (aus i und 2 sich ergebende) Gleichung
■ 3y» • Ay + 3y Ay^ -f Ay» = aax Ax -f- a Ax^
geraten sind, die bei dem Übergange zu den der Null gleich-
geltenden Zeichen die Gestalt
3y*' dy + Sy • dy*-{-dy* = 2axdx-(-a« dx*
annimmt, sogleich ersehen, daß die Addendi, welche die
höheren Potenzen dy'^y dy^^ dx^ enthalten, zuletzt jeden-
falls wegfallen werden und somit alsbald nvir
3y2dy = 2axdx
ansetzen; woraus sich dann die gesuchte Abgeleitete von
y in bezug auf x
Differentialrechnung. 71
^ dy 2ax
dx ■" 3y2
alsbald ergibt.
Dies ganze Verfahren, daß wir es schließlich noch mit
einem Worte sagen, beruht auf ganz ähnlichen Grundsätzen,
auf welchen die Rechnung mit den sogenannten imagi-
nären Größen (welche ja ebenso wie unsere dx^ dy ...
bloße Zeichnungen sind) oder auch die in der neueren Zeit
erfundene abgekürzte Divisiönsmethode und andere ähnliche
Rechnungsabkürzungen beruhen. Hier nämlich ebenso \vie
dort genügt es, zur Rechtfertigung des Verfahrens nach-
zuweisen, daß wir den eingeführten Zeichen
nur eine solche Bedeutung geben, und uns mit ihnen nur
solche Veränderungen erlauben, daß zuletzt jedesmal,
wenn endlich statt der gegenstandslosen Zeichen
solche zum Vorschein kommen, die wirkliche Größen
bedeuten, beide Glieder der Gleichung einander in
Wahrheit gleichgelten.
§38-
Wenden wir uns zu dem angewandten Teile der Größen-
lehre, so begegnen uns die ersten Paradoxien auf dem Ge-
biete der Zeitlehre in dem Begriffe der Zeit selbst,
zumal inwiefern sie eine stetige Ausdehnung sein soll.
Es lasten aber die schon von alters her so berühmten
scheinbaren Widersprüche, die man in dem Begriffe
einer stetigen Ausdehnung eipes Kontinuums zu finden
glaubte, in gleicher Weise wie auf der zeitlichen auch auf
der räumlichen, ja auch der materiellen; daher wir sie gleich
in Vereinigung betrachten wollen.
Sehr wohl erkannte man, daß alles Ausgedehnte seinem
Begriffe nach aus Teilen zusammengesetzt sein müsse; er-
72 Paradoxien im Begriffe de§ Kontinuums.
kannte ferner, daß sich das Dasein des Ausgedehnten nicht
ohne einen Zirkel aus der Zusammensetzung solcher Teile,
die schon selbst ausgedehnt sind, erklären lasse; wollte
jedoch nichtsdestoweniger auch einen Widerspruch in der
Voraussetzung finden, daß es aus Teilen, die keine Aus-
dehnung haben, sondern schlechterdings einfach sind (Punkten
in Zeit, Raum, Atomen, d. i. einfachen Substanzen im Weltall
auf dem Gebiete der Wirklichkeit), entstehe.
Wurde gefragt, was man an dieser letzteren Erklärung
anstößig finde, so hieß es bald, daß eine Eigenschaft, die
allen Teilen mangelt, auch nicht dem Ganzen zukommen
könne; bald, daß doch je zwei Punkte wie in der Zeit so
auch im Räume, und ebenso auch je zwei Substanzen noch
immer eine Entfernung voneinander haben, somit nie ein
Kontinuum bilden.
Es bedarf aber wahrlich nicht vieler Überlegung, um
das Ungereimte in diesen Einwürfen zu erkennen. Eine
Beschaffenheit, die allen Teilen mangelt, soll auch dem
Ganzen nicht zukommen dürfen? Gerade umgekehrt! Jedes
Ganze hat und muß gar manche Eigenschaften haben, welche
den Teilen mangelt. Ein Automat hat die Beschaffenheit,
gewisse Bewegungen eines lebenden Menschen fast täuschend
nachzuahmen, die einzelnen Teile aber, die Federn, Räder-
chen usw. entbehren dieser Eigenschaft. — Daß je zwei
Zeitpunkte noch durch eine unendliche Menge dazwischen-
liegender Zeitpunkte getrennt sind ; daß es ebenso zwischen
je zwei Punkten im Räume eine unendliche Menge da-
zwischenliegender gibt, ja daß es selbst im Reiche der Wirk-
lichkeit zwischen je zwei Substanzen noch eine unendliche
Menge anderer gäbe — ist allerdings zuzugestehen; aber
was folgt hieraus, das einen Widerspruch enthielte? Nur
soviel folgt, daß durch zwei Punkte allein, ja auch durch
drei, vier und jede bloß endliche Menge derselben noch
kein Ausgedehntes erzeugt wird. Dies alles gestehen wir
selbst, ja wir gestehen, daß auch eine unendliche Menge
von Punkten nicht immer zur Erzeugung eines Kontinuums,
z. B. einer auch noch so kurzen Linie, hinreicht, wenn diese
Der Begriff des Kontinuums. 78
Punkte nicht zugleich die gehörige Anordnung haben.
Versuchen wir nämUch, uns den Begriff, den wir mit den
Benennungen ,,eine stetige Ausdehnung oder ein Kon-
tin u um" bezeichnen, zu einem deutlichen Bewußtsein zu
bringen: so können wir nicht umhin zu erklären, dort, aber
auch nur dort sei ein Kontinuum vorhanden, wo sich ein
hibegriff von einfachen Gegenständen (von Punkten in der
Zeit oder im Räume oder auch von Substanzen) befindet,
die so gelegen sind, daß jeder einzelne derselben für jede
auch noch so kleine Entfernung wenigstens einen Nachbar
in diesem Inbegriffe habe. Wenn dieses nicht der Fall ist,
wenn sich z. B. unter einem gegebenen Inbegriffe von
Punkten im Räume auch nur ein einziger befindet, der nicht
so dicht umgeben ist von Nachbarn, daß sich für jede —
nur klein genug genommene Entfernung ein Nachbar für
ihn nachweisen läßt: so sagen wir, daß dieser Punkt ver-
einzelt (isoliert) dastehe, und daß jener Inbegriff eben
deshalb kein vollkommenes Kontinuum darbiete. Gibt es
<lagegen nicht einen einzigen in diesem Sinne isoliert stehen-
den Punkt in einem vorliegenden Inbegriffe von Punkten,
hat also jeder denselben für jede auch noch so kleine Ent-
fernung wenigstens einen Nachbar: so erübrigt nichts mehr,
was uns berechtigen könnte, diesem Inbegriffe die Benen-
nung eines Kontinuums abzusprechen. Denn was noch sonst
.wollten wir verlangen?
„Dieses," erwidert man, „daß jeder Punkt einen
habe, den er unmittelbar berührt!" — Allein hier
fordert man etwas, das eine offenbare Unmöglichkeit ist,
einen Widerspruch in sich schließt. Denn, wann doch wollt
Ihr sagen, daß ein paar Punkte einander berühren? Viel-
leicht wenn die Grenze des einen (etwa die rechte Seite
desselben) mit der Grenze des anderen (etwa der linken Seite
desselben) zusammenfällt? Aber Punkte sind ja einfache
Teile des Raumes, sie haben somit keine Begrenzungen,
keine rechte und linke Seite. Hätte der eine nur einen
Teil gemein mit dem anderen, so wäre er schon durchaus
derselbe mit ihm; und soll er etwas von ihiji Verschiedenes
74 Der Begriff des Kontinuums.
#
haben, so müssen beide ganz auseinander liegen, und es
muß somit Raum da sein noch für einen zwischen ihnen
liegenden Punkt; ja, weil von diesem mittleren im Vergleiche
zu jenen beiden das nämliche gilt, für eine unendliche Menge
von Punkten.
„Aber das alles ist", wip man sagt, „nicht zu be-
greifen!" Allerdings läfit es sich nicht mit den Fingern
begreifen, allerdings auch nicht mit den Augen wahrnehmen ;
wohl aber wird es erkannt durch den Verstand und erkannt
als etwas, das notwendig so und nicht anders sein kann,
so daß ein Widerspruch nur erst dann angenommen wird,
wenn man es anders, wenn man es sich unrichtig vorstellt.
Doch man fährt fort: „Wie unbegreiflich ist es, sich in
der kleinsten Linie noch eine Anhäufung von unendlich
vielen Punkten, ja eine unendliche Menge solcher Anhäu-
fungen von Punkten vorzustellen, wie man dies- alles nach
der gewöhnlichen Lehre tun muß! Denn selbst die kleinste
Linie soll man ja noch in eine unendliche Menge anderer
Linien zerlegen können, indem man sie erst in zwei Hälften,
dann diese abermals in Hälften und so ohne Ende fort zer-
legt!" — Ich finde in dieser ganzen Gedankenverbindung
nichts Irriges und nichts Befremdendes, bis auf den einzigen
Ausdruck einer kleinsten Linie, den manche sich wohl
nur aus Mangel an Aufmerksamkeit entschlüpfen ließen,
weil es doch eine solche nicht gibt und geben kann, und
von derjenigen, die man hier eben betrachtet, geradezu
erklärt wird, daß sie in kleinere zerlegt werden könne.
Jede unendliche Menge, nicht die der Punkte in einer Linie
allein, läßt sich in Teile zerlegen, die selbst noch unend-
liche Mengen enthalten, ja in unendlich viele solche Teile.
Denn bedeutet c» eine unendliche Menge, so sind auch
— , — » "o" • • • • unendliche Mengen. So liegt es in dem
Begriffe des Unendlichen. '
„Wie aber" (dürfte man, falls die bisherigeti Erläute-
rungen nach einer längeren Erwägung sich vielleicht doch
als befriedigend herausgestellt hätten, zuletzt sagen), „wie
Paradoxien im Begriffe der Zeit. 75
sollen wir die Behauptung derjenigen Mathematiker deuten,
die selbst erklären, daß das Ausgedehnte durch keine, auch
noch so große Aneinanderhäufung von Punkten erzeugt
und durch Zerlegung in eine auch noch so große Menge
von Teilen auch nie in einfache Punkte aufgelöst werden
könne ?** — Strenge zu reden, sollte man einerseits frei-
lich lehren, daß nie eine endliche, eine unendliche Menge
von Punkten aber nur dann allein, dann aber auch immer
ein Ausgedehntes liefere, wenn die schon mehrmal erwähnte
Bedingung erfüllt wird, daß nämlich jeder Punkt für jede
hinreichend kleine Entfernung gewisse Nachbarn erhält;
dabei aber sollte man andererseits zugestehen, daß auch
nicht jede Zerlegung eines gegebenen Raumdinges in
Teile, namentlich keine Zerlegung in solche Teile, deren
Menge nur eine endliche ist, ja auch nicht jede solche, die
ins Unendliche geht (z. B. durch fortgesetzte Halbierungen),
wie wir nur vorhin sahen, bis an die einfachen Teile ge-
lange. Nichtsdestoweniger muß man darauf beharren, daß
jedes Kontinuum zuletzt doch aus nichts anderem als aus
Punkten und wieder nur Punkten hervorgehen könne. Und
beides verträgt sich, nur recht verstanden, sehr wohl.
§ 39-
«
Daß man an den Beschaffenheiten jener besonderen
stetigen Ausdehnung, welche die Zeit ist, auch noch be-
sondere Anstöße nehmen werde, ließ sich im voraus erwarten.
Zumal denjenigen Philosophen, die wie die Skeptiker es
eigens darauf anlegten, die menschlichen Begriffe statt zu
verdeutlichen, nur zu verwirren und allenthalben scheinbare
Widersprüche zu finden, mußte die Lehre von der Zeit
willkommenen Stoff darbieten. Wir werden jedoch hier nur
das Wichtigste erwähnen, zumal nicht alles, was hier vor-
gebracht wurde, den Begriff des Unendlichen berührte.
Man warf die Frage auf, ob die Zeit etwas Wirkliches
sei, und wenn dieses, ob Substanz oder Adhärenz, und im
ersten Falle, ob erschaffen oder unerschaffen? „Wenn jenes,"
Paradoxien im Begriffe der Zeit.
meinte man, „müsse sie einen Anfang genommen haben,
auch wohl einst wieder ein Ende nehmen, mithin sich
ändern, demnach selbst wieder einer anderen Zeit bedürfen,
in der sie sich ändert. Noch ungereimter . sei es, sie für
Gott selbst, oder für eine an ihm befindliche Adhärenz
zu erklären. Gewiß sei es auch, daß man die Zeit der
Ewigkeit entgegensetze; was nun sei diese? Wie sei es
möglich, daß eine unendliche Menge nicht nur von Augen-
blicken, sondern von ganzen Zeitlängen enthalten sei
in einem einzigen auch noch so kurzen Weilchen, z. B. in
einem einzigen Blick mit dem Auge, von dem jeder ein-
fache Zeitteil eben den Namen Augenblick hat? Doch
es ist in der Tat (sagte tnan zuletzt) gar keine Zeit vor-
handen! Denn die vergangene Zeit ist eben, weil ver-
gangen, offenbar nicht mehr da; die zukünftige aber ist,
weil erst künftig, jetzt noch nicht da: was endlich gegen-
wärtig ist, das ist nichts anderes als ein bloßer Augen-
blick in des Wortes strengstem Sinne, der keine Dauer,
somit auch keine Ansprüche auf den Namen einer Zeit
hat.«
Meinen Begriffen zufolge ist die Zeit allerdings nichts
Wirkliches im eigentlichen Sinne des Wortes, wo wir nur
den Substanzen und ihren Kräften Wirklichkeit bei-
legen. Jch halte sie also auch weder für Gott selbst noch
für eine geschaffene Substanz, noch auch nur für eine
Adhärenz weder an Gott, noch an irgend einer geschaffenen
Substanz, oder an einem Inbegriffe mehrerer. Sie ist auch
eben darum gar nichts Veränderliches, sondern vielmehr
dasjenige, worin alle Veränderung vorgeht. Wenn man das
Gegenteil sagt, wie in dem Sprichwort: die Zeiten ändern
sich, so wurde längst schon erinnert, daß man hier unter der
Zeit nur die in ihr befindlichen Dinge und deren Zustände
verstehe. Die Zeit selbst ist, um es nun näher anzugeben,
diejenige an einer jeden (veränderlichen oder was ebenso-
viel ist) abhängigen Substanz befindliche Bestimmung,
deren Vorstellung wir zu der Vorstellung dieser Substanz
hinzufügen müssen, um von je zwei einander widerspre-
Paradoxien im Begriflfe der Zeit 77
chenden Beschaffenheiten b und Nicht-Ä ihr die eine
in Wahrheit beizulegen, die andere absprechen zu können.
Genauer ist die hier erwähnte Bestimmung ein einziger
einfacher Teil dfer Zeit, ein Zeitpunkt oder Augenblick,
in welchem wir uns die Substanz x^ der wir von je zwei
widersprechenden Beschaffenheiten, b und Nicht-Ä, eine mit
Sicherheit beilegen wollen, vorstellen müssen; dergestalt,
daß also unser Ausspruch eigentlich lauten muß: x in dem
Zeitpunkte / hat entweder die Beschaffenheit b oder Nicht-Ä.
Gesteht man mir diese Erklärung des Begriffes eines Augen-
blickes erst als richtig zu, dann kann ich auch deutlich an-
geben, was die Zeit selbst, und zwar die ganze Zeit oder
die Ewigkeit sei, nämlich dasjenige Ganze, dem alle Augen-
blicke als Teile zugehören. Und jede endliche Zeit, d. h,
jede innerhalb zweier gegebener Augenblicke enthaltene
Zeitdauer oder Zeitlänge erkläre ich als den Inbegriff
aller der Augenblicke, die zwischen jenen zwei Grenzaugen-
blicken liegen. Diesen Erklärungen zufolge ist also kein
Unterschied zwischen der Zeit und der Ewigkeit, wenn
man unter jener nicht (wie es oft geschieht) eine beschränkte,
endliche, sondern die ganze (nach beiden Richtungen hin
endlose) Zeit versteht. Wohl aber besteht ein großer Unter-
schied in der Art, wie Gott und wie ' die veränderlichen
oder geschaffenen Wesen in dieser Zeit sich befinden. Diese
nämlich sind in der Zeit, indem sie sich in ihr ver-
ändern, Gott aber ist zu aller Zeit ganz unveränderlich
derselbe. Dies hat Veranlassung gegeben, ihn allein ewig,
die übrigen Wesen aber, seine Geschöpfe, zeitliche Wesen
zu nennen. — Daß jedes auch noch so kurze Weilchen,
wie ein Blick mit den Augen, schon eine unendliche Menge
ganzer Zeitlängen enthalte: dies sich in einem sinnlichen
Bilde auszumalen, mag eine schwere Aufgabe für unsere
Phantasie sein; genug, daß der Verstand es begreift
und als etwas erkennt, das gar nicht anders sein kann.
Aus dem Begriffe der Zeit, den wir hier andeuteten, läßt
sich auch selbst der objektive Grund hiervon erkennen;
doch würde die Auseinandersetzung desselben hierorts zu
78 Begriff des Raumes.
weitläufig sein. Ungereimt wäre nur, wenn wir behaupteten,
daß in der kurzen Zeit die gleiche Menge von Augen-
blicken wie in der längeren stecke, oder daß die unend-
lich vielen Zeitlängen, in welche sich jene zerlegen läßt,
von einer gleichen Länge, wie bei irgendeiner längeren
Zeit wären.
Der Trugschluß endlich, der die Realität des Begriffes
der Zeit gänzlich vernichten will, liegt ^ so am Tage, daß
es kaum eines Wortes zu seiner Widerlegung bedarf. Wir
gestehen ja, daß die Zeit Oberhaupt nichts Existierendes
sei, und so hat freilich weder die vergangene, noch die
zukünftige Zeit Existenz; denn selbst die gegenwärtige hat
keine: aber wie soll hieraus folgen, daß die Zeit nichts
sei? Sind denn nicht auch Sätze und Wahrheiten an sich
— etwas, obgleich sich niemand einfallen läßt, zu behaupten,
daß sie — wenn man mit ihnen nicht ihre Auffassung in
das Bewußtsein eines denkenden Wesens, also nicht wirk-
liche Gedanken oder Urteile verwechselt — etwas Exi-
stierendes wären?
§ 40.
Hinsichtlich der Paradoxien in der Lehre vom Räume
ist es bekannt, daß man auch diesen nicht zu erklären ge-
wußt; daß man auch ihn häufig für etwas Existierendes
gehalten, bald mit den Substanzen, die sich in ihm befinden,
verwechselt, bald ihn sogar für Gott selbst, wenigstens für
ein Attribut der Gottheit gehalten; daß selbst der große
Newton auf den Gedanken verfiel, den Raum für das
Sensorium 4er Gottheit zu erklären; daß man nicht nur
die im Räume befindlichen Substanzen sich oft bewegen,
sondern ihn selbst, d. h. die Orte ihre Orte verändern ließ;
daß man (seit Des Carte s) entdeckt zu haben glaubte,
nicht alle, sondern nur die sogenannten materiellen Sub-
stanzen befänden sich im Räume: bis endlich Kant sogar
auf den unglücklichen, von vielen noch jetzt ihm nach-
gesprochenen Einfall geriet, den Raum sowohl als die Zeit
Begriff des Raumes. 79
gar nicht als etwas Objektives, sondern als eine bloße
(subjektive) Form unserer Anschauung zu betrachten;
daß man seitdem die Frage aufgeworfen, ob andere Wesen
nicht einen anderen Raum, z. B. mit zwei oder vier Dimen-
sionen, haben; daß endlich Herbart uns vollends mit
einem doppelten, einem starren und stetigen Raum,
und einer ebensolchen doppelten Zeit hat beschenken wollen.
Über dies alles habe ich mich schon an anderen Orten er-
klärt.
Mir ist nämlich der Raum, ähnlicherweise wie die Zeit,
keine Beschaffenheit der Substanzen, sondern nur eine
Bestimmung an denselben, so zwar, daß ich diejenigen
Bestimmungen an den geschaffenen Substanzen, welche den
Grund angeben, warum sie bei dem Besitze ihrer Beschaffen-
heiten in einer gewissen Zeit gerade diese Veränderungen
ineinander hervorbringen, die Orte, an welchen sie sich
befinden, den Inbegriff aller Orte aber den Raum, den
ganzen Raum nenne. Diese Erklärung setzte mich in den
Stand, die Lehren der Raurawissenschaft aus jenen der Zeit-
lehre objektiv abzuleiten, also z. B. zu zeigen, daß und
warum der Raum drei Ausdehnungen habe u. m. a.
Die Paradoxien also, die man schon in dem Begriffe
des Raumes, in jener Gegenständlichkeit, die ihm trotz-
dem, daß er nichts Wirkliches sei, zukommen soll, in der
unendlichen Menge seiner Teile und in dem stetigen Ganzen
gefunden, welches sie untereinander bilden, trotzdem, daß
auch nicht zwei dieser einfachen Teile (Punkte) einander
unmittelbar berühren, diese Scheinwidersprüche glaube ich
nicht femer besprechen zu sollen, sondern als abgetan be-
trachten zu dürfen.
Das erste, was eine nähere Beleuchtung noch erheischt,
möchte wohl der Begriff der Größe einer räumlichen Aus-
dehnung sein. Daß aller Ausdehnung Größe zukomme,
darüber ist kein Streit; auch darüber ist man einig, daß
sich, wie bei der einen zeitlichen, so auch bei den drei
räumlichen Ausdehnungen die vorkommenden Größen nur
durch ihr Verhältnis zu einer, die man willkürlich als Maß-
80 Größe einer räumlichen Ausdehnung.
einheit angenommen hat, bestimmen lassen; ingleichen,
daß diese zur Einheit angenommene Ausdehnung von eben
derselben Art, wie die durch sie zu messenden, also für
Linien eine Linie, für Flächen eine Fläche, für Körper
ein Körper*) sein müsse. Fragen wir aber jetzt, worin das
eigentlich bestehe, was wir die Größe einer räumlichen
Ausdehnung nennen, so möchte man wohl, zumal da eine
solche Ausdehnung doch aus nichts anderem als aus Punkten,
welche nach einer gewissen Regel geordnet sind, besteht,
bei einer Größe aber nie auf die Ordnung, sondern nur
auf die Menge der Teile gesehen werden soll — sehr ge-
neigt sein, zu schließen, nur eben^ diese Menge der Punkte
sei es, was wir uns unter der Größe eines jeden Raumdinges
denken; wie dieses auch der Name selbst zu bestätigen
scheint, wenn wir die Größe einer Fläche oder eines Kör-
pers geradezu den Inhalt dieser Raumdinge nennen. Den-
noch zeigt eine nähere Betrachtung, dies sei nicht so. Oder
wie könnten wir sonst annehmen, was wir doch allgemein
und unbedenklich tun, daß sich die Größe eines Raum-
dinges, z. B. eines Würfels, nicht im geringsten ändert, ob
wir die Umgrenzung desselben, hier also die Oberfläche
*) Vielleicht ist es manchem nicht unlieb, hier gelegenheit-
lich die Erklärung dieser drei Arten räumlicher Ausdehnung zu
lesen. Gesteht man die § 38 gegebene Erklärung einer Aus-
dehnung überhaupt als richtig zu (und sie hat das Verdienst,
daß sie mit einer leicht anzubringenden Erweiterung auch auf
diejenigen Größen der allgepieinen Größenlehre, welche
man stetig veränderliche nennt, sich ausdehnen läßt), so sage
ich, ein räumlich Ausgedehntes sei einfach ausgedehnt^ oder
eine Linie, wenn jeder Punkt für jede hinlänglich kleine Entfer-
nung einen ^oder mehrere, keinesfalls aber so viele Nachbarn hat,
daß deren Inbegritf für sich allein schon ein Ausgedehntes
wäre; ich sage ferner, ein räumlich Ausgedehntes sei doppelt
ausgedehnt oder eine Fläche, wenn jeder Punkt für jede hin-
länglich kleine Entfernung eine ganze Linie von Punkten zu seinen
Nachbarn hat; ich sage endlich, ein räumlich Ausgedehntes sei
dreifach ausgedehnt oder ein Körper, wenn jeder Punkt für
jede hinlänglich kleine Entfernung eine ganze Fläche voll Punkte
zu seinen Nachbarn hat.
Paradoxien im Begriffe des Raumes. 81
des Würfels (die doch selbst schon eine Größe hat) mit zu
dem Inhalte desselben rechnen, oder nicht? Und so ver-
fahren wir unstreitig, wenn wir z. B. die Größe eines Würfels
von der Seite 2 achtmal so groß finden, als einen Würfel,
dessen Seite = i ist, ungeachtet der erste 12 quadratische
Seitenflächen von der Größe = i weniger hat, als die
letzteren, indem durch ihre Zusammenstellung in einen
einzigen Würfel von 24 solchen Quadraten, die in das
Innere des größeren Würfels kommen, die Hälfte wegfällt.
Hieraus geht denn hervor, daß wir uns unter der Größe
einer räumlichen Ausdehnung, sei es Linie, Fläche oder
Körper, eigentlich doch nichts anderes denken, als eine
Größe, welche aus einer zur Einheit angenommenen Aus-
dehnung von derselben Art mit der zu messenden nach
einem solchen Gesetze abgeleitet wird, daß, wenn wir, nach
eben diesem Gesetze verfahrend, aus dem Stücke M die
Größe m und aus dem Stück N die Größe n ableiten, wir
nach demselben Gesetze verfahrend, aus dem durch die
Verbindung der Stücke M und N erzeugten Ausgedehnten,
die Größe m-\'n erhalten, gleichviel ob wir die Grenzen,
die M und ' N und das aus beiden entstehende Ganze
M-\- N haben, mit in Betracht ziehen oder nicht. Daß sich
aus diesem Begriffe die allgemeinsten Fprmeln, welche die
Raumwissenschaft für die Rektifikation, die Komplanation
und die Kubierung aufzuweisen hat, in der Tat ableiten
lassen, ohne daß es sonst einer anderen Voraussetzung,
namentlich auch nicht der fälschlich so genannten Grund-
sätze des Archimedes bedürfte, ist in der schon § 37 er-
wähnten Schrift gezeigt.
§ 41-
, Auf die seither gegebenen Erklärungen uns stützend,
dürfen wir nun ohne Besorgnis, man werde uns eines
Widerspruches beschuldigen können, Sätze, wie folgende,
aufstellen, so paradox auch einige für die gewöhnliche
Vorstellungsweise erscheinen mögen.
Bolzano, Paradoxien des Unendlichen. ^
82 Paradoxien im Begriffe des Raumes.
1. Der Inbegriff aller Punkte, die zwischen den beiden
a und b liegen, stellt eine Ausdehnung von einfacher Art
oder Linie dar; sowohl wenn wir die Punkte a und b mit
dazurechnen, wo sie dann eine begrenzte Gerade ist, als
auch wenn wir den einen oder den anderen oder auch beide
Grenzpunkte nicht dazurechnen, wo sie also unbegrenzt,
in jedem Falle aber stets von derselben Länge ist, wie
vorher. Jede dergleichen unbegrenzte Gerade hat an der
Seite, wo ihr der Grenzpunkt fehlt, eben deshalb keinen
äußersten (entferntesten) Punkt, sondern hinter jedem steht
noch ein fernerer, obgleich ihre Entfernung stets eine end-
liche verbleibt.
2. Die Umfanglinie eines Dreieckes abc läßt sich zu-
sammensetzen erstens aus der auf beiden Seiten begrenzten
Geraden ac^ zweitens der nur auf einer Seite, bei c^ be-
grenzten aCy und drittens der beiderseits Unbegrenzten bc\
ihre Länge aber ist gleich der Summe der drei Längen von
aby bc und ca.
3. Wenn wir uns vorstellen, daß die Gerade az durch
den Punkt b halbiert, das Stück bz abermals durch den
Punkt c halbiert, das cz wieder durch den Punkt d halbiert
und so ohne Ende fortgefahren werde; und wenn wir an-
nehmen, daß diese unendlich vielen Halbierungspunkte 6,
Cy dy und der Punkt z aus dem Inbegriffe der Punkte,
die zwischen a und z liegen, hinweggedacht werden sollen:
so wird der Inbegriff der übrigen noch immer den Namen
einer Linie verdienen, und ihre Größe wird noch dieselbe
wie vorhin sein. Rechnen wir aber z mit zu dem Inbe-
griffe: so ist das Ganze kein stetig Ausgedehntes mehr zu
nennen; denn der Punkt z steht vereinzelt, weil es für ihn,
keine auch noch so kleine Entfernung gibt, von der gesagt
werden könnte, daß er für diese und für jede kleinere einen
Nachbar in diesem Punkteninbegriffe habe. Nämlich für alle
az
Entfernungen, welche der Form —^ unterstehen, fehlt es an
einem Nachbar für z,
4. Wenn die Entfernung der Punkte a und b der Ent-
Paradoxien im Begriffe des Raumes. 83
femung der Punkte a und ß gleicht: so muß auch die Menge
der Punkte zwischen a und b der Menge der Punkte zwischen '
a und ß gleich angenommen werden.
5. Ausdehnungen, die eine gleiche Menge von Punkten
haben, sind auch von gleicher Größe, nicht aber umgekehrt
müssen zwei Ausdehnungen, welche von gleicher Größe
sind, auch gleichviel Punkte haben.
6. Bei einem Paar Raumdingen, welche einander voll-
kommen ähnlich sind, müssen sich auch die Mengen ihrer
Punkte genau wie ihre Größen verhalten.
7. Ist also das Größen Verhältnis zwischen zwei einander
vollkommen ähnlichen Raumdingen ein irrationales: ist auch
das Verhältnis zwischen den Mengen ihrer Punkte irrational.
Es gibt also Mengen (nämlich unendliche nur), deren
Verhältnis in jeder beliebigen Art irrational ist.
§ 42.
Unter diesen Sätzen, deren Anzahl (wie man sieht) leicht
vermehrt werden könnte, hat meines Wissens der sechste
allein in den Schriften der Mathematiker schon bisher eine
Beachtung gefunden; jedoch nur in der Art, daß man im
Widerstreite mit ihm den Satz aufstellte, ähnliche Linien
müßten, wie verschieden sie auch in ihrer Größe
wären, doch eine gleiche Menge von Punkten be-
sitzen. Solches behauptete Dr. J. K. Fischer (Grundriß
der gesamten höheren Mathematik. Leipzig, 1809. Bd IL
§ 51, Anm.) namentlich von ähnlichen und konzentrischen
Kreisbögen, aus dem beigefügten Grunde, weil sich durch
jeden Punkt des einen ein Halbmesser ziehen ließe, der
einem Punkte des anderen begegnet. Bekanntlich aber hat
schon Aristoteles sich mit dieser Paradoxie beschäftigt.
Fischers Schlußweise verrät offenbar die Meinung, daß ein
Paar Mengen, wenn sie auch unendlich sind, einander gleich
sein müssen, sobald nur jeder Teil der einen mit einem
der anderen zu einem Paare verknüpft werden kann. Nach
Aufdeckung dieses Irrtums bedarf es keiner weiteren Wider-
6*
84 Unendlich große Entfernungen.
legung jener Lehre, von der sich überdies gar nicht ein-
sehen ließe, warum wir, sofern sie richtig wäre, diese Be-
hauptung der gleichen Punktenmenge nur ebeü auf Kreisbögen
und auf konzentrisch liegende und ähnliche beschränken
müßten, da sich der gleiche Grund auch für alle gerade
Linien und für die verschiedenartigsten, nichts weniger als
einander ähnlichen Kurven anführen ließe.
§ 43-
Kaum gegen eine in die Raumlehre gehörige Wahrheit
dürften sich die Lehrer dieser Wissenschaft öfter versündigt
haben, als gegen die, daß jede zwischen zwei Punkten
im Räume liegende Entfernung, somit auch jede
auf beiden Seiten begrenzte Gerade nur eine end-
liche sei, d. h, mit jeder anderen in einem durch bloße
Begriffe genau bestimmbaren Verhältnisse stehe. Denn es
wird kaum einen Geometer geben, der nicht Zuweilen von
unendlich großen Entfernungen gesprochen und eine
Gerade, die doch nach beiden Seiten hin ihre Grenzpunkte
haben sollte, unter gewissen Umständen nicht hätte un-
endlich groß werden lassen. Als Beispiel genüge uns
hier die Hinweisuüg auf jenes bekannte Linienpaar, welches
die, im geometrischen Sinne des Wortes zu verstehende,
Tangente und Sekante eines Winkels oder Bogens genannt
wird. Diese sollen nach der ausdrücklichen Erklärung ein
Paar gerade Linien sein, welche nach beiden Seiten hin
begrenzt sind: und doch wie wenige gibt es, die ein Be-
denken tragen zu lehren, daß für den rechten Winkel Tan-
gente sowohl als Sekante unendlich groß würden. Den-
noch wird man für diese irrige Lehre gleich auf der Stelle
bestraft durch die Verlegenheit, in die man hierbei gerät,
sobald man angeben soll, ob diese zwei unendlich großen
Größen als positiv oder als negativ anzusehen seien?
Denn offenbar spricht derselbe Grund, der für das eine
angeführt werden könnte, auch für das andere; weil ja be-
kanntlich eine durch den Mittelpunkt des Kreises gleich-
* Gröfie des ganzen Raumes. 85
laufend zu einer Berührungslinie desselben gezogene Gerade
zu beiden Seiten dieser Berührenden ein völlig gleiches Ver-
hältnis hat, daher so wenig auf der einen als auf der anderen
Seite mit ihr zusammenstößt. Auch in dem Größenaus-
I
drucke für diese beiden Linien = — liegt, da Null weder
o
als positiv noch als negativ angesehen werden kann, nicht
der geringste Grund, diese vermeintlich unendliche Größe
eher für positiv oder für negativ zu erklären. Es ist also
nicht bloß paradox, sondern ganz falsch, das Vorhanden-
sein einer unendlich großen Tangente des rechten Winkels
sowie sämtlicher Winkel von der Form
-\-iin-\
anzunehmen.
Daß es, strenge gesprochen, auch für den Winkel = o
oder für den = + n • jr weder Sinus noch Tangente gäbe,
sei bloß gelegentlich erinnert. Der Unterschied in diesen
beiden Annahmen ist bloß, daß sich bei letzterer kein fal-
sches Ergebnis herausstellt, wenn man in Fällen, wo diese
Größenausdrücke als Faktoren erscheinen, die Produkte wie
gar nicht vorhanden betrachtet, dort aber, wo sie als Divi-
soren auftreten, schließt, daß die Rechnung etwas Ungesetz-
liches verlange.
§ 44-
Ein ebenso unberechtigtes Verfahren, welches jedoch
glücklicherweise wenig Nachahmer fand, war es, wenn J oh.
Schulz die Größe des ganzen unendlichen Raumes
berechnen wollte, indem er aus dem Umstände, daß sich
aus jedem gegebenen j^unkte a nach allen Seiten hin, d. h.
in jeder Richtung, die es nur immer gibt, gerade Linien
in das Unendliche hinaus gezogen denken lassen, und aus
dem ferneren Umstände, daß jeder nur immer gedenkbare
Punkt m des ganzen Weltraumes in einer und nur in einer
dieser Linien liegen müsse, sich zu dem Schlüsse berechtigt
86 Größe des ganzen Raumes. *
hielt, daß man den ganzen unendlichen Raum als eine Kugel
ansehen dürfe, die aus dem willkürlich gewählten Punkte a
mit einem Halbmesser von der Größe = oo beschrieben
wäre; woraus sich ihm denn sofort ergab, daß der ganze
unendliche Raum genau nur die Größe — tz oo^ habe.
3
Es wäre ohne Zweifel einer der wichtigsten Lehrsätze
der Raumwissenschaft, wenn dies als wahr gerechtfertigt
werden könnte. Und gegen die beiden Vordersätze (die
ich jedoch hier eben nicht genau nach Schulzens, mir
nicht vor Augen liegenden Vortrage darstellte) dürfte sich
kaum etwas Gegründetes einwenden lassen. Denn wollte
jemand sagen, der zweite Vordersatz müsse schon darum
irrig sein, weil aus ihm eine sehr ungleiche Verteilung der
Punkte im Welträume, nämlich eine viel dichtere Anhäufung
um den doch willkürlich zu wählenden Mittelpunkt a her-
um folgen würde: so gäbe er nur zu erkennen, das § 21 f.
von uns bekämpfte Vorurteil noch nicht überwunden zu
haben. Gefehlt und ganz offenbar gefehlt hat Schulz nur
darin, daß er die Geraden, die aus dem Punkte a nach
allen Richtungen ins Unbegrenzte hinaus gezogen sein
müssen, wenn jeder Punkt des Raumes in irgendeiner der-
selben gelegen sein soll, dennoch als Halbmesser, somit
als beiderseits begrenzte Linien annahm. Denn nur aus
dieser Voraussetzung ist ja die Kugelgestalt des unendlichen
q
Raumes und die Berechnung seiner Größe == — jrooS g^.
folgert. Aus diesem Irrtume fließt aber auch die Ungereimt-
heit, daß — weil es zu jeder Kugel doch auch einen sie
umschließenden Zylinder oder auch einen dergleichen
Würfel, ja noch gar viele andere Raumding^, z. B. unend-
lich viele sie umgebende andere Kugeln von gleichem
Durchmesser geben muß — der angeblich ganze Raum
nicht der ganze, sondern ein bloßer Teil ist, der noch un-
endlich viele andere Räume außer sich liat.
Die einzige Bemerkung, daß eine, auch nur nach einer
Seite hin in das Unendliche hinaus gezogene Linie eben
Unendlich kleine Entfernungen. 87
deshalb keine nach dieser Seite hin begrenzte Linie sei,
daß also auch von einem Grenzpunkte derselben so wenig
gesprochen werden könne, wie etwa von der Spitze einer
Kugel oder der Krümmung einer Geraden oder eines ein-
zelnen Punktes, oder dem Punkte des Zusammenstoßes zweier
Gleichlaufenden — diese einzige Bemerkung, sage ich, reicht
hin, um die meisten Paradoxien ^my5/mfl inßnittjy die B ose o-
wich in s. Diss. de transformatione locorum geometricorum
(angehängt s. Elem. univ, Matheseos T. III, Romae 1754)
vorgebracht hat, in ihrer Nichtigkeit zu zeigen.
§ 45-
Nicht viel seltener als unendlich große hat man auch
unendlich kleine Entfernungen und Linien im Räume
angenommen, besonders wenn es ein scheinbares Bedürfnis
wurde, Linien oder Flächen, deren kein Teil (der noch selbst
^ ausgedehnt ist) gerade oder eben ist, gleichwohl als solche,
die gerade oder eben sind, zu behandeln, z. B. um ihre
Länge oder die Größe ihrer Krümmung oder auch wohl
gewisse für die Mechanik merkwürdige Beschaffenheiten
derselben leichter bestimmen zu können. Ja man erlaubte
sich in solchen Fällen sogar, Entfernungen zu erdichten,
die durch unendlich kleine Größen der zweiten, dritten u. a.
höherer Ordnungen gemessen werden sollen.
Daß man bei diesem Verfahren, besonders in der Geo-
metrie^ nur selten auf ein falsches Resultat geriet, hatte
man, bloß dem schon § 37 erwähnten Umstände zu danken,
daß die veränderlichen Größen, die sich auf räumliche Aus-
dehnungen, welche bestimmbar sein sollen, beziehen, von
einer solchen Beschaffenheit sein müssen, daß sie, höchstens
mit Ausnahme einzelner isoliert .stehender Werte, eine
erste, zweite und jede folgende abgeleitete Funktion haben.
Denn wo dergleichen bestehen, da gilt dasjenige, was von
den sogenannten unendlich kleinen Linien, Flächen und
Körpern behauptet wird, insgemein schon von allen Linien,
Flächen und Körpern, die — ob sie gleich stets endlich
88 Unendlich kleine Entfernungen.
verbleiben — doch so •klein, als man nur will, genommen
werden, d. h. (wie man sich ausdrückt) in das Unendliche^
abnehmen können. Solche veränderliche Größen also waren
es eigentlich, von denen galt, was man nur fälschlicherweise
von den unendlich kleinen Entfernungen aussagte.
Daß aber bei einer solchen Darstellung der Sache immer
doch viel Paradoxes, ja ganz Irriges vorgebracht und schein-
bar erwiesen werden mußte, begreift sich von selbst. Wie
anstößig klang es z. B. schon, wenn man von jeder krum-
men Linie und Fläche behauptete, daß sie nichts anderes
sei, als eine Zusammensetzung aus unendlich vielen geraden
Linien und ebenen Flächen, die nur unendlich klein vor-
ausgesetzt werden müßten, besonders wenn daneben wie-
der unendlich kleine Linien und Flächen, die gleichwohl
krumm seien, zugestanden wurden. Wie sonderbar war es,
wenn man von Linien, welche in einem ihrer Punkte gar
keine Krümmung, sondern z.*B. einen Wendepunkt haben,
behauptete, daß ihre Krümmung in diesem Punkte unend-
lich klein, ihr Krümmungshalbmesser also unendlich groß
wäre; oder von Linien, die in einem ihrer Punkte in eine
Spitze auslaufen, daß ihre Krümmung hier unendlich groß,
ihr Krümmungshalbmesser unendlich klein wäre, u. dgl. m.
§ 46.
Als ein recht auffallendes und zugleich sehr einfaches
Beispiel, zu welchen Ungereimtheiten die Annahme solcher
unendlich kleinen Entfernungen Stoff und Veranlassung dar-
bot, erlaube ich mir hier nur die Anführung eines Satzes,
den nach Kästners Berichte (Anfangsgründe der höheren
Analysis, Bd. IL Vorr) schon Galilei in s. Discorsi e dimo-
strazioni matematiche etc., wohl nur in der Absicht, um das
Nachdenken zu wecken, aufgestellt hatte, nämlich, daß der
Umfang eines Kreises so groß als dessen Mittel-
punkt wäre.
Um eine Vorstellung von der Art, wie man dies dar-
zutun suchte, zu erhalten, denke der. Leser sich ein Qua-
Paradoxie von Galilei.
89
drat abcd^ darin aus a als dem Mittelpunkte mit dem Halb-
messer ab = a der Quadrant bd beschrieben, dann die Ge-
rade pr parallel zu ab gezogen
ist, die die beiden Seiten des Qua- ••'
drats ad und bc in p und r, die
Diagonale ac in fty und den Qua-
dranten in m schneidet, kurz die
bekannte Figur, durch die man
darzutun pflegt, daß ein Kreis mit
dem Halbmesser pn gleich sei dem
Ringe, der durch Abzug des Krei-
ses mit pm von dem mit pr zurückbleibt; oder daß
2
jt • pn^ =z 7t • pr^ — 7t -pm
sei. Wenn pr stets näher zu ab heranrückt, wird offenbar
der Kreis mit pn stets kleiner und der Ring zwischen den
Kreisen mit pm und pr immer schmaler. Geometer also, die
keinen Anstoß an unendlich kleinen Entfernungen nahmen,
dehnten dieses Verhältnis auch auf den Fall aus, wenn pr
unendlich nahe an aÄ heranrückt, also z. B. der Abstand
ap = dx wird, wo dann die Gleichung
71
. dx2 = jr . a2 — jT (a2 — dx«)
eintreten sollte, die sich auch in der Tat als eine bloß
identische rechtfertigt. In diesem Falle aber war ihrer Vor-
stellung nach der Kreis mit pn ein unendlich Kleines- der
zweiten Ordnung geworden; der Ring dagegen, der nach
dem Abzüge des Kreises mit pm von dem mit pr übrig-
bleibt, hatte jetzt nur die Breite
1 dx2 . I
nir = —
2 a ' 2*4
dx^
\~ • • • • »
die selbst schon ein unendlich Kleines der zweiten Ord-
nung war, erhalten. Wurde nun vollends angenommen,
daß pr gänzlich in ab übergehe, so zog sich der unend-
90 Paradoxie von Galilei.
9
lieh kleine Kreis mit pn in den einzigen Punkt a zusammen,
und der unendlich schmale Ring, von der Breite mr ver-
wandelte sich in die bloße Umfangslinie des Kreises mit
dem Halbmesser ab^ Daher man berechtigt zu sein schien
zu dem Schlüsse, daß der bloße Mittelpunkt a jedes be-
liebigen Kreises mit ab so groß als die ganze Umfangslinie
desselben wäre.
Das Täuschende in diesem Schlüsse wurde vornehm-
lich durch die Einmengung des unendlich Kleinen erzeugt.
Durch dieses nämlich wurde der Leser auf eine Gedanken-
reihe geleitet, die ihn viel leichter übersehen läßt, wie vieles
Ungereimte in den Behauptungen liegt, daß von dem Kreise
mit pUy wenn statt des Punktes p zuletzt der Punkt a zu
betrachten kommt und gar kein Halbmesser wie pn mehr
vorhanden ist, doch noch der Mittelpunkt a bleibe,
und daß ebenso der durch den Abzug des Kreises mit dem
kleineren Halbmesser pm von dem Kreise mit dem größeren
Halbmesser pr entstehende Ring zuletzt, wenn beide Halb-
messer und somit auch Kreise einander gleich werden, zur
Umfangslinie des vorhin größeren werde. Denn freilich
bei den unendlich kleinen Größen ist man gewohnt, die-
selben Größen bald als einander gleich, bald wieder die
eine als um ein unendlich Kleines einer höheren Ordnung
größer oder kleiner als die anderen, bald auch als völlig
gleich der Null zu betrachten. Wollen wir schlußgerecht
verfahren, so dürfen wir aus der richtig angesetzten Gleichung
jr . pn2 = jr . pr^ — jr.pm^
welche die bloßen Größen (Flächeninhalte) der in Rede
stehenden Kreise vergleicht, - nichts anderes schließen, als
daß für den Fall, wo pr und pm einander gleich werden,
der Kreis mit pn gar keine Größe habe, demnach gar nicht^
vorhanden sei.
Wahr ist es freilich (und ich habe die zu dieser Wahr-
heit führenden Prämissen § 41 selbst aufgestellt), daß es
auch Kreise mit und ohne Umfangslinie gäbe, und daß dies
Zykloide. 91
an der Größe derselben, die lediglich von der Größe ihres
Halbmessers abhängt, nichts ^ ändere. Und daraus könnte
wohl jemand noch einen neuen Scheinbeweis für den Satz
Galileis hernehmen wollen, indem er von der allerdings er-
laubten Forderung ausginge, daß man den Kreis mit pm
sich ohne Umfangslinie, den Kreis mit pr aber samt seiner
Umfangslinie denken solle. Dann nämlich würde nach
Hin wegnähme des Kreises mit pm von dem mit pr^ wenn
wir von pr zu ab übergehen, in der Tat. nur die Umfangs-
linie des Kreises mit ab übrigbleiben. Aber auch jetzt
noch ließe sich von keinem Kreise um a, der sich in einen
einzigen Punkt zusammengezogen habe, sprechen, und noch
viel weniger wäre es erlaubt, sich auf die obige Gleichung
berufen zu wollen, um aus ihr zu folgern, daß der Punkt a
und jene Umfangslinie einander gleich groß wären, da die
besagte Gleichung nur von den Größen der drei Kreise,
sie mögen mit oder ohne Umfangslinien betrachtet werden,
handelt.
§ 47-
Das eben besprochene Beispiel wurde, wie schon er-
wähnt, von seinem Erfinder selbst nicht aufgestellt, um als
Wahrheit angestaunt zu werden» Als ernste Wahrheit aber
lehrt man von der gemeinen Zykloide, sie habe in dem
Punkte, wo sie auf ihre Grundlinie trifft, eine unendlich
große Krümmung oder (was ebensoviel heißt) einen un-
endlich kleinen -Krümmungshalbmesser und stehe hier in
senkrechter Richtung auf. Es hat dies auch seine völlige
Richtigkeit, versteht man es so, daß der Krümmungs-
halbmesser in das Unendliche abnimmt, während der Zy-
kloidalbogen sich der Grundlinie in das Unendliche nähert;
wie auch, daß seine Richtung in dem Punkte des Eintrittes
selbst eine senkrechte ist. Nur was von dem unendlich
kleinen oder zu Null gewordenen Krümmungshalbmesser
gesagt wird, besteht (richtiger ausgedrückt) bloß darin, daß
(weil die Kurve bekanntlich über ihrer Grundlinie nach
/
92 Zykloide.
beiden Seiten hin in das Unendliche fortgeht und somit
keine Grenzpunkte hat) auch in diesem Punkte zwei
BogenstQcke zusammentreffen, und zwar in der Art, daß
sie, weil beide senkrecht auf der Grundlinie stehen, hier
miteinander eine Spitze bilden, und zwar eine solche, wo
beide nur eine und dieselbe Richtung haben, oder (wie
man schon minder richtig sagt) mit ihren Richtungen hier
den Winkel Null einschließen.
Allein man kann durch Rechnung überzeugt sein, daß
sich dies alles in der Tat so verhalte, und doch nicht be-
greifen, wie es so komme, ja auch nur möglich seL Um
auch dies einleuchtend zu machen, wodurch das Para-
doxon erst gelöst wird, müssen wir zuvor begreifen, warum
die Richtung, in welcher die gemeine Zykloide über ihre
Grundlinie emporsteigt, eine senkrechte sei.
Aus der Art, wie die gemeine Zykloide konstruiert
werden kann, nämlich, daß man aus jedem Punkte o der
Basis einen diese berührenden Kreisbogen mit dem Halb-
messer des erzeugenden Kreises beschreibt und, von dem-
selben ein Stück om von gleicher Länge mit der Entfer-
nung des Punktes o vom Anfangspunkte a abschneidend,
m als einen Punkt der Zykloide betrachtet — ergibt sich
sofort, daß der Winkel mao einem rechten immer näher-
tritt, je näher man mit dem Punkte o z\i a rückt, indem
der Winkel moa^ dessen Maß der halbe Bogen om ist,
immer kleiner und das Verhältnis der beiden Seiten oa
und om im Dreiecke moa sich
immer mehr dem Verhältnisse
der Gleichheit nähert; daher
die Winkel an der dritten
Seite am sich immer weniger
vom rechten unterscheiden.
Die wirkliche Berechnung
zeigt dies ganz deutlich. Hier-
aus folgt aber noch überdies,
daß der Zykloidalbogen am ganz auf derselben Seite der
Chorde aw, namentlich zwischen ihr und dem aus a er-
Zykloide. 93
richteten Lote at liege; somit, daß dieses die Richtung
der Kurve im Punkte a bezeichne. Beschreiben wir ferner
aus o als Mittelpunkt einen von a ausgehenden Kreisbogen
mit oa\ so ist offenbar, daß dieser die Chorde ont ersi in
einem Punkte r ihrer Verlängerung schneide, weil
or = oa]>om
sein muß. Ist nun fi irgendein noch näher an a liegender
Punkt der Kurve, so gibt es für ihn ein noch näher an a
liegendes co in der ao von der Art, daß von der Chorde
(Ofx dasselbe gilt, was soeben von der om behauptet wurde^
nämlich, daß ein aus a> als Mittelpunkt- mit dem Halb-
messer (Da beschriebener Kreisbogen in die Verlängerung
cofi über /i irgendwo in q eintrifft. Wegen (oa<^oa liegt
aber der . Kreisbogen ag innerhalb des Kreisbogens ar,
also zwischen dem Zykloidalbogen afx und dem Kreis-
bogen ar. Wir sehen demnach, daß es zu jedem, mit
noch so kleinem Halbmesser oa beschriebenen Kreisbogen
ar, den die Zykloide am in a berührt, einen, anderen ag
gibt, der ihr noch näherkommt in dieser Gegend; mit
anderen Worten, daß es keinen auch noch so kleinen Kreis
gibt, der sich als Maß der in a stattfindenden Krümmung,
falls es hier eine gibt, ansehen ließe. Es gibt also hier
in Wahrheit keine, Krümmung, sondern die Kurve, die in
diesem Punkte nicht endet, hat hier, wie wir schon wissen,
eine Spitze.
§48.
Paradox hat man es auch häufig gefunden, daß manche
räumliche Ausdehnungen, die sich durch einen unend-
lichen Raum verbreiten (d. h. Punkte haben, deren Ent-
fernung voneinander jede gegebene Entfernung übersteigt),
gleichwohl nur eine endliche Größe, und wieder andere,
die in einem ganz endlichen Räume beschränkt
sind (d. h. deren sämtliche Punkte so liegen, daß ihre Ent-
fernungen voneinander eine gegebene nicht überschreiten)^
94 Paradoxien bei räumlichen Ausdehnungen.
doch eine unendliche Größe besitzen; oder endlich, daß
manche räumliche Ausdehnung eine endliche Größe behält,
ob sie gleich unendlich viele Umgänge um einen
Punkt herum macht.
I. Wir müssen hier vor allem unterscheiden, ob unter
der räumlichen Ausdehnung, von welcher hier gesprochen
wird, ein aus mehreren voneinander getrennten Teilen
bestehendes Ganze (dergleichen z. B. die mit vier Zweigen
versehene Hyperbel ist), oder nur ein durchaus zusam-
menhängendes Ganze, d. h. nur eine solche Ausdeh-
nung verstanden werdei\ soll, die keinen einzigen, selbst
noch eine Ausdehnung darstellenden Teil hat, an dem nicht
wenigstens ein Punkt vorhanden wäre, der, zu den übrigen
Teilen gerechnet, mit ihnen abermals ein Ausgedehntes
«bildet.
Daß eine Ausdehnung, die aus getrennten Teilen be-
steht, durch einen unendlichen Raum sich ausbreiten könne,
ohne darum schon unendlich groß zu sein, wird niemand
anstößig finden, der daran denkt, daß auch eine unendliche
Reihe von Größen, wenn sie im geometrischen Verhältnisse
abnehmen, eine bloß endliche Summe darbietet. In diesem
Sinne also kann allerdings auch eine Linie sich ins Un-
endliche verbreiten, und doch nur endlich sein, wie gleich
diejenige, welche zum Vorschein kommt, wenn wir aus
einem gegebenen Punkte a in gegebener Richtung aR eine
begrenzte Gerade ab auftragen, dann aber in einem sich
immer gleichbleibenden Abstände eine Gerade cd, welche
nur halb so groß als die vorige ist, auftragen, und nach
demselben Gesetze in das Unendliche fortfahren.
Sprechen wir aber — und das soll in dem nun Folgen-
den immer geschehen — nur von solchen räumlichen Aus-
dehnungen, die ein zusammenhängendes Ganzes ge-
währen: so ist wohl einleuchtend, daß unter den Ausdeh-
nungen der niedrigsten Art, d. h. den Linien, keine
zu finden sein könne, die sich in das Unendliche erstreckt,
ohne zugleich eine unendliche Größe (Länge) zu haben.
Denn so ergibt es sich ja schon mit Notwendigkeit aus der
Parädoxien bei räumlichen Ausdehnungen. 95
bekannten Wahrheit, daß die kürzeste durchaus zusammen-
hängende Irinie, die zwei gegebene Punkte miteinander ver-
binden soll, nur die Gerade zwischen denselben ist*).
Anders als bei den Linien ist es bei den Flächen,
die bei derselben Länge bloß durch Verminderung ihrer
Breite, und bei den Körpern, die bei derselben Länge
und Breite bloß durch Verminderung ihrer Höhe so klein,
als man nur will, gemacht werden können. Daraus begreift
sich denn, warum auch Flächen, die eine unendliche Länge,
' und Körper, die neben einer unendlichen Länge auch eine
unendliche Breite haben, zuweilen doch nur eine endliche
*) Weil der Beweis dieser Wahrheit so kurz ist, erlaube ich
mir, ihn dieser Note einzuverleiben. Ist die Linie amonb nicht
gerade, so muß es irgendeinen Punkt o in ihr geben, der außer-
halb der Geraden ab liegt und es sind, wenn wir aus o das Lot
oco auf ab fällen, die Entfernungen
aox^ao, bcö<^bo.
Da aber alle Systeme zweier Punkte einander ähnlich sind, so
gibt es zwischen den Punkten a und cd eine Linie afiw^ ähnlich
dem zwischen den Punkten a und o liegenden Stücke amo der
gegebenen amonb ^ und zwischen den Punkten b und co ebenfalls
eine Linie bvm. ähnlich dem zwischen den Punkten b und o lie-
genden Stücke Awo der gegebenen bnoma. Diese Ähnlichkeit
aber fordert auch, daß sich die Länge der Geraden a<o zur Länge
der afiG> verhalte wie die Länge der Geraden ao zur Länge des
Stückes amo und die Länge der Geraden b<o zur Länge bvco wie
die Länge der Geraden bo zur Länge des Stückes bno. Weil
mm acö<ao, so muß auch afi<o<^alno und weil box^boy so
muß auch bvco <C bno sein. Folglich ist auch das Ganze afi(ovb<i
das Ganze amonb. Die krumme Linie amonb ist also nicht die
kürzeste zwischen a und b, sondern die aficovb ist kürzer.
96 Paradoxien bei räumlichen Ausdehnungen.
Größe behaupten. Ein Beispiel, daß auch der Unkundigste
begreiflich finden wird, geben wir ihm, wenn wir verlangen,
daß er sich auf der in das Unendliche fortlaufenden Ge-
raden aR die gleichen StQcke ab=^i = bc=^cd^^ usw.,
in das Unendliche aufgetragen denken, sodann über dem
ersten Stücke ab das Quadrat 6a, über dem zweiten bc
das Rechteck cy^ das nur die halbe H<)he bc hat, und so
\
ß
\
y
^1
1 1
R
über jedem folgenden ein Rechteck, halb so hoch als das
nächstvorhergehende vorstellen wolle, wo er gewiß sehr
bald erkennen wird, daß die zusammenhängende Fläche,
die ihm hier vorschwebt, in das Unendliche reicht und
doch nicht größer als 2 ist. Nicht schwieriger wird es
ihm sein, sich einen Würfel zu denken, dessen Seite = i
ist, und diesem in Gedanken einen zweiten Körper unter-
zustellen, dessen Grundfläche ein Quadrat von der Seite 2,
also viermal so groß, als die Grundfläche des vorigen
Würfels, die Höhe aber nur \ beträgt; diesem hierauf einen
dritten unterzusetzen, dessen Grundfläche abermals ein
Quadrat viermal so groß als des nächstvorhergebenden,
die Höhe aber \ von der Höhe des vorigen Körpers be-
trägt — und sich vorzustellen, daß nach demselben Gesetze
in das Unendliche fortgefahren würde. Er wird begreifen,
daß die Länge und Breite der Körper, die hier im Ver-
folge untersetzt werden, in das Unendliche wachsen, ob-
gleich ihr körperlicher Inhalt nur immer kleiner wird, so
zwar, daß jeder folgende die Hälfte von dem nächstvorher-
gehenden beträgt; daß also die Größef des pyramidalischeu
Ganzen, das so zum Vorschein kommt, trotz seiner un-
endlichen Basis doch ifie den körperlichen« Inhalt =2 über-
stdge.
Paradoxien bei räumlichen Ausdehnungen. 97
2. Wie der bisher betrachtete Fall, wo eine Ausdeh-
nung, die etwas Unendliches (eine unendliche Länge oder
auch Breite) an sich hat, und gleichwohl von einer nur
endlichen Größe befunden wird, nur bei den zwei höheren
Arten der Ausdehnung, den Flächen und Körpern, nicht
aber bei Linien eintreten kann: so findet das Gegenteil bei
dem Falle statt, auf den wir jetzt zu sprechen kommen,
wo eine Ausdehnung, die deshalb endlich scheint, weil sie
in einen ganz endlichen Raum beschränkt ist, in der Tat
doch eine unendliche Größe besitzt. Dieser Fall nämlich
kann nur bei den zwei niederen Arten der Ausdehnung,
den Linien und Flächen, keineswegs aber bei Körpern
Platz greifen. Ein Körper, in dem es keine Punkte gibt,
deren Entfernungen voneinander jede gegebene Größe über-
schreiten, kann sicher nicht unendlich groß sein. So er-
gibt es sich unmittelbar aus der bekannten Wahrheit, daß
unter allen Körpern, deren Punkte eine gegebene Entfer-
nung jE", der eine von dem anderen nicht überschreiten
sollen, der größte eine Kugel vom Durchmesser E sei.
Denn diese enthält jene Punkte. allzumal, und ihre Größe
ist nur — «E^; jeder andere diesen Raum nicht überschrei-
tende Körper muß also notwendig kleiner als — «E^ sein.
Der Linien dagegen, die sich in den Raum einer einzigen,
auch noch so kleinen Fläche, z. B. eines Quadratschuhes,
einzeichnen lassen, gibt es unendlich viele, und jeder aus
ihnen können wir eine wenigstens endliche Größe, z. B. die
Länge eines Schuhet, erteilen, auch durch Hinzufügung
einer oder auch unendlich vieler Verbindungslinien sie alle
zu einer einzigen durchaus zusammenhängenden Linie ver-
einen, deren Länge dann gewiß eine unendliche sein muß.
Und völlig ebenso gibt es der Flächen, die sich in den
Raum eines einzigen, auch noch so kleinen Körpers,
z. B. eines Kubikschuhes, einzeichnen lassen, unendlich
viele, deren jeder wir eine Größe, z. B. die eines Quadrat-
schuhes, erteilen können, und durch Hinzufügung einer oder
Bolzano, Paradoxien des Unendlichen. 7
98 Paradoxien bei räumlichen Ausdehnungen.
auch uneijidlich vieler Verbindungsflächen können wir alle
diese Flächen zu einer einzigen vereinen, deren Größe dann
unstreitig eine unendlich große sein wird. Dieses alles kann
auch niemand wundernehmen, der nicht vergißt, daß es
nicht etwa dieselbe Einheit isei, mit der wir Linien, Flächen
und Körper messen, und daß, obgleich die Menge der
Punkte schon in jeder auch noch so klemen Linie eine
unendliche ist, in einer Fläche diese Menge jedenfalls noch
unendlichemal größer als in der Linie, in einem Körper
endlich mit ebensolcher Gewißheit unendlichemal größer als
in der Fläche vorausgesetzt werden muß.
3. Das dritte, im Anfange dieses Parajgraphen erwähnte
Paradoxon lautete, daß es auch Ausdehnungen gäbe, die
eine unendliche Menge von Umläufen um einen gewissen
Punkt herum machen, und dabei gleichwohl eine endliche
Größe behalten. Soll eine solche Ausdehnung linear sein,
so kann dies, wie wir soeben in Nr. i sahen, nur dann
erfolgen, wenn sich die ganze Linie in einem endlichen
Räume befindet. Unter dieser Bedingung aber liegt durch-
aus nichts Unbegreifliches in der Erscheinung, daß sie eine
endliche Länge behalte, obgleich sie der Umläufe um einen
gegebenen Punkt unendlich viele vollbringt; wird nur die
fernere Bedingung noch erfüllt, daß diese Umläufe von
einer endlichen Größe beginnend, in der gehörigen Weise
bis ins Unendliche abnehmen, eine Forderung, die wieder
durch den Umstand ermöglicht wird, daß es ein bloßer
Punkt ist, um welchen jenjp Umläufe erfolgen sollen. Denn
dies erlaubt, daß die Entfernungen, welche die einzelnen
Punkte eines solchen Umlaufes von diesem Mittelpunkte
und somit auch untereinander selbst haben, in das Unend-
liche abnehmen können; wo dann die Kreislinie selbst uns
lehrt, daß auch die Länge dieses Umlaufes in das Unend-
liche vermindert werden könne. Die logarithmische
Spirale, wenn bloß dasjenige Stück derselben ins Auge
gefaßt werden soll, das, anzufangen von einem gegebenen
Punkte dem Centro stets sich annähert, ohne doch je in
dasselbe einzufallen, wird sich unseren Leseren als Beispiel
Paradozien bei räumlichen Ausdehnungen. 99 ^
einfer Linie, wie die hier besprochene, von selbst schon
aufgedrungen haben.
Soll aber die räumliche Ausdehnung, welche der Um-
läufe um einen gegebenen Punkt unendlich viele macht,
eine Fläche oder ein Körper $ein: so bedarf es nicht ein-
mal der beschränkenden Bedingung, daß sich das Raum-
ding mit keinem seiner Punkte über eine bestimmte Weite
von seinem Mittelpunkte entferne. Denn um mich auf die
kürzeste Weise verständlich zu machen, denke sich der Leser
die nur erwähnte Spirale als eine Art Abszissenlinie, aus
deren jedem Punkte Ordinaten senkrecht auf sie und ihre
Ebene hervorgehen. Der Inbegriff all dieser Ordinaten
bildet dann ofFenbfir eine Fläche (von der Art der zylin-
drischen), die nach der einen Seite hin sich in unendlich
vielen Windungen dem Mittelpunkte naht, ohne ihn Je zu
erreichen, nach der anderen aber sich ins Unendliche ent-
fernt. Wie groß diese Fläche sei, wird von dem Gesetze
abhängen, nach dem wir die Ordinaten zu- oder abnehmen
lassen. Der dem Mittelpunkte zueilende Teil aber wird
jederzeit endlich verbleiben, solange wir die Ordinaten
nach dieser Seite (d. h. über dem nur endlichen Abszissen-
zweige) hin nicht ins Unendliche zunehmen lassen, weil jede
Fläche, in der weder Abszisse . noch Ordinate ins Unend-
liche wachsen, endlich ist. Doch auch der Teil der Fläche,
der über dem anderen sich ins Unendliche entfemendeh
Spiralzweige steht, wird endlich bleiben, so oft die Ordi-
naten in einem schnelleren Verhältnisse abnehmen als die
Abszissen (d. h. die Bogenlänge der Spirale) zunehmen.
Wählen wir also zur Abszissenlinie die natürliche Spirale,
wo der von dem Radius = i dem Mittelpunkte zueilende
Zweig die Länge ]/2 hat, und nehmen zur Begrenzung der
Fläche dei\ Bogen einer Hyperbel höherer Art, für den die
Gleichung yx^ = a^: so hat derjenige Teil dieser Fläche,
der von x = a zu allen höheren Werten von x gehört, doch
nur die Größe a^, während der andere, zu allen kleineren
Werten von x gehörige Teil in das Unendliche wächst.
Nehmen wir aber a'^^2 und verlegen den Endpunkt der
7*
100 Paradoxten bei räumlichen Aasdehniuigen«
Abszisse x^=a auf den Punkt der Spirale, der den Radius
I hat, so fällt ihr Mittelpunkt mit dem Endpunkte der Ab-
szdsse x = a — ^2 zusammen, hat also noch eine endliche
Ordinate, und der Teil derselben, der über diesem Zweige
der Spirale liegt, ist nicht größer als
a»
\a x/ a — /3 \a — yä
die ganze nach beiden Seiten hin die Spirale bedeckende
Fläche (die zu erhalten wir ihre beiden Größen nach ihrem
positiven" Werte addieren müssen) ist also
a« +
a* A , a*
,— /2 / a — 1/2
Also 2. B. für a = 2 beträgt die ganze Fläche nur 4 (2 -f- /a).
Eine sehr ähnliche Bewandtnis hat es auch mit den
körperlichen Ausdehnungen. Nur ist zu bemerken, daß hier
der gegen den Mittelpunkt zueilende Teil des Körpers,
wollte man seine Ausdehnung in die Breite und Dicke zu-
nehmen lassen, in den Raum seiner eigenen nächst an-
grenzenden Umläufe (rechts und links) eingreifen würde.
Wollte man dieses vermeiden, und einen Körper haben,
dessen sämtliche Teile auseinander liegen, ^so käme man
unter anderem auch schon dadurch zum Ziele, daß man
einer Fläche von der Art, wie die nur eben betrachtete
war, die bei ihrer Annäherung an den Mittelpunkt an
Breite immer zunahm, noch eine dritte Dimension, eine
Dicke beilegte, die jedoch gegen den Mittelpunkt zu in
einem solchen Verhältnisse sich verminderte, daß sie stets
weniger als die Hälfte des zwischen zwei nächsten Spiral-
windungen liegenden Abstandes beträgt.
§ 49.
Räumliehe Ausdehnungen, die eine unendliche Größe
beftit^en, stehen eben in Hinsicht auf diese Größe selbst
Menge der Punkte in räumlichen Ausdehnungen. 101
in so verschiedenartigen und oft so paradoxen Verhältnissen ,
daß wir wenigstens einige derselben noch in besondere
Betrachtung ziehen müssen.
Daß auch ein Raumding, das eine unendliche Menge
von Punkten enthält, darum noch keine stetige Ausdehnung
sein müsse; wie auch, daß es bei einer stetigen Ausdeh-
nung nicht eben die Menge der Punkte sei, die wir durch
ihre Größe bestimmen; daß von zwei Ausdehnungen, die
wir als gleich groß ansehen, die eine noch um eine unend-
liche Menge voil Punkten mehr oder weniger enthalten
könne denn die andere; ja, daß eine Fläche unendlich viele
Linien, ein Körper unendlich viele Flächen mehr oder
weniger als ein gleich groß erachtetes Ausgedehnte der-
selben Art enthalten könne: das alles können wir schon
als hinreichend aufgeklärt aus dem bisher Gesagten be-
trachten. >
1. Das Erste, worauf wir die Aufmerksamkeit des Lesers
richten wollen, ist, daß die Menge der Punkte, die eine
einzige, auch noch so kurze Gerade az enthält, eine Menge
sei, die als unendlich größer betrachtet werden müsse,
denn die unendliche Menge derjenigen, die wir aus ersterer
ausheben, wenn wir, anzufangen von einem ihrer Grenz-
punkte ö, in einer angemessenen Entfernung einen zweiten
Ä, nach diesem in einer kleineren Entfernung einen dritten
c herausheben und so ohne Ende fortfahren, jene Entfer-
nungen nach einem Gesetze vermindernd, dabei die unend-
liche Menge derselben in ihrer Summe gleich oder kleiner
als die Entfernung az ist. Denn da auch die unendlich
vielen Stücke aÄ, Ac, cd ...., in welche az zerfällt^ ins-
gesamt wieder endliche Linien sind: so kann mit jeder
vorgenommen werden, was wir soeben von az verlangt,
d. h. in jeder läßt sich abermals eine solche unendliche
Menge von Punkten wie in der az nachweisen, die zu-
gleich in der az stecken. Mithin muß in der ganzen az
eine solche unendliche Menge von Punkten unendlichemal
enthalten sein.
2. Jeder Geraden, ja jeder räumlichen Ausdehnung über-
102 Menge der Punkte in räumlichen Ausdehnungen.
haüpty die einer anderen nicht nur ähnlich, sondern auch
(geometrisch) gleich ist (d. h. in allen durch die Ver-
gleichung mit einer gegebenen Entfernung begrifflich
darstellbaren Merkmalen mit ihr übereinstimmt), muß
auch die gleiche Menge von Punkten zugestanden werden,
sofern wir nur auch die Art der Begrenzung in beiden
gleich annehmen, z. B. in beiden Linien die Grenzpunkte
mitrechnen oder nicht mitrechnen. Denn das Gegenteil
könnte nu^ statthaben, wenn es Entfernungen gäbe, die,
obwohl gleich, doch eine ungleiche Menge von Punkten
zwischen den beiden Punkten, deren Entfernungen sie sind,
zulassen. Das aber widerspricht dem Begriffe, den wir
mit dem Wort geometrisch gleich verbinden; denn eben
dann nur nennen wir eine Entfernung ac ungleich mit einer
anderen ab^ und zwar größer als diese, wenn in dem
Falle, daß b und c beide in einerlei Richtung liegen, der
Punkt b zwischen a und c kommt, und somit alle Punkte
zwischen a und b wohl auch zwischen a und c, aber nicht
umgekehrt alle zwischen a und c auch zwischen a und b
liegen.
3. Bezeichnen wir die Menge der Punkte, die zwischen
a und b liegen, samt a und bjdMVch Ey und erheben die
Gerade ab zur Einheit aller Längen, so wird die Menge
der Punkte in der Geraden ac^ welche die Länge n hat
(worunter wir jetzt liuf eine ganze Zahl verstehen), wenn
ihre Grenzpunkte a und c mit eingerechnet werden sollen,
= nE — (« — i) sein.
4. Die Menge der Punkte in einer Quadratfläche,
deren Seite = i ist (dem gewöhnlichen Maße für Flächen),
wird, wenn wir den Umfang mit dazurechnen, =£^ sein.
5. Die Menge der Punkte in jedem Rechtecke, dessen
eine Seite die Länge m, die andere die Länge n hat, wird
mit Einberechnung des Umfanges sein
= mnE2 — [ii{Tn — i)-f-m(n — i)]E-j-(m — i)(n — i).
Menge der Punkte in räumlichen Ausdehnungen. 103
6. Die Menge der Punkte in einem Würfel, dessen
Seite = I (dem gewöhnlichen Maße für Körper), wird, wenn
wir die Punkte^ der Oberfläche mit einrechnen, =E^ sein.
7. Die Menge der Punkte in einem Parallelepipedon,
dessen Seiten die Längen w, w, r haben, wird mit Einbezug
der Oberfläche sein:
mnr • E^ — [nr(m — i)-|-mr(n — i)-|-mn(r — i)]E2
-|- [m (n — i) (r — i) -}- n (m — i) (r — i)
-j- r (m — i) (n — i)] E — (m — i) (n — i) (r — i).
8. Einer Geraden, die beiderseits in das Unendliche
reicht, müssen wir eine unendliche Länge und eine Menge
von Punkten zuschreiben, welche unendlichemal so groß
ist, als die Menge der Punkte in der zur Einheit an-
genommenen Geraden = E, Wir müssen auch allen
solchen Geraden die gleiche Länge und die gleiche
Punktenmenge zugestehen; weil die bestimmenden Stücke,
durch die sich für ein Paar solcher Geraden zwei Punkte
bestitnmen lassen, durch welche sie gehen, wenn wir den
Abstand zwischen diesen Punkten gleich groß annehmen,
einander nicht nur ähnlich, sondern auch (geometrisch)
gleich sind.
9. Die Lage eines in einer solchen Geraden beliebig
angenommenen Punktes ist nach beiden Seiten der Geraden
ganz ähnlich, bietet auch nur lauter solche begrifflich er-
faßbaren Merkmale dar, wie sie die Lage jedes anderen
Punktes der Art hat. Gleichwohl läßt sich nicht sagen,
daß solch ein Punkt die Linie in zwei gleich lange Teile
zerlege; denn dürften wir das von einem Punkte a sagen,
so müßten wir es auch von jedem anderen b aus gleichem
Grunde behaupten, was sich doch widerspricht, indem* wenn
aR=^aS wäre, nicht auch bR{=:ba-\-aR) = bS{=aS
— ab)
A<^ ^ . ^S
a 1»
sein könnte. Wir müssen also vielmehr behaupten, daß
eine beiderseits unbegrenzte Gerade gar keinen Mittel-
104 Unendliche räumliche Ausdehnungen.
punkt, d. h. gar keinen Punkt habe, der durch sein bloßes
begrifflich auffaßbares Verhältnis zu dieser Linie bestimmt
werden könne.
10. Der ebenen Fläche, die zwei einander gleichlaufende,
nach beiden Seiten unbegrenzte Gerade zwischen sich ein-
schließen (d. h. dem Inbegriffe aller derjenigen Punkte,
welche die Perpendikel aus jedem Punkte der einen dieser
Parallelen auf die andere enthalten), müssen wir einen un-
endlich großen Flächenraum und eine Menge von Punkten
zugestehen, der unendlichemal so groß ist, als die Menge
in dem zur Flächeneinheit angenommenen Quadrate =E^.
Wir müssen auch allen solchen Pa^allelestreifen, wenn sie
die gleiche Breite (Länge des Perpendikels) besitzen, eine
gleiche Größe und Punktenmenge beilegen. Denn auch sie
I lassen sich in einer Weise bestimmen^ daß die bestimmen-
den Stücke einander nicht nur ähnlich, sondern auch geo-
metrisch gleich sind; z. B. wenn wir sie durch die Angabe
eines gleichseitig rechtwinkligen Dreiecks von gleicher Seite
bestimmen, von dem wir festsetzen, daß die eine dieser
Parallelen durch die Grundlinie, die andere durch die Spitze
des Dreiecks gehe.
11. Die Lage eines in einem solchen Parallelstreifen
beliebig angenommenen Perpendikels ist zu beiden Seiten
der Fläche die ähnliche, bietet auch keine anderen begriff-
lich erfaßbaren Merkmale dar, wie sie die Lage jedes
anderen dergleichen Perpendikels darbietet. Gleichwohl läßt
sich nicht sagen, daß ein 3olches Perpendikel die Fläche
in zwei einander geometrisch gleiche Teile zerlege.
Denn diese Annahme würde uns alsbald in einen ganz
ähnlichen Widerspruch wie Nr. 9 verwickeln, und beweist
dadurch ihre Falschheit.
12. Einer Ebene, die nach allen Richtungen hin in das
Unendliche geht, müssen wir einen unendlich großen Flächen-
raum und eine Menge von Punkten zugestehen, die noch
unendlichemal größer ist als die Menge der Punkte, die
3xch in einem Parallestreifen befinden. ,Wie aber allen
dergleichen Parallelstreifen von gleicher Breite unterein-
Unendliche räumliche Ausdehnnngen. . 105
ander, so müssen wir auch allen dergleichen grenzlosen
Ebenen die gleiche unendliche Menge von Punkten unter-
einander zugestehen. Denn auch von ihnen gilt, daß sie
bestimmt werden können auf eine nicht bloß ähnliche,
sondern auch (geometrisch) gleiche Weise; wie z. B. wenn
wir sie jede durch drei in ihr liegende Punkte, welche ein
ähnliches und gleiches Dreieck bilden, bestimmen.
13. Die Lage einer. in einer solchen grenzenlosen Ebene
beliebig angenommenen unbegrenzten Geraden ist nach
beiden Seiten der Ebene ganz ähnlich ; sie
bietet überdies dieselben begrifflich dar-
stellbaren Merkmale dar, wie die Lage
jeder .anderen Geraden der Art. Dennoch
ist nicht zu sagen, daß eine solche Gerade
die Ebene in zwei geometrisch gleich
große Teile zerlege. Denn dürften wir
das von einer Geraden RS behaupten, so
müßten wir es von jeder anderen lifS' 5^
auch zugeben, was doch auf einen offen-
baren Widerspruch führt, sobald wir diese Geraden einander
gleichlaufend nehmen.
14. Zwei unbegrenzte Gerade, die in derselben Ebene
Hegend einander nicht gleichlaufen, somit sich irgendwo
schneiden und vier (paarweise gleiche) Winkel bilden, teilen
den ganzen Flächenraum der unbegrenzten Ebene in vier
Teile, davon je zwei von
den gleichen (ähnlichen)
Winkeln /?aS = /?'flS',
RaS' = R'aS umspannte
einander ähnlich sind.
Jeder dieser vier Winkel-
r äume enthält eine unend-
liche Menge nach einer
Seite hin sich ins Unend-
liche erstreckender Par-
allelstreifen, dergleichen wir in Nr. 11 betrachteten,
von jeder beliebigen Breite; und nach jeder endlichen Menge
•
\
106 Unendliche räumliche Ausdehnungen.
derselben, welche wir in Gedanken wegnehmen, erübrigt
noch ein Winkelraum, umspannt von einem gleichen
Winkel Wie anfangs. Allein sowenig wir nach Nr. 9 und
II berechtigt sind, die Schenkel dieser Winkel, oder auch
die Parallelstreifen, die wir als Teile ihres Flächenraumes
nachweisen können, einander gleich zu nennen: sowenig
sind wir auch, und zwar aus ähnlichen Gründen wie dort,
berechtigt, diese unendlichen Winkelräume auch selbst
bei gleichen (ähnlichen) Winkeln einander gleich, d. h.
gleich groß zu nennen.
■> ^ So ist es von den zwei
Winkelflächen RaS und
' PaS offenbar, daß die
erste größer^ ist als die
zweite, obgleich die Win-
kel selbst einander gleich
sind, wenn bS:^aS^ cP
#aR.
15. Den Körperraum, den zwei einander gleichlaufende
grenzlose Ebenen zwischen sich einschließen (d. h. den In-
begriff aller derjenigen Punkte, welche die sämtlichen aus
einem jeden Punkte der einen auf die andere Ebene ge-
fällten Perpendikel enthalten), diese (wie man sie nennen
könnte) grenzlose Körperschicht müssen wir jedenfalls
für unendlich groß erklären, wie auch die Breite der-
selben (die Länge eines solchen Perpendikels) sein mag.
Bei gleicher Breite aber dürfen wir diese Größe, ja auch
die Menge der Punkte in zwei solchen Körperschichten für
gleich erklären; immer nach demselben Schlüsse, den wir
schon mehrmal (Nr. 8, 10, 12) angewandt haben.
16. Die Lage, die ein in einer unbegrenzten Körper-
schicht beliebig angenommener auf ihre Ebenen senk-
rechter Parallelstreif nach seinen beiden Seiten hin zu
jener Körperschicht hat, ist sich ganz ähnlich, und auch
die Lage, die ein anderer Parallelstreif dieser Art zu der-
selben oder auch zu jeder beliebigen anderen grenzlosen
Körperschicht bat, ist ähnlich. Dennoch läßt sich nicht
Einfache Substanzen. 107
sagen, daß jene beiden Teile, in welche die Körperschicht
durch einen solchen Parallelstreif zerlegt wird, von gleicher
Größe sein müßten.
17. Zwei unbegrenzte Ebenen, welche einander durch-
schneiden, zerlegen den ganzen unendlichen Raum in
vier unendlich große Teile, deren je zwei gegenüber-
stehende einander unstreitig ähnlich sind, nicht aber so-
fort für gleich groß gelten dürfen.
18. Ebensowenig dürfen die Körperräume, die zwei
einander ähnliche oder (wie man zu sagen pflegt) gleiche
Körperecken zwischen ihren in das Unendliche verlän-
gerten Seitenflächen einschließen, für gleich groß ausgegeben
werden.
19. Auch die zwei Teile, in welche schon eine ein-
zige unendliche Ebene den ganzen Raum zerlegt, sind,
obwohl ähnlich, doch nicht als geometrisch gleich, d. h.
als von gleicher Größe, um so weniger, als aus einer
gleichen Menge von Punkten bestehend, zu betrachten.
§ 50.
Es erübrigt uns jetzt noch eine kurze Besprechung der-
jenigen Paradoxien, die uns auf dem Gebiete der Meta-
physik und Physik begegnen.
In diesen Wissenschaften stelle ich die Sätze auf: „es
gäbe nicht zwei einander durchaus gleiche Dinge,
somit auch nicht zwei einander durchaus gleiche
Atome oder einfache Substanzen im Weltall; notwendig
aber müsse man dergleichen einfache Substanzen voraus-
setzen, sobald man zusammengesetzte Körper in der
Welt annimmt; man müsse endlich ^uch voraussetzen, daß
alle diese einfachen Substanzen veränderlich sind und
sich fortwährend verändern. ** Ich behaupte dies alles, weil
es mir deucht, es seien Wahrheiten, die sich so strenge
und einleuchtend dartun lassen, als irgendein Lehrsatz der ^
Mathematik. Gleichwohl muß ich befürchten, daß die
meisten Physiker diese Sätze nur kopfschüttelnd anhören
108 Einfache Substanzen.
werden. Sie nämlich rühmen sich, nur Wahrheiten auf-
zustellen, welche Erfahrung sie lehrt; Erfahrung aber
weise gar keinen Unterschied nach zwischen den kleinsten
Teilen der Körper, besonders von einerlei Art, z. B. zwischen
den kleinsten Teilen bei einem Golde, dafi wir aus <lieser
oder aus jener Mine gewonnen haben; Erfahrung lehre
ferner wohl allerdings, daß jeder Körper zusammengesetzt
sei, Atome aber, die durchaus einfach und sonach auch
ohne alle Ausdehnung wären, habe noch niemand währ-
genommen; Erfahrung zeige endlich, daß 'die verschiedenen
Stoffe, z. B. Sauerstoff, Wasserstoff usw., bald diese, bald
jene Verbindungen untereinander eingehen und hiemächst
bald diese, bald jene Wirkungen äußern — daß aber sie
selbst in ihrem Inneren dadurch verändert würden und
daß z. B. der Sauerstoff nach und nach zu einem anderen
Sto£f sich umwandle, das werde bloß erdichtet.
I. Meines Erachtens ist es ein Irrtum, daß die Erfah-
rung lehre, was hier behauptet wird. Erfahrung, bloße,
unmittelbare Erfahrung oder Wahrnehmung ohne Verbin-
dung mit gewissen reinen Begriffswahrheiten lehrt uns nichts
anderes^ als daß wir diese und jene Anschauungen oder
Vorstellungen überhaupt haben. Woher uns diese Vor-
stellungen kommen, ob durch die Einwirkung irgendeines
von uns verschiedenen Gegenstandes, ja ob sie überhaupt
nur einer Ursache bedürfen, welche Beschaffenheiten diese
habe: darüber lehrt uns die unmittelbare Wahrnehmung
gar nichts, sondern das schließen wir nur aus gewissen
reinen Begriffswahrheiten, die wir durch die Vernunft hin-
zudenken müssen, und schließen es meistens nur nach einer
bloßen Regel der Wahrscheinlichkeit, z. B., daß dieses Rot,
das wir soeben sehen, durch einen krankhaften Zustand
unseres Auges, jener Wohlgeruch aber durch die Nähe
einer Blume hervorgebracht werde. Dagegen, um einzu-
sehen, daß zwischen je zwei Dingen irgendein Unterschied
obwalten müsse, bedarf es gar keiner aus der Erfahrung
abgezogenen Schlüsse der bloßen Wahrscheinlichkeit; son-
dern das können wir durch ein geringes Nachdenken mit
Einfache Substanzen. 109
aller Sicherheit erkennen. Sollen A und B zwei . Dinge
sein, so muß eben deshalb die Wahrheit bestehen, daß das
Ding A nicht das Ding B sei, eine Wahrheit, welche vor-
aussetzt, daß es zwei Vorstellungen A und B gibt, deren
die eine nur das Ding A^ nicht aber B^ die andere nur
das Ding j5, nicht aber A vorstellt. Und schon in diesem
Umstände liegt ja ein Unterschied (und zwar ein innerer),
welchen die Dinge A und B voneinander haben. Sehen
wir auf diese Art, daß je zwei Dinge mit Notwendigkeit
gewisse Unterschiede haben, wie können wir uns berechtigt
glauben, an einem solchen Unterschiede zu zweifeln, bloß
weil wir ihn hier und da nicht wahrnehmen? da doch zu
dieser Wahrnehmung eine besondere Schärfe der Sinne
und noch viel andere Umstände gehören.
2. Daß erst Erfahrung uns lehre, es gäbe der Dinge,
die auf uns einwirken, mehrere, und namentlich alle die-
jenigen, die Anschauungen in uns vermitteln, seien zu-
sammengesetzt, hat seine Richtigkeit. Doch lehrt die
Erfahrung dieses nur unter Voraussetzung gewisser reiner
BegrifTswahrheiten: wie daß verschiedene Wirkungen nur
<lurch verschiedene Ursachen hervorgebracht werden könneh
usw. Aber nicht minder gewi& sind die BegrifTswahrheiten,
daß jede Ursache irgendein Wirkliches sein müsse, alles
Wirkliche aber entweder eine Substanz oder ein Inbegriff
mehrerer Substanzen oder Beschaffenheiten an einer oder
mehreren Substanzen sei; ingleichen, daß Beschaffenheiten,
die etwas Wirkliches sind, nicht sein können, ohne das
Dasein einer Substanz, an der sie sich befinden und In-
begriffe von Su)>stanzen nicht ohne einfache, welche die
Teile dieser Inbegriffe bilden. Daraus folgt aber das Da-
sein einfacher Substanzen mit strenger Notwendigkeit, und
es wird lächerlich, letztere nicht annehmen zu wollen, weil
man sie nicht — sieht; und um so ungereimter, wenn
ferneres Nachdenken lehrt, daß jeder Körper, der noch für
unsere Sinne wahrnehmbar sein soll, zusammengesetzt, ja
aus einer unendlichen Menge einfacher Teile zusammen-
gesetzt sein müsse.
110 Einfache Substanzen.
3. Ein ähnlicher Trugschluß von dem Nichtwahmehmen
auf das Nichtvorhandensein ist es, wenn man nicht zugeben
will, daß alle endliche Substanzen einer nie aufhörenden
Veränderung unterliegen. An unserer eigenen Seele
kennen wir die Veränderlichkeit ihrer Zustände, Vorstel-
lungen, Beschaffenheiten und Kräfte doch zur Genüge; auf
ein Ähnliches auch bei den Seelen der Tiere und bei den
Pflanzen zu schließen, werden wir schon durch die bloße
Analogie veranlaßt. Daß aber alle, auch diejenigen Sul^-
stanzen, welche durch einen Zeitraum von Jahrhunderten
keine uns merkbare Veränderung beweisen, doch in der
Tat sich ändern, werden wir erst durch Gründe der Ver-
nunft berechtigt anzunehmen. Wer dies bestreiten, wenig-
stens in bezug auf die sogenannte leblose Materie und
hinsichtlich ihrer einfachen Teile oder Atome in Abrede
stellen will, sieht sich genötigt zu der Behauptung, daß
alle Veränderungen, die uns in diesem TeUe der Schöpfung
erscheinen, wenn z. B. ein Stück Eis, das vor einer Weile
noch fest war, jetzt schon geschmolzen ist und in der
nächsten Stunde sich in Dampfform verflüchtigt — daß
(sage ich) alle diese Veränderungen nichts als bloße Ände-
rungen in den örtlichen V^hältnissen der kleineren oder
größeren Teilchen dieser Körper sind, dabei sich in dem
Inneren jener Teilchen selbst nichts ändert. Aber wie
mochte man nicht bemerken, daß man bei dieser Erklärung
in einen Widerspruch verfalle? Denn könnte sich in den
einfachen Substanzen selbst (in ihrem Inneren) nichts ändern:
wodurch nur könnten Veränderungen in ihren örtlichen Ver-
hältnissen untereinander bewirkt werden, und welche Folgen
sollten diese bloß äußeren Veränderungen haben, zu welchen
Zwecken sollten sie dienen, und woran sollten sie auch nur
erkannt werden können? Auf alle diese Fragen läßt sich
nur vernünftig antworten, wenn wir den einfachen Sub-
stanzen — nämlich denjenigen, welche nicht allvollkommen
sind, also der Kräfte mehrere, als sie schon haben, an-
nehmen können — eben deshalb die Fähigkeit einer Ver-
änderung durch gegenseitiges Einwirken aufeinander zu-
Träge Materie. Hl
gestehen, und ihre Orte als diejenigen Bestimmungen an
denselben betrachten, welche den Grund enthalten, warum
sie bei dem Besitze gerade dieses Maßes von Kräften in
einem gegebenen Zeiträume gerade diese und nicht eine
größere oder geringere Veränderung die eine in der anderen
bewirken. Nur unter dieser, auch dem gemeinen Menschen-
verstände so einleuchtenden Voraussetzung verschwindet
jeder Widerspruch in der Lehre vom Weltall, und es be-
darf nur, uns über einige, fast schon veraltete Schul-
meinungen zu erheben, um alles im Einklang zu finden.
§ 51-
I. Die erste dieser Schulmeinungen, die wir aufgeben
müssen, ist die von den älteren Physikern erdachte tote
oder bloß träge Materie, deren einfache Teile, wenn sie
ja solche hat, einander alle gleich und ewig unveränder-
lich, gar keine eigenen Kräfte, es wäre denn die sogenannte
Kraft ^r Trägheit allein, besitzen sollen. Was immer
wirklich ist, das muß ja auch wirken, und somit Kräfte
zum Wirken haben. Eine beschränkte Substanz aber,
die eben deshalb auch veränderlich ist, kann allerdings
keine Kraft, die ihrer Natur nach keine Veränderung in
ihrem Wirken zuließe, also insonderheit keine Kraft des
Schaffens, sondern sie muß bloße Veränderungskräfte
besitzen, die übrigens entweder immanent, wie die Kraft
des Empfindens, oder transient, wie die Bewegkraft,
sein können^
Immerhin mag es uns, na,ch Wie vor, verstattet bleiben,
um den Erfolg, welcher aus einer gewissen Verbindung
mehrerer Körper hervorgehen werde, , allmählich mit hin-
reichender Genauigkeit beurteilen zu lernen, uns den Fall
anfangs weit einfacher vorzustellen und statt der unend-
lichen Menge von Kräften, die in Wahrheit hier zusammen-
wirken, nur das Vorhandensein einiger wenigen anzunehmen,
ja überhaupt uns Körper und Beschaifenheiten derselben
112 Unmittelbare Einwirkung.
«
zu denken, die in der Wirklichkeit gar nicht vorhanden
sind, um zu bestimmen, was diese hervorbringen würden.
Nur dürfen wir nicht, ohne die Sache erst eigens erwogen
zu haben, voraussetzen, dafi der Erfolg, der sich in diesem
erdichteten Falle einstellen müßte, auch mit demjenigen,
der in der Wirklichkeit eintreten wird, bis auf einen ge-
vrissen Grad übereinstimmen werde. Die Aufierachtsetzung
dieser Vorsicht hat manches berühmte Paradoxon ver-
schuldet, wie wir noch sehen werden.
§ 52.
2. Ein anderes Vorurteil der Schule ist es, daß jede
Annahme einer unmittelbaren Einwirkung einer
Substanz auf eine andere in der Wissenschaft un-
erlaubt sei. Wahr ist nur, daß wir nie, ohne es erst er-
wiesen zu haben, voraussetzen dürfen, eine gewisse Ein-
wirkung erfolge unmittelbar; wahr ist es, daß alles wissen-
schaftliche Studium aufhören würde, wollten^ wir jede uns
vorkommende Erscheinung damit erklären, daß %ir nur
sprächen, sie werde unmittelbar erzeugt. Allein wir gejhen
offenbar zu weit und verfallen in einen neuen, gleichfalls
sehr nachteiligen Irrtum, wenn wir jede Einwirkung, die
eine Substanz auf eine andere ausüben soll, für eine bloß
mittelbare erklären, somit gar kein unmittelbares Wirken
irgendwo zulassen wollen. Denn wie nur könnte ein mittel-
bares Wirken zustande kommen, wenn es kein unmittelbares
gäbe? Da dies einleuchtend genug ist, so wollen wir uns
hierbei nicht länger aufhalten, sondern uns nur begnügen
zu sagen, wie merkwürdig' es sei, daß ein so großer und so
umsichtiger Denker wie Leibniz nur eben aus diesem An-
lasse, weil ihm keip Mittel bekannt war, wodurch Sub-
stanzen, die einfach sind, aufeinander sollten einwirken
können, auf jene unglückliche Hypothese der prästa-
bilierten Harmonie verfiel, welche sein ganzes sonst so
schönes System der Kosmologie verunstaltet.
Fernwirkung. Durchdringen. 113
— . ^
§ 53.
3. Mit diesem Vorurteile innigst zusammenhängend und
damit schon von selbst widerlegt, ist jenes noch viel ältere,
es sei keine (nämlich keine unmittelbare) Einwirkung einer
Substanz auf eine andere, in der Ferne von ihr befind-
liche möglich. Im schroffsten Widerspruche mit dieser Vor-
stellung behaupte ich vielmehr, daß jede Einwirkung einer
(im Räume befindlichen, also beschränkten) Substanz auf
eine andere eine actio in distans sei; aus dem ganz ein-
fachen Grunde, weil je zwei verschiedene Substanzen in
jedem Augenblicke auch zwei verschiedene einfache Orte
einnehmen, also eine Entfernung zwischen sich haben
müssen. Den scheinbaren Widerspruch, der zwischen dieser
und einer anderen unserer Behauptungen liegt, daß der Raum
stetig erfüllt sein soll, habe ich schon oben besprochen.
§ 54-
4. Hiermit verstoßen wir aber freilich auch gegen ein
anderes Vorurteil der Schulen neuerer Zeit, die ein Durch-
dringen der Substanzen, namentlich in jeder chemischen
Verbindung erblicken wollen. Jede Möglichkeit eines solchen
Durchdringens leugne ich unbedingt; weil es, soviel ich
einsehe, schon in dem Begriffe eines einfachen Ortes
(oder Punktes) liegt, daß er ein Ort sei, der nur eine ein-
zige (einfache) Substanz beherbergen kann. Wo zwei Atome
sind, sind auch zwei Orte. Aus unserer schon mehrmal
wiederholten Erklärung vom Räume ergibt es sich gleich-
falls unmittelbar, daß nur die Größe, welche die Entfernung
zweier aufeinander wirkender Atome hat, die Größe der
Veränderung bestimme, welche sie innerhalb einer gegebenen
Zeitdauer ineinander bewirken. Könnten zwei oder mehrere
Substanzen durch eine, auch noch so kurze Zeit in einem
und demselben Orte sein, so wäre die Größe ihres gegen-
seitigen Ein Wirkens in dieser Zeit absolut unbestimmbar;
und wäre es auch nur ein einziger Augenblick, so wäre ihr
Zustand in demselben nicht zu bestimmen.
Bolzano, Paradoxien des Unendlichen. o
114 Geist und Materie.
§ 55.
5. Doch seit Descartes erhob sich noch ein neues
Vorurteil in den Schulen. Indem er (wohl aus sehr löb-
licher Absicht) den Unterschied zwischen denkenden und
nichtdenkenden Substanzen^ (Geist und Materie, wie
er sie nannte) nicht hoch genug glaubte ansetzen zu können,
Verfiel er auf jene dem gemeinen Menschenverstände so
auffallende, ja fast undenkbare Behauptung, daß ein gei-
stiges Wesen nicht nur nicht als ein ausgedehntes, d. h.
aus Teilen bestehendes, sondern nicht einmal als irgendein
im Räume befindliches, also auch nur einen einzigen Punkt
im Räume durch seine Gegenwart erfüllendes Wesen an-
gesehen werden dürfe. Da nun in späterer Zeit Kant gar
so weit ging, den Raum (nicht minder wie die Zeit) für
ein paar bloße Formen unserer Sinnlichkeit zu erklären,
denen kein Gegenstand an sich entspreche; da er zwei
Welten, eine intelligible der Geister- und eine Sinnen-
welt, einander geradezu entgegensetzte: so ist es nicht zu
bewundem, wenn sich das Vorurteil von der Unräumlich-
keit der geistigen Wesen in Deutschland wenigstens so tief
festsetzte, daß es bis auf den heutigen Tag in unseren
Schulen noch besteht. Hinsichtlich der Gründe, durch die
ich dieses Vorurteil bekämpft zu haben glaube, muß ich
auf andere Schriften, vornehmlich auf die Wissenschafts-
lehre und Athanasia verweisen. So viel wird jeder zu-
gestehen müssen, daß die von mir aufgestellte Ansicht,
zufolge der sich alle geschaffenen Substanzen aus einem
gemeinschaftlicheö Grunde wie in der Zeit so auch im
Räume befinden müssen, und aller Unterschied in ihren
Kräften ein bloßer Gradunterschied ist, sich schon durch
ihre Einfachheit vor jeder anderen, die man bis jetzt ge-
kannt, empfehle.
§ 56.
6. Bei dieser Ansicht fällt auch das große Paradoxon
hinweg, das man bisher noch immer in der Verbindung
Kräfte ohne Substanzen. 115
zwischen den geistigen und materiellen Substanzen
gefunden. Wie die Materie auf den Geist und hinwieder
dieser auf jene einwirken könne, wenn beide so ungleich-
artig wären, hat man fQr ein uns Menschen unerforschliches
Geheimnis erklart. Aus den obigen Ansichten aber ergibt
sich, daß, diese gegenseitige Einwirkung, teilweise wenig-
stens, eine unmittelbare sein müsse, insofern also gewiß
nichts uns Geheimes und Verborgenes an sich haben könne;
womit wir jedoch allerdings nicht gesagt haben wollen,
daß es nicht sehr viel' Wissens- und Forschenswürdiges in
demjenigen Teile dieser Einwirkungen gäbe, welche auf
irgendeine Weise, besonders durch Organismen ver-
mittelt werden.
§57.
7. Ersann man sieb vor alters Substanzen ohne
Kräfte, so wollte die neuere Zeit umgekehrt aus bloßen
Kräften ohne Substanzen das Weltall konstruieren.
Der Umstand, daß jede Substanz ihr Dasein uns nicht
anders kundgebe als durch ihre Wirkungen, somit durch
die Kräfte, war es ohne Zweifel, der die irrige Erklärung
des Begriffes einer Substanz, daß sie ein InbegriflF von
bloßen Kräften wäre, veranlaßt hatte. Und das grob-
sinnliche Bild, auf welches die Etymologie der Worte:
Substanz, Substrat, Subjekt, Träger u. dgl. hinweisen,
schien einen klaren Beweis zu liefern, daß die allgemein
herrschende Lehre, zum Dasein einer Substanz bedürfe es
doch eines eigenen Etwas, dem jene Kräfte als Be-
schaffenheiten desselben angehören, eine bloße Täu-
schung der Sinnlichkeit sei; denn eines Trägers, einer
Unterlage in des Wortes eigentlichem Sinne bedarf es
hier ganz gewiß nicht. Aber müssen wir denn bei dieser
sinnlichen Auslegung bleiben? Jedes beliebige Etwas, selbst
den bloßen Begriff des Nichts müssen wir doch als einen
Gegenstand betrachten, dem nicht bloß eine, sondern ein
ganzer Inbegriff unendlich vieler Beschaffenheiten zukommt.
8*
116 Verschiedene Stufen des Daseins.
Denken wir deshalb wohl jedes beliebige Etwas als einen
Träger im eigentlichen Sinne? Sicherlich nicht! Wenn wir
uns aber ein Etwas mit der Bestiiämung denken, daß es
ein Wirkliches und ein solches Wirkliches sei, das keine
Beschaffenheit von einem anderen Wirklichen ist, dann
fassen wir es unter dem Begriffe einer Substanz nach
der rechten Erklärung des Wortes auf. Und solcher Sub-
stanzen gibt es, außer der einen^ unerschaffenen, eine un-
endliche Menge geschaffener. Kräfte nennen wir dem
herrschenden Sprachgebrauch zufolge alle diejenigen Be-
schaffenheiten dieser Substanzen, die wir als nächsten (d. h.
unmittelbaren) Grund irgendeines anderen in oder außer-
halb der es bewirkenden Substanz voraussetzen müssen.
Eine Kraft, die sich an keiner Substanz als Beschaffenheit
derselben befände, wäre eben deshalb, weil sie als Ursache
doch etwas Wirkliches, sonach ein Wirkliches sein müßte,
das sich an keinem anderen Wirklichen befindet, nicht
eine bloße Kraft, sondern schon eine für sich selbst be-
stehende Substanz zu nennen.
§58.
Daß keine Stufe des Daseins die höchste, keine
die niedrigste in Gottes Schöpfung sei; daß es femer
auf jeder, auch noch so hohen Stufe, zu jeder auch noch
so frühen Zeit Geschöpfe gegeben habe, die durch ihr
schnelles Fortschreiten bereits auf diese Stufe sich empor-
geschwungen haben; daß es aber auch auf jeder, noch so
niedrigen Stufe und zu jeder noch so späten Zeit Geschöpfe
geben werde, die sich trotz ihrem steten Fortschreiten jetzt
-erst auf dieser Stufe befinden — diese Paradoxa bedürfen
nach allem, was wir über ähnliche Verhältnisse (§ 38 f.) bei
Zeit und Raum ferwähnt, keiner weiteren Rechtfertigung.
§ 59.
Viel anstößiger lautet jedoch das Paradoxon: ,,es
könne trotzdem, daß der gesamte unendliche Raum
Verschiedene Dichtigkeit. 117
des Welt aus Oberall und zu allen Zeiten in der Art er-
füllt ist mit Substanzen, daß auch kein einziger Punkt nur
eiuen Augenblick ohne eine ihm innewohnende Substanz
ist, und auch kein einziger Punkt zwei oder mehrere be-
herbergt — doch eine unendliche Menge verschiedener
Grade der Dichtigkeit geben, mit welcher verschiedene
Teile des Raumes zu verschiedenen Zeiten erfüllt sind,
dergestalt, daß dieselbe Menge von Substanzen, welche in
diesem Augenblicke z. B. diesen Kubikschuh ausfüllt, zu
einer anderen Zeit durch einen millionenmal größeren Raum
verbreitet sein mochte, und wieder zu einer anderen in
einen tausendmal kleineren zusammengedrängt sein werde,
ohne daß bei der Ausbreitung irgendein Punkt in dem
größeren Räume leer stand, noch bei der Verdichtung
irgendein Punkt in dem kleineren Räume zwei oder mehr
Atome aufzunehmen brauche." .
Daß ich hiermit etwas behaupte, das in den Augen der
meisten Physiker bis jetzt als eine Ungereinttheit erscheint,
weiß ich recht wohl. Denn eben nur, weil sie vermeinen,
daß sich das Faktum der ungleichen Dichtigkeit der
Körper mit der Voraussetzung eines stetig erfüllten Raumes
nicht vereinigen lasse, nehmen sie eine Art Porosität als
allgemeine Eigenschaft aller Körper, auch selbst derjenigen
an, bei denen (wie bei den Gasen und dem Äther) nicht
die geringste Beobachtung dafür spricht, und in diesen
Poren, deren größere insgemein mit Gasen erfüllt sein
sollen, also eigentlich nur in den nie gesehenen Poren der
Flüssigkeiten nehmen die Physiker auch noch bis jetzt ihr
sogenanntes vacuum dispertiium, d. i. gewisse leere Räume
in solcher Menge und Ausdehnung an, daß kaum der
billionste Teil eines mit bloßem Äther erfüllten Raumes
wahre Materie enthält. Gleichwohl hoffe ich, daß es allen
denjenigen, welche das in den §§ 20 fr. Gesagte gehörig in
Erwägung zogen, klar genug sein werde, wonach es so
ganz und gar nichts Unmögliches enthalte, daß sich die-
selbe (unendliche) Menge von Atomen bald durch einen
größeren Raum verbreite, bald wieder in einen kleineren
118 Gesetz der Stetigkeit.
zusammenziehe, ohne daß in dem ersten Falle auch nur
ein einziger Punkt ia jenem Räume verlassen dastehe, im
zweiten auch nur ein einziger Punkt zwei Atome aufnehmen
müßte.
§60.
Und nun dürfte man kaum viel Anstoß nehmen, an einer
Behauptung (die ohnehin auch in der älteren Metaphysik,
in der Lehre de nexu cosmico^ schon aufgestellt wurde), daß
jede Substanz in der Welt mit jeder anderen in stetem
Wechselverkehr stehe, doch so, daß die Veränderung,
welche die eine in der anderen bewirkt, um so geringer
wird, je größer der zwischen ihnen liegende Abstand; und
daß das Gesamtergebnis des Einflusses aller auf
jede einzelne eine Veränderung ist, die — abgesehen
von dem Falle, wo ein unmittelbares Einwirken Gottes
statt hat — nach dem bekannten Gesetze der Stetig-
keit vorgeht; weil eine Abweichung von diesem letzteren
eine Kraft fordert, die im Vergleiche mit einer stetigen
unendlich groß sein müßte.
§61.
So leicht auch die schon in der ersten Ausgabe der
Athanasia (1829) aufgestellte Lehre von den herrschen-
den Substanzen aus bloßen Begriffen sich ableiten läßt,
so wird man doch auch in ihr Paradoxien erblicken, wes-
halb es nötig ist, sie mit einigen Worten hier zu er-
wähnen.
Ich gehe nämlich (a. a. O.) von dem Gedanken aus, daß
es, weil doch bekanntlich zwischen je zwei Substanzen im
Weltall zu jeder Zeit irgendein Unterschied von endlicher
Größe stattfinden muß, zu jeder Zeit auch Substanzen gäbe,
die in ihren Kräften bereits so herangewachsen sind, daß
sife eine Art von Übermacht über alle in einem, sei es auch
noch so kleinem Umfange, um sie herum liegenden Sub-
stanzen ausüben. — Es wäre ein Irrtufti, der diese Annahme
Herrschende Substanzen. 119
sogleich in .den Verdacht eines inneren Widerspruches
brächte, wollte sich jemand vorstellen, daß solch eine
herrschende Substanz Kräfte besitzen müsse, welche die
der beherrschten um ein Unendliches übertreffen. Aber
so ist es keineswegs. Denn setzen wir, in einem Räume
von endlicher Größe, z. B. in dem einer Kugel, befinde
sich (etwa im Mittelpunkte derselben) eine Substanz, die
in ihren Kräften jede der übrigen in einem endlichen Ver-
hältnisse überragt, wie es z. B. wäre, wenn jede der letzteren
etwa nur halb so stark wäre als sie. Obgleich nun gar
nicht bezweifelt werden kann, daß die Gesamtwirkung dieser
unendlich vielen schwächeren Substanzen dort, wo sie zu-
fällig sich in ihrer Tätigkeit vereinen (wie z. B. nach dem,
was wir bald hören werden, bei ihrem Bestreben zur An-
näherung an einen Zentralkörper zu geschehen pflegt), die
Wirksamkeit der einen stärkeren unendlichemal überwiegt:
so kann und muß es doch andere Fälle geben, wo jene
Kräfte nicht eben nach demselben Ziele sti:eben, nament-
lich muß, wenn wir bloß jene Einwirkung jetzt ins Auge
fassen wollen, die eine jede der in dem Räume befindlichen
Substanzen für sich allein auf eine jede andere ausübt und
von ihr gegenseitig erfährt — in der Regel gesagt werden
können, daß dieses gegenseitige Einwirken auf Seite der
stärkeren Substanz in demselben Verhältnisse mit ihrer
Stärke das stärkere sei. In diesem Beispiele also wird die
Substanz, die wir als wenigstens doppelt so stark denn
jede ihrer benachbarten annehmen, auf jede derselben
wenigstens doppelt so stark einwirken, als diese auf sie
rückwirken. Und das nur ist es, was wir uns denken,
wenn wir sagen, daß sie die anderen beherrsche.
§ 62.
Allein, sagt vielleicht jemand, wenn sich die Sache nur
so verhält, dann muß man. nicht bloß in einigen, sondern
in jedem, auch noch so kleinen Räume, ja in jedem be-
liebigen Inbegriffe von Atomen einen herrschenden antreffen ;
120 Körper. Äther.
denn einen stärksten muß es wohl ebenso, wie einen
schwächsten Atom in jedem Inbegriffe mehrere geben.
Ich hoffe jedoch, daß keiner meiner Leser der Belehrung
bedürfe, daß dieses höchstens von endlichen Mengen gelte,
daß aber dort, wo eine unendliche Menge sich befindet,
jedes Glied noch ein größeres über (oder ein kleineres
unter) sich haben könne, ohne daß gleichwohl irgendeines
derselben eine gegebene endliche Größe überschreitet (oder
auch unter sie herabsinkt).
§63^
Diese herrschenden Substanzen, die also schon ihrem
Begriffe nach in jedem endlichen Räume nur in endUcher
Menge, aber jede umgeben mit einer bald größeren bald
kleineren Hülle bloß dienender Substanzen auftreten, sind
es nun, welche vereinigt in Haufen von endlicher Größe
das bilden, was wir die mannigfaltigen in der Welt vor-
kommenden Körper (gasförmigen sowohl als tropfbar
flüssigen, festen, organischen usw.) nennen. Im Gegensatze
mit ihnen nenne ich den ganzen noch übrigen Weltstoff,
der, ohne ausgezeichnete Atome zu besitzen, alle noch sonst-
wo vorhandenen Räume erfüllt und somit alle Körper der
Welt verbindet, den Äther. Es ist hier nicht der Ort,
auseinanderzusetzen, wie manche bisher nur unvollkommen
oder noch gar nicht erklärte Erscheinung sich aus der bis-
herigen Annahme (wenn man sie ja nur als Annahme zu-
lassen will) mit großer Leichtigkeit erkläre. Nur Qin paar
Andeutungen, welche durch scheinbare Widersprüche auf-
gehellt werden, muß ich mir gemäß dem Zwecke dieser
Schrift erlauben.
Unterscheiden sich alle geschaffenen Substanzen unter-
einander nur durch den Grad ihrer Kräfte, muß also jeder
irgendein, sei es auch noch so geringer Grad der Emp-
findung eingeräumt werden, i^nd wirken alle auf alle: so
ist nichts begreiflicher, als daß für jede zwei, wie imnier
geartete, um so gewisser für je zwei ausgezeichnete Sub-
Anziehung. Abstoßung. 121
stanzen nicht eine jede Entfernung als ihnen gleich-
genehm (gleich wohltuend für sie) erscheine; weil von der
Größe der Eiitfernung die Größe der Einwirkungen, die sie
ausüben sowohl als auch erleiden, abhängt. Ist die Ent-
fernung, in der sie sich eben befinden, größer als es der
einen genehm ist: so wird sich bei ihr ein Bestreben, diese
Entfernung zu kürzen, also ein sogenanntes Anziehen, im
entgegengesetzten Falle aber Abstoßen einstellen. Weder
jenes noch dieses müssen wir uns immer beiderseitig, um
so weniger immer von dem Erfolge einer wirklichen Orts-
veränderung begleitet denken: wohl aber dürfen wir als
sicher annehmen, daß es für je zwei Substanzen im Welt-
all eine Entfernung gäbe, groß genug, daß für diese und
alle größeren ein beiderseitiges Anziehen, und ebenso auch
eine Entfernung klein genug, daß für sie und alle kleineren
ein beiderseitiges Abstoßen statt hat. Wie sehr sich aber
auch die Größe der hier besprochenen zwei Entfernungen,
welche die Grenzen des Anziehens und Abstoßens für zwei
gegebene Substanzen sind^ mit der Zeit nicht nur nach der
Beschaffenheit dieser Substanzen selbst, sondern auch nach
der Beschaffenheit der in ihrer ganzen Umgegend liegen-
den Nachbarsubstanzen ändern mag: so ist doch unstreitig,
daß aller Einfluß, den zwei Substanzen unter übrigens ähn-
lichen Umständen aufeinander ausüben, mit der Zunahme
ihrer Entfernung voneinander sich vermindern müsse; schon
aus dem Grunde, weil auch die Menge derer, welche in
gleicher Entfernung Platz greifen könnten und einen An-
spruch auf dieselbe Einwirkung hätten, wie das Quadrat
jener Entfernung zunimmt. Da femer das Übergewicht,
das jede ausgezeichnete Substanz über eine bloß dienende
hat, stets nur eine endliche Größe ersteigt, wogegen die
Menge der letzteren in jedem Räume jene der ersteren
unendlichemal übertrifft: so begreift sich, daß die Größe
der Anziehung, welche die sämtlichen, in einem gegebenen
Räume befindlichen Substanzen auf einen, außerhalb ge-
legenen Atom ausüben, wenn die Entfernung desselben eine
hinlängliche Größe erreicht hat, nahezu eben die nämliche
122 Anziehung.
ist, welche auch dann stattfände, wenn jener Raum gar
keine ausgezeichneten Substanzen, sondern nur eine gleich
große Menge gemeiner Atome enthielte. Dies mit dem
Früheren verbunden, führt zu dem wichtigen Schlußsatze,
daß zwischen allen Körpern, wenn ihre Entfernung
voneinander erst eine hinreichende Größe besitzt,
eine Kraft der Anziehung bestehe, die sich gerade
wie die Summe ihrer Massen (d. h. die Menge ihrer
Atome), und umgekehrt wie das Quadrat ihrer Ent-
fernung verhält. Daß dieses Gesetz im Weltall beob-
achtet werde, leugnet kein Physiker noch Astronom in
unseren Tagen; wie schwer es sich aber mit der gewöhn-
lichen Ansicht von der Beschaffenheit der Elementarteile
der verschiedenen Körper vertrage, scheint man noch selten
bedacht zu haben. Verhielte es sich nämlich wirklich n\ir
so, wie man die Sache bisher gemeiniglich darstellt,, daß
jene 55 und mehr einfache Stoffe, die unsere Chemiker
auf Erden kennengelernt haben, die Masse der sämtlichen
hier anzutreffenden Körper in der Art bildeten, daß jeder
eigentlich nichts anderes als ein bloßer Inbegriff von Atomen
des einen oder des anderen oder etlicher dieser Stoffe zu-
sammen wäre, so daß z. B. das Gold ein bloßer Inbegriff
von lauter Goldatomen, der Schwefel ein Inbegriff von
lauter Schwefelatomen wäre usw.: dann erkläre mir, wer
es vermag, woher es komme, daß Stoffe, die so verschieden
in ihren Kräften, namentlich in dem Grade ihrer gegen-
seitigen Anziehungen sich verhalten, in ihrem Gewichte
gleichwohl einander durchgängig gleichen, d. h. daß ihre
Gewichte sich wie ihre Massen verhalten. Denn daß dieses
stattfinde, beweist unmittelbar die bekannte Erfahrung, daß
Kugeln von jedem beliebigen Stoffe, wenn sie von gleichem
Gewichte sind, beim Anstoße gegeneinander sich genau so
verhalten, wie Körper von gleicher Masse es tun müssen,
also z. B. bei gleicher Geschwindigkeit (wiefern die Ein-
wirkung der Elastizität beseitigt oder Rechnung von ihr
getragen wird) einander zur Ruhe bringen. Nehmen wir
aber an, daß alle Körper eigentlich aus nichts anderem als
Abstoßung. 128
aus einer unendlichen Menge von Äther bestehen, in welchem
eine gegen diese Menge ganz verschwindende Anzahl von
ausgezeichneten Atomen sich befindet, deren Kräfte die
eines Ätheratoms nur endlichemal überragen: so begreift
man, daß die Kraft der Anziehung, die diese Körper von
selten des ganzen Erdballs erfahren, durch die geringe Zahl
jen'er ausgezeichneten Atome in k^nem Falle merklich er-
höht werden könne, daß ihr Gewicht somit nur ihrer ganzen
Masse proportional sein müsse. Doch es fehlt auch schon
jetzt nicht an Physikern, welche den Wärmestoff (also im
Grunde den nämlichen Stoff, den ich selbst mit dem Äther
identifiziere) als eine Flüssigkeit betrachten, die sich in
allen Körpern befinde und nie ganz aus denselben sich
austreiben lasse. Hätten sie also nicht unglücklicherweise
die Vorstellung aufgefaßt, daß dieser WärmestofF impon-
derabel wäre, und hätten sie sich erhoben zu der Ansicht,
daß die Menge der Atome, die jedem besonderen Körper
noch nebst dem Wärmestoffe beiwohnt, gegen diesen eine
verschwindende sei (und wie nahe waren sie auch nicht
hieran, wenn sie zuweilen verlangten,^ daß man die ersteren
sich getrennt voneinander durch Entfernungen zu denken
habe, die im Vergleiche zu ihren Durchmessern unendlich
groß sind): so wäre ihnen wohl bald völlig klar geworden,
daß nur eben dieser ihr WärmestofF es sei, der das Ge-
wicht aller Körper bestimmt.
§64'
Leicht zu erachten ist, daß jene Herrschaft, die eine
ausgezeichnete Substanz über ihre nächste Umgebung aus-
übt, wenn in nichts anderem, wenigstens in einer gewissen
stärkeren Anziehung ihrer Nachbaratome besteht, infolge-
dessen Sich diese dichter, als es sonst wäre, um sie
herum und aneinander gedrängt finden, und eben deshalb
ein Bestreben haben, sich bei gegebener Gelegenheit wie-
der von diesem Anziehungspunkte sowohl als untereinander
etwas weiter zu entfernen, also einander abstoßen; eine
124 Hülle einer herrschenden Substanz.
Sache, auf die so viele Erfahrungen deuten, zu deren Er-
klärung man aber ganz unnötigerweise eine ursprüng-
liche Abstoßungskraft zwischen den Teilchen des Äthers
annahm.
§65-
Aus diesem Umstände ergibt sich ein leichter Beweis
des Satzes, den ich schon in der Athanasia aufstellte,
dafi keine ausgezeichnete Substanz in ihrer Hülle
eine solche Veränderung erfährt, daß sie nicht einen
gewissen (sei es auch noch so kleinen) Teil ihrer nächsten
Umgebung behielte. Gewiß wird niemand besorgen, daß
eine ausgezeichnete Substanz a ihrer sie zunächst um-
stehenden Ätheratome beraubt werden sollte, wenn unter
den gesamten ihr ringsumher nächstliegenden Nachbarp
von ausgezeichnetem Range b^ c^ d^ e . . , keiner seine Ent-
fernung von a verändert; sondern nur dann ließe sich etwas
der Art besorgen, wenn einige derselben oder auch alle
sich entfernen. Doch auch wenn dies geschieht, kann nur
ein Teil der a umgebenden Ätherteile den fliehenden Sub-
stanzen bf c^ df e . . . . nachfolgen, ein Teil aber, und zwar
von denen, welche die nächsten an a stehen, muß stets
zurückbleiben; obgleich wir nicht nur zugestehen, sondern
sogar als notwendig behaupten, daß er in einen weiteren
Raum sich ausdehnen werde. Ja nach Befund der Um-
stände könnten sogar aus gewissen entfernten Gegenden
Ätheratome herzüströmen und sich in jene Räume drängen,
welche wegen der allzu weiten Entfernungen, in welche die
Substanzen a, ä, c, rf, ^ . . . soeben sich zerstreuten, mit
einem vergl eichungsweise viel lockerem Äther gefüllt sind.
Daß aber dieser von ferne kommende Äther den djie Sub-
' stanz a zunächst umgebenden insgesamt wegstoßen und
seine Stelle erbeuten $ ollte, dazu ist kein Grund vorhanden.
Statt den die Substanz a umgebenden Äther noch vollends
wegzutreiben, muß der herbeiströmende vielmehr nur seine
weitere Ausbreitung hindern und ihn so enge zusammen-
Grenzen der Körper. 125
drängen, bis seine Dichtigkeit den Anziehungskräften aller
umstehenden Atome das Gleichgewicht hält.
§ 66.
Hiernächst beantwortet sich manche Frage in einer Weise,
welche man paradox finden könnte, wenn das Vorhergehende
nicht darüber Aufschluß gewährte. Von der Art ist die
Frage über die Grenzen der Körper: wo eigentlich ein
Körper aufhöre und ein anderer anfange? Ich verstehe
aber unter der Grenze eines Körpefs den Inbegriff jener
äußersten Atheratome, die noch zu ihm gehören, d. h.
die von den ausgezeichneten Atomen desselben stärker an-
gezogen werden, als es von anderen, in der Nachbarschaft
befiiidlichen Herrscheratomen geschieht; dergestalt, daß sie,
sofern der Körper seine Stellung zu seiner Nachbarschaft
verändert (z. B. sich von ihr entfernt), mit ihm fortziehen
werden, wenn vielleicht nicht mit derselben Geschwindig-
keit, doch so, daß keine Trennung und kein Dazwischen-
tritt fremder Atome statt hat. Diesen Begriff einer Grenze
vorausgesetzt, zeigt es sich alsbald, daß die Begrenzung
eines Körpers etwas sehr Wandelbares sei, ja sich beinahe
fortwährend ändere, sowie nur irgendeine Veränderung
teils in ihm selbst, teils in den nachbarlichen Körpern vor-
geht, weil alle dergleichen Veränderungen begreiflich auch
gar manche Änderung wie in der Größe, so auch in der
Richtung der Anziehung bewirken können, die die Atome
eines Körpers, nicht nur die dienenden, sondern selbst
seine herrschenden erfahren. So werden z. B. gewiß mehrere
Teilchen von diesem Kiele, welche noch kurz zuvor von
dessen übriger Masse stärker als von der umgebenden Luft
angezogen wurden, also zu ihm noch gehörten, jetzt von
meinen Fingern stärker als von der Masse des Kieles an-
gezogen und sind demselben somit entrissen. — Genauer
erwogen, zeigt sich, daß mancher Körper an gewissen
Stellen auch gar keine Grenzatome, d. h. gar keine Atome
aufweisen könne, welche die äußersten sind unter den-
126 Berührung von Körpern.
jenigen, die ihm noch zugehören und noch. mit ihm zögen,
wenn seine Stellung sich verändern würde. Denn in der
Tat, so oft der eine von zwei nachbarlichen Körpern einen
äußersten, mit ihm fortziehenden Atom an einer Stelle be-
sitzt, kann eben deshalb der andere keinen dergleichen
äußersten haben, weil alle hinter jenem befindlichen Äther-
atome schon diesem zugehören.
§67-
Hiermit beantwortet sich auch noch die Frage, ob und
wann Körper in einer unmittelbaren Berührung mitein-
ander stehen öder durch einen Zwischenraum getrennt sind?
ErUube ich mir nämlich (wie mir das Zweckmäßigste deucht)
die Erklärung, daß ein paar Körper einander berühreir, wo
immer die äußersten Atome, die nach der Erklärung; des
vorigen Paragraphen dem einen zugehören, mit gewissen
Atomen des anderen eine stetige Ausdehnung bilden: so
wird sich gewiß nicht ableugnen lassen, daß es gar viele
Körper gäbe, welche sich gegenseitig berühren; nicht nur,
wenn einer oder g^r beide flüssig, sondern auch, wenn sie
fest sind, sofern nur erst die im gewöhnlichen Zustande
auf Erden ihnen anhängende Luft durch starkes Andrücken
oder auf sonst eine Weise zwischen ihnen fortgeschafft ist.
Wenn ein Paar Körper einander nicht berühren: so muß,
weil es doch keinen ganz leeren Raum gibt, der Zwischen-
raum durch irgendeinen anderen Körper, oder wenigstens
durch bloßen Äther ausgefüllt werden. Somit läßt sich
behaupten, daß eigentlich jeder Körper nach allen Seiten
mit irgend einigen anderen Körpern, oder in Ermangelung
derselben mit bloßem Äther in Berührung stehe.
§68.
In betreff der verschiedenen Arten der im Weltall statt-
findenden Bewegungen könnte man glauben, es sei bei dem
Umstände, daß (unserer Ansicht nach) kein Teil des Raumes
Schwingende, drehende Bewegung. 127
leer ist, nie eine andere Bewegung möglich als eine, da-
bei die ganze gleichzeitig bewegte Masse eine einzige, in
sich zurückkehrende Ausdehnung bildet, wo jeder Teil der
Masse immer nur Orte einnimmt, die unmittelbar vorher
ein anderer Teil der Masse eingenommen. Wer aber im
Sinne behielt, was § 59 von den verschiedenen Graden der
Dichtigkeit, mit denen der Raum erfüllt werden kann, ge-
sagt wurde, der wird begreifen, daß noch viel andere
Bewegungen stattfinden können und müssen. Besonders
eine Bewegung, die schwingende, muß nicht nur bei
allen Ätheratomen, sondern auch bei fast aUen ausgezeich-
neten Atomen beinahe unaufhörlich angetroffen werden aus
einem Grunde, der so einleuchtend ist, daß ich ihn nicht
erst anzuführen brauche. Dieser zunächst muß auch, zu-
mal bei festen Körpern, die drehende Bewegung sehr
gemein sein. Wie man sich diese zu denken habe, wie zu
erklären es sei, daß, wenn die Drehungsachse (was. unseren
Ansichten zufolge jedesmal sein muß) eine materielle Linie
ist, dieselben Atome, die jetzt auf dieser Seite derselben
sich befinden, nach einer halben Umdrehung auf die ent-
gegengesetzte gelangen, ohne sich loszureißen: das kann
wohl nur denjenigen beirren, der es vergißt, daß auch in
einem Continuo ebensogut, wie außerhalb desselben, jeder
Atom in einer gewissen Entfernung von jedem anderen
stehe und somit diesen umkreisen könne, ohne sich los-
reißen oder ihn gar mit sich herumdrehen zu müssen;
welches letztere, das Drehen um sich selbst, bei einem ein-
fachen Raumdinge etwas sich selbst Widersprechendes wäre.
§ 69.
Ohne behaupten zu wollen, daß auch nur ein einziger
herrschender oder gemeiner Atom im Weltall zu irgend-
einer Zeit eine vollkommen gerade oder vollkommen kreis-
förmige Bahn beschreibe (was vielmehr bei der unendlichen
Menge von Störungen, die jeder Atom durch die Einwir-
kung aller übrigefn erleidet, eine unendlich große Unwahr-
128 Unmögliche Bewegungen.
scheinlichkeit hätte): dürfen wir dergleichen Bewegungen
doch nicht für etwas, das an sich seihst unmöglich wäre,
erklären. Wohl aber dürfen wir behaupten, daß die Be-
schreibung einer gebrochenen Linie ^ B. nur dann zu-
stande kommen könne, wenn die Geschwindigkeit des Atoms
gegen das Ende des Stückes ab allmählich so abnimmt,
dafi sie im Punkte b zu Null wird; worauf denn, wenn die
Bewegung nicht durch eine endliche Zeit der Ruhe unter-
brochen werden soll, in jedem der auf die Ankunft in b
folgenden Augenbliche abermals eine (von Null an wachsende)
Geschwindigkeit sich einfinden muß.
Nicht also ist es mit gewissen anddren Linien, wie
namentlich mit der logarithmischen Spirale. Es ist, selbst
abgesehen von allen Störungen von außen, etwas sich
Widersprechendes, daß auch nur derjenige Zweig dieser
Linie, der, anzufangen von irgendeinem ihrer Punkte, gegen
den Mittelpunkt zu liegt, durch die Bewegung eines Atoms
in einer endlichen Zeit zurückgelegt werde; und noch un-
gereimter, zu fordern, daß der beschreibende Atom zuletzt
in den Mittelpunkt der Spirale eintreffe. Um dies nur für
den Fall zu beweisen, wo der Atom in seiner Bahn mit
gleichförmiger Geschwindigkeit fortschreitet: denken wir uns
zuerst, daß er allein sich bewege. Dann zeigt sich bald,
daß sein Fortschreiten in der Spirale betrachtet werden
könne, als ob es aus zwei Bewegungen zusammengesetzt
wäre: einer gleichförmigen in der Leitlinie gegen den
Mittelpunkt zu, und einer Winkeldrehung um diesen Mittel-
punkt, deren Geschwindigkeit, gleichförmig wachsend, größer
als eine jede endliche Größe werden muß, sofern der Atom
zum Mittelpunkte so nahe, als man nur will, gelangen soll.
Sicher gibt es also keine Kraft in der Natur, welche ihm
diese Geschwindigkeit zu erteilen vermag; um so weniger
eine Kraft, die einer ganzen, durch drei Dimensionen ver-
breiteten Masse von Atomen eine solche Geschwindigkeit
mitteilen könnte, als erforderlich ist, wenn jener Atom in
ihr die sämtlichen unendlich vielen Windungen der Spirale
bis an den Mittelpunkt hin in einer endlichen Zeit durch-
Fortrücken, Drehung des Weltalls. 129
wandern soll. Aber auch wenn er dies hätte, könnte man
wohl von ihm sagen, daß er im Mittelpunkte angelangt sei?
Ich wenigstens halte es nicht dafür. Denn obwohl man
sagen mag, daß dieser Mittelpunkt mit den Punkten der
Spirale (die ihr ganz unleugbar zugehören) ein Kontinuum
bilde, weil sich für jede auch noch so kleine Entfernung
ein Nachbar unter ihnen findet: so fehlt dieser linearen
Ausdehnung doch noch eine zweite Beschaffenheit, die jede
haben muß, soll sie durch die Bewegung eines Atoms be-
schrieben werden können, die nämlich, daß sie in jedem
ihrer Punkte eine oder etliche bestimmte Richtungen habe.
Dies ist im Mittelpunkte bekanntlich nicht.
Hierher gehört endlich auch noch die neckende Frage,
ob bei unseren Ansichten von der Unendlichkeit des Welt-
alls wohl auch ein Fortrücken des ganzen Alls nach irgend-
einer gegebenen Richtung, oder auch eine drehende Be-
wegung desselben um eine gegebene Weltachse oder einen
Weltmittelpunkt stattfinden könne? Wir entgegnen, daß
man weder die eine noch die andere Bewegung deshalb
für unmöglich zu erklären habe, weil nicht für jeden Atom
Orte, in die er eintreten könnte, zu finden wärefn; wohl
aber muß man sie für unmöglich erklären, weil es an Ur-
sachen (Kräften), die eine solche Bewegung hervorbringen
sollten, gebreche. Denn weder ein physischer Grund
oder eine Einrichtung, 4ie schlechthin notwendig ist (d. h.
die eine bloße Folge rein theoretischer Begriffswahrheiten
ist), noch ein moralischer Grund oder eine Einrichtung,
die nur bedingt notwendig ist (d. h. die wir nur darum
in der Welt antreffen, weil Gott jedes dem Wohle seiner
Geschöpfe zuträgliche Ereignis herbeiführt) — läßt sich er-
denken, aus welchem eine Bewegung dieser Art in der
Welt anzutreffen sein sollte.
Beschließen wir diese Betrachtungen mit zwei besonders
durch Euler berühmt gewordenen Paradoxien. Schon
Bolzano» Paradoxien des UnendUchen. 9
130 Paradoxien von Euler.
Boscowich machte auf den Umstand aufmerksam, daß
man auf eine und dieselbe Frage, nämlich wie sich ein
Atom a bewege, wenn er von einer in c befindlichen Kraft
im verkehrten Verhältnisse mit dem Quadrate der Entfer-
nung angezogen wird, eine verschiedene Antwort erhalte;
je nachdem man den Fall als einen solchen betrachtet, in
welchen die elliptische Bewegung allmählich übergeht, wenn
ihre Wurfsgeschwindigkeit bis auf Null abnimmt, oder wenn
man die Sache, ganz abgesehen von dieser Fiktion, bloß
an sich selbst beurteilt. Hätte der Atom a durch einen
Wurf (oder auf sonst eine andere Weise) beim Anfange
seiner Bewegung eine auf ac senkrechte Seitengeschwindig-
keit erhalten: so müßte er (abgesehen von jedem Wider-
stände im Mittel) eine Ellipse beschreiben, deren ein Brenn-
punkt in c ist. Nimmt diese Seitengeschwindigkeit in das
Unendliche ab, so nimmt auch die kleinere Achse dieser
Ellipse in das Unendliche ab; weshalb denn Euler schloß,
daß in dem Falle, wo der Atom im Punkte a gar keine
Geschwindigkeit hat, ein Oszillieren desselben zwischen den
Punkten a und c eintreten müsse; diese Bewegung nur
sei es, in welche jene elliptische ohne Verletzung des Ge-
setzes der Stetigkeit übergehe. — Andere, wie vornehmlich
Busse, fanden es dagegen ungereimt, daß der Atom, dessen
Geschwindigkeit in der Richtung ac bei der Annäherung
an den Punkt c in das Unendliche zunehmen sollte, hier
ohne allen angeblichen Grund (denn die Anwesenheit eines
den Durchgang durch diesen Ort verhindernden, wie etwa
eines hier fixen und undurchdrinjglichen Atoms, wurde gar
nicht vorausgesetzt) in seinem Laufe gehemmt und in ent-
gegengesetzter Richtung zurückgetrieben werden sollte. Sie
behaupteten also, er müsse vielmehr seine Bewegung in der
Richtung ac über c hinaus, doch jetzt mit abnehmender
Geschwindigkeit fortsetzen, bis er das Ende der cb = ca
erreicht, und dann in ähnlicher Weise von b nach a wieder
zurückkehren, und so ohne Ende. — Meiner Ansicht nach
konnte durch Eulers Berufung auf das Gesetz der Stetig-
keit hierorts ^ar nichts entschieden werden. Denn gegen
Paradoxien von Euler. 131
jene Art von Stetigkeit, welche in den Veränderungen des
Weltalls (im Wachstume oder in der Abnahme der Kräfte
' einzelner Substanzen) erweislicherweise in der Tat herrscht,
verstößt die hier in Streit liegende Erscheinung eben-
sowenig, wenn man die Oszillation des Atoms inner-'
halb der Schranken a und &, als wenn man sie inner-
halb a und c vorgehen läßt. Wohl aber verstößt man
gegen dies Gesetz in einer Art, die schlechterdings
nicht zu rechtfertigen ist, schon dadurch, daß man
hier Kräfte, nämlich eine Anziehungskraft, die ins
Unendliche wächst, vorausgesetzt; und schon darum
darf man sich nicht wundem, wenn sich aus wider-
sprechenden Vordersätzen auch widersprechende
Schlußsätze ableiten lassen. — Hieraus ersieht man
jedoch, daß nicht nur Eulers, sondern auch Busses Be-
antwortung der Frage, unrichtig ist; weil sie etwas schon
an sich selbst Unmögliches voraussetzt, nämlich die unend-
lich große Geschwindigkeit im Punkte c. Wird dieser Fehler
Verbessert, wird also angenommen, daß die Geschwindig-
keit, mit der der Atom fortrückt, nach einem solchen Ge-
setze sich ändert, dabei sie stets endlich verbleibt; wird
endlich auch bedacht, daß man nie von der Bewegung
eines einzigen Atoms sprechen könne, ohne ein Mittel, in
dem er sich bewegt, und eine größere oder geringere Menge
mit ihm zugleich bewegter Atome vorauszusetzen: so stellt
sich ein ganz anderes Ergebnis heraus, mit dessen näherer
Beschreibung wir uns hier nicht zu befassen brauchen.
Das zweite Paradoxon, das wir mit wenigen Worten
noch anfahren wollen, betrifft die Pendelbewegung und
besteht darin, daß man die halbe Schwingungszeit eines
einfachen Pendels, dessen Länge =r, durch einen unend-
lich kleinen Bogen bekanntlich = — 1/ — berechnet; während
2 J^ g
die Fallzeit über die Chorde dieses Bogens, die man ge-
wöhnlich doch als von gleicher Länge mit ihm betrachtet,
sich als =:1/2«T/— ergibt. Daß Euler hierin ein Para-
9*
132 Paradoxien von Euler.
doxon sah, beruht wohl lediglich auf seiner uDrichtigen
Vorstellung von dem unendlich Kleinen, welches er sich
als gleichgeltend mit Null dachte. In der Tat aber gibt
es unendlich kleine Bögen so wenig als Chorden; dasjenige
aber, was die Mathematiker von ihren sogenannten unend-
lich kleinen Bögen und Chorden behaupten, wurde von
ihnen eigentlich nur erwiesen von Bögen und Sehnen, welche
so klein genommen werden können, als man nur immer
will; und die obigen zwei Gleichungen," richtig verstanden,
können keinen anderen Sinn haben, als: die halbe Schwin-
gungszeit eines Pendels nähert sich der Größe — |/— so
sehr, als man nur will, wenn man den Bogen, durch den
man es schwingen läßt, so klein nimmt, als man will; die
Fallzeit auf der Chorde dieses Bogens aber nähert sich
unter denselben Umständen so genau, als man will, der Größe
f-ik-
Daß nun diese zwei Größen verschieden sind,
daß also der Bogen und seine Sehne in Hinsicht auf die
erwähnte Fallzeit sich unterscheiden, so klein man sie auch
nehme: ist etwas ebensowenig Befremdendes, wie gar manche
andere Unterschiede zwischen ihnen, deren Verschwinden,
solange beide nur sind, niemand erwartet, wie z. B. der,
daß der Bogen stets eine Krümmung, und zwar diejenige
behalte, deren Größe wir durch — messen könnten, während
r
die Chorde stets gerade bleibt, d. h. gar keine Krümmung
hat.
Anmerkungen*).
Von
Hans Hahn/
§ 2. Der hier angedeutete Weg zur Einführung des Unend-
Uchen (Hinzufügung der Verneinung zum Begriffe des Endlichen)
ist nicht der einzig mögliche. Man kann auch, wie dies R. Dede-
kind tut („Was sind und was sollen die Zahlen?" § 5), den um-
gekehrten Weg gehen: eine direkte Definition des Unendlichen
geben, und das Endliche einführen durch Hinzufügung der Ver-
•neinung zum Begriffe des Unendlichen (vgl. die Bemerkung zu
§ 20). Die Begriffe Menge, Vielheit werden näher besprochen
in § 4f der Begriff Größe in § 6.
§ 3- Vgl. Bolzanos Wissenschaftslehre § 82, 83.
§ 4. Vgl. Wissenschaftslehre § 84, Der Begriff der Menge,
den B. hier entwickelt, deckt sich im wesentlichen mit dem, der
der heutigen Mengenlehre zugrunde liegt (nur daß B.s Definition,
dem Sprachgebrauche folgend, verlangt, daß eine Menge mehrere,
d. h. mindestens zwei Elemente enthalte, während die Mengen-
lehre auch von Mengen spricht, die nur ein Element oder gar
keines enthalten). Hingegen ist es wichtig, zu beachten, das B.
das Wort Teil in ganz anderem Sinne verwendet als die Mengen-
lehre. B. nennt Teil einer Menge, was man heute Element
dieser Menge nennt (z. B. wenn es sich um die Menge aller Ein-
wohner einer Stadt handelt: jeden einzelnen dieser Einwohner),
während die Mengenlehre als Teil einer Menge M Jede Menge
bezeichnet, deren sämtliche Elemente in M vorkommen. Unter
diesen Teilen gibt es natürlich auch solche, die nur aus einem
*) Diese Anmerkungen beschäftigen sich mit dem Verhältnis von Bolzanos Lehren
zu denen der heutigen Mathematik, insbesondere der Mengenlehre. Sie enthalten sich jeder
rein philosophischen Slritik. Wer sich mit den Grundbegriffen der Mengenlehre nfther
bekannt machen will, sei verwiesen auf A. Fraenkel, Einleitung in die Mengenlehre,
Berlin 1919. Für ein eingehendes Studium der Mengenlehre empfiehlt sich F. Haus-
dorf f, Grundzflge der Mengenlehre, Leipzig 1914.
134 Anmerkungen zu § 5, 6.
einzigen Elemente vom Ji bestehen; doch ist logisch genommen
die nur aus dem Elemente a bestehende Menge etwas ganz
anderes als dieses Element selbst
§ 5' Vgl. Wissenschaftslehre § 84. Die hier gegebene Defi-
nition des Begriffes Summe ist so abstrakt, und so wenig deut-
Uch, dafi es schwer ist, ihren genauen Sinn festzustellen. E^
dürfte folgendes gemeint sein: Wir betrachten Gegenstände einer
Art F; diese Gegenstände können selbst wieder Inbegriffe von
Gegenständen der Art F sein. Sei z. B. / der Inbegriff der Gegen-
stände A,ß,C,.,. der Art F\ dabei sei A der Inbegriff der Gegen-
stände A'f A", . . . der Art F^ B der Inbegriff der Gegenstände
B', B^\ . . , der Art F usf. Dann können wir neben / auch die
Inbegriffe betrachten, die aus/ entstehen, indem man einen oder
mehrere der Gegenstände ^, -ß, ... ersetzt durch ihre ,,Teile"
A\ A\ . . . bzw. B\ jB", . , . usf. Es kann nun gewisse Eigen-
schaften der Inbegriffe von Gegenständen der*Art F geben, die
stets jedem Inbegriffe / und den auf die genannte Art aus J^
entstehenden Inbegriffen gleichzeitig zukommen. Betrachtet man
die Inbegriffe / nur hinsichtlich einer solchen Eigenschaft, so
heißen sie Summen. Ein Beispiel hierfür ist etwa der Wert der
Geldstücke: man fasse den Wert einer Mark auf als den Inbegriff
der Werte von 100 Pfennigen oder als den Inbegriff der Werte von
zehn IG-Pfennigstücken, den Wert eines lo-Pfennigstückes als
den Inbegriff der Werte von 10 Pfennigen usf. Hinsichtiich des
Wertes ist eine Mark gleich zehn lo-Pfennigstücken, gleich 100
Pfennigen usf. Hingegen hat z. B. die Anzahl der zur Herstel-
lung eines Geldbetrages verwendeten Geldstücke die in Rede
stehende Eigenschaft nicht.
Wenn B. sagt: „Denn das eben ist der Begriff einer Summe^
dafi ^ + (B + C) = -4 + 5 + C sein müsse", so könnte es scheinen,
daß er das Gelten des assoziativen Gesetzes als charakteristisch
für den Begriff der Summe ansieht. Man wird dem nur insofern
zustimmen können, als man gewiß nur dann von Summen sprechen
wird, wenn dieses Gesetz gilt. Aber umgekehrt kann das asso-
ziative Gesetz auch in Fällen gelten, wo niemand wird von Sum-
men sprechen wollen: z. B. bei der Multiplikation von Zahlen.
§ 6. Eine Einigung Über die Definition des Begriffes Größö
hat unter den Mathematikern bisher nicht stattgefunden; dies
Wort wird in den verschiedensten Bedeutungen verwendet. Die
hier gegebene Definition wird näher erläutert in Wissenschafts-
Anmerkungen zu § 6, 7. 135
i
lehre § 87. Doch geben die dortigen Ausführungen zu gewissen
Bedenken Anlaß. Es wird dort festgesetzt, daß, wenn, von den
beiden Fällen M^^N-^rv und N^M+fi der erste eintritt, die
Größe J/ die größere sei. Wir nehmen folgendes Beispiel : Wir
betrachten jede Elektrizitätsmenge als Inbegriff von (positiven und
negativen) Elementarquanten. Die an den Begriff der Summe
ii^ § 5 gestellten Forderungen sind dann erftillt Da wir die Elek-
trizitätsmenge 5 darstellen können als Summe von 3 positiven
und 2 positiven Elementarquanten, wäre sie größer als die Elek-
trizitätsmenge 3. Da wir aber andererseits die Elektrizitätsmenge 3
auffassen können als Summe von 5 positiven und 2 negativen
Elementarquanten, wäre auch umgekehrt die Elektrizitätsmenge 3
größer als die Elektrizitätsmenge 5. Diese Definition ist also nicht
haltbar, solange dem Summenbegriff die Allgemeinheit gelassen
wird, die ihm in § 5 gegeben wurde (die aber wieder ihrerseits
durchaus dem üblichen Gebrauche des Wortes Summe entspricht).
Tatsächlich scheint B. ein sehr enger Begriff der Größe vor-
geschwebt zu haben, da er die Null nicht als Größe anerkennt
(vgl. § 14, S. 19). Andererseits spricht er aber ausdrücklich von
positiven Größen (§ 18, S. 25, Fußnote), er erkennt also offen-
bar auch nicht- positive Größen an, so daß es schwer verständ-
lich ist, wie er der Null den Größencharakter absprechen will.
Man kann also wohl sagen, daß die Begriffe S u m m e und Größe
durch die §§ 5 und 6 (und die entsprechenden §§ der Wissen-
schaftslehre) nicht hinlänglich geklärt sind.
§ 7- Vgl. Wissenschaftslehre § 85. Auch gegen die hier ge-
gebene Definition des Begrifi<$s Reihe müssen Bedenken er-
hoben werden; sie ist offenbar viel weiter, als B. es beabsich-
tigte. Sei z. B. der gegebene Inbegriff die Menge aller reellen
Zahlen ; zu jeder reellen Zahl x denken wir uns eine zweite be-
stimmt durch das Gesetz ^+1; B.s Definition des Begriffes Reihe
ist ihrem Wortlaute nach erfüllt, obwohl B. die Menge aller
reellen Zahlen gewiß nicht als Reihe aufgefaßt wissen wollte.
Allem Anscheine nach wollte B. mit seiner Definition das sagen,
was wir in der heutigen Terminologie so ausdrücken würden:
eine (einfach geordnete) Menge heißt eine Reihe, wenn es zu
jedem ihrer Elemente (mit höchstens\zwei Ausnahmen: einem
ersten und einem letzten Elemente) ein unmittelbar vorher-
gehendes und ein unmittelbar folgendes Element gibt. Aber
auch so gefaßt ist der Begriflf noch viel weiter, als offenbar B.
136 Anmerkungen zu § 8 — 16.
vermeinte. Denn unter diesen Begriff würde z. B. noch die Menge
aller ganzen komplexen Zahlen M + ni (m und n ganze Zahlen)
fallen, wenn man sie nach folgendem Gesetze ordnet: m* + «'« > m
■i-ni wenn m^'^m, und falls m* =.my wenn n'^n,
§ 8. Durch die eben besprochenen Einwände gegen B.s De-
finition des Begriffes Reihe wird auch die hier gegebene Defi-
nition der BegrifTe endliche Vielheit und ganze Zahl illuso-
risch. Doch kann man tatsächlich in der von B. eingeschlagenen
Richtung zu einer befriedigenden Darstellung dieser Begriffe ge-
langen. Vgl. Peanos Axiome des Begriffes natürliche Zahl
(man findet sie ausführlich besprochen bei L. Couturat, Princi-
pes des math^matiques, Paris 1905, S. 54) und die Ausführungen
von B. Rüssel, The principles of mathematics, Cambridge 1903,
S. 128. Verwandt damit ist auch die Einführung dieser Begriffe
bei H. Weber, Enzyklopädie der Elementarmathematik, Bd. i
(3. Aufl., Leipzig 1909) S. iff.
§ 12. Die Definition des Unendlichen, die B. in Nr. i dieses
Paragraphen ablehnt, ist die auch in der heutigen Mathematik
durchaus übliche Definition des „uneigentlichen Grenzwertes" 00.
Man sagt, eine Funktion f(x) habe für x-*a den (uneigentlichen)
Grenzwert 00, in Zeichen: lim f(x) = 00, wenn — wie groß eine
Zahl A auch vorgegeben werden mag — für alle hinlänglich nahe
an a gelegenen (aber von a verschiedenen) Werte von at, immer
f(x) >• A ist. Was B. hierzu bemerkt, ist durchaus anzuerkennen.
Es handelt sich hier in der Tat nicht um die Definition
einer unendlichen Größe, sondern nur um ein Wachsen über
alle (endlichen) Grenzen hinaus.* Man hat daher dieses „unvoll-
endete", „uneigentliche" oder „potentielle" Unendlich von dem
„vollendeten", „eigentlichen" oder „aktualen" Unendlich zu unter-
scheiden. Nur um dies letztere dreht es sich in den Unter-
suchungen von B.
§ 13. Ähnliche Erwägungen zum Nachweise der „Gegenständ-
lichkeit des Begriffes Unendlich" (oder wie die heutigen Mathe-
matiker sagen : der Existenz unendlicher Mengen) finden sich auch
bei neueren Mathematikern, z. B. R. Dedekind, Was sind und
was sollen die Zahlen? (Braunschweig 1887) § 5. Es verdient
daher festgestellt zu werden, daß dieser Gedankengang sich schon
bei B. findet.
§ 16. An den beiden Stellen: „sofern man unter der unend-
lich großen Größe ..." und „unter der unendlich kleinen
Anmerkungen zu § i6 — 18. 137
Größe ..." sollte es wohl statt „der** heißen: „emer**, da es ja
sehr wohl verschiedene unendlich große und unendlich kleine
Größen geben kann. Wenn B. weiter feststellt, eine unendliche
Größe könne nicht als Zahl betrachtet werden, so liegt das
durchaus an der sehr engen Definition des Begriffes Zahl, von
der er ausgeht (§ 8), indem er das Wort „Zahl" nur in dem Sinne
verwendet, in dem man heute sagt „natürUche Zahl'*. Demzu-
folge bezeichnet denn auch B. die Brüche i-» -J-» • • • , die irratio-
nalen „Ausdrücke" ySj y2, ... nicht als Zahlen, sondern ledig-
lich als Größen, während man sie heute allgemein als rationale
bzw. irrationale Zahlen bezeichnet. Und so treten denn auch in
G. Cantors Mengenlehre unendliche (transfinite) Zahlen auf.
Was dagegen von philosophischer Seite eingewendet wurde, läuft
auf einen bloßen Wortstreit hinaus : es handelt sich dabei ja nur
darum, einen wie weiten Sinn man dem Worte „Zahl« bei-
legen will.
§ i8. Was hier über Summen von unendlich vielen Größen
gesagt ist, insbesondere die in Fußnote*) durchgeführte Rechnung,
entspricht nicht den heutigen Ansichten über diesen Gegenstand.
B. glaubt sich wohl auf Grund des in § 5 eingeführten Summen-
begriffes berechtigt, ohne weiteres eine Summe aus unendlich
vielen Summanden zu betrachten. Wir haben schon gesehen,
daß diese Definition des Begriffes Summe zu unbestimmt ist,
um mit ihr etwas anfangen zu können. Man wird also gegen B.s
Beweisführung einzuwenden haben, daß mit den in ihr auftreten-
den Summen gar kein präziser Begriff verbunden ist-, und daß
die mit ihnen vorgenommenen Rechnungen (wie z. B. Ausklammern
eines gemeinsamen Faktors) durch nichts begründet sind.
Die heutige Mathematik stützt sich, um den Begriff einer
Summe aus unendlich vielen (reellen oder komplexen) Zahlen
einzuführen, auf den Begriff des Grenzwertes einer Zahlen-
folge, dessen genaue Definition die folgende ist*). Man sagt: die
Zahlenfolge b^y b^^ ...j bny ... hat die Zahl b zur Grenze, oder:
sie hat den Grenzwert ^, in Zeichen lim bn = b^ wenn — wie
«—»■CO
klein die positive Zähl s auch gegeben sein mag — alle Zahlen
der Folge, mit höchstens endlich vielen Ausnahmen, der Un-
*) Näheres hierflber in allen besseren Lehrbüchern der Differentialrechnung
oder z. B.*A. Pringsheim, Vorlesungen fiber Zahlen- und Funktionenlehre, i. Bd.,
S. 160.
138 Anmerkungen zu^ i8.
gleichung genügen \bn — ^ | < * (d. h. sich von b um weniger als
8 unterscheiden). Eine gegebene Zahlenfolge kann einen Grenz-
wert besitzen, doch muß dies nicht sein. Besitzt sie einen Grenz-
wert, so beißt sie konvergent, besitzt sie keinen» so heißt sie
divergent. — Um nun den Begriff einer Summe aus unendlich
vielen Zahlen (oder, wie statt dessen gewöhnlich gesagt wird:
die Summe einer unendlichen Reihe) zu definieren*), geht
man aus vom Begriffe der Summe zweier Zahlen. Durch voll-
standige Induktion definiert man zunächst den Begriff der Summe
aus H Zahlen öj + a, -}-•.. + ««, indem man annimmt, es sei schon
bekannt, was unter einer Summe aus n — i Zahlen äj+ö, + ...
-föt«— I zu verstehen sei, und dann festsetzt: ist Sm— i der Wert
der Summe ai + aj + . . .-f ««—i, so sei der Wert Sn der Summe
ai + a.2 j- . . . + an gegeben durch :
Sn = Sh — I -|- C^M .
Und nun wird der Begriff „Summe der unendlichen Reihe «^ + a^
-f.. . + a«-f . . ." in folgender Weise definiert. Man bilde aus ihr
die Folge ihrer „Teilsummen":
^i = <»i> «2 = ^1 + ^2» ^8 = ^1 + ^2 + ^8»- • •> 5«=ai + a2 + .. .-H««,
Ist diese Zahlenfolge konvergent, und ist s ihr Grenzwert:
lim Sn = s,
«—»•00
so definiereji wir 5 als die Summe unserer unendlichen Reihe:
^1 + ^2 + • • • + ^« + • ' • ^^^ '^*
Ist hingegen die Folge der Teilsummen divergent, so soll von
einer Summe unserer unendlichen Reihe nicht gesprochen, und
das Symbol «j + «2 + . . . -|- öf« -f . . . als sinnlos betrachtet werden.
Also kurz gesprochen: Summe der unendlich vielen Summanden
(Summe der unendüchen Reihe) «^ -h «j -f . . . + a« -|- . . . ist Grenz-
wert ihrer Teilsummen, falls es einen solchen Grenzwert gibt.
Auf Grund dieser Definition ist es nun auch leicht, die im
Texte behandelte Gleichung:
a + ae + ae^-\-... + aef* + ,, = (|^|<i)
zu beweisen. Die w-te Teilsumme ist hier:
Sn = a + ae-\- . .. + ae«— i,
■■ •
*) Vgl. z. B. A. Pringsheim a.a.O. 8.393.
Anmerkungen zu § 18—20. 139
und wenn e=}=i, ist dies nach einer elementaren Formel:
SH = a
I — e
Wenn nun*) | ^ K i, so hat die Folge e^ e^, «^, . . . , ^«, . . . den Grenz-
wert o:
iim «« = o (I ^ K i).
«=00
Daher hat die Folge 5,, Sg, . . ., 5« . . . den Grenzwert a -y d. h.
es ist
lim Sh =
«— *- 00 ± ff
und unsere Behauptung ist bewiesen.
§ 19. Die Frage, wann zwei Mengen als „in Hinsicht auf ihre
Vielheit einander gleich" zu betrachten seien, bildet einen der
wundesten Punkte in B.s Lehre vom Unendlichen. Sie findet
sich in § 21 und § 24 dahin beantwortet**), daß zwei Mengen als
gleich zu betrachten seien, wenn sie „gleiche Bestimmungsgründe
haben". Diese Definition ist viel zu unbestimmt, als daß sich mit
ihr irgend etwas anfangen ließe. Nach § 6 nun hätte die Menge
A^ größer zu heißen als die Menge M, wenn N Summe aus einer
M „gleichen" Menge und noch einer Menge /* ist. Da aber der
Begriff „gleich" nicht hinlänglich präzise gefaßt ist, gilt dies auch
vom Begriffe „größer", wenigstens immer dann, wenn von den
beiden Mengen M und N keine Teil der anderen ist. Doch kann
man zweifellos sagen, daß nach der Auffassungsweise B.s j^de
Menge größer ist als jede ihrer echten***) T^mengen. Vgl. hier-
zu die Bemerkungen zu § 21.
§ 20. Ist jedes Ding einer Menge Af mit einem Dinge der Menge
N zu einem Paare verbunden, so daß in beiden Mengen kein
einziges Ding ohne Verbindung zu einem Paare bleibt, und auch
kein einziges in mehr als einem Paare vorkommt, so sagt man,
'*) B. schreibt statt dessen ^««s:!, weil er stillschweigend nur an positive e
denkt.
**) Diese beiden Stellen stimmen untereinander nicht flberein. In § ai heifit es :
„wie etwa, daß beide Mengen ganz gleiche Bestimmungsgründe haben," in § 24 hin-
gewiesen: „dies wird mit Sicherheit erst dann gefolgert werden können, wenn
beide Mengen gleiche Bestimmungsgrande haben''.
***) Da man heute zu den Teilmengen einer Menge M auch diese Menge selbst
rechnet, bezeichnet man die Teilmengen im engeren Sinne (die nicht alle Elemente
von M enthalten) auch als echte Teilmengen.
140 # Anmerkungen zu § 20, 21.
die beiden Mengen seien eineindentig (oder umkehrbar ein-
deutig) aufeinander bezogen. Zwei Mengen, die eineindeutig
aufeinander belogen werden können, heißen nach G. Cantor
äquivalent oder gleichmächtig. Was B. hier nachweist, kann
also kurz so ausgesprochen werden: Eine unendliche Menge
kann äquivalent einer ihrer echten Teilmengen sein.
Dies trifft sogar, wie man unschwer zeigt, und wie auch B. zu
Beginn dieses Paragraphen sagt, für jede unendliche Menge zu.
Und da es für endliche Mengen gewiß niemals zutrifft, so kann
diese Eigenschaft geradezu zur Definition der unendlichen Mengen
verwendet werden. Dies ist der Weg, den Dedekind einge-
schlagen hat (Bemerkung zu § 2).
§ 21. Bleibt es B.s Verdienst, sich als erster mit der Äqui-
valenz unendlicher Mengen beschäftigt zu haben, so war es
G. Cantor vorbehalten, die volle Tragweite dieses Begriffes zu
erkennen. B. begnügt sich hier mit der rein negativen Fest-
stellung, Äquivalenz sei kein Kriterium für die Gleichheit zweier
Mengen „in Hinsicht auf die Vielheit ihrer Teile", eine Behaup-
tung, deren Bedeutung noch dadurch beeinträchtigt wird, daß —
wie wir zu § 19 bemerkten — nicht klar gesagt wird, was unter
einer solchen Gleichheit zu verstehen sei. Im Gegensatze hierzu
hat G. Cantor gerade auf den Begriff der Äquivalenz seine Lehre
von den Mächtigkeiten (oder Kardinalzahlen) der Mengen
aufgebaut, die sich als so außerordentlich fruchtbar erwiesen hat.
Wenn wir von zwei endUchen Mengen sagen, sie enthalten
dieselbe Anzahl von Elementen, oder — was dasselbe heißt — l
sie haben gleiche Kardinalzahl, so meinen wir damit offenbar
nichts anderes als : die beiden Mengen sind äquivalent. So sagen
wir z. B., die Anzahl der Finger der rechten Hand sei die gleiche,
wie die Anzahl der Finger der linken Hand, weil eine einein-
deutige Zuordnung zwischen den Fingern der rechten und denen
der linken Hand möglich ist Die Kardinalzahl einer endlichen
Menge ist daher nichts anderes als dasjenige Merkmal, das die^ße
Menge mit allen ihr äquivalenten Mengen gemein hat, und wo-
durch sie sich von allen übrigen, ihr nicht äquivalenten Mengen
unterscheidet. „Eine Menge hat die Kardinalzahl 5" heißt genau
dasselbe wie: „diese Menge ist äquivalent der Menge der Finger
einer Hand."
In diese Definition des Begriffes Kardinalzahl geht nun
aber die Endlichkeit der betrachteten Menge gar nicht ein. Sie
Anmerkungen zu § 21. ^ 14 t
kann wörtlich auch auf unendliche Mengen angewendet werden
und liefert so zu jeder Menge ein Merkmal, das — wenn es sich
um endliche Mengen handelt — sich auf den bekannten Begriff
der Anzahl oder Kardinalzahl dieser Menge reduziert, imd daher
zweckmäßig ganz allgemein als die Kardinalzahl der betrachteten
Menge bezeichnet werden kann*). Obwohl diese Bezeichnung
heute in der Mengenlehre allgemein angenommen ist, wollen wir
hier — um allen Wortstreitigkeiten aus dem Wege zu gehen —
diesen Begriff lieber mit dem von G. Cantor herrührenden und
auch heute noch durchaus üblichen Worte Mächtigkeit be«
zeichnen. Die Definition dieses Begriffes lautet also: „Mächtig-
keit einer Menge ist dasjenige ihrer Merkmale, das sie mit
allen ihr äquivalenten Mengen gemein hat, und wodurch sie sich
von allen ihr nicht äquivalenten Mengen unterscheidet.^ Äqui-
valente Mengen haben also dieselbe Mächtigkeit, nicht-äquivalente
Mengen haben verschiedene Mächtigkeiten.
Durch die Beispiele von § 20 nun zeigt B., daß eine unend-
liche Menge gleiche Mächtigkeit wie eine ihrer echten Teilmengen
haben kann. Noch überraschendere Beispiele hierfür hat G. Cantor
gefunden: z. B. daß die Menge aller rationalen Brüche gleiche
Mächtigkeit hat, wie die Menge aller natürlichen Zahlen '^'^), daß
die Menge aller Punkte einer Ebene***), und ebenso die Menge
aller Punkte des Raumes f) gleiche Mächtigkeit hat, wie die
Menge aller Punkte einer Geraden usf.
Daß zwei Mengen, von denen eine die andere als echte Teil-
menge enthält und somit nach B.s Terminologie größer ist als
die andere hinsichtlich der Vielheit ihrer Teile, doch gleiche
Mächtigkeit haben können, bedeutet natürlich keinerlei Wider-
spruch, ebensowenig wie etwa die Tatsache, daß zwei Menschen,
von denen der eine größer ist als der andere, doch gleiches Ge-
wicht haben können. Insbesondere ist darin auch kein Wider-
spruch enthalten gegen das „ Axiom": das Ganze ist größer als
der Teil.
Nachdem wir festgestellt haben, wann zwei Mengen gleiche
Mächtigkeit haben, bleibt noch festzustellen, was unter der Aus-
sage verstanden werden soll: die Menge 3/hat größere Mäch-
*) Alles, was von phflosophischer Seite hiergegen eingewendet wurde, beruht
wohl auf Mifiyerstflndnissen.
**) Vgl. A. Fraenkel, Einl. i. d. Mengenlehre, S. ao.
**»•) Vgl. A. Fraenkel a. a. O. S. 7a.*
t) VgL A. Fraenkel a.a.O. S. 7a
142 Anmerkungen zu § 21 — 27.
tigkeit als die Menge N. Die Definition lautet: Ist die Menge
iV äquivalent einem Teile von M^ aber nicht äquivalent mit M
selbst, dann hat M größere Mächtigkeit als i^. G. Cantor hat
bewiesen, daß die Menge aller reellen Zahlen größere Mächtig-
keit hat als die Menge aller natürlichen Zahlen*), ferner daß die
Menge aller Teilmengen der Menge M stets größere Mächtig-
keit'*) hat als die Menge ^M selbst *♦*).
Der Nachweis, daß die Mächtigkeiten der Mengen ihrer Größe
nach geordnet werden können (d. h. daß von je zwei Mächtig-
keiten, die nicht gleich sind, die eine größer als die andere ist),
erforderte schwierige Untersuchungen. Er wurde erbracht durch
G. Cantors Theorie der wohlgeordneten Meiigen, auf die
wir hier nicht eingehen können f).
§ 22. Bei dem hier geschilderten Verfahren zur Ermittlung
der Anzahl einer endlichen Menge durch Numerieren ihrer Ele-
mente fehlt der Nachweis, daß die ermittelte Anzahl unabhängig
ist von der Reihenfolge, in der die Elemente numeriert werden.
Der erste, der die Notwendigkeit eines solchen Nachweises er-
kannte, scheint E. Schröder gewesen zu sein ff). Ausführlich
findet man diesen Beweis bei A. Pringsheim, Vorlesungen über
Zahlen- und Funktionenlehre, i. Bd, S. 15. Vgl. auch meine kri-
tischen Bemerkungon hierzu: Göttingische gelehrte Anzeigen,
1919, S. 328. ^
§ 27. Der Ableugnung unendlich großer und unendlich kleiner
Zeitlängen, Entfernungen, Kräfte ist durchaus zuzustimmen: wo
in den Anwendungen der Mathematik (insbesondere auf Physik)
von unendlich kleinen Größen dieser Art die Rede ist, handelt
es sieh stets um eine abgekürzte Ausdrucksweise; die in den
Überlegungen wirklich auftretenden Größen müssen sämtlich
endlich sein. Der Beweis aber, durch denB. diese Ableugnung
begründet, ist gewiß nicht überzeugend; so glaubt B. u. a. nach-
weisen zu können (S. 39, Z. 2 v. u.), „daß aus der Angabe der
beiden Zeitpunkte a und ß, aus der Angabe der sämtUchen Kräfte,
welche die geschaffenen Substanzen in dem Zeitpunkte a gel^abt,
*) Vgl. A. Fraenkel a. a. O. S. 35.
♦♦) Vgl. A. Fraenkel a. a. O. S. 48.
***)' SoU dies auch für Mengen gelten, die nur aus einem oder zwei Elementen
bestehen, so muß man zu den Teilen von M auch M selbst und die „leere
Menge" (die gar kern Element enthält) rechnen,
t) Vgl. A. Fraenkel a. a. O. S. 124 ff.
tt) Vgl. H. V. Helmholtz, Wissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 3, S. 358.
Anmerkungen zu § 27, 28. 143
aus der Angabe der Orte, wo eine jede sich befunden* alle
Folgezustände ableitbar seien, was doch ganz bestimmt nicht der
Fall ist, da hierzu zum mindesten auch die Angabe der Ge-
schwindigkeiten im Zeitpunkte a erforderlich ist.
Wie neuere Untersuchungen über die Grundlagen der Geo-
metrie gezeigt haben, beruht die Unmöglichkeit unendlich großer
und unendlich kleiner Strecken in der Geometrie auf einem eigenen
Axiome, dem sog. Axiome des Archimedes*), das aus den
Übrigen Axiomen ebensowenig ableitbar ist wie das euklidische
Parallelenaxiom. Ebenso wie man unter Verneinung des Par-
allelenaxioms eine nichteuklidische Geometrie aufbauen kann,
in der das Parallelenaxiom keine Gültigkeit hat, ebenso kann man
unter Verneinung des archimedischen Axioms eine nichtarchi-
medische Geometrie aufbauen, in der es (nach Wahl einer £in-
heitsstrecke) unendlich große und unendlich kleine Strecken gibt**).
Wenn vorhin von der Unmöglichkeit unendlich großer und unendlich
kleiner Strecken die Rede war, so ist demnach damit nicht eine
logische Unmöglichkeit gemeint, vielmehr ist damit gemeint, daß
sich im Räume unserer Anschauung und Erfahrung solche Strecken
nicht finden.
Nicht nur in der Mengenlehre, sondern auch in der Lehre
von den nichtarchimedischen Geometrien betrachtet die Mathematik
unendliche Größen. Doch sind es Größen ganz verschiedener
Art, die in diesen beiden Disziplinen behandelt werden***). Daß
man dies zunächst übersah, hat viel Verwirrung mit sich ge-
bracht. Auch bei B. sind diese gänzlich verschiedenen Arten un-
endlicher Größen nicht auseinandergehalten.
§ 28. Die Definition: „etwas berechnen wollen, heißt eine Be-
stimmung desselben durch Zahlen versuchen" ist wohl — wenn
man das .Wort Zahl in so engem Sinne versteht, wie dasB. tut
(§ 8) — viel zu eng. Mit Cantors Mächtigkeiten (endlichen und
*) Es lautet: sind a uad b zwei Strecken, so gibt es stets ein Vielfaches na
der ersten, das größer als die zweite ist: na's^'b, — Man findet hierQber einiges bei
F. Enriques, Fragen der Elementargeometrie, i. Teil (Leipzig 1911), S. 135 ff.
**) Als erster hat dies wohl G. Veronese durchgeführt in seinen Fonda-
menti digeometria, 1891. Ein sehr einfaches Beispiel einer nichtarchimedischen
Geometrie hat D. Hilbert angegeben: Grundlagen der Geometrie, Leipzig 1899,
S. 34..
***) In der Mengenlehre handelt es sich um Verallgemeinerungen des Kardinal-
zahl- und Ordinalzahlbegriffes, in den nichtarchimedischen Geometrien um Strecken.
144 Anmerkungen zu § 28.
— - — - - ■
transfiniten Kardinalzahlen)*} ist, wie in der Mengenlehre ge-
zeigt wird, sehr wohl eine Rechnung möglich:
Seien m und n zwei Mächtigkeiten. Um die Summe m+n
zu definieren, gehen wir aus von einer Menge M der Mächtig-
keit m und einer Menge N der Mächtigkeit n, die mit M kein
Element gemein habe. Wir bilden die „Vereinigungsmenge" von
Af und Ny die aus sämtlichen Elementen von M und sämtlichen Ele-
menten von A'^ besteht, und definieren : m + n ist die Mächtigkeit dieser
Vereinigungsmenge. — Um das Produkt mn zu definieren, gehen
wir wieder aus von einer Menge M der Mächtigkeit m und einer
Menge A^ der Mächtigkeit n. Wir bilden alle möglichen Paare (a, h)^
deren erstes Glied a zu J/, deren zweites Glied b imN gehört. Die
Menge aller dieser Paare bezeichnen wir als die „Verbindungs-
meuge* von M mit A^ und definieren: mn ist die Mächtigkeit
dieser Verbindungsmenge. — Um die Potenz m« zu definieren,
ordnen wir jedem Elemente von N ein Element von M zu (wo-
bei sehr wohl auch verschiedenen Elementen von N dasselbe
Element von M zugeordnet werden darf), und nennen eine solche
Zuordnung auch eine Belegung von N mit Elementen von Af.
Die Menge aller solchen Belegungen nennen wir die „Belegungs-
menge" von N mit M und definieren : m« ist die Mächtigkeit dieser
Belegungsmenge.
Diese Definitionen von Summe, Produkt und Potenz können
mit Recht als Erweitervmgen aufs Unendliche der für natürliche
Zahlen geläufigen Definitionen angesehen werden. Denn sind M
und iV endliche Mengen, so ergeben unsere Definitionen tatsäch-
lich die bekannten Werte von Summe, Produkt, Potenz zweier natür-
licher Zahlen. Auch die für natürliche Zahlen bekannten Rech-
nungsregeln, sofern sie sich durch Gleichungen ausdrücken
(assoziatives, iommutatives, distributives Gesetz), bleiben für be-
liebige Mächtigkeiten bestehen, nicht aber die durch •Unglei-
chungen ausgedrückten. Daher rührt es auch, daß die'inversen
Operationen (Subtraktion, Division) auf unendliche Mächtigkeiten
nicht übertragen werden können.
Der hier skizzierte Kalkül mit Mächtigkeiten hat sich als
sehr fruchtbar erwiesen. Um nur ein Beispiel zu geben: bedeutet
*) Ähnliches gilt auch für Cantors Ordnungstypen, die in demselben
Sinne eine Ausdehnung des Begriffes „Ordinalzahl*^ auf unendliche Mengen liefern,
wie dies die Mächtigkeitenfür den Begriff „Kardinalzahl" leisten (vgl. A. Fr aenl^el,
Einl. i d. Mengenlehre, S. 78 ff).
Anmerkungen zu § 28 — ^32. 145
a die Mächtigkeit der Menge aller natürlichen Zahlen, c die Mäch-
tigkeit der Menge aller reellen Zahlen, so besteht, wie G. Can-
tor gezeigt hat, die Beziehung*) c = 2«. Daraus folgt durch Rech-
nung:
C«a=2fl -20 = 20+« =;^2ft« C. ^
Die so errechnete Gleichung c* = c drückt die (in der Bemer-
kung zu § 21 erwähnte) Tatsache aus, daß die Menge aller
Punkte einer Geraden und die Menge aller Punkte einer Ebene
gleiche Mächtigkeit haben.
§ 29. Die Erörterungen dieses Paragraphen sind vielen Ein-
wendungen ausgesetzt. Im Sinne der Mengenlehre haben die mit
O M O
NfNf S bezeichneten Mengen alle dieselbe Mächtigkeit, denn sie
sind alle äquivalent der Menge der natürlichen Zahlen, haben also,
gleiche Mächtigkeit wie diese (in Cantors Terminologie: sie sind
sämüich abzählbar-unendlich).
o
Was unter aN (S. 45, Z. 9 v.u.) zu verstehen» wäre, ist nicht
ersichüich. Auch woher B. die Berechtigung nimmt, die Glei-
chung:
Mult. (8 — 7) = Mult. (13 — 12)
anzusetzen, ist — nach dem zu § 19 Gesagten — nicht zu sehen.
>
§ 30. Die Einführung Unendlich -kleiner als Reziprokwerte
Unendlich -großer hängt völlig in der Luft, solange nicht eine
Division Unendlich -großer definiert ist, was nicht der Fall ist
Die angedeutete Einführung Unendlich -kleiner durch die Wahr-
scheinlichkeitsrechnung könnte sich möglicherweise als fruchtbar
erweisen.
§ 31. Die hier von B. geübte Kritik ist ganz im Sinne der
heutigen Mathematik.
§ 32. B.s These, die unendliche Reihe a — a + a — a + ...
sei ein „gegenstandsloser Größenansdruck" würden wir (vgL die
Bemerkungen zu § 18) heute so ausdrücken: diese Reihe ist
(wenn a=^o) divergent, and dies wäre in folgender Weise zu
begründen: Die Folge ihrer Teilsummen ist:
a, a — a»o, a— -11 + « = «, a — a-fa — a = o, ...
d. h. es ist die Folge a, o, a, o, Diese Folge besitzt keinen
Grenzwert, d. h. sie ist divergent.
•) Vgl. A. Frftenkel a. a. O. S. 77.
BolzanOy Paradoxien des Unendlidien. 10
146 Anmerkungen zu § 32 — 35.
if_
'■■■'■■ j
Die von B aufgestellte Forderung, die Summe einer unend-
lichen Reihe dürfe keine Veränderung in ihrem Werte erfahren,
welche Veränderung wir auch in der Aufeinanderfolge ihrer
Glieder vornehmen mögen, wird durch die in unseren Bemer-
kungen zu § 18 gegebene ^und heute allgemein übliche Definition
nicht erfüllt. So kann man z. B. aus der Reihe i — -J-H-i- — i + ...
* (deren Summe = /^ a ist)*) durch 'bloßes Umordnen der Glieder
eine Reihe erhalten, deren Summe eine beliebig vorgegebene
.reelle Zahl ist**), und dasselbe trifft für alle Reihen «i +«, + .. .
-f tf M + • • • AUS reellen Zahlen zu,\iie selbst konvergieren, während
die Reihe aus den absoluten Beträgen | «^ | + | o« | + • . . + | <>» | + . . .
divergiert***).
§ 33* Vgl* <^c Bemerkungen zu § 29.
§ 34. Zur Unmöglichkeit der Division durch o sei folgendes
• bemerkt Die Division wird definiert als Umkehrung der Multipli-
kation: A durch B dividieren, heißt eine Zahl x aus der Gleichung
B x = A bestimmen. Ist nun B=^o und A^o, so hat diese.
Gleichung keine Lösung; ist B = o und A = Of so ist durch diese
Gleichung keine Zahl x bestimmt, weil ihr jede Zahl genügt. In
diesem Sinne gibt es also niemals eine Division durch o, ein
Quotient -^ ist eine sinnlose Zeichenkombination. Man wird also,
A A
im Gegensatze zu B., auch eine „identische*" Gleichung — = —
nicht zuzulassen haben, da ihre beiden Seiten sinnlos sind.
§ 35. Das hier Gesagte deckt sich völlig mit den Ansichten
der heutigen Mathematik. Zur näheren Erläuterung des über das
Messen Gesagten diene folgendes: Es sei uns ein System (posi-
tiver) Größen gegeben, die addiert werden können (z. B. die
Strecken der Geometrie). Es ist dann klar, was unter einem
Vielfachen p • N der Größe N (p bedeutet eine natürliche Zahl),
sowie unter dem Teile — A^ (wo q eine natürliche Zahl bedeutet)
ZU verstehen ist ^ Damit ist auch geg'eben, was ~ N bedeutet: es
ist das /-fache des ^-ten Teiles von N.
Ist M eine zweite Größe des Systemes, und ilf = — i\r, so sagen
*) Vgl. A. Pringsheim, Vorl. Über- Zahlen- u; Fnnktionenlehre, i. Bd., S. 415.
♦♦) Vgl. A. Frings heim a. a. O. S. 439^^.
•♦*) Vp;l. A. Pringahcim.a. a. O. S. 4oiff.
Anmerkungen zu § 35, 36. 147
wir: M steht in rationalem Verhältnisse zu N, Doch kann es
sehr wohl Größen M geben, die zu ^ nicht in rationalem Ver-
liältnisse stehen. Sei M eine solche. Gibt es dann ein Vielfaches
n . M das >il/ ist*), so können die ganzen Zahlen ^j, ^,, /g, . . .,
pq^ ... SO bestimmt werden, daß:
2 2
N<M<{ti±iyN, i±.N<M<:^-3±l).N,...
Gilt das Axiom des Archimedes für unser Größensystem, so
kann es darin nur eine einzige Größe M geben, die allen diesen
Ungleichungen genügt; denn angenommen, es gäbe noch eine
zweite M\ und es wäre etwa**) M^'^M^ so müßte sein:
M'-^M<-^N, M' — Mk^-^N,..., i// — j|/<-lAr,...
es wären also sämtliche Vielfache q (M* — M)<^N^ entgegen dem
Axiome des Archimedes. Gilt hingegen das Axiom des Archi-
medes nicht, so kann es sehr wohl außer M noch eine zweite
Größe M' geben, die sämtlichen Ungleichungen (♦) genügt Im
ersten Falle ist also durch Angabe der Ungleichungen (*) die
Größe M völlig bestimmt, im zweiten nicht. Die übliche Art des
Messens der Größe M durch eine Einheit N besteht nun aber,
wenn nicht gerade M zm N in rationalem Verhältnis steht, eben
in der Angabe der Ungleichungen (*); sie beruht also durchaus
auf dem Axiome des Archimedes.
.§ 36. Auch den Ausführungen dieses Paragraphen ist durch-
aus zuzustimmen. Wenn auch in den heutigen Lehrbüchern der
Differentialrechnung vielfach von der „Ermittlung des wahren
F(x\
Wertes** eines Bruches J\ ' gesprochen wird, der für x=^a „in
der unbestimmten Form -^ erscheint**, so handelt es sich «dabei
tatsächlich — ganz wie dies B. auseinandersetzt — lediglich um
*) Dies ist sicher «der Fall, wenn fflr unser GröfienAystiem das Axiom des
Archimedes gilt (vgl. die Bemerkung zu § 37), anderenfalls mufi es nicht der
Fall sein.
**) Ware flf* -<^, so ist Im fol*:endcn JK* — .V durch jr^JV' zu. ersetzen^
10*
148 Anmerkungen zu § 37, 38.
Ermittlung des Grenz wertes, dem dieser BrucH zustrebt, wenn
X sich unbeschränkt dem Werte a nähert (vorausgesetzt, daß ein
solcher Grenzwert Überhaupt vorhanden ist).
§ 37. Die hier vorgetragene Begründung der Differentialrech-
nung deckt sich völlig mit der heute üblichen. Nur ist zu be-
merken, dafi die in der Fußnote von S. 65 aufgestellte Behaup-
tung, jede Funktion (gemeint ist natürlich: jede stetige Funktion)
besitze, von Ausnahmepunkten abgesehen, eine Abgeleitete, sich
als irrig erwiesen hat*), am so mehr noch die Behauptung, jede
Funjetion lasse sich nach der Formel von S. 68, Z. 7 v. u., ent-
wickeln**). Mit der (S. 69 erwähnten) Theorie der Rektifikation,
Komplanation, Kubierung hat sich B. in einer eigenen, 1817 er-
schienenen Schrift befaßt: „Die drey Probleme der Rectification,
der Complanation und der Cubierung, ohne Betrachtung des un-
endlich Kleinen, ohne die Annahme des Archimedes, und ohne
irgendeine nicht streng erweisliche Voraussetzung gelöst'' Die
„Annahmen** oder „Grundsätze** des Archimedes, von denen hier
die Rede ist, sind die folgenden***):
I. Jede krumme Linie ist länger als die gerade, die zwischen
denselben Endpunkten liegt.
U. Von zwei krummen Linien, die beide nach einer Seite zu
hohl sind, ist die umschließende länger als die umschlossene.
IIL Wenn eine krumme und eine ebene Fläche dieselben
Grenzen haben, so ist die erstere größer als die letztere.
IV. Von zwei krummen Flächen, die beide nach einer Seite
za hohl sind, ist die umschließende größer als die umschlossene.
§ 38. Die S. 73 gegebene Definition eines Kontinuums wurde
von G. Cantor als zu weit beanstandet t)- in der Tat können
nach dieser Definition auch zwei räumlich vollständig getrennte
Mengen (z. B. zwei Kugeln ohne gemeinsamen Punkt) ein Konti-
nuum bilden tt)* Wegen der Definition des Begriffes „Kontinuum"
verweisen wir auf G. Cantor, Math. Ann. 21, S. 572.
Auch B.s Definition des isolierten Punktes ist viel weiter
als die heute allgemein angenommene, der zufolge ein Punkt einer
*) Vgl. z. B. UBieberbach, Differentiabrechnaiig, Leipsif 1917, S. 104.
**) Die» ist die sog. Formel von Taylor. Vf}. z. B. H. ▼. Mango Idt, EinfOh-
rang in die hAhere Mathematik, Bd. a (Leipzig X9za), S. 93..
***) S. IV der eben zitierten Schrift von B.
f ) Math. Ann. ai, S. 576.
tt) Dies war B. bekannt, vgl. f 48, S. 94, Z. 7 vi o.
Anmerkungen zu § 38—46. 149
Punktmenge isoliert heißt, wenn es eine Umgebung von ihm gibt,
in der kein zweiter Tunkt 'der Menge liegt Daß sich übrigens
B. wohl bewußt war, wie weit seine Definition sei, zeigt § 41,
Abschnitt 3.
Wenn es auf S. 74 heißt: „Denn bedeutet c» eine unendliche
Menge, so sind auch -ö"» "t» "ft"» * ' * unendliche Mengen. So hegt
es in dem Begriffe des Unendlichen", so ist dazu zu sagen, daß
die Begriffe -^ , -^ usw. nirgends definiert wurden, und man da-
her nicht weiß, was darunter zu verstehen ist.
§ 40. Die in der Fußnote von S. 80 gegebene Definition der
Dimensionszahl ist — wenn sie auch nicht als endgültig an-
erkannt werden kann — insofern sehr bemerkenswert, als sie
zeigt, wie weit B. in seinen exakten Begriffsbildimgen vorge-
schritten war.
Das Problem der „Größe eines Raumdinges" ist nichts anderes
als das seither wiederholt von verschiedenen Mathematikern be-
handelte Problem des Inhaltes einer Punktmenge; wir ver-
weisen auf H. Hahn, Theorie der reellen Funktionen (Berlin,
1920), Kap. VI, § 8.
§ 41. Abschnitt i enthält die für viele feinere Untersuchungen
der Funktionenlehre wichtige Unterscheidung der Intervalle in
abgeschlossene, offene und halboffene.
Das in Abschnitt 4 — 7 Gesagte entbehrt einer festen Grund-
lage, da nirgends festgestellt wurde, wann zwei Mengen als gleich
.anzusehen sind. Vgl. die Bemerkung zu § 19.
§ 42. Vgl. die Bemerkungen zu § 20, 21.
§ 43« Was B. über tg j — i ^^) sagt, ist durchaus zutreffend.
Für Winkel der Form — -|-«jr sind Tangens und Sekans nicht
2
definiert, „gegenstandslos". Hingegen wird man vom Standpunkte
der heutigen Analysis nicht zuzugeben> haben, daß Sinus und
Tangens der Winkel o oder i «jt irgendeine Sonderstellung ein-
nehmen.
§ 46. Die Gleichung S. 89, Z. 13 v. o. ergibt sich durch An-
wendung des pythagoräischen Lehrsatzes auf das rechtwinklige
Dreieck apm^ in dem ap^^pn and am^^pr ist Die Gleichung
150 Anüiericungen zu § 46, 47.
S. 89, Z. 4 V. u. ergibt sich so: Es ist mr^pr—pm. Hierin ist
pr der Kreisradius a, und für pm erhält man aus dem recht-
winkligen Dreiecke apm^ indem man ap=^dx setzt:
pm^ Va* — dx\
Also ist:
mr
«_y^rz:^._a/i_|/x_(^)').
Indem man hierin die Wurzel nach dem binomischen Lehrsatze
c^ntwickelt, erhält man die gewünschte Gleichung*).
Wir würden heute zu dem Galileischen „Paradoxon" folgen-
des sagen. Die Gleichung:
31 pn' = si'pr- — n^pm^
drückt aus, daß der Kreis vom Halbmesser ap^=pn gleichen
Flächeninhalt hat wie der Ring zwischen den Kreisen der Halb-
messer pr und pnt. Lassen wir ap gegen o konvergieren, so
zieht sich der Kreis vom Halbmesser ap auf den Punkt a zu-
sanunen, der Kreisring auf die Peripherie des Kreises vom Halb-
messer pr. Dieser Grenzübergang lehrt also lediglich, daß diese
beiden Punktmengen (die eine bestehend aus dem Punkte a, die
andere aus der Kreisperipherie) gleichen Flächeninhalt haben.
Das aber ist weder falsch noch paradox, sondern es ist trivial,
denn sie haben beide den Flächeninhalt o. Der Anschein eines
Paradoxons kommt nur zustande durch die irrige Auffassung, als
sei der Inhalt einer Punktmenge ein Maß für die Vielheit der in
ihr enthaltenen Punkte.
§ 47. Die gemeine Zykloide ist die Kurve, die ein Punkt
eines Kreises beschreibt, der auf einer Geraden (der „Basis")
rollt ohne zu gleiten. Aus dieser Definition folgt unmittelbar
die auf S. 92, Z. 16 v. o., angegebene Konstruktion des Punktes
m der Zykloide, denn es muß der auf der Geraden zurückge-
legte Weg ao gleich dep aufgerollten Bogen om des erzeugen-
den Kreises sein.
Die Behauptung, daß das Maß des Winkels moa der halbe
Bogen om ist (S.92, Z. 13 v.u.), beweist man so: man führe den
Mittelpunkt q des erzeugenden Kreises ein, dem der Bogen om
*J Vgl. H. V. Mangoldt, Einfflhnmg i.d. höhere Mathematik, Bd. a, S.xaa.
Anmerkungen zu § 47, 48. 151
angehört. Das Dreieck oqm ist gleichschenklig.. Es ergänzt also
der halbe Winkel oqm den Winkel ntoq zu einem rechten.
Ebenso aber ergflnzt der Winkel moa den Winkel mo^ zu einem
rechten. Also ist der Winkel tnoa gleich dem halben Winkel
oqm. Das aber ist die Behauptung.
§ 48. Der Beweis (Fußnote von S. 95), daß die Gerade die
kürzeste Verbindung zweier Punkte liefert, kann nicht als bin-
dend anerkannt werden, da er die Existenz einer solchen kür-
zesten Verbindung voraussetzt, die keineswegs selbstverständ-
lich ist, sondern erst bewiesen werden müßte*). Ferner gründet
sich B.s Beweis auf den Begriff der Ähnlichkeit Man muß aber
einen vom Begriffe der Ähnlichkeit unabhängigen Beweis fordern,
da die Ähnlichkeitslehre auf dem Parallelenaxiome beruht, unser
Satz aber von diesem Axiome unabhängig ist, und somit auch in
nichteuklidischen Geometrien gilt, in denen die Ähnlichkeitslehre
keine Gültigkeit hat. Am besten gründet man wohl den Beweis
auf den Satz, daß in jedem Dreiecke die Summe zweier Seiten
größer als die dritte ist, was unschwer ohne Parallelenaxiom be-
wiesen wird.
Die Behauptung S. 97, daß ein Körper, dessen Punkte zu Je
zweien einen Abstand ^ £ haben, ganz in einer Kugel vom Durch-
messer i^ liege, beruht auf einem Versehen, wie etwa ein gleich-
seitiges Dreieck von der Seite £ zeigt Es muß Halbmesser
statt Durchmesser heißen.
Die logarithmische Spirale ist die Kurve, deren Glei-
chung in Polarkoordinaten lautet logr^^atp. Als natürliche
Spirale (S. 99, Z. 9 v. u.) wird insbesondere die folgende be-
zeichnet: logr=q?, wo mit log der natürliche Logarithmus be-
zeichnet ist. Für die Länge des „von dem Radius «» i dem
Mittelpunkte zueilenden Zweiges^ ergibt sich nach einer Formel
der Integralrechnung**):
ff^.rJ
Die Kurve yx^ = a^ wird als Hyperbel höherer Art be-
zeichnet, well ihre Gleichung ähnlich ist der Gleichung yx^c
*J BL verfll t hier in den von ihm selbst in § 6a gcrOgten Irrtnm.
**) V|^ z. B. H. V. Mangoldt, Einfühmns ^ ^'^ höhere Matheouitik. Bd. 3
(Leipzif^ 19 14), S. 173.
152 Anmerkangen zu § 48, 49, 7a
einer (gleichseitigen) Hyperpel. Für den Flächeninhalt desjenigen
Teiles der Fläche, ,,der von jr •«- a zu allen höheren Werten von
X gehört*', ergibt sich nach einer bekannten Formel der Integral-
rechnung*) :
iydx= j ^^dx = a\
a a
Die Gleichung S. 100, Z. 6 v. o., ergibt sich nach derselben
Formel**):
§ 49. Die Entwicklungen dieses Paragraphen kranken an dem
schon wiederholt zur Sprache gebrachten Übelstande, daß ihnen
keine präzise Definition der Begriffe „gleich* und „größer" bei
unendlichen Vielheiten zugrunde liegt. Im Sinne der Mengen-
lehre hat wohl die Menge aller Punkte einer Strecke größere
Mächtigkeit als die in i.) konstruierte Punktmenge***) (wiewohl die
von B. vorgebrachte Argumentation keineswegs ausreicht, um dies
zu begründen). Hingegen hat die Menge aller Punkte einer
Strecke die gleiche Mächtigkeit, ob man ihre Endpunkte hinzu-
rechnet oder nicht. Sie hat ferner gleiche Mächtigkeit wie die
Menge aller Punkte einer (beiderseits unendlichen) Geraden f),
ja sogar wie die Menge aller Punkte einer Ebene oder des ganzen
Raumes (vgl. die Bemerkung zu § 21, 28).
§ 70. Die Art, wie B. die erste der beiden vorgebrachten
Paradoxien behandelt, ist wohl nicht völlig befriedigend. Man
kann sie besser als eines der zahlreichen uns heute bekannten
Beispiele eines unerlaubten Grenzüberganges auffassen. Hingegen
st B.s Aufklärung der zweiten Paradoxie durchaus zutreffend.
Die Fallzeit auf der Sehne erhält man durch folgende Überlegung:
die Beschleunigung auf einer um den Winkel a gegen die Hori-
*) VgL z. B. H. V. Mangoldt, a. a. O. S. ao.
**) Bei B. steht irrtOmlidi das negative Vorzeichen.
***) Vtl. Bemerkung zu § ai.
f) Vgl. A. Fraenkel, Einl. i. d. Mengenlehre, S. 38.
Anmerkungen zu § 70. 153
zontale geneigten schiefen Ebene ist g • sin a, der Zusammenhang
zwischen Weg 5 und FaAzeit / daher:
g-sina^i*
s«2 .
2
Der Weg 5 aber ist die zum Zentriwinkel 2a gehörige Sehne des
Kreises vom Radius r, also:
s = 2r • sin a.
Daraus folgt:
/ = 2
fi'
nicht wie B. schreibt
ibt/^]/^.
Sachregister.
Abgeleitete Funktion 65, 87;
zweite a. F. 67.
Abstoßung 121, 123.
angeblich 12.
Anziehung 121, 122.
Archimedes, archimedische
Grundsätze 69, 81.
Aristoteles 83.
Äther 120.
Atome 72» 107.
Ausdehnung, räumhche 79, 81 ff.,
93 ff., loiff.; dreifache A. des
Raumes 80; stetige A. 71, 73,
lOI.
Berührung von Punkten 73, von
Körpern 126.
Bestimmtheit, durchgängige 36.
Bewegungen im Weltall 126.
Boscovich 87, 130.
Busse 130, 131.
Cauchy 9, 10, 65.
Descartes 78, 114.
Dichtigkeit 117.
Differential- n. Integralkalkül 64.
Durchdringen von Substanzen
"3.
BbenCi Flfichenraum einer
Menge der Punkte
104.
E.,
in einer £.
Einheit 4, 7.
Einwirkung, unmittelbare 112,.
115.
endliche Vielheit 6, 31 ; e. Wesea
36.
Erdmann 7.
Erfahrung 108.
Euler 60, 129, 130, 131.
Fern Wirkung 113.
Fischer, J. K. 83.
Fries 12.
Galilei 88, 91.
Ganzes 2, 72; zusammenhängen«-
des G. 94.
Geist 114, 115.
Gerade 8; begrenzte, unbegrenz-
te G. 82; Gerade als kürzeste
95; Menge der Punkte in einer
G. loi, 103.
Gröfie 4; imaginäre Gr. 71; un-
endlich große, kleine Gr. s. un-
endlich; veränderliche Gr. 9;
Menge aller Gr. 21; Gr. einer
räumlichen Ausdehnung 79.
Gmnert 10.
Harmonie, prästabilierte 112.
Hegel 7, II.
Herbart 79.
Hyperbel höüerer Art 9^. ^
156
Sachregister.
Imaginäre Größen 71.
Inbegriff 2, 15 ff.
Inhalt eines Raumdinges 80.
irrationale Größen 24; Mengen
von i. Verhältnisse 83.
isolierte Punkte 73.
Kant 78, 1J4.
Kästner i, 88.
KlOgel 9.
Komplanation 69, 81.
Kontinuum 71, 73.
Körper 120; Berührung der K.
126; Grenzen der K. 125; Kör-
pereckc 107; Körperschicht
106.
Kräfte 39, III, 116; Kr. ohne
Substanzen 115.
Krümmung, Krümmungshalb-
messer, Krümmungskreis 69,
88; Kr. der Zykloide 91.
Kubierung 69, 81.
Lagrange 65, 66.
Leibniz 112.
Materie iii, 114, 115.
Menge 4, 15 ff.; Vergleichung
von Mengen in Hinsicht auf
ihre Vielheit 26ff.
Messen 59.
Metaphysik 107.
Mittelpunkt einer Geraden 103.
möglich i8.
Newton 78.
Null 55.
Ohm 55.
Paradox, Paradoxie, Paradoxon
i; F. in der Mathematik 20, 26,
27, 43, 49; P. in der Lehre von
den stetigen Ausdehnungen
71; P. in der Lehre von der
Zeit 75; P. in der Lehre vom
Räume 78, 8jff., 93 ff., loiff.;
P. in der Metaphysik und Phy-
sik 107, 114, 116, 118; P. von
Boscovich 87; P. von Euler
129; P. von Galilei 88.
Parallelepipjedon 103.
Pendelbewegung 131.
Physik 107.
Quadratfläche 102.
Raum 22, 38, 78; dreifache Aus-
dehnung des R. 80; Größe des
ganzen R. 85.
Rechnung mit unendlich Gro-
ßem 43, 46, 64; mit unendlich
Kleinem 46, 64 ff.
Rechteck 102.
Reihe 5; Summe unendlicher R.
24, 48 ff.
Rektifikation 69, 81.
Sätze an sich 13, 16, 78.
Schulz, Joh. 85, 86.
Skeptiker 75.
Spinoza 10.
Spirale, logarithmische 98, 128;
natürliche 99.
stetige Ausdehnung 71, 73, loi.
Stetigkeit, Gesetz der St. 63, 64,
118, 130.
Stufen des Daseins 116.
Substanzen 107, 115, 116; den-
kende, nichtdenkende S. 114;
einfache, zusammengesetzte S.
107; herrschende S. 118.
Sachregister.
167
Summe 4; S. einer unendlichen
Menge von Summanden 24,
34, 48 ff.; S. der natürlichen
Zahlen 44; S. der Quadrate
der natürlichen Zahlen 53.
Tangente des rechten Winkels
9» 84.
Teil 2, 72.
Und 2.
Unendlich i, 6ff., i4ff.; U. bei
Cauchy 9, bei Fries 12, bei
Hegel 7, bei Spinoza jo; Ge-
genständlichkeit des Begriffes
n. 13; u. Mengen in Raum und
Zeit 23; U. auf dem Gebiete
der Wirklichkeit 35; Unend-
lichkeit Gottes 8, 35; u. groß,
u. klein 7, 9 ff., 22; u. Große
und Kleine verschiedener Ord-
nung 45, 47, 59; u. Große und
Kleine nach Euler 60 ff., 132;
Rechnung mit u. Großen und
Kleinen 43, 46, 64 if.; u. große
und kleine Zeitlängen 38, 40;
u. große und kleine Entfer-
nungen im Räume 38, 41, 84^
87; u. große und kleine Kräfte
39» 42.
unmöglich 20.
•
Veränderliche Größe 9.
Veränderung ^iio.
vereinzelter Punkt 73, 82.
Vielheit 4; V. einer Menge
26ff.
Wahrheiten an sich 13, 16, 78.
Wärmestoff 123.
Würfel 103.
Zahl 6; Menge aller Z. 20, 22^
44.
Zeit 22, 38, 71, 75.
Zykloide 91.