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Full text of "Paradoxien des unendlichen"

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ßlÄfflfthe Schriften. Hrsg. 
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1919 . . M. 1.50 

Absolutismus und 

1919 . . M. 1.50 

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«,« ^^i-gf^^SK^EIPZIG 1920 

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DR. BERNARD BOLfAlfO^^ 

PARADOXIEN 
DES UNENDLICHEN 

/ 

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\ 

HERAUSGEGEBEN AUS DEM SCHRIFT- 

UCHEN NACHLASSE DES VERFASSERS 

VON 
\ 

DR. FR. PRIHONSKY 






Je suis tellemeDt pour rinfini actael, qu'au lieu 
d'admettre, qne la natnrc Pabhorre, comme l'on dit 
▼nlgairement, je tiens qu'elle Taf fecte par-tout, p ^ «r 
mieiix marquer lei perf ections de son Auteiir. {Ltihtiim, 
Optra omnüt studio Luäov. DuUnt, Tom» II, pari i. 



LEIPZIG 
BEI C. H. RECLAM S E N. 

1851 



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DRÜCK VON RADELLI & HILLE IN LEIPZIG 



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I Vorwort des Herausgebers. 

•^ Die merkwürdige Abhandlung über die Paradoxieii 

\ des Unendlichen begann ihr Verfasser bereits im Jahre 

^ ^847 während eines ländlichen Aufenthaltes in Gesellschaft 

1 des Herausgebers auf der anmutigen Villa zu Liboch bei 
^ Melnik^ vollendete sie aber erst, durch Arbeiten anderer 

Art unterbrochen, in den Sommermonaten des folgenden 
Jahres, dem letzten seines Lebens. Er betätigte mit diesem 
Werke nicht nur, daß seine geistigen Vermögen trotz des 
bereits vorgerückten Alters (er stand damals in seinem 
67. Jahre) und der sichtlichen Abnahme der körperlichen 
r* Kräfte an ihrer Frische und Regsamkeit noch «immer nichts 

I verloren hatten; sondern er lieferte hiermit zugleich der 

2 gelehrten Welt einen neuen Beweis, welch ungemeine Ein- 
j sichten in die abstraktesten Tiefen der Mathematik, der 

^» reinen Naturwissenschaft und Metaphysik ihm waren zuteil 

- geworden. Wahrhaftig, hätte Bolzano nichts anderes ge- 

schrieben und uns hinterlassen als diese Abhandlung allein: 
er müßte, wie wir fest glauben, schon am ihretwillen defn 
: ausgezeichneten Geistern unseres Jahrhunderts beigezählt 

5 werden! Die interessantesten und verwickeltsten Fragen, 

welche die Bearbeiter jener apriorischen Wissenschaften in 
bezug auf den Begriff des Unendlichen von jeher beschäf- 
tigten, versteht er mit bewundernswerter Leichtigkeit zu 
lösen und mit solch einer Klarheit vor den Augen des 
Lesers zu entfalten, daß auch. derjenige, der nur nicht ganz 
ein Fremdling auf diesem Gebiete ist und von den hierher* 
einschlagenden Dingen nur weniges begriffen hat, dem 
Vortrage des Verfassers zu folgen und seine Lehrsätze, 



VI Vorwort. 

mindestens ihrem großen Teile nach, verständlich zu finden 
vermag. Der Kenner überdies muß, v wofern er der Ab- 
handlung einige Aufmerksamkeit schenket (und sollten wir 
dies nicht von einem jeden ' Gelehrten erwarten dürfen?), 
bald gewahr werden, von welcher Wichtigkeit die hier an- 
gedeuteten und in anderen Werken Bolzanos (seiner Logik 
insbesondere und Athanasia) umständlicher auseinanderge- 
setzten Ansichten seien, und wie es mit ihnen auf nichts 
Geringeres abgesehen sei, als auf eine völlige Umgestaltung 
aller bisherigen wissenschaftlichen Darstellung. 

Der Herausgeber erhielt diese Abhandlung im Manu- 
skripte aus dem Nachlasse des Verfassers von dessen Erben 
mit der Verbindlichkeit, sie sobald als möglich zum Drucke 
zu fördern, und übernahm diese Verpflichtung um so bereit- 
williger, je mehr sie mit seinen innersten Gefühlen (Bolzano 
war sein unvergeßlicher Lehier und Freund) zusammen- 
stimmte. Gern hätte er sich auch derselben schon früher 
entledigt, wären ihm nicht bedeutende Hindernisse in den 
Weg getreten, die er nicht eher als im Verlaufe dieses 
Jahres hat beseitigen können. Nun eirst sah er sich in den 
Stand gesetzt, die lange bereits besorgte Abschrift nach 
dem nicht immer sehr lesbaren, hier und da sogar in- 
korrekten Manuskripte zu verbessern, eine genaue Inhalts- 
anzeige zur leichteren Benutzung des Büchleins zu fertigen 
und einen tauglichen Veriagsort dafür aufzusuchen. Er 
wählte Leipzig; weil er einerseits von diesem Umstände 
eine größere Verbreitung der Abhandlung selbst erwartet, 
andererseits eben hiermit die berühmte Bücherstadt, die 
Zierde und den Stolz seines neuen Vaterlandes (er ist ein 
geborener Böhme), zu ehren gedenkt: denn er lebt des 
Glaubens, es werde einst, wird nur erst Bolzanos hoher 
Genius allgemeine Anerkennung finden, Leipzig eben nicht 
zum letzten Ruhme gereichen, zur Erscheinung dieser Para- 

doxien beigetragen zu haben. 

» 
Budissin, am lo. Juli 1850« 



Inhalt 

§ I. Warum sich der Verfasser ausschließlich nur piit der Be- 
trachtung der Paradozien des Unendlichen befassen wolle. 

§ a — lo. Begriff des Unendlichen nach der Auffassung der Mathe- 
matiker und Erörterung desselben. 

§ II. Wie Hegel und andere Philosophen das Unendliche sich 
denken. 

§ 12. Andere Erklärungen des Unendlichen und ihre Beurteilung. 

§ 13. Gegenständlichkeit des vom Verfasser aufgestellten Be- 
griffes, nachgewiesen an Beispielen aus dem Gebiete des 
Nichtwirklichen. Die Menge von Wahrheiten und Sätzen an 
sich ist unendlich. 

§ 14. Widerlegung einiger gegen diesen Begriff erhobener Ein- 
würfe. 

§ 15. D\e Menge der Zahlen ist unendlich. 

§ 16. Die Menge der Größen überhaupt ist unendlich. 

§ 17. Die Menge der einfachen Teile, sowohl derjenigen, aus 
denen Zeit und Raum überhaupt bestehen, als auch die Menge 
der Zeit- und Raumpunkte, die zwischen zwei einander noch 
so n^ihestehende Zeit- und Raumpunkte fallen, ist unendlich. 

§ 18. Nicht eine jede Größe, Idie wir als die Summe einer im- 
endlichen Menge anderer, die alle endlich sind, betrachten^ 
ist selbst eine unendliche. 

§ 19. Es gibt unendliche Mengen, die größer oder kleiner sind 
als andere unendliche Mengen. 

§ äo. Ein merkwürdiges Verhältnis zweier unendlicher Mengen 
zueinander, bestehend darin, daß es möglich ist, jedes Ding 
der einen Menge mit dem der anderen zu einem Paare so 
zu verbinden, daß kein einziges Ding in beiden Mengen ohne 
Verbindung bleibt, auch kein einziges in zwei oder mehreren 
Paaren vorkommt. 



Vm Irih^it' 

§21. Dennoch können beide unendliche Mengen, obschon mit 
Hinsicht auf die Vielheit ihrer Teile gleich, in einem Verhält- 
nisse der Ungleichheit ihrer Vielheiten stehen, so daß die 
eine sich nur als ein Teil der anderen herausstellen kann. 

§ 22 u. 23. Warum sich bei endlichen Mengen ein anderer Fall 
ergäbe, und wie es komme, daß dieser Grund bei unendlichen 
Mengen wegfalle. 

§ 24. Zwei Summen von Größen, welche einander paarweise 
gleich sind, dürfen, wenn ihre Menge unendlich ist, nicht 
sofort gleichgesetzt werden, sondern nur dann erst, wenn 
beide Mengen gleiche Bestimmungsgründe haben. 

§. 25. Es gibt auch ein Unendliches auf dem Gebiefe der Wirk- 
lichkeit. 

§ 26. Der Grundsatz der durchgängigen Bestimmtheit alles Wirk- 
lichen widerstreitet dieser Behauptung nicht 

§ 27. Wohl aber irren diejenigen Mathematiker, die von unend- 
lich großen Zeitlängen, welche gleichwohl von beiden Seiten 
begrenzt sind, oder was noch öfter geschieht, die von un- 
endlich kleinen Zeitteilen sprechen. Ebenso, die von unend- 
lich großen und unendlich kleinen Entfernungen reden. Auch 
Physiker und Metaphysiker irren, wenn sie voraussetzen oder 
behaupten, es gäbe Kräfte im Weltall, die uneddlichemai 
größer oder kleiner sind als andere. 

§ 28. Die vorzüglichsten Paradoxien des Unendlichen auf dem 
Gebiete der Mathematik; zuvörderst in der allgemeinen Größen- 
und insbesondere, in der Zahlenlehre. 

Wie si<^ das Paradoxon einer Rechnung des Unendlichen 
auflösen lasse. 

§ 29. Es besteht in der Tat eine Rechnung mit unendlich Großem. 

§ ^. Ebenso eine Rechnung mit unendlich Kleinem. 

§ 31 u. 32. Falschheit einiger Begriffe, die selbst Mathematiker 
von unendlich Kleinem und unendlich Großem hegen. 

§ 3(3. Vorsicht, die bei der Rechnung mit dem Unendlichen zu 
beobachten ist, um nicht auf Irrwege zu geraten. 

§ 34. Genauese Bestimmung des Begriffes der Null. Die Null 
darf nie als Divisor angewendet werden in einer Gleichung, 
welche etwas mehr als eine bloß identische sein' soll. 

§ 35. Widersprüche, die aus der hier und da aufgestellten Be- 
hauptung entstehen, daß unendlich kleine Größen, wenn man 
sie mit gewissen anderen durch Addition oder Subtraktion 
verbindet, zu Null werden oder verschwinden. 



Inhalt IX 

§ 36. Diese Widersprüche werden nicht vermieden durch die 
Annahme einiger Mathematikeri dafi die unendlich kleinen 
Grööen blööe Nullen, die unendlich großen aber Quotienten 
wären, welche aus einer endlichen Größe durch die Division 
mit einer bloßen Null hervorgehen. 

§ 37- Wie der Verf. die Methode des Rechnens mit dem Unend- 
lichen auffassen zu müssen gemeint sei, um sie von allepi 
Widerspruche zu befreien. 

§ 38. Paradoxien des Unendlichen im angewandten Teile der 
Größenlehre, und zwar in der Zeit- und Raumlehre. 

Schon der Begriff des Kontinuums oder der stetigen Aus- 
dehnung enthält scheinbare Widersprüche. Wie diese auf- 
zulösen seien. 

§ 39. Paradoxien im Begriffe der Zeit. 

§ 40. Paradoxien im Begriffe des Raumes. 

§ 41. Wie die meisten Paradoxien der Raumlehre in dem Be- 
griffe des Verf. vom Räume ihre Erklärung finden. 

§ 42 u. 43. Wie eine unrichtige Auffassung der Lehre vom un- 
endlich Großen einige Mathematiker zu unrichtigen Vorstel- 
lungen veranlaßt haben« 

^ 44. J. Schulzes Berechnung der Größe des unendlichen Raumes, 
und worin der Fehler dieser Berechnung eigentlich bestehe. 

§ 45. Auch die Lehre vom unendlich Kleinen ward Veranlassung 
zur Behaqptung so mancher Ungereimtheit. 

§ 46. Was von dem Satze Galileis zu halten sei: der Umfang des 
Kreises ist so groß wie dessen Mittelpunkt. 

§ 47. Beleuchtung des Lehrsatzes, daß die gemeine Zykloide in 
dem Punkte, wo sie auf ihre Grundlinie trifft, eine unendlich 
große Krümmung habe. 

§ 48. Wie es komme, daß manche räumliche Ausdehnungen, die 
sich durch einen unendlichen Raum verbreiten, gleichwohl 
nur eine endliche Größe haben; andere dagegen, die in einem 
endlichen Räume beschränkt sind, doch eine unendliche Größe 
besitzen; und noch manche andere eine endliche Größe be- 
halten, ob sie gleich unendlich viele Umgänge um einen Punkt 
herum machen. 

^ 49.^ Noch einige paradoxe Verhältnisse räumlicher Ausdehnun- 
gen, die eine unendliche Größe besitzen. 

"§ 50. Paradoxien des Unendlichen auf dem Gebiete der Physik 
und Metaphysik. 



X Inhalt 

Welche Wahrheiten man anerkennen mfisse, um diese Para- 
dozien richtig zu beurteilen. 

Beweis, daß es nicht zwei durchaus gleiche Dinge, somit 
auch nicht einander, durchaus gleiche Atome (einfache Sub- 
stanzen) im Weltali gäbe; femer 

daß es notwendig einfadie Substanzen gäbe, und dafi diese 
Substanzen veränderlich säen. 

§ 51, Vorurteile, über die man sich wegsetzen mfisse, um die 
hierher gehörigen Paradoxien richtig zu beurteilen. 
Es gibt keine tote, bloß träge Materie. 

§ 52. Es ist ein Vorurteil der Schule, daß die Annahme einer 

unmittelbaren Einwirkung der Substanzen unerlaubt sei. 
i* 53« Ebenso ist es ein Vorurteil zu glauben, daß unmittelbare 

Einwirkungen in die Feme nicht möglich ätien. 
I 54. Ein Durchdringen der Substanzen muß unbedingt geleugnet 

werden. 
§ 55« Vorurteil von der vollkommenen Unräumlichkeit geistiger 

Wesen, insofern sie nicht einmal den Ort eines Punktes sollen 

einnehmen können. 

Zwischen den geschaffenen Substanzen gibt es keine 

anderen als Gradunterschiede. 

§ 56. Das große Paradoxon von der Verbindung zwischen den 

geistigen und materiellen Substanzen behebt sich nach dieser 

Ansicht von selbst. 
§ 57. Irrtümliche Vorstellung von der Konstruktion des Weltalls 

aus bloßen Kräften ohne Substanzen. 
§ 58* Es gibt keine höchste, aber auch keine niedrigste Stufe des 

Daseins in Gottes Schöpfung. 
§ 59. Mit der stetigen Erfüllung des unendlichen Raumes durch 

Substanzen besteht recht gut ein verschiedener Grad von 

Dichtigkeit der Körper, und es ist nicht nötig anzunehmen, 

daß Substanzen einander durchdringen. 

§ 60. Jede Substanz der Welt steht mit jeder anderen in stetem 

Wcchaelverkehr. 
§ 6i. Es gibt darunter herrschende Substanzen, aber keine von 

diesen letzteren besitzt Kräfte, welche die der beherrschten 

um ein Unendliches übertreffen. 
§ 62. Ob in einem jeden beliebigen Inbegriffe von Substanzen 

eine herrschende vorhanden sein müsse. 



Inhalt. XI 

§ 63. Aufier den herrschenden Substanzen gibt esr noch einen 
anderen Weltstoff, den Äther, der ohne ausgezeichnete Sub- 
stanzen allen übrigen Weltraum erfüllt und alle Weltkörper 
verbindet. 

Unter den Substanzen findet ein Anziehen und Abstoßen 
statt, un4 wie sich der Verf. dasselbe vorstelle. 

Woher es komme, daß Stoffe, die sich in ihren Kräften, 
namentlich in dem Grade ihrer gegenseitigen Anziehungen 
voneinander unterscheiden, in ihrem Gewichte gleichwohl 
einander durchgängig gleichen, oder daß ihre Gewichte sich 
wie die Massen verhalten. 

§ 64. Worin sich* die Herrschaft gewisser Substanzen oder Atome 
über andere äußere, und was davon die Folge sei. 

§ 65. Keine ausgezeichnete Substanz erHlhrt eine solche Ver- 
änderung, daß sie durch diese von allen Teilen ihrer nächsten 
Umgebung frei würde. 

§ 66. Wo ein Körper aufhöre und ein anderer anfange; oder die 
Frage über die Grenzen des Körpers. 

§ 67. Ob und wenn Körper in einer unmittelbaren Berührung 
miteinander stehen. « 

§ 68. Mögliche Arten der im Weltall stattfindenden Bewegungen. 

§ 69. Ob ein Atom im Weltall zu irgendeiner Zeit eine voll- 
kommen gerade oder vollkommen krumme Linie beschreibe. 
Ob bei des Verf. Ansichten von der Unendlichkeit des 
Weltalls ein Fortrücken des Ganzen nach irgendeiner ge- 
gebenen Richtung oder auch eine jdrehende Bewegung 
desselben um eine gegebene Weltachse oder einen Weit- 
mittelpunkt statthaben könne. 

§70. Zwei durch Euler berühmt gewordene Paradoxien. 



\ • 



ä 



§ I. 

Nicht zwar, wie Kästner sagt, alle, aber gewiß die 
meisten paradoxen Behauptungen, denen wir auf dem Ge- 
biete der Mathematik begegnen, sind Sätze, die den Begriff 
des Unendlichen entweder unmittelbar enthalten oder 
doch bei ihrer versuchten Beweisführung in irgendeiner 
Weise sich auf ihn stützen. Noch unstreitiger ist es, daß 
gerade diejenigen mathematischen Paradoxien, die unsere 
größte Beachtung verdienen, weil die Entscheidung hoch- 
wichtiger Fragen in mancher anderen Wissenschaft, wie in 
der Metaphysik und Physik, von «ner befriedigenden Wider- 
legung ihres Scheinwiderspruches abhängt, unter dieser 
Gattung sich finden. 

Und dieses, ist eben der Grund, warum ich mich in der 
vorliegenden Abhandlung ausschließlich nur mit der Be- 
trachtung der Paradoxien des Unendlichen befasse. Daß 
es aber nicht möglich sein würde, den Schein des Wider- 
spruches, der an diesen mathematischen Paradoxien haftet, 
als das, was er ist, als einen bloßen Schein zu erkennen, 
wenn wir uns nicht vor allem deutlich machten, welchen 
Begriff wir doch eigentlich mit dem Unendlichen verbinden, 
erachtet man von selbst. Dies also schicken wir voraus. 

Daß man das Unendliche allem bloß Endlichen ent- 
gegensetze, sagt schon das Wort. Und durch den Umstand, 
daß wir die Benennung des Ersten aus jener des Zweiten 

Bolzano, Parndoxien des Unendlichen. 1 



2 Inbegriff. 

ableiten, verrät sich überdies, daß wir uns auch den Be- 
griff des Unendlichen als einen solchen denken, der aus 
jenem des Endlichen erst durch Hinzufügung eines neuen 
Bestandteiles (dergleichen ja auch der bloße BegriÖ der 
Verneinung schon ist) hervorgehe. Daß endlich beide 
Begriffe auf Mengen, näher auf Vielheiten (d. h. auf 
Mengen von Einheiten), somit auch auf Größen angewandt 
werden, läßt sich schon aus dem Grunde nicht ableugnen, 
weil es jti eben die Mathematik, d. h. die Größenlehre 
ist, wo wir am häufigsten von dem Unendlichen sprechen, 
indem wir endliche sowohl als unendliche Vielheiten, und 
nebst den endlichen Größen auch nicht nur unendlich 
große, sondern selbst unendlich kleine Größen zum 
Gegenstande unserer Betrachtung und — Berechnung so- 
gar erheben. — Ohne noch anzunehmen, daß jene beiden 
Begriffe (des Endlichen nämlich und des Unendlichen) sich 
stets nur auf Gegenstände anwenden lassen, an denen in 
irgendeinem Betrachte sich Größe und Vielheit nach- 
weisen läßt, dürfen wir hoffen, daß eine genauere Unter- 
suchung der Fr^ge, unter welchen Umständen wir eine 
Menge für endlich oder für unendlich erklären, uns auch 
darüber, was das Unendliche überhaupt sei, Aufschluß 
gewähren werde. 

§ 3. . 

Zu diesem Zwecke müssen wir jedoch bis zu einem der 
einfachsten Begriffe unseres Verstandes zurückgehen, um 
uns über das Wort, das wir zu seiner Bezeichnung ge- 
brauchen wollen, erst zu verständigen. Es ist der Begriff, 
der dem Bindewort und zugrunde liegt, den ich jedoch, 
wenn er so deutlich hervortreten soll, als es die Zwecke 
der Mathematik sowohl als auch der Philosophie in un- 
zähligen Fällen erheischen, am füglichsten durch die Worte: 
ein Inbegriff gewisser Dinge oder ein aus gewissen 
Teilen bestehendes Ganze, glaube ausdrücken zu 
können, wenn nämlich festgesetzt wird, daß wir diese Worte 



Inbegriff. 3 

in einer so weiten Bedeutung auslegen wollen, daß sich 
behaupten lasse, in allen Sätzen, wo man das Bindewort 
und anzuwenden pflegt, also z. B. in den gleich folgenden: 
„Die Sonne, die Erde und der Mond — stehen in 
gegenseitiger Einwirkung aufeinander**; „die Rose und 
der Begriff einer Rose — sind ein paar sehr ver- 
schiedene Dinge"; „die Namen Sokrates und Sohn des 
Sophroniskus — bezeichnen einerlei Person" — sei der 
Gegenstand, von dopi^jusui in diesen Sätzen spricht, ein 
gewisser Inbegriff von Dingen, ein aus gewissen 
Teilen bestehendes Ganze: im ersten namentlich sei es 
dasjenige Ganze, das Sonne, Erde-uQd Mond miteinander 
bilden, von welchem man aussagt, daß es ein Ganzes sei, 
dessen Teile in gegenseitiger Einwirkung aufeinanderstehen; 
im zweiten sei es der InbegriflF, den die zwei Gegenstände 
„die Rose und der Begriff einer Rose" miteinander aus- 
machen, worüber man urteile, daß sie zwei sehr verschiedene 
Dinge wären usw. Schon dieses wenige dürfte zur Ver- 
ständigung über den hier in Rede stehenden Begriff ge- 
nügen, wenn wir noch allenfalls beifügen, daß jeder be- 
liebige Gegenstand A mit allen beliebigen andern B^C^D , . , . 
in einen Inbegriff vereinigt werden könne oder (noch rich- 
tiger gesprochen) an sich selbst schon einen Inbegriff bilde, 
von dem sich manche mehr oder weniger wichtige Wahr- 
heit aussagen lasse, sofern nur jede der Vorstellungen A^ 
B^ C^ D . , , . in der Tat einen anderen Gegenstand vor- 
stellt, oder sofern nur keiner der Sätze: A ist dasselbe mit 
B^ A ist dasselbe mit £*, B ist dasselbe mit C usw. wahr 
ist. Denn ist z. B. A dasselbe Ding mit B^ dann ist es 
allerdings ungereimt, von einem Inbegriffe der Dinge A und 
B zu reden. 



§4. 

Es gibt Inbegriffe, die, obgleich dieselben Teile A^ 5, C, 
Z) . . . . enthaltend, doch nach dem Gesichtspunkte (Begriffe), 
unter- dem wir sie so eben auffassen, sich als verschieden 

1* 



Menge, Summe, Gröfie. 



(wir nennen es wesentlich verschieden) darstellen, z. B. eid 
ganzem und ein in Stücke zerbrochenes Glas als Trinkgefäfi 
betrachtet. Wir nennen dasjenige, worin der Grund dieses 
Unterschiedes an solchen Inbegriffen besteht, die Art der 
Verbindung oder Anordnung ihrer Teile. Eänen In- 
begriff, den wir einem solchen Begriffe unterstellen, bei 
dem die Anordnung seiner Teile gleichgültig ist (an dem 
sich also nichts für uns Wesentliches ändert, wenn sich bloß 
diese ändert), nenne ich eine Mengg : und eine Menge, 
deren Teile alle als Einheiten einer gewissen Art A^ d. h. 
als Gegenstände, die dem Begriffe A unterstehen, betrachtet 
werden, heißt eine Vielheit von A, 



§5. 

Bekanntlich gibt es auch Inbegriffe, deren Teile selbst 
noch zusammengesetzt, d. h. abermals Inbegriffe sind. Unter 
ihnen auch solche, die wir aus einem Gesichtspunkte be- 
trachten, für den sich nichts an ihnen Wesentliches ändert, 
wenn wir die Teile der Teile als Teile des Ganzen selbst 
auffassen. Ich nenne sie, mit einem von Mathematikern 
erborgten Worte, Summen. Denn das eben ist der Begriff 
einer Summe, daß A-^{B-\-C) = A-\-B-\-C sein müsse. 

§6. 

Betrachten wir einen Gegenstand als gehörig zu einer 
Gattung von Dingen, deren je zwei, M und iV, niemals ein 
anderes Verhältnis zueinander haben können, als daß sie 
einander entweder gleich sind, oder daß sich das eine von 
ihnen als eine Summe darstellt, die einen dem andern 
gleichen Teil in sich faßt, d. h. daß entweder Af = iv oder 
iW = iV-|-v oder N=M-\-fA^ wo von den Teilen v und /x 
abeimals dasselbe gelten muß, daß sie nämlich einander 
entweder gleich, oder der eine als ein in dem andern ent- 
haltener Teil, anzusehen sind: so betrachten wir diesen 
Gegenstand als eine Größe. 



Reihe. 5 

§7- 

Wenn ein gegebener Inbegriff von Dingen A^ 

ByC^D^E^F . . . . L^M^N von einer solchen Beschaffen- 
heit ist, daß sich für jeden Teil M irgendein und auch nur 
ein anderer N nachweisen läßt von der Art, daß wir nach 
einem für alle Teile des Inbegriffes gleichen Gesetze 
entweder N durch sein Verhältnis zu Af, oder M durch sein 
Verhältnis zu iV bestimmen können: so nenne ich diesen 
Inbegriff eine Reihe, und sein^ Teile die Glieder dieser 
Reihe; jenes Gesetz, nach welchem entweder N durch sein 
Verhältnis zu il/, oder M durch sein Verhältnis zu N be- 
stimmbar ist, das Bildungsgesetz der Reihe; das eine 
dieser Glieder, welches man will, nenne ich (ohne durch 
diese Benennung den Begriff einer wirklichen Zeit- oder 
Raumfolge bezeichnen zu wollen) das vordere oder vor- 
hergehende, das andere das hintere oder nachfolgende; 
jedes Glied My welches sowohl ein vorderes als ein nach- 
folgendes hat, d. h. das nicht nur selbst aus einem andern, 
sondern aus welchem auch wieder ein anderes nach dem 
für die Reihe geltenden Bildungsgesetze ableitbar ist, nenne 
Tch ein inneres Glied der Reihe, wonach man von selbst 
schon erachtet, welche Glieder ich, falls sie vorhanden 
sind, äußere, welches das erste oder das letzte Glied 
nenne*). 

§8. 

Denken wir uns eine Reihe, d^ren erstes Glied eine 
Einheit von der Art A ist, jedes nachfolgende aber aus 
seinem vorhergehenden auf die Weise abgeleitet wird, daß 
wir einen ihm gleichen Gegenstand nehmend, denselben 
mit einer neuen Einheit von der Art A zu einer Summe 
verbinden: so werden offenbar alle in dieser Reihe vor- 
kommenden Glieder — mit Ausnahme des ersten, das eine 



*) Nähere Erläuterungen über diese wie über einige schon in 
den vorigen Paragraphen aufgestellten Begriffe sind in der Wis- 
senschaftslehre zu suchen. 



Endliche und unendliche Vielheiten. 



bloße Einheit von der Art A darbietet — Vielheiten 
von der Art A sein und dies zwar solche, die ich end- 
liche oder zählbare Vielheiten, auch wohl geradezu 
(und selbst mit Inbegriff des ersten Qliedes) Zahlen, be- 
stimmter: ganze Zahlen nenne. 

§9. 

Nach der verschiedenen Beschaffenheit des hier durch 
A bezeichneten Begriffes kann es eine bald größere, bald 
geringere Menge der Gegenstände, welche er unter sich 
faßt, d. h. der Einheiten von der Art A^ und darum auch 
eine bald größere, bald geringere Menge der Glieder in 
der besprochenen Reihe geben. Namentlich kann es der- 
selben auch so viele geben, daß diese Reihe, sofern sie 
diese Einheiten alle erschöpfen (in sich aufnehmen) soll, 
durchaus kein letztes Glied haben darf; wie wir dies in 
der Folge noch umständlicher nachweisen wollen. Dies 
also vorderhand vorausgesetzt, werde ich eine Vielheit, 
die größer als jede endliche ist, d. h. eine Vielheit, die so 
beschaffen ist, daß jede endliche Menge nur einen Teil von 
ihr darstellt, eine unendliche Vielheit nennen. 



S lO. 

Man wird mir, wie ich hoffe, zugeben, daß die hier auf- 
gestellte Erklärung der beiden Begriffe einer endlichen 
und einer unendlichen Vielheit den Unterschied zwischen 
denselben in Wahrheit so bestimme, wie ihn diejenigen, 
die diese Ausdrücke in einem strengen Sinne gebrauchten, 
sich gedacht haben. Man wird auch zugeben, daß in diesen 
Erklärungen kein versteckter Zirkel liege. Es handelt sich 
also nur noch darum, ob wir durch eine bloße Erklärung 
dessen, was eine unendliche Vielheit heiße, imstande sein 
werden, zu bestimmen, was ein Unendliches überhaupt 
sei. So wäre es, falls es sich zeigen sollte, es gebe streng 
genommen nichts anderes, als eben nur Vielheiten, auf 



Das Unendliche Überhaupt. 



welche der Begriff des Unendlichen in seiner eigentlichen 
Bedeutung angewandt werde, d. h. wenn es sich zeigen 
sollte, daß die Unendlichkeit eigentlich nur eine Beschaffen- 
heit von Vielheiten ist^ oder daß wir alles, was wir für 
unendlich erklären, nur darum so nennen, weil und in- 
wiefern wir daran eine Beschaffenheit gewahren, die sich 
als eine unendliche Vielheit ansehen l^ßt. Das ist nun, 
däucht mir, wirklich. Der Mathematiker gebraucht dieses 
Wort offenbar nie in einem anderen Sinne; denn es sind 
überhaupt fast nur Größen, mit deren Bestimmung er sich 
beschäftigt, wozu er sich der Annahme einer aus ihnen^ 
die von derselben Art ist, zur Einheit und des Begriffes 
einer Zahl bedient. Findet er eine Größe, größer als jede 
Anzahl der zur Einheit angenommenen, so nennt er sie un- 
endlich groß; findet er eine so klein, daß jedes Vielfache 
derselben kleiner ist als die Einheit, so nennt er sie un- 
endlich klein; und außer diesen beiden Gattungen des 
Unendlichen und den von ihnen noch ferner abgeleiteten 
Arten unendlich großer und unendlich kleiner Größen von 
höherer Ordnung, die alle aus demselben Begriffe her- 
vorgehen, gibt es für ihn sonst kein Unendliches. 

§ II. 

Mit diesem den Mathematikern so wohl bekannten Un- 
endlichen nun sind einige Philosophen, zumal der neueren 
Zeit, wie Hegel und seine Anhänger, noch nicht zufrieden- 
zustellen, nennen es verächtlich das schlechte Unendliche 
und wollen noch ein viel höheres, das wahre, das quali- 
tative Unendliche kennen, welches sie namentlich in 
Gott und überhaupt im Absoluten nur finden. Wenn sie, 
wie Hegel, Erdmann u. a. sich das mathematische Un- 
endliche nur als eine Größe denken, welche veränder- 
lich ist und in ihrem Wachstume keine Grenze hat (was 
freilich manche Mathematiker, wie wir bald sehen werden, 
als die Erklärung ihres Begriffes aufgestellt haben): so 
pflichte ich ihnen in ihrem Tadel dieses Begriffes einer in 



8 Mangelhafte Definitionen des Unendlichen. 

das Unendliche nur wachsenden, nie es erreichenden 
Größe selbst bei. Eine wahrhaft unendliche Größe, 
z. B. die Länge der ganzen beiderseits grenzenlosen Ge- 
raden (d. h. die Größe desjenigen Raumdinges, das alle 
Punkte enthält, die durch ihr bloßes begrifflich vorstellbares 
Vterhältnis zu zwei gegebenen bestimmt sind), braucht eben 
nicht veränderlich zu sein, wie sie es denn in dem hier 
angefahrten Beispiele in der Tat nicht ist; und eine Größe, 
die nur stets größer angenommen werden kann, als wir sie 
schon genommen haben, und größer als jede gegebene 
(endliche) Größe zu werden vermag, kann dabei gleichwohl 
beständig eine bloß endliche Größe verbleiben, wie dieses 

namentlich von jeder Zahlgröße i, 2, 3, 4 , gilt. Was 

ich nicht zugestehe, ist bloß; daß der Philosoph einen 
Gegenstand kenne, dem er das Prädikat der Unendlichkeit 
beizulegen berechtigt sei, ohne in diesem Gegenstande in 
irgendeiner Beziehung erst eine unendliche Größe oder 
doch Vielheit nachgewiesen zu haben. Wenn ich dartun 
kann, daß selbst in Gott als in demjenigeQ Wesen, das wir 
als die vollkommenste Einheit betrachten, sich Gesichts- 
punkte nachweisen lassen, aus welchen wir eine unendliche 
Vielheit in ihm erblicken, und daß es eben nur diese Ge- 
sichtspunkte sind, aus denen wir ihm Unendlichkeit bei- 
legen: so wird es kaum nötig sein, noch ferner darzutun, 
daß ähnliche Rücksichten auch in allen anderen Fällen, wo 
der Begriff der Unendlichkeit in seinem guten Rechte ist, 
zugrunde liegen. Ich sage nun: wir nennen Gott unendlich, 
weil wir ihm Kräfte von mehr als einer Art zugestehen 
müssen, die eine unendliche Größe besitzen. So müssen 
wir ihm eine Erkenntniskraft beilegen, die wahre Allwissen- 
heit ist, also eine unendliche Menge von Wahrheiten, weil 
alle überhaupt, umfaßt usw. Und welcher wäre denn der 
Begriff, den man uns statt des hier aufgestellten von dem 
wahren Unendlichen aufdringen will? Es soll das All sein, 
das jedes beliebige Etwas umfaßt, das absolute All, außer 
dem es nichts gibt. Nach dieser Angabe wäre es ein Un- 
endliches, das auch nach unserer Erklärung unendlich Vieles 



Mangelhafte Definitionen des Unendlichen. 9 

in sich schließt. Es wäre ein Inbegriff von nicht nur allen 
wirklichen Dingen, sondern auch allem demjenigen, was 
keine Wirklichkeit hat, den Sätzen und Wahrheiten an sich. 
Und so dürfte denn — auch abgesehen von all den übrigen 
Irrtümern, die man in diese Lehre vom All verwoben 
hat — kein Grund vorhanden sein, unsem Begriff von 
dem Unendlichen zu verlassen, um jenen anzunehmen. 

§ 12. 

Doch auch so manche andere Erklärungen von dem Un- 
endlichen, die selbst von Mathematikern und in der Meinung 
aufgestellt wurden, daß sie nur die Bestandteile dieses einen 
und desselben Begriffes darböten, kann ich nicht umhin, 
als unrichtig zu verwerfen. 

I . In der Tat haben, wie ich nur eben vorhin erwähnte, 
einige Mathematiker, unter ihnen selbst Cauchy (in seinem 
Cours d' Analyse u. m. a. Schriften), der Verfasser des Ar- 
tikels „Unendlich" in Klügeis Wörterbuche, geglaubt, 
das Unendliche zu erklären, wenn sie es als eine veränder- 
liche Größe beschreiben, deren Wert unbegrenzt wächst 
und füglich größer werden könne, als jede gegebene, 
noch so große Größe. Die Grenze dieses unbegrenzten 
Wachsens sei die unendlich große Größe. So sei die 
Tangente des rechten Winkels, als stetige Größe gedacht, 
unbegrenzt, ohne Ende, im eigentlichen Sinne unend- 
lich. Das Fehlerhafte dieser Erklärung erhellt schon dar- 
aus, weil das, was die Mathematiker eine veränderliche 
Größe nennen, eigentlich nicht eine Größe, sondern der 
bloße Begriff, die bloße« Vorstellung von einer Größe 
ist, und zwar eine solche Vorstellung, die nicht eine einzige, 
sondern eine unendliche Menge voneinander verschiedener, 
in ihrem Werte, d. h. in ihrer Großheit selbst sich unter- 
scheidendef Größen unter sich befaßt. Was man unend- 
lich nennt, sind ja nicht jene verschiedenen Werte, 
welche der hier zum Beispiel angeführte Ausdruck tang, (p 
für verschiedene Werte von (p darstellt, sondern nur jener 



10 Mangelhafte Definitionen des Unendlichen. 

einzelne Wert, von dem man (obgleich in diesem Falle mit 
Unrecht) sich vorstellt, daß jener Ausdruck ihn für den 

Wert ^ = ^- annehme. Auch ist es wohl ein Widefspruch, 

von der Grenze eines unbegrenzten Wachsens und bei der 
Erklärung des unendlich Kleinen ebenso von der Grenze 
einer unbegrenzten Abnahme zu reden. Und wenn man 
jene fOr^das unendlich Große erklärt: so sollte man der 
Analogie nach diese, d. h. die bloße Null (ein Nichts) für 
das unendlich Kleine erklären; was doch gewiß unrichtig 
ist und weder Cauchy noch Grunert zu saged sich er- 
lauben. 

2. War die soeben betrachtete Erklärung zu weit, so 
ist dagegen die von Spinoza und vielen anderen Philo- 
sophen sowohl als Mathematikern angenommene, daß nur 
dasjenige unendlich sei, was keiner ferneren Ver- 
mehrung fähig ist, oder dem nichts mehr beigefügt 
(addiert) werden kann, viel zu enge. Der Mathematiker 
erlaubt sich zu jeder Größe, auch der unendlich großen, 
noch andere, und nicht nur endliche, sondern selbst andere 
schon bereits unendliche Größen zuzusetzen, ja er verviel- 
fältigt die unendliche Größe sogar unendlichemal usw. Und 
wenn einige noch darüber streiten, ob dies Verfahren auch 
ein gesetzmäßiges sei: welcher Mathematiker, der nur nicht 
alles Unendliche verwirft, wird nicht zugeben müssen, daß 
die Länge einer nur nach der einen Seite hin begrenzten, 
nach der andern aber in das Unendliche fortlaufenden 
Geraden unendlich groß sei, und gleichwohl durch Zusätze 
nach der ersten Seite hin vergrößert werden könne? 

3. Nicht befriedigender ist die Erklärung jener, die sich 
genau an die Bestandteile des Wortes halten und sagen^ 
unendlich sei, was kein Ende hat. Dächten sie dabei 
nur an ein Ende in der Zeit, ein Aufhören: so könnten 
nur Dinge, die in der Zeit sind, endlich oder unendlich 
heißen. Allein wir fragen auch bei Dingen, die in keiner 
Zeit sind, z. B. bei Linien oder Größen überhaupt, ob sie 
endlich oder unendlich sind. Nehmen sie aber das Wort 



Mangelhafte Definitionen des Unendlichen. 11 

in einem weiteren Sinne, etwa gl eich geltend mit Grenze 
Oberhaupt: so erinnere ich erstlich, daß es gar manche 
Gegenstände gibt, bei denen man füglich nicht nachweisen 
kann, daß sich an ihnen eine Grenze befinde, ohne dem 
Worte eine höchst schwankende, alles verwirrende Bedeu- 
tung, unterzuschieben, und die gleichwohl niemand zu den 
unendlichen zählt. So hat doch wohl ein jeder einfache 
Teil der Zeit oder des Raumes (ein Punkt in der Zeit oder 
im Räume) keine Grenzen, wird vielmehr selbst gewöhn- 
lich nur als Grenze (einer Zeitlänge oder Linie) betrachtet, 
ja von den meisten geradezu so definiert, nicht anders als 
ob dies zu seinem -Wesen gehörte; noch niemandem aber 
fiel ein (es wäre denn etwa Hegel), in dem bloßen Punkte 
eine Unendlichkeit sehen zu wollen. Ebensowenig kennt 
der Mathematiker an der Kreislinie und an so vielen anderen 
in sich zurückkehrenden LinieÄ und Flächen eine Grenze, 
und betrachtet sie doch nur als endliche Dinge (es müßte 
denn sein, daß er auf die unendliche Menge der in ihnen 
enthaltenen Punkte zu sprechen käme, in welchem Betrachte 
er aber auch an jeder begrenzten Linie etwas Unendliches 
anerkennen muß). Zweitens bemerke ich, daß es gar viele 
Gegenstände gäbe, die unleugbar begrenzt sind und dabei 
doch als Größen angesehen werden, die zu den unend- 
lichen gehören. So ist es nicht nur bei der schon früher 
erwähnten Geraden, die nur nach einer Seite zu in das 
Unendliche reicht, sondern auch bei dem Flächenraume, 
den ein paar unendliche Parallelen, oder die beiden in das 
Unendliche reichenden Schenkel eines auf einer Ebene ver- 
zeichneten Winkels, zwischen sich einschließen, u. m. a. So 
werden wir auch in der rationalen Psychologie eine Er- 
kenntniskraft schon dann unendlich groß nennen, wenn sie, 
auch ohne allwissend zu sein, nur irgendeine unendliche 
Menge von Wahrheiten, z. B. nur die ganze unendliche 
Reihe der Dezimalstellen, welche die einzige Größe ^ ent- 
hält, zu überschauen vermag. 

4. Am gewöhnlichsten^ heißt es: unendlich groß sei, 
was größer ist als jede angebliche Größe. Hier bedarf 



12 Mangelhafte Definitionen des Unendlichen. 



es vor allem einer genaueren Bestimmung darüber, was 
man sich bei dem Worte angeblich denke? Soll es nur 
so viel bedeuten, daß etwas möglich sei, d. h. Wirklichkeit 
haben könne, oder nur, daß es nichts Widersprechen- 
des sei? Im ersten Falle beschränkt man den Begriff des 
Endlichen einzig auf jene Gattung von Dingen, die zu 
den Wirklichkeiten gehören, entweder zu aller Zeit 
wirklich sind, oder doch zu gewissen Zeiten wirklich ge- 
wesen sind oder noch werden sollen, oder wenigstens 
irgend einmal zur Wirklichkeit gelangen könnten. In 
diesem Sinne scheint in der Tat Fries (Naturphilosophie 
§ 47) das Unendliche genommen zu haben, wenn er es das 
Unvollendbare nennt. Der Sprachgebrauch aber wendet 
den Begriff des Endlichen und ebenso auch jenen des Un- 
endlichen auf beides, sowohl auf Gegenstände an, denen 
Wirklichkeit zukommt, wie namentlich auf Gott, als auch 
auf andere, bei denen von gar keiner Existenz derselben 
gesprochen werden kann, dergleichen die bloßen Sätze und 
Wahrheiten an sich, samt ihren Bestandteilen, den Vor- 
stellungen an sich; indem wir endliche sowohl als unend- 
liche Mengen derselben annehmen. Versteht man aber 
unter dem Angeblichen alles dasjenige, was sich nur eben 
nicht widerspricht: dann legt man es schon in die Er- 
klärung des Begriffes, daß es kein Unendliches gäbe; denn 
eine Größe, die größer sein soll, als eine jede, die sich 
nicht widerspricht, müßte auch größer als sie selbst sein, 
was freilich ungereimt ist. Allein es gibt noch eine dritte^ 
Bedeutung, in der man das Wort angeblich nehmen 
könnte, wenn man darunter nur etwa solches verstände, 
was eben uns nur gegeben werden kann, d. h. ein 
Gegenstand unserer Erfahrung zu werden vermag. Doch 
ich frage jeden, ob er die Worte endlich und unend- 
lich nicht jedenfalls in einem solchen Sinne nehme, und 
— soll in der Wissenschaft ein nützlicher Gebrauch von 
ihnen gemacht werden — auch notwendig nur in einem 
solchen Sinne nehmen müsse, dabei sie jedenfalls eine ge- 
wisse innere Beschaffenheit der Gegenstände, die wir so 



Es gibt unendliche Mengen. 13 

nennen, keineswegs aber ein bloßes Verhältnis derselben 
zu unserem Erkenntnisvermögen, zu unserer Sinn- 
lichkeit sogar (ob wir Erfahrungen über sie einziehen 
können oder nicht können) betreffen. Somit kann denn 
die Frage, ob etwas endlich oder unendlich sei, gewiß 
nicht davon abhängen, ob der in Rede stehende Gegen- 
stand eine Größe besitze, die wir noch wahrzunehmen (etwa 
zu überschauen oder nicht zu überschauen) vermögen. 

§ 13- 

Sind wir nun mit uns einig geworden, welchen Begriff 
wir mit dem Worte unendlich verbinden wollen, und 
haben wir uns auch die Bestandteile, aus denen wir diesen 
Begriff zusammensetzen, zu einem klaren Bewußtsein er- 
hoben: so ist die nächste Frage, ob er auch Gegen- 
ständlichkeit habe, d. h. ob es auch Dinge gebe, auf die 
«r sich anwemden läßt, Mengen, die wir in der erklärten 
Bedeutung unendlich nennen dürfen? Und dieses wage 
ich mit Entschiedenheit zu bejahen. Es gibt schon im 
Reiche derjenigen Dinge, die keinen Anspruch auf 
Wirklichkeit, ja nur auf Möglichkeit machen, un- 
streitig Mengen, die unendlich sind. Die Menge der 
Sätze und Wahrheiten an sich ist, wie sich sehr leicht 
einsehen läßt, unendlich; denn wenn wir irgendeine Wahr- 
heit, etwa den Satz, daß es Wahrheiten überhaupt gebe, 
oder sonst jeden beliebigen, den ich durch A bezeichnen 
will, betrachten: finden wir, daß der Satz, welchen die 
Worte ^A ist wahr* ausdrücken, ein von A selbst ver- 
schiedener sei; denn dieser hat offenbar ein ganz anderes 
Subjekt als jener. Sein Subjekt nämlich ist der ganze Satz 
A selbst. Allein nach eben dem Gesetze, wie wir hier aus 
dem Satze A diesen von ihm Verschiedenjen, den ich B 
nennen vriil, ableiten, läßt sich aus B wieder ein dritter 
Satz C ableiten, und so ohne Ende fort. Der Inbegriff all 
dieser Sätze, deren jeder folgende zu dem nächst vorher- 
gehenden in dem nur eben angegebenen Verhältnisse steht, 



14 £s gibt unendliche Mengen. 

daß er denselben zu seinem Subjekte erhebt und von dem- 
selben aussagt, daß er ein wahrer Satz sei, dieser Inbegriff 
— sage ich -— umfaßt eine Menge von Teilen (Sätzen), 
die größer als jede endliche Menge ist. Denn ohne meine 
Erinnerung bemerkt der Leser die Ähnlichkeit, welche die 
Reihe dieser Sätze nach dem soeben angegebenen Bildungs- 
gesetze mit der im § 8 betrachteten Reihe der Zahlen hat; 
eine Ähnlichkeit, bestehend darin, daß es zu jedem Gliede 
der letzteren ein ihm entsprechendes der ersteren gibt, daß 
es somit für jede auch noch so große Anzahl auch eine 
ihr gleiche Anzahl verschiedener Sätze gibt, und daß wir 
immer noch neue Sätze darüber bilden können, oder besser 
zu sagen, daß es solche Sätze, gleichviel ob wir sie bilden 
oder nicht, an sich selbst gäbe. Woraus denn folgt, daß 
der Inbegriff all dieser Sätze eine Vielheit besitze, die 
größer als jede Zahl, d. h. die unendlich ist. 

§ 14. 

Aber wie einfach und einleuchtend auch der eben ge- 
lieferte Beweis ist: doch gibt es eine beträchtliche Anzahl 
gelehrter und sehr scharfsinniger Männer, die den Satz 
selbst, den ich hier dargetan zu haben glaube, nicht nur 
für paradox, sondern geradezu für falsch erklären. Sie 
leugnen, es gäbe irgendein Unendliches. Nicht nur 
unter den Dingen, die Wirklichkeit haben, sondern auch 
unter den übrigen gibt es nach ihrer Behauptung kein 
einzelnes, auch keinen Inbegriff mehrerer, an dem sich in 
irgendeinem Betrachte eine unendliche Menge von Teilen 
annehmen ließe. Die Gründe, welche sie gegen das Un- 
endliche im Reiche der Wirklichkeit erheben, wollen wir 
später betrachten, weil -wir auch später erst die Gründe 
für das Vorhandensein eines solchen Unendlichen vor- 
bringen werden. Hier also laßt uns nur die Gründe ver- 
nehmen, durch welche dargetan werden soll, daß es nirgends, 
nicht einmal unter den Dingen, die keinen Anspruch auf 
Wirklichkeit machen, etwa^ Unendliches gäbe. i. ^Eine 



is gibt unendliche Mengen. 15 



unendliche Menge**,, sagt man, ,,kann es schon aus dem 
Grunde nirgends geben, weil eine unendliche Menge nie 
in ein Ganzes vereinigt, nie in Gedanken zusam- 
mengefaßt werden kann." — Diese Behauptung muß 
ich geradezu als einen Irrtum bezeichnen, als einen Irrtum, 
den die falsche Ansicht erzeugte, daß man, um ein aus 
gewissen Gegenständen <r, ä, ^, rf . . . . bestehendes Ganze zu 
denken, zuvor sich Vorstellungen, die einen jeden dieser 
Gegenstände im einzelnen vorstellen (Einzelvorstellungen 
von ihnen), gebildet haben müsse. So ist es durchaus nicht; 
ich kann mir die Menge, den Inbegriff oder, wenn man so 
lieber will, das Ganze der Bewohner Prags oder Pekings 
denken, ohne mir einen jeden dieser Bewohner im einzelnen, 
d. h. durch eine ausschließlich ihn nur betreffende Vor- 
stellung, vorzustellen. Ich tue das wirklich jetzt eben, in- 
dem ich von dieser Menge derselben spreche und z. B. das 
Urteil fälle, daß ihre Anzahl in Prag zwischen den beiden 
Zahlen looooo und 120000 liege. Es ist nämlich, sobald 
wir erst eine Vorstellung A besitzen, die jeden der Gegen- 
stände a, Ä, c, rf . . . ., sonst aber nichts anderes vorstellt, 
überaus leicht zu einer Vorstellung zu gelangen, welche 
den Inbegriff, den alle diese Gegenstände zusammen aus- 
machen, vorstellt. Dazu bedarf es in der Tat nichts anderen, 
als den Begriff, den das Wort Inbegriff bezeichnet, mit 
der Vorstellung A in der Art zu verbinden, wie es die 
Worte: der Inbegriff aller A, andeuten. Durch diese 
einzige Bemerkung, deren Richtigkeit jedem, wie ich glaube, 
einleuchten muß, fällt alle Schwierigkeit weg, die man bei 
dem Begriffe einer Menge, wenn sie aus unendlich vielen 
Teilen besteht, finden will; sobald nur ein Gattungsbegriff, 
der jeden dieser Teile, sonst aber nichts anderes umfaßt, 
vorhanden ist, wie dieses bei dem Begriffe: „Die Menge 
aller Sätze oder Wahrheiten an sich,* der Fall ist, 
wo der benötigte Gattungsbegriff kein anderer als der schon 
vorliegende: „ein Satz oder eine Wahrheit an sich* ist. — 
Allein ich darf noch einen zweiten Irrtum, den man in 
jenem Einwurfe verrät, nicht ungerügt lassen. 



16 £ä gibt unendliche Mengen. 

Es ist die Meinung, „daä eine Menge nicht vorhanden 
wäre, wenn nicht erst jemand, der sie denkt, vorhanden 
wäre/ Wer dies behauptet, der sollte, um so folgerecht 
zu sein, als man es überhaupt bei einem Irrtum sein kann, 
nicht nur behaupten, daß es keine unendliche Mengen 
von Sätzen oder Wahrheiten an sich gäbe, sondern er 
sollte behaupten, daß es überhaupt gar keine Sätze und 
Wahrheiten* an sich gäbe. Denn wenn wir den Begriff von 
Sätzen und Wahrheiten an sich zu einem klaren Bewußt- 
sein bei uns erhoben haben und an der Gegenständlich- 
keit desselben in der Tat gar nicht zweifeln: so können 
wir wohl schwerlich auf Behauptungen, wie die nur an- 
geführte ist, geraten, oder doch sicher nicht bei denselben 
beharren. Um dies auf eine jedem einleuchtende Weise zu 
zeigen, erlaube ich mir die Frage aufzuwerfen, ob an den 
Polen der Erde nicht auch sich Körper, flüssige sowohl als 
feste, befinden, Luft, Wasser, Steine u. dgl., ob diese Körper 
nicht nach gewissen Gesetzen aufeinander einwirken, z. B. 
so, daß die Geschwindigkeiten, die sie einander bei ihrem 
Konflikte mitteilen, sich verkehrt wie ihre Massen ver- 
halten u. dgl., und ob dieses alles erfolge, auch wenn kein 
Mensch noch irgendein anderes denkendes Wesen da ist, 
das es beobachtet? Bejaht man dieses (und wer müßte es 
nicht bejahen?): dann gibt es auch Sätze und Wahrheiten 
an sich, die alle diese Vorgänge ausdrücken, ohne daß 
irgend jemand sie denkt und kennt. Und in diesen Sätzen 
ist häufig von Ganzen und Mengen die Rede; denn jeder 
Körper ist doch ein Ganzes und bringt gar viele seiner 
Wirkungen nur durch die Menge der Teile, aus denen er 
besteht, hervor. Es gibt also Mengen und Ganze, auch 
ohne daß ein Wesen, welches sie denkt, da ist. Und 
wenn dies nicht wäre, wenn diese Mengen nicht selbst da 
wären: wie könnten die Urteile, welche wir über sie fällen, 
wahr sein? Oder vielmehr, was müßte der Sinn dieser 
Urteile sein, wenn sie erst dadurch wahr werden sollten, 
daß jemand da ist^ der diese Vorgänge wahrnimmt? Wenn 
ich sage: ,, Dieser Block löste sich vor meinen Augen von 



Es gibt unendliche Mengen. 17 



jenem Felsen ab und stürzte, die Luft durchschneidend, 
herunter''; so mOfite dies ungefähr folgenden Sinn haben: 
Indem ich gewisse einfache Wesen dort oben zusammen- 
dachte, entstand eine Verbindung derselben, die ich Block 
nenne; diese Verbindung entfernte sich von gewissen 
anderen, die sich, indem ich sie zusammen dachte, zu einem 
Ganzen vereinigten, welches ich einen Felsen nenne; usw. 

2. Allein man dürfte sagen: „es bleibe bei allem dem 
wahr, daß es nur unser Werk, und zwar ein großenteils 
sehr willkürliches Werk sei, ob wir gewisse einfache Gegen- 
stände in einen Inbegriff zusammendenken oder nicht zu- 
sammendenken wollen; und nur erst, wenn wir dies tun, 
entstehen Verhältnisse zwischen ihnen. Der mittelste Atom 
in diesem an meinem Rocke befindlichen Knopfe und der^ 
mittelste Atom in jenem Turmknopfe dort gehen einander 
nicht das geringste an und stehen in gar keiner Verbindung 
miteinander; erst durch mein gegenwärtiges Zusammen- 
denken derselben entsteht eine Art Verbindung zwischen 
ihnen.** — Auch diesem muß ich widersprechen. Die bei- 
den Atome waren, noch ehe das denkende Wesen ihre 
Vorstellungen zusammenfügte, in gegenseitiger Einwirkung 
aufeinander, z. B. durch die Kraft der Anziehung u. dgl.; 
und wenn anders jenes denkende Wesen infolge seiner 
Gedanken nicht auch noch Handlungen vornimmt, die eine 
Änderung in den Verhältnissen zwischen den beiden Atomen 
bewirken: so ist es durchaus unwahr, daß erst durch jenes 
Zusammendenken derselben Verhältnisse unter ihnen ent- 
ständen, die außerdem nicht da wären. Soll ich mit Wahr- 
heit urteilen, daß Jener Atom der niedere, dieser der höhere 
sei, und daß somit dieser durch jenen um irgendein Kleines 
in die Höhe gezogen werde usw.: so müßte dies alles statt- 
finden, auch wenn ich nicht daran gedacht hätte. 

3. Doch andere sagen: „Nicht, daß ein Inbegriff von 
einem denkenden Wesen wirklich gedacht werde, ist 
dazu notwendig, daß er bestehe: wohl aber ist dazu not- 
wendig, daß er gedacht werden könne. Und weil nun kein 
Wesen möglich ist, das eine unendliche Menge von Dingen 

Bolzano, Paxadoxien des Unendlichen. 2 



18 Es gibt unendliche Mengen. 



jedes im einzelnen sich vorzustellen und diese Vorstellungen 
dann zu verbinden vermag: so ist auch kein Inbegriff, der 
eine unendliche Menge von Dingen als Teile in sich faßte, 
möglich.* 

Wie irrig die hier wiederholte Voraussetzung sei, daß 
zu dem Denken eines Inbegriffs das Denken aller seiner 
Teile im einzelnen, d. h. das Denken eines jeden einzelnen 
Teiles vermittels einer denselben vorstellenden Einzelvor- 
stellung erfordert werde, haben wir Nr. i schon gesehen; 
auch brauchen wir nicht erst auf das allwissende Wesen 
als auf ein solches zu verweisen, dem selbst die Auffassung 
einer unendlichen Menge von Dingen, jedes im einzelnen, 
keine Mühe verursacht. Allein wir dürfen nicht einmal die 
erste Voraussetzung zugeben, nämlich, dafi das Vorhanden- 
sein eines Inbegriffes von Dingen auf der Bedingung be- 
ruhe, daß ein solcher Inbegriff gedacht werden kann. 
Denn das ,yGedachtrwerden- können einer Sache"^ 
kann nie den Grund ihrer Möglichkeit enthalten; sondern 
es ist vielmehr gerade umgekehrt die Möglichkeit einer 
Sache erst der Grund davon, daß ein vernünftiges Weseni 
wenn es sich nicht eben irrt, dier Sache möglich oder wie 
man (nur undgentlich) sagt, sie denkbar findet, sie denken 
kann. Von der Richtigkeit dieser Bemerkung und von der 
gänzlichen Unhaltbarkeit der freilich sehr verbreiteten An- 
sicht, welche ich hier bekämpfe, wird man sich noch völliger 
überzeugen, wenn man sich die Bestandteile, aus welchen 
der höchst wichtige Begriff der Möglichkeit besteht, deut- 
lich zu machen sucht Daß man möglich dasjenige nennt, 
was sein kann, ist offenbar keine Zerlegung dieses Be- 
griffes; denn in dem Worte können steckt der Begriff der 
Möglichkeit noch ganz. Aber noch unrichtiger wäre es, 
die Erklärung aufstellen zu wollen, daß möglich dasjenige 
sei, was gedacht werden kann. Denken im eigent- 
lichen Sinne des Wortes, wo es auch schon das bloße 
Vorstellen befaßt, können wir uns auch das Unmögliche; 
und denken es uns ja wirklich, so oft wir darüber urteilen, 
und es z. B. eben für unmöglich erklären; wie wenn wir 



. £s gibt unendliche Mengen. 19 

sagen, daß es keine Größe gebe und geben könne, welche 
durch o oder ^ — i vorgestellt wird. Aber auch wenn man 
unter dem Denken hier nicht ein bloßes Vorstellen, son- 
dern ein eigentliches Fürwahrhalten versteht, ist es falsch, 
daß alles möglich sei, was wir für wahr halten können. 
Durch Irrtum halten wir ja zuweilen auch das Unmögliche, 
z. B. daß wir die Quadratur des Zirkels gefunden hätten, 
für wahr. Es müßte also gesagt werden (wie ich schon 
oben verbessernd annahm), möglich sei dasjenige, worüber 
ein denkendes Wesen, wenn es der Wahrheit gemäß urteilt, 
das Urteil ausspricht, daß es sein könne, d. h. daß es mög- 
lich sei. Eine Erklärung, die einen offenbaren Zirkel ent- 
hält! Wir sind also wohl genötigt, die Beziehung auf ein 
denkendes Wesen bei der Erklärung des Möglichen ganz 
aufzugeben und uns nach einem anderen Merkmale umzu- 
sehen. Möglich ist, hört man zuweilen auch sagen, „was 
sich nicht widerspricht'^ Allerdings ist alles, was 
einen Widerspruch schon in sich selbst enthält, z. B. daß 
eine Kugel keine Kugel sei, unmöglich. Aber nicht alles 
Unmögliche ist nur eben von solcher Art, daß der Wider- 
spruch schon in den bloßen Bestandteilen, aus welchen 
wir die Vorstellung desselben zusammengesetzt haben, vor- 
kommt. Daß ein Körper, der von sieben ebenen Seiten- 
flächen eingeschlossen ist, von gleichen Seitenflächen ein- 
geschlossen sei, ist unmöglich; aber das Widersprechende 
liegt nicht schon in den Worten, die hier verbunden wer- 
den, offen zutage. Wir müssen also unsere Erklärung er- 
weitem. Wollten wir aber sagen, unmöglich sei, was mit 
irgendeiner Wahrheit im Widerspruche steht: so würden 
wir alles, was jiicht ist, auch eben darum schon für un- 
möglich erklären, weil der Satz, daß es ist, der Wahrheit, 
daß es nicht ist, widerspräche. Wir würden also gar 
keinen Unterschied zwischen dem Möglichen und dem Wirk- 
lichen, ja dem Notwendigen sogar zulassen, was wir doch 
alle tun. Wir sehen demnach, das Grebiet der Wahrheiten, 
denen das Unmögliche widerspricht, müsse nur auf eine 
gewisse Gattung derselben beschränkt werden; und nun 

2* 



20 I^ie Menge aller Zahlen. 

kann es uns kaum mehr entgehen, welche Gattung von 
Wahrheiten dies sei. Es sind die reinen Begriifswahr- 
heiten. Was irgendeiner reinen Begriffs Wahrheit wider- 
spricht, ist das Unmögliche zu nennen; möglich also« 
was mit keiner reinen Begriffswahrheit im Widerspruche 
steht. Wer einmal eingesehen hat, dies sei der richtige 
Begriff der Möglichkeit, dem kann es kaum mehr in den 
Sinn kommen, die Behauptung aufzustellen, daß etwas nur 
erst dann möglich sei, wenn es gedacht, d. h. von einem 
denkenden Wesen, das sich in seinem Urteile nicht irrt, 
für möglich angesehen wird. Denn dieses hieße ja sagen: 
„Ein Satz widerspricht nur erst dann keiner reinen Be- 
griffswahrheit, wenn es keiner reinen Begriffswahrheit 
widerspricht, daß es ein denkendes Wesen gäbe, welches 
von diesem Satze der Wahrheit gemäß das Urteil fällt, daß 
er keiner reinen Begriffswahrheit widerspreche.* Wer sieht 
nicht, wie gar nicht zur Sache gehörig diese Einmengung 
eines denkenden Wesens hier sei? — Ist es aber ent- 
schieden, daß nicht das Denken die Möglichkeit erst 
mache: wo bleibt noch irgendein Grund, aus dem ver- 
meintlichen Umstände, daß eine unendliche Menge von 
Dingen nicht zusammen gedacht werden kann, zu fol- 
gern, daß es dergleichen Mengen nicht geben könne? 

§ 15- 

Ich betrachte es nun als genügend dargetan und ver- 
teidigt, daß es unendliche Mengen, wenigstens unter den 
Dingen, die keine Wirklichkeit haben, gäbe; daß nament- 
lich die Menge aller Wahrheiten an sich eine unendliche 
sei. Man wird in ähnlicher Weise, wie § 13 geschlossen 
wurde, auch zugeben, daß die Menge aller Zahlen (der 
sogenannten natürlichen oder ganzen, deren Begriff wir 
§ 8 erklärten) unendlich sei. Aber auch dieser Satz klingt 
paradox, und wir dürfen ihn eigentlich als die erste 
der auf dem Gebiete der Mathematik erscheinenden Para- 
<loxien betrachten; denn die vorhin betrachtete gehört 



Die Menge aller Größen. 21 

eigentlich noch in eine allgemeinere Wissenschaft als in die 
Größenlehre. 

„Wenn jede Zahl**, dürfte man sagen, „ihrem Begriffe 
nach eine bloß endliche Menge ist, wie kann die Menge 
aller Zahlen eine unendliche sein? Wenn wir die Reihe 
der natürlichen Zahlen: 

I, 2, 3, 4, 5, 6, 

betrachten: so werden wir gewahr, daß die Menge der 
Zahlen, die diese Reihe, anzufangen von der ersten (der 
Einheit) bis zu irgendeiner, z. B. der Zahl 6, enthält, immer 
durch diese letzte selbst ausgedrückt wird. Somit muß ja 
die Menge aller Zahlen genau so groß als die letzte der- 
selben und somit selbst eine Zahl, also nicht unendlich 
sein." 

Das Täuschende dieses Schlusses verschwindet auf der 
Stelle, sobald man sich nur erinnert, daß in der Menge 
aller Zahlen in der natürlichen Reihe derselben keine die 
letzte stehe; daß somit der Begriff einer letzten (höchsten) 
Zahl ein gegenstandloser, weil <^inen Widerspruch in sich 
schließender, Begriff sei. Denn nach dem, in der Erklärung 
jener Reihe (§8) angegebenen Bildungsgesetze; derselben 
hat jedes ihrer Glieder wieder ein folgendes. Dies Para- 
doxon wäre denn also durch diese einzige Bemerkung schon 
als. gelöst zu betrachten. 



§ i6. 

Ist die Menge der Zahlen (nämlich der sogenannten 
ganzen Zahlen) unendlich: so ist um so gewisser die Menge 
der Größen (nach der § 6 und Wissenschaftslehre § 87 
vorkommenden Erklärung) eine unendliche. Denn jener 
Erklärung zufolge sind nicht nur alle Zahlen zugleich auch 
Größen, sondern es gibt noch weit mehr Größen als Zahlen, 
weil auch die Brüche -J-, iifti, ..._^, ingleichen die 

sogenannten irrationalen Ausdrücke ya, ^2, :nr, ^, 

Größen bezeichnen. Ja dieser Erklärung zufolge ist 



22 * Z^it und Raum. 



es auch kein Widerspruch, von Größen zu reden, welche 
unendlich groß, und anderen, welche unendlich 
klein sind, sofern man unter der unendlich großen 
Größe nur eine solche versteht, die hei der einmal zu- 
grunde gelegten Einheit als ein Ganzes erscheint, von 
welchem jede endliche Menge dieser Einheiten nur ein Teil 
ist; unter der unendlich kleinen Größe aber eine solche, 
bei der die Einheit selbst als ein Ganzes erscheint, von 
welchem jede endliche Vielheit dieser Größe nur einen 
Teil ausmacht. — Die Menge aller Zahlen zeigt sich sofort 
als ein nicht zu bestreitendes Beispiel einer unendlich 
großen Größe. Als einer Größe, sage ich; freilich aber 
nicht als Beispiel einer unendlich großen Zahl; denn eine 
Zahl ist diese unendlich große Vielheit allerdings nicht zu 
nennen, wie wir nur eben im vorigen Paragraphen be- 
merkten. Wenn wir dagegen die Größe, die in Beziehung 
auf eine zur Einheit angenommene andere unendlich groß 
erscheint, nun selbst zur Einheit machen . und die vorhin 
als Einheit betrachtete mit ihr messen: so wird sich diese 
jetzt als unendlich klein darstellen. 

§ 17- 

Eine höchst wichtige Gattung unendlich großer Größen, 
die gleichfalls noch nicht in das Gebiet des Wirklic|;^en 
gehören, obwohl sie Bestimmungen am Wirklichen sein 
können, sind Zeit und Raum. Weder die Zeit noch der 
Raum ist etwas Wirkliches; denn sie sind weder Sub- 
stanzen noch auch Beschaffenheiten an den Substanzen; 
sondern sie treten bloß als Bestimmungen an allen unvoll- 
kommenen (begrenzten, endlichen oder — was auf. dasselbe 
hinausläuft — abhängigen, geschaffenen) Substanzen auf; 
indem sich jede der letzteren fortwährend in einer gewissen 
Zeit und auch in einem gewissen Räume befinden muß; 
dergestalt, daß jede einfache Substanz zu jedem Zeit- 
punkte, d. h. in jedem einfachen Teile der Zeit, sich in 
irgendeinem einfachen Teile des Raumes, d. h. in irgend- 



Zeit und Raum. 28 



einem Punkte desselben aufhalten muß. In der Zeit nun 
sowohl als auch im Räume ist die Menge der einfachen 
Teile oder Punkte, aus denen jene und dieser bestehen, 
unendlich. Ja nicht nur die Menge der einfachen Teile, 
aus denen die ganze Zeit und der ganze Raum zusammen- 
gesetzt ist, d. h. die Menge der Zeit- und Raumpunkte, 
welche es überhaupt gibt, ist . unendlich groß; sondern 
schon die Menge der Zeitpunkte, die zwischen je zwei 
einander auch noch so nahestehenden Zeitpunkten a und ß^ 
ingleichen die Menge der Raumpunkte, die zwischen je 
zwei einander auch noch so nahestehenden Raumpunkten 
a und b liegen, ist unendlich. In eine Verteidigung dieser 
Sätze brauche ich mich um so weniger einzulassen, da es 
kaum irgendeinen Mathematiker gibt, der, falls er nur nicht 
jedes Unendliche überhaupt leugnet, sie uns nicht zuge- 
stände. — Die Gegner aller Unendlichkeit aber retten 
sich, um das hier so klar vorliegende Unendliche nicht zu- 
gestehen zu müssen, hinter den Vorwand, '„daß wir der 
Punkte in Zeit und Raum freilich wohl immer mehrere, 
als wir uns schon gedacht, hinzu denken können, daß 
aber die Menge derer, die es in Wirklichkeit gibt, doch 
stets nur eine endliche bleibt". Darauf entgegne ich aber, 
daß weder die Zeit noch der Raum, somit auch weder die 
einfachen Teile der Zeit noch jene des Raumes etwas 
Wirkliches sind; daß es somit ungereimt sei, von einer 
endlichen Menge derselben, die in der Wirklichkeit be- 
stehen, zu reden; noch ungereimter aber, sich vorzustellen, 
daß diese Teile erst durch unser Denken ihre Wirklich- 
keit erhalten. Denn daraus würde folgen, daß die Be- 
schaffenheiten der Zeit sowohl als jene des Raumes von 
unserem Denken oder Fürwahrhalten abhängen, und daß 
somit das Verhältnis des Durchmessers zum Umfange des 
Kreises rational war, solange wir aus Irrtum dafür hielten, 
es wäre rational, und daß der Raum alle diejenigen Eigen- 
schaften, die wir erst in der Folgezeit kennen lernen wer* 
den, auch dann erst annehmen werde! — Berichtigen aber 
die Gegner den obigen Ausdruck dahin, daß nur ein 



24 Summe von unendlicti vielen Größen. 

Denken, welches der Wahrheit gemäfi ist, die wahren Eigen- 
schaften der Zeit und des Raumes bestimme: so sagen sie 
etwas ganz Tautologisches, daß nämlich das, was wahr ist, 
wahr sei; woraus gewiß nicht das geringste gegen die .von 
uns behauptete Unendlichkeit der Zeit und des Raumes 
geschlossen werden kann. ' Es ist somit jedenfalls ab- 
geschmackt, zu sagen, daß Zeit und Raum nur so viel 
Punkte enthielten, als wir uns eben denken. 

§ i8. 

Wiewohl eine jede Größe, Oberhaupt jeder Gegenstand, 
der uns in irgendeiner Beziehung für unendlich gelten soll, 
sich in eben dieser Beziehung muß betrachten lassen, als 
ein aus einer unendlichen Menge von Teilen bestehendes 
Ganzes: so gilt doch nicht umgekehrt, daß jede Größe, 
welche wir als die Summe einer unendlichen Menge anderer, 
die alle endlich sind, betrachten, selbst eine unendliche 
sein müsse. So wird z. B. allgemein anerkannt, daß die 
irrationalen Größen, wie y2, in bezug auf die bei ihnen 
zugrunde liegende Einheit endliche Größen sind, obgleich 
sie angesehen werden können als zusammengesetzt aus 
einer unendlichen Menge von Brüchen von der Form 

lO ' lOO ' lOOO lOOOO 

deren Zahler und Nenner ganze Zahlen sind; ebenso, daß 
die Summe der unendlichen Reihe Summanden von der 
Form: a-(-ae-|-ae*-j-.... in inf. der endlichen Größe 

gleichkomme, so oft e <^ i ist*). In der Behauptung 

I "~" e 



*) Da der gewöhnliche Beweis für die Summierung dieser 
Reihe nicht völlig strenge scheint, sei es erlaubt, bei dieser Ge- 
legenheit folgenden anzudeuten. Nehmen wir a = i- und e positiv 
an (weil die Anwendung auf andere Fälle sich von selbst ergibt), 
und setzen wir als symbolische Gleichung 

(i) S — I 4- e -f e- + . . . , . in inf., 



Summe von unendlich vielen Gröfien. 25 

also, daß eine Summe von unendlich vielen endlichen 



so ist wenigstens so viel gewiß, daß S eine positive, gleichviel 
ob endliche oder unendlich große, Größe bezeichne. — Es ist 
aber auch für jeden beliebigen ganzzähligen Wert von n 

S = i + e + e'+... + en— I + e» -h en+i -|- . . . in inf. 

oder auch 

(2) S = ^ ^^° + en + en+i + .... in ini, » 
wofür wir auch 

(3) S = ^ + P 

schreiben können, wenn wir den Wert der unendlichen Reihe 

1 
en _)- en+i in inf. durch P bezeichnen; wobei wir wenigstens 

dies sicher wissen, daß P eine von e und n abhängige, meßbare 
oder unmeßbare, jedenfalls aber positive Größe bezeichnet. Die- 
selbe unendliche Reihe können wir aber auch auf folgende Art 
darstellen: . 

en -j- en-^-i _}-.... in inf. = en [i -f- e + in inf.]. 

Hier hat nun die aus unendlich vielen Gliedern bestehende Summe 
in den Klammem auf der rechten Seite der Gleichung, nämlich 

[i + e + e^ + in- inf.] 

zwar ganz das Aussehen der in der symbolischen Gleichung 
(t) = S gesetzten Reihe, ist aber gleichwohl mit ihr nicht für 
einerlei zu halten; indem die Menge der Summanden hier und 
in (i), obwohl beidemal unendlich, doch nicht dieselbe ist; son- 
dern hier unstreitig um n Glieder weniger hat als in (i). 
Wir können also mit voller Zuversicht nur die Gleichung 

8 

[i -{- e + e' -i- in inf.] = S — P ansetzen, .wobei wir annehmen 

8 

dürfen, daß P jedenfalls eine von n abhängige, stets positive Größe 
bezeichne. Sonach erhalten wir 



(4) S = ^-^+en[s-P 



oder 



en 



I — e 



^n 8 

— e«P, oder endlich 



I eil ' 

(5) S = — i ^— P. 

^' I — e I — en 



26 Vergleichung unendlicher Mengen. 

Größen selbst doch nur eine endliche Größe gäbe, liegt 
sicher nichts Widersprechendes, weil sie sonst nicht als 
wahr sich erweisen ließe. Das Paradoxe aber, das man 
in ihr gewahren dürfte, geht nur daraus hervor, daß man 
vergißt, wie die hier zu addierenden Glieder immer kleiner 
und kleiner werden. Denn daß eine Summe von Addenden, 
deren jeder folgende z. B. die Hälfte von dem nächstvor^ 
hergehenden beträgt, nie mehr betragen könne, als das 
Doppelte des ersten, kann wohl niemand befremden, in- 
dem bei jedem auch noch so späten Gliede dieser Reihe 
zu jenem Doppelten immer gerade so viel noch mangelt, 
als dieses letzte Glied beträgt. 

§ 19- 

Schon bei den bisher betrachteten Beispielen des Un- 
endlichen konnte uns nicht entgehen, daß nicht alle unend- 
liche Mengen in Hinsicht auf ihre Vielheit einander 
gleich zu achten seien; sondern daß manche derselben 
größer (oder kleiner) als eine andere sei, d.h. die andere 
als einen Teil in sich schließe (oder im Gegenteile sich 



Die beiden Gleichungen (3) und (5) geben durch Verbindung 

e _^p e ^ 



I — e I — en 

oder 

I pn 8 en 

P + — ^ P = 4-_£_ 

• I __ en ' I — e 

woraus zu ersehen, daß, wenn wir n beliebig groß annehmen 

e*^ 
und dadurch den Wert von — •■ — unter jede beliebige, auch noch 

so kleine Größe ^j^ herabdrücken, auch jede der Größen P und 

P für sich unter jeden beliebigen Wert herabsinken müs§e. 

Ist aber dieses, so belehrt jede der beiden Gleichungen (3) und 
(5), daß, weil doch S bei einerlei e nur einen unveränderlichen 

Wert haben, somit nicht von n abhängen kann, S= sei. 



Vergleichung unendlicher Mengen. 27 



selbst in der andern als bloßer Teil befinde). Auch dieses 
ist eine Behauptung, die vielen paradox klingt. Und frei- 
lich alle, die das Unendliche als etwas Solches erklären, 
das keiner weiteren Vermehrung fähig ist, müssen es nicht 
nur paradox, sondern geradezu widersprechend finden, 
daß ein Unendliches größer sei als ein anderes. Allein 
wir haben schon oben gefunden, daß diese Ansicht auf 
einem Begriffe von dem Unendlichen beruhe, der mit dem 
Sprachgebrauche des Wortes gar nicht übereinstimmt. Nach 
unserer nicht nur d&m Sprachgebrauche, sondern auch dem 
Zwecke der Wissenschaft entsprechenden Erklärung kann 
niemand etwas Widerstreitendes, ja nur Auffallendes in 
dem Gedanken finden, daß eine unendliche Menge größer 
als eine andere sein soll. Wem muß es z. B. nicht ein- 
leuchten, daß die Länge der 



b a 

! ' R- 



nach der Richtung aR unbegrenzt fortlaufenden Geraden 
eine unendliche sei? Daß aber die von dem Punkte b aus 
nach derselben Richtung hinlaufende Gerade bR noch um 
das Stück ba größer, denn aR zu nennen sei? Vnd daß 
die nach beiden Seiten aR und aS hin unbegrenzt fort- 
laufende Gerade um eine Größe, die selbst noch unendlich 
ist, größer zu nennen sei? usw. 

§ 20. 

Übergehen wir nun zur Betrachtung einer höchst merk- 
würdigen Eigenheit, die in dem Verhältnisse zweier Mengen, 
wenn beide unendlich sind, vorkommen kann, ja eigent- 
lich immer vorkommt, die man aber bisher zum Nachteil 
für die Erkenntnis mancher wichtigen Wahrheiten der Meta- 
physik sowohl als Physik und Mathematik übersehen hat, 
und die man wol^l auch jetzt, indem ich sie aussprechen 
werde, in einem solchen Grade paradox finden wird, daß 
es sehr nötig sein dürfte, bei ihrer Betrachtung uns etwas 



28 Vergleichnng anendiicher Mengen. 



länger zu verweilen. Ich behaupte nämlich: zwei Mengen, 
die beide unendlich sind, können in einem solchen Ver- 
hältnisse zueinander stehen, daß es einerseits möglich ist, 
jedes der einen Menge gehörige Ding mit einem der anderen 
?u einem Paare zu verbinden mit dem Erfolge, daß kein 
einziges Ding in beiden Mengen ohne Verbindung zu einem 
Paare bleibt, und auch kein einziges in zwei oder mehreren 
Paaren vorkommt; und dabei ist es doch andererseits 
möglich, daß die eine dieser Mengen die andere als einen 
bloßen Teil in sich faßt, so daß die Vielheiten, welche sie 
vorstellen, wenn wir die Dinge derselben alle als gleich, 
d. h. als Einheiten betrachten, die mannigfaltigsten Ver- 
hältnisse zueinander haben. "^ 

Den Beweis dieser Behauptung werde ich durch zwei 
Beispiele führen, in welchen das Gesagte unwidersprechlich 
stattfindet. 

I. Nehmen wir zwei beliebige (abstrakte) Größen, z. B. 
5 und 12: so leuchtet ein, daß die Menge der Größen, 
welche es zwischen Null und 5 gibt (oder die kleiner als 
5 sind), ingleichen auch die Menge der Größen, die kleiner 
als 12 sind, unendlich sei; und ebenso gewiß ist die letzte 
Menge ftr größer als die erste zu erklären, da diese ja 
unwidersprechlich nur ein Teil von jener ist. Wir können 
sogar, wenn wir an die Stelle der Größen 5 und 12 was 
immer für andere setzen, nicht umhin zu urteilen, daß jene 
beiden Mengen nicht immer dasselbe Verhältnis gegenein- 
ander behalten, sondern vielmehr in die verschiedenartigsten 
Verhältnisse treten. Allein nicht minder wahr als alles dieses 
ist auch nachstehendes : Wenn x was immer für eine zwischen 
Null und 5 gelegene Größe bezeichnet, und wir bestimmen 
das Verhältnis zwischen x und y durch die Gleichung 

5y=i2x, 

so ist auch y eine zwischen Null und 12 liegende Größe; 
und umgekehrt, so oft y zwischen Null und 12 liegt, so 
liegt X zwischen Null und 5. Auch folgt aus jener Glei- 
chung, daß zu jedem Werte von x nur ein Wert von y^ 



Vergleichung unendlicher Mengen. 29 

und umgekehrt gehöre. Aus diesem beiden ist aber klar, 
daß es zu jeder in der Menge der zwischen Null und 5 
liegenden Größen = x eine in der Menge der zwischen 
o und 12 liegenden Größen = ^ gebe, die sich mit jen^r 
zu einem Paare verbinden läßt, mit dem Erfolge, daß nicht 
ein^ ein2iges der Dinge, aus denen diese beiden Mengen 
bestehen, ohne Verbindung zu einem Paare bleibt und 
auch kein einziges in zwei oder mehreren Verbindungen 
auftritt. 

2. Das zweite Beispiel werde von einem räumlichen 
Gegenstande entlehnt. Wer es schon weiß, daß die Be- 
schaffenheit des Raun\es auf jene der Zeit, und die Be- 
schaffenheiten der Zeit auf jene der abstrakten Zahlen und 
Größen sich gründen, brauchte freilich nicht erst aus einem 
Beispiele zu ersehen, daß es dergleichen unendliche Mengen, 
wie wir soeben unter den Größen Oberhaupt gefunden, auch 
in der Zeit und in dem Räume gäbe. Doch ist es wegen 
der richtigen Anwendung, die wir von unserem Satze in der 
Folge zu machen haben, nötig, wenigstens einen Fall, wo 
solche Mengen vorhanden sind, im einzelnen zu betrachten. 
Es seien also a, b, c drei beliebige Punkte in einer Ge- 
raden, und das Verhältnis der Entfernungen ab \ ac ein 
ganz beliebiges, doch so, daß ac die größere von beiden 
bezeichne. Dann wird, obgleich 

b 

a ' 



die Mengen der Punkte, welche in den ab und ac liegen^ 
beide unendlich sind, dennoch die Menge der Punkte in ac 
jene der Tunkte in ab übertreffen, weil in der ac nebst 
allen Punkten der ab auch noch alle der bc liegen, die in 
ab nicht anzutreffen sind. Ja wir können sogar nicht um- 
hin, wenn das Verhältnis der Entfernungen abiac beliebig 
abgeändert wird, zu urteilen, daß auch das Verhältnis dieser 
zwei Mengen ein sehr verschiedenes sein werde. Gleich- 
wohl gilt auch von diesen zwei Mengen dasselbe, was vor- 



so Vergleichung unendlicher Mengen. 



hin von den zwei Mengen der Größen, die zwischen o und 5 
und zwischen o und 12 liegen, in Hinsicht auf die Paare, 
welche sich aus je einem Dinge der einen und je einem 
der anderen Menge bilden lassen, erwiesen wurde. Denn 
sei X irgendein Punkt in der ab: so wird, wenn wir in der 
Richtung ax den Punkt y so nehmen, daß das Verhältnis 

ab : ac = ax : ay 

bestehe, auch y ein' Punkt in ac sein. Und wenn umgekehrt 
y ein Punkt m ac ist, wird x^ wenn wir nur ax aus ay 
nach derselben Gleichung bestimmen, ein Punkt der ab sei. 
Auch wird ein jedes andere x ein anderes y und umgekehrt 
ein jedes andere y ein anderes x bestimmen. Aus diesen 
beiden Wahrheiten aber ist abermals zu ersehen, daß sich 
zu jedem .Punkte der a b ein Punkt der a c, und zu jedem 
der ac ein Punkt der ab auswählen lasse, mit dem Erfolge, 
daß von den Paaren, die wir aus je zwei solchen Punkten 
bilden, behauptet werden kann, es sei kein einziger Punkt 
weder in der Menge der Punkte von a b, noch in der Menge 
der Punkte von ac^ der nicht in einem dieser Paare er- 
schiene, und^auch kein einziger, der zwei- oder mehrmal 
daselbst erschiene. 



§ 21. 

Bloß aus dem Grunde also, weil zwei Mengen A und B 
in einem solchen Verhältnisse zueinander stehen, daß wir 
zu jedem in der einen A befindlichen Teile «, nach einer 
gewissen Regel verfahrend, auch einen in B befindlichen 
Teil b mit dem Erfolge aussuchen können, daß die sämt- 
lichen Paare (a-f-b), die wir so bilden, jedes in*^ oder B 
befindliche Ding enthalten und jedes nur einmal enthalten — 
bloß aus diesem Umstände ist es — so sehen wir — noch 
keineswegs erlaubt zu schließen, daß diese beiden Men- 
gen, wenn sie unendlich sind, in Hinsicht auf die 
Vielheit ihrer Teile (6. h. wenn wir von allen Verschieden- 
heiten derselben absehen) einander gleich seien ; sondern 



Vergleichung unendlicher Mengen. 31 

sie können trotz jenem Verhältnisse zwischen ihnen, das 
für sich selbst allerdings beiderseits gleich ist, ein Verhält- 
nis der Ungleichheit in ihren Vielheiten haben, so daß die 
eine derselben sich als ein Ganzes, davon die andere ein 
Teil, herausstellen kann. Auf eine Gleichheit dieser Viel- 
heiten wird erst geschlossen werden dürfen, wenn irgend- 
ein anderer Grund noch dazukommt, wie etwa, daß beide 
Mengen ganz gleiche Bestimmungsgründe, z. B. eine ganz 
gleiche Entstehungsweise haben. 

§ 22. 

Das Paradoxe, das — wie ich gar nicht in Abrede 
stelle — diesen Behauptungen anklebt, geht einzig aus dem 
Umstände hervor, daß jenes gegenseitige Verhältnis, welches 
wir an den zwei miteinander verglichenen Mengen finden, 
bestehend darin, daß wir die Teile derselben mit dem schon 
mehrmals erwähnten Erfolge paarweise zusammenstellen 
können, in jedem Falle, wo diese Mengen endlich sind, 
allerdings hinreicht, um sie in Hinsicht auf die Vielheit 
ihrer Teile für völlig gleich zu erklären. Zwei endliche 
Mengen nämlich, wenn sie von einer solchen Beschaffenheit 
sind, daß wir zu jedem Dinge a der einen, eines der anderen 
b auffinden und zu einem Paare vereinigen können, mit 
dem Erfolge, daß in keiner der beiden Mengen ein Ding 
zurückbleibt, für das sich kein entsprechendes in der anderen 
vorfände, und daß es auch keines gibt, das in zwei oder 
mehreren Paaren erschiene, sind ihrer Vielheit nach ein- 
ander immer gleich. Es gewinnt also den Anschein, daß 
dieses auch der Fall sein sollte, wenn diese Mengen, statt 
endlich, unendlich sind. 

So scheint es, sage ich; aber bei einer näheren Be- 
trachtung zeigt sich^ daß es keineswegs so zu sein brauche, 
indem der Grund, warum es bei allen endlichen Mengen 
eintrifft, nur eben in ihrer Endlichkeit liegt, bei den un- 
endlichen also wegfällt: Sind nämlich beide Mengen A 
und B endlich, oder (denn auch schon dieses genügt) wissen 



32 VergleichuDg unendlicher Mengen. 

wir nur von der einen A^ daß sie endlich sei, und sehen 
wir, um beide Mengen jetzt nur in Hinsicht auf ihre Viel- 
heiten zu betrachten, von allem Unterschiede zwischen den 
Dingen, aus denen sie bestehen, ab: so müssen wir, indem 
wir irgendein beliebiges Ding in der Menge A durch i, 
irgendein anderes durch 2 bezeichnen usw. dergestalt, daß 
wir jedem folgenden immer die Zahl der Dinge, die wir 
bisher betrachtet haben (dasselbe mit dazu genommen), zu 
seiner Bezeichnung erteUen, irgend einmal bei einem Dinge 
in A anlangen, nach dessen Bezeichnung keines mehr übrig 
ist, welches noch unbezeichnet wäre. Dies unmittelbar zu- 
folge des Begriffes einer endlichen oder zählbaren Vielheit. 
Erhielt nun dieses soeben besprochene Letzte in A die 
Zahl n zu seiner Bezeichnung: so ist die Anzahl der Dinge 
in A = n. Weil nun zu jedem der Dinge in A eines in B 
zu finden sein soll, das sich mit ihm in ein Paar vereinigen 
läßt: so muß, wenn wir ein jedes der Dinge aus B mit 
eben dem Zeichen bezeichnen, welches dasjenige aus A an 
sich hat, mit dem es zu einem Paare vereinigt wird, sich 
finden, daß es der Dinge in B^ die wir auf solche Weise 
verbraucht haben, gleichfalls n gibt; indem ein Jedes der- 
selben ein Zeichen erhielt, das zu erkennen gibt, wie viele 
wir bisher verbraucht. Somit erhellt, daß es der Dinge in 
B sicher nicht weniger gibt als h; denn diese Zahl führt 
eines (dasjenige, was wir zuletzt gebrauchten) wirklich. 
Aber es gibt derselben auch nicht mehr; denn gäbe es nur 
noch ein einziges über die bisher verbrauchten, so gäbe 
es zu diesem keines in A^ mit dem es zu einem Paare 
könnte vereinigt werden; was der Voraussetzung wider- 
spricht. Demnach ist die Zahl der Dinge in B weder 
kleiner noch größer als », also =n. Beide Mengen haben 
somit eine und dieselbe, oder wie man auch sprechen kann, 
die gleiche Vielheit. Dieser Schlußsatz fällt offenbar weg, 
sobald die Menge der Dinge in A eine unendliche ist; 
denn nun gelangen nicht nur wir Zählenden nie an ein 
Letztes in A, sondern es gibt, kraft der Erklärung einer 
unendlichen Menge, an und für sich kein solches letztes 



I 



Vergleichung unendlicher Mengen. 83 

Ding in Ay d. h. so viele man auch bereits bezeichnet habe, 
so gibt es immer noch andere zu bezeichnen; daher ent- 
fällt denn auch, trotzdem daß es in der Menge der B gleich- 
falls an Dingen nie fehlt, welche mit denen in A zu neuen 
und immer neuen Paaren vereinigt werden können, doch 
aller Grund zu schließen, daß die Vielheit beider Mengen 
ein und dieselbe sei. 

§ 23. 

Das nun Gesagte zeigt wohl, daß der Grund, der die 
notwendige Gleichheit endlicher Mengen bewirkt, sobald 
das mehr besprochene Verhältnis zwischen denselben statt 
hat, bei den unendlichen Mengen wegfällt; es zeigt 
uns aber noch nicht, wie und wodurch bei letzteren oft 
eine Ungleichheit herbeigeführt werde. Dies wird uns erst 
aus Betrachtung der angeführten Beispiele ersichtlich. Diese 
lehren uns nämlich, daß die aus den zwei zu vergleichenden 
Mengen genommenen Teile a und Ä, die wir zu einem 
Paare (a-j-b) verbinden, in ihren Mengen nicht ganz 
in derselben Weise erscheinen. Denn wenn die Teile 
a' und b' noch ein zweites Paar bilden, und wir vergleichen 
die Verhältnisse, in welchen a und a in der Menge A, b 
und V aber in der Menge B erscheinen, untereinander: so 
zeigt sich alsbald, daß sie verschieden sind. Heben wir 
(in dem ersten Beispiele) aus der Menge der Größen, die 
zwischen o und 5 liegen, ganz nach Belieben zwei, etwa 
die Größen 3 und 4, hervor: so sind die ihnen zugehörigen 
(mit ihnen Paare bildenden) iii B offenbar 

— . 3 und — . 4 d. i. 7^ und 9f . 

Verstehen wir nun (wie wir sollen) unter dem Verhält- 
nisse zwischen zwei Dingen den Inbegriff aller an ihrem 
Vereine sich kundgebender Beschaffenheiten, so dürfen wir 
an dem Verhältnisse, in welchem die Teile 3 und 4 in der 
einen, und 7^ und 9|- in der anderen Menge zueinander 
stehen, nicht etwa einseitigerweise bloß dasjenige Verhält- 

Bolzano, Paradoxien des Unendlichen. 3 



34 Vergleichung unendlicher Mengen. 

nis, das man das, geometrische zu nennen pflegt, be- 
achten, sondern auf alles hierzu Gehörige sehen, nament- 
lich also auch darauf, daß der arithmetische Unterschied 
zwischen den Größen 3 und 4 ein ganz anderer sei als 
zwischen den Größen 7^ und pf ; indem jener = i, dieser 
= 2|- ist. Obwohl also jede Größe in A oder B mit einer 
und nur einer einzigen in B oder A zu einem Paare sich 
vereinigen läßt: so ist doch die Menge der Größen in B 
eine andere (größere) als in A^ weil auch der Abstand, 
welchen je zwei solcher Größen in B voneinander haben, 
ein anderer (größerer) ist als der Abstand, welcher die 
zwei ihnen zugehörigen ,in A voneinander trennt. Und 
hieraus folgt natürlich, daß je 2;wei dieser Größen in B 
eine andere (größere) Menge von solchen Größen noch 
zwischen sich haben, als es in A der Fall ist; und so- 
mit ist kein Wunder, daß auch die ganze Menge der 
Größen in B eine andere (größere) ist als in A. — Ganz 
ähnlich verhält es sich in dem zweiten Beispiele: daher wir 
über dasselbe nichts weiter sagen wollen, als daß die Punkte 
in a6, die mit den Punkten in ac in Paare zusammen- 
gedacht worden sind, einander alle näher stehen als die 
ihnen zugehörigen in ac\ indem der Abstand je zweier 
dort zu dem A'bstande Je zweier hier sich immer wie abiac 
verhält. 

§ 24. 

Dürfen wir nun den Satz des § 20 durch das Bisherige 
als zur Genüge erwiesen und erläutert ansehen: so ergibt 
sich als eine der nächsten Folgerungen aus demselben, 
daß wir zwei Summen von Größen, welche ein- 
ander paarweise (d. h. je eine aus der einen mit je einer 
aus der anderen) gleich sind, wenn ihre Menge un- 
endlich ist, nicht sofort schon einander gleich- 
setzen dürfen; es sei denn, daß wir uns erst überzeugt 
hätten, daß auch die unendliche Vielheit dieser Größen in 
beiden Summen die nämliche sei. Daß die Summanden 
ihre Summe bestimmen, und daß somit gleiche Summanden 



Unendliches auf deni Gebiete der Wirklichkeit. 35 

auch gleiche Summen geben, ist wohl ganz unstreitig und 
gilt nicht nur, wenn die Menge dieser Summanden endlich, 
sondern auch, wenn sie unendlich ist. Nur muß, weil es 
verschiedene unendliche Mengen gibt, im letzteren Falle 
auch erwiesen sein, daß die unendliche Menge dieser Sum- 
manden in der einen Summe genau die nämliche wie in 
der anderen sei. Dies aber schließen zu dürfen, ist es 
nach unserem Satze keineswegs schon genug, wenn sich 
auf irgendeine Weise zu jedem in der einen Summe be- 
findlichen Gliede ein ihm gleiches auch in der anderen 
ausfindig machen läßt; sondern dies wird mit Sicherheit 
erst dann gefolgert werden können, wenn beide Mengen 
gleiche BestimmungsgrQnde haben. In welche Un- 
gereimtheiten die Rechnung mit dem Unendlichen ver- 
wickle, wenn man dies übersieht, werden wir in der Folge 
aus manchem Beispiele ersehen. 

§ 25. 

Ich komme nun zu der Behauptung, daß es ein Unend- 
liches nicht bloß unter den Dingen, die keine Wirklichkeit 
haben, sondern auch auf dem Gebiete der Wirklich- 
keit selbst gäbe. Wer immer nur, es sei durch eine 
Reihe von Schlüssen aus reinen BegrifTs^ahrheiten, oder 
auf sonst eine andere Weise, zu der hochwichtigen Ober- 
zeugung gelangt ist, daß ein Gott .sei, ein Wesen, welches 
den Grund seines Seins in keinem anderen hat, und eben 
deshalb ein allvollkommenes ist, d. h. alle VoUkommen- 
heiten und Kräfte, welche nur nebeneinander vorhanden 
sein können, und jede derselben in jenem höchsten Grade, 
in welchem sie nur nebeneinander sein können, in sich 
vereinigt: der nimmt schon eben hiermit das Dasein eines 
Wesens an, welches in mehr als einem Betrachte, in seinem 
Wissen, in seinem Wollen, in seinem Wirken nach 
außen (in seiner Macht) Unendlichkeit hat, unendlich 
vieles (nämlich das All der Wahrheiten) weiß, unend- 
lich vieles (nämlich die Summe alles nur an sich möglichen 



36 Unendliches auf dem Gebiete der Wirklichkeit. 

Guten) will, und alles, was. es will, durch seine Kraft 
nach aufien zu wirken, in Wirklichkeit setzt. Aus dieser 
letzteren Eigenschaft Gottes ergibt sich die weitere Folge, 
daß es auch auQer ihm Wesen, nämlich geschaffene 
gibt, die wir im Gegensatz zu ihm nur endliche Wesen 
nennen; an denen sich aber dennoch manches Unendliche 
nachweisen läßt. Denn schon die Menge dieser Wesen 
muß eine unendliche sein; ingleicben die Menge der Zu- 
stände, die jedes einzelne dieser Wesen während einer 
auch noch so kurzen Zeit erfährt, muß (weil jede solche 
Zeit der Augenblicke unendlich viele enthält) unendlich 
groß sein usw. Auch auf dem Gebiete der Wirklichkeit 
begegnen wir also überall einer Unendlichkeit. 

§26. 

Doch dieses zuzugestehen, weigern sich selbst mehrere 
derjenigen Gelehrten, welche bei Dingen, die keine Wirk- 
lichkeit haben (wie bei den bloßen Sätzen und Wahrheiten 
an sich), ein Unendlichkeit nicht ableugnen zu können ein- 
sehen. Denn ein Unendliches sogar auf dem Gebiete der 
Wirklichkeit zuzulassen, das, meinen sie, werde durch den 
uralten Grundsatz, daß alles Wirkliche eine durch- 
gängige Bestimmtheit haben muß, verboten. Allein 
ich glaube, schon in der Wissenschaftslehre (Bd. I, §45) 
gezeigt zu haben, daß dieser Grundsatz in eben dem Sinne, 
in dem er von .allen wirklichen Dingen gilt, auch von 
den unwirklichen gelte. Oberall nämlich gilt er bloß in 
dem Sinne, daß jedem Gegenstande (jedem beliebigen Etwas) 
von je zwei widersprechenden Beschaffenheiten die eine 
zukomme, die andere abgesprochen werden müsse. Wäre 
es demnach gegründet, daß wir durch die Annahme einer 
Unendlichkeit bei Dingen, die Wirklichkeit haben, gegen 
diesen Grundsatz verstoßen: so dürften wir auch bei den 
unwirklichen Objekten unseres Nachdenkens von keiner 
Unendlichkeit sprechen, also nicht einmal eine unendliche 
Menge von Wahrheiten an sich oder von bloßen Zahlen 



Unendliches und durchgängige Bestimmtheit. " 37 



zulassen. Doch wir verstoßen gegen den angezogenen 
Grundsatz dadurch allein, daß wir etwas fOr unendlich er- 
klären, noch gar nicht. Wir sagen da nur, es gäbe an 
diesem Gegenstande in einem gewissen Betrachte eine Viel- 
heit von Teilen, die größer als jede beliebige Zahl ist; 
also wohl allerdings eine Vielheit, die sich durch eine 
bloße Zahl nicht bestimmen läßt. Daraus folgt aber 
noch gar nicht, daß diese Vielheit etwas auf keine Art 
zu Bestimmendes sei; folgt durchaus nicht, daß es auch 
nur ein einziges Paar einander kontradiktorisch entgegen- 
stehender Beschaffenheiten b und Nicht-Ä gäbe, deren beide 
ihr müßten abgesprochen werden. Was keine Farbe hat, 
z. B. ein Satz, das läßt sich freilich nicht durch die An- 
gabe seiner Farbe; was keinen Ton von sich gibt, nicht 
durch die Angabe seines Tones bestimmen usw. Aber 
deshalb sind dergleichen Dinge noch gar nicht unbestimm- 
bar und machen keine Ausnahme von jenem Grundsatze, 
daß von den beiden Prädikaten b oder Nicht-d (blau oder 
nicht-blau, wohllautend oder nicht-wohllautend usw.), wenn 
wir sie nur so auslegen, wie wir es müssen, damit sie 
kontradiktorisch bleiben, jedem Dinge eines derselben zu- 
kommt. Ganz in der gleichen Weiscj wie Nichtblau oder 
Nichtwohlriechend .eine Bestimmung (freilich nur eine sehr 
weite) des pythagoräischen Lehrsatzes ist, ist auch dje bloße 
Angabe, daß die Menge der Punkte zwischen m und n un- 
endlich sei, eine von den Bestimmungen dieser Menge. Und 
es bedarf oft gar nicht vieler Angaben, um eine dergleichen 
unendliche Menge von Dingen vollständig, d. h. so zu 
bestimmen, daß alle ihre Beschaffenheiten bloß aus den 
etlichen, die man soeben angab, schon von selbst folgen. 
So haben wir die soeben erwähnte unendliche Menge von 
Punkten zwischen m und n schon auf das vollkommenste 
bestimmt, sobald wir nur die zwei Punkte m und n selbst 
(etwa durch eine auf sie sich beziehende Anschauung) be- 
stimmen. Denn dann ist ja bloß durch jene wenigen Worte 
von jedem anderen Punkte schon genau entschieden, ob 
er zu dieser Menge gehöre oder nicht. 



38 Unendliche Zeitlängen, Entfernungen, Kräfte. 

§27. 

Durfte ich in dem Bisherigen so manche Annahme eines 
Unendlichen gegen ungerechte Bestreiter desselben ver- 
teidigen: so muß ich gegenwärtig mit gleicher Offenheit 
bekennen, daß viele Gelehrte, besonders aus der Klasse 
der Mathematiker, auf der entgegengesetzten Seite zu 
weit -gegangen sind; indem sie bald ein unendlich 
Großes, bald ein unendlich Kleines in Fällen an- 
genommen haben, wo meiner innersten Überzeugung nach 
keines besteht. 

1. Gegen die Annahme einer unendlich großen Zeit- 
länge, wenn man darunter eine Zeitlänge versteht, welche 
entweder keinen Anfang oder kein Ende oder gar weder 
das eine noch das andere hat (also die ganze Zeit oder 
der Inbegriff aller Zeitpunkte überhaupt ist), habe auch ich 
nichts einzuwenden: wohl aber finde ich es nötig, sich das 
Größenverhältnis, das eine zwischen zwei Zeitpunkten 
gelegene Entfernung oder" Zeiüänge zu jeder anderen 
zwischen zwei Zeitpunkten gelegenen Entfernung oder Zeit- 
länge hat, als ein bloß endliches, durch bloße Begriffe 
völlig bestimmbares Größenverhältnis zu denken, also nie 
eine durch Anfang und Ende begrenzte Zeitdauer als un- 
endlichemal größer oder kleiner denn eine andere der- 
gleichen Zeitdauer vorauszusetzen. Gerade dies aber tun 
bekanntlich gar viele Mathematiker, indem sie nicht nur 
von unendlich großen Zeiträumen, die gleichwohl von beiden 
Seiten begrenzt sein sollen, sondern noch öfterer von un- 
endlich kleinen Zeitteilen sprechen, im Vergleiche mit 
denen dann jede endliche Zeitlänge, z. B. einer Sekunde, 
schon eben darum als unendlich groß zugestanden werden 
müßte. 

2. Ein Ähnliches gilt von den Entfernungen zwi- 
schen je zweien Punkten im Räume, die meiner An- 
sicht nach immer in einem bloß endlichen (durch reine 
Begriffe völlig bestimmbaren) Verhältnisse zueinander stehen 
können, während nichts gewöhnlicher bei unseren Mathe- 



Unendliche Zeitlängen, Entfernungen, Kräfte. 39 



matikem ist, als von unendlich großen und unendlich 
kleinen Entfernungen zu reden. 

3. So ist es endlich auch mit den in der Metaphysik 
sowohl als Physik anzunehmenden Kräften im Weltall, 
deren keine wir als unendlichem al größer oder kleiner als 
eine andere, wohl aber alle in einem durch bloße Begriffe 
völlig bestimmbaren Verhältnisse zu jeder anderen voraus- 
setzen müssen; wie oft man sich auch das Gegenteil zu 
tun erlaubt. Die Gründe, aus denen ich dies alles be- 
haupte, werde ich hier allerdings niemandem ganz deutlich 
zu machen vermögen, der die Begriffe, welche ich mit den 
Worten: Anschauung und Begriff, Ableitbarkeit eines 
Satzes aus anderen, objektive Abfolge einer Wahrheit 
aus anderen Wahrheiten u. m. a. verbinde, endlich auch die 
Erklärungen von Zeit und Raum noch gar nicht kennt. 
Wer jedoch wenigstens die beiden Abhandlungen: „Ver- 
such einer objektiven Begründung der Lehre von 
der Zusammensetzung der Kräfte"*), und „Versuch 
einer objektiven Begründung der Lehre von den 
drei Dimensionen des Raumes'***) gelesen, dürfte 
nachstehenden Beweis- nicht völlig unverständlich finden. 

Aus den Erklärungen der Zeit und des Raumes ergibt 
sich unmittelbar, daß alle abhängigen (d. h. geschaffenen) 
Substanzen fortwährend in gegenseitiger Einwirkung auf- 
einander stehen; ingleichen, daß es verstattet sei, von je 
zwei Zeitpunkten a und ß, wie nahe oder ferne sie auch 
einander stehen mögen, den Zustand der Welt in dem 
früheren a als eine Ursache und den Zustand der Welt 
in dem späteren ß als eine (wenigstens mittelbare) Wirkung 
zu betrachten, sofern wir nur noch die in der Zwischen- 
zeit aß etwa stattgefundenen unmittelbaren Einwirkungen 
Gottes mit zu der Ursache rechnen. Hieraus folgt weiter, 
daß aus der Angabe der beiden Zeitpunkte a und /S, aus 
der Angabe der sämtlichen Kräfte, welche die geschaffenen 



*) Prag 1842. In Kommission bei Kronberger & Rziwnas. 
**) Prag 1843. J^ Kommission bei Kronberger & Rziwnas. 



40 Unendliche Zeitlängen, Entfernungen, Kräfte. 

Substanzen in dem Zeitpunkte a gehabt, aus der Angabe 
der Orte, wo eine jede sich befunden, endlich aus An- 
gabe der göttlichen Einwirkungen, welche die eine oder 
die andere jener Substanzen innerhalb aß erfuhr, — so- 
wohl die Kräfte, die eben diese Substanzen in dem Zeit- 
punkte ß erhielten, als auch die Orte, die ihnen zuteil 
wurden, in der Art ableitbar seien, wie eine Wirkung 
(gleichviel ob eine mittel- oder unmittelbare) aus ihrer voll- 
ständigen Ursache ableitbar sein muß. Dies nun wieder 
erheischt, daß alle Beschaffenheiten der Wirkung sich aus 
Beschaffenheiten ihrer Ursache ableiten lassen, vermittels 
eines aus lauter reinen Begriffen zusammengesetzten Ober- 
satzes von der Form: Jede Ursache von der Beschaffen- 
heit u, u', u" hat eine Wirkung von der Beschaffen- 
heit w, w', w" Eine leichte Folge hieraus, die wir 

gerade zu unserem Zwecke benötigen, ist: Jeder Umstand 
an der Ursache, der für die Wirkung nicht gleichgültig, 
d. h. der so geartet ist, daß die Wirkung nicht fortwährend 
gleich verbleibt, wie er auch immer sich ändere, muß sich 
durch bloße Begriffe, bei denen höchstens einige solche 
Anschauungen, welche auch zur Bestimmung der Wirkung 
erforderlich sind, zugrunde gelegt werden, vollständig be- 
stimmen lassen. 

Nach diesen Vorausschickungen nun sind unsere oben 
aufgestellten Behauptungen leicht zu begründen. Denn 
gäbe es 

I. auch nur zwei Zeitpunkte a und ß, deren Entfernung^ 
voneinander unendliche Male größer oder kleiner als die 
Entfernung zweier anderer y und d wäre: so würde hier- 
aus die Ungereimtheit hervorgehen, daß sich der Zustand 
der Welt, der in dem Zeitpunkte ß eintreten soll, schlechter- 
dings nicht bestimmen ließe aus jenem Zustande derselben, 
der in dem Zeitpunkte a stattfand, die in der Zwischenzeit 
eingetretenen göttlichen Einwirkungen sowohl als auch die 
Größe der Zeitlänge aß dazugerechnet. Auch zur Be- 
stimmung des Zustandes nämlich, in welchem sich die ge- 
schaffenen Wesen, ja nur die Größen ihrer Kräfte in 



Unendliche Zeitlängen, Entfernungen, Kräfte. 41 

* 

einem einzigen Zeitpunkte a befinden, ist die Zugrunde- 
legung einer eigenen Zeiteinheit nötig; denn weil diese 
Kräfte bloße Veränderungskräfte sind, so kann ihre 
Größe unmöglich anders als durch Berücksichtigung einer 
gegebenen Zeitlänge, innerhalb deren sie* eine gegebene 
Wirkung zustande bringen, beurteilt werden. Nehmen wir 
also (was uns vetrstattet sein muß) die Zeitlänge yd zu 
dieser Zeiteinheit an: so wird selbst in dem günstigsten 
Falle, wenn sich bei dieser Zeiteinheit alle Kräfte der ge- 
schaffenen Substanzen, wie sie im Zeitpunkte a bestehen, 
genau bestimmen ließen, und wenn auch alles andere, was 
zur vollständigen Ursache des in dem Zeitpunkte ß einge- 
tretenen Weltzustandes gehört, sich ganz genau bestimmen 
ließe, doch die Entfernung, in welcher dieser Zeitpunkt selbst 
von a steht, durch jene Zeiteinheit sich nicht bestimmen 
lassen, indem sie bloß als eine unendlich große oder un- 
endlich kleine sich herausstellt. Soll also umgekehrt 
verstattet sein, jeden beliebigen Zustand der Welt' (unter 
den schon mehrmal erwähnten Bedingungen) als Ursache 
von jedem beliebigen späteren zu betrachten: so darf es 
auch nicht zwei Zeitpunkte a und ß geben, deren Entfernung 
voneinander im Vergleiche zu der Entfernung, darin ein 
Paar andere y und d stehen, sich als unendlich groß oder 
klein herausstellen würde. 

2. Gäbe es auch nur zwei Punkte im Räume a und b, 
deren Entfernung voneinander sich im Vergleiche zu einem 
Paare anderer c und d unendlich groß oder klein erfände: 
so würde es zur Bestimmung des Zustandes der Welt in 
irgendeinem Zeitpunkte a unter anderem auch gehören, die 
Größe der Kraft (etwa der Anziehung oder der Abstoßung) 
zu bestimmen, welche die in jenem Zeitpunkte soeben in 
dem Orte a befindliche Substanz A auf die in dem Orte 
b befindliche B ausübt. Dies aber würde sich, wenn wir 
(wie jedenfalls erlaubt ist) die Entfernung c d zur Längen- 
einheit annehmen, selbst in dem günstigsten Falle, daß es 
bei allen übrigen Kräften gelänge, bei dieser einen Kraft 
als etwas Unmögliches erweisen. Denn wenn die Kraft 



42 Unendliche Zeitlängen, Entfernungen, Kräfte. 

der Anziehung oder Abstoßung, welche die Substanz A auf 
eine der B sonst völlig ähnliche Substanz -in zur^ Längen- 
einheit angenommener Entfernung (=cd) ausübt, auch 
eine ganz bestimmte Größe hätte: so wäre doch, und zwar 
gerade darum, 'weil diese Größe bestimmt ist, die Größe 
der Anziehung oder Abstoßung, mit welcher A auf B wirkt, 
unbestimmbar, wenn das Verhältnis der Entfernungen 
ab:cdy von welchem sie jedenfalls abhängt, unendlich 
und somit unbestimmt wäre. 

3. Gäbe es endlich auch nur eine einzige Kraft ^, die 
sich in ihrem Vergleiche mit einer anderen / als unendlich 
groß oder klein darböte: so würde, wenn wir den Zeit- 
punkt, wo dieses Verhältnis statt hat, durch a bezeichnen, 
für diesen Zeitpunkt selbst in dem günstigsten Falle, daß 
alle übrigen Kräfte bei den zu ihrem Maße gewählten Zeit- 
und Raumeinheiten sich als endlich erwiesen hätten, wo 
denn somit auch / eine endliche Größe wäre, die Größe k 
sich eben darum als eine unendlich große oder kleine, d. h. 

als unbestimmbar herausstellen. Hierdurch aber würde der 

« 

ganze Weltzustand im Zeitpunkte a als unbestimmbar er- 
scheinen, somit die Unmöglichkeit der Ableitung irgend- 
eines späteren Weltzustandes, als einer durch ihn hervor- 
gebrachten Wirkung, eintreten. 

§28. 

In dem vorstehenden glaube ich nun die Grundregeln 
festgestellt zu haben, nach denen sich alle befremdend 
klingende Lehren, die wir noch in der Folge aufzuführen 
haben, beurteilen lassen und entschieden werden muß, ob 
sie als Irrtümer aufgegeben oder als Sätze, die trotz ihrem 
Anscheine der Widersinnigkeit doch Wahrheiten sind, bei- 
behalten werden müssen. Die Ordnung, in der wir diese 
Paradoxa vorführen, mag das wissenschaftliche Gebiet, 
welchem sie angehören, und ihre eigene größere oder 
geringere Wichtigkeit bestimmen. 

Die erste und umfassendste Wissenschaft, auf deren 



Rechnung des Unendlichen. 43 

Gebiete uns Paradoxien des Unendlichen begegnen, ist — 
wie uns schon einige Beispiele zeigten — die allgemeine 
Größenlehre, wo es an solchen selbst in der Zahlen - 
lehre nicht fehlt. Mit diesen wollen wir also beginnen. 
Schon der^ Begriff einer Rechnung des Unend- 
lichen hat, ich gestehe es, den Anschein, einen Selbst- 
widerspruch zu enthalten. Denn etwas berechnen wollen, 
heißt doch, eine Bestimmung desselben durch Zahlen 
versuchen. Wie aber will man das Unendliche durch Zahlen 
zu bestimmen versuchen — jenes Unendliche, das unserer 
eigenen Erklärung nach stets etwas Solches sein muß, das 
wir als eine aus unendlich vielen Teilen bestehende Menge, 
d. h. als eine Menge betrachten, die größer als eine jede 
Zahl isf, die sonach unmöglich durch die Angabe einer 
bloßen Zahl bestimmt werden kann? — Doch diese Be- 
denklichkeit verschwindet, wenn wir erwägen, daß eine 
regelrecht vorgehende Rechnung des Unendlichen nicht 
eine Berechnung, was eben an ihm durch keine Zahl be- 
stimmbar ist, nämlich nicht die Berechnung der unendlichen 
Vielheit an sich, sondern nur eine Bestimmung des Ver- 
hältnisses zwischen dem einen und dem anderen Unend- 
lichen bezwecke; eine Sache, die in gewissen Fällen aller- 
dings ausführbar ist, wie wir durch mehrere Beispiele zeigen 
wollen. 

§ 29. 

Wer zugesteht, daß es unendliche Vielheiten und somit 
auch unendliche Größen überhaupt gäbe, der kann auch 
nicht mehr in Abrede stellen, daß es unendliche Größen 
gäbe, die sich durch ihre Größe (Großheit) selbst gar 
mannigfach unterscheiden. Wenn wir z. B. die Reihe der 
natürlichen Zahlen durch 

1 , 2, 3, 4, n, n -f- 1, . . . in inf. 

darstellen: so wird die Zeichnung 

i-j_2-j-3-|-4-j- -|-n-|-(n-|- i)~|-. . . r. in inf. 



44 Rechnung mit unendlich Großem. 



die Summe dieser natQrlicben Zahlen; folgende Zeichnung 
aber 

iO_|.30^30_^40^...n«+(n+i)ö+...ininf. 

in welcher die einzelnen Addendi i®, 2^, 3® • • • insgesamt 
bloße Einheiten vorstellen, die bloße Men«ge aller natür- 

o 

liehen Zahlen darbieten. Bezeichnen wir diese durch N, 
und bilden wir also die bloß symbolische Gleichung 

10 + 20-1-3^+ + nO+(n4-i)o+...ininf. = N...(i), 

und bezeichnen wir ebenso die Menge der natürlichen Zahlen 

n 

von (n-|-i) durch N, und bilden somit die Gleichung 

(n+ i)0-j-.(n + 2)0-f (n+3)«+ . . .in inf. = N .'. . . (2): 

so erhalten wir durch Abzug die gewiß ganz untadehafte 
Gleichung 

i0^20 + 30 + ... + nO = n = N — N....(3), 

I • o 

aus der wir also ersehen, wie zwei unendliche Größen N 

n 

und N zuweilen einen ganz bestimmten endlichen Unter- 
schied haben. 

Bezeichnen wir dagegen die Größe, welche die Summe 

o 

aller natürlichen Zahlen darbietet, durch S, oder setzen die 
bloß symbolische Gleichung 

o 

i+2 + 3-f -f-n-f-(n+i)4- ... ininf. = S (4) 

o 

an: so werden wir wohl auf der Stelle begreifen, daß S 

o 

weit größer sein müsse als N; aber nicht ebenso leicht 
wird es uns gelingen, den Unterschied zwischen diesen 
beiden unendlichen Größen oder auch ihr (geometrisches) 
Verhältnis zueinander auf eine genaue Art zu bestimmen. 
Denn wollten wir, wie es wohl manche getan, die Gleichung 

|^ N-(N+.i) 



Rechnung mit unendlich Grofiem. 45 

'S 

aufstellen: so hätten wir zu ihrer Rechtfertigung kaum 
einen anderen Grund, als weil* bei jeder endlichen Menge 
von Gliedern die Gleichung: 

, , n.(n4-i) 

besteht, woraus zu folgen scheint, daß bei der ganzen un- 

o 

endlichen Menge der Zahlen nur n in N übergehe. Allein 
so ist es in der Tat nicht; weil es ja ungereimt ist, bei 
einer unendlichen Reihe von einem letzten Gliede derselben, 

o 

das den Wert N hätte, zu reden. 

Die bloß symbolische Gleichung (4) inzwischen zugrunde 
gelegt, wird allerdings erlaubt sein, durch sukzessive Mul- 

o 

tiplikation beider Glieder mit N auch folgende Gleichungen 
abzuleiten: 

lO.N-f 20.N + 30.N-f...ininf. = (N)2 

lO. (N) 2 + 20. (N)2+30.(N)2_J>. . .in inf.=(N)3 usw. 

wodurch wir uns überzeugen, daß es auch unendliche Größen 
von sogenannten höheren Ordnungen gäbe, deren die 
eine die andere unendlichemal übertrifft. Daß es aber auch 
unendliche Größen gibt, die jedes beliebige rationelle so- 
wohl als irrationelle Verhältnisse a : ß zueinander haben, 

o 

folgt ja schon daraus, weil, sofern N nur irgendeine sich 

o 

immer gleichbleibende unendliche Größe bezeichnet, a • N 

o 

und ß • N ein Paar gleichfalls unendliche Größen sind, die 
sich wie a:ß verhalten. 

Nicht minder einleuchtend wird man es wohl auch finden, 
daß die ganze Menge, (Vielheit) von Größen, die zwischen 
zwei gegebenen, z. B. 7 und 8, liegen, ob sie gleich eine 
unendliche ist, und somit durch keine auch noch so 
große Zahl bestimmt werden kann, doch lediglich nur von 
der Größe des Abstandes jener zwei Grenzgrößen vonein- 



46 Rechnung mit unendlich Kleinem. 

ander, d. h. von der Größe 8 — 7 abhänge und somit eine 
gleiche sein müsse, so oft hur dieser Abstand gleich ist. 
Dieses vorausgesetzt, wird es, wenn wir die Menge aller 
zwischen a und b liegenden Größen durch 

Mult. (b — a) 

bezeichnen, unzählige Gleichungen von folgender Form 
geben: 

Mult. (8 — 7) = Mult. (13 — 12); 

ingleichen auch von der Form ^ 

Mult. (b — a) : Mult. (d — c) = b — a:d — c, 

gegen deren Richtigkeit sich nichts Stichhaltiges einwenden 
läßt. 

§ 30. 

Und wie nun schon diese wenigen Beispiele genügend 
dartun, daß eine Rechnung mit unendlich Großem 
bestehe, so auch besteht eine mit dem unendlich Kleinen. 

o 

Denn ist N unendlich groß, so stellt ja 

I 

N 

notwendig eine Größe vor, die unendlich klein ist, und wir 
werden wenigstens in der allgemeinen Größenlehre keinen 
Grund haben, eine solche Vorstellung für durchaus gegen- 
standlos zu erklären. Denn um ein einziges Beispiel zu 
geben, wenn man die Frage aufwirft, welche Wahrschein- 
lichkeit es hat, daß jemand, der eine Kugel auf das Gerate- 
wohl abschießt, sie dergestalt abschießen werde, daß ihr 
Mittelpunkt auf seinem Wege genau durch den Mittelpunkt 
jenes auf diesem Baume hängenden Apfels hindurchgehen 
werde: so muß jeder zugestehen, daß die Menge aller hier 
möglichen Fälle von einer gleichen oder noch geringeren 
Wahrscheinlichkeit unendlich sei, woraus denn folgt, daß 
der Grad jener Wahrscheinlichkeit eine Größe habe = oder 



Rechnung mit unendlich Kleinem. 47 

<^ irgendein — . Hiermit ist aber auch schon erwiesen, daß 

wir der unendlich kleinen Größen unendlich viele habeii, 
deren die eine zur anderen jedes beliebige Verhältnis haben, 
namentlich auch unendlichemal größer sein kann; daher 
denn auch unendlich viele Ordnungen wie unter den un- 
endlich großen, so eben unter den unendlich kleinen Größen 
bestehen; und es wird unter Beobachtung gewisser Regeln 
allerdings möglich sein^ gar manche richtige Gleichungen 
zwischen Größen von dieser Art zu finden. 

Ist es z. B. erst entschieden, daß der Wert einer ver- 
änderlichen Größe y von einer -anderen x in der Art ab- 
hänge, daß zwischen beiden fortwährend die Gleichung 
besteht : 

y = X* -f- ax^ ~|- b x^ -|- ex -|- d 

und verträgt es sich mit der- Natur jener besonderen Gat- 
tung von Größen, welche hier x und y bezeichnen, daß sie 
auch unendlich klein werden, also auch unendlich kleine 
Zuwächse annehmen können: so muß, wenn wir x um 
einen durch dx bezeichneten unendlich kleinen Teil zu- 
nehmen lassen und die Veränderung, welche dann^ erfährt, 
durch dy bezeichnen, notwendig auch folgende Gleichung 
bestehen: 

y-4-dy = (x-f dx)*-f a(x-|-dx)3-f b(x + dx)2 

+ c(x + dx)-fd, 

aus der unwidersprechlich auch die nachstehende fließt: 



d>x 



(4x3 -|_ ßax^ -|- 2bx -[- c) -|~ (6x2 _|_ ^ax -j- b) dx 

■ +(4x-f-a)dx» + dx8, 



die das Verhältnis der beiden unendlich kleinen Größen als 
ein nicht nur von a, A, c und x^ sondern auch von dem 
Werte der Veränderlichen dx selbst abhängiges darstellt. 



48 Falsche Rechnungen mit Unendlichem. 

§ 31- 

Allein die meisten Mathematiker, welche sich an die 
Rechnung mit dem Unendlichen gewagt, gingen viel weiter, 
als es nach den hier aufgestellten Grundsätzen geschehen 
darf. Nicht nur erlaubten sie sich ohne Bedenken bald 
ein unendlich Großes, bald ein unendlich Kleines bei Größen 
vorauszusetzen, die ihrer Natur nach eines solchen unfähig 
sind (wovon erst in der Folge Beispiele angeführt werden 
sollen): sondern sie nahmen sich auch heraus, Größen, 
welche aus der Summierung einer unendlichen Reihe her- 
vorgehen, einander bald gleichzusetzen, bald wieder die 
eine als größer oder kleiner denn die andere zu erklären, 
bloß weil in beiden sich Glieder, welche in einem solchen 
Verhältnisse der Gleichheit oder Ungleichheit stehen, paar- 
weise aufweisen lassen, obwohl ihre Mengen offenbar un- 
gleich waren; sie wagten es, auszusprechen, daß nicht nur 
jede unendlich kleine Größe in der Summterung mit einer 
endlichen, oder auch jede von einer höheren Ordnung 
neben einer von niederer Ordnung, sondern auch jede 
unendlich große Größe von niederer Ordnung in der 
Summierung neben einer von höherer Ordnung gleich 
einer blqßen Null verschwinde; sie verfielen, um ihre 
auf diesen Satz gestützte Rechnungsmethode nur einiger- 
maßen zu rechtfertigen, auf die Behauptung, daß es er- 
laubt sei, auch eine bloße Null als Divisor zu betrachten, 
und daß^der Quotient 



im Grunde nichts anderes als eine unendlich große 

Größe, der Quotient — aber eine ganz unbestimmte 

o 

Größe bezeichne. Wir müssen nachweisen, wie falsch 
und irreführend diese Begriffe sind, weil sie auch heutzu- 
tage noch mehr oder weniger im Schwange sind. 



Falsche Rechnungen mit Unendlichem. 49 

Erst noch 1830 versuchte in Gergonnes Annales de 
Mathematique (T. 20, Nr. 12) ein mit M, R, S. Unterzeichneter 
zu beweisen, daß die bekannte unendliche Reihe 

a— a-j-a — a-)-a — a~f- in inf . 

den Wert — habe ; indem er, diesen Wert = x gesetzt, 

2 

schließen zu dürfen glaubte, daß 

x = a — a-j-a — a-|-...in inf. = a — (a — a-(-a — a 

-|- ... in inf.) 

und die in den Klammern eingeschlossene Reihe identisch 
mit der zu berechnenden, somit abermals = jt: zu setzen sei, 
welches denn 

x = a — X 

und somit x = — gibt. 

2 

Der Fehlschluß liegt hier nicht tief verborgen. Die Reihe 
in den Klammem hat offenbar nicht mehr dieselbe Glieder- 
menge, wie die zuerst =^x gesetzte; sondern ihr fehlt das 
erste a. Ihr Wert hätte also, falls er überhaupt angeblich 
wäre, durch x — a bezeichnet werden müssen; was aber 
die identisehe Gleichung 

x = a-|-x — a 
gegeben hätte. 

„Aber eben darin", dürfte man sagen, „liegt etwas Para- 
doxes, daß diese Reihe, die doch gewiß nicht unendlich 
groß ist, keinen genau bestimmbaren, meßbaren Wert haben 
sollte, zumal da sie durch eine in das Unendliche fort- 
gesetzte Division von 2 = i -{- i in a hervorgehe ; ein Ur- 
sprung, der ganz für die Richtigkeit der Voraussetzung 

spricht, daß ihr wahrer Wert doch nur -— sei.** 

2 

9olzano, Paradosden des Unendlichen. ^ 



50 Falsche Rechnungen mit Unendlichem. 

löh erinnere, es sei' doch eine an sich nicht unbegreif- 
liche Sache, daß^ es auch Größenausdrücke gäbe, die 
keine wirkliche. Größe bezeichnen, wie wir denn schon 
die Null selbst als einen solchen allgemein anerkennen und 
anerkennen müssen. 

Eine Reihe insonderheit, wenn wir erklären, sie nur 
als eine Größe, nämlich nur als die Summe ihrer Glieder 
betrachten zu wollen, muß kraft des Begriffes einer Summe 
(die zu den Mengen, d. h. zu denjenigen Inbegriffen gehört, 
bei denen auf keine Ordnung ihrer Teile geachtet werden 
soll) von einer solchen Beschaffenheit sein, daß sie keine 
Veränderung in ihrem Werte erfährt — welche Veränderung 
wir auch in der Aufeinanderfolge ihrer Glieder vornehmen 
mögen. Bei Größen muß namentlich sein: 

(A-fB)+C = A + (B + C) = (A + C)-f B. 

Dies Merkmal nun bietet uns einen klaren Beweis dar, 
daß die hier' in Rede stehende Zeichnung: 

a — a-|-a — a-j-a — a-(-...in inf . 

kein Ausdruck einer wirklichen Größe sei Denn sicher 
würden wir an der hier vorgestellten Größe, falls eine 
vorgestellt würde, nichts ändern, wenn wir jene Zeichnung 
so abänderten: 

(i) (a — a) -j- (a — a) -|- (a — a) -j- in inf. ; 

weil hier nichts anderes geschah, als daß je zwei unmittel- 
bar einander folgende Glieder in eine Teilsumme vereinigt 
wurden: was gewiß möglich sein muß, weil die gegebene 
Reihe wirklich kein letztes Glied haben soll. Dadurch 
erhalten wir aber 

o-|-o-|-o-|- in inf., 

was offenbar nur «=o ist. 

Ebensowenig kann jedoch an der Größe, die jener Aus- J 

druck vorstellt, falls er in Wirklichkeit eine vorstellt, sich 
etwas ändern, wenn wir ihn so umformen: 



Falsche Rechnungen mit Unendlichem. 51 

(2) a + (— a + a)-h(— a-f a) + (— 'a + a) + ....ininf. 

wo wir, mit Übergebung des ersten, je zwei der folgenden 
Glieder in eine Teilsumme verbinden, oder auch so: 

(3) — a-f(a— a) + (a — a) + (a — a)-f in inf . 

• 

was man aus (i) erhält, wenn man die Glieder in jedem 
Paare versetzt, und mit dem so gewonnenen Ausdrucke 
dann dieselbe Veränderung vornimmt, durch welche (2) aus 
(i) hervorging. Wäre somit der gegebene Größenausdruck 
nicht gegenstandslos, so müßten die Ausdrücke (i), 
(2) und (3) alle dieselbe Größe bezeichnen; weil doch ein- 
leuchtend ist, daß die Vorstellung einer Summe von einer 
und derselben Menge von Größen nicht mehrere vonein- 
ander verschiedene Größen vorstellen kann, wie es z.B. 

, ' I 

wohl bei den Vorstellungen y-j- i, arc. Sin. = — u. a. m. der 

Fall ist. Allein die hier vorliegende Größen Vorstellung : 

I — i"[-i — ^"l~^ — ^ ^ ^^^* 

müßte, wenn sie nicht durchaus gegenstandslos ist, mit 
demselben Rechte, mit dem wir sie etwa der Null gleich- 
setzen wollten (die man in uneigentlichem Sinne freilich 
auch eine Größe zu nennen pflegt), auch =-j-a und auch 
= — a gesetzt werden; was durchaus ungereimt ist, und 
uns somit zu dem Schlüsse berechtigt, daß wir hier eine 
schlechterdings gegenstandslose Vorstellung vor uns haben. 
Daß die besprochene Reihe durch eine;' in das Unend- 
liche fortgesetzte Division von 2 = i -[- 1 in a zum Vor- 
schein komme, ist wahr; aber alle Reihen, welche auf eine 
solche Art zum Vorschein kommen, können begreiflicher- 
weise gerade darum, weil jene Division stets einen Rest 
(hier abwechselnd bald — a bald -\- a) zurückläßt, den wahren 

Wert des Quotienten (hier — j höchsten^ nur dann angeben, 

wenn die durch fernere Division hervortretenden Reste 

4* 



52 Falsche Rechnungen mit Unendlichem. 



kleiner als jede auch moch so kleine Größe werden; wie 
dieser Fall bei der § i8 betrachteten Reihe ^a-f-ae-f-ae"^ 
-f- ... in inf., welche durch Division von i — e in a erzeugt 
wird, stattfindet, so oft e <] i ist. Wenn aber, wie in dem 
vorliegenden Falle, e = i, oder wenn gar e > i ist, wo die 
Reste somit nur um so höher steigen, je weiter das Ge- 
schäft des Dividierens fortgesetzt wird, ist nichts begreif- 

a 
Hoher, als daß der Wert der Reihe dem Quotienten -. — 

nicht gleichgestellt werden könne. Oder wie sollte z. B. 
die Reihe mit abwechselnden Vorzeichen: 

I — lo -|- loo — looo -|- loooo — looooo -|~ . . . in inf., 

welche durch eine in das Unendliche fortgesetzte Division 
von I -f- lo in I entsteht, = — gesetzt werden dürfen? Wer» 

' V ' II 

vollends wollte die aus lauter positiven Gliedern zusammen- 
gesetzte Reihe 

I -j- lo -}- loo -|- looo -j- ... in inf. 
dem negativen Werte — — gleichschätzen, bloß weil 



9 I — lo 

durch Entwicklung auf diese Reihe leitet? Gleichwohl nimmt 
solche Summierungen der vorhin erwähnte M, R, S, noch 
immer in Schutz, und will z. B. die Richtigkeit der Gleichung 

I — 2-|-4 — 8-|-i6 — 32-|-64 — i28-|-...in inf. = — 
nur aus dem Grunde erweisen, weil ja doch 
x=i — 2-J-4 — 8-J-16 — 32 -[-64 — ... 

= 1 — 2(1 2-f-4 84-16 — 32-|-...)=I — 2X 

Wäre; wobei abermal übersehen* ist, daß die in den Klam- 
mem tathaltene Reihe gar nicht die nämliche mit der ur- 
sprünglich angenommenen sei, weil sie nicht mehr die 



Falsche, Rechnungen mit Unendlichem. 53 

« 

nämliche Menge der Glieder hat. Daß auch dieser Größen- 
ausdruck gegenstandslos sei, erhellt auf ähnliche Art, wie 
bei dem früher betrachteten, weil er zu widersprechenden 
Ergebnissen führt. Denn einerseits müßte sein: 

I — 2-|-4 — 8-|-i6 — 32 -(-64 — ... 

= i+(-2 + 4) + (-8+i6)-H(- 32 + 64) + ... 

= i-(-2-{-8-j-32-|-64-f---- 

andererseits ebenso gewiß: 

= (i-2) + (4-8) + (i6 — 32) + (64 — 128) + ... 

= — I — 4 — 16 — 64 — ... 

'\ 

so daß sich also durch einen doppelten berechtigten Vor- 
gang einmal ein unendlich großer positiver, das andere Mal 
ein unendlich großer negativer Wert desselben Ausdruckes 
ergäbe. 

§ 33. 

Wollen wir also in unseren Rechnungen mit dem Un- 
endlichen nicht auf Irrwege geraten: so dürfen wir nie uns 
erlauben, zwei unendlich große Größen, die aus Summie- 
rung der Glieder zweier unendlicl^er Reihen entstanden 
sind, schon darum für gleich, oder die eine für größer 
oder kleiner als die andere zu erklären, weil je ein Glied 
in der einen je einem in der anderen Reihe entweder gleich 
oder größer oder kleiner als das der letzteren ist. Wir 
dürfen ebensowenig die eine Summe für die größere er- 
klären, bloß weil sie die sämtlichen Glieder der anderen 
und nebstdem noch gar viele, sogar unendlich viele Glieder 
(die alle positiv sind) in sich schließt, welche der anderen 
fehlen. Denn auch bei alledem kann sie noch kleiner, ja 
unendlichemal kleiner sein als diese. Ein Beispiel liefert 
uns die sehr bekannte Summe der Quadrate aller natür- 
lichen Zahlen, verglichen mit der Summe der ersten Po- 
tenzen dieser Zahlen. Gewiß kann niemand in Abrede 
stellen, daß jedes Glied der Reihe aller Quadrate 



54 Falsche Rechnungen mit Unendlichem. 



-}-... in Inf. = 



1 + 4 + 9+16 + 25 + 36 + 49 + 64 



81 -|- 100 
— . . . in inf. = 



2 



weil es ja gleichfalls eine natürliche Zahl ist, auch in der 
Reihe aller ersten Potenzen der natürlichen Zahlen 

1+2 + 3 + 4 + 5 + 6+ 7 + 8 + 9+ 10 + 11 + 12 

I 

-}- 13 + 14 + 15 + 16 ... in inf. = S 

I 

erscheine; ingleichen daß in der letzteren Reihe S nebst 

allen Gliedern der S noch gar viele (ja unendlich viele) 

Glieder erscheinen, die in der Reihe S fehlen, weil sie nicht 

eben Quadrat:;ahlen sind. Gleichwohl ist S', die Summe 

aller Quadratzahlen, nicht etwa kleiner, sondern unstreitig 

I 
größer als S, die Summe der ersten Potenzen aller Zahlen. 

Denn erstlich ist, trotz allem Anscheine des Gegenteils, die 
Gliedermenge in beiden (noch nicht als Summe betrach- 
teten und somit nicht in beliebige Mengen von Teilen zer- 
legbaren) Reihen gewiß dieselbe. Dadurch, daß wir jedes 

I a 

einzelne Glied der Reihe S in der S auf das Quadrat er- 
heben, ändern wir bloß die Beschaffenheit (die Größe) dieser 
Glieder, nicht ihre Vielheit. Ist aber die Menge der Glieder 

I a a 

in S und S dieselbe: so liegt am Tage, daß S viel größer 

I 

als S sein müsse, indem, mit Ausnahme des ersten Gliedes, 

a 

jedes der übrigen in S entschieden größer als das gleich- 
I 9 

vielste in S ist; so zwar, daß S als Größe betrachtet das 

z 

ganze S als einen Teil in sich faßt, und noch einen zweiten 
Teil hat; der für sich selbst abermals eine unendliche Reihe 

z 

von gleicher Gliederzahl mit S darbietet, nämlich: 
o, 2, 6, 12, 20, 30, 42, 56 ... n (n — i) ... in inf., 



J 



Die Null. 5^ 



darin, mit Ausnahme der zwei ersten, alle folgenden Glieder 

I 

größer als die gleichvielsten in S sind, so daß die Summe 

I 

der ganzen Reihe unstreitig abermals größer als S ist. 

I 

Ziehen wir daher von diesem Reste die Reihe S zum zweiten- 
mal ab; so erhalten wir als zweiten Rest eine Reihe von 
derselben Gliedermenge 

— I, o, 3, 8, 15, 24, 35, 48 . . . n (n — 2) . . in inf. 

darin, mit Ausschluß der drei ersten Glieder, abermals alle 

I 

folgenden größer als die gleichvielsten in S sind; so daß 

auch dieser dritte Rest ohne Widerspruch größer als S zu 
schätzen ist. Da sich nun diese Schlüsse ohne Ende fort- 

setzen lassen, so erhellt, daß die Summe S unendlichemal 

I 
größer sei als die Summe S; indem wir allgemein 

S — mS = (i— m) + (22 — 2m) + (32 — 3m) + (42 — 4m) 

-|- . . . (m2 — m2) -|- . . . -^ n (n — m) -[- • • in inf. 

haben, in welcher Reihe nur eine endliche Menge von Glie- 
dern, nämlich nur die m — i ersten negativ, das m**" — o, 
alle folgenden aber positiv sind und ins Unendliche wachsen. 

§ 34. 

Ehe wir die Unrichtigkeit der übrigen, schon in § 31 
erwähnten Behauptungen in das gehörige Licht stellen 
können, müssen wir den Begriff der Null etwas genauer, 
als man gewöhnlich tut, bestimmen*). 



*) Sehr gern räume ich Herrn M. Ohm das Verdienst ein, in 
seinem sehr schätzbaren „Versuche eines vollkommen kon- 
sequenten Systems der Mathematik'* (2. Aufl. Berlin 1828) 
der erste gewesen zu sein, der auf die Schwierigkeiten in dem 
Begriffe der Null das mathematische Publikum aufmerksam ge- 
macht hat. 



56 Die Null. 



Unstreitig wollen alle Mathematiker mit dem Zeichen o 
nur einen solchen Begriff verbunden wissen, daß es, A sei 
was immer für ein Größenausdruck, unentschieden ob einer 
wirklichen Größe entsprechend, oder ganz gegenstandslos, 
erlaubt bleibe, die beiden Gleichungen 

I. A — A = o, ^ IL A + o = A 

zu schreiben. Hier wird nun jeder zugestehen, daß dieses 
nur verstattet sein könne, wenn wir das Zeichen o selbst 
nicht als die Vorstellung einer wirklichen Größe, sondern 
als bloße Abwesenheit einer Größe und die Zeichnung A + o 
als eine Forderung betrachten, zu der etwaigen Größe, die 
A bezeichnet, in Wahrheit weder etwas zusetzen noch 
abziehen zu wollen. Irrig )väre es aber zu glauben, daß 
schon die bloße Erklärung, daß Null eine gegenstandslose 
Größenvorstellung sei, zur vollständigen Bestimmung des 
Begriffes, den Mathematiker mit diesem Zeichen verbinden, 
hinreiche. Denn offenbar gibt es noch andere in der Mathe- 
matik übliche Größenbezeichnungen, wie namenüich das in 
der Analysis so ungemein wichtig gewordene Zeichen y — i, 
die gleichfalls gegenstandslos sind, die wir desungeachtet 
nicht als gleichgeltend mit o ansehen und behandeln dürfen. 
Bestimmen wir aber die Bedeutung des Zeichens o genauer 
durch die Erklärung: es solle so aufgefaßt werden, daß die 
zwei Gleichungen I und II allgemein gelten: so stellen wir 
einen Begriff auf, der einerseits völlig so weit ist, als der 
bisherige Gebrauch und das Interesse der Wissenschaft es 
fordert, und andererseits doch auch enge genug ist, upi 
jeden Mißbrauch desselben zu verhindern. 

Es ist aber, näher betrachtet, nicht bloß der Begriff der 
Null, der durch die festgesetzte Allgemeingültigkeit der 
beiden Gleichungen I und II auf eine eigene Weise be- 
stimmt wird, sondern es erfahren auch die Begriffe des 
Addierens und des Subtrahierens, welche hier unter 
den Zeichen -f- und — auftreten, durch die Festsetzung 
dieser Gleichungen eine eigentümliche Erweiterung, die sehr 
zum Vorteile der Wissenschaft gereicht. 



Division mit Null. 57 



Derselbe Vorteil der Wissenschaft verlangt noch über- 
dies, man möge auch den Begriff der Multiplikation so 
weit auffassen, daß sich, was auch A sei (ob eine endliche 
oder unendUch große oder unendlich kleine Größe, oder 
auch eine bloße gegenstandslose Größenvorstellung wie 
y — I oder o) die Gleichung 

m. oXA = AXo = o 

ansetzen lasse. 

Endlich müssen wir auch im Interesse der Wissenschaft 
fordern, man möge auch den Begriff der Division so all- 
gemein fassen, als es nur möglich ist, um nicht mit einer 
der drei schon aufgestellten Gleichungen in Widerspruch 
zu geraten, also au(h in der Gleichung 



(4) 



IV. Bxi;^)=mxB=A 

dem Zeichen B einen so weiten Umfang zu geben, als es 
nur jene drei Gleichungen in der ihnen schon zugestandenen 
Allgemeinheit erlauben. Diese erlauben nun immerhin, daß 
B jede beliebige endliche sowohl als unendlich große oder 
unendlich kleine wirkliche Größe, auch wohl die imaginäre 
y — I bezeichne; schlechterdings aber nicht, daß B = o 
gesetzt werde, d. h. daß wir die Null oder irgendeinen der 
Null gleichgeltenden Ausdruck jemals als einen Divisor 
anwenden. Denn da nach III 0(^ = sein muß, was 
immer A sei; so müßte, wenn wir in IV B = o setzten, 

auch bI-^j = o sein, welches mit der in IV geforderten 

Gleichung B i — j = A nur in dem einzigen Falle, wenn auch 

A = o wäre. Obereinstimmen würde. Wir müssen also, um 
nicht in Widersprüche zu geraten, die Regel festsetzen, 
daß man die Null oder einen der Null gleichgelten- 
den Ausdruck nie als Divisor anwenden dürfe in 
einer Gleichung, welche noch etwas anderes als 
eine bloß identische sein soll, wie etwa 



' 58 Division mit Null. 



A A 
o o 

Dafi die Beobachtung dieser Regel durchaus notwendig sei, 
beweisen nebst dem soeben Gesagten gar viele höchst un- 
gereimte Folgerungen, die sich aus völlig richtigen Vorder- 
sätzen ergeben, sobald wir uns Divisionen mit Null erlauben. 
Sei a was immer für eine reelle Größe: so stellt sich, 
wenn das Dividieren durch einen der Null gleichgeltenden 
Ausdruck, z. B. i — i, erlaubt sein soll, nach der bekannten, 
gewiß ganz regelrechten Divisfonsmethode folgende Glei- 
chung dar: 

--^ = a + a+ + a-l7--^ 



wo der Summanden von der Form a jede beliebige Anzahl 

auftreten kann. Ziehen wir nun zu beiden Seiten den 

a 

gleichen Größenausdruck ab : so ergibt sich die höchst 

I — I 

ungereimte Gleichung: 

a -|~ a -|- . . . -|- a = d. 

Sind a und b ein Paar verschiedene Größen: so gelten 
die zwei identischen Gleichungen: 

a — b = a — b 

b — a = b — 2i, Also durch Addition auch 

a-^a = b — b oder 
a(i — i) = b(i — i) 

Ist es nun erlaubt, die beiden Glieder einer Gleichung 
durch einen der Null gleichgeltenden Faktor zu dividieren, 
so erhalten wir das ungereimte Ergebnis a = Ä, was immer 
a und b sein mögen. Doch es ist allgemein bekannt, daß 
man nur allzu leicht bei größeren Rechnungen auf ein un- 
richtiges Ergebnis stößt, wenn man einen gemeinschaftlichen 
Faktor aus beiden Gliedern der Gleichung entfernt, ohne 
sich erst Oberzeugt zu haben, daß er nicht Null sei. 



. * 



Vernachlässigang von unendlich Kleinen. 59 

§ 35- 

Es wird nun leicht sein zu zeigen, wie unrichtig die 
von so manchen aufgestellte Behauptung sei, dafi nicht nur 
eine unendlich kleine Größe von höherer Ordnung in der 
Verbindung . durch Addition oder Subtraktion mit einer 
anderen von niederer Ordnung oder mit einer endlichen, 
sondern auch jede endliche, ja selbst unendlich große von 
jeder beliebig hohen Ordnung in ihrer Verbindung durch 
Addition oder Subtraktion mit einer anderen unendlich 
großen von höherer Ordnung gleich einer bloßen Null 
verschwinde. Soll dies nun so verstanden werden — 
und in dem gewöhnlichen Vortrage, der noch etwas un- 
vorsichtiger als die soeben gebrauchten Ausdrücke lautet, 
warnt man vor einer solchen Mißdeutung nicht — soll dieses, 
sage ich, so ausgelegt werden, daß man aus dem Komplexe 
der beiden Größen M + m, deren die erste unendlichemal 
größer ist als die zweite, diese schlechterdings weglassen 
dürfe, auch wenn in dem Verfolge der Rechnung die Größe M 
vielleicht selbst (etwa durch Abzug einer ihr gleichen) weg- 
fällt: dann brauche ich die Irrigkeit dieser Regel nicht erst 
zu beweisen. 

Doch man wird sagen: So sei es nicht gemeint. Wenn 
man die Größen M und M + m für gleich erkläre, so meine 
man nicht, daß sie ein gleiches Resultat gewähren, wenn 
sie in fortgesetzter Rechnung neue Verbindungen durch 
Addieren oder Subtrahieren eingehen; sondern ihre Gleich- 
heit bestehe nur darin, daß sie bei dem Geschäfte des 
Messens, namentlich durch eine Größe iV, welche von 
gleichem Range mit ihnen, in einem endlichen (also völlig 
bestimmbaren) Verhältnisse zu einer von ihnen z. B. zu M 
steht, gleiche Ergebnisse darbieten. Dies wäre in der Tat 
das Geringste, was man zu der Erklärung, daß ein Paar 
Größen gleich groß sind, zu fordern berechtigt ist. Aber 
leisten denn M und M + m auch nur so viel? Steht die 
eine derselben, z. B. if, in einem irrationalen Verhältnisse 
zum Maße A^, so kann es sich allerdings treffen, daß wir 



' 60 Vernachlässigung von unendlich Kleinen. 

bei der gewöhnlichsten Weise des Messens, welche zu jeder 
beliebigen auch noch so großen Zahl q eine andere p von 
der Beschaffenheit sucht, dafi 

^ M^ p + i 

q^N^ q 

sei; und es kann sich fügen, daß auch — == — fortwährend 

N 

in denselben Grenzen verbleibt, d. h. daß sich auch 

' p ^ M±m p-j-i 
q^ N ^ q 

M . 
findet. Ist aber das Verhältnis ^ rational: so gibt es ein 

^, für welches 

N"~ q 

und dagegen — ^~ entweder > oder <[— ist; wo also 

ein Unterschied zwischen diesen Größen selbst im Vergleiche 
zu bloßen Zahlen (endlichen Größen) sich kund gibt. Wie 
also dürften wir sie einander gleich nennen? 



§36. 

Um solche Widersprüche zu vermeiden, nahmen nach 
Eulers Vorgange mehrere Mathematiker ihre Zuflucht zu 
der Erklärung, daß die unendlich kleinen Größen in der Tat 
bloße Nullen, die unendlich großen Größen aber die 
Quotienten wären, welche aus einer endlichen Größe durch 
die Division mit einer bloßen Null hervorgehen. Durch 
diese Feststellung hatte man das Verschwinden oder Weg- 
werfen einer unendlich kleinen Größe in ihrer Verbindung 
durch Addition zu einer endlichen mehr als gerechtfertigt; 
desto schwieriger aber war es, das Dasein der unendlich 
großen Größen, ingleichen die Möglichkeit des Hervorgehens 



Widerlegung von Euler. 61 



einer endlichen Größe durch die Division zweier unendlich 
kleiner oder auch großer Größen und das Vorhandensein 
unendlich kleiner und großer Größen höherer Ordnungen 
begreiflich zu machen. Denn die unendlich große Größe 
kam auf diese Art durch eine Division mit Null oder einem 
der Null gleichgeltenden Größenausdrucke (der eigentlich 
eine gegenstandslose Vorstellung ist), also auf eine durch 
die Gesetze des Rechnens verbotene Weise zum Vorschein; 
an allen jenen endlichen oder auch unendlichen Größen 
aber, die man durch 'Division einer unendlichen in eine 
andere unendliche Größe hervorgenen ließ, haftete die Makel 
der illegitimen Geburt vervielfacht. 

Was noch am meisten für die Richtigkeit dieser Rech- 
nung mit Nullen zu sprechen scheint, ist wohl die Art, wie 
man den Wert einer von der veränderlichen x abhängigen 
Größe yy der durch die Gleichung 

bestimmt werden »soll, in dem besonderen Falle berechnet, 
wenn ein gewisser Wert von x = a entweder den Nenner 
dieses Bruches allein oder den Nenner und den Zähler zu- 
gleich zu Null macht. In dem ersten Falle, wenn $a = o 
wird, Fa aber eine endliche Größe verbleibt, schließt man, 
daß y unendlich groß geworden sei. In dem zweiten 
Falle dagegen, wenn sowohl 0a als Fa=o sind, schließt 
man, daß die beiden Ausdrücke 0x und Fx den Faktor 
von der Form {x — a) ein- oder edichemal enthalten und 
somit von der Form 

<&x = (x — a)"«99x; Fx = (x — a)*«fx 

sein müssen: wo allenfalls tpx oder fx auch Korfst^nte vor- 
stellen können. Ist nun m'^n, so schließt man, daß, auch 

Fx 
nach einer den Wert des Bruches ^— nicht ändernden Auf- 

hebung der gemeinschaftlichen Faktoren im Nenner und im 
Zähler, der erstere für x = a immer noch zu Null werde, 



52 Widerlegung von Euler. 



und bleibt somit bei der Behauptung, dafi der Wert x = a 

ein unendlich großes y gäbe. Ist aber w = «, so sieht man, 

Fx fx fa 

da -^— = — sein muß, die endliche Größe, die — aus- 
0x (px 9?a 

drückt, als den richtigen Wert von y an. Und ist endlich 

w <[ «, so schließt man, weil jetzt 

Fx (x — a)**-"* • f x 

4^x 9?x 

für x = a zu Null wird, daß der Wert x = a die Größe y 
zu Null mache. 

Über dies Verfahren denke ich so. Wenn der zu x=a 
gehörige Wert von y in den angegebenen Fällen für oo groß 
erklärt wird: so kann das offenbar nur dann und dann nur 
zufällig wahr sein, wenn die Größe y zu der Art derer 
gehört, die auch unendlich groß werden können; allein es 
bleibt dabei, daß dieses Ergebnis aus dem gegebenen Aus- 
drucke, der hier eine Division durch Null verlang^, nicht 
hervorgeht. Bloß aus dem Umstände, daß gesagt wird, 
der Wert von y sei immer der nämliche, den der gegebene 

Fx 
Ausdruck ^— angibt, läßt sich nur schließen auf die Be- 
schaffenheit der Größe y für alle jene Werte von x, die 
eine wirkliche Größe vorstellen, nicht aber für solche, bei 
denen dieser Ausdruck gegenstandslos wird; wie dies 
der Fall ist, wenn sein Nenner oder auch nur sein Zähler 
oder gar beide zugleich Null werden. Wohl läßt sich sagen, 
daß die Größe y in dem zuerst erwähnten Falle, wo nur 
0x = o ist, größer, und in dem zweiten Falle, wo nur 
Fx = o ist, kleiner als jede gegebene werde, endlich im 

Fx 
dritten Falle, wo ^— eine gleiche Anzahl von Faktoren von 

der Form {x — a) im Nenner und Zähler enthält, dem Werte 

fa 

— so nahe komme, als man will, indem man x dem Werte a 

9?a ' ' 

so nahe rückt, als man will: allein aus allem diesem, folgt 



Widerlegung von Euler. 68 

nichts für die Beschaffenheit dieses Wertes dort, wo der 

Fx 
Ausdruck ^— gegenstandslos ist, d. h. gar keinen Wert 

darstellt, weil er entweder die Form o selbst oder die Form 

c o 

— oder gar die Form — annimmt. Denn der Satz von der 

o o 

Gleichheit des Wertes zweier Brüche, deren der eine sich 
von dem anderen nur durch die Aufhebung eines gemein- 
schaftlichen Faktors im Nenner und Zähler unterscheidet, 
gilt wohl in allen Fällen, nur in dem Falle nicht, wo dieser 
Faktor eine Null ist; weil sonst mit eben dem Rechte, mit 

rt 2 • O 2 

dem wir behaupten wollten, daß = — ist, auch be- 

3-0 3 
hauptet werden dürfte, daß jede beliebige Größe, z. B. 

iooo== — sei. Denn sicher ist doch sowohl 3000 «0 = 0, 

o 

2 • o 2 
als auch 2 • o = o. Wenn also = — gesetzt werden darf, 

3-0 3 
so darf auch , 

2 X (3000 • o) (2 • 3000) • o 2 • 3000 

iif 1 = :i r^ { = il :::== lOOO 

3 X (2 • o) (3 • 2) • o 3.2 

gesetzt werden. 

Der Fehlschluß, der hier in die Augen springt, fällt oben 
nur deshalb minder auf, daß man die Division mit dem 
einer Null gleichgeltenden Faktor (x — a) in einer Form 
vornimmt, die diesen Nullwert verhüllt. Und weil die Fort- 
schaffung desselben in jedem anderen Falle erlaubt ist, so 
nimmt man um so zuversichtlicher an, sie auch in diesem 
Falle sich erlauben zu dürfen, weil der für y sich heraus- 
stellende Wert gerade so ausfällt, wie man ihn zu erwarten 
berechtigt zu sein glaubt; nämlich wenn er ein endlicher 
ist, genau wie das Gesetz der Stetigkeit ihn fordert. Null, 
wenn die nächststehenden bis auf Null abnehmen, und un- 
endlich groß, wenn die nächststehenden in das Unendliche 
zunehmen. Allein hierbei vergißt man, daß das Gesetz der 



I 



64 Differentialrechnung. 

Stetigkeit keineswegs von allen veränderlichen Größen be- 
obachtet werde, ingleichen daß eine Größe, welche so klein 
wird, als man nur will, indem man x dem Werte a so nahe 
bringt, als man will, darum noch eben nicht für x^=a zu 
Null werden müsse; und daß sie ebensowenig, wenn sie 
in das Unendliche wächst, während sich x* dem Werte a 
nähert, für ä^^=a in Wahrheit unendlich werde. Es gibt 
Ja namentlich in der Geometrie unzählig viele Größen, die 
kein Gesetz der Stetigkeit kennen, z. B. die Größen der 
Linien und Winkel, die zur Bestimmung der Umfangslinien 
und Oberflächen der Polygone und Polyeder dienen u. m. a. 

§ 37- 

Obgleich wir der bisherigen Darstellungs weise der Lehre 
von dem Unendlichen so viele wichtige Mängel, wie ich 
glaube, nicht mit Unrecht vorwerfen mögen: so ist es doch 
bekannt, daß man meistens ganz richtige Ergebnisse 
erhält, wetin man die Regeln, die in der Rechnung mit 
dem Unendlichen allgemein eingeführt sind, mit der ge- 
hörigen Vorsicht befolgt. Solche Ergebnisse hätten sich 
nimmer darbieten können, wenn es nicht eine Weise der 
Auffassung und Handhabung dieser Rechnungsmethode 
gäbe, die wirklich untadelhaft ist; und gern will ich glauben, 
daß es im Grunde nur diese gewesen sein ^ürfte, die den 
scharfsinnigen Erfindern jener Methode im Geiste vor- 
geschwebt, ob sie auch nicht sogleich imstande waren, 
ihre Gedanken hierüber mit aller Deutlichkeit auseinander- 
zusetzen; eine Sache, die in schwereren Fällen insgemein 
erst nach wiederholten Versuchen gelingt 

Sei es mir denn verstattet, hier nur in wenigen Umrissen 
anzudeuten, wie ich diese Methode des Rechnens glaube 
auffassen zu müssen, damit sie vollkommen zu rechtfertigen 
wäre. Es wird genügen, von dem Verfahren zu sprechen, 
das bei dem sogenannten Differential- und Integral- 
kalkül zu beobachten ist, denn die Methode des Rechnens 
mit dem unendlich Großen ergibt sich dann schon durch 



Differentialrechnung. 65 

den bloßen Gegensatz leickt, zumal nach allem, was Cauchy 
hierüber schon geleistet. 

Ich also bedarf hier schlechterdings nicht der so beengen- 
den Voraussetzung, die man wohl sonst für nötig erachtete, 
daß die in Rechnung zu nehmenden Größen unendlich 
klein werden können; eine Beschränkung, wodurch alle be- 
grenzte Zeit- und Raumgrößen, auch alle Kräfte begrenzter 
Substanzen, also im Grunde alle Größen, an deren Be- 
stimmung uns gerade am meisten liegt, aus dem Bereiche 
dieser Rechnungsmethode im Vorhinein ausgeschieden wer- 
den. Ich begehre nichts anderes, als daß diese Größen, 
falls sie veränderlich und doch nicht frei veränderlich, 
sondern von einer oder mehreren anderen Größen abhängig 
sind, ihre Abgeleitete {une fonction derivee nach der La- 
grangeschen Erklärung) haben; wenn nicht für alle Werte 
ihrer Bestimmenden, wenigstens für alle diejenigen, auf 
welche die Rechnung als gültig angewandt werden soll. 
Mit anderen Worten, wenn x eine der frei veränderlichen 
Größen und y=fx eine von ihr abhängige bezeichnet: so 
muß, wenn unsere Rechnung für alle innerhalb x = a }xnd 
x=^b liegende Werte von x ein richtiges Resultat geben 
soll, y in einer solchen Art von x abhängen, daß für alle 
innerhalb a und b gelegenen Werte von x der Quodient 

Ay^ f(x + Ai) — fx 

Ax~ Ax 

welcher zum Vorschein kommt, indem wir den Zuwachs 
von y durch .den ihm zugehörigen von x dividieren, einer 
entweder konstanten oder doch nur von x allein abhängigen 
Größe f'x so nahe kommt, als man will, wenn man nur 
A^ klein genug nimmt, und dann noch immer so nahe 
bleibt oder noch näher rückt, wenn /\x noch kleiner ge- 
macht wird*). 

*) Es läßt sich zeigen, daß alle abhängig veränderlichen 
Größen, wenn sie nur überhaupt bestimmbar sind, an dies 
Gesetz gebunden sein müssen in der Art, daß Ausnahmen davon, 
wenn auch in einer unendlichen Menge, stets nur für isoliert" 
stehende Werte ihrer frei Veränderlichen eintreten dürfen. 

Bolzano, Parado^cien des Unendlichen. 5 



66 Ditferentialrechnung. 



Ist eine Gleichung zwischen x und y gegeben, so ist 
es insgemein eine sehr leichte und bekannte Sache, diese 
Abgeleitete von y zu finden. Wäre z. B, 

(i) y^=ax2-|-a^ 

so hätte man hier für jedes A^, das nur nicht Null ist, 
(2) . (y_|_Ay)8 = a(x + Ax)2+a^ 

woraus sich nach bekannten Regeln 
Ay 2ax-[-aAx 



(3) 



Ax 3y' + 3yAy+Ay» 

2ax ^^3ay2Ax — 6axy Ay — 2ax Ay* 



3y2 9y* + 9y^Ay4-3y^Ay 



i 



ergjbt. Und die gesuchte abgeleitete Funktion der ^ 
oder (nach Lagrangescher Bezeichnung) y wäre 



2ax 
eine ' Funktion, die aus dem Ausdrucke von 

Ay 
. Ax 

hervorgeht, wenn wir nach der gehörigen Entwicklung des- 
selben, nämlich nach einer solchen, dabei wir im Zähler 
und Nenner die in J^x oder in Ajv multiplizierten Glieder 
von den übrigen trennen, also in dem Ausdrucke 



2ax-{-aAx 



3y* + 3yAy + Ay'^ 

beides, A^ sowohl als Ajv = o setzen. 

Von welchem vielfältigen Nutzen die Findung dieser 
Abgeleiteten sei; aufweiche Weise jeder einem endlichen 
Zuwachse von x entsprechende endliche Zuwachs der y 
vermittels solcher Abgeleiteten sich bei*echnen lasse; und 
wie, wenn umgekehrt nur die abgeleitete f'x gegeben ist, 



Differentialrechnung. 67 



auch die ursprüngliche Funktion fx bis auf eine Konstante 
bestimmt werden kann — brauche ich nicht zu sagen. 

Weil wir aber, wie nur eben angemerkt wurde, die ab- 
geleitete Funktion einer abhängigen Größe y in bezug auf 
ihre Veränderliche x erhalten, sobald wir in dem Ausdrucke 

Ay 
Ax 

falls er erst so entwickelt wurde, daß weder l\x noch Ay 
irgendwo als .Divisoren erscheinen, das l\x sowohl als 
auch das A^ = o setzen: so durfte es wohl nicht so un- 
schicklich sein, die Abgeleitete durch eine Zeichnung, wie 
etwa folgende: 

dy 

dx 

darzustellen, wenn wir hierbei erklären, einerseits, daß 

' Ay 
alle in der Entwicklung von -r-=^ vorkommenden A^, A^ oder 

die allenfalls statt ihrer angeschriebenen dx^ dy als bloße 

Nullen angesehen und behandelt werden sollen; — ander- 

dy 
seits aber, daß man die Zeichnung -r^ nicht etwa als einen 

dy 

Quotienten von dx in dy^ sondern nur eben für ein Sym- 
bol der abgeleiteten von y nach x anzusehen habe. 

Daß einem solchen Verfahren noch keineswegs der Vor- 
wurf gemacht werden könnte, es nehme Verhältnisse zwischen 
Größen an, die gar nicht vorhanden sind (Null zu Null), ist 
klar; denn man will jene Zeichnung ja eben für nichts anderes 
.als für ein bloßes Zeichen angesehen wissen. 

Ebenso untadelhaft wird es femer sein, wenn man die 
zweite abgeleitete Funktion von y nach x^ d. h. diejenige 
bloß von X abhängige (oder vielleicht auch ganz konstante) 
Größe, welcher der Quotient 

A^y 
Ax« 

5* 



68 DiiFerentialrechnung. 



so nahe kommt, als man will, sobald man nur auch Ajr so 
klein, als man will» nehmen darf, durch 

d^y 
dx2 

bezeichnet und dies so auslegt, daß man die in der Ent- 

Wicklung von -7—=^ vorkommenden Größen Ax, A^y als bloße 

d*y 
Nullen betrachten und behandeln, in der Zeichnung 3-=^ 

aber nicht eine Division von Null in Null, sondern nur das 
Symbol der Funktion erblicken müsse, in welche die Ent- 
wicklung von r^ nach der soeben verlangten Verände- 
rung übergeht. 

dy d^y 

Diese Bedeutungen der Zeichen -~~^ -— einmal 

dx dx* 

vorausgesetzt, können wir strenge dartun, daß eine jede von 

einer anderen frei Veränderlichen jc auf eine bestimmbare Art 

abhängige veränderliche Größe 

y = fx 

höchstens mit Ausnahme gewisser isoliert stehender Werte 
von X und Ax an die Gleichung 

f^ I A ^ f ( A dfx Ax2 d2fx . Ax3 dHx 

f(x + Ax) = fx4-Ax.-j t-tH -TT 

^ ' ^ ' dx ' 1-2 dx* ' i'2-3 dx^ 

, . Ax° d°f(x-[-;iAx) 

' ' i«2...n ' dx" 

worin fJi<^i ist, gebunden sei*). 



*) Der Beweis dieses Satzes für jede, gleichviel ob uns be- 
kannte durch die bisherigen Zeichen darstellbare oder nicht dar- 
stellbare Art der Abhängigkeit der y von x^ lange schon vom 
Verfasser niedergeschrieben, wird vielleicht ehestens veröflFent- 
licht werden. H. 



Diff eren tialrechnung. 6 9 



Wie viele wichtige Wahrheiten der allgemeinen Größen- 
lehre (besonders der sogenannten höheren Analysis) durch 
diese einzige Gleichung begründet werden können, ist nie- 
mandem unbekannt. Aber auch in der angewandten Größen- 
lehre, in der Raumlehre (Geometrie) und in der Kräften- 
lehre (Statik, Mechanik usw.) bahnt diese Gleichung den 
Weg zur Lösung der schwierigsten Probleme, z. B. von der 
Rektifikation der Linien, der Komplanation der Flächen, 
der Kubierung der Körper, ohne irgendeiner hier wider- 
sprechenden Voraussetzung eines unendlich Kleinen, noch 
sonst eines anderen angeblichen Grundsatzes zu bedürfen, 
dergleichen der bekannte archimedische u. a. m. sind. 

Ist es aber erlaubt, Gleichungen von der Art, wie z. B. 
die Formel für die Rektifikation der Kurven bei einem recht- 
winkligen Koordinatensysteme 




in der vorhin erklärten Bedeutung aufzustellen: so wird es 
auch, ohne Gefahr zu irren, möglich sein, Gleichungen von 
der Art, wie etwa folgende, niederzuschreiben: 

d(a-f- bx -)- cx2-|- dx^-|- — ) = bdx -j- acxdx -|- 3dx2dx-|-. . ; 

ds2 = dx« -f dy2 -j- dz^; 

oder wenn r den Halbmesser des KrOmmungskreises bei 
einer Linie von einfacher Krümmung bezeichnet, 

ds» 

; u. a. m. 



d^y -dx 



worin wir die Zeichen dx^ dy^ dz^ds^ d^y usw. fortwährend 
nicht als Zeichen wirklicher Größen, sondern sie vielmehr 
als der Null gleichgeltend b^rachten, und in der ganzen 
Gleichung nichts anderes sehen, als einen Zeichenkom- 
plex, der so geartet ist, daß sich, wenn wir mit 
demselben nur lauter Veränderungen vornehmen, 
welche die Algebra mit allen Zeichen wirklicher 



70 Differentialrechnung. 

Gröfien erlaubt (hier also auch ein Dividieren mit dx 
u. dgl.) — nie ein unrichtiges Ergebnis herausstellt, 
wenn es zuletzt gelingt, die Zeichen dx^ dy usw. 
auf beiden Seiten der Gleichung verschwinden zu 
sehen. 

Daß dieses so sei und sein müsse, ist leicht zu begreifen. 
Denn wenn z. B. die Gleichung: 



ds 



=y[-+(^)l 



dx 

untadelig ist: wie sollte nicht auch die Gleichung 

ds2 = dx2 4-dy2 

untadelig sein; da sich nach der soeben erwähnten Ver- 
fahrungsart aus dieser sofort auch jene ableiten läßt? 

Endlich ist leicht zu erachten, daß es auch keine Irrung 
herbeiführen könne^ wenn wir in irgendeiner Gleichung, 

welche die Zeichen dx^ dy enthält, zur Abkürzung 

alle diejenigen A<fdenden, von welchen wir mit Bestimmtheit 
vorauswissen, daß sie am Schlüsse der Rechnung als der 
Null gleichgeltendwegfallen werden, gleich anfangs weglassen. 
So können wir es, z. B. wenn wir durch irgendeine Rechnung 
erst auf die (aus i und 2 sich ergebende) Gleichung 

■ 3y» • Ay + 3y Ay^ -f Ay» = aax Ax -f- a Ax^ 

geraten sind, die bei dem Übergange zu den der Null gleich- 
geltenden Zeichen die Gestalt 

3y*' dy + Sy • dy*-{-dy* = 2axdx-(-a« dx* 

annimmt, sogleich ersehen, daß die Addendi, welche die 
höheren Potenzen dy'^y dy^^ dx^ enthalten, zuletzt jeden- 
falls wegfallen werden und somit alsbald nvir 

3y2dy = 2axdx 

ansetzen; woraus sich dann die gesuchte Abgeleitete von 
y in bezug auf x 



Differentialrechnung. 71 



^ dy 2ax 

dx ■" 3y2 

alsbald ergibt. 

Dies ganze Verfahren, daß wir es schließlich noch mit 
einem Worte sagen, beruht auf ganz ähnlichen Grundsätzen, 
auf welchen die Rechnung mit den sogenannten imagi- 
nären Größen (welche ja ebenso wie unsere dx^ dy ... 
bloße Zeichnungen sind) oder auch die in der neueren Zeit 
erfundene abgekürzte Divisiönsmethode und andere ähnliche 
Rechnungsabkürzungen beruhen. Hier nämlich ebenso \vie 
dort genügt es, zur Rechtfertigung des Verfahrens nach- 
zuweisen, daß wir den eingeführten Zeichen 



nur eine solche Bedeutung geben, und uns mit ihnen nur 
solche Veränderungen erlauben, daß zuletzt jedesmal, 
wenn endlich statt der gegenstandslosen Zeichen 
solche zum Vorschein kommen, die wirkliche Größen 
bedeuten, beide Glieder der Gleichung einander in 
Wahrheit gleichgelten. 



§38- 

Wenden wir uns zu dem angewandten Teile der Größen- 
lehre, so begegnen uns die ersten Paradoxien auf dem Ge- 
biete der Zeitlehre in dem Begriffe der Zeit selbst, 
zumal inwiefern sie eine stetige Ausdehnung sein soll. 
Es lasten aber die schon von alters her so berühmten 
scheinbaren Widersprüche, die man in dem Begriffe 
einer stetigen Ausdehnung eipes Kontinuums zu finden 
glaubte, in gleicher Weise wie auf der zeitlichen auch auf 
der räumlichen, ja auch der materiellen; daher wir sie gleich 
in Vereinigung betrachten wollen. 

Sehr wohl erkannte man, daß alles Ausgedehnte seinem 
Begriffe nach aus Teilen zusammengesetzt sein müsse; er- 



72 Paradoxien im Begriffe de§ Kontinuums. 

kannte ferner, daß sich das Dasein des Ausgedehnten nicht 
ohne einen Zirkel aus der Zusammensetzung solcher Teile, 
die schon selbst ausgedehnt sind, erklären lasse; wollte 
jedoch nichtsdestoweniger auch einen Widerspruch in der 
Voraussetzung finden, daß es aus Teilen, die keine Aus- 
dehnung haben, sondern schlechterdings einfach sind (Punkten 
in Zeit, Raum, Atomen, d. i. einfachen Substanzen im Weltall 
auf dem Gebiete der Wirklichkeit), entstehe. 

Wurde gefragt, was man an dieser letzteren Erklärung 
anstößig finde, so hieß es bald, daß eine Eigenschaft, die 
allen Teilen mangelt, auch nicht dem Ganzen zukommen 
könne; bald, daß doch je zwei Punkte wie in der Zeit so 
auch im Räume, und ebenso auch je zwei Substanzen noch 
immer eine Entfernung voneinander haben, somit nie ein 
Kontinuum bilden. 

Es bedarf aber wahrlich nicht vieler Überlegung, um 
das Ungereimte in diesen Einwürfen zu erkennen. Eine 
Beschaffenheit, die allen Teilen mangelt, soll auch dem 
Ganzen nicht zukommen dürfen? Gerade umgekehrt! Jedes 
Ganze hat und muß gar manche Eigenschaften haben, welche 
den Teilen mangelt. Ein Automat hat die Beschaffenheit, 
gewisse Bewegungen eines lebenden Menschen fast täuschend 
nachzuahmen, die einzelnen Teile aber, die Federn, Räder- 
chen usw. entbehren dieser Eigenschaft. — Daß je zwei 
Zeitpunkte noch durch eine unendliche Menge dazwischen- 
liegender Zeitpunkte getrennt sind ; daß es ebenso zwischen 
je zwei Punkten im Räume eine unendliche Menge da- 
zwischenliegender gibt, ja daß es selbst im Reiche der Wirk- 
lichkeit zwischen je zwei Substanzen noch eine unendliche 
Menge anderer gäbe — ist allerdings zuzugestehen; aber 
was folgt hieraus, das einen Widerspruch enthielte? Nur 
soviel folgt, daß durch zwei Punkte allein, ja auch durch 
drei, vier und jede bloß endliche Menge derselben noch 
kein Ausgedehntes erzeugt wird. Dies alles gestehen wir 
selbst, ja wir gestehen, daß auch eine unendliche Menge 
von Punkten nicht immer zur Erzeugung eines Kontinuums, 
z. B. einer auch noch so kurzen Linie, hinreicht, wenn diese 



Der Begriff des Kontinuums. 78 



Punkte nicht zugleich die gehörige Anordnung haben. 
Versuchen wir nämUch, uns den Begriff, den wir mit den 
Benennungen ,,eine stetige Ausdehnung oder ein Kon- 
tin u um" bezeichnen, zu einem deutlichen Bewußtsein zu 
bringen: so können wir nicht umhin zu erklären, dort, aber 
auch nur dort sei ein Kontinuum vorhanden, wo sich ein 
hibegriff von einfachen Gegenständen (von Punkten in der 
Zeit oder im Räume oder auch von Substanzen) befindet, 
die so gelegen sind, daß jeder einzelne derselben für jede 
auch noch so kleine Entfernung wenigstens einen Nachbar 
in diesem Inbegriffe habe. Wenn dieses nicht der Fall ist, 
wenn sich z. B. unter einem gegebenen Inbegriffe von 
Punkten im Räume auch nur ein einziger befindet, der nicht 
so dicht umgeben ist von Nachbarn, daß sich für jede — 
nur klein genug genommene Entfernung ein Nachbar für 
ihn nachweisen läßt: so sagen wir, daß dieser Punkt ver- 
einzelt (isoliert) dastehe, und daß jener Inbegriff eben 
deshalb kein vollkommenes Kontinuum darbiete. Gibt es 
<lagegen nicht einen einzigen in diesem Sinne isoliert stehen- 
den Punkt in einem vorliegenden Inbegriffe von Punkten, 
hat also jeder denselben für jede auch noch so kleine Ent- 
fernung wenigstens einen Nachbar: so erübrigt nichts mehr, 
was uns berechtigen könnte, diesem Inbegriffe die Benen- 
nung eines Kontinuums abzusprechen. Denn was noch sonst 
.wollten wir verlangen? 

„Dieses," erwidert man, „daß jeder Punkt einen 
habe, den er unmittelbar berührt!" — Allein hier 
fordert man etwas, das eine offenbare Unmöglichkeit ist, 
einen Widerspruch in sich schließt. Denn, wann doch wollt 
Ihr sagen, daß ein paar Punkte einander berühren? Viel- 
leicht wenn die Grenze des einen (etwa die rechte Seite 
desselben) mit der Grenze des anderen (etwa der linken Seite 
desselben) zusammenfällt? Aber Punkte sind ja einfache 
Teile des Raumes, sie haben somit keine Begrenzungen, 
keine rechte und linke Seite. Hätte der eine nur einen 
Teil gemein mit dem anderen, so wäre er schon durchaus 
derselbe mit ihm; und soll er etwas von ihiji Verschiedenes 



74 Der Begriff des Kontinuums. 

# 
haben, so müssen beide ganz auseinander liegen, und es 
muß somit Raum da sein noch für einen zwischen ihnen 
liegenden Punkt; ja, weil von diesem mittleren im Vergleiche 
zu jenen beiden das nämliche gilt, für eine unendliche Menge 
von Punkten. 

„Aber das alles ist", wip man sagt, „nicht zu be- 
greifen!" Allerdings läfit es sich nicht mit den Fingern 
begreifen, allerdings auch nicht mit den Augen wahrnehmen ; 
wohl aber wird es erkannt durch den Verstand und erkannt 
als etwas, das notwendig so und nicht anders sein kann, 
so daß ein Widerspruch nur erst dann angenommen wird, 
wenn man es anders, wenn man es sich unrichtig vorstellt. 

Doch man fährt fort: „Wie unbegreiflich ist es, sich in 
der kleinsten Linie noch eine Anhäufung von unendlich 
vielen Punkten, ja eine unendliche Menge solcher Anhäu- 
fungen von Punkten vorzustellen, wie man dies- alles nach 
der gewöhnlichen Lehre tun muß! Denn selbst die kleinste 
Linie soll man ja noch in eine unendliche Menge anderer 
Linien zerlegen können, indem man sie erst in zwei Hälften, 
dann diese abermals in Hälften und so ohne Ende fort zer- 
legt!" — Ich finde in dieser ganzen Gedankenverbindung 
nichts Irriges und nichts Befremdendes, bis auf den einzigen 
Ausdruck einer kleinsten Linie, den manche sich wohl 
nur aus Mangel an Aufmerksamkeit entschlüpfen ließen, 
weil es doch eine solche nicht gibt und geben kann, und 
von derjenigen, die man hier eben betrachtet, geradezu 
erklärt wird, daß sie in kleinere zerlegt werden könne. 
Jede unendliche Menge, nicht die der Punkte in einer Linie 
allein, läßt sich in Teile zerlegen, die selbst noch unend- 
liche Mengen enthalten, ja in unendlich viele solche Teile. 
Denn bedeutet c» eine unendliche Menge, so sind auch 

— , — » "o" • • • • unendliche Mengen. So liegt es in dem 

Begriffe des Unendlichen. ' 

„Wie aber" (dürfte man, falls die bisherigeti Erläute- 
rungen nach einer längeren Erwägung sich vielleicht doch 
als befriedigend herausgestellt hätten, zuletzt sagen), „wie 



Paradoxien im Begriffe der Zeit. 75 



sollen wir die Behauptung derjenigen Mathematiker deuten, 
die selbst erklären, daß das Ausgedehnte durch keine, auch 
noch so große Aneinanderhäufung von Punkten erzeugt 
und durch Zerlegung in eine auch noch so große Menge 
von Teilen auch nie in einfache Punkte aufgelöst werden 
könne ?** — Strenge zu reden, sollte man einerseits frei- 
lich lehren, daß nie eine endliche, eine unendliche Menge 
von Punkten aber nur dann allein, dann aber auch immer 
ein Ausgedehntes liefere, wenn die schon mehrmal erwähnte 
Bedingung erfüllt wird, daß nämlich jeder Punkt für jede 
hinreichend kleine Entfernung gewisse Nachbarn erhält; 
dabei aber sollte man andererseits zugestehen, daß auch 
nicht jede Zerlegung eines gegebenen Raumdinges in 
Teile, namentlich keine Zerlegung in solche Teile, deren 
Menge nur eine endliche ist, ja auch nicht jede solche, die 
ins Unendliche geht (z. B. durch fortgesetzte Halbierungen), 
wie wir nur vorhin sahen, bis an die einfachen Teile ge- 
lange. Nichtsdestoweniger muß man darauf beharren, daß 
jedes Kontinuum zuletzt doch aus nichts anderem als aus 
Punkten und wieder nur Punkten hervorgehen könne. Und 
beides verträgt sich, nur recht verstanden, sehr wohl. 

§ 39- 

« 

Daß man an den Beschaffenheiten jener besonderen 
stetigen Ausdehnung, welche die Zeit ist, auch noch be- 
sondere Anstöße nehmen werde, ließ sich im voraus erwarten. 
Zumal denjenigen Philosophen, die wie die Skeptiker es 
eigens darauf anlegten, die menschlichen Begriffe statt zu 
verdeutlichen, nur zu verwirren und allenthalben scheinbare 
Widersprüche zu finden, mußte die Lehre von der Zeit 
willkommenen Stoff darbieten. Wir werden jedoch hier nur 
das Wichtigste erwähnen, zumal nicht alles, was hier vor- 
gebracht wurde, den Begriff des Unendlichen berührte. 

Man warf die Frage auf, ob die Zeit etwas Wirkliches 
sei, und wenn dieses, ob Substanz oder Adhärenz, und im 
ersten Falle, ob erschaffen oder unerschaffen? „Wenn jenes," 



Paradoxien im Begriffe der Zeit. 



meinte man, „müsse sie einen Anfang genommen haben, 
auch wohl einst wieder ein Ende nehmen, mithin sich 
ändern, demnach selbst wieder einer anderen Zeit bedürfen, 
in der sie sich ändert. Noch ungereimter . sei es, sie für 
Gott selbst, oder für eine an ihm befindliche Adhärenz 
zu erklären. Gewiß sei es auch, daß man die Zeit der 
Ewigkeit entgegensetze; was nun sei diese? Wie sei es 
möglich, daß eine unendliche Menge nicht nur von Augen- 
blicken, sondern von ganzen Zeitlängen enthalten sei 
in einem einzigen auch noch so kurzen Weilchen, z. B. in 
einem einzigen Blick mit dem Auge, von dem jeder ein- 
fache Zeitteil eben den Namen Augenblick hat? Doch 
es ist in der Tat (sagte tnan zuletzt) gar keine Zeit vor- 
handen! Denn die vergangene Zeit ist eben, weil ver- 
gangen, offenbar nicht mehr da; die zukünftige aber ist, 
weil erst künftig, jetzt noch nicht da: was endlich gegen- 
wärtig ist, das ist nichts anderes als ein bloßer Augen- 
blick in des Wortes strengstem Sinne, der keine Dauer, 
somit auch keine Ansprüche auf den Namen einer Zeit 
hat.« 

Meinen Begriffen zufolge ist die Zeit allerdings nichts 
Wirkliches im eigentlichen Sinne des Wortes, wo wir nur 
den Substanzen und ihren Kräften Wirklichkeit bei- 
legen. Jch halte sie also auch weder für Gott selbst noch 
für eine geschaffene Substanz, noch auch nur für eine 
Adhärenz weder an Gott, noch an irgend einer geschaffenen 
Substanz, oder an einem Inbegriffe mehrerer. Sie ist auch 
eben darum gar nichts Veränderliches, sondern vielmehr 
dasjenige, worin alle Veränderung vorgeht. Wenn man das 
Gegenteil sagt, wie in dem Sprichwort: die Zeiten ändern 
sich, so wurde längst schon erinnert, daß man hier unter der 
Zeit nur die in ihr befindlichen Dinge und deren Zustände 
verstehe. Die Zeit selbst ist, um es nun näher anzugeben, 
diejenige an einer jeden (veränderlichen oder was ebenso- 
viel ist) abhängigen Substanz befindliche Bestimmung, 
deren Vorstellung wir zu der Vorstellung dieser Substanz 
hinzufügen müssen, um von je zwei einander widerspre- 



Paradoxien im Begriflfe der Zeit 77 

chenden Beschaffenheiten b und Nicht-Ä ihr die eine 
in Wahrheit beizulegen, die andere absprechen zu können. 
Genauer ist die hier erwähnte Bestimmung ein einziger 
einfacher Teil dfer Zeit, ein Zeitpunkt oder Augenblick, 
in welchem wir uns die Substanz x^ der wir von je zwei 
widersprechenden Beschaffenheiten, b und Nicht-Ä, eine mit 
Sicherheit beilegen wollen, vorstellen müssen; dergestalt, 
daß also unser Ausspruch eigentlich lauten muß: x in dem 
Zeitpunkte / hat entweder die Beschaffenheit b oder Nicht-Ä. 
Gesteht man mir diese Erklärung des Begriffes eines Augen- 
blickes erst als richtig zu, dann kann ich auch deutlich an- 
geben, was die Zeit selbst, und zwar die ganze Zeit oder 
die Ewigkeit sei, nämlich dasjenige Ganze, dem alle Augen- 
blicke als Teile zugehören. Und jede endliche Zeit, d. h, 
jede innerhalb zweier gegebener Augenblicke enthaltene 
Zeitdauer oder Zeitlänge erkläre ich als den Inbegriff 
aller der Augenblicke, die zwischen jenen zwei Grenzaugen- 
blicken liegen. Diesen Erklärungen zufolge ist also kein 
Unterschied zwischen der Zeit und der Ewigkeit, wenn 
man unter jener nicht (wie es oft geschieht) eine beschränkte, 
endliche, sondern die ganze (nach beiden Richtungen hin 
endlose) Zeit versteht. Wohl aber besteht ein großer Unter- 
schied in der Art, wie Gott und wie ' die veränderlichen 
oder geschaffenen Wesen in dieser Zeit sich befinden. Diese 
nämlich sind in der Zeit, indem sie sich in ihr ver- 
ändern, Gott aber ist zu aller Zeit ganz unveränderlich 
derselbe. Dies hat Veranlassung gegeben, ihn allein ewig, 
die übrigen Wesen aber, seine Geschöpfe, zeitliche Wesen 
zu nennen. — Daß jedes auch noch so kurze Weilchen, 
wie ein Blick mit den Augen, schon eine unendliche Menge 
ganzer Zeitlängen enthalte: dies sich in einem sinnlichen 
Bilde auszumalen, mag eine schwere Aufgabe für unsere 
Phantasie sein; genug, daß der Verstand es begreift 
und als etwas erkennt, das gar nicht anders sein kann. 
Aus dem Begriffe der Zeit, den wir hier andeuteten, läßt 
sich auch selbst der objektive Grund hiervon erkennen; 
doch würde die Auseinandersetzung desselben hierorts zu 



78 Begriff des Raumes. 



weitläufig sein. Ungereimt wäre nur, wenn wir behaupteten, 
daß in der kurzen Zeit die gleiche Menge von Augen- 
blicken wie in der längeren stecke, oder daß die unend- 
lich vielen Zeitlängen, in welche sich jene zerlegen läßt, 
von einer gleichen Länge, wie bei irgendeiner längeren 
Zeit wären. 

Der Trugschluß endlich, der die Realität des Begriffes 
der Zeit gänzlich vernichten will, liegt ^ so am Tage, daß 
es kaum eines Wortes zu seiner Widerlegung bedarf. Wir 
gestehen ja, daß die Zeit Oberhaupt nichts Existierendes 
sei, und so hat freilich weder die vergangene, noch die 
zukünftige Zeit Existenz; denn selbst die gegenwärtige hat 
keine: aber wie soll hieraus folgen, daß die Zeit nichts 
sei? Sind denn nicht auch Sätze und Wahrheiten an sich 
— etwas, obgleich sich niemand einfallen läßt, zu behaupten, 
daß sie — wenn man mit ihnen nicht ihre Auffassung in 
das Bewußtsein eines denkenden Wesens, also nicht wirk- 
liche Gedanken oder Urteile verwechselt — etwas Exi- 
stierendes wären? 



§ 40. 

Hinsichtlich der Paradoxien in der Lehre vom Räume 
ist es bekannt, daß man auch diesen nicht zu erklären ge- 
wußt; daß man auch ihn häufig für etwas Existierendes 
gehalten, bald mit den Substanzen, die sich in ihm befinden, 
verwechselt, bald ihn sogar für Gott selbst, wenigstens für 
ein Attribut der Gottheit gehalten; daß selbst der große 
Newton auf den Gedanken verfiel, den Raum für das 
Sensorium 4er Gottheit zu erklären; daß man nicht nur 
die im Räume befindlichen Substanzen sich oft bewegen, 
sondern ihn selbst, d. h. die Orte ihre Orte verändern ließ; 
daß man (seit Des Carte s) entdeckt zu haben glaubte, 
nicht alle, sondern nur die sogenannten materiellen Sub- 
stanzen befänden sich im Räume: bis endlich Kant sogar 
auf den unglücklichen, von vielen noch jetzt ihm nach- 
gesprochenen Einfall geriet, den Raum sowohl als die Zeit 



Begriff des Raumes. 79 



gar nicht als etwas Objektives, sondern als eine bloße 
(subjektive) Form unserer Anschauung zu betrachten; 
daß man seitdem die Frage aufgeworfen, ob andere Wesen 
nicht einen anderen Raum, z. B. mit zwei oder vier Dimen- 
sionen, haben; daß endlich Herbart uns vollends mit 
einem doppelten, einem starren und stetigen Raum, 
und einer ebensolchen doppelten Zeit hat beschenken wollen. 
Über dies alles habe ich mich schon an anderen Orten er- 
klärt. 

Mir ist nämlich der Raum, ähnlicherweise wie die Zeit, 
keine Beschaffenheit der Substanzen, sondern nur eine 
Bestimmung an denselben, so zwar, daß ich diejenigen 
Bestimmungen an den geschaffenen Substanzen, welche den 
Grund angeben, warum sie bei dem Besitze ihrer Beschaffen- 
heiten in einer gewissen Zeit gerade diese Veränderungen 
ineinander hervorbringen, die Orte, an welchen sie sich 
befinden, den Inbegriff aller Orte aber den Raum, den 
ganzen Raum nenne. Diese Erklärung setzte mich in den 
Stand, die Lehren der Raurawissenschaft aus jenen der Zeit- 
lehre objektiv abzuleiten, also z. B. zu zeigen, daß und 
warum der Raum drei Ausdehnungen habe u. m. a. 

Die Paradoxien also, die man schon in dem Begriffe 
des Raumes, in jener Gegenständlichkeit, die ihm trotz- 
dem, daß er nichts Wirkliches sei, zukommen soll, in der 
unendlichen Menge seiner Teile und in dem stetigen Ganzen 
gefunden, welches sie untereinander bilden, trotzdem, daß 
auch nicht zwei dieser einfachen Teile (Punkte) einander 
unmittelbar berühren, diese Scheinwidersprüche glaube ich 
nicht femer besprechen zu sollen, sondern als abgetan be- 
trachten zu dürfen. 

Das erste, was eine nähere Beleuchtung noch erheischt, 
möchte wohl der Begriff der Größe einer räumlichen Aus- 
dehnung sein. Daß aller Ausdehnung Größe zukomme, 
darüber ist kein Streit; auch darüber ist man einig, daß 
sich, wie bei der einen zeitlichen, so auch bei den drei 
räumlichen Ausdehnungen die vorkommenden Größen nur 
durch ihr Verhältnis zu einer, die man willkürlich als Maß- 



80 Größe einer räumlichen Ausdehnung. 

einheit angenommen hat, bestimmen lassen; ingleichen, 
daß diese zur Einheit angenommene Ausdehnung von eben 
derselben Art, wie die durch sie zu messenden, also für 
Linien eine Linie, für Flächen eine Fläche, für Körper 
ein Körper*) sein müsse. Fragen wir aber jetzt, worin das 
eigentlich bestehe, was wir die Größe einer räumlichen 
Ausdehnung nennen, so möchte man wohl, zumal da eine 
solche Ausdehnung doch aus nichts anderem als aus Punkten, 
welche nach einer gewissen Regel geordnet sind, besteht, 
bei einer Größe aber nie auf die Ordnung, sondern nur 
auf die Menge der Teile gesehen werden soll — sehr ge- 
neigt sein, zu schließen, nur eben^ diese Menge der Punkte 
sei es, was wir uns unter der Größe eines jeden Raumdinges 
denken; wie dieses auch der Name selbst zu bestätigen 
scheint, wenn wir die Größe einer Fläche oder eines Kör- 
pers geradezu den Inhalt dieser Raumdinge nennen. Den- 
noch zeigt eine nähere Betrachtung, dies sei nicht so. Oder 
wie könnten wir sonst annehmen, was wir doch allgemein 
und unbedenklich tun, daß sich die Größe eines Raum- 
dinges, z. B. eines Würfels, nicht im geringsten ändert, ob 
wir die Umgrenzung desselben, hier also die Oberfläche 



*) Vielleicht ist es manchem nicht unlieb, hier gelegenheit- 
lich die Erklärung dieser drei Arten räumlicher Ausdehnung zu 
lesen. Gesteht man die § 38 gegebene Erklärung einer Aus- 
dehnung überhaupt als richtig zu (und sie hat das Verdienst, 
daß sie mit einer leicht anzubringenden Erweiterung auch auf 
diejenigen Größen der allgepieinen Größenlehre, welche 
man stetig veränderliche nennt, sich ausdehnen läßt), so sage 
ich, ein räumlich Ausgedehntes sei einfach ausgedehnt^ oder 
eine Linie, wenn jeder Punkt für jede hinlänglich kleine Entfer- 
nung einen ^oder mehrere, keinesfalls aber so viele Nachbarn hat, 
daß deren Inbegritf für sich allein schon ein Ausgedehntes 
wäre; ich sage ferner, ein räumlich Ausgedehntes sei doppelt 
ausgedehnt oder eine Fläche, wenn jeder Punkt für jede hin- 
länglich kleine Entfernung eine ganze Linie von Punkten zu seinen 
Nachbarn hat; ich sage endlich, ein räumlich Ausgedehntes sei 
dreifach ausgedehnt oder ein Körper, wenn jeder Punkt für 
jede hinlänglich kleine Entfernung eine ganze Fläche voll Punkte 
zu seinen Nachbarn hat. 



Paradoxien im Begriffe des Raumes. 81 

des Würfels (die doch selbst schon eine Größe hat) mit zu 
dem Inhalte desselben rechnen, oder nicht? Und so ver- 
fahren wir unstreitig, wenn wir z. B. die Größe eines Würfels 
von der Seite 2 achtmal so groß finden, als einen Würfel, 
dessen Seite = i ist, ungeachtet der erste 12 quadratische 
Seitenflächen von der Größe = i weniger hat, als die 
letzteren, indem durch ihre Zusammenstellung in einen 
einzigen Würfel von 24 solchen Quadraten, die in das 
Innere des größeren Würfels kommen, die Hälfte wegfällt. 
Hieraus geht denn hervor, daß wir uns unter der Größe 
einer räumlichen Ausdehnung, sei es Linie, Fläche oder 
Körper, eigentlich doch nichts anderes denken, als eine 
Größe, welche aus einer zur Einheit angenommenen Aus- 
dehnung von derselben Art mit der zu messenden nach 
einem solchen Gesetze abgeleitet wird, daß, wenn wir, nach 
eben diesem Gesetze verfahrend, aus dem Stücke M die 
Größe m und aus dem Stück N die Größe n ableiten, wir 
nach demselben Gesetze verfahrend, aus dem durch die 
Verbindung der Stücke M und N erzeugten Ausgedehnten, 
die Größe m-\'n erhalten, gleichviel ob wir die Grenzen, 
die M und ' N und das aus beiden entstehende Ganze 
M-\- N haben, mit in Betracht ziehen oder nicht. Daß sich 
aus diesem Begriffe die allgemeinsten Fprmeln, welche die 
Raumwissenschaft für die Rektifikation, die Komplanation 
und die Kubierung aufzuweisen hat, in der Tat ableiten 
lassen, ohne daß es sonst einer anderen Voraussetzung, 
namentlich auch nicht der fälschlich so genannten Grund- 
sätze des Archimedes bedürfte, ist in der schon § 37 er- 
wähnten Schrift gezeigt. 

§ 41- 

, Auf die seither gegebenen Erklärungen uns stützend, 
dürfen wir nun ohne Besorgnis, man werde uns eines 
Widerspruches beschuldigen können, Sätze, wie folgende, 
aufstellen, so paradox auch einige für die gewöhnliche 
Vorstellungsweise erscheinen mögen. 

Bolzano, Paradoxien des Unendlichen. ^ 



82 Paradoxien im Begriffe des Raumes. 

1. Der Inbegriff aller Punkte, die zwischen den beiden 
a und b liegen, stellt eine Ausdehnung von einfacher Art 
oder Linie dar; sowohl wenn wir die Punkte a und b mit 
dazurechnen, wo sie dann eine begrenzte Gerade ist, als 
auch wenn wir den einen oder den anderen oder auch beide 
Grenzpunkte nicht dazurechnen, wo sie also unbegrenzt, 
in jedem Falle aber stets von derselben Länge ist, wie 
vorher. Jede dergleichen unbegrenzte Gerade hat an der 
Seite, wo ihr der Grenzpunkt fehlt, eben deshalb keinen 
äußersten (entferntesten) Punkt, sondern hinter jedem steht 
noch ein fernerer, obgleich ihre Entfernung stets eine end- 
liche verbleibt. 

2. Die Umfanglinie eines Dreieckes abc läßt sich zu- 
sammensetzen erstens aus der auf beiden Seiten begrenzten 
Geraden ac^ zweitens der nur auf einer Seite, bei c^ be- 
grenzten aCy und drittens der beiderseits Unbegrenzten bc\ 
ihre Länge aber ist gleich der Summe der drei Längen von 
aby bc und ca. 

3. Wenn wir uns vorstellen, daß die Gerade az durch 
den Punkt b halbiert, das Stück bz abermals durch den 
Punkt c halbiert, das cz wieder durch den Punkt d halbiert 
und so ohne Ende fortgefahren werde; und wenn wir an- 
nehmen, daß diese unendlich vielen Halbierungspunkte 6, 

Cy dy und der Punkt z aus dem Inbegriffe der Punkte, 

die zwischen a und z liegen, hinweggedacht werden sollen: 
so wird der Inbegriff der übrigen noch immer den Namen 
einer Linie verdienen, und ihre Größe wird noch dieselbe 
wie vorhin sein. Rechnen wir aber z mit zu dem Inbe- 
griffe: so ist das Ganze kein stetig Ausgedehntes mehr zu 
nennen; denn der Punkt z steht vereinzelt, weil es für ihn, 
keine auch noch so kleine Entfernung gibt, von der gesagt 
werden könnte, daß er für diese und für jede kleinere einen 
Nachbar in diesem Punkteninbegriffe habe. Nämlich für alle 

az 
Entfernungen, welche der Form —^ unterstehen, fehlt es an 

einem Nachbar für z, 

4. Wenn die Entfernung der Punkte a und b der Ent- 



Paradoxien im Begriffe des Raumes. 83 

femung der Punkte a und ß gleicht: so muß auch die Menge 
der Punkte zwischen a und b der Menge der Punkte zwischen ' 
a und ß gleich angenommen werden. 

5. Ausdehnungen, die eine gleiche Menge von Punkten 
haben, sind auch von gleicher Größe, nicht aber umgekehrt 
müssen zwei Ausdehnungen, welche von gleicher Größe 
sind, auch gleichviel Punkte haben. 

6. Bei einem Paar Raumdingen, welche einander voll- 
kommen ähnlich sind, müssen sich auch die Mengen ihrer 
Punkte genau wie ihre Größen verhalten. 

7. Ist also das Größen Verhältnis zwischen zwei einander 
vollkommen ähnlichen Raumdingen ein irrationales: ist auch 
das Verhältnis zwischen den Mengen ihrer Punkte irrational. 
Es gibt also Mengen (nämlich unendliche nur), deren 
Verhältnis in jeder beliebigen Art irrational ist. 

§ 42. 

Unter diesen Sätzen, deren Anzahl (wie man sieht) leicht 
vermehrt werden könnte, hat meines Wissens der sechste 
allein in den Schriften der Mathematiker schon bisher eine 
Beachtung gefunden; jedoch nur in der Art, daß man im 
Widerstreite mit ihm den Satz aufstellte, ähnliche Linien 
müßten, wie verschieden sie auch in ihrer Größe 
wären, doch eine gleiche Menge von Punkten be- 
sitzen. Solches behauptete Dr. J. K. Fischer (Grundriß 
der gesamten höheren Mathematik. Leipzig, 1809. Bd IL 
§ 51, Anm.) namentlich von ähnlichen und konzentrischen 
Kreisbögen, aus dem beigefügten Grunde, weil sich durch 
jeden Punkt des einen ein Halbmesser ziehen ließe, der 
einem Punkte des anderen begegnet. Bekanntlich aber hat 
schon Aristoteles sich mit dieser Paradoxie beschäftigt. 
Fischers Schlußweise verrät offenbar die Meinung, daß ein 
Paar Mengen, wenn sie auch unendlich sind, einander gleich 
sein müssen, sobald nur jeder Teil der einen mit einem 
der anderen zu einem Paare verknüpft werden kann. Nach 
Aufdeckung dieses Irrtums bedarf es keiner weiteren Wider- 

6* 



84 Unendlich große Entfernungen. 

legung jener Lehre, von der sich überdies gar nicht ein- 
sehen ließe, warum wir, sofern sie richtig wäre, diese Be- 
hauptung der gleichen Punktenmenge nur ebeü auf Kreisbögen 
und auf konzentrisch liegende und ähnliche beschränken 
müßten, da sich der gleiche Grund auch für alle gerade 
Linien und für die verschiedenartigsten, nichts weniger als 
einander ähnlichen Kurven anführen ließe. 



§ 43- 

Kaum gegen eine in die Raumlehre gehörige Wahrheit 
dürften sich die Lehrer dieser Wissenschaft öfter versündigt 
haben, als gegen die, daß jede zwischen zwei Punkten 
im Räume liegende Entfernung, somit auch jede 
auf beiden Seiten begrenzte Gerade nur eine end- 
liche sei, d. h, mit jeder anderen in einem durch bloße 
Begriffe genau bestimmbaren Verhältnisse stehe. Denn es 
wird kaum einen Geometer geben, der nicht Zuweilen von 
unendlich großen Entfernungen gesprochen und eine 
Gerade, die doch nach beiden Seiten hin ihre Grenzpunkte 
haben sollte, unter gewissen Umständen nicht hätte un- 
endlich groß werden lassen. Als Beispiel genüge uns 
hier die Hinweisuüg auf jenes bekannte Linienpaar, welches 
die, im geometrischen Sinne des Wortes zu verstehende, 
Tangente und Sekante eines Winkels oder Bogens genannt 
wird. Diese sollen nach der ausdrücklichen Erklärung ein 
Paar gerade Linien sein, welche nach beiden Seiten hin 
begrenzt sind: und doch wie wenige gibt es, die ein Be- 
denken tragen zu lehren, daß für den rechten Winkel Tan- 
gente sowohl als Sekante unendlich groß würden. Den- 
noch wird man für diese irrige Lehre gleich auf der Stelle 
bestraft durch die Verlegenheit, in die man hierbei gerät, 
sobald man angeben soll, ob diese zwei unendlich großen 
Größen als positiv oder als negativ anzusehen seien? 
Denn offenbar spricht derselbe Grund, der für das eine 
angeführt werden könnte, auch für das andere; weil ja be- 
kanntlich eine durch den Mittelpunkt des Kreises gleich- 



* Gröfie des ganzen Raumes. 85 

laufend zu einer Berührungslinie desselben gezogene Gerade 
zu beiden Seiten dieser Berührenden ein völlig gleiches Ver- 
hältnis hat, daher so wenig auf der einen als auf der anderen 

Seite mit ihr zusammenstößt. Auch in dem Größenaus- 

I 
drucke für diese beiden Linien = — liegt, da Null weder 

o 

als positiv noch als negativ angesehen werden kann, nicht 
der geringste Grund, diese vermeintlich unendliche Größe 
eher für positiv oder für negativ zu erklären. Es ist also 
nicht bloß paradox, sondern ganz falsch, das Vorhanden- 
sein einer unendlich großen Tangente des rechten Winkels 
sowie sämtlicher Winkel von der Form 

-\-iin-\ 

anzunehmen. 

Daß es, strenge gesprochen, auch für den Winkel = o 
oder für den = + n • jr weder Sinus noch Tangente gäbe, 
sei bloß gelegentlich erinnert. Der Unterschied in diesen 
beiden Annahmen ist bloß, daß sich bei letzterer kein fal- 
sches Ergebnis herausstellt, wenn man in Fällen, wo diese 
Größenausdrücke als Faktoren erscheinen, die Produkte wie 
gar nicht vorhanden betrachtet, dort aber, wo sie als Divi- 
soren auftreten, schließt, daß die Rechnung etwas Ungesetz- 
liches verlange. 

§ 44- 

Ein ebenso unberechtigtes Verfahren, welches jedoch 
glücklicherweise wenig Nachahmer fand, war es, wenn J oh. 
Schulz die Größe des ganzen unendlichen Raumes 
berechnen wollte, indem er aus dem Umstände, daß sich 
aus jedem gegebenen j^unkte a nach allen Seiten hin, d. h. 
in jeder Richtung, die es nur immer gibt, gerade Linien 
in das Unendliche hinaus gezogen denken lassen, und aus 
dem ferneren Umstände, daß jeder nur immer gedenkbare 
Punkt m des ganzen Weltraumes in einer und nur in einer 
dieser Linien liegen müsse, sich zu dem Schlüsse berechtigt 



86 Größe des ganzen Raumes. * 

hielt, daß man den ganzen unendlichen Raum als eine Kugel 
ansehen dürfe, die aus dem willkürlich gewählten Punkte a 
mit einem Halbmesser von der Größe = oo beschrieben 
wäre; woraus sich ihm denn sofort ergab, daß der ganze 

unendliche Raum genau nur die Größe — tz oo^ habe. 

3 
Es wäre ohne Zweifel einer der wichtigsten Lehrsätze 

der Raumwissenschaft, wenn dies als wahr gerechtfertigt 
werden könnte. Und gegen die beiden Vordersätze (die 
ich jedoch hier eben nicht genau nach Schulzens, mir 
nicht vor Augen liegenden Vortrage darstellte) dürfte sich 
kaum etwas Gegründetes einwenden lassen. Denn wollte 
jemand sagen, der zweite Vordersatz müsse schon darum 
irrig sein, weil aus ihm eine sehr ungleiche Verteilung der 
Punkte im Welträume, nämlich eine viel dichtere Anhäufung 
um den doch willkürlich zu wählenden Mittelpunkt a her- 
um folgen würde: so gäbe er nur zu erkennen, das § 21 f. 
von uns bekämpfte Vorurteil noch nicht überwunden zu 
haben. Gefehlt und ganz offenbar gefehlt hat Schulz nur 
darin, daß er die Geraden, die aus dem Punkte a nach 
allen Richtungen ins Unbegrenzte hinaus gezogen sein 
müssen, wenn jeder Punkt des Raumes in irgendeiner der- 
selben gelegen sein soll, dennoch als Halbmesser, somit 
als beiderseits begrenzte Linien annahm. Denn nur aus 
dieser Voraussetzung ist ja die Kugelgestalt des unendlichen 

q 

Raumes und die Berechnung seiner Größe == — jrooS g^. 

folgert. Aus diesem Irrtume fließt aber auch die Ungereimt- 
heit, daß — weil es zu jeder Kugel doch auch einen sie 
umschließenden Zylinder oder auch einen dergleichen 
Würfel, ja noch gar viele andere Raumding^, z. B. unend- 
lich viele sie umgebende andere Kugeln von gleichem 
Durchmesser geben muß — der angeblich ganze Raum 
nicht der ganze, sondern ein bloßer Teil ist, der noch un- 
endlich viele andere Räume außer sich liat. 

Die einzige Bemerkung, daß eine, auch nur nach einer 
Seite hin in das Unendliche hinaus gezogene Linie eben 



Unendlich kleine Entfernungen. 87 



deshalb keine nach dieser Seite hin begrenzte Linie sei, 
daß also auch von einem Grenzpunkte derselben so wenig 
gesprochen werden könne, wie etwa von der Spitze einer 
Kugel oder der Krümmung einer Geraden oder eines ein- 
zelnen Punktes, oder dem Punkte des Zusammenstoßes zweier 
Gleichlaufenden — diese einzige Bemerkung, sage ich, reicht 
hin, um die meisten Paradoxien ^my5/mfl inßnittjy die B ose o- 
wich in s. Diss. de transformatione locorum geometricorum 
(angehängt s. Elem. univ, Matheseos T. III, Romae 1754) 
vorgebracht hat, in ihrer Nichtigkeit zu zeigen. 



§ 45- 

Nicht viel seltener als unendlich große hat man auch 
unendlich kleine Entfernungen und Linien im Räume 
angenommen, besonders wenn es ein scheinbares Bedürfnis 
wurde, Linien oder Flächen, deren kein Teil (der noch selbst 
^ ausgedehnt ist) gerade oder eben ist, gleichwohl als solche, 
die gerade oder eben sind, zu behandeln, z. B. um ihre 
Länge oder die Größe ihrer Krümmung oder auch wohl 
gewisse für die Mechanik merkwürdige Beschaffenheiten 
derselben leichter bestimmen zu können. Ja man erlaubte 
sich in solchen Fällen sogar, Entfernungen zu erdichten, 
die durch unendlich kleine Größen der zweiten, dritten u. a. 
höherer Ordnungen gemessen werden sollen. 

Daß man bei diesem Verfahren, besonders in der Geo- 
metrie^ nur selten auf ein falsches Resultat geriet, hatte 
man, bloß dem schon § 37 erwähnten Umstände zu danken, 
daß die veränderlichen Größen, die sich auf räumliche Aus- 
dehnungen, welche bestimmbar sein sollen, beziehen, von 
einer solchen Beschaffenheit sein müssen, daß sie, höchstens 
mit Ausnahme einzelner isoliert .stehender Werte, eine 
erste, zweite und jede folgende abgeleitete Funktion haben. 
Denn wo dergleichen bestehen, da gilt dasjenige, was von 
den sogenannten unendlich kleinen Linien, Flächen und 
Körpern behauptet wird, insgemein schon von allen Linien, 
Flächen und Körpern, die — ob sie gleich stets endlich 



88 Unendlich kleine Entfernungen. 

verbleiben — doch so •klein, als man nur will, genommen 
werden, d. h. (wie man sich ausdrückt) in das Unendliche^ 
abnehmen können. Solche veränderliche Größen also waren 
es eigentlich, von denen galt, was man nur fälschlicherweise 
von den unendlich kleinen Entfernungen aussagte. 

Daß aber bei einer solchen Darstellung der Sache immer 
doch viel Paradoxes, ja ganz Irriges vorgebracht und schein- 
bar erwiesen werden mußte, begreift sich von selbst. Wie 
anstößig klang es z. B. schon, wenn man von jeder krum- 
men Linie und Fläche behauptete, daß sie nichts anderes 
sei, als eine Zusammensetzung aus unendlich vielen geraden 
Linien und ebenen Flächen, die nur unendlich klein vor- 
ausgesetzt werden müßten, besonders wenn daneben wie- 
der unendlich kleine Linien und Flächen, die gleichwohl 
krumm seien, zugestanden wurden. Wie sonderbar war es, 
wenn man von Linien, welche in einem ihrer Punkte gar 
keine Krümmung, sondern z.*B. einen Wendepunkt haben, 
behauptete, daß ihre Krümmung in diesem Punkte unend- 
lich klein, ihr Krümmungshalbmesser also unendlich groß 
wäre; oder von Linien, die in einem ihrer Punkte in eine 
Spitze auslaufen, daß ihre Krümmung hier unendlich groß, 
ihr Krümmungshalbmesser unendlich klein wäre, u. dgl. m. 



§ 46. 

Als ein recht auffallendes und zugleich sehr einfaches 
Beispiel, zu welchen Ungereimtheiten die Annahme solcher 
unendlich kleinen Entfernungen Stoff und Veranlassung dar- 
bot, erlaube ich mir hier nur die Anführung eines Satzes, 
den nach Kästners Berichte (Anfangsgründe der höheren 
Analysis, Bd. IL Vorr) schon Galilei in s. Discorsi e dimo- 
strazioni matematiche etc., wohl nur in der Absicht, um das 
Nachdenken zu wecken, aufgestellt hatte, nämlich, daß der 
Umfang eines Kreises so groß als dessen Mittel- 
punkt wäre. 

Um eine Vorstellung von der Art, wie man dies dar- 
zutun suchte, zu erhalten, denke der. Leser sich ein Qua- 



Paradoxie von Galilei. 



89 



drat abcd^ darin aus a als dem Mittelpunkte mit dem Halb- 
messer ab = a der Quadrant bd beschrieben, dann die Ge- 
rade pr parallel zu ab gezogen 
ist, die die beiden Seiten des Qua- ••' 
drats ad und bc in p und r, die 
Diagonale ac in fty und den Qua- 
dranten in m schneidet, kurz die 
bekannte Figur, durch die man 
darzutun pflegt, daß ein Kreis mit 
dem Halbmesser pn gleich sei dem 
Ringe, der durch Abzug des Krei- 
ses mit pm von dem mit pr zurückbleibt; oder daß 




2 



jt • pn^ =z 7t • pr^ — 7t -pm 



sei. Wenn pr stets näher zu ab heranrückt, wird offenbar 
der Kreis mit pn stets kleiner und der Ring zwischen den 
Kreisen mit pm und pr immer schmaler. Geometer also, die 
keinen Anstoß an unendlich kleinen Entfernungen nahmen, 
dehnten dieses Verhältnis auch auf den Fall aus, wenn pr 
unendlich nahe an aÄ heranrückt, also z. B. der Abstand 
ap = dx wird, wo dann die Gleichung 



71 



. dx2 = jr . a2 — jT (a2 — dx«) 



eintreten sollte, die sich auch in der Tat als eine bloß 
identische rechtfertigt. In diesem Falle aber war ihrer Vor- 
stellung nach der Kreis mit pn ein unendlich Kleines- der 
zweiten Ordnung geworden; der Ring dagegen, der nach 
dem Abzüge des Kreises mit pm von dem mit pr übrig- 
bleibt, hatte jetzt nur die Breite 



1 dx2 . I 
nir = — 

2 a ' 2*4 



dx^ 



\~ • • • • » 



die selbst schon ein unendlich Kleines der zweiten Ord- 
nung war, erhalten. Wurde nun vollends angenommen, 
daß pr gänzlich in ab übergehe, so zog sich der unend- 



90 Paradoxie von Galilei. 



9 

lieh kleine Kreis mit pn in den einzigen Punkt a zusammen, 
und der unendlich schmale Ring, von der Breite mr ver- 
wandelte sich in die bloße Umfangslinie des Kreises mit 
dem Halbmesser ab^ Daher man berechtigt zu sein schien 
zu dem Schlüsse, daß der bloße Mittelpunkt a jedes be- 
liebigen Kreises mit ab so groß als die ganze Umfangslinie 
desselben wäre. 

Das Täuschende in diesem Schlüsse wurde vornehm- 
lich durch die Einmengung des unendlich Kleinen erzeugt. 
Durch dieses nämlich wurde der Leser auf eine Gedanken- 
reihe geleitet, die ihn viel leichter übersehen läßt, wie vieles 
Ungereimte in den Behauptungen liegt, daß von dem Kreise 
mit pUy wenn statt des Punktes p zuletzt der Punkt a zu 
betrachten kommt und gar kein Halbmesser wie pn mehr 
vorhanden ist, doch noch der Mittelpunkt a bleibe, 
und daß ebenso der durch den Abzug des Kreises mit dem 
kleineren Halbmesser pm von dem Kreise mit dem größeren 
Halbmesser pr entstehende Ring zuletzt, wenn beide Halb- 
messer und somit auch Kreise einander gleich werden, zur 
Umfangslinie des vorhin größeren werde. Denn freilich 
bei den unendlich kleinen Größen ist man gewohnt, die- 
selben Größen bald als einander gleich, bald wieder die 
eine als um ein unendlich Kleines einer höheren Ordnung 
größer oder kleiner als die anderen, bald auch als völlig 
gleich der Null zu betrachten. Wollen wir schlußgerecht 
verfahren, so dürfen wir aus der richtig angesetzten Gleichung 

jr . pn2 = jr . pr^ — jr.pm^ 

welche die bloßen Größen (Flächeninhalte) der in Rede 
stehenden Kreise vergleicht, - nichts anderes schließen, als 
daß für den Fall, wo pr und pm einander gleich werden, 
der Kreis mit pn gar keine Größe habe, demnach gar nicht^ 
vorhanden sei. 

Wahr ist es freilich (und ich habe die zu dieser Wahr- 
heit führenden Prämissen § 41 selbst aufgestellt), daß es 
auch Kreise mit und ohne Umfangslinie gäbe, und daß dies 



Zykloide. 91 

an der Größe derselben, die lediglich von der Größe ihres 
Halbmessers abhängt, nichts ^ ändere. Und daraus könnte 
wohl jemand noch einen neuen Scheinbeweis für den Satz 
Galileis hernehmen wollen, indem er von der allerdings er- 
laubten Forderung ausginge, daß man den Kreis mit pm 
sich ohne Umfangslinie, den Kreis mit pr aber samt seiner 
Umfangslinie denken solle. Dann nämlich würde nach 
Hin wegnähme des Kreises mit pm von dem mit pr^ wenn 
wir von pr zu ab übergehen, in der Tat. nur die Umfangs- 
linie des Kreises mit ab übrigbleiben. Aber auch jetzt 
noch ließe sich von keinem Kreise um a, der sich in einen 
einzigen Punkt zusammengezogen habe, sprechen, und noch 
viel weniger wäre es erlaubt, sich auf die obige Gleichung 
berufen zu wollen, um aus ihr zu folgern, daß der Punkt a 
und jene Umfangslinie einander gleich groß wären, da die 
besagte Gleichung nur von den Größen der drei Kreise, 
sie mögen mit oder ohne Umfangslinien betrachtet werden, 
handelt. 



§ 47- 

Das eben besprochene Beispiel wurde, wie schon er- 
wähnt, von seinem Erfinder selbst nicht aufgestellt, um als 
Wahrheit angestaunt zu werden» Als ernste Wahrheit aber 
lehrt man von der gemeinen Zykloide, sie habe in dem 
Punkte, wo sie auf ihre Grundlinie trifft, eine unendlich 
große Krümmung oder (was ebensoviel heißt) einen un- 
endlich kleinen -Krümmungshalbmesser und stehe hier in 
senkrechter Richtung auf. Es hat dies auch seine völlige 
Richtigkeit, versteht man es so, daß der Krümmungs- 
halbmesser in das Unendliche abnimmt, während der Zy- 
kloidalbogen sich der Grundlinie in das Unendliche nähert; 
wie auch, daß seine Richtung in dem Punkte des Eintrittes 
selbst eine senkrechte ist. Nur was von dem unendlich 
kleinen oder zu Null gewordenen Krümmungshalbmesser 
gesagt wird, besteht (richtiger ausgedrückt) bloß darin, daß 
(weil die Kurve bekanntlich über ihrer Grundlinie nach 



/ 



92 Zykloide. 

beiden Seiten hin in das Unendliche fortgeht und somit 
keine Grenzpunkte hat) auch in diesem Punkte zwei 
BogenstQcke zusammentreffen, und zwar in der Art, daß 
sie, weil beide senkrecht auf der Grundlinie stehen, hier 
miteinander eine Spitze bilden, und zwar eine solche, wo 
beide nur eine und dieselbe Richtung haben, oder (wie 
man schon minder richtig sagt) mit ihren Richtungen hier 
den Winkel Null einschließen. 

Allein man kann durch Rechnung überzeugt sein, daß 
sich dies alles in der Tat so verhalte, und doch nicht be- 
greifen, wie es so komme, ja auch nur möglich seL Um 
auch dies einleuchtend zu machen, wodurch das Para- 
doxon erst gelöst wird, müssen wir zuvor begreifen, warum 
die Richtung, in welcher die gemeine Zykloide über ihre 
Grundlinie emporsteigt, eine senkrechte sei. 

Aus der Art, wie die gemeine Zykloide konstruiert 
werden kann, nämlich, daß man aus jedem Punkte o der 
Basis einen diese berührenden Kreisbogen mit dem Halb- 
messer des erzeugenden Kreises beschreibt und, von dem- 
selben ein Stück om von gleicher Länge mit der Entfer- 
nung des Punktes o vom Anfangspunkte a abschneidend, 
m als einen Punkt der Zykloide betrachtet — ergibt sich 
sofort, daß der Winkel mao einem rechten immer näher- 
tritt, je näher man mit dem Punkte o z\i a rückt, indem 
der Winkel moa^ dessen Maß der halbe Bogen om ist, 
immer kleiner und das Verhältnis der beiden Seiten oa 

und om im Dreiecke moa sich 
immer mehr dem Verhältnisse 
der Gleichheit nähert; daher 
die Winkel an der dritten 
Seite am sich immer weniger 
vom rechten unterscheiden. 
Die wirkliche Berechnung 
zeigt dies ganz deutlich. Hier- 
aus folgt aber noch überdies, 
daß der Zykloidalbogen am ganz auf derselben Seite der 
Chorde aw, namentlich zwischen ihr und dem aus a er- 




Zykloide. 93 

richteten Lote at liege; somit, daß dieses die Richtung 
der Kurve im Punkte a bezeichne. Beschreiben wir ferner 
aus o als Mittelpunkt einen von a ausgehenden Kreisbogen 
mit oa\ so ist offenbar, daß dieser die Chorde ont ersi in 
einem Punkte r ihrer Verlängerung schneide, weil 

or = oa]>om 

sein muß. Ist nun fi irgendein noch näher an a liegender 
Punkt der Kurve, so gibt es für ihn ein noch näher an a 
liegendes co in der ao von der Art, daß von der Chorde 
(Ofx dasselbe gilt, was soeben von der om behauptet wurde^ 
nämlich, daß ein aus a> als Mittelpunkt- mit dem Halb- 
messer (Da beschriebener Kreisbogen in die Verlängerung 
cofi über /i irgendwo in q eintrifft. Wegen (oa<^oa liegt 
aber der . Kreisbogen ag innerhalb des Kreisbogens ar, 
also zwischen dem Zykloidalbogen afx und dem Kreis- 
bogen ar. Wir sehen demnach, daß es zu jedem, mit 
noch so kleinem Halbmesser oa beschriebenen Kreisbogen 
ar, den die Zykloide am in a berührt, einen, anderen ag 
gibt, der ihr noch näherkommt in dieser Gegend; mit 
anderen Worten, daß es keinen auch noch so kleinen Kreis 
gibt, der sich als Maß der in a stattfindenden Krümmung, 
falls es hier eine gibt, ansehen ließe. Es gibt also hier 
in Wahrheit keine, Krümmung, sondern die Kurve, die in 
diesem Punkte nicht endet, hat hier, wie wir schon wissen, 
eine Spitze. 

§48. 

Paradox hat man es auch häufig gefunden, daß manche 
räumliche Ausdehnungen, die sich durch einen unend- 
lichen Raum verbreiten (d. h. Punkte haben, deren Ent- 
fernung voneinander jede gegebene Entfernung übersteigt), 
gleichwohl nur eine endliche Größe, und wieder andere, 
die in einem ganz endlichen Räume beschränkt 
sind (d. h. deren sämtliche Punkte so liegen, daß ihre Ent- 
fernungen voneinander eine gegebene nicht überschreiten)^ 



94 Paradoxien bei räumlichen Ausdehnungen. 

doch eine unendliche Größe besitzen; oder endlich, daß 
manche räumliche Ausdehnung eine endliche Größe behält, 
ob sie gleich unendlich viele Umgänge um einen 
Punkt herum macht. 

I. Wir müssen hier vor allem unterscheiden, ob unter 
der räumlichen Ausdehnung, von welcher hier gesprochen 
wird, ein aus mehreren voneinander getrennten Teilen 
bestehendes Ganze (dergleichen z. B. die mit vier Zweigen 
versehene Hyperbel ist), oder nur ein durchaus zusam- 
menhängendes Ganze, d. h. nur eine solche Ausdeh- 
nung verstanden werdei\ soll, die keinen einzigen, selbst 
noch eine Ausdehnung darstellenden Teil hat, an dem nicht 
wenigstens ein Punkt vorhanden wäre, der, zu den übrigen 
Teilen gerechnet, mit ihnen abermals ein Ausgedehntes 
«bildet. 

Daß eine Ausdehnung, die aus getrennten Teilen be- 
steht, durch einen unendlichen Raum sich ausbreiten könne, 
ohne darum schon unendlich groß zu sein, wird niemand 
anstößig finden, der daran denkt, daß auch eine unendliche 
Reihe von Größen, wenn sie im geometrischen Verhältnisse 
abnehmen, eine bloß endliche Summe darbietet. In diesem 
Sinne also kann allerdings auch eine Linie sich ins Un- 
endliche verbreiten, und doch nur endlich sein, wie gleich 
diejenige, welche zum Vorschein kommt, wenn wir aus 
einem gegebenen Punkte a in gegebener Richtung aR eine 
begrenzte Gerade ab auftragen, dann aber in einem sich 
immer gleichbleibenden Abstände eine Gerade cd, welche 
nur halb so groß als die vorige ist, auftragen, und nach 
demselben Gesetze in das Unendliche fortfahren. 

Sprechen wir aber — und das soll in dem nun Folgen- 
den immer geschehen — nur von solchen räumlichen Aus- 
dehnungen, die ein zusammenhängendes Ganzes ge- 
währen: so ist wohl einleuchtend, daß unter den Ausdeh- 
nungen der niedrigsten Art, d. h. den Linien, keine 
zu finden sein könne, die sich in das Unendliche erstreckt, 
ohne zugleich eine unendliche Größe (Länge) zu haben. 
Denn so ergibt es sich ja schon mit Notwendigkeit aus der 



Parädoxien bei räumlichen Ausdehnungen. 95 

bekannten Wahrheit, daß die kürzeste durchaus zusammen- 
hängende Irinie, die zwei gegebene Punkte miteinander ver- 
binden soll, nur die Gerade zwischen denselben ist*). 

Anders als bei den Linien ist es bei den Flächen, 
die bei derselben Länge bloß durch Verminderung ihrer 
Breite, und bei den Körpern, die bei derselben Länge 
und Breite bloß durch Verminderung ihrer Höhe so klein, 
als man nur will, gemacht werden können. Daraus begreift 
sich denn, warum auch Flächen, die eine unendliche Länge, 
' und Körper, die neben einer unendlichen Länge auch eine 
unendliche Breite haben, zuweilen doch nur eine endliche 



*) Weil der Beweis dieser Wahrheit so kurz ist, erlaube ich 
mir, ihn dieser Note einzuverleiben. Ist die Linie amonb nicht 
gerade, so muß es irgendeinen Punkt o in ihr geben, der außer- 
halb der Geraden ab liegt und es sind, wenn wir aus o das Lot 




oco auf ab fällen, die Entfernungen 

aox^ao, bcö<^bo. 

Da aber alle Systeme zweier Punkte einander ähnlich sind, so 
gibt es zwischen den Punkten a und cd eine Linie afiw^ ähnlich 
dem zwischen den Punkten a und o liegenden Stücke amo der 
gegebenen amonb ^ und zwischen den Punkten b und co ebenfalls 
eine Linie bvm. ähnlich dem zwischen den Punkten b und o lie- 
genden Stücke Awo der gegebenen bnoma. Diese Ähnlichkeit 
aber fordert auch, daß sich die Länge der Geraden a<o zur Länge 
der afiG> verhalte wie die Länge der Geraden ao zur Länge des 
Stückes amo und die Länge der Geraden b<o zur Länge bvco wie 
die Länge der Geraden bo zur Länge des Stückes bno. Weil 
mm acö<ao, so muß auch afi<o<^alno und weil box^boy so 
muß auch bvco <C bno sein. Folglich ist auch das Ganze afi(ovb<i 
das Ganze amonb. Die krumme Linie amonb ist also nicht die 
kürzeste zwischen a und b, sondern die aficovb ist kürzer. 



96 Paradoxien bei räumlichen Ausdehnungen. 

Größe behaupten. Ein Beispiel, daß auch der Unkundigste 
begreiflich finden wird, geben wir ihm, wenn wir verlangen, 
daß er sich auf der in das Unendliche fortlaufenden Ge- 
raden aR die gleichen StQcke ab=^i = bc=^cd^^ usw., 
in das Unendliche aufgetragen denken, sodann über dem 
ersten Stücke ab das Quadrat 6a, über dem zweiten bc 
das Rechteck cy^ das nur die halbe H<)he bc hat, und so 



\ 



ß 


\ 






y 




^1 




1 1 



R 



über jedem folgenden ein Rechteck, halb so hoch als das 
nächstvorhergehende vorstellen wolle, wo er gewiß sehr 
bald erkennen wird, daß die zusammenhängende Fläche, 
die ihm hier vorschwebt, in das Unendliche reicht und 
doch nicht größer als 2 ist. Nicht schwieriger wird es 
ihm sein, sich einen Würfel zu denken, dessen Seite = i 
ist, und diesem in Gedanken einen zweiten Körper unter- 
zustellen, dessen Grundfläche ein Quadrat von der Seite 2, 
also viermal so groß, als die Grundfläche des vorigen 
Würfels, die Höhe aber nur \ beträgt; diesem hierauf einen 
dritten unterzusetzen, dessen Grundfläche abermals ein 
Quadrat viermal so groß als des nächstvorhergebenden, 
die Höhe aber \ von der Höhe des vorigen Körpers be- 
trägt — und sich vorzustellen, daß nach demselben Gesetze 
in das Unendliche fortgefahren würde. Er wird begreifen, 
daß die Länge und Breite der Körper, die hier im Ver- 
folge untersetzt werden, in das Unendliche wachsen, ob- 
gleich ihr körperlicher Inhalt nur immer kleiner wird, so 
zwar, daß jeder folgende die Hälfte von dem nächstvorher- 
gehenden beträgt; daß also die Größef des pyramidalischeu 
Ganzen, das so zum Vorschein kommt, trotz seiner un- 
endlichen Basis doch ifie den körperlichen« Inhalt =2 über- 
stdge. 



Paradoxien bei räumlichen Ausdehnungen. 97 

2. Wie der bisher betrachtete Fall, wo eine Ausdeh- 
nung, die etwas Unendliches (eine unendliche Länge oder 
auch Breite) an sich hat, und gleichwohl von einer nur 
endlichen Größe befunden wird, nur bei den zwei höheren 
Arten der Ausdehnung, den Flächen und Körpern, nicht 
aber bei Linien eintreten kann: so findet das Gegenteil bei 
dem Falle statt, auf den wir jetzt zu sprechen kommen, 
wo eine Ausdehnung, die deshalb endlich scheint, weil sie 
in einen ganz endlichen Raum beschränkt ist, in der Tat 
doch eine unendliche Größe besitzt. Dieser Fall nämlich 
kann nur bei den zwei niederen Arten der Ausdehnung, 
den Linien und Flächen, keineswegs aber bei Körpern 
Platz greifen. Ein Körper, in dem es keine Punkte gibt, 
deren Entfernungen voneinander jede gegebene Größe über- 
schreiten, kann sicher nicht unendlich groß sein. So er- 
gibt es sich unmittelbar aus der bekannten Wahrheit, daß 
unter allen Körpern, deren Punkte eine gegebene Entfer- 
nung jE", der eine von dem anderen nicht überschreiten 
sollen, der größte eine Kugel vom Durchmesser E sei. 
Denn diese enthält jene Punkte. allzumal, und ihre Größe 

ist nur — «E^; jeder andere diesen Raum nicht überschrei- 

tende Körper muß also notwendig kleiner als — «E^ sein. 

Der Linien dagegen, die sich in den Raum einer einzigen, 
auch noch so kleinen Fläche, z. B. eines Quadratschuhes, 
einzeichnen lassen, gibt es unendlich viele, und jeder aus 
ihnen können wir eine wenigstens endliche Größe, z. B. die 
Länge eines Schuhet, erteilen, auch durch Hinzufügung 
einer oder auch unendlich vieler Verbindungslinien sie alle 
zu einer einzigen durchaus zusammenhängenden Linie ver- 
einen, deren Länge dann gewiß eine unendliche sein muß. 
Und völlig ebenso gibt es der Flächen, die sich in den 
Raum eines einzigen, auch noch so kleinen Körpers, 
z. B. eines Kubikschuhes, einzeichnen lassen, unendlich 
viele, deren jeder wir eine Größe, z. B. die eines Quadrat- 
schuhes, erteilen können, und durch Hinzufügung einer oder 

Bolzano, Paradoxien des Unendlichen. 7 



98 Paradoxien bei räumlichen Ausdehnungen. 

auch uneijidlich vieler Verbindungsflächen können wir alle 
diese Flächen zu einer einzigen vereinen, deren Größe dann 
unstreitig eine unendlich große sein wird. Dieses alles kann 
auch niemand wundernehmen, der nicht vergißt, daß es 
nicht etwa dieselbe Einheit isei, mit der wir Linien, Flächen 
und Körper messen, und daß, obgleich die Menge der 
Punkte schon in jeder auch noch so klemen Linie eine 
unendliche ist, in einer Fläche diese Menge jedenfalls noch 
unendlichemal größer als in der Linie, in einem Körper 
endlich mit ebensolcher Gewißheit unendlichemal größer als 
in der Fläche vorausgesetzt werden muß. 

3. Das dritte, im Anfange dieses Parajgraphen erwähnte 
Paradoxon lautete, daß es auch Ausdehnungen gäbe, die 
eine unendliche Menge von Umläufen um einen gewissen 
Punkt herum machen, und dabei gleichwohl eine endliche 
Größe behalten. Soll eine solche Ausdehnung linear sein, 
so kann dies, wie wir soeben in Nr. i sahen, nur dann 
erfolgen, wenn sich die ganze Linie in einem endlichen 
Räume befindet. Unter dieser Bedingung aber liegt durch- 
aus nichts Unbegreifliches in der Erscheinung, daß sie eine 
endliche Länge behalte, obgleich sie der Umläufe um einen 
gegebenen Punkt unendlich viele vollbringt; wird nur die 
fernere Bedingung noch erfüllt, daß diese Umläufe von 
einer endlichen Größe beginnend, in der gehörigen Weise 
bis ins Unendliche abnehmen, eine Forderung, die wieder 
durch den Umstand ermöglicht wird, daß es ein bloßer 
Punkt ist, um welchen jenjp Umläufe erfolgen sollen. Denn 
dies erlaubt, daß die Entfernungen, welche die einzelnen 
Punkte eines solchen Umlaufes von diesem Mittelpunkte 
und somit auch untereinander selbst haben, in das Unend- 
liche abnehmen können; wo dann die Kreislinie selbst uns 
lehrt, daß auch die Länge dieses Umlaufes in das Unend- 
liche vermindert werden könne. Die logarithmische 
Spirale, wenn bloß dasjenige Stück derselben ins Auge 
gefaßt werden soll, das, anzufangen von einem gegebenen 
Punkte dem Centro stets sich annähert, ohne doch je in 
dasselbe einzufallen, wird sich unseren Leseren als Beispiel 



Paradozien bei räumlichen Ausdehnungen. 99 ^ 

einfer Linie, wie die hier besprochene, von selbst schon 
aufgedrungen haben. 

Soll aber die räumliche Ausdehnung, welche der Um- 
läufe um einen gegebenen Punkt unendlich viele macht, 
eine Fläche oder ein Körper $ein: so bedarf es nicht ein- 
mal der beschränkenden Bedingung, daß sich das Raum- 
ding mit keinem seiner Punkte über eine bestimmte Weite 
von seinem Mittelpunkte entferne. Denn um mich auf die 
kürzeste Weise verständlich zu machen, denke sich der Leser 
die nur erwähnte Spirale als eine Art Abszissenlinie, aus 
deren jedem Punkte Ordinaten senkrecht auf sie und ihre 
Ebene hervorgehen. Der Inbegriff all dieser Ordinaten 
bildet dann ofFenbfir eine Fläche (von der Art der zylin- 
drischen), die nach der einen Seite hin sich in unendlich 
vielen Windungen dem Mittelpunkte naht, ohne ihn Je zu 
erreichen, nach der anderen aber sich ins Unendliche ent- 
fernt. Wie groß diese Fläche sei, wird von dem Gesetze 
abhängen, nach dem wir die Ordinaten zu- oder abnehmen 
lassen. Der dem Mittelpunkte zueilende Teil aber wird 
jederzeit endlich verbleiben, solange wir die Ordinaten 
nach dieser Seite (d. h. über dem nur endlichen Abszissen- 
zweige) hin nicht ins Unendliche zunehmen lassen, weil jede 
Fläche, in der weder Abszisse . noch Ordinate ins Unend- 
liche wachsen, endlich ist. Doch auch der Teil der Fläche, 
der über dem anderen sich ins Unendliche entfemendeh 
Spiralzweige steht, wird endlich bleiben, so oft die Ordi- 
naten in einem schnelleren Verhältnisse abnehmen als die 
Abszissen (d. h. die Bogenlänge der Spirale) zunehmen. 
Wählen wir also zur Abszissenlinie die natürliche Spirale, 
wo der von dem Radius = i dem Mittelpunkte zueilende 
Zweig die Länge ]/2 hat, und nehmen zur Begrenzung der 
Fläche dei\ Bogen einer Hyperbel höherer Art, für den die 
Gleichung yx^ = a^: so hat derjenige Teil dieser Fläche, 
der von x = a zu allen höheren Werten von x gehört, doch 
nur die Größe a^, während der andere, zu allen kleineren 
Werten von x gehörige Teil in das Unendliche wächst. 
Nehmen wir aber a'^^2 und verlegen den Endpunkt der 

7* 



100 Paradoxten bei räumlichen Aasdehniuigen« 

Abszisse x^=a auf den Punkt der Spirale, der den Radius 
I hat, so fällt ihr Mittelpunkt mit dem Endpunkte der Ab- 
szdsse x = a — ^2 zusammen, hat also noch eine endliche 
Ordinate, und der Teil derselben, der über diesem Zweige 
der Spirale liegt, ist nicht größer als 



a» 



\a x/ a — /3 \a — yä 




die ganze nach beiden Seiten hin die Spirale bedeckende 
Fläche (die zu erhalten wir ihre beiden Größen nach ihrem 
positiven" Werte addieren müssen) ist also 



a« + 



a* A , a* 




,— /2 / a — 1/2 

Also 2. B. für a = 2 beträgt die ganze Fläche nur 4 (2 -f- /a). 
Eine sehr ähnliche Bewandtnis hat es auch mit den 
körperlichen Ausdehnungen. Nur ist zu bemerken, daß hier 
der gegen den Mittelpunkt zueilende Teil des Körpers, 
wollte man seine Ausdehnung in die Breite und Dicke zu- 
nehmen lassen, in den Raum seiner eigenen nächst an- 
grenzenden Umläufe (rechts und links) eingreifen würde. 
Wollte man dieses vermeiden, und einen Körper haben, 
dessen sämtliche Teile auseinander liegen, ^so käme man 
unter anderem auch schon dadurch zum Ziele, daß man 
einer Fläche von der Art, wie die nur eben betrachtete 
war, die bei ihrer Annäherung an den Mittelpunkt an 
Breite immer zunahm, noch eine dritte Dimension, eine 
Dicke beilegte, die jedoch gegen den Mittelpunkt zu in 
einem solchen Verhältnisse sich verminderte, daß sie stets 
weniger als die Hälfte des zwischen zwei nächsten Spiral- 
windungen liegenden Abstandes beträgt. 

§ 49. 

Räumliehe Ausdehnungen, die eine unendliche Größe 
beftit^en, stehen eben in Hinsicht auf diese Größe selbst 



Menge der Punkte in räumlichen Ausdehnungen. 101 

in so verschiedenartigen und oft so paradoxen Verhältnissen , 
daß wir wenigstens einige derselben noch in besondere 
Betrachtung ziehen müssen. 

Daß auch ein Raumding, das eine unendliche Menge 
von Punkten enthält, darum noch keine stetige Ausdehnung 
sein müsse; wie auch, daß es bei einer stetigen Ausdeh- 
nung nicht eben die Menge der Punkte sei, die wir durch 
ihre Größe bestimmen; daß von zwei Ausdehnungen, die 
wir als gleich groß ansehen, die eine noch um eine unend- 
liche Menge voil Punkten mehr oder weniger enthalten 
könne denn die andere; ja, daß eine Fläche unendlich viele 
Linien, ein Körper unendlich viele Flächen mehr oder 
weniger als ein gleich groß erachtetes Ausgedehnte der- 
selben Art enthalten könne: das alles können wir schon 
als hinreichend aufgeklärt aus dem bisher Gesagten be- 
trachten. > 

1. Das Erste, worauf wir die Aufmerksamkeit des Lesers 
richten wollen, ist, daß die Menge der Punkte, die eine 
einzige, auch noch so kurze Gerade az enthält, eine Menge 
sei, die als unendlich größer betrachtet werden müsse, 
denn die unendliche Menge derjenigen, die wir aus ersterer 
ausheben, wenn wir, anzufangen von einem ihrer Grenz- 
punkte ö, in einer angemessenen Entfernung einen zweiten 
Ä, nach diesem in einer kleineren Entfernung einen dritten 
c herausheben und so ohne Ende fortfahren, jene Entfer- 
nungen nach einem Gesetze vermindernd, dabei die unend- 
liche Menge derselben in ihrer Summe gleich oder kleiner 
als die Entfernung az ist. Denn da auch die unendlich 
vielen Stücke aÄ, Ac, cd ...., in welche az zerfällt^ ins- 
gesamt wieder endliche Linien sind: so kann mit jeder 
vorgenommen werden, was wir soeben von az verlangt, 
d. h. in jeder läßt sich abermals eine solche unendliche 
Menge von Punkten wie in der az nachweisen, die zu- 
gleich in der az stecken. Mithin muß in der ganzen az 
eine solche unendliche Menge von Punkten unendlichemal 
enthalten sein. 

2. Jeder Geraden, ja jeder räumlichen Ausdehnung über- 



102 Menge der Punkte in räumlichen Ausdehnungen. 

haüpty die einer anderen nicht nur ähnlich, sondern auch 
(geometrisch) gleich ist (d. h. in allen durch die Ver- 
gleichung mit einer gegebenen Entfernung begrifflich 
darstellbaren Merkmalen mit ihr übereinstimmt), muß 
auch die gleiche Menge von Punkten zugestanden werden, 
sofern wir nur auch die Art der Begrenzung in beiden 
gleich annehmen, z. B. in beiden Linien die Grenzpunkte 
mitrechnen oder nicht mitrechnen. Denn das Gegenteil 
könnte nu^ statthaben, wenn es Entfernungen gäbe, die, 
obwohl gleich, doch eine ungleiche Menge von Punkten 
zwischen den beiden Punkten, deren Entfernungen sie sind, 
zulassen. Das aber widerspricht dem Begriffe, den wir 
mit dem Wort geometrisch gleich verbinden; denn eben 
dann nur nennen wir eine Entfernung ac ungleich mit einer 



anderen ab^ und zwar größer als diese, wenn in dem 
Falle, daß b und c beide in einerlei Richtung liegen, der 
Punkt b zwischen a und c kommt, und somit alle Punkte 
zwischen a und b wohl auch zwischen a und c, aber nicht 
umgekehrt alle zwischen a und c auch zwischen a und b 
liegen. 

3. Bezeichnen wir die Menge der Punkte, die zwischen 
a und b liegen, samt a und bjdMVch Ey und erheben die 
Gerade ab zur Einheit aller Längen, so wird die Menge 
der Punkte in der Geraden ac^ welche die Länge n hat 
(worunter wir jetzt liuf eine ganze Zahl verstehen), wenn 
ihre Grenzpunkte a und c mit eingerechnet werden sollen, 
= nE — (« — i) sein. 

4. Die Menge der Punkte in einer Quadratfläche, 
deren Seite = i ist (dem gewöhnlichen Maße für Flächen), 
wird, wenn wir den Umfang mit dazurechnen, =£^ sein. 

5. Die Menge der Punkte in jedem Rechtecke, dessen 
eine Seite die Länge m, die andere die Länge n hat, wird 
mit Einberechnung des Umfanges sein 

= mnE2 — [ii{Tn — i)-f-m(n — i)]E-j-(m — i)(n — i). 



Menge der Punkte in räumlichen Ausdehnungen. 103 

6. Die Menge der Punkte in einem Würfel, dessen 
Seite = I (dem gewöhnlichen Maße für Körper), wird, wenn 
wir die Punkte^ der Oberfläche mit einrechnen, =E^ sein. 

7. Die Menge der Punkte in einem Parallelepipedon, 
dessen Seiten die Längen w, w, r haben, wird mit Einbezug 
der Oberfläche sein: 

mnr • E^ — [nr(m — i)-|-mr(n — i)-|-mn(r — i)]E2 
-|- [m (n — i) (r — i) -}- n (m — i) (r — i) 
-j- r (m — i) (n — i)] E — (m — i) (n — i) (r — i). 

8. Einer Geraden, die beiderseits in das Unendliche 
reicht, müssen wir eine unendliche Länge und eine Menge 
von Punkten zuschreiben, welche unendlichemal so groß 
ist, als die Menge der Punkte in der zur Einheit an- 
genommenen Geraden = E, Wir müssen auch allen 
solchen Geraden die gleiche Länge und die gleiche 
Punktenmenge zugestehen; weil die bestimmenden Stücke, 
durch die sich für ein Paar solcher Geraden zwei Punkte 
bestitnmen lassen, durch welche sie gehen, wenn wir den 
Abstand zwischen diesen Punkten gleich groß annehmen, 
einander nicht nur ähnlich, sondern auch (geometrisch) 
gleich sind. 

9. Die Lage eines in einer solchen Geraden beliebig 
angenommenen Punktes ist nach beiden Seiten der Geraden 
ganz ähnlich, bietet auch nur lauter solche begrifflich er- 
faßbaren Merkmale dar, wie sie die Lage jedes anderen 
Punktes der Art hat. Gleichwohl läßt sich nicht sagen, 
daß solch ein Punkt die Linie in zwei gleich lange Teile 
zerlege; denn dürften wir das von einem Punkte a sagen, 
so müßten wir es auch von jedem anderen b aus gleichem 
Grunde behaupten, was sich doch widerspricht, indem* wenn 
aR=^aS wäre, nicht auch bR{=:ba-\-aR) = bS{=aS 

— ab) 

A<^ ^ . ^S 

a 1» 

sein könnte. Wir müssen also vielmehr behaupten, daß 
eine beiderseits unbegrenzte Gerade gar keinen Mittel- 



104 Unendliche räumliche Ausdehnungen. 

punkt, d. h. gar keinen Punkt habe, der durch sein bloßes 
begrifflich auffaßbares Verhältnis zu dieser Linie bestimmt 
werden könne. 

10. Der ebenen Fläche, die zwei einander gleichlaufende, 
nach beiden Seiten unbegrenzte Gerade zwischen sich ein- 
schließen (d. h. dem Inbegriffe aller derjenigen Punkte, 
welche die Perpendikel aus jedem Punkte der einen dieser 
Parallelen auf die andere enthalten), müssen wir einen un- 
endlich großen Flächenraum und eine Menge von Punkten 
zugestehen, der unendlichemal so groß ist, als die Menge 
in dem zur Flächeneinheit angenommenen Quadrate =E^. 
Wir müssen auch allen solchen Pa^allelestreifen, wenn sie 
die gleiche Breite (Länge des Perpendikels) besitzen, eine 
gleiche Größe und Punktenmenge beilegen. Denn auch sie 

I lassen sich in einer Weise bestimmen^ daß die bestimmen- 
den Stücke einander nicht nur ähnlich, sondern auch geo- 
metrisch gleich sind; z. B. wenn wir sie durch die Angabe 
eines gleichseitig rechtwinkligen Dreiecks von gleicher Seite 
bestimmen, von dem wir festsetzen, daß die eine dieser 
Parallelen durch die Grundlinie, die andere durch die Spitze 
des Dreiecks gehe. 

11. Die Lage eines in einem solchen Parallelstreifen 
beliebig angenommenen Perpendikels ist zu beiden Seiten 
der Fläche die ähnliche, bietet auch keine anderen begriff- 
lich erfaßbaren Merkmale dar, wie sie die Lage jedes 
anderen dergleichen Perpendikels darbietet. Gleichwohl läßt 
sich nicht sagen, daß ein 3olches Perpendikel die Fläche 
in zwei einander geometrisch gleiche Teile zerlege. 
Denn diese Annahme würde uns alsbald in einen ganz 
ähnlichen Widerspruch wie Nr. 9 verwickeln, und beweist 
dadurch ihre Falschheit. 

12. Einer Ebene, die nach allen Richtungen hin in das 
Unendliche geht, müssen wir einen unendlich großen Flächen- 
raum und eine Menge von Punkten zugestehen, die noch 
unendlichemal größer ist als die Menge der Punkte, die 
3xch in einem Parallestreifen befinden. ,Wie aber allen 
dergleichen Parallelstreifen von gleicher Breite unterein- 



Unendliche räumliche Ausdehnnngen. . 105 

ander, so müssen wir auch allen dergleichen grenzlosen 
Ebenen die gleiche unendliche Menge von Punkten unter- 
einander zugestehen. Denn auch von ihnen gilt, daß sie 
bestimmt werden können auf eine nicht bloß ähnliche, 
sondern auch (geometrisch) gleiche Weise; wie z. B. wenn 
wir sie jede durch drei in ihr liegende Punkte, welche ein 
ähnliches und gleiches Dreieck bilden, bestimmen. 

13. Die Lage einer. in einer solchen grenzenlosen Ebene 
beliebig angenommenen unbegrenzten Geraden ist nach 
beiden Seiten der Ebene ganz ähnlich ; sie 
bietet überdies dieselben begrifflich dar- 
stellbaren Merkmale dar, wie die Lage 
jeder .anderen Geraden der Art. Dennoch 
ist nicht zu sagen, daß eine solche Gerade 
die Ebene in zwei geometrisch gleich 
große Teile zerlege. Denn dürften wir 
das von einer Geraden RS behaupten, so 
müßten wir es von jeder anderen lifS' 5^ 
auch zugeben, was doch auf einen offen- 
baren Widerspruch führt, sobald wir diese Geraden einander 
gleichlaufend nehmen. 

14. Zwei unbegrenzte Gerade, die in derselben Ebene 
Hegend einander nicht gleichlaufen, somit sich irgendwo 
schneiden und vier (paarweise gleiche) Winkel bilden, teilen 
den ganzen Flächenraum der unbegrenzten Ebene in vier 
Teile, davon je zwei von 
den gleichen (ähnlichen) 
Winkeln /?aS = /?'flS', 
RaS' = R'aS umspannte 
einander ähnlich sind. 
Jeder dieser vier Winkel- 
r äume enthält eine unend- 
liche Menge nach einer 
Seite hin sich ins Unend- 
liche erstreckender Par- 
allelstreifen, dergleichen wir in Nr. 11 betrachteten, 
von jeder beliebigen Breite; und nach jeder endlichen Menge 





• 



\ 




106 Unendliche räumliche Ausdehnungen. 

derselben, welche wir in Gedanken wegnehmen, erübrigt 
noch ein Winkelraum, umspannt von einem gleichen 
Winkel Wie anfangs. Allein sowenig wir nach Nr. 9 und 
II berechtigt sind, die Schenkel dieser Winkel, oder auch 
die Parallelstreifen, die wir als Teile ihres Flächenraumes 
nachweisen können, einander gleich zu nennen: sowenig 
sind wir auch, und zwar aus ähnlichen Gründen wie dort, 
berechtigt, diese unendlichen Winkelräume auch selbst 
bei gleichen (ähnlichen) Winkeln einander gleich, d. h. 

gleich groß zu nennen. 
■> ^ So ist es von den zwei 
Winkelflächen RaS und 
' PaS offenbar, daß die 
erste größer^ ist als die 
zweite, obgleich die Win- 
kel selbst einander gleich 
sind, wenn bS:^aS^ cP 
#aR. 

15. Den Körperraum, den zwei einander gleichlaufende 
grenzlose Ebenen zwischen sich einschließen (d. h. den In- 
begriff aller derjenigen Punkte, welche die sämtlichen aus 
einem jeden Punkte der einen auf die andere Ebene ge- 
fällten Perpendikel enthalten), diese (wie man sie nennen 
könnte) grenzlose Körperschicht müssen wir jedenfalls 
für unendlich groß erklären, wie auch die Breite der- 
selben (die Länge eines solchen Perpendikels) sein mag. 
Bei gleicher Breite aber dürfen wir diese Größe, ja auch 
die Menge der Punkte in zwei solchen Körperschichten für 
gleich erklären; immer nach demselben Schlüsse, den wir 
schon mehrmal (Nr. 8, 10, 12) angewandt haben. 

16. Die Lage, die ein in einer unbegrenzten Körper- 
schicht beliebig angenommener auf ihre Ebenen senk- 
rechter Parallelstreif nach seinen beiden Seiten hin zu 
jener Körperschicht hat, ist sich ganz ähnlich, und auch 
die Lage, die ein anderer Parallelstreif dieser Art zu der- 
selben oder auch zu jeder beliebigen anderen grenzlosen 
Körperschicht bat, ist ähnlich. Dennoch läßt sich nicht 



Einfache Substanzen. 107 



sagen, daß jene beiden Teile, in welche die Körperschicht 
durch einen solchen Parallelstreif zerlegt wird, von gleicher 
Größe sein müßten. 

17. Zwei unbegrenzte Ebenen, welche einander durch- 
schneiden, zerlegen den ganzen unendlichen Raum in 
vier unendlich große Teile, deren je zwei gegenüber- 
stehende einander unstreitig ähnlich sind, nicht aber so- 
fort für gleich groß gelten dürfen. 

18. Ebensowenig dürfen die Körperräume, die zwei 
einander ähnliche oder (wie man zu sagen pflegt) gleiche 
Körperecken zwischen ihren in das Unendliche verlän- 
gerten Seitenflächen einschließen, für gleich groß ausgegeben 
werden. 

19. Auch die zwei Teile, in welche schon eine ein- 
zige unendliche Ebene den ganzen Raum zerlegt, sind, 
obwohl ähnlich, doch nicht als geometrisch gleich, d. h. 
als von gleicher Größe, um so weniger, als aus einer 
gleichen Menge von Punkten bestehend, zu betrachten. 

§ 50. 

Es erübrigt uns jetzt noch eine kurze Besprechung der- 
jenigen Paradoxien, die uns auf dem Gebiete der Meta- 
physik und Physik begegnen. 

In diesen Wissenschaften stelle ich die Sätze auf: „es 
gäbe nicht zwei einander durchaus gleiche Dinge, 
somit auch nicht zwei einander durchaus gleiche 
Atome oder einfache Substanzen im Weltall; notwendig 
aber müsse man dergleichen einfache Substanzen voraus- 
setzen, sobald man zusammengesetzte Körper in der 
Welt annimmt; man müsse endlich ^uch voraussetzen, daß 
alle diese einfachen Substanzen veränderlich sind und 
sich fortwährend verändern. ** Ich behaupte dies alles, weil 
es mir deucht, es seien Wahrheiten, die sich so strenge 
und einleuchtend dartun lassen, als irgendein Lehrsatz der ^ 
Mathematik. Gleichwohl muß ich befürchten, daß die 
meisten Physiker diese Sätze nur kopfschüttelnd anhören 



108 Einfache Substanzen. 

werden. Sie nämlich rühmen sich, nur Wahrheiten auf- 
zustellen, welche Erfahrung sie lehrt; Erfahrung aber 
weise gar keinen Unterschied nach zwischen den kleinsten 
Teilen der Körper, besonders von einerlei Art, z. B. zwischen 
den kleinsten Teilen bei einem Golde, dafi wir aus <lieser 
oder aus jener Mine gewonnen haben; Erfahrung lehre 
ferner wohl allerdings, daß jeder Körper zusammengesetzt 
sei, Atome aber, die durchaus einfach und sonach auch 
ohne alle Ausdehnung wären, habe noch niemand währ- 
genommen; Erfahrung zeige endlich, daß 'die verschiedenen 
Stoffe, z. B. Sauerstoff, Wasserstoff usw., bald diese, bald 
jene Verbindungen untereinander eingehen und hiemächst 
bald diese, bald jene Wirkungen äußern — daß aber sie 
selbst in ihrem Inneren dadurch verändert würden und 
daß z. B. der Sauerstoff nach und nach zu einem anderen 
Sto£f sich umwandle, das werde bloß erdichtet. 

I. Meines Erachtens ist es ein Irrtum, daß die Erfah- 
rung lehre, was hier behauptet wird. Erfahrung, bloße, 
unmittelbare Erfahrung oder Wahrnehmung ohne Verbin- 
dung mit gewissen reinen Begriffswahrheiten lehrt uns nichts 
anderes^ als daß wir diese und jene Anschauungen oder 
Vorstellungen überhaupt haben. Woher uns diese Vor- 
stellungen kommen, ob durch die Einwirkung irgendeines 
von uns verschiedenen Gegenstandes, ja ob sie überhaupt 
nur einer Ursache bedürfen, welche Beschaffenheiten diese 
habe: darüber lehrt uns die unmittelbare Wahrnehmung 
gar nichts, sondern das schließen wir nur aus gewissen 
reinen Begriffswahrheiten, die wir durch die Vernunft hin- 
zudenken müssen, und schließen es meistens nur nach einer 
bloßen Regel der Wahrscheinlichkeit, z. B., daß dieses Rot, 
das wir soeben sehen, durch einen krankhaften Zustand 
unseres Auges, jener Wohlgeruch aber durch die Nähe 
einer Blume hervorgebracht werde. Dagegen, um einzu- 
sehen, daß zwischen je zwei Dingen irgendein Unterschied 
obwalten müsse, bedarf es gar keiner aus der Erfahrung 
abgezogenen Schlüsse der bloßen Wahrscheinlichkeit; son- 
dern das können wir durch ein geringes Nachdenken mit 



Einfache Substanzen. 109 



aller Sicherheit erkennen. Sollen A und B zwei . Dinge 
sein, so muß eben deshalb die Wahrheit bestehen, daß das 
Ding A nicht das Ding B sei, eine Wahrheit, welche vor- 
aussetzt, daß es zwei Vorstellungen A und B gibt, deren 
die eine nur das Ding A^ nicht aber B^ die andere nur 
das Ding j5, nicht aber A vorstellt. Und schon in diesem 
Umstände liegt ja ein Unterschied (und zwar ein innerer), 
welchen die Dinge A und B voneinander haben. Sehen 
wir auf diese Art, daß je zwei Dinge mit Notwendigkeit 
gewisse Unterschiede haben, wie können wir uns berechtigt 
glauben, an einem solchen Unterschiede zu zweifeln, bloß 
weil wir ihn hier und da nicht wahrnehmen? da doch zu 
dieser Wahrnehmung eine besondere Schärfe der Sinne 
und noch viel andere Umstände gehören. 

2. Daß erst Erfahrung uns lehre, es gäbe der Dinge, 
die auf uns einwirken, mehrere, und namentlich alle die- 
jenigen, die Anschauungen in uns vermitteln, seien zu- 
sammengesetzt, hat seine Richtigkeit. Doch lehrt die 
Erfahrung dieses nur unter Voraussetzung gewisser reiner 
BegrifTswahrheiten: wie daß verschiedene Wirkungen nur 
<lurch verschiedene Ursachen hervorgebracht werden könneh 
usw. Aber nicht minder gewi& sind die BegrifTswahrheiten, 
daß jede Ursache irgendein Wirkliches sein müsse, alles 
Wirkliche aber entweder eine Substanz oder ein Inbegriff 
mehrerer Substanzen oder Beschaffenheiten an einer oder 
mehreren Substanzen sei; ingleichen, daß Beschaffenheiten, 
die etwas Wirkliches sind, nicht sein können, ohne das 
Dasein einer Substanz, an der sie sich befinden und In- 
begriffe von Su)>stanzen nicht ohne einfache, welche die 
Teile dieser Inbegriffe bilden. Daraus folgt aber das Da- 
sein einfacher Substanzen mit strenger Notwendigkeit, und 
es wird lächerlich, letztere nicht annehmen zu wollen, weil 
man sie nicht — sieht; und um so ungereimter, wenn 
ferneres Nachdenken lehrt, daß jeder Körper, der noch für 
unsere Sinne wahrnehmbar sein soll, zusammengesetzt, ja 
aus einer unendlichen Menge einfacher Teile zusammen- 
gesetzt sein müsse. 



110 Einfache Substanzen. 



3. Ein ähnlicher Trugschluß von dem Nichtwahmehmen 
auf das Nichtvorhandensein ist es, wenn man nicht zugeben 
will, daß alle endliche Substanzen einer nie aufhörenden 
Veränderung unterliegen. An unserer eigenen Seele 
kennen wir die Veränderlichkeit ihrer Zustände, Vorstel- 
lungen, Beschaffenheiten und Kräfte doch zur Genüge; auf 
ein Ähnliches auch bei den Seelen der Tiere und bei den 
Pflanzen zu schließen, werden wir schon durch die bloße 
Analogie veranlaßt. Daß aber alle, auch diejenigen Sul^- 
stanzen, welche durch einen Zeitraum von Jahrhunderten 
keine uns merkbare Veränderung beweisen, doch in der 
Tat sich ändern, werden wir erst durch Gründe der Ver- 
nunft berechtigt anzunehmen. Wer dies bestreiten, wenig- 
stens in bezug auf die sogenannte leblose Materie und 
hinsichtlich ihrer einfachen Teile oder Atome in Abrede 
stellen will, sieht sich genötigt zu der Behauptung, daß 
alle Veränderungen, die uns in diesem TeUe der Schöpfung 
erscheinen, wenn z. B. ein Stück Eis, das vor einer Weile 
noch fest war, jetzt schon geschmolzen ist und in der 
nächsten Stunde sich in Dampfform verflüchtigt — daß 
(sage ich) alle diese Veränderungen nichts als bloße Ände- 
rungen in den örtlichen V^hältnissen der kleineren oder 
größeren Teilchen dieser Körper sind, dabei sich in dem 
Inneren jener Teilchen selbst nichts ändert. Aber wie 
mochte man nicht bemerken, daß man bei dieser Erklärung 
in einen Widerspruch verfalle? Denn könnte sich in den 
einfachen Substanzen selbst (in ihrem Inneren) nichts ändern: 
wodurch nur könnten Veränderungen in ihren örtlichen Ver- 
hältnissen untereinander bewirkt werden, und welche Folgen 
sollten diese bloß äußeren Veränderungen haben, zu welchen 
Zwecken sollten sie dienen, und woran sollten sie auch nur 
erkannt werden können? Auf alle diese Fragen läßt sich 
nur vernünftig antworten, wenn wir den einfachen Sub- 
stanzen — nämlich denjenigen, welche nicht allvollkommen 
sind, also der Kräfte mehrere, als sie schon haben, an- 
nehmen können — eben deshalb die Fähigkeit einer Ver- 
änderung durch gegenseitiges Einwirken aufeinander zu- 



Träge Materie. Hl 



gestehen, und ihre Orte als diejenigen Bestimmungen an 
denselben betrachten, welche den Grund enthalten, warum 
sie bei dem Besitze gerade dieses Maßes von Kräften in 
einem gegebenen Zeiträume gerade diese und nicht eine 
größere oder geringere Veränderung die eine in der anderen 
bewirken. Nur unter dieser, auch dem gemeinen Menschen- 
verstände so einleuchtenden Voraussetzung verschwindet 
jeder Widerspruch in der Lehre vom Weltall, und es be- 
darf nur, uns über einige, fast schon veraltete Schul- 
meinungen zu erheben, um alles im Einklang zu finden. 



§ 51- 

I. Die erste dieser Schulmeinungen, die wir aufgeben 
müssen, ist die von den älteren Physikern erdachte tote 
oder bloß träge Materie, deren einfache Teile, wenn sie 
ja solche hat, einander alle gleich und ewig unveränder- 
lich, gar keine eigenen Kräfte, es wäre denn die sogenannte 
Kraft ^r Trägheit allein, besitzen sollen. Was immer 
wirklich ist, das muß ja auch wirken, und somit Kräfte 
zum Wirken haben. Eine beschränkte Substanz aber, 
die eben deshalb auch veränderlich ist, kann allerdings 
keine Kraft, die ihrer Natur nach keine Veränderung in 
ihrem Wirken zuließe, also insonderheit keine Kraft des 
Schaffens, sondern sie muß bloße Veränderungskräfte 
besitzen, die übrigens entweder immanent, wie die Kraft 
des Empfindens, oder transient, wie die Bewegkraft, 
sein können^ 

Immerhin mag es uns, na,ch Wie vor, verstattet bleiben, 
um den Erfolg, welcher aus einer gewissen Verbindung 
mehrerer Körper hervorgehen werde, , allmählich mit hin- 
reichender Genauigkeit beurteilen zu lernen, uns den Fall 
anfangs weit einfacher vorzustellen und statt der unend- 
lichen Menge von Kräften, die in Wahrheit hier zusammen- 
wirken, nur das Vorhandensein einiger wenigen anzunehmen, 
ja überhaupt uns Körper und Beschaifenheiten derselben 



112 Unmittelbare Einwirkung. 

« 

zu denken, die in der Wirklichkeit gar nicht vorhanden 
sind, um zu bestimmen, was diese hervorbringen würden. 
Nur dürfen wir nicht, ohne die Sache erst eigens erwogen 
zu haben, voraussetzen, dafi der Erfolg, der sich in diesem 
erdichteten Falle einstellen müßte, auch mit demjenigen, 
der in der Wirklichkeit eintreten wird, bis auf einen ge- 
vrissen Grad übereinstimmen werde. Die Aufierachtsetzung 
dieser Vorsicht hat manches berühmte Paradoxon ver- 
schuldet, wie wir noch sehen werden. 

§ 52. 

2. Ein anderes Vorurteil der Schule ist es, daß jede 
Annahme einer unmittelbaren Einwirkung einer 
Substanz auf eine andere in der Wissenschaft un- 
erlaubt sei. Wahr ist nur, daß wir nie, ohne es erst er- 
wiesen zu haben, voraussetzen dürfen, eine gewisse Ein- 
wirkung erfolge unmittelbar; wahr ist es, daß alles wissen- 
schaftliche Studium aufhören würde, wollten^ wir jede uns 
vorkommende Erscheinung damit erklären, daß %ir nur 
sprächen, sie werde unmittelbar erzeugt. Allein wir gejhen 
offenbar zu weit und verfallen in einen neuen, gleichfalls 
sehr nachteiligen Irrtum, wenn wir jede Einwirkung, die 
eine Substanz auf eine andere ausüben soll, für eine bloß 
mittelbare erklären, somit gar kein unmittelbares Wirken 
irgendwo zulassen wollen. Denn wie nur könnte ein mittel- 
bares Wirken zustande kommen, wenn es kein unmittelbares 
gäbe? Da dies einleuchtend genug ist, so wollen wir uns 
hierbei nicht länger aufhalten, sondern uns nur begnügen 
zu sagen, wie merkwürdig' es sei, daß ein so großer und so 
umsichtiger Denker wie Leibniz nur eben aus diesem An- 
lasse, weil ihm keip Mittel bekannt war, wodurch Sub- 
stanzen, die einfach sind, aufeinander sollten einwirken 
können, auf jene unglückliche Hypothese der prästa- 
bilierten Harmonie verfiel, welche sein ganzes sonst so 
schönes System der Kosmologie verunstaltet. 



Fernwirkung. Durchdringen. 113 

— . ^ 

§ 53. 

3. Mit diesem Vorurteile innigst zusammenhängend und 
damit schon von selbst widerlegt, ist jenes noch viel ältere, 
es sei keine (nämlich keine unmittelbare) Einwirkung einer 
Substanz auf eine andere, in der Ferne von ihr befind- 
liche möglich. Im schroffsten Widerspruche mit dieser Vor- 
stellung behaupte ich vielmehr, daß jede Einwirkung einer 
(im Räume befindlichen, also beschränkten) Substanz auf 
eine andere eine actio in distans sei; aus dem ganz ein- 
fachen Grunde, weil je zwei verschiedene Substanzen in 
jedem Augenblicke auch zwei verschiedene einfache Orte 
einnehmen, also eine Entfernung zwischen sich haben 
müssen. Den scheinbaren Widerspruch, der zwischen dieser 
und einer anderen unserer Behauptungen liegt, daß der Raum 
stetig erfüllt sein soll, habe ich schon oben besprochen. 

§ 54- 

4. Hiermit verstoßen wir aber freilich auch gegen ein 
anderes Vorurteil der Schulen neuerer Zeit, die ein Durch- 
dringen der Substanzen, namentlich in jeder chemischen 
Verbindung erblicken wollen. Jede Möglichkeit eines solchen 
Durchdringens leugne ich unbedingt; weil es, soviel ich 
einsehe, schon in dem Begriffe eines einfachen Ortes 
(oder Punktes) liegt, daß er ein Ort sei, der nur eine ein- 
zige (einfache) Substanz beherbergen kann. Wo zwei Atome 
sind, sind auch zwei Orte. Aus unserer schon mehrmal 
wiederholten Erklärung vom Räume ergibt es sich gleich- 
falls unmittelbar, daß nur die Größe, welche die Entfernung 
zweier aufeinander wirkender Atome hat, die Größe der 
Veränderung bestimme, welche sie innerhalb einer gegebenen 
Zeitdauer ineinander bewirken. Könnten zwei oder mehrere 
Substanzen durch eine, auch noch so kurze Zeit in einem 
und demselben Orte sein, so wäre die Größe ihres gegen- 
seitigen Ein Wirkens in dieser Zeit absolut unbestimmbar; 
und wäre es auch nur ein einziger Augenblick, so wäre ihr 
Zustand in demselben nicht zu bestimmen. 

Bolzano, Paradoxien des Unendlichen. o 



114 Geist und Materie. 



§ 55. 

5. Doch seit Descartes erhob sich noch ein neues 
Vorurteil in den Schulen. Indem er (wohl aus sehr löb- 
licher Absicht) den Unterschied zwischen denkenden und 
nichtdenkenden Substanzen^ (Geist und Materie, wie 
er sie nannte) nicht hoch genug glaubte ansetzen zu können, 
Verfiel er auf jene dem gemeinen Menschenverstände so 
auffallende, ja fast undenkbare Behauptung, daß ein gei- 
stiges Wesen nicht nur nicht als ein ausgedehntes, d. h. 
aus Teilen bestehendes, sondern nicht einmal als irgendein 
im Räume befindliches, also auch nur einen einzigen Punkt 
im Räume durch seine Gegenwart erfüllendes Wesen an- 
gesehen werden dürfe. Da nun in späterer Zeit Kant gar 
so weit ging, den Raum (nicht minder wie die Zeit) für 
ein paar bloße Formen unserer Sinnlichkeit zu erklären, 
denen kein Gegenstand an sich entspreche; da er zwei 
Welten, eine intelligible der Geister- und eine Sinnen- 
welt, einander geradezu entgegensetzte: so ist es nicht zu 
bewundem, wenn sich das Vorurteil von der Unräumlich- 
keit der geistigen Wesen in Deutschland wenigstens so tief 
festsetzte, daß es bis auf den heutigen Tag in unseren 
Schulen noch besteht. Hinsichtlich der Gründe, durch die 
ich dieses Vorurteil bekämpft zu haben glaube, muß ich 
auf andere Schriften, vornehmlich auf die Wissenschafts- 
lehre und Athanasia verweisen. So viel wird jeder zu- 
gestehen müssen, daß die von mir aufgestellte Ansicht, 
zufolge der sich alle geschaffenen Substanzen aus einem 
gemeinschaftlicheö Grunde wie in der Zeit so auch im 
Räume befinden müssen, und aller Unterschied in ihren 
Kräften ein bloßer Gradunterschied ist, sich schon durch 
ihre Einfachheit vor jeder anderen, die man bis jetzt ge- 
kannt, empfehle. 

§ 56. 

6. Bei dieser Ansicht fällt auch das große Paradoxon 
hinweg, das man bisher noch immer in der Verbindung 



Kräfte ohne Substanzen. 115 

zwischen den geistigen und materiellen Substanzen 
gefunden. Wie die Materie auf den Geist und hinwieder 
dieser auf jene einwirken könne, wenn beide so ungleich- 
artig wären, hat man fQr ein uns Menschen unerforschliches 
Geheimnis erklart. Aus den obigen Ansichten aber ergibt 
sich, daß, diese gegenseitige Einwirkung, teilweise wenig- 
stens, eine unmittelbare sein müsse, insofern also gewiß 
nichts uns Geheimes und Verborgenes an sich haben könne; 
womit wir jedoch allerdings nicht gesagt haben wollen, 
daß es nicht sehr viel' Wissens- und Forschenswürdiges in 
demjenigen Teile dieser Einwirkungen gäbe, welche auf 
irgendeine Weise, besonders durch Organismen ver- 
mittelt werden. 



§57. 

7. Ersann man sieb vor alters Substanzen ohne 
Kräfte, so wollte die neuere Zeit umgekehrt aus bloßen 
Kräften ohne Substanzen das Weltall konstruieren. 
Der Umstand, daß jede Substanz ihr Dasein uns nicht 
anders kundgebe als durch ihre Wirkungen, somit durch 
die Kräfte, war es ohne Zweifel, der die irrige Erklärung 
des Begriffes einer Substanz, daß sie ein InbegriflF von 
bloßen Kräften wäre, veranlaßt hatte. Und das grob- 
sinnliche Bild, auf welches die Etymologie der Worte: 
Substanz, Substrat, Subjekt, Träger u. dgl. hinweisen, 
schien einen klaren Beweis zu liefern, daß die allgemein 
herrschende Lehre, zum Dasein einer Substanz bedürfe es 
doch eines eigenen Etwas, dem jene Kräfte als Be- 
schaffenheiten desselben angehören, eine bloße Täu- 
schung der Sinnlichkeit sei; denn eines Trägers, einer 
Unterlage in des Wortes eigentlichem Sinne bedarf es 
hier ganz gewiß nicht. Aber müssen wir denn bei dieser 
sinnlichen Auslegung bleiben? Jedes beliebige Etwas, selbst 
den bloßen Begriff des Nichts müssen wir doch als einen 
Gegenstand betrachten, dem nicht bloß eine, sondern ein 
ganzer Inbegriff unendlich vieler Beschaffenheiten zukommt. 

8* 



116 Verschiedene Stufen des Daseins. 

Denken wir deshalb wohl jedes beliebige Etwas als einen 
Träger im eigentlichen Sinne? Sicherlich nicht! Wenn wir 
uns aber ein Etwas mit der Bestiiämung denken, daß es 
ein Wirkliches und ein solches Wirkliches sei, das keine 
Beschaffenheit von einem anderen Wirklichen ist, dann 
fassen wir es unter dem Begriffe einer Substanz nach 
der rechten Erklärung des Wortes auf. Und solcher Sub- 
stanzen gibt es, außer der einen^ unerschaffenen, eine un- 
endliche Menge geschaffener. Kräfte nennen wir dem 
herrschenden Sprachgebrauch zufolge alle diejenigen Be- 
schaffenheiten dieser Substanzen, die wir als nächsten (d. h. 
unmittelbaren) Grund irgendeines anderen in oder außer- 
halb der es bewirkenden Substanz voraussetzen müssen. 
Eine Kraft, die sich an keiner Substanz als Beschaffenheit 
derselben befände, wäre eben deshalb, weil sie als Ursache 
doch etwas Wirkliches, sonach ein Wirkliches sein müßte, 
das sich an keinem anderen Wirklichen befindet, nicht 
eine bloße Kraft, sondern schon eine für sich selbst be- 
stehende Substanz zu nennen. 

§58. 

Daß keine Stufe des Daseins die höchste, keine 
die niedrigste in Gottes Schöpfung sei; daß es femer 
auf jeder, auch noch so hohen Stufe, zu jeder auch noch 
so frühen Zeit Geschöpfe gegeben habe, die durch ihr 
schnelles Fortschreiten bereits auf diese Stufe sich empor- 
geschwungen haben; daß es aber auch auf jeder, noch so 
niedrigen Stufe und zu jeder noch so späten Zeit Geschöpfe 
geben werde, die sich trotz ihrem steten Fortschreiten jetzt 
-erst auf dieser Stufe befinden — diese Paradoxa bedürfen 
nach allem, was wir über ähnliche Verhältnisse (§ 38 f.) bei 
Zeit und Raum ferwähnt, keiner weiteren Rechtfertigung. 

§ 59. 

Viel anstößiger lautet jedoch das Paradoxon: ,,es 
könne trotzdem, daß der gesamte unendliche Raum 



Verschiedene Dichtigkeit. 117 

des Welt aus Oberall und zu allen Zeiten in der Art er- 
füllt ist mit Substanzen, daß auch kein einziger Punkt nur 
eiuen Augenblick ohne eine ihm innewohnende Substanz 
ist, und auch kein einziger Punkt zwei oder mehrere be- 
herbergt — doch eine unendliche Menge verschiedener 
Grade der Dichtigkeit geben, mit welcher verschiedene 
Teile des Raumes zu verschiedenen Zeiten erfüllt sind, 
dergestalt, daß dieselbe Menge von Substanzen, welche in 
diesem Augenblicke z. B. diesen Kubikschuh ausfüllt, zu 
einer anderen Zeit durch einen millionenmal größeren Raum 
verbreitet sein mochte, und wieder zu einer anderen in 
einen tausendmal kleineren zusammengedrängt sein werde, 
ohne daß bei der Ausbreitung irgendein Punkt in dem 
größeren Räume leer stand, noch bei der Verdichtung 
irgendein Punkt in dem kleineren Räume zwei oder mehr 
Atome aufzunehmen brauche." . 

Daß ich hiermit etwas behaupte, das in den Augen der 
meisten Physiker bis jetzt als eine Ungereinttheit erscheint, 
weiß ich recht wohl. Denn eben nur, weil sie vermeinen, 
daß sich das Faktum der ungleichen Dichtigkeit der 
Körper mit der Voraussetzung eines stetig erfüllten Raumes 
nicht vereinigen lasse, nehmen sie eine Art Porosität als 
allgemeine Eigenschaft aller Körper, auch selbst derjenigen 
an, bei denen (wie bei den Gasen und dem Äther) nicht 
die geringste Beobachtung dafür spricht, und in diesen 
Poren, deren größere insgemein mit Gasen erfüllt sein 
sollen, also eigentlich nur in den nie gesehenen Poren der 
Flüssigkeiten nehmen die Physiker auch noch bis jetzt ihr 
sogenanntes vacuum dispertiium, d. i. gewisse leere Räume 
in solcher Menge und Ausdehnung an, daß kaum der 
billionste Teil eines mit bloßem Äther erfüllten Raumes 
wahre Materie enthält. Gleichwohl hoffe ich, daß es allen 
denjenigen, welche das in den §§ 20 fr. Gesagte gehörig in 
Erwägung zogen, klar genug sein werde, wonach es so 
ganz und gar nichts Unmögliches enthalte, daß sich die- 
selbe (unendliche) Menge von Atomen bald durch einen 
größeren Raum verbreite, bald wieder in einen kleineren 



118 Gesetz der Stetigkeit. 

zusammenziehe, ohne daß in dem ersten Falle auch nur 
ein einziger Punkt ia jenem Räume verlassen dastehe, im 
zweiten auch nur ein einziger Punkt zwei Atome aufnehmen 
müßte. 

§60. 

Und nun dürfte man kaum viel Anstoß nehmen, an einer 
Behauptung (die ohnehin auch in der älteren Metaphysik, 
in der Lehre de nexu cosmico^ schon aufgestellt wurde), daß 
jede Substanz in der Welt mit jeder anderen in stetem 
Wechselverkehr stehe, doch so, daß die Veränderung, 
welche die eine in der anderen bewirkt, um so geringer 
wird, je größer der zwischen ihnen liegende Abstand; und 
daß das Gesamtergebnis des Einflusses aller auf 
jede einzelne eine Veränderung ist, die — abgesehen 
von dem Falle, wo ein unmittelbares Einwirken Gottes 
statt hat — nach dem bekannten Gesetze der Stetig- 
keit vorgeht; weil eine Abweichung von diesem letzteren 
eine Kraft fordert, die im Vergleiche mit einer stetigen 
unendlich groß sein müßte. 

§61. 

So leicht auch die schon in der ersten Ausgabe der 
Athanasia (1829) aufgestellte Lehre von den herrschen- 
den Substanzen aus bloßen Begriffen sich ableiten läßt, 
so wird man doch auch in ihr Paradoxien erblicken, wes- 
halb es nötig ist, sie mit einigen Worten hier zu er- 
wähnen. 

Ich gehe nämlich (a. a. O.) von dem Gedanken aus, daß 
es, weil doch bekanntlich zwischen je zwei Substanzen im 
Weltall zu jeder Zeit irgendein Unterschied von endlicher 
Größe stattfinden muß, zu jeder Zeit auch Substanzen gäbe, 
die in ihren Kräften bereits so herangewachsen sind, daß 
sife eine Art von Übermacht über alle in einem, sei es auch 
noch so kleinem Umfange, um sie herum liegenden Sub- 
stanzen ausüben. — Es wäre ein Irrtufti, der diese Annahme 



Herrschende Substanzen. 119 



sogleich in .den Verdacht eines inneren Widerspruches 
brächte, wollte sich jemand vorstellen, daß solch eine 
herrschende Substanz Kräfte besitzen müsse, welche die 
der beherrschten um ein Unendliches übertreffen. Aber 
so ist es keineswegs. Denn setzen wir, in einem Räume 
von endlicher Größe, z. B. in dem einer Kugel, befinde 
sich (etwa im Mittelpunkte derselben) eine Substanz, die 
in ihren Kräften jede der übrigen in einem endlichen Ver- 
hältnisse überragt, wie es z. B. wäre, wenn jede der letzteren 
etwa nur halb so stark wäre als sie. Obgleich nun gar 
nicht bezweifelt werden kann, daß die Gesamtwirkung dieser 
unendlich vielen schwächeren Substanzen dort, wo sie zu- 
fällig sich in ihrer Tätigkeit vereinen (wie z. B. nach dem, 
was wir bald hören werden, bei ihrem Bestreben zur An- 
näherung an einen Zentralkörper zu geschehen pflegt), die 
Wirksamkeit der einen stärkeren unendlichemal überwiegt: 
so kann und muß es doch andere Fälle geben, wo jene 
Kräfte nicht eben nach demselben Ziele sti:eben, nament- 
lich muß, wenn wir bloß jene Einwirkung jetzt ins Auge 
fassen wollen, die eine jede der in dem Räume befindlichen 
Substanzen für sich allein auf eine jede andere ausübt und 
von ihr gegenseitig erfährt — in der Regel gesagt werden 
können, daß dieses gegenseitige Einwirken auf Seite der 
stärkeren Substanz in demselben Verhältnisse mit ihrer 
Stärke das stärkere sei. In diesem Beispiele also wird die 
Substanz, die wir als wenigstens doppelt so stark denn 
jede ihrer benachbarten annehmen, auf jede derselben 
wenigstens doppelt so stark einwirken, als diese auf sie 
rückwirken. Und das nur ist es, was wir uns denken, 
wenn wir sagen, daß sie die anderen beherrsche. 

§ 62. 

Allein, sagt vielleicht jemand, wenn sich die Sache nur 
so verhält, dann muß man. nicht bloß in einigen, sondern 
in jedem, auch noch so kleinen Räume, ja in jedem be- 
liebigen Inbegriffe von Atomen einen herrschenden antreffen ; 



120 Körper. Äther. 



denn einen stärksten muß es wohl ebenso, wie einen 
schwächsten Atom in jedem Inbegriffe mehrere geben. 
Ich hoffe jedoch, daß keiner meiner Leser der Belehrung 
bedürfe, daß dieses höchstens von endlichen Mengen gelte, 
daß aber dort, wo eine unendliche Menge sich befindet, 
jedes Glied noch ein größeres über (oder ein kleineres 
unter) sich haben könne, ohne daß gleichwohl irgendeines 
derselben eine gegebene endliche Größe überschreitet (oder 
auch unter sie herabsinkt). 

§63^ 

Diese herrschenden Substanzen, die also schon ihrem 
Begriffe nach in jedem endlichen Räume nur in endUcher 
Menge, aber jede umgeben mit einer bald größeren bald 
kleineren Hülle bloß dienender Substanzen auftreten, sind 
es nun, welche vereinigt in Haufen von endlicher Größe 
das bilden, was wir die mannigfaltigen in der Welt vor- 
kommenden Körper (gasförmigen sowohl als tropfbar 
flüssigen, festen, organischen usw.) nennen. Im Gegensatze 
mit ihnen nenne ich den ganzen noch übrigen Weltstoff, 
der, ohne ausgezeichnete Atome zu besitzen, alle noch sonst- 
wo vorhandenen Räume erfüllt und somit alle Körper der 
Welt verbindet, den Äther. Es ist hier nicht der Ort, 
auseinanderzusetzen, wie manche bisher nur unvollkommen 
oder noch gar nicht erklärte Erscheinung sich aus der bis- 
herigen Annahme (wenn man sie ja nur als Annahme zu- 
lassen will) mit großer Leichtigkeit erkläre. Nur Qin paar 
Andeutungen, welche durch scheinbare Widersprüche auf- 
gehellt werden, muß ich mir gemäß dem Zwecke dieser 
Schrift erlauben. 

Unterscheiden sich alle geschaffenen Substanzen unter- 
einander nur durch den Grad ihrer Kräfte, muß also jeder 
irgendein, sei es auch noch so geringer Grad der Emp- 
findung eingeräumt werden, i^nd wirken alle auf alle: so 
ist nichts begreiflicher, als daß für jede zwei, wie imnier 
geartete, um so gewisser für je zwei ausgezeichnete Sub- 



Anziehung. Abstoßung. 121 

stanzen nicht eine jede Entfernung als ihnen gleich- 
genehm (gleich wohltuend für sie) erscheine; weil von der 
Größe der Eiitfernung die Größe der Einwirkungen, die sie 
ausüben sowohl als auch erleiden, abhängt. Ist die Ent- 
fernung, in der sie sich eben befinden, größer als es der 
einen genehm ist: so wird sich bei ihr ein Bestreben, diese 
Entfernung zu kürzen, also ein sogenanntes Anziehen, im 
entgegengesetzten Falle aber Abstoßen einstellen. Weder 
jenes noch dieses müssen wir uns immer beiderseitig, um 
so weniger immer von dem Erfolge einer wirklichen Orts- 
veränderung begleitet denken: wohl aber dürfen wir als 
sicher annehmen, daß es für je zwei Substanzen im Welt- 
all eine Entfernung gäbe, groß genug, daß für diese und 
alle größeren ein beiderseitiges Anziehen, und ebenso auch 
eine Entfernung klein genug, daß für sie und alle kleineren 
ein beiderseitiges Abstoßen statt hat. Wie sehr sich aber 
auch die Größe der hier besprochenen zwei Entfernungen, 
welche die Grenzen des Anziehens und Abstoßens für zwei 
gegebene Substanzen sind^ mit der Zeit nicht nur nach der 
Beschaffenheit dieser Substanzen selbst, sondern auch nach 
der Beschaffenheit der in ihrer ganzen Umgegend liegen- 
den Nachbarsubstanzen ändern mag: so ist doch unstreitig, 
daß aller Einfluß, den zwei Substanzen unter übrigens ähn- 
lichen Umständen aufeinander ausüben, mit der Zunahme 
ihrer Entfernung voneinander sich vermindern müsse; schon 
aus dem Grunde, weil auch die Menge derer, welche in 
gleicher Entfernung Platz greifen könnten und einen An- 
spruch auf dieselbe Einwirkung hätten, wie das Quadrat 
jener Entfernung zunimmt. Da femer das Übergewicht, 
das jede ausgezeichnete Substanz über eine bloß dienende 
hat, stets nur eine endliche Größe ersteigt, wogegen die 
Menge der letzteren in jedem Räume jene der ersteren 
unendlichemal übertrifft: so begreift sich, daß die Größe 
der Anziehung, welche die sämtlichen, in einem gegebenen 
Räume befindlichen Substanzen auf einen, außerhalb ge- 
legenen Atom ausüben, wenn die Entfernung desselben eine 
hinlängliche Größe erreicht hat, nahezu eben die nämliche 



122 Anziehung. 



ist, welche auch dann stattfände, wenn jener Raum gar 
keine ausgezeichneten Substanzen, sondern nur eine gleich 
große Menge gemeiner Atome enthielte. Dies mit dem 
Früheren verbunden, führt zu dem wichtigen Schlußsatze, 
daß zwischen allen Körpern, wenn ihre Entfernung 
voneinander erst eine hinreichende Größe besitzt, 
eine Kraft der Anziehung bestehe, die sich gerade 
wie die Summe ihrer Massen (d. h. die Menge ihrer 
Atome), und umgekehrt wie das Quadrat ihrer Ent- 
fernung verhält. Daß dieses Gesetz im Weltall beob- 
achtet werde, leugnet kein Physiker noch Astronom in 
unseren Tagen; wie schwer es sich aber mit der gewöhn- 
lichen Ansicht von der Beschaffenheit der Elementarteile 
der verschiedenen Körper vertrage, scheint man noch selten 
bedacht zu haben. Verhielte es sich nämlich wirklich n\ir 
so, wie man die Sache bisher gemeiniglich darstellt,, daß 
jene 55 und mehr einfache Stoffe, die unsere Chemiker 
auf Erden kennengelernt haben, die Masse der sämtlichen 
hier anzutreffenden Körper in der Art bildeten, daß jeder 
eigentlich nichts anderes als ein bloßer Inbegriff von Atomen 
des einen oder des anderen oder etlicher dieser Stoffe zu- 
sammen wäre, so daß z. B. das Gold ein bloßer Inbegriff 
von lauter Goldatomen, der Schwefel ein Inbegriff von 
lauter Schwefelatomen wäre usw.: dann erkläre mir, wer 
es vermag, woher es komme, daß Stoffe, die so verschieden 
in ihren Kräften, namentlich in dem Grade ihrer gegen- 
seitigen Anziehungen sich verhalten, in ihrem Gewichte 
gleichwohl einander durchgängig gleichen, d. h. daß ihre 
Gewichte sich wie ihre Massen verhalten. Denn daß dieses 
stattfinde, beweist unmittelbar die bekannte Erfahrung, daß 
Kugeln von jedem beliebigen Stoffe, wenn sie von gleichem 
Gewichte sind, beim Anstoße gegeneinander sich genau so 
verhalten, wie Körper von gleicher Masse es tun müssen, 
also z. B. bei gleicher Geschwindigkeit (wiefern die Ein- 
wirkung der Elastizität beseitigt oder Rechnung von ihr 
getragen wird) einander zur Ruhe bringen. Nehmen wir 
aber an, daß alle Körper eigentlich aus nichts anderem als 



Abstoßung. 128 



aus einer unendlichen Menge von Äther bestehen, in welchem 
eine gegen diese Menge ganz verschwindende Anzahl von 
ausgezeichneten Atomen sich befindet, deren Kräfte die 
eines Ätheratoms nur endlichemal überragen: so begreift 
man, daß die Kraft der Anziehung, die diese Körper von 
selten des ganzen Erdballs erfahren, durch die geringe Zahl 
jen'er ausgezeichneten Atome in k^nem Falle merklich er- 
höht werden könne, daß ihr Gewicht somit nur ihrer ganzen 
Masse proportional sein müsse. Doch es fehlt auch schon 
jetzt nicht an Physikern, welche den Wärmestoff (also im 
Grunde den nämlichen Stoff, den ich selbst mit dem Äther 
identifiziere) als eine Flüssigkeit betrachten, die sich in 
allen Körpern befinde und nie ganz aus denselben sich 
austreiben lasse. Hätten sie also nicht unglücklicherweise 
die Vorstellung aufgefaßt, daß dieser WärmestofF impon- 
derabel wäre, und hätten sie sich erhoben zu der Ansicht, 
daß die Menge der Atome, die jedem besonderen Körper 
noch nebst dem Wärmestoffe beiwohnt, gegen diesen eine 
verschwindende sei (und wie nahe waren sie auch nicht 
hieran, wenn sie zuweilen verlangten,^ daß man die ersteren 
sich getrennt voneinander durch Entfernungen zu denken 
habe, die im Vergleiche zu ihren Durchmessern unendlich 
groß sind): so wäre ihnen wohl bald völlig klar geworden, 
daß nur eben dieser ihr WärmestofF es sei, der das Ge- 
wicht aller Körper bestimmt. 

§64' 

Leicht zu erachten ist, daß jene Herrschaft, die eine 
ausgezeichnete Substanz über ihre nächste Umgebung aus- 
übt, wenn in nichts anderem, wenigstens in einer gewissen 
stärkeren Anziehung ihrer Nachbaratome besteht, infolge- 
dessen Sich diese dichter, als es sonst wäre, um sie 
herum und aneinander gedrängt finden, und eben deshalb 
ein Bestreben haben, sich bei gegebener Gelegenheit wie- 
der von diesem Anziehungspunkte sowohl als untereinander 
etwas weiter zu entfernen, also einander abstoßen; eine 



124 Hülle einer herrschenden Substanz. 

Sache, auf die so viele Erfahrungen deuten, zu deren Er- 
klärung man aber ganz unnötigerweise eine ursprüng- 
liche Abstoßungskraft zwischen den Teilchen des Äthers 
annahm. 



§65- 

Aus diesem Umstände ergibt sich ein leichter Beweis 
des Satzes, den ich schon in der Athanasia aufstellte, 
dafi keine ausgezeichnete Substanz in ihrer Hülle 
eine solche Veränderung erfährt, daß sie nicht einen 
gewissen (sei es auch noch so kleinen) Teil ihrer nächsten 
Umgebung behielte. Gewiß wird niemand besorgen, daß 
eine ausgezeichnete Substanz a ihrer sie zunächst um- 
stehenden Ätheratome beraubt werden sollte, wenn unter 
den gesamten ihr ringsumher nächstliegenden Nachbarp 
von ausgezeichnetem Range b^ c^ d^ e . . , keiner seine Ent- 
fernung von a verändert; sondern nur dann ließe sich etwas 
der Art besorgen, wenn einige derselben oder auch alle 
sich entfernen. Doch auch wenn dies geschieht, kann nur 
ein Teil der a umgebenden Ätherteile den fliehenden Sub- 
stanzen bf c^ df e . . . . nachfolgen, ein Teil aber, und zwar 
von denen, welche die nächsten an a stehen, muß stets 
zurückbleiben; obgleich wir nicht nur zugestehen, sondern 
sogar als notwendig behaupten, daß er in einen weiteren 
Raum sich ausdehnen werde. Ja nach Befund der Um- 
stände könnten sogar aus gewissen entfernten Gegenden 
Ätheratome herzüströmen und sich in jene Räume drängen, 
welche wegen der allzu weiten Entfernungen, in welche die 
Substanzen a, ä, c, rf, ^ . . . soeben sich zerstreuten, mit 
einem vergl eichungsweise viel lockerem Äther gefüllt sind. 
Daß aber dieser von ferne kommende Äther den djie Sub- 
' stanz a zunächst umgebenden insgesamt wegstoßen und 
seine Stelle erbeuten $ ollte, dazu ist kein Grund vorhanden. 
Statt den die Substanz a umgebenden Äther noch vollends 
wegzutreiben, muß der herbeiströmende vielmehr nur seine 
weitere Ausbreitung hindern und ihn so enge zusammen- 



Grenzen der Körper. 125 



drängen, bis seine Dichtigkeit den Anziehungskräften aller 
umstehenden Atome das Gleichgewicht hält. 

§ 66. 

Hiernächst beantwortet sich manche Frage in einer Weise, 
welche man paradox finden könnte, wenn das Vorhergehende 
nicht darüber Aufschluß gewährte. Von der Art ist die 
Frage über die Grenzen der Körper: wo eigentlich ein 
Körper aufhöre und ein anderer anfange? Ich verstehe 
aber unter der Grenze eines Körpefs den Inbegriff jener 
äußersten Atheratome, die noch zu ihm gehören, d. h. 
die von den ausgezeichneten Atomen desselben stärker an- 
gezogen werden, als es von anderen, in der Nachbarschaft 
befiiidlichen Herrscheratomen geschieht; dergestalt, daß sie, 
sofern der Körper seine Stellung zu seiner Nachbarschaft 
verändert (z. B. sich von ihr entfernt), mit ihm fortziehen 
werden, wenn vielleicht nicht mit derselben Geschwindig- 
keit, doch so, daß keine Trennung und kein Dazwischen- 
tritt fremder Atome statt hat. Diesen Begriff einer Grenze 
vorausgesetzt, zeigt es sich alsbald, daß die Begrenzung 
eines Körpers etwas sehr Wandelbares sei, ja sich beinahe 
fortwährend ändere, sowie nur irgendeine Veränderung 
teils in ihm selbst, teils in den nachbarlichen Körpern vor- 
geht, weil alle dergleichen Veränderungen begreiflich auch 
gar manche Änderung wie in der Größe, so auch in der 
Richtung der Anziehung bewirken können, die die Atome 
eines Körpers, nicht nur die dienenden, sondern selbst 
seine herrschenden erfahren. So werden z. B. gewiß mehrere 
Teilchen von diesem Kiele, welche noch kurz zuvor von 
dessen übriger Masse stärker als von der umgebenden Luft 
angezogen wurden, also zu ihm noch gehörten, jetzt von 
meinen Fingern stärker als von der Masse des Kieles an- 
gezogen und sind demselben somit entrissen. — Genauer 
erwogen, zeigt sich, daß mancher Körper an gewissen 
Stellen auch gar keine Grenzatome, d. h. gar keine Atome 
aufweisen könne, welche die äußersten sind unter den- 



126 Berührung von Körpern. 

jenigen, die ihm noch zugehören und noch. mit ihm zögen, 
wenn seine Stellung sich verändern würde. Denn in der 
Tat, so oft der eine von zwei nachbarlichen Körpern einen 
äußersten, mit ihm fortziehenden Atom an einer Stelle be- 
sitzt, kann eben deshalb der andere keinen dergleichen 
äußersten haben, weil alle hinter jenem befindlichen Äther- 
atome schon diesem zugehören. 

§67- 

Hiermit beantwortet sich auch noch die Frage, ob und 
wann Körper in einer unmittelbaren Berührung mitein- 
ander stehen öder durch einen Zwischenraum getrennt sind? 
ErUube ich mir nämlich (wie mir das Zweckmäßigste deucht) 
die Erklärung, daß ein paar Körper einander berühreir, wo 
immer die äußersten Atome, die nach der Erklärung; des 
vorigen Paragraphen dem einen zugehören, mit gewissen 
Atomen des anderen eine stetige Ausdehnung bilden: so 
wird sich gewiß nicht ableugnen lassen, daß es gar viele 
Körper gäbe, welche sich gegenseitig berühren; nicht nur, 
wenn einer oder g^r beide flüssig, sondern auch, wenn sie 
fest sind, sofern nur erst die im gewöhnlichen Zustande 
auf Erden ihnen anhängende Luft durch starkes Andrücken 
oder auf sonst eine Weise zwischen ihnen fortgeschafft ist. 
Wenn ein Paar Körper einander nicht berühren: so muß, 
weil es doch keinen ganz leeren Raum gibt, der Zwischen- 
raum durch irgendeinen anderen Körper, oder wenigstens 
durch bloßen Äther ausgefüllt werden. Somit läßt sich 
behaupten, daß eigentlich jeder Körper nach allen Seiten 
mit irgend einigen anderen Körpern, oder in Ermangelung 
derselben mit bloßem Äther in Berührung stehe. 

§68. 

In betreff der verschiedenen Arten der im Weltall statt- 
findenden Bewegungen könnte man glauben, es sei bei dem 
Umstände, daß (unserer Ansicht nach) kein Teil des Raumes 



Schwingende, drehende Bewegung. 127 

leer ist, nie eine andere Bewegung möglich als eine, da- 
bei die ganze gleichzeitig bewegte Masse eine einzige, in 
sich zurückkehrende Ausdehnung bildet, wo jeder Teil der 
Masse immer nur Orte einnimmt, die unmittelbar vorher 
ein anderer Teil der Masse eingenommen. Wer aber im 
Sinne behielt, was § 59 von den verschiedenen Graden der 
Dichtigkeit, mit denen der Raum erfüllt werden kann, ge- 
sagt wurde, der wird begreifen, daß noch viel andere 
Bewegungen stattfinden können und müssen. Besonders 
eine Bewegung, die schwingende, muß nicht nur bei 
allen Ätheratomen, sondern auch bei fast aUen ausgezeich- 
neten Atomen beinahe unaufhörlich angetroffen werden aus 
einem Grunde, der so einleuchtend ist, daß ich ihn nicht 
erst anzuführen brauche. Dieser zunächst muß auch, zu- 
mal bei festen Körpern, die drehende Bewegung sehr 
gemein sein. Wie man sich diese zu denken habe, wie zu 
erklären es sei, daß, wenn die Drehungsachse (was. unseren 
Ansichten zufolge jedesmal sein muß) eine materielle Linie 
ist, dieselben Atome, die jetzt auf dieser Seite derselben 
sich befinden, nach einer halben Umdrehung auf die ent- 
gegengesetzte gelangen, ohne sich loszureißen: das kann 
wohl nur denjenigen beirren, der es vergißt, daß auch in 
einem Continuo ebensogut, wie außerhalb desselben, jeder 
Atom in einer gewissen Entfernung von jedem anderen 
stehe und somit diesen umkreisen könne, ohne sich los- 
reißen oder ihn gar mit sich herumdrehen zu müssen; 
welches letztere, das Drehen um sich selbst, bei einem ein- 
fachen Raumdinge etwas sich selbst Widersprechendes wäre. 



§ 69. 

Ohne behaupten zu wollen, daß auch nur ein einziger 
herrschender oder gemeiner Atom im Weltall zu irgend- 
einer Zeit eine vollkommen gerade oder vollkommen kreis- 
förmige Bahn beschreibe (was vielmehr bei der unendlichen 
Menge von Störungen, die jeder Atom durch die Einwir- 
kung aller übrigefn erleidet, eine unendlich große Unwahr- 



128 Unmögliche Bewegungen. 

scheinlichkeit hätte): dürfen wir dergleichen Bewegungen 
doch nicht für etwas, das an sich seihst unmöglich wäre, 
erklären. Wohl aber dürfen wir behaupten, daß die Be- 
schreibung einer gebrochenen Linie ^ B. nur dann zu- 
stande kommen könne, wenn die Geschwindigkeit des Atoms 
gegen das Ende des Stückes ab allmählich so abnimmt, 
dafi sie im Punkte b zu Null wird; worauf denn, wenn die 
Bewegung nicht durch eine endliche Zeit der Ruhe unter- 
brochen werden soll, in jedem der auf die Ankunft in b 
folgenden Augenbliche abermals eine (von Null an wachsende) 
Geschwindigkeit sich einfinden muß. 

Nicht also ist es mit gewissen anddren Linien, wie 
namentlich mit der logarithmischen Spirale. Es ist, selbst 
abgesehen von allen Störungen von außen, etwas sich 
Widersprechendes, daß auch nur derjenige Zweig dieser 
Linie, der, anzufangen von irgendeinem ihrer Punkte, gegen 
den Mittelpunkt zu liegt, durch die Bewegung eines Atoms 
in einer endlichen Zeit zurückgelegt werde; und noch un- 
gereimter, zu fordern, daß der beschreibende Atom zuletzt 
in den Mittelpunkt der Spirale eintreffe. Um dies nur für 
den Fall zu beweisen, wo der Atom in seiner Bahn mit 
gleichförmiger Geschwindigkeit fortschreitet: denken wir uns 
zuerst, daß er allein sich bewege. Dann zeigt sich bald, 
daß sein Fortschreiten in der Spirale betrachtet werden 
könne, als ob es aus zwei Bewegungen zusammengesetzt 
wäre: einer gleichförmigen in der Leitlinie gegen den 
Mittelpunkt zu, und einer Winkeldrehung um diesen Mittel- 
punkt, deren Geschwindigkeit, gleichförmig wachsend, größer 
als eine jede endliche Größe werden muß, sofern der Atom 
zum Mittelpunkte so nahe, als man nur will, gelangen soll. 
Sicher gibt es also keine Kraft in der Natur, welche ihm 
diese Geschwindigkeit zu erteilen vermag; um so weniger 
eine Kraft, die einer ganzen, durch drei Dimensionen ver- 
breiteten Masse von Atomen eine solche Geschwindigkeit 
mitteilen könnte, als erforderlich ist, wenn jener Atom in 
ihr die sämtlichen unendlich vielen Windungen der Spirale 
bis an den Mittelpunkt hin in einer endlichen Zeit durch- 






Fortrücken, Drehung des Weltalls. 129 

wandern soll. Aber auch wenn er dies hätte, könnte man 
wohl von ihm sagen, daß er im Mittelpunkte angelangt sei? 
Ich wenigstens halte es nicht dafür. Denn obwohl man 
sagen mag, daß dieser Mittelpunkt mit den Punkten der 
Spirale (die ihr ganz unleugbar zugehören) ein Kontinuum 
bilde, weil sich für jede auch noch so kleine Entfernung 
ein Nachbar unter ihnen findet: so fehlt dieser linearen 
Ausdehnung doch noch eine zweite Beschaffenheit, die jede 
haben muß, soll sie durch die Bewegung eines Atoms be- 
schrieben werden können, die nämlich, daß sie in jedem 
ihrer Punkte eine oder etliche bestimmte Richtungen habe. 
Dies ist im Mittelpunkte bekanntlich nicht. 

Hierher gehört endlich auch noch die neckende Frage, 
ob bei unseren Ansichten von der Unendlichkeit des Welt- 
alls wohl auch ein Fortrücken des ganzen Alls nach irgend- 
einer gegebenen Richtung, oder auch eine drehende Be- 
wegung desselben um eine gegebene Weltachse oder einen 
Weltmittelpunkt stattfinden könne? Wir entgegnen, daß 
man weder die eine noch die andere Bewegung deshalb 
für unmöglich zu erklären habe, weil nicht für jeden Atom 
Orte, in die er eintreten könnte, zu finden wärefn; wohl 
aber muß man sie für unmöglich erklären, weil es an Ur- 
sachen (Kräften), die eine solche Bewegung hervorbringen 
sollten, gebreche. Denn weder ein physischer Grund 
oder eine Einrichtung, 4ie schlechthin notwendig ist (d. h. 
die eine bloße Folge rein theoretischer Begriffswahrheiten 
ist), noch ein moralischer Grund oder eine Einrichtung, 
die nur bedingt notwendig ist (d. h. die wir nur darum 
in der Welt antreffen, weil Gott jedes dem Wohle seiner 
Geschöpfe zuträgliche Ereignis herbeiführt) — läßt sich er- 
denken, aus welchem eine Bewegung dieser Art in der 
Welt anzutreffen sein sollte. 

Beschließen wir diese Betrachtungen mit zwei besonders 
durch Euler berühmt gewordenen Paradoxien. Schon 

Bolzano» Paradoxien des UnendUchen. 9 



130 Paradoxien von Euler. 

Boscowich machte auf den Umstand aufmerksam, daß 
man auf eine und dieselbe Frage, nämlich wie sich ein 
Atom a bewege, wenn er von einer in c befindlichen Kraft 
im verkehrten Verhältnisse mit dem Quadrate der Entfer- 
nung angezogen wird, eine verschiedene Antwort erhalte; 
je nachdem man den Fall als einen solchen betrachtet, in 
welchen die elliptische Bewegung allmählich übergeht, wenn 
ihre Wurfsgeschwindigkeit bis auf Null abnimmt, oder wenn 
man die Sache, ganz abgesehen von dieser Fiktion, bloß 
an sich selbst beurteilt. Hätte der Atom a durch einen 
Wurf (oder auf sonst eine andere Weise) beim Anfange 
seiner Bewegung eine auf ac senkrechte Seitengeschwindig- 
keit erhalten: so müßte er (abgesehen von jedem Wider- 
stände im Mittel) eine Ellipse beschreiben, deren ein Brenn- 
punkt in c ist. Nimmt diese Seitengeschwindigkeit in das 
Unendliche ab, so nimmt auch die kleinere Achse dieser 
Ellipse in das Unendliche ab; weshalb denn Euler schloß, 
daß in dem Falle, wo der Atom im Punkte a gar keine 
Geschwindigkeit hat, ein Oszillieren desselben zwischen den 
Punkten a und c eintreten müsse; diese Bewegung nur 
sei es, in welche jene elliptische ohne Verletzung des Ge- 
setzes der Stetigkeit übergehe. — Andere, wie vornehmlich 
Busse, fanden es dagegen ungereimt, daß der Atom, dessen 
Geschwindigkeit in der Richtung ac bei der Annäherung 
an den Punkt c in das Unendliche zunehmen sollte, hier 
ohne allen angeblichen Grund (denn die Anwesenheit eines 
den Durchgang durch diesen Ort verhindernden, wie etwa 
eines hier fixen und undurchdrinjglichen Atoms, wurde gar 
nicht vorausgesetzt) in seinem Laufe gehemmt und in ent- 
gegengesetzter Richtung zurückgetrieben werden sollte. Sie 
behaupteten also, er müsse vielmehr seine Bewegung in der 
Richtung ac über c hinaus, doch jetzt mit abnehmender 
Geschwindigkeit fortsetzen, bis er das Ende der cb = ca 
erreicht, und dann in ähnlicher Weise von b nach a wieder 
zurückkehren, und so ohne Ende. — Meiner Ansicht nach 
konnte durch Eulers Berufung auf das Gesetz der Stetig- 
keit hierorts ^ar nichts entschieden werden. Denn gegen 



Paradoxien von Euler. 131 

jene Art von Stetigkeit, welche in den Veränderungen des 
Weltalls (im Wachstume oder in der Abnahme der Kräfte 
' einzelner Substanzen) erweislicherweise in der Tat herrscht, 
verstößt die hier in Streit liegende Erscheinung eben- 
sowenig, wenn man die Oszillation des Atoms inner-' 
halb der Schranken a und &, als wenn man sie inner- 
halb a und c vorgehen läßt. Wohl aber verstößt man 
gegen dies Gesetz in einer Art, die schlechterdings 
nicht zu rechtfertigen ist, schon dadurch, daß man 
hier Kräfte, nämlich eine Anziehungskraft, die ins 
Unendliche wächst, vorausgesetzt; und schon darum 
darf man sich nicht wundem, wenn sich aus wider- 
sprechenden Vordersätzen auch widersprechende 
Schlußsätze ableiten lassen. — Hieraus ersieht man 
jedoch, daß nicht nur Eulers, sondern auch Busses Be- 
antwortung der Frage, unrichtig ist; weil sie etwas schon 
an sich selbst Unmögliches voraussetzt, nämlich die unend- 
lich große Geschwindigkeit im Punkte c. Wird dieser Fehler 
Verbessert, wird also angenommen, daß die Geschwindig- 
keit, mit der der Atom fortrückt, nach einem solchen Ge- 
setze sich ändert, dabei sie stets endlich verbleibt; wird 
endlich auch bedacht, daß man nie von der Bewegung 
eines einzigen Atoms sprechen könne, ohne ein Mittel, in 
dem er sich bewegt, und eine größere oder geringere Menge 
mit ihm zugleich bewegter Atome vorauszusetzen: so stellt 
sich ein ganz anderes Ergebnis heraus, mit dessen näherer 
Beschreibung wir uns hier nicht zu befassen brauchen. 

Das zweite Paradoxon, das wir mit wenigen Worten 
noch anfahren wollen, betrifft die Pendelbewegung und 
besteht darin, daß man die halbe Schwingungszeit eines 
einfachen Pendels, dessen Länge =r, durch einen unend- 
lich kleinen Bogen bekanntlich = — 1/ — berechnet; während 

2 J^ g 

die Fallzeit über die Chorde dieses Bogens, die man ge- 
wöhnlich doch als von gleicher Länge mit ihm betrachtet, 

sich als =:1/2«T/— ergibt. Daß Euler hierin ein Para- 

9* 



132 Paradoxien von Euler. 

doxon sah, beruht wohl lediglich auf seiner uDrichtigen 
Vorstellung von dem unendlich Kleinen, welches er sich 
als gleichgeltend mit Null dachte. In der Tat aber gibt 
es unendlich kleine Bögen so wenig als Chorden; dasjenige 
aber, was die Mathematiker von ihren sogenannten unend- 
lich kleinen Bögen und Chorden behaupten, wurde von 
ihnen eigentlich nur erwiesen von Bögen und Sehnen, welche 
so klein genommen werden können, als man nur immer 
will; und die obigen zwei Gleichungen," richtig verstanden, 
können keinen anderen Sinn haben, als: die halbe Schwin- 
gungszeit eines Pendels nähert sich der Größe — |/— so 

sehr, als man nur will, wenn man den Bogen, durch den 
man es schwingen läßt, so klein nimmt, als man will; die 
Fallzeit auf der Chorde dieses Bogens aber nähert sich 
unter denselben Umständen so genau, als man will, der Größe 



f-ik- 



Daß nun diese zwei Größen verschieden sind, 



daß also der Bogen und seine Sehne in Hinsicht auf die 
erwähnte Fallzeit sich unterscheiden, so klein man sie auch 
nehme: ist etwas ebensowenig Befremdendes, wie gar manche 
andere Unterschiede zwischen ihnen, deren Verschwinden, 
solange beide nur sind, niemand erwartet, wie z. B. der, 
daß der Bogen stets eine Krümmung, und zwar diejenige 

behalte, deren Größe wir durch — messen könnten, während 

r 

die Chorde stets gerade bleibt, d. h. gar keine Krümmung 

hat. 



Anmerkungen*). 



Von 

Hans Hahn/ 

§ 2. Der hier angedeutete Weg zur Einführung des Unend- 
Uchen (Hinzufügung der Verneinung zum Begriffe des Endlichen) 
ist nicht der einzig mögliche. Man kann auch, wie dies R. Dede- 
kind tut („Was sind und was sollen die Zahlen?" § 5), den um- 
gekehrten Weg gehen: eine direkte Definition des Unendlichen 
geben, und das Endliche einführen durch Hinzufügung der Ver- 
•neinung zum Begriffe des Unendlichen (vgl. die Bemerkung zu 
§ 20). Die Begriffe Menge, Vielheit werden näher besprochen 
in § 4f der Begriff Größe in § 6. 

§ 3- Vgl. Bolzanos Wissenschaftslehre § 82, 83. 

§ 4. Vgl. Wissenschaftslehre § 84, Der Begriff der Menge, 
den B. hier entwickelt, deckt sich im wesentlichen mit dem, der 
der heutigen Mengenlehre zugrunde liegt (nur daß B.s Definition, 
dem Sprachgebrauche folgend, verlangt, daß eine Menge mehrere, 
d. h. mindestens zwei Elemente enthalte, während die Mengen- 
lehre auch von Mengen spricht, die nur ein Element oder gar 
keines enthalten). Hingegen ist es wichtig, zu beachten, das B. 
das Wort Teil in ganz anderem Sinne verwendet als die Mengen- 
lehre. B. nennt Teil einer Menge, was man heute Element 
dieser Menge nennt (z. B. wenn es sich um die Menge aller Ein- 
wohner einer Stadt handelt: jeden einzelnen dieser Einwohner), 
während die Mengenlehre als Teil einer Menge M Jede Menge 
bezeichnet, deren sämtliche Elemente in M vorkommen. Unter 
diesen Teilen gibt es natürlich auch solche, die nur aus einem 



*) Diese Anmerkungen beschäftigen sich mit dem Verhältnis von Bolzanos Lehren 
zu denen der heutigen Mathematik, insbesondere der Mengenlehre. Sie enthalten sich jeder 
rein philosophischen Slritik. Wer sich mit den Grundbegriffen der Mengenlehre nfther 
bekannt machen will, sei verwiesen auf A. Fraenkel, Einleitung in die Mengenlehre, 
Berlin 1919. Für ein eingehendes Studium der Mengenlehre empfiehlt sich F. Haus- 
dorf f, Grundzflge der Mengenlehre, Leipzig 1914. 



134 Anmerkungen zu § 5, 6. 

einzigen Elemente vom Ji bestehen; doch ist logisch genommen 
die nur aus dem Elemente a bestehende Menge etwas ganz 
anderes als dieses Element selbst 

§ 5' Vgl. Wissenschaftslehre § 84. Die hier gegebene Defi- 
nition des Begriffes Summe ist so abstrakt, und so wenig deut- 
Uch, dafi es schwer ist, ihren genauen Sinn festzustellen. E^ 
dürfte folgendes gemeint sein: Wir betrachten Gegenstände einer 
Art F; diese Gegenstände können selbst wieder Inbegriffe von 
Gegenständen der Art F sein. Sei z. B. / der Inbegriff der Gegen- 
stände A,ß,C,.,. der Art F\ dabei sei A der Inbegriff der Gegen- 
stände A'f A", . . . der Art F^ B der Inbegriff der Gegenstände 
B', B^\ . . , der Art F usf. Dann können wir neben / auch die 
Inbegriffe betrachten, die aus/ entstehen, indem man einen oder 
mehrere der Gegenstände ^, -ß, ... ersetzt durch ihre ,,Teile" 
A\ A\ . . . bzw. B\ jB", . , . usf. Es kann nun gewisse Eigen- 
schaften der Inbegriffe von Gegenständen der*Art F geben, die 
stets jedem Inbegriffe / und den auf die genannte Art aus J^ 
entstehenden Inbegriffen gleichzeitig zukommen. Betrachtet man 
die Inbegriffe / nur hinsichtlich einer solchen Eigenschaft, so 
heißen sie Summen. Ein Beispiel hierfür ist etwa der Wert der 
Geldstücke: man fasse den Wert einer Mark auf als den Inbegriff 
der Werte von 100 Pfennigen oder als den Inbegriff der Werte von 
zehn IG-Pfennigstücken, den Wert eines lo-Pfennigstückes als 
den Inbegriff der Werte von 10 Pfennigen usf. Hinsichtiich des 
Wertes ist eine Mark gleich zehn lo-Pfennigstücken, gleich 100 
Pfennigen usf. Hingegen hat z. B. die Anzahl der zur Herstel- 
lung eines Geldbetrages verwendeten Geldstücke die in Rede 
stehende Eigenschaft nicht. 

Wenn B. sagt: „Denn das eben ist der Begriff einer Summe^ 
dafi ^ + (B + C) = -4 + 5 + C sein müsse", so könnte es scheinen, 
daß er das Gelten des assoziativen Gesetzes als charakteristisch 
für den Begriff der Summe ansieht. Man wird dem nur insofern 
zustimmen können, als man gewiß nur dann von Summen sprechen 
wird, wenn dieses Gesetz gilt. Aber umgekehrt kann das asso- 
ziative Gesetz auch in Fällen gelten, wo niemand wird von Sum- 
men sprechen wollen: z. B. bei der Multiplikation von Zahlen. 

§ 6. Eine Einigung Über die Definition des Begriffes Größö 
hat unter den Mathematikern bisher nicht stattgefunden; dies 
Wort wird in den verschiedensten Bedeutungen verwendet. Die 
hier gegebene Definition wird näher erläutert in Wissenschafts- 



Anmerkungen zu § 6, 7. 135 

i 

lehre § 87. Doch geben die dortigen Ausführungen zu gewissen 

Bedenken Anlaß. Es wird dort festgesetzt, daß, wenn, von den 
beiden Fällen M^^N-^rv und N^M+fi der erste eintritt, die 
Größe J/ die größere sei. Wir nehmen folgendes Beispiel : Wir 
betrachten jede Elektrizitätsmenge als Inbegriff von (positiven und 
negativen) Elementarquanten. Die an den Begriff der Summe 
ii^ § 5 gestellten Forderungen sind dann erftillt Da wir die Elek- 
trizitätsmenge 5 darstellen können als Summe von 3 positiven 
und 2 positiven Elementarquanten, wäre sie größer als die Elek- 
trizitätsmenge 3. Da wir aber andererseits die Elektrizitätsmenge 3 
auffassen können als Summe von 5 positiven und 2 negativen 
Elementarquanten, wäre auch umgekehrt die Elektrizitätsmenge 3 
größer als die Elektrizitätsmenge 5. Diese Definition ist also nicht 
haltbar, solange dem Summenbegriff die Allgemeinheit gelassen 
wird, die ihm in § 5 gegeben wurde (die aber wieder ihrerseits 
durchaus dem üblichen Gebrauche des Wortes Summe entspricht). 
Tatsächlich scheint B. ein sehr enger Begriff der Größe vor- 
geschwebt zu haben, da er die Null nicht als Größe anerkennt 
(vgl. § 14, S. 19). Andererseits spricht er aber ausdrücklich von 
positiven Größen (§ 18, S. 25, Fußnote), er erkennt also offen- 
bar auch nicht- positive Größen an, so daß es schwer verständ- 
lich ist, wie er der Null den Größencharakter absprechen will. 
Man kann also wohl sagen, daß die Begriffe S u m m e und Größe 
durch die §§ 5 und 6 (und die entsprechenden §§ der Wissen- 
schaftslehre) nicht hinlänglich geklärt sind. 

§ 7- Vgl. Wissenschaftslehre § 85. Auch gegen die hier ge- 
gebene Definition des Begrifi<$s Reihe müssen Bedenken er- 
hoben werden; sie ist offenbar viel weiter, als B. es beabsich- 
tigte. Sei z. B. der gegebene Inbegriff die Menge aller reellen 
Zahlen ; zu jeder reellen Zahl x denken wir uns eine zweite be- 
stimmt durch das Gesetz ^+1; B.s Definition des Begriffes Reihe 
ist ihrem Wortlaute nach erfüllt, obwohl B. die Menge aller 
reellen Zahlen gewiß nicht als Reihe aufgefaßt wissen wollte. 
Allem Anscheine nach wollte B. mit seiner Definition das sagen, 
was wir in der heutigen Terminologie so ausdrücken würden: 
eine (einfach geordnete) Menge heißt eine Reihe, wenn es zu 
jedem ihrer Elemente (mit höchstens\zwei Ausnahmen: einem 
ersten und einem letzten Elemente) ein unmittelbar vorher- 
gehendes und ein unmittelbar folgendes Element gibt. Aber 
auch so gefaßt ist der Begriflf noch viel weiter, als offenbar B. 



136 Anmerkungen zu § 8 — 16. 

vermeinte. Denn unter diesen Begriff würde z. B. noch die Menge 
aller ganzen komplexen Zahlen M + ni (m und n ganze Zahlen) 
fallen, wenn man sie nach folgendem Gesetze ordnet: m* + «'« > m 
■i-ni wenn m^'^m, und falls m* =.my wenn n'^n, 

§ 8. Durch die eben besprochenen Einwände gegen B.s De- 
finition des Begriffes Reihe wird auch die hier gegebene Defi- 
nition der BegrifTe endliche Vielheit und ganze Zahl illuso- 
risch. Doch kann man tatsächlich in der von B. eingeschlagenen 
Richtung zu einer befriedigenden Darstellung dieser Begriffe ge- 
langen. Vgl. Peanos Axiome des Begriffes natürliche Zahl 
(man findet sie ausführlich besprochen bei L. Couturat, Princi- 
pes des math^matiques, Paris 1905, S. 54) und die Ausführungen 
von B. Rüssel, The principles of mathematics, Cambridge 1903, 
S. 128. Verwandt damit ist auch die Einführung dieser Begriffe 
bei H. Weber, Enzyklopädie der Elementarmathematik, Bd. i 
(3. Aufl., Leipzig 1909) S. iff. 

§ 12. Die Definition des Unendlichen, die B. in Nr. i dieses 
Paragraphen ablehnt, ist die auch in der heutigen Mathematik 
durchaus übliche Definition des „uneigentlichen Grenzwertes" 00. 
Man sagt, eine Funktion f(x) habe für x-*a den (uneigentlichen) 
Grenzwert 00, in Zeichen: lim f(x) = 00, wenn — wie groß eine 

Zahl A auch vorgegeben werden mag — für alle hinlänglich nahe 
an a gelegenen (aber von a verschiedenen) Werte von at, immer 
f(x) >• A ist. Was B. hierzu bemerkt, ist durchaus anzuerkennen. 
Es handelt sich hier in der Tat nicht um die Definition 
einer unendlichen Größe, sondern nur um ein Wachsen über 
alle (endlichen) Grenzen hinaus.* Man hat daher dieses „unvoll- 
endete", „uneigentliche" oder „potentielle" Unendlich von dem 
„vollendeten", „eigentlichen" oder „aktualen" Unendlich zu unter- 
scheiden. Nur um dies letztere dreht es sich in den Unter- 
suchungen von B. 

§ 13. Ähnliche Erwägungen zum Nachweise der „Gegenständ- 
lichkeit des Begriffes Unendlich" (oder wie die heutigen Mathe- 
matiker sagen : der Existenz unendlicher Mengen) finden sich auch 
bei neueren Mathematikern, z. B. R. Dedekind, Was sind und 
was sollen die Zahlen? (Braunschweig 1887) § 5. Es verdient 
daher festgestellt zu werden, daß dieser Gedankengang sich schon 
bei B. findet. 

§ 16. An den beiden Stellen: „sofern man unter der unend- 
lich großen Größe ..." und „unter der unendlich kleinen 



Anmerkungen zu § i6 — 18. 137 

Größe ..." sollte es wohl statt „der** heißen: „emer**, da es ja 
sehr wohl verschiedene unendlich große und unendlich kleine 
Größen geben kann. Wenn B. weiter feststellt, eine unendliche 
Größe könne nicht als Zahl betrachtet werden, so liegt das 
durchaus an der sehr engen Definition des Begriffes Zahl, von 
der er ausgeht (§ 8), indem er das Wort „Zahl" nur in dem Sinne 
verwendet, in dem man heute sagt „natürUche Zahl'*. Demzu- 
folge bezeichnet denn auch B. die Brüche i-» -J-» • • • , die irratio- 
nalen „Ausdrücke" ySj y2, ... nicht als Zahlen, sondern ledig- 
lich als Größen, während man sie heute allgemein als rationale 
bzw. irrationale Zahlen bezeichnet. Und so treten denn auch in 
G. Cantors Mengenlehre unendliche (transfinite) Zahlen auf. 
Was dagegen von philosophischer Seite eingewendet wurde, läuft 
auf einen bloßen Wortstreit hinaus : es handelt sich dabei ja nur 
darum, einen wie weiten Sinn man dem Worte „Zahl« bei- 
legen will. 

§ i8. Was hier über Summen von unendlich vielen Größen 
gesagt ist, insbesondere die in Fußnote*) durchgeführte Rechnung, 
entspricht nicht den heutigen Ansichten über diesen Gegenstand. 
B. glaubt sich wohl auf Grund des in § 5 eingeführten Summen- 
begriffes berechtigt, ohne weiteres eine Summe aus unendlich 
vielen Summanden zu betrachten. Wir haben schon gesehen, 
daß diese Definition des Begriffes Summe zu unbestimmt ist, 
um mit ihr etwas anfangen zu können. Man wird also gegen B.s 
Beweisführung einzuwenden haben, daß mit den in ihr auftreten- 
den Summen gar kein präziser Begriff verbunden ist-, und daß 
die mit ihnen vorgenommenen Rechnungen (wie z. B. Ausklammern 
eines gemeinsamen Faktors) durch nichts begründet sind. 

Die heutige Mathematik stützt sich, um den Begriff einer 
Summe aus unendlich vielen (reellen oder komplexen) Zahlen 
einzuführen, auf den Begriff des Grenzwertes einer Zahlen- 
folge, dessen genaue Definition die folgende ist*). Man sagt: die 
Zahlenfolge b^y b^^ ...j bny ... hat die Zahl b zur Grenze, oder: 
sie hat den Grenzwert ^, in Zeichen lim bn = b^ wenn — wie 

«—»■CO 

klein die positive Zähl s auch gegeben sein mag — alle Zahlen 
der Folge, mit höchstens endlich vielen Ausnahmen, der Un- 



*) Näheres hierflber in allen besseren Lehrbüchern der Differentialrechnung 
oder z. B.*A. Pringsheim, Vorlesungen fiber Zahlen- und Funktionenlehre, i. Bd., 
S. 160. 



138 Anmerkungen zu^ i8. 

gleichung genügen \bn — ^ | < * (d. h. sich von b um weniger als 
8 unterscheiden). Eine gegebene Zahlenfolge kann einen Grenz- 
wert besitzen, doch muß dies nicht sein. Besitzt sie einen Grenz- 
wert, so beißt sie konvergent, besitzt sie keinen» so heißt sie 
divergent. — Um nun den Begriff einer Summe aus unendlich 
vielen Zahlen (oder, wie statt dessen gewöhnlich gesagt wird: 
die Summe einer unendlichen Reihe) zu definieren*), geht 
man aus vom Begriffe der Summe zweier Zahlen. Durch voll- 
standige Induktion definiert man zunächst den Begriff der Summe 
aus H Zahlen öj + a, -}-•.. + ««, indem man annimmt, es sei schon 
bekannt, was unter einer Summe aus n — i Zahlen äj+ö, + ... 
-föt«— I zu verstehen sei, und dann festsetzt: ist Sm— i der Wert 
der Summe ai + aj + . . .-f ««—i, so sei der Wert Sn der Summe 
ai + a.2 j- . . . + an gegeben durch : 

Sn = Sh — I -|- C^M . 

Und nun wird der Begriff „Summe der unendlichen Reihe «^ + a^ 
-f.. . + a«-f . . ." in folgender Weise definiert. Man bilde aus ihr 
die Folge ihrer „Teilsummen": 

^i = <»i> «2 = ^1 + ^2» ^8 = ^1 + ^2 + ^8»- • •> 5«=ai + a2 + .. .-H««, 

Ist diese Zahlenfolge konvergent, und ist s ihr Grenzwert: 

lim Sn = s, 

«—»•00 

so definiereji wir 5 als die Summe unserer unendlichen Reihe: 

^1 + ^2 + • • • + ^« + • ' • ^^^ '^* 

Ist hingegen die Folge der Teilsummen divergent, so soll von 
einer Summe unserer unendlichen Reihe nicht gesprochen, und 
das Symbol «j + «2 + . . . -|- öf« -f . . . als sinnlos betrachtet werden. 
Also kurz gesprochen: Summe der unendlich vielen Summanden 
(Summe der unendüchen Reihe) «^ -h «j -f . . . + a« -|- . . . ist Grenz- 
wert ihrer Teilsummen, falls es einen solchen Grenzwert gibt. 

Auf Grund dieser Definition ist es nun auch leicht, die im 
Texte behandelte Gleichung: 

a + ae + ae^-\-... + aef* + ,, = (|^|<i) 

zu beweisen. Die w-te Teilsumme ist hier: 

Sn = a + ae-\- . .. + ae«— i, 
■■ • 

*) Vgl. z. B. A. Pringsheim a.a.O. 8.393. 



Anmerkungen zu § 18—20. 139 

und wenn e=}=i, ist dies nach einer elementaren Formel: 



SH = a 



I — e 



Wenn nun*) | ^ K i, so hat die Folge e^ e^, «^, . . . , ^«, . . . den Grenz- 
wert o: 

iim «« = o (I ^ K i). 

«=00 

Daher hat die Folge 5,, Sg, . . ., 5« . . . den Grenzwert a -y d. h. 

es ist 

lim Sh = 



«— *- 00 ± ff 



und unsere Behauptung ist bewiesen. 

§ 19. Die Frage, wann zwei Mengen als „in Hinsicht auf ihre 
Vielheit einander gleich" zu betrachten seien, bildet einen der 
wundesten Punkte in B.s Lehre vom Unendlichen. Sie findet 
sich in § 21 und § 24 dahin beantwortet**), daß zwei Mengen als 
gleich zu betrachten seien, wenn sie „gleiche Bestimmungsgründe 
haben". Diese Definition ist viel zu unbestimmt, als daß sich mit 
ihr irgend etwas anfangen ließe. Nach § 6 nun hätte die Menge 
A^ größer zu heißen als die Menge M, wenn N Summe aus einer 
M „gleichen" Menge und noch einer Menge /* ist. Da aber der 
Begriff „gleich" nicht hinlänglich präzise gefaßt ist, gilt dies auch 
vom Begriffe „größer", wenigstens immer dann, wenn von den 
beiden Mengen M und N keine Teil der anderen ist. Doch kann 
man zweifellos sagen, daß nach der Auffassungsweise B.s j^de 
Menge größer ist als jede ihrer echten***) T^mengen. Vgl. hier- 
zu die Bemerkungen zu § 21. 

§ 20. Ist jedes Ding einer Menge Af mit einem Dinge der Menge 
N zu einem Paare verbunden, so daß in beiden Mengen kein 
einziges Ding ohne Verbindung zu einem Paare bleibt, und auch 
kein einziges in mehr als einem Paare vorkommt, so sagt man, 



'*) B. schreibt statt dessen ^««s:!, weil er stillschweigend nur an positive e 
denkt. 

**) Diese beiden Stellen stimmen untereinander nicht flberein. In § ai heifit es : 
„wie etwa, daß beide Mengen ganz gleiche Bestimmungsgründe haben," in § 24 hin- 
gewiesen: „dies wird mit Sicherheit erst dann gefolgert werden können, wenn 
beide Mengen gleiche Bestimmungsgrande haben''. 

***) Da man heute zu den Teilmengen einer Menge M auch diese Menge selbst 
rechnet, bezeichnet man die Teilmengen im engeren Sinne (die nicht alle Elemente 
von M enthalten) auch als echte Teilmengen. 



140 # Anmerkungen zu § 20, 21. 

die beiden Mengen seien eineindentig (oder umkehrbar ein- 
deutig) aufeinander bezogen. Zwei Mengen, die eineindeutig 
aufeinander belogen werden können, heißen nach G. Cantor 
äquivalent oder gleichmächtig. Was B. hier nachweist, kann 
also kurz so ausgesprochen werden: Eine unendliche Menge 
kann äquivalent einer ihrer echten Teilmengen sein. 
Dies trifft sogar, wie man unschwer zeigt, und wie auch B. zu 
Beginn dieses Paragraphen sagt, für jede unendliche Menge zu. 
Und da es für endliche Mengen gewiß niemals zutrifft, so kann 
diese Eigenschaft geradezu zur Definition der unendlichen Mengen 
verwendet werden. Dies ist der Weg, den Dedekind einge- 
schlagen hat (Bemerkung zu § 2). 

§ 21. Bleibt es B.s Verdienst, sich als erster mit der Äqui- 
valenz unendlicher Mengen beschäftigt zu haben, so war es 
G. Cantor vorbehalten, die volle Tragweite dieses Begriffes zu 
erkennen. B. begnügt sich hier mit der rein negativen Fest- 
stellung, Äquivalenz sei kein Kriterium für die Gleichheit zweier 
Mengen „in Hinsicht auf die Vielheit ihrer Teile", eine Behaup- 
tung, deren Bedeutung noch dadurch beeinträchtigt wird, daß — 
wie wir zu § 19 bemerkten — nicht klar gesagt wird, was unter 
einer solchen Gleichheit zu verstehen sei. Im Gegensatze hierzu 
hat G. Cantor gerade auf den Begriff der Äquivalenz seine Lehre 
von den Mächtigkeiten (oder Kardinalzahlen) der Mengen 
aufgebaut, die sich als so außerordentlich fruchtbar erwiesen hat. 

Wenn wir von zwei endUchen Mengen sagen, sie enthalten 
dieselbe Anzahl von Elementen, oder — was dasselbe heißt — l 
sie haben gleiche Kardinalzahl, so meinen wir damit offenbar 
nichts anderes als : die beiden Mengen sind äquivalent. So sagen 
wir z. B., die Anzahl der Finger der rechten Hand sei die gleiche, 
wie die Anzahl der Finger der linken Hand, weil eine einein- 
deutige Zuordnung zwischen den Fingern der rechten und denen 
der linken Hand möglich ist Die Kardinalzahl einer endlichen 
Menge ist daher nichts anderes als dasjenige Merkmal, das die^ße 
Menge mit allen ihr äquivalenten Mengen gemein hat, und wo- 
durch sie sich von allen übrigen, ihr nicht äquivalenten Mengen 
unterscheidet. „Eine Menge hat die Kardinalzahl 5" heißt genau 
dasselbe wie: „diese Menge ist äquivalent der Menge der Finger 
einer Hand." 

In diese Definition des Begriffes Kardinalzahl geht nun 
aber die Endlichkeit der betrachteten Menge gar nicht ein. Sie 



Anmerkungen zu § 21. ^ 14 t 

kann wörtlich auch auf unendliche Mengen angewendet werden 
und liefert so zu jeder Menge ein Merkmal, das — wenn es sich 
um endliche Mengen handelt — sich auf den bekannten Begriff 
der Anzahl oder Kardinalzahl dieser Menge reduziert, imd daher 
zweckmäßig ganz allgemein als die Kardinalzahl der betrachteten 
Menge bezeichnet werden kann*). Obwohl diese Bezeichnung 
heute in der Mengenlehre allgemein angenommen ist, wollen wir 
hier — um allen Wortstreitigkeiten aus dem Wege zu gehen — 
diesen Begriff lieber mit dem von G. Cantor herrührenden und 
auch heute noch durchaus üblichen Worte Mächtigkeit be« 
zeichnen. Die Definition dieses Begriffes lautet also: „Mächtig- 
keit einer Menge ist dasjenige ihrer Merkmale, das sie mit 
allen ihr äquivalenten Mengen gemein hat, und wodurch sie sich 
von allen ihr nicht äquivalenten Mengen unterscheidet.^ Äqui- 
valente Mengen haben also dieselbe Mächtigkeit, nicht-äquivalente 
Mengen haben verschiedene Mächtigkeiten. 

Durch die Beispiele von § 20 nun zeigt B., daß eine unend- 
liche Menge gleiche Mächtigkeit wie eine ihrer echten Teilmengen 
haben kann. Noch überraschendere Beispiele hierfür hat G. Cantor 
gefunden: z. B. daß die Menge aller rationalen Brüche gleiche 
Mächtigkeit hat, wie die Menge aller natürlichen Zahlen '^'^), daß 
die Menge aller Punkte einer Ebene***), und ebenso die Menge 
aller Punkte des Raumes f) gleiche Mächtigkeit hat, wie die 
Menge aller Punkte einer Geraden usf. 

Daß zwei Mengen, von denen eine die andere als echte Teil- 
menge enthält und somit nach B.s Terminologie größer ist als 
die andere hinsichtlich der Vielheit ihrer Teile, doch gleiche 
Mächtigkeit haben können, bedeutet natürlich keinerlei Wider- 
spruch, ebensowenig wie etwa die Tatsache, daß zwei Menschen, 
von denen der eine größer ist als der andere, doch gleiches Ge- 
wicht haben können. Insbesondere ist darin auch kein Wider- 
spruch enthalten gegen das „ Axiom": das Ganze ist größer als 
der Teil. 

Nachdem wir festgestellt haben, wann zwei Mengen gleiche 
Mächtigkeit haben, bleibt noch festzustellen, was unter der Aus- 
sage verstanden werden soll: die Menge 3/hat größere Mäch- 



*) Alles, was von phflosophischer Seite hiergegen eingewendet wurde, beruht 
wohl auf Mifiyerstflndnissen. 

**) Vgl. A. Fraenkel, Einl. i. d. Mengenlehre, S. ao. 
**»•) Vgl. A. Fraenkel a. a. O. S. 7a.* 
t) VgL A. Fraenkel a.a.O. S. 7a 



142 Anmerkungen zu § 21 — 27. 

tigkeit als die Menge N. Die Definition lautet: Ist die Menge 
iV äquivalent einem Teile von M^ aber nicht äquivalent mit M 
selbst, dann hat M größere Mächtigkeit als i^. G. Cantor hat 
bewiesen, daß die Menge aller reellen Zahlen größere Mächtig- 
keit hat als die Menge aller natürlichen Zahlen*), ferner daß die 
Menge aller Teilmengen der Menge M stets größere Mächtig- 
keit'*) hat als die Menge ^M selbst *♦*). 

Der Nachweis, daß die Mächtigkeiten der Mengen ihrer Größe 
nach geordnet werden können (d. h. daß von je zwei Mächtig- 
keiten, die nicht gleich sind, die eine größer als die andere ist), 
erforderte schwierige Untersuchungen. Er wurde erbracht durch 
G. Cantors Theorie der wohlgeordneten Meiigen, auf die 
wir hier nicht eingehen können f). 

§ 22. Bei dem hier geschilderten Verfahren zur Ermittlung 
der Anzahl einer endlichen Menge durch Numerieren ihrer Ele- 
mente fehlt der Nachweis, daß die ermittelte Anzahl unabhängig 
ist von der Reihenfolge, in der die Elemente numeriert werden. 
Der erste, der die Notwendigkeit eines solchen Nachweises er- 
kannte, scheint E. Schröder gewesen zu sein ff). Ausführlich 
findet man diesen Beweis bei A. Pringsheim, Vorlesungen über 
Zahlen- und Funktionenlehre, i. Bd, S. 15. Vgl. auch meine kri- 
tischen Bemerkungon hierzu: Göttingische gelehrte Anzeigen, 
1919, S. 328. ^ 

§ 27. Der Ableugnung unendlich großer und unendlich kleiner 
Zeitlängen, Entfernungen, Kräfte ist durchaus zuzustimmen: wo 
in den Anwendungen der Mathematik (insbesondere auf Physik) 
von unendlich kleinen Größen dieser Art die Rede ist, handelt 
es sieh stets um eine abgekürzte Ausdrucksweise; die in den 
Überlegungen wirklich auftretenden Größen müssen sämtlich 
endlich sein. Der Beweis aber, durch denB. diese Ableugnung 
begründet, ist gewiß nicht überzeugend; so glaubt B. u. a. nach- 
weisen zu können (S. 39, Z. 2 v. u.), „daß aus der Angabe der 
beiden Zeitpunkte a und ß, aus der Angabe der sämtUchen Kräfte, 
welche die geschaffenen Substanzen in dem Zeitpunkte a gel^abt, 

*) Vgl. A. Fraenkel a. a. O. S. 35. 
♦♦) Vgl. A. Fraenkel a. a. O. S. 48. 

***)' SoU dies auch für Mengen gelten, die nur aus einem oder zwei Elementen 
bestehen, so muß man zu den Teilen von M auch M selbst und die „leere 
Menge" (die gar kern Element enthält) rechnen, 
t) Vgl. A. Fraenkel a. a. O. S. 124 ff. 
tt) Vgl. H. V. Helmholtz, Wissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 3, S. 358. 



Anmerkungen zu § 27, 28. 143 

aus der Angabe der Orte, wo eine jede sich befunden* alle 
Folgezustände ableitbar seien, was doch ganz bestimmt nicht der 
Fall ist, da hierzu zum mindesten auch die Angabe der Ge- 
schwindigkeiten im Zeitpunkte a erforderlich ist. 

Wie neuere Untersuchungen über die Grundlagen der Geo- 
metrie gezeigt haben, beruht die Unmöglichkeit unendlich großer 
und unendlich kleiner Strecken in der Geometrie auf einem eigenen 
Axiome, dem sog. Axiome des Archimedes*), das aus den 
Übrigen Axiomen ebensowenig ableitbar ist wie das euklidische 
Parallelenaxiom. Ebenso wie man unter Verneinung des Par- 
allelenaxioms eine nichteuklidische Geometrie aufbauen kann, 
in der das Parallelenaxiom keine Gültigkeit hat, ebenso kann man 
unter Verneinung des archimedischen Axioms eine nichtarchi- 
medische Geometrie aufbauen, in der es (nach Wahl einer £in- 
heitsstrecke) unendlich große und unendlich kleine Strecken gibt**). 
Wenn vorhin von der Unmöglichkeit unendlich großer und unendlich 
kleiner Strecken die Rede war, so ist demnach damit nicht eine 
logische Unmöglichkeit gemeint, vielmehr ist damit gemeint, daß 
sich im Räume unserer Anschauung und Erfahrung solche Strecken 
nicht finden. 

Nicht nur in der Mengenlehre, sondern auch in der Lehre 
von den nichtarchimedischen Geometrien betrachtet die Mathematik 
unendliche Größen. Doch sind es Größen ganz verschiedener 
Art, die in diesen beiden Disziplinen behandelt werden***). Daß 
man dies zunächst übersah, hat viel Verwirrung mit sich ge- 
bracht. Auch bei B. sind diese gänzlich verschiedenen Arten un- 
endlicher Größen nicht auseinandergehalten. 

§ 28. Die Definition: „etwas berechnen wollen, heißt eine Be- 
stimmung desselben durch Zahlen versuchen" ist wohl — wenn 
man das .Wort Zahl in so engem Sinne versteht, wie dasB. tut 
(§ 8) — viel zu eng. Mit Cantors Mächtigkeiten (endlichen und 



*) Es lautet: sind a uad b zwei Strecken, so gibt es stets ein Vielfaches na 
der ersten, das größer als die zweite ist: na's^'b, — Man findet hierQber einiges bei 
F. Enriques, Fragen der Elementargeometrie, i. Teil (Leipzig 1911), S. 135 ff. 

**) Als erster hat dies wohl G. Veronese durchgeführt in seinen Fonda- 
menti digeometria, 1891. Ein sehr einfaches Beispiel einer nichtarchimedischen 
Geometrie hat D. Hilbert angegeben: Grundlagen der Geometrie, Leipzig 1899, 
S. 34.. 

***) In der Mengenlehre handelt es sich um Verallgemeinerungen des Kardinal- 
zahl- und Ordinalzahlbegriffes, in den nichtarchimedischen Geometrien um Strecken. 



144 Anmerkungen zu § 28. 

— - — - - ■ 

transfiniten Kardinalzahlen)*} ist, wie in der Mengenlehre ge- 
zeigt wird, sehr wohl eine Rechnung möglich: 

Seien m und n zwei Mächtigkeiten. Um die Summe m+n 
zu definieren, gehen wir aus von einer Menge M der Mächtig- 
keit m und einer Menge N der Mächtigkeit n, die mit M kein 
Element gemein habe. Wir bilden die „Vereinigungsmenge" von 
Af und Ny die aus sämtlichen Elementen von M und sämtlichen Ele- 
menten von A'^ besteht, und definieren : m + n ist die Mächtigkeit dieser 
Vereinigungsmenge. — Um das Produkt mn zu definieren, gehen 
wir wieder aus von einer Menge M der Mächtigkeit m und einer 
Menge A^ der Mächtigkeit n. Wir bilden alle möglichen Paare (a, h)^ 
deren erstes Glied a zu J/, deren zweites Glied b imN gehört. Die 
Menge aller dieser Paare bezeichnen wir als die „Verbindungs- 
meuge* von M mit A^ und definieren: mn ist die Mächtigkeit 
dieser Verbindungsmenge. — Um die Potenz m« zu definieren, 
ordnen wir jedem Elemente von N ein Element von M zu (wo- 
bei sehr wohl auch verschiedenen Elementen von N dasselbe 
Element von M zugeordnet werden darf), und nennen eine solche 
Zuordnung auch eine Belegung von N mit Elementen von Af. 
Die Menge aller solchen Belegungen nennen wir die „Belegungs- 
menge" von N mit M und definieren : m« ist die Mächtigkeit dieser 
Belegungsmenge. 

Diese Definitionen von Summe, Produkt und Potenz können 
mit Recht als Erweitervmgen aufs Unendliche der für natürliche 
Zahlen geläufigen Definitionen angesehen werden. Denn sind M 
und iV endliche Mengen, so ergeben unsere Definitionen tatsäch- 
lich die bekannten Werte von Summe, Produkt, Potenz zweier natür- 
licher Zahlen. Auch die für natürliche Zahlen bekannten Rech- 
nungsregeln, sofern sie sich durch Gleichungen ausdrücken 
(assoziatives, iommutatives, distributives Gesetz), bleiben für be- 
liebige Mächtigkeiten bestehen, nicht aber die durch •Unglei- 
chungen ausgedrückten. Daher rührt es auch, daß die'inversen 
Operationen (Subtraktion, Division) auf unendliche Mächtigkeiten 
nicht übertragen werden können. 

Der hier skizzierte Kalkül mit Mächtigkeiten hat sich als 
sehr fruchtbar erwiesen. Um nur ein Beispiel zu geben: bedeutet 



*) Ähnliches gilt auch für Cantors Ordnungstypen, die in demselben 
Sinne eine Ausdehnung des Begriffes „Ordinalzahl*^ auf unendliche Mengen liefern, 
wie dies die Mächtigkeitenfür den Begriff „Kardinalzahl" leisten (vgl. A. Fr aenl^el, 
Einl. i d. Mengenlehre, S. 78 ff). 



Anmerkungen zu § 28 — ^32. 145 



a die Mächtigkeit der Menge aller natürlichen Zahlen, c die Mäch- 
tigkeit der Menge aller reellen Zahlen, so besteht, wie G. Can- 
tor gezeigt hat, die Beziehung*) c = 2«. Daraus folgt durch Rech- 
nung: 

C«a=2fl -20 = 20+« =;^2ft« C. ^ 

Die so errechnete Gleichung c* = c drückt die (in der Bemer- 
kung zu § 21 erwähnte) Tatsache aus, daß die Menge aller 
Punkte einer Geraden und die Menge aller Punkte einer Ebene 
gleiche Mächtigkeit haben. 

§ 29. Die Erörterungen dieses Paragraphen sind vielen Ein- 
wendungen ausgesetzt. Im Sinne der Mengenlehre haben die mit 

O M O 

NfNf S bezeichneten Mengen alle dieselbe Mächtigkeit, denn sie 
sind alle äquivalent der Menge der natürlichen Zahlen, haben also, 
gleiche Mächtigkeit wie diese (in Cantors Terminologie: sie sind 
sämüich abzählbar-unendlich). 

o 

Was unter aN (S. 45, Z. 9 v.u.) zu verstehen» wäre, ist nicht 
ersichüich. Auch woher B. die Berechtigung nimmt, die Glei- 
chung: 

Mult. (8 — 7) = Mult. (13 — 12) 

anzusetzen, ist — nach dem zu § 19 Gesagten — nicht zu sehen. 

> 

§ 30. Die Einführung Unendlich -kleiner als Reziprokwerte 
Unendlich -großer hängt völlig in der Luft, solange nicht eine 
Division Unendlich -großer definiert ist, was nicht der Fall ist 
Die angedeutete Einführung Unendlich -kleiner durch die Wahr- 
scheinlichkeitsrechnung könnte sich möglicherweise als fruchtbar 
erweisen. 

§ 31. Die hier von B. geübte Kritik ist ganz im Sinne der 
heutigen Mathematik. 

§ 32. B.s These, die unendliche Reihe a — a + a — a + ... 
sei ein „gegenstandsloser Größenansdruck" würden wir (vgL die 
Bemerkungen zu § 18) heute so ausdrücken: diese Reihe ist 
(wenn a=^o) divergent, and dies wäre in folgender Weise zu 
begründen: Die Folge ihrer Teilsummen ist: 

a, a — a»o, a— -11 + « = «, a — a-fa — a = o, ... 

d. h. es ist die Folge a, o, a, o, Diese Folge besitzt keinen 

Grenzwert, d. h. sie ist divergent. 



•) Vgl. A. Frftenkel a. a. O. S. 77. 
BolzanOy Paradoxien des Unendlidien. 10 



146 Anmerkungen zu § 32 — 35. 

if_ 

'■■■'■■ j 

Die von B aufgestellte Forderung, die Summe einer unend- 
lichen Reihe dürfe keine Veränderung in ihrem Werte erfahren, 
welche Veränderung wir auch in der Aufeinanderfolge ihrer 
Glieder vornehmen mögen, wird durch die in unseren Bemer- 
kungen zu § 18 gegebene ^und heute allgemein übliche Definition 
nicht erfüllt. So kann man z. B. aus der Reihe i — -J-H-i- — i + ... 

* (deren Summe = /^ a ist)*) durch 'bloßes Umordnen der Glieder 
eine Reihe erhalten, deren Summe eine beliebig vorgegebene 
.reelle Zahl ist**), und dasselbe trifft für alle Reihen «i +«, + .. . 
-f tf M + • • • AUS reellen Zahlen zu,\iie selbst konvergieren, während 
die Reihe aus den absoluten Beträgen | «^ | + | o« | + • . . + | <>» | + . . . 
divergiert***). 

§ 33* Vgl* <^c Bemerkungen zu § 29. 

§ 34. Zur Unmöglichkeit der Division durch o sei folgendes 

• bemerkt Die Division wird definiert als Umkehrung der Multipli- 
kation: A durch B dividieren, heißt eine Zahl x aus der Gleichung 
B x = A bestimmen. Ist nun B=^o und A^o, so hat diese. 
Gleichung keine Lösung; ist B = o und A = Of so ist durch diese 
Gleichung keine Zahl x bestimmt, weil ihr jede Zahl genügt. In 
diesem Sinne gibt es also niemals eine Division durch o, ein 

Quotient -^ ist eine sinnlose Zeichenkombination. Man wird also, 

A A 
im Gegensatze zu B., auch eine „identische*" Gleichung — = — 

nicht zuzulassen haben, da ihre beiden Seiten sinnlos sind. 

§ 35. Das hier Gesagte deckt sich völlig mit den Ansichten 
der heutigen Mathematik. Zur näheren Erläuterung des über das 
Messen Gesagten diene folgendes: Es sei uns ein System (posi- 
tiver) Größen gegeben, die addiert werden können (z. B. die 
Strecken der Geometrie). Es ist dann klar, was unter einem 
Vielfachen p • N der Größe N (p bedeutet eine natürliche Zahl), 

sowie unter dem Teile — A^ (wo q eine natürliche Zahl bedeutet) 

ZU verstehen ist ^ Damit ist auch geg'eben, was ~ N bedeutet: es 
ist das /-fache des ^-ten Teiles von N. 

Ist M eine zweite Größe des Systemes, und ilf = — i\r, so sagen 

*) Vgl. A. Pringsheim, Vorl. Über- Zahlen- u; Fnnktionenlehre, i. Bd., S. 415. 

♦♦) Vgl. A. Frings heim a. a. O. S. 439^^. 
•♦*) Vp;l. A. Pringahcim.a. a. O. S. 4oiff. 



Anmerkungen zu § 35, 36. 147 

wir: M steht in rationalem Verhältnisse zu N, Doch kann es 
sehr wohl Größen M geben, die zu ^ nicht in rationalem Ver- 
liältnisse stehen. Sei M eine solche. Gibt es dann ein Vielfaches 
n . M das >il/ ist*), so können die ganzen Zahlen ^j, ^,, /g, . . ., 
pq^ ... SO bestimmt werden, daß: 






2 2 



N<M<{ti±iyN, i±.N<M<:^-3±l).N,... 

Gilt das Axiom des Archimedes für unser Größensystem, so 
kann es darin nur eine einzige Größe M geben, die allen diesen 
Ungleichungen genügt; denn angenommen, es gäbe noch eine 
zweite M\ und es wäre etwa**) M^'^M^ so müßte sein: 

M'-^M<-^N, M' — Mk^-^N,..., i// — j|/<-lAr,... 

es wären also sämtliche Vielfache q (M* — M)<^N^ entgegen dem 
Axiome des Archimedes. Gilt hingegen das Axiom des Archi- 
medes nicht, so kann es sehr wohl außer M noch eine zweite 
Größe M' geben, die sämtlichen Ungleichungen (♦) genügt Im 
ersten Falle ist also durch Angabe der Ungleichungen (*) die 
Größe M völlig bestimmt, im zweiten nicht. Die übliche Art des 
Messens der Größe M durch eine Einheit N besteht nun aber, 
wenn nicht gerade M zm N in rationalem Verhältnis steht, eben 
in der Angabe der Ungleichungen (*); sie beruht also durchaus 
auf dem Axiome des Archimedes. 

.§ 36. Auch den Ausführungen dieses Paragraphen ist durch- 
aus zuzustimmen. Wenn auch in den heutigen Lehrbüchern der 
Differentialrechnung vielfach von der „Ermittlung des wahren 

F(x\ 
Wertes** eines Bruches J\ ' gesprochen wird, der für x=^a „in 

der unbestimmten Form -^ erscheint**, so handelt es sich «dabei 
tatsächlich — ganz wie dies B. auseinandersetzt — lediglich um 

*) Dies ist sicher «der Fall, wenn fflr unser GröfienAystiem das Axiom des 
Archimedes gilt (vgl. die Bemerkung zu § 37), anderenfalls mufi es nicht der 
Fall sein. 

**) Ware flf* -<^, so ist Im fol*:endcn JK* — .V durch jr^JV' zu. ersetzen^ 

10* 



148 Anmerkungen zu § 37, 38. 

Ermittlung des Grenz wertes, dem dieser BrucH zustrebt, wenn 
X sich unbeschränkt dem Werte a nähert (vorausgesetzt, daß ein 
solcher Grenzwert Überhaupt vorhanden ist). 

§ 37. Die hier vorgetragene Begründung der Differentialrech- 
nung deckt sich völlig mit der heute üblichen. Nur ist zu be- 
merken, dafi die in der Fußnote von S. 65 aufgestellte Behaup- 
tung, jede Funktion (gemeint ist natürlich: jede stetige Funktion) 
besitze, von Ausnahmepunkten abgesehen, eine Abgeleitete, sich 
als irrig erwiesen hat*), am so mehr noch die Behauptung, jede 
Funjetion lasse sich nach der Formel von S. 68, Z. 7 v. u., ent- 
wickeln**). Mit der (S. 69 erwähnten) Theorie der Rektifikation, 
Komplanation, Kubierung hat sich B. in einer eigenen, 1817 er- 
schienenen Schrift befaßt: „Die drey Probleme der Rectification, 
der Complanation und der Cubierung, ohne Betrachtung des un- 
endlich Kleinen, ohne die Annahme des Archimedes, und ohne 
irgendeine nicht streng erweisliche Voraussetzung gelöst'' Die 
„Annahmen** oder „Grundsätze** des Archimedes, von denen hier 
die Rede ist, sind die folgenden***): 

I. Jede krumme Linie ist länger als die gerade, die zwischen 
denselben Endpunkten liegt. 

U. Von zwei krummen Linien, die beide nach einer Seite zu 
hohl sind, ist die umschließende länger als die umschlossene. 

IIL Wenn eine krumme und eine ebene Fläche dieselben 
Grenzen haben, so ist die erstere größer als die letztere. 

IV. Von zwei krummen Flächen, die beide nach einer Seite 
za hohl sind, ist die umschließende größer als die umschlossene. 

§ 38. Die S. 73 gegebene Definition eines Kontinuums wurde 
von G. Cantor als zu weit beanstandet t)- in der Tat können 
nach dieser Definition auch zwei räumlich vollständig getrennte 
Mengen (z. B. zwei Kugeln ohne gemeinsamen Punkt) ein Konti- 
nuum bilden tt)* Wegen der Definition des Begriffes „Kontinuum" 
verweisen wir auf G. Cantor, Math. Ann. 21, S. 572. 

Auch B.s Definition des isolierten Punktes ist viel weiter 
als die heute allgemein angenommene, der zufolge ein Punkt einer 



*) Vgl. z. B. UBieberbach, Differentiabrechnaiig, Leipsif 1917, S. 104. 
**) Die» ist die sog. Formel von Taylor. Vf}. z. B. H. ▼. Mango Idt, EinfOh- 
rang in die hAhere Mathematik, Bd. a (Leipzig X9za), S. 93.. 
***) S. IV der eben zitierten Schrift von B. 
f ) Math. Ann. ai, S. 576. 
tt) Dies war B. bekannt, vgl. f 48, S. 94, Z. 7 vi o. 



Anmerkungen zu § 38—46. 149 

Punktmenge isoliert heißt, wenn es eine Umgebung von ihm gibt, 
in der kein zweiter Tunkt 'der Menge liegt Daß sich übrigens 
B. wohl bewußt war, wie weit seine Definition sei, zeigt § 41, 
Abschnitt 3. 

Wenn es auf S. 74 heißt: „Denn bedeutet c» eine unendliche 

Menge, so sind auch -ö"» "t» "ft"» * ' * unendliche Mengen. So hegt 
es in dem Begriffe des Unendlichen", so ist dazu zu sagen, daß 
die Begriffe -^ , -^ usw. nirgends definiert wurden, und man da- 
her nicht weiß, was darunter zu verstehen ist. 

§ 40. Die in der Fußnote von S. 80 gegebene Definition der 
Dimensionszahl ist — wenn sie auch nicht als endgültig an- 
erkannt werden kann — insofern sehr bemerkenswert, als sie 
zeigt, wie weit B. in seinen exakten Begriffsbildimgen vorge- 
schritten war. 

Das Problem der „Größe eines Raumdinges" ist nichts anderes 
als das seither wiederholt von verschiedenen Mathematikern be- 
handelte Problem des Inhaltes einer Punktmenge; wir ver- 
weisen auf H. Hahn, Theorie der reellen Funktionen (Berlin, 
1920), Kap. VI, § 8. 

§ 41. Abschnitt i enthält die für viele feinere Untersuchungen 
der Funktionenlehre wichtige Unterscheidung der Intervalle in 
abgeschlossene, offene und halboffene. 

Das in Abschnitt 4 — 7 Gesagte entbehrt einer festen Grund- 
lage, da nirgends festgestellt wurde, wann zwei Mengen als gleich 
.anzusehen sind. Vgl. die Bemerkung zu § 19. 

§ 42. Vgl. die Bemerkungen zu § 20, 21. 

§ 43« Was B. über tg j — i ^^) sagt, ist durchaus zutreffend. 

Für Winkel der Form — -|-«jr sind Tangens und Sekans nicht 

2 

definiert, „gegenstandslos". Hingegen wird man vom Standpunkte 
der heutigen Analysis nicht zuzugeben> haben, daß Sinus und 
Tangens der Winkel o oder i «jt irgendeine Sonderstellung ein- 
nehmen. 

§ 46. Die Gleichung S. 89, Z. 13 v. o. ergibt sich durch An- 
wendung des pythagoräischen Lehrsatzes auf das rechtwinklige 
Dreieck apm^ in dem ap^^pn and am^^pr ist Die Gleichung 



150 Anüiericungen zu § 46, 47. 

S. 89, Z. 4 V. u. ergibt sich so: Es ist mr^pr—pm. Hierin ist 
pr der Kreisradius a, und für pm erhält man aus dem recht- 
winkligen Dreiecke apm^ indem man ap=^dx setzt: 



pm^ Va* — dx\ 
Also ist: 



mr 



«_y^rz:^._a/i_|/x_(^)'). 



Indem man hierin die Wurzel nach dem binomischen Lehrsatze 
c^ntwickelt, erhält man die gewünschte Gleichung*). 

Wir würden heute zu dem Galileischen „Paradoxon" folgen- 
des sagen. Die Gleichung: 

31 pn' = si'pr- — n^pm^ 

drückt aus, daß der Kreis vom Halbmesser ap^=pn gleichen 
Flächeninhalt hat wie der Ring zwischen den Kreisen der Halb- 
messer pr und pnt. Lassen wir ap gegen o konvergieren, so 
zieht sich der Kreis vom Halbmesser ap auf den Punkt a zu- 
sanunen, der Kreisring auf die Peripherie des Kreises vom Halb- 
messer pr. Dieser Grenzübergang lehrt also lediglich, daß diese 
beiden Punktmengen (die eine bestehend aus dem Punkte a, die 
andere aus der Kreisperipherie) gleichen Flächeninhalt haben. 
Das aber ist weder falsch noch paradox, sondern es ist trivial, 
denn sie haben beide den Flächeninhalt o. Der Anschein eines 
Paradoxons kommt nur zustande durch die irrige Auffassung, als 
sei der Inhalt einer Punktmenge ein Maß für die Vielheit der in 
ihr enthaltenen Punkte. 

§ 47. Die gemeine Zykloide ist die Kurve, die ein Punkt 
eines Kreises beschreibt, der auf einer Geraden (der „Basis") 
rollt ohne zu gleiten. Aus dieser Definition folgt unmittelbar 
die auf S. 92, Z. 16 v. o., angegebene Konstruktion des Punktes 
m der Zykloide, denn es muß der auf der Geraden zurückge- 
legte Weg ao gleich dep aufgerollten Bogen om des erzeugen- 
den Kreises sein. 

Die Behauptung, daß das Maß des Winkels moa der halbe 
Bogen om ist (S.92, Z. 13 v.u.), beweist man so: man führe den 
Mittelpunkt q des erzeugenden Kreises ein, dem der Bogen om 



*J Vgl. H. V. Mangoldt, Einfflhnmg i.d. höhere Mathematik, Bd. a, S.xaa. 



Anmerkungen zu § 47, 48. 151 



angehört. Das Dreieck oqm ist gleichschenklig.. Es ergänzt also 
der halbe Winkel oqm den Winkel ntoq zu einem rechten. 
Ebenso aber ergflnzt der Winkel moa den Winkel mo^ zu einem 
rechten. Also ist der Winkel tnoa gleich dem halben Winkel 
oqm. Das aber ist die Behauptung. 

§ 48. Der Beweis (Fußnote von S. 95), daß die Gerade die 
kürzeste Verbindung zweier Punkte liefert, kann nicht als bin- 
dend anerkannt werden, da er die Existenz einer solchen kür- 
zesten Verbindung voraussetzt, die keineswegs selbstverständ- 
lich ist, sondern erst bewiesen werden müßte*). Ferner gründet 
sich B.s Beweis auf den Begriff der Ähnlichkeit Man muß aber 
einen vom Begriffe der Ähnlichkeit unabhängigen Beweis fordern, 
da die Ähnlichkeitslehre auf dem Parallelenaxiome beruht, unser 
Satz aber von diesem Axiome unabhängig ist, und somit auch in 
nichteuklidischen Geometrien gilt, in denen die Ähnlichkeitslehre 
keine Gültigkeit hat. Am besten gründet man wohl den Beweis 
auf den Satz, daß in jedem Dreiecke die Summe zweier Seiten 
größer als die dritte ist, was unschwer ohne Parallelenaxiom be- 
wiesen wird. 

Die Behauptung S. 97, daß ein Körper, dessen Punkte zu Je 
zweien einen Abstand ^ £ haben, ganz in einer Kugel vom Durch- 
messer i^ liege, beruht auf einem Versehen, wie etwa ein gleich- 
seitiges Dreieck von der Seite £ zeigt Es muß Halbmesser 
statt Durchmesser heißen. 

Die logarithmische Spirale ist die Kurve, deren Glei- 
chung in Polarkoordinaten lautet logr^^atp. Als natürliche 
Spirale (S. 99, Z. 9 v. u.) wird insbesondere die folgende be- 
zeichnet: logr=q?, wo mit log der natürliche Logarithmus be- 
zeichnet ist. Für die Länge des „von dem Radius «» i dem 
Mittelpunkte zueilenden Zweiges^ ergibt sich nach einer Formel 
der Integralrechnung**): 



ff^.rJ 



Die Kurve yx^ = a^ wird als Hyperbel höherer Art be- 
zeichnet, well ihre Gleichung ähnlich ist der Gleichung yx^c 

*J BL verfll t hier in den von ihm selbst in § 6a gcrOgten Irrtnm. 
**) V|^ z. B. H. V. Mangoldt, Einfühmns ^ ^'^ höhere Matheouitik. Bd. 3 
(Leipzif^ 19 14), S. 173. 



152 Anmerkangen zu § 48, 49, 7a 

einer (gleichseitigen) Hyperpel. Für den Flächeninhalt desjenigen 
Teiles der Fläche, ,,der von jr •«- a zu allen höheren Werten von 
X gehört*', ergibt sich nach einer bekannten Formel der Integral- 
rechnung*) : 

iydx= j ^^dx = a\ 

a a 

Die Gleichung S. 100, Z. 6 v. o., ergibt sich nach derselben 
Formel**): 

§ 49. Die Entwicklungen dieses Paragraphen kranken an dem 
schon wiederholt zur Sprache gebrachten Übelstande, daß ihnen 
keine präzise Definition der Begriffe „gleich* und „größer" bei 
unendlichen Vielheiten zugrunde liegt. Im Sinne der Mengen- 
lehre hat wohl die Menge aller Punkte einer Strecke größere 
Mächtigkeit als die in i.) konstruierte Punktmenge***) (wiewohl die 
von B. vorgebrachte Argumentation keineswegs ausreicht, um dies 
zu begründen). Hingegen hat die Menge aller Punkte einer 
Strecke die gleiche Mächtigkeit, ob man ihre Endpunkte hinzu- 
rechnet oder nicht. Sie hat ferner gleiche Mächtigkeit wie die 
Menge aller Punkte einer (beiderseits unendlichen) Geraden f), 
ja sogar wie die Menge aller Punkte einer Ebene oder des ganzen 
Raumes (vgl. die Bemerkung zu § 21, 28). 

§ 70. Die Art, wie B. die erste der beiden vorgebrachten 
Paradoxien behandelt, ist wohl nicht völlig befriedigend. Man 
kann sie besser als eines der zahlreichen uns heute bekannten 
Beispiele eines unerlaubten Grenzüberganges auffassen. Hingegen 
st B.s Aufklärung der zweiten Paradoxie durchaus zutreffend. 
Die Fallzeit auf der Sehne erhält man durch folgende Überlegung: 
die Beschleunigung auf einer um den Winkel a gegen die Hori- 



*) VgL z. B. H. V. Mangoldt, a. a. O. S. ao. 
**) Bei B. steht irrtOmlidi das negative Vorzeichen. 
***) Vtl. Bemerkung zu § ai. 
f) Vgl. A. Fraenkel, Einl. i. d. Mengenlehre, S. 38. 



Anmerkungen zu § 70. 153 

zontale geneigten schiefen Ebene ist g • sin a, der Zusammenhang 
zwischen Weg 5 und FaAzeit / daher: 

g-sina^i* 
s«2 . 

2 

Der Weg 5 aber ist die zum Zentriwinkel 2a gehörige Sehne des 
Kreises vom Radius r, also: 

s = 2r • sin a. 
Daraus folgt: 



/ = 2 



fi' 



nicht wie B. schreibt 



ibt/^]/^. 



Sachregister. 



Abgeleitete Funktion 65, 87; 

zweite a. F. 67. 
Abstoßung 121, 123. 
angeblich 12. 
Anziehung 121, 122. 
Archimedes, archimedische 

Grundsätze 69, 81. 
Aristoteles 83. 
Äther 120. 
Atome 72» 107. 
Ausdehnung, räumhche 79, 81 ff., 

93 ff., loiff.; dreifache A. des 

Raumes 80; stetige A. 71, 73, 

lOI. 

Berührung von Punkten 73, von 

Körpern 126. 
Bestimmtheit, durchgängige 36. 
Bewegungen im Weltall 126. 
Boscovich 87, 130. 
Busse 130, 131. 

Cauchy 9, 10, 65. 

Descartes 78, 114. 
Dichtigkeit 117. 

Differential- n. Integralkalkül 64. 
Durchdringen von Substanzen 
"3. 

BbenCi Flfichenraum einer 
Menge der Punkte 
104. 



E., 
in einer £. 



Einheit 4, 7. 

Einwirkung, unmittelbare 112,. 

115. 
endliche Vielheit 6, 31 ; e. Wesea 

36. 
Erdmann 7. 
Erfahrung 108. 
Euler 60, 129, 130, 131. 

Fern Wirkung 113. 
Fischer, J. K. 83. 
Fries 12. 

Galilei 88, 91. 

Ganzes 2, 72; zusammenhängen«- 
des G. 94. 

Geist 114, 115. 

Gerade 8; begrenzte, unbegrenz- 
te G. 82; Gerade als kürzeste 
95; Menge der Punkte in einer 
G. loi, 103. 

Gröfie 4; imaginäre Gr. 71; un- 
endlich große, kleine Gr. s. un- 
endlich; veränderliche Gr. 9; 
Menge aller Gr. 21; Gr. einer 
räumlichen Ausdehnung 79. 

Gmnert 10. 



Harmonie, prästabilierte 112. 

Hegel 7, II. 

Herbart 79. 

Hyperbel höüerer Art 9^. ^ 



156 



Sachregister. 



Imaginäre Größen 71. 
Inbegriff 2, 15 ff. 
Inhalt eines Raumdinges 80. 
irrationale Größen 24; Mengen 

von i. Verhältnisse 83. 
isolierte Punkte 73. 

Kant 78, 1J4. 

Kästner i, 88. 

KlOgel 9. 

Komplanation 69, 81. 

Kontinuum 71, 73. 

Körper 120; Berührung der K. 
126; Grenzen der K. 125; Kör- 
pereckc 107; Körperschicht 
106. 

Kräfte 39, III, 116; Kr. ohne 
Substanzen 115. 

Krümmung, Krümmungshalb- 
messer, Krümmungskreis 69, 
88; Kr. der Zykloide 91. 

Kubierung 69, 81. 

Lagrange 65, 66. 
Leibniz 112. 

Materie iii, 114, 115. 

Menge 4, 15 ff.; Vergleichung 

von Mengen in Hinsicht auf 

ihre Vielheit 26ff. 
Messen 59. 
Metaphysik 107. 
Mittelpunkt einer Geraden 103. 
möglich i8. 

Newton 78. 
Null 55. 

Ohm 55. 

Paradox, Paradoxie, Paradoxon 
i; F. in der Mathematik 20, 26, 



27, 43, 49; P. in der Lehre von 
den stetigen Ausdehnungen 
71; P. in der Lehre von der 
Zeit 75; P. in der Lehre vom 
Räume 78, 8jff., 93 ff., loiff.; 
P. in der Metaphysik und Phy- 
sik 107, 114, 116, 118; P. von 
Boscovich 87; P. von Euler 
129; P. von Galilei 88. 

Parallelepipjedon 103. 

Pendelbewegung 131. 

Physik 107. 

Quadratfläche 102. 

Raum 22, 38, 78; dreifache Aus- 
dehnung des R. 80; Größe des 
ganzen R. 85. 

Rechnung mit unendlich Gro- 
ßem 43, 46, 64; mit unendlich 
Kleinem 46, 64 ff. 

Rechteck 102. 

Reihe 5; Summe unendlicher R. 
24, 48 ff. 

Rektifikation 69, 81. 

Sätze an sich 13, 16, 78. 

Schulz, Joh. 85, 86. 

Skeptiker 75. 

Spinoza 10. 

Spirale, logarithmische 98, 128; 
natürliche 99. 

stetige Ausdehnung 71, 73, loi. 

Stetigkeit, Gesetz der St. 63, 64, 
118, 130. 

Stufen des Daseins 116. 

Substanzen 107, 115, 116; den- 
kende, nichtdenkende S. 114; 
einfache, zusammengesetzte S. 
107; herrschende S. 118. 



Sachregister. 



167 



Summe 4; S. einer unendlichen 
Menge von Summanden 24, 
34, 48 ff.; S. der natürlichen 
Zahlen 44; S. der Quadrate 
der natürlichen Zahlen 53. 

Tangente des rechten Winkels 

9» 84. 
Teil 2, 72. 

Und 2. 

Unendlich i, 6ff., i4ff.; U. bei 
Cauchy 9, bei Fries 12, bei 
Hegel 7, bei Spinoza jo; Ge- 
genständlichkeit des Begriffes 
n. 13; u. Mengen in Raum und 
Zeit 23; U. auf dem Gebiete 
der Wirklichkeit 35; Unend- 
lichkeit Gottes 8, 35; u. groß, 
u. klein 7, 9 ff., 22; u. Große 
und Kleine verschiedener Ord- 
nung 45, 47, 59; u. Große und 
Kleine nach Euler 60 ff., 132; 



Rechnung mit u. Großen und 
Kleinen 43, 46, 64 if.; u. große 
und kleine Zeitlängen 38, 40; 
u. große und kleine Entfer- 
nungen im Räume 38, 41, 84^ 
87; u. große und kleine Kräfte 

39» 42. 
unmöglich 20. 

• 

Veränderliche Größe 9. 
Veränderung ^iio. 
vereinzelter Punkt 73, 82. 
Vielheit 4; V. einer Menge 

26ff. 

Wahrheiten an sich 13, 16, 78. 
Wärmestoff 123. 
Würfel 103. 

Zahl 6; Menge aller Z. 20, 22^ 
44. 

Zeit 22, 38, 71, 75. 
Zykloide 91.