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Full text of "Paul de Kock's sämmtliche humoristische Romane"

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TME NEW YORK 
PUBLIC LIBRARY 


ASTOR, LENOX 
TILDEN FOUNDATIONS 





Band I. Seite 14. 
Der eben fo majefätifce als feichte Tanz der Datame Volenville erregt Auffehen. 


— 


Sämmtiiche humoristisshe Romane 
24% Von 
Paul de Kock, 


Deut sch bearbeitet 
von 


Dr. Heinrich Elsner, 


Dritte Auflage 
Mit Illustr, von Pariser Künstler: 


ed. 1-3. 


Stutteart: 
Rieger'sche Verlagsbuchhan 
1857. 








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bearbeitet: —W 
ed 
von 


Dr. Heinrich Elsner. 


Derweil ein Einz'ger lebt von ſeinem Spielgewinn, 
Sieht taufend Spieler man vor Hunger fterden hin. 
Ber Spieler von Regnard. 


Dritte Auflage. 


Stuttgart: 


Rieger'ſche Berlagebuchhandlung. 
(A. Benedict,) 








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Buchdruckerei ber Niege chen Verlagohandlung in Stuttg 


Erſtes Kapitel. 
Cine Hohzeit in Cadran-Bleu. — Dit familie Murpilfe, 


Mitternacht hat geſchlagen; woher noch dieſes Freubengefchrei, 
biefer laute Jubel, dieſes Hellauf, diefe Muſik, diefe Gefänge ‚ dieſer 
Lirm?... Haltet einen Augenblick auf dem Boulevard vor dem 
Gadran-Blen, mach es wie die guten Leute, welche allen Hoch⸗ 
selten, allen Baftereien, die bei den Reſtautateurs bes Boulevard 
tu Temple gegeben werben, befwshnen, indem fie vor den Fenflern 
oder auf der Straße hin: und hergeben, und auf biefe hochſt er- 
quicdliche Art und Weife der Ausſicht auf eine englifche Ghaine; 
einen Walzer oder auf eine Milch⸗Chokolate genießen; freilich ris⸗ 
firen fie auch dabei, von den Borübergehenden geftoßen, von ben 
Bagen mit Koth befprigt und von den Kutſchern angeflegelt zu werden. 

Aber um Mitternacht find die Pflaftertreter, die Gaffer oder 
Nanlaffen (kurz, wie man dieſe Strolche benamſen will) längft 
untergeſeſſen; vor dem Thore des Cadran⸗Bleu bleibt nichts mehr 
ſtehen, als die Fiaker- oder Extra⸗Miethkutſchen, je nach der größeren 
oder geringeren Bebeutung, melde fi) die Gingelavenen beilegen 
wollen. Um dieſe Stunde jedoch wird erft dad Gemälde pikanter, 
wechſelvoller, belebter; denn nur dann beginnt man Bekanntſchaft 
ju machen. 

Run denn, wird man mich fragen, was ift denn. der Grund 
tiefer Geſellſchaft im Cadran⸗Bleu? Iſt's ein Namensfeft, ein Jahres⸗ 
Aag, ein Vereinsmahl? — Beſſer als alle dad: es ift eine Hochzeit, 

Eine Hochzeit!. ... Wie viele Betrachtungen erregt doch dieſes 

ort! wie viele Hoffnungen und Erinnerungen erzeugt es! wie 

Möligt dabei das Gerz des jungen Mäbchens, das den Angenblid 
x 


Ne) 
a) 


. 4 


nicht erwarten fann, wo es die Helbin dieſes feftlichen Tages fein 
und mit dem Myrthen⸗ und Orangenzweig ſich bekraͤnzen wirb, jenem 
Symbol ber Züchtigkeit und Sungfräulichleit, das leider Tchon fo 
manchen Gatten betrog, der aus gutem Grunde auf jened Zeichen 
nicht flolz iſt. Wie betrübt dagegen der Anblick dieſer Feier mancher 
erfi ſeit zwei Jahren verehelichten jungen Frau, bie das Glück biof 
noch in der Erinnerung kennt! Sie zittert über das Schickſal der 
armer Braut, fie gebenkt mit Wehmuth au ben eigenen Hochzeittag, 
an bie innige und glühenbe Zuneigung ihres Mannes. zu jener Zeit, 
und vergleicht dieſe mit der fpäteren, deun fie hat es erfahren, wie 
wenig man ben Liebeoſchwüren ver Männer trauen darf. 

Aber laſſen wir diefe Betrachtungen. Treten wir lieber in den 
Cadran⸗Bleu ein und machen uns mit den Hanptperfonen biefed 
Feſtes bekannt, die und im Laufe diefer Geſchichte öfters begegnen 
werben, ſelbſt wenn unfer Kapitel mit unferer Erzählung in gar 
feiner Verbindung flände, was ja nicht unmöglich wäre, denn ber: 
gleichen liest man zuweilen. . - 

Beginnen wir mit ben Reuvermählten. - 

Eduard Murville, fünfundzwanzig Jahre alt, ift von mittlerer 
Statur, aber guter Haltung ; feine Geſichtszüge find angenehm, 
feine Stimme ift fanft, fein Benehmen verräth Bildung. Er bat 
viel Talent für das gefellige Leben, fpielt die Bioline ziemlich gut, 
fingt wit Geſchmack und tanzt mit Anftanb ; er weiß für fich ein- 
zunehmen, bat ben Takt der vornehmen Welt und weiß ein Gefell: 
ſchaftszimmer zu betreten und wieder zu verlafien, was, beilaͤuſig 
gefagt, bei weitem nicht fo leicht ift, als ihr wielfeicgt glaubt. Was?! 
höre ich meine Lefer fagen, glaubt denn diefer Mann, daß wir nicht 
zu geben, zu grüßen und uns mit Anſtand vorzuftellen wiſſen? 
Ach, es ſei ferne von mir, über die im Tanzen audgezeichnetfte Nation 
ein folches Urtheil zu fällen; ‚aber überall gibt's Nüancen, an? “ 
gerade diefe Nüancen veranlaffen mich zu ſolchen Bemerkungen... 
ine fehr geiftzeiche, aber etwas fatirifche Frau, neben der ich 


0, 
.- 


= 


Krzlih im Salon eines Finanziers ſaß, machte mir Merüber ihre 
Bemerkungen, die fich faſt alle beftätigten. 

„Beobadgten Sie einmal,” fagte fie, „mit mir alle bie Ber: 
ſenen, die in den Salon eintreten werden, id; weite, ich errathe 
ihren Sharakter und ihre Gemüth aus der Urt und Weiſe, wie fle 
fih vorſtellen. Betrachten Sie doch jene große Dame, die bort durch 
die Geſellſchaft einherfchreitet, ohne fie nur eines Kopfnickens werth 
zu achten, bie fich num auf ben beften Platz vor den Kamin ſegt, 
ohne entfernt darauf Rädfidyt zu nehmen, ob fie die Hinter ihr 
genden Berfonen genirt. Was halten Sie von diefer Frau? — 
Daß fie auſpruchſsvoll und auf ihre große Toilekte eingebildet if. — 
Das ift nicht genug; fehen Ste noch Hinzu, daß fie eine Närrin 
if. Cine Frau von: Geiſt hat tanfend Mittel, fü bemerkbar zu 
machen, ohne fo laͤcherliche Mittel zu Hülfe zu nehmen ; wenn fie 
brilliren will, fo weiß fie dabei au fich anfländiger zu benchmen, 
und fieht die etwas altmobifcher oder weniger geſchmackvoll geklei⸗ 
. Danıen aict über die Achſeln an. Aber, was für ein Lärmen 

. Erfheint etwa ein Birtuofe?... IR ein Thee⸗ 

mi auf den Beben gefallen?... Der Herr des Saufes eilt hin⸗ 

. gleich werben wir erfahren, was los if. Ah! ... ich er- 

Ian biefe Stimme; es iſt Herr 3.... bier, hören Sie nur, Sie 
veriehen ihn von da aus.“ 

Ach, wein iheurer Freund! .... ich bin in Verzweiflung, fo 
foat zu Iommen!... auf Ehre, ih bin ganz verädt! ... ich 
weiß nicht, Darf ichſs wagen!... Sch fehe ans wie ein Vaga⸗ 
bund! Ich will mich in eine Ecke verbergen !“ 

„Run denn,“ fagte meine Nachbarin, „was halten Sie von 
dem Herrn, der nicht gefehen fein will, der es aber fo laut aus⸗ 
ſcheeit, daß alle Köpfe im Salon nach ihm bliden?... Ach! end- 
ii einmal eutſcheidet er fich.“ 

Ich erwartete sinen jungen Braustopf zu fehen, aber fiche 
da, ed war ein Mann von vierzig bis fünfzig Jahren, mit blonder 


6 - 


Merräde.,. ver ſich einfältig geberdete, rechts und Tinte hin grüßte. 
und zuderfüß lächelte. 

„Wer ift denn diefer Herr?" fragte ich meine Rachbarin. 
„Here: Juſt, dieſer Allerweltsmann, er kennt gang Paris und. er⸗ 
ſcheint in allen, namentlich den muſikaliſchen Zirleln. Gy ſpielt 
drei ober. vier Inſtrumente. Es gibt Fein Liebhaberconcert, wobei 
er nicht wäre, ‚aber auch Feinen Künſtler, der ihn nicht kennte. Aus 
feinem Eintritt .in den Salon mußten Sie ſchließen, daß fein Glück 
darin befteht,, Aufſehen zu erregen; ich habe.baber Feine fehr günftige 
Meinung von: feinen Talenten, denn das Verdienſt, wie Ste wohl 
wiffen, ift beſcheiden, während bie. Mittelmäßigfeit dagegen. Spek⸗ 
takel macht, ſich vorbrängt, Alles für’ fich feſemnr will und immer 
die Thoren zu blenden vermag.“ 

„Abet da erblicke ich wieder eine neue Figur: es site ein junger 
Mannz der macht doch wenigſtens feinen Lärmen, benn. er.ift fo 
ftill- eingetreten, daß man ihn Taum Hören Eonnte... er grüßt 
Ihüchtern.. ... er bleibt an der Thüre, drückt fi an der: Wand Hin 
und erwifcht endlich einen Seffel, auf dem er. fh ſchnell nieder: 
feßt, und den er, ich ſtehe dafür, den ganzen Abend hindurch nicht 
verlaffen wird! ... Armer Junge! wie linkiſch benimmft Du Dich 
noch; er verzerrt den Mund, blinzelt mit ven Augen, und weiß 
nicht, wo er feine Hände hinthun fol. Sicher glaubt er, alle 
Damen blicken auf ihn. Im: Allgemeinen habe ich die Bemerkung 
gemacht, daß Schächternheit und Unbeholfenheit im Benehmen öfters 
von allzugroßer Anmaßung herrühren; die Angſt, lächerlich und 
unpolirt zu fcheinen, geben der Haltung das Verſchrobene, dem 
Geſicht diefen Eomifchen Ausprud. Wenn Sie ſich davon überzeugen, 
wollen, fo betrachten Sie nur auf dem Theater einige von unfe 
jungen Schaufpielern näher, die gar nicht-übel ausfehen und viel⸗ 
leicht recht gut fpielen würden, wenn file nicht hauptſächlich mit 
ihren Haaren, ihrem Hemdkragen, ihrer Haltung und dem Eindruck, 
ven ihre Figur auf den Zuſchauer macht, ſich befchäftigten.“ 


7 


Deine Nachbarin fepte ihre Betrachtungen fort, amd ich, meine 
heben £efer, wurde fie auch gerne miithetlen, wenn mir nicht babei 
auffele, daf ihr nicht das Buch zur Hand genommen habt, um 
meine Unterhaltung mit ihr, ſondern bie Abenteuer des Bruders 
Riob lennen zu lernen. Ich kehre daher zum Cadran⸗Bleu zurüd, 

In wißt noch, daß man daſelbſt die Hochzeit des funfnnd⸗ 
Wenig Jahre alten, wohlgebauten und liebenswürbigen Eonard 
Ramile feiert; aber ihr Tenmet noch nicht feine junge Fran ; ich 
heile mich, euch mit ihr befannt zu machen; denn fie if ſchoͤn, 
ſeuft, licbenswurdig und gut erzogen; man kann fie nicht früh 
genug lennen lernen. | Ä 

Weline Germeuil ift achtzehn Jahre alt, und befigt Alles, 
m anzieht und fefielt: fchöne Mugen, blendend weiße Zähne, 
Haca Anſtaud, Iugenbfrifche, Geift ohne Boshaftigkeil, Geiter: 
lit ohne Roletterie, Anmuth olme Afektation, Wefcheivenheit ohne 
glerigkeit. Sie weiß ſehr wohl, daß ſie gefaͤllt, verlangt aber 
rum nicht, daß alle Maͤnner ihr huldigen ſollen; fie liebt dag 
dagrigen, finbet aber nicht ihre einzige Befchäftigung darin. Kurz, 
ſe iR für alle Männer, zumal für unverheirathete, eine hoͤchſi 
ierfente Gricjeizung. Ä 

Meline liebt Eduard, und hat ihm mehreren weis vortheil⸗ 
iefteren Partien vorgezogen; denn er hat nichts ala feine Regies 
tenfelung, waͤhrend Abeline etwa 15,000 Franken Renten 
Küht; aber Abeline iſt nicht ehrgeizig; fie ſucht ihr Glück In den 
Gerifen des Geiſtes und nicht im Gelde. Mit 15,000 Franken 
Acıten laun man übordies mit einem ordnungsliebenden Manne, 
der zu winthſchaften verſteht, recht angenehm leben, und Murvills 
IM cin folder Mann und mit den herrlichſten Gigenfchaften aus» 
glettei fein; kurz, er gefällt ihr. 3J 

dranlein Germenil hatte bloß noch eine Mutter, eine ſehr 
bare Fran, die ihre Tochter zum Anbeten liebt und ihrer Reis 
fa nit entgegen if, Sie wacht über Adelinens künftigea Wohl, 


8 


und fobald fie die Kebe ihrer Tochter für Murville bemerlte, 309 
fie Erkundigungen Aber vie Moralität deffelben und feiner Familie ein. 

Sie erfuhr, daß er aus guter Familie abflamme, fein Bater 
ein fehr verdienter Zurift gewefen fei, jedoch durch einige Banke⸗ 
rotte foft Alles, mit Ausnahme des Nothwendigſten, verloren habe. 
Epnard und Jakob waren feine einzigen Kinder. Jakob war nur 
um ein Jahr jünger als ECduard; die Mutter aber hatte ihre Zärt- 
lichkeit nicht gleichmäßig auf beide Söhne vertheilt; Eduard war 
ihr bevorzugter Liebling. Gin ſcheinbar ganz unweſentlicher Um: 
ſtand hatte auf dad Muttergefühl der Madame Murville eingewiztt ; 
fie war nichts weniger als geiftreich, aber fehr eitel, und hielt daher 
viel auf alle Kleinigkeiten und Spielereien, welche im gefelligen 
Berkehr oft als fehr wichtig gelten. Bei ihrer erfien Rieberfunft 
Brachte fie ihr bischen Verſtand auf die Folter, um für ibr Kind 
einen Namen ausfindig zu machen, ber nicht nur wohlflingenn, 
fondern auch felten wäre. Nach langem Debattiren und Meberlegen 
entfchloß fie fich endlich zu Eduard für einen Anaben und Gelance 
für ein Mäpchen; Herr Murville hatte ihr darin völlig freie Wahl 
gelaffen. 
Das Erfigeborene war ein Knabe; er“erhielt ven Namen Eduard 
und zugleich die ganze mütterliche Liebe. Als fie zum zweiten Mal 
nieberfommen follte, war fie feft überzeugt, daß fie die Welt mit 
einer Kleinen niedlichen Gelance begküden würde, denn die Geburt 
eines Mäpchens war ihr höchfter Wunſch, aber nach langen Leiben 
gebar fie einen fräftigen Knaben. - 

Man kann fich's leicht vorftellen, daß dieſer nicht fo empfangen 
wurde, wie der @rfigeborene; auch war, da man auf feinen Knaben 
gerechnet hatte, für feinen Namen zuvor geforgt worben. Allein 
diesmal würde auch alles Grübeln unnüg gewefen fein, denn Herr 
Murville that feiner Frau fund, daß einer feiner Freunde die Pathen⸗ 
ſtelle bei dem Kinde zu vertreten wünſche. Diefer Freund war fehr 
reich, man war ihm überdies befomberö verbindlich und man konnte 


9 


deßhalb fein freundſchaftliches Anerbieten nicht zurückweiſen. Er 
hielt dad Kind über die Taufe, und zum größten Aerger ber Matter 
gab er ihm den Namen Jakob. 

Obſchon Jakob ein Name, wie jeder andere iſt, fo klingt ex 
boch nicht beſonders harmoniſch und verlehte das zarte Ohr -der 
Madame Murville in dem Grade, daß fie ihn nur für Bediente, 
Savoyarden und Eckenſteher paſſend, und daher es abfcheutich fand, 
ißten Sohn fo nennen zu müffen. Vergebens bemühte fich ihr Mann, 
fe zur Bernunft zu bringen; ex eitirte ihr die Geſchichte Schott⸗ 
lands, wo fo viele Jakobe auf dem Throne waren; aber nichts 
deſto weniger Tonnte fie diefen Namen nicht ohne Seufger über die 
Lippen bringen. 

Uehrigen® war nicht daran zu denken, ihn zu verändern, denn 
der Bathe, der natürlich auch Jakob hieß, befuchte feinen Eleinen 
Schägling oft, und es würde ihn fehr beleidigt Haben, ihn anders 
nennen zu hören. 

Der Kleine Welthürger behielt aljo zum großen Verdruß ber 
dran Murville den Namen Jakob. Was nun CEduard anbelangt, 
fo nannte er, fei ed aus Bosheit, oder weil er den Namen komiſch 
faub, feinen Bruder Jalvb jeden Augenbikt, und hakte er Unarten 
begangen, fo wußte er feinen Bruder Jakob als Sindendod hin⸗ 
 qufchieben. 

Beide Brüder hatten ein fehr verſchiedenes Temperament. Ednard, 
KU, verſtaͤndig, gefällig, brachte gerne feine Zeit bei der Mutter 
ruhig zu, Jakob lärmend, muthwillig und heftig, konnte auf einer 
Stelle nicht ausdauern und kehrte das Oberſte zu unterfl. 

Gouard Iernte leicht, Jakob warf Bücher und Federn ms Zener 
und machte fi) Drachen und hölzerne Säbel. 

Im ſechzehnten Jahre ging Gduard mit feinen Eltern in Be; 
ſellſchaft, konnte ſchon an der Unterhaltung Theil nehmen und einem 
hübfchen Mädchen freundlich zulächeln; Jakob dagegen verlieh im 
fünfzehnten Jahre das vrterliche Haus und verſchwand, ohne eine 


10 
Zeile oder eine Andeutung zurüdgzulaffen, die über feine Pläne ober 
feinen Reifezwed irgend einen Auffchluß gegeben hätten. Man ver: 
anftaltete alle möglichen Nachforfchungen, man ſchrieb fein Sig: 
nalement in öffentlichen Blättern aus ; aber man konnte nichts von 
“ihm erfahren, denn ex ließ fein Wort von ſich hören. 

Herr Murville befümmerte ſich fehr über die Flucht des jungen 
Strolchen; ſelbſt Madame Murville fühlte, daß fie Mutter ſei, daß 
man Jalob heißen und doch ihr Sohn fein Eönne ; fie bereute ihr 
ungerechtes Borurtheil, aber zu fpät — der unglüdliche Name hatte 
bereitö gewirkt! ... er hatte dem Sohne dad Mutierherz verfchloffen, 
er hatte ihm bed Bruders Nedereien zugezogen, und alles Dies 
hatte ficher ven Jungen aus dem Baterhaufe fortgetrieben. Wer 
fonnte es willen... wie ſeltſam wirken nicht oftmals an ſich un⸗ 
bebeutende Umftände auf das Menfchenleben ein! 

„Ich habe den Ausfchlag bekommen,“ fagte mir geftern ein 
junger Mann,. „weil der Schuhmacher einer meiner Breundinnen 
feine Brille verloren bat. In welcher Beziehung,“ frug ich, „ſteht 
Ihr Ausschlag mit der Brilfe eines Schuhmachers? Das will ich 
Ihnen erflären. Die. Dame hatte mir zugefagt, eines Abends mit 
mir bei einer Belannten muflciren zu wollen; am Morgen er: 
wartet fie ein Baar Rofafchuhe, um fie Abends anzuziehen; der 
Schuhmacher zerbricht am Tage, wo er das Maß genommen, feine 
Brille, und ald der Schuhmacher die Schuhe bringt, find fie zu 
Hein. Man zwingt ſich troß dem gewaltigen Drüden, fie. anzu: 
ziehen, denn der Schuhmacher verfihert, daß fie ſich ausweiten 
würden; bie Damen wollen überdies gerne Eleine Füße haben. Sie 
geht damit aus, muß aber hinfen; auf dem Boulevard, in Gegen: 
wart mehrerer guten Freundinnen, will wien fih nichts merken 
laſſen und zwingt fich, leicht einherzufchreiten; ber Fuß erhigt ſich 
dadurch und fchwillt an, gewaltige Schmerzen eniftehen bieyon und 
man .ift zuleßt gezwungen, wieder nach Haufe zu gehen. Hier 
wirft. man die Schuhe.weg und befommt fo leidende Züße, daß 


[4 


11 


man acht Tage lang zu Haufe bleiben. muß. Ich, der ich von 
biefeni ganzen Hergang nichts weiß, begebe mich an den Ort bed 
Rendezuous ; meine Virtuoſin ift aber nicht da, nur die Wirthin; 
fie iſt zwar hoͤchſt liebenswürbig, aber vierzig Jahre alt. Ich habe 
Langeweile, werde ungeduldig und gehe nady einer Stunde vergebs 
lien Harrend wieder fort, ohne zu wiffen, wo ich den Abend 
zubringen werbe. Sich ſchlendere nach einsm Theater und trete ein, 
um die Zeit. zu tödten; ich bemerke ein. hübſches Geflcht und trete 
nach gewohnter Weife näher, ich Enüpfe ein Geſpraͤch an, es wird 
lachend und ſcherzend erwibert, und ich Bin erfreut, mich gelegentlich 
jerfireuen zu koͤnnen. Das Theater geht aus, ich biete meiner nied⸗ 
lichen Nachbarin den Arm, und nad einiger Zögerung nimmt fie 
ihn an; ich führe meine &roberung in ihr Haus, und verlaffe fie 
nur nach der Erlaubniß, fie öfter befuchen zu dürfen. Am andern 
Morgen bin ich ſchon wieder bei ihr; kurz, ich werde Ihr Ber: 
trautefter, und bei einem meiner Befuche werbe ich von den Aus: 
flag angeſteckt, den meine Kleine hatte. Es ift fomit Har, daß, 
wenn der Schuhmacher feine Brille nicht zerbrochen hätte, das 
Alles nicht erfolgt wäre.“ . | 

Mein junger Mann hatte Recht: vie wichtigften Begebenheiten 
entfiehen oft aus den unbebeutenbften Urfadgen, und ohne Zweifel 
iR ed wenigſtens, daß der Taufname meines Helden auf fein 
Schickſal einen weſentlichen Einfluß Hatte. Wie viele Menfchen 
verdanfen dem berühmten Namen ihrer Boreftern nicht ein Auſehen 
in des menfchlichen Geſellſchaft, das fie ſelbſt fich nie erworben 
haben würben! Glücklich daher der, welcher feinen Nachlommen 
einen verbienftvollen Ramen binterläßt, aber noch glüdlicher. ver, 
welcher unbekannt und unbeachtet Iebt, un deſſen Name weder 
vem Haffe, noch ˖ dem Neide Stoff gibt. 

Ihr ſeid jetzt, geliebte Leſer, mit der Familie Murville ber 
lannt; ich habe euch jetzt nur noch zu ſagen, daß Vater und Mutter 
ſehr ſchnell Hinter einander wegſtarben; fie nahmen ven Kummer 


12 


mit in die andere Welt hinüber, daß fie über das Schidfal ihres 
Jakobs nichts in Erfahrung gebracht Hatten, und gaben feinem 
Bruder E&puard den Auftrag, ihm ihre Verzeihung über feine Flucht 
aud dem väterlichen Haufe zugufihern, wenn es ihm je gelingen 
follte, ihn wiederum aufzufinden. 

Eduard war jept unumfchränkter Herr feines Willens, er hatte 
ein Alter von zweiundzwanzig Jahren und eine Anſtellung von 
zweitaufend Franken; bei einem foliden Leben konnte ex anftänbig 
audfommen. Er liebte dad Bergnügen ; Gefellfchaften, Muſik, 
Theater fonnte er mit feinem Einkommen beftreiten, und das Spiel 
blieb ibm fremd. Er liebte das fchöne Gefchlecht, war hübſch und 
fonnte fi) über die Spröbigfeit der Damen gerade nicht beflagen. 
Bei feiner geringen Charakterfeftigfeit Tieß er fich Leicht, fortreißen, 
aber zu feinem Glüde war er noch nicht in ſchlechte Hände ge- 
rathen. Kurz, man konnte ihn zwar nicht ald Mufter aufftellen, 
aber fein Wandel verdiente doch nicht die geringfte Rüge. 

Madame Germeuil entfchloß fich leicht, Eduard ihre Tochter 
zu geben. Er wird fie glüdlih machen, dachte fie, denn er Hat 
nicht viel Charakter, fie wird ihn beherrſchen, und oft find die 
Wirthichaften am beften, wo die Fran dad Regiment führt. 

» Das war alfo die Hochzeit im Cadran⸗Bleu. 





Bweites Kapitel. 
Großed Ereigniß, von der Tanzſucht und einer Zabal 
boje herbeigeführt. 

Wie fchön, wie herrlich gewachfen fie if! wie viele Grazie, 
wie viel Friſche! fagten die jungen Leute und feldft die Papa’s 
unter fich, indem fie bie junge Frau bewunderten und jeben ihrer 
Nas beim Tanze verfolgten. 





13 . 


Wie glüdlich muß diefer Eduard fein!... war das allgemeine 
Ihteil, 

Ernard hörte dies rechts umd links, und war in der That fo 
südlich, wie man es nur fein Tann, wenn man auf dem Punkte 
ücht, es ganz zu werben. Um feine Wünfche und feine Ungebulb 
zu verbergen, tanzt und fpringt er, ohne fich einen Augenblid Ruhe 
zu gönmen. Bon Zeit zu Zeit geht er auf die Hausflur, um nad 
der Uhr zu fehen . . . immer ift es noch gu früh, nicht für ihn, 
aber für die Schamhaftigkeit feiner Frau. Was würde überdies 
feine Schwiegermama, ja die ganze Gefellfchaft dazu fagen! 

Alfo Geduld!... ach! was wird ihm der Abend Iang!... Ihr 
armen Meuvermählten! ... es ift der jchönfte Abend eures Lebens, 
mb doch wünſcht ihr, er wäre ſchon vorüber, man ift doch nie zufrieden. 

Der Bräutigam ſcheint ehr verliebt zu fein, fagen die Mütter 
life, Die Mäpchen denken ed, aber fie ſchweigen. 

„Ach, Lieber Bolenville! mit folchen Augen fchanteft Du mich 
vor jweiundzwanzig Jahren auch an,” fagte zu ihrem Manne eine 
fünfundvierzigjaͤhrige, mit Schminke, Blumen, Spigen und Bän- 
dern überladene Dame, die in einem Winkel des Saales faß und 
jeit dem Mittagemahl auf einen Tänzer Iauerte. Herr Volenville, 
früher beliebter Tänzer, jetzt Gerichtserefutor in Marais, antwortet 
nichts, nimmt eine Prife Tabak umd geht ind Nebenzimmer, einer 
Bartie Ecartoͤ zuzuſehen. 

Mabame Volenville iſt außer ſich vor Aerger und verändert 
ıhren Platz, was ſie ſchon mehrere Male gethan hat; ſie ſetzt ſich 
wiſchen zwei junge Damen, und hofft, daß ſie vielleicht hier in 
der Maſſe mit aufgefordert werben konnte. Aber vergebens; fie ſieht 
die jungen Tänzer anfommen, wiegt grazidd den Kopf, lächelt 
ıhuen zu, ſtreckt ein ziemlich hübſches Füßchen vor... jebt flehen 
fe Dicht wor ihr... aber o Himmel!... fie wenden fich zu ihrer 
Rechten und Linken, und fcheinen fich für fle, ihre Toilette, ihre 
Slicke und ihren nieblichen Fuß gar nicht zu interefjiren. 


14 Ze 

WE if in der That auch zum Verzweifeln, ſo vergebens auf 
dem Bräfentirteller zu figen; Madame Volenville weiß nicht mehr, 
welche Mittel fie gebrauchen fol, um einen Tänzer anzuloden, und 
überlegt ſchon, ob fie nicht einen Theil der Wabe zeigen ſoll; o! 
ihr Bein Hat einft Wunder gethan; man muß noch einmäl feine 
Macht verfuchen, da das Füßchen. ohne Wirkung bleibt. Sie iſt 
entfehloffen, als plößlich mit lautem Gefchrei ein viertes Paar zu 
einer Duadrille verlangt wird. Es find nur noch wenige Tänzerinnen 
da, mehrere haben ven Saal fchon verlaffen, und alle übrigen find 
zum Tanz angeftelt. Ein junger, fein frifirter und parfümirter 
Herr durchläuft mit den Augen den Saal,. bemerft des Gerichte: 
exekutors Chehälfte und weiß feinen beffern Rath, als_fie zum 
Tanze aufzufordern. 

Madame: Volenville läßt ihm nicht Zeit, feine Einladung zu 
beendigen, fpringt auf, eilt ihm entgegen, faßt feine Hand und 
drückt fie fo heftig, daß er fchreien möchte. Das füße Herrchen 
macht einen Sprung rüdwärts, glaubt, die arme Frau müffe einen 
Nervenanfall haben, und weiß nicht, wozu er fidh entſcheiden Joll 
... aber Madame Bolenvilfe Täßt ihm nicht Iange Zeit zum Nach: 
denken und zieht. ihn mit Heftigfeit zur unvollſtäändigen Quadrille 
bin; fie placirt fi, macht ihm einige Entrechats vor und laͤßt ihn 
ſchon die große Ronde machen, bevor er noch von feinem Erftaunen 
zurüdfommen kann. 

Der eben fo mafeftätifche als Teichte Tanz der Madame Bolen- 
vilfe erregt Auffehen ; ein heimliches Gemurmel läuft Durch ven . 
Saal, die jungen Herren verlaffen den Ecartetifh und umgeben 
die Quabrille, in der unfere Heldin figurirt ; diefe iſt von der Ar⸗ 
tigfeit ihrer Bewunderer entzuͤckt; fie verboppelt ihr Feier, ihre 
Lebhaftigkeit, und beeifert fih, ihren Tänzer noch mehr anzufeuern, 
der ihren Freudentaumel ganz und gar nicht theilt, vielmehr roth 
von Zorn über den ihn umgebenden Spötterkreis ſich auf die Lippen 
beißt, und wer weiß was barım geben würbe, wenn bie Quadrille 











15 \ ” 
beenbigt wäre. Madame Bolenville laͤßt ihm jeboch wenig Zeit; fle 
ſchwebt beinahe ſtets in der Luft, fie möchte immerfort chaffiren, 
fih drehen und wenden trotz des Zuredend ihres Cavaliers, der ihr 
unaufhörlich zuruft: „Madame, vie Reihe ift noch nicht an ung, 
warten Sie doch, jebt Beginnt die Allemande noch nicht... jo — 
bleiben Sie doch ftille fliehen! . . .* 

Aber Madame Volenville ift einmal im Schuß, fle entfchäbigt - 
fih für fünf Tangweilige Stunden, und muß fie einmal einen 
Noment ſtillſtehen, fo überficht fle mit felbftgefälliger Miene ven 
dichten Kreis ihrer Bewunderer, und ihre umherlaufenden Augen , 
feinen zu fagen: Ha, ihr Hieltet mich für Keine folche Tänzerin, 
ein andered Mal werdet ihr mich fchon früher auffordern. 

Die Folter des Herrn Belcour (dies ift der Name ihres Cava⸗ 
liers) erreicht inbeß ihr Ziel; die Quadrille geht zu Ende, die 
Ihte Tour iſt ſchon dreimal gemacht, noch einmal, und Alles ift 
vorbei, als ein junger, leichtfertiger, fcherzhafter Gerichtsfekretär, 
lachluſtig wie alle feine Kameraden, zum Orchefter läuft und im 
Ramen der ganzen Gefellfchaft noch einen Kehraus verlangt; bie 
hochzeitsmuſiker find natürlich gleich bereit und fangen bie beftellte 
Nuſik in demſelben Moment an, ald Belcour fich feiner Tänzerin 
empfiehlt und entfchlüpfen will. 

Die Stimme bed Orpheus, als er den Gott der Unterwelt 
anflehte, machte auf Pluto nicht den Cindruck, wie bie Kehraus⸗ 
muflt auf Madame Volenville. 

„Rein Serr!... mein Herr! e8. ift ja noch nicht aus,” ruft 
he Belcour nach ! Diefer thut, als Höre er nichts, und ſchon ber 
Äudet er ſich an der Thüre des Saals, als fie ihn einholt und feſthaͤlt. 

„Aber, mein Herr, was machen Sie denn? . . . bören Sie 
denn nicht die Muflt?... ach! es ift ein Kehraus.... Kommen 
Sie geſchwind. — Madame, ich bitte tauſendmal um Entſchuldi⸗ 
zung, aber ich glaubte... — 88 iſt ein Kehraus, mein Herr, 
tiefen Tanz liebe ich wahnſinnig! — Mabame, es ift mir nicht 


— —— 


16 


"wohl, und... — Sie ſollen nur meine englifchen Pas fehen, die Icon 


oft gefallen haben. — Madame, ich muß etwas Luft Ihörien.. 
Auh mein Mann war ftarf darin, fommen Sie doch nur... — 
Aber Madame . 

Vergebens wehrt Belcourt ſie von ſich ab, fie läßt nicht nach, 
und ohne auf feine Entfchuldigungen zu hören, zieht fie ihn zum 
Tanze zurüd. Er flieht, daß ein laͤngeres Sträuben das Kächerliche" 
feiner Lage nur noch mehr vermehren würde, gibt endlich nah und 


“ erfcheint wieder unter den Tänzern. Die Menge der Neugierigen 


macht eifrigft dem Paare Platz, das Aller Blicke auf fich zieht. 

Das Zeichen ift gegeben... der Tanz beginnt ... Die Herren 
chaſſiren rechts, die Damen links ; Madame Volenville ift die Erfte: 
mit welchem Eifer ſchwebt fie ben Tänzern entgegen und haflirt 
fie mit dem Vortänzer zurüd: der Schweiß Iäuft ihr über Die 
Stirne und verwifcht die Schminke; zwei Schönpfläfterchen find, 
von den Schweißtropfen gelöst, ſchon herunter gefallen, die Ohr⸗ 
gehänge find gefprungen und hängen ungeorbnet herab, ihre Roſen⸗ 
guirlande ift los geworben und dient ihr als Halsfchmud ; nichts 
ift im Stande, fie aufzuhalten, fie lebt rein für den Tanz; aber 
Belcourt ift nicht mehr da, er hat einen glüdlichen Augenblid in 
ber Tour benügt, zu entwifchen. 

Madame Bolenville muß jedoch einen Tänzer haben, fie nimmt 


daher den nächften beften ; dies ift ein alter Profurator in fleifer 


Berrüde, ber ihr gerade gegenüberfteht. Der gute alte Herr hatte 
fh aus Neugierde unter die Menge gemifcht, war zulegt ganz 
vornehin zu ftehen gefommen und betrachtete fo eben mit innerer 
Behaglichkeit eine hübfche Tänzerin ; der alte Profurator bemerkte 
mit lüfternem Kennerauge, wie die Tanzbewegung die Niepliche fat 
gar nicht aufregte, und war darüber ganz erftaunt, ba er feit langer 
Zeit weder auf gefchloffenen und Iffentlichen Bällen, noch bei bür- 
gerlichen und Ländlichen Feften etwas Aehnliches gefehen hatte. Ganz 
entzüct über biefe Entdeckung, will er gerade mit der niedlichen 





17 


Tänzerin fih in eim fchädernbes Gefpräch einlaffen, als Madame 
Volenville mit Bligeöfchnelle fich zwifchen Beide fchiebt, dabei aber 
ununterbrochen ihre Pas in reizenden Attitüden fortfegt. Der alte 
Herr fieht überrafcht auf das verwirrte, verwilderte Geflht, auf 
die zerflörte Toilette der Madame Volenville ; ex will zurüdtreten, 
aber man faßt ihn mit beiden Händen, und wohl ober übel muß 
er fih drehen und fpringen. 

„Madame, ich begreife Sie gar nicht," ruft ber Prokurator, 
fih fräubend....— „Kommen Sie nur immer, mein Herr, kommen 
Sie!... es fehlt noch ein Taͤnzer. — Aber, Madame, laſſen Sie 
mich doch gehen, ich habe nie in meinem Leben gewalzt! — Es 
ft ja fein Walzer, es iſt ein Kehraus. — Madame! halten Sie 
en, ich bitte, mie ſchwindelt's fchon vor den Augen, ich werde 
fallen. — Sie tanzen ja wie ein Engel.” 

Gin wahrer Dämon ift Madame Volenville, fie Hält ſich noch 
tür fo verführerifch, als wie fie zwanzig Jahre alt war, fle glaubt 
feſt, baß ihre Pas, ihre Grazie, ihre Lebhaftigkeit, ihr Mienen⸗ 
Iriel alle Welt entzüde, fle denkt gar nicht an ihr Alter. Was 
m zwanzigſten Jahre gefällt, wird zur Anmaßung im vierzigften ; 
tie ber Jugend fo natürliche Leichtigkeit wird zur Thorheit im reiferen 
Alter, und die Heinen affektirten Geberben, die man einem jugend» 
chen Geſichte verzeiht, werben in fpäteren Jahren zur Grimaffe. 

Ran kann allerdings im vorgerücten Alter noch gefallen, aber 
gewiß wicht durch Nachäffen der Jugend. Nichts ift zum Beiſpiel 
hebenstwürbiger als eine Mutter, bie anſpruchslos im Kleinen. Kreife, 
gegenüber ihrer Tochter, tanzt; nicht Dagegen ift lächerlicher, als 
eine alte Rofette, bie ganz jugendlich aufgepußt mit jungen Maͤdchen 
m bez Leichtigkeit wetteifern will. 

Madame Volenville ift, wie ihr feht, eine unermübliche Tän- 
zerin, fie möchte auf ihren neuen Tänzer den Eifer, der fie belebt, 
übertragen ; aber dem alten kirſchrothen Profurator rollen die Augen 
im Ropfe, daß er nichts mehr fehen kann; Alles geht mit ihm im 

Yaul de Kol. 1. 2 


18 


Ring herum ; der Kehraus, die Hike, ber Zom vereinigen fi, ihn 
zu betäuben. Er Hält fo viel als möglich den Kopf noch im Gleich⸗ 
gewicht, aber... zum größten Unglüd macht ſich feine Perruͤcke los, 
fallt anf den Boden, geräth unter die Füße der Tänzer, und des 
Prokurators Haupt verräth fi nackt, wie die Hand, der Befellichaft. 

Diefe Berlegenheit verboppelt die Wuth des alten Herrn und 
gibt ihm die Kraft, fih von feiner Tänzerin Ioszumachen ; er ſtößt 
fie mit Heftigkeit zurüd und Madame Bolenville fällt auf einen 
dicken Faktor, der an der Seite des Saales auf einer Ruhebank faf 
und behaglich alle Speifen des Hochzeitmahles vor feinem Gedaͤchtniß 
worbeimarfchiren ließ. Der vide Papa thnt einen Schrei des Ent: 
feßens, flucht, er werde erftiden, aber Madame Volenville rührt 
fich nicht, denn in der feinen Welt darf eine Frau nicht auf Se: 
mand fallen, ohne ohnmächtig zu werben. 

Herr Tourte (fo heißt der glüdliche Faktor) ſchreit um Hülfe, 
während Herr Robineau (das ift unfer Prokurator) feine Perrücke 
fordert und fle in allen Winkeln des Saales vergebens fucht, weil 
der Gerichtsſekretaͤr fich ihrer bemächtigt und fie aus dem Fenſter 
auf den Boulevard geworfen bat, wo fie einem Kutfcher auf die 
Naſe fiel, der gerade nach dem Wetter fah. 

Eduard und Mabame Germeuil fuchen indefien wieder Ruhe 
und Ordnung berzuftellen. Adeline aber und die übrigen jungen 
Damen Tönnen ſich über die Lage der Madame Volenville, die trau⸗ 
rige Figur ded Herrn Tourte und bie Wuth des Herrn Robineau 
des Lachens nicht erwehren. 

Herr Volenville verläßt endlich auch feinen Ecartoͤtiſch, nimmt 
eine Garaffe mit Wafler und geht damit zu feiner ran, bie er 
faum wieber erfennt, fo groß ift bie Unordnung in ihrem Geftchte 
und Ballftaate. 

Nachdem er zuvor ganz bebädhtig eine Priſe Tabak eingefogen 
bat, befreit ex fie von ihrer Rofenguirlande und fchlägt ihr in die 
flache Hand, indeß Madame Germeuil ihr ein Niechfläfchchen unter 


19 


bie Nafe halt. Nichts wirkt abes mehr auf bie flerren Sinne ber 
tafenden Tänzerin; Herr Tourte droht, er werde ihr in den Arm 
oder fonft wohin beißen, wenn man ihn nicht fo bald als möglich 
von der erfticdenden Laft frei mache, und ber Gerichtserefutor oͤffnet 
feine Dofe, um daraus neue Ideen zu fchöpfen. 

Herr Robineau rennt noch immer nadt, wie ein Jeſuskind, 
im Saal umher und fucht unter ven Seſſeln und Moͤbeln nach feiner 
Perrüde. Jetzt nähert er ſich der Gruppe, welche die Ohnmächtige 
umgibt und bemerkt etwas Graues unter der Ruhebank. Ploͤtzlich 
ſtürzt er darauf los, gibt Herrn Volenville einen Stoß, wirft ſich 
anf alle Biere und fährt mit der Hand durch die Füße des Faltors, 
um die vermeintliche Berrüde zu erhaſchen. Die Bewegung iſt aber 
fo raſch, daß Herr Bolenville das Gleichgewicht verliert, auf feine 
Frau halb Hinfällt und den Tabaf aus der offenen Dofe auf Naſe, 
Rund und Kinn feiner theuren Ehehälfte verfchüttet. 

Died Ereigniß bringt Madame Bolmville wieber ins Leben, 
fie niest fünfmal hinter einander, reibt fi ‚die Augen, öffnet den 
Rund, verfchludt eine Menge Tabak, ſchneidet fo abſcheuliche Be: 
fhter, daß ihre Mann und alle übrigen Berfonen davor erſchrecken, 
windet ſich wie eine Schlange und fpukt Herrn Robineau tüchtig 
md Befiht, der fo eben, fluchenn wie ein Wahnflnniger, die Hand 
zurückzieht und auffiehen will. ' 

Aber warum flucht Herr Robinenu denn? Warum, lieber 
feiert... weil er flatt feiner Verrüde den Schwanz einer Katze 
faßt, bie wüthenb über den unerwarteten Angriff mit ihren Krallen 
feine verrätherifche Hand faßt. 

„Es ift recht unangenehm, unglädlich zu fein,“ fagte kürzlich 
bei einer Borftellung der diebifchen Elfter und über das Schidfal 
ver Heinen Dienftmagb bed Palaifeau bis zu Thränen gerührt, ein 
ehrlicher Bürger aus dem Marais, und ich kann alfo mit Recht 
behaupten: es iſt graufam, an einem Mbend fo viel malna zu 
haben, als Herr Robineau. 


20 


Wenn man wider Willen getanzt, feine Berrüde verloren Hat, 
wenn man von einer Rabe gekratzt und ind Geſicht gefpudt worden 
it, iſt's wohl geflattet, übler Laune zu fein; ber arme Profurator 
ift e8 in dent Grabe, daß er bald gelb, Bald roth, bald weiß wirb ; 
ex ift außer fi vor Wuth, und ohne das fchöne Gefchleht zu 
reſpektiren, will er ſchon auf Madame BVolenville los, welche er 
mit Recht als Urheberin aller feiner Leiden betrachtet, als ein Theil 
der Geſellſchaft ihn noch glücklich daran Hinbert. 

Man hatte Mühe, ihn zu befänftigen, und es gelang erft, 
als Eduard einen hübſchen Foulard aus der Tafche hervorzog und 
ihn bewog, den Kopf damit zu bebeden. Here Robineau band ihn 
am, feste feinen runden Hut darauf und glich nun einem fpamifchen 
Snfurgenten, einem Guerilla, einem Räuber aud den Apenninen, 
einem venetianifchen Gondolier, oder, wenn ihr wollt, ven Tleinen 
angefleiveten Hunden, welche majeſtätiſch auf ihren Eſeln figend, 
auf den Boulevards einherftolziren. 

Der Prokurator verläßt den Saal, ohne fih von den Damen 
und ſelbſt den Neuvermählten zu verabfchieben, rennt unter einem 
Fegefeuer von Späßen und Spöttereien der Aufwärter und Küchen: 
jungen aus dem Babran= Bleu zu Fuß nach feiner nahen Wohnung 
in der Straße du Perche und vergräbt fih, Walzer und Kehraus 
verwünfchend, und die Koften einer neuen Perrücke berechnend, in 
den Federn. 

Madame Bolenville aber, von deren Laft man endlich Herrn 
Tourte zu befreien im Stande war, mußte man fo fchnell als möglich, 
aus dem Saale fchaffen, weil der verſchluckte Tabak ihr die Heftigften 
Zufälle zugog, und immer fleigende Webelfeit und convulflvifches 
Würgen ein naturgemäßes Refultat ahnen ließen, das in einem 
Ballfaal nichts weniger als erwünfcht fein Tann. Die unglückliche 
Grau murde baher von dem Theater ihrer Helventhaten entfernt, 
und als fle füh dabei zufällig in einem Spiegel erblicdte, glaubte 
fie vor Kummer unter die Erde fchlüpfen zu müflen, fo fehr war 


21 


ihr Geſicht vom Tabak verunftaltet, ihr Haar verwildert, ihr Anzug 
in Unsrbuung. Für eine Fran voller Anfprüche, wie Madame Volen⸗ 
ville, weld; eine Strafe! . 

Man ſucht ihren Mann auf und braucht nicht wenig Mühe, 
ihn dazu zu bringen, fich feiner Frau anzunehmen. Endlich gelang 
es, beide in einen Fialer zu bringen, unb hier wollen wir ihnen 
eine glückliche Nachhauſekunft wuͤnſchen, um zu unſeren jungen 
Ghelenten zurüdzufehren. 

Terpfihore hatte endlich die Göttin der Zwietracht wieder ver: 
ſcheucht, welche, feitvem man die Dummheit beging, fie zur Hochzeit 
ver Thetis und des Peleus nicht einzuladen, es fich zur Hegel ge- 
macht hatte, die hochzeitlichen Feſte zu fiören, und auch ohne Ziveifel 
ich bei unferer Hochzeit im Gadran=: Bleu einfand. Man behauptet, 
toß fein Ehebundniß den Beſuch diefer übelwollenden Göttin ver- 
meiden fönne, und daß, wenn fie am erften Tage fi nicht zeigt, 
he fich dafür im Laufe des Jahres rächt. 

Aber fchweigen wir von der Zwietracht, Terpſichote, der ganzen 
Nythologie mit ihren Bildern und Metaphern; überlaſſen wir den 
ſittlichen Romanfchreibern die Blumen, Kaskaden, den Mond, die 
Steme und befonders alle jene poetifchen Ergießungen, durch die 
wir am Ende ber Phraſe erfahren, was der Held anfangs hat fagen 
wollen ; alle jene reizenden Wenbungen, wo z. B. ein Vater fiatt 
ter einfachen Weane: „meine Tochter kam zu mir,” hochtrabend 
ausruft: „Endlich trat fie, die Tochter, dem Bater entgegen.” Wenn 
etſteres ohne Zweifel Elarer und beftimmter ift, fo würde es ja ber 
zemeinen gefelfichaftlichen Sprachweije gleichen, dem unmwürbigen 
Geſchwaͤz der Welt, das Leute nicht gebrauchen bürfen, die in unter: 
udiſchen Höhlen leben, ohne die Naſe anzuftoßen, und den höchften 
Felfen erflimmen, ohme zu ermatten. Und würden übrigens wohl 
unfere hübſchen Frauen, unfere reizenden Schönen einen Roman in 
den dritten Simmel erheben, wenn ber Held der Geſchichte nur wie 
it Mamn oder Liebhaber fpräche? ... o, pful, das iſt ja ein 


2 


ſchlechtes Machwerk, würde man fagen, und ba® Bud, 
englifchen und franzöflfchen Urfprungs, noch romantife 
Verachtung weit wegwerfen! das ift nicht auszuhalten 
fommen darin für Worte vor ... zum Beifpiel das Wor 
Bott! wie abſcheulich ... o! unfere Sournale follen de 
fieller ſchoͤn durchhecheln. 

Und was geſchieht? die Journaliſten Iefen das Bud 
es von einer empörenden Unmoral! Der Autor ift von ein 
mus, einer Unanftändigfeit ohne Grenzen! ... er brauch! 
Cocu, wenn er es für nöthig findet... . Hat man je 
Schamlofigfeit gefehen ?... freilich, Molidre hat das Mor 
andere eben fo farfe in feinen Werfen gebraucht ; aber 
unterſchied! Was man auf dem Theater vor bem ver 
Publikum ſagt, darf man doch nicht in einen Roman dru 
Verkehrt eure Phraſen, meine Herren Romandichter, 
Syntar den Krieg, nehmet einen Styl ad usum Tyronu! 
latinae an, häuft Mythologie auf Aftronomie, Ornithol 
logie, ſelbſt Conchyliologie, miſcht zu Allem etwas altı 
liſche Geſchichte, viele Träume, Gefpenfter, Barden, Di 
Gremiten, wie es in euren Kram paßt, führet recht 
pathetifche Redensarten, und ihr werdet ungeheure Erfo 
Einige Damen werben ſich beim Lefen ſchon unwohl fühl 
hernach, viele werben euch gar nicht verftehen ;waber 1 
weniger werben fie euch vergoͤttern! Nicht verſtaͤndlich fei 
Erhabenfle eures Genies. In Geheimnig und Dunkelheit 
das große Genie... fragt nur Caglioſtro, der noch leb 
ein Zauberer ift! ... Shr aber, ihr jungen Autoren, bie: 
und natürlich fein, mit alltäglichen Begebenheiten Lad 
und interefjiren wollt, die ihr anfpruchelos und leicht v 
ſeid, ehrt in euer Nichts zurück oder geht und feht Geor— 
und den eingebilveten Kranken von Moliöre ... das iſt eu 
aber bildet euch niemals ein, daß jemals unfere zarten F 


23 


leſen und euren Ruhm durch taufend Kehlen verbreiten werben. 
Tropdem bleibe ich, geliebter Lefer, bei meiner Gewohnheit zu 
ſchreiben, wie ich fprechen werde, lafje mich nicht irre machen, und 
es ſieht euch ja frei, mein Buch wegzuwerfen, wenn meine Art 
und Weile euch nicht behagt. 

Noch tanzte man im Capran= Bleu, aber das Feſt nahte ſich 
feinem Ende, zur großen Freude Eduards, und ohne Zweifel auch 
Welinend, die jedesmal esröfhete und-Lächelte, fo oft er ſie anfah. 

Endlich ſchlaͤgt die Scheiveftunde ; Madame Germeuil begleitet 
ſelbſt ihre Tochter nach Haufe; man fleigt in den Magen, fährt 
ab und Halt auf dem Boulevard Diontmartre ; bier werden die Neu: 
vermäßlten wohnen und mit ihnen die gute Mutter, die von ihrer 
Toter ſich nicht trennen Tann, deren größter Wunfch darin befteht, 
daß ihre Tochter dereinſt ihr Die Augen zudrüde. 

Ein niedliches Zimmer ift für fie bereitet; Madame Germeuil 
fit ihte Tochter zärtlich und verläßt ſie, nicht ohne Seufzer!... 
& if ja fo natürlich... . die Rechte der Mutter hören auf, wann 
Ye des Mannes anfangen ! Aber was fümmern die Rechte, wenn 
die Seren biefelben bleiben! Natur und Liebe finden fid leicht im 
einer gefühlpollen Seele, haben.aber feine Gewalt über ein Ealtes, 
Wlöfühtiges Gerz. Die Menfchen Haben die Geſetze gemacht, aber 
fühle Laffen ſich nicht befehlen. 

Ein Süd für Eduard, daß Adeline ihn liebte, weil er ihr 
sel, and nicht, weil die Kirche ihr befahl, ihn zu lichen. 

Darum wirft fie fi, allein mit ihrem Gemahl, ohne zu 
win in feine Arme, darum erwibert fie feine Lieblofungen, darum . 
liert fie ſch nicht, zu Bette zu gehen, darum brauchen wir enblich 
nicht mehr zu fagen, um verflanden zu werben. 


— — —— 


Drittes ſtapitel. 
- Duftedne 


In der Menge, die Madame Bolenville und Herrn Robineau 
umgab, und über dad Mißgeſchick der Frau Gerichtsexekutorin und 
des Profuratord gelacht hatte, war nur ein Mann bei den Narr⸗ 
heiten der Anderen unempfinplich geblieben, hatte nur einer an den 
Späßen und Thorheiten des jungen Gerichtsſchreibers keinen An⸗ 
theil genommen. 

Dieſer Mann ſchien hoͤchſtens achtundzwanzig bis dreißig Jahre 
alt; er war von großer und proportionirter Statur; ſein Geſicht 
hätte man ſchoͤn nennen koönnen, hätte er ein freieres, offenes Auge 
gehabt ; aber fein unfteter Blick, dem er den Ausbrud des Wohl⸗ 
wollend zu geben fich bemühte, flößte weder Freundfchaft noch Zu⸗ 
trauen ein; und das Lächeln, das manchmal auf ſeinen Lippen 
ſpielte, erfehien eher Bitter, als füß. 

Duftesne (fo Hieß der junge Mann) war auf Eduards Hochzeit 
von einer dicken Mama mit drei Töchtern eingeführt worden, welche 
ſchon feit langer Zeit die Gewohnheit hatte, ein Halb Dutzend Tänzer 
in alle Gefellfchaften mitzubringen, worin fie fi mit ihren Tuch: 
tern fehen Tieß, 

Madame Devaur (jo hieß diefe Dame) fah viel Geſellſchaft, 
hauptfächlich viele junge Leute bei fih, wovon der Grund leicht zu 
errathen war; wenn man drei Töchter und Fein Vermögen bat, hält 
es ſchwer, fie zu verforgen, da muß man fie der Welt zeigen und 
bie Gelegenheit zu einer foliden Liebesintrigue. herbeiführen, die 
endlich mit einer Hochzeit fchließt. Ungluͤcklicherweiſe aber find ber- 
gleichen Liebeöintriguen in der Welt feltener, als in den englifchen 
Romanen, und oft ftoßen die jungen Damen, ivenn fie nach Freiern 
fpäben, auf Derführer, bie zwar flarf an Intriguen, aber ſchwach 


235 


in ber Tugend find! Was kann es aber helfen, man muß fon 
etwas wagen, wenn man einen Mann davon tragen will! 

Madame Devaur hatte alfo Herrn Dufresne bei ſich aufge: 
uommen, ber ihr von einem Freund, ihrem Nachbar, empfohlen 
worden, und ba er fung und von angenehmen Aeußern war, fo 
hatte fie ihn mit auf die Lifte der Herren gebracht, die fie auf bie 
Hochzeit Eduard Murville's bringen wollte, damit es ihren Töchtern 
nit an Tänzern fehlte. 

Dufreöne Tannte weder den Bräutigam noch die Braut; aber 
es iſt Bei einem großen Gaftnahl ja nichts Ungewöhnliches, die 
nicht zu Tennen, bie es geben, und jebt, two unfere franzöftfchen 
Geſellſchaften den englifchen Route gleichen und zu dichten Menſchen⸗ 
maffen werden, wo man auf feinen Nachbar kaum flieht, da kommt 
es oft vor, daß man ſolche gebrängte Geſellſchaften verläßt, ohne 
weder Wirth noch Wirthin begrüßt zu haben. Ä 

Rabame Devaur hatte ſich indefjen geirrt, als fie auf Dufreöne 
sum Tänzer für ihre Töchter rechnete, denn er liebte den Tanz nicht 
ſehr; ex eilte, feine Schuld abzutragen, indem er eine jede derfelben - 
einmal aufforderte, und begnügte ſich nachher, einen bloßen Zu- 
Ihauer abzugeben, wobei er noch die Lift anwendete, in die Spiel: 
jimmer zu gehen, wenn eine Quadrille nicht vollzählig war. 

Dufresne durchforſchte mit Tiftigen Augen alle Perfonen bes 
Feed, aber anf Eduard und Adeline verweilten feine Blicke am 
binfigften; der Anblick der jungen Eheleute fchien feine ganze Auf: 
mertfamfeit zu fefleln; er beobachtete ihre Bewegungen, fpähete 
ibren unbedeutendſten Handlungen nach und fuchte im Innerſten 
:breg Herzen zu lefen. Wenn Adeline ihrem Gemahl zärtlich zu: 
sichelte, land Dufresne einige Schritte entfernt, beobachtete ihr 
Rienenfpiel, und feine Augen verfchlangen gierig jeden Ausdruck 
defſelben. 

„Nicht wahr! liebe Mama,“ ſagte Cleopatra, die ältefte der 
Toͤchter der Madame Devaur, „Herrn Dufreöne nehmen wir auf 


26 
feinen Ball wieber mit; ſehen Sie doch nur fein Beliagen! Il... 
er tanzt nit! und ſchleicht umher wie ein Bär! — dei, liebe 
Tochter, und wenn er ſi ich doch wenigſtens neben uns ſetzte, mit 
uns plauberte, galant waͤre!“ 

„Ach freilich! er kummert ſi ch ja gar niqt um uns), . Sch 
bitte Sie, ‚was macht er wohl jegt da unten im Winkel. . bei 
Madame Germeuil!.. Wahrlich! er ift ungusſtehlich. ih werde 
ihn auch übermorgen nicht bei Herrn Berbure einführen, wo ge: 
tanzt wird. Ich nehme lieber den kleinen Godard mit; er iſt zwar 
ſehr einfaͤlti ig, aber er ſpringt doch, ſo viel man’ haben will! Ja, 
und dann "bietet er und auch immer bereitwillig Erfriſchungen an. 
Apropos Cleoͤpatraͤ, wer wird und denn heufe nach Haufe be: 
gleiten ? ...“ 
| „3a, ich weiß nicht.. zwei von unſern Herren ſi ſind bereits 
fort ... der eine klagte über Kopfweh und der andere wollte frühe 
zu Belle, weil er morgen verreiſen mäffe.. . aber wir müffen Doch 
Jemand haben.“ 

„Sei rühig, ih werde Dufresne den Hut verſtecken; er ſoll 
ohne und nicht fortfommen, ich ſtehe dafür;.... er wäre fchon fo 
fe, die Damen im Stiche zu laſſen, die ihn eingeführt haben!.. 
Sie wiſſen wohl, Mania, dies wäre nicht das erfte Mal, daß und 
fo etwas paflirte. Wenn auch, Heute Abend foll es nicht der Fall 
fein, und Dufresne darf den Hagen bezahlen.“ 

Mährend dieſer Unterredung fuhr Dufresne mit ſeinen Beob⸗ 
achtungen fort. Er hatte wahrgenommen, dag Madame Germeuil 
mit einer jungen Wittwe, Namens Dolban, fehr vertraut ſchien, 
und fogleich wurde dieſe Teßtere ver Gegenſtand ſeiner Aufmerkſamkeit; 
es wurde ihm leicht, mit ihr bekannt zu werden, denn ſie war nicht 
huͤbſch, und die Huldigungen eines hübſchen jungen Mannes mußten 
ihr um fo mehr ſchmeicheln, als fie ihr nur felten zu Theil wurben. 

Als Dufresne fort wollte, fing er ſich in der Schlinge, bie 
ihm Madame Devanr gelegt hatte; er fand feinen Hut erft in dem 





en 








27 


Augenblide wieder, als die Mama und ihre drei Töchter zum Nach⸗ 
haufegehen bereit waren, und es gab fein Mittg, dem Dienft der 
Höflihkeit andzuweichen. Madame Dolban hatle überdies ſeine Be- 
gleitung abgelehnt, ihm jedoch erlaubt, fle befuchen zu dürfen, und 
das war ja Alles, was. er wünfchte. 

Der junge Dann machte alfo zum böfen Spiele gute Miene; 
er padte die Familie Devaur in ein Gefährt, ſetzte fi $ rüdwärts 
zwiſchen Gleopatra und Ceraſine, und dann ging's nad) der Straße 
des Nartyrs. 

Unterwegs mußte Dufreöne einen Strom von Epigrammen aus⸗ 
halten, den die drei Fräuleins gegen die ungalanten, unfreundlichen 
und langweiligen Männer Iosließen, die mit den häßlichen Frauen 
th unterhalten und die hübfchen vernachläffigen ; taufend andere 
Earfadmen mußte er hören, die der Verdruß über feine Galanterie 
gegen Madame Dolban hervorrief. 

Dufresne hörte das Alles mit der größten Refignation an; ich 
glaube fogar, er hörte gar nicht darauf, denn fein Geift war anber- 
wärtd zu fehr befchäftigt, als daß alles Gefchwäg der drei empfind⸗ 
lichen Mädchen ihn Hätte interefficen können. 

Cudlich Iangte man an. Dufresne half ver Familie ans dem 
Bogen und empfing dafür’ eine Verbeugung von der Mama, einen 
falten Gruß von @leopatra, einen trockenen guten Abend von Eera- 
iuen und einen unterdrückten Seufzer von’ Cornelien. 

* 


Viertes Kapitel. 
Btüddpläne. 
Adeline fühlte ſich an der Seite ihres Couards'wie ein ganz 
nenes Weſen. Gegenſeitige innige Zärtlichkeit hatte bei ihr ein 


ſtes Vertrauen, eine Herzliche Sreundfhaft erzenge ur und die frühere 
zuridhaltung und Furchtſamkeit verbannt. 





28 


Was werben da nicht Pläne für die Zukunft gemacht, welche 
angenehme und glückliche Eriftenz fpiegelt man fich vor, wenn man 
fich ungehindert allen Täufchungen Hingibt, welche die Einbildungs- 
fraft junger Liebenden fteigern! 

Die fanfte, gefühlvolle, liebenswürbige Adeline ift überzeugt, 
fo lange glüdlich zu fein, als ihr Eduard fie lieben wird, und ihr 
Eduard wird fie ja ewig lieben, hieran können Beide nicht zweifeln! 
Wie kann man bei fo vollfommener Mebereinftimmung zweier Herzen 
eine Aenderung für möglich halten... Man ift gegenfeitig auf: 
richtig, man empfindet Alles, was man jagt, und gewiß würde 
man auch Alles halten, was man verfpricht, bliebe die Glückſelig⸗ 
feit nur immer biefelbe, 

In den Augenbliden aufrichtiger Herzensergießungen glaubt 
man wahrhaft für einander gefchaffen zu fein: Man hat“ venfelben 
Geſchmack, diefelben Gedanken, diefelben Wünſche; was das Eine 
jagt, findet das Andere vortrefflih, was die junge Frau vorfchlägt, 
wollte der Dann eben in Anregung bringen. Man erräth fich gegen: 
feitig und findet e8 ganz natürlich, nur einen Willen, eine Seele 
zu haben. Glückliche Uebereinftiimmung! Süße Einigkeit! Ihr würdet 
das hoͤchſte Glück bereiten, wenn ihr ewig fortbauertet. 

„Alfo, geliebte Frau,“ rief Eduard, die niedlichen Hände feiner 
Adeline küſſend, „ven Winter bringen wir in Paris und vier Mo- 
nate ber ſchoͤnen Jahreszeit auf dem Lande zu. — Ja, lieber Mann, 
das iſt abgemacht. — Aber werde ich dann meine Anftellung be- 
halten können? ... fie wird mich verhindern, Paris zu verlaffen. 
— Du wirft fie nicht behalten! wozu auh?... wir haben fünf: 
zehntaufend Franken Renten, reicht das nicht Hin, um glüdfich zu 
fein? — DO! das ift mehr, als wir Brauchen! — Ueberdies würde 
Dein Amt Dich den ganzen Tag von mir entfernt halten, und das 
mag ich nicht! — Meine befte Adeline!... aber was wird Deine 
Mutter fagen, wenn ich den Dienft verlafie? — Mama hat nur 
einen Willen, ben, mich glüdlich zu wiſſen; fie wird unfern Plan 





20 


billigen, ſie iſt nicht ehrgeiziger, als wir. — Nun denn! es iſt 
entſchieden, morgen gebe ich das Geſuch um meine Entlaffung ein. - 
— 3a, lieber Rann! Und dann Taufen wir und ein Fleined Land: 
haus, einfach, aber gejchmadvoll, wo wir mit unferer Mutter zu: 
ſammen wohnen. — Nach welcher Gegend hin müßte das liegen ? 
— Ro Du wilift, lieber Eduard! — Nein, dad mußt Du beftim: 
men. — Du weißt ja, ich bin immer Deiner Meinung. — Gut! 
fe wollen wir und in der Umgegend umſehen ... wir lefen den 
Anzeiger... wir fragen Mama um Rath. — Ganz gut, mein 
Lieber! — Werden wir oft Gefellfchaft bei und fehen? .— Wie 
Tu wünfheft, lieber Eduard! — Liebe Frau, das ift ganz Deine 
Zache. — Rım! dann lieber weniger Gefellichaften, denn fie würden 
und verhindern, beifammen zu fein, allein mit einander fpazieren 
in gehen, und ich fühle, dad würbe mich Schmerzen. — Wie lie 
benswärdig Du biſt! Nur einige gute Freunde Iaden wir dann und 
wann ein... die Deiner Mutter zum Beifpiel. — Sa, fehr ſchön! 
res Morgend gehen twir in ben Garten; denn einen Garten müffen 
wir haben, nicht wahr? — O, das verfteht fih. — Einen großen 
Garten mit MAlleen und Lauben. — Ab, Du denkſt fchon an Rau: 
ben! — Aergert Dich das, mein Freund?” 

Statt aller Antwort fchließt er fie in feine Arme, brüdt fie 
an fein Herz, empfängt ihre Lieblofungen, und die Unterhaltung 
ır einige Augenblide lang unterbrochen. 

„Alfo einen großen Garten werden wir haben mit dichten Ge⸗ 
büſchen und Laubengängen,“ knüpft Eduard das Gefpräch wieder 
an. — „Ja gewiß, mein Sinziger,“ erwidert hierauf Adeline mit 
zärtliden Lächeln und die Augen verfchämt niederfchlagend... — 
„Abends burchflreifen wir die Gegend, tanzen mit den Landleuten, 
ter machen eine Partie mit unfern Nachbarn, wenn fchlechtes 
Wetter-iſt ... iſt es fo recht? — Ja gewiß! mein Theuerfter, 
res if allerliebſt.“ 

Die zärtliche Adeline ift immer der Meinung ihres lieben Ge: 


30 


mahls; Edunard will keinen Willen haben, und Beide find fo einig, 
daß ein jedes dem andern dad Recht gerne überläßt, dad Haus⸗ 
regiment zu führen. j 

Die jungen Eheleute kamen gerabe auf einen höchft interefjanten 
Artifel des chelihen Glücks; fie dachten an die Kinder, bie fie 
befommen würben, an ihre Erziehung und den Stand, den fie 
dereinft wählen follten, als es leife an die Thüre ihres Zimmere 
klopfte. 

Es war Madame Germeuil, die nicht länger warten konnte, 
ihre Tochter zu umarmen, und in ihren Augen das Glück ihres 
Herzens "zu leſen. Welch feliges Schaufpiel für eine Mutter!... 
das fle an diefelbe Epoche ihres Lebens erinnert. 

Adeline drüdt fie erröthend an ihr Herz, die gute Mutter 
fündigt ihnen an, daß das Frühftüd fie erwarte, und das Früh—⸗ 
ftüd ifl eine weſentliche Sache nad) der Hochzeit. Die junge Frau 
nimmt indeſſen nur wenig zu fi; fle ift zu voll von Gedanken, 
um Appetit zu haben; die Ideen, die ihren Kopf durchkreuzen, 
reichen hin, um jeded Bedürfniß zu entfernen; mit dem jungen 
Ehemann ift es aber anders, er ißt nicht, fondern er ſchlingt! Bin 
neuer Beweis, daß die Männer nicht wie Frauen lieben, ba bie: 
felbe Urfache nicht venfelben Erfolg hat. 

Mährend des Frühftüds machen die jungen Lente ihre Mutter 
mit ihren Plänen befannt. Madame Germeuil wundert fich nicht 
wenig über die Neuigfeit, daß Eduard feine Anftellung aufzugeben 
gedenkt. Sie will einige Gegenvorftellungen machen, fie verfucht 
ed, ven Nachiheil herauszuheben, den Murville davon haben möchte, 
da er im Grabe weiter vorrüden, ja ſelbſt Bureauchef werben könne. 
Eduard fchweigt; im Herzen fühlt er wohl, daß die Mutter Recht 
bat, aber Adeline bittet fo innig, küßt fie fo zärtlich, macht ihr 
eine fo rührende Befchreibung von dem Glück, ſich künftig alle drei 
nicht mehr zu trennen; fie rühmt gefchiclt die Vergnügungen des 
Landlebend, ihre Fünftige Lebensweiſe und alle Vorzüge einer fü 





3 


jufrienenen Griftenz, daß Madame Germeuil nicht den Muth hat, 
ihren Bitten zu wiberfiehen, und ber Plan wird angenommen. 

„Aber,“ fagt die verfländige Frau, „Eduard Tann doch nicht 
ohne Beſchäftigung bleiben. Der Müßiggang iſt ſehr gefährlich 
und laͤßt und oft Thorheiten begehen, wovon wir keinen Begriff 
gehabt Hätten, wenn wir arbeitfam gewejen wären. — D, Mama! 
feim Sie ganz ruhig! Edunard foll ſchon zu thun haben, das ift 
meine Sorge! ... Erſtlich die Beforgung unferer Geldgeſchaͤfte, 
er bat fa unſer Fleined Vermögen zu verwalten!... dann forgt 
er für unfer Landhaus, für ven Garten... dann muß er doch auch 
mir feine Zeit widmen, wir gehen fpazieren. — Aber, Tiebe Tochter, 
man kann doch nicht immer fpazieren gehen. — Ganz gewiß, aber 
man ruht aus, man arbeitet auch im Garten... Und unfere Kinder, 
venfen Sie denn daran gar nicht? müffen fie nicht erzogen werben, 
mug man nicht auf ihren Unterricht, auf die Richtung ihres Geiſtes 
At Haben? — Ah, Du denkt ſchon an Kinder? — Ja, liebe 
Rama, o, wir haben das Alles fchon in Erwägung gezogen! — 
Bad Du doch für eine Heine Närrin biſt! — DO nein, Mama, 
Sie werben fehen, wie vernünftig ich bin, und mein Mann auch.“ 

Madame Germenil war von den weifen Blänen nicht fo ent- 
zückt wie diefe; aber fie befchloß, auf das Betragen ihrer Kinder 
beſtaͤndig ein wachſames Auge zu richten, umb wußte, daß Abeline, 
trog ihren Luftfchlöffern, doch zuerft von ihren Irrthümern zurüͤck⸗ 
femmen würbe. Was Eduard betraf, jo thät er ja, was man wollte; 
es fam nur darauf an, ihm gut zu rathen, und nit, wie Adeline, 
het feiner Meinung zu fein. 

Nach dem Frübftüce befchäftigte man ſich mit der Wahl eines 
Landhanfes. Man Hatte den Anzeiger holen Taffen. Adeline brachte 
ka ihrem Gemahl. Madame Bermenil überlegte, in welcher Gegend 
ın der Nähe von Paris wohl die gefundefte Luft fein möchte, als 
Mög Murville auf feinem Stuhl in die Höhe fährt und einen 
ckchrei der Ueberraſchung thut. 


32 


„Bott, was ift denn, mein lieber Mann,” frug Adeline ers 
ftaunt über defjen Bewegung. — „Ja, es iſt's!“ ruft Eduard, im 
Lefen fortfahrenn, „in BillenenvesSaint:George, dad Hans Liegt 
nach dem Felde hinaus, zwei Stöde hoch... ein großer Garten... 
ein Pavillon... ein Hof... ein eifernes Gitter, — Nun, lieber 
Freund, und das Alles hätte Dich beinahe vom Stuhle geworfen ? 
— Ad! liebe Frau, befle Mutter, dies Haus!... Kennſt Du e8 
benn? — Ob ich es kenne? es gehörte meinem Vater... Ich babe 
einen Theil meiner Jugend darin verlebt. — Wär! ed möglich? 
— Unglüd Hatte und gezwungen, ed zu verfaufen... aber ich konnte 
ed nie vergeffen!... — Aber, lieber Dann, warum haft Du und 
nichts davon gejagt? — Ich wußte ja nicht, daß ed jeht zum Ver⸗ 
auf audgefeßt if. — Gut, lieber Eduard, dann fuchen wir nicht 
weiter, wir haben gefunden, was wir brauchen... bie Wohnung, 
worin Du Deine Kindheit verlebt haft! Lieber Eduard... wie fehr 
werde ich mir darin gefallen!... Mama, Sie geben Ihre Einwilli- 
gung, nicht wahr? — Ja, wenn bad Haus nicht zu theuer ifl. 
D, wie könnte es zu theuer fein, Eduards Haus!... ah, wie 
herrlich! . .. Villeneuve-Saint-George ... ja, ich glaube die Luft 
ift dafelbft gut. — Ganz gewiß ift da eine gute Luft! — Laß uns 
fogleich Hin, lieber Freund! — Aber, liebe Tochter, es ift ſchon 
fpät; Ihr feid eben nicht früh aufgeflanden; wenn wir bis morgen 
warteten! — Bid morgen! und wenn dad Haus heute verkauft 
würde? Ach! ich würde untröftlich fein und Eduard auch.“ 

Diefer ſchweigt, ficher aber kann er auch die Zeit nicht erwar⸗ 
ten, bis er hinauskommt. — Nun denn, liebe Kinder, wenn ed 
euch fo viel Vergnügen macht ; es find aber vier Meilen. — Wir 
haben ja ein gutes Cabriolet, feit vierzehn Tagen ift das Pferb 
fiehen geblieben... e8 ſoll ſchon tüchtig Iaufen. — Wo werben wir 
denn zu Mittag effen * — In Villeneuver Saint⸗George ... ba gibt 
eö gute Traiteuss... nicht wahr, lieber Freund ? — Ei freilich ! 
Wir werben ſchon etwas bekommen, — Und bei der Rückfahrt wird 


3 
eö ſchon ſinſter fein... Du weißt, Adeline, ich Tiebe nicht, bei 
Abend im Cabriolet zu fahren. — D, Mama! Eduard führt ung, 
Cie wiffen, wie vorfichtig er ift... und der Weg ift ja prächtig, 
nt wahr, lieber Mann? — Er war e8 wenigftens vor zehn Jahren. 
— Echen Sie wohl, Mama, daß Feine Gefahr ift... Ach! fagen 
Zie nur Ja! — Ich muß fa wohl Alles thun, wAs ihr wollt. — 
Ad, wie gut find Sie, Dama!... ich feße gleich: ven Hut auf.“ 

Adeline läuft an ihre Toilette. Cduard befichlt dent alten: 
Roimund, ihrem Diener, anzufpannen.: Madame Germeuil macht 
Yh reifefertig, und Marie, das Dienftmädchen der jungen Ehefente,. 
rcht mit Bedauern, daß man dad Mittagefjen nicht verfuchen werde, - 
a6 fie für heute fo ausgefucht zubereitet hat. — 

Die junge Frau iſt zuerſt fertig, man braucht ja nur wenig 
zeit zur Toilette, wenn man weiß, daß man gefällt; darum bringen 
‚tne Zweifel die alten Kofetten zwei Stunden vor dem Spiegef zu. 

Adeline Hat ein einfaches Muffelinfleiv an; ein Gürtel um 
ve fhlaufe Taille, ein mit Blumen und Federn nicht überladenes 
Stmbhütchen und ein leichter, nachlaͤſſig über die Schultern ge- 
rerfener Shawl bilden ben einfachen, aber reizenden Bug unferer 
ıngen Frau; Alles an ihr muß gefallen, ihre Geflchtszüge athmen 
üdund Liebe! Freude und Seligkeit verfchänern fepes hübſche Geſicht. 

Gouard betrachtet fie mit Wonnegefühl, Madame Germeuit mit 
Et): Adeline umarmt beide und reicht ihrer Mutter den Arm, 
damit dieſe fchneller zum Wagen hinunter Tomme, denn fie brennt 
“7 Begierde, Gbuards Vaterhaus kennen zu lernen, und biefer 
rinfht nicht minder, den-Aufenthalt feiner Kindheit wieder. ze 
hen. Endlich fißt die glůckliche Mutter im Fond des Cabriolets 

t Adeline neben iht; Eduard ergreift die vůgel und nimmt den 
“a nad Vilienenve-Caind:Geirge., 





Kalte Are. I. 3 


4 
Sünftes Aapitel, 


Der Kopfmitdem Shnurrbart. 


Cduard läßt fein Pferd recht auslaufen, und bald erreicht man 
das Dorf. Als man die Dorffiraße Hinter fih bat und links dem 
Felde zu einbiegt, gewahrt man das laͤngſt erfehnte Landhaus. 

Adeline ift vor Freude außer fi und nimmt ihren Hut ab, 
um befjer zu fehen ; Eduard treibt fein Pferd noch färfer an, und 
Madame Germeuil fchreit laut auf, aus Furcht, umgeworfen zu 

werden. 
| Endlich hält der Wagen vor dem Gitter, das den Hof umgibt. 
— ‚Sa, das iſt's, das iſt's,“ ruft Eduard, vom Wagen fpringend; 
„ja, ja, bier iſt 28... ich erfenne die Thüre, den Hof, fogar Die 
Hausklingel wieder, es ift noch die alte! und da ift die Tafel mit 
der Anzeige, daß das Haus zu kaufen fei. 

Während er dad Haus mit innerer Bewegung betrachtet, Hilft 
Adeline ihrer Mutter aus dem Cabriolet; man bindet das Pferd 
an und tritt durch die offene Thüre in den Hof. 

„Ach! wie wird ed mir hier gefallen, “ zuft Adeline, ihre Blicke 
freudig umherwerfend, „nicht wahr, Mama, ift das Haus nicht Herr: 
lich? — Nur Geduld, liebe Tochter, wir haben ja noch nichts 
gefehen.” 

Ein Ianger Bauernfneht kommt mit einem großen Hund ihnen 
aus dem Haufe entgegen. — „Was wünfchen Sie ?“ fragte er etwas 
plump. — „Wir wünfchen das Haus zu befehen,” antwortet Eduard. 
— „Sa, und e8 zu Taufen,“ fügt Adeline Hinzu. 

„Dann laffe ich's mir gefallen,“ brummt der Bauer: zwifchen 
den Zähnen, „folgen Sie mir, ich führe Sie zu meinem Herm.“ 
Er geht voran eine Treppe hinauf und läßt fie in einen Speifefaal 
treten, um inzwifchen feinen Herrn von ihrer Gegenwart in Kennt: 
niß zu jeßen. 

Alsbald Laßt feh aus dem Zimmer, in das der Diener ge: 


35 


gangen if, eine dünne, fcharfe Stimme. hören, und unfere Reifen: 
den vernehmen folgendes Geſpräch: „Was willft Du, Peter? — 
(Ge find Känfer zu Ihrem Haufe da. — Störft Dee mich ſchon wieder, 
um mir munüßerweife einen Dummkopf über den Hals zu fchiden, 
wie jo eben ? — O nein, mein Herr, diefe da fehen ganz anders 
aus! — Hat mich der verfluchte Kerl doch geärgert ! gewiß werbe 
ıh davon Frank werden! — Ich fage Ihnen, die Leute draußen 
ind in einem Cabriolet gelommen. — Ad, fo! das ift ein ander 
Tug... dann muß ich fie fprechen.” 

Madame Germeuil und ihre Kinder wußten nicht, was fie von 
tem Gehoͤrten denken ſollten, als die Thüre des Nebengemaches 
zufging, und ein kleines, hageres, gelbes, runzliches Mänuchen in 
<hlafrod und Nachtmütze erſchien, und fie mit gezwungen freund⸗ 
„der Miene begrüßte. 

„Bir wünſchen Ihr Haus zu bejehen,“ fagt Eduard, „mir ift es 
war nicht fremd, aber die Damen möchten e8 gerne fennen lernen. 
— Es iſt doch ſonderbar,“ erwidert der Eleine Herr, feinen Diener 
‚njebend, „ein Jeder kennt mein Haus!... und Ihre Abſicht iſt, 
es zu faufen? — Gi freilich! wenn der Preis annehmbar if. — 
Ken, fo werde ich Sie felbft herumführen.“ 

„Bel ein Original,” fagte Adeline leife zu ihrem Manne, 
.ıh weite, es ift ein alter Wucherer, ver ſich hieher zurückgezogen 
tat, und nun dem Wunfch nicht länger widerſtehen Tann, aufs 
Rene feinen Handel in der Stadt zu treiben.” 

Man beficht das Haus vom Keller bis zur Bühne, der Feine 
Ye läßt nichts unbeachtet, und Eduard, froh, fein Vaterhaus 
meder zu fehen, Hört geduldig alle Lobeserhebungen des Beſitzers 
an. Bon Zeit zu Zeit fagte er laͤchelnd zu feiner Kran beim Eins 
ußt in jedes Zimmer: „Sa, ja! das ift die Stube... vort das 
Kabinet ... Hier find noch die alten Wanpfchränfe ...“ Und dabei 
‘aut der alte Herr feinen Diener an; beide fcheinen fich zu verflehen. 

„Ste haben aljo früher fchon hier gewohnt?“ fragte er endlich. 


36 


— „Ja, mein Herr, ich habe einen Theil meiner Jugend hier wer- 
lebt. — Das ift doch drollig,“ brummt der Diener; „dad iſt zum 
Erſtaunen,“ der alte Hert. 

- Madame Germeuil findet das Haus bequem und wohnlich; 
Adeline ift entzüct darüber, und Eduard wünfcht jet den Garten 
zu fehen ; der Eleine Mann entfchulbigt fi, fie aus Mattigfeit nicht 
begleiten zu Tönen, böktet, dem Diener zu folgen, und unfere jungen 
Eheleute ‚find keineswegs unzufrieden, einen Augenblid von dem 
alten Herrn befreit zu fein. 

Der Bauernfnecht geht voran, ihm folgt Madame Bermeuil, 
und Adeline und Eduard fchliegen Arm in Arm den Zug. Gonard 
macht feine Frau anf jedes Plabchen aufmertſam, das ihn an feine 
Kinderfahre erinnert. 

„Hier war ed,” fügte er, „wo ih mit meinem Bater lad, Hier 
in dieſer Mllse fpielte gewöhnlich mein Bruder Jakob und flieg auf 
die Aprikofenbäume. — Der arme Bruder Jakob... Haft Du nie 
wieder von ihm etwas gehört? — Nein!... D! er iſt gewiß 
irgendwo in einem fremden Lande geftorben, fonft wäre er zurüd: 
gefommen und hätte feine Eltern adfgefuht!... — Das rührt 
daher, wenn man auf feine Kinder fein wachfames Auge Hält, biefer 
Jakob hat gewiß ein fchlechtes Ende genommen.” 

Eduard antwortete nicht; die Erinnerung an- feinen Bruder 
machte. ihn immer traurig und nachdenfend ; er war feft überzeugt, 
daß derfelbe nicht mehr lebe, und wahrjcheinlich nährte er hauptſaͤch⸗ 
lich deßhalb dieſen Gedanken, um den andern aus feinem Kopfe zu 
verbannen, daß er vielleicht elend und gefunfen in ber Welt um: 
herirre. Auch mochte er, feitvem er gewiß wußte, daß Adeline die 
Seimige werde, zumeilen fürdhten, feinen Bruder in erniehrigender 
Dürftigkeit wieder zu finden, weil ihm das in den Augen der Ma: 
dame Germeuil nachtheilig werben Tünnte, und fo oft ein Bettler 
von feinem Alter ihn anfprach, flieg ihm das Blut ind Geſicht; er 
entfernte fich raſch, aus Beſorgniß, es könnte fein Bruber Jakob fein, 








37 


Euard war deffen ungeachtet nicht gefühllos; er hätte feinen 
ruder nicht zuruͤckſtoßen koõnnen; aber fo find die Menfchen! Eigen⸗ 
liebe erfickt bei ihnen oft die enelften Empfindungen ; man erröthet 
über Brüder und 'Schweftern ! ja es gibt Menfchen, vie fich ihrer 
Gitern ſchaͤnen. Das find aber lets nur ſolche, die fich ſelbſt nicht 
abten, denn fonft würden fie ihren Stamm in Ehren halten, 

Aber Tchren wir zu unfern jungen Eheleufen zurüd, bie alle 
Gänge bed Gartens durchlaufen, fich anlächeln und vor jeder. dunkeln 
Orotte oder jedem dichten Gebaſche die Hände brüden. Der Diener 
blieb einen Augenblick zurück, um das Halsband ſeines Hundes wieder 
a befefigen, Madame Germeuil und ihre Kinder ſetzten ihre Pro- 
menade fort, Man erreichte enblich das Ende des Gartens. Die 
rine Seite deſſelben ſtoöͤßt aufs Feld und iſt von einer hohen Mauer 
umgeben; in derſelben befinbet- fich aber ein Ausgang und biefer 
% duch ein mit Brettern verſchlagenes Gitterthor verfchkefien, ba; 
nit die Borkbergehenden nicht in den Garten. herein fehen Tönnen, 
Pie Bretter waren indeffen zum Theil ſchon verfault, und sin Stüd 
terfelben war los. Als die Befellfchaft vor bie Thüre Fam, be- 
nelte fe den Kopf eines Mannes, ber denfelben gerade: ba’, wo 
Yit Breiter zerbrodhen waren, gegen bad Gitter hrüdte, und fehr 
ufnerffam in den Garten herein ſchaute. W 

Radame Germenil konnte einen Ausruf des Schreckens nicht 
midhalten, Adeline empfand einen geheimen Schamder und ſelbſt 
Men warb durch den unvorbereiteten Anblid einen Augenblid 
rannen. i oo. 

Das Geſicht des Mannes, der in den Garten blickte, mußte 
ilemings im erſten Augenblicke überrafchen; ſchwarze Augen, braͤun⸗ 
he Geſichtsfarbe ſtarker Schnurrbart, eine tiefe Narbe quer über 
“Stimme Hs zur linken Augenbraune — Alles das gab dem Ge: 
‘ einen wilden Ausbruch und gereichte der Geſtalt keineswegs 
um Vortheil. 

„Ad! mein Gott! was iſt das?“ rief Madame Bermenik, 


38 


plöglidh ſtille ſtehend. — „Nun, nun, es iſt ein Mau 
Vergnuͤgen macht, in den Garten zu ſehen,“ antwortete 
dem er den Fremden, der nicht vom Gitter wegging, näher 

„Er flößt mir beinahe Furcht ein,“ fagte Adeline 
„Beinahe, meine Tochter ? Dann J Du froh ſein! 
ſtehe, ich bin halb des Todes,“ ... und dabei brängt r 
an den Schwiegerjohn. 

„Aber wie furchtſam find Sie, Madame; etwas: 
weiter nichts. Wenn man an einem hübfegen Garten | 
kann man doch wohl einen Augenblid bineinfehen? Di 
felbft wohl ſchon zwanzig Mal vaſſirt. — Ja gewiß! 
haben auch nicht folch fehauberhaften Schnurrbart! Sir 
bewegt ſich gar nicht und fcheint gar Feine Netiz von ung zı 

Seht holte der Diener wieder die Gefellfchaft ein, 
als er am Gitterihor die Geftatt ſah, zufammen um 
in ven Bart: „Iſt er noch da? Den Teufelskerl folleı 
nicht loskriegen.“ 

Der Unbelannte warf einige Blide anf ven Hausf 
die Damen lafen in feinem Geſicht Zorn und Beradhtun 
dem er die Perfonen im Garten noch einen Augenblid 
hatte, verfchwand fein Kopf endlich Hinter dem Gitter. 

„Ich möchte wohl wiffen, wer der ift,” Tagte Adeline 
— „In der That, ich fchließe anf nichts Gutes,“ erwid 
Germeuil, die jet freier Athem fchöpfte, da fie den € 
nicht mehr fah. — „Diefer Mann führt Böfes im Sch 
wahr, Eduard? — O Mama, das glaube ih niit; 
den Mann vom Kopf bis zu den Füßen gefehen, fo würi 
Geſicht vielleicht nicht fo auffallend erfchienen fein.“ 

„Mein Mann hat recht, Mama, ich meine, Bieles 
dem Zuftanbe ab, in dem die Dinge fih uns barftellen. 
Lumpen bebedter Menſch flößt uns oft Mißtrauen ein 
wir denſelben Menfchen ohne Angft anfehen würden, wen 


39 


gefleibet wäre. Die Naht, die Ruhe, der Monpfchein, die langen 
Schatlen der Gegenftände, Alles wirft auf uns ein, und bringt 
unfere Ginbildungskraft in Bewegung. — Du magft fagen, was 
Tu willſt, Tiebe Tochter, aber jenes Geficht fah nicht aus bloßer - 
Rengter in deu Garten! — Es kann fein, ich Hätte nur die ganze 
Geſtalt ſehen mögen. — Pot Blitz!“ rief der Diener, „Sie hätten 
nichts beſonders Schönes gefehen! — Kennt Ihr denn den Mann" 
fragte Apeline fogleich. | ’ 

„sch Tenne ihn nicht, Madame, aber ich habe ihn fchon heute 
früh gefehen. Er kommt mir wie ein Bagabund vor, der ſich im Dorf 
umbertreibt, um irgend einen Streich auszuführen... Aber mir 
fell er nicht wieder kommen, oder mein Hund hat ihn am Kragen... 
— Und Ihr wißt nicht, was er im Dorfe zu fchaffen Hat? — 
Reiner Tren, das ift mir gleichgültig ! wenn er nur meine Schwelle 
nicht wieder betritt, weiter verlange ich nichts.“ 

Da man fo eben vor dad Haus kam, wo ber Eigenthümer die 
Geſellſchaft an der Thüre erwartete, fo hatte dies Gefpräcd ein Ende. 

„Run, wie gefällt Ihnen ver Garten ?" fragte der Fleine Greis 
Melinen. — „DO! recht gut, mein Herr, ich denke, wir werden 
einig werben, nicht wahr, Mama? — Sa, ja! vielleicht! ...“ 

Seit Madame Germenil den Kopf hinter dem Gitter gefehen 
hatte, fand fie das Haus und feine Umgebung nicht mehr fo Tieblich. 
Aber ihre Kinder wünfchten den Kauf lebhaft, weßhalb fie fi, 
iner kindiſchen Einbildungen fich ſchaͤmend, nicht länger widerſetzte 
m der Handel entſchieden wurde. Der kleine Mann machte zuerſt 
er hohe Forberungen, ging aber, als er hörte, daß er fogleich 
Mar bezahlt würbe, bedeutend herunter, worauf man ſchnell ins 
Reine Lam. 

In der Luft feines Herzens Ind ber Eigenthämer die Geſell⸗ 
Khaft ein, tm Hauſe noch etwas auszuruhen, und bot den Damen 
Irgar Zuckerwaſſer an ; allein man fehnte ſich nicht nach Weiterer 
delanntſchaft mit dem alten Geizhals ; außerdem hatte ver Appetit 


40 


fi) eingefunden, und man wußte noch vor dem Mittagefien zum 
Notar bed Orts. 

Das trodene Maͤnnchen beſtand nicht Länger auf feiner @in: 
ladung ; er nahm feine Schlafmübe ab, ließ ſich einen alten Filz⸗ 
hut bringen, den er aud Schonung unter den Arm nahm, zog eiuen 
abgefchabenen braungelblighten Rod an und vergaß auch nicht fein 
ftarfes Rohr mit krummem Griff, worauf er ſich um fo lieber fügte, 
als er glaubte, daß, wenn jeine Füße nicht die ganze Laft feines Kür: 
pers zu tragen hätten, dies nothwendig feine Schuhe ſchonen müfje. 

Man kom zum Notar, der eim kurzes Protokoll auffegte und 
die Verkaufsakte in vierundzwanzig Stunden vorzulegen verſprach; 
Eduard verpflichtete fi, am andern Morgen mit dem Kaufgeld 
wieder dir zu fein, und Herr Renare, fo hieß der Verkäufer, machte 
ſich anheifchig, zur beftimmten Stunde ſammtliche Schlüſſel des. 
Haufed einzuhaͤndigen. 





Serhstes Kapitel. 
Das ländliche Mittagsmapf. 


„Jetzt wollen wir auch an das Mittageſſen denken,“ rief Eduard, 
als man den Notar verließ, „und wo möglich beim erſten Reſtaura⸗ 
teur des Orts. — Lieber Freund! wir hätten und bei Herrn Nenare 
hiernadh erkundigen follen. — Ei bewahre, ich bin überzeugt, der 
alte Geizhals hätte uns in die fehlechtefte Schenke gewiefen . 
aber ſiehe va!... jenes Haus macht gute Miene, eine Reftauration 
und Weinhandlung... im gefrönten Degen... da lied nur... 
„Bier werden Hochzeiten und Feſtmahle beſorgt,““ was Halten Sie 
davon? — Alfo hinein in den gefrönten Degen !“ 

. Man tritt zum ländlichen Traiteur ein. Die Borberfeite des 
Haufes ift mit Schinken, Bafteten, gebratenen Hühnern, Spargel: 
bündeln und Wildpret bemalt, aber die Küche vergleichen ländlicher 





al 


Birtdöhäufer bietet felten mehr, als ben vierten Theil vun bem, 
womit bie Hausthüre verziert iſt; ja felten findet man fogar Feuer 
auf dem Herd. 

Als unfere Barifer das Gaftzimmer zum gefrönten Degen be: 
kkaten, war der Eigenthümer des Gafthofes, ver zugleich die Stelte 
bed erfien Koches verfah, jo eben beſchaͤftigt, fich zu rafiren ; fein 
Heiner Küchenjunge fpielte mit einem Jonjou, die Frau des Haufes 
fridte und ihre beiden Mädchen wufchen und bügelten. 

Jeufel!“ rief Eduard, „das deutet eben auf Feine Küche! 
aber was hilft’3, man muß eben mit den Wölfen heulen!... — 
Allerdings, mein Freund, unfer Appetit ift der befte Koch.” 

Beim Anblid der eleganten Damen und eines Cabriolets vor 
der Thüre geräth Alles in Bewegung. Der Gaftwirth wirft Raſir⸗ 
meſſer und Seifenbüchfe bei Seite, wifcht fi) das Geficht ab und 
geht halb raſirt den Gäften mit tiefen Büdlingen entgegen; feine 
Fran widelt dad Strickzeug zufammen, wirft e8 auf ven Bügeltifch, 
und Goton, eine ver Mädchen, Schaut auf die fchönen Damen, hebt 
dad heiße Bügeleifen aus Bergeplichleit in die Höhe und fährt da⸗ 
mt der Wirthin unter die Nafe ; die Hausfrau fährt in Folge des 
Schmerzes, den ihr das glühende Eifen verurfacht, mit lautem Ge: 
ſchrei zurück, wirft den Wafchtrog um, worüber der Küchenjunge 
noch mehr erfchrickt und fein Soujou in ein Caſſerol verftedt; die 
Damen aber entfernen fich ſchnell, um nicht in das Seifenwafler 
ja teten, womit dad Zimmer plöglich überſchwemmt if. 

Der Reflaurateur ftottert taufend Entfchuldigungen, ſucht aber 
tabei zugleich feine Frau zu beruhigen. „Ich bitte tauſendmal um 
Berzeihung, meine Damen, mein Herr,“ fagt er; „haben Sie nur 
tie Güte, näher zu treten... fei doch nur ruhig, Frau! es ift ja 
nicht fo bedeutend! ... ich brenne mich weit öfter des Tages... 
Wir können mit Allem aufwarten, meine Küche ift gut beftellt.... 
das alberne Mädchen, die Goton, gibt nie Acht auf das, was fie 
hut... fege Kartoffeln ans Jeuer, liebe Frau... abex Tommen 


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Sie doch nur näher, meine Herrfchaften, und wählen Sie fi ein 
Zimmer ober Kabinet nad) Belieben.” 

Die Damen fcheuen fih, einzutreten, weil fie fi die Füße 
nicht naß machen wollten; endlich bringt das Mäpchen ein langes 
Brett und bildet damit eine Brüde nad) dem Nebenzimmer. Die 
Paſſage erregt Lachen und unſere Reifenden verfprechen ſich viel 
Vergnügen in einem Wirthöhaufe, wo ber Eintritt fchon fo viel 
Spaß mad. 

„Nun, mein lieber Herr Gaftrath, was werben Sie und vor: 
fegen koͤnnen,“ fragte Murville den Koch, der ihm“ gefolgt war, 
und feine Künfte herausftrih. — „Mein Herr, ein fehmadhaftes 
Kaninchenragout. — O, das dacht’ ich mir, die Kaninchen fehlen 
nie bei euch Leutchen, aber wir find Feine Freunde davon... Können 
Sie und Boteletted geben? — Gewiß, mein Herr, die find leicht 
zu haben. — Gin gebratenes Huhn? — Ich Habe gerade eines, 
das muß delifat fein. — Friſche weiche Eier? — O! anders ale 
feifch Fennen wir fle nicht! — Nun, weiter bedürfen wir nichts, 
mit Salat und Ihrem beften Wein werben wir eine treffliche Mahlzeit 
halten, was meinen Sie, meine Damen? — Sa wohl, nur hübſch 
raſch, denn wir verſchmachten vor Hunger. — Tragen Sie feine Sorge, 
meine Herrfchaften, Sie follen augenblidlich bevient fein.“ 

Meifter Bonnenu kehrt zu feinen Leuten zurüd. — „Nun mun: 
ter,“ ruft er und ſteckt fein Schnupftuch im Dreied ald Schürze 
vor, was nur bei befonderen Gelegenheiten gefchieht; hübſch munter 
jetzt, Frau und ihr Mäpchen, es gibt zu Fochen und zu braten, und 
es ift nichts vorräthig, ald Kaninchenragout, das fie nicht mögen, 
und das alte Teufeldhuhn, das ich vor acht Tagen für den Juden 
braten Tieß, der nichts als frifches Schweinefleiſch aß. Nun, hoffe 
ich, foll e8 endlich einmal gefpeist werden; Goton, fled ed an ben 
Spieß... ich glaube, es ift nun das fünfte Mal; aber e8 fchadet 
nichts, ich mache eine Sauce von boeuf à la mode daran, dann 
wird es ſchon Hinunterrutfchen. — Gott, wie habe ich mich verbrannt, 


— 





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ih lege ſchon das flebente Mal geſchabene Kartoffeln auf. — Pot 
Big! Da bringft mich da auf einen trefflichen Gedanken, die ge: 
ſchabenen Kartoffeln laſſen ſich vorzüglich benügen; lege fie bei 
Seite, Fran, ich made ein Souffle für unfere Gaͤſte davon. 

Du, Fanfan, laufe zum Schlächter und hole mir Sammelcotelettes, 
and Du, Marianne, Taufe Eier und fomm bald zurüd, um ten 
Salat zu Iefen... Ah! hurtig, zündet ein Licht an... gebt mir 
Siegellack, daß ich meine Flafchen verfiegle, das macht den Wein beffer.“ 

Ein Jedes beeilt ſich, die Befehle des Herrn zu befolgen, der 
feine Bratöfen heizt und feine Hemdaͤrmel hoch Hinauffchlägt, um 
dad Waffer zu den Eiern beizufeben ; Goton fpießt das unglüdliche 
Hubn zum fechsten Male und fleht zum Himmel, es möchte das 
legte Mal fein; Marianne bringt &ier und eilt ſodann in den Gar: 
tm, um ein Dutzend Salathäupter zu fchneiden, und Frau Bonneau 
enblich ſchabt fleißig Kartoffeln, legt fie fich auf ven Brandfleck und 
fammelt fie hernach pünktlich auf einen Teller, wie ihr Mann es 
verlangt, denn ein geſchickter Koch weiß von Allem Bortheil zu ziehen. 

Fanfan kommt aber vom Mebger mit der traurigen Nachricht 
zurück, daß es Keine Gotelettes gebe; der Maire hat fo eben bie 
legten , erhalten ; wenn man aber noch eine Stunde warten möchte, 
fo ließe fidh’8 machen ; der Knecht läßt nur fein Meſſer Schleifen und 
ſoll, fowie er zurüdfehrt, einen Hammel ſchlachten. — „Teufel! 
das tft ein dummer Streih ” ruft Bonneau, indem er die Eier 
ine Waſſer legt... „nun, ich werde meine Säfte um ihre Mei: 
mung fragen.” 

Der Wirth geht ind Nebenzimmer, wo die Damen und Eduard 
Sereitd mit Ungeduld auf das Mittagefjen harren, dabei aber noch 
immer über die Eintrittöfcene Tachen. i 

„Nun! wie iſt's, werden wir bald fpeifen *“ fragt Eduard, 
fewie er den Wirth erblickt. — „Im Augenblid, mein Herr! — 
Ihre Augenblicke find ziemlich Tang, Herr Gaftrath ! — Ich wollte 
aut Ihre Befehle wegen ver Gotelettes einholen. — Wie? — Der 


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Mebger hat Feine vorräthig ; aber fein Knecht wird fehr bald zu: 
rüdfommen, ſodann gleich einen Hammel ſchlachten, was nicht 
allzulange dauern wird, zumal wenn Sie einen Spaziergang in 
meinem Garten machen wollten. — Den Teufel au, da Tönnten 
wir lange warten... ein fchöner Vorſchlag!... Wir find nicht hie⸗ 
hergekommen, um Ihre Salat: und Schnittlauchbeete zu bewundern! 
— Lieber Freund! beruhige Dich nur,” bittet Adeline, über bes 
Wirths Kaltblütigfeit und Eduards Aerger lachend, „dann effen wir 
feine Cotelettes. — Kann ich die Schüflel mit einem delikaten Ka- 
ninshenragout auffeßen, Madame? — Geben Sie und, wad Sie 
‚wollen, aber geben Sie und doch wenigfiend etwas. — Im Augen⸗ 
blick follen Sie bedient fein.“ 

Meifter Bonneau ift ganz felig, daß er fein Kaninchenragout 
vorfegen darf, denn das iſt das Geriht, worin er fich auszeichnet. 
Er ergseift das Kafferol, worin fich Die Ueberrefte von zwei Kaninchen 
befinden, ſetzt ed, nachdem er es zugedeckt hat, aufs euer, be⸗ 
fiehlt Fanfan, das Ragout fleißig umzurũhren und traͤgt ſeine weichen 
Eier der Geſellſchaft auf. 

„Sie ſehen, meine Herrſchaften, wie flink ih bin,” fagt er, - 
indem er die Eier mit größtmoͤglichſtem Anftand den Bäften vor: 
ſetzt ... „Ich denke, ein Souffle von Kartoffeln à la fleur d’orange 
bürfte der verehrlichen Geſellſchaft wohl auch nicht mißfallen ? — 
Wie, Herr Wirth, im gefrönten Degen gibt's auch Souffle’s? — 
— D ja, mein Herr, und zwar fehr gute, ich Tann mich. deffen 
rühmen. — Ei, da find Sie ja ein Meifter in-Ihrem Fache? — 
Mein Herr, wenn man in Paris bei Very gelernt hat... — Adh, 
das ift was anders; wenn Sie ein Zoͤgling von Bey find, fo 
wundere ich mich freilich nicht und habe alles Vertrauen zu Ihrem 
Souffle.“ 

Bonneau zieht fi, ganz aufgeblafen von den ihm gemachten 
Gomplimenten zurüd ; die Damen verfuchen bie vermeintlichen weich 
gefottenen Eier mit Brobfchnitichen zu effen, aber es ifl rein um; 


” 


1 


möglich, fie find ſteinhart und nad abgelsöter Schale kaum zu 
zerſchneiden. 

Adeline lacht laut auf, Madame Germeuil ſwattelt den Kopf, 
and Eduard findet überdied noch, daß die Eier nicht friſch find. 

„Das bringt mir eben feinen hohen Begriff von feinem Seuffle 
bei,” fagt die Mama, indem fie ihr Ei wiener auf den Teller legt 
— ‚Rz Geduld, wir haben ja noch Hoffnung! ... Sie wiſſen, 
große Männer achten dad Kleine nicht, und Very's Zoͤgling kann 
zuletzt wohl das Weiche-Gier-Kochen nicht verflehen.“ - 

Bonneau trägt jetzt mit beiden Händen eine ungeheure Schüffel 
vol Kaninchenragout auf. 

„Herr Wirth, die Eier beweifen eben Ihre große Kunft nicht, 
Ne find hart wie Stein, nnd bazu nicht ganz friſch. — Wenn fie 
Ionen nicht ganz friſch vorkommen, fo muß das an den Hühnern 
liegen, denn fie find erſt heute gelegt ; was aber dad Harte betrifft, 
ſo geſtehe ich, liegt der Fehler an meiner Uhr, ich laſſe fie fünf 
Rimten im Wafler; wenn aber die Uhr fliehen bleibt, waͤhrend 
he auf vem Feuer find, fo fann der befte Koch getänfcht werben ! 
— Da Haben Sie Recht, es ift nur ein Glück, daß zum Ragout 
line Gier gehören, und es nicht auch nach der Minute zubereitet . 
wird. — Ach, Sie werden damit zufrieden fein, "ich werde unter: 
teffen Dafüc forgen, daß das gebratene Huhn recht mild werde.“ 

Bonneau nimmt feine harten Eier, wovon man keines gegeffen 
bat, wit fort, um fie zum Salat in verwenden und fie fi fo 
jweimal bezahlen zu laffen 5 ein doppelter VBortheil! und damit man 
nicht mehr fagen kann, fie feien nicht frifch, - Welt er eine Sorte Del 
berbei, defien Geruch und Gefchmad nothwendig vorherrfchen müſſen. 

„Run, meine Damen, da wir Doch einmal durchaus Kaninchen: 
ragout effen müflen, fo wollen wir ſehen, ob das unferem MWirthe 
he machen wird, aber was der Teufel ift denn darin?... Bind⸗ 
faben! Bindet unfer Bery die Kaninchen im Kaſſerol feſt? .. 
Da hängt ja Alles zuſammen, und ich kann dad Ende nicht ſinden. 





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Aber was ſehe ich denn da, meine Damen, ift das ein Schenkel 
oder ein Kopf? ... Die Kaninchen müfjen fonderbar gebaut fein. 
— Ad, mein Gott!” ruft Adeline, das Ding auf Eduards Gabel 
näher anfehend, „das ift ein Joujou!“ 

Die junge Frau läßt ihren Teller wieder fallen und lacht bi 
zu Thränen, Eduard ebenfalls, und Madame Germeuil felbft kann 
bei dem Anblid des Joujou's, deſſen Bindfaden Alle Stüde des 
Ragouts umjchlungen hält, nicht ernfthaft bleiben. 

Man wird fi) noch erinnern, daß bei der Ankunft unferer 
Parifer das ganze Haus in Aufruhr kam; der Küchenjunge fpielte 
gerade mit einem Jonjou, und als die Wirthin fich verbrannte und 
vor Schmerz den Waſchzuber umwarf, fürdstete Fanfan, gefcholten 
zu werben, und verftedte fchnell fein Jonjon in der nächtten beften 
Pfanne. Das mußte nun gerade die fein, worin ſich das Ragout 
befand. Als fie Bonneau fpäter nahm, hatte er ſogleich einen Dedel 
darauf geftürzt, ohne vorher Hineinzufehen ; der Knabe hatte guf 
Befehl feines Herren dann fleißig herumgerührt, ohne zu ahnen, 
daß er fein Joujou kochen laſſe. 

Das laute Lachen der Geſellſchaft drang bis zu den Ohren 
Meifter Bonneau's. 

„Ei, ei!" rief er, „es Scheint, unfere Gäfte find zufrieden ! 
ich dachte es doch, mein Ragout würde fie guter Laune madhen!... 
befto beſſer; da wird das alte Huhn Gnade finden... Geſchwind 
wollen wir's hineinbringen und den Salat dazu. Goton gib die 
Oclflafhe ... So. . . find die gehadten Eier darauf? ... fo, 
{hin ... recht [him . . . DO! dies Eſſen trägt und einen acht⸗ 
taͤgigen Verdienſt ein.“ 

Er tritt zu unſern fröhlichen Gaͤſten ind Zimmer, ſtellt Huhn 
und Salat auf den Tifch underwartetfchweigend ein neues Sompliment. 

„Meiner Treu, Herr Reftaurateur,“ fängt Eduard mit er: 
zwungenem Ernſt an, „Sie bewirtben und auf eine ganz eigen- 
thümliche Weile... . Was wollen Sie denn mit Ihrem Ragout 


a 


von Jonjon’8 fagen?... — Bie fol ih dad verliehen ? — Daß 
wir davon nichts genießen fünnen, Herr Bonneau. — Was joll denn 
dad bedeuten? — Sehen Sie nur, ift denn bas ein Kaninchen ?“ 

Herr Bonnean ſteht ganz verblüfft vor dem mit Sauce über: 
jogenen Jonjon. — „Da,“ fagt Aveline, „nehmen Sie Ihr Ragout 
wieder mit, wad wir darin gefunden haben, reizt und eben nicht, 
ed zu verfuchen. — Madame! ich bin wahrhaftig untroͤſtlich!. 
indeſſen werben fie doch die Webergeugung haben, daß ich unfehupbig 
bin... wenn die Kaninchen Sonjou freflen. — Wahrbaftig, das 
iR far, wenn ihr Huhn nicht beſſer ift, müffen wir fehen, wo 
wir anderwärts zu eſſen bekommen.“ 

Der Wirth geht, ohne weiter hören zu wollen ; roth vor Wuth 
langt er in der Küche an und fchüttelt Fanfan tüchtig an den 
Ihren, um ihn Raifon zu lehren. 

„Aber was haft Du denn, lieber Mann,” fragt Frau Bonneau, 
ihm die Schüffel mit den gefchabenen Kartoffeln bringend. — „Was 
ih babe, was ich habe? der Schlingel macht nichts ald dumme 
Shreihe! thut Spielzeug in meine Ragouts; Fürzlic fand man 
auch zwei Pfropfen in einer Matelotte ; zum Glück waren die Gäfte 
benebelt und hielten fie für Champignons ; heute haben wir es 
aber mit vornehmen Leuten zu thun, und der Schlingel ift ſchuld, 
daß man dad Ragout nicht anrührt ! und das muß gerade gefchehen, 
wie ih ihnen das verunglüdte Huhn vorfege! . . . der Junge ift 
fo ſchmutzig, als diente er bei einem Garkoch! ... Frau, Trage 
Teinen Bxandfled fauber ab, es ift ja noch Kartoffelbrei darauf... 
nut hurtig! ich muß meine Reputation durch das Souffl& wieder 
berfiellen.” 

Während Bonneau feine ganze Kunft auf das Zwifchengericht 
verwendet, fucht Eduard das Huhn zu trandhiren und Madame Ger: 
menil den Salat anzumachen. Aber vergebens arbeitet, er auf das 
alte Thier los; das fechöfache Feuer hat es dermaßen ausgetrocknet, 
daß es unmöglich ift, mit dem Meſſer Hineinzuflommen. — „Da 


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ift Alles umſonſt!“ ruft Eduard und fiößt die Echüffel von fich. — 
„Das Del ift auch wicht zu genießen,“ verfegt Madame Germenil. — 
„So jollen wir alfo heute nicht zu Mittag fpeifen,“ lacht Adeline. 

„In der That, meine Damen,“ fagt Eduard, indem er auf- 
ſteht, „ich glaube, es ift überflüflig, noch bad Kartoffelfouffl6 ab⸗ 
zuwarten, wir fönnten vielleicht gar noch Schuhfohlen darin finden. 
Nehmen Sie Ihre Shawld, Sure Hüte, ich werde indeffen dem 
Wirth den Narſch machen, daß er uns fo zum Beften gehabt hat. 
— Aber vor Allem, lieber Freund, ärgere Dich nicht, denfe, daß 
ed dad Bernünftigfte ift, über unfer Mißgefchid zu lachen ; nicht 
wahr, Mama? — Ja, meine Tochter, aber das Eſſen weiten wir 
doch nicht bezahlen.“ 

Eduard geht nach ber Küche; als er gerabe in das Vorzimmer 
treten will, bringt die Stimme des einen Mädchens in fein Ohr; 
er hört vom Souffle fprechen, horcht neugierig auf ihr Geſchwätz 
und vernimmt folgende Unterrebung : „Ich fage Dir, Marianne, 
ich möchte von dem Zeuge nichts um viel Geld verfuchen, was der 
Herr fo eben zuſammenrührt! — Nun, wahrlih, Du bift recht 
efel! ... Das ift ja ein Lederbiffen. — Ein ſchoͤner Lederbiffen... 
er wird gut ſchmecken! — Bah! wer wird denn fo delikat fein... 
Wenn Du aber Brod baden oder Wein eltern fiehft ..... da geht 
ed oft noch weit ärger zu! ... . umd beides ſchmeckt doch hernach 
gut! — Du magft fagen, was Du willft, Marianne, ich fehe nicht 
zu, wie Brod und Wein gemacht wirb, aber ich habe die Kartoffeln 
auf dem Brandfled der Frau gejehen, bie fich eben nicht alle Tage 
feift, und ich weiß, daß nach einer Paftete daraus mich nicht gelüftet.“ 

Eouard hat genug gehört;... er flürmt in das Zimmer, bie 
beiden Mäpchen find hierüber ganz verwundert und laſſen ihn durch 
nach der Küche, wo Meifter Bonneau fo eben fein Souffle mit 
einer Himbeerſauce übergießt. 

Murville ſtößt wild um fich her, ergreift das Gericht und wirft 
3 durchs Fenſter in den Garten. Der Wirth iſt wie verfleinert, 


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„Bas it Ihnen, mein Herr? ... woher biefer Zorn? — 
Ha, vertenfelter Garkoch!... Ihr macht uns ein Souffl6 mit Kar⸗ 
tefeln, die Eure Frau fchon als Umfchlag auf ihrem Branpfled 
benutzt hat? — Mein Herr, was wollen Sie damit fagen? — 
Ihr verfieht mich ſchon, Ihr verbienet, daß ich Euch recht derb vie 
Reinung fage. — Mein Herr... ich weiß nicht... Wir gehen, 
aber ih Eomme wieder, Meiſter Bonnean, und werbe des Very'ſchen 
cchülers mit feinem gekrönten Degen, feinen Hochzeiten und Saft: 
mablen alsdann gedenken.“ 

Ednard läßt den verblüfften Wirth ſtehen und begibt ſich wieder 
sa den Damen, bie fo eben das Speifezimmer verlaffen wollen. — 
„tafien Sie und gehen,“ fagter, „und uns glücklich ſchätzen, von 
tem Rartoffelfouffle nichts genoffen zu haben. — Nun, was ifl 
van damit vorgegangen, mein Lieber? — ch werde Dir das 
nachher erzählen ; das Dringendfte ift jetzt, aus dem Haufe biefes 
wiamen Giftmifchers zu kommen.“ | 

Euard ergreift Adelinens Hand, Madame Germeuil ihren Shawl, 
rat fie verlaffen das Gaſthaus, als plöglich der Wirth ihnen nach⸗ 

‚ft and fie anhält. 

„Einen Augenblil, mein Herr!” ruft der Wirth, feine baum: 
dellene Nutze hin⸗ und herfchiebend, „einen Augenblick, ich Bitte, 
'& daͤchte, bevor man geht, fullte man doch fein Mittageſſen be⸗ 
ablen. — Unfer Mittageſſen! ... zum Henker, Herr Reftanrateur, 
slolfte Igmen ſchwer werben, zu beweifen, daß wir gegefjen Haben! 
— Rein Herr, ich habe Ihnen vorgefeßt, was Sie verlangt haben; 
denn Sie nichts davon gegeflen haben, iſt e8 nicht meine Schuld ! 
— Eie treiben Scherz, Herr Bonneau, wenn Sie behaupten, und 
aach Wunſch bedient zu haben; wir wollten weichgefottene Eier, 
Eu gaben und fleinharte ; wir forberten Eotelettes, Sie thun uns 
Jerjon in Ihr Ragout; flatt Wein erhalten wir Eſſig, flatt Pros 
rencetoͤl Lampenoͤl zum Salat; ein Huhn, dad nicht einmal ein 
Engländer tranchiren koͤnnte und ein Soufflö, womit... . kurz, 

Yanl de Rod. 1. 4 


50 


Herr Garkoch, geben Ste fich zufrieden, oder ih laſſe Sie noch 
obendrein beflrafen und Ihre Boutique zufchliegen. — Meine 
Boutique!“ fchreit Bonneau, ganz außer füch vor Wuth; „das wollen 
wir doch ſehen ... Bezahlen Sie auf der Stelle "hier meine Rech⸗ 
nung. Bierzig Sranten fünfzehn Centimes, oder Sie gehen mit 
mir zum Maire.“ 

Statt: aller Antwort ergreift Eduard die Rechnung und wirft 
fle dem Traiteur ind Geficht, da erhebt Bonneau ein fo entjeßlichee 
Gefchrei, daß alle Bauern aus dem Orte zufammenlaufen. „Das 
find Lente aus Paris, die ihren Mittagstifch nicht bezahlen wollen,“ 
ruft das Landvolk, ftet® bereit, dem Stäbter Unrecht zu geben; 
„das koͤmmt im Cabriolet an und hat feinen Sous in der Tafche.” 
Unſere jungen Eheleute lachen über das Gefchrei und machen 
fih zum Maire auf den Weg; Mama Germenil folgt ihnen im 
Wagen ; alle Bauern umgeben Herrn Bonneau, der voran geht, 
neben fih Fanfan mit dem unglüdlichen Huhn auf der Schüffel, 
weil Eduard verlangt hat, daß daſſelbe einer näheren Prüfung 
unterioorfen werde. Der Zug geht durchs Dorf zur Wohnung bee 
Maird und vergrößert fich mit jenem Augenblidle, denn eine foldhe 
Begebenheit iſt Jedem willfommen. Endlich iſt man da und ver 
langt den Maire zu fprechen. „Er hat jett nicht Zeit,“ jagt bie 
Nagd, „er ißt gerade zu Mittag.” 

„Er ſoll aber zwifchen ung entſcheiden,“ verfeßt Bonneau ; 
„ja! und dies Huhn unterfuchen,“ ſetzt Eduard mit Lachen Hinzu. 
— „Ad! e8 betrifft ein gebratenes Huhn, das ift etwas Anderes,“ 
antwortet das Mäpchen, „va rufe ich plöglich den Maire, denn fc 
etwas intereffirt ihn.“ 

Ste geht zu ihrem Heren und erzählt ihm den Hergang fe 
ausführlich, daß er nichts davon verfteht und ſich zuletzt entfchließt, 
feine Gaͤſte auf einige Augenblicke zu verlaſſen, um ſich ins Aubien;: 
zimmer zu begeben. 

Tiefe Stille herrſcht in ber PVerfammlung, als der Maire ein; 





5l 


tritt. — „Wo tft Das Huhn, der Gegenſtand des Streites ?“ fragt 
a mit pathetifcher Amtömiene. — „Herr Maire! nicht Bloß ein 
Huhn, fondern ein ganzes Mittageffen will man mir nicht bezahlen ! 
— Üin ganzes Mittagemahl! ... . das ift von Wichtigkeit! — 
Hat man's verzehrt ? — Nein !"- antwortet Eduard, „an dem Huhn 
bier haben Sie den Beweis davon. — Sehen Sie nur die Rah: 
ung nach, Herr Maire! Sie werben ſich felbft überzeugen, wie 
illig Alles angefegt if. — Her mit der Rechnung!. . . Weide 
Fer! — Sie waren ſteinhart! — Das ift gleih!... . wer Glaͤher 
entzwei wirft, muß fie bezahlen, mit Eiern ift es daſſelbe. Kauinchen⸗ 
rageut. — Wir fanden ein Jonjon darin. — Das bat mit dem 
Aminchen nichts zu thun. Ein Joujou tft übrigens nicht im Stande, 
ten Geſchmack zu verderben... Weiter... Ein gebratener Kapaın... 
— Ta iſt er, ſuchen Sie mal gefälligft hineinzukommen.“ 

Der Maire gibt Fanfan einen Wink, ſich zu nähern, aber der 
Rnabe, in Gegenwart fo vieler Menfchen eingefchüchtert, hält Lie 
kchüſſel nicht fe, und der fogenannte Kapaun rollt auf den Fuß⸗ 
beten nnd macht dabei ein Getöfe, wie eine KRinderttommel, wenn 
ne anf Steinpflafter fällt. — „Oho!“ ruft ver Matte, „er ſcheint 
dech etwas trocken zu fein. — Der weite Weg in ber Sonnenbipe 
kit ıbm freilich zugeſetzt,“ meint Bonnean. 

„Der Tanfend ... drin if ja mein Freund, der Rotar, ber 
rerueht fich auf Kapannen, wie feine Frau jagt, der foll Bier 
entſcheiden.“ 

Der Maire öffnet die Thüre des Nebenzimmers und ruft den 
Retar, der bei ihn fo eben als Saft iſt. Eduard und Adeline ver: 
lieren allmählig die Geduld; fie vermuthen, nad) dem fo eben vom 
Raire Sehörten, daß fie ihren betrügerifchen Wirth werden bezahlen 
wäflen, und diefer, feines Siegs gewiß, blickt fie frei an und 
läbelt den Banern zu, die ſchon auf den Augenblick hatren, ihren 
ann Spott gegen die feinen Pariſer Ioszulafien. 

Aber ver Rotar tritt ein, ſieht Eduard und feine Frau, erfennt 


92 


“in ihnen die Käufer des Landhauſes, und flatt fih um das Huhn 
zu kümmern, dad Bonneau ihm unter die Nafe Hält, macht er dem 
jungen Chepaare eine tiefe Berbeugung. 

„Was! ... Sie kennen den Herrn und die Dame?” fragt mit 
Berwunderung der Maire. — „Ich habe die Ehre; der Herr hat 
dad Haus meined Nachbars Renaré erfauft, und bezahlt ſogleich 
baar... ber Kaufcontract ift bei mir unter der Reber.“ 

Diefe Worte geben mit einem Male der Sache eine andere 
Wendung. Der Maire überhäuft Eduard und feine Begleiterin mit 
Artigkeiten ; er bittet fie, in das andere Zimmer zu treten und aus⸗ 
zusmben; alsdann wendet er ſich ganz aufgebracht gegen ben ver: 
blüfften Gaftwirth. — „Ihr fein ein Spigbube, ein Betrüger,” 
fährt er ihn zornig an, „Ihr verlangt Gelb für ein Eſſen, das 
man gar nicht angerührt hat. Ihr bietet Euren Gaͤſten ausgetrocknete 
Hühner, faule Eier an und fordert vierzig Franken dafür ? — Aber, 
Her Maire, Sie fagten doch fo eben... — Schweigt, oder ich 
ſtrafe Such noch dazu... Ich weiß, daß Ihr Euren Wein verfälfcht 
und Katzen ftatt Kaninchen auögebt, aber nehmt Eu in Acht... 
für die erfte fette Kake, die man vermißt, bleibt Ihr verantwortlich!“ 

Der Wirth zieht fich verwirt und wüthend auf den Notar, 
ber den Maire wie eine Metterfahne gewendet, zurüd; er flößt 
Fanfan vor fi ker und kommt, das alte Huhn in ber Hand, zu 
Haufe an, wo er feinen Leuten zur Strafe befleblt, den Kapaunen 
zu Abend zu fpeifen, damit ein jedes feinen Aerger Theile. 

* Der Maire ladet fogleich Eduard und Abeline ein, bei ihm 
zu Mittag vorlieb zu nehmen, und erbietet fih, Madame Germeuil 
felbft aus dem Cabriolet zu holen; aber die jungen Cheleute wiber: 
jegen fich feinen Bitten ; fle geben vor, in Paris erwartet zu werben, 
umb ihre Abreife nicht Länger auffchieben zu Tönnen. 

Man trennt fi, der Maire mit Betheuerungen ber Freude über 
ihre baldige nähere Belanntfchaft, und unfer Ehepaar mit dem auf: 
sichtigften Dank für feinen Eifer feit der Ankunft des Notare, 


53 


Die Landlente umgaben noch dad Haus des Maire's, als Ehuarb 
md Adeline es verließen, machten Ihnen ehrfurchtsvoll Pla und 
begeigten auf alle mögliche Weife den Pariſern ihre Ergebenheit, 
bis biefe ihren Augen entſchwunden waren. 

Und doch waren dies diefelben Bauern, die kurz zuvor fie mät 
ibren Schimpfreden verunglimpft hatten; aber fie ahneten da noch 
nicht die veränderte Stimmung ded Maire's! ... Tie Menfchen 
had überall dieſelben. 





Siebentes Kapitel. 
Vorin der bärtige Mann wieder vorkommt. 


Ganz ausgehungert kommt man in Paris an. Man verlangt 
'bnel zu eſſen. Die Dienftboten beeilen, ftoßen fih, um recht flint 
in fein; aber beim Laufen, Stoßen, ſchnellen Treiben wirb eine 
Sache für die andere genommen, eine Sauce übergegoffen, ein Ger 
abi angebraunt, ein anderes kalt aufgetragen; Furz, wie gewoͤhn⸗ 
-&, wenn es ſchnell gehen foll, macht man Alles verbreht. 

Die Bedienung hat ihre Herrfchaft zum Mittagefien nicht mehr 
erwartet; der alte Raimund kann es nicht begreifen, warum fle 
tuugrig zurückkommt, und Die Köchin ärgert fi, gar nicht darauf 
torbereitet gewefen zu fein; unſere Reifenden finden jedoch Alles 
chlat, denn Meifter Bonneau's Küche ift ihnen noch in lebhaftem 
Autnien. ’ 

Am andern Morgen war Adeline zu angegriffen, um Eduard 
nd Villeneuve⸗Saint⸗-George begleiten zu koͤnnen, und da man 
zen alten Renare fein Wort gegeben hatte, fo mußte fie ihren 
Ran ſchon allein fahren laſſen. 

Auroille verſprach fpäteftens zum Mittag wieder zurüd zu fein. 
— Daß Dir nur nichts Unangenehmes begegnet,” fagt Madame 
Gernenil. — „Ich wette, Mama, Sie venfen noch an den Mann 


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mit dem Schnurrbart am Ende des Gartens. — Sa, ich Tann e8 
nicht läugnen, und ich muß fogar geftehen, daß ich Die ganze Nacht 
davon gefräumt Habe. — Das wundert mich nicht, wenn ung bei 
Tage etwas lebhaft ergriffen bat, fo flieht unfere Einbildungskraft 
im Traume denfelben Gegenftand ; aber darum foll uns dies nicht 
Grund zu traurigen Ahnungen geben. — In der That, Mama, 
Ste machen mich ordentlich unruhig,” jagt Adeline, „ich wünfchte, 
Eduard wäre fchon wieder zurüd... Und doch ift es wirklich Fin- 
diſch, ohne Urſache fich zu fürchten und fich zu ängfligen!... Drum 
reife glüdlich, lieber Mann, kehre bald wieder zurüd, und vor allen 
Dingen kehre nicht im gefrönten Degen ein.“ 

Eduard Füßt die Hand feiner Schwiegermutter und umarmt 
Keline, wie man feine Frau am zweiten Tage nach ber Hochzeit 
umarmt, wenn man Alles gefunden bat, was man hoffte, ober 
wenn man glaubt, Alles gefunden zu haben, was fo ziemlich daſ⸗ 
felbe ift, und was fo Manchem begegnet, ver recht Flug zu fein 
glaubt und doch betrogen wird. " 

Gr kommt in Billeneuve-Saint-George an, und fleigt vor 
feinem fünftigen bandhauſe a ab. — „Iſt Herr Renare zu Haufe?“ 
fragt er den Diener. — „Er ift ſchon beim Notar, mein Herr! 
— Der Taufend, wie prompt! fo will ih ihn auch nicht länger 
warten laffen.“ 

Murville läßt fein Cabriolet im Hofe fliehen und geht zum 
Notar. Der Contract ift aufgefept und Herr Renare wartet fchon 
mit Ungebuld auf feinen Känfer, denn nad dem Auftritt im ge: 
frönten Degen hatten fich feiner fchon einige Zweifel wegen des 
Hauöverfaufs bemächtigt; aber Eduards Ankunft und hauptſaͤchlich 
feine mit Banknoten angefüllte Schreibtafel geben ihm feine voll: 
ftändige Ruhe wieber. 

Verhandlung und Kaufcontract werden unterzeicnet, die Gelber 
ausgezahlt, und Herr Renare übergibt fchmunzelnd Eduard bie 
Schlüfjel ded Haufe. — „So find Sie denn jet der Eigenthümer, 





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und Finnen von diefem Augenblicke an. über Alles, was darin if, 
verfügen, denn ich habe es Ihnen ja ganz möblirt verkauft. — 
3b bin Ihnen fehr verbunden, wünfche aber, daß Sie fich zur 
Rinmung Zeit nehmen und meinethalben, nicht geniren. — O! 
meine Borfehrungen find gleich fertig;... ich nehme nur ein Eleines 
vaket unterm Arm mit mir. — So haben Sie wohl fchon eine 
andere Wohnung? — Dafür ift geforgt,” jagt der Notar, „Herr 
Remare hat noch ſechs Häufer in Paris und drei in der Umgegend, 
wegen eines Unterfommens ift er nicht verlegen!" . . 

Sechs Hänfer in Paris, denkt Eduard, und er trägt einen 
abgefchabenen Rec, einen purchlöcherten Hut! ift dabei Hageftolz 
mr ohne Erben; dieſer Menſch glaubt wohl ewig zu leben! 

Unfer junger Mann grüßt den alten Geizhals und den Notar, 
nad begibt füch nach feiner neuen Befigung; der Hausknecht erwartet 
iin im Hofe und fcheint ihn etwas fragen zu wollen; Eduard er: 
räth feine Gedanken. 

„Died Hans ift jegt mein,” fagt ex, „der Kaufcontract hier 
macht mich zum Beſitzer; Herr Renare wird es jedoch Euch gleich 
ſelbſt ſagen. — Mein Here, ich zweifle nicht daran. — Bleibt Ihr 
bei Herrn Renard? — Nein, ich gehöre zum Haufe, und wenn 
ter Herr mich nicht behält, fo bin ich brodlos. — Nun, To follt 
or bei mir bleiben, ich will Euch nicht fortichiden; von diefem 
Augenblicke an fein Ihr in meinen Dienften..— Das beruhigt mid); 
ib werde mich bemühen, Sie zufrieden zu fellen.“ 

Der rohe Bauer gefiel Eduard eben nicht beſonders; er war 
ungehobelt, grob, und die Gewohnheit, mit Herrn Renäre zu leben, 
batte ihn mißtrauiſch und unfreundlich gemacht; aber Murville wollte 
ſch als Gigenthümer feines Baterhaufes vor den Dorfbewohnern 
doch nicht gleich hartherzig zeigen. 

Da es noch frühe war und er feine @efchäfte fchneller beendigt 
bitte, als er glaubte, Konnte er dem Wunfche nicht widerſtehen, 
ine nene Befikung noch einmal zu durchlaufen; er ließ ſich den 


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Schlüffel zum Gitterfhor am Ende des Gartens geben und befahl 
dem Diener, beim Wagen zu bleiben. 

Iſt man Herr eines Grumbflüds, fo unterfuht man Alles 
aufs Genauefte. Eduard bemerkte, daß Herr Nenare alle Beete mit 
Kohl und Salat gepflanzt hatte, die urfprünglich für Blumen be: 
flimmt waren; die fehönften Afazienbäume, die freilich nur Schatten 
gaben, Hatte er abbauen laſſen und fie durch Obftbäume erfegt. 
Statt des Buchsbaumes, womit fonft die Gänge eingefaßt waren, 
fand er Peterſilie und Greffe, und in den Gebüfchen, die früher 
von Zliever und Rofen dufteten, roch man nur Körbel und Zwiebeln. 

„Hier-wird es viel zu thun geben,” fagt Gbuard, über Re- 
nare’8 Knauferei lächelnd; „in acht Tagen ſchon foll Das Alles 
anders fein, bis auf die Afazien, an denen ich fonft meine Schaufel 
befefligte! ... wie glüdlich bin ich doch einft hier geweſen!“. 

Er näherte fich feßt der Gitterthüre. „Es fcheint doch, als 
zeige fich der furchtbare Kopf, der mieine Dame fo erfchredte, nicht 
alle Tage,” fagte er, und wollte eben den Schlüffel ins Schlüffel- 
Ioch ſtecken, als plöglich das fehnurrbärtige Geſicht über der zer: 
brochenen Latte wieder vor feinen Augen erfchien, 

Eduard bleibt betroffen ftehen und fühlt jein Herz heftig jchlagen ; 
er fammelt fich jedoch bald wierer. — „Was fuchen Sie bier,“ 
fragt er ven Unbefannten, „und warum halten Sie fich immer hinter 
biefer Thüre-auf, Ihre Augen nad dem Garten gerichtet? — Nichts 
ſuche ich,“ antwortete der Fremde in ſtarkem und rauhem Tone. 
„Ich betrachte nur den Garten, weil er mir gefällt, und blicke Hier 
durch das Gitter, weil man mir den Eintritt nicht geflattet. — 
Wenn Sie fonft nichts verlangen, fo koͤnnen Sie Ihren Wunſch 
befriedigen. Treten Sie ein, nichts ſoll Ste jet daran hindern.“ 

Bei diefen Worten Iffnet Eduard das Thor, denn er ift neu: 
gierig, die ganze Figur des Fremden zu ſehen. Der Unbefannte 
fcheint von Eduards Anerbieten überrafcht, läßt fich aber nicht zwei: 
mal einladen und tritt durch Die geöffnete Thüre in den Garten, 


v 








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Aurville erblidt einen Mann von hoher Geſtalt mit einem 
alten, Blauen, bis zum Kinne zugefnöpften Ueberrock, ſchwarzen, 
abgenupten Stiefeln und einem fchlechten, deeieckigen Hut in der Hand. 

Beim Anblid dieſer ſonderbaren Geftalt, der bleichen Geſichts⸗ 
farbe, dem langen Bart und dem fchlechten Anzuge, ‘der nur Elend 
ud Unglüd verraͤth, denkt Cduard an den Argwohn feiner Schwieger: 
mutter, und ein Gefühl des Mißtrauens bemeiftert ſich feiner. 

Der Fremde geht im Garten umher, bleibt bald yor einem 
Gebüſch, bald vor einem alten Baume ſtehen und jcheint dabei. das 
nicht daran zu denfen, daß er nicht allein ift. 

Potz Taufend, denkt Eduard, ich bin nicht umfonft gefällig 
geweien, ich muß willen, wer diefer Menſch ift und was ihn hier 
intereſſirt. Wenn er nicht fpricht, fo werde ich ein Geſpraͤch 
nit ihm aufnüupfen; er muß mir Antwort geben. 

Der Fremde fept fih auf eine Rafenbanf, von wo aus man 
die Facade des Haufes erblickt, und Eduard fegt ſich zu ihm. 

„Ad, verzeihen Sie,“ fängt der Unbefannte an, aus feinem 
NRachdenken auffahrend, „ich habe noch nicht daran gedacht, Ihnen 
für Ihre Gefälligkeit zu danken, aber es intereffirte mich fo ſehr, 
dieſen Ort wieder zu ſehen. — Es hat gar nichts zu fagen. — 
Sind Sie vielleicht der Sohn vom Herrn dieſes Haufes? — Nein. 
Deſto beffer für Sie. — Warum denn? — Weil er ein alter 
Schurke if, wie fein Diener, den ich fat Luft gehabt hätte, etwas 
derb Manier zu lehren! — Was hat man Ihnen denn gethan? — 
3%) befuche dies Dorf, bloß, um dies Haus wieder zu fehen. Ich 
fomıme geftern ganz ermattet hier an, trete in den Hof und ruhe 
anf einer Steinbanf aus. Da kommt der Hausknecht auf mich zu 
und fragt, was ich wolle. Ich fage ihm, ich wünfchte den Garten 
zu beſehen; ex aber fragt fogleih, ob ich das Haus zu Faufen Luft 
babe. Die Frage ſchon war eine Grobheit, denn ich fehe nicht wie 
ein Saudläufer aus. — Das ift wahr!“ denkt Cduard. — „Als er 
hart, daß ich andere Grüfde für meinen Wunſch habe, beflehlt er 


38 + 


mir, den Hof zu verlaffen ; ich bitte ifm nochmals, mich nur einen 
Augenblid den Garten durchlaufen zu laffen, er aber ruft feinem 
Herrn; ein alter Jude erfeheint, und Beide wollen mich jegt aus 
der Thüre werfen! ... Kreuz⸗Donnerwetter! ... mich zur Thüre 
binauswerfen!... mih.. einen... Do nein!... ich ver: 
geffe, daß ich es nicht mehr bin!... Aber wenn auch, ohne meine 
alten Erinnerungen, die mid) abhielten, hätte ich Heren und Diener 
tuͤchtig durchgeprügelt! ... Ich that es alfo nit, und da mir 
nichts Anderes übrig blieb, um den Garten zu fehen, fo ftellte 
ich mich Hinter jene Gitterthüre, wo Sie mich fchon geftern be⸗ 
merkten. — Es ift mir fehr lieb, Sie heute wieder gefunden und 
die Unart der Leute wieder gut gemacht zu haben. — Meiner Treu, 
es ift ein bloßer Zufall; wartete ich nicht auf einen Kameraden, 
der mich Bier im Dorfe abholen will, fo wäre ich wahrfcheinlich 
nicht mehr hier. — Ah, Sie erwarten einen Kameraden. — Sa, 
mein Herr!“ 

Eduard ſchweigt einen Augenblid ftill, indem er über Die Worte 
des Unbekannten nachfinnt ; diefer hebt endlich wieder an. — „Ent: 
feyuldigen Sie, mein Herr, wenn ich mir eine Frage erlaube; wie 
geht e8 zu, daß der alte Spigbube von Eigenthümer Ihnen feine 
Gartenfehlüffel anvertraut ? — Died Grundſtück gehört nicht mehr 
Herrn Renare, denn er hat es heute an mich verkauft. — Ber: 
tanft! Ach, bei Gott, Hierüber Bin ich fehr erfreut, ed that mir 
wehe, viefe Befigung in den Klauen jenes Schurken zu wiffen. — 
Sie nehmen alfo viel Antheil daran ? — Allerdings, denn ich brachte 
bier einen Theil meiner Iugendjahre zu. — Sie? — Ja, id." 

Eduard betrachtet den Fremden mit größter Aufmerkfamkeit ; 
ein unflarer Verdacht, ein geheimes Borgefühl bringen fein Herz 
in Aufregung. Er ſieht jebt erſt, daß der Fremde noch jung ift, 
und daß nur Strapazen feine Züge gealtert haben und die Sonne 
feinen Teint gebräunt bat ; er wünfcht und fürchtet mehr zu erfahren. 

„3a, mein Herr,“ fängt der Unbelannte nach einer Baufe 


39 


wieder an, „in diefem Haufe habe ich gewohnt, ich bin zum Theil 
bier erzogen worden... damals verlebte ich bier, bei meinen Eltern, 
die glüdfeligften Tage... Ich hatte einem liebreichen Bater, einen 
Inber!... Alles das Habe ich verlaſſen! ... und Habe verdient, 
mad ich jegt dafür leide! — Sind Ihre Eltern vielleicht todt ?“ 
fragt Cduard mit angftvoller Stimme, indem er verftohlen die Züge 
ud dad Aeußere ded Mannes näher betrachtet, den er zu erkennen 
fürchte. — „Sa, mein Herr, fie find geflorben, vielleicht aus 
Kummer über mih!... Meiner Mutter lag freilich nicht viel an 
mir, deſto herzlicher liebte mich aber mein Bater!... und num 
ſell ich ihm nicht wiederfehen! Hm! verdammter Tropkopf, ver mich 
fo manche Thorheiten begehen ließ! — Und Ihr Bruder? — 
Mein Bruder lebt, wie ich in Paris erfuhr; er hat fich verhei⸗ 
tatbet... Ich babe feine Adreſſe noch nicht erhalten Eönnen; aber 
morgen werde ich fie befommen, dann will ich ihn aufjuchen. Dex 
ame Eduard, ex wird flaunen, mich wieder zu fehen! er glaubt 
ſiher, ich lebe nicht mehr!“ 

Ehnard antwortet nicht, er fchlägt, ungewiß, was er thım 
foll, die Augen nieder und wagt es nicht, fich’S zu geftehen, daß 
es fein Bruder iſt, der vor ihm ſitzt. 

Salob, denn er war ed, überkäßt fich wieder feinem Nach: 
venfen ; mit der einen Hand flreicht er feinen Schnurrbart und mit 
der andern reibt er fich die Stirne, als wollte er neue Gedanken 
faſſen; Cduard ift unbeweglich und flumm; feine Augen firiren 
dann und wann ben Freund feiner Kindheit, aber ber grobe Ueber⸗ 
tod, die alten Stiefel. und hauptfächlich der lange Bart halten fein 
Herz zurũck, das ihm beſiehlt, ſich in die Arme feines Bruders zu 
werfen, ohne fein Aeußeres, feine Lage zu beachten. 

Ploͤtzlich ſcheint ein Gedanke ſich Jakobs zu bemädtigen. „Mein 
Herr,” fagt er, „ed wäre möglich, daß Sie meinen Bruder kennten; 
Cie feinen in der großen Welt zu leben und halten ſich gewöhn- 
lich in Paris auf? — Ja, das iſt wahr! — Vielleicht Haben Sie 


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etwas von Eduard Murville gehört? — Ja... ih... ich fenue 
ihn. — Sie fennen meinen Bruder? — Ich bin Eduard Murville.” 

Eduard fpricht diefe Worte fo leife, daß ein Anderer als Jakob 
fie verfianden hätte, aber diefer hörte aufmerkfam zu, und ehe fein 
Bruder noch geendigt, fpringt er auf ihn zu und brüdt ihn mit 
Herzlichkeit an ſich. 

Eduard erwidert feine Umarmung nicht ohne Wärnte, aber der 
verdammte Schnurzbart ift ihm zuwider, er ift nicht mit fich im 
Meinen und weiß nicht, ob er fich darüber freuen ober ärgern fol, 
feinen Bruder wieder gefunden zu haben. 

„Aber warum haft Du Dich nicht früher zu erkennen gegeben,“ 
fragt Jakob, ihm aufs Newe um den Hals fallend, „konnteſt Du 
Dir denn nicht denken, wer ih ji? — Doch, doch! allein ich 
wollte meiner Sache zuvor ganz gewiß fein. — Du bift alfo reich, 
glücklich? — Nun, ja! — Du bift verheirathei? wo ift Deine 
Frau?... ed würde,mich freuen, fie Tennen zu lernen. — Meine Frau ?“ 

Eduard fchweigt, die Grinnerung an Adeline, an Madame 
Germeuil, der Schreien und die Ahnungen der legteren, die rauhen 
Manieren und die ärmliche Kleivung Jakobs, worin er gegen ihn 
jo fehr abftiht, das Alles peinigt Eduard, der ohnehin mit feinem: 
ſchwachen und unjchlüfjigen Charakter fich umfonft bemüht, Eigen: 
liebe und Eitelfeit mit der Bruderliebe in Einklang zu bringen. 

„Au was, der Kuduf, denkt Du denn?“ fragte Jakob feinen 
Bruder, indem er ihn am Arme fchüttelte. — „Ach! ich veufe nur 
nah... es ift fchon fpät... ich muß nad) Paris zurüd, wichtige 
Geſchaͤfte erfordern dort meine Gegenwart.“ 

Jakob antwortet nichts, aber feine Stirne sicht fih in Falten, 
und er geht um einige Schritte zurüd. 

„Und Du, Jakob, was treibft Du denn jetzt? — Nichts,“ 
erwiderte diefer ganz troden und fah dabei Eduard ſcharf an. — 
„Nichts! aber wovon lebſt Du deun? — Bis jept habe ich noch 
von Niemanden etwas verlangt... — Deine Lage foheint nicht 


N 61 


bie bee? — Sie iſt es auch wahrlich nicht! — Aber warum trägft 
Tu tenn fo einen wüthenden Bart? Ich denke doch, daß Du das 
mit nicht meine Frau befuchen willfl. — Mein Bart verläßt mich 
unbe, Menn Deine Frau eine Zierpuppe ift und ſich vor meinem 
Ansfehen fürchtet, fo fei ohne Sorgen, dann wird fie mich nicht 
oft zn fehen befommen! — Du verfiehft mich falfch... dag meine 
ih nicht damit... aber... ich muß febt fort, man erwartet mid 
in Parie... ich Biete ed Dir nicht an, jetzt mit mir zu fommen... 
ufrigend ertwarteft Du ja Jemand hier im Dorfe, wie ich glaube. 
— Ja, einen Kameraden, einen Freund erwarte ich.“ 

Jakob Iegte auf das Mort Freund einen befonderen Ton und 
fah gleichſam mit verächtlichem Mitleid im Auge auf feinen Bruber. 

„Run, ich muß eilen, wir werben uns bald wiederfehen, Hoffe 
6... indeſſen . .. da nimm dies hier von ber Hand... .”. 

Bei viefen Worten zieht Eduard feine Börfe, die etwa zehn 
!enisb’or enthält, und bietet fie feinem Bruder mit zitternden Händen 
an: aber Jakob ftößt fie vol Selbftgefühl zurück, drückt fich den 
Hut ind Geſicht, führt mit der Hand fehnell nach der Bruft, ale 
‘der ter feinem Rock etwas verbergen wollte, und ſpricht mit 
taltem Tome: „Behalte Dein Gold, ich bin nicht hergefommen, 
ım Deine Hülfe anzurfen, und will nicht der Gegenftand Deines 
Ritleids fein; ich glaubte einen Bruder wieberzufinden, ich habe 
mich getäufcht; ich fcheine Dir nicht würbig genug, Dein Haus 
i@ Betreten... mein Meußeres, mein Geficht flößen Dir Abſcheu 
em... gut denn... lebe wohl... Du ſollſt mich nicht wiederfehen.“ 

Jakob wirft noch einen zornigen Blick auf feinen Bruder und 
entfent ſich mit großen Schritten durch bie noch offenftehende 
Sartenihüre. 

Eduard bleibt in feiner Unentſchloſſenheit noch einige Augen: 
elite unbeweglich auf feinem Plage figen und ſtarrt mit den Mugen 
"ah der Thüre bin, durch die fein Bruder verfchwand. Endlich 
hegt das Gefühl der Natur; er Läuft zur Thüre hinaus, ficht auf 


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dem Feld umher und ruft laut: „Jakob! mein Bruder!“ aber zu 
ſpät, Jakob ift Schon weit fort, und das Rufen feines Bruders 
sernimmt er nicht mehr. 

Er Tehrt betrübt nach dem Garten zurüd und verfchließt die 
Gitterthüre. — „DO! er wird wiederfommen,” denkt er, „er ift ein 
Hitzkopf, der leicht auffährt! Ich glaube indeſſen nicht, ihn beleidigt 
zu Baben... ich but ihm Golb an... er fchien ed doch nöthig 
zu haben, und ich fehe nicht ein, wie er das übel nehmen Tann. 
Ih gab ihm zu verfiehen, daß feine Kleidung, fein Betragen nicht 
in feine Zirkel paffe... Hatte ich darin fo Unrecht? Tann ich meiner 
Frau, meiner Schwiegermutter mit gutem Gewiſſen einen Menfchen 
vorftellen, der wie ein entlaufener Sträfling ausfleht... o, id 
müßte mich ja zu Tode fchämen ; und das zwei Tage nad) meiner 
Hochzeit! ... mit dem Gelde, das ich ihm bot, hätte er fih an- 
fländiger Eleiven Eönnen!... aber nein! er will ja feinen Bart nicht 
ablegen ; nun, wie's ihm gefällt! ich habe gethan, was ich mußte.“ 

Ednard fucht fich zu überreben, daß er recht gehandelt habe, 
und gefteht ſich nicht, daß fein Faltes und befangened Benehmen 
feinen Bruder gefränft haben könne; aber eine geheime Stimme in 
feinem Innern wirft ihm fein Unrecht vor; unzufrieden mit ſich 
felbft, unruhig über die Folgen dieſes Ereigniſſes fleigt ex in fein 
Cabriolet und verläßt bad Dorf, ohne dem dauswarter irgend eine 
Weiſung zu ertheilen. 

Unterwegs beſinnt er ſich lange, was er zu Haufe fagen ſoll, 
endlich entfchließt er fich, feiner Frau und Schwiegermutter das 
Zufammentreffen mit feinem Bruder zu verfchweigen, und denkt, 
es fei Zeit genug, des Borfalles zu erwähnen, wenn Jakob ihn 
befuchen werbe. 

&r kommt an: Abeline fpringt ihm entgegen, macht ihm über 
fein langes Ausbleiben Borwürfe und verlangt die Eleinften Details 
über feine Reife. 

„Alles in Ordnung,“ fagt Eduard, „ver Contract unterfchrieben 


- 





65 


Kreuz feiner Denrütbigung ausfegen wollte. Er hatte Recht. Mer 
ein Unterpfand feiner Chre auf der Bruft trägt, ſoll nicht ein 
Gegenſtand des Mitleids für Andere werben. 

Yalob heftete feine Augen auf das theure Ehrenkreuz und dachte 
au den Tag, wo fein Oberft ed ihm an die Bruft ſteckte; er er: 
mnerie ſich der Schlachten, denen er beigewohnt, ſah ſich auf dem 
Echlachtfelde, von feinen Kriegskameraden umgeben, wie er gegen 
ten Feind anrüdte; dieſe Erinnerungen des Ruhms richteten feine 
nievergebeugte Seele wieder auf, und er vergaß barüber feinen 
Verdruß und die Hartherzigkeit ſeines Bruders. 

Bald darauf fehritt ein junger Mann, ungefähr wie Jakob 
gelleidet, deſſen Geſicht aber von Frohſinn ftrahlte, und weder Be: 
trübniß noch Mangel verrieth, einen Marſch pfeifend und mit einem 
Stödchen den Takt dazu rechts und links auf die Fliederbüſche am 
Vege ſchlagend, einen Hügel herab dem Plabe zu, wo Jakob war. ' 

„Bei Teufel!“ rief er, indem er einen Augenblick ftehen blieb 
und nach allen Seiten umherfchaute... „nicht einen Zlafchenftöpfel... 
nicht die fchlechtefte Kneipe zu finden!... Donner und Wetter, 
babe ich mich denn verirrt? ... nirgends ein Dorf zu fehen... 
m doch habe ich höllifchen Durft.... meinethalben auch, nur 
vorwärts!“ 

Und er beginnt wieder zu fingen: - 

Ich babe von meiner Nanette 


Apr niedlichen Füßchen geſehen! 
Bald werd’ ich noch weiter, ih weite — 


„A! da iſt ja endlich Jemand. Hollah; alter Freund!” Der 
unge Mann geht auf Jakob zu; biefer inet die Augen, erkennt 
ſeinen treuen Kameraden, fpringt auf und läuft ihm entgegen. — 
„Ha!* zaft er aus, „bift Du's, mein armer Sansſouci? — Ei, 
tas iR ja Freund Jakob! beſſer konnt’ ich mich nicht adreffiren .. 
Barte, ich ruhe neben Dir aus, im Schatten Deines Nußbaumes; 

Vaul de Kod. 1. 5 


61 


Er Tief aus rem Garten und durchſtreifte in feinem Zorn lange 
Zeit die Felder, ohne fi um feinen Weg zu kümmern; fein eins 
jiger Zweck war nur, ſich von feinem Bruder zu entfernen, beifen 
faltes Benehmen, deſſen Tieblofe Reben ihm dad Herz verwundeten. 

Er ſprach dann nnd wann einige Worte, richtete die Augen 
gen Himmel, ftieß heftig mit tem Fuß gegen die Erde und fchien 
in gewaltiger Aufregung. Endlich kefand er ſich auf einem freund: 
lichen, von alten Nußbänmen befchatteten Plate und fühlte das 
Berürfniß, auszuruhen; er fah umher, als ob er fürchte, verfolgt 
zu werben, aber Alles war ftill und ruhig: vie Landleute, beſchäftigt 
mit ihren #eldarbeiten, belebten allein die Landſchaft; Jakob legte 
fich unter einem Nußbaum auf rem Rafen nieder und gedachte der 
Unterredung mit feinem Bruder. 

Weil ih arm audfehe, behandelt er mich mit Verachtung! 
Weil ich einen Bart trage, hat er nicht ven Muth, mich mit feiner 
Frau befannt zu machen! Er bietet mir Gold an, will aber nicht, 
daß ich bei ihm bleibe! Behanbelt man fo einen Bruver?... Warum 
biefer Ton der Berächtlichkett Habe ich den Namen meined Baters 
entehrt?... Wenn auch mein Betragen nicht fein und abgefchliffen 
it, fo ift meine Sprache doch offen und mein Gewiſſen rein. Sch 
fann arm und unglüdlich fein, aber nie werbe ich eine Hanblung 
begehen, beren ich mich fchämen müßte... Ich habe Thorheiten 
begangen, mandje Jugendflreiche gemacht... dad ift wahr, aber 
ich habe mir Feine ehrenrührigen Fehler vorzumwerfen... und was 
ich bier auf meiner Bruft trage, fichert mich vor jedem Verbacht, 
fowie vor jeder Verſuchung des Boͤſen.“ 

Safob öffnete dabei feinen Oberrock unb betrachtete mit Stolz 
ein Kreuz ber Ehrenlegion, dad an einer alten Uniformewefte be: 
feftigt war. Diefer Lohn feiner Bravour war fein einziger Troft, 
und doch verbarg er dieſe Dekoration, weil er feit ein paar Tagen 
ſich gensthigt ſah, die Gaftfreundfchaft ver Landleute in Anſpruch 
zu nehmen, und, da fie nicht immer zu gaftfreunblich find, fein 


67 


tie Rachlommen von Kain boch fehr angefehene Leute fein. Unfer 
Eergeant, der ganz gut zu fprechen verſtand, wenn er nicht über 
Durſt getrunfen hatte, behauptete, daß die Kinder der lebe immer 
befier burch die Welt Tämen, ald Andere, und führte mir Beifpiele 
an, die ih Dir wieder erzählen würde, wenn ich fie nicht vergefien 
bitte. Aber um wieder auf Deine Angelegenheiten zu fommen, Du 
haft mir nie etwas von Deiner Familie und Deinem früheren Leben 
mäblt; wir haben uns beim Regiment gefannt, wir haben mehrere 
Keldgäge zufammen mitgemacht, wir haben das gelbe Fieber in 
Spmien und erfrorene Füße in Rußland gehabt, und das macht 
Seelenharmonie; Du haft dad Kreuz und ich nicht; das ift der 
einige Unterſchied zwifchen und. Aber Du haft e8 auch ehrlich 
verdient. Du haft dem Oberfien das Leben gerettet, ein braver 
Rona, das hinderte aber nicht, daß er am andern Morgen body 
erihofen wurbe! e8 war ein Unglüd. Du konnteſt ja nicht immer 
ki der Hand fein!... Endlich, nad fo vielen Strapazen und 
Anfopferungen hat man uns abgedankt! Schade! wir hätten viel: 
leicht noch Marfchälle von Frankreich werden können. Um einander 
gegenfeitig zu tröften , find wir beifammen geblieben, und zum erften 
Ral hatten wir und getrennt, Du, um jenes Dorf zu befuchen, 
m ih, um bier in der Umgegend eine Feine Brünette wieder auf- 
zuſinden, die ich ehemals fehr gern hatte und die mir ewige Treue 
zeſchworen. — Nun! und haft Du fie wieder gefehen? — Leider 
jao, wir haben gleiches Schickſal; während Dein Bruder Dich 
ſo liebreich empfing, kam fie mir mit drei Kindern entgegen, und 
dad vierte war auch ſchon auf halbem Wege. Du kannſt Dir wohl 
vorſtellen, wie's im mir kochte, ich bedachte aber, daß bie arme 
Kleine mi tobt glauben mußte... und das hat mich beruhigt, 
‘6 umarmte meine Treulofe, und wührend ihre Kinder mit ven 
Enten fpielten und ihr Mann Holz haute, fehloffen wir Frieden, 
m... lurz! wir find als gute Freunde von einander gefchienen, 
um aun frifch weiter! — Mein armer Sansfouci!,,, die Frauen 


unter einem Faß Burgunder wär's mir freilich lieber... aber was 
hilft's, man muß mit Allem zufrieden fein. — Immer ber Alte, 
Freund Sangfouci... immer Iuftig, immer firel! — D, was bad 
betrifft! ... Bleibe ich ſtets berfelbe ; die Fraͤhlichkeit ift der Reich⸗ 
thum armer Teufel, wie wir... Du weißt, ich fang auch, wenn's 


abgevanft!... Ja, ja, den Laufpaß gegeben! ..... anftatt braver 
Soldaten find wir jept Landflreicher geworden! .... Was thut's, 
man muß ſich drein ſchicken, wir haben uns übrigens ſtets gut auf- 
geführt, und wenn ed darauf ankömmt, nochmals das Vaterland 
zu vertheibigen, find wir wieder die Erſten! — Gewiß! aber wovon 
inzwiichen leben? — Wie die Andern, von der Arbeit. — Mein 
armer Sandjonci, wie Viele leben im Neberflufle, ohne die geringite 
Mühe, während Andere mit dem beften Willen nicht jo viel Arbeit 
finden, ihr Leben zu friften. — Ad! bah! Du ſiehſt Alles ſchwarz! 
Iſt Deine Reife nicht glücklich geweſen? Du hatteſt ja Deine 
Gründe, in diefe Gegend zu gehen. — O, ich habe mehr gefunden, 
als ich dachte! — Und Du bift nicht zufrieden? — Ich habe keine 
Urfache dazu! ich babe meinen Bruder gejehen, und er hat mid) 
wie einen Bettler aufgenommen. — Dein Bruder ift ein Srofefe, 
den ich mit dem flachen Sübel bevdienen würde, wenn ich fo einen 
hätte. — Meine Kleidung... mein Gefücht... mein farfer Bart... 
Alles hat ihm mißfallen. — Das ift zu toll!... er hat wohl Dein 
Ehrenkreuz nicht gejehen? — Nein, ed war verſteckt, und ift mir 
lieb... mein Bruder verfteht fo etwas nicht zu fchägen... und 
ich will, er full dereinft ſich noch über fein Benehmen ſchäͤmen. — 
Er ift wohl reih, Dein Bruder! — Ja. — Alſo haſt Du eine 
Zamilie! — Allerdings. — Ah, fo glüdlich bin ich nicht, ich habe 
weder Vater noch Mutter gekannt... ich bin ein Kind der Natur!... 
Das hindert mich aber nicht, den Kopf Hoch zu tragen, die Steif: 
zöde von Vorfahren fümmern mich nicht, und da es übrigens kurz 
nach Erſchaffung der Welt noch feine Advokaten gab, fo können 


mu fehen und mich tüchtig herumzuſchlagen, fo hielt ich es für un: 
nötig, mich mit Latein und Mathematik zu plagen. Ah! mein 
licher Sandfouci!... biefen Irrthum meiner Jugend babe ich ſchon 
tbener bezahlt ; auf meine Koſten habe ich es erfahren, daß Kennt: 
niſſ in allen Lehensverhältniffen von unfchäpbarem Werthe find. 
Hätte ich mehr gelernt, wäre ich nicht gemeiner Soldat geblieben ! 
und wenn ſelbſt Muth und Tapferkeit mich bis zum Grade eines Kapi⸗ 
tin erhoben hätten, fo blieb es doch immer unangenehm, in ber 
beſellſchaft feiner Oberen fürchten zu müffen, mit einer Dummheit 
branszuplagen, wenn man kaum den Mund öffnet, und Anderen 
um Spott und Gelächter zu werden; aber zur Sadje! ich verließ 
alſo eined Morgens ohne Trommel und Trompetenton, und ohne 
mih um den Weg zu befümmern, ven ich wählen würbe, dad Bater: 
band. Ich Hatte einen Louisd'or in der Tafche, den mir ein paar 
Tage zuvor mein Pathe gefchentt hatte, und glaubte, daß biele 
Eumme ewig dauern müßte. 

Rachdem ich lange Zeit marfchirt war, machte ich in einem 
Dorfe vor einem Wirthshauſe Halt, ging hinein und forderte mit 
vr Anmafung eines Staatökurierd mein Mittageffen. Ich war gut 
ungelleidet, Hatte ein offenes, heiteres Geſicht und lies mein Geld 
m ber Tafche Klingen, indem ich mir in der Küche das Befte aus: 
ſuchte. Der Wirth fah mich an und lachte, Tieß mich jedoch machen. 
Sr fehle mir ein gutes Mittagsmahl vor und gab mir weißen und 
reiben Wein. Gin Heines bucklichtes Männchen, das in demſelben 
Immer an einem anderen Tifche faß, betrachtete mich ſehr auf: 
merffam. Er fuchte ein Geſpraͤch mit mir anzufnüpfen und zu et- 
fehren, woher ich kaͤme und wohin ic} ginge, aber da ich die Neu: 
aerigen nie leiden Eonnte und die Fragen des Meinen Bucklichten 
wir zuwider waren, fo fah ich ihn an, ohne zu antworten, oder 
rif ind fang, während er ſprach. 

US ich fatt war, frug ich den Wirth, was ich ſchuldig ſei; 
m) der Gauner forderte mir fünfzehn Franken ab. Ich machte ein 


68 


find nicht fchlimmer als die Männer; dieſe find nur weniger ge: 
ſchickt, ihre Faljchheit zu verbergen!... Geh! ich Habe die Men- 
fchen fennen gelernt! ... und ich hätte ven Empfang meines Bruberd 
errathen koͤnnen! ... aber man hofft immer, und darin hat man 
Unrecht... — Höre, Freund, erzähle mir Deine Lebensgefchichte... 
wir find bier fo hübſch im Schatten, Niemand hoͤrt und fiört und 
bier, und indem ich Dir zuböre, Tann ich ausruhen und dabei eine 
Eigarre rauchen.“ 

„Wohlen denn! Du follfi erfahren, wie es mir feit meinem 
fünfzehnten Jahre erging, denn ba fing ich meine Irrfahrt an.“ 

Jakob Enüpfte feinen Oberrod wieder zu, lehnte fih an den 
Nußbaum, und jchickte fich an, feine Abenteuer zu erzählen, inbeß 
Sansfouei ein Feuerzeug aus der Tafche zog, ſeine Cigarre ganz 
behaglich anzündete und begierig auf die Mittheilung feines Freun- 
des horchte. 


Heuntes Kapitel. 
Die Abenteuer Bruder Jakobs. 


Sn meinem fünfzehnten Jahre verließ ich das elterliche Hans. 
Meine Mutter ſchien mir nicht befonders zugethan, fie fprach meinen 
Namen nur mit Widerwillen aus. Sch. erinnere mich jedoch eines 
dichen freundlichen Her, der oft zu meinen Eltern fam und mid 
fo recht mit Herzensluft Jakob nannte. Ich glaube, dieſer dicke 
Papa war mein Pathe und hieß ebenfalls Jakob; dies war wenig- 
fiend gewiß, daß er viel auf mich zu halten fchien und mir jedes 
Mal, wenn er fam, Spielzeug und Bonbons mitbrachte. Aber troß 
ver Freundlichkeit meines Pathen, ver Liebfofungen meines Baterd 
und der Zreundfchaft für meinen Bruder langweilte ich mich zu 
Haufe und hatte feinen Augenblid Ruhe; meine Luft zum Lernen 
war gering, und da ich nur mit dem Plane umging, die weite Welt 





_ 





7 


mit ben neunen, bie Ihr noch habt, werdet Ihr Feine brei foldhe 
Rahlzeiten mehr halten.“ 

Ich antwortete nicht, aber ich fah fehr gut ein, daß der Bud: 
lite Recht Gabe ; da ich indeſſen Eharakterfeftigkeit beſaß, fo fah 
i& ben Heinen Mann mit entfchlofiener Miene an und fagte: „Nun 
gut, fo eſſe ich Kuhfleifch.“ 

„Ih fehe, daß Ihr Muth habt,” verſetzte er, „wenn ſich jes 
doch eine Gelegenheit varböte,. auf der Reiſe gut zu leben, fo meinte 
ib, wäre das fo übel nicht, und ich kann Cuch die Mittel bazu 
xerſchaffen? — Ihr? — Ja, ih! — Nun, und auf welche Weife 

— Das will id Euch mittheilen ; aber damit Ihr beffer 
böten köͤnnt umd nicht fo müde werdet, fo ſetzt Euch hinten auf die 
Kuppe meines Pferdes! — D, das ift mir fehr willfommen.” 

Ueber ven Borfchlag meines neuen Reifegefährten ganz entzückt, 
fpringe ich wie närrifch auf das arme Thier... aber ich glitfche ... 
Hammere mich an ben Buckel meines Fleinen Führers an... falle... 
reiße ihn mit herunter, und wir liegen beide im Sande, ohne daß 
des Pferd fich nur gerührt hätte. Dein neuer Befannter fland ziem⸗ 
Ih guten Muths wieder auf und begnügte ſich damit, mir ven Rath 
u erteilen, künftig weniger haftig zu fein, weil wir nicht immer 
ie fanft fallen könnten. Ich verfprach es. Er bob fich wieder in den 
Sattel, ich gabelte mich vorfichtig hinten auf, und als wir Beide 
endlich ſaßen, und ed ihm vermitielft ver Peitfche gelungen war, 
ſeine Rozinante in Schritt zu bringen, fing er feine Rebe, die ich 
fe ungeſchickt unterbrechen hatte, wieder an. 

„Mein liebes Freundchen! ein Jeder in der Welt, wenn er 
ut reich geboren ift, fucht Geld zu verdienen und fein Gläd zu 
nahen ; und man fieht fogar Rillionaͤre ſpekuliren, Kapitaliften 
große Unternehmungen machen und reiche @velleute vortheilhafte Ver⸗ 
kindungen fchließen, um den Glanz ihres Haufes zu erhöhen. Ich, 
ver ich weber von Adel, noch Kapitaliſt, ja nicht einmal Kaufmann 
bin und auch Teine Hoffnung habe, das eine oder das andere zu 


vertenfelt langes Geſicht, bezahlte jedoch und überlegte, als ich das 
Haus verließ, daß mein Lonisd'or, ber nie enden follte, Leine zweite 
Mahlzeit aushalten würde, wenn ed mir wieder einflele, den großen 
Heren zu fpielen. 

Der Ort, wo ich gefpeiet hatte, und den ich für ein Dorf 
hielt, war Saint-Sermain ; id) frug nad) bem Weg durch den Walb 
unb machte mich wieber auf den Weg; ich unterbrach meinen Marſch 
zur, indem ich rechts und linfs über die Gräben fprang, und bie 
Gfel, die mir begegueten, mit Stodfchlägen bediente. 

Als ich vor Poiſſy aufam, hörte ich einen Reiter hinter mir 
bertraben; ich blieb ſtehen und erkannte meinen Budlichten, ver 
auf einem Kleinen heftifchen Pferde ritt, das er immerwaͤhrend mit 
Sporn umd Peitſche antreiben mußte. 

Wie er dicht an mir war, hoͤrte er auf mit ſeiner Peitſche zu 
knallen und ritt im Schritt, um mir zur Seite zu bleiben. Er be⸗ 
gann aufs Neue ein Geſpräch, und da ich allmählig müde wurde 
und bie Kruppe fogar diefed bürren Kleppers mir doch ein ange: 
nehmes Bläschen fchien, fo war ich jept weniger ſtolz und ließ mich 
mit ihm ein. 

„Wo foU denn die Reife fo zu Fuß hingehen, mein liebes 
Freundchen ?“ frug er mid. — „Das weiß ich eigentlich ſelbſt nicht 
recht ... Ich will reifen... die Welt ſehen und mich Iuflig machen. 
— Ihr habt alfo wohl feine Eltern mehr? — O, doch! aber fie 
find in Paris und wollen, daß ich meine Zeit mit Lefen und Schrei: 
ben zubringe ; dad warb mir zulegt zuwider, und da bin ich davon 
gelaufen. — Ab, verſtehe! ... Luft zu Thorheiten!... Jugend: 
fireihe!.... DO, ich Eenne das! ... fo etwas fieht man jebt gar 
häufig... Aber habt Ihr denn zu Euren Reifen recht viel Gelb ? 
— Ich babe noch neun Franken. — Teufel! ... da werbet Ihr 
wildes Kuhfleifch efjen müffen. — Was wollt Ihr mit Eurem Kuh⸗ 
fleifch ? ich habe gebratene Hühner, Aal, Tauben und Enten ge: 
geſſen. — Ja, Ihr habt aber auch fünfzehn Franken verzehrt und 


73 


erholt hatte, „ich verzeihe Euch den Austen! Charlatan! Ihr fennt 
mid noch nicht; ich will freilich wohl geflehen, daß ein wenig 
Charlatanerie mit meiner Kunſt verbunten iR, und daß drei Bier: 
tbeile meiner Mittel und Traͤnke nicht die Wirkung haben, bie man 
fh davon verspricht, aber in der Mebizin it man ebenfowohl Irr⸗ 
thümern umterworfen als in andern Dingen!... mar nimmt ein 
$arier ein und macht ſich Frank; man hat Schmerzen nur an einem 
Zahn und braucht ein Elixir, dad alle Zähne verdirbt; man ſucht 
ein Amt, dem man nicht vorzufteben verfieht ; man macht Spefu: 
lationen übers Meer, die ein einziger Windſtoß vernichtet; man 
meint, man habe Berftand, und man entbehrt den nothwendigſten, 
ven, ſich durch die Welt zu helfen; man will vernünftig fein unb 
macht dumme Streiche; man will ſich durch eine Heirath glücklich 
machen und bereitet ſich durch Weib und Kind tauſend Sorgen! ... 
Kr, mein Freundchen, man hat ſich zu allen Zeiten geimt, und 
es bleibt immer ein großer Zufall, wenn bie Ereigniſſe im Leben 
fo erfolgen, wie wir fie beredinet und erwartet haben.” 

„Aber, mein Herr,“ fagte ich zu meinem kleinen Bucklichten, deſſen 
Geſalbader mich endlich Iangweilte, „was habt Ihr denn eigentlid; 
mit mir vor ? — Hört nur! Wenn ich in einem Flecken, einer Heinen 
Eiabt ankomme, fo kann ich mich nicht ſelbſt anzeigen ; ich brauche 
biezu einen Famulus, der im Orte umberläuft und meine Ankimdi⸗ 
gungen audträgt, und wenn ich zu than Habe, bie Aufträge, bie 
mau mir macht, annimmt und aufzeichnet. — Aber ich mag Euer 
Famulus oder Zögling nicht fein, weil ich zum Lernen keine Freude 
habe. — Ich begreife das fehr wohl, Freundchen; Ihr bürft Guch 
aber auch nicht mit anſtrengenden Arbeiten ven Kopf zerbrechen! ... 
Ir ſollt mir Bloß Billen machen, das ift Alles. — Pillen? — 
Ja, von allen Größen und Farben. Seid nur ruhig, das ift nicht 
fer... Aber das iſt noch nicht Alles. — Nun, und was noch ? 
— Ser müßt Schlafen und ‚den Nachtwandler vorftellen, wenn es 
ui in. — O, was das. Schlafen beirifft, damit will ich ſchon 


72 


werben, habe lange hin und her geſonnen, durch welches Mittel ich 
wenn auch Fein beveutendes Dermögen fammeln, doch angenehm 
leben koͤnne. Endlich fand ich ein ſolches Mittel! mit einigem Ber: 
fand lernt man die Menfchen bald kennen. Ich habe ihre Reigun: 
gen, ihren Charakter ftubirt!... ich fand bald, daß mit ein bischen 
Schlauheit man das arme Menfchengefchlecht Teicht für Narren Halten 
fönne; daß ed nur darauf anfomme, es bei feiner fchwachen Seite 
anzugreifen ; und dieſe mit einigem Takt und Scharffinn leicht auf- 
zufinden fei. — „Ab, Ihr habt alfo Takt und Scharffinn,“ fagte 
ich zu meinem Begleiter, indem ich mit einigen Nabeln,. die. ich auf 
dem Mantelfad zwifchen und fand, unjern armen Gaul in die Wei- 
chen ftach. — Ja, Freundchen, ich rühme mich deſſen. — Und warum 
läuft denn Euer Pferd jetzt fo raſch? — Weil ich fo eben mit der 
Beitfche gefnallt habe und es merkt, daß es bald in den Stall Tom- 
men wird. — Schon recht! ich fehe, daß Ihr Takt habt. Nun, 
fahrt nur fort, ich Höre zu.” 

„Alfo, indem ich den Leivenjchaften fchmeichle, gelange ich zu 
dem Mittel, angenehm zu leben; ich habe auch außerdem Kennt: 
niffe in der Botanif, Medizin, Chemie und fogar in ber Anatomie, 
und dadurch nun ift ed mir gelungen, nicht nur Mittel für alle 
Krankheiten zu bereiten, fondern auch Tränfe zu fertigen, um mittelft 
berjelben Liebe, Haß, Eiferfucht zu erregen und Geſunde Frank zu 
machen... bauptfächlich auf diefen legten Artikel verftche ich mich. 
— Ab, jetzt merke ih... Ihr verkauft allerlei Wundenbalſam, 
wie der große rothrodige Mann, den ich einmal in Parid an den 
Straßeneden und auf den großen Plägen gefehen, ich glaube, man 
nannte ihn Charlatan?“ 

Dei dem Worte Charlatan machte mein Geleitömann einen 
Satz auf dem Sattel, der und beinahe Beide wieder auf die Land⸗ 
firaße geworfen hätte; zum Glück aber padte ich ihn fo feft, daß 
wir diedmal bloß mit der Furcht davon kamen. 

„Mein Freundchen,“ fagte ex, nachdem er fich wieber ein wenig 


75 


beliebte, und diefer Grund genügte, daß ich's mir bei ihm gefallen 
Inf; die Gewißheit der Freiheit gibt ber @riftenz einen Heiz, der 
ib über alle Lebensverhaͤltniſſe verbreitet, während Sklaverei auf 
vn größten Theil unferer Handlungen ein finfteres Licht wirft ; fle 
verbannt den Frohſinn, nimmt der Liebe jenen Reiz, der Seele 
ale Kraft und der Einbildungskraft jede Energie. 

Bas ih Dir da fage, Sansfonci, Tommt nicht von mir, fon: 
ven if eine Bhrafe, Die ich oft von meinem Pathen gehört und 
leuht behalten habe, weil fie mit meinen Anfichten vollklommen über: 
enkimmt, 

Us wir am andern Morgen aufftanden, machte mir mein Bud: 
Iäker, ber ſich Meifter Oravyraicus nannte, ein Name, den er wahr: 
benlih; felhR erfunden hatte, und ben man ohne Geſichtsverzer⸗ 
rung wicht anöfprechen Tonnte, den Vorſchlag, mir Unterricht im 
Somnombuliömud zu geben, da wir in bem erflen größeren Orte 
soon Gebrauch machen wollten. Ich willigte ein, ex ließ mich 
nederſizen, hieß mich ſtier vor mich hinſchauen, ohne den Schein 
u baben, als ob ich fehe, und lehrte mich mit offenen Augen zu 
fen; da mir aber dies die Augenlider angriff, fo erlaubte er 
A, die Augen zugumachen, wenn wir nur Bauern oder arme T eufel 
it fariten haben würben. 

Sept Iamen die Tränfe an die Reihe; mein in Herr batte Teinen 
Amath mehr davon, und ed war bringen nöthig, neue zu bes 
reuen. Judeſſen ich etwa fünfzehn Kleine Flaͤſchchen zu diefem Zwecke 
iem machte, ließ Meifter Gravyraicus aus dem Dorfe die nöthigen 
Mazyen, Burzeln und Ingrebienzten herbeiholen. Er zuͤndete ein 
Auer an, entlehnte von unferem Gaftwirtg alle mögliche Schalen 
m Rüpfe, fo dag umfer Zimmer, worin Alles bunt durcheinander 
Ian, jept nad) dem Ausdruck meines Begleiter das Anfehen eines- 
deniſh magiſchen Laboratoriums erhielt. 

Run,“ fragte ich meinen Bucklichten, während er Klettenfraut- 
Mahte uud ich Zimumt ſtieß: „wozu ſoll das dienen, was Ihr jet 


‘ 


74 


fertig werben. — Schlafend beantwortet Ihr die Bragen, bie man 
an Euch richten wird. — Wie foll ich denn antworten, wenn ich 
fchlafe? — Ihr ſollt Euch ja nur flellen, als ob Ihr fchliefet, 
mein Lieber... Ich werde Euch das Alles fehon zeigen. D, daB iſt 
einer der audgezeichnetften Zweige meines Gelbäfts! — Daß Ir 
-Sindere in Schlaf bringt * — Das nicht allein, fondern wenn ich 
die Schlafenden reden laſſe, wenn ich fie ven Krauken bie nothwen⸗ 
digen Mittel verfchreiben laffe. — Halt einen Augenblick! fchlafen 
will ich wohl, aber weder Mittel verfchreiben, noch nehmen... 
dafür habe ich bei meinem Bater zu Haufe manche Schläge befom- 
men! — O, Ihr verfieht mich noch nit... Mittel... das find 
Arzneien, die man zu fih nimmt — Mit einer Klyftierfprige ... . 
O! ich Eenne das!... — Nein, nein, davon ift gar nicht die 
Rede. Ihr fprecht im magnetifchen Schlaf; ich werde Euch ſchon 
zuvor Unterricht eriheilen, und Ihr gebt dann dem Kranken oder 
Rengierigen Eure Antworten. — Wahrlich, ich begreife Died noch 
nicht. — Den Teufel auch! das glaube ich wohl; denn die, welche 
den Schlafenven befragen, begreifen auch nichts Davon ; das ift eben 
das Pfifiige an der Sache. Wenn man wüßte, wad man davon halten 
fol, jo könnte man mit dem Magnetismus und Somnambulismus 
fein Brod nicht mehr verdienen. Mit einem Worte, wollt Ihr mid 
begleiten und bei meinem Unternehmen mir helfen? Ihr follt gut 
zu leben, fchöne Kleidung haben und viele Länder zu jehen bekom⸗ 
men, benn ich bleibe nie lange an einem Orte. — Und dafür foll 
ih nichts als Pillen machen und fchlafen ? — Nichts weiter. — 
Gut! die Sadje ift abgemacht, ich ziehe mit Euch.” 

Sp war ich denn alfo Famulus des Heinen Budlichten. Wir 
fommen bei Nacht in einem Dorfe an; mein Herr und Meifter kehrte 
in dem beften Gafthof ein und ließ und ein gutes Abendeſſen vor⸗ 
feßen. Es jchien mir fehr angenehm, zu Pferde zu reifen und um 
meinen Unterhalt unbefümmert zu fein. Uebrigens hing es ja nur 
on mir ab, meinen Begleiter wieber zu verlaffen, wenn es wis 


77 


bann und gezogen au machen ; er erzeugt üble Laune, Indem er auf 
ver Haut eine Maſſe Bufleln und Gefchwüre von verjchiedener Größe 
bernorbringt, und macht einen fo flinfenden Athem, daß die Fliegen 
auf zehn Schritte Entfernung umfallen möchten. Ihr Tönut nun 
leicht denfen, daß der, welcher mit ver Perfon umgeht, die meinem 
Iranf gebraucht, ihr leicht untreu wird, da fie nichts Liebenswür⸗ 
diged mehr an ſich hat, und von dem Augenblicke entdeckter Untreue 
au wird fie natürlich fo eiferfüchtig wie ein Dämen!... und noch 
dazu bleibt fie es das ganze Leben hindurch, denn fie mag thun 
was fie will, fie wird es nie wieder bahin bringen, Liebe einzu- 
digen. Nun, was jagt Ihr dazu? ... Welch’ eine Berechnung, 
welche Tiefe des Gedankens, welche Kenntniß von den Leidenſchaften 
und ihren Wirfungen!... Ja, aber fo find die Menſchen, von 
dieſen Trank verlaufe ich weit weniger, ald von dem andern ; ed 
in fogar felten, daß ein und dieſelbe Berfon zweimal davon nimmt. 

„Was diefen legten Tranf anbelangt, wozu ich hier das Kletten- 
haut fchabe, fo dient er dazu, Wuth, Haß, Zwietracht zu erregen; 
eı verfehlt feinen Zwed niemals und beſteht aus Manna, Rhabarber, 
Beineffig, Terpentin und Kakao, was Alles mit dem Klettenfraut 
a einem Syrup eingelocht wird. Diefe zugleich verflopfende und 
erweichende Mifchung macht Kolik und Migräne; bat man aber 
Schmerzen im Kopf und im Leibe, fo ift man natürlich böfer Laune, 
geräth Leicht in Wuth und hadert mit Jedermann, befonderd wenn 
he Schmerzen im Zunehmen find. Ich glaube, daß das auch gang 
nett ausſtudirt ift, und daß mein Takt und Scharffinn dazu gehörte, 
um die verſchiedenen menfchlichen Leinenfchaften auf geſchickte Weiſe 
bervorzurufen.“ 

Ich hoͤrte meinem Meiſter mit Aufmerkfamfeit zu und frug 
ibn, als ex fein Geſpräch geendigt hatte, ob er vielleicht Luft Habe, 
an wir mit feinen Tränfen Verſuche zu machen ; allein er antwor⸗ 
tele, daß Died ganz und gar nicht feine Abficht fei, und viefe Zus 
Rherung gab mir meine frohe Laune wieder, deun um keinen Preis 


76. 


bereitet ? Ich will wohl Cuer Helferöhelfer fein, aber doch nur unter 
ber Bedingung, daß Ihr mich auch in Eure Geheimniffe einweiht. 
— Ihr ſollt Alles wiffen, Freundchen, unter und bebarf es keiner 
Geheimniſſe. Ich mache jept einen Liebestrant und das ift eben 
nicht fehr ſchwer; ed gehören dazu nur zufammenziehende Ingre⸗ 
dienzien, Spirituofa und einige Reizmittel. Ich Iaffe Zimmt, Nelken, 
Banille, Pfeffer, Zuder und Branntwein zufammen kochen. Hat 
man davon getrunfen, fo wirb man verliebt, und wenn der, welcher 
meinen Liebestrank gekoftet, ſich mit dem Gegenſtande feines Herzens 
unter vier Augen befindet, jo fühlt er bald deſſen Wirkfamkeit und 
zweifelt nicht, daß ich ein Zauberer fei. Ueberbies hat dieſe Mifchung 
die @igenfhaft, die Zähne zu verberben ; das gefchieht nicht ohne 
Schmerzen, und da man im gemeinen Leben Zahnweh Liebeöweh 
nennt, fo feßt man voraus, daß ber, ber von meinem Liebestramf 
getrunfen hat und Zahnweh befommt, verliebt geworben if. Bon 
dieſem Zaubertrank verkaufe ich viel, hauptſaͤchlich an Damen ; wir 
müſſen daher einen großen Borrath haben. 

Wir wollen jet den Trank vornehmen, ber eiferfüchtig macht ; 
ich geftehe, daß er ein langes Studium und tiefes Nachdenken erfor- 
berte ; aber ich glaube, er ift mir volllommen gelungen. Woher 
entfteht zunaͤchſt @iferfucht ? Aus Verdacht gegen bie Treue des Ge; 
Hebten. Dieſer Argwohn muß eine Urjache haben, denn es befteht 
feine Wirkung ohne Urſache; man tft wohl manchmal ohne Grund 
eiferfüchtig, aber meift find Gründe da. Ich caleulirte nun, wenn 
ich den Einen untreu mache, fo wirb der Andere dadurch eiferfüdh- 
fig; aber wie will ih den untreu machen, ber nichts von meinen 
Mirturen nimmt ?... Das war es eben, Freundchen, wo e® meines 
ganzen Genies beburfte, was ein Dummkopf nie erfunden haben 
würbe, und ich ohne Hülfe mebizinifcher Abhandlungen erforfcht 
habe. Ich bereite einen Trank aus Sublimat mit verfchiedenen Kräx- 
tern gemifcht, welche auf die Haut wirken. Diefer Zaubertrauk bat 

e Babe, die Augen glanzlos, den Teint bleifarbig und die Mafe 


. ” 


Arothefe in einem Korbe am Sattel unferes Pferdes befefligt. Dus 
Beter begänftigte uns nicht; ein heftiges Gewitter überflel ung, 
und ald wir in der Eleinen Stadt anfamen, die van unferen Wander 
hıren wiederhallen follte, befanden wir uns in einem fo beträbten 
Jufande, daß man und weit eher für erbärmliche Vagabunden, 
ald für gelehrte Doktoren gehalten Hätte. 

Mir fehrten jedoch in dem beften Gaſthof des Orts ein. Der 
Birth achtete anfangs kaum auf uns und ließ fich in feiner Rıche 
nicht fören; als wir aber bie beſten Zimmer und eine ausgeſuchte 
Bablzeit forderten, prüfte er und mit zweifelhafter Biene, um pen 
Juftand unferer Finanzen Tonnen zu Iernen. Mein pfiffiger Meifter 
warf mehrere Thaler auf den Tifch und beivog ben Wirth, bie 
Vohnungsmiethe auf acht Tage voraus anzunehmen. 

Dieſes Verfahren wandelte unfern Gaſtwirth plöglih um; er 
dlanbte vornehme Incognitvreifende vor fih zu haben, räumte und 
die beiten Zimmer im erften Stod ein und bediente und aufs Aller- 
vinftliche. 

„Mein Herr Wirth,“ fagte mein Bucklichter zu ihm, ald wir 
und zu Tifche fepten, „Sie wiffen nicht, wer ich bin, ich wii 
zum been dieſer Stabt indeſſen mein Incognito ablegen ; laffen 
Cie alfo den Einwohnern ber Stadt wiflen, daß fie; aber nur anf 
bt Sage, fo glürlich find, den berühmten Gravyraicus, Leibargt 
des Kaiſers von China, Magnetifeur der Savoritin des Sultans 
von Damas, patentirten Phyſiker bei dem Hofe des Königs von 
Rarocto, Chemiſten des Großvezirs von Conſtantinopel und Aſtro⸗ 
logen des Hetmans der Koſaken in ihren Mauern zu beſihen. Ver⸗ 
lindigen Sie ihnen zugleich, daß ich in dieſem Augenblide ven 
nehwirdigfien und feltenfien Somnambulen bei mir habe, den’ je 
die Welt gefehen. Es if ein junger Manı von breißig Jahren, 
der ſanm fünfzehnjährig ſcheint, weil er die Hälfte feines Lebens 
geſchlafen hat. Er ift im höchften Grade intereffant, an den Ufern 
des Ganges geboren, kennt alle Sprachen, die er zwar nisht alle 


8 


der Welt hätte ich von den Zaubertränken des Meifter Gravyraicus 
toften mögen. 

„sch Habe Euch jetzt nur noch zu zeigen, fing er wieder an, 
wie bie Pillen zubereitet werben ; das ift fehr leicht, ich mache fie 
alle von Brodkrume und beftreue fie nachher mit verfchlenenem Pulver, 
um ihnen verſchiedene Karben zu geben. — Unb wogegen braucht 
man fie denn? — Um alle Krankheiten zu heilen. — Wie! Ihr 
kurirt mit Brodkrume? — Sa, fehr oft, denn viele Krankheiten 
liegen nur in ber Einbildung, und wenn ber Kranfe glaubt, ein 
unfehlbared Mittel zu nehmen, fo bildet er fi ein, daß es ihm 
hilft, und gerade dieſe Ueberzeugung iſt's, die ihn heilt, nicht aber 
meine Pillen. Sie fchaden wenigftens nichts, und das ift immerhin 
fon etwad. An Ammen und alte Frauen verkaufe ich and 
nehmen viel.” 


Behntes Kapitel. 
Unterriht im Magnetifiren. 


Sch war jetzt in alle Geheimniffe meines Herrn und Meifterd 
eingeweiht ;. ich mußte ihm verfprechen , ihn nicht zu verrathen, umb 
that es; aber ich verfprach nicht, mich auf Koften ver Thoren, die 
ihn confultirten, nicht Iuftig zu machen, und nahm mir vielmehr 
vor, bied nach beften Kräften zu thun, denn ich war, obgleich erſt 
fünfzehn Jahre alt, doch fchon ziemlich unternehmenn, dreiſt und 
durchtrieben. 

Das Dorf, in dem wir übernachtet hatten, gab meinem Bud: 
lichten feine Gelegenheit, feine Talente an den Tag zu legen und 
feine Mirturen zu verkaufen ; wir verließen ed daher, und es gelang 
meinem Begleiter bloß, an unfere Wirthin in8geheim eine Schachtel 
mit Pillen abzuſetzen, welche die Haare vor dem Grauwerden und 
vie Zähne vor dem Schwarzwerden ſchützen follten. 

Wir waren alfo wieder auf der Landſtraße und hatten unfere 


81 


Freundchen,“ antwortete er, „verwundert Euch über nichts, ich ſtehe 
für Alles. Ihr ſagt mir, Ihr heißt Jakob, der Name iſt jedoch zu 
alltäglich ; wenn ich Beſuch befomme, werbe ich Euch daher immer 
Tateuos nennen ; denkt fein baran. ch werbe jeßt eine Tone durch 
ne Stadt machen und mir dad Nöthige aufnotiren; inziwifchen unter: 
haltet Euch damit, die Tränfe im Schranke dort aufzuftellen und 
eınige Schachteln Pillen zu machen, ich Bin fehr bald wieder Hier.” 

Ih war jegt allein, aber ftatt Pillen zu machen, nafchte ich 
vom Jimmt, Kakao und den andern Ingredienzien, die zur Ber: 
fertigung ber Zaubertränfe dienten; auch flürte ich im Felleiſen, 
rad mein Begleiter offen gelaffen hatte, und fand einen großen 
ihwarzfeidenen Mantel, eine falfche Nafe, eine Perrücke und einen 
dächſernen Bart darin. Ich mollte eben Alles noch genauer unter: 
ſuchen, ald es leife an die Stubenthüre Flopfte. 

„Nur herein,” rief ich, ohne mich flören zu laffen. Die Thüre 
wurde leife geöffnet, und eine niebliche Brünette von achtzehn Jahren 
trat ein. Sie war eine der Dienftmäbdhen im Haufe, und wie alle 
Ibresgleichen fehr neugierig und ziemlich ſchlau; als nämlich der 
Rırtb unfer Zimmer verlaffen Hatte, hörte fle ihn verfünden, daß 
er vie zwei berühmteften Dienfchen des Weltalls beherberge ; einen 
Gelehrten, der die Franzofen wie Chinefen behandle, und einen 
Scmnambulen von dreißig Jahren, ber wie ein Kind von zwölf 
auefehe und die aufgewedteften Menfchen einfchläfere. Da hatte 
Sairette auch Luft befommen, fich in den Schlaf bringen zu laffen, 
m zu erfahren, wie bad wohl thue, und in der Vorausſetzung, 
-aß ed ihr, wenn wir einmal befannter würden, fehr ſchwer werden 
möchte, eine Aubienz zu erhalten, war fle unter dem Vorgeben, fich 
nach unfern Befehlen zu erfundigen, eilig zu uns herauf gefommen. 

Die Kleine trat, ſcheinbar von Furcht und Neugierde getrieben, 
uf den Zehen einher, blieb zwei Schritte entfernt von mir ftehen 
and betrachtete mich ganz aufmerffam. Auch ich fah fle genauer 
an und fand fie vecht hübſch, Bisher war mir das Ihöne Geſchlecht 


Saul de Kocd. ı. 


ſpricht, aber beſſer verſſeht, als Sie und ih. Gr enträthfelt im 
Traume jede Krankheit, ihre Urfache, ihre Wirkungen, die Schmerzen, 
die fie hervorbringt, die Perioden des Uebeld, und gibt die Arznei- 
mittel fogar für folche Krankheiten au, die erft entfliehen werben. 
Er Hat die Ehre gehabt, vor Grafen, Marquis, Herzogen, felbft 
- Königen einzufchlafen. Er hat im Schlafe Kuren vollbracht, Die 
felbft zu König Dagoberts oder des weifen Salomond Zeiten für 
Wunder gegolten hätten ; er hat einen Engländer vom Spleen, eine 
deutſche Baronefje von einer Haut: Wurmfrankheit, ihren Mann von 
der Sicht, eine junge Tänzerin von ihrem Haß gegen die Männer, 
eine alte Jungfer von der Affenliebe zu ihrem Hunde, einen Hof⸗ 
mann von feiner Gewohnheit, einen Rabenbudel zu machen, einen 
Rentier von einer Magenfchwäche, einen Autor vom Obrenflingen 
und. einen Muſikus vom Schwind in feinen Beinen, einen Thür⸗ 
hüter von Steifheit ver Lenden, einen PBrofurator vom Juden an 
den Fingern, einen Advolaten vom Stottern, einen Sänger vom 
furzen Athem, eine Kofette von ihren Vapeurs, einen alten Ber- 
führer von feinem Aſthma geheilt, und noch viele andere andge- 
zeichnete Kuren gemacht, die ich Ihnen nicht weiter aufzählen will, 
zumal wir feine Gharlatans find, die den Leuten nur Sand in bie 
Augen firenen. Diefer Heine Proſpeltus Hier, den ih Sie bitte, 
vertbeilen zu laffen, wirb genügen, den Stabtbewohnern hier einen 
Begriff von unfern Kenntniffen zu geben. Hier, Herr Wirth, nehmen 
und glauben Sie.“ 

Der Wirth war über Alles, was ver Heine Budlichte mit vielem 
Nachdruck und ungewöhnlicher Sicherheit vorirug, ganz verblüfft! 
er nahm den Profpeftus mit tiefen Büdlingen, beiheuerte feine 
Ghrerbietung, wollte ven Namen meines Meiſters ausfprechen, fchnitt 
Gefichter dabei, kam aber doch nicht damit zu Stande, nahm feine 
Kappe ab und verließ endlich, immer rückwaͤrts ſehend, das Zimmer. 

Als er fort war, frug ich unſern Begleiter, ob ich der dreißig⸗ 
jährige Somnambule fei, der alle Welt kurirt habe. — „Sa, 








Denn man fi} aber für einen Dreifiger ausgibt, wi man 
fein Ignorant mehr fein, und um mid; nicht albern zu Benehmen 
md ausznbrücden, fchwieg ich und beſchraͤnkte mich darauf, Clai⸗ 
teten anzufchauen. 

Erftaunt über mein Stillſchweigen fürchtete fie ſchon unbes 
(beiten gewefen zu fein; allein der Wunſch, jung zu bleiben, 
reimigte fie fo, daß fie bald wieder zu fragen begann. 

„Man fagt, Sie find ein Somnambule, mein Her? — Ja, 
tae bin id. — Und daß Sie Jedermann in den Schlaf bringen ? 
— 3% bringe die in Schlaf, welche an meine Wiffenfchaft glauben. 
— £ mein Herr, ich glaube vollfommen daran... und wenn Sie 
md einfhläfern wollten... . iſt's das vielleicht, was das jugend: 
hdie Anfehen gibt? — Nun ja, das ift der Anfang. — Ach, mein 
Herr, fo fangen Sie mit mir an, ich ‚bitte Sie, es wäre bodh 
wenigftend fo viel gefchehen! Sehen Sie, wenn Sie wollten, da 
wir gerade alfein find und Sie Zeit haben. — Was tollen 
Ei? — Daß Sie mich in den Schlaf bringen!... ich bin bereit 
dazı.“ 

Ich war fehr in Verlegenheit, und wußte nicht, wie ich mich 
'enehmen follte, um den Herenmeifter zu machen, und ärgerte mich 
:aber fehr, von meinem Heinen Bucklichten nicht nähere Details 
aber diefen Artikel gefordert zu haben. Indeſſen Eonnte ich der 
angen Glairette, die mit fo viel Anmuth in mich drang, nicht 
:änger widerſtehen, und dachte: Du bift doch nicht dummer als 
tin Bucklichter; hat er auch dich nicht feine Methove, Menfchen 
mnfchläfern, gelehrt, fo willft du eine neue entdecken, und viel⸗ 
bt iſt die deinige noch praftifcher als die feinige. | 

„Run denn, ich willige ein,“ fagte ich zu Claixgtte, „ich werbe 
Ahnen Unterricht ertheilen, aber der heutige wird nur zu Ihrer 
'rlänfigen Gntfaltung dienen; in ber Folge fchreiten wir dann 
Tier vor, — Sa, ja, mein Herr, wie e8 Ihnen beliebt.” 

DaB junge Dienſtmaͤdchen war fo entzückt über das, was ich 


noch gleichgültig geweſen, und überdies hatte ich mich noch nie mit 
einem jungen Mädchen unter vier Augen befunden ; bie Gegenwart 
Glaivettens, die Aufmerkfamfeit, womit fie mich beobachtete, und 
der angenehme Ausdrud ihrer Phyſiognomie, Alles das brachte mich 
in Berwirrung, und es regte ſich in mir ein bisher mir noch un: 
bekanntes Gefühl. 

Wir ſchwiegen beide ſtill; Clairette ſprach zuerſt. — „Wie, 
mein Herr,“ ſagte ſie mit großen Augen, „wie . . . Sie find ſchon 
dreißig Jahre alt? — Yu, Mamſell,“ antwortete ih, indem ich 
an bie Aeußerung meined Begleiters dachte und überlegte, daß biefe 
Lüge zu fonderbaren Auftritten führen könnte. „Uebrigend weißt 
Du, daß man im fünfzehnten Jahre gerne älter und gefepter aus: 
fehen möchte, während man es im breißigften bedauert, nicht mehr 
fünfzehn alt zu fein. 

„Ah, mein Gott! iſt's denn möglih! Dreißig Jahre! Sie 
ſcheinen kaum halb fo alt!... Und Clairette blickte mich noch 
fhärfer an, und ich ließ mich betrachten und fpielte den Niedlichen. 
— Mein Herr, Sie befigen wohl ein Geheimniß, dad Sie ver 
bindert, alt zu werden? — Ya, Mamfell, o, ich befige noch viele 
andere! — Ach, mein Herr, wenn Sie mich nur mit dieſem be- 
kannt machen wollten!... Wie zufrieden, wie glüdlich wäre ih... 
immer jung zu feheinen!... Ach, was muß das angenehm fein! 

Ich verfpreche Ihnen, von mir foll es Niemand erfahren ! 
Uebrigens würde ich es auch nicht gerne fehen, wenn die andern 
Maͤdchen gleihfall8 jung blieben!... Dann wäre es ja kein Ber: 
gnügen mehr... Nun, mein Herr, wären Sie wohl fo gut, und 
.. . aber glei... Sie fünnen dafür verlangen, was Sie wollen !" 

Das junge Dienſtmaͤdchen ſchien mir in der That fehr zuge: 
than; ich fühlte ſchon taufend Wünfche fich in meinem Innern regen, 
aber ich ſprach fie noch nicht aus; ich war noch Neuling, aber em: 
pfand ſchon die Luſt, es nicht mehr zu fein, und bei Glairetten 
hätte ich gerne meinen erflen Unterricht genommen, 





85 


ih mil einem Sprung am andern Ende des Zimmers war. Clai⸗ 
seite fehlen minder verlegen ald ich; fie blieb auf ihrem Stuhle 
ken und fah mich und den Heinen Budlichten an, wie Jemand, 
ver das Ende eines Experiments erwartet. 

„Bas macht Ihr denn da, mein lieber Tatouos,“ frug laͤchelnd 
ver Heine Pfiffikus, obgleich er die Urfache meiner Verwirrung fehr 
gut erielh... — „Ich, ich fuchte dies junge Mädchen in den 
mögnetifchen Schlaf zu bringen. — Ah! dabei waret Shr!... 
Aber Ihr wißt ja, daß dazu einige nothwendige Vorkehrungen ge: 
hören, auch jetzt die Stunde nicht günftig ift... Glaubt mir und 
verlegt Curen magnetifchen Unterricht auf eine andere Zeit.“ 

Dabei gab er mir einige Winke, die ich fehr gut verftand, und 
näherte ſich Clairetten, die noch immer ruhig auf dem Stuhle faß. 

„Mein liebes Kind, ich fehe mit Vergnügen, daß Ihr Euch 
unterrichten zu laſſen Luft habt und an unfere Wifjenfchaft glaubt, 
Berubigt Euch, wir werden Euch mehr lehren, als Ihr vermuthet... 
und bauptfächlich ber Herr Tatouos, der feine Kunft vorzüglich ver: 
febt uud gern Profelnten macht. Aber noch ift ber rechte Mugens 
Eid nicht da... Euer Herr verlangt Euch in der Küche; die Fri: 
caſſes Söunten anbrennen, und Das würde mich ärgern, denn ich 
liebe die rändherigen Saucen und ausgetrockneten Braten nicht. 
Geht, liebes Kind. Morgen beginnen wir unjere großen Experi⸗ 
mente... und wenn Ihr das fein, wofür ich Euch halte, fo ſollt 
Ihr mit unfern Myſterien näher vertraut werden ! Kurz! Ihr follt 
morgen fchlafen und Har fehen !” 

Ich weiß nicht, ob Clariette verſtand, was mein Budlichter 
tamit meinte, aber fie machte eine tiefe Verbeugung und entfernte 
ih. Als ſie vor mir vorüber war, warf fie mir noch einen Blid 
in, deffen Auspruf mir den Kopf vollends ganz verbrehte; da ich 
zeinem Gefühle nicht widerſtehen Eonnte, und es mir gleich mar, 
wed mein Eollege mir vielleicht jagen möchte, fo folgte ich ‘dem 
ungen Mäbchen auf die Hausflur. 


84 ” 


mit ihr vornehmen würde, daß fie wie eine Feine Tollhäuslerin 
im Zimmer herumfprang. 

„Run, jetzt fehen Sie ſich,“ fagte ich und firengte mich zu 
einem ernften Rebeton an... — „Wohin denn? — Ei hier, auf 
biefen Stuhl... neben mir... fo... — Hier bin id. — Geben 
Sie mir Jhre Hand. — D, alle beide, wenn Sie wollen !“ 

Ich ergriff Ihre beiden Hänte und brüdte fie herzlich in den 
meinigen ; eine wohlthuende Wärme burchftrömte mich; ich war fo 
glücklich, daß ich mich nicht zu bewegen wagte, aus Beforgniß, 
der Zauber, welcher meine Sinne betäubte, Eünne zerftört werden; 
meine Augen waren auf bie Glariettend geheftet, deren Zärtlich: 
keitsausdruck in mir bie erfte Liebe erwedte. Statt ihr Unterricht 
zu geben, fchien e8 mir, al® könne ich taufend Dinge von ihr 
lernen ; ich zitterte und wurbe bald blaß, bald roth; niemals hatte 
ed wohl einen ängftlicheren Herenmeifter gegeben! ich hatte meine 
Rolle vergeffen, und Glairette, ohne es zu ahnen, übernahm fie 
flatt meiner. 

„Es ift auffallend,” fagte das junge Mädchen, ber ich feit 
fünf Minuten die Hände drüdte, „hiedurch werde ich durchaus nicht 
ſchlaͤfrig. — Warten Sie nur, warten Sie nur, das geht nicht 
fo eilends. . . Jetzt müffen Sie die Augen zumaden... — Wie? 
die Augen ganz zumachen? — Ja, das ift durchaus nothwendig. 
— So! nun fehe ich aber gar nichts mehr.“ 

Als Elairette mich nun nicht mehr anfchaute, verlor ſich meine 
Furchtfamfeit, und ich wagte es, ein Küchen auf die Lippen meiner 
nieblichen Schülerin zu drüden ; ein noch nie gefühltes Feuer durch⸗ 
firömte mich, Glairette ließ fich küſſen, und flüfterte nur halblaut: 
„Es ift doch auffallend, hiedurch werde ich durchaus nicht fchläfrig." 

Ich weiß nicht, welches Ende diefer erfte Unterricht genommen 
hätte, wenn nicht mein Meifter gerade in bemfelben Augenblicke 
plöglich ind Zimmer hereingetreten wäre, als ich Glairette in meine 
Arme drüdte. Seine Gegenwart fegte mich fo in Schreden, daß 


® % 


Zalt dazu, dies zu erradhen. — Es kommt aber wefentlich darauf 
an, zu wiſſen, ob fie an Euch Gefallen findet. — Warum follte 
ich iht nicht gefallen? — Ihr fein zu jung. — Sie glaubt, ich 
lei weißig Jahre alt. — Das ift wahr, an das "habe ich nicht ge: 
dacht. So müſſen wir und Mühe geben, fie in umfer Intereſſe zu 
jiehen. Ihr werdet einjehen, mein lieber Jakob, daß ich meine 
Rithelfer haben muß, wenn ic, in einer Stadt großen Erfolg haben 
will, — Wie ? das ift notbwendig ? dann fein Ihr eben auch nicht 
beſonders geſchickt, wie ich merke! — Mein Eleiner Jakob, Ihr 
fangt mit Euern Reifen und Infligen Streichen erft an und Eennt 
Me Welt nicht; wenn Ihr fie ſchon, wie ich, ſtudirt hättet, würbet 
Ihr wiſſen, daß die fchlaueften Menſchen, um ihren Zwed zu er: 
teihen, oft der Hülfe Anderer bevürfen, und das eben nenne ich 
Selferöhelfer. Die Kaufleute verfiehen fh, um ihre Waaren theuer 
zu verlaufen ; der Intendant verficht fich mit den Lieferanten über 
die Bezahlung ihrer Rechnungen ; die Höflinge verfichen fich darin, 
ihrem Fürſten den Speichel zu lecken und die Wahrheit zu ver: 
behlen ; ein junger Strolch verſteht fich mit einer Ballettänzerin, 
einen eigen Beneralpächter zu prellen; der Arzt verfteht fich mit 
dem Apotheker, der Schneider mit dem Tuchhändler, die Nähterin 
zit der Kammerjungfer,. ver Schriftfteller mit den Klatfchern, und 
viefe verfiehen ſich umter fich wieder darin, die Billets zu verwer: 
then, die fie zum Applaudiren erhielten ; die Wucherer verftehen ſich, 
ve Kurſe ſteigen und fallen zu laſſen, die Rabaliften einen Schrift- 
Keller zu Grunde zu richten, der nicht zu ihrer Zunft gehört, die 
Rußler, die Eompofition eines Kameraden zu verberben, die Schau: 
fieler, die Aufführung eines Stückes zu verhindern, worin fie feine 
wllsnmenen Rollen erhalten haben, und die Frauen verftehen fich 
qui mit den Freunden ihrer Männer. Alles dad, Freundchen, find 
helfershelfer. Und darf es uns nun befremden, wenn auch ein 
Tefgenfpieler Gehülfen nöthig hat! ... defto fehlimmer für bie 
Raten, die ſich anführen laſſen, oder vielmehr deſto befjer, denn 


8 


„Wenn Ihr wollt, daß ich Euch Altes Ichre, was ich weiß,“ 
fagte ich leiſe zu ihr, „fo fagt mir, wo ih Euch jprechen unt 
treffen fann ? — O, mir tft nichts Tieber!... Da, Ihr ſteigt Bier 
diefe Treppe noch weiter hinauf... und ganz oben, die Feine Thüre 
rechter Hand ... ich werbe fie Halb offen laſſen. — Schon gut! 
— Aber ich werde doch auch fünger® — Sorgt nit!" 

@lairette verließ mich; und ich kehrte zu meinem Collegen 
zurüd. Du fiehft, die Liebe hatte mich fchon erfinverifch gemacht; 
ein fefter Charakter, ein feuriger Kopf und eine kraͤftige Geſund⸗ 
heit führten mich vor der Zeit auf den Weg verliebter Abenteuer. 





— 


Elftes Kapitel. 
Jakob bringt Elairette in magnetiſchen Schlaf und thut 
Wunder. 

Als ich wieder zu meinem Reiſegeſellſchafter kam, erwartete 
ich einige ernſte Verweiſe über mein Benehmen: gegen das Kleine 
Dienſtmädchen, und ich hatte mir bereitS vorgenommen, meinem 
Budlichten zu erwidern, daß ich nur unter der Bedingung, frei nach 
meinem Belieben handeln zu dürfen, ferner bei ihm bleiben würbe ; 
aber ich wurbe fehr überrafcht, als ich ihn lachen und hoͤchſt ver⸗ 
gnügt auf mich zukommen ſah. 

„Es ſcheint, Freundchen,“ ſagte er mit ſchalkhafter Niene, 
„Ihr wollt ſchon für eigene Rechnung arbeiten. Der Tauſend! das 
heißt etwas jung anfangen. Ich will Euch indeſſen nicht Kindern ; 
anßerdem bin ich ja weder Euer Vater noch Euer Vormund, und 
Ihr hoͤrtet doch nicht auf mich, wenn ich Euch auch Weisheit prebigte. 
Erlaubt mir nur, Euch meinen, von der Klugheit und unferem ge: 
meinjchaftlichen Interefje gebotenen Rath zu ertheilen. — Ich Höre. 
— Ich habe Takt und fehe, daß das junge Mädchen Euch gefällt, 
das jo eben da war. — Wahrlich! e8 gehörte eben kein befonberer 





Ti zu decken und erwartete unfere Vefehle; endlich erſchien auch 
Blairette ; fie war verlegener als bei ihrem erfien Befuche ; fle hiekt 
die Augen niedergefchlagen und gab auf meine feurigen Blicke und 
das farkaftifche Lächeln des Heinen Bucklichten nicht Acht. Ich faß 
wie auf Kohlen; ich fürdhtete fchon, daß fie thren Cuiſchluß ge 
indert Habe; ich war Neuling in verliehten Intriguen und wußte 
noch nicht, wie Liftig ein weibliches Weſen ihre Gedanken und Wünfche 
ju verbergen wife. 

Sie ging wieder hinaus und ich that, was ich konnte, um bie 
Nahlzeit zu beeilen, aber mein Kamerad, der nicht verliebt war, 
ergab fich mit Wohlbehagen ven Tafelfreuden ; er ſchmunzelte bei 
jetem Gericht und fpottete über meinen geringen Appetit ; indeflen 
dechte ex entfernt nicht daran, ven Grund meiner unruhigen Haft 
u argmöhnen. 

Das Abendeflen war endlich verzehrt, und wir entfernten und 
in dad Schlafzimmer, wo unfere Betten dicht neben einander fanden. 
36 machte mich ſchnell in mein Bett Hinein, und legte meine Bein: 
leider auf meine Füße, um fie leicht wieder finden zu innen. Endlich 
entſchloß fich auch mein Kleiner Reifegefährte, ſich zu Bette zu legen, 
nachdem er mindeſtens ein Dugendmal im Zimmer auf und abge: 


gangen war, und bei feinen Schachteln und Flafchen geframt und - - 


mid dadurch faſt in Verzweiflung gebracht hatte; ich erwartete fein 
Niederlegen twie das Zeichen meines Glücks, denn ich wußte, daß 
er, wenn er Taum lag, ſchon wie eine Rape ſchlief. 

Eudlich ift der lang erfehnte Augenblid gefommen, mein Gollege 
liegt im Bett, ich überzeuge mich, daß er fehnarcht, ftehe auf, ziehe 
meine Hofen an und laufe, ohne mir Zeit zum Schuhanziehen zu 
uchmen, zur Thüre, öffne fie leiſe und befinde mich auf der Treppe. 
Ich ging auf ven Zehen und hielt den Athem an, fo fehr fürchtete _ 
ich, die Lente im Bafthofe aufzuwecken. Endlich befinde ih mich 
oben, an dem bezeichneten Orte, ich Höre leiſe huſten, und mein 
den fagt mir, dies ſei Clairette. In der That bemerke ich eine 


wenn fie nicht getäufcht würden, hätten fie fein Vergnügen... Ich 
nun muß nothwendig die Leute vorher Tennen, die mich confultiren ; 
Ihr kennt wohl denken, daß ich nicht mehr zaubern Taun, ald An: 
dere. Damit Ihr im magnetifchen Schlafe Die Uebel, die man em- 
pfindet oder empfunden hat, errathet, muß ich Euch zuvor barüber 
belehren. Das Alles hindert ung nicht zu heilen, wenn’d Gott be: 
liebt; aber man muß der Menge imponiren, und den Menfchen 
gefällt nun einmal das Wunderbare, und wird ihnen immer gefallen. 
Das Heine Dienftmäpchen fcheint mir nun fehr leichtfertiger und 
Hifliger Natur zu fein, wir müſſen fie alfo zu umferer Gehülfin 
machen ; Ihr berevet fie durch Liebe, ich durch Geld ; wir müßten 
fehr unglüdlich oder ungejchiet fein, wenn wir fie damit nicht ge: 
winnen Tönnten.“ 

Sch war entzüct über den Borfchlag meines Herrn und Meifterg, 
benn Clairette war mein einziger Gedanke, mein einziger Wunſch. 
Obfchon der Kleine Budlichte nicht aufhörte, mir Klugheit anzu⸗ 
empfehlen und mich zu bewegen, nichtö ohne feinen Rath zu thun, 
fo fagte ich ihm Doch nichtö von meinem Rendezvous mit dem jungen 
Mädchen; er hätte das zu vorlaut, zu voreilig finden können, mud 
um feinen Preis der Welt hätte ich mein erfted Rendez⸗vons ver- 
fäumen mögen. : 

Meifter Gravyraicus machte mich ſodann mit dem Refultat 
-feined Spagiergangs in der Stadt befannt; er wußte fchon alle Anek⸗ 
boten, Intriguen und neueften Begebenheiten, die Ernennungen, die 
noch gefchehen follten ; die Berfonen, die beſonders geehrt wurben, 
alle Heirathen, die gejchloffen werben follten, Turz, Alles, was im 
Orte intereffirte. Das Gute hat eine Heine Stadt, daß man in 
furzer Zeit mit allen Neuigkeiten befannt werben kann; man barf 
nur Bäder, Barbier und Obſthaͤndlerin befuchen. 

Mein Begleiter hatte ein ungewöhnliches Gebächtniß, es erjete 
ihm die Kenntnifje, wie es fo vielen Menfchen den Verſtand erfegt. 

Man beforgte unfer Abendeſſen. Der Wirth kam ſelbſt, den 


Si 
Während fle ihr Licht ausläfcht und thut, als ob fie von Neuem 
Geuer ſchlüge, gehe ich hinunter, ohne zu wiſſen, wie ich mich weiter 
Benehmen werde. Kaum bin ich auf der zweiten Etage, fo faßt mich 
Jemand beim Arm und fagt mir ind Ohr: „Spiele ven Nacht: 
wandler ; ich habe die Kolik gehabt und in der Noth eine Terrine mit 
Belde ergriffen. Fürchte nichts, ich helfe Dir aus der Verlegenheit.* 

Ich erkannte die Stimme meines Reifegefährten und befam 
wiererum Muth. “Der Gaftwirth, ungeduldig, weil er kein Licht 
befam, ftieg jeßt nach Clairettens Zimmer hinauf, die noch ohne 
Junder Feuer ſchlug. Endlich kommt er mit zwei brennenden Lichtern 
wieder herunter und bemerkt mich, als er eben in fein Zimmer gehen 
will, wie ich in Hemd und Hofen ernften Schrittes auf der Haus⸗ 
Aur anf und abgehe. 

„Was Toll das heißen?" frug er, mich voll Echreden und 
Stamen anglogend... „Mas machen Sie da, mein Herr!... 
Ina ſuchen Sie bier, nadt, mitten in der Naht? Maren Sie es, 
ter in mein Zimmer fam und mid ungebührlich aus dem Schlafe 
weite? Antworten Sie doch!“ 

Ich hütete mich wohl, zu antworten und feßte meinen Spazier⸗ 
gang langſam fort; der Wirth folgte mir mit feinen beiden Kichtern, 
uud Beter und Hieronymus, die beiden Kellner im Haufe, bie der 
kärm herbeigeführt hatte, harrten mit Neugierde auf ven Ausgang 
rieſes Auftritte. Endlich laͤßt fich im Zimmer des Gaftwirths ein 
leiſes Geftöhn Hören. „Ha! es ift Jemand in meinem Zimnter,“ ruft 
ver Wirth erbleichenn-, „folgt mir, Ihr Leute, nur vorwärts, voran !“ 

Er ſtößt Peter und Hieronymus vor fih her, man fritt in das 
Jimmer, worin ſich mein kleiner Bucklichter befindet und laͤßt mich 
af dem Cotridor. Bald höre ich Ausbrüche des Jorns unferes 
Virths gegen Meifter Gravyraicus; ich denke, es ift Zeit, den 
Frieden herzuftellen und fchreite mit Pathos ind Zimmer. 

Bei meinem Anblick hört der Lärmen auf. „Still! Achtung,” 
ſagt mein Begleiter hafbleife, „da ift Tatouos, nachtwandelnd; 


ich werbe ihn mit mir in Rapport fegen und Ihr follt | 
wird mir Alles erzählen, was ich diefe Nacht gethan ha! 

Sogleich nähert fich mir der Eleine Budlichte, Fährt 
ben Händen übers Geſicht, legt mir den Zeigefinger auf bi 
ſpitze, um nad) feiner Angabe die magnetifche Communika 
ſchen uns herzuftellen, und fängt an zu fragen: „Was 
diefe Nacht empfunden ? — Kolik! — Was weiter? Seit 

„He, was ſagte ich Euch jo eben ?” rief mein Colleg 
er fich an bie erfiaunten Zuhörer wenbete, „aber fahren w 
das ift noch gar nichts, ich weite, wir erfahren weit 
Woher fam mein Uebel? — Bon einer Unverbaulichkeit 
diefe Unverbaulichkeit ? — Bon allzu vielem Eſſen!“ 

„Erſtaunlich! merkwürdig!" rief der Gaftwirth, fid 
feine beiden Leute drückend. — „Stil !" fagt mein Eoll 
wir den Zauber nicht Idfen... Was that ich darauf? — I 
auf! — Weßhalb? — Um nad) einem gewiffen Ort 3 
— Hatte ih ein Liht ? — Nein! — Und wie ging idy 
den Zehen, die Hände vorhaltenn !“ 

„Sie fehen, ich ging, die Hände vorhaltend, weil ich 
hatte ; er weiß bie größte Kleinigkeit. Aber weiter... U 
ich? — Auf die Hausflur, Ihr hattet aber nicht mehr 
dacht, daß man Cuch das Kabinet links bezeichnet hatte, J 
bie Thüre rechts und tratet in dies Zimmer! — So waı 
was nun ? — Ihr fandet eine Terrine, uud... — Ri 
weiter ? — Der Lärmen wedte ven Wirth, er fchrie, li 
um Licht zu holen, und während ber Zeit verbarget Ihr ! 
unter diefem Bette!“ 

„Das ift Alles wahr... Unterfucht nun Alles felbft 
zeugt Cuch, ob er fih auch nur in einem Punkte geir 

Die Kellner fanden die Terrine und ber Wirth ſtan 
bläfft da. Sein verborbened Gelee, das auf die ganze 
rechnet war, machte ihn jedoch übel gelaunt. Mein Eı 


93 


bie bemerkte, näherte fich mir und frag weiter: „Was iſt meine 
Abſicht, nachdem ich meinen Mißgriff eingefehen habe? — Dem 
Gaſtwirth zwölf Franken Entfchäpigung zu zahlen! — Ja, fo ift 
ed!... zwölf Kranken! fagte ich's Euch nicht fo eben, um Guern 
3orn zu befänftigen ? — Nein, mein Herr, davon haben Ste mir fein 
Wort gefagt! — So Hatte ich ed anf der Zunge. Nun, ich denke, 
jept feib Ihr zufrieden, ich kann jeßt den fungen Mann aufwecken.“ 

& kam auf mich zu und drüdte mir die Fingerfpigen. Ich 
ſchüttelte den Kopf, rieb die Augen wie Jemand, der aus bem 
Shlafe erwacht, und frug unbefangen, wie ich hieher komme. 

Mein Eoltege ſah feine Umgebung an; Alle waren fo über: 
raſcht von dem, was fie gefehen und gehört hatten, daß fie mid) 
für ein übernatürliches Wefen hielten. | 

„Laßt und fet wieder ind Bett gehen,” fagte der Kleine Bud 
te, indem er ein Licht machte... „Schlafen Sie wohl, Herr 
Gaftrath; ich verfpreche Ihnen, Sie follen noch mehr Wunder fehen, 
wen Sie uns ungeftärt unfere Experimente machen laffen.“ 

Er faßte mich unter dem Arm, und wir gingen in unfere Zim- 
mer zurad, während der Wirth und deine Leite fich gegenfeitig 
fertwäßrend verficherten,, daß Alles, was fie gefehen hätten, ebenfo 
wahr als unbegreiflich fei. 


— — — — 


Bwölftes Kapitel. 
Große Erperimente bed Budlidhten. 


\ 

As wir wieder in unferem Zimmer waren, fiel mir mein 
Gellege aus voller Freude um ven Hals. „Mein Freundchen,“ fagte 
er. „ih bin entzuckt über Euch, Ihr habt Eure Rolle wie ein Engel 
gefvielt!... Ihr ſeid ein prächtiger Junge, ein unfchägbares Kleinod, 
uud unfer Glück iſt gemacht. Das Ereigniß biefer Nacht wird Auf⸗ 
jehen erregen.“ 


ich werde ihn mit mir in Rapport ſetzen und Ihr follt fehen, er 
wird mir Alles erzählen, was ic; diefe Nacht gethan habe.“ 

Sogleich nähert ſich mir der kleine Budlichte, fährt mir mit 
den Händen übers Geficht, legt mir den Zeigefinger auf die Nafen- 
fpige, um nach feiner Angabe die magnetifche Communikation zwi⸗ 
ſchen und herzuftellen, und fängt an zu fragen: „Was babe ich 
dieſe Nacht empfunden * — Kolif! — Was weiter ? Seitenftiche !“ 

„De, was fagte ich Euch fo eben?” rief meisı College, indem 
er ſich an bie erftaunten Zuhörer wendete, „aber fahren wir fo fort, 
das ift noch gar nichts, ich weite, wir erfahren weit mehr... 
Woher fam mein Hebel? — Bon einer Unverbaulichkeit! — Und 
diefe Unverbaulichfeit ? — Bon allzu vielem Eſſen!“ 

„Erſtaunlich! merkwürdig!" rief der Gaftwirth, ſich dicht an 
feine beiden Leute drüdend, — „Still!“ fagt mein College, „daß 
wir den Zauber nicht Idfen... Was that ich darauf? — Ihr flanbet 
auf! — Weßhalb? — Um nad einem gewiffen Ort zu gehen ! 
— Hatte ich ein Liht ? — Nein! — Und wie ging ih? — Auf 
ben Zehen, bie Hänbe vorhaltend!“ 

„Sie fehen, ich ging, die Hände vorhaltenn, weil ich Fein Licht 
hatte ; er weiß bie größte Kleinigkeit. Aber weiter... Wohin ging 
ih? — Auf die Hausflur, Ihr hattet aber nicht mehr baran ge: 
dacht, Daß man Cuch das Kabinet links bezeichnet hatte, Ihr öffnetet 
bie Thüre rechts und tratet in bied Zimmer! — So war ed, aber 
was nun? — Ihr fanbet eine Terrine, uud... — Richtig, nun 
weiter ? — Der Lärmen werte ven Wirth, er fchrie, lief hinaus, 
um Licht zu Holen, und während ber Zeit verbarget Ihr die Terrine 
unter diefem Bette!" 

„Das ift Alles wahr... Unterfucht nun Altes felbft und über: 
zeugt Cuch, ob er ſich auch nur in einem Punkte geirrt hat.“ 

Die Kellner fanden die Terrine und der Wirth ftand wie ver: 
blüfft da. Sein verborbened Gelée, dad auf die ganze Woche be: 
sechnet war, machte ihn jenoch übel gelaunt. Mein Gollege, der 


When Erperimente gemacht! — Wirklich? — Gewiß, gewiß! ich 

habe es von Hieronymus, dem Kellner daſelbſt, der iſt Ohren⸗ und 
Augenzeuge geweſen. — Nicht moͤglich! — Dieſe Nacht hat ber 
Somnambule feine nächtlichen Wanderungen begonnen. — Nächt⸗ 
lihe Wanderungen bei Nacht! ... diefe Somnambulen find alfo 
Roftalogen ? — Sa, mein Herr, fle find Nykta... Wie heißt 
8°... — Nykialogen, mein Freund. — Gewiß! fie find Nykta⸗ 
gen... Nun, was foll das eigentlich heißen," Nyktalogen? — 
Tab bedeutet, daß fie bei Nacht klar und deutlich ſehen koͤnnen. — 
Ab! ich verftehe, wie die Raben. Um aber wieder anf den im 

Rohrenfopfe zu kommen, er erräth Alles, was man gemacht Bat, 

und diefe Nacht hat er etwas entdeckt, was allen Augen verborgen 
war. Sein Neifegefährte hatte diefe Nacht heftige Kolikſchmerzen 
bekemmen! — Vielleicht von einigen ſchlecht zubereiteten Gerichten, 
von einigen fchlecht gepugten Kaſſerolen, denn man ißt fchlecht im 
Nobrenfopfe ; ich habe einmal ein Fricandean dort gegeflen, das 
mir drei Tage lang Magendrücken verurfachte, weil Muskatnuß darin 
wat, und dad befummt mir nie gut. Musfatnuß in einem Frican⸗ 
deau! ... Ihr müßt geflehen, daß dies abfcheulich if. — Es ifl 
wahr, der Gaſthof verdient feinen Ruf nicht, denn anf der Hochzeit 
meiner Schwefter .. . — Eurer Schweiter * welcher denn? — 
Belde Lagrippe, den Kammerdiener des Unterpräfeften, geheirathet 
bat. ie wien ja, die Feine Blonde mit den blauen Augen und 
der roihen Nafe. — Ach ja, der der Nähterin hier gegenüber bei 
Hof machte. — Ab, da ijt Fein wahres Wort daran, das koͤmmt 
ren böfen Zungen. — Nehmt Euch doch in Acht, Ihr fchneibet 
mich ja. — Es ift nichts, es fprang nur ein Haͤrchen aus... . 
Sie lönnen wohl denken, wenn Lagrippe das gethan hätte, wire 
meine Schweſter ihn nicht geheirathet haben. — Nun, und warum 
Vollte denn dies, unter und gefagt, Eure Schweſter... — Wie! 
zes wolln Sie damit fagen, Herr Sauvogeon? — Genug davon, 
weim Lieber, ſtillt nur das Blut und erzählt dafür von dem Nacht⸗ 


Dh 

Bir legten uns beide, fehr zufrieden ber die Vorgänge biefer 
Nacht, wieder zu Bette. Ich fchlief mit dem Gedanken an Clairette, 
ihre Reize, ihre Liebe, fanft ein, und mein Reifegefährte träumte 
von den Gewinn, den ihm die erite Sigung in einer Stadt ein: 
bringen ſollte, in der fein Ruf ſich fo gut zu befeſtigen fchien. 

Der Kleine Bucklichte hatte ſich darin nicht geirrt, daß und bie 
Begebenheit ver Nacht viel Neugterige zuführen würde. Die Leute 
im Gafthofe waren früh aufgeflanden, um fo fchnell ald möglich 
Alles zu erzählen, was fie gefehen und gehört hatten. Die Zrifeurs, 
Bäder, Kaufleute erfuhren es zuerſt; das reichte ſchon bin, unfere 
Talente und Kenntniffe in der ganzen Stadt auszubreiten. Auf folche 
Meife wird aber eine Begebenheit jo entftellt und vergrößert, daß 
man Mühe hat, aus anderem Munde feine eigene Gefchichte wieder 
zu erfennen. Ein Jeder will etwas Sonverbared und Wunderbares 
zufegen, um jeine Zuhörer zu überrafchen, und fo wird vft ein 
Bach zu einem reißenden Strom, ein Kind, das einen Ders ohne 
anzuftoßen berfagt, zum Wunder, ein Tafchenfpieler zum Zauberer, 
ein Sänger mit hoher Stimme zum Kaftraten und ein Komet zum 
Borboten fürs Weltende. 

Das Dienftmäpchen, indem es ein Loth Kaffee kauft, hört von 
tem Ladendiener, daß im Gaſthof zum Mohrentopf zwei feltene 
Menfchen wohnen, die einem Alled, was man thun will, prophe: 
zeihen fünnen. — „Ei der Tauſend! das muß ic; meiner Madame 
erzählen,“ fagt das Mädchen und verläßt ſchnell den Laden ; „fie 
ift Iegthin mit ihrem Better fpazieren gegangen und wünſcht nicht, 
daß ihr Manı es erfahre ; ich werde ihr den Rath geben, die Sache 
nicht durch die Zauberer Fund werden zu laſſen.“ 

„Was gibt's Neues?" fragt der alte Hageftolz feinen Barbier, 
indem er ſich guf den Stuhl fept und das Handtuch vorhaͤlt! — 
„Was ed Neuss gibt ? Herr Sauvogeon. Traun! wir haben höchft 
fonderbare, hoͤchſt pikante Neuigkeiten. — Nun, fo laßt fie Hören, 
ſprecht! — Die beiden fremden Doktoren im Mohrentopfe haben 





9 


Der Birth, verbengt ſich wie ein Chineſe, dem ein Mandarin 
begegfet, umd entfernt ſich mit ber Verficherung, das Mädchen 
ſogleich heraufzuſchicken. 

Dein Begleiter rollte die Lifte auf; fie war bebeutenb und 
serfprach viele Profelyten. Der Bucklichte las fie laut ab und machte 
feine Bemerkungen gerade barüber, ald Clairette eintrat. 

Die Kleine fchien etwas verlegen, fie beftete bie Augen zur 
Erbe umb fpielte mit ihrer Schürze; auch ich warb ſlammenroth 
und wußte nicht, was ich fagen follte. Clairettens Gegenwart vers 
twirrte mich ganz unb gar; ich war furdjtbar verliebt, und nad) 
ihren Zaͤrtlichkeitsbeweiſen zu fehliegen, meinte ich baffelhe von ihr. 
Hatte man damals an mich das Anſinnen geſtellt, ich ſolle entweber 
ie Kleine hetrathen oder fie völlig aus dem Sinne ſchlagen, ih 
glaube, ich Hätte ihr fogleich Herz und Hand angeboten, und ſtehe 
vafür, was ich empfand, haben fchon viele junge Reute von meinem 
Ur empfunden. Man liebt ja das erfte Mal fo aufrichtig! ... 
Ach, mein lieber Sansfouci, ich war Damals noch recht unerfahren! 
Eritbem aber habe ich mich überzeugt, daß das Vergnügen beflo 
geringer wirb, je mehr man Erfahrungen macht. 

Dein Herr und Meifter ſchloß die Thüre ab, denn umfere 
Unterrebung mit Clairette burfte Tein Ungeweihter hören. Er kam 
wurd und begann bad Geſpräch mit einem fchalfenden Gelächter, 
worüber ich nicht wenig ftaunte, während Clairette an ihren Schurz⸗ 
eben Tante. 

„Liebe Kinder, ihr ſeid noch ein wenig einfältig,“ fagte ex 
endlich; „Ihr, mein lieber Jakob, daß Ihr ein junges Mädchen 
hebt, Die Morgen nicht mehr an Euch denkt; und Ihr, meine 
Heine Slairette, daß Ihr an Hexereien glaubt und Euch einbilvet, 
man könne fein ganzes Leben jung bleiben. Wir find feine Zauberer, 
wein Rind, und Ihr follt uns behülflich fein, die Narren zum 
Behen zu haben, bie und confultiren wollen. Ihr werbet Alles 
than, was wir wünfchen, einmal, weil das Euch Gelegenheit vers 

Beni de Rod. 1, 7 


wandler .. . Ihr fagt alfo, er hat diefe Macht feinen Begleiter 
von der Kolik geheilt? — Ich behaupte gerade nicht, daß er ihn 
geheilt Hat, ſondern daß er bie verborgenflen Sachen entdeckt hat, 
unter andern eine Terrine unter dem Bette des Gaſtwirths. — 
Vielleicht eine Terrine, die man geftohlen und einftweilen da ver- 
ſteckt hatte! — Es ift möglih, aber ſo viel ift gewiß, er hatte 
fogleich errathen, was darin war!... Donner und Wetter! ... 
das ift viel, nun, ich errathe es jetzt auch. Nehmt etwas Danille- 
pomade.“ 

Unſer alter Junge iſt friſirt und raſirt, und ſein Barbier ver⸗ 
läßt ihn, um feine Geſchichte andern Kunden zu erzählen und von 
Neuem etwas binzuzufeßen. Es ift eine gar zu ſchoͤne Sache damit, 
Neuigkeiten in Umlauf zu ſetzen und fi bamit bei ben Leuten 
wohl daran zu machen. 

„Aber was Ihre Gefchichten anbelangt, Herr Autor, fo find 
Sie gewaltig fchwaghaft und fcheinen ein großes Vergnügen daran 
zu haben, alle Klatfchereien einer Heinen Stabt auszuframen. Das 
ift doch ſchwerlich Bruder Jakob, der die Unterhaltung des alten 
Hageftolgen mit feinem Barbier an Sandfonci erzählt. — Es ift 
wahr, lieber Lefer, ich bin ſchuldig und verfpreche nicht mehr mit- 
zureben, wenn Jakob erzählt, er foll naher fogleich feinen Vortrag 
wieder aufnehmen.“ 

Kaum waren wir aufgeftanden und hatten wegen tes Yrüß- 
ſtucks geflingelt, ald der Gaftwirth ins Zimmer trat und meinem 
Reifegefährten ein großed Papier, überreichte. — „Meine Herren ‚“ 
fagte ex mit tiefer Verbeugung : „Da ift die Lifte aller der Perfonen, 
bie fich haben einfchreiben laſſen, um Sie diefen Abend zu conful⸗ 
tiren. — Gut, fehr gut! find die Namen, Titel, Alter und fonftige 
Eigenfchaften der Berfonen mit bemerkt? — Alles, mein Herr. — 
Sehr gut, fehr gut, gebt jetzt und ſchickt mir anf einen Augenblick 
Euer Dienfimäpchen Clairette ; ich habe ihr wegen heute Abend 
»inige Aufträge zu geben.“ 











90 


verehelichte Joficoeur, zweiunddreißig Jahre alt, Feinwaſcherin in 
den erflen Hänfern der Stadt... Taufend, welche Ehre! — Ah! 
das it mir eine ſaubere Schöne, diefe Madame Solicoeur!... von 
ber weiß man Gefchichten .. . Sie wäfht für die Offiziere ver 
Gawmiſon und geht mit Ihnen auf den Ball! — Sie ift alfo ſchoͤn? 
— Run ja, fo fo! etwas abgelebt .... und Kat einen Blick wie 
ein Rüraffier... Ihretwegen haben fich gewiß fchon zwölf Perſonen 
taellirt, und noch beim Iehten Feſte walzte fie mit einem Tambour⸗ 
mafer, der mit einem Sappeur Streit befam, weil fle diefem ben 
Tanz verfprochen hatte... Es wäre ernfthaft geworben, wenn 
Ser Jolicoenr nicht Dazu gekommen wäre!... Aber das iſt eine 
ehrliche Haut; er verglich den Tambour mit dem Sappeur und be: 
theuerte dieſem, daß feine Frau nicht die Abficht gehabt habe, ihn 
in beleidigen und es aus reiner Vergeffenheit gefehehen fei. — Der 
Mann verfteht zu leben; aber weiter: Kunigunde Adeline Troull: _ 
lan, vierundvierzig Jahre alt, Cigenthümerin eines fehr befuchten 
Rafterhaufes. — Ah! die Limonadire! fie leidet beftändig an 
Tareurd und Migräne... fie Halt ſich ſtets für Frank und nimmt 
le Tage ein, flatt fih um ihre @äfte zu befümmern. — Das iſt 
eine anfchägbare Frau für die Apotheker. — Ihr Mann fpielt den 
Belehrten, den Chemiften, er macht Kaffee aus Spargelfamen und 
Inder ans Rımfekrüben. O! ich Bin gewiß, der frägt Sie um Rath.” 

Ih ſetzte meine Notizen fort und wir waren faft mit der Lifte 
a Ende, als an der Thüre geklopft wurde. Ich öffnete; e8 war 
anſer Wirth, der und fagte, daß der Maire uns zu fehen wünſche 
and uns bet fich erwarte. Dieſer Einladüng mußten wir nachkommen. 
Rein Bucklichter 309 feinen beflen Rod an und lich mir ein paar 
icwarzfeidene Hoſen, die mir bis an die Ahfäge reichten, weil er 
Ar gelegentlich von einem großen Dichter gekauft hatte, ber fle von 
nem Schaufpieler auf den Boulevards erhalten ; diefer hinwiederum 
Satte fie von einem Akademiker, der eine kleine Tänzerin pouſſirte, 
in der er fle einmal in Gedanken Tiegen ließ. 


eh 


400 


. Wir machten und, ein wenig ängſtlich wegen unferes Befuchs 
auf ven Weg. Mein Gefährte hoffte indeffen, fi mit feinem Ber- 
land ans der Berlegenheit zu helfen. Wir kamen bei dem Maire 
an und man führte uns in fein Zimmer. Wir fahen einen Fleinen 
hagern Mann vor und, deffen Augen voH Geiſt und Leben waren. 
Bei feinen erften Fragen fah mein College wohl, Daß er e8 mit 
feinem Dummkopf zu thun habe. Der Maire befaß Kenntniffe, er 
war in ver Medizin, Chemie und Aſtronomie bewandert. Ihm gegen- 
über verlor fich die Befchwägigfeit und Verwegenheit meine® Bud: 
lichten bebeutend. Der Maire bemerkte unfere Berlegenheit und wollte 
fie endigen. 

„IH habe nicht die Abficht, Sie zu hindern, Ihr Brod zu 
verbienen,” fagte er lächelnd, „im Gegentheil!... Sie Ichren, hat 
man mir gefagt, den Magnetismus und heilen damit alle. Uebel; 
das iſt ganz gut. Ich wünfche von Herzen das Mohl der mir an- 
vertrauten Sinwohner der Stadt, und es liegt mir hauptfächlich 
baran, fie von ihren Vorurtheilen und von dem alten Aberglanden 
za befreien, wozu die Menſchen nur zu leicht geneigt find. Magie, 
Zauberei, Magnetismus, Somnambulidömus haben für Liebhaber 
bed Wunberbaren viel Anziehendes. Ich weiß, es ift umfonft, bie 
Schwächen der Menfchen zu bekämpfen! es gibt nur ein Mittel, 
fie. durch Schaden Hug zu machen. Darum fehe ich ed nicht ungern, 
wenn Charlatand in die Stadt Tommen. Sie dienen den @inwoh- 
nern jederzeit zur Lehre ; denn biefe Zauberer verlaffen nie einen 
Drt, ohne viele ihrer Anhänger zuletzt doch eined Beſſeren belehrt 
zu haben. Ich gebe Ihnen daher die Erlaubniß, nad) Belichen zu 
magnelifiren.” 

Der Herr Maire machte und eben feine Complimente ; aber 
mein College verbeugte fih vor ihm bis zur Erde und dankte ihm 
für feine Güte, 

„Sie verkaufen ohne Zweifel auch Arzneimittel, wie dad ge: 
woͤhnlich ber Fall iſt,“ fagte er, „zeigen Sie doch einmal welche.“ 


101: 


Der Vucklichte reichte ihm eine Schachtel mit Pillen dar, der 
Rute nahm eine davon, that fie in ein Glas mit Flüffigkeit, worin 
ſie ſch auflöste, und nachdem er unfere Brodkrume eine Weile beob- 
achtet hatte, rief er Lächelnd : „Meine Herren , verlaufen Sie bavon, 
ſo viel Sie können, das ift nicht gefährlich.“ 

So endigte fich unfer Beſuch. Wir kehrten in unfern Gaſthof 
wurd und waren fehr vergmügt darüber, dem Maire nichts von 
unfern Zaubertränfen gewiefen zu haben. 

Endlich nahte die bezeichnete Stunde zu unferer öffentlichen 
Sisung-heran. Mein College hatte mir alle möglichen Anweifungen 
gegeben und meine Rolle mehrmals überhärt. Er,zog fein Staats⸗ 
Heid an, den ſchwarzſeidenen Mantel, ver fchlanfe Figuren größer, 
Heine and verwachſene aber noch Eleiner macht, und unfer Bud 
liter ſah darin volffländig wie ein Magier oder Zauberer aus, denn 
dieſe dürfen ja nicht wie gewöhnliche Menfchen gebaut fein; dazu 
lam nun noch der falſche Bart und die große baufchige Müse, und 
unfer Gravyraicus befand fich in feinem Ornate. Wag mich be: 
mifft, fo mußte ich eine xothe, mit gelben Sternen überfäete Tunika 
ziehen, die mein Meifter für ein Gefchent des Großmoguls aus: 
gab; ich follte dazu noch einen großen Turban auflegen; da ich 
aber ſah, daß mich das Ding nicht gut Heivete und auch voraus 
jepte, daß mich Clairette in biefem Aufzug fehen würde, fo konnte 
ich mich nicht dazu entfchließen, und mein College mußte ſich damit 
begmägen, daß ich mir die Haare à la Garl XII. hinten überſtrich; 
des paßte zwar nicht zur Tunika, aber große Geifter legen auf 
ſolche Exhärmlichkeiten Leinen Werth. 

Der Saal war zu unferer Sigung eingerichtet ; ein großer 
Juber mit Waſſer ein eiſerner Ring, ein Stab von demſelben 
Retall, Fautenils für die Kranken, Stühle für die Wißbegierigen, 
Bänke für die Rengierigen und eine einzige Lampe, die nur ein 
cerches Licht verbreitete — dies war die ganze Sinrichtung. , 

Sobald mein Gollege dem Wirth hatte jagen laſſen, daß der 


108 


Zutritt geftuttet ſei, flürgte die Menge in den Saal. Einige famen 
mit vertrauenövollem , Andere mit bangem Herzen, ber größere Theil 
aber aus Neugier; wir hatten viele Iufchauer, und das war bie 
Hauptſache. 

Als alle Plaͤtze beſetzt waren, das Seflüfter aufgehört und 
man und lange genug betrachtet hatte, grüßte Meifter Gravyraicus 
die Verſammlung würbevoll, ftellte fid auf einen Stuhl, um von 
Jedermann gehört zu werden, und hielt folgende Rede: 

„Meine Herren und Damen, Sie wiffen oder willen es viel- 
leicht nicht, daß es in der Natur ein materielles, bisher noch un⸗ 
befanntes Prinzip gibt, das auf die Nerven wirkt. Iſt Ihnen das 
befannt, fo lehre ich Sie nichts Neues, ift es Ihnen aber unbe- 
fannt, fo werde ich ed Ihnen näher erklären. Wir wiflen alfo, daß 
ein ſolches Prinzip vorhanden iſt; vermittelt defjelben und in Folge 
befonderer Befege der Mechanik entſteht eine gegenfeitige Beziehung 
zwifchen den lebenden Gejchöpfen, der Erde und den Himmels- 
förpern ; hieraus folgt, daß in ben thierifhen Körpern, bemerken 
Sie wohl, meine Herren, in ven thierifchen Körpern und befonbers 
im Menfchen fich GEigenthümlichleiten vorfinden muͤſſen, die dem 
Magnete ganz analog find. Diefer thierifche Magnetismus nun 
enthält das Geheimniß, auf alle Krankheiten einzuwirken, und gerade 
mir iſt ed gelungen, die Methode ausfindig zu machen,“ durch Die 
man alle Krankheiten zu heilen im Stande if.“ - 

„Das magnetifche Prinzip Tann andern Körpern mitgeteilt 
werben. Diefe zarte Materie durchdringt Mauern, Thären, Glas, 
Metall, ohne an ihrer Kraft zu verlieren ; fie kann angehäuft, zu⸗ 
fammengebrängt, im Waſſer fortgepflanzt, vom Spiegel zurüdge: 
worfen, ja felbft durch den Ton weiter verbreitet, mitgetheilt und 
vermehrt werden. Kurz, ihre Kraft hat Feine Grenzen, und was 
ich Ihnen bier fage, Habe ich nicht erfunden, fordern ich wieber- 
hole bloß, was die hochgelehrten Mesmer, Deslon und Andere 
Ihnen vortragen würden, wenn fle noch lebten,“ 


, 





163 


Die Berfammlung hörte mit der größten Aufmerkſamkeit und 
Stile zu ; die jungen Leute machten große Augen ; bie Mädchen 
lachten, die Greiſe fehüttelten den Kopf, die Frauen fahen. fi 
nahbenflih an, und Niemand wagte es, feinem Nachbar gu ge: 
üchen, daß er von ber Explifation des großen Wunderthäters nichts 
verlanden habe. Diefer bemerkte das und fuhr fort: 

„sh fehe, meine Herren und Damen, daß ich Sie überzeugt 
habe, ich will daher meine Erläuterungen nicht weiter fortfeßen ; 
doch mu ich noch, ehe ich meine Experimente beginne, Hinzufügen, 
vaf es Körper gibt, die für ven thierifchen Magnetismus durchaus 
nicht empfänglich finn, und eine ganz enigegengefehte Eigenthüm⸗ 
hleit haben, fo daß fie felbft die MWirkfamkeit in andern Körpern 
whören. Ich Hoffe, daß wir unter ums dergleichen unglückliche 
Korver nicht finden werben! aber ich habe hierauf doch für mög⸗ 
liche Fälle anfmerkfan machen müflen. Suchen Sie nımmehr fo 
siel «ld möglich das Erhabene der Wiffenfchaft, die uns beſchaͤf⸗ 
nat, zu faſſen, erheben Sie Ihren Geift zu ihr hinauf und über 
ingen Sie fich ſelbſt, daß hier nicht von Charlatanismus die Rede 
it, fondern daß bie Lauterfte Klarheit, bie entſchiedenſte Macht, 
vr virkſamſte Einfluß vorherrſchen... daß... .“ 

In demſelben Angenblicke brach der Stuhl unter dem Redner, 
uud er purzelte ziemlich unfanft auf ven Boden, fland aber fchnell 
wieder auf, und fprach mit erhöhtem euer zur Berfammlung : 

„Meine Herren, ich wollte fo eben mit einem Experimente 
digen ; während ich fprach, magnetifirte ich den Stuhl unter mir 
mt meinem linken Fuße, ich war ſicher, daß ich ihn durchdringen 
virde: Sie fehen, es ift mir gelungen.” 

Eauter Beifall erfcholl von allen Seiten des Saales. „Ihr 
ht, Frenndchen,“ fagte er leiſe zu mir, ohne die Faflung im 
wtingflen zu verlieren, „ein Eluger Menſch weiß aus Allem Bor: 
Seil zu ziehen.“ 

Der Augenblick war gekommen, wo die Experimente beginnen 


\ 


104 
ſollten, und da ſich die Unverſchaͤmtheit noch leichter als der Mag- 
netiömud verbreitet, fo wartete ich in meinem Fauteuil mit Unge⸗ 
duld darauf, endlich auch mein Licht leuchten zu Liffen. 

Madame Jolicoeur fam txog der Entgegnungen des Marquis 
de Dieur- Bniffond, daß ein Mann von feinem Range Allen vor: 
angehen müfje, zuerft an die Reihe, benn die Wäfcherm gab fo 
leicht nicht nach, außerdem war fie jung und hübfch, der Marquis 
aber alt und haͤßlich; Madame Jolicoeur mußte alſo den Sies 
davon tragen. 

Der große Magnetiſeur ergriff fie bei der Hand, führte fie 
um ben Waſſerzuber herum, ließ fie dann niederfigen und magne⸗ 
tifirte fie mit dem Ende jeined Stäbchens. Die junge Frau ſchien 
zum Ginfchlafen gar feine Luft zu haben. „Ich werde Sie jeyt 
mit meinem Somnambulen in Rapport fegen,“ fagte er. Die 
Wäfcherin ſah mich lächelnd an und fchien nicht verdrießlich dar⸗ 
über, mit mir in Rapport zu fommen. Sch wußte meine Rolle 
und hatte die Notizen über Madame Jolicveur im Kopfe. „Jet 
gilt es,“ fagte mein College leiſe zu mir, „denn die Frau wäre 
im Stande, und auszufpotten.“ 

-Die Waͤſcherin wurde mir gegemüber placirt; man empfahl 
ihr Stillſchweigen und verlangte von ihr, fich berühren zu laſſen, 
was fie fehr bereitwillig zugab ; indeſſen lachte fie boshaft, als 
ich eine ihrer Hände hielt, und während fie fich ftellte, als fchlafe 
fie, Hörte ich fie leife murmeln: „Ad, mein Gott, was iſt dad 
für dummes Zeug! Der Sappeur hatte mir doch gejagt, daß man 
nur feinen Scherz mit mir treiben würbe.“ 

Sch brachte fogleich Alles zum Vorſchein, was ich von Glai- 
reiten über die Liebeögefchichten ver Wäfcherin wußte. Ich vergaß 
nichts, weder den Tambourmafor, noch den Walzer, nebft dein be- 
leidigten Sappeur und ben Folgen des Streits. Bei ben erflen 
Worten fing die Berfammlung an zu laden, Madame Jolicoenr 
kam in Berlegenheit, und ehe ich noch meine Rede geendigt hatte, 


106 


frrang fie auf, machte füch mit den Ellpagen Plcy vuvch die Menge 
nengieriger Zufchauer und verfchwor fich beim Berlaffen des Saals 
einmal über dad andere, daß wir Zauberer feien. 

Diefer erſte Verſuch geftattete feinen Zweifel über die Vorzüge 
des Magnetismus, und der Marquis de Bieur-Buiffond fchritt jeg9 
enft auf und zu, und Kat meinen (ollegen, ihn fogleich mit mir 
in Rapport zu feßen. 

Nachdem die üblichen Vorbereitungen zu Ende waren, entfpaun. 
ſich zwiſchen und folgendes Geſpraͤch: „Wer bin ih? — Gin fehe 
hoher und gewaltiger Herr in Eurem alten Schloß, wovon .nur nad 
ein Flügel ſteht; darum habt Ihr Euch eine neue Herrſchaft hier 
in der Gegend gekauft. — Sehr richtig ; aber was will. ich jet 
then, was verlange ih? — Ihr wollt, daß Eure Bauern ſich vor 
End beugen, wie Lämmer vor einem Löwen, ergeben, zitternd und 
furchtſam; Ihr wollt der Herr ihres Schickſals fein, Ihr wollt, 
ke ſollen Euch das Beſte geben, was fie beflgen, was fie im Schweiße 
ihres Angefichts verdient haben, und obenvrein Euch dafür noch 
bezahlen. — Sehr richtig! — Ihr mollt, daß die jungen Maͤdchen 
ohne Eure Erlaubniß nicht über ihre Iungfraufchaft verfügen. — 
Das ih wahr! — Und obſchon Ihr ihnen nicht mehr gefaͤhrlich 
fin, jo wollt Ihr doch Euer Vorzugsrecht geltend machen, wie in 
jenen guten Zeiten bed alten Rittertbums, wo man mit der Lanze 
u der Hand Stirn gegen Stirn ſich Bahn brach, für feine Holbe, 
wider Riefen ſtritt; die trotz ihrer gewaltigen Keule vom erften beften 
Ritter, der Tam, fich wie Gliederpuppen durchbohren ließen! — So 
es, ja, fo if’8... Ich will einen Zwerg vor der Thüre meines 
Iaubeufchlagd Halten und den erften Riefen, der fi auf meinem 
Grund und Boden blicken laͤßt, nieberfchmettern. — Nun, Ger 
Rarquis, fo nehmen Sie die Pilen des Meifter Gravyraicus, und 
brauchen Sie biefelben.oft und viel. Sie werden jung, Träftig 
um heiter Davon werben; Ihre grauen Haare färben ſich dann 
meer ſchwarz, Ihre Taille verjüngt fih, Ihre Runzeln ſchwinden, 


106 


Yre Bangen füllen ſich und vöthen füch wieder, und Sie worden 
aufs Nene Zähne kerhalten. Ich ſtehe dafür, daß Ihre Bafallen, 
wenn diefe Berwandlung mit Ihnen vor fi geht, ſich Ihrem 
Willen fügen, und insbeſonder⸗ die jungen Mädchen Sie nicht 
lichen werden.“ 

Der Marquis, von meinen Antworten entzückt, Taufte füch 
zwölf Schachteln Pillen, ohne zu handeln. Ex füllte feine Tafchen 
damit, verfchludte jogleih ein halb Dubend bavon und ging mil 
hochtragendem Kopfe und feurigem Ange jubelnn nach Haufe, in⸗ 
dem er fich ſchon um zehn Jahre jünger fühlte. 

Nach dem Marquis kam Kunigunde Adeline Trouillard an bie 
Reihe ; es waren durchaus Feine Vorbereitungen und Unterrenungen 
nöthig, um Madame Teouillard Glauben an den Magnetidmus bei- 
zubringen ; die arme Frau hatte jo zarte Nerven, daß fie ſogleich 
in Ohnmacht fiel, fowie mein College fle nur mit dem Stäbchen 
berührte, Ich fagte ihr Alles, was wir durch den Kopf ging; fie 
hatte alle Krankheiten, die ich ihr nur nannte, alle Schmerzen, 
bie ich ihr ankündigte, und alle Zufälle, bie ich auführte. Welch 
ein Glüͤck find folche ſchwache Gefchöpfe für die Eharkatans! Ma- 
dame ftopfte ſich ihren Strickbeutel mit Pillen voll und entfernte 
fich, nachdem fie ſich auf alle unfere Hffentlichen und Privatfigungen 
abonnirt hatte. 

Mir erwarteten nun Eſtelle Guignard, die fich Hatte ein- 
Schreiben laſſen, als ein großer flarfer Mann in Holzſchuhen und 
binuem Meberhemd durch die Menge drang und auf und zulam. Ich 
war anf biefen neuen Gaft nicht vorbereitet und ließ ihn daher ſich 
an meinen Gollegen wenden, indem ich mit ben Augen Claivette 
fuchte, in der Hoffnung, von ihr einige nöthige Anbeutungen zu 
erhalten ; aber das junge Mäpchen glaubte nicht, daß wir ihrer 
noch bevürften, und war in die Küche hinuntergegangen. &3 mußte 
alfo ohne weitere Hülfe gehandelt werben. Mein Budlickter hoffte, 
ſich leicht aus der Verlegenheit zu helfen, zumal er mit einem 


107 


Bauern zu Schaffen Hatte. Er näherte fi dem Mann, der erfkammt 
ın ben Waſſerzuber blickte, und indem er fich ein möglichft wichtiges 
Anfehen gab, fing er an, ihn zu befragen. 

„Ber feid Ihr? — Ei, potz Blig! das wißt Ihr fo gut als 
ih, da Ihr ein Zanberer fein! — Allerdings weiß ich ed; aber ich 
habe meine geheimen Gründe dazu, daß ich Euch darnach frage. 
Antwortet alfo ohne Umfchweife... — Mas fol das Heißen !— 
36 verlange Euren Namen zu wiffen. — Ich Heiße, wie mein 
Inder, Euftachius Nicolas. — Was treibt Ihr? — Der Teufel, 
ich ſchaffe auf dem Acker, oder ich fahre Feldfrüchte nach der Stabt. 
— Rarım feid Ihr hierher gefommen ? — Nu! wie die Anbern, 
um einen Zauberer zu ſehen. — Wer hat Euch gefagt, daß ich 
emer ſei?“ — Der Frifeur, der mir diefen Morgen das Haar ge- 
ſchritten Bat, und weil ſchon lange ber in unferem BDorfe fein 
Örrenmeifter gewefen ift, fo bin. ich heute expres deßhalb im bie 
Ztadt gegangen, um Euch zu ſehen. — Wollt Ihr magnetifirt 
in? — Magne...? Wie heißt Ihr das? — Wollt Ihr, daß 
id meine geheimen Kräfte an Euch verſuche? — Meinetwegen, 
ia doch! verſucht, was Ihr Einnt! — Nun denn, was wünſcht 
Ir zu wiffen? — O! Teufel! allerlei!... Errathet Ihr es denn 
nt? — Gewiß, und ich will Euch fogleich magnetiſiren. — Ich 
bins zufrieden; wird mich das viel koſten? — Ich nehme nichts 
tafür. — D dam fehe ich wohl, daß Ihr ein Zauberer feip, 
ta Ihr Euren Handel treibt, ohne daß man Euch die Hand 
ichmiert. 

Rein kleiner Bucklichter ließ jetzt den Bauer auf einen großen 
Etubl ſich niederſetzen, beſtrich ihn mit feinem magiſchen Stäbchen, 
zber der Lümmel ließ ſich berühren und ſtreichen, ohne daß es die 
züngfte Wirkung hatte. Mein College fuhr ihm jetzt mit den 
Ragern leicht an den Augen vorüber, um ihm das magnetifche 
Andum beizubringen. Der Bauer ließ Alles mit fich anfangen 
m beguägte ſich damit, von Zeit zu Zeit fi auf dem Stuhle 


110 


beirogen werte. Du kauuſt Dir vorſtellen, Sansfonci, daß wir in 
der Stadt kein Glück machten. 

Gin foldhe® Leben fing an mich zu langweilen ; ich hatte meeinem 
Sudlichten fon etliche Male gefagt, daß ich mich von ihm treumen 
wolle, aber er überrebete mich immer, wieder zu bleiben; eines 
Tages beſchloß ich endlich, meinen Thorheiten eine andere Richtung 
ju geben und ihm einen ſolchen Streich zu fpielen, daß ihm bie 
Luft verginge, mich länger aufzuhalten. 

Wir waren gerade in einer Heinen Stadt, wo wir Wunder 
thaten. Der Magnetismus und Somnambulismus verdrehte alle 
Köpfe; man drängte ſich nach unferem Rath, unferer Hülfe; ich 
konnte dem Berlangen nad) Pillen nicht Genüge leiften, und felbft 
unfere Tränfe gingen herrlih ab; da entſchloß ich mid denn, ein 
Experiment auf eigene Manier zu machen, um Dummföpfe zu prellen. 

Ein alter Advokat machte feit einiger Zeit einer fchon ziem⸗ 
lich bejahrten Kokette den Hof, die feiner Flamme zwar widerſtand, 
aber feinen zärtlichen Liebfofungen nicht ungern Gehör ſchenkte. 
Die Dame war liflig; fie fand ein Vergnägen daran, Leidenſchaften 
zu erweden, fürdhtete aber, ihre Macht über ihn zu verlieren, wenn 
fie feinen Wünfchen nachgebe, Beide confultirten und, der Advokat, 
um zu dem Mittel zu gelangen, feine Holde zu erweidhen, und 
fie, um ſich den Zauber zu erhalten, womit fie fih fo viele An- 
beter ſchuf. Mein College verfprach Herrn Gerard, fo hieß ver alte 
Gel, einen Trank, womit er fih auch die Fältefte Frau geneigt 
machen Eönne, und der Madame Dubelair ein Mittel, um ihre 
Neize vor dem Zahn ber Zeit zu verwahren. 

In dem Haufe der Madame Dubelair wohnte der Adjunkt des 
Maired von jener Stadt. Herr Rofe war ein gutes Männchen, 
aber feine Frau beflagie ſich über ihn, daß er fie zu wenig liebe 
und gar nicht eiferfüchtig fei. Sie verlangte daher ebenfalls unfern 
Beiſtand, die Gleichgültigfeit ihres Mannes zu heilen. Einen Mann 
nach fünfzehnjähriger Ehe in feine Fran verfieht zu machen, war 





109 


wit ber Rafe Hinein. Das Waſſer erfrifcht und bernhigt die Siane. 
der Bauer z0g feinen Kopf aus dem Zuber zurüd, ließ den Bart 
Ihren und entfernte ſich ganz beruhigt aus dem Saal, indeß mein 
ganz burdmäßter College wohl einfah, daß er in feinem Zuflande 
ine Proſelyten machen Tönne, und bie Sitzung für aufgehoben 
erklärte, 


Breischntes Kapitel. 


Birtung Per Zaubertränte — Bruder Jakob verläßt 
feinen Reifegefährten. 


Troß bed ſchlechten Audgange unferer erften magnetifchen Por: 
üellung machten wir im Mohrenkopfe doch fehr gute Gefchäfte ; 
Slairette gab uns flet3 die Auskunft, die wir wünfchten, und um 
me Scene, wie bie des Euſtachius Nicolas für die Zukunft zu 
ermeiden, ließen wir fortan nur folche Perſonen unferen Berfamm: 
lungen anwohnen, vie fich zuvor hatten einfchreiben laſſen. 

Die Neugierde ließ indeſſen auch nah, und bie Wirfung ber 
dillen entfprach nicht immer den Erwartimgen unferer Käufer. 
Reine Liebe zu Clairetten war nicht mehr fo heftig, und es ver: 
wfohte mir daher gar feinen Schmerz, ald mir mein Kollege eines 
Tage aufünbigte, daß wir abreifen würden. 

Sechs Monate hindurch, verlebten wir auf die gleiche Weife ; 
eir hielten und, je nachdem wir mehr oder weniger Thoren ober 
zelmehr Anhänger unferes Syſtems fanden, Türzere ober längere 
zZeit an einem Orte auf, und waren mit unferer finanziellen Lage 
hr zufrieden. Wir fanden jedoch nicht überall unfere Gehülfen 
ar machten dann zuweilen. bebentenbe Verſtoͤße. 

So ſagte ich zum Beiſpiel eines Tages einem Wucherer, daß 
t dab Geld, einem. Trunkenbold den Wein, einem Spieler die 
Ratten wicht liebe, und einem Junggeſellen, daß er von feiner Tran 


112 


Neberraſchung! feine zärtlich geliebte Freundin if Taum noch zu ers 
‚Tonnen ; ihre Naſe ift roth und geſchwollen, die Haut bleich unb 
weht; mehrere Puſtelchen ſchmuͤcken die Stine. 

„Wie finden Sie mich heute Abend, Here Gerard?" fragt 
Madame Dubelair, fchalfhaft laͤchelnd, „o ich bin gewiß, Sie 
werben mich unverändert finden. — In der That, Madame,“ er: 
widert ber arme Advokat, indem er ſich den Bauch hält und teuf- 
lifche Grimaſſen ſchneidet, „ich finde Sie verändert, ohne Zweifel 
find Sie krank? — Krank! ... Kranf!... Und Sie, mein Herr, 
krümmen ſich ja ganz merkwürdig. — Madame, ich muß geflchen, 
daß feit einem Augenblid... — Bifine, meinen Spiegel... id 
muß doch fehen, ob ich fo Frank ausfehe, wie der Herr behauptet.“ 

Der arme Gerard Tann fich nicht mehr halten; ber Trank thut 
Wunder, Migräne und Kolik find in vollem Aumarſch. Die Kam: 
merjungfer bringt der Madame Dubelair den Spiegel. Die Kofette 
ſieht hinein, fchreit fürchterlich auf, zerbricht den Spiegel, befommt 
Nervenzufälle, und der arme Liebhaber befchwärt Fifine, ihm eiligſt 
den Sarberobefchlüffel ihrer Madame zu geben. Das junge Mäpchen, 
ſchalkhaft und ausgelaffen wie alle Kammerkaͤtzchen, lacht aus vollem 
Halfe über ven beklagenswerthen Zufland des Herrn Gerard, und 
um bie Scene noch interefjanter zu machen, rennt jetzt Madame 
Rofe herbei und jammert, daß fie verrathen, entehrt fei! daß ihr 
Mann, ein Ungeheuer, fie vernachläffige und es mit der Fran bed 
Portierd halte. Unfer Liebeötranf hatte Herrn Rofe hoͤlliſch in 
Flammen gebracht; er Tommi nad Haufe und hofft feine Frau zu 
treffen ; dieſe aber hat ſich verſteckt, und im Feuereifer erklärt er 
ber fünfzigjährigen Portiersfrau feine unwiderſtehliche Flamme. 

Das Iammergefchrei der Madame Rofe, die ganz rabiat war, 
der Portieröfrau, die fich fo flellte, der Madame Dubelair, bie 
ſch die Nafe ausreißen wollte, des Herrn Gerard, ber fich ben 
Bauch hielt, und bed Herrn Rofe, ver über feine Tollbeit troftlos 
war, brachte das ganze Stadtviertel in Aufruhr. Man lief her 


111 


keine Meine Aufgabe. Nichts deſto weniger verſprach mein College 
der Madame Rofe einen Wunderdrank für die Ciferfucht, und bie 
yärtlihe Ehegattin wer ſelig, daß fle in ihrem Gemahl das laͤngſt 
erloſchene Biebesfener wieder aufs Neue würde anfachen Tönnen. 

Rein Budlichter bereitete die Tranfe und gab mir ven Auf: _ 
ag, fie den Beftellern zu überbringen und fie mir gleich baar be: 
zahlen zu laſſen. Unterwegs bachte ich, wie fraßhaft es fein müſſe, 
tie gläſchchen zu verwechfeln. Meiner Treu! dachte ich, Du mußt 
ſeben, welden Erfolg dies Haben wird!... Du gibft der Madanie 
Rofe hatt des Tranks für die iferfucht den, ber verliebt marht, 
Gern Gerard dagegen den, der zornig macht, und der Madame 
dubeleir den, ver eiferfüchtig macht, fo muß das jedenfalls ko⸗ 
niſche Keſultate hervorrufen. 

Ich führe meinen Plan aus, übergebe meine Traͤnke, ver⸗ 
ſitere die ausgezeichnetſte Wirkung und harre mit Ungeduld auf 
ten rfolg meines muthtwilligen Streiches. , 

Het Gerard Hatte von Madame Dubelair die Erlaubniß er- 
Salten, ihr unter vier Augen feine Aufwartung zu machen. Er 
eilt am Morgen den Trank, und um ſich möglichft mit Ber: 
woenbeit und Entfchloffenheit zu waffnen,_ genoß er eine ftarfe 
Lfd davon ; Madame Dubelair fäumte ihrerfeitö auch nicht, von 
Iren Wundertrank zu koſten, um ihren Reizen neue Feſtigkeit zu 
vb, und Madame Rofe hatte einen Theil ihres Flaͤſchchens ihrem 
Rumn in die Chofolate gegoſſen. 

Tu weißt, mein lieber Sansfouci, aus welchen Droguen mein 
dndliähter feine Zaubertränfe zufammenfeßte und wie er ihren un: 
'hlberen Erfolg berechnet hatte; mache Dir num eine Vorftelung - 
ru den Greigniffen, die an diefem merkwürdigen Abend ſtattfanden. 
ben Gerard geht zu feiner Angebeteten; unterwegs empfindet gi 
lechte Kolikſchmerzen; fein Kopf brennt ihn und er meint, her 
tust mäffe fo wirken; er kommt zu Madame Dubelair und finbet 
anf dem Sopha nachlaͤſſig hiugeworfen! Aber wie groß ift feine 


112 


„Meberrofegung ! feine zärtlich gelichte Frenndin iſt kaum noch zu 
fennen ; ihre Naſe ift roth und gefchwollen, die Haut bleidh ı 
weit; mehrere Puſtelchen fchmäden die Stirne. 

„Wie finden Sie mich heute Abend, Herr Gerard?“ fr 
Madame Dubelair, ſchalkhaft lächelnd, „o ich bin gewiß, ‘ 
werben mich unverändert finden. — In der That, Madame,“ 
wibert ber arme Abvolat, indem er fich ven Bauch belt und fı 
liſche Grimaſſen fchneidet, „ich finde Sie verändert, ohne Zwe 
find Sie krank? — Kranl!... Krank!... Und Sie, mein H 
krümmen fi ja ganz merkwürdig. — Madame, ich muß geftel 
daß feit einem Augenblid... — Fifine, meinen Spiegel... 
muß doch fehen, ob ich fo frank ausfehe, wie der Herr behaupt 

Der arme Gerard Tann fich nicht mehr halten; ber Tranf 1 
under, Migräne und Kolif find in vollem Anmarſch. Die K 
merjungfer bringt der Madame Dubelair den Spiegel. Die Kol 
fieht hinein, fchreit fürchterlich auf, zerbricht den Spiegel, befor 
Nervenzufälle, und der arme Liebhaber beſchwoͤrt Fifine, ihm ei. 
den Garderobeſchlüſſel ihrer Madame zu geben. Das junge Mäpc 
ſchalkhaft und ausgelaſſen wie alle Kammerkaͤtzchen, lacht aus vo! 
Salfe über den beflagenswerthen Zuſtand bed Herrn Gerard, 
um bie Scene noch intereffanter zu machen, rennt jekt Mad 
Nofe herbei und jammert, daß fie verrathen, entehrt fei! daß 
Mann, ein Ungeheuer, fie vernachläffige und es mit der Frau 
Portierd Halte. Unfer Liebestrant hatte Herrn Rofe hoͤlliſch 
Flammen gebracht; er kommt nach Haufe und hofft feine Fraı 
treffen ; biefe aber hat ſich verſteckt, und im Yeuereifer erflär 
ber fünfzigjährigen Portieröfrau feine unwiderſtehliche Flamm 

Das Jammergefchrei der Madame Roſe, die ganz rabiat ı 
der Bortiersfrau, die ſich fo ftellte, der Madame Dubelair , 
fh die Nafe ausreißen wollte, des Herrn Gerard, ber fig 
Bauch hielt, und des Herrn Rofe, der über feine Tollheit tro! 
war, brachte dad ganze Stadtviertel in Aufruhr, Man lief 


113 


bei, frag, ſtieß und drängte fih; man gab ver Madame Rofe 
Fleur⸗d Orangeliqueur, der Portieröftau Eau de Cologne, der 
Radame Dubelair Aether, Herrn Gerard ein Klyftier und Herrn 
Rofe weißen Seeblumenfamen. 

Als der erfte Lärmen fich etwas gelegt hatte, bemühte man 
fih, die Urfache fo vielen Unheils aufzufuchen. Jedenfalls mußten 
magifche Künfte mit im Spiele fein. Madame Dubelair verficherte, 
fie habe in ihrem ganzen Leben weder auf der Nafe, noch fonft 
wo nur das Tleinfte Puftelchen gehabt, Herr Gerard lebte fehr 
mäßig, und Madame Rofe geftand troß ihrer Wuth, daß ihr Mann 
feiner Frau zu nahe fomme, wenn man ihm nidyt etwas in den 
Kopf geſetzt habe. Die Ereigniffe mußten alfo ihre geheime Urfache 
baden. Dian erinnerte ſich der Tränfe; man vertraute fich die gegen- 
feitig gefchehenen Schritte an, und das Nefultat war, daß mein 
Heiner Buclichter für einen Charlatan, Betrüger und Falſchmünzer 
der Hölle ausgefchrieen wurde, den man vorerft ind Gefängniß 
werfen müffe, um ihn an weiteren Teufelöftreichen zu verhindern. 

Der Adjunkt Rofe ging zum Maire, erzählte ihm ven Her- 
gung der Sache und erhielt fodann die nothwendigen Polizeibeamten 
zur Arretirung des Schuldigen. Der alte Advokat verfammelte alle 
Honoratioren der Stadt, um mit ihnen zu berathen ; fie theilten 
feine Wuth und meinten, daß ein Schurfe, der einer Gerichts⸗ 
verfon abfichtlich die Kolik beibringe, nicht genug beftraft werben 
könne. Madame Dubelair und Madame Rofe brachten alle Frauen 
in Aufruhr; die erftere. brauchte nur ein Wort zu jagen; ein 
Mann, der fchönen Frauen die Nafe roth und den Teint blaf 
mache, fei ein dem Henker verfallener Bsfewiht!... Was nun 
sch den Trank des Herrn Roſe anbelangt, fo verlangten alle 
Damen davon einige Tropfen und meinten, in fo Heiner Dofis 
genommen, müſſe der Trank hoöchſt wohlthätige Folgen haben. 

Alle diefe Ereigniſſe hatten Zeit gefoftet; es fing an Tag zu 
werden, ald man den Weg zu unferer Wohnung nahm, um und 

Baul de Rod. 1, 8 


316 


Ich ging, oder vielmehr man führte mich eine ſchmutzige krumme 
Stiege hinauf, und ich befand mich endlich in einem faft ganz 
leeren Zimmer, was mir zu einer andern Zeit eben feinen ſehr 
glänzenden Begriff von meiner neuen Belanntichaft beigebracht 
haben würde; jept aber dachte ich nur an Ruhe, und in zwei 
Minuten lag ich ſchon auf einer fchlechten Matrabe im tiefften Schlafe. 

War ed die Wirfung des Bunfches und der Liqueurs, daß ich 
mich während des Schlafes lebhaft bewegt fühlte ; ich weiß es nicht, 
aut fo viel, daß ich nicht aufwachte und es fchon ſpaͤt am Morgen 
war, als wiederholte Stöße mich endlich aus dem Schlafe brachten. 

„Se! Hola! Freund... aufgewacht... Ihr fchlaft ſchon 
lange bier, das kann Euch fchaden !“ 

Died waren die erften Worte, die ich vernahm. Ich öffnete 
die Augen, ſah um mich, fprach aber fein Wort, denn der Anblick, 
den ich hatte, ließ mich im Ungewiffen, ob ich wirklich erwacht fei. 

Urtheile von meinem Erftaunen, lieber Sansfonci, flatt mich 
in einem Zimmer und in bem Bett, in bad ih mi Abends zu- 
vor gelegt hatte, zu befinden, fehe ich mich auf einer Steinbanf 
au einer Straßenede, ohne Rod, ohne Hut, bloß im Hemde, Weſte 
und Hofen, auögeftredt und um mich herum mehrere Kerls, die mich 
neugierig anfahen. 

„De, munter, Kamerad!“ fagte einer zu mir, „lommt doch 
enbli zu Cuch; wahrfcheinlich habt Ihr geflern Abend gut ge- 
geſſen und noch befjer gefrunfen, und das greift an, wir kennen 
das! ... am andern Morgen ift man ganz verwirrt und weiß wicht 
mehr, wo man feinen Kopf hat!... aber nad und nach findet 
fih das wieder.“ 

Die Worte des Mannes riefen mir in der That alle meine 
Thorheiten vom geftrigen Tage ind Gedaͤchtniß zurüd. Mit haſtiger 
Bewegung griff ih in meine Taſchen. Ach, fie waren leer! mein 
ganzes Vermoͤgen trug ich auf dem Leibe... ich war ſchaͤndlich 

beizogen worden... Bergebens frug ich die Umfichenben nach ver 





118 


er aud Lyon fel und eine Reife machte, um einer Heirath audzn: . 
weichen, zu ber feine Eltern ihn zwingen wollten. Sein Vertrauen 
erweclie dad meinige, ich erzählte ihm alle erlebten Ereigniſſe, und 
tiefe ſchienen ihm ſehr zu intereffiren. Die Mebereinftimmung unferes 
Geſchmads, unferer Anfüchten machte und fchnell zu Freunden. 
Breville, fo hieß mein neuer Freund, Iud mid) ein, am andern 
Tage bei einem der beften Traiteurs mit ihm zu Mittag zu fpeifen, 
ud ih nahm es mit großem Vergnügen an; denn es ift fehr an⸗ 
genehm, in einer Stadt, wo man fremd ift, gleich befannt zu werben. 

Breville bewirthete mich aufs Beſte; wir fpeisten ganz vor- 
ehlih, und daun ging ed auf Promenaden, Theater, Kaffeehäufer; 
als Fremder fchien er fehr befannt in der Stadt und durchſtreifte 
mt mir alle öffentlichen Gärten und Luſtoͤrter; ich machte ihm 
lechend darüber mein Gompliment, daß er fich fo gut ausfinden 
Ime und an einem fremden Ort fo fchnell Befcheid gelernt habe. 
Rach manchen Streifereien in den Beluftigungsorten befanden wir 
nö morgens um ein Uhr, betrunfen von Punſch, Liqueurs, Porter 
m Pharao, auf der Straße. 

Ich konnte mich Taum aufrecht halten und ſehnte mich nach 
zeinem Bett, in das mich jedoch eine wohlthaͤtige Fee hätte tragen 
zifen, denn meine Beine waren zu ſchwach hiezu. Breville fchien 
zenger erfchöpft als ich, doch- Hagte er auch über Mattigfeit; vie 
Stofen waren nur noch ſchwach erleuchtet. Seit einer Stunde bat 
ö meinen Begleiter, mich nach Haufe zu bringen ; aber wir durch⸗ 
tin Straßen und Pläge, ohne meinen Gafthof zu fehen. 

Rein Führer geftand mir endlich, daß er ven Weg verfehlt 
"and wir fehr entfernt von meiner Wohnung wären,. die feinige 
ia nahe, fei und er mir daher fein Bett anbiete. Du kannſt leicht 
“lem, daß ich fein Anerbieten ohne Bedenken annahm ; id) konnte 
“st mehr von ber Stelle, faum daß ich noch einige Befinnung 
"elt ; die unvermeibliche Folge ver überhäuften Genüffe. 

Hreville Hopfte an eine Hausthüre; ein altes Weib oͤffnete. 





118 
„Run, junger Freund, was wollt Ihr Acht beginnen,“ rief 


eine Stimme mir zu, bie plöglich. in meinem Innerſten wieber: 
ballte. Sch drehte ven Kopf um und fah zwei Militärs am Tifche 
beim Frühftüd. „Mein Gott, mein Herr,“ erwiderte ich dem, ber 
fih für mich zu interefliren fehien, „ich weiß ed nicht... ich habe 
feine Mittel mehr! — Keine Mittel! daran fehlt es nie, wenn 
man brav ift und Feine Schlechfigfeiten begangen hat... Da fept 
Euch, frühftückt mit und... und faßt Muth; potz Blig! in 
Eurem Alter muß man nicht verzweifeln.“ 

Diefe Worte gaben mir meine ganze frohe Laune wieder; ich 
lieg mich nicht zweimal nöthigen und aß mit tüchtigem Appetit ein 
guted Theil von dem Schinken und Käfe, woraus dad Frühſtück 
der Militärs beſtand. Als ih fatt war, fing jener wieber an: 
„Freund, Ihr habt Sure Eltern verlaffen, um Thorheiten zu be: 
geben, Euer erfler Fehler; Ihr habt Euch mit Beirügern und 
Taugenichtfen abgegeben, Cuer zweiter Fehler, und Ihr habt Euch 
beftehlen laſſen, Euer dritter Fehler. Bis jebt fein Ihr indeſſen 
noch zu entichuldigen, aber nehmt Euch in Acht. Wenn man be: 
trogen worben ift, wird man oft felbft zum Betrüger. Das if 
jungen Strolchen ſchon zuweilen paffirt, die gleich Euch am Morgen 
nad) einem Feſte Fein Geld mehr hatten. Man folgt feinen Leiden: 
fchaften, dem Hang zur Ausfchweifung und zum Müßiggang, man 
begeht gemeine Handlungen, um exiſtiren zu Tönnen, unb wird 
wirklich fchlecht, nachdem man zuvor nur leichtfinnig war, Ihr 
feid auf dem beften Wege hiezu und müßt nunmehr einen Entfchluß 
faffen. Ihr kommt weder zu einem Mittagdefien, noch zu einem 
Rod, wenn Ihr mit müßigen Armen nah den Sternen gafft. 
Berfteht Ihr ein Handwerk? — Nein, mein Her. — Nun, fo 
werdet Soldat. Nehmt vie Musfete über die Schulter und fragt 
fie mit Ehren. Ihr fein fung, groß, gut gebaut. Seid dabei au 
brav, Eurem Borgefepten ergeben, und ich verfpreche Euch, Ihr 
follt vorwärts kommen.“ 


117: 


Bohrung des jungen Bröville, Niemand Tannte ihn. Ich fuchte 
dad Haus, in das mich der Elende geführt hatte, aber keiner fah 
ihm aͤhnlich! 

Bol Ruth und Scham im Herzen erhob ic mich endlich; ih 
weiß nicht, zu welcher That ich mich hätte hinreißen laſſen, wenn 
der Betrüger mir jebt unter die Augen getreten wäre! Aber Du 
kaunſt Dir wohl denken, daß er fi vor mir hütete. Ich frug nach 
dem Beg zu meinem Gaſthof und begab mich dahin. Aber was 
follte ih nun beginnen, was follte aus mir werden 2... ich hatte 
nicht einen Sons mehr und fah ans wie ein Beitler!... Nach⸗ 
dem ich den Herrn gefpielt und alle meine Wünſche befriebigt ges 
ſchen Hatte, follte ich num von Almofen leben... welch ein ſchreck⸗ 
iger Wechſel.. Wie fehr fehnte ich mich jetzt nach meinem Kleinen 
Bndlichten und unfern magnetifchen Vorſtellungen ... Wenn ich das 
Retier deſſelben wenigftend allein hätte ergreifen können... Aber 
8 fehlte mir ja durchaus Alles; ſelbſt das Nothwendigſte zur 
Fertigung ber Pillen konnte ich mir nicht anfchaffen, und ich fühlte 
wohl, daß ein Somnambule, der weder Rod noch Strümpfe hat, 
eme traurige Figur fpielen und Niemand in den magnetifchen Schlaf 
a bringen im Stande fein würbe. | 

Ich war indeſſen feft entfchloffen, lieber zu fterben, als mir 
wein Beben zu erbetteln, und Tam endlich in meinem Tläglichen 
Aufande in dem Gaſthofe an, ben ich ven Abend zuvor fo glüd: 
hd verlaffen Hatte. Sch trat in den Saal, wo Reifenve früh: 
küdten.. Man erfannte mich nicht, und die Kellner wollten mich 
(den fortfagen, als ich meine traurige Gefchichte zum Beften gab. 

Der Wirth bedauerte mich, bot mir aber mein Zimmer nicht 
Dieder an, worin ſich meine wenigen Effekten befanden, die nicht 
Breiten, meine Zeche zu decken. Ich blieb unbeweglich vor ben 
Reifenden ftehen ; ich ſprach nichts mehr, aber zwei Thränen rollten 
nir über dad Geſicht, und mein Stilffchweigen war beredter, alg 
win Worte es hätten fein Tannen, 


120 


„Kamerad, Du bift jeht fertig? — Sa. — Nun denn, vor: 
wärts, weiter. — Wozu, wo willft Du hin? — Gleichviel wohin, 
wenn wir nur an einen Ort kommen, wo es was zu eſſen gibt. 
Ab, Da Haft Hunger? — Sa, Bomben und Granaten! furcht⸗ 
baren Hunger! mein Magen wird von bloßen Geſchichten nicht fatı. 
Die Deinige hat mir zwar viel Spaß gemacht, aber nun fie aus 
ift, fühle ich erft recht, wie nöthig mir etwas Solides thut! — 
Sol ich wieder anfangen? — Nein, nein, Du folift mir folgen. 
— Aber wo denn Hin ? — Komm Du nur, immer frifch vorwärts !” 

Jakob und fein Kamerad machen ſich querfeldein auf ven Weg... 
Man konnte nicht mehr deutlich fehen, und ihnen war jeber Weg 
gleich. Jakob ſchwieg. Sansfouci fang und verfluchte abwechfelnn 
alle Zäune und Heden, die ihnen den Weg verfperrien. Nach einer 
Stunde endlich bemerkten fie in der Ferne ein Licht. 

„Ha! dort auf das Licht los,“ ruft Sansſouci bei verboppelten 
Schritten, „va wird man uns gaftfreundlich aufnehmen. — Sans: 
fonei, Haft Du Gelb? — Nicht einen Heller, und Du? — IE 
auch nicht! — Bleichviel, nur immer vorwärts !“ 

Man kam dem Gebäude näher, woraus ihnen das Licht ent: 
gegen’ leuchtete; es fchien groß genug, um eine Pächterwohnung 
zu fein, aber ed war fchon zu dunkel, um bie Gegenftände unter: 
fcheiden zu Finnen. Sansfouci geht, tappend, voran und fchlägt 
mit aller Kraft feine Yäufte und Füße gegen die erfle.Thüre, bie 
ihm in den Weg koͤmmt. Umfonft bittet ihn Jakob, weniger Lärm 
zu machen. Sansſouci will vor Hunger umlommen und hoͤrt nur 
auf feinen Magen. 

Zwei Hunde im Hofe erwidern feinen Lärmen ; auf ihr Gebell 
erheben die Kühe ein Gebrüll und die Eſel ein Geſchrei. Bei all 
diefem Getöfe hat eine weibliche Stimme von einem FJenſter aus 
die größte Mühe, fich verftändlich zu machen. 

„Wer ift da? ... Was wollt Ihr? — Ei! taufend Donuer: 
wetter! ich irre mich nicht... fle ift ed... meine Brünette! Habe 


119 


Diefer Borfchlag gefiel mir fo wohl, daß ich von meinem Stuhl . 


bo aufiprang, und indem ich meinen Goͤnner umarmen wollte, 
ven Tiſch umwarf, worauf zum Glück nichts mehr ſtehen geblieben 
war. Deine lebhafte Freude geflel dem Sergeanten und feinen Ka⸗ 
meraben. Sie führten mich fogleich zu ihrem Kapitän, der mich in 
feine Compagnie aufnahm, und feither, ich darf dies fagen, habe 
ich ſtets meine Pflicht ehrenvoll erfüllt. 

Seht weißt Du alle meine Abenteuer, mein lieber Sansfouki. 
Von denen, die ich beim Regiment erlebt Habe und deren Zeuge 
Du warft, fpreche ich nicht weiter. Sie find übrigens Bei allen 
Braven gleich; Liebſchaften, Schlachten, Händel, Berföhnung, 
autes Leben, Hunger, Siege, Rüdzüge, dies ift ja immer der In; 
balt der Lebensgeſchichte eines Soldaten. 


. Sabre vergingen : ich hatte meine Familie nicht vergeffen ; aber | 


ih geftehe es, ich wollte nur in einem höheren Grade vor ihr erfchei- 
nen; ich Hatte Ausficht zum Avancement, fchon warb mein Herz 
freudiger über dies Ehrenfrenz! ... Da nahmen die Ereignifie 
vlöglich eine andere Wendung. Als ich aus dem Felde zurückkehrte, 
dachte ich, meine Eltern würden ſich an einem ehrlichen und braven 
Soldaten nicht jchämen, und fuchte fie in Paris auf, erfuhr aber 
ihren Tod !... Diefer Schlag war furchtbar, aber ver kalte Empfang, 
der gemeffene und verädhtliche Tun meines Bruders erbitterte vollends 
mein Herz! ... Es ift abgemacht, Sansfouei, er foll mich nicht 
wieder fehen, der Undankbare, niemals foll er von mir wieder hören. 

So endigte Jakob feine Erzählung und eine Thräne befeuchtete 
bei den letzten Worten feine Wange; fie floß feinem Bruder, ben 
er, troß feines Benehmens gegen ihn, dennoch Tiebte. 

Es fing an dunkel zu werben; Jakobs Erzaͤhlung hatte lange 
gedauert, und Sandfouci hatte mit folder Aufmerkſamkeit zugehört, 
vaß er ed nicht bemerkt Hatte, wie die Mittagszeit laͤngſt vorüber 
war. Aber als fein Kamerad geendigt hatte, fprang er auf, fchät: 
tehte den Kopf, ſchlug fich auf ven Bauch und fah feinen Freund an. 


‘ 


122 


Sn kurzer Zeit war das Abenbeflen fertig, und Jakob und 
Sansfouei machten ihm alle Ehre. Luiſe jah Beide laͤchelnd an amd 
Dachte an bie Meberrafchung ihres Mannes am andern Morgen, 


wenn er erfahren würde, daß zwei Freunde im Haufe geichlafen Hätten. 


„Sch werde Euch in bie kleine Käfeftube betten,“ fagte bie 
Paͤchterin, „fie tft hier nahe und ihr koͤnnt hinein Tommen, ohne 
burch die unfrige zu gehen und meinen Alten zu weden. Morgen 
wollen wir ihm Alles erzählen.“ 

Zuife legte großed Gewicht darauf, daß ihr Mann nicht ge: 
weckt werde ; fie führte ihre Säfte in ein Eleined Zimmer, wo ber 
Wintervorrath an Käfe längs der Mauer auf Brettern aufgepflanzt 
war. Das gab nun eben feinen fehr Lieblichen Geruch, aber zwei 
Soldaten find nicht fo verwöhnt. Jakob warf fich aufs Lager und 
fehlief jeher bald ein; Sansfouci behauptete, daß die Käfe ihn in- 
eommobirten, ftand auf, um frifche Luft oder etwas anderes zu ſchoͤpfen; 
dem fei, wie ihm wolle, die Nacht verging fehr angenehm, und 
der Pächter wachte nicht zur Unzeit anf. 

Am andern Morgen war Alles frühe auf den Beinen. Der 
Bächter Guillot machte bei der Erzählung feiner Frau große Augen; 
er eilte, um feinen Vetter, den alten Soldaten, und feinen Freund 
zu umarmen ; er bewillkommte fie fehr freundlich, ftieß mit ihnen 
an, fand in ihnen ein paar herrliche, fivele Seelen und zeigte ihnen 
im Jubel feined Herzens feine Hühner, Efel, Ochfen, nebft feinen 
Korn und Heu. Unſere beiden Soldaten fanden Alles fehr fchön 
und im Stande, fie machten ihrem Wirth Komplimente barüber 
und waren bald feine beften Freunde. 

Jakob Liebte das Landleben, Wiefen, Wald und Feldarbeiten : 
Sansſouci liebte die Pächterin und die Küche: Jakob erzählte Abende 
feine Schlachten, Belagerungen und Abenteuer. Der Pächter war 
ganz Ohr und athmete kaum; Sansſouci felbft theilte dad Ber: 
gnügen ber guten Landleute und ermangelte nicht, auch feinerfeite 
hübſche Geſchichten zum Beften zu geben. Diefe Erzählungen mad 








121 


i& Die nicht gefagt, Jakob, wir würben was zu effen befummen?... 
wir find in der Pächterwohnung ; mache auf, mein MRänschen... 
geſchwind, mach’ anf!... bie Liebe und der Hunger bringen mid 
zu Die zuräd!... — Wie! follte er's fein ? — Freilich iſt ers... 
jaih... wir find es! Geſchwind, Luife, ziehe Dein züchtiges 
Rödhen an und öffne die Thüre... Aber bringe Deine Thiere 
wieder in Ruhe, denn man kann ja fein eigenes Wort nicht verftehen.“ 

Die Pächterin verläßt das Fenſter, um unfere Freunde einzu: 
laſſen, und Sansſouci unterrichtet indeffen Jakob, daß fie bei der 
Ungetreuen fein, wovon er ihm erzählt habe und diefe eine ſehr 
gute, gefühlvolle, freundliche, dienftfertige Frau fei. 

„Aber ihr Mann,” fagt Jakob, „ift doch Herr im Haufe, und... 
— Ren, pro primo ift Luiſe Herr im Haufe, und pro secundo 
ıt er eine gute ehrliche Haut... O! fie bat mir Alles das heute 
Rorgen gefagt. Sie verlangt, ich follte ald entfernier Berwanbter, 
ter ans dem Felde zurückkehre, einige Zeit bei ihnen bleiben, ich 
zabm es aber nicht an, weil ich Dir verfprochen hatte, Dich auf: 
wfechen, und unfere Sreundfchaft geht doch Allem vor. Aber da 
wir nun einmal hier find und wir thun Tönnen, was wir wollen, 
meiner Treu! fo... Unfer gutes Glück Hat und wieder hieher ges 
fit... doch ſtill! da kommt ſie! ...“ 

Und wirklich Sffnete Luiſe die Thüre; beim Anblid Jakobs 
ſchien fie überrafcht. — „Ich flelle Euch Hier meinen beften Freund 
vor,“ fagt Sansſouci, „einen Biedermann, einen Kameraben, von 
dem ich mich nicht trennen Tann. — O, ſchoͤn, wenn das ft... 
fe iſ's andy unfer Freund... Aber mein Mann fhläft, doch es 
f gleichviel, Sansfouci, vergiß nicht, daß Du mein Better bifl. 
— das iſt Har!.. . abgemaht!... aber jept nach der Küche, — 
eb werde Euch einen Spedeierfuchen machen! — Das ift delikat! ... 
Aber biſt Dir denn fo allein? — Sa! unfer Knecht verheirathet ſich 
übermorgen, und ba fehläft er etwas im Boraus, Better. — D, fo 
was iſt ſchon vorgekommen; gebt nur her, ich werbe Die Pfanne halten.“ 


122 


Sn Kurzer Zeit war das Abenbefien fertig, und Jakob 
Sansfouei machten ihm alle Ehre. Luife ſah Beide laͤchelnd an 
dachte an bie Meberrafchung ihres Mannes am andern Mor 

wenn er erfahren würde, Daß zwei Freunde im Haufe geſchlafen hä 
„Sch werde Euch in die Heine Käfeftube beiten,“ fagte 
Paͤchterin, „fie iſt hier nahe und ihre Eönnt hinein Tommen, ı 
durch die unfrige zu geben und meinen Alten zu weden. Mo 
wollen wir ihm Alles erzählen.“ 

Luife legte großed Gewicht darauf, daß ihr Mann nicht 
weckt werde ; fie führte ihre Gäſte in ein Tleines Zimmer, wı 
Mintervorrath an Käfe längs der Mauer auf Brettern aufgepfl 
war. Das gab nun eben feinen ſehr Lieblichen Geruch, aber 
Soldaten find nicht fo verwöhnt. Jakob warf fi) aufs Lager 
fchlief jehr bald ein; Sansſouci behauptete, daß die Käfe ihn 
eommobirten, fland auf, um frifche Luft oder etwas anderes zu ſchöp 
dem fei, wie ihm wolle, die Nacht verging fehr angenehm, 
der Pächter wachte nicht zur Unzeit auf. 

Am andern Morgen war Alles frühe auf den Beinen. 
Pächter Guillot machte bei der Erzählung feiner Zrau große Auı 
er eilte, um feinen Better, den alten Soldaten, und feinen Erı 
zu umarmen ; er bewillfommte fie ſehr freundlich, fließ mit it 
an, fand in ihnen ein paar herrliche, ſidele Seelen und zeigte il 
im Jubel feines Herzens feine Hühner, Eſel, Ochfen, nebft fei 
Kom und Heu. Unſere beiden Soldaten fanden Alles fehr fı 
und im Stande, fie machten ihrem Wirth Complimente dar 
und waren bald feine beften Freunde. 

Jakob liebte das Landleben, Wiefen, Wald und Felvarbei: 
Sansſouci liebte die Bächterin und die Küche. Jakob erzählte Abı 
feine Schlachten, Belagerungen und Abenteuer. Der Pächter 
ganz Ohr und athmete kaum; Sansfouei felbft theilte das : 
gnügen der guten Lanbleute und ermangelte nicht, auch feiner! 
hübfche Gefchichten zum Beten zu geben. Diefe Erzählungen m 


123 


ven ein ſolches Vergnügen, daß man noch einmal fo heiter und froh 
des Morgens zur Arbeit ging, wenn die Soldaten neue Geſchichten 
für den Abend verfprachen. 

Die Dorfbewohner erbaten es ſich al eine befondere Gunſt, 
an den Borträgen von Luifens Better und feinem Kameraden Theil 
uchmen zu dürfen, und da man auf dem Lande weber Zwang noch 
Geremoniell kennt, fo ward bad große Zimmer der Pächteruohnung, 
fobald die Feldarbeiten beendigt waren, mit Lanbleuten angefüllt. 
Die alte Bauersfrau brachte ihr Spinnrad, bie jüngere ihr Näh- 
zeug mit; das junge Mädchen ſtrickte oder hafpelte; in einer Ede 
teinigte der Knecht in der Schwinge dad Kom für feine Pferde ; 
ix einer andern tranfen und rauchten die Alten, während die Kinder 
auf dem Fußboden herum tummelten oder mit Sansfouci’d Bart 
frielten, Alle aber hörten dabei aufmerffam auf die Schlachigefchich: 
tm Jalobs. Wenn das Gefecht higiger wurbe und Jakob ins Feuer 
geriet, dann drüdte ſich Angft, Furcht und Schredien auf allen 
Geistern aus... Die Alte ließ ihr Spinnrad fliehen, ber Bauer 
nabm die Pfeife aus dem Mund, der Greis vergaß fein Glas, ber 
Kucht feine Schwinge ; ein Jeder ſtreckte mit offenem Munde ben 
Hald vor und wartete auf den Ausgang ber Schlacht, um nachher 
erh wieder feine Arbeit fortzufeßen. 

So vergingen fhnell' acht Tage. Unfere beiden Gaͤſte wollten 
indeſſen die Gaſtfreundſchaft des Pächters nicht bloß mit Gefchichten 
bezahlen und halfen ihren Wirthöleuten daher bei ihren Arbeiten. 
Jalob folgte Guillot aufs Feld und pflügte und grub nach Herzens⸗ 
Inf. Anfangs wollte der Pächter es nicht zugeben ; aber Jakob 
beſtand darauf, und in kurzer Zeit war er fchon fehr geſchickt. Sand: 
fenci blieb Lieber auf dem Pachthofe; Luife machte fich anheifchig, 
ihn zu befehäftigen, und fo hatte er denn auch immer zu thun. 
Eie war eine tüchtige Frau und Tonnte einem jungen Kerl ſchon 
za ſchaffen machen... . auf dem Boden, im Keller, im Garten, 
fogas im der Küche, überall wußte fie ihn zu gebrauchen. 


now en 


126 


zwei Damen und ein Herr fleigen aus und treten in den Hof. Der 
Diener fragt nach dem Namen der Fremden, um fle feiner Herr- 
ſchaft, die im Garten tft, melden zu koͤnnen; allein man will bie 
Familie Murville überrafchen, und bie eine ber beiden Damen geht 
ohne Umftände in den Garten und Bitte die Andern, ihr zu folgen. 

Endlich erblickt man die Geſellſchaft. Madame Germeuil und 
Adeline flehen überrafcht auf und laufen ver Madame Dolban entgegen. 

„Et! Sie find es, theuerfte Freundin, wie liebenswürdig! — 
Ich habe Sie überrafchen wollen, ſchon lange hatte ich e8 mir vor: 
genommen, denn ben Aufenthalt auf dem Lande Tiebe ich leiden⸗ 
fchaftlih. Ich habe meine Kleine Eoufine Jenny mitgebracht, die 
entzückt ift, mich zu begleiten, und da wir doch einen Gavalier haben 
mußten, jo habe ich mir die Freiheit genommen, Herm Dufreöne 
einzuladen, bem ed zur großen Freude gereicht, feine Huldigung 
darzubringen.“ 

Herr Dufresne macht den Damen eine tiefe Verbeugung, und 
Mama Germeuil verſichert der Madame Dolban, daß die Perſonen, 
die fie mitbringt, jederzeit willkommen find. 

„Der Herr ift Ihnen übrigens auch nicht unbekannt,“ erwidert 
Madame Dolban, „venn- er war auf der Hochzeit der lieben Adeline; 
Madame Denaur hatte ihn mitgebracht. — In der That, ich ers 
innere mich,“ fagt Madame Germenil, „aber an jenem Tage war 
man wohl zu entfchulbigen, alle jungen Leute dem Gebächtniffe wicht 
befier eingeprägt zu haben... Erinnern Sie ſich noch der fonber: 
baren Ereigniffe an jenem Abend! ... die arme Madame Dolen- 
ville und der unglüdliche Herr Robineau!... — Ad! fprechen 
wir davon nicht, meine Liebe, fonft muß ich aufs Neue zu lachen 
anfangen!... Aber wo ift denn Herr Murville? — Er durchflreift 
die Umgegend, aber er muß bald kommen, haben Sie die Güte, 
indefjen im Haufe auszuruhen.“ 

Man geht nach dem Salon ; Dufreöne bietet der Madame 
Bermeuil feinen Arm und Meline führt Madame Dolban und ihre 





125 


wieder den Fuß in fein Vaterhaus ſetzte. Jeden Augenblid glaybte 
er feinem Bruder zu begegnen, und am Tage ihrer Ankunft wollte 
er durchaus nicht mehr im Garten fpazieren gehen. Indeſſen war 
er feft entfchloffen, Jakob gut aufzunehmen und feiner Familie vor: 
zuftellen, wenn gleich er bei diefem Entfchluffe eine gewiſſe Ver⸗ 
legenheit und Furcht empfand, und fein Gemüth ſich dadurch in 
eine fortdauernd unzufriebene Stimmung -verfekte. 

Am zweiten Tage befrug er heimlich den Hauswärter: „Iſt 
Jemand in meiner Abweſenheit Hier gewejen?... habt Ihr ben 
Fremden wieder gefehen, den Mann, ver ſich immer am Ende des 
Gartens aufhielt ? — Rein, mein Herr, ich habe ihn nicht wieder 
gefehen, auch hat Niemand nach Ihnen gefragt.“ 

Eduard Holt leichter Athem und kehrt frober zu den Damen 
zurüc. Die Zeit vergeht, man bemerkt das bärtige Beficht nicht 
mehr. Madame Germeuil fängt manchmal lachend davon an und 
denkt nicht daran, daß fie ihrem Schwiegerfohn dadurch wehe thue, 
aber enblich vergißt man die Begebenheiten gänzlich und Cduard 
findet feine Ruhe wieder. 

Adelinens Herz hat fich nicht verändert ; immer zärtlich, ge: 
fühlvoll, betet fie ihren Mann faft an; fie iſt ganz glüdfelig, wenn 
er bei ihr ift und fie in feinen Blicken diefelben Gefühle, dieſelbe 
£iebe, dafjelbe Gluͤck Liest. Sie trägt ein Pfand feiner Zärtlichkeit 
unter dem Herzen ; ein neuer Beweggrund ber Freude, Hoffnungen 
und Bläne für die Zukunft. Ganz mit dem Glüde bejchäftigt, Mutter 
ju werben, ift Adeline jet weniger leichtfinnig und lebhaft; fie 
denlt daran, daß eine Unvorfichtigfeit ihrem Kinde ſchaden Tann. 

Man fieht wenig Geſellſchaft, aber Eduard ift auch noch in 
jene Fran verliebt und fühlt Feine Langeweile. Manchmal findet 
er wohl die Abende lang, die Partie Piquet mit Madame ˖Germeuil 
endlos, und die Promenaden in der Umgegend etwas einförmig, aber 
Adelinens Liebfofungen und Küffe bleiben immer angenehm qud füß. 

An einem ſchoͤnen Tage hält plöglich ein Wagen vor dem Haufe; 


128 


indem er fie mit ber Berficherung tänfchte, daß er die andge- 
zeichnetften Geſchäfte mache und bald ihre Rapitalien verbreifachen 
werde. 

Bon einem unbelannten Beweggrunde geleitei, erkundigte er 
ſich oft nach Adeline und ihrem Gemahl. Eines Tages äußerte er 
den Wunſch, fie in ihrem Lanphaufe zu befuchen, und Madame 
Dolban willigte ein; fie nahm ihre Kleine Coufine mit, um jeden 
Berdacht einer zu. vertraulichen Verbindung mit einem jungen Manne 
zu entfernen, den fie bei Madame Germeuil einführen wollte. 

Dufreöne war geiftreich , heiter und unterhaltend, wenn er fich 
liebenswürbig zeigen wollte, und bei unfern jungen Cheleuten that 
er Alles, was in feinen Kräften fland, um Jedermann zu gefallen. 
Zuvorkommend, galant, felbft gegen Madame Germeuil (denn er 
wußte, daß Galanterie den Müttern befonders gefällt) war er 
liebenewürbig, zurüdhaltenn und ehrfurchtsvoll gegen Adeline; 
Eduard aber wußte er durch feinen Geiſt beſonders zu feſſeln, und 
„lieg fi vor allen Dingen angelegen fein, deſſen Charakter, Ge⸗ 
ſchmack und Anfichten zu ſtudiren. 

Alles erhielt jet den Anftrich der Feftlichfeit im Haufe von 
Villeneuve St. George. Drei Perfonen mehr in einem Haufe 
koͤnnen fchon eine Veränderung darin hervorbringen. Gefang, Muſik, 
Promenaden, Jagbpartien, Fiſchfang wechjelten mit einander ab. 
Die Zeit verftrich jetzt ſehr raſch für den vergnügungsjüchtigen 
Eduard, erfchien aber fehr lange für Adeline, vie jebt weniger 
Gelegenheit fand, mit dem Geliebten ihres Herzens allein zu fein. 

Am dritten Tage nach ihrer Ankunft ſprach Madame Dolban 
ſchon davon, wieder. nach Paris zurüdzufehren, aber Eduard drang 
in fie, noch einige Tage länger zu bleiben. Er konnte ohne 
Dufresne nicht mehr leben. Schon vor dem Aufftehen der Damen 
gingen Beide auf die Jagb oder unternahmen weite Morgenpro⸗ 
menaden ; Murville war über feinen neuen Freund entzüdt. Geiſt, 
Frohſinn, immer gleiche Laune, Uebereinftimmung bed Geſchmacks 





.. 189 


u der Lebendanflihten machten ihm die Gegentvart Dafresnes 
gleichſam unentbehrlich. 

Abeline konnte auf dieſe neue Freundſchaft zwar nicht eifer⸗ 
fühtig fein, indeſſen empfand fie doch einen geheimen Kummer bei 
berleberzengung , daß ‚ihre Zärtlichkeit nicht mehr allein das Herz 
ihreg Mannes auszufüllen im Stande war. Die Liebe ift egoiftifch, 
fh auf die Freundſchaft wirft fie neibifch ihr Auge; was einen 
Angenblick den geliebten Gegenſtand feſſeln kann, thut ihr Abbruch. 
Über diefe allzugroße Liebe iſt zu entjchulbigen und wird nur dann 
eme Laſt, wenn fie aufhört, erwidert zu werben. 

Madame Dolban und ihre Begleiter nahmen von ben jungen 
Gbeleuten Abſchied; Adeline war fehr froh darüber: fie Eonnte mit 
Genard num wieder allein fein, fie Tonnte ohne Zwang fich mit 
ifm über ihre Pläne für die Zukunft, bie Erziehung ihres Kindes, 
und über alle die Freuden, die ihnen im Heinen Familienfreife noch 
bevorſtanden, unterhalten!.... Murville ging bie Trennung nahe, 
aber er Ind Dufreöne ein, ihm recht oft zu befuchen, und die Zeit, 
ne feine Geſchaͤfte ihm übrig ließen, wo möglich nur in Ville: 
seuves St. = George zuzubringen. 

Am Abend z0g Adeline ihren Mann mit fi in ben Garten ; 
fe äußerte ihre Freude darüber, daß fie num wieder mit ihm allein 
ie könne, fie brüdte feine Hände zärtlich in den ihrigen; fie 
beftete auf ihn ihre fchönen liebeathmenden Augen, und manchmal, 
wenn fie fich fchon im Voraus von ihrem Muttergefühle hinreißen 
eg, machte fie ihn auf die leifen Bewegungen bes Heinen Weſens, 
26 Re unter ihrem Herzen trug, aufmerffam. Eduard aber war 

ent, und obwohl er auf ihre Fragen antwortete, ſchienen doch 
zanz andere Dinge ihm im Kopf herumzugehen. Abeline bemerkte 
rat, fenfzte, und der Spaziergang wurde früher ald gewöhnlich 
beendigt. 

Als man am andern Morgen beim Frühſtück verſammelt war, 
irrach Gouard von Dufresne und dem Vergnügen, feine Bekannt⸗ 


Zaul dr Kod. 1. 9 


180 


fehaft gemacht zu haben. Es fei ein fehr liebenswürdiger Man 
von Geift und Vermögen, dem es gar nicht fehlen Fönne, berein 
ein ſeltenes Glück zu machen. — „Aber, mein Lieber,“ fagt Abelin 
„ed ſcheint mir, als habeſt Da Herrn Dufresne noch nicht gen 
genug kennen gelernt! . — In der That,” bemerkt Madan 
Germeuil, „ih Halte ibn für einen feinen Mann, er iſt 
Gefellfchaft fehr angenehm, und Madame Dolban kennt ihn u 
zweifelhaft feit längerer Zeit! ... aber, lieber Eduard, feit «i 
Tagen erft haft Du ihn gefehen, denn Deinen Hochzeittag Tann 
wir nicht rechnen, da Tonnteft Du nur wenig auf ihn Acht gebe 
— D, gewiß,” fagt Adeline feufzend, „an jenem Tage dachte 
nur an mih ... — Meine Damen, Sie find fonderbar! gehi 
denn jo viel Zeit dazu, Jemand Fennen zu lernen und zu bei 
theilen ? AH halte zwei Tage dazu für genug. Was follte übrige 
Dufreöne für ein Intereffe haben, ſich uns anderd zu zeigen, | 
er iſt? ... Er bedarf unferer Dienfte nicht, und Sie wiſſen, 
der Welt herrſcht nur das Intereffe ; aber wo das nicht iſt, war 
ſich da Zwang anthun? Dufressie hat Bermögen, macht gute ( 
fhäfte. — Was für Geſchäfte? — Ha! ... Geſchäfte an 
Börfe, Handelsſpekulationen, kurz, fehr brillante Gefchäfte, | 
er mir fagt. — Hat er ein Comptoir, ein Bureau, ein Amt, 
er Advokat, Agent? — Nein!... nein!... aber man hat 
Alles jetzt nicht nöthig, um Geld zu verdienen... Ueberdies, mi 
Damen, erlauben Sie mir die Bemerkung, daß Sie von de 
ernften Dingen nichts verſtehen. — In der That, lieber Brei 
Du bift fehr artig ! , Und warım glaubſt Du denn, daß 
nieht eben fo gut, als bie Männer, es zu beurtheilen verfte' 
was und nützlich fein kann oder nicht? — Weil Ihr nicht 
erzogen fein !” 

„Lieber Freund,“ erwidert Madame Germeuil, „Erziehung 
und weder Geift noch Urtheil. Glaube mir, eine Frau kann 
guten Rath ertheilen, und die Männer haben in der Regel Unr 


138 


barauf nicht zu achten. Dex einzige, ben ich Dir jetzt geben will, 
iR der, nicht zu leicht eine eng vertrauliche Verbindung mit Je⸗ 
manden zu ſchließen, den Du erſt feit acht Tagen kennſt. Freund: 
ſcaft ſoll vorſichtig fein. — Aber Eduard ift von zu gutem Teicht- 
Hlänbigen Charakter, — O! ich Eenne meine Leute... Ich ftehe 


bafür, daß Dufresne's Freundfchaft mix fehr nüglich fein wird. — . 


Bie dem? — Ei der Taufend ! ich werde ed machen, wie er; 
um anfer Bermögen zu vermehren, werde ich auch fpefuliren. Ich 
fühle übrigens fehr wohl, daß ein Mann ohne Gefchäfte nicht leben 
Ion. Wenn wir in Paris find, werde ich nicht vom Morgen bie 
hend fpazieren gehen, mich mit ber Jagd und dem Fifchfang ab: 
geben. — Habe ih Dir das nicht gefagt, ald Du Deine Anftellung 
aufgeben wollteft ?“ erwinerte Mama Germeuil, „aber damals wollteſt 
Du nicht anf mich hören. — Ei! liebe Mutter! wenn ich zwanzig 
Sabre hinter dem Bureautifch fie, was habe ich am Ende davon?.. 

nulleicht zwei Jahre vor meiner Benflonirung Bureauchef zu werben; 
eine ſchoͤne Ausficht!... ftatt deffen kann ich jet fehr reich werben... 
— Wie, Ednard, fo gewinnſüchtig bift Du auf’einmal? — Ich 
kn sicht geiwinnfüchtig, liebe Adeline; und wenn ich's wäre?®... 
ufere Familie kann ſich noch vermehren, und es ift wohl zu recht 
iatigen, an das Fortkommen feiner Kinder gu denen... — Ohne 
weifel ... ohne Zweifel...” verſetzte Madame Germeutt, „aber 
eit ſezt man bas Gewiſſen aufs Spiel, um eitlen Chimären nach⸗ 
wagen. — O! forgen Sie nicht, bloß eitlen Chimären werde ih 
ucht nachjagen . . . ich werbe nur ganz ficher gehen, nur wenig 
neliten, umfichtig handeln und übrigen® nur den guten Rath 
Pafree’a befolgen.“ 

So endigte ſich dieſe Unterrebung. Eduard ging hinaus, um 
ine neuen Glücksplaͤne allein beffer verfolgen zu fünnen, Madame 
Iermenil ging traurig auf ihr Zimmer und Adeline fuchte die ein- 
jmiten Gartengänge auf, nm ihren Träumereien nachzuhaͤngen. 





⸗ 


Sechzehntes Rapitel. 
Rüecktehr nah Paris — Der Seihäfttmann. 


Nach einigen Tagen befuchte Dufreöne unfern Lanbbewohnen 
. Eduard empfing ihn wie einen alten Freund, Madame Germeni 
mit Höflichkeit und Adeline etwas kalt. Er ſprach viel von feine 
Gefchäften, Spekulationen, Unternehmungen. Alles das reizte Mu 
ville, der ſchon vor Begierde brannte, ſich in die nene, durch feine 
Freund ihm eröffnete Carriöre zu flürzen, um fo mehr, ale e 
- über dad geringe Vertrauen feiner Schwiegermutter piquirt, lebha 
wänfchte, fie von ihrer unbegründeten Furcht zu überzeugen. _ 

Trotz aller Ueberredung Eduards blieb Dufreöne Doch nur ein 
Tag. Seine Zeit war zu fehr in Auſpruch genummen . . . fe 
Intereffe rief ihn nach Paris zurüd. Aber mit der fchönen Jahre 
zeit war es ziemlich vorbei, man konnte nicht mehr lange auf ve 
Lande Bleiben, denn man war zu Ende Oktobers und bereits fed 
Monate in Billeneuve:St.:George. Epuard fah mit Freuden ve 
Augenblid entgegen, wo man nad) Paris zurüdfehren wollen würt 
Adeline machte ihm hierüber Vorwürfe; Madame Germeuil ſchwie 
aber fie fürchtete für die Zukunft, denn ihre Hoffnungen und Wünſ« 
bei ber Berheirathung ihrer Tochter ſchienen ſich nicht beflätig 
zu wollen. Murville war ſchwach und unentfchloffen, und überd 
richtete ſich Adeline ganz nach feinem Willen. „Ah,“ Dachte | 
gute Mutter oft, „meine Tochter ift zu zärtlich, zu nachgiebig u 
fanft, fie ift feine Brau für Eduard. Sie follte Herrin im Haı 
fein, aber fie kann ihn nur liebfofen und feufzen!... und wird 
dumme Streiche machen wollen, wird fie fih ihm nicht widerſet 
Einnen!... Wir wollen hoffen, daß es anders kommt.” Ä 

Man ift wieder in Parid angelangt. Hier denkt Eduard 
nichts Anderes, ald an die Realifirung feiner Pläne. Alle DI 
geht er nach der Börfe und in die Kaffeehäufer, wo fich die G 


* 


133 | 
IGäftölente verfammeln ; er ſchließt noch kein Gefchäft ab, aber er 
borcht hie und da, fchwagt mit Diefem und Jenem und macht Bes 
lkanniſchaften; Dufreöne findet fich oft ein und hat Eduard ver 
ſprochen, ihn am feinen ausgezeichneten Spekulationen Antheil 
nehmen zu laſſen. Und geht es auch mit den Gefchäften nicht, fo 
bringt man feine Zeit angenehm mit Lachen, Tagesneuigkeiten, 
Geſpraͤchen über Theater, Bälle, Moden, Concerte und galante 
Abentener hin. Der Curs der Renten hindert nicht, ſich auch mit 
dem Curs der Literatur, Mufik und des Tanzes zu befchäftigen. 
Judem man den Curs von Wien auf London notirt, Tann man 
wohl auch Leicht nach der Schaufpielerin fragen, die in dem neuen 
Etid auftreten foll; man verkauft Papiere und miethet zugleich 
eine Loge in der Oper; man lobt die Nechtfchaffenheit dieſes ober 
jenes Handlungshauſes, gleichzeitig aber au die Originalität 
Byrond, die Pünktlichkeit eines Courtierd und die Pirouetten einer 
Tagkioni ; man Tennt den Grund eines Falliments, aber auch bie 
Ecmerie des Melodramas, das fo viel Glück macht; man weiß, 
vas auf dem Iehten Ball eines Bankiers und in der Fleinen Gitter 
loge feiner Frau vorgefallen ift. Kurz, man weiß, man kennt Alles, 
wel man über Alles fpriht. In allen folchen Berfammlungen 
mat man Krieg und Frieden, Regen und fchönes Wetter; man 
theilt, vereinigt oder vergrößert die Länder mit dem Stockknopf 
oder der Reitpeitſche; man kennt die Kabinetögeheimnifje jebes 
Sefea!... aber man kommt manchmal zu feiner Frau nach Haufe 
uud weiß nicht, was in feinen eigenen vier Wänden vorgeflommen iſt. 
Andline beklagt die Schönen Tage, die fle in ber erften Zeit 
rer Che ahıf dem Rande verlebt Hat. Ihr Mann liebt fie jedoch 
memer noch, fie zweifelt nicht daran ; “aber fie fieht ihn feltener, 
zud wenn er bei ihr ift, fo Spricht er nicht mehr von Liebe, Be⸗ 
dandigkeit und ehelichem Glüd, fondern von feinen glänzenden " 
Geſchaͤften, Spekulationen und bedeutenden Borthellen. | 
Aber wozu haben wir denn fo viel Geld nsthig, lieber Freund!“ 


134 


fragt daranf Abeline, ihn an fich drückend, „ich werde Mutte 
werden, bas iſt für mich das Werthvollſte; dazu Deine Lieb 
weiter wünfche ich Nichts. — Liebes Kind, was Du da fagft, i 
recht hübſch; ich theile Deine Gefinnungen, aber ich fehe weit 
als Du... Sei nur ruhig, wir werben bereinft fehr glüdlis 
werden... — Ach, Lieber Eduard, nie fo fehr, als ich es ſcho 
war; bevor Du Dufresne Fennen lernteſt, befchäftigteft Du Di 
nur mit mir! — Nun fängft Du wieder von Dufresne an?.. 
Du kannſt ihn nicht leiden, verabfcheuft ihn... Aber was hat 
denn gethan? Er gibt mir guten Rath, zeigt mir den Meg zu 
Glück; ich fehe nicht ein, was darin fo Widerwärtiges Tiegt! - 
Ich verabſcheue Niemand... — Und doch nimmft Du ihn fo Fa 
auf, fowie au Madame Dolban ... — Ich nehme ihn auf m 
jeden Andern. — O gewiß, Du möchteft wie ein Murmelthi 
leben !... Niemand bei Dir fehen! — Das fage ich nicht, all 
fonft genügte ich Dir, und ed gehörte nicht Gefellfchaft dazu „ wei 
Du Dir im Haufe gefallen follteft. — Nun ja, num wirft 4 
weinen !... Thränen find Feine Gründe!... Du bift fo kindiſch! 
Du weißt ja, daß ich Dich liebe, nur Dich allein liebe! — Nun. 
ich will nicht mehr. weinen, und wenn ed Dir Vergnügen mad 
fo wollen wir recht viel Gefellfchaft bei uns fehen. — D, i 
will ich gerade nicht fagen, indeſſen, wir werden fehen, wenn me 
Pläne glüden ; Dufreöne hat mir gefagt, es würde nicht übel fe 
wenn ich kleine Abendgejellfchaften.. . . einen Eleinen Punfch | 
einem Baar Biolinen, einigen Eeartötifchen gäbe... DO, a 
fprich nicht dayon mit Deiner Mutter... Du weißt... fie ift 
fonderbar... — Ich werde nichts fagen, lieber Eduatd!“ 
Eduard geht feinem Gefchäfte nach und Adeline bleibt all 
zu Haufe. Sie läßt jebt ihren Thränen freien Lauf, denn fte fi 
ed nur zu gut, daß ihr Mann nicht mehr derfelbe if. Er I 
fie ja aber noch, ift ihr auch nicht untreu; warum denn fich i 
eine Veraͤnderung jo betrüben, die in der Natur liegt-und Die Ni 


135 


verhindern Tann ? Acht Donate Ehefland haben in Adelinens Zärt- 
lichkeit nichts geändert ; ihre Liebe ift immer noch fo leidenfchaftlich 
und ungefchwächt wie früher, aber dad Herz eines Mannes bedarf 
ver Anhepunfte: es Tann nicht lange mit gleichem Feuer lieben, 
es ſchlagt heftig und fteht bald wieber ſtill, es entzündet ſich leicht 
and erfaltet bald wieber, es ift Fein gleichmäßiges Feuer darin, bei 
der Heinften Beranlaffung lodert es auf und verlöfcht eben fo Leicht. 

Die junge Frau fagt ſich das Alles, um ſich zu. tröften ; Haupt: - 
jählich nimmt fie fi vor, ihrer Mutter ihren Kummer zu ver: 
bergen; aber ihre Meinung über Dufreöne vermag fie nicht zu 
ändern: dieſer Menfch erregt in ihr ein wiberwärtiges Gefühk, 
worüber fie fich Feine NRechenfchaft geben kann. Und doch iſt er 
artig, galant gegen fie, und bat nie die Achtung und zuvorkom⸗ 
mende Befcheivenheit gegen fie aus den Augen geſetzt; was ift ihr 
denn da.an ihm zuwider 3... Sie weiß es nicht, aber fie mag ihn 
nicht leiden, fein Blick macht fle verlegen; fie glaubt in ihm einen 
gewiſſen Zwang zu bemerken, ven fie nicht erklären faun; wenn 
fe ind Zimmer tritt, fcheint Dufreöne unruhig und verwirrt; er 
eutfernt fi, wenn Madame Dolban kommt; er jchweigt, wenn 
a zufällig allein mit Avelinen im Zimmer ift, aber feine Augen 
verfolgen alddann alle ihre Bewegungen, und haben einen Aus: 
md, den fie nicht ertragen Tann. 

Einige Tage nach jener Unterredung mit feiner Frau kommt 
Erard voll Triumph nach Haufe ; fein Geſicht ift heiter, fein Ange 
Krablt vor Freude. „Was haft Du denn, lieber Sohn, was if 
denn geſchehen,“ fragt Madame Germeuil, „Du jcheinft ja ſehr 
zufrieden zu fein? — In der That, ich habe auch Urfache dazu. 
— Lieber Freund ! Du wirft unzweifelhaft an Deiner Freude Theil 
nehmen laffen. — Ja, meine Damen, und ich benfe, Sie werben 
aufhören zu fagen, daß ich bloßen Ehimären nachhänge ; durch den 
udlichfien Zufall der Welt machte ich vor Kurzem bie Belannt- 
ſchaft mit einem fehr veichen Musländer, ber ſich in Frankreich 


136 


nieberlaften will. Er fuchte in der ſchoͤnſten Gegend der Stadt ein 
fehr großes, fchöned und ganz moͤblirtes Hötel. Ich fchaffe ein 
folches an, ex befieht es, iſt ganz entzüdt darüber, Tauft es un 
gibt mir fechötaufend Franken für meine Mühe, und ebenfoviel 
fit mir der Berkäufer an Proviſion... Nun! if das nicht 
fchön... zwölftaufend Franken in einem Augenblide verdient, nicht 
wahr? — D ja, lieber Sohn, aber feit drei Monaten biſt Du 
einem folchen Augenblicke fchon nachgelaufen! — Zwölftaufend 
Franken! . . . das verlohnt ſchon der Mühe! — Das ift wahr! 
aber folcye Aufträge müffen felten fein! — Dann gibt es andere. 
— Immer glüden fie aber auch nicht fo. — O, wenn man auch 
alle Tage zwölftaufend Franken verdienen wollte, das wäre zu viel! 
— Ich denfe doch, bei diefem Gefchäfte haft Du Dufreöne nicht 
nöthig gehabt? — O, er wird mir noch befjere verfchaffen ... . 
Aber jept muß ich ein Bureau, ein Comptoir haben... Sie 
fönnen wohl denken, daß ich meine Kunden und Geſchaͤftsleute 
weder im Salon, noch im Schlafzimmer empfangen Tann... Ein 
befondered Zimmer mit Repofitorien und Cartons angefüllt, das 
imponirt, und da ich ein folches Hier nicht haben kaunn, fo müffen 
wir ausziehen. — Was, mein Sohn, Du willft diefe Wohnung 
verlaffen? — Ach, lieber Freund, bier wurden wir von unferer 
guten Mutter vereinigt, hier hat Hymen unfere Wünfche gekrönt, 
bier war ich fo glüdlich ! — Liebe Adeline, man gefällt fih überall, 
wenn man reich ifl. Wir werden und eine viel fchönere Wohnung 
miethen... Diefer Salon ift zu klein. — Um Freunde darin auf: 
zunehmen, ift er groß genug. — Ja, aber man empfängt nicht 
bloß Herzensfreunde, auch Gefchäftöfteunde!... — Lieber Sohn! 
Du willi einen Lurud anfangen, wozu Deine Mittel nicht hin⸗ 
reichen, erwägft Du dad auch ? — Ich will mich beftreben, reich 
zu werden, und ich glaube, das ift ein ſehr loͤbliches Streben ; 
warum fol ich nicht verfuchen, was taufend Anderen geglädt ift ? 
‚Habe ich etwa weniger Fähigkeiten, weniger Nittel als Andere ? 


* 
— 


187 


Sn Ihnen das Gegenteil beweiſen. Wer mar jener Fabellant, 
deſen Ramen überali mit fo viel Achtung genannt wird, ber fo 
ungeheure Reichthümer,, eitten fo unbegrenzten Kredit bat? Er kam 
nach Paris, ohne einen Sons in der Tafche zu Haben; er konnte 
def ſchreiben und reinen ; ald Commis trat er in ein Geſchaͤft, 
deſen Eigentümer er jetzt if; aber er hatte Ambition, er war 
jeiig und Alles glückte ihm. Und jener Financier, der jegt die 
großen Geihäfte macht, er kam aus feinem Dorfe, bat um freies 
Unerfommen in ben Bafthäufern, fchlief auf Stroh, und war 
Infieben, wenn er feinen Hunger mit trockenem Brode flillen konnte. 
Inf dem Platze du Péron trieb er ſich umher, im Kampfe mit 
hd, ob er betteln ober fih ins Waſſer ftürzen follte! Ba gab 
im ein Kaufmann einen Brief zu beforgen ; vie Pünktlichkeit, der 
Cifer, womit er feinen Auftrag ausführte, nahm für ihn ein. 
Ga Jever gab ihm Commiſſionen; es gelang ihm, einiges Gelb 
in serbienen ; er machte für eigene Rechnung Gefchäfte ; das Steigen 
zu) Fallen der Curſe war ihm günftig ; kurz, er wurde ein Mil⸗ 
tär, Hundert ſolche Beifpiele konnte ich anführen!... und wenn 
man and Nichts Etwas werben kann, fo ſcheint es mir noch Leichter, 
“id za werden, wenn man fchon einige Hülfsquellen bat. — 
Ren Sohn, wenn man nichts hat, fo fegt man auch nichts aufs 
Spiel, und kann ih nicht ruiniren. — Ei, Madame, nur Thoren 
mmiren ſich — Es iſt befier, ein Thor, als unrenlich fein, und 
"de Nenfchen haben auf Koſten Anverer Reichthümer gefammelt. 
— 36 hoffe, Madame, daß Sie nicht voraudfehen werden, ich 
vole mich auf ſolche Weife bereichern ? — Nein, gewiß nicht!... 
dr vor allen Dingen bedarf es der Ordnung und der Sparfam- 
Mt... dadurch, und nicht durch Gefellfchaften und koſtbare Baͤlle 
m jener Fabrikant und Financier reith geworden! — Madame, 
tee Jeifen, anbere Sülfsmittel; heutzutage macht man bie größten 
Uitäfte fpielend, beim Dergırügen ; bei einem Glaſe Punſch ſchließt 
an einen Handel ab, man unterzeichnet ein Geſchaͤft beim Bouiliot 


146 


Borhaben hinberlich ; er weiß daher gefchidt den Samen der Un: 
einigfeit zwifchen ihr und ihrem Schwiegerfohn auszuſtreuen, und 
findet das Mittel, fle zu entzweien, darin, daß er Eduard über: 
redet, eine größere Wohnung zu miethen, um glänzende Abend: 
gefellichaften geben zu können. Täglich fehen ſich die beiden Freunde; 
fie bringen einen Theil des Vormittags zufammen zu, und wenn 
Murville des Abends feine Wohnung verläßt, fo gefchieht es nur, 
um irgendwo mit Dufresne zufammen zu fommen. Eduard Tann 
ohne ihn nicht mehr fertig werden, ohne feinen Rath nichts mehr 
thun und unternehmen! ... Wenn aber feine Frau eine Meinung 
ansipricht oder feine Schwiegermutter ihm BVorftellungen macht, fo 
fährt er auf und behauptet, fein eigener Herr zu fein, während 
er doch nur der Spielball veffen iſt, der feinem Geſchmack zu ſchmei⸗ 
cheln weiß. Wunderlicher Charakter! von Natur ſchwach und hals⸗ 
ftarrig ohne Grund. Er will Charafterfeftigfeit zeigen, und von 
Andern fich nicht leiten laſſen, und hat doch nicht Verftand gänug, 
Recht von Unrecht zu unterfcheiden ; fo überläßt ſich Cduard ganz 
dem Willen deſſen, der ihm insgeheim beftändig rathet, beharrlich 
in feinen Plänen zu fein, und wohl weiß, wie man einen ſchwachen 
Drenfchen behandeln muß, der in feinen Augen nur weiches Wade 
tft, das jede Form annimmt. 

Adelinens Gefundheit leidet nicht bei ven neuen Sorgen, denen 
fie fich hingibt; im Gegentheil erfcheinen ihre Züge jetzt noch 
reizender, ihre Augen noch fanfter, ihr Gang noch grazidfer ; fie if 
wunderlieblich mit ihrem Kinde auf dem Arme; ein anderer als 
Murville wärde fle jeßt noch weit ſchoͤner finden, aber ein Chemann 
macht felten ſolche Beobachtungen, ja er glaubt oft dad Gegentheil. 
Zu feinem Nachtheil bemerken dann oft Andere die Schönheit feiner 
Fran, bewundern, was er nicht erkennt, loben was er aufgehört hat 
zu loben, und entbrennen für das, was er vernacdhläfligt ; daran denken 
bie Heren Chemaͤnner nicht, machen ſich veghalb nur wenig Sorgen 
daruͤber, und eben deßhalb wird ihnen oftmals fo hart mitgefpielt. 





139 


er mußte wohl nachgeben und flatt feiner fich mit einem alten, fehr 
rechtlichen, geregelten und gemefjenen Rentier begnügen, der feiner 
Stan Gevatterin drei Schachteln Bonbons und zwei Paar Hand: 
ſchuhe verehrte, und verfprach, alle Wochen einmal bei der jungen _ 
Drama zu effen, um ſich yach dem Befinden feiner Heinen Pathe 
zu erfundigen. 

Ehuard ließ Alles gehen, aber er wartete nur auf bie voll⸗ 
iommene Wiederherftellung feiner Frau, um feine Projekte auszu⸗ 
führen; im Stilfen wünfchte er, daß feine Schwiegermutter auf 
ifter Drohung, nicht mit ihnen die neue Wohnung zu begiehen, 
bebarten möchte, um ihrer ferneren Ratbfchläge und Ermahnungen, 
die ihm allmählig zumider wurden, überhoben zu fein. 

Adeline überläßt fich ganz ihrem Muttergefühle ; fie ſtillt ihr 
Kınd ſelbſt, trotz Eduards Einwendungen, daß das burchaus feinen 
feınen Ton verrathe ; diesmal aber widerfteht fie feinen Anfichten ; 
tie Qutterliche behauptet ihre Rechte, und diefe neue Empfindung 
mäßigt einigermaßen die Neigung, die bisher in ihrem Herzen 
vorherrfchend war. 

Seit einiger Zeit laͤßt fich Madame Dolban ſeltener im Hauſe 
Nurville's ſehen; Adeline und ihre Mutter kennen die Beranlaffung 
vazu nicht, aber fie find nicht unzufrieden, fich jeßt feltener in ver 
Geſellſchaft Dufresne's zu befinden, der jene regelmäßig begleitet; 
üe leben der Hoffnung, daß Eduard fo dem übertviegenben Einfluß 
Tufreöne'3 weniger ausgeſetzt fein werbe. 

Sie irren ſich jedoch. Dufreöne hütet ſich wohl, vie Bekannt 
(daft Nurville's zu vernachläffigen, deſſen Charakter er jegt' voll: 
fommen kennt; er weiß fehr gut, welche Vortheile er bievon zu 
neben beabfichtigt. Er hat übrigens fehr große Pläne, mit denen 
mır and bald näher vertraut zu machen Gelegenheit finden werben. 
Us ſchlauer, umſichtiger Intriguant warte er nur auf 
* zen günfligen Moment, feinen Blan auszuführen. Er flieht, daß 
Bavame Germenil ihn nicht leiden kaun, ihre Gegenwart ift feinem 


142 


Scene. Sie prophezeiht ihm, daß er ſich an ven Bettelſtab Bringen 
werde, Cduard wird beleidigend und ausfahrend, imd ein völliger 
Bruch ift Die Folge davon. Madame Germeuil verläßt ihren Schwieger⸗ 
fohn mit dem Schwur, ihn nie wieder zu fehen ; fie bleibt uner- 
bittlich bei ven Thränen ihrer Tochter, Thränen, welche die gute 
Mutter im Grunde ihres Herzens fich felbft vorwirft; denn fie fühlt 
fehr wohl, daß fle ihre Tochter an einen feften, vernünftigen, und 
nicht an einen ſchwachen, charakterlofen Mann hätte verehelichen 
ſollen, der nicht Verftand genug hat, feine Sehler einzufehen, und 
zu viel Halsftarrigkeit und Eigenſinn, fie abzulegen. Aber bas 
Unglüd war gefchehen. 

Nach der Trennung von Madame Germeuil folgt eine neue 
Scene zwifchen ven Eheleuten, denn Adeline Tann nicht umhin, 
auf ihren Mann zu fchelten ; fle beſchwoͤrt ihn, ihre Mutter wieber 
zu ihr zurüdzuführen; aber er if Hartherzig genug, ſich einer 
Berföhnung oder irgend einer Ausgleihung zu widerfegen, und 
erflärt feiner Frau, daß er entichloffen fei, ganz nad} feinem Willen 
zu handeln, daß alle Vorftellungen ihrerjeits Tünftig in feinem 
Verfahren nichts ändern würden, und daß er ed überdrüſſig fei, 
fih von Frauen leiten zu laſſen. | 

So ift denn alfo die brillante Wohnung des neuen Geſchaͤfts⸗ 
mannes mit Thränen eingeweiht; Murville aber Läßt ſich dergleichen 
Hägliche Dinge nicht zu Herzen gehen; ex hat ganz andere Sachen 
im Kopfe. Durch Dufreöne fol er an einem reichen Seefahrer, 
ber nad) Paris kommt, fünfzigtaufend Franken für Unterbringung 
feiner Kapitalien verdienen. Um mit diefem Millionäs bekannt zu 
werben, will er einen glänzenden Ball geben, auf welchem jener 
durch einen Dritten bei ihm eingeführt werden foll. 

Der Ball ift befchloffen, und dem Rath feines Freundes zu- 
folge trifft Eduard die größten Vorkehrungen zu einer Foͤte, bie 
feinen Rang in der großen Welt feftftellen fol... Die Koften 
dazu find freilich ungeheuer, die unlängfl gewonnenen zwoͤlftaufend 


- 








141 


Ein Hann fah Alles, worauf Eduard nicht mehr achtete; er 
verfolgte Adeline mit den Augen, ohne daß. fie ed bemerkte; er 
bewunderte ihre Reize, errieth die, die er nicht fah, und verfchlang 
mit feinen Blicken Alles, was er nicht fehen Tonnte. Bine heftige 
Leidenſchaft beherrfchte ihn, und er harrte nur auf den günftigen 
Angenblick, ihre freien Spielraum zu laffen. Er hatte zwar wenig 
Hoffnung, wieder geliebt zu werden, das wußte er wohl. Abeline 
war die Tugend ſelbſt; fie lebte nur für ihren Gemahl und ihr 
Kind, aber der Leidenfchaftlich Liebende kennt Fein Hinderniß... 
achte kaun den ungeflümen Strom aufhalten, den das Ungetwitter 
nur noch drohender macht, nichts feine Liebe zurädichreden ; wenn 
man zügellofe Wünfche, tollfühne Begierden, die feit lange her 
ſein Herz ſchon erfüllen, fo nennen darf. Er ift entfchloffen, Alles 
;a verſuchen, Alles zu unternehmen und zu wagen, um Adeline 
ia befigen ; feine längft zurüdgehaltene Leidenfchaft hat deßhalb 
aur an Stärke gewonnen; das Feuer, das in ihm lodert, foll Alles 
entzanden, wenn ed losbricht. Aber wer ift denn diefer geheimniß- 
solle Mann, deflen Liebe und bisher noch verborgen war, wer ift 
e?... Du Eenuft ihn, lieber Lefer, und ich ftehe dafür, du Haft 
hn ſchon erratben. 

Edunard beſchaͤftigt ſich mehr als je mit feinen Handelspro⸗ 
‚lien, wovon er nichtd verfieht,, die ihm aber deßhalb nicht weniger 
serfüßrerifch erſcheinen. Er miethet ein elegantes Hötel, ein mo⸗ 
rches Cabriolet, kauft prächtige Möbel, richtet ſich ein ſchönes 
Atbeitsbureau ein, was von allen Seiten mit Repoſitorien verſehen 
@, worauf fauber befchriebene Kartons ſtehen, die freilich noch 
‚er find , aber bald in Folge überhäufter Gefchäfte voll fein werben. 
‘a ihrer Erwartung nimmt er bereitd einen Commis an, ber feine 
Fit mit Zeitungslefen und Bederfchneiden zubringt. 

Aveline wird in bie neue Wohnung eingeführt. Sie betrachtet 
Alles, ſeufzt und ſchweigt. Madame Germeuil dagegen bricht. in 
Zerwürfe aus und bereitet ihrem Schwiegerfohn eine jehr Heftige 


144 


gejagt? — Das find keine Marrheiten, Braun, ich komme in bie 
große Welt, während Du Dein Kind wiegftl. — D, ich. weiß ed 
ja, daß Du bei mir es nicht mehr aushaͤltſt. — Das iſt noth- 
wendig, ich muß in allen Geſellſchaften fein, um Gefellfchafts- 
befanntichaften zu machen. — Auch gefährliche manchmal... — 
And wenn... bei Gott! ich bin Fein Kind mehr, ich kenne meine 
Leute... Freilih, wenn man Di und Deine, Mutter hört, fo 
follte man glauben, ich fei fehr unerfahren. — Lieber Mann, id 
babe das nie gefagt... aber ich Tann nicht umbin, mit Wehmuth 
an jene Zeit zurückzudenken, mo ich allein Dir genügte, wo Du 
Deine ganze Zeit bei mir zubrachteft und nicht die große Welt 
aufſuchteſt. . Warft Du denn damals nit glücklich? — O ge: 
wiß! — Warum Haft Du denn damald Deine Lebensweife ge: 
ändert?... — Barım?... warum?... Du machſt mir ba eine 
Eomifche Frage!... Man kann doch nicht immer verliebt fein, nicht 
wahr? — Ach ja! das fehe ich! aber nach einem Jahre glaubte 
ich ed nicht fchon zu erfahren... — Nicht wahr, nun wirft Du 
mir wieder Vorwürfe mahen?...: Die Frauen fönnen doch nie 
vernünftig fein! — Ich made Dir ja keine Vorwürfe, lieber 
Eduard, gib Gefellfchaften, fo viel Du will, wenn es Dir Ber: 
gnügen macht, ich werde mich nicht widerſetzen. — Ah! fo biſt 
Du liebenswürbig... DO! Du bift nicht fo eigenfinnig, wie Deine 
Mutter! ... Und ich wiederhole e8 Dir, es ift ja Alles zu unferem 
Glüde. Triff alfo die nöthigen Vorkehrungen. Ich babe ſchon Alles 
beftellt, eingerichtet, angeorvnet, Du Haft nur die Ausführung 
meiner Befehle zu überwachen... — Schon gut. Aber wovon 
werde ich mit Leuten fprechen, die ich nicht kenne? — DO, ſei 
deßhalb unbeforgt!... man begrüßt fih, man lächelt Jedem zu!... 
Mit Deiner Grazie, Deinem Verſtand wirft Du Dich fchon liebens: 
würdig zeigen!... — Ich möchte es für Dich allein fein. — Bin 
ih Dir denn untreu? Ich bin gewiß fo vernünftig, — Wenn es. 


nur immer fo bleibt! — Fürchte nichts, ich Tiebe une Dich. «. ° 


- 





143 


Franken find ſchon ausgegeben ; man muß einige Anleihen machen, 
denn die Einnahmen haben zum Anfauf der Möbel und der De 
ferirung des Hauſes nicht Hingereicht ; N aber das ſchadet Alles nichts; 
man muß fäen, um zu ernten, das iſt Dufresne’s Grundſatz, und 

er felbft beweist es, daß man fich gut dabei befindet: Nie hat fich 
@tuard glücklicher und heiterer gefühlt! er Hat ein Gabriolet, einen 
Jochey, Diamanten, ein ſchoͤnes vHotel, es iſt keine Frage, er muß 
glaͤnzende Geſchaͤfte machen. 


N 


Siebenzehntes Aapitel. 


Sroße Abendgeſellſchaft. — Liebedertlärung, wenn 
man wilt. 


„Siebe Frau,” fagt eines Morgens Eduard zu Adelinen, „ich 
gebe morgen eine große Föte, einen Ball; triff Deine Einrich⸗ 
tungen, um bie Honneurs zu machen. — Du gibft eine Foͤte, und 
wem denn ? Sollteft Du Di mit Mama wieder ausgeföhnt haben ? 
— Ben Deiner Mutter ift nicht die Rebel... das ift eine Fran, 
die fi in Sachen mifcht, wovon fle nichts verſteht, und die ung 
bintern will, und angemefjen auszubehnen, weil fie es vorzieht, 
m ganz Heinem Kreife zu leben... Du wirft einfehene, daß darin 
nicht Sinn und Verftand if. Wenn ich aber einmal fünfzigtaufend 
Franken Renten haben werbe, wirb fie, denk' ich, ed mir ſchon 
verzeihen, ihren Rath nicht befolgt zu haben. — Dann wird ed 
wohl ſobald noch nicht gefchehen! — Eher, ald Sie es glauben, 
Madame, ich handle demgemäß. — Und darum gibft Du die es 
iellſchaft? — Gerade deßhalb. — Was für Berfonen werden denn 
eingeladen? — Ah, wir werben fehr viele Säfte haben. Das ges 
bört jegt dazu, iſt feiner Ton; wenn man in einem Salon fi 
nicht draͤngt und ſtoͤßt, glaubt man, fich nicht amüſirt zu Haben: 
— Ach, licher - Mann, welche Narsheit! wer hat Dir denn dad 


> 


146 


ich nichts nach ihrer Freundſchaft! aber es liegt mir daran, daß 
man in der Welt fage: Der Ball bei Murville war prächtig, nichte 
hat gefehlt, Alles war im neueften Gejchmad... die Geſellſchaft 
muß ihn ungemein viel gefoftet haben!... Du Begreifft wohl, baf 
dies Ehre verfhafft, man hält mich für außerordentlich reich, und 
ich erhalte mehr Gejchäfte, ale ich nur haben will... Wähle nur 
eine recht ausgefuchte Toilette und ziehe recht viele Brillanten an. 
Sie find zwar nicht fo ſchoͤn, als ich es wohl gewünfcht Hätte; 
aber bald Hoffe ih. Dir eine ganz neue, herrliche Garnitur zum 
Geſchenk zu machen. — Lieber Freund, Du weißt ja wohl, daß 
mir nichts daran liegt, Deine Liebe allein... Es iſt ſchon ſpaͤt, 
geh' und kleide Dich an.“ 

Der Augenblick iſt gekommen, wo die Gaäſte ſich einfinden. 
Zwiſchen neun und zehn Uhr füllt ſich der Hof mit Wagen und 
Fußgängern (denn auch bei den größten Baͤllen gibt es letztere), 
man draͤngt ſich auf der Hausflur; die Kutſcher fluchen, ein Jeder 
will der erſte ſein; die jungen Damen in ihren Pelzen und Maͤnteln 
ſpringen leichten Fußes aus dem Wagen und erwarten auf den 
Treppenſtufen die einen ihre Mütter, die andern ihre Männer, um 
von ihnen in den Saal geführt zu werden. Der junge Zierbengel 
in einem weiten, mit breitem Sammt ausgefchlagenen Mantel bie 
an die Nafe eingehüllt, bietet mit Anftand einer jungen Dame 
feine Hand an, welche die Angft vor den Pferden auf dem Hofe 
von ihrem Begleiter getrennt hat; der feine Herr entdeckt nur ein 
ausdrucksvolles Auge und einige Haarloden, denn alles Mebrige if 
unter dem großen Pelztragen verfiedt, aber er hat genug gefehen, 
um bie reizendfien Züge und bie fchlanfefte Taille zu vermuthen ; 
er brüdt ihre zarte Hand, ladet fie zum erften Gontretanz ein und 
wiegt ſich in den fohönften Hoffnungen, bevor er noch das Bor: 
zimmer betreten hat. Diejes ift ſchon gebrängt voll; vor einem 
Spiegel bringen die Damen ihre Toilette in Ordnung und muftern 
gegenfeitig ihre vom Wagen zerdrüdten Kleider; weiterhin in einer 








143 


ich gehe, noch einige Einladungen zu machen, und beföhäftige Du 
Dich indeſſen mit unferer Geſellſchaft.“ 

Eonard küßt feine Frau und geht. Adeline erkundigt ſich nach 
Alm, was am andern Tage geſchehen ſoll; fie iſt über die un⸗ 
geheuren Koſten, die erfordert werben, im höchſten Grade erſchrocken, 
aber es laͤßt ſich jetzt nichts mehr aͤndern. Nachdem ſie ihre Be⸗ 
fehle gegeben hat, beſucht ſie ihre Mutter. Ihr will ſie ihren 
Kummer anvertrauen, und doch verbirgt fie ihr den größten Theil 
ihrer Beforgniffe, um fie nicht noch mehr gegen ihren Daun auf: 
zubringen. „Ach !” fagte fie, „jo lange er mir treu bleibt, werde 
ih mich nicht beklagen, denn Alles Tann ih ihm verzeihen, nur 
feine Gleichgültigkeit nicht.“ 

Am andern Tage ift vom frühen Morgen an Alles in Mur: 
villes Haufe in Bewegung. Die Dienerfchaft reicht zu den viel: 
feitigen Berorbnungen nicht Hin ; Arbeiter bringen Teppiche, Kron⸗ 
leuchter, Candelaber, und ftellen längs ber Treppe Blumenvafen 
auf. Tapezierer, Möbelhändler, Dekorateurs füllen die Säle, und 
drängen füch überall mit ven Dienern des Haufes; bald erfcheinen 
auch die Traiteurd, Conditors, Eishändler, Limonadiers, bemaͤch⸗ 
tigen fi der Speifezimmer und verzieren bie Buffets, die aufs 
Prachtvollſte Alles darbieten follen, was nur dem Auge, Geruch 
und Geſchmack fchmeicheln Tann. Apeline will fih durch einige 
Zimmer in dad Kabinet ihres Gemahls begeben; fie tft ganz be- 
teoffen über dad Gefchrei und den Lärmen überall, fie erkennt ihre 
Bohmng nicht wieder. Endlich erblickt fie Eduard, der mit froh⸗ 
lockender Miene in den Salons auf und abgeht. — „Nun, Tiebe 
Stenntin,“ ruft er ihr ſchon von weitem zu, „was jagft Du dazu? 
— Ich begreife ed nicht, daß man fich jo viele Mühe gibt, Leute 
zu empfangen, die man nicht fennt, und denen man durchaus Feine 
Berbindlichkeiten ſchuldig if. — Aber, Tiebe Adeline, vente doch 
war, daß man bad Alles feines Rufes wegen thut. Bei Bott! 
andy mi Tünmern bie Menſchen wenig, die herkommen, auch frage 

Vaul de Red. 1. 10 


148 


willen, wovon bie Mebe iſt. „Worliber lachen Sie denn fo fehr, 
meine Herren ?” fragt er. — „Ah! über nichts, ein Spaß, ven 
er und erzählt. — Gewiß, verliebte Boffen, ich wette... Sie find 
leichtfertige Meffieurs! — Später follen Ste erfahren, was es war.” 

Die jungen Dandys zerftreuen ſich und lachen noch mehr, und 
der Ehemann lacht mit, ohne zu wiſſen worüber, aber um fich den 
Schein zu geben, als fei er au fait, 

Das Zeichen zum Tanz if gegeben, ein tüchtiged Orchefter 
laͤßt fih Hören, und ladet zum Vergnügen ein; die fchönften 
Melodien aus den herrlichſten Opern unferer erften Componiften 
bilden jebt dad Thema zu den Quadrillen, Walzern und Anglaifen. 
Wie joll man nicht Luft zum Tanzen befommen, wenn man nach 
Roſſini's, Mozarts und Boyeldieu's Schöpfungen Pirouetten, En⸗ 
trehats und Balancees machen Tann. Das Ohr ift durch die Aus- 
führung nicht minder erfreut ; die neuen Contretänze find wahre 
Conzerte für Streich- und Blafeinftrumente ; fie aufzuführen, er- 
fordert Talent. Den armen Blinden und Gafjenmufifern überlaffen 
wir die Tanzmufık früherer Zeit a la Monaco, Perigord und Fürften- 
berg ; wir bevürfen jegt der auögezeichnetiten Künftler, eines Weber, 
Collinet, Rubner u. ſ. w., um Terpfihoren zu huldigen. 

Man hat nur wenig Plag, man tritt fich auf die Füße, man 
fann fich kaum drehen und wenden; aber man tanzt, bad ‘ift die 
Hauptjache ; welch’ ein DBergnügen für dad junge Mädchen, ihre 
Grazie zu zeigen, und für die ältere Frau, noch leichtfüßig zum 
erfiheinen ! 

Diejenigen, welche Mufif und Tanz nicht reizt, fepen ſich an 
den Gcartetifch ; fie ergeben fich Leinenfchaftlih dem Spiel und 
harten auf einen glüdlichen Treffer; fie fuchen ihren Mitfpieler 
fennen zu lernen und aus feinem Geficht feine Karten zu errathen ; 
fie vergeſſen dabei ihre Frauen und Töchter und werben von biefen 
auch oft vergeflen. 

Aber um die Spieler bilden fih "Gruppen ; rechts und links 


197° 


minder erhellten Simmerede holen einige Ladenſchwengel ihre Ball: 
ſchuhe hervor, wechfeln fie mit ihren leichten Stiefeln, wideln dieſe 
in einen großen Bogen Papier und verbergen fie irgendwo unter 
einem Möbel ; dann ziehen fie das Jabot unter der Wefte hervor, 
geben ber Haldfchleife den Fühnen verwegenen Anftrih, fahren mit 
den Händen in bie Haare, ftreichen fie glatt oder machen eine Rode, 
je nachdem es ihre Phyfiognomie kleidet, und treten dann ftolz und 
anmaßenb in den Saal ein, bamit Jedermann glaube, fie feien in 
ibrem Wisky hergefahren. _ 
Der Salon ift fchon mit eleganten Damen von jedem Alter 
gihmücdt, und nicht am Anzug, fondern nur am Geficht fan 
man die Mutter von der Tochter, die Tante von der Nichte unter: 
jdeiden. Die Herren fpazieren, die Lorgnetie in der Hand, auf 
und nieder, und treten trotz dieſes Hülfsmitteld den Damen bicht 
anfer die Augen, muftern diefelben und verziehen das Geficht, wenn 
Re nicht nach ihrem Gefchmad find ; dieſe aber lächeln ihnen freund: 
lich zu, ſtatt fie für ihre Unverfhämtheit zu züchtigen. Bald ift 
die Menge jo zahlreich, daß man fich nicht mehr rühren kann. Das 
ıR der fchönfte Augenblid. Der junge Stutzer drängt fich dicht vor 
ein junges Mädchen, die befcheiden neben ihrer Mutter figt, und 
wirft ihr die unanftändigften Blicke zu, während fie nur beſchämt 
die Augen nieberfchlagen kann; aber der junge Laffe flieht wie an- 
gefeſſelt und hat die Frechheit, die Röthe auf ihrem Geficht zu 
feinen Gunſten zu benten und deßhalb noch dreifter zu werben. 
Einige Schritte davon entfernt, zeigt ein anderer Fant mit dem 
Finger auf eine hübſche Frau, deren Mann nicht weit davon fteht, 
und vertrant vier oder fünf feiner Freunde, daß er fie jehr genau 
gelaunt babe ; die jungen Herren wünfchen ihm Glüd und ver: 
langen nähere Detail über die Schöne; er antwortet ihnen mit 
lautem Gelaͤchter, brüftet fi und geftifulirt dabei wie ein Wahn- 
Kuniger, und erregt dadurch die Neugierde aller Umftehenven. Glück⸗ 
liperweife ift auch ber Chemann darunter; er nähert ſich und will 


150 


mehrere beleuchtete Zimmer und kommt endlich zur Wiege der Kleinen, 
die ruhig und ungeftört in ihrem Bettchen ſchlaͤft. Nachdem fie 
eine Zeitlang mit Wonne ihren Fleinen Liebling betrachtet hat, 
will fie fich leiſe wieder zur Gejellfchaft begeben, bemerkt aber, 
indem fie in ein ziemlich dunkles Kabinet neben dem Schlafzimmer 
der Heinen Ermance treten will, eine Geftalt fi längs der Wand 
bin bewegen; plößliches Angftgefühl überfällt fie. „Fürchten Sie 
nichts, Madame Murville, ich bin untröftlich , Sie erfchreckt zu Haben.“ 

Adeline beruhigt fih, denn fie erfennt Dufreöne an der Stimme. 
„Aber was fuchten Sie denn Hier ?“ fragt fi. — „Die Hitze, der 
Lärmen incommobdirten mich... Ich wollte mich, entfernt von ber 
Gefellfchaft, ein wenig erholen.“ 

Adeline holt eine Aftrallampe aus den Nebenzimmern und feht 
fie in dem Kabinet auf den Tifh. Dufredne verfolgt jede ihrer 
Bewegungen und fcheint fehr aufgeregt. 

„Wenn Sie nicht wohl find, fo werde ich Ihnen eine Er⸗ 
frifhung holen. — D! nein, Madame, bleiben Sie, ich bitte; 
Ihre Gegenwart ift Alles, was ich wünfche.“ 

Dufresne hat Avelinend Hand ergriffen, und diefe, über veffen 
fonderbaren Ton und dad Feuer in feinen Augen erflaunt, weiß 
nicht, was fie antworten foll und bleibt verlegen vor ihm ftehen. 
Dufresne drückt ihre Hand an fih, Adeline zieht fie aber erfchroden 
ſogleich zurüd und will ſich entfernen, er aber tritt ihr in ben 
Weg. „Was wollen Sie von mir ?” fragt fie mit zitternder Stimme 
"und voll Schreden. — „Daß Sie mi anhören, Madame. — 
Was haben Sie mir denn Heimliches zu fagen, wir können bad 
ebenfo wohl im Saale abmachen. — Nein, Madame, bier, hier! 
Ah, feit lange fehne ich mich nach diefem Augenblid, aber ich 
fühle e8, länger Tann ich das Feuer nicht befchwichtigen, das mich 
verzehrt ; nein, ich bin nicht mehr Herr über mich, fo viele Reize 
zu bewundern, ohne Ihnen meine Leivenfchaft zu geftehen. — Was 
fagen Sie? Herr Dufteöne ? — Daß ih Sie liebe, daß ih Sie 


149 


werden off nicht unbedentende Wetten gemacht; junge Leute, die 
fh nur mit dem Tanz befchäftigen follten, Karren ängftlicy darauf, 
daß ihr Begner den König umfchlägt; ihr Blut geräth im 
Ballung ; der Anblick des Goldes, die Hoffnung auf Gewinn reißt 
fe fert; mehr als einer, den Tiſch mit leeren Tafchen verlaffend, 
kam morgen den Schneider und Schufter nicht zahlen, und unfere 
ölonomifchen Herrchen, die ihre Schuhe in der Tafche mitbrachten, 
ſegen om andern Morgen: „Hätte ich doch lieber einen, Wagen 
genommen und flatt defien den verbammten Spieltifch gemieben !“ 

Andere, um fich zu tröften, laufen zu den Buffets und fallen 
über Backwerk und Erfriſchungen her; ber Gourmand nimmt die 
aögefuhteften Leckerbifigg unter dem Borwande, fie den Damen 
W Bringen ; welch eine Nberfehwenbung findet hier mit den koſt⸗ 
barflen Speifen ſtatt. Alles drängt fich durdjeinander ; Teller werben 
atzwei geworfen, man verwirft feines Geflügel, um nach Erömen 
m Truͤffelpaſteten zu greifen; Bonbons und feines Confect ver- 
inden von den Tellern, ohne daß man darauf achtet; rothe 
ur weiße Tifchweine werden nur wenig berührt, aber die Cham: 
guerbatterien erleiden furchtbare Angriffe; fo geht es bei den 
lolatienen der großen Geſellſchaften zu; die Buffets ſind einer 
gen Plünderung unterworfen, und die jungen Leute, die ſie 
ingeben, fcheinen feit acht Tagen gehungert zu haben. Welch ein 
Iltjames Benehmen für Leute von fogenanntem feinem Ton! 

Üeline fucht in ver Menge einige bekannte Gefichter zu finden, 
über vergebens. Muͤde der Eomplimente, die ihr von allen Seiten 
macht werden, bemügt fie einen freien Augenblick, um fid zu 
überzeugen, ob ihr Töchterchen fchläft, und in feinem Anblid ſich 
"es höheren Genuſſes zu erfreuen, als ihr die glänzenden Säle 
M die prunfende Menge zu gewähren vermögen. 

Um zu dem Schlafzimmer ihrer Heinen Ermance zu kommen, 
m fe fig ganz von ber Geſellſchaft entfernen; fie wollte ja 
uht, dep ihr Kind won dem Lärmen geflört wücbe ; fie geht dur 


182 . 


zeihung, und ich Bin nur firafwürbig, wenn Sie mich haffen. — 
Ihre Worte Tönnen Sie in meinen Augen nicht rechtfertigen. Ihre 
Liebe Tann ich entichuldigen, aber nicht Ihre Hoffnung, baß ich 
fie theilen köͤnnte. Man ift nicht Herr feines Herzens, ich will es 
glauben, aber man tft Herr feines Benehmens, und dad Ihrige 
eines feinen gebildeten Mannes unwürdig. — Madame!... — 
Sprechen Sie mir nie wieder von Ihrer Liebe, nur unter biefer 
Beringung kann ich fie vergefien und fie meinem Manne verſchweigen. 
— Ihr Mann!... er würde Ihnen nicht glauben! — Was fagen 
Sie? — Nein, Madame, er würde Ihre Beſchuldigungen gegen 
mich nur belächeln, glauben Sie denn, daß ich nicht Alles vorher 
wohl überlegt habe? Ich babe mich des Kopfes von Ihrem Manne 
in dem Grade bemädhtigt, daß er nur durch meine Augen ficht, 
nach meinem Willen fich richtet; er ift, mit einem Worte, eine 
Mafchine, die ich nach meinem Willen handhabe. Mber, wenn Sie 
meine Wünfche verwerfen, fo zöttern*fie über die Gewalt, mit ber 
ich Ihren Eduard regieren werde. Dann follen Sie mid) kennen 
lernen; Sie werden Ihren Stolz bereuen, wenn es zu fpät if, 
mein Haß foll dann fo energifch werben, wie meine Liebe heftig 
war... — BDerwerfliher Menſch!... Ich fühle meinen Abfchen 
gegen Sie ſich verboppeln, aber ich troße Ihren Drohungen, und 
verbiete ed Ihnen, mir wieder vor die Augen zu kommen.“ 

Das Geſicht Dufresue’s drückt Wuth und böllifche Ironie zu: 
gleich aus ; feine Nerven ziehen fich zufammen, ein bitteres Lächeln 
liegt auf feinen Lippen, während feine Augen euer |prühen. Ade⸗ 
line in hoͤchſter Angſt will entfliehen; er hält fie zurück, umfängt 
fie mit feinen Fräftigen Armen, preßt fie heftig an ſich, drückt einen 
Kuß auf ihre Wange und will in feiner zügellofen Leidenfchaft noch 
weiter geben, als die junge unglüdliche Frau einen gellenden Schzei 
ausſtoßt; man läuft herbei, nahende Schritte Iaffen ſich höxem, 
Dufreöne oͤffnet ein Fenſter dem Garten zu und fpringt hinaus. 

Beriente und einige junge Leute umgeben Adeline; man fragt 


151 


anbete, ſchöne Apeline... und daß Sie mein werben müffen! — 
D Himmel! was muß ich hören! — rfahren Sie endlich, daß 
Sie feit dem Augenblide, wo ich Sie zuerft fah, der Gegenftand 
aller meiner Gedanken und Wünfche, der Zweck aller meiner Hanb- 
Iungen waren! ich Habe die Befanntichaft ver Madame Dolban bloß 
benügt, um bei Ihnen eingeführt zu werben ; diefe Hoffnung und 
De, Ihnen zu gefallen, Haben mich allein feit dem Tage Ihrer 
Berheirathung vor Verzweiflung bewahrt. Aber wie habe ich bisher 
gelitten, um mich zu bezwingen, Aller Augen die Flamme zu ver: 
Bergen, die in mir lodert; und welchen Qualen unterlag ich nicht, 
ala ich fo viele Lieblofungen meinem glücklichen Nebenbuhler ver; 
ſchwenden fehen mußte, ver fie nur mit Gleichgültigkeit empfing, 
während eine einzige mich auf den Gipfel aller Glückſeligkeit ers 
beben Hätte! — Das ift zu viel, mein Herr, bis jetzt habe ich 
meinen Unwillen zurückgehalten, aber länger vermöchte ich es nicht, 
börte ich noch mehr — — Anwillen! ... und wodurch Habe ih 
ſelchen verdient ? — Meinen Mann Ihren Nebenbuhler zu nennen 
nt zum Preiſe feiner Freundſchaft feine Frau verführen wollen... 
ſolch ein Betragen ift abfcheulih!... — Ein ſolches Betragen tft 
ganz gewöhnlich, und erfcheint Ihnen nur abfchenlih, weil Sie 
meine Gefühle nicht theilen, denn wenn Sie mid liebten, wäre 
ih in Ihren Angen flatt eined Ungehenerd ein armer Unglüdlicher, 
den eine unwiderſtehliche Leidenfchaft anfreibt, der Jedem, felbfl 
der Urheberin feines Schmerzes feine Klagen verbirgt ; ein ſolches 
Betragen würde Ihnen dann nicht verbrecherifch erfcheinen, fo viel 
kiebe und Beftänbigfeit würde dann wenigftens Ihr Mitleid rege 
machen; Sie würden mich ohne Zorn anhören, und vielleicht würbe 
ein fhöneres Gefühl meine Sache bei Ihnen verfechten, und mid 
son meinen Sorgen und Qualen befreien. Ja, Mabame, fo be: 
trachten Sie die Sache. Ich bete Sie an, das iſt mein einziges 
Berbrechen ; ed hört auf, eined zu fein, wenn Sie meine Gefühle 
theilen; der Erfolg gewährt den vertvegenften Unternehmungen Ver⸗ 


154 


ging man nach Haufe, indem man einen alten Hut fait eine? 
ergriff und das zierliche Stöckchen vermißte, das man doch abl 
in den dunkelſten Winkel geftellt Hatte; glücklich konnten! 
ſchätzen, bie wenigſtens ihren Mantel ober Weberrod nid 
wechfelt Hatten. 

Ihr jungen Leute, die ihr ſolche Geſellſchaften beſuch 
es Euch zur Lehre dienen ; nehmt Feine werthvollen Stüde 
bedient Euch nur eines alten Hutes, wenn ihr ihn nicht 
der Hand tragen wollt, was jetzt freilich häufig gefchieht, u 
Unannehmlichkeiten vorzubeugen. 

Eduard ging mit vollem Herzen und leerem Beutel 
Zimmer, ganz mit der jungen rau befchäftigt, die ihn fo zu 
wußte, und ohne an bie feinige zu denken, die ſchon laı 
gebend auf ihn gewartet hatte. 


- 


Achtzehntes Kapitel. 
Berblenpung — Thorheit. — Schwäche. 


Adeline war voll Beforgniß wegen ihres Mannes ind 
aufgeſtanden, wollte aber, als fle erfuhr, daß er fich fyä 
gelegt habe, feine Ruhe nicht flören und fein Erwachen a 
um ihn von dem Auftritt mit Dufreöne in Kenntniß zu 1] 
venfelben ibm in feinem wahren Lichte zeigen. 

Eduard fteht endlich auf und erfeheint beim Frühſtück; 
. ihm leichte Vorwürfe über feine Gleichgültigfeit von gefte 
er hört fie kaum an, fo fehr ift er zerflreut und mit an 
danken beſchaͤftigt; er Elagt über heftiged Kopfweh und ı 
gehen, um fich an ber frifchen Luft zu flärfen. Adeline 
zurüd und fagt zu ihm, daß fie ihm etwas Wichtiges 
babe. Eduard, der über den Ton feiner Frau erflaunt, | 
ahläfig auf einen Stuhl und bittet fie, zu eilen, weil 


155 


ikn drängen. Man ſchickt die Dienftboten hinaus, und Abeline er: 
aͤblt jept ihrem Manne die mit Dufresne ftattgehabte Unterrebung. 

Anfangs Hört Eduard gleichgültig zu, aber in Bälde malen 
"6 Unzufriedenheit und Ungebuld auf feinem Geflchte. 

„Run, mein Lieber!” ſchließt Adeline ihre Erzählung, „was 
tenfü Du jebt von Deinem aufrichtigen Freunde? ... — Ich Denke... 
6 denke, daß Du aus einer Kleinigkeit ein Berbrechen, aus einer 
liege einen Elephanten machſt! — Was, lieber Freund! — Sa, 
2, wie ih fage... einer Frau eine Liebeserflärung!... mein 
Bett, ift denn das fo etwas Seltenes, braucht man davon fo viel 
Aufbebens zu machen? Alle Tage geſchieht fo etwas, und die Frauen 
an nicht mehr Gewicht darauf, ald die Sache verdient! Aber 
‚Tu biſt wegen eines Wortes gleich außer Dir!... eine einfache 
Yalanterie fcheint Dir fchon ein Verſuch zur Verführung... So 
Ruf man die Sache gar nicht betrachten!... Ja, aber ich kenne 
Tb, Da magſt Dufresne nicht leiden, ja, Du haffeft ihn. Seit 
“ger Zeit ſchon wünfcheft Du ihm in meinen Augen zu ſchaden, 
a eigreifft nun dieſe Gelegenheit zur Erreichung Deines Zweckes; 
Ka ich ſage Dir, das Spiel ſoll Dir nicht gelingen. — Iſt's 
noglich, Cduard, mich klagſt Du an, mich haͤltſt Du für fähig, 
did zu bintergehen ? — Ober hintergangen zu werben ; wer fteht 
In afür, daß Dufresne ſich nicht ven Fleinen Spaß in der Abſicht 
macht hat, um fich über Dich aufzuhalten und fih an Dir zu 
üben, da er Deinen Haß fehr wohl bemerkt. — Und darum alfo 
um die Verwegenbeit fo weit getrieben, mich zu Füffen? — 
kift... ich will geflehen,, daß er Unrecht hat, Dich wider Willen 
haft zu haben, und ich werde ihm darüber Vorwürfe machen ; 
der ein Kuß darf Dich doch nicht fo fehr aufbringen! — Da 
SUR alfo Herrn Dufresne nach wie vor bei Dir fehen? — Ganz 
wiß, dem ich werde mich nicht Lächerlich machen und mit Fingern 
af mid zeigen Taffen, bloß deßhalb, weil man fi} einen Scherz, 
"m Lijchen erlaubte !... das wäre ja ohne Sinn und Berfland!... 


156 


Aber beruhige Dich, ich werde Dufreöne verbieten, künftig von Liebe 
Dir vorzuſchwatzen! ... — Wie, Eduard, iſt's möglih, aus Allem, 
was ich Dir fage, machſt Du Dir gar nichts! — Ich weiß, was 
ich davon zu halten habe und muß mich zu benehmen wiflen. — 
Ab!... fo Liebft Du mich nicht mehr, ich fehe ed wohl... Sonft 
wart Du eiferfüchtiger!... — Man kann ohne Eiferfucht Lieben, 
und übrigens... aber die Zeit vergeht, meine Gefchäfte rufen mich. 
— Und der reiche Seefahrer, wegen deſſen Du die Eoftfpielige Ge: 
feltichaft gegeben haft? — Er konnte nicht kommen. — Alfo waren 
alle Koften unnüg ? — Unnüg ? nein, gewiß nicht. Man bat mir 
große Lubederhebungen deßhalb gemacht. Sie wird mir viel Kredit 
verfchaffen, die beiten Folgen haben... Doch ich gehe jetzt, ich 
habe keinen Augenblid länger Zeit.“ 


Eduard entfernt fich raſch, um zu Dufresne zu gehen; biefer ” 


erfeheint bei feinem Anblid etwas verlegen, fammelt fich aber fehr 
bald wieder. Nicht um mit ihm von feiner Frau zu ſprechen, ift 
Murville zu ihm gegangen, nein, bloß um mit ihm ſich über vie 
hübfche Dame, mit der er geftern Abend gejpielt hat, zu unter: 
halten und zu erfahren, wer fie ift, wo fie wohnt, kurz, um fich 
ganz feinen Wünfchen und Hoffnungen hinzugeben, die er vor feinem 
Freunde nicht verbirgt. 

Dufresne befriedigt Eduards Neugierde und theilt ihm mit, 
daß Frau von Géran die Wittwe eines Generals und unumjchränfte 
Herrin ihrer Handlungen fei, daß fie Vermögen habe, aber aus 
Hang zum Vergnügen keine Ausgaben fcheue ; er ſetzt noch abficht- 
lich hinzu, daß fle viele Anbeter habe, aber alle gleichgültig bes 
handle, mit ven Empfindungen, die fle anregt, nur ihr Spiel treibe 
und überhaupt wohl nur ſehr fchwer zu erobern fein bürfte. 

Diefe Mittheilungen koͤnnen Eduards auflfeimende Leidenfchaft 
bloß verftärfen. Welch ein Glück, über fo viele Anbeter den Sieg 
davon zu tragen, und Frau von Geran hat ihn auf eine Art und 
Weiſe behamdelt, die ihn allerdings mit Hoffnungen erfüllen muß. 





187 


Eo viel if anögemadht, daß fle ihm den Kopf verbreht hat, und 
Dufteßne, der mur zu gut im Herzen des ſchwachen und unbeſtaͤndi⸗ 
gen Rarsille liest, benuͤtzt den Augenblick, um zuerſt von dem 
mjufangen, was zwifchen ihm und Anelinen vurgefallen, indem 
ihm bie Sache als einen einfachen Scherz vorftellt, der keines⸗ 
wegs itgendwie andere Folgen haben könne. — „Sa, ja, ich weiß,“ 
atwortet Eduard, „meine Frau hat mir fchon davon erzählt. — 
A! fe hat davon gefprochen? — Ja! daß Ihr ein Ungehener, 
en Verwegener, ein falfcher Freund wäret! — Wirklich! — Und 
mr weiß, was noch Alles!... denn ich muß Ench fagen, fie if 
rüthend auf Euch! .... Aber ſeid nur ruhig, ich werde fie ſchon 
berehigen;... fie wird bald einſehen, daß fie die Sache von einer 
an falfchen Seite genommen hat, wenn fie erfährt, daß Ihr mit 
nit zuerft davon gefprochen habt. — Es thut mir wahrhaftig fehr 
Int, mie den Spaß erfaubt zu haben, aber Eure Frau ift auch fo 
'onerdar. — Ihre Mutter, Madame Germenil, ift daran fchuld, 
‘te bat ihr den Kopf mit romanhaften Ideen angefüllt. — Man 
ielle wirflich nicht glauben, daß fie in Paris erzogen ift. — O! 
fe ſoll in der großen Welt ſchon noch anders werden... Könnt 
In wohl glauben, daß fie darauf beſtand, Euch nicht mehr bei 
ib zu ſehen? — Wenn meine Gegenwart Ihr zumiber ft, fo 
Bere ih dafür forgen, fie nicht wieder zu beläftigen. — Warum 
sat gar? das will ich ja gerabe nicht, oder ich werde auf End 
us böfe. Ich verlange vielmehr, daß Ihr und noch öfter als fonft 
"huht ; ih wünfche ed, und dad muß genügen. Liebt Ihr mi 
uht genug, um Euch über die Lächerlichen Anfichten meiner Frau 
binwegzuſehen? — O gewiß! meine Freundſchaft für Eu kennt 
ne Grenzen! — Der gute Dufresne! Seht, um Euch einen 
Leveis meined Bertrauens zu geben und zu zeigen, wie wenig ich 
a Etzaͤhlungen meiner Fran Werth beilege, will ich Euch etwas 
aittbeilen und zähle anf Euern freundſchaftlichen Beiftand in diefer 
Ehe. — Ich bin ganz ber Eurige, redet! — Lieber Fround⸗ 


158 
ich Tiebe Frau von Geran zum Wahnfinuigwerden. — Wäre es 
möglih, und Ihr Tennt fie erft feit geflern! — Die Zeit genügte, 
um fie anzubeten; was wollt Ihr, man ift ja nicht Herr über ſich 
jelbft.... es ift eine Baprice, eine Schwäde!... aber ich verliere 
den Kopf darüber. — Ihr, Murville, fonft jo vernünftig!... und 
verbeirathet!... — Ach, lieber Freund ! find die Ehemänner beffer 
als die Junggefellen! Ihr wißt das beffer als ich, man kann nicht 
immer für feine Frau leben. — Wenn nun die Gurige wie Ihr 
daͤchte? — O! von der Seite habe ich nichts zu fürchten, meine 
Frau ift die Tugend felbft ; fie kennt ihre Pflichten ; mit einer Frau 
ift e8 auch etwas Anderes. — Sa, was die Folgen betrifft, denn 
in moraliſcher Hinficht und felbft nach dem Gefek der Natur, glaube 
ih, ift der Fehler durchaus gleich. — Ihr fpaßt, übrigens find 
die Folgen nicht allein. Mit dem öffentlichen Schein iſt es zweierlei. 
Wird man eine Frau verfpotten, deren Mann einer Andern ben 
Hof macht? Nein, man wird nichts darüber fagen, weil man das 
gewöhnlich findet ; aber wenn eine Frau ihren Mann beträgt ? — 
Das ift auch fehr gewöhnlich. — Und dem ungeachtet fpottet man 
über den armen Ehemann und deutet mit Fingern auf ihn ... 
Ueberdies, was Tann für ein Unglück aus der Untreue eines Ehe: 
mannes entfliehen ? Keined? Die Schönen, die ihn erhört haben, 
werben fich deffen nicht überall rühmen. Mit einer Frau iſt es was 
anders. Ihre Anbeter Schaden immer ihrem Ruf, fei es durch Worte 
oder durch Handlungen, die den Augen der Nachrene oder Neugierde 
nie entgehen. Kurz, eine Frau, die ihren Mann untreu findet, kann 
nur weinen und fich beflagen; ein Mann aber, ber feine Frau über 
der Untreue ertappt, Hat das Recht, fie zu beftrafen ; Ihr feht 
alſo, lieber Freund, daß der Fehler nicht derſelbe ift, da die Strafe 
verfchieven ausfällt. — Ich fehe nur, daß wir die Geſetze gemacht 
haben, und dabei fehr gut angelommen find. — Werbei Ihr mir 
nit auch noch Moral predigen! Wahrlih, Dufreösne, Ihr feib 
beinahe ebenfo ſtreng tugenphaft, als meine Frau! — Nein, lieber 





159 


drennd, ah! Ihr kennt mich noch nicht. Sch Habe nur, bevor 
ich Cuch diene, wiſſen wollen, ob Ihr die Folgen Eurex Liebes: 
inteigue auch gehörig ertvogen habt... — Alles ift berechnet und 
erwogen! Ich liebe Frau von Göran’und will wieder geliebt fein. 
3% fühle, daß Fein Opfer zu groß fein Tann, um meinen Zwed 
zu erreihen.... Ihr verficht mich doch? — O, fehr gut... weil 
Ihr entſchloſſen fein, fo will ich Euch behülflich fein; aber Ihr 
werdet fobann mir es wenigftend nicht vorwerfen, Euch verführt zu 
baden. — D nein, nein! Ich bin es, der Euch bittet, mir zu 
mm, und die Heine Intrigue vor meiner Frau verheimlichen zu 
klfen. — Seid beruhigt und überlaßt mir dieſe Sorge. Ich über: 
uhme Alles. Wann denkt Ihr denn zur Frau von G6ran zu 
gehen? — Heute Abend... Aber da wird wohl gefpielt? — Sa, 
m daB hoch... — Teufel! und ich habe fein Geld mehr... Die 
dete bat mich ganz ausgebeutelt. — Es wäre leicht Geld zu be 
Inmen. Die Papiere ſtehen jetzt hoch... Verkauft! In einiger 
Fit müffen fie wieder fallen, und dann, wenn wir inzwifchen wieber 
Geſchafte gemacht Haben, Kauft Ihr wieder... Ihr feht, dabei iſt 
gleich ein Eoup zu machen. — Sa, das if wahr, Ihr habt Recht.. 

Über die Papiere lauten auf den Namen meiner Frau. — Könnt 
In fie Euch nicht endoffiren laſſen, wenn Ihr eine brillante Spe⸗ 
kalation vorgebet ? — Sa, ja, oh! file wird unterzeichnen, ich bin 
rchen gewiß, fie unterzeichnet, was ich verlange. — So benügt 
ihre gute Lanne, um Eure Kapitalien zu verkaufen; ich wiederhole 
“oh, fie fliehen auf dem Punkte zu fallen, und in einigen Tagen 
Kant Ihr mit wenigerem Gelde diefelben Papiere wieder Taufen. 
Denn Ihr es wünfcht, will ich gerne das Geſchaͤft beforgen. — 
Ih würdet mir einen großen Gefallen erweiſen ... beun ich bin 
wderlei Sachen noch unerfahren, und ohne Euch kaͤme ich oft in 
delegenheit! — Fürchtet nichts und betreibt Eure Gefchäfte mit 
Treifigfeit ; ich verfichere Euch, daß Eure geftrige Gefelffchaft Euch 
ma ingeheuren Krebit verfchafft hat... Wenn Ihr dreißigtauſend 


100 

Franken brauchte, Ihr würbet fie leicht finden. — Ihr entzückt 
mich, ich gehe zu meiner Fran, erwartet mich nur in unferem Kaffee: 
banfe, bald bin ich mit den Papieren wieder bei Euch. — I 
werde ba fein... aber Verfchwiegenheit gegen Eure Frau! — Haltet 
Ihr mich für en Kind... Ohne Arien, mein lieber Dirfresne !“ 

Eduard eilt nach Haufe, geht ins Zimmer feiner Frau und 
findet fie mit ihrem Kinde auf dem Arme. Beim Anblick ihres 
Mannes, der nicht mehr am Tage fie zu befuchen pflegt, erfüllt 
Hoffnung ihr Herz ; fle denft, feine Liebe führe ihn zu ihr zurück, 
und ein Lächeln ber Freude verfchönert ihre anmuthövolien Züge. 

Eduard fleht ſtumm und verlegen vor feiner Frau ; er empfindet 
ein brüdended Gefühl, will aber fein Unrecht fich nicht eingeftehen. 
— „Du bift es, Tieber Eduard?“ ſagte Adeline im fanfteften Tone, 
„wie freue ich mich, Dich zu fehen... es ift ja fo felten... aber 
da, gib doch Deinem Tächterchen einen Kuß.“ | 

Er nähert ſich der Kleinen alt, Tüßt fie zerfireut und bleibt, 
ohne auf ihre nieblichen Bewegungen zu achten, in feine Tränmerei 
verfunfen und weiß nicht, wie er von feinem Projekte anfangen 
fol. — „Du fcheinft betrübt,“ fagt Adeline, „follteft Du Berbrug 
gehabt haben, o, ich bitte Dich, Theile ihn mir mit, Du baft Feine 
zärtlichere und aufrichtigere Freundin ald Deine Frau. — Ich weiß 
es, liebe Apeline, ich habe aber keinen Verdruß gehabt! Mein, 
mir geht nur fo Manches durch den Kopf, ich bin mit einer großen 
Spekulation befhäftigt, durch die ich fehr viel Geld gewinnen kann. 
— Immer Spekulation und niemals Liebe, Ruhe, wahres Glück. 
— D wenn wir erft reich fein werden... dann... Aber... ich 
babe eine Bitte, ich wollte Dich erfuchen,, etwas zu unterzeichnen ... 
Es betrifft einen fehr vortheilhaften Handel. — Biſt Du deſſen 
auch gewiß, Tieber Cduard? — O ganz gewiß... denn...“ 

Murville wollte Hinzufeßen, „denn Dufresne hat es verſichert,“ 
aber er fühlte wohl, daß dies nicht das Mittel ſei, ſeine Frau zu 
Überzeugen. Nachdem er aus einem. Sekretär alle nothwendigen 





161 


Papiere genommen halte, fetzte ex eine Berhandlung auf, wodurch 
ſewe Gran in den Verkauf ihrer Kapitalien mwilligte, bot ihr mit 
Zittern bie Feder dar, und Adeline, voll Vertrauen und Ergebenheit, 
anterſchtieb, ohne nur die Verfchreibung gelefen zu haben. 

„So, nun iſt's gut,“ ſagt Murville, indem er die Papiere 
unfedt, „jept eile ich nach der Börfe, um dies wichtige Gefchäft 
ud Reine zu bringen.“ 

Er umarınt feine Frau und laͤuft Haftig davon. Diefe bemerkt 
sch, daß er nicht ihrethalben gefommen iſt, aber ihr Herz ent- 
ichuldigt ihn; fle glaubt ihn ganz in feinen Gefchäften vertieft. 
— „&liebt ja nur mich, und das ift die Hauptfache. Dan muß 
tm diefe Luſt zur Thaͤtigkeit zu Gute halten; es ift ja ein fo ver- 
wilder Wunfch, feine Frau und Kinder bereichern zu wollen.“ 

Arme Adeline, Du weißt nicht, welchen Gebrauch Dein Dann 
u Deinem Gelde machen will! 


Heunzehntes Kapitel. 

iR nicht ihre Schuld, oder: die Unſchuld fiegt. 

Ehuard kommt im Triumphe zu Dufreöne ; er ift jeßt Befiger 
“nes beträchtlichen Kapitals und kann nach Gefallen darüber ver- 
en, denn feine Frau wird von ihm Feine Rechenschaft dafür ver: 
gen, und feine Schwiegermutter kümmert fich nicht mehr um feine 
Angelegenheiten. Dufresne erwartet Murville mit Ungeduld; er 
het einige Schwierigkeiten von Seiten Adelinens, aber beim 
chlid der werthvollen Papiere umfpielt ein teuflifches Lächeln feine 
'zhen, das ex fogleich wieder zu unterprüden fucht, feinen Zügen 
Um ganz eigenen Ausdruck verleiht und jedem Andern außer Eduard 
mffellen würbe ; biefer aber läßt Dufresne gar nicht Zeit zum 
Ertchen; er brängt ihn, bie Fonds zu verfaufen, und Legterer ber 
ch äh and Beſorgniß, jener möchte feinen Entſchluß ändern, deſſen 
Luiſch zu erfüllen, 

Pal de Rod. 1. 11 


163 


Abdeline wartet vergebens auf die Rückkehr ihres Mannes, der 
Tag vergeht und er kommt nicht nach Haufe. Sie denkt, er werbe 
bei irgend einem feiner neuen Gefchäftsfreunde zu Tifche geladen 
fein und tröftet fich hiemit; was ihr aber den größten Kummer ver: 
urfacht, ift feine Verblendung über Dufreöne, feine Gleichgältig: 
feit, womit er ihre Erzählung von deſſen unwürbigem Benehmen 
aufgenommen hat. Die Drohungen Dufresne's fallen ihr ein, fie 
denkt an die Schwäche ihres Mannes, unb der Gedanke macht fie 
ſchaudern, daß ihr Glück, ihre Ruhe, vielleicht bie ihres Kindes, 
in den Händen eines Tafterhaften Menfchen find, der jeder Haub⸗ 
lung fähig zu fein ſcheint, um feine Leidenfchaften zn Befriebigen. 

Sie war in ihren Betrachtungen vertieft ; es wer Xbendö neun 
Uhr, und vergebens wartete fle auf ihren Daun, als plößlich heftig 
an die Thüre des Hötels gepocht wirb ; Bald barauf hört fle Je⸗ 
mand die Treppe herauf kommen... man nähert fi... unzweifel: 
haft ift es Eduard... fie fleht auf, die Thüre zu öffnen; aber er 
ift e8 nicht, ein Bedienter bringt einen Brief, ben ein Fremder mit 
dem ausdrücklichen Beifügen übergeben hat, ihn der Madame Murville 
ſelbſt einzuhändigen ; der Unbekannte hat fich fogleich wieder entfernt. 

Adeline erbricht das Siegel ; die Schriftzüüge find ihr unbekannt, 
fie fcheinen von einer ſchwachen und zitternden Sand zu fein und 
find von Madame Dolban unterzeichnet. „Was Tann fie mir zu 
fchreiben haben ?“ fagt Adeline, „ich will doch einmal fehen.“ 

„Madame, feit langer Zeit bin ich fehr leidend; ich kann mein 
Zimmer nicht mehr verlaffen ; aber ich will es boch nicht Tänger 
anftehen Taffen, ihnen eine wichtige Mittheilung zu machen. Ich 
habe ein Unrecht begangen, ich muß daher audh verfuchen,, es wieber 
gut zu machen. Ich habe bei Ihnen einen Mann Namens Dufreöne 
eingeführt... Gott! wie bereue ich bad, aber damals Hielt ich ihn 
noch für unfähig, das Zartgefühl zu verlegen. Cine unfelige Leiden: 
ſchaft hatte mich Iange Zeit verblendet; jept aber kann ih an ber 
abſcheulichen Wahrheit nicht mehr zweifeln. Diefer Dufreöne ift 








163 
ein Schurke und jeder Ehrlofigfeit fähig... Ich Habe nur zu wiele 
Beweiſe von ber Niederträchtigkeit feined Charaktere. Er hat mich 
von Allem entblößt, was ich befaß ; aber ich beflage weniger ben 
Lerluf meines Bermögens, ald von ihm fo fehändlich betrogen 
worden zu fein. Spiel, Ausfchweifung, kurz, alle Lafter liebt er 
und verſteht fich auf die Kunft, feine niedrigen Leidenfchaften zu 
rerbergen. Ich wage nicht, Alles zu fagen, was ich weiß, aber 
id beſchwoͤre Sie, ohne Aufſchub die Verbindung, in der er mit 
rem Manne flieht, abzubrechen, uber fürchten Sie Alles von den 
Rutkichlägen eines Ungeheuers, dem nichts Heilig iſt. 
Mittwe Dolban.” 

Adeline fchaudert, ihre Seele ift von Schreden ergriffen, fie 
het die unglüdlichen Zeilen noch einmal, erhebt ihre mit Thränen 
üillten ſchoͤnen Augen zum Himmel und Hagt: „Das ift alfo der 
Rom, wegen deſſen Eduard ſich mit meiner Mutter entzweit hat, 
ter fein Rathgeber, fein Vertrauter, fein Freund tft! O Gott! 
relche Zufunft fteht mir bevor! wie kann ich dem Nebel vorbeugen? 
Ran Mann hört nicht auf mich, verwirft meinen Rath, ift taub 
fir meine Bitten... Aber meine Thränen werben ihn erweichen.. 
Sen, Eduard hat fein ſchlechtes Herz, er liebt mich noch, er wich 
ieme Adeline nicht von ſich ſtoßen; ich werde ihn im Namen unferes 
Aindes beſchwoͤren, mit einem Manne zu brechen, ber ihn ind Un⸗ 
lid für... Diefer Brief, Hoffe ich, wird ein genügender Be: 
ve fein; er wird die Augen Sffnen und einen Umgang aufgeben, 
mit ſchon fo viele Qualen bereitet hat.“ 

Tiefe Gedanken beruhigen Adelinens Schmerz etwas; feft ent: 
sHofen, ihrem Manne den Brief fogleich bei feiner Rückkehr zu 
#igen, nimmt fie ſich vor, ihn zu erwarten. Er kann ja nicht mehr 
ne audbleiben, es tft ja ſchon fpät; es bebarf ja nur nuch einer 
mm Zeit des Muthes. Arme Frau! wenn fie wüßte, was ihren 
Amn jept befäftigt, während fie traurig und verlaffen, allen 
daclen der Angſt, der uninhe und der Eiferſucht preisgegeben iſt! 


164 


Du, die im Buche des Schidfals zu leſen dich bemühft, wi 
beflagenswerth wäreft bu, wenn du den Schleier Iüften koͤnnt 
bir die Wahrheit verhüllt!... Die Täufchung wurde zum GI 
Sterblichen erfunden ; fie ift beinahe ebenfo wohlthätig ale die Ho 

Die junge Frau ſucht ſich mit Blänen für die Zukunft i 
zu vertreiben. Sie fieht mit Entzücken der fchönen Jahres; 
gegen ; bald wird man wieder aufs Land ziehen können; fie 
anfangs ihrer Ehe daſelbſt fo überaus glüdlich, daß fie fich 
delt, dort das Glück wieber zu finden, das ihr in Paris frı 
blieben iſt. Eduard wird fie begleiten, feine Pläne, feine 
nach glänzenden Sefchäften aufgeben und völlig mit dem tr 
Dufresne brechen. Nichts wird dann ihre Zufriedenheit ftör 
ihre Mutter wirb wieder bei ihnen wohnen. Die Eleine € 
wird unter den Augen ihrer Eltern aufwachſen und fie lieb 
fchägen lernen. Welch eine glüdliche Zukunft!... Wie kur 
da die Zeit erfcheinen! wie herrlich foll fie angewendet wert 

Adelinens Herz fühlt fi bei dem reizenden Gemäld 
Bhantafle erleichtert... aber die Uhr fchlägt... fie fieht a 
Zeiger und fenfzt... die Träume des Glücks verfchwinden ı 
Kalte Wirklichkeit umfängt fie wieder. 

So bemühen ſich die Unglüdlichen, fich felbft zu betrüg 
fi) ihre eigenen Schmerzen zu verbergen. Der, welcher die € 
feined Herzens verloren bat, kann ihr Bild nicht aus feine 
daͤchtniß entfernen ; er fieht fie unaufhörlich vor ſich, ſpricht 
verfeßt ſich mit ihr indie glüdliche Vergangenheit, an bie 
welche die Zeugen feiner entflohenen Freuden waren; er hü 
zarte Stimme, bie Bekenntniſſe ihrer Liebe, er erinnert fc 
traulichen Uuterredung, er glaubt ihre Hände noch in den f 
zu halten, er ſucht ihre brennenden Lippen, von benen er bie 
MWonne fog ; aber die Täufchung hört auf, fie ifk nicht mu 
und welche fchredliche Leere, welche um fo graufamere Grife 
bann fein Loos!,., _ 


+ 


15 \ 


Adeline hat der Wechfel von Furcht und Hoffnung lebhaft in 
dewegung gebracht ; zwanzigmal ſetzt fie fih an bie Wiege ihres 
Kindes und eben fo oft läuft fie and Fenſter und horcht ängftlich auf 
des leifefte Geräufch, aber nur dann und wann flört das Rollen 
tiger Magen die Ruhe der Nacht; jedes Mal, wenn fie etwas 
Kt, klopft ihr Herz gewaltig ... bas ift mein Mann... ja... 
miſts. . der Wagen kommt näher, aber er fährt vorüber, ohne 
imubalten. " 

Biele Stunden find fo vergangen. Die Kälte der Nacht, die 
Immattung vom Machen umfchleiern Adelinens Sinne. Trog ihres 
Lunſches, Cduard zu erwarten, fühlt fie, daß fie dem überwäl- 
tigenden Schlaf nicht Tänger widerſtehen kann, und entfchließt fich 
udlich, ſich niederzulegen, aber auf den Tifch vor ihrem Bette legt 
fe den Brief der Madame Dolban ; fie will ihn nahe bei ſich haben, 
um ifn fogleich ihrem Gemahl zeigen zu Tünnen. Bon diefen koſt⸗ 
taten Zeilen erwartet fie ja ihre Ruhe, ihr Süd. 

Sie zündet die Nachtlampe an, die jede Naht ihr Schlaf 
mer erhellt und Iegt ſich endlich, obgleich ungern, nieder ; aber 
@ iR ihr ganz unmöglich, länger wach zu bleiben, die Mübigfeit 
kegt über die Unruhe, die Augenliver fchließen ſich und fie fchläft 
kit ein. 

Eine Stunde etwa mag Adeline gefchlafen haben, als ein 
semli lautes, durch den Fall eines Stuhles veranlaßtes Geraͤuſch 
he plögfich erweckt ; fie öffnet die Augen, kann aber nichts erkennen, 
tie Rampe if ausgelöfcht ; fie macht eine Bewegung, um aufzuftehen, 
aber ein Arm umfängt ihren Leib, hält fie zurück und verjchließt 
ten Nund mit Küffen. Adeline weiß, daß Niemand als ihr Mann 
ta Schlüffel zu ihrem Schlafzimmer hat, fein Anberer Tann bis 
ihr dringen, es iſt alfo Ednard, der vor ihr flieht. 

„AG, mein Freund, wie Iange habe ich Dich erwartet; ic 
winfhte fo fehr Deine Gegenwart, Dich zu fprechen... wenn Du 
wäßteh!,.. Ych habe einen Brief von Madame Dolban erhalten... 


166 


die arme Frau!... fie ift fehr unglädlih!... Da wi 
zeugen, daß ich mich hinſichtlich Dufresne's nicht gei 
9, der Böfewiht!... Er ift ein fehr gefährlicher M— 
fagt fie, zu Allem fähig! er hat fie ruinirt ... . ex 
Laflern . . . Lieber Eduard, ich Bitte Dich, gehe nic 
dem Menfchen um... er würde Dich unglüdlich mache: 
nicht mehr fagen, daß das Hirngefpinnfte find... Da. 
dem Nachttifch Tiegt der Brief, wenn die Lampe nicht 
wäre, follteft Du ihn auf der Stelle leſen.“ 

Sie will auffichen, um die Nachtlampe wieder ı 
aber die Liebe Hält fie zurück; gern gibt fie nach, denn 
ihren Eduard wieder; der gehabte Kummer ift nur noch ı 
das innigfte Freudengefühl hat ihn verbannt... So ver 
Liebestänbeleien und ihren Herzendergießungen die Zeit, eiı 
Tagesſchimmer dringt bereits durch die Fenftervorhänge, 
ift noch voll Entzüden. Sie wendet den Kopf, um ihren 
auf dem Stuhl vor ſich zu betrachten, aber ein Schrei 
ſetzens entfährt ihr... fie zittert, will erfliden ; ihre Au; 
flarr.... ihr Herz Hört auf zu Schlagen. Es ift Dufresn 
erblidt... ihm, und nicht ihrem Eduard hat fle ihr Herz aus: 

Der Schrei der jungen Frau rührt Dufresne nicht ; 
fie mit einem teuflifchen Lächeln, einer barbarifchen Frı 
Adelinen fcheint das Leben entflohen, fie ift wie vernichtet 
fie umarmen , aber ihre Seele kehrt wieder zurüd, fie nüı 
ihre. Kräfte zufammen, ftößt das Ungeheuer von fi, fpri 
wirft einen Mantel um, und bie Feftigkeit ihrer Haltung, d 
in ihrem Blicke fcheinen jedem neuen verrätherifchen Berfud 
fiehen zu koͤnnen. 

Dufresne beobachtet ein augenblidliches Stilſchweigen 
jagt er mit ſpoͤttiſchem Lächeln: „Wie, Madame, wozu bei 
Rand... Feine Affektation! . . . In der That, jept wäre, 
kindiſch! ... Ihr Stolz ift gegenwärtig gar nicht am PA 





19 


Ohne weitere Umſtaͤube glauben Sie inir und laſſen und Frieden 
ſchließen..Ich verfpreche Ihnen, Ihr Mann foll von meinem 
Veſuche nichts erfahren. ., Uebrigens kann ich Sie verfichern, daß 
er eine Andere liebt; Sie haben fich alfo gegenfeitig keine Bor- 
wärfe zu machen.“ 

Dufresne macht einige Schritte, fich ihr zu nähern, fie weicht 
aber mit Abſchen zurüd, wehrt ihn ab und fcheint mit übernatür- 
lichen Kräften begabt ; von ihrem Rufen nad Cduard hallt das 
Zimmer wieder. Dufseöne läßt nach, denn er überlegt, daß auf 
dad laute Geſchrei der jungen Frau die Dienerfchaft, fowie fie es 
gehört, berbeieilen koͤnnte, und daß alle feine Pläne zerftört würden. 
Bider Willen muß er fich daher von Aoelinen trennen, aber Zorn 
u Wuth leuchten aus feinen Bliden. Er.ergreift den Brief der 
Nedame Dolban uud zeigt ihn der Geängfteten, bie jegt nur damit: 
beſchaftigt if, feinen Aufaͤllen Trotz zu bieten. 

„Das iR ja,“ fagt er mit Höllifcher Ironie, „das Schreiben, 
wovon Sie fo viele Bortheile zu ziehen hofften... Sie verwerfen, 
verabfchenen meine Liebe... fo zittern Sie denn vor meinem Haß 
uns meiner Mache. Den Brief nehme ich mit mir; Madame Dolban 
ol feruerhin nicht mehr an Sie: ſchreiben.“ 

Bei diefen Worten eilt Dufreöne aud Adelinend Zimmer, 


Bwanzigſtes Kapitel. 
Die Leidenſchaft macht ſchnelle Fortſchritte, wenn man 
ſie nicht bekämpft. 

Quard Hatte von Dufresne 100,000 Franken erhalten, was 
aut der Betrag der Hälfte aus den erlösten Papieren war; aber 
Tufreöne, ver einen Theil des Geldes für ſich behalten wollte, 
jegte, er habe nicht die ſaͤmmtlichen Kapitalien verwerthet, weil 
a in einigen Tagen einen noch befiern Cours zu benügen hoffe. 
Der leichtſinnige Nurville verließ ſich ganz auf feinen Sreund, und 


IB 


bat ibn, das ganze Geſchäft Bann zu beeuigen, wenn er es am 
‚zwedmäßigften finden würde. Manz von feiner neuen Liebe einge: 
nommen, hatte ſich Eduard, der fein Haus, feine Frau und fein 
Kind vernachläffigte, zur Frau von Géran begeben, wo er bie 
fogenannte Wittwe, deren Reize feine Cinbildungskraft fo fehr erhitzt 
hatten, allein in ihrem Ankleivezgimmer antraf. So ein Tte-A-töle 
ift ſchon eine beſondere Gunft. Die Kolette weiß all ihre Gragie 
zu entfalten, all ihre koͤrperlichen und geifligen Vorzüge moͤgkichſt 
herauszuheben, um der Eroberung bes jungen Gejchäftsınnumes füch 
zu verfüchern. Sie erreicht ihren Zweck leicht, denn ſchwache Menfchen 
laſſen fich Teicht verführen. Ein Läden, ein Bti mat fie ver: 
liebt, und darin gleichen ihnen oft die getftreichften Männer! Eine 
Huge Frau geht, wenn fie nicht liebt, umfichtig zu Werke; umb 
orſt dann, wenn fie gewiß weiß, befehlen zu können, begunftigt fie 
ihre Anbeter. Bei einem Wuſtling, einem Libertin, wärde Yrau 
von Goran wenig vermocht haben, aber bei einem Ehemann, der 
feither feine Yrau ganz allein geliebt hat, muß eine Kokette one 
Mühe ihren Zwei erreihen!. . . Deßhalb follte eine verſtändige 
Stau immer lieber einen in ber Liebe erfahrenen Mann heiraten, 
denn dieſer ift doch vor Derführungen ficher. 

Es ift ausgemacht, um verliebt zu werden, braucht man es 
gerade nicht felbft zu fein, ſondern ed nur zu fiheinen ; die wahre 
Liebe macht furdtfam, linkiſch, blöde und ungeſchickt; wie Tann 

. man babei gefallen. Das unfchuldige junge Mäpchen, die in Ge: 
ſellſchaft von Andern das Ideal ihres Herzens ind Zimmer treten 
ſieht, wird plöglich verlegen, nachdenkend, zerftreut, Roͤthe übers 
fliegt ihr Geſicht; man redet fie an, aber ſie antwortet verfehrt ; 
fie wagt nit, die Augen aufzufchlagen, fie if voll Bangigkeit, 
dag man ihr Innereö errathe und glaubt, ein Jeder durchſchane fie 
und wiſſe um ihr Geheimniß. Sprechen zwei Perfonen miteinander, 
fo bildet fie ich ein, es fei von ihr die Mebe. Die Eleinfte Beranı 
lafjung vermehrt ihre Verlegenheit ; ift fie muſikaliſch und man 


169 


führt fe zum dortepiano, fo wird fie gewiß nicht mit ber gewohnten 
Berigleit fielen; fie befürchtet zu viel Gewicht auf diefes ober 
jenes Wort zu legen, das in irgend einer Beziehung zu ihrem 
Geliebten Ächt ; tanzt man, fo hat fie Furcht, mit dem zu tanzen, 
den ſie aubetet, und iſt untröftlich, mern er eine Andere zum Zange 
auffordert, Arne Kleine! .... wenn bw nicht liebteſt . . er nicht 
morgen Wäre, würbeft du graytös, ungezwungen und heiter fein, 
an waͤreſt du ohne Zweifel dann bei weitem reizender und ver- 
führeriſcher, und beine mitlsivigen Freundinnen würden ſich wicht 
über bein linliſches Benehmen, beine Unbeholfenkeit Iuftig machen. 

An einem jungen Manne ift es noch fchlimmer, denn bie 
Shühternheit und Beriegenheit geben einem jungen Mädchen immer 
ung einen gewiſſen Auſtrich der Unfchuld und Sanftmuth, wodurch 
& bene gefällt ; wenn aber ein junger Mann ſich ſchmollend in 
ana Vinlel feht, ſobald die Beliebte feines Herzens ihn wit 
Kid genug angefehen hat, wenn er neben ihr fißt und feufzt, 
ohne zu reden, wenn er kein Wort herworbringen Tann, fobald ein 
Gürfiger Augenblick da ift, ihr feine Erklärung zu machen, fo tft 
des nichts weniger als Kiebenswärbig ; in ver Gefellfchaft lacht man 
torüber, und diejenige, welche bie Urfache feiner Mißgriffe ift, ſpottet 
wiegt zer darüber. Statt defien triumphirt der Leichtfinnige, 
ter nichts liebt und nichts fühlt, dem es ein Bergrrügen tft, mit 
” Franen fein Spiel zu treiben, ber das zartere Gefühl, aus: 
tauerabe Liche Lächerlich macht, mit einem Wort, ein Windbeutel 
a einem Tage über bie, für bie ber blöbe und gefühlvolle Lieb⸗ 
baber vielleicht Jahre lang vergebene geſchmachtet hat! Freilich if 
“der Vildfang lebendig, gewandt, unternehmend, während ber 
ſize Schlafer überall anflößt. Das. Lien fagt ſehr treffend: Ach 
die duum iſt ber Verliebte! Aber hier höre ich viele Damen 
der mi herfallen: „Wie, Herr Autor, Sie wünfchen nicht, daß 
wahrhaft geliebt werden? Das tft ja abfhenlih!.... Was 
ed für gehäffige Geuudſaͤte!“ 


170 


vielleicht falſch auegedruͤckt; ich will nur nicht, daß man Sie auf 
eine lächerliche und linkiſche Weife liche, und ich glaube, darin 
werben Sie mir Recht geben; ein Liebhaber, der nur feufzen Tamm, 
iR ein fehr laͤppiſches Weſen; ich will, daß man Ihnen mit Geiſt 
und Heiterfeit den Hof mache, denn Traurigkeit führt nie zu glück⸗ 
lichen Refultaten, mit einiger Heimlichleit, denn dad erhöht dem 
Reiz der Liebe, mit Feuer, weil Ihnen das gefällt, dad Leben nur 
kurz if, und wenn man für einander paßt, nicht Jahre dazu ge- 
hören, es ſich zu geſtehen, und es beſſer iſt, lieber heute ald morgen 
glüdlich zu werben. 

Aber laffen wir bie Metaphyſik der Liebe bei Seite und kehren 
wir zu unjerem Eduard zurück, der die heißeſte Liebe für eine Frau 
empfindet, die nie etwas für Jemand empfunden bat, und nicht 
mis ihm, ben fie nur zu ihrem Sflaven zu machen gedenkt, an- 
fangen wird. 

Er war ein erwünfchter Fund für Frau von Goͤran, welche, 
was Dufreöne ihm auch gejagt haben mochte, gegen einen reichen 
und leivenfchaftlichen jungen Mann, wie Cduard, nicht jo graufem 
war, als fie es fcheinen wollte. Hätte diefer Erfundigungen über 
die junge Wittwe eingezogen, fo würbe er erfahren haben, daß ir 
Ruf mehr als zweideutig fe, daß fle mit einem reichen Muffen, 
einem dicken Baron, einem Lieferanten und einem Shawiverläufer 
in vertrautem Umgange geflanden, daß ihr Haus der Sammelplag 
ver Wüftlinge, Intriguants und Spieler ſei, und daß man endlich 
auf dem Kriegäminifterio einen Beneral, Namens Goͤran, nie ges 
faunt babe. 

Bon dem Allem wußte Epuarb nichto; er glaubte eine Dame 
kennen gelernt zu haben, bie ſich ihm in ber Kraftfülle gegenſeitiger 
Sympathie ergebe: er frohlockte über einen Triumph, den zwanzig 
Andere vor ihm errungen hatten, und fand ihre Reize ber feiner 
Frau aus dem runde bei weiten überlegen, weil eine neue Er⸗ 


171 


oberung Immer eine zartere Haut, einen ſchoͤneren Bufen, einen 
niehliheren Fuß Bat, als die eigene Frau, was freilich oft nicht 
wahr iR, worüber fich die armen Frauen aber bei den Kennern bis⸗ 
weilen zu rächen wiſſen. 

Couard brachte alfo den Tag damit zu, die zarte Haut, den 
Ihönen Buſen und ben niedlichen Zuß der Frau von Géran zu 
hewmdern, und biefe ließ es gefchehen, weil fie, wie fie ihm ge- 
fand, der Gewalt feiner Liebe und ber Sprache ihres Herzens nicht 
niderüehen koönne. Bei ſolchen Beichäftigungen vengeht bie Zeit 
fd; er hatte fein Haus, feine Gefchäfte völlig vergeffen, umd 
rnnerte fih nicht eher daran, ald am Abend bei der Ankunft von 
aan Dupend Perfonen, den gewöhnlichen Spielgäften ber liebenös 
würdigen Witlme, 

Euard wollte ſich entfernen, aber Stau von Géran gab es 
übt zu; fie konnte feine Gefellfchaft nicht entbehren, und übers 
“ed mar ſie ihm ja Mevanche im Ecarte ſchuldig. Hier half fein 
üngered Weigern. Eduard blieb und fegte fi) an den Spieltifch, 
hier Geliebten gegenüber, die, wie er wohl wußte, mit ganz 
beſonderet Grazie fpielte. 

Anh Dufresne Fam den Abend zur Frau von Goͤran; er ſchien 
cheraſcht, ſeinen Freund anzutreffen. Dieſer ſpielte jetzt gerade 
zus einem unbelaunten Herrn, da feine liebe Wittwe aus Rückſicht 
af ie allzu übertriebened Glück das Spiel verlaffen Hatte, und 
ucht, wie fie fagte, auf Koſten Murville's ihre Gluͤcksader benützen 
Zelte. Judeſſen war er mit feinem neuen Spieler nicht glüdlicher, 
a verlor beſtaͤndig, und wollte nicht aufhören, um wieder zu feinem 
dalnſt zu gelangen. 

Dufreöne land vor Eduard und betrachtete ihn fchweigend. Eine 
ibeime Freude leuchtete in feinen Bügen ; er entdeckte in ihm alle 
Eymplome einer Leidenſchaft, die, einmal im Zuge, Feine Grenzen 
indet. Beim Anblick feiner gefpannten Befichtözüge, feiner breu⸗ 
ade Augen, feiner aufseſchwollenen Adern, feinem unterdrückten 


172 


Mtbemzuge, konnte er leicht die Wirkung bed Spiels bei ihn 
fennen. Da er ſich indeffen erinnerte, daß Cduard eine Beben! 
Summe Geldes bei ſich hatte, und nicht wünfchte, daß fie grö' 
theils oder ganz in die Hände Anderer Tomme, gibt er ihm Teifı 
Rath, nicht weiter zu fpielen, aber man hört nit darauf ; Mur 
empfindet fchon das Uebergewicht einer Leidenfchaft, der er fich 
erfien Dale hingibt, und übrigens verhindern ihn Gigenfinn 
Eitelkeit, feinen Plab zu verlaffen. 

„Wenigſtens,“ fagt ihm Dufresne, „wollen Sie fortfahrı 
fpielen, fo geben Sie mir Ihre Brieftaſche, und was fie noch 
hält; Sie haben ja Geld genng vor ſich liegen ; ſetzen Sie ſich 
nicht aus, in einem Abend eine fo bebeutende Summe zu verlie 

Jeder Andere wohl würde dieſen Rath nicht befolgt haben, 
Dufresne hatte ſchon eine ſolche Gewalt über Murville gemoı 
baß diefer ihm fein Portefeuille, aus dem er ſchon mehrere Banfı 
genommen hatte, ohne Bedenken gab. „Da,“ jagt er mit u 
prüdter Stimme und bemüht fi, feine Aufregung‘ zu verbe 
„da, nehmen Sie... hier ift auch der Schlüffel zu meiner Wohnur 
gehen Sie... und erwarten Sie mich zu Haufe.“ 

Dufresne ließ fi das nicht zweimal fagen. &r begab ſich 
Mursilie'd Wohnung, und hier war man ſchon fo daran gew 
ihn Tommen zu fehen, daß die Dienerfchaft kaum mehr darauf 
gab. Dufresne Hatte einen Theil des Abende in Eduards Zi: 
auf ihn gewartet, ba er aber ganz auszubleiben fchien, faß 
enblich den verwegenen Entfchluß, fich in Adelinens Zimm« 
fhleichen. Dies wurde ihm leicht, da er den Schlüffel dazu zu fi 
wußte, und welchen Erfolg fein Unternehmen hatte, Haben 
bereitö früher gefehen. 

Bas Eduard betrifft, ſo fand fich ein glücklicher Treffer bei 
nicht ein. Ex verlor Alles, was er noch behalten hatte, und auße 
taufend Thaler auf fein Ehrenwort. Um ihn zu tröften, behielt 
von Göran ihn allein beim Abendeſſen zurür. Sie verfüherte 


173 


\ 
af ber Chevalier Defleuret “ der fein Gewinner war, ein fehr gas 
lonter Mann fei, ind ihm gewiß fehr gern Revanche geben würde, 
ſohald ex e8 nur wünfche, und da jedenfalls das Glück einmal um: 
Irringen wüffe, werde er über kurz oder lang wieder zu feinem Gelbe 
Icmmen. Solch triftige Gründe konnten nicht verfehlen, Eduard zu 
beruhigen; und er blieb bis fpät in die Nacht bei feiner Schönen. 
Am andern Morgen erwachte er um 10,000 Franken ärmer, Das 
hieß die Gunftbezeigungen feiner fchönen Wittwe etwas theuer be- 
jahlen! Aber die Liebe rechnet ja nicht. 


—. 


Einundzwanzigfles Rapitel. 
Das Roulette - 


Adeline blieb Lange Zeit bewußtlos und vom Webergewicht ihres 
Schmerzes überwältigt. Mehrere Stunden nad Dufresne's Entfer: 
zug faß fie noch Halb angekleidet in einem Winkel des Zimmers und 
rate den ergriffenen Mantel Frampfhaft gegen ihren Bufen, 

Der Tag erfcheint endlich, die Diener des Hauſes werden 
zuter! Adeline fleht auf, Eleivet ſich mafchinenmäßig an, und 
lt wieder auf den Stuhl zurück, den fie verlaffen hatte; fie hat 
une Pläne, Feine Wünfche, Feine Hoffnungen mehr ;; fie leidet, aber 
acdankenlos. 

Pan klopft leiſe an die Thüre: fie erwacht aus ihrer Erſtarrung 
an Ändet ihr Befühl, aber auch all ihr Elend wieder. Sie will 
nen... bleibt jedoch an ber Thüre fliehen: ein plöglicher Gedanke 
hält fie zurüdt : wenn es ihr Mann wäre!... fie fühlt, daß fle feine 
Slide nicht würbe ertragen können und fürchtet, er werbe die Wahr: 
“auf ihrer Stine lefen!... Arme Adeline... Du bift nicht 
idüldig und zitterfi!... Welch ein Unterfchied von dem, 
ras wir täglich in der Welt: erbliden! 

Fine Stimme laͤßt ſich hören, es iſt die ihres Stubenmaͤdchens; 


174 


fie fengt, ob fie hereinkemmen dürfe; Abeline beruhigt ſich un 
ſchließt anf. 

„Berzeihen Sie, Madame,” fagt das Maͤbchen, „ich hatte Bange 
um Ihr Befinden ; es ift ſchon fpät, Sie Haben nicht geflingelt und 
find auch nicht zum Frühſtück heruntergefommen. — Es ift fpät, 
Marie? ift Herr Murville noch nicht zu Haufe? — Fa, Madame, 
ber Herr find gekommen, gingen auf ihr Zimmer, aber bald darauf 
wieder aus. — Wieder aus! fagft Du ? — Ia, Madame!“ 

Adeline fchöpft freier Athem und fühlt fi ruhiger, denn fie 
fürchtet jebt die Gegenwart defjen, den fle vor einigen Stunden mit 
fo vieler Ungeduld erwartete. 

Marie betrachtet ihre Gebieterin ; fie findet fie blaß und ent- 
ftellt,, ſeufzt und beflagt fie, denn fie denkt, daß das Betragen ihres 
Mannes die Urfache ihres Kummers fei. Die Diener find bie erften 
Richter ihrer Herrſchaft; fie fehen Alles, nichts entgeht ihnen; es 
gibt Feine Helden und wenig treue Ehemänner vor ihren Kammer: 
bienern. 

„Iſt Madame die Nacht Franf gewefen?“ fragt envlid Marie 
Halblaut. — „Nein, nein, ich habe nichts gehabt,“ antwortet Adeline 
erröthend, verhält ihr Geficht mit dem Tafchentuch und bemüht fich, 
ihr Schluchzen zurückzuhalten. — „Ei!“ erwivert das gute Mäpchen, 
- „Madame haben fehr Unrecht, fich fo zu Fümmern... ach, mein 
Gott!... die Männer find alle fo... fie haben einen Hang zur Zer: 
fireuung ... man kann fie daran nicht hindern ! aber das gibt fi... 
und Madame find fo gut, daß... — Laß mich.” 

Das Mädchen will gehen, Adeline ruft fie aber zurüd. „Marie, 
ift heute Nacht jemand Fremdes im Haufe gewefen ? — Ein Fremder... 
heute Nacht...” fie flieht ihre Herrin mit Verwunderung an und kann 
ſich die Frage nicht erklären. — „Sa, fa, haft Du Hopfen hören... 
hat man Geräufch bemerkt? — Des Nachts Hopfen, das hätten nur 
ber Herr fein Eönnen, aber fle waren ja nicht zu Haufe; Gott fei 
Dank; es ift Alles ruhig gewefen, und wir haben Alle gut gefchlafen; 





1% 


ed if fein Wunder ; na ber ſchlafloſen Nacht von vorgeftern mern 
wir noch mähe genug.“ 

Meline, etwas deruhigter, ſchictt iht Giubenmäheen fort; fie 
num werigfiend ſicher, daß iher Onichrung ein Geheimniß geblieben; 
fe geht zu ihrer Heinen Ermanee, nimmt fle in ihre Arme und ſucht 
bi ie Tool zu Üben ; eine innere Stimme fagt ihr, daß fie um: 
Kalig fei, amd fie faßt neuen Muth. Die Abficht allein 
naht das Verbrechen, und Adeline empfindet ja für Dufreöne 
ten heftigſten Haß; ihn zu nähren, ift ihr Genuß, es fcheint ihre, je 
mehr fle Abſchen vor ihm fühle, deſto weniger ſtrafwürdig fet fie in 
Ihten Augen. 

Aber ein drückender Gebante fällt ihr aufs Herz, denn fle erin⸗ 
art fih der lezgten Worte Dufreöne’3: Eduard Hebt eine Andere. Ex 
Rn Haufe gefommen und denkt nicht daran, fie zu fehen. @8 
NALE aus, er ift untreu, er vergißt fle!... Diefe Gewißheit 
macht die arme Adeline vollends untröftlich und benimmt ihr jebe 
Scfnung, 

Roch ganz finnenberaufcht von ber verlebten Nacht hat Eduard 
te Vohnnng ber Frau von Geran verlaffen, um nad Haufe zu 
üben; aber ein Gefühl der Schande, fein Gewiſſen Hält ihn ab, 
ih zu feiner Frau zu begeben. Möge man fih auch vor 
schmen, feine Handlungen zu entfchuldigen; hat 
man feit Längerer Zeit den Pfad der Tugend und des 
Lchtes verlaffen und der Sffentlihden Meinung Trog 
seboten, fo.entgeht man bei einer jeden fchlechten 
Tat feinem innern Richter nicht. Und Eduard war noch 
in ſeht Neuling auf dem Pfade des Lafters, um nicht deſto flärker 
he Sorwärfe feines Gewiffens zu empfinden. Beinahe eine ganze 
Rt aus dein Haufe zubringen, feiner Frau umtren fein und eine 
hetrichtliche Summe im Spiele verlieren, wie viel Grund zu ernft= 
haften Betrachtungen ! 

Einard Handelt aber. wie bie meiften, die Thorheiten begangen 


IR 


haben ; anflatt eö ſich vorzunehmen, künflig kin geſetzier und vernänf- 
tiger zu fein, war er bemüht, fich zu betäuben uud ſich völlig bes 
Zägellofigkeit feiner Leidenſchaften zu ergeben, gleich denen, bie ſich 
ind Waſſer flürzen, um dem Untergange ber Weit zu enigehen. 

Bei Dufreöne war Cduard ficher, Zerftreuung zu finden, er geht 
alfo zu diefem. Ex findet ibn allein und in ernflen Betrachtungen 
vertieft. Zum erften Male dutzt Murville ihn, denn er- fühlt ſich 
jegt mehr zu ihm hingezogen, ſeitdem er aufgehört hat, ein guier 
Wirth und rechtſchaffener Ehemann zu fein; er theilt ja ganz feine 
- Grundfäge, jede Ceremonie muß baher zwifchen zwei engverbundenen 
Freunden verbannt fein. Eduard wirft ſich auf einen Stuhl und ficht 
Dufreöne an, der von ihm zuerfl angerebet zu werben erwartet. 

„Da bin ich, Lieber Freund, ich glaubte Dich bei mir zu 
finden... — Ic bin geftern Abend auch da gewefen, weil Sie aber 
nicht kamen und das Warten mid) langweilte, ging ich wieber fort. — 
Meiner Treu, Du haft Recht gehabt, Du würbeft vergebens auf mich 
geharrt haben... Ach bin bis fpät in die Nacht bei Frau von Goͤran 
gewefen . . . Du verſtehſt mich bo... — O je, fehr wohl!... ich 
mache Ihnen mein Compliment deßhalb.... das will etwas jagen... 
die Frau betet Sie an! — Oh! fie if wirklich närrifch in mich ver- 
liebt... . das ift der wahre Ausbrud . . . fe wollte mic kaum fort: 
laſſen, ich habe ordentlich Mühe gehabt, mich von ihr zu ixennen ! 
— Nehmen Sie fih in Acht... Frau von Beran hat Leidenfchaft- 
lichkeit, feuriges Blut, eine lebhafte Einbildungsfraft, fie wird ohne 
Sie zulegt gar nicht mehr leben Tönnen !— Du entzudft mich, ſolche 
Frauen liebe ich gerade! — Wenn Ihre Frau aber etwas erführe ? 
— Bah, bah, die hat fein Temperament und ift gleichgültiger, uns 
empfindlicher Natur! ... ihre Art zu lieben, hält mit der Frau von 
Goͤran gar feinen Vergleich aus. — Ich möchte Ihnen etwas rathen. 
— Sprich! aber kurz weg... Du... Teinen Zwang mehr zwiſchen 
und, mein lieber Dufresne. — Ich bin's zufrieden. — Du fagteft 
alfo ... — Wenn Du mir folgen willft, fo [if Du Deine Frau 








ın 


aufs Banb, um mehe Freihheit zu haben. — Wahrlich, ein trefflicher 
Gedanle!. fie ſpricht fo alle Tage vom Lande, von Wieſen und 
Gehen... ja, ja, ich werde das Lämmlein auf die Weide ſchicken 
und in Bari bleiben... — Aber Du erzählieft mir ja nichts von 
Deines Partie mit dem Chevalier Defleuret ? Haft Du Dein Gelb 
wieber gewonuen ? — Rein, im Gegentheil, ich habe auffalfendes 
Unglüd gehabt und befländig verloren; allein Du erinnerft mid 
daran, daß ich ihm noch tauſend Thaler ſchuldig bin und verfprochen 
babe, ſie ihm heute Morgen heimzuzahlen. — Spieljchulden find 
eilig, die mußt Du freilich bezahlen. — Das will ich auch ſogleich 
than; ex hat mir im Palais Royal Nr. 9 Rendezvous verfprochen, 
wohnt er vielleicht dort ? — Ha! ha! ka! was Bift Du doch uner⸗ 
iaften, mein lieber Mutville... weißt noch nicht einmal, daß Nro. 9 
aue Spielbank , eine Roulette ii? — Wie, der Chevalier befucht 
eine Roulette ? — Warum das nicht? Da wirft da ganz ordentliche 
teste finden : viele Adelige, die ken Glücksrittern gerne Gelb abge: 
winnen möchten, und ehrliche Bürger, die füch gefchmeichelt fühlen, 
mit Grafen und Baronen zu fpielen, aber Alles mit dem größten 
Auſtand! ... In größter Ordnung, ohne Lärmen!... Ich verfichere 
Dich, daß mancher Spieler in unſeren Geſellſchaften ba Unterricht 
m feineren Takt nehmen Könnte ; man verliert fein Geld, ohne fich 
u bellagen... man ſchimpft und fucht nur innerlich ; kurz, Alles 
seht fehr anftändig her. — Meiner Treu, ich bin neugierig, das zu 
ſeben, aber ich glaubte, daß ein Geſchäftsmann ſich an jolchen Orten 
übt fehen laſſen dürfte; man hat mir gefagt, daß bied dem Ruf 
Ichr ſchaden könne. — Man hat Dich belogen, im Gegentheil, Du 
wirt vielmehr fehr viele Kaufleute, Gejchäftsmänner, Wechſel⸗ 
“euten und Courtiers bafelbft finden. In der That, es ifi einer der 
feinnten VBereinigungspunkte: Militärs, Fremde, große Herren, die 
Incognito reifen, geben ſich hier Rendezvous; und außerdem wacht 
u Bolizei darüber, daß fein Poͤbel und Teine Spipbuben fich ein- 
leiden, Nr. 113 if für das ſchlechte Gefindel, für Arbeiter, Heine 
Paul de Rod. 1. 12 


Yahrtlanten und Krämer, denn ſolche Lente weile doch aud 
Infig machen; aber Mx.. 9 iſt fuſt oben fo uffkämbig wie Frasca 
Hiemach bann ich ja ohne Vedenben hingehen. — Bu wirft 
Deflenret dort nicht werfehlen. Er iſt immer von der Eröffnm 
ya Ritiage da, und verfäumi ſogar oft feine Mahlzeit. Er fi 
grünen Tifch und flicht mit der Nadel feine Karte. Seit gehn J 
IR er bemüht, dahinter zn Lommen, wie man gewinnen muß 
verſichert, es binnen Kurzem ergrübeht zu haben ; dann will 
feinen Belannten mittheilen. Bern man Das herausbringen fü 
Wetter, dad müßte prächtig fein!... dann brauchte man fi 
nichts mehr zu benurnhigen.... . man hätte Vergnügen und lebt 
ein Prinz. — Glaubſt Du denn, daß ed möglich wäre? — 
allerdings... man bat noch ganz andere Dinge ergrübdelt... 
bat Beifpiele ... . muster und gefagt, ich Tonne mehr als dreißig 
fonen, die ihren Hang in der Geſtliſchaft Behanpten, viel 
ausgeben, alte Moden mitmachen, fidy nich verſagen 
doch sur vom Spiele Ichen. Höre, was ein bekannter Schrifi 
hierüber ſagt: 

„Das Epiel ernähret eine Menge Leute, 

echtſchaffner Urt, Biaker, Günftentuäger 

Und MBucherer verfehn mit. jenem falben 

Kleinod, das täglich Täuft von Hand zu Hand, 

Gabcogner, die in einer Kneipe prablen, 

Blüdbeitter und ein Rubel Jungferſchaften, 

Die ohne den Ertrag des Lenztuchläpiels 

Mit ihrer Tugend wohlfeil Handel tziebes:“ 

„Du fegeft mich in Geflaunen.... da® hätte ich nie ges 
denn es bleibt doch immer nur ein Zufall. — Ei, lieber Freunl 
ven Mann, der mit Ruhe. überlegt, alte Fälle und Wahrfche 
leiten vorausfieht .. . gibt es feinen Zufall ; übrigens was ü 
ba fage, ift nicht, um Dir zum Spiel Luft zu machen... € 
nicht glüllih..... Beffer, Du läßt es fein. — Apropos und 
Geſchaͤfte? — Ee if jopt ein Shilland ... man muß 06 als 


M 


— 3 felt Ach, Lieber Duftesne, wenn wir es ausſindig machen 
fünuten, immer zu gewinnen, wie wollten wir leben, waͤhrend meine 
Fran auf dem Lande it! — Glaube mir, denke nicht mehr daran, 
dad ſind Thorheiten, Chimären .. . doch ich muß Dich verlaffen. — 
Stute Abend fehen wir ung doch? — Wo denn ? — Ei, kannſt Du 
noch fragen ? Bei der Fran von Beran.“ 

Dufresne und Epuarb treumten fih, der Erftere, der Wirkung 
gewiß, welche dieſe Unterredung auf den Schwachlopf Eduard 
gemacht hat, und Diefer, indem er nur vom Roulette und von fort: 
dauerndem Gewinne Iräumend, ſich bereits mit den überfpannteften 
Frojchten befchäftigt. 

In dieſem Zuftande kommt Eduard an den vom Chevalier be- 
zeichneten Ort; er durchläuft mehrere Säle und gelangt endlich in 
ein goßes Zimmer, worin die Spieler um eine Ronlette verſammelt 
a. Gr fühlt, wie ihm das Blut in den Kopf fleigt, er will feine 
Verlegenheit verbergen, und gibt ſich raſch das Anfehen eines täg- 
hen Gaſtes daſelbſt. Der Chevalier Defleuret erblidt ihn, fleht 
auf, geht ihm entgegen und vergißt über dem Wunſch, fo Bald als 
möglih feine tauſend Thaler einzuziehen, das Stechen ber Karte. 
Genarh beeilt fich, feine Schuld zu berichtigen. Der Chevalier if 
entzüt über die Binktlichkeit feines Schulpnerd und ladet ihn ein, 
einen Augenblick neben ihn fich hinzufeßen. Eduard zaubert, ſieht 
önghlich umher, fürchtet Bekannte anzutreffen und wird in der That 
mehrere Gefchäftälente gewahr, die theild mit Dufresne umgehen, 
tdeils an jenem Abend feine Gäfte waren. Alle dieſe Leute fcheinen 
indeſſen um ben grünen Tifch Fehr befchäftigt und nehmen nicht bie 
entfernteſte Notiz von ibm ; ber Chevalier zieht ihn mit fich fort, ex 
gibt nach, und fo ſitzt er denn am Ronlettetifch. 

Defleuret ergreift feine Karte wieder, um zu flechen, und er- 
kundigt ſich bei einem Iangen trodenen Herrn in hellbraunem Ober 
twte nach den Farben und Nummern, die gezogen worben finb ; diefer 
aber wirft ihm einen wüthenben Blick zu, huftet, räufpert, ſchnaubt 


189 


fih, verzieht das Geſicht, ball vie Fäufte und antwortet nit. „D 
iſt ein Original,“ fagt leife der Chevalier zu Cduard, „brei Stunt 
flicht er, ehe er feinen Fünffrankenthaler daran ſetzt, und kommt f 
immer zu fpät... er bat feinen Siun jest auf bie rothe Bu 
richtet , ich wette, fie Eommt heraus, ohne daß er gefeht hat, | 
Mann wird nie fpielen Iernen, ex ift zu fehr Poltron!“ 

Eduard fah und hörte auf Alles, was zum erften Male vor ſen 
Augen vorging; denn vor feiner Verheirathung wollte er nie in 
Spielhaus gehen, weil er zu ängftlich war, feiner eigenen Schwä 
zu trauen. Nur, wenn man gewiß ift, der Berfuchung nicht zu un! 
liegen, und gegen das Spiel den Abfcheu empfindet, ber jeden d 
kenden Menjchen erfüllen ſollte, kann man e8 wagen, einen ſole 
Ort der Verführung zu betreten. Welch ein weites Feld, um die A 
fungen diefer unglücfjeligen Leivenfchaft zu beobachten und zu | 
diren ! Das Refultat der Beobachtungen ift traurig ; aber ed gibt | 
gute Lehre, und gerade in einem Spielfanle könnte einem jun 
Menichen fein Geſchmack am Spiele verleinet werben, wenn er, | 
feiner Neigung zu folgen, mit kaltem Blute Alles um ſich her pri 

Bon welchem Schwindel find alle die Unglücklichen ergrij 
bie fih um den grünen Tifch drängen, und mit ihren Augen 
Mailen Silber, Gold und Banknoten verfhlingen möchten, die 
ben Croupiers aufgehäuft find. Es fällt ihnen nicht Bei, daß 
Meifte nur da liegt, um fie anzuloden und fortzureißen ; fie fi 
fih nur: „Wie der da gewinnt, ver fo eben mit gefüllten Taf 
hinausgeht, warum follte mich dad Glück nicht gleich ihm 
günftigen?“ Und wenn ed nun auch gefchähe! If das in 
Spielhäufern gewonnene Geld je dazu benügt worben, eine Faı 
zu bereichern, eine Frau zu ernähren, eine Tochter auszufta 
oder Unglüdlichen beizuftehen? Nein! Spieler haben jeberzeil 
harted Herz, eine durch ihre Leidenfchaft verderbte und enta 
Seele. Wenn fie heute gewinnen, werben fie morgen wieder fpi 
und das wird fo Lange gefchehen, bis auch das Letzte ihrer | 


181 


dem nnerfättlichen Hange geopfert ifl. Und kommen fie mit vollen 
Taſchen nah Haufe, fo glaubt ja nicht, daß fie dann Beffer und 
großmäthiger gegen ihre Angehörigen denken — im Gegentheil. 
Tie Fran ift fchlecht gefleivet, den Kindern fehlt das Nöthigfte, 
Bläubiger belagern ihre Thüre, aber dennoch geben fie, zahlen fle 
nichts, fpotten über die Drohungen derer, denen fie den verdienten 
Lohn vorenthalten und find taub gegen die Stimme der Natur. 
Bald verlieren fie wieder, was ein günftiger Augenblick ihnen zu- 
wendete, und wehe dann ihren Umgebungen; auf fie richtet fich 
zuerſt ihr Berdruß, ihre Wuth, die fie gegen Freunde zurüdhalten 
müſſen, in ihrem Haufe dagegen überlaffen fie fich bis zum höchſten 
Grade ihrer Rohheit. Sie brauchen Geld und benügen Alles, 
um fi} welches zu verfchaffen; vie letzten Kleider ihrer Kinder 
werden verkauft, der Arbeitöverdienft eined Tages verjchwindet in 
einer Sekunde, auf eine Farbe oder Nummer. Dann werfen fie 
vüftere Blicke umher, Verzweiflung malt fih auf ihrem Gefichte, 
nit Wuth flarren fle das Gold an, das fie nicht beſitzen follen, 
und die @roupierd fehen ihren Schmerz mit der größten &leich- 
gültigkeit. Dann quälen die ſtrafwürdigſten Begierden, bie legten 
Nichtswürdigkeiten ihre Bhantafie ; fie find lüſtern nach dem Gelde 
ihrer Rachbarn, fie ftredden die Hand darnach aus, und oft, von 
ver zügellofeften aller Leidenfchaften angetrieben, begehen fie bie 
ſchaͤndlichſften Verbrechen! ... Diefe Beifpiele find nur zu Häuflg. 
Tas Spiel hat ein dreifaches Ziel, und dies iſt unver: 
meidlich; es führt zum Selbſtmord, ind Hofpital ober 
ne Zuchthaus. 

Unglüdlicherweife machte Eduard diefe Betrachtungen nicht; 
er fah dem Spiel aufmerffam zu, und nachdem er es einigermaßen 
tegriffen hatte, feßte er ein Iwanzigfranfenftüd auf Roth; viefe 
FZarbe gewann neun Mal Hinter einander, und ba er ben Gewinn 
mmer hatte fichen laſſen, fo gewann er in fünf Minuten 
10,240 Franken. Des Chevalier Deſlenret, ber über fo ein ents 


‘ 


ſchiedenes Gtäd flaunte, rieth Murville leife, für den Augenbl 
nicht weiter zu gehen, weil nad) aller Wahrfcheinlichkeit und \ 
Zeichen auf feiner Karte die Kugel nothwendig auf Schwarz tref 
müfle. Der Chevalier freute fih über dad Glück Eduards ins) 
heim ungemein, denn er hoffte ihn bei Frau von Geran wie 
anzutreffen, und ba er fehr ſchlecht Gcartö fpielte, aber gut | 
zahlte, fo war das für ihn eine brillante Ausficht. 

Edunard dachte nicht an die Wahrfcheinlichkeiten des Spie 
fondern empfand nur ein gewaltiges Krümmen im Magen, bi 
fein Cifer und feine Thätigkeit feit dem vorigen Abend hatten, 
ihm gegehrt, und er fühlte das Bedürfniß, neue Kräfte zu fa 
‚ mein! Er ſtand alſo anf, verließ den Tiſch, und verſprach b 
Ghevalier, am Abend ihm die Spike zu bieten. 

Wider alle Grwartung Defleurets mußte doch wider R 
gewinnen. CEduard bereute ed fehr, jo bald aufgehört zu hab 
nahm fich jeboch vor, fich bei ber erſten Gelegenheit zu entfchänig, 
der lange trockene Herr im hellbraunen Kleide, der den Rath 9 
flsurets gehört hatte, ließ, ald Roth wieder gewann, ein „Ri 
vieh“ über bie Lippen fahren, was Murville nach ber Befchreibi 
Dufresne's vom guten Ton, der bier herriche, nicht wenig 
fremndete; er verließ jedoch nichts befto weniger, fein Gold in 
Tafchen und wonnetrunfen über fein Glück, den Saal. | 

Er will nach Haufe gehen, unterwegs denkt er auf einmal 
feine Frau, bie fehr in Unruhe, fehr böfe auf ihn fein mü 
benn feit vierundzwanzig Stunden hat fie ihn nicht gefehen: ei 
daher etwas verlegen, entjchließt fich jedoch, zu ihr zu gehen, ı 
begibt fich, nachdem er dad Gold in fein Arbeitözimmer gebre 
bat, wo er feinen Commis auf dem Monitenr eingefchlafen fin! 
nach dem Zimmer feiner Frau. 

Trotz ber Gleihgültigfeit, die Cduard feit einiger Zeit 
Nbeline empfindet, betrübt ihn doch bie Veränderung, bie feit 
Abend vorher in ihrem Aeußern vorgegangen if. Sie if b 











28 


ud fuftlod, ihre Augen ſind voih, augefchwollen und thraͤnen⸗ 
(üwer, und ihre Züge drücden den größten Kummer aus. Cduard 
eilt sicht, daß feine lange Abweſenheit daran Schul fei; ex 
nähert ſih ihr nud ift verlogen , wie ex fein Betsagen entfchuldigen folk. 

„Du haft mich vielleicht geftern erwartet... ohne Zweifel bet 
Tu dig um mich geängfligt ; aber ich wurde wider Willen in einer . 
Geſellſchaft zurüdgehalten, wo mas fpielte, ich gewann und durfte 
Chren halber die Partie nicht aufheben... — Du bil Herr Deiner 
handlungen,“ antwortete Adeline, ohne ihren Mann auzufchen, „Du 
wie Unrecht haben, Did; meinetwegen zu geniren.“ 

Grand glaubte nicht je viel Nachgiebigkeit zu finden; ex ew 
wuete Berwürfe, Kingen, Thränen ; aber Adeline fagte ein Mont 
weiter; fie exfchien ergeben, fonfzte und ſchwieg. Dies Beuehmen 
made auf Dad Herz Ganards eine größere Wirkung, «is bie lau: 
lejen Klagen und Borfiellungen ; er fühlte ſich getührt und war 
m Begriff, ihr zu Füßen zu fallen und Berzeihung für fein Ber 
xben zu erficken, als das Bil» der Fran von eran vor feine 
Seele trat und alle feine befferen Gefühle unternrüdte... er ver 
Iheuchte eine jede, für einen Meltmaunn ja unpaſſende zartere duz 
rindung und blieb bei feinen Projekten. \ 

„Koeline, Du haſt ven Wunſch, wieder aufs Land zu gehen; 
tie Jehreszeit rückt vor, alfo thue es; übrigens, denke ich, wird 
ct unferem Kinde fehr erfprießlich fein, uud wänſche darum, daß 
Tu fofort nach Villenenve⸗Saini⸗George fährft ; ich Tann Dich jegt 
uct begleiten, wichtige Geſchafte halten mich in Paris zuräd, 
aber ich denle Dich recht oft zu beſuchen.“ — „Es ift gut, Cduard, 
ib werde Alles zu meiner Reife vorbereiten und fo lange in umferem 
— bleiben, bis ich von Dir die Ordre erhalte, zurückzu⸗ 
oumen,“ 

„Auf Ehre,” fagt Gouard bei fh, „Meine Iran ift allerlichtt. .. 
nd cine Umtewisfigkeit .. , welch ein Gcherfam.... bad ift wirt 
ug anferoxpentlich.“ 


184 


Er ergreift Adelinend Hand, brückt fie leicht in der feinigen, 
und berührt, ohne das Zittern auf diefer fonft fo heißgeliebten 
Hand zu achten, fie kaum mit feinen Lippen, entfernt ſich aber 
gleich Hernach mit der Schnelligkeit eines Schälers, defſen Lehr: 
ſtunde beenbigt if. 

„Er will, daß ich ihn verlaffe u fagt Adeline, als fle allein 
ift, „meine Gegenwart ift ihm Iäflig!... fo gebe ich denn!. 
es ift mir ja Tünftig gleih, an iche m Orie ich lebe, da ich 
nirgends mein Gläcd wieberfinde. Ich Habe die Liche meines 
Mannes, die Ehre, die Ruhe ‘der Seele verloren ; fo will ich denn 
meine traurige @riftenz möglichft verbergen ; nur für meine Tochter 
möchte ich meine Tage noch) erhalten, ihr will ich fie ganz twimen; 
armed Kind, was follte aus Dir werben, wenn Du mich verlärefk!* 

Adeline kuͤßt ihre Tochter, in ihrem Muttergefühle will fle 
nenen Muth fehöpfen. Sie trifft ihre Einrichtungen zur Abreife 
nad Billeneuve-Saint:George, und wünfht, ihre Mutter möchte 
fie begleiten; aber ver guten Mama Germenil liegt wenig am Land: 
leben ; fie bat ihre Gewohnheiten, ihre Belanntichaften in Paris; 
bad Alter ift ja egoiftifch ; es fühlt, daß es nur noch wenig zu ge: 
nießen hat und mag daher auch nur fo wenig als möglich davon opfern. 

Acht Tage genügen Adelinen, um Alles vorzubereiten, was 
‚ fie und ihr Töchterchen auf dem Lande bedürfen. Nach Berlauf 
biefer Zeit, während welcher fie ihren Mann nur felten und flets 
nur auf einige Augenblide gefehen hat, will fie abreifen, inbeffen 
möchte fie vorher noch einen Verſuch wagen, nicht, um bie Liebe 
ihres Mannes wieber zu erlangen, benn fle weiß wohl, daß fi 
died Gefühl nicht erzwingen laͤßt, fondern um ihm BDufreöne in 
feinem wahren Lichte zu zeigen. Eduard hört nicht auf fie und 
‚glaubt nichts von den elenden Streichen feines Bruders ; Abekine 
benft aber an Mabame Dolban und Heft, fie werde gerne bereit 
fein, in einem zweiten Briefe alle bie rintewärvigkeiten feines 
falſchen Freundes zu fchildern, 





188 

Fir die Ehre, für. den Muf ihres Banned unternimmt fie 
dieſen legten Berfuch, der fie zwar nicht wieder glücklich machen, 
aber doch die Zukunft Ednardo ficher ſtellen Tann. 

Die junge Frau begibt ſich nach der Wohnung der Madame 
Dolban und fragt den Portier, ob fie zu ſprechen fei. — „Sie 
iommen zu fpat, Madame,” antwortet diefer, „Madame Dolban 
if feit wir Tagen tobt!... — Todt? Bor nem Tagen erhielt 
ich a noch einen Brief von ihr! — Ach, mein Bott, Madame, 
fo geht's in der Welt! Heftiges Fieber, furchtbare Koliken. was 
weiß ih, da war es denn bald gefchehen.“ 

„So ik denn Alles verloren,” fagt Apeline, indem fie ſich 
atfernte, „Ieine Hoffnung vorhanden, Ebnard zu überzengen!... 
Infredne wird iriumphiren, ihn in den Abgrund zu flürzen !“ 

Drrch dieſes newe Unglüd ganz entmuthigt, befdhleunigt Abde⸗ 
im: ihre Abreiſe von Paris; fie führt nach Villenenve⸗Saini⸗ 
Berge ab, und, allein im Wagen, ihr Kind auf dem Schooße, | 
vergleicht fie dieſe Meife mit der des vorigen Jahres, und weint 
bitiere Zühren über bie Schnelligkeit, mit ber ihr das Glück entflchen. 





Bweiundzwanzigſtes Rapitel. 
Intriguanten. — Spieler. — Betrüger. 


Bon der Gegenwart feiner Fran, deren Aublick immer noch 
cwes Beinliches für fein Gewiſſen hatte, jet befreit, überläßt 
ſih Eamard zwanglos dem Rath Dufreöue’3, der Liebe für Yran 
u Getan und ber Leidenfihaft des Spiels. oo. 

Dufresne hatte die Hälfte der Summe, die er aus den Kapi⸗ 
lalien Cnards gelöst hatte, behalten. Seine Abſicht war es ſchon 
mer geweſen, ſich einen Theil des MRuxville jchen Dermogens an⸗ 
wnguen ; ohneies lebte er ſchon laͤngſt von Cduards Mein, ben 
a immer Damit zufriehen gu. fillen wußte, daß co für Geſchafte 


16 
An ungiädlicher Zeityanki fei. Mufeeöne hatte aber bei feinen 
vielen Laſtern auch aoch das des Spieles, und bie zurückbehaltene 
Summe ſollte auch bald ben Weg geben, den dad Vermoͤgen ber 
Madame Dolben genommen hatte. 

Cduard bringt feine Tage im Spielhauſe und feine Aende 
bei Frau von Seran zu, bei der gleichfalls furchtbar geſpielt warde. 
Ziemlich gut gekleidete Menfchen, deren Geſichtsszege aber Schlechtig⸗ 
feit au DVerworfenheit aubdrücken, ſinden ſich alle Abende bei her 
Generalswittwe ein, wo man ſicher it, Murville und einige audere 
Thoren, um bie fi Intrigemeten und galente Frauen reiten, au: 
zuirefien. 

rau von Goran verliert aber ihren Geliebten nicht amd ben 
Angen, fie will nicht, daß er ihr entſchlüpfe; fie weiß ihre ganze 
Seat ver Koketterie, jede Li, alle nut moͤglichen Mittel anzu: 
wenden, um einen jungen Mana zu umgarnen mb zu feſſeln, ber 
fi augebetet glaubt und gerne feiner Gabisterin jened Opfer Bringt. 

Fran vom Géran lebt mit ihren Anbelern auf fehe großen 
Fuße: Spiel, Theater, feine Diners, Gipngierfahrten, Toiletie 
türkiſche Shawls, Brillanten, ausgefuchte Abenpmahlzeiten ... 
damit nur kann man, äußerlich wenigftens , auf ühre Liebe rechnen, 
und es ift Ear, daß Chuard dabei nur wenig Zeit übrig bleibt, 
nicht einmal zur Langeweile. 

Sein Glücksſtern bat indeſſen aufgehört zu leuchten. Nachdem 
er im Ronletie mährere Male hinter einander gewonnet bat, em: 
pſtndet er auch die Veraͤnderlichkeit des Glcks und verliert beden⸗ 
tende Summen. Statt aufzubören, wird er nur um fo eigenfluniger 
und eifriger ; dies ift ja Die mvermeidliche Folge eiwes erſten Ger 
winnes. Darum fehen bie Bankiers and) laͤchelnden Muthes bie 
Goirles mit gefüllten Taſchen davongehen, denn fie willen, daß 
bie Vnglünllidien am andern Tage dad Doppelte verlieren werbden. 

Nadine Epuaxd ed mit dem Monlette, dem Rharao uud vum 
Troarterat quaxante verſucht, and is einer Giunte 2000 Zuunuien, 





18 


wach der yon Dufresne erhaltenen Summe verloren hei, geht 
1 mi and unruhig nach Haufe; er fchilt feine Leute und if 
mt Allem unzufrieden, aber ex muß ja wohl feine kble Laune 
um Theü auf feine Umgebung übertragen. Er tritt in fein Bureau, 
inet feinemeliommis feſt eimgefchlafen und rüttelt ihn anf: „Was ' 
el das ruft er ihm zu, „verfeht Ihr fo Eure Geſchaͤfte ?“ ... Der 
ange Nam gähnt, reckt die Glieder, reibt fich Die Augen und ſieht 
aren Primgipal, der mit gewaltigen Schritten im Zimmer einher⸗ 
ht, groß an. » 

„Run, verficht Ihe mich, warum ſeid Ihr nicht bei ber Arbeit ? 
— Über wein Herr, Sie wiflen ja, daß ich nichts gu than habe. — 
Serım ſchreibt Ihr wicht Cirkulaͤre für Die Provinzen? — Dex Her 
>fın eben fo wohl, daß fchon mehrere Dale au die gleichen Perfonen 
iöriehen werben iſt, man uns aber Feine Antwort ertheilt hat. — 
hr ſeid ein Schwachkopf und verficht Cuer Geſchaͤft nicht... . uud 
"4 hans, das man Laufen wollte?... — Hers Murville, Drei Male 
man bier gewefen, um fich darnach zu erkundigen, hat Gie aber 
zur nicht zu Haufe gefunden. — Ihr hättet die noͤthige Auskunft 
ba follen ! — ch, Herr Murxville, ich weiß ja nichts bauen. — 
in die Papiere, die man placiren wollte? — Man hat Ihnen zweir 
Su ein Rendezvons bezeichnet, aber Sie find nicht hingegangen. -— 
b, denen deun Die Lente, ich wäre bloß für fie da? — Sie ſagen 
St, mar müſſe boch pünktlich fein. — Schweigt, Ihr fein unver: 
im, ih Brauche keinen Commis, der auf dem Comptoir fchläft. Ich 
zahle Cuch. — So werben der Herr mir auch gleich mein rückſtaͤn⸗ 
2% Salair auszahlen. — Cuer Salair! ... Was Ihr durch 
<2lafen verdient habt? — Dein Herr, es if nicht meine Schuld, 
aa ec bei Ihnen nichts zu thun gibt... bezahlen Sie mich, und... 
> Kr ſolli bezahlt werben, geht !“ 

Eruarb weiß fehr gut, daß er nichts mehr hat, um feinen 
nid zu befriedigen; er öffnet feinen Sekrotaͤr, durchſucht alle 
Atfüder, finagt aber nichts. , Gr vorläßt ſich anf. vie Summe 


188 


die noch in Dufresſne's Händen iſt; er will zu ihm und ihn be- 
wegen, zu jedem Courſe zu verlaufen, benn er muß durchaus Gelb 
haben. Bom Spiele ermübet und verflört, will er jeboch erſt noch 
Toilette machen, und entjchließt fih, Dufreöne bolen zu laſſen: 
er Hingelt nad) dem Berienten, aber Niemand Tommt. Seitdem 
Adeline nicht mehr im Haufe ift, hat die Dienerfchaft vie Gewohnheit 
verloren, ihrer Herrfchaft aufzumwarten. Eduard fchläft oft mehrere 
Nächte nicht zu Haufe; darum geniren fich die Leute nicht mehr und 
gehen ihrem Vergnügen nach. Marie, die es allein ehrlich meinte, 
hat feit Adelinens Abreife das Haus verlaffen. 

Eduard geht hinaus, burchfucht dad Haus, findet Niemanb in 
der Küche, kommt in den offen ſtehenden Keller, und ſieht hier ven 
Bortier, wie diefer mit der Köchin den Wein austrinkt; beim An: 
blick des Herrn find beide ganz verblüfft, diefer aber wütbet, ſchimpft 
greift den Portier beim Kopf und gibt ver Köchin einen Tritt. 

„Rein Herr,“ lallt der Bortier Halb befoffen, „Sie effen nicht 
mehr zu Haufe... nnd da wollten wir bloß nachſehen, ob Ihr Wein 
nicht verdirbt.“ 

Eduard jagt die Leute aus dem Keller, fleigt wieder nach ber 
Wohnung hinauf und glaubt Geräufch im Zimmer feiner Frau zu 
hörten ; er tritt vafch ein und fieht, wie fein Kammerdiener der Frau 
des Portiers, einem hübfchen, jungen Weibe, die eben fo gerne 
gefällt, als ihr Mann trinkt, uf eine gar zu verbächtige Weiſe 
den Hof macht. 

„Kreuz: Donnerwetter !” And Eduard, „was für eine Wirth⸗ 
fehaft, welche Unordnung! ... Denkt ihr Geſindel, daß ich fo etwas 
dulden werde ?... Ich tage euch alle fogleich zum Teufel!“ 

„Wie ed Ihnen beliebt, Herr Murville,“ fagt der Bediente, 
ohne aus der Faffung zu kommen, „bezahlen Sie und und wir ver: 
laffen dad Haus augenblidlich.“ 

Eduard entfernt ſich wäthend und verfchließt fich in fein Ztmamer. 
Seit der Abreiſe ſelner Jrau hat er nicht einen Sous feinen Leuten 


189 


vgeben, denn ee hat nicht einmal genug Geld zur Buftreitung feiner 
Sgenen Ausgaben gehabt, und jegt ift er gezwungen, biefe Elenden, 
ve ihn befiehlen und das oberfte zu unterft Tehren, im Haufe zu 
schalten ; er hofft jedoch von Dufresne die nöthigen Mittel zu bes 
immer, um fich aus biefer Berlegenheit zu reißen, und will fe eben 
u ihm gehen, als dieſer mit verzweifelter Miene ins Zimmer tritt. 

„A! Du kommſt zu rechter Zeit,“ ruft Eduard ihm entgegen, 
.ıd hatte großes Verlangen, Di zu fehen, ich brauche nothwen⸗ 
eig Geld, und das heute noch.“ | 

‚Das wird fchwierig fein,“ antwortet Dufresne mit betrubtem 
Im. — „Wie! Haft Du nicht meine Papiere? — Ich erfahre 
sehen ein ſchreckliches Ungluck. Der, dem ich fie anvertraut 
ne... — Nun! — Hat fie verkauft, und ift mit dem Gelbe 
on gereist. — Davon gereist ? — Freilich! er iſt verſchwun⸗ 
a...umd es ift unmöglich, von ihm etwas Weiteres zu erfahren.” 

Eruard ift außer fih. Gr wirft fich verzweiflungsvoll auf einen 
Stahl. — „Sch bin ruinixt!... ich habe Altes verloren!... — 
Imirt!,.. weldge Thocheit, wenn man Krevit und Balkanntſchaf⸗ 
in bat!... Sei ruhig, ich werde mir angelegen fein laſſen, biejen 
Eben zu erfepen... verlaß Dich nur auf meinen Cifer, meine 
Arundichaft.... mein zu großed Vertrauen iſt daran Schuld, ich 
ame die Sache ſchon wieder gut machen.“ 

„Durch welches Mittel denn? — GEs gibt deren tauſend. — 
detenle nur, daß ich feinen Pfennig habe, und jeden Angenblid 
Wed brauche, beſonders für Fran von Goͤran, der ich dies Ungläck 
'rheimlichen will. — Da thuft Du fehr recht, obgleich ich übers 
eg bin, daß fie Dich liebt, daß... — Ich hatte ihr einen koſt⸗ 
heren Shawl verfprochen, den fie fo ſehr wünfchte. — Du wirft 
iht auch geben... da... unterfchreibe das. — Was ift das! 
- Gin Wechfel von 20,000 Franken an meine Ordre. — Ich bin 
iu aber nichts ſchuldig! — Freilich wohl, aber es gefchleht ja 
um Geld zu erhalten. Man nennt das Wechjelgefchäfte machen, - 


— — — — J 


— Muvad über auch erkanbt? — Erlaudtt... ah! deſhabb fragt 
man nicht um Grlaubniß. — Iſt es wohl auch auſtaͤndig, recht⸗ 
Uch, fo... — Se, Ba, ha! ... ich muß Aber Deine Vedenken 


lachen! ... zus Berfallzeit bezahlſt Du, alſo was iſt's denn weiter? 


— Und Du glaubft den Wechſel zu discontiren ? — Ich bie meiner 
Saite gewiß; man halt Dieb für reich, Du machſt ein großes 
Haus!... Deine Abendgeſellſchaft Hat Dir viel Kredit gemacht! .... 
ſei ruhig... morgen haſt Du nene Gelder, und ed gehört wur etwas 
Glück dazu, und Du haft dad Doppelte von dem, was Du heute ver: 
Ioren haft. — Vermaledeites Roulette !... ſtets nichts wie IZmpair!... 
Der ſchlaue Defleuret fagt, er habe ein unfehlbares Mittel aus: 
gegrübelt!... aber vor allen Dingen Gelb, um anzufangen... — 
Wir werben vielleicht nicht genug haben. — O, ich habe noch ambere 
Hülfsquellen! Aber unterfchreibe geſchwiad, ich werde dann ſchon 
das Weitere beforgen.” 

Conard unterzeichnet ven Bedifel von zwanzigtaufend Franken 
und gebt, um fich zu zerfireuen, zu feiner Geliebten. Sie ſchmollt 
etwas, daß er der verſprochenen Cachemirſhawl nicht mitbringt, 
man verfpricht ihn aber auf morgen, und fie wird wieber liebens⸗ 
würdig... Sie ſchält ihren zärtlichen Freund über fern ernſtes une 
zerſtrentes Weſen aus, und er entſchuldigt ſich weit einer ſeht wichti⸗ 
gen Spekulation, und man wmarmi und lieblost ihn. Ein Mann, 
ver große Geſchaͤfte macht und freigebig it, welch ein Schag ! 

Die gewöhnliche Abendgeſellſchaft der Frau von Geran bieibt 
aicht ange and. Iſt fie auch nicht ſehr gewählt, jo if fie doch 
ſehr zahlreich: ruinirte Maris, Epellente ohne Gater, Gigen- 
thumer ohne Grundbefitz, Glücksritter, Gefchäfteleute wie Chuard, 
alle Spieler oder Jutrignants; einige junge Leute, die nichts mehr 
zu verlieren haben, und Schwachkoͤpfe, bie in anfländiger Geſellſchaft 
zu fein glauben. Daraus beflehen die Männer, und die Damen find 
jener Herren wuͤrdig; alte Rupplerinnen, Zwifchenträgeriunen, galante 
Srauen, in allen Spielhäufern zu Haufe, wo Damen ‚Aufnahme 


Mm 
fisten. Das {R alte ber Dickel ver Frau von Udsen, in wien man 
af iußem Aufland , vornehmen Anſtrich feine Manier und Avery 
gewaͤhlte Epenche Ha, jedoch ſogleich gemein wich und Totlekte neh 
emgebildetem Hang vergißt, ſobald die Leidenſchaften rege werben. 

San von Geran gibt einem Punſch; dies if die feine Mawier, 
Ne Herren für Spiel und Damen leidenſchaſtlich zu machen. Bike 
vu Cognac erhigte Phantafle ſindet vie veraltetſten und verdeßte- 
ven Schönheiten reizend; bie Glaͤſer Tlingen, bie Köpfe werben 
asgelaffen, man fpielt hoch, Die Hitze iſt erbruͤckend, die Damen 
ıchmen ihre Shawis ab ; das Auge eined hinter dem Stuhl einer 
Epielenden ſtehenden Naturforſchers vertieft fich in ihre Schoͤnheit 
u bewundert ihren zarten Buſen, ihre weißen Schultern, und fein 
mender Blick erräth das Wenige, was man ihm verbirgt. Wie 
Ian man da Der Schönen, bie fich umdreht nud fünfundzwanzig 
keuisr’ord zu emtichnen wünfcht, babei einem die Bebeufungsvsil- 
ira Blicke zuwirft, etwas verweigern ; man nimmt eine Abſchlags⸗ 
ublung auf das Darlehen, indem man: fich neben vie verführeriſche 
Bergerin fegt und fie von Liebe untechäßt, am wenigften aber’ gu 
befürchten ſcheint. 

α: bergieiifen Schonheiten der Demmes nich 
va ihn si ne ancſchließlich feſſelt, ſetzt ſach aber zuun Spiel, nach⸗ 
an ex unter dem Vorwande, feine Boörſe vergeſſen zu haben, von 
einer Gebieterin dreißig Louisd ors gelichen dat, die man ihm auch 
ta Wuflkude gibt, weil mau fie Tags veranf mit Sutereffen wieber 
is cchalten überzeugt if. 

Ein gewiffer Marquis von Monclair, vertrauter Freunub des 
Cheralier Deflenret, bietet Cduard eine Purtie Gcarto an; man 
kpt ſich, und Deflenret bleibt dieſem zur Seite, um ihm, wie ex 
fat, Gluck zu bringen. Indeſſen, ſtatt zu. gewinnen, verliert Mur⸗ 
nile ale Bartien ; die gelichenen dreißig Lonisd'ors ſind fort, im 
Men will man gern auf fein Ehrenwort weiter fyielen, weil men 
kume Büuktlichleit im Bezahlen kennt. 


Vena von dran Trebenzt im Ueberſlch ihren Punſch Au crinki 
ſelbſt einige Safer, um ihren Säflen mit deſto mehr Giragie Die 
Sonneurd machhen zu koͤnnen. Bin Jeder ſcheint füch entweber mit Dem 
Gpielen oder mit der Galanterie zu befchäftigen; die gewoͤhnliche⸗ 
ruhige Haltung if dem Geraͤnſche gewichen, man vergißt ſich bier 
und da, ber erzwungene feine Anſtand macht einer etwas freieren 
Munterfeit Play ; man ſchwoͤrt, man lacht, man flreitet, man reizt 
fi beim Spiel und wirb zärtli auf einer Ottomane; ein fehr 
bunied und bewegte "Bild, wo jedes feinem Intereſſe nachgeht. 

Auch Frau von Goran fcheint fehr erhigt, obſchon ſie ſelbſt 
nicht fpielt ; fie nahert fich einen Augenblick der Partie Cduards, 
fießt, daß er ganz in fein Spiel vertieft ift und entfernt fi Daun, 
um etwas frifche Luft zu ſchopfen. | 

Gonard gelang es nicht, auch nur eine Partie zu gewinnen ; 
bie Wuth, die Berzweiflung Tochten in feinem Innern ; er war dem 
Marquis ſchon fünfzehntaufend Franken ſchuldig und fpielte immer 
auf feinen Berluf fort, in der Hoffnung, bad Glück jolle umefchla:- 
gen ; aber er ſah ſich ſiets im feiner Crwartung getänicht. Blaß, 
zitternd, mit verftörtem Blicke weiß er nicht mehr, was er begimmen 
fol ; feine Hände ziehen ſich krampfhaft zufammen, feine Merven 
find in conwulfiviicger Bewegung, kaum daß er noch athmet. 

„Ip feige jopt die funfzehntanfenn Yeaulen auf einmal bagegen,“ 
fagt er endlich zu feinem Gegner mit veränderter Stimme. — „ch 
willige ein,” antwortet der Marquis, „Sie jehen, daß ich groß⸗ 
müthig ſpiele ... in ber That bin “ auch untroͤſtlich, Daß Sie 
fe anhaltend verlieren.“ 

CEduard antwortet nichts und iſt nur mit ber neuen Partie bes 
fehäftigt ; feine Augen find auf die Karten geheftet, von denen er 
fein Schickſal erwartet; beim Spiel find nur Defleuret, der be: 
Kändig Hinter Cduard flieht, und eine alte, mit dem Marquis fehr 
vertraute Intrignantin, gegemwärtig ; die übrige Geſellſchaft hat 
ſich an andern Tifchen vertheilt. 


193 

Die Bartie fängt an, der Marquis hat ſchon drei Points: 

er ſchlgt einen König um... Eonarb, über foldhen unanfhör- 
ben Treffer außer ſich, wendet ſich plöplich nach Defleuret um, 
am fi darüber zu beflagen, und bemerkt, wie biefer mit andern 
Karten feinem Gegner dad Spiel verräth ; der Chevalier will ver: 
bergen, was er in ber Hand hält, aber Eduard laͤßt ihm dazu Feine 
Fit, er enkreißt ihm die Karten, entvedt die ganze Spigbüberei, 
15H in feiner Wuth den Spieltifh um und kündigt dem Marquis 
“2, daß er ihm nicht bezahlen werde. Der Marquis, an ſolche Scenen 
:caöbat, Bleibt ganz ruhig, fordert aber fein Geld. Eduard nennt 
Heinen Betrüger, jener droht ihm mit einem Stuhl, und De: 
Tearet fucht einige Bolpftüde auf, die zur Erde gefallen find. Die | 
“te erhebt ein rafendes Gefchrei, Mursille ergreift einen Leuchter 
D wirft ihn feinem Bläubiger an den Kopf, fo daß dieſem ein Auge 
eworquillt und das Geſicht blutet; ex fängt heftig am zu fchreien, 
e ganze Geſellſchaft erhebt fi, die Frauen und einige Herren 
"uber ich davon. Die an Zahl überlegenen Betrüger wollen Mur⸗ 
le drcchprũügeln; in biefem Augenblide aber tritt Dufresne in den 
zaal; mit einem Blid erkennt er die Gefahr Cduards; gefchidt 
ie von ben Umfländen Nutzen zu ziehen, bringt bis zu Eduard 
rs, Rößt alle Uebrigen zurüd, ſchreit lauter als jener Andere, gibt 
ard ein Zeichen, ſich zu entfernen, verjpricht ihm, die Sache 
"jalegen , und den Marquis, ihm für Schmerzengeld wegen feines 
‚St ſeht werthvollen @efichtes beforgt zu fein. Dufresne's Sprache 
sat auf die Geſellſchaft Eindrud, man beruhigt fih, und Mur: 
fe, der ſich nicht der Stärffte fühlt, geht aus dem Saal, indem 

— Freund als Gewährsmann zurüdläßt. 

über das Geſchehene zu troͤſten, ſucht Eduard Frau 

J Seren auf; fie war nicht im Salon ; er geht durch die Vor⸗ 
mer, obne fie anzutreffen; fo ift fie vielleicht auf ihe Zimmer 
:ugen, dad in der obern Etage fich befindet; er fteigt raſch bie 
safle Treppe hinauf, er Fennt ja den Weg, öffnet eine Thüre und 

Fanl de Rod. 1. 13 


IM 


bemerkt unter einer zweiten Thüre einen Lichtichein ; der Schlüſſel 
ftedt im Schloß... rafch tritt er ein, aber wie wirb ihm, als er 
feine Gebieterin nicht allein, fondern ihren Jockey bei ihr antrift, 
deſſen Gegenwart feinen Argwohn erwedt, 

Er bricht in die furchtbarſte Wuth aus, ergreift eine Ofen: 

fchaufel und ſchlaͤgt damit auf den Diener los; diefer ſchreit Zeter 
und Mord ; Frau von Göran fchreit, weil ihr Diener ihr fehr nahe 
geht; Eduard fchreit fo arg als Beide und wirft endlich, des Schla: 
gend fatt, die Dfenfchaufel in die Pſyche der gmädigen ran. 
\ Der Spiegel zerbricht mit gewaltigem Getöfe in taufend Städe, 
Ednard flucht, wüthet, ift nicht mehr Herr über ſich; der Jockey 
weint und befühlt fih am ganzen Körper, und ran von Géran 
zuft nach Hülfe, weil fie für ihre übrigen Möbel, und fogar für 
ihre Perfon Alles fürchtet; in der Anaft flößt fie ihren Diener 
heftig zurüd, ber fallend einen niedlichen Toilettentiſch umwirft, 
und MWafchbeden, Schwämme, Gläfer, Flaſchen, Eſſenzen, kurz, 
Alles rollt auf dem Fußboden fort... Endlich läuft ein Theil ver 
Geſellſchaft auf das Gefchrei, das Wehklagen und den Lärmen aus 
dem Salon herbei und bringt in Frau von Gerans Zimmer. 

Ein Jedes drüdt das größte Staunen über die unerwartete 
Scene aus ; beim Anbli der Frau von Geran, deren Aeußeres 
bie größte Beſtürzung verräth ; des Jodey, der unter den Städen 
bed Spiegelö, des Waſchbeckens und den Flacons auf dem Fußboden 
fi umberwälzt, und Eduards, ber mit wüthenden Bliden, wie 
Achill vor den Wällen Troja's, durch die Ruinen fchreitet und 
Willens zu fein fcheint, Alles in Feuer und Blut zu verwandeln. 

Man will wien, was gefchehen ift, man fragt, drängt und 
ftößt ſich, und vergrößert nur die Unordnung, anftatt die Ruhe her- 
beizuführen. Der Marquis von Monclair hält ein Schuupftuch 
vor's Geſicht und erklärt Murville für einen Rafenden, den man 
ind Tollhaus fperren müfje; Defleuret hat feine verrätherifchen Kar- 
ten noch in Händen und flopft ſich mit den Flacons, Schwaͤmmen, 








1% 


Seifenkageln, kurz, mit Allem, was der auf ber Erbe findet, 
bie Taſchen voll, um von ber Unorbnung Bortheil zu ziehen und 
feine Toilette zu bereichern. Einige alte Koketten umgeben theil⸗ 
nehmend den klagenden Jockey, weil ſeine Jugend ſie anlockt; die 
jungen Herten helfen Frau von Géran ihre Toilette wieder her- 
richten; die aber, welche am meiften bei kaltem Blute geblieben 
find, bemühen ſich, Murville zu beruhigen, und fordern, daß man 
ſich verfländige, bevor man fich fchlage. Statt aller weiteren Er: 
Härung verlangt Frau von Geran den Preis für ihren Stehfpiegel 
und ihre Toilette, Eduard aber behandelt fie mit Schimpf und Ver: 
achtung, und will von feiner Auögleichung etwas willen. Dufresne, 
ker immer in den ſchwierigſten Augenbliden bei der Hand ift, 
seht Cduard wiber feinen Willen beim Rod aus dem Zimmer und 
läßt die übrigen Anwefenden nad Gefallen lachen, ſchimpfen oder 
ihreien, wie es ihr Intereſſe mit fi ch bringt. 

„Du biſt ein Kind,“ ſagt Dufreöne zu Murville, als fle auf 
het Snupe find, „wozu einen folchen Lärmen? — Warum? ... 
zsaum?... Du weißt noch nicht, daß ich verrathen, burch eine 
Fan, von _ ber ich mich geliebt glaubte, ſchaͤndlich betrogen bin ! 
ad für wen?... für einen Bedienten! — Aber, mein Gott, ift 
tun das ein Grund, in einem Haufe Alles umzufehren und zu 
jerſchlagen ?... Man muß jedes Ding von ber philofophifchen 
Saite Betrachten ! Für eine ſolche Bagatelle zerihlägt man Feine 
Nöbel! Du wirft taufend Frauen finden, die Dich für Dein Gelb 
anbeten !... — Nach all’ den Opfern, die ich ihr gebracht habe... 

Ich gefshe, es ift unangenehm!... aber, lieber Freund, das Sch, 
ras man an eine Frau verfchwendet, muß man immer für ver: 
sten betrachten. Siehe! das Schlimmfte bei ver Gefchichte ift Dein 
<tteit mit Monclair . . . ich bin gensthigt gewefen, ihm einen 
toßen Theil vom Betrage Deines MWechjeld zu geben, damit er 
ar nicht mit feinem zerfegten Gefichte zu einem Friedensrichter 
adt; das hätte Prozeſſe und Koſten herbeigeführt, und der Juſtiz 


196 


muß man aus dem Wege gehen. Pop taufend! weißt Du, | 
Du ein entfehlicher Menſch biſt ?... dem Einen das Geficht, d 
Andern bie Rippen zu zerfchlagen! ... wenn ich mich nicht imi 
ins Mittel fchlüge, Du könnteſt 'mal ſchön ankommen ; aber bi 
Abend kommt Dir theuer zu ftehen... — Alfo das Geld, wor 
ich vechnete...— O fei rubig.... Du ſollſt fchon Geld haben 
Du machſt mehr Wechfet, und überdies mußt Du auch einmal ei 
Treffer bekommen, man ift ja nicht immer unglüdlih... es 
Mittel genug, Fortuna zu zwingen. — Mittel?! — Sa, ja . 
fpäter wirft Du fie ſchon kennen lernen... Aber es fängt fc 
an, Tag zu werben, es ift Zeit, daß wiv ums nieberlegen . 
Komm mit zu mir, morgen wollen wir an unfere Gefchäfte denke 

Dufresne zieht Eduard mit fich fort, und diefer, verwi 
niedergefchlagen und verzweifelt über Alles, was er feit ei 
Zeit getban, wagt es nicht, einen Bli in die Vergangenheit, i 
auch nicht in die Zukunft zu werfen. 





lee 


Dreiundzwanzigfies Kapitel. 


Das Innere eined Spielhauſes. 





„Höre, jet müffen wir Deine Angelegenheiten ordnen,“ | 
Dufresne nach der flürmifchen Nacht bei Frau von Geran, in 
er aus dem Bette aufftcht; „Du wirft noch für 15,000 Fra 
Wechſel unterfchreiben ; ich werde fie fchon unterbringen. Sch 
fiehe zwar, daß es fchwieriger ift, als ich glaubte... Man 
nicht viel auf unfere Unterfchriften, und verlangt zu viel. . 
find nur noch einige Juden, bie fi} darauf einlaffen, aber fie neh 
fünfzig Procent... Was fagft Du dazu... — Die Treulofe 
für einen Jockey mich aufzugeben! ... — Wie, Du denkſt 
an Deine Ungetrene!... Welche Thorheit!... — Wenn ich 
nur rächen koͤnnte! . ; . — Die befte Rache ifl, viel Geld 


197 


eben, Eurud zeigen, dann bereut fle es, Deine Croberung nicht 
befier beachtet zu haben. Du fiehft alfo, Du brauchſt Gelb, und 
ih gehe aus, um welches anzufchaffen; Du aber verfcheudhe bie 
Ttarigfeit, höre auf zu fehmachten, denn das führt zu Nichte. 
Och! verfuche Dein Glück beim Spiel, da findeft Du Energie und 
Geiſt wieder. — Ich habe Keinen Pfennig, da würde ich eine fehöne 
Hole fpielen! — Du wirft ſchon eine Art und Weife finden, zu 
zewinnen.. auf MWiederfehen ; ich gehe, um Geld zu fchaffen.“ 

Ehnerd geht und begibt ſich nach feiner Wohnung. Er findet 
nn Brief von feiner Frau vor; es ift der fechste, den fie ihm 
\hribt, feinen davon hat er aber beantwortet. Die erften hatte er 
alefen, fie enthielten Wuͤnſche für fein Glück, Bitten, feine Ges 
Indheit gu ſchonen, aber fein Wort von Liebe; Apeline wagte es 
nt mehr, ihn Davon zu unterhalten. Einem Treulofen von 
kiehe vorfhwagen, heißt mit dem Blinden von ber 
Barbe, mit dem Tauben von der Mufit und mit dem 
Bilden vom feinen Zone reden. 

Ehnard liest aber die weiteren Briefe feiner Frau nicht mehr, 
Beil er niit weiß, was er ihr antworten fol. Sein Herz fagt 
idn nichts, fein Gewiffen aber zu viel; er verhärtet 
‘od eine und Hört auf das andere nicht. Die ſchöne Jahres⸗ 
tt ſchon weit vorgerückt, und er befürchtet, Adeline möchte von 
‚ter Küdkehr reden, und ihre Gegenwart würde ihm jept mehr wie 
"läfig fein, Er will ihr den Zuftand feiner Geſchaͤftsangelegen⸗ 
benen verbergen, der nur zu ſehr ihre und feiner Schwiegermutter 
Rebbezeihungen beflätigt. 

US er in feine Wohnung tritt, ift er nicht wenig erflaunt, 
Aubrere Gerichtäpiener zu finden, die fich feiner Möbel bemächtigen. 
"Bat foll das bebenten ?“ ruft er, „wer fendet Euch her? — Mein 
dem," antwortet ein Feines ſchwarzes Männchen, „ber Eigenthümer 
"es Hotels dem Sie Die Miethe nicht bezahlen. — Er hätte mich 
de zunor davon benachrichtigen follen. — Man hat Ihnen Ans 


198 


weiſungen geſchickt. — Ich habe fle nicht gelefen. — Das iſt nicht 
meine Schuld. — Ich Tenne die Formen nicht. — Der Herr fcherzen 
wohl!... ein Geihäftsmann ! — Ich mache Feine Gefchäfte mehr... 
das geht Euch nichts an.“ 

Eduard verläßt die Gerichtöviener und begibt ſich in fein 
Bureau ; fein Commis ift nicht mehr da. Er durchſucht feine 
Bapiere, verfteht aber felbft zu wenig von den Gefchäften und 
wirft voll Verdruß alle Kartons durcheinander mitten im Zimmer. 
Er geht hinunter und ruft feine Leute, aber fie find fort. Der 
Portier allein ift geblieben, antwortet jedoch Ehuard ganz unver: 
ſchaͤmt, weil er fieht, daß er ruinirt if. 

Murville entfernt fih aus feiner Wohnung, geht langfamen 
Schrittes dem Palais Royal zu und weiß nicht, wie er die Ge⸗ 
richtsdiener los werden fol. Er erwartet Duftesne, um ihn um 
Rath zu fragen. Endlich kommt diefer vergnügt mit der Nachricht 
an, daß er Geld aufgetrieben habe. Eduard faßt neuen Muth und 
unterrichtet Dufresne von dem, was in feinem Haufe vorgeht. 

„Meiner Treu,” fagt diefer, „wenn Du mir folgen willſt, fo 
läßt Du fie machen, und verfaufft Dein Mobiliar, das im Augen- 
blick Dir doch unnütz iſt; Du brauchft jept Teinen fo großen Haus⸗ 
fand, da Du als Garcon lebſt; es ift ja nur ein todtes Kapital, 
das wir beffer geltend machen koͤnnen. — Aber wenn meine Frau 
zurückkehrte? — Bah! fie zieht das Landleben vor, und übrigens 
weißt Du ja, daß man in Paris für Geld in einer Stunde Hötel, 
Möbel und Bedienung haben kann. — Das ift wahr, aber Du 
hatteft mir doch gerathen, Lurus zu zeigen. — Wir werben uns 
ein fehr prächtige Ehambre garni miethen. — Aber, mein Ruf?... 
— Sei ruhig, er ift auf gutem Wege. Mache nur brillante Ge⸗ 
ſchaͤfte und Taß die Thoren ſchwatzen, das iſt die Hauptſache. — 
Ja, aber ich bin weit entfernt, Gefchäfte zu maden!... — Weil 
Du die Sache nicht recht behandelſt! — Ich thue doch Alles, was 
"u fagft ... — O nein, Du haft noch eine falſche Scham, die 








19 


Du verbaunen mußt, und die Die ſchadet. Aber komm zu einem 
Rekanratenr, wir wollen Ehampagner und Madera often und 
alles Andere belachen.” 

Euard laͤßt ſich Leiten; wie ein Binder folgt er den Rath: 
ſchlaͤgen Dufresnes und ſuczi ſich mit Gewalt in den Abgrund. 
Die Berfonen, die ihn zur Zeit feiner Verheirathung gekannt haben, 
alemen ifm laum wieder, fo ſehr haben Ausſchweifung und Spiel 
ihn veraͤndert. 

Welch eine Exiſtenz fl die eines Spielers! Niemals 
Rıbe und Beſonnenheit; es ift, ald ob ein immerwährendes 
ſchleichendes Fieber auf feine Organe einwirkte ; feine Augen find 
behl, roth, feine Geſichtsfarbe iſt blaß und ſiech von den Nachi⸗ 
vohen ; feine Wangen eingefallen, fein Anzug ſchmutzig und in 
Unordnung; fein Gang plump und unſicher; eine geheime Unruhe 
lechtet aus ſeinen Augen; wenn er Tächelt, fo gefchieht es nur 
mit Bitterfeit ; Heiterkeit ift feiner Seele fremd, da fie nur vom 
Tark nah Gold, von der Gier nach Gewinn und von der Angfl 
des Spieles angefüllt ifl. 

Und das ift auch das Bild Eduards; wer hätte in ihm den 
jungen Naun erfannt, der, ganz feinem Glück, feiner Liebe lebend, 
nt Frohſinn feine Braut zum Aftare führte? Sept find feine Züge 
met, der Ausdruck feiner Phyſiognomie iſt ein ganz anberer, 
jsihR feine Stimme ift nicht mehr dieſelbe, denn die tägliche Angft 
ud Berzweiflung, Wuth, Schimpfen und Fluchen haben fle rauh 
ar hohltönig gemacht. Seine Sprache verräth die Gefellichaft, 
Kr er täglich beſucht, denn nicht in Spielhäufern, mit Mädchen 
u Yehrügern lernt man feinen Ton und Anftand. Gebe Feinheit 
“t Sitten, jede Scham und beffere Haltung geht da verloren. 
Weuard ſchreit, tobt und flucht bei jeder Gelegenheit ; feine Manieren, 
kin Benehmen, feine Grundſätze entfprechen ven Modellen, vie ihn 
Uli umgeben. Ein tugenphafter, rechtſchaffener und 
vermänftiger Menſch Hat oft Mühe, dem Ginfluffe 


200 


ſchlechter Bekanntſchaften zu widerſtehen, was foll da 
aus einem ſchwachen, den Leidenfchaften ergebenen Menfchen werben, 
der täglich nur den Auswurf der menſchlichen Geſellſchaft vor 
Augen bat. 

Der Winter war Herangenaht. Eduard erhielt Feine Briefe 
mehr von feiner Frau, er wußte nicht, daß Dufresne fie für ihn 
in Empfang nahm und fie in feinem Namen Adelinen zurückſaudte 
Die erften Wechfel wurden zur Verfallzeit mit dem Erlds aus dem 
Mobiliar eingelöst, aber auch die zweiten find bald fällig, und 
die beiden Unzertrennlichen haben kein Geld mehr. Vergebene feht 
fih Murville, der fih nicht mehr ſchämt, links und rechts zu 
borgen, mit dem Wenigen, was er erhafcht hat, Abends an ben 
Tiſch, vergebens zeichnet er, wie Defleuret, feine Karte mit ber 
Nadel, und berechnet alle möglichen Glücksfälle, nichts gelingt ihm. 
Er fieht mit Bligeöfchnelle dad Geld zum Bankier hin verfchwinben, 
das er zitternd auf eine Nummer ſetzt; die fatale Geldſchippe zieht 
immer wieder die Summe ein, bie er zu verzehnfacdhen hofft; er 
hat ‚nichts mehr, er durchfliegt mit den Augen den Saal, um einen 
Bekannten zu fuchen, der ihm Geld borgen möchte, aber er findet 
feinen. Spieler haben wenig Freunde. Ehuarb verläßt 
Nro. 9, durchläuft die Galerie des Palais-Royal, geht in jeben 
Spielfaal, um Dufreöne oder fonft Jemand zu finden, ber ihm 
Selb leihen foll, aber Alles umſonſt. Endlich dringt er auch in 
No. 113 ein; Hier fieht er den Arbeitömann, ten Handwerker, 
wie ex den Verdienſt eines Tages zaudernd auf eine Karte feht 
und fo vergeubdet ; diefer geht mit leeren Tafchen nach feiner Mob: 
nung zurüd, wo feine arbeitfame Frau mit ben Kindern wacht und 
bie Kückkehr des Mannes erwartet, um die nöthigen Einkäufe für 
das Abendbrod der Familie zu machen... . aber er bringt nichks 
mit, die armen Kinder müflen fich hungrig nieberlegen, unb bie 
unglückliche Frau benept mit Thränen ihr aͤrmliches Lager, weil 
der Mann ein Spieler iR, 


Zi 


Und jener Kaufmann, den man mit feinem Handel ganz be: 
Idäftigt glanbt, was thut er in biefer Höhle des Laſters? ... 
&r verfpielt fein Bermögen, feine Ehre, feinen Ruf, das But 
feiner Gefchäftsfreunde.. Am andern Morgen fol ex Wechfel be: 
zehlen, und vom Roulette will ex die Bonds dazu holen!... fein 
Bid iR anf die Farbe gerichtet, von ber er Alles hofft, und find 
feine Erwartungen betrogen, fo zernagt feine Hand im Buſen cons 
mifrifch die Kleider und das eigene Fleiſch ... Aber er fühlt 
nichts, alle feine Sinne, feine Gefühle find mit dem Kügelchen 
beihäftigt, das über fein Schickſal entfcheiden fol. 

Dort, jener junge Mann, mit dem ehrlichen Aeußern, dem 
mfänbigen Anzuge, der die Blicke der Menfchen fcheut, weil er 
für Shamgefühl noch empfänglich ift, bietet den Saunen des Zus 
ſalls eine Summe dar, die der Bankier, bei dem er fungirt, ihm 
vertraut bat, um fie einem Notar auözuzahlen. Das Glück ifl 
tm ungünftig, Alles geht verloren, und ganz befangen bleibt er 
üchen, denn er zweifelt noch an feinem Verbrechen, feinem Uns 
äd!... Was foll er anfangen, wenn er jebt dieſen Ort der 
Schande verläßt?...... Seine Familie ift arm, aber ehrlich; er 
lann ſich nicht entfchließen, fie zu entehren, fich den Borwürfen 
Inne Vaters auszufepen ; Derzweiflung bemächtigt ſich feiner Seele, 
a ſieht unr ein Mittel, feiner ſchrecklichen Zukunft zu entgehen. 
Kr ſtürzt hinaus, Läuft dem Fluſſe zu, fpringt in die Wellen, 
und derjenige, ber eine glüdliche, ehrenvolle Laufbahn vor ſich hatte 
uud dad Gluck feiner Familie gründen follte, wird in feinem zwan⸗ 
seen Jahre ein Selbſtmoͤrder, weil er dem Spiele nicht widers 
iehen konnte. 

Solche Bilder find nur zu häufig; täglich Haben wir die Bes 
une vor Augen. Bann wird man denn aufhören, biefe 
Ehnlen des Verbrechens und Lafterd zu dulden? 

Chuard hätte von ſolchen Beifpielen lernen follen, aber flatt 
deſen fegt er fich zum Biribi; er hat noch zehn Sous in der 


22 
Taſche; er beeilt fih, auch dieſe noch an dem Tiſche zu 
verlieren, wo man bie kleinſten Münzen der Unglücklichen nicht 
verfchmäht. j 
Indem er ſo neben Leuten ſitzt, die nur Bettlern gleichen, 
erfcheint Dufresne und gibt ihm ein Zeichen, ihm zu folgen. 

„Ich habe gute Nachrichten für Dich,“ fagt er in freudigem 
Tone. „Bor allen Dingen ift Deine Schwiegermutter geflern in 
einem Anfall von Apoplerie geftorben. — Waͤr's möglich ? — Ein 
Aufwärter hier, der mit ihr in einem Haufe wohnt, hat ed mir 
mitgetheilt, und dann habe ich auch Geld unter der Bedingung 
aufgetrieben, daß Du dafür Dein Haus in Billeneuve-St.-Beorge 
verpfänbeft. — Mein Haus? ... aber... — Run! made mir 
nicht neue Schwierigkeiten! ... . übrigens wirft Du ja mit dem 
Wenigen, was Du noch von Deiner Schwiegermutter ererbft, Deine 
Mechjel bezahlen und Dein Haus dennoch behalten. Du fichfk, 
Alles geht nach Wunſch. O, wenn ich nur früher an Dein Lanb: 
haus gedacht hätte! Aber wenn auch, jebt haft Du wieder neue 
Fonds, und das ift dad Wefentlichfte! Am Dein Erbtheil der 
Madame Germenil zu erlangen, mußt Du aber eine Verfchreibung 
von Deiner Frau haben ... — Wie fol ich fie erhalten... ih 
möchte ihr niemald den Tod ihrer Mutter mittheilen, fie wärbe 
untröftlih fein! — Nun, fo übernehme ich das, wenn Du willk, 
ich gehe für Dich nach Villeneuve-St.- George und ſetze fie mit 
aller möglichen Schonung davon in KRenntniß!... — Da wärbeft 
Du mir eine große Gefälligfeit erweifen ... . fage ihr au, daß 
ich fie nicht vergeffen und recht bald befuchen würbe . — Sa, 
ja, ich weiß Alles, was ich ihr zu fagen habe. Beta Dig auf 
meinen Eifer, meine Freundſchaft.“ 

Nach diefem Mebereinfommen beeilt ſich Dufresne, die nöthigen 
Bapiere zu erhalten, um damit zu Abelinen zu gehen, welche 
wieberfehen zu Eönnen er vor Begierde brennt; Cduard Dagegen, 
nachdem ex auch fein Landhaus, den Iehten Zufluchtöort feiner 








208 
Familie, geopfert und den Reſt aus dem Grids feiner Effekten 


erhoben Bat, überläßt fich mit ernenerter Wuth der ihn beherr⸗ 
ichenden Leidenſchaft. 


dierundzwanzigſtes Kapitel. 
Die guten Menſchen. — Erkenntlichkeit. 


Adeline befindet ſich immer noch auf ihrem Landhauſe. Sehr 
kaurig und unglücklich Fam fie hier an, aber die freundliche Stille 
af dem Sande, umd die erflen Lieblofungen thres Toͤchterchens 
Sıben ihre Seele wieder etwas beruhigt, und fie hat fi in ihr 
Shidfal ergeben. In den erften Tagen nad) ihrer Ankunft hoffte 
nd, Eduard würde ihr nachfolgen, feine verrätherifchen Be⸗ 
Sffigungen aufgeben und über feine falfchen Freunde die Augen 
en, aber gar bald verlor ſich auch dieſe legte Hoffnung. Sie 
itreibt an ihren Gemahl, er antwortet nicht, Durch ihre Mutter 
"Bilt fie Nachrichten aus Baris, und dieſe find verzweiflungsvoll; 
% fährt, welchem wahnwigigen, ungeorbneten Leben ihr Eduard, 
ten fe noch immer Tiebt, fich übergibt ; fie ſchaudert, denn fle denkt 
2 Dufresne's Rache und Eduards Schwäche; fie fehreibt noch 
"arte Male, erhält aber ihre Briefe uneröffnet zurüd. Diefer 
tie Beweis feiner Gleichgültigkeit erbittert Adelinens Herz; fle _ 
market ſtil und ohne Klagen, ob der Mann, deſſen Glück fie 
macht Bat, fich nicht dereinft feiner Pflicht, ſeiner Bande, die 
aan fie feſſeln, erinnern werde. 

Als fe eines Tages mit ihrer Heinen Ermance im Felde 
Izieren geht, bemerkt fie, voll Gedanken, nicht, daß fle ſich weiter 
it gewöhnlich entfernt bat, bis Grmüdung fle zwingt, ſtill zu 
Ehen, Sie fieht umher, und da fie die Gegend nicht kennt und 
id ju verirren fürchtet, fo richtet fie Ihren Weg nach einem Meier⸗ 
je, den fle in der Ferne bemerkt, um bort nad bem Wege zu 
kehen, oder ſich einen Führer zu erbitten. 





A 


So gelangt fie auf Guillots Pachthof, denn dieſer war es, 
ben fie erblickte. Luife befand fich gerade vor ver Thüre, um Enten 
und Hühner in den Stall zu jagen; Sandfouei war anf dem 
Hofe und band Heu, und die Kinder trieben fich ihrer gewohnten 
Weiſe nach mit Gänſen, Kaben und Hunden in engfter Freund: 
ſchaft auf der Dunglege herum. 

Das Gemälde nöthigt Adelinen ein Lächeln ab; fie bedauert 
ed, nicht in ſolcher Zurückgezogenheit auf dem Lande geboren 
worden zu fein, wo dad Leben zwar gleihförmig, viel 
leicht zu eintönig vergeht, wo man aber doch wenig 
ſtens vor bösartigen Menſchen, vor bitteren Erfabs 
rungen geſchützt iſt. 

Die Pächterin beeilt ſich, die Dame ind Haus treten zu heißen. 
Sie nimmt die Feine Ermance auf den Arm, und während fie 
biefelbe tanzen Iäßt, erfährt fie von Abelinen, daß fie über eine 
Meile von ihrer Wohnung entfernt fei; diefe, von der offenen und 
herzlichen Aufnahme gerührt, willigt gerne darein, einige Augen: 
blide bei ihr auszuruhen und an dem Eſſen Theil zu nehmen, bad 
für die Hausgenoſſen fo eben bereitet if. 

Es fchlägt fechd Uhr. Die Stunde, wo fich die Bewohner 
bed Meierhofes fröhlich zur einfachen, aber guten und nahrhaften, 
jederzeit aber von dem beiten Appetit gewürzten Mahlzeit vers 
fammeln. 

Guillot kommt und Bringt zugleich feiner Gewohnheit nad 
einen Arm vol Holz mit, Sansſouci fingt beim Eintreten ein 
muntereö Lied und Jakob ftellt die Arbeitögeräthe in eine Ede. 
Der. Pächter fieht die junge Dame gutmüthig an, Zalob grüßt fie 
und fest ſich nieder, ohne ihr weitere befondere Aufmerkfamteit 
zu fchenfen, während Adeline fein Geficht mit einer frühern Be: 
gebenheit ihres Lebens in Verbindung zu bringen fucht. 

Man fept fi zu Tiſche. Jakob hat feinen Plap neben Ade⸗ 
linen, bie über fein hoͤfliches Betragen, fein offenes Weſen und 


& 


W 


feine Herzlichleit gegen die Kinder ganz erſtaunt if; von Zeit zu 
Jeit wirft fle einen fragenden Blid auf fein ernfled, mit einem 
gtoßen Schuurebart und -mehreren Narben geſchmücktes Geficht. 
Jalob bemerkt den prüfenden Blick der jungen Dame nicht; ibm 
8 es unmöglich, eine Perſon wieberzuerfennen, die er nur einmal 
n jeinem Leben in einem Garten flüchtig gefehen bat: aber Adeline 
eimet ſich allmählig beim Anblid des’ gewaltigen Barted an ben 
Dt, wo fie ihn ſchon früher gefehen hat ; fle kann eine- Bewegung 
a Ueberrafchung nicht verbergen und ruft: „Wie! Sie find es, 
zin ger? Ach! ich wußte wohl, daß ich Sie ſchon einmal ge: 
ben hatte, — Reden Sie von mir?“ fragt Jakob erflaunt. — 
“0 ja, Sie find es... jegt weiß ich es gewiß. — Sie kennen 
wizen Kameraden ?” fagt Sansſouci, „dann kennen Sie einen 
urn Soldaten, einen rechtfchaffenen Menfchen. — Ich zweifle 
vft daran, und boch hat mir der Herr ſchon große Furcht ein: 
wg... — Furcht? Madame, dies macht mich untröſtlich, 
an wie wäre dad möglich geweſen? — Erinnern Sie fich eines 
le, wo Sie in Villeneuve-Saint-George waren? Es find 
licht achtzehn Monate her, Sie hielten fich daſelbſt ange vor 
rer Thüre eines Gartens auf, und durch die Thüre konnte man 
u Ihr Geficht fehen ; ich geftehe, daß mich damals Ihre Augen, 
re Rachen und Ihr Bart nicht wenig erſchreckten. — Wie! 

Raame !“ erwidert Jakob, nachdem er Adeline genauer beobachtet 
id, „Sie befanden fi in dem Garten? — Ya, mein Herr, e 
“birt zu meinem Haufe. Aber damals befuchte ich ihn zum erften 
Nele mit meiner Mutter und meinem Manne.“ 

Jalob antwortet nichts Hierauf; er wird büfter und nach⸗ 
ale, fährt mit der Hand über die Stine, fireicht fih den 
Sart und ſeufzt tief auf. 

„sa, ja!” jagt Guillot, nachdem er ein tüchtiged Glas Weir 
utrnfen hat, „jo iſt's, wenn man gut fehen kann, denn wenn 
Gen, dennoch . . .; es iſt num ein Geſicht ober nicht, ich fage 





26 


ſelbſt, es braucht nicht gerade immer ein Bart hinter ber Thuͤre 
zu fein... denn man bemerkt das gleich, ift eines furchtſam, fo 
zeigt es ſich bei allen Gelegenheiten. Alsdann hat man es ſchon 
geſehen!“ 

„Ja, ja, Du haſt Recht, Alter, ſchweig nur,“ unterbricht 
bie Paͤchtersfrau Guillots Geſpraͤchigkeit, wenn übrigens Madame 
das Ehrenlegionskreuz geſehen hätten, das unſer Freund Jakob da 
auf dem Herzen trägt, gewiß, Sie hätten dann keine Furcht gehabt. 
— D!" ſagte Adeline, „jetzt brauche ich auch das nicht mehr zu 
fehen, um von meinem Irrthum zurädzulommen. Aber, was 
wollen Sie, die eigenthümlichen Umftände, Frauen find furchtiam, 
und biefer bärtige Kopf jo einfam am Ende des Gartens !” 

„3a, wirklich,“ beginnt Guillot wieder, „ich will gerade nicht 
fagen, daß ich ein Hafenfuß bin, aber ich hätte mich auch gefürchtet, 
denn warum, fo eine Meberrafchung, hinter einer Thäre... folcher 
Bart... in einem Garten, ſo etwas hält man nicht aus! — 
O fchweig doch, Alter, Du bift ein Hafenfuß; nicht wahr, Vetter, 
fol er fich nicht fchämen ?“ 

„Ad, taufend Bajonette!“ ruft Sansſouci, „wenn Räuber 
Euren Meierhof angriffen, was wollt’ ich fie davonjagen, ich ver 
fiher’ 8 Euch!“ 

„Sf Ihe Herr Gemahl immer noch in BilleneuvesSaint- 
George ?“ fragt Jakob Adeline nach einiger Zeit. — „Nein, er if 
ſchon längere Zeit in Paris.“ 

Bei diefer Antwort fcheint die junge Frau fo traurig zu 
werben, daß Jakob fchon feine Frage bereut. Je mehr er die Yrau 
feined Bruders betrachtet, deſto mehr fühlt er fich zu ihr Hinge: 
zogen; er zweifelt nicht, daß Eduard ihr feine Zuſammenkunft mit 
ihm verfchwiegen habe. — Sie würde. mich nicht zurüdgewiefen 
haben, denkt er, mit fo vieler Sanftmuth in ben Geſichtsézügen 
und in der Stimme bat man fein fühllofes Herz, ... . Cduard 
allein ift ſchuldig!... aber fie foll nichts davon erfahren, es koͤnnte 








am 


ke undchig beirüben, umb überdies mag ich mid dem Undank⸗ 
baren, ber mich verlaͤugnet, gar nicht nähern, 

E wurbe Schon finfter, und Adeline lonnte allein nach ihrem 
Dorfe nicht zurũckkehren; ein Jeder bietet ſich an, fie zu begleiten; 
ke wählt Jakob, um ihm zu beweifen, daß fie auch nicht bie 
mixdefte Furcht mehr vor ihm habe, und er fühlt fich insgeheim 
deßhalb geſchmeichelt. Er nimmt die Heine Ermance auf den einen 
Arm, bietet der jungen Frau ben andern, und dieſe nimmt von 
ıbten Wirthölenten Abſchied, verfpricht aber, erfreut über folche 
saffregubliche Aufnahme, recht oft wieder zu kommen. 

Anfangs iſt man auf dem Wege ziemlich einſilbig. Dann 
uns wann gibt Jakob nur der Heinen Ermance ein Küßchen, wor: 
über diefe, erſt acht Monate alt, den Soldaten anlaͤchelt und mit 
ſeinem Schnurrbart fpielt. 

Ich bedaure,“ ſagt Adeline, „daß ich Ihnen Mühe mache, 
aber ich glaubte nicht, mich fo weit von Hauſe entfernt zu haben.“ 

„Madame, Sie bereiten mir dadurch ein großes Vergnügen. 
— Das Kind wird Sie müde machen! — Mid; müde machen ?... 
sin, tauſend Granaten . . . aber um Berzeihung, vor Damen 
fol man nicht fluchen. — Bei einem alten Militär ift das immer 
entſchuldigt. — Ich liebe die Kinder fehr... und diefe Kleine if 
wirklich allerliebft ... — Ach! fie ift mein einziger Troſt!“ fagt 
Veline ganz leife ; Jakob kann ſfie nicht verfiehen, aber ex bemerft, 
daß fie traurig wird, umb gibt daher der Unterhaltung eine andere 
Vendung. — „Madame werben ohne Zweifel bald wieber nach 
Paris zurückkehren, bie fchöne Jahreszeit ift vorüber, wir find im 
Ronat Oktober. — Mein, ich denke das Land noch nicht zu ver: 
lafien.... vielleicht werbe ich den Winter hier zubringen!“ — Das 
ij hoch fonderbar, denkt Sakob, fie bleibt auf dem Lande und ihr 
Rom in der Stadt, follten fie nicht gut mit einander leben ? — 
„In diefem Fall,“ erwidert er ihr, „werben wir, Hoffe ich, manch⸗ 
mel das Vergnügen haben, Sie auf unferem Meierhofe zu ſehen! 


— da, ed ſoll mir eine Freube fein, ihn öfter zu befuchen. Si. 
find mit dem Pächter verwandt, glaube ih? — Nein, Madame, 
mein Kamerad ift ein Better der Frau Guillot, aber ih Bin nu: 
ein alter Soldat, ohne Familie, ohne Bekanntſchaft, dem man 
aber gern bat Arbeit geben wollen. — Ich bin gewiß, daß man 
fü jeden Tag mehr darüber freuen wird... Sie find noch fung, 
lange können Sie nicht gedient haben ? — Verzeihen Sie, ich tra! 
fehr frühe in den Dienft! — Und bei Ihrer Rückkehr aus dem 
Felde fanden Sie keine Mutter, Teine Schwefter, die Sie nad 
Ihren Kriegöftrapazen hätten pflegen können ? — Rein, Madame, 
ich hatte nur einen Anverwanbten, aber er behandelte mich mit zu 
geringer Freundſchaft ... ich Bin ſtolz ... Halte auf Ehre, und 
verwarf eine Hülfe, die nicht aus dem Herzen kam und mich er: 
niebrigt hätte. — Das war wahrfcheinlih nur ein fehr entfernter 
Berwandter ? — Ya, Madame! — Mein Hann hateinen Bruder... 
ja! er heißt auch Jakob, wie Ste; feit mehreren Jahren bat er 
feine Familie verlaffen ; ohne Zweifel ift er tobt; aber wenn er 
noch lebte und zurüdfäme, gewiß würde mein Mann erfreut fein, 
ihn zu ſehen!“ 

Jakob antwortet nichts, aber er wendet den Kopf weg, um 
Adelinen eine Thräne zu verbergen, bie fein Auge nicht zurüdzn: 
Halten vermag. | 

Man kommt endlih am Landhauſe an. Adeline bittet Jakob 
einzutreten, um einige Augenblide auszuruhen, er lehnt es abeı 
ab, denn er fürdhtet durch feine Rührung fich zu verrathen. 

„Wenigſtens hoffe ih,“ jagt die junge Frau, „daß Sie mid 
nicht vergeflen werben, wenn Sie nach Billeneuve- Saint: &eorge 
kommen. Sie follen dann auch den Garten fehen, den Sie ſich 
nur durchs Bitter betrachtet Haben. — Mit Vergnügen, Madame, 
ih Bitte aber auch unfern Pachthof nicht zu vergeſſen.“ Adeline 
verſpricht es und Jakob entfernt ſich, indem er ven Blick fo Tange 
ale möglich auf das Haus heftet. 





Das AR ein recht braver Dawn,“ fügt beline ‚beim. Win: 
hin im ihre Zimmer, „und Mama und ich wir haben ihn Tehr 
hliä beuriheilt.... Ich bin überzeugt, daß biefe rauhe, ernfte 
Ifmfeite ein gefühlvolles Herz verbirgt. Ach! der 
Eheim tragt allzuoft!“ 

Ciund Tages nachher geht Adeline eines Morgens, von ihrem 
Kutmändhen begleitet, wach bem Meierhof. Die Lanblente em⸗ 
Yen fie mit. herzlicher Freude. Abeline iſt ſo liebenswuͤrbig, 
ach und ſanft gegen Jedermann, daß bie guten Leute ſie gar 
noeme bei ſich fehen. Gutlket verliert fich in Fangen Phraſen, 
ki laͤt die Heime Ermance ſpringen; Sauisfonet ſchwört, beim 
Inmente niemals fo ein zartes, fanftes Frauchen gefehen zu 
kim, und Jakob erweidt ihr wie größte Achtung, das lebhafteſte 
Nineffe ; feine Iusorkommenheiden für Adeline find fo anserisäntt, 
Nie Manieren fo ehrerbietig, daß fie nicht weiß, wie ſie fl 
hiſes eben fo rührende als unerwartete Beuehmen erklären foll. 
Un Jalobs Blicke haben nichts Beleidigendes, es iſt aufrichtige 
Deilnahme, Freiudſchaft, was ſie darin liest, und Ihr Herz em⸗ 
Hıbet dafſelbe, ohne daß fle ſich darüber Rechenfchaft zu geben weiß. 

Ein Jebes reitet ſich um die Ehre, die junge rau nad 
benſe zu Begleiten: Guillot Bietet feinen Arm an, Lntfe will die 
Heine twhagen, Jakob als Wegweifer und Sausſouci als Eskorte 
\mm; aber Abeline zieht es vor, diesmal mit ihrem Mabchen 
den ga sehen, um Niemand eiferfächtig zu machen. Nur dann . 
ind ware Bei ihren Wefnchen, wenn es ſehr ſchoͤned Meter if, 
lam fie bie Begleitung aller Hausgenoffen nicht zurückweiſen, weil 
zan es alcbann · als einen Eipaglergang anſteht, den man in ihrer 
Ifellihaft zu machen wünfht. | 

So vergehen mehrere Monate. Der Winter hat feine Herr: 
iceft angelzeten, die Bäume find kahl, die Felder tranrig und 
ide. Meline bekommt Leinen Veſuch. Sie lebt in ihrem Haufe 
son; allein mit ihrem Mädchen und einem alten Gaͤrtner, der ven 

Saal de Rod. 1. 14 


geuben Hauddiener erfeht het, Ya Abellne ihhn -befguih antlafhen, 
weil ex die Armen and Beitier hartherzig fortiagte, wenn fie an 
ihre TIhüre klopften und ein Stück Drop verlangten. 

Ihre einzige Zerſtreuung find die Beſuche anf dem Meierhofe, 
wenn es recht ſchoͤnes und für ihr Kind wicht zu kaltes Weiter iR; 
Yalob if jedesmal innig bewegt umd erfreut, wen ex flo ficht, 
aber ec verbirgt einen Theil feiner Empfindungen, ur den Haus⸗ 
genofien Feine Veranlaffung zu Fragen zu geben; Sangſouci iſt 
mit dem Geheimniß Jalobo vertraut; er weiß, daß Abeline bie 
Frau des Bruders ſeines Kameraden if, aber er hat gefdäworen, 
08 nicht zu verrathen, und anf feinen Schwer kann mu bauen, 
obgleich er oft außer fi if, Adelinen nicht eröffnen zu Türken, 
welche Bande fie au feinen Freuund knüpfen. Aber Jakob will es 
fo, ex bat einen Theil des Kunmers feiner Schwaägerin errachen, 
und will ihn buch bie Kunde von dem Betragen ihres Mannes 
gegen ihn nicht noch vermehren. 

Indeſſen ift man weit entfernt, im Dorfe unb im Pachthofe 
bad zu errathen, was in Paris geſchieht! Die Nachrichten von 
bert werben nur zu frühe Die Ruhe flören, ber man ſich noch er: 
freut. Dufresne hat es ja übernommen, den Frieden einer Frau 
zu zerfiören, bie er für ihre Verachtung güchtigen will. 

Eines Morgens wird Adelinen hinterbracht, daß ein Herr ans 
Baris fie zu fprechen wünfche; fie geht in deu Salon, wo ber 
Fremde eingetreten if, und führt vor Schrecken zufammen, als fie 
Dufresno erblickt, der in einem Yaitenil ruhig ihr Grfcheinen er: 
Wartet. 

„Sie bier! mein Herr!" fagt fie, indem fie alle Kräfte zu⸗ 
fammen nimmt, „ich glaubte nicht, daß Sie «8 noch wagen würden 
mir vor bie Angen zu fommen!... — Madame. . . verzeihen 
Sie,” erwidert Dufresne mit heuchlerifchem Tone, „ih hoffte, daß 
bie Zeit Ihren Haß beſchwichtigt haben wärbe. — Niemals, mein 
Herr, Sie wiſſen nur gu gut, daß Ihre Beleivigungen fich aus 





all 


dem Gepädgtniffe nicht entfernen lafien!... Beeilen Bie fd, mir - 
zu fagen, was Sie herführs! — Ich komme, Ihnen neuen Kummer 
zu machen, aber die Befehle Ihres Mannes... — Spredien Sie, 
ih bin anf Alles gefaßt! — Ihre Mutter... ohne Zweifel wiſſen 
Get — Meine Mutter, o Bott! ſollte fie frank fein? Bor Kurzem 
erhielt ich noch einen Brief von ihe! — Bin Rervenanfall . . 
on Schlagfluß!.... — Großer Gott, fie tft wicht mehr, und ich 
babe fie in ihren letzten Augenbliden nicht gefehen!“ 

Weline Fällt vernichtet auf einen Stuhl nieder; endlich machen 
mei Thraͤnenſtroͤme ſich Luft, und ihr Schmerz, ihr Sammer, wärbe 
2 fichlloſeſte Weſen rühren ; aber zarte Empfindungen kennt die 
Seele Dufresne’s nick, die können nur die verwerf: 
liäßen, die Menſchheit entehrenden Leidenfchaften 
tigen. Stilliſchweigend beobachtet er die Verzweiflung einer jungen, 
Minen Yrau, deren Unglüd er bereitet hat; er Hört ihre Seufzer, 
ſcheint fie zu zählen und weit entfernt, einen Aufug von Rene 
wu empfinden, finnt er vielmehr darauf, wie er ihr noch neue 
Qualen zufügen kann. 

Die Gegenwart Dufresne's vermehrt noch Abelinens Schmerz; 
vor ihm kaun fie ja nicht nach Gefallen ſich ausweinen und bloß 
au ihre Butter denken ; fie will es verfuchen, den verächtlicdhen 
Nenſchen los zu werben, der an ihren Leinen ſich noch weidet. 

„Berbinden Sie mit Ihrem Beſuche Leinen andern Zweck, als 
wir den ſchrecklichen Verluſt, dem ich erlitten babe, mitzutheilen ?“ 
fast fie, indem fie ſich erhebt und ihr Schluchzen unterdruckt. 
Naedame, die Hinterlaffenfchaft von Madame Germenil muß re: 
Salt werden; ich habe geglaubt, es würde Ihnen ſchmerzlich fein, 
at dieſem Gefchäfte fich abzugeben, das übrigens Ihren Mann 
betrift dazu iſt jedoch Ihre Unterfcheift nöthig .... ich habe 
ale nötigen Bapiere bei mir. — Ab, fo geben Sie her, ich unter: 
zeichne Alles ... ich will Alles verlieren! ... wenn’ nur wenigfiene 
Ihre Gegenwart mich in meiner Zurüdgezogenheit nicht mehr ſtoͤrt.“ 


212 


Bei viefen Worten ergreift fie bie Papiere, unterſchreibt Alles 
blindlings, gibt ſie ihm zuräcd, und will ſich entfernen... ex aber 
halt fie in dem Augenblide, wo fie den Salon verlaffen wii, 
kraͤftig am Arm zurück. 

„Einen Augenblick, Madame, Sie eilen fehr, wich zu ver: 
laſſen. Was mich betrifft, fo möchte ich mich gem für die Zeit 
ſchadlos Kalten, in ber ich Sie nicht gefehen habe ..... anferbem 
habe ich noch Nachrichten an Sie von Ihrem Gemahl.” 

Ein graufames Lächeln leuchtet aus ben. Augen Dufres: 
ne's; Adeline jchaudert und will entſchlüpfen. 

„Halten Sie mich nicht zurück,“ xuft fie, „oder ich laſſe Sie 
für Ihre Frechheit ſtrafen! — O! nicht fo viel Stolz, ſchoͤne 
Adeline! denken Sie, daß ich nicht die nöthige-Vorficht gebraucht 
hätte? Ihr Gärtner iſt Hinten im Garten beſchaͤftigt, und Ihr 
Mönchen if unten in ber Küche, von wo aus man Sie nicht hoͤren 
Tann ; ich Ienne das Haus fehr gut! . .. Sie werben bleiben, 

weil id ed fo haben will... Sie werden mich anhören... umb 
nachher wird fich das Weitere finden. — Elender! ... Glauben 
Sie nit, mich einzufchüdhtern, der Haß gegen Sie verboppelt 
meine Kräfte. — Ab, fo! Sie hafjen mich alfo noch immer? Sie 
wollen alfo Feine Vernunft annehmen? . . ich habe eine beſſere 

@Gefiunung ; ich will. Shre Beleidigungen vergeffen, wenn Sie mich 
endlich Ihrer Liebe verfichern wollen... . Aber nehmen Sie ſich 
in Acht ... meine Geduld moͤchte vergehen, und dann möchte ich 
zu Allem fähig fein. — O, mein Gstt!... warum muß ich ſalche 
Schurkereien anhören? — Run, feinen Zorn weiter... Ihren 
Mann: lönnen Sie nicht mehr lieben, ver hat Sie aufgegeben, 
vergeffen, ruinirt Sie, befucht alle Spiels und Sreudenhänfer..... 
Er iſt jeßt der Ausfchweifung fo ergeben, als dem Spiel, uud es 
iſt nicht zu viel gefagt, er bringt Sie an ben Beltellab! .. . 
Ich biete Ihnen Reichthümer an... nichts foll mir zu koſtbhar 
fein, Ihre Wünfche zu befriebigen!! , , , Deffnen Ste.die Augen ! 





218 
mb überzeugen Ste fi, ob ich Ihrem einfältigen Eduard 
uicht gleiäfonme!... Sie ſchweigen? Run, nun, ich merke, Ste 
ſehen die Richtigkeit meiner Rebe ein... alfo fchließen wir Ftieben.“ 

Daftesne will fich Adelinen nähern, fie aber ſtoßt einen durch⸗ 
wingenben Schrei aus. — „Wie! was! noch immer biefe Steenge... 
Ih werde doch vie Reiſe nicht umfonft gemacht haben, ein Küßchen 
muß ich haben. — Ungeheuer! lieber erben. — Bah! wegen 
feld} einer Kleinigkeit ficht man nicht.“ 

unſonſt verfucht die Unglackliche zu lichen, der Elende halt 
fe zurick; fein umreiner Hauch will fo eben die Lippen der Schän- 
kit berähren, als ein lautes Geraͤuſch füh Hören läßt und gleich 
verauf Jakob und Sansfouci ins Zimmer treten. 

Dufresne hatte nicht mehr Zeit gehabt zu entkommen ; bes 
Kauyf, den Abeline zu beftchen Hatte, nahm ihr alle Kräfte; fie 
Io daher nur noch die Worte herausſtammeln: „Nettet mich, 
befreit mich von biefem Ungeheuer!“ und bewußtlos faͤllt fie auf 
ver Fußſboden nieder. 

Jakob Läuft zu Adelinen und droht Dufresne; biefer wid 
hinans, Sansfouci ftellt ſich ihm aber in den Weg und ruft: 
„Einen Augenblick, Kamerad, Ihr habt diefe junge Dame belri⸗ 
bit, und das kann nicht fo Hingehen. — Ihr fein im Irrthum,“ 
antwortet Dufreswe, indem er fich bemüht, feine Angſt beim Ans 
bil Jalsbs zu verbergen... „dieſe Dame Hatte einen Nerven: 
fell, anf ihre Geſchrei kam ich herbei, ich wollte ihr hälfreiche 
Sand leiſten. Laßt mich, ich will das Mädchen rufen.“ 

Sansſounci iR zweifelhaft und weiß nicht mehr, was ee 
landen fol, ala Jakob, dem die Stimme Dufresne's auffiel, Ti 
wart, ihn aufmerkſam anfchaut und ihn plöglich erkennt. — 
„Belt ven Spigbuben feR,“ ruft er Sausſouci zu, „und Taf 
ihn nicht eniwifchen;, das iſt Breville... der Halunke, der mich 
in Behffet beraudt und beſtohlen hat; taufend Granaten, der ſoll's 
bifen !" 





214 - 


„MG, ah! Romerabdien,“ ſagt Sansfouci, „auf ſolch' eine 
Grbennungsfcene war't Ihr nicht vorbereitet! .... Das iſt freilich 
nnengenehm ; ich geftehe e8 . . . aber man wird ſchon nach her 
Meife tanzen müſſen! ... . alfo vorwärts!" 

Dafreöne fieht, daß Lift Hier nichts mehr hilft und ſegt ſoine 
Seffnung nur noch anf die Flucht. Jakob iſt immer mit Moelinen 
befchäftigt, die noch nicht wieder zur Befinnung gelommen iſt; 
Sansſouci allein kann ihn Daher nur aufhalten, aber Dufresne 
iſt ſtark und Eräftig, Sansſouci dagegen Elein und mager ; er faßt 
deßhalb einen Entſchluß, wirft. ich auf feinen Gegner, vackt ihn 
und wirft ihn nieder, ehe dieſer ſich befinnen faun, fegt über ihn 
weg, öffnet die Thüre und fliegt in großen Sägen bie Treppe hin⸗ 
unter. — Luiſe hatte nämlich Jakob und Sahsfsuei nach Wille⸗ 
neuve⸗St.⸗George begleitet und fo waren gerade die Bewohner 
des Meierhofes gekommen, um Madame Murville auf Guillots 
Geburtstagsfeier einzuladen. Als fie nun in den Hof traten, Den 
Gärtner nicht fanden und die Pächterin in die Küche gegamgen war, 
um fich nach Madame Murville zu erfundigen, hatten Jakob uud 
fein Freund unten an der Treppe gewartet und plögli das Ge⸗ 
fehrei vernommen, auf das Hin. fle zu Hülfe eilten. 

Auf feiner Flucht begegnet Dufresne Luiſen; ; er ſtoͤßt fie heftig 
zuräd; fie taumelt und fällt ihm zwifcgen Die Beine ; während er 
fih, anf den Boden mit hingeworfen, von ihr loomachen will, 
Kauft Sansfonei vol Wuth, won ſolchem Schuft überwältigt werben 
zu fein, mit einem tüchtigen Knotenſtock herbei und driſcht auf 
Kopf und Schultern Dufresne's fo gewaltig los, daß dieſen Hören 
und Sehen vergeht; endlich aber reitet ex fich gegen den Garten 
Hin; Sansfmei verfolgt ihn, aber Dufresne. Iennt alle Wege, 
weiß den Augen feines Feindes zu entgehen, erlangt eine mit 
Staketen befepte Dauer, klettert hinüber, Läuft querfeldein nach 
Paris zu und ven das unglüuckliche Beſemaueeen mit 
Jakob. 





wißt!® fat Sakob, —— hau Fa had ih 
an einmal all’ nuwinet Gab us) Gutes beraubt ; ein anderes Mal 
were ich Ihnen das erzählen. — Ab, der Spitzbube!“ ſagt bie 
drin, „und mid; bat ex über den Haufen geraunt, als wär 
ich eine felle Ente, aber ich kann Sie verfihern, Sanoſounci hat 
Im gehörig Dundigegeröt.... ach, Bat der ihn geprügeli, man fa 

vu Stock in der Luft ni!“ 

Gerade kommti Sonsfonei mit beirühter Miene zurud. — 
Am!” rufl ihm Jakob enigegen, „ha Du ihn arretirt? — 
Better, mein! . . . ich weiß nicht, wie er's gemacht halte; im 
Gerten verlor’ ich ihn aus ben Augen; ex fchien darin Beſcheid 
zu wiffen, ich aber wußte nicht, welchen Weg ich einfchlagen follte ; 
roch gleichviel, er Hat eine tüdhlige Labung bekommen!... wenn 
et vie Madame wünfdjt, fo will ich noch Feld und Dorf durch⸗ 
Tadhen.“ 

„Rein, das iſt unnütz,“ erwibert Adeline; „ich danke herzlich 
für Ihren Eifer, laſſen wir den Elenden laufen ; ich glaube, daß 
a ſich Eünflig Hier nicht wieder blidden laſſen wird. — Hat er fie 
ruht Befohlen, Madame,“ fuagt Jakob. — „Nein, es. kam wegen 
med Goſchafts, einer Meskunft her... wagte es dabei, mir von 
Siebe vorzufprechen,, und wäthenn über meine verächtliche Abwei⸗ 
ng, wolle er daB Weußerfie wagen, ald Sie dazu Samen. — 
Tab Ungehemer!... ady! wenn ich ihm wieberfinde! Potz tauſend! 
ieh‘ eier den Schlüngel, wagt ſich an fo Heine, nisbliche, zarte 
Aanen, wie -Miekame Wüwniie! ... ich möchte nicht einmal, daß 
er mit den h...... füßte... aber verzeihen Sie, wor Ihren Ehren 





die 


mit Reſpekt zu Tagen. — Ex ſoll ſich nicht wicher einfallon laſſen, 
weder Sie zu füffen, noch aberhaupt auzufehen,“ ruft Sausſouci, 
„oder, bei der Schlacht von Auſterlitz ſeio geſchworen, mein eine 
griff ſoll ihm zur Uhrkette dienen!“ 

Die Ruhe ſtellt ſich wieder her, aber Adeline, untröſtlich aber 
ben Verluſt ihrer Nutter, und daruber, was ſie durch den treu⸗ 
loſen Dufresne von Ednard erfahren, lehnt es ab, Guillots Ge⸗ 
burtotagofeier anzuwohnen, was bie eijrlichen Laub beube ſehr ſchmerzt. 
Umſonſt verſuchen Luiſe und ihre Begleiter, ihren Eutſchluß wan⸗ 
"Temp zu machen ſie ſollen nun ohne fe nach Haufe gehen: nun fie 
ihrem nagenden Kummer überlaffen. 

Jaklvb und Sansſouci bisten ſich an, bie Rat unten im 
Haufe zu wachen, um möglichen neuen Mefchlägen des Boſewichts 
zu begegnen; aber Abeline will dazu nicht einwilligen, fie dankt 
thnen herzlich, verfichert fie, nichts mehr Kefkrdhten zu dürfen, 
und bittet nur, fie vecht oft zu beſuchen. 

Die Bewohner des Meiechofes entfernen fich endlich mit kam⸗ 
mervoller Miene, und Jakob nimmt es fi vor, in allem Grufte 
über die. Frau feines Bruders zu wachen. _ 


Sünfundzwanzigfies Kapitel. 
Dad Lotterie-Gomptoir. 


„Die mag ed nur zugehen, daß ich mich ruinire, indeß Anu⸗ 
bese gewinnen? Soll ich denn nie zu einem raſchen Mittel ge 
langen, reich zu werben?" 

So ſprach Ehuard an dem Tage zu ſich ſelbſt, als Dufresue 
nach Villeneuve⸗St.⸗George fuhr. Er trat fo eben. amd einer 
Alademie (der noble Ausdruck für ein Spielhans),- wo er abermals 
einen Theil des auf fein Landhaus gelichenen Gelbos verſpielt Hatte. 
Verdrießlich duschläuft er die Strafen der Stadt; er träumt im 





219 


sche auffehien wenfite, bie gegen einige Etüde Bapi ige Gelb 
los werben weilte. 

Eimarb entſchließt ſich, zu warten, unb wirft inbeffen feine 
Olide auf Die ihn umgebende Menge. Sie beßeht beinahe air 
ud Berfonen der niedrigſten Klaffen : aus Heinen Kraͤmern, Adıhin- 
um, Weſcherianen, Schuhflidern, Botenläufern und Toöslem, 
Damit if aber nicht bewiefen, daß die höheren Klaſſen nicht auch 
ız der Lotierie Spielen ; die feineren Leute aber laſſen für ſich jagen: 
mb der anflänbige Bürger, der fich ſchaͤnt, geht darch bie Hinter⸗ 
tbäre ind Bureau. 

Mauarb zieht das Tafchentuch Hervor, denn bie Bereinigung 
Nefer Herten und Damen verbreitet eben Beinen fehr aromatiſchen 
daſt, vielmehr Bilden ver Buplaften des Savoyarden, bie Häriuge 
nö Rrämesd, ber Tragkorb des Lumpenſammlers, das Pech des 
Shuhlicend und der Stockſiſch der Köchin eine Miſchung von 


berũchen, bie einen Grenabier zurhdlfchredien koͤnnte; aber bie - 


tolteriefpieler berechnen ihren Gewinn und riechen nichts. 
Bei dem Barten unterhalten ſich He Spieler über ihre Träume, 
re Autgmafungen, und dabei ſprechen Alle zugleich uud Jeder 
ni Recht; es iſt ein unausſtehlicher Lärmen, tretz ber Bitten unb 
Borfieliungen der Fran im Eomptoir, die alle fünf Minnten, wie 
‘a Sprecher im Juſtizpalaſt ruft: „Stille doch Ba hinten... 
Rubig, meine Damen, man verſteht ja fein eigenes Wort wicht!“ 
Eouard, der nicht zu ben gewähnlichen Gaͤſten gehört, iſt von 
vu unaufhörlichen alten Weibergeſchwaͤtz ganz wire im Kopfe ger 
wmorden; aber das Glück kann nicht theuer genug erlanft werben, 


np er faßt Muth, ja fogar ven Ensichluß, von dem Vewoſche 


bertheil zu ziehen. 

„Beine Kleine,” fagt eine ganz wit Lumpen bdeci⸗ alte 
an zu einem anbern Weihe, die einen blinden Bettler führt: 
U babe heute früh nürgtern eine Spinne hinter meinem Strohſad 
ann fehen. — Gi eiter,“ bekommt fie zus Antwort, „ich jehe 


218 


ihigt, ihn zu pflegen, Die Zeit vergeht, mis iht ber Bubteriefihluh, 
nud ich vergaffe meine Irodlene Terue übes feinen Kluſtieren. — 
Meine arme Sertrude; das heißt Mnglüd Haben! Aber Pak Schlag! 
mein verftorbener Daun Hätte ſich noch fo fehr Irkmuen mögen, 
ich Hätte Die Lotterie nicht darüber vergeſſen. Seit sehe Jahren 
- bringe ich meinen Einſatz immer den zwanzigſten des Monat, eine 
Yunbe und zwei Audzuͤge, diesmal iſt's etwas fpäter geworden, aber 
es ſchabet nichts, mud ſiehſt Du, es iſt mis wieber geglüdlt, o! 
ich weilte fa licher mein letztes Hembe verlaufen, als non meinem 
Plane abgehen. — Kennfi Du Leute, bie das große Leos gewannen 
haben? — O, freilich, die Koͤchin aus ber Mobehenbiung . . . 
Drei Nummern zufällig aus dem Bade gegen. — Weißt Du, 
daß das ein Gluͤck iſt! — Ach, das if eben nicht fo erflaunend 
wert, denn fie hatte zuvor geirkuimt, daß ihr Herz ſich bei ihren 
Kochhaͤſen zu ſchaffen mache. — Ach! dann war es freilich ſicheres 
Gelb... Ic möchte ans ber Haut fahren; mir bat noch nie 
ſolches Zeug geträumt! — Aber mir bagegen, mir iräumte oft 
noch bei Lebzeiten meines verflarbenen Mannes!“ 

Couard drängt Die Menge, die ihn vor dem Lotterie⸗Tomptoir 
gefeffelt Hält, auseinander un: entfernt fig. Auf feinem Mege 
denkt er an die gezogenen Nummern. Diefe Art zeich zu werben, 
gebt nicht fo raſch, wie das Roulette, und die Glüdsfälle mögen 
auch feltener fein, aber die Refultate find ungleich glängenber, 
weil man mit einem Geldſtücke bedentend gewinnen Tann. 

Den ganzen Tag denkt er Bloß au die Lotterie, und am andern 
Morgen entichließt ex fi, fein Glück auch auf diefem Wege zu 
verfuchen. Er geht in das erfle Lolterie- Comptoir, Das er ſindet, 
und braucht Daher nicht weit zu lanfen, beun in ben Straßen von 
Paris trifft men mehr Lotterie⸗ ald Armen: Gollecten. 

G8 war zehn Uhr Morgens und der Schluß einer auswärtigen 
Collocte. Das Bureau war fo gearängt vol Neuſchen, daß man 
nicht hineinkammen Tounie, und man ſich am Ende ber Meufdgen- 





221 


«mit, ald führe ch auf einem Wafler, das fchäumte und kochte, 
wie ein Fleiſchtopf am Feuer. — Und Du fingeft die Fiſche ges 
tot, nicht wahr! — ber fo fei doch fill, Plaubdertaſche! — 
Geblich fah ich anf des andern Seite des Waſſers einen fühönen 
helaſ and der Erde fteigen, wie im Theater der Seiltänzer, vie 
Vier waren von Diamanten, die Mauern von Gold, die Fenſter 
a Siher und die Thüren von Rubinen — Teufel! das maß 
Leine Bfefferfuchenhänfer überkraklt haben! — Ich, wie ich ben 
dalaſt ſehe, bitie einen Schiffer, einen ſchoͤnen jungen Mann, nic 
ſogleich hinüber zu fahren; da verlangt er... adj der Spitzbube 

— das war alfo ber fehöne Traum, ic beufe Wunder, was va 
ktanöihläpfen wird!“ 

Das find ſchoͤne Geſchichten; „aber. Platz doch,“ fagt eine 
Kecin, indem fie ein ſo eben gekauftes Huhn in ihren Korb ſteckt 
td man nach dem Geruche ebenſowohl für eine Schnepfe hätte 
beten Tönuen, „mein Herr wartet aufs Frühſtück, er will frühe 
gehen und ich ‚habe noch nicht einmal Feuer angemadht ; ge: 
seine, Madame, mein gewöhnlicher Sak, da find breißig Sons, 
migen Sie mich raſch ab, ich Bitte.“ 

Die Köchin nimmt ihr Loos und kehrt calculirend nach Haufe 
und; dad Hnhn hat zwanzig Sons gefoftet, fie wird es zu zwei 
ktunien zehn Sons anfchlagen, dann hat fie ihre Cinlage umfonfl, 
um das ik ſchon etwas ; Freilich wird Die Herrſchaft ein fehr theures 
m obendrein amgegangened Huhn verzehren; aber bie Tleinen 
Frofitchen bärfen nicht vergefien werden, und man läßt vi 
chriht umfonft [helten und quälen. ' 

„Biele Rummern find lange nicht hetausgekomtmen,“ fagt ein 
lan Mann, nachdem er drei Viertelſtanden die Karte der früher 
nsgenen Nummern betrachtet bat, — „Da!“ fagt ein: Anderer, 
kenerlen Sie. wohl, daß die 6 gefangen ift.... fie muß bald 

* Im Intereffe des Leſerd haben wir biefe Unterrebung etwas abyufürzen 
hr gut befunden. - Der Ueberſ. 


ri 


220 


alle Tage genug Spinnen ‚bei mir. — Mag fein; das bdriugt aber 
Glück; ich werde einen Thaler auf Nr. 9, 30 und 51 fegen; 
ich Bin: gewiß, die muſſen herausfommen.“ 

Und bie Unglädlidge, die baarfuß geht, deren Rod voll Löcher 
if, zieht einen Thaler Heraus, um ihn anf eine Spinne zu fegen. 
Fur die, weiche feſt au Träume glauben, find die Nummern feine 
Bummesn mehr, ſondern die Gegenflände, bie fie im Traume ges 
fehen haben, und Dank fei es ben Traumbüchern, dem Eleinen 
Caglioſtro, dem Blinden des Hüds und taufend andern nienlichen 
Arbeiten vom gleichen Genre, welche die Lottofpieler amdwendig 
wiſſen, ber Rotteriefpieler kennt auch fein Metier, und weiß, wenn 
ed. der Mühe lohnt, nach: dem Nebel der Seine Euch feine Be- 
rechnungen und Tranmandlegungen zu machen. — „Mein Her, 
beſetzen Sie meine Ochſen,“ ruft eine Aufterfrämerin, indem fie ihre 
breißig Sons hervorholt. — „Mein Herr, fehen Sie mit- vierund- 
zwanzig Sond.auf eine weiße Kate. — Mein Herr, beſetzen Sie 
mir dad Ramijol meiner alten Tante. — Beſetzen Sie mir eine. 
Terme auf Artifcholen. — Mein Kind, die ganze Nacht habe ih 
Pferde gefehen, die, wie im Stalle, in meinem Zimmer herum 
trabten. — Bon welcher Farbe waren fie?“ fragt ver Schreiber mit 
komiſchem Eruſt. — „Ah! der Taufend.... warten Sie do... 
ich glaube, es waren Apfelichinmel... Nein, nein, fie waren 
ſchwarz. — Das ift die 24. Waren fie angefgirrt? — Ja, id 
glanbe!... — Das ift die 23. Liefen fie jehr ſtark? — So wie 
im Circus! — Das ift.die 72. — Nun, dann ordnen Ste mir 
das Alles. Mit foldh’ einem Traume kann's nicht fehlen, da muß 
ich Kutſche nnd Pferde erhalten. — Ich habe einen weit Eomifcheren 
Traum gehabt!.... Ich befand mich in einem Lande, mo Kühe 
und Schäfer und Schäferiunen in die Runde tanzten, nachher aber 
alle Häufer, die von Pfefferkuchen waren, zu tungen anfingen. — 
E, ſieh doch, da Hätte man fih beim Nauerlecken gätlich thun 
koͤnnen. — Laß fie doch fortfahren und ſchweig. — Und bann war 





nirgends Tann fie bezahlen. ber die Stunde des Marktes iſt da, 
und ih babe noch nicht ausgekramt. — Und ich follte fhon an 
der Fontaine deB Innocens fein. — AG, mein Gott, Du erinnerft - 
mi beran, daß meine Kinder noch im Bette liegen, ich wwiß ge: 
wis, die armen Würmer fesseln !... und Die Suppe ficht feit 
acht Uhr am Feuer. — Run, die wird ſchoͤn angebraunt fein! Ic 
methe mich bayon ,.. Adien, Nachbarin. — Bald werben wie vie 
kiñe haben, ach! wenn nufer Blüdöflern doch leuchten wollie!“ 

Mitten unter diefer Menfchenmenge, bald rechts, Bald liuks 
gerrängt und geflefen, wartet Ednard drei Viertelſtunden, bie an 
in die Reihe lommt. Endlich gelangt er and Bureau ; Alles, was 
na über die guien, die ſchlechten, die glüdlichen unb bie gefangenen 
Nummern gehört hat, geht ihm quer durch den Kopfz er jeht 
nblich zwanzig Branfen auf die erfien beften Nummern, bie ihm 
nufelen, und verläßt mit ſeinen Hoffnungen in der Taſche das 
taierie· Comptoir. 

Jedt begegnen ihm viele feed umb ſchmutig gekleinehe Per⸗ 
men, Die ihm fünfzig Louisd'or für zwölf Sons aubisten. Diele 
Riunes oder Yranen bebürfen ohne Zweifel das Glück nicht, bad 
ie fo wohlfeil den Boräbengehenben verlaufen wollen. Uber Mur: 
“le ſchlaägt Alles ans. Gr hat in der Taſche, was er braucht; 
Ken baut er neue Eufifiglöffer, denn feine Nummern find excellent, - 
m ver Schreiber ihm. gefagt hat, und es Tann nicht fehlen, fie 
nifien Geramedloınmen. Gr wird allen Geſchäften überhoben fein, 
ni großem Fuß leben, die hoöchſten und theuerſten Freuden ge 
„en Bäumen, kurz, er wird ſich nichts mehr verfagen durfen. 

Aber Die Eutſcheidung iR da; wm drei Uhr werben die Liſten 
nr dem Lotterie⸗Tomptoir ausgehangen, Gonarb, ber unweit bed: 
men, im welchem er am Morgen gejeht hatte, ungebuldig auf- 
wziebergehit, nähert ſich endlich der Lifte uud — hat nichts 
aonnen. 


222 


Gerandlommen. — Die 2 tft gezogen worben, das zieht die 20 
nach ſich. — Die 39 iſt unzählig oft gelommen, bie ift Tonnen 
Goldes werth! — Die Rullen in der Zahl haben lange kein Glüd 
gehabt. — Das ift wahr, man muß fie bei einer Ambe oder Terne 
benichen. — Dein Serr, wenn ich meiner erften Idee gefolgt wäre, 
haͤtte ich in der Straßburger Lotterie eine Ambe gemonnen, benn 
ich muß Ihnen fagen, wenn meiner Frau träumt, daß fie in die 
Mochen kommt, wird jedesmal 144 gezogen, o! das fehlägt nie 
KM... nun! und vor Kurzem träumte fie es; ich habe jetzt einen 
Sand; ven lehre ih aus einem Bentel Nummern ziehen ; er fängt 
ſchon an, fie ganz fauber mit der Pfote herauszuholen; er zog Rr. 46, 
ich wollte diefe Nummer befeßen, ven ganzen Tag Haben wir bar: 
über nachgedacht, meine Yrau wollte aber bie Zahl ihres Namens: 
tage fpielen, ich gab nach, und ba fehen Sie, die Nummer meinee 
Hundes if auf ihren Traum herausgefommen!... D, ih gebe 
das Thier nicht am 100 Thaler weg, — Sch, Lieber Freund,“ 
uft eine alte Honigverfäuferin, „ich bin ſchlauer als Ihr, ich habe 
einen Talisman. — Einen Talisman! — Sa, gewiß, eine Karten: 
fehlägerin bat mir das Geheimniß anvertraut. — Was iſt's denn, 
Fchrieen einftimmig bie Klatjchbaien. — Ein Stückchen Bergament, 
auf Das ich mit meinem eigenen Blute einige Zeichen gefchrieben 
habe. — Ah, mein Gott, das ift ja noch ſchlimmer, als im 
AmbigusThenter. Aber was find es für Zeichen ? — Sa, meiner 
Treu, ich verfiche fie wicht... . es foll Hebrdiſch fein, wie fie mir 
gefegt hat. — Rimm Di in Acht, Javotte, traue wicht, das if 
vielleicht eine Tenfelöverfehreibung!.... Du wirft mit Deinem Ta 
lisman noch geradenwegs in bie Hoͤlle kommen. — Bah, bah, id 
fürdgte nichts und laſſe von meinem Bergameniftädkchen nicht ab... 
ich bin Philoſophin.“ 
„Iſt dieſe dumm, mit ihrem Talisman,“ ſagen die Gepattern, 
nachdem Javotte davon gegangen iſt; „es iſt erſtaunlich, wie er 
ihr Glück bringt; allen Menſchen im Stadtviertel if fie ſchuldig, 





if bei ſeiner Zurückkunft von Villeneupe⸗St.⸗George einige. Tage 
in Sorgen, Jalob möchte ihn in Paris auffuchen, ex wechfelt 
daher feinen Mamen und bewegt Eduard, vafjelbe zu thun. Du- 
freöne menut. ſich jetzt Courval und Eduard Monbrun. Unter diefem 
Namen miethen fie fich jetzt in ein erbaͤrmliches Gaſthaus ver Bor: 
ſtadt St. Jakoh ein, und ihr täglicher Umgang befteht hier nur 
ud Jatriguanten, Leuten ohne ehrlichen Nahrungszweig, die, 
wi Dufreöne, ihre Gründe haben, fich. ven Augen der Welt zu 
entziehen. | 

Drei Wochen nad) Madame Germeuild Tode war ihre Hinter: 
laſenſchaft bereitö verpraßt, und man mußte jetzt auf neue Schliche 
tenfen, ſich Exiſtenzmittel zu verfchaffen. 

Eined Tages, ald Ehuard und Dufresne aus Mangel an Geld 
‚a Haufe geblieben find, und fi den Kopf zerbrechen, um eine 
aus GR auszuſinnen, klopft ed an die Thüre, und ein gewifjer 
kanpin, ein quögemachter Gauner, Dufresne’8 Freundſchaft werth, 
tt mit fröhlichem Geſichte und vier Flafchen unterm Arm ind 
dimmer. 

O, o!... das iſt Lampin,” ruft Dufresne, indem er feinem 
Kreunde öffnet und demfelben einige verftohlene Blicke wegen Cduards, 
zet ihn, in Nachdenken vertieft, nicht bemerkt, zuwirfl. — „Ja, 
zune Herren, ich Bin ed. Ei, Kamerab Monbrun, weg mit den 
zetgen! ... bier bringe ich einige Sorgenbredier. — Was iſt's 
m?,.. — Mein, Branntwein und Rum. — Teufel auch, 
Tu bi alfo bei Kaffe? — Meiner Treu, ich habe beim Biribi 
cn Fraufen erwifcht, und will fie mit meinen Freunden vertrinfen, 
- Das iſt brav, Lampin, Du bift eine gute Seele, Du kommſt 
serade zur rechten Zeit, denn Monbrun und id, wir waren fo 
raurig, wie leere Beutel es nur fein können. — Nun, fo trinfen 
stert und ſchwatzen nachher.” 

Dan ſetzt die Blafchen auf den Tifch, die Freunde fegen ſich 

rum, und die Glaͤſer füllen und leeren fich ſchnell Hinter einander. 

Saul de Rod, 1. 15 


„Bir haben nicht einen Gous, Lampin, und bad if em 
Häßliche Krankheit. — Bah! ... weil Ihr &fel ſeid! Auf Eure 
Gefundheit! — Wie fo denn, Bruder Liederlich? — Ei, freilich, 
wenn ich Eure Fähigkeiten befäße, und befonders die Monbrims, 
ih würde mein Schäfchen fehon ind Trodene bringen. — Bad 
wollt Ihr damit fagen?“ fragt Eduard, ber fl von Neuem 
Branntwein einfchenkte, „Laßt hören, erflärt Cuch! — Das it 
bald zu begreifen, mein Soßn, ich wieberhole e8 Euch, wenn ih 
des Schreibens fo kundig wäre, wie Ihr, ich würde Spekulationen 
ins Große machen!... aber Ihr ſeld zu furcätfam! — Wir Haben 
genug ſpekulirt, aber es jft und nicht geglückt. — So mein’ ich's 
nicht, mein Junge ; aber trinkt, meine Herren, es ift Teine fefechte 
Sorte. — So fag’ und doch, Sampin, was Du gethan Haben 
würbeft, um... — &, feht nur, ich bin ſchlau und würbe bie 
Möglichkeit wagen, aber ich” fehreibe wie eine Kate! — Nun, 
was würdeft Du denn fohreiben? — Das tft verſchieden, bali 
bas Eine, bald dad Andere... Seht, da hat mir zum Beifpiel 
ein Freund ein Papier anvertraut; ed tft der Betrag beffen, wai 
fein Bater ihm zugehen läßt, damit er fich mit und amüſtren fol 
— Bas iſt's denn? — "Ein von einem großen Barifer Bankie 
angenommener Wechfel von 1200 Franken...“ Ob! ber tft wa 
werth! den nimmt man gern; mein College fennt Jemand in be 
Umgegend von Paris, der verfteht fi darauf! Nun! feine G« 
fellen, macht eben fo einen, und man Fauft denfelben Euch ebenf 
gerne ab! — Wie! was fagft Du? den Wechfel nachmachen? — 
D nein! nicht accurat fo machen, denn ftatt 1200 Franken würt 
ich 12,000 Franken fchteiben..... Eure Gefundheit! — Unglüc 
licher! das iſt ja ein falfcher Wechfel! — Nein, das if eigen 
lich Fein falfcher Wechfel, fundern nyr. ein neues Papier, das w 
im Handel ceirculiren laſſen; nicht wahr, Dufreöne, das iſt eigen 
Tich Fein falfcher Wechfel ? und bei alle vem bindet man ben Bankie 
etwas guf, denn biefe: Schnapphähne find reich genug, um au 








[2 


und etwas zufließen zu laſſen. — „Sn der That,” ſagt Dufresne, 
„iR es auch nicht ein falſcher Wechfel zu nennen ; wir creiren ein 
neues Bapier und laſſen es durch einen Andern bezahlen, das ift 
Alles. — So iſt's, mein Alter, ein bloßes Boffenfpiel. O, Du 
verſehn Dich; auf ſolche Späße, nur Monbrun iſt etwas unges 
lehtig. — Nein, nein! ich verfiche euch Herren fehr gut, ‚aber ich 
kann zu derlei Mitteln meine Einwilligung nicht geben. — So? 
aun fo wirft Du nie vorwärts kommen, mein Junge, und vor 
Hunger berfien wie. die Baumwanzen im Winter. — Gs ift wahr, 
wir haben gar nichtd mehr,” fagt Dufresne, „Leine MWäfche, feine 
Kleider, aichts, ald was wir auf dem Leibe tragen! — Das ifl 
eibanlich· Nun fo bevenkt doch, daß Ihr nichts zu verlieren 
und Alles zu gewinnen habt. — Und die Ehre?” fragt. Eduard 
mit ſchwacher Stinme. — „Die Ehre? Nun, wahrhaftig, ich 
glaube, daß die Deinige fich ſchon Iange unftät umbertreibt; was 
Dufreöne betrifft, jo geht's ihm wie mir; er hat niemals 
tarauf gehalten, aus Furcht, fie zu verlieren. — Der 
Zeufelsfer! Lampin muß doch immer Spaß machen! ... Stofen 
wiran, Leutchen. — Ueberlegt auch, daß Ihr mit 12,000 Franken 
wieder ganz auf die Beine kommen könnt!... Sch Habe ein Mittel 
gefunden, um ganz ficher zu gewinnen, mit 300 Louisd'ors will 
ı jedesmal 1000 erwifchen. — Wirklich? — So wahr ich ein 
ehrlicher Mann bin ; ich gebe Euch Unterricht und nachher theilen 
wir den Gewinn.“ 

„Das macht wahrhaftig Luft,” jagt Dufresne, der ven Wechfel 
aufmerffam betrachtet, während Lampin dem ſchon halb beraufchten 
Euacd das Glas mit Rum füllt; Lampin, Du fagft, Du kennſt 
Jemand, der dad Papier Deines Freundes anbringen will? — 
Ja, er weiß, daß es gut iſt; es kann ihm gar nicht verbächtig 
vorlommen, fag’ ich Dir; er wird nur glauben, ber folgende fei 
noch bedeutender, bad ift Alles.“ 

"Und in der That," jagt Dufresne, „wer weiß es denn? Es 


rs 


Bleibt ein Seheimniß unter uns. — Und unfer- Geieiffen?“ fotat 
Eduard. — „A! if der noch auf dem Holzwege wit feinem Ge⸗ 
wiſſen! ... Dentl Du denn, Du habeſt es mit Heiligen zu m! 
— Das Weſentlichſte,“ fallt Dufreöne wieder ein, „ift nur das 
Gelingen. Was mic; Betrifft, fo übernehme ich die Unterſchriften 
und ſtehe für Alles, wenn Monbrun nur den Wechſel ſelbſt ſchreiben 
will. — Run, Haſenfuß, was iſt da noch einzuwenden? Willf 
Du noch zögern?... Du hoͤrſt, er ſteht für Alles, ich dachte 
doch, das waͤre ein Freundfchaftoſtreich. — Wie!... Dufredue... 
Du wollteſt. — Farwahr! ich fehe kein anderes Mittel, um 
und and ber Klemme zn ziehen... ich wieberhole es Dir... Du 
Haft dabei nichts zu vertreten. — Biſt Du deſſen gewiß? — Aber 
fo nimm doch Bernunft an, Nicodemus, wenn Du einmal hör, 
vaß Du ans dem Gpiele bleibt... Hier, Kameraden, ich Habe 
gerade ein geflochenes Wechſelformular bei mir, ſchneide Federn, 
Dufresne, damit ber Wechſel recht fauber und klar wirb. — Meine 
Sand zittert,“ fagt Ebuard, „ich kann unmöglich ſchreiben. — 
Ach, fo geht doch, geht doch ... das fehlte noch... was wollt 
ich reich fein, wenn ich's fo verſtände! ... aber meine Erziehung 
iſt, fo zu fagen, etwas vernadhläfigt worden. — Wenn wir arte: 
tirt, erfannt würden... — Bah! unmöglich... nun, und dann 
twäre es mit ein paar Monaten Gefängniß abgemacht; und das 
iſt auch nicht fo übel; man amüflrt ſich dabei, macht Intereffante 
Belanntfchaften.” 

Eduard, von dem Jufprechen der beiden Elenden ſchwankend 
gemacht, felt lange her fchon für das zartere Gefühl durch Um⸗ 
gang und Lebensweife abgeftumpft, überfchreitet den Fleinen Raum, 
ber ihn noch von ben Unglücklichen, die dem Geſetz verfallen find, 
trennt ; er erſtickt die lebte Mahnung feines Gewiſſens und begeht 
das fchändlichfte der Verbrechen. | 

Der Wechfel ift gefchrieben. Dufresne macht die Unterſchriften 
taͤufchend ähnlich nach, worüber fi nur Ehuarb wundert. Man 





” 


fabrigirt jept Judoſſenien, unn Murville, der ſich wie ein Kind 
leiten Läßt, Bietet andy hiezu noch die Hand. 

kampin iſt entzüdt, und fchlägt der Sicherheit wegen vor, 
dad Bapier Demjenigen zu überbringen, welcher den Berfauf des 
Wechſels übernommen Kat, und in einer Fleinen Stadt nicht weit 
von Paris wohnt. So ift Alles befchloflen ; Dufreöne ſoll Lam- 
yin begleiten, weil man diefem nicht genug traut, um ihm ben 
Wechſel allein zu Aberlafien, und Cduard fol in Paris ben Er⸗ 
folg abwarten. 

Mau fängt jept von Neuem zu trinken an; Eduard, um fich 
vollends zu betäuben, und die Uebrigen, um fröhlich zu fein; man 
ſchmedet Bläne über Pläne, bant die Fühnften Luftfchläffer und 
ſolaft endlich mit dem Ellbogen auf dem Tifche, ein. 

Ehuard, der am meiften getrunken hatte, aber weniger ertragen 
fan, erwacht erfi am andern Morgen um acht Uhr. Sein erfler 
Gedanke ift der, daß er ſich der entehrenden Handlung vom geftrigen 
Abend erinnert. Er fchaudert, denn jetzt erkennt er den ganzen 
Umfang des Verbrechens. Er fucht Dufreöne, um ihn zur Ber 
nichtung des falfchen Wechfeld zu bewegen, aber viefer iſt nicht 
wehr da, Fruh Morgens ift er fchon mit Lampin abgereist; er ſah 
die Gewiffensbifſſe Eduards voraus, und wollte ihm burch feine 
Abreiſe jeden möglichen Rüdichritt benchmen. 

Nurville verläßt fein Zimmer, um durch Zerſtreuung feine 
eigene Unruhe zu befchwichtigen. Schon jetzt fürchtet er, für einen 
Verbrecher gehalten zu werden und wirft nur unfläte Blide um- 
ber; wenn Semand im Borbeigehen ihn etwas fihärfer anficht, 
io erröthet er, wird verlegen und glaubt, man wolle ihn feſt⸗ 
nehmen; vergebens bemüht er ſich, feine Angft und feine Schwäche 
zu befämpfen und verwünſcht fchon das fo theuer erfaufte Bol. 

Wie er gerade in eine andere Straße einlenten will, Hört ex 
ip einen Schrei und feinen Namen rufen ; er verboppelt feine 
Eritte und wagt es nit, ſich umzuſehen, aber man läuft ihm 


0. 

nach, erreicht ihn, faßt ihn beim Arm; er zittert... Talter Schweiß 
rinnt von feiner Stirne ... er blickt endlich auf und ficht feine 
Frau und fein Kind vor ſich. | 
„Du biſt es alfo wirtiih!... fo finde ih Dich denn endlich 
wieber,“ jagt Apeline ; „ah! wie lange fuche ih Di ſchon. — 
Du haft mir recht Furcht eingejagt,“ fagt Eduard, von biefem Zufam: 
mentreffen noch ganz betroffen. „Aber was wii Du bier, warum 
haft Du das Land verlaffen ? — Deine Gläubiger haben mich ver 
jagt, das Hand gehört Dir nicht mehr... Seit einiger Zeit ſchon 
hatte mich der Notar davon in Kenntniß geſetzt, daß Deine Fi- 
nanzen zerrüttet wären, und auf das Haus ſehr viele Schulden ein 
getragen feien. — Das weiß ich Alles, erfpare mir Deine Klagen 
und unnügen Vorwürfe. — Ih will Dir Teine machen... und 
voch ... o, lieber Freund, wie haſt Du Dich verändert! — Ih 
bin krank gewefen. — Barum haft Du mir nicht gefchrieben ? ih 
wäre ja gekommen, um Dich zu pflegen. — Ich brauche Niemand. 
— Und fo behandelft Du Diejenige, die Du an den Bettelftab ge⸗ 
bracht haſt? ... Ich habe meine Mutter verloren, und fol nun 
auch meinen Mann aufgeben?... Der Zufall allein laßt mich. 
Dich auffinden ; ich habe in allen Häufern, wo Du gewohnt haft, 
nach Dir gefragt, aber Niemand konnte mir über Dich Auskunft 
geben. Bierzehn Tage bin ich nun fehon bier... ich gab Bereits: 
alle Hoffnung auf, bis ich Dich endlich finde... lieber Eonard... 
und nun empfängft Du mich fo?... Du gibft Deiner Tochter nicht 
. einmal einen Ruß? — Soll ih mich vor den Vorübergehenden 
lächerlich machen ? — Wenn ein Bater fein Kind lieblost, fo kann 
das rechtlichen Leuten nicht Lächerlich erjcheinen. ... . Aber treten 
wir irgendwo ein... in ein Kaffeehaus. — Ich habe nicht Zeit. 
— Bo wohnft Du denn jetzt? — Sehr weit von bier, und ba 
ich fehr genirt war, fo Hat mir Dufresne feine Wohnung ange- 
beten. — Bei Dufreöne wohnft Du, bei diefem Boſewicht, der 
ſchon ſo viele Schaͤndlichkeiten verübt hat? — Schweig' und lang- 


x 














weile mich nicht mit Deines Moral ; ich thue, was ih will, gehe 
m, mi wem ich mag, und erlaube Dir, das @leiche zu thun.“ 

„Bel ein Ton, welches Benehmen 7” denkt Adeline, Eduard 
genauer auſehend; aber es fei, ich made den lebten Berfud: 
„Rurille,“ fagt ſie, „ift ed nur die Noth, die Dich zwingt, mit 
dem lenden zu leben, fo ziehe mit mir, wir wollen dieſe Stabt 
vedlaffen, die fo boͤſe Rüderinnerungen für Dich hat, und nad 
ugenb einem entfernten Orte gehen; ich babe nichts mehr, aber 
ich will arbeiten, ich werde bie Nächte bei ber Arbeit zubringen, 
zenn es fein muß, und für unfern linterhalt forgen. Auch in ber 
niederen Hütte kann man noch glücklich fein, wenn man die Schläge 
des Schickſals muthig erträgt, und der Himmel wird fich unferer 
zalegt esbarmen. Du wirft bie Ruhe wieberfinden, die Dir fehlt, 
ed ich meinen Gatten... Sch bitte Dich, Eduard, fchlage mir 
des nicht ab, ich befchwäre Dich, fliehe dieſe Stadt, die treulofen 
Rathgeber, vie gefährlichen Belanntichaften, oder fürchte, ſelbſt 
ein Berbrecher zu werben.“ 

Quard fühlt ſich gerührt, fein Herz ift von Mitleid und Ge⸗ 
ziienöbiffen bewegt, er fieht zum erfienmal fein Kind an. „Nun,“ 
aufwortet ex, „ich werde fehen, wenn ich meine Geſchaͤfte beendigen 
tan, fo folge ih Dir. — Was Halt Dich denn jept zurück? — 
Eine einige Sache... aber eine ſehr wichtige... ich muß erſt 
wiflen... wo wohnft Du denn? — In einem Safthaufe der Vor: 
dat St. Antoine, da ift meine Adreſſe. — Gib her, morgen will 
ıh zu Die kommen. — Du verfprihfl’s mir? — 3a... auf mors 
am... adieu... ih muß Dich jebt verlafien.“ 

Euard entfernt fich eilig, Adeline kehrt in ihr Gaſthaus zurüd 
und überlägt ſich bald der Furcht, bald der Hoffnung. Sie kennt 
ihren Mann, fie weiß, wie wenig man auf feine Berfprechungen 
tehnen Tann, und erwartet angftvofl den andern Morgen. 

Aber am andern Morgen kommen Dufteöne und Lampin mit 
dem Gelde zurück. Der Wechsler hat ſich fangen laſſen, er hat 





geglaubt, die Unterſchrift des Bankiers zu erkennen. Die belben 
Gauner ziehen Eduard mit fi fort, man ergibt ſich von Neuem 
den Tafelfreuten, dem Spiel mb dem ſchönen Geſchlecht. Man 
bringt dad Gewiſſen und bie Serupel Murville's zum Schweigen ; 
man macht fich über feine Furcht Inflig, und anflatt ihn am andern 
Morgen wieder zu fehen, erhält Abeline nur folgende Zeilen von 
ihrem Manne: „Berfuche es nicht, mich wieder fehlen zu wollen, 
und hoffe nicht umfonft, mich irgendwo in einer Hütte Ichendig ber 
graben zu koͤnnen, Alles das iſt nichts für mich; verlaffe Paris 
ohne mich, das ift das Leite, wad Dein Mann von Dir verlangt, 
ber Dir übrigens bie völlige Freiheit gibt, zu thun umb zu Laffen, 
was Dir beliebt!” 

Adeline badet diefen Brief in ihren Thränen. „So Yafl Du 
denn feinen Bater mehr,“ jagt fie zu ihrer kleinen Ermance, „armee 
Kind!.. . was wirb bereinft Dein Schickſal fein. So will id 
benn diefe Stadt verlaffen und feinen legten Wunſch erfüllen; ich 
- werde meine guten Landleute wieder heimfuchen ; auf dem Meier 
hofe wird man mich nicht verfloßen. Ich werbe nicht erroͤthen, Yon 
ihnen Arbeit zu verlangen ... o, meine gute Mutter, wenn Du 
noch lebtefl, in Deinen Armen würde ich Troft finden . . . ach, 
hätte ich Deinen Rath befolgt! ... vielleicht wärbe Ehnarb .. 
aber jegt ift e8 zu ſpaͤt, wenigſtens hafl Du das Uebermaß meines 
Schmerzed nicht mehr erlebt.“ 

Adeline verkauft Alles, was ihr Fünftig unüp zu fein fcheint. 
Keine Juwelen, feine Blumen, Teinen überfläfigen Pug weht: 
ein ganz einfaches Kleid, ein Strohhut, mit einem fchlichten Bande 
befeftigt, ihre Tochter auf dem einen, ein kleines Palet unter dem 
andern Arme, fo macht fih Madame Murville auf den Weg nad 
Guillots Pachthof. 





Gupfxbungen der Freude noch emmpfänglich iR. „Mä,“ fagt fie, 
ich babe ja nicht Alles verloren, da mir noch fo wahre Freunde 
‚leihen. * 

Jakob it außer ſich, er ergreift Adelinens Hände, Füßt fie, 
ont, fncht, ſchreit, ſtampft mit dem Fuße und wendet fich ab, 
;n feine Tränen zu verbergen. Sansſouci, glüdlich über Adelinens 
ıriffanft und feined Kameraden Freude, ſpringt wie naͤrriſch durch 
obner und Enten, und ftreichelt die Kinder, was er nur in ben 
cgenblicken der Fröblichfien Laune zu thun pflegt. 

„Beine Freunde,“ jagt Adeline zu den Bewohnern des Meier: 
id, „ih bin nicht mehr, was ih war; unglüdliche Zufälle 
em mich um mein Bermögen gebracht ; ich habe nichts mehr, 
: don Muth, mein Unglüd zu ertragen, und mein reined Ge: 
ra, dad mir ben Troſt gibt, es nicht verbieut zu haben. Ich 
‚75 jebt für meine und meines Kindes Exiſtenz arbeiten ; ihr habt 
& aufgenommen, als ich reich war; arm nun werbet ihr mich 
at abweiſen, und ich komme voll Vertrauen zu euch, um euch 
 Srbeit zu bitten;... ach ! fchlagt fie mir nicht ab, nur unters 
Aa Beringung Tann ich hier bleiben.“ 

Vaͤhrend Adeline fprach, malte fich die Rührung auf jebem 
“‚uhte, Luiſe konnte ihre Thränen nicht verbergen ; Guillot, mit 
"men Munde und flieren, auf Madame Diurville gerichteten Augen 
Ite tief auf; Sansſouci felbft ſtrich fich den Bart und wifchte 
feuchten Augen. 

Aber Jakob, am tiefften von der Umgebung einer eblen Frau 
töten, Die fich in einem Pachthofe auf dem Lande vergraben, 
"alle Borzüge der Stadt verzichten will, ohne auch nur ein 
nt ber Klage gegen ben Urheber aller ihrer Leinen hernorzubringen, 
tt brave Jakob Tann fich nicht Länger halten; ex ftößt Luiſe und 
rillot zurück, ſchüttelt der von feinem Benehmen überrafchten 
zu die Sand und ruft: „Nein, fo wahr ein Gott lebt, Ihr ſollt 
"et arbeiten, Ihr follt Eure Geſundheit nicht aufs Spiel feßen, 


j 234 


es möglih!.... der Unglüdfelige! . . . was? fo Hat er fle ins 
Elend geftürgt! — Herr Jakob, ich fage Ihnen, ed waren mehrere, 
da, fehen Sie die Tafel, das Haus ift zu verlaufen und man hat 
mich bier gelafjen, um es Kauflufligen zu zeigen. — Und wißt Ihr, 
welchen Weg Madame Murville eingefchlagen hat? — Freilich, fie 
ift auf Paris zugegangen. — Sie wird ihren Mann auffuchen wollen, 
— Ja, 0, ohne Zweifel geht fle zu ihrem Manne ... aber, unter 
und gejagt, man behauptet, er fei ein Taugenichts; er foll bie 
allertoliften Streiche in Paris machen, und Sie werden begreifen, 
Herr Jakob, wenn man eine junge, hübfche, vernünftige Kran hat!... 
denn, alle Welt! fie ifl die Tugend und Güte felbft!... und ein 
Kind, das Ehenbild der Mutter; ja, wenn man Alles das ver- 
gißt, das ganze Jahr hindurch, das ift fehr ſchlecht und verfpricht 
nichts Gutes !“ 

Jakob wirft noch einen Bli auf das Haus, fagt dem Gärtner 
Lebewohl und verläßt traurig das Haus, Tauſend Pläne durch⸗ 
freugen feinen Kopf; er will nad Paris gehen und Adelinen aufs 
fuchen, er will mit feinem Bruder reden, ihm fein ſchlechtes Be⸗ 
tragen vorwerfen und zugleich das fchändliche Verfahren, feine 
Grau zu verlaffen, vor Augen flellen ; diejer Gedanken voll koͤmmt 
er auf dem Meierhofe an. Die Hausgenoſſen fragen ihn aus, fie 
find mit ihm untroͤſtlich, Hoffen indeſſen noch, daß Madame Mur- 
ville wieder zu ihnen zurüdfchren werde. Sausſouci theilt dieſe 
Hoffnung, er beruhigt feinen Kameraden und bewegt ihn, noch 
einige Tage zu warten, bevor er einen Entſchluß faſſe. 

Die Geduld Jakobs fing an, fi zu erfchöpfen, er war im 
Begriffe, ven Pachthof zu verlaffen und nach Paris zu wandern, 
als eines Morgend das Gefchrei der Kinder eine frohe Nachricht 
verfündigte. Adeline nämlich kam mit ihrer Fleinen Srmance an. 

Alles läuft ihr entgegen, man umgibt, man umarmt fie, man 
überläßt ſich der ausgelaſſenſten Freude; Adeline fühlt bei der 
Anhänglichleit ber rechtſchaffenen Landleute, daß ihr Herz für die 








de Harptſache. Noch einen Ruß, und dann fehen Sie mich für 
Yıren Bruder... für den Bater bes Fleinen Mädchens an, weil 
a, ver ed Heben und fie hochverehren follte, Tein Semüth Kat, 
ral er untshrbig Äft... Doch genug, Ste wollen, daß ich fchweige... 
Eu lieben ihn noch, fehe ich! Mun gut, es fei, wir fprechen nicht 
hir von ihm, und wollen und bemühen, ihn zu vergeffen. — 
Ib," jagt Apeline, „wenn er Sie gefehen, feinen Bruber wieder⸗ 
ınden Hätte, vielleicht daß Ihr Rath... — Wenn er mich 
ehem hätde!. . . Miber laſſen wir bad... . vergeffen wir einen 
ladenlbaren, der nicht eine Ihrer Tränen werbient. — Ya, ja, 
Rnserkeit, Fröhlichkeit,“ ruft Guillot, „Weiter, man muß nicht 
an weinen, das macht nur dumm! ... Set wollen wir und 
aden Tiſch Segen, und bente Abend erzählt uns Bruder Jakob 
"von ſeinen Schlachten, damit wir uns zerſtreuen! Das macht 
Inmägen ... wenn ich ihm augehört habe, träume ich jedesmal 
"ganze Nacht davon, ich. halte Die Beine meiner Frau für ein 
kelm-Oxars und ihren B.... für eine Batterie! o manch⸗ 
N 8 mir, als Hörte ich den Kanwnendonner. — Schweig doch, 
der !* 

Ach der Mahlzeit beſchaͤftigte man fich mit den nöthigen 
'ariötengen für Adelinens Wohnung. Luiſe richtete für Madame 
hreille ein kleines Zimmer ein, deſſen Fenſter nach dem Felbe 
.mdgingen, fie fuchte es fo freundlich als möglich Kerzupugen 
" jellte die beſten Möbel Hinein, die fie nur im Haufe hatte. 
ahebens will Adeline ſich all' dem widerſetzen, denn was Luiſe 
rad beſchloſſen Hat, muß geſchehen; fie hoͤrt nicht auf die junge 
en, wenn biefe fie bittet, fie nur als eine Bäuerin zu betrachten ; 
Ti der Madame Murville den Verluſt ihres Bermögens vers 
in machen und verboppelt deßhalb ihren Eifer, ihr zu dienen. 

Jalob dankt der Pächterfrau nicht mit Worten, aber er faßt 
Hr hinde jedesmal, fo oft fie etwas für feine Schwägerin thut, 
s Zirtlichleit und Dankbarkeit an; Sansſouci dagegen ruft, 


286 
Ihr follt Eure zarten Hände, Eure feine Haut nicht mit Arbeiten 
verberben, die über Eure Kräfte gehen ... ich übernehme es, für 
Eure Eriftenz, für Euer Kind zu forgen. Ih will @uer Graährer 
fein, über euch Beide wachen... und fürwahr! fo Iange ein 
Tropfen Blut in meinen Adern fließt, werde ich meine Schuldig⸗ 
keit thun. — Was fagen Sie, Jakob, Ihre Schuldigkeit? — Ja, 
Madame... . ja, meine Schulvigkeit ... mein Bruder bat Sie 
unglüdlich gemacht, und es iſt das Wenigfte, was ich thun Tann, 
daß ich ihnen meine ganze Geiſtenz winme und Alles verfuche, feine 
fehlechten Streiche wieder gut zu machen. — Bär’ ed möglich?... 
Sie wären... — Jakob Murville, der Knabe, ber mit fünfzehn 
Jahren, vom heftigen Wunfche befeelt, die Welt zu fehen, fein 
umherirrendes Leben anfing... und ich geſtehe es, der vorzüglich 
nur durch die Kälte feiner Mutter und ihre ungerechte Borliebe für 
feinen Bruder zu jenem unverzeihlicden Schritte betvogen wurde.“ 

Adeline umarmt Jakob ; fie fühlt die Iebhaftefte Freude, ihres 
Mannes Bruder wieder zu finden, und bie Bauern leben vor 
‚ Meberrafchung bewegungslos da, während Sansfonri füh die Hände 
treibt und dabei aus vollem Halfe ruft: „Ich hab's gewußt, taufend 
Granaten, ich hab's gewußt, ich! aber der Kamerad hatte mir 
Berfchwiegenheit auferlegt, and um alle Pfeifen des Großfuktans 
hätte ich nicht ein Wort davon verrathen.“ 

„Aber warum mir fo fange dad Band, dad und vereint, vers 
heimlichen wollen ?“ fragt Adeline, „zweifelten Sie au meiner auf: 
richtigen Freude ? — Rein,“ antwortet Jakob etwas verlegen, „nein, 
‚ aber ich wollte vorerſt Ste beffer fennen lernen... man erröthet 
oft über feine Verwandten! — UK, lieber Freund, wenn man 
diefen Orden fleht, Tann man da wohl noch Zweifel auflommen 
laſſen? — Ei, taufend Granaten, das hab’ ich ihm doch alle Tage 
entgegen gehalten,” ruft Sansſouci, „aber er iſt eigenfiunig, ber 
Kamerad ; wenn er ſich was in Kopf gefeht hat, laͤßt er nicht nad. 
— Sie fehen, daß ich Ihnen jegt nüplich fein darf, and das ifk 








fein Betragen gegen Frau und Kind entrüftet, und gäbe Allee in 
ter Belt darım, wenn Reue ihn von feinem Irrwege zurückbraͤchte 
md er um Verzeihung bäte, die man ihm gerne getwähren würbe. 

Meline und Jakob verſchweigen ſich alfo gegenfeitig, was fie 
Nihäftigt, weil ein Jedes glanbt, dad Andere zu betrüben. Sau: 
lenci iR ber Vertraute von Beiden. Gnillot hat manchmal Auf 
ige nah Baris: fei es für den Berlauf feiner Felbfrüchte oder 
vn Axfauf von nöthigen Dingen zur Wirthſchaft; dazu wirb nun 
mer Sandfonei gebraucht, weil Jakob es mehrere Male, aus 
delergniß, feinem Bruder zu begegnen, abgefchlagen bat. Aber 
edes Mal, wenn Sansſouci nach der Hauptſtadt geht, bittet ihn 
Beline indgeheim, ſich nach ihrem Manne zu erkundigen ; Jalkob 
"gem Begleitet ihn wor dad Hofthor und fagt dann im Vertrauen 
aim: „Wenn Du etwas Fatales von Dem hören follteft, ven 
eir vergeſſen müſſen, fo denke, daß Du fehweigen mußt ; verftehft 
mit... wenn Du ein Wort davon meiner en 
Imterhringft, fo biſt Du nicht mehr mein Freund!“ 

Sansſonci entfernt fi Hierauf mit dieſem doppelten Auftrage, 
Ihrt aber jedes Mal zurück, ohne etwas erfahren zu haben; ba 
Guard feinen Namen gewerhfelt hat, fo kann Niemand ihm ragen, 
d aus ihm geworden iſt. 


— — —— — 


Achtundzwanzigſtes Kapitel. 
Der Verwegene. — Der Feige. — Der Betrunkene. 


Das Gluck ſchien den Elenden von Neuem zu laͤcheln, die ſich 
vom Ehre und Gefek verſchworen hatten; eine neue Verſuchung 
1 fe zum Verbrechen hin und hielt fie ab, umzukehren; die erften 
ere fhienen ihnen auch für die Zukunft Straflofigteit zuzu⸗ 

; der Verbrecher wird ja immer dreifter, und ber, welcher 
km Ye Bahn des Lafters betritt, entledigt ſich gar leicht aller 


indem er Guillot auf die Achfel Hopft: „Meiner Treu, Ihr habt 
eine Treuzbrave Frau! fie weiß, was fie will! — 'S ift wahr,“ 
antwortet Guilfot, „drum laſſ' ich fie au machen, und miſche 
mich in nichts, ſelbſt nicht in die SKinberangelegenbeiten ; fie 
Tommen und gebeihen darum doch!“ 

So ift nun Abeline in der Paͤchterwohnung förmlich zu Haufe, 
fle näht mit Leichtigkeit, und Luiſe iſt gezwungen, fle den ganzen 
Tag, fei es mit Nähen oder Spinnen, befchäftigt zu ſehen. Jakob 
fühlt feine Kräfte fich verboppeln, ſeitdem feine Schwägerin und 
feine Nichte in feiner Nähe wohnen. Er arbeitet für drei. Die 
erlangte Fertigkeit in allen Adlerarbeiten, kurz in Allem, was er 
vornimmt, trägt fehr zur Vermehrung von Guillots Cinnahmen 
bei, und auch Sansfouei gibt fi alle Mühe, ihm nachzuahmen; 
er würbe erröthen, unthaͤtig zu fein, während alle Hebrigen fo gut 
ihre Zeit anwenden. Alles geht alfo anf dem Meierhofe nach 
Wunſch; Guillot umd feine Frau fcheiten oft mit Adelinen, daß 
fie zu fleißig ſei, und verbieten auch Jakob, fo nnernrübet zu ar: 
beiten ; aber Beide achten nicht hierauf und Gaben bie beruhigende 
Gewißheit, den biebern Landleuten nicht zur Laſt zu fallen, 

So vergehen mehrere Monate ohne irgend sine Veränderung 
auf dem Pachthofe. Adeline wäre mit ihrem Schickſale zufrieden, 
wenn fie ihren Mann vergefien könnte; aber fie liebt Denjenigen 
noch immer, ber fie unglüdlich gemacht hat, und der Gebanfe an 
Eduard betrübt unaufhörlich ihre Ruhe. „Was mag er jetzt thun?“ 
fragt fie fi jeven Tag, und die Meberzeugung, daß er mit Du- 
freöne lebt, vermehrt nur ihre Unruhe, ihre Qualen. Manchmal 
nimmt fle fi vor, nach Paris zu gehen, um über das Betragen 
thres Mannes Erkundigungen einzuziehen; aber fie befürchtet Jakob 
böfe zu machen, ber gegen feinen Bruder erbittert, nie etwas von 
ihm hoͤren will. 

Jakob zeigt eine Gleichgältigfeit, die feinem Herzen fremd if. 
Im Stillen denkt er nur zu oft an feinen Bruder; er iſt über 





241 


Semyin, „unfere blonde Veronica ſoll uns einige Späße erzählen ! 
Cie weiß immer die pikanteſten Neuigkeiten; das wird unfern ſchlaͤf⸗ 
rigen Belleconr (Kduards neuer Name), der heute Abend wieder 
em werig den Kopfhänger fpielt, erheitern. — Ach ! ich habe heute 
Abend werig Luft zum Spaſſen,“ antwortet Veronica, indem fle 
emen leichten Seufzer unterbrüdt, „mir ift heute gar nicht recht ! 
— Aber ich dachte doch, Du wäreft fonft immer oben aus. — 
Rein, wirklich, ich Bin ganz betrübt. — Bah! ſtehſt Du vielleicht 
Wbleht mit Deinem Wirthe? — Das nicht, aber ich habe eine 
kreumbia, die in eine fatale Geſchichte verwidelt ift!... und das 
mält mich! — Was ift denn das für eine Gefchichte ? fprich Doch ; 
xelleicht innen wir ihr dienlich fein. — Ach nein, die Zuftiz hat 
te Klauen ſchon darüber, und doch ift Die arme Kleine fo un: 
\6nlig wie ihre und ich. — Pop Blitz, das will viel jagen, aber 
mäble und Doch, wovon es fich Handelt. — Sp wißt denn, daß 
Beine Freundin früher Kammerjungfer in verfchiedenen Häufern 
rar; unter Anderem diente fie bei einer Wittwe, die vor nicht gar 
ger Zeit farb, und man erlaubte fih, im Stadtviertel auszu⸗ 
kenn, fie fei vergiftet worden!... Diefe Gerüchte famen ber 
Sgbehörbe zu Ohren, man hat die Todte nun ausgegraben, und 
die Aerzte fcheinen zu beftätigen, was die Nachbarn ‚behaupten. 
Taranf hat man Nachforſchungen gehalten und meine Freundin feft- 
genommen, weil fie gerabe um jene Zeit bei der Dame diente; aber 
dad arme Mädchen ift fo rein, wie dies Glae Wein, ich will es 
beſchwoͤren.“ 

Dufresne hört der Erzählung der blonden Veronica zu, waͤh⸗ 
rend Lampin mit dem andern Maͤdchen ſcherzt, und Eduard, den 
vr Gedanke an den falfchen MWechfel quält, fich in einer Ede bes 
dimmerd "auf einen Stuhl nievergelaffen hat, ohne einer Ge⸗ 
ſcichte Gehör zu ſchenken, die ihn gar uicht intereffirt. 

„Lie Sache ſcheint mir in. der That fonderbar,” fagt Dufreöne, 
nem er feinen Stuhl näher an Veronica vüdt, „Aber wie heißt 

Baul de Kod. J. 16 


Scham und übertrifft oft noch die, welche ibn zum Böen var⸗ 
leitet haben. 

Das Spiel, dem ſich Cduard mit enenter Muth ergibt, hat 
aufgehört, ihm nngünflig zu fein; er gewinnt, umb ber Unglüd- 
liche triumphirt, ven Weg gefunden zu haben, wodurch mar Ver⸗ 
mögen erlangt. Dufreöne und Lampin unterrichten ihn in allen von 
Betrugern beobachteten Mitteln, um dem weniger verfchmigten Geg⸗ 
ner dad Geld abzugetvinnen ; fie lachen dann auf Koſten der Gin- 
faltspinfel, die fie ruiniert und ausgefogen haben, und ein Jebere 
bemüht fi, feine Kameraden in Lug und Trug möglich noch zu 
übertreffen. 

Lampin wohnte bei feinen beiden Freunden ; Dufreäne Hatte 
ed Eduard begreiflich gemacht, wie nothwendig «8 fei, es mit ihm 
nicht zu verberben. Uebrigens war Lampin fehr fruchtbar an Iuftigen 
und ſchlanen Streichen, und daher eine erwünfchte Hülfsquelle, ein 
reicher Schatz für unfere beiden Freunde. Wenn dad Glück günflig 
wag, dachte man bloß daran, ſich zu beluſtigen. 

Eines Abends, ald man, nur noch Lampin ermartete, um fih 
zu Tifche zu Sehen, Tommi dieſer lachend an, und beeilt ſich, feinen 
Freunden anzufündigen, wie ein gewifler Wechjel als falſch erfaunt 
und ber Einlöfer beffelben von feinem Berlufte überzeugt worben 
ſei. Eduard wird blaß und betreten. Dufresne beruhigt und über: 
redet ihn, daß fie niemals entdeckt werden koͤnnten; fie hätten ja 
Namen und Wohnung verändert ; nicht einen einzigen Beweis ver: 
möge man gegen fie aufzuftellen: Lampin hoͤchſtens fünne man ver: 
folgen, dieſer habe jedoch eine ſolche Geſchicklichkeit, fein Geſicht 
und feine Perſon zu verändern, daß er die Agenten der Polizei ficher 
überliften werde. 

Ednard ift damit nicht zufrieden geſtellt, verfucht jedoch ſich 
zu zerfireuen und jede Furcht zu verfcheuchen. Zwei Nachbarinnen, 
bie Öfteren Gaͤſte unferer Freunde, Tommen gerade zur gelegenen 
Zeit, um den Abend aufzuheitern. — „Das ift herrlich,“ ruft 





243 

Die Abendunterhaltung hat früher, als gewöhnlich, ihr Ende 
erreicht, Eduard ift unruhig, und auch Dufresne fcheint ungewöhn- 
hc aufgeregt. Man ſchickt die Nachbarinnen fort. Lampin, ver 
allein ſeine heitere Laune behalten hat, fchenkt "feinen Freunden 
le Gläfer ein und fpottet über ihre Traurigkeit. Evuard trinkt 
Hof, um feine angſtvollen Gedanken hinunter zu fpülen, aber Du: 
feine iR gar nicht aufgelegt, ihnen die Spige zu bieten, und 
tampin allein beraufcht ſich, indem er fich vergebens bemüht, feine 
Kameraden zum Lachen zu bringen. . 

Hübſch munter doch, meine Freunde, fo geht das nicht,“ 
gt er, bie Glaͤſer füllend. „Ihr fein ja heute Abenb fo ernfthaft, 
rie Gehängte!.... Bellecour will ich noch entfchuldigen, venn er 
'Kimmer wie ein begoffenes Huhn !... aber Du Freund vahinten... 
Irmostre... Eourval... Dufreöne.. . oder wie Du fonft noch heißt.“ 

„Halt's Maul, Dummkopf,“ ruft Dufresne ganz wüthend, 
„h verbiete Die, mich jet bei dieſem legten Namen zu nennen ! 
— In wilft mir das verbieten... So... Sieh mal einer... 
au einer Miene, ald wenn er einen durchbohren wollte!... Du 
sah Dich fonft fo genannt, als Du mit der armen Dolban leb⸗ 
A... die blind glaubte, daß Du fie liebte... und Die... — 
fo ſchweig doch, Trunkenbold... — Trunkenbold! ... ah!... 
6 leidet Dich gut, mich Trunkenbold zu nennen, ber Du geftern 
term Tiſch gefchlafen haft und Punſch trintft wie ein Loch!... 
Ras fein! Freunden nehm’ ich nichts übel, und Freunde find wir 
einmal! ... ich fehe wohl, daß ihre alle Beide bei fchlechter 
taune fein, Eduard wegen des Schnigeld Papier, das ihm zu fchaffen 
wöät... und Du... ja Du, wahrhaftig, ich weiß ed nicht!... 
sand ein Fiſchchen, das Dir aus dem Garne entkommen ift, ober 
a Sreunb, der Dich in die Klemme gebracht hat... ober auch... 
* aber was hat Dir denn Beronica da von einer Vergiftung vor⸗ 
“zınfelt, von einer Wittwe, einem Liebhaber, und ver es doch 
nat waͤre? Siehe! das gleicht wie ein Tropfen Waſſer bem 








denn Deine Freundin? — Sufanne; fle ifl auf Ehre ein gutes 
Kind und unfähig, irgend Jemand ein Haar zu krümmen!“ 

Bei dem Namen Sufanne entfärbt ſich Dufresne ; aber er faßt 
fih bald wieber, blickt im Zimmer umber, fieht, daß Murville nicht 
auf ihn Kurt, Lampin anderwärte befchäftigt ift, und fährt fort, 
Beronica auszufragen. 

„8 ſcheint mir, als ob Deine Sufanne Mühe haben werbe, 
fi aus ver Affaire zu ziehen, wenn, wie Du fagft, die Dame 
fie allein zur Bebienung hatte. — O, das ſchadet nichts, Sufanne 
bat Verbadht auf Jemand, der den Streich ausgeübt haben werde. 
— Wirklich? — Ja, mein Lieber; ein junger Mann, ein Spieler, 
ein Taugenichts und Gauner, war der Geliebte der Wittwe und be⸗ 
fuchte fie oft! — Gut, gut, ich verfiehe! — Nachher verlor die 
gutmüthige Frau durch ihn ihr VBermögen!... Warten Sie doch, 
ich glaube, ich erinnere mich ihres Namens... Madame Don... 
Dol... — Schon gut,” jagt Dufreöne, Beronica fchnell unter: 
brechend, „an ihrem Namen Liegt mir nichts. — 's ift auch wahr, 
der Name macht nichts zur Sache. Kurz! die Dame war närrifch 
in ihn verliebt, es lag ihm aber gar nichts an ihr, denn ſer fog 
fie bloß aus, fo lange fie etwas hatte... Es ſcheint nun, daß fie 
zuleßt fih mit ihm zerworfen und der Blende fie darauf vergiftet 
bat, um fich zu rächen, da fie feine Schlechtigkeiten an den Tag 
zu bringen beabfichtigte. — Das ift nit unwahrfcheinlih! — 
Ach! die Männer find heutzutage recht nieberträchtig, fie bringen 
eine Frau um, wie eine Fliege. — Und was denkt denn Sufanne 
zu thun? — O, fie hat das Alles dem Gerichte ſchon angezeigt, ba: 
mit man dem Thäter nachipüre, ber jetzt, Gott weiß wo, if. — 
Das ift ganz gut und ich wünfche nur, daß man hinter die Wahr: 
beit komme.“ 

Die letzten Worte fagt Dufreöne nur balblaut. Ungeachtet 
ber affektirten Ruhe verrathen feine veränderten Züge die Empſin⸗ 
bungen, bie ihn bewegen, 





Die Rachbarn mögen fi Thee Locken laſſen, ich will num ein⸗ 
Opal luſtig fein, und jeßt mach’ ich gerade noch mehr Lärmen! He 
ka la la la!“ 

Lampin fingt aus voller Kehle, und gießt ein Glas nach dem 
andern Binunter, Dufredne und Eduard nehmen ein Licht, um fi 
m ir Zimmer zu begeben, als ſich plößlich drei fehr harte Schläge 
on die Hansthüre Hören Laffen. 

Dufreöne macht eine Bewegung des Schreckens, Cduard horcht 
utternd auf, und Lampin wirft ſich lachend auf ein Canapé. 

„Man bat geklopft,” fagt Eduard zu Dufredne. — „Ja, ich 
bab's gehört. — Nun ja, und ich auch, denn ich bin nicht taub, 
aber... was geht und dad an, wir erwarten Niemand... es if 
Knabe drei hr Morgend, wenn's nicht vielleicht unfere Nymphen 
fab, uns einzumiegen. — Still!... man öffnet, glaub’ ih! — 
Ru maß doch die Thüre aufmachen, wenn man herein will!... 
einem Gaſthauſe, wie das hier, geht's da nicht die gamze Naht 
as ımb ein?... Mebrigend mag Tommen, wer will, ich belache 
Alles md trinfe,“ 

„Ich höre nichts mehr,“ fagt Dufresne, „oh! das galt uns 
nicht!“ 

Ednard lehnt fl} gegen die Stubenthüre, die auf die Haus⸗ 
in führt und horcht aufmerkſam. Lampin fängt wieder an zu 
Augen, ud hat Mühe, fein Glas an die Lippen zu bringen, dad 
» Sand kaum mehr halten ann. Ploͤtzlich fährt Ehuard auf: 
Ras iſt's 7“ Fragt Dufresne leife. — „Ich Höre mehrere Stim- 

. das Geräufch nähert fi... ja, man fteigt die Treppe 
anf, oh!... ein Zweifel mehr, man will und feſtnehmen, wie 
Aed entdeckt:! — SH, Unbeſonnener!“ ruft Dufresne, indem 
a bemüht iſt, feine eigene Furcht zu bekämpfen; „follte man 
li zu und fommen, nur nicht verlegen! Gebe ein Jeder Acht 
af dad, was er fagt, und befonders nennt mich nicht Dufrebne. 
— 34 weiß nicht mehr, was ich thun und fagen fell,“ erwidert 


244 


andern Deiner Liebesintrigue mit der alten Dolban ... wenn Du es 
wäreft, ber... ba, ba, ba! Du wäreft eines ſolchen Streiches ſchon 
fähig. — Lege Dich doch nieder, Lampin, Du flehft, Eduard fchläft 
fon, Du wirft ihn mit Deinen Tollheiten noch aufweden, — 
Run, fehe einer das große Unglück, wenn er aufwachte... Teufel... 
Du bift ja fehr zärtlich, heute Abend!... aber ich will nun ein- 
mal Spaß machen, trinfen und laden... und will noch nicht 
Schlafen, verſtehſt Du? ich fühle mich fo recht im Zuge... ih 
bin verdrießlich, unfere Veſtalinnen fortgefchict zu haben... ich 
bin der Mann, ihnen Sti zu halten... Tra la la la! — Du 
willſt Dich alfo heute gar nieht nieberlegen ? — Ich werd's thun, 
wenn’d mir gefällt, Murrkopf. O! ich fehe wohl, dag Du brummig 
bift, fag’ ih Dir... Du willft und Deine Sache verbergen; 
Veronica's Erzählung bat Dir die Zunge ausgetrodnet, mein armer 
Dufresne! — Glender, wirft Du endlich ſchweigen?“ ſchreit Du⸗ 
fresne, indem er ihn bei der Gurgel padt; Lampin wehrt fich, 
ftolpert zurüd und fällt auf Eduard, der in einer Zimmerede fchlief, 
ploͤtzlich aufwacht, Blicke des Schredend umherwirft und ausruft: 
„Da find fie! da find fie! jekt wollen fie mich arretiren !“ 

„Dich arretiren,” fagt Dufresne, „und wer denn! — Ha, 
ha, ba... find das Schwachkoͤpfe!“ ruft Lampin wieder aufflehend 
und fi mit Mühe aufrecht erhaltenn, „ver Eine träumt und ber 
Andere fieht wachend Gefahr! — Ah! ed war nur ein Traum,“ 
ſtammelt Eduard, indem er fich die Augen reibt. — „Nun freilid ! 
Ihr fein Beide Kinder... aber Du, wag' ed nicht noch einmal, 
mir meine Kehlpfeife zu verderben... ober ich zürne ernſtlich ... 
— Es ift fchon Spät, Freunde,” jagt Dufresne, „ich Bin mühe und 
lege mich nieber. — Run, fo lauf!... Dein Freund wirb mir 
bei dieſer Flaſche Rum noch. Gefellfchaft Leiften. — Nein, ich gebe 
auch zu Bette, ich bin fchon ganz fchlaftrunfen. — So malt, 
daß ihr fortkommt, dann trink ich allein. — Noch einmal, Lampin, 
mache nicht fo. viel Lärm, die Nachbarn möchten ed hören, — 





247 

Unteroffizier, „fo habe ich Teinen Befehl, ihn zu artetiren, aber 
ich tathe ihm, künftig feine Bekanntfchaften beffer zu wählen.“ 

Ednard ſteht zitternd und mit niebergefchlagenen Augen in 
einer Ede des Zimmers. Er verſteht nicht, was man ihm fagt; 
it fo fehr überzeugt, daß man ihn fortführen will, daß er ſich 
den im Kerker ficht und entfchloffen ift, fein Verbrechen zu be 
Inn, um durch Offenherzigfeit feine Richter zu erweichen. 

Dufresne ift wüthenn, dag man ihn feftnehmen will und 
Huard ihm nicht ind Gefaͤngniß folgen fol. „Sie find im Ins 
thum, meine Herren, ich habe nichts verbrochen, um arretirt zu 
erden. — Ihr feid ein gewiffer Dufreöne, der mit der Madame 
delban lebte? — Sie irren fih, ich heiße Bermontre! — DO 
2,008 ift wahr,” fällt Lampin ein, der bemüht ift, ſich ohne 
de Hülfe der Gensd'armen wieder aufzurichten, „jo heißt ex fat 
"den zwei Monate lang. — Sie Iängnen umfonft; feit Tanger 
zeit beobachtet Die Polizei Sie ſchon, und auf die Nachrichten von - 
m Morde, deffen Sie angeklagt find, ift es uns, ungeachtet 
iler Ihrer falſchen Namen, nicht fehwer geworden, Sie aufzus 
"der. — Einen Mord! — Einen Mord,“ ruft Lampin gleichfalls, 
‚anen Augenblick, meine Herren, das geht mich gar nichts an !... 
glaubte, Sie kaͤmen wegen eines Blättchens Papier... was. 
reine Bagatelle ift!... Aber ein Mord!... Alle Teufel! ver 
chen wir und recht! ... Sch bin weiß, wie der Schnee, und 
'zet, dahinten in der Ede, wird ed Euch bezeugen!... Wir 
„ten nur mit Der Zeber gearbeitet. — Mit dei Feder? — Ja! 
‚a ih fage, wir... das Heißt, La Baleur, der da ſteht und 
ze... bat dad Meifte geſchrieben ... aber er fchreibt net!... 
3, dad war ſchlau erwifcht!... Und der alte Jude ging in bie 
le... So gut, daß uns die Goldſtückchen recht gut behagt 
Sa... Wenn Sie und Gefellfchaft Ieiften wollen, ich bin ber 
\aan dazu.“ | 

Ter Unteroffizier, hörte aufmerkſam zu, und der Schreden 


= 


6 

Eounard, deſſen Angſt in gleichem Maße, wie das Geranſch draußen 
zunimmt. — „Run, alfo ih... ich weiß kaum meinen Namer® 
no... ich!“ fagt Lampin, fein Glas fallen laſſend, „aber ih 
fagk- Eu ja, es gilt uns nicht.“ In diefem Augenblide klingelt 
man auf dem Flur. Eduard fällt faſt ohne Befinnung auf einen 
Stuhl; Dufresne bleibt unbeweglich mitten im Zimmer ftehen und 
gibt Beiden ein Zeichen, ſich nicht zu rühren. 

Bald darauf klingelt ed nochmals, und dann wird heftig an- 
geklopft: „'s ift Niemand zu Haufe,“ fchreit Lampin, „geht zum 
Teufel!“ 

„'s hilft nichts,“ ſagt Dufresne, „wir müſſen öffnen... wer 
iſt da? — Aufgemacht, ihr Herren, oder man iſt genoͤthigt, die 
Thüre einzuſtoßen. — Stoßt fie ein!... meine Freunde, mir iſt's 
gleich, das Haus ift nicht mein.” 

Dufresne fieht, daß fein Ausweg mehr möglich ift, und ent: 
ſchließt ſich, zu öffnen, nachdem er den Mebrigen nochmals ein Zei: 
hen gegeben hat, vorfichtig zu fein; aber Lampin ſchwamm es 
fon vor den Augen und Cduard hatte den Kopf verloren. 

Ein Unteroffizier und mehrere Gendb’armen treten ein. Bei 
ihrem Anblid erblaßt Dufreöne, Eduard ſtoͤßt einen Schrei bed 
Schredend aus, und Lampin rollt vom Stuhl auf den Fußboden. 
— „Sie müflen und folgen,“ jagt der Unteroffizier zu Dufresne; 
diefer aber nimmt alle Faffung zufammen und fragt mit Anmaßung, 
wie man ſich unterftehen könne, feine Ruhe zu flören. 

„Ja, mit welchem Rechte... flört man das Vergnügen recht: 
licher Leute?“ flottert Lampin, „ich flehe mit meinem Leben für 
meinen Freund. — Eure Bürgfchaft hat Leinen Werth, man kennt 
Euch, Meifter Lampin! — Nun, dann hat man eine gute Be 
Tanntfchaft gemacht, Hoffe ich. — Ihr werdet und auch folgen! 
— Ich! ... oho! das möchte fchwer fein, ich thue nicht mehr 
zwei Schritte um eine Bowle Punſch ... überlegt, ob ich fo ins 
Gefängniß gehen Tann. — Was den Herm ba betrifft,“ fagt der 





249 


$teunde verurkheit werden, unb wird alfo nach der Gonciergerie 
gebracht, 

Ebnarb, der nicht die Borficht gebraucht hatte, eiwas Gelb 
mitzunehmen, wird mit Lampin in einen ſchmutzigen, flinfenden 
Saal geführt, der von einer Menge Elender angefüllt iſt, die des 
Diebſtahls oder anderer Verbrechen wegen hier beifanmen find. 
Ein wenig Stroh ift fein Lager, und zur Nahrung erhält er die 
gewöhnliche Gefangenkoft. Lampin findet fi in fein Schidfal, if 
fröhlicher Laune, fingt, fehreit und treibt mit den Unglüdlichen, 
dir ihn umgeben, allerlei Scherz. Eduard hat nicht den Muth des 
Berbrecherd ; es quälen ihn Gewiffensbiffe und Reue. Gr weint 
fe ganze Nacht auf dem Stein, der ihm zum Lager dient, und 
feine Thränen find eine Duelle des Scherzed und Spotted für leine - 
Ritgefangenen. . 

Bei Tage haben die Gefangenen die Erlaubniß, auf einem 
ofen Hofe einherzugehen ; Eduard folgt feinen Kameraden nicht 
Kb, um einige Augenblide allein und ungeftört feinem Schmerz 
heien Lauf laſſen. zu künnen. Er befommt feinen Befuch, hat keine 
freunde mehr; feine früheren Spießgefellen des Bergnügens und 
ter duſt erinnern fich feiner nicht mehr, und doch werben bie übrigen 
Gefangenen faſt täglich von ihren Inftigen Gollegen heimgefucht ; 
oder Cduard ſteht auch bei Allen im Rufe eines ſchwachen und 
hudiſchen Tropfs, und Menſchen von ſolchem Schlage find in ihren 
Angen gar nichts werth; die Heinfle Widerwaͤrtigkeit entmuthigt fle, 
um die JFeigen werben von den Verbrechern eben ſo ſehr verachtet, 
Us fie vom rechtlichen Leuten mit Geringfchägung behandelt werben. 

Die Erinnerung an Aveline und feine Tochter ſchwebt jept 
Auarhs Gedaͤchtniß vor ... im Unglüde gedenkt man ja beſonders 
der, die uns wahrhaft geliebt haben. Frau und Kind hat er® 
'erkofen und verlaffen, ohne zu wiſſen, ob es ihnen möglich fein 
Bird, iht Lehen zu friften, aber dennoch ift er überzeugt, daß 

Deline ihm zu Hülfe eilen, ihm ihren Troſt bringen und ihre 


\ 950 > 

Lhränen mit ven feinigen mifchen würbe, wenn fle ihn Hier im 
Sefängniß vermuthen Könnte. Ungeachtet alles Unrechts, das er 
ihr angethan, weiß er doch, daß ihr Herz noch für ihm fchlägt. 
Eines Tages nähert fi ihm Lampin, und feine freudige Miene 
feint ihm irgend eine gute Nachricht anzufündigen. „Werben wir 
begnadigt werben ?“ fragt Eduard fogleih ... — „Nein, wahr: 
baftig, das dürfen wir nicht Hoffen; übrigens haft Du, Dumm: 
kopf, unfere Sache ja fo ſchoͤn eingefäbelt, daß man blind fein 
müßte, wenn man uns nicht verurtheilen wollte! Ad! wenn Du 
ein anderer Kerl gewefen wäreft; wenn Du nur wenigftens nad: 
gefprochen hätteſt, was ich Dir eingetrichtert hatte, jo hätten wir 
unfere Angelegenheiten doch jo verwidelt, daß man der Sache nicht 
gewiß war; aber Du fchmwagteft ja wie eine Elfter. — Bergeft 
Ihr, daß es Euer Fehler ift, daß ich arrefirt worden bin! Ihr 
habt zuerft die Juſtiz aufmerkſam gemacht. — Ha, ha, ba! mein 
Sunge, das ift ein ander Ding; ich hatte eiwas im Kopfe, wie 
ein braver Kerl, ich hatte für Drei getrunken, und, wie bad 
. Sprüdwort fagt, in vino veritas! Aber davon handelt es fid 
‚ überhaupt nicht; unfer Freund Dufresne ift glüdlicher als wir. — 
Hat man ihm die Freiheit geſchenkt? — Ei bewahre, aber er hat 
fie fich felbft genommen, er ift mit zweien feiner Mitgefangenen 
entfprungen. Pop Blitz, mein Junge, das ift ein Pfiffikus, ver 
Dufresne, ein ſolides Haus, nicht ſolche Schlafmüge, wie Du,... 
ich wette, er Hätte Tieber fein Gefängnig in Brand geftedt, als 
drin zu bleiben ... Wenn man fo ift, fehlt's nicht an Fremden: 
Dufresne Hat Bekanntfchaft gemacht, ift davon gegangen, und er 
hat Recht daran gethan, denn man verfichert beſtimmt, er wäre 
„zum Tode veruriheilt worden. — Zum Tode? Was hat er benn 
verbrochen? — Was er verbrochen hat? Kommſt Du aus einem 
Mäufeloch ? Weißt Du denn nicht, warum man ihn feflgenommen 
hat? — Ich glaubte, wegen des unglücklichen Bent, wie und. 
— €, ich daͤchte gar! . . . weit befier, ale dad... aber zur 





asl 


Sache, ich erinnere mich fo eben, daß die Furcht Dich um Deinen 
Kopf gebracht Hatte. So wiſſe denn, daß Dufresne angeklagt ift, 
eine Madame Dolban, mit der er lebte, vergiftet zu haben. — 
Großer Gott! . . . das Ungeheuer! — Gs fcheint, feine Sachen 
üehen ſchlecht; er wird auch in in contumaciam zum Tode ver- 
wtbeilt werben, aber Du kannſt wohl denken, daß er fih hier 
nicht wieber fehen läßt, um ſich das Lebenslicht ausblafen zu laſſen. 
Bir werden ihm nicht wieder zu fehen bekommen, und das ärgert 
mich ; er iſt ein grunbgefcheiter Kerl; ſchade, daß er fich fo meit 
ängelaffen hatte! — Und wir ? — Binnen Kurzem wird man uns 
nah der Gomciergerie bringen, um uns ins Gebet zu nehmen, und 
N werben wir nun alle unfere Feſtigkeit und unfere Beredſamkeit 
brauchen können! Wenn Du da weinft wie hier, fo iſt's vorbei!... 
Tann müffen wir übers Meer, zum Dienft fürs Gouvernement. — 
Inglüdfiher ! . wäre es möglih? — Still, man hört auf ung, 
mug geſchwatzt.“ 

Während der unglüdliche Eduard ſich der größten Angfi des 
Gewiſſens, der Furcht und dem Schrecken überläßt, und von Böfe- 
Rihtern umgeben iſt, die fich ihrer Verbrechen und Gemeinheit 
cühmen, ihn zugleich als einen Gegenftand ihrer Verachtung be: 
habten, und weder Theil an feinem Kummer nehmen, yodh ein 
Bort an ihn verlieren, werlebt Adeline ruhig ihre Tage auf Guillots 
Reierhofe. Sie fleht ihre Tochter heranwachſen, die ſchon einige 
fr allein verftändliche Worte ftammelt. Jakob, immer voll Eifer 
mt Nuth, übernimmt die Härteften Arbeiten und macht fih ein 
Pergnägen daraus. Des Abends bleibt er bei Adeline; er nimmt 
die Kleine auf den Schooß und läßt fie bei einem militärifchen 
sure tanzen. Ein Jedes liebt den Bruder Jakob, und fo wird 
er jeht auch im Dorfe genannt, feitvem man weiß, daß er Madame 
Nuwille's Schwager ifl. Die Pächtersleute find ſtolz darauf, unter 
Item ländlichen Dache eine Frau wie Adeline und einen rechtlichen 
Nenn wie Jakob zu Befiken. 


. 


\ 960 > 

Tränen mit den feinigen mifchen würbe, wenn fle ihn Hier im 
Gefängniß vermuthen könnte. Ungeachtet alles Unrechts, das er 
{hr angethan, weiß er doch, daß ihr Herz noch für ihn fchlägt. 

Eines Tages nähert fih ihm Lampin, und feine freudige Miene 
fHeint ihm irgend eine gute Nachricht anzufündigen. „Werben wir 
begnadigt werden ?" fragt Eduard fogleih ... — „Rein, wahr: 
baftig, das dürfen wir nicht hoffen; übrigens Haft Du, Dumm: 
fopf, unfere Sache ja fo ſchoͤn eingefäbelt, daß man blind fein 
müßte, wenn man und nicht verurtheilen wollte! Ah! wenn Du 
ein anderer Kerl gewefen wäreft; wenn Du nur wenigftend nad}: 
gefprochen hätteft, mas ich Dir eingetrichtert hatte, jo hätten wir 
unfere Angelegenheiten doch fo verwidelt, daß man der Sache nicht 
gewiß war; aber Du fchwagteft ja wie eine Elfter. — Vergeßt 
Ihr, daß es Euer Fehler iſt, daß ich arretirt worden bin! Ihr 
habt zuerſt die Juſtiz aufmerkſam gemacht. — Ha, ha, ha! mein 
Junge, das iſt ein ander Ding; ich hatte etwas im Kopfe, wie 
ein braver Kerl, ich hatte für Drei getrunken, und, wie das 
. Sprüchwort ſagt, in vino veritas! Aber davon handelt es ſich 
‚ überhaupt nit; unfer Freund Dufresne ift glüdlicher als wir. — 
Hat man ihm die Freihett gefchentt ? — Ei bewahre, aber er hat 
fie fich felhft genommen, er ift mit zweien feiner Mitgefangenen 
entfprungen. Pop Blitz, mein Junge, das ift ein Pfiffikus, der 
Dufreöne, ein ſolides Haus, nicht ſolche Schlafmüge, wie Dn,... 
ich wette, er Hätte Tieber fein Gefängniß in Brand geftedt, als 
drin zu bleiben ... Wenn man fo ift, fehlt's nicht am Fremden; 
Dufreöne hat Bekanntſchaft gemacht, ift davon gegangen, und er 
hat Recht daran gethan, denn man verfichert beflimmt, er wäre 
Zum Tode verurtheilt worden. — Zum Tode? Was hat er benn 
verbrochen ? — Mas er verbrochen bat? Kommft Du aus einem 
Mäufelod ? Weißt Du denn nicht, warum man ihn feftgenommen 
bat? — Ich glaubte, wegen des unglüdlichen Wechfeld, wie ums. 
— Ei, ich daächte gar! ... weit beſſer, als das. . . aber zur 


253 . 


wir Anden koͤnnen das wohl fagen, aber eine Frau, ein Bruder, 
man hat doch ein Herz, fiebft Du, und wenn man liebt, vergißt 
es fih nicht fo leicht... . Leb wohl, Alter, ich kehre fehr unzu- 
frieden barüber, Dir begegnet zu fein, nach Haufe zurüd, obgleich 
die Schuld nicht an Dir liegt. Mir ift das Herz fo voll, und ed 
iR fatal, daß ich mich nicht verftellen Tann.“ 

Sansſouci verläßt feinen Freund und fommt auf dem Meier- 
bofe wieder an; Adeline und Jakob fragen ihn gewöhnlich aus, 
au er antwortet, daß er nicht mehr als früher erfahren habe ; 
aber vergebens bemüht er fich, fein Geheimniß zu verbergen ; feine 
ttanrigfeit verräth ihn ; feine Berlegenheit, wenn Adeline mit ihm 
on Cduard ſpricht, macht diefe argwoͤhniſch; denn eine Frau er- 
nith gar leicht unfere Empfindungen, Heberzeugt, daß Sansſouci 
ir irgend etwas Bedenkliches über ihren Mann verjchweigt, ver- 
it fie den armen Sansſouci feinen Augenblick, und quält und 
beihwört ihm, ihr Alles zu geftehen. 

Zwei Tage hält ver Brave Soldat fich tapfer gegen die brin- 
genden Bitten Adelinens; aber er erwägt Cduards Lage im Ge⸗ 
'ingeiß und meint, fie müffe noch einige Bekannte in Paris haben, 
ducch die ihm vielleicht geholfen werben könnte. Cduard ift ſtraf⸗ 
jällig, vielleicht hat aber das Unglüd ihn klüger gemacht, er darf 
rod nicht aller Hülfe und allen Troftes beraubt werben. Diefe 
Ichrahtungen beftimmen endlich Sandfouci, ihr nichts zu ver 
Ihweigen. Die Gelegenheit bieteb fich leicht dar. Am andern 
Rorgen dringt die junge Fran aufs Neue in ihn, ihr zu geſtehen, 
ves er weiß. Sandfouci verfpricht es unter der Bedingung, daß 
% Jalob nichts Davon fage, weil er befürchtet, von ihm gefchimpft 
werden. Adeline ift bereit dazu, und erfährt nun Alles, was 
"m in Baris mitgetheilt worden ift. 

Sowie Adeline davon in Kenntniß gefeßt ift, daß ihr Mann 
a Gefaͤngniß ſitzt, faßt fie plöglich ihren Entſchluß; fie verläßt 
Emöfonei, geht in ihr Zimmer, nimmt einige Gegenflände von 


33 


Diefes friedliche Leben follte jedoch nicht fortdauern. Eine 
Reiſe Sansſouci's nach Paris follte eine große Veränderung darin 
herbeiführen. Der Kamerad Jakobs geht eined Tages mit geheimen 
Aufträgen hinſichtlich Ebuards von Adelinen und ihrem Schwager 
verfehen, nach Paris. 

Bisher hatte Sansfouci noch nie etwas über Murville erfahren 
fönnen ; aber ein unglüdlicher Zufall will eg, daß er diesmal 
einem Freunde begegnet, ben er feit vielen Sahren nicht gefehen 
bat. Diefer Freund ift, nachdem er mehrere Erwerbögweige ergriffen 
hatte, endlich Bote bei der Conciergerie geiworben. Er ift ed, der 
"son den Gefangenen, die noch mit der menfchlichen Geſellſchaft 
verfehren bürfen, zu. allerlei Aufträgen verwendet wird. Sand: 
ſonci fpricht den Namen Eduard Murville aus, und erfährt nun, 
daß diefer im Gefängniß fist, und daß fein Urtheil am andern 
Morgen publizirt werden fol. — Im Gefaͤngniß?“ ruft Sand: 
fonei,_ „der Bruder meines braven Kameraden? ... Taufend 
Granaten! Was fagft Du mir da? Was wird das meinen armen 
Jakob unglüdlich machen 7“ 

Der Bote, der bemerkt, daß Sangfouci fi für Eduard fo 
lebhaft intereffirt, bereut es fchon, zu viel gefagt zu haben. — 
„Aber warum fist er im Gefängnig ?“ fragt Sansfouci unruhig, 
„was bat er verfchuldet ? ſprich! umterrichte mich, iſt's Schulden 
halber? — Sa, ja... o, ich glaube eines Wechſels wegen,” 
antwortet zaubernd ber Bote, der fih wohl hütet, die Wahrheit 
zu fagen, und bemüht ift, der Unterhaltung eine andere Wendung 
zu geben. — „Donner! fein Bruder! ihr Mann im Gefängnig ! 
Arme, Heine Frau! unglüdlicher Kamerad! — Sag Ihnen nichts 
davon, lieber Freund, es thut mir bereits leid, Dir dieſe traurige 
Kunde mitgetheilt zu haben. — Du haft Recht, ich werbe ſchweigen, 
denn fie Eönnen hier doch nichts machen... . diefer ECduard ift ein 
Tangenichts ! deſto fchlimmer für ihn. — O ja, es iſt ein tran- 
riged Subjeft, und fie thun am beften, ihn zu vergefien. — a, 














255 
- 


und zweifelt nicht, den Zutritt zu ihrem Manne zu erhalten, und 
diefe Hoffnung verboppelt ihren Muth. 

Rachdem Adeline mit der kleinen, faum anderthalbjährigen 
rmance auf dem Arme, Billeneuve-Saint:George erreicht Hat, 
Segegnet ihr einer von ben fchlechten Fiakers, deren vie Pariſer 
"bh bebienen, um in bie Umgegend der Stabt ober an Ländliche 
Tergnügungsorte zu fahren. Für einen geringen Preis läßt fie der 
Rutjher einfteigen,, und fegt dann feinen Weg nach Paris weiter fort. 

Ein einziger Reifender befindet fich im Wagen, ein Greis von 
ma fiebenzig Jahren, aber von einem guten, freundlichen, Ber- 
‚ıuen und Achtung einflößenven Geficht. Sein Anzug verkündet 
Schlhabenheit ohne Luxus, und feine Manieren, wenn gleich nicht 
rm feinften Weltton, verrathen doch die Gemohnheit des gefel- 
gen Umgangs. _ 

Adeline grüßt ihren Reifegefährten und fegt fich ſtillſchweigend 
ben ihn. Der alte Herr betrachtet fie anfangs mit Aufmerkſam⸗ 
u, bald hernach aber mit Interefje, denn Adeline hat eine foldh 
ke, rührende und einnehmende PBhyflognomie, daß ed unmöglich 

fie zu fehen, ohne ihre nähere Belanntichaft zu wünfchen. 

Die Heine Ermance figt auf dem Schooße der Mutter; bie 
ꝛlichen und anmuthigen Bewegungen ber Kleinen gefallen dem 
r Herm; er gibt ihr Bonbons und Tieblost fie. Adeline dankt 
r für feine Güte, lächelt dem Heinen Weſen zu, vertieft ſich 
7 bald wieder in ihre Gedanken. 

Ter Reifende bemüht ſich, eine Unterhaltung mit der jungen 
ae anzufnüpfen, allein fie fcheint an ganz andere Sachen zu 
Im, und ihre Antworten find fo einfilbig, daß ex befürchtet, 
«icheiden zu werben. Er hört daher auf zu fprechen, fieht jedoch 
Traurigkeit Adelinens, Hört ihre halb unterbrüdten Seufzer, 
erkt, wie ihre fehönen Augen unaufhärlich nach der Gegend von 
-$ gerichtet und von Thränen benept find ; er wagt es deßhalb 
t, ihren Kummer zu zerſtreuen und beklagt fie bloß im Stillen, - 


. 254 
Merth, vie letzten Weberrefte ihres Vermögens, fchnürt ein kleines 
Bündelchen mit den nothwendigſten Kleivungsftüden, und nimmt, 
nachdem fie mit einigen Linien ihre Wirthöleute gebeten hat, über 
ihre Abwefenheit nicht in Unruhe zu fein, ihre Kleine Ermance auf 
ben Arm, und verläßt den Meierhof, feft entfchloffen, Alles zu 
thun, um die Sreiheit ihres Mannes zu erlangen ober fein Ge: 
fängniß zu theilen. 

Es ift erſt Morgens neun Uhr. Jakob ift auf dem Felde, die 
übrigen Hausgenoffen find mit anderweitigen Arbeiten bejchäftigt, 
und fo befindet ſich denn Adeline fchon längft auf dem Wege nad) 
Paris, bevor die Hausbewohner von ihrer Abreife etwas erfahren. 


Aeunundzwanzigſtes Kapitel. 
Der Platz vor dem Juſtizpalaſt. 


Adeline weiß noch nicht, welche Mittel fie anwenden wirb, 
um bis zu ihrem Gemahl zu gelangen; ſie hat durchaus feinen 
Plan; fie weiß auch nicht, welche Schritte Dazu gehören, um einen 
Gefangenen zu ſprechen, ein einziger Gedanke nur befchäftigt fie, 
ihr Eduard ift unglücklich, fchmachtet im Kerker und ift alles Troftes 
beraubt!... Ach! fie kennt die Welt, fie zweifelt nicht, daß Die: 
jenigen, welche ihn in feinem Glüde umgaben, ihn jegt in feiner 
Noth verlaffen haben werden! ... Wer alfo foll vie Thränen des 
armen Gefangenen trodnen, wenn es nicht feine Frau und fein 
Kind find? Er Hat fie zwar zurüdgewiejen und fi ihren Lieb- 
fofungen entzogen! ... aber folch Unrecht ift bald vergeffen, wenn 
ber Geliebte dem Unglüde erliegt . . . 

Sansſouci bat von der Conciergerie gefprochen, dorthin alfo 
will fie ihre Schritte richten. Sie glaubt, daß ihre Bitten, ihre 
Thränen, der Anblid ihres Kindes die Schließer rühren werben, 





We 


gerie, ab eilk dann weiter. Liebe und Beſortzniß verdoppeln ichr⸗ 
Schritte; endlich gelangt ſie auf einen Platz; es iſt ber des 
Juſtizvalaſtes. 

Der Platz iſt fo von Nenſchen überfüllt, daß man kaum achen 
km. „Und da ſoll ich hindurch,“ fagt Abeline traurig ; „vorwärts 
denn, weil es Teinen andern Weg gibt, ich muß mir einen Durch⸗ 
gang verſchaffen.“ - 

Aber warum find denn hier fo viele Menfchen verfammelt ? 
Mes irgend eine Feſtlichkeit, ein Volksjubel? Hat vielleicht ein 
Sharlatan feine Bude aufgefchlagen? Sind es Sänger, Taſchen⸗ 
ineler, Jongleurs, bie durch ihre Lieber, ihre Künfte die Menge 
mzelockt Haben ? Rein, nichts von alle dem; unfer Pöbel würke 
th weniger drängen, wenn es ſich bloß um angenehme Unterhal: 
"ma haudelte. Eine Grefution ſoll flattfinden. Unglückliche follen 
:hrendmarft und an den Pranger geftellt werben, und nur um 
n für bad menfchliche Gefühl fo betrübendes Schaufpiel zu haben, 
aufen Kinder, Greife, junge Mäpchen fo eifrig herbei... Ihr 
natert euch darüber, lieben Leſer? vergeßt ihr, daß ber Groͤve⸗ 
lag gebracht vol Menfchen iſt, das die Benfler umher an Zus 
Sauer vermiethet find, wenn irgend ein Verbrecher dort hingerichtet 
2? Und wer drängt ſich am meiften zu dieſen abfcheulichen Schau: 
wien... Frauen... junge Frauen, beren Züge voll Sanftmuth 
a Zartgefühl fcheinen!... Was muß da Alles im menfchlichen 
herjen vorgehen koͤnnen, wenn gerade bei dem ſchwaͤcheren, furcht⸗ 
meten Geſchlecht ein folder Grad von Stoicisſsmus ſich zeigt? 

Laffen wir jedoch auch den Frnuen Gerechtigkeit widerfahren, 
eihe ſolche ekelhaften Anblicke fliehen, und durch das Entſetzliche 
a Srefution um ihre Sinnen fommen ... Adeline gehörte zu 
sen; fle weiß noch nicht, was auf dem Plage vorgehen ſoll, 
a hört nicht auf das Gekreiſch des fie umgebenden Geſindels. 
Ta find fie... da find fie. . „” xufen mehrere Stimmen ... 

Saul de Red. J. 17 


\ 


" 256 


Adeline findet den Weg fehr lang. Die müben Pferde tonımen 
nicht aus ihrem gewohnten Schritt ; nichts kann fie bewegen, ftärfer 
zu laufen. Sie möchte manchmal auöfteigen, in der Hoffnung, zu 
Fuße Schneller fortzufommen, aber fie müßte dann ihr Kind tragen, 
und ihre Kräfte würben ihren Muth nicht unterftügen. Sie bleibt 
alfo und tröftet fih damit, daß jeder Umſchwung des Rades fie 
ihrem Manne näher bringt. 

Der alte Herr fieht nach der Uhr, und diesmal unterbricht 
Adeline das Stillfchweigen: „Mein Herr, wären Sie wohl fo 
gütig, mir zu fagen, wie viel Uhr es iſt? — Bald ein Uhr, 
Madame! — Sind wir noch weit von Paris? — O nein, viel: 
leicht eine Kleine Meile, in drei BViertelftunden koͤnnen wir dort fein. 
In drei Biertelftunden! Ach, wie lange no! — Madame haben, 
wie ich bemerfe, einige dringende Gefchäfte in Paris ? — Ia, mein 
Herr!... D ja! ich möchte gerne bald da fein! — Madame ſind 
ohne Zweifel daſelbſt befaunt? Sonft wenn ich Ihnen vielleicht 
dienlich fein Tönnte ? _ 

Adeline antwortet nicht; fie hört nicht mehr auf ihren Reife- 
- gefährten, und ift in Gedanken wieder mit ihrem Manne befchäftigt. 

Der alte Herr hat feine Anerbietungen vergebens gemacht, aber, 
weit entfernt, fich darüber zu ärgern, wächst fein Intereffe für Die junge 
Dame, die jo großen Kummer zu haben fcheint, nur noch weit mehr. 

Endlich langt man in Paris an. Der Wagen hält, Apeline 
fteigt rafch aus, nimmt ihr Kind auf den Arm, bezahlt den Kutfcher, 
grüßt ihren Neifegefährten und verfchwindet aus feinen Blicken, ehe 
diefer nur noch Zeit gehabt hat, den Fuß auf das Kleine Tabouret 
eined Savoyarden zu ſetzen, um leichter aus dem Wagen zu fommen. 
„Arme junge Fra,” fagt er, indem er nach ber Eeile hinblidt, 
von der Adeline fich entfernt hat, „wie fie bewegt zu fein fdien !... 
O! möchten Feine traurigen Nachrichten fie nach Paris führen !- 

Adeline läuft fo raſch, als es nur möglid; ift, wenn man ein 
Kind auf dem Arme hat. Sie fragt nad dem Wege zur Eoncier: 


Ss 


- 








259 


Dreißigſtes Rapitel. 
Der gute Berval. 


Die Franzoſen, befonberd die aus den niedern Vollsklaſſen, 
daben dad Gute, daß fie fehr leicht von einem Gefühle zum andern 
ergehen ; nachdem fie Zenge einer Exekütion gewefen find, bleiben 
vw vor dem Theater eined Bolichinell ſtehen; fie lachen und weinen 
't bewunderungswürdiger Leichtigkeit; und derſelbe Mann, der 
nen Nachbar grob zurüdftößt, weil er ihn verhindert, einen Ver⸗ 
‚rtheilten zum Sochgerichte Hin vorbeiführen zu fehen, wird fi 
"len, einem Unglüdlichen beizufichen, den Krankheit oder irgend 
n unvorhergefehener Umftand zu feinen Füßen nieverwirft, und 
" vergeffen denn auch die Frauen und jungen Maͤdchen, die fich 
‚at weit von Adelinen befanden, fehr bald das ſchöne Schau: 
rel, das fie gehabt, um der unglücklichen jungen Frau beizu⸗ 
nngen, die befinnungelos auf dem Bflafter lag. 

Man bringt fie mit ihrem Kinde in ein nahes Kaffeehaus, 
2 läßt Hier der armen Mutter alle mögliche Pflege angedeihen. 
n Jedes Hat feine Bermuthungen über diefe Begebenkeit. 

„Es iſt vielleicht die Hibe und dad Gedränge, wovon die 
"ze grau unwohl geworden,” fagen Einige; Andere denken, und 
"meifelhaft richtiger, daß das Uebel ver Unbelannten zu ‚heftig 
ichienen, als daß es nur eine fo einfache Beranlafjung Haben 
le. Bielleiht, fagen fle, Hat die junge Frau unter ben Ber: 
shern Jemand bemerkt, den fie früher gekannt oder gar geliebt hat. 

Mährend die Umſtehenden fo ihre Betrachtungen anftellen, ift 
’ Heine Ermance untroͤſtlich; fie ift noch zu jung, um ihr ganzes 

izlück zu erfennen, aber fie weint, weil ihre Mutter fie nicht 
hr käßt umb herzt. 

Endblich gelingt ed, die junge Frau wieder zu ſich zu bringen: 
qlückliche Frau! WS aber auch eine Wohlihat, bie man bie 


288 


„ach! wir wollen hoch ſehen, wie fie dad Geſicht verzerren werden, 
wenn ihnen das glühende Ciſen aufgedrückt wird.“ 

Adeline bemüht ſich noch immer, über den Plag zu Tommen, 
aber e8 ift unmöglich ; die Menge ſtoͤßt fie vor und rückwärts, 
bis fie endlich zufällig ganz nahe bei den Genbarmen ſteht, welche 
die Berurtheilten umgeben. Sie erhebt die Augen, um einen Aus- 
weg zu fuchen, und erblickt die mit dem Siegel ber Infamie ge- 
zeichneten Unglüdlichen.. . . fle fchlägt die Augen fogleich wieder 
nieder und möchte dem ſchrecklichen Schaufpiel entfliehen... In 
biefem Augenblicke aber läßt fich ein durchdringender Schrei hören; 
er kommt von einem ber Elenden, die fo eben gebrandmarkt werben. 
Diefer Schrei Hat auch Adelinens Ohr erreicht, ihre Sinne über- 
wältigt, fie hört ihn unaufhörkich, fie hat den Elagenden Ton er- 
Kannt. Ein unwillkuͤrliches Gefühl treibt fie, ihre Augen noch ein- 
mal auf den Berbrecher zu richten... Ein noch junger, bleicher, 
entftellter Mann ift ihr zunaͤchſt am Schanvpfahl befefligt . . . 
Adeline betrachtet ihn, und kann ihn nicht verfennen, die Augen 
bed Unglüdlichen begegnen ven ihrigen ... Es ift Eduard... es 
iſt ihr Mann, der fo eben aus der menfchlichen Geſellſchaft ge- 
floßen worden ift, es ift ber Vater ihrer Ermance, ben fie am 
Schandpfahl wieberfinbet. 

Ein Schredenslaut entfchlüpft der jungen Frau... der Un- 
glüdliche läßt fein Haupt auf die Bruft wieder niederfinfen, und 
Abeline, außer fi, ſinnverwirrt, von Schauber ergriffen, unter- 
liegt der Heftigkeit ihres Schmerzes ; fie fällt befinnungdlos, aber 
Ihr Kind noch Trampfhaft an. fich druckend, auf das Pflaſter Hin. 








finden, Meline um ihre lehte Habe zu bringen. Sie ift alſo ganz 

bülfles, und da hei vielen Menfchen Rührung und Theilnahme 

unfruchtber find, fo fpricht man fehon davon, Die urme Frau ins 

boſpital, und das Kind ins Findelhaus zif bringen, als die An- 

tunft eines Fremden der Ausführung dieſes Vorhabens in ven 
Berg tritt, 

Gin alter Mann erjcheint im Kaffeehaufe, erfundigt fih nad 
ct Urſache der Menfchenmenge und erfährt von allen Seiten bie 
Segebenheit ; er drängt fi) durch die Mengierigen, nähert fie 
Kelinen and Fährt überrafcht zufammen, als er die junge Perſon 
fennt, mit der er den Weg von Villeneuve⸗St.⸗George nach Paris 
macht hat. „Sa, fie ift es,” rufter aus, und Die Kleine Grmance - 
tet ihm laͤchelnd ihr Händchen entgegen, denn fie erfennt Den 
Suter, der ihr einige Stunden zuvor erfi noch Bonbons gegeben hatte, 

Der alte Herr wird jegt eine wichtige Berfon für die Menge, 
delche vor Begierde brennt, die Geſchichte der armen Mutter kennen 
z lernen, umd Alle befturmen ihn mit ragen, er aber, ber uns 
xicheidenen Menge uberläfig, läßt einen Wagen kommen unb, 
ahdem er vom Herrn des Kaffeehaufes uber den Vorgang mit 
iteline nähere Erkundigungen eingezogen hat, bemegt fie, mit 
km Rinde einzufleigen, und entzieht fie den Blicken ber Meugierigen. 

Abeline befindet fich in einer völligen Sinnegahftumpfung. Sie 
ht (ich Leiten, ohne ein Wort zu verlieren ; fie ſcheint von Allem, 
S am fie her vorgeht, nichts gewahr zu werben, ja jelbft ihr 
nd befchäftigt fie nicht mehr. 

Herr Gerval, dies: ift der Name des Greifen, betrachtet bie 
ge Frau mit inniger Nührung; er Tann es ſich noch nicht vor- 
‚den, daß Diejenige, welche er am Morgen zwar wohl traurig, 
zet doch noch bei völliger Befinnung gefehen und geiprochen hatte, 
« mit einem Male um ihren Merſtand gefommen fein fol, und 
serliert fi in Vermuthungen über dieſes jonderbare Greigniß. 

Dez Wagen hält vor einem ſchoͤnen, wöhlisten Hoͤtel. Hier 


wohnt Herr Gerval ſteis, wenn er nad Paris Tonnmi. Dan ken 
ihn im Hanfe ſchon und ein Jeder begegnet ihm mit der Rüdfl 
und Auszeichnung, welche fein Alter und fein Charakter verdien! 

Er läßt Adeline Mit ihrem Töchterchen audfteigen und fül 
fie zu feiner Hauswirthin. — „Hier, Madame,“ fagt er, „brül 
ich Ihnen eine Unglüdliche, mit der Bitte, fie bis auf weit 
Anordnung bei füh anfzunehmen. — Ach mein Bott, wie büb 
tft diefe junge Frau! aber welche traurigen Züge, welch finfe 
Blick! ... kann fie nicht fprechen, Herr Gerval? — Sie ift!| 
leidend... es ift ihr ein großes Unglück widerfahren... ı 
fagt fogar, daß ihr Verſtand. . — O Himmel, wie jchabe! | 
— Ich Hoffe, mit vieler Sorgfalt werden wir es dahin brin 
ihren Geift zu bernhigen; ich empfehle Ihnen die arme Pu 
und ihr Kind... Seien Sie. ohne Sorge, Herr Gerval, «8 
ihnen nichts abgehen!... Ich fehe, es ift abermals eine Ungl 
Fiche, der Sie fi annehmen wollen!... — Was wollen 
meine liebe Wirthin, foll man fich nicht nüplich machen, w 
man es Tann? — Ich habe Feine Kinder und bin alt; was hä 
mir alle meine Reichihümer, wenn ih damit nicht Ungläfli 
beiftehen wollte? Dies ift ein Genuß für mi... ich bin 
Flortans Menfchenfreund : ich thue nur manchmal Gutes um 
Bergnügend willen.“ 

„Ab, Herr Gerval, wenn alle Reichen fo daͤchten! — Eu 
Sie doch, Madame, ift mein alter Duproͤ gekommen? — 
mein Herr, er erwartet Sie in Ihrem Zimmer. — Ich mil 
ihm gehen... Ich bitte, forgen Sie inbeffen für die junge % 
daß ihr nichts mangle. — Sie Eönnen ſich auf mich verla 
Herr Gerval.” 

Der gute Herr geht in fein Zimmer hinauf, wo fein 
Diener Duproͤ ſchon lange ſehnlich auf ihn wartet. 

„AB, da find Sie ja, mein Herr, Ihr langes Ausble 
hat mich fehon recht: beunruhigt... If Ihre Reife glücklich 








263 
wein? Haben Ste etwas erfahren? — Rein, mein Freund, da6 
Hd, worin fonft die Familie Murville wohnte, ficht jet zum 
Verfaufe. Man bat mir wohl gefagt, daß ein Eduard Murvill⸗ 
mit feiner Frau einige Zeit da gewohnt habe, aber man weiß nicht, 
was and ihnen geworden ift. Und Du, Dupré ?... — Ich, mein 
Herr, weiß auch nicht mehr. Ihre alten Freunde find geftorken 
und deren Kinder find Bott weiß wo. Einige Berfonen haben mir 
jmat von einem Murville, ehemals Gefchäftsmann, nachher In 
kiguant, mit einem Wort einem Taugenichts, etwas erzählt... 
aber man konnte ober wollte mir nicht fagen, wo er bingeratßen... 
Vielleicht iſt das der Jüngere der Söhne, der, welcher ſich im 
innfzehnten Jahre aus dem elterlichen Haufe davon machte ... 
En ein Ausreißer verſpricht in der Regel für die Zufunft nichts 
Gute... — Gs thut mir Teid... ich hätte gewünfdt... aber 
ih ſehe, ich komme zu fpät. Meine Reifen haben mich zehn Jahre 
ꝛen Paris entfernt gehalten, erft feit einem Jahre, nachdem ich 
nih von den Gefchäften zurüdgezogen habe, bin ich dann und 
man wieder hierher gekommen. Aber welche Veränderung haben 
jen Jahre hervorgebracht! ....; Meine Freunde (es ift wahr, fie 
saren ſchon alt, als ich Paris verlieh) ſind todt ober verfchwunden. 
Alles das beiräbt mi, Duprs. Diefe Stadt gewährt mir nur 
sh Erinnerungen! Wir wollen wieder nach meinem Landhauſe 
2 ven Bogefen zurückkehren. Dort will ich meine Tage befchließen. 
Über laſſen wir das jetzt; ich habe Dir Etwas mitzutheilen, meine 
Rerie ift doch nicht ganz unnütz gewefen : ich habe dadurch die Be- 
amtſchaft einer jungen, hochſt intereffanten und dem Anfcheine 
1a fehr unglüdlichen Frau gemacht! — Bah! und wo haben 
Ste fie denn angetroffen? — Wir find Beide in demfelben Wagen 
ch Paris gefahren, denn troß Deines Mattes habe ich doch in 
rım jener fchlechten Cabrislets den Weg gemacht. — Ad, mein 
herr, wie Tonnten Sie fi fo durchrütteln laflen, das ift wahr: 
baftig nicht Hecht... — Schon gut; ſchon gut, ich fühle mich 


Iogen, und morgen werden wir unfere Nachforſchungen weiter fort: 
ſetzen.“ 

Nachdem er den Leuten im Hoͤtel Adelinen und ihre Tochter 
nochmals dringend empfohlen bat, legt ſich der gute Gerval zur Ruhe. 

Adeline bringt die Nacht wie den Tag hin; bald lebhaft auf: 
geregt, unzuſammenhaͤngende Worte ausſtoßend, bald in tieffter 
Nievergefchlagenheit, ohne fi darum zu befümmern, was um fie 
ber vorgeht. Man bemerkt jedoch, daß ver Lärm, ber flarfe Ton 
einer Stimme, das geringfte Gefchrei bei. ihr Zittern und die hef⸗ 
tigſten Anshrüce des Wahnfinnd veranlaßt. Am andern Morgen 
erfcheint ein von Herrn Gerval herbeigerufener Arzt bei der Un- 
glüdlichen, aber alle feine Bemühungen bringen es nur dahin, daß 
ſie etwas ruhiger wird ; ex iſt ver Anficht, daß ein ruhiger Aufent- 
halt die ſchrecklichen Anfälle ihres Zuftandes feltener machen werde. 
Aber er gibt nur wenig Hoffnung zu völliger Hebung ihrer Geiftes- 
Tranfheit, da er die Veranlaffung derfelben nicht kennt. 

Dupre geht nach Villeneuve⸗St.⸗George unb-fragt nach allen 
Jakobs des Ortes. Nur zwei Bauern diefed Namend Tann er auf: 
finden, beide verfiehen aber nicht, twad er mit ber jungen Frau 
und ihrer Tochter fagen will; er Tann nichts weiter in Grfahrung 
bringen und Tehrt zu feinem Herrn zurück. 

Dieſer ift mit feinen Nachforſchungen gleichfalls nicht weiter ge- 
fommen ; die Journale fündigen nichts an, daß eine Frau mit ihrem 
Kinde verſchwunden jei, und es wirb ihm nicht Die entferntefte Kunde 
über ven Namen und die Familie feiner bemitleivenswerthen Fremden. 

Sp vergehen zehn Tage; Adelinens Zuſtand ift Immer ber: 
felbe ; ihr Tieffinn wird weniger durch heftige Anfälle geſtoͤrt, aber 
vernimmt fie irgend einen Schrei, fo bricht fie in ein entfeßliches, 
ſchreckliches Hafen aus. Die Stimme ihres Kindes allein. verunfacht 
ihr niemals, ein ſchmerzliches Gefühl, dieſe Toͤne bringen immer 
an das Herz der armen Mutter und wirken wohlthuend darauf. 

„Mein lieber Dupre,“ fagt nach Verſluß der zehn Tage der 





alte Gerval zu "feinem Diener, „ich fehe wohl, wir mäffen alle 
Hoffunng aufgeben, etwas Näheres Aber dieſo intereflante Frau 
zu erfahren. Meiner Treu, ich habe einen Entfchlug gefaßt, ich 
will fie mit mir nehmen. Du weißt, ich will mich auf meinen 
randſtz in den Vogeſen zurücziehen. Diefe einfame,. von: Wald 
au) Bergen umgebene Wohnung wird unſerer ſchwermüthigen 
Staufen am beften zufagen. Es iſt der Rath des Arztes, ihm 
wollen wir folgen. Dort wird wenigſtens nichts die Ruhe flören, 
tie ihr fo nothig if. Wir werben Sorge tragen, daß Fein lautes 
Geräufch zu ihren Ohren bringt, und ihr Töchterchen aufziehen. 
Katharine, weiche die Kinder liebt, wird das Ihrige dazu bei—⸗ 
kagen, und die Lieblofungen dieſes unſchuldigen Weſens werden 
mich für das entfchäbigen, was ich ‚für die Mutter thue... num, 
duprs, was haͤltſt Du von meinem Blane?... — Ich bin ent: 
indt darüber, und erkenne Sie darin!.... Sie. wihmen fidh je 
an; den Unglücklichen. — Gs if mein Bergnügen, ich. habe Feine 
jamilte, die Unglücklichen find meine Kinder; Du weißt, ich Fam 
a der Hoffnung nach Paris, von einem kleinen Knaben, ber mir 
m feiner Jugend ‘theuer war und ber überbied ein Recht auf meine 
Firforge bat, Nachrichten einzuziehen. Aber meiner Treu! da ich 
tm nicht zu finden weiß, foll das Tleine Mäpchen ihn erfegen: 
Bor diefem Augenblicke an adoptire ich ed," auch um die Mutter: 
retde ich mich fortwährenn annehmen, und danke der Borfehung,. 
5 fie mich zu ihrem Beichüber auserkoren hat. 

Den folgenden Morgen bringt Herr Gerval fein Vorhaben in 
Ausführung. Er kauft eine große und bequeme Berline und laͤßt 
ie mit Allem, 1008 ber jungen Frau und deren Kind auf der Reife 
riewerlich fein Tönnen, verfehen ; dann hinterkäßt er ber Within 
rise Adreſſe, damit fie ihm jchreibe, wenn fie etwas über bie 
Ishefaunte erfahren follte, und reiät mit Abelinen, Ermaucen und 
vinen alten Diener nad) feinem läͤndlichen Wohnfike ab, wo er 
vu Aeſt feiner Tage in Ruhe zu verleben gedenkt. 





Einunddreifigkes Aapitel: 
Jakob und Sandfouci. 


Mas denkt wohl aber Jakob non dem Verſchwinden Der beiden 
von ihm innig geliebten Weſen, während biefe in bem Wagen bed 
Herrn Gervals dem Oſten Frankreichs zuweilen? Um dies gu er: 
fahren, wollen wir nach dem Pachthof zurückkehren. 

Als Jakob vom Felde kam und nicht ſogleich Abeline und ihre 
Tochter gewahr wurde, bie ihm ſtets freubig entgegeneilten, fuchte 
er feine Schwägerin überall. Unruhig darüber, daß er fe auch 
wicht im gemeinjchaftlichen Wohnzimmer fand, fragte er Zuife, ob 
fie vielleicht unmohl fei. — „Ich will ed nicht Hoffen,“ fagte bie 
Pachtersfrau, „ich habe fie aber ben ganzen Tag noch nicht ge: 
fehen. Ihr wißt, daß fie manchmal gerne: allein in ihrem Zimmer 
bleibt, und ich. habe es darum nicht wagen wollen, fie zu fiären... 
+ Ich will fie herunterholen,“ jagt Jalob, und begibt ſich nefch 
in Adelinens Zimmer hinauf. 

Die übrigen Handgenoffen fangen auch au zu hefüuchten,, dag 
Madame Murville Frank geworben fei... Sansſouci ſchweigt, 
aber er ift unruhiger als die Anbern, bean er beuft an bad, was 
ex Adelinen anvertraut hat, und zweifelt nid, daß fie irgend etwas 
im Schilde führe. Alle warten mit Ungeduld auf Jakobs Mück⸗ 
fehr; endlich kommt er, aber Trauer und Schmerz malen ſich in 
feinen Zügen: feine Augen find feucht, feine Stimme iſt düſter. 
— „Was ıft gefchehen ?“ rufen fie ihm enigegen. 

„Ste iſt fort, fie Bat und verlaffen,“ antwortet Jakob, mit 
großen Schritten im Zimmer auf- und niedergehend, mit gen Simmel 
‚ gerichteten Augen und Frampfhaft geballten Händen. — „Sie iſt 
fort ?” wieberholt beträbt vie ganze PBächteröfamilie. — „DO! e® 
iſt nicht moͤglich!“ ruft Guillot aus. — „Da Iefed... Damit reicht 
Jakob ihm dad non Abelinen hinteräaffene Bapier bin Guillot 











wimmi #6 und betrachtet ed mahrene Minuten mit ſtieren Pliden. 
— ‚Run,* fragt Sandfouci, fi nähernd, „was ſchreibt fie denn ? 
— 3% kann ja nicht leſen,“ antwortet Guillot, das Papier immer 
aoch betrachtend. Sansſouci reißt ed ihm endlich and ber Hanb 
and liest den Inhalt laut vor. — „Ihr feht wohl, fie will nicht, 
daß wir ihrer Abweſenheit wegen in Unruhe fein follen,” fagt 
tuile, „fie wird bald wieder fommen, ich bin deſſen gewiß!... 
—D! mas das Betrifft, fo ſtehe ich ebenfalls dafür,“ fällt Gutlket 
eu; „fie wird uns ficher nicht verlaflen, ohne und Lebewohl zu 
ſagen! ...“ 

Sansſouci war derſelben Anſicht und bemühte ſich, feinen 
greund zu beruhigen. — „Aber vor allen Dingen, imo mag fie 
Bingegangen fein?... Warum biefer plögliche Entſchlaß? noch 
achern ſchien fie an Feine Abreife gu denken! eine fo junge, zaͤrt⸗ 
ie, ſchwaͤchliche Frau allein mit einem Kinde auf der Lane 
kraße!... fie wird frank werben !... o fie muß irgend eine Nach 
st von Baris erhalten haben, ... Taufend Bajonette!... wenn 
ich dahinter kLomme, daß man ein Geheimnif nor mix Hatte! ...* 

Bei dieſen Morten richten fich jeine Blide unwillfürlich anf 
Sandfonci, und biefer ſchaut vor fick uieher, ‚bewegt die Zunge 
m Runde, ſtreicht fir den Schnurrbart, und weiß nicht, wie “ 
kine Verlegeubeit. bemeiftern fol. 

‚Run, Bruder Jakob,“ fagte die Pächterin, dem braven Lan 
nanne einen Sitz aubietend, „bevor wir verzweifeln, wollen wir 
e noch abwarten, vieleicht iſt fie morgen ſchon wierer hier. — 
3," träßet Gillot, „und dann wollen wir eine herrliche Mahlgett 
halten und Find vom letzten Jahrgang fuinfen, bad Weinchen fängt 
eu fber gu merben!. . .“ 

Bansfonzi wagt es nicht, ein. Wort zu jagen, denn er fürchtet, 
14 zu verrathan, die Bliche feines Kameraden (deären ihm pie 
Kehle pi. » 

AM a wa einige Tat⸗ warien, wenr ſi⸗ aber bie beit 


er wird und ſchon fagen, wie wit es anſtellen müffen, um zu 
Meinem Bruder zu gelangen. — Gut alfo, wir wollen Deinen 
“ Freund auffuhen; wenn wir ihn nur glei finden! — Ale: 
dings,“ entgegnet Sandfouci, „bort.jehe ich ihn ſchon...“ 

Sie verdoppeln ihre Schritte und erreichen den Gefangen: 
wärter bald! dieſer erfennt feinen Freund, ſchüttelt ihm die Hand 
and fragt ihn, was ihn nach Paris bringe. „Höre,“ fagt Sand 
fonci zu ihm, „laß und dort auf jener Bank plaudern!... Ich 
ftelle Dir aber zuerft meinen Kameraden, einen tapfern Solpaten, 
vor. — Ich fehe Narben und ein Ordeusband, die für ihn fprechen. 
Kann ih Cuch in Etwas nüglich fein? — Ja, eine wichtige An: 
gelegenheit führt und her, wir wünſchen einen Gefangenen zu 
fprechen ... Da erinnerft Dich wahrfcheinlich noch des Eduards 
von Mursille, son dem ich das letzite Mal, als ich in Paris war, 
mit Dir ſprach. Dein Kamerad hier tft ſein Bruder. — Sie fin 
fein Bruder,” fagte ver Märter, Jakob mit Rührung anblidend... 
„Ich bedaure Sie... —- Ich bin nicht zu bedauern,” erwibert 
Jakob, „fonbern er, da er unglädlich ift... denn id will nicht 
hoffen, daß er eine entehremde Handlung begangen bat?! — Was 
wollen Sie hier machen ?" fragt der Wärter, ohne Jakobs Frage 
zu beantworten. — „Ei, beim Kuduf, wir wollen meinen Bruder 
befuchen ; feine Stau ift mit ihrem Kinde fchon hier, ihn gu tröften. 
— Keine Frau, ich Tann. ed beiheuern, ift zu ihm gefummen; ed 
Kat nicht einmal Jemand nach ihm gefragt. — Wäre ed mög: 
ih!... — Jeder Verſuch, ihn zu fprechen, ift jetzt vergeblich, 
denn er ift nicht mehr auf der Susciergerie... — Er if nidt 
mehr hier ?... aber wo ift er denn? — Ganz genau Tann id 
es Ihnen nicht fagen... — Bir, pop Wetter! ich follte nicht 
erfahren tunen, wo mein Bruder ii? — Nun, nun, mein armer 
Jakob, -tröfte Dieb nur,“ ſagt Sansſouci, „ver Kamerad iſt Schlecht 
unterrichtet, wir werden und andetwaͤrts erkundigen. — Ich wie 
derhole cd Ihnen, Couard Murville iſt nicht mehr in dieſem Ge 





373 


fänguiffe, und Hat vielleicht‘ jetzt ſchon Paris verlaffen. Leben Sie 
wohl, braver Jalob, glauben Sie mir, kehren Sie nad) Ihrem 
Terfe zurück, verlangen Sie nicht mehr zu wiffen, und vergeffen 
Eie einen Bruder... . der Ihrer unmwärbig ift.“ 

Der Gefangenwärter druͤckte mit inniger Rührung Jakobs 
Sand und entfernte fich ſodann von den beiden Freunden. | 

Jakob bleibt unbeweglich und nachdenklich flehen; feine Stirne 
rerfinſtert fi und fein Blick wird düfterer; Sansfouci ſchweigt 
cdenfalld; er fängt an zu fürchten, daß der Bruder feines Kame- 
zeden nicht Bloß Schulden halber verhaftet worden ift. Die beiden 
ꝛadem Männer wagten ed nicht, ſich gegenfeitig ihre Gedanken 
nitzutheilen, und die Nacht überrafcht fie, in ihre Betrachtungen 
rtieft, noch auf der Bank. 

„Bad wollen wir nun beginnen ?“ ſagt endlich Sansſouci, 
‚ir ſtzen bier wie ein Paar verlorene Boften ; wir müffen uns 
'n doch zu Etwas entichließen. — So laß und Adeline und ihr 
nd auffuchen,“ fagt Jakob mit dumpfem Tone, „und Eduard 
aqgeſſen... Mir fängt e8 an, bange zu werden für den Unglüd: 
den!... 3a! wir wollen Adeline auffuchen ; ha! für Die Brauchen 
ir nicht zu erröigen... — D! für fie gehe ich ind Feuer... 
- Unglüädliche Frau, arme, Fleine Ermance... wo mögen fie 
st fein... Bielleicht der Schmerz, von ihrem Manne zu wiſſen, 
#... ah! Sansſouci, warum Haft Du ihr das gefagt? — 
"erh mir nicht mehr davon! Wahrhaftig, ich wollte, Du brauchteft 
eme Zunge zur Patrone. — Ich finde Feine Ruhe mehr, bis ich 
5, was aus ihr geworben if. Wir wollen ganz Paris durch: 
rifen, und, wenn es fein muß, in allen Häufern nach ihr er: 
:zMaen, and finden wir fie nicht in der Stabt, fo durchwandern 

“ ganz Frankreich, alle Stäbte, Flecken, Dörfer und Weiler, — 

beim Genfer, wir gehen zum Teufel, wenn es fein mug! 
‚rt wir finden fie wieder, Kamerad, mir finden fie wieder, ich 
ve bafür.“ 

Tal de Rod. 1. 18 


27 


Jakob und fein Befähtte kehren in einem unbebentenben Gef: 
> bofe ein; fowie der Tag graut, machen fie ſich auf bie Beine, 
burchfpähen alle Stadtviertel und fragen nad) Abelinen und ihrem 
Kinde, aber nirgends Tann man ihnen Auskunft über biefelben 
geben. Man fieht fo viele Unglüdliche in ver Stabt, daß man 
einzelne nicht beachtet; man weist fie wohl bie und da nach ber 
Wohnung einer armen Mutter, aber wenn fie hinkommen, finden 
fie niemals den Gegenſtand ihrer Nachforfchungen. 

Am elften Tage ihres Aufenthaltes in Paris gehe Jakob 
und Sansſouci auf den Boulevards auf und ab, und zerbredien 
fih den Kopf, was wohl aus Adelinen geworben fein koͤnne. 

Ploͤtzlich wenden ſich die Spaziergänger nach der Fahrſtraße 
hin und fcheinen etwas Befonderes zu erwarten. „Was gibt's denn 
da 3” fragt Sansfoufl einen neben ihm flehenden Taglöhner. — 
„Es ift,“ entgegnete diefer, „ein Zug Galeerenfliaven, ber and 
dem Bicötre kommt und nach Toulon abgeht... Da... feht... 
da kommt der Wagen ſchon ... bald werben wir fie feben... — 
Es ift nicht der Mühe werth, fich fo zu drangen, um Schurken 
und Schelmen zu fehen. — Sie Bitten um ein Almofen auf ihrem 
Wege... Wenn fie Herz im Leibe hätten, verlangten fie tobt: 
geihoffen zu werben... komm, Safob, wir wollen nicht bier bin: 
ſtehen ... diefe Burfche koͤnnen mein Mitleiv nicht erregen... 
— Ich will bleiben,“ fagt Jakob ergriffen, „ih muß fie fehen!“ 

Der Wagen rollt langfam einher, und Jakob, von einem ge 
heimen Borgefühl angetrieben, tritt ganz nahe darauf zu, und 
zieht einige Sous aus der Tafche. Bald find die Galeerenſtlaven 
vor ihm; fie ſtrecken ihre verbrecherifchen Hände aus und flchen 
bie Barmherzigkeit der Vorübergehenden an, Jakob betrachtet fie 
genau, und bemerkt einen, ber feinen Leidensgefährten nicht nach⸗ 
ahmt, fich vielmehr den Blicken ver Menge moͤglichſt zu entzichen 
fucht ; aber der Elende, mit welchem er zuſammengeſchmiedet if, 
iſt gerabe einer der Frechſten, der ihn mit Heftigkeit fortzieht. Diefe 





M 


Vewegung geſtaltet Jakob einen genauern Anblick her Züge des Un⸗ 
glücklichen. Er glaubt, feinen Bruder zu erkennen ... kalter 
Schweiß tritt ihm auf die Stirne, feine Hand greift ploͤglich un⸗ 
wlfürlich nach feinem Ordensbande, Idst ed ab und verbirgt es 
in feiner Bruſt. 

Der Wagen tft vorüber und Jakob folgt ihm mit den Angen. 
Sanbfonci zieht feinen Kameraden am Arme und fagt: „So fomm 
oh, was Teufels ſindeſt Du denn für ein Bergnügen daran, biefe 
Gauner zu fehen ? Aber was haft Du denn ?... Dein Geficht ift 
ta ganz entflellt?...— Ab, Sansfonci!... ich Bin verloren!... 
ntehrt!... — Du, ntehrt? Das ift nicht möglich, faſſe Dich 
dech. — Mein Bruber!... — Nun! ...“ 

Jalsob wagt es nicht, das unfelige Wort auszuſprechen, aber 
er weist wit Der Hand auf die Baleerenfträflinge, die man noch 
u ber Entfernung erblidt. „Das kann er nicht fein, Breund, Du 
uf Dig gelrrt. — AG, wenn es des Himmels Wille wäre!.... 
aber nein, es war kein Irrihum! und die Reben des guten Ge⸗ 
ſingnißſwärters. fein bedeutungsvoller Blick, als er mir die Sand 
stüte... Sich! es iſt kein Zweifel, nun errathe ih Alles... — 
O2) wenn fogar Dein Bruder ein Elender wäre, tft es denn Deine 
Ehuld ? Haft Du Dich darıım weniger fürs Vaterland geſchlagen? 
sh Du darum weniger gegen die Feinde geftritten.... und Deine 
Etirae, Deine Bruft, haben Sie feine Narben mehr? Taufend 
lionen Granaten! wer würde ſich an Deiner Bekanntfchaft fchä- 
nm?.., ih wärbe ihm meine alte Klinge gehn Zoll weit in den 
Rebel Roßen ... — Ach! mein Freund, mein ehrlicher Name ift 
Abanbet... OD! Bater... wenn Du dad erführek!... — Dein 
Bater iM todt, aber lebte er noch, fo würde Dein Ruhm ihn über 
Deines Bruders Schande tröften. — Rein, Sansſouci, über 
Ile Unglück Tann man fich nicht tröften. Bir bleibt nur ein 
Aröweg Kbrig: jene Elenden einzuholen, mich demjenigen zu nähern, 
ven ich vicht mehr meinen Bruder nennen Tann, ihm eine Kugel 


276 


durch den Kopf zu jagen, und mir ſelbſt es nachher ebenſo zu machen. 
— Das iſt ein ſauberer Ausweg!... Du wirft ihn aber nidl 
einfchlagen. Du wirft Dich erinnern, daß Du noch eine Schwefel 
haft, denn die gute Adeline liebt Dich wie eine Schweſter; Du 
wirft der Heinen Srmance gebenfen, die Du fo oft anf Deinen 
Schooße geſchaukelt; Du wirft dieſe Unglücklichen nicht ihres ein! 
zigen noch bleibenden Freundes berauben; Du wirft Deinen Kumme 
vergefien, um den ihrigen zu lindern; und in ihrer Mähe wirft D 
fühlen, daß Du noch nicht Alles verloren haft... denn wir werde 
fie wieder finden, und müſſen wir fie in allen Winkeln der Wel 
auffuchen... wer weiß, ob fie nicht vielleicht jetzt ſchon auf d 
Pachthofe find... oder in irgend einer armfeligen Hütte, wo 
unferer Hülfe bebürfen!... und Du wollteft dieſe Welt verlafi 
während Unglüdliche noch auf Dich zählen? Nein, beim Wetter 
das thuft Du nit... Du gibft nah... Du biſt gerühtt.. 
Nun, Muth! Jakob, in der Trübfal, wie im Feuer... und vorwaͤrts 

Jakob laͤßt ſich von feinem Kameraden fortgiehen, und viel 
benützt feine Stimmung, um mit ihm eine Stadt zu verlaſſen, 
feine Hoffnung mehr if, Adelinen anufzufinden. Sie fchlagen ihr 
Meg nach dem Pächthofe ein, und ſchmeicheln fich, Hier bie jun 
Flüchtige wieder anzutreffen. 

Aber auch diefe letzte Hoffnung ift bald zeritärt ; Die Niede 
gefchlagenheit der Landleute fagt ihnen genug. Jakob will foglei 
wieder fort, um aufs Neue Adeline und ihr Kind amfgufuce 
‚nur mit Mühe kann man ihn bewegen, eine Nacht im Näaͤcht 
hauſe zuzubringen. Dan bemerkt, daß Bruder Jakob nad) der P 
rifer Reife noch trauriger ift, aber die Landleute ſchreiben bie 
Schwermuth dem geringen Erfolge feiner bisherigen Bemühungen ; 

Sansſouci trifft alle Vorbereitungen zu einer wahrfcheinli 
lange dauernden Reife. Luife ift über die Trennung von ihr 
Better jehr betrübt, aber fie fühlt wohl, daß er feinen Freund ni 
verlaffen darf. Sie ſteckt in den. Reifefad eines Jeden eine gefü 


























a 


Börfe. Obgleich nur der Lohn für ihre thätigen Dienfte darin ents 
halten ift, fo wagt. fie es doch nicht, fie ihnen offen anzubieten, 
and hält dieſes Verfahren für das befte, um einer Verweigerung 
ihtes Geſchenkes zu entgehen. Gute Menfchen haben immer Geiſt 
un Geſchicklichkeit, wenn es ſich darum handelt, gegen Andere 
verbindlich zu fein. 

Sobald der Morgen graut, ift Jakob auf den Beinen; Sans: 
ſonci laͤßt auch nicht auf fich warten. Mit dem Reiſebündel auf 
m Rüden und einem tüchtigen Store in der Hand, tritt er vor 
kinen Freund und fagt: „Wenn Da willft, fo laß und gehen.“ 

Die beiden Freunde verlaffen das Haus. Die Pächtersfamilie 
kegt ihnen weinend Lebewohl. Die Kinder, Iange daran gewöhnt, 
ut Jakobs Bart zu fpielen, und mit Sandfonei ſich auf dem Graſe 
erumznwälzen, hängen ſich an fie und wollen fie nicht von fich laſſen, 
!aife bedeckt ihr Angeficht mit ihrer Schürze, und ihr Schluchzen 
lagt mehr als ihre Worte. Auch Guillot ift ebenfo betrübt wie bie 
Inen: „So muß ich nun ganz allein bei meiner Alten bleiben,“ 
isgte er, „wie wird mir ba bie Zeit fo lange werben! .... Hier, 
Ateund Jabob, erlaubt, daß ich Euch noch ein kleines Geſchenk auf 
he Reife gebe, wer weiß, ob es Euch nicht nützlich fein Tann.“ 
Nit tiefen Worten überreichte er ihn ein Paar Piſtolen. 

„Ya Habe fie letzthin gelegenheitlich im Dorfe einem alten 
Soldaten abgekauft; ich hatte im Sinne, fie Cuch an Eurem Ra: 
nrustage zu fchenten, aber ba Ihr num abreist, fo koͤnnt Ihr fie 
„ber gleich mitnehmen.“ 

Jakob dankt dem ehrlichen Pächter and nimmt deffen Gefchent 
zıllig an. Nachdem er Alle geküßt hat, entfernt er fih mit Sans⸗ 
ionci uud ſchwoͤrt, ohne Adeline nicht wieder nach dem Pachthofe 
2 fommen und nicht eher zu raften, als bis er fie gefunden habe. 


276 


durch den Kopf zu jagen, und mir ſelbſt es nachher ebeifo zu machen. 
— Das ift ein fauberer Ausweg!... Du wirft ihn aber nicht 
einſchlagen. Du wirft Di erinnern, daß Du noch eine Schwefler 
haft, denn die gute Adeline liebt-Dich wie eine Schweſter; Du 
wirft der Heinen Ermance gevenfen, die Du fo oft auf Deinem 
Schooße geſchaukelt; Du wirft diefe Unglüdlichen nicht ihres ein- 
zigen noch bleibenden Freundes berauben; Du wirft Deinen Kummer 
vergeflen, um ben ihrigen zu lindern; und in ihrer Nähe wirft Du 
fühlen, daß Du noch nicht Alles verloren haft... denn wir werben 
fie wieder finden, und müffen wir fie in allen Winkeln der Welt 
auffuchen... wer weiß, ob fie nicht vielleicht jebt fchon auf dem 
Pachthofe find... oder in irgend einer armfeligen Hütte, wo fle 
unferer Hülfe bedürfen!... und Du wollteft viefe Welt 'verlaffen, 
während Unglädliche noch auf Dich zählen? Rein, beim Weiter! 
das thuſt Du nicht ... Du gibft nah... Du biſt gerührt... 
Nun, Muth! Jakob, in der Trübſal, wieim Bener... und vorwärts!“ 

Jakob laͤßt fih von feinem Kameraden fortgiehen, und biefer 
benägt feine Stimmung, um mit ihm eine Stabt. zu verlaffen, wo 
feine Hoffnung mehr if, Adelinen aufzufinden. Sie fchlagen ihren 
Weg nah dem Pächthofe ein, und fchmeicheln ſich, bier bie junge 
Flüchtige wieder anzutreffen. 

Aber auch diefe letzte Hoffnung ift bald zerſtort; Die Mieber: 
gefchlagenheit der Landleute fagt ihnen genug. Jakob will fogleich 
wieder fort, um aufs Neue Adeline und ihr Kind aufzuſuchen, 
nur mit Mühe Tann man ihn bewegen, eine Nackt im Paͤchters⸗ 
haufe zuzubringen. Man bemerkt, daß Bruder Jakob nad} der Ba: 
rifer Reife noch trauriger ift, aber die Landlente fchreiben tiefe 
Schwermuth dem geringen Erfolge feiner biöherigen Bemühungen zu. 

Sansfouci trifft alle Vorbereitungen zu einer wahrſcheinlich 
lange dauernden Reiſe. Luife ift über die Trennung von ihrem 
Better ſehr betrubt, aber fie fühlt wohl, daß er feinen Freund nicht 
verlaffen. darf, Sie ſteckt in den Weifefad eines Zeven eine-gefüllte 





M 


Lampin iſt ſtets derſelbe; ſelbſt im Bagno zu Toulon bewährt 
er feinen Leichtfinn und feine Sorgloſigkeit; Schande iſt für ihn 
nur eim leeres Wort, und er gibt fich täglich Mühe, Eduard, wie 
er fagt, von feinen Vorurtheilen zu heilen. 

In der Gefellichaft von Galeerenfflaven kann der reumüthige 
Vetbrecher keine wohlthätigen Grundſaͤtze faſſen. Da gibt es deren 
zu viele, bie, Durch Verbrechen abgehärtet, ſich ein Vergnügen daraus 
machen, einen von Gewiſſensbiſſen gedrückten Sünder, den eine 
aiftichtige Reue wieder zu einem tugendhaften Leben zurüdführen 
!öunte, vollends zu ˖ verderben. 

Adelinens und feiner Tochter Bild verfehwinden nad) und nach 
aas Ednards Gedaͤchtniß, und er befchäftigt fich nun mit den Plauen, 
mit feine Gefährten ihn täglich unterhalten. Ex verfcheucht die 
Umifjensbiffe, die, wie man ibm zu beweifen fucht, fruchtlos find, 
2) denkt mit den Uebrigen an einen Cutweichungsverſuch. Nach 
lauf von ſechs Monaten ift fein Kebensüberbruß von dem glühen: 
a Durſt nach Freiheit vollklommen verdrängt. 

Ein kũühner Blau ift entworfen. Selbft auf den Galeeren finden 
1 Gefangenen Gelegenheit, mit denjenigen ihrer Freunde, bie bis: 
xilen eine größere Freiheit genießen, in näheren Verkehr zu treten, 
ar diefe wagen Alles zur Rettung und Befreiung ihrer Genoſſen, 
il fie bei der erſten beften Gelegenheit eine ähnliche Hülfe in 
Asipruch nehmen. 

£ampin leitete die Ausführung des Complots. Gezwungen, 
uchtern zu fein, ſteht ihm feine ganze Geiftedgegenwart zu Gebot. 
in gewonnener Wächter läßt die Thüren offen. Die Sträflinge, 
au Zeilen verfehen, haben ihre Ketten gelöst, mitten in ber Nacht 
‚nammeln fie fich auf ein gegebenes Zeichen, erfchlagen drei Wachen 
‚ar dringen in einen Hof, befien Mauern von Leuten foldher Art 
leicht zu überfleigen find. Lampin Hettert zuerft hinauf; Eduard 
'lgt ihm, indem er ſich an ver Kette feſthaͤlt, die immer noch an 
ten Füßen hängt ; ſchon haben mehrere Galeerenſtlaven die Mauer 


Bweiunddreitzigſtes Mapitel. 
Die Baleeren:-Stlaven, 

Jakob hatte fich nicht getänfcht, als er feinen Bruder unter 
ben Galeerenſklaven zu erfennen glaubte. Der unglüdliche Cduard 
mußte die Strafe des Verbrechens erdulden, wozu er fich halte 
hinreißen laffen. Er wurde zur Brandmarkung, Ausſtellung am 
Pranger und zwanzig Jahre Zwangsarbeit verurtheilt. 

Lampin, der fchon mehrere Male feinen Richtern enigangen 
und früher wegen Diebftahl verfolgt worden war, wurde lebend: 
laͤnglich zu den Galeeren verurtheilt. Vergebens hatte er Eduard 
berebet, Alles zu laͤugnen; er war zu ſchwach dazu, geſtand bald 
fein Verbrechen und lieferte fih feinen Richtern in die Hände. 

Der Elende hatte feine Frau und fein Kind erkannt, im Augen 
blide, als das ſchmachvolle Eifen ihn berührte. Er hatte Adeline 
fterbend vor fich nieverftürzen fehen, und diefes herzzerreißende Bild 
fland lange unauslöfchlich vor feiner Seele. Der Gedanke an eine 
Frau, die ihn anbetet, und deren Unglüd er bereitet hat, an ein 
Kind, dad er zur Schande verdammt, einft nur mit Schaubern den 
Namen feines Vaters nennen zu hören, und die Erinnerung an 
das früher genofjene häusliche Glück, Alles beflürmt ben Unglüd: 
lichen und läßt ihn das Gräßliche feines Zuſtandes noch viel herber 
empfinden. 

Gewiffensbiffe zernagen das Herz Eduards, und bewegen ihn, 
jo viel als möglich Die Gegenwart der übrigen Gefangenen zu meiden, 
die ihn nur feines Grames und feiner Feigheit wegen verhöhnen. 
Hundert Mal faßt er den Entfchluß, feinem Leben ein Ende zu 
machen, aber mit Zittern und Zagen ſteht er wieder von biefem 
Vorhaben ab. In diefer Gemüthöftimmung legt er, ohne feinen 


Bruder in Paris gewahrt zu haben, den Weg von Bichtre nad 
Toulon zurüd, 








Vergnügen, Dieben aufzupaffen ! da träume ich lieber vom meiner 
viden Rannette!... . Webrigens fürdhte ich mich nicht... ſolche 
Ernte fcheeren fich nicht um Kohl und Rüben.“ . 

„Bir find gerettet,“ fagt Eduard Teile zu feinem Begleiter. 
— „No nicht,” entgegnet Lampin. „Der Bauer bringt feine 
Gemüſe nach dem Markte, und wenn er uns entdeckt, wird er uns 
nicht für zwei Bündel Zwiebeln halten. — Was ift nun aber zu 
begimen! — Gi, beim Kuduf! wir müſſen querfelvein Laufen ; 
wir wollen nur warten, bis er wieber tüchtig ſchnarcht, und das wirb 
siht lange anftehen, weil er an feine dicke Nannette benft.“ 

Wirklich dauert es nicht-lange, und ber Bauer fchläft wieber 
fr. Lampin ſtreckt jept den einen Arm hervor, greift nach dem 
3igel und wendet den Wagen um. Das Bferd kennt nur zwei 
Berge, den nach dem Markt und den zum Stalle. Da es fo mit 
am Sale umkehren muß, glaubt ed, e& gehe wieber nach Haufe 
ma verfolgt ohne Sträuben. ven Weg ind Dorf zurüd. 

„Endlich find wir gerettet!” ruft Ednard, indem er behutfam 
tm Kopf aus dem Kohle hervorſtreckt, und rings um fich ber nur 
Yirme und Felder, aber feine Hänfer erbliätt. — „Du haͤltſt Dich 
umer für gerettet, Dummkopf,“ fagt Lampin, „und doch find wir 
zch leineswegs außer Gefahr... wir find ja noch Dicht bei Tonlon. 
Ta Bauer bringt uns in fein Dorf, und da werden wir von Neuem 
gawict. — Wir müſſen vom Wagen fleigen und und zu verbergen 
den... — Das ift bald gefagt... und zu verbergen!... aber 
ze denn? Huf den Bäumen, wie bie Spapen?... Bor allen 
Dingen follten wir weiterfommen ; mit diefen Ketten an den Füßen 
zn es jeboch nicht leicht gehen... — Die feilen wir ab... — 
Haben wir Zeit dazu?... — Seht frifch einen Haupfflreih ... 
wir find in einem Hohlweg . . . ich fehe nirgends ein Haus... 
i&uelf herunter. — Und dann? — Steig’ ab, fag’ ih Dir, uud 
balte das Pferd fachte an... waͤhrend deffen will ich unfern Fuhr⸗ 
zn durchfuchen.“ 


280 


erflommen und fi in den auf der enigegengefehten Seite beſind 
lichen Graben geftürzt, als ſich ploͤtzlich Flintenfchüffe veruehme 
laffen ; der Alarm wirb allgemein, die Garnifon tritt unter v 
Waffen, Solvaten eilen herbei und fchießen auf die Entfliehender 
Mehrere flürzen todt nieder, Andere ergeben fi, ver Aufftand i 
bald bewältigt, aber man hatte noch feine Zeit, ſich zu überzeugen 
wie viele der Gefangenen fi davon gemacht haben. 

Lampin und Eduard haben den Waffenlärm gehört. Es g 
lingt ihnen, aus dem Graben zu entkommen; aber wohin ſich n 
wenden, wie fehnell genug fliehen ? Schon bewegen fich die Trupp 
durch die Stadt und den Hafen... balp werben fie ihnen in | 
Hände fallen. Eduard ift in Verzweiflung, und Lampin zerbri 
fih den Kopf mit dem Schwure, daß er ſich nicht lebendig erge 
Auf einmal hören fie Pfervegeklingel ; gleich darauf fährt ein hoh 
mit Gemüfe beladener, von einem jungen Landmann geführter 
gen an ihnen vorüber. Der Bauer figt jchlafend vorne auf d 
Wagen und die Zügel hängen nachläffig über ven Rüden des Pf 
des, das langſamen Schrittes den gewohnten Weg verfolgt. 

„Mach's mir nach !“ ruft Lampin, dem Wagen nadhrenner 
„und wir find gerettet.“ Sogleich fleigt er von hinten hinauf, ma 
eine große Höhlung in den Kohl, die Möhren und Wurzeln, u 
gräbt ſich, kaum Athem holend, mit Eduard hinein. Der Baı 
wendet fih um, veibt fih die Augen aus, ſieht aber, noch 5: 
ſchlaftrunken, noch nichts umd will von Neuem zu ſchnarchen anfang. 
als Soldaten auf ihn zukommen. — „If Dir Niemand begegn 
Freund 3" fragt der Sergeant den Landmann. — „Meiner Tr 
nein, Niemand, meine Herren, als Ejel, Karren und Leute 
dem Dorfe. — Sieh Di vor, es find Galeerenfträflinge entſp 
gen; wenn Du einen ſiehſt, fo rufe nad Hülfe und gib ge 
Acht, welchen Weg fie einfchlagen.“ 

Die Soldaten gehen weiter. Der Bauer legt fich wieder 
bie Seite und brummt: „Sa, das thäte mix noch Roth, ein ſchoͤ 





Vergnügen, Dieben aufzupafien! da träume ich. licher von meiner 
biden Ranneite!... . Uebrigens fürchte ich mich nicht. . . foldhe 
Ente fcheeren fich nicht um Kohl und Rüben.“ 

„Bir find gerettet,“ fagt Eduard leife zu feinem Begleiter. 
— ‚Rod nicht,” enigegnet Lampin. „Der Bauer bringt feine 
Gemife nach dem Markte, und wenn er und entbedit, wird er uns 
nicht für zwei Bündel Zwiebeln halten. — Was ift nun aber zu 
beginnen! — Gi, beim Kuduk! wir müflen querfelvein laufen; 
zur wollen nur warten, bis er mieber tüchtig ſchnarcht, und das wirb 
nicht ange anftehen, weil er an feine dicke Nannette denkt.“ 

Wirklich dauert ed nicht lange, und der Bauer fchläft wieder 
fh. Lampin fireckt jekt den einen Arm hervor, greift nach dem 
Zügel und wendet den Wagen um. Das Pferd kennt nur zwei 
Dege, deu nach dem Markt und ven zum Stalle. Da es fo mit 
einem Male umkehren muß, glaubt es, es gehe wieder nach Haufe 
an verfolgt ohne Sträuben. ven Weg ins Dorf zurück. 

„Eublich find wir gerettet!” ruft Eduard, indem er behutfam 

ten Kopf ans dem Kohle hervorſtreckt, und rings um fidh ber nur 
Bänme und Felder, aber Leine Hänfer erblickt. — „Du haͤltſt Dich 
'nmer für gerettet, Dummlopf,” fagt Lampin, „und doch find wir 
och Teineswegs außer Gefahr... wir find ja noch bicht bei Toulon. 
Der Bauer bringt uns in fein Dorf, und da werben wir von Neuem 
wit. — Wir müflen vom Wagen fteigen und und zu verbergen 
hen... — Das ift bald gefagt.... und zu verbergen!... aber 
ro denn * Auf den Bäumen, wie bie Spatzen? ... Bor allen 
Tingen follten wir weiterlommen ; mit dieſen Ketten an den ßen 
wur es jeboch nicht leicht gehen... — Die feilen wir ab.. 
Saben wir Zeit bazu?... — geht friſch einen Hauptftreich ... 
zır finb im einem Hohlweg... ich fehe nirgends ein Hand... 
nel herunter. — Und dann? — Steig’ ab, fag’ th Dir, und 
belie dad Pferd fachte an... während deſſen will ich unfern Fuhr⸗ 
mann durchſuchen.“ 





Eruard ſteigt vom Karren. Lampin Hält die Zügel an und 
das Pferd bleibt fichen. „Wir müflen ed ausſpannen und auf nad 
davon reiten,“ fagt Lampin, „geſchwind aber.” 

Damit unterfucht ex die Tafchen des Landmanns und bemäd): 
tigt fich eines Meffers und einiger Silberftäde. Epuard Tann mit 
dem Ausfpannen nicht fertig werben und erfucht Lampin, ihm dabei 
behülflich zu fein. Diefer feheint aber, während er die Kleivung 
des Bauern betrachtet, einen neuen Plan auszudenten : „Ich babe 
Angft, daB, er aufwacht,“ fagt Cduard. — „Wenn er aufwacht, 
ift er ein Kind des Todes,“ erwibert Lampin, fpringt eilendö ber 
unter und loͤsſt die Riemen und Seile, welche das Pferd noch an 
dem Wagen halten. Aber ver Bauer ift dergeflalt an bie Bewe⸗ 
gung des Karrend gewöhnt, daß er, ſobald dieſer einige Angen- 
blide fieht, aufwacht. — „Bio! Hio!“ fehreit er, ſich die Augen 
reibend. — „Wir find verloren,“ jammert Ednard halblaut. Lampin 
“ antwortet nicht, fondern fpringt raſch auf den Wagen zu, unb im 
Augenblide, wo fich der unglüdliche Landmann erheben will, ſtoͤßt 
er ihm dad Meffer in die Bruft. 

Der Bauer ftößt nur einen ſchwachen Schrei aus. Eduard if 
von Entfepen ergriffen. „Unglüdlicher! was haft Du gethan!“ 
ruft er fchaudernd aus. — „Was nothwendig war,“ antwortet 
Lampin. „Schade ift nur, daß ich feine Kleiner nicht mehr brauchen 
fonn, weil fie mit Blut bedeckt find... ich muß mich mit bem 
Hute und mit der Bloufe begnügen.” 

Mit diefen Worten entkleidet der Böferwicht fein Opfer, wirft 
fih da8 Ueberhemb um, fleigt haflig aufs Pferd, wendet ſich zu 
dem noch ganz verblüfft daſtehenden Eduard und ſpricht: „Sept, 
mein Junge, Hilf Dir aus der Gefchichte heraus, fo gut Du kannſt.“ 
Nun gibt er feinem Pferde einen Stich mit der Mefferfpige und ver: 
ſchwindet, indem er Cduard an der Seite des Bemorbeten zurücklaͤßt. 


‘ 








Dreiunddreißigſtes Mapitel. 
Der Holzhacker und die Räuber. 

Die Racht geht vorüber. Eduard, ganz beftärzt über Lampins 
Aucht and völlig außer Faſſung über Alles, was ihm feit einigen 
Stmnden begegnet it, fleht noch neben dem Wagen, ohne zu wiffen, 
des er anfangen foll. 

der unglüdliche Bauer athmet noch und flöhnt bisweilen 
mh. Cduard weiß nicht, foll er ihm beiftehen oder entflichen. 
gi ſchwault, zögert hin und ber, und der erfte Morgenſtrahl findet 
tu noch in dieſem Zuſtande. Er wirft einen Bli auf feinen 
Anzug und erfchrickt, fich in der Kleidung eined Galeerenſträflings 
ufchen, in welcher ex ficher für den Mörder des Banern gehalten 
wen wäre ; diefer Gedanke erftarrt ihn zu Eis; der Anblid des 
hbrmauns erregt feinen Abfchen, er entfernt fi baber fo ſchnell 
4 feine Kräfte geftatten, und erreicht ein Meines Wäldchen, 
ro er fh den Rachfuchungen zu entziehen hofft. 

Seine erfie Sorge iſt, die Ketten zu durchfeilen und von ſich 
uuwerfen ; aber der Kleidung Tann er fich nicht ebenfo entlebigen, 
u feht wohl ein, daß er füch nicht blicen laffen darf, wenn er 
rt feſtgenommen fein will, 

Diefe Betrachtung bringt ihn zur Berpeiflung, und ex bereut 
ran Angenblick, den unglüdlichen Bauer nicht gänzlich ausge⸗ 
Ste und geplündert zu haben. 

* iſt heller Tag geworden; die Landleute gehen an ihre Ar⸗ 

Ya. Cduard dringt immer tiefer in das Gehölz ein, liedt Feigen 
m Oliven anf, und Hettert auf einen Baum, um hier die Rück⸗ 
Ihe Ver Dunkelheit abzuwarten. 

Aber wie lange wird ihm der Tag! und wie oft fährt er nicht 
N Zittern zufonmen, wenn er Landleute fich nähern und nicht 
Devon dem Daume ausruhen ficht, ber ihn verbirgt. Ex hoͤrt, 


⁊ 


28 


wie fie fih von dem Morbe ded armen Fuhrmanns unterhalten. 
„Ein entflohener Galeerenfträfling hat es gethan,“ erzählen fie 
fich gegenfeitig ; „es find mehrere in verwichener Nacht aus dem 
Bagno in Toulon entfprungen, allein man ift ihnen auf der Spur, 
und fie werben gewiß bald wieber ergriffen werben.“ 

Eduard ift nur zu fehr von den Schwierigkeiten überzeugt, 
bie fich feiner Rettung entgegenſetzen, und überläßt ſich völliger 
Troftlofigkeit. Endlich wird es wieder Nacht! er fleigt von feinem 
fhügenden Baume herab, und macht fi auf den Weg. Bei dem 
leifeften Geräufch, welches zu feinem Ohre bringt, flieht ex Kill, 
horcht und verbirgt fi) im nächften Gebüfch. Geſicht und Hände find 
ihm von den Dornen und Stacheln zerfleifcht, aber er kennt keinen 
Schmerz mehr ; er möchte fi in die Cingeweide der Erbe begraben. 

Er läuft, fo lange e8 feine Kräfte geftatten, ſammelt ſich ſorg⸗ 
fältig Früchte auf den naͤchſten Tag, verweilt nur an ben oͤdeſten 
Orten, und bringt die Tage in ben belaubteflen Baumgipfeln zu. 

Gegen Abend des vierten Tages Tommi er an einem Kleinen, 
von einem Bärtchen umgebenen Häudchen vorüber, er wirft einen 
Bid hinein, in der Hoffnung, einige Früchte zu enideden, aber 
wie groß ift feine Freude, ald er Wäfche und Kleivungsfläde an 
einem Seile hängen fieht! Der Gedanke, fich dieſelben augneiguen, 
um feinen Galeerenanzug abwerfen zu Iönuen, fährt ihm durch 
ben Kopf; ein Diebfiahl erſchreckt ihn nicht mehr, er entichuldigt 
ihn mit der Nothwendigkeit. Nur eine halbverfallene vier Fuß hohe 
Mauer trennt ihn von ben Toftbaren Kleivungsftüden ; zum erſten 
Male denkt er an Feine Gefahr, ex fpringt hinüber, ergreift, was 
ibm nöthig und entflieht damit, ohne auch den geringfien Gewiſ⸗ 
fensbiß über dieſen Diebftahl zu empfinden; denn die That, bie er 
begangen bat, erjcheint ihm nur als eine Kleinigleit gegen alled 
Datjenige, was er fchon Hat verüben fehen. 

In einem dichten Gebüſch wechfelt er bie Kleider. Etwas be 
zubigter durch den Gedanken, daß er jet ſchon weit von Tonlon 





285 

eitfernt fein mäßfe, ſetzt er, entfchloffen, zur Nächt hie Gaſtfreunb⸗ 
(haft irgend eined Bauern anzufprechen, feinen Weg weiter fort. ' 
Gr hofft, man werde ihm doch wenigftens ein Stück Brob nicht 
zeweigern, und das fcheint ihm ein Schag, wodurch er zu neuen 
hröften gelangen koͤnne. Indeſſen wagt er es doch noch nicht, ſich 
ram Dorfe zu nahen, da er fürchtet, Genbarmen darin zu be 
nen, bie ihn verfolgen, daher zieht er e8 vor, an die Thüre 
ur einfam im Walde liegenden Hütte zu Flopfen. a 

Ein Landmann macht ihm auf und fragt, was er begehre. — 
„Ir Eönnt viel für mich thun,“ entgegnet Eduard; „ich bin ein 
Inlüdfiger, von Mangel und Mübigkeit erfhspft; erlaubt mir, 
Rat bei Euch zugubringen, Ihr rettet mir das Leben. — In 
0 That,” fagt der Landmann, „She Scheint fehr ermübet . .-. 
"hr lidend ! aber wer feld Ihr? Man will doch wiffen, wen man 
fh aufrimmt. — Sch bin ein armer Deferteur ... ich ver: 
zu mich Euch an, ruinirt mich nicht!... — Ein Deferteur... 
inkl... Das Defertiren ift eine ſchlimme Sache! aber ich werde 
Rd nicht ind Unglück flürgen ... . kommt alfo nur herein und 
rrölt mie dann, warum Ihr deſertirt ſeid.“ 

Euard tritt ein und empfindet eine innige Freude, fich ein- 
2a wieder unter Dach und. Fachezu ſehen. 

Run,” fagt der Bauer, „ich werde Euch bie Hälfte von 
tm geben, was ich habe, das iſt eben nichts Gutes, allein Ihr 
Stdei Cuch nicht lange firänben, ed anzunehmen ... ich Bin ein 
ma Schauer, Safe nicht viel, lebe von der Hand in den Mund, 
% freut mich aber dennoch, wenn ich mein bischen Abendbrod und 
vn Rachtlager mit Euch theilen Tann. Ich Habe Brod, Käfe und 
U Reichen Wein, welches wir mit einanver ausleeren wollen ; 
zb mein Bett if nicht ganz ſchlecht, das beſte Möbel, welches 
& m Sanfe habe, ich weite, Ihe fchlaft prächtig darin! .. 
Sohlen, Freund, erzählt mir Eure Geſchichte; ich Habe auch unter 
Mm Rilitar gedient, ja, ih war and Soldat, und kann mir 





\ 


ſchmeicheln, nicht deſertirt zu fein. Ich möchte erfahren, was Guch 
zu dieſem ſchlechten Cutſchluſſe bewogen hat.“ 

 Ebnard erfindet eine Gefchichte ; der Holzhacker hört aufmerkſam 
zu. Die Sonderbarkeit diefer Erzählung, bie Unwahrſcheinlichkeit 
feiner Abentener, die Verlegenheit Ebuards, wenn ihn fein Wirth 
am nähere Details über fein Regiment und feinen Garniſonsort 
befragt, Alles das erweckt Axgwohn in dieſem, und er fürchtet mehr 
und mehr, von irgend einem Landflreicher angeführt worben zu fein. 

Da er indeſſen nichts beſitzt, was die Habgier reizen Eönnte, 
fo theilt er dennoch fein Abendbrod mit Cduard; daun fordert er 
ihn auf, ſich auszuziehen und nieberzulegen. Eduard läßt ſich das 
nicht zweimal fagen, ſchon zieht er feine Jade aus und will auch 
die Wefte ablegen, als ein plöglicder Gedanke ihn davon abhält, 
und er wie verblüfft vor dem Holzhacker fichen bleibt. 

„Si! wollt Ihr Euch nicht zu Bette legen ?“ fragt der Bauer, 
als er die Beflürgung Eduards wahrnimmt. — „Doch, erlaubt... 
ich werbe mich fogleich niederlegen ... — Es ſchien doch, als 
wolltet Ihr Euch fchon auskleiden, und jetzt ſteht Ihr da, ald ob 
Ihr nicht wüßte, was Ihr machen follt? ... — Ach! weil ich 
überlegte, ob es nicht beffer fei, angefleivet zu bleiben, um morgen 
früh gleich wiederreifefertig gu fein. — Wie Ihr wollt, nach Gefallen.“ 
- Eimarb wirft fich aufs Bett, und der Holzhader macht es 
eben fo, jedoch nicht in ver Abficht, zu fchlafen; eine geheime 
Unruhe quält ihn, er fürchtet, einem Verbrecher Obdach gegeben 
zu haben und beſinnt ſich, wie er feine Zweifel anfllären Zäune. 

Der Blende, ven die Müdigkeit beinahe nieberbrüdte, und 
welcher Iange nicht auf einem fo weichen Lager geruht Hatte, üben 
ließ fi bald dem Schlafe. Der Holzhacker, der ih nur gefteflt, 
ale ob er ſchliefe, ſteht, nachdem er ſich überzeugt hat, daß der 
Fremde feſt fchläft, ſachte wieder auf, geht in eine kleine Küche hinaus 
und fihlägt Feuer ; dann zündet er eine Lampe an, nimmt feine 
Vdlinte und lehrt ohne Seräufc wieder ins Bimmer zu Chuard 





287 
yetil. Der Schlaf bes Unglücklichen war peinlich und unruhlg ; 
er bewegt ſich unanfhörlich, wirft fich heftig auf feinem Lager 
zmber, und unzufammenhängende Worte entfchlüpfen feinen Lippen; 
ver Holzhacker horcht und vernimmt deutlich folgende Worte: „Auf 
ver Ranbfraße ... mitten in der Nacht... ex ift ermordet... 
ubut mir dieſe Feſſeln ab ... befreit mich von biefen Ketten... 
“ bindern mich zu fliehen.“ 
„Ermorbet !“ wieberholt der Landmann Ieife ... „alfo habe 
4 einen Straßenräuber aufgenommen, und diefer Schuft fchläft 
u dem Bette eines ehrlichen Mannes... Wer weiß, ob ex nicht 
jener ganzen Bande bier bei mir ein Stellbichein gegeben hat}... 
Bar fagt ohnehin, daß fich feit einiger Zeit Räuber in biefer 
Vegend berumtreiben follen. Bielleicht wollten fie fich meiner Hütte 
Imähtigen, ums fich einen Schlupfwinfel daraus zu machen ... 
Infel, wenn ich das wüßte, fo fuchte ich mir dieſen vom Leibe 
m ihefen, da er noch allein if... ... Doch halt, erſt wollen wir 
ws von Eiwas überzeugen . . .“ 

Der Holzhacker naͤhert ſich Cduard, fchneidet vorſichtig den 
Riden der Weſte des unglücklichen Galeerenſtlaven auf, entblößt 
um Schulter, Holt die Lampe herbei, halt die Hand vor das 
At, damit der Strahl nicht auf die Augen des Fremblinge falle... 
inedt, den Athem an fich haltend, deu Kopf ver... und erblidt 
Maındernb das fatale Brandmal. 

So babe ich mich alfo nicht geirrt,“ fagt er, die Lampe wieber - 
u den Kamin ſtellead und fein Gewehr ladend. Es iſt ein Ver⸗ 
neh... aber bei allen Zeufeln, er foll nicht länger bei mir 
Haben!... umb follte ich mich auch größeren Gefahren audfegen, 
rien Schurken jage ich aus meiner Hütte.“ 

Sogleich tritt er aufs Bett zu und verfagt Eonard mit feinem 
Bustentsiben einen berben Stoß; biefer erwacht, richtet fich auf 
m ſieht mit Schrecken, wie fein Wirth anf ihn zielt und wü⸗ 
ldende Blicke nach Ihm wirft. 


288 

: „Auf der Stelle mad’, daß Du forikommft,” fchreif ihm ber 
Holzhacker, dad Gewehr immer auf ihn gerichtet, zu ; „plöglich pad 
Di fort, und unterftehe Dich nicht, wieder zu kommen, ober ic 
zerſchmettere Dir dad Gehirn.” 

„Was habt Ihr denn ?... woher diefe Wuth ?" fragt Epnart 
flaunend um fich blidend. „Bin ich denn nicht mehr in der Hütte 
wo man mich gaftlich aufgenommen ? Ihr fein ed boch, ber mi 
einem Unglüdlichen feine Mahlzeit und fein Lager theilte, und jeg 
wollt Ihr mich fortjagen ... Was habe ich denn geihan, un 
folge Behandlung zu verdienen? — Du weißt wohl, Elender 
geh’ zu Deinen Kameraden auf der Landſtraße, plünbere und morb 
die Reifenden, bei mir-aber findeft Du nichte. — Freund, Ih 
„Int Euch, ich. ſchwoͤre es Cuch, ich bin einer ſchlechten That nn 
"fähig! I... — Wahrhaftig, Du biſt wohl gar ein rechtſchaffene 
Mann? ... und das Brandmahl anf Deiner Schulter haſt D 
etwa für. Ruhm und Ehre erhalten ?“ 

. „Großer Bott! .. .“ ruft Cduard aus, indem er nach fein: 
Weſte greift und bemerkt, daß fie aufgefchnitten if. „Wie! .. 
Ihr habt es gewagt ? — Ich habe wiffen wollen, wer Du bift.. 
Dein Betragen bat mich mißtrauifch gemacht, ich mußte im Klare 
über Dich fein. Du ſiehſt, Deine Reden, Deine Geſchichten könne⸗ 
mich nicht mehr irre machen ; alfo noch einmal, fcheer Die, weite 
ein Menſch wie Du darf nicht unter meinem Dache weilen.“ | 

„Ih Unglüädlicher!" ruft Eduard aus, indem er ans hei 
Bette fteigt und ſich verzweifelnd vor bie Stine flägt ... „i 
gibt’8 denn keine Rettung mehr für midy, fo Bin ich verloren, vo 
ber menfchlichen Geſellſchaft ausgeftoßen, gensthigt, Die Welt 3 
fliehen und im Verborgenen zu leben... dieſes entehrende Me 
fiempelt mich zum Verbrecher... nur unter Räubern und Sp 
Buben finde ich noch einen Zufluchisort ... nur durch nene M 
brechen kann ich mein Dafein friften! . . ber we der Mene i 
mir verſchloſen, ih ſoll ein Boſewicht fein! . „“ Ä 


203 


Rach dieſen Worten wirft er ſich troſtlos zu ben ‚Füßen bes 
hohzhaders nieder. Diefer fühlt bei dem verzweiflungsvollen Zus 
hande des vor ihm liegenden Elenden einen Augenblid Mitleid ; 
re ſtellt feine Flinte weg und will feiner Empfindung folgen, als 
ſich plöplich von mehreren Seiten des Waldes her ein durchdrin⸗ 
gendes Pfeifen Hören laͤßt. 

Sogleich erwacht in dem Holzhacker ſein ganzer Argwohn, 
ige ganze Wuth wieder. Er zweifelt nicht, daß jenes Pfeifen ein 
deichen der übrigen Räuber iſt, die ihren Kameraden auffuchen, 
:@ legt feine Flinte wieder in Anſchlag. Eduard will nochmals 
ma Mitleid anflehen; er naht fih feinem Wirth und firedt die 
zinde nad ihm aus, dieſer aber deutet feine Bewegung anders, 
'inhtet, er wolle ihn ermorden, tritt einige Schritte zurüd und 
Tadt ab. 

der Schuß geht los, aber die falſch gerichtete Waffe verfehlt 
nErfer, Die mörberifche Kugel pfeift dicht über die Schulter des 
Inlälligen, der noch auf den Knieen liegt, Hin, und fährt. in 
'e Bauer. Sept aber beleben Wuth und Berzweiflung Eduards 
Art, mer thener will er fein Leben verfaufen; er greift nad 
ran Set, Die er in einer Ede der Stube erblickt, und in bem- 
vis Moment, wo ber Holzhader mit dem Gewehrkolben auf ihn 
'wringen will, verjeht er ihm einen fo heftigen Hieb auf den 
tef, daß biefer leblos zu feinen Füßen nieverftürzt. Der unglüd- 
‚be Holzhacker fällt, ohne einen Laut von fich zu geben, und 
Rush ficht fich mit Entfehen von oben bis unten mit befien 
Binte 

—* ieſen Augenblicke wird die Thuͤre der Hätte eingetreten. 

Pi mit Lumpen bedeckte, aber von Kopf bis zu den Füßen be⸗ 
fute, haͤßliche Geſtalten erfheinen auf der Schwelle, fteden 
2 Röpfe im die Stabe und betrachten ſtaunend das Schaufpiel, 
veites füh ihren Augen darbietet. | 

del de Red. 1, | 19 


„Dho!“ fagt endlich ver, welcher der Anführer zu ſein Wheint, 
„hier gehen ja fonderbare Dinge vor, und wie ich füge, Yeben 
wir noch Kameraden im Lande... Kreuz Donnerwetter! ... bad 
ift ein Burſche, der fi, wie es feheint, nicht ſchlecht aus ber 
Sache gezogen hat!" 

Eduard ſteht noch unbeweglich, bie moͤrderiſche, blutige Art 
in den Händen, mitten im Zimmer. 

Die Ränder treten ein; ver Chef derſelben betrachtet Ebuarb 
genauer und macht dann eine Bewegung freudiger Neberrafdjung. 
— „Erift es!“ ruft er endlich... „ja, er ift ed... fieh! Kamerad, 
Du mußt ihn ja auch erkennen. — Beim Kucknk! freilich, es if 
ja unſer alter Freund! . Friſch auf, Murville, umarme Deine 
alten Bekannten, Deine Freudens⸗ und Leidensgefaͤhrten!“ 

Eduard hoͤrt die ihm wohlbekannten Stimmen, er erhebt die 
Augen und erblickt Lampin vor ſich, erfennt aber den andern Räuber 
noch nicht, deſſen Sprache ihm übrigend auch nicht fremd ſcheint 
Der Anführer ergreift feine Hand und fchüttelt fie ihm kraͤftig 
Eduard fleht ihn an, und fucht in feinem abfchentich zagerchleten 
Gefichte bekannte Züge zu entdecken. — „Wie ?“ ruft Eampin aus, 
„erkennſt Du Deinen alten Freund Bufresne nicht mehr ?* 

„Dufresne ! wäre es möglih!.... — Ia, Marsllie, er iſt 
es ſelbſt,“ verſetzt Dufresne, indem er mehrere Binden vom Kopfe, 
ein Pflaſter, welches ein Auge und einen Thell der Stirne bebeiit, 
und einen Bart, der den untern Theil des Geſichtes verbirgt, ab⸗ 
nimmt... „Es freut mich, daß Du mich nicht erfannt haſt, das 
beweist mein Talent, mich zu verftellen und ift etwas werth, wenn 
man zum Tode verurfheilt ift. Aber Du, alter Freund, ſcheinſt etwas 
gewanbter geworden zu fein, ſeitbem wir uns nicht mehr gefehen 
haben ... Teufel! das macht Dir viele Ehre,.. — Kameraben,“ 
fagt Lampin, der inzwiſchen bie Hütte durchſtobert hatte, „Hier iR 
nichts für und zu holen. Der Schuß Tönnte Leute Herbeifähten, 
denen wir nicht gerne begegnen möchten ; glaubt mtr, es if beſſer, 





au 
wir verlaſſen diefe alte Baracke und gehen wieder in den Wald, 
wir Tönnen bort eben fo gut und ſicherer plaudern, als hier.“ 

De Lampins Rat für Flug anerkannt wird, fo entfernen fie 
ve Jaͤuber and der Hütte und nehmen Cduard mit fi, der ſich 
von feinem Erſtaunen noch nicht erholen und es fih nicht für 
noͤglich denken kann, Dufresne ald Räuberhauptmann wieberzufinden. 

Nachdem die Räuber eine Zeitlang das bichtefte Gehoͤlz durch⸗ 
(dritten haben, machen fie endlich in einer hoͤhlenartigen Vertiefung 
Salt, zünden ein Feuer an, holen ihre Mundvorräthe hervor, breiten 
he anf dem Rafen aus, legen ihre Waffen für einen möglichen . 
Ucherfall zurecht, und lagern fi ſodann rund um dad Feuer im 
Reife. 

„Ich weiß nicht,” fagt Dufreöne, Eduard mit wilder Freude 
detrachtend, „ein unbeflimmtes Vorgefühl ließ mich immer hoffen, 
wi Dir einmal wieder zufammenzufommen... Meiner Treu! ih 
babe auch immer darnach getrachtet, nicht wahr, Lampin ?“ 

kampin aß mit Heißhunger, und trank feiner Gewohnheit ges 
niß noch beffer ; er begnügte fh, Eduard Lächelnd anzubliden. 
Liefer aber betrachtete feine neuen Gefährten und wußte noch nicht, 
te fih zu dem Zufammentreffen mit ihnen Glück wünſchen follte, 
Ber nicht. 

„Aber wie kommt es benn, daß ich Dich mit Lampin Hier im 
Balde wiederfinde ?“ fragte er endlich Dufreöne ; „wie kommt es, 
eh ihr eine fo gefährliche Lebensweiſe eingefchlagen habt ?“ 

„Und welch ein anbered Leben foll man führen, wenn man, 
= bir, aus der menfchlichen Geſellſchaft ausgeſtoßen iſt? ... 
Elf Du nicht den Unfchuldigen ſpielen. .. Du! ver Du fo 
then mn fun armen Holzbaner erfchlagen haft, veffen Ton Dich nicht 

amal etwas nũutzt ?“ 

Ich habe mich nur vertheidigt. Dieſer Menſch hatte auf mich 
vxſqhoſſen, ex drohte, mich zu erſchlagen, und ich Habe nur feinen 
Geh yarizt, — Pop Genfer! Kamerad, Du panel ganz artig! 


Do, dem fei wie ihm wolle, ſprechen wir von. dem, maß und 
betrifft. Du weißt, ich wurde zum Tode verurtheilt; glücklicher 
Weiſe habe ich die Geſchichte nicht abgemwartet, Dank. meinen ge: 
treuen Freunden, die mir den Weg aus dem Gefängniß bahnten 
Wir dürfen uns nun aber nicht mehr öffentlich fehen laſſen, un! 
haben Wälder und Landſtraßen erwählt, um unfer Gewerbe zı 
treiben, man muß in ber Welt doch etwas thun. Kürzlich Biel 
ich im Walde einen Reifenden zu Pferde an; ich erfannte Lampin 
und ihm war nichts Lieber, als zu den Unfrigen zu gehören. D 
ſollſt nun auch bei uns bleiben, lieber Murville, denn es bei 
Dir nichts Anderes mehr übrig, und Du mußt hoch erfreut fei 
und angetroffen zu haben.” 

„Sa, ja,“ fagt Lampin, „und ich Bin überzeugt, Du bi 
mir nicht mehr böfe, Dich mitten in ber Nacht bei jenem Fuh 
mann verlaffen zu haben. Was willft Du au, mein Junge; i 
fah, daß das Pferd nicht viel werth war; mit zwei Reitern a 
dem Rüden wäre ed nur langfam weiter gefommen, unb da muß 
ich doch zuerft an mich denken, dad tft ganz natnlih !.. . .“ 

„Welch ein trauriges Dafein !” fagt Eduard, um ſich blicken 
„in den Wäldern, in ber Finfterniß leben. . . jeden Augenbli 
fürchten zu müffen, gefangen zu werben ... fein 2eben für eini 
Goldſtücke zu wagen.“ 

„Ha, meiner Treu!” entgegnei Lampin, „ich geftehe, ee m 

» freilich Heiterer, ald wir die blonde Veronica auf unferem Schoof 
wiegten, und Madeira und Champagner tranfen ; aber ſtehſt ©: 
Kleiner, es gibt Bornehme und Geringe in der Welt, Heute mi 
morgen Dir!” 

„Bafle Muth, mein lieber Murville,“ faͤllt Dufresne wier 
ein, „wir koͤnnen noch einmal wieder reich werben und das Lebi 
unter einem andern Himmelöftrich genießen. Inzwiſchen will i 
mich aber auch nicht Damit begnügen, nur in ven Wäldern au lebe 
und einigen armfeligen Reiſenden aufzulauern ; außerbem reich: 

















293 


uch vier oder fünf Mann nicht Hin, eine furchtbare Bande zu 
Silben und größere Reiſewägen anzuhalten, ich habe aber andere, 
Moartigere Pläne, und da ich das Talent beſttze, mich, wenn es 
lein muß, unfenntlich zu machen, fo Hoffe ich, wenn meine Kameraden 
"meinem Unterrichte erft ganz durchdrungen fein werben, Tühnere 
Streihe auszuführen, fei ed nun, bei reichen Privatleuten einzu: 
“ingen, ober fonft unter irgend einer Maske einen ergiebigen 
äiſtzug zu halten,“ 

„ga! erift fchlan, der Ramerad! er foll ung ſchon führen !... 
id möchte gerne wiffen, wem er feine Erziehung verbanft! .. 

„Da kann ich euch Genüge leiften, meine Freunde, indem ich 
“6 meine Jugendgeſchichte erzähle; meine Erzählung ſoll nicht 
2 fein, fie wird euch aber Vergnügen machen ! Uebrigend Tann 
“Rureilfe fih zu Nutzen ziehen. Es kommen Dinge darin vor, 
deiehung auf ihn haben, und ich brauche mich ja nicht mehr 
“Tim zu geniren.“ 

„Erzaͤhle, erzaͤhle!“ ruft Lampin, „unterdeſſen koͤnnen wir 
"len, wir haben doch nichts Beſſeres in dem verwänfchten Walde 
ru tbun, wo wir feit zwei Nächten leer ausgegangen find. 
Le, Kameraden, ſchürt das Feuer an und laßt und ſchweigend 


Tefen 10 

Die Räuber fachen das Feuer wieder an, ergreifen jeder eine 
witte und gruppiren fich um ihren Anführer, während Eduard, 
a Kopf in die Hand geftüßt, mit dumpfem Brüten Dufresne's 
"iblung erwartet, 


2% 


Pierunddreißigfies Aapitel. 
Dufredned Lebensgeſchichte. 


Ich bin in einem Fleinen Dorfe uhmweit Rennes geboren. Mein 
Bater wurde, nachdem er reich und angefehen gewefen war, durch 
einen Prozeß gegen einen feiner Vettern ruinirt. Arm, fah er fih 
gendthigt, die Stelle eined Jagdaufſehers bei einem alten Gute: 
herrn anzunehmen, dem fein Wildpret Lieber war, als feine Ba: 
fallen, und ber den Tod eines auf feinen Gütern gefchoffenen 
Kaninchens oder Rebhuhns niemals verzich. 

Mein Bater, durch das Unglüd erbittert, nährte heimlich den 
Wunſch, fih an Demjenigen zu rächen, der ihn um fein Ber: 
mögen gebracht hatte. Er wohnte in einem Heinen Haufe mitten 
im Walde, dort nahm er mich hin und behielt mich bei fih. Ich 
mochte etwa ſechs Jahre alt fein, ald mein Vater ſich dorthin 
zurüdgog. Ich war Tühn, unternehmend, muthig, feft unb ent: 
fehieden in meinen Entichlüffen. Das beinahe wilde Leben, welches 
ich feit mehreren Jahren führte, konnte nicht dazu beitragen, meinen 
Charakter milder zu machen. Ich ftreifte unaufhoͤrlich durch bie 
Wälder, erkletterte die Berge, die fleilften Felſen, fprang über 
Abgründe, ſchwamm durch reißende Gewäfler, und wenn ich Dann 
zu meinem Bater zurüdtam, fo wieberholte er mir die Geſchichte 
feines Unglüds, lehrte mich die Menfchen haften, deren Ungered): 
tigkeit fein Herz empört hatte, empfahl mir, Teinem Menfchen zu 
frauen, niemald auf Erfenntlichkeit und Billigkeit von Meines: 
gleichen zu rechnen, und zum Belege für feine Lebensanfühten 
zählte er mir alle Dienfte auf, die er Andern als reicher Mann 
geleiftet Habe, und welche alle mit Undank belohnt worden feien ; 
er machte mich ausführlich mit dem Prozeß befannt, den er aut 
durch Betrug und Boswilligkeit verloren habe, umd ließ mid 


Kwiren, deu als meinen Feind zu betrachten, der fein Verderben 
herbeigeführt habe. 

 Diofe Beben meined Baterd gruben ſich tief in mein @ebächtnif 
a. Vielleicht Hätte mich der entgegengeſetzte Rat bewogen, Dies 
jaigen zu lichen und zu verehren, bie ich jegt zu haffen und zu 
urhten eutſchloſſen war ; aber vie erften Einbrüde vermögen Alles 
über ein jugenbliches Gemuͤth, und die Unabhängigkeit, worin ich 
Ihte, ließ mich ein jedes Hinderniß, welches fich meinem Willen 
migegenfehte, mit Gewalt befämpfen. 

Eine Begehenheit, deren Zeuge ich war, diente nur noch 
jaja, meinen Abſchen gegen die Menfchen zu vermehren. Ich war 
heichn Jahre alt, und hatte jept erſt von meinem Vater Leſen 
glrat; ex bewies mir, daß Kenntniſſe für meine Abſichten noͤthig 
fin, und dieſer Grund allein konnte mich bewegen, etwas zu 
Iran. Ich ging eines Tages in den Waldungen ſpazieren, als ich 
Wald ganz in meiner Nähe zwei Flintenſchüſſe fallen hörte, 
Mlief nach der Seite hin, woher das Schießen kam, und ſah, 
we zwei Leute arretirt wurden, weil fie auf herrſchaftlichem 
Gehiste gejagt hatten. Der Eine war ein junger, gut gefleibeter 
Rıre, von feiner, ausgezeichneter Haltung, der Andere ein armer 
it Sympen bedeckter Laundmann, der mit dem größten Elend zu 
Iinpfen ſchien. Erſterer Hatte einen Rehbock, biefer aber nur einen 
ufen geſchoſſen, und doch lachte und fang der Gtäbter in Gegen⸗ 
wart ſeiner Wachen, während der Bauer blaf und bebend Taum 
Kr Kraft hatte, ſich aufrecht zu erhalten. 

Rengierig, die Folge dieſes Vorfalles Tennen zu lernen, folgte 
ib den Benten aufs Schloß; ber guäbige Herr war gerade abs 
wind, aber fein Haushofmeiſter vertrat feine Stelle; er beſaß 
umiräukte Gewalt und handelte im Namen des Herrn ganz 
ud Belieben ; die beiden Gefangenen wurben aljo vor ben Haus⸗ 
ifmeifier gebracht. Zah miſchte mich unter bie Menge und ef 
glg mir, in einen großen Saal mit hineinzuſchlüpfen, wo man 


zuerft die beiden Wilbbiebe hineinführte. Der. Haushofmeiſter lam 
endlich. Als er den jungen Stäbter erblickte, merkte ex wohl, daß 

er es nicht wie gewöhnlich mit grobem Bauernvolf zu thun habe, 
welches vor ihm zu zittern gewohnt war. Er hieß baher alle Um: 
ſtehenden Hinausgehen, um den feinen Herm unter vier Augen zu 
verhören; ich jedoch, anflatt mit den Uebrigen hinauszugehen, ver; 
barg mich. unter einem mit einem Teppich verhängten Tifch und 
hörte deutlich folgende Unterrebung mit an: „Mein Herr, ich bin 
in Berzweiflung, daß ich gendthigt bin, mit Strenge gegen Sie 
zu verfahren,“ begann der Haushofmeifter mit einſchmeichelndem 
Tone, „allein mein @ebieter ift fehr ſtrenge und feine Befehle fiat 
gemefien‘! . . .“ 

„Ha, alter Fuchs, ich glaube, Du fherzeft mit Deinen Be; 
fehlen,” erwiberte der junge Herr dem Haushofmeifter höhniſch; 
„wife, daB ich aus vornehmer Familie bin, und Dir bei erfler 
Gelegenheit die Ohren abfchneide, wenn Du mich nicht augenblid: 
lich in Freiheit fehefl. — Mein Herr, diefer Ton iſt ſehr be 
fremdend... und ich darf nicht zugeben... — Hier, alter Geiz⸗ 
Hals, ich verftehe ſchon, wo Du Hinaus willſt! Du biſt Haus: 
hofmeifter, damit ift genug gefagt, nimm diefe Börfe, es find 
fünfzehn Louisd'ors darin, das ift mehr, als alle Rehboͤcke Deines 
Herrn werth find.“ 

Mit viefen Worten warf er ihm eine Börfe zu, bie der Haus⸗ 
bofmeifter ohne Schwierigkeit annahm, dann eine Heine Tapeten 
thüre öffnete und fagte: „Gehen Sie gefälligft hier hinunter nad 
dem Garten, halten Sie rechts, und Sie werben hierauf eine andere 
- Thüre finden, die Sie ins Freie führt. Ich fege mich für Sie in 
Gefahr, aber Sie haben fo einnehmende Manieren. . .“ 

Der junge Jäger hörte nichts weiter, denn er befand fich fehen 
im Garten. Der Haushofmeifter ſchloß die Heine Thüre forgfältig 
wieder zu, Elingelte und befahl dem eintzetenden Bedienten, jeht 
ben andern Wilddieb vorzuführen. 





Nan brachte den Bauern und auch jept blieb ver Haushof⸗ 
meifer allein mit ihm. „Warum Haft Du gejagt?” fuhr er ben 
randmann mit einem Tone an, ber keineswegs bem glich, ben 
er gegen den andern Wilppieb beobachtet Hatte. 

„Mein lieber Herr,” flehte der arme Landmann und warf ſich 
af die Kniee, „vergeben Sie mir ed nur, es iſt das erſte Mal, 
und ich ſchwoͤre, es foll auch das letzte Mal gewefen fein. — Das 
ſezt iht Schurfen immer. — Ich bin kein Schurke, Herr Haus: 
iefmeiter, fonbern ein armer Teufel, ber ein Weib und fünf Kinder 
kt, und nicht weiß, wie er fie ernähten fol. — Gi, Lumpen: 
md! warum heirathefi Dun? — A, mein Herr, das iſt ja noch 
$ Einzige, was man im Leben hat. — Wie! konnen Tröpfe 
ve Du an fo eiwas denken? Arbeitet, Canaillen, arbeitet, das 
Teuer Boos. — Ich Habe Feine Arbeit, Herr Haushofmeifter, und 
4 verdiene fo wenig, daß es nicht hinreiht!... — Weil ihr 
“wie Wilde! — Bir effen nicht einmal fatt, um nur für bie 
hater eiwas übrig zu behalten... — Deine Kinder, Deine 
baier! Ihr Tagediebe Hungert das Land noch aus mit euren 
farm. — Erlauben Sie, Here Haushofmeifter, der gmäbige 
fer füttert fünfzig Hunde, da, denke ich, könnte ich doch wohl 
fr bis fünf Kinder aufziehen!... — Da fehe Einer ven Elenden; 
&adt er ſich noch feine ſchmutzigen Nachkommen mit ven Wind⸗ 
hıten des gnaͤdigen Herrn zu vergleichen? Sept weiter feine Gründe, 
N biſ als Wilddieb feflgenommen worden, Deine Sache ift Har, 
* diebſtahl Liegt am Tage. Du befommft Peitfchenhiebe, zahlſt 
a Geldſtrafe und wanderſt ins Loh!... — Ach! Gnade, Guade, 
fr Haushofmeifter, es war ja nur ein Hafe!... — Ein Hafe! 
ft, pop Wetter!... ein Safe! Du weißt, ſcheint's nicht, 
rad iſt? Der gnaͤdige Herr nimmt die Hafen in Schutz, hegt 
Virsfältig und ich muß den rächen, den Du gefchoffen haft. — 
Ser er aber für den Tiſch des gnäbigen Herrn beflimmt geivefen 
Met _ Damı wäre ed etwas Anderes. Dann konnte er fi 


u 
gluͤcklich ſchaͤßzen, vom gnäbigen Herrn griveißt zu werden; aber 
Du biſt und bleibſt ein Wilddieh. — Herr Haushofmeiſter, haben 
Sie Erbarmen mit Weib und Kindern, wir find jo arm. Sie 
finden nicht einen Heller bei und, — Du verbienteft gehangen zu 
werden! Marſch! vorwärts ins Loch! und morgen bie Beitiche.“ 

Der Haudhofmeifter Elingelte, die Diener eilten herbei, und 
man führte den Bauern teog Bitten und Thränen ins Gefaängniß. 

Ich hätte unter dem Tifche vor Wuth berfien mögen. Als 
Riemand mehr im Saale war, fprang ich aus dem Fenſter, lief 
zu meinem Bater und erzählte ihm Alles, was ich gefehen und 
gehört hatte. Meine Erzählung ſetzte ihn nicht in Erflaunen. Sie 
war für ihn. nur ein Beweis mehr für feine Anficht von des Un: 
gerechtigkeit und Barbarei der Menfchen. Ich aber hatte meinen 
Plan gefaßt. Ich wußte, daß der Gutsherr am andern Tage zus: 
rückkommen mußte, unb wollte, daß der beirügerifche Haußhofmeifter 
beſtraft werben follte. 

Ich ging au in der That gleich nach Tagesanbruch auf bad 
Schloß. Als ich in den Hof kam, fah ich, wie der arme Bauers⸗ 
mann burehgeprügelt wurde, während ber gnäbige Herr von bem 
Ballon des Schlofies herab ſich an dem Schaufpiel weidete, und 
feine Lieblingshunde mit Zucker und Biscuit fütterte. 

„Sch: werbe Euch rächen, braver Mann,” ſprach ich, als ich 
an dem Landmann vorüberging. Sogleich flog ich die Treppe hinauf 
und drang in dad Zimmer des gnädigen Herm, bevor nod bie 
Dienerfchaft Zeit hatte, mich anzumelden. Der Haushofmeifter war 
bei ihm mit Geldzaͤhlen befchäftigt ; ich warf mich zu den Füßen 
des Gnädigen, aber in meiner Haft Hatte ich dad Unglück, bie 
Pfote feines Lieblingsthieres zu treffen; es fing an zu heulen, 
ber Herr fihlenderte mir einen wüthenden Blid zu und fragte, wie 
man mich zu ihm ins Zimmer laſſen fünne. Ehe man ihm noch 
aufwortete, brachte ich meine Klage vor; ich erzählte in einem 
Athemzuge Mies, was id; von dem Geſpraͤche zwiſchen dem Haus: 





bofmeifter und dem vornehmen Jäger wußte. Der alte Kerr fehlen 
bei der Kachricht, daß man noch einen andern Wilddieb ergriffen 
babe, etwas Aberrafcht: aber der Intendant, der, während ich fprach, 
sr Zorn außer ſich gerieth, beeilte fich, feinem Gebieter vorzu⸗ 
tellen, daß der junge Mann ein Marquis gewejen fei, und ex 
deßhalb geglaubt habe, ihn nicht zurädhalten zu dürfen. „Ein 
Rarquis!“ rief der gnädige Herr aus, eine Prife nehmend, „ein 
Rerquis! Teufel, in der That... ja... ich begreife... den 
Isanten wir nicht durchprügeln laſſen... da muß der Bauer für 
Zwie bezahlen. — Das habe ich eben gebacht, guäbiger Herr. — 
U Du Haft Recht geihan, ſchicke nur ben Jungen wieder fort, 
ret dazu noch fo tappig gewefen ift, meinen armen Gaftor zu treten.“ 

Der Haushofmeiſter Tieß ſich das nicht wieberhalen, er nahm 
nid beim Arm, ich folgte ohne Wiverfland und Tonnte es nicht 
greifen, wie der Gutsherr gegen feinen Spigbuben von Diener 
zit in Wuih geraten war. Unterwegs verjegte mir der Gang: 
tofmeiſter ein Dugend Ohrfeigen und ebenfo viele Hunbötritte, und . 
zas war die einzige Belohnung, die ich für meinen guten Willen 
erhielt, 

Ih fam rafenb nad) Haufe und ſchmiedete tauſend Rache: 
Hläne. Bein Bater, der bald einfah, zu welchem Uebermuth meine 
Renſchenfeindlichkeit mich verleiten Könnte, bemühte ſich, mich zu 
beruhigen, aber es war vergebens. 

Am folgenden Morgen kam ein Bote vom Haushofmeiſter, 
ud überbrachte meinem Bater die Nachricht, daß er nicht mehr 
Sutauffeher ſei. Er hatte es erwartet und machte mir deßhalb 
feine Vorwürfe. Wir verließen alfo unfer Häuschen, ohne zu willen, 
de wir und hinwenden follten. 

Was mich betraf, fo hatte das neue Unglüd meines Baters 
nich in meinen Rachevorfägen nur beflärkt, und ich Eonnte die Zeit 
nöt erwarten, fie auszuführen. 

Zu ver Nacht, während mein Water unter einem Baume ſchlief 


300 


ſchlich ich mich mit einer Blenblaterne und einer Flinte, bie er 
immer bei fih führte, Ieife davon, lief nach dem Schloffe, bort 
fammelte ich mehrere Reisbüſchel und ſteckte das Gebäude au allen 
vier Eden in Brand ; damit aber ja dad euer nicht wieder er: 
Iöfche, warf ich noch brennende Reifer nach den anfloßenden Häufern 
und befonders nach den Ställen. 

Ich Hatte bald die Freude, meine Rache vollfommen gelingen 
zu ſehen. Das Feuer loderte an mehreren Orten auf und griff 
fchnell in allen Flügeln des Schloſſes um ſich. Man laͤutete bie 
Sturmglode, die Landleute eilten herbei und viele waren einfältig 
genug, fich für ihren Herrn, der fich ein Dergnügen daraus machte, 
fie durchzuprügeln, ind Feuer zu flürzgen. Mitten in dem Tumult 
und der Zerftörung lief ich in die Zimmer bes Schloſſes und ſah, 
wie der Haushofmeifter ſich fo eben mit einem Eleinen Kaften, ben 
er forgfältig an fich druͤckte, davonmachen wollte; ich trat ihm in 
ben Weg und zielte; da, fagte ih, das iſt für Deine Obrfeigen 
und Deine Fußtritte, druͤckte ab und er fiel tot zu meinen Füßen 
nieder. Ich warf die Flinte weg, bemächtigte mich des Kaͤſtchens, 
fprang mit Leichtigkeit zum Fenſter Hinaus und entfloh aus dem 
Schlofie, welches bald nur noch einem Schutthaufen glich. 

Sch eilte nach dem Orte zurück, wo ich meinen Vater vers 
laffen hatte. Ich war ſtolz auf meine Rache und hoch erfreut über 
den Beflg meines Käftchend, welches ich voll Geld vermuthete. Ich 
wußte ſchon, daß man fich für Geld Alles verfchaffen und allen 
Gefahren entgehen Tönne. 

Aber wie groß war mein Erflaunen, als ich meinen Bater 
nicht mehr fand, den ich noch fchlafend unter dem Baume zu finden 
hoffte. Ich rannte überall umher, ſchrie aus vollem Halfe, aber 
umfonft ; ich erreichte endlich ein anderes Dorf, ohne zu erfahren, 
was aus ihm geworben fei. Ueber meinen Schag in Unruhe, vergrab 
ich ihn am Fuße einer alten Eiche, nachdem ich einige Golbftüde her: 
“agenommen hatte, womit das Käftchen in der That angefüllt war. 





Ich kehrte Nachts in einem Fleinen Wirthshanſe ein und dachte 
ganz rihtig, daß ınan auf ein Kind nicht den Verdacht einer Braub- 
ſtiftung wälzen Eönne. Wirklich achtete man auch nur wenig auf 
nih; man unterhielt fich von bem großen Unglüd, welches dem 
Gutsherrn gefchehen fei. Jeder ſprach feine Vermuthungen aus; 
aber am Morgen bed folgenden Tages Fam ein Bauer mit ber 
Nehriht an, daß man ben Branbflifter ergriffen babe ; es fei der 
Jagdanffeher des Herrn, dem man ben Dienft aufgekündigt habe, 
md ber fih an dem Haushofmeiſter, dem er feine Ungnade zu⸗ 
ihrieb, habe rächen wollen. Er habe das Feuer eingelegt, um 
seite ficherer feinem Feinde beizuflommen, denn man habe den Haus: 
‚ofmeifter erfchoffen gefunden, und das Gewehr, womit er getöbtet 
erden, für. das des Jagbauffehers erfannt. | 

Bei diefer Erzählung zweifelte ich keinen Augenblick länger, 
5 mein Bater an meiner Stelle verhaftet worden fei ; ich zitterte 
ar iim und beſchloß, mich anzugeben, um: fein Leben zu reiten; 
'4 verließ unverzüglich das Wirtshaus und lief nach dem Dorfe, 
2ekin man ihn gebracht haben mußte. Ich hielt mich unterwegs 
Inne Sekunde auf, denn ich fühlte wohl, daß die Zeit koſtbar fei; 
4 kam auf dem großen Platze vor dem Dorfe an, und fah Bier. 
nanen Bater am Galgen hängen. 

Ich überließ mich nicht dem Schmerz, denn das war nicht das 
befübl, welches ich empfand, fondern der Wuth, ver Raferei. Ich 
itte bad ganze Dorf in Brand fleden, und alle Bewohner befs 
«ben zugleich mit verbrennen mögen. 

Rats nahm ich ben Leichnam meined Vaters vom Galgen 
munter; ich Hatte Die Kraft, ihn nach dem Walde zu fchleppen, 
at dort begrub ich ihn; ich ſchwur über feiner entfeelten Hülle, 
rum Tod und fein Unglück an allen Menſchen zur rächen und 
mals einen Funken von Neigung für Diejenigen zu haben, bie 
tz fo ungerecht an ben Bettelſtab gebracht und gemorbet Hatten. 

Ich grub meinen werthvollen Kaſten wieder and und entfernte 





wich aus der Gegend. Dank meinem Schatze, konnte ich alle meine 
BWünfche befriedigen, mir febed Bergnügen verfchaffen. So lebte 
ich fünf Jahre, Indem ich mich allen Leidenſchaften Hingab, melde 
fich bei mir ſchon frühzeitig entwidelt hatten ; ich liebte den Wein, 
das Spiel, bie Weiber, und fo lange ich Gelb Hatte, verfagte ih 
mir nichts. Aber bei folchem Leben konnte mein Schak nicht lange 
währen. Im neunzehnten Jahre war mein Reichthum erfchöpft ; 
aber weit entfernt, mir darüber Kummer zu machen, freute id 
mich vielmehr, daß nun der Augenblick gefommen fei, den auf dem 
Grabe meines Vaters geleifleten Eid in Erfüllung zu bringen. 

Die Menfchen zu betrügen war jeht mein einziger Gedanle, 
und das fiel mir nicht ſchwer; in der großen Welt, in welcher ih 
mit Hülfe meined Schatzes ‚Zutritt erhalten hatte, war ich zu feinen 
Manieren und äußerer Abgefchliffenheit gelangt. Außerdem war es 
mir ein Leichtes, meine Züge und meine Stimme zu verflellen, 
wem. ich es für nöthig erachtete; nehme dazu noch Geift, Ber: 
wegenheit, Feſtigkeit und Beredſamkeit, unb ihr werdet begreifen, 
daß ich glänzende Erfolge erniete. 

Unter dem Namen Bröville lernte ich in Brüffel einen ge: 
.wiffen Jakob Murville Tennen, der das väterliche Haus verlaffen 
hatte. Dad war Dein Bruder, mein armer Eduard, und ed gelang 
mir, ihn um fein ganzes Vermögen zu bringen. In Paris nahm 
ich einen andern Namen an, und befand mic auf Deiner Hoch: 
zeit ; ber Rame Murville fiel mir auf, ich erfunbigte mich genauer, 
erfuhr, daß Du einen Bruder Hatteft, und fand es heiter, mir dad 
Befisthum des Aelteften zuzueignen, nachdem ich ben Jüngeren 
um feine Habe gebracht hatte. Aber ein anderer Gedanke erfüllte 
meine Seele, ald ich Deine Fran ſah, Adelinens Schönheit und 
Anınnih bezauberten mich, ich verliebte mich wahnſinnig in fie, 
und ſchwur, Alles aufzubieten, fie zu beſitzen. 

Bor allen Dingen mußte ich bei Dir eingeführt fein, dies ers 
seite ich; dann ſuchte ich euch zu emtziveien und zog Dich nach 





und nach ins Wirhriben, ba dies bei Hauptzweck meines Beſtrebens 
war. Fb entbelte Ditne Neigung zum Spiele und es war mir ein 
Leiten, Dich zu allen nur möglichen Thorheiten zu verleiten. Ich 
wollte mich indeffen auf Deine Koſten bereichern, aber das fatale 
Spiel zeigte ſich mir nie günftig. Ich trieb Dich zu Verbrechen an, 
weil mir Deine Frau ihre Verachtung gezeigt hatte, und ich mich 
dafür an Die rächen wollte. Du warft nur noch eine Reſchin⸗, 
die ich nach Gefallen in Bewegung fetzen konnte. 

Nachdem ich alle Mittel angewendet hatte, um Adelinens 
Viderſtand zu beſiegen, nahm ich meine Zuflucht zur if, and es 
gelang mir, mich Nachts in ihr Schlafzimmer und ihr Bett ein- 
zuſchleichen; .. Du fhauderfi!... o! mein armer Ebuarb, Deine 
Fran war hintergangen worden! ... fie war ein Muſter von Tu⸗ 
gend'. . als fie ihren Irrthum gewahrte, bewies fie mir noch 
einen wülhenberen Haß, aber ich hatte doch wenigſtens die Gewiß⸗ 
keit, ihr Gen auf immer geftärt zu haben. 

Seht haſt Du mich Tonnen gelernt ; nimm Dir die Lehre dar⸗ 
«ne, Künftig die Menſchen vichtiger zu beurtheilen. Was mich be: 
tft, der ich überall nur Jalſchheit, Betrug, Undank, Ungerechtig- 
it, Cigenuntz, Ehrgeiz und Reid Tonnen gelernt... und meinen 
keidenſchaften jedes Voruriheil geopfert habe, fo werbe ich auch 
wrerzegt Rauberhanptmann bleiben, wenn ich Bei biefer Lebens⸗ 
weile nur all melne Neigungen zu befriedigen im Stande Bin. 
Wer welches auch meine Lage umd mein Erwerb fein wolle, werbe 
ih meinem Bater den Racheſchwur ewig halten, ich werde hie 
Rerſchen haſſen, und würde euch ſelber zu Grunde richten, wenn 
it nicht, nach ben gewöhnlichen Begriffen, gleich mir, zur Seiel 
br Nenſchheit geboren waͤret.“ 

So endigte Dufresne ſeine Geſchichte, und die Raͤuber fähienen 
Gl) darauf zu fein, einen fo ausgemachten Böfewicht zu ihrem 
Sführer zu Haben. Cduard, wie nievergefchmettert von Allem, 
web er gehört Hatte, ſchauderte bei der Erinnerung alles deſſen, 


804 

was er auf ben Rath eines Ungehenerd verübt hatte, ber feinen 
Nintergang geſchworen unb num mit ber größten Ruhe feine Chr⸗ 
fofigleit an den Tag gelegt hatte. Es war aber zu ſpät, um zu 
rückzublicken, befonderd mit einem fo ſchwachen unentſchiedenen 
Charakter, wie ihn Eduard beſaß. Er fühlte Haß. gegen Dufresne, 
and hatte boch ven Muth nicht, ihn zu verlaffen: das Laſter würbigt 
ven Menfchen herab und verwildert ihn; obwohl er bie ganze Ab- 
ſcheulichkeit feiner Lage ermeſſen Tonnte, fehlte ed ihm doch an 
Kraft, fich ihr zu entziehen. 

Die Morgenröthe fing an, die Gipfel ver Berge zu färben 
und burch die Lichtungen des Waldes Hereinzubrechen. Die Räuber 
loſchten ihr Feuer aus und ſteckten die übrigen Munbvorräthe in 
ihren Querfad. 

„Kameraden !” ruft Dufresne aus, „wir müffen biefe Gegend 
verlaffen, die uns nichts Ergiebiges barbietet. Sehen wir und allo 
in Marfch, und in ver erflen bedeutenden Stadt, die wir antreffen, 
muß und der Kühnfte von und Kleider anfchaffen, damit wir wieder 
das Ausfehen rechtlicher Leute Haben; denn, glaubt mir, mit 
unferem Handwerk ift es, wie mit allen übrigen. — Um Glüd zu 
machen, muß man ben Leuten Sand in die Augen fireuen; mit 
unferen Jacken und zerriffenen Hofen Können wir diefe Wälder nie 
serlaffen, und würden ewig erbärmliche Landſtreicher bleiben.“ 

Die Worte Dufresne's ‚waren ein Orakel für feine ganze Um- 
gebung. Man fchicte ſich alfo an, feinem Mathe zu folgen, und 
machte fich auf. den Weg, vorfichtig bei Tag bie belebteren Straßen 
meidend. Dufresne führte feine Heine Bande an. Lampin fehritt 
fingend und trinfend vorwärts, die beiden andern Banbiten träumten 
von neuen Plünderungen, und Eduard wußte noch immer nid, 
follte er feinen Begleitern entfliehen ober der Ihrige werden, 








Fünfunddreifigfies Napitel. 
Das Landhaus in den Vogeſen. 


Eine lange mit Wald bewachſene Gebirgskette trennt das Elſaß 
md die Franche-Comté von Lothringen und dehnt fich bis zu den 
Anennen aus. Im diefen Gebirgen, die Vogeſen genannt, Tiegt. 
6 Gut bes Herren Berval, und hieher führte er die Unglüdliche, 
reten Pflege er fich angenommen hatte. 

Herrn Gervald Haus war einfach, aber bequem; ein freund- 
‚ber, mit einem Gatter umfchloffener Hof führte zum Erdgefchoffe, 
sehe nach außen nur zwei Fenfter hatte, die jedoch mit eifernen. 
vittern und außerdem noch mit ftarfen Fenſterläden verfehen waren, 
»ꝛe Borficht,, die bei einer einfam im Walde liegenden Wohnung 
ng iſt. Das erfte Stockwerk ging zum Theil nad dem 
dofe, zum Theil nach einem großen, von einer hohen Mauer um- 

‚tenen, hart an dad Haus floßenden Garten hinaus. Diefer an 
em Abhang gelegene Landfig war nicht ferne von einem Eleinen 

Reg, der nach Montigny führt, und feine malerifche tage, die‘ 

taefhiebenheit von allen übrigen Wohnungen, und die in der 
zen Umgegend herrſchende Ruhe ſchienen vollkommen geeignet, 
en Aufenthalt zu einem Zufludhtsort ber Ruhe und bes Friedens 
machen. 

Die Dienerſchaft des Herrn Gerval beſtand aus Duprö, den 
‘fon kennen, aus ber Köchin und Haushaͤlterin Katharine, 
ver alten, etwas ſchwatzhaften, neugierigen, aber dabei doch 
hen, dienſtfertigen und ihrem Herrn ſehr ergebenen Perſon, und 
u einem jungen Landmann, Namens Lukas, welcher die Stelle 
med Gaͤrtners, Aufwärters und Botens zugleich verfah. 
Mehrere Meilen in der Gegend umher war ber Name Berval 
chtt, und befonders bei den Armen und Unglüdlichen in theurem 
Itenfen, da ihnen der würbige Mann fortwährend va gu 
| Saul de Rod. 1, 


| 306 

Seite ging. Und wenn er auch nicht Immer hier in feinem Land: 
hauſe wohnte, da ihn feine Gefchäfte oft längere Zeit bavon ent⸗ 
fernt hielten, fo hörten doch Duproͤ und Katharine, das gute Herz 
ihres Herrn wohl Eennend, nie auf, in feinem Ramen Milde und 
Wohlthaͤtigkeit zu üben, damit die Nothleidenden bie Abweſenheit 
ihres Befchügerd fo wenig ald möglich empfinden follten. 

Die Randleute, welche erfahren hatten, daß Herr Gerval nad 
Paris gereist fei, hatten ſchon befürchtet, er werde gar nicht mehr 
zurückkommen, und felbft Katharine hatte diefe Furcht getheilt, 
denn fie wußte, daß ihr Herr den Wunſch hegte, alte Fremde, 
mit denen er ſich lange nicht hatte beſchaftigen Finnen, und denen 
er fehr gewogen war, aufzufuchen und vielleicht gar feine alten 
Tage bei ihnen zuzubringen. Allein ein Brief des Herm Gerval 
bereitete den Bewohnern der Bogefen die ungetheiltefte Freude. 
Sie follen ihren Fteund, ihre Stüge, ihren Bater wieberjehen, ei 
will zu ihnen zurüdtommen, um fie nie mehr zu verlaflen. Diele 
Nachricht verbreitet fich bald in der ganzen Umgegend ; man über- 
läuft Katharine, um mehr zu erfahren, und dieſe liest mit Freuden 
einem Jeden, der ed wünfcht, das erhaltene Schreiben vor, und 
fündigt den Tag feiner Anfunft an. 

Endlich ift der erfehnte Tag da, und Alles im Haufe umge: 
fehrt, um die Rückkehr des guten Herrn zu feiern. Lukas raubt 
dem Garten all feine Blumen, um den Speifefaal damit zu ſchmücken 
Katharine übertrifft ſich felbft bei ver Zubereitung der Mahlzeit: 
alle Landleute aus der Gegend und die von Gerval unierflügten 
Unglüdlichen finden fih im Haufe ein. „Noch ift er nicht da,“ 
fagt die alte Dienerin, „aber lange kann er nicht mehr ausbleiben.“ 

Man geht ihm entgegen, man erfteigt die Anhöhen, um feinen 
Wagen defto eher zu entdecken. Endlich erblict man ihn, man brängt 
fih heran; der Name bed Greifen geht von Mund zu Munde, 
—* Segnungen der Armen feiern die Rückkehr des wohlthaͤtigen 

eichen. 














Gersel vergießt beim Anblid der guien Leute, bie ihn wie 
dren Bater lieben, Thränen der Rührunig. „Ach! lieber Freund,“ 
jagt er zu Duproͤ, „wie füß-ift es, wohlzuthun !“ 

Der Bagen fährt in den Hof ein und bie Landleute erheben 
in Frendengefchrei. 

„Still! ... Ri! meine Freunde,“ fagt der alte Herr, aus 
on Wagen fleigend ; „mäßigt die Ausbrüche Burer Freude; fie 
hmeicheln mir, aber fie thun einer Unglüdlichen wehe, für bie 
et geringfie Lärm von ernflen Folgen if.“ 

Mit diefen Worten hilft Herr Gerval Adelinen aus dem Wagen, 
säbrend Duprö die kleine Ermance auf den Arm nimmt. 

Adeline blickt unruhig um ſich her, Lärm verurfacht ihr ſtets 
Shreden, und der Anblick verfammelter Menfchen vermehrt jeder: 
at ihren Wahnſinn. Sie zittert und will fliehen. Gerval ift ge: 
rathigt, bie Umſtehenden durch ein Zeichen zu bewegen, fich etwas 
widzuziehen, um aldödann die Unglüdliche ins Haus zu führen. 

Ran betrachtet Adeline mit Intereffe, und ald man ihren 
suftand gewahrt, verwandelt fich die Freude in Traurigkeit. „Arme 
ran,“ wiederholt man von allen Seiten, „wad mag fie um ihren 
Yerkand gebracht haben?... und das Heine Maͤdchen... wie 
abſch wird es einft werden!... D, es find abermals Unglüd: 
de, berem fih Herr Gerval aunimmt !” 

„Meine Kinder,” fagt Katharine, „jobald ich die Geſchichte 
7 jungen Fremden weiß, erzähle ich fie Euch, ich verjpreche es 
w ich werde fie bald erfahren, denn mein Herr verheimlicht mir 
rd.“ 

Unglüdlicherweife aber wußte ihr Herr nicht mehr davon als 
t Um indefien die Neugierde feiner alten Köchin zu befriedigen, 
iihlte er ihr, wie_er Mbelinens Belanntfchaft gemacht, und in 
ih bellagenswerthem Zuftande er fie dann fpäter gefunden habe; 
e Tiemerin iſt über die Mittheilung ihres Herrn außer fi vor 
Tonnen, verfüchert ihn aber, daß fie nach und nach ſchon dahin 


gelangen werde, das ganze Unglüd der armen Fran herauszubringen, 
und da fie fih fchon zu ihr und ihrem Kinde Liebreich hingezogen 
fühlte, fo beeilte fie fih, eines der fchönften Zimmer des Haufed 
für fie einzurichten. 

In einem Zimmer des untern Stodes gegen den Wald hinaus 
foll Adeline wohnen ; die Fenfter find mit ſtarken Eifenftäben ver⸗ 
gittert und man bat fomtt nicht zu befürchten, daß fie vielleicht in 
einem heftigen Anfalle des Wahnfinned entfliehen möchte Wan 
läßt ihr Kind bei ihr, denn fie ſcheint es immer zu kennen, und 
drückt es oft mit Zärtlichkeit an ihr Herz. — „Daß ſcheinen ihre 
einzigen glüdlichen Momente zu fein,” fagt Herr Gerval, „hüten 
wir und, fie darin zu flören und dem Kinde die Liebkofungen feiner 
Mutter zu entziehen.“ 

Katharine übernimmt e8 mit Vergnügen, die Kranke und ihr 
Kind zu pflegen, auch will fie, wenn es die Witterung erlaubt, 
die junge Frau in der Umgegend herumführen, und Lukas ſoll 
auf Befehl feines Herrn alle Morgen Adelinens Zimmer mit friſchen 
Blumen ſchmücken, da Herr Gerval die Hoffnung hegt, durch ber: 
gleichen Aufmerkſamkeiten der Unglüdlichen die Ruhe des Gemüthes 
wieder zu verfchaffen. 

Man hat den Namen der Fleinen Ermance erfahren, weil ihre 
Mutter fie mehrmals fo genannt bat, aber man kennt dem übrigen 
noch nicht, und Herr Gerval hat deßhalb Kefchloffen, fie Conſtanze 
zu nennen ; biefer zarte Namen erhält befonder Katharinens Bei: 
fall, denn fle behauptet, daß die Liebe Schuld an dem Unglüd ber 
Unbefannten gemwefen fei. Adeline wird alfo von nun an von den 
Hausbewohnern Conftanze genannt, und nur Lukas und einige Land: 
leute aus der Umgegend nennen fie manchmal die Verrädte. 

Die Ruhe im Haufe, das ftille, geräufchlofe Leben in dem: 
felben, die rührende Sorgfalt, welche ein Jedes für Adelinen be: 
zeugt, fcheinen einen wohlthätigen Einfluß auf ihre Seele aus: 
zuüben; fle fptelt mit ihrem Kinde, Tüßt es und Iächelt ihren 








309 


Vohlthaͤter und bie übrigen Hausgenofien an; jedoch Tommen 
immer nur wenige, unzufammenhängende Worte über ihre Rippen, 
aub ſehr leicht verfällt fie wieder in eine tiefe Schwermuth, wor: 
aus fie nicht leicht wieder zu erweden ift. 

Einen Theil ded Tages bringt fie in dem großen, fchön ans 
gelegten Garten zu; manchmal pflüct fie Blumen und fcheint dann 
einen Anflug von Heiterkeit zu empfinden ; aber bald ſchwindet wies 
der dad Lächeln von ihren bleichen Gefichtözügen; fie ſetzt ſich auf 
eine Raſenbank und verweilt fo flundenlang regungslos wie eine 
Biloſaͤule. 

„Bas iſt das doch für ein Unglück!“ ſagt dann der gute Gerval 
eft, ſie betrachtend, und mit der Eleinen Ermance, die ſich ſchon 
ſehr an ihn gewöhnt hat, fpielend. „Sch glaube, wir haben Feine 
Seffnung mehr, fie jemals zu heilen.“ 

„Und warum denn nicht,” entgegnet Katharine, „wir wollen 
ach nicht verzweifeln... nur Geduld ... es tritt vielleicht eine 
woblthaͤtige Krifis ein!... Ach! wenn und nur der Grund ihres 
Uebels befannt wäre... — Ei, das iſt es gerade! Das fagte auch 
ver Arzt in Paris, aber eben Hinter den. Grund ihrer Krankheit 
werben wir niemald Tommen. — Bah!... dad kann man nit 
miffen... fie fpriht manchmal... Da! fehen Sie nur, fie fcheint 
m lächeln. ... fie blickt ihr fpielendes Kind an... fie ift heute 
zeit beſſer als gewöhnlich... ich werde fie einmal ausfragen. — 
Rum Dich in Acht, Katharine, Du wirft ihr wehe thun... — 
Srien Sie ganz beruhigt, Herr Gerval!“ 

Katharine nähert ſich der Laube, in welcher Adeline figt, und 
dert Gerval, fo wie auch Duprs und Lukas ftehen nicht weit davon, 
um die Antworten der Unbelannten zu vernehmen. 

„Liebe Madame,“ fängt Ratharine mit dem fanfteften Tone 
m, „warum grämen Sie ſich denn immer fo? Sie find nur von 
teten umgeben, bie Sie lieben, erzählen Sie und Ihr Unglüd, 
“an wollen wir Sie tröften,.. — Mich troͤſten?“ entgegnet 


310 


Adeline, Katharine mit Berwunterung anblickend. „DO! ich bin 
ja glüdlich, fehr glüdlih !... ich bedarf feines Troftes... Conard 
betet mich an... er hat ed mir gefchworen, wir find vereinigt... 
ex wird mein Glück machen, denn er ift nicht boͤſe! ... — Aber 
warum hat er Sie denn verlaffen — Verlaſſen? ... nein!... 
er bat mich nicht verlaſſen ... er ift ja Bei mir in dem Hanfe, 
worin er erzogen wurde... meine Mutter... meine Tochter und 
fein Bruber find Bei und... o! ich dulde nicht, daß er nach Parie 
geht... er Eönnte da Jemanden begegnen. :. nein! nein! laſſen 
Sie ihn nit fort.“ 

„Sieh Dich vor, fällt Here Gerval ein, „ihre 
Augen werben belebter.... ihr Wahrſinn nimmt zu ... quaͤle fie 
nicht laͤnger.“ 

Katharine wagt es nicht, dem Wunſche ihres Gebieterd zu: 
wider zu handeln, und doch brennt ſie vor Begierde, mehr 
zu erfahren. Adeline ſcheint in der That ſchon aufgeregter; ſie 
ſteht auf, rennt umher und macht Miene zu entfliehen. Die alte 
Magd bemüht fi, fie zurüdzuhalten. — „Laßt mich,” ruft Ade⸗ 
fine, fiy ihren Armen entwindend, „Laßt mich fort... ba ifter... 
er verfolgt mich... da! feht ihr ihn wohl... er vertritt mir überall 
den Weg... er hat mein Verderben gefchworen... . er wagt ed, 
mir von Bice zu Ipregen .ach! ich bitte... laßt ihn nicht 
zu mir. | 

Sie entfernt fih, durchlaͤuft haſtig alle Wege des Gartens 
und hält nicht eher an, als bis fie, von ihren Schredbilvern er: 
ſchoͤpft, befinmungslos nieberfällt. 

Man bringt fie fogleich auf ihr Zimmer und verwendet alle 
mögliche Sorgfalt, bis es endlich gelingt, fie wieder ind Leben 
zurüdzurufen. Herr Gerval verbietet e8 ausdrücklich, fie ferner zu 
befragen, um ähnlichen Folgen für die Zufunft vorzubengen. — 
„Ganz gut, mein Herr,“ fagte Katharine, „indeſſen wiflen wir 
doch nun, daß fle verheirathet if, daß ihr Mann einen Bruder 





all 


bat, und daß fie die Liebe irgend eines ſchlechten Menfchen fürch⸗ 
ket!... O, ich errathe Alles fehr Leicht! ich wette, daß jener 
Taugenichts ihren Mann nach Paris gelockt, und er dort Fran und 
Kind vergeffen Hat!... Beim Kuduf! das ift nicht zu bezweifeln... 
wie ſchade, daß ich nicht weiter in fie dringen darf, bald würben 
wir Alles wiffen.“ 

Da übrigens das gute Mädchen die Krankheit der Unbefanns 
ten nicht verfchlimmern will, fo wagt fie Feine weitere Frage mehr. 
ft gebt fie mit Adelinen im nahen Wäldchen fpazieren ; Ermance 
rird dann von Katharinen oder ihrer Mutter geführt; die alte 
Tienerin wacht über jede ihrer Bewegungen, fie fängt jedes ihrer 
Borte auf und gründet darauf ihre VBermuthungen ; aber nad 
Verlauf von drei Monaten weiß fie doch nicht mehr ald am zwei: 
ion Tage. 

Eines Tages jedoch trübte ein unvorhergefehenes Ereigniß das 
anförmige Leben Adelinens. Sie ging nämlich mit ihrem Kinde 
auf einem vom Haufe nur wenig entfernten Hügel fpazieren. Ras 
tbarine folgte ihr in der Nähe, bewunderte die zarte Geftalt, die 
Anmuth, die edle Haltung der Unglüdlichen und fagte leife zu ſich: 
„Diefe Frau ift in Feiner Hütte geboren ; ihre Manieren, ihre 
Sprache verrathen die große Welt! und doch foll man nicht er; 
fabren fönnen, wer fie iſt ... es ift zum Berzweifeln.“ 

Ein junger Schäfer war auf einen Baum geflettert, um ein 
TR auszunehmen; fein Fuß gleitet aus, der Zweig, den er er⸗ 
zeift, Bricht zu gleicher Zeit ab, er fällt auf den Boden, vers 
zundet ſich am Kopfe und flößt einen fehmerzhaften Schrei aus. 
Adeline befand fich fo eben ganz in ver Nähe, hört das Geſchrei 
und ſteht Frampfhaft zitternd plöplich ſtill; Schrecken malt ſich auf 
'trem Gefichte und ihre zur Erbe gefenkten Augen feheinen einen 
fr fürdhterlichen Gegenftand vermeiden zu wollen ; ploͤtzlich erfaßt fie 
it Kind und läuft damit eilig fort in ven Wald! Vergebens ruft 
ihr Katharine und eilt ihr nach; Adelinens Kräfte verboppeln ſich 


312 


und das Rufen Katharinens vermehrt nur ihre wahnfiunige Angf; 
fie erflettert die fteilften Fußpfabe, ohne Athem zu fchöpfen, fü 
berührt kaum ben Boden, fle bringt immer weiter in bie Berge, 
und die alte Dienerin verliert fie bald aus den Augen. 

Troſtlos kehrt Katharine zu ihrem Herrn zurüd und mad 
ihn mit dem Gefchehenen befannt. Aber Herr Gerval weiß, baf 
ihm alle Landleute aus der Umgegend ergeben find ; er ſendet Dupre 
und Lukas aus, die Nachbarn zur Nachforſchung aufzufordern, unt 
"Alles beeifert fih, feinen Wünfchen Folge zu leiſten. Dex Erfolg 
Erönt ihre Bemühungen ; man findet endlich Abeline und ihr Kint 
unter einem Baume liegend; ein heftige Fieber war der Erſchoͤpfung 
gefolgt, und die Flüchtige außer Stand gewefen, weiter zu gehen, 

Man legt fie auf eine in ber Eile von Baumzweigen bereitet 
Trage und bringt fie und ihr Toͤchterchen ihrem Wohlthaͤter wiede 
zurück. Der alte Herr entläßt die Landleute, nachdem er fie für 
ihren @ifer belohnt hat, und man befchäftigt fi jeßt nur damit 
bie arme Kranke wieder zu beruhigen, welcher das Klagegefchrei bei 
Schäfers einen fo ‚heftigen Anfall des Wahnfinns verurfacdht Hatte 
als er ihr während ihres Aufenthaltes in den Bogefen noch nid 
"begegnet war. 

Den heftigften, immer wieberfehrenden Schredbildern hinge 
geben, fpricht Adeline jeßt weit mehr als früher, und Katharinı 
weicht nicht mehr von ihrer Seite; aber viefe fchaudert Bei ven 
Worten, welche jet über die Lippen der Unbelannten fommen. — 
„Reißt ihn vom Schaffot,“ wiederholt fie alle Augenblicke, inden 
fle die Hände vors Geſicht Halt; „habt Erbarmen ... überliefer! 
ihn nicht den Henkern ... fie wollen ihn umbringen... ich hoͤr 
feine Stimme!... Do nein!... das Klagegefchrei kam nid 
von ihm... das ift ein anderes Opfer... Ach! ih Irre mid 
nit... ich erkenne feine Stimme... fie dringt ja immer bie 
zu meinem Herzen.“ 

Katharine vergießt Thränen, Kerr Gerval vermuthet ein ab: 





313 


ſcheuliches Geheimniß, und die alte Mag kann nicht aufhören, zu 
wieerholen: „Bin Schaffot! ... Henker! ... ah! Herr Gerval, 
wie fhredlich!... — Dem fei, wie ihm wolle,“ fagt diefer, 
„mögen ihr Mann oder ihre Anverwandte Berbrecher geweſen fein, 
ih werde fie dennoch bei mir behalten. Sie ift nicht flrafwürbig, 
ich bin deſſen gewiß, fie ift nur unglüdlidh... — Sa, Here Gerval, 
aber die Böfewichte, die fie in dieſen Zuſtand verſetzt haben, vers 

hinten gezüchtigt zu werden!... — Allerdings, gute Katharine, 
aber Innen wir fie? Wir wollen es der Vorfehung überlaffen, 
tiefe Unglückliche zu rächen! und und auf ihre Gerechtigkeit vers 
afien!... denn der Gedanke wäre zu ſchrecklich, daß die Boͤſen 
ın Frieden die Früchte ihrer Miffethaten genießen follten, während 
ihre Opfer ihre Dafein in Thränen und Berzweiflung aufreiben.” 

Here Gerval verfammelt feine Dienerfchaft und empfiehlt ihr 
achmald, die Aufmerkſamkeit auf die unglüdliche Mutter zu vers 
deppeln, um ferneren Unfällen vorzubeugen. — „Kein Geräufch!... 
lein Geſchrei in der Nähe ihres Zimmers. Wollt ihr zufammens 
(wagen und fcherzen, was ich euch keineswegs verbieten will, fo 
in es jeberzeit fern von Conſtanze, damit fie euch nicht höre; und 
or allen Dingen Feine Fragen mehr, KRatharine, denn die haben 
ach nie zum Guten geführt.“ 

„DO! nie mehr,“ entgegnet die gute Alte, „ich mag jetzt nichts 
enter wiſſen! ... was ich gehört habe, iſt traurig genug, und 
ich wäre untrößlich, follte ich der Armen noch mehr Herzeleid 
rerurſachen — 8* 

Dauk dieſer Vorſicht, faͤngt Adeline wieder an ruhiger zu 
zerten, und Alles nimmt feinen gewohnten Gang wieder an. Einige 
Yat verfireicht, bevor man bie Kranke wieder aus dem Haufe läßt, 
u auch jetzt geht fie nur in der Begleitung von Lukas und Ka⸗ 
iberinen im ber Umgegend fpazieren, und wenn fie von den Bauers⸗ 
lesten von ferne geſehen wird, fo gehen fie nach dem Wunſche des 
Gen Gervals fogleich bei Seite, um fie in Teiner Art aufzuregen. 


314 


Menn fie unbemerkt an einem Orte erfchernt, wo ſich die jungen 
Landleute ber Heiterkeit überlaffen, fo Hört Spiel und Tanz fo: 
gleih auf: „Da ift die Verrückte,“ flüftert man ſich zu, „laßt uns 
einen Augenblick ftille fein, damit wir ihr Nebel nicht ſchlimmer 
machen.“ 

Die Zeit vergeht, ohne in Adelinens Zuſtand eine Aenderung 
herbeizuführen, aber die Kleine Ermance wächst heran, und ihre 
Züge fangen fchon an, fich zu entwickeln. 

Bereitd gleicht ihr Lächeln dem ihrer Mutter, deren Seele fo 
viel Gefühl zu verrathen fcheint. Sin Jahr ift ſchon verfloffen, 
feitvem Herr Gerval Mutter und Kind bei fih aufgenommen Hat. 
Die Tiebliche Ermance Tiebt den alten Herrn, wie fle ihren Bater 
geliebt haben würbe. Ihre niedlichen Händchen fpiefen mit den 
weißen Haaren des Greifes, und diefer fühlt mit jevem Tage eine 
größere Zuneigung für das liebenswuͤrdige Kind. 

„Du haft Feine Eltern mehr,“ fagt er, es Abends auf den 
Schooß nehmend. „Deine Mutter, arme Kleine, ift tobt für Dieb... 
Dein Bater ift ed ohne Zweifel auch, oder hat er Dich verlaffen, 
und verdient Deine Liebe nicht. So will denn ich für Dich forgen, 
Du follft dereinft reich fein, moͤchteſt Du auch glücklich werben 
und manchmal an den Greis denken, der Dich an Kindesſtatt auf: 
genommen hat, und der ed nicht mehr erleben wird, wie Du Did 
feiner Gaben erfreueft !“ 

Der Winter raubt den Bäumen ihr Laub und dem Erdboden 
feinen grünen Schmud. Schon find die Waldungen öbe und bie 
Voͤgel ziehen fort, um unter einem andern Himmelsſtrich Schatten 
und Laubwerk aufzufuchen. Der Schnee fällt in dichten Flocken 
und macht die ohnehin ſchlimmen Wege in den Bogefen für Bus: 
gänger gefahrvoll, für Wagen aber unfahrbar. Die Abende werben 
lang, das Saufen des Windes macht fie traurig und büfterer. Der 
einfame Wanderer eilt, fein Ziel zu erreichen, and Furcht, von 
ber Naht überfallen zu werden ; er laͤuft, um ſich zu erwaͤrmen, 





315 


bläst Rich in Die Hände, und die Spur, die er im Schnee zuräd: 
läßt, dient verirrten Reifenden nicht felten zum Wegweifer. 
Pangeweile Tehrt indeſſen nicht in Gervals Behaufung ein, 
dem Jebed weiß feine Zeit nüplich anzuwenden. Der alte Gerval 
heöt, führt feine Bücher und fchreibt an feine Pächter; denn er 
berät noch mehrere Güter in verſchiedenen Gegenden Frankreichs. 
Tupre befchäftigt fich mit den kleineren Berechnungen, und forgt für 
tie Berürfniffe im Haufe, Katharine flieht der Haushaltung und ber 
Kühe vor, und Lukas nimmt ſich des Gartens an, und trifft Bor- 
ühtengen, die Pflanzen und Blumen gegen die rauhe Jahreszeit 
m ihüken. Adeline verläßt nur Morgens ihr Zimmer, um etwa 
"arten herumzugehen ; felten ſieht man fie in den andern Theilen 
ke Hauſes. Sobald es dunkel wird, zieht fie fich in Ihr Zimmer 
uräd, nimmt auch bisweilen ihre Tochter dann mit, und wenn 
% monahmsweiſe Abends bei den Mehrigen Bleibt, ſo feht fie fich 
zen Katharinen, die dem Kinde Gefchichten erzählt, während 
dm Gerval eine Partie Piquet oder Dame mit Duproͤ macht und 
"lad in einem alten Buche eine Geiſter⸗ oder Räubergefchichte ftupirt. 
Denn von einem heftigen Windſtoße die Fenſterſcheiben er: 
attern, oder bie Zweige der dicht vor dem Haufe flehenden Bäume 
a die Fenſter fchlagen, dann läßt Lukas, der eben nicht der Tapferfte 
%, ımd es dabei doch licht, feine Furcht durch ſchreckhafte Ge⸗ 
ıhten zu fleigern, fein Buch fallen und fehaut ängftlich umher; 
t entönige Lärm der Wetterfahne auf dem Dache, ber gleich: 
nifig wieberfehrenne Ton eines eifernen Hakens, ver vom Winde 
mot an die Mauer fchlägt, Alles ſetzt den Gärtner in Furcht ; 
"mbmal unterbricht Adeline die Stille und ruft plöglih: „O, 
ıme!,.. ich höre ihn!“ und dann fährt Lukas vom Stuhle 
"Tund glanbt einen Geiſt erfcheinen zu fehen. Katharine ver: 
"hat ihn dann, Herr Gerval ſchilt ihn ob feiner Weigheit, und 
er Gärtner fährt, um neuen Muth zu faffen, in feiner Geifler: 
reſhichte fort. ” 





316 


Serhsunddreißigfles Rapitel. 
Das Mabre erſcheint manchmal unwahrfheinlid. 


Der Schnee fiel in ungewöhnlich großen Maflen ; der Sturm 
wüthet, bricht Aefte von den Bäumen, ftreut fie weit umber unb 
macht die Straßen noch unwegfamer. &8 fchlägt acht Uhr, und 
ſchon lange ift es finftere Nacht. 

Adeline, welche dad Toben des Windes noch trauriger macht, 
bat den ganzen Tag ihr Zimmer nicht verlaſſen. Katharine kommt 
und legt bie Eleine Ermance neben dem Bette ihrer Mutter zur Ruhe; 
dieſe aber fügt noch auf einem Stuhle und will, ungeachtet ber Bitten 
der Alten, fich noch nicht nieverlegen. Der Herr des Haufes macht 
feine gewöhnliche Partie mit Duproͤ, und Lukas hat eben fein 
dickes Buch zur Hand genommen, ald die Glode am Gitterthor 
fih Hören läßt. . 

„Man Elingelt,“ fagt Herr Gerval; „bei diefem Better fo 
fpät noch Befuche?... — Das ift ſehr ſonderbar,“ bemerkt Lufas. 
— „Soll geöffnet werben, Herr Gerval?“ fragt Dupre. — „Ei! 
Wir müffen doch wiſſen, wer da ift, vielleicht verirrte Reifende 
oder Unglüdliche, die mir bie Nachbarn zufhiden, wie das oft 
gefhieht ... ich höre Katharine, die wird und fagen, wer ba if.“ 

Katbarine war nach dem Gitterthor gegangen, und kam zuräd, 
um fi nach dem Willen des Herrn zu erkundigen. „Herr Gerval,” 
fagte fie, „es find dem Anſcheine nad} drei reifende Handelsleute, 
denn fie haben Ballen auf dem Rüden. Sie bitten um Obdach für 
diefe Nacht ; fie Tönnen nicht weiter, weil ber Schnee zwei Fuß 
hoch auf dem Wege liegt; einer davon ift ein alter Maum, ber 
vom Brofte fehr zu leiden fcheint. Wollen wir fie aufnehmen ? — 
Allerdings, und das nach beften Kräften. — Aber Herr Gerval,“ 
fallt Dupr6 ein, „rei Männer in der Nacht... iſt das vieleicht 





317 


siht unvorfichtig? — Wi, warum denn, Dupr6? Es find Handels; 
late, einer davon ift ſchon alt! was haben wir da zu fürchten ?... 
58 iſt fo natürlich, daß man bei dieſem Wetter Schug fucht ; ſoll 
& ehrlidde Leute in den Bergen umlommen laſſen, aus Furcht, 
Bagabunden zu beherbergen?... Ach, mein Freund, wollte man 
'enen erft immer ind Herz fehen, bie Hülfe von und verlangten, 
ie würde man nur felten Gutes fliften! geh ſchnell, Katharine, 
ne, öffne, Iaffe die Fremden nicht Länger vor der Thüre... Du, 
Tnpre, mach ein tüchtiges Feuer, damit fich Die Leute trocknen 
nen, und Dun, Lukas, richte die Heine Stube her, die für Rei: 
ende beſtimmt iſt.“ 

Katharine geht und macht den Fremden, die ſie mit Dank⸗ 
zungen überhäufen, das Gitterthor auf. Die beiden Jüngern 
äbten den Alten, und nur mit vieler Mühe bringen fie ihn in das 
Immer des erften Stockwerks, wo fle der Herr vom Hanfe erwartet, 

„Seien Sie mir willfommen, meine Herren,“ redet fle der gute 
jerval an, indem er fie auffordert, näher zum Feuer zu treten. 
kaſen Sie nur gleich den alten Mann füch niederfehen, er feheint 
hr ermübet. — D! ja! mein Herr,“ erwidert biefer mit zitternder 
Amme. „Die Kälte hat mich fo angegriffen, daß ich ohne den 
iſtand meiner Kinder unterwegs liegen geblieben wäre! — Run! 
kt ſollt ſchon wieder zu Kräften kommen, guter Freund, und ihr 
sen Leute, legt nur eure Ballen ab, man foll fie in das für Euch 
Aimmte Zimmer thun.“ 

Die Handelsleute legen mehrere Ballen und Päde in einer 
He des Zimmers ab, die Leinwand, Tücher, Mufjelin und ders 
kihen zu enthalten ſcheinen; Dupré, der etwas mißtrauifch ifl, 
ibert fich den Ballen, aber fogleich begilt fich einer der jungen: 
Könner, der es gewahrt hat, mehrere Päde zu Sffnen, und dem 
‚mer feine Waaren zu zeigen. „Wenn Euch etwas gefällt, fo 
iblt nur aus,“ fagt er, „wir werben fchon miteinander fertig 
en. — Danke, danke,“ entgegnet Dupre, als er bemerkt, daß 


318 


Seren Gerval fein Deiftranen mißfälli, „morgen koͤnnen wir Mes 
weit beſſer beſehen.“ 

Die Fremden ſetzen ſich jetzt zum Kamine; Katharine bringt 
eine Flaſche Wein und Glaͤſer, und Lukas nimmt die Waarenballen 
und trägt fie in die obere Stube. 

„Hier, meine Herren, bis zum Nachteffen wird Ihnen das 
fon bekommen,“ fagt Herr Gerval, den Fremden einfchenkend. 
„Ieintt, meine Herren, der Wein ift gut, — Mit Vergnügen,“ 
erwibert derjenige ber jüngern Reifenden, der fchon mit Dupr6 ges 
fprochen hat; „ver Wein ift eine herrliche Sache! Da, lieber Bater, 
ba, Johann, auf Ihre Geſundheit, mein Herr!“ 

„Das find gute Kinder, wie es ſcheint,“ fagt Herr Gerval zu 
dem Alten. — „D ja, mein Her, fie find die Stügen. meines 
Aiers ... der da, ift Gervais, ber Meltefle... ein mıunterer 
Burſche, immer zum Lachen aufgelegt ; und biefer bier, Johan, 
mein Süngfter ; biefer ift nicht fo heiter, wie fein Bruder; ſpricht 
wenig, ift fonft aber ein guter Junge, fehr fleißig und Slonomildh.... 
ich Liebe fie Beide recht fehr!.... denn fie find rechifchaffen, um: 
fähig, Jemand Unrecht zu thun, und bei ſolchen Gigenfchaften laͤßt 
fh etwas erwarten.“ 

„Ich mache Euch mein Bompliment, ſolche Söhne zu haben, 
aber warum reidt Ihr in Eurem Alter noch mit ihnen umher? — 
Ab, mein Herr, wir gehen jetzt nach Metz, um uns dort nieder: 
zulaffen, meine Söhne werben bort die Töchter eines unferer Hau: 
delsfreunde heirathen, und ich benfe dann bei ihnen zu wohnen. — 
So, fo! aber hat Cuch der Zufall zu mir geführt, ober haben Euch 
vielleicht die Landleute mein Haus als eine Zufluchtöftätte für die 
Nacht bezeichnet. — Mein Herr,“ antwortete Gervais, „wir find 
bier in ber Gegend nicht befannt, und machten uns heut erft fpät 
anf den Weg; da überfiel uns die Dunkelheit ; wir fahen uns 
gensthigt, irgendwo Schug zu ſuchen, beſonders da der Vater zu 
alt ift, um bem Unwetter Trotz zu Bieten. Ohne ihn hätten wir 


319 _ 


d nicht gewagt, einem Privatmann beichwerlich zu fallen, und 
rein Bruder und ich hätten lieber die Nacht im Schnee zugebracht, 
übt wahr, Johann? ... — Ja!“ ... erwidert Johann mit leifer 
hmme und ohne die Augen vom Kamin abzuwenden. — „Da 
ütet ihr fehr Unrecht gehabt," antwortet Gerval, den Yremden 
ederholt einfchenfend. „Ich diene meinem Nächften recht gerne, 
a ihr werdet Hoffentlich eine ruhige Nacht bei mir verleben.“ 

„Sie wohnen hier vecht einfam,“ fagt Gervais, fein Glas 
'errad ; „fürchten Sie nicht, von Räubern überfallen zu werben ? 
- Dad babe ich niemals gefürchtet! ..... und bis jegt ik mir 
agleichen auch noch nicht begegnet... — Uebrigend find wir auch 
cat genug im Haufe, um und vertheidigen zu koͤnnen,“ fügt 
‚wre binze, „und Gott ſei Dank, wir haben Waffen! — Dupre 
nah, ob Katharine bald mit dem Abendeſſen fertig ift... — 
s. Ser Gerval, ich werde auch nachfehen, ob Madame Gon- 
a und ihre Tochter nichts bedürfen.“ 

Tupse geht nicht zu Adelinen, aber er bat die Fremden nur 
Kenntniß fegen wollen, daß noch mehr Perjonen im Haufe 
einen, denn es iſt ihm gar nicht lieb, daß die Fremden die Nacht 
et zubringen werben. 

Gr geht in die Küche und fragt Katharine, was fie von ben 
men halte. „Meiner Treu, ich denke, es find gute Leute; ber 
ie ſcheint ſehr ehrwürbig .. . — Für einen Greis, der kaum 
sen und gehen kann, hat er verteufelt feurige Augen!“ entgeguet 
wre... „and was feine beiden Söhne betrifft, fo ſcheint mir 
reine eim echter Taugenichts zu fein... . er Jacht immer fo 
tu, wenn er fpridht, und trintt! ... fein volles Glas Tann 
kbm!,.. — Ei! wirklich ... das ift doch auffallenn!... ein, 
ilenträges I... — Und der andere! was hat der für eine finftere 
'm!,... er fehlägt kaum die Augen auf! bis jept hat er nur 
Teamal Ja gefagt... das ift fo unheimlich... ich kann ſolche 
x nicht leiven. — Bah!... Du bifk auch gar zu mißtrauiſch, 


lieber Duproo. — Nein, das nicht, aber id; will wiffen, mit wei 
ich es zu thun habe. — Kennen wir denn die arme Frau, d 
ſchon feit einem Jahre bei und wohnt? — O! was ift das fi 
ein Unterfchieb !. . . eine junge, fehöne, intereffante Frau; ſche 
ihr Zuſtand floͤßt Mitleid ein; und ihr Kind! wie zart und liebli 
if das doch... ja! ich verfiche mich einigermaßen auf Phyfiogn 
mien! ... biefe Handelsleute aber... fieh! Katharine, ich wer 
diefe Nacht ſchlecht fchlafen. — Und ich werde hoffentlich ganz g 
fchlafen. — Schließ nur Deine Thüre gut zu. — Schon gut, fd 
gut! Du biſt ja wie Lukas... man muß geflehen, wir hab 
bier tüchtige Männer zu unferer Vertheidigung, wenn es bar 
antommt. — Katharine, Du irrſt Dich, ih bin fein Feigling. 
aber ich fühle, daß ich nicht mehr zwanzig Jahre alt bin... ad 
damals nahm ich's mit Dreien allein auf! — Ach! fo laß m 
mein Nachteſſen Tochen, flatt mir mit ſolchem Gewäſche bange 
machen. — Gewäfh? Km! das ift Bald gefagt... und m 
unfere junge Frau auch mit beim Eſſen fen?.... — Du w 
ja, daß dieſes nicht ihre Gewohnheit iſt . . fe ſchläft, wie 
hoffe, möchteft Du fie nicht auch noch aufweden?... — Ratharine ? 
— Nun, was gibt's — Es Tommi mir vor, ald ob ich Lärm 
Hofe am Gitter hörte... — Das iſt der Wind, der mit 
Bäumen fein Spiel treibt... übrigens fieh vo nad... — 
ja... ich will mich Tieber felbft überzeugen, obgleich Du 
feine Courage zutrauft.“ 

Dupre zündet eine Laterne an und macht einen Gang ı 
den Hof, findet aber Alles in gehöriger Orbnung, das Bitter 
ift verfchloffen ; er Bleibt eine Weile ftehen, um hindurch zu fe 
aber eine Menge vom Winde aufgejagten Schnees fährt ihm 
Beficht ; indem er fich die Augen reibt, ift e8 ihm, ald vernä 
er ein dumpfes Geräuſch in dem unten Stodiwerf, von ber 
ber, wo Adeline wohnt. 

„Arme Frau, fle ſchläft noch nicht,“ fagt er; „wenn ich 











ginge, um zu fragen, ob ſie etwas wünfcht, aber der Herr will 
nicht, daß man fie Abends flört; er hat es ausdrücklich verboten. 
34 will daher wieder hinauf und lieber auf die Fremden ein wach⸗ 
ſanes Auge haben.“ 

Der alte Diener trifft Lukas auf der Treppe. : Des Gärtner 
Sagt and lacht, denn wenn viele Leute im Haufe find, if ex immer 
zuzier und guter Dinge. — Haft Du das Zimmer für die Fremden 
2 Ordnung gebracht?“ fragt ihn Dupre. — „Sa, und ich habe 
‚ars andy ihre Waaren hinaufgetragen; fie haben mir für meine 
Rübe ein Trinkgeld geben wollen, allein ich habe es ausgefchlagen ! 
Tu thateſt Recht daran; für Leute, die zu Fuße reifen, find fie 
ıscht freigebig? — O, der eine mit den röthlichen Haaren fickt 
ct Infig aus... er lat... trinkt... und fpricht für Alle... 
zen wir öfter ſolche Säfte hätten, würbe es, glaube ih, muns 
leret bei und hergehen!... aber wir Haben ja nur die arme Frau... 
ae eine Berrücte noch dazu... da kann es eben nicht ſidel fein. 
— Schweig, Lukas, Du kenunſt Deine Leute nicht... ih will chen 
51 behaupten, daß biefe Kaufleute Spigbuben find, aber... — 
Das aber ?... — Berfchließe Deine Thüre gut, hoͤrſt Du, Lulas?... 
-%, ja... Herr Duprö... ja... ih verfiche wohl,“ antwortet 
!ıfad, deſſen Heiterkeit fi mit einem Male in Augft und Unruhe 
meanbelt, während Dupre langſam zu feinem Herrn hinanfgeht. 

Des fremde Greis und Bervais unterhalten fi mit Herrn 
Yersal ; der Andere beantwortet die an ihn gerichteten Fragen hoͤchſt 
aũlbig. „Mein Bruder if ſehr ernſthaft,“ fagt Gervais halblaut 
chrom Wirth; „er iſt nämlich eiferſüchtig; er fürchtet, feine 
aut werbe ihm in den zwei Jahren, wo er abweſend war, vers 
en Gaben, und das macht ihn betrübt. — Das laͤßt ſich denken, 
⁊ fdeint mir aber, als wäret Ihr nicht fo beſorgt? — IH? 
1: beim Kucknk! ich Habe mich um die Weiber niemals gequält! ... 
* bin nicht fo!... . ich frage den Teufel darnach, und bin im 
Eine ... — SEchweig, mein Sohn,” unterbricht ihn ber Alt⸗ 

Yanl de And. 1. 21 


299 
raſch, „Du fprigft ein wenig zu rüͤckſichtslos; emtfchulbigen Sie 
ihn, Herr Wirth, er ift Soldat gewefen. — Ah! Ihr Habt ges 
dient? — Ja, freilich! . . . umb wenn es zu ſchlagen gibt, bin 
ich bei der Hand, nicht wahr, Vater? ... — Ja, allerdings; 
Du bit ein Hitzkopf! das fleht man.“ 

Katharine meldet, daß im Nebenzimmer aufgetragen ſei. — 
„Run denn, meine Freunde, fo laſſet uns zu Tiſche gehen,” ſagt 
Gerval, und führt feine Säfte ins Speifezimmer. Man fept ſich; 
der alte Kaufmann neben ven Wirth; Dupre, als ein langjähriger 
Diener, ift allmählig der Freund feines Herrn geworben, und fpeist 
immer mit am Tifche; er nimmt alfo feinen gewöhnlichen Plak 
ein, Here Gerval bemerkt aber neben ſich noch ein weiteres Convert. 

„Für wen ift diefes Gebe?" fragte ex Duprd. — „Herr 
Gewal, für unfere junge Dame... ober ihre Tochter, wenn fie 
etwa kommen follte. — Du weißt ja, baß fle ſchon ſchlaͤft, Con⸗ 
flanze bleibt nie fo lange auf. — Sie ſchlaͤft nicht, Herr Gerval, 
ich Habe in ihrem Zimmer noch Geraͤuſch gehört.” 

Der Greis wirft feinen beiden Begleitern einen Blick zu und 
wendet ſich bann gegen den Wirth. — „Sie haben noch Damen 
im Hauſe, mein Herr? ſollten wir ſie vielleicht hindern, am Abend⸗ 
eſſen Theil zu nehmen, dann würden wir lieber ſogleich auf unſer 
Zimmer gehen. — O, nein! es iſt nur eine Mutter mit ihrem 
Knde; die arme Frau iſt leider ihres Verſtandes beraubt! ... . 
eine Unglüdliche, die zu reizbare Nerven hat: . . fie iſt zu be: 
bauern!... — So wollen wir auf ihre Gefunbheit trinken, meine 
Herren,” ſagt der große Gervais, indem er ſich und feinem Nachbar 
das Glas vollſchenkt. — „Der Menſch fcheint ſich wenig zu geniren,“ 
benft Dupr6 ; „Teufel, der möchte unfern Keller bald ausleeren.“ 

Der Greis fieht von Zeit zu Zeit feinen Sohn an; er fcheint 
unzufrieben, daß er fo viel trinkt, und macht ihm deßhalb Bors 
wärfe. — „Der Wein unferes Wirthes ift koſtlich,“ entgegnet Diefer, 
„und Ihr wißt ja, Vater, er ift meine ſchwache Seite.“ 





So ſchonen Sie ihn nicht,” fagt Herr Gerval, „er wir 
Ihnen Kräfte geben, Ihre Reife morgen fortzufegen. — Gern, 
fehr gern, mein lieber Herr Wirth, ich Hätte ſchon Luft, einen 
Heinen Zopf zu trinken.“ 

Dupré verzieht das Geficht und findet, daß Gervais ganz 
befondere Mebensarten führt; je mehr er trinkt, deſto freier wirb 
et, Unfer guter Herr Gerval entſchuldigt es aber und findet Ber: 
gnägen an ber muntern Laune bed jungen Mannes, die feinem 
Bater jedoch ganz und gar nicht gefällt. 

„So trinke do, Johann,“ fagt Gervais, indem er feinen 
Rachbar auftößt, „Dun Bift ja ein trauriger Helb!... und Dun... 
ah! bitt' um Entſchuldigung ... Sie wollt’ ich fagen, und Sie, 
mein lieber hochverehrter Bapa, Sie rollen mir ja ein paar Augen 
in, wie ein paar Salzfäffer!.... Bob Donner... ! ich Bin das 
einzige ſidele Haus unferer Familie, nicht wahr, Herr Wirth ? 
Auf Ihre Geſundheit, Herr von Gerval, auf die Ihrer werihen 
Iemilie... Ihrer Verrückten, und auch auf Ihre Gefundheit, alter 
Irummbär, der Sit und betrachten, als ob wir aus der arabifchen 
Bike kaͤmen; auf die Gefundheit der ganzen Gefellſchaft! ich 
meine es gut!” 

„Entſchuldigen Ste, mein Herr,” fagt der Alte zu Duproö, 
„ſowie er etwas getrunken hat, weiß er nicht mehr, was er ſpricht.“ 

Dupre zieht die Augenbrauen zufammen unb antwortet nichts. 
— „Ih wüßte nicht mehr, was ich fpreche,” ruft Gervais, „ab! 
keiliges Kreuz Bombenwetter! ... das glauben Sie, mein lieber 
Pater; nun! fo haben Sie gelogen... gelogen wie ein Schul; 
nd... nicht wahr, Johann ? Iſt er nicht ein rechter Schulfuchs ? 

Der Alte flieht wüthenn auf. „Ohne die Achtung, die ih 
meinem Wirthe ſchuldig bin,“ fagt er, „würde ih Dich zu züch⸗ 
ügen wiſſen, aber ich habe Mitleid mit Deinem Zuſtand, folge 
mir, wir wollen ben Herm nicht länger von feiner Ruhe abhalten. 
— Recht fo, recht fo, lieber Papa, ich glaube, ih Habe Dumms 


Geiten geſagt; es it beſſer, ich lege wich nieder . . inywiſchen 
bitte ich noch um Ihren Segen.” — Bei diefen Worten näher 
ſich Gervais dem Alten, der ihn jeboch zurückſtößt und Herrn Gerval 
gute Nacht wünfcht, mit ber Bitte, ihm das ungezogene Benchmen | 
feines Sohnes doch ja nicht aufrechnen zu wollen. 

Lukas nimmt ein Licht und will die Fremden auf -ihr Zimmer | 
begleiten, als man Geräufch auf dem Hofe vernimmt; die Han 
delslente fehen ſich überrafcht an, und Dupr6 Läuft nad ben 
Fenſter und fleht, wie Adeline im einfachen Nachtkleide mit dem Ä 
Lichte in der Hand heftig bewegt im tiefen Schnee einherläuft. 

„Ste iſt e8, Herr Gerval,“ fagt Duprö zu feinem Hem; 
„ſonderbar, daß fle fo fpät noch ihre Zimmer verlaffen hat. — Iſt 
dad Ihre unglüdliche Frau?" fragt der Alte. — „Wetter! ih 
muß die Berrüdte ſehen,“ ruft Gervais, „ich bin neugierig zu 
wiſſen, ob fie hübſch if.“ | 

Er läuft raſch nach dem Fenſter, aber Adeline war bereits 
wieder in ihr Zimmer zurüdgegangen. | 

„Gute Nacht, meine Herren,“ fagt Gerval zu den Fremden, 
„morgen frühe werde ich wohl wieder dad Vergnügen haben, Sie 
zu fehen.“ | 

Die Kaufleute fleigen zum zweiten Stod hinauf. Lukas laͤßt 
ihnen das Licht und eilt wieber in fein Zimmer hinunter, das neben 
der Küche liegt, und von ihm, fowie es ihm Duproͤ anempfohlen, 
forgfältig verrammelt und verfchloffen wird. | 

Diefer bleibt noch allein bei feinem Herm, denn bie Köchin 
bat fi auch fchon zu Bette begeben, und theilt nun demſelben 
feine Bemerkungen über die Fremden mit. 

„Sie werben boch geftehen, Herr Gerval, daß ber Große wie 
ein Dagabund audfleht, und feine Sprache, fein Benehmen, ver 
"Mangel an Achtung gegen feinen Bater... — Was wilf Du; 
ex hatte etwas gu viel getrunfen ! — Seine fonderbaren Ausprüde... 
Br iR ja Soldat geweſen! — O! dad war nicht die Sprache 





eines Goldaten. Möge es Bott gefallen, mein lieber Herr, daß 
Cie es wicht berenen, dieſe Leute gaſtfreundlich aufgenommen zu 
haben! — Was fürchteſt Du denn? — Ich weiß es nit, aber 
Alles iſt mir verbächtig, felbft das Stillfehweigen des Einen, deſſen 
Änftere Miene eben kein ehrliches. Gemuth ankündigt. — Beruhige 
Mh, Dupro, und geh’ zu Bette... Eine Nacht ift bald vor⸗ 
über! — Sa, wenn man fchläft!‘. ... aber manchmal Tann fie 
einem recht Lange werben... Es ift mie nur lieb, daß mein Schlaf⸗ 
immer an bad Ihrige ſtoͤßt, und wenn Sie Seräufch Hören, fo 
werren Sie mich fogleich rufen, nicht wahr, Herr Gerval? — 
%a, ja, mein guter Dupre, geh’ nur und beruhige Dich.“ 

Dupr6 verläßt ungern feinen Herrn. Diefer aber Legt fi 
vertranensvoll nieder, und ber Schlaf verbrängt fehr bald jeden 
Geranfen an die böfen Vermuthungen feines alten Dienere. 

Das Zimmer Dupre’s if im erflen Stockwerk, dicht an dem 
des Seren Gerval gelegen, ‚aber die Thüre geht nach ‘der Treppe 
hinaus, die nach der zweiten Etage und hinunter in den Hof führt. 

Bon einer unwiderſtehlichen Unruhe gequält, ift Duproͤ ent- 
ſchloſſen, munter zu bleiben, und wo möglich feinen Verdacht auf: 
jeflären. Er ficht nach dem Fenſter der Fremden hinauf und be; 
met noch Licht. „Sie fchlafen noch nicht, und ich koͤnnte fie 
behorchen,“ fagt er; „ich will es verfuchen.“ 

Er ſchleicht fich fachte und ohne Licht aus dem Zimmer und 
feigt die Treppe hinauf; er bleibt vor der Thüre, die gu ben 
Kaufleuten führt, fliehen, aber er erinnert fi, daß vor ihrem 
Schlafzimmer noch ein Kleines Kabinet fich befindet, fo daß man 
von ber Flur aus fie nicht fprechen Hört. Duproͤ will ſchon wieder 
binamter gehen, als ihm einfällt, daß die Kaminroͤhre ihres Schlafs 
iummers wicht an der Dachluke ihren Schornflein hat. Er fleigt 
alſo mit der größten Vorficht nach dem Boden hinauf, öffnet leiſe 
das Lukenfenſter, legt fich auf den Bauch. fo weit ale möglich 
hinans, erreicht fo wistlich den Schornſtein, und Tann nun bei 





bes geringen Cutfernung, bie ihn von bem darunter liegenden 
Bimmer trennt, mit der größten Beichtigteit folgende Unterreiun 


„Du bift unverbefferlih, Lampin; es fehlte nicht viel, ſo 
hätte Dein verfiuchtes Beſoffenſein und verrathen! — Bah bah! 
und was hätten wir benn am Ende zu fürchten gehabt; im ganzen 
Haufe find ja nur drei alte Schwachköpfe, ein Einfaltöpinfel, cin 
Bahnfinnige und ein Kind !... wahrlich eine fürchterliche Man 
fehaft!!... hättefl Du meinem Rath gefolgt, jo hätten wir gleich, 
fowie wir ins Haus traten, offen gehandelt. Was mich betrift, 
ich nehme den reichen alten Kauz und feinen Bebienten auf mid. 
— 86 ift befier, ganz ficher zu gehen und auf einen vermänftign 
Nackzug bebacht zu fein. Du kannſt doch wohl denken, daß id, 
bevor ich euch herführte, die nötgigen Erkundigungen über bie 
Vewohner des Hauſes eingezogen haben würde. Der alte Herr if 
fehr reich und thut fehr viel. Entes. — Nun, fo foll der alt 
KAröfus für uns auch wohlthätig fein. — Er Hat viel Geb in 
Haufe, denn ich weiß, daß er erft feit acht Tagen den Pacht von 
feinen Gütern eingezogen hat. Alles muß fich in feinem Zimme 
befinden. Da hinein zu kommen, foll uns nicht ſchwer werben, wit 
bemächtigen uns der Schäge und entfliehen durch das Zimmer bei 
Berrüdten, denn. das Gitterthor ift ſehr feſt, und es würde und 
ſchwer werben, es aufzubrechen. — Ja, ich habe aber eijerne 
Stangen vor den Fenſtern gefehen, die nach dem Wald hinaus 
liogen, wie wollen wir denn da hinaus fliehen, ſehr verehrter 
Sers Papa? — Dummlopf, denkſt Du nicht, ich Hätte nicht hiefür 
geforgt ? Unſere beiden Kameraden haben Befehl, die Stäbe hund: 
zufeilen, und ich habe ihnen gefagt, fie koönnten es ohne Gefahr 
thun, da die, welche das Zimmer bewohnt fie daran nicht flören 
. wiirde. — Bravo... ein herrlicher Gedanke, nicht wahr, Ehuarb?... 
fo ſprich doch, verwunſchter Duckmaͤuſer. — Ja, ja, ber Plan ifl 
gut ausgedacht. — Gin wahres Blüd, dab Du bamik zufrieden 





'W 


BR..: wenn mar ber alte Intendant, der uns immer fo von ber 
Seite betrachtete, den Kram nicht verdirbt. — Sein Unglüd wär's, 
venn er ſich's umterflände! Wir Iaffen unfere Kameraden hereins 
hmmen, dann find wir flarf genug, und wer ſich widerſpenſtig 
jgt, wird fogleich zur Ruhe gebracht. — Gewiß, gewiß! . . 
dar ſicherſte Mittel. — Gluͤcklicherweiſe Habe ich mich bei Tiſfche⸗ 
zu mäßigen gewußt; hätte ich Dir gefolgt, Lampin, wäre Alles 
vernthen worden. — Sa, Teufel! Du fpielteft auch den Alten fo 
get, daß ich vor Lachen hätte erflidden mögen... wenn ich übrigens 
getrunfen babe, fo hat das meinen Muth nur vermehrt; hier iſt 
Gold zu fifchen, und das flählt mir die Nerven... Aber laß 
fehen, wie wollen wir denn unſere Poſten vertheilen ? — In einiger 
Zeit lafen wir unfere Kameraden hereinfommen, wir mäffen ben 
alten Lenten doch noch die nöthige Zeit zum Einfchlafen geben. 
Ernard Halt Wache bei der Verrüdten und gibt Acht, daß fle 
nicht etwa in einem Anfall des Wahnſinns ihre Thüre verſchließt 
ud und ben Rückzug abſchneidet. Unſere Kameraden nehmen ihre 
Soflen, ber eine Beim Gärtner, der andere bei der alten Koͤchin, 
md De, Lampin, begleiteft mich beim Auffuchen des Geldes. — 
So iſt's recht, Das wäre alſo abgemacht. — Der Kamerad da wisd 
ſih nicht beklagen können, einen zu gefährlichen Poſten erhalten 
zu haben, bei einer fchlafenden Frau und einem Kinde Wache zu 
fkebn!... Sapperment! welche Heldenthat! — Ja, aber ſir 
dürfen auch nicht aufmachen, denn wenn fle dad geringfte Gefchrei 
machen... . bedenke Eduard, es handelt fi um ihre Sicherheit, 
um unfer Leben vielleicht. — Schon gut! ich verftehe!. . ." - 

„Und auch ich,“ fagt Dupre, indem er behutfam den Kopf 
prüdzieht, „ich weiß genug! o, die Böfewwichter!. . . ich Hatte 
mich wicht getäufcht! Näubern haben wir Obdach gegeben . 
D mein Gott! . . , rathe mir, wie ich meinen Herrn und bie 
ame Frau rette.“ 

Der alte Diener begibt ſich fachte in den Boden zurüd. Un⸗ 


geachtet des Beſtrebens, feinen Geiſt und feinen Muth zu beleben 
zittern feine Beine; kaum Tann ex füch ſtehend erhalten, und fein 
Einbilvungskraft, von Allem, was er gehört, aufs Aeußerſte ar 
geregt, zeigt ihm nur Blut und Mord, Er ift fünfunnfechzig Jahre 
alt, es wird ihm alfo ſchwer, einen Entſchluß zu faffen, und in 
gefährlichen Krifen iſt ein jeder Nugenblid koſtbar und fein Beruf 
oft nicht zu erſetzen. 

Duproͤ fchleicht den Boden entlang. Soll er. feinen Herrn oder 
Lukas wecken ? Aber der Gärtner fchläft fehl; er müßte Hartl an 
feine Thüre pochen, und bei der Stille ver Nacht würde das leiſeſte 
Geräufc von den Räubern gehört werben und ihren Verdahht er 
weden. Katharina ift in ihrer Küche eingefchlafen, und fie würde 
ohnehin nichts helfen Eönnen!... aber durch Eonflanzens Zimmer 
follen ja die Kameraden der Räuber eindringen, man müßte ihnen 
alfo dieſen Gingang verfperren und zuvor die junge Frau mit ihrem 
Kinde aus dem Zimmer fchaffen. - 

Diefer Plan fcheint dem alten Diener der befte. &xr entſchließt 
ih hinunterzugehen, aber er fchaubert, indem er ben Fuß auf die 
Treppe ſetzt. Wenn die Nichtöwürbigen jetzt heraus Fämen und ihn 
anträfen, es wäre um ihn gefchehen ; auf jeder Stufe ſteht ex fill 
und horcht; emblich ift er vor ihrer Thüre... aber er hört fprechen, 
Fußtritte ſich nähern, man oͤffnet die Thüre, uud Duproͤ fleigt 
vafch wieder zum Boden hinauf. | 

Die fogenannten Handelölente hatten über ihren Köpfen ein 
Geraͤufch gehört; der Gang des alten Mannes ift jchwerfällig , der 
morfche Fußboden bat unter ihm gefracht und die Aufmerkfamteit 
ber Mäuber rege gemacht. Dufreöne tritt zuerft heraus; er Hält 
ein Licht in der einen und einen Dolch in der andern Hand. Lampin 
folgt ihm; fie kommen in dem Moment auf dem Boden an, als 
ber treue Diener gerade Hinter einigen Bunden Stroh ſich verſtecken 
will. — „Wir find verrathen,“ ruft Dufreöne, „man bat und 
horcht, aber biefer Wicht ſoll uns night mehr ſchaden. 














Wub fogleich ſtoͤßt er feinen Dolch dem alten Maune in bie 
Saft, der nur noch Die Hände faltet, um die Milde feiner Henker 
zchen; Duproͤ haucht, ohne einen Ton von ſich zu geben, 
nn keben ans, fein Blut überfchwentmt ven Fußboden, und Lampin 
ededt den Leichnam ded unglücklichen Dieners mit Stroh. 

„Seht hinunter,“ fagt Dufreöne, „und da man Verdacht ge- 
hörft bat, fo müſſen wir nur um fo ſchneller and Werk gehen.“ 

„Bad iR denn gefchehen,“ fragt Eduard, der als Wache auf 
# Treppe ſtehen geblieben war. — „Nichts,“ antwortet Lampin, 
zur haben uur einen Neugierigen weniger. — Sebt laufe raſch 
zer zu der Verrückten, unfere Kameraden müfjen auf ihrem 
cien ſein; fie follen fich nicht laͤnger die Naſen erfrieren.“. 

Die Rauber gehen hinab auf die Hausflur ; der Schlüffel fteckt 
Atelinens Stubenthüre ; fie treten ein; eine Nachtlampe erhellt 
1 fbärlich das Zimmer. Das Bett der Tochter fleht dicht, vor 
u der Mutter, und bie Borhänge find ganz zugezogen. Dufresne, 
mengt, daß die Frau im Bette nicht wacht, fomit fie nicht ber 
At, offnet das Fenſter und läßt die Kameraden einfteigen, die 
dem Durchfeilen ver Eifenftangen längft fertig waren. 

„Alles geht nah Wunſch,“ jagt Dufresne, „wir wollen jept 
Srnferlägel offen Iaffen, damit nichts unfern Rüdzug hindert. 
ur, Du bleibt Hier, und Tein Diitleiv, wenn man erwachen 
ie! Ihr, meine Freunde, folgt mir, ich werde euch eure Boften 
anweiſen; Lampin und ich nehmen bad Weitere über und.” 

Während Dufresne's Anordnungen ſtülpt Lampin die Aermel 
uf, zielt feinen Dolch hervor und unterjucht deſſen Spige ; 
rildes Lächeln glänzt in feinen Augen und fein widerwärtigeg, 
Bein und Raubfucht belebtes Aeußere trägt in feinem ganzen 
'ıng den Stempel des verworfenſten Verbrechers. 
Die vier Mänber Hatten ſich entfernt, und Eduard iſt allein 
sımmer zurüdgeblieben. Auf das kleinſte Geraͤuſch aufmerkſam, 
er maufhörlich vom Feuſter nach dem Wette; ex horcht nach 


dem Gehoͤlz hinaus und lauſcht dann wieder an ben Vorhängen, 
bie Adeline verbergen. Er unterfucht des Kindes Beitchen, es iR 
leer ; Abeline, von dem dumpfen Geräufch außen am Fenfter mehr 
als gewöhnlich aufgeregt, hat die Tleine Ermance zu ſich ins Bett 
genommen und fich felbft ganz angekleidet niedergelegt. 
Neugierig, die Wahnfinnige zu fehen, will Eduard fo eben 
ben Borhang aufheben, ald ein Geräuſch im Wale feine Auf: 
merkfamfeit rege macht; er geht nach dem Fenfter zurüd und Hört 
Zußtritte auf dem Halbgefrorenen Schnee umb den trodenen, vom 
Winde umhergeftrenten Zweigen und Reifern. Das Geraͤuſch nähert 
fi, man unterſcheidet ſchon Stimmen... Wenn man dem Hansbeſther 
zu Hülfe eilte ... vielleicht find e8 Gendarmen, die und nachfeßen... 
wenn fle das Fenfter bemerken, deſſen Gitter gefprengt ift... Eduard 
ſchaubert; er legt leife die Fenfterladen an, damit man nicht in bad 
Zimmer ſehen Eönne, er athmet kaum. Trotz all’ feiner Borfücht IR Ave: 
line erwacht; fle jchlägt raſch die Vorhänge zuruͤck, richtet fi auf und 
ruft mit aller Kraft ihrer Stimme: „Bift Du e8? Ja! ja! Du biſt's!“ 
„Die Unglüdliche wird uns verrathen,” jagt Eduard für ſich, 
„ihr Geſchrei wien jene Fußgänger anloden, fo fei es ven!" 
Er läuft zum Bett, den Dolch in dee Hand... . will eben 
zuftoßen, als er feine Frau und fein Kind erkennt. | 
Ein Schrei des Entfegens und Schreckens entfährt dem Elenden, 
. das meuchlerifche Eifen entfällt feiner Hand, und umbeweglich ſteht 
er vor ber Unglüdfeligen, die er fo eben vernichten wollte. Aber 
biefer furchtbare Schrei hat in Adelinens Seele wiebergeflumgen ; 
fie bat die Stimme ihres Gemahls wieder erkannt ; biefelben Töne, 
bie ihr den Berftand geraubt, Bringen abermals eine Umwälzung 
in ihrem ganzen Wefen hervor ; fie rafft ihre Sinne, ihre Gedanken 
zufammen, erwacht aus einem ſchweren Traum, fie ſieht Ednard, 
ertennt ihn, bricht in lautes Freudengeſchrei aus und ſtuͤrzt ſich in 
ſeine Arme. 
„Eduard! ... Du bier! bei mir!“ ruft fie, ihn zaͤrtlich an⸗ 





un ai 


331 


und, „lebfter Befter, wie geht das zu %... Ach, wie ift mix ? 
ı Rupf Dreunt wie Feuer!“ 

„Roum,” fagt Eduard, „komm, gib mir das Kind und laf’ 
Fehen.. von Hier entfliehen oder Du biſt verloren. — Warum 
‚Bichen ? Was droht Dir für Gefahr? haft Du nicht ſchon 
gelitten. . . verfolgen Dich die Mepfchen noch? — Ja! 
auch Du bift der Wuth der Räuber ausgefeht, da! börk 
ba Rufen im Innern des Haufe? ... jegt ermorben 
Sreis ohne Snabe.., Tomm’, fage ih Dir... oder fie 
auch Dich vor meinen Augen töblen.... . oh! verweigere 
nicht Bin ein Ungeheuer, ein Nichtswürdiger, aber ich 
setten.“ . 

e laͤßt fich von ihrem Gemahl mit fortziehen ; fie nimmt 
in den Arm und will ihm folgen, als bie Senflerlänen 
aufgeftoßen werden und man anhaltendes Klingeln am 



















hoͤrt. 

Mann erſcheint vor dem Fenſter und ſpringt ind Zimmer, 
feinem Begleiter zurmft: „hier ift eine Breſche, hierher, 
‚ hierher! es find Hunbsfätter in der Feſtung, aber wir 
fe ſtriegeln, taufend Bomben Granaten! vorwärts.“ 
Anblick des Fremden zweifelt ver ebenfo ſchwache als 
Eonarb Leinen Augenblid, daß man komme, ihn und feine 
zu ergreifen ; um fich der gerechten Strafe zu entziehen, 
Melinend Hand los, flößt fie zuräd und ruft: „Du bift 
‚ laß mich, folge nicht... lebe wohl! Lebe wohl, 
0 
entflieht ex durch die Thüre, erreicht den Hof, ſchwingt 
dad Gitter und läuft in den Wald; in demſelben Augen: 
Satob und Sansfouci in Adelinens Zimmer, bie von 
Seelenerfchütterungen erſchoͤpft, bei dem plößlichen 
ihres Mannes bewußtlos umfaͤllt. 








332 


Siebenunddreißigfies Fapitel. 
Ber if der gute Gerval? 

„O, unglaubliches Wunder! welches Glück! darf ich meinen 
Augen trauen ?“ ruft Jakob, indem er der Unglüdlichen zu Hülfe 
eilte. „Diefe Frau, fie ift es, Sansſouci ... komm, ſieh nur. 
— Ei freilich! Heiliger Gott! fie ift es! ... endlich müſſen wir 
fie finden... habe ich e8 Dir nicht est. . man foll niemals 
verzweifeln. — Und ihre Tochter... . ſieh, o, ih efeme 
fie. — Aber als ich das Fenſter —* "glaubte ih einen Mam 
zu fehen, er ift entflohen... Sa! welch Geräuſch!... Hörft Du?... 
man ruft nah Hülfe... , bleibe Du bier.. . verlaffe fie wii. 
gib mir aber eine von Deinen Piſtolen.“ | 

Jakob thut es, und Sandfouci, in einer Hand das Bit, | in 
der andern einen tüchtigen Stock, laͤuft dem Geſchrei nach, ſteigt 
die Treppe hinauf, tritt in ein Zimmer, deſſen Thüre eingeſtoßen 
iſt und erblickt einen Greis auf den Knieen, ‚wie er das Ritleid 
eines Boͤſewichts anfleht, während ein Anderer mit Geldſäcken be: | 
laden fich fo eben davon machen will. 

Sansſouei drüdt fein Piftol auf Dufresne ab, als biefer den | 
Greis fo eben nieberjchmettern will, und das Ungehener ſtuͤrzt zu 
den Füßen des Herrn Gerval nieder. Sein Kamerad wirft die Selb: 
fäde fort und will entfpringen, allein Sansfouci läßt ihm feine 
Zeit dazu; er erreicht ihn auf der Treppe und verjegt ihm einen Ä 
fo fürchterlichen Hieb auf den Kopf, daß Lampin firauchelt, mehrere | 
Stufen hinunterfällt, fi den Kopf gegen die Mauer zerfchellt unt | 
unter den gränlichften Flüchen fein Lehen aushaucht. | 

Ihr fein mein Netter, mein Befreier,“ ſtoͤhnt Gerval, wäh- 
rend Sansfonci ihm feine Bande Iöst. — „Es iſt wahr, mel) 
lieber Herr, e8 war die höchfte Zeit, aber vielleicht find noch Kauben 
im Haufe, ich eile, fie aufzuſuchen. — Ich folge, ich folge, e 





win Retter!” fagt der reis, „ich will Euch führen, aber ad! 
5 ſehe ja nicht meinen treuen Dupre !” 

Ja diefem Moment hört man einen Piftolenfchuß. Sansſouci 
at die Treppe Hinunter und erblickt Jakob, wie biefer fo eben 
'ıem ber beiden andern Ränber den Hirnfchädel zerſchmettert hat, 
ibtend deſſen Kamerad auf bemfelben Wege, den Eduard ge: 
rmen, entflieht. 

Tas Schießen, der Tumult, dad Geſchrei haben endlich Ras 
enne und Lukas erwedt, aber erft auf die Stimme ihres Herrn 
‚m fie ed, ihre Zimmer zu verlaffen. Man vereinigt fi und 
St fih nach Adelinens Zimmer. Diefe kommt endlich zur Bes 
zung, und eine neue Meberrafchung erwartet fie, denn fie erblict 
a treuen Salob. 

„Rein Bruder , mein Freund! auch Sie foll ich wiederfinden ?“ 
Ti erſtaunt; „ich weiß nicht, ifl’8 ein Traum... aber jo viel 
"ammal!... . So eben war au) Eduard hier bei mir. — 
un'!... aber kommen Sie zu ſich, beruhigen Sie fi, liebe 
«ne, fürchten Sie nichts mehr... die Räuber find beftraft.“ 

Keline antwortet nicht, aber ihre Augen fuchen nah ihrem 
ahl. 

Victoria!“ ruft Sansſouci, „zweien habe ich allein das Le⸗ 
suht ausgeblafen! — Ihr habt und dad Leben gerettet, brave 
suen,“ fagt Gerval, indem er auf Jakob zugeht, „wie Tann 
Tuch genug danken ? — Sie haben, wie ich jehe, meine Schwe⸗ 

un meine Nichte gepflegt,” erwibert Jakob, „und alfo bin ich 
a Dank ſchuldig.“ 

Seine Schwefter, feine Nichte!” wiederholen Herr Gerval 

feine Leute. — „Bor allen Dingen laßt und das Haus durch⸗ 
sen, es koͤnnten noch irgendwo Spigbuben verborgen fein. — 

. Tupre Iäßt fich nicht fehen!... ich zittere, daß er ein Opfer 
4 Dienfleifers geworden. — Erf alle Hausbewohner in Sicher⸗ 
A, ud Daun vorwärts!" 


334 


Dan führt Herrn Gerval, Abeline, ihre Tochter und Kalt 
xine in ein Simmer, wo fle nichts zu fürchten haben, und j 
beginnen Jakob und Sandfouci, von Lukas geführt, der wie Eſp 
laub zittert, feine Hulfe aber nicht verfagen darf, ihre Nachfuch 
im Haufe. Der Name Eduard, den Abeline audgefprochen I 
it für Jakob ein Räthfel, denn er wagt ed noch nicht, bem 
dacht, ber feine Einbilbungskraft dann und warn feffelt, Raum 
geben. Man durchſucht alle Winkel und findet Niemand, nur 
dem Boden entdeckt man ben Leichnam des unglüdlichen Dup 
nachdem man fich überzeugt Hat, daß Fein Leben mehr in ihm 
tragen Sansſouci und Lukas ihn in ein Zimmer des unten Si 
werks, wo bie Meberrefte des treuen Diener bis zu ihrer ve 
tung bewahrt werden ſollten. 

Während Sandfouci und der Gärtner ſich diefer trau 
Pflicht unterziehen, geht Jafob in dad Zimmer bed Herrn Ga 
aus’ dem ein dumpfes Geftöhn zu feinen Ohren bringt. Duft 
athmet noch, aber bie erhaltene Wunde ift toͤdtlich, und der E 

kaͤmpft vergebens mit dem Tode. Jakob Hält dem Sterbenven 
Laterne vor's Geſicht umd fährt überrafht zurüd. 

Auch Dufreöne erkennt Eduards Bruder. Ein Hämifches 2 
belebt feine halberloſchenen Augen ; er nimmt feine wenigen & 
zafammen, um noch folgende Worte auszufloßen: „Ich werbe 
ben... aber wenn Ihr meine Kameraden getöbtet Habt, fo iſt 
Euer Bruder dem Tode nicht entgangen... . fagt feiner Frau 
biefer falfchen Adeline, die mich veracdhtete... daß ihr Mann, 
bem er von ben Galeeren entfprungen war, auf meinen Rath 
und Mörder wurde.” 

Mit diefen Worten haucht er, teuflifch erfreut, auch im f 
letzten Augenbliden noch Böfes bewirkt zu Haben, fein ehr 
Leben aus. 

Jakob ſteht einige Augenblide vor Abſchen, wie verftei 
vor bem entfeelten Körper deſſen, ber feine Familie ins Un 






län hat. Sein Schaubern bekaͤmpfend, will ex ſich von der geißs 
Üben Wahrheit überzeugen; ex geht die Treppe hinunter und leuchtet 
rampin ind Geficht. „Das ift er nicht,” ruft er, und ſchoͤpft freier 
Üben; es Tommi auf die Hausflur, und befichtigt auch ben noch, 
a von ihm getroffen worben ift. 

„Bott fei gedankt,” ruft ex, die fremden Geſichtszüge erblickend, 
arine Hand Hat fich nicht mit Bruderblut befleckt! ... er iſt ges 
tt... O! möchten wir ihn nie wieberfehen! ich will das ehr⸗ 
Ar Ungeheuer vergeffen, und alle meine Sorgfalt den beiden mies 
agefundenen Unglüdlichen ſchenken.“ 

Bevor ’er jeboch wieder zu Adelinen geht, durchfucht er forgs 
Hg die Tafchen ber Räuber, und befonders die Dufreöne’s, aus 
orgniß, einige feinen Bruder betreffende Papiere bei ihnen zu 
Bea; er überzeugt fl, daß fie nur Waffen und Gelb bei fi 
sen, und begibt ſich jetzt beruhigter zu feiner Schweſter. 

Die Hausbewohner haben mit der größten Freude bie Ueber⸗ 
ung gewonnen, daß Adeline ihren Verſtand wieder erlangt Hat, 
2 während man bie firengfie Hausſuchung gehalten, hat Her 
eral fie davon in Kenntniß gefeht, wie er fie aufgefunden, in 
mE verpflegt, hieher nach feinem Landhauſe gebracht, und fie 
s ganze Zeit bei ihm verlebt Hat. 

Adeline wirft ſich vor ihrem Beichüger auf die Kniee, denn 
fühlt, was fle ihm Alles zu danken hat, obgleich dieſer nur 
1 feinem Vergnügen fpricht, ihr nützlich geweſen zu fein umb 
in Dienſte nur oberflächlich. erwähnt. 

Sie fragt jetzt nach den Begebenheiten ver legten Nacht umb 
ihr, wie die Näuber fi bei ihnen eingefchlichen haben, und 
ohne bie beiden Reifenden, wovon ber eine ihr Bruder zu 
3 (deine, geplündert und vielleicht bed Lebens beraubt wor⸗ 
ı vwaͤren. = 

VDeline erbebt ... . fie erinnert fih, in welchem Augenblide 
a ihr erſchienen if, feine Verwirrung, fein Schreden bei ber, 


Ancunft der Fremden ; fie wagt es nicht mehr zu fragen, aber 
Seelenangſt erwartet fie Jakob; endlich tritt Diefer ins Zimmer 

„Mehrere Räuber find entfprungen,” ruft er, Adelinen ein 
Blick zuwerfend, deſſen Ausbrud dieſe verſteht. „Die, welche u 
gekommen ſind, haben ihr Schickſal verdient. — Sapperme 
ſagt Sansfonci, „ſie verdienten Alle geraͤdert zu werden, und 
bedaure es nur, daß einige unferer Rache entgangen find. — 
mein treuer Duproͤ,“ fragt Herr Gerval, „joll ich denn nichts 
ihm erfahren? — Mein guter Here, leider iſt Ihr alter Die 
ein Schlachtopfer ver Böfewichter geivorben.... er ift nicht me 
— D die Niederträchtigen! ... einen ehrwürbigen reis um 
bringen, mein armer Duprd... hätte ich Deinen Ahnungen 
folgt!... meine Unvorſichtigkeit iſt Schuld an feinem Tode!. 
nnaufhörlich werbe ich ed mir vorwerfen!... Died Hans if 
jeßt verhaßt!... ſchon morgen will ich es verlaffen.“ 

Herr Gerval vergießt die bitierften Thraͤnen über das Schi 
feines vieljährigen Dienerd und Freundes, Katharine theilt fei 
Schmerz, und ein Jeder bemüht ſich, den braven Herrn uber fei 
Verluſt zu tröften. 

Der Tag überrafcht die Hausbewohner in diefer Page. 
Gerval gibt den Bitten feiner Freunde nach, ſich ein wenig 
zu gönnen, und Lukas wird beaufiragt, die benachbarten Gem 
ben von den Greigniffen der Nacht in Kenntniß zu feßen. Ka 
rine macht auf Befehl ihres Herm die nöthigen Vorbereitu 
zur Abreife, und Adeline verfpricht ihrem Wohlthäter, ihn als 
mit ihrem unglücklichen Schickſal befannt zu machen. 

Jakob findet endlich Gelegenheit, mit Adelinen allein zu f 
fie brennt vor Begierde, ihn auszufragen, und wagt es body 
das Stillſchweigen zu brechen; ex erräth ihren Schmerz, ihre Fu 
ihre geheimften Gedanken. — „Dufresne ift nicht mehr,“ fag 
„er bat endlich ben’ Lohn für feine Schanbthaten empfangen 
Dufreöne!... Wie! Dufreone befand ſich unter ven Räubern 
























ya 


O, ich Unglüdliche ! kein Zweifel mehr, fo hatte er ihn and zum 
äußeren Verbrechen verleitet... Eduard war... — Still!“ ruft 
Jalob halblaut, „dies abſcheuliche Geheimniß bleibe unter ung 
Beiden ; der Elende ift gerettet ; möge er feine fchamlofe Exiſtenz 
‚ater einem andern Himmel dahin fchleppen... mit ihm ift e8 zur 
Rue zu fpät, und feine Gegenwart würde für mich, wie für Euch, 
ras größte Unglüd fein. Vergeſſet auf ewig einen Menfchen, ber 
urer Riebe nimals werth war; jet wird Euch das eine Pflicht. 
die Jımeigung für ein fo fchlechtes verächtliches Weſen ift Schwäche, 
1 eines veblichen, edelmüthigen Herzens unwürdig. Grhaltet 
As für Eure Tochter, für mich, für Alle, die Euch Tiehen, und 
Zuge des Friedens und ber Seelenruhe werben @uch wiederkehren.“ 

Adeline wirft fih, Thränen vergießend, in Jakobs Arme, 
Rein Freund, mein Bruder! ja, ih will Cuern Rath befolgen, 
Ahr ſollt mit mie zufrieden fein.” a 

Die von den furchibaren Begebenheiten der Nacht unterrichteten 
diente laufen herbei, um ihren Beſchützer, ihren Wohlthäter 
ſehen und fish ſelbſt zu überzeugen, daß er außer Gefahr iſt. 
‘em armen Dupré erzeugt man die lebte Ehre; am Ende des 

ztiens wird er beftattet, und ein Grabſtein verkündet das traurige 
te des treuen Dienerd. 

Herr Serval verlangt endlich den Namen feines Retters zu 
fm. „Sch heiße Sakob, mein Herr,“ fagt diefer, „früher war 
“ Soldat, jegt bin ich Landmann. — Jakob?“ antwortet der 
nö, „fo heiße ich auch, und Hatte diefen Namen aud einem 
’zem Pathchen gegeben, einem Kleinen Wildfang, der jetzt in 
stem Alter fein wird, und ben ich vergebens in Paris auszu⸗ 
ein mich bemühte.“ 

Jakob betrachtet Herrn Gerval mit größerer Aufmerkſamkeit und 
a in feinen Zügen einige Achnlichfeit mit jenem alten Herrn, 
km in feiner Jugend fo viele Beweife feiner Zärtlichkeit gab. 
rap Erinnerungen tauchen in feinem Gedächtniß auf; Taum 

Faul ve Rod. 1. 22 


Hat er bie Kraft, ihn nach feinem Namen zu fragen, auf den er 
im Laufe der verwichenen ſchrecklichen Nacht bisher noch nit ge 
achtet Hatte. — „Mein Name iſt Gerval,“ fagt der Greis, der 
eine unwillfärliche Gemüthsbewegung befämpft, „früher war id 
Kaufmann und hatte in Paris ein bedeutendes Yabrifgefigäft. — 
Waär's möglich!... Sie find Jakob Gerval, mein Pathe, den ich 
fo innig Tieb hatte?" 

Jakob fällt dem Greis um den Hals, drückt ihn mit Herzlich: 
feit an fih, und vergießt Thränen der Freude über dies glücklich⸗ 
Wiederfinden, während alle Umſtehenden von ver lebhafteflen Rüh⸗ 
sung ergriffen find. 

„Ei! Donner und Wetter! welch erwwünfchtes Zuſanmentref⸗ 
fen,“ ruft Sansfouei, „das konnte wohl Feiner von und Beiden 
ahnen, Kamerad!“ 

„Mein lieber Jakob,“ hebt Herr Gerval an, „wie fehr hab’ 
ich Dich überall gefucht, wie fehnlichtt wünfchte ich Dich wieder 
zu finden, Dein Weglaufen hatte mir damals viel Kummer ge: 
macht, denn ich war bie unſchuldige Urfache davon. Der Name 
Jakob war Dir nicht günftig, mein armer Pathe, er Hatte auf 
Dein ganzes Leben großen Einfluß ; Deine Mutter vernachläffigte 
Dich, und Dein Bater wagte Deinen Namen nicht vor ihr and: 
äufprechen; ich allein wollte Dir wohl, allein dad genügte Deinem 
Herzen nicht. Du verließeft dad Vaterhaus, und ich ſchwur, bie 
Ungerechtigkeit Deiner Eltern wieder gut zu machen, wenn es mir 
bereinft gelingen follte, Dich wieberzufinden... So habe ich Did 
denn wieder... o, jegt erkenne ich Dich vollkommen! Diefe Narbe 
bat Deine Geſichtszüge verändert... Sept wollen wir und nicht 
mehr trennen, Jakob, Du fol mir die Augen zubrüden, Du biß 
mein Kind, mein einziger Erbe; von jegt an gehört mein Ber: 
mögen Dir; verfüge baräber, um allen Denen wohl zu thun, die 
Du lieb Haft.“ 

Salob umarmte aufs Neue feinen alten Gönner, ex kann fein 





Old aoch nicht faſſen. — „Befte Abeline,“ ſagt er enbfidh, „wenn 
ih reich Bin, fo ſeid Ihr auch nicht mehr arm, das ift der hoöchſte 
Gennß, den mir der Reichthum gewährt.“ 

And Adeline und Ermance umarmen, umfaffen die Kniee 
tes glüdfichen Greiſes. — „Das find Deine Schweftern und Deine 
Rihte?“ fragt er Jakob, „mwäreft Du vielleicht verheirathet? — 
Rein!” antwortet diefer verlegen... „Sie jehen die Frau und 
tie Tochter meines Bruders vor fh! — Deines Bruders, fa, ja! - 
Tu haftet einen Bruder, aber was tft aus ihm geworden ? — 
it iſt nicht mehr!... ich habe keinen Bruder, fle feinen Gatten 
neht. — Meine Freunde, ich fehe Thränen in euren Augen, ohne 
’ zu wollen, babe ich eure Schmerzen erneuert, vergebt mir! die 
rimerung an Eduard verurfacht euch Kummer, ich fenne euer 
inglück nicht, theilt es mir mit, und ich will euch dann tröften, 
viel ich's vermag.” 

Jakob übernimmt ed, Herrn Gerval mit einem Theil von 
keiinend Unglück befannt zu machen, aber er verfchweigt ihm das 
ehäffige von Eduards Beiragen. Jener glaubt, daß Adelinens 
tıın in Paris im Elend geftorben fei, nachdem er fie und ihr 
ad verlaffen, und daß die Nachricht von feinem traurigen Ende 
um ihren Verſtand gebracht habe. 

Der gute Alte fühlt fich noch mehr, als zuvor, zu der jungen 
au, dem Mufter aller Sattinnen und Mütter, Hingezogen, und 
micht auch die Belanntfchaft der Bewohner des Meierhofes zu 
hen, bie ihr und Jakob fo viele Freundſchaft bewiefen haben. 

„Das ift ſehr leicht,“ fagt Sansſouci, „wollen Sie Alle glück⸗ 
ı machen, fo müflen Sie nach Guillots Pachthof. Alle Welt! 
ea Sie Madame und meinen Kameraden wieder, glaube ich, 
} fie vergnügter, ald wenn ihre Pächterwohnung ein Schloß 
ee — Nm, fo laßt uns Hin,” ruft der gute Gerval, „alle 
smmen, meine Kinder; biefe Reife ſoll uns gut befommen ; fie 
? die liebe Adeline etwas zerfirenen und ber Fleinen Brmance 


Freude machen. Jakob wirb denen mäklich werden können, bie ihn 
in der Dürftigkeit unterſtützt Haben, und wir, gute Katharine, 
auch wir werden in ber neuen Umgebung weniger an ben unglüd: 
lichen Tod unfered Freundes Dupre denken.” 

Der Vorſchlag Gervald verbreitet eine allgemeine freude 
Katharine ift fehr erfreut, ein Haus zu verlaflen, das fo traurig 
Erinnerungen für fie bat und wo fie feine Stunde mehr tuhi 
fchlafen würde. Lukas erbittet fich die Erlaubniß, die Gaͤrtnere 
aufgeben und für die Folge fein Diener fein zu dürfen; ber all 
Herr willigt ein, und Alles macht ſich zur Abreife fertig. 

Das Landhaus in den Bogefen wird an Landleute vermielhtl 
die ed in ein für die einfame und verlaffene Gegend hoͤchſt e 
wünfchtes Wirthshaus umfchaffen. Herr Gerval und fein Dien 
verlafjen traurigen Herzens über den Verluft Dupre’s die Wohnun 
Jakob und Adeline ehren einem Orte gerne den Rücken, ber Jen 
von Eduards Ehrloſigkeit war, und Sansſouci wirft mit inner 
Stolz feinen letzten Blid auf das Gebäude, in welchem er eine 
ehrwürbigen Greis das Leben gerettet und zwei niedertraͤchn 
Schurken aus der Welt gefchafft bat. 














Adytunddreißigfies Aapitel. 
AUbermals die Fleine Bartenthüre. 


Sansſouci jegt fi, trotz den Bitten des Herrn Gerald, 
möchte im Wagen Plag nehmen, neben den Poflillon, denn 
will mit Diefem auf den Weg Achtung geben, um ein jedes Hin 
niß, dad ihnen gefährlich werben koͤnnte, ald Steine, Löcher, ſch 
Gleiſe u. dgl., möglichft zu vermeiden; feine Freude ift fo g 
Madame Murville wieder auf ben Meierhof zn bringen, va 
ſich jelbft für jeden Eleinen Aufenthalt unterwegs verantwortlich m. 

Während der Reife erzählt Jakob dem Hexen Gerval die WE 





341 


tener feiner Ingend; bie Geſchichte von den Lichestränfen und dem 
Ragnetismus gewährt dieſem nicht geringed Vergnügen und noͤthigt 
auch Adelinen ein Lächeln ab. 

„Aber welch ein glüdlicher Zufall hatte Sie und Ihren braven 
Gefaͤhrten denn gerade fo zur rechten Zeit in unfer Haus geführt, 
um und von ben Ränbern zu reiten,” fragt ihn Katharine. 

„Als wir einige Tage nach Adelinend Abreife vom Meierhofe 
dieſe nicht wieder zurüdtehren fahen,“ antwortet Jakob, „und be: 
jürchten mußten, daß ihr irgend etwas Trauriges begegnet fei, 
angen wir, Sansſouci und ih, auch davon, entfchloffen, ganz 
Frankreich zu burchwandern, wenn es fein müßte, um Mutter und 
Kind wieberzufinden : Zuerfi gingen wir nad) Paris und brachten 
kier ohne günftigen Erfolg mehrere Tage zu. Nachdem wir barauf 
dem guten Guillot und feiner Frau Lebewohl gefagt hatten, ſetzten 
su und in Marſch, und burchfuchten verfchiedene Gegenden Frank: 
the, hielten und an den Eleinften Orten, den unbebeutendften 
Rohmplägen auf, erkundigten und überall mit der größten Sorg⸗ 
talt nach unferer lieben Adeline, wurden aber immer in unjeren 
Schuungen betrogen. Weber ein Jahr war fchon verflofien, und 
afere Bemühungen blieben immer vergeblid. Indeſſen San: 
iracı’8 fich niemals verläugnender Frohfinn ftählte und belebte 
mer aufs Neue meinen Muth, wenn Kummer und Traurigkeit 
aıh überwältigen wollten. Endlich Tamen wir auch in dieſe Gegend, 
:hne zu wiffen, ob wir hier glüdlicher fein würden ; nachdem wir 
raen Theil der Branche-&omte durchwandert Hatten, burchftreiften 
vr die Bogefen. Da wir Mänber nicht zu fürchten hatten, fo 
ch es öfterd, daß wir Nachts marfchirten, und auch unter 
"nem Simmel Nachtquartier bielten, benn zuweilen trafen wir 
rılabende Platze an, bie und genügenden Schuß barboten. Geſtern 
>ır jedoch das Wetter fo ſchlecht, das Schneegefläber fo anhaltend, 
zad ein jeder Weg fo überfchneit, daß wir und im Walde ver: 
ten. Ich war flerr von Kälte und von Müdigkeit beinahe er; 


33 
ſchoͤpft, ala Sausſouci in einiger Entfernung ein ziemlich fait: 
liches Wohnhaus gewahr wurde; ich mochte ed nicht wagen, um 
ein Nachtlager zu bitten, er wollte jevoch durchaus einfehren; 
während wir und darüber ftritten, hörten wir mit einem Male ein 
Geſchrei aus dem Haufe zu und herüber fchallen; da ſchwankien 
wir nicht länger, ich klingelte heftig an der Eingangepforte und 
Sansfonci erblidte ein offenes Fenſter im untern Stockwerk; bie 
Eiſenſtangen davor lagen weggebrocdhen am Boden und wir konnten 
bineinfpringen. Urtheilen fie num von meinem Erflaunen, meine 
Freude, als ich die wieder fand, bie wir fo lange gefucht Hatten, 
und von der ich mich vielleicht auf immer wieder entfernt hätte, 
wenn jenes Gefchrei nicht bis zu unferen Ohren gevrungen wäre.‘ 

„Mein lieber Jakob! ... die Vorfehung hatte Dich zu unfere: 
Rettung herbeigeführt,“ fagt Herr Gerval; „aber das gröft: 
Wunder bleibt e8 immer, daß Adeline durch dieſe Begebenhei 
wieder zu ihrem Verſtand gelangt iſt.“ | 

„Ei, lieber Herr,“ verfeht Katharine, „tagte ich es Ihne 
nit vorher, daß es dazu einer recht flarfen unerwarteten Et 
fhütterung, einer Krifls bedürfe? Nun, und bie war es gewiß. 

Die Reife geht glüdlih von Staften und man langt au 
Guillots Bachthofe an. Jakob empfindet ein freudiges Wohlbehage 
als er über die Felder fährt, die er bebaut Hat. — „Da! fehe 
Sie,” fagt er zum guten Gerval, „ba ift der Pflug, mit bem i 
im Schweiße meines Angefichts fo oft geadert Habe. — Lieb 
Breund,“ antwortete der Greis, „vergiß ihn felbft im Scho 
bed Glücks nicht, und die Unglüdlichen werben nie vergebens Dei 
Hülfe anflehen.” \ 

Ein Wagen mit vier Pferven ift eine große Seltenheit a 
bem Lande. Die Landleute verfammeln fi, die Taglöhner verlaff 
ihre Arbeit, die Bewohner des Meterhofes laufen nengierig herb 
um bie Reifenden zu muftern ; aber Sansſouci's Stimme lägt 
ſchon weithin hören; ex knallt mit der Peitſche, daß alle Hahn 











BA3 


eine Bierkelmelle in ber Runde davon jagen, und bie Tauben fi 
auf die höchſten Schornfleine flüchten. 

„Bir find es, er iſt's! fie ift wieder da!” ruft er ſchon von 
weitem, fo wie es Guillot und Luiſe erblickt; „große Feſtlichkeit, 
Fteunde! Herbei die kraͤftigſte Suppe, den beſten Wein! Tod allen 
Aminen und Hühner !” 

Die ehrlichen Pächtersleute umgeben den Wagen; Jakob, 
Veline und Ermance werben von Jedem geherzt und gefüßt. Luife 
zeint, Gunillot iſt außer ſich vor Freude, Herr Gerval ift über bie 
anfrichtige Sreundfchaft, die man feinen Kindern beweist, denn fo 
mm er Jakob, Abeline und ihre Tochter jebt, wahrhaft gerührt, 
m im Triumph wird er in das Haus eingeführt, wo Bald Alles 
aa anderes Anfehen gewinnt, um die Rückkehr derjenigen zu feiern, 
ꝛe man wieberzufehen nicht mehr zu hoffen wagte. Sansfouci läuft 
2 frenbigen Getummel, in ber allgemeinen Unordnung, bei den 
Zerbereitungen zur Mahlzeit, von Einem zum Andern, will Jedem 
alfen, zerbricht die Teller, ſtoͤßt Töpfe und Kafferolen um und 
ft einmal über das andere: „Ihr wißt noch nicht Alles, Jakob 
8 jept reich, der alte Herr ift fein Pathe!... wir haben ihn 
meter... wir haben die Schurken getödtet! ... D, ich werbe 
2 das Alles noch erzählen !“ 

„Fürwahr!“ fagt Guillot, „es fcheint, als ſtaͤnde Alles gut; 
aber der Bruder Jakobs... — Still!“ unterbricht ihn Sans; 
Ic, ihm den Mund zuhaltend, „wenn Du je wieder ein Wort 
on ihm ſprichſt, if alle Freude aus, einem Jeden dad Weinen . 
abe uud Deine Mahlzeit beim Teufel; alfo glaube mir, beiße 
Tir lieber die Zunge ab, als dag Du nur ein Wort wieder ba: 
rs verlanten laͤſſeſt. — Schon gut, fchon gut,” fagt Guillot, 
ann werh’ ich mich wohl hüten !“ 

Der Aufenthalt auf dem Pachthofe gefällt Herrn Gerval; er 
aaht Spaziergänge in der Umgegend ; freut ſich über die lieb: 
en Fernſichten und bewundert. den fruchtbaren Boden. „Po 


3A 


Taufend ! mein Herr, wenn Sie das Alles erſt iin Sommer fühe!“ 
fagt Guillot ... „im Winter flieht Alles nur traurig aus!... 
Wenn unfere Aeder jept aber mehr Werth Haben und weit mehr 
als fonft einbringen, fo danken wir dad unferem Freunde Jaleb; 
in zwei Jahren hat er mehr geleiftet, als ich in ſechſen; er bat 
mir mehr genüßt, als drei tüchtige Arbeiter. Schade, daß er jept 
reich ift, da komme ich um meine beſte Stüße.“ 

„Mein lieber Jakob,” redet der Greis viefen an, „Du mußt 
biefe Gegend, diefe Felder, die Zeugen Deines Fleißes, lieb ge: 
wonnen haben. Es wäre graufam von mir, Dich von: hier wieder 
zu entfernen. Wir wollen uns bier nieberlaffen, mein Sohn, ic 
gebe Dir den Auftrag, hier in ber Umgegend eine nette Befigung 
zu kaufen; ich bin zu alt, um fo ein Gefchäft zu betreiben, und 
verlaffe mich ganz auf Deine Einfidht.“ 

Jakob übernimmt mit Freuden diefen Auftrag, ein Blan durch⸗ 
freuzt feinen Kopf, und des andern Morgens ganz frühe begibt 
er fih nah Villeneuve⸗St.⸗George. Zitternd nähert er ſich feinem 
Baterhbaus, der Wohnung, an die er fo oft mit kummervollem 
Herzen gedacht hat. Sein größter Wunſch wäre ed, den Aufenthalt 
feiner Jugend, der zwar fehr ſchmerzliche, aber auch fehr fühe 
Erinnerungen für ihn bat, als jein Eigenthum bewohnen zu koͤnnen. 

Er ift vor dem Gitterthore und liest auf einer Tafel: „Dies 
Haus ift zu Faufen oder zu vermiethen.“ — „Es ift unfer,“ ruft 
er aus, „ich fol in meine wäterliche Wohnung wieder einziehen ; 
als Junge von fünfzehn Jahren bin ich daraus entſlohen, ale Mann 
von breißig Jahren kehre ich darin wieder zurück: o, mödte ih 
ed nie mehr verlaffen! ich bin gewiß, Adeline wirb es gerne wieber 
betreten; fie hat es mir oft gefagt, daß fie hier die ſchoͤnſten Tage 
ihres Lebens zugebracht hat, und wenn biefe Wohnung fie an ben 
Mann erinnert, den fie zu fehr geliebt Hat, fo war er doch wenigflene 
ihrer bier noch würdig.” 

Jakob Hingelt ; man öffnet ihm nicht; aber eine Nachbarin 





aſehi ha, Ich ſchräg gegenüber nach ber Molaung bes Sotard 
ju begeben. Es iſt noch berfelbe, der vier Jahre früher ven Kauf⸗ 
tortract für Eduard Murville ausgefertigt Hatte. Das Haus war, 
aachdem es deu Bläubigern zugefallen war, nach und nad in 
mehrere Hände gekommen. Der gegenwärtige Befiper bewohnte es 
fall nie, und wünſchte fehr, es wieber los zu werden. Jakob ex- 
fundigt ſich nad) dem Preife, und verfpriht, am andern Morgen 
wieder zu kommen, um das Gefchäft ins Reine zu bringen, denn 
a mag ed doch nicht wagen, ohne Rüdfiprache mit Herrn Gerval 
abzuſchließen. Er eilt nach dem Pachthofe zurück, und der alte Herr 
ſchließt aus feiner zufriedenen Miene, daß er in feinen Unterhand⸗ 
Inngen giüdlich geweſen. „Sie werben bad Landhaus wieber er- 
lennen, worauf ich fpefulize,“ fagt ihm Jakob, „Sie find oft darin 
gewefen, denn es gehörte meinem Vater. — Und Du haft den 
Hmdel nicht gleich geſchloſſen? ... fo muß ich wohl felbft Kin, 
ım Alles in Ordnung zu bringen.“ ' 

Und gleich am andern Morgen fährt er mit feinem Adoptiv⸗ 
ichne nach Villeneuve⸗St.George. Er begibt fi zum Notar und 
kauft die Beflgung auf ven Namen Jakob; auf diefen Namen 
ellein wird ber Kauf gefchloffen, denn nur biefen Ramen will 
irn Sohn Tünftig führen; ber gute Gerval verlangt deßhalb 
keine weitere Erklärung, weil er zum Theil Cduards Aufführung 
mäth,. 

„Da, mein braver Junge,” fagt er, ihm ben Contract ein: 
bandigend, „ed ift Zeit, daß ich Dich durch ein Geſchenk dafür 
anfäpige, Dir einen fo fehlechten Namen gegeben zu haben. Das 
arundflack iſt jetzt Dein, und mein Heiner Jakob befindet fich nun 
wieder in dem Haufe, woraus ihm fein Name verfagt hatte.“ 

Jakob umarınt den ehrwürbigen reis, und beide kehren nach 
tm Meierhof zuräd, um Mpeline und ihre Tochter zu holen. 
‚Habe ich Euer Herz richtig beurtheilt,“ fagt Jakob zu feiner 
Ehwägerin, „wenn id; anuehme, daß Ihr gerus nach Billeneuve: 


St.⸗Deorge zurũcklehhten würdet ? — Gewiß, Fieber Freund,“ anlı 
woriet fie, „ih bin boxt zw glacklich gewefen, um nicht zu wünſchen, 
auch ferner ba zw leben: die Erinnerung an mein vergangened 
Gtäd foll meinen Trabfinn mildern ; was er fern von da gethan 
bat, will id) aus meinem Gedaͤchtniß verbrängen, die Tage feiner 
Zärtlichkeit und Liebe follen allein meinen Geift befchäftigen, und 
fo werbe ich ihn beweinen können, ohne zu erroöͤthen.“ 

Die Familie Guillot ift glücklich, daß ihre Freunde in der 
Nähe bleiben, denn ber Weg von BilleneunesSt.:@eorge if ein 
Epnziergang, und man verfpricht ſich. ihm in der fchämen Jehres— 
jeit reiht oft zu machen. 

Nach vier Tagen laffen unfere Reifenden ſich endlich in ihrer 
neuen Wohnung nieder. Adelinens Augen füllen ſich mit Thraͤnen, 
ale fie das Hand, ben Garten, die Zeugen ber erften glücklichen 
Monate ihrer Ehe wieder betritt. Katharine übernimmt die Küche 
und Lukas den Garten ; lehterer verficht aber auch zugleich bie 
. Stelle des Hausvogts. Herr Gerval nimmt feine Wohnung zwifchen 
Jakob uud Adelinen, und bie Heine Ermance bleibt bei ihres Mutter, 
um ihr durch ihre kindliches Geſchwaͤtz und ihre ſchmeichelnden Lieb: 
fofungen fo oft als möglih bie für ihren Trübftun fo heilfams 
Grhelterung zu gewähren. 

Sansfouci will zu feinen ländlichen Arbeiten auf den Meiss: 
hof zurüdfchren, aber Herr Gerval und Jakob geben das nicht zw. 
„Ihr habt mir das Leben gerettet,“ fagt jewer, „Ihr dürft mid 
nicht mehr verlafen. — Du haſt Kummer und Elend mit mir 
geiheilt,“ fagt Salob, „Du ſollſt nun auch an meinem Bäde 
Theil nehmen, wir bürfen uns nicht trennen. — Tauſend re: 
naten!“ rief-Sandfouci, indem er ſich äne Thräne im Auge zer: 
drũckte, „bie Leute machen mit mir, was fie wollen! Gut, id 
bleibe; jedoch nur unter der Bedingung, daß ich mich entferne, 
wenn Geſellſchaft da ift, und mit Madame Adeline nicht an 
»inem Aiſche eſſe, weil man Keſpekt vor ſeinen Borgefepten haben 





347 


muß, uud ich in feiner Gefellſchaft ſo dumm wie eine Gans Kin. 
— Ihr Könnt Euch entfernen, fpazieren gehen, jagen und fifdhen, 
andy vauchen, wie's Euch gefällt,“ erwibert der Greis, „aber mit 
md am Tifche müßt Ihr effen, denn ein braver Mann if überall 
an feinem Platze — Run benn! taufend Granaten! ein alter 
Soldat muß gehorchen !” 

Keine Abenteuer, Teine Lebensftürme, Fein Unglüd mehr. Fried» 
Ihe, heitere Tage lachen endlich die Bewohner von Villeneuve⸗ 
Et.-Beorge an. Abelinen erfüllt nur noch eine leichte Melancholie, 
Nie ihr die Tindliche Liebenswärbigkeit und Anmuth ihrer Tochter 
atäglih machen. Die kleine Ermance wächst heran und wird mit 
‚oem Tage fchöner; ihre Züge find reizend, ihre Stimme ifl zart, 
wie die ihrer Mutter, und ihr Herz gefühlooll und mitleidig. Jakob 
# ſtolz anf feine Nichte, und Hat, feitdem er im Schooße feiner 
Ammilie lebt, viel von feinen rauhen Manieren abgelegt; Sans⸗ 
ienci Andy noch immer, würbe aber für feine Gönner durchs Feuer 
zehen; der alte Gerval ift doppelt glücklich durch das Gute, das 
rn geſchaffen, und durch das, was Jakob täglich wirkt; kurz, Alle 
zenießen eines lang entbehrten, ftillen, zufriedenen Glückes, und 
sie Bewohner des Pachthofes Tommen auch Hfters nach Villeneuve⸗ 
&-Seorge, um baran Theil zu nehmen. Eine einzige Streitſache 
must den Frohſtun Sansſouci's, daß er naͤmlich ven wohlverbienten 
Iren nicht mehr auf Jakobs Bruſt prangen ſieht. — „Warum 
u De ihn denn nicht mehr tragen 2" fragt er ihn, wenn fle 
Hein find, „was kann Dich daran Kindern ? Donner und Wetter! 
de Hit nicht gefcheit, mit folder Ehimäre! — Mein Bruder hat 
fern Namen entehrt. Ans Achtung für dieſe ehrenvolle Belohnung 
zaf ich ihn nicht mehr anlegen. — Aber wenn Du doch jept nur 
Ich Heißt... — Gleichviel! deßhalb weiß ich eben fo wohl, 
125 Couard gebrandmarkt wurbe. Ah! die Erinnerung daran läßt 
a6 für dad Ehrenzeichen erröthen. Nein, ich kann es nicht mehr 
zen, — Du haſt Unrecht, — Es iſt möglich, bie Ehre Bleibt 


mir immer, «ber mein Gtol; bafür if gebrochen, ſeitdem id; der 
Schande meined Bruders gedenken muß.“ 

Die Ruhe, der ſich die Bewohner von Villeneuve⸗St.George 
erfrenten, wurbe plöglich durch eine traurige Begebenheit gefört, 
die man noch weit entfernt glaubte. Der guie Gerval erkrankt und 
ſtirbt, ohne daß die eifrige Sorgfalt und Pflege aller feiner Lichen 
ihn zu reiten vermag. 

„Meine Kinder,“ fagt er zu ihnen in feinen legten Lebens: 
angenbliden, „ungern fcheibe ich von euch, aber ich flerbe wenigſtens 
berubigt über euer Schidfal; ich hoffte noch länger unter euch zu 
leben, aber Bott Hat ed anders befchloffen, und fein Wille geſchehe. 
Gedenket meiner, aber weint nit um mich.“ 

Der Greis Hat fein ganzes Bernögen an Jakob und Abeline 
vermacht. Er beſaß 30,000 Franken Renten, wovon ein Theil zur 
Unterflügung Nothleidender beftimmt ift. Die alte Katharine über: 
Iebt ihren Herrn nur wenige Monate, und biefer doppelte Todes⸗ 
fall verbreitete auf längere Zeit eine tiefe Trauer über Jakobs Hand. 

Aber die Zeit lindert audy ven herbſten Schmerz ; fie trium: 
phirt über Alles ; im Lethe verfchwinven allmählig die Erinnerungen 
an unfern Kummer, wie an unfere renden. 

Mehrere Jahre vergehen. Ermance ift ſchon neun Jahre alt, 
und das Glück Jakobs und der Troft Adelinens. Um ſich nicht 
von ihr zu trennen, werden Lehrer nach Billeneuve-St.-George 
beſchieden, die fie in allen nöthigen Wiffenfchaften unterrichten. 

„Zaufend Granaten!“ fagt Sansſouci, die Kleine wohlgefälig 
betrachtend, „die wird einmal den Männern die Köpfe verrüden: 
Geiſt, Schönheit, Grazie, Talent, ein gutes Herz, ihr fehlt ja 
nichts, Bomben und Granaten! — Ja, das ift wahr,“ erwiberl 
Jakob, „aber ihren Bater wird fie nie nennen bürfen. — Ab: 
weiß Gott! in dem Falle find viele Menfchen, und das wird fle 
nicht hindern, Liebe zu erweden. — Die Liebe macht oft dad 
ganze Leben unglüdlich, ich möchte lieber, fie lernte fie nicht 





848 
kennen! — Dazu wird man Dich nicht um Erluudniß Bitten, 
Kamerad !“ 

Adeline iſt ſtolz auf ihre Tochter, die nicht nur mit dem beften 
Cbarakter begabt ift, fondern auch in Allem, was man fie lehrt, 
die reißendften Kortfchritte macht. — „Liebe Ermance,“ ſagte fie 
oft leife, „mögeft Du dereinft glüdlicher werben, als Deine Eltern ;" 
ie gedenkt dabei Eduards, den fie in Elend und Berzweiflung 
längft geftorben glaubt. „Ach,“ ſagt fie manchmal zu Jakob, wenn 
te in feinen Augen ähnliche Gedanken zu leſen glaubt, „wenn ich 
nur wenigftens die Meberzeugung hätte, daß er mit Rene im Herzen 
se Belt verlaffen Hat! ich fühle, das Tönnte mir einen leichten 
Itof gewähren.“ — Jakob antwortet darauf nichts, aber er ruft 
Irmance und führt fle zu ihrer Mutter, damit ihr Anblick jede 
mibe Erinnerung verfcheuche. Er weiß nicht, daß eine Frau in 
idtem Kinde immer dad Bild deſſen erblicdt, den fie geliebt hatte, 

An einem fchönen Sommerabend ging Jakob im Garten fpar 
vera, Grmance pflüdte nicht weit von ihrem Onkel Blumen unb 
Keline faß einige Schritte davon entfernt auf einer Bank und 
deobachtete mit Wohlgefallen die graziöfen Bewegungen ihres 
Lechterchens. Plößlich ſchreit Srmance, die fich eben einem Rofens 
xbufh genähert Hatte, laut auf, und bleibt vor Schreden fliehen. 
Adeline und Jakob fpringen herbei, und fragen nach der Urſache 
dies Entfegend. „Da, da,“ antwortet bie Kleine, nach ber Gartens 
naner hinzeigend, „ba, feht nur, ba. ift er noch, Gott! welch 
wreckliche Geſtalt.“ 

Jakob und Adeline ſehen nach der Seite hin, die Ermance 
daen bezeichnet, und erblicken hinter dem mit Brettern verſchla⸗ 
nen Bitter, gerade an berfelben Stelle, wo fi ehemals ver 
Rorf mit dem Schuurrbart zeigte, ein männliches Geſicht, das 
a ven Garten fchaut. 

„Wie ſonderbar!“ ſagt Adeline, „erinnerſt Du Dich noch, 
vr zehn Jahren erſchienſt Du auch jo vor ung?“ 


„Ja freilich,“ antwortet Yalob , „ich erinnere mich deſſen ſeht 
wohl. — Ermancens Schreck iſt zu entfchuldigen, denn ich weiß, 
damals hatteſt Du mir auch Feine geringe Furcht eingefagt!.... 
ber Mann fcheint ein Unglüdlicher zu fein; komm, liebe Tochter, 
verbanne die Furcht ; wir wollen ihm unfere Hülfe anbieten ; Roth: 
leidende follen und Mitleid, aber Teine Furcht einflößen.“ 

Bei diefen Worten nähert fich Adeline mit Ermance der Heinen 
Bittertüre ; die Züge des Maunes hinter dem Gitter ſcheinen ſich 
zu beleben; er betrachtet die junge Fran mit ihrem Kinde ; wirft 
dann einen Blick auf Jakob und ſtreckt einen Arm durch die Oeff⸗ 
nung nach ihnen aus, als wolle ex ihr Mitleid anflehen. Ade⸗ 
line tritt näher, ſieht den Bettler genauer an, ftößt einen fehmetz- 
haften Schrei aus und laäuft blaß, zitternb und entftellt Jakob 
entgegen. „Ich weiß nicht,“ xuft fie ihm zu, „if es eine Taͤu⸗ 
fung !... diefer Mann... er ſcheint mir, ja, ſteh nur... er iſo! 
es if... !“ ' 

Mehr vermag fie nicht hervorzubringen. Jakob eilt nach der 
Heinen Thüre, erkennt feinen Bruber und Sffnet fie; Cduard, wit 
Lumpen bebeitt, von Strapazen und Mangel erfchöpft, und ein 
Sild des größten Elends, der bitterſten Verzweiflung darbietend, 
tritt in den Garten. 

„Hilf mir, Hilf mir... rette mich!“ ruft er, ſich zu Jakob 
hinſchleppend, der noch Taum feinen Augen trauen kann, „ad! 
and Barmherzigkeit ftoße mich nicht zurück!“ 

„Ab, Mama, Iafi’ und fliehen, ich fürchte mich vor den 
Mann,“ bittet Ermance und ſchmiegt fich angftvoll an ihre Mutter. 
Diefe umflammert ihr Kind, betrachtet bewegungslos Eduard, und 
Heiße Thränen flürzen aus ihren Augen. 

„Unglüdlicher !” fagt endlich Jakob, „was willſt Du hier?!... 
wirkt Du uns denn ewig verfolgen? Sol Deine Sufamie wid 
aufhören, Deine Familie zu martern ? Sol dies Kin vor Deinem 
Anblid ersöthen 3“ 





851 


Euarb antwortet nicht, aber er blickt anf Adeltne, und biefe 
verbirgt das Geſicht ihrer Tochter in ihrem Schooß. — „ch,“ 
ſtammelt ex endlich, fich vor Jakob auf die Kniee irgend, „Habe 
Mitleid, fieh, wie elend ich bin, man verweigert mir fogar, bie 
Gefichiözäge meines Kindes zu fehen!.. . man fehüst fie vor dem 
Anblid ihres Vaters.“ 

Jakob Hat nicht mehr die Kraft, ii zurückzuſtoßen; Ednard 
nähert ſich Adelinen, ſtirrzt zu ihren Füßen nieder, drückt ſeine 
Stine gegen die Erbe, und fängt heftig zw ſchluchzen an. Bei 
den Aagelauten des Ungküdlichen richtet Ermance ihre Augen auf 
ihn, und Theilnahme verdraͤngt ihre Furcht. Ach, Mama!“ ſagt 
fe, „dee arme Mann ſcheint fehr elend zu fein, erlaube, daß ic 
ihm aufbelfe... ich fühle, daß ich mich nicht mehr vor ihm fürchte.“ 

Eduard ergreift die Hand feines Kindes, druͤckt fie mit Hef⸗ 
figfeit an ſich und erhebt feine Augen auf Adeline, deren Ausdruck 
dieſe verſteht. 

„Ih verzeihe Dir,“ ſagt ſie, „ach! haͤtteſt Du mir nur wehe 
zeihan ..... aber died Kind, meine Tochter, niemals darf fie Dich 
amen ! 1 

Jakob unterbricht Mpeline und legt ihr den Singer auf den 
Rand. In diefem Augenblicke Läuft Sandfouci herbei nnd aͤußert 
kne Ueberrafchung über bie Anwetenheit des Unbekannten. — „Was 
villſt Du %" fragt ihn Jakob, „was bringft Du fo eilig? was 
ra gefchehen ? — Kamerad, ich komme iur, Dir zu fagen, daß 
Gndermen im Dorfe Hausſuchung Kalten; man ift einem Bagas 
finden auf ber Spur, den man eine halbe Meile von bier erfannt 
sat, und wird fogleich auch unfer Haus burchfuchen; ich fagte ihnen, 
es werbe fruchtlos fein, aber, Wetter! ich wußte nicht, daß... — 
Etill:?“ ſagt Jakob, „kein Wort von dem, was Du bier gejehen 
... liebe Schweſter, geh’ mit dem Kinde ins Haus. eh’, 
m fürdgte nichts, ich ſtehe für Alles, Sansſonci führe meine 
keweſter hinein, uud vor allen Dingen dad tieffte Stillſchweigen!“ 





Sansſornci bethenert ed und entfernt fig einige Schritie, über 
Alles, was ex ficht, im höchften Erfiaunen. Adeline if über bie 
Gefahr, in der Eduard fchwebt, beſtürzt, aber er felbft befchwört 
fie, ihn feinem Schidjal zu überlaffen. Er legt feine Hand aufe 
Herz, drüdt einen Kuß auf die Stine feiner Tochter und entfernt 
ſich von beiden, während Sansſouci, aufein Zeichen feines Kameraden, 
Mutter und Tochter nach) dem Haufe mit fich fortzieht. 

„Sept find fie fort und wir allein,“ - fagt Jalob zu feinem 
Bruder, „Iprih, bift Du ed, ben man verfolgt ?“ 

„3a... nicht weit von hier in einem Wirthshauſe, wo ich 
um ein Almoſen bat, ſaß ein Mann,am Tiſche, der früher Ge: 
fangenwärter in Toulon war; er fah mich fharf an, ich emtfernte 
mich fogleih, aus Furcht, erfannt zu werben, aber leider war es 
zu fpät, ich fehe, ich Bin verloren! Indeſſen bin ich jetzt weniger 
wnglüdlih..... ich habe mein Kind gefehen, meine Frau bat mir 
verziehen... und Du... ach! mein Bruder, ich beſchwöre Dich, 
laffe auch Du mir Deine Bergebung angebeiben !“ 

„Ja,“ fagt Jakob, „ih vergebe Dir... aber Du mußt... 
Unglüdlicher, weißt Du, welche Strafe Deiner wartet ? Auf dem 
Schaffot wirft Du enden! ... und die Kunde von Deinem ent: 
ebrenden Tode wird unfere Schande verewigen! ... Haft Du nur 
den Muth, Verbrechen zu begehen, und wirft Du nicht endlich das 
thun konnen, was die Ehre Deiner Frau, Deines Kindes fchen 
längft vom Dir fordert! Du Iebft, armer Feigling!... fo willſt Du 
Deine Henfer erwarten... bebenfe, daß Du es nicht vermeiden kannt, 
ber Gerechtigkeit in die Hände zu fallen!... Großer Gott! biſt Du 
Deiner bejammernswürbigen und infamen Eriftenz nicht überfatt?" 

„Ich verſtehe Dich,“ antwortet Eduard, „o glaube, daß des 
Top eine Wohlthat für mich iſt; aber ich wollte, bevor ich aus 
biefer Welt Scheide, euch meine Reue zeigen! ... Seht biete mit 
die Mitiel, mich einer gerechten Strafe zu entziehen... ich werd: 
feinen Augenblick zaubern.” | 


— 


BR. 


Jalob gibt Ednard ein Zeichen, ihn zu erwarten, geht auf 
u immer, nimmt feine geladene Piſtole und kehrt nach dem 
hırten zurück. Hies exblit er feinen Bender an ber Gartenthüre 
ıf den Knieen; mit fefter dend xeicht er ihm die Waffe hin, und 
duard ergreift fie. 

„Seht,“ ſagt Jalob, „Iomm, Unglücklicher, zum letzten Male 
meine Arme! Dein Bruder vergibt Dir Deine Verbrechen, und. 
wm Tag wird ex auf Deinem Grabe ben Himmel für Di um 
nade auflehen !“ 

Eouard wirft ſich feinem Bruder in die Arme, und lange Zeit 
Ita fie ſich feſt umfchloffen, doch endlich reißt ex fich ſchnell los, 
Het fich einige Schritte, der Schuß fällt, und ver Unglüdliche 
nicht mehr. 

Jakob läuft zu dem entfeelten Körper feines Bruders hin, 
amt all feinen Muth zufammen, und unter heißen Thränen gräbt 
im eilig ein Grab unter einer Weide, nahe an ber Eleinen 
uentbüre. Sansſouci eilt auf den Schuß herbei und überrajcht 
m Kameraden bei dieſer traurigen Beichäftigung. 

„Hilf mir!... es ift mein Bruder...” Sansfouci will allein 
ihmerzliche Arbeit übernehmen, aber Jakob gibt es nicht zu, 
wer will feinem Bruder ven legten Dienft erweifen, und erft, 
Idie Erde feine Hülle deckte, entfchließt er fih, zu Adelinen 
iczukehren. 

Run!“ ruft dieſe ihm entgegen, „was iſt aus ihm geworden? 
Fürchte jetzt nichts mehr,” antwortet Jakob, „er iſt gerettet, 
ih ſtehe dafür, die Juſtiz fol ihn nicht mehr erreichen.” 
Adeline verläßt ſich auf den Ausſpruch Jakobs und flieht eine 
de darauf ruhig den Genvarmen zu, wie fle vergebens nach 
rd das Haus durchſuchen. Rad) einiger Zeit erblickt fie mit 
sunen im Garten einen Grabflein, den Jakob unter der Weide 
errichten laflen. 

Yanl de Rod. 1. 23 


„Wozu bied Denkmal?" fragt flo ihn a Fir meinen ni 
glacklichen Bender!“ antwortet Jalbb — „Wäre er tobt! — J 
er it nicht mehr; jetzt Hab’ ich Gewißheit darüber. — AU!... 
welchem Winkel der Erde mag er fein Leben geendet habe! 
Dort ruht er,“ fagt enblich Jakob, und zeigt mach der Weite. 

Aneline fährt zufammen and wagt es nicht, weiter zu fragı 
aber alle Tage führt fle ihre Tochter nach der Weide, um für ! 
armen Bettler zu beien, und Ermance weiß wicht, daß fi 
ihren Bater ihr Gebet zum Himmel erhebt. 

Und am Fuße der Weide ſcharrt Satob eo, fein Ehr⸗ 
kreuz ein. 








Anhalt, 





Seits 
Erhed Kapitel. Eine Hochzeit in Cadran⸗Blen. — Die Familie Murville 3 
Zweite Kapitel. Großes Ereigniß, von ber Tanzact und einer 
Tabaksdoſe herbeigeführt ... . 12 
Drittes Kapitel.” Dufeene 20. 2 
Biertes Kapitel. Slüdtylüine . . 2.08 z 
Fünftes Kapitel. Der Kopf mit dem Sänurbart .. 34 
Geste Kapitel. Das ländliche Mittagemafl . . . 40 
Siebented Kapitel. Borin der bärtige Mann wieder vorkommt >) 
Udtes Kapitel. Man urtheile nicht nach dem Schein . 63 
Reuntes Kapitel. Die Ubenteuer Bruder bb 4 . . 68 
718 


Zcehutes Kapitel. Unterricht Im Magnetifcen . . 
Eifte® Kapitel. Jakob bringt Clairette in magnetifchen St und 


thut Bunder . . . 8 
Zußlftes Kapitel. Große Erperimente der Bucllichten 93 
Dreizehntes Kapitel. Wirkung der Zaubertränte. — Bruder Jatos 

verläßt feinen Retjegefährten . 109 
Bierzehntes Kapitel. Schluß von Jalkobs Abenteuern 2000. 114 
Fünfzehnteß Kapitel. Bier Monate der Ehe. — Neue Plüne . . 124 


Sechzehntes Kapitel. Rüdkehr nad Paris. — Der Geichäftsmenn . 132 
Sichenzehntes Kapitel. Große Abenbarleitfäft — iebenerftärung, 


wenn man will . . 143 
Udtzebntes Kapitel, Verblendung. _ Tborheit. — Sqwache .184 
Neunzehntes Kapitel. Es iſt nicht ihre Schuld, ober: die Unſchulb 

fiegt 161 
Zwanzigſtes Kapitel. Die Leidenſchaft macht fand Getfäni, 

wenn man fie nicht befämpft . 167 
Ciaundzwanzigfed Kapitel. Das Roulette oo. 173 


Zwriundzwanzigfied Kapitel. Intriguanten. — Spieler. — Betrüger. 185 
Treiumdgzwanzigfie Kapitel. Dad Innere eined Opielhaufes . . 196 


356 


Bierundzwanzigfied Kapitel. Die guten Menſchen. — Ertenntlichfeit 
Fünfundzwanzigfteß Kapitel. Das Rotterie-Gomptoir . 
Sechdundzwanzigſted Kapitel. Die guten Beeunde, und wad darau⸗ 
erfolgt . 
Siebenundgwanzigftet Kapitel. uidelin⸗ findet einen Befhüger . 
Achtundzwanzigſtes Kapitel. Der Berwegene. — Der Feige. — Der 


Betrunlene . . 
Reunundzwanzigfted Kapitel. "Sa Blat vor dem Juſtizpalaß er 
Dreißigſtes Kapitel. Der gute Gerval . . 20.0. 
Einunddreißigfte Kapitel. Zalob und Sanoſouci . 
gweiundbreißigſtes Kapitel. Die Galestenflvaen . . . 


Dreiunddreißigſter Kapitel. - Der Holzhader und die Räuber 
Vierunddreißigſtet Kapitel. Dufreöne’3 Lebensgefhihte . 
Bünfundpreißigfted Kapitel. Das Landhaus in den Bogefen . 
Sechdunddreißigſted Kapitel. Das Wahre erſchrint manqhmei un⸗ 
wahrſcheinlich . . . . 
Giebenunddreißigſtes Kapitel. Ber iR ber gute Bervatt . 
Uchtunddreißigkes Kapitel. Abermals die Meine Bartenthüre 


Geile 


216 


BEBESESENB BB 


“ 
Bub 
a 


Band I. Seite 20. 
Die zaͤrtliche Adeline if immer der Meinung ihres lieben Gemahls; 
Eduatd will feinen Willen Haben - 


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PUBLK LIBRARY 


ASTOR, LENOX 
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THE NEW YCIA 
|. PUBLIC LIBRARY 


ASTOR, LENOX ° 
_ ITILDEN FOUNDATIONS 


N 














Band II. Seite 5. 
Die Stroppütte von Beorget 
Dein Bater [hließt feine beiten Arme um und und drüdt und inniger an 


Andreas, der Savoyarde. 


Bon 


Pauſ de Koch. 


Deutfch bearbeitet 


von 


N Dr. Heinrich Elsner. 


Dritte Auflage. 





Stuttgart: 
Rieger’fhe Verlagebuchhandlung. 
(A. Benedict,) 


1857. 


Buchrruderei der Rie ger'ſchen Verlagßhandlung in Stuttgart. 





Erſtes Rapitel. 
- Ein Shneegemälbe — Die Savoyardenfamilie. 


Der Schnee flel in großen Floden ; er bedeckte die Straßen 
und machte die Bergpfabe und die an Abgründen hinführenden Wege 
des Dorfes ’H6pital in der Nähe des Montblanc noch ſchlüpfriger. 

Unfere Hütte fland an einem Wege, welcher des fchlechten 
Belterd wegen feit einigen Tagen nicht beiucht wurbe. Ein mehr 
ald ein Fuß Hoher Schnee bedeckte den Boden, und doch dachten 
weber ich noch meine Brüber daran, nad Hauſe zu gehen, um 
vor dem Geſtober Schup zu fuchen. | 

Ich Ichnte mich an einen Felfenblod, und ed war mir Hier 
fo wohl als auf dem dichteſten Rafen ; ich machte mit meinen Fleinen 
Händen Schneeballen und warf meine Brüber bamit, bie mich glei: 
falle mit folchen gefrorenen Kugeln belagerten. Peter, der in einer 
Vertiefung bed Weges fland, zeigte ſich nur, um gefchickter zu zielen, 
und verbarg ſich dann fehnell wieder; Jakob lief, ohne einen be: 
Rimmten Platz zu behaupten, bin und her, büdte ſich bisweilen, 
um Schneeballen zu machen, und eilte dann, wenn er un biefe 
zugeſchleudert hatte, wieber davon. 

Welches Vergnügen empfanden wir, wenn ed und gelang, und 
gegenfeitig zu treffen! Welcher Jubel, wenn eine Balle auf Jakobs 
Rüden zerplagte, während ex zu fliehen fuchte, ober eine Peter ins 
Gefigt traf, während er feinen Heinen blonden Kopf aus feinem 
Berſteck hervorſtreckte! Der Beftegte jubelte mit dem Sieger: ber 
Eieg koſtete mie eine Thräne. Konnten wir bie Kälte fühlen? Wir 
waren fo glüdlich und in einem Alter, wo das läd fo rein if, 


4 


da es weber durch bie Grinnerumgen ber Vergangenheit, noch burd 
die Furcht für die Zukunft getrübt wird. 

Schon einige Male hatte und unfere Mutter gerufen, heim- 
zulommen. 

. „Blei,“ hatten wir alle Drei geantwortet. Aber im Augen: 
blidle, wo wir ind Haus zurückkehren wollten, fachte eine von Einem 
von und dem Andern zugefchleuderte Schneeballe ven Krieg wieber 
frifh an; man befämpfte ſich abermals, das Yreubengefchrei und 
die tolle Heiterkeit wiederhallte auf's Nene in unfern Bergen. Unfere 
Füße waren halberſtarrt vor Kälte; unfere Eleinen, rothen, auf: 
gefchwollenen Hände waren faum im Stande, den Schnee aufzu: 
leſen und zu ballen, der uns einen fo angenehmen Zeitvertreib 


gewährte, und doch konnten wir und nicht enifchließen, in bie 


warme Stube hineinzugehen. 


Aber die einbrechende Nacht zwingt und endlich, unfer Spiel 
aufzugeben. Wir Ichren alle Drei, außer Athem, Tenchenb unb | 


no vor Berguügen ſtrahlend, nach Haufe zurüd; wir kanern und 
um ben ungeheuern Ofen herum, neben dem unfer Bater auf einem 
großen Stuhle fist, während: unfere Mutter in ber geräumigen 
Stube, der einzigen des Haufes, hin und her geht und, inbem fie 
zanft, daß wir fo lange draußen geblieben find, die Suppe zu un: 
ferem Nachteſſen zubereitet. 

„Schau,“ fagte fie, „wie fle mit Schnee bevedt find! Wer 
mird bei ſolchem Wetter fo lange auf der Straße bleiben! Hm, 


die unartigen Jungen, wenn fie fpielen, hören fie nicht mehr auf mich.“ 


„Schilt fie nicht, Marie,“ fagte unfer Bater, uns zu ſich 
herziehend; „ſchilt fle nicht: fie unterhalten fich, fie find glücklich! 
warum fo frühzeitig ſchon ihr Glück ſtören? Die lieben Kinder, 
ihre Jugend vergeht fo fchnell und die reiferen Jahre bringen Kummer 
und Sorgen mit fih! Wird der Erwerb bes heutigen Tages für 
den morgenden zureichen? Darf man hoffen, daß man Heute dad 
Leid von geſtern vergißt ? Immer Qualen, felten eine Freude und 


b 


nie wieber fo gluͤckliche Stunden, als fie fie eben genofien haben. 
I habe auch einft Schneeballen gemacht : vor vierzig Jahren fpielte 
ig wie fie. Jene Zeit ift fern, fie hat zu kurz gebauert; ich er⸗ 
innere mich nicht, feit Damals ein fo Inuteres Vergnügen genofien 
u haben.“ 

„Wie, felbft bei unferer Verheirathung nicht, Joͤrgel?“ ver- 
iepte unfere Mutter in vorwurfsvollem Tone. Mein Bater blidt 
fe lächelnd an und erwidert bloß: „DO, das ift etwas Anderes! 
Ih konnte Dir nur eine Hütte anbieten!“ 

„Hatte ich mehr? Sind wir deßhalb weniger glüdlich gewejen ? 
Rein, gewiß nicht. Unfer Haus und unfere Arbeit genügen ung, 
wir find arm, aber es ift und noch Nichts abgegangen und unfere 
Kinder gedeihen: fie werben heranwachfen und ihr Brod felbft ver: 
umen lernen.“ 

„3a, aber biß fie fo weit find! Ah, Marie, feit jenem ver- 
wänfchten Soll, wo ich den dicken Engländer, ver mir nicht ein- 
nal beim Aufftehen half, auf den Gletſcher führte, fühle ich meine 
Kräfte abnehmen, meine Gefunpheit ſtellt ſich nicht wieber ber. 
Ag, wenn ich Dich mit den Kindern, wovon das ältefle erft ſieben 
Jahre alt iſt, zurüdlaffen müßte, was würbe ans Euch ?“ 

Zei diefen Worten Schloß unfer Vater feine beiden Arme um 
and und drückte und inniger an fich. Ich war auf feinen Schoof 
Iinanfgeflettert, Jakob ſaß auf feinen Füßen, und Peter, ver neben 
ihm fland, Ichnte feinen Kopf auf feine Schulter. Unſere Mutter 
war in der Mitte der Stube flehen geblieben; die legten Worte 
ihred Batten hatten ihr Herz mit Wehmuth erfüllt. Sie wendete 
ib ab, um eine Thräne zu verbergen, bie über ihre Wangen 
berabfloß, und wir bemühten und, ohne recht zu verfichen, wovon 
es fih handelte, die Traurigkeit, vie wir in ven Blicken unferes 
Vaters Lafen, durch unfere verdoppelte Zärtlichkeit zu verſcheuchen. 

„Buter Bott, kaun mar folche Gedanken haben!“ fagte endlich 
die treue Marie, einen Seufzer ausſtoßend, den fie nicht mehr unters 


brücen Eonnte. „Ach, Joͤrgel, arbeite nicht mehr, firenge Dich nicht 
mehr an; bleib’ daheim bei unferem Ofen. Unfer Getreide ift ein: 
geheimät, wir haben noch länger als ſechs Wochen Brod ; ich gebe 
es nicht zu, daß Du Dich ausſetzeſt, um ein Paar Batzen zu 
verdienen.“ 

„Mein Vater,“ ſagte ich hierauf mit entſchloſſener Miene, 
den Kopf in die Hoͤhe hebend, „wenn Reiſende kommen, kann ja 
ich ihr Führer ſein, ſie auf die Gletſcher hinaufführen, ihnen die 
ſchoͤnen, fo entſetzlichen Abgründe zeigen! Sie werden mich dafür 
bezahlen und ich Euch das Geld heimbringen, dann braucht Ihr 
Euch nicht mehr fo anzuftrengen, Nicht wahr, Ihr erlaubet es mir, 
Bater ?" 

„Du bift noch zu jung, mein Heiner Andreas,“ erwidert mein 
Bater, mir die Wangen ftreichelnd und mich auf feinen Knieen wiegen. 

„Zu jung? Ich bin der ältefte von meinen Brüdern : fieben 
Zahre vorbei. Unferes Nachbars Michael Sohn war noch nicht jo 
alt, als er fort in die große Stabt ging.“ 

„Meine lieben Kinder, ich wünfche, daß ihr nie gensthigt fein 
werdet, auch hinzugehen! Ich möchte euch immer bei mir behalten.“ 

„In der großen Stadt muß es recht ſchoͤn fein,” verſetzt Peter, 
feine Fleinen Augen aufreißend. „Sie jagen, dort koͤnne man alle 
Tage die Zauberlaterne jehen, vie einmal bei und durchgekommen if.“ 

„Möchteft Du bin, Peter ?" | 

„D, meiner Treu’, ich hätte ven Muth nicht, allein zu gehen 
wie Michaels Sohn !“ 

„Und Du, Jakobchen ?” fragte mein Vater den jüngften meine: 
Brüder, der erft fünf Jahre alt war und ſich zu feinen Füßen wälzt: 
und ausſtreckte, um ſich an dem großen Ofen zu wärmen. „Sag', 
Salöbchen, was würdeſt Du dort treiben ?" | 

„Ich würde alle Tage Käfe zu meinem Brod eſſen,“ antworte 
Jakoͤbchen laͤchelnd und fich nach der Mutter umfchauend,, um zu 
jehen, ob die Suppe bald fertig ſei. 


7 


„Bas nich betrifft,” verfeßte ih, „fo würbe ich arbeiten, um 
viel Geld zu verbienen, damit wir einen Garten kaufen Tönnten. 
3b würde euch Alles heimbringen, dann wären wir recht glücklich; 
hr, mein Bater und Ahr, Mutter, könntet Euch dann des Winters 
den ganzen Tag an den warmen Ofen feßen, und ih und meine 
Brüder Schneeballen machen.“ 

„Du bift ein braver Junge, Andreas; Du denkſt an Deine 
Eltern. Aber, ad! in der großen Stabt, meine lieben Kinder, 
macht man nicht immer fein Glück; ich bin in meiner Jugend auch 
bingegangen, aber ed gelang mir nur wenig zu erwerben, und 
unterwegs beftahlen mich Schurken um meine ganzen Erfparniffe, 
am die Frucht zehnjähriger Arbeit, die ich meiner Mutter heim: 
dringen wollte. Sch mußte mit leeren Händen zurüdfehren.“ 

„Bas find Schurken?” fragte Peter. 

„Bein Kind, das find Elende, Faullenzer, Diebe, die nicht 
arbeiten mögen und von Raub an Andern leben.“ 

„Man darf fie Schlagen, nicht wahr, Vater ?” rufe ich lebhaft aus. 

„Nicht immer, mein lieber Andreas; wenn man fie erwifcht, 
beftraft fie Die Behörde; aber e& ift verboten, fie felbft zu züchtigen !!' 

„Sibt man den böfen Leuten auch zu efjen?“ fragte der Fleine 
Jakob, bald das Feuer, bald die kochende Suppe betrachtend. 

„Meine Kinder, alle Menfchen müfjen leben...” 

„Aber die Böfen befommen feine fo gute Suppe wie wir, 
niht wahr, Vater?“ 

Unfer Bater Tächelte, bob den Heinen Jakob in die Höhe und 
fügte ihn zärtlich... Peter und ich bengten uns vor, um biejelbe 
tiehlofung zu erhalten, welche er uns auch ertheilte, denn er liebte 
und alle Drei gleich. Jene ungerechte Vorliebe, die oft Neid, Eifer: 
ſucht und Kummer zwifchen Gefchtwiftern erwecken, war feinem Herzen 
ftemd; er"forfchte in unfern Zügen nicht, welchen von und die 
Ratur wohl am meiften degünftigen werde; in den Augen eines 
guten Baters find alle feine Kinder gleich fchön, 


.. Bater. 


» 


8 


Die von der Mutter zubereitete Suppe wird auf einen hoͤl⸗ | 
zernen Tifch geflellt; der Dampf, der aus einer großen Schüſſel 
emporftieg, ergößte unfer Auge und lockte dem Fleinen Jakob, ver 
mit Entzücden ven erquickenden Geruch des Abendeſſens einathmele, 
ein Lächeln ab. | 

„Zum Effen! zum Eſſen!“ ruft unfere Mutter. Jakob glitfchte 
ſchnell von dem Schooße meines Vaters herunter und fiellte ſich 
auf einen Heinen Schemel ; Peter rückte den Stuhl, von dem mein 
Bater eben aufgeftanden war, zum Tifche her, und ich blieb bei 
bem, befien ſchwankenden Gang ich hätte ſchon umterflügen mögen: 
denn mein Bater hatte fich bei feinem letzten Sturze ziemlich ge 
fährlih am Knie verwundet und war noch nicht recht geheilt. 

Mein Bater that, als ob er ſich auf mich Ichnte, weil er fah, 
daß ich ſtolz darauf war, bereits feine Stüge zu fein ; aber feine 
Hand ruhte nur leicht auf meiner Schulter. Wir faßen bald um 
ben Tiſch herum. Gs fchnie auf's Neue heftig; der Wind tobte 
gewaltig: ex erfchätterte oft Die Thüre unferer armfeligen Wohnung, 
und fein dumpfes, eintöniges Getöfe erfchredite Peter, der ſich jedes⸗ 
mal, fo oft die Thüre bebte, an mich ſchmiegte. | 

Aber die Iuftige Flamme, die auf dem Kamin flackerte, erhei⸗ 
terte unfere Hütte, die nur von einer einzigen Lampe erhellt wart, 
und der Dampf der Suppe machte den Heinen Jakob frofmüthig, 
der immer fang, wenn er bei Tifche war. 

„Welch' abfcheuliches Wetter!" fagte die gute Marie, und 
Suppe heransfchöpfend. „Ich bin überzeugt, man kann nicht mehr 
gehen, ohne in zwei Fuß hohen Schnee zu verfinken.“ 

„Ich bedaure die Reifenden in unfern Bergen,“ verfegte mein 


„Bir find glüdlich, daß wir ein Obdach, ein gutes Feuer und 
zu Nacht zu efien haben... glaub’ mir, Jörgel, ed wären Biele 
froh, wenn fie jegt in unferer Hütte fein koͤnnten. 
er 8 meine Mutter dieſe Worte vollendete, hörten wir von 





9 


ver Gerne ber Geſchrei, PBeitfchengefnalle und das Yluchen eines 
boſtillons. 

Bir lauſchten aufmerkſam, Jakob ausgenommen, der eben 
einen großen Löffel voll Suppe zum Munde führte. 

„Bas gibt es?“ fragte Peter zitternd. 

Ich lauſchte immer gleichiwie meine Eltern; die Stimmen 
zurden deutlicher. Man rief um Hülfe, um Beiſtand; aber felbft 
tad naͤchſtgelegene Dorf war fehr von der Straße entfernt, an bie 
bleß mſere Hütte ſtieß. 

„Kein Zweifel,” ſagte mein Vater, ſich vom Tiſche erhebend, 
‚3 find Reiſende in Gefahr; man muß ihnen beiſpringen.“ 

Seine Kräfte zufammenraffenn, nimmt er eilig feinen Hut, 
emen Stod und verläßt unfere Hütte, ohne auf die Bitten feines 
Keibed zu achten, die ihn beſchwoͤrt, ſich nicht auf's Neue anzu: 
rengen. Aber mein Bater iſt fchon weit und Ienft feine Schritte 
m Orte zu, wo bad @efchrei herkam; ich hatte mich ebenfalls 
hoben und war im Begriff, ihm zu folgen, aber meine Mutter 
set mich mit den Worten zurüd: „Run, Andreas, willft Du Dich 
ud auf diefen fchlechten Wegen Gefahren ausfegen? Du bift zu 
mg, mein Zreund ; bleib’ bei uns und laß uns den Himmel an- 
ichen, daß Deinem Bater nichts gefchieht.“ 

Ich Iniee neben meiner Mutter auf den Voden nieder. Peter, 
sm bereitö Thränen in den Augen flehen, thut ein Gleiches; Jakob 
Heibt allein bei Tifche und ißt ruhig fort. " 


Bweites fapitel. 
Die Reijenden — Die kleine Schläferin. 
Nah Werfluß einer Viertelftunde, die und fehr lange fchien, 
zorten wir bie Stimme umfere® Baterd, der uns von draußen herein- 
af, wir ſollen ihm aufmachen. 


10 


SH elle plöplich zur Thüre; meine Mutter folgt mit dem 
Lichte: wir Finnen übrigens nichts als weiße, befchneete Maſſen 
unterfcheiden. Endlich erfennen wir unfern Bater; er ift aber nicht 
allein: ein Herr, deſſen Geſicht man nicht fehen Tann, weil er 
bis über die Ohren in einen Mantel gehüllt ift, ftübt fich auf den 
Arm meines Vaters und brummt alle Augenblide mit einer wider: 
wärtigen, heifern Stimme: Ä 

„Bo führt Ihr mich denn bin?... Wo bin ich denn? Ich 
verfinfe ja... der Schnee geht mir bis an die Hüften... welch’ 
abfchenliches Land... nehmt Euch in Acht, Freund... wir fallen 
irgendwo hinein !” 

Auf aM dieſe Worte erividerte mein Bater bloß: „Fürchten 
Sie nichts, mein Herr, ich Tenne den Weg; ich ſtehe jetzt für 
Sie... das ift nur Schnee ; hier ift keine Gefahr mehr.“ 
| „Das ift nur Schnee? Pop Henker, das ift, meine ich, ge: 
nug! Meine Füße find erflarrt... meine Waden find fo kalt, daß 
ich fein Gefühl.mehr darin habe. Ach, welches abfcheuliche Land! ... 
Champagne, gib auf das Kind Acht und gehe dicht hinter und drein.“ 

Herr Champagne war wahrfcheinlich der andere Herr, der 
meinem Bater folgte und ebenfalls in einen weiten Mantel ein: 
gehüllt war, unter dem er jedoch mit Vorficht Etwas zu tragen fchien. 

„Run find wir an Ort und Stelle,” fagte mein Bater in dem 
Augenblide, als fie auf die Schwelle traten. 

„Das ift ein Glück!“ ruft der Reifende aus. Während er 
feinen Mantel ablegt, eilen wir, ohne und um bie eben angefom: 
menen Perfonen zu befümmern,, in Die Arme unfered Vaters, deſſen 
Abwefenheit uns fo ſehr in Sorgen gefeßt hat. Kann es auch für 
einfache Savoyarden Jemand geben, der mehr Aufmertſamleit vr 
dient, als der Urheber ihrer Tage ? 

Er ſelbſt muß uns zuerft an die Fremden erinnern. „Bor: 
wärts, meine Kinder,” fagte er, „legt Holz in den Ofen; Barie, 
fieß’, was Du den Herren aufzuwarten Haft... und biefes Kind... 





1 


warten Sie, Sie können es auf unfer Bett legen... dort ruht 
8 gut.“ 

Der, den man Champagne nannte und welcher einen mit einer 
breiten Treffe beſetzten Hut auf Hatte, fchlug jeßt feinen Mantel 
ındeinander und wir erblidten ein fchlafendes Kind in feinen Armen. 
Ed war ein Fleines Mädchen ; fie fchien hoͤchſtens vier Jahre alt 
zu fein. Aber wie hübſch war fie! Nie hatten unfere Augen etwas 
io Reigended gefehen. Ein Ausruf der Bewunderung entfuhr uns 
Allen bei ihrem Anblid ; wir umringten den Mann, beffen Frack 
eenfall8 bordirt war wie fein Hut, um die Kleine näher zu be- 
nachten. 

Ein mit Pelz gefüttertes und verbrämtes Mäntelchen bedeckte 
sten kleinen Körper. Auf ihrem lieblichen Köpfchen hatte fie ein 
ibwarzes, gleichfalls mit Pelz garnirted Sammethäubchen, das 
aut prächtigen Goldſchuüren und Eicheln unter ihrem Kinn zu: 
ammengebunden war. Nichblonde Locken hatten ſich unter dem 
Nützchen hervorgefpielt und beſchatteten die Stirne des fchönen 
Nädchens. Ihr kleiner Mund war halb geöffnet, und ein leichtes 
ÄofeurotH Färbte ihre Wangen. Lange, glänzendichwarze Wimper 
*egränzten ihre Augenlider; fie fchlief fo ruhig, als ob fie auf 
m Schooße ihrer Mutter eingewiegt worden wäre. 

Ihre Schönheit, ihr prachtwoller Anzug, ihr ruhiger Schlaf 
zb der eben auögeftandenen Gefahr, Alles trug bazu bei, unfer 
Staummen zu vermehren. Wir hatten uns Alle Herrn Champagne 
nähert, ſelbſt Jakob war vom Nachteffen weggegangen und hatte 
©, mit dem Löffel in der Hand, unter den ſchoͤnen Mantel ge- 
Hlihen, in den das fchlafende Kind gewickelt war. 

„O, mein Gott! was für ein hübſches, Eleines Mädchen,“ 
eqie meine Mutter, „das ift ein Engel !“ 

„SR das ein Heines Schwefterchen?” fragte Jakob, während 
erier mit der Hand über die breite Goldborde an des Herrn Kleid 
Eh. Was mich betrifft, fo war ich unfähig, ein Wort zu fprechen; 


ich war bergeflalt von Bewunderung Hingerifien, daß ich meine 
Blide nicht von der Kleinen abwenden Tonnte. 

Aber während wir das Kind betrachteten, hatte der andere 
Herr feinen Mantel abgelegt und ſich dem Ofen genaͤhert. Ohne 
Zweifel durch unfere Ausrufungen gelangweilt , machte er denſelben 
ein Ende, indem er feinem Begleiter zuherrichte: 

„Run, Champagne, wollen Sie das Kind eine Stunde fo 
binhalten? Legen Sie e8 auf ein Bett, wenn es bier eines gibt, 
und fehen Sie dann nach unferem Boftillon.“ 

Herr Champagne beeilt fi, dem Befehl feines Herrn gehor⸗ 
fam, Folge zu leiften; er folgt meiner Mutter, die ihn zu ihrem 
in dem Sintergrunde der Stube flehenden Bette führt. Meine und 
meiner Brüder Schlafftelle befand fi am enigegengefehten Ende 
bed Gemachs Hinter einem Vorhang von grüner Leinwand, der an 
einer langen eifernen Stange hing. Die Vertiefung, worin unfere 
Bettftatt angebracht, befand, wenn ber Vorhang zugezugen var, 
aus einem Raum von vier Quabdratfußen. Died war freilich ein 
beſcheidenes Bläschen, aber wir fchliefen frieblich dort, und obwohl 
der Wind bisweilen in unfere fchlecht verwahrte Schlaflanımer 
drang, ſchlichen fich doch nie Sorgen und Schlaflofigkeit ein; bei 
Arme muß doch auch durch Etwas entfchänigt werben, 

Als ich meine Blicke von des Kleinen abiwendete, die man 
auf meiner Mutter Bett gelegt Hatte, drehte ich mich um und be: 
trachtete den andern Herrn. 

Er mochte etwa fünfzig Jahre alt fein und war von Feiner 
Statur, mager und fchwächlich. Obgleich auf der Reife, Hatte es 
doch Feine Stiefel an, und die Kälte hatte in der That einen 
folden Einfluß anf feine Waden ausgeübt, daß man nicht eine 
Spur davon fah. Sein Geficht war Iang, ebenfo feine Rafe, die 
von ber Seite im Stande gewefen wäre, Semand, den er am Arm 
geführt hätte, vor dem Winde zu ſchützen; feine Hautfarbe war 
gelblich und eines feiner Augen mit ſchwarzem Taffet bedeckt, der 





vraitkift Ames Daubes Kin: feinen Kcpf Kehmiben war, olme ihm 
krigend Su3 Auoſehen eines Lirbesgottes zu. verleihen. Das un: 
iededfe Ange war ſchwarz und ziemlich lebhaft; da «8 ben Dienſt 
fir zwei Verfehen mußte, heftete es ber Herr keinen Augenblick 
mibig auf einen Gegenſtand, ſondern rollte es unaufhorlich Knie 
m rechis. Endlich ſchien ein uͤbermüthiger, hoͤhniſcher Ausdruck 
vr Phyſiognomie dieſes Herrn, welcher gepudert war und einen 
zerf trug, der auf feinem Rüden allen Bewegungen feines Auges 
felgte, eigenthuͤmlich gu fein.. Beim Anblick vieſes Reifenpen ent; 
fahr und ein Ansruf der Bewunderung. 

Der Frembe betrachtete mit mißverguügter Miene das Innere 
mſerer Hütte. 

„Gebt Ihe nicht noch ein anbered Gemach als dieſes, wo ich, 
tiert von dieſen Fratzen, ausruhen Bnnte %“ fragte er meinen 
Pater mit einem drgerlichen Blick anf mich und meine Brüder. 

„Rein, meir Herr, wir haben nur diefe einzige Stube; aus 
Kefer beſteht unſere ganze Wohnung.” 

„Staube, Ihr nennt das eine Stube!” brammt der Herr, feinen 
dener anbliddend , der den Blantel feitied Gebieter® aufhängt und 
” Allen, was biefer ſpricht, mit reſpektvoller Niene laächelt. 
‚Bohlen, ich muß irgendwohin, bee ich muß boch wo fein. Nicht 
hr, Champagne ?“ 

‚Da Ort iſt allerbings Ihrer nicht würdig, Her Graf, aber 
der find dieſe armen Leute nicht Schuld.” 

„Dr Haft Recht, Champagne: der Ort tft meiner nicht würdig! 
Ya 18 aber keinen andern gibt... .“ 

„Bean der Here burchauis allein zu ſetn wünſcht, fo haben 
Br oben noch eine Kamtmer, wo wir unfere Wintervorrathe auf⸗ 
Imahren; es iſt friſches Stroh oben.“ 

„Bir mich eine Kammer... Stroh? Sag’, Champagne, Haft 
In gehört, was biefe Savoyarin ſprach? Das iſt doch zu ſtark!“ 

Bei biefen Worten waͤlzte der Herr fein Feines r im Kopf 

Yaul de Kod. U. 


14 


Serum, um ihm einen durchtringenben Musbrnd zur geben. Dltwohl 
ich inter ihm fand, bemerkte ich dieſes doch au ben Bewegungen 
feined Zopfes. 

„Diefe Landlente wiffen nicht, mit wem fie die Ehre Haben, 
zu ſprechen, Herr Graf.“ 

„Freilich willen fie es nicht... ſchaff' mir einen Stuhl an, 
damit ich mich fehen Tann.” 

„Ich habe nur biefen großen Seffel, mein Herr,“ fagt mein 
Bater, ven Stuhl herbeirädlend, auf dem er gewöhnlih außzuhte, 
während ihn meine Mutter an der Jacke zupfte und ihm ins Ohr 
raunte: „Das ift aber Dein Stuhl, Jorgel, wo willſt Du jept 
hinfigen ?" 

Mein Vater drehte ſich um und winkte ihr zu ſchweigen; 
gehorchte nur ungern, denn der Ton und das Weſen des —*& 
ſtimmien ſie nicht, ſeinetwegen Ciwas zu entbehren. 

„Keinen Lehuſtuhl!“ ſagt dieſer, ſich nieberlaffend, feine kleinen, 
ſchmaͤchtigen Beine und feine Hände, deren Finger voll Ringe waren, 
an dem Ofen wärmend. „Wie fchlecht doch dieſe Wege unterhalten 
find! Ich muß an den Präfekten dieſes Departements fchreiben. Ei, 
fagt mir, guter Mann, warum habt Ihr, ald Ihr auf meinen 
Wagen zukamt, ber in diefem heilloſen Schnee verfanf, meinem 
Kutfcher zugerufen: er fol halten? Weßhalb ?“ 

— „Weil er auf einen Abgrund zufuhr, den er des Schnees 
wegen nicht bemerkte; ein Baar Schritte weiter, und Sie wären 
Alle des Todes geweſen!“ 

„Wirklich? Wie, ich, der Graf von Franconard, wäre daurch 
den Sturz in ein Loch um mein Leben gelommen! Das iſt außer 
orbentlih. Höre, Champagne, begreift Du, weldger Gefahr ich 
ausgeſetzt war ? Und ich fchlief ruhig in meinem Wagen, während 
mich ber Tob angähnte; pog Heuker, wenn das Teinen Muth bes 
weist, will ich der größte Dummlopf fein,” 

„Der Gere Graf zeigt ſich immer fo !“ 





15 


„Du haft Recht, Ehampagıre, immer. Aber dieſer legte Ay 
wird hoffentlich in meiner Lebensgeſchichte erwähnt werben. Es ift 
Ned wenigftend das zehnte Mal, daß ich in gefährlichen Augen⸗ 
tiden ſchlafe. Erinnerſt Du Dich, als es vor einem Jahr in 
uferen Hoͤtel brannte?... Es war während der Nacht, meiner 
Treu, ich fchlief, während die Klamme einen ganzen Kamin ver- 
wbrte, und wenn man mich nicht geweckt hätte, fo würde ich, 
rübtend fi die Andern davon machten, bis zum Morgen gefchlafen 
beben. Sag’, Champagne, beweist’vies nicht Kaltblütigkeit 2“ 

„Diefe bewundert Jedermann an Ihnen, Here Graf.“ 

Bährend diefes Sefprächs zwischen dem Herrn und dem Diener 
hatte ih meine Mutter dem Bette genähert, auf dem bas-Eleine 
Narben ruhig fortfchlief. „Armes Kind,” rief ſie aus, „ohne 
weinen Mann wäreft du umgelommen! Ach, Sörgel, welches Glück. 
ta Du dieſes reizende Gefchöpf gerettet haft; ich bin überzeugt, 
“5 ihre Augen fo fanft als ihr übriges Geſichtchen find... o 
welher Unterfchieb gegenüber von dieſem häßlichen ... .” 

Rein Bater ließ fie nicht vollenden und gebot ihr eilends 
knllſchweigen. 

„Ei, ſchlaͤft meine Tochter immer noch?“ fragt jetzt ber ein⸗ 
ige Here, fich gegen meine Mutter kehrend. 

„Shre Tochter ?“ entgegnet die gute Marie, erftaunte Blide 
af ten Fremden werfend. „Wie, mein Herr, dieſes hubſche Kind 
dire Tochter?“ 

„Run, was iſt denn da Erſtaunliches daran,” erwidert ber 
Ran Here, den Kopf erhebend. „Wenn es heller in Eurer rauchiger: 
Güte wäre, würbet Ihr fehen, gute Frau, daß die Kleine ganz 
Wr Ebenbild if.“ 

Herr Champagne tritt and Bett und jagt zugjeinem Herrn: 
Ta Fränlein fchläft immer noch.“ 

Die Kleine fchlägt mir in Allem nad: dieſelbe Kaltblütig- 
ku, dieſelbe Muhe in Gefahr! das Liegt im Blute ... die Bamilie 


36 


Ftanconard iſt dieſer Eigenſchaft wegen ſeit drei Jahrhunderten 
bekannt. Einer unſerer Vorfahren ſchlief bei der Belagerung von 
Jernfalem auf einem Sturmbock ein.“ 

„Am Abend vor der Schlacht, Herr Graf?“ 

„Rein, am Morgen darauf. Deinem Großvater fanfen zwei 
Pferde unter dem Leibe zufammen.” 

„In der Schlacht, Herr Graf?“ 

„Nein, in der Reitbahn. Und mein Bater Hatte bei feinem 
Tode mehr ald zweihundert Wunden an fi. Höre, Champagne, 
zweihundert Wunden! fo viel werden nur Wenige aufweifen können.“ 

„Bo Kuckuk, das will ich wohl glauben, das waren ohne 
Zweifel Degenftiche ?“ 

„Rein, Blutegelbiffe; er war außerorventlich vollblütig. Was 
mich betrifft, fo ift der Beweis meiner Tapferkeit in meinem Ge 
ficht zu ſehen.“ 

„Es möchten gewiß Biele dem Herrn Grafen gleichen.“ 

„Allerdings, Champagne ; da8 fehlende Auge bat mir mandye 
Eroberung erworben.” 

„Sch glaube, der gnädige Herr haben mir gefagt, daß Sie 
ed im Streite mit einem Englander eingebüßt haben.“ 

„sa, Champagne, pog Henker! biefe Geſchichte hat gehöriges 
Auffehen gemacht. Wir fritten und, wer am ſchnellſten eſſen 
Tonne... ih war Sieger, Champagne, und der Engländer warf 
mir in feiner Entrüftung ein hart geſottenes Ei an den Kopf, fo 
dag mein Auge zehn Schritte weit davonflog.“ 

„Ah, mein Bott!“ 

„Denke Dir meine Wuth..,. wenn man mich nicht gehalten 
hätte, wäre ich unter den Tifch gefallen... aber ich bin zer 
Genũge gerät.“ 

„Sie haben Ihren Gegner getöbtet ?" 

„Sa, Champagne, einen Monat darauf haben wir noch eins 
mal gewettet, und mein Englaͤnder ſtarb an einer Magenübsrlabung.“ 





17 . 


Das Gefpräch des Herrn und des Dienerd hatte mich und 
meine Brüber nicht gehindert, unfer Nachtefjen zu beendigen. Meine 
Rutter Tief alle Augenblide zu dem Bette Hin, um die Kleine zu 
betrachten, dann Tehrte fie wieder zu meinem Vater zurück, der, 
teinen Hut und feinen Sad in der Hand haltend, mitten in ber 
Stube fand und wartete, bis es dem Reiſenden gefallen möge, 
a Betreff feines Poftillond, der auf der Straße erftarren mußte, 
übrenb fi ber Herr Graf an unferem warmen Ofen wärmte, 
Zefehl au erteilen. 

„Seine Tochter!” fagte meine Mutter jedesmal wieder meinem 
Pater ind Ohr, wenn fle die Feine Schläferin betrachtet hatte ; 
‚begreifft Du das, Jörgel ?“ 

„Ja, Marie, man ſagt, bei vornehmen Leuten ſei ſo Etwas 
eit der Fall.“ 

„Mein Herr,“ beginnt endlich mein Vater, ſich dem Fremden 
riübernd, „Ihr Poſtillon iſt immer noch anf der Straße und...” 

„Wohlan! deßhalb iſt er Poſtillon. Der Schurke, der mich 
nahe in einen Abgrund geworfen hätte, verdiente, daß ich ihn 
steng beftrafen ließe.” 

„Er hätte fich wahrfcheinlich eben fo gefchadet wie Ihnen.“ 

„Au, glaubt Ihr das, mein Lieber? Höre, Champagne, diefer 


:zooyarbe erlaubt fih, mein Leben mit dem eines Poftillons zu _ 


‚tjleichen.“ 
„Here Graf, diefe Leute find nicht im Stande, Sie zu würdigen.“ 


„Du haft Recht; fie leben und flerben wie Murmelthiere, ohne 


: einen audgezeichneten Gedanken zu haben. Ich muß übrigens fo 
Pr als möglich wieder weiter reifen: ich kann nicht lange hier 
ben; es iſt ein Geruch hier, der Einen faft erſtickt. Champagne, 


5 mit dieſem Savoyarden zu unferem Wagen hin; man fol 


cu nachfehen, ob nichts zerbrochen tft, ihn wieder auf den guten 
zeg führen, und ſobald es Tag ift, reifen wir ab; ich will mich 
dt mehr Bei Nacht anf biefe ſchneebebeckten Strafen tagen.” 


y 


18 


„Bertrauen Sie meiner Vorſicht, Herr Graf.” 

Herr Champagne entfernt fih mit meinem Vater. Der Her 
Graf rüdt noch näher zum Ofen und fcheint ſich weder um fein 
Tochter noch um uns mehr zu befümmern. Nach einer Weile deutet 
uns ein langer Ton an, daß unfer Saft, wie fein Ahnvater nac 
der Einnahme von Serufalem, ſchnarchte. 

„Ihr müßt euch fchlafen legen, meine Kinder,“ fagt unfe 
Mutter zu und „Cuer Anblid fcheint diefem Herrn, der ohn 
Zweifel feine Freude an den Kindern bat, niht angenehm; ei 
er da ift, hat er noch nicht ein einziges Mal nad feiner Tode 
gefehen. Ein folches Kleinod zu befigen und ed nicht anzubeten.. 
ach! das begreife ich nicht. Die vornehmen Leute müſſen ben Kor 
recht vol haben, daß fie ihre Kinder fo vergeffen können.“ 

„Ach, Mutter, laß und das Heine Mädchen noch einmal fehen, 
ſagte ih, and Bett gehend. Peter that ein Gleiches, und unfe 
Mutter nahm ven Heinen Jakob auf den Arm, damit er fie au 
recht betrachten koͤnne. 

„Welche fchöne Haube, welche ſchoͤnen Kleider!“ ruft Beter au 

„Wie fanft fie ſchlaͤft,“ fagte ih. „Ach! wenn fie nur d 
Augen auffchlüge ; ich möchte fie fo gern fprechen Hören, Mutter 

„Hat fie denn fchen zu Nacht gegeffen ?" fragt Jakob. 

„Bahrfcheinlih, mein Kind; bie reichen Leute Haben all 
Mögliche in ihren Gefährten.“ 

„Bleibt fie bei und?" fragt Peter. ' | 

„Rein, meine Lieben, fie reist morgen mit Tagedanbrud n 
ihrem Vater wieder ab. Was würde dieſes an Wohlſtand unp I 
Bequemlichkeiten des Lebens gewoͤhnte Kind in unferer Hätte macher 
Und doch würde man es recht lieb haben, vielleicht gerner als vie] 
Herr, ber fih für feinen Bater audgibt. 

In diefem Augenblidle macht das Feine Mäpchen eine leia 
Bewegung, weil Jakob mit feiner Hand den Pelz berührt 
mit dem ihr Haͤubchen garnirt war ; fie kehrte fig um, ihr 2 


\ 19 


mintelgen ging amseinanber und wir fahen ein Mdaillon an einer 
plienen Kette an ihrem Halfe hängen. . 

„D, was für ein ſchönes Spielzeug !“ ruft Jakob aus, und wir 
beugen Alle den Kopf vor, um das Geſchmeide näher zu betrachten. 

„Das it das Bildniß eined Frauuugiımmers!“ fagt meine Mutter. 
„Beld' hübſche Züge! welch’ fchöne Wugen!.... das muß die Mutter 
Weed Heinen Madchens fein; ja, ich weite darauf, fie ſieht ihr 
ſchon ähnlich. Wie Tounte aber der Wann, der nur ein Auge hat, 
der Watte eines fo ſchoͤnen Frauemzimmers werben?... Jörgel hat 
Icht: in der großen Weit ficht man erſtaunliche Dinge, die den 
rihen Leuten ganz einfach vorkommen. Vorwärts, meine Rinder, 
ihr müßt ins Bett; ihr Fönntet die Kleine aufwecken, dann würde 
ad dieſer Herr zanken, denn er bewimmt ſich nicht, wie wenn 
nen Mana ihm und feiner Tochter das Leben gerettet hätte; er 
bet ſich nicht einmal bei eurem Water bedankt. Ach, wenn Jorgel 
8 für einen armen Savoyarden gethan hätte... doch, wollte 
max nur gegen dankbare Leute gefällig fein, fo würde nicht viel 
Oxteö gefihehen.“ 

Bir entfernten und nur ungern von dem Bette, worauf das 
Heine Nadchen ruhte, das ich nicht müde wurde zu beirachten; 
der wir mußten unferer Mutter gehorchen und lenkten unfere 
Etritte nach umferem kleinen Winkelchen. Indem Jakob unferer 
begerſtaͤtte zueilte, flolperte ex ungeſchickter Weiſe über die Beine 
#8 ſchlafenden Herrn. Diefer fährt plöglich auf feinem Stuhle 
a die Höhe und ſchreit wie beſeſſen: 

„Siecher, Champagne, hierher! man überfällt Deinen Herrn!“ 

Das Geſicht des Reifenden ſah in dieſem Augenblicke fo komiſch 
mt, daß ich und meine Brüder hellauf zu lachen anfingen. 

„Es Hat nichts zu bedeuten, mein Herr, ed iſt nichts,“ ſagt 
weine Butter zu ihm, „mein Jalsbchen ift bloß beim Laufen über 
Ihe Fuße geſtolpert, das iR Alleo 

„Wie? es Hat nichts zu bebdenten?“ ſagt der Freimde, indem 





ex fich bie Augen veikt unh vollenda erwacht) „ich Finke Cuch Inflig 
mit Eurem „das ift Alles“... Mich fo: aufzuwecken, wenn id 
ſchlafe! Peitfchet Die ungezogenen Jungen ind Bett, vamit ‘ich fie 
nicht mehr hoͤre. „Esſs hat nichts zu. bedeuten !‘" Ich traͤumie, ich 
fei auf der Jagd, und ick wollte eben ben Hieſch verfolgen, als 
mich der Heine Schelm von ber Fahrte abbrachte.“ 

Meine Mutter treibt und eilig in nuſer KK—mmerlein; fie giebt 
den Vorhang hinter und zu und Befichlt und, fill zu fein. Meise 
Brüder ziehen füh aus und ſchlafen bald ein. Was mich beisifft, 
fo habe ich keine Luft zu ſchlafen; ich weiß nicht, welche Neugierbe 
mich bewegt, aber ich denke au das hübſche kleine Mabchen, ich 
möchte es noch einmal, beſonders erwacht, ſehen. Ich behalte alte 
meine Kleider au; ber Varhang, der -unfere Schlafftatte verbirgt, 
fepließt nicht jo genau, daß man nicht hätte ſehen können, was 
in der Stube vorgeht ; ich lege mich aufs Bett, beuge bin Kupf 
gegen den Vorhang vor und richie meine ganze Aufınsckjanteit auf 
das, mas draußen geſchieht. 

Kaum hatten wir und niedergelegt, ald mein Bater mit bem 
Dienes des Reiſenden zuracklehrt. 

„Run, Ehempagne, wie ſteht's mit meinem Wagen 9* fungt 
der Graf, ohne einen Bid auf weisen Water zu werfen. 

„O, ed ifl nur wenig Papas machen zu laflen... «ö bat 
fih bloß eine Schrauben mutier abgelöst; der Poſtillon ſagt, bad 
ſchade nichts.“ 

„Ich fleige ficher in feinen Wagen, an dem due Schrauben⸗ 
mutter fehlt, damit nad Rad berausgeht uud wir ammerfen. Dem 
Poſtillon ift das gleichgültig, ex fügt zu-Pferde. Das Zerbrachene 
muß augenblidlich hergeſtellt werden! ... Gibt es einen Magnes 
in dieſer heillofen Gegend?“ 

„Mein Hexx,“ antwortet mein Vater, „es iſt wohl aim Huf⸗ 
ſchmied da, der auch Wagnerarbeit befmgt, aber x wohnt auf der 
entgegengeiahtem Gieike des Doxfes.“ 





Ar mag beim Teufel wohnen, wenn Ihe wollt, aber ich muß 
ihn haben.“ 

„Es if fo weit und die Wege find fo ſchlimm Heute Nacht.“ 

„Sur müßt an das Laufen im Schnee jo gewöhnt fein, wie 
ich an dad Tragen eines Degens. Mit einem fkarfen Stod, wie 
vr, den Ihr in der Hand Habt, konnt Ihr Euch überall fingen, 
zurchtet Ihr Such vielleicht ? 

„Rein, mein Kerr, nein, das habe ich bewieſen, als ich mit 
Gefahr meines Lebens Ihren zwei Pferden, die Sie in einen Aha 
pund hinunter geriffen hätten, in die Zügel fiel.“ 

„Das ift richtig, und ich merbe Cuch gewiß auch belohnen, 
wein Sieber, aber ich muß durchaus einen Wagner haben.“ 

Mein Dater ſchickt fi zum Fortgehen an, meine Mutter eilt 
hm nach und wirft ſich in feine Arme. „Mein lieber Yurgel,* 
lagt fie zu ihm, „geh' nicht. während ber Nacht; Du biſt ohnehin 
ion krank umd ber Weg ift gefährlich; morgen mit Tagedanbrudr 
iR es auch noch Zeit, Leute zu holen.“ 

„Morgen ?” verſetzt der Fremde, „Ihe wißt nit, was Ihr 
repet, gute Fran. Morgen ? Daun müßte ich noch einen Theil des 
Tages hier zubringen. Nein, ich muß mit Tagesanbruch weihes 
iin. Haltet Euern Mann nicht zurück, fürchtet nichts : ich ſtehe 
ix ihn. Potz Tauſend! Ich bin chen Stauden lang auf drei Fuß 
dohen Seeen Schlittſchuh gelaufen.” 

„Laß wich, meine liebe Marie,“ ſagt mein Vater, ſich aus 
sen Armen feiner Frau losmachend; „unjerer Kinder und Deinet- 
vegen gehe ih, um Etwas zu vwerbienen. Die Vorſehung wird 
zid anf meinem Wege leiten: fie muß über einem Bamilienwater 
radhen.“ 

Pit diefen Worten verläßt mein Vater unfere Wohnung, und 
meine Mutter, deren Augen voll Uhränen fliehen, ſett ſich and Wett 
zu legt ihren Kopf darauf. 

Der alte Herz Hat zur Cines geſehen: waͤmlich, dag mein 


VBater fort iR, um feinen Befehl auszuführen. In diefer Hinſich 
beruhigt, nähert ex ſich wieder dem Ofen und wirft einige Scheite 
hinein, bie daneben liegen. 
Der Bediente iR zu dem Tifch Hingegangen, auf dem wir jı 
Nacht gegeffen hatten, und ich fehe ihn das Geſicht verziehen, alı 

er die Suppe verfucht, die für meinen Bater übrig gelaffen wor 
den war. 

„Eine traurige Küche,“ fagt er, die Blicke rings um ſich ber 
werfend.: „Haben ver Herr Graf Beinen Hunger ?“ 

„Rein, Champagne; glaubſt Du außerdem, Daß ich etwa 
von ben Speifen dieſer Bauern effen würde ?“ 

„Sie ſcheinen mir allerving® nicht fehr gut zubereitet.” 

„Diefe Leute leben wie das liebe Vieh; fie Haben Teinei 
Gaumen.“ 

„Wh, wenn ich am des Herrn Grafen Koch denke: das if ei 
verbisnfivoller Mann.“ 

„3a, Champagne, das iſt ein talentvoller Junge. Sch wi 

Etwas aus ihm machen, und er foll einen Huf erlangen.” 

„Ich fehe, daß man hier nit an das Nachteffen denken dar 
GSlaͤcklicher Weiſe Haben wir gut zu Rittag gefpeidt und werk 
wir morgen einen orbentlicken Gaſthof finden.“ | 
Haft Du die Flaſche mit dem Alicantewein im Sad?" 

„sa, Her Graf.“ 

„Bib fie mir, damit ich einen Schlund daraus trinfen kau 
das wird mir gut thun, denn das Nachteſſen bes Savoyarden ” 
breitet einen peflartigen Geruch.“ 

Der Diener langt eine ziemlich große, mit Stroh aloe 
Flaſche aus feiner Tafche, auf die er einen gierigen Bi vor 
und reicht fle feinem Herrn bin. Diefer trinkt daraus, verftd 
fie wieder forgfältig und gibt fie feinem Bedienten zurück, we 
feufzt, währenn er fe wieder in den Sad ſteckt. 

„GSetze Dich, Champagne, ich erlaube es Dir; der Bauer 












wohl lange wegbleiben, da er überbies den Wagner zum Gefährt 
binführen muß. Wärme Dich und fchüre das Feuer nach, denn es 
iR ſchaͤndlich Kalt: der Wind bläst überall herein. Wie man auf 
in einem jo baufälligen Haufe wohnen Tann I“ 


Herr Champagne läßt fich dieſes nicht wiederholen: er nimmt 


einen Stuhl und nähert fi) dem Ofen, indem er ſich gegemübes 
son feinem Herrn nieberläßt. Er fcheint mit Entzüden dad Ber 
grügen, fich zu wärmen und andzuruhen, zu genießen. Meine 


Rutter figt uoch immer am Bett und ich vermuthe, daß fie ein: ° 


geihlafen iſt. Meine Brüder fchlummern fchon lange friedlich. Ich 
bleibe alfo allein mit dem Herrn Grafen und feinem Diener wach, 
und ed macht mir Spaß, ihrer Unterrebung zuzuhören, während 
ih fie bequem durch ein Loch unferes Vorhangs betrachte. 

„Weißt Du, Champagne, daß ich einen vorzüglichen Einfall 
gehabt Habe und entzückt bin, einen fo entſcheidenden Entſchluß aus- 
gerührt zu haben?“ 

„Bewiß, Her Graf; von welchem Entſchluß wollen Si⸗ 
ſprechen ?“ 

„Bi, potz Kudul, von dem Einfall, meine Tochter zu ent- 
ſühren und fie mit nach Paris zu nehmen. Wie wird die Frau 
Gräfin flaunen, wenn fie morgen frühe bei ihrem Erwachen ihre 
there Adolphine nicht mehr findet.“ 

„Das Erſtaunen wird für die gnädige Frau nicht angenehm 
fein: fie betet ihre Tochter an.” 

„ga, Champagne, aber ich will fie zwingen, mich auch anzu⸗ 
Beten, denn ich bin endlich doch ihr Mann.“ 

„Kein Zweifel hierüber, Herr Graf.“ 

„Es Hat freilich nicht wenig Mühe gekoſtet, es zu werden: 
Niulein von Blemont wollte fih gar nicht verheirathen. D, fie 
V von wunderlichfien Gharakter, aber Geiſt, Geiſt bis in bie 


- „Bie wollte Sie nicht, Hert Graf?“ 


A 


„Das habe ich nicht gejagt; ſie wollte überhaupt wit ug 
rathen. Es war rein die Gaprice eined jungen Maͤdchens 
manhafte, melancholiſche Ideen.“ 

„Iſt die Frau Graͤſin von trauriger Gemüthsbefchaffenheit?" 

„Im Gegentheil: ſie iſt ſehr heiter, ſehr lebhaft, faſt über⸗ 
trieben vergnügt. Seit unſerer Verheirathung iſt fie übrigens etwas 
ernfler geworden.“ 

„Da ich erſt feit einem Jahre die Ehre Habe, der Kammer: 

* Diener des Herrn Grafen zu fein, Tenne ich die gnäbige Frau kaum, 
beun im Laufe viefer Zeit bat fie, glaube ich, Feine zehn Tage mit 
dem gnäbigen Herrn zugebracht.” 

„Rein, Champagne, nicht fo viel, und in ben fünf Jahren, 
bie wir mit einander verheirathet find, waren wir hoͤchſtens zwei 
Monate beifammen.“ 

„Ste müflen einen vortrefflichen Cheſtand führen.” | 

„O, ficherlich, und wenn ich der Frau Graͤftn die Freiheit 
Iaffe, unaufhoͤrlich zu reifen, wenn ich zugebe, daß fle anf dem 
Lande ift, während ich in Paris bin, oder nad) Paris zurückkehrt. 
wenn ich mich anf das Land begebe, fo Tann ed noch lange auf 
dieſe Weife dauern. Aber Du wirft begreifen, Champagne, daß 
ed Augenblidte gibt, wo es mir großed Bergnügen macht, meine 
Frau in ihrem Zimmer zu finden.“ 

. „Verſteht fi, Herr Graf.“ 

„sch weiß wohl, daß unfere Lebensweife außerordentlich vor: 
nehm ik. ES gibt nichts Nobleres, ala Eheleute, die ſich des 
Jahres nur fünf: oder ſechsmal fehen; aber man muß ſich doch 
zuweilen treffen, und um mit meiner Frau zuſammen zu men 
muß ich ihr immer nacdjreifen. Wenn ich fie dann noch kriegte 
aber im Gegentheil.“ 

„Wie? Triegt die gnäbige Bram ven Herrn Grafen d'ran ? 

„Rein, Champagne, aber fie ift wie das Quedfilber : fie Eanır 
nicht auf einer Stelle bleilen. Zum Beifpieb: fie tk auf meinen 





vB 


Landgut in Burgund; ich mache mich auf ben Meg, komme an, 
glaube fie zu finden und angenehm zu überrafchen... Tein Gedanke: 
Madame iſt vor zwei Stunden auf das Schloß einer ihrer Freun⸗ 
binnen abgereiöt. Ich eile dorthin: fie hat es kaum wieder verlaffen, 
um nach Paris zu gehen. Sch begebe mich in die Hauptſtadt zurück: 
fie ik Abends vorher ind Bad gereidt. So geht ed an einem 
fort: fo oft ich fie fuche, verfehle ich fie.” 

„Das muß Sie fehr ermüben, Herr Graf.” 

„Sie hatte es mir bei unferer Verheirathung zum voran - 
gefagt. D, fie Hat eine feltene Freimüthigkeit an den Tag gelegt, 
und Hat mir keinen ihrer Fehler verborgen. Sie Hat mir gefagt, 
fe fet eitel, eigenfinnig, herrfchfüchtig, capriciss. Du wirft ein- 
ſehen, daß mich diefe Freimüthigkeit entzüdte.” ⸗ 

„Potz Kuduf, das will ich glauben, gnädiger Herr; eine fo 
ofenherzige Fran ift ein Schab.” 

„Und wie ich Dir fagte, fie wollte nicht heirathen.“ 

„Aber als fie ven Herrn Grafen fah, hat fie ihren Cutſchluß 
zeinbert 2“ 

„Im Gegentheil, fie ſtraͤubte fich beharrlich. O, fie iſt eine 
Kau von Charakter; fie hat mir ſogar gedroht, mir...” 

„Ihnen ?“ 

„Me... Du weißt, wie es die Bürgerslente heißen.“ 

„Ab, ich verſtehe, und dad Hat Ihnen keine Angft gemacht, 
derr Graf ?“ 

„Pfui, Champagne ; kann ein fo audgezeichnetes Frauenzim⸗ 
ner einen Fehltritt begehen ? Waren mir -vie Tugenden der Wräu: 
an Garoline von Blemont und die Grundfäge, worin fle erzogen 
torden, nicht befannt? Ihr Bater, der mein Freund und ein Mann 
son meiner Art war, benn es beſtand viel Mehnlichkeit zwifchen 
and...“ N 

„Gatte er auch nur ein Auge, wie der Herr Graf I“ 

Ich ſpreche von dem Moralifchen und ven Grfühlon. Ihr 


Niemandb ewärte, vet Du begreifft wohl, ba ich menen Hang... 
aber er ſchlaͤgt es immer aus; man kann ihn nur auf dem Lande 
beſihen. Er hat auch dad Bildniß meiner Tochter gemalt. Er if 
außerordentlich gefaͤllig: ich glaube, der Junge würde mein Pferd 
malen, wenn ich ihn datum erfuchte, denn er fagte zu mir, als 
ih ihm faß, daß er auch Thiere mache, wenn ed verlangt werde. 
Ich muß Dein Bild bei ihm beſtellen, Champagne.“ 

„Ach, der Herr Graf find gar zu gütig.“ 

„Nein, ich hänge ed dann in meinem Speifefaal gegenüber 
Sem armen Bubel auf, der fo gut apportirte.” 

Champagne gibt Feine Antwort, aber ih fehe, daß er füh 
radwärts kehrt und die Klafıhe an den Mund nimmt, während 
ſich der Here Graf die Schenkel reicht. 

„Wenn ich aber an das Erſtaunen denke, welches ich ber Frau 
Gräfin verurfachen werde... übrigens iſt ed ihre Schulb : ich wollte 
fie mit nah Parid nehmen, wo ich wegen einiger wichtigen Ber: 
ſenen, bie mir von Nutzen fein koͤnnen, einen Bau, ein Feſt gebe; 
ich babe einen feinen Takt, Champagne, und fehe in die Zukunft. 
Niemand ahnt fo leicht wie ich eine Abſetzung, eine Beräuderumg, 
eine Beförderung, eine Erhebung.“ 

88 if Teine Kunſt, zu merken, daß ber Herr Graf nicht zu 
den Benten gehört, denen man Etwas weiß machen Tann,“ ent: 
gegnet Champagne, die Flafıhe wieder in den Sad ſteckend, aus 
der er abermals einen Schlud genommen hatte. 

„Deßhalb ift Die Gegenwart der Fran Gräfn anumgaͤnglich 
nothwendig in Barid. Sie iſt nach Savoyen gegangen, um einige 
Zeit auf dem Gute einer Freundin zugubringen, die fle ſehr gerne 
haben ſoll, von welcher ich aber. noch nie ein Wort gehört hatte. Mitten 
,‚ im Binter nach Savoyen zu geben! Daran erbenne ich ben tollen 
Kopf ver Frau von Franconard. Einerlei, ich Taffe mich in nichts 
Rosen. Ich Beftelle meinen Wagen, wie reifen ab, berilen ung 
unterwege nicht fo fehr, weil ich’ meine armen Thiere nicht zu ſtark 








29 


anftrengen will, und fommen bei Frau von Melval an, wo man 
und ficher nicht erwartete, denn haft Du das Erftaunen meiner 
Frau gefehen ? | 

„Ja, gnäbdiger Herr: o, fie bat das Geficht ſchaͤndlich verzogen.“ 

„Wie! das Geſicht verzogen ?” 

„Sch will fagen, daß das Erftaunen, welches Ihr Anblick in 
ibr bewirkte, einen ſolchen Einfluß auf ihre Nerven ausübte, daß 
ihre Bhyfiognomie.... denn die Frau Gräfin hat viel Phyfiognomie...“ 

„Außerorventlih, Champagne. Ah, wenn Du zugegen ge: 
weſen wäreft, als ich ihr ankündigte, ich ſei gekommen, um fie mit 
noch Paris zu nehmen, o, dann hätteft Du gelacht über den Zorn, 
welhen fie Beuchelte: fie bebte vor Wuth und flampfte mit ven 
Füßen ; fle ift wirklich wunderhübſch.“ 

„O, der Herr Graf befiken eine reizende Frau in ihr.“ 

„sa, Champagne, dad jagen alle meine Freunde zu mir. End: 
ich hat ſich meine Frau beruhigt und in außerorventlich ſanftem 
kone erwidert : „‚Sie künnen nach Paris zurüdfehren, wenn Sie 
af baben, aber ich gehe nicht mit.” —. 

„Ab, das hat die gnädige Frau gefagt ?“ 

„3a, Champagne, aber mit unvergleichlicher Anmuth, man 
mute unmöglich böſe werden. Da diefed übrigens meinen Zweden 
It diente, fo war ich ziemlich mißvergnügt, umfonft nach Sa⸗ 
men gekommen zu fein, als ich in der Umgegend des Schloſſes 
illy, dem jungen Künftler, von dem wir eben gefprochen haben, 
Meguete ; er ging mit meiner Tochter fpazieren, für welche er die 
Hiäfte Anhänglichkeit zu empfinden ſcheint. Ich wollte mich einen 

blick mit ihm unterhalten, aber er verließ mich ſchnell mit 

Borten : „Ich muß Fräulein Adolphine zu ihrer Mutter zu- 

ihren, Denn die Frau Gräfin liebt ihre Tochter fo innig, daß 
Heine Stunde ohne diefelbe zubringen kann; fie würbe mich zanfen, 

ich fo Lange wegbliebe.“ Pop Kuduf, denke ih, wenn die 

Sräfin feine Stunde ohne ihre Tochter fein Tann, jo wird 

Yazl de Rod. . 3 


” 


30 


es wohl das befte Mittel fein, wenn ich die Kleine na Paris 
nehme, dann wird ihr die Mutter folgen. Hm, Champagne, was 
haltſt Du von diefem Einfall?“ 

„Er ift göttlich, Herr Graf.” 

„Solche kommen mir des Tages drei bis vier. Jch lieg mir 
zwei Tage lang nicht dad Mindefle anmerken: ih mußte einen 
günftigen Augenblid abwarten, und das war feine Kleinigkeit. Man 
hatte mich zwar in einen prächtigen Pavillon einlogirt, der aber 
eine Stunde von dem Zimmer meiner Frau entfernt war. Erf 
heute Nacht gelang es mir, indem ich mich in meinem Kabinet ver: 
barg, mich in das Zimmer diefer Dame einzufchleichen. Die Kleine 
ſchlief, ich bevedte fie eilig mit diefem Pelz und diefer Haube; 
Dir Hatte ich befohlen, Dich bereit zu halten, und wir reisten ab, 
während man mich tief eingefchlafen glaubte. Der Streich ift Ef: 
lich. Wir Haben Nebenwege eingefchlagen, weil ich mich nicht von 
der Frau Graͤſin, die mir beftimmt nachjegen wird, einholen laſſen 
will, ehe wir in Paris find. Das einzige Uebel if, daß wir in 
biefem verfluchten Schnee ſtecken geblieben find und mit der Weiter: 
seife warten müffen, bis der Wagen fertig ift.“ 

„Der ift mit Tagesanbruch wieder hergeftellt und die Frau 
Gräfin holt und nicht ein, weil fie glauben wird, wir haben den 

geraden Weg eingefchlagen.“ 
‘ „Run, es wird, Dank meinem vortrefflichen Cinfall, Alles 
gut gehen.” 

Welches Glück, Herr Graf, daß Sie ein Kind haben.“ 

„Das ift richtig, Champagne, denn jept bin ich gewiß, meine 
Frau hinzubringen, wo ich nur will!... Schüre doch das Feuer 
nach, Champagne ; was machft Du denn hinter meinem Rücken 3“ 

„Nichts, Here Graf, ich fuche nur Neifer.“ 

„Da liegen ja vor Dir,“ 

Dur das häufige Verkoſten aus der Flaſche fingen Herm 
Champagne's Beine zu ſchwanken an, und feine Zunge wurde ſchwer. 





al 


Der Herr Graf feinerfeits gähnte einmal über das andere, und 
feine Augenlider flelen öfters zu. 

„Ehampagne, weißt Du, daß meine Tochter fehr ſchön if?“ 

„Praͤchtig, Herr Graf.” 

„Sie ſcheint auch eine hübſche Geftalt zu bekommen.“ 

„Es wird ein Staatöfranenzimmer, wenn fie Ihnen gleicht.“ 

„Bie, wenn fie mir gleicht? Dummkopf! Sie ift mir ja von 
der Seite auffallend ähnlich.” 

Ich wii fagen, fie ift Beinahe ſchon fo groß wie Sie.” 

„O, fo groß wie ih! Du gehft zu weit: ich bin ein Mann 
wie ein Fels, ich bin dauerhaft.“ 

„Bertig, es ift nichts mehr darin,” murmelt Champagne, der 
ben Heft des Alicanteweines in der Flaſche ausgetrunfen Hatte. 

„Bas fagft Du, Champagne ?“ 

„I, Herr Graf, ich Habe etwas gefagt?" 

„sh glanbe, der Schurke fchläft ein, während ich mit ihm 

90 


„I, gnädiger Herr? Ich bin fo munter wie eine Maus.“ 

„Meine Tochter hat wunderfchöne Augen... .” 

„Wie Berlen.” 

„Und Zähne...” 

„Pechſchwarz. 

„Eine Naſe...“ 

„Sehr hübſch.“ 

„Mit einem Heinen Grübchen in der Mitte.“ 

„Rsmiſch geformt, wiegt wahr, Herr Graf?" 

„Ach, Champagne, wie ſchade, daß meine Tochter kein Knabe iſt.“ 

„Ja, das iſt richtig, wie ſchade, daß die Flaſche ſo klein iſt.“ 

„Sie würde, wie Du ſagſt, fich hübſch als Knabe ausnehmen. 
das wäre endlich ein Frauconard, und ich muß einen haben, damit 
win Rame nicht ausſtirbt.“ 

„Ya, guädiger Herr, Sie müffen.. .“ 


82 
Ich will mich auch ernſthaft damit befchäftigen, Champagne, 


und ich werde einen Sohn befonmen, es fei denn, daß meine Fran 
wie gewoͤhnlich .” 

„3a, guädiger Herr... forgen Sie aber für viel und alten, wie 
der, den ich eben getrunken habe.“ 

Der Herr Graf ſchloß die Augen, Herr Champagne fiotterte 
und fchlief neben feinen Gebieter ein. Des Horchend und Veobach⸗ 
tens müde, ſtreckte ich mich neben meinen Brübern aud und machte 
es bald den Reifenden nad. 


Drittes Rapitel. 
Gie erwacht. — Abreiſe der Fremden. 

Ich weiß nicht, wie viel Uhr es war, als mich ein Klopfen 
an unſerer Hausthüre ploͤtzlich erweckte; zugleich hoͤrte ich den alten 
Herrn ausrufen: 

„Hierher, Champagne! Wer iſt der Unverſchämte, der es wagt, 
mich zu ſtoͤren? Ich Habe vierzigtauſend Franken Renten und ven 
erften Koch in Paris.“ 

Champagne ſeinerſeits murmelt halbſchlafend, indem er ſich 
die Augen ausreibt: 

„Was will man von mir? Wer ruft mich ? Der alte Narr, der 
feiner Fran nachläuft, die ihn zum Beften bat?... Ich habe Alles 
ausgetrunken, wie ſchade.“ 

Zum Glück für Champagne hört fein ſchlaftrunkener Herr dieſe 
Worte nit. Meine Mutter beeilte fih, aufzumachen : es war mein 
Vater, der dem Reifenden anfündigte, daß fein Wagen bergeftellt fei. 
Die Lampe, die noch brennt, verbreitet ein mattes Licht in unferer 
Hütte; kaum iſt mein Bater eingetreten, jo höre ich meine Mutter 
einen lauten Schrei ausftoßen. 

Der alte Herr macht einen Sag auf feinem Stuhle; Champagne 
fürzt vorwärts, um fehneller aufzuftehen, aber’ bei dieſer Bewegung 








nfidt fein Stuhl zurück: er verliert, da er den Dunſt des Alicante: 
kein noch nicht ganz audgefchlafen hat, das Gleichgewicht und 
Mlmf ven Schooß feines Gebieters, der ein fürchterliches Geſchrei 
altst, weil er glaubt, es fei eine Räuberbande in die Hütte ein: 
znrngen. 

Gin ziemlich tiefer Ritz über dem linken Auge meines Vaters, 
m velchem dicke Blutstropfen herabfloßen, hatte meine Mutter zu 
mGchredfensruf veranlaßt und diefe Beflürzung in unferer Woh⸗ 
mu verbreitet. 

‚D, mein Gott! Du biſt verwundet, armer Joͤrgel!“ klagt fie. 
#6, ich hatte Doch eine Ahnung, daß Dir irgend ein Unglüd be: 
m werde. Aber Du wollteft nicht auf mich hören.” 

„Es iR nichts, es hat nichts zu fagen, gute Marie,“ entgegnet 
vn Pater, feine Wunde mit dem Nastuch bedeckend. „Als ich den 
Ni hinaufkletterte, um ſchneller die entgegengefegte Seite des 
mies zu erreichen, glitfchte mein Fuß auf dem Schnee aus: ich flel 
Wr und ein Stein rigte mich leicht am Kopfe.“ 

„Aber es fließt ja Blut heraus, es muß Dir wehe thun?“ 

„Rein, fage ih Dir, es hat nichts zu bedeuten. Kümmern wir 
Niet nicht um das.“ 

Bei dem Schrei meiner Mutter war ich auch von umferem 
ur aufgeftanden. Ich nähere mich unferem Vater: der Anblic des 
N feiner Bunde träufelnden Blutes ergreift mich und ih fange an 
Ineinen. In meinem Alter ift das verzeihlich; außerdem befaß ich 
ejenen Muth, der darin befteht, die Leiden Anderer ohne Rührung 
ümzufchen. In der Welt heißt man das Weftigfeit, in unfern 
harn wäre ed Egoismus gewefen. 

Rihrend mich mein Bater tröftet umd meiner Mutter Fafjung 
Beet, erwacht der Herr Graf vollends und fieht endlich, daß er 
m Ghampagne auf dem Schoofe hat. Diefer war auf feinem 
kbieter wieder eingefchlafen, welcher, weil ex fich überfallen glaubte, 
Krere Minuten regungslos figen geblieben war. 


3 


„Wie, Schurke, Du fipeft auf meinem Schooße?“ ruft ber 
Graf, fi von feinem Diener befreiend, ans. 

„Bad, gnädiger Herr, ich ſaß auf Ihnen? Was Einem doch 
im Schlafe begegnen kann! Der Alp muß mich gequält haben. Ran 
macht auch einen Lärm in dieſem Neft, man fanıı nicht ruhig fchlafen, 
man fchreit, man, weint, man verſteht fein eigenes Wort nicht.” 

„Entfchuldigen Sie, daß ich Sie aufgeweckt habe,“ ſagt mein 
Baier, „aber ich glaubte, ed würde Ihnen ein großes Vergnügen 
machen, zu erfahren, daß Ihr Gefährt hergerichtet ſei.“ 

„Ah, ah, Ihr feines, guter Mann? DerTeufel, ſchon zurud?“ 

„Es find fchon mehr als fünf Stunden, daß ich fort bin. Ih 


babe Zeit gebraucht, um zu dem Wagner zu gehen, ihn aufzuweden 


und zu beflimmen, bei dem abſcheulichen Wetter mitzukommen. Dann 


babe ich ihn zu Ihrem Gefährt geführt: ed war aber faft nichts za 


machen; indeffen ift er noch draußen: er wartet one Zweifel auf 
Bezahlung.“ | 

„Fünf Stunden? Wie doch bie Zeit vergeht, wenn man plau⸗ 
dert... nicht wahr, Champagne? Denn ih habe Feine Minute 
gefchlafen.“ 

„Ich auch nicht, gnaͤdiger Herr, ich hatte die Augen fo offen 
wie Sie.” 

„Wie viel Uhr ift es?“ 

„Es wird bald tagen: beinahe ſechs Uhr.“ 


„Shampagne, geh’ und bezahle den Handwerksmann; er muf 


Dir aber dafür flehen, daß ich ohne Gefahr weiter fahren kaun.“ 
„sa, gnäbiger Herr.” 


„A, gib mir vorher die Alicante-Flaſche, ich bin ganz ka 


vor Kälte und muß mich ein wenig erwärmen.“ 

Nachdem Herr Champagne einen Augenblid gezögert hat, fürt 
er endlich in der Tafche und zieht Die Klafche heraus, die er feinem 
Gebieter reſpeltvoll überreicht. Diefer pfropft fie auf, nimmt fie an 
den Mund, ruft aber bald aus: 


+ 


35 


„Bas foll das heißen, Ghampagne gu 

„Was, Herr Graf?“ 

„Die Flaſche ift leer!“ 

„Slauben Sie, gnädiger Herr?” 

„Wie, glauben Sie? Ich weiß es, beim Kuckuk, gewiß.“ 

„Sonderbar! Es war nur ein Biertheil davon getrunken, als 
Sie mir fie heute Abend zurückgaben.“ 

„Ich weiß es wohl, Schuft! Wie willſt Du mir pas erklären ?“ 

„Ad, jetzt weiß ich, wie ed kommt, gnädiger Herr: ald ich mich 
vorhin plöglich auf Sie warf, weil ich glaubte, man greife Sie an, 
werde ich die Flafche irgendwo angeftoßen haben und der Inhalt iſt 
herausgelaufen, meine Taſche iſt noch ‚gen na.” 

„Wie, Schurke, Du wagſt es.. 

„Ste wiflen wohl, Herr Graf, daß Sie die ganze Nacht Fein 
Ange geichloffen haben und ich immer neben Ihnen faß: ed wäre mir 
fomit uumöglich gewefen, den gnädigen Herrn zu hintergehen, felbft 
wenn ich die Abſicht gehabt hätte.“ 

„Deine Bemerkung ift in der That richtig.“ 

Herr Champagne macht fih, entzückt, fo leicht davon gefommen 
zu fein, aus dem Staube. Meine Mutter wufch die Wunde meines 
Daters, dem ich Hut und Stock abgenommen hatte, mit frifchem 
Baer aus, meine Brüder fehliefen noch und unfer Gaſt fhlüpfte 
fat in den Dfen hinein, indem er fih an Einem fort über Kälte 
bellagte. Er hatte den Schaden nicht gefehen, den -fich der gute 

ı Yingel angethan, während er mitten in der Nacht über unfere Berge 
Singeeilt war; dieſer Mann fah nur, was ihn felbft betraf; für 
We Mühe, die man fich feinetweg, ab, für bie, Leiden der Uns 

giflichen , die Thränen des Kummers, ven Schmerz der Waiſen 
war fein noch übriges Auge ebenfalls mit einer dichten Binde bedeckt. 

» Eine feine, äußerft fanfte Stimme erregte unfere Aufmerk⸗ 

Bienfeit: pas Fleine Mädchen war erwacht. Ueber die Wunde meines 

® Seters hatten wir die ſchoöne Schläferin vergeflen. 


36 


„Mama, Mama!” fagt die hübfche Kleine ; dann hebt fle den 
- Kopf in die Höhe und wirft erflaunte Blide um fih. Wir fehen 
nun ihre Augen: fle find ſchwarz, aber fo fanft, fo mild! Bei 
ihrem erften Ton war ich an’8 Bett geeilt und bort blieb ich und 
betrachtete fie. 

„Mama!” xuft fie auf's Neue, aber ihre Stimme ift ſchon 
nicht mehr fo ruhig: der Schmerz gibt fih darin Fund. Sie ſieht 
nirgends ihre Mutter... ihre ſchoͤnen Augen füllen fi mit Thränen. 

Meine Mutter hatte fich der Kleinen ebenfalls genähert; fie 
bewunderte abermald das fchöne Kind, indem fie einmal über das 
andere außrief: 

„Guter Gott, was für ein hübſches kleines Mädchen!“ 

Wir lächelten fie Alle an, aber das arme Kind blidte une 
mit Staunen und Furt an und wiederholte: 

„Ich will zur Mama!“ 

„Mein Herr," fagt meine Mutter zu dem Fremden, „Ihr 
Fräulein iſt aufgewacht und will zu ihrer Mutter.” 

„Run, fo geben Sie ihr zu trinken, das beruhigt außer dem 
Miegen die Kinder immer.” | 

Meine Mutter reicht der Kleinen ein Glas, aber dieſe ſtößt 
es zurücd und ruft immer nad) ihrer Mama: fie weint, fie ſchluchzt, 
ihre fchönen Haare hängen über ihre Augen herab, in denen fie 
mit ihren Eleinen Händchen reibt, indem fie an Einem fort wiederholt: 

„Ich will zu meiner Mama.“ 

Mir waren Alle von dem Schmerze des Fleinen Maͤdchens ge: 
rührt, der alte Herr allein ſchien nicht darauf zu achten und mur⸗ 
melte, fih an Einem fort die Beine reibend: 

„Deine armen Pferde wird es recht geftoren haben. Ich wollte, 
ich wäre fchon wieder in Paris. Ach wette, Cäſar hat Heimweh 
nach feinem Herrn; was wird er für einen Kreisfprung machen, wenn 
er mich wiederfieht. Diefes Thier ift fehr gefheit: ich muß ihn 
Domino fpielen Ichren wie den famofen Munito.“ 








37 
„Rein Herr,” unterbricht ihn meine Mutter, „Shure Kleine 
weint immer, dad arme Kind iſt untröftlich.“ 

„Saget ihr, daß ich ihr die Ruthe geben werde.” 

„Ad, mein Herr, ein fo kleines Kind, ein fo hübſches Mädchen 
ſchlagen? Ad, das fagen Sie nur im Scherze. Wir fchlagen bie 
unferigen nicht einmal und fie find weit nicht fo zart wie diefer Engel.” 

Der alte Herr wendet fich mit einer Grimaſſe ab und fagt, indem 
er fein kleines graues Auge auf meine Mutter heftet: 

„Bill mich die Savoyarbin vielleicht unterrichten, wie ich meine 
LTechter erziehen foll? Bringt mir Fräulein Adolphine her.“ 

Meine Mutter nimmt die Kleine auf den Arm und ſchickt fi 
an, fie ihrem Vater auf den Schooß zu fegen, aber diefer winkt 
ihr, dad Kind vor ihn auf den Boden zu flellen, und die Kleine 
macht, nachdem fie den Herrn Grafen betrachtet hat, ein Schnippchen, 
welches ihrem Geſichtchen einen noch Tieblicheren Ausdruck verleiht. 

„Sräulein Tochter,“ fagt der alte Herr ſtreng zu ihr, indem 
a eine Brife aus einer koftbaren goldenen Dofe nimmt, „Dein Be: 
tragen iſt fehr unpaſſend, um mich nicht fchärfer auszudrücken. Du 
rillſt zur Frau Gräfin? Das ift ganz recht, weil Du diefe aber 
aicht fiehft, fängft Du zu weinen an. Gin fo rüdfichtslofes Be⸗ 
nehmen geflatte ich nicht. Du biſt bei mir und ich habe Dir fchon 
gefagt, daß ich Dein Vater fei... außerdem mußt Du mich kennen. 
Later oder Mutter ift durchaus daſſelbe, es fei denn, daß Di 
he Eine verdirbt und verzieht, während Dich der Andere abftraft, 
zen Du nicht artig bift.“ 

Statt aller Antwort auf diefe Strafpredigt, von der das Feine 
Kirchen nicht ein Wort verftanden bat, flampft fie heftig mit dem 
Auf auf den Boden und wiederholt: „Ich will zur Mama!“ 

„Schaut einmal, welcher Charakter!“ ruft der Herr Graf aus; 
„fie gibt nicht nach, fie wird einmal eigenfinnig. Es ift aber nicht 
zum Verwundern: fle ift eine Franconard, und am Eigenfinn find 
ir alle zu erfennen.” 


38 


Ur 


In diefem Augenblide fommt Champagne zurüd. „Es ift Tag, 
Herr Graf,“ fagt er eintretend; „wann wollen Sie ſich wieder auf 
den Weg machen?” 

„Augenblicklich! Der Wagen ift alfo vollftändig reparirt ?“ 
„Sa, gnädiger Herr, es ift nichts mehr zu befürchten.“ 
„Vorwäarts! gib’ mir meinen Mantel, daß ich mich recht ein: 

mache.“ 

Während der Diener feinen Herrn fo feft einwidelt wie eine 
Branntweinflafche, nähere ich mich dem Tleinen Mädchen ; fle weint 
nicht mehr, fle ſteht unbeweglich an dem Ofen, aber ihre ſchönen 
Augen find fo traurig, ſchwere Seufzer entringen fich ihrer Bruſt; 
man flieht, daß fie mit Mühe ihre Thränen zurüdhält. 

Sch umfchlinge fle mit meinen Armen und hebe fie in die Höhe. 

„Was machſt Du denn, Andreas?" fragt mein Bater. 

„Ich will fie tragen, Vater. O, ich habe fchon fo viel Kraft! 
Ihr fein verwundet, Ihr Tönntet wieber fallen.” 

Sch fchickte mich an, die Kleine bis zum Gefährt zu tragen 
(denn ich war in der That fchon flarf für mein Alter) ; aber Her 
Ehampagne hält mich zurüd und bemächtigt fi des Kindes. O! 
wenn ich hätte Widerſtand leiſten Finnen, welches Vergnügen würde 
ed mir gemacht haben, dieſen Mann zu ſchlagen, welcher mich bes 
Glückes beraubte, das Eleine Fräulein zu tragen, das bereits feine 
fehneeweißen Hände auf meinen Kopf gelegt und mit feinen Fingerchen 
meine wollene Mütze weggefchleudert hatte, da es biefelbe wahr: 
ſcheinlich für eine häßliche Bedeckung hielt. 

Die Reifenden find im Begriff, ſich zu entfernen ; Herr Cham; 
pagne hat die hübfche Schläferin auf dem Arme, die mir zulädhelt, 
obwohl man ihr anfleht, daß ſie betrübt if ; aber es gibt ein Alter, 
wo Kummer und Freude fehnell auf einander folgen; die Freude 
firahlt unter Tränen hervor, welche eben fo fchnell trocknen, als 
fie gefloffen find. Man flieht bereits nichts mehr ald die Nafen- 
fpige des Herrn Grafen, der fih in feinen Mantel fo vorfichtig 


839 


| eupadt, als ob er den Montblanc zu Fuß Hätte beſteigen wollen. 
ı Rein Bater fleht immer in einer Ede der Stube, zu flolz, eine 
Belohnung zu verlangen, die er übrigens reblich verbient hat. Her 
Ghampagne bleibt jedoch im Borbeigehen vor ihm flehen und fagt: 
O! Ihr feid verwundet ?" 

„Ha,“ erwidert meine Mutter, „bei dem Laufen heute Nacht 
für Ihren Herrn hat er ſich fo zugerichtet.“ 

„Wie, ex ift verwundet!” ruft der Herr Graf aus, deffen 
darch ben Mantel erſtickte Stimme in biefem Augenblide dem Tone 
eined Tuthorns gleicht. Er fteht vor meinem Vater fill, entfchließt 
fih, zwar mit fichtlichem Bedauern, eine feiner Hände unter dem 
Rantel zu bewegen und fucht Iange in feiner Tafche, indem er 
vor fih Bin murmelt: 

„Ah, der Teufel! in der That, ich hätte e8 beinahe vergeffen, 
ih muß ihm etwas geben. Nicht wahr, Champagne ?“ 

„Er verdient es fehr, Herr Graf.” 

„Sa, ja, allerdings! Es if übrigens unangenehm, auf ber 
Reife immer die Hand in dem Beutel haben zu müflen ; es nimmt 
gar Fein Eude! Hier nehmet, mein Lieber, Ihr follt Euch daran 
erinnern, daß Ihr den Grafen Neftor von Franconard in Curer 
Hütte beherbergt habt.“ 

Mit diefen Worten drückt der Graf meinem Bater einen kleinen 
Thaler in die Hand und verläßt, ſich auf's Neue in feinen Mantel 
hüllenn, in Begleitung feines Dienerd, der das Heine Mädchen 
af dem Arme hat, unfere Wohnung. Sie haben bald bie ihrer 
harrende Chaiſe erreicht und entfernen ſich aus unferer Gegend. 

„Einen Heinen Thaler!” fagt meine Mutter, als die Reifenven 
fort ſind; „es iſt ſchon der Mühe werth, um einer ſolchen Be: 
lohnung willen den Schlaf zu brechen und fein Leben auszuſetzen.“ 

„Marie,“ entgegnet mein Bater, „man muß immer gefällig 
fein, ob man bafür belohnt wird oder nicht. IR man ed nicht 
jedenfalls durch daB Vergnügen, feine Pflicht geihan zu haben ? 


40 


Allerdings Hätte fich dieſer Fremde freigebiger zeigen Fönnen; um 
fo fehlimmer für ihn, wenn er ungern hergibt: er beraubt fi 
dadurch eines Genuſſes. Unfere Hütte ift für Jedermann offen, bie 
Reichen finden Eintritt wie die Unglüdlichen.” 
„Aber diefe Wunde? Seinetwegen haft Du fie erhalten.” 
„Das hat nichts zu bedeuten! Glaub’ mir, Deine Pflege und 
bie Lieblofungen unferer Kinder werben fie fchneller heilen ald alles 
Bold diefed Reifenden.“ | 
Meine Mutter fagt nichts mehr zu ihrem Manne, aber beim 
Ab: und Zugehen Höre ich fie noch murmeln: „Einen Fleinen 
Thaler, und es hätte ihm beinahe das Leben gekoſtet!“ | 
Der Herr Graf Hatte in der That für einen Edelmann nicht 
nobel gehandelt ; es gibt aber viele Bürgerliche, die eine edle Seele 
haben, und dad gleicht die. Sache wieder aus. 


viertes Aapitel. 
Der Tod eines guten Baterd. — Nothwendige Trennung. 

Seit mehr ald einer Stunde waren die Fremden abgereiät. 
Mein Vater faß am Ofen und aß die Suppe, welde ihm die 
Ankunft des Herrn Grafen nicht geftattet Hatte, am Vorabend zu 
efjen ; meine Mutter befchäftigte fich mit ihrer Haushaltung ; meine 
Brüder flanden bereitö vor der Hausthüre und verzehrten ihr Stud 
ſchwarzes Brod ; ich war ihnen nicht gefolgt, fondern blieb in der 
Stube und fuchte das hübſche Heine Mädchen noch, und war be 
trübt, es nicht zu finden. 

Indem ich meine Blicke nach dem Bette hinwende, auf dem 
ſie ausgeruht hatte, ſah ich etwas glaͤnzen; ich eile darauf zu und 
hebe neben ber Bettſtatt das Mebaillon auf, welches wir geſtern 
Naht bewundert Hatten. Sch floße einen Freubenfchrei aus. 

„Was Haft Du, Andreas ?“ fragt mich mein Bater. 





4 


„O, id habe ein Geſchmeide gefunden! Schaut, ſchaut!“ 

Ich gehe zu ihm Bin und zeige ihm das Bildniß. 

„Das ift das, welches das Kleine Mädchen am Halfe trug,“ 
hat meine Mutter; „ed wird ſich von der Kette abgelöst haben. 
Eich’ doch, Joͤrgel, was für ein hübfches Frauenzimmer! DO, das 
ij die Mutter des Fleinen Engels, der auf unferem Bette ſchlief.“ 

„Sa, ſehr ſchoͤn; aber der Kuduf, wie greifen wir es an, 
uw dad Bild dem Herrn zurüdzugeben? Potz Teufel, wenn man 
dnur früher gejehen Hätte! Marie, glaubft Du, man Zönne den 
Bagen noch einholen ?“ 

„Rein, gewiß nicht: fie find fchon mehr als zwei Stunden 
waus. Wiſſen wir überdies, wo fie hingehen ? Du willft am Ende 
zu wieder fortlaufen und Dich des alten, häßlichen Herrn wegen 
rwunben, ber Einem nicht einmal dafür dankt?” 

„Ad, Marie, ift der Gigennuß erlaubt? Es Handelt fich 
kram, ehrlich zu fein und feine Pflicht zu thun.“ 

„Bo Tauſend! ich glaube, wir find ehrlich; obwohl arm, 
ind wir, Bott fei Dank, doch gefchägt in der Gegend. Aber Du 
khft, Joͤrgel, das Portrait ift nicht mit £oftbaren Steinen einge: 
kt; o! wenn ed mit Diamanten oder Juwelen befegt wäre, fo 
vürbe ich felbft, und wenn ich zehn Stunden machen müßte, ber 
Chaiſe nachlaufen, um ven etwaigen Verdacht, als hätten wir es 
bfichtlich behalten, von uns abzuwaͤlzen; es ift jeboch nur mit 
inem einfachen Goldreif umgeben ; wir find unfchuldig, daß es die - 
Kleine verloren hat. Außerdem wird der Herr, wenn er bemerkt, 
af es feiner Tochter fehlt, gleich vermuthen, fie werde es bei und 
zelaſſen Haben und einen feiner Diener ſchicken, um es zu Holen. 
kei überzeugt, daß es der Fremde, wenn ihm viel daran liegt, 
iger zurückverlangen wird. Unterbeffen wollen wir das Bild, ba 
sr durch Zufall in feinen Befig gefommen find, behalten. Mach’ 
du deßhalb Feine Sorgen !“ 

„Wohlan, ich glaube, Du haft Recht, Marie; jedenfalls ift 


- 


4 


das Gefährt ſchon zu weit entfernt. Man wird das Medaillen 
übrigend allem Bermuthen nach bald zurüd Begehren.“ 

Mein Bater täufchte fih in feinen Vermuthungen; ein Tag 
verfirih um den andern, und Niemand holte das Bildniß. 

Die Geſundheit meines Vaters beſſerte ſich indeß nicht, fie 
nahm im Gegentheil täglich mehr ab. Seine Kopfwunde war zwar 
vernarbt, aber er fühlte im ganzen Leibe Schmerzen, die er ſich 
vergebens anſtrengte, vor und zu verbergen. Unſere Armuth ver: 
mehrte fein Leiden noch, da fie ernftliche Sorgen für die Zukunft 
in ihm erwedte; meine Mutter bemühte ſich umfonft, ihn zu be 
ruhigen. Er war ſchon lange nicht mehr im Stande, zu arbeiten. 
Als Führer der Reifenden und Neugierigen, die häufig unfere Berge 
und unfere rauhe Gegend betvunberten, hatte mein Bater biöher 
den Unterhalt für feine Familie verdient ; dieſe Hülfsquelle ver: 
flegte nun. 

Jeden Tag bot ich mich an, die Stelle meines Vaters zu ver- 
treten ; ich brannte vor Begierde, meinen Eltern nüglich zu fein 
und ihr Elend zu erleichtern; allein fie hielten mich noch für zu 
jung, um bie Gletfcher zu erfleigen und mein Leben auf ben an 
Abgründen hinführenden Wegen auszuſetzen; fie zitterten für meine 
Tage. Wenn ich aus dem Dorfe fpät nach Haufe Fam, fo waren 
fie in fürchterlicher Unruhe; fie glaubten mich verwundet und über: 
fhütteten mich, nachdem fie mich gezankt hatten, in ihrer Freude 
mit Zärtlichkeiten. Die Armen geben oft den Reichen ein Beifpiel, 
wie man feine Kinder lieben fol. 

Eines Tages übrigens, als ich allein aus dem Dorfe zuräd: 
kehre, begegne ich einem Reiſenden, der mich erfucht, ihm einen 
Meg zu zeigen, ber auf eine gewiffe Höhe führt, von ber aus 
man eine weite Fernficht hat. Der Weg war zwar fchwierig und 
führte an Abgründen hin, aber ich hatte ihn fchon mehrmals mit 
. Wiffen meiner Eltern gemacht. Ich biete mich dem Reiſenden als 
Führer an: er willigt ein; wir Klettern bie Zelfen hinan. Nachdem 





r 43 

ver Fremde einige Zeit das prächtige Gemälde, welches fich feinen 
Bliden darbietet, bewundert hat, fteigt er wieder herunter und ſetzt 
feine Reife fort; ehe er ſich aber von mir trennt, brüdt er mir 
eine Heine Silbermünze in die Hand mit den Worten: 

„Hier, mein Junge, nimm’ das für Deine Bemühung.” 

Nie Hatte ich ein fo großed Vergnügen empfunden. Ich eile, 
fiege unferer Wohnung zu: man flieht keine Spur meiner Schritte 
auf dem Schnee, denn ich berühre kaum den Boden; ich komme 
endlich außer Athem zu Haufe an und gebe meiner Mutter bie 
von dem Neifenden erhaltene Münze. 

„Woher haft Du das?" fragt mic mein Vater. 

Ih erzähle, was ich geiban habe ; ohne Zweifel muß ich ſehr 
Kol; und ſelbſtzufrieden ausgejehen haben, denn mein Vater lächelte, 
obgleich er mich anfangs fehelten wollte. 

Beter und Jakob reißen große Augen auf und fagen, fie wollen 
ah Geld verdienen, aber Jakob ift noch fo Hein und Peter fo 
ängflich. ’ 

Leider bieten fich ſolche Selegenheiten felten dar: man wacht 
über mich, daß ich mich nicht entferne. Wir bleiben bei meinem 
Vater. Seine Schmerzen fcheinen zuzunehmen ; nur in der Mitte 
kiner Kinder fühlt er fi etwas beffer. Wir bringen bie langen 
Binterabende an feiner Seite zu ... ach! er hat nicht mehr bie 
Kraft, und auf den Schooß zu nehmen. Meine Mutter arbeitet 
waufbörlich. „Mein Spinnrad reicht hin, uns zu ernähren,“ fagt 
R. Die arme Mutter! fie verfchweigt, daß fie bei Nacht weint, 
während mein Bater fchlummert ; ich allein habe es bemerkt, da 
ich auch oft nicht fchlafen Tann. 

Um unfern Kummer zu -vergefien, bitten wir Häufig unſern 
Vater, und das Bild der fehönen Dame zu zeigen. Wir fehen 
ei gerne an; wich erinnert ed immer an das hübfche Heine Mädchen, 
dad in umferer Hütte gefchlafen hat. 

„Es iſt doch fonderbar, daß man das Bildniß nicht hat holen 


Ak 


laſſen,“ fagt mein Bater ; „der Mann biefer Game muß fie doch 
lieb haben.“ 

„Der Mann!” verfegt meine Mutter; „ach! wenn es ver haͤß⸗ 
liche, einäugige mit dem Fleinen Thaler ift, wie foll der fie lieb 
haben! Als ich von feiner Tochter mit ihm ſprach, dachte er nur 
an einen Hund, auf den er fich feiner Sprünge wegen freute. Der 
Feine Engel weinte und verlangte nad feiner Mutter, dad war 
fehr natürlich ; ftatt fie nun zu küſſen, zu tröften, wollte er fie 
fchlagen ; endlich hat er ihr eine ewig lange, verfchrobene Predigt 
gehalten, von ber die arme Kleine nichts verftand. Geh’, ver Menſch 
kann Niemand wahrhaft lieben. Hätte er das Bild feines Hundes 
da gelaffen, fo wette ich, würde er alle Champagne ausgeſendet 
haben, um es wieher berbeizufchaffen.“ 

Einige Freunde unferes Vaters, die in unfere Hütte kamen, 
hatten das Bild, wenn wir eö betrachteten, gefehen und erfahren, 
durch welchen Umftand es in unfere Hände gekommen war. Ein 
alter Staliener, der fich feit einigen Tagen in Savoyen befand, 
machte meinem Vater eined Tages den Vorſchlag, das Borkait 
in ber nächften Stabt für ihn zu verkaufen, indem er ihn ver: 
fücherte, man koͤnne wenigſtens dreißig Franken für die goldene Ein 
faffung befommen. Dreißig Franken, das war für und eine be: 
träcdhtlihe Summe ; aber weit entfernt, hiermit einverflanden zu 
fein, wied mein Bater den Vorſchlag mit Verachtung zurüd. 

„Das Portrait gehört nicht und,” fagte er; „der Eigenthümer 
defjelben Tann früher oder fpäter kommen und ed zurücdverlangen, 
und Sie machen mir den Vorſchlag, es zu verkaufen! Nein, 
Sörgel flürbe lieber vor Elend, ehe er das Gut eined Anden 
berührte.“ 

Ich fland neben meinem Bater, ald er diefe Worte beenbigke. 
Er nimmt mich bei der Hand, zieht mich zu fich hin und fagt zu mir: 

„Mein lieber Andreas, vergiß nie, was Du eben gehört hal; 
jpäter wirft Du vielleicht einft reifen, dann gehft Du nach Paris. 





45 


Ber weiß, ob Du Dir nicht dort, glüdlicher ala ich, ein Ders 
mögen erwerben Tannft, aber nur jeder Zeit auf eine rechtliche 
Reife, deren Du Dich nicht zu fchämen brauchft. In den großen 
Stühlen nimmt man ed zwar mit der Nechtfchaffenheit nicht fo 
genau wie in unfern Bergen, behalte aber die Grundfäge Deines 
Vıterd und die in Deiner Heimath hierüber geltende Anflcht Bei: 
Re iſt bie richtige , mein Junge. Wer wahrhaft redlich iſt, Tann 
X mit aufrechtem Haupte überall fehen laſſen; dem Himmel fei 
Tanf, der, welcher mir geratben hat, diefes Geſchmeide zu ver⸗ 
Inf, iſt nicht in unſerer Gegend geboren.” 

„Ih will Euch folgen, Vater,“ erwiderte ih, ihn. Füffend. 
‚Und wenn ich nach Parid gehe, nehme ich das Portrait mit mir, 
Yan ich twerbe ohne Zweifel den Herrn, welcher bei uns war, 
zıeder erfennen. Sch erkenne ihn ficher, er ift fo häßlich; ich er- 
!mne auch das Tleine Mäbchen; es ift fo hübſch; dann gebe ich 
''nem dad Geſchmeide zurüd.” 

„Benn Du nach Paris gehfl, Andreas, fo vergiß Deine 
Sutter nicht, die Du in ihrer Hütte zurüdgelaffen haft.“ 

„D nein, mein Vater ; ich ſchicke ihr all’ mein erfpartes Geld 
‚Te Euch auch.“ 

„Bir 2” 

Mein Bater laͤchelt wehmüthig: er fühlt wohl, daß er nicht 
uhr fange bei uns weilen wird ; aber ex thut fein Möglichftes, 
md dies zu verbergen. Die Heiterkeit ift aus unferer Hütte ges 
ben, wo fie früher beftändig ihren Sig hatte. Der Anblick unferes 
saufen Baters raubt und fogar die Luft, und unfern Spielen bins 
sachen: wir klettern nicht mehr auf ven Berg hinauf, wir fchleifen 
«ht mehr, wir machen feine Schneeballen mehr; wir bleiben immer 
n im, denn wir fehen, daß ihm dieſes Freude macht. Wir fegen 
28 ſtill zu feinen Füßen nieder. Sp ruhen wenigſtens feine Augen, 
can er ein Bischen einfchlummert, auf feinen Kindern, und fein 
äer Blick bei feinem Erwachen fällt auf und. Aber ah! fon 

vaunl be Red. n. 4 


# 


Lange genießt ex jene Augenblicke der Ruhe, während welcher wir, 
zu feinen Füßen fitend, um ihn nicht zu erweden, das tieffle 
Schweigen beobachteten, nicht mehr. Kaum Hat er noch die Kraft, 
aufzuftehen und feinen großen Stuhl zu erreichen. 

„Wie ift e8 Dir?" fragt meine Mutter oft. . 

„Gut... gut,“ antwortet er immer noch lächelnd. Aber dieſes 
Lächeln beruhigt fie nicht mehr, während ich und meine Brüber, 
da wir den Zuftand meines Vaters nicht begriffen, ihn jeden Morgen 
bald hergeftellt hofften. 

Eines Tages weinte meine Mutter bei ihrem Spinntad; unfer 
Bater hatte ſchon lange nicht mehr mit und geſprochen. Bisplid 
ruft er uns, breitet feine Arme gegen und aus und umfchließt und 
innig; ich Höre ihn von meiner Mutter, bie herbeigeeilt war, Ab: 
ſchied nehmen, er nennt und feine lieben Kinder, dann ſchließt er 
die Augen und flößt einen tiefen Seufzer aus. 

Meine Mutter finkt bitterlich weinend auf einen Stuhl nieder; 
fie Kann ihr Schluchzen nicht mehr zurüchalten. — „Still,“ fagen 
wir, meine Brüder und ih, zu ihr; „mache keinen Lärm: ber 
Bater ift eingefchlafen, Du weckſt ihn auf.” Damit haben wit 
bereits unfern gewöhnlichen Pla eingenommen: une zu feinen 
Füßen niebergefegt. Wir ſchweigen mäuschenftill, aber unfere Mutter 
weint an Einem fort. Endlich ruft fie aus: 

„Ach, meine Kinder, euer Vater ift geftorben! ihr habt ihn 
verloren. Mein guter Joͤrgel ift tobt!“ 

Todt! ... Diefes Wort ergreift und, wir Fönnen es aber 
noch nicht recht verſtehen. „Todt!“ wiederholen wir, „das heißt fo 
viel, als er wird nicht mehr erwachen?“ Wir können es nicht 
glauben und ftehen leife auf, um unfern Vater zu betrachten. Er 
fheint zu fchlafen und feine fo gutmüthigen, fo fanften Züge find 
ganz unverändert. Jakoͤbchen ruft ihm. 

„Nein, meine Kinder, er hört euch nicht mehr,“ fagt meine 
Mutter. Sie nähert fi uns und heißt und mit ihr vor unferem 





i 


Sater nisberfnieen. „Bitte den lieben Gott,“ fagt fie, „bamit euer 
Later immer vom Himmel herab über euch wache.“ 

Bir beiten Iange, und je mehr Zeit vergeht, deſto lebhafter 
wird unfer Schmerz : denn unfer Bater erwacht nicht und wir 
fangen an zu begreifen, was ber Top ift. 

keute and dem Dorfe treten in unfere Hütte ; fie fuchen unfere 
Rutter zu tröften ; aber fie laffen fie in ihrer Wohnung ; denn 
bei und licht man die, die man liebt, nicht, ſobald fie aufgehört 
haben zu leben, und fürchtet fi auch nicht, an einem Orte zu 
bleiben, der ung an fie erinnert. 

Welch' trauriger Tag verftreicht! Meine Mutter weint immer; 
fe gibt denen , die fie tröften wollen, feine Antwort: fie ſcheint 
Re nicht zu hören. Ich und meine Brüder fagen nichts zu ihr; 
aber wir ſezen uns dicht neben fie, wir umfchlingen fle mit unfern 
men, legen unfern Ropf auf ihre Bruſt, und dann weint fle 
minder heftig. | 

Tags darauf tragen Männer meinen Bater fort; man winkt 
wir und meinen Brüdern, ihm zu folgen, während meine Mutter 
fh ihrem Schmerz hingibt. Wir begleiteten bie Leiche nicht allein: 
fofl alle Männer bed Dorfes gingen mit hinter uns drein. Man 
!äritt ganz Iangfam einher, fprach beinahe nichts, und Alles ſah 
haurig aus. Ich hörte bloß bisweilen fagen: „Er war fo fanft, 
rt hatte feinen Fehler, der arme Joͤrgel!“ 

Niemand fagte: Er war ein rechtfchaffener Mann ! beun in 
uuferen Bergen findet man das bloß natürlich. 

Ran pflanzt ein Kreuz auf dad Grab meines Baterd und 
!breibt feinen Namen und fein Alter barauf; man hält feiner 
Aſche feine Leichenrede, aber Alles vergießt Thränen und ich Habe 
md feither überzeugt, daß dieſes mehr werth ift ald eine Predigt. 

Meine arme Mutter! wie fle weint, als fie und wieder er⸗ 
Nidt, wie fie und -Füßt, währenn fie ausruft: „Ihr fein mein 
anziger Troſt!“ Wir theilen ihren Schmerz, und hundertmal des 


“ | 
Tages fuchen unfere Blicke unfern Bater noch auf ber Stelle, ter 
er gewöhnlich faß. 

Aber die Zeit Iindert den Kummer ber Kinder bald. Rad 
Berfluß einiger Wochen geben wir und aufs Neue unfern Spielen 
bin. Meine Mutter allein ift immer noch tranrig, obgleich fie nicht 
mehr fo viel weint. Diefe gute Mutter arbeitet unabläffig ; kaum 
genießt fie einige Stunden der Ruhe. Um und zu ernähren, quäll 
fle fih fo ab. Ich höre oft die Bewohner des Dorfes zu ihr fagen: 
„Ihr müßt Eure beiden Aelteften nach Paris ſchicken; fie fint 
groß genug, biefe Reife zu machen. Sie machen ed dann wie bie 
Andern ; fie verdienen Geld und ſchicken es Eu. Später Fönnen 
fie fa wieder zurückkommen. Glaubt und, Mutter Iörgel, folgt 
unferem Rathe; Ihr konnt die drei Jungen nicht ernähren, unt 
wenn Ihr Euch Frank fehaffet, fo reicht es nicht Hin.“ 

„3a... ja,” antwortet meine Mutter, „ich weiß wohl, daß 
ed fein muß, aber mich von meinen Kindern zu trennen... dazu 
Habe ich den Muth nicht!“ 

„Ihr köonnt ja den Fleinen Jakob bei Euch behalten.“ 

„Aber dann fehe ich Andreas und Peter nicht mehr.“ 

Dabei blickt meine Mutter und feufzend an und arbeitet noch 
eifriger. Aber ich fah ein, daß unfere Nachbarn recht hatten, denn 
ed that mir wehe, daß fie fi fo abquälen mußte, ohne baß id: 
ihr oder meine Brüder hätten helfen können. Bisweilen diente ich 
einem Reifenden als Führer, aber dad kam fo felten vor! „Laffet 
Peter und mich in die große Stabt gehen,“ fagte il ofl. „Dort 
werden wir viel Gelb für Euch verdienen.“ 

„Du wilft mich alfo verlaffen, Andreas.” 

„Um Euch eine beffere Zukunft zu bereiten.” 

Meine Mutter Eüßt uns, aber fie zögert immer. Die Zeit 
verftreicht indefien; es find fchon fechs Monate feit dem Tobe 
meines guten Vaters verfloffen. Ich fehe, daß fi; meine Mutter 
Alles entzieht, um uns zu erhalten, umb ich bin entfchloffen, mich 








49 


sah Paris aufzumachen. Ich bin einige Monate über acht Jahre 
alt, fräftig und Habe Muth, außerdem den fehnlichen Munich, zu 
arbeiten und mein Brod zu verdienen , der unfern phyftichen Kräften 
za Hülfe ommt und vermöge deſſen der Schwächfte mehr Teiftet als 
ein Geiger, Träger, den die Natur oft unnüger Weife begünftigt hat. 

Beter ift beinahe fieben Jahre alt. Ich rede insgeheim von 
tem Parid mit ihm, wohin wir und begeben müfjen. Es drängt 
ihn nicht fo fehr wie mich, in die Fremde; indefjen will er unferer 
Rutter auch an die Hand gehen; nur vor dem Gedanken ber Reife 
dat er Angſt. Peter fcheint nicht fehr unternehmend zu werben ;- 
et lebt für den Augenblid und denkt nicht au den morgigen Tag. 
Gr verfpricht mir jedoch, unter ber Bedingung, nicht bei Nacht zu 
reifen, fich mit mir auf den Weg zu machen. 

Einer unferer Nachbarn hat Petern und mir ein Fleines eifernes 
Berheng zum Raminfegen gefchentt ; ich übe mich den ganzen Tag 
tatin ein, indem ich unfern Schornftein hinaufklettere und oft 
Stunden lang auf den Dächern fige. Aber es koſtet mich nicht 
wenig Mühe, Peter in den Kamin hinaufzubringen; ih muß ihn 
tinaufuöthigen oder über feine Aengftlichfeit fpotten. Das letztere 
Rittel erreicht oft den Zwed: die Kinder find faft fo ehrgeizig als 
u Erwachſenen. 

Stolz darauf, ein Kraßeifen zu beſitzen, kratze ich an Allem, 
das ich fehe; ich Frage unfere Wände, unfere Möbeln, unjern 
Boden ab; ich würde, um mein Talent zu beweifen, meine und 
meiner Brüder Beinkleiver abgefragt haben, wenn es meine Mutter 
jsgegeben hätte. | 

Eine beträchtliche Anzahl Kinder aus unfern Bergen find im 
Legriff, nach Paris zu gehen. „Laſſet und auch mit,“ ſage ich 
iu meiner Mutter. Sie ſchwankt, fie kann fich nicht entfchließen. 
der Tag der Abreife kommt; fie behält und in ihrer Hütte. Die 
Tdfigen Savoyarbenfinder haben fih ohne und auf den Weg nad 
Srankreich gemacht. 


50 | 

Am folgenden Tage fieht meine Mutter ein, daß fle Unrecht 
gehabt hat, uns dieſe Gelegenheit nicht benüben zu Iaffen. Man 
if im Monat September ; das Wetter ift wunderſchoͤn und Allee 
ſcheint Einen zum Reifen einzuladen. 

„Wir Können fie leicht einholen,“ fage ich zu meiner Mutter: 
„fie find noch nicht weit entfernt. Wir erkundigen und nad dem 
Wege, ven fe eingefchlagen haben, und morgen find wir bei ihnen.“ 

„Run, fo geht, meine Kinder, weil ich mic; denn durchaus 
von euch trennen muß,“ erwiberte fie, in Thraͤnen zerfließent : 
„geht, aber kehrt eines Tages in eure Heimath zurück. Vergeſſet 
eure Mutter nicht, die alle Morgen für euer Glück zum Himine 
beten wird.“ 

Da meine Mutter ſich endlich entfchloffen hatte, war unfer 
Bündel bald gemacht. Sie packt uns unfere Kleider, auf einig 
Tage Brod und ein Paar Baben Geld zufammen. Peter iſt gan 
beftürzt, er hatte nicht geglaubt, ſobald abreifen zu müffen; allei 
wir müſſen und beeilen, damit wir die Borangegangenen noch ei 
holen Finnen. Ich fuche ihm Muth einzuflößen. Unfere Borberei 
tungen find getroffen. Meine Mutter gibt mir das Bildniß, welche 
man bei und vergefien bat; es iſt an ein Band befeftigt, welche 
fie mir um den Hals hängt. „Hier,“ fagt fle zu mir, „Du, 
dreas, Haft das Portrait zuerft gefunden; Du bift obne Zweife 
auch berufen, es dem Eigenthümer zurüdzuftelen. Aber täuſch 
Di nicht in der Perſon!“ 

„O, fürchtet Nichts, ich erfenne ven häßlichen Herrn Beftim 
wieder.” 

„DBerbirg diefes Gefchmeide immer forgfältig; man konnte D 
ed ftehlen, mein Kind, und das thäte mir leid, denn es iſt m 
immer, als ob Dir diefes Medaillon GTüd bringen, Dein Woh 
ergehen beförbern, kurz, "Dir von Nutzen fein könnte 1“ 


„O, ich will gewiß darauf Acht geben, Mutter, unb nid 
ſpielen.“ 

















° 





5 


„Wenn ber Herr in Paris freigebiger if, belohnt er Dich 
vielleicht, weil Du dieſes Geſchmeide aufbewahrt haft. Aber fordere 
nichts, mein Sohn, und erinnere Dich, daß man die Rechtfchaffen- 
beit nicht bezahlen muß.“ 

Ich Habe das Portrait vorfihtig in meine Jade geſteckt; wir 
haben unfer Bündel auf dem Rüden, unfere Mutter begleitet ung 
mit Jakob zu dem Berge, den wir hinunter müffen, um unfern 
Beg anzutreten. Dort drüdt fie uns zärtlich and Herz. 

„Andreas,“ fagt fie zu mir, „Du bift der Aeltefle, Du sit 
geſcheiter als Peter, wache über ihn, mein Junge, tröfte ihn, Hilf 
im, wenn es ihm herb geht. Verlaßt euch nicht, meine Kinder, 
fit befonders immer tugendhaft und rechtlich und erinnert euch 
ter Lehten eures Vaters.“ 

Wir verſprachen unſerer Mutter, ihren Rath nicht zu ver⸗ 
geſen und weder unehrlich noch faul zu ſein. Dann, nachdem wir 
ke uud unſern kleinen Bruder noch einmal geküßt haben, reißen 
wir und aus ihren Armen. 

Wie peinlich find die erften Schritte, die und von Denen ent- 
emen, die wir lieben! Bis hierher hatte ich Muth gehabt; aber 
mden ih den Weg antrete, fühle ich, daß er mich verläßt, und 
id bin nahe daran, wieder in die Arme meiner Mutter zurückzukehren. 

IH zwinge mich, meine Thränen zu unterbrüden, während 
Beter die feinen fließen läßt. Wir machen feine ſechs Schritte, ohne 
und umzudrehen, um meine Mutter und meinen Bruder noch ein: 
al zu fehen und ihnen ein Lebewohl zuzuwinken; man glaubt immer 
et ſei das letzte, aber man verzichtet nicht eher auf dad Zuruͤckblicken, 
als bis man die, welche man liebt, nicht mehr fehen kann. 

Wir find unten am Berge angefommen. Schon verliert fi 
zas Dach unferer Hütte in der Ferne. Jakob, Marie, ihr breitet 
noch die Arme nad und aus! Aber es ift vorbei, wir koͤnnen eure 
Vſchiedswinke nicht mehr unterfcheiden. Ach, jetzt kann ich meinen 
ibränen den Lauf laffen ; meine Mutter fieht ſie nicht mehr. 


_ 89. 
Fünfte Rapitel. 


Die lleinen Savoyarden. — Schreden und Freude. 

Peter und ich laufen ſchon feit einer Stunde und haben noch 
fein Wort miteinander gewechfelt. Ich höre ihn nicht mehr weinen; 
aber er ftößt von Zeit zu Zeit einen Seufzer aus, den er mil den 
Worten endigt: „Jakob ift glüdlich, er darf daheim bleiben!“ 

Ich Habe auch aufgehört zu weinen und fange an mich um 
zufehen ; überall Berge und eine Landſchaft, wie fie unſere Hätte 
umgibt, und doch fcheint mir Alles ſchon ganz anders; es ifl mir, 
wie wenn ich fchon weit, weit von meiner Heimath entfernt wäre. 
Ich exblide ein Dorf; dort wollen wir fragen, ob man unfen 
Landsleute nicht gefehen hat; außerdem erinnere ich mich, wie 
bie erfte Stgbt heißt, in die wir und begeben müſſen; zuerſt nach 
Pont⸗de⸗Beauvoiſin und dann nach Lyon. O, ich habe ein guted 
Gedaͤchtniß, ich finde den Weg fchon. 

„Ich bin müde, Andreas," fagt Peter, ſtillſtehend. 

„Wir wollen und dort an den Weg feßen,“ erwidere ich, ihn 
zärtlich anblidend, denn ich erinnere mich der letzten Worte meiner 
Mutter; fie hat mir befohlen, über meinen Bruder zu wachen, ihn 
zu beſchützen und nicht zu verlaffen. Ich Bin flolz auf dad Be: 
trauen, welches fie in mich gefegt und die Weberlegenheit, die fie 
mir indgeheim über ihn zuerkannt hat. 

Bir laffen uns an dem Fuße eines Hügels nieder. 

„Sehen wir noch Lange?” fragt Peter, der immer noch feht 
betruͤbt ausſieht. 

„Ah, potz Tauſend, wir find nicht fo bald an Ort und Stelle.“ 

„Jakob ift glücklich: er darf daheim bleiben.“ 

„Bir werben Geld verdienen, um unjere Mutter zu unter 
flügen ; iſt Dir das nicht recht ?“ 

„Wie wollen wir Geld verdienen ?“ 

„Wir fegen die Schornfleine, wir machen Gommiffionen, wit 





BB. 


tanzen die Savoyarde, wir fingen das Lieb, welches und unfer 
Bater gelehrt Hat.“ 

Peter, der das Geſicht verzog, als ich vom Schornſteinfegen 
gefprochen hatte, fagt dann zu mir: 

” „Benn Dir's recht ift, Andreas, fo fege Du die Schornfteine 
und ich tanze.“ 

Ich betrachte meinen Bruder; feine blauen Augen waren vom 
Beinen aufgefchwollen, fein fonft fo lachendes, rundes, kirſch⸗ 
totbed Geſicht, welches mit feinen blonden, auf die Stirne her: 
anbäugenben Loden immer fo hübſch war, fah jetzt wie feine 
Augen vom Kummer ganz verändert aus, Ich falle ihm um den 
Hald und küſſe ihn zärtlich; dieſes beruhigt uns einigermaßen und 
Beier Befommt wieder Eßluſt. 

„Ich habe Hunger,“ fagt er zu mir. 

„Bir wollen eſſen, wir haben ja das Nöthige in unfern Säden.“ 

Peter ſtürt in dem feinigen und flößt einen Freudenſchrei aus; 
zufere gute Mutter hatte uns nebft unferem Brobe auch wife und 
Infel eingepackt. 

„Andreas, Andreas, Aepfel!“ jubelt er. Damit fängt er an 
ja een und zu fingen; die Aepfel haben meinen Bruder wieber 
afgebeitert. 

„Sag', Andreas, was werden wir denn in Paris fehen?“ 
hagt er, fich mit Aepfeln und Nüffen vollſtopfend. 

„D, viele Sachen, Du weißt wohl, was der Bater erzählt, 
er dort Alles gefehen habe.“ 

„Ach ja, Hanswurſte, nicht wahr? und Männer, die Kunſt⸗ 
Tide machen, die Faden und Nadeln efien, auf dem Kopfe laufen 
m fh auf einem Beine drehen.“ 

„D, noch viele andere Sachen: prächtige Straßen, weit größere 
därſer als das unferige, immerwährend rollende Chaifen, Buben, 
2 wenn in Höpital Markt if, Zauberlaternen, Kunftflüde, Sonne 
m Rond, die Einer auf dem Rüden trägt, den tanzenden Teufel, 


54 


eine Kae, die ihn am Ewanze zieht, eine Schlacht mit Pferden 
in einem breiternen Saus . 

„Wie, das Alles schen wir! ?* ſagt Peter, indem er ſich er⸗ 
hebt und Freudenſprünge macht. „Ach, wie werben wir und be⸗ 
Iuftigen! Sich’, ich werde ein Rab fchlagen,, .. nicht wahr, ich 
kann e8 gut, Andreas ?“ 

Mit diefen Worten macht mein Bruder Räder auf dem Rande 
des Weges; er denkt bereits nicht mehr an unfere Hütte. Ach, 
Beter wird glüdlich fein in Paris. 

Aber die Zeit vergeht, wir müffen unfern Weg wieder weiter 
fortfegen. Beter verzieht das Beficht; zum Rabfchlagen war er nicht 
müde, aber zum Gehen. Er folgt mir, übrigens immer ſchmollend. 

„Mein Bruder,” fage ich zu ihm, „Du weißt wohl, daß 
and unfere Mutter befohlen hat, nicht träge zu fein, und wenn 
wir und oft fo lange aufhalten, holen wir die Andern nicht mehr ein.” 

„sch bin mühe,“ 

„Borbin Haft Du ja getanzt.” 

„IH habe einen Schmerz an der Ferſe.“ 

„Das hat Dich nicht am Rapdfchlagen verhindert; wir müſſen 
hente Abend wenigftens eine Stabt erreichen, bamit wir über Nacht 
bleiben koͤnnen, fonft müßten wir unter freiem Himmel fchlafen.“ 

„Ah ta, ja!“ erwidert Peter. 

Und diefes fegt feine Beine wieber in Bewegung, benn «ei 
fürchtet fich vor dem Webernachten im Freien. Seht weiß ich eii 
Mittel, ihn vorwärts zu treiben. 

„Sag’, Andreas, wie wäre ed, wenn wir vom rechten Bes 
abfämen ? 

„D, das kann nicht fein; wir fragen immer, wo es nad 
Baris gehe.“ 

„Denn wir Dieben begegneten ?" 


„Du weißt wohl, daß unfere Mutter gefagt bat, man beſtehl 
bie Kinder nicht.“ 








55 


„Haben bie Diebe denn die Kinder gern ?“ 

„Rein, aber wenn man Flein ift, hat man kein Gelb.“ 

„Ad, wenn ich groß bin, will ich nie Geld haben, dann darf 
ih mich nicht vor den Dieben fürchten.“ 

„Womit wollen wir dann Aepfel und Brod Taufen?” 

„Ih ſchlage ein Rad, dann gibt man mir zu effen.“ 

„Und was ſchickſt Du dann unferer Mutter ?“ 

Peter macht große Augen und gibt feine Antwort : die Mepfel, 
3 Rab und die Diebe befchäftigen ihn vollftändig. 

„Bir find in dem Dorfe angelangt, welches ich von Ferne 
rblidte. IH frage, ob man eine Bande nach Paris und Lyon 
zehender Savoyarben hat durchkommen fehen. 

„sa, meine Kinder,” antwortet und eine gute Alte, „aber 
i find euch weit voraus, denn fle find ſchon mit Tagesanbruch 
vurh, und jet geht die Sonne bald unter.“ 

„Vorwärts!“ fage ich zu meinem Bruder, der fidh bereit vor 
mm Haus auf eine Bank gefeht hat und den Reft feiner Nüſſe 
ind Aepfel verzehrt. 

„Eſſen wir nicht zu Mittag?" + 
„Bir können unterwegs eſſen: wir müſſen unſere Freunde 
anholen.“ 

Es kommt Peter ſchwer an, ſich zum Aufſtehen zu entſchließen, 
ber als er mich fortgehen ſieht, folgt er mir. Ich habe mir den 
Bez, den wir nehmen follen, genau angeben laffen, denn ver Tag 
ingt an, fich zu neigen und wir könnten, wenn wir in den Bergen 
“ren, in einen Abgrund flürzen oder in eine Schlucht hinab: 
itichen. 

„Geh' doch nicht fo ſchnell,“ ruft Peter aus. „Warten bie 
Intern nicht auf ung ?“ 

„Nein, denn fie willen nicht, daß wir nachkommen.“ 

„Ih Bin fchon recht müde.“ 

„Wenn wir aber daheim den ganzen Tag herunifprangen umb 


- 


56 


ben Mont du Gorbeau auf den Händen berunterliefen, warf Du 
nie mübe,“ 

„Ad, ich Elettere lieber auf allen Bieren herum, als daß id 
fo laufe.“ 

„Du fehnft Dich alfo nicht, nach Paris zu kommen ?“ 

„O doch, aber Jakob ift daheim, er ift nicht müde und be: 
fommt heute Abend Suppe zu effen.“ 

Peter Rößt bei vem Gedanken an die Suppe einen tiefen Seufzer 
aus. Wir fehreiten immer vorwärts, aber der Tag geht unter und 
ich fehe das Dorf nicht, wohin wir müffen, um ein Nachtquartier 
zu finden. Mein Bruder, der immer hinter mir brein Tief, nähert 
fih mir, ſobald es Nacht wird. 

„Höre, Andreas, es ift dunkel.“ 

„Run, das hindert Einen nicht am Laufen, es ift ja Mond: 
fchein, wir fehen den Weg fchon.“ 

„Sind wir nicht bald an Ort und Stelle ?“ 

Ich weiß nicht.“ 

„Wollen wir fpringen, Bruder ?“ 

„Rein, nein, die Mutter bat und verboten, zu fpringen: das 
wäre uns fchänlih. Außerdem biſt Du müde.” 

„Rein, ich bin nicht mehr mühe.“ 

„So Tomm’, wir wollen fehneller gehen.” 

Beter verboppelt feine Schritte. Glücklicher Weiſe beleuchte 
des aufgehende Mond unſere Berge und geſtattet uns, ohne Ge: 
fahr unſern Weg zu verfolgen. Indeſſen hat dieſe Helle etwas zuı 
Traurigkeit Stimmendes. Die Gegenflände, welche wir erbliden, 
feinen nicht mehr diefelben : fie verändern im Schatten ihre Ge 
ſtalt. Oft fieht ein Felſenblock, ein einfacher Stein von ferne ab: 
ſchreckend aus. Mein Bruder blickt nur noch mit Furcht um ſich 
er fchmiegt ſich Dicht an mich, nimmt mich feft beim Arme un: 
führt mich: fo gehen wir ziemlich Tange ſchweigend vorwärts ; 
Geraͤuſch unferer mit Bifen befchlagenen Schuhe ſtoͤrt allein ” 


57 
Stille und Ruhe unferer Berge, deren Bewohner bereits tm 
Schlafe liegen. 

Peters Eifer laͤßt nach, er fängt an ven Muth zu verlieren 
and wir gehen nicht mehr fo fchnell. 

„Sind wir noch nicht bald an Drt und Stelle, Anpreas ?“ 
Kagt er mich Halblaut, als ob ex ſich fürdhtete, rechts ober links 
aehört zu werden. Ich bemerke an dem Ton feiner Stimme, daß 
er nahe daran ifl, zu weinen, und Bemühe mich, ihn zu tröften. 

„Ei, Beier, made Dir Feine Sorgen ; wir eſſen recht gut zu 
VJacht, wenn wir angekommen ſind.“ 

„AB, ich Habe Feine Aepfel und Feine Nüſſe mehr!” 

„Man fchenft und etwas; Du weißt, daß unfere Mutter ge: 
hat hat, die Kinder, welche nach Paris gehen, befommen unter: 
regs oft Etwas.“ 

„Man gibt und vielleicht Speck?“ 

„Bern man und gibt, dann tanzen wir.“ 

„Ah ja! Sped ift gut. Ißt man welchen in Paris ?“ 

„Sicher, da man dort viel Geld verdient. Es gibt dort Leute, 
“Einem für ein Lied einen Sou geben!“ 

„Einen Sou? Das ift viel Gelb.” | 

Komm’, wir wollen fingen, wie fpäter in Paris.“ 

„Rein, ich will nicht fingen, ich möchte ſchlafen.“ 

„Bir fchlafen, wenn wir angelommen find.” 

„Ih fehe Keine Häufer !“ 

„Mach’ doch, Peter, ich muß Dich wahrhaftig fchlerren . . 
uf! 

„Wenn und Diebe überfielen?“ 

„Du biſt ein Feigling; Du zitterft immer ; wenn Du in Bars 
2, lacht Did Jedermann aus!” 

„Andreas, gibt's nicht Leute, die Kinder freffen ?“ 

„Rein doch! das fagt man nur im Spaße; Du weißt wohl, 
F ter Bater den Jalob auslachte, wenn er das fagte. Außerdem 


3 


würbe ich. Dich ſchon vertheidigen, wenn man Dir Etwas zu leid 
thun wollte: ich würde ordentlich um mich hauen, glaub’ eö mir!“ 

Mit vieler Mühe beruhigt ſich Beter ein wenig; wir ſetzen 
unfern Weg fort, aber mit einem Male bleibt er fliehen, nimmt mid) 
am Arme und fagt mit zitternder Stimme: „Ad, Bruder, ſiehſt 
Du dort...” 

Er deutete rechts vom Wege in einer Entfernung von etwa 
breißig Schritten von uns auf Etwas, und ich fehe einen Schatten 
in der Größe eined Menfchen an dem Wege, wo wir vorüber müflen, 
fih Hin und her beivegen; zu gleicher Zeit vernehme ich ein dumpfes 
eintöniges Geraͤuſch, welches ſich jedesmal wiederholt, fo oft fih 
ber Schatten verlängert und ausdehnt. Obgleich ich nicht aͤngſtlich 
bin, wurbe mir’d doch bang um's Herz, und mein Athem flodie; 
ich mache e8 wie Beter: ich ſtehe fill und Hefte meine Blide um 
verwanbt auf den Gegenfland, dem ich mich zu nähern fürchte. 

„Ad, Bruder, was ift dad?“ fragt Peter, ber beinahe nicht 
mehr die Kraft hat, ein Wort hervorzubringen. 

„Meiner Ten! ich weiß nicht.” 
„Siehſt Du, wie es ſich bewegt, wie groß es if; gr > 
ben Lärm, ben ed macht ?“ | 

„sa; aber wir müflen doch daran vorbeigehen.“ 

„D nein, Andreas, nein, ich bitte Dich, ich fürchte mid zu 
fehr, laß und fliehen.“ | 

„Bas fällt Dir ein, Peter! Zittere nicht fo. Fliehen? Rein, 
der Vater hat gefagt, pas ſei eine Schande. Der Mann dort will 
uñs erfchreden, aber ich fürchte mich nicht . .. . komm'!“ 

„Rein, nein, Andreas, ich wage es nicht iu 

Beter fällt auf die Kuiee nieder; er will mich zurüdhalten 
und zieht mich an der Jade. Ich reife mich los und er bedeckt va6 
Geſicht mit feinen Händen; ich nähere mich flolz dem Gegenſtand, 
der und eine folche Furcht einjagt, und fhreie laut, um meinen 
Muth anzufeuern: „Rein, wein, ich füͤrchte mich nicht !“ 





x 


Ich trete endlich anf den Gegenſtand zu, und in diefem Augen⸗ 
blide näherte fich der bewegliche Schatten auch mir und fchien mir 
ben Weg vertreten zu wollen. Ich Hatte noch nicht gewagt, ihn 
genau anzufehen, um mich zu überzeugen, was es fei; aber wie 
groß iſt mein Erſtaunen, als ich mich bei genauer Betrachtung 
sor einer an einen Ballen befeftigten Barriöre befinde, die hier 
angebracht iſt, um die Reiſenden vor dem Fall in ein tiefes Loch 
iu ſchuͤzen, welches beinahe am Wege ift! Diefe Barriöre, bie 
fh in der Mitte öffnete, follte mit einer Kette ober einem Haͤng⸗ 
ſchloß verfchloffen fein; aber feit Langer Zeit war eine Hälfte ber: 
jelben zerbrochen, und man hatte es vernadhläffigt, fle wieder her⸗ 
rihten zu laffen, und das, was noch mit eifernen Angeln an dem 
Boten hing, drehte fih, vom Winde getrieben, hin und ber, und 
seurfachte den einförmigen Ton, den dad immerwährende Reiben 
der Schrauben, die in ben Angeln Trachten, hervorbrachte. 

Sobald ich mich überzeugt habe, was es ift, lache ich über 
meine Furcht, klettere, entzüdt, viefelbe überwunden zu haben, auf 
He Barriere hinauf, ſetze mich rittlings darauf und laſſe mich von 
Hr im Binde hin und her fchaufeln. 

Beter, der, das Geſicht mit den Händen bedeckend, auf bem 
Boden Liegen geblieben war, Hört mich ein Freubengefchrei aus⸗ 
Inßen umb einmal über dad andere rufen: „He, zu Pferd! Adh, 
ie hübſch! Komm’ doch, Peter! Ach, wie Herrlich: es bewegt fich 
en felber!“ 

Beter weiß weder, was das heißen, noch ob er ed wagen foll, 
ir nachzugehen. Inbeffen rufe ich ihm öfters, er Hört mich lachen, 
»8 verfcheucht feine Furcht. Endlich nähert er ſich mir, und ſobald 
mich Hat auf der Barriere ſchaukeln fehen, fleigt er ohne Weiteres 
sch Himanf und ſetzt ſich hinter mich. Dann bringen wir biefelbe 
‚ever in Bewegung und laffen und nach Herzensluft an bem Pfoften 
n und her wiegen. Wit achten nicht darauf, daß der Balken dicht 
_ einem Abgrunde ſteht, daß wir durch ein allzu flarfes Schaufeln 


60 
das Gleichgewicht verfteren, und, wenn bie Barridre an ben Rand 
zurädtommt, mehr als dreißig Buß Hinabflürzen und und Arme 
und Beine an ben Felſen zerfchellen koͤnnten; wir fehen Teine Ge— 
fahr mehr vor Augen, und was und wenige Augenblide zuvor fc 
fehr in Schrecken geſetzt hatte, ift jeßt eine Duelle des Bergmügen? 
für und geworden. 

Da Alles ein Ende haben muß, fleige ich, nachdem ich hrei 
Piertelftunden auf biefer neumobifchen Schaufel zugebracht Halte, 
herunter, und fage zu Peter: „Wir müflen uns wieder auf ten 
Weg machen, Bruder.” | 

„Ad, noch ein Bischen, das ift fo unterhaltend!” 

„Und wo fchlafen? wo zu Nacht effen?“ 

„O, ich habe feinen Hunger und feinen Schlaf mehr! Ich 
bitte, fchaufle mich noch mehr, Andreas!” 

„Rein, ed iſt genug, wir müffen in's Dorf!” | 

Es koſtet mich Mühe, Peter von ber Barriere herunter zu 
bringen; er gibt enblich nach mit den Worten: „Ad, wie ſchade 
ed war fo luſtig!“ . 

Bir fehen unfern Weg wieder fort, diesmal aber mit Lacke: 
und Singen: der Schreden iſt gewichen. Das Spiel hat uns allı 
durch den Mondfchein erzeugte Viflonen aus dem Kopfe gejagt 
und wenn wir jeßt Etwas in der Entfernung fehen, welches fid 
zu bewegen fcheint, ruft Peter mit einem Freubenfprung aus: „Ad 
weun ed wieder eine Schaufel wäre!” Wie wenig braucht es doc 
um und die Gegenflände in einem andern Lichte zu zeigen! | 

Wir kommen in dem Flecken an, den man und bezeichnet hai 
und diesmal hat uns der Weg nicht lange gefchienen. Aber es i 
ohne Zweifel fpät, denn ich fehe Fein Licht mehr in ben Häufe 
„Siehft Du,” fage ich zu Peter, „wir find zu lange auf ver Barriei 
geritten. Ich weiß nicht, wo ich anflopfen fol, um Herberge un 
ein Nachteſſen zu begehrten.“ 

„Man Hopft an irgend ein Haus.“ 








61 


„Ja, aber man beherbergt nicht in allen Häufern.” 

„Vah, wir fingen Etwas, oder Du fegfl einen Kamin!“ 

„Beet man Nachts auch die Kamine? Die gute Frau von 
date Morgen hat gefagt, wir ſollen in das Gaſthaus gehen, dort 
behalte man die Savoyarden für zwei Sons in einer fhönen Scheune 
über Naht, und gebe noch ein Stück Käfe dazu.” 

„So wollen wir hingehen.“ 

„Dei wem ſoll ich mich aber erkundigen, wo es iſt? Doch komm' 

Peter, man fagt, es fei ein großes Haus; laß und ein ſolches und 
mar ein fchönes ſuchen.“ 
. Rum gehen wir buch den Flecken, der ziemlich groß ift, und 
ictrachten alle Häufer im Monbfchein. Ich fehe eines, welches mir 
öner vorfommt ald alle übrigen, und ich fage zu Beter: „Das 
A obme Zweifel der Gaſthof; wir wollen anflopfen.“ 

Bir Flopfen mit unfern Füßen und unfern Fäuſten an bie 
Nuötbüre. Alsbald hören wir dad Gebell eines Hundes, welcher 
der Thüre herrennt, an die wir geflopft haben, und einen furdht- 
sren Laͤrm macht. Der erfchrodene Beter entfernt fih von dem 
nfe, dem er ſich nicht mehr nahen will; ich eile ihmnad, um 
'n zu beruhigen, aber das Bellen des Hundes hat die andern auf: 
met, und alle Hunde im ganzen Flecken fcheinen fich zuzurufen: 
wir und hinwenden, hören wir ein wüthendes Gefchrei. Peter 
tert, weil er glaubt, er Habe alle Doggen des Weilerd auf feinen 
rien; er will mit Gewalt ven Ort verlaffen. 

Komm’, Andreas,” fagt er zu mir, „laß ung gehen, in diefem 
zte gibt es nichts als Hunde; ich will Tieber auf der Straße 
et Nacht Bleiben.“ 

„Fürchte Dich doch nicht: diefe Hunde find bloß da, um bie 
infer zu bewachen ; fie thun uns nichts, wir find ja Feine Diebe! 
ezu denn bad Zittern? Warte, da ift noch ein ſchönes Haus, 
will ich auch anklopfen, aber etwas Ieifer, damit mich bie 
mde nicht Hören.“ | 

Saul de Rod. N. 5 


— 


62 


Ich poche leiſe an die Thuͤre; man gibt keine Antwort. Ich poche 
an einem fort, aber das Bellen der Hunde iſt Schuld, daß man mich 
nicht hört. Man macht übrigens in einem Nebenhanfe ein Fenſter 
auf ; dann gegenüber ein anderes; ich Höre Stimmen, und bald darauf 
wird folgendes Gefpräch von einem Fenſter zum andern angeknüpft: 

„Mein Gott, welchen Lärm machen die Hunde! Was haben 
fie venn heute Nacht, daß fle fo unruhig find?" . 

„Ad, Du bift es, Claudine; bift, Du auch aufgewacht ?* 

„Kann man bei folddem Tenfelslärm fchlafen ? Und Du? 
Hat Dich Dein Mann oder haben Dich die Hunde anfgewedt ?* 

„Mein Mann!... Warum nicht gar! Dem Fönnte man eine 
Kanone ind Ohr hießen, er würbe fich nicht rühren! Der if bei 
Nacht nie munter, Glaub’ mir, Hanne; wenn Du je heiratbefl, 
nimm feinen Gipfer zum Mann: es gibt nichts Schänblicheret. 
Siehft Du, das ift ein zu anſtrengendes Geſchäft. Michel if ein 
guter Mann, aber er lacht nur des Sonntags !“ 

„Ad, das ift recht Tangweilig ! Ich will mir einen Dachdeda 
ſuchen, die find liebenswürdiger.“ 

Waͤhrend des Geſpraͤches dieſer beiden Frauenzimmer hat der 
Laͤrm aufgehoͤrt. Ich will mich ihnen naͤhern, um fie anzureden, 
aber ſie haben ihre Fenſter ſchon wieder zugemacht. Ich kehre zu 
dem großen Haufe zurück und klopfe auf's Neue. Endlich öffne 
man ein Fenſter; ein altes, tief in einer wollenen Müge ſtecken⸗ 
des Geſicht zeigt ſich und fragt zornig: 

„Wer Eopft fo fpät bei dem Herrn Schultheißen an I“ 

„Bir, Madame.” 

„Ber ihr?“ 

„Andread und Peter.” 

„Was wollen Andreas und Beter ?“ 

„Bir find kleine Savoyarben ; Habt Ihr einen Kamin zu 
fogen ? Wollt Ihr aufmachen, dann fingen wir Euch um ein Stid⸗ 
hen Brod und Käfe ein Liedchen und tanzen dazu.” 





63 


„Da, die Heinen Schelmen,, die ungezogenen Jungen, welche 
Leute unferer Art aufwecken, um ihnen etwas vorzutanzen! Wenn 
ich euch morgen erwiſche, will ich Euch tanzen laffen! Ich euch 
Käfe geben! Ha, die Schlingel! Geſchwind, padt euch fort, daß 
ich nichts mehr von euch höre. Während der Nacht zu kommen, 
um beim Herrn Schultheißen den Kamin zu fegen !“ 

Die Alte wirft, Drohungen gegen und ausfloßend,, das Fenſter 
zu. Sch kehre traurig zu meinem Bruder zurüd, 

„Andreas,“ jagt er zu mir, „biefe Leute find recht böfe, fie 
wollen und nicht aufmachen. Warum aber nicht ? Wenn man Nachts 
an unferer Hütte Elopfte, machte unfer Vater immer auf; er theilte 
ſegar fein Nachtefſen mit, ohne daß man ihm den Kamin fegte 
oter ihm etwas dafür fang. Warum find denn dieſe Leute nicht 
wie unfer Bater " 

„Ah Gott! ich weiß es nicht.” 

„Sind fle in Paris auch fo ?“ 

„D nein, in Bari hat man bie Heinen Schornfteinfeger gerne, 
weil fie dort viele Kamine zu fegen haben.“ N 

Während ich mit meinem Bruber rede, fehe ich neben einem 
fleinen Häuschen von armfeligem Aeußern eine Art Stall, worin 
nehrere Bündel Stroh und Gartengeräthe liegen. Der Schoppen iſt 
ucht verſchloſſen und ich winke Peter, mir zu folgen. Er wagt es nicht. 
‚Es find vielleicht wieder Hunde darin,” fagt er, an ber Thüre 
üchen bleibent. Ich gehe allein hinein, feße mich auf’ Stroh, und 
ald Peter fich überzeugt, daß Feine Gefahr vorhanden ift, entfchließt 
rt fih endlich, auch hereinzufommen und läßt fich neben mir nieder, 

„O, da ift ed gut, Andreas.“ 

„Hier wollen wir die Nacht zubringen.” 

„Wenn man und aber morgen früh zankt.“ 

„Man zanft nicht; da die Thüre offen flieht, ift es erlaubt, 
hreinzugehen. Fürchte Dich nicht, Peter ; bier ruhen wir fo gut 
ale in ihren Käufern, und man hat nichts dagegen,“ 


64 


Beter faßt Muth ; überdies. ift er müde und ſchläfrig. Wie 
fönnte er dieſes Stroh verlaffen, auf dem wir fo weich rufen! 
Mein Bruder legt ſich neben mich Hin, ich fchlinge meinen Arm 
um ihn, um feine Nähe zu fühlen, mit der andern Hand bebede 
ih dad Medaillon, welches ich unter meiner Jade habe, damit 
man mir ed nicht nehmen Tann, denn ich bin flolz darauf, einen 
fo koſtbaren Gegenſtand an mir zu tragen. Auf diefe Weife beruhig- 
ter, mache ich es bald Peter nach und wir fchlafen tief ein. 





Sechstes Kapitel. 
Unfer erfier Verſuch. — Petert erfie Heldenthat. 


Als wir erwachten, fand die Sonne fchon hoch. Sch reibe 
mir die Augen aus und floße meinen Bruder. „Mein Gott,“ fagte 
ih, um mich herfchauend, bei mir ſelbſt, „es ift wielleicht ſchon 
fpät.” Gleich darauf fehe ich unter der Thüre des Schoppens, 
ber und ald Schlafgemadh gedient hatte, einen Fleinen Greis ſtehen, 
der uns lächelnd anblidt. 

„Nehmt es nicht übel, Herr, das Stroh, worauf wir ge: 
fhlafen haben, gehört vielleicht Euch, aber wir waren fo mühe. 
Beter, Peter! wach’ doch auf. Wir gehen auf der Stelle wieber 
weiter, Herr.” 

„Barum denn, meine Kinder,” entgegnet der Greis, „ruht 
aus, fo lange ed Euch gefällt, ihr genirt mich nicht. Ihr Hättet 
aber an eine Hütte Elopfen follen, dort würbet ihr wärmer und 
befjer gefchlafen haben.” 

„Ah, mein Herr, wir haben es nicht gewagt. Wir hatten 
fon irgendwo angeflopft, wo man und zurüdgewiefen und un 
gezogene Jungen gefchimpft Hat, weil wir um eine Nachtherberge 
und etwas Käfe zu unferem Brod gebeten hatten, und doch halten 
mein Bruder und ich ung angeboten, dafür zu tanzen und u fingen.“ 





65 


„Ihr armen Kleinen! Wo habt Ihr denn angeflopft ?“ 

„An dem fchönften Haufe im Orte.“ 

„Liebe Kinder, ihr hättet Euch an die Bewohner des Fleinften, 
beiheidenften Hauſes wenden follen, dort würdet ihr Aufnahme ge: 
finden haben. Merkt euch meinen Rath: wenn ihr ein anderes 
Mal um Gaſtfreundſchaft anfprecht, fo Hopft an die Hütten, nicht 
an bie großen Häufer.“ 

Peter fchlägt endlich die Augen auf. Es koſtet mich Mühe, 
iin von unferem Nachtlager aufzubringen. Er ruft Jakob und unfere 
Butter, er glaubt ſich noch daheim und verlangt zu frühftüden ; 
ich rüttle und fchüttle ihn. „Peter, wach’ duch ganz auf; wir find 
acht mehr zu Haufe, wir gehen nach Paris.“ 

„Er fieht mich, die Augen ausreibend, an und flößt einen 
tiefen Seufzer aus. Belommen wir denn nichts zu frühftüden, 
Andreas ?* fragt er. 

„Doch, meine Kinder,“ antwortet der gute Greis; „Ihr dürft 
mit mir frühftücen und euch nicht eher auf den Weg machen, als 
bie ihr euch auf längere Zeit geftärft habt.“ 

Diefe Worte erwecken Peter vollends; wir folgen wohlgemuth 
m guten Manne, der und in fein Feines Häuschen hineinführt. 
Tort fehen wir Mil, Eier, Käfe und Weißbrod auf einem Tifche 
ichen. Peter und ich blicken und gegenfeitig Tachend an. Welch’ 
fies Erwachen! Wie wollen wir es und ſchmecken laffen ! 

Der Greis Heißt und an den Tifch fügen. „Eſſet,“ jagt er 
uns, „färkt euch, meine Kinder. Es ift noch weit von hier 
ıch Paris; aber in eurem Alter Iegt man den Weg fpielend und 
ingend zurück.“ 

Wir laſſen und die Einladung unſeres Wirthes nicht wieder— 
dolen, machen und gierig über das vor und aufgeftellte Frühſtück 
eet, und hören erft zu eſſen auf, als wir und den Magen voll: 
zefülft haben. _ 

„Ach, wie gut ſchmeckt Brod und Mil zufammen,“ jagt 





66 


Beier, der ed bebauert, daß er nicht noch mehr efien Tann. Ih 
bevanfe mich bei dem Greifen, welcher und ven Reft des Frühſtücks 
in unfere Säde padt und felbft bis zu dem Wege geleitet, den 
wir einfchlagen follen, und und, ehe wir uns von ihm trennen, 
zärtlich kuͤßt. 

Sp treten wir alfo aufs Neue unfern Weg an, aber das Früh: 
ſtück, welches wir eingenommen haben, hat unfere Phantafie auf: 
geheitert ; wir fehen Alles in rofigem Lichte. Welchen Einfluß hat 
ber Magen auf das Gemüth! Wie viel Tiebenswürbiger, menfd; 
licher, freigebiger, gejellfchaftlicher ift mar nach Tiſch, und wie 
wohlwollend, dienftfertig und freundfchaftlich müffen die Menschen 
in diefem Jahrhundert gegen einander fein, wo man fo gut fpeist 
und der Fönigliche Koch feine vierzehnte Auflage erlebt Hat. 

Mir halten und bloß auf, um unfere Vorräthe zu verzehren 
und langen gegen Abend ohne Unfall in einem Dorfe an, welches 
und der gute Greis Morgens bezeichnete, indem er ſagte, wir follen 
dort mur nach Joſeph fragen, der uns über Nacht behalten werde, 
Wir werden in ber That auf feine Empfehlung hin freundlich auf 
genommen und in einer Scheune beherbergt ; aber ich erfahre, vui 
bie Gefellfchaft Fleiner Suvoyarden ſchon am Vorabend durch va: 
Dorf gekommen ift und fich dafelbft nicht aufgehalten Hat. Jede 
Augenblid entfernt und mehr von Denen, welche wir inet 
wollen. Was beginnen ? Peter will nicht fchneller gehen, vor Tages 
anbruch Täßt er fich nicht erweden und die Andern warten nidı 
auf und. „Meiner Treu, wir müffen den Weg allein machen, 
denfe ich, indem ich mich neben meinen Bruder nieberlege ; „wi 
find groß genug, allein zu reifen, und wenn wir Häufig nach ver 
Wege fragen, fo werben wir wohl diefes Paris finden, das Zerei 
mann kennt.“ 

Am folgenden Tage braucht es dieſelben Förmlichkeiten, ui 
Peter zum Weitergehen zu bewegen. Wenn ich ven Zungen made 
"ieße, würde er den ganzen Tag fchlafen. Wir befommen kein { 





67 


gutes Frühflüd wie Tags zuvor, aber man gibt und noch Brod 
auf ben Weg, und ich muß Peter floßen, daß er fh bei unfern 
Wirthen bedankt, welches er ziemlich mißmuthig thut, indem er 
nah einem auf einem Brette ftehenden Kaͤſe ſchielt, von dem man 
und nichts gegeben Hatte. 

„Peter,“ fage ich unterwegs zu ihm, „wenn Du nicht höf: 
licher Bift, fo gibt man und ein andered Mal gar nichts mehr.“ 

„Barum haben fie und nichts von dem großen gelben Käfe 
gegeben, der fo gut roch ?” i 

„Es war noch gefällig genug, und Brod zu geben, denn wir 
haben nichts Bei diefen Leuten gethan, weder den Kamin gefegt 
noch gefungen ; Du willfi Alles, ohne etwas dafür zu leiſten!“ 

Herr Beter gibt feine Antwort, er ſchmollt und iſt auf dem 
ganzen Weg übler Laune. Alle Augenblide fteht er fill und Hagt 
uber feine Ferſe; dies Alles jedoch nur, weil er nicht mit feinem 
Srahftnc zufrieden ift. 

Gegen Abend fehen wir die Stadt Pont⸗de⸗Beauvoiſin vor 
Augen. „Sieh',“ fage ich zu Peter, „wir haben ſchon viel Weg 
gemacht! ... Das ift eine große Stabi.“ 

„Sind wie in Paris?“ 

„O nein, aber wir nähern und allmählig!... O, bier gibt 
es ſchöne Häufer und große Kamine. Borwärts, mein Bruber, 
bier müffen wir unfer erſtes Geld verdienen, mach’ nur ben Faul: 
Imzer nicht.“ 

Beter rollt die Augen umher mit einer Miene, bie mir an: 
tentet, daß er Feine große Luft Hat, mir zu gehorchen, und waͤh⸗ 
ıend ich beim Eintritt in die Stadt vor Freuden in die Höhe ſpringe 
und aus Leibeöfräften fchreie: „Schornfleinfeger! braucht man 
Echornfleinfeger !“ ſehe ich, daß mein Bruder die Zunge heraus: 
fredt und gegen die Leute, die an ihr Fenſter treten, Befichter 
ſchueidet. 

„Peter, willſt Du aufhören!” 


„Bas denn, ich. thue ja nichts.“ 

„Ich fehe wohl, daß Du die Leute ausfpotteft und Fragen ſchaeiben 
es iſt ſchon gut, man wird uns weder Herberge noch zu Nacht zu eſſen 
geben, und uns als Taugenichtſe zur Stadt hinausjagen.“ 

Peter wird ruhiger, ich fange wieder an zu ſchreien: „Schorn⸗ 
ſteinfeger!“ In dieſem Augenblicke beſinden wir uns vor dem Laden 
eines Paſtetenbäckers und Speiſewirths. 

Der Cigenthümer athmete, fein Pfeifchen rauchend, vor der 
‚Hausthüre bie friſche Abendluft ein. Er blickt und laächelnd an. 
„Ah, ach, das find Kinder, die wahrfcheinfich nach Paris gehen!“ 

„Ja, mein Herr, habt Ihr Schornfleine zu reinigen ? 

„Bohlen, ich will eure Kunft erproben. Tretet ein, meine 
Kinder. Margarethe, Margarethe! führe fie in die Küche und in 
bie Stube im erften Stod; dann kann Jeder einen Schornflein fegen.“ 

Der Baftetenbäder hat und in fein Haus geführt. Peter fchielt 
nach den Paſtetchen, die er in der Wirthöftube ſieht. Ein junges 
Mädchen kommt und fragt den Herrn Bonlette, fo Heißt der Bas 
fletenbäder, was fie mit uns anfangen folle. Ex wiederholt feinen 
Befehl, uns die Kamine zu zeigen und geht wieder unter bie 
Saudthüre, um fein Pfeifchen zu rauchen. 

„So kommt, ihr Kleinen,” fagt die junge Magb zu uns; 
„folget mir und machet feinen fo argen Staub.” 

Es koſtet mi Mühe, Peter vom Plage zu bringen, der in: 
mitten ber Paſtetchen wie angenagelt fcheint. Sch nötbige ihn, 
voraußzugehen ; wir kommen in bie Küche. „Hier fege Du dieſen,“ 
fagt die Magb zu mir, „Du biſt größer und hier iſt auch mehr 
zu thun. Du, Kleiner, kannſt den andern fegen.“ 

Das junge Mädchen winkt Peter, ver nicht von der Stelle 
geht und in allen Eden der Küche herumficht, ob ihm nicht noch 
ein Leckerbiſſen ind Auge falle. 


u Geh’ doch mit der Jungfer,“ fage ich zu Peter, ibm vor: 
wärts floßend. ' ’ 


69 


„Kann Du nicht fegen ?“ fragt die Magd. 

„Do, doch, Jungfer, da er aber ein wenig Hein ift, will 
ich mit Cuch gehen, um ihm Kinaufflettern zu helfen.” 

„D, der Kindskopf! ich Habe ſchon viel Fleinere, wie er ift, 
fittern fehen wie Katzen!“ 

Ich nehme meinen Bruder beim Arme ; er folgt mir, ohne 
ven Mund zu öffnen. Wir langen in Herrn Boulette’s Zimmer an, 
und die Magd zeigt ihm den Kamin. Peter wird bis über die 
Ohren roth; ich fehe, daß er nahe daran ift, zu weinen. . 

„Borwärts, Peter, zieh’ Deine Schuhe aus, lege dort Deinen 
Sad hin, ſtecke Dein Krageifen in den Gürtel und fteige da hinauf; ° 
ver Kamin ift nicht ſehr Hoch.“ 

„Ich mag nicht!“ entgegnet mir Peter, das Geſicht mit den 
Öänden bedeckend. 

„Wie, Du magſt nicht? Was willſt Du dann in Paris 
nachen? Auf welche Weiſe willſt Du Geld verdienen? Wie ab: 
ibenlich, ſo faul zu Fein! Denkſt Du nicht an unſere arme Mutter? 
Rh’, Beier, wenn Du hinaufkletterſt, bekommſt Du eines von 
a Heinen Baftetchen, die Du vorhin gefehen haft, zum Nachteſſen.“ 

Diefed letzte Verſprechen fcheint am meiften auf ihn einzu: 
zirien, Beier geht etwas ſchwankend vorwärts; ich kniee nieder, 
in ihm beim Hinauffteigen zu helfen. Er zögert... er flieht ftill, 
36 rufe ihm noch etwas von Pafteten und Kuchen in die Ohren; 
x entfchließt ſich, Elettert auf mich und in den Kamin hinauf. 
‚deze tüchtig,“ fage ich zu ihm, „fürchte Dich nicht und fleige 
aa dis oben Hinauf und finge das Liebehen dazu.” _ 

Nachdem ich ihm Muth eingefprochen habe, folge ich der Magd, 
relche über die Aengftlichkeit meines Bruders lacht ; ich gehe wieder 
r die Küche Hinab, und fege, hoch erfreut, enblich Peters Wiber- 
nem beflegt zu haben, ven Kamin. Während ich aber nach beften 
häften arbeite, bin ich weit entfernt, die Folgen zu vermuthen, 
elche die erſte Leiftung meines Bruders nach fich ziehen wird. 


70 


Peter iſt, lange unentfchieden, ob er vor: oder rückwärts ſoll, 
auf derfelben Stelle fiehen geblieben. Furcht und Hunger flreiten fid 
in ihm ; endlich trägt der Hunger den Sieg davon, und Peter fleigt, 
ſich mit allen Vieren auf die Borwand des Kamins flügend, hinauf. 

In einer gewifen Höhe angekommen, fühlt er eine große 
Spalte und vermuthet, es fei ein Kaminfenſter; er ſchlüpft mit 
dem Kopf und dann mit den Beinen hindurch, fucht Helle und ſieht 
fie bloß in weiter Entfernung unter ſich; er verfucht es, fein 
Liedchen zu fingen, aber der Ruß, den er ſchluckt und einathmel, 
macht feine Stimme fo heifer, daß man ihn faft nicht hört. Et 
zieht fein Kraßeifen heraus und merkt nicht, daß er in einen andern 
Schornſtein hineingefommen ift, und flatt den des Herrn Bonlette 
einen im Nachbarhaufe fegt. 

Peter fühlt fich bald ermüdet. Er ruft mir; da er Feine Ant: 
wort erhält, befürchtet er, ich effe ohne ihn zu Nacht und will 
ſchnell herunter fleigen. Aber etwa ſechs Fuß von der Effe entfernt, 
glitfcht er mit dem Fuße aus und fällt mit einem fürchterlichen 
Gefchrei auf den Kamin hinab, 

Der Kamin, in den fi mein Bruder aus Verſehen verit 
hatte, war ver des Schlafzimmers der Fräulein Caͤſarine Ducroguet, 
einer volljährigen Jungfrau, die bis in ihr zweiundvierzigſtes Jahr 
eine Tugend aufrecht erhalten, welche ſelbſt die Huldigungen ber 
verführerifchften Männer des Departements der Iſoͤre nicht zu er: 
fohüttern vermocht hatten ; Dagegen machte fich Fräulein Ducroquet 
ein Bergnügen daraus, andere Frauenzimmer, deren Sitten ih 
nicht rein genug ſchienen, zu befritteln. Aus Hochmuth ſproͤde, 
aus Neigung bösartig, aus Inftinkt eitel, aus Schwachheit Fleinlid, 
von Charakter ſchwatzhaft, brachte Fräulein Eäfarine ihr Leben mit 
Kartenſchlagen, Boftonfpielen, Hadern, Raifonniren und Hin: und 
Herklatfchen zu. Zweitaufend Franken Renten baares Geld geſtat⸗ 


teten der alten Sungfer den Zutritt in die bedeutendſten Häufer 
bed Ortes, 





71 


Eine zweiundvierzigjährige Tugend wird übrigens bisweilen 
eine Laſt, deren Gewicht man ablegen moͤchte. Die Thorheit hat 
ihte Zeit, die Vernunft aber auch. Wenn man mit der Vernunft 
on Anfang macht, fo hört man gar häufig mit der Thorheit auf. 
Seit einiger Zeit war Fräulein Cäfarine Ducroquet nicht mehr 
tiefelbe ; fie hatte Mervenleiven, Ohnmachten, Herzklopfen ; ihre 
Augen wurden thränenfeucht, wenn fle die Liebfchaften „Huons von 
Bordeaur” und der „Dame der fehönen Eoufinen“ las; fie hatte in 
ihtem Innern mit „Clodia“ gefeufzt und mit „Eleonore von Roſalba“ 
gebebt. Vergebens verficherte fie ihre alte Magd, fie Iefe Nachts 
ju lang, daß fei allein an ihren feuchten Augen ſchuld. Fräulein 
Tucroquet wußte eine andere Urfache ihrer Aufregung. Seit meh: 
sen Tagen fah fie in ihren Karten einen ſchönen Blondkopf ihr auf 
Ien Schritten folgen, er lag immer neben ihr; ebenfo das Schip- 
en: A. Wer war biefer Blondkopf? Kündigte ihr das Schickſal 
z ven Päckchen einen Gatten an? Fräulein Cäſarine Eonnte diefe 
Seranfen nicht aus ihrer aufgereizten Phantaſie bringen ; fie ſuchte 
Uenthalben ven hübſchen Blondkopf. Sie feufzte, wurde ungebulbig; 
‘re Stunde war gefommen ; mit zweiundvierzig Jahren hat der 
herzſchlag nicht mehr jenen Wohlklang, jene Zartheit, die Einen 
anft von Wolluft träumen läßt; er gleicht einer hell Täutenden 
Siode, die Einen betäubt und außer fich bringt. 

dräulein Bäfarine Ducroquet, welche die Veränderung, die mit 
‚br vorgegangen war, nicht in ber Stadt befannt machen wollte, 
ing weit weniger in Geſellſchaft und begrub fich in ihre Karten und 
Rıtter- oder Gefpenfter- Romane. Diefe neue Lebensweife hatte ihre 
vdeſundheit fo fehr angegriffen, daß fie bald einen Arzt zu Rathe 
ben mußte. Ein neuer Schüler Aesculaps hatte fich feit Kurzem 
a der Stadt niedergelaffen ; man pries feine Geſchicklichkeit fehr. 
Käulein Ducroguet Fannte ihn bloß dem Rufe nach, fie lieg ihn zu 
id Bitten, und Herr Sapiens folgte, erfreut, eine neue Kundſchaft 
m erhalten, eiligft ihrer Aufforberung. 


72 


Beim Anblid des Doktord empfand Fräulein Ducroquet ein 
unmwilffürliches Beben, denn fle fand, daß derſelbe auf eine über: 
rafchende Weife dem Carreau : Buben gleiche, welcher fie unaufhoͤrlich 
in ben Karten verfolgte. Herr Sapiens Hatte in ber That, ohne 
gerabe blond zu fein, etwas von Hektors Farbe; feine Augen waren 
lebhaft und fchelmifch ; er hinkte ein wenig, was eben nicht fehr 
ritterlich ift, aber er ſchleppte das Bein auf fo verführerifche Weiſe 
bintendrein, daß es ihn noch interefjanter machte ; außerdem hatte et 
eine Fräftige Wade; man konnte dies genau unterfcheiden, denn er 
trug nie Stiefel; endlich fchien der Doktor, obgleich er ſchon fünfzig 
Jahre alt war, erft achtundvierzig zu fein. 

Herr Sapiens hatte feine Jugend in der Haupytſtadt verlebt; 
etwas ſpät bemerkend, daß es ihm trotz ſeiner Talente ſchwer gelingen 
würde, daſelbſt ſein Glück zu machen, entſchloß er ſich, ſich in der 
Provinz niederzulaſſen. Als gewandter Mann hatte er Crkundigungen 
über Fräulein Ducroquet eingezogen, ehe er ſich zu ihr begab. ° Ein 
heirathöfähiges Fräulein mit zweitaufend Franken Renten war für 
einen Doktor, welcher in feinem fünfzigften Jahre noch nichts ald 
Verſchleimungs⸗ und Schnupfenkranfheiten geheilt hatte, Feine zu 
verachtende Parthie. Herr Sapiens fuchte deßhalb feiner Phyflogaomie 
den angenehmften Ausdruck zu geben, als er fich bei Fräulein Du- 
croquet vorftellte. Es Eoftete ihn nicht viel, ihr zu gefallen ; feine 
Achnlichkeit mit dem Carreau-Buben fprach fehr beredt zu feinen 
Gunſten. Die erften Befuche waren kurz, bald verlängerte fie der 
Doktor aber ; er fuchte gefchickt die Moral der alten Jungfrau zu er: 
forschen, und als er ihren Gefchmad an dem Wunderbaren, ihren 
Glauben am Kartenfchlagen, ihr Wohlgefallen an ven Ritterromanen 
bemerkt hatte, fchmeichelte er ihren Ideen auf's Liebenswärbigfle ; er 
lieh ihrdie „Liebfchaften Bayards“ und die Haimonskinder“. Während 
er ein Rezept verfchrieb oder eine nieberfchlagende Medizin verorbnete, 
wagte er einen glühenden Blick, den man mit einem zärtlichen Seufjet 
beantwortete, welchen man ben Herzbeflemmungen zufchrieb. 





73 


Rach Berlauf einiger Wochen war die intereffante Kranke, Dank 
der Sorgfalt des lieben Doktor, wieber hergeftellt. Sie Hagte nur 
noch über Herzklopfen, da3 die Gegenwart des Herrn Sapiend bloß 
vermehrte. Diefer, welcher eine Eroberung, die ihm in jeder Hinficht 
aenehm war, nicht hinausfchieben wollte, hatte bereit einige Worte 
von Liebe und Eheftand fallen laſſen, er zögerte indeffen noch mit 
einer entfchiebenen Erklärung, weil Fräulein Ducrgquet in Erinnerung 
deſſen, was fle Alles über die Männer und den Eheſtand geäußert 
hatte, nicht wußte, wie fle ihren Entfchluß ändern follte, ohne fi 
um Stabigefpräch zu machen. Indeſſen kam es fie mit jenem Tage 
iQwerer an, ben Liebesblicken des Herrn Sapiens und dem Pochen 
ibres Herzens zu widerſtehen. 

Am Morgen bed Tages, wo mein Bruder und ich in Pont⸗de⸗ 
deauvoiſin anlangten, hatte der Doktor feinen gewöhnlichen Beſuch 
Sri Bränlein Ducroquet gemacht. Immer liebenswürbig und galant, 
kalte er ver Geneſenden den „Rinaldo Rinalvini” und den „rafenden 
dLeland“ mitgebracht. Zur Belohnung hiefür hatte ihm Fräulein | 
Sälarine verfprochen, ihm Karten zu fchlagen und wahrzufagen. Da 
e Doktor aber den ganzen Tag feinen Augenblid frei hatte, fo war 
eingeladen worden, ohne Umflände ein Kleines Abendbrod mit zu 
rejebten, und er hatte ed unter ver Bebingung angenommen, daß 
aan ihm erlaube, eine Flaſche Barfait:Amour dazu mitzubringen. 

Fräulein Ducroquet befchäftigt fi den ganzen Tag mit ihrem 
Anzug und ihrem Abendeſſen; die alten Jungfern find Iecler und die 
“ete wiffen, was gut if. Man läuft von feinem Spiegel: in bie 
Epeifefammer, frifirt feine Locken und macht das Eis auf die Croͤme⸗ 
Säſſeln, ſetzt eine Haube auf und peitfcht Käfe, bindet ein Halstuch 
n und fieht nach den eingemachten Früchten. Die Zeit vergeht bei 
' füßen Beihäftigungen fchnell ; nur der alten Magd wird fie lang, 
zei ihre Gebieterin noch nie fo wunderlich beim Kochen und An: 
‚ hen geivefen. 

Um fünf Uhr ift endlich Miles fertig. Ein Tiſch iſt mit Back⸗ 


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wert, Früchten, Confeet und feinen Weinen überladen. Yräulein 
Gäfarine hat eine hellblau ausgeputzte Haube ‚aufgefegt, deren 
Bänder vortrefflich zu dem ſchmachtenden Ausdruck ihrer Augen paflen. 

Auf einem Sopha figend, erwartet fle, in dem „rafenden Roland“ 
leſend, den Doktor ; die Liebesgefchichte der ſchoͤnen Angelika verfeht 
fie in zärtliche Träumereien. Man läutet; fie bebt zufammen. IM 
Carls des Großen Neffe ? Nein, Herr Sapiens, der beim Anblid bed 
Abenvefjens und der Fräulein Cäſarine flarr vor Bewunderung fliehen 
bleibt und wechfelweife bald die blaue Haube, bald die Mafronen: 
teller zärtlich anblickt. 

Nach den gewoͤhnlichen Hoͤflichkeitsbezeigungen ſetzt man ſich 
zu Tiſche. Alles iſt meiſterhaft zubereitet, und Fräulein Ducroquet 
fpricht troß ihres Herzklopfens den Lederbiffen und dem Muscatwein 
häufig zu. Allein der Doktor ift zugegen und verfichert, es bringe ihr 
feinen Schaden. Wie foll man befonnen bleiben, wenn ber, welde 
unfere Gefundheit regiert, und felbft auffordert, ein Bischen über 
bie Schnur zu hauen und uns das Beifpiel dazu gibt! Wräulein 
Gäfarine Iegt fich Feinen Zwang auf; Herr Sapiens ift fo hinreißend, 
er fagt, Parfait-Amour einfchenkend, fo fchöne Dinge, daß bie 
zweiunbvierzigjährige Tugend erfchütiert und ſchwankend zu werden 
anfängt. Man hat übrigens dem Doktor verfprocden, ihm Karten zu 
Schlagen und darf dieſes nicht vergeffen. Man nimmt fein Karten: 
fpiel zur Hand, und während der Doktor Bisquit ift, fagt man ifm 
auf einer Ede des Tifches, obgleich es bereits dunkel wirb und man 
nicht mehr recht hell fieht, feine Zukunft voraus ; allein zum Pre: 
phezeihen wirb man Fein Licht brauchen. 

„Ag, Doktor! jetzt werde ich erfahren, was Sie benfen,“ 
fagt Fräulein Bäfarine, ihrem Gafte die Karten zum Abheben 
hinreichend. | 

„Das ift mein Wunfch, anbetungswürbiges Fräulein!“ ent: 
gegnei Herr Sapiens, ein zweited Glas Parfait⸗-Amour leerent. 

„Die Karten täufchen mich nie.“ 





75 


„Dann will ich fein. wie die Rarten.“ 

„heben Sie doch einmal ab.“ ' 

„So oft Sie befehlen.“ 

„Ah, Ihr Spiel ift recht hübſch!“ 

„Ich zeige mich, wie ich bin, liebenswürdige Cäfarine. Meine 
Gedanlen liegen Klar vorihnen. Die Liebe für Sie beherrfcht mich gang.” 

„Laffen Sie doch meine Kniee in Ruhe . . . drei Neuner ! 
vad bebeutet ein großes Süd!” 

„Ah, Sräulein Ducroquet, ed hängt bloß von Ihnen ab!“ 

„Heben Sie zum brittenmale ab. Sept find Sie herausge⸗ 
iommen, Doktor; ich nehme Sie für ven Garreau- Buben.“ 

„Nehmen Sie mich, wie ed Ihnen beliebt ; nur nehmen Sie 
mich, das iſt mein einziger Wunfch!“ 

„Sie liegen neben einer Brünette.” 

„Das find Sie, Fräulein Ducroquet.“ 

„Ste fühlen Neigung... Liebe für viefelbe.” 

„Leidenfchaftlih... ach, wie gut Sie Karten fchlagen können!“ 

„Da ift aber ein Schippen-Bube, der mich in Unruhe ver: 
jept ; ex tritt uns immer in den Weg.“ 

„Wir geben ihm eine gefunde Arznei, daß es ihm vergeht, 
ſüße Augen an Sie hin zu machen.“ 

„Der Kreuz⸗Zehner ... es iſt ein Liebhaber im Haufe .. 
Doktor, warum brüden Sie mir die Hand fo!” 

„Bleichwie Goͤrard von Neverd der fchönen Curiante ober, 
wenn Sie lieber wollen, der auf dem Schooße Omphalia’s fpin- 
aenbe Herkules der Dame feines Herzens zu Füßen flel, alſo werfe 
andy ich mich vor Ihnen auf die Kniee nieder.” 

„Doktor, was beginnen Sie... drei Zehner.... eine Verän- 
terung ... aber wir fehen nicht mehr hell genug ; ich will läuten.“ 

„Es iſt überflüffig, wir fehen fchon genug, um und zu ver: 
chen. Ich warte nur auf Ihren Befehl, um meine Liebe öffentlich 
in erklären.“ 


76 


„Diefer Schipgens Bube macht mir Sorgen.” 

„Diefer Schlingel verfolgt uns wie ein Hanfſamen⸗Fußbad!“ 

„Für Sie... für das Haus... was gejdhieht...“ 

„Gine Heirath . . . intereffante Gäfarine, ich ſchwoͤr's bei 
biefem Kuß!“ 

„Ah, Doktor, was beginnen Sie?... bad Schippen:A... 
für Ihre Gedanken... Doktor!” ' 

„Sch bete Sie an.“ 

„Noch ein Päckchen... Doktor, Hören Sie auf!“ 

Aber der Doktor, den der Muskatwein und der Barfait: Amour 
fehr verliebt gemacht Haben, wird mit jenem Augenblicke Tühner. 
Man flieht faſt nichts mehr; Fräulein Ducroquet, welche ben Kopf 
verloren hat, blickt, ſich ziemlich ſchwach vertheibigenb, immer noch 
auf ihre Karten und fährt mit bewegter Stimme fort: „Drei Achter 
und die Kreuz⸗Dame, die verkehrt da liegt. Ach, mein Gott! Doktor, 
was fol das bedeuten ? Ich weiß gar nicht mehr, wie mir gefchieht.“ 

Die Tugend der Fräulein Ducroquet läuft große Gefahr, ale 
fig plößlich vom Kamin her ein dumpfes Geräufch vernehmen läßt; 
ed wird immer ftärfer und nähert fih immer mehr; endlich fällt 
etwas Schwarzes herunter und wälzt fih mit einem furchtbaren 
Geſchrei Bis in die Nähe des verliebten Pärchens. 

Bei diefer plöglichen Erfcheinung bezweifelt Fräulein Ducroquet 
nicht, daß ed der Teufel fei, welchen fie unter der Geſtalt des 
Schippen: Buben gefehen habe, und der fomme, um fle für ihre 
Schwachheit zu beftrafen. Sie bricht in ein lautes Gefchrei aus 
und ftdßt den Doktor weit von ſich; Herr Sapiens, ber fat eben 
fo fehr erſchrocken iſt, als die alte Jungfer, will Leute herbeiholen : 
aber man flieht nichts mehr und der Doktor ſtoͤßt ſich an den LTiſch, 
auf dem bie Refte des Abendeſſens ftehen. Indem er ſich raſch aus 
bem Staube machen will, wirft er Teller, Flaſchen, Schüffeln um, 
und faͤllt, dad Geficht in Rahmkaͤſe und die Hände in Barfalts 
Amons tauchend, mitten auf den Boden nieber, 





77 


Der Fall des Doktors Hat Fräulein Ducroquet noch mehr er: 
ſchreckt, indeſſen hat fie noch Kraft genug, ihr Zimmer zu ver: 
lafjen und ganz außer Athem in das ihrer Magd zu eilen, welche 
eben Lichter anzündet und ſtarr vor Schreden ftehen Bleibt, als 
fe ihre Gebieterin in der größten Unorbnung hereinftürzen und auf 
einen Stuhl finken fieht. | . 

„Ah, Gertrude,“ ruft das Fräulein aus, „ver Teufel... . 
ver Doktor... ber Schippen-Bube ... durch den Kamin herab! 
Ich Batte es in den Karten gefehen! Wir find verloren !“ 

Die alte Magd ift wenigftens eben fo furchtſam wie ihre Ge⸗ 
bieterin ; bei dem erften Wort derfelben fängt fie an zu zittern wie 
ein Efpenlaub, und legt die Schaufel und die Feuerzange kreuz⸗ 
weiß auf ihr Bett, damit ſich der Teufel nicht darin verflede, dann 
sinmf fie ihre Gebieterin unter dem Arm, und Beide gehen bie 
Treppe hinab, um Leute zu holen. Auf ihrem ganzen Wege ruft 
Fräulein Ducroquet aus: 

„Der arme Doktor ! ich fürdhte fehr, daß ihn ber Teufel ge: 
bot Hat! Wie ſchade, er kannte mein Temperament fo gut. Aber 
et iſt ſelbſt Schuld, Gertrude, er hat fi über ven Schippen-Buben 
fig gemacht.“ 

„Ah, mein Gott! Fräulein, das ift genug, um großes In: 
ad anf fich zu laden.” 

Die Damen gehen zu ihrem Nachbar, Herrn Boulette, den 
fe um Beiftand bitten. Diefer, der nicht an Rartenpädchen glaubt, 
echt über Fräulein Ducroquets Erzählung. Die junge Magp, 
die Margarethe, lacht auch, indem fie die alte Jungfer fpsttifch 
hast, wie es komme, daß fie ohne Licht bei dem Doktor fei; 
tan Fräulein Cäfarine hat gejagt, daß fie in der Dunkelheit die 
Gehalt de8 aus dem Kamin herabfallenden Gegenſtandes nicht habe 
unterfcgeiden koͤnnen.“ 

Dieſe hinterliſtige Frage der jungen Magd macht das alte Fraͤu⸗ 
lein errothen, und fle antwortet: der Doktor habe ihr den Puls 

Baul de And. H. 6 


78 


gefühlt, ihr Schröpftöpfe auf vie Schulter fegen wollen, und fie habe 
aus Schicklichkeit gewünfcht, daß diefe Operation in ber Dunlel⸗ 
heit vorgenommen werden ſolle. 

Jungfer Margarethe beißt ſich in die Lippen und erzählt dieſen 
Vorfall ihren Nachbarn; in zehn Minuten verbreitet ſich dieſe Ge⸗ 
ſchichte von Haus zu Haus in der ganzen Stadt; man weiß überall, 
daß der Doktor Sapiend im Dunkeln mit Fräulein Ducroquet, bet 
er angeblich Schröpfföpfe fegen wollte, allein war, ald Ciwas aus 
dem Kamin herabfiel, welches die Operation unterbrach. 

Jedes macht feinen Gommentar hinzu ; man fherzt, man lacht, 
man erinnert fich an die Spröbigfeit der alten Jungfer, man be: 
fpöttelt die_zweiunbvierzigjährige Tugend ; denn es braucht nur 
einen Augenblid, um bad zu verlieren, was und jo viele Kühe 
zu erlangen gefoftet hat. Die Neugierigen begeben fich in den Zuben 

"ded Paftetenbäders, der bald voll von Leuten if. Man Hört die 
Geſchichte an, welche Fräulein Ducroquet und ihre Magd Allen 
erzählen, die fommen ;: zulegt entſchließt man ſich, den Gegenſtand, 
der fo viele Zurcht eingejagt hat, zu betrachten. | 

Während der Sturz meines Bruders die ganze Stabt in Auf⸗ 
ruhr brachte, hatte ich den. Rüchenfchornftein des Paftetenbäders 
gefegt. Ich feige wieder herunter, fuche mit den Blicken die junge 
Magd, fehe aber Niemand. Nengierig, zu wifen, ob mein Bruber 
das ihm anvertraute Gejchäft gut beforgt habe, gehe ich in das 
Zimmer hinauf, in das ich ihn geführt Hatte, und rufe mehrere 
Male „Peter!“ in den Kamin hinauf, Ih erhalte Feine Ant 
wort; feine Schuhe find indeß da ; Alles beweist mix, daß er noch 
nicht aus dem Kamin herunter gefommen iſt; warum antwortet er 
mir denn nicht? Ich rufe aufs Neue und Elettere bis in die Mitte 
Hinauf: Peter befindet fich nicht mehr in dem Kamin. Wie fommi 
8, dag feine Schuhe noch unten fiehen? Ich gehe aus dem Zim- 
mer hinaus und rufe, im Haufe herumlaufend, meinem Bruder; 
ich begegne keinem Menfchen, ſelbſt der Laden iR verlaffen; brus 





79 . 


Wed war fo eben Herrn Boulette gefolgt, der weit feiner großen 
Zortenfchaufel fortgegangen ift, um die Geftalt des Säippen-Buben 
zu beſichtigen. 

Stänlein Ducroquet und Gertrude gehen zitternd hinter dem 
vaſtetenbaͤcker her, Alles folgt ziſchelnd, mit dem Gedauken, was 
wohl aus dem Doktor geworden fein möge ; aber kaum bat man 
bie Hälfte des Weges zurückgelegt, fo erfcheint derſelbe mit be: - 
Kürzter Diene, umd die ganze Geſellſchaft bricht in ein ſchallendes 
Gelaͤchter and, weil Herr Sapiens Käfe am Kinn und Backwerk 
anf der Naſe hat, umd fih, Dank dem auf dem Boten vergofle: 
am Parfait⸗Amour, ein Fleines Biscuitchen auf fein linkes Auge 
gellebt bat, während der Schippen-Bube in feinen Haaren hängt. 

Herr Sapiens erflaunt, daß man lacht, Fräulein Ducroquet 
ettoͤhet, beißt fich in die Lippen und Alles fagt zu einander: 

„Eine ſonderbare Manier, fich zum Schröpfen vorzubereiten !“ 

Der Doktor verfichert übrigens, daß fi etwas Außerordent⸗ 
liches in dem Zimmer feiner Kranken zuttage, und bei dem An- 
blide der auf des Doktors Kopf geflebten Karte ſtoßen die alte 
Getrude und ihre Gebieterin einen Schrei des Schreckens aus. Die 
Septere laͤßt Herrn Boulette und die Unerfchrodenften, welche Fackeln 
w den Hänben haben, vorausgehen ; fo bringt man in ihr Zimmer. 
Sie fließt Die Augen, weil fie vermuthet, ver Teufel werde in 
Sefialt einer Fledermaus davonfliegen. Aber flatt einds fchredlichen 
kimd, wovor fie ſich fürdhtete, hört fie lachen und fcherzen, denn. 
ter Baftetenbäder hatte den Gegenſtand, der feine Nachbarinnen 
is fo peinfichen Schrecken verfegt hatte, erfannt. Beim Eintritt - 
u Sränlein Ducroquets Zimmer hatte man Peter inmitten der Refte 
den dem Abendeſſen, auf dem Boben figend, gefunden. Mein 
Bader Ropfte fi, von der Betäubung erholt, welche im erſten 
Angenblide auf feinen Sturz gefolgt war, mit den um ihn her⸗ 
genden Biscuits und Kuchen voll und ſpeiste ruhig zu Racht, 
nahrend Alles im Haufe außer fih war. 


80 


„Qi, das iſt einer meiner Heinen Schornfteinfeger,“ rief ve 
Maftetenbäder aus. u 
| „Sa, wahrhaftig,” fagt Margarethe, „das ift ber Kleinere 

ich erkenne ihn; er muß durch das Loch gefchläpft fein, das üı 
Fräulein Ducroquets Kamin hinüberführt, und iſt dann Bier Her 
untergeftiegen.” 

„Sa, ja, das ift mein Bruder,” fage ich, auf Peter zueilenb 
denn ich war den Leuten nachgegangen und hatte mich durch bi 
Meugierigen hindurchgedraͤngt. 

Fräulein Ducroquet begreift nicht, wie der Schippen-Bub: 
bloß einen Schornfleinfeger andeuten folle. Herr Sapiens, welche 
Alles Iachen fieht, bemüht ſich, indem er fein Geſicht mit feinen 
Tafchentuche abwifcht und feine Haare, die der Lildr in einen Schlic 
zufammengeflebt hat, auseinander zu machen fucht, ein Gleiche 
zu thun. 

„Ei, warum ift denn der kleine Schlingel Bier berumter ge 
kommen?“ fragt endlich Fräulein Caͤſarine, ihren geftrengen Toı 
annehmend. | 

„Entfchuldigen Sie, Madame,“ erwidert mein Bruber, „id 
bin herunter gefallen, ich habe es nicht mit Abſicht gethan.“ 

Fräulein Ducroquet bemerkt, daß man leiſe zifchelt, währen 
man fie betrachtet. Sie bedankt ſich Bei Herrn Boulette und entiäf 
Alles, indem fie einen vielfagenden Blid auf Herrn Sapiens wirfl 

Am folgenden Tage fpra man in der gangen Stadt nur 
des bei ber alten Jungfer vorgefallenen Begebenheit, welche 
in ber Dämmerung beim Parfait⸗Amour⸗Trinken Schröpflöpfe f 
ließ. Um diefen Gefprächen ein Ende zu machen, wurde Yrän 
Eäfarine nach Berfluß von acht Tagen Herrn Sapiens Gattin ; d 
ſchwiegen die böfen Zungen, und bie heirathöluftigen Iungfı 
Heßen ihre Schornfleine dreimal des Monats fegen, in ber H 
es falle auch Etwas herunter, welches ihnen einen ann 












8 


Siebentes Napitel. 
Das junge Mädchen und ihr Zeifig. 


Das Kamin: Abenteuer Hat fo viel Auffehen gemacht, daß 
Jedermann den Heinen Schornfleinfeger fehen will, der für den 
Teufel gehalten worden war. Peter geht, noch ganz von Ruß und Ein: 
gemachtem beſudelt, durch die Hände aller Neugierigen. Die Fraͤu⸗ 
kin finden ihn hübſch, die Witwen. geben ihm ein Schläppchen 
auf die Wange, die Mägde fragen ihn leife, was er gefehen, ale 
er in Fräulein Ducroquets Zimmer heruntergefallen fei, und mo 
der Doktor ihr die Schröpflöpfe angefebt habe. Peter antwortet, 
ganz erfiaunt, fo gehätfchelt zu werben, Allen: ex fei, ohne vor 
fh Hin zu fehen, beruntergeftürzt, und habe, als er mit dem Ge⸗ 
ft auf den Boden gekommen, gefpärt, daß diefer gezudert fei, 
und dann nicht mehr gefchrien. 

Nachdem man fi) lange mit meinem Bruder befchäftigt hatte, 
gab ihm ein Jedes Etwas, und Herr Bonlette geſtattet und, in 
einem Winkel feines Haufes zu übernachten. - Wir fchlafen fingen 
en, denn wir find jeßt fehr reich; wir befißen beinahe vierzig 
Sons, und Peter jagt zu mir: „Nicht wahr, Andreas, ed war 
geſcheit von mir, durch das Kaminloch Hinpurchzufchlüpfen und in 
das Zimmer diefer Dame hinabzufallen ?“ 

Ich weiß ſelbſt nicht recht, was ich hierauf antworten foll. 
88 ſcheint mir doch, als hätte ich beffer gearbeitet wie mein Bruber, 
denn ich habe den Küchenkamin auf's Reinlichſte gefegt und bin 
nicht zu dem Nachbar hinüber gekommen. Aber Peter wurde ge: 
feiert, und ihn wollte Jedermann fehen und Fragen an ihn flellen ; 
er hat von Allen Etwas befommen, während auf mich Niemand 
achtete. Hat mein Bruder befjer gearbeitet ? Ich begreife es nicht, 
amd ſchlafe ein, ohne mir den Grund erflären zu koͤnnen. 

Am folgenden Morgen verlaffen wir PBontsbe-Beauvoifin und 


ſchlagen ven Weg nad Lyon ein. Unfere Säde find mit Leder 
biffen angefüllt, vie man Betern gefchenkt hat ; außerdem haben 
wir vierzig Sous in Reſerve. Dies fcheint und bis nach Paris 
hinreichend. Wir pilgern heiter vorwärts ; fo lange wir Mundvot⸗ 
rätbe haben, ift mein Bruder nit müde, er fingt an Einem fort 
und fchlägt ein Mad dazu, ohne fidh über feine Ferfe zu beflagen. 
Oft, wenn wir uns niederfegen, um Etwas zu effen, unb Peter 
fpielt, ſtatt auszuruhen, ziehe ich das Bilbnif ber ſchönen Dane 
unter meiner Jade hervor und betrachte ed. „Begegne ich dieſem 
Frauenzimmer in Paris,“ fagte ich dann bei mir felbft, „fo er: 
kenne ich ſie augenblidlich, eile ihr nach und rufe ihr zu: „Hier, 
Madame, ift Ihr Gemälde, welches man bei und hat Fiegen laſſen.“ 

Ich erinnere mich auch ded einäugigen Herrn und des kleinen 
hübſchen Maͤdchens, und bilde mir ein, daß ih, in Parid ange: 
langt, dieſen Leuten allen bald begeguen werde. | 

Es widerfährt uns bis Lyon nichts Beſonderes; aber es war 
Zeit, daß wir anfamen: unfer großes Vermögen ging auf bie 
Neige, und unfere Säde waren fchon lange leer. Beim Anblid 
biefer fchönen Stadt fage ich zu meinem Bruder; 

„Hier wollen wir arbeiten und Geld verdienen.” 

„sa, ja,” antwortet Beter; „Du follfi fehen, Andreas, id 
werde machen, daß man und wieder gute Sachen gibt und mid. 
hübfch findet.“ 

Diesmal kommen wir nicht mit Ginbruch der Nacht in ter 
Stadt an: wir befinden und ſchon des Morgens um fieben Uhr 
inmitten biefer Straßen, von benen und jede einzelne eine Stadt, 
ſcheint. Dan ficht noch wenig Lente; die Krämer machen ihre 
Läden auf, die Taglähner gehen an ihre Arbeit, die reichen Leute 
pflegen noch ver Ruhe over Befinnen ſich auf ihrem Polfter, mie 
fle einen für die Mäßiggänger fo langen, für den thätigen Maun 
= rurzen Tag herimbringen follen. Wir können bloß bie Breiten 

und bie Hohen Häufer bewundern. 


= 





83 


„Borwärts !“ fage ich zu meinem Bruber, „wir wollen ung 
gleich hören laſſen; aber weigere Dich nicht mehr fo ange, in 
inen Kamin binanfzufteigen.“ 

Beter verfpricht es mir. Er fcheint in ber That entfchloffen 
ud fängt mit mir aus Leibeskräften zu fehreien an: „KRaminfeger !“ 

„Ho, ho! ihr fein früh d’ran, meine Kinder,” fagt ein alter, 
mit dem Kehren vor feinem Haufe befchäftigter Bortier zu und. 
Bir haben Taum den erftien Oktober und man heizt erſt um Aller: 
eiligen ein; da mir meine Frau am nächften Sonntag Klöße 
schen wii, fo ift ed mir nicht unangenehm, wenn mein Schorn- 
Reim gefegt wird. Obgleich wir in der Brandverfidderung flehen, 
fürchte ich mich doch immer vor dem Feuer, denn ich Tönnte einmal 
Nachts verbrennen... mein Leib ift nicht verfichert! Meine Kran 
wollte lezthin, ich folle den Azor verfichern, weil man Giftkugeln 
im Quartier geftreut bat. Wenn ich auch noch Gelb für die Ver: 
ſicherung ber Thiere bezahlen müßte, Tünnte ich ed nicht mehr auf: 
treiben. Komm’, Kleiner, feg’ mir meinen Schornftein fanber, 
börk Du ?“ 

Mit diefen Worten führt der Portier meinen Bruder in fein 
Hand. „Und ich?“ frage ich ihn. 

„Ah, Du? Du kannft fonftwo Arbeit fuchen ; ich brauche Feine 
jwei Schornfleinfeger für einen einzigen Kamin.” 

„Geh' nur,“ fage ich zu Peter, „ich will Dich hier erwarten, 
und wenn ich irgendwo etwas zu thun befomme,. fo bleibft Du, 
falls Da bälder fertig biſt, auf diefer Bank figen.“ 

Beer folgt dem Bortier ; ich gehe eine Weile auf der Straße 
auf und ab, und werde bald von einer Magb gerufen, welche mir 
aufträgt, zwei Schornfleine zu reinigen. 

Während ich an meiner Arbeit bin, ift mein Bruder mit dem 
alten Bortier gegangen, der ihn in eine Stube im ſechsten Stods 
wert des Haufes hinanfführt. Beter ſchaut fih um: ein kleines 
trübfeliges Manfarbenzimmer, ein Waſſerkrug auf dem Tiſche, das 


84 


Alles deutet ihm nichts Gutes an und fieht Kern Bonlette’s 
Laden nicht ähnlich; aber Peter Hat feinen Plan gefaßt: er ſpricht 
nichts und ſchickt fi an, den Schornftein hinaufzukletiern. 

„Nimm Di ja recht in Acht, Kleiner,“ wiederholt ihm ber 
Bortier mehrmals, „zerbrih mir nichts; man hat vor Kurzem 
erft die Röhre geflickt; fege fauber, übereile Dich nicht; ich gehe 
wieber in den Hof hinunter, wenn Da fertig biſt, rufſt Du mir.“ 

Mein Bruder gibt ihm kein Gehör, er ift bereitd in bem 
Kamin oben. Er Elettert, rechts und links mit den Händen tappend, 
hinauf, findet aber kein Loch, Feine Spalte. Peter begreift es 
nicht ; er glaubt, ex müfje wieber einen andern Schornflein finden, 
in ben ex ſich hinablaſſen ober in den er wenigflend Hinunterfleigen 
fönne, um ben Leuten wieder Furcht einzujagen, Kuchen und Gin: 
gemachtes zu eſſen, mit Schmeicheleien überhäuft und mit großen 
Kreuzern befchenkt zu werben. 

Durch anhaltendes Klettern war Peter Bid an das Ende bes 
Kamins binufgelommen; er ſtreckt feinen Eleinen blonden Kopf 
hinaus und fieht, daß er auf dem Dache if. Er ſchwankt einen 
Augenblid unentfchloffen, was er thun fol, da er feine große Luſi 
bat, in die Stube bed alten Portiers zurüdzufehren, wo er Nie 
mand erfchreden, alfo auch Feine Belohnung und feine Leckerbiſſen 
erhalten Tann. 

Indem fih Peter umfchaut, bemerkt er in einer Entfernung 
von etwa zwei Schritten die Röhre eined andern Kamin, Die eine 
ſehr weite Deffnung hat. Es ift ihm, wenn er fi vorbeugt, ein 
Leichte, diefelbe zu erreichen. Ein Kind berechnet die Gefahr nicht 
lange; es weicht oft vor einer eingebildeten zurück, und häpft un 
tänbelt auf einem an Abgrünben hinführenden Wege; allein vs 
bie Betrunfenen ihren Schußgeift haben, müffen die Kinder nod 
mis größerem Rechte einen haben, denn ein kleines unſchuldiget 


ren muß.in den Augen ber Gottheit eben fo intereſſant fei 
n des Weines voller Menſch. Wand fein 





85 


Rein Bruder ſteigt alfo aus feiner Röhre heraus, beugt 
langſam ven Körper vor, erreicht mit feinen Heinen Händen den 
gegenüberfichenden Kamin, glitfcht dort rafch hinein und klettert 
denn glüdlich wie ein König, oder wie ein Liebhaber, der ſich zum 
erfen Stellbichein begibt, oder wie ein Theaterbichter, deſſen Stud 
Glid gemacht hat, oder wie ein Schaufpieler, der einen Kame⸗ 
saden auspfeifen hoͤrt, welcher diefelben Rollen hat wie er, ober 
wie ein Spieler, der eine Quaterne gewonnen hat, oder wie eine 
alte Kofette, der man ein Compliment macht, oder wie eine Magd, 
bie ihre Herrſchaft ausgehen flieht, oder wie ein Schüler, ber feine 
dalanz antritt (der Lefer mag felbft urtheilen, welche Perfon hies 
von die glücklichſte ift) in diefen neuen Schornflein hinab. 

AS Peter zwei Drittiheile des Kamins hinuntergeftiegen ift, 
befnnt er ſich, ob er fich bis auf den Herb Hinablafien foll; es 
fällt ihm aber ein, dag man fich beim Stürzen befchäpigen Tann, 
amwill es alfo nicht thun; erſt tief unten will ex einen plumpen 
Eprung machen umd zur Belufligung der Anwefenden mit lautem 
Geſchrei in das Zimmer purzeln. 

Bir wollen einmal ſehen, zu wem Peter dieſesmal hinab⸗ 
fällt, und ob feine unerwartete Erfcheinung eben fo viel Wirkung 
bervorbringt, wie bei Fräulein Eäfarine Ducroquet. 

In dem Haufe des alten Portiers, wo viele Miethölente 
mohnten, Iogirte unter Andern auch eine alte reiche Dame, welche 
ifte Nichte, ein junges ſechszehnjähriges Mäpchen, bei fich Hatte. 

Madame Durfort, fo hieß diefe Dame, war fehr fireng ex- 
zegen worden, ohne weber auf einen Ball noch in ein Theater zu 
Immen, kurz, ohne irgend eined ber Vergnügen zu genießen, bie 
tea der Jugend geftattet find. Erſt im neunundbreißigfien Jahre 
batte man es für pafiend gefunden, fie heirathen und Herr ihres 
Billens fein zu laſſen, und die junge neununddreißigjährige Fran 
fimmerte fich in der That nie um den Willen ihres Mannes, ent 
weber weil fie fich für einen etwas langen Zwang entſchaͤdigen 


. 86 
wollte, ober weil fie es für natürlich Hielt, zu Befehlen, nachder 
fie fo lange gehordht hatte. Madame Durfort bemächtigte fich angel 
blicklich der Oberherrfhaft. Man hatte ihr einen Fleinen Mani 
welcher ſechs Jahre jünger war als fie und ihr bloß bis and Kin 
reichte, zum Gatten gegeben ; verfelbe hatte außerdem ben gu 
mütbigften Charakter und die zartefte Stimme. Hieraus wirt en 
far werden, daß Herr Durfort feiner Frau gegenüber nicht 5 
fonders imponiren konnte. Nach achttägiger Verheirathung zitter 
der arme Mann vor ihr, und ſprach nur, wenn fie ihm das Red 
dazu eingeräumt hatte; aber feine Fran hatte ihm befohlen, fü 
überall für den glüdlichftien Mann auszugeben, und wenn er bie 
in einer Gefelfchaft nicht drei oder viermal wiederholt Hatte, 
näherte fich ihm diefelbe und Fneipte ihn, um ihn zu dieſer Heben 
art zu zwingen, bis er gehorchte. Ä 
Herr Durfort war außer Stand, das Uebermaß feines Sind 
zu ertragen: er flarb nach fünfjähriger Ehe, dem Himmel für di 
ihm gemachte Geſchenk dankend. Aber die Wittwe mar fehr un 
frieven mit dem Berflorbenen, weil er fie kinderlos zurädgelafi 
hatte ; fie behauptete überall, ihre Eltern hätten ihr einen zu Fein 
Mann gegeben, und fie werbe fich mit Teinem wieber verehelich 
der nicht fünf Fuß ſechs Zoll groß fei. Wein, fei es, daß m 
Herrn Durforts Glück nicht zu würdigen wußte, oder baß weni 
Männer den Muth hatten, fein Nachfolger zu fein, es zeigte 
keiner, um den Seligen zu erfepen. Mabame Durfort ging 
fort, indem fie bebachte, daß die Bebingung, welche fie bei ei 
zweiten Che feftfette, viele Bewerber ausfchließe, weil große Män 
etwas Seltenes find, einen Zoll in ihren Anforderungen berunt 
In kurzer Zeit fprach fie überall davon, daß ein fünf Fuß v 
ZoU großer Mann noch etwas reiht Hübfches fei; bald änferte 
A zum Vortheil der Männer von mittlerer Größe; enblich q 
"e fogar zu, daß man, obgleich Hein, doch hübſch fein Tune, m 
gte weiter bei, daß im Allgemeinen die kleinen Männer «a 








87 i 
mutbiger feten, ald die großen. Aber das Alles zog keinen einzigen 
Beinerber herbei, und Madame Durfort, welche fich zulegt' mit 
einem Zwerg Begnügt hätte, fah mit Aergerniß ein, daß fie auf 
vie Hoffnung, einen zweiten Gatten zu finden, verzichten mülfe, 
obgleich ihr jegliche Taille recht geweſen wäre. 

Kinderlos und gezwungen, Wittwe zu bleiben, nahm Madame 
Tarfert, die irgend Jemand zum Beherrichen haben mußte, eine 
ihrer Richten zu ſich, welche fie auszuftatten und zu verheirathen 
eerſprach, wenn man fie biefelbe nach ihrer Laune erziehen laffe. 
Rovame Durfort war rei; man vertraute ihr die junge Aglne 
a, bie damals erft acht Jahre alt war und recht hübſch zu werben 
rerſprach. 

Die junge Nichte entſprach den von ihr gehegten Hoffnungen; 
% war eine Roſe, bie bald in ſchönſter Pracht ſtrahlen follte. 
Ron jedoch fo viele Reize, eine fo herrliche Friſche! Arme Kleine, 
weicher graufamen Tante hatte man Dich anvertraut! Madame 
Derfert Hatte, fich erinnernd, daß man fie erfl im breißigften Jahre 
beirathen ließ, die Abficht, ihre Nichte nicht vor dem vierzigften 
a bie Ehe treten zu laſſen, indem fie verfiderte, daß in dieſem 
Üter ein Frauenzimmer erſt im Stande fei, eine Haushaltung zu 
führen und ihren Mann zu regieren. 

„Welche Thorheit!“ fagte fie oft, „Rinder von achtzehn vder 
manzig Jahren heirathen zu laffen! Wie Tönnen dieſe fchon Cha⸗ 
tfter haben und ein Hausweien leiten! Wie geht ed in foldhen 
Men? Dann find die Männer Herr, führen ihre Weiber wie 
Eier an der Nafe herum, und Alles ift verkehrt im Haufe. 
Erecht mir von einem vierzigjährigen Frauenzimmer, die weiß, 
wos fie thut; ihr Charakter ift ausgebildet, fie beſitzt Feſtigkeit 
ws Zuverficht, fie Bleibt ihrem Manne Teine Antwort ſchuldig. 
iS! wenn Herr Durfort noch Iebte, fo koͤnnte er euch fagen, daß 
W mid nach achttägiger Verheirathung benahm, ald ob ich ſchor 
feit zwanzig Jahren feine Frau fei.“ 


— 


. zu flerben; deun Mabame Durfort zog Aglae auf, wie fie | 


ss 
Die Heine Nichte anlwortete ihrer Tante nichts, aber Im fin 


zehnten Jahre fing ihr Herz zu feufzen an und es Tam ihr vo 
als ob fie ſchwerlich ihr vierzigfles erreichen werde, ohne vor Kumm 


aufgezogen worden war: führte fie weder auf einen Ball nod ai 
einen Spaziergang und verbot ihr jeven Umgang; fie ließ die arı 
Kleine alle die Langeweile büßen, die fie felbft einft empfunb! 
hatte. Auf dieſe Weife rächen fich engherzige Seelen; Unſchuldi 
müflen dad Unrecht büßen, welches ihnen zugefügt wurde, währe! 
großmäthige Herzen ihr erlittenes Unrecht Dadurch zu vergeſſen fuche 
daß fie ihre Nebenmenfchen beglüden und Wohlthaten ausüben. 

Madame Durfort war fechözig Jahre alt, als ihre Richte 
ihr fechözehntes trat. Vergebens bemühten ſich einige vernünfti 
Leute, Aglae's Tante. begreiflich zu machen, daß wenn fie bara 
beharre, ihre Nichte erſt im vierzigfien Jahre zu verbeirathen, 
wahrfcheinlich auf das Vergnügen verzichten müfle, bei ver . 





zeit derſelben zugegen zu fein. Madame Durfort, welche ohne Zwei 
glaubte, man altere im fechözigften Jahre nicht fo ſchnell ald 
fechszehnten, antwortete beſtaͤndig: „Ich verheirathe meine Ric 
wenn fie fo alt ift wie ich, ala ich Herrn Durfort Heiraihete.“ 
Aber der gute Lafontaine hat es fchon gefagt: 

Ein Uebermaß der Kühnheit Hilft oft weiter 

AB ſelbſt ber Vorſicht Nebermaß. 
@ine fo traurige Lebensweiſe langweilte die junge Aglae, umd i 
Langeweile wurbe noch größer, wenn fle bedachte, daß ihr vor 
flug von vierundzwanzig Jahren nichts Anderes bevorſtehe. In 
Simmerdhen eingefperrt, deſſen Thüre neben der ihrer Tante 
bie Hausflur führte, ſeufzte das arme Kind über ihrem S 
Tambourin ober ihres Straminnäßerei. Sie hatte fein u 
tendes Buch zu ihrer Berfireuung: Madame Durfort hätte 
zittert, wenn fie einen Roman in ben Händen ihres Nichte gef 
aben würde; die Ritterromane ſchienen ihr noch gefährlicher 












89 

bie andern, denn Herr Amadeus, Herr Tanereb und Herr Roland: 
ſvrechen unaufhörlich von Liebe, und zwar anf eine Weiſe, bie 
einer jungen Unfchulb, die noch nicht weiß, daß die Liebhaber heut- 
zutage ander find als die Ritter von ehemals, den Kopf verbrehen 
fönnte. Die ganze Lektüre des jungen Mädchens beftand aus dem 
Bürgerlichen Roc, und felbft aus biefem hatte Madame Dur: 
fert das Kapitel über die Kapaunen herausgefchnitten, weil bie 
Art und Weife, wie diefe Thiere gemäftet werben, ihrer Nichte 
hätten ſchwermuͤthige Gedanken beibringen koͤnnen. 

Wenn Aglae zu ihrer Tante zu fagen wagte: „Ich glaube, 
daß ih mit vierzig Jahren alt fein werde,“ fo ſchrie dieſe mit 
rütbenden Blicken auf die Jungfrau: 

„Bas heißt Du alt? War ih alt, Fräulein, als ich mich 
serheirathete ? Stand ich nicht im ganzen Glanze meiner Schön- 
beit? War ich nicht frifch, prächtig, wohlgeftaltet ? Wenn man 
Kefe Ropnafen Hört, wäre-man mit fünfzig Jahren nicht mehr 
ang! Es iſt wahrhaftig zum Erbarmen! Kies die Gefchichte unferer 
Urelten, Plaudertaſche, damit Du eines Beffern belehrt wirft.“ 

„Aber, Tante, Sie laſſen mich ja nur Rezepte über’8 Sances 
aechen lefen.“ 

„Weil das für ein Brauenzimmer die nothwendigſte Wiffens 
ſchaft ik; Dein Mann wird fle anerkennen.“ 

„Bas fleht denn in der Geſchichte unferer Ureltern ?“ 

„Daß Abrahams Frau neunzig Jahre alt war, als fie bie 
Goberung Pharao’8 von Aegypten machte, und die fchöne Judith 
wor ſchon Aber ſechszig, als fie dem Holofernus den Kopf ver: 
die; ſomit glaube ich, Fräulein, daß man auch im eigen 
u einen Mann finden kann.“ 

Auf diefes wußte Aglae nichts zu erwidern; fie Begnägte ſich 
somit, wieder in ihr Zimmerchen zurückzukehren und zu ſeufzen, 
hs fie ihre Tante zu einer Lottoparthie vief, der einzigen Erholung, 
We man ihr zuweilen gönnte, 


Bin junger Offizier auf halbem Sold, welcher feit einigen 
Tagen in demfelben Haufe Iogirte, wo die Tante und die Nichte 


wohnten, ſah indeß eined Morgens die fchöne Aglae ihren Zeihg- 

kaͤſig aufhängen. Die arme Kleine ſprach mit ihrem Bogel; fie 
fuchte ihn zum Singen zu bewegen, aber fie ſchien dabei fo traurig, 

und ber melancholiiche Ton, in dem fie ihn „Soͤhnchen, Herzchen“ 

nannte, hätte das gleichgültigfte Herz gerührt. Man Tann ſich 
denken, daß der junge Offizier nicht unempfindlich blieb: Aglae's 
Züge hatten ihn intereffitt ; fein einen Stod Höher gelegened Fenſter 
befand ſich gerade gegenüber von dem des jungen Mädchens, das 
allerdings beinahe immer geſchloſſen war. Allein der junge Mann 
fah faft den ganzen Tag zum Fenfter hinaus, in der Hoffnung, 
feine Hausgenoſſin zu erbliden. Es gibt nichts Gefährlicheres fur 
hübfche Mäpchen, als die Nachbarfchaft eines unbefchäftigten Di 
zierd. Gin Krieger, ber die härteflen Kämpfe mitgemadgt, gib: 
fih, um zu gefallen, mit den Eleinlichften Dingen ab: Herfulei 
fpann zu Omphaliens Füßen ; Antiochus verkleibete ſich als Bacchus 
um Glevpatra zu verführen ; Rinaldo fang feiner Armida ; Franz | 
machte der ſchönen Ferronniere Verſe, und ber tapfere Bayaıı 
jelbft beſchaͤftigte fh mandmal, neben Madame Randan ſchmach 

tend, mit der Nähnadel. 

So verbrachte unfer junger Offizier, nachbent er Die Feind 
feines Vaterlandes gefchlagen. hatte, ganze Tage damit, dem Zeiſi 
feiner Nachbarin zuzurufen: zKüß'. mih, Söhnen, küß' mi 
Herzchen.“ 

Aglae, welche ihr Fenſter nur des Morgens einmal öffnet 
um ben Käfig aufzuhängen, wenn die Sonne fchien, und 
um ben Zeiftg hereinzunehmen, bemerkte einige Zeit ihren N 
bar nicht ; aber eines Tages, ald fie wie gewöhnlich den Kä 
aufhing und nachdenklich vor Fiſi fichen blieb, horte fie eine aͤn 
zarte Stimme mit Nachdruck wieberholen: „Küß’ mich doch, Sohuch 
kuß' mich, Herzchen.“ Dann erhebt fie die Augen und exblidt 


4 












9 


Geſcht ihres Nachbarn, welches nichts Abſchreckendes an ſich Hatte. 
Cie Schlägt jedoch das Fenſter plöglich zu, weil fie ganz beſchaͤmt 
ıR; baun nähert fie fich demſelben aber wieder und hebt eine Feine 
Ede bed Borhanges in die Höhe, um zu fehen, was ber Herr mil 
der weichen Stimme für eine Phyfiognomie hat. 

Es if ein junger, fehr hübſcher Mann; er bat braune Haare, 
blaue Augen, ein höchft angenehmes Lächeln und ein rabenſchwarzes 
Shuurbärtchen, das feinem Geficht fehr viel Charakter verlieh. 
Aglae hat diefes auf einen Blick gefehen, fie bleibt aber immer 
mit dem Vorhangeckchen fliehen, ſieht alle Augenblide wieder nach 
em Nachbar hinauf und fpricht bei ſich: „Ach, wie hübſch ift ein 
cchnurrbart! Ach, wenn ich ein Junge wäre, möchte ich auch 
einen haben! Ich bin überzeugt, ex flünde mir gut.“ Und Fräu⸗ 
im Aglae würde gerne den ganzen Tag mit der Vorhangede in 
ter Hand fliehen geblieben fein, um ihr Gegenüber zu betrachten. 
Ihre Tante ruft: fie muß ihr Fenſter verlaffen. Wie ſchade! doch 
ie wird ſich morgen wieder bavorftellen... die arme Kleine, 
relches Vergnũügen es ihr macht, den Nachbar zu betrachten! Ach! 
Rarame Durfort, Sie hätten Ihre Nichte vor den Schnurrbärten 
täten follen. 

Abends beim Hereinnehmen des Käfige fieht man den Nachbar 
ucht; dies ift Die Zeit, wo er fich beim Mittageſſen befindet. Aber 
ım folgenden Morgen verfäumt man nicht, Fifi aufzuhängen ; man 
dat fi zwar fchon zum Voraus überzeugt, daß der Nachbar an 
ſanem Fenſter ift, allein man wagt es nicht, ihn anzubliden; man 
Imiht übrigens länger mit feinem Zeifig und hört dem Nachbar 
in, welcher ſich auch mit ihm unterhält. Aglae erröthet und wird 
salegen: dies verfchönert fie in noch höherem Grade; die Ber: 
wgenheit der Unfchuld hat fo etwas Berführerifches! Nicht allen 
Shönen if diefe liebenswürdige Unbeholfenheit verliehen ; es gibt 
delche, die fie nachzuahmen fuchen, aber das find Dinge, bie man 
nt einlernen kann. 


88 


Die Heine Nichte antwortete ihrer Tante nichts, aber im fünf: 
zehnten Sabre fing ihr Herz zu feufzen an und es Tam ihr vor, 
als ob fie fchwerlich ihr vierzigfles erreichen werde, ohne vor Kummer 


. 38 flerben; denn Mabame Durfort z0g Aglae auf, wie fie felbR 


aufgezogen worden war: führte fle weder auf einen Ball noch auf 
einen Spaziergang und verbot ihr jeven Umgang; fie ließ die arme 
Kleine alle die Langeweile büßen, vie fie felbft einft empfunden 
hatte. Auf dieſe Weile rächen fich engherzige Seelen; Unfchulbige 
müffen bad Unrecht büßen, welches ihnen zugefügt wurde, währen 
großmüthige Herzen ihr erlittenes Unrecht dadurch zu vergefjen fuchen, 
daß fie ihre Nebenmenfchen beglüden und Wohlthaten ausüben. 

Madame Durfort war ſechszig Jahre alt, als ihre Nichte in 
ihr ſechszehntes trat. Vergebens bemühten ſich einige vernünftige 
Leute, Aglae’8 Tante begreiflich zu machen, daß wenn fie darauf 
beharre, ihre Nichte erft im vierzigften Sabre zu verbeiraihen, fie 
wahrfcheinlih auf dad Vergnügen verzichten müſſe, bei ber Hoch⸗ 
zeit derfelben zugegen zu fein. Madame Durfort, weldhe ohne Zweifel 
glaubte, man altere im ſechszigſten Jahre nicht fo fchnell ala im 
ſechszehnten, antwortete beflänbig: „Ich verheirathe meine Nichte, 
wenn fie fo alt ift wie Ich, als ich Herrn Durfort heiraihete.“ 

Aber der gute Lafontaine hat ed ſchon gefagt: 

Ein Uebermaß der Kübnbeit Hilft oft weiter 
Ald jelbft der Borfiht Uebermaß. 

Eine fo traurige Lebensweife ‚Iangweilte die junge Aglae, umb ihre 
Langeweile wurbe noch größer, wenn fle bebachte, daß ihr vor Ber: 
flug von vierundzwanzig Jahren nichts Anderes bevorftehe. Zu ihe 
Zimmerchen eingefperrt, deſſen Thüre neben ber ihrer Tante anf 
die Hausflur führte, feufzte das arme Kind über ihrem Stid: 
Tambourin oder ihres Straminnäßerei. Sie hatte fein unterhal: 
tended Buch zu ihrer Zerfireuung: Mabame Durfort Hätte ge: 
zittert, wenn fle einen Roman in den Händen ihrer Nichte gefeben 
haben würbe ; die Ritterromane ſchienen ihr noch gefährlicher als 





9 


Und Fraͤulein Aglae ſtellte ſich, ala ob fie glaube, ihr Zeifig 
gebe ihr Antwort ; für. eine Unſchuld ift das eben nicht ungefchidt. 
Zeiſige, bie eine ſolche Unterhaltung führten, würden in Frankreich 
mit einem wahnfinnigen Preife bezahlt, und der blaue Bogel war 
gegenüber von Fräulein Aglae's Zeiflg nur ein Dummkopf. 


Achtes Aapitel. 
Beter maht wieder einen dummen Streich. 


Seit man angefangen, mit Hülfe des Vogels ſich zu verſtaͤn⸗ 
Keen, hatte bie kleine Nichte einige verſtohlene Blicke gewagt. Sie 
ſeh, wie ber junge Mann, während er nur mit dem Vogel be- 
Wäftigt fehien, Tein Auge von ihr abwandte. Seinen höflichen 
Gr erwiderte fie mit leichtem Kopfnicken; dann ging’8 wieder an 
Ne Unterhaltung mit Fifi, der vor das Fenſter gefebt wurde, wie 
und dad Wetter fein mochte. 

Diefe zärtlichen Unterhaltungen dauerten leider nur gar burz, 
bean die Tante, die nicht begriff, wie das Aufhängen eines Käftgs 
Io viel Zeit erforbere, zankte die Nichte, als fle nicht gleich wie 
pwöhnlich zurückkam. Die Kleine, die unaufhörlich ‚von Liebe ge- 
Magt wurde und doch nicht mehr am Fenſter fiben durfte, wußte 
Kö zu Helfen. Alle Augenblice rief fie: 

„Liebe Tante, ed regnet; ich will Fifi hereinholen.“ 

„Nein, Mamſellchen, es regnet nicht.” 

„Liebe Tante, ic} fage Ihnen, es regnet, ein Gewitter zieht 
uf. Der arme Fifi! er fürchtet fich fo vor dem Gewitter; wie er 
BD verſtekt! Sehen Sie nur, wie finfter es wird.” 

Um nur die Nichte los zu werden, erlaubte die Tante oft, 
von Zeiſig Hereinzuholen. Kaum war er drinnen, fo rief Aglae ver: 
Rigt: „Das Gewitter ift vorbei und die liebe Sonne fcheint wieder.” 

„Glaub's wohl, ed witterte bloß in Deinem Hirn.“ 

Paul be Rod, IN. | 


\ ge 


Aglae ſchließt dieſes Mal ihr Fenſter langſamer, ohne jedoch 
nach dem Gegenüber zu blicken: fie hofft, ſich durch das Aufheben 
der Vorhangecke zu entſchädigen; aber ihre Tante ruft ihr zu 
Arbeit. Wie ärgerlich! und wie lange wird der Tag bis zum kom⸗ 
menden Morgen ſein. 

Der junge Mann hat wohl bemerkt, daß man ihn beobachtet 
Hat und erräth, daß man ihn, wenn man ihn gleich nicht durch 
das offene Fenfter betrachtet, doch Hinter dem Vorhang gemuftert 
bat. Gin junges Mädchen verräth fih durch ihr ganzes Weſen, 
durch die geringfte Bewegung, und felbft wenn fie Gleichgültigkeit 
heucheln will, Tiegt Etwas in ihrem Aeußern, welches ihre Blide 
ober ihre Worte Rügen ftraft; die Liebe iſt ein fo ſüßes, fo aus: 
ſchließliches Gefühl für fie, daß fie ihr ganzes Sein durchdringt; 
fie Spricht fi in ihren Handlungen, ihrem Gang, felbft in ihrem 
Schweigen aus, und alle Anftrengungen, fie zu verbergen, bienen 
Häufig nur dazu, fie deutlicher an den Tag zu legen. 

Aglae ift nicht mehr viefelbe : fie ift heiterer, Tebhafter, wenn 
fie mit ihrem Zeiſig ſpricht. Sie unterhält fi weitläufig mit 
ihrem Vogel, welcher nie fo gut beforgt warb und jetzt mit Bio⸗ 
cuits, Zuder und Kömern vollgeftopft wird. Wie die Fleinen 
Schelminnen doch gleih auf Pflffe gerathen! „Wie hübſch, mie 
artig er ift, Fiſi!“ fagt das junge Mädchen, ihren Bogel an's 
Senfter aufhängend. Und der Nachbar antwortet: 

„Ich Tiebe meine Herrin, ſie ift fo ſchön! Küß’ mich, Herrin, 
mich geſchwind!“ 

„Haft Du mich gern, Fifi ?“ 

„Sa, ja, ja, ja.” 

„Wenn ich aber den Käftg aufmachte, würbeft Du body de: 
vonfliegen.“ 

„Rein, nein! ich will bei Dir bleiben und nie zu einer An: 
dern fliegen.” 

Lieber Fiſt!“ 


füß 





% 


Lebe, bed Bergnügend. Lieben Sie, reizende Aglae, lieben Sie, 
ehe Ihr Herz vor Alter und Weisheit einfchrumpft. Nur um Liebe 
zu erwecken, hat die Natur Sie mit folchen Reizen, folder Jugend» 
friſche ansgeflattet. Oder hätten Sie Ihre Schönheit, um ber ihr 
gebührenben Hulbigungen verluftig zu gehen ? Nein, erwibern Sie 
Gleiches mit Gleichem und glauben Sie an die Liebe deſſen, ber 
Ihnen ewige Anbetung ſchwoͤrt.“ 

Es war ber Zeifig, der fo ſprach. Und Aglae? Sie warf dem 
Bogel ein Kußhaͤndchen zu und flotterte: 

„Sa, ich will Dir glauben, Fifl, will Dich lieben! s iſt 
nicht meine Schuld, daß ich nicht ausgehe und des Abends Punkt 
ibn Uhr eingefperrt werde.“ 

Nach ſolchem Geſtaͤndniß brauchte der junge Offizier nichts 
zeiter, als auf Mittel und Wege zu ſinnen, wie er feiner Schönen 
ſich nähern koͤnne; denn mit der Rolle des Zeiſigs vor dem Fenſter 
wor er nicht zufrieden. Aber wie ver Eleinen Nichte ſich nähern ? 
Die Tante hütete fie wie ihren Augapfel: bei Tage durfte fie nicht 
6 dem Haufe gehen und Nachts wurde fle in ihrer Kammer ein: 
geſchloſſen. Wäre nur das Fenſter des jungen Mannes nicht fo 
weit ab geweſen, dann Hätte er auf einem Brett wie auf einer 
utſchbahn hinüberklettern koͤnnen; aber leider betrug bie Entfer⸗ 
sung ſechszehn Fuß, und wo iſt ein Zimmer, deffen Voden Dielen 
von folher Länge Hat? So mußte er ſich den Schlüffel zu Aglae's 
Kammer zu verfchaffen fuchen ; es gab Fein anderes Mittel. Daher 
wieerholte der Zeiflg allmorgentlich feinem Schäpchen: 

„Gib' den Schlüffel, geſchwind! Suche ven Schläffel zum 
Kifg!“ oder auch: „Oeffne mir die Thüre, fei barmherzig !“ 

Fräulein Aglae, die noch vor wenig Wochen vor einem Spiegel 
the Strumpfbandchen angelegt hätte, aus Furcht, den Teufel oder 
ſent was darin zu erblicken, wußte ſchon nach einigen Tagen ven 
Sqlaſel zu ihrer Rammer and dem Arbeitsbeutel ihrer Tante weg: 
Mraltiziren, als biefe ihre Brille verlangte, Raum hat ber kleine 


% 


Nichtenuig den Schlüffel erwifcht, fo nimmt fle hurtig den Zeifig 
vom Fenfter fort, denn ber Wind geht fo und der Himmel ift voll 
Lämmerwölfchen. 

Dabei aber ruft fie mehrmals laut: „Fifl.“ \ 

Gleich erfcheint der junge Offizier, der immer auf ber Lauer 
flieht, am Fenfter, und flieht einen Schlüffel auf den Hof fallen. 
Er wie der Blitz hinunter und hebt ihn auf; Aglae fchließt ihr 
Zenfter wieder und verfihert die Tante, über Nacht werde das 
Metter fi ändern. Diefe aber hört die Nichte nicht, denn fie 
ſucht ihren Schlüffel zu Aglae's Kammer. 

„Was fucdfen Sie, liebe Tante?” fragt die Tleine Schelmin 
fo arglos wie möglich. 

„Nichts, Mamfellchen!" antwortet Madame Durfort. Aber 
fie denkt bei fih: „Die Kleine darf nicht wiffen, daß ich den Schlüffel 
verlor, fonft behält fie ihn, wenn fle ihn findet. Doch ich hab' 
ja einen zweiten: fo wirb ſie's nicht merken.“ 

Abends Schlag zehn Uhr fperrt Madame Durfort wie gewöhnlich 
ihre Nichte ein und dreht den Schlüffel zweimal um. D, das Ge: 
töfe dringt der Kleinen durch Mark und Bein. Sie fürdhtet, mer: 
gend ben verkehrten Schlüffel and dem Beutel der Tante genommen 
zu haben, venn fie weiß nicht, daß bie Tante zwei bat. 

„Bas wird der arme Fiſt ſagen?“ denkt fie. „Vielleicht glaubt 
er, ich wolle ihn zum Beften haben, ich Liebe ihn nicht. DO, wie 
ſchmerzt der Gedanke!“ Sie ſetzt fich nieber, flübt das Köpfchen. 
auf bie Hand und fängt bitter an zu weinen, &8 ifl Doch graufam, 
in füßen Erwartungen fo getäufcht zu werben. Gar zu gerne hätte 
fie mit Fiſt — geſchwatzt. | 

Aber horch! fleigt nicht Jemand die Treppe herauf? Wichtig. 
Er Bleibt vor der Thüre flehen und ſteckt einen Schlüffel ins Loch. 
O Seligkeit! der Schlüffel wird gebreht und die Thüre öffnet fich. 
Aglae ſchreit laut auf vor Wonne, denn fie erblidt — ben zier⸗ 
lichen Schnurrbart Fifi's. | 





97 


Liebende und verliebte Seelen koͤnnen fich Teicht denken, was 
bie beiden Liebenden, die fich allein fahen, fich mitzutheilen hatten; 
falte Seelen werben es nie begreifen. Mebrigens hat die Liebe Ge: 
meinpläge, die nur für die beireffenden Perfonen Interefje haben. 

Sch denke mir, der junge Offizier wollte bloß etwas näher 
mit feiner hübſchen Nachbarin ſchwatzen, und daß Aglae nichts 
Böfes darin fand, den Jüngling aud außerhalb feiner Rolle als 
3eifig zu hören. Gewiß waren Beide eiwad rebfelig, denn fie 
wterhielten fih an Einem fort bis gegen fieben Uhr Morgens; 
aber die Tante Fam nie vor halb neun Uhr, Aglae's Kerferthüre 
zu Öffnen. Indeß erheifchte die Vorficht, Fiſi um fieben Uhr fliegen 
zu laſſen. 

Diefed füße Nachtgefchwäg dauerte fchon vierzehn Tage lang 
und Alles fchien dem Glück der beiden Liebenden günftig zu. fein. 
Tie Tante hatte nicht den geringften Argwohn; vielmehr war fie 
wit der Nichte zufriedener als je, denn die Kleine gab ſich bei Tage 
weniger mit Fifi ab, weil ſie's bei Macht einholen Tonnte. Wer 
ahnte damals, daß die Ankunft der beiden Fleinen Savoyarden bie 
Eeligleit des liebenden Paares zu nichte machen follte. Aber Alles 
hingt auf Engſte zufammen ; der Fleinfte Umſtand hat oft die 
gewichtigſten Folgen. Es if das alte Lien: ein Verſtoß gegen bie 
Etikette in Deutſchland bringt ganz Europa in Waffen, ein vitto 
Verſtoß in Ehina fegt ganz Aflen in Flammen. Laffen wir das 
Kapitel, es würbe und zu weit führen. 

Gewiß bat man fchon erratben, daß Peter, mein Bruder, 
Sduld daran ift, indem er aus dem Kamin des Portiers fich durch 
das Kamin der jungen Aglae nieverläßt. Es war erſt fieben Uhr 
Rorgens ; die jungen Leute hatten auch diesmal nächtlich mit ein- 
der geſchwatzt ober ſchwatzten vielmehr noch, als Peter wie eine 
ſchwere Maſſe den Rauchfang herunterpoltert und laut fehreiend 
ſich in's Zimmer wälzt. 

Der Lärm raubt Aglaen die Beſinnung. Sie glaubt, ihre 


96 
Nichtönug den Schlüffel erwifcht, fo nimmt fle hurtig ben Zeifig 
vom Fenfter fort, denn der Wind geht fo und der Himmel if voll 
Lämmerwölfchen. 

Dabei aber ruft fle mehrmals laut: „Fifi.“ \ 

Gleich erfcheint der junge Offizier, der immer auf der Lauer 
ſteht, am Fenſter, und fieht einen Schlüffel auf ven Hof fallen. 
Er wie der Blitz binunter und hebt ihn auf; Aglae ſchließt ihr 
Fenſter wieder und verfihert die Tante, über Nacht werde dad 
Wetter fih ändern. Diefe aber Hört die Nichte nicht, denn fie 
fucht ihren Schlüffel zu Aglae's Kammer. 

„Was ſuchen Sie, liebe Tante?” fragt die Heine Schelmin 
fo arglos wie möglich. 

„Nichts, Mamfellchen !" antwortet Madame Durfort. Aber 
fie denkt bei fih: „Die Kleine darf nicht wiſſen, daß ich den Schläffel 
verlor, fonft behält fie ihn, wenn fie ihn findet. Doch ich Hab’ 
ja einen zweiten: fo wird ſie's nicht merken.“ 

Abende Schlag zehn Uhr ſperrt Madame Durfort wie gewöhnlich 
ihre Nichte ein und breht den Schlüffel zweimal um. O, bad &e: 
töfe dringt der Kleinen durch Mark und Bein. Sie fürdhtet, mor: 
gend den verkehrten Schlüffel aud dem Beutel ber Tante genommen 
zu haben, denn fie weiß nicht, daß die Tante zwei bat. 

„Was wirb der arme Fift jagen?“ denkt fie. „Dielleicht glaubt 
er, ich wolle ihn zum Beften haben, ich liebe ihn nicht. O, wie 
ſchmerzt der Gedanke!“ Sie ſetzt ſich nieder, fügt das Köpfchen 
auf die Hand und fängt bitter an zu weinen. &8 iſt doch granfam, 
in füßen Erwartungen fo getäufcht zu werben. Gar zu gerne Hätte 
fie mit Fiſi — gefchwaht. 

Aber horch! fleigt nicht Jemand die Treppe herauf? Richtig. 
Er bleibt vor der Thüre ftehen und ſteckt einen Schlüffel ind Loch. 
O Seligfeit! der Schlüffel wird gedreht und die Thüre öffnet ich. 
Aglae fchreit laut auf vor Wonne, denn fle erblickt — den zier⸗ 
lichen Schnurrbart Fifi's. 


90 
kinfeger hinweist, ber wie ein Big aus heiterem Simmel in ihr 
Immer gefallen il. Der Portier erkennt meinen Bruder, pad 
in beim Ohr und wirft ihn zum Tempel hinaus, 

Beter, erſt geohrfeigt, dann geohrzupft, laͤuft heulend bie 
Irppe hinab. Unten im Hofe erwiſcht ihn der junge Offizier, der 
ſh ſtellt, als fomme er aus feiner Wohnung, nad der Urfache 
ws Laͤrmes fi zu erfunbigen. 

„Bart’, ich will Dich lehren, durch's Kamin herunterpoltern, 
a Schelm !“ und damit applicirt er Petern ein Halb Schock derber 
daßtritte; Du kehrſt das ganze Haus von unterft zu oberft, ſtoͤrſt 
ke Tanten um fleben Uhr aus ihrer Morgenruhe: da haſt Du Eins, 
künftig bleib’ Hübfch in Deinem Schornftein ; treff' ich Dich wieder, 
h fchmeid’ ich Dir, meiner Seel’, beide Ohren ab,“ 

Nachdem er ſich fo an meinem Bruder gerächt, geht ex ruhig 
a feine Wohnung zurück. Auch die Köchinnen verlaufen ſich all 
naͤhlig: 's ift ja bloß ein Schornfteinfeger,, der in's verkehrte Kamin 
jetathen. Aber Madame Darfort kann den jungen Mann mit 
Uniform und Schnurrbart nicht vergeſſen, der aus der Kammer 
ihrer Nichte ſich Fortgefchlichen und ihr einen Stoß gegeben hat, 
vaf fie der Länge nach hinflel. Bor den Leuten ſchweigt fie, doch 
laum if ſie mit Aglae allein, fo fragt fie, wer der Gindringling 
geweſen. Aglae ift wie aus den Wolken gefallen und ſchwoͤrt, daß 
fe Riemand gefehen. Endlich fagt fie, woher ein Schornfleinfeger 
lsmmen, daher Eönne auch ein junger Offizier kommen. Die Tante 
weiß nicht darauf zu antworten; damit aber nicht wieber ein 
Shornfeinfeger nebft Offizier in das Zimmer ihrer Nichte regne, 
läßt fie fie neben ſich fchlafen, bewacht fie noch forgfamer als zuvor 
uud ſcheukt Fiſt die Freiheit trotz aller Bitten und Proteflationen 
des jungen Maͤdchens. 

Draußen auf einer Bauk in ber Straße erwartete ich meinen 
Sruder, Ich war laͤngſt fertig mit Kaminfegen und begriff nicht, 
wo Peter fo Lange bleibe. Endlich fah ich ihn heranhinken mit 


100 


sothgeweinten Augen und ſich an einem gewillen Theile reiben, 
ale ſchmerze ihn ber. 

„Bas fehlt Dir, Beter ?“ frag’ ich, ihm entgegeneilenb. 

Er nimmt mich bei der Hand und zieht mi fort. „Komm, 
Andreas,“ fagt er, „Eomm’ geſchwind; laß uns fort aus dieſer Stadt.“ 

„Aber warum jept ſchon fort? Worüber weint Du? Sprich'!“ 

„Komm’, Bruder, komm'! Reiten wir und, man will mir bie 
Dhren abſchneiden.“ “ 

„Die Ohren abfchneiven ?“ “ 

„Ja, komm’; ich will nicht länger bleiben.“ 

Und damit zieht er mich fort. Schon haben wir Lyon im 
Rüden und doch blickt er jede Minute Angftlich zurück, als fei man 
ihm auf den Ferien. . 


Ueuntes Rapitel. 


Antunft in Barib. — Unvorhergefehened Ereignifß. 


Erft zwei Meilen hinter Lyon erholt fich Beter vom erſten 
Schreden und fleht mir Antwort auf meine Frage über die Ur: 
ſache feiner Thränen. 

„Rum fprich’, warum weinteft Du? Was hat man Dir gethant" 

„Weiß Bott, Andreas, was all’ die Leute da von mir wollten. 
Ich wollte e8 machen wie beim Paftetenbäder: ich geb’ vie eim 
Röhre hinauf und als ich oben bin, ſchlüpf' ih in eine anders 
hinein und rutſche d’rin herunter, fingend und ſchreiend. Gewifl 
kriegſt Du da auch Kuchen, den!’ ich bei mir, wie bei ber anbern 
Dame, weißt Du? Warum nicht gar. . . Obrfeigen Trieg’ ich, 
Obrfeigen von einer Mamfell, der Alte mit dem Befen packt mid 
am Ohr, und als ich unten bin im Hofe, kommt ein Herr mil 
Schnurrbart auf mich zu und tritt mich mit Füßen... dahin um 


\ 


101 


droht, er wolle mir die Ohren. abfchneiden, wenn er mich noch⸗ 
mald erwiſche.“ 

„Amer Bruder !” 

„Sag nur, Andreas, warum die da unten fo freundlich ge: 
wefen find und warum die in Lyon für biefelbe Sache mich 
geprägelt Haben ? 

„Ih weiß nicht, Bruder; aber merf’ Dir ein für alle Mal: 
Du mußt immer in derſelben Röhre bleiben, - wenn Du fegſt. Ich 
babe in Bont-de-Beauvoiftn Leine Complimente gekriegt, aber auch 
feine Schläge in Lyon wie Du ; fle Haben meine Arbeit ordentlich 
bezahlt. Mach's in Zukunft wie ih, dann geht es Dir beſſer.“ 

Beter verfpricht, in Zukunft vorfichtiger zu fein und nie wieder 
durch eine andere Röhre hinabzufteigen. Luftig geh'n wir fürbaß, 
denn wir Brennen vor Ungebulb, Paris zu jehen, bie große, große 
Stabt, von der man und fo viel erzählt hat. Peter traͤumte vom 
nichts als Marionetten, Seiltänzern und Schattenfpiel an der Wand; 
ih aber fühle nach dem Portrait unter meiner Wefte und denke 
au den einäugigen Herm und das hübſche Fleine Mäpchen; id 
bin ganz ftolz, ihnen das Kleinod wieberbringen zu innen, das 
fe in unſerer Hütte liegen liefen. Es war mir, als müßte ich 
fe gleich bei unferer Ankunft in Paris treffen. 

Unterwegs geht Alles-gut; es begegnet uns nichts Ungewoͤhn⸗ 
liches. Wenn wir auf unferem Marfch in einer Stabt Arbeit ber 
Emmen, fo hält fich Peter immer hübſch in dem nämlichen Kamin 
med geräth in keinen fremden; fo gehört ſich's auch. Wir verdienen 
gerade fo viel, als wir brauchen. Endlich, endlich fliehen wir am 
Biel: ſchon erblicken wir ganz in der Kerne die ungeheuren Häufer 
der großen Stadt. O, wie that und das fo wohl, wie muthig 
fühlten wir uns. „Sieh’, da Liegt Paris,” riefen wir Beide zu: 
Immer aus, „wo man fo viel Geld verbient und fo luſtig Icht, 
and wo’8 fo viel zu jehen gibt: Marionetten und d Seiltauzer, und 
m mau fo gut ißt und trinkt.“ 


“ 108 


Wir geben und die Hand, Peter und Ich, werfen bie Rütze 
hoch in die Luft und jauchzen laut anf vor Freude. Wenn wir 
nur erſt in Paris find, fagen wir und, da muß es und gut gehen, 
und man braucht da nur zu wohnen, um glüdlich zu ſein. Aber 
ich bin erſt acht Jahre alt und mein Bruder ſieben. 

Ehe wir in Baris einziehen, halt’ ich es für gut, bem Bruder 
ein Paar nüpliche Lehren zu geben. 

„Bruder,“ fag’ ih, „bedenke, was unfer guter Vater fagte. 
In der großen Stadt Ieben nicht Iauter ehrliche Lente, auch viel 
SEchelme, Spigbuben und Diebe, daß Bott erbarm'. Aber fo uf 
ed halt fein. Es gibt da Viele, welche ſich Iuflig machen über bie, 
welche vom Land herein kommen, ihnen allerlei böje Poſſen fpielen 
und ihnen das Geld aus der Taſche fichlen; nicht uns, denn wir 
haben Teines. Aber vielleicht Yacht man und ans, benn wir find 
noch Kinder, und treibt mit und fein Spiel. D’rum nimm Dich in 
Acht und glaub’ nicht Alles, was man Dir fagt. Hört Du, Peter!“ 

„3a, ich höre, Andreas; aber ich bin nicht ſo dumm, wie 
Du weißt!“ 

Ich war nicht fo ganz feft davon überzeugt, doch wollt’ id’ 
Beter nicht merken laſſen. Jetzt endlich find wir in Paris. Wie 
wurde umd zu Muthe in der großen, ungeheuer großen Stabt. Um 
fleben Uhr Morgens beiraten wir eine ber Vorgaͤdte Lyons, und 
ſchon nad} einer Stunde hatten wir fie im Ren, ohne und um 
zufeben. Aber hier! Gs ſchlaͤgt drei Uhr Nachmittags, als wir und 
in Paris befinden. 's ift die Stunde, wo Jeder feinem Geſchaͤfte 
nachgeht. Die Straßen find vollgepfropft mit Menfchen, die Wagen 
zaffeln mit Bligesfchnelle an und vorüber... und um uns ber, bie 
Läden firahlen im fchönften Blanze, vie vie Achuletkraͤmerin bieten ihre 
Waaren feil, dazwiſchen rufen die Debfläx, Gemüfeweilir, Waller: 


träger m. |. w. Kechts wird bie Drehorgel gefpielt, liccks geigt ein 


blinder Geiger, etwas weiter davon fingen Mehrere zur Guitacte. 


Ich foße Peter mit Gewalt fort. Er reißt die Augen auf mad 





- 


108 


ſperrt das Maul auf; ex weiß nicht, wohin er zuerſt ſehen foll. 
daſt geht’ mir wie ihm, doch geb’ ich mir Mühe, weniger dumm 
auszujehen, Die Ohren wollen und fpringen von dem etwigen 
Gerafiel der Wagen unb dem verworrenen Geſchrei: „Für brei und 
einen halben Sous Alles nach Belieben! — Wafler, Waſſer! — 
wei Shü für fünfzehn Sons! — Aufgefchaut, meine Herren 
u Damen, Meffer, Scheeren, Lotto's, Domino’3! — Nur zu⸗ 
geiauft, Kinder, frifchgebadten, eben aus dem Ofen! — Uhrketten 
son Saaren, zu allen Breifen und zu allen Sorten! — Die aller: 
unehe ımd allerbefte Anweifung zum Piquet und Ecartö! — Immer 
heian, meine Herren und Damen, hier ift zu hören unb zu leſen 
das rührende Lied auf den weltbelannten Parifer Giftmord, nad - 
vr Melodie: O Liebe, Liebe, Liebe! — Nur no der letzte 
Rei! — Jede Nummer gewinnt! Ziehen Sie, Mamfelichen,, ziehen 
&e!n.f. w. u. f. w.“ 

Je weiter wir kommen, um ſo aͤrger wird der Laͤrm und um 
Io dichter die Menſchenmenge. Schon zweimal wurde Peter um: 
yraaut, denn er bleibt vor jedem Laden fichen, ohne den Leuten 
öjzweichen. Schon wieder läuft er mit der Naſe gegen einen 
Kun Herrn an, ber wie ein Edelmann gekleidet it, mit fpiegel- 
Hatten Stiefeln, blauem Rod mit goldenen Anöpfen, Faltenhofen, 
wahtoolf Frifirten Haaren, thurmhoher Haldbinde und ſchneeweißen 
hentſchuhen. Der guäbige Herr ſtoͤßt Peter auf die Seite umd 
Mit ihn an: 

„Schlingel von Savoyarde, Schmuglümmel! Die Kanaille 
meh ganz Paris dredig" 

Peter guckt den geftrengen Herrn groß an unb fpringt raſch 
af die Seite, ſtolpert aber gegen ben Korb einer Debfllerin und 
wirft Alles aufs Pflaſter. 

„Daß Du die Peſt kriegſt, Savoyarde!“ ruft die Fran wü⸗ 
Kr. „Wo Haft Du die Augen, Efel! Gleich ſamml' das Obſt 
af, uud bezahle, was Du verborben haſt.“ 


104 


> Sch wie der Bis Hin und helfe dem Bruder das Obſt auf- 
leſen. Dann zieh’ ich ihn fort und zanfe ihn: 

„Glb doch Acht, Peter; fieh’ in Zukunft ordentlich vor Dich Hin.“ 

Aber Peter ift jo außer fih vor Staunen, daß er mich nicht 
hört. Er weist mit dem Finger auf einen Kleiverladen und räft: 

„Sieh’, Andreas, die fchönen Kleider, und da, bie fchönen 
Spiegel, und da, die fchönen Stühle!” 

Nur mit Mühe bring’ ih ihn von einem Paftetenbäderladen 
weg. Er zupft mich am Kleid, ſieht mich biktend an und fagt 
ganz, leiſe: 

„Andreas, haft Du zwölf Sons ?“ 

„Nein! Wozu das?" 

„Hoͤrſt Du nicht? „Zwoͤlfhundert Franken für zwoͤlf Sons!“ 
zuft der Feine Herr da. Die wollen wir taufen, Andreas, und 
und dann beim Paftetenbäcder fatt eſſen.“ ” 

„Geh, Peter; der Herr da Hat und zum Beſten. Ich fagte 
Dir ja, Paris ift voll von Schelmftreichen !” 

„Du glaubft, er will bloß fpaßen ?“ 

„Bas fonft, Peter? Wie Tann er zwölfhundert Franken fir 
zwölf Sous verlaufen? Er muß uns für rechte Efel halten!“ 

Jetzt find wir vor einem Kupferflichladen. Ueber eine Stunde 
bewundern wir bie herrlichen Bilder. Nie Hatten wir fo fchöne 
Sachen gefehen, und ich glaube, noch flünden wir da, wenn nicht 
etwas weiter ab Peter ein Feines Haus von Leinwand entdeckt hätte, 
vor dem eine Menge Menfchen fich ſtieß und drängte. 

„Ah, Andreas, eine Kape! Polichinello! der Teufel!“ ruft 
ee und läuft weg. 

Ich folge ihm dahin. Ein Marionettentheater iſt's, wo eine 
Kape von Polichinello gehänfelt wird und ſich mit Rotomago heram: 
prügelt. Die Geduld des armen Thieres hätte mich in Staunen 
gejeht, Hätte ich nicht gehört, daß es in Paris Thiere gebe, fo ge- 
ſcheit wie Menfchen. Alles laͤuft herbei, dies Schaufpiel zum fehen; 





105 


eine neugierige Menge umgibt und: Bonnen, welche die Katze den 
Kindern zeigen, während fle mit Soldaten ſchwatzen; Mamfellyen, 
bie oft ſich umbliden, und ach! wie hübſch und artig find; auch 
Herren, bie bicht Hinter den Mamſellchen fleben und ihnen immer 
anf ver Ferſe folgen. Das ift nicht Höflih, ihr Herren. Jetzt ſeh' 
ih gar Einen, der feine Hand unter die Schürze von einer biefer 
Damen ftedt. Schon will ih: Diebe! Diebe! fchreien, aber bie 
Dame kehrt fih um und flieht ihn fo freundlich an. Sie. müffen ſich 
gut fennen, ſcheint's. 

Endlich flegt die Kabe, der Teufel verfchwindet, nicht in den 
dunkeln Schooß der Erbe ober in bie Luft, fondern in ben Hinter⸗ 
grund des Haͤuschens von Leinwand, das ſich plöglich in Bewegung 
jeßt und etwas weiter unten flille fleht, zum großen Ergößen ber 
Zufchauer. Ich nehme Peter beim Arm und reiße ihn mit fort. Noch 
wiſſen wir nicht, wohin wir gehen unb wornach wir und erfundigen 
follen ; aber Paris ift fo vol von Wundern und Herrlichleiten für 
und, daß ed und ganz natürlich fcheint, der Neugier nachzugeben 
und all’ die faufend Schönheiten um uns anzuftaunen. Zwar fehe 
ih mich unter der großen Menfchenmaffe nach dem Herrn um, der: 
eine Nacht bei ung fehlief, und nach der fchönen Dame, deren Porträt 
ih auf der Bruft trage, auch nach dem hübfchen Eleinen Mäpdhen ; 
aber ich finde ſie nicht. Es muß doch nicht fo Leicht fein, Jemand in 
Paris anfzufinden, wie ich mir dachte ! 

„Mein Bott, wie groß!“ ruft Peter bei jedem Schritt aus, 
den wir vorwärtg thun. „Sag’ nnr, Andreas, wie leicht Tann 
man flch Hier verirren !“ | 

„Gewiß, Bruber, und doch feh’ ich noch Fein. Ende. Aber 
ſchau', Peter, Schau’, die Bäume, eine Promenade? Komm’ bier 
ber, da iſt's hübſcher und fliller von Wagen.” j 

Wir haben die Boulevarbs erreicht, denn das find die Bäume, 
bie Promenade. Wir gehen und gehen immer weiter und dennoch 
fühlen wir keine Müdigleit, fo ſehr bewundern wir, was wir Hören 


- 


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und fehen. Hier find es goldene Ringe, Brillaninabeln zu zwei 
Sons dad Stüd. 

„Kaufen wir eine,“ fagt Beter leiſe. 

„Bruder, wohin denkſt Du! Merkſt Du nicht, man wil und 
zum Belten haben ?“ 

„Schon wieder ? Schon wieder, Beter 7“ 

Einige Schritte davon fleht ein Herr vor einem Fleinen Bretter: 
häuschen, Elopft mit einem Stod auf eine Leinwand und ruft: 

„Hier iſt für den Spotipreis von zwei Son zu fehen ber 
große, berühmte AntiantosPBolophage, ver Zeiflge, Yale, 
Säbel und Degen verfpeist !“ 

Auch das will Peter fehen. 

„Nicht doch,” ſag' ich ihm, „man lacht und and; vergiß 
nicht, wir find in Paris.” 

Mur mit vieler Mühe halt’ ich Peter zurüd, der mit feinen 
fieben Sous in der Taſche Alles fehen, hören und kaufen will 
Aber Halt, wohin rennt die Menge? Was foll die Muſik? Bir 
folgen dem Strome, und erbliden mitten auf einem großen Blahe 
ein offenes Cabriolet und darauf einen Herrn in rotkem, golbge: 
ſticktem Rode, mit gepuderten Haaren und langem Sopfe, Rau: 
kinhoſen, Hufarenfliefeln und zwei Iangen golbenen Uhrenketien, 
woran zwei bide rothe Kugeln hängen. 

Hinter diefem fchönen Herrn flehen zwei Männer mit einem 
Geſicht, fo ſchwarz wie Neger, aber Händen, wie wir fie haben. 
Beide Männer find ganz fonderbar gekleidet: Hofen, fo weit wie 
Unterröde, enge Weften von flohfarbener Seide, geſtickte Gürtel 
und eine Art von Schnupftuch um ven Kopf gewidelt. Sie machten 
bie Mufll, die wir ſchon in ber Berne hörten; ber erſte Bat ein 
Jagdhorn, der zweite eine Klarinette, beide haben auf bem Korf 
Triangel mit Gloͤckchen und vor fi zwei große Trommeln, bie 
fie mit den Knieen ſchlagen, beun die Stöde find an bem Kuiern 
befeftigt. Alles an dieſen Männern if in eiwiger Bewegung, In 


108 


Bien ruhig: der Kopf wadelt immer Kin und ber, Bruf, Leib, 
Irme und Kuiee fliegen bin und her. O wie koöſtlich flieht Das aus, 
uns wie laut und doch fo fchön klingt ed! Peter, der nie eine fo 
kenliche Nuſik gehört, iſt wie behert; ex brängt ſich bis an bie 
Rider durch und fängt an die Savoyarbe zu tanzen, fdhreit Im, 
jn! pin, pin! und klatſcht in die Hände. Aber der eine von den 
beiven Herren mit ſchwarzem Geſichte nimmt eine ungeheure Peitſche 
und zieht ihm eind über, daß er ſich ruhig verhalte, 

„Sicht Du,“ fag’ ich leiſe zu Peter, der ein jaͤmmerlich 
Gicht ſchneidet, „Die Herren machen keine Muſik, daß Du tanzen 
folk. Sei ruhig oder man ſchickt und zurüd.“ 

„Andreas, der Herr da in rothem, goldgeſticktem Rod if ein 
Nelmann, nicht wahr?“ 

„Das ſollt' ich meinen, Bruder.” 

„Aber die beiden ſchwarzen Teufel da?“ 

„Sind feine Bedienten, Peter. Still, fill. Der ſchoͤne Herr 
il reden.“ 

Wirklich ſteht der rothe Herr auf, gibt den beiden Mufllanten 
ein Zeichen, ſtill zu fein, trocknet fich mit einem zerlöcherten GSchnupf⸗ 
ah den Schweiß von der Stirne und will zu reden anfangen. Alles 
ist vie Ohren. Beter und ich find in der erfien Reihe und können 
jede Silbe hören. Leider fpricht er fo auslaͤndiſch, daß ich ihn 
füner verſtehe. Wie's mir daucht, geht's der Menge nicht beffer, 
wa doch hört Jeder mit der größten Aufmerkſamkeit zu. Nachdem 
ber fchöne Herr nochmals füh die Stirne getrocknet und ſich ge: 
Wuipert, fängt er fon: 

„Beine Erren und Damen, Signora und Miſtreß, ich grüffe 
Yen. Für Sie fveht der Signor Fugacini, der fl ßchmeichelt, 
Allen belannt fu fein: perche ſeit brei ober ßwei Jahr⸗ 
s ick bin ſerr bekannt in alle Aubtſtädte, fl Signors, durk 
ick Habe vollſogen mit dem goͤttliken Bruſtbalſam und 
Nqenbalver, durk mein Genie erfindet! IL you please, Meſſieuro, 


iM 


108 
Mylords, meine Erren, das is ein Balfam für die Magen, dad 


madi, daß man lebt undert Jahre un oft nof merr, wie bie Kar 
raktere befchaffen feind. Un wenn die Schachtel leer is, hab id 


nock merr, meine Erren und Damen, immer nad Belieben. God 


dem, Signors, id bin Tapabel, Sie Steaußenmagen, und andere 
Biehmagen fu geben. Mein Balfam mackt Ihnen verbauen Sheine, 
Marmor, Mooß, Giefel, altbaden Brodit, Berlen, Gupfer, fwarze 
Radis und Diamanten! Perche, Sie begreifen fugleil die ganze 
Nutzlikkeit, un perprovar, meine Erren und Damen, wenn Sie 
feind in die große Wüſte Sahara, wo es nur Sand un Shine 
zu eſſen gibt, un Sie nehmen mein Balfambulver mit, per 
provar, omne tulit ponctum, id will nich Signor Yagacini 
eißen, wenn Sie nid Sand und Sdeine effen wie gelbe Erbſen, 
un ebenfo abbetitlih, very good!” 

Alle fahen ſich verwundert an. 

„Sin Deutfcher !" fagen die Einen. 

„Rein, ein Engländer !" jagen die Anbern. 

„Gott bewahre, ein Türke!“ xuft eine Köchin. „Er Bat ja 
Neger bei fh, und gewiß hat er feinen Balfam in einem Serail 
gefunden.“ 

„Verzeihung, Werthefte,“ entgegnet eine Andere, „ich weiß 
„ed gewiß, er ift ein Italiener, er hat very good gejagt. Ich habe 
mein Stalienifch bei einer Sängerin in der Oper gelernt, bei der 
ich drei Jahre diente.“ 

„Andreas,“ fragte mich Peter ganz leife, „der fchöne Hen 
da will und Kiefel zu efjen geben I“ 

„Nicht doch, Bruder. Er hat einen Balfam, ben er und 
fchenten will, glaub’ ich ; denn ich verſteh' ihn nicht gang. Still, 
ex fängt wieder an.” 

„Meine Erren und Damen, id Eönnte Ihnen die Rauzlid: 
Graft von meinem Balfam feigen. Sie braufen bloß nal Londen, 
Rom, Konfantinopel, Madrid, Beling, Egypten, Syrien un 


* 








m - 
Arabien fu geh’n. Aber id will Sie nich fo weit ſchicken. Ick will 
lieber coram populo Sie hinweifen auf dieſe beiden Neger aus 
Aria, die nicks efien ald Stein, Moog und Marmor — un 
warum? Weil fie mein Balfam brauken.“ 

Dabei wies der fchöne Herr auf die beiden Muflfanten, von 
denen einer an einem biden Stüd Schwarzbrod und einer Serves 
lawurſt Tante. ‚ 

„Sie ſeh'n, meine Erren und Damen, fie feind ſtark un ger 
fund, und dok der da is neunundneußig Jahre, un der andere is 
undert un elf. Das fprikt ſerr für mil. Aber das Beſte kommt 
ud, Um Ihnen coram populo einen Beweis von bie ftaunlife 
Güte von meinem Magen zu geben, will ic! efjen kein Spein, Tein 
Sand, Fein Diamant, das wär fu leikt vor mif, meine Erren und 
Damen; nein, id will eſſen coram populo ein Hein Kind von. 
fieben oder alt Jahr, maͤnnlik oder weiblik, das erfte befl, das m 

eſſen laſſen will.“ 

Alle brachen in laute Verwunderung aus. 

„Mein Gott,“ flüſtert Peter mir zu, „ein Kind will er eſſen, 
der fhöne Herr ?” 

„Barum nicht gar, Beter. Er Hat und zum Beften, wie tie 
Andern auch.” 

Inzwiſchen ift Signer Yugacini von feinem Cabriolet herab- 
geſtiegen umb einer ber Neger mit ihm, um Plab zu machen unter 
ver Menge, bie endlich einen ‚weiten Kreis bildet um den Wagen. 

„Das wär ein Stud!“ ruft der Eine. 

„Bin doch neugierig!” der Andere. 

„Unmöglich!“ ein Dritter u. f. w. 

Beter und ich flehen immer noch in ber erften Reihe, während 
der fchöne Herr im rothen Rod flolz und vornehm in ber Mitte 

| des Kreiſes anf und ab marſchirt. Er flieht fih um nach allen 
' Seiten, -wartet eine Zeit lang; aber Fein Kind erfcheint, um ſich 

; fen zu laſſen. Plöplich bleibt Signor Fugacini vor Peter fiche 

Paul de Rod. 1. 8 


118 


und muftert ihn von Kopf bis zu Fuß. Peber wird purpurroih ist 
Geſicht und ganz verbugt. Aber ich ſtoß' ihn au und fage ihm 
ins Ohr: 

„Sei ohne Furcht, er thut Dir nichts. Er Hat bloß feinen 
Spaß mit Dir!“ 

„Komm' ber, Kleiner!“ jagt der Herr und winkt Bele. 

Ich ſtoß' ihn fanft vorwärts, und gleich darauf ſteht er mitten 
im Kreiſe. 

„Wie alt bift Du?“ 

‚ „Sieben Jahr, Herr.“ 

„Sieben Jahr! reckt fo, very good! Du bit hübſch, did 
und fett. Soll id dit effen, Sped? Es thut nik weh, und Du 
kriegſt fwölf Sous dafür.“ , 

Peter reißt die Augen weit auf und ſieht mich fragenb an. 

„Nur zu,“ fag’ ich ihm, „'s ift ja nur Spaß, oder meinß 
Du, er werde Dich wirklich aufeſſen ?“ 

„Sa, ih will Herr!” ruft Peter. 

Der Mann im rotben Rod nimmt Peter bei der Hand, zeigt 
ihn erſt der verfammelten Menge und läßt ihn dann burch die beiten 
Neger in die Höhe heben, die ihn fünf Minuten lang in der Schwebe 
halten müſſen, damit die Zufchauer ihn beſſer fehen. Dabei mu: 
eiren fie und fchlagen mit den Trommelftöcden an ihren Knieen 
unbarmberzig auf die Trommeln los, während Beter in feine 
Todesangſt die poflierlichften Fragen ſchneidet. Endlich gebietet ker 
Herr den Muflfanten Stille und ruft mit bonwernder Stimme: 
„Aufgeſchaut, meine Erren und Damen! Dies Kind, fieben Jahıe 
alt, werd’ id effen und in fünf Minuten verbauen, bloß mit Hülfe 
von mein Balfam !“ 

Alles reckt die Hälfe empor. Auch ich bin außer mir vor Ru 
Bier; es konnte ja dem Bruber Bein Leid gefchehen. Peter aber 
ſcheint nicht fo ruhig wie ich, obgleich ich ihm maufhorlich be 
deute, ohne Furcht zu fein. 








14 


„Bein Kleiner," ſagt der ſchöne Gere zu Peter, ben bin Beiden 
Meger wieder amf die Erbe geſtellt hatten, „Du mußt Die aubs 
fießn. Id Hab’ gefagt, ick will ein Kind efien, aber nid, ick will 
feine Kleider effen. Doc aus Reſpekt vor die ehrenwerthe Geſell⸗ 
haft will id Did mit Dein Hemd fpeifen. Sich bleß Dein 
Rod und Deine Oſe aus.“ 

Beier beſinnt fih eine Welle. 

„Geſchwind, zieh” Dich aus!” Tag’ ih ihm. „'S iſt ja nur 
Spaß, Beter. Die kannſt Du glauben, daß ber Sen Dig eſſen 
will 2% 

Beter manlt etwas, aber thut, wie ich ihm gefagt. & fteht 
er benn ohne Jade und Kofe, im bloßen Hembe da, die Kleider 
unter'm Arme. Dann führt der fchöne Herr Peter im Hembe im 
Kreife herum, dabei ruft er laut: 

„Examiniren Sie ihn, meine Erren und Damen. Sie felfn, 
der Klein’ is Tein Geripp nid, God dem, ber Schelm is did um 
fett. Als ick ihn zur Speife mir ausgewählt, da fah id nid, wie 
fett ex fein that. Aber madt nicks, ſechs Fund merr oder weniksr ! 

‚Um jo beffer vor bie Geſellſchaft.“ 

Die Promenade im Hemde behagte Peter nicht ſonderlich, der 
ſich mehr als einmal von feinem Führer losreißen wollte; der aber 
halt ihn feſt und ſieht ihn groß am. 

„Nur Gedult, kleiner Schelm! wir find not nick fertig! Du 
haſt mordlange Saare, un Haare ſchmecken nid gut. Ick will Fleiſch 

efien un kein' Haare. Holla, Domingo, ſchneid' ihm die Berrühk ab!“ 

Domingo kommt mit einer großmächtigen Sqheer, vor der 
‚Beier erſchrict. 

„Sei ohne Furcht, Peter,“ ſage ich zum Bruder, sie or 

‚se Spaß nachgerade etwas zu lang währte... 

Doch jest zurädzutreten, wäre ſchimpflich gewefen ; may hätte . 
‚und ausſgelacht. Durch mein Zureden ermuthigt, gibt Peter auch 
diesmal nach, nud in Zeit von. drei Minuten hat ihn der Neger 


19 
vebelglatt à ia Titus gefüheren, whrend ein Ger? aud der Ge⸗ 
ſellſchaft die ſchoͤnen, langen, blonden Haare Peters emſig aufliedt 
und ſchnell in die Taſche ſteckt. 

Während Peter geſchoren wird, geht Signor Fugacini ſtolz 
and vornehm auf und ab, fchüttelt ſich den Bauch, Enirfcht mit 
den Zähnen, probirt fein Gebiß und macht tauſend Grimaſſen, 
ale wolle er ſich auf das große Werl gehörig vorbereiten. 

Meine Ungeduld fleigt jetzt aufs Hochſte, denn ich fehe, wie 
Peter mit jeber Sekunde mehr erſchrickt. Endlich, als der Neger 
ſich entfernt hat, flürzt Signor Fugacini mit wüthender Miene und 
geimmigen Augen auf ven armen Beter Id, padt ihn am Arm 
und beißt ihm leicht im bie rechte Schulter. Kaum bat Peter ven 
Schmerz gefühlt, jo fängt er gräulih am zu brüllen nud reißt füch 
in feiner Berzweiflung vom fchönen Herrn los, mas ihm wit 
ſchwer fällt, denn der Herr benft nicht daran, ihn zurückzuhalten, 
sielmehr hat er Alles auf die Flucht Peters bexechnet. Laut fehreiemp, 
mit Hand und Fuß arbeitend, zwängt fi Peter durch Die Menge 
unb läuft Hals über Kopf davon, glatigefchoren, im bloßen Bemibe, 
fein Bündel Kleider unter'm Arm, während die Umſtehenden ihm 
wachrufen : 

„Der Schelm ſteckt mit Signor Bugarini unter einer Decke!“ 

Auf den erften Angfifchrei des Bruders wollte ich ihm zn Salf⸗ 
. „sen; aber ich baun nicht burchlommen.. Als ich endlich durch Bin 
und mid nad) Peter umfehe, finde ih ihn nicht. Sch rufe Iamt - 

„Beier! Beier! wo bift Du?“ 

Keine Antwort. - | 

Einige Lente zeigen mir, wohin er gelaufen if; ich wie De 
Big ihm nach, und rufe immer: 

„Peter! Peter! wo biſt Du ?“ 

Alles mmfonft ; er Hört uid antwortet nicht. Meim Duo 
Weigt mit jeber Sckunde. 
"Sp laufe und laufe, amd eimes Stzaße in die anbre.. ad 





113 
ia willen wohin ? Zum Unglück bricht der Abend an. Wohl Hunbents 
mal frag’ ih: 

Haben Sie nicht meinen Bruper gefehen 3” 

„Deinen Bruder? Wer if das?“ 

„Gr Heißt Peter umd iſt im Hemde davon gefprungen, weil 
in Herr in rothem Rod ihm aufeſſen wollte.“ 

Alle lachen mich aus. Die Cinen gehen, ohne zu antworten, 
weiter, die Andern fagen trocken: 

„Seh nur heim, da ſind'ſt Du ihn.“ 

„Geh' nur beim! Ja, könnt' ich nur. Wie weit, ad! ſind 
kit son der Heimath, und hier haben wir keine Seele, bie uns 
lent, uns aufnimmt. Wo-foll ich dich fuchen, in biefer unge: 
henern Stadt, armer Beter? Wie wird's dir gehen ohne mich ? 
Gt, wenn die Mutter wüßte, bag du mit Bei mir bifl! 
Sagte fie wicht, ich folle dich feinen Augenblick verlaffen, und ich, 
ih fonnte dich ermuntern, auf ven ſchönen Kern zu hören, der 
gewiß ein Dieb und Räuber iſt! Ach, lieber, lieber Gott, gib 
mir meinen Bruder wieder! 

sh weine Bitterlih, und je mehr ich weine, um fo muth⸗ 
fer werde ich. Es iſt Nacht, und Fein Peter zeigt fi. Bor 
Hipigfeit fep’ ich mich anf einen Eckſtein. Seit Morgens habe 
ih nichts gegeffen, Feinen Biffen, und doch hungert mich nicht, 
been ich bin fo betrübt, fo tief betrüht. Sch weine mich recht aus; 
er Riemand fragt mich, warum ich weine, ober troͤſtet mid. 

Da fage ih mir: Suche nochmals, vielleicht findeft du ihn 
ish. Ich fpringe auf und geh’ davon. Aber, o Gott, wie groß die 
ktadt it! Wie fol ich da Peter finden ? Sind wir darum außer und 
Wwelen vor Freude, als wir Baris fahen? Wer häfte das gendiht! 

Ich weiß nicht and und nicht ein. Noch immer ruf' ih: 

„Beier! Beten! wo biſt Du ?“ fo gut ich rufen kann; denn 
#4 din ganz heifer vom Weinen. 

86 muß fügen rat fpät fein, weil ich wenig Leute mehr auf 


114 u 
den Gtraßen ſehe. Go, jetzt kann ich vor Mattigkeit nicht wetter. 
Ich werfe mich ber Länge nach in die erfte befte Ecke nieder, vor 
einer Beinen Thüre. Da will ich heute Nacht fchlafen. Morgen, 
mit Tagesanbruch, will ich aufs Neue fuchen, vielleicht bin ich 
dann glädlicher und finde den armen Bruber. 

Kaum liege ich da, fo fallen mir die Augen zu. Ich rufe 
noch einmal Peters Namen und fchlafe dann ein. 


Behntes Kapitel. 
Der Bafjerträger. — Die guten Leute. 


Den andern Morgen wert mich eine Stimme, die ruft: 

„He, Kleiner, ſteh' auf! Du verfperrft ben Weg gu unfere 
Wohnung, er ift ohnehin fchon fo ſchmal. Was, Du fhläfft noch? 
Bie koͤmmſt Du dahin, fprich 2” 

Zugleich fühle ich mi am Arme gerüftelt. Ich öffne die 
Augen: ed war ſchon ganz hell; ich fehe einen Mann vor mir, 
faft wie mein Bater felig gekleidet, in braunwollener Jade und 
Hofe, mit aufgefremptem Hute. Er trägt einen Reif, von dem an 
ledernen Riemen zwei Eimer herabhängen. 

Das Geficht dieſes Mannes zeugt von Dffenheit und Herzens: 
güte, Er bleibt vor mir flehen und flieht mich wohlwollend an. 
Mein erfter Gedanke beim Erwachen ift mein Bruder. Ich ſuche 
ihn links und rechts neben mir, und ſchon wieber muß ih weinen. 

„Run, Kleiner, willſt Du antworten ?“ 

„Ab, Herr, haben Sie meinen Bruder nicht gefehen ?“ 

9, Deinen Bruder? Wen meinft Du? Wie alt ift er? Wohn! 
er in diefem Quartier? Iſt er ein Kunde von mir ?“ 

„Mein Bruder ift fieben Jahre alt und heißt Peter. Wit 
- Beide find Savoyarden und erft geftern von Börin, neben d 
Hefpital — da wohnen wir — in Paris angefommen, Unſer Batrı 





. 185 


Rarb vor wenig Monaten und unfere Mutter ift fo arm, daß fie 
und fein Brod geben Tann. Der Heine Jakob, mein anderer Bruder, 
lieb bei ihr; wir aber, Peter und ich, zogen in bie Fremde. Ehe 
wir auszogen, fagte mir die Mutter, ich folle Peter keine Minute 
allein laffen, denn er ift jünger und nicht fo kühn als ich. Ich 
verfprach es ihr ; geftern aber, als wir anfommen in Paris, bleiben 
wir vor einem Herrn in fchönen Kleidern ftehen, der zwei Bedienten 
hiater ſich hatte, nnd der fagte, er wolle dem Kinde zwölf Sous 
geben, das fich von ihm efjen laſſe. Ich glaubte, es fei blog Spaß.” 

„Und Du Hatteft Recht, Kleiner: es war ein Poffenreißer, 
Sunfitüdmacher oder fo was Aehnliches.“ 

„Der fhöne Herr wählte ſich Peter ans. - Peter wollte aber 
nt. Da fagte ich Leife zu ihm: „Thu's doch, 's iſt ja nur 
Echerz.“ Und Peter that ed. Dann zog er Peter' die Kleider aus 
uud ſchnitt ihm die Haare ab, und als ey das geihan, fprang er 
auf Peter zu und machte dabei ein fo — * Geſicht, daß 
Peter erſchrickt und ohne mich davonlief. Ich wollte ihm nach⸗ 
larfen, aber er war fchon weit, weit weg. Ich fuchte ihn überall, 
Ke ganze Nacht lang, aber konnte ihn nicht finden. Endlich fiel 
is ganz ermattet vor biefer Thüre nieder und fehlief ein.“ 

Je weiter ich kam in meiner Erzählung, um fo aufmerffamer 
m theilnehmender hörte er zu. Als ich fertig Bin, mwifcht er fich 
nit der Hand die Augen und fleht mich einige Sekunden ſchweigend an. 

„Und Du Tügft nicht, Kleiner ? 

„Rein, Herr, gewiß nicht. Ich Füge nie; ich hab's der Mutter 
siprochen und halte mein Wort.” 

„Bas wit Du heute Morgen thun?“ 

„Beter fuchen. Ich muß ihn finden.“ 

„Das geht nicht fo Leicht, wie Du wohl glaubft. Paris iſt 
vb, ſehr groß! In welchem Quartier verlorft Du Deinen Bruder?“ 

„Mein Gott, ich weiß nichts, Herr, gar nichts! Es war ein. 
peher Bla‘, ringsum Häufer.“ 


16 


„Solcher gibt’8_viele bier in Paris. Aber Da haft Ha: 
wenn ihr erft geftern angelonmen feib, koͤnnt ihr die Mamen der 
Quartiere noch nicht wiſſen.“ 

„So fol id} ihn nie wiederfehen, Herr?“ 

„Das verhüte Gott! Aber wenn Du ſuchſt, kannſt Du nit 
arbeiten ; haft Du Geld ?“ 

„Mein Gott, nein! Aber das macht nichts!" 

„Das macht nichts ?“ 

„Rein, Herr, denn Beter hat was, wenigſtens fieben Sons.“ 

Der Wafferträger fährt nochmals mit ber Hand über's Ange, 
dann gibt er mir einen Patſch und fagt: „Du biſt ein brav 
Burſch, Du haft Deinen Bruder lieb, recht lich! Aber tröfte Di, 
Kleiner, Du mußt nicht ewig weinen ; das hilft nichts. Haſt Du 
Sunger ?“" 

„Sa, Herr, ich habe feit geftern Nachmittag drei Uhr nichts 
gegeſſen, aber wenn ich in der Straße rufe, krieg' ich ſicher was 
zu fegen, und dann will ich mir Brod Taufen.“ 

„Du irrſt Dich, Kleiner; man findet nicht fogleich ein Kamir 
zum Frühſtück. Es find verteufelt viele Kaminfeger bier in Paris, 
und Du kannſt nicht 'mal laut rufen, weil Du hungrig bil. Koum' 
mit mir herauf! Es if erft Halb ſechs Uhr, und was fehabet's, 
wenn die Kunden ein Paar Minuten warten.“ 

Mit diefen Worten ftellt der gute Mann feine beiden Cimer 
in die Ede des Ganges, fleigt eine Treppe hinauf und winft mi, 
ihm zu folgen. Ich Elettere ihm nach; die Stiege if fehr ſchmal 
und dunkel, doch halte ich mich am Geländer fe. Wir fleigen 
immer höher hinauf, bis in den Giebel des Hauſes, und als bie 
Stufen alle find, Flopft er an eine niedere Thüre und ruft: 

„Ranette, NRanette, mach’ ſchnell!“ 

Ein Tleines Mädchen, wie mir feheink von meinem lie, 
öffnet die Türe. Sie iſt nicht gang fo nett wie bie, welche in 
unferer Hütte ſchlief, ihre Züge find nicht fo fein, auch irägt fr 





217 


geebe Rleiber, aber fie hat ein Paar lebhafte Augen ud ein fo 
mubed Gefichtchen, fo friſche Backen, und ficht fo heiter aus, daß 
ed eine wahre Freude if, 

„Schon wieder da, Bapa!“ ruft Naneite, während fie hie 
Ifüre öffnet ; dann blickt fie mich erflaunt an. 

„Geſchwind, Toͤchterchen,“ fagt der Wafferiräger und winkt 
nit ind Zimmer, „gefchwind Etwas zu eſſen und zu krinken für 
ver Kleinen da! Wir haben nod ein Paar Broden übrig von geflsun. 
Gb, was Dun haſt. Der Kleine dauert mid.“ 

Während Ranette thut, wie der Bater ihr geheißen, ſeh ich 
ih im Zimmer um. Es erinnert mich etwas an unfere Meime . 
Gülle ; Betten, Tifche und Stühle find nicht viel eleganter. Das 
Immer ift groß, aber zur Hälfte eine Manſarde; hinten ſtehen 
ein großes Bett und einige Haushaltflüde. Links davon befindet 
Rd ein Feines Kabinet mit einem runden Feuſter und einem zweiten 
Belle. Das ift fo ziemlich die gange Herrlichkeit. 

Ranette ftellt Brod, Käfe und Mindfleifch auf den Tiſch. KR’ 
laſſe mich nicht lange nöthigen ; ben mit acht Jahren Tan ſelbſt 
Serzenäfummer den Appetit nicht ganz vergeffen machen. j 

„Schau, Papa, wie hungrig er ift!“ jagt die Kleine, «is 
fe mich effen fieht. 

„Der arme Schelm!” lächelte der Bater. 

Aber plöglich Halt’ ich an mit Eſſen; denn der arme Prior 
füllt mir ein. Wo mag er jept fein? Mein Gott, wenn er nichts 
m beißen hätte! Und unwillfürkich bi’ ich gen Himmel. 

„Sei rahig, Kleiner,” troͤſtete 3* der Waflertväger, „mm 
wird ihm micht verhungern laſſen! Und hat er nicht fieben Sous 
m Sad 9“ 

Das hatte ich vergeffen, und gleich lam der Appetit wieder. 

„Hore, Burſche,“ ſagte Nauettens Vator, alq ich mid ſatt 
gegeſſen, „Du gefaͤllſt mir: Dein offenes, ehrliches Geſicht, Deine 
Eh zu Deinen Ellen und Deinem Binden das Alles Sit mis 


118 


wohl. Ich wi Dir Helfen, wenn ich kann. Zwar bin ih kn 
Savoyarde, fondern ein Auvergnat; aber auch in Auvergne leben 
brave Leute, und Vater Bernhard ift als folcher im ganzen Duartir 
beiannt. Mein Name ift fo fedlenlos wie Died las. Gold m 
Silber hab’ ich nicht, die Krankheit meiner lieben Frau felig Bat 
viel Gelb gekoftet ; aber ein Zimmer hab’ ich für Di, dad magfl 
Du mit mir theilen, umentgelblih. Auf dem Gurtbett da, dad 
meinen Bruder gehört, der vor ſechs Monaten wieder abgereist ik 
nach Auvergne, da kannſt Du ſchlafen; dazu geb’ ich Dir eine Matrape 
und frifches Stroh, und Du ſollſt ſchnarchen wie ein Prinz. Wenn 
Da dann gearbeitet haft, ißt Du bei mir. Nanette und ich ſind 
danz allein ; fie iR erſt acht Jahre alt, aber fie kocht ſchon perfect ; 
eine Nachbarin Hifft ihr in der Küche. Haft Du erft Deinen Bruder 
wiedergefunden, fo bringft Du ihn mit zu und; er foll bei mir 
Vieiden fo gut wie Du. Run, was meinft Du dazu ?“ | 

„sa, Herr, ja! ich danke Ihnen!“ fage ich zum Vater Bern- 
Yard. „Wenn ich nur erſt Peter wieder hätte.“ 

„Du fuchft und arbeiteft zugleich. Auch ich will thun, was 
ih kann, um ihn aufzufuchen; ich will mich in jedem Onartier 
erkundigen.“ 

„O, bitte, thun Sie's ja!“ | 

„Sei nur ruhig, Kleiner, ich verſpreche Dir's. Aber ba fchlägt 
ed fechs ; ich muß gehen. Komm’ mit, ich will Dir zeigen, wie 
Du die Thüre aufmachſt, und wenn Du verirrt bift, frag Du 
nach der alten Rue du Temple, bei der Nue St. Antoine, nach 
Bater Bernhard. Auch merkſt Du Dir unfer Haus, verflanden ?* 

Ich nehme Sad und Krageifen unter ven Arm, nide Ramette 
zu, welche lächelnd den Gruß erwidert, ald wären wir alte Be- 
kannie, und fteige hinter dem guten Wafferträger bie Treppe hinab, 

‚mit trauriger Miene und beffommenem Herzen. Aber der brave 
Mann wird nicht mäbe, mich zu tröften. 


ar Muth, Kleiner,“ ſpricht er, „Du wirft Deinen Beaber 





118 


wieberfinben. Der da oben wirb über ihn wachen, wie er über 
Dich wachte.“ 

„A ja,“ antwortete ich leiſe, „und ex hat ja fieben Sous, 
und mit fieben Sous kommt man weit.“ 

„Aber Halt, Kleiner, fagt Vater Bernhard auf dem Gange 
u mir, „wie beißt Du ? Ich weiß Deinen Ramen noch nicht.“ 

„Ih heiße Andreas und mein Bruder heißt Beier.” 

„Peter, das weiß ich. Alfo merke Dir unfere Thüre, Audreas, 
und unfere Straße, Alte Aue du Temple, verflanden? Immer 
gerade and geht's auf die Boulevards. Verlier' Dich nicht zu weit 
ud lomm' nicht zu fpät zuräd. Gegen Dunkelwerden efjen wir 
ufere Suppe, hörft Du? Jetzt geh’ mit Gott, arbeite fleißig und 
Sting’ mir Deinen Bruder mit.“ 

Da fiehe ich nun allein und verlaffen auf der Straße in dem 
mgebeuern Paris. Ehe ich weiter gehe, betrachte ich mir nochmals 
zenan das Haus und bie Thüre, wo ich fo Tiebreiche Aufnahme 
shuden. „Mein armer Bruder,“ fage ich unterwegs zu mir, 
„wenn ich Dich wieder habe, o, wie glüdlich wollen wir fein bei 
km guten Wafferträger, der und umfonft Wolmung gibt. Rur 
Ruth, Andreas! Höre auf zu weinen und zu trauern, du ſindeſt 
Peter wohl recht bald. Und er hat ja fieben Sous, bavon kann 
a eine Weile leben, und gewiß bat auch er eine mitleivige Seele 
sfunden, bie ihn aufnimmt. Er ift ja fo nett und fo gut.“ 

In foldden Gedanken gehe ich weiter durch bie große Stabt, 
we ih faum vierundzwanzig Stunden bin. Ad, wie anders ers 
ſhien fie mir heute! Wie viel hatte fie an Zauber für mich vers 
men. Kalt und gleichgültig gehe ich an all’ den herrlichen Läden, 
önen Häufern und den tanfend Sehenswürbigfeiten voräber, vie 
nid geftern noch entzäckten und alle Müdigkeit verfcheuchten. Aber 
ratürlich, Peter iſt ja nicht Bei mir; ich kann einmal nichto ohne 
fg genießen! Ueberall fuche ich if, two nur ein Haufe Menſchen 
deht. Ich Habe kaum ven Rauth, von Zeit zu Zeit mein Schorn⸗ 


120 


ſſeinfeger! Schenwfleinfeger !“ zu zufen ; ich Habe much wichts ver⸗ 
dient, und ſchon ift es fpät am Tage. Ich fehe viele Knaben und 
Mabdchen aus unfern Bergen, die mit einander fpielen ober für 
Geld tanzen, aber ich wäre nicht dazu im Stande ; wie fönnte ich 
jet fingen, fpielen und tanzen, ba ich meinen Peter nicht bei mir 
habe! Auch will ich nie auf ſolche Weiſe mein Brod erbetteln, ob: 
gleich fie fagen, daß es viel Geld einbringt. 

Mitten auf einem Boulevard höre ich den Klang eined Walb: 
boras , einer Klarinette und mehrerer Trommeln. Es war faſt bie 
felbe Mufll wie die von ‚geftern, ich meine bie ber beiden Neger 
und des fchönen Herrn im rothen Rod, der meinen Beer verfpeifen 
wollte. Sch laufe hinzu und fehe einen Türken, ber ein ungehentes 
großes Stüd Holz auf der Nafenfpige trägt. Ja, man bat recht, 
es gibt in Baris feltfame Dinge zu fehauen! Aber wag kütmert 
mich dies Schaufpiel heute ° Ich fuche unter der Menge nach Peter, 
doch Fein Peter iſt zu finden, und als der Türke laut aukünbigt, 
er werde jet ein Kind an den Haaren im Kreife berumfchwingen, 
renne ih Hals über Kopf davon, aus Furcht, er wolle die Ge 
feltfchaft auf meine Koſten amüflzen. 

Der Abend bricht herein und es ifi Zeit, zum guten Valer 
Bernhard zurüdzulehren. Ich erfrage endlich die alte Rue bu Temple 
und finde nun leicht dad Haus. Aber auf dem ſchmalen Gange 
vor der Stiege fällt mir ein, daß ich ben ganzen langen Tag feines 
Sou verdient. Schon will ich umkehren, doch der Hunger treibt 
mich Die Treppe hinauf. Auch fage ich mir, Vater Bernhard uud 
Raneite warten auf dich und Beide find ja fo gut and du braudfl 
ja fein Schlafgeld zu zahlen. Ich gehe aljo hinauf und fehe durch 
die Spalte der Thüre Baier Bernhard und Nanette ſchon am Tiſche 
fügen bei ihrer Nittagsmahlzeit, die zugleich ihre Abendmahlzeiü 
it, beum fie gehen früh zu Bette, um früh aufzuflehen. 

„Rowm’ dach hexein, Andreas; wir warten anf Dich!“ fast 
bes Waſſertraͤger liebreich. „Ich fürchtete ſchon, Du habeſt ben 


Kamen dei Strafe vergeſſen ober feieſt verirrt, deun Parid iſt fo 
oh! Wan findet ſich erſt altmählig zurecht und gewöhnt ſich 
ſchwer au dad Gedraͤnge von Menſchen und Wagen.“ 

Beſchaͤmt trete ich ein und will mich in eine Ede der Stube 
jepen, obgleich der Geruch des Eſſens mir duftend in bie Mafe ſteigt 
nd mich noch einmal fo hungrig macht. 

„IR dad Dein Platz, Andreas?" fragt Bater Berahet, 
„Sicht Du denn nicht, daß wir effen ?“ 

Ja, Sem, aber... .“ 

„Barunı fegeft Du Dich nicht zu und an ben Tiſch ? 

„Beil... weil ich nicht hungrig bin, Herr Bernhard.“ 

„Richt Sungrig, Andreas? Haft Du denn unterwegs gegeſſen? gu 

„Rein, keinen Biffen.“ . 

„Und doch nicht hungrig, bad iſt naͤrriſch.“ 

Der Waſſertraͤger ſah mid) prüfend an und merlte, da meine 
Sagen, bie oft auf die Suppenſchüffel fielen, meinen Mund Lügen 
Araften, 

„So befehl ich Dir zu effen, Andreas, magft Du Hungeig 
jein ober nicht.“ 

„Aber... aber... Herr Bernhard,“ flotterte ich, Langfam dem 
Te mich nähernd, „ich Habe heut’ nichts verbient.“ 

Bei diefen Worten nimmt mich Vater Bernhard, drückt mich 
af einen Stuhl nieder und ſetzt mich neben ſich. 

„Deßhalb will Du nicht eſſen, Du Eleiner Narr! Iſt es 
Seine Schuld, wenn Du Beine Arbeit fandſt? Kannſt Du ohne. gu 
den leben ? Seh’ nur, Andreas, fo lange ich und Nanette zu beißen 
heben, ſoll es auch Dir an nichts fehlen. Drum if getroft und komm 
ur nicht wieber mitfolchen Albernheiten oderich prügle Dich hungrig.“ 

Und dabei finpfte mich ber gute Mann fo voll mit Suppe uud 
Sb, daß ich mit Hand und Buß mich wehren mußte, um nicht 
m erſticken. 

„Rein Sohn,“ Hub er nach einer Weile an, „jeder Stand 


128 


hat feine guten und feine Bäfen Tage. Leider kommf Du fehe zu 
Unzeit nach Bari: der Herbflanfeng ift Teineswegs bie goldene 
Zeit der Schornfleinfeger ; aber doc; gebulde Dich, wenn Du ef 
beſſer in Paris Befcheid weißt, fol es an Aufträgen nicht fehlen. 
Mit Briefaustragen kann fich jeder verfländige und ehrliche Knabe 
eine hübſche Summe verdienen. Aber nur Feine Umſtaͤnde mehr 
wis heute. Bringſt Du Geld heim, um fo beffer ; kommſt Du mit 
leerem Beutel zurüd, fo bleiben wir doch gute Freunde. Hab’ ih 
Dich nicht auf Dein ehrlich Gefiht und Deine Liebe zu Mutter 
und Bruder in meine Wohnung aufgenommen, ohne nad ber Be: 
fhaffenheit Deines. Benteld zu fragen ?“ 

Sch umarmte den guten Auvergnaten für fo viel Güte und 
Freundſchaft: von da an fühlte ich mich nicht mehr allein in Paris. 
Auch Nanette kommt herbei und herzt ihren guten Bater, währen 
He mir freundlich zuläckelt. Ich leſe in ihren Augen, wie auf 
fie mich lieben will, und fehe fie faſt Schon als eine Schweſter an. 
Die guten Leute! Welch' Glück für mich, in ſolche Hände gerathen 
zu fein. DO, du Lieber, lieber Beier, wäreft Du doch wie ich vor 
der Thüre eines Arbeitsmannes eingefchlafen! Wahrlich, da ſchlaͤft 
ſich's ſanfter ale unter dem Säulenportal eined Palaſtes, wo eine 
freche Dienerfchaft und Morgens mit Yußtritten wegjagt. | 

Abends fagt mir Vater Bernhard das Näthigfle über Paris 
und die verfhiedenen Stabtquartiere. Ich Höre aufmerkfam zu, dem 
ich will von ihm lernen, damit ich recht bald als Briefträger viel 
Geld verbienen Tann. Gr hat fich in allen Straßen , die auf feinem 
Wege Ingen, nach Peter erkundigt ; .aber Niemand bat ihm Auf: 
ſchluß geben koͤnnen. Mein Gott, wo mag ber Peter Reden! 
Mer den ganzen Tag Waffer trägt, der will Nachts gehörig 
ausichlafen. Auf einen Wink des Vaters begibt fi Manette in 
ihr Gabinet und ich Erieche in mein Gurtbett, das man fanber her: 
‚gerichtet Hat. D, wie anders ſchlaͤft ſich's in ſolchem Wette ald 
auf dem Karten Steinpflafter ! 





123 

Kur folgenden Morgen beim Antiekven entbeckt Bader Berns 
hard zufällig das Medaillon, das ich ſteis anf der Bruſt trage. 
Er runzelt die Brauen und winkt mic zu fi, währen Manelte 
bad Hälschen reckt und die Augen aufſperrt, um beſſer ſchaues 
ja koͤnnen. 

„Bas if das da, Kleiner? Woher Iommt das Kleinod ? Set 
wann haft Du's? Warum fagteft Du mir nichts davon *" .. 

Ich erzähle nun kurz dem Wafferträger die Gefchichte des Por⸗ 
hält. Je weiter ich Tomme in meiner Erzählung, um fo mehr 
hellt fein Geſicht fih auf und nimmt wieder feinen gewöhnlich 
Reundlichen Ausdruck an. Als ich fertig bin, herzt er mich und fagt: 

„Richt für ungut, Kleiner, ich dachte mir... doch nein, 
Du bit ein braver Burſche.“ 

Nanette Tann ſich nicht fatt fehen. . 

„Wie hübſch die Dame iſt!“ ruft fie. „Und ihr Kleid, wie 
ſchön! Nicht wahr, Bapı ?“ 

„Bewiß, mein Rind,“ antwortet er, „if fie recht ſchon; aber 
es gibt viele fchöne Damen in Paris, und auch viele, die ganz fo 
gelleidet find. Das Porträt bringft Du nicht an, Andreas; Du Tann 
wanzig Jahre in Paris wohnen, ohne die Eigenthümerin zu treffen,” 

Dennoch Tommt es mir fo vor, als würbe ich den einäugigen 
Seren wieberfinden, und behutfam ſtecke ich dad Medaillon unter 
be Weite zurüd. Dann gehen wir, Bater Bernhard und ih, au 
unfere Arbeit. 

AU mein Suchen nad Peter ift umſonſt. Dagegen habe ich 
Gt in meinem Gefchäft, denn ich habe zwei Kamine gefegt. 
Stolz kehre ich nach Haufe zurüd und lege mit triumphirendes 
Bine meinen Berbienft auf den Tiſch Hin. Der Wafferträger 
get und fagt: - 

„Rur Geduld, Andreas, ed wird ſchon gehen. Ih mill bad 
Geld aufheben, und am Ente des Jahres fehiden wir's Deiner 
Rutier,* . 


Die Unsfiiht belebt meinen Ruch aufb Meue. ES Sauer nihl 
lange, fo kenne ich ſchon mehrere Quartiere von Baris. Mein Ge⸗ 
dachtniß iſt gut und an Verſtand fol mir's auch nicht fehlen, fo 
habe ich denn bald zu thun. Mehr ale ein ſchoͤner Herr fledt mir 
ein zierliches Billet in die Hand, das nach Mofchus ober ofen 
duftet. „Geh’,“ ſpricht er, „und bring’ das ber-ober ber Dame. 
Deffnet Die ein Herr die Thüre, fo fragft Du, ob's wadgu fegen 
gebe, und behaͤltſt dad Billet Bei Dir; Hüte Dig vor Dumm⸗ 
heiten!“ Ich thue genau, was man mir fagt. Bringe ich eine 
Antwort zurkd, fo finde ich die Herren recht freigebig ; bringe ich 
feine, fo gibt's nur wenig Geld ; bringe ich gar den Brief zunäd, 
fo gibt's Häufig nichts als Scheliworte. Die jungen Damen find 
gerechter ; fie bezahlen immer, felbft wenn bie Antwort fie zu be 
trüben fcheint. Aber fie überfchütten mich mit Fragen, fo daß id 
Mühe habe, fie zu Behalten, 3. B.: „War er da? Gabſt Du eigen: 
händig ihm den Brief? Was machte er? Was fagte er? War er 
allein ? Wie ſah er aus, als er den Brief las ?“ So fragen fie, die 
Fraͤulein oder Damen, wenn fie mir einen Brief zu beforgen geben. 

Die Zeit verftreicht ſchnell. Wie glädlich Tönnte ich bei Re 
nette und ihrem Vater fein, wenn ich nicht immer an ben armen 
Beier denken müßte. AU unfer Suchen nad ihm hat nichts ge: 
holten ; überall in ganz Paris haben wir nach ihm geforfcht und 
gefragt. Bisher habe ich das traurige Greigniß der MRutier ver 
ſchwiegen, denn ich kann ihr erſt gegen Frühling ſchreiben, ‚und 
ber gute Waflerträger meint, ich folle fie nicht unnöthig betrüben: 
Beter Tönne ja alle Augenblide gefunden werben ; vielleicht auch 
wife es bie Mutter ſchon durch ihn. 

Ich folge Bater Bernhards Rath, denn ich bin wie ein Gohn 
im Haufe. Wir Gebirgskinder pflegen nur mit befonberer Gelegen: 
heit zu fchreiben. Leider kann ich nicht fehreiben, und bad thut 
wir leid ; aber Vater Bernhard, ver eben fo wenig ſchreiben lau 
als ih, fagt, man könne auch, ohne bie Fever zu führen, sin 





13 


"ganzer Kerl fein, man komme mit ber Zunge eben fo meit wie mit 

ber feber, und er hat Recht, d. h. wenn man fein Lehen lang Schorn- 
Reinfeger oder Briefträger bleiben will. Wer aber fein Glück in 
ber Belt machen will, der, glaub’ ich, muß doch fchreiben können, 
wenn auch nur ein Bischen. 

„Die mir fcheint, Andreas, haft Du hohe Dinge im Kopf,“ 
ſagt mitunter der gute Mann. „Du möchteft gerne ein vornehmer 
Herr werben, nicht wahr ?“ 

„Ih möchte weiter nichts,“ antwortete ich ihm, „als reich 
fein, um Mutter, Beier, Jakob, Vater Bernhard und Nanette 
glädlih zu machen.“ 

Quäl' Dich nicht um uns, guter Andreas. Wir Beide, Na: 
nette und ich, find mit dem Wenigen, das wir haben, zufrieden, 
und der Reichtum macht nicht immer glüdlich.” 

Der brave Wafferträger ift Philofoph, denn er ift fein Trun- 
Imbeld und begnügt fi mit Wenigem. Aber Nanette möchte gerne 
in hübſches Kleid und einen hübfchen Hut und hübfche Schuhe 
baden, und das Alles habe ich ihr verfprocdhen, wenn ich erſt ein 
der Mann bin. 

Die gute Mutter fagte einft, dad Medaillon werde mir Glüd 
Inngen. Drum hebe ich's fo forgfältig auf, um ed dem Herrn 
m der Dame wieder zu geben. Wenn ich oft bed Sonntags früher 
amfehre, fo ziehe ich das Porträt hervor und betrachte es mit 
behrer Luſt. Gleich kommt Nanette und ftellt ſich Hinter mich, 
m ed mit mir zu betrachten. Dann fagt Vater Bernhard laͤchelnd: 

„Ja, Andreas, ſieh' es nur recht fleißig an, Du haft ſonſt 
nen Mugen davon.“ | 

Nun iſt ver Sommer da. Vater Bernhard Fennt einen wackern 
dann, der nach Savoyen reidt und meiner Mutter Nachricht won 
r geben will. Durch diefen Mann will ich ihr das erfparte Geld 
hicken. Den Tag zuvor kommt Vater Bernhard ins Zimmer und 
it einen Eleinen ledernen Sad auf den Tiſch. In dieſem Sade 

9 


Jaul de Kod. U. 


186 


find — hundertundzehn Franken! Welche Summe! So hoch find 
die täglichen Erfparniffe angewachſen. Ich bin außer mir vor 
Freude und Tann mich nicht fatt fehen an diefem Haufen Gel. 
Sa, ich Hoffe, das wird bie gute Mutter etwas Iröften in ihrem 
Schmerze über eine Trennung von Peter. 

Ich will nicht davon für mich behalten, obgleich Ranette 
fagt, ich brauche Sonntagshofen und einen Sonntagsrock. 

„Nein,“ fage ich, „ich bleibe fo, wie ich bin. Die Frende, 
der Mutter fo viel Geld ſchicken zu koͤnnen, if gar zu groß, un 
ich Tann ja noch genug Geld verdienen. Der Anblick dieſer er: 
fparten Summe verdoppelt meine Luft zur Arbeit. Bon heut’ an 
will ich noch früher aufftehen und noch fpäter zu Bette gehen.“ 

„Und Trank werden!“ fährt Nanette fort. Denn Nanette if 
ein liebes, gutes Maͤdchen, vie mich recht gerne Hat. Dabei iſt ſie 
die Heiterkeit felbft: fie Tacdht den ganzen Tag und fingt, wo fie 
geht und ſteht. Auch ift fie fleißig, flinf und gewandt. Wie ein 
Reh hüpft fie die ſechs Stiegen im Haufe hinunter, wenn fie dem 
Pater was an ben Augen abfehen Kann. Nie habe ich fle müntd 
oder verflimmt gefehen, ober je einen Klagelaut won ihr gehört. 
Wenn wir Abends heimkommen, fpringt Nanette von ihrer Arkeit 
auf und Hüpft in die Küche, das Abendeſſen zu Holen, das fie 
ſelbſt anrichtet: denn, wie gefagt, Nanette kocht ſchon perfect, ob: 
gleich fie erfi neun Jahre alt ifl. Zum Dank dafür küßt Bater 
Bernhard fie auf den Mund und erzählt ihr viel Schönes unt 
Neues, um fie zu entſchädigen für die Langeweile des Tages, denn 
Nanette ift den ganzen Tag allein zu Haufe, und das muß fie 
natürlich etwas Iangweilen. Nanette fäße lieber bei ihren Gefpie: 
Iinnen in ber Nachbarfchaft, aber ihr Water wünſcht daa nicht, 
und Nanetie iſt gehorfam. Man Tann fich leicht denken, daß Ra: 
nette und ich fchon Lange ſich dutzen: in unferem Alter fcheint et 
mir, als verflände dad Dupen ſich yon ſelbſt. 

Nach dem Abendeſſen bittet ſie mich, ihr ein Lieb aus unſern 


⁊ 





197 - 


Bergen vorzufingen ; dafür tanzt fie mir einen Tanz aus Muvergne, 
das fieht gar hübſch aus! Mährend fie tanzt, lacht fie, trippelt 
mit den Füßchen und fehlägt mit den Händen ben Takt. Sie if 
babei eben fo luſtig und zufrieden, als tanzte fie in der Schenke. 
Penn ih fie fo tanzen fehe, iſt mir, als wäre ich in unfern 
Bergen unter dem Dache unferer Hütte. 

So verfireicht uftter Arbeit und reinen, unfchuldigen Genüffen 
noch ein Jahr. Ich habe inzwifchen Nachrichten von der Mutter 
erhalten: bie Gute fürchtet, ich entziehe mir das Nöthigfte ihret⸗ 
wegen, unb verbietet mir auf lange Zeit, ihr wieber Gelb zu 
ichiden. Bon dem armen, unglüdlichen Peter weiß fie nichts, und 
ſcharft mir wiederholt ein, ven Bruder aus allen Rräften zu fuchen. 
Gnblih bittet fie mich, dem ebelmüthigen Manne, der mich wie 
fein leiblich Kind aufgenommen hat, ihren innigften Dank zu fagen. . 

Auch ohne die Ermahnung der Mutter, Peterd wegen nidhte 
anverfucht zu laſſen, hätte ich ihn fort und fort gefucht. Kein 
Tag vergeht, wo ich nicht nach ihm frage. 

Aber die Zeit, die jeben Kummer hebt, hat auch meine Traurigs 
kit gehoben. Ich Bin wieder fo heiter und froh wie zuvor. Warum 
ſollie ich nicht ? Wie könnte ich an Nanettens Seite Länger traurig 
kin, die ſchon mit zehn Jahren fo nedifch und muthwillig iſt, aber 
dabei mich Tiebt wie ihren Bruder. Die gute Nanette! Bin ich 
karig, fo Hüpft fie fingend im Zimmer herum, zupft mid am 
Im und läßt mir feine Ruhe, bis ich mit ihr tanze. 

„Sei doch luſtig, Andreas,” ruft fie. „Dies Seufzen hilft 
m Richts! Komm’ und tanz’ mit mir, das ift gefcheiter, als fo 
R träumen und heulen. Geſchwind, Andreas, ober ich habe Dich 
üht mehr lieb.“ 

Ich gebe ihr nach, anfangs ihr zu lieb, dann aber, weil dies 
Mittel mir behagt. Mit zehn Jahren vergipt man ven Kummer 
aa fo ſchnell! 

Jeden Tag wird Nanette häbfcher und ihre blauen Augen 


128 


lädyeln fo heiter in Die Welt, ihr Nund, etwas groß, Ami 
fehönen weißen Zähnen befegt, ihre Taflanienbraunen Haare hängen 
in natürlichen Loden über ihre weiße Stirne, und die fchöne Räte 
ihrer Wangen dentet auf Geſundheit und Zufriedenheit. Ä 
Auch ich muß mich zu meinem Bortheil verändert haben, dem 
ich höre die Bonnen, die mich auf meinem Platz aufſuchen, oft 
ſagen: „Wie hübſch und nett er wird, der Andreas, wie er waͤchet! 
Er wird 'mal recht hübſch werden!“ u. ſ. w. | 
Die Worte machen mich roth, aber ich vergefle fle gleich 
wieder. Ich will drum nicht eitel werben auf mich, denn ich weiß 
noch recht gut, wie man bei und bie jungen Leute auslacht, die 
fi zieren und ſchnüren. Der gute Bater felig fagte oft, es iR 
mir, als hörte ich ihn noch: „Der Bub’, Andreas, der fi fe 
ſtutzt und pußt wie ein Weib, der verdient Haube und Unterrod 
zu fragen.” 
Abends zu guter Legt tanzen wir, Nanette unb ich, einen 
Tanz aus unfern Bergen.. Drob lächelt der gute Bater Bernbart 
felbfigefällig, uud mehr ald einmal habe ich ihn flüflern hören: 
„Meiner Seel’, das gibt ein hübfches Baar!“ 


Eiftes Aapitel. 
Begegnung. — Unfall. — Heuer Beſchützer. 


Ich bin jetzt ſchon zwölf Jahre und einige Monben alt. 3 
Gelvfendungen, beide viel größer als die erfte, find inzwiſchen a 
die gute Mutter abgegangen. Sie fchreibt mir, daß, Dank meine 
Fürſorge, fie an Nichts Mangel] leidet, daß Jakob gut einfchläg 
nur zu viel ißt und fchläft, und daß fie recht, recht glücklich wär 
wenn ih ihr Etwas über Peter mittheilen Eönnte. Aber, lie 
Putter, ich weiß ja ſelbſt nichts von ihm, Fein Bischen meh 


N 





! 





189 


als ih am erſten Tage meiner Ankunft in Paris wußte! Ich 
fürdte, ich fürchte, Peter lebt nicht mehr, denn wenn er noch 
Icbte, würbe er gewiß von fih haben hören laſſen. 

Ich Tomme eben von meinem Geſchaͤft in einem entlegenen 
Duartiere, und eile nach Hanfe zuräd, benn es ift nahebei fünf 
Uhr Abends, und Ranette zankt, wenn ich nicht zu rechter Zeit 
da Bin. „Wer die Arbeit nicht vergißt,“ jagt fie, „darf auch das 
Eſſen nicht vergefien !" Die guie Nanette, bad liebe Kind, wie 
. beforgt ift fie um mich! 

Ich gehe über die Boulevards. Als ich im die Straße Riche⸗ 
lien einbiegen will, hält eben ein elegantes Gabriolet ſtill, aus 
dem ein Herr fleigt und in ein großes Haus geht. Ich fehe ihn 
an, und es fcheint mir, als kenne ich ikm. Ich fehe ihn nochmals 
an: ja, ja, er iſt's, derfelbe Herr, der die Nacht in unferer Hükte 
fhlief. Obgleich vier Jahre ſeitdem verflofen find, ift der Herr 
beute noch eben jo Haßlich wie damals. Die ſchwarze Taffeibinde 
vor dem Auge, der Heine Zopf, der hagere Leib, der gebüdte Gang, 
Alles, Altes iſt daſſelbe geblieben. O, weld ein Glück für mich, 
daß ich ihm begegnet bin! 

Aber was fang’ ich an, um mit ihm zu fprechen. Ich will 
bies warten; er kommt gewiß bald heraus, denn fein Cabriolet: 
haͤlt noch da. Ja, ich will warten, und wäre ed bis morgen früh. 
D, wie freue ich mich, ihm dad Kleinod zurüdzugeben, und wie 
wird er jubeln, wenn er das verloren Geglaubte wieder ſieht! 

Ich pflanze mich vor dem Haufe auf, wohinein der Herr Graf 
gegangen ifl, denn mir fällt jept ein, daß er jo genannt wurde. 
Ich ſehe unverwandt das Cabriolet an, worin ein Bebienter fist, 
aber nicht der, welcher mit feinem Herrn in unfere Hütte kam. 

Nach einer halben Stunde, die mir eine Ewigkeit fchien, bare 
ih Hinter mir gehen: 's ift der Herr, welcher aus dem Haufe 
fommt. Das Herz pocht wir laut, und ich ziltere am ganzen Leibe, 
und doch iſt mir der Herr zu Dank verpflichtet, nicht ich ihm. 


Aber das macht, weil er fo wenig einnehmend ausficht. Wublih 
faß’ id; mir ein Herz und fage: 

„Herr, Herr!” 

„Geh' Deiner Wege !“ 

„Herr, bei und vor vier Jahren...“ 

„Marſch fort, Savoyarde !“ ruft der Herr unwillig, und geht 
auf fein Cabriolet zu. 

„Mein Bott, ſchon fleigt er ein, ohne mich zu hören. Da 
zupfe ich ihn fanft am Rocke.“ 

„Herr! nur ein Wort, ich bitte!” 

„Bas, Schlingel, Du padft mi am Node!“ ruft er und 
kehrt fi zornig um. „Ich gebe Teinem Bettler was, geb’ hin und 
arbeite, aber ihr ſeid Faullenzer und Leckermäuler. Ihr betteli um 
Wmofen für eine kranke Mutter und lauft dann zum Paſteten⸗ 
bäder.“ 

„Gert, ich beitle nicht, ih will auch nichts Gaben, vielmehr 
follen Sie von mir haben.“ 

Umſonſt: er Hört nicht. Er figt ſchon im Cabriolet and heißt 
den Kutfcher fortfahren. O Himmel, vielleicht ſeh' ich ihn wie 
wieder! Ich will mich an den Wagen hängen und ihm ven hinten 
and zurufen. , 

„Aus dem Wege! weggefahren !” fehrie der Diener; aber ih 
habe feine Ohren für ihn. Die Pferde gehen zu, während ich mid 
an der Wagendeichſel halte. Ich fühle einen furchtbaren Stoß, um 
falle der Länge nach aufs Pflafter nieder. Mein Kopf blutet, und 
ih kann vor Schmerz und Schwäche nicht auffiehen. 

In einem Nu bin ich dicht von Menfchen umringt. Dow füht 
mid an, befühlt mi, ruft Hinter dem Herrn bed Gabriolett, 
hinter den Pferden, Hinter dem Bebienten ber, beilagt mich, de: 
Hamirt über die Gefahren, welche dem Fußgänger in Parid beoben, 
aber mir zu helfen fällt Keinem ein. Da vrängt ſich ein junge 
Raun durch bie Brenge ® und ruft: 


- 





13 


„Des da hat's geiban, kein Anderer, und flat dem Ders 
wundeten zu Hülfe zu eilen, jagt er davon, der Elende! Dann 
lommt er auf mich zu, ſieht mich wohlwollend an und fagt: 

„Da armer kleiner Savoyarde, vielleicht biſt Du die einzige 
Elüge Deiner Mutter. Ohne euch Savoyarden lebte Adolphine 
sicht mehr, ohne euch wäre fie zerfchmettert den Abgrund hinab: 
gekürzt, und das ift fein Dank dafür! Wart’, Kleiner, ich will 
aut machen, was er Dir Boͤſes gethan hat.“ 

Hierauf laͤßt er einen Wagen holen, unterſucht meine Kopf⸗ 
wunde, trägt mich in den Wagen und befiehlt dem Kutſcher, lang⸗ 
lam zu fahren. Dennoch macht die Erſchütterung mir viel Schmerz 
und ich verliere die Befinnung. Meine Augen fchließen ſich, ich 
ſehe und Höre nichts mehr. 

Als ich wieder zu mir gekommen, liege ich in einem fchönen 
Bette, eingewidelt in weiche Deden, und xings umgeben von 
bauen umb weißen Borhängen, die fich kreuzen, und oben in 
Troddeln herabhängen. Ich glaube zu träumen, kehre mich um und 
ibe an der Beitwand einen Spiegel, der mein Bild wiedergibt. 
Ib laͤchle, mache allerhand Gefichter, und — richtig, das Bilb 
m Spiegel macht mir Alles nach. So bin ich's denn wirklich, der 
da im weichen Beite liegt! Zugleich bemerk' ih, daß ich eine 

Binde um den Kopf habe, und ich will mit der Hand darnach 
wien, aber ich kam die Hand kaum in die Höhe bringen. 
ih endlich die Stelle, wo die Binde Liegt, anfühle, thut fie mir 
web... da erh fallen mir die Greigniffe des geflrigen Tages 
wieder eig: der Here Graf, fein Cabriolet, mein Ball und meine 
Ropfwunse, 

her wo bin ich denn ? Wer find die guten Leute, die mid 
biegen ? Es müſſen Fürſten fein, denn Alles, was mich umgibt, 
iR gex fo neachtwoll: das Bett, der Spiegel... und doch find 
bie Borhänge zugezogen, fo daß ich nur wenig fehen kann. Ich 
Dill fie auseinander thun und mich ein wenig umfchauen im Zimmer. 


238 


O, wie ſchoͤn! Gemaͤlde, Porträtd, Männer und Frauen in Lebens⸗ 
größe... auch Lanpfchaften, häbſche Dörfer, und bad Alles in 
herrlichen goldenen Rahmen. So koͤnnen nur Fürſten wohnen, und 
der hier ift vielleicht eben fo gut als Bater Bernhard. Aber Bater 
Bernhard und Nanette... o Kimmel!-wie werden fie in Angſi 
fein um mi! Arme Nanette, gewiß glaubt fie mich tobt ober 
werunglüdt, und gewiß fucht ihr Baier nach mir! 

Da muß ich laut auffeufzen. Gleich kommt eine alte Tram 
ins Zimmer, wo ich bin, und fieht vorfidgtig nach dev Seite des 
Beites Hin. 

„Endlich !“ fagte fie leiſe. Er ift wieder bei fi, der arme 
Kleine. Wie wird des Herr fich freuen, wenn er zurüdlchet und 
das Hört.“ 

„Madame, Madame!” rufe ich mit fchwacher Stimme. Schnell 
kommt fie heran, ſetzt fig an mein Belt und winkt wir zu ſchweigen. 

„Stil, Kind, ſtill! Da darfſt nicht reden ; der Arzt Hat eb 
befohlen, benn Deine Wunde kann gefährlich werben, wenn Du 
Dich nicht in Acht nimmſt. Aber ich ſehe Deine Rengierde Dir in 
ben Augen an. Ich will Dir Alles fagen; mein Her, Herr Der: 
milly, ward, ber Di aufhob und Hierher in feine Wohnung 
brachte, ald das Cabriolet des Hersu Grafen von Frauconard Dich 
amgeworfen hatte. Br macht es immer fo, auch geflern warf er den 
Karren einer Frau um, bie Gerfienzuder verkaufte. Dafür ließ fe 
fi die ganze Waare bezahlen, ex aber hat ven Gerſtenzucker durch 
feinen Bebienten auflefen laſſen, und acht Tage lang haben feine 
Hunde nichts ald Berftenzuder zu freffen befommen. Go geht's, 
wenn ein Einäugiger fahren will! Ich frage Dich, Kleiner, kaun 
er links und rechts zugleich fehen mit feinem Ginauge ? Du haſt 
vielleicht auch etwas Schuld. Ihr Heinen Knaben Gört nie auf bie 


Kutſcher, und Iauft ihnen juſt quer über die Straße, wenn fü 
ihres Weges fahren.“ 


"Aber nein, Madame,“ . 





138 


„SUR, Aind, ſtill; ſag' ja nit, daß Du's fo gemacht haſt. 
Ufo Gern Dermilly hebt Dich auf und laͤßt Dich hierher fahren. 
Gr iR ein weltberuhmter Baker, der Gert Dermil, and dabei fo 
get, nur zu gut für diefe Welt, denn. 

„Aber ſeit wann, Madame. 

„Still, Freundchen, ſtill: ver Doktos hat Dir ſteeug ver⸗ 
beten, zu ſprechen. Ich kann ja für Dich und mich zugleich reben. 
der Herz wollte anfangs bloß die Dir für von Augenblick nöthigfle 
Blege geben, und Dick Hann zu Deinen Eltern und Geſchwiſtern 
zutückbringen, weil ex fie leicht aufzuſtuden hoffte, denn Du biſt 
ak feit tn bier, mein Schaͤtzchen.“ 

Seit geftern, mein Bolt! And Vaer Bernharh ? Und Ra: 
net 1° 

„D über den Kleinen Schwäger ! Bil er gleich ſchweigen 
3 ſage alfo, ſchon dachte der Herr daran, ſich nach den Deinigen 
m erlundigen, als wir beim Ausziehen der Wehe, bie über und 
iber blatig war, ein Porträt finden, das am einem Bande auf 
deiner Bruſt hing. Raum fieht Here Dermilly dies Porträt, fe 
jauchzt ex Iaud auf und reißt es mir aus der Hand. Das Porträt 
mas viel werth fein, denn ex geräth nicht fo Leicht in Extaſe 
& konnte ſich nicht genug wundern, dies Gemalde bei Dir gefunden 
in haben. „Wie kommt das in feine Hände?‘“ rief er unaufhör: 
id. „Warum trägt ex das bei ſuich?““ und Aehnliches. Er hatte 
Dich gar zw gerne gleich ausgefragt, aber Da warf dazumal im 
iämmerlidgem Zuſtande, armer Schein: Danıı befahl der Herr, 
Dich in fein Beit zu tragen, und fagte, ex wolle Dich nicht cher 
Intlaffen, als bis Du volllommen geheilt ſeieſt: er hat letzte Nacht 
ubenan in ber kleinen Dammer geichlafen, und jede Viertelſtunde 
lam ex herein, um nad) Dir zu fehen. Eben jetzt hat er ausgehen 
miſſen und mir fireng anbefohlen, Dich Teine Minute allein zu 
laſſen. So if Dir’ gegangen, mein Freund, und bad Kfügfe, 
vas Du thun kaunſt, if, daß Du Dich ichonft and ja nicht ſprichſt.“ 


39 


WS die alte Bpnme auderzählt hat, fühle ich zufällig an bie 
Bruf und merke, daß dad Medaillon fehlt, das feit. meiner Ab⸗ 
seife von Haus mir nicht von der Bruft gelommen if. Sch funge 
an zu weinen, und bitte fie inſtaͤrdigſt, das Medaillon mix zurüd: 
zugeben. 

„Du weißt, Kind, ick habe es nicht. Herr Dermillg hat es, 
und ber wirb ed Dir gewiß wieder geben. Sei darum ohne Furcht 
Wie dis Kleinen fo mißtrauiſch find!“ | 

„AG, Madame, die Mutter empfahl mir fo dringand⸗ das 
Medaillon ja nicht zu verlieren.“ Ä 

„Es ift nicht verloren, ſage ich Dir: Her Dermilly hat ei. 
IR es denn ein Bild von Deinem Bater oder Deiner Muttet oder 
Deiner Schweiter ? Ich glaube aber, es if das Bild einer Frau: 
ich hatte meine Brille nicht auf.“ 

Ich wollte eben ver alten Vonne antworten, als ein Serinfh 
im Nebenzimmes ‚entflebt. 

„Da if ber Herr,“ ruft fie mir gu. In demfelben Angenblid · 
tritt ein Herr von etwa achtundzwanzig Bid dreißig Jahren aut 
fanften gutem Geſicht ind Zimmer, im dem ich ſogleich meinen 
Wohlthaͤter von geflsen wieder erkenne. 

„Run, wie gehi's 3° fragte ex die Ponne. 

„But, Herr, er iſt ganz Bei Sinnen, Dex Fleine Schelm würd: 
darauf losſprechen wie eine Elßer, weun ich's duldete. Mber id 

gebat ihm Schweigen im Namen bed Arzies. Der apne. Kleine 
welcher Auodruck in feinem Auge und: welche Feinheit in den Zügen 
Es wir ein hübſcher Amor für Sie, Kerr. :Der Herr ſucht 
geſtern nach einem Modell für den Sohn der Madame 
bei Ihren Bemälden and der alten Geſchichte⸗; wie wär's, wer 
wir dem Kleinen ba. 
aLkaßt un⸗ alten, Lhereſ⸗ will a zufen, wenn’ 
nö iſt 
ie. Si⸗ befahden, ‚mt ieh 











18 


Beim Gerauögehen wieberkolt fie für fi, ich eiguete mei 
trefflich zum Sehne von Madame Aubromache. 

„Run, Breundchen, wie geht's 3“ fragt der Herr und fegt ſich 
neben mich. 

„Gut, Ger, bloß der Kopf thut noch weh. D, wie bank 
ih Ihnen für die viele Güte.“ 

„Du brauch nicht zu danken, benn es if mir, als träge ich 
eine alte Schuld ab. Kannft Du mir auf meine Fragen aufwerten, 
ohne daß es Dich angreift 9“ 

„Recht get, Herr. u 

„So fag’ mir denn, woher Du bift, und feit wann Du im 
Baris wohnſt ? 

Ich erzähle nun meine ganze Geſchichte. Er hört mit größter 
Aufmerffamkeit und innigfter Theilnahme zu. Namentlich rührt 
in wein Schmerz über den Berluft des Bruders. Als ich auf 
Bater Bernhard und Nauette zu fprechen Sam, ruft er lebhaft and: 

„Die guten Leute! ber fag’, woher haſt Du dad Portrait, 
das Du auf der Bruſt Irägft. Sag’ die reine Wahrkeit, deun Du 
weißt wicht, wie uuenblich viel an dieſem Umſtande mir liegt.“ 

Ich erzähle ihm nun Alles, was ich weiß; von bes Anknuft 
ver Reifenden in unferer Hütte, von dem Herrn, feinem Biewer 
au) dem Fleinen hübſchen Maͤdchen. Je laͤnger ich rede, um fo 
frenndlicher wird er, um fo deutlicher ſpiegelt ſich feine herzliche 
Theilnahme in feinen Augen ab. Als er hört, wie der Vater ſetig 
in jener Nacht zu Schaden gefommen und wie ex für Die Rettung 
ver im Wagen Sitzenden mit einem Fleinen Thaler vom alten Herrn 
beſchenkt fei, da kann der junge Maler nicht Länger an ſich Halten ; 
er fpringt vom Stuhle auf, lauft wie wahnfinnig im Zimmer auf 
un ab und ruft: 

„Der Unmenſch, der... ver gefühllofe Aul!... Theure Gam- 
line, folgen Mann haft Du zum Gatten nehmen müſſen! Ohn⸗ 


den Bader dieſes Kindes hatteh Du Deine Zochter„nsrioren, Deine 


Molphine! Der arme Mann it geſtorben, vielleicht an ven Folgen 
feines Gifers, feiner Menfchenliebe. Aber das kann ich wenigſtens: 
dem Sohne den Dank abtragen, den ich dem Vater ſchuldig bin, 
und das will ich. Ja, ich nehme den würdigen Alten, der jehtim 
Simmel ift, zum Zeugen, daß feine edle That feinem Waifen zu 
gut fommen fol. Du bleib von nun an bei mir, Lieber Kleiner!“ 
Darauf will ex mich umarmen, drückt aber meinen Kopf fo fe 
an ſich, daß ich Laut auffchrie. | 
„Bott, was habe ich geihan !“ ruft er in Verzweiflung. Ich 
will fein Bater fein und erftide ihn mit meinen Lleblofungen. DO 
sergeihe mir.“ - ' 
„Thut nichts, Here, der Schmerz if fchon vorüber. Aber 
bad Bortrait.” ’ 
„Was für ein Vortrai g“ | 
„Das ich auf der Bruf trug, das möchte ich wieber haben. 
Ich mußte der Mutter ſchwoͤren, es Teinem Andern als dem reiht: 
mäßigen Gigentkümer zu geben. Erſt geftern traf ich den Heinen, 
sinängigen Herrn zufällig auf der Straße: ich erkannte ihn gleich 
und rufe ihn an. Er aber hört mich nicht und fleigt im feinen 
Wagan. Ich will ihm nachlaufen und fo bin ich umgeworfen und 
am Kopfe beſchaͤdigt worden.“ 
| „Armer Knabe, Du folk es wieder haben, Dein Portrait 
sub es dem Eigenthůmer zurückgeben, aber nicht dem Herrn Grafen, 
der verdient dies liebe Bild nicht, ſondern... doch Du wirſt fie 
„bald ſehen. Sie kommt hoffentlich recht bald nach Paris zuräd, 
bis. dahin nimm das Portrait, das Du jo tres bewahrt haſt. 
Dee Herr geht das Bild aus der Bruſtiaſche, betrachtet es 
lange und haͤngt os mir wieber um ben Hals. Plöglich fühle ih 
mid ruhiger ; nur der Gedanke, wie Bater Bernhard und Nauctte 
meinztwegen in Unruhe fein werben, will mir nicht aus dem Sinne. 
A Vater Beruharb, Kern?“ frage ich. „Und Ranch 2“ 
"2 5, Du haſt echt: fie Selten gleich Machsicht..Haben, damit ihr⸗ 





137 
Usrube aufhöre. Thereſe! Gefchwind einen - Daten,“ ruft Herr 
Dermilly der alten Benne zu, als fie in's Zimmer teitt. „Ar 
jel den Pflegeeltern dieſes Kindes Nachricht geben.“ 

Ih nenne ihm die Adrefle von Bater Bernhard. Während 
Herr Dermilly mit dem Boten fpridht, Fommt -bie alte Thereſe 
wieder in das Zimmer. 

„Herr, Sie vergeflen, daß Ihr Modell wartet. Schon eine 
ganze Stunde ſpaziert er im Hemde auf und ab im Atelier. Jett 
läuft wir der Kerl, der Roffignol, gar in bie Kuͤche, faſt fplitter: 
not, und bettelt um An Stud Brod. Sr fagt, er fei Heute als 
Römer da und mache ben Mutius-Cervelas dei. Mag ex Mutius- 
Cervelas ober ein Anderer fein, das iſt fein Grund, aus ven Tiyfen 
zu fhleden und in ſolchem Aufzuge zu erjcheinen, pfui! Sagen 
Eie ihn doch in's Atelier zurück und verbieten Sie ihm, fich fe 
wieder ald Römer in meiner Küche zu zeigen!" _ 

„Nur Geduld, Thereſe,“ jagt Herr Dermilly laͤchelnd. „Ich 
will an die Arbeit gehen, bleibt Ihr inzwifchen bei meinem Keinen 
Andreas und forgt recht für ihn.” Kommen die guten Leute, fo 
ft mich.“ W 

„Soll geſchehen, Herr... bei mir ſoll er nicht fo viel ſprechen,“ 
ſagt Therefe und fühlt mir ven Puls. „Da haben wir's, wie er 
ſchlagt, ein flarkes Fieber im Anzug. Aber fie wollen nie hören. 
Trinf das, Kleiner, und dann ſchlaf'; das wird Dir gut tun.” . 

Ih und fchlafen, jet, nach biefer Ueberraſchung und in dieſem 
Bette, wo fich’3 fo weich liegt! Hat nicht der Herr gefagt, er wolle 
für mich forgen, mir Gutes thun, mich bei fich behalten ? Und das 
Alles iR die Folge vom Porträt, das ich auf der Bruſt trage. Wie 
necht hatte die gute Mutter, als fie ſagte, das Medaillon werde mir 
Hält Bringen! Aber Bernhard und Nanetie, darf ich hie verlaffen; 
Re, bie mir fo viel Liebes und Gutes erwiefen haben? D) geipiß, ich 
will fie recht, recht oft befuchen ; ver Waſſertraͤger ift ja auch mein 
Wohlthaͤter und nie, nie will ich feine. Wohlthaten vergeffen, \ 


| . 18 

Hotch! welch ſchwere Trikte anf dem Boden? Das Gerz haͤpft 
mir im Leibe. Ya gewiß, daß find fie. Die Ihüre wird aufgemacht; 
vergebens ruft Therefe: 

„Barten Gie, bis tch fehe, ob er fchläft. Ste bürfen nicht 
mit ihm fprechen, der Arzt bat ed verboten!" 

Sie hören nicht, ſie treten ein, fie ellen auf das Beit zu, fie 
herzen und Tüffen mich und negen mich mit heißen Thränen. O 
ber die Wonne, fo geliebt zu fein ! | 

„Mein Bater! meine Ranette!" das ift Alles, was ich über 
die Lippen bringe. Bor Nährung kann RG nicht ſprechen, bafür 
drücke ich Vater Bernhard die Hand, mährend Nanette ihr Lieb 
Geſichichen dicht Aber mich hinbückt. 

„Mein armer Knabe,” fagte endlich ver Wafferträger, „wüßteſt 
Du, welche Sorge Du und machteft. Ich Habe die ganze Nacht dur 
gefucht und Naneite um Did als wie um ihren Bruber geweint!” 

„So iſt er denn ihr Sohn?“ 

„Rein, Madame, er iſt nicht mein Sohn, aber ich liche iön 
wie mehren Soft.” 

„Sieh' nur, Bater, er hat eine Wunde am Kopfe!“ fst 
Nanette. „Haft Dn noch Schmerz, lieber. Andreas 7“ 

„Zept nicht mehr.“ 

„Man fagte uns, Du feieft übergefahren worden,“ ſegte 
Bernhard. „On haft doch die Wagennummer gemerkt? Ich hoff 
nicht, Du Täffeft Dich erft überfahren und ſchweigſt dann file... 
and fraun, der Kerl hat Dich übel zugerichtet.” 

„D gewiß,“ feufzte die alte Bonne. „Der Herr Doktor hät 
bie Bleffur für fehr conſequenzreich.“ 

In dem Augenblicke teitt Herr Dermilly in's Zimmer. 
Bernhard weiß nicht, ob er aufſtehen ober figen Bleiben fol; a 
Ranette bleibt wie feftgenagelt auf meinem Bette figen, bewun 
Me Borhänge, bie Branfen, ven Spiegel, und flüftert mir in” 
Ohr: ‚Andreas, da muß ſich's gut ſchlafen.“ 











189 


Als Bernhard meinten Unfall von Herrn Dermilly hört, er: 
gießt er ſich in feurige Danffagungen. 

„Aber wie bringen wir ihn fort?” fragt der Wafferträger. 

„Ihn fortdringen ? Nein, er Bleibt bei mir, Bis er volffommen 
hergeſtellt iſt,“ anttwortet der junge Maler, und dann ſon hoffe in. 

„Aber, Herr, er genirt Sie, und ich fürchte. 

„Seien Sie ohne Furcht; das Schielfal des Knaben liegt mir 
ſebr am Herzen. Sein Bater rettete einer Berfon, die mir fehr 
theuer iſt, das Leben. Daß dem’ fo tl, beweist mir unwiderleglich 
ein von mir felbft gemaltes Porträt, das ich auf feiner Bruft fand.” 

„Selbſt gemalt? Sie, Herr ?“ Ä 

„sa, ih... ich felbft habe die junge Dame gemaft, deren 
Si er anf ber Bruſt trägt.“ 

„So müffen Sie die junge Dame kennen, Bert ?“ 

„Ohne Zweifel! . . . Und, gleich mir, wird fle wünfchen, 
im fünftigen Glücke des Kindes mit‘ beizutragen.” 

Der gute Wafferträger fieht Herrn Dermilly groß an und 
tant feinen Ohren nicht. 

„3a, Du Hatteft Recht, Andreas,” ruft er triumphirend aus, 
„Ned ſchoͤne Bild wird Dein Gluͤck machen, aber ich Bitte mir aus, 
deß ich Dich oft fehen darf, mein guter Knabe.“ 

„So oft Sie wollen, braver Mann ; Sie find zu jeder Stunde 
mir und Ihrem Pflegefohn willkommen. Glauben Sie nicht, daß 
ih den Knaben Ihnen abwendig machen will. Möge ex felbft fü 
mifheiden ; ich Habe in feinem Herzen gelefen und bin gewiß, wie 
a and wählen mag, er wirb nie undankbar fein.“ 

„D gewiß nicht! Wenn die Wahl auf Sie fällt, bin ich zu 
recht, um Sie an der Fürforge für fein fünftiges Glück zu hindern.“ 

Dermiliy lächelt und reicht dem wackern Auvergnaten die Hand, 
'r ganz erflaumt ſcheint über dies Freundſchaftszeichen won Seiten 
eines eleganten Herrn. Dennoch fchättelt er dem Maler biderb bie 
Hand und fagt dann zn Nanette: 


140 


„Seht Tomme, meine Tochter, ich muß an bie Arbeit zuüd. 
Morgen befuchen wir Andreas wieder.“ 
Naneite bat von dem Geſpraͤch zwifchen Herrn Dermilly mat 
ihrem Bater nichts gehört,. denn fle bat Aug’ und Ohr nur fin 
mich und bie fchönen Sachen im Zimmer, 
„Rommft Du bald, meine Tochter?" wiederholte Bernhard, 
„Bir müflen jept gehen.” _ | 
„Und Andreas, lieber Bader ?” . 
„Der bleibt bei dem Seren hier, bis er wieber aufflchen barf.' 
„Was, Andreas geht nicht mit und ?" 
„Bir kommen morgen, übermorgen, überübermorgen wieter 

fo oft wir wollen, hat der gute Herr erlaubt.“ 

„So will ich auch Hier bleiben, Vater.“ 

„Wie, Ranette,. Du willſt mid verlaffen, Deinen alten Bater 
SH es nicht genug, daß id; meinen Anbread verliere? Soll i 
fein’8 meiner Kinder um mich haben 9“ 

Nanette ſchweigt. Sie ſteht auf und führt das Ende ih 
Schuürze vor das Geſicht. Schluchzend nimmt fie von mir Abſchie 
und fit .fih an, dem Bates zu folgen, ber fie vergebene ; 
trößten fucht. Beide umarmen mich nochmals und gehen dann fo 
Dernharb lächelnd, Nanette bitter weinend. 

. Wie ich die gute Schwefter fo weinen fehe, muß ich au 
weinen. Herr Dermilly bat nicht. wenig Mühe, mich zm tröft 
Erft als ich nem Einfchlafen nahe bin, verläßt er mich. 

© „Gottlob,“ ruft die alte Therefe, als Herr Dermilly fort i 
„endlich Taffen fie das Kind in. Ruhe. Die fann ed gefund 
wenn ed ewig fortſchwatzt!“ 

Die ängftlich beforgte Alte zieht bie Vorhange zu und fa 
bei fich ſelbſt, während fle das Zimmer verläßt: „Ich will je 
in bie Küche zurück und fehen, ob nicht der Schurfe von Röm 
an meinem Ragout herumgeſchmeckt hat, währen ber Herr hi 

im Zimmer war, So geht es, wenn bad Atelier im nämlich 


















141 


Sanfe. id. Der Herr findet das bequem. Bag fein, aber Gott 
weiß es, bie letzte Sriechenſchlacht hat einer Unzahl von Topfen 
das Leben geloflet. 


Bwölftes Anpitel. 


Dad Atelier des Malere, — Herr Roſſfignol. 


Herr Dermilly ſchenkt mir die liebreichfte Pflege, und bald 
fühle ich mich innigſt zu ihm Bingezogen. Auch die alte Thereſe, 
obgleich fie mich dann und waun zankt, hat mich von Herzen gern. . 
Gott weiß, wodurch ich nur folde Behandlung verdient habe! 
Doch behalt' ich meinen alten Freund und Wohlthaͤter in dank⸗ 
hatem Gedaͤchtniß und erwarte täglich wit Ungebuld die Stunde, 
m Bater Bernhard und Nauette zu kommen pflegen. Die in ihrer 
Geſellſchaft verbrachte Zeit iſt mir die fchönfte vom ganzen Tage; 
mi mit tiefer Betrübuiß kann ich mich von ben guten Leuten trennen. 

„Mad nur, daß Du gefund wirft, Andreas,” fagt Nanette, 
ramit Du wieder zu und kommſt. Wie Fröhlich wollen wir zufammen 
larzen und fingen. Es ift bier fchön, recht fchön, aber zu Haufe 
yfällt min es doch beffer, wenn Du da biſt.“ 

SH fürchte mich ordentlich, Nanette zu fagen, daß Herr Ders 
wg wich lefen, fchreiben und zeichnen Iernen laſſen will. So oft 
a mi fragt, ſcheint er mit meinen Antworten zufrieben und vers 
ſihert mit, ich dürfe Fein Briefträger bleiben, ich Eönne mit meinen 
delenten mein Glück machen in der Welt und das Glück meiner 
denilie und Freunde. Die Reden hör’ ich von Herzen gern. Iſt dad 
Wtsfteit oder der Wunſch, mir um Andere Verdienſt zu erwerben ? 
Mann es Gitelkeit it, fo iſt dies eime fehr verzeihliche, denn wenn 
non fchönen Häufern und Gemaͤchern träume, fo genieß’ ich diefe 
Gwriligkeit nie für mich allein, fondern mit meiner Mutter und 
meinen Freunden. 

Saul de Rod. II, 10 


148 


Es find jeht acht Tage, daß ich bei Herrn Dermilly wohne ; ich 
‚bin ſchon etwas auf, doch fühle ich mich noch fehr ſchwach und barf 
nicht zum Zimmer hinaus. Nanette wäre gerne ben ganzen Tag bei 
mir, aber fie muß für die Küche forgen, und Bater Bernhard fürdhtet 
laͤſtig zu fallen, wenn er zu oft kommt. Zu meinem Zeitvertreib hat 
mir Herr Dermilly Kreide, Bleiftift, Papier und Vorzeichnungen 
gegeben, und Abends erzählt mir die alte Therefe hübfche Gefchichten 
und ftedt mir allerhand Badwerf und Confect zu, aber die im 
Aſche gebratenen Kartoffeln, die ich mit Nanette aß, ſchmeckten 
mir viel befler. 

Eines Morgend — die alte Bonne ift audgegangen und an ben 
Gemälden im Zimmer babe ich mich laͤngſt fatt gefehen — fühle ich 
- gewaltige Langeweile, da kommt mir der Gedanke, Herrn Dermilly 
in feinem Atelier zu befuchen. Ich gehe hinaus in das naächſte 
Zimmer, dann in ein zweites, bis ih auf einen Korridor komme. 
Am Ende defjelben fleige ich einige Stufen hinauf, öffne eine Tleine 
Thüre und. trete in eine ungeheuer große Stube, die von oben erhellt 
ward. Mein Gott, was jehe ich da für jeltfame Dinge, fo feltfam, 
dag ich wie verfeinert ſtehen blieb. i 

Bor mir ein großes Knochengerippe, hoch aufrecht; daran Ichnt 
eine ſchoͤne Venus von Gyps; hier große Stüde Leinwand, worauf 
allerhand Menjchenleiber gezeichnet find ; weiter bavon ein Gemälde 
mit Teufeln, die einen armen jungen ann plagen und ihn wit 
Schlangen geißeln ; zu meinen Füßen einen Arm; links davon ein 
Bein und eine Schulter ; auf einem Tifche eine Menge Karben, ein 
großes Buch mit Goldrand, auf eine Delflafche geſtützt; Finger 
knoͤchelchen über einem Kleinen Kaffeebrode; einen griechiſchen Helm 
auf einem Frauenkopfe; eine Tunika, Käfe, einen ſchmierigen Hut über 
einem Amor ; eine Schachtel mit Zinnober über einem Todienlopfe. 

Das muß nothwendig fein Atelier fein, fage ich. Als uh mich 
von meinem Staunen etwas erholt habe, wage ich einige Schritte 
vorwärts, Da ſeh' ich, zum Theil verfiedt durch ein großes Bes 


143 


maͤlde, eine Berfon, bie unbeweglich daſteht vor der Leinwand. Ich 
kann nicht weiter: bie Nähe diefer Perfon. fchüchtert mich ein, ihr 
feltfames Koſtüm macht mich mißtrauifch gegen fie. 

Ihr Geſicht Hab’ ich vor der Leinwand noch nicht fehen konnen; ; 
boch bemerke ich, daß der Menfch einen langen Säbel in der Hand 
halt. Er ift faft Bid an die Ohren in einen weiten carmoffinfarbigen 
Mantel gewidelt, an den Füßen trägt er Schnürfchuhe und auf dem 
Kopfe einen Helm mit einem großen Schweife von rother Wolle. Er 
iR in drohender Stellung : fein Arm fcheint erhaben wie zum Schlage. 
Dffenbar iſt er im Zorn, und boch fchlägt er nicht zu, fondern bleibt 
in derfelben Lage, ohne ein Glied zu rühren. 

Bergebens fehe ich mich nach Herrn Dermilly um. Ich weiß 
nicht, ob ich weiter vorwärts Darf, benn der Herr da mit Schwert 
und Mantel thut immer, ald wär’ ich nicht im Atelier. Ich huſte 
und räufpere mich; auch das Hilft nichts. Endlich fällt mir ein, 
mich wenigftends zu entfchuldigen bei ihm, daß ich fo ohne Er⸗ 
laubniß bereingefommen bin. 

„Entſchuldigen Sie gütigft, mein Herr,” fag’ ih, von hinten 
mich dem Manne im Mantel nähernd, „ich glaubte, Herrn Der: 
milly hier zu treffen. Wenn ich genire, will ich wieder fortgehen.“ 

Keine Antwort, immer biefelbe Unbeweglichkeit. Das begretf’ 
ich nicht. Sollte er ſchlafen? Aber wer jchläft mit ausgeſtrecktem 
Arm und mit einem Säbel in der Hand. Ober iſt er taub? I 
muß ihm doch 'mal in's Geſicht fehen. Ich ſtecke fachte den Kopf 
am die Leinwand. D Himmel! welche Bläffe im Geficht, welche 
Mattigkeit im Blick! Ja, der ift noch viel, viel kraͤnker als ich. Aber 
woher nimmt er die Kraft, fo lange in biefer Stellung zu bleiben ? 

Schon will ich fort, da oͤffnet fich plöglich eine Thüre, gerade 
der gegenüber, durch welche ich eingetreten Bin, und herein fpringt 
- ein Mann, ſplitternackend vom Kopf bis an den Gürtel, von ba 
an in Hofen und Schuhen. Er Hüpft wie wahnflnnig herum, trilfert 
und nagt dabei an einer Rebhuhnkeule. 


144 


„Alle Hagel,“ ruft er laut lachend, ohne mich zu bemerken, 
„auch die iſt nicht uͤbel. Was wird die alte Hexe ſagen, wenn ſie 
ihre Keulen nicht findet! Und nir geſtanden, Alles abgeläuguet. 
D ver Zur! Warum laßt Ihr Euer Geflügel und andere Koſtbar⸗ 
teiten in der Küche berumtreiben! ... Hör ih das Pförtchen 
nicht gehen, hat nicht der Riegel geklirrt? Sa, ba, ha! 
wenn fie gewußt Hätte, daß Herr Dermilly mich allein läßt, hol’ 
mich Der und Jener, fie hätt' alle Suppen: und Gemüſeſchüſſeln 
boppelt verfchloffen. „Bringt Ihr Euer Frühftüd mit ?“ fragt fie, 
wenn fie mich Fauen fieht. „Ja, Gnaden! Darf ih aufwarten mit 
‚einem delikaten Stüd Zwiebelluchen. Ein Schelm, ber was Beſſeres 
gibt, als er hat.“ Kommen, Zetulpe, Dih ruft meine 
Stimme! Tralalala! Tralalala! Schade, daß der Suppentopi 
nicht Schon aufm Feuer fland. Das Bad wär’ meinem Atgenienier 
bart gut befommen. So Du mir, fo ih Dir. Warum läßt E 





Herr Dermilly Stunden lang allein! Gottlob Bin ich präcis au 
den Slodenfchlag wie die Fiaker und ich danke der Ratu 
bafür!“ | 
In dem Augenblide macht ber Herr im bloßen Hemde eineı 
Luftſprung auf die Finke Seite, wo ich flehe, und fieht nich. „Wai 
fürn Gewaͤchs ift das?“ ruft er. „Bill Du gebungen für be 
unfhuldigen Kindermord, Herrchen? Erſt geh’ nad Bari: 
and lag Dich neun Monden lang mit Kinderpappe füttern, fichi 
ja aus wie 'n friſchgeſotten Ei, und flopf Dir mit Werg di 
Baden aud. Sage mir, wie nenuft Du Di, daß ix 
Deinen Namen wiffe.“ 
„Herr, ich heiße Andreas,“ antworte ih dem Herrn, der ir 
zwifchen wie toll Herumfpringt, walzt und allerhand Geficht: 
ſchneidet. „Ich bin vor Kurzem übergefahren worden, und ba bi 
ber gute Herr Dermilly mich zu fih genommen.“ 
‚ „„Refpeft vor dem Unglüd, intereffantes Schlachtopfer. Jı 
bin drei oder viermal umgewoxfen worben, aber Niemand Hat mu 








145 


aufgehoben. Glaub's wohl, Bott Bacchos Hatte mir ein Beinchen 
geſtellt. Aber was fagft Du zu dem Entrechat, Kleiner ?“ 

Ich begriff nicht, wie der Mann im bloßen Hembe fo ganz 
in ber Nähe des andern Mannes mit der drohenden Geberde und _ 
vem geſchwungenen Säbel fo Inftig fein und fo vielLärm machen 
koͤme. Ich zeigte ihn dem Tänzer mit dem Finger und fagte leife: 
„Beben Sie Acht, Sie kommen dem Herrn da zu nah’.“ 

„Kaum Hab’ ich das gefagt, fo wirft fich der Herr im bloßen 
Hemde auf einen Stuhl und will ſich ausfchütten vor Lachen. Seht 
den Spaß ! hält der Bube die Gliederpuppe da für 'nen Sappirer. 
Ha, da, Ha! Fürcht' Dich nicht, Kleiner; der Herr beißt Dich 
nicht. Wiſſe, 's ift eine Ieblofe Greatur, die fein vitales Fluidum 
am fportuofes Gehör im Leibe hat wie wir Beede. Ja, es gilt; 
ich heirathe ni, wenn Sie gütigft erlauben.” 

Aber vielleicht Kat der Mann im Hemde mich zum Beften. 
Ich will die Gliederpuppe doch "mal anfühlen. 

„Weg mit der Hand, Fontus!“ ruft der fchöne Tänzer und 
bält mich zuräd, „Darfft nicht ankommen, das brennt. Sapperlot, 
ver Rünftler crepirt vor Herger, wenn Du dem da eine Falte anders 
legſt, umd zahlt Dir mit 'ner Münze, die Du nicht in den Sad 
ſchiebſt.“ 

„Berzeihung, Herr, ich wußte nicht.” 

„Seht, weil Du's weißt, hüte Did. Doc wart’, ich muß 
mih auf Kent’ Abend üben: ich foll in der Chamiade tanzen.” 

„Aber friert Sie nicht, Herr, fo im bloßen Hemde?“ 

„Bah, Altes Gewöhnung. Seit fünfzehn Jahren ſchon bin 
ich Modell für bie Torfos, Weißt Du nicht, unfchuldiges Geſchoͤpf, 
daß Du vor Roſſignol ſtehſt, dem fchönften Modell in ganz Paris 
für die Torſos? Wäre der Untertheil fo wie ber Oberteil, meiner 
Earl’, ich wäre meine zwölf Franken per Tag werth. Leider bläh'n 
vie Kenlen nicht auf und die Weichen find und bleiben dünn, ob . 
ı& gleich mit Bohnen mich vollfiopfe, damit fle wachſen. Aber 


146 


ſchab't Nichte, ich bin ohnehin noch vaſſabel beſchlagen. Dazu 
tömmt eine interefjante Phyſtognomie, Wig, Anmuth, ein leichter, 
Iebhafter Tanz, was will ich mehr? Ganz natürlich, daß ich den 
Damen gefährli) werde. Ein, zwei chassez ... assemblez ... 
Pirouetto de Rigueur! Schade, daß mein Rod dreckig und mein 
Hut etwas ſtark durchſichtig ift! Herrn Dermilly darf ich nicht 
ſchon wieder anpumpen: erſt vorgeftern hat er mir zwanzig Franken 
im Boraud gegeben und bie find bereit aufgepust. Das Un: 
glück macht kühn und unerfchroden... fag’, Kleiner, könntefl 
Du mir wohl vierundzwanzig Sound auf acht Tage, wie man zu 
fagen pflegt, pumpen? Ich pumpe Dir fünfundzwanzig Son zurkd.” 

„Ich habe Fein Geld bei mir, Kerr. Bater Bernhard bewahrt 
meine Geldboͤrſe.“ 

„So muß ich anderweitig mir Helfen. Ich will die Tanzſchube 
mit Del ſchmieren, das gibt ein vornehm Ausſeh'n. Nichte ſticht 
mehr in die Augen als fpiegelblantes Fußwerk.“ | 

Herr Roffignol nimmt die Delflafche und pinfelt das Del über 
bie bredigen Schuhe; dann gießt er davon in die Hände umb fährt 
fih damit durch's Haar. Während er fo feine Toilette madht, ſebe 
ich ihn nun genau an. Das Modell iſt ein Mann von ungefähr 
fechsunddreißig Jahren, ziemlich hohem Wuchfe, fchwarzen ſchlecht 
gefämmten Haaren, grauen Augen, aus denen der Schelm hew 
guckt, einer Stülpnafe, die vol Tabak hängt, und einem unge: 
beuern Munde, der ewig hin und Ber rollt und ſich ſperrweit öfnel 
Dies Alles gibt ihm ein durchaus originelles Andfehen. 

„Schade,“ fagt er, fich die Haare lockend, „daß ich etibe 
nicht auch fo fehmieren kann. Der Hut fol wenigſtens eine Tun 
haben : 's wirb ein Biffel ranzig riechen, aber meine Brinzeffin hei 
fo Gott will den Schnupfen. Doch die Luft nach nem KRapannen 
in Reis muß fie ſich vergeh'n laſſen mit meinen dreizehn Som 
in ber Tafche, wenn wir nicht etwa chriftliche Freunde antreffem 
Dußt' ich nur, ob Hannchen heut’ gefeffen Kat, ich woll® meine 





147 


Bean die Ohren fo vol fummen, bis fie mit ven Golbfachfen 
berandräudt!“ 

De ich den Kern mit Stiefeln und Haaren befchäftigt fehe, 
ſo vermuth' ich, er wolle fich ganz ankleiden und reiche ihm 
Hemd und Mod hin, bie in einer Ede des Ateliers auf der Erde 
liegen 


„Dant, Kleiner,” fagt er, „ich will warten, bis der Ser 
Patron zuräctämmt und mid wegſchickt. Man ſitzt für einen Torfo 
nit im Hemte; das ift griechifch das, merk' Dir's. Und unter 
md, wenn die Natur Dich gut herausprechfelt, fo wähl’ Dir ja 

feinen andern Stand: werde Mobell, das lernt fi Leit... . 
brauchſt nur ſtill zu halten. Traum, ich weiß nichts Beſſeres in 
ver Welt, ald Maler und Modell, Teiner ohne den andern: Tein 
Raler ohne Modell, und fein Modell ohne Maler, verftanden ? 
Ale Teufel, wenn mein Weib mich nicht fo Hinter’s Licht geführt 
bill’, wir Tönnten jegt im Gold wühlen. Ich nahm fie um ihrer 
Formen wegen, Formen, fag’ ich Dir, fo ſchön wie bie einer 
Benns Kalligige. Die nimmf Du, fagt’ ich mir, ala ich fle fah, 
Ne muß fipen, und Deine Rinder auch, wenn Bott Dir welde 
ſhenlt. Das Sitzen ift erblich in unferer Familie: mein Bater fa 
für feine Arme, meine Mutter für ihre Hüften, mein Onkel für 
kine Güße, meine Tante für ihren Rüden, mein Bruder für feine 
binde und meine Schwefter für ihre Ohren. Als ich meiner Frau 
ten Hof machte, ſagt' ich ihr: che wir und für Zeit und Ewigkeit 
finden, mußt Du wiffen, ich will, daß meine Frau fiht, gleich 
ve wofür ? und meine Kinder auch, fo Gott uns welche fchentt. 
Rein Freund, antwortete fie, ich will zeigen, was Du will. O, 
we Trenlofe! O dies trügerifche Eorfett! Ich Tann nicht fagen, 
wie ſchaͤndlich Madame Roſſignol mich anführte! Unmöglich, fie 
ad nur für das Geringſte fipen zu laſſen: nichts ald Watte, von 
der Sohle bis zum Scheitel! ... Ich hätt’ ihr wegen Form⸗ 
nängel dem Laufpaß gegeben, aber leider! war fie fchwanger. 


So mußt ich mich an ihr Kind halten. Und wirklich hab ich nen 
Zungen, gebaut wie ein Apollo, in meinem Genre. Ber wirb 
’mal eins der fchönften Modelle in ganz Europa. Als er trei Jahre 
alt iſt, will ich ihm bie Pofition einexereiren, aber ich kann ihn 
nicht ruhig kriegen. Ich greife alfo zum Ochfenziemer, um fein 
heiß Blut zu fühlen; meine Frau greift zum Befen, ihn zu ver⸗ 
theibigen, denn fie gibt mir die Schuld, daß er fo ſchreit. Diefe 
Cheſtandoſcenen wiederholten ſich täglih, und weil die Nachbarn 
fi} darüber befchwerten , erklärte der Viertelscommiſſarins, er finde 
diefen Poſitionsunterricht für unzwedmäßig, ich möge das Kind 
fi freiwillig entwideln laſſen. Bon der Zeit an leb' ich als Jung- 
gefell und will auch mein Cheweib nicht eh’r wieder jehen, als bis 
fie einen Ableiter braucht für den Ueberfliug an üderflüfligem Gelb. 
Und deßhalb heiß’ ich die kleine Winenbräbel.. . Trala⸗ 
ala... Tralalala !" 

&ben hat Roſſignol ausgefungen, als von ber Seite der Küdhe 
ein lauter Lärm entfieht. „Das hat Keiner gethan als der Schurke 
von Roflignol,“ ruft drangen die alte Therefe. „Ich weite, er if 
unter irgend einem Vorwande aus der Sitzung in bie Küche ge⸗ 
lichen. Aber wart’, der Herr ſoll's wiffen. Einem Alles weggus 
ftehlen und fo was auf die Schöpfentenle zu ſtecken!“ 

„Still, ſtill!“ ruft Roſſignol, durchs Schluſſelloch guckend, 
„die Alte iſt's . fie Eömmt herein... Sapperlott, em guter 
@infall, eine melobramatifche Scene! Die Alte ift ſchreckhaft, fie 
wird weich geben. Goͤttlich, göttlih! Geſchwind, Junge, auf's 
Knie vor der Slieberpuppe, 'nen Helm auf den Kopf, dad Biflr 
herunter, eine Tunika um bie Schulter und fein Glied gerübet.” 

„Aber, Ser...“ 

„Kein Aber.“ 

„Barım ?“ 

„Rein Warum... thu', wie ich fage. Du machſt die Glieder⸗ 
pappe, nur auf ein Paar Minuten, damit fie Dich wicht eslennt. 


® 


34 


Em Wort, ein einzig Wort, nnd ich ſchlag' Dir mit Sannibals 
Degen die Rippen entzwei ... . verflanden I“ j 

Ich gehorche, nicht aus Furcht vor Herrn Rofſignol, fondern 
aus Neugier, was er vorhat. Auch if mir ein Augenblid Kutz⸗ 
weil wohl zu gönnen nach der langen Langeweile, und Herr Der: 
milly wird's micht übel nehmen. Ich kniee alfo nieber bei ber 
Gliederpuppe, Roffignol drüdt mir den Helm auf den Kopf, das 
Viſir fällt von ferbft herab, dann wirft er mir einen weiten Mantel 
von gelber Seide über die Schultern. Als er mit meiner Berflei- 
dung fertig ift, läuft er auf das @erippe zu, nimmt ed unter ben 
Im, ftelli es vor eine große Kifte in der Mitte des Aielierd, deckt 
einen weiten braunen Mantel baraber, fo daß von dent graͤnlithen 
Mann nichts zu fehen ift, kriecht in die Kifte Hinter dem Skelett 
und macht den Dedlel über ſich zn, doch fo, daß er darin atmen 
und zugleich den Zipfel des Mantels fafien kann. Das Altes wer 
das Werk eines Angenblides. Kaum find wir auf: unferen Poſten, 
ſo oͤfnet Thereſe die Thüre bes Ateliers. 

„Herr!“ ruft fie, langſam vorttetend, wo fie Herrn Dermilly 
vernuthet. „Das kann nicht fo fortgeh'n, das muß aufhören. 
Tag and, Tag ein macht Herr Roffignol ſolche Streiche. Heute 
Riehlt er mir 'ne ganze Nebhuhnkfeule, und dann heißt's, die Kate 
hat's gethan. Berbieten Sie ihm doch, je wieder in meine Küche 
zu fommen, ober laſſen Sie die Nebenthüre zumanern. Uebrigens 
iſt es recht fatal, daß die Nachbarn Männer ohne Hemd bei mir 
fehen. Vergebens fag’ ich, es fei das Modell; fle lachen mir gerad’ 
in's Seficht... und denken allerhand von mir, wad meinem guten 
Auf nachtheilig if.” 

Während deſſen ift Therefe bis dicht vor das große Gemälde 
neben der Kiſte und dem braunen Mantel gelommen. Sie flieht 
ſich nach allen Seiten um. 

„Was, ſchon fort? So früh ſchon? Hub, hab... zwiſchen 
Wefen Geſchichten Bier im Ateller wird Einem ganz unheimlich. 


150 


Kerr, wo find Sie? Niemand da! Ich will fort, all' die haͤßlichen 
Fratzen und Geftalten widern mi an. Der arme junge Ram, 
ber mit Schlangen geprügelt wurbe, wie dauert er mich! Schade 
b’rum, ex iſt fo ſchmuck und nett. Sie nennen ihn Herrn Irion... 
und das gefchieht, weil er mit Mabame Jupiter geliebäugelt hat. 
Mein Gott, wenn alle Männer fo gepeitfcht würden, vie mit 
fremden Weibern Tiebängeln !“ 

In dem Angenblide wird brinnen in der Kifte rumort. Thereſe 
fährt zufammen, erblaßt und fieht furchifam um ſich. 

„Bas war dad? Herr, Herr, find Sie hier ?" 

Keine Antwort. Es rumort nochmals ; ein Tanggezogened 
„Ruh... Bub...“ tönt aus ber Kifte. Therefe zittert wie Eſpen⸗ 
laub unb bleibt wie feſtgewurzelt flehen, die Hand vor dem Ange. 

„Bott, mein Bott, was ift das?“ ruft die Alte mit bebender 
Gimme. „I Tann nicht von der Stelle. Hülfe! Hülfe!“ 

„Therefe! Therefe! Thereſe!“ ruft e8 dreimal aus der Kiſte 
in hohlem, Häglicdem Tone. 

„Ber... wer ruft mich?" fragt die Alte zitternd und bebent. 

„Dein Großvater !“ 

„Broßvater, Dur... Ans... dem Grabe... erflanten ... 
nach fünfzig Jahren ? 

„Sa, ih bin's! ... Wirſt Du mich Hören und’ thun, was 
ich Die befehle ?“ 

„Sa, Großoater, ja!“ 

„So gib At, Thereſe! Roffignol iſt ein waderer Burſch, 
ich Tiebe und befchüße ihn, ben fhönften Torfo auf der weiten Bottee: 
weit. Wir Befehlen Dir fomit, ihn in die Küche zu laflen, fo oft 
er es für gut findet ; den Schlüffel der Speifefammer immer ftedden 
zw laſſen; ihn die Suppe koſten, auch eine Brobrinde eintauchen 
zu laffen, fo oft er Luft hat; ihm von allem Backwerk und Cor: 
feet Eiwas auf die Geite zu legen: von dem Allem gegen ben 

Hexen zu ſchweigen; enblih überall und zu jeber Zeit ir mit ber 








151 


Aufmerffamfeit zu. behandeln, wie fle dem fdhönften Mobell der 
Hauptſtadt der Welt gebührt. Läßt Du es in einem biefer Stücke 
fehlen, bann zittere. Sich’ und an und wünfch' und guten Tag!“ 

Therefe entfchließt ſich mit größter Mühe, die Hände von ben 
Augen zu nehmen. Nach wenigen Minuten Befinnung erhebt fie 
endlich fanft ben Kopf. In dem nämlichen Angenblide zieht Rof: 
fignol fehnell den braunen Mantel weg, umb vor ihr ſteht — das 
Stelett. Lant fehreiend wirft fie ſich auf die Kite und fleht alle 
Heiligen des Paradiefes um Hülfe an. Plotzlich fängt Roffignol 
darin zu brüllen an und fchlägt, wie wahnfinnig, mit Händen unb 
Füßen gegen die andern Wände der Kifte. Die Alte, bie auf einem 
Re mit Tenfeln zu fipen glaubt, fliegt leichenblaß in die Höhe 
nnd kommt auf mich zu, eben als ich mich erhebe, um die Alte, 
bie halbtopt iſt wor Schreck, zu tröflen. Als fie mich mit dem 
Selm auf dem Kopfe und gefchlofienem Bifir heranwanken ficht, 
alanbt fie wicht anderd, als daß das ganze Atelier behert und Leben 
in bie Todten gefahren fei. Sie bebt entfeht zurüd und fällt mit 
vollem Gewicht auf Rofjignol, der gerabe den Kopf heransftedt, 
um frifche Luft zu fchöpfen, und Beide verfanken in die Kifte, fo 
daß Therefe oden und Roffignol unten zu liegen kommt. Erſtere, 
die fih vom Teufel gepackt glaubt, ergibt fich ruhig in ihr Schickſal 
md bleibt liegen, wie fie liegt, während Letzterer, ber erfliden 
sl, ſchimpft, brüllt und flucht, und als das nichts Hilft, fle 
Röpt, fchlägt, kneipt, zwickt und beißt. 

„Aufgeftanden! Schodfchwernoth ! Aufgeſtanden, fag’ ich!” 
ſchreit das ſchoͤne Model. „Ihr drückt mich zu Tode, meiner Seel’! 
35 krepirfaſt, alte Here. Ober wollt Ihr bie morgen früh fo 
liegen 9“ u 
Beelzebub! Aſtaroth! Asmodi! Euer Wille gefchehe, ich ges 
Knie Eu.“ 

„So macht, daß Ihr forttommt, Sapperiot. Weg mit dem 
Unterrod,, ober ich Beiß’,“ 


158 


„Mein feliger Großvater, Euer Wille geſchehe.“ 

„Zum Teufel mit Großvater und Großmama. Ich Hab’ da 
'ne bübfche Venus aufm Budel.“ 

Ich mußte laut lachen über dem komiſchen Anblid. Plöglid 
öffnet fich die Thüre, und herein tritt Herr Dermilly. Man venle 
fi fein Staunen, als er mich in Helm und Mantel und bie alte 
Bonne und fein fchöned Modell in ber Kifte findet. 

Was heißt das?“ fragt der Maler, auf die Kifte zueilend. 
Während er Therefe heraushebt, warf ich Helm und Mantel von mir. 

„Sie da, Here Dermilly!“ ruft Therefe, ihre Haube zurecht: 
ſchiebend, die während des Scharmuttzels bedeutend gelitten ; „Bott 
fei gedankt.“ 

„Was Mabt Ihr mit Herrn Roffignol in der Kifte zu hun? 
Und Du, Andreas... in Helm und Tunika 3“ - 

„Du biſt's, Andreas ?“ ruft bie Alte. Iſt's möglich ? Und 
der Schelm von Rofliguol war's, ber mich fo gezwickt und gebiffen ?” 

„Morblen, wer ſonſt?“ ruft das Modell, and der Kifte ſich 
emporarheitend. „Zwei Stunden lang ruf’ id Euch, aufzuſtehen. 
Wollt Ihr Euch rächen an mir und mich erfliden ?“ | 

„Ich begreife nichts von dem Allen,“ fagt Herr Dermillg, 
ber Reihe nach und anſehend. Während Roflignol feine Haare in 
Ordnung Bringt und Therefe Luft ſchoͤpft nach dem harten Kampfe, 
geh’ ich auf Herrn Dermilly zu, erzähle ihm offen den ganzen 
Hergang der Sache und Bitte ihn um Entfchulbigung, daß ich ohne 
feine Erlaubniß ins Atelier gefommen bin. Inzwifchen ruft There ſe 
unaufhoͤrlich: „So, fo, der Schelm von Rofignol war's... hätte 
mir's denken Eönnen. Es flanf fo ranzig b’rin im Koffer, umt 
nad Knoblauch, zum Gel... pfui!“ 

35 fah, wie Herr Bermilly kaum das Lachen laſſen kann 
Als ich aufhöre, nimmt er einen ernfien Ton an und fagt * 
Modell: „Sie konnen gehen, Herr Roffiguol, ich bedarf Ihre 
nicht mehr. Sie wollen keine Vernunft annehmen. Ich habe Ihnen 

| 


oft gedroht: ich will Fein Modell, das mir das Haus von unterft 
in oberfi kehrt.“ ‘ 

„Wie, Herr,” ruft Roffignol, einen grimmigen BE auf 
Therefe ſchleudernd, „weil die alte Rärrin ſich auf mich wirft und 
mid für nen Aftaroth Hält, wollen Sie Ernſt machen? Yür 
den unfchuldigen Spaß eines müßigen Augenblicks ?“ 

„Richt bloß deßhalb ... Haben Sie gehört I“ 

„Kerr, Sie haben mir zwanzig’ Franken vorgeftredt. Ich bin 
Ihnen fomit noch vier Sitzungen ſchuldig.“ 

„Nicht noͤthig ... ich ſchenke fie Ihnen.“ 

„Schenken, mein Herr? Ich will nichts geſchenkt,“ ſagt Roſ⸗ 
ſignol und Holt feine Kleider, um ſich anzukleiden. „Sch ſchulbe 
Ihnen zwanzig Frauken und zahle fie Ihnen zurück, ſobald ich 
laun. Roſſignol nimmt feine Geſchenke an. Uebrigens werden. Si⸗ 
lange fuchen, ehe Sie einen Torſo wiederſinden wie ich bin. Sp 
ein antiker Leib, fo eine Schule. Malen Sie einen Herkules, einen 
Rars, einen Apollo ohne mih . .. . wenn Sie's Tönnen. Für 
bundert Sous eine folge Bruft wie die Hier! Und bad um einen 
Iumpigen Löffel Suppe und eine Rebhuhnkeule! Deßhalb über: 
werien ſich Künfller! ... Auf Wiederfeh'n, Herr Dermilly !" 

Mit diefen Worten grüßt er Herrn Dermilly, drückt ſtolz den 
Hut aufs linke Ohr, wiegt fi Hin und her wie ein Tambour⸗ 
Major, ſchwingt fein großes Rohr im Kreife herum und murmelt 
zwiſchen ben Zähnen: „Jeht hinunter zu Madame Roffignol. Woll'n 
den Faufan auf das Opfer Abrahams einfubiren.“ Auf feinem 
Bege durch's Atelier Hinterläßt er einen weiten Dunſtkreis von 
Kuoblaud und ranzigem Del. 

„Bott fei Dank, daß er fort if,“ ruft Therefe, ber Tauge- 
nichts der! Welchen Schreden hat er mir eingejagt. Unb doch 
wol’ ich wetten, Herr, wenn er morgen kommt, Sie bittet und 
Beſſerung verfpricht, Sie nehmen ihn wieder zu Guaden auf.“ 

So lange Roſſignol da wor, hielt ich mich in einer Ecke des 

% 


154 


Ateliers, and Furcht, gezantt zu werben. Raum aber ift er wes, 
fo gehe ich ſchuchtern auf Herrn Dermilly zu. 

„Und muß ich auch fort, wie Here Roffignol ?” frage ich ihn. 

„Du, mein lieber Andreas? Im Gegentheil... morgen fommt 
fie an, da ſollſt Du fie fehen. Aber geh’ jetzt ind Zimmer zuräd, 
Freundchen, Du haft Ruhe nöthig nach dieſem Lärmen. Thereſe, 
bringt ihn in feine Kammer.” 

Ich fol fie morgen ſehen? Wen ? Und warum freut ſich Herr 
Dermilly fo darauf? Ich begreife nichts davon, aber ich mag ihn 
nicht fragen. Während ich Therefe folge, murmelt fie unaufhörlich 
zwifchen den Zähnen: „Der Schurke, Einen fo zu kneipen und zu 
Koßen ; ich bin wie zgerfchlagen an allen Gliedern! Gottlob, end⸗ 
lich Hab’ ich Ruhe in der Küche. Hätt’ ich nur geahnt, daß er's 
wäre ; meiner Seel, ich hatt’ ihm die Viehſaſche zerfrapt... feche 
Monate hätt er keinen Römer machen fönnen.“ 


Brriehntes Rapitel. 
Das Driginal des Porträts. 

In meinem Alter erholt man ſich ſchnell. Als ich den Morgen 
nad) dem eben erzählten Auftritt im Atelier erwache, tran’ ich 
mir Kraft genug zu, wieder in Paris herumzulaufen, und nehme 
mir vor, mit Nanette auszugehen. Ich will aufftchen... ich fuche 
meine Kleider. Welche Ueberraſchung! Statt der groben Jade 
amd geilicdten Hofen finde ich eine Hübfche Jade von ſchönem blanem 
Tuch mit goldenen Knöpfen, eine Hofe vom nämlichen Zeuge und 
eine herrliche Wefte von gelbem Gaftmir ! ' 

IH kann mich nicht fatt daran fehen, doch wag ich nicht, fir 
anzurühren. Soll ich die haben ? Unmöglih!... Aber die alten, 
Kleider fehlen. Ich rufe: „Thereſe! Thereſe!“ ! 

„Bas will Du, Schap ?* \ 

mMeine Kleider möcht’ ich liebe Thereſe.“ 








‚286 


„Deine Kleider? Sind die da ſchlechter ald vie alten 3“ 

„Sol id die haben? Die fchöne Jade mit goldenen Kuöpfen 
und die fchöne Weſte von gelbem Tuch ?“ 

„Wer fon? Und gleich kommt der Friſenr, der ſoll Die die 
Haare fchueiden. Gib Acht, wie ſchoͤn Du wirft. Oper glaubfl 
Du, Herr Dermilly wolle Dich als Schornfteinfeger Hier im Haufe 
berumlaufen laffen. Er behält Dich bei fich.“ 

„Gr behält mich ? Und darf ich nie mehr zu Bater Bernhard ? 
und nie mehr mit Nanetie tanzen ?“ 

„Du kannſt, wohin Du willft, aber Du wohnft bei une. In 
ben neuen Kleidern tanzt ſich's jo gut wie tn den alten. Wer ein 
gut Gewiſſen und fröhlich Herz bat, der hüpft und fpringt, was 
es auch anhaben mag. Das Kleid macht den Mann nicht, lieber 
Andreas, das wir Du fpäter lernen, aber es verſchönert ihn. 
Die Toilette kann viel thun. Wenn mein Ehemann felig feinen 
Iakanienfarbigen Sonntagerod anhatte, feine fchlichten Hofen und 
geftreifte Halsbinde, da war er nicht wieber zu erfennen. Und ſieh 
mich nur felbft au. In einer geſtickten Haube und geblümtem Nachts 
leibchen bin ich zehn Jahre jünger.“ 

Ich betrachte die ſchoͤnen Kleider und — ſtutze. Was wirb 
der gute Vater Bernhard fagen, wenn er mich barin fieht? Biel 
leicht betrübt es ihn. Doch brenne ich vor Ungebuld, fie anzus 
yaffen; Thereſe meint, fie werden mir gut figen. Ach, ich kann 
der Luft unmöglich widerſtehen ... mit elf Jahren fehlt ver Muth 
dazu, und überhaupt, wer nennt mir eine Zeit im Leben, wo bie 
Gefallſuchk Feine Macht Hätte über den Menfchen? 

Ich erliege der Verfuchung, und gleich darauf flede ich in 
von neuen Kleidern, von Kopf bis zu Fuß wie umgewandelt. 
Dereſe ift außer ſich vor Entzüden ; auch ich bin nicht unzufrieben 
mit mir, Ich ſeh' mich im Spiegel, dreh’ mich nach allen Seiten 
um und betrachte mich felbfigefällig. Jetzt kommt auch ber Trifeur. 
E ſchneidet mix die langen Haare ab, frifist und pomadiſirt mich, 


«186 


Schon wieber bin ich vor dem Gpiegel. Aber pfui! wie haͤßlich 
von? ich mir. Gr nach und nach gewöhne ich mich au bie kurzen 
Haare. Doc, wo bleibt Rauette und ihr Bater? Ha, ich weite, 
fie kennen mich nit. A, und bie arme Mutter, wenn fie mid 
fähe, wie glüädlich wäre fie! Sch will die Kleider recht ſchonen, 
bis ich fie 'mal befudhe. 

Herr Dermilly tritt herein. Er ficht mid an und umarımt 
mi; er gibt nicht einmal zu, baf ich ihm danke. Sch wünfche 
auszugehen, Bater Bernhard zu befuchen, vielleicht auch um mic 
anf der Strafe zu zeigen. Solde leife Regungen von Gitelleit 
find gar zu watürlich | 

„Sente noch nicht, Fieber Andreas,“ antwortet Herr Dermilln, 
„Du biß woch zu ſchwach.“ 

„Rein, nein! ih bin Hark genug.“ 

„Und dann Iommen ja Deine Freunde zu Dir, unb eine an- 
dere Perſon.“ 

„Dieſelbe, von der Sie geſtern ſagten ?“ 

. nDiefelbe, Freundchen.“ 

„Keunt fie mich ?“ 

„3a, ich babe ihr Alles gefchrieben,; Du glaubt nicht, wie 
fie ch freut. Nur Geduld, lieber Andreas, und vor allen Dingen 
keine Unbefonnenheit !“ 

. Ser Dermilly geht fort, während ich Pie Zeit nicht erwarten 
Sans, bie Berfon zu fehen. Wie ſchade iſt's doch, wenn man mit 
ſo neuen und fchönen Kleidern im Zimmer bleiben muß. Guplih 
geht die Glode. Meine Freunde find’s, ich kenne fie Schon 
Gange. D, o, was werben fie fagen. Ich befinne wich, ob id 

mid) verfieden oder ihnen entgegen fpringen fol. | 

Da find fie... fie kommen herein... fie fehen mich. an 
— kennen mich nicht, 


„ge, ich bin's,“ ruf’ ich ihnen zu; „Baier. Vewherd * 


wet, ſeht mich ap!“ 


157 
„ME möglich? Du, Andreas I“ 


„Der Heine Ge da in gelber Wefte iſt mein Andreas ®“ ruft 


Bater Bernhard erflaunt. 

Ja, er iſt's ... in neuen Kleidern.” 

„Und Ihr küßt mich nicht? Weil ich anders gekleidet bin ? 

„Erf laß ſeh'n, ob Du's wirklich biſt. Ja, ja, er iſt's,“ 
ſagt Bater Bernhard und küßt mich. „Reich oder arm, ich will 
Dich immer Tieben.“ 

Nanette weiß nicht recht, ob fie ſich freuen fol oder nicht. 
Sie Befühlt Jade, Wefte und Knöpfe, und fagt dann leife: „Du 
bit recht ſchoͤn, ja, aber Du wirft bald ſchmutzig werden auf der 
Straße, und die langen Haare flanden Dir fo gut... ich glaube, 
ich mag gar nicht mehr mit Dir tanzen in der fchönen Jade. 
Trägt er fie nur Sonntags, Bater, oder auch an Werktagen ?“ 

„Das hängt nicht mehr von und ab, Liebe Tochter, Andreas 
iR auf dem Wege, fein Glück zu machen, vielleicht gar ein vor: 
nehmer Herr zu werden mit Wagen, Pferden und Bedienten. Er 
wär’ nicht der Erſte, der im Stalle anfängt und im Palafte auf: 
bört. Hanptfache ift, daß er gut und ehrlich bleibt, und ung lieb 
kehäält ... und dafür fleh’ ich ein! Die Parifer Luft wird fein ge: 
unded Herz nicht vergiften.“ 

Nanette hört erflaunt ihrem Vater zu, dann nimmt fle mich 
im Arm und fagt mit bewegter Stimme: 

„SA das wahr, Andreas? Du willft ein vornehmer Mann 
seven mit Wagen, Pferden und Dienern? Nicht mehr in Paris 
umgehen und Beftellungen machen? Willſt uns nicht mehr feh'n ? 
ms nicht mehr lieben? Und das Alles, weil Du fchöne Kleider 
Bhf? Mein, Andreas, nein! Zieh’ fie wieder aus. Du warft viel 

er ald Savoyarde. Komm’ mit uns, komm’, ich bitte Did. Du 
nicht mehr trank, laß und geh'n, ehe der Herr zurückkehrt. Ach, 
traurig werd’ ich fein, wenn ich Dich nicht mehr fehe, und 
Paul de Rod. I. 11 





168 


der Bater auch, Ohne Dich Fühlen wie und verlaffen. Eo wäre recht 
fglecht von Dir, wenn Du bier blieb." 

Länger halt ſie's nicht aus; die Kellen Thränen laufen ihr 
über die Wangen und fle ſchluchzt Iaut. Vergebens fuch’ ich fie zu 
tröften, nenne fie meine Schwefter, meine liebe Schwefter. Nichts 
hilft. Sie wiederholt immer: „Komm' mit und zurüd in unfer dans.“ 

D, wie mid das rührt! Schon will id ihr nachgeben und 
mit ihr gehen, aber der gute Vater Bernhard Hält mich zurück. 

„Andreas,“ ſpricht er, „fei nicht undankbar und unvernänftig ! 
Herr Dermilly fann Dir nützlicher werben in ber Welt, als ich es 
kann. Wie ſchwer mir die Trennung von Dir fällt, ich vergeffe 
dad, um Deines eigenen Beften willen. Wenn je Dein Beſchützer 
andern Sinnes werben follte, o dann Tehre zu und zurück: unfere 
Arme ftehen Dir immer offen. Auch Nanette wird ſich tröften, wie 
Alles in der Welt ſich mit der Zeit tröftet.” 

Ich füge mich in den Willen Vater Bernhards und fage ganz 
leife zu Nanette: 

„Nanette, bin ich erft ein reicher Mann, fo auf’ ih Dir ſchoͤne 
Kleider, ſchoͤne Hüte und Hauben.“ 

„Nein, nein, ich will Feine,” ruft Nanette. „Sch will Tieber 
bleiben, wie ich Bin.” 

Und damit Fehrt fle ſich ab und will mich nicht mehr anfehen, 
denn ich fei abſcheulich in den neuen Kleidern, fagt fie. Zum Ab⸗ 
ſchied will ich Nanette Füffen, aber fie duldet es erft auf Befehl 
des Vaters. Dann hält fle mir das thränenfeuchte Baͤckchen Hin 
und macht ein Geſichtchen, o fo rührend ... und flüftert mix noch⸗ 
mals in's Ohr: 

„Komm, Andreas, komm’ zu und zurüd!“ 

Wenn nur Vater Bernhard es zugäbe, ich wäre gleich bereit... 
aber fchon find fie zum Zimmer hinaus. Noch auf der Treppe höre 
ih das arme Ding ſchluchzen. Das geht mir duch Mark und Bein. 
Saft möchte ich die neuen Kleider, ausziehen und wegwerfen, fo 








18 


baſe Bin ih, denn fie haben Nanstien mißfallen und ic; fühle mid 
nicht mehr wohl in ihnen... es wird mir fo traurig zu Muthe. 
IR bad die Wirkung des Reichthums? Wenn ber Reiche aufhört, 
froh und glüdlich zu fein, fo will ich Tieher Briefträger bleiben 
mein Leben lang. 

Ungefähr eine Stunde fpäter hoͤre ich ein Geräaͤuſch im Neben- 
jommer, Gleich darauf öffnet Herr Dermilly die Thüre und nöthigt 
eine Dame herein mit den Worten: „Kommen Sie, liebe Caroline. 
Die er ſtauuen wird!“ 

Die Dame ift jung, fhön und fehr elegant gefleivet. An der 
Sand führt fie ein etwa achtjähriges Mädchen, die ich nicht gleich 
bemerkte, weil die ältere Dame meine ganze Aufmerkfamfeit feſſelt. 
66 war mir, als habe ich fie ſchon wo gefehen. Inzwifchen fagt 
fe zu Herrn Dermilly: „Er ift allexliebft. Welch’ ein Glück, daß 
wir ihm gefunden haben; mehr noch, daß er fich nicht an den Herrn 
Grafen gewandt hat, der mir den Umſtand früher verfchwiegen hatte,“ 

Waͤhrend ich nachſann, wo ich der Dame begegnet fein kann, 
jällt mir dad Portrait ein, das ich auf ber Bruft trage. Ich ziehe 
eß heraus umb vergleiche es mit der Dame, bie vor mir fleht. Kein 
weifel, fie iſt's... ich habe fie gefunden — das Original, die 
Figenthümerin des Bildes. Schnell Binde ich es los und überreiche 
der Dame mit den Worten: „Hier if Ihr Portrait, Madame. 
3a, ich erfenne Sie wieder. Gottlob, daß ich Sie endlich gefuns 
ven babe.” 

„Du Haft Recht, mein Freund,” antwortet fie und umarmt 
nich zärtlih. Es iſt mein Bild oder vielmehr das Bild meiner 
Ichter, meiner Abolphine, die Deinem eblen Vater die Rettung 
bies Lebens verdankt und eine Nacht in Eurer Hütte zubrachte. 
JH will das Unrecht des Hersn Grafen wieder gut machen. D, 
we freu' ich mich, für den Sohn bed edlen Mannes Etwas thun 
is Iönnuen, bem ich die Rettung meiner Adolphine zu danken habe, 
Zabei drückt fie ihre Tochter and Mutterherz. 


180 


„Unb das wäre die Heine Schlafmüge, die ich einft fo fröhlich 
auf dem Arme trug?” denk' ich bei mir. Ich fehe fie genau an 
und wirklich Tenne ich ihre Züge wieder, doch wie hat fie fi ver⸗ 
ändert in diefen vier Jahren! Sie ift groß und hat fchon recht 
viel Anftand im Benehmen; ihre Augen find noch gleich ſchön, 
gleich fanft, aber fie fieht nicht mehr fo Ted, fo kindlich dreift um 
fich wie damals; fie blickt ſchüchtern nieder und erröthet, wenn 
man fle anfleht; ihre Haare find dunkler geworden, ihre Züge 
marfirter, ihre Manieren ruhiger und geſetzter. Die Vernunft daͤm⸗ 
mert ſchon und drängt fi ein in die Empfindungswelt ded Kindes. 

Sch bleibe unbeweglich ftehen vor dem Fleinen Mädchen, das 
mir zulächelt, weil die Mutter ein Gleiches thut. 

„Gib ihre doch einen Kuß, Andreas,” fagt die junge Dante. 
„Kennft Du fie nicht mehr? Sie ift noch gleich gut und gleich 
fanft, und wird Dich recht Tieb haben, denn meine Adolphine hat 
ein dankbares Herz.” 

Sch trete auf fie zu und bleibe dann etwas linkiſch flehen. 
Mir fcheint, ich Habe nicht den Muth, ihr einen Kuß zu geben. 
Segen Nanette war ich viel ungenirter, die wollt’ ich zwanzigmal 
bes Tages Tüffen, ohne verlegen zu werben. 

Endlich Halt mir die Kleine Adolphine die Wange hin und ich 
berühre fie leicht mit meinen Lippen. Schnell ziehe ich mi in 
‘die Ecke zurüd, als hätte ich was Unrechtes gethan. 

„Was gedenken Sie mit dem Kinde anzufangen ?" fragt die 
Dame Herm Dermilly. 

Ich will ihn behalten, für ihn forgen, ihn unterrichten Iaffen 
und in meine Geheimniffe einweihen, wenn er Luft zeigt und Talent 
zur Malerei. Ich bedarf um fo mehr eines treuen, echeiternden Ge⸗ 
fährten, da ich ledig zu bleiben gebenfe. Mit ihm kann ich von Ihnen 
teben, denn er kennt Sie und wird Sie recht lieh gewinnen. Wenn 
er gleich meinen Schmerz nicht begreift, kann er ihn doch verſüßen.“ 

„CErlauben Sie mir einige Einwendungen Dagegen, mein Freund. 





161 


IH fürchte, er wird in Ihrem Hausweſen Manches vermifjen. Sie 
find und bleiben ledig, haben den größten Theil des Tages vollauf 
zu thun und machen häufige Reifen. Andreas ift noch zu fung, 
Sie begleiten zu können, oder nehmen Sie ihn mit, fo bat ex 
feine Zeit zum Lernen. Bleibt er aber Bei ber alten Thereſe allein 
zurück, fo wird er ſich Höchft verlafien fühlen. Außerdem bebarf 
ein Kind tanfend Eleiner Aufmerkſamkeiten, die wir bei einem Ie- 
digen Mame nie finden Tünnen. Aus allen diefen Gründen möchte 
ich Sie bitten, den Heinen Andread mir zu überlaffen. Er foll bei 
mir wohnen, in meinem Hötel, von Adolphinens Lehrern Unter: 
ruht Haben, und von mir wie yon feiner rechten Mutter behandelt 
werden. Mein Haus ſteht Ihnen zu jeder Stunde offen. Mas 
meinen Sie dazu, Herr Dermilly. Und Tiegt ed nicht mir zunächft 
eb, für die Zukunft diefes Knaben zu forgen ? Hab’ ich nicht die 
gerechteften Anfprüche darauf? Sagen Sie ja, Herr Dermilly !" 

„Ah, Baroli.., Madame! Ihre Wünfche waren mir von 
jeher Befehle. Ihr Bater Eonnte und trennen, indem er, taub 
gen unfere Bitten, Ihre Hand einem Andern gab, aber die Ge: 
fühle meines Herzens für Sie ertödten Tonnte er nicht, die hören 
erft mit meinem Lehen auf !“ 

Die junge Dame fchweigt, aber fie ſeufzt tief und fieht Herrn 
Termilly fo zärtlich, fo vielfagend an, daß dies Schweigen be- 
ıchter fein muß als die beredteſte Sprache. 

„Bergefien wir das,” jagt fie endlich, „und denken wir nur 
on Andreas. Willſt Du bei mir wohnen, Kleiner ?” fragt fie mich. 

Ich fehe fie erflaunt an, aber ſchon jetzt fühle ich mich zu 
im Bingezogen. Der Ausprud ihres Geflchtes iſt fo fanft, fo 
liebevoll. Und nun erſt die Heine Adolphine. Sollt’ ich wohl mit 
ir fpielen dürfen? Ich mag nicht darnach fragen. Etwas un- 
iHlifjig antworte ih und ſehe Herrn Dermilly dabei an: 

„Wie Herr Dermilly will; doch muͤßt' ich Vater Vemhard 
st oft befuchen dürfen.“ 


168 


„Sr meint feinen frühern Pilegevater,” fagt Hert Dermilly, 
„einen ehrlichen Auvergnaten, ber ihn wie feinen Sohn liebt.” 

„Das gefällt mir, Tieber Antread. Du thäteft fehr Unrecht, 
ben würbigen Mann zu vergefien. Ich bin weit, weit entfernt, 
Di zum Undank ermuntern zu wollen. Nimm die Börfe und 
Bringe fie Deinem Wohlihäter. Ex fol fie Deiner Mutter ſchicken 
und ihr fagen, daß ich für Deine und ihre Zukunft forgen will. 
In zwei Tagen komme ich wieder und hole Dich ab.“ 

Die junge Dame umarmt mi, drüdt mir die Börfe in bie 
Hand und entfernt ſich mit ihrer Tochter, gefolgt von Herrn Der: 
milly. Ich Bin wie verfteinert. So viel Gold, einen ganzen Beutel 
voll, und das für meine Mutter? Wache oder träume ih? Ich 
ziehe die Glocke, Elappere mit dem Golde, zähle es auf den Tiſch 
Hin: zwanzig Goldſtücke, fage zwanzig, ein ganzes Bermögen! 
Bon heut an foll die gute Mutter nicht mehr den ganzen Tag fi 
abplagen, von Morgens früh bis Abends fpät. Don heut’ an foll 
Jakob fo viel effen und fo lange fhlafen, als er mag, und Beter, 
ach, der arme Peter! daß er auch an unferem Glüde Theil haben 
Fönnte! Wie wollten wir und freuen! 

Ich will gleich fort, Bater Bernharb das Geld zu Bringen, 
aber man jagt, ich dürfe Heute noch nicht aud. So muß ich bie 
morgen warten. Dann fol Nanette erfahren, daß fchöne Kleiter 
nicht immer Unglüd und Kummer bringen, wie fie meint. 

Den andern Morgen in aller Frühe bin ich ſchon auf, um 
zum Wafferträger zu gehen. Aber Therefe will mich nicht allein 
fort Taffen und weckt zu meinem Aerger Herrn Dermilly, der gleich 
darauf ins Zimmer tritt. Er ſagt, er wolle mit mir zum Va 
Bernhard. So ſehr ich mich darüber freue, fürchte ich doch, 
werbe mir zu langfam gehen. Aber unten vor ber Thüre finv 
wir ein Gaßriolet und fleigen ein. Ueber die Börfe, die ich int 


Taſche Habe, vergeffe ih aan ‚wi 
—E 7 ſſe ich ganz, wie angenehm es iſt, ſo im Ga 





163 

Endlich find wir vor der Wohnung des Wafferträgerd. Ich 
fliege die fech8 Treppen hinauf, obne mich nach Herm Dermilly 
umzujehen. Schnell floße ich die Thüre auf und flürze ins Zim⸗ 
mer. Ranette fieht mich, ſchreit laut auf, läßt ven Milchtopf aus 
ver Hand fallen und fliegt mir um den Hals. 

„Andreas ift da! Andreas ift da!” ruft fle, außer ſich vor 
Ftende. 

Die gute Nanette, wie gern ſie mich hat! Auch Bernhard um⸗ 
armt mich zärtlih. Dann ziehe ich die Boͤrſe aus der Taſche und 
halte fie ihm Hin mit den Worten: 

„Bold! Sol! Für die Mutter von der Dame, Ihr wiflet, 
veren Borträt ich halte. D wie gut fie if! Schreibt das gleich 
meiner Mutter und fagt ihr, fie brauche jept nicht mehr zu arbeiten.” 

Bernhard fieht bald mich, bald die Börfe an. Er weiß nicht, 
welche Dame ich meine und was das zu bebeuten hat. Während 
deſſen ſpringt Nanette noch immer um den zerbrochenen Milchtopf 
herum und ruft: 

„Der Andreas ift wieder da! Er bleibt jept bei ung!“ 

Ploͤtzlich tritt Herr Dermilly ins Zimmer, und Nanettene 
Freude hat ſchnell ein Ende, denn fle begreift gleich, daß ich nicht 
gelommen fei, um ganz da zu bleiben. 

As fie Hört, daß ich beim Herrn Grafen von Franconard 
wohnen ſoll, ruft fie: 

„Mein Gott, fie wollen ihn noch zum Fürſten machen.“ 

„Rein, liebes Kind,“ antwortet Here Dermilly, „ſondern zu 
einem Menſchen, der die Pflicht der Dankbarkeit gegen alle feine 
Vohlthäter nach wie vor gewiffenhaft erfüllt und des Glückes ſich 
würdig zeigt, das ihn anlaͤchelt.“ 

Bater Bernhard verfpricht mir, noch denfelben Tag der Mutter 
ras Gelb zu ſchicken. Gerührt umarme id} ven guten Wafferträger 
und feine Tochter, und gelobe feierlich, fle recht oft zu befuchen, 
derr Deracu⸗ verfichet wiederholt, auf's Treueſte für mich forgen 


164 


zu wollen. Dann geben wir fort and dem Kaufe und von ben 
lieben Leuten, wo bie erften Jahre meines Aufenthaltes in Paris 
fo raſch und auch fo glücklich dahinfloßen. 

Der Tag iſt da, an dem ih das Hötel beziehen fol. Wie 
wird mir biefe Veränderung in Wohnung, Sitten und Lebendweile 
behagen ? Geduld, man gewöhnt fi ja an Alles. Trag' ich doch 
bie neuen Kleider erft zwei Tage und ſchon fühle ich mich in ihnen 
ganz heimisch. 

Die Dame kommt mit ihrer Tochter; fie erzeigen mir eben 
fo viel Freundſchaft als Intereſſe. 

„Es ift Alles fertig für ihn,“ fagt fie zu Herrn Dermillv. 
„Seine Kammer if gerade über meinem Gemach, ganz in meiner 
Nähe, daß ich ihn immer um mich haben kann.“ 

„Und was fagt der Herr Graf?” 

„Das iſt mir Nebenſache, wie Sie wiffen. Er hat feinen 
Willen und ich den meinigen. Er wird froh fein, daß ich einen 
Theil des Jahres bei ihm wohne. Die Sorge für die Erziehung 
meiner Tochter erſchwert mir dad Reifen. Liebe Adolphine, fir 
Dich fcheue ich Kein Opfer! Der Herr Graf weiß noch nichts von 
meinen Abfichten mit Andreas. Heute Morgen will ich ihn ihm 
vorführen; er wird ihn einen Augenblid anfehen und baum ver: 
geilen ; fein Koch und fein Hund nehmen ihn ganz in Anſpruch 
Jet fage Herrn Dermilly und Thereien Adien, Andreas; wi 
wollen fort. Wir nehmen Andreas mit und, Adolphine. If 
Dir's recht?“ | 

„3a, ja, liebe Mutter,” fagt das Feine Mädchen. „Wen 
Du ihn magft, mag ich ihn auch.“ 

Meine Sachen find bald in Ordnung. Ich will meine alte 
Kleider mitnehmen, aber Therefe verfpricht, fie zu Bater Bernbarl 
Bringen zu laſſen. Dann feße ich den hübfchen Hut auf, den Her 
Dermilly mir gefchentt bat, aber ich fühle mich nicht behzaglie 
darunter: er drückt mich fo; meine Heine Müpe war viel leichto 








168 


Do was muß man ſich Alles gefallen Laffen, wenn man nad 
her Mode gekleidet fein will. 

Ich umarme Herrn Dermilly und gehe dann mit der Frau 
Gräfin und ihrer Tochter die Treppe hinunter. Bor der Thüre hält 
ein fchöner, fchöner Wagen, und Livröebediente warten auf meine 
Beſchützerin. Mit vielem Geräufch öffnen fle die MWagenthüre, 
heben erft die Fleine Adolphine hinein und geben dann der gnädigen 
Fran die Hand, um ihr zu helfen. 

„Komm’, Andreas,” fagt mir die junge Gräfin und nimmt _ 
mih am Arm. Ich wußte nicht, ob ich vorn hinein oder hintenauf 
Reigen folle, bis ich mich vorwärts gefchoben fühle. Jetzt bin ich 
m Wagen, ber wie ber Wind bavonbraust. Die fchöne Dame 
überhäuft mich mit Güte, und lächelnd fagt die Kleine Adolphine 
jumir: „Nicht wahr, Andreas, dad Fahren ift eine hübſche Sache?“ 

Ich weiß nicht, was ich antworten ſoll; denn es ift mir, als 
ttänme ich das Alles. Das Geraffel des Wagens, die Häufer, bie 
on und vorüber zu fliegen fcheinen, dad und vieles Andere macht, 
Na ich nicht zu Wort kommen Tann. Meine Wohlthäterin Tächelt 
äber mein Staunen, das noch größer wirb, als der Wagen in 
in prächtiged Hand einfährt und auf einem weiten Hofe ftille Hält. 

Ein Diener öffnet die Thüre und gibt mir die Hand... bie 
Sad... mir! Zum Dank dafür nehme ich den Hut ab. Ich 
ide um mid. Alſo das iſt das Hötel, wo ich wohnen foll ? 
Bel ein Unterfchied zwifchen diefem Haufe und dem Haufe des 
anten Vaters Bernhard! Ach, werbe ich hier auch fo glüclich ſein 
wie dort ? 


Bierzehntes Kapitel. 
Der zweite Bang — Das Kammermäbchen. 
Meine Befchügerin fleigt eine große Treppe hinauf und winft 
ni zu folgen, was ich thue, wit dem Hut in ber Hand. Bir 


166 


treten im erflen Stod in ein herrliches Zimmer ein und gehen 
burch mehrere andere, die eben fo koͤſtlich moͤblirt und eingerichtet 
find. Ich wage kaum aufzutreten, aus Furcht, die ſchoͤnen Teppiche 
zu beſchmutzen, bie auf dem Fußboden liegen, während bie Feine 
Adolphine leicht darüber hinhüpft. Es war gewiß recht hübſch bei 
Herrn Dermilly, aber hier iſt's noch viel, viel hübſcher: überall 
Spiegel, Penveluhren, Candelaber, Blumenvafen, Kronleuchter, 
Luſtres am Getäfel, alabafterne Kugeln am Plafond und viele andere 
Herrlichkeiten. Mein Gott, wenn Nanette das Alles fähe! Ich wette, 
fie glaubte, man wolle aus mir auch einen Grafen machen! 

In einem allerliebften Cabinetchen nimmt eine junge Fran der 
Frau Gräfin Shawl und Hut ab. Wie artig man ift in diefen 
vornehmen Häufern ; bei jedem Worte bückt man ſich. 

„Lucilie,“ fagt Adolphinens Mutter zu der jungen Frau, die 
vor ihr flieht und auf ihre Befehle zu warten fcheint, „geh’ und 
fage dem Herrn Grafen, ich wünfche ihn auf einen Augenblid zu 
ſprechen.“ 

Mamfell Lucilie, das Kammermäbdhen ber Fran Graſtn, geht 
fort ; die Heine Adolphine fpielt ſchon mit einer herrlichen Puppe, 
während ich mitten im Zimmer ftehen bleibe, den Hut in der Hand 
drehe und den Teppich anfehe. 

„Gefällt Dir’s hier, Andreas ?“ fragt die junge Dame lächeln, 
winkt mir zum Siken, und nimmt mir ben Hut aus der Sand, 
womit ich nichts anzufangen weiß. 

„Do gewiß, Madame. Aber ich darf recht oft zu Bater Bern- 
hard, nicht wahr ?” 

„Ja, mein Lieber. Du bift bier in meinem Haufe eben fo 
frei wie zuvor. Der Amgang mit Freunden ift mehr werth ale 
alles Selb und alle Ehren diefer Welt. A, hätte ih die Wahl 
ee | ich hätte nimmer in dieſem glänzenden Haufe mein Glück 
geſucht! 

Bei dieſen Worten feufit fie lief; und ein wehmathiges Kächeln 








167 


ſchwebt über ihre ſchönen Züge. Gleich darauf umarmt ſie ihre 
Tochter, und fagt dann fo freundlich und liebevoll zu mir: 

„Ehe ich Dich in Deine Kammer führe, Andreas, ‚will ich 
Dich dem Herrn Grafen vorſtellen. Wenn das vorbei ift, wirft 
Du ihn wahrfcheinlich fehr felten zu Geficht befommen. So oft Du 
wad wünſcheft, haft Du Dich an mich oder an Lucilie zu wenden.“ 

Ich verſpreche ihr Alles, wollte aber, die Vorftellung wäre 
don vorüber, denn ich fürdjte, der Her: Graf nimmt mi nicht 
fo gut auf wie feine Frau. 

Herr von Franconard befand ſich unterdeß in feinem Cabinet 
und hielt Rath mit feinem Koche und Champagne, der vermoͤge 
ſeiner Talente fi zum Haushofmeifter emporgeſchwungen hatte. 
der Graf erwartete mehrere angefehene Leute zum Diner: fo hatte 
er denn die wichtige Sorge für den Küchenzettel in höchfleigener 
derſon übernommen. 

Gr ſaß mit ſchwarzſammtner Mühe auf dem Kopfe in einem 
großen Fauteuil, die Füße ruhten weit audgeftredt auf einem 
Shemelfiuhl, die eine Hand liebkoste einen dicken englifchen Hund 
u feinen Füßen, die andere hielt einen langen Küchenzettel, über 
tem er in tiefes Nachdenken verfunten fchien. 

Bor ihm fland der Inochenfefte, rothnaſige, Eupferfarbige, dick⸗ 
eibige Koch, die Mühe in der Hand ; etwas weiter davon Herr 
Khampagne, der, ungleich weniger ehrerbietig, fich von Zeit zu 
Jeit auf den Lehnfluhl feines Herm flüge. 

„Alfo, Herr Oberkoch: Steinbutte mit Auftern, Hors d’oeuvres, 
echs Entroͤes. Damit wären wir fertig, nicht wahr ?“ 

„Ja, Kerr Graf.“ 

„Kommen wir auf den zweiten Gang. 's ift Feine Kleinigs 
nt, Lente zu traktiren, die man brauchen Tann.“ 

„Namentlich wenn es mit fo viel Takt gefchieht, wie beim 
jerm Strafen,“ bemerkt Champagne, und ſtreichelt Gäfar, ber 
eißen will, 


168 


„Du haſt Recht, Champagne. Gib mir ’ne Brife Tabak, dad 
thut gut, wenn man den Kopf fo voll Hat. Alles bei Tiſch, jete 
Schüffel muß am Plage fein.“ 

„Darauf fieht der Herr Graf immer.“ 

„Heute zum Exempel dinirt bei mir ein deuticher Baron, ein 
Bräfelt, ein Bangquier, ein ungeheuer reicher Gentleman, ein feh: 
beliebter Dichter und ein hochgeftellter Offizier im Activdienſt 
Jedes Bericht muß meinen Bäften analog fein, Herr Oberkoch 
Nur ja feine Nachlaſſigkeit, ich wäre unerbittlich !” 

„Der Herr Graf follen zufrieden fein.” 

„Denken wir nad. Was ftellen wir in die Mitte? Still 
Caſar, fill.“ 

„Sultanin & la Chantilly, Herr Graf?“ 

„Sf das fein genug? Was meinft Du, Champagne ?“ 

„Sollte denken, ed wäre präfentabel, Herr Graf. Beft! ein 
Sultanin. Kann man dem Großtürken was Beſſeres ferviren ?” 

„But! Alfo.die Sultanin in die Mitte, Weiter: junge Hühn 
in Trüffelfauce ? Gerade vor den Herm Präfekten, nicht wah 
Ehampagne ?“ 

„Trefflih, Herr Graf. Der Duft der Trüffeln ſtimmt 3 
Großmuth.“ 

„Ich habe eine Bitte an ihn, ſo wart' ich damit, bis d 
großmüthigen Trüffeln kommen. Weiter: zwei wilde Enten. D 
iſt was für einen Waidmann, alſo für mid. Du weißt, Cha 
pagne, ich habe dreimal ein Reh angejchoffen.” 

„Sa, Herr Graf, und Sie hätten es endlich erlegt, wenn 
nicht vor Alter verredit wäre.” 

„Weiter: glacirte Stedtrüben. Das kommt vor ben Poete 
Glacirte Steckruͤben erhigen bie Phantafte ; fie Haben fo was U 
guöfprechliches, Myfteriäfes, Geheimnißreiches, wie mir daäuch 
und man jagt, ber Dichter gehöre aut romantiſchen Schule. W 
meinſt Du, Champagne?“ 











169 


„Ein göttlicher Bedankte, Herr Graf, Ihrer würdig. Wäre 
ich Dichter, ich machte gleich ein Cpos auf die glagirten Steckrüben.“ 

„Alfo, glagirte Steckrüben, Herr Oberloh, und vor ben 
Romantifer. A propos, haben Sie einen Küchenjungen, der fi 
anf somantifche Stedlrübenglacirung verfteht.” 

„Ih habe zwei, Herr Graf: einen aus Paris und den andern 
aus Nogent, aber keinen, ver fi auf romantifche Steckrüben⸗ 
alagirung verſteht.“ 

„So müflen Sie's felbft thun, Herr Oberkoch. Still, Cäſar; 
ver Schlingel fällt mir immer in die Rebe, und erwürgt mir bie 
Geifeskinder in den Windeln!... Ein Plumpudding. Ohne alle 
Gontroverfe vor den Gentleman. Nur machen Sie ihn recht groß. 
Beim Iegten Diner hat der Mylord, flatt den Plumpudding zu 
jerlegen und den andern Gäſten anzubieten, ihn ganz allein ver: 
‚ehrt. Das darf nicht wieder vorfommen.” 

„SH made ihn doppelt jo groß, Herr Graf.“ 

„Dreifah, Herr Oberloh, damit ih ruhig bin. Weiter: 
Blumenkohl in Sauce. Hm, ich denke, ver gehört vor einen Baron, 
Blumenkohl if mit Sauerkraut verwandt, wenn auch weitläuflg, 
and ohne Sauerkraut eriftirt Fein Deutfcher. Alfo Blumenkohl vor 
ten Seren Baron. Was fagft Du dazu, Champagne ?“ 

„Sch bewundere Ihren Scharffinn, Herr Graf, Ihr Iogifches 
Talent, Ihre tiefe Diplomatik.“ 

„Und mit Recht, Champagne. Du glaubft nicht, wie fchwer 
es halt, einen Küchenzettel zu entwerfen, Notabene mit Menfchen- 
lenntniß und flaatsmännifcher Klugheit!... Es fehlen noch zwei 
Zchüſſeln... Artifchoden mit Mat... mit Marl... Mat 
ereutet Kraft, Energie, Muth, die braucht der Kriegsmann. Alfo 
Artiſchocken mit Mark vor den Offizier im Activdienft. Auch da: 
nit zufrieden, Champagne ?“ 

„Auch damit, Herr Graf. Wer fich ſchlagen will, muß Mark in 
ten Knochen haben. Das Gericht kann nicht paffender placirt werden.“ 


1m 


„Bleibt noch mein Banguier, ein junger Mom, etwas fufet: 
haft, fpielt viel cart. Geben wir ihm Stinte, und legen immer 
drei bei drei: bad erinnert ihn an die Bole und am den König. 

„D, 9, die geniale Idee, die, Herr Graf. Meiner Seel, 
auf fo was wäre ich nie gekommen.“ 

In dem Augenblide tritt Mamſell Lucilie mit dem Auftrag: 
ihrer Herrin ind Zimmer, 

„Ber flört ung ?“ ruft der Herr Graf zomig, während Caͤſar 
zu bellen anfängt, „Habe ich nicht verboten, wen einzulaſſen! 
Mo ift Lafleur ?“ 

„Herr Graf, 's if Mamfell Lucilie,” ſchmunzelt Champagne, 
und Tiebäugelt mit dem Kammermadchen, die den Zorn des Grafen 
nicht zu beachten ſcheint. | 

„Mamſell Lucilie ?” wiederholt der Graf fanfter, und verzieht 
das Geficht zu grinfendem Lächeln. „Still, Eäfar, fill. Komm 
und mache der Mamfell glei Dein Kompliment. Spring’, ſag 
ih... noch höher!“ 

Nah vielen Umſtänden fpringt endlich Gäfar über den ihm 
vorgehaltenen Stod und dem Koch gerade auf den Bauch. Faſt 
hätte er zum großen Ergoͤtzen des Herrn Grafen den Herrn Ober: 
koch bei der fpigigen Nafe gepadt. Mamfell Lucilie, die wenig 
Sinn hat für diefe gräflichen Aufmerffamfeiten, beveutet Cham: 
pagne, daß fie nicht bloß gekommen fei, die Kunſtſtücke Caͤſars zu 
bewundern. 

„Erſt muß ich mit dem Deffert fertig fein,“ ruft Her von 
Franconard ängftlih. „Was wünfchen Sie, Lucilie. Faſſen Sie 
fi kurz, ich habe Feinen Augenblid für mid.“ 

„Die Frau Gräfin wünfcht den Herrn Grafen zu ſprechen 

„Die Frau Gräfin mich fprechen ?“ wiederholt Herr von ran: 
conard erſtarrt. „Ich komme gleich, im Augenblid, Mamſell.“ 

Der Graf befichlt dem Oberkoch zu warten umb ſchellt dem 

x Kammerbiener zum Ankleiben. Mährend ber Graf feine Toilette 








Ä m 
Wiorgt, unterhält er a6 mit Champagne, feinem gewöhnlichen 
Bertranten 


„Bas fagft Du dazu, Champagne ? Die Frau Graͤfin laßt 
wich zu ſich einladen.“ 

„Bermuthlich Hat fie dem Herm Grafen was zu fagen.“ 

„Scheint fo. Aber das ift das erſte Mal in ven neun Jahren, 
tie wir verheirathet find, daß meine Frau mir was zu jagen hat.“ 

„Alles Hat feinen Anfang, Herr Graf.“ 

„ber der Anfang kommt fpät, Champagne. Du weißt, wie 
5 wünfchte, einen Erben meines Namens zu haben.“ 

„Iſt Ihnen der Wunfch vergangen, Herr Graf?“ 

„DO gewiß nicht, ich Habe ihn noch und werde ihn immer 
haben. In den erftien Jahren unferer Ehe, weißt Du, war bie 
Fran Gräfin ewig auf Reifen, und wir trafen und nur felten.“ 

„Sch erinnere mich deſſen recht gut, Herr Graf, fowie auch 
zuferer Reife nach Savoyen, auf der wir beinahe den Hals ge- 
Srochen hätten, und Ihr Fräulein Tochter daneben. Morblen! 
sie Haare flanden mir zu Berge!” 

„Und als wir zurückkamen, pofaunteft Du die ganze Gefchichte 
ms, daß die Frau Gräfin Wind davon befam, die ohnehin mir 
sirnte, daß ich ihre Tochter ihr entführt, Von da an ward fie 
noch böfer auf mich.” 

„Aber ſeitdem reist Madame viel weniger.“ 

„Mag fein, auch wohnen wir oft in demfelben Hötel. Aber 
gleubſt Du, ich Tönne fie je unter vier Augen fehen ? Nicht moͤg⸗ 
lich! Rebe ich ihr von einem Erben meined Namens vor, ober 
bitte ich fie um ein kurzes Geſpraͤch, weißt Du, was fle mir ant⸗ 
wortet 9“ 

„Run, Herr?“ 

„Sie antwortet, das fei nicht möglich !" 

„Wirklich, Herr Graf?“ 

„Wirklich, Champagne, fo antwortet fie mir, wenn auch auf 


172 
die anmuthigfte, freundliche Art. D, fie Hat einen eifenfehen 
Charakter, der ungeheuer pifant if für einen Mann. Wie felten 
macht fie die Honneurs bei meinen Diners !“ 

„Der Herz Graf verficht felbft die Honneurs aufs Bee.“ 

„Gewiß, Champagne, aber eine Fran an wohlbefepter Zafel, 
und wenn fie fo hübſch ift wie die Frau Gräfin, wirft Wunder... 
und meine Frau ift hübſch, ſehr hübfch.“ 

„Reizend, Herr Graf.“ 

„Und wenn man allerlei Anliegen hat, wenn man reiche, ein: 
flußreiche Leute bewirthet, wenn man biefe oder jene Finanzfpefu: 
lation im Kopfe trägt... ih fage Dir, dann hat man eme Frau 
bei Tifch fo nöthig, wie das liebe Brod.“ | 

. „Bird Madame heute die Honneurd machen ?” 

„Geſtern wollte fie nicht, und doch Brauche ich fie nothwentig. 
Der Banquier fol mir Geld leihen, der Präfekt mich zur Wahl 
vorſchlagen, der Dichter mich befingen, der Engländer mir Pferde 
abfaufen, Eurz, jeder meiner Gäfte ift zu was gut ober kann es 
werben. Du weißt, ich lade Niemand ohne Gründe ein.“ | 

D, ich kenne die Feinheit ded Herrn Grafen !* 

„And doch will Madame nicht erfcheinen beim Diner. Vielleicht 
hat fie fi anders befonnen ; wollen fehen. Wie ift meine Frifur, 
Champagne ?” 

„Mufterhaft, Herr Graf.“ 

„Und der Zopf? Etwas zu Iofe, nicht wahr ?“ 

„Um fo anmuthiger, Herr Graf. Er tänzelt um ihre Schulter 
wie ein Klapperfchlänglein.“ 

„Und die Rofette ?“ 

„Herrlich, Herr Graf. Wie ein Schmetterling.“ 

„So bin ich recht für die Frau Graͤfin. Nehme ich Caͤſar mit?“ 

„Madame mag die Hunde nicht, wie der Herr weiß.“ 

„Wohl wahr, aber Cäfar macht jet fo hübfche Sachen: 
Madame wird ihre Freude haben. Komm’, Cäfar, komm'.“ 








173 


Unter dem Gebal Caſars beiritt der Herr Graf das Zimmer 
ter Sräfln, wo Adolphine mir ihre Spielfachen zeigt. Gleich fpringt 
Eifer auf die Puppe zu, nimmt fie ind Maul und laͤuft damit 
unter den Theetiſch. 

Eben als der Graf gegen bie Graͤſin ſich Höflich verneigt, ers 
gebt Apolphine ein lautes Geſchrei: 0 

„Mama... meine Puppe... ver böfe Hund beißt meine Puppe.“ 

„Wie, Herr Graf, Sie bringen Ihren Hund mit ins Zimmer, 
und wiffen, daß Adolphine füch vor ihm fürchtet 2" 

Ich wollte, Madame... her, Eifer... ich dachte, Ma: 
tame... Eäfer, laß los... gib her... Schelm! Er thut Deiner 
Puppe nichts, mein Kind.“ - . 

„Baden Sie, daß er die Puppe hergibt... bat man je fo 
was gefchen 7 ’ 

„Bart, Schurke, ih will dich!“ 

Aber Caͤſar gehorcht nichk: er bleibt ruhig unter dem Tifche, 
zaust die Puppe mit den Vordertatzen und Inurtt, wenn wir und 
ihm nähern. Muthig fpringe ich unter den Tiſch, worüber der 
Hudd fo erſchrickt, daß er plöglich auffährt und vie Dede mit 
fanımt einem allerliebſten Theefervice heruntegreißt, daß alle Taffen 
auf dem Boden zerfchellen. Dafür habe ich die Puppe erobert und 
gebe fie Adolphinen zurüd, während Gäfar knurrend unter ben 
Stuhl feines Seren kriecht. 

„Ich weiß Ihnen Teinen Dank für folche Auftritte, Herr Graf,“ 
fagt die junge Gräfin und nimmt ihre Tochter auf den Schooß, 
während Herr von Franconard vor lauter Verlegenheit ſich bad 
Bein veibt und die Schuld auf mich fchieben will, 

„Laffen wir dad, Herr Graf!” fagt die Gräfin. „Ich habe 
Sie um die Ehre Ihres Beſuches gebeten, um Ihnen biefen Knaben 
vortzuſtellen. Kennen Sie ihn nit?" 

„Ib, Madame ? Ich gehe nicht viel mit Kindern um.” - 

„Es iſt von feinem Umgang bie Mebe, Here Graf, fordern 

Baul de Rod. n. i2 


174 


von Umiverfen. Es ift berfelbe Knabe, den Sie mit dem Cabriolet 
umiwarfen.” | 

„So viel ich mich erinnere, war ber Knabe ein Savoyarde.“ 

„Gewiß, Herr Graf. Es iſt diefer Knabe der naͤmliche 
GSavoyarde. Er wollte Ihnen das Medaillon zurückgeben, das 
oolphine in ber Hütte des armen Mannes Liegen ließ, ber Ihnen 
vor vier Jahren in Savoyen das Leben rettete, und das Mbolphine 
jegt am Halſe trägt.“ 

„Wie feltfam!... Schweiz, Cäſar.“ 

„Das Suchen dieſes Knaben nach Ihnen war lange vergeb: 
Ho, bie er Sie endlich jenen Morgen auf dem Boulevard traf. 
Sie haben ihm feine Ehrlichkeit ſchoͤn vergolten.“ 

„Wie konnte ich das denken, Madame? Er Hätte mir bad 
Borträt hinhalten follen! Aber um fo dankbarer will ich jeht fein. 
Eich’, Knabe, da find fünfzehn Sons...“ 

„Pfui, Herr Graf! Sie zahlen Sohn und Yater mit gleicher 
Münze. So will denn ih Ihre Schuld übernehmen: ber Anabe 
fol bei mir wohnen, mich aufs Land begleiten.” 

„But, Madame, fehr gut. Ex eignet fich vorzüglich zum Soden.” 

„Met doch, mein Herr. Anbdreas foll nicht ale Kuecht ge: 
Halten und erzogen werben.” 

„Doch ſcheint mir, ein Savoyarbe .. .* 

„Iſt fo gut ein Menſch, wie jeder andere und erhebt ſich oft 
buch Ehrlichkeit und Zartgefühl über Viele, die ſich Höher bänfen.“ 

„Gewiß, Madame. Ehrlichkeit und Zartgefühl vertragen 
recht wohl mit dem Berufe eines Schornfteinfegers ; nur begreife 
i nicht, was Sie hier... machen wollen... mit... ſtill, Gäfar!” 

„Ich mache mit ihm, was ich will, mein Herr. Andreas foll 
ſpaͤtet mein Sefretär werben. Ich meinerfeits begreife nicht, tie 
man den Sohn bed Mannes, der Adolphinens Reben rettete, ale 
Jockey, als Knecht anfehen und behandeln kann! Dies Ihnen 
eroͤffnen, ließ ich um bie Ehre Ihres Veſuches bitten.“ 















175 


„ber Madame . 

„Rein Aber, mein "ger Ich Hoffe, . meine Bine finden 
ein günfliged Gehör. Aus Gegengefälligkeit wilfige ich ein, dann 
ınd wann Ihren Diners anzuwohnen.“ 

„Bas? wie? Sie wollen... und ſchon heute, Mabeme? 

heute, mein Herr.“ 

O, ich bin entzückt. Säle, mach' der Frau Gräfin Dein 
Erapliment, a 

„Nicht nöthig, mein Herr. Saffen Sie ihn ruhig, wo er iſt.“ 

„Soll er Andreas fein Kompliment machen, Mabame.” 

„Er fol Niemanden fein Kompliment machen. Sch liebe fo 
hoffpielige Eomplimente nicht.“ 

„O, er macht jebt fo hübſche Sachen.“ 

„Wie eben erſt!“ 

„Alſo heute? ... Doch Halt, ver dritte Gang fehlt noch, 
Nadame. Sie werben mit meinem Küchenzettel zufrieden fein.“ 

„Sie find wie geboren für die Küche, Herr Graf.“ 

Nie Hatte der Herr Graf eine fo ſchmeichelhafte Aeußerung 
ae dem Munde feiner Gemahlin vernommen. Als er auffichen 
tl, ihre Hand zu küſſen, tritt er Cäfard Schwanz unter bie 
ke, worüber dieſer Iaut beilt und Adolphine nochmals erfchredt. 
don an der Thüre, kehrt Herr von Franconard wieder um und 
rendet ſich mit zärtlicher Miene an die Graͤfin, die plöglich wieder 
ar ernft ausſieht. 

„Sie fehen, Madame, wie bereit ih bin, Ihre Wünſche zu 
rüllen. Eine Gefälligkeit ift der andern werth.“ 

„Ih Habe Ihnen gefagt, Herr Graf, daß ich Heute bei Tiſch 
e Sonneurd machen werde.“ 

„Und ich danke Ihnen dafür... aber, Madame, bei Tiſch 
nen wir nicht wohl reden von... dem Erben...“ 

„Don welchem Erben, Herr Graf?” 

„Dem Erben... meines Namens, den ich lange ſchon mir wünſche. 


176 


„Schweigen Sie, ich bitte... in Gegenwart ber Kinder !“ 

„Ich rede in allen Ehren, Mabame... nichts, was das Ohr 
ber Unſchuld beleidiet!... Ah, und meine Licbe!... SHE, 
Caſar, kuſch! ... meine Zärtlichkeit... .“ 

„Ro ein Wort, Herr Graf, und ich nehme mein Berfprechen 
zurüd. u 

„Ich darf alfo nicht hoffen, daß bald. : .” 

„Und Ihr Küchenzettel, Herr Graf?“ 

„Sie haben Recht, Madame, es iſt vie Höchfle Zeit. Alſo, 
auf Wiederfehen, Madame. Komm’, Cäfar !“ 

Mit hoflichem Gruße empfiehlt ſich der Graf, während Eälar 
mir nichts dir nichts über bie Sammiſtühle des Zimmers Hinwegs 
- fpaziert. 

Kaum ift Herr von Franconard fort, fo winkt mir die junge 
Dame, ihr zu folgen. Wir fleigen die Treppe hinauf, Die mit bem 
Hofe und einem Theile der Gemächer der Gräfin in Verbindung 
ſteht, und treten in eine geſchmackvoll möblirte Kammer, die von 
nun an mir gehört. Da bin ich fern von allen Bedienten, bloß 
Mamfell Luciliend Kammer if in ver Nähe, der meinigen gegen: 
über. Ich kann alfo ungeftört arbeiten und fchnell zur Frau Gräfin 
hinuntereilen, wenn file mich rufen läßt. Mamfell Lucilie verfpricht 
meiner Beichügerin, angelegentlichft für mich zu forgen. Das junge 
Kammermadchen thut Alles, was fle nur den Augen ber Gräfin 
abjehen ann. Ich werde nicht mit den Dienftboten effen, Mamfell 
Lucilie bringt mir das Mittagsbrod auf mein Zimmer. Es if ein 
liebes, gutes Mäpchen, die Lucilie. Sie gibt ver guäbigen Yran 
bad befte Zeugniß vun mir, und jagt, es wäre Schabe geweien, 
wenn id) Schornſteinfeger geblieben wäre. Madame ſieht fie laͤche lud 
an und gibt ihr einen zaͤrtlichen Patſch. Dann geht fie fort. In 
der Thüre ruft fie mir noch zu: 

„Bon morgen an befömmft Du regelmäßig Unterricht, Andreas. 
Lerne fleißig, das. if der beſte Dank,“ . 








177 


SE ich allein bin, mufbere ich der Meike nach die Meibel im 
Zimmer. D, wie fo hübſch Mes eingerichtet ift. In den Edhub- 
laden ber Gommode finde ich ſchneeweiße Wälche und Kleider, eigends 
für mich gemacht; ich probire fie alle an, ein Stud nad) dem andern. 
Auf einem Fleinen Sekretär Tiegt eime hübfche ſeidene Börfe mit 
Geld unb davor ein hefchriebenes Papier. Wenn ich doch leſen 
könnte! Das Geld rühr' ich nicht an, denn ich weiß nicht, ob es 
mir gehört. Wozu brauche ich Geld bei diefer guien Dame, bie 
mir mehr gibt, als nöthig ift * Und doch wünfchte ich faft mir 
einiges, um Nanette Hut und Kleider kaufen zu koͤnnen und ihr 
su beweiſen, daß ich an fie denke. 

Mein Zenfter geht auf den Hof des Hötele. Ich ſchau⸗ eine 
Beile hinaus, ſehe aber nichts als Diener und Küchenlente. Die 
Ausſicht bei Vater Bernhard war viel ſchoͤner und belebter. Was 
jezt thun? Ich weiß bereits, wie ed im Zimmer ausfieht and wie 
vraufien ! Ach, die Langeweile kommt. Wie gerne fpielte ich draußen, 
aber darf ich ohne Erlaubniß ausgehen ? und wo ift die guäbige Frau? 

Traurig fehe ich mich nieder und benfe an die gute Nanette 
Ee iſt fo die Stunde, wo ich vom Schornfleinfegen und Brief: 
tagen heimkehrte, wo Nanette und ich fprangen, tanzten und fangen, 
fo laut, daß die Leute im erften Stod uns hörten. Hier, welche 
Stille? Vielleicht wiffen Sie nicht mal was Tanzen und Singen if? 

Da Öffnet füh die Thüre und herein Fommt Mamſell Lucilie 
mit einem Brodkorb in der Hand. 

„Bad mahft Dn da, Andreas ?"- 

„Nichts, Mamſell.“ 

„Wie traurig fleht er aus, der Schelm. Ich glaube, er hat’s 
Seimmweh. Aber Geduld, man gewöhnt fi an Alles. Das Hotel 
gefällt Dir uicht fo gut wie Deine Hütte, wo Du mit Deinen 
Geſpielen lärmteft und tobteft, nicht wahr, Andreas?“ 

„Ich komme nicht aus einer Hütte, Mamfell: ic; Tomme von 
Herrn Dermilly. Auch tobte und lärımte ich nicht, denn ich war frank.” 


178 


Bein Namen Dermilly ſehe id}, wie das junge Kammer: 
mabchen boshaft lächelt. Dann muß ich ihr meine Geſchichte er: 
sählen, denn Mamfell Lucilie iſt etwas neugierig. Sie hört auf: 
merkſam zu, doch ruft fie von Zeit zu Zeit: „Der arme Andreae! 
bez arme Beier!... So weit zu gehen... und gleich bei der An 
funft gu verirren!... Der gute Waffertraͤger, ver!... Den armen 
Andreas überzufahren, ver ihm bad Porträt von Madame geben 
will!” u. ſ. w. u. f. w. 

Als ich fertig bin, frage ich, ob Herr Dermilly mich hier 
befuchen wird, ob ich gehen und kommen Tann, wenn ich will. 

„Gewiß, wenn Madame ed erlaubt. Nur Abends wicht, da 
birfen Kinder von Deinem Alter nicht allein ausgehen.” 

„O, ich verirve mich wicht, ich kenne ganz Paris; auch will 
ich nur zu Baber Bernhard und Herrn Dermilly.“ 

„Herr Dermilly kommt faft täglich ins Hötel und malt für 
Madame. Er bat fie und ihre Tochter ſchon in jeder Groͤße gemalt. 
Uns Freundſchaft gibt ex Fräulein Adolphinen Unterricht, bie ihr 
ihren guten Freund nennt. Früher kam er noch öfter, aber böle 
Zangen... uund Madame hält was auf ihren guten Ruf... be 
fie voch eine Tochter, die heranwaͤchſt. Trogdem kommt Herr Der. 
milly noch ziemlich oftf zwar, glaube ich, ſteht er mil dem Herm 
Strafen fo ſo, denn er bat ihm feinen Hund nicht malen wollen... 
son Koͤter von Caͤſar, den ich nicht leiden Tann. Doch halt, Kleiner, 
über das Geplauder vergefle ich Dein Mittagbrod. Wir effen hier 
erft um ſechs Uhr, aber Madame glaubt, Du feieft hungrig, unt 
ich habe verfprochen, für Dich zu forgen. Komm' und iß!“ 

Unterdeß hat Mamfell Lucilie die Speifen auf einen Tiſch 
ansgefrant. 

„Das Alles ift für mich I" frage ih. 

„Für wen fonft ?“ 

„Davon können vier Andreas fatt werben.“ 


„Richt doch, Schelm. Habe ich nicht verſprochen, far Dich 








179 


zu forgen ? Nach Madame Bin ich bie Herrin im Haufe. Was id 
will, geſchieht; Alle gehorchen ohne Widerrede. Der Koch geht 
durch's Fener für mich, der Kellermeifler ficht mich fchmachtenn 
an, alle Lakaien find meine ergebenen Diener, Kerr Champagne 
macht wir den Hof und ber Herr Graf laͤßt mich durch feinen 
Cäfar becomplimentiren und zwidt jo verliebt mit den Augen... 
der alte Rarr, der!“ 

Ich laſſe Mamfell Lucilie ruhig fortſchwatzen und flopfe mich 
ingwifchen mit ben Lederbifien voll, die fie aufgetragen hat. Wie 
gut das Alles ſchmeckt! 

„Wäre nur Peter da,” fage ich wiederholt, „ber würbe zus 
langen !“ 

„Du gutes Herz,” fagt Mamfell Lucilie und fixeichelt mich. 
„Ans dem if was zu machen. Aber, mein Gott, Madame wartet 
auf weich zum Ankleiden, wie fie ſich Iangweilen wird bei Tiſch; 
fie bliebe gerne weg, aber fie hat 'mal zugefagt. Komifch!... wol’ 
ih wäre an ihrer Stelle... 's ift doch hübſch, fo obenan zu figen 
und bie Königin zu fein, der Alles huldigt. Wie anders. denlt 
Madame... fie kann den Augenblid nicht erwarten, wo man auf: 
ücht und fie wieder allein it mit ihrer Tochter. Ich aber, ich ſehe 
mir alle Welt bei Tifche an, wohlverfianden durch's Schlüſſelloch 
ober durch's Fenfter ; ich muſtere ein Geficht nach dem andern, 
lache über die alten Fragen und freue mich über die jungen Leute. 
Wie Infig if das!... Aber, mein Gott, Madame wartet laͤngſt. 
Knien, Andreas.“ 

„Bkamfell Lucilie, darf ich nicht mit Fräulein Adolphine fpielen ?“ 

„D, die fpeist mit ihrer Mutter ; die Beiden koͤnnen ſich nie 
trennen. Geh’ inzwifchen ans Fenſter und ſieh' die Herren aus: 
Reigen: es find komiſche Känze darunter, dad wird Dich amäflren. 
Schade, baß keine Damen dabei find, da koͤunteſt Du Toiletten fehen, 
ei Tauſend! ber Madame geht nie in Geſellſchaft, jo kommen 
auch zu ihr Keine Damen, Mit den Herren iſt's anders, bie gehen 


und lommen olme viale Mnſtände. Aber win Gott, Biken 
wartet mit Anlleiven, Adien, Unpreas.“ 

Lucilie wid fort, doch xufe ich fie zuruck, damit fe mir vo: 
Lest, was auf dem Bapier neben ber hübſchen Börfe gefchrieben ht. 

„Kanuſt Du nicht Iefen, Aubrens ?“ | 

„Rod nicht, Mamjell.“ | 

„So mußt Du’s ſchnell Iernen. Nicht Iefen Tönnen, pfui“ 
weiche Schaube! Und fpäter feiner guten Freundin nicht fegreiben 
können...“ | 

„Reine gute Freundin kann auch nicht leſen.“ 

„Die, Andreas, Haft Da ſchon eine gute Freundin # 

„Iſt nicht unfere Mutter unfere gute Freundin ?“ 

„Recht, Andreas. Ich Thoörin, ihm von fo was vorzu: 
ſchwatzen! ... Gib ber das Bapier: Für Andreas zum 
Zafdengelbe... will heißen: die Borſe gehört Dir un Da 
faunft mit dem Gelde darin machen, was Du wilik.“ 

„Ich? mit all’ dem Gelde 1“ 

„Ja, Andreas. Madame ik freigebig. Wollen voch zählen: 
zwanzig... dreißig... ſechsnaddreißig Franken... fehemb: 
breißig Franlen, das lobe ich mir, damit Faun man viel Habſches 
Saufen.“ 

„Aber ich brauche nichts, Mantel.“ 

„So ſparſt Du. Es kommt eine Zeit, wo man’s brauchen 
fann. Nimm ein Beifpiel an mir, Ich koͤunte tauſend Dinge kaufen, 
aber ich bin nicht eitel. Zwar kriege ich Alles, was Madame ab⸗ 
legt: Hauben und Kleider... ich Bin ange nicht jo vornehm wie 
Madame, aber ich verreiffe mehr. Sich, dies Kleid Hat fie erſt 
dreimal getragen. Sie fand es abſcheulich. Aus guten Gründen 
wollte ich nicht fagen, daß eg noch ſchon iſt und Fe gut kleidet 
Du verſtehſt mich, Andreas, nicht? Aber, 0 Gott, ba ſchlagt es 
ſechs... und Madame wartet mit dem Auklaiden. O ich Blanderr 
taſche: Adien, Andregs, ſpater mehr! Apigy te 








Devmel A Mamſell Bueilie wicklich furt. Nach dem Eſſen 
lect dad Gexraſſel der Wagen mich aus FJenſter. Die Bagen finb 
recht Fön, aber Die Seren, die auöfteigen, faſt alle ganz fchwarg 
zelleidet und von „Eomifchen Känzen“, wie Lucilie fagt, ſehe ich 
nichts. Im Hoͤtel geht's recht lebhaft zu: bie Lampen auf Dem 
Hefe werben angezändei,. die Diener gehen und kommen, der eins 
mit Schäffeln, der andere mit Flaſchen, dieſe ſchimpfen, jene lachen. 
Us ich mich fatt gefehen habe, trete ich vom Fenſter zuruck. Bon 
Jugend anf gewöhnt, frühe zu Bett zu gehen, Iege ich mich zum 
Schlafen nieber, als chen bie Bewohner des Hoͤtels fi an ben 
riſch ſetzen. 





FSünfsehntes Rapitel. 
Shelmfüde des Herrn Roſſignol. 


Als ich erwache, liegt Alles nach in tiefer Auhe im Höfel 
und doch fcheint die Sonne freundlich am Himmel. Ich ſtehe auf, 
ſehe zum Fenſter hinaus, aber Niemand zeigt fih, das Haus iſt 
wie außgeflorben. Ich Habe große Luß, zu Dater Vernhard zu 
gehen, den ich feit vorgeſtern nicht geſehen; ich weiß gewiß, Nauett⸗ 
iR böfe auf mich. Madame hat ja gefagt, ich dürfe meine Freunde 
befuchen, wann ich wolle, fo will ich denn hin zum Maflerträger ; 
ich balt’s nicht laͤnger aus im Zimmer. 

Ich gehe hinaus, fleige die erſte, zweite Treppe Hinumter und 
bin jet auf dem Hofe. Huch hier Niemand, kein Bedienter, Feine 
Seele! Wie fie lange Schlafen in dieſem Haufe! O meh, bie Hof: 
tbüre iſt verſchloſſen und der Nortier träumt noch in feinen Federn. 
Bas fange ich an? Ich mochte fo gerne hinaus! Zah ſpatiere auf 
bem weiten Gofe hin nud her in die Länge und Breite, blicke ſehn⸗ 
füßtig zu den Fenſtern auf, aber leines öffnet fih. Ich huſte, 
als ich an der Wohnung bed Portiers vorabergehe, faſſe dann Muth 
und Hopfe ein⸗, giosimn) leiſe am dis Gcheiben. Mengup hört mich. 


1ER. 


Go muß IH denn in meine Kammer zurück. Das geche haws 
wirert wid an, veun «6 Bommt mir wie ein Gefänguif vor. Ba 
weiß, ob »ie Pente nicht zwei ober drei Stauden fo fort ſchlafen, 
während ich mit der Schweſter fo Fröhlich fein. koͤnnte ? Oben im 
zweiten Stock bleibe ich wor eines Thare ſtehen, ber meinigen gegen 
über. Mir fällt ein, Madame hat gefagt, Hier wohne Mamfell 
Dwellie. 

Das junge Kammermädchen ift fo freundlich gegen mich, fe 
wid 08 gewiß nicht übel denten, wenn ich fie bitte, mich hinaus 
zulaffen. Sie hat ja mehr als einmal gejagt: fie jei nach Mabame 
die Herrin im Haufe. Einer fo hübſchen Frau gegenüber if war 
viel muthiger; fie haben fo etwas Liebenswürbiges, Angenehmes, 
Bezauberndes. Es kommt mir vor, als fühle ich ihren Giufef, 
denn ohne Anſtand Flopfe ich an Majell Luciliens Thüre. 

Die jungen Mäbdchen haben einen leichten Schlaf. Gleich 
baranf Höre ich. Tritte vor ber Thüre im Zimmer, 

"Ber Hopft?” fragt es drinnen. 

„Ich bin's, Mamfell, Andreas.“ 

„Bte? ſchon auf, Andreas? Narrchen, was faͤllt Dir ein. 
Btr Rechen erft um acht Uhr auf. und die Herrſchaft um nem. 
Bas wii Dun fo-frah ? 
„IZch mochte zum Baier Bernhard. Gr und Ransdie find 
Tängk auf.‘ 

„So geh’, wer hindert Dich ? 
„Die Thüre if zu umd der Portier fehläft noch. % habe 

zweimal an's Fenſter geklopft. Wie komme ich hinaus ? O, Nauſell 
kueille, ren Sie mir die Hausthüre, ich. bitte ſchön.“ 
„Mein Gott, wenn bad Kindbervoll ſich was im bau Kopf feht..- 
ſchlafe fo ſanft und da ſtoͤrt er mich ans dem Morgentraum. Aber 
warte, ih Tann Die nicht im Hemde äffnen.“ 
\ ‚Dante Ihnen, Mamſell, ich will werten.“ 
*Eacilie iſt Jiak; nach zwei Minnten Sffnet fle bie. Thare, in 


| 





Unternidiien, Rachtleibchen unb einem zierlichen Tache beuMinibe 
um ben Kopf. Ich Bin erſt gwälftgalb Jahre alt, dennech muß ich 
erroͤthen, ih weiß nicht warum, als ich fie in biefem einfachen 
Reglige fehe, das ihr allerliehft ſteht. Mamſell Lucilie zaͤhlt erſt 
achtzehn Jahre, iſt ſchlank gewachfen, hat ziemlich volle Jormen, 
ein ſchneeweißes Bein, wunderniedlichen Fuß, lebhafte, ſchelmiſche 
Augen, ein Stumpfnäschen und friſchen Mund. Sie iſt feine 
Schönheit, aber ein niedlich Geſichtchen, das Einem allerlei Ge- 
banken machen kann. Dabei hat fie ganz die Tournure einer Griſette 
daß fie vieler vornehmen Damen Nein erregen und manchem ee 
lichen Manne den Kopf verrüden vürfte. 

Ich fiche wie begoffen vor ie, die Augen niedergeſchlagen. 
Sie lacht laut über mein linkiſch verlegen Weſen; faſt glaube ich, 
hie hat die Urſache davon errathen. Daun geht fie link an mir 
verüber und hüpft die Stufen hinab. 

„Komm’ doch, Schelmchen,“ ruft fie mir zu. „Woran ben 
a, ber" 

Ih dachte nichts, aber mir war recht wohl, weiß feibft nicht 
zarum! Ihe Staunen weit mid; and biefer Art von Betäubung 
ud ich folge ihr. Tinten -bei der Loge des Portiers zeigt. fe mir 
eine Schnur und fagt: „Daran zieht man, wenn man ein. obes 
as will.” Kaum babe ich an der Schnur gezogen, fo met fich 
das Hofthor. Wie fröhlich fprang Ich auf bie Gaſſe hinaus. 

„Bleibe nicht zu lange and, Andreaſs!“ ruft mir Lucilie nad. 
her ich Höre nicht; ich Bin ſchon weit weg. 

In Kurzem fiche ich vor Vater Bernhardo Thäre. Der guir 
Auvergnat ſuchte Nanette zu troͤſten, die Schon glaubte, ich werde 
tie wieberlommen , weil ich einen Tag lang ausgeblieben. Meine 
Iıtmft verfcheucht alle Traurigkeit ; ich erzählte (nen paustidin, 
Die ed mir ben Tag zuvor gegangen. 

„Set recht artig und gehorſam,“ ermahnt ber braue Waſſor⸗ 
höger; „bie: vornehnie Dame verdient es un Dich, Audreas. De 


a8 

oben auf dem GSteume bei Biniles, Kuarens, Du 
Bloß forkizagen zu laſſen ven ihn.“ 
ht Bater Bernhard an bie Arbeit, während ih bis 
bei Nauette bleibe. Wie fehnell vergeht mir die Zeit 
ihr! Die gute Schweſter hat mich fo gerne um ſich. | 
n Du erſt ein großer Herr bi,“ fagte fie, „Dann vertiß 
t, Andreas, unb behalte und lieb.‘ 

Ich verſpreche Nanette, fie elle Morgen zu beſuchen. Das 
echeitert fie wieder etwas umb fie nimmt weniger traurig Abſchled 
von mir. Huf dem Müchvege fällt mir eim, noch bei dem guien 
Herrn Dermilly vorzugehen.. 

„Ich erwartete Dich,“ fagte er mir, als ich in's Zimmer trat. 
„Komme jeben Tag, wenn ich nicht in's Hoͤtel gehe.“ 

Dann erzähle ich ihm von meiner Befchügerin und ihrer Güte 
gegen mich. Er fcheint gerne von Madame veven zu hören, und 
pad wunbert mich nicht 5 fie if ja fo gut! 

Im Hotel bemerkte ich, daß die Bedienten mich verfiohlen ax: 
ſahen und höre, wie fie fih in's Ohr ziſcheln: 

„Des iR. der Schägling von Madame.“ 

Damn grüßen fie mich fehr höflich und feheinen überraſcht, 
als ich ihren Gruß eben fo hoͤflich erwiderte. IR das nicht billig, 
daß man wieder grüßt, wenn man gegrüßt wird? 

Die gnaͤdige Frau laͤßt mich rufen; ich erzähle ihr Alles, was 
ich geihan Habe. Als ich auf meinen Veſuch bei Herrn Dermillv 
zu fprechen komme, muß ich jedes feines Worte wiederholen, worauf 
fe mich ermahnt, recht oft zu ihm zu gehen. Ich will ihr banfen 
für die fchäne Borſe, die fie mir gefchenkt hat, aber fie fagt: 

„Wende das Geld nüglich an, das if der bee Dasf. Tu 
Keloumft jeden Monat ebenſoviel.“ 

_ Weine Tagesorbnung if folgende: bis vier Uhr arbeite ich 
uf meinem Zimmer, wohin auch meine Lehrer Tompen; baum 
aähe id} zar guäbigen Frou hinter uud bleibe da bis zur Güend- 


IH 


3 


[2 


11 
5 





188 


zeit: nach Tifſch gehe ich wieder Binunter und fpiele mit Adolphine, 
ausgenommen wein Madame in GSeſellſchaft geht oder Geſellfchaft 
Bei ſich Hat. 

Die erfien Tage nad) diefer neuen Ginrichtang fiheinen mir 
entſezlich Tange and öde. Die fipende Arbeit if mir ganz was 
Neues. Aber der Wunſch, mich dankbar zu beweifen für bie viele 
Güte, die ich Hier genieße, läßt mich ven Widerwillen gegen das 
Lernen bald überwinden. Ich will ihr durch Eifer und Fleiß zeigen, 
daß ich ihrer Wohlthaten nicht unmwärbig Bin. In Kurzem habe 
ih dad Lernen ordentlich lieb gewonnen ; ich finde darin eine news 
Duelle von Vergnügen ; ed gebt mir ein nenes Licht auf. Ich 
fühle, wie mein Verſtand ſich erweitert, meine Urtheilskraft fich 
ſtärkt, wie eine Menge von Gedanken ſich mir im Kopfe anhänft. 
Ich fange an, die füßen Prüchte der Arbeit zu ſchmecken. Je mehe 
ich arbeite, am fo mehr fühle ich den Werth der Erziehung. 

Die gute Gtäfln fleht meine Portfchritte mit innigem Ber; 
grügen. Das verdoppelt meinen Eifer. Auch Herr Dermilly laßt 
es nit an Srmunterungen fehlen; er ſagt, ich konne Alles, was 
ich recht wolle. Wenn ich mit der kleinen Adolphine plauvere, hart 
fie nicht mehr die groben Fehler in meiner Sprache wie früher, 
obgleich fle mich nie deßwegen auslachte. Das liebe Kind iſt eben 
fo gui als ihre Mutter. Bei jever Erzählung von einem neuen 
Unglädsfall treten ihr die hellen Thränen in's Auge, und fie ruht 
nit eher, bis man verfpricht, dem Armen zu helfen. Sie heißt 
mich ihren Tleinen Andreas. Hat fie was nicht gut gemacht, fo 
droht man ihr: „heute Abend varfſt Du nicht mit Andreas ſpiolen,“ 
und gleich gibt fle ſich alle exrvenkliche Mühe. 

Faft jeden Morgen gehe ich zum Vater Bernhard. Die Et 
jiehung hat meine Sprache und Sitten ſehr verändert, aber mein 
Herz, fühle ich, iſt daB alte geblieben und foll es bleiben. Ich 
habe meine Freunde nach wie vor gleich lieb. Wenn oft Nanette 
ſenfzt: „Sie machen aus Dir einen vornehmen Kern, Audreas; 


386 


HR Du erſt Hug und gelehrt, fo wirft Du und arme Leute aut 
lachen,“ banı nehme ich fie in meine Arme und fuche ihr begreiflich 
zu machen, daß Geift und Herz zwei Dinge find, die und kein 
Gold der Erde geben ober nehmen Tann. 

IH bin jetzt ſechs Monate im Haufe bed Herrn Grafen mb 
doch habe id} ihm erſt zweimal zu Beficht bekommen. Er fah mid 
hoöhniſch an, brummte Etwas zwiſchen ben Zähnen und lieblkoste 
baun feinen Hund. Gottlob, daß ich ihn nur fo felten fehe. Aber 
das Tommi, weil ich mich ſchnell anf mein Zimmer flächte, ſobald 
ih Caͤſar vor ber Thüre der Frau Gräfin hellen Höre; dann, weiß 
ich, iſt der Herr Graf im Anzuge, 

Mamſelle Lucilie if immer gleich gefällig gegen mich. Ich 
babe längft bemerft, daß man mit ihrer Gunft Alles burchfeßen 
dann im Haufe. Der Portier murrte über mein frühes Ausgehen 
weil es ihn aus feiner Morgenruhe flörte, bis Mamfell Lucilie 
ihm bebentete, daß ich andgehen koönne, wenn ich wolle. Der Herr 
Intendant erlaubte fich allerhand fpöttifche Bemerkungen über mic, 
Kid Mamſell Lucilie drohte, fie werbe es ber gnädigen Frau fagen. 
Bud fo weiter. Alle im Haufe fliehen unter dem Bantoffel des 
jungen Kammermaͤdchens. (&s gibt tauſend Dinge, womit die Herren 
ſich nicht befaffen Eönnen, aber der Zofe entgeht Nichts. Ich merke, 
wer es bei ber Gräfin gut Haben will, ber muß bie Kleine zu 
gewinnen fuchen. 

Durch die Büte meiner Beſchützerin Bin ich jegt im Beftk von 
faſt neun Louisd'or, die ih nach und nach mir erfparte, dem Rath 
kuciliens gehorfam. Ich Bin feſt entſchloſſen, Nanette ein hübſches 
Geſchenk zu machen, weiß aber noch nicht was? Kür bie gute 
Butter ift auf lange Zeit geforgt. So iſt e8 meine Pflicht, mich 
denen banfhar zu erweifen, bie bei meiner Ankunft in Baris fo 
wenſchenfreundlich mic aufuchmen. Das kann die gute Mutter 
"ws billigen. Die Summe, die ich habe, iſt iemlich groß; aber 
was Taufe ich? 3 * 

t te In meinem Alter wird man leicht betrogen, und 





395 ! 


ich chate beffer, Namſell Lutilie um Rath zu fragen, abes ich 
bin überzeugt, ein Geſchenk, das ich ſelber auswahle, gefällt 
Nanette ungleich beſſer. 

So oft ich ausgehe, nehme ich bie Börfe mit. Ich bleibe 
vor dem Lähen fliehen und betrachte mir all’ die taufend Herrlich: 
!din, die Hüte, Tücher, Kleider u. ſ. w., aber das Alles if 
nichts für Nanette. Sch Taufte ihr gerne eine hübfche Uhr, aber 
lann man die für acht Lonisb’or Haben? Mir dünkt, die muß 
teurer fein. 

Eines Morgens bleibe ich auf meinem Bag. zu Seren Ders 
milly vor einem ſchoͤnen Uhrmacherladen flehen und denke bazan, 
fir Ranette eine Uhr zu kaufen, als ich vor der Thüre bes Malers 
Nht daneben einen Mann aufs und abgehen fehe, ber eine lange 
Schachtel von weißem Holz unter dem Arme trägt und ein luſtig 
Liebchen trillert. 

An Bang, Haltung, Stimme, an den fchmierigen Kleidern 
und bem fähigen, über’8 linke Ohr hängenben Hute erkenne ich 
af der Stelle Herrn Roffignol, das ſchoͤnſte Modell in Europa, 
ben Küchendieb und Suppenſchlecker, ven Schrecken der alten Therefe. 

Roffignol flieht mich an von Kopf bis zu Fuß, kommt, ben 
Bambus ſchwiugend, auf mich zu, und laͤchelt wie Einer, ber 
einen alten Bekannten wieberfinbet. 

„Birk Du's, Kleiner ? Meiner Seel’! ja. Sind alte Bekannte 
son oben im Atelier, weißt Du?... Alle Wetter, wie fchön wir 
kt. Dig Nobleſſe im Styl... gelt, Du bift obenauf, Zunge ? 
Roveln wir für einen Mylorb Kunſtkenner, he?“ 

„Nein, Herr, ich modle nicht.” 

„Erf nicht reiht, Zunge, bift wie gefchaffen für's Mobeln, 
at gewachſen, fehlank... wien Apollo. Mobeln, Freund, mobeln, 
virf Dich auf die ſchönen Künfte, weiter brauchſt Nichts zum Gläck. 

Eh’ mich an, werd' Artift, Künſtler. Die Künfte, mer’ Dir, 
Kid fürg Lehen, was bie Sonne für bie « jungen Erbſen ik; fie 


188 


machen das Leoben zuckerſaß. Ein Kanſtler if frei wie ver Bogel 
in der Luft. Notabene, fo fange ex Selb hat und nicht auf en 
Hund if, wie ich in dieſer Viertelſtunde. 

Und fommt der Wechfel heute, 

So find wir reiche Leute, 

Doc morgen iſt's vorbei, 

Ya vorbei, Ialala!... 
Fur nicht ängfilich, mein Freundchen! Die Herren Maler haben 
meift eben fo komiſche Einfälle, fein Geld zu haben, wie Die Herren 
Studenten. Sie geben das Antike auf und malen lieber ofen als 
das nackte Fleiſch. Nur immer wieder zur alten claffifchen Säule 
: zweüdigelehrt! Griechen und Römer find und bleiben 'mal dad aus 
eswählte Doll Gottes. Bitte Dich, Freundchen, wie Tann man 
einen Menſchen in Hofen und Stiefeln vergleichen mit folchem Totſo, 
ſolchen Beinen, fo riefenfeften Muskeln! Und bis die Antifen wieder 
aus dem Grabe auferſtehen, fpaziere ich hier auf und ab, Ich will 
Herrn Dermilly meine Aufwartang machen, hier auf ber Strafe. 
Er hat die Heine Eontroverfe von neulich laͤngſt vergeffen, ab 
bie alte Therefe nicht . . . fle ift capabel und fchüttet mir bad 
Spülwaſſer in’s Geſicht, wenn ich den Kopf durch die Thüre flede. 
So will ih hier anf der Straße warten. Aber fprich, wie geht's 
denn Dir, Kleiner ?“ 

„Ich Bin bei der Frau Gräfin von Franconard, die mich er: | 
ziehen laͤßt.“ 

„Braun Graͤſtn son Franconard ? Der Name Klingt weter griechtſch 
noch roͤmiſch, ſondern Acht franzmänniſch. Sapperlot, wie fie Dich 
herausgefüttert hat!“ 

„Nadame iſt fu gut. Ich habe viel, viel mehr, als ich wünſche 
und fo viel Tafchengeld, daß ich Nanette ein hübſches Geſcheul 
Tanfen Tann.” 

„Bas für ne Ranette 7” 


„Ranette, vie Tochter von Bernhach, dem Waflerträger, be 





18 
bem ich Tange gewohnt habe. Wir Haben uns fo Tieb wie Bruber 
um) Sqhweſter.“ 

„Beißt, was das heißt, Freundchen?... Aber da komme ich 
wie gerufen; ich habe ein paſſendes Geſchenk für Nanette unter 
dem Arm.“ 

„Das wär’ 

„Freundchen, dad Glück laͤchelt Dir! Höre mid an. Ich hatte 
ter Madame Roffignol einen Zwangsbeſuch zugedacht, wie immer, 
wenn ich im Pech Bin. Aber dad Weibchen muß unten gerochen 
baben; gewiß färchtete fie, ich wolle ihr Fanfan entführen. Der 
Kleine Triegt immer ein Paar Sous ald Modell für das Opfer 
Abrahams. Kurz, fie ift mit Phöbus aufgeflanden und hat 
meinen Hoffnungsvollen Erben mitgenommen. Alles verfchloffen, 
ih aber öffne die Thüre zur ehelichen Behaufung mit einem Doppel: 
(Hfüffel, den ich ſtets bei mir führe, und fchmeichle mir mit ver 
Hoffnung, einen Topf mit Suppe über dem Feuer zu erwifchen. 
Aber, o Gitelfeit ; ver Fleiſchtopf umgeftülpt und nicht genug Rinde 
in der Küche zu einer Brobfuppe! Im der Wuth durchſtoͤbere ich 
vie Schränfe; auch das umfonft. In Ermangelung von Mobilien, 
Afwaaren, falle ich über die Immobilien her. Leiver haben Madame 
Roffignol nebſt Erbe vie fatale Gewohnheit, ihre ganze Garderobe 
mit fih zu führen. Trog allem Suchen finde ich nichts als einige 
ſchadhafte Teller und ditto Taffen, die ich eben einfädeln will in 
Ermangelung werthvollerer Gegenftände, als ich in der Ecke eines 
ılten Speifefchrantes dieſe Schachtel von weißem Holz entdecke. 
Ich öffne fie und finde — o Wunder ! die Klyftterfprige von Madame 
Roffigno!, ein prachtvolles Möbel, faft ganz neu, Faum fünf Jahre 
ꝛebraucht. Schnell laß' ich alles Andere Tiegen und eile mit der 
Schönen Bente von bannen, fchon Im Boraus des Frühftüds und 
Mittageſſens mich freuend, das ich der guten Klyftierfprige zu danken 
abe. Aus befonderer Vorliebe zu Dir, Freundchen, will. ich fie 
Dir beträchtlich wohlfeiler laſſen als jedem Andern. Du willft ihr 

Baul de Rod, II. | 13 


feht Läflie. Sy eile ſchuell über den Sof, froh, daß mid An 
mans ficht. Eben als ich in mein Zimmer ſchlüpfen will, lomui 
Mamſell Lucilie ans ihrer Kammer. 

„Endlich wieder da, Andreas? Madame hat mehrmals nad 
Die fragen laffen. Aber was haß Du da unterm Arm?" 

„Nichts, Minmfell, nichts.“ 

„Aha, ein Geſchenk für Nanette? Nicht fo ? Wie er fi au 
leid, des Andreas ! Warum fo eilig, Herr Andreas?“ 

„EKeineswegs, Mamfell, ih... .“ 

„IH muß willen, was das if. Ich bin neugierig, ſchredlich 
neugierig, ober darf man’s nicht fehen 3“ 

„88 ift jo 'ne Kleinigkeit, Mamſell Lueilie, ih...” | 

„Wie ex roth wirb! Ich wette, 's iſt ein Geſchenk für fein 
liebes Nanetichen, von ber er mir ewig vorfchwagt. Sch glaube 
Du hättet Beifer mich um Rath gefragt. Der Kuirps if erſt zwelf 
Jahre alt und thut ſchon wie ein Mann. Laß doch ſeh'n, Herz 
Gen; ich laſſe Dich nicht ‘ches in Dein Immer, bis ich weiß, 
was das if. Je geheimer Du thaſt, deſto nengieriger werd’ id." 

Mamfell Lucilie ſtellt fi vor mich Kin und zieht mir bie 
Schachtel unter'm Arme weg, che ich mich deffen verfehe, öfne 
fie und Bricht in ein unmäßiges Gelächter aus. 

„Bas ſeh' ih? ha, ha, ha! Zu drollig das! ha, ha, ha! 
DO, Du armer Andreas ; die glädkiche Wahl! Nein, und wicht 
ommel nen? ba, ha, ha! Und das für bie Fleine Nanette. IR 
fle denn Trank? ſprich!“ 

„Nein, Memfell, nein, fie ift lorngeſund. Micht für fie habe 
ich bad gefauft,“ ſeg '“ ärgerlich, während Lucilie nur ned 
lauter lacht. 

„io far Dieb, Andreas? Aber wenn Du dad Möbel brand. 
Andreas, warum fpriä Du nit? Wir haben Teinen Mangel 
daran im Schloffe.“ 
Verdrießlich gehe ich mit der Schachtel anf mein Zimmır. 





198 


Roc immer Hör’ ih Mamfell Lucilie Indien. Wenn fe hie Ge⸗ 
ſchichte ausplaudert! Aber 's iſt Zeit, zur gnaͤdigen Frau hinunier 
iu gehen. Sch verſtecke das koſtbare NAsbel unter der Bettlade und 
begehe mich dann ind Zimmer von Madame. 

Richtig, die boshafte Lucilie iſt ſchon da. An der lacheluden 
Bine ber Graͤſin erfenne ich, daß fie bereits von Allem unters 
richtet if. Meine Berlegenheit fleigt aufs Hochſte; aber Madame 
hat Nitleid mit mir und fängt von Herrn Dermilly zu ſprechen 
m. Doch fehe ich, wie fle alle Mühe nöthig hat, das Lachen 
in verbeimlichen, während Mamfell Lucilie ſich in bie Lippen beißt, 
m nicht mitzulachen. Nie war mir fo peinlich zu Muthe. IR 
nf der Lohn einer guten That? Sie würden mich gewiß nicht 
ondlahen, wern fie die näheren Umflände wüßten. - 

Den Tag nach dieſer Begebenheit fik’ ich ruhig in meinem 
Immer uud arbeite, als Mamfell Lacikie leife hereinfchleicht, nen; 
gierig um ſich blickt, als fuche fie etwas, und mit geheimnißvoller 
Biene fagt : 

„Lieber Andread, Du mußt mir einen großen Gefallen thun.“ 

„Bon Kerzen gern, Mamfell. Reden Sie.” - 

„5% kenne Deine Gefälligleit. Es gibt Fälle, wo ein Freund 
Kö andern Freundes bedarf.“ 

Geſchwind ⸗ geſchwind 1 

„Ih weiß, Du haft Dir viel Geld erfpart, um Deiner guten 
freundin Manette ein Geſchenk zu machen. Du wirſt nicht alles 
Cl) auögegeben haben für vie — Klyſtierſpritze.“ 

Und fie fängt eben fo unbänbig zu lachen an wie geflern, 
wihrend ich über und über roth und verlegen wre. . 

„Bora das, Mamſell?“ ſtottere ich. 

„Ih möchte etwas recht Hubſches kaufen,“ antwortet ſie, 
mit ſcharf anfehenn. „Bir fehlen. noch zwanzig Franken. Willſt 
di mis die leihen, Andreas? bloß auf vierzehn Tage.“ 

„Die gerne woll⸗ ich, Mamfell ; aber... .“ 


206, 


„Run! Aber... ſprich doch.“ 

„Aber ich lann nicht.“ | 

„Alſo Mißtrauen, mein Herr? Pfui, fo mißtrauiſch zu fen" 

„D gewiß nicht. All' mein Gelb follten Sie haben, wann 
ih welches hätte.“ | 

„Welches hätte? Alſo Du Haft nichts mehr?“ 

„Nichts mehr, Mamfell, Alles ift ausgegeben.” | 

„Ausgegeben? Alfo für ein ſchoͤnes Ge am Deine 
Schweſter ?“ 

Ich antworte ganz leiſe: 

„3a, Mamjell!“ 

Diefe Lüge Eoftet mich viel; aber fie darf nicht wien, won 
ih meine Grfpasmiffe gebraucht habe. Die gute That verlöre da⸗ 
durch allen Werth ; auch hat. mir Roffignol dringend Stilfepweigen Ä 
anempfohlen. Lucilie ſcheint mir nicht zu glauben. Ich höre, wie 
fie leife bei fich fagt: | 

„Dahinter ſteckt was, ich will es fchon herandfriegen.“ 

Dann verläßt, fie mich mit den Worten: 

„Adien, Here ‚Andreas, Hätte mis nicht gebadht, daß Du 
fegon Geheimniſſe habeſt.“ 

Nach einiger Zeit bemerke ich, daß ich heimlich beobachtet 
werbe bei meinen Ausgängen. Bleibe ich laͤnger als gewoͤhnlich 
bei Vater Bernhard, fo fragt man gleich, ob ich noch ſonſt wo 
geweſen fei ? Aber was liegt.mis dazan.! Mögen fie immerhin Ach 
geben auf mich, ich ihue ja nichts Boͤſes. Auch kommt es mu 
fo vor, ald ob das. junge Kammaermaͤdchen nicht mehr fo freumblid 
gegen mich ift wie ſonſt. Sie macht allerhand. haͤmiſche Anmerkungen, 
und oft zeigt fie ſich, wenn ish fie.am wenigſten erwarte. Offen 
bar will fie mich auskundſchaften. 

Dank der Großmuth der. gnäbigen Frau, ann. ich balb de 
guten Schweſter das laͤugſt gewünfchte Geſchenk madgen.. Seit ı 
Monaten iſt Herr Dermilly verreißt; ich bin daher ſeit * 








lange nicht in feinem Haufe geivefen und weiß nichts von Huwm 
Rofignol. In wenig Tagen beziehe ich wieder mein Monniögelb: 
Damit und mit deu Erſparniſſen der vier Monate nach meinem 
legten Zuſammentreffen mit Heren Roflignol will ich Nanetten ewo⸗ 
scht Hübſches kaufen. 

Wie ſich von ſelbſt verſteht, Hatte Roſſignol nicht daran — 
das Geld zu dem obengenannten milden Zwecke gu verwenden. Viel⸗ 
meht hatte fi, das liebensmurdige Mobell mit meinen Erſparniſſen 
scht bene gethan; er, der nie mehr als ein Lonisd'or zummi ber 
ſeſſen, denkte ſich mit den zweihundert Franken in der Taſche Wie 
ein Wähler erfier Klaſſe. Nachdem der erſte Rauſch verfiogen, d. h. 
nachdem er fich in den Schenken und Kneipen müde gelangt und 
auf ben Lorbeeren feiner Croberungen weiblich ausgeruht, fing er 
ar, den Zuftand feiner Garderobe näher in Betracht zu ziehen, 
der ölfledige Roc paßte nicht wohl zu feiner Exöfustelle ; da ges 
dachte ex, daß er noch einen andern habe an einen: gewilfen Orte, 
un) löste ihn mit fünfzehn Franken aus. Run kaufte er ein Paar 
ae Tanzichuhe mit ſchoͤuen breiten Mofetten um) einen ditto rothen 
Goularh, den er um ven Hals widelte und ünflich über die Vruſt 
anöbreitete, um ein Hemd zu verfledlen, das cher einem Schloffer 
angehören fchien, als einem Mylord. 

Nach diefen Einkaͤufen zählte Roſſignol fein Geld wieder. Co 
blieben ihm nur noch ſieben Louis; es war alſo Zeit, mit MBers 
vollſtaͤndigung feiner Garderobe einzuhalten. Der unten eng oe 
licgende Pantalon hat mehrere ziemlich augenfällige Beflerungen 
afzuweifen. Allein Roffignel brüftet fi und denkt: „Die Sch⸗ 
un werben nicht ‚gerade bahin fehen, wo es nichts zu ſehen gibt.“ 

Die Wehe mit breitem Kragen iſt oben bedeutend ſchadhaft. 
Ka) hier weiß er Math: er fchlägt ven Kragen in die Höhe nub 
verwandelt fo bie offene Weſte in eine Shawlweſte. Am weißen 
Kummer macht ihm ber Hut. Was thut er? Er druckt ihn um fe 
ſchraͤger aufs Inte Ohr, wodmich nicht mar fein Geſicht einen lah⸗ 


18 


new, markirterra Aufttich erhält, fordern auch das ſchaͤbige Kat 
ſchen deso Nandes verſteckt wird. 

Nachdem es ſolche Mufterung über feine Garderobe gehallen, 
glaubt er, an Tournure, Wuchs und Eleganz fi mit dem erften 
Löwen der Hauptſtadt der Welt meffen zu Tönmen. Die eine Hand 
füweingt das gewichlige Rohr, die andere ſteckt in der Taſche und 
iutpert wit den Thalern, währenn ber rothe Fonlard ihm über’ 
Kun bis an von Mund geht. So fürzt er fi in den Strudel 
ver Bergnügungen, führt feine Schöne auf bie „Infel der Liebe" 
une nach Kololi, und fpielt auf drei Wochen den Unwiberfichlichen 
in a Courtille und Charoma. 

Aber mit fieben Louis Tann man nicht ewig dem großen Herm 
fielen. Mit tiefem Leibweſen wechfelt er jept den letzten Thale, 
amd fleht erſchreckt ven Augenblick herannahen, wo ex wieder acht 
Stunden hang für hundert Soud Nobell ſigen muß, was ihm un 
gleich weniger behagt als Walzer und Saloppaden. Wer drei Be: 
chen laug nur dem Bergnügen geleht, der denkt mit Schrecken an 
vie Arbeit, zumal wer von Natur fo faul ift wie Roffignol. Er trägt 
den Beffern Rock wieder in ſichern Gewahrſam und fpielt dafür eine 
ganze Wodge laͤnger den Großen. Aber bie Gelb if abſolut ſein 
letztes, und feit er feiner Frau dad Möbel genommen, bad fie bik 
Ber den raubgierigen Fingern ihres Gemahls glücklich entzogen hat, 
Bit Madame Roſignol nichts, was auch nur ein Paar Sort 
wert iſt. 

So muß er denn wieder ben Römer oder Griechen machen, 
er mag wollen ever nicht. Aber das Aubenken an bie verſchwunde⸗ 
nen luſtigen Tage läͤßt unferem Modell Teine KRuhe. Alle Male 
beſchweren ſich über die zitternde Bewegung feiner Aniee, was ei 
vamit· entſchuldigt, daß das Andenken an die varadieſiſchen Genf 
ver legten Wochen ihm nicht zu Herzen gegangen, fonbern in bi 
Beine gefahren ſei. 
Mm einem ſchonon Morgen, während ex ben Antonins wacht 





199 


Reigt ihn ylöplid der Gedaule an mid unb meine Umtmüthigfeit 
in den Kopf. Meine Unerfahrenheit amözubenten, ſcheint chm das 
bee Mittel, zu Geld zu Tommen, und er wundert fi, daß ihm 
ver Gedanke erft fo fpät einfällt. Kaum if die Sigung aus, fo 
faßt er vor Heren Dermilly’s Thüre Poſto. Er wartet einen Tag 
nah) ben andern ; aber vergebens. 

Dennoch will ex mich um jeden Preis fohen. Je länger je 
mehr erblidt er in mir eine umerfchöpfliche Geldgrube, die ihn, 
—— Geſchicklichkeit von feiner Seite, gegen jeden Maugel 

ſoll. 

Er erinnert ſich, daß ich beim Herrn Grafen von Frauconard 
wohne, ber mich mit Güte überhäufe. Gleich ſetzt er ſich in Ber 
wegung, durchſtoͤbert alle Quartiere in Pario und erfragt endlich 
die Wohnung des Herm Grafen. 

Nachdem er deu Mod befimäglichft von ben Delfleden gereis 
zit, die Schuhe, in Ermanglung englifcher Wichſe, mit Brod⸗ 
Irammen gepußt, den Bantalon forgfältig angezogen, den Weſten⸗ 
ragen zierlich anfgerollt, die Cravatte bis über den Mund zuſam⸗ 
angebunden, den Hut aufs linke Ohr geftülpt und ſich zwei 
Schmachtloden über’3 rechte Auge gedreht hat, begibt u ſich auf 
ka Weg in das gräfliche Hötel, wie gewöhnlich mit Bambudrohr, 
jerlich gerundetem linkem Arme und frechſtolzer Miene Debei 
hipft ex auf den Fußſpitzen über bad Plaſter und fucht Ad immer - 
die befte Stelle aus, als fürchte er, feine Beinkleider zu verderben. 

Im Hofe des Hoͤtels wird er vom Portier angehalten. 

‚Bohn, mer Sn“ 5 

„Zu meinem Freunde,“ antwortet Rofigmi breit und geht 
wie 

Aber der Portier vertritt ihm den Weg, denn des Kusfehen 
Kfignols floͤßt ihm kein Vertrauen ein. 

„Iu weldjeın Freunde, wenn ih bitten darf? Man ai nigt 
o ohne Weiteres ins Hotel des Herrn Grafen“ 


196 


„Run? Aber... ſprich Boch.“ 

„Aber ich, Tann nicht.“ 

„Alto Mißtrauen, mein Her? Pfui, fo mißtrauiſch zu fein.“ 

„D gewiß nicht. AM mein Gelh follten Sie haben, wenns 
ich welches hätte,“ 

- „Welches hätte? Alſo Du haft nichts mehr %“ 

„Nichts mehr, Mamfell. Alles if ausgegeben.“ 

„Ausgegeben? Alfo für ein ſchoönes Beiüent an Deine 
Schwefter ?“ 

Ich antworte ganz leiſe: 

„Ja, Mamſell!“ 

Dieſe Lüge koſtet mich viel; aber fie darf nicht wiſſen, wozu 
ich meine Erſparniſſe gebraucht Habe. Die gute That verlöre da⸗ 
durch allen Werth ; auch bat mir Roffignol Dringend Stillſchweigen 
anempfoblen. Lucilie ſcheint mir nicht zu glauben. Ich höre, wie 
fie leife bei ſich fagt: 

„Dahinter ſteckt was, ich will es ſchon herauskriegen.“ 

Dann verläßt, fie mich mit den Worten: 

„Adien, Herr Andreas. Hätte mis nicht gedacht, daß Da 
ſchon Geheimniſſe habeſt.“ 

Nach einiger Zeit bemerke ich, daß ich heimlich beobachtet 
werde bei meinen Ausgaͤngen. Bleibe ich länger als gewöhnlich 
bei Vater Bernhard, fo fragt man gleich, ob ich noch font we 
geweſen fei ? Aber was liegt mix daxan! Mögen fie immerhin Acht 
geben auf mi, ich thue ja nichts Boͤſes. Auch kommt ed mir 
fo vor, ald ob das junge Kammermaͤdchen nicht mehr jo freuublidh 
gegen mich ift wie fonk, Sie macht allerhand haͤmiſche Anmerkungen, 
und oft zeigt fie ſich, wenn ich fie am wenigſten erwarte. Offen 
bax will fie mich ausfundfchaften. 

Dank der Großmuth der guäbigen Fran, kann. ich bald ber 
guten Schweſter das laͤngſt gewünſchte Geſchenk machen. Seit zwei 
Monaten ift Herr Dermilly verpeit; ich bin daher ſeit eben fo 


Die Lakaien fehen ihn ecſtauut am; weil aber Dreiſtigkeit im⸗ 
mer imponirt, namentlich Bedientenſeelen, ſo laſſen ſie ihn gehen, 
rg fie jeden. befcheidenen Armen unexbitilich zurückgewieſen 
ätten, 1 

So kommt Roffignof bis vor das Zimmer, mo Herz von Franco⸗ 
nard wie gewöhnlich zu Rathe figt mit feinem Intendanten und Koch. 

Im Borzimmer fragt ihn der. Bediente and) feinen Namen. 

„Barum das?“ ’ 

„Um Sie zu melden.” 

„Ich will mich felbft melden.“ 

„Das ift nicht Brauch hier.‘ 

„Hölle und Teufel, wie viele Umflände man hat, zu Dom 
Sairps zu Iommen! Gut, fo meldet Herrn Roſſignol, erften Mann 
in @urepa für Die Torſos. 

„Shen Mann in Europa für Die Torſos? 4 wiederholt her 
Bediente und geht dann, dem Herm Grafen den erfien Mann fir 
die Torjos anzumelden. 

„Erſter Mann in Europe für vie Torſos gu wiederholt der 
Giaf kopfſchũttelnd und ſieht dann den Kaushafmsifter und Obaz⸗ 
body fragend an. 

„Berfiehft Da das, Champagne?‘ _ 

„Deiner, Seel’, nein, Here Graf. Ich Tenne keinen Rofignel 
Und die Torſos? Vielleicht meint er eine neue Art Sauce.“ 

„Bas fagen Sie dazu, Herr Oberkoch?“ 

„Ich glaube, Here Graf, ex meint eine neue Art, Kalbskaͤpfe 
anzurichten.“ 

„Teufel, das wäre intereſſant. Gewiß hat ihn der Ruf meiner 
Küche und culinariſchen Kenntniffe angezogen. Geſchwind, führt 
Serra Roffignol ein. Ich bin entzüct, ihn zu fprechen,‘ 

Inzwifchen wurde dem fchönen Mobell bie Zeit lang im Bor: 
immer. Er ftieß sewaltem — mit dem Bambus auf den Boden uud 
trillerte: W 


es ’ ⸗ 


38 


neuen, markirterun Anſttich erhält, fordern auch das ſchaͤbige Mus: 
ſchen ved Mandes verſteckt wird. 

Nachdem er ſolche Mufterung über feine Garderobe gehatten, 
glaubt er, an Tournure, Wuchs und Eleganz fi mit dem erſten 
Löwen der Hauptſtadt der Welt meflen zu können. Die eine Hand 
fgwingt dad gewichlige Rohr, die andere ſteckt in ber Tafche und 
klintpert mit den Thalern, während ber rothe Yonlard ihm übers 
Kinn bis an ven Mund geht. So flürzt er fih in den Strubel 
ver VBergnügungen, führt feine Schöne auf bie „Inſel der Liebe“ 
and nach Kokoli, und fpielt auf drei Wochen den Unwiberftehlidhen 
in a Courtille und Gharoma. 

Her mit fleben Louis Tann man nicht ewig den großen Herrn 
fielen. Mit tiefem Leidweſen wechfelt er jeht den lebten Thafer, 
und flieht erſchreckt den Augenbliet herannahen, wo er wieber acht 
Stunven fang für hundert Sons Nodell fien muß, was ihm ums 
gleich weniger behagt als Walzer und Guloppaben. Wer drei Wo⸗ 
Gen laug nur dem Vergnügen gelebt, der denkt mit Schrecken an 
He Arbeit, zumal wer von Ratur fo faul ift wie Roffignol. Er trägt 
von beſſern Rock wieder in ſichern Gewahrſam und fpielt dafür eine 
ganze Woche laͤnger ven Großen. Aber dies Geld ift abfolut fein 
letztes, und feit er feiner Frau das Möbel genommen, bad fie Bid: 
ber ven raubgierigen-Kingern ihres Gemahls glüdlich entzogen bat, 
bleibt Madame Roflgnol nichts, was auch nur ein Paar Sons 
wert if. 

—So muß er denn wieder den Mämer ober riechen machen, 
er mag wollen oder nicht. Aber das Andenken an bie verſchwunde⸗ 
nen Infligen Tage laͤßt unferem Modell Teine Ruhe. Alle Maler 
beſchweren ſich über die zitternde Bewegung feiner Kniee, was er 
vamit entfchulnigt, Daß dad Andenken an die varabieſtſchen Genüſſe 
ver Teßten Wochen ihm nicht zu Herzen gegangen, ſondern in die 
Beine geſahren ſei. 

An einem ſchonen Morgen, wahrend er ben Antonins macht, 








gehört, Aber wem ih Ihnen einen Gefallen thue, will ich gerne 
davon Toten und Sie follen in mix einen Infligen Bruder finden, 
ber bis zuleht aushaͤlt.“ 

„Er will davon koſten,“ wiederholt der Graf, Champague 
anſehend, „ſoll heißen, will mich koſten laſſen. Der Herr muf viel 
Zalent haben, weil ex feiner Sache fo gewiß iſt.“ 

„Ich glaube fa, Kerr. Graf.“ 

„Bon wen wiſſen Sie denn meinen Namen, Herr Roffigned I“ 
„Hoͤlle und Teufel, vom Kleinen, dem ich vor Kurzem be: 
gegnete.“ 

„Vom Kleinen? Aha! dem in der Küche, gewiß?“ 

„Kann fein. Soll mi nicht wundern, denn er war fo ie 
md fett. “ 

„Ja, ja, Herr Graf,’ fiel der Oberloch ein, „er meint ven 
Küchenjumgen, ver ihm die Adreſſe des Herrn Grafen gegeben hat.“ 

„Herr Roffignol, ich freue mi, Ihren Talent einen unge 
neſſenen Wirkungskreis geben zu koͤnnen.“ 

„Iſt der Herr Graf auch Artiſt oder Kunſtliebhaber 

„Ich? Sachkenner und Kunſtliebhaber zugleich. Ge, ser 
Chef, was fagen Sie zu meinen drei Gängen.” 

„Drei Gänge? Bin nie bayon Modell geweſen.“ 

„Solche Köpfe wie den da muß ich haben, Herr Roffignol.“ 

„Solche Köpfe? Haben Sie Luft auf meinen Kopf, Herr Graf!“ 

„Bewiß.” 

„Gewoͤhnlich nimmt man mid nur für den Leib.‘ 

„Alfo den Leib machen Sie auch?“ 

„Und wie? Das if ein Triumph! Aber wie Sie wollen. 
Venn Ihnen mein Kopf hübſch dankt für die Antike, fo ſteht er 
Ionen zu Dienft für hundert Sons die Sitzung.“ 

„gar hundert Sons?’ wiederholt bes Graf und ſieht bald 
Champagne, bald den Oberkoch befremdet an. „Das ifl, meiner. 
Ger, wohlfeil.“ 


DE 
„Zuveni jungen Anbrens, dem Aboptivſohn des Herrn Grafen.“ 
.: „Yan Aboptivfohn des Herrn Grafen.” 

„Ja, ja. Ober zum Meinen Ftanconard, wenn das beſſer Klingt.“ 

„Zum Beinen Franconard ?“ 

„Sa, ja. Verſteh'n Sie nicht ?“ 

„Bir haben keinen Kleinen Franconard. Der Herr Graf hat 
feinen Sohn, nur eine Tochter.” 

„Sacreblen, fag’ Ihnen: ja! Sch fah ihn erſt vor vier Mo⸗ 
haten ,. ſchoͤn wie die Sonne, ein junger Herr von zwölf Jahren, 
der ausfieht wie 'n vierzehnjähriger.“ 

„Ah To, den Beinen Andreas, den Schägling der guäbigen 
rau, meinen Sie.“ 

„Schutzling oder nicht, gleichviel. Br wohnt Bier, nicht wahr?“ 

„3a, ja, jetzt verſteh' ich.“ 

„Goktlob! Wo wohnt er? Ich möchte ihn allein ſprechen.“ 
„Nur immer gerade and nnd dann linke die zweite Treppe.” 
„But, gut!“ 
und damit geht er feiner Wege, in ven Bart brummend: 
„Wie vie Kerle fi Breit machen, ale wär’ man hier beim 

Ber von Marocco.“ 

Aber ſchon im Veſtibule hat er den’ Weg vergefin. Ohne 
wieber zu frägen, geht er auf gut Glüͤck zu, fleigt die Treppe 
rechte Ylaauf, ſtatt die links, und geht burch mehrere Zimmer, 
voU Bewrnberung über die fihönen Borhänge und Draperien. 

„Ale Hagel!” ruft er and, „ver Meine Gutherz logirt Bier 

wie ein Prinz. Die Belanntfchaft ift fo gut als baar Geld; die 
will caltiviet fein.“ 

Endlich ſtoͤßt er auf mehrere Bedienten, die ſich hin und her 
verlen und gaͤhnen. 

„Wohin, mein Herr?“ fragen fie. 

„Zu meinem vertrauten N Breanbe aamwortet NRoffignol dreiſt 
und zuverfichtlich. 





gehört. Aber wenn ich Ihnen einen Gefallen ihue, will ich gerne 
bavon Toten und Sie follen in mir einen Infligen Bruder finden, 
der bis zulegt aushaͤlt.“ 

„& will davon koſten,“ wiederholt der Graf, Champagne 
anſehend, „ſoll heißen, will mic Eoften laffen. Der Herr muß viel 
Zalent haben, weil ex feiner Sache fo gewiß iſt.“ 

„Ich glaube faſt, Herr Graf.‘ 

„Bon wen wiſſen Sie denn meinen Namen, Herr Rofſignol?“ 

„Hölle und Teufel, vom Kleinen, dem ich vor Kurzem be: 
gegnede.” 

„Bom Kleinen ? Aha dem in der Küche, gewiß ?“ 

„Kann fein. Sol mi nicht wundern, denn er war fo Pie 
md fett.“ 

„IR, ja, Herr Graf,“ fiel ber Oberloch ein, „er meint den 
Küchenjungen, ber ihm die Adreſſe des Herrn Grafen gegeben hai.“ 

„Herr Rofliguol, ich freue mi, Ihrem Talent einen ange: 
weffenen Wirkungskreis geben zu können.’ 

„IR der Herr Graf auch Artiſt oder unſtliebhaber ?* 

„Ich? Sachkenner und Kunſtliebhaber zugleich. Se, vn 
Chef, was fagen Sie zu meinen drei Gängen.“ 

„Drei Gänge? Bin nie davon Modell geweſen.“ 

„Solche Köpfe wie. den da muß ich haben, Herr Roffignol.“ 

„Solche Köpfe? Haben Sie Luft auf meinen Kopf, Herr Graf?“ 

„Gewiß.“ 

„Gewoͤhnlich nimmt man mich nur für ben Leib.‘ 

‚ifo den Leib machen Sie auch?“ 

„Und wie? Das if ein Triumph! Aber wie Sie wollen. 
az Ihnen mein Kopf hübſch dunkt für die Antike, fo fleht er 
men zu Dienſt für hundert Sous die Sizung.“ 

ı „Zar haudert Sons?’ wiederholt ber Graf und fickt bald 
Bhompagnıe, bald den Oberkoch befrembet an. „Das if, meiner 
Bee, wohlfeil.“ 


u L} 
ang’ Hab is gefämagtet, oje Und: 4; 





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‚Ale Tännen einizeien, HSeri Bofligeol!“ ruft endiq ie 
Beriente. ir 
DaB hat Mühe gelofet,” fenfzt Roffiguol. 4 
Wäpsend ex über Vie Emwehle tritt, Rürzt Caſat laut bie. 
auf ihm zu und will may ihm beißen. Mher Soffiguo! gi im. 
eind über den Kopf, baf er winfelub unter ben Gtuhl feine Sem... 
Triedt. 
„&pring' mich nodmals an un lege beine Alanen auf meins " 
Mod,“ ruft Bofignol, „fo ha du eins, baf bu vierzehn Zap... 
mad; Luft fhnapph!“ a 
Der Eingang fimmt den Gere Grafen nicht zu Guufen m 
Veemden, während Ghampagne, die Kleidung de6 Herrn Bafigal,. 
won Roy bie zu Buß mufterub, über die ängfüidhe Bürfeng De. 
Septrron für frinen Ked Iägein muß. Kher ans Ratfit nf, 
Werth eines Mannes, der eine neue Art von Kalbötopfubereitul,, 
erfunden Hat, verzeiht man ihm fein wunderliches Auftreten. m, 
der Dee Eipen, war Mh Rofige nt of, 


mal fagen läßt. i 
imefenb,“ dentt er bei füh, „bo he 
1 bin ich Hier bei feinem Befdrige, 
i, und zeig’ dich als Mann von ma 
es feinen Weltbilbung fährt ex fe," 

ein Liedchen zu trillern. Dann —E 
umt in ben Bart : , 

aber ein alerliebfter kleiner Gyklog, "| 
gu mir gefandt ?“ fragt der. st 
von ſelbſt und meil es mir fo ae 
meinen Diners gehört und BR 


ch Der und Jener, wenn ih je 





hört. Aber wen ich Ihren einen Gefallen thue, will ich gerne 
evon loſten und Sie ſollen in mir einen luſtigen Bruder ſinden, 
er bis zulegt aushält.‘’ 

„Gr will davon koſten,“ mwieberholt ber Graf, Chaupagne 
aſehend, „ſoll heißen, will mid Eoften laſſen. Der Herr muß viel 
alent Gaben, weil sr feiner Sache fo gewiß iſt.“ 

„Ich glaube fa, Herr. Graf. 

„Bon wen wiſſen Sie denn meinen Namen, Herr Roffignol ? 

„Kölle und Teufel, vom Kleinen, dem id vor Kurzem be: 


„Bom Kleinen? Aha! dem in der Küche, gewiß?“ 

„Kann fein. Sol mi nicht wundern, denn er war fo bil 
id fett.” 

„Sa, ja, Herr Graf,” fiel der Oberkoch ein, „er meint den 
ihenjungen, ber ihm die Adreſſe bed Herrn Grafen gegeben hat.“ 

„Gert Rofliguol, ich freue mich, Ihrem Talent einen ange: 
ienen Wirkungskreis geben zu Tönnen.‘ 

„IR der Herr Graf auch Artiſt oder Kunſtliebhaber F' 

„Ich? Sachkenner unb Kunftliebhaber zugleih. Ge, Herr 
swf, was fagen Sie zu meinen brei Bängen.‘ 

„Drei Gänge? Bin nie davon Modell geweſen.“ 

„Goldje Köpfe wie.den da muß ich Haben, Herr Boffiguol.“ 

„Solche Köpfe? Haben Sie Luft auf meinen Kopf, Herr Graf?“ 

„Bewiß.” 

„Gewoͤhnlich nimmt man mich nur für den Leib.‘ 

„Alſo den Leib machen Sie auch?“ 

„Und wie? Das if ein Triumph! Aber wie Sie wollen. 
un Ihnen mein Kopf hübſch dünkt für die Antike, fo flieht ex 
men zu Dienſt für hundert Sous die Sigung.” 

„Far handert Sons?’ wiederholt ber Graf und ficht balb 
ampagne, bald den Oberkoch befrembet an. „Das iſt, meiner 
ed, wohlfeil.‘ 


‚Aber auch gut?” Fragt der Oberkoch halb leiſe | 

„und Ste bärgen mir für bie Güte des Kalbskopfes *' führt 
der Graf fort. 

Kaum hat er das gefagt, fo fpringt Koffignol auf, bradt 
ben Hut Aber’s Dhr und ruft wäthend: 

„Kalbskopf! Was, wie, Kalbskopf? Sie miſerables Mupell 
aller blinden Tröpfe in ganz Paris, Sie wagen ed, einen Mann 
zu infullicen, woraus man tagtäglich Jupiter und Achilles macht ?" 

„Was heißt das?‘ ruft der Graf, erſchreckt aus feinem Seſſel 
auffahrend, unter lautem Gebell Cäfard, den Roffignol mit deohen⸗ 
der Stockſchwingung zur Beflunung bringt. Erklären Sie ſich, 
wein Herr. Was wollen Sie son mir?” 

„Bon Ihnen? Nichte.” 

„Sie Hund alſo nicht der Erfinder einer neuen Art Ralbstorf. 
zubereidsing, ber mir feine Dienfle anträgt ? 

„ba! ha! ba! Der Gedanke iſt gut. Wer bat Ihnen das 
in den Kopf gefept ?" 

„Was wollen Sie denn ?“ dounnert der Graf. 

„Kölle und Teufel, Andreas fehen, meinen Freund, einen 
alten Gollegen bei Herrn Dermilly, 'nen Jungen, ben ich gem 
hab’ umd den Sie Eoflenfrei aufziehen.” 

„Mas, Kerl, und Sie wagen, in mein Kabinet einzubringen ?“ 

„But ich das? Sag’ Ihnen, ich will zu Anvrend, uni 

Niemand fonft.” 
„Die Impertinenz! Und Cäfar zu fehlagen! Der kleine Sa: 
voyarde bringt mir fchöne Freunde ins Haus. . 
dner wie Sie, mißgejchaffener Belifarind.‘‘ 
„Das Haben wir jept von ber Menfchenfteunblichleit de 
Gräfin ; folge Auftritte! Lafleur! Jasmin! zur Thüre hinau« 
mit Dem Kerl! zum Fenſter, wenn er noch lange umverfchänet if!“ 
„Hsho!“ ruft Roffiguol und fehwingt fein Bambusrohe, „, 
Gifte, der mich anrührt, dem färb’ ich die Nafe wie mit Fo 
| 





reintenfaft. Und Du, einäugiger Cyklop, Hüte Dich, oder ich 
ide Dich zu Deinen Brüdern in der Werkftatt Vulkans.“ 

Auf den Ruf des Grafen, der fi hinter Champagne und den 
Oberkoch verſchanzt hat, und dad Gehen! Cäfars, der von einem 
wichtigen Stochſchlage zufammengefunfen ift, laͤuft die ganze Dies 
erfchaft zufammen. Aber Roffignol Hält fie in foldgem Reſpekt, 
daß er mmangetaftet feinen Rückzug bewerfftelligen kann, gefolgt 
von ber Schaar der Lafaien, die ihn fcheinbar vor ſich her treiben, 
u Wirklichkeit aber froh find, ihm bloß nachfehen zu dürfen. Unten 
in Betibnle carambulirt er mit Mamfell Lucilie, bie neugierig 
ft, wa# ber Lärın im Eabinet des Grafen bedeute. Auf ihre Frage, 
mad er wolle, erzählt ihr Roffignol in zwei Worten den ganzen 
Berfall und die Gründe feines Befuches im Hötel., Lucilie ſieht 
ibn anfmerffam an, dennoch zeigt fie ihm den Weg zu meinem 
Zimmer, und diesmal hat er ſich nicht geirrt, mein vertrauter Freund. 

Sch faß bei der Arbeit, als er eintrat. 

„Sapperlot,“ rief er, „das hat Mühe gefoftet, Andreas!“ 

„Sie da, Herr Roffignol ?' 

„Ja, ich, nach hartem Kampf mit fünf ober ſechs Lümmeln, 
ommandirt von einem Invaliden.“ 

„Nach hartem Kampf?‘ 

„Gin ander Mal mehr davon, Freundchen. Gottlob, baß ich 
ih Dich treffe, das ift die Hauptfache.‘ 

„Und der unglüdliche Greis, Tante und Kinder ?” 

„Segnen Dich als ihren Schußengel, Andreas. Wärft Du 
Augenzeuge ihres Gluͤcks geweſen! Noch jest muß ich weinen, 
ih daran zurückdenke.“ 

„Beung, daß ich weiß, fle find glüdlih. Kein Wort mehr 









„Du Haft Mecht, Andreas. Sprechen wir lieber von andern 
bürftigen. Audreas, Dein Herz iſt noch immer bad alte ? 
„Immer das alte, Herr Roffignol. Aber wozu bie Frage ?“ 


Yeul ve Rod. I. 14 L 


. 


208 

„Du gute Seele, Du, bift noch immer die alte. Aber fag‘, 
haft Du Geld?“ | 

„Geld ? Sa, ein wenig.“ | 

„So will ic Die nodgmals Gelegenheit geben, bie Freuden 
ved Wohlthund zu koſten, Thraͤnen zu trocknen und gleich ben leuch⸗ 
tenden Meteoren des Himmels... .” 

„Bas meinen Sie, Herr Roffignol ?” | 

„Ich meine, daß ich auf meiner Entdeckungsreiſe vier andere 
Familien gefunden babe, die im tiefften Clende ſchmachten. Andreas 
zwei Lonisb’or auf jede Familie, alfo acht Lonish’or im Ganzen 
und Du kannſt nochmals Unglüdliche von Verzweiflung reiten. Dr 
befinnft Dich, Freundchen ? Iſt Dein Herz verhärtet bei den dleiſch 
töpfen Egyptens, wollte fagen: des Herrn Grafen von France 
nard ? Sähefl Du nur ven Sammer. Da ift z. B. eine blutſung 
Mutter, Wittwe mit vierzehn Kindern auf bem Arme. Ich ai 
Deiner Stelle ſchwankte keinen Augenblid. Aber mein gering« 
Berbienft reicht faum aus für meine Frau und den Erben mein« 
Namens.” 

„Ich machte fo gerne Nanette ein Geſchenk, Herr Roſſignol 

„Schon wieder? Sollte denken, Du haft ihr erſt vor Rune 
was recht Artiges gefchentt. Du vichteft Dig mit dem Sheuf 
an Weiber zu Grunde, Andreas. Ich fehe, ich muß Dich Heil 
von der gottlofen Gewohnheit.“ 

„Ich hab’ aber nur vier Louis jept.” 

„Macht nichts. So warten wir mit ben beiden andern 
milien bis naͤchſten Monat. Sie warten gerne ; ich ſchwöre 
fein Anderer fol Dir im Wohlthun zuvor kommen.” 

Ich ſchwanke noch immer, auch diesmal ihm meine ganze ix 
binzugeben ; es ift mir, als hielte eine innere Stimme mid; bar- 
ab. Aber Roſſignol fegt mir fo zu mit Bitten, ſchildert das GEL 
mit fo grellen Farben, fpricht von einer blinden Mutter, en 
aichtbruchigen Vater, daß ich an ben Sekretäͤr gehe, bie Birke 








207 


holen. Schon will ich ihm das Gelb in die Hand ſchütten, als 
plöpfih — Lucilie erfcheint und ſich wifchen mi und Sem 
Roffignol ſtellt. 

Bei ihrem Anblid werde ich ganz verbußt, als Hätte ich was 
Boſes than wollen. Roſſignol faßt fich fehnell und fucht feinen 
Aerger hinter erfünftelter Heiterkeit zu vwerfteden. 

Lucilie, die feit Längerer Zeit fchon mein Thun und Treiben 
ſorgfaͤltig beobachtet hatte, begriff nicht, was ein folder Dann 
wie Roſſignol mit mir zu fchaffen haben, und wie er mic feinen 
vertrauten Freund nennen Inne. | 

Sie war ihm baher nachgefchlichen und hatte unfer Geſpraͤch 
vor ber Thüre meined Zimmers belaufcht. 

Ihr Erſtes if, daß fie mich bei der Hand nimmt, bie fie zärtlich 
in ber ihrigen drückt. Dann fagt fie, zu Heren Roffignol gewendet : 

„Wiſſen Sie, mein Herr, daß es nicht recht gehanbelt iſt, 
dad. Vertrauen unb bie Gutmüthigkeit dieſes Kindes fo zu miß- 
brauchen, am ihm fein erfpartes Geld abzuloden?“ 

Roſſignol beißt fich in die Lippen, flieht auf ben Boden nieder 
und antwortet mit erfünftelter Stimme: 

„Eine ganze Bande Unglüdlicher fchickt mich zu meinem Kleinen 
Freunde, weil fie fein guted Herz und feine Mittel Tennt. IR es 
denn Unrecht, ben Kleinen. zum Wohlthun zu ermuntern ?" 

„Gewiß nicht, mein Herr, und Andreas ift Herr feines Geldes. 
Aber che man gibt, foll man wiffen, ob die Armen ber Unter: 
kükung werth find. Die Erfparniffe dieſes Kindes follen nicht zur 
Grmunterung bed Laflerd und der Trägheit dienen.“ 

Bei dieſen Worten ſteckt Roffignol feine alte Raufbolderei 
auf unb fragt in unverfſchaͤmtem Tone: 

„Was beveuten dieſe Winke?“ 

„Sie bedeuten,” antwortet Lucilie, „daß Sie das Geld biefes 
Kindes vergendet und ihm dafür eine alte Kinflierfpige zugeſteckt 


„ine neue, mit. Verlaub. Ich will fie an Ihnen probiem, 
zum -Beweife.“ 

„Heute wollen Sie daffelbe Experiment wiederholen.” 

„Mamfell, reden Sie leifer, ober... .“ 

„sch rede fo laut oder Jeife, wie ich will. Und wenn Sie 
noch länger impertinent find, laß ich Sie hinausjagen oder ver: 
biete Ihnen, je wieder das Hötel zu betreten. Verſtanden? Derlei 
Umverfchämtheiten fliehen Ihnen fchledht nad ben Dummheiten 
drunten im Gabinet des Herrn Grafen.“ | 

„Daß ift der Mühe werth, weil ich dem räubigen Hunde, ber 
mich verfaute, bie Pfote zertrümmert! Hat er nicht an drei ge: 
nug, feinem einäugigen Herrn nachzuhinfen ?“ 

„Haben Sie die Wahrheit gejagt, jo geben Sie mir bie Adreſſe 
ber vier armen Familien. Die Fran Gräfin wirb fie nach Kräften 
unterflügen.“ 

„Geh'n Sie mir mit Graf und Gräfin.“ 

„Da haben wird, Sie können mir nicht antworten. Pfui 
über dies niedrige Benehmen! Fort von hier, und daß ich Sie 
nicht wieber treffe hier im Hanfe.” 

„Hoho, Schürgenmamfellden! Das zwitfchert wie die He: 
ſchaft. Ich gehe, weil es mir Vergnügen macht. Andreas, ich bin 
Dir nicht böfe ; wir ſeh'n uns bald wieber. Adieu, Domeflifenfeele!* 

Roffignol fchneidet Lucilie ein Geficht und trollt dann von 
binnen, fi ſtutzerhaft Kin und ber wiegend und bie Arie: 
„Schooßkinder ihr der Damen,” trillernd. 

„Der elende Kerl der!“ ruft Lucilie, ihm nachfehenb. 

. Dann kommt fie auf mich zu, nimmt mich in die Arme unv 
küßt mid — zum erfienmale. O, wie mir das thut! Ich fehe füe 
an und, mein Gott! die Thränen figen ihr ganz lofe. 

„Was haben Sie denn?“ frage ich fie. 

„Wie gut Du bift, Andreas. Wie konnt' ich doch fo was von 
Dir beufen? Mein, ich glaubte es nicht, aber ich wußte, bakintex 





Rede was, und das wollt’ ich heraus haben. Set weiß ich's und 
wie freue ich mich. Geſchwind zur gnädigen Frau hinunter!” 

Und wie der Blig if fle fort. Gleich darauf läßt Madame 
mich rufen und fcheint ganz bewegt, als fie mich erblidt. Herr 
Dermilly, der darüber gefommen ift, thut eben jo gerührt, und 
Fräulein Adolphine nennt mich ihren guten Andreas. Was wollen 
ke denn von mir? Was habe ich fo Erflaunliches gethan? Dann 
muß ich erzählen, was zwifchen mir und Roflignol vorgefallen if. 
Die gute Caroline nöthigt mich, die gleihe Summe von ihr an- 
muchmen, die unter falſchem Borwande mir abgelodt worden if. 
Dabei fehlt es natürlich nicht an Ermahnungen, Tünftig vorfichtiger 
zu fein. 

Nach diefem Borfall- find die Frau Gräfin und Mamfell &n- 
cilie noch wohlwollender und freundlicher gegen mich, während der 
Herr Graf mich finfter anfieht, fo oft er mir begegnet; denn er 
Schauptet, ich fei Schuld an der Mißhandlung, die Cäfar von 
Aoſſignol erfahren hat. 


- 


Scchszehntes Kapitel. 


Erfie Regungen bed Herzen. 


Dem Edelmuth meiner Wohlthäterin Habe ich mein boppeltes 
Glack zu danken. Ich kann nicht nur der guten Mutter eine gleich 
große Summe ſchicken, wie bie, welche ich an Roflignol gegeben 
babe, fondern außerdem noch der Schwefter ein Geſchenk machen. 
Aber diesmal will ich Lueilie zu Rathe ziehen und fie bitten, für 
mich ben Einkauf zu beforgen. 

Ueber diefen Beweis meines Zutrauend zu ihr freut ſich das 
junge Mädchen nicht wenig. Sie Tauft mir eine niebliche Damen: 
abe, Die fange nicht fo viel koſtet, als ich glaubte. Beim Anblid 
dieſes Gefchentes fpringe ich hoch auf vor Freude. ©, wie Nanette 


- HR 
„Bo lang’ hab’ ich geſchmachtet, oh’ Ende Big 
geliebt!" 


„Sie Tünnen eintreten, Herr Roſſignol!“ ruft endlich der 
Bediente. 

„DaB hat Mühe gekoſtet,“ ſeufzt Roſſignol. 

Während ex Aber die Schwelle tritt, ſtürzt Caͤſar laut Bellen 
anf ihn zu und will nach ihm beißen. Aber Roſſignol gibt ihm 
eins über ben Kopf, baß ex winfelnd unter ven Stuhl feines Herm 
kriecht. 

„Epring' mich nochmals an und lege deine Klauen auf meinen 
Rod,‘ ruft Roffiguol, „fo haft du eins, daß bu vierzehn Tage 
und, Luft ſchnapoſt! | 

Der Eingang Rimmt den Herrn Grafen nicht zu Gunſten des 
Fremden, während Champagne, die Kleidbung bed Herrn Roffiguol 
von Kopf bis zu Fuß muſternd, über bie aͤngſtliche Fürforge des 
Bepteren für feinen Rod Lächeln muß. Aber aus Rüdficht auf ven 
Werth eines Mannes, der eine neue Art von Kalbölopfzubereitung. 
erfunden bat, verzeiht man ihm fein wunderliches Auftreten. Dex 

Herr Genf winkt ihm zum Sihen, was fi Roffignol nicht quei- 
mal fagen läßt. 

„Der Kleine it halt abweſend,“ denkt er bei fi, doch wich 
er bald kommen. Inzwifchen bin ich bier bei feinem Befdhüger. 
Alto Acht gegeben, Rofliguol, und zeig’ dich ald Mann von Welt.“ 

Und zum Beweiſe feiner feinen Weltbilvung fährt er fort, 
fein Rohe zu ſchwingen und ein Liedchen zu trillern. Daun fiebı 
es den Grafen an und brummt in den Bart: 

„ga, Tein Apollo das, aber ein alferliehfter kleiner Cyllop 

„Freund, wer bat Sie zu mir gefandt ?“ fragt der Graf. 

‚Niemand. Ich komme von felbft und weil es mir fo paßte 

„Aha, Sie haben von meinen Diners gehört und wollen mt 
Sere Dienſte anbieten. 


„Ihre Diners? Hol' mich Der und Jener, wenn ich je emını 








gehört. Aber wen ich Ihnen eimeri Gefallen ihue, will ich gerne 
davon Toten und Sie follen in mir einen Infligen Beuber finden, 
ver bis zuletzt aushaͤlt.“ 

„Er will davon koſten,“ wiederholt der Graf, Champagne 
anſehend, „ſoll heißen, will mich koſten laſſen. Der Herr muß viel 
Talent haben, weil er feiner Sache fo gewiß iſt.“ 

„Ich glaube fat, Herr. Graf.“ 

„Bon wen wiſſen Sie denn meinen Namen, Herr Reffignol 9’ 

„Bälle und Teufel, vom Kleinen, bem ih vor Kurzem be: 


„Bom Kleinen ? a! bem in der Küche, gewiß ? 

„Kann fein. Sol mic nicht wundern, denn er war jo Miet 
und fett.‘ 

„Sa, ja, Her Graf,“ fiel der Oberloch ein, „er meint den 
Küchenjungen, der ihm die Adreſſe des Herrn Grafen gegeben hat.“ 

„Bert Rofiignol, ich freue mich, Ihrem Talent einen ange: 
weflenen Wirkungsfreis geben zu koͤnnen.“ 

„IR der Herr Graf auch Artiſt oder Knuftliebhaber F' 

„Ich? Sachkenner und Kunſtliebhaber zugleich. He, der 
Chef, was fagen Sie zu meinen brei Gängen.“ 

„Drei Bänge? Bin nie bawon Modell geweſen.“ 

„Goldye Köpfe wie. den da muß ich haben, Herr Roffignol.“ 

„Solche Köpfe? Haben Sie Luft auf meinen Kopf, Herr Graf?“ 

„Bewiß.” 

„Gewoͤhnlich nimmt man mich nur für den Leib.‘ 

„Alfo den Leib machen Sie auch?“ 

„Und wie? Das if ein Triumph! Aber wie Sie wollen. 
Wenn Ihnen mein Kopf hübſch dankt für die Antike, fo ſteht ex 
Ihnen zu Dienft für hundert Sous die Sitzung.“ 

„Br hundert Sons?” wiederholt der Graf und fickt bald 
Champagne, bald den Oberkoch befremdei an. „Das ift, meiner 
Ce, wohlfeil.“ 


‚ber auch gut?” Fragt der Oberkoch halb Feife. : 

„Und Ele bärgen mir für bie Güte des Kalböfopfes *' fährt 
der Graf fort. 

Kaum hat er das gefagt, To ſpringt Roffignol auf, drückt 
ben Hut übers Ohr und ruft wäthenn: 

„Kalbskopf! Was, wie, Kalbskopf? Sie miſerables Moll 
aller blinden Tröpfe in ganz Paris, Ste wagen es, einen Mann 
zn iufulliren, woraus man tagtäglich Iupiter und Achilles macht!" 

„Was heißt das?“ ruft ver Graf, erſchreckt aus feinem Seflel 
auffahrend, unter lautem Gebell Caͤſars, den Roſſignol mit drohen⸗ 
der Stockſchwingung zur Beflunung Bringt. Grflären Sie ſich, 
wein Herr. Was wollen Sie von mir?“ 

„Bon Ihnen? Nichte.” 

„Gie find alſo nicht der Erfinder einer neuen Art Kalbe 
zubereidueng, ber mir feine Dienfte anträgt ? 

„Sa! ba! ha! Der Gedanke iſt gut. Wer bat Ihnen bad 
in den Kopf gelegt ?“ 

„Bas wollen Sie denn?’ donnert der Graf. 

‚ „Hölle und Teufel, Anbrens fehen, meinen Freund, einen 
alten Gollegen bei Herrn Dermilly, 'nen Jungen, den ich gern 
hab’ und ven Sie Eoflenfrei aufziehen.’ 

„Mas, Kerl, und Sie wagen, in mein Kabinet ei 1 

„But ich das? Sag’ Ihnen, ich will zu Andreas, und 
Niemand fonft.” 

„Die Impertinenz! Und Gäfar zu fchlagen! Der Heine Ca: 
voyarde Bringt mir fchöne Freunde ine Haus.’ . 
„Schöner wie Sie, mißgeſchaffener Beliſarius.“ 
„Dad Haben wir jegt von ber Menfchenfreunblichkeit ter 
Gräfin ; ſolche Auftritte! Lafleur! Jasmin! zur Thüre hincus 
mit dem Kerl! zum. Feuſter, wenn er noch lange unverſchämt ifl !- 
„Sehe !” ‚ruft Roſſignol und fehwingt fein Bambusroke, „pei 
Grfte, der mich anrührt, dem färb’ ich die Nafe wie mit Gole 








205 


quintenfaft. und Dn, einäugiger Cyklop, Küte Dich, oder ic 
ſchicke Dich zu Deinen Brüdern in ber Werkſtatt Vulkans.“ 

Auf den Ruf des Grafen, ber fi Hinter Champagne und ben 
Oberkoch verſchanzt hat, und das Geheul Caͤſars, der von einem 
gewichtigen Stockſchlage zuſammengeſunken iſt, laͤuft die ganze Die⸗ 
nerſchaft zuſammen. Aber Roſſignol Hält fie in ſolchem Reſpekt, 
daß er mangetaſtet ſeinen Ruͤckzug bewerkſtelligen kann, gefolgt 
von der Schaar der Lakaien, die ihn ſcheinbar vor ſich her treiben, 
in Wirklichkeit aber froh find, ihm bloß nachfeben zu bürfen. Unten 
im Veſtibule carambulirt er mit Mamfell Lucilie, pie neugierig 
ft, was ber Lärm im Cabinet des Grafen bedeute. Auf ihre Frage, 
wad er wolle, erzählt ihr Roffignol in zwei Worten den ganzen 
Verfall und die Gründe feines Befuches im Hötel., Lucilie ſieht 
iin aufmerffam an, dennoch zeigt fie ihm den Weg zu meinem 
Zimmer, und diesmal hat er ſich nicht geirrt, mein vertrauter Freund, 

Ich faß bei der Arbeit, als er eintrat. . 

„Sapperlot,” rief er, „das bat Mühe gefoftet, Andreas !” 

„Sie ba, Here Roffignol 9” 

„3a, ich, nach hartem Kampf mit fünf ober ſechs Lümmeln, 
amandirt von einem Invaliben.“ 

„Rah hartem Kampf?“ 

„Ein ander Mal mehr davon, Freundchen. Gottlob, daß ich 
adlich Dich treffe, das iſt die Hauptſache.“ 

„Und der unglückliche Greis, Tante und Kinder ?“ 

„Segnen Dich als ihren Schupengel, Andreas, Waͤrſt Du 
X Augenzeuge ihres Glücks gewefen! Noch jetzt muß ich weinen, 
em ih daran zurückdenke.“ 

„Genug, daß ich weiß, fle find glücklich. Kein Wort mehr 
mon.“ 


„Du haft Recht, Andreas. Sprechen wir lieber yon andern 

wlföbehürftigen. Andreas, Dein Herz ift noch immer das alte? 
„summer das alte, Here Roffignol. Aber wozu bie Frage 9 
Baul de Kod. I. . 14 


208 

„Du gute Seele, Di, bift noch immer die alte. ber ſag, 
Haft Du Bel I" 

„Geld ? Ja, ein wenig.” 

„So will ich Dir nochmals Gelegenheit geben, bie Freuden 
bed Wohlthuns zu often, Tihränen zu trocknen und gleich ben lerch 
tenden Meteoren des Himmels. 

„Was meinen Sie, Herr Roffignof I 

„Ich meine, daß ich auf meiner Entdeckungsreiſe vier ander 
Familien gefunden babe, die im tiefften Elende ſchmachten. Andreui 
zwei Louisd'or auf jede Familie, alfo acht Lonisd'or im Ganzen 
und Du kannſt nochmals Unglückliche von Verzweiflung reiten. O 
befinnft Dich, Freundchen? If Dein Herz verhärtet bei ben lei 
töpfen Egyptens, wollte fagen: des Herrn Grafen von Franck 
nard ? Säheft Du nur den Jammer. Da iſt 3.3. eine blutjun 
Mutter, Wittwe mit vierzehn Kindern auf bem Arme. Ich q 
Deiner Stelle ſchwankte keinen Augenblid. Aber mein gering 
Berbienft reicht Taum aus für meine Frau und den Erben mein 
Namens.“ 

„Ich machte ſo gerne Manette ein Geſchenk, Herr ceoſigw 

„Schon wieder? Sollte denken, Du haft ihr erſt vor Kurzı 
was recht Artiges geſchenkt. Du richteft Dich mit dem Schenl 
an Weiber zu Grunde, Andreas. Ich fehe, ich muß Dich Heil 
von ber gottlofen Gewohnheit.“ 

„Ich hab’ aber nur vier Louis jetzt.“ | 

„Macht nichts. So warten wir mit den beiden ambern : 
milien bis nächften Monat. Sie warten gerne; ich ſchwöre © 
fein Anderer fol Dir im Wohlthun zuvor kommen.‘ 

Ich ſchwanke noch immer, auch diesmal ihm meine ganze Bi 
hinzugeben ; es ift mir, als hielte eine innere Stimme mich da 
ab.. Aber Roſſignol fegt mir fo zu mit Bitten, ſchildert das Ei 
mit fo grellen Farben, fpricht von einer blinden Mukter, eis 
gichtbruchigen Vater, .. ih an ben Sekretär gehe, die Börfe 





—X 


beten. Schon will ich ihm das Geld in bie Hand ſchütten, als 
plöglih — Lucilie erſcheint und fi zwiſchen mich nd Herrn 
Roſſignol ſtellt. 

Bei ihrem Anblick werde ich ganz verdußt, als haͤtte ich was 
Boͤſes thun wollen. Roſſignol faßt fich ſchnell und ſucht feinen 
Aerger hinter erkünſtelter Heiterkeit zu verſtecken. 

Eucilie, die ſeit laͤngerer Zeit ſchon mein Thun und Treiben 
Ingfäktig beobachtet hatte, begriff nicht, was ein folder Dann 
wie Roffignol mit mir zu fchaffen haben, und wie er mic feinen 
vertrauten Freund nennen koͤnne. 

Sie war ihm daher nachgeſchlichen und hatte unfer Geſpraͤch 
vor der Thüre meines Zimmers belaufcht. 

Ihr Erſtes iſt, daß fie mich bei der Sand nimmt, die fle zärtlich 
in der ihrigen brüdt. Dann fagt fie, zu Heren Roffignol gewendet : 

„Biffen Sie, mein Herr, daß es nicht recht gehandelt ift, 
das Bertrauen und bie Gutmüthigkeit dieſes Kindes fo zu miß⸗ 
brauchen, um ihm fein erfpartes Gelb abzuloden?“ 

Roſſignol beißt ſich in die Lippen, flieht auf ben Boden nieber 
um antwortet mit erfünftelter Stimme: 

„Eine ganze Bande Unglüdlicher ſchickt mich zu meinem Heinen 
freunde, weil fie fein gutes Herz und feine Mittel Tennt. IE es 
ven Unrecht, ben Kleinen zum Wohlthun zu ermuntern ?” 

„Bewiß nicht, mein Herr, und Anbread ift Herr feines Geldes. 
Aber che man gibt, foll man wiffen, ob bie Armen der Unter: 
ſtigung werth find. Die Erfparmiffe dieſes Kindes follen nicht zur 
Gmnunterung bed Laflerö und ber Trägheit dienen.“ 

Bei viefen Worten fledlt Roffignol feine alte Raufbolderei 
uf und fragt in unverfhämten Tone: 

„Bas bebeuten diefe Winke I“ 

„Sie bedeuten,“ antwortet Lucilie, „Haß Sie das Gelb biefes 
Kindes vergenden © und e dafür eine alte Eiyſierſpite zugeſteckt 


haben. 


„ine neue, mit Berlaub. Ich will fle an Ihnen proben, 
zum Beweiſe.“ 

„Heute wollen Sie daſſelbe Experiment wieberholen.” 

„Mamſell, reven Sie leifer, oder... .“ 

„Ich rede fo laut ober leife, wie ich will. Unb wenn Sie 
noch länger impertinent find, laß ich Sie hinausjagen ober ver 
biete Ihnen, je wieder das Hötel zu betreten. Berflanden ? Derlei 
Unverfchämtheiten fiehen Ihnen fchlecht nad ben Dummheiten 
brunten im Gabinet ded Herrn Grafen.” 

„Das iſt der Mühe werth, weil ich dem räubigen Hunde, ber 
mich verfaute, die Pfote zertrümmert! Hat er nicht an brei ge: 
nug, feinem einäugigen Heren nachzuhinken ?“ | 

„Haben Sie die Wahrheit gefagt, fo geben Sie mir bie Adreffe 
der vier armen Familien. Die Frau Gräfin wird fie nad) Kräften 
unterflüßen.” 

„Geh’n Sie mir mit Graf und Gräfin.“ 

„Da haben wird, Sie können mir nicht antworten. Pf 
über dies niedrige Benehmen! Fort von bier, und daß id Sie 
nicht wieber treffe Hier im Hauſe.“ 

„Hoho, Schürzenmamfellden! Das zwitichert wie bie Herr: 
ſchaft. Ich gehe, weil es mir Vergnügen macht. Andreas, id; bin 
Dir nicht böfe ; wir feh'n uns bald wieder. Adieu, Domefikenfeele!“ 

Roffignol ſchneidet Lucilie ein Geſicht und trollt dann von 
Sinnen, ſich ſtutzerhaft hin und her wiegend und bie Arie: 
„Schooßkinder ihr der Damen,” trillernd. 

„Der elende Kerl der!" ruft Lucilie, ihm nachfehend. 

Dann kommt fie auf mich zu, nimmt mich in bie Arme und 
küßt mich — zum erftenmale. DO, wie mir das thut! Ich fehe fie 
an und, mein Gott! die Thränen figen ihr ganz loſe. 

„Was haben Sie denn?" frage ich fie. 

„Wie gut Da biſt, Andreas. Wie konnt' ich doch fo was von 
Dir denken? Nein, ich glaubte es nicht, aber ich wußte, bakiıtex 





ſtece was, und das wollt’ ich heraus haben. Seht weiß ich's und 
wie freue ich mich. Geſchwind zur gnädigen Frau hinunter!“ 

Und wie der Bliß ift fie fort. Gleich darauf läßt Madame 
mi rufen und fcheint ganz bewegt, als fie mich erblidt. Herr 
Dermilly, der darüber gefommen ift, thut eben ſo gerührt, und 
Fräulein Adolphine nennt mich ihren guten Andreas. Was wollen 
fe denn von mir? Was habe ich fo Erftaunliches gethan? Dann 
muß ich erzählen, was zwifchen mir und Roflignol vorgefallen if. 
Die gute Caroline nöthigt mich, die gleiche Summe von ihr an- 
muchmen, die unter falfchem Borwande mir abgelodt worden ifl. 
Dabei fehlt es natürlich nicht an Ermahnungen, künftig vorfichtiger 
in fein. 

Nach diefem Vorfall find die Frau Gräfin und Mamfell Lu- 
cilie noch wohlwollender und freundlicher gegen mich, während der 
Herr Graf mich finfter anſieht, fo oft er mir begegnet; denn er 
behauptet, ich fei Schuld an der Mißhandlung, die Eäfar von 
Roſſignol erfahren hat. 


Sechs zehntes Rapitel. 
Erſte Regungen bed Herzenbd. 


Dem Edelmuth meiner Wohlthaͤterin habe ich mein doppeltes 
Süd zu danken. Ich kann nicht nur der guten Mutter eine gleich 
gtoße Summe ſchicken, wie die, welche ich an Rofjignol gegeben 
habe, fondern außerdem noch der Schwefter ein Geſchenk machen. 
Aber diesmal will ih Lucilie zu Rathe ziehen und fie Bitten, für 
wich den Cinkauf zu bejorgen. 

Ueber dieſen Beweis meined Zutrauend zu ihr freut fich das 
junge Mädchen nicht wenig. Sie kauft mir eine niedliche Damen- 
abe, die lange nicht fo viel koſtet, als ich glaubte. Beim Anblid 
dieſes Geſchenkes fpringe ich hoch auf vor Freude. O, wie Nanette 


210 

fi freuen wird! So oft ich won meiner Schwefter rebe, ficht mid 
Lucilie aufmerffam an. 

„Du haft fie gern, die Kleine Nanette ?“ fragt. fie. 

„Und wie! Wir find wie Bruder und Schwefter.“ 

„Wie alt ift fie ?* 

„Eben fo alt als ih: bald dreizehn Jahre.” 

„Iſt fie hübſch ?“ | 

„Alle finden ed, Mamfell Lucilie.” 

„Und Du au, Andreas ?“ , " 

„Ich weiß nur, daß fie gut ift und mich lieb bat. Sch weiß nicht, 
ob fie hübſch iſt. Aber Tann der Häßlich fein, der von Herzen ſo gut iſt? 

„Meint Du, Andreas? Ich möchte fie gern einmal fehen. 
Barum kommt fie nie ins Hotel?" 

„Ste wagt ed nicht; auch Bater Bernhard nicht. Sie haben 
fieber, daß ich zu ihnen komme.“ 

„Und was thut fle zu Haufe, Deine Nanette ?* 

„Sie näht und forgt für Haus und Küche. Das mad fie 
fon ganz gut.” 

„Was Du fagft! Den Heinen Ausbund möcht’ ich fehen!“ 

Das fagt fie in einem Tone, daß man glauben follte, fie 
ärgere fih über das Lob, das ich meiner Schwefter gebe, und doch 
weiß ich, fie würde fie ebenfo gern haben, wenn fie fie Fennte, 
wie ich fie Tenne In einem Nu bin ich bei Bater Bernhard. 
Nanette ift allein ; um fo beſſer! ich bin fo Iinkifch beim Schenken 
Weiß Gott, was Nanette feit einiger Zeit hat. Je größer fie wire 
um fo mehr nimmt ihre Heiterkeit ab. Auch ift fie Tange nich 
mehr fo vertraulich mit mir; oft vergißt fie gar, mich zu buger 
und nennt mich Herr Andreas. Wenn ich fle darüber zanfe umı 
ihr die Veränderung in ihrem Weſen und Benehmen vorbalte, ſ 
wird fle roth, ſieht mich zärtlich an und bethenert, fie wiffe ſar, 
nicht, warum es fo ſei, aber fle liebe mich nach wie vor gleid 
fehr. und ih Bin feſt Aberzeugt, fle fagt die Wahrheit. 








al 


| Mein Gefahen! macht Manelie die größte Freude. Sie hängt 
| die Uhr um ben Hals und ruft: . 

„Da fell fie immer bleiben.“ 

Bloͤtzlich wird fie traurig und ſeufzt: „Ad, Andreas, ich 
habe nichts, was ich Dir bieten kann.“ 

„Ranette, Hab’ ich nicht Deine Freundſchaft? Die ift mehr 
werth, als alle Uhren in der Welt.“ 

Bater Bernhard kommt; er ift vor Staunen außer ſich über 
das glänzende Geſchmeide. Dann nimmt er eine ernfle Miene an 
und fagt: 

„Und Deine Mutter, Andreao? Sie Tann das Geld befier 
brauchen, ald Nanette die Uhr. Durch folche Geſchenke richteft Du 
Dich zu Grunde, Andreas.“ 

„Do nein, nein! Seht, das ift für meine Mutter. Die Frau 
Sräfln if fo gut! Sie kommt allen meinen Wünfchen zuvor.“ 

„Mag fein, Andreas; aber ich dulde nicht, daß Du je wieder 
Nanstte ſolche Geſchenke machſt. Sie ift Feine Prinzeſſin, was fol 
fe mit fo fchönen Sachen? Mit Dir ift es anders, der Du in 
ber vornehmen Welt lebſt. Wir find arme Leute, und ich will nicht, 
baf meine Tochter ſich wie eine große Dame trägt. j 

Ranetie Hört ihm mit Thränen in den Augen zu und will 
mir die Uhr zurüdgeben. Nur mit größter Mühe beichwichtige ich 
ven ehrlichen Waſſerträger. Er iſt unendlich zartfühlenn, und doch 
beſucht ex weder die Börfe, noch die Hofwelt, noch die Geſchaͤfts⸗ 
männer. \ 

Nach vielem Angenehmen muß ich Nanetten Etwas mittheilen, 
was fie betrüben wird. Meine Wohlthäterin will nämlich demnächkt 
aufs Land gehen, wo fie feit mehreren Jahren nicht gewefen ift, 
und ich weiß .gewiß, daß fie mich milmimmt. 

„O mein Gott,“ jeufat Nanette, „und wie lange wirft Du 
ausbletben ?“ 

Ich weiß es nicht, Nanette. 


223 


Ich mag ihr nicht fagen, daß wir vielleicht mehrere Monate 
abwejend find. 

„Da haben wird,” hebt fie wieder an. „Ich fehe kommen, 
daß Du endlich ganz ansbleibft. So geht's, wenn mam bei vor: 
nehmen Damen’ wohnt. Ich wollte lieber, Du nähmeft bie Uhr 
zuräd, und Tämefl dafür wie fonf.“ 

„Tochter, das Tann nicht fein,“ fällt der gute Auvergnat ein. 
„Andreas weiß jet fo viele fchöne Sachen, daß er ſich Bei une 
unwiffenden Leuten langweilen würde.“ 

„O nein, nein, Bater Bernhard.” 

„Und pop Sapperment, das nehme ich Dir nicht übel, Burſche. 
Wer fo viel lernt, ber lernt nicht, um Briefträger zu werben.“ 

„Und wenn ich auch fo lernte, wie Andreas, Bater I” 

„Schweig’, Heine Naͤrrin. Stopfe Deine Steibie und koch 
mir eine gute Suppe: das iſt Alles, was Du brau 


Bei der Rückkunft ins Hötel Höre ich von an. daß wir 


fchon in acht Tagen auf das Landgut ber gnädigen Frau abreifen. 

„Wie reizend es da ift !“ ruft Lucilie. „Schöne Gärten, Gehölze, 
Blumen, Bosteite. Wie Iuflig wollen wir fein! Da ftört uns Fein 
Graf, kein Eäfar, fein Champagne. Wir nehmen nur Sophie, bie 


Bonne des Fräuleind, und eine Köchin mit. Schloßvogt und Gärtner 


find immer im Schloffe. Da Lönnen wir lachen und fpazieren gehen. 
Gib Acht, wie ich Dich herumführen will in der Umgegenb.“ 
Mamfell Lucilie kann den Augenblid der Abreife nicht er 
warten. Auch ich würde mich freuen, wenn ich meine guien Yreunde 
mitnehmen bürfte. Hier in Paris fürchte ich immer, dem Herrn 


Grafen zu begegnen. So oft er mid flieht, blickt er zornig weg 


und brummt laut genug, daß ich's Höre: 

„Der Bettelbube von Savoyarde, der von meinem @elde lebt, 
iſt ſchuld, daß Gäfar zum Krüppel wurde.“ 

Die Worte jagen mir das Blut ins Geſicht, denn ich muß 
dann immer bes guten Vaters felig gebenfen, wie er im Bette 


213 
liegt und hinſiecht an den Wunden, die er in feinem edlem Gifer 
für die Lebensreitung des Grafen erhalten hat. Nur die Rückſicht 
auf meine großmüthige Beſchützerin Hält mich ab, ihm zu ants 
worten, wie fidh’8 gebührt. Ich jchweige und gehe fort, ſeufzend: 

„Kanu das der Gemahl der Graͤſin und der Bater Adolphinens 
fein 2“ 

Den Tag vor der Abrei e nehme ich von meiner Schweſter Abſchied. 

„Wie werde ich Dich vermiſſen, Andreas,“ ſagt fie. „Wie 
lange wird mir die Zeit ſcheinen. Ich will recht oft die Uhr an⸗ 
ſeh'n und immer dabei an Dich denken.“ 

Gute Nanette! Wüßte fie, daß wir mehrere Monate lang um 
nit fehen werden! Sch umarme fie zärtlich, das thue ich jo gerne. 
Mir if dann fo ganz anders zu Muthe ald bei vem Kuß, den 
Ramfell Lucilie mix unlängft gab. Bei der guten Schwefter ſeufze 
und zittere ich nicht, noch werbe ich soth und unruhig. Warum ger 
tieth ich. denn in ſolche Bewegung bei dem Kuß des jungen Rammers 
madchens? Und doch Habe ich Nauette viel lieber als Lucilie. Und Adol⸗ 
phine! D, die Liebe ich wieder ganz anders, ald Nanette und Lucilie. 
Oft glaube ich gar, ich liebe fie nicht, weil ich in ihrer Nähe fo 
berlegen werde. Ich bin immer unruhig, fo oft ich zu ihr hinunter: 
gebe. Kaum wage ich an ihrer Seite ven Mund aufzuthun. Wie 
ſonderbar das Alles iſt! Werbe ich denn immer kindiſcher, je Alter 
and größer ich were ? Nur bei Nanette bleib’ ich mir immer glei. 

Der Tag der Abreife ift da. Sch bin in dem nämlichen Wagen 
nit der Frau Gräfin, ihrer Tochter und Lucilie ; die beiden Bonnen 
ten im Packwagen. Wie angenehm wird die Fahrt werben! Ich 
Ihe Adolphine gegenüber, und doch wünfchte ich mir fuſt einen 
inden Platz. Ich fehe immer nieder, und wage faum, das liobens⸗ 
dirdige Kind anzufehen, noch Hand und Fuß auszuſtrecken, aus 
Furcht, die ihrigen zu berühren. Am meiften in Berlegenheit bringt 
Ki der Gedanke, daß bie Andern merken könnten, was in wir 
orgeht, während ich es felher nicht recht weiß. 


24 


„Barum fo ſchweigſam, Audreas 77 fragt die Gruſin., Freueſ 
Da Dich nicht mit uns, aufs Land zu kommen ? 

„O gewiß, gnäbige Frau!“ 

„Und doch biſt Du fo betrübt?“ 

„Ich weiß ven Grund, Madame,“ ſagt Lucilie. „Herr Andreas 
denkt an feine kleine Nanette! Er hat dad Heimweh nach ihr.” 

Damfell Lucilie irrte ſich, ich Dachte nicht an Nauette. Laͤchelnd 
antwortet die Gräfin: 

„Mm fo angenehmer das Wieberfehen, Andreas.‘ 

Ja, gewiß freue ich mich, fle wiederzuſehen, und doch fiat: 
Madame und Lucilie im Irrthum. Etwas ganz Anderes, ald das 
Heimweh nach Nanette, Halt mid ab, Adolphine anzufehen. 

Die Toter meiner Mohlthäterin nähert ſich ihrem zehnten 
Lebondjahre. Ihr Wuchs wird ſchlanker und voller, ihre Züge mar: 
Eistee. Die Mugen find immer gleich ſchön, aber der Ton ihrer 
Stimme ſcheint mir noch fanfter zu werben, und ihre Manieren 
noch anmuthiger ; Geil, Urtheil und Gemüth entfalten ſich immen 
mehr. Sie fpielt nicht mehr mit der Buppe: Mufll und Zeichnen 
find jetzt ihre liebſten Beichäftigungen ; dabei ift fie gleich gut uni 
wohlthatig gegen die Armen und Unglücklichen, wie bisher. Si 
weiß nichts von der Gefallfucht und dem Dünkel auf korperlich 
‚ und geiftige Vorzüge, die fo oft den Uebergang bed Kindes im 
jungfräwliche Alter begleiten. 

Mur von Zeit zu Zeit, wenn ich mich unbemerkt glaube, ſeh 
ich Fräulein Adolphine verfiohlen an. Begegnen ſich unfere Blick 
fo ſchlage ich meine Augen ſchnell nieder, und doch leſe ich i 
ihren nur Sanftmuth und Freundſchaft für mich. 

Das Gut der Frau Gräfin liegt in der Nähe von Yontainı 
bteau. Gegen ſechs Uhr Abends rollt unfer Wagen in den weite: 
mit einer Sittermawer umfchloffenen Hof eined praͤchtigen, bt 
am Wege gelegenen Haufes. Der Schloßvogt eilt Herbei und glei 
nad ihm ber Gaͤrtaer und ſeine Frau. Die Kunde von ber Ku 








[4 





3 
fmft der gnädigen Frau verbreitet ſich mit reißender Schnelle. In 
Aller Augen fehe ich die Herzlichfte Freude glänzen. Kaum find wir 
ind Innere des Hauſes eingetreten, und fehon hat fi eine große 
Nenge Dorfbewohner, Greiſe, junge Mütter, Kinder, verfammelt, 
die Gutsherrin zu beglüdwünfchen. Wo fie weilt, da ift fie gelicht 
und angebetet, denn überall Hinterläßt fie Spuren ihrer Menſchen⸗ 
freundlichfeit. Wie herzlich ift ihr Empfang an diefem Orte! Ste 
braucht Feinen Intendanten, der mit Geld und guten Worten bie 
Bauern zu Böllerfgäffen ermuntert umd zu Frendengeſchrei, das 
za dem unfreunblichen Ausdruck der Gefichter fchlecht paßt. Sie 
fommt nicht wie eine Herrin, welche die Huldigungen ihrer Va⸗ 
fallen entgegennimmt und die offiziellen Lobhudeleien gaͤhnend an- 
hört: nein, fie kommt als eine gute Fee, der dad Wohlthun ihre 
einzige Luft if. Die Heiterkeit. die ihre Ankunft veranlaßt, iſt 
ungefünftelt, natürlich, rein. Sie wird empfangen wie eine Mutter 
von ihren Kindern. 

Die Freude ver Dorfbewohner ift um fo größer, als die Gräfin, 
durch verfchiedene Beweggründe in Paris. zurüdgehalten, voriges 
Jahr ihr Gut nicht beſuchen konnte. Sie weiß Jedem etwas An- 
genehmes, Freunbliches zu fagen, und ftellt dann ben Zenten ihre 
Tochter vor. 

„Du ftehft, liebe Adolphine, “ſagte fle leiſe zu ihr, „wie 
gerne mich die Leute haben, und doch that ich nichts wetter, ale 
daß ich für ihre Intereffen forgte, indem ich die Arbeit belohnte, 
die Armen unterſtützte, Hauptfächlich aber Teinerlei Unbill duldete. 
E iſt fo Leicht, fich beliebt zu machen : man braucht bloß das 
Gute anfrichtig zu wollen und felbft ju thun. Die Wohlthaten, 
die durch viele Zwiſchenhaͤnde gehen, verlieren allen Nutzen, und 
bewirken oft, daß man die eigentliche Duelle derfelben vergißt.” 

„Bird der Herr Graf auch fo aufgenommen 9° frage ich 
kacilie Teife. 

„Barum nit gar! Dan fchießt, man lärmt, man fchreit, 


[od > - 


man wuͤnſcht ihm Gluͤck; aber das Alles gefchieht auf Antrieb 
Ghampagne’3. Herr von Franconard heut Caͤſar auf Alle, bie nicht 
laut jubeln und ſchreien.“ 

Während die gnäbige Frau und Fräulein Adolphine ausruhen, 
ſchlaͤgt mir Lucilie einen Rundgang durch's Schloß vor. Das Tommi 
wir ganz erwünfcht und ich folge meiner liebenswuͤrdigen Führerin. 
Dann gehen wir in den Garten hinunter, ber ſich weit, weit 
hinter dem Schloffe ausdehnt. Wie fo hübſch ordentlich Alles iR! 
Bewundernd fehe ich mir bie reizenden Boskette, ‚die dichtbelaubten 
Alleen und kuͤnſtlich ausgeſchnittenen Baumgruppen an. Nichts fehlt: 
an biefem Orte ber Luft: hier ein Waflerfall, ein Teich, eine 
Grotte; dort eine Felspartie, ein dichtes Gehoͤlz; dort wieder 
blumige Rafen, Blumenhecken und Beete, niedliche Pavillons u. ſ. w. 
Wie koͤſtlich muß ſich's hier wohnen! Ich ſpringe und hüpfe von 
Allee zu Allee, von Weg zu Weg. 

„Hab' ich's nicht geſagt, Andreas, wie ſchoͤn es hier iſt? 
ſagt Lucilie. „DO, ich wollte, wir blieben recht, recht lange bier; 
aber halt, wo bringen wir. Dich unter? Komm’, ich will Dir eine 
hũbſche Kammer ausfuchen.”. 

Wir kehren in's Schloß zurüd, und gehen von einem Zimmer 
in’8 andere. u 

„Hier ſchlaͤft die guädige Frau,“ fagt Lucilie, „und dort bas 
Fräulein. Der Herr Graf wohnt ganz am andern Ende.“ 

„Und hier ?" 

„Here Dermilly, wenn er und befucht. Und dort if mein 
Zimmer ; gerade darüber find zwei Stuben... meiner Seel’, bie 
wären für Dich recht. Und wenn Du nicht artig bift, Elopfe ic 
mit dem Stode an bie Dede. Was meinft Du, Andreas, fol ib 
bier für Dich forgen, wie in Paris?“ 

„sa, ja, Mamfell, Sie find fo gut gegen mich!“ 

„So bin ich nicht gegen Alle, Andreas, aber Du biſt auch 
fo nett, ſo artig, fo gehorfam.“ 





217 


Damit kommt fle auf mich zu und gibt mir einen Patſch auf 
bie Wange, Schon habe ich mich auf einen Kuß gefpiät, aber 
nem!... Schabe b’rum. 

Die Fran Gräfin ift mit Luciliens Wahl zufrieden. Dann 
ordnet fie meinen Lehr: und Lernplan, ſowie den ihrer Tochter. 
Rad) geifaner Arbeit dürfen wir. fo viel herumfpazieren, Laufen 
und fpielen, als wir wollen. Hier auf dem Lande fühle ich mid 
m Adolphinens Nähe ungleich weniger genirt und verlegen. Aus⸗ 
genommen die Arbeitöftunden find wir immer bei einander. Bald - 
laufen wir in bie Alleen und anf ben Rafenplägen herum, bald 
fahre ich fie im Nacken auf dem Teiche. Oft begleitet uns Lucilie, 
meißens aber ift fie bei der Frau Gräfln. Sobald Abolphine mich 
feht, winkt fie mir in ben Garten. | 

„Du bift nicht geſcheit, Abolphine, Du langweilſt Andreas, “ 
fagt die Gräfin mitunter. . 

„Richt Hoch, Liebe Mutter,“ antwortet bie Zochter „laß uns 
aut herumlaufen, Ich verfichere Dir, Andreas Iangweilt fi nicht 
bei mir.“ 

Wie im Fuge enteilt die Zeit an 1 diefem ſchoͤnen Orte. Summer 
feſer wurde das Band zärtlicher Vertraulichkeit, das und umſchlingt; 
ier ſchreckt mich weber bie Gegenwart Iangweiliger Perfonen, noch 
kt Zwang ‚der Etikette von Adolphinens Seite weg. Gute Nanette, 
ih habe nich ſtets gleich gerne, und doch wünfche ich nicht dem 
Augenblick unferer Rüdfcht nad) Paris herbei. 

Bir wohnen jebt fünf Monate hier, fünf Monate! Mein 
Gott, wie fchnell fie vergangen find ! 

Herr Dermilly hat und dreimal bejucht, jedesmal auf vierzehn 
age. Der Herr Graf meldete zwar brieflich feine Ankunft, if 
aber durch. einen flarfen Gichtaufall in Paris zurücigehalten worden. 
So kommen wir diesmal mit der bloßen Furcht davon. Der Herbſt 
iR vor der Thüre: die Blätter wellen, die Bäume entlanben fi. 
Bergen Ende bed .fechöten Monates unſeres Länblichen Aufenthaltes. 


begeben wir und auf’ bie Heimreife. Mit tiefbeiräbtem Kerzen 
feßeibe ich von biefem lieben, Lieben Orte. oo. 

„Naͤchſtes Vahr kommen wir wieder,“ troͤſtet mich Adolphine, 
„wab find baun eben fo vergrügt.“ 

Lucilie fagt pad Nämliche, und um die Schmerzen des Abſchiedes 
zu überwinden, beule ich an die Freude des Wiederſehens mit Nanetten. 

Mein erſter Ansgeng in Barid iſt zu Vater Bernhard. Nanette 
öffnet die Thüre... mein Gott, wie groß iſt fie geworben! Sie 
abi nicht mehr and wie ein Kind, aber vie Heiterkeit, die fie noch 
einmal fo Hübsch machte, iſt babin. Ihre Augen finb zoth von 
Beinen, ihre Züge matt. Sie umarmt mich nicht wie gewöhnlich, 
ſondern ruft bloß: | 

„Sie da, Herr Andreas ?“ | 

„Herr Andreas? Was fol das? Bin ich nicht mehr Dein 
Bruder, Dein befter Freund 2” Ich fliege in ihre Arme, drüde fie 
an's Herz, küße fle. Ihre Thraͤnen brechen ſich Bahn. 

„Du liebſt mich alfo noch wie ſonſt!“ ruft fie. „Sehe Me: 
nate, ſechs lange Monate ohne Dig! Ich glaubte fchon, Da 
kaͤmeſt nie wieder. Ach, ich habe viel, viel geweint, umb Du, 
bift Du recht vergnügt geweſen ?“ - 

Ich wage nicht ja zu fagen. 

„Aber warum haft Du geweint, Nanetie ? Bar e6 beum meine 
Schuld, daß ich auf das Land mußte?“ 

„Barum ich weinte? Du frägf wie mein Vater! Weil id 
Bangeweile Hatte. Aber wenn Du nächſtes Jahr wieber auf's Land 
gehſt, Kann ich wenigſtens Nachricht haben von Dir.“ 

„Hat der Hauswart Die keine Rachricht von mir gegeben, 
wie ex verſprach ? 

„Mit durch ben Hauswart will ich fie Haben, Andreas, anf 
andere Weiſe.“ 

Sie will nicht mehr fagen. Inzwiſchen kommt Bater Bernhard 
zeruck; ex ſiudet, ich fei viel größer. und Rärler gemerten. 





„Die Landluft bekommt Die gut, Freundchen,“ fagt er. 

„Das fehli no, Papa, daß Ihr fein Ausſehen ruhmt, bamn 
bleibt er in Zukunft ganz auf dem Lande!“ 

Bernhard hat während meiner Abweſenheit Nachricht von meiner 
Nuiter erhalten. Sie weiß noch immer nichts von Peter, freut ſich 
aber, daß es mir gut geht, und wünfcht nichts fehnkicher, als mich 
noch einmal zu fehen und zu umarmen. Ich theile ihren Wunſch 
und hoffe Dad Beſte davon, doch muß ich erſt meine Studien been⸗ 
digen und mich der Wohltbaten meiner Befchügerin würdig beiveifen, 
Ich verfpreche, meine guten Freunde täglich zu befuchen, als Erfag 
für die mehrmonatliche Trennung von ihnen. 

Dacht' ich mir's doch, daß ich in Paris nicht fo gluͤcklich fein 
werde wie auf dem Lande! Hier im Haufe fehe ih Präulein 
Adolphine nur felten, und nie bin ich allein mit ihr; es find ent⸗ 
weber Lehrer oder irgend eine Rammerjungfer bei ihr. Wie ganz 
anders wirkt die Stubenluft auf Geiſt und Gemüth, als bie frifche 
Natur. Der Anblid der freien Gotteswelt macht das Herz weit 
unb gibt den Gebanfen Nahrung. Bei unfern Spielen im Garten, 
wie oft babe ich fie in den Arm genommen; hier wage ich kaum, 
ihre Hand zu berühren. Sobald Befuch kommt, muß ich fort, denn 
ih fürdite den Herrn Srafen, der mich immer noch fo grimmig 
anfieht. Faſt die ganze Zeit bin ich auf meinem Zimmer, aber um 
jo fleißiger Tann ich arbeiten, und je mehr ich das thue, um fo 
mehr vegt fi mein Ehrgeiz. Ich glaube, ich möchte durch Hebung, 
und Ausbilbung meiner Talente meine geringe Geburt in Bergefien« 
heit bringen. Doch nein, ih will nie meine arme Herkunft ver⸗ 
geſſen, will ihrer ſtets gebenfen, .umb wenn ich noch fo reich uub 
vornehm werde. Wer fein Glück fich ſelbſt verdankt, iſt der wicht 
eben fo achtungswerih, ald wer im Schooße bes Reichthums ges 
boren wirb ? 

Der Frühling ift wieder ba. Ich fehne mich nach bem Mugen, 
blide, wo wir auf's Land gehen, wo ich oft mit Adolphine allein 


+ 


fein und fie fehen Tann, fo oft ich will. Dennoch ſteigt mit jedem 
Tage meine Berlegenheit gegenüber dem Fräulein. Sch bin jeht 
vierzehn Jahre, fie ift bald elf, wir find alfo noch Kinber. Warum 
bin ich denn weniger heiter als ehemals? Nimmt das Süd mit 
ven Fahren ab? Ich fühle eine Sehnfucht in mir und weiß nicht, 
wonach? In meinen Träumen fehe ich immer Adolphinens Bild. 
uch dad junge Kannnermäbchen erfcheint “mir oft, wie fie leibt 
und lebt, mit ihrem reizenden Gefichtchen, ihren anmuthigen, leb⸗ 
Imften Beinegungen, ihren lockenden Formen, ihren niedlichen Füßchen. 
Was heißt das? Vielleicht bin ich Trank, aber ich wage nicht, gegen 
irgend wen von ben Empfindungen meines Herzens zu reden, benn 
ich fürdhte, man lacht mich aus. 

Endlich naht der Tag der Abreife. Beim Abſchiede fagt Ranette: 

„Du folk bald Nachricht haben von mir.” 

„Durch wen?” 

Aber fie bleibt mir die Antwort fchuldig. 

Der Wagen rollt hinaus zu den Thoren der Hauptſtadt. Allee 
unterwegs lacht mich an, denn ich freue mich auf das Ziel unferer 
Reiſe. Auch diesmal fihe ich Fräulein Apolphine gegenüber. Trot 
ber beften Borfäpe, nicht fo fchächtern und verlegen zu fein, bleibt 
es beim Alten, ja wird es noch ſchlimmer als je zuvor, fobal 
ich mich. unter ben drei Damen fehe. Sch weiß nicht, wohin ich 
bliden, wo ich Hände und Füße Iafien fol. Werbe ich gefragt, 
fo erroͤthe ich bis unter die Ohren und Tann kaum antworten. ©, 
gewiß bin ich innerlich glüdfelig, aber Niemand vermuthet das an 
meiner traurigen Miene. Sch, früher fo Heiter, fo ungezwungen 
unb natürlich, fo nett, warum. bin ich jest fo ganz anders ge: 
worden? Nur bei Nanetten bin ich der Alte, aber, o weh! mir 
ſcheint, als ob Nanette mir gegenüber ganz fo wirb, wie ich in 
ber Nähe von Fräulein Adolphine werde. Sie ſeufzt von Zeit zu 
Zeit und erröthet,. wenn ich fie anfehe. Nanette iſt genam von 
meinem Alter. Vielleicht if} das hie Bolge unferer vierzehn Jahre. 





2a 


@ublih haben wir den herrliähen, wonnigen Aufenthalt er: 
reicht. Ich fühle, wie die Ungezwungenheit, bie Hier auf dem 
Sande herrſcht, mir meinen alten Frohſinn theilweiſe wiedergibt. 
Ad, wie gerne lebte ich fo fort und fort. Nichts fehlt mir hier 
als die gute Mutter, Peter und die guten Parifer Freunde. 

Danf dem Unterrichte des Herrn Dermilly zeichne ich ſchon 
recht hübſch. Auch Adolphine Hat es in biefer Kunft fehon weit 
gebracht, die und für dieſen Sommer neuen Genuß verfpricht. Unter 
ſchattigen Bäumen auf einer Raſenbank figen wir Beide und nehmen 
vie Schöne Landſchaft auf, die fih vor und auöbreitet. Die Frau 
Graͤfin iſt Richterin zwifchen uns. Ich gebe mir alle Mühe, denn 
ih möchte gar zu gerne dad Lob meiner Wohlthäterin verdienen, 
und dann ſitzt ſich's ſo gut an Fräulein Adolphinend Seite! Wäh- 
rend fie zeichnet, kann ich fie ganz nach Belieben anfehen und ihre 
iindlich reinen Züge bewundern, in denen ſich ſchon bie erfien 
Seelenregungen der Jungfrau abfpiegeln. Wenn fle das bemerkt, 
ruft fie lachend: “ 

„Andreas, Du zeichneſt nicht; was gilt's, ich werde eher 
fertig ale Du!“ 

Sobald ich aber niederfehe auf die Zeichnung, dann reckt fie 
leife das Köpfchen über meine Schulter und flieht mir auf das Blatt, 
am ihre Arbeit mit der meinigen zu vergleichen und darnach aus⸗ 
zubeſſern. Dann halte ich ganz flille und thue, als merkte ich ihre 
Schallheit nicht. Wie wonnig ift mir zu Muthe, wenn ihr Köpfchen 
o neben dem meinigen rußt! 

Lucilie erweckt Smpfindungen ganz anderer Art in mir. Wenn 
pir Zwei allein auögehen ober Krieger fpielen, dann drück' ich ihre 
Sand in der meinigen, berühre ihre lockenden Formen und fehe 
üßern ihr in's ſchelmiſche Auge. Bei ihr weiß ich nichts von 
Ecyüchternheit ; dafür find bie Gefühle, die fie mir einflößt, un- 
leid weniger fanft. An Lucilie vente ich nur, wenn ich fie fehe, 
rähtend Adolphinens Bild mir nie aus dem Sinne Tommi. - 

Saul de Kod. n. 15 


208 


„Cine neue, mit Verlaub. Ich will fie an Ihnen probiren, 
zum -Beweije.“ 

„Heute wollen Sie dafjelbe Experiment wiederholen.“ 

„Mamfell, reven Sie leifer, ober...“ 

„Ich rede fo laut oder leife, wie ich will. Und wenn Gie 
noch länger impertinent find, laß ich Sie hinausfagen ober ver: 
biete Ihnen, je wieder das Hötel zu beireten. Verſtanden? Derlei 
Umverfhämtheiten fiehen Ihnen fchleht nad ben Dummheiten 
drunten im Gabinet des Herrn Grafen.” 

„Das ift der Mühe werth, weil ich dem räubigen Hunde, der 
mich verſaute, die Pfote zertrümmert! Hat er nicht an drei ge⸗ 
nug, feinem einäugigen Herrn nachzuhinken ?“ 

„Haben Sie die Wahrheit geſagt, fo geben Sie mir die Adreſſe 
der vier armen Familien. Die Frau Gräffn wird fie nah Kräften 
unterſtützen.“ 

„Geh'n Sie mir mit Graf und Gräfin.“ 

„Da haben wirds, Sie Tönnen mir nicht antworten. Pfni 
über died niedrige Benehmen! Fort von hier, und baf ih Sie 
nicht wieder treffe hier im Hanfe.“ 

„Hoho, Schürzenmamfellden! Das zwitſchert wie die Herr; 
ſchaft. Ich gehe, weil es mir Vergnügen madjt. Andreas, ich bin 
Dir nicht böfe ; wir ſeh'n uns bald wieder. Adieu, Domeſtikenſeele!“ 

Roffignol fchneidet Lucilie ein Geficht „und trollt dann von 
hinnen, fih fluberhaft Hin und her wiegend unb bie Arie: 
„Schooßkinder ihr der Damen,” trillernd. 

„Der elende Kerl der!” ruft Lucilie, ihm nachfehend. 

. Dann Tommt fie auf mich zu, nimmt mich in die Arme und 
fügt mich — zum erfienmale. DO, wie mir bas thut! Sch fehe fie 
an und, mein Gott! die Thränen ſitzen ihr ganz loſe. 

„Was haben Sie denn?“ frage ich fie. 

„Wie gut Du bifl, Andreas. Wie konnt' ich doch fo wa6 von 
Die denfen? Nein, ich glaubte es nicht, aber ich wonfte, bahinter 








„Bieleicht von Deiner Mutter,“ antwortet die GrAfln. 

„Meine Nutter fan nicht fchreiden, Mabame, auch Betn- 
hard nit.“ 

„So ift er von anderer Hand,” fagt Mamfell Lueilie, vie zus 
fällig in dem nämlichen Zimmer ſich befindet und, wie ich ihr ans 
ſehe, vor Neugierde brennt, ven Namen des Briefftellers zu erfahren. 

Madame erlaubt mir, ihn zu lefen. Die Schrift ift zwar ſchlecht, 
doch Teferlih. Was feh’ ich! Bon Aametten.. . . fie Kat alfo 
fhteiben gelernt, um mit mir correfponpiren zu koͤnnen. 

Ich ſchreie laut auf vor Staunen und Freude und fage zu 
Madame: 

„Bon Ranette, von Nanette! ein Brief von meiner Schweſter!“ 

In meiner Freude überfehe ich ganz das Häßliche Mäulchen, 
das Lucilie macht, und Höre nicht, wie fle vor fidh hinmurmelt: 

„Dacht' ich mir's doch “ 

Madame erlaubt mir, Nanettens Brief aut vorzulefen. Denn 
er kann kein Geheimniß enthalten. 

Er Iantet alfo: 

„Lieber Andreas, ich habe heimlich ſchreiben gelernt, um Dir 
Nachricht von mir geben und einen Brief von Dir empfangen zu 
finnen. Ach, wie lange kommt mir der Sommer vor, feit Du 
nit bei uns biſt! Wann hört das endlich auf? Wann fehe ih 
Dich wieder täglich, wie ehemals? Antworte mir, Andreas. Der 
Bater verzeiht gewiß, daß ich ohne fein Wiffen fehreiben gelernt 
babe, wenn ich ihm einen Brief von Dir vorleſe.“ 

„Das gute Kind!” fagt die Frau Gräfin. „Di wär recht 
undanfbar, Andreas, wenn Du fie nicht wieber liebteſt, die Dich 
ſo liebt.“ 

„Ich bin nicht undankbar, Mabqme: ich will, daß Nanette 
fiets an meinem Glücke Theil nimmt.“ ’ 

„Das ſieht man!“ fagt Mamfell Lucilie halblaut und dreht 


zotnig an-einsin Halstuch, dab fie in bes Hand Kal. 


„Ktunrte Deiner Schweſter, Andreas, fage ihr, daß ihr en 
wieterfehen werdet, und wenn Du fie nad) einigen Jahren noch jo 
lieb Haft, wie jept, dann ... aber was hat Euch dad Theebreit 
geihan, Lucilie? Ihe werft alle Taffen auf die Erbe!“ 

„Es ift nicht meine Schuld, Madame,“ antwortet Lucilie und 
beißt ſich in die Lippen, „bie Theefanne fiel mir aus der Hand beim 
Reinigen ,. . ich wollte den Fingerhut aufnehmen.“ 

Sucilie weiß nicht mehr, was fe fagt. Indeß eile ih auf 
mein Zimmer, Nanettens Brief zu beantworten unb ihr zu ver: 
ſprechen, baß ich oft fhreiben werde. Madame will die Güte Haben, 
den Brief abzufenden. Als ich ihn hinunter Bringen will, begegue 
ich dem Kammermaͤdchen. Bein Gott, wie böfe ſieht fle ans! 
Schweigend geht fie an mir vorüber. 

„Was haben Sie denn, Mamfell Lucilie ?” frage ich fie. 

„Was geht das Sie an, mein Herr? So, fo... Sie haben 
Ihrer Nanette ſchon geantwortet, daß lob' ich. Gewiß einen Schwur 
ewiger Liebe ?“ 

„Sie verlangt feinen Schwur;; fie weiß, daß ich ihr tren bleibe.“ 

„Seht mir den Heinen Prahlhans an. Die Tochter eines 
Mafferträgerd ... . göttlich, göttlich !" 

„Aber, was bin ich denn, Mamfell ?“ | 

„Sie, mein Herr? Das ifl was Anderes: Sie Lönnen ſich 
emporarbeiten mit Hülfe ber Erziehung, die Sie genießen. Gin 
Mann von Geiſt, Talent, ver Tommt weit.” 

„Sie thun nicht recht, Mamfell Lucilie, die arme Nanette zu 
verachten ; das Hätte ich nicht won Ihnen gedacht!“ 
„Ich verachte fie nicht, aber ich kann fie nicht ausſtehen.“ 
„Was Hat fie Ihnen denn gethan ?“ 
 ;Richts, nichts, aber ich will nicht, daß Sie mir wieber von 
ihr reben. Sie denken nur an Ihre Nanette und das langweilt mich.“ 
Und bemit geht fie zornig fort. Sie glaubt alfo, ich beufe 
‚mu an Nanetten ? O. ich wollte, +8. wäre fo, denn meine Liebe 





in Raneiten nimmt mir nicht meine Heiterkeit ober flimmt mich 
jo wehmäthig. 3a, ich liebe fie zärtlich, ich könnte mein Leben 
laſſen für fie, aber meine Liebe zu ihr ift wie die Liebe zwiſchen 
Geſchwiſter, oder der Gefchwifter zu den Eltern. 

Schon naht das Ende der fchönen Jahreszeit und noch immer 
ſchmollen wir, Lucilie und ih. Da hören wir eines Morgend einen 
lauten Lärm im Vorhofe. Ein Wagen fährt in geſtrecktem Galopp 
herein: der Herr Graf iſt's, begleitet von Champagne, feinem 
Oberloche und zwei Lakaien. | 

AG, wir waren fo ruhig und zufrieden. Was will er denn 
bir? Warum flört er und? 

Das dachf’ ich mir,“ fagte Lucilie laͤchelnd. „Madame erhielt 

vor wenig Tagen einen Brief vom Herrn Grafen, worin er fchreibt, 
er müffe noch in dieſem Jahre einen Leibeserben Haben, deßhalb 
fommt er mit Ertrapoft. Aber wenigftens ſchon zwoͤlfmal kommt 
er in derfelben enlen Abficht und muß unverrichteter Sache wieder 
abziehen.“ 

Vor dem Gebell Caͤſars, der quickenden Stimme ſeines Herrn, 
dem lauten Lärm der Dienerſchaft iſt die Freude aus unſerer Woh- 
nung entwichen. Madame hat fi mit ihrer Tochter eingefchloffen, 
ich verftecde mich auf mein Zimmer, nur Lucilie geht dem Herrn 
Grafen entgegen, der fihon ganz wild thut, daß die Bauern ihn 
nicht mit Lebehochrufen und Blumenfträußen empfangen. 

„Sie wußten nicht von Ihrer Ankunft, Herr Graf,” 
wortet Tächelnd das junge Kammermäbdhen. 

„Macht nichts, Mamfell, fle hätten fie errathen follen ; fle 
müffen jeden Augenblid auf meine Ankunft gefaßt fein! Iſt das 
billig, daß ein großer Grundbefiger ganz jo aus dem Wagen fteigt, 
wie ein fimpler Privatmann ? Iſt e8 nicht ihre verdammte Schuls 
digkeit, mich, der ihnen Brod und Arbeit gibt, mit Tauten Bioats 
zu empfangen ? 

„Sie hätten es auf Befehl gethan, Herr Graf.‘ 


„Gewiſſe Dinge folte man nie vergeffen, Mamfell. .. ber, 
"Safer, her... aber bie Frau Gräfin verficht das Regiment nicht, 
Die Lente haben keinen Reſpekt vor ihr.” 

„Um fo mehr Liebe, Herr Graf!“ 

„Liebe, Liebe? Bah, das macht keinen Lärm... fill, Ekfar... 


Ich will, vaß man mich heute Abend länzend bewilſtommt, ver: 


ſtanden, Champagne?“ 

„Ja, Herr Graf.“ 

„Ich will, daß alles Bauernpack ſingt, tanzt, mich bewill⸗ 
kommt, kurz, feine Freude über meine Ankunft laut bezeugt.“ 


„Das follen fie, Herr Graf, ich nehme ed anf mih; Sie 


werben mit dem Gmpfange zufrieden fein.‘ 


„Se lauter, deſto beſſer. Und Du bezahlf ihnen die @eigen, 


Sörft Du 
„Ich höre, Herr Graf.“ 


Herr von Franconard begibt fi in feine Gemaͤcher und läßt | 


ſich durch Eucilien bei Madame melden. 


„Bas führt Sie denn fo ploͤtzlich her?’ fragt Lucilie Herrn 


Champagne. 

„Ich glaube, unſer Souper von geſtern Abend.“ 

„She Sonper ?“ 

„Sa, der Herr Graf traktirte geftern Abend drei gute Freunde, 
drei luſtige Zechbrüder. Es ging Hoch Her dabei: erſt Tafel zu 
Ehren eines neuerfundenen Berichts ; der Koch ſcheint damit Ehre 
eingelegt zu haben, bean Alle waren bie Ausgelaffenheit felbR. 
Der Here Graf wollte «8 feinen Gäſten zuvorthun. Vergebens 
erinnerte ich ihn an das Podagra und Chiragra, vergebend an bie 
Vorſchriften des Arztes. Als er vom Tiſch aufſtund, ſchwur er, 
er wolle einen Erben haben, und noch in diefem Jahre, Deßhalb 
Samen wir mit Extrapoſt Bier an,“ 

Dann geht Champagne ind Dorf, pofaunt überall bie An: 
funft des Grafen and und verkündet, daß ex ſchlechterdings feier: 





lich empfangen werben wolle. Ans Ruckſicht auf ihre edle Wohl- 
thäterin, deren Gemahl Herr von Franconard ift, Iaflen die Leute 
die Arbeit liegen, ziehen ihre Sonntagskleider an und binden Blu⸗ 
menfiräuße. Champagne ſteckt den jungen Burfchen einige alte 
Flinten zu, laäßt fie mit Salz laden und empfiehlt ihnen nachdrück⸗ 
lichſt, aus vollem Halfe Bivat zu fchreien und fo laut als möglich 
zu fpeftafeln. Um dem Stolze mancher Herren zu genügen, ift oft 
weiter nichts noͤthig, ald daß man ihnen die Ohren vollfchreit. 
Bären fie nicht durch Bigenliche und @itelleit verblendet, Eöunten 
fie vorurtheilöftei in den’ Herzen derer leſen, die ihnen Weihrauch 
krenen und Gomplimente ſchneiden, Eöunten fie die wahren Trieb: 
federn der fie ſcheinbar vergötternden Menge ergründen : wahrlich, 
fie würben wenig Werth legen auf ſolche Hulbigungen ! 

Der Herr Intendant, eine Art Geremonienmeifter bei ven 
ofigiell-feierlichen Empfangofeſtlichkeiten des Herrn Grafen, vergißt 
nie, einige Pakete voll Betarden mitzubringen, die bann unter bie 
Bauernfchaft ausgeiheilt werben. 

Auch diesmal Hat er fie nicht vergefien, und um den guäbigen 
Herrn, dem der Lärm nie laut genug if, ja recht zufrieden zu 
Rellen, Hat er außerdem eine Menge Sonnen, Schtwärmer und 
Raketen eingefauft, zur größeren Berherrlihung bes Keftes. 

Alles ift in Bewegung im Haufe; ber Herr Oberkoch kehrt 
das Unterſte zu oberfl, um dem Grafen eine zweite Auflage des 
geftrigen , fo beif&llig aufgenommenen Berichtes zu veranftalten. Un- 
terdeß iſt Herr von Franconard gleich nach gemachter. Toilette in 
feinem Zimmer tief ingeſchlafen und erwacht erſt, als die Tafel 
ſerirt iſt. 

Schnell begibt er fich ins Zimmer, wo bie Graͤfin und ihre 
Tochter auf ihn warten. Er bietet erfterer galant den Arm und 
führt fle in den Gßſaal. 

Bei Tiſche flieht er ſich das gnädige Fräulein genau an, bad 
er feit lange nicht beachtet hat. 


28 


„Warum ſo ſchweigſam, Audreas ?“ fragt Die Bräffn. „Sreueft 
Da Dich nicht mit uns, aufs Land zu kommen ? 

„D gewiß, gnäbige Frau!“ 

„Und doch biſt Du fo betrübt ?“ 

„Ich weiß den Grund, Mabame,“ ſagt Lucilie. „Here Andreas 
denkt an feine kleine Nanette! Er hat dad Heimweh nach ihr.“ 

Mamfell Lucilie irrte ſich, ich Dachte nicht an Nanette. Lächelnn 
antwortet die Gräfin: 

„Mm fo angenehmer das Wieberfehen, Andreas.“ 

Ja, gewiß freue ich mich, fle wiederzufehen, und doch finb 
Mabame und Lucilie im Irrthum. Etwas ganz Anderes, ald das 
Heimweh nach Nanette, haͤlt mich ab, Adolphine anzufehen. 

Die Tochter meiner Wohlthaͤterin nähert fich ihrem zehnten 
Lebensjahre. Ihr Wuchs wird ſchlanker und voller, ihre Züge mar: 
firter. Die Augen find immer gleich ſchön, aber der Ton ihrer 
Stimme fiheint mir noch fanfter zu werden, und ihre Manieren 
noch anmuthiger; Geiſt, Urtheil und Gemüth entfalten fü immer 
mehr. Sie fpielt nicht mehr mit der Buppe: Mufll und Zeichnen 
find jetzt ihre liebſten Beſchäftigungen; dabei ift fie gleich gut und 
mwohlihätig gegen bie Armen und Unglädlichen, wie bisher. Sie 
weiß nichts von der Gefallfucht und dem Dünkel auf Zörperliche 
‘ und geiflige Vorzüge, die fo oft den Uebergang des Kindes ind 
jungfraͤuliche Witer begleiten. 

Nur von Zeit zu Zeit, wenn ich mich unbemerkt glaube, fehe 
ich Fräulein Adolphine verfichlen an. Begegnen fick unfere Blide, 
fo ſchlage ich meine Augen ſchnell niever, und doch Iefe ich im 
ihren nur Sanftmuth und Freundſchaft für mich. 

Das Gut der Fran Gräfin liegt in der Nähe von Yontatne 
Beau. Segen ſechs Uhr Abends rollt unfer Wagen in ben weiten, 
mit einer Gittermauer umfchlofienen Hof eines prächtigen, dicht 
am Wege gelegenen Hauſes. Der Schloßvogt eilt herbei und gleich 
nah ihm der Gaͤrtner und feine- Beau. Die Kunde vom ber Sin 








Rüdfiht auf ihre eble Wohl: 
rancomarb if, laſſen bie Leute 
tagöffeier an und Binden Blu⸗ 
jungen Burſchen einige alte 
und empfiehlt ihnen nadhrüd- 
hreien und fo laut als möglich 
Ser Herzen zu genügen, ift oft 
3 ihnen die Ohren vollfchreit. 
b Gitelteit verblenbet, Töunten 
er befen, die ihnen Weihrauch 
konnten fie die wahren Trieb⸗ 
Menge ergründen : wahrlich), 
ſolche Hulbigungen ! 
t Geremonienmeifter bei den 
ten des Herrn Grafen, vergißt 
jubringen, bie dann unter bie 


ergeſſen, und um ben guäbigen 
ug iR, ja recht zufrieden zu 
ze Sonnen, Schwärmer und 
rrherrlichung des Seftes. 

aſe; ber Here Oberloch kehrt 
afen eine zweite Aufiage des 
Gerichtes zu veranftalten. Uns 
ch nach gemachter. Toilette in 
d erwacht erft, als die Tafel 


Ber, wo bie Gräfin und ihre 
fterer galant den Arm und 


ibige Fraͤulein genau an, das 


„Gewifſe Dinge follte man nie vergeffen, Mamſell .. ber, 
"Säfar, ber... aber bie Fran Gräfin verfieht das Regiment nich, 
Die Leute haben feinen Reſpekt vor ihr.‘ 

„Mm fo mehr Liebe, Herr Graf!“ 

„Liebe, Liebe? Bah, das macht Feinen Lärm... fill, Gäfar... 
Ich will, daß man mich heute Abend glänzend bewillkommt, ver: 
Amen, Champagne?“ 

„Sa, Herr Graf.‘ | 

„Ich will, daß alles Bauernpad fingt, tanzt, mich bewill 
kommt, kurz, feine Freude über meine Ankunft laut bezeugt.“ 

„Das follen fie, Herr Graf, ich nehme «8 auf mid; Sie 
werben mit dem Empfange zufrieden fein.‘ 

„Se lauter, befto beſſer. Und Du bezahlſt ihnen die Geigen, 
hoͤrſt Du?” | 

„Ih höre, Kerr Graf.“ | 

Herr von Franconard begibt ſich in feine Gemaͤcher und läßt 

ſich durch Lucilien bei Madame melden. | 

„Bas führt Sie denn fo plöplich her?“ fragt Lucilie Herrn 
Champagne. 

„Ich glaube, unſer Souper von geſtern Abend.‘ 

Ihr Souper ?“ | 

„3a, der Herr Graf traktirte geftern Abend drei gute Freunde, 
drei Iuflige Zechbruder. Es ging Hoch Her dabei: erſt Tafel zu 
Ehren eines neuerfundenen Gerichts; der Koch ſcheint damit Ehre 
eingelegt zu haben, denn Alle waren bie Ausgelaffenheit felbR. 
Der Here Graf wollte es feinen Gaͤſten zuvorthun. Bergebens 
erinnerte ich ihn an das Podagra und Ehiragra, vergebens an Die 
Borfchriften des Arztes. Als er vom Tifch aufſtund, fchwur er, 
ex wolle einen Exben haben, und noch in dieſem Jahre. Deßhalb 
Samen wir mit Extrapoft Bier an.” 

Dann geht Champagne ind Dorf, pofaunt überall bie An- 
kunft des Grafen and, und verkünpet, daß er ſchlechterdiugs ſrier⸗ 





227 


Bd empfangen werben wolle. Aus Ruckſicht auf ihre edle Wohl- 
thäterin, deren Gemahl Herr von Franconard iſt, lafſen die Leute 
vie Arheit liegen, ziehen ihre Sonntagskleider an und binden Blu- 
menfträuße. Champagne ſteckt den jungen Burfchen einige alte 
Flinten zu, laͤßt fie mit Salg laden und empfiehlt ihnen nachdrück⸗ 
lichſt, aus vollem Halfe Bivat zu ſchreien und fo laut als möglich 
zu fpeftafen. Um dem Stolze mancher Herren zu genügen, ift oft 
weiter nichts nöthig, als daß man ihnen die Ohren vollfchreit. 
Wären fie nicht durch Eigenliebe und Witelleit verblendet, Eöunten 
fie vorurtheilsfrei in den Herzen derer leſen, die ihnen Weihrauch 
freuen und Complimente ſchneiden, koͤnnten fie die wahren Trieb: 
febern der fie fcheinbar vergätternden Menge ergründen : wahrlich, 
fie würden wenig Werth legen auf ſolche Hulbigungen ! 

Der Herr Intendant, eine Art Geremonienmeifter bei den 
ofigiell-feterlichen Empfangöfeflichkeiten des Herrn Grafen, vergißt 
nie, einige Pakete voll Petarden mitzubringen, die dann unter die 
Banernfchaft auögetheilt werben. 

Auch diesmal hat er fie nicht vergefien, und um den guäbfgen 
Herrn, dem der Lärm nie laut genug if, ja recht zufrieden zu 
ftellen, bat er außerdem eine Menge Sonnen, Schwärmer und 
Raleten eingefauft, zur größeren Verherrlichung bed Feſtes. 

Alles ift in Bewegung im Haufe; ber Herr Oberkoch kehrt 
bad Unterfte zu oberfi, um dem Grafen eine zweite Auflage bes 
geſtrigen, fo beifällig aufgenommenen Berichtes zu veranftalten, Un⸗ 
terdeß iſt Here von Franconard gleich nach gemachter. Toilette in 
feinem Zimmer tief ingeſchlafen und erwacht erſt, als die Tafel 
ſervirt iſt. 

Schnell begibt er ſich m Zimmer, wo bie Gräfin und ihre 
Tochter auf ihn warten. Er bietet erfterer galant den Arm und 
führt fle in den Sßſaal. 

Bei Tiſche flieht er fich das gnäbige Bräulein genau an, das 
er feit Tange nicht beachtet Hat. 


„Zenfel,” fagt er, „bie Kleine wächst erftaunlich heran, fie 
wird mir immer ähnlicher. Wie alt iſt fie, Madame ?“ 

„Sie tritt in ihr zwölfte® Jahr, mein Herr.“ 

„Das macht fih! In drei oder vier Jahren können wir fie 
an einen hoben Kern aud meiner Bekanntſchaft verheirathen, au 
einen Inftigen Bruder, wie ich bin; aber erfi wollen wir fie mit 
einem Brüderchen befchenfen.“ 

„Mein Herr, ich bitte Sie,“ flüftert die Graͤſin dem Grafen 
ins Ohr: „bedenken Sie, meine Tochter ift kein Kind mehr. Bers 
ſchonen Sie mich mit Ihren Scherzen.“ 

„Ich ſchweige nicht, Madame, ich rede in allem Eruſt. Ooch Sie 
haben recht: non est in locus. Eſſen wir erſt; nach dem Bauerufeſt 
heute Abend werden Sie mir ein guädiges Gehör ſchenken, hoffe ich.“ 

Auf dem Lande effe ich gewöhnlich mit Madame. Aber aus 
Furcht vor dem Grafen habe ich nicht gewagt, mich bei Tiſche 
einzufinben. 

„Barum Tommi denn Andreas nicht?” fragt Abolphine ihre 
Mutter. 

„Ber ift das, ber Andreas ?“ fragt der Graf. „Doch nicht 
ber Eleine Savoyarde ?“ 

„sa, mein Herr, der Sohn des Mannes, ber Iönen and 
meiner Adolphine das Leben rettete. Sie fcheinen den Umſtand 
immer zu vergeffen.“ 

„Wie oft fol ich daran denken, Madame, an deu einmaligen 
Umftand ? Uebrigens fcheint er hier gut genug aufgehoben... Apporte, 
Gäfar, apporte! Spring’... beſſer! Der arme Gäfar, wie er 
ſchlecht fpringt, feit der Schurke ihn verkrüppelt Hat!... Spt ver 
Savoyarde an Ihrem Tifche, Madame ?“ | 

- „Auf dem Lande, ja. Warum follte er nicht? Sie willen, 
ih behanble ihn nicht wie einen Bedienten; bie Erziehung, bie 
ih ihm geben laſſe, fchlägt vostrefflich an: fein Benehmen und 
feine Sprache geflatten ihm ben Zutritt zur beſten Geſellſchaft. 





„Mr if uns bleibt ein Savoyarbe, Madame, und ich finde 
es hoͤchſt laͤcherlich, daß Sie ihn an Ihrem Zifche efien laſſen, 
weil Anand, Gtileite, Decoreur... kuſch, Caͤſar, luſch, du 
lbommſt mit der Pfote auf meine Sersietie, “ 

Die Fran Gräfin fchweigt, Adolphine ift traurig, weil ich 
sicht da Bin und fie in Gegenwart ihres Baters nicht wagt, fröhs 
lich zu fein wie gewöhnlich. Während fie eſſen, fehleiche ich mich 
ud meinem Berftel im Zimmer und gehe in den Garten hins 
unter, Ich denke über Dies und Jenes nach, ich werbe ja immer 
vernünftiger. Mit fünfzehuthalb Jahren kennt man ſchon bem 
Zauber füßer Träumereien. Der Gedanke an Adolphinen entlockt 
mir einen zärtlichen Seufzer. Wer zum erſtenmale liebt, ver zieht 
die Cinſamkeit den frohen Kuabenfpielen vor. Die keimende Liebe 
iſt das Grab der Kinderjahre und die Wiege füßer Hoffnungen. 
So geht es weiter, bis mit dem Alter die Liebe uns verläßt; 
bann wandet ſich die Hoffnung in das Heimweh nach der frohen 
Bergangenheit um, 

Des nahe bevorfichenden Umzuges nad Paris gebenlend, 
wandle ich traurig und mißmuthig durch eine ber langen Alleen 
bes Parkes, ale ich plöglich eine wohlbefannte Stimme höre, 
welche zuft: „Hören Sie auf oder ich werbe böfe !“ 

Lucilie if’. Die Stimme fommt aus einem nahen Bookett, 
wovon ich bloß durch einen Flieverbufch getrennt Bin. Gleich plagt 
mich die Mengierde. Ich gehe näher, mache leife die Blätter aus⸗ 
einander und fehe — Herrn Champagne auf einer Rafenbauf neben 
Lucilie, die Kränze bindet und von Zeit zu Zeit ben Herrn Inten⸗ 
danten zurüdftößt, weil er ihre Arbeit etwas allzunahe betrachtet. 

Sch weiß nicht warum ? aber ich kann den Champagne nicht 
leiden. In Baris fipt er Mamfell Lucilie immer auf. den Berfen, 
Langweilt fie mit ewigen Gomplimenten, fpielt den Berliebten und 
Zlaubt ſich unmwiderfiehlih. Was mag er jet von ihr wollen in 
yiefem Bosketi? Ich Tann nicht umhin, fein Geſchwaͤt zu belauſchen. 


„ie find ein veizendes Wofen, Manıfel.Eucilie, veizenb, auf 
Gäre !“ 

„Hören Ste nicht, Herr Champagne? Der Graf ruft.“ 

„Zaufhung, Mamfell. Er figt bei Tifche und denkt nicht au 
Champagne, aber an Ehampagner.... . die wiehlicden Arme ba, 
das ſchneeweiße Batfhhäntchen.“ 

„Sie vergeffen dad Bauernfeſt, Herr. Champagne.“ 

„Rein, mein Fräulein, 's ift noch lange Zeit bis dahin. Er 
jegk, beim Wiederfehen nach Iauger Trennung, fühle ich Die Größe 
meiner Liebe zu Ihnen, holde Kammeriſton.“ 

„Holde Kammerifion, ba, ba, ha! Mie komiſch, wenn ein 
Bebienter poetifch wird.“ 

„Bei Ihnen möchte ich nichts werben als glüdlich durch Ihre 
Liebe ; o, wenn Sie mich erhörten !“ 

„Richt fo nahe, Herr Champagne, Sie zerdrücken meinen Kranz.” 

„Sie werben ſich recht Iangweilen hier ?“ ® 

„Im Gegentheil, ich amüflre mich aufs Befte.“ 


„Unmöglih! Ohne Geſellſchaft, unter lauter Kindern muß 


Ahnen der Tag recht lange werben.“ 


. „Rice im Geringfien, Herr Champagne. Die Stunden ver 


gehen, ich weiß nisht wie.“ 
„Ober fänbe Ihr zärtlich Herzchen inögeheim Beichäftigung ?“ 
„Wie neugierig Sie find, Herr Champagne.“ 


„Bir gluͤcklich wäre ih, wenn es für mic; fjküge! Sie follen 


and müſſen meine Liebe erwidern.“ 
„Sehe nicht Die Rothwendigkeit ein, Herr Champagne.” 
„Barum denn fo hartherzig, kleine Schelmin 7? 
„Der Graf wartet auf Sie.“ 
„Erſt einen Ku, dann gehe ich.” 
„Ich hoffe, Herr Ehampagne, Sie. 
„Geſchwind einen Kuß, ich will und * einen Kaß 
Horen Sie auf ober ich werde böſe.“ 





Schon will Herr Ghampagne Luecilie umarmen, abs ich Schnell 
durch den Flieder ind Boskett fpringe, und fo gewaltfem auf den 
Herrn Intendanten loöftürze, daß dieſer das Gleichgewicht verliert 
und in ven Sand wollt. - 

Lucilie acht Taut auf, ich glähe var Zorn, und Herr Cham⸗ 
yagne hebt ſich allmählig vom Boden empor. 

„Möchte doch wiffen, Herr Andreas,” fagte er, „wad Ihnen 
das Recht gibt, mich fo zu behandeln ?“ 

„Sie wollten fie Tüffen wider ihren Willen, ſo wußte ich ihr 
zu Hülfe kommen.“ 

„Zu Hülfe? Ein ſchoͤner Ritter Das ! Mag’ ich fie kuͤſſen oder 
nicht, das geht Sie nichts an.” 

„So oft Mamſell Hülfe bedarf, gebe ich ihr Hülfe.“ 

„Sehr wader! Merten Sie fh, junger Mann: die Weiber 
berürfen Ihrer Hülfe nicht, fie koͤnnen fich ſelbſt Helfen und brauchen 
von Keinem Bülfe, am wenigften in folchen Fällen. Sie find noch 
ein Kind, merken Sie ſich's für die Zukunft.“ 

„Andreas Hat ganz reiht gehandelt,“ fagt Mamfell Bucitie, 
„und ich danke ihm dafür. Ich Hoffe, ex wird mehr auf Die Stimme 
feines Herzens Hören, als auf Ihre albernen Reden, Herr Cham⸗ 
yagne. 

Der Intendant erblaßt vor Zorn, ſieht mich fpättifch an und jagt: 

„Der Heine Savoyarbe ift der Mamſell and Herz gewachlen, 
wies ſcheint. Er tft noch jung, aber verfpricht viel. Ergebenſter 
Diner, Mamfell Lucilie.“ 

Und damit geht er fort, hämifch laͤchelnd und fingend, um 
feinen Zorn zu verfteden. 

Es danert eine Welle, che wir und von unferer Beflärzung 
erholen, kueilie und ich. Nach laͤngerem Schweigen hebt ſie end⸗ 
lich an: 

„Da warſt alſo in der Nähe des Boſketts, Andreas ?“ 

„ga, Hanf „a 


32% - 


„Antworte Deiner Schwefler, Andreas, fage ihr, daß ihr euch 
wieterfehen werdet, und wenn Du fie nach einigen Jahren noch fo 
lieb Haft, wie jebt, dann ... aber was hat Cuch das Theebrett 
gethan, Lucilie? Ihr werft alle Taffen auf die Erde!“ 

„Es ift nicht meine Schuld, Madame,” antwortet Lucilie und 
beißt fi in die Lippen, „die Theefanne flel mir aus ver Hand beim 
Reinigen ,... ich wollte ben Fingerhut aufnehmen.“ 

Lucilie weiß nicht mehr, was fle fagt. Indeß eile ich auf 
mein Zimmer, Nanettens Brief zu Beantworten und ihr zu vers 
ſprechen, daß ich oft fchreiben werde. Madame will die Güte Haben, 
ben Brief abzufenden. Als ich ihn hinunter bringen will, begegne 
ich dem Rammermäbcher. Mein Gott, wie böfe ficht fle aus! 
Schweigend geht fie an mir vorüber. 

- „Was haben Sie denn, Mamfell Lucilie 3” frage ich fie. 

„Bas geht das Sie an, mein Herr? So, fo... Sie haben 
Ihrer Nanette ſchon geantwortet, das Iob’ ich. Gewiß einen Schwur 
ewiger Liebe ?“ 

„Sie verlangt feinen Schwur; fle weiß, daß ich ihr treu bleibe.“ 

„Seht mir den Heinen Prablhans an. Die Tochter eines 
Waſſertraͤgers... göttlich, göttlich !" 

„Aber, was bin ich denn, Mamfell ?“ 

„Sie, mein Herr? Das iſt was Anderes: Sie können ſich 
emporarbeiten mit Hülfe der Erziehung, bie Sie genießen. Ein 
Mann von Geifl, Talent, der Fommt weit.“ 

„Sie thun nicht recht, Mamfell Lucilie, die arme Nanette zu 
verachten ; dad hätte ich nicht von Ihnen gedacht!“ 

„sch verachte fie nicht, aber ich Tann fie nicht ausſtehen.“ 

„Bas Hat fie Ihnen denn gethan ?“ 

- „Richts, nichts, aber ich will nicht, daß Sie mir wieder von 
{hr reden. Sie denken nur an Ihre Nanette und das langweilt mich.“ 

Und bamit geht fie.zornig fort. Sie glaubt alfo, ich denke 

nur an Naneften?.D, ich wollte es wäre fo, denn meine Liebe 





23 

„Wieleicht von Deiner Mutter,“ antioortet bie Gräfkn. 

„Meine Mintter Tann nicht ſchreiben, Madame, auch Been⸗ 
hard nicht.“ 

„So iſt er von anderer Hand,“ ſagt Mamſell Lucilie, die zu⸗ 
fällig in dem naͤmlichen Zimmer ſich befindet und, wie ich ihr ans 
ſehe, vor Neugierde brennt, ben Ramen bes Briefftellers zu erfahren. 

Madame erlaubt mir, ihn zu lefen. Die Schrift ift zwar fchlecht, 
doch Teferlich. Was feh’ ich! Bon Nmmetten.. . . fie hat alſo 
[reiben gelernt, um mit mir correfponpiren zu koͤnnen. 

Ich ſchreie aut auf vor Staunen und Freude und fage an 
Nadame: 

„Bon Nanette, von Nanette! ein Brief von meiner Schweſter!“ 

In meiner Freude überfehe ich ganz das häßliche Maäulchen, 
dad Lucilie macht, und Höre nicht, wie fle vor fldh hinmurmelt: : 

„Dacht' ich mir's doch““ 

Madame erlaubt mir, Nanettens Brief laut vorzuleſen. Denn . 
et Tann fein Geheimniß enthalten. 

Er lautet alfo: 

„Lieber Andreas, ich habe heimlich ſchreiben gelernt, am Dir 
Rachricht von mir geben und einen Brief von Dir empfangen zu 
finnen. Ach, wie Iange kommt mir der Sommer vor, feit Du 
nicht Dei ung biſt! Wann hört das endlich auf? Wann fehe ich 
Dich wieder täglich, wie ehemals? Antworte mir, Andreas. Der 
Vater verzeiht gewiß, daß ich ohne fein Wiffen ſchreiben gelernt 
babe, wenn ich ihm einen Brief von Dir vorlefr.‘ 

„Das gute Kind!” fagt die Frau Graͤſin. „Du wärft recht 
undanfhar, Andreas, wenn Du fie nicht wieber liebteſt, die Dich 
ſo liebt.“ 

„Ih bin nicht unbanfbar, Madgme: ich will, daß Nanette 
field an meinem Glücke Theil nimmt.“ Bu 

„Das ſieht man!” fagt Mamfell Lucilie halblaut und dreht 
zornig an einem Halstuch, dab fie in der Hand hat. 


„Kntuanrte Deiner Schweſter, Andreas, fage ihr, baß ihr erch 
wisterfehen werdet, und wenn Du fle nach einigen Jahren noch jo 
lieb haft, wie jeßt, dann ... aber was hat Cuch das Theebreit 
gethan, Lucilie? Ihr werft alle Taffen auf die Erbe!“ 

„Es ift nicht meine Schuld, Madame,“ antwortet Lucilie und 
beißt fich in bie Lippen, „bie Theekanne fiel mir aus der Hand beim 
Reinigen ,. . ich wollte den Fingerhut aufnehmen.“ | 

Lucilie weiß nicht mehr, was fie fagt. Indeß eile ih af 
mein Zimmer, Nanettend Brief zu beantworten und ihr zu ver 
ſprechen, daß ich oft fchreiben werde. Madame will die @üte Haben, 
ben Brief abzufenden. Als ich ihn hinunter Bringen will, begegne 
ich dem Kammermäbchen. Mein Gott, wie böfe ſieht fie aus! 
Schweigend geht fie an mir vorüber. 

„Was haben Sie venn, Mamfell Lucilie ?” frage ih fir 

„Was geht das Sie an, mein Herr? So, fo... Sie haben 
Ihrer Nanette ſchon geantwortet, das lob' ich. Gewiß einen Schwur 
ewiger Liebe 3" 

„Sie verlangt feinen Schwur; fle weiß, baß ich ihr treu bleibe.“ 

„Seht mir den Heinen Prahlhens an. Die Tochter eines 
MWafferträgers ... . göttlich, göttlich !“ 

„Aber, was bin ich denn, Mamfell ?“ 

„Sie, mein Herr? Das iſt was Anderes: Gie können fih 
emporarbeiten mit Hülfe ber Erziehung, bie Sie genießen. Ein 
Mann von Geift, Talent, der kommt weit.“ | 

„Sie thun nicht recht, Mamfell Lucilie, die arme Nanette zu 
verachten ; das Hätte ich nicht von Ihnen gedacht!“ 

„Ich verachte fie nicht, aber ich Tann fie nicht ausflehen.“ 

„Bas hat fle Ihnen denn geihan ?“ | 

Richt, nichts, aber ich will nicht, daß Sie mir wieber von 
ihr reden. Sie denken nur an Shre Nanette und das langweilt mich.” 

Und damit geht fle-zornig fort. Sie glaubt alfo, ih denke 
‚nur an Nanetten? O. ich wollie, es waͤre fo, ben meine Liebe 





jn Naneiten nimmt mir nicht meine Seiterfeit ober flimmt mich 
fo wehmüthig. Ja, ich Liebe fie zärtlich, ich koͤnnte mein Leben 
laffen für fie, aber meine Liebe zu ihr iſt wie bie Liebe zwifchen 
Geihwifter, oder der Geſchwiſter zu ben Gliern. 

Schon naht dad Ende der ſchoͤnen Jahreszeit und noch immer 
ſchmollen wir, Lucilie und ih. Da hören wir eined Morgens einen 
lauten Lärm im Borhofe. Ein Wagen fährt in geſtrecktem Galopp 
herein: der Herr Graf iſt's, begleitet von Champagne, feinem 
Oberloche und zwei Lakaien. 

AG, wir waren fo ruhig umd zufrieden. Was will er denn 
bir? Warum ſtoͤrt er ung? 

„Das dach’ ich mir,“ fagte Lucilie laͤchelnd. „Madame erhielt 
vor wenig Tagen einen Brief vom Herrn Grafen, worin er fchreibt, 
er müſſe noch in diefem Jahre einen Leibederben haben, deßhalb 
kommt er mit Extrapoſt. Aber wenigftens fchon zwoͤlfmal kommt 
er in derſelben edlen Abſicht und muß unverrichteter Sache wieder 
abziehen.” 

Bor dem Gebell EAfars, der quickenden Stimme ſeines Herrn, 
dem lauten Lärm der Dienerſchaft if die Freude aus unferer Woh- 
nung entwichen. Madame hat fih mit ihrer Tochter eingefchloffen, 
ich verſtecke mich auf mein Zimmer, nur Lucilie geht dem Herrn 
Grafen entgegen, der fihon ganz wild thut, daß die Bauern ihn 
nicht mit Lebehochrufen und Blumenfträußen empfangen. 

„Sie wußten nichts von Ihrer Ankunft, Herr Graf,” ante 
wortet Tächelnd das junge Kammermäbchen. | 

„Macht nichts, Mamfell, fie hätten fie errathen ſollen; fie 
müffen jeden Augenblid auf meine Ankunft gefaßt fein! Iſt das 
billig, daß ein großer Grundbeſitzer ganz jo aus dem Wagen fteigt, 
wie ein fimpler Privatmann ? Ift ed nicht. ihre verdammte Schul: 
digkeit, mich, der ihnen Brob und Arbeit gibt, mit lauten Vivats 
zu empfangen ? 

„Ste hatten es auf Befehl gethan, Herr Graf.“ 


„Gewiffe Dinge follte man nie vergeffen, Mamfell che, 
Gaſar, ber... aber bie Fran Gräfin verſteht das Regiment unicht, 
He Leute Haben keinen Reſpekt vor ihr.“ 

„Um fo mehr Liebe, Herr Graf!” 

„Liebe, Liebe? Bah, das macht Feinen Lärm... fill, Eäfar... 
Ich will, vaß man mich heute Abend glänzend bewillfommt, ver: 
Anden, Ehampagne?“ 

„Ja, Herr Graf.“ 

„Ih will, daß alles Bauernpad fingt, tanzt, mich bewill⸗ 
kommt, Eurz, feine Freude über meine Ankunft laut bezeugt.“ 

„Das follen fie, Herr Graf, ih nehme es anf mich; Sie 
werden mit dem Empfange zufrieden fein.‘ 

„se lauter, deſto befjer.. Und Du bezahlft ihnen Die Geigen, 
Hörft Du?“ | 

„Ich höre, Kerr Graf.” | 

Herr von Franconard begibt fih in feine Gemaͤcher uud läßt 

ſich durch Lucilien bei Madame melden. 

„Bas führt Sie denn fo plöglich Her!’ fragt Lucilie Herm 
Champagne. 

„Ich glaube, unfer Souper von geflern Abend.‘ 

„Ihr Sonper ?“ | 

„Sa, der Herr Graf traktirte geftern Abend drei gute Freunde, 
drei Iuftige Zechbrüber. Es ging hoch ber dabei: erſt Tafel zu 
Ehren eines neuerfundenen Gerichts; der Koch ſcheint damit Ehre 
eingelegt zu haben, bean Alle waren bie Ausgelaſſenheit ſelbſt. 
Der Herr Graf wollte «8 feinen Gaͤſten zuvorthun. Vergebens 
erinnerte ich ihn an dad Podagra und Ehiragra, vergebend an die 
Borfchriften des Arztes. Als er vom Tiſch aufftund, ſchwur er, 
ex wolle einen Erben Haben, und noch in Diefem Jahre. Deshalb 
Samen wir mit Grtrapoft Bier an.” 

Dann geht Champagne ind Dorf, pofaunt überall bie An 
funft des Grafen ang und vesfünbet, daß ex ſchlechterdings feier 





Bd empfangen werben wolle. Aus Ruckſicht auf ihre enle Wohl: 
thäterin, deren Gemahl Herr von Franconard ift, laſſen bie Leute 
die Arbeit Tiegen, ziehen ihre Sonntagskleider an und binden Blu: 
menfträuße. Champagne fledlt ben jungen Burfchen einige alte 
Flinten zu, Iäßt fie mit Salz laden und empflehlt ihnen nachdrück⸗ 
lichſt, aus vollem Halfe Bivat zu jchreien und fo laut ale möglich 
zu fpeftafeln. Um dem Stolze mancher Herren zu genügen, ift oft 
weiter nichts uöthig, ald daß man ihnen bie Ohren vollfchreit. 
Bären fie nicht durch Cigenliebe und @itelleit verblendet, koͤnnten 
fie vorurtheilsfrei in den’ Herzen derer leſen, bie ihnen Weihrauch 
freuen und Gomplimente ſchneiden, Eönnten fie die wahren Trieb- 
fevern der fie ſcheinbar vergätternden Menge ergründen : wahrlich, 
fie würden wenig Werth legen auf ſolche Hultigungen ! 

Der Herr Intendant, eine Art Geremonienmeifter bei den 
ofiziell⸗feierlichen Empfangsfeflichkeiten des Herrn Grafen, vergißt 
nie, einige Pakete voll Petarden mitzubringen, die dann unter bie 
Yanernfchaft außgetheilt werben. 

Auch diesmal hat er fie nicht vergeſſen, und um den guäbigen 
Seren, dem der Lärm nie laut genug ift, ja recht zufrieden zu 
fellen, bat er außerdem eine Menge Sonnen, Schwärmer und 
Raketen eingelauft, zur größeren Verherrlichung des Keftes. 

Alles ift in Bewegung im Haufe; der Herr Oberkoch ehrt 
das Unterfte zu oberfi, um dem Grafen eine zweite Auflage des 
geftrigen,, fo beifällig aufgenommenen Berichtes zu veranftalten. Un- 
terdeß if Here von Franconard gleich nach gemachter. Toilette in 
feinem Zimmer tief eingeſchlafen und erwacht erſt, als die Tafel 
ſerirt iſt. 

Schnell begibt er ſich ins Zimmer, wo bie Gräfin und ihre 
Tochter auf ihn warten. Er bietet erſterer galant den Arm und 
führt fie im den Gßſaal. 

Bei Tiſche ficht er ſich das gnäbige Bräulein genau an, das 
er feit Sange nicht beachtet Hat. 


„Zeufel,” jagt er, „die Kleine wächst erfiaunlid heran, fie 
wird mir immer ähnlicher. Wie alt if fie, Madame ?“ 

„Sie tritt in ihr zwölftes Jahr, mein Herr.“ 

„Das macht fih! Ju drei ober vier Jahren Eönnen wir fie 
an einen hohen Herrn aus meiner Belannifchaft verheirathen, an 
einen Infligen Bruder, wie ich bin; aber erſt wollen wir fie mit 
einem Brüderchen beſchenken.“ . 

„Mein Herr, ich bitte Sie,“ flüflert die Graͤſin dem Grafen 
ins Ohr: „bebenten Sie, meine Tochter ift Tein Kind mehr. Ver⸗ 
fgonen Sie mid mit Ihren Schergen.” 

„sch ſchweige nicht, Madame, ich rede in allem Ernft. Doch Sie 
haben recht: non est in locus. Eſſen wir erft ; nach dem Bauerufeſt 
heute Abend werden Sie mir ein gnäpiges Gehör ſchenken, hoffe ich.“ 

Auf dem Lande efle ich gewöhnlich mit Madame. Aber ans 
Furcht vor dem Grafen habe ich nicht gewagt, mich bei Tiſche 
einzufinben. | | 

„Warum kommt denn Andreas nicht?“ fragt Adolphine ihre 
Mutter, 

„Ber ift das, der Andreas?" fragt der Graf. „Doch nicht 
ber Heine Savoyarde I“ | . 

„Ja, mein Herr, der Sohn des Mannes, der Ihnen und 
meiner Abolphine das Leben reitele. Sie ſcheinen den Umſtand 
immer zu vergefien.“ | 

„Wie oft fol ich daran denken, Madame, an ben einmaligen 
Umftand ? Uebrigens fcheint er hier gut genug aufgehoben... Apporte, 
Gäfar, apporte! Spring’... beſſer! Der arme Gäfar, wie er 
ſchlecht fpringt, feit der Schurke ihn verfrüppelt Hat!... Ißt ver 
Savoyarde an Ihrem Tifche, Madame ?“ 

- „Auf dem Lande, ja. Warum follte er nicht? Sie wiſſen, 
ich behandle ihn nicht wie einen Bedienten; die Erziehung, bie 
ich ihm geben laſſe, fchlägt vortrefflich an: fein Benehmen und 
feine Sprache geftatten ihm ven Zutritt zur beſten Gefellfcgaft.“ 





„E if und bleibt ein Savoyarbde, Madame, und ich finde 
ed hoͤchſt Lächerlih, daß Sie ihn an Ihrem Tifche eſſen laſſen, 
weil Auſtand, Gtilstte, .Decoreur...... kuſch, Gäfer, kuſch, du 
Iommft mit der Pfote auf meine Serviette.“ 

Die Frau Sräfln fchweigt, Adolphine ift traurig, weil ich 
nicht da bin und fie in Gegenwart ihres Baters nicht wagt, froͤh⸗ 
lich zu fein wie gewöhnlich. Während fie effen, fchleiche ich mich 
as meinem Verſteck im Zimmer und gehe in deu Garten hins 
unter, Ich vente über Dies und Jenes nach, ich werbe ja immer 
vernünftiger. Mit fünfzehnthalb Jahren Tennt man fchon dem 
Zauber füßer Träumereien. Der Gedanke an Abolphinen entlockt 
mir einen zärtlichen Seufzer. Wer zum erfienmale licht, Yer zieht 
vie Sinfamleit den frohen Kuabenfpielen vor. Die keimende Liebe 
iR dad Grab der Kinderjahre und die Wiege füßer Hoffnungen, 
© geht es weiter, bis mit dem Alter die Liebe uns verläßt; 
dann wandet ſich die Hoffnung in das Heimweh nach ber frohen 
Vergangenheit um. 

Des nahe bevorſtehenden Umzuges nad Paris gedenkend, 
wandle ich traurig und mißmuthig durch eine der langen Alleen 
des Parkes, als ich plöplich eine wohlbekannte Stimme höre, 
weldhe ruft: „Hören Sie auf oder ich werde böfe!“ 

Lucilie ifi’d. Die Stimme kommt aus einem nahen Boskeit, 
wovon ich bloß durch einen Fliederbuſch getrennt bin. Gleich plagt 
mi die Mengierbe. Ich gehe näher, mache leiſe bie Blätter aus⸗ 
einander und jehe — Herrn Champagne auf einer Rafenbanf neben 
kucilie, die Kraͤnze bindet und von Zeit zu Zeit den Herrn Juten⸗ 
danten zurüdflößt, weil’ er ihre Arbeit etwas allzunahe betrachtet. 

Sch weiß nicht warum ? aber ih Tann den Champagne nicht 
leiden. In Baris fit er Mamfell Lucilie immer auf ben Ferſen, 
Iangweilt fie mit ewigen Gomplimenten, fpielt den Berliehten und 
glaubt ſich mmwiderſtehlich. Was mag er jetzt von ihr wollen in 
dieſem Bosketi? Ich kann nicht umhin, fein Befchwäh zu belauſchen. 


„@ie find ein veizenbes Moſen, Mamidl.Eucitie, reizen, auf 
Gäre !“ 

„Hören Sie nit, Herr Champagne? Der Graf ruft.“ 

„Zäufhung, Mamfell. Br figt bei Tifche und denkt nicht am 
Champagne, aber an Ghampagner. . . die nmiedlichen Arme ba, 
das ſchneeweiße Patſchhaͤnbchen. 

„Sie vergeſſen das Bauernfeſt, Herr. Champagne.“ 

„Rein, mein Fraͤulein, 's iſt noch lange Zeit bis dahin. Erf 
jegt, beim Wiederſehen nach Langer Trennung, fühle ich die Größe 
meiner Liebe zu Ihnen, holde Kammeriſton.“ 

„Holde Rammerifton, ba, ba, ha! Wie komiſch, wenn ein 
Bebienter poetiſch wird.“ 

„Bei Ihnen möchte ich nichts werben als glüdlich Durch Shre 
Liebe ; o, wenn Sie mich erhörten !“ 

„Richt fo nahe, Herr Champagne, Sie zerdrücken meinen Kranz.” 

„Sie werben ſich recht Iangweilen hier ? ® 

„Im Gegentheil, ich amüflre mich aufs Belle”. 

„Unmöglig! Ohne Geſellſchaft, unter lauter Kindern muß 
Ihnen der Tag recht lange werden.“ 

„Nicht im Geringften, Herr Champagne. Die Stunden ver⸗ 
gehen, ich weiß nicht wie.” 

„Oder fände Ihr zaͤrtlich Herzchen insgeheim Beichkftigung ?“ 

„Wie neugierig Sie find, Herr Champagne.“ 

„Wie glüdlic wäre ich, wenn ed für mich fchlüge! Gie ſogen 
and müflen meine Liebe erwidern.“ 

„Sehe nicht die Rothwendigkeit ein, Herr Champagne.“ 

„Barum denn fo hartherzig, kleine Schelmin ? 

„Der Graf wartet auf Sie.“ 

 „&rfl einen Ruß, dann gehe ich.“ 
„Ich hoffe, Herr Shampagne, Sie. J 
„Geſchwind einen Kuß, ich will und * einen Kaß 
„Horen Cie auf ober ich werde boſe.“ 





Schon will Herr Champagne Lueilie umarmen, als ich Schnell 
durch den Flieder ind Boskett fpringe, und fo gewaltfem auf ven 
Herrn Intendanten losſtürze, daB biefer das Gleichgewicht verliert 
und in ven Sand rot. 

Lucilie lacht laut auf, ich glähe wor Zorn, und Herr Cham⸗ 
yagne hebt ſich allmählig vom Boden empor. 

„Möchte doch wiffen, Herr Andreas,” fagte er, „was Ihnen 
das Recht gibt, mich fo zu behandeln ?“ 

„Ste woliten fie küſſen wider ihren Willen, fo mußte ich ihr 
zu Hülfe kommen.“ 

„Zu Hülfe? Gin fchöner Ritter das ! Mag’ ich fie kuſſen oder 
nicht, das geht Sie nichts an.“ 

„So oft Mamfell Gülfe bedarf, gebe ich ihr Hülfe.“ 

„Sehr wader! Merten Sie fh, junger Mann: die Weiber 
bedürfen Ihrer Hülfe nicht, fie koͤnnen fich felbft Helfen und brauchen 
von Keinem Bülfe, am wenigften in folchen Fällen. Sie find noch 
ein Kind, merken Sie ſich's für die Zukunft.“ 

„Andreas bat ganz reiht gehandelt,” fagt Mamſell kucilie, 
„und ich danke ihm dafür. Ich Hoffe, ex wird mehr auf die Stimme 
feines Herzens Hören, als auf Ihre albernen Reden, Herr Cham⸗ 
pagne.“ 

Der Intendant erblaßt vor Zorn, ſieht mich ſpoͤttifch an und ſagt: 

„Der kleine Savoyarde iſt der Mamfell ans Herz gewachſen, 
wies ſcheint. Er iſt noch jung, aber verſpricht viel. Ergebenſter 
Diener, Mamſell Lucilie.“ 

Und damit geht er fort, haͤmiſch laͤchelnd und fingend, um 
feinen Zorn zu verfteden. 

Es dauert eine Welle, che wir uns von unferer Befbärzung 
erholen, Lucilie und ich. Nach längerem Schweigen hebt fie end- 
ih an: ’ 

„ODu warft alfo in der Mähe des Bosketts, Andreas ?“ 

„sa, Mamſell.“ 


„Und bie Heben Champagne's mißfielen Dir ? 

„Gewiß!“ 

„Ernſtlich, Andreas?“ 

Dann rückt fie nahe an mich heran, legt ihren Arm anf meine 
Schulter und fieht mich an, ach, fo zauberiſch! 

„Und ed wäre Dir nicht recht, wenn ich Champagne liebte?“ 

Ich glaube: nein.“ 

„Barum nicht?“ 

„Ich weiß nicht ; ich wünfchte beinahe, Sie liebten Riemand.“ 

„Seht mir den Egoiften, den kleinen Schelm !“ 

An der Art und Weife, wie fie dad fagt, merke ich, daß fie 
mir nicht fehr böfe if. Nie, nie bünft mir der Ton ihrer Stimme 
jo füß und ihr Geſicht fo reizend. 

„Andreas, ich mag den Shampagne nicht. Du biſt mein Ber: 
theidiger, mein Bejchäßer geweſen: als ſolchem gehört Dir eine 
Belohnung.“ | 

„Ich wi keine Belohnung, Mamfell.“ 

„Keine ? Auch nicht, wenn es — ein Kuß wäre?“ 

Ich werde überroth und zittere. | 

„Sa... ja, Mam... fell,” fotterte ich verwirrt. | 

„Vielleicht biſt Du mit der Belohnung nicht recht zufrieden?“ 

„Und wie... und wie!” 

„So laß feh'n, Andreas.“ | 

Verſchaͤmt fehe ich nieder und wage mich nicht von der Stelle. 
Sie blickt mich eine Weile fragend an und fagt dann lächelnd: 
„Bill der Herr mich nicht Eüffen, fo will ich den Herrn küſſen“ 

Alobald fühle ich ihre Lippen auf meiner brennend heißen 
Bange. Der Kuß durchzuckt mich wie ein elektrifcher Schlag; nır 
hatte ich eine fo füße Empfindung gehabt. Statt eines Kuſſes 
gebe ich ihr taufend Küffe, während fie unaufhörlich ruft: 

„Genug, Andreas, genug... mein Gott, das böfe Kind das!“ 

Plotzlich ſchreckt und ein lauter Lärm von des Gelte bei 





Echloſſes her. Lucilie glaubt Die Stimme ver Gräftn zu hoͤren und 
reißt fih aus meinen Armen los. | 
„Komm’ doch, Andreas,“ fagt fie, „gewiß fängt das Feſt an.“ 
Ich folge ihr ungern. Was liegt mir am Feſte? Es verfpricht 
mir nicht Halb fo viel Bergnägen wie dad eben empfunbene in 
duciliens Armen. 


Siebenzehntes Anpitel. 
Dad Keuerwert und feine Folgen. 


Der Laͤrm, der mich aufſtoͤrte aus meinem füßen Rauſche, 
verlündete den Anfang des Feſtes. Bei ihrem Einzuge in ben 
Ehloßhof Hatten die Bauern auf Commando des Herrn Inten⸗ 
danten ihre Flinten losgebrannt, und eine alte Beige, begleitet 
son einem Tambourin, die Melodie, „Heil dir im Sieges⸗ 
franz“ intonirt, am Ende aber, da e8 dem Spielenden entfallen 
zur, dad „Was weinft bu, ſchöne Schäferin” angeflimmt. 
Mein die „Bon pon“ des Tambourin, das immer im Takte 
iind Contretanzes blieb, während fein Bollege ein Adagio fpielte, 
bmirkten, daß man den Uebergang aus der einen Arie in bie 
andere nicht hörte. Hingeriſſen von diefer zaubertfchen Muſtk ließen 
be Bauern and vollem Galfe den großen Tartarenchor ans ber 
Lodoiska“ erfchallen, dad einzige Stüd, dad Champagne ihnen 
eingepauft hatte, und daher regelmäßig bei jebem feierlichen Em⸗ 
fange des Grafen zum Beften gegeben wurbe. 

Herr von Franconard hatte weidlich gegefjen und getrunfen, 
Illes das mit Iobenswerther Rückſicht anf die menfchenfreundliche 
Khfiht, wegen welcher er in geſtrecktem Galopp von Paris hier 
ver geeilt war. Ex war zwar gut aufgeräumt, aber nicht einmal 
ab betrunken, denn ein Herr von Stande und guter Lebensart 
trinkt fich nie. Sein Auge, ungewöhnlich funkelnd, kehrte fich 
aaufhorlich der Frau Gräfin zu, die aber jebesmal wegſah und 





\ 2% 


bed Lichenswürbigen NRaͤdchens, und dahin fliegen ir... nahe 
gefolgt von Lucilien, welche von einem jungen Bauern engasiıt 
iſt. Jetzt ſtehen wir und gegenüber. Der Geiger geigt und bat 





Tambourin wirbelt, was dad Zeug halten will, Welch ein Deu 
guügen, mit Abolphine zu tanzen und Lucilien gegenüber zu haben, 
bald die Hände ber einen zu brüden, bald die Finger der andern 


leiſe in feiner Hand zu fühlen! Nie bin ich fo glücklich geweſen, 
nie ift mir Die Zeit rafcher verflogen. Ich glaube, ohne den Grafen 


tanzten wir noch heute. Raum hat aber viefer Adolphine und mid 


tanzen fehen, fo höre ich auch ſchon das Wort „Savoyarde,“ umb 
ans it unfere Freude. Dem Geiger wird alsbald Stille geboten. 


Alfo and hier kann er meine Abkunft nicht vergefien?... 


auch Bier macht er meine geringe Geburt mir zum Berbrechen!! 


Traurig laß ich Adolphinens Hand los und flüchte mich in dad 
Dunkel eined Bosketts, mein volles Herz durch TIhränen zu er 
leichtern. An biefen Thränen ift Niemand ſchuld als der Hen 
Graf. Nicht, daß ich dem Schickſal zürnte, dad mich als Savoyarde 


geboren werben ließ, o nein, aber die Ungerechtigkeit der Menſchen 
kraͤnkt mich. Ich bin noch zu jung, um mich an diefe ſchmerzliche 
Erfahrung gewöhnen zu Zönnen ! 


Aber das Feſt ift noch nicht aus. Herr Champagne, "ber feine | 
Sonne, Raketen, Schwärmer u. f. w. anf einem freien Rafen: 
play tunftverftänbig angebracht hat, tritt unter tiefen Büdklingen 
auf ben Grafen zu und überreicht ihm einen Stod, an deſſen 


oberem Ende eine brennende Lunte fich befindet, mit folgender Anrede: 

„Die Geſchichte Ichrt und, daß in früheren Jahrhunderten 
bis Lehensherrn bei Feften, Turnieren, Fifcherftechen w. f. w., bie 
fie veranftalteten, bie erfle Lanze zu brechen und ben erfien Preis 
Davonzufragen pflegten ; beßgleichen mit Bogen oder Flinte zuerſt 
im bie Scheibe zu ſchießen, bie dann nicht zu weit weg anfgefellt 
fein durfte ; deßgleichen zuerſt bie jungen Neuvermählten am Hoch⸗ 
zeitiage zu umarmen — man nannte das jus primae noch; Furz 





237 


ab gut, gnäbiger Herr, bie gnäbigen Herren waren bamals für 
Alles und bei Allem die Erſten!“ 

Ghampagne Hält ein, um Athem zu fchöpfen und auf pas 
Ende ber wohlgefegten Rebe ſich zu befinnen, während der Graf, 
der nicht weiß, wo er hinaus will, ihn fragt, ob er vielleicht im 
Hofe ein Lanzenbrechen oder auf dem Teiche ein Fifcherflechen ans 
geordnet habe. 

„Das nicht, gnädiger Herr,” antwortet Champagne, „aber 
ein hübſches Fenerwerk mit Sonnen, Monden, Sternen, Schwärmern 
und Raleten auf dem Rafen dort, und ich möchte Ihnen vorfchlagen, 
die erſte Rakete abzufeuern. Deßhalb geb' ich mir die Ehre, Ihnen 
hieſe Lunte zu präſentiren.“ 

Der Hert Graf ſcheint entzückt von dieſer Ueberraſchung, nimmt 
ihm die Lunte aus der Hand, ſchwingt fie wie eine Fahne in bie 
Höhe und legt fie dann über die Schulter. Herr von Franconarb 
narſchirt voran, dann feßt fi die ganze Verſammlung gegen den 
großen Raſenplatz zu in Bewegung. 

Unterwegd muß ber Herr Graf die möglichen Folgen dieſes 
Vageſtückes reiflicher erwogen haben, denn er ruft Champagne 
and flüftert. ihm ins Ohr: 

„Die Lunte fcheint mir zu kurz.“ 

„Sie ift vier Buß long, Herr Graf.” 

„DaB ift zu kurz, Champagne, hol’ mir einen Veſenſtel, den 
laͤngſten, den Du ſindeſt, und binde die Lunte d'ran.“ 

„Aber, Herr Graf...“ 

„Kein Aber... thu', wie ich befehle.” 

Champagne geht mit ver Lunte ab, während ber Zug weiter 
narfchirt, voran den Grafen, der, in. Ermanglung ber 2unte, 
einen Spazierſtock mit vieler Grazie auf und ab ſchwingt und 
to; um ſich blickt. 

Eben ald der Zug auf dem zum enerwert erkorenen Rafen⸗ 
Hape eintrifft, kommt Champagne zurüd und präfentirt dem Grafen 

Bauf de Rod. IL. 16 


einen Steck fo lang, daß man ein Strohhrach übe dem teilen 
Stod von ebener Erde ans anzünden konnte. Bernhigt nähert ſich 
der Graf dem Fenerwerle. Als ex aber die viden Sonnen und 
Nalketen ſieht, erfchridt ex aufs Neue, 

„Geht das Alles auf einmal los, Ehampagne ?“ | 

„Rein, guäbiger Herr. Die erſte Ralete gibt bloß das Signal, 
dann treten Sie bei Seite und id Teure das uebrige los, bed 
weiter davon anfgeflellt if.“ | 

„So gib mir die kleinſte Rakete zum Abfenern. Der erſte 
Schuß darf nicht zu laut fein, er erſchreckt ſonſt die Laudleute. 

„Die da ift die Heinfle, Herr Graf.“ 

„But fo... geh’ weg! oder bift Du gewiß, daß ſie nicht 
losgeht ?“ | 

„So Gott will, geht fie 108, Herr Graf.“ 

„Ih meine, beim bloßen Anrühren. Ich Habe keine Luf, 
dad andere Auge auch noch zu verlieren.“ | 

„Hat Teine Gefahr, Herr Graf. Ich ſtehe dafür.“ 

Alles wartet ungebuldig auf ben Anfang des Schauſpieles. 
Die Dorfbewohner find auf dem Rafenplape verfammelt, die Fran 
Graͤſin ſteht zwifchen ihrer Tochter und Lucilien, ih etwas weiter | 
davon und fehe fie an, denn ich fürchte mih, Adolphine mahe m 
fommen, fo lange ber Graf ba ift. 

Endlich faßt der Held ded Tages Muth, nimmt dem Beim 
fliel mit der Lunte am äußerflen Ende, ſtreckt den Arm fo mei 
aus als möglid; und berührt die Rakete. Das Teuer fängt m 
— krach! fprüht die Rakete in bie Lüfte unter Iautem Inbelſchrei 
der verſammelten Menge. Gott dankend, daß ihm der große Ber 
gelungen, ſchmeißt er die Lunte weit von ſich und trodnet fi ven 
Angſtſchweiß von der Stirue. Zum Unglüd aber wirft ex Die Lunte 
mitten unter das übrige Feuerwerk, das Champagne unvorfichtiger 
Weiſe allzu nahe den Zufchauern angebracht bat. In einem Ru 
geht die ganze Geſchichte los, und mit einem furchibaren Knall 








nicheln Sonnen, Monde, Sterne, Schofenter und Ralsden in Die 
Höhe und fallen ziſchelnd und ſchlängelnd unter die Menge nieber; 


Cine Artiſchocke fährt geraden Wegs zwifchen die Beine des Herm - 


Grafen, ver, betäubt von ber Erplofion, nicht weiß, wohin er 
ſich ſüchten fol. 

Alles ſchreit und jammert. Muͤtzen, Hüte und Schürzen ber 
Bänerinuen fehlagen in hellen Flammen anf. „Ich breume, ich 
brenne!“ zuft es von allen Seiten; „löſcht! Waller! Waſſer!“ 

Die Trammer einer Sonne find gerade auf Abolphinens Haupt 
niedergefallen. Ihre Haare fangen Feuer und ſchon droht den 
Aeidern Gefahr. Die Fran Gräfln verliert dem Kopf, Lucilie 
(freit um Hülfe, aber Jeder denkt nur an ſich. Wer brennt, hat 
genug mit fich zu ihn, und wer nicht brennt, ficht ſich von Kopf 
56 Fuß an. Schnell fpring’ ich zur Hülfe Berbei, nehme fie in 
meinen Arm, Löfche durch den Druck die Flamme iu ihren Kleidern 
und erſticke mit der Hand das Feuer in ihren Saaren. So ift fie 
veun gerettet, ohne daß ihr Geſicht von der Flamme gelitten hat. 

Die Graͤſin findet Feine Worte, mir ihren Dank zu bezeugen; 
fe Heißt mich ihren Retter und den Netter ihrer Tochter. Was 
beb’ ich denn fo Außerorbentliches geihan ? IR es nicht natirlich, 
deß ich für Adolphine mein Leben wage? Diefe weiß nicht, in 
weicher Befahr fie ſchwebte. Sie lacht ſchon wieder uud nennt wich 
ihren lieben Andreas. Lieber Andreas! Ach, dieſe füßen Warte 
ws ihrem fügen Munde laſſen mich die leichten Schmerzen ber 
Vrandwunde an der Hand vergeſſen. 

Armer Schelm !“ fagt Lucilie; „er hat ſich die ganze Hand 
sehrann.“ 

„D, das thut nichts, Mamfell!” 

Madame will mich eben ins Hans führen, um mich verbinden 
pn laffen, alö ein furchtbares Angfigefihrei ertönt. Der Herr Graf, 
ber biß dahin ruhig gewefen war, laͤuft mit einmal wie verrüdt 
im Garten herum, greift mit ven Händen an bie Hoſen und ſchreit, 


AB. 


vaß er brenne. Die Urtiſchocke hatte Beim Durchfahren durch die 
Beine ven oberſten Theil jenes Kleivungsftüdtes geftreift, der, weil 
er von Tuch war, nicht. fo leicht deuer fing. Der Here Graf 
meint, der brandichte Geruch, der ihm überall Hin folgt, fomme 
yon Anderen her, und merkt feine yerfönliche Gefahr erft an den 
törperlichen Schmerzen. 

Statt fih ruhig zu Halten und das Sener zu erſticken, fpringt 
ex links und rechts herum, Trümmt und windet fich und ſchreit dabei 
wie ein Befeflenee: „Zu Hülfe, Champagne; ih röfle... ih 
‚meine Hofe... die Rakete... ih rate...“ 
wird das Feuer, das man nicht fehen Tonnte, weil 
es durch die Rockſchope verdeckt war, nur um fo Ärger. 

„®o brennt der Herr Gin, fragt Champagne, herbeieilend; 
„ieh fehe nichts!" Statt zu antuonte® hebt der Graf die Rod 
ſchoͤße in die Höhe und zeigt ben ie Theil. Charwag 
zieht das Schnupftuch aus der Tafche dad lest es darauf; dad 
hift aber nicht ſchnell genug. Indeß tobt \ und flucht ber Graf 
wie ein Verdammter und ſchreit, daß fein Lieb ee auf Erden m 
Gefahr fei. ' 

Außerorbentliche © 1, gülfe, © 

A iche Gefahr verlangt auferorbentliheim,, Aut 
mit nimmt Champagne, um das Haus Franconard vor : 
« uf den 
fterben zu retten, den Grafen in die Arme, I& * 
laͤuft mit ihm 
Teich zu und wirft ihn Hals über Kopf mitten ins Baſſin Mider 
* Graf verſchwindet einen Augenblick, taucht dann N AT 
in die Höhe, arbeitet mit Händen und Füßen und fhreit, Dr, 
brenne er noch, denn er fürdstet das Waffer eben fo ſeht als A, 
Ha Champagne ergreift eine lange Hafenftange, bie dicht nebel.., 
m liegt, hält fie dem Schwimmer zu und fragt : „Brennen Ste 
noch, Herr Graf?“ u 





„Nein, Sähuft... Sieh’ mich heraus, ober ich eririnte." U 


Champagne erwifcht mit der Hakenſtan 
ge ben Herrn Grafen 
am Gürtel und zieht ihn fanft aufs Trockene. Aber in Bolge de? 





MM 
ploplichen Vebergauges ober Meberfalles sont FJeuer ins Waſſer 
und der Schmerzen der Branbwunden kann er nicht aufſtehen, usb 
man trägt ihn ins Bett, Statt au bie Erzielung eines Erben zu 
denlen, verbringt der Graf die Nachb unter Schmerzen und Auf: 
legen von Gataplasınen, 


Achtzehntes Kapitel. 
Ich bin kein Kind mehr. 


Den Tag nach dieſem denkwürdigen Feſte, das ſo am · wwen 
liche Folgen gehabt, will Here von Franconard, der über Heftige 
Gämerzen klagt, nach Paris zurückkehren. Madame Laßt fick’ 
zicht nehmen, ihn zu begleiten, um ihn perfönkich zu pflegen; fle 
meibet ihn, wenn er von Liebe ſchwatzt, aber hat Mitleid mit ihm, 
wenn er Mitleid verbient. 

Bir reifen zufammen ab. Meine Hände ſchmerzen fehr, aber 
ch vergeffe dad, wenn ich denke, daß ich Moolphinen gerettet und 
Ir hübſches Geſicht gegen die Fenerſlamme befchtrmt Habe. 

Dieömal reifen wir nicht wie gewöhnlich, Madame figt mit 
hrer Tochter im Wagen des Grafen ; ih Bin im ihrigen mit Lu⸗ 
Me und Herrn Champagne, ber mich ſcharf anfleht, namentlich 
18 das funge Kammermädchen meine Hände nimmt und fagt: 
Ber arme Andreas, das muß ihm reiht meh thum. Ohne ihn 
Me ſich das Sränlein das ganze Geſicht verbrannt. Sie haben 
ıfhöne Gefchichten gemacht, Herr Champagne, mit Ihrem Feuer: 

1a : 


„Mi düntt, ich verdiene alles Lob!“ antwortet Champagne. 
Dhne mich wäre ber Herr Graf zu Kohlen und Aſche verbrannt. 
5 habe ihm das Leben gerettet!" 

„Ich weiß nicht, was Sie ihm gerettet haben, aber ich weiß, 
$ Sie beinche ans Alle verbranut Titten.” 


Milan m nen nn Te TE ———— 


In Paris angelommen, befäll den Graſen eine Kraulgeit in 
Bolge ver plöplichen Erkältung nad ber drohenden Feuersgefahr. 
Die gute Garoline pflegt ihn mit größter Unfopferung. Unterdeß 
geh’ ich regelmäßig zu Ranette, wenn ich nichts zu arbeiten habe 
und nicht bei Adolphine fein Tann. Ich fühle, ich darf wir nicht 
mehr die alten Bertraulichkeiten gegen bie Tochter meiner Wohl 
thäterin erlauben... fie wächst immer mehr heran. Statt zu 
fpielen, zeichnen und mufleicen wir, obes unterhalten und über 


vernünftige Dinge. Auch das hat feine großen Reize. Das liebens- 


würbige Kind bupt mich nicht länger, auch Heißt fie mich wicht 
mehr ihren Lieben Andreas. Ohne Zweifel bat man ihr geſagt, 

daß ſich das nicht mehr ſchicke. Doch ihre Stimme if und bleibt 
7. fanft und füß. Ich leſe im ihren Augen, wie ihr Herz mich 
immer noch ihren lieben Andreas nennt. 

Seit dem Abenteuer im Voskette will mic Lucilie nicht mehr 
füffen ; fie fagt, ich fei jebt zu groß. Und doch bekomm’ ich immer 
größere Luft darnach, je Alter ich werbe. 

Nanette bat nichts Dagegen, unb wird doch auch ein reiht 
hübfches Maͤdchen. Sie ift groß, ſchlank, von ziemlich auziehenden 
Gefichtozugen, natürlich frifcher Farbe und kindiſch einfachen Weſen 
und Benehmen, arbeitſam und thätig ; dabei lernt fie nähen und 
Best heimlich Romiane, um zu wiſſen, wie man in ber voruchmen 
Belt liebt und von Liebe fpricht. 

Ich nähere mich jetzt dem flebenzehnten Lebensjahre. Seit 
ihm ber Schwärmer zwifchen die Beine gefahren, ſcheint ber Gen 
Graf fein Lieblingsprojekt Hinfichtlich des Erbens aufgegeben zu 
haben. Die Gräfin ift jetzt oft bei ihrem Gemahl, weil er fie mit 
feinem Licheögefchwähe verſchont. Statt bed zu erzielenden Sohnes 
denkt Herr von Frauconard nur an feine Tochter. Adolphine if 
erſt vierzehn Jahre alt, und doch feffelt fie Aller Blicke durch ihre 
Schönheit und Aumuth. Sie iſt der Stel; ihres Mutter, die, weit 
entfernt, Liferfucht zu fühlen, nux für das bes Tochter gefpenbeis 





WB - 
kob Ohren hat, mund doch iſt fle, die Mutter, noch eine junge 
und ſchoͤne Fran. 

Im Stillen bewundere ich die täglich mehr fich entfaltenben 
Reize Arolphinens ; ihr Bild umſchwebt mich Tag und Nacht. Ich 
bin geoß, wohlerzogen, habe alles Ländliche abgeftreift; ich höre, 
wie man meinen Wuchs und mein Ausfehen lobt. Im Schloffe 
heiße ich überall Here Andreas... ich muß alſo etwas Herren⸗ 
artiges an mir haben. Man rühmt auch meine Talente und Fertig: 
kiten. Aber was nüst mix bad Alles? Muß ich mich nicht einfl 
von Abolphine trennen ? 

Schon jebt quält mich der Gedanke umb laͤßt mir nirgends 
Ruhe. Ich bin nur ein armer Savoyarde, aus Menſchenfreund⸗ 
Uleit bier im Schloffe aufgezogen... . ich verbante Alles der 
Güte der Frau Gräfin. Aber wird bie Erziehung, bie ich ihr zu 
banlen habe, mich glücklicher machen ? 

„Wollen Sie ven Andreas ewig bei fih behalten, Madame?" 
fragte eined Tages der Graf. 

„Er ift no fung,” antwortet meine Wohlthäterin. „Im 
Kurzem werd, ich mich nach einer Befchäftigung für ihn umfehen, 
de feinen Talenten angemefien ift.“ | 

Eine Befchäftigung... eine Stelle! Ich muß alfo das Haus 
velaffen... mich von Adolphine trennen! Ich wage nicht, meinen 
Kummer blicken zu laſſen. Nur gegen die gute Schwefter fchütte 
#4 mein Herz aus. Ich rede ihr unaufhoͤrlich von dem jungen 
Yirlein vor, rähme ihre Anmuth, Schönheit und Talente, er: 
"zähle ihre Wort für Wort Alles, was fie mir gefagt hat. O wie 
‚gerne fpreche ich von Adolphine! Nanette Hört mich ſchweigend 
a; oft glaub” ich Thränen in ihren Augen zu fehen. Arme 
Gäwefler, gewiß hat fle Mitleid mit mir... gewiß ift fle traurig, 
weil fie mich traurig fleht. 

So frei und offen könnt’ ich gegen Lucilie nicht fein, ans 
Wut, fie werbe die Befchaffenheit meiner Gefühle errathen und 


a 
‚davon plaudern. Um Feinen Breid der Welt möcht’ ich die Urſache 
meiner Traurigkeit befannt wiffen im Hötel. Ich bin fo ſchon fo 
Schüchtern und verlegen bei Fräulein Adolphine. Es fcheint mit, 
Jeder jehe mir bis auf ven Grund der Seele. 

Zur Feier des Namenstages feiner Tochter will der Graf einen 
prächtigen Ball veranflalten. Ich weiß nicht, warum bied mih 
faft trübe flimmt, und doch wird er ihr zu Ghren gegeben! Aber 
ich denfe mir, ich darf fie den ganzen Abend nicht fehen ; ich fürchte, 


fie wird von vielen jungen und fehönen Leuten umgeben fein, bie 
fie reizen finden und es ihr fagen werden, und das, glaub’ id, | 


ift Die Urfache meines Mißmuthes. 


Ich gehe zur gnaͤdigen Frau hinunter. Ich fürchte mich, Mel 


phinen ein Bouquet zu reichen ; aber eine Rofe von meinem ſelbſi⸗ 
gezogenen Rofenftode am Fenſter will ich ihr bringen. 

Madame ift mit ihrer Toilette beichäftigt, Adolphine allein 
im Zimmer, vor ihrem Flügel. Seit langer Zeit haben wir und 
nicht allein gefeheneeTrog der günftigen Gelegenheit, ihr Die Blume 
mit ben beflen Wünfchen . für ihr künftiges Glück zu überreichen, 
hab’ ich nicht den Muth dazu. Sch bleibe wie feſtgewurzelt mitten 
im Saale fliehen und fehe bald Adolphine, bald die Roſe an. 

ABS das liebenswuͤrdige Kind mich erblickt, ruft fle: „Sie de, 
Andreas... Tommen Sie näher.” - 

Ich trete langſam näher und zerreiße faſt die Blume, die ich 
in der Hand habe. " 

„Bir ſehen uns fa fo felten, Andreas. Gefällt es Shan 
nicht mehr bei ung 2“ 

„Und wie, Fräulein !“ 

„Warum Tommen Sie nicht täglich 3“ 

„Ich fürchte... zu flören, Fräulein.” 

„Su flören? ... Nein, Andreas, ich Tann in’ Ihrer Geyer 
wart eben fo fleißig arbeiten... vielleicht noch fleißiger und beſſen 
Dber langweilt Sie die Mufit 7 





Wewiß nicht, Fräulein.“ 

„Bräulein?... Wie feierlih und gemeſſen, Audreas ? Sie 
fchetnen lange nicht fo heiter wie ehemals. Drüdt Sie was ? 
Sagen Sie’! mir... Sie wiffen, ih bin Ihre Freundin!“ 

O, wie mir bad zu Herzen geht! Ich Bin fo entzüdt barüber, 
daß das Wort auf meiner Zupge erſtirbt. Ich reiche ihr die Roſe 
hin und flottere: 

„Wollten Sie ‚geruhen, Yräulein ?“ 

„Die ſchoͤne Rofe ift für mich, Andreas %” 

„30, Bräulein, wenn Sie fie annehmen wollen von mir. 
Iſt nicht heute Ihr Namenstag 3“ 

„Wenn ich fie annehmen will? Zweifeln Sie daran? Ich 
meinem Lebensretter eine Rofe verweigern? Die Rofe, lieber Ans 
dreas, ift mir das liebſte Geſchenk nach dem Geſchenk meiner Mutter.“ 

Lieber Andreas! Sie nennt mich ihren lieben Andreas. Ich 
bin wie außer mir! In namenlofem Entzücken fafle ich ihre Hand 
und brüde fie in der meinigen. Aber weggommt... Caͤſar beilt. 
Großer Gott, des Herr Graf iſt's. Schnell reif’ ich mich von 
Adolphinen los und eile auf die Thüre zu, mich davon zu ſchleichen; 
boch zu ſpaͤt, ich laufe gerade auf ihn zu. 

„Borgefehen, Schlingel!” ruft Herr von Franconard. „Er 
ift Schuld, daß Bäfar auf drei Pfoten herumhinkt, und jetzt rennt 
Er mir die Nafe ein. Wann trollt Er fi endlich aus meinem 
Hanje 3“ ' 

Schlingel! Das Eine Wort vernichtet alle meine Freude ; wie 
weh mir das thut! Ich muß meinen Thränen Luft machen. 

Ich Schließe mich in meinem Zimmer ein und hänge meinen 
trüben Gedanken nad, bis die Stunde des Feftes fchlägt. Dann 
gehe ich an das Fenſter und betrachte mir die ſchoͤnen Wagen, Pferbe, 
Lisrden und Toiletten ; das. dauert wohl über eine Stunde. Was 
jegt aufaugen ? Hinunter darf ich nicht, bei den Bedienten mag 
ih nicht fein, und um Nanette und Vater Bernhard zu Defuchen, 


müßte ich bie glänzend erleuchtete Treppe hinunter, und ich fchäme 
mich, meine traurige Miene zu zeigen, wo es fo hoch Hergeht. 

Sch werfe mich verſtimmt auf einen Stuhl und denke über 
mein Schickſal nad. Es ift mir, als Härte ich noch den „lichen 
Anbreas“ von Hoolphinen und dazwiſchen ven „Schlingel“ vom 
Grafen. Ich muß endlich bitter weinen. Mir fcheint, als Hätte 
Madame befier geihan, mich in meinem früheren Berufe zu kaffen ; 
ich war fo glücklich, fo zufrienen bei Bernhard und Nanette! Je 
länger ich nachſinne, um fo trauriger werde ich. 

Ploͤzlich fühle ich eine fammtimeidde Hand auf meinen Augen 
und Höre eine wohlbefannte Stimme. 

„Barum fo allein und fo brummig wie ein Bär, während 
Alles im Hötel Inflig und guter Dinge iſt?“ 

Lucilie iſt's. Ste Hat ſich leiſe in's Zimmer geſchlichen, ohne 
daß ich fie gehoͤrt. 

„Komme mit, Andreas, wir wollen durch ein Fenſter im Saale 
dem Tanz zufehen. Da find wir allein und koͤnnen und nad) Buße 
die ſchoͤnen Toiletten anfchauen und an den vornehmen Leuten Ternen, 
wie man es auf dem Balle machen muß.“ 

„Ich danke Ihnen, Mamfell Lueilte ; ich habe feine Lu, dem 
Tanz zuzuſehen,“ fage ich betrübt zu Lueillie. Ste bückt ſich und 
fieht dann die Thränen in meinen Augen. 

„Mein Bott, was gibt es denn? Jch glaube, er weint; ja, 
feine Augen find, ganz roth. Andreas, Freundchen, was fehlt Dir? 
Barım fo traurig? Ich will und muß es wiffen; weinen, wenn 
Alles lacht und fcherzt! Geſchwind, warum weinen wir?" 

kueilie fegt fih neben mich auf den Stuhl, legt meine Hände 
auf ihren Schooß, drückt fie, neigt fich zu mir, ficht mich fragend 
un und beſchwort mich auf Die theilnehmendſte Weiſe, ihr bie Ur⸗ 
Tode meines Kummers zu nennen. D, wie gut doch Die Seiber 
gu troſten wiſſen; umfer Schmerz ſcheint ihr Schmerz zu fein. &be 
sin es merken, fühlen wir umd um bie Hüfte Teichter. 





Schon Tonıme id} mir weniger bedauerusworch vor, feit ducidl⸗ 
bei mir tft und ich Bei ihr. Ich erzähle ihr bloß, was der Graf 
zu mir gefagt hat; bad Andere behalte ich für mid. 

„Weiter nichts ?" laͤchelt fie. „Wie kindiſch, ſich barüher zu 
grämen. Was kümmerſt Du Di um den alten Grieogram, ber 
für nichts GSiun Hat als für Küche und Hundeftall. Bil Du darum 
weniger geliebt von der gnädigen Frau, dem Fraͤnlein und mir? 
Bil Du darum weniger talentvoll, weniger nett, weniger rtig ? 
Alfo nicht länger geweint, ich verbiete ed. Weinen macht die Augen 
roth und ſchadet den hübſchen Heuglein ba... .“ 

Dabei Füßt fie mich auf die Stine und das that mir fo füg, 
fo wohl! Ich glaube, ich bin ſchon Etwas getroͤſtet; dennoch feufze 
ich tief auf, aber nicht ganz aus Kummer. Lucilie meint, ich fei 
immer noch traurig, und hält nochmals ihr Köpfchen Dicht an meine 
Bruſt. Diedmal Tüffe ich fie, doch nicht auf die Stirne. 

„Was machft Du denn, Andreas,“ ruft Lucilie mit zitternder 
Stimme „Barum Füffeft Du mich? Wenn ed Dich tröftet, will 
ich's Dir ein wenig erlauben, aber nur ein wenig... ich glaube, 
jegt if’8 genug, mein Herr.” 

Das fagt fle nicht in fcheltendem Tone. Der Anblid meiner 
‚Tränen bat ihe Mitleid eingeflößt, und Mitleid macht ſchwach. 
Ich drücke fie brünflig an mein Herz: o, fie hat nicht mehr Zeit, 
meine Küffe zu zählen ; fie ftößt mich zuruͤck, aber fo fanft! und wie 
zärtlich fagt fie: „Andreas, mein Freund, Höre auf, ich bitte Dich!“ 

Die konnte ich 7!... Im flebenzehnten Jahre aufhören ?!... 
Mich nicht tröften dürfen in Deinen Armen, Du gutes MRäpdhen ®! 

Seht haben wir die Rollen gewechſelt: ich bin ber Tröfter und 
Pucilie die zu Troͤſtende. 

„Ber hätte Das von Dir gedacht, Andreas?“ fagt fie laut 
auffenfzend, doch fehe ich Teine Träne in ihrem Auge. Ich tzöfße 
Lacilie und fie gibt fich zufrieden ; bald fängt ſie jedoch wieber zu 
jammern an und ich troß⸗ fie nochmals, Aber Alles hat ein Ende. 


Lo) 


Kaum if fie geung geiräßet, fo nimmt ſe die alie Schelmenmiene 
‚an und fagt lächelnp: - 

„Nur geichwiegen, Aubrend, es geht Niemand was en, id 
bin Herrin im eigenen Haufe. Wer hindert mid, wenn ich Dich 
lieben will? Doch wollte ih, Du wärft artiger geweſen, aber mad 
geſchehen, ift gefchehen... vorbei! Sept fehlt nur noch ber Liebes: 
ſchwur, Andreas, einen regelrechten Schwur will ih, Andreas, 
geſchwind! Mein Bott, das Kind weiß von nichts, ich muß ihm 
Alles beibringen.” 

Lucilie ſtellt fi wor -mich Hin, Heißt mich die rechte Hand in 
Die Höhe heben und ihr Alles nachſprechen, und erfünflelt eine feier: 
liche Miene, die zu ihrem Schelmengefidhichen ſchlecht paßt. 

„Ich ſchwoͤre Lucilie, die ih von ganzem Herzen liebe . 
nun, mein Herr, koͤmmt's bald ?“ 

„Ich ſchwöre Lucilie, die ich von ganzem Genen liebe...“ 

„But fo... und ewig lieb behalten will.. 

„D gewiß, ewig!“ 

„Wie nett er bad fagt! Einen Kuh Dir, zum m gohn, Anudreas. 

Mein Gott, wo waren wir ?“ 
„Ih ſchwoͤre, Sie ewig zu lieben, theure Lucilie.“ 

„Theure Lucilie, immer beffer! Ja, Andreas, Du mußt mid 
fo nennen, Notabene, wenn wir allein find, denn vor der Walt 
darfft Du nichts merken Faffen.“ 

„Gewiß nicht, Mamſell.“ 

„Mamſell? Was ſoll das froſtige Mamſell? Sag': theure 
Lucilie, wie Du eben fo nett ſagteſt.“ 

„Isa, meine theure, innigft geliebte Lucilie.“ 

„So iſt's recht, mein lieber Andreas. Aber der Schwur, mein 
Gere, mit bem kommen Sie nicht. Einen Schwur will ih, einen 
Schwur, verſtanden? Alſo: ich ſchwoöre ihr eiwige Treue... num, 
Iommt’8 bald ? “· | 

res Mes verficht. man basunder, Bueiliet“ 





>». 

Heilige Butter Gottes, das heißt... aber dem Kinde muß 
man Alles fagen! das Heißt, daß Du nur mich lieben will.“ - 

„Das kann ich nicht ſchwoören, Rucilie.” 

„Bas? Wie? Das Einmen Sie nicht ſchwoͤren, mein Herr? 
Warum nicht, wenn ich bitten darf?“ 

„Weil ich lügen müßte, und ein Savoyarde Tügt nicht, ſelbſt 
wenn er in Bari erzogen iſt. Sch will nie vergeffen, was mein 
Bater felig . 

„Bon dem Allen verfiche ich nichts, mein Herr, Haben Sie 
eiwa ſchon Ihr Auge. auf eine Andere gerichtet, Eleiner Verräther ? 
Ar lieber Andreas, das wäre recht ſchlecht gehandelt!“ 

„Und ich fol nicht "mal meine Wohlthäterin, Nanette und 
Fräulein Adolphine lieben dürfen?“ 

„So meine ih’3 nicht, Andreas, ich meine unter Liebe... 
doch wozu ber Schwur, Thorheit das! Man ſchwoͤrt und vergißt 
über dem Schwur die Berfon, der man gefchtvoren bat. So geht's 
in der Welt. Liebe mich, fo viel Du kannſt und magft; ich barf 
nicht mehr verlangen von Dir ald Freundſchaft. Du biſt fieben- 
zehn Jahre alt, ich wierundzwanzig: fo bin ich bald zu alt für 
Dich, Andreas.“ 

„Was kümmert mich das Alter, Lueilie, ih will Dich ewig 
lieben.“ 

„Das Alter macht viel aus, Andreas. Auch fag’ ich nicht, 
daß ich alt bin, Gott fei Dank, im vierundzwanzigften Jahre iſt 
man noch jung, fehr jung, Andreas; namentlich die Weiber. Mit 
den Männern iſt's anders, die fcheinen viel eher vernünftig. Du 
3. B. fiehft fhon aus wie ein Mann von zwanzig Jahren. Aber 
was ift Vie ihr, Andreas... meiner Seel’, elf Uhr! Wenn Madame 
ruft! Ich muß fort, ſchade, Schade! Adien, Andreas, Adien! Aber 
noch Eins, Andreas, noch eine Bitte, die Du mir nicht abjchlagen 
darfſt.“ 

„Und die wäre ?“ 


0 


„DaB Du nicht fo oft zu Deiner Nauetie geht, ich mag fr 
nicht, Deine Nanette, fie iſt eben fo alt wis Du; Hat fie feinen 
Liebhaber ? 

„Nanette einen Liebhaber? O nein, nein, Lucilie! Sie deut 
nicht daran.” 

„Woher weißt Du dad? Doch ich errathe, warum ? Weil Du 
ihr Liebhaber biſt! Warte, Schelmchen!“ 

„Ich Nanettens Liebhaber? Nein, Lucilie, ich liebe fle wie 
eine Schweſter.“ 

„Sa ba! Man weiß, was das Heißt, man kennt die Liebe 
von Brüdern zu Mamſellchen, die nicht ihre Schweſtern find! Und 
ed wäre recht fchlecht von Dir, die Tochter des ehrlichen alten 
Bernhard zu verführen, der Dich wie feinen Sohn aufgenommen 
und behandelt Hat.“ 

„Aber, Mamfell, ih fchwöre.. .“ 

„Aber, mein Herr, Sie wiffen, ich will Teinen Schwur, dad 
ba ift beſſer . . Adien jept, Andreas, ih muß fort. Du geht 
glei zu Bette, nicht wahr ?“ | 

„Gewiß, Lucilie, was foll ich noch thun 2“ 

„Gut fchlafen, Andreas, und von mir träumen, wie ich von 
Dir träumen will, und wie ich ſchon oft geihan habe, ohne Dir’ 
zu fagen. Jetzt wirb er mir vollends feine Ruhe mehr gönnen Im 
Traum. D, die Männer bie, wie dad Volk und quält! Mein 
Gott, wenn ih daran denke, habe ihn als Rind gelaunt und heute... 
heute... . gute Nacht, Andreas!“ 

Sie kußt mid, geht, kommt zurüd und küßt mich nocgmalß. 
So macht fie's wenigſtens zwanzigmal. O, das reigende, wonnige 
Geſchoͤpf! Endlich ift fie fort, und gleich liege ich im Belt. Wer 
hätte gebacht, daß ein Tag, der fo bitter anfing, fo füß euben würte! 


— 











21 


Aeunzehntes Aapitel. 
Ein neuer Ankömmling. — Abreife. 


Dank den Tröftungen ber liebenswürbigen Lucilie, bin ich auf 
eine Zeit lang von dem Iräumerifchen Wefen Eurirt. Sobald das 
junge Mädchen einen Rüdfall in die Schwermuth für mich fürchtet, 
fteht fie mir hülfreich bei und verfcheucht mit dem Talisman ihrer 
fügen Liebkofungen alle trüben Gedanken in die Zukunft. Bei ihr 
kann man nur an die Gegenwart benfen. 

Trotzdem fühle ich, daß meine Neigung zu Fräulein Anolphine 
täglich inniger wird. Auch Lucilie Tiebe ich, aber welch' ein Unter: 
ſchied zwiſchen meinen Gefühlen für die Cine und die Andere! Bei 
Ießterer iſt meine Schüchternheit gänzlich verfchtwunden ; ich ſcherze, 
lache, küſſe, und denke nur an's Vergnügen. Der Anblick ihrer 
Reize, ihr fchelmifches Auge, ihr anmuthiges Wefen entflammt, 
meine Siune; ich bin wie beraufcht von füßer Luft. Bei Adolphinen 
bin ich noch immer gleich fchüchtern, gleich verlegen. Ich hätte 
ihr taufend Dinge zu fagen und finde feine Worte dafür, ich fehe 
fie nur verfiohlen an, ich fürchte und wünfche ihrem Auge zu be- 
geguen. Spricht fie mit mir, fo zitiere und feufge ich; ſieht fie 
einen Andern an, fo wird mir, ich weiß felbft nicht wie ſchwül zu 
Muthe. Sf das eigentlich Bergnügen, was ich in ihrer Nähe 
empfinde? Schwerlid, und doch muß es fo fein, weil ich für biefen 
Genuß alle Senüffe, die Lucilie mir gewährt, hingeben würde. 
Es gibt alfo zwei Arten von Liebe. Wie kommt ed, daß man 
der Liebe, die und glüdlich macht, die andere vorzieht, die und 
Schmerzen "bringt? 

Ungeachtet Luciliend Verbot jehe ich Nanette nad) wie vor. 
Das gute Kind nimmt an Allem, was mich betrifft, den lebhaf⸗ 
teften Antheil; ich muß ihr haarklein erzählen, wie ih den Tag 
aber lebe und was ich thue. Gegen fie fchütte ich mein ganzes 


258 
Herz aus, gewiſſe Bertraulichkeiten abgerechnet, die ich für mid 
behalten muß, weil ich kein Kind mehr bin und dad männliche 
Alter, dem ich mich nähere, Berfchwiegenheit fordert. Aber auch 
Nanette ift größer und reifer geworden. Eines Tages, als wir 
allein find, fällt mir ein, was Lucilie Fürzlich fagte. 

„Nanette,“ fage ich zu ihr, „ich habe Teine Geheimniffe vor 
Dir, wie Du weißt, doch fcheint mir, Du ſchenkſt mir nicht da: 
felbe Bertrauen.“ 

Nanette erhebt ihr fanftes, etwas ſchmachtendes Auge auf 
mich und fragt erflaunt: 

„Bad meinft Dun, Andreas?“ 

„Ich meine, Du haft gewiffe unfchuldige Geheimniſſe vor mir... 
in Deinem Alter fängt dad Herz an fich zu regen, glaub’ ich.“ 

Sie erröthet und fragt eben fo haſtig als verwirrt: 

„Ber behauptet, daß mein Herz ſich rege?“ 

„Niemand, Nanette, ich vermuthe ed nur, weil Mamfell Lu⸗ 
eifte meint, Du feieft alt genug... Einen zu Tieben.“ 

„Deine Mamfell Lucilie ift nicht gefcheit. Sie mag mehr wilfen 
als ich, aber ich fehe nicht die Nothwendigkeit davon ein.“ 

„Sei nur nicht böfe, Nanette, es ift ja fein Verbrechen, einen 
Ltebhaber zu haben; ich meine einen Mann, der Dir in Ehren 
den Hof macht.“ 

„Rein, Andreas, nein, ich habe keinen und werbe nie einen 
haben.” 

„Nie? Wer ſteht Dir dafür ?“ 

„Ich ſelbſt, Andreas, ich! Aber was geht das denn Mamfell 
Lueilie an, und warum ſetzt fie Dir folche Dinge in den Kopf ?“ 

Nanette hält die Schürze vor's Auge. 

„Troͤſte Dih, Nanette,” füge ich und nehme fie in den Arm. 
„Du brauchſt nicht zu weinen ; ich fagte va nichts Arges von Dir.“ 

„D doch, doch! Wie kann man mir einen Liebhaber anbichten, 
m, großer Gott, iſls möglich" - 





288 


„Barum mit, Manetie ? Du bi hübſch genug, Einem zu 
gefallen.“ 

Raneite erhebt ſchnell den Kopf und ſieht mich vergnägt an. 

„Alfo Du findeft mich Hübfch, Andreas ?“ 

„Gewiß, Ranette.” 

„Eben fo Hübi als Fräulein Adolphine und Mamfell Lucilie 7” 

„Das ift ſchon ... anders.” 

Sie blickt traurig nieder und wiederholt : 

„Sa, ich fehe, daß es was Anderes iſt.“ 

„Es gibt fo viele verfchlebene Schönheiten, Nanette; feine 
feht der andern ganz gleich und doch gefallen fle uns alte. “ 

„Mein Gott, Andreas, wie gelehrt Du über diefe Dinge zu 
frrechen weißt! Haft Du das auch von Mamfell Lucilie gelernt 7“ 

Diefe naiv: unfchuldige Bemerkung Nanettens zwingt mich, zu 
erröthen. Nach einer Weile hebt fle auf’ Neue an: 

„Und wärs Dir recht, wenn ich einen Mebhaber hätte 7’ 
„Barum nicht ? wenn er anders gut, redlich, fleißig und x vers 
danbig ift... . Frey fo, wie Du’s verhienft.“ 

Raneite anttwortet nichts. Sie flieht auf und trocknet 6; 
zährend fie ihre Acheit Holt, mit dem Schnupftuch heimlich die 
Kngen. Womit hab’ ich ihr denn wehe gethan? Sch denke nach, 
iber finde nichts; gleich darauf tritt Vater Bernharb in's Zimmer 
mb macht unferem Gefpräch ein Ende. Vergeblich über die Urfache 
on Nanettend Kummer nachdenkend, kehre ich in’3 Hotel zurück. 

Hier finde ich Alles in großer Bewegung. Im Hofe des Hötels 
ak ein Reiſewagen und dicht dabei fteht ein von Kopf bis zu Fuß 
rfanbter Poſtillon. Wer mag denn angefommen fein ? Zum Güde 
egegue ich alabald ver allwiſſenden Lucilie, die mir die gewünfchte 
afflaͤrung gibt. 

„Der Neffe des Heren Grafen,“ zifchelt fle mir {ms on 
i# fo eben aud dem Wagen geſtiegen. 

Saul de Red. u. . 17 


Ich biete Allem auf, meine hübfche Leidtragende zu befänfti- 
gen, bie mich der Reihe nad) ein Ungeheuer, einen Treulofen, 
einen Eleinen Verräther und Gott weiß, was fonft noch fchimpft. 
Vergebens betheure ich ihr, daß fie im Irrthum fei; alle Worte 
und Vorſtellungen fruchten nichts: fie behauptet, Welt und Men: 
ſchen befjer zu fennen. So muß denn au ich zu andern Mil 
teln greifen. 

Endlich Hab’ ich ihre Tihränen geirodnet : fie findet mich nach⸗ 
gerade nicht mehr fo fchlimm und böfe, bittet mich aber beim Fort: 
geben flehentlich, das widerliche fauertöpftfche Mefen abzulegen, 
wenn ich anders den Damen gefallen wolle. Als fie fort ift, Felle 
ih allerhand vergleichende Betrachtungen an über mein Berhältnig 
zu den brei Weibern, die ich am meiften liebe. Adolphine macht 
mich glüdlich mit einem Worte, einer lächelnden Miene ; fle jcheint 
die innigfte Freundfchaft für mich zu empfinden, ſpricht immer mit 
Bergnügen mit mir, und doch ift fie nicht traurig, wenn ich nicht 
bei ihr Bin; fle gibt ſich allen Vergnügungen ihres Alters ganz 
und ungetheilt hin, vielleicht weil fie mich dann vergißt. Lucilte 
dagegen vergöttert mich, wie fie fagt, und möchte ven ganzen Tag 
bei mir fein; aber ihre Liebe ift gebieterifch, fie zankt und ſchilt 
mich, wenn ich zerftreut und nachdenklich bin ; ich fol nur fle ſehen, 
nur an fie denken, ihr ewig neue Beweife meiner Zärtlichkeit geben; 
. ihre Liebe ift etwas felbftifcher Art, wie mir dünkt. Nanette end» 
lich ift immer gleich gut und freundlich gegen mich, bin ich froh 
oder traurig, erzähl! ich ihr von Lucilie ober von Abolphine. Gie 
bezeigt mir ſtets die nämliche Freundſchaft und braucht mich bloß 
zu fehen, um glüdlich zu fein. Ja, gute Schweſter, id) weiß 
gewiß, Dein Herz wird ſich nie verändern, denn bie Freunbfchaft, 
bie Dich befeelt, iſt dauerhafter als Liebe. 

Den folgenden Morgen läßt mich Herr Dermilly zu ſich rufen. 
In der Vorhalle des Hotels treffe ich den jungen Margyis pen 
Champagne. Ich grüße den Neffen des Her Grafen hoͤflich; 











Fu | 


himmelhohe Kluft Dich trennt von dem liebenswürbigen Kinde? 
daß ihr Bater Dich verächtlich anflcht? Ja, ich weiß dies Alles 
und doch ärgert mich die Ankunft diefes Neffen. 

Diesmal bin ich eben fo neugierig als Lucilie. Ich brenne 
vor Ungebuld, den neuen Ankoͤmmling zu fehen. Endlich geht mein 
Wunſch in Erfüllung : ich fehe ihn von meinem Fenſter aus über 
den Hof fpazieren. Wirklich iſt er groß, ziemlich ſchlank, regel: 
mäßig von Geſicht; aber wie gebieterifch gegen feine_Diener, wie 
aumaßenb und nachläffig in Manieren, wie abgefchmadt in Klei⸗ 
vung und Haltung. Gr bleibt kaum fünf Minuten im Hofe und 
[don hat er wenigftens hundertmal mit der Hand in feiner Frifur 
herumgefahren, die Cravatte hin und her gezupft und feine Kleider 
glatt geſtrichen; wie Tann fo Einer liebenswürbig, geiftreich, ges 
müthlich ſein? Insgeheim gebe ich mich der Hoffnung Hin, er 
werde Adolphine nicht gefallen. 

Den ganzen Tag bleibe ich auf dem Zimmer; ich wage nicht, 
mr Gräfin Hinunterzugehen, aus Furcht, dem jungen. Marquis zu 
begegnen. D, wie bleiern fchleichen die Stunden dahin ! 

Gegen Abend befucht mich Lucilie. Sie fragt nad} der’ Urfache 
meiner Berftimmung ; ich möchte nicht, daß fie fie erräth, und 
dech kaun ich mir feine Gewalt anthun. Lucilie verfucht nach beften 
Kräften, meinen Trübflun zu verſcheuchen; diesmal find alle ihre 
Unftrengungen vergebend. Das erzürnt fie fo, daß ſie betheuert, 
ich ſei ganz unausſtehlich und verdiene nicht mehr, daß man fi 
fe viel Mühe um mich gebe. 

Ich laſſe fie fortſchwatzen: "die härteften Vorwürfe hätte ich 
mbig angehört, und denke nur an Adolphine und den jungen Mars 
wis. Als fie merkt, daß mit Boͤſem nichts anzufangen ift, ver- 
fat fie's auf andere Weife und wirft ſich ſchluchzend auf einen 
ichl. Die Thränen der Schönen erweichen auch das haͤrteſte 
Menecherz, wie viel mehr das Herz eines achtzehnthalbjaͤhrigen 
Raglings, bei im erſten Stadium der Liebe ſich beſindet. 


36 


\ 

Ich biete Allem auf, meine hübſche Leidtragende zu befägfti- 
gen, bie mich der Reihe nach ein Ungeheuer, einen Treuloſen, 
einen Kleinen DBerräther und Gott weiß, was fonft noch ſchimpft. 
Bergebens betheure ich ihr, daß fle im Irrthum fei; alle Worte 
und Borftelungen fruchten nichts: fie behauptet, Welt und Raw 
fchen beffer zu kennen. So muß benn auch ich zu andern Wit, 
ten greifen. 

Endlich Hab’ ich ihre Tränen getrocknet: fie findet mich nad: 
gerabe nicht mehr fo ſchlimm und böfe, bittet mich aber beim Fort: 
gehen flehentlih, das widerliche fauertöpfifche Mefen abzulegen, 
wenn ich anbers den Damen gefallen wolle. Als fie fort ik, Relle 
ich allerhand vergleichende Betrachtungen an über mein Verhältniß 
zu den drei Weibern, bie ich am meiften liebe. Abolphine macht 
mich glücklich mit einem Worte, einer lächelnden Miene ; fle ſcheint 
die innigfte Freundfchaft für mich zu empfinden, fpricht immer mit 
Vergnügen mit mir, und doch ift fie nicht traurig, wenn ich nicht 
bei ihr bin; fle gibt fich allen Vergnügungen ihres Alters gan 
und ungetheilt Hin, vielleicht weil fie mich dann vergißt. Lucilie 
dagegen vergoͤttert mich, wie ſie ſagt, und moͤchte den ganzen Tag 
bei mir fein; aber ihre Liebe iſt gebieteriſch, fie zankt und ſchilt 
mich, wenn ich zerſtreut und nachdenklich bin ; ich ſoll nur fle jeben, 
nur an fle denken, ihr ewig neue Beweife meiner Zärtlichkeit geben: 
. ihre Liebe ift etwas felbftifcher Art, wie mir dünkt. Nanette nd 
Yich ift immer gleich gut und freundlich gegen mich, Bin id 
ober traurig, erzähl’ ich ihr von Lucilie ober von Adolphine. Ei 
bezeigt mir ſtets die nämliche Freundſchaft und braucht mich Ble 
zu fehen, um glüdlich zu fein. Ja, gute Schwefter, ich mei 
gewiß, Dein Herz wird ſich nie verändern, denn bie Freunbfchaft 
bie Dich befeelt, ift dauerhafter als Liebe. 

Den folgenden Morgen läßt mich Herr Dermilly zu ſich rufe 
In der Vorhalle des Hotels treffe ich den jungen Margyis 
Champagne. Ich grüße den Neffen des Herrn Grafen höflich ; de 













257 


ber fieht mich an, buͤckt fich gegen Champagne und fragt ihn fo 
laut, daß ich's höre: 

‚Dem gehört der Knabe ?“ 

Bem ich gehöre? D, die Unverfehämtheit! Bin ich denn 
ein Knecht ? 

Champagne antwortet Teife vem jungen Marquis, der hoͤhniſch 
iu lächeln anfängt und eben fo laut wie früher fagt: 

„So, fo, das ift der Savoyarde, von dem mein Onkel mir. 
zählte 2“ j 

Schon wieder der Savoyarde! Der anmafende Ton, in 
dem der junge Menfch diefe Worte fpricht, treibt mir das Blut ind 
ft. Schon will ich umkehren und ihn zur Rebe flellen, denn 
nich gelüſtet, an dieſem Manne, ven ich, ohne ihm zu fennen, 
retabſcheue, mein Müthchen zu Fühlen und mich mit ihm zu ſchla⸗ 
gen... aber ex ift nicht mehr da. Alsbald werde ich ruhiger und 
ee über dem Gedanken, der in mir aufflieg. Im Haufe meiner 
Bohlthäterin Händel zu fuchen mit einem Verwandten ihres Gatten, 
dad der Dank für ihre große Güte gegen mich? Lieber flieh' 
von bier, fage ich zu mir, .che du dich auf fo ſchnode Weife an 
kiner Beichüßerin vergehft! 

Ih begebe mich zu Herrn Dermilly, 

„Andreas,“ redet er mi an, „ich habe Dir einen Vorſchlag 
a machen, von dem ich wünfche, daß er Dir genehm fein möge, 
°G ſtelle ich Alles Deinem freien Willen anheim. Auf Rath 
uined Arztes bin ich zu einer Reife in die Schweiz entfchloffen : 
fon lange fehne ich mich nach dem fehönen Lande, das dem Ange 
8 Malers eben fo viel Genuß verfpricht, wie dem Auge des ein- 
aben Naturfreundes. In acht Tagen reife ich ab. Willſt Du mit?“ 

„O5 ich will!" rufe ich entzüdt und drüde gerührt Herrn 
ſermilly's Hand. „Sie könnten mir den Borfchlag zu Feiner paf- 
uderen Zeit machen. Ia, ja, ich reife mit Ihnen, wann Ste 
len: morgen, heute, noch in diefer Stunde !” 


„I an Deiner Stelle, Andreas, ich warde nicht im Hötel 
bleiben ; wenn ich fo viel wüßte, wie Du jest. Du haft weiter 
nichts davon , ald daß Du Dich au ein vornehmes Lehen gewöhnſt.“ 

Ich glaube, Nanette hat nicht ganz Unrecht. Aber hat nicht 
meine Wohlthäterin ein Recht, über mich zu verfügen. Und werde 
ich’8 je über mich gewinnen können, Adolphine zu verlaffen ? Ad, 
in dem Augenblide denke ich erfi an ben jungen Marquis! 

Bei meiner Rüdkunft ind Hötel laſſe ich mich bei meiner 
Mohlihäterin melden. Zitternd trete ich ins Zimmer, wo ich Mutier 
und Tochter allein finde und ihnen die Abficht des Herrn Dermilly 
mit mir eröffne. 

Die Gräfin billigt meine Entihlüfe. „Die Reife kann Dir 
nur nüßlih werden,“ fagt fie zu.mir; „fle vervollſtaͤndigt Deine 
Erziehung. Herr Dermilly Tann Dir die befte Anleitung geben, 
mit fremben Ländern und Menſchen befannt zu werden und nüß- 
Hiche Kenntniffe einzufammeln. Nach Deiner Rückkehr will id 
glei; an die Sicherung Deiner Zukunft denken.“ 

Kaum höre ich, was die Frau Bräfin fagt, denn Auge, Ohr 
and Sinne. find ganz bei Adolphine, die, wie mir fcheint, bei 
diefer Nachricht blaß geworden if. Sollte ihr wirklich meine Ab⸗ 
zeife Schmerz machen? Ad, wenn ich Hoffnung hätte, daß fie 
mich nicht gang vergißt, dann würde ich bie Reiſe weniger uns 
gluͤcklich antreten, 

Sie erhebt ſich und kommt auf mich zu. 
„Wie, Andreas,“ ſagt ſie, „Sie wollen uns verlaſſen 1“ 

Der Ton, in dem fie fragt, geht mir bis in die tiefſte Seele. 
Dann umarmt fle ihre Mutter und fragt weiter: 

„Barum laſſen Sie Andreas fort, liebe Mutter? Wozu braucht 
ex die Reife? Es ift viel beffer bei und hier.“ 

„Mein liebes Kind,“ antwortet die Gräfin laͤchelnd, „Nnbread 
fommt bald zurüd. Auch müfjen wir und allmählig an bie Tren⸗ 
nung von ihm gewöhnen; bebeufe, er Tann nicht immer bei und 








Hat mich gleich gern. Das gute Kind bleibt ſich immer gleich.“ 

„Uns Abdolphine?“ fragt er, mich ſchärfer anfehend. 

Der Name Abolphine bringt mich in Außerfle Verwirrung. 

„Fräulein Adolphine,“ ſtottere ich noihbürftig Heraus, „if 
fo gut, fo liebenswärbig.“ 

Mehr kann ich nicht, ich fürchte mich zu verrathen. Herr Der: 
milly HE mit Tragen ein, fieht mich tief bewegt an und ruft 
nach einer Pauſe feufzend: Armer Andreas!” Dabei drückt er 
mir zärtlich die Hand. 

„Hemer Andreas!” 

D Himmel, follte er mein Geheimniß errathen haben ? Aber 
woran? Hab’ ich doch Fein verdaͤchtig Wort gefagt ! 

„Du gehft mit mir,” ſagt Here Dermilly nach einer Baufe 
zu mir. „Die Reife wird Die eben fo wohl thun, und ſtatt acht 
Tage zu warten‘, wollen wir fihon übermorgen Paris verlaffen.” 

„Behen wir nad Savoyen, Herr Dermilly ?“ frage ich ihn 
nach einer Weile. 

„In diefem Jahre nicht, Andreas, aber im naͤchſten, wenn 
weine Geſundheit es erlaubt. Dann wollen wir Deine gute Mutter 
beſachen.“ Welch ein Gluͤck, nach fo langer Abweſenheit die Mutter 
wmieder fehen! Au der Mutterbruſt vergißt man, denke ich, alle 
Schmerzen der Liebe. 

Die Abreiſe iſt unwiderruflich auf übermorgen feſtgeſeht. She 
ih ind Hötel zurückkehre, gehe ich zu Water Bernhard, ihm dev 
Entfegänf des Heren Dermiliy mitzutheilen. Nanette nimmt biefe 
Nachricht ungleich ruhiger auf, ala ich geglaubt Hätte; es fcheint 
ihr fogar Lieb zu fein, daß ich das Hötel verlaffe. 

„Du follteft immer bei Herrn Dermilly bleiben,“ fagt fie, 
„er it fo gut und hat Die fo lieb. Du biſt bei ihm beſſer auf- 
gehoben, dunkt mich, ald beim Grafen, der fo nnartig gegen Dich 
in. Wir Du nach Deiner Müdichr wieder im Hotel wohnen 1“ 

„Geis, Ranstte, eine Zeitlang wenigftens.“ .. 


"glüdlich antreten, 


„I an Deiner Stelle, Andreas, ich warbe nicht im Hötel 
bleiben ; wenn ich fo viel wüßte, wie Du jegt. - Du ha weiter 


nichts davon , ald daß Du Dich au ein vornehmes Leben gewähnk.“ 


Ich glaube, Nanette hat nicht ganz Unrecht. Aber Hat nicht 
meine Wohlthäterin ein Recht, über mich, zu verfügen, Und werde 
ich's je über mich gewinnen können, Adolphine zu verlaffen ? Ach, 
in dem Augenblide denke ich erfi an ben. jungen Marquis! 

Bei meiner Rückkunft ind Hötel laſſe ich mich bei meine 
Wohlthäterin melden. Zitternd trete ich ind Zimmer, wo.id Makler; 
und Tochter allein finde und thnen die Abficht des Herrn Dermilly 
mit mir eröffne. 

Die Gräfin billigt meine Entſchlüſſe. „Die Reife Tann Dir 
ame nüglich werden,” fagt fie. zu.mir; „fie vervollſtaͤndigt Deine 
Erziehung. Herr Dermilly kann Dir die befte Anleitung geben, 
mit fremden Ländern und Menſchen befannt zu werden unb nüch⸗ 
fiche Kenntniffe einzufammeln. Nah Deiner Rücklehr will id 
gleich an die Sicherung Deiner Zukunft denken.” 

Kaum höre ich, was die Frau Gräfin fagt, denn Ange, Ohr 
and Sinne. find ganz bei Moolphine, die, wie mir feheint, bei 
diefer Nachricht blaß geworben if. Sollte ihr. wirklich meine I: 
veife Schmerz machen? Ad, wenn ich Hoffnung Hätte, daß fe 
mich nicht gang vergißt, dann würde ich die Reife weniger ur 


Sie erhebt ſich und kommt auf mid) zu. 
„Wie, Andreas,“ fagt fie, „Sie wollen uns verlaffen 3“ 
Der Ton, in dem fie fragt, gebt mir bis in die tiefſte Seele. 
Dann umarmt fie ihre Mutter und fragt weiter: 
„Barum lafjen Sie Andreas fort, liebe Mutter? Wozu braudıi 
ex die Reife? Es ift viel beſſer bei uns hier.“ 
„Mein liebes Kind,“ antwortet die Gräfin laͤchelnd, „Aubreai 
fommt bald zurüd. ud) müflen wir und allmählig an bie Tren 
nung von ihm gewähnen; bedenke, er Fan wicht immer bei amı 





2 
Ken ; Andreao wird täglich Alter und größer und muß... bach 
davon fpäter mehr,“ 

Koolphine fieht mich traurig an und ich blicke ſeufzend nieder. 
Ih darf ihr nicht fagen, daß es mein hoöchſtes Glück wäre, ewig 
biiße zu fein und zu bleiben! Es gibt ja Manches im Leben, 
"3 man nur benlen, nicht jagen barf. 

Blöplich wird die Thüre aufgeriffen. Laut lachend fürmt der 
funge Marquis herein und wirft fich in einen Seffel. | 

„Der Herr Onkel ifi wüthend,“ ruft er, ſich den Bauch hal- 
ka wor Lachen. „Ich wollte Eäfar rauchen lernen und ‚habe ihm 
vaei einen Zahn ausgebrochen.“ 

Die Ankunft des jungen Marquis unterbricht und Drei. Ma⸗ 
hme bat die Güte, ihn anzuhören, Apolphine ſetzt ſich an ihr 
diano und ich gehe fort, deun der Unfall Gäfars verhindert natur⸗ 
id, an bie Abreife des Savoyarden zu denken. 

Nur Lucilie weiß noch nichts von meiner bevorfichenden Ab⸗ 
wife. Ich will damit warten bis Abend, benn ſobald die Frau 
&äftn ihre Dienfte nicht mehr braucht, kommt fie gewöhnlich auf 
min Zimmer, um noch ein Weildden zu plaudern, ehe fie zu 
Bette geht. 

Schon höre ich fie Die Treppe herauffliegen. Gewiß erkundigt 
fe fih, ob ich heute wieder. fo traurig bin wie geftern. 

Sch weiß nicht recht, wie ich bei ihr die Sache anbringe; fie 
it fo ſelbſtſüchtig, fo ſtürmiſch in ihrer Siehe. Ich fürchte, ſie gu 
azürnen, und bach muß ich reben ; fie felbft fordert mich dagu auf. 

„Du haft wieder was heut’ Abend,“ fagt fie mir, „ich jeh 
Dir's an den Augen an. Schon wieder Gcheimniffe vor mir, he? 
Ich will und muß Alles wiſſen, felbft Deine Trenlofigleiten, wenn 
Du unbankbar genug wäreft, ſolche zu begehen.“ 

„Rein, nein, Lucilie.“ 
„Se ſprich, Audreas. Ich denke mir allerhand.“ 
„Lacilie, ich will fort, aber komme bald wieder.“ 


„Du willſt fort, mein Gott, um elf Uhr Machts? Mei 
Herrchen, das geht nicht, over ich ſag's Madame.“ , 

„Sie verſtehen nich nicht, Lucilie. Herr Dermilly will mich 
mitnchmen in bie Schweiz, wohin er reisat auf ben Math feines 
Argtes; ich Degleite ihn und ſchon übermorgen zeifen wir ab." 

„Abreifen?... in die Schweiz? ... übesmargen ? Usb dad 
ſagt ex mir fo, als... Andreas, wenn Du fortgehſt, täbl’ ih 
mich aus Hexgeleib !" 

Cie wirft ſich in einem Stahl, macht die Augen gu, ſtredt 
bie Hände and und knirſcht mit den Zähnen. Mein Belt, ich 
glaube, fie kriegt Krämpfe... ja, ja, He wirb unwohl. Geſchuind 
laufe id; in ihre Rammer, Hole Dxangenblüthenmafler, Zuder, 
fig, Kolniſchwaſſer, reibe ihr die Schläfe und Kalte ihr das Flacon 
under die NRaſe. „Bucilie!“ zufe ich, „geliebte Bucilie, erwache! 
Ich komme ja bald wieder; ich wi Dich micht vergeſſen!“ 

Gie antwortet wicht, fie regt und rüttelt ſich nicht. Meine 
Murahe ſteigt auf's Hoͤchſte; fchon will ich Hälfe zufen, als fir 
plögic auffpringt, die Glaͤſer und Flaſchen, Die ich ihr Hinhalte, 
mir aus der Hand wirft und zornig fehreit: „Nein, mein Ges, 
Sie reifen nicht, ich will es nicht, ich, verſtehen Sie mi! Sie 
Veiben hier oder ich gehe mit Ihnen überall kin, bis ans Ende 
ber Belt. Mag man fagen, was man will, gleichviel!“ 

Dabei geht fie heftig im Zimmer auf und ab, Kampft mit 
bem Fuß auf den Boden, wirft bie Möbeln bei Geile, bie ihr 
im Wege fischen, fchlägt mit geballier Fauſt auf den Tiſch uud 
Gommabe, wie sin Heiner Teufel. Obgleich ich daraus ſehe, daß 
fie was auf'mid Hält, fürchte ich doch, daß man deu Lärm unien 
Bört. Ich voerfuche die letzten Worte, fie zu berukigen; fie hact 
mich nicht. Endlich Habe ich das Meben fat, Danı fängt fie an 
zu weinen, und mit ben Thränen hat ihre Kaſerei aufgehärt. 

Allinaͤhlig nimmt fie Bernunft an und ſpricht wie länger 
bavon, mir za fußgen oder ſich um& Leben zu Ieingen, Dafür sch 


ed jeht an ein Seufzen und Schmachten ; ein Schwur ewiger Treue 
vrängt den andern u. |. w. Ich thue Alles, was ich Tann, fie zu 
beruhigen, aber es will mir nicht recht gelingen. 

Es fchlägt Mitternacht. Lucilie will fort, doch bittet fie mid, 
fie zu begleiten, um noch Länger bei mir zu fein. Ich habe ja 
nicht weit; ihre Tihüre ift der meinigen gegenüber. Lucilie bittet 
mich einzutreten ; fie habe noch keine Luft zu fchlafen. I and 
nicht, und wie Föunte ich ihr etwas abfchlagen, die mir fo viel 
Anhänglichkeit bezeigt! Sch gehe alfo Hinein, nur für einen Augen⸗ 
blick, aber ich weiß nicht, wie ed kommt: die ganze Macht verfliegt 
und die liebe Sonne findet mich noch in Luciliens Kammer. 

„Dein Gott,” ruft das junge Kemmermäbchen, „Mile find 
ſchon wach im Hotel, Wenn fie Dich fortgehen ſehen, was werden 
fie von mir denken ?“ 

„Gewiß Teine Unwahrheit!“ fag’ ich bei mir. Doch begreife 
ih, daß man gewiffe Dinge nicht an bie große Glocke hängen darf. 
Lueilie will, ich ſoll bis an den Abend in ihrer Kammer verfedit 
bleiben. So weit geht meine Vorſicht nicht und ich finde mich vor⸗ 
anlaßt, Lucilie in aller Güte zu wiberfprecden. Ich glaube, fie 
hätte mich gar zu gerne ganz bei ſich behalten !! 

neberdies babe ich noch allerlei Vorkehrungen zu treffen für 
die morgige Abreife. Troß der flehentlichſten Bitten Lueiliens, bie 
Alles für ihren guten Ruf befürchtet, ſchleiche ich mich fort aus 
ihrer Kammer und erreidhe ungefehen die meinige. Ich pade meine 
Effekten und laſſe fie dann zu Herrn Dermilly bringen. Es bleibt 
mir kaum noch Zeit, von Vater Bernhard -und Nanette Abſchied 
zu nehmen. Sch verfpreche der guten Schwefter, ihr recht oft zu 
ſchreiben und bitte fie, mir eben fo oft zu antworten. Zugleich 
händige ich Bernhard eine neue Gelbfumme für die Mutter ein, 
Bon der Seite kann ich alfo auf einige Zeit ruhig fein. 

Auch Lucilie will, daß ih ihr fchreibe, was ich unter der Be- 
bingung verſpreche, daß fie meine Briefe beantworte unb mich über 


\ 


284 
Alles , was während meiner Abweſenheit im Schloffe vorgeht, anf 
dem Laufenden halte. Ich Tann mich an Feine beffere Quelle wenden. 

„Sch verfpreche Dir's, Andreas,“ fagt fie. „Nur darfft Du 
über meinen Styl nicht lachen.“ 

Ueber ihren Styl lachen! Glaubt fie denn, ich koͤnne je ver: 
geffen, was ich früher gewefen bin? Sie meint, ich bürfe es fo 
Manchen nachmachen, die ihre Abkunft nur zu bald vergeffen! Nein, 
Lucilie, Du irrſt, ich werde meines Baterlandes, meiner Herfmft, 
meiner Eltern, meiner Hütte ewig eingeben bleiben ! 

Ich nehme den Augenblid wahr, wo Madame mit ihrer Tochter 
allein ift, um ihnen Lebewohl zu fagen. Wie betrübt fieht mid 
Abolphine an! Mein Herz ift fo voll, daß ich feine Worte finden 
kaun und fchweigend vor Madame ſtehen bleibe. Doch erräth fir, 
warum ich Tomme. 

„dien, Andreas,” fagt fie, „reife glücklich und vor Allem gib 
ae Acht auf Herrn Dermilly. Seine Gefunbheit iſt fehr leidend, 

doch hoffe ich, die Neife fol ihm gut thun. Du weißt nic, 
Andreas, wie viel Du an ibm haſt: einen Vater, einen Freund. 
Das vergiß nicht.“ 

Das ſagt ſie mit tief bewegter Stimme. Ich nehme ihre Hand, 
brüde fie an mein Herz und verſichere ihr, daß ich Alles thun werde, 
um mich der Güte defien, dem ich nach Ihr das Meifte verbanke, 
lets wärbig zu beweifen. 

Dann wende ich mich zu Adolphine, verneige mich gegen fe 
und wii fortgehen. 

„Run, Andreas,” jagt meine Wohlthäterin, „und Du nm- 
armſt Abolphine nicht I“ 

Sie umarmen! Das wagte ich nicht, und noch in dem Augen: 
blicke wage ich's nicht. Aber das Tiebliche Kind ſteht auf and 
—— mir einige Schritte. Sie hält mir die rofige Wange hin 


„Übieu, Andrens, kommen Cie bald und recht gefund zurhd.” 


365 


keiſe berüthhre ich mit meinen Lippen ihre Wange unb ſtürze 
bann zum Thüre hinaus, denn der Kopf ſchwindelt mir; ich weiß 
nicht mehr, wo ich kin. Die Srinnerung an biefen feligen Augen: 
bli€ begleitet mich überall Hin auf meiner Reife. -. 


Bwanzigfies Kapitel. 
Die Schweizerreife. 


Der Wagen rollt dahin; mehrere Meilen trennen mich fchon 
von ihr und doch fühle ich den Sammt ihrer Wange no auf 
meinen Lippen, doch weht mich noch ihr füßer Athem an, doch 
bebe ich noch von ber zauberifchen Wirkung ihres Kuffes! .. . 
Rauſch der Liebe, du bringſt alle anderen Gefühle zum Schweigen, 
du machft oft ungerecht, hart, undankbar und felbfifüchtig. Schwe⸗ 
fern, Freunde, Eltern... Alles ift vergeflen, fo lange du dauerſt. 
Aber du bift nur ein Rauſch. Mit dem Wiebererwachen der Ders 
nunft tritt auch die Freundfchaft in ihre alten Rechte ein! 

Mehrere Stunden lang flarre ich ſchweigend vor mich Hin, im 
tiefe Nachdenken verfunfen. Herr Dermilly ift fo zart, mich nicht 
aufzuflören aus meinen Träumereien. Endlich fehe ich mich im 
Wagen um und finde mich an der Seite deffen, ber mich zu feinem 
Reifegefährten erforen bat, und noch habe ich kein ſterbend Wörtchen 
mit ibm gewechjelt. 

„Berzeihen Sie, Sen Dermilly,” fage ich, mich, ſchnell auf: 
richtend, „ich dachte. 

„Macht nichts, Andreas,“ antwortet ex liebreich, „ich weiß, 
was Di drüdt. Im Anfang der Reife iſt dad Herz noch voll 
vom Abſchiede. Aber das gibt fich bald. Sieh’ Dich um mit mir 
in der freien Natur ; Iabe Dich an ber ſchoͤnen Landſchaft, an ben 
Feldern, Wiefen und Waldungen ; vergiß einen Augenblick Paris ı 
Du findefl es wieber, vie Du es verlaffen haft. Andreas, Du biſt 


- 206 
* 


Iaum achtzehhn Jahre, und ſchon quält Dich die Liebe. Veſiege die 
Leidenſchaft oder fie Befiegt Dich und macht Dir viel Kummer. 
Diele Welt ift nicht für empfindfane Herzen geſchaffen. Rimm’ 
Dir ein Beifpiel an mir; auch mich hat die Lishe unglücklich ge: 
macht, weil ich meiner Leidenfchaft freien Lauf ließ. Ohne viele 
Neigung, wie glücklich Eöunte ich jetzt fein! Jetzt erſt, in meinem 
vierzigfien Jahre, ſehe ich ein, wie unvernünftig ich Hanbelle; 
bamald, im fünfundzwanzigften Jahre, dachte ich anderd. Ich 
warne Di, Andreas: follieft Du eine Neigung fühlen, die feinen 
Grfolg verfpricht, fo reif’ Dich heraus, dann fiegft Du über fie.” 
Herr Dermilly hat ganz recht. Statt ewig von ber reizenven 
Adolphine zu träumen, thäte ich beffer, meinem Herzen anderwei⸗ 
tige Beichäftigung zu geben, ſelbſt auf Unkoſten meiner Trenesgegen 
Lueilie. Aber ich bin noch weit von den Bierzigen und denke jeht, 
wie Herr Dermilly im fünfundzwanzigſten Jahre dachte. | 
Mein Sefährte unterhält mich von Nanette, Bernhard, meiner 
Mutter und dem armen Beter, ber gewiß nicht mehr lebt. Wie | 
gerne Höre ich ihm zu. Nein, die Liebe hat fo füße Erinnerungen 
noch nicht aus meinem Herzen verbannt! Dafür unterhalte ich ihn 
son, der gnäbigen Frau. Dann, glaube ich, träumt er noch eben 
fo fanft wie in feinem fünfunbzwanzigften Jahre. Ä 
Zum Lohn dafür unterhält er mich wieder von Abolphine. 
Daun mache ich's, wie er zuvor. Keine Silbe entfällt mir, umb 
ich bitte ihn, immer wieber von vorn anzufangen. So verfländigen 
fich unfere Herzen auf's Beſte. Unter diefem gegenfeitigen Aus: 
tauſch von Gedanken und Gefühlen verfließt die Zeit aufs An: 
genehurſte. | 
Unfer Weg geht zuerft nad) Bafel, wo wir einige Zeit bleiben 
wollen, um bie Umgegend zu befuchen. Die Stabt ſelbſt iſt ziemlich 
ſtaſter; die Cinwohner find nicht fehr verbinblich, aber bie Ums | 
gegend herrlich. Welch' Vergnügen, in ben maleriſchen Thälern 
herumzuſtreifen, die Berge zu ertlinmen, bie alten Schloßeninen 








4 

anf heen GSipfeln zu erſteigen und von dort aus bee Stutz der 
Gießbahe über ven Felfengrund zuzuſehen. Diefer prachtvolle Au: 
blick erinnert mid an meine Heimath. Die Schweiz hat sieh 
Aehnlichkeit mit Savoyen, nur fcheinen die Bauern bort reicher 
und glüdlicher zu fein; felten erblickt man einen Betiler. Wie 
treten in aller Brühe ienfere Wanbernugen an und kommen oft erft 
ben andern Tag zurück, dann fchlafen wir in Senwhätten bei Bauern, 
bie und mit ihrer weitgepriefenen Herzlichkeit und Gaftlichleit auf: 
nehmen. Am achten Tage unferes Aufenihaltes in Baſel bekamen 
wie Briefe von Paris ; denn fie wußten, daß wir um die Zeit in 
Bafel fein werben. Es find darunter zwei für mich nnd bloß‘ eines 
für Herrn Damiliy, aber mit welchem Güde eröffnet er ihn... 
und fein Wunder, eine einzige Zeile von geliebter Hand if ja ſchon 
ſo wohlthuend! Aber habe ich ein Recht, zu lagen, ich Undank⸗ 
barex ? Die Briefe find von Lucilie und Nanette. Yangen wir mil 
Lucilie an: ich muß wiſſen, wie es im Hötel zugeht. 

Seht ver Schelm: nichts als Verſicherungen ihrer Liebe und 
Ttene! Glaub’ Ihnen, Mamſellchen. Licher wären mir Nachrichten 
über Madame, Adolph...! Sie denkt immer an mich, fie ſtirbt 
vor Sehnfucht nach mir. Gut, gut... aber kein Wort von Abol: 
phine, vom jungen Marauis. Die Lucklie denkt doch an nichts. 
ber halt, da ift ein kleines Post-seripfum. Nichts Neuss im 
Hoͤtel. Madame iſt traurig, das gnäbige Fräulein bitte, der Kerr 
Graf leidet an Berflopfung, der junge Marquis lebt in Sans und 
Brand.” Um fo beffer, fo kann er nicht bei feiner Couſine fein! 
Was ſteht da unten no? „Here Champagne mächt mir immer 
noch den Hof, aber ich Höre ihn nicht.” Das it ver Mühe werth, 
fo was zu ſchreiben. Item, Ich weiß wenigflens, daß fle traurig 
und ber Herr Beiter nicht Immer um fie iſt. Dank Dir, Lucilie. 

Jetzt atı Nanettens Brief. Gute Nanette, ich hätte mit Div 
anfangen ſollen! Uber wenn ich an Dich denke, denke ich werigſtens 
on; un Die, 


* 


Ihre Zeilen find ber getreue Spiegel Ihres reinen, ſungfrüs 
lichen Herzens. „Sei glücklich,“ ſchreibt fle, „vergiß mich wicht, 
wie ich Dich nie vergefjen werde.“ 

Wie kurz, und doch find die wenigen Worte mehr werth, 
glaube ih, als die ellenlangen Schwüre Luciliens. 

Nach dreitvöchentlichem Aufenthalte in Bafel befuchen wir Bern, 
Aurich, St. Gallen und Neufchatel, Unfer Album wirb täglich 
reicher an malerifchen Landſchaftsſtizzen. Ach, wäre mein Ken 
wicht ſo gebrüdt, mit welchem Enthuſiſasmus wollte ich die Her: 
lichkeiten der Natur genießen! Aber immer muß ich zurädhenfen 
and Hötel bed Grafen und die Bewohner befjelben. 

Mit tiefer Befünmerniß fehe ich, daß es mit. der Gefunbheit 
msined Neifegefährten nicht den erwünfchten Erfolg hat. 

Täglich wird er magerer, bleicher und fchwächer. Ich fürchte, 
die Ausflüge in die Berge fchaben ihm, weil er fich zu fehr aus 
firengt. Aber fo oft ich ihn davon abhalten will, fagt er: 

„Laß mich bie Ratur bewundern und an ihrer Herrlicdhfeit mid 
Iaben, fo lange ich noch Tann. Vielleicht if mein Ende nahe; bis 
dahin möchte ich meine Zeit fo nuͤtzlich ald möglich anwenden.” 

Mir bringen faft zwei Monate in biefen fchönen Gebirge: 
gegenden zu. Herr Dermilly will nun nach Genf. Wir miethen 
Saumthiere und, von Führen geleitet, pilgern wir in kleinen 
Tagereifen weiter und ruhen aus, wo ed und gefällt. Solch' ein 
Reifen lob' ich mir. Set haben wir den Genferjee erreicht. Herr 
Dermilly ift ſchwach und leidend. Ich fehe voraus, daß wir einige 
Bahrain "Senfbleiben muͤſſen, was ich nach Baris ſchreibe. Seit 
länger benn zwei Monaten haben wir feine Nachricht. Wie mag 
ed im Hötel zugehen? Sollte ich fchon vergeffen fein ? " 

Bald daranf antwortet mir Nanette. Immer biefelbe Güte 
uns Sanftmuth! Sie ermahnt mich, Herrn Dermilly fo forgfältig 
Ae möglich zu pflegen und ihn Teinen Augenblick allein zu laſſen. 
Barum antwortet Lucilie nicht eben fo ſchnell? Sie, die mir bis 





289 
and Ende der Welt nachlaufen, aus Sehnſucht nach mir fi um⸗ 
bringen wollte? die yon Krämpfen befallen wurde ? Woher der 
Berzug? Bin ich doch noch fo jung! 

Acht Tage fpäter trifft Luciliens Antwort ein. Immer daſſelbe 
Geſchwaͤtz: Liebe, nichts als Liebe. Doch lodert die Liebesflamme 
nicht mehr fo hell und heiß, wie mich duͤnkt, als im erften Briefe. 
Gottlob, endlich einige Details ! 

„88 geht etwas luſtiger zu im Hötel; wir haben mehrere 
Bälle gehabt. Der junge Marquis ift ein Saufewind, der nie 
genug kriegen Tann. Er ift felbft Sfter bei feiner Gouffne. Made: 
moiſelle wird täglich hübſcher.“ 

Ad, id weiß nur zu gut, wie hübſch fie if. Kaum wage 
ich weiter zu lefen. 

„Sie lacht über die Narrheit ihres Couſins.“ 

Sie lacht mit ihm! Mein Gott, ich bin verloren. Armer 
Andreas, fle denkt nicht mehr an Di! Sie lacht, fie findet ihn 
liebenswürbig, ex gefällt ihr, fie lieben ſich, fie heir ... 

Lefen wir weiter. 

„Der Herr Marquis hat einen Heinen Engländer als Jockey 
in Dienft genommen. Er ift erft fünfzehn Jahre alt, noch ein 
Kind, aber hübſch... ich muß Lachen über fein Kauderwälſch, er 
bringt kaum vier Worte franzoͤfiſch heraus.“ 

Was geht mich das an? Mag er alle Jockey's in Dienft 
nehmen, ber Herr Marquis! Mber Halt, follte fie vielleicht mit 
ihm lachen, wie Abolphine mit dem Marquis?! Sie gibt ſich gern 
nit jungen Leuten ab, um fle heranzuziehen, wie mich. So, fo. 
Daher das lange Stillſchweigen? Doch nein! Hab’ ich nicht ihren 
Schmerz, ihre Thränen, ihre Wuth gefehen, als ich Ihr von meiner 
Tbreife erzählte? Jetzt zum Schluffe. 

„Adien, lieber Andreas. Amüflre Dich gut und fei recht artig. 

Deine treue Lucilie.“ 

Deine treue Lucilie! Ich Habe ihr alſo Unrecht geihan, 

Paul de Rod. n. 18 


%4 möchte gerne nach Boris zuruck; aber Herr Dermilly hat 
Niemand, der ihm von ber. Frau Gräfin erzählen Eöunte, und dad 
allein fcheint ihm gut zu thun, beſſer ald alle Arzuei. Er iſt Franf, 
ich kann und darf ihn nicht verlaflen ... es wäre der ſchmoͤdeſte 
Undank, nach den überfhwänglichen Wohlthaten, womit er mid 
überhäuft hat. Und müßt’ ich ihm mein ganzes Leben widmen, 
ih will e8 ohne Murren thun. 

Endlich befindet ex ſich beffer und wir treten unſere Wan⸗ 
derungen von Neuem an. Könnt’ ich nur die Schönheiten ber 
Natur fo recht aus vollem Herzen genießen. Aber dazu gehört, 
was mir fehlt: Seelenruhe. Wenn Giferfucht im Herzen wählt, 
dann erblindet dad Auge gegen, bie Reize der Natur. 


Einundzwangigfies Rapitel. 

Die Rüdkehr nad Paris. — Ich verlaffe dad Hötel. 
Nach dreimonatlihem Aufenthalt in Genf fchiffen wir und 

auf der Rhone nach Lyon ein. Die Ufer der Rhone erquiden Ge: 
funde und Kranke gleich fehr; mehrere Wochen lang bewundern 
wir bie herrlichen Landfchaften an beiden Seiten des Stromes. 
Das Rhonethal ift weniger malerifch als die fchönen Schweiger: 
thäler, aber immerhin würdig des Pinſels. Ä 
GEndlich denkt Herr Dermilly an die Rückkehr. Wir kommen 
in £yon an und reifen nach achttägigem Aufenthalt in diefer Stabi, 
welche die Grinnerung an ben-arınen Peter und fein Abentener im 
mir wieder auffrifcht, unſeres Weges weiter, Die wantende Ge: 
fundheit Herrn Dermilly’s nöthigt uns von Zeit zu Zeit zu vaflem, 
und erſt nach neunmonatlicher Abweſenheit ſehe ich Paris wieder, 
wo ich das. erſte Mal tanzend und ſingend mit dem verlorenen 
Bruder einzog. Wie iſt jetzt Alles fo anders geworden! | 
„Andreas,“ ſagt Herr Dermilly, als wir. in bie Barieres 








In 


ber Hauptſtadt einfahren, „Du kehrſt in dad Hotel des’ Seren Grafen 
zurück, doch faſt glaube ich nur vorläufig. Was auch kommen mag, 
vergiß nicht, daß ich Dich als meinen Sohn anfehe und daß meine 
Wohnung die Deinige iſt.“ 

Evelmüthiger Mann, wodurch habe ich fo viel Güte verdient? 
Und doch brenne ich vor Ungeduld, ihn zu verlaſſen und in's Hötel 
zurückzüukehren. So undankbar macht die Liebe, ohne je Erſatz zu 
bieten für die Schwächen und ehler, wozu fie Anlaß gibt. 

Es iſt acht Uhr Abends, als ich Das Hoͤtel betrete. Verlangend 
ſehe ich hinauf zu ben Fenſtern von Adolphinens Gemach; ſie iſt 
ba, mein Herz ſagt mir's; aber werde ich fie zu Geficht, bekommen 
hente Abens? Ich fürchte Vater und Neffen. Nein, ich will nicht 
zu ihr. Gefchwind zu Lucilien ! 

Wenn nur Lucilie im Zimmer if. Doch ja, der Schlüffel 
ſteckt. Im Borzimmer höre ich, wie fle in ihrer Schlaffammer ſich 
laut unterhält. Wer mag das fein? Adolphine? Unmoöoͤglich! Ich 
fann nicht umhin, ein Weilchen zuzuhorchen. 

„Hurtig, John, Ihre englifche Lektüre. Aber draͤngen Sie 
nicht fo mit Ihren Beinen gegen meine,” 

„Yes Miss.“ 

„Immer yes, yes. Schon wieder treten Sie mir anf die Füße.“ 

„es, Miss.“ 

„Halten Sie fi ruhig, John, und fagen mir, was „ich 
liebe Ste“ auf Englifch Heißt.“ 

„Llove you, Miss.” 

„Ai love. Wie weit man das Manlchen aufreißen muß. 

Gottlob Babe ich hübſche Zähne... Ai love.“ 

„ı love you for ever” 

„For ever? Was heißt das?" 

„Kor ever, Miss... id liebe Ihnen für viel Seit...“ 

„Da ha ba! Wie Fomifch das klingt! und dabei fieht er mich 

ın, als wäre er zwanzig Jahre alt. Ha ba ha!” 


a7 . 


„For ever, Miss.” 

„Sa, ja, ich verftehe... haltet doch die Kniee ruhig, Heiner 
Sodey. Mein Gott, wie feine Haut die Englaͤnder Haben, erſt ieh! 
fehe ih das... und was Heißt: Füffen Sie mid, Sohn?" 

„Kiss me.“ 

„Kiss me? Ha ba! wie drollig! ... Das kann ich leicht 
nachfagen: Kiss me... Kiss me... na, wollt Ihr gleich auf⸗ 
hören, Schelmden... er erbrüdt mich noch!“ 

Plöglich reife ich die Thüre auf, um dem englifchen Unter: 
richt ein Ende zu machen, und fehe, wie Mamfell Lucilie die Hand 
eines Eleinen, roſigen, pausbädigen Blondins in der ihrigen prüdt. 
Es hat mir ganz den Anfchein, als lerne er ungleich ſchneller denn 
wir Savoyarben. 

Kaum erfennt mich Kucilie, fo ſchreit fie laut auf und wir 
His über die Ohren roth, während ber Eleine Jockey mid; verbußt 
anblidt. Aber fchnell befiunt fie fih und winkt ihrem Schüler 
fortzugehen. 

„Für heute iſt's genug,” fagt fle, „morgen mehr!“ 

Mafter Sohn grüßt fie faft mit betrübter Miene und ſchleicht 
fich leiſe brummend aus dem Zimmer fort. 

„Alfo wieder zurüd, Andreas?” fagt Lucilie, auf mich zu 
tommend. „Das nennt man Ueberrafchung.“ | 

„Ich ſah, wie wenig Sie aufeinen Beſuch von mir gefaßtwaren.” 

„Wie fo, mein Herr ? Sie find doch nicht eiferfüchtig auf ein 
Kind, Her 's iſt ja nur Spaß, der englifche Unterricht, nur Spaß. 
Auf John eiferfüchtig fein! ha ha ha!“ | 

„Richt im Geringftien, Mamfell, Lucilie, ich verfichere Sie...“ 
„Um fo beffer! Aber wie groß Sie geworben find, Anbreat, 
vollftändig zum Mann erwachfen. Ich darf jegt nicht mehr Da 
fagen. Und Sie küſſen mich nicht 'mal, Andreas? Haben Sie bie 
Artigkeit auf Reifen verlernt 2“ | 


„Wie geht e8 der gnädigen Frau? bem gnaͤdigen Sräu...lein?“ 





era 


„Ste Haben fle noch nicht gefehen?“ 

„Nein, ich komme fo eben erft an.” 

„Sie werben jet allein fein. Madame Elagte über Kopfjchmerz 
heute Morgen und bat Feine Beſuche angenommen.” 

„Sie find allein? So will ich Binunter.“ 

„Ohne mir einen Kuß zu gönnen, Andreas? ... Aber ih 
hoffe, Sie kommen wieder !“ 

Ih höre Lucilien nicht mehr; ich ſtehe fhon vor den Zimmern 
ber Frau Graͤſin. Wie mein Herz pocht! Ich fol fie wieberfehen, 
fie, die Geliebte, die Angebetete! Ach, die Reife hat meine Liebe 
nue gefördert, ſtatt fie zu ſchwaͤchen. 

Nur eine einzige Thüre trennt mich noch von ihr. Ih Sinn: 
Iofer, ſtatt dieſe Leidenſchaft zu nähren, die mich früher ober fpäter 
unglüdlich machen muß, thäte ich nicht beffer, fie zu fliehen? Aber 
ih Tann nicht. Schon Habe ich den Thürbrüder in der Hand... 
ih öffne fie leiſe ... ich fehe ſie Iefend am Tiſche fiken. 

Sie hört mich, nit... fle liest ruhig fort. Im Spiegel ihr 
gegenüber betrachte ich fie mir nach Herzensluſt; ja, fie ift noch 
ſchoͤner, noch viel fchöner geworben! Sie zählt jegt ſechszehn Jahre. 
O, baß wir noch in jener Zeit wären, da ich fie auf dem Arme 
trug, da ihre zierlichen Finger mit meinen Haarloden fpielten. 

Indeß bin ich ihr unbemerkt näher gefommen; endlich ſtehe 
ih dicht bei ihr. Ohne zu wiſſen, was ich thue, ergreife ich ihre 
Hand und führe fie an mein Herz. 

Adolphine erſchrickt anfangs; als fie mich aber erfennt, fcheint 
fie hocherfreut. 

„Sie wieder da, Andreas?” fagt fie.. „8. wie freue ich mich, 
Sie wieder zu fehen. Jetzt reifen Sie nicht mehr, Andreas, nicht 
wahr? jegt bleiben Sie bei ung?“ 

Und dabei läßt mir das reizende Mäpchen ihre Hand, bie ich 
Begeiftert an's Herz drücke. Ich bin in fo füßer Verwirrung, daß ich 
nicht weiß, was ich füge. Sie fcheint mein Entzüden zu theilen. 


„Sie haben mich alfo nicht vergeſſen, Fräulein Adolphine? 

„Wie Tönnt’ ich das, Andreas? Sind Sie nicht mein Jugend: 
freund? mein Lebensretter?” 

„D, daß ich mid Ihnen ganz widmen bürfte! Wüßlen Sie 
nur, wie ich mich überall nad Ihnen zurückſehnte. Sch kannie 
aur einen Wunſch: Sie bald moͤglichſt wieberzufehen.“ 

Faſt entfchlüpft mir mein Geheimniß, fo glücklich bin ich. Ich 
vergeffe, daß ich vor Bräulein Adolphine flehe, daß eine weite Kluft 
mich von ihr trennt, da Höre ich Schritte im Nebenzinmer. Ich 
babe kaum Zeit, ihre Hand loszulaſſen, als — ber Marguis in 
den Saal tritt. 

Als er mich erblickt, veszieht er hoͤhniſch die Lippen, geht auf 
feine Goufine zu, fegt fid ihr gegenüber und nimmt fie verdranlid 
bei ver Hand. Ach, er kenat ven Werth dieſes Schages nicht! 

„Wie ich höre, iſt die Frau Mama unwohl, liebes Couſiuchen; 
auch ich leide an Kopfjchmerzen, darum will ich mit Ihnen recht 
nach Herzendluft lachen, bis fie fort find.“ 

Daun ſieht er mich verächtlih an und xuft: 

„Was machen Sie da? Gehen Sie hinaus, wir brauchen 
Sie nicht.” | 

Ich flehe wie angewurzelt, meine Augen feſt auf den Marquis 
gerichtet. Nur mit äußerfier Mühe Halte ich mich zurück. | 

„Haben Sie mich verfianden ? hebt er nad) einer Weile an, 
als er mich noch immer auf dem nämlichen Plage ſieht. Ich 
gebiete Ihnen, hinauszugehen.“ 

Ich Habe Sie gehört, mein Herr, aber nicht gewußt, daß 
Sie zu mir reden.” J 

„Zu wen ſonſt? Glauben Sie, ich trage Bedenken, ben Herra 
Savoyarden mit Namen Andreas fortgehen zu heißen?” | 

„Sie haben Recht, Herr; ich bin Savoyarde und rechne mir's 
gar Ehre an. Meine Landsleute find bekannt wegen ihrer Chr⸗ 
lichleit, Treue und Dankbarkeit. Zeit meines Lebens will ich ihmen | 





275 


in biefen ererbien Tugenden nachelfern. Dies Gut tft mit lieber 
als alles Geld umd alle Titel fo mancher vornehmer Böfewichter.” 

„Schöne Phrafen das, mein Lieber. Gewiß haben Sie tie 
im Aubigu ober de Ta Bait6 gelernt. Aber jet machen Sie, daß 
Sie fortkommen.“ 

„Sie haben hier nichts zu befehlen, Her !* 

„Unverfchämter! Ich will Dich Mores lehren.“ 

Mein Blut kocht in meinen Adern... aber Abolphine Tommt 
auf mich zu und fieht mich flehend an. 

„Mein Bott, warum biefer Streit ?“ ruft fie. „Couſin, was 
hat Ihnen Andreas zu Leide geihan ?“ 

„Ihr Andrens ift ein unverfchämter Geſell.“ 

Länger Halt ich's nicht aus; ich will auf den Marguis zus 
fürzen, da wirft ſich Adolphine ſlehend zwiſchen uns. 

„Ohne vie Anwesenheit von Fräulein Adolphine,“ rufe ich 
dem Marquis zu, „ließe ich mich nicht ungeftraft Fränfen. Danten 
Sie ihr!” 

„Ich glaube gar, er will mir trotzen. „Wart', ich will Dich 
lehren... .” 

In dem Augenbfide tritt meine Wohlthäterin in's Zimmer ; 
fie hat unfern Streit gehört und ift alsbald herbeigerilt, ihrer 
Schmerzen nicht achtend. Abdolphine wirft fi in die Arme ihrer 
Mutter und ruft: „Erb es nicht zu, liebe Mutter, daß fie fich 
zanken. Wenn Du wüßte... .“ 

„Ich weiß Alles," erwidert die Gräfin. „Therigny, ich glaubte, 
Cie hätten mehr Achtung vor mir! Bedenken Sie, daß Sie in 
meinem Hauſe And und in Gegenwart meiner Tochter.” 

„Wie, Tiebe Tante, Sie...” 

„Schweigen Sie, Therigny! and Sie, Andreas, gehen Sie 
auf Ihr Simmer... kommen Sie morgen gu mir... gehn Sie, 
Anbreas, ich Bitte Sie.” 

Damit reicht fie mir ihre Hand, die ich ehrerbietig kücſe 


20 


Dann gehe ich hinaus, ohne den Marquis angufehen, damit sicht 
mein Zorn mich zu einer Pflichtvergeffenheit gegen meine Voll: 
thäterin binreiße. 

Oben erwartet mich Lucilie; bier kann ih meinen Gefühlen 
freien Lauf laſſen. Mit großen Schritten fpaziere ich im Zimmer 
auf und ab, ohne Lucilie zu beachten, die mich won Zeit zu Zeit 
am Rod zupft. 

„Das ik zu arg!“ 

„Was ift zu arg, Andreas ?“" 

„So beichimpft zu werben und in Gegenwart Adolphinens.“ 

„Bon wem ?“ | 

„D, meine Wohlthäterin, ohne ihre Nähe, wer weiß, wozu 
mein Zorn mich gebracht Hätte!“ 

„Schon wieder im Zorn, mein Herr? und gegen wen?“ 

„Ich habe es fatt, morgen verlaffe ich das Hoͤtel.“ 

„Sie perlaſſen das Hötel? ha ha ha! Andreas, was Sie 
fagen 3" | 

„Ich würde es gleich verlaffen ohne den Befehl der Gräfe, 
bie mich auf morgen zu fich befchieden hat.“ 

„Hören Sie endlich auf, fo zu ſcherzen, Herr Andread; ih 
werbe unwohl, wenn Sie nochmald vom Weggehen seven... o 
meine Nerven, ich fühle, wie fie ſtarr werden... o ich falle...“ 

Dabei wirft fie fih Laut ſeufzend auf den nächflen Stuhl. 
Als fle aber fieht, daß ihre Krämpfe mich nicht fonderlih rühren 
und ich nach wie vor mit weiten Schritten im Zimmer herumgehe. 
ba befinnt fie fich plößlich eines Andern und fliegt auf mich zu. 

„Schaͤtzchen, wer bat Sie fo in Harnifch gebracht, ſprich? 
Wurmt Sie der englifche Unterricht beim Heinen Jockey, fo will 
ich ihn aufgeben, fo unſchuldig ex ifl.“ | 

„O nein, Lucilie, fahren Sie damit fort, fo lange amd fo 


oft F Per ich werde Sie nicht lange mehr. genisen ; morgen 
) di 





37 


„Dad war der Mühe werth, zu Tommen, um gleich wieder 
zu gehen. Unb warum wollen Sie denn fort $ was hat man Ihnen 
geihan ?“ 

„Ran Hat wich gefränft ‚, Rueilie, beleidigt, wie: em Miſe⸗ 
rabeln behandelt.“ 

„Ber, Andreas, wer?“ 

„Der Neffe des Grafen.“ 

„Bah, weiter nichts! Um den Geden, ven Narren, der kaum 
jede hundertſte Minute weiß, was er fagt, um ben kümmern oe 
fh, Andreas ? 

„encilie, es gibt Dinge, die ich niemals vergeflen werde. Ich 
fiche nicht für mich ein, was gefchieht, wenn ich noch einen Tag 
länger im. Hötel bleibe. Ich muß fort, es ift meine Pflicht; Die 
Frau Gräfin kann meinen Entſchluß nur billigen, das weiß ich.“ 

„Und ich weiß, daß fie Sie nicht fort läßt.” - 

„Lueilie, helfen Sie mir meine Sachen paden.” 

„Hübfcher Zeitvertreib nach neunmonatlicher Abweſenheit, wo 
man fich zum erflennal wieder ſieht und allerlei zu plaudern hat. 
Doch weil Sie's wollen. ’ , 

„Es ift fchnell gefehehen.“ 

„Mein Bott, wie halt ich’3 aus im Hotel, wenn der Andreas 
fort if. Während Ihrer Reife tröftete ich mich wenigflend mit Ihrer 
Kücklehr.“ 

„Der Unterricht im Engliſchen wird Sie zerſtreuen, Lucilie. 

„Seht, wie böfe er iſt, der Andreas! Iſt das ber Dank für 
meine Liebe I” 

„Ich werde Ihre Guüte nie vergeffen, Lucilie, und bie feligen 
Stunden, die ich bei Ihnen verlebte.“ 

„Hoffentlih, Andreas, aber aus dem Auge, nicht ans dem 
Sinn. Wir köonnen uns ja nad wie vor fehen... 'nen Kuß, 
Andreas, wenn Sie mich noch lieb haben.“ 

„D, bes Theriguy! fein Anblie allein...”  ., 


„Hol' der Teufel alle Zornigen ... 3 ift nichts anzufangen 
mit ihnen. Wollte, Andreas, Sie wären noch ſo liebendwärbig wie 
ale Kind.“ 

„Wie fie die Arme nach mir auöftredite... wie fle mich auf 

„Ber ſtreckte die Arme nach Ihnen aus? wer fah fie an? 
Ich will es wiſſen.“ | 

„Rein, fie verachtet mich nicht : fie iſt zu gut, zu zartfühlend.“ 

„Bert, Sie Tönnen ſich ſelbſt Ihre Hoſen einpucken... dad 
Goeſchwaͤtz langweilt mid.” 

„O Abolphine! Adolphine!“ 

„So fo! alſo dad gnaͤdige Fraͤulein ſteckt dem Herrn im Kopfe? 
Ich fürrchte, ex verliert noch den Verſtand um fie... wenn's nad 
won mich wäre, aber, bah! er dent nicht mehr an ſeine Aucilie!... 
Wo wird denn der Herr in Zukunft wohnen? Ich hoffe, nicht bei 
feiner Mamfel Nanette, denn bie if kein Kind mehr, umb der 
Anſtand... Andreas, Ihre Moreffe, ich will Site oft befuchen.“ 

„Sch ziehe zu Bern Dermilly.” 

„Zu Seren Dermilly? Das genirt mi... aber gleichviel! 
immer noch beſſer wie zu den alten Bater Bernhard.“ 

Bernhard! Nanette! o ich Undankburer! Noch habe ich fie 
nicht gefehen, kaum an fle gedacht?... Aber wenn ich erft fort 
Kin aus dem Hötel, dann will ich ganz der Freundſchaft leben. 

Die Nacht vergeht unter trüben Betrachtungen von mein 
Seite und unter fortwährenden Klagen von Luciliens Seite. Mit 
Tagesanbruch verläßt mich das junge Kammermaͤdchen, halb zaͤrt 
lich, halb betrübt. 

Gegen elf Uhr ruft mich endlich Lucilie zur geäbigen Fram 
hinunter, die mich ſprechen will. Abolphine fiht bei der Mukluer 
und zeichnet. 

Die gute Gavoline bezengt mir die wärufte Freundſchaft 
Adolphine flieht mich hukbobll lachelnd am: Beibe eifern in ie 

!te, bie Kränkung. des Martzuis in VBecrefraheit zu Bringem_ 





Ich ade dann bus Graͤfin meinen Wunſch, bei Her Dermilly 
zu wohnen, vorausſetgzlich mit ihrer Ginwilligung. Adolphine Icheint 
ängfllid auf die Antwort der Mutter zu warten. Nach kurgem 
Befinnen au woriet dieſe: 

„Ich lann ed Ihnen nicht verdenken, Andreas, und habe 
nichts gegen Ihren Umzug, nicht, als ob ich fürchtete, die geſtrigen 
Auftrikte würden ſich esneuern, ſondern weil ich glaube, daß bie 
Gegenwart bed Manguid Ihnen Läftig fallen muß. Da Ihre Er⸗ 
ziehung beendet tft, mäflen Sie jebt Welt und Menfchen aus eigener 
Anſchanung Tonnen lernen, wozu Sie nicht leicht beſſere Anleitung 
finden als bei Herrn Dermilly, der Sie „ben fo Henzlich liebt wie 
ih, und das will niel heißen, Andreas! Bei ihm And Sie eben 
fo gut aufgehoben wie Bei mir. Das teöflet mich über Ihre Tren⸗ 
nung von ung.“ 

„Wie, Mutter, Du laͤfſeſt ihn fort?” ruft Adolphine. 

„Weil ich's gut mit ihm meine, liebe. Tochter. Andreas if 
jebt neungehn Jahre ali; ber Aufenthalt bier, wo er fafl aus: 
ſchließlich auf fein Zimmer beſchraͤnkt ift, Tann ihm nicht länger 
zuſagen. Wir fehen ung recht oft, nicht wahr, Andreas?“ 

Ich ſtottere nothdürftig eine Autwort, denn bie unläugbaxe 
Betrũbniß Adolphinens über die bevorſtehende Trennung verwirrt 
mi. Darauf ſcheinen auch bie Thränen zu donten, bie ich in 
ihren Angen jehe. 

„he ich Sie fortlaffe, Andreas,” fängt meine Mohlihäterin 
von Neuem an, „muß ich Ihnen meine Abſichten mit Ihnen emds 
decken. Zeh wollte Ihnen die Mittel an die Hand geben, fih Hier 
in Baris zu eiablizen, and Sie an dad Maͤdchen verheiraihen, 
das Sie lieben.” 

„Das ich liebe?“ wienechole ich befkärzt, währen Adolphine 
mich heimlich anſieht und aufmerkſam zuhorcht. 

„Sa, Andryas, ich habe vie Gefühle Ihres Herzens errathen.“ 

Dip erblicte xxoihend nie, 


Nicht gleich,“ fahrt die Graſta fort. „Cie finb nech zu jung 
zum Heirathen, Andrras, aber wem bie Zeit da ift zu Ihrer Ber: 
mählung mit... Nanetten, fo liegt die Mitgift für Sie bereit. 
Nehmen Sie dad an ald einen geringen Beweis meiner Erkennt: 
lichkeit für die Verdienſte Ihres ſeligen Baterd um mich und. meine 
Tochter.” 

Nanette!... Sie glaubt alfo — Abolphine vielleicht auch 
— ich Liebe Nanette! Nein, ich will und muß Ihnen den Ser: 
tham nehmen. Abolphine blickt auf ihre Zeichnung nieder, aber 
De Hand ruht; jet ficht fie auf die Seite, um ihre Bewegung 
vor ber Mutter zu verbergen. 

„Madame,“ antworte ich feurig, „ich danke Ihnen für den 
nenen Beweis Ihrer Güte, aber ih kann ihn nicht annehmen. 
Sie irren fich über meine Neigungen. Ich werde nie, nie Nanette 
beirathen. Ich betrachte fie als eine Schwefler, doch von Liebe zu 
ihr weiß ich nichts.“ 

„Sie lieben Ranette nicht 3" ruft meine Beichügerin erſtaunt. 
Statt zu antworten, fehe ich Adolphine an, bie freier zm 
athmen fcheint und mir einen Blick zuwirft, jo füß, fo liebreich,, da 
ich in dem Augenblicke mit feinem Könige ber Erbe getaufcht Hätte. 
Ich Tann mich nicht fatt fehen an ihr; obgleich fie das Hanpt 
bückt, bemerke ich, wie ein leichtes Lächeln über ihre Lippen fchiwebt, 
offenbar in Folge meiner Antwort. | 
So bleiben wir einige Minuten lang, während Adolphinens 

Mutter, ohne. daß ich es gewähre, bald ihre Tochter, bad mich 
anfleht. Endlich erwache ih aus meinem Rauſche, mb als ich 
meine Augen auf die Gräfin richte, glaube ich einen Ausbruck vom 
Ernft, faſt Strenge, wie ich ihn nie an ihr bemerkt, auf ihte — 

Seſichte zu leſen. Grrötgend ſchlage ich den Blick nieber, fürchten, 

fie Habe die Gefühle meines Herzens errathen. | 
Es thut mic leid,“ hebt die Sräfn- von Rewem ax, „bare 
ich mich geirrt Habe, Ich freute mich, Sie einſt an Annette 





8 


Seite zu finden, und bin noch jet überzeugt, Sie würben glüd- 
lich mit ihr geivorden fein. Vielleicht ändern Sie Ihre... .“ 

„Rie, Madame, nie! Nie werde ich ein Mädchen lieben Eönnen, 
bad. 

„Genug, Andreas, Sie koͤnnen gehen, ic werde Sie beim 
Herrn Grafen entfchuldigen.” 

Befremdet durch diefe Worte meiner Wegithaterin will ich 
fortgehen, aber gleich darauf hebt ſie in ſanfterem Tone an: 

„Vergeſſen Sie nie, Andreas, daß Sie einen Theil Ihrer 
Jugend in dieſem Haufe verlebten, daß ich Sie wie meinen eigenen 
Sohn liebe, daß Ihr Glück mir ewig am Herzen liegt.“ 

„Wie Tönnt’ ich das vergefien, Madame? Ihre Wohlthaten 
haben ſich unauslöfchlich meinem Herzen eingeprägt; Bott gehe, 
daß ich Ihnen einft meine Erkenntlichkeit dafür beweifen kann!“ 

Die gute Caroline ſchließt mich zärtlich in ihre Arme; Adol⸗ 
phine lommt auf mich zu, doch ein Blid ver Mutter Hält fie zu⸗ 
rad. Dafür reicht fie mir zum Abſchiede bie Hand, die ich in ber 
meinen zittern fühle. 

So fchied ih aus dem Haufe, wo ich acht Jahre meines 
Lebens zubrachte. Bielleicht wäre es mir, ach! beffer geweſen, ich 
hätte e8 nie betreten ! 


Bweiundzwanzigſtes Kapitel. 
Unverhofftes Zufammentreffen. 


„Da bin ich,” fage ich, bei Gern Dermilly eintretend; „ih 
habe das Hötel auf immer geräumt und will jeßt bei Ihnen bleiben, 
wenn Sie ed erlauben.” 

„Wenn ich's erlaube, welche Rede!“ entwortet Herr Derwilly 
und ſchließt mich in feine Arme. „Deine Nähe, Andreas, ſoll 
meine Langeweile verfcheuchen und meine Schmerzen flillen. Es 
dauert nicht mehr Iange, fo wirft Du mir die Augen zubruden,“ 


Ich ſuche Ihm die finflern Gedanken auspıreven, indem ich 
ihm die Ereiguiffe im Hotel und die Urſache meines plöglichen 
Anszuges weitläufig erzäble. 

„Du haft recht daran gethan,“ fagt er, „ber Groll hätte 
DIE am Ende vergeflen machen, daß Du in Carolinens Hanfe 
biſt; Bott weiß, welch Unheil daraus hätte entſtehrn koͤnnen! ber 
es ift Deine Pflicht, Andreas, die Graͤfin nach wie vor zu befuchen, 
wenn auch fo, daß Du jebe Berührung mit Leiten meideſt, die Dir 
wicht wohlwollen. Geh’ vecht oft zu Bernhard und Nanette. Mein 
Haus flieht Ihnen jeder Zeit offen. Ich gehöre wicht zu den Lenten, 


die Anftoß nehmen an ben Befuch eined ehtlichen Mannes, u 
welchem Stanse er gehören mag. So denf ich als Künſtler, und 


würbe fo denken, wenn ich Graf wäre.” 


&o bin ich denn wieder in dem nämlichen Zimmer, wo ih 
als elfjähriger Knabe fo liebreiche Pflege fand. Die-guie Therefe 


lebt nicht mehr; ein treuer Diener verficht jegt ihre Stelle Auch 


dad Atelier, wo Ruffignol feinen Geſpenſterſpuk Irieb, befche ih 
mir wieder. Wo mag ber Kerl jebt fleden? Biellaigt bat man 


ihn feiner loſen Streiche wegen laͤngſt fortgejagt aus Purid. Jept 
follte es mich nicht mehr an ber Nafe herumfähren! Herr Dermilly, 


der aus Rüdficht auf feine erfchütterte Gefundheit nur noch äußert 


felten arbeitet, gebraucht keine Modelle mehr. 


Es Bleibt Dir vorbehalten, Wabeess,“ fagt er, „bie vom 


mir angefangenen Gemälde zu vollenden.“ 


Der Umzug aus dem Hötel hat mic dermaßen beſchäftigt 
daß ich zu einem Veſuche bei meinen alten Fteunden biöher um- 


möglich babe Zeit finden Können. Jetzt aber will ich zu ihnen 


Sie wohnen noch an berfelben Stelle. Bater Bernhard hält gro 
Stacke auf feine Manfarde, obgleich: er recht wohl eine beſſe re 
Wohnung beziehen könnte; feine und feiner Tochter Arbeit Irimge 
ihuen genug ein. Hber der gute Bafferkräger weiß wicte Dom 

"Meit, und wenn ihm Naueite vorfchlägt, einen Ein tiefen 





hinab zu ziehen“, damit er nicht fo hoch zu. ſteigen Habe, antwortet 
ex feiner Tochter: „Meine Beine wiffen, wohin fle mich zu tragen, 
md meine Freunde, wo fie nrich zu fuchen haben. Wer meinet: 
wegen nicht eine Treppe höher Reigen mag, ber thut mir einen 
Gefallen, wenn er zu Haufe bleibt.“ 

Darauf weiß Nanette nichts zu erwibern : ihr Herz jagt ihr, 
daß ein Stock mehr oder weniger mich nicht genixt. Und fie hat 
recht. Mit Blitzesſchnelle bin ich oben, und glei Darauf befinde 
ih mich in den Armen meiner guten Freunde. D, wie wohl mir 
das thut ! Beruharh behauptet : ich fei ein ſchoͤner Mann geworben ; 
Nanette: ich fei mir immer gleich geblieben ; und ich finde Nas 
netten recht hübſch und ſchlank. Ihre neunzehn Jahre geben ihr 
ein gewiſſes zurüdhaltendes Ausfehen, das ihr vortrefflich ſteht. 

„Ich lade mich bei Euch zu Gaſt,“ fage ich ihnen. 

„Wie, Andreas!“ ruft Nanette hocherfreut, „Du kehrſt nicht 
ins Hötel zurüd 3“ 

„Rein, Nanette, ich babe es auf immer verlaffen, und wohne 
jegt Bei Herrn Dermilly.“ 

. Bater Bernhard fragt nach der Urfache diefer plöglichen Ver⸗ 
äuderung, worauf ich ihm Miles erzähle. Im hoͤchſten Grado übers 
vafcht mich die Freude, die Nanette darüber zeigt. War fle beim 
Wiederfehen bloß erfreut, fo bringt diefe Nachricht fie wahrhaft 
anßer fich: fie hüpft und tanzt im Zimmer herum, lacht und fingt 
zu gleicher Seit, Wonne firahlt aus ihren Augen, fie ift wie. neus 
gebosen, ganz wieder das achtjährige Kind, das mit mir unfere 
beimifchen Tänze tanzie, 

„Bater! Bater!“ ruft fie außer fi, „er wohnt nicht mehr 
im Hötel! Welch ein Süd, Wie freut mich das!“ 

„Und warum denn ?* fragt Bater Bernhard. 

„Weil wir ihn jetzt vecht,.vecht oft fehen Tännen. Gert Deus 
milly erlaubt uns gewiß, ihn zu befuchen, und dann hat er mehr 
Zeit und denkt mehr an und, und hat und noch Fieber.“ 


sinem und demſelben Dache waͤre mit Abolphiue, und deſhalb muß 
ich den haſſen, der mich von ihr getrennt hat. 

Mehrere Wochen find nach meinem Umzuge verfloffen, uud 
noch habe ich nicht gewagt, meiner Wohlihäterin einen Beſuch zu 
machen. Dafür gehe ich allabenblich mehrere Stunden vor dem 
Hötel auf und ab. Lurilie kommt dann und wann zu mir, nament- 
lich wenn fie weiß, daß ich allein im Atelier arbeite; denn Lucilie 
liebt die Töte-A-tötes. Bon ihr Höre ich, daß Fräulein Adolphine 
feit meiner Abwefenheit fehr nievergefchlagen if, und auf feinen 
Ball mehr gehen will. Wüßteft Du, Lucilie, wie angenehm bie 
Nachricht in meinen Ohren Elingt! Herr von Therigny, fo erzählt 
fie weiter, verthut viel Geld auf Pferde und Wagen. Er foll auch 
eine Tänzerin an der großen Oper unterhalten, Meineiwegen zehn, 
wenn er nur von feiner Couſine abläßt! Leider findet ihn ber Herr 
Onkel hoͤchſt bezaubernn, weil er ihm jeden -Morgen irgend eine 
Nenigkeit von Chevet zuſchickt. 

Ihr Schluß iſt ewig derfelbe: „Sch betheure Ihnen, ich habe 
den englifchen Unterricht ganz aufgefteclt und den Herrn Champagne 
ditto. Kommen Sie doch ins Hötel. Es ift nicht huͤbſch von Ihnen, 
daß Sie die gnädige Frau fo ganz vernachläfjigen.“ 

Ah, ich kaͤme gern, wüßte ich nur, was mid insgeheim das 
von abhält. Aber auch Herr Dermilly drängt in mi, und weil 
feine Wünſche mir Befehle find, gehe ich denn endlich nach forg- 
fältig gemachter Toilette. Ohne eitel zu fein, gebe ich was auf 
geſchmackvolle Kleivung; im Stillen wünfche ich zu gefallen. Ich 
bin faft eben fo gut gekleidet wie der Herr Marquis, und Lucilie 
verfichert, ich habe eine ganz ausgezeichnete Tournure. 

Zitternd betrete.ich das Hötel. Auf der Treppe denke ich baran, 
daß ich Adolphine fehen ſoll; fie ift ja ſtets bei der Mutter. Lucilie 
fießt mich kommen und melbet mich bei ihrer Herrin an. Blei 
darauf heißt fie mich eintreten. Die Fran Gräfln iſt ba, aber 
Adolphine — fehlt, 











37 


„Das war ber Mähe werth, zu Tommen, um gleich wieder 
zu gehen. Und warum wollen Sie denn fort ? was hat man Ihnen 
gethan 2“ 

„Ran hat mid gekraͤukt, Lucilie, beleidigt, wie einen "Die 
rabeln behandelt.“ 

„Ber, Andreas, wer?" 

„Der Neffe des Grafen.“ 

„Bah, weiter nichts! Um den Gecken, den Narren, ber kaum 
jebe hundertſte Minute weiß, was er fagt, um ven kuͤmmern Ste 
fh, Andreas 7“ 

„Lucilie, ed gibt Dinge, die ich niemals vergeffen werbe. Ich 
Rebe nicht für mich ein, mas gefchieht, wenn ich noch einen Tag 
länger im. Hoͤtel bleibe. Ich muß fort, es ift meine Pflicht; die 
Fran Sräfin kann meinen Entſchluß nur billigen, das weiß ich.“ 

„Und ich weiß, daß fie Sie nicht fort Läßt.“ . 

„Lueilie, helfen Sie mir meine Sachen paden.” 

„Hübdfcher Zeitvertreib nach neunmonatlicder Abweſenheit, wo 
man ſich zum erflenmal wieder ſieht und allerlei zu plaudern hat. 
Doch weil Sie's wollen. 

„Es tft ſchuell — 

„Bein Gott, wie halt ich's ans im Hoͤtel, wenn ber Andreas 
fort it. Während Ihrer Reife tröftete ich mich wenigflend mit Ihrer 
Rüdfehr.” 

„Der Unterricht im Engliſchen wird Sie zerſtreuen, Lucilie. 

„Seht, wie böfe er iſt, der Andreas! Iſt das der Dank für 
meine Liebe ?” 

„Ich werde Ihre Ente nie vergeſſen, Lucilie, und die feligen 
Stunden, die ich bei Ihnen verlebte.“ 

„Hoffentlig, Andreas, aber aus dem Auge, nicht and bem 
Gin. Wir tönen und ja nad wie vor fehen... 'nen Ruß, 
Anbreas, wenn Sie mich noch lieb haben.“ 

„D, bes Theriguy! fein Aublich allein . u 


0 


Daun gehe ich hinaus, ohne den Marguis. angufehen, damit nicht 
mein Zorn mich zu einer Plihtvergeffenheit gegen meine Wohl⸗ 
thäterin hinreiße. 
Oben erwartet mid; Lucilie; bier Tann ich meinen Gefühlen 
freien Lauf laffen. Mit großen Schritten fpaziere ich im Zimmer 
auf und ab, ohne Lucilie zu beachten, die mich von Zeit zu Zeit 
am Rod zupft. 

„Das ik zu arg!” 

„Bas ift zu arg, Andreas?“ 

„So befchimpft zu werben und in Gegenwart Adolphinens.“ 

„Bon wem 2" 

„O, meine Wohlthäterin, ohne ihre Nähe, wer weiß, wozu 
mein Zorn mich gebracht Hätte!“ 

„Schon. wieder im Zorn, mein Herr? und gegen wen?“ 

„Sch Habe es fatt, morgen verlaffe ih das Hotel.“ 


„Sie yerlafien dad Höfel? ha ha ha! Andreas, was Sie. 


fagen ?“ 

„Sch würde ed gleich verlafen ohne den Befehl der Gräfin, 
die mich auf morgen zu ſich befchieden Hat.“ 

„Hören Sie endlich auf, fo zu bergen, Herr Andreas; ich 
werbe unwohl, wenn Sie nochmals vom Weggehen reden... o 
meine Merven, ich fühle, wie fie flarr werben... o ich falle...” 

Dabei wirft fie fi laut feufzend auf den nächſten Stuhl. 
Als fie aber flieht, daß ihre Krämpfe mich nicht ſonderlich rühren 
und ich nach wie vor mit weiten Schritten im Zimmer herumgehe, 
ba befinnt fie ſich plöglich eines Andern und fliegt auf mich zu. 

„Schaͤtzchen, wer hat Sie fo in Harniſch gebracht, ſprich? 
Wurmt Sie der englifche Unterricht beim feinen Sodey, fo will 
ich ihm aufgeben, fo unſchuldig er ifl.“ 


„D nein, Lucilie, fahren Sie damit. fort, fo lange aud fo 
oft Sie wollen ; ich werde Sie nicht Tange mehr. genisen ; morgen 


gehe ich fort.“ 


2 


„Das war der Mähe werth, zu kommen, um gleich wieder 
zu gehen. Und warum wollen Sie denn fort? was hat man Ihnen 
gethan ?“ 

„Man bat mich gefräuft, Lucilie, beleidigt, wie: einen Mife: 
rabeln behandelt.“ 

„Ber, Andreas, wer ?“ 

„Der Neffe des Grafen.“ 

„Bah, weiter nichts! Um den Geden, ven Narren, der kaum 
jede hundertſte Minute weiß, was er fagt, um ben kümmern Ste 
fh, Andreas ?“ 

„Lueilie, es gibt Dinge, die ich niemals vergeffen werbe. Ich 
ehe nicht für mich ein, was gefchieht, wenn ich noch einen Tag 
länger im. Hötel bleibe. Ich muß fort, ed iſt meine Pflicht ; die 
Frau Gräfin kann meinen Entſchluß nur billigen, das weiß ich.“ 

„Und ich weiß, daß fie Sie nit fort läßt.“ g 

„Lueilie, helfen Sie mir meine Sachen paden.” 

„Hübfcher Zeitvertreib nach neunmonatlicher Abwefenheit, wo 
man fih zum erflenntal wieder ſieht und allerlei zu plaudern hat. 
Doch weil Sie's wollen . . 

„Es iſt Schnell gefchehen. 

„Mein Gott, wie halt ich's and im Hötel, wenn der Andreas 
fort iR. Während Ihrer Reife tröftete ich mich wenigſtens mit Ihrer 
Rüdlehr.” 

„Der Unterricht im Engliſchen wird Sie zerſtreuen, Lucilie.” 

„Seht, wie böfe er iſt, der Andreas! Iſt das ber Dank für 
meine Liebe ?“ 

„Ich werde Ihre Gute nie vergeſſen, Lucilie, und bie felgen 
Stunden, vie ich bei Ihnen verlebte.“ 

„Hoffentlich, Andreas, aber aus dem Auge, nicht and dem 
Sinn. Wir konnen und ja nad wie vor fehen... 'nen Kuß, 
Anbrend, wenn: Sie ‚mich noch lieb haben.” 

„SD, ber Theriguy! fein Aublich allein...‘ 


278 


„Hol' der Teufel alle Zornigen... 5 ift nichts anzufangen 
mit ihnen. Wollte, Andreas, Sie wären noch fo liebenwürdig wie 
ale Kind.“ 

„Wie fle die Arme nach mir auöftredlie... wie fie mich anfah!“ 

„Ber ſtreckte die Arme nach Ihnen aus? wer fah fie an? 
Ich will es wiſſen.“ 

„Rein, fie verachtet mich nicht: ſie iſt zu gut, zu “ 

„Bert, Sie Tönnen fh ſelbſt Ihre Hofe einpucken 
Geſchwaͤt Tangweilt mid.“ 

„D Adolphine! Abolphine !” 

„So 10! alfo das gnädige Fräulein ſteckt dem Herrn im Kopfe? 
Ich fluͤrchte, ex verliert noch den Verſtand um fie... weun’s noch 
wm mich wäre, aber, bah! er ventt nicht mehr an feine Bucilie!... 
Bo wird denn der Herr in Zufanft wohnen? Ich hoffe, nicht bei 
feiner Mamfell Nanette, denn die if fen Kind mehr, und ber 
Anſtand... Andreas, Ihre Üpreffe, ich will Sie oft beiuchen.” 

„Ih ziehe zu Herrn Dermilly.” 

„Zu Herrn Dermilly? Das genirt mi... aber gleichviel! 
immer noch beſſer wie zu dem alten Vater Bernhard.“ 

Bernhard! Nanette! o ich Undankburer! Noch Habe ich fie 
nicht geſehen, kaum an fle gedacht!... Aber wenn ich erſt fort 
Kin ans dem Hotel, dann will ih ganz der Wreunbfiheft Ichen. 

Die Nacht vergeht unter trüben Betrachtungen von meine 
Seite und unter fortwährenden Klagen von Luciliens Selle. Mit 
Tagesanbruch verläßt mich das junge Raminermäbchen, halb zaͤrt⸗ 
lich, halb betrübt. 

Gegen elf Uhr ruft mich endlich Lucilie zur guäbigen Sram 
hinunter, die mid ſprechen will. Abolphine iu bei der Muilee 
und zeichnet. 

Die gute Gavoline bezeugt mir die wärmfle reunbfihafl, 
Adolphine flieht mich huldobll laͤchelnd au: Weise eifern in Me 
Wette, bie Kränfung bes. Martuie im Desyuifenkeit gu Bringen 





Ich eroſſue dann bar Graͤſin mainen Munfih, bei Seren Dermilly 
zu wohnen, porausſeglich mid ihrer Einwilligung. Adolphine ſcheint 
ängflih auf die Antwort ver Mutter zu warten. Nach Turgem 
Befinnen auimorist biefe: 

„Dh lann es Ihnon nicht verdenken, Andreos, unb habe 
nichts gegen Ihren Umzug, nicht, als ob ich fürchtete, die geſtrigen 
Auftrikte wirsben ſich erneuern, fonbern weil ich glaube, baß bie 
Gegenwart des Maxquis Ihnen laͤſtig fallen muß. Da Ihre Er⸗ 
jiehung beendet if, mäflen Sie jetzt Welt und Menſchen aus eigener 
Anſchanung kennen lernen, wozu Sie nicht leicht beſſere Anleitung 
finden als bei Herrn Dermilly, der Sie eben fo herzlich liebt wie 
ich, und das will viel heißen, Andreas! Bei ihm ſind Sie eben 
jo gut aufgehoben wie bei mir. Das tröflel mich über Ihre Treu⸗ 
nung bon ung.“ 

„Wie, Mutter, Du läfſeſt ihn fort?“ ruft Adolphine. 

„Beil ich's gut mit ihm meine, liebe. Tochter. Andreas if 
jest neungehn Jahre alt; der Aufenthalt Gier, wo er faſt aus⸗ 
ſchließlich auf fein Zimmer beichränukt ift, Tann ihm nicht länger 
jufagen. Wir fehen und recht oft, nicht wahr, Andreas?“ 

Ich ſtottere nothdürftig eine Antwort, bean bie unläugbarxe 
Betrubniß Adolphinens über die bevorſtehende Trennung verwirrt 
mich. Darauf ſcheinen auch bie Thränen zu deuten, bie ich in 
ihren Augen fehe. 

„Ehe ich Sie fortlaffe, Andreas," fängt meine Wohlihäterin 
von Neem an, „muß ich Ihnen meine Abfichten mit Ihnen emts 
decken. Ich wollte Ihnen die Mittel an bie Hand geben, ſich Hier 
in Paris zu etablisen, und Sie an dad Mäpdgen verheirathen, 
das Sie lieben.“ 

„Das ich liebe?“ wiedechole ich beſticzt, waͤhrend Adolphine 
mich heimlich anſieht und aufmerkſam zuhorcht. 

„Se, Androas, ich habe die Gefühle Ihres Herzens errathen.“ 

Dip erblide ↄrroihend neben, . 


„Richt gleich,“ führt bie Graͤſtn fort. „Sie find noch zu jung 
zum Heirathen, Andtras, aber wenn die Seit da iſt zu Ihrer Ber: 
mählung mit... Nanetten, fo liegt die Mitgift für Sie bereit. 
Nehmen Sie das an ald einen geringen Beweis meiner Erkennt⸗ 
lichkeit für die Verdienſte Ihres feligen Baters um mich und. meine 
Tochter.“ a 

Nanette!... Sie glaubt alſo — Adolphine vielleicht auch 
— ich liebe Nanette! Nein, ich will und muß Ihnen dem Sr: 
tham nehmen. Apolphine blickt auf ihre Zeichnung nieder, aber 
Me Hand ruht; jebt ſieht fie auf die Seite, um ihre Bewegung 
vor der Mutter zu verbergen. — 

‚ „Madame,“ antworte ich fenrig, „ich danke Ihnen für ben 
wenen Beweis Ihrer Güte, aber ih Tann ihn nicht annehmen. 
Sie irren fi über meine Neigungen. Ich werbe nie, nie Nanette 
heirathen. Ich betrachte fie ald eine Schweler, doch von Liebe zu 
ihr weiß ich nichts.” 

„Sie lieben Ranette nicht 2” ruft meine Beſchützerin erkannt. 

Statt zu antworten, fehe ich Adolphine an, bie freier zu 
athmen fcheint und mir einen Blick zuwirft, fo füß, fo liebreich, dog 
th in dem Augenblicke mit Teinem Könige ber Erde getaufcht Hätte. 
3% Tann mid nicht fatt fehen an ihr; obgleich fie dad Haupt 
bückt, bemerke ich, wie ein leichtes Lächeln über ihre Lippen ſchwebt, 
offenbar in Folge meiner Antwort. | 

So bleiben wir einige Minuten lang, währen Adolphinens 
Mutter, ohne daß ich es gewähre, bald ihre Tochter, bald mich 
anfieht. Endlich erwache ich aus meinem Raufche, mb ad ich 
meinte Augen anf bie Gräfin richte, glaube ich einen Aushrud vom 
Ernft, faft Strenge, wie ich ihn nie an ihr bemerkt, auf ihre — 
Geſichte zu Iefen. Ertothend ſchlage ich den Blick nieder, fürchten d 
fie habe die Gefühle meines Herzens errathen. 

„Es thut mir leid,“ Gebt Die Graͤſin von Neuem au, „Fenis 
ich mich geist habe. Ich freute mich, Sie einſt an Renee 





1 


Seite zu finden, unb bin noch jetzt überzeugt, Sie würben glück⸗ 
lich mit ihre geworden fein. Vielleicht ändern Sie Ihre. . .“ 

„Re, Madame, nie! Nie werde ich ein Mädchen lieben Tönnen, 
das. 

„Genug, Andreas, Sie können gehen, ic werde Sie beim 
Herrn Grafen entfchuldigen.” 

Befremdet durch diefe Worte meiner Welthaterin will ich 
fortgehen, aber gleich darauf hebt ſie in ſanfterem Tone an: 

„Vergeſſen Sie nie, Andreas, daß Sie einen Theil Ihrer 
Jugend in dieſem Hauſe verlebten, daß ich Sie wie meinen eigenen 
Sohn liebe, daß Ihr Glück mir ewig am Herzen liegt.“ 

„Wie koͤnnt' ich das vergeſſen, Madame? Ihre Wohlthaten 
haben ſich unausloͤſchlich meinem Herzen eingepraͤgt; Gott gebe, 
daß ich Ihnen einſt meine Erkenntlichkeit dafür beweiſen kann!“ 

Die gute Caroline ſchließt mich zärtlich in ihre Arme; Abdol⸗ 
phine kommt auf mich zu, doch ein Blick ber Mutter hält fie zu: 
rad. Dafür reicht fie mir zum Abſchiede bie Hand, die ich in der 
meinen zittern fühle. 

So ſchied id; aus dem Haufe, wo ich acht Jahre meines 
Lebens zubrachte. Bielleicht wäre eö mir, ach! beffer geweſen, ich 
hätte es nie betreten! 


Bweiundzwanzigftes Kapitel. 
Unverhofftes Bufammentreffen. 


„Da bin ich,” fage ich, bei Herrn Dermilly eintretend; „ih 
Babe das Hötel auf immer geräumt und will jebt bei Ihnen bleiben, 
wenn Sie es erlauben.“ 

„Wenn ich's erlaube, welche Rebe!" > anttwortet Her Deraiiliy 
und fliegt mich in feine Arme. „Deine Nähe, Andreas, ſoll 
meine Langeweile verfcheuchen und meine Schmerzen fllllen. 66 
Dauert nicht mehr lange, ſo wirft Du mir die Augen zubrüden,“ 


Ich ſuche ihm die ſtuſſern Gedanken amözıreven, indem i& 
ihm die Creigniſſe im Hétel und die Urſache meines plöglicen 
Anszuges weitläufig erzähle. 

„Du haft recht daran gethan,“ fagt er, „der Groll hätte 
DIE am Ende vergeffen machen, daß Du in Garolinen® Haufe 
biſt; Bott weiß, welch Unheil daraus Hätte entfiehen können! Aber 
es ift Deine Pflicht, Andreas, die Sräfln nach wie vor zu Befuchen, 
wenn andy fo, daß Du jede Berührung mit Lenten meibeft, Sie Dir 
nicht wehlwollen. Seh’ recht oft zu Bernhard und Nanette. Mein 
Haus flieht Ihnen jeder Zeit offen. Ich gehöre wicht zu ben Lenten, 
bie Anftoß nehmen an dem Beſuch eined ehrlichen Mannes, zu 
welchem Stande er gehören mag. So den? ich als Künfliex, und 
würde fo denken, wenn ich Graf wäre.” 

&o Bin ich denn wieder in dem nämlichen Zimmer, wo ih 
als elfjähriger. Knabe fo liebreiche Pflege fand. Die-guie Thereſe 
Lebt nicht mehr ; ein treuer Diener verficht jegt ihre Stelle Auch 
das Atelier, wo Roſſignol feinen Geſpenſterſpuk trieb, befshe ich 
mir wieder. Wo mag ber Kerl jebt ſtecken? Bielleicht Bat man 
ihn feiner loſen Streiche wegen längft fortgejagt ans Paris. Jetzt 
follte eu mich nicht mehr an der Nafe heramführen!! Herr Dermilly, 
der aus Rüdfiht auf feine erfchütterte Geſundheit nur noch äußert 
felten arbeitet, gebraucht Teine Modelle mehr. 

„&8 bleibt Dir vorbehalten, Andreas,“ fagt er, „bie von 
mir angefangenen Gemälde zu vollenden.“ | 

Des Umzug aus dem Hötel hat mich dermaßen befgäftigt, 
vaß ich zu einem Befuche bei meinen alden Freunden bisher un: 
wöglid; habe Zelt finden Eönnen. Sept aber will ich zw ihmen. 
Sie wohnen noch an berfelben Stelle. Bates Beruharb halt große 
Stacke auf feine Manfarde, obgleich: ex recht wohl eine beſſere 
Wohnung beziehen konnte; feine und feiner Tochter Arbeit Bringt 
Üen genug ein. Aber ber gute Waſſerträger weiß nichts von 
Ritelbeit, und wenn ihm Nancite vorichlägt, einen Sreck tiefer 





hirab zu ziehen“, bamit ex nicht fo Hoch zu ſteigen Habe, amtmortet 
er feiner Tochter: „Meine Beine wiflen, wohin fle mich zu tragen, 
und meine Freunde, wo fie mich zu fuchen haben. Wer meinet: 
wegen nicht eine Treppe höher Reigen mag, ber thut mir einen 
Gefallen, wenn er zu Hanfe bleibt.“ 

Darauf weiß Nanette nichts zu erwidern: ihr Se; fagt ihr, 
daß ein Storm mehr oder weniger mich nicht genirt. Und fie Bat 
vccht. Mit Bligesfchnelle bin ich oben, und glei darauf befinde 
ih mich in den Armen meiner guten Freunde. DO, wie wohl mir 
das thut! Bernhard behauptet: ich fei ein ſchoͤner Mann geworben ; 
Nanette: ich fei mir immer gleich geblieben; und ich finde Nas 
netten recht hübſch und ſchlank. Ihre neunzehn Jahre geben ihr 
ein gewiſſes zurücdhaltendes Ansehen, das ihr vortrefflich ſteht. 

„Ich lade mich bei Euch zu Gaſt,“ fage ich ihnen. 

„Wie, Andreas!" ruft Nanette hocherfreut, „Du kehrſt nicht 
ins Hoͤtel zurück ?"- 

„Rein, Nanette, ich habe ed auf immer verlaſſen, und wohne 
jest bei Herrn Dermilly.“ 

- Bater Bernhard fragt nach der Urfache diefer plöglichen Bers 
änderung, worauf ich ihm Alles erzähle. Im hoͤchſten Grabe übers 
raſcht mich die rende, die Nanette darüber zeigt, War fie beim 
Wiederſehen bloß erfreut, fo Bringt dieſe Nachricht fie wahrhaft 
außer ſich: fie Hüpft und tanzt im Zimmer herum, lacht und fingt 
zu gleicher Zeit, Wonne firahlt aus ihren Augen, fie ift wie. meus 
geboren, ganz wieder das achtjährige Kiud, das mit mir umfere 
beimifchen Tänze tanzte. 

„Bater! Bater!“ ruft fie außer fih, „er wohnt nicht mehr 
ine Hötel! Weld ein Süd, Wie freut mich das!“ 

„Und warum bean ?“ fragt Vater Bernhard. 

„Weil wir ihn jegt recht, recht oft fehen Tünnen. Her Des: 
milly erlaubt und gewiß, ihn zu befwchen, und dann hat er mehr 
Zeit und denkt mehr an und, und hat und noch Fieber.“ 





| RB 
„Moch Fieber, Naneite ? Du ſprichſt, als hätte ich im Hötel 
Sach vergeſſen!“ 

. „Rein, nein! aber die vielen fchönen Zimmer, die herrlichen 
Möbels, die vornehme Welt, die da zufammen kommt, das Alles 
ſchwaͤcht das Gedaͤchtniß ein wenig; man fieht da Leute, bie... 
D, wie froh bin ich, Andreas; o, Tehre nie wieder dahin zurüd.” 

„Nie?“ ruft Bernhard ; „das wäre ein fchöner Dank für bie 
vielen Wohlthaten.“ 

Ich will nicht fagen, Papa, daß er die Frau Gräfln nicht 
befuchen fol, nein, aber er foll in dem vornehmen Haufe nicht 
mehr wohnen und fchlafen ; das Einnte ihm allerlei Dinge in ven 
Kopf fegen, und Andreas darf nie vergeffen, daß er ein Savoyarde 
if. Nicht wahr, Andreas, das wirft Du nie vergeffen? Du wirft 
nie ftolz 2" 

Ich, Nanette? Bin ich das je gewejen ?“ M 
„Rein, mein Sohn, das bift Du nie gewefen; aber meiner 
Seel', ich glaube, er hat dem Ding’ ba eine Schraube im Kopf 
losgemacht. Wie fie rabbelt und herumhüpft! Seit zehn Jahren 
habe ich an ihr das nicht mehr gefehen und gehört !“ | 
Ich bleibe den ganzen Tag bei meinen Freunden. Unter ben 
wahthaft rührennen Beweifen von Anhaͤnglichkeit, womit fie mid 
überhäufen, enteilen die Stunden wie im Fluge. Wenn der Gebante 
an Adolphine mir dann und wann einen Seufzer entlodt oder meine 
Stirne in Falten legt, dann nimmt Nanette, als errathe fie, was 
tn meiner Seele vorgeht, zärtlich meine Hand, ſpricht von ber 
Mutter, der Heimath, und weiß aldbalv das Lächeln auf meine 
Lippen zurüdzuzaubern. Vater Bernhard, der mit den Jahren fih 
eiwad mehr Ruhe und Erholung gönnt, bleibt Tänger ald gewöhn- 
lich am Tifche ſitzen, und leert ein Fläfchchen Wein mit min anf 
bie Gefundheit Aller, die mir lieb und werth find, während Naneite 
ir leiſe zuflüftert: „Andreas, wie danke ich Dir für den lieben. 

m Tag! Seit lange bin ich nicht fo glücklich gewejen wie heute!“ 





X 


Wach iq; fate mid opt yufklehen im Keeſe Diefer geien 
Seelen, zufriedener als je im Hötel. So reine, fo ſtille Freuden 
foftete ich dort niemald. Warum mußte ich in das fchöne Hans 
geraiben, das mir einen großen Theil meiner natürlichen Heiter: 
teit raubte ? 

Gegen Abend verlaffe ich meine Freunde. Ehe.ich zu Herin 
Dermilly zurüdichre, fühle ich die größte Luft, beim Hötel vor; 
bei zu geben und mir bie Fenſter deffelben anzuſchauen. Da bin 
ich vor dem Haufe, wo meine Kindheit verfirih, und ein Theil 
meiner Jugend, wo ich bie Wohlthaten der Erziehung empfing, 
wo Geift und Herz herangebildet wurbe. Ad, ich Habe biefe Bor- 
theile theuer erfauft mit dem Verluſte meiner Seelenruhe! Gewiß, 
nicht ver Undank ſpricht ans mir; ich bin theilweife felbft daran 
Schuld: ich hätte meine Blicke nicht erheben follen zur Tochter 
meiner Wohlthäterin. Aber ſtets in ihrer Nähe, wie konnte ich 
mich ihres Zaubers erwehren? Warum ließen fie mich acht Jahre 
lang ſtündlich ihre Tugenden und ihre Reize bewundern Ober 
glaubten fie, der Savoyarde habe nicht eben fo gut ein empfäng- 
lich Herz in der Bruft wie jeder andere Mich ? 

Auch die Frau Gräfin hat die Schmerzen ber Liebe Tennen 
gelernt, wie mir erzählt wurbe, fie wird daher Mitleid Haben. Eine 
Mutter, die wider ihre Neigung geheirathet hat, wird ihre Tochter 
nicht zu gleichem Schritie nöthigen. DO, ich Unfinniger! ber ich 
ganz den Grafen, feinen Rang und fein DBermögen vergaß, und 
eben ſo "wenig bedachte, daß man im ſechsunddreißigſten Jahre 
anders fuͤhlt und denkt als im achtzehnten! Mit ben Jahren ver- 
Liert fich die Empfaͤnglichkeit und Reizbarkeit des Herzens und da⸗ 
mit auch das Mitgefühl für die verwandten Schmerzen Anderer. 

Nach faſt einfländigem Auf: und Mbipazieren vor dem Hötel 
wi ſtummem Aufchauen der Fenſter von Adolphinens Gemach Tehre 
d& endlich in meine neue Wohnung zurück. Mber mein Herz fagt 
wir, daß ich ohne die Dazwifchenkunft des Marquis noch unter 

Baul de Rod. II, \ 19 


einem unb beurfelben Dache teäre mit Anuinhiue, uns deſhalß muf 
ich den haſſen, der mich von ihr geirennt hat. 

Mehrere Wochen find nach meinem Umzuge verfloßfen, un 
noch habe ich wicht gewagt, meiner Wohlihäterin einen Beſuch zu 
machen. Dafür gehe ich allabendlich mehrere Stunden vor dem 
Hotel auf und ab. Lucilie kommt dann und wann zu mir, nament- 
lich wenn fie weiß, daß ich allein im Atelier arbeite; denn Encilie 
liebt die Tete-A-tötes. Bon ihr höre ich, daß Fräulein Adolphine 
feit meiner Abwefenheit fehr nievergefchlagen ik, und auf keinen 
Ball mehr gehen will. Wüßteſt Du, Lucilie, wie angenehm bie 
Nachricht in meinen Ohren Eingt! Herr von Therigny, fo erzählt 
fie weiter, verthut viel Geld auf Pferde und Wagen. Erfolauh 
eine Tänzerin an ber großen Oper unterhalten. Meinetwegen zehn, 
wenn er nur von feiner Coufine abläßt! Leider findet ihm ber Her 
Onkel hoͤchſt bezaubernd, weil er ihm jeden Morgen isgend eine 
Neuigkeit von Ehevet zuſchickt. 

Ihr Schluß iſt ewig derfelbe: „Sch betheure Ihnen, ih Habe 
ben englifchen Unterricht ganz aufgeftedlt und den Herrn Champagne 
ditto. Kommen Sie doch ind Hötel. Es ift nicht Hübfch von Ihnen, 

daß Sie die gnädige Frau fo ganz vernachläfjigen.“ | 

Ad, ich Täme gern, wüßte ich nur, was mich indgeheim da⸗ 
von abhält. Aber auch Herr Dermilly drängt in mid, unb weil 
feine Wuͤnſche mir Befehle find, gehe ich denn endlich nach forg- 
fältig gemachter Toilette. Ohne eitel zu fein, gebe ich was auf 
geſchmackvolle Kleidung; im Stillen wünfche ich zu gefallen. Ich 
bin faft eben fo gut gefleivet wie der Herr Marquis, und Eurilie 
verfichert, ich habe eine ganz ausgezeichnete Tournure. 

Zitternd betrete.ich das Hoͤtel. Auf der Treppe denke ih baram, 
bag ich Adolphine fehen foll ; fie ift ja ſtets bei ver Mutter. Lucilie 
fieht mich kommen und melbet mich Bei ihrer Herrin an. Gleich | 


barauf Heißt fie mich eintreten. Die Fran Gräfin if da, aber | 
Adolphine — fehlt, | 





I 

MNadame empfängt mich ungemein freundfchafilich, uber. mein 
herz fucht Adolphine. Sie wird bald kommen, fage ich bei mir. 
Eine Minute vergeht nach der andern, aber Teine Abolphine zeigt 
fh. So muß ich denn zurückkehren, ohne mich an ihrem Anblick 
geweibet zu haben! Gott weiß, ob ich ed an Antworten habe fehlen 
laſſen ober fonft woran: genug, mir fcheint, die Gräfin hat meine 
Unruhe, meine Ungebuld bemerkt. Unwillfürlich find meine Mugen 
fetö auf die Thüre gerichtet. Madame erkundigt ſich nach Herm 
Dermilly's Befinden; ich wollte, ich koͤnnte ihr beſſere Nachricht 
geben, denn er wird täglich ſchwaͤcher. Chemals hätte die zari⸗ 
fühlende Caroline bei der Nachricht von feinem Unwohlfein Allem 
getrotzt, ihm perfönlich ihre innige Theilnahme zu beweifen, jegt 
begnügt fie fi) mit Seufzen und Wünfchen. So ändert man ſich 
mit den Jahren ! 

Ich muß fort; mein Beſuch hat lange genug gedauert. Ich 
ſtehe auf, aber ich halte mich nicht laͤnger: ſtotternd nenne ich 
Adolphinens Namen. 

„Meine Tochter befindet ſich wohl," antwortet die Graͤfin 
froſtig; „ich werde Sie Adolphine beſtens empfehlen.“ 

So iſt es denn gewiß, ich ſoll fie nicht wiederſehen. Traurig 
gehe ich von bannen, gefolgt von Lucilie, die mir auf der wuerde 
ins Ohr flüflet: 

„Ich komme morgen zu ghnen ins Atelier.“ 

„Warum habe ich das Fräulein nicht geſehen ?“ 
„Madame hat ſie auf ihr Zimmer geſchict, als ſie hörte, 
daß Sie da feien.“ 

Sie will alfo nit, daß ich ihre Tochter sche, Wäre fe doch 
früher fo vorfühtig geweien! ' 

Wie im Fluge eile ich aus dem Hötel, kaum im Stande, 
meine Thränen zurückzuhalten. Ich trete in das erfte beſte Haus, 
mich Dort auszuweinen. Zuvor betrachte ich mir nochmals Adol⸗ 
phinens Zenfter und fage bei mir: „Du ſollſt fie nicht mehr jehen, 


28 
weht ehe ſprochen, wilht mehr den füßen Rlang Ihrer Cine 


hören!“ 

Mein Schmerz wird immer lebhafter. Gottlob, daß Ich hier 
auf dem dunkeln Gange eines ımbelannten Haufes meinen Zähren 
freien Lauf Taffen kann, daß ich fie nicht zu unterdrücken brauche 

Pkotzlich fürmt ein junger Menfch ungefähr in meinem Alter 
und faſt fo gekleidet, wie ich ehemals bei Bater Bernhard, laut 
ſingend ind Haus, tanıt an mir worüber, der ich ihm ausweiche, 
und will bie Treppe hinaufeiken. Als er mich in meiner eleganten 
Keidung wie ein Rind weinen. flieht, bleibt er unfchtäffig chen 
and hört auf mit Singen, weiß aber nicht, wie er mich anreden 
WU. Gr Tommt auf mich zu, gebt wieder, huſtet, bleibt ſtehen 
und bommt nochmals auf mich zu. 

„Rix für uncut, Harr,“ fagt er. „Der Harr hat Schmerzen, 
wie mir bünkt; find twir gefallen auf der Treppe, bie fo finfter if, 
wie 'ne alte Kuh, oder haben wir und den Schädel zerfishen, ober 
find wir übergefahren worden? Das Tommt wohl vor in Paris. 
Man ruft: vorgefehen! aber man Hart ſein eigen Wort nidgt vor 
all dem Spektakel. Befehle ver Harr was, fo wei ich's Sie be 
forgen than.“ | 

Wie wenig ich auch geftört zu fein wuͤnſchte, fo blieb ich doch 
nicht gleichgültig gegen die Stimme, die offenbar einem Savoyar⸗ 
den angehörte. Das Gerz verhärtet ſich ante gegen die Griunerumgen 
an das Vaterland. Mit Tebhafter Theilnahme Tchre ich mch dem 
jungen Menfchen zu und antworte ihm freundlich: „Dank Dir, 
Freund, ich Brauche nichts.” | 

Der Ton, in dem ich das ſagte, mußte ihn nicht recht Aberzengt 
Haben, denn er tritt näher auf mich zu und fagt nach einem Welchen : 

„Das glaub’ ich kaum, Harr!“ 

Ich trockne laͤchelnd meine Thränen aus ben Angen und frage fin: 

„Du biſt and Savoyen, nicht ſo 

„MWotan tthut der Harr das kerie?“ 


„An Deiner Gprache, Freund.“ 

„Bah! IR der Harr wielleicht auch ans Savoylın I“ 

„Ja, Freund, ih bin Dein Landmann !“ 

„Das hätt’ ig mir nich traumen laſſen, Sa. Der bar 
ſyticht nich wie unſer Ciner und fieht auch nich fo aus; Ihr ſeid 
her Erſie, den ich fo gekleidet ſehe, Harr, und ich weite, Ihr feid 
nich nach Paris gekommen, fo ju ju, piu pin zu machen. Rir 
fir unchut, Harr, wenn ich das fage.“ 

Die Offenheit und Ratarlichteit des jungen Savoharden ge 
fallt mir. 

„Bil Du ſchon Lange and Savohyen fort, Freund?“ 

„Schon reacht lange, Harr! Ich war fleben Jahr’ alt uns 
min Bruder acht, ald wir aus Savoyen fortgingen. Hab’ feit- 
m Schornflsine gefogt wie der leibhaftige Bott fei bei und.“ 

Sieben Jahre alt und mein Bruder acht! Welcher Gedanke 
Immt mir! Ich fehe ihn aufmerkfam an von Kopf bis zu Fuß. 
3, ja, fein Geſicht Hat offenbar Aehnlichkeit mit... und. elf 
Schre Find inzwiſchen vergangen. Gott, wenn er's wäre! Mein 
derz pocht fo, daß ich Taum Worte finden Tann. 

„Wie Heißt Dein Geburtsort in Savoyen, Freund?“ 

„Berin, ein Dürfen am Fuße des Mondblanc.“ 

„Berin! Und Dein Bater ?" 

„Dein Vater flarb kurz, ehe wir forigingen.“ 

„und Dein Bater hieß?“ 

„Wie ih, Harr: Georgit, mit Verlaub.“ 

Er iſt's, wis... Beter, kennſt Du mich nicht, Deinen 
Bruder, Deinen Anbreas ?“ 

Damit ſchließe ich ihn in meine Arme und brüde ihn an mein 
berg. Aber Peter ficht mich ganz verblüfft an. 

„3a, Peter, ich bin’... Dein Bruber, Dein Andreas !“ 
„Andreas? Mein Bruder? Sie.:. Pu; mein Vender Un⸗ 


noͤglich!“ 


290 


Es dauert lange, ehe ich Ihm feine Zweifel benehmen Tann. 
Mehrere Minuten halten wir uns brüberlich umfchlofien, obne 
Worte finden zu koͤnnen. 

„Dun, mein Bruder? mein Andreas? Du, in fo fchönen 
Kleidern ?“ hebt er enplih an. „Und Die weinteft I" 

„Und Du, Beter, noch immer in Deinem alten Kittel? Und 
Du fangft ?* 

„Sa, Bruder, ich finge immer. Aber haft Du denn Dein 
Gluͤck gemacht, Bruder, daß Du wie ein Prinz gekleidet geht ? 
Bas Teufels Heuleft und flenneft Du denn ?“ 

„Später davon, Freund, jebt will ich ganz dem Güde mich 
hingeben. O, mein tobt geglaubter Bruder !” 

„Kein Wunder, Andreas. Seit ich dem Kerl im roten Rod, 
ber mich frefjen wollte, davon Tief, haben wir und nicht ’gefehen.“ 

„Komm’, Bruder, komm' fchnell mit mir,” fage ih nad einer 
neuen Umarmung, „zu meinem... zu unferem beften Freunde, 
er wird Dich eben fo freundlich aufnehmen.“ | 

„Nur Geduld, Bruder, erft hab’ ich mir Antwort zu Holm 
bier im Hauſe ... das trägt ganzer zehn Sous ein, und das iſt 
was, meiner Seel’ !” | 

„Komm’ nur, Bruder, Dir gehört al’ mein Hab und Ent.” 

„Bruder, den Kunden darf ich nicht verlieren, und fo eine 
Beſtellung, die ift herrlich ; vergißt Du, was. 

„Du haft Recht, Peter! Geh’ denn, ich wart⸗ auf Dich.“ 

„Lieber, gib mir Deine Adreſſe, dann komm' ich zw Dir, 
wenn ich fertig bin. Du könnteſt Iange warten müflen... ich Bab’ 
ba fo ’ne Kleine Stopfmamfell, die auf ihren Schak eiferfüchtig 
iſt, der ihr allerlei Flauſen vormacht; die Eännte mich aufe Rund: 
ſchaften ausſchicken, meiner Seel’! aber fle zahlt gut... das Weiber 
volf rauft ſich die Haare nicht aus um 'nen Sechfer mehr oder 


weniger, wenn das verz im Spiele iſt. Es zahlt beffer als bie 
Mannsleute.“ 








2l 

Ich gebe ihm Herrn Dermilly's Adreſſe und empfehle ihm 
größtmögliche Eile. 

„Herr Dermilly ? Nennſt Du Dich nicht mehr Andreas Georgit 
wie fonft ?* 

„Gewiß, Beier. Ich bin und bleibe ſtolz auf den Ramen 
unfereö redlichen Vaters.“ 

„Gottlob, ich ſehe, Bruder, Dein Herz iſt noch das alte unter 
en neuen Kleidern !“ 

„Dermilly heißt mein Freund und Wohlthäter, bei dem ich 

ohne.“ 

„Gut, Andreas, ich verſtehe.“ 

„Komm' ja, und ſobald als moͤglich. Du darfſt mich nicht 
mehr verlaffen: wir bleiben von nun an immer zufammen.“ 

„Bei allem feinem Reichthum hat er mich lieb behalten, ver 
gute Andreas. Aber die Kleine wartet auf mich... Adieu, Andreas, 
ih Bin gleich wieder bei Dir.“ | 

Peter umarmi mich und fliegt dann die Treppe Hinauf. Wie 
ganz anders verlaffe ich diefen Gang, als ich ihn Beirat! So 
glüdlich Bin ich Aber das wunderbare Zufammentreffen mit dem 
todt geglaubten Bruder, daß ich an dem Hötel vorbeigehe, ohne 
zum Fenſter anfzubliden ; ich denke nur an Peter. Ganz außer 
Athem komme ich bei Herrn Dermilly an und vermag kaum einige 
verfländliche Worte hervorzubringen. 

Mein Freund nimmt den’ innigften Antheil an meiner Freude: 
Mit größter Ungeduld Karren wir der Ankunft Peters, um zu hören, 
wie e8 ihm inzwifchen ergangen und warum er nicht Tängft ber 
trauernden Mutter Auskunft über fich gegeben. 

Wir warten eine Viertelſtunde nach der andern, aber fein Peter 
tommt. Sollte er die Adreſſe verloren haben? Und ich Thor habe 
vergeſſen, mich nach der feinigen zu erkundigen. Schon fleigt meine 
Unruhe und Augſt aufs Hochſte, da wird plößlich aus Leibes⸗ 
hräften an ber Gausglode gefihellt.,. Gottlob, das kann Niemand _ 


208. 
anders fein als Beter. Ich üffne die Thüre und wir flürzgen 


einander in bie Arme. | 

Ich führe Beier hinauf. In den Borzimmern von Hersu Ders 
millg’8 Wohngemach blickt er ganz fo verwundert um fi, wie ich 
in meinem elften Sahre, als ich in dem ſchoͤnen Botte erwachte 
und die Vorhänge auseinander fchlug. 

„Wetter, das ift fehön Hier,“ ruft Beier ein übers andere 
Mal verwundert aus, „und wie gelehrt, wie geſchniegelt und ge 
firiegelt !“ 

Endlich flehen wir vor Herrn Dermilly. 

„Iſt dad Dein Meifter, Andreas 3" flüſtert mir Peter ind Ohr. 

„Biel mehr als das,” antworte ich und ergreife Herrn Der- 
milly’8 Hand, während Beter ihn ganz verdugt anflarıt. „Das 
ift mein zweiter Bater, mein Wohlthäter !“ 

„Willkommen, Lieber Peter,” fagt Herr Dermilly, meinem, 
Bruder die Hand Hinhaltenn. „Ich will auch Dein Freund fein.” 

Beter weiß nicht, ob er fie anrühren foll, macht allerhand 
Krapfüße und tritt in feiner Berlegenheit auf eine Gonfole, die 
mit lauten ®epolter umflürzt. Erſchreckt darüber fliegt er auf vie 
entgegengefebte Seite gegen den Theetifch an und ſchmeißt ein hübs 
ſches Theeſervice herunter, daß jämmtliche Taffen zerbrechen. Die 
neue Tölpelei bringt ihn vollends außer Faſſung und er bleibt wie 
vom Blitz getroffen ftehen, während Herr Dermilly laut lacht und 
ich Beter die Verlegenheit auszureden ſuche. Endlich gelingt es 
mir. Ich rücke ihm einen Armftuhl Hin und drücke ihn Darauf nieber, 
Auf unfere Bitten hebt Peter folgendermaßen zu erzählen am: 

„Du weißt, Bruder, daß ich mit den Kleidern unterm Arm 
im bloßen Hemde bavon lief, als ber Satan im rothen Mod mich 
ftefien wollte. Meiner Seel’, die Furcht vor dem Menfchenfseffer 
gab mir Flügel, und ohne mich nach Dir umzufehen, lief ich banom 
* über Kopf. Sp kam ich zu den Barridren hinaus, ih weiß 

R nit, wie? Ge im ferim delde, als ich bie Glabt im 





298. 


Rüden hatte und Athew ſchoöpfte, kam mir ber Gedanle au Die. 
Ich ſchrie: „Andreas! Andreas!" aber Du hoͤrieſt mich nicht. 
Gewiß riefft Da: „Beben! Beer!“ und Peter hörte Dich chen 
lo wenig, natürlich ! Dan zog ich Hofe uud Rod an und fehie 
mid an ben Wand eines Grabens. Ich hörte nicht cher anf, 
„Andreas!“ zu rufen, hie ich wor Heiſerkeit nicht mehr kouufe, baun 
King ih zu weinen und zu ſchluchzen an. So kam bie Nacht heran; 
endlich fehlief ich ein. Mein Iepter Ruf war: „Andreas!“ 

Hier unterbreche ich ihn und ſchließe ihn gerührt in meine Arme. 

„Au ich machte es fo, mein theurer Peter, auch mein letgter 
Ruf und Gedanke war: „‚Beter !‘“ 

„Den andern Mosgen in aller Frühe,“ hebt Peter von Neuem 
an, „trete ich auf gut Glück eine Wanderung an, ohne zu wiſſen 
wohin? Ich Hatte Hunger; beim Suchen fand ich in der Taſche 
unfere fieben Sous; wie Du weißt, was ich der Kaſſenführer und 
Kaſſentraͤger. Im nächften Dorfe ließ ich mix für einen Son Brob 
geben, das ich vos lauter Weinen kaum hinunterbracht⸗e, obgleich 
ih mörberifchen Hunger hatte; denn ich dachte daran, daß Du 
kin Geld hatteſt, Andreas, und fagte mir: was fängt ber arme 
Oruder an, wenn er kein Kamin zu fegen findet! Bald tröflete 
id mich etwas, bean mir fiel ein, daß Du Hüger und gefcheites 
biſt als ih. Ich Hatte oft gehört, daß, wer Kopf und Herz auf 
er rechten Stelle Het, in Paris fein Gluͤck machen muß. So kam 
ich in eine Stabt, ich hielt fie für einen andern Theil von Paris, 
Bottlob, ſagte ich mir, ba wird Andreas fein! aber nein, ich war 
n St. Germain. Ich brach in lautes Weinen aus; ein Herr, ber 
ben voraberging, fragte mich, warum ich weine, und ich erzählte ihm 
neine Geſchichte. Hoͤre,“ fprach er zu mir, „th habe eben 
reinen Knecht forigejagt, weil ex ſich täglich betrinkt und mir ben 
Bein im Keller ausſauft. Du bift noch jung, haft nicht viel 
Ippetit, da lann ich fpaven. .. auch finb bie Savoyarden ehrliche 
Inriche md trinken afler ſtatt Wein Wenn Du milk, nehue 


04 
ich Dig in meinen Dienft, fo brauchſt Di wenigſtens nicht im 
Freien zu ſchlafen.“ „Und mein Bruder,” fragte ih. „Den 
Iaffen wir in Baris ſuchen ... wir haben ihn Bald gefunden.“ 
Socherfreut über das Verfprechen des Herrn folgte ich ihm. Er war 
Gigenthümer eines großen Hauſes, bewohnte aber für fich bio brei 
Heine Stuben. Mein ganzes Lager beſtand in einem ſchlechten Stroh⸗ 
fad ; dennoch fehlief ich vortrefflich. Auch bekam ich nichts als Brod 
und gebörrte Hüffenfrüchte; aber wir Suvoyarben find nicht Lader, 
wie Du weißt. Enblich verfprach er mir einen Jahreslohn von zwölf 
Franken. Dafür diente ich ihm als Lakai, Koch und Laufbote, und 
weil er ſich gewaltig vor Feuer färchtete, mußte ich ihm jeden 
Morgen das Kamin fegen. So oft ih mich nach Dir erkundigte, 
gab er mir ausweichende Antwort, bis er eined Morgens: fagte, 
Du habeſt Paris verlaffen und man wiſſe nicht, wohin Du ges 
gangen feiefl. Bruder, ich Tann Dir nicht fagen, wie ich Bei der 
Nachricht weinte! Der Gedanke, Dich nie wieder fehen zu follen, 
plagte mich Tag und Nacht. Bald darauf wollte ih nach Paris. 
„Du thuft beffer, bei mir zu bleiben,“ antwortete ver alte Knauſer, 
der mich nicht miffen wollte; „nicht Jeder findet in Paris fein 
täglich Brod.““ Zugleich verſprach er mir, an meine Mutter zu 
ſchreiben, um fle über meine Rage zu beruhigen. So lebte ih 
fünf Jahre im Haufe des alten Geizhalſes. Je größer ih warb, 
um fo ärger Tangweilte ich mich bei ihm, der fi} ewig über meinen 
Heißhunger befchwerte, dennoch wagte ich nicht, ihn zu verlaffen: 
ich bin von Natur fchüchtern, wie Du weißt. Als er mich eines 
Morgens zum zweiten Frühſtück bei einem Baar Aepfel fand, gab 
- er mir endlich meinen Abfchied. „Du biſt erſt zwölf Sahre alt= 
fagte er, „und frißt fchon wie ein Fünfundzwanzigjähriger. Wo 
will das hinaus? Ich muß mich nach einem füngeren, nicht fo 
ausgehungerten Diener umfehen. Geh’ nach Paris, vielleicht Aubet 
Du Deinen Bruder wieder. Da Haft Dn Deinen Lohn für Fünf 
Jahre ... mit fechzig- Frauken Tann. man ſchon was anfangen!" 





Zum erſtenntale durfte ich eine fo große Summe mein nennen. 
kuſtig und guter Dinge Tehrte ich nach Paris zuräd. Machſt du 
als Scherufteinfeger fein Glück, fagte ich mir, fo laͤufſt du Boten, 
du biſt alt genug dazu. Auch fuchft du Andreas, bis du ihn ſindeſt. 
Aber, du mein Gott, vergebens fuchte ich Dich wie 'ne Stecknadel, 
vergebens fragte ich jeden Savoyarben, der mir in den Wurf Tam. 
Sie konnten Dich nicht kennen, weil Du inzwifchen ein vornehmer 
Here geworden warſt. Endlich Hatte ich eine hübſche Summe ers 
ſpart: die fit du der guten Mutter, dachte ich bei mir. ber 
wie fängft du das an? Aus der Berlegenheit half mir ein Her, 
ein alter Kunde von mir, dem ich oft die Schuhe wichfen mußte, 
wofür er nie zahlte, um, wie er fagte, mir recht viel auf einmal 
geben zu Tönnen. „Ich habe viele Bekannte in Savoyen,“ ſprach 
er zu mir. „Gib mir dad Geld und Du barffl Dich darauf ver 
laſſen, daß es richtig beforgt wird.“ Das ließ ich mir nicht zweimal 
fagen, wie Du leicht denken kaunſt! Ich gebe ihm Hundert Franken, 
und nach einiger Zeit brachte er mir einen ſchönen Dank und bie 
beſten Grüße von Selten der Mutter und bed Bruders.“ 

„Armer Peter,” unterbrach ich ihn, „der Kerl hat Dich bes 
frogen. Die Mutter weiß nichts von Dir; fie glaubt, Du ſeieſt 
laͤngſt geſtorben.“ 

„Wär's möglich?! Und doch Hatte der Herr ein ehrlich Ges 
fiht! Mach einiger Zeit bot er mir aufd Neue feine Dienfte an.” 

„Wie heißt der Herr?“ 

„Wart' nur, wie heißt er doch!... Eoifenn..: ja, ja, Lolfeau, 
ein Banquier.“ 

„and feine Adrefſe ?“ 

„Die weiß ich nicht. Er kam immer zu mir. Mitunter lud 
er mich auf ein Glas Kümmel in bie Sqhnapoboutique an ber 
Ede ein.” 

„Ein Banguier, ber in einer Schnapsbontique mit Kümmel 
Dig heit wiederhoil Hur Dermilly, ungläubig ven. Kopf 


ſchatielad. „Une He Betfoon, Freund Pober, hat mir ganz das 
Ausſehen eined Schelmo, der eine tũchtige Tracht Brügel verdient.“ 

„Bald darauf wwrbe ich krank und ba es mit dem Berdienft 
nicht fo echt vorrüden wollte, fo mußte ich lange krumm liegen 
und Ionnie ber guten Mutter nichts ſchicken. Da führte mich mein 
Schickſal oder mein guter Stern in dad Hand, mo ih Dich wie 
ein Kind weinend fand, obglei Du in fo netten Kleidern ſteckteſt 

Die letzien Worte Peters zogen mir das Blut ins Geſicht 

„Um dem Geſpräͤche eine andere Wendung zu geben, fing id 
eilig an, dam Bruder meine Geſchichte zu erzählen, von unferer 
Trennung an bis. auf den Augenblick unfered Zuſammentreffens. 

„Meiner Seel',“ ruft Peter, „Du hattet Recht mit bem kleinen 
Berträt,, dad Du anf der Bruft trugſt; Die Haft ihm Dein Glkd 
zu verbanfen.- Uber fag’, Andreas, wie verjchieben finb wir jept! 
Da bi ein ſchoͤner, vornehmer Herr, haſt Talente, Keuniniffe 
und Anſtand wie ein Graf, und ich bin geblieben, mas ich war, 
bin noch eben fo dumm wie zuvor; aber Du liebſt mich wie che; 
mals, da® iſt die Hauytſache. Da haft gemacht, daß unfere Butter 
zufrieden if und an nicht Mangel Jeidet. Ueber Deinem Glüäck 
han Du Deine armen Gltern nicht vergeffen und dad iſt recht: 
wär ich fo reich geworben wie Du: ich glaube, das Hätte mir den 
Korf verrückt und doch hab’ ich auch ein gutes Gerz... Sapperlot, 
’8 iR ſchon fpat, und ich wohne im Faubourg St. Jacques.“ 

„Rein, Freund Beer,“ fagte Herr Dermilly, „Dun wohn 
ven Gent an bei mir und Deinem Bruder. Wir wollen was Rechtes 
aus Dir machen.” 

„Waͤr's möglich!” ruft Peter und‘ ſchmeißt vor Freude dem 
Temſtuhl um. „3 bier wohnen, in biefem fchönen Haufe ? Alle 
Sagel!... aber mein Krapeifen follt' ich haben und meinen Manyım ° 
Oder laff’ ich das bis morgen. Pop Sapperment, das muß ſich 
Bott lehben hier!“ 

Palm gerath aufer fl wor Grube. Ich drad⸗ Ges Dres 


\ 


milly gerührt bie Sand und nehme Peter mit auf mein Schlaf 
zimmer, denn es ift ſchon fpät und Herr Dermillh bedarf der Ruhe, 
In meinem Zimmer wird Peter nicht müde, bie ‚herrlichen Mobis 
lien anzuſtaunen. „Bier fol ich wohnen, ich ?“ ruft er ein über's 
andere Mal verwundert aus. 

Dennoch drüdt ihn etwas, er möchte zu gerne wiffen, warum 
id geweint Habe. 

„ber fage, Bruder, was befüämmerte Dich fo auf dem dunkeln 
Bange in dem Haufe?" fragt er mi. „Ich will und muß es 
wiſſen ? 

„Später, lieber Bruber.” 

„Nein, Andreas, gleich, ich habe nicht eher Kuhe. D 
ſiehſt Du, wem ich aufhören muß, luſtig zu fein, um ein vor 
nehmer Herr zu werben, fo will ich Tieber Bleiben, was ich Yin, 
va kann Ich wenigſtens ben ganzen Tag fingen.“ 

„Mein Kummer, Bruder, Hat nicht viel auf ſich. Weißt On, 
ter, was verliebt fein Heißt? Nein ?” 

„Bertieht ? Diener Seel', nein!” 

„Dann, Beter, tannft Du mich nicht verftehen.” 

„Du bift-alfo verliebt, Andreas? Und Deine Schoͤne bat Dir 
Dippchen vorgemacht wie der Schatz meiner Heinen Stovfmantſenx 

„Betei, kein Wort mehr davon. 

„Bas glaubſt Du, Bruder?! Die Votenläufer find verfäwies 
gen wie das Brab.“ 

Mur mit Diühe bringe ich Peter ind Bett. Er findet «6 viel 
m fchön und weich; endlich wagt er's, ſich auszuſtrecken. She zr 
ieſchlaft, ruft er wiederholt: 

„Das ſchone Bett, wie weich! man verſtakt ganz... helfe, 
‚ier will ich luſtig fein! Aber ich will mich hüten vor Verlich⸗ 
eit, ſouſt müßte ich auf weinen wie der arme Audeeas!“ 


— — ——— 


M 


Dreiundzwanzigſtes Kapitel. 
Herrn Dermilly's Tod. — Ich bin reich. — Peter macht 
Dummheiten. 

Den naächſten Morgen beim Erwachen umarmen wir uns brüder⸗ 
lich. Wie füg ift dad Wieverfehen nach fo langer Treunung! Ih 
will mich gleich hinfeßen umb der guten Mutter die fröhliche Nach⸗ 
sicht melden. 

Herr Dermilly fchläft noch. Inzwiſchen ſchicke ich Peter in ben 
Fauburg St. Jacques, damit er feine Effekten hole und alles Uebrige 
in Orbnung bringe. Gr verfpriht, bis zehn Uhr zuräd zu fein. 
Ich ſchaͤme mich meined Bruders nicht, aber weil er bei und wohnt, 
ſoll er auch gekleidet fein, wie ich e8 bin. Wir find fa von 
gleicher Groͤße; meine Kleider paffen ibm. So mag er fi mit 
den meinigen begnügen, bis ich feine Garberobe und was er fonk 
braucht, hergerichtet habe. Das unverhoffte Zuſammentreffen mit 
bem geliebten Bruder fcheint mir meine alte Heiterkeit wieberge 
geben zu Haben. Mein Glüͤck wäre noch größer, wenn nicht ber 
. Beufland Herrn Dermilly’s die lebhafteſten Beforgniffe in mir er: 
weckte. Er wirb mit jedem Tage ſchwaͤcher und niedergeſchlagener, 
und ich darf nicht einmal ber Frau Gräfln davon ſagen, denn er 
fürchtet, fie zu betrüben. | 

Mit Krapeifen und Ranzen auf dem Budel kommt Peter zurüd. 

„Wozu das 3" frag’ ich ihn; „Du weißt, Du brauchſt vie 
Sachen bier nicht.” | 

„Höre, Bruder, Du haft große Dinge mit mir vor; aber wer 
weiß, ob fie Dir gelingen. Ich behalte mein Rrapeifen, vieleicht 
daß ed mir fpäter einmal gute Dienfte thut.“ 

„Du haſt Recht, Peter, und was Du aud wirft, fie innen 


Dir eine Grinnerung fein an dad, was Du früher warf. Sept 
Heide Dich an,“ 





„Wie, Andreas, die fehönen Kleider find für mich ?“ ruft ex, 
vie Kleidungdftüde, die ich ihm hinhalte, bewundernd anſehend. 

„Kür wen fon ? Du bift mein Bruder und folk nicht fchlechter 
gekleidet fein als ich.“ 

„Mag fein, Bruder; aber fest Du, ih Tomm’ mir gar zu 
linkiſch d'rin vor.“ 

„Das gibt ſich, Peter; auch ich konnte mich nicht gleich an 
fe gewöhnen.“ 

„>, wie hübſch muß das Kleinen !“ 

Beter leidet fich an; dann gehen wir zu Herrn Dermilly, ber 
mit dem Frühſtück auf und wartet. Er lacht laut, als er Peter 
erhlidt, und in der That fieht er Höchft komiſch aus, Aus Furcht, 
die Kleider zu beſchmutzen ober zu zerbrüden, fleht er kerzengerade 
da und flarrt dann vor ſich bin, weber links, noch rechts, noch 
hinter ſich blickend. 

„Richt fo ſteif, Peter!“ ruf' ich ihm zu, „Du mußt Dich 
leichter tragen und thun, als ſtaͤckeſt Du noch in Deinem alten Kittel.“ 

Dann tritt er vor den Spiegel und ſtaunt Cravatte und Weſte 
an. Er will nicht auf den Boden ſehen aus lauter Schonung gegen 


die Rofette feiner Halsbinde. Mit größter Mühe bringen wre im . 


zum Sitzen, weil er die Rockſchoͤße zu zerfrämpeln fürchtet. 

Nach dem Frühſtück, wobei Peter bloß zwei Taffen umwirft 
und nur eine Zuderbofe zerbricht, geh’ ich mit Peter zu Bater Bern- 
hard. D, daß ih ihn in’s Hötel mitnehmen vürftel Wären die 
Graͤſin und Adolphine allein, fie würden ihn beftimmt gut aufnehmen. 

Auf der Straße fage ich zu Peter: 

„Gib' mir den Arm und fieh' nicht aus, als gingft Du auf 
Biern.” 

„Wenn nur der. Dred nicht wäre, Andreas,“ 
„Dred bin und Dred her: Haft Du nit Stiefel an ?" 


„ber ſich', wie fie glänzen ; ſchade, wenn fie dreckig werben,“ 


„Drückt Di Dis Hofe, Peter ?“ 


FR 


„Mein, Bruder.” 

„Barum drehſt Du Dich denn fo?” 

„Sch made kleine Schritte, Andreas ; daB if fein.” | 

„Bein bin und fein Ber, Bruder; geh’, wie Du früher gingf 
und kümmere Dich nicht um Feinheit.“ 

„Wie Du will, Bruder.“ 

„Barım biſt Du fo roth im Geſicht? Fehlt Dir was?" 

„Nein, Bruder: die Eravatte drückt mich ein wenig.” 

„Teufel, fo mach fle lofer! Ste!’ ven Finger hinein.“ 

„Bohin dent Du, Bruder? Die Mofette würde zerbrüdt.“ 

Ich Führe Peter auf eine Heusflur, Binde Ihm dort das Hald: 
tuch Sofer, Inüpfe ihm ven Rod auf und zeige ihm, wie er ſich 
zu halten habe ; dann gehen wir weiter. Nach einer Weile macht 
er eine fo drollige Mitene, daß ich ihm lachend Frage, ob er ſcho 
wieber erſticken wolle. 

„Ren, Bruder; aber mir ſcheint, alle Leute fehen mich ar.‘ 

„Bas tollen fie Dich anfehen ? Und wenn's wäre, braucht Du 
fhren Blicken auszuweichen? Deufe, Du bift ein ehrlicher Burſch, 
'umb daß vie, welche über Dein linkiſch Weſen lachen, vieleicht wicht 
fo viel fagen Tönnen.“ - 

Diefe Borſtellung frachtel: er bewegt die Beine freier, und al 
vitr beim Wafferträger eintreten, aſhmet er auf, wie wenn ihm eine 

Sentnerlat vom Berzen gewaͤlzt wäre; bier fühlt er ſich in fein 
- Mahrwalfer,: denn hier inwonitt ihm michte, 

Brruhard und Nanette kheilen meine Freube und behandeln ihn 
ganz fo liebreich wie mich ſelbſt. Ich gebe Bernhard einen Brief für 
meine Diutter, auf daß:fie ſich balvigſt mit mir Freuen Tan über den 
unverhofften Wieberfunb Peters. Es dauert nicht lange, fo fühlt er 
ſich bei den Tieben Leuten ganz heimiſch; hier engt und zwängt i 
nichts ein. Nach mehrſtündigem Aufenthalt fcheiden wir von un 
Drenuden unter ben Berfpreäien, fie weit op zu befuchen. 

„Ihr ſeid zu jeber Stunde wikklommen,“ Fagt AMumeite zu Peter: 








413 


fühte jeht, mad ich in dreizehaten Jahne nicht fühlte, hie greſie 
Auft, die und traum.” 

Ich feufge tief auf; Abolphine ficht mich an, ihr Herz fcheint 
bes meine zu verfichen. Wir Beide fchweigen, aber unfere Augen 
eben und werben beredter, als unfer Mund vermocht hätte, Seliger 
Augenblick! Die Gräfin ift noch immer in. die Briefe vertieft und 
denkt einer glüdlicheren Bergangenheit, während ihre Tochter und 
ih und an ber Gegenwart labem 

Ploͤtzlich wird unfer Geſpraͤch durch gewichtige Schritte im. 
Mehenzimmer geflört. Kaum habe ich mich von Adolphine entfernt 
und kaum hat die Graͤſin die Papiere, die fie in ver Hand Hält, 
verſteckt, fo tritt Herr von Franconard ind Zimmer, 

„Ho 59!” zuft er, als ex mich fieht, „Andreas bei Dir? Mas 
macht er fchon wieder in meinem Hotel?" 

„Sr bringt wir,“ antworte meine Wohlthaͤterin, „bie legten 
Grüße eined Mannes, ber mir fehr theuer und werth war: bie 
letzten Grüße Herrn Dermilly's, der ihm bei feinem Tode Alles 
vermecht hat.” 

„zenfel! dad Blatt hat ih gewendet,“ ruft der Graf und 
wirft ſich in einen Bergöre; „ich erinnere mich jetzt, daß Sie mir 
von feinem Tobe ſagten. Auch Cäfar ift geftorben, der arme Hund! 
ih weine täglih um ihn. Dermilly war nicht ohne Talent; aber 
Gäfar! o, das war unvergleihlih! Weißt Du nicht mehr, Aus 
dreas, wie er Durch den Reif fprang ? Alſo Dermilly Hat Dir alles 
Seinige vermacht? Hm! das Heißt freilich nicht viel, fo eine Maler: 
erhichaft; arm wie ein Maler, fagt das Sprüchwort.” | 

„Herr Dermilly war nicht fo arm, wie Sie glauben ‚“ ani⸗ 
woriat die Gräfin, tief verletzt durch die Rede ihres Gatten; „er 
binterläßt Andreas fechstaufend Livras Jahresrenten.“ 

„Sechstauſend Livres Jahresrenten!“ ruft Herr von Xrans 
conard und reißt die Augen weit auf. „Sauperlot, ba lobe ich 
min; wußr ich mer, ver fie mit dem lumpigen Geſchmier anf 


314 


Lanwand fo viel zufemmenfääntern! Haut er mir ben Gäfer 
abeonterfeit, Du würbeft zehn blanke Thaler mehr in ber Erbſchaft 
gefunden haben, Anbread... unb fechötaufend Livres Jahres: 
renten! Wiſſe, Du gefänft mir immer beffer: Du Haft Dich zu 
Deinem Bortheil verändert, fett ich Dich zulept gefehen. Gott 
weiß, woher er die Tournure hat!“ 

„Sie find allzu nachſichtig, Her Graf,“ antworte ich unter 
leichter Verbeugung. 

„Allzu nachſichtig! Hübſch geantwortet! Wer hat Dir das 
Gompliment beigebracht? Du felbft? Da flieht man, nichts bildet 
- den Geift mehr ald dad Geld, und ſechstauſend Livres Jahres: 
renten ift meiner Seel’ genug für einen Savoyarden. Sch weite, 
Du willſt einen Kram anlegen. Lebte Gäfar noch, fo würde ich 
Dir Died und Jenes, 3. B. für die Küche, zu liefern geben; ba 
braucht man allerhand ; aber dad Ereigniß hat mid) fo verflimmt, 
daß ich Alles in der Küche gehen laſſe, wie's geht!“ 

„Gar zu gütig, Herr Graf! Es iſt aber nicht meine Abſicht 
einen Kram anzulegen: ich will bei der Kunft bleiben, bie mein 
Wohlthäter mich lehrte. Ich Bin nicht auf Gelderwerb erpicht !“ 

„Schlimm! ſehr fchlimm! Der Handel könnte Dich weit bringen: 
mit dem Zumwägen von Erbſen und Sauerkraut kommt mon weiter, 
als mit dem Hins und Herpinfeln. Jeder will leben, das if aus⸗ 
gemachte Wahrheit, aber nicht Jeder will was gemalt Haben. Ich 
3.2. Tümmere mich taufendmal weniger um Maler, als um Köche. 
Hab’ ich nicht recht, he?“ 

Statt zu antworten, made ich ihm mein Gompliment und 
verabfchiebe mich bei der Gräfin für die Reife nach Savoyen. 

Sie reifen nad Savoyen 3" fragt Abolphine. „Um nicht 
wieber zurückzukehren nach Paris ?“ 

„Hoffentlich bald, Fräulein Adolphine; ih will nur bie 
Mutter befuchen, die ich feit elf Jahren, fo lange ich aus ber 
Heimath fort bin, nicht ‚gefehen habe. Mein Druder Peter veitt 





33 

„Da bin dh, Bruder, etwas fpät, aber beſſer als gar nicht. 
Das war ein Jux, Bruder, und die andern Lümmel, die wollten 
und prügeln, aber, ſag' Dir, wir haben die Kerle gewammsöt 
nah Roten.” Ä 

„Schweig’, Peter!’ fage ich, „und mach’, daß Du in’s Bett 
lommſt. Du weißt, Here Dermilly ift krank; wink Du ihn aufs 
weden aus dem Schlaf durch Dein Gebrüll?“ 

„Sapperlot, Bruber! das vergeß’ ich. Der gute Herr Der: 
milly! Höre, ich lieb’ und achte Ihn mehr wie mich felbfl ; meiner 
See, ich möchte ihn nicht weden.” 

Dabei fchreit der Tropf immer lauter. Endlich zieh’ ich ihn 
in's Zimmer und fchließe alle Thüren zu, damit er Niemand fidrt. 

„est geh’ in's Bett,” fage ih; „morgen kannſt Du erzählen, 
wad Du geihan haft.” 

„Suche, Bruder, dad war ein Sur! Und dinirt haben it 
wie bie Prinzen, meiner Seel’! 

„Bit wen haft. Du dinirt ?“ 

j er wen ? Das weißt Du nicht ? Mit Loifeau , meinem alten 
Kunden ; jebt ſchwoͤrt er, er fei mein Freund auf Top und Leben.” 

„So, fo, der Loiſeau hat die Hand im Spiel! Nun begreife 
ih, warum Du fo bift! Wie Du mit einem foldden Kerl umgehen 
magft, der Dich fo ſchnode betrog und wahrfcheinlich nichts Anderes 
it als ein abgefeimier Spitzbube!“ 

„Bruder, Du thuſt ihm Unrecht: er ſchwoͤrt, er ſei ber ehr: 
lichſte Kerl auf Gottes Erdboden, und wenn unfere Mutter das 
Geld nicht gekriegt Habe, fei er fo unſchuldig d’ran wie ein eins 
jähriges Kind ; dann fei er felbft betrogen und beflohlen worben. 
Zum Beweis dafür z0g er allerhand Papiere und Schriften Aus 
der Taſche, die feine Unfchuln fonnenklar darthun.“ 

„Kannſt Du denn leſen?“ | 

„Das Hab’ ich ihm gefagt, aber. er antwortete: „Ich till 
Dir dis Papiere vorlefen, die mid) fo weiß machen in Deinen Augen 

® 


wis Schnee uns mehr noch, ich mil fie Die uorlefen.‘“ Dann 
las er fie mir ver; eined davon wer ein Sittenzengniß, ausge⸗ 
flellt vom Priebensrichter feines Arrondiſſements, mit bem wir 
dinirten.‘’ 

„Mit dem Friedendrichter ?“ 

„Rein, mit dem Gertificat in der Tafche, bei einem famofen 
Traiteur nach der Charte; Loiſeau Beftellte das Eſſen und ich zahlte, 
denn ber arme Schelm hatte ein Loch in der Hofentafche, und als 


Her nach dem Gelbe fuchte, war Alles durch bad Loch gefallen.” 


Ploͤtlich Fam mir, ich weiß felbft nicht wie, ber Gedauke, 
dioſer Monfleur Loiſeau fei Fein Anderer ald mein Freund Roffignol; 
in ihrem Benehmen gleichen fie ſich wie ein Ei bem andern. „Wo 
haſt Du denn Loifeau getroffen, Peter?“ frage ich. 

„Auf der Straße, ald ich zu Papa Bernharb wollte Ein 
Herr kommt auf mich zu, flieht mich von Kopf bis zu Zug an und 
fliegt mir um ven Hald. „Ja, ich irre mich nicht,“ ruft er, „ja, 
er iſt's!““ Und das fang er, benn er fingt oft, wenn er fpridht, 
und meiner Seel’, er fingt wie ein Tauſendſaſa; er faun mit feiner 
Stimme Wirbel fchlagen wie ein Tambour.“ 

Das Alled paßt anf den Schaft von Roffiguol wie bie Yaufl 
auf's Auge. 

„Nachdem er mich umarmt hat, als wolle er mich freffen,‘ 
fährt Peter in feiner Erzählung fort, „fragt er mich, ob ich das 
große 2008 gewonnen ober die Tönigliche Poft beftohlen habe. Ich 
erzähle ihm nun, daß ich meinen Bruber Anbread teiebergefunden 
babe und bei einem guien Manne wohne, ben ich von ganzem 
Haeczen achte und liebe...” 

„Nur nicht fo laut, Du ſchreiſt wie nicht geſcheit. Willſt 
Du Herrn Dermilly aufwecken ?‘' 

„Bruder, nenn’ den Namen nicht, ober mir koömmt bes Weinen 
* —* a, ich ven ein 0m im Leib wie Wachs ſo weich, 





„Seht heult er gar. Still, ewiget Günter, ſtill! Warte 
bie Morgen.” . 

„Schau, Andreas, der Herr Dermilly, der Dich feinen Sohn 
heißt, iſt fo gut, Hi Hi Hi! Aber Du verbienft e8 auch, Du, Hi 
bi Hi! Andreas, ich will lefen, denn ſchau', mir geht's durch bie 
Seele, daß Du fo viel Mühe Dir gibft... Hi Hi hi... und noch 
kaun ich nicht Papa und Mama buchflabiren... bi Hi Hi!“ 

„Das freut mich, Peter! Aber jebt iſt's nicht Zeit zum Lefen, 
fondern zum Schlafen; mach’, Haß Du in's Bett kommſt, ich Bitte Dich.“ 

„Wie Du willſt, Bruder. Gib Acht, wie ich morgen buch: 
Rabiren will und ganz allen: fo... fo... fl... fo...ffen... ge: 
foffen ... nichts als Wein gefoffen, Bruder, meiner Seel’, nichts 
als Wein, und was für welchen? Hölle und Teufel, wie heißt er 
doch noch ? Eanpanier... ja, ja, Eanpanierwein, und beim Deffert 
haben wir alle Teller zerfchlagen, denn Loiſeau fang vum Bolero 
und dazu Elapperte er mit den Scherben, ald wären’s Kaſtanien. 
Wie fein das Hang, Bruder, fo himmliſch, daß mehrere junge 
Leute, die im Nebenzimmer aßen, einen Son nad) dem andern und 
zuwarfen, damit wir flillfchweigen follten! Was thut der Loiſeau? 
Der wirft fle mit Tellern, ganzen und halben, und fie werfen wieber 
mit Schüffeln, daß Teller und Schüffeln in der Luft zufammentrafen, 
und klirr, klirr ging's; hu, das war eine Luft! Teller und Schüffeln 
hin und her, links und rechts, oben und unten. Ein alter Herr, ber 
in einem Winkel des Saales friedlich bei feinem Hafenpfeifer ſaß, 
warb von einer Salatfegüffel getroffen ; racheſchnaubend fliegt er auf 
umD will die Polizei holen. Wir aber zum Tempel hinaus: babe 
hab’ ich meinen Hut eingebüßt. Schade d'rum, er war ganz neu.” 

„Die Aufführung Iob’ ich mir.” 

„Und mit Reit, Bruder. Wir haben und ale brave Männer 
gefchlagen ; Du darfſt zufrieden fein mit mir, Bruber. “ 
„Sa, Bruder, vor Allen, wenn Di endlich ſchweigſt und ein⸗ 


spsark.” 


„Erf ſag', ob Du mich noch lieb Haft.“ 

„Sa, Beier ; aber wenn Du mich lieb haft, fo fchlafe endlich cin. 
Endlich ſchlaͤft er ein; gleich darauf Hör’ ich ihm laut ſchnacchen. 
" Beer, Peter, wie würde es Dir gehen, wenn Du hier allein wirt 
ohne Bruder, Freund und Ratbgeber! Dann wäre Dir's befia, da 
fehrteft nach wie vor den Schornflein : arm würbeft Du nach wie mt 
ehrlich bleiben, aber reich, wer weiß, was die Schelme aus Di 
machen Tönnten! “ 

Es if die erſte Unbefonnenheit, bie er begeht, und bie wt: 
dient Nachſicht. 

Den andern Morgen beim Erwachen befinnt ſich Peter vergeblid 
auf die Ereigniffe deö vorigen Abends ; nur allmählig fallen fie ihn 
wieder ein. Ein unmäßiger Genuß der Tafelfreuden wirft nachtheilig 
auf dad Gedaͤchtniß, und wer ſich ihnen oft hingibt, gewinnt gan 
den Anfchein eines Blöpfinnigen. Je mehr er zum Bewußtfein kommt, 
um jo mehr fchämt er fich feines Benehmens und bittet mich infür- 
big, Herrn Dermilly nichts davon zu ‚jagen ; zugleich verſpricht ıt 
mir, jeden Umgang mit Loijeau zu mößben. | 

„Wenn Du ihm wieder begegneſt,“ fage ich zu Peter, „fo be— 
fielle ihn. an einen beliebigen Ort ; dann gehen wir zufammen bit, 
und ift Dein Herr Loifeau derfelbe, auf ben ich Verdacht habe, ſo 
follen ihm feine Schelmflüde fchlecht befommen.‘‘ 

Ueber den immer beforglicher werdenden Zuftand des Herrn Det: 
milly vergefje ich dieſen Vorfall ſchnell. Herr Dermilly kaum nid! 
mehr aufftehen aus feinem Armſtuhl. Er fühlt, daß er nur noch 
furze Zeit zu leben hat, obgleich er. der Graͤfin auf ihre wieberholten 
Anfragen Hinfichtlich feines Beſindens antworten: läßt, daß ee 
beſſer gehe. j 

„Lieber Audreas,“ fagt er zu mir, „ich weiß, wie ich daran bin, 
aber warum foll ich die gute Karoline im Voraus betrüben ? Sie 
wird meinen Tod beweinen, nicht, wie ſie's früher gethan hätte, mil 

Aweiflung eines liebenden Herzens, fondern mit dem fil: 





307 


Innigen Schmerze eines Freundes bei der Trennung vom Freunbe. 
Andreas, ich Habe in Deinem Herzen gelefen; auch Dir macht 
die Liebe viel Schmerz! 

Bas Helfen alle Berficherungen des Gegentheils? Ex Kat 
mein Geheimmiß entdeckt. 

„Du liebſt Adolphine,“ fo fährt er fort; „fände es bei mir, 
Dich glücklich zu machen, fo würde Adolphine Dein Weib. Di 
biſt mein Mboptivfohn, und weil ich Feine Erben habe, gehört Dir 
Alles, was ich auf Erden zurüdlaffe. Dank meinem Talent und 
meiner einfachen Lebensweife, Habe ich es bis auf fechötaufend 
Livres Jahresrenten gebracht: fie gehören Dir. Es iſt viel für 
einen Künftler, aber jehr wenig -für einen Herrn von Franconard.“ 

„Nehmen Ste Ihre Wohlthaten zurüd, Herr Dermilly,“ ants 
worte ich tief erfchättert, feine Hand mit meinen Thränen netzend, 
„nehmen Ste Alles zuräd und bleiben Sie nach wie vor mein 
Freund und zweiter Vater!“ 

Leider Hilft die forgfamfte Pflege zu nichts mehr. Nachdem 
Herr Dermilly noch einen ganzen Monat lang fich Tümmerlich hin⸗ 
gefchleppt Hat, verſcheidet er eined Morgens fanft und ruhig in meinen 
Armen. Geine lepten Worte waren Caroline und’ Andreas! 

Der Tod diefes trefflichen Mannes verfegt mich in bie tieffte 
Trauer. Umfonft ſucht Peter'mich zu tröften ; auch Bater Bernhard 
und Ranette eilen herbei und bezeugen mir die innigfte Theilnahme 
an meinem Schmerze. Ad, erft in den Stunden ber Trauer wifjen 
wir ven Werth der Freundfchaft fo recht zu ſchaͤtzen! 

Sn feinem von ihm ſelbſt aufgefepten Teftamente vermacht er 
mir fein gefammtes Hab und Gut. So darf ich denn ein ſchoͤnes 
Mobiliarvermögen und eine Jahresrente von nahe an ſechstauſend 
Livred mein nennen. 

„Sechstaufend Livres Renten!” ruft Peter, „das Heiß’ ich 
eine prinzliche Erbſchaft, Andreas ; dafür kannſt Du unfer ganzes 
Dorf Yanfen.” 


„Mdas wahr ?“ Fragt Nanetie/ mich beforgt aufchead. „BR 
Du fett ſo reich wie... wie die Beute, bie in Hoͤtels wohnen ?“ 

„Nein, Nanette, lange, lange nicht®fo reich! Aber veidh genug, 
um Biele glüdlich zu machen. Muiter, Braber und Ihr, meine 
lieben Freunde, beſttzet Alles gemeinſchaftlich mit mir.“ | 

„Dart Dir, Andreas,“ antwortet Bater Bernhard und brüdi 
meine Hemd; „ich will und brauche nichts. Sch weiß, daß ſechs⸗ 
tauſend Livres Renten kein unermeßliched DBermögen find, immer 
aber hinreichend, Dich und Deine Familie anftäubig zu ernähren. 
Ich freue mich über Dein Glück, Du verbienft es ; eben fo feh bin 
ich überzeugt, daß ber Glanz bes Geldes Dein Herz nicht beit.“ 

„Nie, Bater Bernhard, nie!“ 

Die Verficherung gibt Nanette die Ruhe wieder, bie fle bei 
der Nachricht von meiner Erbſchaft verloren zu haben ſchien. Ri 
bleibt jet nichts übrig, ale den legten Willen Herrn Dermilly’s 
zu erfüllen. Bor feinem Tode übergab er mir ein verfiegeltes Paket 
mit der Bitte, es der Frau Graͤſtn perfönlich zu überbringen. Co 
will ich denn jetzt ins Hoͤtel. | 

„Gewiß haben fie fchon von Deinem Reichthum gehört,” fagt 
Ranette ; „ich wette, fle werben Dich wieder ind Haus haben wollen.” 

„Rein, Schwefter, nein, ſie wollen ed nicht ; bin ich Doch nur 
ein armer Teufel gegen ben reichen Herrn Grafen.“ 

„Um fo beffer; je näher ihnen, um fo weiter von und!” 

Eben, als ich ind Hötel fort will,- wird mir ein Brief ge 
bracht. An dem Poftzeichen fehe ich, daß er aus Savoyen kommt. 
Himmel, was hat das zu bedeuten! Die Mutter kann nicht ſchreiben, 
Jakob eben jo wenig. Ich fürchte, ich fürchte... zitternd erbreche 
ih dad Siegel; Peter und meine Freunde drängen fich heran. Alle 
wollen wiſſen, was im Briefe fteht. 

Er if von Michel, ‚einem unferer Nachbarn, und im Namen 
unferer Mutter gefihriehen. Sie freut ſich unendlich über bad Wieder. 
auffinden Beters: die Nachricht Kat fle einigermaßen getroͤſtet über 


E 





3” 

daB Uingihd, bao fie und zu melden Tal, Mein Got! Jalch 
unfer lieber Bruder, Hat buch Sturz in einen Abgrand ben Tod 
gefunden ! 2 

Armer, armer Jakob! fo ſollen wir Dich nicht wieder ſehen! 
D, daß ed Dir vergönnt geweien wäre, am Genufle des mir zu⸗ 
gefallenen Bermögend Theil zu nehmen! Schon fehe ich einen Theil 
meiner Hoffnungen zerfließen ; ich kann nicht weiter Iefen. Peter 
und ich, wir fallen und in die Arme und weinen unfern Schmerz 
aus Aber ven Tob bed lieben Bruders, den wir fo jung verlaffen 
und einft zum BRanne erwachfen wieder zu fehen gehofft hatten. 

Nach geraumer Zeit lefe ich den Brief zu Ende. Die gute 
Mutter Hat die größte Schufucht nach uns; fie möchte uns an ihr 
Herz drücken und fi) mit und über ben Berluft ihres geliebten 
Kindes answeinen; fie bittet und flehentlih, ja nicht zu zögern, 
und wenn fie uns auch nur einen Tag ſehen folkte; unfere Au⸗ 
Tunft allein Tönne fie wieber gefunb machen. 

So wollen wir denn die Wünsche der Mutter ungefäumt erfüllen. 

„Peter,“ fage ich zum Bruder, „morgen, heute noch, wo moͤg⸗ 
lich, wollen wir abreifen; vie Mutter wartet, fie if frank, unfere 
Gegenwart kann fie heilen. Geſchwind nach Savoyen!“ 

„Sa, Bruder, wir mäflen fort. Bu aß?" ı 

„Wohin denkſt Du, Peter? Bit Extrapoſt! Se ſchneller, fe 
befjer ; was liegt mir am Gelbe? Kann ich es beffer anwenden, 
als gemäß den Wüuſchen meiner Butter, die Feines ihrer Kinder 
um fich Hat, fie in den Stunden der Trauer gu tröften? Je cher, 
je lieber fort, und je ſchneller, je beſſer! Meinetwegen ſechs Pferde, 
wenn es fein muß. Vater Bernhard wird die Gefaͤlligkeit haben, 
Allied, was zur Reife noͤthig if, in Orbnung zu dringen, nit 
wahr? Inzwiſchen will ich ins Hotel und der Iran Graͤſin das 
Zeftament des Herrn Dermilly und feine Briefe einhändigen.“ 

„Geh', Andreas, geh’; ich will Alles beſorgen: eine begusum 
Voſtchacſe, Pferde, Poſtillon an mas fonf naͤthig iR, nicht zum 


Neſſen, fonbern zum Stiegen ; noch heute Abend ſoll das Gefäft 
vor der Thüre fein. Der gute Anbreas! Meiner Seel’, hätt’ ich 
nicht Kunden, die bevient fein wollen, ich ginge mit ihm nach 
Menuyen, BSlaß um der. armen Marie zu fagen, daß iht Sohn 
Seinesgleichen niit Yet iu ganz Paris.“ 

„Gewiß nicht,“ fagt Nanette weinend ; „aber nicht wahr, 
Andreas, Du kommſt wieder zu uns zurüd $“ 

„Sa, Nanette, ja; wir: fehen uns wieder !” 

„Juchhe! welch Bergnügen!“ ruft Beter und fpringt im n Zimmer 
herum. „Im Boftwagen mit ſechs Pferden wie der Wind ins Darf 
eingnfahren! Sapperment, wie die Leute die Augen aufreißen 
werben; fie werben uns für Prinzen oder privatificende Viehhaͤndler 

14 

Ich bitte Nanette, unfere Koffer zu paden, denn Peter if fo 
außer fi, daß er zu keinem Gefchäft zu gebrauchen if. Das 
Paketchen, das ich ber Frau Gräfin zu überreichen habe, is bie 
Taſche ſteckend, eile ich nach dem Hoͤtel. 

Unterwegs denke ich an den ploͤtzlichen Umſchwung in meinen 
Vermoͤgensverhaͤltniſſen. Ich fühle, wie im Grunde meines Herzens 
allerhand neue Hoffnungen ſich regen! Sechstauſend Livres Jahres⸗ 
renten! Iſt das nicht viel mehr, als ich zu einem behaglichen 
Leben brauche? Außerdem führe ich meinen Pinſel, der mir immer⸗ 
hin ein ſtattliches Cinkommen ſichert. Ich habe Talent für meine 
ſchone Kunſt, wenn auch lange nicht das des Herrn Dermilly. Died 
Alles zuſammengenommen, Tann ich meinem künftigen Weibe ein 
mehr als ſorgenfreies, ein angenehmes Leben ſchaffen. Ach! die 
wahre Liebe denkt nicht ans Geld! Oder wäre nur ber glücklich, 
der ein glänzendes Höfel, prächtige Cquipagen unb zahlreiche Diener: 
ſchaft beſiht? DO, wenn Molphine mich Liebte! _ 

ber wie bald verſchwanden dieſe Chimären vor dem prüfenden 
Bike bes Verſtandes! Was if dies mäßige Einkommen gegen dad 
"gende Vermögen des Grafen? Und geſeht, ich ware noch zeidher, 








all 


jo reich, daß ich mich meſſen könnte mit ihm, Hörte ich darum auf, 
Andreas der Savoyarde zu fein ? 

Im Hötel angelommen, erfteige ich die Treppen mit ungleich 
fefterem Tritte ala ſonſt. So wahr iſt es, daß der Vermoͤgliche 
jene fichere Haltung, die ihn überall ‚hin begleitet, nur aus bem 
Gefühle feiner Unabhängigkeit ſchoͤpft. 

Ich Halte in der Hand das verfiegelte Paketchen; allem Ans 
ſcheine nach enthält ed Liebeöbriefe. In den meiften Fällen haben 
folge Briefe nur eined gar kurzen Dafeins ſich zu erfreuen; biefe 
haben den, an welchen fie gefchrieben wurden, überlebt. Aus diefen 
Briefen weht uns bie ganze Glut eines Teivenfchaftlich bewegten 
Herzens entgegen und ſetzt und in Flammen, während bie Hand, 
die fie nieberfchtieb, Tängft in Staub und Afche zerfiel. So if 
oft das Dafein eined Stüdchens Papier von längerer Dauer als 
unfer eigenes! 

Meine Wohlthäterin muß von dem Tode Herrn Dermilly’s 
unterrichtet fein. So Bin ich wenigſtens der ſchmerzlichen Noth⸗ 
wendigfeit überhoben, ihn ihr anzuzeigen. Se näher ich ihrem 
Zimmer Tomme, um fo mehr entfällt mir der Muth. Seit länger 
denn fünf Monaten habe ich das Hötel verlaffen und in der ganzen 
Zeit nicht einmal Abolphine zu Geficht bekommen. Wird auch dieds 
mal meine Hoffnung getäufcht werben ? 

Sch Habe mich anmelden laſſen und werde num förmlich ein⸗ 
geführt, wo ich ehemals frei ein- und ausgehen durfte. Sie ift 
da... ich babe fie gefehen, nur fie gejehen ; unfere Blicke trafen 
fih ; fie fagten fi in einer Sekunde, was unfere Herzen in fünf 
Monaten empfunden haben. 

Die Stimme meiner Wohlthäterin weit mih aus meinem 
fügen Raufche. Ihr Geſicht trägt die unverfennbaren Spuren tiefen 
Seelenfchmerzes, die lauter und berebter ald alle Worte ihre An- 
hänglichkeit an Herrn Dermilly bezeugen. Mit beivegter Stimme 
bebt fie an: 


31% 


„Bir Beide, Andread, haben einen warmen Fremd verlaren. 
Er verbarg mir feinen Zuftand, er wollte mir bis zum legten 
Angenblicke die Hoffnung nicht rauben, und ich glaubte ihm. Ich 
weiß, was er für Sie gethan hat, den er wie feinen Sohn Fichte. 
Hat er Ihnen Nichts für mich gegeben ? 

„Aufzuwarten, Madame. Died Paket follte ich Ihnen eigen: 
haͤndig überreichen.“ 

Sie nimmt es mir eiligft aus der Hand und erbridt es mit 
feuchten Augen. Der Anfland verlangt, daß ich mich entferne ; fo 
nähere ich mich denn Fräulein Anolphine. Wir können eine Weile 
unbemerkt mit einander plaudern, denn die Mutter ſieht und nicht 
mehr; fle tft wie abwefend. Der Anblick der vielleicht vor fünf: 
zehn Jahren gewechfelten Briefe verfeßt fie in jene erfte Zeit ihre 


jungen Liebe zurück: die Gegenwart hat der Vergangenheit weichen 


müſſen. 

„Barum ſieht man Sie jetzt nicht mehr im Hötel?“ fragt 
Anolphine halblaut. „Es iſt nicht recht von Ihnen, Herr Andreas, 
baß Sie Ihre Freunde fo vernachläffigen.“ 

„O, mein Fräulein, wie gerne kaͤme ich; aber ich fürdte... 
ich wage faum... Ihr Herr Vater... Ihr Herr Eoufin.....” 

„Hält Ste das ab? Mein Couſin ift ein Saufewind und für 
den Augenblic nicht in Paris; mein Vater denkt nur an ben Toh 
feines Schooßhundes; die Mutter ift untröftlich über ben Verluß 
bes guten Herrn Dermilly, ven auch ich recht tief fühle. Ich hoffte 
wenigftens, Sie würden fommen, uns zu tröften; aber and da) 
nicht! Ach, Herr Andreas, e8 war eine fchöne Zeit, als wir anf 


bem Lande zufammen fpielten, zeichneten und fangen, nicht wahr! 


Wie glüdlich war ich damals! Gedenken Sie diefer Tage noch?" 
„Wie könnte ich fie vergeffen, Fräulein ? Jene Erinnerungen 
find das Gluck und die Dual meines Lebens !“ 
„Die Qual? wie fo 94 
„Weil ich mir denke, jene Tage kehren nie wieder. Ach, ih 


flo jeh, mad ih ter dreijchoten Jahn malt Fühlte, vie que 
Suft, Die und treu.“ 

Ich ſeußze tief auf; Adolphine ficht mich an, ihr Herz fcheint 
nd meine zu verftehen. Wir Beide fchweigen, aber unfere Augen 
dm und werben beredter, als unfer Mund vermocht hätte. Seliger 
Angenblic! Die Gräfin ift noch immer in die Briefe vertieft und 
denkt einer glüdlicheren Bergangenheit, währen) ihre Tochter und 
id uns an ber Gegenwart labeır. 

Plotzlich wird unfer Geſpraͤch durch gewichtige Schritte im 
Kıhenzimmer geflört. Kaum. habe ich mich von Adolphine entferut 
m) kaum Hat bie Bräfln die Papiere, die fie in des Hand halt, 
ect, fo teitt Herr von Franconard ind Zimmer, 

„Ho 59!" zufter, ald er mich fieht, „Andreas bei Dir? Was 
nacht er ſchon wieder in meinem Hotel?“ 

„Sr bringt wir,“ antwortet meine Wohlthäterin, „bie legten 
Grüße eined Mannes, der mir fehr theuer und werth war: bie, 
Ikten Grüße Herrn Dermilly’d, der ihm bei feinem Tobe Alles 
umsacht Hat.” 

„Zenfel! dad Blatt hat ſich gewendet,” ruft der Graf und 
virft ſich im einen Bergere; „ich erinnere mich jetzt, daß Sie mir 
on feinem Tode fagten. Auch Cäfar ift geftorben, der arme Hund! 
4 weine täglich um ihn. Dermilly war nicht ohne Talent; aber 
far! o, das war unvergleichlih! Weißt Du nicht mehr, Aus 
rad, wie er durch den Meif fprang ? Alfo Dermilly bat Dir alles 
einige vermacht? Hm! das Heißt freilich nicht viel, fo eine Maler: 
Schaft; arm wie ein Maler, fagt dad Sprüchwort.“ | 

„Ders Dermilly. war nicht fo arm, wie Sie olauben ,“ ant⸗ 
ortet die Graͤfin, tief verlegt durch die Rede ihres Gatten; „er 
nterläßt Andreas fechstaufend Livres Jahresrenten.“ 

„Sechqtauſend Livres Jahresrenten!“ ruft Herr von Fran⸗ 
ward und reißt die Augen weit auf. „Sauperlot, bad lobe ich 
ir; waßt ih mer, wie fig mit dem lumpigen Geſchmien anf 


306 


„Eh ſag', ob Du mid) noch Lieb Haft.“ 

„Ja, Peter ; aber wenn Du mich Tieb haft, fo fchlafe endlich ein.“ 

Endlich fchläft er ein; gleich darauf hör’ ich ihn laut ſchnarchen. 

"Beer, Peter, wie würde ed Dir gehen, wenn Du hier allein wäre 
ohne Bruder, Freund und Rathgeber! Dann wäre Dir's befjer, Du 
kehrteſt nach wie vor den Schornflein : arm würdeſt Du nad wie vor 
ehrlich bleiben, aber reich, wer weiß, was die Schelme aus Dir 
machen Tönnten! | 

Es ift die erſte Unbefonnenheit, die er begeht, und bie ver: 
dient Nachſicht. 

Den andern Morgen beim Erwachen befinnt ſich Peter vergeblich 
auf die Ereigniffe des vorigen Abende ; nur allmählig fallen fie ihm 
wieber ein. Ein unmäßiger Genuß der Tafelfreuden wirft nachtheilig 
auf das Gedaͤchtniß, und wer fich ihnen oft hingibt, gewinnt ganz 
den Anfchein eines Bloͤdſinnigen. Je mehr er zum Bewußtfein Tommt, 
um jo mehr fchämt er fich feined Benehmens und bittet mich inflän- 
dig, Herrn Dermilly nichts davon zu Jagen ; zugleich verfpricht er 
mir, jeden Umgang mit Loifeau zu mäßben, 

„Wenn Du ihm wieder begegneſt,“ fage ich zu Peter, „fo be: 
ftelle ihn an einen beliebigen Ort; dann gehen wir zuſammen bin, 
und iſt Dein Herr Loiſeau derfelbe, auf den ich Verdacht Habe, fe 
ſollen ihm feine Schelmftüde fchlecht bekommen.‘ 

Ueber den immer beforglicher werdenden Zuftand ded Herrn Der- 
milly vergeffe ich diefen Vorfall ſchnell. Herr Dermilly kann nicht 
mehr aufftehen aus feinem Armſtuhl. Er fühlt, daß er nur noch 
Furze Zeit zu leben hat, obgleich er. der Gräfln auf ihre wiederholte 
Anfragen Hinfichtlich feines Beſindens antworten: läßt, daß 

beſſer gehe. 

„Lieber Andreas,“ fagt er zu mir, „ich weiß, wie ich Daran bir 
aber warum foll ich die gute Caroline im Boraus betrüben ? Si 
wird meinen Tob beweinen, nicht, wie fle'8 früher geikan hätte, mi 
ber Berzweiflung eines Liebenden Herzens, fondern mit bem fiEL 





897 


„Ich werde an ben Contract gehen,” fagt er. 

„Aber auf der Stelle, mein Herr.“ 

„Bir mülfen erſt das Gelb...” 

„Hier ift es, Herr, neuntaufend Franken, ſo viel als das 
Haus koſtet.“ 

„Schön, ſchoͤn, aber... .“ 

‚Kein Aber, mein Herr! Nennen Sie die Notariatsgebühren, 
ich zahle gleich Baar, ohne zu handeln, aber eilen Sie,‘ 

Mit ſolchen Worten bringt man bie ganze Welt in Bewegung. 
Der Notar wendet fi an feinen Schreiber. Ich gejchwind dem 
Schreiber ein Geldſtück in die Hand gebrüdt, das Hilft. Der gute 
Mann fchneivet nicht erft dreimal bei jenem Worte die Feder. 

Unterbeß gehe ih im Garten fpazieren, während die Herren 
mit ihrer Schreiberei befchäftigt find. Kaum hört die Frau Notarin, 
daß ein junger Mann, der fauft, ohne zu handeln, und nobel be- 
zahlt, im Comptoir ifl, fo ordnet fie hurtig ihre Krifur und kommt 
in den Garten hinab, mir Gejellichaft zu leiften. 

Die Frau Notarin ift nicht hübſch, aber hoͤchſt anſpruchsvoll, 
und bekanntlich gibt es nichts Liebenswürdigeres, als eine Dame 
aus ber Provinz, die Anfprüche macht. Ehe fünf Minuten ver 
gangen find, weiß ich, daß Madame eine herrliche Stimme hat, 
die ſchwerſten Opernarien fingt, und fich auf dem Pianoforte ſelbſt 
begleitet; daß fle italienisch fpricht und ziemlich gut lateiniſch; 
daß fie den Code civil ganz im Kopfe hat; daß fie nie Kinder 
gehabt Kat, noch fich welche wünfcht, weil das die Taille verbirbt; 
daß fie Berje macht und gerne tanzt; daß fie die beſten Omelettes 
zu machen verfteht und felbft das Regiment führt in der Küche; 
endlich, daß fle immer nad) den neueften Moden des Lyoner Mode: 
journals gekleidet ift. 

Waͤhrend ich das Alles anhoͤren muß, bin ich mit meinen 
Gedanken bald in dem neugekauften Haufe, bald in Paris bei 
Adolphinen. Kein Wunder, daß ich der guten rau die verkehrteſten 


S 


x 





„IR pu8 wahr I“ Fragt Manetie,; milk Geforgt aufchead. „BR 
Du tept fo reich wie... wie die Leute, bie in Hoͤtels wohnen ?“ 

„Rein, Nanette, lange, lange nichtfo reich! Aber veich genng, 
wm Biele glüdlih zu machen. Mutter, Braber und Ihr, meine 
lieben Freunde, befiget Alles gemeinſchaftlich mit mir.“ 

„Dank Dir, Andreas,” antwortet Bater Bernhard und drückt 
meine Hand; „ich will und brauche nichte. Sch weiß, daß ſechs⸗ 
taufend Livres Renten Tein unermeßliches Vermögen find, immer 
aber hinreichend, Dich und Deine Familie anftändig zu ernähren. 
Ich frene mich über Dein Glück, Du verbienft es; eben fo fe bin 
ic) überzeugt, daß der Glanz des Geldes Dein Herz nicht beſticht.“ 

„Rie, Vater Bernhard, nie !“ | 

Die Berfiherung gibt Nanette die Ruhe wieder, bie fie bei 
der Rachricht von meiner Erbſchaft verloren zu haben fchien. Mir 
bleibt jegt nichts übrig‘, als den Iekten Willen Herrn Dermilly's 
zu erfüllen. Vor feinem Tode übergab er mir ein verfiegelted Paket 
mit der Bitte, es der Frau Graͤſin perfönlich zu überbringen. So 
will ich denn jetzt ins Hotel. | 

„Gewiß haben fie ſchon von Deinem Reichthum gehört,“ fagt 
Manette ; „ich wette, fle werben Dich wieder ind Haus haben wollen.“ 

„Rein, Schwefter, nein, fie wollen es nicht ; bin ich doch nur 
ein armer Teufel gegen ben reihen Herrn Grafen.“ 

„Um fo befier; fe näher ihnen, um fo weiter von uns!“ 

Ehen, als ich ind Hötel fort will, wird mir ein Brief ge: 
bracht. An dem Poftzeichen fehe ich, daß er ans Savoyen Tommi. 
Simmel, was hat dad zu bebeuten! Die Mutter Tann nicht ſchreiben, 
Jakob eben fo wenig. Ich fürchte, ich fürchte... zitternd erbreche 
id) dad Siegel ; Peter und meine Freunde brängen ſich heran. Alle 
wollen wiſſen, was im Briefe ſteht. 

Er if von Michel, einem unferer Nachbarn, und im Namen 
unferer Mutter gefihrieben. Sie freut ſich unendlich über bad Wieder 
auffinden Peters: die Nachricht bat fie einigermaßen geisöftel über 


E 





38» | 

bad Vaglack, das fir und zu melden Hal, Mein Goti! ZJalch 
unfer lieber Bruder, hat durch Sturz in einen Abgrund ben Top 
gefunben ! » \ 

Armer, armer Jakob! fo follen wir Dich nicht wieder feben! 
D, daß ed Dir vergönnt geweien wäre, am Genuffe des mir zu⸗ 
gefallenen Vermögens Theil zu nehmen! Schon fehe ich einen Theil 
meiner Hoffnungen zerfließen ; ich kann nicht weiter Iefen. Peter 
und ich, wir fallen und in die Arme und weinen unfern Schmerz 
auß Aber den Tob des lieben Bruders, ben wir fo jung verlaflen 
und einft zum Manne erwachjen wieder zu fehen gehofft hatten. 

Nach geraumer Zeit leſe ich den Brief zu Ende. Die gute 
Mutter hat die größte Sehnſucht nach und; fie moͤchte uns an ihr 
Herz brüden und fi mit und über den Berluft ihres geliebten 
Kinded ausweinen; fie bittet und flehentlich, ja nicht zu zögern, 
und wenn fie und auch nur einen Tag fehen follte; unfere As 
fanft allein koͤnne fie wieder gefund machen. 

So wollen wir denn die Wünfcge ver Mutter ungefäumt erfüllen. 

„Peter,“ fage ich zum Bruder, „morgen, hente noch, wo mög- 
lich, wollen wir abreifen; die Mutter wartet, fie if Trank, unfere 
Segenwart kann fie heilen. Gefchwind nah Savoyen!“ 

„Sa, Bruder, wir mäffen fort. Su Fuß?" ı 

„Wohin denkſt Du, Peter? Mit Extrapoft! Se ſchneller, fe 
beſſer; was liegt mir am Gelbe? Kann ich es befier anwenden, 
als gemäß den Wünfchen meiner Mutter, die Feines ihrer Kinder 
um ſich hat, fie in den Stunden der Trauer gu tröften? Je cher, 
je lieber fort, und je ſchneller, je beffer! Meinetwegen ſechs Pferde, 
wenn es fein muß. Vater Bernhard wird die Gefälligleit haben, 
Alles, was zur Reife noͤthig ift, in Ordnung zu bringen, nit 
wahr? Inzwiſchen will ich ins Hotel und der Iran Gräfin das 
Teſtament bed Herrn Dermilly und feine Briefe einhändigen.“ 

„@eh’, Andreas, geh’; ich will Alles beſorgen: eine begusme 
Voſichaiſe, Pferde, Poſtillon ann mas fonf näthig iR, wicht mm 


Seifen, fonbern zum Bflegen ; noch heute Abend ſoll das Gefäfkt 
vor ber Thüre fein. Der gute Anbrend! Meiner Seel’, hätt’ ich 
t Runden, die bedient fein wollen, ich ginge mit ihm nad 
Menuyen, BSlaß am der armen Marie zu fagen, daß ihr So 
Geineögisiihen niit Yat in ganı Baris.“ 

„Gewiß nicht,“ jagt Nanette weinen; „aber nicht wahr, 
Andreas, Du kommſt wieber zu uns zurüd ?“ 

„3a, Ranette, ja; wir jehen uns wieder !“ 0 

„Juchhe! weich Bergnügen!“ ruft Beter und fpringt im Zimmer 
herum. „Im Boftwagen mit ſechs Pferden wie ber Wind ind Dorf 
eingufabren! Sapperment, wie bie Leute die Augen aufreißen 
werben; fie werben uns für Prinzen oder privatifirende Viehhaͤndler 
halten!“ 

Ich bitte Nanette, unfere Koffer zu paden, denn Beier ift fo 
außer fih, daß er zu Teinem Gejchäft zu gebrauchen if. Das 
Paketchen, das ich ber Frau Gräfin zu überreichen habe, im die 
Taſche ſteckend, eile ich nach dem Hötel. 

Unterwegs denke ich an den plöglichen Umſchwung in meinen 
Bermögenoverhältnifien. Ich fühle, wieim Grunde meines Herzens 
allerhand neue Hoffnungen füch regen! Sechstauſend Livres Jahres⸗ 
senten ! Iſt das nicht viel mehr, als ich zu einem behaglichen 
Sehen Brauche? Außerdem führe ich meinen Binfel, der mir immer: 
Yin ein flattliches Einkommen fichert. Ich habe Talent für meine 
ſchone Kunſt, wenn auch lange nicht Das des Herrn Dermilly. Dies 
Alles zufammengenommen, Tann ich meinem Tünftigen Weibe ein 
mehr als forgenfreied, ein angenehmes Leben fchaffen. Ay! bie 
wahre Liebe denkt nicht ans Geld! Ober wäre nur der glücklich, 
der ein glänzendes Hotel, prächtige Equipagen und zahlreiche Diener: 
ſchaft befigt ? O, wenn Abolphine mich liebte! 

ber wie bald verſchwanden dieſe Chimaͤren vor dem prũfenden 
Büde bes Verſtandes! Was iſt dies mäßige Cinkommen gegen bad 
Blänzende Bermögen des Grafen? Und gefegt, ich wärs noch reicher, 





311 


ſo reich, daß ich mich meſſen koͤnnte mit ihm, hoͤrte ich darum auf, 
Andreas der Savoyarde zu fein ? 

Sm Hötel angekommen, erfleige ich die Treppen mit ungleich 
fefterem Tritte als ſonſt. So wahr iſt ed, daß der Vermoͤgliche 
jene fichere Haltung , die ihn überall Hin begleitet, nur aus dem 
Gefühle feiner Unabhängigkeit ſchoͤpft. 

Ich Halte in der Hand das verfiegelte Paketchen; allem Ans 
ſcheine nach enthält es Liebesbriefe. In den meiften Fällen haben 
fole Briefe nur eines gar kurzen Dafeins ſich zu erfreuen; dieſe 
haben den, an welchen fie gejchrieben wurben, überlebt. Aus diefen 
Briefen weht uns die .ganze Glut eines leivenfchaftlich bewegten 
Herzens entgegen und ſetzt und in Flammen, während die Hand, 
die fie nieberfchtieb, Tängft in Staub und Aſche zerfiel. So ift 
oft das Dafein eines Stückchens Bapier von längerer Dauer als 
unfer eigenes! 

Meine Wohlthäterin muß von dem Tode Herm Dermilly’s 
unterrichtet fein. So Bin ich wenigftens der fchmerzlichen Noth⸗ 
wendigkeit überhoben, ihn ihr anzuzeigen. Je näher ich ihrem 
Zimmer fomme, um fo mehr entfällt mir der Muth. Seit länger 
denn fünf Monaten habe ich das Hötel verlaffen und in der ganzen 
Zeit nicht einmal Adolphine zu Geſicht befommen. Wird auch dies⸗ 
mal meine Hoffnung getäufcht werben ? 

Ich Habe mich anmelden laſſen und werde nun foͤrmlich ein- 
geführt, wo ich ehemals frei ein: und ausgehen burfte. Sie {fl 
da... ich habe fie gefehen, nur fie gefehen ; unfere Blicke trafen 
fi ; fie fagten fich in einer Sekunde, was unfere Herzen in fünf 
Monaten empfunden haben. 

Die Stimme meiner Wohlthäterin weit mich aus meinem 
fügen Raufche. Ihr Geſicht trägt die unverfennbaren Spuren tiefen 
Seelenfchmerzes, die lauter und berebter ald alle Worte ihre Ans 
bänglichleit an Herrn Dermiiih bezeugen. Mit bewegter Stimme 
hebt fie an: 


31% 

„te Beide, Anbread, haben efnen wurmen Freund verloren. 
Er verbarg mir feinen Zuſtand, er wollte mir Bid zum legken 
Angenblicke die Hoffnung nicht rauben, und id} glaubte ihm. Ich 
weiß, was er für Sie gethan hat, den er wie feinen Sohn Tiebte. 
Hat er Ihnen Nichts für mich gegeben ? 

„Aufzuwarten, Madame. Died Paket follte ich Ihnen eigen: 
haͤndig überreichen.“ 

Sie nimmt es mir eiligft aus der Hand und erbricht es mit 
feucgten Augen. Der Anfland verlangt, daß ich mich entferne ; fo 
nähere ich mich denn Fränlein Adolphine. Wir Tönnen eine Weile 
unbemerft mit einander plaudern, denn die Mutter ſieht uns nicht 
mehr ; fle ift wie abwefend. Der Anblitl der vielleicht vor fünf- 
zehn Jahren gewechfelten Briefe verſetzt fie in jene erſte Zeit ihrer 
jungen Liebe zurück: die Gegenwart hat der Vergangenheit weichen 
mũſſen. 

„Barum fieht man Sie jetzt nicht mehr im Hotel?“ fragt 
Adolphine halblaut. „Es ift nicht recht von Ihnen, Herr Andreas, 
daß Sie Ihre Freunde fo vernachläffigen.“ 

„O, mein Fräulein, wie gerne käme ich; aber ich fürdte... 
ich wage faum... Ihr Herr Vater... Ihr Herr @oufin... .” 

„Hält Sie dad ab? Mein Eoufln iſt ein Sanfewinb und für 
den Augenblick nicht in Parts; mein Vater venft nur an den Tob 
feines Schooßhundes; die Mutter iſt untröftlich über den Verluſt 
des guten Herrn Dermilly, ven auch ich recht tief fühle. Ich Hoffte 
wenigftend, Sie würden fommen, uns zu tröften; aber and). das 
nicht! Ad, Herr Andreas, ed war eine fchöne Zeit, als wir auf 
dem Lande zufammen fpielten, zeichneten und fangen, nit wahr? 
Die glücklich war ich damals! Gedenken Sie dieſer Tage noch?“ 


„Wie koͤnnte ich fie vergeſſen, Fraͤulein? Jene Erinnerungen 


find das Gluck und die Dual meines Lehen !“ 
„Die Dual? wie fo ya | 


„Beil ich mir denfe, jene Tage kehren nie wieder. Ach, ich 





213 


fühle jepi, mad ich Tor. dreigehnten Jahne nit fühlte, die gnake 
Auft, Die und tum.” 

34 ſeufze tief auf; Adolphine ficht mich an, ihr Herz fcheint 
dad meine zu verfichen. Wir Beide fchweigen, aber unfere Augen 
reden und werben berebter, als unfer Mund vermocht hätte, Seliger 
Angenblick! Die Gräfin ift noch immer in die Briefe vertieft und 
denkt einer ‚glüdlicheren Bergangenheit, währen) ihre Tochter und 
ih und an der Gegenwart labeıt. 

Ploͤtzlich wird unfer Geſpraͤch durch gewichlige Schritte im 
Nebenzimmer gefört. Kaum habe ich mich von Abolphine entfernt 
und kaum hat die Graͤſin die Papiere, die fie in ber Hand hält, 
verſteckt, fo tritt Herr von Franconard ind Zimmer. 

„Ho he!” ruft er, als er mich fieht, „Andreas bei Dir? Was 
macht er fchon wieder in meinem Hotel?" 

„Er bringt mir,“ antwortet meine Wohlihäterin, „die legten 
Grüße eined Mannes, der mir fehr theuer und werth war: bie 
legten Grüße Herrn Dermilly's, der ihm bei feinem Tode Alles 
vermacht hat.“ 

„Tenfel! dad Blatt hat ſich gewendet,” ruft ver Graf und 
wirft ſich im eisen Bergoͤre; „ich erinnere mich jebt, daß Sie mir 
von feinem Tode ſagten. Auch Caͤſar ift geftorben, der arme Hund! 
ih weine täglich um ihn. Dermilly war nicht ohne Talent; aber 
Gäfar! o, das war umvergleihlih! Weißt Du nicht mehr, Ans 
dreas, wie ex durch ben Meif fprang ? Alſo Dermilly hat Dir alles 
Seinige vermaht? Hm! das Heißt freilich nicht viel, ſo eine Malers 
erbſchaft; arm wie ein Maler, jagt dad Sprüchwort.” 

„Bert Dermilly war nicht fo arm, wie Sie glauben,“ ant⸗ 
wertet die Gräfin, tief verlegt durch die Rede ihres Gatten; „er 
binterläßt Andreas ſechstauſend Livsed Jahresrenten.“ 

„Sechstauſend Livres Jahresrenten!“ ruft Herr won Kran; 
souarh und reißt die Augen weit auf. „Sapperlot, bas Iobe ich 
wir; waßt ich wer, wie flo mit dem lumpigen Geſchenien anf 


3l4 


Leinwand fo viel zufammnfäinieren! Häl° er mir ben Gäfer 


abeonterfeit, Du würbet zehn blanke Thaler mehr in der Erbſchaft 


gefunden haben, Andreas... und fechötaufend Livres Jahres: 
sonten! Wiffe, Du gefällt mir immer beffer: Du haft Dich zu 
Deinem Borthell verändert, feit ich Dich zulept gefehen. Bott 


weiß, woher er bie Tournure hat!“ 

„Sie find allzu nachſichtig, Her Straf,” antworte ich unter 
leichter Berbeugung. 

„Allzu nachfihtig! Hübſch geantwortet! Wer Kat Dir das 
Gompliment beigebracht? Du feld? Da flieht man, nichts bildet 


: von Geiſt mehr ald das Gelb, und fechötanfend Livres Jahres: 
renten ift meiner Seel’ genug für einen Savoyarben. Ich wette, 


Du will einen Kram anlegen. Lebte Käfer noch, fo würde ich 
Dir Died und Jenes, 3. B. für die Küche, zu liefern geben; ba 
braucht man allerhand ; aber das Greignig hat mich fo verftiimmt, 
daß ich Alles in der Küche gehen laſſe, wie's geht!“ 


„Bar zu gütig, Here Graf! Es ift aber nicht meine Mbficht, 


einen Kram anzulegen: ich will Bei der Kunft bleiben, bie mein 
Wohlthater mich lehrte. Ich bin nicht auf Gelberwerb erpicht!“ 


„Schlimm! ſehr ſchlimm! Der Handel könnte Dich weit bringen: 


mit dem Suwägen von Erbfen und Sauerkraut Tommi man weiter, 


als mit dem Hins und Herbinfeln. Seber will leben, das it aus: 
gemachte Wahrheit, aber nicht Jeder will was gemalt Haben. Ich | 





3.8. Tümmere mid) taufendmal weniger um Maler, als um Köche. 


Hab’ ich nicht recht, he?“ 
Statt zu antworten, mache ich ihm mein Compliment und 
verabſchiede mich bei ver Graͤſin für die Reife nach Savoyen. 
„Eie reifen nach Savoyen 3" fragt Adolphine. „Um nicht 
wieber zurückzukehren nach Paris?“ 
„Hoffentlich bald, Fraͤulein Adolphine; ich will nur bie 
Mutter beſuchen, die ich feit elf Jahren, fo lange ich aus der 


Geimath; fort bin, nicht gefehen Habe. Mein Bruder Peter reiet 








815 


mil, Die Mitten bebarf unfered Troſtes Aber den Borkaft Yalabe, 
unfered jängften Brubers.“ 

„Beter, Zatob, Nikolaus,“ unterbricht mich ber Graf, „gleich: 
viel! die Angelegenheiten Deiner Familie gehen uns nichts an; 
mach‘, daß Du fortlommft nach Savoyen. Wären bie Murmel, 
thiere eßbar, fo wärbe ich Dir auftragen, mir welche zu ſchicken; 
aber Ener Land Bringt nichts Gutes hervor. Mir fallt ein, daß 
ih 'mal bei Euch war.“ 

„Wir wiffen es noch vecht gut, Here Graf.” 
| Und bamit Tüffe ich die Hand meiner Woblthäterin, werfe 

Kolphine einen zaͤrtlichen Blick zu und verlafle eiligft das Zimmer. 

Unten an ber Treppe begegnet mir Lucilie; fie gratulirt mir 
zu ber reichen Erbſchaft. 

„seht hat er ein bequemes Leben, ber guie Andreas!“ fagt 
fe. Sechstauſend Livres Jahressenten, hübſch von Geſicht, ſchlank 
gewachſen, wohl erzogen: was kann man mehr verlangen? Sie 
follten fich etabliven, Andreas, und heirathen, recht bald. Die 
Iedigen Lente kommen auf allerlei Höfe Gedanken, wovon nur eine 
Fran fle abhalten kann, Motabene, wenn fie ordnungsliebend, ſpar⸗ 
ſam, haäuslich u. f. w. if, kurz, fo wie ih. Weißt Du was, 
Andreas? Ich habe ſchon was auf ber Seite, dazu allerhand Aus; 
fihten. Wenn Du recht artig fein willſt, geb’ ich Dir meine Hand. 
Bas meinft Du, Andreas? Wir leben gewiß gut mit einander.” 

„Reit, Lucilie, dad geht nicht.“ 

„Das geht nicht ? Schau’ mir Einer den Herrn an, wie gleich⸗ 
gültig er das fagt! Hat das Herschen feinen Schwux vergeffen ?“ 
„3% habe nid geſchworen, Ste zu heitathen, Lucilie.“ 

„Thnt nichts, Andreas; fo Biele ſchwoͤren und heirathen nicht, 
dag wohl 'mal Ciner heirathen Tann, ohne geſchworen zu haben. 
Uebrigens, wie Sie wollen, mein Herr! Ich Tann Hundert Männer 
Triegen, wenn ich will.“ 

„Das weiß ich, Lucilie, und da ich eine Meife nach Savoyen 


vorhabe, Hoffe ich, mir won Zeit zu Zeit füpreiben, 
wie ed Ihnen und der Frau Bräfln geht.“ 

„Sie reifen nach Savoyen, Andreas? Gewiß, am Ihre Mutter 
zu befuchen ? Der gute Andreas! Wie wird Mann fich freuen! 
Aber das iſt zu arg von Ihnen, daß Sie mich nicht zur Fran 
wellen ! Ich würbe Ihnen recht böfe fein, wenn ich koͤnnte. An⸗ 
dreas, ich will than, was Sie wünfchen, will Ihnen fchreiken 
von mir und der Yrau Gräfin. Geſchwind einen Kuß zum Ab: 
fgied .. . pfui, wer nimmt ungefüßt Abfchieb und fo im Kluge, 
auf der Treppe! Sie hätten wohl auf mein Zimmer Tommen Eönnen, 
wie ſich's gehört, Andreas.“ 

Ich Tann nicht, Eucilie ; ber Wagen ſteht ſchon reiſefertig 
vor ber Thüre.“ 

„Adleu benn, Andreas; auf Wiederfehen!“ 

Ich drücke ihr einen Kuß auf die Lippen und .eile dann fort. 
Bis id) in unfere Straße einbiege, ſehe ih deu. Reiſewagen ſchon 
wor der Thüre halten und den Poſtillon im Sattel. Peter fipt im 
Wagen und ſchaut fi ungenulbig links und rechts nach mir um. 
Der gute Bater Bernharb hatte nicht eher geraftet, bis er alle meine 
Wünfcge erfüllt Hatte. Schnell gehe ich hinauf, von meinen Freunden 
Abſchied zu nehmen, fledde eine ziemlich bedeutende Geldſumme zu 
mir und fleige baum neben Peter ein, ber ven Augenblid unferer 
Abfahrt nicht erwarten Tann. 

Seht find wir fertig. Der Poſtillon ſchwingt die Peitſche und 
davon flisgen wir in bequemer vierfpänniger Chaiſe, der Heimath 


zu, bie wie vor elf Jahren zu Zuß verlaffen hatten, um in Baris . 


unfer Brod zw ertangen und zu erfegen. 
Bernharb und Nanette ſehen und auf ber Straße noch lange nach. 








317 


Vierundzwanzigſtes Kapitel. 
Reifenab Saroyen. — Anlauf. — Schnelle Rückreiſe. 

Veter, der nie in einem Hoͤtel gewohnt hat wie ich, noch je 
in einem Wagen gefahren, weiß ſich während ber erflen Station 
nicht zu faſſen vor Jubel. Sein Mund ift in ewiger Bewegung ; 
bald ruft er vor Freude, bald vor Staunen, Bald vor Schreck, 
wenn ber Wagen, der mit Blibeöfchnelle fährt, in den Geleiſen 
fih neigt oder über holperige Straßen hinrollt. Wie gerne gäbe 
ih mich meinen Betrachtungen hin, aber Peter gönnt mir feine 
Zeit dazu. . 

„Sieh', Bruder,“ ruft er, „wie die Pferde galoppizen. Wie 
angenehm das Fahren thut. Dauert es recht lange? Ich wollte, 
ed hörte nie anf. Schau’, Bruder, liuks und rechts Käufer, Bäume, 
Dirfer, Alles läuft von und weg. Wie gut es ift, reich zu fein, 
und die häbſche Erfindung de, fo mit Poſtpferden zu veifen! Mein 
Gott, wie die Leute und anfehen; ich wette, fie möchten an unferer 
Stelle fein! Wir müflen recht vornehm ausfchen. DO, wenn das 
dFahren doch nie anfhärte !“ 

„Urmer Beier, Du kriegſt es bald geuug ſatt!“ 

„Sat? Rein, Bruder, nis!“ 

Am zweiten Tage if Peters Buthuflaamus bebeutenb abges 
fühlt. Ex fängt an, ermübet zu werben durch die einfürmige Bes 
wegung. Der Wagen iſt bequem, boch haben wir bie ganze Nacht 
durchgefahten und nur an ben Statiunen angehalten, um bie Pferbe 
zu wechſeln. Peter meint, ein viertelflündiger Spaziergang würde 
ihm micht übel befommen, und fchon bedauert er die Fußgänger 
weniger. 

Jetzt Haben wir Lyon im Nüden und nähern und ver Savoyer 
Grenze. Hier erſcheint und Alles wie nen. Die Seele erweitert 
fich, das Herz fchlägt und rafcher beim Anblick altbekannter Gegenden. 

Vaul de Rod. u. 21 


318 


„Gicht Da dab Haus da?” rufen wir gleichzeitig; „ben Pfad? 
da haben wir oft gefeffen, und unter dem Baume da oft gefrüß: 
fädt. DO, mein Gott, und die Berge, unfere Gletfcher! Hinter dem 
Flecken da liegt unfer Dörfgen. Schöne Heimath, wir grüßen dich!“ 

Die der Blig fliegen wir zum Wagen hinaus, flürzen uns 
in die Arme und weinen vor Freude. \ 

Aber wad.fehe ich da links am Wege, neben dem jähen Ab: 
hang ? Eine Barriöre, biefelbe, auf der wir uns fchaufelten, als 
wir von der guten Mutter fortgingen ; fie beivegt ſich wie in jener 
Nacht, da fie Peter erfchredte. 

„Laß uns bin, Bruder,” rufe ich Peter zu, „laß uns an fie 
Ichnen. Mein Gott, mir iſt wieder ganz zu Muthe wie damals.” 

Peter folgt mir, der Wagen hält. Seht flehen wir vor ber 
Barridre, wir möchten fie umarmen! Wir Flettern Hinauf und 
ſchaukeln und wie in den fröhlichen Tagen unferer Kindheit. 


Der Boftillon weiß nicht, was er davon denken foll; er muß | 


uns für Narren halten. Ach, er Tann nicht erraten, was in unferem 
Herzen vorgeht! " 

Die Eindliche Freude danert nicht lange. Ein Gedanke 'an 
Paris, an Adolphine, an den gewaltigen Umfchwung in unfern 
äußern und innerlichen Berhältniffen — und ich muß ſeufzen, fenfzen 
vor Kummer. Peter fchaufelt fich noch immer; der gute Junge kommt 
ganz fo zurück, wie er ausgezogen iſt. 

IH Heiße den Kutſcher mit dem Wagen warten im Flecken, 
ber ungefähr eine Viertelmeile von unferem Doͤrfchen liegt. Wir 
wollen zu Fuß gehen. Peter ficht mich erflaunt an; er wäre fo 
gerne in geſtrecktem Galopp vor die Hütte der Mutter gefahren. 

„Bruder,“ fage ih ihm, „pie Nachbarn und Freunde müſſen 
une für flolz Halten, wenn wir im PVierfpänner einfahren. Wir 
gehen Beffer zu Buß und zeigen unfern Reichthum Lieber durch 
Wohlthaten gegen bie. Armen. Was meinft Du 9 

Peter umarmt mid, " 


319 


„Du haft Reit, Andreas, wie immer!" xuft er. „Ich Dumm: 
fopf feh’ nie weiter, ald eben meine Naſe reicht.“ 

Nachdem wir den Poſtillon mit den Poftpferden zurückgeſchickt 
und den Wagen im Flecken eingeftellt haben, nimmt Jeder von und 
feine Sachen anf den Budel ; fo wandern wir unfered Weges weiter 
dem Dörfchen zu. Peter will Alles tragen; er fagt, er fei gewöhnt 
daran umb flärfer ald ich; aber ich gebe es nicht zu, ich will meine 
Sachen tragen, fo gut wie er die feinigen; die Leute könnten fonft 
meinen, ich dünke mich vornehmer ald Peter. 

Wir beflügeln unfere Schritte. Immer befannter wirb uns 
bie Gegend; jeder Ort, jede Stelle erinnert und an bie ſchoͤne 
Jugendzeit. Jetzt ftehen wir auf dem Punkt, wo bie theure Mutter 
vor elf Jahren Abſchied nahm von und und und nachſah, fo lange, 
fe lonnte. Peter und ich, wir blicken uns wehmüthig an; derſelbe 
Gedanke fteigt in und auf. Auch Jakob ftand da neben der Mutter, 
bier fahen wir ihn zum leßtenmale; noch ſeh' ich ihn, wie er und 
eine Kußhand zumwarf. Unfere Augen füllen ſich mit Thränen. Ad, 
fo it denn Fein Glück volllommen auf Erden! Das unferige wäre 
ju groß, wenn wir Alles im Dorfe wieber träfen, wie wir's vers 
laſſen Haben. 

Aber die Mutter wartet; gefchwind weiter! Sieh’, hinter jenem 
Hügel liegt ‚unfer Dorf; Hinauf, hinauf! Kaum find wir oben, 
fo fiegen wir und in die Arme. 

„Sieh’ da, fieh’ da!“ das iſt Alles, was wir hervorbringen 
tönnen. Die Freude, das elterliche Dach ‚wieberzufehen, dad wir 
deutlich erbliden, raubt und die Sprache. Bon da an gehen wir. 
nicht mehr, wir fliegen ber geliebten Wohnung zu. Seht haben 
wir fie erreicht. Unwillfürlich fallen wir auf die Kniee nieder vor 
der befcheidenen Hütte, in ber wir das Licht der Welt erblidien. 

Die Thüre iſt verfchloffen. Sollen wir und plöglich zu ers 
lennen geben, oder die Mutter almahlis vorbereiten auf das Glück, 
bad ihrer wartet 7 


„Zu große Ueberraſchung thut nicht gut,“ fagt Peter. 

Aber ich kann mich nicht Halten ; zitternn Tlopfe ich an. Die 
Thüre öffnet ſich; fie iſt's, fie it's, die gute Mutter flieht vor uns. 

„Bas wünfchen Sie, meine Herren ?* fragt fle unter hoͤf⸗ 
licher Berbeugung. 

Meine Herren! Sie kennt uns alfo nicht. Kein Wunder! elf 
Sabre Haben und zu Männern umgefchaffen und außerdem unfere 
elegante Kleidung . ... doch das Herz erräth alsbald; Keiner von 
und Beiden rührt ſich von der Stelle, keiner fpricht, ex wagt ed 
nicht; aber wir öffnen laͤchelnd die Arme, und ſchon hat ihr Herz 
und bei Kamen genannt. 

„Mein Gott!” ruft fie, „wär's möglich 3“ 

„Sa, theure Mutter, wir ſind's, Deine Söhne... Dein Peter, 
Dein Andreas flieht vor Dir!" rufen wir Beide wie and einem 
Munde und fliegen an ihre Herz, als wären wir noch bie Kinder 
wie ehemals. Und wir find auch noch die Kinder, wenn auch nicht 
den Leibe, doch dem Herzen nach. ' 

Lange können wir feine Worte finden für unfer Glück! Die 
gute Mutter erbrüdt uns fat in ihren Armen. 

„O, wie Ihr groß geworben ſeid!“ ruft fie, „und wie fchön, 
wie vornehm / Ihr armen Kleinen, Ihr! Du am meiften, Andreas; 
Du biſt wie ein Graf; Peter nicht fo ganz, der iſt noch ein wenig 
linfifch geblieben. Ach, Andreas, und wie gut Du gegen mid) warf; 
durch Deine Güte hat Deine Mutter nie erfahren, was Clend Heißt.“ 

„Beter hätte dad Nämliche gethan, liebe Mutter, aber ein 
Schuft bat ihn betrogen und das Geld für fh behalten, das er 
Dir beſtimmt Hatte.” 

„D, ih glaube Euch, meine Kinder! Nicht wahr, Ihr habt 
mich immer gleich lieb, Eure Mutter? Wenn doch ber arme Jakob 
noch lebte, wie würbe ex ſich mit mir freuen; aber Gottlob! daß 
ih Cuch bei mir habe, Euch an mein Herz drücken darf. Sa, id 
fühle, daß ich noch eine glückliche Mutter bin!“ 





321 


Wir treten in die Hütte, Alles, Alles erinnert uns an unfere 
Kindheit. 

„Sieh’, Peter,“ fage ich zum Bruder, „ba ift der große Stuhl, 
worauf unfer guter Bater farb ; da knieten wir nieber vor ihm ; 
da iR die Stelle, wo er bejonderd gern faß und und auf den 
Knieen ſchaukelte.“ 

„Ja, lieben Kinder, es iſt ſo,“ faͤllt die gute Mutter ein und trock⸗ 
net ſich die Augen; „ich ſehe, Ihr habt nichts von dem Allen vergeſſen.“ 

„Und da ſchliefen wir; jetzt, glaub’ ich, würden wir nicht 
mehr fo gut fchlafen da,” 

„Und da fand ich bad Porträt meiner Wohlthaͤterin.“ 

JFa, Andreas, das Porträt bat Dein Glück gemacht und 
meined ; ihm haſt Du’s zu danken, daß Du jett ein vornehmer 
Her biſt. Aber ih muß wiffen, wie das Alles fo gekommen ift, 
Ihr ſollt mir Eure Geſchichte erzählen von Anfang bis Ende. 
Doch erſt fegt Euch und ruht Euch ans, Ihr werdet müde fein 
vom Wege. Seid Ihr zu Fuß gegangen ?“ " 

„Wohin denlſt Du, Mutter? Wir haben es uns bequem ges 
macht, wir. 

Schon will Peter Alles zum Beſten geben, aber ich zupfe ihn 
am Arm und winke ihm zu ſchweigen. Die Mutter weiß nicht, daß 
Hert Dermilly tobt iſt, und daß er mich zum Erben eingeſetzt hat; 
ih will fie damit überrafchen, darum falle ich geſchwind Peter in 
bie Rede und fage: 

„Wir haben unterwegs Gelegenheit gefunden zum Bahren ; 
fo find wir nicht ermühet.” 

„Um fo befjer, lieben Kinder! Jegt will ich in bie Küche 
und Euch Euer Lieblingsefien kochen; wißt Ihr noch, bie Kuchen, 
Die Ihr früher fo gerne aßt. Guter Bott, hätt’ ich das gedacht, 
Daß Ihr heute kommt, der Tiſch follte ſchon gebedit fein. Aber 
Ihr wolltet mich übersafcgen, nicht wahr? Heut’ Abend werben 
fle Cuch gut ſchmeden!“ 


Während die gute Mutter in die Küche eilt, um und Kuchen 
zu baden, fehen Peter und ich und im Dorfe um und nad den 
altbefaunten Geſichtern. Zuerſt gehen wir auf den Kirchhof zum 
Grabe bes feligen Vaters; dicht daneben liegt auch Jakob begraben. 
Mit einem Dorffirchhof ift man bald fertig. Nichts von dem Lurus 
und ber Pracht eines Pere-la-Chaife! Kreuze, einige Steine, mit 
Krängen umwunden, hie und da einige Blumenbeete, das iſt Alles, | 
was an die Ruheftätte der Abgefchievenen erinnert. Der Tod ift 
bier einfach und fchmudlos, wie das Leben außerhalb der Ring: _ 
mauern des Gottedaderd. Der Bauer beſucht die Gräber feiner 
verftorbenen Lieben, um ihnen eine Thräne des Andenkens zu weihen, 
und nicht um die Pracht der Maufoleen zu bewundern ober "pomp: 
hafte Infchriften zu buchftabiren. 

Nach Turzem Gebete auf den Gräbern des Vaters und Bruders 
gehen wir langfam ind Dorf zurüd. Oft bleiben wir ftehen; jeber 
Pfad, jeder Kreuzweg ruft eine alte Erinnerung hervor ; hier auf 
biefer Stelle warfen wir uns oft mit Schneeballen. 

„Sieh', Bruder,” fagt Peter, „bier flog mir einer gerade 
aufs Auge. Du fiehft, auch ich habe die fchöne Zeit nicht vergeffen.“ 

Keiner im Dorfe erkennt und, Wie flaunen die guten Leute, 
als fie unfere Namen hören. 

„Ihr die Söhne der braven Marie!“ rufen fie ein über's 
andere Mal. „So groß geworben und fo vornehm! Unmöglich!“ 

Aber wie freuen fie fih, als fie merken, daß unfer Herz das 
alte geblieben if. D, wie drängen fie fih an uns heran; Seber 
will und feine Freude bezeugen ! 

Enplih kommen wir unter dad mütterliche Dach zurück; der 
Tiſch iſt ſchon gedeckt. Noch jept ſchmeckt mir das einfadye länp- 
liche Mahl, das die gute Mutter uns zubereitet hatte, Seit langer 
SZSeit aß ich nicht mit fo gefundem Appetit, umd je mehr ich ihren 
Kuchen zufpreche, um fo mehr freut ſich die Mutter. Peter aber 
macht dann und wann ein naͤrriſch Geſicht. 








323 


„Schmeckt Dir'e nicht, Peter?“ fragt fie. 

„Und wie, Mutter! Aber die Parifer Küche iſt Halt doch... 
anders,” . 

„Bas, Betr, Du magft die Kuchen nicht mehr, die Du 
früher fo gerne aßeſt 3" 

„Weißt Du, Bruber, früher kannt' ich bie Omeletted und 
bie Paſteichen und all! die andern Herrlichkeiten noch nicht, die ich 
und Loifean bei dem Traiteur an der Ede afen... o Mutter, vie 
Omeleites foufflöes und die Pafteten, fag’ ich Dir, die ſchmecken 
jamos! Hätt’ ich Die nur welche in der Tafche mitgebracht ; aber 
wenn Du nach Paris kommſt, Mutter, meiner Seel’, vierzehn 
Tage lang ſollſt Du nichts effen als Dmelettes fonfflces !“ 

„Dank Dir, lieber Peter, um Deine Omeletten zu often, - 
mag ‚ich nicht fo weit reifen, und ich bin gewiß, fie find nicht 
befiev als meine Kuchen. Nicht wahr, Andreas ? Dir ſchmecken fie 
und das freut mich.” 

„Ja, Mutter, fie ſchmecken mir trefflich,“ antworte ich und 
trete Beter auf den Yuß, zum Zeichen, daß er fchweigen foll. Es 
will mir nicht gefallen, daß er die Parifer Omelettes auf Koften 
der von Mutterhand gebadenen Kuchen herausftreicht. Mach ber 
Abenpmahlzeit erzählt Jeder von uns feine Abenteuer feit der An- 
funft in Paris. Peter ift mit feiner Gefchichte bald fertig. Meine 
dauert wiel länger. Als ich auf den Ton meined Wohlthäters zu 
iprechen Zomme, weint die Mutter heiße Thränen. 

„Sag’ ihr Doch von der reichen Erbſchaft,“ flüftert mir Peter 
zu. Ein Blick von mir bringt ihn zum Schweigen. Doch Höre ich, 
wie er in den Bart brummt: . 

„Der Andreas jept... . ift ein ganz anderer Kerl.“ 

Die Mutter verſteht ihn nicht. Zum Schluffe meiner Gr: 
ählung ermahnt fie mich, ja recht dankbar und erfenntlich zu fein 
gegen die Graͤſin, gegen Bernhard und feine Tochter für die un: 
sähligen Wohlthaten, die ich von ihnen empfangen. habe. Auf⸗ 


3% 


fallend ift mir, daß fle kaum von Abolphinen redet uab immer 
auf Ranette zurädtommt. Offenbar iſt fie durch bie Herzensgüie 
Nanettens beftochen worben. Alles an Ranette gefällt ihr. Während 
ih mich auf das Lob ihrer Tugenden beichränte, wird Peter nicht 
müde, ihre Schönheit, ihren fchlanten Wuchs und ihre Aumuth 

zu rühmen, fo daß die gute Mutter alle Augenblicke auscuft: 
„Das gute, liche Mäpchen das, ich möchte fle fehen und Aaffen!" 


Es if jetzt Zeit zum Schlafen. Wo legen wir und zur Ruhe 


nieder Die Mutter fürdhtet, ſie könne und nicht na Wunid 
beiten, doch verfichere ich le, daß wir Beide zufrieden find mil 
einer Matratze und einem Strohſack in demſelben Verſchlage, wo 
wir ald Kinder fchliefen. Peter reißt die Augen weit auf und fieht 


mid ſchweigend an. Ich bin ihm ein Räthfel, aber er wagt Feine 


Erwiderung dagegen. Erf ald wir allein find, fragt er: 
„Andreas, willſt Du nicht mehr reich fein ?“ 
Sch fehe ihn Tächelnd an. „Schlaf nur auf dem —* 


und der Matratze, worauf Du als Kind ſchliefſt,“ antworte ich | 
ibm, „das ſchadet Dir nichts. Im Gegentheil, wie Tanmft Du | 


Dir ein fo füßes Vergnügen rauben wollen ?* 


Aber Peter hört mich wicht mehr. Er fhläft ſchon und balb 


| 





folge ich. feinem Beifpiele. Die füßen Erinnerungen aus der Sunben: 


zeit wiegen mich bald in Schlaf. 


Mit Tagesanbruch ftehe ich auf. Beter fchläft noch, aber Die 
Mutter ift Schon am Herde mit unferem Frühſtück beſchäftigt. Unter 
dem Borwande, die frifche Morgenluft zu genießen, gebe ich bin: 


aus, doch habe ich Anderes im Sinne. Geſtern beim Spegiergange 
durch's Dorf fah ich ein allerlichftes Wohnhäuschen weit veigeuber 
Ausficht, das zum Kauf oder zur Miethe ausgeboten war. 


Das Häuschen kaufſt du ber Mutter, dacht' ich Bei mir und 


überraſcheſt fie mit dem Geſchenk. In der Abſicht made ich wi 
jo frühe fort. Ich Hopfe an bie Ihüre ; ein altes Gärtner, der 
einzige Vewohner des Hanfes, äffnet mir. 


385 


„Ich möchte das Haus Laufen,” fage ich ihm, „an wen muß 
ich mich wenden ? 

„An den Stadtnotar son P’Sopital, Herr, der mit dem Ber- 
kauf des Hauſes beauftragt if. Es wurde für eine hübſche Dame 
gebaut, die reiht einfam Ieben wollte. Doch fchon nach einem halben 
Jahre Hatte fie das Cinſtedlerleben fatt, und dann gab fle dem 
Motar den Auftrag, ed in ihrem Namen zu verkaufen ober zu 
vermiethen.“ 

„Zeige mir das Haud, Freund.“ 

„Gern, Herr. Ich bin der @ärtner und wohne jept allein darin.” 

Alles if fo, wie ich's wünfdhe: eben fo geſchmackvoll als bes 
quem. Erſt ein hübſcher Hofraum, dann ein Erdgeſchoß, ein Stock⸗ 
wert und mehrere Böden. Es iſt groß genug für wenigftens zwölf 
Berfonen. Um fo beffer, fo können wir noch mehrere Freunde be⸗ 
berbergen. Unfere Sayoyer Freunde verdienen den Namen im vollften 
Sinne des Wortes, und wer von Paris kommt, und bier zu be- 
ſuchen, verbient den Namen gleichfalls. Auch die Bequemlichkeiten 
laſſen nichts zu wünfchen übrig; Alles einfach, fauber und nett: 
Mitchlammer, Taubenfchlag, Gewächshaus n. |. w. Sehen wir 
und den Garten an: dritthalb Morgen, trefflich beflellt, dabei ein 
Heined Getreidefeld. Was will ich mehr? So brauchen wir nichts 
einzufaufen. 

„Und der Kaufpreis?‘ frage ich den alten Gärtner. 

„Iſt etwas hoch, Herr, aber Sie kaufen was Gutes: ein 
hũbſches Haus, viel Land, guter Boden, folide Mobilten....‘‘ 

„Neunt die Summe, Freund!“ 

„Reuntaufend Franken, Herr.” 

„Reuntaufend Franken ? 

Das ſcheint mir ſpottwohlfeil, aber ich vergeffe, daß ich nicht 
mehr in Paris bin, und daß hier ein ganzes Haus mit Land unb 
Garten weniger Toflet, als eine fleine Wohnung in der Ehauffee 


d Autin. 


„Du brauchſt die Schhreiber nicht,“ fage ich zum Bärkner, 
„ih kaufe das Haus.“ 

„Sie kaufen dad Haus? Und was wird aus mir?“ 

„Ich Taufe Dich mit. Was befommft Du für Deine Gärtnerei?" 

„D, Herr, ih bin mit Allem zufrieden, wenn ich nur ein 
Hüttchen da Hinten im Hofe behalten darf. Der Garten nähıt 
mich fattfam. Was meint ber Herr von jährlich zehn Thalern? 
Dafür will ich arbeiten von Morgen bis Abend.“ 

Zehn Thaler! Armer Mann, Der Herr Graf gibt einer Menge 
Lalaien, die den gangen lieben Tag herumfaullenzen, mehr als 
hundert Thaler; aber immer vergefle ich, daß ich in Verin und 
nicht in Paris Bin. 

„Du fol zwanzig haben,“ fage ich nad einem Weilchen. 
„Da haſt Du fie im Voraus; dafür erwarte ich, daß Du bei 
meiner Mutter bleibt und ihr treu dienſt.“ 

„Bei Ihrer Mutter, Here? Haben Sie dad Haus für Ihre 
Frau Mutter gekauft? 

„Stil, Freund, Fein Wort davon, ich will fie überrafchen. 
Ich will jegt zum Notar... heut’ Abend, hoffe ich, fol der Con⸗ 
traet in meiner Hand fein.‘ ' 

Bei der Abreife von Paris hatte ich ungefähr zehntaufend 
Franken in Gold Beigeftedt, die ich in Herrn Dermilly’s Sefvetär 
vorgefunden. Die Summe ann ich nicht befjer verwenden, als 
anf den Ankauf viefes niedlichen Häuschend, das Alles in fi 
vereint, um ber guten Mutter in ihren alten Tagen das Leben ans 
genehm zu machen. Ich freue mich anf die Ueberrafchung wie ein 
Kind. Die Borfreude beflügelt meine Schritte, und ehe ich's merke, 
babe ich ven hohen Berg erflommen, ber zwifchen Berin und [’Hopital 
liegt. Ich treffe den Notar zu Haufe, und bevor er mit feinen 
Neverenzen fertig ift, habe ich ihm ſchon mein Anliegen vorgetragen. 

Leider ift der Alten⸗ und Kanzleimenſch nicht fo flink wie ich; 
er meint, gut Ding will Weile haben.” 


397 


„Ich werde an ben Contract gehen,” fagt er. 

„Aber auf der Stelle, mein Herr.” 

„Wir müflen erft das Gelb...” 

„Hier ift es, Herr, neuntaufend Franken, ſo viel als das 
Haus koſtet.“ 

„Schön, ſchoͤn, aber...” 

„Kein Aber, mein Herr! Nennen Sie die Notariatögebühren, 
ih zahle gleich baar, ohne zu handeln, aber eilen Sie.‘ 

Mit ſolchen Worten bringt man die ganze Welt in Bewegung. 
Der Notar wendet fih un feinen Schreiber. Ich gejchwind dem 
Schreiber ein Geldſtück in die Hand gebrüdt, das hilft. Der gute 
Mann fchneidet nicht erft dreimal bei jevem Worte die Feder. 

Unterbeß gehe ich im Garten fpazieren, während bie Herren 
mit ihrer Schreiberei befchäftigt find. Kaum hört die Frau Notarin, 
daß ein junger Mann, ver kauft, ohne zu handeln, und nobel be: 
zahlt, im Comptoir ift, fo ordnet fie hurtig ihre Friſur und kommt 
in ben Garten hinab, mir Geſellſchaft zu leiſten. 

Die Frau Notarin ift nicht hübſch, aber hoͤchſt anſpruchsvoll, 
und befanntlih gibt es nichts Liehbenswürbigeres, ald eine Dame 
aus ber Provinz, die Anfprüche macht. Che fünf Minuten ver- 
gangen find, weiß ich, daß Madame eine herrliche Stimme hat, 
die ſchwerſten Opernarien fingt, und fi auf dem Pianoforte felbft 
begleitet ; daß fie italienifch fpricht und ziemlich gut lateiniſch; 
bag fie den Code civil ganz im Kopfe hat; daß fie nie Kinder 
gehabt hat, noch fich welche wünfcht, weil das die Taille verdirbt; 
daß fie Berfe macht und gerne tanzt; daß fie die beſten Omelettes 
zu machen verfteht und felbft das Regiment führt in der Küche; 
endlich, daß fie immer nach den neueften Dioden des Lyoner Mode: 
journals gekleidet iſt. 

Während ich das Alles anhören muß, bin ich mit meinen 
Gedanken bald in dem neugelauften Haufe, balb in Paris bei 
Knolphinen. Kein Wunder, daß ich ber guten Brau die verfchrteften 


S 


% 


Antworten gebe, wenn He mich fragt, unb fie fragt eben fo gerne, 
als fie erzählt. Sie mag einen fchönen Begriff von meinen Ber: 
ſtandesfaͤhigkeiten befommen haben, die Ente! Aber ich weiß mid 
zu tröften. Endlich, nach zwei töbtlich langen Stunden , läßt mid 
der Herr Notar wiffen, daß Alles in Richtigkeit fei. Ich eile auf's 
Comptoir, zahle die Gebühren, und flürze mit dem Contracte, ben 
ich auf meiner Mutter Ramen babe ausfertigen Iaffen, Hals über 
Kopf zum Zimmer hinaus. Doch habe ich Zeit zu hören, wie 
der Notar zum Schreiber fagt: 

„Dem Herm merkt man an, daß er fein Haudmäller ifl.“ 

IH bin lange außgeblieben ; Mutter und Bruder haben nicht 
„ bloß ohne mich gefrühftädt, fondern auch mit dem Eſſen auf mid 
gewartet. Schon geräth die gute Mutter in Angft ; fie fürchtet, ich 
habe das Bergfleigen verlernt, und fei, wie Jafob, in den Abgrund 
binabgeftürzt. Peter fuchte mich überall. Endlich trete ich ein. Die 
Wonne, bie in meinen Augen glänzt, nimmt ihnen alle Unruhe. 

Ich ſchutze Dies umb Jenes vor, und finde leicht Glauben, 
benn Keines von Beiden hat die Ieifefte Ahnung von meinen Ab⸗ 
ſichten. Nach dem Effen führe ich die Mutter fpazieren. Iuzwifchen 
babe ich meine Mafregeln fo getroffen, daß alled Hausgeraͤth aus 
ber Hütte in die neue Wohnung Hinübergejchafft wird. Unvermerkt 
führe ich fle in die Nähe des hübſchen Häuöchens, womit ich ihr 
ein Geſchenk machen will. Während des Spagierganged. werben 
wir dermaßen von Freunden und Bekannten beſtürmt, welche ber 
guten Mutter Glück wünfchen zu foldden Söhnen — und das Tann 
eine Mutter nie oft genug anhören — daß die Nacht hereinbricht, 
ehe fie ſich deſſen verficht. | 

„Es iR ſpaͤt,“ fagt fie endlich, „und wir haben noch weit 
bis nad Haufe. Ich’ bin fo Lange nicht andgegangen, daß ich 
kaum noch den Weg zu finden weiß.“ 

Statt Mutter und Bruder in die Hütte zurädzuführen, führe 
ich ſie im bie neue Wohnung, die ihnen ein Schloß gu fein füheint. 





329 


„Ich Tenne den Beſitzer dieſes Hauſes,“ fage ih. „Er hat 
mi und Buch zum Nachteffen eingeladen, Tommi !“ And damit 
Hopfe ich an bie Hausthüre. 

Das kommt Peter ganz erwünſcht. Bielleicht gibt's da Omelettes 
fonffldes und Baftetchen, denkt er. Die Mutter will erſt nicht, denn 
fie fürchtet zu geniren; fle gibt aber nach, als Franz, der alte 
Gärtner, öffnet und unter taufend Complimenten ung in's Haus 
nöthigt. Ich winke ihm zu ſchweigen. Die ehrliche Haut, die fich 
auf's Ueberraſchen nicht verfteht, ift eben fo verlegen als pie Mutter, 
die fich nicht von der Stelle wagt, und immer nad dem Herm 
bes Haufes fich erkundigt. - 

Wir fleigen die Treppe hinauf und treten in die Stube, bie 
ich für die Mutter beftimmt habe. Alles ficht fie bewundernd an, 
und ruft ein übers andere Mal: „Wie hübfch Das Haus! Das 
müflen reiche Leute fein, bie hier wohnen.” 

Wer aber befchreibt ihr Staunen, als fie in der Stube ihre 
alte Kommode, den Bettkranz von Buchs, und dicht neben dem 
Kamin den alten Stuhl wieberfindet, worauf unfer Vater ſelig 
zum letztenmale einfihlief. 

„Mein Gott, was heißt das?“ ruft fi. „Das find ja meine 
Sachen: mein Stuhl, meine Commode, mein Bett . . . begreift 
Ihr das, Kinder ?" 

„Recht gut, liebe Mutter,“ antworte ih. „Du biſt bier bei 
Dir, dies Haus iſt Dein Cigenthum. Während unfered Spazien 
gange® habe ich Alles hertragen laffen, was Dir lieb und wert 
ift von Deinen alten Sachen.” 

Die Mutter weiß nicht, ob fie wacht ober träumt, während 
Beter wie toll im Zimmer herumhüpft und ruft: 

„Merkſt Du jetzt, wie reich Andreas ift, liebe Mutter ? Dachte 
ih’8 mir Doch, daß er Dich überrafchen wolle.“ 

„Wie, Andread, Du bi reich 3" 
„Ja, Mutter, veich genug, um Dir biefen friedlichen, ftillen 


Aufenthalt anzubieten. Herr Dermilly Hat mich zu feinem Erben 
eingefeht. Ich habe eine ſchoöͤne Wohnung in Paris, und ich follte 
meine Mutter in einer Hütte wohnen laffen? Hier ift der Kauf: 
brief, lies: das Hans gehört Dir.” 

„Mir oder Dir, gleichviel! Nimm Dir ein Weib, Andrea. 
Erf wenn Du mit Weib und Kindern hier mit mir wohnſt, erſt 
dann ift mein Glück voll. Thun’ es, Andreas, und heirathe.” 

„Und ich heirathe mit, Mutter, wir heiratben Alle,“ ſagt 
Beter. „Aber erſt wollen wir effen und bann das Haus befehen.“ 

Der Wunſch der guten Mutter, fo Herzlich er gemeint if, 
entlodt mix einen tiefen Seufzer. Um ber trüben Gebanfen mid) 
zu erwehren, biet' ich mich ihr als Führer an durch's Haus, das 
fie unvergleihlich findei. Peter ſucht fih ein Zimmer aus, und 
ich wähle mir dasjenige, dad die weitefte und wechſelvollſte Aus- 
figt in die herrliche Umgegendb darbietet. Es iſt zu fpät, um bie 
Milchkammer, den Tanbenfchlag, die Waſchküche und den Garten 
in Augenfchein zu nehmen; das bleibt alfo bis morgen früh. In⸗ 
zwifchen hat Franz in einem Saale des Erbgefchoffes das Abend⸗ 
effen angerichtet, das wir und trefflich fchmeden laſſen. Dann 
begeben wir und zur Ruhe in jener behaglidden Stimmung, in 
bie eine heimelige Wohnung immer verfegt. 

Den folgenden Morgen beflchtigen wir das ganze Haus bis 
in bie Heinften Theile. Als gute Haushälterin freut ſich die Mutter 
mnenblih am Badofen, Badtroge, ver Milchkammer, Wafchfüche, 
Holzlege, und wie die Herrlichkeiten fonft noch heißen mögen, wofür 
nur dad Weib den rechten Sinn hat. Draußen im Freien bewundert 
bie Mutter vor Allem das Getreidefeld, während Peter fi an ben 
ſchoͤnen Fruchtbaͤumen labt, womit der Garten bedeckt if. Der 
Eigenthümer zeigt immer große Luft, überall BVerbefferungen an⸗ 
zubringen. Gier iſt Das nicht recht, dort Jenes nicht. So haben 
benn Peter und ich bie Haͤnde voll zu thun: wir graben bie Beete 
sm, baden, pfropfen, beſchneiden bie Bäume, pflügen u. |. w. 








331 


Der alte Franz brummt Etwas in den Bart,” aber wir hören ihn 
nit. Darüber vergehen ſechs Wochen, und noch habe ich feine 
Sekunde Langeweile empfunden. Wenn ich genug gezeichnet und ges 
malt habe, dann greife ich zum Grabfcheit und beflelle unfer Gütchen. 

‘ Adolphinens Bild werläßt mich nie, aber ich fühle, um ganz 
glücklich zu fein, muß ich fie Hier “in Verin haben und nicht zu 
ihr nach Paris zurückkehren. 

Bon meiner guten Freundin find Nachrichten eingelaufen, aber 
niht von Lucilien. So weiß ich denn feine Silbe, wie eö im 
Hötel ausfieht umd hergeht. Weber die Zeit meiner Abreife von 
bier ift noch nichts beflimmt. Wenn ed vom. Willen der guten 
Mutter abbinge, jo käme ich nie wieder nach Paris zurüd, Wie 
oft fagt fie: Andreas, bu biſt reich, bift unabhängig, warum 
bleibft du nicht bei mir ? 
je:  Gnblich trifft der Iangerfehnte Brief Luciliend ein. Ich weiß 
feld nicht warum, aber die Hand zittert mir, als ich das Schreiben ı 
öffne, und boch habe ich Nachrichten über Abolphinen zu erwarten. 

Ich durchlaufe flüchtig die erfle Seite... Schwüre ewwiger 
Trene und Anhänglichleit, und nichts ald Schwüre. . . Lucilie, 
bu vergiffeft, daß ich Tein Kind mehr bin! Aha, ba bommt Eimas 
über’8 Hoͤtel. 

„Der junge Marquis ift zurüd. Gr Halt ſich jebt mehr zu 
Haus umd gibt ſich mehr Mühe um feine Couſine. Fräulein Adol⸗ 
phine wird mit jedem Tage hübfcher. Allem Anfcheine nach wirbt 
ber Marquis um die Hand feiner Couſfine.“ 

Er wirbt um fie! Ich laſſe ven Brief fallen, pad Wort fchneibet 
mir in's Herz. Wär’s möglich, Adolphine den Marquis heirathen ? 
D, ich Elender, Tonnte ich das nicht vorausſehen! Mußte es nicht 
fo kommen? Hatte ich nicht eine Ahnung davon? Und bo, nein! 
Wie fle bei unferer letzten Unterrebung über ihn fprach, Tann fie 
ihn nicht lieben... nein‘! 

Der Kopf ſchwindeit mir. Das einzige Mittel, die heirath 





393 
Ubolphinens mit bein jungen Marquis zu hintertreiben, if, vi 
ich mich ihr perfönlich zeige. Schnell eile ich zur Belın, ig 
meine Mbreife nach Paris anzufündigen. 
„Was, Undrens, fo plötzlich fort? Heute rosgen bachieh 
Du nicht daran!“ 

„Ich habe Rachrichten bkkommen, die mich zur ſhlemigen 
Abreiſe zwingen.“ 

„Gewiß keine guten, Andreas! Mein Gott, wie blaß und 
verſtoͤrt Du bi... ſprich, was haſt Du?“ 

„Nichts, liebe Mutter, nichts, aber ich muß morgen fort.“ 

„Morgen ſchon I“ 

„Ja, morgen. Geh’ in den Flecken, Peter, wo wir unſern 
Wagen ließen, und beſtelle Poſtpferde auf morgen früh.“ 

„Wie Du will, Bruder.“ - 

„Wenn Du lieber bei der Mutter bleibft, fo bleib’, Du haft 
nichts in Paris zu thun.“ 

„D, Bruder, ich habe wahrlich nichts gegen die Reife nah 
Paris. Es Fährt ſich fo hübſch im Poſtwagen.“ 

„Sa, geh’ nur mit Andreas, Peter,“ ſagt die Mutter, „es 
iſt mir ein großer Troſt, wenn ich Dich bei ihm weiß. Der arme 
Andreas Hat den Kopf fo voll!“ 

Peter rennt wie Befeffen davon. Inzwiſchen pade ich unfere 
Sachen, dabei fieht mich die gute Mutter prüfend an, ald wolle 
ſle meine geheimften Gebanfen errathen. 

„Andreas,“ fagt fie endlich, „Du haſt Kummer, fage mir, 
was drückt Dich I“ 

Sch kann nicht antworten, aber ich nehme ihre Hände umb 
brägte fie zärtfih an mein Herz. Mein Stillſchweigen ift faſt ein 
Geſtaͤndniß. 

„Bei al’ Deinem Reichthum, Andreao, HR Du nicht glüds 
lich,“ Hebt die Mutter von Neuem an. „Lieber weilte ih, ich 
wäre noch in unferer alien Wohnung une fähe Die in Deinem 


ſchlichten Kittel einhergehen und guten Muthes Deine Wafferfuppe 
effen, wie ehemals. Ad, Du kehrſt jetzt nach Baris zurüd, Du 
willſt nicht bei Deiner Mutter bleiben. Aber wenn Deine Schmerzen 
nieht vergehen, o, fo komm' baldigſt zurück. Ich will Dich tröften, 
Kind, oder mit Dir weinen !“ 

Ich ſuche ihr Die Unruhe auszureden, kann aber meine Sehn: 
ſucht nach Paris nicht verheimlichen. Endlich iſt der Augenblick 
des Abſchiedes da. Ich empfehle dem alten Franz unſer kleines 
Gut, dann ſcheiden wir unter heißen Thränen von der guten Mutter. 
Bald darauf haben wir unfern Wagen erreicht und fagen unferer 
Heimath zum zweitenmale Lebewohl. 


Sünfundzwanzigfies Rapitel. 
Die Zufammentunft. — Daß Duell. — Keine 
Hoffnung mehr. 

Das Berfprechen eines guten Trinfgelves treibt die Poftillone 
zu größtmöglicher Eile. Wir fliegen dahin, daß die Funken fprühen. 
Peter ſucht nah Kräften mich zu zerftreuen, aber ich hoͤre nicht 
auf ihn: ich träume nur von Adolphinen und dem jungen Marquis, 
Die Sehnſucht nach Paris läßt mir Feine Ruhe, und doch weiß ich 
nicht, was ich dort will; Alles geht mir im Kopf burdjeinander. 

Endlich kommen wir in Paris an. Obgleich ed nahe bei zehn 
Uhr Abende if, muß ich mit Lucilie reden. Ich laſſe Peter zu 
Haufe und gehe in's Hötel; der arme Schelm ift noch ganz be: 
täubt von ber Eile, womit wir gereist find. | 

Der Bortier kennt mich, fo Tomme ich Leicht in's Haus. Die 
Fenſter find hell erleuchtet: gewiß hat die Frau Gräfin Gejellichaft. 
Mit Elopfendem Herzen fleige ich die Treppe hinauf, die zu Luci⸗ 
liens Wohnung führt; auf der Mitte derjelben begegnen wir uns, 
Als fie mic erblidt, ſtaßt fie einen lauten Schrei aus. 

Baul be Kod. 1. 22 


„Still, Lueilie, ich bitte Sie. Man darf nicht wien, ni 


ich im Hötel bin.” 

„Mein Bott, wie bin ich erfchroden ! Sch glaubte ihn in 
Savoyen, und da flieht er vor mir, leibhaftig. Willlommen 
Andreas, willlonnmen !“ 

„Geh'n wir in Ihre Kammer, Lucilie, da Tönen wir unge: 
ſtort plaudern.” 


„Bern, Audreas, recht gen... . der Schreck ift mir in alle 


Glieder gefahren... . diesmal follen Sie nicht fagen, daß ich bi 
dem Kleinen Engländer .englifch gelernt habe; der Eleine Dumm 
fopf hat für nichts Sinn als für Eſſen und Trinfen.“ 





Während Lucilie die Kerzen anzünbet, werfe ich mich in ihren | 


Armſtuhl. ALS fie auf mich zukommt und mir einen Kuß geben | 


will, fieht fie meine Berwirrung, meine Blaͤſſe. 


„Was haben Sie denn, Andreas?“ ruft fie. „Leiden Sie!” | 


„Ja, Zucilie, ich leide.“ 

„Sind Sie ermübet von ber Reife Y" 
„Rein.“ 

„SR Ihre Mutter krank ?“ 


„Bott fei Dank, nein! Ich Habe fie gefund umb —* | 


verlaſſen.“ 


„Aber warum denn fo blaß, fo verſtoͤrt? Ich muß es wiſſen, 


ich meine ed gut mit Ihnen.“ 
Dabei fieht fie mich theilnehmend aͤngſtlich an. Nach eimer 
langen Paufe flottere ich endlich: 


„IR es wahr, daß... Fraͤulein ... Adolphine ... ihten 


Goufin. . . heirathen ſoll ?“ 

„Sn 8 möglich ?“ ruft fie erflaunt und läßt die Arme finlen. 
„Mein Gott, wer hätte das gebacht !“ 
„Antworten Sie, Lucilie, ich bitte, ich beſchwore Sie!“ 
„Iſt's möglich, Andreas? Sie lieben Fräulein Mol. . 
„Stil, Lucilie, wenn man und hörte, . +“ 


335 

„Der Arme! Ja, er Tiebt fie. Alfo daher Ihre Traurigkeit ? 
daher Ihre Bläffe? O, ich Thörin, das Hätte ich errathen Finnen ! 
Wo hatte ich denn meine Augen! Armer Andreas! Aber nicht wahr, 
Andrens, Sie behalten mich immer lieb... etwas Tieb ?“ 

„Ja, gute Lucilie, ja, immer! Nur fein Wort davon gefagt.“ 

„Bas denken Sie von mir, Andreas? Das Weib iſt tauſend⸗ 
mal verfchtwiegener als der Mann, wenn fie verſchwiegen ſein will, 
verſtanden ?“ 

„Und Fräulein Adolphinens Heirath ?“ 

„SH noch im weiten Felde, Andreas. Bloß der Herr Marquis 
und der Herr Graf fprechen davon.“ 

„Genug, wenn die ed wollen !“ 

„Die gnädige Frau und das gnädige Fräulein haben auch 
ihren Willen, Andreas, Aber gefept, die Heirath wäre nichts, ' 
was dürfen Sie hoffen, Andreas ?“ 

„Nichts, ich weiß es, nichts!“ 

„Welche Thorheit alfo, die zu lieben, die man nicht befommen 
ann.” 

„Ag, Lucilie, wer ift Herr feines Herzens?" 

„Meiner Seel’, er hat Recht, der Andreas! Niemand iſt Herr 
eines Herzend! Und warum ließ man Sie mit dem Fräulein fpielen 
nd fingen und zeichnen und malen ? Es find ja Kinder, fagten fie. 
(ber, mein Gott, Kinder denken auch und haben auch ihr Theilchen 
Ipßheit, und dabei war er fo heißblütig, ver Anbreas .. .“ 

„gueilie, Tiebe Lucilie, einen Gefallen, nur einen!” 

„Und der wäre?“ 

„Sch weiß, ich fol Fräulein Adolphinen nicht mehr fehen ; - 
ser ehe ich ganz ſcheide, möchte ich ihr Lebewohl jagen.“ 

„Lebewohl? Und mir au, Andreas?” 

„Mein, Lucilie, wir koͤnnen uns fehen nad) wie vor, wenn 
ch nicht im Hoͤtel.“ 

„Sie thun recht, Andreas; „nicht mehr gefehen, nicht mehr 


„Schießen Sie,“ ruft er mir zu, „ober ich glaube, daß ie 
ſich fürdhten, von Neuem anzufangen.” 

Die Worte bringen mich zur Entſcheidung: ich richte die Waffe, 
fat ohne meinen Gegner zu fehen. Der Schuß geht los... ih 
Ungkädlidder!... der Marquis flürzt zufammen. Das Blut firömt 
aus einer Wunde in der rechten Seite. 

„Kat nichts zu fagen,” ruft er. „Der Wagen fol Tommen... 
beifen Sie mir einfteigen... ich will fchon bis nach Hanfe Tommen.“ 

Bir helfen dem Marquis in den Wagen, der Jockey nimmt 
feinen Sig ein, treibt die Pferde an und davon- fliegen fie. In 
Berzweiflung über meinen Sieg, der mir als eine neue Schranfe 
erſcheint zwifchen Adolphine und mir, gehe ich anf meinen Wagen 
zu, ber noch an berjelben Stelle hält. Der Rutfcher muß mich faſt 
bineinheben, fo gebanfenlos bin ich. Noch immer glaube ich den 
biutenden Marquis vor mir zu fehen. Wenn er flürbe! Könnte 
ih mir je feinen Tob verzeihen ? 

„Wohin, Herr?“ 

„Rah Patis.“ 

„Baris ift groß, Herr! Wohin befehlen Sie?” 

„Dahin... o meine Mutter! wüßte Du, daß ich Menſchen⸗ 
bint vergoffen habe, Du würbeft ed nicht glauben !“ 

„Es feheint, Herr, Ihr Gegner hat die Kugel atirapirt.” 

„Er ift bloß verwundet, ich hoffe... .” 

„Mur nicht ängftlich, Here! Laſſen wir ven Chirurgus forgen..- 
fort, Cocotie. Aber wohin, Herr $“ 

„Zum Bernhard.“ 

„Es gibt viele Bernharb in Paris, Herr! Meinen Sie den 
Traiteur 3“ 

Fahrt in die alte Tempelſtraße. Ich will ſchon rufen, wenn 
Ihr Halten follt. 

IH will mich bei meinem alten Freunde Raths erholen, was 
zu thun if, Hatte ich das mus eher. gethan, daun imäre bad Duell 





337 


feinen Weg gehen ließ, geblieben ift, was ex war, und nicht ein⸗ 
mal feinen Namen fchreiben kann. Dafür flieht mich der Schlaf, 
der den Bruder erguidt! So entſchädigt die Natur immer ihre 
Kinder. 

Mit Früheſtem bin ich wieder auf. Ich zähle die Stunden 
bis zur Zuſammenkunft mit Adolphinen. Bor neun Uhr Morgens 
darf ich mich nicht fehen Iaffen im Hötel, Was anfangen bis dahin ? 
IH will zu Bernhard und Nanette, vielleicht gelingt es ihnen, mid 
zu zerftreuen. Peter fchläft noch. Schlafe noch , fo lange Du magft, 
son den Grmübungen ber Reife. Der Glückliche der, er weiß nichts 
von den Aengſten ver Liebe! 

Bernhard ift fchon beim Frühſtück mit Nanette. Ihr lauter 
Freudenſchrei verkündet dem Vater meine Naͤhe. O wie viel haben 
wir uns zu fragen und zu antworten! Nanette hoͤrt mich entzückt 
an; fie möchte keine Silbe von meiner Erzählung verlieren, waͤh⸗ 
rend mich Bernhard wiederholt auf die Schulter klopft und ruft: 
„Du biſt ein guter Sohn, Andreas, dag fieht man an dem An⸗ 
fauf des Haufe ... Taufend, da muß fie wie eine Prinzefiin 
leben, die gute Mutter! Bald zieh’ ich mich vom Gefchäft zurück, 
dann will ich fie in Savoyen befuchen.“ 

Bei Bernhard ift mir die Zeit rafcher vergangen. Schon höre 
ich neun Uhr fchlagen. Ich verabfchiene mich von meinen Freunden 
und etle zu Lucilien, bie ich noch in ihrer Kammer finde. 

„Schon fo früh!" fagt fie. „Noch ift ed nicht Zeit, mit dem 
Fräulein zu reden. Inzwiſchen wollen wir frühſtücken. Wollen 
Sie Plumpudding, Andreas? den hat mir ber Feine Engländer 
gebracht, ich mag das Zeug nicht; bis dahin ift der Kaffee fertig.” 

„Ich danke für Alles, Lucilie.“ 

„Män muß immer efjen, wenn man verliebt ift, Andreas. 
Sie dürfen nicht glauben, intereffanter zu werden, weil Sie nichts 
eſſen; das ift ein thörichter Glaube das, mein Herr!“ 

Alles Weigern Hilft nichts. Während fie das Frühſtäck in. 


338 
Bereitſchaft feht, treib' ich fie ein aüͤber's andere Mal, zu Mol: 
phinen hinunter zu geben. Endlich geht fie... Gott, welche Ant: 
wort mag fie zurüdbringen? Wird fie einmwilligen? Und was fage 
ich ihr dann? Schon if eine töptliche Halbe Stunde verflofien und 
noch feine Nachricht. Endlich Tommi Lucilie. 

„Das bat lange gedauert!” rufe ich ihr zu. 

„Man findet nicht gleich Gelegenheit zu einem Töte-A-töte 
mit dem Wränlein.“ 

„Und was hat fie gefagt ?” 

„Erſt war Madame bei dem Fräulein. Als fie fortging, habe 
ih ihr gemeldet, daß Sie zurückgekehrt feien, worüber fie höchſt 
erfreut ſchien.“ 

„Erfreut? wirklich, Lucilie ?“ 

„Sa, Kerr, ja... als ich ihr aber fogte, daß fie auf meinem 
Zimmer feien und fie nur einen Augenblid zu fehen wünſchten, be 
fragte fie, warum Sie nicht herunterlämen und in Gegenwart von 
Madame mit ihr ſprächen? Ich wußte nichts zu antworten... 
fagte, Sie müßten gewiß ein Geheimnig haben. Sie wurde roth 
und fagte dann, fie wolle im Eleinen Saal arbeiten, was fo viel 
heißt, als fie willige in Ihre Bitte,“ 

„Welch' Gläck, Lucilie !“ 

„Ich will Acht geben, wenn Madame auf ihr Zimmer geht; 
fommt Madame zufällig in ven Heinen Saal und findet Sie bei 
ihrer Tochter, fo geben Sie ſich den Anfchein, als feien Sie eben 
gelommen, ihr einen Beſuch zu machen. Richt wahr, ich bin gut, 
gütiger als Sie's verbienen! Ich will jekt hinunter und Sie rufen, 
wenn das Fräulein allein iſt.“ 

Ich ſoll alfo Adolphinen ohne Zeugen fehen und fpredgen. O, 
weru meine Wohlthäterin die Kühnheit wüßte! Aber Abolphine 
muß wien, ehe ich fie auf immer verlaffe, daß ihr Bild umaus 
loͤſchlich in meinem Herzen fortlebt und nie eine Andere dari⸗ 
herrſchen wird, 


Her befehreibt meine Empfindungen, als Lucilie wieber ind 
Zimmer tritt und mir winkt, hinunter zu gehen. Noch jetzt weiß 
ich nicht, wie ich in den Saal gekommen bin, doch höre ich, wie 
Lucilie mir ind Ohr fläftert:: 

„Ich will huften, wenn Madame zurückkommt.“ 

Ich öffne die Thüre und ſtehe vor — Adolphinen. 

„Sie wieder da, Andreas!“ fagt fie lächeln. „Und Sie 
wollen mich allein fprechen ? Haben Sie Kummer, den Sie meiner 
Mutter nicht anvertrauen mögen ?“ 
„Rein, Fräulein Adolphine, aber... ich wünfchte ghaen 
Lebewohl zu fagen, ehe ich auf immer ſcheide.“ 

„Bas? Eben erft von Savoyen zurüdgefehrt, denken Sie 
ſchon wieder an die Abreife ?“ 

„Bas fol ich in Bari? Darf ich ja Sie nicht mehr fehen ! 
Man tagt, Sie heirathen.“ 

„Ich heirathe? Wer fagt Ihnen das, Andreas?“ 

„Ihr Here Couſtn macht Ihnen beftändig den Hof, Fräulein 
Adolphine, und das ift natürlich: er liebt fie. Wer fann Sie fehen, 
one Sie zu lieben... und gewiß lieben Sie auch ihn.” 

Sie antwortet nichts, aber fieht mich fo zärtlich an, daß id 
ed wage, ihre Hand in bie meinige zu nehmen und fie zu brüden. 

„Ich wünſche nichts inniger ald Ihr Glück, Frau... lein... 
Adolphine,“ flottere ich nothbürftig. „Aber ich babe nicht ven 
Muth, Zeuge veflelben zu fein... ach, Niemand wird mich be: 
Magen, und doch iſt Schmerz und Kummer von jebt an mein Theil!” 

„Andreas, warum dad? Warum fo unglücklich?“ 

„Beil ih im Stillen leiden muß, Fräulein, und. doch würbe 
ih weniger unglücklich von Ihnen fcheiden, wenn ich wüßte, daß 
Sie mir einige Theilnahme fchenken... daß Sie mir meine Liebe 

.. Sum... verzeihen.“ 

„Ihnen vergeihen ? IR Ihre Liebe zu mir ein Verbrechen? 
Sind wir nicht zufammen erzogen ? Waren Sie nicht der Geſpiele 


meiner froben Kinderjahre? Auch ih Liche Gie, Krems... and 
finde nichts Boͤſes basin !“ | 

„Sie lieben mich, Fraͤnlein Adolphine? mich? O, dan iſt 
mein Glück ohne Grenzen. Dies eine Wort heilt alle meine 
Leiden, diefer eine Augenblick ſtaͤrkt mich für ein Jahrtauſend von 
Shmezn! 

Ich flürze vor ihr aufs Knie, nehme ihre Hand und beide fie 
an mein Herz. Sie blidt auf mich nieder, ihre Tränen flirßen ... 
o, tie füß find mir die Thränen, die fie aus Theilnahme für mich 
vergießt !... Im dioſer Lage dachten wir nicht Daran, daß bie Zeit 
enteilt. Ploͤtzlich weckt uns ein Schrei tu unferer. Nähe: ich fehe 
mih um... Goti! ... wir haben einen engen gehabt, und 
wen? — den Grafen! 

Anolphine bleibt wie vom Blitz getroffen flehen und zillert an 
allen Slievern, während ich, meiner Sinne kaum mächtig, auf 
fpringe und einige Schritte zurücktrete. Herr von Franconard hat 
fich in einen Seſſel getworfen, ſprachlss vor Zorn. Enblich ſtottert 
er heraus und macht dabei eine brohenbe Geberde nach des andern: 

„Elender Berführer! wache oder räume ih? Ein Savoyarbe 
zu den Füßen meiner Tochter ? Ein Habenichts, ben wir aus Gnade 
und Barmherzigkeit aufzogen, ber wagt ed, die Hand von Fraͤu⸗ 
lein von Franconard zu erfaflen?... Ich erflide... o, meine 
Gicht rührt fich wieder, meine Gicht!“ 

Auf den Schrei des Grafen find der Marquis von ber einen 
Seite und die Fran Gräfin von der andern herbeigeeilt. 

„Bas gibt es, mein Herr?" fragt meine Mohlihäterin. „Ans 
dreas hier... Adolphine zittert... was hat das zu bedenten? 

„Bas das zu bebeuten hat? Bei Gott, Madame, es war bie 
höchfte Zeit, daß ich Fam. Ich gratulire Ihnen zu Ihrem Anbreae: 
ih fand ihn eben auf ben Knieen vor Ihrer Tochter.“ 

„Auf ben Knieen vor meiner Tochter 2° wiederholt bie Geäfln. 
„Großer Gott! was haben Sie zu estwipern, Aubreas I“ 


- hl 


3 che beſchaͤmt nieder, keines Wortes mächtig. 

„Der Kerl anf den Knieen vor meiner Couſine!“ ruft ber 
Marquis. „Wart', id will. den Elenden züchtigen !“ 

Damit veißt er dem Grafen den Stod ans des Hand und 
will mich ſchlagen: das bringt mich zur Beflnnung. Ehe noch bie 
Gräfin dem Marquis ein „Halt“ zusufen Tann, reife ich ihm ben 
She aus der Hand, zerbreche ihn über's Knie und werfe ihm bie 
Splitter vor die Füße. 

Der Marquis zittert vor Wath, Abolphine erhebt flehenn bie 
Arme, der Graf wirft fih im Seffel hin und her, bald xoth, Bald 
bleu vor Aerger, Lucilie winkt mir zu fliehen und die Gräfin tritt 
gebisterifch zwifchen mich und den Marquis. 

„Berlaffen Sie uns, mein Herr,” fagt meine Wohlthäterin 
in einem Tone, der mir durch Mark und Bein geht, „und zeigen 
Sie fich nie wieder im Hötel. Ich Hätte nimmer gedacht, daß Sie 
und Anlaß geben würden zu ſolchen Widerwaͤrtigkeiten.“ 

Ich bin wie vernichtet und wage nicht, die Augen aufzu⸗ 
ſchlagen. Als ich aus dem Zimmer fort will, faßt mich der Mars 
quis am Arm und fagt: „Ich hoffe, wir fehen und wieber.“ 

„Bann Sie wollen, Herr; nur vergefien Sie nicht, daß ich 
ein Mann bin wie Sie.“ 

Der Würfel ift gefallen: ich verlaffe das Hötel, um ed nie 
wieber zu beitreten. Ich fühle, ich verdiene den Vorwurf der Gräfin, 
aber die Verſicherung Adolphinens, daß fie mich liebe, läßt mich 
alles Andere vergeften. 

In unbefchreiblicger Aufregung laufe ich Iange in en Strafen 
auf und ab, ohne zu wiffen wohin. Endlich fiehe ich vor meiner 
Wohnung. Der Bortier oͤffnet die Thüre und gibt mir ein Billet, 
dad eben gebracht worden ift. Ich erbreche es und leſe: 

„Sie find nme ein Elender, ven ich mit Verachtung flrafen 
foßte ; vennoch will ich mich zu Ihnen erniedrigen und die Schmach 
abwaſchen, vie Sie meiner Couſine angeihen haben. Ah. eawarte 


sr 
Sie Heute Abend ſechs Uhr mit Piſtolen Eingangs des Gehölze 
von Bincenned. Nur mein Jockey begleitet mich. 

Marquis von Theriguy.” 

Alfo ein Duell... ein Duell mit dem Neffen meiner Wohl: 
tbäterin! In welche Lage babe ich mich verfegt, ich Unglücklicher 
Wenn ich fliege, wenn ich ihn vielleicht gar töbte: iſt das mein 
Dank für die unzähligen Wohlthaten, womit mich die Gräfln nem 
Jahre lang überhäuftet Wie lohne ich ihr dafür ? Indem ich meine 
Slicke zu ihrer Tochter erhebe, freue ich den Samen der Zwie⸗ 
tradht unter fie und morbe den künftigen Batten ihrer Tochter. Ja, 
ich fühle mein Unrecht, ich fühle es tief, aber ich Tann den Zwei: 
kampf nicht ausſchlagen: mein einziger Wunſch it, daß ich unter: 
lege, daß id auf dem Wahlplage bleibe... aber wer ſoll dann 
die Mutter tröften ?“ 

Ich gehe hinauf. Peter wundert fi, feit geſtern Abend mich 
nicht gefehen zu haben. 

„Beter,“ fage ich, ihn zärtlich umarmend, „eine wichtige 
Angelegenheit ruft mich um ſechs Uhr Abends fort. Komme ich 
heute Abend nicht zurüd, fo verfüge Du über mein gefammtes 
Eigenthum; nur verfprih mir, daß Du dann Paris verlaffen und 
die gute Mutter tröften wii.“ 

„Nein, Andreas, ich Tehre nicht ohne Dich nach Savoyen 
zurüd: die Mutter hat mir auf die Seele gebunden, Dich überall 
bin zu begleiten und zu zerfireuen. Du bift traurig heute: komm 
mit zu Papa Bernhard, Mamfell Nanette wird Dich erheiten; 
fie liebt Dich und Du Lieb fie. Oder wärk Du in eine Andere 
verliebt ?* 

„Geh' ohne mich, Beier, ich hole Dich heute Abend ab.” 

„Bie Du will, Bruder.“ 

Beter umarmt mich und lauft fort. Wie trübe bie Gedanle 
auch find, bie mich beſtürmen, feit ich allein bin: das Liebe Bild 

verſcheuqe fie alle. Ich giande mich noch immer zu 





343; 


ihren Füßen. Ja, ich ſcheue mich nicht, es zu fagen, fogar meine 
Leiden find mit einer Süßigfeit gewürzt, die ich um feinen Preis 
ber Welt austaufchen möchte gegen ein Glück, das ich anf Unkoſten 
von Adolphinens Liebe gewinnen koͤnnte. 

Unter den Träumen ber Liebe verfließt die Zeit ſchnell. Meine 
Uhr weist fchon ein Biertel auf ſechs Uhr und noch bin ich zu 
Haufe. Es ift die hoͤchſte Zeit. Sch ſtecke die Piſtolen bei, bie 
Herrn Dermilly gehörten — würbe er mid) wohl wie feinen Sohn 
behandelt haben, wenn er gewußt hätte, daß ich feine Waffen 
gegen einen Verwandten Garolinens kehrte — und eile zum Hauſe 
hinaus. 

„Zehn Franken, wenn ich einige Minuten vor ſechs Uhr Ein: 
gangs des Gehölzes von Vincennes bin,” rufe ich dem Kutfcher zu. 

Für zehn Franken fchont Fein Kuticher feine Pferde; er bringt 
mich zu rechter Zeit-an Ort und Stelle. Ich fehe um mich, aber 
fein Marquis ift zu ſchauen. 

„Warte hier,” fage ich dem Kutfcher, „ich Fönnte Dich Brauchen.“ 

„Sch verfiehe, Herr! Zählen Sie auf mich, ich bin ver Mutus 
unter den Kutfchern.“ 

Nach längerem Warten fehe ich endlich den Vis⸗a⸗Vis des 
Marquis heranfahren. Er fpringt in meiner Nähe behende aus dem 
Magen und winkt dem Jockey, beim Pferde zu bleiben. Dann 
gehen wir zufammen etwas ab von den Gefährten in das Didicht 
des Waldes. Bald find wir weit genug und entfernen und dann 
anf ungefähr fünfzehn Schritte von einander. 

„Ich glaube,“ fagt er-Höhnifch lachend, „ber erſte Schuß if 
an mir.” 

„Sa, Herr, ich glaube es auch.“ 

Der Marquis ladet fein Piftol, zielt und brüdt lo8: die Kugel 
fliegt dicht an mir vorüber. 

„An Ihnen,“ fagt er kalt. „Ich bin Heute ungefchidt.“ 
Ich weiß nicht, was ich thun foll ... ich befinne mich, ich ſchwauke. 


„Gießen Sie,” ruft ex mir zu, „ober ich glaube, daß Ei 
ſich fürdgten, von Reuem anzufangen.“ 

Die Works bringen mich zur Entſcheidung: ich richte die Mafı, 
fat ohne meinen Gegner zu fehen. Der Schuß geht los ... ih 
Unglüdllicdder !... der Marquis flürzt zufammen. Das Blut firin 
ans eine Wunde in der rechten Seite. 

„Dat nichts zu fagen,“ ruft er. „Der Wagen foll fommen... 
beifen Sie mir einfteigen... ich will fchon bis nach Hanfe kommen.“ 

Wir helfen dem Marquis in ben Wagen, der Soden nimm 
feinen Eig ein, treibt die Pferde an und bavon- fliegen fie. Zu 
Berzweiflung über meinen Sieg, der mir ald eine neue Schranke 
erſcheint zwiſchen Adolphine und mir, gehe ich anf meinen Wagen 
zu, der noch an derfelben Stelle hält. Der Kutfcher muß mic) fat 
bineinheben, fo gedankenlos bin ich. Noch immer glanbe ich ben 
bintenden Marquis vor mir zu fehen. Wenn er flürbe! Könnte 
ich mir je feinen Tod verzeihen ? 

„Wohin, Herr ?“ 

„Rah Paris.“ 

„Paris iſt groß, Herr! Wohin befehlen Sie?“ 

„Dabin... o meine Mutter! wüßte Du, daß ich Menfchen: 
bint vergoffen habe, Du würdeſt ed nicht glauben !" 

„86 feheint, Herr, Ihe Gegner hat die Kugel attrapirt.“ 

„Er ift bloß verwundet, ich hoffe... .“ 

Nur nicht ängftlich, Herz! Laffen wir den Chirurgus forgen... 
fort, Gocotte. ber wohin, Herr 3” 

„Sum Bernbarb.” 

„Es gibt viele Bernhard in Baris, Herr! Meinen Sie ben 
Traitenr 3“ 

Fahrt in bie alte Tempelſtraße. Ich will ſchon rufen, wem 
Ihr halten follt. 

IH will mich bei meinem alten Freunde Raths erholen, mad 
zu thun iſt. Hatie ich has nur ober. geihen, dann wäre dad Duell 





5 
unterblichen. Sch vergeffe jetzt, daß der Marguis Adolphinen liebt. 
amd follte er auch ihr Gemahl werben, ich wünfche, feine Wunde 
möge nicht toͤdtlich fein. 

Bor Bernhards Haufe fleige ih aus. Nanette ift allein. Abs 
fie mich flieht, fliegt fle in meine Arme und weint laut. 

„Bas haft Du denn?” frage ich. 

„Beter fagte und, daß Du ganz verftört geweſen biſt um 
von ewigem Abſchied gefprochen haft. O mein Bott, was hab’ ich 
am Dich auögeflanden, Andreas! Vater und Peter fuchen Did. 
Gottlob, daß ich Dich wieder Habe. Aber fage, woher fommft Du? 
Warum mahft Du uns folche Unruhe? Wie blaß Du bi! Soll 
ih Dich nie wieder heiter und glüdlich fehen ?“ 

„Nein, Tiebe Schwefter, nie mehr! Für mich gibt's fein Gläck 
mehr,“ 

„Kein Süd mehr, Andreas? DO, fprich nicht fo, Andreas, 
das thut mir in der Seele weh... aber was iſt Dir ſchon wieder 
begegnet, fprich ?“ 

„Ich Habe mich gefchoffen.“ ‘ 

„Geſchoſſen ?... Mein Bott!... Dn?... So fanft, fo get... 
0, wenn man Dich getöbtet hätte !“ 

Nanette nimmt meine Hände : fie wit fehen, ob ich verwundet 
bin ; dann betrachtet fie mich athemlos von Kopf bis zu Fuß. 

„And mit wen, Andreas?" fragt fie. 

„Mit dem jungen Marquis von Therigny.“ 

„Mit dem Neffen der Frau Sräfln? DO, wenn Du ihn ge 
töbtet Hätteft !" 

„Rein, Nanette, er ift bloß verwundet, doch boffe ih...“ 

„Sich zu ſchießen! und Du, Andreas!" 

„Büßteft Du, Nanette, wie er mich behandelt hat.“ 

„Ah, ich errathe Alles. Gewiß hat er feiner Conſine den 
Hof gemacht; Du Tiebft fie, ich weiß es... um Adolphine Habt 
Ihe Euch gefäjlagen, nicht wahr 1“ 


Ber fügt Dir, Nanette, daß ich Adolphine Tiebe ? 

„D, Andreas, das habe ich laͤngſt, laͤngſt geahnt,“ antwortet 
Nanette und hält die Schürze vor die Augen. „Ach, das weiß id 
ſchon lange!“ 

Alfo meine Liebe zu Adolphinen ift fein Geheimniß mehr! 
D Liebe, wie ungefchiet biſt du im Berheimlichen! Segt darf ich 
wenigfiens meinem Herzen Luft machen vor der Schwefter. Gottlob! 

„Du haft recht gefehen, Nanette!“ fage ih, ihre Hand er: 
greifend. „Sa, ich liebe Adolphine, ich bete fie an. Dieſe Leiden: 
ſchaft it die Urfache meines Kummers; vergebens Tämpfe ich ba: 
gegen : meine Bernunft tft fchwächer ald mein Herz. O, Nanette, 
wie unglädlich bin ich !“ 

„Ih dachte mir, daß es fo fommen würde, ald man Dir bie 
alten Kleider auds und vie neuen anzog. Wäreft Du geblieben, 
was Du warf, Du würbeft nie Deine Blicke zu der Tochter einer 
Gräfin erhoben haben, und vielleicht koͤnnten wir... jept recht... 
recht glücklich und zufrieden fein... man wollte mich nicht hören, Leider!“ 

Heiße Thränen fließen aus ihren Augen. Gute Schwefter, wie 
innig Du Theil nimmft an mir! 

Und weiß Fräulein Adolphine, daß Du fie liebſt ?“ fragt 
Ranette nach einer langen Pauſe. 

„Erf heute habe ich ihre meine Liebe geſtanden.“ 

„Und was hat fie gejagt? D, gewiß theilt fie Deine Liebe! 
Aber was Hilft das, Andreas? Du kannft fie doch nicht heirathen. 
Bergiß fie, Andreas, vergiß fie!“ 

„Nie, Ranette, nie!“ 

„O mein Gott!“ 

Ein Falter Fieberfchaner, die Folge der gewaltigen Anftrengun- 
gen biefes Tages überläuft mich. Sch zittere an allen Gliedern, 
‚bie Zähne Elappern mir im Munde. Ich will nad Sanfe, aber 
Nanette läßt mich nicht allein fort. 

„Ich wache bei Dir, Andreas. Der Bater wird nichts dagegen 











aM 
haben; Da SR Niemand, der Dich pflegen Tönnte, als mich. 
Kein, id verlaſſe Dich nicht. Wenn ich Dich langweile, kaunſt 
Du wir von Deiner Liebe, Deiner... Adolphine erzählen und ich 
will Dich anhören.“ 

Nanette holt eiligft Tuch und Hut. Dann geben wir fort. 
SH muß mich auf Ranette fügen, fo zittern mir die Kniee; endlich 
fommen wir an. Bernhard und Peter treffen wir in meiner Woh⸗ 
nung. Man denke fich ihren Schreck über meinen Zufland. Kaum 
vermag ich den Namen des Marquis zu flottern und fie zu bitten, 
nach feinem Befinden fich erkundigen zu laſſen. 

Sie bringen mich ind Bett. Nur undeutlich fehe und Höre 
ih, was um mich vorgeht. Bald darauf flellt ein heftiges De: 
lirium fih ein; ich Tenne meine Freunde nicht mehr. 

Sn diefem Zuflande befinde ich mich ange. Endlich öffne ich 
die Augen wieder ; die Beflnnung Tehrt mir zurück. Die Erſte, 
die ich erfenne, iſt Nanetie, an den Füßen meined Beties figend. 
Mit ſchwacher Stimme rufe ich ihren Namen. 

„O, er erfennt mich wieder!“ ruft Nanette. Gottlob, ex 
iR ums wieder gefchentt !“ 

„Liebe Schweſter, Du wachtefi bei mir ?“ 

„Ich habe Dich Feinen Augenblick verlaſſen.“ 

„Wie lange bin ich Erauf ?“ u 

„Seit Heute vor achtzehn Tagen. Ach, wir waren recht bes 
forgt um Dig, Andreas. Jetzt biſt Du außer Gefahr.“ 

„Und der Marquis ?“ 

„Zröfte Dich : feine Wunde ift ſchon vernarbt !“ 

Er lebt! Diefe Nachricht Fräftigt mich mehr als alle Medicin. 
Lachelud fehe ich Nauette an. Gleich darauf eilt Peter hocherfreut 
an mein Bett, nimmt meine Hand, die ich kaum heben Tann, und 
feglägt ein, daß es laut klatſcht. 

„Mein Gott, Beter, was machen Sie?" fagt Nanette, ihn 
ſauft zurüftoßenn. „Wes fchlägt einen Kranken fo in die Hand !" 


us 

„Das mat nichts, Ranette; im Genenfheil, das heilt ihn. 
Der gute Andreas! wie freue ich mich, daß er gereitet if! Meiner 
Se, Bruder, Du haft der armen Manette mehr zu danken ald 
der Kunft Deiner Aerzte: fie ift nicht von Deinem Bette gewichen, 
achtzehn Tage lang, ohne ein Auge zuzuthun !“ 

„Schweigt, Beter, Ihr Bruder bebarf der Ruhe.“ 

„Rein, er muß willen, daß Sie keinen Biſſen Brob aßen umd 
nichts thaten als weinen nnd beten... meiner Seel’, Teinen Mund 
voll Brod zu effen, deu ganzen Tag lang, das halte Einer aus!“ 

Ich kann ihr nicht antworten, aber ich reihe ihr die Hand, 
hie fie in der ihrigen brüdt. Ihre Augen ſtrahlen vor Wonne, 
fie ſcheint wie neugeboren. Auch Bater Bernharb kann nicht laut 
geung feine Freube über meine Gonefung ausdrücken. Ob fie wohl 
im Hotel von meiner Krankheit gehört Haben? Ob wohl Adolphine 
ſich nach meinem Befſtaden hat erkundigen laſſen? Plötzlich fat 
mir ein, daB mir der Zuttitt ins Hoͤtel auf immer unterſagt if. 
Ach, der Gedanke wirft mich in bie alte Berzweiflung zurück! 

Ich erhole wich nur fehr Iangfam. Erſt nach fünfzehn Tagen 
darf ich wieder etwas aufftchen, doch Bin ich noch fo ſchwach, Daß 
ich mich auf Ranettens Arm Rügen muß. Das Taßt fie ſich nicht 
nehmen, die Be! Während meiner Krankheit Habe ich nicht 
anders vom Hötel gefprochen, ald bloß um mich nach bem Befinden 
308 Marquis zu erlundigen, der, wie ich höre, ſchon lange voll: 
ſtaͤndig geheilt if. Adolphinens Name ift nicht über meine Lippen 
gekommen. So oft’ Nanette mich nachdenklich und tränmerifch fickt, 
unterhält fie mich von den heimathlichen Bergen und der guten 
Mutter, und das Mittel gelingt ihr eine Zeit lang. Endlich aber 
kaun ich moeinen Schmorz nicht mehr verbergen und Luciliens Name 
entſchlupft mir. 

„If ſie nicht einmal da geweſen ?“ frage ich. „Hat Niemand 
im GOtel fi wach mir erkundigen laſſen 1" 

Banette flehe weg und mBwortet mit ſchluchgender Stimme: 








349. 


„Ih glaubte, Du wollteſt die Berfonen im Götel ganz ver- 
geſſen, Andreas ; deßhalb verfchiwieg ich Dir, daß Mamfell Lucilie 
ba gewefen if.“ 

„Lucilie ift da gewefen? Was hat fe gefagt, Nanette? fprich 1" 

„Du denkſt alfo immer noch an die Dinge, die Dich Trank 
machten ?“ 

„Rein, Ranette, nein! Mber ich will wiffen, ob die Frau 
Gräfin noch böfe ift auf mich. Der Berluft ihrer Freundſchaft 
würbe mich ewig betrüben, Nanette.” 

„Ich fürdte, Andreas, Du denkſt nicht bloß allein an die 
Frau Gräfin, Deine Wohlthäterin. Uebrigens muß Mamjell Lucilie 
bald wieder kommen; Du bift jept weit-genug hergeftellt, um mit 
ihr zu ſprechen von den Perfonen, die Du liebſt.“ 

Bier Tage nach der eben erzählten Unterrebung mit Nanetten 
fommt bie fehnlichft erwartete Lucilie. Sie umarmt mi), Füßt mid 
und gibt ihre Freude über meine Wieberherftellung auf bie leb⸗ 
bhaftefte Weile zu ertennen. Ehe fle Zeit Hat, davon anzufangen, 
babe ich fie fchon mit Fragen nach Adolphine, ihrer Mutter und 
ben Ereigniffen im Hötel beftürmt. Lucilie läßt ſich nicht Lange bitten. 

„Kaum Hatten Sie dad Hotel verlaſſen,“ hebt fie zu erzählen 
an, „jo wurde ber Graf von der Gicht befallen, das Fräulein 
weinte und Mabame fchloß fich mit ihrer Tochter ein. Man merkte 
es der Frau Gräfin an, daß fie viel leiden mußte! Glücklicher Weife 
erfuhr die Graͤſin nicht, daß ich die Hand im Spiele hatte, fonft... 
Der junge Herr Marquis ging unter tauſend wäthenden Drohungen 
fort. Ach, ich zitterte für Sie, Andreas, denn ich Tenne Die Herren ! 
Als er Abends blutend ins Hötel gebracht und es ruchbar wurde, 
dag Sie, Andreas, ber Thäter feien, da ſchnob der Herr Graf Feuer 
und Flammen, und die Frau Gräfin verbot, daß je wieber Ihr 
Name im Hötel genannt werde.” 

„D, meine Wohlthäterin, fo habe ich denn auf immer ihre 

Baul de Kod. I. 28 


850 
Freundſchaft verſcherzt! Vielleicht ſtraft fle mich gar mit Verach⸗ 
tung! Das iſt mehr, als ich aushalten kann!“ 
„Dennoch Bin ich überzeugt, Andreas, daß fle im Grunde ihres 
Herzens Sie noch immer Tiebt; fie wird Ihnen bald verziehen haben.“ 
„Me, Lucilie, nie! Aber Adolphine... reden Sie?“ 
„Bräulein Adolphine ift fehr betrübt. Ich glaube, fie weint 


oft im Stillen. Indeß weicht ihr Eoufin nicht von ihrer Seite 


und ſucht fie auf jede mögliche Weite zu erheitern.“ 
„Genug, Lucilie, genug! Ich danke Ihnen.“ 


„Nur Muth, Andrend. Wer verzagt in feinem zwanzigften 


Sabre * Im diefem Alter vergißt man leicht.“ . 
„Am fchwerften, Lucilie „am fchwerften , glauben Sie mir." 


„Aber ein ſchmucker Herr wie Sie, der darf und fol nit 


verzagen, das fag’ ich, verſtanden? Sept Adieu, Andreas, ich komme 
recht Bald wieder, fo oft ich Tann.“ 

Mitten in die Nacht meined Kummers fällt no immer ein 
Soffnungsftrahl, ausgehend von jener Unterrebung, die von fo un⸗ 
feligen Folgen begleitet war. | 

„Adolphine weiß, daß ich fie Liebe,“ fage ich mir, „und bas 
Geſtaͤndniß meiner Liebe bat fie nicht erzürnt.“ 

Endlich Bin ich fo weit Hergeftellt, daß ich ausgehen barf; 
boch fliehe ich das Hotel. Nanette ift wieder Bei ihrem Water, feit 
ich die Krankheit überflanden habe. Wir find oft zufenmen aus⸗ 
gegangen Arm in Arm. In ihrer Nähe iſt mir. fo wohl; fie weiß 
fih in mich zu finden und läßt mich ungeftört meinen Gebanfen 
nahhängen, während Peter, jo oft er mit mir ausgeht, mich er- 
beitern und beluftigen zu müſſen glaubt. Oft thng ich ihm den 
Gefallen und lache, aber die Fröhlichkeit kommt nicht aus dem 
Herzen ; dad Weinen ift mir oft viel näher. 

Schon find drei Monate vergangen feit meiner Krankheit. Da 
ich nicht mehr von Abolphine fpreihe, fo hofft Nanette, ich werde 
fie allmaͤhlig ganz vergefien. Aber im Innern meiner Bruf greift 








881 


bie Flamme immer weiter um ſich! So oft ich auögehe, möchte 
ih ins Hoͤtel, und nur mit Mühe Halte ich much davon zurück. 
Ich fühle, daß ich nicht mehr leben kann ohne Nachrichten von 
Adolphine, und Lucilie kommt nicht wieber. Was hat das zu be- 
denten ? Hat fie ihren Andreas vergeffen ? 

Endlich widerfiche ich der Berfuchung nicht länger. Eines 
Abends, als ich von Bernharb und Nanette komme, lenke ich meine 
Schritte dem Hötel zu, getrieben von Gott weiß weldher trüben 
Vorahnung. 8 iftmir, als ſtehe meinem Geſchick eine-totale Ber- 
änderung bevor. Ich beflügle meine Schritte, ich Bin faft außer 
Athem. Endlich jehe ich das Haus, wo ich acht Jahre meines Lebens 
zubrachte. Aber welch’ ein Glanz, welch’ ein Schimmer! Die ganze 
Facçade bed Hoͤtels ſtrahlt im Glanze von taufend Kerzen, und weldje 
Bewegung drinnen! Was hat das zu bedeuten? Gewiß haben fie 
Ball oder Tanz oder fonft eine Luſtbarkeit, deren fchönfte Zierde 
— Abolphine heißt. 

Sch nähere mich dem Hauptthore, das offen ſteht. Der Hof 
iſt gedrängt voll von Equipagen. Ehe ich mich's verſehe, bin ich 
mitten unter den Kutſchern und Bedienten. 

„Das geht luſtig her,“ ſagt der Eine. 

„Kein Wunder,” antwortet ein Anderer, „bie Neuvermählte 
iR jung und ſchoͤn! 

Die Renvermählte! Es überläuft mich eiskalt. Bon welcher 
reden fie ? wer ift die Neuvermählte? Ich nähere mich der Loge 
des Bortierd und frage ihn mit verſtellter Stimme, ob Ball im 
Sötel jei ? 

„Ball, Herr? Warum nicht gar! Fräulein Abolphine von 
Franconard feiert ihre Hochzeit mit ihrem Goufln, dem jungen Mar: 
quis von Therigug.“ 

Ein eistalter Schauer überläuft mich; mein Kopf fchwinbelt. - 
Es iſt mir, als ziehe mich ein unſichtbarer Arm anf die Steinbaut 
in ber Nähe nieber, fonft wäre ich umgefallen, So bleibe ich über 


eine Stunde figen wie ein Befinuungslofer, bis der Schall der Ju 
ſtrumente und das laute Gewoge in den Sälen oben mich endlich 
ans dem Gtarrfchlafe weden. 

Ich ſtehe auf und eile meiner Wohnung zu. Dort angekom⸗ 
men, nehme id etwas Geld aud meinem Sekretär zu wird 

ſchreibe einige Zeilen nieder für meinen Bruder, worin ich ihm 
mein gefammted CEigenthum zur Verfügung flelle. Mein Weg führt 
mich durch Peters Kammer. Wie fo frieblich er da Liegt in den 
Armen des Schlafes ! 

„Schlafe fort, Bruder, ſchlafe ſanft!“ rufe ich flüflerud. „Sei 
glüdlicher als ich, tröfte unfere Mutter, unfere Freunde. Denke 
recht oft an den armen Andreas! Wie glücklich wäre ex jetzt mit, 
Euch, wenn man ihn feinem Schickſale überlaffen hätte ! Lebe wohl, 
Bruder, lebe wohl!“ | 

Ich umarme Beier, ohne ihn zu weden, fchließe leiſe die 
Thüre feiner Kammer, verlaſſe das Haus und irre mitten in der 
Racht, ohne Ziel, ohne Plan, in den Strafen umher, der af 
meines dereleides erliegend. 


Sechsundzwanzigſtes Kapitel. 
Verſqhiedene Arten Liebe. 


Bin, ber mid) den Abend zuvor nicht gefehen hat, fucht mi 
am andern Morgen in meiner Kammer und findet mich. nicht. Be 
unrubigt über mein Ausbleiben, erkundigt er ſich bei der Thürhüterin | 
— feit unferer Reife nach Savoyen hatte ich meinen Diener ent: 
Infien — und hört, daß ich fpät nach Haufe gekommen und glei 
wieder ausgegangen fei. Dann eilt er zu Bater Berabarb, im der 

Hoffnung, mich dort zu treffen. 

Bernhard und Nanette theilen Beters Unruhe. 








„Andreas hat und geflern Abend um zehn Uhr ruhiger ale 
gewöhnlich verlaffen,“ fagt Bernhard. 

„Wo mag er ſich denn herumtreiben ?“ fragt Peter. „Er ift 
gegen Mitternacht heimgelommen und fogleich wieber fortgegangen.“ 

„Wartet nur, wartet,” ruft Nanette und holt Tuch und Hut. 
„I Tann mir denken, wo er iſt. Ich muß wiffen, ob fehon wieder 
was vorgefallen iſt. Was thue ich nicht um Andreas willen ; müßt’ 
ih auch in das Haus gehen !“ 

Nanette legt ihre Schürze ab, ſetzt gefchwind ihren Hut auf, 
wirft das Tuch um und ift im Umfehen verſchwunden. Mit bes 
fommenem Herzen eilt fie dem Hotel des Grafen zu. Bor ber 
Hauptthäre des Höteld, die um fieben Uhr Morgens ſtets noch - 
verfhloffen iſt, entfinkt ihre der Muth: fie weiß nicht, wie und 
wornach fie fragen foll. Aber die Angft um Andreas beflegt ihre 
Schüchternheit: fie Täßt den fchiweren Hammer auf die Thüre fallen, 
daß es laut tönt. 

Sie wartet, fie horcht, aber Niemand regt ſich. Sie klopft 
nochmals und lauter wie das erfte Mal. „Mein Andreas,” denkt 
fie bei fi, „ift mehr werth als alle die vornehmen Herren da 
drinnen, und mir ift er hundertmal mehr werth! Was Tümmere 
ih mich um die Scheliworte‘ einiger Lalaien, wenn ich Nachricht 
erhalten Tann über meinen Freund.“ 

Endlich öffnet fich das weite Thor Iaut knarrend. Nanette tritt 
ein und blickt fchüchtern um ſich. 

„Ber klopft denn fchon fo frah? Wir haben die ganze Naht 
fein Ange zugethan. Wer da? Was will man ?* ruft eine Stimme 
aus ber Loge ded Thürhüters, ver Nanette verlegen fich nähert. 
Sie Hat ſchon daran gedacht, nad Mamfell Lucilie zu fragen, 
‘aber fie kann es nicht übers Herz bringen, denn fie Tann Lucilien 
nicht ausſtehen. Den Grund dieſes Widerwillens wirb jede weib⸗ 
liche Leſerin ſich Leicht von ſelbſt denken koͤnnen. 


Herr,“ redet ihn endlich Ranette an, dem Logenfeſter ſich 


354 


nügerns, wo bad mürtifche Seficht des Bortiers hervorguck, „ih 
möchte wiffen, ob Sie Andreas geſehen haben geftern Abend.“ 

„Welchen Anpread ? Ich kenne feinen Andreas.“ 

„Sie müffen ihn kennen, Herr... den artigen jungen Kerm, | 
der acht Jahre in biefem Hötel gewohnt hat.“ | 

„Ste meinen den Savoyarben ?“ | 

„Sa, Kerr, venfelben.“ 

„Morbleu, der ift fchon ein ganzes Jahr nicht mehr Bier... 
ber Teufel fol Sie Holen, daß Sie um fieben Uhr Morgene fen 
das ganze Hotel in Alarm bringen! Glauben Sie, wir find Hier 
in einer Weinkneipe ? Vachen Sie, daß Sie fortkommen, und 
ſchließen Sie die Thüre zu.“ 

Nanette ſchweigt; endlich weint und (Sind ſie. Der Portier 
der ſchon den Kopf zurückgezogen bat, ſteckt ihn nochmals durchs 
Fenſter und faßt das junge Mäbdchen an, dad kaum zwanzig Jahre 
zählt, wohlgeftaltet, frifh und hübſch iſt. Die Thränen, bie iht 
aud den fchönen Augen fallen, machen fie noch interefjanter. Auch 
bie Portiers find für weibliche Reize nicht umempfänglid; bie 
großen ſchwarzen Augen Ranettens nehmen ihm alle Mübigkeit und 
es fragt in fanfterem Tone: _ 

„Bas weint Zur, Mäpchen ? Iſt Euer Andreas Euch untren 
geworben? Und doch ſeid Ihr recht artig, meiner Seel’! Aber bie 
junge Belt Tennt den Werth eines ſchoͤnen Schatzes nicht.“ 

„Ihr tert Euch, Herr. Ich fuche Andreas, weil wir um ihn 
beforgt find ; wir wiffen nicht, wo er fein kann. Da fiel mir ein, 
ex Tönne geflern Abend bier im Schloffe gewefen fein.“ 

„Es iſt nicht wahrſcheinlich, daß Euer Andreas mit zur Hoch⸗ 
zeit geladen wurde.“ 

„Zu welcher Hochzeit, Herr ?“ 

„Zur Hochzeit von Fräulein Adolphine von Franconard und 
ihrem Goufln, dem Marquis von Theriguy.“ 

„Bränlein Adolphine hat fich verheirathet 3”. 


355 


„3a, geflern. Kommt Euch das lächerlich vor, Mamſell ?“ 

„Abolphine verheirathet! DO, wenn er das erfahren hätte!” 

„Bas fehlt Euch denn, Mamſellchen? Eben Iachtet Ihr und 
jegt weint Ihr?“ 

„Ab, Herr, ich fürchte, daß Andreas... .“ 

„Aber Halt, ich erinnere mich, daß geſtern Nacht zwiſchen 
zehn und elf Uhr ein Herr mich fragte, was es hier im Hötel gebe.“ 

„D, das wirb er gewefen fein!” 

„3a, ja, Ihr habt Recht: er war's, ich entfinne mich auf 
fein Geſicht.“ | 

„Und was that er weiter?” - 

„Meiner Seel’, das weiß ich nicht. Ehe ich mich umſah, war 
er wieder verſchwunden Hinter den Wagen, die im Hofe dicht ges 
drängt flanden.“ 

„D, mein armer Andreas! Was mag er gethan haben in ver 
Berzweiflung ? Wohin ift er gegangen ? O, ih Arme!” 

„Mamfell, Mamfell! Sie verlieren Ihr Schnupftuch ; geben 
Sie Acht.“ 

Nanette ift fchon fort; fie eilt zum Vater zurüd und erzählt 
iym, was fle gehört hat. Bernhard begreift nicht, wie bie Nach⸗ 
richt von der Hochzeit Fräulein Adolphinens mich in Verzweiflung 
habe bringen koͤnnen, bis ihm Nanette dad Geheimniß von meiner 
Lebe zu Adolphinen anvertraut. Jetzt erft geht ihm ein Licht auf 
über die Urfache meines geheimen Kummers. 

„Sa,“ bekräftigt Peter, „ver Bruder war verliebt bis über 
bie Ohren. Er geftand mir einmal, daß ber Liebeöteufel ihn Tag 
und Macht quäle; er ſprach nicht, er malte nicht, er fang nicht 
und, was dad Meifte if, er nf nicht.” " 

„Bo mag er fein?“ ruft Nanette. „Statt und bein Leid zu 
Hagen, Andreas, flieht du uns! Himmel, follte er in ber Ber: 


weiflung . . .” 
„Sei richig, Ranetto! Aundreas wird an feine Mutter, feine 


Freunde denken; er it keiner folgen That fähig. Gedulde Dich, 
er wirb ſchon wieder fommen, recht bald. Aber feine Mutter darf 
nichts davon hören.“ | 

Der Tag vergeht ohne Nachrichten von Andreas. Als Peter 
dad Papier, worin ich ihm mein ganzes Gigenikum vermachte, 
Ranette zeigt, geräth fie in Berzweiflung. Bergebens ſucht Bem: 
hard fie zu tröften, auch Peter thut fein Möglichftes, aber gleih 
darauf fängt er zu weinen an, fo daß er ſelbſt des Troftes bedarf. 

Der folgende Tag vergeht auf dieſelbe Weife. Bernhard geht 
babin, Ranette und Beter borihin. Den Abend kehrt Jedes trau: 
sig zurhl. 

„Sollte ex verirrt fein?" fagt Peter. „Unmöglich, er iſt zu 
groß dazu. Bielleicht bat er plößlich abreifen müffen und ex kommt 
zurüd, wenn wir ihn am wenigflen erivarten.“ 

Bernhard fagt daſſelbe, obgleich er nicht daran glaubt. Wegen 
ber Unruhe ber Tochter verheimlicht er die eigene. Schon fchwindet 
eine Stunde nach der andern, ein Tag nach dem andern, und 
“immer größer wird Nanettend Angſt. Den Tag über weint fie und 
Nachts thut fie Fein Auge zu. 

Lucilie hat mich lange Zeit, ungeachtet ihres Berfprechens, 
nicht Befucht, weil file nicht die Unglüdsbotin von der Heirath 
Adolphinens mit ihrem Gouftn fein will. Cines Morgens Tommi 
fie und findet Peter, der wie gewöhnlich bei allen feinen alien Ka⸗ 
meraben, benen er mein Signalement gegeben bat, berumgelaufen 
if, um etwaige Nachrichten über mich einzuziehen. 

„Bas gibt’8?" ruft Lucilie bei ihrem Eintritt in mein Zimmer. 
„Belche Unordnung! Alles Liegt Holter und polter durch einander.“ 

„Deiner Seel’,” antwortet Beter, feiv Andreas verſchwunden ik, 
weiß ich nicht, wo mir ber Kopf fleht ; ich weiß kaum, daß ich Iche” 

Andreas verſchwunden? Und feit wann 2“ | 

„Seit feine Schöne einen Andern geheirathet Kat. Aber wit 

Verlaub, Mamſell, ich habe fie nie gefchen, die Schone? 











357 


„Er weiß alfo von ber Hochzeit von Fräulein... und ich nahm 
mir vor, bavon zu fchweigen. Welch' ein igenfinn ver Andreas iſt.“ 
„Meiner Seel’, wenn er liebt, fo liebt er zum Raſendwerden.“ 

„I weiß das, Herr Peter. Wüßte nur der gute Andreas, 
wie lange Fräulein Adolphine ſich gefträubt hat... aber Bapa 
und Couſin drangen in fie, und aud) Mama fehlen die Heirath zu 
wünfchen, fo gab fie endlich nach, und was thut Andreas? Er 
läuft weg: das Dümmfte, was ex thun konnte. Gibt es nicht 
viele andere Mittel noch ; aber man flieht, daß ex nicht aus Paris 
if. Wo ift er denn ?“ 

„Wenn wir dad wüßten, wären wir nicht fo traurig, Mamfell.” 

„Troͤſten Sie fi nur, Here Peter: Andreas kömmt bald 
wieder; er wird fich eines Beffern befinnen. Alle meine guten 
Lehren halfen nichts. Adien, Herr Peter, weinen Sie nicht wie 
ein Kind; Sie haben fo rothe Augen wie ein Kaninchen. Und 
Ihr Halstuch, wie das fiht, und die Rofette, ba ba ha! Wer 
macht jebt noch eine Rofette, pfui! Warten Sie, ich will Ihnen 
zeigen, wie man das Halstuch bindet.“, 

„Iſt nicht noͤthig, Mamfell; Schön Dank!” 

„Sehen Sie... fo... und dann fo... Der Herr wäre nicht 
übel, wenn er etwas weniger fleif und unbeholfen wäre. Sehen 
Sie, man legt die Schleifen Treuzweife über einander und zieht 
fie nach unten durch. Jetzt find Sie noch 'mal fo hübſch.“ 

„Morgen früh hab’ ich's fchon vergefien, Mamfell.“ 

„So will ich wiederfommen, um Ihnen Unterricht darin zu 
geben... wollte fagen, um mich nach dem guten Andreas zu erfunbigen, 
denn ich habe ihn von Herzen gern, obgleich er mich, oft geärgert 
Bat. Aber ich habe ein gutes Herz, ich, und habe ihm längft ver 
ziehen. Adien, Herr Peter, feien Sie nur Iuflig: das Weinen und 
Heulen Hilft zu nichts. Sapperment, nicht fo fleif! und hübſch 
gerade! und wer macht ſolche Eomplimente!... Adien! ich komme 
bald wieder, um nach Andreas zu fragen.“ 


„Die Hamfell Hat meiner Soel recht,“ denlt Peter, als fu 
cilie fort iR. „Wozu dad Weinen und Heulen? Wie zum erſten⸗ 
male werde ich ihn auch zum zweitenmale wieberfinden, um fo 
leichter, als wir jept groß geworben find. Andreas hat mir fein 
Haus und Vermögen anvertraut, fo will ich denn recht Dafür forgen. 
Ei der Taufend, jetzt wäre mir der Loifeau erwünfcht, der ließe 
mir Beine Zeit zum Beinen.“ 

Nanette denkt anders ald Peter. Statt mit der Zeit ruhiger 
zu werben, wirb fie immer unrubiger. Wlehentlich bittet fle ihren 
Bater um Erlaubniß, ihren Bruder fuchen zu dürfen. - 

„Bas Hilft das Suchen ?” antwortet ber Wafferträger. „Gott 
weiß, wo er fein mag. Und ſchickt es fi, daß ein junges Mädchen 
hinter einem jungen Manne herläufi? Hätte ih nur bie leifefle 
Ahnung, wo er fein kann, dann wollte ich e8 gerne erlauben, denn 
ich Tümmere mich um kein Gefchwäg ; ich weiß, daß Du ordentlich 
biſt und Andreas auch.“ 

„Und Du weißt ja, Papa, daß Andreas mich nie geliebt hat, 
daß er nur an feine Adolphine dachte, und doch Hat fie einen 
Andern genommen! D, fie liebte ihn nicht, wie ich ihn Liebe!” 

„Tochter! das Fräulein ift eine Gräfin und dem Willen ihrer 
Eltern gehorfam. Wir dürfen fie nicht tadeln; Andreas hätte fie 
nie heirathen koͤnnen.“ 

„Barum nicht, Vater?“ 

„Barum nit? Weil die Welt... weißt Du, die Welt...” 

„Rein, Bater, ich weiß nicht; aber laß mich Andreas fuchen, 
ich Bitte Dich: ich Habe nicht eher Ruhe.“ 

„Wenn wir ungefähr wiflen, wo er ift, dann ja. Bis dahin 
wi ich nicht, daß Du auf gut Glück ausläufft und vielleicht auch 
Dich verlierft. Bleibe bei mir und warte hübſch auf Nachrichten 
vor ihm.” 

Ramette gibt nach; aber fie weint fih im Stillen aus und 
jeben Abend wieberholt fie bei fih: „Schon wieber if ein Tag 


39 


babin and noch immer eine Nachrichten von ihn. Des Undanl⸗ 
bare? Wie kann man Tag und Nacht fo ſchmerzlich auf ſich werten 
Iaffen! Ach, feine Adolphine liebte ihn nicht, wie ich ihn liebe !“ 


Siebenundzwanzigfies Aapitel” 
Better und Roffignoti. 


„Sonderbar,“ denkt Beter bei ſich und fpaziert gähnend im 
Zimmer auf und ab, das er jetzt allein bewohnt, „fonderbar, ich 
bin jeßt Herr im Haufe, mir fehlt nichts, ich Habe mehr Geld 
ale ich brauche, und doch gähne ih den ganzen Tag. Als ich 
Botenläufer war, wußte ich nicht, was Langeweile ſei, denn ich 
hatte Feine Zeit, daran zu denken. Ich fang vom Morgen bis 
zum Abend, und Fehrte ich Abendo mit vierzig Sous im Sade 
heim, war ich, meiner Seel’, fiveler, als ich mit allen ven Gold⸗ 
füchſen da bin. Sonderbar ! damald war mein größter Wunfch ein 
folder Goldfuchs; jet Hab’ ich fie in größter Dienge und fie — 
langweilen mich. Ich dachte, ein Meicher, der müſſe und müfle 
fig amüfiren ; aber weit gefehlt! Mas fang’ ih an? Wie Türze 
ih mir die Zeit? Schreiben Tann ich nicht; ich weiß nicht einmal 
meinen Namen zu unterzeichnen! In den A⸗b⸗c-⸗Büchern herum; 
buchftabiren mag ich nicht! Don Muſik verfiche ich nichts; noch 
weniger von Andreas feinem Gepinfel. Im Theater jchlafe ich ein, 
obgleich es ſchoͤn da if. Nur das Effen macht mir Spaß; aber 
fann ich den ganzen lieben Tag am Tifche fihen ? Was fang’ ich 
Armer an?“ . 

Indem wird mit Leibeskraft au der Glocke gezögen. 

„Das nenn’ id; mir herrenmäßig fehellen! D, wenn bas 
Andread wäre!“ j 

Er öffne. Wer tritt herein? Roſſignol oder mit anderem 
Mamen Loifeau, Beterd alter Kunde und Freund. Der Hut fipt 


noch Immer anf dem linken Ohr; aber nicht mehr ber alte ſchäbige, 
fonbern ein funkelnagelnener. Seit dem famofen Diner, wo Peler 
um den feinigen kam, hat dad Mobell zufällig feinen alten mit 
einem neuen verwechfeli; gerne bätte Herr Roffignol auch bie 
übrigen Kleivungeftüde zufällig verwechfelt, wenn es möglich ge: 
weien wäre. So finden wir ihn benn in bemfelben eng anlie 
genden Beinfleive und ſchwarzen Rode wieber, worin er dem Herrn 
Grafen von Franconard feine Aufwartung gemacht Hatte. Aber 
beide Theile find verſteckt durch einen Iangen, weiten Karrif,* ben 
er einem befreundeten Sanderer abgeborgt hat. Obgleich es in ber 
Mitte Zuni’s if, hüllt ex fi fo weit ein, als wären wir im 
Binter. Endlich, um ſich ein imponirenderes Anſehen zu geben, 
Bat er den Schnurrbart wachfen laſſen, den er in jeder Sekunde 
wenigftend einmal zurechtdreht. r 

Roffignol wußte nicht, daß Peter mein Bruder war; er erfuhr 
es erſt am Tage jenes Diners, wo der Raufch Peter zu Erzählımg 
aller feiner Abentener begeiftert hatte. Lange Zeit traute er fid 
nicht, Peter zu befuchen, aus Furcht vor mir, Bis er eined Tages 
zufällig hört, daß Herr Dermilly geflorben, Peter der alleinige 
Befiger einer ſchoͤnen Wohnung, und Andreas, fein Bruder, feit 
einiger Zeit fpurlos verſchwunden fel. 

Schon ift er auf der Treppe meines Haufes, als er von ur 
gefähr feine Kleider muftert. Der Rod Hat nur noch zwei Knöpfe, 
die Hofe iſt am Knie aufgeriffen und an den Waden geplakt. 
„Bielleicht Hat Peter Domeftiten,“ denkt er bei fih, „und bad 
Tann fle mißtrauifch machen.” Roſſignol ift nie in Verlegenheit. 
Schnell kehrt er um, trifft. auf dem nächften Haltplabe der Han: 
berer einen befreundeten Kutfcher, mit dem er fich breimal herum; 
geprügelt und viermal ausgefähnt hat, Flopft ihn auf bie Schulter 
und ſpricht: 

„Leihe mir Deinen Karrik, Franz: auf zwei Stunden.“ 

* Eine Art weiter englifer]Reitzot. 








361 


„Meinen Karrik? Bi Du von Sinnen ?" 

Ich babe ihn dringend nöthig. Nur auf zwei Stunden ; ich 
bring’ ihn wieber.“ 

„Wie Tann ih, Roſſignol? Ich Habe nichts als die Weſte 
darunter.“ 

„Mehr brauchſt Du nicht im heißen Monat Juni.“ 

„Thor! wie kann ich in Hemdaͤrmeln herumhaudern ?“ 

„Um fo mehr gleichſt Du dem jungen Phaöton, Freund.“ 

„Geh' mir mit Deinem Phadton.” 

„She zwei Stunden vergehen, haft Du ihn wieber. Bis dahin 
brauchſt Du ihn nicht; Du biſt ja der Letzte in der Reihe. Alfo 
Du willft nit, Franz? Willſt mich in Verzweiflung bringen, ber 
Die fo oft Schnaps .gewichst Hat. Franz, all’ mein Vermögen fleht 
auf dem Spiel; Deines auch vielleicht. Denn bin ich erſt bei Geld, 
„fo nehm’ ich kein anderes Gefährt ald Deines, und zahle Dir drei 
Franken für die Halbe Stunde. - Nun?“ 

„Bah, Du Haft mich zum Bellen.‘ 

„Beim erftien Torfo, nein! Franz, da find fünfzehn Sons; 
warte auf mich im goldenen Karpfen und laß Auſtern auf: 
machen.‘ 

„Anftern? Für fünfzehn Sous ?“ 

„Ih zahle fie: vier Dutzend. Gefchwind, Franz, zieh’ dem 

Yermel aus.‘ 

„Aber mein Gefährt?‘ | 

„Sieh’, wie die Sonne fcheint, Franz. Rein Sonn- und 
Feſttag heute, bloßer Werktag. Bedenke das.‘ 
„Aber... .” 
„Franz, Du trinkſt Deine Gläſer Weißwein inzwifchen . . . 
Du weißt... und für zwei Sons Mofeler, Geſchwind deu andern 
Aermel heraus,‘ 
„And Du bringſt ihn mir in zwei Stunden wieder?“ 
„Ich ſchwoöre Dir's beim Herkules umb Antonius!’ 


„Bas find das fir Leute ? Aber wenn Du mich zum Beſten 
haſt, Kerl, dann . 

„Gewiß nicht, Franz. Laß Dir's inzwifchen gut ſchmecken. 
Adieu.“ 

Roffignol wirft ſich geſchwind in den Karrik und huͤpft fort, 
trillernd: „Wem der große Wurf gelungen!” u. f. w. 

Beter fleht Roſſignol befrembet an; denn der bis an die Ohren 
aufgewidelte Schnurrbart macht ihn durchaus unkenntlich. Aber 
ſchon if er Peter um ben Hals gefprungen, und brüdt ihn an 
ih wie eine Bärin ihre Kleinen. 

„kaffen Sie mich los, Herr, Sie würgen mich!” ruft Peter 
ärgerlich. 

„Ih Dich Loslaffen, mein lieber Peter ? Kennft Du Deinen 
alten Yreund nicht mehr, Peter ?“ 

„Mein Sott, Du biſt's, Loifenu !” 

„Ber fonft ?“ 

„Aber Andreas jagt, Du Heiße Roſſignol.“ 

„Gr bat recht.” 

„Barum Iäfieft Du Dich denn Loiſeau nennen ?” 
„Iſt denn Roffignol Fein Loiſeau? yur 

„Gewiß.“ 

„Alſo! Folglich hab' ich meinen Namen nicht veraͤndert.“ 
„Nein. Ich dachte nicht daran.“ 

„Uebrigens, was liegt am Namen? Loiſeau oder Roſſignol, 
gleichviel! ih bin Dein Freund, Dein Freund auf Leben und 
Tod... auch Andreas fein Freund, obgleich ich nicht recht an ihm 
gehandelt habe. "Aber dad war ein Veichtfinniger Jugendſtreich, wie 
Seder fo mat. Iſt man doch nur einmal fung, tralala! 
Ich komme juſt, ihn um Berzeihung zu bitten. Wo ift er, ber 
gute Andreas, führe mich zu ihm. Ich muß und muß ihn fehen ; 
auch Seren Dermiliy, meinen alten Zeichnenlehrer, würdigen Freund 

Leiſean, der Vogel — Koffigusl, die Nachtigall. 








363 
und Kathgeber. Yühre mich zu ihm! Gib Acht, wie ex mich 
aufnimmt !* 

Freund, da kommſt Du zu ſpaͤt.“ 

„Zu ſpät ? Wie fo? Sprich, geſchwind!“ 

„Herr Dermilly iſt ſeit lange todt.“ 

„Herr Dermilly todt? Mein Lehrer, mein Vater, mein Freund, 
mein Berather, mein Troͤſter, mein Helfer? O, ich falle um.“ 

„Wird Dir nicht wohl?“ 

„Sch glaube, ja; gib mir...“ 

„Ein Glas Waffer ?“ 

„Lieber ein Glas Schnaps, wenn Du welchen haſt.“ 

„Ob ich welchen habe! Herr Dermilly hatte immer welchen, 
wenigſtens fünfzehn Sorten, und im Keller, ſage Dir, famöſen Wein.“ 

„Der ehrenwerthe Mann tobt!" 

„Nimm das, Loifeau.“ 

„Nicht übel, meiner See! Alfo Herr Dermilly tobt! So 
hat der Tod einen Stern erfter Groͤße verbunfelt. Ach, welche Fort: 
fehritte machte ich unter ihm. Er nahm nich auf wie feinen Sohn.” 

„Er Hat aber nicht väterlih von Dir geſprochen.“ 

„Ah, Beter, ich war auch oft ein undankbarer Sohn! I 
geftehe, ich habe mir Manches vorzuwerfen. Aber bin ift Hin. 
Bas Tann ih mehr thun, als bereuen ? T Noch einen Schlud.“ 

„Iſt Dir jetzt beffer 3" 

„Etwas. Aber ſprich, wo ift Andreas, der gute Junge? Rufe 
ihn do, ich will und muß ihn umarmen, ich Halt’s nicht mehr 
Länger aus.” 

„Ad, alles Rufen Hilft nichts.“ 

„Mein Gott, Du erfchredft mich! Andreas auch tobt ? Roch 
ein Bläschen, Freund. Gib mir die Boutenille, ich will mir ſelbſt 
einſchenken. O mein armer Andreas!“ 

„Troͤſte Dich, Roſſignol; er iſt ſeit ſechs Wochen verſchwun⸗ 
den, ſpurlos... wir wiſſen nicht, wo er if,“ 


= 


„D mein armer Unbreas! Und ich wollte mich bei ihm zu 
Gaſt laden. Macht nichts, fo bin ich bei Dir zu Saft, Bee. 
ber fag’, hat er den Koller gekriegt ? So wegzulaufen !” 

„Richt den Koller, Roffignol: die Leidenfchaft, die Hat ihn 
fehredlich geplagt ; mehr darf ich nicht fagen.“ 

Ich will auch nicht mehr wiffen. Beim Eſſen mehr davon.“ 

„Das Schlimmfte iR, daß er einen Zettel Hinterlaffen Bat, 
worin er mir all fein ECigenthum vermacht, und Mamfell Ranetie 
meint: dad heiße fo viel ald: er wolle nie wieber kommen.“ 

„Deine Namſell Ranette hat ben Nagel auf den Kopf ge: 
troffen, Peter; es iſt ausgemacht, daß Dir jetzt Alles gehört.“ 

„Und haͤltſt Du’s für möglich; jegt, da ich reich bin, habe 
ich todtliche Langeweile.“ 

„Ganz natürlich, Peter.“ 

„Erft der Kummer, dit Sorge um Andreas . 

„Gewiß. Und dann die Sinfamteit, Niemand um Dich zu 
Baben, mit dem Du ſchwatzen und lachen kanuſt! Peter, Du weißt, 
ich Bin Dein Freund ; ich will Die noch mehr werben, will Bruder⸗ 
Kelle an Dir vertreten ; von heute an, von Stunde an wohne ich 
bei Dir und verlaffe Dig nicht mehr.“ 

„Der gute Lolfenu ... wollte fagen Roffiguol.“ 

„Reune mich wie Du wink,“ 

„Wie oft wünfchte ich Dich herbei; ich wußte im Boraus, 
bei Dir würde ich mich nicht langweilen.“ 

„Dich Iangweilen ? Bei mir? Du follft feine Zeit dazu haben, 
das verfpreche ih Dir. Wir lachen, trinken, fingen, ſcherzen unb 
tanzen vom Morgen bis zum Abend und vom Abend bis zum 
Morgen. Der Bogelfänger bin ich ja, ftets Iuflig, heifa, 
hopſaſa! Bei mir ſollſt Du lernen, Dein Leben genießen.“ 

„Reiner Seel’, das möchte ich; aber wenn ich denke, daß der 
arme Andreas... „“ 


„Still, Ri! wir denken nicht immer an Andreas. eben 





. 368 \ 
Morgen vor Auffichen weihen wir dem Andenken bes guten Bruberd 
einige zärtliche Thränen, und bann geht’8 and Jubilicen. Aber, 
Sapperment, Du wohnft Hier wie ber Großfultan in feinem Serail, 
meiner Seel’! Ueberall Canapée's und Bergeres !“ 
„Bah, was ift dad gegen bie andern Zimmer? Komm’, id 
will fie Die zeigen.” 

Roffignol folgt Peter, der in fo heiterer Geſellſchaft ſeine 
Traurigkeit faſt ganz vergeſſen hat. In gänzlicher Ermanglung 
aller Belt: und Menſchenkenntniß beurtheilt er Alles, wat er ſieht 
mb Hört, nur nach dem äußern Anfchein. Weil Roffignol fich 
feinen Freund auf Tod und Leben nennt, glaubt er fleif und feſt 
an bie Freundfchaft. Um des aufrichtigen Geftänbniffes feiner alten 
Fehler wegen, denkt Peter bei fi, muß ich ihm verzeihen, fo gut 
wie Herr Dermilly und Andreas ihm verziehen haben würden. 

Das ſchoͤne Modell wird nicht müde, die ſchoöͤnen Zimmer und 
tie ſchoͤnen Begenftänbe in venfelben zu bewunbern ; bisher Tannte 
er bloß Küche und Atelier. Er bleibt vor mehreren Gemälden fichen 
ınb ruft: 

„Sicht Du den Römer da? das bin ich! und den Griechen 
va? das bin wieder ih!” 

„Aber fie fehen Dir nicht gleich.” 

„Richt von Geſicht, Freund , aber dem Leibe nach. Ich ſchmeichle 
mir, daß mein Torfo wunderbar getroffen iſt.“ 

„Und auf der Seite ift die Küche.” 

„D, die Tenme ich recht gut, Peter; meinen Weg zum Atelier 
nahm ich immer durch die Küche. A propos, lebt die alte Therefe 
och 3% 

„Bas für 'ne Thereſe ?* 

„Die Köchin meines Patrons.“ 

„Die ift lange tobt.’ 

„Du haft Recht gethan, zu flerben, Therefe: Du konntelt nicht 
inmal 'ne gute Suppe kochen.“ 


Banl de Kod. I. 24 


304 


„D mein armer Andreas! Und ich wollte mich bei ihm zu 
Gaſt laden. Macht nichts, fo bin ich bei Die zu Gaſt, Beier. 
Aber fag’, bat er den Koller gekriegt? So wegzulaufen !“ 

„Richt den Koller, Roffignol: die Leivenfchaft, die hat ihn 
fehredlich geplagt; mehr darf ich nicht fagen.“ 

„Sch will auch nicht mehr wiffen. Beim Efjen mehr davon.” 

„Das Schlimmfte ift, daß er einen Zettel Hinterlaffen Bat, 
worin er mir al fein Eigenthum vermacht, und Mamfell Nanette 
meint: das heiße fo viel. ald: er wolle nie wieder kommen.” 

„Deine Mamfell Nanette bat den Nagel auf ben Kopf ge: 
troffen, Peter; es iſt ausgemacht, daß Dir jetzt Alles gehört.“ 

„Und haͤltſt Du's für möglich ; jetzt, da ich reich bin, Habe 
ich toͤdtliche Langeweile.“ 

„Ganz natürlich, Peter.” 
. „Erft der Kummer, dit Sorge um Andreas . 

„Gewiß. Unb dann bie Cinſamkeit, Niemand. um Dich zu 
haben, mit dem Du ſchwatzen und Lachen kannſt! Peter, Du weißt, 
ich bin Dein Freund; ich will Dir noch mehr werden, will Bruder⸗ 
ftelle an Dir vertreten; von heute an, von Stunde an wohne ich 
bei Dir und verlaffe Dich nicht mehr.” 

„Der gute Roifeau ... wollte fagen Roffignol.“ 

Menne mid wie Du willſt.“ 

„Wie oft wünfchte ich Dich herbei; ich wußte im Voraus, 
bei Dir würbe ich mich nicht langweilen.“ 

„Dich langweilen ? Bei mir? Du follft feine Zeit dazu haben, 
das verfpreche ich Dir. Wir lachen, trinken, fingen, ſcherzen und 
tanzen vom Morgen bis zum Abend und vom Abend bis zum 
Morgen. Der Bogelfänger bin ich ja, ſtets luſtig, beife, 
hopſaſa! Bei mir follft Du lernen, Dein Leben genießen.“ 

„Deiner Seel’, das möchte ich; aber wenn ich denke, daß ber 
arme Andreas, , .“ 


„Still, ſtill! wir denen nicht immer an Andreas. Jeden 





367 


„IR da8 nicht genug ?' 

„Mein, Knicker! Wer bewirthet einen alten Freund mit fo 
nem Broden von geftern her ?“ 

„Hätt ich nur mehr.” 

„Dummbärtchen, wozu find die Traiteure da? Ruf Deinem 
Bortier ; er fol uns vom erften Garkoch Gotelettes, Rehragout 
md eine gute Omelette holen. Inzwiſchen wollen wir uns 
ben Keller anfehen ; ich möchte nicht ungerne feine Belanntſchaft 
machen.“ 

Die Ungenirtheit, womit Roſſignol im fremden Hauſe den 
Birth macht, weckt Peter aus feiner gewöhnlichen Traͤgheit. Schon 
ſteht das ſchoͤne Modell auf der Treppe und brüllt aus vollem Halſe: 

„Hola, Bortier ! hierher, Kleiner! heraus aus Deinem Neſt! 
Subito!“ 

„Bas machſt Du, Roſſignol?“ fagt Peter aͤngſtlich. „Ich 
habe keinen Portier; die Frau von unten wartet mir auf und ſie 
bilvet fi ein...“ 

„Weil Du nicht mit den Leuten umzugehen weißt, Peter; ein 
Fünfzehnfousftüd und fie drückt beide Augen zu, meiner Seel’! 
Ran muß gelegentlich generös fein, wenn man ſich gut bebienen 
laffen will: vierte Erſparniß!“ 

Eine Kleine kugelrunde Frau von wenigftens fünfzig Jahren 
und mürrifchem Geſichte tritt ind Zimmer. Die Gute bilvet ſich 
viel auf ihr reines Franzoöſiſch ein und auf das Tafchenwörterbudh, 
das fie fich felbft angefertigt hat. Sie flieht Peter eine Zeit lang 
ziemlich ungehalten an, weil Peter fie in Gnaden ihres Dienfted 
entlaffen Hat. 

„Bad wollen Sie!" fragt fie mürriſch; „Sie provgeiren 
dad ganze Haus durch ihr Geſchrei.“ 

„Ich Bitte um Entfhuldigung, Madame Roh, entgegnet 
Beer; „ich wünfchte, Sie...” j 

„Still!“ gebietet Rofjignol und damit wirft er feinen Karrit 


„Seit Andreas fort tft, habe ich feinen Vedienten. Für's 
Erſte wage ich kaum, mich von Andern bebienen zu laffen.. .” 

„Du haft Recht, Beier: alle Domeftifen find ein wahre 
Diebögefindel ; man bedient fich licher ſelbſt. Höre, Peter, bei mir 
kannſt Du Sparfamfeit Iernen ; ich will Dir einige öfonomifche 
Srunbfäge beibringen. Nummer eins: wir effen beim Traiteut ; 
das iſt wohlfeiler und Iufliger. Niemals eine Küche im Haufe ; 
pfui, das ſtinkt! Will man extra biniren ober bejeunizen ober 
fonpiren, fo fit man zum erflen Reflaurateur, das ift gefünber. 
Zweiter Grundſatz: wir dulden feine Magd, Teine Haushälterin 
im Hanfe. Das Weibervolk ſteckt feine Nafe in Alles unb if ge: 
ſchwätzig wie die Elftern. Was zu beforgen ift, beforgt ber Stiefel: 
wichfer.” 

„Bie ſparſam der Roſſignol geworden iſt!“ 

„Nur Geduld, Peter, ich bin noch nicht fertig. Das it das 
Schlafzimmer von Andreas, nicht wahr?‘ | 

„Au ja! Es ficht jegt leer und verwaist.“ 

„Sp will ich's für mich nehmen, Peter. Ich zahle den NRieth⸗ 
zins auf Tag und Stunde. Dritie Erſparniß!“ 

„Immer befjer! Gedenkſt Du To fortzufahren, dann werde 
ich immer reicher ſtatt ärmer.‘ 

„Laß nur mich forgen, Beter. Die Kaffe bitte ih mir aus, 
bie will ich führen. Und was gebenffi Di mit der Wohnung zu 
machen? Eine ſolche Wohnung für eine einzige Berfon wäre Unfinn.‘ | 

„Ich warte nur auf Andreas.” | 

„Und ich warte mit Dir; ; wir warten zufanmen, bas if 
Iufliger. Aber wo ift der Wandfchrant, Hm, hm... Da weißt, 
mit ben Liqueuren ? Ich denke, wir fprächen einige Worte mil ibm.” 

Peter führt feinen Freund in bad Zimmer, wo dr Want: 
ſchrank mit ben Liqueuren if und deckt einen Tiſch davor mit den 
Reften einer Paflete, dem Ueberbleibſel feines Frühſtäcs. 

„Aſt das Alles, was Du haf 7“ fragt Roſſiguol. 








367 


„Iſt das wicht genug?“ 

„Rein, Kuider! Wer bewirthet einen alten Freund mit fo 
nem Broden von geftern her ?“ 

„Hält ich nur mehr.‘ 

„Dummbaͤrtchen, wozu find die Traiteure da? Ruf Deinem 
Bortier ; er fol und vom erſten Garkoch Eotelettes, Rehragout 
md eine gute Dmeleite Holen. Inzwiſchen wollen wir uns 
den Keller anfehen; ich möchte nicht ungerne feine Belanntſchaft 
machen.“ 

Die Ungenirtheit, womit Roſſignol im fremden Haufe den 
Birth macht, weckt Peter aus feiner gewöhnlichen Trägheit. Schon 
ſteht das fchöne Modell auf der Treppe und brüllt aus vollem Halſe: 

„Holla, Portier! hierher, Kleiner! heraus aus Deinem Neſt! 
Subito!“ 

„Bas machſt Du, Roſſignol?“ ſagt Peter aͤngſtlich. „Ich 
habe keinen Portier; die Frau von unten wartet mir auf und ſie 
bildet fih ein...‘ 

„Beil Du nicht mit den Leuten umzugehen weißt, Peter; ein 
Fünfzehnfousftüd und fie drückt beide Augen zu, meiner Seel’! 
Man muß gelegentlich generös fein, wenn man ſich gut bebienen 
laffen will: vierte Erſparniß!“ 

@ine Kleine kugelrunde Frau von wenigftens fünfzig Jahren 
und mürrifchem Gefichte tritt ind Zimmer. Die Gute bildet fi 
viel auf ihr reines Franzoͤſiſch ein und auf das Tafchenwörterbuch, 
das fie ſich ſelbſt angefertigt hat. Sie fieht Peter eine Zeit lang 
ziemlich ungehalten an, weil Peter fie in Gnaden ihres Dienfted 
entlaffen hat. 

„Bas wollen Sie?" fragt fie mürriſch; „Sie provociren 
daB ganze Haus durch ihr Gefchrei.‘ 

„Ich bitte um Entfchuldigung, Madame Roch,“ entgegnet 
Peter; „ich wünſchte, Sie...” 

„Still!“ gebietet Koſſignol und damit wirft er feinen Karrik 


368 

um, ald mache er den Catilina, und ftellt fich zwifchen Madame 
Roc und Beter. „Du weißt Dig nicht kurz zu faflen; laß mid 
reven. Liebe Madame Roh! mein Freund und ich möchten ein 
recht excellentes Fruhſtück zur Feier des heutigen frohen Tages, 
der uns nach vieljähriger Trennung zum erſtenmale wieder vereint. 
Wir wünfchten und bei einem Gläschen alten Burgunder und einigen 
Cotelettes freunpfchaftlihft zu unterhalten; würden Sie und zu 
diefer freundfchaftlichen Unterhaltung verhelfen ? 

„Mein Herr, ich habe nicht mehr die Ehre, Herrn Beter auf: 
zuwarten.“ 

„Weil er fürchtet, mit Ihnen allein zu ſein, Madame Roch. 
Wer noch fo friſch und blühend iſt...“ 

„Bar zu gütig, mein Herr.“ 

„Und noch fo gut confervirt.. ..“ 

„Da haben Sie Recht, Herr; ich ſchmeichle mich deſſen. 

„Bir Eönnten noch eine Medea machen, Sqchatqhen, oder 
eine Agrippina.“ 

„sch weiß nicht, Herr, was Sie... 

„Wie alt find wir, Madame Roch ?“ 

„Bierundvierzig Jahre, Herr.“ 

„Auf Ehre, man hält Ste höchftens für eine Iwanzigjährige... 
Geld her, Beier! Madame Roch forgt für Alles.‘ 

„Aber, mein Ser...” 

„Und wer zechnete mit einer fo intereffanten GErfcheinung ? 
Du, du liegft mir im Herzen, Du, du liegfi mir im 
Sinn! Geld her, Peter.’ 

Roffignol langt mit der Hand Hinten herum; Peter fucht in 
der Tafche und ſteckt ihm ein Hundertſousſtück in die offene Hand. 

„Ro eins,’ fagt Roffignol. 

Beter gibt ihm ein zweite. - 

„Und noch eins,’ flüftert das ſchoͤne Modell. 

Beter gibt ihm ein drittes denkt aber bei ſich: „Künfzehn 





Franken fürs Yrübflüd, das Tann nicht ber fünfte Skonomifche 
Grundſatz fein.” 

Roſſignol ſteckt zwei Fünffrankenftüde der Madame Roch zu, 
läßt das dritte unvermerkt unter den Karrik gleiten und flüftert 
dann der Haushälterin ind Ohr: „Beforgen Sie und was recht 
Gutes; das Heine Geld gehört Ihnen.“ Dabei neift er fie ins 
Knie, thut, als wolle er fie umarmen und treibt fie dadurch ber 
Treppe zu. Madame Roh, ganz verbupt durch diefe Zärtlichkeiten, 
aber hoͤchſt empfänglich für Geld und Geldeswerth, bringt fchnell 
ihr Halstuch in Ordnung und eilt die Treppe hinab. 

„Siehft Du, wie fie läuft,“ jagt Roffignol, „mit Geld bringt 
man bie Schildfröten zum Laufen.” 

„3a, Freund, aber fünfzehn Franken für ein Frühftüd !“ 

„Wie? Du bewohnft fürftliche Gemächer und kümmerſt Dich 
um folche Sumpereien ° Willſt Du Di amüflren oder willſt Du 
nicht ? 

„Sewig will ichs. “ 

„So vertraue Dih mir an. Und weißt Du nicht bereits fünf 
ober ſechs oͤkonomiſche Grundſaͤtze? Ich möchte eben fo wenig einen 
Kuider aud Dir machen.“ 

„zopp! ich vertraue mich Dir an, denn Du haft mehr Er⸗ 
fahrung als ich.“ ' 

„Das mein’ ich! Laß Andreas nur ſechs Monate ausbleiben, 
und er fol eine Beränderung finden, meiner Seel’. Jetzt in den 
Keller hinunter !“ 

Im Keller liegen ungefähr breihundert Flaſchen gewoͤhnlichen 
Tiſchweines und mehrere Dutzend feiner Weine. Roſſignol iſt wie 
Begeiſtert; er möchte im Keller unten frühftüden ; weil das aber 
außer der Ordnung ift, fucht er fich bloß vier Flaſchen verjchiebe- 
ner feiner Weine aus und bürbet Peter eben fo viel Flafchen 
orbinären Tifchweines auf. Während Rofiignol luſtig trilert: „Bin 
üch todt, laßt mich begraben in den Keller unterm 


Faß“ u. ſ. w., ſchließt Peter ven Keller zu, dann klettern fie bie 
Treppen hinauf. | | 

Bald Iommt Madame Noch nebft Kellner mit drei Schäffeln 
zurüd, die fommetrifch mit dem Wein auf den Tifch geftellt werben ; 
das Alles unter manchen verliebten Tänbeleien Roſſignols mit der 
vierundvierzigjährigen Madame Roh. Nachdem das Frühſtück au⸗ 
gerichtet if, empfiehlt fih Madame Roch unter tiefen Büdlingen 
und der ergebenften Bitte, fie nit zu fchonen, wenn bie Herren 
was bebürften. Peter fegt fih an ben Tifch und ihm gegenüber 
fein Freund Loifeau, 

„Mad Dir's bequem,‘ fagt Peter, „und zieh’ ven mäch⸗ 
tigen Karrif aus, Du mußt darin erſticken.“ 

„Nicht doch, Freund; ih babe Huften und Schnupfen und 
fürchte die Blähungen, und dann iſt das Möbel da ein liebes Exb- 
fra von einem Onkel, der ewig auf dem Meere herumfuhr.“ 

„Ich fehe übrigens nichts Schönes daran; mein Gott, und 
er ift mit Leder gefüttert, ba ha!” 

„So will ihn der Matrofe haben. In ſolchem Karrik trogt 
es Sturm und Wetter.” ° 

„Sp, fo! Dein Onfel war Matrofe ?" 

„Sin famdfer Kerl, fag’ ich Dir; drei nene Welten hat er 
entdeckt, und er Hätte noch ein halb Schod nene Welten mehr ge- 
funden, aber ein Hay verfchlang ihn.“ 

„Großer Gott, ein Hay?" 

„Wie ich die Ehre habe zu melden, Deine Gefunbbeit !‘ 

„Der arme Onkel!” 

„An fo was ift der Matrofe gewöhnt, Freund! Das Towamt 
täglich vor.” | ‘ 

„Aber wie haft Du den Karrik wieber gekriegt ? 

„Ganz leicht. Bald darauf wird der Hay geſchoſſen, und als 
man ihn ausweidete und ausſtopfte fürs Naturalienfabinet, fan 
un den Karril in feinem Bauch unverfehrt mit einem Brief meines 








371 


Dalkels an mic in der Taſche; der Hay, ſcheint's, Kann Leder 
nicht verbauen. Bon meinem armen Onkel war nichts mehr übrig 
ald zwei Finger und dad linfe Ohr; alle drei Raritäten lieg ich 
zum Anbenfen an ben guten Ontel in Gold faſſen.“ 

„Meiner Seel’, ich danke für's Matrofenleben, menn man 
ſolche Gefahren Läuft.“ 

„Du haſt Recht! Es lebe die Erde... . der Wein darauf! 
ber Sappermeut! der Wein ift nicht bitter! Papa Dermilly hatte 
eine feine Bunge und alle Künftler mit ihm. 

„Sonberbar, Roffignol, Dein Hut iſt aceurat wie der meine, 
den ich bei der Schlägerei im Wirthshauſe verlor; ſogar die Schnalle 
iſt die naͤmliche 

„Ein Hut gleicht dem andern wie ein Ei dem andern, Freund.“ 

„Aber gelt, wir waren duhn.“ 

„Dun? pfui! Ich bin nie duhn. Wenn man ein Baar Teller 
entzwei ſchlaͤgt und einige Fauſthiebe austheilt, fagft Du gleich, _ 
man fei duhn! Luflig waren wir, ſidel, weiter nichts.‘ 

„Barum läffeft Du denn den Bart wachfen ? Du fiehft ganz 
anders and feilbem ; oder hafl Du gedient ?“ 

„Ja, Freund, ich habe gedient, feit wir und nicht gejehen 
haben, und an zwei Stellen zugleich.” 

„Ro denn? Bei den Hufaren ?“ 

„Nein, bei den Freiwilligen in beliebiger Uniform; der Ban: 
talon ift mir davon übrig.‘ 

„Haſt Du Dich gefchlagen ?“ 

„Das wollt’ ich meinen; oft hab’ ich mich geſchlagen; ein 
Paar Mal blieb ich für todt auf dem Wahlplag Tegen.‘ 

„Bil Du denn nicht avancirt?“ 

„Doch, Freund! oft bin ih ayancirt; einmal fo weit, baf 
ich immer eine ganze Meile den Anbern yoraud war. ber ber 
Ehrgeiz iſt nie mein Stedenpferb geweſen; bie Künfte, Freund, 
Die Rünfe Ingen wit ewig im Kunfe. Die erfie Liche bleibt 


372 


ewig unvergeßlich, tralgla! Und ich wünfche mir Glück, daß 
ich den Dienft quitticte, weil ich Dich getroffen habe. Deine Ge⸗ 
ſundheit, Peter!“ 

Roſſignol ißt und trinkt, was das Zeng halten will, benz 
feit Jahren bat er nicht fo gegeſſen und getrunfen wie an biefem 
Tage. Die Korke fliegen an bie Dede, der Wein perlt und fchäumt, 


ein Glas nach dem andern wird ausgeflochen. Wenn ein ſchmutziger 
Teller Roſſignol genirt, wirft er ihn mir nichts dir nichts anf ein 


hübſches Ganap6, und die leeren Flaſchen werben alle auf ben 


Boden gerollt. Schon weiß Beter nicht mehr, wo er if und was 


er thut. Su vollem Wetteifer mit feinem kampfgeübten Gegner 
fleigt ihm der Wein rafch zu Kopf, er glüht über und über, bie 
Zunge wird ihm ſchwer und er hüpft wie toll im Zimmer umher, 
während Roffignol mit größter Kaltblütigleit figen bleibt und wie 
ein Hay Alles verfchlingt, was der Traiteur geſchickt Hat. 

Ueber Gotelettes, Dmelettes, Rehragout, feine unb ordinaͤre 
Weine und Liqueure vergißt Roſſignol ganz den armen Franz und 


fein Berfprechen, den Karril innerhalb zweier Stunden zurädzu 
bringen. Aber Pünktlichkeit if nicht die Haupttugend des ſchoͤnen 


Modells, der einen Pfropfen nach dem andern an die Dede fpringen 
laßt, und bei der fünften Flaſche, die er ganz allein geleert hat, 


endlich auch anfängt, die Wirkungen des Weines zu |püren wie 


fein Wirth. 

nebermaͤßig erhitzt und dem Erſticken nahe, wirft er ven Kamit ab. 

Wir find ja unter und, Peter; Freund bei Freund! Und 

meine Wäſche kann ſich immer fehen laſſen, auch bei fo flotten 
Dejeunes! Hol’ mich Der und Jener, ich erfticde beinahe vor Hige!” 

„So geht Du mit dem Karrit um, Roſſignol! Deut De 
nit mehr an den armen Ontel ?“ 

„Hu welchen Onkel?“ 

„Den ber Hay frag.” 

„Onbaol Hin und her; ic) Habe Feinen Onkel. Deine Gefunbheit!” 








„Du ſagteſt ja eben, Du hatteft einen Onkel.“ 

„Recht fo, ich vergaß den Umfland. Aber Sappermoft, Beter, 
bad gibt 'nen fielen Tag. Wir leben, meiner Seel’, wie die Am- 
phitryonen. Du fiehft ſchon ganz anders aus, viel beſſer als 
heute Morgen. Belt, der Jur gefällt Dir ?“ 

„So gut, Roflignol, daß ich nicht mehr weiß, wo ich bin.“ 

„So wollen wir alle Tage leben! 


So leben wir, fo leben wir, 
So leben wir alle Zage, 
In der allerflotiien Saufcompagnie! 


Bon heute an find wir ein Leib und eine Seele, Bruder. Was 

ich nicht habe, Haft Du, und was Du nicht haft, habe ih; Du 

bift reich, ich bin Liebenswärbtg ; Du bift bornirt, ich bin aufge- 

säumt und witzig. Gib Acht, wie luſtig wir den Strom des Lebens 

binabfchwimmen wollen ! 
Bom hoh'n Olymp herab warb uns bie Freude!‘ 

„Sag’, Roſſignol, ift das Deine freiwillige Uniform" flottert 
Beier, der immer angetrunfener wird. 

„Rein, das ift mein Jagbhabit ; acht Knöpfe fehlen daran, 
die bat ein wüthender Eber auf einen Streich abgehauen, als ich 
ihn ebem erlegen wollte. PBrobiren wir jeßt die Liqueure; Rum! 
der Bleibt bis zulegt für den Gnadenſtoß. Senbar | fofle das und 
trinke mir nad... Du darfſt Dir glüdwünfchen zu mir, Peter, 
denn “Du Langieilteft Di wie ein Wolf.“ 

„> Bernhard! o Nanette!“ 

„Meinft Du den Waflerträger und feine Tochter?‘ 

„Diejelben.” ⸗ 

„Pfui, Peter! wie kann ein Menſch von Deiner Stellung in 
ber Welt die Bekanntſchaft eines Waſſerträgers cultiviren, pfui! 
Da mußt mehr Achtung haben vor Dir ſelbſt! ... Her mit dem 
Anifette.”' 
Aber war ich nicht früher Botenlänfer I“ 


874 

„Du war es, Yerund, Da biſt es jept nicht mehr, alfo... 
e iM ganz fo, wie der Schuft, vor ein ehrlicher Maun wird, ver⸗ 
gißt, daß er früher ein Echuft war. Desgleichen erlebt man alle 
Tage. Ich meine nicht, Peter, daß Du nicht mehr mit ihm fpredgen 
ſollſt, Du darfſt ibn ſelbſt von Zeit zu Zeit beſuchen, aber ex 
barf nicht mehr Dein täglich Brod fein... ſchlochter Umgang ver- 
berbt gute Sitten!... Wie findek Du ben Cognac ?“ 

„Ganz fo wie alle andern Liqueure !“ 

„Bah, Beter, Du bift ein fhlechter Kunſtkenner. A propos, 
morgen führe ich Dich in bie Geſellſchaft meiner Freunde, Iauter ſidele 
Sefellen wie ich, die ganze Nächte durchtanzen. Sch kenne alle die 
Selegenheiten. Vivat die Fipelität! Pereat Deinen Freunden, bie 
Di zum Mönch und Cinſiedler machen wollen! Heute Abend er: 
Öffnen wir unfere tanzende Laufbahn mit einem Walzer in ber 
Barridre von Baugrard. Du wirft mir gerne Rod, Hofe und 
Weſte leihen ; für das Uebrige forge ich ſelbſt. Deine Gefunbheit, 
Grem!... Stimme nur ben Chor an aus dem Schinder⸗ 
hannes: Du weißt, er geht tralalala, tralalala... und fo weites 
in infinitum oum gratia .. . ex iſt nicht eben fchwer. Ich fünge 
ihn alle Montage mit einer Bäderin zum Drebrade. Das klingt 
gottlich, fage ig Dir!" 

Sie trinken, ſchreien, fingen und fpringen noch eine Weile, 
bis Keiner von ihnen mehr etwas fieht oder Hört. Peter finkt kauft 
unter den Tiſch, während Roffiguol, nachdem er links und rechts 
mit Tellern und Schüffeln um ſich geworfen, auf Franzens Karrif 
einſchlaͤft zwifchen einem Rebhuhnflüägel und einer Flaſche Mpfolio. 


Achtundzwanzigſtes Aapitel. 
Franzene Kosrit. 


Während Moffignol neben feinem Wirthe fchnarcht, hat fi 
der Kutſcher, dem Erftouer ſeinon Karrik abborgte, in bie beteichnet⸗ 





Schhenle begeben und Bei einem Gericht Aufern und einer VNaſche 
Weißwein behaglich ſich niedergeſetzt. | 

Franz zeigt den beften Appetit und ſegnet im Stillen ben guten 
Karrit, welchem er bied leckere Mahl zu danken hat. Das erſie 
Dutzend Auftern ift im Umſehen verfchwunden; um mit mehr Ge⸗ 


müthörube der Ankunft feines Freundes zu harren, läßt er ein 


zweite Dutzend kommen. 

Die verabrevete Stunde fchlägt, aber Fein Rofjignol und Fein 
Karrit laͤßt ſich blicken. „Eine Biertelfiunde mehr ober weniger 
fehabet nichts,‘ denkt Franz und beftellt Schweizerfäfe und eine 
zweite Flaſche. 

Aber auch die Viertelſtunde und noch eine andere iſt vergangen, 
ohne daß Roſſignol fich blicken läßt. Franz hat fick jo vollgeſtopft, 
daß er kaum athmen, geſchweige denn ſich bewegen Tann. Schon 
fängt er an ungeduldig zu werben und einen Fräftigen Fluch aus: 
zuftoßen. Noch lauter und derber flucht er, als feine Kameraden 
ihm melden, daß er jebt der Erfte in der Reihe ſei und daher bei 
feinem Gefährt fein müſſe, und doch Hat er weder einen Rod zum 


Fahren noch Gelb zum Zahlen. Cr ſtampft auf den Boden, fehlägt- 


fig mit geballter Kauft vor die Stirne und ruft: 

„Ich Eſel, dem Schelm zu glauben! Bomben und Sranaten, 
ich will ihm die Hölle Heiß machen, wenn er zurückkommt. Mes 
fange ich an, wenn meine Käthe mich in Hembärmeln heimkehren 
fieht! Sie wird glauben, ich hätte meinen Rod verfoffen.“ 


Alles Fluchen, Toben und Lärmen hilft nichts ; kein Roſſignol 


und kein Karrik kommt. Zum Unglüd hat fi der Himmel um⸗ 
woͤlkt; in jeder Sekunde Tann das Gewitter losbrechen und Fran⸗ 
zend Fiaker ift noch der einzige, der auf dem Plabe haͤlt; ale 
anderen find fort. Franz reißt das Fenſter auf, fieht ſich dem 
Simmel an und ruft werzweifelnd : 

„Im dem Wetter fahre Einer ohne Rod... in bloßen Hemb- 
ärmeln.” “ 


— 


878 

BIT giebt es herunter wie ein Wolkenbruch. Alles rennt 
auf den einzigen Wagen zu. 

Kutſcher! Kutſcher!“ ſchreit es rechts und Links. Man reift 
ſich gar darum, wer zuerſt in das Gefährt foll. 

„Reißt Euch nur,“ denkt Franz, der den Lärm flieht und Hört. 
„Ihr konnt lange auf den Kutfcher warten.” 

Inzwiſchen ift es einem Heinen, von Kopf bis zu Fuß ſchwarz 
gekleibeten Herrn mit ſchneeweißem Bufenftreif und Tanzſchuhen, 
der mit feiner Ehehälfte zu einem Dejeuner dinatoire eilte, das 
fein Couſin zur Beier der ihm nach fünfzehnjähriger Bewerbung 
endlich geglüdten Ernennung zum Maire⸗Adjunkten einer Commune 
von dreihundert Benerflätten veranftaltete, nach heißem Kampfe ge: 
Iungen, feine Chehälfte in ven Wagen zu fchaffen. Madame nimmt 
gleich den ganzen hintern Grund ein und zwingt alle.übrigen In⸗ 
faffen, das Feld zu räumen, worauf das ausgehungerte Baar fi 
im alleinigen Befige des Fiakers flieht. 

Jetzt ift Alles da, nur das Wichtigfte fehlt noch; ber Kutſcher. 
Mabame lehnt ſich mit halbem Leibe zum Kutjchenfchlage hinaus 
und ſchreit fich Heißer nach dem Kutſcher, währenn ver Herr Ehe: 
gemahl, jammernd über die Gefahr, die von Seiten des Regens 
feinem neuen Habit droht, aber noch untröftlicher über den Verluſt 
bes Frabftüds, Hin und Herläuft, und Franz auffucht. 

Endlich flieht er den goldenen Karpfen und läuft auf 
ihn zn. 

„Ich wette,“ denkt er bei fih, „der Kerl thut fich bene bar 
innen bei einem Glaſe Wein oder Schnaps. So macht es das Ge⸗ 
findel immer: wenn e8 Waſſer regnet, ſchwemmen fie fidh mit Wein 
vol. Nur Geduld, Madame Belbomme, ich fchaffe Ihn gleich her.“ 

„Sputen Sie fih, Herr Belhomme,” ruft Mabame ihrem 
Ghegemahl nach. „Ich fürchte, fle eſſen den Kalekuten ohne und.“ 

„Iſt ber Kutfcher von Nummero Siebzig barinnen, liebe Fran?" 
fragt Here Belhomme, in ven Keller eintretend. 


377 
„Sa, Herr, hinten in’ der Ecke ſiht er,“ antwortet die Aufterns 
händlerin, die um ihre Zeche beforgt zu werben anfängt. 
„Geſchwind, Freund,” fagt Herr Belhomme, dem Hauderer 
tranlih auf die Schulter klopfend, „Ihr folltet auf dem Platze 
fein bei Eurem Wagen. Seht nur, wie ed regnet, und Ihr ſeid 
ber Letzte -... Ihr kriegt ein gutes Trinkgeld.“ 
„Richt nötbig, Herr, ich habe feinen Durſt,“ antwortet Franz 
und bleibt ruhig fißen. 
„Hört Ihr, Kutfcher ?" ruft Herr Belhomme lauter. 
„sa, ich Höre. Ich Tann jetzt nicht fahren.” 
„Ihr koönnt nicht fahren?" wiederholt der Kleine Dann; den 
Hut auf die Stirne brüdend und auf die Fußfpigen tretend. Gleich, 
auf der Stelle!“ 
„Unmoͤglich, Herr, ich Tann nicht von ‚ber Stelle... auch 
bin ich beftellt.“ 
„Ihr lügt, Ihr feid nicht beftellt, Ihr gehört mir und meiner 
Frau... mein Couſin wartet. Ihr follt: und müßt.“ 
„Ich will nit, Herr.” 
Der Tleine Herr erhebt eim folches Gefchrei, daß Alles her⸗ 
beieilt. 
„Isa, ja, er muß!” rufen die Ginen. 
„Erſt fol er zahlen,” Teift die Auſternhaͤndlerin. 
„Keine von Beiden,” antwortet Franz und pfeift dabei. 
„Statuiren wir ein Beifpiel!” ſchnaubt Herr Belhomme außer 
fih vor Wuth. „Gleich gehft Du mit zum Commiſſarius.“ 
„Donner und Doria, Herr, wie kann ich bei ſolchem Wetter 
in Hembärmeln, ohne Rod fahren... ba, verfluchter Rofſignol!“ 
„Mit ober ohne Rod: Du gehft mit mir zum Commiffarius, 
Berftanden 8" 
„Er muß, er muß,“ wieberholen alle Umſtehenden im Chore, 
„oder wir bringen fein Gefährt dahin.“ 
Franz, ber. fieht, daß er mit Gewalt nichts ausrichtet, will 


vom kleinen Herrn zum BPolizeicommifjär folgen, ald ver Wein: 
händler unb die Auflernverlänferin ihm ben Weg vertreten. 

„Ehe man geht, zahlt man hübſch, Freund.“ 

„I zahle ein audermal, ich habe Feine Zeit jet.“ 

„Sahlen iR gleich gefchehen. Wir Tonnen Euch zu wenig, um 
Cuch zu borgen.“ 

„IH komme gleich wieder.“ 

„She zahlt auf der Stelle; ſechs Duyend Auftern, Wein, 
Brod und Käfe machen zufammen fünfundflebenzig Sons.” 

„Da find fünfzehn Sons auf Abichlag ; ich bleibe ven Reft 
ſchulbig. 

„Richt doch, Freund, Ihr zahlt ſogleich das Ganze.“ 

„Ihr könnt mich auf den Kopf flellen, ob Ihr einen Son 


mehe bei mir findet: ich habe den ganzen Tag keinen Som verbient.“ 


„So, fo, der Herr frühſtückt flott und hat kein Geld in der 
LTaſche —X 
„Sin Freund hat mich herbeſtellt.“ 
„Flauſen das! Geſchwind zum Poligelcommäffär mit dem Bruder 
Lieberlich 
„Erf will ich ein Pfand für meine Auftern, her mit feinem 
Hute.“ 
„Da habt Ihr ihn”... wir wollen Dich lehren, Freund, mit 
fünfzehn Sons in ber Tafche zu frühſtücken wie vornehme Herren !“ 
Bergebens fucht der arme Franz fich feines Hutes zu erwehren. 
So muß er denn, er mag wollen ober nicht, ohne Hut und Nod 
zum Gommifjär hinfahren. 
„Dem Hab’ ich gezeigt, daß ich 'nen Kopf habe wie von Ciſen, 
ruft Herr Belhomme feiner Ehehälfte zu. 
„Die Mühe hätten Sie fi erfparen konnen,“ antwortet Ma; 
bame. „Das iſt männiglich bekannt.“ 
Unter lautem Zifchen und Hohngelädhter ber Umſtehenden fährt 
ber arıne Tropf von Franz ab. Wäthend peitſcht ex auf vie Gaͤul⸗ 


379 ⸗ 


los, baß fie davon ſtolpern, was das Zeug halten will, und ſo 
oft er die Peitſche ſchwingt, laͤßt er einen moͤrderiſchen Fluch los 
gegen den Roſſignol. 

Zum Glück wohnt der Polizeicommiſſär nicht weit ab, ben; 
no; kommt er pudelnaß an, wie aus dem Waſſer gezogen. 

„Mögen fie mich brennen und fultern, ih fahre fie nicht 
weiter,“ ruft er wüthend. 

In Folge diefes Vorfalld muß der arme Tropf acht Tage auf 
der Präfektur fchwigen, bringt einen Stockſchnupfen mit nad Haus 
und erhält obendrein noch eine tüchtige Tracht Schläge von feiner 
Ehehälfte. | 

Herr und Madame Belhomme müfen den Weg unter bie 
Büße nehmen. Um ihren Aerger zu vergeflen, zanken fle fi unter: 
wege in einem fort und kommen von Kopf bis Fuß durchnäßt und 
befprigt beim Herrn Couſin an — ald eben das Frühftäd verzehrt if. 


Keunundzwanzigfieo Rapitel. 
Wie Peter bausbält. 

Als Peter den Morgen nach diefem Frühſtücke, das bis zum 
Abend gedauert Hatte, erwacht, flaunt er nicht wenig, ſich unter'm 
Tiſche zu finden, den Kopf auf einem Teller und def Arm in einer 
Schäffel mit Eingemachtem. Er reibt ſich die Augen und befinnt 
fi auf die Borfälle des lebten Tages, denn noch gehen ihm bie 
feinen Liqueure wie ein Mühlrad im Kopfe herum. 

Er ſteht auf, fieht um fi und tritt Roffignol, ber noch auf 
feinem Karrik ſchnarcht, auf's linfe Ohr. Diefer erwacht und 
Ancht: „Wer wagt ed, einen Künſtler zu boxen?“ 

Als Peter Roffignol hört, erinnert ex ſich allmählig ber Er⸗ 
eigniffe bed vorigen Tages. Ohne zu wiflen warum, iſt er nicht 
vecht mit fich zufrieden; das Gewiſſen fchlägt ihn. Aber ſchon iſt 


380 


Roffignol bei der Sand und auf den Füßen, fo daß Peter Feine 
Zeit bleibt, ſich Vorwürfe zu machen. | 

„Wir haben, wie's fcheint, ein Mittagsſchläfchen gehalten, 
Freund Beter,“ fagt Rofiignol. „Das if vornehm. In Spanien 
und Italien ſchlaft man gewöhnlich nach Tiſch, und die Engländer, 
die am flotteften von allen Völkern leben, fchlafen faft immer 
unterm Tifch.“ 

„Wie? die Engländer fchlafen unterm Tifh mitten unter 
Tellern, Schüffeln und leeren Flaſchen ? 

„Ja, Beter, ganz fo wie wir geftern.” 

„Bruder Andreas liebte die Sitte nicht.“ 

„Unter und, Beter: Dein Andread war fo zimperlich wie 'ne 
alte Jungfer; ich hoffe, Du folgeft meinem Beifpiele und nit 
bem Deined Bruders... aber es ift heller Tag, wir müffen an’ 
Frühſtück denken.“ 

Indem flieht er Franzend Karrik. Wie wahnfinnig fchlägt er 
fih auf Bauch, Kopf und Lenden zugleich, ftößt einige feiner Lieb: 
lingsflüche aus und wirft fi in-einen Armſtuhl. 

„D ih Dummkopf!“ ruft er ein über’8 andere Mal. 

„Was gibt's 3" Fragt Peter. 

Statt zu antworten, ſchneidet Rofjignol ein grimmiges Ge⸗ 
ficht und ſpringt wüthend und fluchend vom Seffel auf, denn er 
hatte ſich auf einen Teller gefegt, der von geftern ber auf bem 
Stuhle liegen geblieben war. . 

„Das verdammte Porzellan !” fchreit er. 

„Haft Du Dich gefchnitten %" fragt Peter Angftlich. 

„Und wie? Gerade in den A... .“ 

„Inden A... . 2“ 

„Ich will mir Talte Umfchläge machen. Das Schlimmfte Bei 
ber Gefchichte ift, daß die Hofe zerrifien ifl. Mein Gott! und vorne 
nu als Bettfleden: das kommt von Deinem Tellerwerfen von 











“ . 


” 381 


„Ich fol Schuld daran fein ?“ 

„Ber fonft ? Mein Gott, und der Rod auch ganz befledt von 
oben Bis unten: die fchönen neuen Kleider da! Erſt ziweimal habe 
ih fie getragen.“ 

„Und doch ift die Hofe ganz zerriffen ?“ 

„Ich muß während bed Schlafes an bie Stuhleden gefommen 
fein. O weh, o weh! was fang’ ih an? Geftern no fo flott ' 
gekleidet, daß alle Weiber fih nach mir umfahen, und heute fo 
auszufehen! Mber fo kann ich nicht ausgehen, das begreifft Du. 
Wie ſteht's mit Deiner Garderobe, Peter? Mit Deinem Gabinet ? 
Du haft doch eins ?" 

„Gewiß, Roflignol, gewiß hab’ ich eins: links, am Ende 
des Ganges. Du findeft Alles da, was Du wünſcheſt.“ 

Roffignol eilt fingend fort, kommt aber glei) darnach wieber 
zurück, ein Läppchen gelber Leinwand, das Meberbleibfel eines che: 
maligen Schnupftuches, unter die Nafe haltend. 

„Kerl, wo haſt Du mich hingeſchickt? Haft Du mich zum 
Beften ?" 

„Iſt das Gabinet nicht nah Wunſch?“ 

„Märchen, ich will Kleider, Hofen, Röde, Welten... umb 
Du ſchickſt mi in ein...“ 

„Wetter! Du fragteft ja nad den Cabinet.“ 

„Aber nicht nach ſolchem ... Kleider will ih, Kleider.” 

„Sp, fo! dann geh’ nur in Anbreas Kammer, da Haft Du 
große Auswahl.“ 
„Endlich! Warum Haft Du das nicht gleich gejagt ?“ 

Roffignol geht in die ihm bezeichnete Kammer, oͤffnet bie 
Commoden und Wandfchränfe und bleibt bewundernd vor einer fo 
wohl verfehenen Garderobe ftehen. Gleich geht er an feine Toilette, 
mb da er von Umfländen nichts weiß, fucht er ſich das fchönfte 
Hemd, die feinften Strümpfe und bie neueften Kleider aus. Dann 

Baul be Rod. II. 25 


„Da ſollte er fein?” 

„Rirgends anders, lieber Bater. Mein Herz fagt mir's und es 
belügt mich nie, wenn von Aubreas die Rebe ift. O, laß mich hingehen.“ 

„Das Landgut der Frau Gräfin liegt in der Nähe von Fon: 
taimebleau, nicht wahr?" 

„Ja, Bater.“ 

Ich habe einen Bekannten bort, bei dem Du wohnen könnteft; 
aber wie kommſt Du dort hin? Ein junges Mäpchen Tann nicht 
allein reiſen.“. 

„Bin ich nicht groß und vernünftig genug, Bater? Ach, und 
der arme Andreas flirbt vor Kummer, wenn er feinen Troft bat.“ 

„So geh’ denn hin, weil Du’s willſt.“ 

„D, Dank, theurer Vater, Dank!“ 

„Morgen gehen wir mit dem Stellmagen.“ 

„Barum bis morgen warten? Heute noch, lieber Bater, es 
iR noch früh genug dazu.” 

„So bald wilft Du mich verlaffen, Nanette?” 

„3% komme ja bald wieder, Vater, und in ſechs Monaten 
habe ich ihm nicht gefehen! Auch will ih Dir fchreiben.“ 

„Du vergiffeft, Tochter, daß ich nicht Iefen Tann.” 

„So gehft Du zu unferem Nachbar und läßt Dir meinen 
Brief vorlefen. O, wie glüdlic wollen wir, fein, wenn wir Ans 
dreas wiedergefunden haben !” 

Schon iſt Ranette in ihrem Kämmerchen. Gleich darauf Tommt 
fie mit einem Päckchen, worein fie das Nöthigfte gewickelt Kat, 
zurück. Sie nimmt ihre Schürze ab, ſetzt einen einfachen Strob: 
but auf und zieht den Vater bis an bie Treppe, ehe er noch Zeit 
gehabt Kat, fich zu befinnen. 

Sie kommen an bem Orte an, wo bie Wagen halten, bie 
nad) Fontainebleau fahren. Es ift gerade noch Platz für Manette; 
fie ſpringt Hoch auf vor Freude und fept fich neben ihren Bater 
auf einer Steinbank nieder, ihr Paͤckchen uf den Schooß nehmen». 


393 


Der gute Wafferträger will Ranette, bis der Wagen abfähtt, in 
ein Kaffeehaus führen, aber Nanette bleibt Tieber auf der Bank 
fipen, denn fle hat da bie Diligence vor Augen und weiß, wenn 
fie einfleigen muß. 

„Adieu, lieber Vater,” fagt fie zu Bernhard, „laß Dir die 
Zeit nicht lang werben; ich Bin in Kurzem wieber bei Dir.“ 

Bernhard Füßt feine Tochter und geht dann traurig fort; 
Maneite ſieht ihrem Vater feufzend nad, aber ein Blick auf den 
Wagen tröftet fie. Endlich ift die Stunde zur Abfahrt gekommen. 
Nanette fleigt fchüchtern ein und wagt kaum aufzufehen vom Boden. 
Die Fragen einiger neugierigen Herrchen beantwortet ſie bloß mit 
einem Ja oder Nein, bis man fie in Ruhe läßt. In Eſſona bleibt 
Nanette im Wagen fiken, flatt mit den andern Paffagieren aus⸗ 
zufteigen, worüber einige derſelben allerhand hämiſche Bemerkungen 
machen und Fichern. Allein was kümmert ſich Nanette um pas Ge; 
ſchwätz von Leuten, die unbefugter Weife ihre Nafe in die Ange: 
legenheiten Anderer ſtecken. 

Nah einem kurzen Beſuche bei dem Freunde ihres Baters 
laßt ſich Nanette dad Landgut des Herrn von Franconarb bezeichnen. 
Es liegt bloß anderthalb Meilen von Zontainebleau ab. Trog ber 
Nähe, die es ihr leicht macht, dahin zu gehen, fängt Nanette an 
zu begreifen, daß fie mehr Mühe haben wird, mich in der Um: 
gebung des Gutes zu finden, als fle fih in Paris gedacht Hatte. 

Nanette geht zuerft ins Schluß, wo fie vom Schloßvngt hört, 
dag Niemand von den Eigenthümern im Haufe wohne. 

„Und wo ift denn Herr Andreas,” fragt Nanette fchüchtern, 
„der junge Mann, ver bei der Frau Gräfin wohnte? Haben Sie 
ihn nicht gefehen? Vielleicht Tennen Sie ihn nicht wieber, wenn 
Sie ihn fehen, denn er ift feit dem lebten Sommer, wo er hier 
war, ungemein groß geworben.“ 

„Ich würbe ihn auf der Stelle wieder kennen,“ antwortet der 
Vogt, „aber ex iſt feit jener Zeit nicht da geweſen.“ 


Nanette entfernt ſich traurig und durchſucht Die Umgegend. 
Dorf für Dorf und Flecken für Flecken, überall erfundigt fie fi 
nach mir, ohne Etwas über mich zu hören. Dennoch verliert fie 
den Muth nicht, und mit jedem neuen Tage fängt fie ihr Liebes⸗ 
wer! von Reuem an. 

Nanettens Herz hat fie nicht belogen: ich bin wirklich da, wo 
fie mich fucht. In jener Naht, als ich ziel- und planlos aus Paris 
fortlief, nur um Abolphinen zu entfliehen, hatte ich den erſten 
beflen Weg eingefählagen, ber mich nach mehreren Stunden aufs 
offene Land führte. Noch gefchwädt von der lebten Krankheit und 
durch die Anftrengungen des Marſches erfchöpft, finke ich faft be⸗ 
wußtlos unter einem Baume nieder. Ich ging mit allerhand mör- 
deriſchen Gedanken um, aber dad Andenken an die guie Mutter 
ſchreckte mich davon zurück und gab mir den Muth wieder, obgleidy 
ich furchtbar mit mir zu kämpfen hatte, denn die Wunde war noch 
zu friſch. Es war mir, als hörte ich mitten duch das Schweigen 
der Rat den Schall der Inſtrumente und den Jubel der Gäſte 
vom Hotel des Grafen herüberfchallen. 

Ich befand mich in der Nähe von Bondy und wußte weber 
ans noch ein; Paris verabfchente ich und ſchwur, ed nie wieber 
. zu betreten. Einige Male dachte ich an meine Heimath, aber erſt 
wollte ich allein fein, um meinem Schmerze in Muße nachhängen 
zu koͤnnen. u 

Unter fleten Gedanken an Adolphine und die in ihrer Nähe 
verlebte glückliche Jugendzeit flrichen mehrere trübe Tage dahin. 
Blögli wandelte mich eine unendliche Sehnſucht an, jene ſchönen 
Gegenden wieder zu ſehen. Schnell entfchloß ich mich Kin zu pilgern, 
und bald darauf fand ich vor dem Schloffe, wo ich bie feligften 
Stunden meines Lebens verlebte. Ich wage nicht einzutreten, aus 
Sucht, erfannt zu werben, aber eine ganze Nacht Iang treib” ich 
mid) in der Mähe des Schloſſes herum, und mit Tagesanbruch 
erfeige ich eine Heine Mnhöhe, von wo and man einen großen 


- 
808 — 
‘ - 


Theil des Parkes überfehen Tann. Ach ſah die Boſskette wieder, 
wo wir zuſammen geſeſſen, die Alleen, wo wir ſpazieren gegangen; 
ich ſuchte die ſeitdem entſchwundene Zeit zu vergeſſen, und nur in 
ber Bergangenheit zu leben. Mit äußerfier Mühe entriß ich mich 
biefem geliebten Plage, der mich in die ſchoͤnſte Zeit meiner Jugend 
zurückverſetzte. Ich fühlte mich Hier weniger unglüdli und uns 
ruhig. So faßte ich ben Entſchluß, mich in der Nähe dieſes koͤſt⸗ 
lichen Aufenthaltes, der meiner Seele fo wohl that, bleibend nies 
berzulafien. Ach, im zwanzigſten Jahre lechzt pas Herz nad Liebe! 
Sogar den Schmerz heißt es willlommen, weil der Schmerz nichts 
Anderes ift als Liebe. 

Nicht weit von der Anhöhe erhob ſich, unter ſchattigen Bäumen 
verftedt, eine Tleine Hütte, auf bie ich zuging, in der Abficht, 
mich Etwas auszuruben. Die Hütte war yon einer alten Bänerin, 

. item Hunde und einigen Schafen bewohnt. Als ich die Alte fragte, 
ob nicht noch ein Wohnplägchen für mich übrig fei, glaubte fie, 
ich ſcherze. 

„Wie, Herr,“ fagte fie, „ein junger Mann, ber an das Stadt; 
leben gewöhnt und fo vornehm ift wie Sie, der will in meiner 
aͤrmlichen Hütte mit einem alten Weibe wohnen ?" 

„Ich wünfche nichts mehr als das.“ 

„Wenn ed wirklich Ihr Ernſt ift, Herr, fo ſteht Ihnen das 
Kaͤmmerchen oben, wo mein armer Sohn wohnte, zu Gebote. Es 
iſt das einzige in der Hütte, und daher auch das ſchoͤnſte, Herr.“ 

Entzückt über dad Anerbieten der Alten zog ich zwölf Lonis⸗ 
d'or aus der Taſche — ich Hatte ungefähr dreimal ſo viel von 
Baris miigenommen — und fehüttete die Thaler der Alten in den 
Schon. Die gute Frau mochte nie fo viel Geld beifammen gefehen 
haben, denn fie fließ einen lauten Schrei ber Berwunderung ans. 

Das ift für mein Logis!” fagte ich ihr. 

„So viel, Herr?“ fragt fle. „Das langt ja für mein ganzes 
Leben. Gie können hier wohnen und effen, fo lange und fo viel 


Ste wollen. Ich theile mit Ihnen, was ich habe, Herr, daB if 
billig für eine ſolche Summe!“ 

Meine Einrichtung war bald gemacht. Noch benfelben Tag 
ging ich in die benachbarte Stadt und kaufte Alles, was ich zum 
Zeichnen und Malen brauchte. So richtete ich mich gemüthlich in 
der Hütte ein. Ihre Lage ließ mir nichts zu wünfchen übrig: fie 


. war malerifch unter Bäumen verſteckt und kaum fünfhundert Schritte 


von dem Gipfel der Anhöhe entfernt, von wo ich einen Ueberblick 
über den ganzen Park meiner Wohlthäterin genoß. 

Hier verbrachte ih den größten Theil des Tages, oft in tiefes 
Nachdenken verſunken über die entfchwunbenen glüdlichen Zeiten, 
oft zeichnend und malend eine ber fchönen PBartieen, bie ich mit 
ihr durchlaufen hatte. 

So verging die Zeit. Mein Schmerz war zu einer fanften, 
wohltäuenden Schwermuth geworben, aber meine Liebe zu ihr nie 
erkorben, denn der Anblid aller ver Gegenden, welche fie hatten 
entfiehen fehen, war nicht geeignet, fie aus meinem Herzen zu 
verbannen. - 

Eines Tages, ale ich meiner Gewohnheit gemäß von meiner 
Lieblingsftätte zurückkehrte, erblickte ich auf einem Seitenwege ein 
junges Frauenzimmer, dad langfam einher ging und ihr Tafchen- 
tuch vor's Auge hielt. 

Nanette ward. Nach achttägigem vergeblichen Herumftreifen 
in diefer Umgegend wollte ihr fchon der Muth entfinfen. Unter 
tiefer Belümmerniß über die Erfolglofigkeit ihrer Nachforſchungen 
entfchließt fie ſich, nach Paris zurüdzufehren. 

Da Hört fle mein Gehen. Sie erhebt fchnell das Haupt, Bleibt 
fteben, fleht mich an, fchreit Iaut auf und fliegt in meine Arme. 
Das Alles war das Merk eines Augenblicks. Ihr Haupt an meine 
Bruſt gelehnt, nennt fle mich ihren Andreas, ihren lieben Andreas, 
während ich mich immer nicht von meinem Staunen erholt habe, 

Ranette in meinen Armen und dad an biefem Orte, wo Alles 











an Abolphine erinnert! Wie it das möglich? Ohne Zweifel muß 
fie meine Gefühle in meinen Augen gelejen haben, denn fie fagt 
ſchnell: 

„Nicht wahr, Sie ſtaunen, Herr Andreas? Ich ſehe es Ihnen 
an. Weil er ohne uns leben Tann, glaubt er, wir koͤnnten ohne 
ihn leben; weil er und nicht mehr liebt, glaubt er, wir lieben 
ihn auch nicht mehr!“ 

„Ich Dich nicht mehr lieben, Nanette ?“ 

„3a, ja, Herr Andreas. Oper verläßt man die, die man liebt, 
wie Sie und verlaſſen haben? Läßt man feine Lieben in todtlicher 
Angſt und Beſorgniß zurüd? Läuft man fo ohne Weiteres weg, 
unbelümmert um bie Betrübniß derer, bie und Lieben %“ ' 

„Ach, Nanette, ich fühle mein Unrecht gegen Dich und Deinen 
Bater ; verzeihet mir.“ 

„Gr fühlt fein Unrecht, es thut ihm leid; Gottlob! Ja, 
Andread, wir verzeihen, wir vergefjen Alles. Wie froh, wie glück⸗ 
lich bin ich, daß ich Dich wieder babe; mein Schmerz ift ploblich 
zur Freude geworden!“ 

Ich drücke Nanetten an mein Herz, erfreut und betrubt zu⸗ 
gleich über das Wiederſehen. Die Liebe macht und wieder au Kindern, 
bie ſich ſchaͤmen, ihre Fehler zu bekennen. 

„Aber was willſt Du hier, Nanette ?“ 

„Mein Gott, er frägt noch! Dich fuchen ?“ 

„Mich ſuchen? Wer fagte Dir, daß ich hier ſei?“ 

„Mein Herz, Andreas. Wie betrübt find wir geweſen um 
Dich, Lieber Andreas.” 

„O, verzeihet mir; auch ich habe viel, recht viel gelitten.“ 

„D, ih weiß es; ich dachte mir gleich die wahre Urſache 
Deines plöplichen Verſchwindens. Ja, Gerr Andreas, wir wiſſen, 
daß die Liebe zu einer Andern Dich von und, Deinen Verwandten 
und Freunden, Deiner Wohnung und Deinem Cigenthum forttrieb, 
wir wißfen ed. Ach, Andreas, daß Sie uns fo verlaflen konnten !“ 

Baul de Rod. II, 26 


„G8 iR, wie ich fage. Sieh’ nur weg, Aubrras, das Hilft 
nichts. Aber nur Geduld, Freund, iröfle Dich mit ver Zeit; ed 
beißt, die Männer vergeffen ungleich leichter als die Weiber. Komm 
wit mir zurüd, Audreas; mein Bater erwartet Dich ſchmerzlich 
uud auch der arme Peter hat Tag und Nacht keine Rabe: er läuft 
noch immer herum, Dich zu ſuchen. Komm’ geſchwind, Aubreat, 
laß uns fie tröften.” 

„Mein, Nauette, nein! Ich habe geſchworen, Bari nie wieder 
zu beitreten.“ 

„Wie, Herr Andreas, Sie haben gefhworen? D, man hält. 
nicht immer, wad man fchwört; nur diedmal vergiß in, den 
Schwur, Andreas, nur diesmal. Kanuft Da mir das abfı 

„DO, Rauette, ich bin hier fo glücklich; nirgends Kann ich fo 
alacklich fein, ſelbſt bei Euch nicht. Rein, ich will uud muß hier 
bleiben.“ 

„Bie, in GBinem fort den Park anzugafen, wo Sie einft 
mit... Glauben Sie auf diefe Weife geheilt zu werben, Hen 
Andreas I“ 

„Komm mit mir, Nanette, auf die Auhöhe da; ich will Dir 
zeigen, wo ich die feligfen Stunden meines Lebens Eofkete.“ 

3% uchme Nanetten bei der Hand: fie folgt mir, ohne ein 
Wort zu fagen. Oben angekommen, zeige x ihr die Orte, die 
ich täglich mir anfche. 

„Sieh', auf der Bank da ſaß ich oft Rmubenlang weben ibr; 
die Zeit fchien mir fo kurz!” 

- „Ach und mir fchien fie fo lange, weil ih Dich wicht bei mir 
hau⸗ Warum traͤgſt Du Dich mit ſolchen Gedanken? Iſt fie nicht 
verheirathet 1" 

„Wer nichts zu hoffen hat, Nauette, der zehrt von ven Ex 
innerungen einer glüdlichen Bergangenheit.“ 
„86 hängt uur von Dix ab, Aundreas, und Du Taunft wieder 


ſo glüctih fein Wie ehemals. Lieben denn bie Mänıer nur einmal 
in ihrem Leben? Man fagt, daß ed oft vorkomme.“ 
„Ad, Nanette, ich fürchte, ich Tann nur einmal lieben.“ 
Manette ſchweigt. Nach einer Panſe ſteigen wir in das Thaͤlchen 
hinab. 
„Bo wohnk Du?“ frage ich fie. 
„In der benadhbarten Stadt.“ 
„Die iſt noch eine ganze Meile von bier entfernt; ich will 
Dich hinbringen.“ 
„Und Du gehſt mit mir nach Paris ?“ 
„Rein, Nanette, ich kehre hierher zurück.“ 


„So brauchen wir nicht in die Stadt zu gehen; ich gehe nicht 


zurück.“ 
„Was willſt Du denn? Hier bei mir bleiben ? 

„Hier bei Dir Bleiben.” 

„Bedenke, Nanette! Und Dein Bater ?" 

„Ich fehreibe ihm, wo ich bin; er verzeiht mir gewiß.“ 

„Aber das geht nicht, Nanette ; nichts Halt Dich hier zurüd.“ 

„Nichts? Ach, Andreas, ich habe vielleicht mehr Grund, Hier 
zu Bleiben, ald Du.“ 

„Bas wit Du bier thun ?“ 

„Die Gefellfchaft Teiften.... umd wenn Di das langweilt, 
nich fo weit entfernen, daß mein Anblid Dich nicht ärgert.” 

„Roc einmal, Nanette, das hat keinen Sinn und Verſtand.“ 

„Gleichviel, ich bleibe bei Dir; ich Habe jo gut meinen Willen, 
wie Du den Deinigen.“ 

Diefe Entſchiedenheit Nanettens behagt mir nicht; ich made 
noch mehrere vergebliche Verfuche, ihr den Plan auszureben, dann 
kehre ich mit Einbruch der Nacht in die Hütte zurück, gefolgt vom 
Nanetten. 

Meine Wirthin ſieht bald die neue Ankoͤmmlingin, bald mich 
fragend as. 


„Madame iR von Ihrer Belanntfheft?” Fragt fle eublich lant. 

„Ja, fie iR...“ 

„Ihre Bean, ich wette.” 

„Nein, nein, gute Krau,“ antwortet Manette feufzend, „ih 
bin nur feine Schwefter.” 

„Die Schweſter des Herrn? Meiner Seel, ich glaube, Sie 
ſehen ihm aͤhnlich.“ 
Auch ich moͤchte bei Ihnen wohnen, gute Frau.’ 

„ber, mein Bott, ift denn mein Hütichen behert ?" 

„Da haben Sie Gelb für.. 

„Brauche Feind: Ihr Bruder hat mir ſchon gezahlt; aber ich 
habe keinen Platz, Kinder. Die Kammer oben bewohnt Ihr Bruder 
und bier wohne ich: das iſt Alles.“ 

„IR Ihr Bett groß genug für Zwei?“ 

„Groß genug für fünf, meiner Seel’; wir Bauersleute haben 
Betten, daß eine ganze Familie darin fchlafen Tann.‘ 

„Bat ; wollt Ihr erlauben, liebe Frau, daß ich bei Euch ſchlafe? 

„Bern, Madame, wenn Sie vorlieb nehmen wollen.“ 

Manette iſt entzüdt, ich aber ärgere mich. Ich wünfche ihnen 
gute Nacht und gehe in meine Kammer hinauf. Der Gigenfinn 
Ranettens ſetzt mich in Staunen ; ich hätte ihr das nie zugetrant. 
Wider meinen Willen bei mir bleiben wollen, if das nicht im 
höoͤchſten Grabe feltfam? DO, ich Undankbarer! 

Ich verſuche mich in ben Schlaf zu Iefen — ich babe mm: 
längft in Sontaineblean einige Bücher gefauft — aber ich bin 
nicht bei meiner Lektüre ; ich kann nicht vergeffen, daß Nanette bei 
mir if. O, die Weiber, wenn bie fi was in den Kopf gefept 
haben!... Dennoch ift Ranette fo fanft, fo gut, fo jungfräu: 
ld... gleichviel, auch fie hat ihr Theil vom Weibe an fich. 

Die Nacht vergeht mir faft ſchlaflos; doch Habe ich weniger 
als fonft an Adolphine gebaiht, weil Nanette mich in meinen Gr- 
Innerungen ſtoͤrt. Ich gehe in der feſten Abſicht Hinunter, durd 








401 


mein Benehmen zu zeigen‘, wie wenig ich Nanetten Dank weiß für 
ihre Geſellſchaft. 

Sie iſt mit ihrer Toilette ſchon fertig; ſie hat nichts auf dem 
Kopfe, aber ihre Haare ſind ſo hübſch und bei aller Einfachheit 
fo geſchmackvoll geordnet! Schuͤchtern blickt fie nieder, ald ih ein⸗ 
trete, und wagt kaum einen „guten Morgen, Andreas.“ 

Ich, eben noch feſt entſchloſſen, ihr nicht zu antworten, ich 
— küſſe ſie, gewiß nur aus Gewohnheit. Ich muß ihr alſo auf 
andere Weiſe meinen Aerger zeigen. 

„Sie haben gewiß recht ſchlecht geſchlafen,“ frage ich nach 
einer Pauſe. 

„Im Gegentheil, aufs Beſte.“ 

„&8 fehlt Hier am Noͤthigſten.“ 

„3% habe Sie; mehr brauche ich nicht.” 

„Der Ort ift fo abgelegen ; Teine Seele verirrt ſich Hierher.” 

„Ich wünſche Niemand außer Sie.“ | 

„Sie werben ſich Iangweilen bier auf dem Lande.“ 

„Ich arbeite für die gute Fran.“ 

„Abends zeichne ich auf meiner Kammer; bie Zeit wird Ihnen 
lang werben.” 

„So wenig als geftern.“ 

Ich ſchweige, denn fie bleibt mir doch feine Antwort ſchuldig, 
nehme meine Zeichnung und gehe hinaus auf meinen Lieblinge: 
plag. Alles um mich her verfeßt mich im Geifte in Adolphinens 
Nähe, aber gleich darauf muß ich wieder au Nanette denken und 
ih fehe mich nach ihr um... fie ift nicht da; wo mag fie fein? 
Ich habe nicht Lange gezeichnet, fo muß ich mich ſchon wieber nad 
ihr umfehen. Endlich erblicke ich fie, ungefähr zweihundert Schritte 
von mir fißend und nähend. Arme Schweiter, fie figt Hinter einem 
Gebüfch verſteckt, damit ich fie nicht fehe! Aber was kuͤmmert's 
mich: mag fie da nähen, fo lange fle will; fie kann lange warten, 
bie ich mit ihr rede; ich will fle züchtigen für ihren Cigenſtun. 


Dahrend id; ſcheinbar fortzeichne, blicke ich jede Minute ver 
Kohlen auf das Gebüſch, Hinter welchen fie fiht; fle erhebt keinen 
Bud von ihhrer Arbeit. Dad Vergnügen lob' ih mir! Bei mir 
fein und nicht mit mir reden, nicht einmal mich, anfehen! Doch 
ich glanbe, ich habe ihe geſtern Beides verboten ;. gewiß fürchtet 
fle, ungehorfam zu fein. Wie Tonnt’ ich ihr das verbieten! Das 
iR hart; Nanette war immer fo freunbichaftlich, fo ergeben gegen 
wid, und ihr Bater mein erfler und größter Wohlthaͤter. Sie 
will mich tröften und ich behandle fie fo hart! Hab’ ich denn alles 
Gemülh verloren? Geſchwind, ich will ihr winken, ſich neben mic 
zu ſetzen; dann kann ich doch von Adolphine mit ihr fhwahen... 
ihre Nähe ſoll die Erinnerung an Adolphine cher Härken als ſchwächen. 

Ich kehre mich dahin um, wo Nanette fist, und winfe ihr: 
fie blickt immer nieder; kein Wunder, daß fie mich nicht fieht. Ich 
huſte leiſe und rufe fie bei Namen: auch das hilft nichts. Was 
gilt's, ich muß noch aufſtehen und zu ihr gehen ? 

Ich nähere mich ihr Tangfam ; dicht vor ihr bleibe ich ſtehen. 
Sie arbeitet ruhig fort und flieht immer nieber, doch feheint es mir, 
als ob ihr Bufen heftiger ſchlage. 

„Nanette, haben Sie mich nicht gehört ? 

„Haben Sie gerufen ?" fragt fie, ohne aufzufehen. 

„sa, ich babe gerufen.“ 

„Bas wollen Sie von mir!" u 
- „Wenn Sie fchlechtervinge bei mir bleiben wollen, iſt es 

laͤcherlich, daß wir eine halbe Meile von einander ab figen.” 

„Ich fürdhtete, meine Nähe fei Ihnen nicht angenehm.“ 

„Sonderbar! ich kann in Ihrer Mähe eben jo gut zeichnen 
und die geliebten Pläge nah Muße betrachten.“ 

Nanette ficht auf, nimmt ihre Arbeit und folgt mir bid an 
meinen Platz, aber immer, ohne mich anzufehen. Daun fept fie 
ſich vier Schritte von mir nieder und fängt wieber zu arbeiten an. 

Ich thue das Mämliche, Bergebend warte ich, daß Ranette 











ein Geſpraͤch ankuipft: fie rührt keins Lippe und flcht chen fo 
ſtumm wie früher auf ihre Arbeit nieber. 

Dies Stillſchweigen will mir, glaub’ ich, nicht behagen. 
Aber vielleicht fürchtet fie, mich zu ftören ; fo muß ich den “atun 
madßen. 


„Barum fo ſchweigfam, Ranette ? 

„Ich glaubte, Sie wollten Ihren Gedanken nadhhängen. “ 

‚ber Binnen wir wicht zufammen fchtuagen von bem, was 
mich in Gedanken befehäftigt?" 

„Ich plaudere gerne mit Ihnen, mad es auch ſei.“ 

„Sie waren immer fo liebevoll gegen mich und ſo theilnehmend!“ 

„Ben man gerne hat, mit dem teilt man Freude und Schmerz. ‘* 

„Die Weiber konnen uns beſſer iröften, als unfere beften 
Freunde; bei Ihnen, Ranette, hab’ ich mich ſtets weniger unglüd; 
lich gefühlt. O, wenn ich benfe, wie Sie in meiner Krankheit 
mich gepflegt Haben, dann habe ich mir viele, recht wiele Vor⸗ 
würfe zu machen.‘ 

„Ich made Ihnen Feine Borwärfe ; ich finde Sie immer 
gleich gut.‘ 

„Beil Sie zu nachſichtig find. Ach, wenn Adolphine mich fo 
gefehen hätte wie Sie! Aber fie liebte mich nie; nur kurze Zeit 
dauerte die Täufchung... ach, damals, an diefem entzückend 
ſchönen Orte, begeigte fie mir eine fo wahre, fo warme Neigung; 
aber fle war ein Kind damals und ich auch. Später, zum Manne. 
erwachfen, hätte ich‘ ein Gefühl erſticken follen, bad mich über 
kurz oder lang unglüdlich machen mußte, weil fie über kurz ober 
lang ſich an einen Andern verheirathen mußte. Es ift vielleicht 
beffer für mich, daß es fo geſchehen; ich fühle, ich follte ihr Bild 
ganz aus meinem Herzen verbannen, aber ich Tann es nicht; ums 
willfürlich muß ich am fie denken, die mir Tag und Nacht im 
Sinne Regt!... Was axbeilen Sie da mit ſolchem Fleiße, Na⸗ 
nette? Slie —* mir nicht einen Blich!“ 


„Un einer Schürze für bie gute Frau. Ich bat fle um eine 
Arbeit, weil ich Teine bei mir Habe.” 

„Und eilt ed jo?“ 

Gewiß nicht.“ 

„Man follte es glauben, wenn man Sie nähen ſieht. Aber 
warum bugen Gie mich nicht mehr, Nanetie 3" 

Ich mache es wie Sie.” 

„Ran ſollte glauben, wir wären und bije... ich wärbe mir's 
nie verzeihen, wenn ich Dir böfe wäre, Nanette. W 

„Ich werde Din nie boͤſe, Audreas, nie! das ſchwöre ich.“ 

„Gottlob find wir jegt wieber auf dem alten Punkte, bad 

ie“ in Deinem Nunde Hang mir gar zu ner. “ 

„Und mir ging es durch's Herz, Andreas.“ 

„Haben wir uns nicht ald Kinder gelaunt? Gcentf Da noch 
des Tages, ald Dein Bates mich fihlafend auf der Haudflur fand? 
Sprich! Du ſchrieſt vor Staunen, ald Da mid ſaheſt; weißi Du 
noch 3“ 

„Db ich's weiß! und Du warf ganz befchnupt und weinteh 
um Deinen Bruder.” 

„Ja, und Du gabft mir gleich zu effen-und zu trinken. Schon 
bamals warf Du fo gut und Liebevoll gegen mich wie jept. Wie 
Infllg wir waren !" 

„Unb weißt Du noch, wie mir zuſammen tanzten ?“ 

„Ja, ja, die Savoyarde. Lieber, lieber Tanz, ich glaube, id 
habe Dich ganz verlemt.“ 

„O, ich Tann ihn noch ganz gut.” 

„Du glaubſt ...“ 

Und ſchon will ich aufſpringen. Es haͤtte nicht viel gefehlt, 
fo hätte ich die Savoyarde getanzt an dem nämlichen Plage, wo 
ich ſecho lange Monate ſeufzte und ſchmachtete. 

Aber es iſt Zeit, in bie Hütte gurüdgulchzen. Ich nehme 
meine Zeichnung, Nanette Jegt ihre Nähaxbeit zuſammen, wir 


geben und ben Arm und fo wandern wir ber Güte zu. Zum 
erfienmale, feit ich Paris verlafien Babe, fühle ich Hunger und 
freue mich auf unfer laͤndliches Mahl. 

Nach dem Eſſen fchlage Ich der Schwefter einen Spaziergang 
in der Umgegend vor. Sie willigt ein, und fdgon wieder find wir 
Arm in Arm; diesmal gehen wir nicht auf die Anhöhe zu. Wirk 
lich, dies Land ift wunderſchön, nichts fehlt: Wellen, als wäre 
man Yunbert Meilen von Paris ab, Herrliche Waldungen, lieb⸗ 
liche Bäche, Alles iſt da, was eine Landfchaft maleriſch macht... 
nur ein wenig öde und traurig ; aber in Nanetiend Nähe vergeffe 
ich das. 

Spät kehren wir in die Hütte zurück; gleich darauf wünſche 
ich Nanetten gute Nacht und gehe auf meine Kammer. Bei der 
Praufung des entſchwundenen Tages muß ich mir geſtehen, daß er 
mir ungleich kürzer vorkam als gewoͤhnlich; auch lege ich mich nicht 
fenfjend zur Rahe nieder wie ſonſt. Mein Gott, follte die Krank⸗ 
heit ver Liebe wirklich heilbar fein? Sollte die Liebe zugleich mit 
der Hoffnung auf Verwirklichung verfelben erftidden ober doch ab⸗ 
nehmen ? Nein, nein! ich liebe Adolphine noch immer. Warum 
Bin ich denn nicht mehr fo traurig wie früher? Gleichwiel! ich habe 
feinen Grund, über die Rückkehr zur Bernumft mich zu beflagen; 
ſchlafen wir, das ift beffer, als alles‘ Grübeln. 

Ich lege mich auf mein Kiffen nieder, ba iſt mir, als brüde 
Nanette mir fanft die Augen zu, und im Traum gaukelt ihr liches 
Bild unaufhoͤrlich um mic. 

Den andern Morgen gehen wir wieber anf die Anhöhe wie 
den Tag zuvor; ich nehme meine Zeichnung mit, und Nanette ihre 
Näharbeit. Diesmal fee ich mich ihr gegenüber, damit fie mich 
anfehen muß, fo oft fie den: Blick erhebt. 

Wir plaudern viel; Nanette ſcheint heiterer, fie laͤchelt, wenn 
fie mich anblickt, und wie füß! Wenn ich eine Zeitlang gezoichnet 
habe, zeige ich Ihr meine Arbeit; dabei muß ich ihr mähes kemmen. 


8 
Mitunter vorgeffe ich, an meinen Platz zurückzukehren; ihre Nähe 


M mir fo wohlthuend. Dieſer Tag vergeht noch fchuelles, als der 
legte, und doch haben wir, fo viel ich weiß, kein Wort von Abel: 


geſprochen. | 

Drei weitere Tage vergehen auf biefelbe Weile. Es if mix 
fonberbar zu Wuthe: es ſcheint, als erweitere ſich mein Herz, alb 
fühle es neue Luſt zum Leben in ſich. Ich Tann keinen Augenblid 
oßus Raustten fein ; es fehlt mir Etwas, wenn fie nicht bei mir 
il. Zwar gehen wir nach häglich auf die Anhöhe, aber es fcheint 
nelr täglich unmälhiger, weil ich die ganze Umgegend nachgerabe 
-im Kopfe babe und auswendig weiß wie ein Buch: immer die 
ſelben Pfade, dieſelben Bosfette, dieſelben Anfichten,, Die ich ſchon 
Wunberimal gezeichnet habe; doch wage ich wicht, Nanetten einen 
andern Spaziergang vorzuſchlagen. Gott weiß, welches Scham⸗ 
gefühl mich davon abhaͤlt 

Am fechöten Tage figen wir abermals einander gegenüber. 
Zi Habe vie Zeichenmappe auf dem Schooße und ſuche nach einer 
neuen Anficht. Unwillkärlich fallen meine Augen auf metue Ges 
führtin: nie ſchien fie mir fo hübſch... ja, ja, Nanette if in 
der That reizend: welche Anmuth in Blick uud Weſen, welde 
Friſche, welch’ füßes Lächeln! Ehen jept figt fie mit dem Rüden 
gegen einen Baum und lehnt ihr Köpfchen über die Arbeit. Welcher 
Gimfall : ich fuche nach einer neuen Anficht, aber kann die Natur 
mit einen fchöneren darbieten ald — Nanuette? 

Ich nehme die Kreide, und fange an, Nanetten zu zeichnen, 
Die Mehnlichleit fol nichts zu wünfchen übrig laſſen. 

„Sieh mich doch an, Ranette!” fag’ ich zw ihr, als fie ewig 
was Köpfchen gefenkt Halt; Nameite gehorcht auf der Stelle. D, 
wie viel Mühe gebe ich mir. 

„Barum foll ich Deine Zeichnung nicht fehen?” fragt fie 
acch einiger Zeit, | 
Beil ich noch nicht fertig bin; morgan davfik Du fie fehen.“ 


Den folgenden Tag bin ich mit Nanettens Porträt fertig. Ich 
muß geftehen, es iſt mir trefflich gelungen: Nanette leibt und lebt 
auf dem Bilde. Sobald ich den letzten Strich gethan, ſchleiche 
ih mi an ihre Seite und ſchiebe ihr das Bild auf den Schoof. 

„Wie findet Du es?“ frage ich fie lächeln. 

Sie fehreit laut auf, dann ſieht fie mid an, und wie! Nie 
hat fie mich fo angefehen. 

„Biſt Du zufrieden ?“ frage ich. ber fie if keiner Antwort 
fähig — fie weint, welche Kinderei! und ig, ich — weine mit ihr. 

Wir gehen in die Hütte zurück. Nach nem Gffen gehen wir 
nodgmals aus, fprechen zwar wenig, fehen und aber äfter an. 
Beim Zubettegehen fage ih ihr gute Nacht und küſſe fi. Sons 
derbar ! ich Babe fie Hundertmal umarmt und getüßt, und doch ifh 
mir, ald wäre dies ihr erfter Kuß. 

Den folgenden Tag erachte ich es für ziemlich unnötig, unſern 
alten Weg auf die Anhöhe einzufchlagen. 

„Dein Bater wird beforgt fein über Dein Ausbleiben,” fage 
ih zu Nanetten. 

„Richt doch, er weiß Beſcheid: ich habe ihm gefchrieben.” 

„Br wird fih nach Dir fehnen, Nanette: Ihr fein nie fo 
lange geitenut gewefen. Du mußt nach Paris zurückkehren.“ 

„Du weißt, ich kehre nicht ohne Dich zurüd.“ 

„So gehen wir zufammen.“ | 

Nanette fpringt Hoch auf vor Freude. Unfere Vorkehrungen 
find bald getroffen und wir räumen bie liebe Hütte: Nanette nach 
achttaͤgigem, ich nach ſechsmonatlichem Aufenthalt, und doch wollte 
ich mein Leben dort befchließen. Aber fo geht's, wenn man im 
zwangigften Jahre ſchwoͤrt! 


— — — — 


Einunddreißigfies Mapitel. 
DieZolgen von Beterd Haushaltung. 

Wir fahren mit dem Eilwagen von Fontainebleau nach Paris. 
Unterwegs fpreche ih wenig, denn der Gedanke, daß Nanette nur 
acht Tage brauchte, um mid von meinem Entſchluß abzubringen, 
quält mich etwas. So oft ich fie aber anfehe, was jest ungleich 
häufiger gef dicht als ehemals, fühle ich in tieffter Seele, daß ich 
um keinen Preis wieder in meine Ginfamfeit zurüd möchte. 

Wir fleigen ans. Nichts Ratärlicheres, als daß ich Ranetten 
zu ihrem Bater begleite. Als der guie Bater Bernhard uns er; 
blickt, weiß ex fi kaum zu faſſen und flärzt und in die Arme. 

„Hatte ich nicht Recht,“ fagt Nanette, „daß ih ihn finden 
umb zurüdbringen würbe ? \ 

„Meiner Seel, Du hattefl Recht, Mäpchen. Aber jetzt wirb 
er und nicht wieder davon laufen, Hoffe ich.“ 

„Bewiß nicht, Bater Bernhard; ich gelobe es feſt und thener.“ 

„Wüßtefl Du, Kind, welche Sorge und Angft Du und machte.” 

WVerzeihung, Bater, Verzeihung! Bon hente an follen Sie 
mich täglich fehen ; jeden freien Augenblick will ich bei ihnen fein. 
ber ich will tüchtig arbeiten ; ich will und muß es zu was bringen 
in meiner Kunſt.“ 

„Recht fo, mein Freund; Du haft zwar Geld, aber wer weiß, 
was und die Zukunft bringt. Wir müffen daher auf Alles gefaßt fein.“ 

„Und wo ift Peter, mein Bruder? Wie fehne ich mich, ihn 
zu fehen und zu umarmen !‘ 

„Donner und Doria, der arme Junge gibt ſich vertenfelt viel 
Mühe um Di: er länft Tag und Nacht nad) Dir herum ; er if 
nie zu Haufe.” 

„And er Hat Euch nicht befucht ?“ 

„Rie! Seit undenklicher Zeit nicht.” 





⸗ 
⸗ 


Eine dunkle Ahnung ſagte mir, daß Peter feine Zeit zu was 
Anderem brauche, als mich zu fuchen. Bis fpät Abends bleibe ich 
bei meinen alten Freunden; nie, nie habe ich mich fo wohl bei 
ignen gefühlt. Die Trennung von Nanetten fällt mir außerordentlich 
fchwer, und wir fcheiden unter dem Verfprechen, und ben folgenden 
Tag wieder zu fehen. 

Auf dem Heimmwege wandelt mich nicht mehr wie früher die 
Luft an, vor dem Hotel vorbeizugehen, vielmehr nehme ich mir feſt 
vor, die Straße, in ber das Höfel liegt, forgfältig zu meiden, fo 
wie auch den Namen irgend eined Gliedes der gräflichen Yamilie 
nie vor meinen Freunden zu nennen. 

Mit dem Schlage zehn Uhr Elopfe ich an meine alte Wohnung 
an. Madame Roc fährt zufammen, als fie mich erblidt. Mit 
Hülfe feiner antifen Stellung und einiger Gejchenfe, die ihn wenig 
koſteten, weil fie aus meinem Beutel kamen, hatte Roſſignol Madame 
Noch ganz für fich gewonnen. Außerdem mochte fie denken, daß mit 
meiner Rüdlehr das. alte Hausregiment wieder anfangen werde. 

„Iſt mein Bruder zu Haufe?’ frage ih. 

„Rein, Herr, er ift mit feinem vertrauten dreunde ausge⸗ 
zogen, um Sie zu ſuchen.“ 
„Wer ift der vertraute Freund ? Wie fieht er aus?" 

„Ein fchöner junger Mann, äußerft liebenswürbig und luſtig. 
Gr bewohnt jept Ihr Zimmer.” 

„Bad Teufel! mein Zimmer? Ich wünfche, daß Ihr fchöner 
junger Mann ſich fofort ein anderes Logis ſuche.“ 

„Das ift Ihre Sache, Herr ; Sie brauchen meinen Rath nicht.” 

„Gewiß nit, Madame Roh. Wann Tommen bie Herren 
gewöhnlich heim ? 

„Sie haben keine beftimmte Stunde, Herr: bald früher, bald 
fpäter,, bald gar nicht.“ 

„Ss, fo! Alfo mein Bruder fucht mich auch während ber Nacht; 
er glaubt am Ende, ich fchlafe auf der Straße. IH Niemann oben?" 


„sa, Her, ver Jocley.“ 

„Jochey! Halt mein Bruder einen Soden ?“ 

„3a, Heer, einen Heinen Burkchen, der oft einen ſolchen Hoͤllen⸗ 
lärm im Haufe macht, daß ich mich darüber befchweren muß. Die 
Herren wollen ibm den Broblorh höher hängen, fagen fe.‘ 

„Getroſt, Madame Roc, ich verfpreche Ihnen, ber Lärm 
ſoll die Tängfte Zeit gedauert haben.‘ 

Ich laſſe mir Licht geben und firige die Treppe hinauf. Wer 
in aller Welt mag der vertraute Freund Peters fein, den er in 
mein Bimmer einguartirt bat? Doch nicht Roffignol? Unmöglich! 
Wie kann Peter meine Warnımgen fo gänzlich in ben Wind ge: 
ſchlagen haben ! 

Die Thüre meiner Wohnung fleht fperrweit offen. So bat 
Madame Roch doch Recht gehabt, daß ich Leicht hineinkommen könne; 
man follte glauben, mein Haus fei ein Wirthehaus. 

Ich trete ein. Bott im Himmel, weiche Wirtbfchaft, welde 
Unorbuung überall! Auf den erſten Blick fehe ih, daß der Staub 
hanbhoch auf den Möbeln liegt: hier Taun feit ſechs Monaten nicht 
gefegt, gelehrt und geläftet fein ; alle Möbeln find von ber Stelle 
gerüdt. Im Eßſaal erblicke ich auf einem Leuchteriuhl Trümmer 
eines Fruͤhſtucks; ich glaube, man bat offene Tafel Hier gehalten. 
Aule Seſſel find mit Fettfledden beſchmutzt, der Spiegel im Wohn: 
zimmer zerfchlagen, die Siguhren auf dem Kamin find verſchwunden. 
Beter, Peter, was bedeutet das? 

Ich gehe in Peters Kammer: das Bett iſt noch nicht gemacht; 
wohin ich den Fuß ſetze, trete ich auf Etwas. In meiner Kammer 
flieht es noch troſtloſer aus. Ich offne die Commoden: Alles leer; 
ich oͤfne den Wandſchrauk: Alles leer; auch die Wanbgemälbe find 
verſchwunden. Wenn das noch eine Weile fo fortgegangen wäre, 
hätte ich feine Stähle mehr angetroffen. 

Über mo fett denn der Jockey dieſer fauberen Herren ? Ic 
ſehe wub Höre nichts von ihm. Nachden ich Alles tuhfucht, Kıte 








44 


ich endlich unter dem Minuflein in der Küche neben fleben bis acht 
Gonferttöpfen einen Heinen Buben, der wie ein Siebenfchläfer 
ſchnarcht; gewiß ift dad der Jockey. Als ich ihn genau betrachte, 
ertenne ich in ihm benfelben Knaben, der mir einige Male bie 
Stiefel geputzt hat. Schlafe fort, Du bift der wenigft Schufsige 
von ihnen; Peter und fein vertrauter Freund haben mehr getham, 
als bloß die Confecttoͤpfe ausgeſchleckt. 

Ich gehe in Peter Kammer, um auf ihn zu warten. An 
Schlaf ift bei mir nicht zu denken ; die Wirtbfchaft in meinen Zim⸗ 
mein bat mich allzufehr erzüämt. Gute Mutter, wenn Du das 
ſaheſt, Du würbeft vielleicht eher mir zürnen als ihm. Statt ein 
wachſames Auge auf ihn zu haben, wie fie mir dringend anem⸗ 
pfahl, Habe ich ihn fich felbft uͤberlaſſen! Bin ich nicht eben fo 
ſchaldig wie ex? 

Meine Uhr weist Zwei und noch ift Peter nicht narad Wo 
mag er ſein? O daß ich's wüßte, ich würde ihn den Clenden ent⸗ 
reißen, die feine Gutherzigkeit auf fo ſchnode Weiſe mißbrauchen 
und ihn ausbeuten, und zu ihres Gleichen machen möchten. 

Endlich wird laut an die Hausthũre gepocht. Gewiß find ſie 
es; ja, ich höre fie auf der Treppe: der Eine ſingt, ber Andere 
zankt. In dem Sänger erkenne ich alöbald ven Windbeutel Rof: 
ſignol. Ich darf mich auf das Schlimmfte gefaßt Halten. 

Ich verfiede mich, um fie einen Augenblick nach Muße be- 
trachten zu koͤnnen. Die Thüre habe ich halb offen gelaffen, damit 
fie ihren Jockey nicht weden. Sie treten ein; großer Bolt, in 
welchem Zuſtande! Beide find total duhn, ihre Kleider von oben 
bis unten zerriffen, Halstuch und Cravatte fehlen, Peter hat ein 
fanftotıt geſchwollenes Auge und Roffignol bie Spuren mehrerer 
Stodichläge im Geſicht. 

Beter iſt fo duhn, daß er au auf den Beinen fichen tanz; 
es wirft ſich auf den erſten beften Stuhl, die Hände vor's Auge 
haltend. Refiigenl ſucht und tobt nach feinem Jockey und fingt dabei. 


„Sakriſta! wo iR der Heine Schelm ?" ruft er; „bie Thüen 
ſtehen ſperrweit auf, ald wären wir im Wirthahaus. Fort mit 
Die, Schelm, wir Tännen Die; wicht mehr brauchen! Sollte der 
Schelm noch iu der Küche bei den Töpfen herumſchlecken? Holle, 
Fronta, Laflenr, Lolive, eine Betiflafche, oder ich ſtecke das Hans 
in Brand !‘ 

Bei diefen Worten ergreift Herr Roffignol einen Beſen und 
ſchlagt mit aller Macht anf ven Frühftüdstifch. Länger Halte ich 
mich nicht ; ſchuell trete ich aus der Ede hervor. 

„Wer da?“ ruft Roſſignol, der mich nicht erkennt. „Wer 
wagt ed, bei Nacht in’d Haus zu lommen? Der Teufel hole unfere 
Madame Roh! Freund, was will Du? Wer bil Du? Sprich', 
daß wir und, kennen lernen.“ 

„Eprich', wer bit Du!“ wiederholt Peter, das linke Ange 
fortwährend zuhaltend und das rechte jperrweit aufreißend. 

„Wer ih bin, Unglüdlicher? Hätte der Rauſch Dich nicht 
gum Dich gemacht, Du würbeft mich längſt erkannt haben.“ 

Peter erfennt mich an ber Stimme; er erhebt ſich halb vom 
Stuhle, Hart mich an und fällt dann in den Geffel zurüd. 

„Andreas, Du!” ruft er und läßt dad Haupt auf die Bruſt 
finden ; er fcheint plöglich zum Bewußtſein erwacht. Roffignol aber, 
ber füh mit dem Beſen in ber Hand etwas zurüdziehen will, ge 
säth in ber Hiße gegen den Tiſch und fällt mit ihm um, 

„Andreas ?" zuft er; „unmögli! Er wollte ja nie wieder: 
Iommen.” 

„Und doch ift er wiedergekommen,“ bonnere ich ihm gu, „um 
Sie zum Tempel hinauszujagen.“ 

„Rur nicht jo böfe, Herr Andreas! Ich meine es gut mit 
Peter ; ich bringe ihm einige Lebensart bei.’ 

„Bort, Elender, der Sie meinen Bruder eben fo verderbt machen 
möchten wie Sie find, fort, ober ich ſtehe ‚nicht für mich ein.“ 

„Nichts für ungut, Herr Andreas; verſtändigen wir aus! 











413 


Der Korporal bat ihm das Auge geblänt, weil er mit feinem 
Schatze walzen wollte ; aber fchon morgen follen fie wieder gute 
Freunde fein... 

Ehe Roffignol ausgeſprochen hat, reiße ich ihm den Befen 
and der Hand und prügle ihn damit zum Zimmer hinaus. Wie 
ver Blitz fliegt das ſchoͤne Modell‘ die Treppe hinab, klopft an die 
Loge der Thürhüterin und will ſchlechterdings bei ihr über Nacht 
bleiben. So weit gebt die Gefäfligkeit ver Madame Noch aber 
nicht, und Roffignol muß unverrichteter Dinge abziehen. 

„Gute Nacht, liebe Madame Roh,“ ruft er ihr zu, „'s iſt 
zu ſpaͤt für hente; ein andermal will ich Ihnen den Achilles 
vormachen.“ 


Peter ſitzt noch immer wie leblos im Seffel; er wagt nicht. 


aufzuſtehen, noch ſich von der Stelle zu rühren. Der Arme dauert 
mich ; fein Auge muß ihn gewaltig ſchierzen. Bor ver Hand will 
ich ihn tröften und ihm fpäter die verdienten Vorwürfe machen. 

SH ſuche nach friſchem Waſſer. Alle Gläfer riechen nad 
Liqueurz; ich wafche ein Glas unten am Brunnen rein und fuche 
dann eine Servietie, um Peter zu verbinden, Tann aber feine 
finden ; ſo muß denn mein Tafchentuch herhalten. Ich nehme Peters 
Kopf in die Hände und wafche feine Wunde; er laͤßt Alles mit 
fi machen. Dann bricht er in Thränen aus und wirft ſich mir 
za Füßen, 

„Steh' auf, Beier,” fage ich unwillig ; „Ichäme Dich. Wer 
fällt vor feines Gleichen nieber ? Gefchweige denn ein Bruder vor 
dem anbern.” 

„Ah, Andreas, vote leid thut mir... .“‘ 

„Still, wir veben morgen davon; ed ift drei Uhr, unb wie 
mir ſcheint Zeit, in's Bett zu gehen, obgleich Du gelernt haft, 
die Rat zum Tage zu machen. Geh und fchlaf: Du haft 
Schlaf nöthig.” 

Er gehorcht und geht im feine Kammer, wahrend ich genoͤthigt 

Paul de Kod. I. 27 


— 


414 


Bin, in einem Seffel zu übernachten, denn es elelt mir vor dem 
Bette, in welchem Herr Roſſignol gefchlafen. Trotzdem ſchlafe ih 
friedlich; mein Gewiſſen it rein und Nanette hat bie Seufzer, bie 
Adolphinend Andenken mir entlodte, zum Schweigen gebracht. 

Am folgenden Morgen if e8 meine erſte Sorge, den Jodey 
zu verabfchieden und eine gewandte Haushälterin anzunehmen, die 
in das furchtbare Chaos einige Ordnung bringt. Ich öffne meinen 
Sekretär: Alles ift leer, und doch enthielt ex zweitaufenn Franken, 
ale ich fortging. Auch das Silberzeug if gänzlich verfchwunden, 
fo wie drei große Gemälde von Herrn Dermilly’s Hand, bie id 
als Anvenfen an ihn forgfältig aufheben wollte ; Peter fchläft noch; 
ih will wiflen, wie ed mit mir flieht, ehe er aufwacht. Go gehe 
ich denn zu meinem Rotar, mich nad dem Stand meined Ber: 
mögend zu erfundigen uud nach dem Gebrauch, den Peter von dem 
Handfcheiu gemacht hat, worin ich ihn mit der Verwaltung meine? 
Eigenthums beauftragte. 

„Ihr Bruder hat vieszehntaufend Franken verbraucht feit Ihrer 
Abreife,” jagt mir der Notar. „Er holte faſt täglich Gelb; ihn 
begleitete ein Erzſpitzbube, den ich gerne mit Stodfchlägen fort: 
gejagt hätte. Als ich ihm Borflellungen machte, zeigte er mir ben 
von Ihnen ausgeftellten Handſchein; gegen meine Bemerkung, pef 
er dad Bapital angreife und baburch die Jahreszinfen verringere, 
bemerkte jein Gefährte, daß fle nothwendig Gelb brauchten zu höchk 
einträglichen Spekulationen, welche aller Wahrfcheinlichkeit nach ihr 
Vermoͤgen vervierfachen würben. Hätten fle Tein Geld, fo feien fie 
genöthigt, alles Mobiliar zu verkaufen.“ 

So Hat denn Peter in Zeit von ſechs Monaten und einigen 
Tagen nicht weniger als fechözehntanfend Franken verpupt, unge: 
rechnet den Ertrag des Silberzeuges, ber Benvel- und anderen 
Uhren, meiner Garderobe n. f. w. Noch furze Zeit, unb das ge: 
jammte von Herrn Dermilly ererbte Gut wäre an Spipbuben um 
lieverliche Weibsbilder vergeubst worden. 








415 


Kurz vor meiner Ruckkehr ift Peter aufgeſtanden. Er ſieht 
gewaltig angegriffen aus: feine früher fo blühende Geſichtsfarbe 
iſt welt und Blaß, fein Gang erinnert ganz an ven feiner Zech⸗ 
und Schlemmbrüber, fein Auge ift noch dick angeſchwollen und 
fptelt in alle Farben. 

@r wagt es nicht, den Mund aufzuthum. Ohne ein Wort zu 
ſagen, nehme ich ihn beim Arm und fuͤhre ihn vor den einzigen 
Spiegel, welcher den raͤuberiſchen Händen Roſſignols entgangen iſt. 

„Betrachte Dich einmal, Peter; fieh’, wie verändert Du biſt. 
Dies ſchwelgeriſche Leben feit meiner Gntfernung hat nicht bloß 
mein Vermögen, fondern auch Deine Geſundheit vieleicht auf immer 
zu Grunde gerichtet ; die letzten ſechs Monate haben Dich um zehn 
Jahre älter gemacht. Und weißt Dun, wie viel Du in derſelben 
Zeit durchgebracht haft ? Sechszehntauſend Franken, fage ſechszehn⸗ 
taufend Franken! Noch unlängft hätteft Du mit dem Viertel dieſer 
Summe Dich etabliren koͤnnen. Wo find die Seguhren geblieben I“ 

„Roffignol behauptete, fle feien von ſchlechtem Geſchmack; 
deßhalb wolle er fie gegen befjere umtauschen.‘ 

„So war das Silberzeug auch von fchlechtem Geſchmack?“ 

„Er fagt, er habe es einer Dame geliehen, bie damit nad 
Amerika durchgegangen iſt.“ 

„And meine Waͤſche? meine Kleiver ?“ 

‚Ste feien nicht modifch genug.” 

„Und die drei Gemälde meines MWohlthäters ? 

„Die gehörten ihm, fagte'er, weil er darauf abgemalt fei; 
er wolle fie feiner Familie fchiden.“ 

„Beter, vote Tonntefl Du mit einem ſolchen Nichtswürdigen 
umgehen ? mit einem Menfchen, ven Da ala Dieb kanntefl ? Und 
nicht zufrieden damit, quartierft Du ihn bei Dir ein und gibft Dich: 
blinblings in feine Hände, nimmft feine Unfitten, feine Lafter, feine 
ververbten Gewohnheiten an, und treibft Dich mit ihm und feinen 
Selfershelfern in gemeinen Schenken und Kneipen herum, ſtatt bie 


416 


Freunde zu beſuchen, die es wahrhaft gut mit Dir meinen, und 
denen ich Dich fo dringend empfohlen babe. Kein Wunder, daß 
anf ſolche Tage ſolche Nächte folgen und daß Du Dein Werk mit 
Brügelei beſchließeſt, die Dich beinahe um Dein Auge gebracht 
hätte! Beter, Beter, was ſoll ich davon denken und fagen? Bi 
Du beßhalb nach Paris gefommen ? Iſt dad ter Dank für bie 
Lehren unferes guten Baters ?“ 

Beter it wie vernichtet. Ohne ein Wort zu erwidern, ſchleicht 
ex fih for. Was fange ich mit ihm an? Hat bied Leben den 
guten Kern in ihm vollftändig ertoͤdtet, oder iſt ed noch Zeit zur 
Umicht für ihn? Laſſe ih ihn Hier, oder fchide ich ihn nach 
Savoyen zurüd? Was wirb bie gute Mutter fagen, wenn er, ber 
gefunb an Leib und Seele ausgezogen, an Leib und Seele Tranf 
oder gar verberbi zurädtehri ? 

Ih bin noch unfchläflig, doch fcheint mir dad Beſte, ihm 
eine recht derbe Lektion zu geben und ihn fo ſchnell als möglich 
in eine andere, minder behagliche Lage zu verfeken. 

Während ich fo nachdenke, öffnet ſich plöglich Die Thüre. Wer 
befchreibt mein Erſtaunen, als ich Peter, von Kopf bis zu Fuß 
verändert, vor mir fehe: er hat wieder feine ärmliche Savoyarden⸗ 
tracht an und bad Krageifen auf dem Buckel. 

„Andreas,“ fagt er mit bewegter Stimme, „feit Du mich in 
bie fchönen Kleider ſteckteſt, habe ich nichts ald Dummheiten bes 
gangen. Wer weiß, wohin ich Tomme, wenn bied träge, ſchwel⸗ 
gerifche Leben fortpauert. Ich will zu meinem Handwerk zurück; 
ich babe mich ehrlih und reblich babei genährt und mich wohler 
gefühlt als jetzt. Laß mich erfi wieder den Kamin fegen, und 
Du follfi feine Urfache mehr haben, Dich Deines Bruders zu 
ſchaͤmen.“ 

Geruͤhrt fallen wir und in die Arme und weinen uns aus. 
Schon will ich ihn einlaben, bei mir zu bleiben; doch nein, ich 
fühle, Daß Peter nirgends fehneller und gründlicher gefunden kaum, 





417 


als in Sefellfchaft ver Leute, die im Schweiße ihres Antlikes ihr 
Drop auf redliche Weiſe verbienen. Nach fechömonatlidem Um- 
gange mit einem Roffignol wird das mühfame Handwerk, das er 
gelernt bat, ihm unendlich wohl thun. 

„Peter,“ ſage ich nach einer Paufe zu ihm, „dieſer Dein 
Entſchluß beweist mir, Gottlob, daß Dein Herz nicht gelitten hat, 
fondern nur Dein Kopf. Nimm Dein Handwerk von Neuem auf, 
ich habe nichts dagegen, und mache nur, daß ich Dich einft unferer 
guten Mutter ald würdigen Sohn vorftellen darf.” 

Beter umarmt mich nochmald und entfernt ſich mit dem Eifen 
anf dem Rüden. Beim Hinausgehen fingt er daffelbe Liedchen, das 
ex au jenem Tage fang, als wir in dem dunkeln Gange des Haufes 
gegenüber dem gräflicden Hötel fo unerwartet zufammentrafen. 

Jetzt geſchwind zu Nanette; bei ihr verfchmerze ich am Teichte: 
ten meine Berlufte. 

Sie erwartet mich mit Ungebuld, ja mit Unruhe, denn fle 
fürchtet, ich Habe dem Verlangen nicht wiberftehen Tonnen, das 
altgewohnte Haus mir anzufehen, vielleicht gar mit Abolphine zu- 
ſammenzukommen. Sie läßt 68 gar wicht: laut werden, aber id} 
leſe es in ihren Augen, deren Sprache ich jetzt ungleich beſſer ver- 
ſtehe als je zwwor. Aber nein, gute Nanette, Du haft jet nichts 
mehr zu fürchten ; ich habe nur einen Gedanken: Dich glüdlich zu 
machen, Dir zu lohnen für die reine, nneigennübige Liebe, bie 
uch trotz nnzähliger Beweife fo fpät erft ſchaͤzen gelernt Habe. Ich 
fage ihr das mit, aber fie muß fo gut in meinen Augen lefen 
Sönnen wie {ih in den ihrigen, denn ein einziger Blick von mir tröftet 
mb beruhigt fie. 

Sch erzähle meinen Freunden, wie Beter in meiner Abweſen⸗ 
beit gehaudt hat. Sie wollen es faum glauben, eine jo gute Mei- 
ung haben fe von Peters Herzen; allein dad Ende Ihn! fe 
wieder mit gm and. - 

„Du Haft recht gehaudelt, Andreas,‘ fagt Bernhard; „laß 


ax 


„Ich darf nicht hören, Lucilie; gewilfe Perfonsn will ih ver: 
geffen. Empfehlen Sie nich der Yrau Gräfin beſtens: das iR 
Alles, um was ich Bitte.“ ’ 

„Mein Bott, wer fcheivet jo von einander ? Ich hoffe, Heu 
Andreas, Sie find jept von Ihrer Liebe geheilt, naher ſchweige 
ich davon... ed war eine Schulliebelei, wie Jader fie gehabt Mat; 
fo was vergeht mit der Zeit. Ich 3. DB. war ſchon in meinem 
zwölften Jahre bis über die Ohren verliebt in meinen Coufin, 
den ich mein Männchen nannte, und ich glaubte, die Liebe würde 
ewig dauern; aber was ift dad Ende vom Lie? Sch finde dus 
Männchen jept ganz abjcheulich.” 

„Adieu, Lucilie! man wartet auf mid.“ 

„Alfo nicht ein Viertelſtündchen wollen Sie mir fchenfen... 
einer alten Freundin, die Sie noch eben fo gern hat wie früher? 
Mer weiß, wenn wir und wieber treffen! MWohne ich Doch über 
eine Meile von Ihnen.“ 

„Wie, Lucilie, Sie find nicht mehr bei der rau Gräfin!" 

„Bewiß bin ich's noch.“ 

„Wohnt fie denn nicht mehr in ihrem Hötel ?“ 1. 

„In ihrem Hötel? So wiſſen Sie nit... .“ 

„ch weiß von nichts, Lucilie; Sie erſchrecken mich. Reben Sie!“ 

„Mein Bott, Sie wiffen nit, wie es und ergangen ?“ 

„Auf Ehre, ich weiß keine Silbe. Geſchwind, erzählen Sie!“ 

„Bo foll ich anfangen und wo aufgören? Gin Schlag nad 
bem andern hat und getroffen. Aber fo geht's, wenn die Mütter 
vergefien, daß fie jung gewejen find und ihren Töchtern Männer 
geben, bie fie nicht mögen.“ 

„Reden Sie, Lucilie, reden Sie!” 

„Die Heirat Fräulein Adolphinens mit ihrem Couſin wiſſen 
Sie. D, wie viele Thränen hat die arme, Kleine geweint, ganz 
im Stillen, denn fie wollte ihre Mutter nicht betrühen. Abolphin⸗ 
liebte Sie, das weiß ich, aber fie ließ es ſich nicht merfem: bie 


AN 


jungen Fraͤulein behalten fo was immer für ſich; auch hat die Frau 
Graͤſin ihr oft vorgefchwagt, daß Sir niemals ihr. Gemahl mudhen 
koͤnnten: fo gab fle denn nach. O, wie viel beſſer Hätte nian gethan, 
fie Ihnen zur Frau zu geben; Sie hätten-fie gewiß glücklich gemacht. ⸗ 

„Weiter, Lucilie, weiter!“ 

„Alſo: ungefähr acht Tage mach der Hochzeit feiner —— 
ſtirbt der Herr Graf an Unverdaulichkeit: daran lag nicht wies; 
aber wäre er eher gefterben, jo hätte vielleicht Die Hochzeit ger 
nicht flatigefunden, denn er namentlich wollte fie. Eine Zeit: Jay 
hielt es der Marquis bei feiner jungen Frau ruhig aus, aber fchen 
kaum nad, Verlauf von zwei Monaten warb er ganz anders: et 
ging Morgens in aller Frühe aus, kam erſt ſpaͤt heim, oft ger 
nicht; kurz, ex ließ feine Frau Frau fein und trieb ſich außerhalb - 
des Haufes herum. Die junge Margquifin trag. ihr Unglüd ſtand⸗ 
haft und blieb immpr bei. ihrer Mutter. Als dieſe dem Murquis 
allerhand friedliche Vorſtellungen machte, warb es noch viel Auger. 
Er fagte: er fei Herr. im Hauſe und Tönne thun, was er: wolle, 
das werbe er ihnen zeigen. Und. ex bat Wort gehalten! Deulen 
Sie ſich die Berzweiflung meiner guten Herrin,. als fie Hört, daß 
ihr Schwiegerfohn ein Spieler von Profeffion fet ud ſich außer⸗ 
dem noch hundert andern Ausfchweifungen überlaſſe. Es war dem 
jungen Maxquis leicht geworben, feinen Schwiegervater, det ſich 
nur um feine Hunde und feine Küche kümmerte, über fette Ber: 
mögensumflände zu tänfehen... kurz und gut; ed Sam bald heraus, 
daß der Marquis bei feiner Verheirathung ſchon his über dic ihren 
in Schulden ſteckte und feine Bläubiger nur deßhnlb Geduld hatten 
mit ihm, weil fie hofften, die Mitgifi der jungen. Gräfin werte - 
ihn in den Stand fegen, feine Schulden wenigſtens theilwriſe abs 
auiragen. Aber folch ein Erzverſchwender, wie der. Marquio, hätte 
Das Vermoͤgen eines. Rabob in Kurzem durchgabracht! Leiber new 
fiehen die Graͤſin und ihre Tochter von Geldgefchäften.aiihte, Das 
Ende nom Liede war, daß ‚nie Gläubiger des jungen-Margais das 





Hbhel und ſaͤmmtliches Zugehör vor ungefähr zwei Monaten in 
Beſchlag nahmen. Das Hötel und dad gefammte Mobiliar wurben 
an den Meiſtbietenden verlauft. Die Damen haben Mühe genug 
gehabt, die werthvollſten Sachen zu retten. Herr Champagne bot. 
mir feine Hand an, aber ich fchlug fle, ohne mich Iange zu bes 
fauen, aus. Pfui, einen folgen Menfchen, einen Dieb und Be- 
träger zu heirathen! Denn ich bin für mich überzeugt, er ſteckt 
mit den Gläubigern des Marquis unter einer Dede. Wider ben 
Billen der Graͤfin, die mich fchlechterbings aus Ihrem Dienfte ent: 
laffen wollte, bin ich ihr in ihre befcheidene Wohnung im Fau⸗ 
bourg Saint⸗Germain gefolgt: da müffen fi die Damen mit dem 
Röthigften begnügen und ruhig warten, bis der Marquis, ber feit 
- der Beſchlagnahme des Hotels fi aus dem Staube gemacht hat, 
feiner jungen: Frau Rachrichten gibt.“ 

Bergebens fuche ich die Wirkung biefer Nachricht auf mich zu 
ſchildern. War's möglich? Meine Wohlthaͤterin, eben noch im 
Schooße des Gluͤckes und Reichthums, plöglich aller Annehmlich⸗ 
beiten beraubt, welche den höheren Klaſſen eben fo nothwendig ge⸗ 
werden find wie das liebe Brob ? Und ihre Tochter, Fräulein Adol⸗ 
yhine .. . ich kann es nicht über's Gerz bringen, fie Frau zu 
newmen — Fräulein Adolphine unglüdlich, elend, von ihrem Ge 
wahl ‚verlafien, am der Mutterbruft ihren Kummer ausweinend ? 
Mein Gott, wer hätte das gedacht! 

1. Lacilie vehdt mir die Hand und will ſich entfernen. Jetzt iſt 
bie Beihe au mir, fie zurückzuhalten. 

„Lucilie, Ich wünfche Se wisbeuzufehen:“ 

„3% bleibe den ganzen Tag bei meiner Herrſchaft; aber Ihnen, 
Gere Aubreas, Kann ich unmsglich was abſchlagen.“ 

„sb: handelt ſich nicht um mi, Lucilie. Ich möchte... id 
weiß ſelbſt nicht was... aber fo kKonnen fle nicht bleiben; es maß 
was geſchehen.“ 

Mr Andbreae, Ihre Bewegtheit zeugt von ihrem guten Herzen; 











438 
fie macht Ihnen Ehre. Ich Hätte vielleicht; ſchweigen folfen von 
dem Allem ; aber Sie wiſſen, ich kann nichts für mich behalten.“ 

„Ich danke bem Himmel, daß er ung zufanunenfühtte, La⸗ 
eilie! Wenn ich's nur cher gewußt: hätte. Aber ich muß, ja, 
Lucilie, ich muß Sie wieberfehen, und recht bald ;: ih muß mit 
Ihnen fprechet.” 

„Bielleicht möchten Sie die Damen beſuchen? Gier ift ihre 
Adreſſe. Wie werden fie fi freuen ! Sie ſprechen nicht von Ihnen, 
aber denken um fo mehr an Sie.“ 

„Sie irren fich, Lucilie.“ “ 

„Rein, Kerr Andreas, ich iere mich nicht.“ 

„Ich darf fie nicht fehen, Lucilis. Aber Sie möchte ich Sehen, 
fprecden : ich erwarte Sie übermorgen, horen Sie, übermorgen ; 
vergeffen Sie's ja niet!” 3 

„Sch vergeſſe nie ein’ Renbervond, ger Auhrend.”. & 

„Adien, Luctlie:!. Time jagen Sie ja nicht, baß Sir mir bes 
geguet find. “ nt ı 
‘„Berlaffen Ste üb: batanf. Apten !“ 

Es dauert lange , lange ‚:ehe ich mich einigermaßen ı von 1 meine 
Schrecken erhole. ' Mein GEutſchlaß iſt ſchnell gefaßt ; ich habe beine 
andere Wahl. Aber Ranette wartet. Soll ich Ihr fagen, was ich 
zu thun gebenke? Ja, Nanette, Tara es Rur billigen ; ; auch darf 
ich ihr nichts verheimlihen . « 

Nanette if} jetzt allein: im Zimmer. aAnf den erſten Blick merkt 
ſie, daß ich was auf dem Herzen habe. 

‚nd fehlt Dir, Amdtead.?“ Fragt: Id auf mich zulaufend. 
Mile, Nunstie, nichis!9 

„Andreas, Du haft ein Geheimniß vor mir; ich ſehe Dies 

an den Augen an. Gewiß biſt Du Jemanden begeguet. “. 
„IE, Ranette, ich bin“ Lucilie begegnet.“ 

Und vdaher; Deite Dewegung T: Hat fie Die era von... 

einer, die Du noch liebſt ?" tet 


a2 


„Dre wid, Nanetie. Lucilie Hat mir erzählt, daß meine 
Wohlthaͤterin und ihre Tochter durch das laſterhafte Leben des 
jungen Narquis um ihr ganzes Bermögen gebracht ſind; daß Beide 
das ſchoͤne Hoͤtel mit einer kleinen Wohnung im vierten Stockwerk 
vertauſcht haben; daß fie nichts mehr ihr eigen nemnen, als ihre 
Juwelen, ihren Schmuck.“ 

„Großer Gott!“ 

„Rauette, was ich habe, habe ich von Herrn Dermilly, der 
nicht nur mein Wohlthäter, ſondern auch der vertrantefte Freund 
der Bräfin war. Glaubſt Du nicht, dag wenn Herr Dermilly noch 
lebte, er alles Seine bingeben wärbe, um feiner geliebten Caroline 
im ihrer Behränguig zu helfen *“ 

„Gewiß, gewiß!“ 

„Bas er nicht meht thun fann, das muß ich thun. Wohlen, 
ich bin entſchloſſen, ihr mein ganzes Bermögen zu geben ; fie hat 
gerechte Unfprüche darauf, denn fie iſt mir eine großmüthige Wohl: 
thäterin geweien. Weberbied bin ich im Stande, von dem Grirage 
meiner Kunft zu leben, was bei ihr nit der Fall if. Meine 
siugige Beirhbutb if, daß ich meiner Tünftigen Lebensgefährtin 
hans nidhtd- weiter an zabieden habe, als nueine Haar. Wil Du 
wich heiraten, Manette, and ‚wenn ich arm Bin!‘ 

. „Bas fagt ec? Er will mich heirathen?. “ifo ich wäre 
es, Andreas ? Alſo liebſt Du mich?" 

„Ob ich Dies liche, Rametbe!: Du hatteſt © es lange merfen 
tönnen.” 

Ich glaubie, Du liebteſt mich Hof. als Deine Schweſter!““ 

„Biel mehr, Nanette! Ich liebe Dich als mein künftiges Weib, 
ich Hebe Dich wie nichts auf der Welt; ich kann hinfort nicht 
ohne Dich leben, Naneite-!” 

„D Da Boſer! Uns Du fagteft nichts davon ? Aber auch 
ich fagte Die nichta, und boch bat mein ven nur Fir DUB ge 


J Alarm, 4“ 


Ich nehme Manetie in meine Arme und drücke fie zärtlich an 
mein Herz. Sie weint, aber diesmal im Uebermaß ihrer Freude,“ 
und ich laſſe ſie ruhig fortweinen. 

„Run, Nanette, und meine Wohlthaͤterin?“ frage ich nach 
einer langen Pauſe ſtummen Glückes. 

„Sol Alles haben, was Dir gehört, mein Freund. Verkaufe 
Alles, Alles ; je ärmer Du wirft, um fo näher kommſt Du mir. 
Was brauchfi Du Vermögen? Du haft Talent genug ; Deine und 
meine Arbeiten nähren, und hinreichend, D, wie glüdlich wollen 
wir fein! Ja, Andreas, Du haft recht; es wäre ſchnoͤder Undank, 
wollteft Du fle in den Tagen des Unglüdes im Stiche laffen. Ge⸗ 
wind, Andreas, und thue Alles von Dir ; Du fiehft, wie wandel⸗ 
bar ber Reichthum ift und wie gefaͤhrlich; er Hätte beinahe ben 
armen Peter von Grund aus verberbt und Dich von mir entfernt. 
Wie will ih Dich lieben, wenn Du erft arm bift wie ich !“ 

Ich umarme Nanette nochmals und will Dann von ihr fcheiben, 
als Vater Bernhard ins Zimmer tritt. Halb lachend und Halb 
weinend eilt fie auf ihn zu und wirft ſich in feine Arme Der 
gute Wafferträger flieht fie verwundert an. 

„Bater, ruft fie, „er liebt mich, mich umd Seine Andere, 
ich fol feine Frau werden, ex wii mich heirathen! Nicht wahr, 
Papachen, Du haft nichts dagegen, nichts? Sprich, Vaterchen, 
ſage ja!“ 

„Bas Teufel fehlt Die, Mädchen? Wer will Dich heirathen ?'' 

„Andreas, Väterchen. Wen könnte ich fonft heirathen ?“ 

„Ja, Bater Bernhard,‘ fage ich, „ich werbe hiemit um Ras 
neitene Hand. Ich gelobe Ihnen, fie Zeit meines Lebens zu lieben, 
fie auf ben Händen zu tragen. Aber ich muß Ihnen zugleich fagen, 
daß ich nicht mehr reich bin, daß dad von Herrn Dermillg ererbte 
Vermoͤgen in andere Hände übergegangen iſt.“ 

Hierauf erzähle ich dem guten Auvergnat bie Unglücksfälle 
ber gräflihen Familie, fo wie das, was ich zu ihrer Hülfe au 


418 


Freunde zu beſuchen, bie es wahrhaft gut mit Dir meinen, und 
denen ich Dich fo dringend empfohlen habe. Kein Wunder, vaf 
auf ſolche Tage ſolche Nächte folgen und daß Du Dein Werl mit 
Prügelei beichlisßeft, die Dich beinahe um Dein Auge gebracht 
hätte! Beter, Beter, was ſoll ich davon benfen und fagen? Biſt 
Du deßhalb nad Paris gefommen? If das ver Dank für bie 
Lehren unferes guten Baters ?“ 

Peter ift wie vernichtet. Ohne ein Wort zu erwidern, ſchleicht 
ex fich fort. Was fange ich mit ihm an? Hat dies Leben ben 
guten Kern in ihm vollländig ertödtet, oder ifi ed noch Zeit zur 
Umkehr für ihn? Laffe ih ihn Hier, oder ſchicke ich ihn nad 
Savoyen zurüd ? Was wird bie gute Mutter jagen, wenn er, ber 
gejund an Leib und Seele ausgezogen, an Leib und Seele Tran 
oder gar verberbt zuruͤckkehrt? 

Ich bin noch unſchlüſſig, doch fcheint mir das Beſte, ibm 
eine recht derbe Lektion zu geben und ihn fo fehnell ale möglich 
in eine andere, minder behagliche Lage zu verſetgen. - 

Während ich fo nachdenke, oͤffnet fich plöglich die Thuͤre. Wer 
befchreibt mein Grflaunen, als ich Peter, von Kopf bis zu Fuß 
verändert, vor mir fehe: ex hat wieder feine ärmliche Savoyarden⸗ 
tracht an und dad Krakeifen auf dem Budel. 

„Andreas,“ fagt er mit bewegter Stimme, „feit Du mich in 
bie fchönen Kleider ſteckteſt, babe ich nichts ald Dummbeiten bes 
gangen. Wer weiß, wohin ich Eomme, wenn dies träge, ſchwel⸗ 
gesifche Leben fortvauert. Ich will zu meinem Handwerk zurüd ; 
ich Habe mich ehrlih und reblich dabei genährt und mich wohle 
gefühlt als jetzt. Laß mich erfi wieder den Kamin fegen, und 
Du follft Eeine Urfache mehr haben, Dick Deines Bruders zu 
ſchaͤmen.“ 

Gerührt fallen wir uns in die Arme und weinen und aus. 
Schon will ih ihn einladen, bei mir zu bleiben; doch nein, ich 
fühle, daß Peter nirgends ſchneller und gründlicher gefunden kaun, 





Bald habe ich ein pafſendes Logis in der Mühe vom Bater 
Bernhard gefunden. Daun kehre ich nad Haus zuruͤck, verkaufe 
alles überflüffige Mobiliar, verabſchiede Madame Roch und zahle 
ihr den Lohn für das verflofiene Quartal uud Das nächkte obendrein. 

Hierüber vergeht der Tag. Ehe ich am andern Morgen zum 
Notar gehe — bei den Herren Rechtskundigen kommt man lieber 
etwas fpäter als früher — begebe ich mich zu Nanette, der ich 
nicht früh genug kommen kann. 

Wie freut fie fih, als fie Hört, daß ich in ihre Nähe ziehe! 
Seit geflern, feit ver Gewißheit ihres Glückes if fle wie neuge: 
boren. Augen, Stimme, bie geringfte ihrer Bewegungen, Alles 
an ihr athmet die Liebe, den hoͤchſten und fchönften Reiz ihres 
Daſeins. 

Endlich Schlägt die mil dem Notar verabredete Stunde. Er 
legt mir taufend und aber taufend Papiere zur linterfchrift vor. 
Ich unterzeichne Alles, was ex verlangt, obgleich ex mich bei jenem 
Aktenſtück auffordert, wohl zu überlegen, was ich thue. Endlich 
hänbigt ex mir ein Bortefeuille mit fünfundachtzigtaufenp Franken 
ein. Das ift Alles, was mir nach Peters okonomiſchem Haus: 
halte von der Erbſchaft Herrn Dermilly’snoch übrig bleibt, Ich 
ſtecke das Portefeuille mit verfelben Freude ein, als hätte ich einen 
goldenen Einkauf gemacht. Der bebächtige Geſchaͤftomann muß 
mich für einen Narren oder für einen Bruder Lieverlich halten ; 
aber was liegt mir an der Meinung dieſes Herm! Mein Gewiffen 
iſt sein und das iſt die Hauptſache. 

Gine Biertelftunde vor der beflimmien Zeit findet ſich Lucilie 
bei mir ein. 

„Bas gibt es Neues Bei der Frau Gräftn I rufe ich ihr zu. 

„Nichts. Der Marquis läßt noch immer nichts von ſich hören. 
Meine junge Herrin, um ihre Mutter beforgt, bat mich beauf⸗ 
tragt, ihr Arbeit zu fuchen; Madame that daſſelbe. Wüßten Sie 
nur, Herr Andreas, wie mir Das zu Herzen geht!” ’ 


„Iröften Ae ſich, Lueilie; dies Bortefeuille wirb hoffentlich 
anf lange ihrer Noth abhelfen. Rur ſchworen Gie mir, daß Sie 

genan than wollen, was id; Ihnen age.“ 

— J ich ſchwoͤre es. Sie wiſſen, daß ich immer gethan habe, 
was Sie wollten.“ 

„Sie geben alfo dies Bortefeuille der Frau Gräfln und fagen 
ıhr, daß ed von einem Unbekannten gebracht wurbe, der feinen 
Namen nicht genannt habe.“ 

„Und weiter ?“ 

„Weiter nichts.” 

„und ich ſoll nichts von Ihnen fagen ?“ 

„Ken Bort, hüten Sie fi!” 

„D ich erratbe Sie, guter Andreas. Gewiß ift Geld in dem 
Portefenille, viel Geld vielleicht, denn Sie find zu Allem fähig, 
um meiner Herrin zu helfen.“ 

„Nein, Lucilie! Mir bleibt noch mehr ald genug übrig.“ 

„Und ich foll nichts von Ihnen- jagen ?“ 

„Keine Silbe! Wenn Sie mein Geheimniß verrathen, ſpreche 
ich nie mehr ein Wort mit Ihnen. Merken Sie ſich's.“ 

„Ich gehorche, Herr Audreas. O, wäre boch Bräulein Adol⸗ 
phiue Ihre Fran geworden, wie glücklich Tönnte fie jept fein! Jeden 
Morgen Idmmi.fle mit verweinten Augen ind Zimmer. Ihrer Butter 
fagt fie, das fei ein Augenleiden, aber ich, ich weiß die Urſache.“ 

„Lucilie, forgen Sie beftens für bie beiven Damen und geben 
Sie mir von Zeit zu Zeit Nachrichten über die Frau Gräfin. Hier 
iſt meine Adreſſe. Sept Adieu! Eilen Sie und bringen Sie es 
gleich den Damen.“ 

„Erſt einen Kuß zum Abſchied, Here Andreas!“ 

Ich Eüffe Lucilie, dann entfernt fie ſich mit dem Bortefeuille. 
Ich fühle mid glüdlicher und zufriedener ald je zuvor. In ge 
radem Gegenſatz gegen fo Viele gewann ich um fo mehr an Heiter⸗ 
ih an Schägen einbüßte. 


aR9 


Bweiunddreißigfies Kapilel. 
Zurüſtungen zur Hochzeit, — Legter Streich Roffignofs. 


Ih wohne jegt in meinem Fleinen Logis ungleich zufriedener 
als in ver alten, größeren und fchöneren Wohnung. Der Gedanke, 
dem Mangel meiner Wuhlthäterin abgeholfen zu haben, verwandelt“ 
die mir freiwillig auferlegten Entbehrungen in Genüfle für mic. 

Mit verboppeltem Eifer arbeite ich an den angefangenen beiden 
Gemälden, Der Erlös aus denfelben fol die Koßen der Hochzeit 
and der Mitgift beftreiten. Letztere wird zwar nicht ſehr glänzend 
ausfallen, aber was ſchadet das? Nanette wünfcht ſich Teine Dia- 
manten, Caſchemirſhawls und Spigen. Mir gefällt fie befjer ohne 
diefelben , ald mit ihnen. 

Es dauert nicht Tange, fo kommt Lucilie wieder. Als fie mich 
fieht, fällt fie mir weinend um ben Hals und ergießt ſich in Lob: 
ſprüche, die mir gewaltig übertrieben fcheinen, weil das Opfer 
mich wenig Ueberwindung gefoftel hat. Die Fran Gräfin, fo er: 
zählt fie, habe alles Mögliche verjucht, ihr das Geheimniß zu ent- 
locken, während fie ſtandhaft behauptet hätte, ven Geber nicht zu 
fennen. Die Damen vermuthen, das Geld fomme vom Marquid. 
Um fo befler! das muß Adolphine mit ihrem Gemahl ausfühnen. 
Es if gar traurig, dem nicht achten zu dürfen, deſſen Namen man 
trägt! Inzwiſchen ift Bräulein Adolphine, wie Lucilie verfichert, 
aoch eben ſo traurig wie zuvor. Wenigftend leiden fie jept. keinen 
Mangel und brauchen nicht mehr daran zu benfen, um bes Geldes 
wegen zu arbeiten. Beim Abſchied muß Lucilie nochmals ſchwoͤren, 
ihr und mein Geheimniß für fich zu behalten, obgleich es fie ärgert, 
daß die Damen den Marquis in fo gutem Verdacht haben. 

Auch Peter ift mit dem von mir gethanen Schritte zufrieden, 
Er verfüchert, daß er jetzt lieber arbeite ald je, und daß er ben mir 
verurfachten Schaden erjepen wolle. Seitvem er wieder zum Schubs 

Paul de Rod. U. 28 


40 


eifen gegriffen Hat, ift feine alte Heiterkeit, fo wie auch fein blüs 
bendes Ausſehen zurüdgefehrt. Rur auf dem linken Auge trägt er 
noch die Spuren jener nächtlichen Prügelei. So oft fie ihn in die 
Kneipen nehmen wollen, zeigt er auf fein Auge und betheuert, 
daß er and einem Weintrinker ein Waflertrinfer geworben fei. 

Allabendlich bin ich bei Nanetten und ſchmiede mit ihr aller: 
band Pläne für die Zukunft. Mit jevem Tage entdecke ich an dem 
Mäpchen neue Tugenden. Keine Spur von Ehrgeiz ober Eitelkeit! 
Ihr einziger und hoͤchſter Wunſch if, mit mir zu leben und zu 
fterben. Bater Bernhard altert bebentend und Hat fich von feinen 
Geſchaͤften zurückgezogen. Wir nehmen ihn mit nach Savoyen ; dort 
fol es ihm wohl gefallen bei meiner guten Mutter in ihrem hübfchen 
Häuschen. Wie freue ich mich auf die fehönen Zeiten. Die Hoffnung 
bes Glückes ift ſchon das Glück felbft; oft ifl die Vorfreude mehr 
werth als die Freude felbft. Jeden Abend fragt Nanette, ob ich bald 
fertig fei mit meinen Gemälden. 

Endlich, nach fechd Wochen, lege ich die letzte Hand daran. 
Wenn ich nur erſt einen Käufer gefunden hätte! Früher war mir 
das ein Leichtes; fo lange ich dem Glüde im Schooße faß, fuchte 
man eine Chre darin, mir Aufträge geben zu können; jept iR das 
anders, weil ich die Dummheit begangen habe, merken zu laflen, 
daß ich nicht mehr veich bin und daher um bed Broderwerbes wegen 
malen muß. Ich hätte die Leute ruhig bei ihrem früheren Glauben 
laffen follen, daß ich nur aus Luft und Liebe zum Fache arbeite, 
Ich wette, ich hätte laͤngſt ſchon Liebhaber gefunden. ber erft der 
Schaden macht uns Flug! 

Oft Tegt fi meine Stirne unwillfürlich in Runzeln. Sobalb 
Nanette das fieht, ift fie gleich mit ihrem Troſt bei ver Hand. 

„Barum fo befümmert ?“ fpricht fie. „Was brauchen wir Gelb, 
Breund? Wir gehen zu Deiner Mutter; Du malft und ich nähe und 
ſtricke oder arbeite fonft was, Wer mit fo Wenigem zufrieden if, 
der muß glädlich werben !* 





431 


„Ja, liebes Mädchen, ich fühle das mit Dir; aber Dich fo auf 
gut Glück heirathen , ohne ſicheres Brod und ohne Dir das Näthinfte 
reichen zu koͤnnen: nein! dad geht nicht und doch verlangt mich von 
ganzer Seele nach der Heirath mit Dir.“ 

„Bann macht Ihr denn endlich Anftalten zur Hochzeit?" fragt 
Bater Bernhard täglich. - 

„Sobald e8 dem Herrn beliebt," antwortet Nanette mit einem 
Blick auf mich, der mich ind Herz trifft. 

„Hoffentlich recht bald,” fottere ich verlegen. „Ich muß erſt 
fertig fein mit... .“ 

„So mad’ fchnell,“ entgegnet Vater Bernhard; „ich werde 
alt, Kinder, und ich möchte gerne auf Eurer Hochzeit noch einmal 
tanzen.” 

Eines Tages fige ich migmuthig auf meinem Zimmer und denke, 
wie ich meine Gemälde an ven Mann bringe, ald plöglich die Thüre 
fih inet und Peter Hereintritt, wie mir fcheint, äußerfl verlegen. 

„Was willſt Du?“ frage ich ihn, der ſtumm vor mir flehen 
bleibt. 

„Haft Du Deine Gemälde verkauft, Bruder ?“ 

„Leider noch nicht.” 

„Und Du heiratheft nicht, weil Du fein Geld Haft?" 

„Sa, Beter. Ich weiß zwar, das ift Fein Hinderniß für Na- 
netten ; aber ich möchte nicht... . kurz, Bruder, ich heirathe fie, 
das ift gewiß; alfo tröfte Dich!“ 

„Wirſt Du mir böfe, Bruder... ." 

„Sprich, Beter.” 

„Bann ih... aber ih mag's nicht fagen.” 

„Nur heraus mit der Sprache.“ 

„So höre denn: Du weißt die dummen Streiche, die ich mit 
dem Schuft von Roffignol machte. Wenn Du jetzt die Hälfte Hätteft 
von dem burchgebrachten Gelde, nicht wahr ?“ 

„Laſſen wir das, Peter, gefchehen ift gefchehen. Nur laß Die 


482 


jene Zeit zur Warnung bienen umb häte Dich vor ſolcher Geſell⸗ 
ſchafi. 

„Gewiß, Bruder; der Roſſignol wollte einmal wieder anfangen 
mit mir, aber ich hab’ ihm mit dem Stod ven Weg gewieſen, 
und die Luft zum Geſpräch verging ihm augenblicklich. Seit ich 
von Neuem arbeite, habe ich mir Etwas erfpart als Schabenerfag 
für Di.“ 

„Wie kannſt Du fo reden, Bruder ? Mein Bermögen war auch 
Deines, Ueberdies hatte ich Dich zum unumfchränften Herm deſ⸗ 
felben eingeſetzt.“ 

„Abgefehen vom Gelde... aber die Mobilien... die Pendel⸗ 
uhren ... die Waͤſche ... die Kleider! ... Seitvem hab’ ich eine 
Kleinigkeit zufammen gefpart; nimm fie von mir an: es find 
achtzig Franken in biefem Sad; fle gehören Dir, Andreas. Hei- 
rathe damit, wenn Du kannſt.“ 

Mit den Worten hat er einen Sad aus der Tafche gezogen 
und hält ihn mit zitternder Hand mir hin. Du guter, lieber Beter! 
Ich drüde ihn zärtlich an mein Herz, weigere mich aber entfchieben, 
das Geld anzunehmen. 

„Ich bitte Di, Andreas, nimm ed von mir an, ober ich 
muß glauben, daß Du mir noch böfe biſt.“ 

Peter dringt fo Tange in mich, bis ich mich endlich zur An- 
nahme bereit erfläre. Während dieſes brüderlichen Zwiftes öffnet 
ſich die Thüre und herein tritt ein Mann von rveiferem Alter, ein: 
fach, aber anſtaͤndig gekleidet. 

Schon bei den erften Worten weiß ih, was er will, und das 
Herz hüpft mir im Leibe. Er hat gehört, daß ich zwei Genre: 
gemälde zum Verkauf habe und wünfcht fie zu fehen. Sch führe 
ihn in mein Atelier und zeige fie ihm. 

Der Unbekannte betrachtet fie lange; dann läßt ex einige Worte 
fallen , woran ich merke, daß ich e8 mit einem geubten Kunſtkenner 
au thun habe. Aber man denle ſich meinen Schrecken, als ex mic 


"488 
auf mehrere weientliche Mängel in Compoſition und Ausführung 
aufmerkſam macht, worin ich ihm Recht geben muß. DO, in dem 
Augenblide Hätte ich dieſe mühjamen Werke meiner Hand zu Staub 
und Afche verbrennen mögen ! 

Aber wer ſchildert mein freubiges Erflaunen, ald er mit ben 
Worten fließt: „Trotz der Mängel will ich Ihre Gemälde kaufen. 
SR Ihnen ein Kaufpreis von zwölfhundert Franken für beide 
genehm 7? 

Dabei zählt er mir diefe Summe auf ven Tifch Hin. Ich, 
früher im Befig von ſechstauſend Livres Jahresrenten, gerathe bei 
dem Anblick dieſer zwölfhundert Franken in ſolche Extafe, daß ich 
lange eine Worte finden kann. Da fieht man, daß ein einziger, 
im Schweiß des Antliges erworbener Thaler glüclicher macht, ale 
alle Schäge, weldhe die Blinde Goͤttin und auf den Weg ſtreut. 

„Hier ift meine Adreffe: Sie werben die Gemälde mir zu: 
ſchicken.“ Dann entfernt er ſich; ich will ihm an bie Treppe das 
Seleit geben, aber er leidet es nicht. Auf der Karte Iefe ich den 
Namen eined Mannes, der mir als reicher und gebiegener Kunft: 
kenner gepriefen war. Obgleich er über Millionen zu gebieten hat, 
it er einfach zu Zuß gekommen. Zugleich hat er mir einige bes 
deutfame Winfe gegeben mit jener Höflichkeit, welche die ſtrengſte 
Kritik zu verfüßen weiß. Es ift überaus wohltuend, die Gaben 
bes Glückes mitunter an den rechten Mann gebracht zu ſehen! 

Kaum iſt der Herr fort, fo geben wir und die Hand und fanzen 
um den Tifch mit ben zwoͤlfhundert Franken ſo ausgelaſſen herum 
wie Kinder. 

„Jetzt hoffe ich, ſchiebſt Du Dein Saäckchen in die Taſche,“ 
ſage ich zu Peter. 

„Mit nichten, Andreas; ed gehört Dir.‘ 

„Beter, Du ſollſt es Dir aufheben.‘ 

„Bas foll ich damit machen? Die gute Mutter braucht es, 
Gottlob! nicht, font würde ich es ihr ſchicken. 


434 


„Sib es mir fpäter, wenn ich es nöthig Habe.“ 

„Es ſei!“ 

„Und glaubſt Du, ih wolle Dich Hier auf der Straße her: 
umlaufen laffen ? Gleich nach der Huchzeit reifen wirab, Du mit 
und. Das Haus der Mutter ifi groß genug für ung Alle. Seht, 
da meinem Talente die Bahn gebrochen ift, Bleibt mir nichts zu 
wünfchen übrig. Geſchwind zu Nanette! Inzwifchen bringe da beibe 
Gemälde zum Herrn ..., bann treffen wir ung bei Bernhard.” 

Mit meinem Schape in der Tafche eile ich zu Nanette, 

Schon von Weiten liest fie die frohe Nachricht in meinen 
Augen ; ich ſchütte ihr mit triumphirender Miene die zwölfhundert 
Franken in den Schouß und fage: „Siehe pa die Frucht meines 
Zalented und Fleißes. D, Nanette, wie dankte ich meinen Wohl: 
thätern für dad Geſchenk einer guten Erziehung : das ift ein Gut, 
Dad und Niemand rauben Tann, und das uns niemals im Stiche 
läßt. Ich weiß, die gute Mutter hätte mich auch fo aufgenommen; 
aber wie ungleich fröhlicher kann ich jept vor fie hintreten. Gib 
Acht, mit welchem Eifer ich von heute an meine fchöne Kuufl 
pflegen will; Deine Nähe foll die herrlichfte Belohnung meiner 
Arbeit fein.‘ 

Bergebens ſchildere ich Nanettens Entzücken; auch Bater 
Bernhard geräth außer fidh. - 

„Ich will Ihr Sohn fein,‘ rufe ich und flürze in feine Arme. 
„Den Herzen nach war ich's laͤngſt . .. aber bald... bald!“ 

„Ja, Bater, ja, wir find am Ziele: Andreas Hat feine Ges 
maͤlde verkauft.‘ 

Der gute Auvergnat fieht bald mich, bald Nanstte an. Wir 
laſſen ihm eine Zeit, zu antworten, denn fchon haben wir bie 
Köpfe voll von taufend Plänen; ich will die verlorene Zeit je 
eher je lieber einholen. Morgen, heute Abend noch möchte ich 
Naneite Heiraten; aber es find noch manche Foͤrmlichkeiten zu 
erfüllen. Zu meinem, Glücke habe ich. mir ſchon lange vorher die 





43 


aöthigen Bapiere aus Savoyen Tommen Iaffen ; gleich morgen will 
ich Alles in Bewegung feßen, daß wir fo bald als möglich in ven 
erfehnten Hafen einlaufen. 

Nanette weiß nicht, wo ihr der Kopf fleht; alle Augenblide 
umarmt fie ihren Vater; es fcheint, als ob man immer ſchüchterner 
wird, je näher man dem Gipfel des Glückes kommt. Aber wenn 
ihre Käffe einem Andern gehören, jo gehören ihre Blicke gewiß 
ganz mein, und ich verfiche Alles, was fie mir jagen. Peter nimmt 
von ganzem Herzen Theil an meinem Glücke. Unfere Abreife nach 
Savoyen iſt auf den zweiten Tag nach unferer Hochzeit feftgefekt. 
So bleibt denn Nanette die beiden erften Tage ihres Cheſtandes 
in meiner Fleinn Wohnung, die immerhin groß genug if für 
uns Beide. 

Naum ift in der Heinften Hütte 
Für ein glüdlich liebend Paar. 

Leider müffen wir noch zehn Tage warten, bis alle Foͤrmlich⸗ 
keiten in Richtigkeit gebracht find. DO, die zehn Tage werben mir 
eine Ewigkeit bünfen ; je näher man feinem Ziele fommt, um ſo 
fehneller möchte man's erreichen, aber getroft, es gibt noch aller- 
band Einfänfe zu machen, das wird mir die Zeit verkürzen! Etwas 
foll Nanette zur Nitgift haben, wenn auch nur wenig: hoͤchſtens 
fünfhundert Franken darf ich darauf wenden; ber Reſt bleibt für 
die Hochzeit und die Reife. Bin ich erft bei der Mutter, dann 
Brauche ich nichtö ; mein Binfel wird mich und die Meinen mehr 
ale bloß nothdürftig naͤhren. Lebt ſich's doch in Verin wohlfeiler 
als in Paris, und große Anſprüche machen wir nicht ! 

Hentzirtage koſtet das kleinſte Körbchen für die Mitgift ſchon 
an die fünfhundert Franken; aber ich bedanke mich fchönftens, ein 
Nachäffer ber Großen zu fein. Auch Habe ich Feine Diamanten, 
keine Taſchemirfhawls, Feine Spipen Ranetten anzubieten: ein flods 
ſeidenes Tuch, ein einfaches Tuch, ein ſeidenes Klein, einige Mode: 
waaren, ein Schleier, ein Paar Ohrringe und einige Fingerringe, 


488 


„Teöften Sie ſich, Encilie ; dies Portefeuille wird hoffentlich 
auf lange ihrer Roth abhelfen. Nur ſchwoͤren Sie mir, daß Sie 
genau than wollen, was ich Ihnen fage.“ 

„Ja, ich ſchwoͤre es. Sie willen, daß ich immer getlyan habe, 
was Sie wollten.” 

„Sie geben alfo dies Bortefeuille der Frau Sräfln und fagen 
ihr, daß es von einem Unbelannten gebracht wurde, ber feinen 
Namen nicht genannt habe,” 

„Und weiter 8“ 

„Weiter nichts.“ 

„Und ich foll nichts von Ihnen fagen ?“ 

„Ken Wort, hüten Sie ſich!“ 

„D ich errathe Sie, guter Andreas. Gewiß ift Geld in dem 
Portefenille, viel Geld vielleicht, denn Sie find zu Allem fähig, 
um meiner Serrin zu helfen.“ 

„Rein, Lucilie! Mir bleibt noch mehr ald genug übrig.“ 

„Und ich foll nichts von Ihnen jagen ?“ 

„Keine Silbe! Wenn Sie mein Geheimniß verrathen, ſpreche 
ich nie mehr ein Wort mit Ihnen. Merken Sie ſich's.“ 

„Ich gehorche, Here Audreas. O, wäre doch Fräulein Adol⸗ 
phine Ihre Fran geworben, wie glädlid, Eönnte fie jest fein! Jeden 
Morgen koͤmmt ſte mit verweinten Augen ins Zimmer. Ihrer Mutter 
fagt ſie, das fei ein Augenleiden, aber ich, ich weiß bie Urſache.“ 

„Lucilie, forgen Sie beftens für bie beiden Damen und geben 
Sie mir von Zeit zu Zeit Nachrichten über die Frau Gräftn. Hier 
it meine Adreſſe. Sept Adieu! Eilen Sie und bringen Sie es 
gleich den Damen.“ 

„Erf einen Kuß zum Abfchien, Herr Andreas!“ 

Ich küffe Luchlie, dann entfernt fie ſich mit dem Bortefeuille. 
Ich fühle mich glüdlicher und zufriedener als je zuvor. Im ge 
radem Gegenſatz gegen fo Biele geivann ich um fo mehr an Heiter⸗ 
keit, als ich an Schaͤtzen einbüßte. 








ar) 


Bweiunddreißigfies Rapitel. 
Zuräfungen zur Hochzeit. — Letzter Streich Roffignofs. 


Ich wohne jetzt in meinem kleinen Logis ungleich zufriedener 
als in ver alten, größeren und fchöneren Wohnung. Der Gedanke, 
dem Mangel meiner Wohlthäterin abgeholfen zu haben, verwandelt” 
die mir freiwillig auferlegten Entbehrungen in Genüſſe für mid. 

Mit verboppeltem Eifer arbeite ich an den angefangenen beiden 
Gemälden, Der Erlös aus denfelben foll die Kofen der Hochzeit 
und ber Mitgift beftreiten. Lebtere wird zwar nicht jehr glänzend 
ausfallen, aber was ſchadet das? Manette wünfcht fich feine Dia- 
manten, Caſchemirſhawls und Spigen. Mir gefällt fie befjer ohne 
diefelben , als mit ihnen. 

88 dauert nicht lange, fo kommt Lucilie wieder. Als fie mic 
fieht, fällt fie mir weinend um den Hals und ergießt ſich in Lob: 
ſprüche, die mir gewaltig übertrieben fcheinen, weil das Opfer 
mid; wenig Ueberwindung gefoftet hat. Die Frau Gräfin, fo er- 
zählt fie, habe alles Mögliche verfucht, ihr das Geheimniß zu ent- 
Iodden, während fie ſtandhaft behauptet hätte, den Geber nicht zu 
Iennen. Die Damen vermuthen, das Gelb fomme vom Marquis, 
um fo befler! das muß Adolphine mit ihrem Gemahl ausfühnen, 
Es if gar traurig, den nicht achten zu dürfen, deffen Namen man 
trägt! Inzwiſchen ift Sräulein Adolphine, wie Lucilie verfichert, 
aoch eben ſo traurig wie zuvor. Wenigſtens leiden fie jetzt keinen 
Mangel und brauchen nicht mehr daran zu benfen, um bed Geldes 
wegen zu arbeiten. Beim Abſchied muß Lucilie nochmals ſchwoͤren, 
ihr und mein Geheimuiß für fich zu behalten, obgleich es fie ärgert, 
daß die Damen den Marquis in fo gutem Verdacht haben. 

Auch Beter ift mit dem von mir gethanen Schritte zufrieden, 
Er verfüchert, daß er feht lieber arbeite ald je, und daß er den mir 
verurfachten Schaden erfegen wolle. Seitvem er wieber zum Schab⸗ 

Paul de Rod. U. 28 


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eifen gegriffen hat, ift feine alte Heiterkeit, fo wie auch fein blü⸗ 
hendes Ausſehen zurüdgefehrt. Nur auf dem finfen Auge trägt er 
noch die Spuren jener nächtlichen Prügelei. So oft fie ihn in bie 
Kneipen nehmen wollen, zeigt er auf fein Auge und betheuert, 
daß er and einem Weintrinfer ein Waffertrinfer geworben fei. 

Allabenvlich bin ich bei Nanetten und fchmiede mit ihr aller 
hand Pläne für die Zukunft. Mit jedem Tage entdecke ich an dem 
Mädchen neue Tugenden. Keine Spur von Ehrgeiz ober Eitelkeit! 
Ihr einziger und Höchfter Wunſch ift, mit mir zu leben und zu 
ſterben. Bater Bernhard altert bedeutend und hat ſich von feinen 
Geſchaͤften zurücgezogen. Wir nehmen ihn mit nach Savoyen ; bort 
foll e8 ihm wohl gefallen bei meiner guten Mutter in ihrem hübfchen 
Häuschen. Wie freue ich mich auf die fchönen Zeiten. Die Hoffnung 
des Glückes ift ſchon das Glück felbft; oft ift die Vorfreude mehr 
werth als die Freude felbft. Jeden Abend fragt Ranette, ob ich bald 
fertig fe mit meinen Gemälven. 

Endlich, nad ſechs Wochen, lege ich die letzte Hand daran. 
Wenn ih nur erft einen Känfer gefunden hätte! Früher war mir 
das ein Leichtes; fo lange ich dem Glüde im Schooße ſaß, fuchte 
man eine Shre darin, mir Aufträge geben zu Tönnen; jeßt ift bad 
anders, weil ich die Dummheit begangen habe, merken zu laffen, 
daß ich nicht mehr reich bin und daher um bed Broberwerbes wegen 
malen muß. Ich Hätte die Leute ruhig bei ihrem früheren Glauben 
laffen follen, daß ich nur aus Luft und Liebe zum Fache arbeite, 
Sch wette, ich hätte laͤngſt ſchon Liebhaber gefunden. Aber erft der 
Schaden macht uns Flug! 

Dft legt fich meine Stine unwillfürlich in Runzeln. Sobalo 
Nametie das fieht, ift fie gleich mit ihrem Troft bei der Hand. 

„Barum fo bekümmert %“ fpricht fie. „Was brauchen wir Gelb, 
Breund? Wir gehen zu Deiner Mutter; Du malt und ich nähe und 
ſtricke oder arbeite fonft was. Wer mit fo Wenigem zufrieden iſt, 
der muß glücklich werden!“ 





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„Sa, liebes Maͤdchen, ich fühle das mit Dir ; aber Dich fo auf 
gut Glück heirathen , ohne fichered Brod und ohne Dir das Nöthigfte 
reichen zu Tönnen: nein! das geht nicht und Doch verlangt mid) von 
ganzer Seele nach der Heirath mit Dir.” 

„Bann macht Ihr denn endlich Anftalten zur Hochzeit?“ fragt 
Bater Bernhard täglich. - 

„Sobald e8 dem Herrn beliebt,” antwortet Nanette mit einem 
Slick auf mi, der mich ind Herz trifft. 

„Hoffentlich recht Bald,“ ſtottere ich verlegen. „Ich muß erft 
fertig fein mit.. .* 

„Se mad’ ſchnell,“ entgegnet Vater Bernhard ; „ich werbe 
alt, Kinder, und ich möchte gerne auf Eurer Hochzeit noch einmal 
tanzen.“ 

Eines Tages fige ich migmuthig auf meinem Zimmer und denke, 
wie ich meine Gemälde an den Dann bringe, ald plöglich die Thüre 
fich ofnet und Peter hereintritt, wie mir fcheint, äußerſt verlegen. 

„Bas wilft Du?” frage ich ihn, der ſtumm vor mir fliehen 
bleibt. 

„Haft Du Deine Gemälde verkauft, Bruber ?“ 

„Leider noch nicht.“ 

„Und Du heiratheft nicht, weil Du fein Gelb Haft?" 

„a, Peter. Ich weiß zwar, das ift Fein Hinderniß für Na- 
netten ; aber ich möchte nicht... kurz, Bruder, ich heirathe fie, 
das ift gewiß ; alfo troͤſte Dich !“ 

„Wirft Du mir boͤſe, Bruder... .” 

„Sprich, Beter.“ 

„Bann ih... aber ich mag's nicht Jagen.” 

„Nur heraus mit der Sprache.” 

„So höre denn: Du weißt die dummen Streiche, die ich mit 
dem Schuft von Roffignol machte. Wenn Du jegt die Hälfte haͤtteſt 
von dem burchgebrachten Gelbe, nicht wahr ?“ 

„gaflen wir das, Peter, gefchehen ift gefchehen. Nur laß Die 


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jene Zeit zur Barnung dienen und Hüte Dich vor folcher Geſell⸗ 
ſchaft. 

„Gewiß, Bruder; der Roffignol wollte einmal wieder anfangen 
mit mir, aber ich hab’ ihm mit dem Stod ven Weg gewieſen, 
und die Luft zum Befpräd verging ihm augenblidlih. Seit ic 
von Neuem arbeite, habe ich mir Etwas erſpart als Schabenerfak 
für Di.“ 

„Wie kannt Du fo reden, Bruder ? Mein Vermögen war au 
Deined. Uebervied hatte ich Dich zum unumfchränften Herm bei: 
felben eingeſetzt.“ 

„Abgeſehen vom Gelbe... aber die Mobilien... die Pendel⸗ 
uhren ... die Waͤſche ... die Kleider! ... Seitdem hab’ ich eine 
Kleinigkeit zufammen gefpart; nimm fie von mir an: es find 
achtzig Frauken in biefem Sad; file gehören Dir, Andreas. Hei⸗ 
sathe damit, wenn Du Tannfl.” 

Mit den Worten Hat er einen Sad aus der Tafche gezogen 
und hält ihn mit zitternder Hand mir hin. Du guter, Lieber Peter! 
Ih drüde ihn zärtlich an mein Herz, weigere mich aber entjchieben, 
das Geld anzunehmen. 

„IH bitte Dich, Andreas, nimm ed von mir an, ober id 
muß glauben, daß Du mir noch boͤſe biſt.“ 

Peter dringt fo Tange in mich, bie ich mich endlich zur An: 
nahme bereit erkläre. Während dieſes brüderlichen Zwiftes öffnet 
fih die Thüre und herein tritt ein Mann von reiferem Alter, ein: 
fa, aber anſtändig gekleidet. 

Schon bei den erften Worten weiß ich, was er will, und das 
Herz hüpft mir im Leibe, Gr hat gehört, daß ich zwei Genre: 
gemälde zum Verkauf habe und wünfcht fie zu fehen. Sch führe 
in in mein Atelier und zeige fie ihm. 

Der Unbekannte betrachtet fie lange; dann läßt er einige Worte 
fallen, woran ich merke, daß ich es mit einem geübten Kunſtkenner 
au thun habe. Aber man benfe fi meinen Schrecken, als ex mich 


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auf mehrere weſentliche Mängel in Kompofltion und Ausführung 
aufmerffam macht, worin ich ihm Recht geben muß. O, in dem 
Augenblide hätte ich diefe mühfamen Werke meiner Hand zu Staub 
und Aſche verbrennen mögen ! 

Aber wer fchildert mein freudiges Erflaunen, ald er mit den 
Worten fließt: „Trotz der Mängel will ich Ihre Gemälde kaufen. 
SR Ihnen ein Kaufpreis von zwölfhundert Franken für beide 
genehm ? 

Dabei zählt er mir diefe Summe auf den Tifch hin. Sch, 
fräßer im Beſitz von ſechstauſend Livres Jahresrenten, gerathe bei 
bem Anblid dieſer zwoͤlfhundert Franken in folche Extafe, daß ich 
lange feine Worte finden Tann. Da flieht man, daß ein einziger, 
im Schweiß des Antlipes erworbener Thaler glüdlicher macht, ale 
alle Schäge, welche die blinde Göttin und auf den Weg ftreut. 

„Hier ift meine Adreffe: Sie werben die Gemälde mir zn: 
ſchicken.“ Dann entfernt er ſich; ich will ihm an die Treppe das 
Geleit geben, aber er leidet es nicht. Auf der Karte leſe ich den 
Kamen eined Mannes, der mir ald reicher und gediegener Kunſt⸗ 
kenner gepriefen war. Obgleich er über Millionen zu gebieten hat, 
iſt er einfach zu Fuß gekommen. Zugleich hat er mir einige be: 
deutfame Winke gegeben mit jener Höflichkeit, welche die firengfte 
Kritik zu verfüßen weiß. Es ift überaus wohlthuend, die Gaben 
des Glückes mitunter an ben rechten Dann gebracht zu jehen! 

Kaum ift der Herr fort, fo geben wir und die Hand und tanzen 
um ben Tifch mit den zwölfhunbert Franken ſo ausgelaſſen herum 
wie Kinder. 

„Jetzt hoffe ich, ſchiebſt Du Dein Sackchen in die Taſche,“ 
fage ih zu Beter. 

„Mit nichten, Andreas; ed gehört Dir.‘ 

„Beter, Du ſollſt e8 Dir aufheben.‘ 

„Bad fol ih damit machen? Die gute Mutter braucht es, 
@ettloh ! nicht, font würde ich ed ihr ſchicken. 


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„ib ed mir fpäter, wenn ich es noͤthig habe.“ 

„Es ſei!“ 

„Und glaubſt Du, ich wolle Dich hier auf der Straße her⸗ 
umlaufen laſſen? Gleich nach der Hochzeit reiſen wir ab, Du mit 
und. Das Haus der Mutter iſt groß genug für und Alle. Sept, 
da meinem Talente die Bahn gebrochen ift, bleibt wir nichts zu 
wünfchen übrig. Geſchwind zu Nanette! Inzwiſchen bringe da beibe 
Gemälde zum Herrn ..., bann treffen wir und bei Bernhard.“ 

Mit meinem Schazte in der Taſche eile ih zu Nanette. 

Schon von Weiten liest fie die frohe Nachricht in meinen 
Augen ; ich fehütte ihr mit triumphirender Miene die zwölfhundert 
Franken in den Schooß und fage: „Siehe da die Frucht meines 
Zalented und Fleißes. DO, Nanette, wie danke ich meinen Wohl: 
thätern für das Geſchenk einer guten Erziehung : das ifl ein Gut, 
das und Niemand rauben kann, und das uns niemals im Stidhe 
läßt. Ich weiß, die gute Mutter hätte mich auch fo aufgenommen; 
aber wie ungleich fröhlicher kann ich jeßt vor fie hintreten. Gib 
Acht, mit welchem Eifer ich von Heute an meine fchöne Kunſt 
pflegen will; Deine Nähe foll vie herrlichſte Belohnung meiner 
Arbeit fein.‘ 

Bergebens ſchildere ih Nanettens Entzücken; auch Bater 
Bernhard geräth außer fich. 

„SH will Ihr Sohn fein,‘ rufe ich und flürze in feine Arme. 
„Dem Herzen nach war ich's Längft... aber bald... bald!“ 

„Sa, Bater, ja, wir find am Ziele: Andreas Bat feine Bes 
mälde verkauft.‘ 

Der gute Auvergnat flieht bald mich, bald Nanette an. Wir 
laffen ihm Feine Zeit, zu antworten, denn ſchon haben wir bie 
Köpfe voll von taufend Plänen; ich will die verlorene Zeit je 
eher je lieber einholen. Morgen, heute Abend noch möchte ich 
Nanette heirathen; aber es find noch manche Formlichkeiten zu 
erfüllen. Zu meinem, Glücke habe ich, mir ſchon lange vorher die 





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nöthigen Bapiere aus Savoyen Tommen Iaffen ; gleich morgen will 
ich Alles in Bewegung feben, daß wir fo bald als möglich in den 
erfehnten Hafen einlanfen. 

Ranette weiß nicht, wo ihr der Kopf fteht; alle Augenblide 
umarımt fie ihren Bater; es fcheint, als ob man immer fchüchterner 
wird, je näher man dem Gipfel des Glückes Eommt. Aber wenn 
ihre Küffe einem Andern gehören, jo gehören ihre Blicke gewiß 
ganz mein, und ich verfiche Alles, was fie mir fagen. Peter nimmt 
von ganzem Herzen Theil an meinem Glücke. Unfere Abreife nach 
Savoyen ift auf den zweiten Tag nach unferer Hochzeit feftgefekt. 
So bleibt denn Nanette die beiden erften Tage ihres Cheſtandes 
in meiner Fleinen Wohnung, die immerhin groß genug ift für 
und Beide. 

Raum ift in der Meinften Hütte 
Für ein glücklich liebend Baar. 

Leider müffen wir noch zehn Tage warten, bis alle Foͤrmlich⸗ 
Zeiten in Nichtigkeit gebracht find. D, die zehn Tage werben mir 
eine Ewigfeit dunken; je näher man feinem Ziele fommt, um fo 
ſchneller möchte man’3 erreichen; aber getroft, e& gibt noch aller- 
band Einfänfe zu machen, das wird mir die Zeit verfürzen! Etwas 
ſoll Nanette zur Mitgift haben, wenn auch nur wenig: höchftens 
fünfhundert Franken darf ich darauf wenden; der Reſt bleibt für 
die Hochzeit und die Reife. Bin ich erſt bei der Mutter, dann 
Brauche ich nichts ; mein Pinfel wird mich und die Meinen mehr 
als bloß nothduͤrftig nähren. Lebt ſich's doch in Verin wohlfeiler 
als in Paris, und große Anfprüäche machen wir nicht! 

Heutzutage koſtet das kleinſte Koͤrbchen für bie Mitgift ſchon 
an die fünfhundert Franken; aber ich bedankte mich ſchoͤnſtens, ein 
Nachäffer der Soßen zu fein. Auch Habe ich Feine Diamanten, 
keine CTaſchemirfhawls, Feine Spitzen Nanetten anzubieten: ein ſlock⸗ 
ſeidenes Tuch, ein einfaches Tuch, ein ſeidenes Kleid, einige Mode⸗ 
waaren, ein Schleier, ein Paar Ohrringe und einige Fingerringe, 


—— 


438 


dad IR fo ziemlich Ales, was Nanette von mir belommt, und 
doch freut fih Nanette über diefe Kleinigkeit, ale wäre fie Mil: 
lionen wert. 

Sie kramt Stück für Städ ans, bewundert die Herrlidhleiten 
und zeigt fie dann ihrem Bater, ver gleichfalls in die Bewunde⸗ 
rung einflimmen muß, obgleich er nichts davon verſteht. Bei jerer 
neuen Sache fieht fie mich an und bradt mir die Hand, als wolle 
fie fagen: nicht über die Gefchenfe freue ih mich, ſondern über 
De Hand, die fle mir gibt. 

Unter den Fingerringen befindet fh einer, worauf aus meinem 
Haare das Wort Treue geflochten iſt. Mehr als die Tücher, Kleider 
und andere Stoffe zuſammen freut fie Diefer eine Ring: auch daran 
fehe ih, wie innig fie mich liebt. 

Endlich Haben wir ven Vorabend unfered Hodhzeittages er: 
reiht. Nanettens Toilette ift fertig; fle wird fich allerliebft aus⸗ 
nehmen: Schmud und fie werben fich gegenfeitig ſchmücken. Bern: 
hard Hat fi einen neuen Rod zu dem feftlichen Tage machen 
laſſen, und Peter veßgleichen. Aber ih Thor, noch habe ich nit 
an die Hochzeitsgäfte gedacht: Bernhard hat einige Freunde, Ra: 
nette einige junge Freundinnen, die dürfen nicht gunz Teer aus⸗ 
geben an biefem Feſttage. Wie viel laden wir ? Hoͤchſtens Zwanzig, 
denke ih: beffer wenige, «aber gute Bekannte, als viele und ents 
fernte. Wie alle jungen Mädchen tanzt Nanette gerne; andy das 
Vergnügen foll fie haben. ine einzige Violine thut biefelben 
Dienfte wie ein ganzes Orchefter. Ausgemacht! wozu Brauchen wir 
au den Hokus Pokus und den Firlefanz? Wie oft Bat Nanette 
mich gebeten: ‚Nur Feine Eoftfpielige Hochzeit! wir konnen auch 
ohne fie glücklich fein.” 

Ich weiß das, liebe Naneite, aber ich weiß and, daß Du 
gerne einige Bekannte und Freunde zu Zeugen Deines Glückes 
haben, und daß Papa Bernharb allzu gerne auf der Hochzeit feiner 
Toter tanzen möchte. Ich gebe von Leuten Recht, die fagen: eine 


43% 


Hochzeit if Tein Altagsbing. Feiern wir immerhin die Hauptab⸗ 
feänitte in unferem Leben; es find ihrer nicht allzu viele. 

Um fieben Uhr Abends bin ich mit den Einlabungen fertig. 
So Habe ih nur noch den Gaſtwirth mir auszuſuchen; ich will 
weber einen allzu vornehmen, noch allzu geringen, fondern einen 
mittleren Schlaged. Paris bietet eine hinreichend große Auswahl 
von Gafthöfen dar; es gibt welche für alle Börfen und für alle 
Hafen.” 

„Komm’ mit,” fage ich zu Peter, der in feinen Hochzeits⸗ 
Heibern prangt, „wir wollen einen Saal ſuchen nnd das Eſſen 
beſtellen.“ 

„Alſo eine Hochzeit, Bruder?“ 

„Wir tanzen, Peter.“ 

„Bir tanzen? Juchhe!“ 

„Aber ſchweige davon, Peter.“ 

„Verlaß Dich auf mich! Eine Hochzeit... . heiſafſa.“ 

Und dabei fängt er auf der Straße zu tanzen an, fo daß id 
ign zur Orbnung rufen muß. Unterwegs fällt mir ein, daß id 
und Herr Dermilly einft Bei einem Traitenr in der Nähe ber Aufter: 
Iigbrüce recht gut zu Mittag aßen; es iſt zwar etwas abgelegen 
und fill, aber um fo weniger haben wir von der Neugierde ber 
Straßenjungen zu leiden, und das iſt mir ganz recht. Wir fchlagen 
alfo ven Weg ein zu dieſem Traiteur. 

Eine Anfrage, wie bie meinige, ift immer gut aufgenommen, 
Machdem wir uns über bie Breife verflänbigt und alles Näthige 
verabrevet Haben, führt und der Wirth durch feinen Garten zurüd, 
um und die Annehmlichkeiten deſſelben zu zeigen. 

. Wäßrend wir am Benfter eines Tleinen Pavillons vorüber 
"gehen, erhebt ſich plöplich darin ein gewaltiger Lärm. 

„Ihr koͤnnt mir Cuern Garten nicht verbieten, Mütterdien,“ 
suft eine Beier und mir wohlbelannte Stimme. „Die ftifche Luft 
zanber; die Rofen auf meine Wangen zurüd. 


O. wis wohl iR miz im Gränen, ttefnfa !- 

„Sie mögen ſpazieren und fingen, fo viel. Sie wollen; aber 
arſt zahlen Sie Ihre Zeche und dann mögen Sie gehen.“ 

Welche Logik, ſchöne Niobe! Sie wollen, ich ſoll gehen, 
and doch laſſen Sie mich nicht fort. Welche Eonfufion in Ihtem 
Gehirntaften !“ 

„Hoͤrſt Du den Roflignol,“ Hüftert Beter mir zu. 

„Barum flreitet man fih ?" frage ich den Wirth. 

„Der Teufel bat und da einen Bruder Liederlich erſter Klafie 
ins Haus geführt; er ift ſchon acht Tage bei und und wir können 
ihn nicht los werden. Gr kam eines Abends mit honigfüßer Miene 
und beftellte ein Nachteſſen. Nachdem er bis fpät in die Nacht 
geiafelt, verlangte er ein Nachtquartier, weil er feinen Gefchäfte- 
führer hierher befchieden habe und daher auf ihn warten müfle; 
wider unfere Gewohnheit haben wir ihn zu Nacht behalten. Den 
andern Morgen hat er ſich ein fplenvibes Frühſtück bringen laſſen 
mub machte noch immer feine Miene, aufzubrechen ; fo hat er es 
acht Tage lang getrieben, vorgeblich auf feinen Gefchäftsführer 
wartend, ber ihm Gelb bringen fol. Er möchte, wie es fcheint, 
das ganze Jahr fo fortlogiren... und denken Sie fi bie Unver: 
ſchaͤmtheit: er Hat fi angeboten, wir allerhand Boflturen vorzu: 
machen, und mir feinen Torfo, wie er fagt, an Abzahlungsftait 
angetragen. Was in aller Welt foll ic mit ver Münze anfangen ? 
Er foll entweder bezahlen, oder fort mit ihm! Er muß bis morgen 
das Haus geräumt haben, benn der Kerl hat die liebenswürdige Uns 
verſchaͤmtheit, mit allen Berfonen Freundſchaft fhließen zu wollen... 
enblih ift mir die Gebuld ausgegangen, und ich Babe nad vem 
Herrn Eommiffär gefchielt. Bis der kommt, laffe ich den Schelm 
von meiner Frau bewachen, denn geftern überrafdgte ich ihn, wie 
er potlich auf die Gartenmauer fprang, um den Adonis zu 
wachen, wie er fagt. Nur Geduld, Du haſt im Gefängnis Zeit 
genug, den Adonig einzuſtudiren. Meiner See’, er äfe ben 





439 


ganzen Tag nichts: ald- Kapaunen und tränke nichts als Cham: 
pagner, wenn ich ihn fortmachen ließe.‘ 

„Sehen wir, Bruder,“ flüftert mir Peter ins Ohr, „ich möchte 
nicht, daß er-mich fähe.” Kaum hat er das gejagt, fo fpringt das 
ſchoͤne Modell fünf Fuß Hoch aus dem Benfter in den Garten herab 
und richtet fih vor uns ald Amor auf; als er und erkennt, ſtaͤßt 
er einen lauten Schrei aus. 

„Holde Glücksgoöttin, Gönnerin aller Künftler,“ xuft er und 
tanzt auf uns zu, „ich danke Dir für diefe Wohlthat! Grüß’ Dich 
Gott, Caſtor, grüß' Di Gott, Pollux. Geſchwind die Rech: 
nung, Herr Wirth, geſchwind! Ein Künftler läßt den andern nicht 
in der Patſche ſtecken.“ 

Peter erröthet vor Zorn, während ich ganz verdutt bin über 
die grandioſe Unverſchaͤmtheit, und der Wirth bald mich, bald 
meinen Bruder verwundert anfleht. 

„Wie ?” ſtottert er, „die Herren kennen diefen Bruber Liederlich?“ 

„Bruder Liederlich!“ donnert Roſſignol; „iſt das mein Name, 
elender Katzenbratſpieß ?“ 

Darüber geräth der Traiteur in Wuth. 

„Nur gemach, Freund Jugan,“ ſagt Roſſignol, „Ihr kriegt 
Euer Geld. Aber man bleibe hübſch weg: Eure Hände ſtinken 
vervammt nach Hanföl. Gefchwind, Peterchen, Du wirft bach 
einige Thaler haben für Deinen alten Zechbruber ?“ 

Beter verſtummt vor Horger und Scham, indem hat Roffignol 
die Frechheit, mir Die Hand zu reichen. 

„Daß Sie mih um mein Geld geprellt haben,“ fage ich, 
zroifchen ihn und Peter tretend, „ann ich vergeflen, nicht aber, 
daß Sie meinen Bruder eben fo gemein und niedrig machen wollten, 
wie Sie find... . und Sie wagen ed, und Freunde zu heißen? 
Died Wort in Ihrem Munde ift die ärgfte Beichimpfung! Schaͤtzen 
Sie ſich glücklich, wenn ich mich nicht dem Herrn anfchließe unp 
Sie zur Strafe ziehe!" 


„Recht fo! ER laßt man den Freund im Pech ſtecken nu 
halt ihm dann noch eine Moralpredigt ! Geht, Ihr Sottjed, wir 
brauchen Cuch nicht; dafür kriegen wir keinen Kuß zu fchluden.“ 

Kaum hat Rofiignel ausgeſprochen, fo erſcheint Eingangs des 
Gartens die Wirthin, die bei dem verzweifelten Sprunge des ſchoͤnen 
Modells fortgerannt war, um bie Wache zu holen, mit einem Cor⸗ 
poral und vier Füſeliren, während durch eine andere Thüre ber 
GCommiffär nebft Kellner eintreten. Sobald Roffignol die Soldaten 
erblickt, runzelt er die Stirne und brummt in den Bart: 

„Donner und Doria, ber erſte antike claffiiche Torſo feiner 
Zeit in einem Gefängniß verfhimmeln ? Nie und nimmer!“ 

„Da fteht ber Schelm!“ jagt die Wirthin zum Commiſſaͤr, 
auf Roſſignol weifenn, der bei jedem Schritte ſich bis zur Erbe 
büdt, offenbar in der Abſicht, fein Geſicht zu verfteden. 

„Sparen Sie Ihre Krapfüße, Herr, und antworten Sie,“ fagt 
ber Mann des Friedens, während Roffignol mit den Fingern in 
einer alten Tabatiöre wählt, die der Corporal halb geöffnet hat. 
„Sie wollen nicht fort von hier, mein Herr ?“ 

„Wer fagt das? Ob ich fort will!” 

„Aber Sie wollen nicht zahlen, Herr!” 

„Ob ich wi, Herr Commiffär! Ich will fogar dem Kellner 
ein Extratrinkgeld geben.“ 

„So zahlen Sie Ihre Rechnung, damit wir fertig werben.” 

„Das iſt eine andere Sache, Herr Commiſſär. Das böfe 
Können! Am Wollen liegt es gewiß nicht. Mein Geichäftsführer 
läßt acht Tage auf fich warten ; iſt das meine Schuld? Bis dahin 
bin ich Modell. Nichts für ungut, Herr Polizeicommiffär,, aber 
wenn Ihre Frau zufällig fchwanger ift und fie einen fchönen Mann 
anfehen will, fo biet’ ich Hiermit meine Dienfle an.” 

„Eorporal, nehmt ihn mit und ſchafft ihn Heute Abend auf bie 
Präfektur,” gebietet der Sommiffär, während Roffignol Infig trillert: 

„Gute Nacht, liebe, liebe Lieſe !“ u. ſ. w. 





. ai 


Roſſignol geht in die Mitte, vor und hinter ihm der Cor⸗ 
poral mit feinen Lenten. 

„Sch ergebe mich auf Gnade und Ungnabe, Burfche, über- 
zeugt, daß meine Unfchuld an ven Tag kommen muß, wie die ber 
keuſchen Sufanna. Ich mache Euch die Hölle nicht heiß, Freunde.“ 

Als fie jehen, daß ber Gefangene ihnen gutwillig folgt, laffen 
fie ihm ziemlich freien Raum. Gleich außerhalb des Gartens bleibt 
er fiehen, wühlt in den Tafchen und ruft: „Ich habe mein Schnupf: 
tuch liegen laſſen; fie follen es nicht gefchentt haben.“ 

„sh will es holen,“ fagt der Corporal und gebietet den Sol: 
daten, zu halten. Unwillfürlich ſehen fich dieſe nach dem Haufe 
des Traiteurs um ; das hat Roffignol gewollt. Wie ver Blig rennt 
er davon und auf die Aufterligbrüde zu. Dem Invaliden, ver ihm 
den Sou abverlangt, gibt er einen Puff, daß er rücklings überfälkt, 
und läuft dann weiter. Aber fchon find ihm die Kriegöfnechte auf 
den Ferfen. „Hebet ihn, hebet ihm!“ ſchallt es Hinter ihm; bald 
Hört man den Ruf am andern Ende der Brücke, und eine Menge 
Menſchen verfperrt ihm den Weg. Was fol er thnn ? Flügel hat er 
nicht, um über die Menge wegzuſetzen. Er bleibt einen Augenblid 
Bchen und fieht fich um ; fchon ift er von allen Seiten eingefchlaffen. 

„Wir haben ihn!“ ruft der Corporal. 

„Re nicht,“ antwortet Roſſignol, ſetzt mil einem verzwei⸗ 
felten Sprunge über das Brüdengeländer mitten in den. Flug hin⸗in, 
und trillert dabei, eben fo Iuflig wie zuvor 

„Ich dent’ Halt’ wie Gregoriud, 
Mid plaget arg der Durftiuß” u ſ. w. 

Berwundert ſchauen ihm die Soldaten nach; Alles läuft au 
den beiden Ufern zufammen und verfucht ihn zu retten; aber ums 
fonft ; der Strom padt ihn und fpült ihn fort bis nach St. Cloud, 

Beter ift aufs Tieffte davon ergriffen. 

„Sp endet oft der Menſch,“ fage ich zu ihm, „ber Fein Ge: 
fühl für Net, Tugend und Ghre hat!“ 


= 


448 [\ 


Dreiunddreißigigſtes Mapitel. - 
Leid und Luf., 


Bir eilen zu Nanetten zurück; ich kann nicht Tänger von ihr 
getrennt fein. 86 if immer fo, wenn man fich für's ganze Leben 
binden will; freilich jagt man, daß fpäter... aber nein, Nanette 
und ich bleiben ewig biejelben ; wir find nicht von Paris. 

Man bat fih taufend Dinge zu fagen am Vorabend vor ber 
Hochzeit. Ze näher der Augenblick Tommt, der über unfer ganzes 
Leben entſcheidet, je fruchtbarer werben wir an Plänen für die 
Zukunft. Nach Savoyen richten ſich unfere Augen und Herzen; 
vort hoffen wir unfer und meiner Mutter Glück zu fichern. 

In diefem unſerem Planmachen flört uns Peter, der ploͤtzlich 
auf Nanette zulommt und zu ihr fagt: 

„Liebe Schwefter, ich engagire Sie auf den erften Eontretang.” 

„Wie,“ ruft Nanette erftaunt, „fo haben wir Tanz morgen ?” 

Alfe dahin iſt Die Meberrafchung, worauf ich mich geftent! 
Hat der Peter richtig ausgeplaudert, wie ich es fürchtete. Gleich 
basauf geht ihm eim Licht anf über feine Unvorfichtigfeit, denn er 
macht ein ellenlanges Geſicht und fieht mich beträbt an. 

„Wie, mein Freund,“ fragt Nanette, „Du wollteft mich über: 
raſchen mit dem Tanze ? 

Ich erzaͤhle ihr, was ich auf unfern Hochzeitstag verabredet 
und angeordnet habe. 

„O Du guter Andreas!” ruft Nanette und drückt zartlich 
meine Hand, „das haſt Du nur aus Rückſicht auf mich gethan; 
denn Du magſt die Geſellſchaften und Tänze nicht... o Du guter 
Andreas!“ 

„Wie 7 faͤllt Vater Bernhard ein, „eine Hochzeit? Tanz?... 
Juchhe, das lob' ich mir, Kinder, Ihr fol fehen, daß ich's im 
Tanzen Guch Allen zuvorthue!“ 








443 


„und ich auch,“ ſagt Peter und hüpft in der Kammer herum ; 
„meine Beine follen Teinen Augenblick Ruhe Haben... . bie ganze 
Nacht will ich mich üben !“ 

Unjere Freude ift ftill.innig. Nanette und ich fprechen wenig ; 
um fo mehr fagen ſich unfere Blide, die ſchon im Vorgenuß ver 
Seligfeit ſchwelgen. Natürlich haben wir an andere Dinge zu denken 
ald an Tanz. 

So vergeht der Abend. Beim Abſchiede wiederholen wir und 
mehrmals dad Wort: „Auf Morgen!” In diefem einen Worte 
ift Alles enthalten: Glück, Liebe, Zukunft. Erſt von Morgen an 
datirt unfer Dafein. 

Ich nehme Peter mit mir, denn er foll die Nacht bei 
mir fchlafen. Bei der Rückkunft überreicht mir der Portier einen 
Brief von Luciliens Hand. Ich eröffne ihn zitternd und lefe 
Folgendes: 

„Lieber Andreas, Ihr Herz wird brechen, wenn Sie von dem 
neuen Unglück meiner beiden Herrinnen hoͤren. Aber an wen koͤnnte 
ich mich wenden, wenn nicht an Sie, den einzigen Freund, der 
ihnen geblieben iſt? Ich weiß nicht, wo mir der Kopf ſteht, An⸗ 
dreas: verzeihen Sie d'rum den Mangel an Zuſammenhang, der 
ſich überall zeigen wird. Dank Ihrer Unterftäpung, Andreas, ging 
es den Damen befier als bloß erträglich gut. In dem Glauben; 
"daß Herr von Therigny der Geber fei, lebten fie ver Hoffnung, 
daß er fein Unrecht bereuen und fle nie verlaffen werde. Bor drei 
Tagen erſchien plöglich Herr von Therigny bei den. Damen, in 
einem Iuftande, der nicht® Gutes erwarten ließ. Er war erflaumt, 
fie in folder Gemächlichleit zu finden. Schon wollte er fle aus» 
fragen, als fie ihm dankten für die Summe, die, wie fie glaubten, 
von ihm herrühre. Herr von Therigny, anfänglich überrafcht, bes 
fann ſich bald und nahm ihren Dank an. Es hätte wenig gefehlt, 
fo wäre ich mit meinem Geheimniß herausgerüdt, als ich hörte, 
wie ex ſtillſchweigend fich für den Geber erklaͤrte. Wber eingeben? 


48 


das ift fo ziemlich Alez, was Nanette von mir bekommt, wud 
doch frent fi Nanette über dieſe Kleinigkeit, ald wäre fie Mil: 
lionen werth. 

Sie kramt Stück für Städ aus, bewundert die Herrlichkeiten 
und zeigt fie dann ihrem Vater, der gleichfalls in die Bewunde 
rung einflimmen muß, obgleich er nichts davon verfteht. Bei jerer 
neuen Sache flieht fie mich an und drückt mir die Hand, als wolle 
fie fagen: nicht über die Gefchenfe freue ich mich, ſondern über 
die Hand, die fie mir gibt. 

Unter den Fingerringen befindet fi} einer, worauf aus meinem 
Haare dad Wort Treue geflochten ift. Mehr als die Tücher, Kleider 
und andere Stoffe zufammen freut fie diefer eine Ring: auch daran 
fehe id, wie innig fie mich liebt. 

Endlich haben wir den Vorabend unferes Hochzeittages er: 
reicht. Nanettens Toilette ift fertig; fle wird ſich allerliebſt aus: 
nehmen: Schmud und fle werben fich gegenfeitig ſchmücken. Bern: 
hard hat ſich einen neuen Rod zu dem fefllidhen Tage machen 
laſſen, und Peter veßgleichen. Aber ich Thor, noch habe ich nicht 
an die Hochzeitsgäfte gedacht: Bernharb hat einige Freunde, Ra: 
nette einige junge Freundinnen, die dürfen nicht ganz leer aus⸗ 
gehen an diefem Fefttage. Wie viel laden wir? Hoͤchſtens Zwanzig, 
denke ich: beffer wenige, aber gute Belannte, als viele umb ents 
fernte. Wie alle jungen Mädchen tanzt Nanette gerne; auch das 
Vergnügen fol fie haben. @ine einzige Violine thut viefelben 
Dienfte wie ein ganzes Orchefter. Ausgemacht! wozu brauchen wir 
all ven Hokus Pokus und den Firlefanz? Wie oft bat Nanette 
mich gebeten: ‚Nur feine Toftfpielige Hochzeit! wir können auch 
ohne fle glüdlich fein.‘ \ 

Ich weiß das, liebe Naneite, aber ich weiß au, daß Da 
gerne einige Bekannte und Freunde zu Zeugen Deines Glückes 
haben, und daß Papa Bernhard allzu gerne auf der Hochzeit feiner 
Toter tanzen möchte. Ich gebe ven Leuten Medht, die fagen: eime 


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„Es muß fein, Peter. Du weißt, wo ber Traitenr wohnt, 
bei dem ich das Eſſen auf Morgen beftellte ?“ 
„sa, haft Du was zu beflellen vergeffen ?“ 
„Geh' und beftelle das Eſſen ab... geſchwind, Peter! Kein 
Eſſen, kein Ball, wir Brauchen nichts davon !” 
Beter reißt erflaunt die Augen auf. 
„Großer Gott!” ruft er, „feine Hochzeit, Fein Eſſen, fein 
Bau? Höre ich recht?” 
„Sa, Peter! Nichts von dem.” 
„Aber Nanette und Bernhard haben fi ſchon auf den Tanz 
gefreut.” 
„Ste werben meine Maßregeln billigen.“ 
„Aber die Bäfte find ſchon geladen.” 
„Sie fönnen zu Hans bleiben und zu Haus effen und fangen.” 
‚Aber der Traiteur ?” 
„Es tft noch Zeit zum Abbeftellen, drum fpute Dich.“ 
„Und der böfe Brief ift an dem Allem ſchuld?“ 
„Sa, Beter, Du ſollſt ihn fpäter leſen.“ 
„Welch' Unglül! Keine Hochzeit, Fein Eſſen, kein Ball! Und 
Du beſtehſt auf Deinem Sinn?“ 
„Unwiderruflich! Geh’, Taufe Peter, es ift die Hörhfte Zeit.” 
Peter gehorcht wie immer, aber hält fidh die Augen zu, um 
feine Thränen zu verbergen. Inzwifchen überlege ich, was ih zu 
!bun habe. Daß Nanette meinen CEntſchluß billigt, davon bin ich 
gewiß. Aber wird bie Frau Gräfln eine neue Unterflügung von 
mir annehmen wollen ? Nimmermehr, wenn fie erfährt, daß ich 
ſelbſt darüber Noth leide. So will ich denn mich reich ftellen, 
damit meine Hülfe Ieichter Eingang findet. 
Peter kommt mit verweinten Augen zurüd. 
„Nun, was hat der Traiteur gefagt ?“ frage ich ihn. >» 
„Er läßt es gelten, aber ex fagt, Du feieft fo unbeänbig 
wie eine Wetterfahne.” 
Baul de Rod. H. 29 


446 


Was fümmert mich der Daun! Um Beter zu troͤſten, laſſe 
ich ihn Luciliens Brief leſen. 

„Wir verſagen uns allerdings ein Vergnügen,“ ſage ich zu 
Peter, „dafür haben wir den Troſt, dem Elend meiner Wohl⸗ 
thäterin auf kurze Zeit zu feuern, denn bad an der Hochzeit er: 
fparte Geld foll der Frau Gräfin zu gute kommen. Nun, Beter, 
zürnſt Da noch ?“ 

„Gewiß nicht, Bruder, Du haft recht gehandelt,“ entgeguet 
Peter, tief feufzend, „aber ich Hätte zu gerne getanzt !“ 

Mit Tagesanbruch gehe ich zu Vater Bernhard. Sie find ſchon 
auf; bie Freude hat fie bie ganze Nacht nicht ſchlafen Iaffen. Mit 
wonneverflärtem Antlig kommt mir Nanette enigegen, doch erfchridt 
fie, als fle meine Unruhe ſieht. Statt zu ſprechen, reiche ich ihr 
Luciliend Brief Hin. 

Das gute Kind! Während fie liest, malt ſich auf ihrem Ge: 
fihte die herzlichfte Theilnahme an dem Unglüde meiner Wohl 
tHäterin. Raum ift fie mit Leſen fertig, fo eilt fie auf mid) zu 
und ruft: 

„Mein Freund: Teine Hochzeit, kein Effen und Leinen Ball! 
Was find alle diefe Freuden gegen die Freuden des Bewußtſeins, 
Deiner BWohlthäterin geholfen zu haben!” 

„DO, Du gute Nanette, ich dachte wie Du ſelbſi, und habe 
ſchon demgemäß gehandelt, und doch wagte ich kaum, Dir die 
Nachricht zu bringen.“ 

„Du wagtefl ed nit? Weißt Du nicht, daß ich will, was 
Du willſt? Mein höchfles Glück ift Deine Hand, Deine Liebe, 
mehr will und brauche ich nicht. Aber nicht wahr, unfere Hochzeit 
wird nicht aufgefchoben 9" 

„Gewiß nicht: noch heute wirft Du mein. Aber ehe wir nad 
Savoyen abreifen, muß ihnen geholfen fein. Sie haben Niemant, 
ber für flo wacht und forgt anfer mir.“ 

„Wir warten fo lange, Andreas. Dein Logis iſt groß genug 











47 


für uns; bis dahin will ich arbeiten und zufammenfpyaren. Sb. 
Act, Andreas, Glück iſt beffer, als aller Reichthum der Welt.“ 

„Bute Ranette, welch' ein Herz ſpricht aus jebem Deiner 
Worte und Blicke!“ 

„Es iſt noch zu frühe, zu den Damen zu gehn,“ fagt fie, 
„bleibe bei und und frühflüde mit und, dann magft Da gehen, 
aber bald wieberfommen. Nicht wahr, Andreas, nad) zwei Stunden 
bift Du wieder hier, Du vergiffeft es nicht %“ 

Wie koͤnnte ich das vergeffen ? Muß ich fie doch mit jedem 
Augenblide mehr lieben. Sie it mehr als gut, fle ift ein Engel! 

Gleich nad dem Frühſtücke geht Nanette fort, am einige 
nothwendige Cinkäufe zu machen, wie fie fagt. Inzwifdgen bleibe 
ich ‚mit Bater Bernhard allein, der nicht mehr an die Hochzeits⸗ 
feier denkt. 

„Bad wir im Wirthshaus nicht thun,“ fagt er, „das ihun 
wir bei und. Wir können hier eben fo Rott tanzen wie bort.“ 

Braver Alter, du bift zu jedem Opfer bereit. 

„Du thuſt nicht mehr ald Deine Schuldigkeit,“ hebt er nad 
einer Pauſe an, „wenn Du Dich dankbar erweifeft gegen Deine 
Wohlthaͤterin.“ 

Naneite bleibt lange aus. Endlich kommt ſie zurüd, ganz 
erhitzt, aber mit freudeſtrahlendem Antlitze. Ich frage nicht, wo 
fie geweſen iſt, denn ein Blick auf fie und jeder eiferſüchtige Ge⸗ 
danke iſt verſchwunden. 

„In zwei Stunden bin ich wieder da, Nanette,“ ſage, ich, 
von ihr Abſchied nehmend. 

Ste folgt mir bis auf die Treppe, macht bie Thüre hinter 
fh zu und drüdt mir ſchüchtern einige Goldſtücke in bie Hand. 

„Rimm das und lege es zu dem übrigen Gelbe,“ Hüfert fie 
mir ind Ohr. 

„Woher das Gelb, Nanette y" 

„Richt wahr, Andreas, Da zümft mir nicht, aber all' die 


448 


fgönen Goſchenle, die Du wis geſtern machte, find mir. nicht 
nothwenbdig. Ich brauche keine großen Shawle unb feidenen Aleider: 
Du Haft mir oft verſichert, je einfacher ich ſei, wm fo beſſer ges 
flele ih Dir. Zürne nicht, Andreas, ic) Habe Alles zurüdigebradkt, 
bio auf ein einfaches Klein, das ich mir heute Nacht zugeſchnitten 
und genäht babe, und bis auf biefen Ring mit deu. Haaren und 
dem füßen Worte Treue. O, verzeihe mis, Audreas, daß id 
bied gethan babe, one Dich zu fragen!” 

Ihr verzeihen ?! Keines Wortes mächtig, drüde ich fie ſtumm 
and Herz und bedecke fie mit meinen Küſſen. 

„Genug, genug!” fagt das gute Mäbdhen erröthend, „Du 
könnteſt fonft glauben, ich hätte ed aus Cigennutz gethan.“ 

Endlich reiße ich mich von ihr los und eile zur Frau Gräfin. 

Anfangs denke ih nur an Nanette, aber je mehr ich mid 
ber Wohnung der Graͤfin nähere, um "fo verlegener und beklom⸗ 
mener werbe- ich. Ach, das Wohlthun ift ſchwerer ald man glaubt, 
vor Allem, wenn man mit zarter Schonung babei verfahren will. 
Uns dann foll ich Adolphinen wisderfehen zuch lauger, langer 
Trennung! Ich fühle feine Liebe mehr für fie, mein Herz gehört 
ganz Nanette an, und dennoch zittere ich bei dem Gebanken an 
das Wieberfehen mit Abolphinen!... Aber Muth, vergiß alles 
Frühere und bevenfe, daß fie für bich nichts weiter if, als eine 
Freundin und die Tochter deiner MWohlthäterin. 

Seht ſtehe ich vor ihrer Wohnung, einem Händchen von bes 
ſcheidenem Ausfehen, und im vierten Stode biefed Hauſes wohnt 
— bie frühere Befigerin eines glänzenben Hotels, die Herrin von 
mehr als zehn betreßten Dienern. Dexgleichen Glückswechſel find 
fa etwas Alltägliches, dennoch erfüllen fie und mit Wehmuth. 

Zitternd fleige ich hinauf. Je weiter ich Tomme, um fo mehr 
entfinft mir ber Muth. Bor der Thüre bleibe ich einen Augenblid 
ſtehen und fammle frifche Kraft. 

+ W8 Lacilie mich erblickt, ruft fie laut aus vor Freude: 








„Bis werben die Damen ſich freuen ! 36 will Sie geſchwind 
aumelden.“ 

„Halt, Lucilie! Er geloben Sie mir, daß Ste Ihnen meet 
Angaben widerſprechen wollen.‘ 

„Ja, Herr Andreas, ich gelobe es.“ 

„Ich wünſche bei ver Frau Graäfin reich, wenigftens woht 
habend 'zu erſcheinen, und ich Bin ve wirklich, denn meine Kunſt 
bringt mir genug ein.“ 

„O, Sie brauchen das nicht zu ſagen, ich errathe ihren Be⸗ 
weggrund. Ich weiß, was Sie wollen, und werde’ Ihnen * 
beſten Kräften helfen.‘ 

. Br treten ein. Das Zimmer iſt einfach, aber nicht aͤruclich möblirt. 

„Meine junge Herin iſt noch nicht auf, ſagt Lueilie. Sie 
iſt fett einiger Zeit recht leidend, die Frau Grillen weicht wit von 
ihrer Seite. Ich will Sie anmelden, Andreas.‘ 

Während ic im Jimmter "warte, muß ich illkarich an bie 
Pracht des Haͤtels zurackbeiken. Aber Hark... man hwurmk 
die Thitre öffnet ſich, mein Herz vocht Imiter... meine Wohintan 
rin iſſs; weit offenen Armen: empfängt fie: mich: 

„Andreas,“ ruft fie miit diefbewegter Stimme, „moin lieber 
guter Andreas!“ 

Sb werfe mich ihr zu Ben, nehme ihre Sand und bedecke 
fie mit Tiphinen: 

„Stehe auf, Andreas,“ antwortet fie, „Dein Blak iſt an 
meinem Herzen; Dann heißt fe mich neben ſich fügen. 

„Du weißt Alles,“ ſagt Re, mich zaͤrtlich anſehend, „und “ 
weiß, was Da für und geihan hafl.“ 

„Kein Wort davon, edle Frau.‘ 

„Andreas, ich muß meinem Herzen Luft maden. tem. 
lichkfrit {ft nur für den Undankburen eine Laſt; tb... ti bin flolz 
auf Deine Wohlthaten. ber ſprich, mein Bram, Da van 
unferiunillen ? 


Gewiß vicht, ebdle Iran: ic bin noch reich; Ihaen vertante 
ich die Bildung, die mir ein erwünfchtes Auskommen ſichert. Sie 
haben mich oftmals Sohn gennunt, erlauben Sie, daß ich dieſes 
fehönen Namens mich würbig zeige. Bertrauen Sie mir die Sorge 
für Ihre Zukunft: Gottlob, ich kann fie auf mich nehmen. Nicht 
wahr, Sie gewähren mir meine Bitte?‘ 

„Rein, Audreas, Du haft genug gethan, ich darf nicht mehr 
von Dir annehmen. Deiner Hände Arbeit. 

‚Bein, nein, das dulde ich nit! Ich age Ihnen, ich Bin 
nech reich. Entwerer gewähren Sie die Bitte, oder ih muß glauben, 
daß Sie mir Ihre Freundſchaft entzogen haben.‘ 

Mit don Woren Tnise ich vor ihr und nehme ihre Hand in 
die meinige, die fie mit ihren Tränen neht. 

30 Wale nicht eher auf, bis Sie meinen Wunſch gewähren!“ 
sufe ich bewegt. 

Iu vom Uugenklicde öffnet ſich Die Thare und herein tritt 
— Molphine. Großer Bett, welche Beränderung iR mit ihr vor 
gegaugen! Cie if immer nach ſchoöͤn, aber jeder Zug ihres Autlitzes 
trägt die Spuren tiefſten Geslenleitene. As fie mich erblickt, 
Megt eine ylöpliche Möthe über ihre Wangen und verbrängt ihre 
gewöhnliche Bläffe. 

„Schon aufgefianden 3" ruft Die Gräfe und eilt ihr entgegen. 

„Ja, Mutter: ich wollte Anbreas ſehen; ich babe fo Tange 
nicht dab Berguägen gehabt.‘ 

Ich ſtehe wie eimgewurgelt vor ihr. Wer begreift, was id 
ie dem Augenblide fühle! Es Aberläuft mich bald heiß, bald Kalt. 
Ich verfuche zu reden ; umſonſt! Luft und Lein theilen fich im mich ; 
Iegtere Empfindung überwiegt, wie mir ſcheint. 

„Madame“ſtottere ich Taum vornehmlich. 

„Deine Freundin, Deine Schweſter fickt vor Die,‘ ſagt bie 
Grißen. ‚ib Anpesns bie Hand, Abolphiue.“ 

Ich nähere mich ihr und ergreife die Hand, die fie mir hin⸗ 














451 


hält, uber mit abgewandtem Antlig ; ich glaube eine Thräne in 
ihrem Auge zu fehen. Mit heißen Küffen bedecke ich die Hand, 
bie in der meinigen Brennt und zittert. 

Um meiner ſchmerzlichen Berlegenheit ein Ende zu machen; 
erknidigt fi die Gräfe nach meiner Mutter, nach Bernhard und 
meinen alten Freunden. 

Mit größtem Wohlgefallen hoͤrt ſie, was ich für meine Mutter 
gethan habe. 

„Du Bft ein eben fo guter Sohn,” antwortet fie, „als warmer 
Freund.” ' 


Ans Furcht, meine Hüffe verfömäßt zu fehen, verfihtweige _ 


ich meiner Wohlthäterin meine Heirath mit Nanette. 

Adolphine fpricht wenig. Sie fleht mich oft heimlich an; 
ſobald ſich aber unfere Blicke begegnen, fchlägt fie das Auge nieder 
und wirb unruhig, wie mir ſcheint. Gewiß denkt ſie an die ſchoͤnen 
Tage umferer Kindheit; und vergleicht die Gegenwart mit jener 
feligen Vergangenheit. 

Aber die Zeit iſt um, ich muß zu Nanetten zurück Beim 
Abſchiede bitte ich um bie Grlaubniß, dann und wann bie Gräfin 
befuchen zu bürfen. 

„Andreas,“ fagt fie, „Du bit unfer einziger Freund. Wir 
fönnen Dich nicht oft genug fehen.” 

Ich küſſe die Hand meiner Wohlthäterin und nähere mich dann 
Abolphinen. Sie erhebt ihr matted Auge auf mich und fagt ge: 
zwungen lächelnd : 

„Ich Hoffe, Sie bald wiederzufehen, Andreas.‘ 

„Ian, Madame,” fiotlere ich und elle mit gebrücdtem Herzen 
fort. Ehe ih dad Haus verlaffe, drücke ich Lucilien das Geld 
in bie Sands; fie will mir banken, aber ich bin ſchon ver- 
ſchwunden. 

Auf der Straße athme ich freier. O, wie ſchwer iſt mir dieſe 
Zuſammenlunft geworben! Aber nach gethaner Pflicht if gut 


A 


meines ied fürwieg ich. Abende Läßt er ſich hie Schlaffel ‚geben 
und geht damit fort. Denken Sie fh den Schmerz ber Damen, 
als er, ſtatt wiederzufommen, ihnen einen Brief fanbte, worin er 
fein junges Weib auf die gehäffigfte Weile beſchuldigte, einen ver: 
brecherifchen Umgang wit Ihnen zu pflegen, und zu verfichen gab, 
fie ſtelle fich bloß, als glaube fie, dad Gelb von ihm, dem Mars 
quis, empfangen zu haben, um befto beſſer ihre Intriguen mit 
Fhuen verſtecken zu können. Kurz und gut, dad Ungeheuer hat ihnen 
Alles genommen und weggetragen: Gelb. und Kofbarkeiten... 
Nichts hat er ihnen gelaſſen! Vergebens ſchildere ich Ihnen den 
Schmerz der Gräfin, weniger über dad Elend, das ihrer wartet, 
ls über die ſchaͤndliche Beichuldigung wider ihre Tochter. Meine 
junge Herrin, ohnehin leidend, ift durch Died abfchenliche Benehmen 
ihres Batten äußerſt angegriffen. Auf infäudige Bitten der Gräfin 
babe ich endlich Ihren Namen genannt. Wären Sie doch Zeuge 
ihres innigen Danles geweien! „Der gute Andreas, das wundert 
wich nicht an ihm!““ hat die junge Marquiſe ein über das ander 
Wal gerufen, während die Thräuen aus ihren Augen ſtrömten. 
Die Frau Graͤſin ergoß ſich in die heifeflen Dauffegungem gegen 
Ge. „‚Bueilie,‘“ fagte fie zu mir, „ich muß ihn fehen, ihm banken.“ 
Bo weit if es mit und gelommen, Herr Andreas. Laſſen Sie nit 
lange auf ſich warten: die beiden Damen bevürfen des Troftes 
mehr als je, und wer anders koͤnnte fie troͤſten ald Sie ?“ 

Sa, ih fühle e8, ich Bin der einzige Freund, ber ihnen bleibt 
yon den Bielen, die in den Tagen des Wlüdes fie. ſchmetterlings⸗ 
astig umgaukelten. Schon male ich mir die Größe des Glenö 
dieſer beiden vornehmen Daumen aus: Mein, nein, das barf um 
ſoll nicht fein! Auch diesmal wid ich ihnen helfen. 

Beer ift ſchon am Ausklaiden. 

„Bolt, Beier,“ fage ich: zu ihm, „Du mußt noch einen Weg 
machen für wich,“ . 

«Be ſpat, Bruder?“ 





445 


„Es muß fein, Peter. Du weißt, wo ber Traiteur wohnt, 
bei bem ich das Eſſen auf Morgen beftellte 2” 
„Ja, haft Du was zu beftellen vergeffen 9“ 
„Geh' und beftelle das Eſſen ab... . geſchwind, Peter! Kein 
Eſſen, Fein Ball, wir brauchen nichts davon!“ 
Peter reißt erflaunt die Augen auf. 
„Großer Gott!” ruft er, „Feine Hochzeit, Fein Eſſen, fein 
Bau? Höre ich recht 2“ 
„Isa, Peter! Nichts von bem.” 
„Aber Nanette und Bernharb haben ſich fchon auf den Tanz 
gefreut.” 
„Sie werben meine Maßregeln billigen.” 
„Aber die Säfte find ſchon geladen.” 
„Sie fönnen zu Hans bleiben und zu Haus effen unb tanzen.“ 
„Aber der Traitenr ?” 
„Es ift noch Zeit zum Abbeftellen, drum fpute Die.” 
„Und der böfe Brief ift an dem Allem ſchuld ?“ 
„sa, Peter, Du follft ihn fpäter Iefen.” 
„Welch' Unglück! Keine Hochzeit, Fein @ffen, fein Ball! Und 
Du beftehft auf Deinem Sinn ?“ 
„Unwiderruflih! Geh’, Taufe Beter, es ift die Höchfte Zeit.“ 
Veter gehorcht wie immer, aber hält fich die Augen zu, um 
feine Thränen zu verbergen. Inzwifchen überlege ich, was ich zu 
thun babe. Daß Nanette meinen Entfchluß billigt, davon bin ich 
gewiß. Aber wird bie Frau Gräfln eine neue Unterſtützung von 
mir annehmen wollen ? Nimmermehr, wenn fie erfährt, daß ich 
ſelbſt darüber Noth leide. So will ich denn mich reich ftellen, 
damit meine Hülfe leichter Eingang findet. 
Peter kommt mit verweinten Augen zurüd. 
„Nun, was hat der Traiteur gefagt ?” frage ih ihn. >» 
„Er läßt es gelten, aber er fagt, Dir feieft fo anbeſtandis 
wie eine Wetterfahne.“ 
Paul de Rod. II. 29 


446 


Was kümmert mich des Mann! Um Beter zu tröften, laſſe 
ich ihn Luciliens Brief leſen. 

„Bir verfagen und allerdingd ein Vergnügen,“ fage cch zu 
Peter, „dafür haben wir den Troſt, dem Elend meiner Wohl⸗ 
thaͤterin auf kurze Zeit zu ſteuern, denn das an der Hochzeit er⸗ 
ſparte Geld ſoll der Frau Graͤfin zu gute kommen. Nun, Peter, 
zürnſt Du noch ?“ 

„Gewiß nicht, Bruder, Du haft recht gehandelt,“ entgegnet 
Peter, tief feufzend, „aber ich hätte zu gerne getanzt!“ 

Mit Tagesanbruch gehe ich zu Vater Bernhard. Sie find ſchon 
auf; die Freude hat fie die ganze Nacht nicht fchlafen lafjen. Mit 
wonneverflärtem Antlitz kommt mir Nanette entgegen, doch erfchridt 
fie, als fie meine Unruhe ſieht. Statt zu ſprechen, reiche ich ihr 
Luciliens Brief hin. 

Das gute Kind! Während fie liest, malt fi auf ihrem Ge⸗ 
fichte die herzlichte Theilnahme an dem Unglüde meiner Wohl: 
thaͤterin. Kaum ift fie mit Lefen fertig, fo eilt fie auf mich zu 
und ruft: 

„Mein Freund: Feine Hochzeit, kein Effen und Teinen Ball! 
Was find alle diefe Freuden gegen die Freuden des Bewußtfeine, 
Deiner Wohlihäterin geholfen zu haben!” 

„D, Du gute Nanette, ich dachte wie Du felbft, und hake 
ſchon demgemäß gehandelt, und body wagte ich Taum, Dir bie 
Nachricht zu bringen.“ 

„Du wagteft e8 nit? Weißt Du niit, daß ich will, war 
Du will? Mein höchfles Glüd ift Deine Hand, Deine Lich, 
mehr will und brauche ich nicht. Aber nicht wahr, unfere Hochzeit 
wird nicht aufgefchoben ?“ 

„Gewiß nicht: noch heute wirft Du mein. Aber ehe wir nah 
Savoyen abreifen, muß ihnen geholfen fein. Sie haben Riemant, 
ber für flo wacht und forgt außer mir.“ 

„Wir warten fo lange, Andreas. Dein Logis iſt groß genug 








47 


für und; bis dahin will ich arbeiten und aufammenfparen. Gib 
Acht, Undreas, Glück ifk beffer, als aller Reichthum der Belt.” 

„Gute Ranette, meld’ ein Herz ſpricht aus jedem Deiner 
Worte und Blide !“ 

„Es iR noch zu frühe, zu den Damen zu gehen,“ fagt fie, 
„bleibe bei und und frühftüde mit uns, dann magft Da gehen, 
aber bald wieberlommen. Richt wahr, Andreas, nad) zwei Stunben 
bift Du wieber hier, Du vergifieft es nicht I" 

Wie Fönnte ich das vergeffen? Muß ich fie duch mit jebem 
Augenblide mehr lieben. Sie ift mehr als gut, fie iſt ein Engel! 

Gleich nah dem Frühſtücke geht Nanette fort, um einige 
nothwendige Einkäufe zu machen, wie fie fagt. Inzwifcgen Bleibe 
ich ‚mit Bater Bernhard allein, der nicht mehr an die Hochzeit: 
feier denkt. 

„Bas wir im Wirthshaus nicht thun,“ fagt er, „das thun 
wir bei und. Wir Tönnen hier eben fo flott tanzen wie bort.“ 

Braver Alter, du bift zu jedem Opfer bereit. 

„Du thnft nicht mehr ald Deine Schuldigkeit,“ hebt ex nad 
einer Baufe an, „wenn Du Dich dankbar erweiſeſt gegen Deine 
Wohlthaͤterin.“ 

Nanette bleibt lange aus. Endlich kommt fie zurück, ganz 
erhitzt, aber mit freudeſtrahlendem Antlitze. Ich frage nicht, wo 
fie geweſen ift, denn ein Bli auf fie und jeber eiferfüchtige Ge⸗ 

danke ift verſchwunden. 

„In zwei Stunden bin ich wieder ba, Nanette,“ ſage, ich, 
von ihr Abfchieb nehmen. 

Sie folgt mir bis auf die Treppe, macht die Thüre hinter 
fi zu und brüdt mir ſchüchtern einige Goldſtücke in bie Hand. 

„Rimm das und lege es zu dem übrigen Belbe ,“ Hüßert fie 
mir ind Ohr. 

„Woher das Geld, Nanette 9“ 

„Richt wahr, Audreas, Da zürnſt mir nicht, aber all’ die 


448 


ſchoönen Goſchenle, die Du mis goſtern machte, find mir wicht 
nothwendig. Ich brauche keine großen Shawle und feikenen ‚Kleider: 
Dar haſt mir oft verfichert, je einfacher ich jei, um ſo beſſer ges 
fiele ih Dir. Zürne nicht, Andreas, ich habe Alles zurückgebracht, 
bie auf ein einfaches Kleid, das ich mir heute Nacht zugeſchnitten 
und genäht habe, und bi6 auf biefen Ring mit ben. Haaren und 
bem füßen Worte Treue. D, verzeihe mir, Aubrend, daß ich 
bied gethan habe, ohne Dich zu fragen !” 

Ihr verzeihen ?! Keines Wortes mächtig, drüde ich fie ſtumm 
and Herz und bedecke fie mit meinen Küflen.. 

„Genug, genug!" fagt bad gute Mädchen errötbend, „Du 
könnteſt ſonſt glauben; ich hätte ed and Cigennutz geihan.“ 

Endlich reife ich mich von ihr los und eile zur Frau Gräfin. 

Anfangs denke ih nur an Nanette, aber je mehr ich mid 
ber Wohnung der Gräfin nähere, um "fo verlegener und beflom: 
mener werde ich. Ach, das Wohlthun ift ſchwerer ald man glaubt, 
vor Allem, wenn man mit zarier Schonung dabei verfahren will. 
Und bann foll ich Adolphinen wieberfehen nuch langer, langer 
Treunung! Ich fühle Jeine Liebe mehr für. ſie, mein Gerz gehört 
ganz Nanette an, und dennoch zitiere ich bei dem Gedauken an 
bes Wiederſehen mit Abolphinen!... Aber Muth, vergif alles 
Frühere und bevenfe, daß fie für dich nichts weiter if, als eine 
Freundin und bie Tochter deiner Wohlthälerix. 

Jetzt flehe ich vor ihrer Wohnung, einem Händchen von bes 
ſcheidenem Ausfehen, und im vierten Stode dieſes Haufes wohnt 
— bie frühere Befigerin eined glänzenden Hötels, die Herrin von 
mehr als zehn betreßten Dienern. Dergleichen Glückswechſel fint 
fat etwas Alltägliches, dennoch erfüllen fie und mit Wehmuth. 

Zitternd fleige ich hinauf. Je weiter ich komme, um fo mehr 
enifinkt mir ber Muth. Bor der Thüre bleibe ich einen Augenblick 
ſtehen und ſammle friſche Kraft. 

WIE Lucilie mich erblickt ruft fie laut aus vor. Freude: 











4 

„Wie werden: bie Damen ſich freuen ! 36 will Si⸗ wind 
anmelden.” 

„Kalt, Lucie! Er geloben Sie mir, daß Ste feiner meiner 
Angaben widerſprechen wollm.‘ 

„Ir, Bert Andreas, ich 'geloße es.“ 

„Ih wünfche bei ver Frau Gräfin reich, wenfgfens wohl⸗ 
habend zu erſcheinen, und ich bin es wirklich, benn meine Kunſt 
bringt mir genng ein.“ 

„O, Sie brauchen das nicht zu ſagen, ich errathe ihren Bes 
weggrund. Ich weiß, was Sie wollen, und werde Ihren wach 
beften Kräften heifen.‘‘ 

Br treten ein: Das Zimmer iſt einfach, aber wicht armich meburt. 

„Meine junge Hewin iſt noch nicht auf,“ ſagt Lueilie. Ste 
iſt ſeit einiger Zeit: recht leidend, die Frau Grafin weicht nicht von 
ihrer Seite. Ich will Sie anmelden, Andreas.“ 

Waͤhrend ich im Zimmer warte, muß ii ltr an bie 
Bracht des Hotels zuriickbeulen. Her Bir... mar koıhmf... 
die Thüwe oͤffnet ſich, mein Herz pocht Tauber... nieim Wohllhate⸗ 
cin iſt's; mit offenen Arsen. empfängt fie: mich. 

„Audreas,“ ruft fie mit tiefbewegter Stimme, „mein lieber, 
guter Andreas!” 

Ich werfe mich ihr zu Süßen, nehme ihre Sand und bevede 
fie mit Thtaͤnen. 

„Stebe auf, Andreas,“ antwortet fie, „Dein Platz ift an 
meinen Herzen.“ Dann heißt fie mich neben ſich fügen. 

„Da weißt Alles,“ ſagt fie, mich zärtlich anfehend, „und ich 
weiß,-wad Dun für und gethan haſt.“ 

„Kein Wort davon, edle Feau.‘‘ a 

„Andreas, ich muß meinem Kerzen Luft machen. Selen. 
lichkeit iſt nur für den Undankbaren eine Laſt; ih... I Bin flolz 
auf Deine Wohlthaten. Aber Vorich, mein Bram, Du darin 


unfertewillen ?‘' 


„Gewiß niit, edle Grau: ich bis noch reich; Ihaen verdanke 
ich die Bildung, die mir ein erwünfchtes Auskommen ſichert. Sie 
haben mid oftmals Sohn genaunt, erlauben Sie, daß ich dieſes 
f(hönen Namens mich würbig zeige. Vertrauen Sie mir die Sorge 
für Ihre Zukunft: Gottlob, ich kann fie auf mich nehmen. Nicht 
wahr, Gie gewähren mir meine Bitte ?‘‘ 

„Rein, Audreas, Du haſt genug geihan, ich darf nicht mehr 
von Dir annehmen. Meiner Hände Arbeit... .‘ 

‚Rein, nein, bad dulbe ich nicht! Ich fage Ihnen, ich Bin 
noch reich. Entweder gewähren Sie die Bitte, oder ich muß glauben, 
daß Sie mir Ihre Freundſchaft entzogen haben.‘ 

mit don Worden Iniee ic) wor ihz und nehme ihre Hand in 
Yo meinige, die fie mit ihren Tränen netzt. 

„Ich ſtehe nicht eher auf, bis Gie meinen Wanſch gewähren!“ 
rufe ich bewegt. 

In dom Augenklide öffnet fih die Thüre und herein tritt 
— Molphine. Großer Bott, welche Veränderung if mit ihr vor: 
gegangen! Gie iſt immer noch ſchön, aber jeder Zug ihres Antlitzes 
trägt die Spuren tiefflen Seelenleidens. Ws fie mich exrblick, 
Mogt eime ploͤtliche Müthe über ihre Wangen und verbrängt ihre 
gewöhnliche Blaͤſſe. \ 

„Gen aufgeflanden 3‘ ruft Die Gräfe und eilt ihr eutgegen. 

„3a, Mutter: ich wollte Andreas fehen; ich babe fo lange 
nicht dab Vergnügen gehabt.” 

Ich ſtehe wie eingewurzelt vor ihr. Wer begreift, was ich 
in dem Augenblide fühle! Ge überläuft mich bald heiß, bald Kalt. 
Ich verſuche zu reden; umſonſt! Luft and Leid theilen ſich im mich ; 
Veptere Empfindung überwiegt, wie mir ſcheint. 

‚ARabame .. .'‘ ftoktere ich Taum vernehmlich. 

„Beine Freundin, Deine Schweſter fteht vor Dir,“ fagk bie 
Grüße. „ib Anbraas Bis Hand, Moniphine.“ 

Ich nähere mich ihr und ergreife die Hand, die fie mis bins 














451 


halt, uber mit abgewandtem Antlig ; ich glaube eine Thräne in 
ihrem Auge zu jehen. Mit heißen Küffen bedecke ich die Hanb, 
bie in der meinigen brennt und zittert. 

Um meiner ſchmerzlichen BVerlegenheit ein Ende zu machen, 
erkundigt ſich die Graͤſtn nach meiner Mutter, nach Bernhard und 
meinen alten Freunden. 

Mit groͤßtem Wohlgefallen hoͤrt ſie, was ich für meine Mutter 
gethan habe. 

„Du biſt ein. eben fo guter Sohn,“ anttvortet fie, ‚„‚ald warmer 
Freund. 

Aus Furt, meine Hüffe verſchmäht zu ſehen, verſchweige 
ih meiner Wohlthäterin meine Helrath mit Nanette. 

Adolphine fpricht wenig. Sie flieht mich oft heimlich an; 
ſobald fig aber unfere Blicke begegnen, ſchlaͤgt fie das Auge nieder 
und wird unruhig, ‚wie mir fcheint. Gewiß denkt fie an Die Schönen 
Tage unferer Kindheit; und vergleicht bie Gegenwart mit jener 
feligen Bergangenheit. | 

Aber vie Zeit iſt um, ich muß zu Nanetten zurüd, Beim 
Abſchiede bitte ich um die Erlaubniß, dann und wann die Gräfin 
befuchen zu dürfen. 

„Andreas, fagt fie, „Du bi unfer einziget Freund. Wir 
koͤnnen DIE nicht oft genug: ſehen.“ 

Ich küſſe die Hand meiner Wohlthäterin und nähere mich dann 
Arolphinen. Sie erhebt ihr mattes Auge auf mich und fagt ge- 
zwungen lachelnd: 

„Ich hoffe, Sie bald wiederzufehen, Andreas.‘ 

„Im, Madame,“ ſtottere ich und eile mit gebrüdtem Herzen 
fort. Ehe ih das Haus verlaffe, drücke ich Lucilien das Gelb 
in die Hands fie will mir danken, aber ich bin ſchon ver: 
ſchwunden. 

Auf der Straße athme ich freier. O, wie fchwer ift mir diefe 
Zufammenkunft geworben! Aber nach geihaner Pflicht iſt gut 


453 J 
ruhen. So will ich denn nur and Verguñgen, an die Liche, an 
Ranetten venten! 

Manette kommt mir in ihrem neuen, felbfigemachten Aeide 
entgegen. Ich leſe die Unruhe in ihren Augen, aber eine kurze 
Umarmung uud bad Lächeln ift auf ihre Lippen zuruckgebehrt. Still⸗ 
ſchweigend bittet fie mich um Berzeihung für die Unruhe, bie fie 
meinetwegen empfanben. 

Wir find jept Alle beiſammen. Die- Sefeltiiaft beficht aus 
Bernhard, Peter unb zwei alten Freunden bed guten Auvergnaten. 
Jeder ift in feinen beften Kleidern, und Peter hüpft und fpringt 
im Zimmer herum, als wolle er ſich für das Tanzen entſchäbigen. 

Da wir nur ſechs Berfonen im Banzen find, wirb ein eingiger 
Fiaker und genügen. Während wir in ben Wagen fleigen, Hat fid 
die ganze Nachbarſchaft eingefunben, um die Braut zu fehen, und 
meiner Seel’, fie darf ſich Sehen laflen! Sie hat feine Spöttereien 
über den jungfräulichen Kranz, der ihre Stine ſchmückt, zu fürchten. 
Richt ale jungen: Mädchen, die in den Stand ber Ehe treten, 
konnen das müßige Geſchwätz und den prüfenden Blick der Nach⸗ 
bardlente fo ungeicheut aushalten wie Ranette. 

Dir figen zwar etwas eng im Fiaker, aber mas macht das. 
Luſtig und guter Dinge fahren wir unfered Weges, denn unfere 
Hochzeit gehört nicht zu denen, wobei bie. Belt fi Tächelnd an: 
fieht. 

Ich kann das ernfle, ſchweigfame Ansfehen fo mancher Meu: 
vermählten nicht ausſtehen. Es fcheint mir immer, als verfede 
ſich dahinter das Borgefühl von demnächft bevorſtehendem Unwelter. 

Bir haben jept den Segen ber Kirche zu umferem ehelichen 
Bunde empfangen. Sie ift mein! mein anf immer! mein liebes, 
gutes Weib! Wie gerne nenne ich fie bei diefem Namen und wie 
— fie ihn! Welche Liebe leuchtet a aus jedem beiner Wide, 

neßte ! 


Bon ber Kirche fahren wir zu Vater Beruharbs Wolmung 











such, wo eine bienfuefälige Nachbarin inzwiſchen das. Dinar an; 
gerichtet hat. Wir ſetzen und an den Tisch, lachen, trinlen und 
fingen. Oft fehen wir und feufzend an, Nanette und ich, aber 
wir wiflen recht auf, warum? und das had nichts auf: ſich! 

Nach der Mahlzeit tanzen wir fo Heiler umb froh wie Ki 
Sinber.:von , ehemals. Aber diesmal haben wis ben Tanz bäldes 
fett als fon; um zehn Uhr wünfchen wir der Geſellſchaft eine 
ruhſame Nacht. Peter bleibt bei Bernhard und ich... ich Fübme 
triamphiund meine Braut, meins vielgelishte —* in weint 
in unfere eheliche Behavſuns 


diexunddreißigſtes Rapitel. 
Leute Prüfung — Rückehr nach Savoyen. 


Liebe, Ordnung und Fleiß verſprechen unſerer kleinen Hands 
haltung ein dauerndes Gluͤck. Ich arbeite an einem neuen Gemälde, 
Nanette näht Kleider, Beter fegt ſeine Kamine und Vater Dera- 
hard ruht, das iſt ihm zu gönnen. In Savoyen koͤnnten wir. in 
dem nieblichen Häuschen ber guten Mutter wie die Prinzen Ichen, 
Aber die Pflicht. der Dankbarkeit gegen meine Wohlthaͤterin umb 
ihre Tochter hält mich jo lange in Paris zurüd, bis ihr Schickſal 
entichieben if. Ich darf fie um fo weniger verlaffen, als alle Welt 
fie verläßt. 

In den erfien Tagen nach unſerer Hejsath gibt es unendlich 
viel Zerſtreuungen, kaum, daß ich eine Stunde vor meinem es 
mälbe ſigen kann; auch Manette fieht jeden Augenblid auf... wir 
Haben ung, halt taufend Dinge zu jagen.. Aber bei aller Siehe, bie 
aus ihren Augen leuchtet, ift fie die Sinnigfeit und Vernunft felbft. 

„Freund,“ ruft fie mix zu, wenn ich zu oft ben Pinfel njehex⸗ 
lege, „bedenle, Du haſt viele Pflichten auf Dir!“ Geyfggub Ich 


451 


I) Yan an bie Acheil zurül. Gottlob Fönnen wir Maler Wenbs 
anörwben, und dann eutfchäbige ich mich bei ihr für die Eutbeh⸗ 
tungen bed Tages. 

Das liebe, gute Weib iſt die erfte, die mich aufforbert, meine 
Wohlthaterin zu befucken. Mit jedem Augenblicke entdecke ich neue 
Tugenden, neue Reize an meiner Lebensgefährtin. Ihr Geſpräch 
M einfa und kunſtlos, natürlich und doch fo zauberiſch; Ihr 
Geſchmack zart und gebildet; ihr Geiſt anmuthig und liebens⸗ 
würdig; nichts ME in Sprache umd Benehmen, wad im Weringfien 
gegen die zarte Lebensart verftieße, und doch ift fle nur Die Tochter 
eines fehlichten Wafferträgerd. Wer hat fie das gelehrt? Offenbar 
gehört fie zu ben von ber Natur vorzugsweife begünftigten Ge⸗ 
fchöpfen, zu jenen reinen Raturfindern, ‚die Alles aus ſich ſchoͤpfen 
und keiner Unterwelfung bedürfea. 

Mein zweiter Beſuch bei der Frau Graͤſin faͤllt mir ſchon 
leichter, und doch fühle ich mich gedrückt, wenn ich Adolphinen 
anfehe. Ach, die erſten Cindrüucke kommen ſchnell und verſchwinden 
langfam, ſehr langſam! Meine WohlfHäterin zämt, daß ich To 
lange babe auf mich watten laſſen; file will, daß ich öfter komme, 
Weil fie Riemand fehe und fpredhe außer mir. Adolphine iſt noch 
immer ſchwach und leibend. Ich habe bisher Feine Gelegenheit 
gehabt, ſie allein zu ſehen, auch wünfche ich fie nicht mehr her⸗ 
bei ; im Gegentheil, mie ſcheint, ich Würde dann noch verfegener fein. 

Madame erkundigt ſich theilnehmend nach dem Erfolge meiner 
Arbeiten. Ich antworte ihr, daß es aufs Beſte gehe. Aus ber- 
gleichen Nothlugen, im reiner Abſicht gefagt, mache ich mir fein 
Gewiffen. 

„Gottlob, daß es Die gut geht, Andreas,“ fagt fie. „Ich 
Wünfde nur, Dein edles Benehmen wäre überall befannt !“ 

She ich fortgehe, erfunbige ich mich bei Lucilien, ob die Fran 
Gräfn und ihre Tochter im Geringſten Mungel leiden. Bel der 
Gelegenheit Höre ich, daß Erſtere idt, wenn Lehtere ſchlaͤft, da⸗ 








mit ihre Tochter ja nichts davon mecke. Arme, arme Frau, da 
feht man, wie beneidenswerth der Keichthum iſt.geſchwinb 
zu meinem Binfel zurück! 

Ein Laͤcheln Nanettens verſcheucht alle trüben Gedanken. Als 
ich ihr Die Urſache meiner Betrübniß ergäͤhle, küßt fie mich aub fagt: 

„Bir find beide noch jung, mein Freund! Arbeiten wir tüchtig 
vorwärts, dann wirft Du bald mehr thun können für Deine alte 
MWohlthäterin, und gewiß nicht weniger glädlich fein.” 

Meine Antwort ift, daß ich ‚fie an ‚mein Herz drücke. 

Bir find jegt drei Monate vermählt. Ich habe inzwiſchen 
meine Gemälde verkauft, aber der Käufer meiner früheren Vrbeiten 
it leider auf dem Lande; das legt gefertigte iſt nicht ganz nad) 
Wunſch gelungen. Mein Weibchen ſteckte mir zu viel im Siun; 
dafür will ich dem neuen allen meinen Fleiß und alle meine Liehe 
zuwenden. Aber wie wird ed mir gehen, bis es fertig iſt! Derden 
nicht die beiden Damen allerlei dringende Bebürfniffe haben? beun 
bad letzte Geld mug bald ausgegeben fein. Dazu Tommi, daß mein 
eigener Hausſtand, wie beſcheidan er fein mag, immerhin Auslagen 
verlangt. Oft wird ed mir etwas ſchwül Dabei, und nicht immer 
gelingt es Nanette, die Sorge von meiner Stirno wegzwlächeln. 

Zwar beiheuert fie eim über's audere Mal, daß fie nichte 
brauche für die Haushaltung; und Heißt mich unbeſorgt fein für 
die Zukunft; allein wie foll e8 werden, wenn bie ange Marquifin 
eruftlich krank wird, wozu es, leider! ganz den Anſchein hat? 

Eined Tages, als ich die beiden Damen befuchen will, txeffs 
ih Niemand als — Abolphine. Die Graͤſin und Bmeille find 
Beide audgegangen. 

Sch bin mit Adolphinen nicht allein gewefen ſeit jenem wer: 
haͤngnißvollen Tage, wo ih ihr meine Liebe geſtand und bald dars 
auf vom Brafen überrafcht wurde. DO, wie ſchmerzlich iR wir ber 
Gedanke! Ich weiß nicht, ob Adolphine gleichfalle dieſes Umſtandes 
gedenkt; aber fie Scheint eben fo verwiret wie ich, 


Ip ſehe mich meben fie. Rad einigen Griuntigaugen hin⸗ 
ſichelich ihres und ihrer Mutter Befiuben ſtockt das Geſpräch. Ich 
weiß nicht, was ich ihr jagen foll: die Flut von Griuneruugen, 
De anf wich einfkärıt, läßt mich nicht zur Belinunug Fommen. 
Moelphine if eben fo ſtumm. Wir fipen da wie zwei Derbreche, 
die ſich wor dem Dekenniniß ihrer Thaten fchenen, vder wie zwei 
bend⸗de mikeinenber grollen, wab bach. ſind wir weder das 
Gine noch das Anbdere. 

Ich ſehe fortwährend nieber, doch Höre ich, wie fe ſeufzt. 
Offenbar leitet fie. Es if mir, als werde ich von ihr angefledt, 
deun ich fühle mich umenbiich beklommen. Eudlich bricht fie bus 
GSchweigen was fagt wit zikkerwber Stimme: 

„Bir Gaben uns lange nicht ohne Zragen ‚gefehen und ge- 
eeihen, Andreas. Ich möchte wiffen.... .“ 

: ie kam wi weiter. Mit gefpanntefter Erwartung horche 
ich auf. 

- Mad Sie von mir gebucht: Haben, Andreas,“ fährt fie nach 
eier Pauſe zitlernd ford, ‚als Sie meine Heirat mit Herrn von 
Sheciguy sefaleen t“ 

„I dachte, Mabame, daß biefe Verbindung Ihrer Familie 
zeſage mad def... Michts..... ihr int Wege Rebe. “ 

„Hub, daß ich glüdkich tnecben Buune 3“ . 

„Ja, Mabame.“ 

Sie füweigt. Habe ich ihr wehe geihan ? Ich ſehe ſie am. 
O Himmel, die Tränen rinnen über re Wangen. Gben will 
ich ihre Hand evugreifen, als bie Frau Gruͤfin ins Zimmer tritt. 

„Bas fehlt Dir, Adolphine?“ fragt fie, erſchreckt über dem 
 SIutonb ihr Tochter. 

„ide, Biukter, nichto ſtouert fie und verfucht zu lächeln. 
„Bin Schwinvel.“ 

„Armed And !" J 

Ich will den Aen Golem, ‚aber: Molphin⸗ sit e es nicht zu. 








457 


Bald gelingt ed ihr, die Mutter zu beruhigen ; aber mich tät 
fie nicht. 

Tief bewegt Tchre ich nach Haus zurück. Bergebend ſuche ich 
zu arbeiten: es will nicht gehen ; kaum kaun ich ben Pinſel halten. 
Ich Iege mich bald ind Bett nieder, aber die Erlebniſſe dieſes 
Tages laſſen mir feine: Ruhe. Mitten in ber Nacht wache ich auf ; 
Nanette iſt nicht bei mir! Meberrafcht, unruhig. ſtehe ich in aller 
Stille auf. Enplich fehe ich fie im Nebenzimmer beim Schein 
ihres Lämpchend an der Arbeit ſitzen. Die Gute! währen ich 
glaube, daß fie ſchlaͤft, asbeitet fie die Nächte durch‘! 

Sie Hat mich gehört und kommt erröthend auf mich zum 
Und was th fie? Sie bittet mich um- Verzeihung, daß fie 
in der Nacht arbeite, und verfichert mich, daß es Feine Nies 
fluengung, fonbern ein Vergnügen für fle ſei. So viel Liebe, fo 
viel Güte Tann mich an Nanette nicht mehr überrafchen ; ich Tenme 
fie. Aber wie quält es mi, daß ich ihr nid nach Verdienſt 
dafür lohnen: Tann! Und was antwortet fie ? Meine Liebe fei ihr 
fchönfter Lohn! 

Solcher Edelmuth befeuert meinen Muth aufs Nene. Ich 
arbeite eifriger denn je zuver, und meine Anftxengungen werben 
mit dem fchönften Erfolge gekrönt. Denn eined Morgens tritt ganz 
unerwartet der reiche Kunſtkenner, der meine erften beiden Gemätbe 
mir ablanfte, ind Zimmer und erkundigt ſich nach meiner neneften 
Arbeit. Ich zeige fie ihm und ernte dafür feinen vollen Beifall. 
DaB Ende iſt, daß er fie mir für eine bedeutende Summe ablauft. 
Man vente fi meinen Jubel! Jetzt muß Manette verfpredhen, fie 
mag wollen ober nicht, daß ſie bas nächtliche Arbeiten aufſteckt. 
Wie gerne ſchenkte ich ihr ein kleines Geſchmeide, aber ſie will 
burchaus nichts annehmen, erinnert-mich dagegen an meine Pflicht 
gegen meine Wohlthäter. 

Seit dem lebten Töte-a-töte mit Abolphine iſt ſie eben ſo 
ſchweigſam wie zuvor. Wenn ich komme, laͤchelt ſie und ſcheint 


458 


erfreut über meine Gegenwart, aber gleich darauf fällt fie in ihre 
alte Schwermuth zurüd. 

Nach Beriuß einiger Zeit gehe ich wieder zu ben beiben 
Damen, ohne den ſchoͤnen Erfolg meiner füngften Kunflbeftrebung 
zu welben. 

„Wir waren recht beforgt Deinetwegen,“ fagt bie Frau 
Gräfin ; „wir fürchteten, Du feieft krank, d'rum hab’ ich Lucilie 
zu Dir geſchickt.“ 

Wie dankbar ich auch bin für den neuen Beweis ihrer Theil 
nahme, fo iſt mir doch nicht recht damit gedient, benn ich fürdhte, 
daß Lucilie auf diefe Weite meine Heirath erfährt und fle and: 
plaudert. Ich fuche meine Unruhe zu verftedlen und will mich eben 
empfehlen, als Lucilie rafch ins Zimmer tritt. 

„Ih komme eben von ihrer Wohnung, Herr Andreas,” fagt 
fie, bedeutſam laͤchelnd. Ich winke ihr zu ſchweigen, aber fie ver: 
Neht wich nicht ober will mich nicht verſtehen. 

„Du Ha Niemand gefunden!“ fagt die Frau Gräfin. 

„Do, doc), gnädige Frau : eine recht liebenswürbige Perſon.“ 

„Gewiß feinen Bruder !“ 

„Rein, Madame, ed war Fein Herr.“ 

Die Fran Gräfin Hall mit Fragen ein, aber Adolphine flieht 
wi erfiaunt an. Ahr blafſes Antlig bedeckt ſich mit einer flüchtigen 
Nöthe, Ehe ih Lucilie zuwinten Tann, hat fie mein Geheimmiß 
bereitö verrathen. 

„Entſchuldigen Sie gütigft, gnädige Frau... aber Sen 
Andreas Kat und nichts davon gefagt, daß... denken Sie, Ma; 
bame... baf er verheirathet fei.“ 

„Verheirathet?“ 

„Ja, Madame, mit ſeiner lieben Nanette, die ich heute zuerſt 
geſehen habe und in ber That allerliebſt fand.“ 

„Ift dem fo, Andreas ?* fragt meine Wohlthäterin, 

", Madame,“ flottere ich verlegen, 








459 


„Und warum fagteft Du bas nicht?" 

Mährend ich nad) einem Borwande ſuche, blide ich zufällig 
auf Adolphine. Großer Bott! blaß wie der Tod, ift fie bewußtlos 
in die Ede des Sopha's gefunfen. Auf meinen Schrei fieht ſich 
die Frau Gräfin nach ihrer Tochter um. Schnell eilt fie ihr zu 
Hülfe, nimmt fle in ihre Arme und ruft fie Iaut bei Namen, 
während Lucilie und ich Alles thun, um fie in's Leben zurückzu⸗ 
rufen. Aber unfere Anftrengungen find umfonft ; ihre Augen bleiben 
geſchloſſen. Mit Blißesfchnelle eile ich zum Arzte und hole ihn 
herbei. Enblich gelingt es ihm, fie aus ihrer Ohnmacht zu weden. 
Sie öffnet die Augen, ſieht erft mich, dann die Mutter an uns 
ruft mit Schwacher Stimme: 

„Fürchtet Euch nicht, es ift non Teiner Bedeutung.“ 

Nachdem wir ſie in's Bett getragen haben, entferne ich mich 
mit dem Arzte. Auf meine Frage nad dem Zuſtande Adolphinens 
gibt er mir die wenig tröflliche Antwort, daß bie Urſache ber 
Krankheit ein tiefgetvurzeltes Seelenleiven fei, woran alle Ans 
ſtrengungen der Kunft fcheitern müſſen. Ach, ich fürchte, ich er⸗ 
rathe die geheime Urſache biefes Seelenleidens! 

Ald Nanette von dem beunrubigenden Zuflande Adolphinens 
hört, erbietet fie ſich zu allen möglichen Hülfeleiftungen : fie wii 
bei ihr wachen, fie pflegen. Aber ich glaube nicht, daß die Gegen» 
wart Nanettens wohlthuend auf die Kranke einwirft. 

- Abends fpreche ich bei der Graͤſin vor. 
„Adolphine ift ruhig,” fagt Lucilie. „Madame weicht nit 
von ber Seite ihrer Tochter.” 

Bon dort aud gehe ich zum Arzte und bitte ihn, der Kranken 
alle mögliche Sorgfalt zu ſchenken. 

„Ich will thun, was in meinen Kräften flieht,” fagt er kopf⸗ 
ſchüttelnd; „aber es wird nichts helfen.“ 

Nanette if faft eben fo unruhig über ben Zuſtand der Krauken, 
als ich es bin. Kaum Tiege ich in meinem Bette, fo fchredt mid) 


4. 


460 


Kbolphinene Bild aus dem erſten Schlafe auf. GSleich daranf wird 
laut an die Hausthüre geflopft. Eine geheime Ahnung fagt mir, 
daß es mir gelte. Ich ftehe auf, kleide mich eiligft an und öffne 
Die Thüre. Ach, ich Habe mich nicht getäufcht... Lucilie fleht vor 
mir, in Thränen gebabet. 

„Kommen Sie gefchtwind !” ruft fie mir zu. „Die junge Mar: 
auifin if von einem hißigen Nervenfleber befallen. In ihren Tichten 
Angenblicken verlangt fle nach Ihnen, fie will Sie fehen, mit 
Ihnen ſprechen!“ 

Ich folge Lucilie; ſchweigend gehen wir neben einander. Enblich 
fine wir vor dem Haufe. 

„Und ber Arzt?“ frage ich. 

„Iſt oben bei der Frau Sräfln, die in Verzweiflung Ri über 
den Zuſtand ihrer Tochter.” 

Ich trete in dad Krankenzimmer. Sie fieht mich nicht; fie 
Hegt in den Armen ihrer Mutter. Das Fieber hat eben feinen 
Hoͤhepunkt erreicht. Wir treten an fie heran, fprechen zu ihr: fle 
nennt meinen Namen, aber fie erfennt mich nicht. Auch Ranettene 
Name kommt über ihre Lippen ; zugleich macht fie eine Bewegung 
mit der Sand, als wolle fie etwas von ſich abwehren. Dann drückt 
fle die Hand an die Bruſt und ruft in wahrhaft herzzerreißendem 
Tone: 

„Er ift da... immer ba... ich Tann ihn nicht fortfriegen 
von da! Aber er Tiebt mich nicht mehr. . . er kann mich nicht 
mehr Iteben.. . .” 

Hierauf fällt fie in einen tiefen Schlaf, woraus fle Bald ruhiger 
and mit vollfommenem Bewußtfein erwacht. Meine Gegenwart 
ſcheint ihr wohl zu thun, denn fle laͤchelt die Mutter an und bittet 
mit faſt erſtickter Stimme: 

„Erlauben Sie, liebe Mutter, daß ich mit Andreas einige 


—— rede ... zum letztenmale. Dann will ich Sie nicht mehr 








1 
.Bte Bnkfin umnawet., fie, worauf den Arzt die, Mutter in's 
Nebenzimmen führt. : So fiche ich denn ‚allein vor Adolphinens 
Bett ;. ihre Mugen ſind ‚nom Weinen: aufgefchwollen. Sie reicht 
mir „.dar ich kaum bes Sälnhgen unterbräden fans,. ihre Hand 
unb fegt: 

.„Mubrees, ‚meine letzte Gtunde iſt nahe; ich bin es zufrie⸗ 
ken, ‚bern ich Tann. doch nicht, mehr glücklich ſein. Sage mir, 
daß Du mich geliebt Haft... nenne mich noch. einmal Deine Adol⸗ 
yhine: wie im, ben ſchoͤnen Tagen: unferer Sinbhei... und ich fterbe 
wire „u 

———— u meine Koolphime ... bleibe bei un⸗ .. 
ei. mir. . bei Deiner Mutter! Bleibe. bei und, bie wir Dich 
tichen:. on wie ‚Uchen . on 8K 

"Rein, Andreas. , genug ieht.. ... ich. Rerbe glücklich · 
lebe wohl und verlaß ‚meine Mutter nucht 

Ich will noch einmal ihre Hand prüden, aber fie iſt eisfalt.. 
Muphine bes die Mugen auf immer geſchloſſen! 

AMßme dem mänmlichen Moment Tonne die Gruſta zurück, Schnell 
gehe, ich ihe entgegen und. nehme fie mit in's anbere Zimmer. Sie 
fragt. wide. ihrer Tochtex. Ach, mein Schweigen: ſagt genug! Sie 
fallt mir in die Arme. Mit Hülfe Luciliend trage ich, fie in ben 
Wagen des Arztes, welcher fie tn meine Wohnung bringt, 

:.. Algbald kehre ich zu ber. Entſeelten zurück und bleibe bei ihr, 
bis die legten fchmerzlichen Pflichten. erfüllt find. ine einfache 
behcheirane Gruft. deckt die ſterbliches Ueberreſte dieſes Weibes, das 
tm den aihſtzehn Fahren ihres kunzen Dafeine: ‚bie außerordentlichſten 
Werhfelfaͤlle des Gladeq exlebte. 

Dank. der angefizengteften Pflege von Seiten des Arztes, Que 
eifien®, meiner Frau und mir gelingt e& und endlich, bie troſtloſe 
Matten. zu benihigen,, Wir beiesinen Awlohime mit ihr wie eine 
Tochter und Schweſter. 

Amt baͤlt ude nichts mehr in Paris zurick; im Gegentheil 

Paul de Rod. II. 80 


wird ber Aufenthalt unter dem teten Himmel Savoyens der Gräfin 
unmblich wohlihuenn fein. Bald nad dem Tode ihrer Tochter 
erfährt die Frau Gräfin, daß Herr von Theriguy, nachdent er dad 
geftohlene Geld bis auf den letzten Heller verſpielt hatte, im einem 
Duell geblieben ſei. Den flchentlichen Bitten Nauettens, vereint 
mit den meinigen, gelingt es enblidh, vie Frau Gräfe dahin zu 
bringen, daß fie eimwilligt, une. nach Savoyen zu folgen und ms 
wie ihre Kinder anzufehen. 

„3a, Ihr feld meine Kinber,“ antwortet die Gräfin und bradt 
uns an ihr Herz. „Du, Andreas, Haft unendlich mehr an mis 
gethan, als id verdiente, .uub Da, liche Naneite, obgleich wir 
uns erſt feit Kurzem kennen, haft mich mit Tinhlicher Sorgfalt 
gepflegt. Ich erkenne Eure Liebe und bleibe hinſort bei Aa 
Ihr feld mein Ein und Alles," 

„Und Sie gehen mit und nach Savoyen ““ 

„Wohin Ihe wollt!" 

„D, die Freude übers die Müdlchz in dis liebe —— AR 
Vorkehrungen find: beteits getzuffen, Peter und Bernhard zur Reife 
gerüftet. Gerne Hätten wir Lurilie mitgenommen ; alleim fie zieht 
es vor, einem jungen achtzehnjährigen Manne, der eine tüchtig⸗ 
Sausfrau fucht, ihre Hand zum ehelichen Bande zu reichen. 

„Er iſt zwar noch ein Kind,” fagt Lucilie, „uber ich will ihn 
heranbilpen.“ Mit dergleichen Heranbildungen bat fü bie gute 
Zucilie vom jeher gerne abgegeben. 

Endlich ik der Ting ver Abreiſe da. Ich Habe für uns Kauf 
eine Berline genommen, Denn ich will die Frau Gräfe nicht allein 
im Poftwagen zeifen laffen. Gerührt von ben vielen Freundſchafts⸗ 
beweilen, bie fie bei uns findet, gibt fie und oft die Haub und 
fagt mit thraͤnenbem Kuge: : .: 

„Ihr Bringt es am Enbe undy. dahin, daß ich mit dem Beben 
mich wieder ausfähne !“ 

Per ſcilbert anfen Bibel, als wir bie lieben veiwathbero⸗ 








—————— ſahent Noneih M sung ſo. außer w wi 
Dein uns ach. F 

Be das is Quer Gehurtsland ja “. ruft fie ein, über's andere 
8* Dis’ wohlbalanuten Barrioͤre werfen wir ‚ale einem alten 
Groien Auftrnsferliden Grab u. 

hen haber ihnen Allen / viel son dem neh ide Hauechen zer 

Mukker erzaͤtzbi; aber ſorhubſſh· hatten ſie ſichls doch nicht gedacht. 

„Das iſt ja ein Schloß. rufen Bernhard und Nunette. 

„Welch reizender Aufenthalt!” fagt die Gräfin. 

„an Burer Mitte,“ falle ich ein, „ift e8 meine Welt. Nie 
follen meine Wünfche weiter gehen als bis an die Berge, die unfern 
Horizont einfchließen. Das ſchwoͤre ich!“ 

Die Freude der Mutter begreift nur der, der fle mit anges 
fehen hat. 

„Bir Tommen, um nie wieder zu ſcheiden von Dir, liebe 
Mutter.“ 

„Rie wieder ?“ ruft die Mutter. „Ihr wollt nie wieder nach 
Bari zuräd?“ 

„Nie; wir bleiben fletö bei Dix.“ 

„Und Du auch, Beter? Haft Du Di von den Omelettes 
ſoufflses und Paſteichen trennen können %" 

„Ich habe fie fatt gekriegt,” antwortet Peter und legt bie 
Hand aufs linke Auge. 

Die Fran Graͤſin und meine Mutter haben fich bald recht Tieb 
gewonnen. Die Tugend macht alle Stände einander gleich und 
ebnet alle Unterſchiede des Ranges und Bermögene. 

&o find wir denn in unferem niedlichen Häuschen aufs Bes 
haglichſte eingerichtet. Die Frau Gräfin bewohnt das ſchoͤnſte 
Zimmer; fie weigerte ſich zwar, aber bies ift das einzige Mal, 
baf Ich gegen ihren Willen handelte. Das Glück iſt mit und ein- 
gelehrt in dieſen frieblichen Aufenthalt. Peter beftellt ven Garten; 
Bater Bernhard hilft ihm dabei, fo gut es fein Alter erlaubt ; 


466 


Gehsundzwanzigheb Kapitel. Verſchledene Arten ide -. .„— . 
Ehebenunpzwanzigfied Kapitel. Beter und —— . 
Aqchtundzwanzigſtet Kapitel. Franzent Karril en 
Reunundgwanzigfed Kapitel. Wie Peter heuspält ee. 
Dreifigfied Rapitel. Secht Monate und ht ke » . - . 
Einundbreißighes Kapitel. Die Folgen von Peter HGaushaltung . 
Zweiunpdbreißiged Kapitel. Zurüfungen mm deauꝛei _ Broker 
Gtreih Kofi . ,„ . . 
Meinndbreißigſtter Kapitel. Leib und Sub. . 
Bierundbreifighes Rppitel,. Beigte Prüfung. —— Baier Seeyen 
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Wehen Beriaug fan ferner: era mb kurt alle Buch⸗ 
Say en un baichene., ; | ut og Sn 
VBoecaccio⸗ Dekanteron üb Jlauinetta. 
Ins Deutſche überſetzt von Gnſta⸗ Diezel. 
Sie vurchgeſehone und theilweife neu "bearbeitete Auflage. 
4 Theile. 2 2Rthlr. - 3f., 


Dafſelbe Verl in eleganten rı vothem: Einbaude. 
2, Athlr. — 3 fl: She, ⸗ 


Taſſols befreites Jeruſalem. 
Im Versmaße der Arfqrift abetſett * 
von F, SM. Buttenhofer, | 
1 Rthlr. — iM. 48 fr. 


Milton’s verlorenen. Maradies 


Deutſch von DE. Stans: Asttankany. 
Mit 2 Stahlſtichen. 


1 Rthir — 1 f. 28 fr. 


GSoldſmith, Dliv., Candprediger vun Mieſtelb. 
Rene Auflage mit 1 Stahlſtich 
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Ariof’s zafender Aolanb. 
Ins Deutfie überlegt von Hermann Kurz. 
1Rthir. — 1 fl. 48 &,,, 22 
Sie vorſteßenben Claſſiker find in dem belichten neuen 


Elafitter » Format gebrudt und meiſtens mit ſchoͤnen Gtahl- 
ſtichen gezieri. 


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sit Wa werehelichen Deferd der Part de Moctiien 
Romane werten folgende, im 2*. Verlagẽ er» 


RB ken e a 


mpfoplän’: 
Beuckbrau, F. W., die Verfehindrung in 
Ba "Münden." Eine Gallerie der intereſſanteſten 
Liebſchaften galanter Herren und lüſterner 
ud tan Yrbanben 080 ‚allen‘ Stäuken.: 
aehfimet:. 2, Se % ANNE. 7Y, Ser. 





* = iderän, F. IE 2 beine gichiehäften 
von Barifer Kofkamen, ad) Noger Graf 
v. Sufp-Habutin. 4 Ryblr. 15 pr. 
Kr 7 20 
8314 Btradbrd; 8.8, DRtip lungen ah ben‘ 
aupemen Sdemoirın eintk deutſchem Sängerin. 
2 Bünde. 2 Rthlr. Te Ser. 
ch „© ses ‚4 
jan. EEE, der BRepſt, Kin ändere. 
roch. Min hiſtoriſcher Ramıan..2 Bände. 8. 
ich +: 11Rihlr. 15 Ser. 


7 „ yily, 
Brndsras, A * ofen "Garbinenfeuf- 
Fr BE: änbr. J 1. Rthlr. 15 Ser. 
Brudbtäu, & W., "et nräthfel. 
Na M. cc 3 Ar 
u 1% 19: LE nu an ilben iur oo INES en. 


. zu. 





Band II. Seite 37. 
Bräufein Tochter, Dein Betragen it ſeht unpaflen, um mich micht jchärfer 
aue zuorũden 











Band II. Seite 201. 
Der Koch des Herrn von Franconard dentt über eine neue Sauce nad). 


A 





na 














— or Zu 
u e— — > 
Band IL. Seite 235. 
Here dv. Mrancomard, begleitet von Heren Champagne, forynettirt die Bauern 
mäbehen und Mmeift die Hübfcheren. 


4! 











Band IT. Seite 29. 
Seitdem Peter die Meider gewecſeit Hat, ſeht er in der That Höchf lomiſch au 
et fergengetabe da und Rarrt vor ſich Hin, weber find noch techtß, moch hintı 
Blidend. Herr Dermilld lacht leut, als er Peter erblidt. 















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u- — — 
Band II. Seite W. 


Beſuch von Müllern und Hannhen bei ihrer Tante Feinwäſcherin. 


Das Kind meiner Stan, 


"Bon 


Pauf de Koch. 1 


— — 


Deutſch bearbeitet 


von 


Dr. Heinrich Elsner. 


Dritte Auflage. 


Stuttgart: 
Rieger'ſche Verlagsbuchhandlung. 
(A. Benedict.) 


1857. 


Buchdruckerei der Rieger'ſchen Verlagshandlung in Stuttgart. 


Erſtes Kapitel. 
Reiſe, Unfall. Abenteuer. 


„Wir werden biefen Abend auf keinen Kal mehr nach Straß, 
burg fommen, Müller!... Sag einmal dem Poſtillon, ex ſolle 
anf bie verfiuchten Mähren Iospeitfchen. — Seit einer Stunde 
habe ich ihm das fchon mehr ale zwanzigmal gefagt, mein Oberft; 
aber er antwortet, wenn wir nicht alle drei den Hals brechen wollten, 
Tönne er nicht ſchneller fahren. — Heinrich wirb nicht mehr in Straßs 
burg fein, bis wir dort eintreffen. — Dann, mein Oberft, reifen 
wir ihm noch weiter nad. — Und Holen ihn vielleicht nicht zeitig 
genug ein, um dem Unglüd, das ich befürchte, zuvorzufommen!... 
— Wenn auch, fo haben Sie ſich wenigftens nichts vorzuwerfen, 
mein Oberſt; denn wahrhaftig, feit ven ſechs Wochen, daß wir 
Tag und Nacht umherrennen von Framberg nach Straßburg, von 
Straßburg nach Paris, und von Parid wieder nach Framberg, find 
meine Hofen fo feft an meine Hinterbaden geklebt, daß ich mich 
gendthigt fehen werde, mein Oberft, in unferem erſten Abſteige⸗ 
quartier mein zweites Geſicht zu zeigen: — Wenn nur wenigftens 
der Zweck unferer Reife erreicht würde! — Ad! wenn nur eine 
gute Flaſche Wein da wäre, die Erſtarrung von meinen Gliedern 
wegzuwafchen!... Mber nein!... Nicht einmal ein ſchlechtes 
Glas Lanpfturm zur Löfchung meines brennenden Durftes! OB! 
mein Oberſt! für einen Andern würbe ich eine foldke Bein nicht 
fo gebuldig ertragen ! — Bereuft Du’s, mir gefolgt zu fein, Müller ? 
— Ich gehe mit Ihnen, mein Oberfl, bis and Ende der Welt; 
doch wänfchte ih, daß man babei efjen und trinken Eönnte... .”. 
Hier warb bad Geſpraͤch durch einen entfehlichen Stoß unterbrochen, 


4 


von welchem die Achſe des Poſtwagens entzwei brach ; bald Tagen 
der Oberſt Framberg und fein Reifegefährte in einem Chauſſee⸗ 
graben ; die ganze Schuln fiel auf den Boftillon, der in feiner Eil⸗ 
fertigleit den Graben nicht wahrgenommen hatte. 

Während fi der Fuhrmann mit den Pferden befchäftigte, 
Half Müller feinem Oberfien wieder auf die Beine. „Zaufend 
Millionen Batronen ! find Sie verlept, Oberſt? — Es iſt nichis, 
Müller ; nur ſchmerzt nich mein linkes Bein ein wenig. — Donner; 
weiter! Sie haben eine flarle Quetſchung! — GE ift nichts, fag’ 
ich Dir, mach’ nur, daß wir einen Ort finden, wo wir biefe Nacht 
bleiben koͤnnen, denn ich fehe wohl, daß wir die Hoffuung auf: 
geben müſſen, heute noch Straßburg zu erreichen.“ 

Des herzutretende Poſtknecht berichtete den beiden Herten, etwa 
fünfzig Schritte von da befinde ſich eine Herberge. — „Bir, 
Schhlingel! Du wagft es, den Oberfien Framberg in einen Graben 
zu werfen?" fuhr Müller den Poſtillon an. Der aber entfchulbigte 
fig fo gut e8 ging, und man ſchlug den Weg nach dem Wirtha⸗ 
hanfe ein, indem man ven Oberſt unter beide Arme nahm. 

Unfere Reiſenden waren noch feine Biertelfiunde vorwärts ges 
fegeitten, als fie ein Eeined Hans von einfachem, doch gefälligem 
Aeunßern erblickten; es beſtand aus einem Parterre, einem Sied: 
werk und den Dachboöden; grüne Jalouſien ſchützten die Bewohner 
vor ber Sonnenhige, und mehrere buſchige Eichen befchatteten ven 
Gingang ; kurz, Alles ſchien anzudenten, daß ber Here biefer Woh- 
nung, des geraͤuſchvollen Stadtlebens müde, fich in dieſe Einfem- 
famleit zurädgezogen habe, um feinen Siunen in flillen Betrach⸗ 
tungen Ruhe zu gönnen. 

„Das nennft Du eine Herberge!” ſchnaubte Müller den Bor 
Killon an; „breifaches Donneriveiter, ich glaube, Du wii meisten 
Oberſt noch gar fpazieren führen?... — Laßt und immerhin 


Flopfen !“ antwortete der Baer „Drinnen merben wir ſchon 
ſehen, woran wir find,“ 


d 


Müller pocht mit gewichligen Schlägen an ver Thüre: Leine 
Antwort ; neued Klopfen: Alles umfonft. Zu ihrem hoͤchſten Uns 
ftern war inzwiſchen die Nacht eingebrochen und bie Verlegung des 
Oberflen, durch das Gehen ſchlimmer gemacht, verurſachte dem⸗ 
felben entjegliche Schmerzen. 

„Und wenn alle Teufel fich verfchworen hätten, mein Oberft, 
fo können Sie in Ihrem jegigen Zuftande doch nicht unter freiem 
Himmel fchlafen. Da die Bewohner dieſes Haufes taub find, fo 
müffen wir fle zu entbehren fuchen.“ Bei diefen Worten trat Müller 
mit aller Kraft gegen ben der Thüre am nächften befinblichen Fenſter⸗ 
laden der Barterrewohnung, welcher nicht im Stande, dem Sturme 
teogen zu Tönnen, praffelnd zu feinen Füßen nieberfiel. Run ſchlug 
er mit feinem Säbel ein paar Scheiben ein und flieg in das Haus, 
ohne auf die Befehle feines Oberften zu hören, welcher ihm vor⸗ 
ftellte, daß man auf biefe Weile dad Voͤllkerrecht nicht verlehen 
dürfe, und man ihn eher für einen Straßenräuber, als einen alten 
Felnwebel halten müſſe. 

Ohne fich in feiner Expedition aufhalten zu laffen, eilt Müller 
nach der Hausthüre, findet an der Wand einen großen Schlüffel, 
öffnet ohne Schwierigfeit und läßt den Oberf Framberg in das 
Teerftehende Haus ein. 

„Da wir einmal innen find,“ fagt ber Oberſt, „fo wollen 
wir wenigftend mit Umſicht zu Werke gehen. — Recht, mein Oberft, 
geben Sie diefem Dummkopf von Poftillen, der an unferem Miß⸗ 
geſchick Schuld ift, ven Arm, und ich gehe voran, um Sie vor 
jevem Unfall zu bewahren.“ 

Unfere Reifenven ſetzten ſich, umhertappend, in Marſch, venn 
die Finſterniß war fo groß, daß man feinen Schritt vor- oder rüds 
wärtd fehen fonnte. Schon waren fle durch mehrere Gemächer ges 
gangen , ohne etwas zu entdecken, und Müller, ungeduldig werdend, 
fing an, zwifchen den Zähnen zu finden, als Etwas an ihnen 
vorüberlam und bei ihrer Annäherung eiligft entſloh. Müller, ge 


veizt, lauft dem Fliehenden nach, aber feine Füße verwickeln fich, 
er verliert das Gleichgewicht und fällt mit dem Kopf in einen 
vollen Waſſereimer. Wuͤthend richtet er ſich wieder auf, öffnet eine 
Thüre, glaubt fi auf ebenem Boden und purzelt eine ganze Treppe 
hinab, indem er eine unglüdlicdhe Rabe, die Schuld an all viefem 
Gepolter it, mit in feinen Fall verwickelt. = 

Obgleich von feiner eiligen Rutfchpartie ganz beiäubt, ſteht 
Müller doch ſchnell wieder auf, und fchreitet diesmal mit mehr 
Umficht zur Unterfuchung des Orts, an bem er fich befindet. 

Die Kühle veffelben und verfchiedene ihm unter die Hände 
fallende Flaſchen geben ihm bald die Meberzeugung, daß er in den 
Keller gerathen fei. Durch dieſe Entdeckung beruhigt, ſucht er die 
Treppe, die er fo eilfertig berablam, und will wieder hinauf, um 
dem Oberft fein Gläd mitzutheilen, aber zum britten Mal ftoßen 
feine Füße an einen Gegenfland und er fällt mit dem Geficht einem 
Individuum auf die Rafe, welches ruhig fchlief und ein fchred; 
liches Geſchrei anhebt, als es fich fo plöglich aufgeweckt fühlte. 


Bweites Mapitel. 
Die Grafen von Bramberg. 


Ehe wir Müllern aus der Ueberrafchung heraushelfen, die ihm 
diefe nene Begegnung verurfachte, iſt ed nöthig, dem Lefer mit: 
zutheilen , wer der Oberfi Framberg war, und was ihn zu biefer 
Reiſe beivog. 

Graf Hermann von Framberg, Vater des Oberften, ftammte 
and einer alten deutſchen Familie; von Geſchlecht zu Geſchlecht 
hatten alle Bramberge in ihrer Jugend dem Baterlande gedient, 
und Graf Hermann, nachdem er anf dem Feld der Ehre ſich Lor⸗ 
been bes Ruhmes gefammelt, hatte ſich auf das Schloß feiner 
Ahnen zurädgegogen., und harrte bier mit Ungebuld an ber Seite 








7 


einer geliebten Gattin anf die Geburt des Kindes, das fle ‚unter 
ihrem Herzen trug, und das feinem Glück die Krone aufjegen follte. 

Diefer Augenblid Fam, aber flatt eines Tages bes Jubels, 
warb ed ein Tag der Trauer und des Leids: die Graͤfin, indem 
fie einem Sohne das Leben gab, verlor das ihrige. 

Nie tröftete fich der Graf völlig über dieſen Verluft ; da aber 
die Zeit auch den berbften Kummer lindert, erinnerte er ſich, daß 
er einen Sohn habe, und gab ſich mit allem Gifer der Sorge für 
deffen Erziehung hin. 

Diefe glich der feiner Ahnen. Der junge Framberg lernte 
frühzeitig die militärifchen Uebungen ; voll Freude fah der Bater 
feine glüdlichen Anlagen und mit fünfzehn Sahren bat der junge 
Mann um die Grlaubniß, zur Armee abgehen zu bürfen. 

Obgleich fi der Graf ungern von feinem Sohne trennte, 
willigte er doch in fein Verlangen ; ber junge Framberg verließ 
das Schloß feiner Väter, um das Feld der Ehre zu betreten, wo 
ihm in fehr kurzer Zeit feine ausgezeichneten Waffenthaten ‚ven 
Hang eines Oberften erwarben. 

Graf Hermann war flolz auf einen ſolchen Sohn, und. ale 
der Oberſt Framberg feine Winterquartiere im Schloffe feines Vaters 
zuzubringen gebachte, warb er mit allen militärifchen Ehrenbezei⸗ 
gungen, welche die väterliche Liebe noch finnreicher verfchönerte, 
empfangen. " 

Auf dem Schlachtfelde machte der Oberſt die Bekauntfchaft 
Müllers. Diefer Brave Hufar zeichnete fich eben fo fehr durch feinen 
Muth, als feinen wunderlihen Humor aus. Er befaß. die volle 
Freimüthigkeit und Derkheit eines guten Soldaten. Stets bereit, 
fein Leben für Denjenigen einzujeßen, ben er liebte, hätte er auch 
die ganze Welt durchftreift, um Denjenigen zu firafen, der ihn 
beleidigte oder befchimpfte. Seinen Oberften verehrte er als feinen 
Vorgeſetzten und liebte ihn als den Tapferften des Heeres. Bei 
jeder Schlacht ſtand Müller demſelben zur Seite, focht ihm voraué, 





beckte ihn oft mit feinem Körper, und nie hätte er es Dem ver: 
ziehen, welcher ihn der Wonne beraubt hätte, für des Oberſten 
Rettung zu ſterben. 

Der Oberſt feinerfeits ſchloß fi immer mehr an Müller an; 
bald wurden fle unzertrennlih, denn der Ober, im Feldlager 
anfgewacdhfen, Tannte keineswegs die Unterfchieve, welche Rang 
und Reichthum in ber Welt begründen. Beſaß Derjenige, den er 
liebte, die gutem Eigenfchaften, die ihm feine‘ Freundſchaft werth 
machen Tonnten, fo war er, wenn auch ohne Titel und Vermögen, 
darum nicht weniger achtungswerth in feinen Angen ; mit einem 
Wort, der Oberft war über alle Borurtheile erhaben, und verlegte 
fogar öfters durch fein Benehmen die Bonvenienzen der Gefell: 
fhaft. Der Berfolg diefer Geſchichte wird uns hänfige Beifpiele 
davon liefern. 

Als Graf Hermann alt ward, wünfchte er fehnlicht, fein 
Sohn möchte ihm einen Erben feines Namens fchenfen, und bei 
jedem Befuc des Oberften auf dem Schloffe (wohin ihn Müller 
feit lange begleitete) erneuerte der alte Graf feine Bitten, füch zu 
vermählen. Geraume Zeit hindurch, wo noch der Sporn des Ruhms 
anf den Geiſt des Oberften allein wirkte, entfprach er feines Vaters 
Wunſche nicht; als er aber fein dreißigftes Jahr erreicht und diefer 
Briegerifche Sinn fich etwas abgekühlt hatte, war er bereit, fi 


"den Wunſchen des Vaters zu fügen. 


ine halbe Meile vom Schloß des Grafen Hermann lagen 
die Güter ded Baron von Froburg. Der Baron, ein Wittwer, 
lebte zurüdgezogen auf feinem Schloffe, nur mit Erziehung feiner 
einzigen Tochter befchäftigt; die Feine Elementine war der Abgott 
ihres Vaters und der Gegenftand feiner fchönften Hoffnungen. 

Als Nachbarn ſchloßen der Graf und der Baron Bald einen 
dnnigen Freundſchaftsbund; einen Theil ihrer Zeit brachten fie ab- 
wechslungsweiſe auf dem Schloffe des Einen oder bes Andern zu; 
der Eine erzählte, wenn fie in Winterabenden zufammen faßen, 








8: 


von den glänzenden Waffenthaten und dem Ruhme, mit welchem 
fein Sohn ihm die alten Tage verfchönere, der Andere malte bie 
kindliche Anmuth feiner Tochter, ihre zärtliche Liebe für ihn, ihre 
Theilnahme für Unglüdlie, und feine Hoffnung aus, daß fie 
ein mit der Schönheit ihrer Mutter auch deren Tugenden in ſich 
vereinigen werde. 

So verfloß die Zeit: der Graf theilte dem Baron den Wunſch, 
feinen Sohn vermählt zu fehen, mit; der Baron vertraute jenem 
die Unruhe, die ihn bei dem Gebanfen peinigte, daß er feine Tochter 
bei feinem Tode, ohne Freund, der fie fchübe, ohne Gatten, allein 
in der Welt zurücklaſſe. 

Aus dieſen vertraulichen Mittheilungen folgte, was nothwendig 
daraus folgen mußte; der Graf und der Baron bildeten den Plan, 
ihre Kinder zu vereinen; dadurch knüpften ſich die Freundſchafts⸗ 
bande zwiſchen ihnen noch feſter, und die Unruhe, die unablaͤſſig 
ihr Alter trübte, ſchwand. 

Um dieſe Zeit war es, daß ſich der Oberſt den Wünſchen 
feined Vaters fügte: da führte ihn diefer aufs Schloß des Barous, 
damit er die. für ihn beflimmte Gattin ſehe. 

Auf feinen häufigen Reifen zu feinem Voter hatte der Oberft 
Glementinen bereitd erblidt; aber welch ein Unterſchied! damals 
war fie noch ein Kind und all ihre Anmuth Hatte ſich mit ven 
Sahren erh vollends entfaltet. 

Als der Graf fie feinem Sohne als feine fünftige Gemahlin 
vorſtellte, hatte Clementine ihr achtzehntes Jahr erreicht; fie war 
xeigend, ohne ſchoͤn zu fein, aber jene ihrer Bewegungen athmete 
Wonne; ihre großen ſchwarzen Augen brüdten das zärtlichte 
Schmachten aus, und ihr Mund öffnete fih nur, um bezaubernde 
Töne, welche eine füge Verwirrung in dem Herzen jedes Hörere 
erregten, vernehmen zu laſſen. 

Elementinens Charakter firafte die Sanftheit ihrer Blicke nicht 
Lügen: fie war mit allen Tugenden begabt; aber. bis zur Uebers 

Baul de Rod. M. 2 


10 


treibung gefühloolt. Diefe Empfindſamkeit, wenn fle zu heftig iſt, 
wird häufig dad Unglüd ber Frauen und reißt fie oft weiter fort, 
als fie ſelbſt eigentlich wollen. 

Der Oberft fühlte beim Anblid Elementinend jenen geheimen 
Zauber, den die Gegenwart einer reizenden Frau bervorbringt, und 
wünſchte fehnlichft, fie bald feine Gattin zu nennen, ohne jebod 
jene heftige Leidenfchaft für fle zu empfinden, welche im Stande 
it, Alles für den Beſitz des geliebten Gegenſtandes aufzuopfern. 
— Der Oberfi Framberg, im Lager erzogen, Tannte die Liebe 
nicht, und feine barfche Freimüthigkeit war mehr geeignet‘, einen 
Freund, als einen Liebhaber aus ihm zu machen; aber ſtolz auf 
die Wahl feines Vaters, freute er fich, feine Wünfche mit feiner 
Pflicht in Binklang bringen zu können. 

Als aber der alte Baron Elementinen fagte, daß fie ven Oberfl 
Framberg als ihren Fünftigen Gemahl zu betrachten Habe, erblafte 
fie, gerieth in Verwirrung und warf fih ihrem Vater zu Füßen, 
flehentlich Bittend, er möchte fie nicht zwingen, ihn zu verlaffen. 
Der Baron ftellte ihr vor, daß fie ihn nicht zu verlaffen Braude: 
daß er fortwährend bei ihr wohnen werde; daß fie überdies eines 
Beichügers, eines zweiten Vaters bebürfe, der, wenn ihr Bater 
zu Grabe getragen fein würbe, deſſen Stelle erfege, und daß er 
zu Erfüllung aller diefer Pflichten Feinen wäürbigern Mann ſinbden 
Tönne, als den Sohn des Grafen Hermann ; furz, der Baron gab 
feiner Tochter zu verftehen, auf biefer Ehe beruhe feine fchönfte 
Hoffnung, und feine alten Tage verfümmere fie, wenn fie ihm 
hierin zu gehorchen fich weigere. 

Elementine ſchwieg, fuchte ihre Thränen zu verbergen und 
verfprach ihrem Bater, feinen Wünfchen zu willfahren. 

Indeß erlangte fie von dem Baron wenigftens einen Aufſchub, 
bamit fie, wie fie fagte, Seit babe, ihren fünftigen Gemahl kennen 
gu lernen; darauf wurde befchloffen, daß bie Verbindung erft nach 
Verlauf von drei Monaten ftattfinden ſolle. 


— 





11 


Woher mochte der Kummer Clementinens bei ber Verkündi⸗ 
gung ihrer bevorſtehenden Vermaͤhlung rühren? Wenn der Oberſt 
nicht den ſanften und zaͤrtlichen Ton Hatte, welchen man bei einem 
Liebhaber wünfcht, fo befaß er wenigftens vortreffliche Eigenfchaften, 
und zu dem hätte fie dad Vergnügen, ihrem Bater zu folgen, be⸗ 
wegen follen, ohne Widerftreben die von dieſem vorgefchlagene Che 
einzugehen. Demnach mußte irgend ein geheimer Beweggrund die 
Ruhe ihrer Seele flören. Dies werden wir ohne Zweifel im fol: 
genben Kapitel erfahren. 


Britis Aapitel, 


Glementine. 


Unfern dem Schloffe des Barons von Froburg lag auf einem 
Hügel, von dem aud man die reichen Befigungen des Vaters unferer 
Glemenline erblickte, eine Heine, mit einem hübfchen Gärtchen um: 
gebene Hätte. In dieſem befcheinenen Afyle wohnte die Amme der 
Tochter des Barond. Sie Hatte der Tebteren ſtets die Zärtlichkeit 
einer Mutter bewiefen und ihr alle Sorgfalt und Pflege einer 
folchen angebeihen Iaffen. Clementine ihrerfeits Tiehte die gute 
Mariane zärtlich und ließ feinen Tag vorübergehen, ohne fie zu 
beſuchen. 

An einem ſchönen Frühlingsabend begab fich Clementine auf 
den Weg nach der Hütte. Das Wetter war nie fo ſchoͤn gewefen ; 
eine fanfte, reine Luft beranfchte die Sinne, und bie untergehende 
Sonne ſchien nur mit Widerſtreben einen Tag zu beſchließen, den 
ſie ſo ſchoͤn entfaltet hatte. 

Bon einem unwiderſtehlichen Gefühle hingeriſſen, vertiefte ſich 
Elementine ins Gehoͤlz, das fle, um zu Marlanend Hütte zu ge: 
fangen, durchſchneiden mußte. Bald ſich müde fühlend, fegte fie 
fly am Fuße eines Baumes nieder und überließ ſich jüßen Träu- 


12 


mereien, wozu fle dad rings um fie her verbreitete Stillſchweigen 
einlud. 

So ſaß ſie ſchon geraume Zeit, als ſie ein ziemlich naher 
Flintenſchuß aus ihren Betrachtungen aufſchreckte: ſchnell wandte 
fie ſich um und fa einen jungen Jäger. Beim Anblick Clemen⸗ 
tinens blieb der Jüngling betroffen ſtehen, und flatt fich wegen 
der ihr eingejagten Furcht zu entfchuldigen, hatte er nur Augen 
für den reigenden Gegenfland, der fich feinen Blicken darbot. 

Glementine gewahrte zuerft dad Sonderbare ihrer Lage; fie 
Rand auf und wollte fi entfernen, als der junge Mann auf fie 
zulief und fle fanft am Arm zurückhielt.. 

„Wie! mein Fräulein, follte ih Ihnen Furcht gemacht haben ? 
— Sie nit, mein Herr, nur Ihre Flinte... — Wollen Sie 
meine Entſchuldigung genehmigen ? ich hatte Sie nicht bemerkt: 
denn gewiß, wäre das bälder gejchehen, fo hätte ich unmöglich 
mehr an bie Jagd benfen Finnen... — Es würde mir leid thun, 
mein Herr, wenn ich. Ihr Vergnügen flörte... — Ad, wein 
Fräulein, gerne würde ich jebes andere Vergnügen für das hin 
geben, welches ich in dieſem Augenblid empfinde... .“ 

Elementine erzöthete; der junge Mann ſchwieg und fie landen 
aufs Neue unbeweglich einander gegenüber. - 

Inzwiſchen brach vie Nacht herein ; Clementine machte wieder 
einige Schritte. — „Sie entfernen fih, mein Träulein? — Sa, 
mein Herr, die Nacht Tommi und es ift Zeit, ind Schloß zuräd: 
zukehren. — Sie bewohnen dag Schloß Froburg? — Sa, mein 
Herr. — Wenn das Fräulein mir erlauben wollte, Sie berthin 
zu begleiten? — Nicht nöthig, mein Herr, ich kenne die Wege 
fehr gut.” Damit entjchlüpfte Clementine leichten Schrities umb 
ließ den jungen Mann allein, defjen Augen ihr bis zum Saum 
des Waldes folgten. 
Athemlos Iangte Clementine im Schloß an; zum erftenmale 
ließ fie einen ganzen Tag perſtreichen, ohne ihre gute Aımme zu 














13 


Befuchen. Sie vergaß Andere, um nur an die fo eben flatigehabte 
Begegnung zu denken. Umfonft wollte fie dieſen unmwillfürlichen 
Gedanken verfagen, umaufhörlich ſchwebte ihr das Bild des jungen 
Jägers vor und erfüllte ihre Seele mit noch nie gefannter Unruhe. 

Am folgenden Tage begab fie fich zur nämlichen Stunde nad 
Parianend Hütte. Indeß vertiefte fie fih, trotz ihres geheimen 
Wunſches, mit dem Unbefannten wieder zufammen zu treffen, nicht 
ins Gehoͤlz, fondern ging gerade Wegs zu ihrer Amme. Nadh- 
dem bie gute Frau fie über ihr geftriges Ausbleiben gezankt hatte, 
mußte fie fich zu ihr fegen und warb eingelaven, ihr Mahl, aus 
Milch und Obft beftehend, zu heilen. Doch war Glementine nicht 
in ihrem gewöhnlichen Zuftande. Eine geheime Unruhe, ein neues 
Gefühl bewegten fie. Ihre gute Amme, welche die Veränderung 
in ihrem ganzen Weſen wohl bemerkte, fragte fie um die Urfache, 
und Elementine, die fein Geheimniß für dieſelbe Hatte, machte fle 
mit dem geftrigen Zufammentreffen und dem Gegenftand, ber fie 
befchäftigte, bekannt, was fie ihrem Vater nie zu erzählen gewagt 
hätte: fo wahr ift ed, daß Sanftmuth und Vertraulichkeit zum 
Zutrauen hinreißt, während die Ehrfurcht gegen die Eltern öfters 
die Quelle einer gegen fle beobachteten Zurüdhaltung ift. 

Mariane, die in diefem Zufammentreffen nur etwas ganz 
Ratürliches fand, ohne die Folgen defjelben vorauszufehen, wunderte 
fi über Elementinens Aufregung. Während fie diefen Gegenfland 
befprachen, pochte man an ber Thüre. Herzklopfen zeigte Clemen⸗ 
tinen an, daß es ihretwegen geſchehe: Mariane öffnete und wirt: 
lich trat auch der junge Mann aus dem Wald in die Hütte. 

Er lächelte, als er die bald erröthende, bald zitternde Cle⸗ 
mentine gewahrte. Die gute Mariane flaunte beide mit offenem 
Munde an, nnfchlüffig, ob fie ſchweigen oder reden folle. 

Leicht fand der junge Mann einen Vorwand für einen Be: 
fuch; er fagte Marianen, daß er gegen Abend, auf der Jagd ver: 
irrt, in großer Berlegeuheit gewejen fei, woranf er dann die Hütte 





14 


erblict habe. Er bat um etwas Milch und Obſt, da er feit dem 
Morgen nichts genofjen habe, Sich Hierauf an Clementinen wendend, 
grüßte er fie fchüchtern und fagte, er preife ſich glüdlih, daß der 
Zufall ihm ein zweites Mal das Vergnügen, ihr zu begegnen, verjchaffe. 

Glementine lächelte ebenfalls, denn ein inneres Gefühl ſchien 
fie errathen zu laffen, daß nicht der Zufall es fei, der den jungen 
Jäger bergeführt. Mariane begriff nun, es fei derjenige, der ihrem 
Fräulein (wie fie Slementine nannte) geſtern Abend. begegnet war, 
und fagte ihm, baß er nicht gelegener hätte kommen können, und 
Glementine fo eben von ihm gefprochen habe. Zärtlich blickte der 
junge Mann dad erröthende Mädchen an, Mariane aber fah noch 
immer befrembet auf beibe. 

Nach und nach verfchwand indeß der Zwang, Vertrauen trat 
an deſſen Stelle, und der Jaͤger froh, Clementinen nicht mehr 
unbefannt zu fein, theilte den Srauenzimmern mit, daß er ein 
Franzoſe fei, d'Ormeville heiße, frühe feiner Eltern beraubt und 
Bei feinem geringen Vermögen in den Militärbienft getreten fei; 
nachdem er einige Zeit mit den franzöfifchen Heeren im Felde ge: 
flanden, habe er mit einem feiner Kameraden einen Ehrenhandel 
gehabt, fich mit ihm gefchlagen und feinen Gegner im Zweikampf 
getötet. Die Familie defjelben fei reich und mächtig; er, d'Orme⸗ 
ville, arm und ohne Proteftion, habe ſich genöthigt gefehen, zu 
entfliehen, um dem peinlichen Gericht auszuweichen, und fei nad 
Deutfchland gekommen, in ber Abfiht, die Dienfte bed Kaifers zu 
nehmen. Auf diefer Reife habe er einige Zeit in einem, dem Schloffe 
Froburg nahegelegenen Dorfe verweilt und gerade, als er fich mit 
ber Jagd unterhalten, die reizende Clementine getroffen. 

Die Tochter des Barons fragte mit reger Theilnahme, ob er 
jet in Sicherheit fei. D'Ormeville antwortete, daß er nichts mehr 
fürchte, feit er ſich in Deutfchland befinde, und fügte hinzu, fein 
\ehnlichfter Wunſch fei jetzt, noch lange in der Gegend zu ver 
weilen ‚bie fig bewohne. 














15 


Auf folche Weife warb dies unerwartete Zufammentreffen für 
Glementine die Quelle mannigfacher Leiden. D'Ormeville erlangte 
anfangs nur ſchwer die Erlaubniß, Clementine auf einen Theil 
bed Rückwegs zu begleiten; zwar war Mariane ſtets bei ihnen: 
ift aber die Gegenwart eines Dritten hinreichend, das Auffeimen 
ber Liebe zu erfliden ? 

Glementine fehlte Feinen Abend in der Hütte; und d'Orme⸗ 
ville feinerfeitd war eben fo pünktlich. Er fand ſtets irgend einen 
Dorwand, dort zugelafien zu werben. Die gute Mariane fah nichts 
Unrechted darin, daß zwei fo liebenswürdige junge Leute öfters 
beifammen waren; überbied hatte d'Ormeville durch fein fanft- 
müthiged und zuvorkommendes Weſen ihre Freundſchaft gewonnen, 
and Niemand fhidte ſich, wie fle fagte, beſſer mit ihrem Yräus 
lein zujammen. 

Unfere jungen Leute hatten ſich bald verfländigt. Die Augen: 
Sprache genügte ihnen nicht mehr, und während eines Tages Mariane 
im Garten war, warf fi d'Ormeville Clementinen zu Füßen und - 
geſtand ihr feine Liebe. 

- Was hätte fie erwidern fönnen, das er nicht ſchon wußte 3_ 
Ste ſchwuren fich gegenfeitig zu, einander anzugehören und ewig 
zu lieben. Das Geſchick indeß, welches nicht immer mit unfern 
Wünſchen übereinftimmt, fehien denen ber beiden Liebenden ent- 
gegen: fein zu wollen. Glementine gefland d'Ormeville, daß ihr 
Bater die Franzofen nicht liebe und nicht Leicht feine Einwilligung 
zu biefer Berbindung geben werde. D'Ormeville hielt ihr entgegen, 
daß ex in deutfche Dienfte trete upb diefer Umfland ihren Bater 
vielleicht günftiger für ihn flimmen könne. Clementine glaubte es: 
was man wünfcht, glaubt man fo leiht!... 

Die Zeit verftrich inzwifchen und d'Ormeville, ber ſchon bei 
der Armee hätte fein follen, konnte fich nicht zur Trennung von 
Elementinen entfchließen. Jeden Abend genofjen unfere Liebenden, 
mit der guten Mariane, welche voll Freude ihren Reben zuhoͤrte, 





‘16 


um einen Tifch ſihend, das füße Bergmügen, welches man im 
Zufammenfein mit dem geliebten Gegenſtand enpfindet, und ge 
wöhnlich gingen alle brei mit einander bis an bie Thüre des Schloß: 
parts, wo Glementine mit dem Berfpreihen ſchied, am andern Tage 
wieder zn kommen. 

Als fi jedoch Mariane eines Tages unpäßlich fühlte, Tomate 
fie Glementine auf dem Heimmwege nicht begleiten. Es war fpät: 
bei traufichem Liebeöfofen Hatte nian die Stunde vergeffen und 
@lementine durfte nicht allein gehen; fie mußte wohl d'Ormeville's 
Arm annehmen. Der Abend war prächtig und rief anfern Liebenden 
den erften Tag ihres Zufammentreffend zurüd. Am Walde fanden 
fie Ri, taufend köſtliche Gefühle bemächtigten fich ihrer Herzen. 
O'Ormeville drückte feine Geliebte in feine Arme; Clementine gab 
ſich ganz feinen Lieblofungen bin, und beide vergaßen bie Welt 
and ihre Bonventenzen, um nur noch an bie Liebe zu benfen. 

Da unglüdlicherweife das hHöchfte Vergnügen die kürzeſte Dauer 
hat, fo ſchwand die Täuſchung, die Sinne wurden wieder ruhiger 
und Glementine jah mit Entjeben den Abgrund, in welchen fie 
geflürzt war. Doch d'Ormeville war bei ihr, er fillte ihren Schmerz, 
trocknete ihre Thränen, etwas Leichtes für einen Liebhaber! le: 
mentine lächelte... Wenn die Liebe ven Sennß a überlebt, iſt man 
immer noch glüdTieh, 

Man mußte fich indeß trennen, und dies war das Härtefle!.. 
Endlich ging Glementine durch die Beine Pforte des Parks. nad 
Haufe; aber wie fehr zitterte fie, als fie durch die -Gemächer des 
Schloffes Hinflog! Mit welcher Verwirrung redete fie nicht ben 
Urheber ihrer Tage an! Wenn ber Baron erſt zwanzig Jahre ges 
zählt Hätte, er hätte Alles geahnt. Aber unfere Eltern find nicht 
mehr, wie wir, im Alter ber Leidenfchaften: darum iſt es auch 
Veit, ihnen die in uns tohenben zu verbergen. 

Se mehr indeß unfere Liebenden ver Liebe pflegten, um fo 
weniger dachte d'Drmeville an feine Abreife, bis ein anerwartetes 











17 


aber ganz natürliches Ereigniß ihn an feine Pflicht erinnerte: Ele⸗ 
mentine fühlte ſich guter Hoffnung. Diefe Nachricht erfüllte dOrme⸗ 
ville mit Freude, ließ ihn aber doch fühlen, daß es Zeit‘ fei, einen 
entfcheidenden Schritt zu thun. 

Man kam überein, d'Ormeville folle augenbticklich zur Armee 
abreifen! eben kam ein Krieg zwifchen Rußland und Oeſterreich 
zum Ausbruch ; der Augenblid, ſich auszuzeichnen, war da. Cle⸗ 
mentine folfte ihren Gellebten von Allem auf dem Schloß Bor; 
fallenden in Kenntniß feßen. Man hoffte, er werde vor der Ges 
burt des unter ihrem Herzen ruhendeh Kindes wieber zurückkommen; 
und dann wollten ſich beide Liebenden dem Baron zu Then iverfen, 
ihr Bergehen befennen und feine Berzeihung erlangen. 

Nach Feftftellung dieſes Planes dachte man nur noch an feine 
Ausführung: d'Ormeville verließ die Geliebte nicht, ohne viele 
Thränen zu vergießen, und Clementine fühlte ihre Sinne ſchwinden, 
als fie Denfenigen abreifen ſah, den fie als ihren Gatten betrachtete. 


— —— — — 


Wiertes Aapitel. 
Der Mann, wie es wenige gibt. 


Zwei Monäte nah dOrmille's Abreiſe kündigte der Baron 
von Froburg feiner Tochter an, daß fle den Oberfien Framberg 
als ihren Fünftigen Gemahl anzufehen habe. 

Was konnte Elementine fagen ? Ste fürchtete ihren Vater zu 
fehr, ald daß fle es gewagt hätte, ihm ihren Fehltritt zu geft&hen. 
Mir haben gefehen, daß Alles, was fie zu erlangen vermochte, ein 
Aufſchub von drei Monaten war. An dem Bufen ihrer guten Amme, 
in ben fie ſchon lange all ihren Kummer vertrauensvoll nieberge: 
legt hatte, weinte fie fih ans. Die alte Mariane konnte ihr nur 
zufprecden, Muth zu faflen ; aber um das Nuglück vol zu machen, 


18 


empfing Glomentinen. feit einem Monate von d'Ormeville Teine Nach⸗ 
richt mehr. Was mochte ihm begegnet fein... War er gefangen? 
war-er auf dem Schlachtfelde gefallen ? Alle viefe entfeglichen Ge⸗ 
danken machten ihre Lage nur noch fchredlicher. 

Eines Abends waren Graf Hermann und fein Sohn Bei bem 
Baron, da trat Müller herein, feinem Oberfien Nachricht über 
die legte Schlacht zu bringen. 

„Nun! Müller,” fagte der Oberfi, „was gibt's Neued? — 
Ha! die Feinde find tüchtig geklopft worden!... — Bill Du 
deſſen gewiß? — Sa, Herr Oberfl, denn ber alte Frank, der ges 
sabe von der Armee herkommt, hat mir's erzählt. Bomben und. 
Sranaten ! Er fagt, der Kampf fei bikig gewefen!... Der Feind 
vertheidigte ſich wader; anfangs richtete er große Berheerungen 
in unfern Reihen an: von der ganzen erfien Schwahron unferes 
ſechsunddreißigſten Hufarenregiments .ift nicht ein Einziger davon 
gelommen... — Bas fagen Sie?” rief Clementine „Wie? 
nicht einmal die Offiziere ?... — Ad! mein Gott, nicht Einer!... 
Alles blieb auf dem Blage!.. .“ 

Elementine hoͤrte nicht weiter, fie ſank ohnmächtig nieder: 
man fprang ihr bei, waͤhtend Müller, durch die Befchreibung ber 
Schlacht in Feuereifer gerathen, ven Unfall nicht bemerkte, welchen 
er hervorgerufen hatte. 

Man trug Elementine in ihr Zimmer, wo fle ihre Siune nur 
wieber erlangte, um fi) dem heftigften Schmerze hinzugeben. In 
der erfien Schwadron des ſechsunddreißigſten Hufarenregiments diente 
b’Ormenilfe, und die eben erhaltene Nachricht in Verbindung mit 
ben? feit lange von ihm beobachteten Stillſchweigen überzeugte fie 
leicht, daß er zu leben aufgehört habe. 

Wirklich gelangte auch von biefer Zeit an feine Nachricht vor 
b’Ormeville mehr zu Glementinen, welche ihre Tage in Thränen 
verlebte, in Gedanken an ben, ben fie verloren. Mittlerweile ver: 
ſtrich bie Zeit: ber Glementinen gewährte dreimonatliche Aufſchub 


! 











19 


nahte feinem Ende; auch fühlte fie, daß fie bald Mutter fein werde, 
und jeder Augenblick vermehrte die Angft ihrer Lage.. 

Ein Schritt mußte gefchehen: Clementine entfchloß fi, das 
leßte ihr übrige Mittel zu verfuchen, um, wenn nicht Glück, worauf 
fie feit dem Tode bed Geliebten verzichtet hatte, boch wenigfiend 
Ruhe und Frieden zu genießen, die fie fchon lange entbehren gemußt. 

Der Charakter des Oberfien Framberg, welchen Elementine 
fchäßen gelernt hatte, gab ihr den Gedanken ein, ihm ihren Fehl: 
tritt zu befennen und fich feiner Großmuth anzuvertrauen. Eines 
Tages, kurz vor dem zu ihrer Dermählung beftimmten Zeitpunkt, 
bat fie den Oberſten um eine kurze Unterrevung unter vier Augen; 
gerne willigte diefer darein. Sie begaben fi an einen abgelegenen 
Ort des Parks und dort theilte ihm Clementine das Geheimnig 
ihrer Liebe und ihres Unglüds mit. 

Der Oberft wurde flarr vor Erflaunen, ald er von Blemens 
fine vernahm, daß fie bald Mutter fein werde. 

„Wie? Madame,“ fagte er zu ihr, „Sie, die ich für bie 
allerunfchuldigfte unter ven Frauen gehalten hätte!...“ Er hielt 
inne: Glementine war purpurroth vor Scham... — „Ah! ver 
zeihen Sie, Madame,” fegte er hinzu, „vie Liebe ift mir. unbe: 
fannt, und ich weiß nicht, zu welchen Fehlern fie uns Hinreißt. 
Do Sprechen, befehlen Sie! was verlangen Sie von mir? Ihr 
Zutrauen verbient meine ganze Anhänglichleit und Achtung, ed if 
ein Beweis, daß Sie mich ſchätzen: und ich will Ihnen zeigen, 
daß wenn der Oberſt Framberg nicht ihr Beliebter fein kann, er 
wenigftends Ihrer Freundſchaft würdig ift.“ 

Durch diefe Rede ermuthigt, fagte Elementine, „fle iprlafie 
fi) ganz feiner Großmuth, ihr Schidfal flehe in feinen Händen.“ 

„Run wohlen! Madame, in dieſem Fall wollen wir, wenn 
ed Ihnen genehm ift, nichts an unfern Projekten ändern. Lebte 
derjenige noch, der Ihre Liebe befaß, fo würbe ich mich wohl hüten, 
mich Ihnen ale Gatte anzutragen, denn das hieße Sie zu ewiger 


20 

Heue verdammen wollen; aber er iſt nicht mehr, .und Sie ſind 
Mutter: Ihr Kind bedarf eined Vaters; ich will diefe Stelle Bei 
ihm vertreten, und immer bie gleiche Zärtlichkeit für daſſelbe haben, 
ale wäre es mein eigenes! — Wie! Oberſt, Sie wären bereit- 
willig, mich zu heirathen? Vergeſſen Sie, daß Vorurtheile, Die 
Ehre ſelbſt, Ihnen diefe Ehe unterfagen? — Voruttheile kenne 
ich nicht; und meine Ehre, Madame, befleht darin, das Unglüd 
zu unterflügen und ver Waife Vater zu fein. Unter diefem Titel 
will ich Ihr Gemahl werden, und wenn man in der Folge mein 
Benehmen tadelt, Tann man mir wenigftend die Genugthuung nicht 
verfagen, als galanter Hann gehandelt zu haben. — Ach! Oherft, 
wer wäre frech genug, die Handlungsweiſe eined Mannes zu tadeln, 
der fich nur im Wohlthun gefält? — Neberdies, Madame, da 
die Schidlichkeit es erfordert, fo bürge ich Ihnen dafür, daß das 
tieffle Geheimniß dieſe Begebenheit umhüllen fol.” 

So endigte die Unterhaltung und acht Tage darauf warb Ele: 
mentine bed Oberften Gattin. Hätte fie d'Ormeville nicht gekannt, 
würde fie in dieſer Verbindung ihr Glück gefunden haben; aber 
die Grinnerung an ben Angebeteten Arte unabläffig ihre Ruhe 
und fie verfiel in düſtere Schwermuth, die fie vergebens ihrem 
Gatten zu verbergen fuchte. 

Einen Monat nach der Hochzeit flarb Graf Hermann; ber 
Dberfi weihte dem Gedaͤchtniß feines Vaters die Thränen eines 
zärtlihen Sohnes und lebte einige Zeit mit feiner Gemahlin in 
gänzlicher Abgefchievenheit, wo er Niemand als Müller vor ſich 
ließ. diefem Zeitraum gebar die Gräfin einen Knaben, der ins: 
geheim unter dem Namen Heinrich d'Ormeville getauft ward, den 
aber ber Oberſt erzog und für feinen Sohn ausgab. 

Der alte Baron von Froburg, damals auf feinem Schloffe, 
batte Feine Runde von biefem Creigniß, und ftarb, nicht lange 
nachher, ohne die geringfte Ahnung von diefem Geheimniffe. 

Müller wat der Einzige, der die Wahrheit durchſchaute; aber 











at 


es behielt feine Betrachtungen für ſich und änferte feine Gedanken 
gegen ben Oberften nicht. 

Der junge Heinrich wurbe ber Abgott feiner Mutter; feine 
Züge vergegenwärtigten ihr die Züge des von ihr fo heiß geliebten 
Mannes. Wäre Elementine fo glüdlich geweien, ihren Sohn zu 
erziehen, fo würbe unfer junger Held wahrfcheinlich ihre fanften 
und zarten Tugenden geerbt haben, aber fie farb, noch ehe er fein 
viertes Jahr erreicht hatte, begleitet von den Thränen und dem 
Bedauern aller Derer, die fie kannten. 

Die Berzweiflung über den Tod feiner Frau nöthigte ben 
Oberſten, zur Zerfireuung einige Zeit das Schloß zu verlaflen. 
Gr befchloß, wieber zur Armee zu gehen ; feine Liebe zu dem Fleinen 
Heinrich bewog ihn indeß, biefen in ben Händen eines Mannes 
zurüdzulaffen, der mit allem Eifer feine Sugend beauffichtigen und 
ihm frühe ſchon die Grundfäge der Tugend einimpfen könne; hiezu 
erfor ex Müller. Ex fannte deſſen Biederkeit und Aufrichtigkeit, und 
in ber Meberzgeugung, dieſer werde feinen Sohn (wie er Heinrich 
nannte) Teinen Augenblick verlaffen, ſchwankte er nicht, ihn zum 
befien Lehrer zu beftellen. 

Müller wäre wohl ebenfo gern feinem Oberften zur Armeg 
gefolgt, als daß er ruhig auf Schloß Framberg verblieb: ba aber 
die Wünjche feines Vorgefegten Befehle für ihn waren, fo ſchwur 
er, feine Plane treulich zu erfüllen. Der Oberſt reiste daher ab, 
Indem er Müller in feiner Abwefenheit den Befehl über das Schloß 
übergab und ihm einfchärfte, aus Heinrich einen braven und tugend⸗ 
haften Mann zu bilden. 


Aünfles Rapite. 
Heintihe Erziehung. 


Wir wollen nun fehen, wie Müller die ihm geftellte Aufgabe 
löste, und welches die Erziehung des feinen Heinrich war. 


22 

Müller fing damit an, feine Wohnung neben der feines Zoͤg⸗ 
lings aufzufäglagen ; fo wie der Tag graute, trat er in Heinrichs 
Zimmer, z0g ihn ungeflüm aus dem Bette, kleidete ihn an und 
nahm ihn zu einem Spaziergang im freien Felde mit, wohl wiffend, 
daß diefe Leibesbewegung feinen Zögling ſtärker und Träftiger mache. 

Wieder heimgefehrt, nahm man das Frühſtück, aus etwas 

kaltem Fleiſch und Wein beftehend, ein ; Müller war der Meinung, 
das tauge mehr, als alle Thees und Kaffeed in der Welt; viel- 
leicht Hatte er nicht Unrecht; aber ich glaube, ed war ihm im 
Grunde auch nicht unlieb, ſelbſt diefes Frühftüc Benügen zu können. 
Hierauf trat Müller feinen Zögling, doch nur auf zwei Stunden, 
einem alten auf dem Schloß wohnenden Magifter ab, ver beauf- 
tragt war, ihn Schreiben und fremde Sprachen zu lehren. Müller 
empfahl Heinrich unaufhoͤrlich, fih mit dem Studium der Wiffen- 
ſchaften nicht fo fehr den Kopf zu zerbrechen, weil er den Degen 
gut zu führen für nöthiger hielt, als Latein fprechen zu Können: 
und der junge Menſch, fich auf. Müllers Beiflimmung ſtützend, warf 
Herrn Bethmaunn (fo hieß der Lehrer) zuweilen die Bücher ins 
Geſicht, weil er ihn laugweile, und er lieber fechten lernen wollte. 
Herr Bethmann ſchrie; aber Müller war entzüdt, und erfterer 
hatte immer Unrecht. 

Bar biefer Unterricht vorüber, fo führte Müller den Kleinen 
in den Hof, ſetzte ihn auf ein Pferd und ließ das Thier beinahe 
eine Stunde lang im Hof herumtraben und galoppiren; auch fannte 
der Heine Heinrich in feinem zehnten Jahre die Pferde beffer, 
als fein Elementarbuch. Nach dieſem Eleinen Zeitvertreib fchritt 
man zu einem andern wichtigeren; man mußte exerciren und bie 
ehrenvolle Handhabung des Saͤbels lernen. Darin zeichnete fich 
Müller befonders aus, umd wenn er mit feinem Zoͤgling zufrieden 
war, fo belohnte er ihn durch Freifprechung für morgen von jedem 
Unterricht bei Herrn Bethmann. 

Run feßten ſich die Herren zu Tifche. Müllers Grundſatz war, 











3 


hier möglichft lange fihen zu bleiben, und dies war ber einzige, 
worin er mit Herrn Bethmann übereinflimmte, welcher die Ehre 
tHeilte, mit den Herren zu fpeifen, weil Müller gerne Jemand 
bei fich hatte, der ihm bei Tifche die Stange zu halten vermochte, 
bis fih fein Zögling felbft mit ihm betrinken könnte, 

Gewöhnli waren beide nach Tifch nicht mehr im Stande, 
irgend etwas zu unternehmen. Herr Beihmann, der mit Müller 
rivalifiren wollte, Tag flet8 am Ende des Mahls unter dem Tifch, 
und da Müller nun Niemand mehr zum Disputiren hatte, fchlief 
er am Kamin, feine Pfeife rauchend und ein Kriegslied ſummend, ein. 

Während feine beiden Lehrer im Schlafe Tagen, machte Heinrich 
feine Streiche. Don Niemand mehr beauffichtigt, rannte er durch 
Schloß und Garten, hielt im Stalle an, band die Pferbe los, flieg 
ohne Sattel auf und verheerte ven Garten, indem er kreuz und 
quer durch bie Gänge und Senrüäbeete ritt, ohne auf das Geſchrei 
des Gärtner zu Hören, ber in Verzweiflung war, daß er nie feine 
Pflanzungen zur Reife gedeihen fah. 

Eined Tages indeß entſchloß fich der Gärtner, aͤrgerlich dar⸗ 
über, daß Heinrich jeden Abend feine Arbeit vom Morgen zerftörte, 
Rache zu nehmen. Nach feinem reiflich überdachten Blane faufte 
er einige Schwärmer, brachte fie unten an einem Baume in ber 
großen Allee an, die Heinrich am häuflgften und Tiebflen verwüftete, 
und bis zu einem Gebüfch, worin er fich verbarg, Laufpulver ſtreuend, 
erwartete er ruhig feinen Feind, bereit, im Augenblick feined Bor: 
beifommens anzuzünden, in ber Weberzengung, das Pferd werbe 
beim Knall der Exrploflon feinem Reiter auf irgend eine Weife übel 
mitfpielen. 

Der Erfolg rechtfertigte alle Erwartungen des Gärtner ; fo: 
bald Heinrich ſah, daß Herr Bethmann unter dem Tifche Tag und 
Müller eingefchlafen war, flürzte ex die Treppe hinab, Tief in den 
Stall, Band das befte Pferd Ios und beſtieg es mit vem Vorſat 
wie früher bie Gartenbeete zuſammenzureiten. 


A 


Er galoppirte demzufolge auf die unheilvolle Allee zu; aber 
o, unvermutheied Unglüd!... die Explofion fand flat: das Pferd 
bäumt ſich und fept feinen Reiter ab, der ebenfalls durch das plög 
liche Knallen zu erfchredi war, als daß er fich Hätte feit auf 
feinem Thiere halten Lönnen, und zehn Schritte weit hinausge⸗ 
fhleudert wurde. Die ganze Dienerfhaft des Schloffes lief bei 
dem Gefchrei ihres jungen Herrn zufammen, der Gärtner, einer 
der erſten: auch Müller warb aufgeweckt; erfchredt über das zu 
feinen Ohren dringende Gejchrei, wirft er, um jchneller Heinrich 
zu Hülfe zu eilen, die Tafel über Herrn Bethmann zufammen. 

Unfern jungen Freund hatte mehr Furcht, als Schaben be: 
troßen, einige Quetſchungen abgerechnet, war ihm weiter nichts 
zugefloßen. Indeß theilte er, über bie Urfache feines Falles befragt, 
Müllern das Gefchehene mit; diefer wüthenn, daß man es gewagt, 
feinem Zögling eine alle zu legen, ſchwoͤrt, daß, wenn er ben 
Schurken vou Thäter entdecke, ex ihm die Luft zur Wiederholung 
benehmen wolle. Sämmtliche Diener betheuern ihre Unſchuld und 
man kehrt im Geſpraͤch über dieſen Vorfall nad) dem Schloß zurüd. 

Dort hatte ſich aber eine andere Ueberraſchung vorbereitet; 
unten an ber Treppe hört Müller einen jonderbaren Lärm aus dem 
Speifefagl herausdringen, vier Stufen auf einmal nehmend, läuft 
ex hinauf und findet Herrn Bethmann fich unter dem Tifch zwifchen 
Flaſchen und Schüffeln wälgend, und nach Möglichkeit anſtrengend, 
feine Kopf aus einem Punfchnapf herauszuarbeiten. Endlich ge: 
lingt es ihm, jeboch nur mit Zurüdlaffung feiner Perrüde. Als 
dia Stille wieber etwas hergeftellt war, ging man auseinander und 
begab ſich zur Ruhe. 

Dur feinen Sturz vom Pferde gezüchtigt, war Heinrich eine 
Zeitlang etwas friedlicher und begnügte fih damit, im Hofe zu 
galoppiren. Der Gärtner freute fih im Stillen über den guten 
Erfolg feiner Kriegslift und fah mit Gntzüden feine Gemüfe em: 
porſchießen. 











>) 


Nach und nach verwifchte fich der Cindruck des Sturzes, und 
Heinrich fing an, den engen Kreis feiner Reitfchule Iangweilig zu 
finden. Als er endlich wieder geheilt war, ſchlag er auch den Weg 
nad dem Garten wieder ein und machte aufs Neue, daß ihn der 
Gärtner zu allen Teufeln wünfchte. Mülfer, der den Streich mit 
den Schwärmern nicht vergefien hatte und vor Verlangen brannte, 
befjien Urheber zu erforfchen, faßte bald dringenden Verbacht gegen 
den Särtner, deſſen wieberholte Klagen feinen Unmuth nicht ver- 
kennen ließen. Er befchloß daher, unferem Mann aufzupaffen und 
bie Sewißheit feiner Vermuthungen zu erlangen; die Gelegenheit 
dazu ließ nicht lange auf ſich warten. 

Der Gaärtner, müde, zu fehen, daß feine Vorftellungen zu 
nichts führten, entſchloß ſich, fein Experiment zu wiederholen, um 
dem jungen Heinrich feine Reitkünſte im Garten völlig zu ents 
leiden ; und damit ihn die Luft nicht anwandle, fpäter auf Neue 
zu fommen, dachte er, es werbe nicht übel fein, wenn er die Doſis 
verbreifache und die Sache dadurch wirkfamer mache. » 

Wie aber es anftellen ? Das wenige Pulver, das er im Schloffe 
hatte auftreiben Tönnen, war bei der erften Exploflon verbraucht 
worden. Nach einigem Nachſinnen bachte er, Müller müfle eine 
mehr als zur Ausführung feines Planes hinreichende Quantität 
befigen, und er wolle einen Augenblid feiner Abweſenheit benügen, 
um ben Bebarf zu Holen. 

Es Rand auch wirklich nicht Tange an, bis Müller herablam, 
wo er unfern Mann um dad Schloß herumfchleichen fah. Müller 
that, ala ob er, ohne etwas zu ahnen, weiter ginge; aber nach 
einigen Schritten kehrte er um und folgte bem Gärtner leiſe. Diefer, 
nicht ahnend, daß man ihm folge, trat in das Zimmer, nahm bie 
für nöthig erachtete Quantität Pulver und eilte fchnell in ben 
Sarten zurüd, wobei er über ben neuen Streich, den er unferem 
Sufarenzögling zu fpielen im Begriff war, in den Bart lachte. 

Aber Müller Hatte Allee gefehen! und da er ben mherzeugenden 

Baul de Kod. iu, 


Beweis von ver Boeheit des Gaͤrtners erlangt hatte, verſprach er 
ſich, glänzende Rache zu nehmen. Nach wohl überlegtem Blane 
ließ ex den Gärtner Alles rüften, was feine Exploſton recht ges 
säufchooll machen konnte, und harte mit Ungeduld auf ben zur 
Ausführung feines Projekts beſtimmten Augenblid. 

Endlich kam diefer von Müller und dem Gärtner fo fehnlihk 
gemwünfchte heran. Nachdem Lepterer fein Kunſtſtück gehörig vorbe⸗ 
reitet hatte, verftedte ex fich im Gebuͤſch, von wo auß er die Lunte 
anbrennen wollte. Er wartete nicht lange : der Galopp eines Pferbes 
ließ fidh vernehmen, ed kommt näher... Alsbald legt er Feuer 
an das Laufpulver... Aber o Ueberrafgung!... o Berzweif: 
lung!... ex felbft wird durch die Gewalt des Pulvers weit weg: 
geſchleudert und fällt unter durchbringendem Gefchrei auf den Rafen 
nieder. 

Man denkt fich leicht, daß Müller es war, der den Pulver: 
reifen durch einen andern an den Berftedl des Gärtners führenven 
abgefchnitten und das Gebüfch fo mit Pulver unterminirt Hatte, 
baß er ihm die Luft benahm, Andere in die Luft zu ſprengen. 

Auf dem herbeigaloppixenden Pferde ſaß Niemann: Müller 
hatte feinen Zögling von der ihm gelegten Falle benachrichtigt 
und dadurch vom Erſcheinen abgehalten. 

„Aha!... Schure, Du aljo willt Deinen jungen Herm 
in die Luft fprengen, weil es ihm gefällt, Deinen Spinat mit 
ben Füßen feines Pferdes zu bearbeiten!... Dreifache Kanonade! 
ih weiß nicht, woran es hing, daß ich Dich nicht fo Hoch wie ber 
Kirchthurm des Dorfes habe fpringen laflen!... — Aber, Her 
Müller!... was id that, gefchah zum Beften des Gern Yon 
Sramberg!... Was wird unfer Herr fagen, wenn er feinen Garten 
in diefem Zuſtande findet!... Wiffe, Schlingel, mein Oberſt licht 
feinen Sohn mehr, als feine Rohllöpfe, umb mag es meinem Zög⸗ 
ling gefallen, das ganze Schloß umzukehren, fo ſteht «6 Dir nicht 
zu, ein Wort darüber zu fagen.“ 





2 


Dee Gärtner ſchwieg und Hinkte nad feinem Händchen zu: 
räd, indem er alle jungen Leute, Pferde und Huſaren zum Teufel 
wünfchte. Müller aber, ftolz über das Gelingen feines Planes, 
feierte feinen Sieg mit dem Glas in der Hand, und diesmal brachte 
Herr Bethmann die Nacht unter dem Tifche zur. 


— 


Sechstes Kapitel. 
DaB Pachthaus und der Heuboden. 


Auf ſolche Weiſe verging die Jugend unſeres Helden, und 
dieſer erreichte das Alter von fünfzehn Jahren, indem er fort: 
während alle Schloßbewohner nedte und ärgerte. Aber er ritt vor: 
trefflich, fchlug fich Beinahe eben fo gut, als fein Lehrer, ber bei 
feinem Schnurrbart ſchwur, daß ihm fein Zögling Ehre machen werbe. 

Mit fünfzehn Jahren hatte Heinrich das Ausfehen eines Mannes, 
und bie Leivenfchaften mußten fih bei ihm eben fo frühzeitig, ale 
ber Körper eniwideln; er war groß, wohlgebaut, von eblen und 
angenehmen Geſichtszügen, eben fo fchnell, ſich über einen Fehler 
zu entſchuldigen, als Teichtfinnig, ihn zu begehen ; er war außer: 

Inem brav, menſchlich, gefühlvoll, aber aufbraufenn, jähzornig, 
ungeflüm in feinen Wünfchen, barſch in feinen Handlungen unb 
Fannte Feine Grenze, keine Maͤßigung. Mit einem foldhen Charafter 
und von Müller geleitet, konnte e8 nicht fehlen, daß er zu guten 
und fchlimmen Bemerkungen über fi Beranlaffung gab. 

Der Aufenthalt auf Schloß Framberg fing an, unferem Juͤng⸗ 
ling fehr langweilig zu werben, da Neifeluft und das Verlangen, 
die Welt kennen zu lernen, in ihm aufloberte. Jeden Tag machte 
ihm Müuͤller Hoffnung, daß der Oberſt eintreffen und fi alsdann 
feine Lebensweife ändern werde; aber bie Zeit verfirih und ber 
Dborſt kam nicht. 
Seinrich, müde, im Schloßraum umherzureiten, dehnte feit 


einiger Zeit feine Spaziergänge ind Freie aus und fam nicht bälber 
zuruck, als bis Matiigkeit ober Bebürfuiß ihn zur Ruhe zwang. 
Müller, nicht mehr in dem Alter, wo ed Bergnügen macht, ſich 
lahm zu rennen, ließ feinen Zögling zuweilen biefe fernen Pro; 
menaden allein unternehmen, mit dem Bebing jedoch, daß er field 
. vor Einbruch der Nacht wiederkomme. 

Eines Tages war er wie gewöhnlich aufgebrochen, aber bie 
Stunde feiner Zurückkunft verfirih, ohne daß er wieder im Schloffe 
erſchien. Müller, im Begriff, mit Bethmann eine Flaſche alten 
Rum zu leeren, gewahrte anfangs Heinrichs Abwefenheit nicht ; 
ale indeß die Nadht etwas vorgerüdt war, fragte er, ob der Herr 
Graf zurüd fei, und man antwortete ihm mit Nein. Nun fing er 
an, etwas unruhig zu werben, aber ex vermuthete, Heinrich werbe 
fi weiter, ald er zu thun pflegte, entfernt und nicht vorausge⸗ 
fehen haben, daß ihn die Nacht, ehe er aufs Schloß gelange, über: 
fallen würbe. 

Do die Zeit verfirich: die Mitternachtsſtunde fchlug und 
Heinrich kam nicht wieder. Da Müller feiner Ungebuld und ber 
Furcht, es möchte feinem theuern Zögling irgend ein Unglüd zu: 
geſtoßen fein, nicht mehr Herr werben Fonnte, ließ er ein Pferd 
fatteln, ſchwang fich hinauf und befahl den übrigen Dienern , ſo⸗ 
glei auf verfihiedenen Wegen zur Auffuchung ihres jungen Herrn 
abgugehen. 

Die Nacht war finfter: Müller ließ fein Pferd den erften beſten 
Weg einſchlagen, ermangelte jedoch nicht, ihm auf eine Weiſe zu: 
zufegen, daß es nicht einfchlief. Nachdem er ziemlich lange fort: 
galoppixt war, ohne auf ein lebendiges Wefen zu floßen, fah er 
endlich in der Entfernung einen Meinen Lichtſchimmer: alsbald ritt 
er barauf zu, in ber Hoffnung, hier einmal etwas über den Gegen; 
Rand feiner Nachforſchungen zu erfahren. 

Das von Müller erblickte Licht Fam and einem inmitten ber 
Belder gelegenen Bachihofe. Müller pochte ungeftüm an bie Thüre, 








29 


eine ftarfe Bulldogge laͤßt fich hören und verbreitet Lärm im ganzen 
Haufe. „Wer Hopft jo?" fragt eine rauhe Stimme im untern 
Stode. — „Run, mad auf, Lümmel, und man wird's Dir fagen. 
— Um dieſe Zeit aufmachen ? ... ei doch ! feht einmal den Pfiffi⸗ 
kus, der glaubt, man laſſe nur fo mir nichts Dir nichts die Diebe 
berein!... — Wen nennft Du Dieb ? Wiſſe, Hunböfott, da 
Dir ein alter Feldwebel, der Lehrer des Sohnes des Oberften Sram: 
berg, bie Ehre eines Beſuchs erweist. — Ja!... geh! ich werde 
mich durch ſolche Schnurrpfeifereien anführen laffen!... — He, 
willſt Du Sffnen? oder ich haue mit meinem Säbel das Schloß 
von einander. — Ah! er ift bewafinet!... Holla, Caͤſar! Caſtor! 
berbei, zu Hülfe! padt mir diefen Schurken da!...“ Mit diefen 
Worten öffnet der Pächter die Hofthüre und laͤßt zwei Bulldoggen 
Io8, welche über Müller herfallen ; biefer, wüthend barüber, daß 
der Bauer nicht mehr Reſpekt vor feinen Titeln und Aemtern Bat, 
fprengt zu Pferd in ven Hof, Haut dem erften ihm.in den Weg 
kommenden Hund mit feinem Säbel veh Kopf ab, flärzt nad 
dem Gemach, worin der Pächter war, und fucht Denjenigen auf, 
an dem er feine Rache nehmen will. Diefer aber, von Furcht er- 
griffen, wie er flieht, mit welchem Teufel er ed zu thun Bat, er- 
greift die Flucht, um feine Hoffnechte und das ganze Haus zu 
wecken. Müllern kann nichts aufhalten, ex rennt eine Treppe hinan, 
dann eine andere und kommt endlich auf ven Heuboden. Die Thüre 
war verriegelt. Vermuthend, dag fi fein Dann hieher geflüchtet 
babe, fprengt er fle, tritt ein, ſchließt wieder feft zu und befchäftigt 
fih durch Umbhertaften mit Unterfuchung des Orts. 

Die tieffte Stille herrfchte Hier; indeß glaubte Müller beim 
Umdrehen der Heubündel Jemand athmen zu hören; er geht vor: 
wärts, fühlte fachte ringsumher und bleibt ganz erflaunt, als er 
unter feiner Hand völlig weibliche Formen fühlt. Er fährt im 
feinem Betaften fort, man rührt ſich nicht; was er befühlt, laͤßt 
ihn wohl ahnen, was ex nicht fieht; und von ber Hige feines 


meine Rinder, wir wollen Alle hinab, ich nehme meinen Stutzer 
und, beim Teufel! er fol eine ſchlechte Biertelftunde Haben!“ 
Nach dieſen Worten ging der ganze Troß die Treppe hinab, um 
den Keller zu durchſuchen; und Müller, der hinter ihnen her fchlich, 
gewann den Hof, fand dort fein Pferd, ſchwang fih hinauf und 
fprengte in faufendem Galopp davon. 

Da der Tag zu grauen begann, dachte Müller, er werbe wohl 
daran thun, wenn er aufs Schloß zurädreite, um nachzufehen, 
ob Heinrich während feiner Abweſenheit nicht zurückgekehrt fei. 
Bereits erlannte er In der Entfernung die Thürme des Schloffes 
Framberg, als er Pferdegetrappel vernahm; er fland fill, blidte 
um ſich und ſah Heinrich ganz ruhig auf feinen Lehrer zufraben. 

„Ah: da feld Ihr doch einmal, mein Herr!... enblich finde 
ich Cuch wieder... Das ift meiner Treu eine faubere Stunde 
zum Nachhauſekommen! Und Du felbft, lieber Müller, woher kommſt 
benn Du... Ha! ha! ha!... wie Du ausfiehfi!... Wohin 
biſt Du gerathen, Freund, dag man Dich in folchen Zufland vers 
fepte ?“ Müller, der noch Feine Zeit gehabt hatte, ſich wieder in 
Ordnung zu dringen, war wirkli vom Kopf bis zu Buß mit Sen 
überzogen. 

„Woher ich Fomme, mein Herr? Donnerwetter! Ihr feib 
Schuld, daß ih, Euch nacheilend, in fchöne Geſchichten geraten 
Bin; ich brach in ein Haus ein, töbtete die Hunde, prügelte den 
Pächter und... kurz einen Augenblick fpäter wäre ich erwürgt 
worben ohne dad Mitleid einer Frau, die mich allem Anfchein nad 
für zu jung zum Sterben hielt und mir die Mittel zum Entlommen 
verfägaffte. — Ach! mein guter Müller! wie leid thut mir’s, daß 
ih daran Schuld Bin!... Aber warım feßteft Du Dir auch in ben 
Kopf, mir nadhzurennen? Ich bin Fein Kind mehr und groß ges 
mug zum Alleingehen. — Ho! ho! welch folger Maun!... ih 
möchte wohl auch wiffen, wie Ihr Euch an meiner Stelle aus der 
"atfhe gezogen hättet!... doch darum handelt's ſich jegt nicht. 


33 


Hoffentlich werdet Ihr mir jegt jagen, $unger Herr, was Ihr ſeit 
geftern gemacht habt? — Sa, mein Freund, Du fol Alles er- 
fahren und felbft fehen, daß ich nicht Unrecht hatte — Daran 
zweifle ich ſehr. Doch gleichviel, ſprecht! — Du magft alfo wiſſen, 
daß, nachdem ich. lange Zeit im Freien umhergeſtreift war, id) fern 
yom Schloffe von der Nacht überfallen wurde; ungewiß bed ein- 
zufchlagenden Weges, wendete ich mich an einen Bauern, durch 
ben ich erfuhr, daß ich nur noch zwei Stunden von Offenburg 
enifernt jet. Demnach hatte ich mehr als ſechs Stunden zurüd: 
gelegt. Kehrte ich um, fo Eonnte ich mich verirren, ich hielt es 
für Hüger, bie Nacht in der Stadt zuzubringen. Der Bauer zeigte 
mir den Weg dahin. Aber noch Hatte ich Feine DViertelftunde ges 
macht, als ich ein kleines Haus von einfachem, doch angenehmen 
Aeußern erblickte: ich komme näher; o Ueberraſchung! ... melos 
diſche Töne ſchlugen an mein Ohr; eine Gottermuſtik laͤßt ſich vers 
nehmen, gegen eine Stunde bleibe ich unbeweglich vor dieſer Woh⸗ 
nung, einer Stimme laufchend, die bis in mein Herz drang! — 
AH! Teufel! — Durd Neugier, oder vielmehr ein geheimes, mid, 
beherrſchendes Gefühl getrieben, beſchloß ich endlich, die Perfon 
Iennen zu lernen, welche fo füße Empfindungen in meinem Herzen 
erregte!... Sch Elopfe, einnalte Dienerin oͤffnet mir; ich ver- 
lange die Herrin des Haufes zu ſprechen; fle führt mich in einen 
Eleinen Salon ; eine Dame von xeifem Alter war mit Lefen be- 
fhäftigt und neben ihr... . ach! miein Freund!... wie vermöchte 
ich das Vollkommenſte zu ſchildern, was der Erdkreis umfchließt!... 
das Schoͤnſte, was bie Natur hervotgebracht, kurz einen Engel!... 
— Und dieſer Engel muſteirte? — Ja, mein Freund; die Perſon, 
die ich gehört, war es. Bei meiner Annäherung ſchwieg fie; bie 
aͤltliche Dame fland auf und fragte mich, was ihr die Ehre meines 
Beſuchs verfchaffe. Ich nannte meinen Namen und erzählte, wie 
ich unvermerkt vom Wege abgefommen fei. Beim Namen des 
Grafen von Framberg jah ich ein wohlwollendes Lächeln ihre Züge 


4% 


34 


Beleben. — Beim Henker! das glaub ich wohl! — Sie machkte 
mir das Auerbieten, den Anbruch des Tages in ihrem Haufe ab- 
zuwarten. Ich drückte ihr meine Befürchtumg aus, fie zu beun: 
ruhigen. — Und doch bliebt Ihr? — Gewiß! ... Ich nahm neben 
den Damen Platz; bald war das Geſpräch im Bang; die junge 
Berfon ſchien ſchüchtern und zurückhaltend ; aber vie ältere, etwas 
geſchwaͤtzige Dame theilte mie mit, daß fie feit eiwa zwölf Jahren 
dieſes Haͤuſschen bewohnen, Niemand bei fi fähen, weil ver Bater 
Baulinend (der Name des jungen Srauenzimmers) die Geſellſchaft 
nicht liebe; daß derſelbe wichtiger Angelegenheiten halber ſeit ei⸗ 
niger Zeit abweſend ſei, und fie mit Ungeduld auf feine Rückkehr 
harten, welche fie belehren folle, ob der Zweck feiner Neife ers 
füht ſei. — O! o! welche Geheimnißfrämerei!... Endlich? — 
Enblich, mein Freund, verging die Nacht unter folchem Geſpraͤch. 
So wie ich ſah, daß der Tag graute, erhob ich mich, und bat 
die Damen um Entſchuldigung, daß ich fie fo lange hingehalten 
babe... — Breiter? — Ich bat um die Erlaubniß, fie zuweilen 
in ihrer Einſamkeit flören zu bürfen; anfangs machte bie gute 
Frau eimige Schwierigkeiten... — Ihr hättet derſelben ſagen 
follen, daß Ihr mein Zögling feir. — Am Ende aber willigte fie 
ein, mich manchmal zu empfangen, bamit ich vie Cinſamkeit ihrer 
teuren Pauline etwas erheitere, und weil fie dachte, ber Sohn 
bes Oberſten Framberg werde dieſes Vorzugs würdig fein. Meine 
Sreude war unbefchreibiih! Der jungen Berfon fchien der Ent⸗ 


ſchluß ihrer Bllegemutter nicht unangenehm zu fein, und ich fchieb 


mit der Hoffnung, Diejenige bald wieder zu fehen, welche von 
nun an all meine Gedanken erfüllen wird!... — Sehr ſchoön, 
mein Herr; da wäret Ihr alfo nun verliebt mit fechzehn Jahren!... 
— D! für das Leben, Mäler!.. — Ihr habt die Weisheits: 
lehren, die ich TCuch gab, ſauber benüpt!... Glaubt mir, Tat 
Ente neue Letdenſchaft fahren, die Euch vielmehr zu entfeglichen 
ersnfheiten verfeiten wird, wenn ich nich Acht darauf Babe... 


33 


— Denke nicht daran, Müller, daß ich diefes anbeiungswärdige 
Fräulein vergeſſe, für das ich jebt ſchon mein Leben hiugäbe!... 
Du haft alfo nie geliebt? — Berzeihung, mein Herr; ich liebte 
den Ruhm, den Wein und die Weiber; die letzteren indeß ſtets 
nur mit Mäßigung, und ich war immer bemüht, jenen heftigen 
Leidenfchaften auszuweichen, die und von unfern Pflichten abziehen, 
und dad Leben eines Don Quixote führen laſſen und das Anfehen 
eined Dummkopfs geben!... Glaubt mir, nur auf diefe Weile 
ift man gfüdlich und nicht, wenn man ſich den Kopf mit Trug⸗ 
bildern füllt, die nie zur Wirklichkeit werden! ... — Trog aller 
Deiner ſchoͤnen Reden und Deiner Moral, die mir fonft fehr wichtig 
ift, werde ich doch nicht von dem Glauben laffen, lieber Müller, 
daß die wahre Liebe das einzige Glück auf Erden if, und was 
liegt mir daran, ob es ein Traumbild ? wenn ed und nur glück 
lich macht! — Nun, ic fehe wohl, ich würde End umfonft zu⸗ 
rechtweifen und verzichte darauf; doch wuͤnſchte ich minbeftens, daß 
der Gegenftand Eures Liebesſchwindels deſſelben wärbig wäre und 
Ihr Such nicht wie ein Neuling in der Liebe einer Abenteurerin 
in die Arme würfet!... — Ha, Müller, häte Dich, die zu ber 
ſchimpfen, die ich liebe! — Aber wißt Ihr auch nur den Namen 
ihres Vaters? — Gewiß; er heißt Chriſtiern. — Ehriftiern! Diefen- 
Namen da Hab ich nie auf dem Schladhtfelde gehört! ... — Unb 
Doch ift er Soldat. — Soldat! fehr glücklich. — Du ſiehſt alſo, 
e8 find Damen... — Ich fehe. .. ich fehe, daß wir bier ame 
Schloffe find und es Zeit ift, fich ins Bett zu legen, wahrlich, 
mein Herr, Ihr laßt mich da ein hübfches Leben füähren!... 
Ein Feldwebel fi ind Bett fegen, wenn Jedermaunn auffleht!... 
— Ber hindert Di, anfzubleiben? — Ic bin kreuzlahm, weil 
ih die ganze Nacht hindurch umhergaloppirte! — Unb vielleicht 
au, weil Du fo viel auf dem Heu herumgeruifiht bift,“ ſebie 
Heinrich laͤchelnd Hinzu. 

Hier biß fi Müller in die Lippen und ging nach keine: 


Bimmer, and Jurcht, die Reihe, Lehren gu geben, möchte an 
feinem Zöglinge fein. 


Siebentes Rapitel. 
Empfang bes DOberften. 

Während ber ſechs auf Heinrichs Abenteuer folgenden Monate 
begab ſich diefer täglich nad} dem Haufe feiner Schönen, die Bor- 
ſtellungen Müllers und die Anftrengung diefer fortwährenden Ritte 
nicht achtend. 

Eines Tags indeß war Müller ſehr erflaunt, ald er Heinrich 
bei feinem Aufflchen noch im Schloffe fand. „Ci der Tauſend! 
Ihr feid nicht fort? Nein, Müller, und ich bleibe. — Bah! Hat 
Euch Gase Dulcinen ſchon einige Streiche nach ihrer Weife ge 
ſpielt? — Meine Bauline ift unfähig, fih zu ändern! — Sie 
Bat Cuch alfo gefagt, daß fie Euch liebe? — Glaubſt Du, daß 
folt der ſechs Monate, die ich fie fehe, unfere Herzen fich nicht 
verſtanden, unfere Augen fich nicht ausgebrüdt haben ?... — O! ic 
fehe wohl, e8 ift ein Srauenzimmer, dad den Dienft verfteht! — 
— Wenn ich diefen Morgen nicht zu ihr gegangen bin, fo Liegt 
dies baran, daß bie gute Madame Reinhard (dev Name derer, bie 
Mutterſtelle bei ihr vertritt) mich benachrichtigte, der Vater meiner 
Ponline Fönne von einem Augenblide zum andern eintreffen, und 
ex möchte, ehe er von dem Anfange unferer Bekanntfchaft unter: 
richtet ſei, meine Beſuche übel aufnehmen. — So wäret Ihr alſo 
von Surer-Schönen- für Lange Zeit getrennt. — Für lange Zeit!... 
o! ich Hoffe wohl, mich ihrem Bater in einigen Tagen vorftellen 
zu koͤnnen; er wird. mich fehen, mich lieben und... — Und. wenn 
er ein vernünftiger Mann iſt, Euch zum Haufe hinauswerfen. — 
Wahrhaftig, Müler, Du bringft mich noch zur Verzweiflung mit 
Deinen Betrachtungen. — Ah! ich bin eben nicht verliebt und fage, 
was ich denke.“ 











37 


Nah Berfiuß von vierzehn Tagen konnte Heinzich feine Uns. 


gebuld nicht mehr zügeln und beſchloß daher, nach der Wohnung 
feiner Geliebten zu eilen; diesmal wollte Müller feinen Zögling 
begleiten, denn ed war ihm fehr gelegen, ben Bater des Fräulein 
zu fehen und zugleich ben Gegenſtand von Heinrichs Liebe kennen 
zu lernen. Heinrich wäre lieber allein gegangen. Müller aber hielt 
ihm entgegen, baß es fchidlicher fei, wenn er ihn begleite, und 
daß, wenn Paulinens Bater ein braver Soldat fei, ihm ber An: 
blick eines alten Feldwebels mehr Vertrauen einflößen würbe, als 
ber eined jungen Leichtfußes. Sie ritten daher beide mit einander. 
Bon dem Verlangen, feine Schöne zu fehen, angefpornt, ſprengte 
Heinrich im faufenden Galopp; vergebens ſchrie ihm Müller zu, 
daß er ihm nicht folgen Eönne; für unfern jungen Mann war 
died ein Grund weiter, nicht anzuhalten. 

Endlich erblickten fie das fo fehnlich herbeigewünſchte Haus. 
Heinrich if bald vom Pferde; Müller betrachtet die unanfehnliche 
Wohnung genauer und fchüttelt unzufrieden den Kopf. Heinrich 
Hopft an. Einige Minuten vergehen, bis eine alte Frau unter der 
Thüre erfcheint, in welcher jedoch Heinrich nicht mehr bie Dienerin 
erkennt, die er fonft zu fehen gewohnt war; zitternd fragt er: 
„Herr Chriſtiern? — Seit acht Tagen wohnt er nicht mehr Hier, 
mein Herr. — Großer Gott! und feine Tochter? und Madame 
Reinhard? — Die Tochter folgte ihrem Bater und Madame eins 
hard hat fle begleitet." Wie vom Donner gerührt, fieht Heinrich 
bei diefer Nachricht; Müller bricht in lautes Lachen aus. 

„Ha! ba! Ha! taufend Bomben! es freut mich fehr, daß Ihe 
Eure ſchoͤne Unbekannte los feld... — Nein, und wäre fie am 
Ende der Welt, ich müßte fie auffinden 1* ruft Heinrich aus, und 
fängt an, die gute Frau über die Abreife bed Herrn Chriſtiern 
auszufragen; aber er kann nichts weiter von ihr erfahten, als baß 
bie drei früheren Bewohner bes Haufes abgezogen feien, ohne 


Grund oder Ziel ihrer Reife anzugeben, und daß bie jepige Kande 


N 


28 


. RNwohnerin ihre Vorgaͤnger gar nicht lenne. BRit dieſen Worten 
ſchlicßt die Alte wieder und läßt unſere Wanderer auf ber Heer⸗ 
ſtraße ſtehen. 

In feiner Verzweiflung will Heinrich nach Offenburg reiten, 
die Amgegend durchſtreifen, Alles aufbieten, um feine Schöne 
wieber gu ſinden; aber Müller verficht ſich nicht dazu, fonbern zwingt 
ihn, den Weg nach dem Schloffe wieder mit ihm einzufchlagen. 

Sier befanden fie fich feit einigen Tagen, Heinrich von nichts 
als Heifen und Entführungen träumend, Müller fih zur Eutwid: 
kung biefes Liebeshandeld Glück wunſchend, ald fie vernahmen, der 
Oberſt Framberg werde in Rurgem wieber auf dem Schloffe zurück fein. 

Miller kennt fi nicht vor rende. Er fol feinen Oberften, 
feinen Wohltgäter wieder jehen! Alles wirb in Bewegung gejekt, 
damit der Graf auf feinen Beflgungen mit ber ſchuldigen CEhr⸗ 
furcht empfangen werbe. 

Alte feine Bafallen greifen zu den Waffen, Müller erercirt 
fe vom Morgen bis zum Abend , orbnet Gefechte, Evolutionen an. 
Selbſt Herr Bethmaun, der feit einiger Zeit zu nichts mehr gut 
war, als fi zu beirinfen, Herr Beihmann war gensthigt, bie 
Muskete zu tragen, am Gxercitium Theil zu nehmen und zweimal 
täglich auf den Wählen des Schloſſes Wade zu fliehen, was ihm 
übrigens von Anfang an fehr mißflel; doch Müller vachte, dies 
fei die befle Weile, etwas aus ihm zu machen. 

Heinrich vergißt einen Augenblid Diejenige, die ihm im Kopfe 
fpuft, und die Ankunft feines Vaters, den er fo lange nicht mehr 
geichen, beichäftigte alle feine Geiſteskraͤfte; er theilt Müllers 
Thätigleit und harrt voll Ungebuld des Augenblids, an dem er 
feinen Bater in die Arme drücken fol. Endlich kommt fie, bie er: 
fehnte Stunde. Herr Bethmann, gerade auf der Wache, erbiidt 
ben Wagen des Oberſten von ferne. Müllers Befehl zufolge fenert 
es ald Signal von beffen Ankunft feine Flinte ab, fällt aber ans 
Echroden über den Knall des Schuſſes zu Boden, 


VDald ift Alles im Schlaß im Bewegung ; Müller löst eiligſt 
die Schildwache ab ; Täßt die Zugbrüde nieder und ſtellt die Bauem 
zu beiden Seiten des Thores in Schlachtordnung auf. Er fdhärft 
ihnen ein, alle zu gleicher Zeit Ioszufenern, fo wie fie ben Wagen 
des Oberſten ind Schloß einfahren fehen, und Herr Bethmann 
geht durch und in den Keller, um biefen furchtbaren Knall nicht 
zu hören, aber Müller, der ihn nicht aus den Augen läßt, läuft 
ihm nach, und zwingt ihn, wieber in die Reihen einzutreten, indem 
er ihm ein altes Gewehr gibt, das nach feiner Berficherung weit 
weniger Laͤrm macht, als dad andere. 

Endlich Hört man Pferdegetrappel, der Wagen fährt über bie 
Zugbrüde, Müller gibt das Signal: alle Bauern ſchießen zu gleicher 
Zeit. Bethmann, erſchreckt oder elektrifixt durch dieſe plößliche Salve, 
verfucht ein @leiches zu thun ; aber die Flinte, die fett langer Zeit 
nicht gedient hatte, platzt und ſchlaͤgt Herrn Bethmann ins Geſicht, 
ber ſich heulend vor den Pferden auf dem Boden wälzt. Diefe, 
durch bad Gefchrei bed Lehrers fchen gemacht, fangen an, bie 
Kreuz und Quer im Hof herum zu rennen, bie Bafallen bed 
Oberſten andeinanber treiben ; Müller fchreit aus vollem Halfe, 
feine Truppen wieder zu fammeln, Heinrich Läuft hinter den Pferben 
ber, welche durch diefen Lärm aufgeregt, nur um fo ärger galop⸗ 
piren und erfl vor einer Pfüpe anhalten, in welche fie den Wagen 
werfen, ber im Yallen ein halbes Dugend Enten erbrüdt. 

Nach vieler Mühe wurden die Pferde zum Stehen gebracht 
und Heinrich fpringt feinem Bater bei, der in die Pfütze gerollt 
war, glüdlicherweife aber Teinen andern Schaden genommen hatte, 
als daß feine Staatsuniform mit Koth bedeckt war und ſich eine 
bei ihm Schup fuchende Gans an fein Hintertheil angehängt hatte. 

Mährenn man fi bemühte, das Thier, welches die Holen 
nieht loslaſſen wollte, wegzunehmen, trat Müller mit beſtürzter 
Miens vor. „Ah, mein Oberft! ... werben Sie mir gütigfl vers 
wihen ... . wenn bes Empfang, ben ich Ihnen bereitete, feine 


40 


Wirkung verfehlte? ... — Racht nichts, mein lieber Müller, 
Deine Abficht war gut und das iſt mir genug. — Der verfluchte 
Beihmann iſt daran Schulb, Obefl!... — Ich brauche weiter 
nichts, als meine Kleider zu wechſeln. — Und er bat nichts ale 
ein Auge verloren, mein Oberſt. — Wo ift aber mein Sohn?... 
Mein Heinrich, komm doch in meine Arme!... Der junge Mann 
Rürzte fih dem Oberſten in bie Arme, der ihn mit tiefem, innigem 
Gefühle anblidt, wobei er ausruft: „Sie it e8!... meine Gle 
mentine!”... Und er brüdte ihn zärttlih an fein Herz. Heinrich 
feinerfeits fühlte in feiner Seele die tiefe Empfindung der Ehr⸗ 
furcht und Dankbarkeit entfliehen, welche er demjenigen fchulbig 
war, ben er al8 feinen Vater betrachtete. 

Nah einigen der Herzendergießung gefchenkten Augenbliden 
dachte der Oberſt, er werde nicht übel daran thun, fich umzu⸗ 
kleiden; er forderte Heinrig auf, nachzuſehen, ob im Schloß Alles 
wieder in feine Ordnung zurückgekehrt fei, und gab Müller ein 
Zeichen, ihm tin fein Gemach zu folgen. 

„Run denn! licher Müller,” begann der Oberfi, als fie allein 
waren, „ed find num Beinahe zwölf Jahre Ger, daß ich Dir meinen 
theuren Heinrich anvertrante. Wie haft Du diefe Zeit zugebrackt, 
Du, dem ich's beſonders zur Aufgabe machte, daB Gerz meines 
Sohnes zn Bilden, während ich fie dazu verwandte, in der Welt 
umbherzuirren, bie Feinde zu fchlagen, kurz, mich von ber nagenben 
@rinnerung über den Berluft einer Frau zu zerflreuen, welche meine 
Thränen und mein Leib fo fehr verdiente ? Du Haft mir noch Feine 
Kechenſchaft ablegen koͤnnen über Deine Bemühungen, Deine Sorg⸗ 
falt und über Deine Weife, aus Heinrich einen Mann zu machen, 
über den ich nie zu erröthen habe: fag’, iſt e8 Dir gelungen? — 
Ja, mein Oberft, und wader gelungen, beffen rühme ich mid. 
MH! der funge Mann if ein Teufel, ver feine Streiche machen 
wirb!... — Wiel... — Das heißt, mein Oberſt, er wirb von 
ſich ſprechen machen: erſtlich iR er brav, dafür ſtehe ich! ... und 





41 


ex fchlägt fich! Ich hoffe, Sie werden es felbft fehen, und mir 
Ihr Compliment darüber machen. — Ferner? — Ferner ift er 
menſchlich, großmüthig, gefühlvoll! D, und im Teßtern Punkte!... 
— Ich fehe, er wird alle Tugenden feiner Mutter beſitzen. — O! 
ja mein Oberſt, nur fürchte ich, fein Gefühl möchte ihn zu weit 
führen!... — Was willft Du damit fagen? — Ei, das heißt, 
der junge Dann wird verdammt viel Geſchmack am andern Ge⸗ 
fhlecht finden! ... — Du glaubt? — Zum Henfer, ob ich es 
glaube...” Hier hielt Müller inne, denn er erinnerte fih an fein 
gegebened Verſprechen, dem Oberft Heinrichd Abenteuer mit feiner 
Schönen geheim zu halten. 

„Du bift alfo völlig mit meinem Sohne zufrieden, Müller? 
— %a, mein Oberft, jeher zufrieden; er ift ein Zögling, der mir 
eines Tagd Ehre machen wird, deſſen bin ich gewiß. Nicht, als 
ob er nicht auch einige Heine Fehler hätte... Erſtlich ift er Heftig, 
ungeduldig, aufbraufend... — Ho! ho! das hatteſt Du mir nicht 
gefagt! — Seien Sie jedoch ruhig, mein Oberſt, dieſe Fehler 
vergehen mit dem Alter, und wenn das Herz gut iſt, gibt es ſtets 
ein Heilmittel, und das feinige ift fo... ja! dafür flehe ich, fo 
gut ald das Ihrige, mein Oberft!... Er wäre würdig, Ihr Sohn 
zu fein... — Was fagft Du, Müller?” rief der Oberft Tebhaft. 
Mäller war verwirrt, kratzte fich hinterm Ohr und bemerkte, daß 
er eine Dummheit gefagt Hatte; er faßte ſich indeß und antwors 
tete: „Meiner Treu, Oberft, weil das Wort einmal heraus if, 
fo werbe ich nicht fuchen, es zurüdzunehmen ; fehen Sie, ich kann 
mich überdies nicht verftellen und geftehe, daß es mich hart ankam, 
etwas Heimliches vor Ihnen zu haben, mein Oberſt! — Nun 
wohlen, Müller! weil Du das Geheimniß von Heinriche Geburt 
kennſt, will ich mich gegen Dich nicht Länger verftellen ; überdies 
werden mich Zufall oder Umftände vielleicht eines Tages zwingen, 
ihm Alles zu fagen, und wenn ich fterben follte, ehe ich ihm 
diefes Dunkel aufgehellt, wäre es mir nicht unlieb, auch einen 

Paul de Rod. II. 4 


Audern in daſſelbe eingeweiht zu fehen. Bedenke aber wohl, Müller, 
nie eine Silbe von dem, was ich Dir fage, gegen irgend Jemand 
verlauten zu laffen, ohne durch die dringendſten Umftänbe bazu 
genöthigt zu fein, oder ohne Befehl von meiner Seite! _. . — 
Seien Sie ohne Sorgen, Oberfi, ich gebe mein Wort darauf; 
Sie kennen mich und wiffen, Müller ift unfähig, feinen Schwur 
zu brechen.“ Der Oberſt Framberg unterrichtete nun Müller von 
Allem, was Heinrich Geburt beiraf, fo wie von dem wahren 
Namen feined Vaters, wie Elementine ihm angegeben. 

Mehrere Monate verfirichen. Oberfi Framberg liebte Heinrich 
wie feinen Sohn; aber er gewahrte inzwifchen, daß Müllers Zög- 
ling gar nicht fo vollfommen fei, als diefer ihm gefagt Hatte, 
deſſen ungeachtet war Heinrich im Schloß viel gefeßter, feit der 
Oberſt wieder hier reflvirte. 

Eines Tages ließ Graf Framberg Heinrich in fein Gemach 
fommen und redete ihn folgendermaßen an: „Mein lieber Sohn, 
Du tritt nun in ein Alter, wo der Aufenthalt in einem nur 
von Deinem Bater bewohnten Schloffe Dir nicht mehr genügend 
if. Du zaͤhlſt indeß nur ſiebzehn Jahre, haft aber doch das Aus⸗ 
fehen eines Mannes, und ich glaube, Dich Dir ſelbſt für einige 
Zeit ohne Gefahr überlaffen zu können. — Wie, mein Bater ?“ 
rief Heinrich. — „Sa, mein Freund, das heißt, Du ſollſt reifen, 
bie Welt kennen lernen. Ich ging im fünfzehnten Jahre zur Armee 
ab!... Du ſiehſt darans, ich war fünger ald Du. — Sie fchiden 
mich alfo zur Armee, Vater? — Nein, lieber Heinrich, da Du, 
Müllers Erziehung ungeachtet, keinen entfchiedenen Hang für die 
militärifche Laufbahn zu haben fcheinft, fo wollen wir warten, bis 
Dir felbft der Wunfch dazu kommt. Aber Du ſollſt Deine Jugend 
nicht in biefem Schloß zubringen ; Du magſt reifen, bie Welt durch⸗ 
ſtreifen; das wird Dich vollends ausbilden. — Und Sie, mein 
Vater? — Ih, mein Breund, ich fange an, in ein Alter zu 
kommen, wo man bie Ruhe allen Berguügungen vorzieht, ich bleibe 


43 


baber in diefem Schloß und warte ruhig Deine Heimkehr ab, in 
der Ueberzeugung, Deine Aufführung in der Berne werde von der 
Art fein, daß ich nicht genöthigt Bin, Dich zu holen. — Ach! 
mein Bater! feien Sie verfichert, ich werde ihre Lehren nie vers 
geffen. — Dann ift die Sache abgemacht: in acht Tagen kannſt 
Du abreifen. Ich hätte fehr gewünfcht, Müller möchte Di auf 
Deinen Reifen begleiten, allein viefer gute Hufar, von dem ich 
jo lange getrennt war, wird die einzige Perfon fein, welche unter: 
deffen meine Einfamfeit theilt; überdies wird auch ihm die Ruhe 
zum Bedürfniß, und er foll daher bei mir bleiben. Du nimmft 
Frank, des Gärtnerd Sohn, ald Bedienten mit; er fam mir ver: 
ſtaͤndig vor: ich glaube, Du wirft mit ihm zufrieden fein.“ 

Erfrent über feines Baters Entſchluß, traf Heinrich alle Zus 
rüftungen zu feiner Reife. Das Andenken an feine theure Bauline 
Batte ſich nie aus feinem Gedaͤchtniß verwifcht, und er hoffte, er 
werbe im Lauf feiner Reife erfahren Einnen, was aus ihr ges 
worben fei. 

Der Tag der Abreife erfchien, Heinrich verließ Schloß Fram⸗ 
berg in Franks Begleitung und reichlich mit dem nöthigen Gelbe 
verfehen. Der Oberft weinte, wie er feinen Heinrid von ihm 
fheiden ſah, und felbft Müller fühlte einige Thränen bei ber 
Trennung von dem, beffen Jugend er gebildet hatte und für ben 
er fein Leben eingefegt hätte, feine Wangen benegen. 

Achtzehn Monate lang gab Heinrich ziemlich regelmäßig Nach⸗ 
sicht von fich ; nach Verfluß diefer Zeit aber blieben die Briefe aus. 
Der Oberſt und Müller, beide über dieſes Stillfchtweigen gleich 
fehr beunruhigt, wußten nicht, was fie daraus folgern follten. 
Endlich entfchloß fich der Oberſt, Erfundigungen über die Aufs 
führung feines Sohnes einzuziehen, under vernahm, daß tiefelbe 
nicht fo exemplarifch geweſen ſei, als er jo gerne geglaubt hatte, 
und daß ſich der junge Mann feinen Leidenfchaften fchranfeulug 
uͤberlaſſe. Anfangs nahm Müller Bartei für feinen Zögling und 


⸗ 


44 


fnchte ihn bei dem Oberflen dadurch zu entſchuldigen, daß er diefem 
wieberholte, wie bie Jugend austoben müffe, und daß er ald Züngling 
noch ganz andere Streiche gemacht habe. Am Ende des jedesmaligen 
Streites war der Oberft ſtets befänftigt; bald aber machte eine 
wichtigere Nachricht Müllers Reben ein Ende: man theille dem 
Oberften mit, fein Sohn befinde fich mit einer jungen, unbefannten 
Berfon, die er zu beirathen im Begriff fiehe, in Straßburg. Da 
dachte der Oberſt, feine Pflicht echeifche, diefer Unbefonnenheit 
Heinrichs zuvorzufommen, und er entſchloß fih, mit Müller nad 
Straßburg zu eilen. 

„Ha! diefer junge Menfch Hat den Teufel im Leib mit feinen 
Weibsleuten! ...“ rief Müller unterwegs aus. „Sch habe ihm 
gefagt, das werde ihn zu dummen Streichen verleiten! .... Aber 
Mohrenfapperment : eher hätte ich eine Kanonenkugel gerührt, als 
ihm Vernunft beigebracht! ...“ 

Der Oberſt gab feine Antwort, aber er fing zu glauben an, 
Müller fei gefchicter, fich mit dem Feind zu meſſen, als die Er⸗ 
ziehung eines jungen Menſchen zu leiten. 

Endlich kamen fie nah Straßburg, wo fle erfuhren, daß 
Heinrich vor Kurzem nad; Paris abgereist fei. Unverweilt ſchlug 
ber Oberfi mit Müller den Weg nad} ver Hauptflabt ein, und in 
Paris angelangt, erhielten fie die Nachricht, Heinrich fei am Bor: 
abend wieder nach Straßburg zurückgekehrt. 

„So reifen wir auch wieder nah Straßburg,“ ſprach der 
Dberft zu Müller. — „Ha! taufend Citadellen!“ fluchte diefer, 
"ih glaube, ver Kant macht fich über uns Iuftig.“ 

Wir haben gefehen, wie ver Poftillon, um auf einem Rebens 
wege fehneller ans Ziel zu kommen, Müller und feinen Oberften 
in einen Graben geworfen hatte; aber wir wiffen noch nicht, wie 
Müller wieder aus dem Keller herausfam, in welchem wir ihr 
zurüdließen ; es ift Zeit, daß vwir ihm zu Hülfe eilen. 





’ 








45 


Achtes RKapitel. 
Der Geheimnißvolle. 


„&rharmen!... zu Hülfe!...” fchrie die Perfon, ver Müller 
auf die Nafe gefallen war. — „Wer bift Du? ſprich!“ fagte der 
leßtere, ihr feinen Säbel auf die Bruft ſetzend. — „Ah! großer 
Gott! ... ein Räuberhauptmann! ... — Willſt Du mir Antwort 
geben, Hundofott, ftatt zu heulen * Sag, wer bift Du? was machſt 
Du Hier? — Ih bin Pförtner dieſes Haufes ; in Abwefenheit 
meines Herrn war ich in den Keller herab gegangen, wo ich einfchlief, 
indem id... — Den darin befindlichen Wein ſoff. Aha! ich fange 
an zu verftehen,” fiel ihm Müller in die Neve... „Gerne würde 
ich Dir Geſellſchaft Teiften, guter Freund; aber mein Oberft wartet 
oben auf den Erfolg meiner Nachforſchungen, und ich mag ihn 
nicht Länger im Dunkel darüber laſſen; wir wollen ihm alfo Licht 
bringen; hernach Finnen wir, wenn Du willft, immer wieder herab- 
fommen, wo ih Dir dann mit Vergnügen einige Flafchen zu leeren 
behälflich fein werde.“ 

Mit diefen Worten treibt Müller feinen Wirth die Treppe 
hinauf. Nachdem diefer fein Licht aufgerafft hat, geht er zitternd 
vor Müller her, noch nicht wiſſend, was er von biefem Borfalle 
denken follte. 

Oben in einem Gemache angelangt, zündete Barl (jo hieß der 
Pförtner) fein Licht an, ohne daß er gewagt hätte, die Augen zu 
der bei ihm befindlichen Perſon aufzufchlagen. „Vorwärts, geh 
nur voran,” fagte Müller zu ihm, „damit wir meinen Oberft 
wieder finden.“ 

Nachdem fie mehrere Zimmer durchftreift Hatten, trafen fie 
endlich auf den Oberfi und den Poftillon, welche über Müller's 
Abwefenheit fehr in Unruhe waren. „Seht, Oberſt,“ fprach der 
letztere, „hier ift das einzige lebende Weſen dieſes Haufes ; ich hab's 


46 


im Keller aufgefunden! — Ad, braver Mann,“ fagte ver Oberft 
zu Carl, „werdet Ihr fo gütig fein, die Weife zu entfchuldigen, 
mit der wir in dieſes Haus gebrungen find 2” — Carl, durch die 
Furcht wieder nüchtern geworben, hörte den Oberft aufmerffam an. 
„Ihr feld alfo Feine Räuber ?...“ rief er aus, als dieſer Ießtere 
feine Rede geenbigt hatte. — „Wen heißt Du Räuber ?" fragte 
Müller. — „Nein, mein Freund,” verfebte der Oberft, „wir find 
Reiſende. Ich war mit diefem braven Krieger auf dem Wege nadh 
Straßburg, als unfer Reifewagen in einen Graben flürzte; ich 
war am Bein verlegt, und da wir fein Obdach für die Nacht er- 
blickten, verfuchten wir, in ber Hoffnung, Hülfe zu finden, in 
dieſes Haus zu gelangen. — Oh! wenn Sie Reifende find, ſtehe 
ih ganz zu Ihren Dienften, mein Herr. Mein Gebieter ift feit 
einigen Tagen abwejend ; Bis zu feiner Rüdkunft will ich Sie in 
ein Zimmer führen, wo Sie ein gute® Bett finden werden. — 
Nun, das laß ich mir gefallen, Alter,” fagte Müller, Earl auf 
die Achfel klopfend, „das fühnt mich wiener mit Dir aus; ich fehe, 
Du bift ein guter Kerl und wir werden und ſchon vertragen. — 
Aber,“ bemerkte der Oberft, „Ihr fagtet mir, Euer Gebieter fei 
abwesend, fürchtet Ihr nicht, er möchte, Euch bei feiner Zurück⸗ 
kunft Eurer großmüthigen Gaftfreundfchaft wegen auszanken? — 
Nein, mein Herr, mein Gebieter ift ein fonderbarer Mann, zu: 
weilen finfter und ſchweigſam, zuweilen luftig und ſchwatzhaft; im 
Uebrigen aber habe ich ihn ſtets ziemlich menfchlich gegen Jeder⸗ 
mann gefehen, und ich zweifle nicht, daß er mein Benehmen gegen 
Sie gutheißt. — Ei, zum Henfer! wenn er nicht ein wirklicher 
Bär iſt, wollen wir ihn fchon kirre machen!” rief Müller aus. 
Der Oberft, der Ruhe höchſt bevürftig, bat den Pförtner, 
ihn an ben für ihn beſtimmten Ort führen zu wollen. Carl war 
eifrig bemüht, ihm zu gehorchen; Müller und ver Poſtillon trugen 
ihn, denn feine Verlegung hatte ſich fo fehr verfchlimmert , daß 
er ſich nicht mehr aufrecht zu Halten vermochte. Sie gelangten in 


47 


ein angenehm gelegenes Zimmer mit der Ausficht auf den Garten 
des Haufe. Der Oberft Tieß ſich zu Bette bringen und forderte 
Müller auf, fi gleichfalls zur Ruhe zu legen, mit der Ber: 
fiherung,, er werde ihn rufen, fowie er feiner bebürfe. 

„Ha, Kriegskamerad!“ fagte Müller zu Carl, als fie aus 
dem Zimmer des Oberften gingen, „obgleich wir teufelmäßig mübe 
find, ich und diefer dicke Kümmel (dabei deutete er auf den Poſtillon), 
welcher nichts ſpricht, darum aber nicht weiter denkt, würben wir 
nach meiner Meinung doch nicht übel daran thun, uns ein wenig 
zu reflauriren ; denn feit beinahe zwölf Stunden Habe ich nichts 
zu mir genommen, und mit leerem Bauch Tann ich gar nicht ein- 
fchlafen. — Nun, das heißt gut gefprodhen, Herr Müller,“ be- 
merkte der Poftillon, „und ich bin ganz Ihrer Meinung. — In 
biefem Fall will ich fuchen, Euch ein Nachteffen vorzufegen, doch 
müßt Ihr vorlieb nehmen mit dem, was da iſt! ... — O! wir 
find nicht lecker; im Krieg, wie anderswo, efje ich, wad man mir 
gibt ; aber ich glaube bemerkt zu Haben, baß der Keller gut ver- 
fehen tft...” Earl fing an zu lachen, und die Herren befchäftigten 
fich fogleich mit den Zurüftungen zu ihrem Mahle. 

Bald war Alles bereit und man feßte ſich zu Tifche. Müller 
Vobte den Wein, der Boftillon fprach Fein Wort, aus Furcht, um 
einen Biſſen zu kommen, und der Pförtner, ein tüchtiger Zedh- 
bruder und voller Freude, daß er Leute gefunden Hatte, die ihm 
die Stange Halten konnten, war bald in befter Laune und Außerfl 
gefprächig. Er fing an, feinen Gaͤſten die Lebensweife feines Herrn 
zu erzählen. „Der Herr von Monterranville,” fagte er zu ihnen, 
„iſt ein närrifcher Kauz; er bringt fein Leben damit zu, im freien 
Felde umherzurennen, zu reifen, der Teufel weiß wohin, oder fich 
in diefem Haufe einzufchließen, wo er Niemand flieht ald mi und 
einen langen Bengel, ben ich nicht kenne. Bald ift er traurig, 
bald Iuftig; kurz; ſeit den zehn Jahren, die ich mit ihm in dieſem 
Haufe wohne, habe ich weder feinen Charakter entziffern, noch ben 


48 


Beweggrund feiner häufigen Abweſenheit verfichen Tönnen!... — 
Du biſt Halt Tein Pfiffifus, dreifache Patrontafche! Mich läßt man 
nie anlaufen, und wenn ich einen Menfchen fehe, errathe ich ſtets 
an feinen Augen, was an ihm if!... — Ei was!” fiel ber 
Boftillon ein, „es gibt Geſichter, aus welchen man gar nichts 
herausbringen Tann !... — Es gibt auch fehr trügerifche !“ fuhr 
Earl fort. — „Thut Alles nichts, Freunde!" verfegte Müller; 
„ein Menfch mag verbergen, was in feiner Seele vorgeht, wie er 
will, ein durchdringender Blick gelangt ſtets zur Entdeckung ber 
Wahrheit; und ich Bin der Meinung, daß aller Berftellungsfunft 
ungeachtet, deren gewifle Leute fähig find, die Natur dem Schurken 
und dem Tugendhaften nicht einen und benfelben Blick verliehen 
bat; auch darf ich nur ein einziges Mal Deinen Herrn von Monter⸗ 
ranville fehen, und ich will Die bald fagen, was an ihm if.“ 

Nachdem Müller feinen phyfioguomifchen Scharfblid noch lang 
und Breit gerühmt hatte, gewahrte er endlich, daß feine beiden 
Tiſchgenoſſen ihn nicht mehr hörten und feft fchliefen. Sich hierauf 
der Länge nach in einem Lehnſtuhl ausſtreckend, brauchte ex nicht 
mehr lange, bis er ihnen nachahmte, und bald ſchnarchten fie ein 
herrliches Trio. j 

Den andern Tag war der Oberſt nicht im Stande, aufzu: 
ſtehen; er hatte eine fchlimme Nacht gehabt, und feine Berlekung, 
gereizt durch die feit mehreren Tagen erlittenen Befchwerlichfeiten 
und bie fein Blut erhigende Ungeduld, nahm einen fehr bedenk⸗ 
lichen Charakter an. Der gute Garl, ein wenig in der Heilkunde 
erfahren, Iegte ihm einen Verband an, und empfahl ihm die größte 
Ruhe ; darüber fluchte der Oberft freilich .am meiften, allein man 
mußte ſich der Nothwendigkeit fügen. 

Der Poftillon reiste mit dem Befehl, in Kurzem Pferbe ber: 
beizubringen, nach Straßburg ab. Seit acht Tagen befanden ſich 
der Oberfi und Müller in dem einzelnflehenden Haus, als der 
Gigenthümer von feiner Reife zurückkam. Der Oberfi war in Ber: 





49 


zweiflung, auf folche Weife einer ihm unbekannten Berfon zur Laft 
zu fein; aber bei Erzählung des in feinem Haufe Vorgefallenen 
lobte Herr von Monterranville Carls Benehmen fehr, und ging 
nach des Oberften Zimmer, um diefem zu fagen, welches Vergnügen 
ed ihm mache, ihm bei dieſer ärgerlichen Beranlafjung nüglich fein 
zu koͤnnen. 

Der Oberſt lag im Bett, im Gefpräh mit Müller über Hein: 
richs Aufführung, als fein Wirth in das Zimmer trat. Diefer 
näherte ſich dem Bett des Oberften und fagte, obgleich er den ihn 
betroffenen Unfall fehr bedaure, wünfche er fih doch Glück, daß 
er in feinem Haufe Hülfe gefunden habe. Während ber Oberfl 
biefe verbindlichen Reben erwiberte, war Müller auf die Seite ge- 
gangen und unterhielt ſich mit Betrachtung der Züge diefer neuen 
Perſon. 

Herr von Monterranville war ein Mann von etwa fünfzig 
Sahren, groß, mager, von gelblicher Gefichtöfarbe, Iebhaften und 
bligenden Augen, wenn er Jemand ind Geſicht fah, aber gewöhnlich 
ſchlug ex fie nieder ; übrigens von ziemlich hübſchem Beh chte und 
anſtandsvoller Haltung. 

„Dielen Menfchen mag ich nicht leiden,“ ſprach Maller bei 
ſich ſelbſt, nachdem er Herrn von Monterranville betrachtet hatte; 
„entweder irre ich mich ſehr, oder er ift nicht offenherzig in feinen 
Reden.” 

Der Oberft dagegen dankte dem Hauöbefiber aufs Bärmfe 
und wünfchte fih Glück, in fo gute Hände gerathen zu fein. Mit 
der Bitte, zu thun, ald wäre er in feinem Eigenthum, verließ 
ihn ber leßtere. 

Nach feinem Weggehen theilte Müller dem Oberft feine Ge- 
danfen hinfichtlich ihres Wirthes mit; aber der Oberft nannte ihn 
einen Geifterfeher und war nicht feiner Meinung. 

Müller’ 8 Schlafzimmer lag dem des Hausherren gerade gegen: 
über; nur war das feinige einen Stod höher, er Tonnte daher 


50 


burch die Halbvorhaͤnge hindurch mterjegeiden, was in dem Ge⸗ 
mache deſſelben vorflel, 

Als Müller fchlafen ging, eltte er feine Betrachtungen über 
Vie Berfon an, in deren Haufe fie fidh befanden. Während dieſes 
Nachgrübelns verfirih die Zeit, und er ſah an feiner Uhr, daß 
es nahezn Mitternacht fei. Er ſtand auf, um fein Licht auszu⸗ 
Löfchen, und gegen das Fenſter tretend, gewahrte er noch Licht im 
Zimmer ded Herrn von Monterranville ; Neugierde und der Wunſch, 
etwas zu entbeden, was feine Gedanken rechtfertigen Tönnte, be- 
ſtimmten ibn, einen Augenblick zu feinem Nachbar hinüberzublicken. 
Er Iöfchte fein Licht, damit man ihn fchlafen glaube und flellte 
fich leiſe in eine Fenflervertiefung. 

Geraume Zeit blieb er in diefer Stellung, ohne daß er etwas 
erblickt hätte; des vergeblichen Hartend müde, wollte er fich eben 
nieberlegen, als er Herrn von Monterranville mit flarfen Schritten 
im Zimmer aufs und abgehen fah, wie in tiefes Nachvenfen ver- 
funten ; ex bemerkte Hierauf, wie verfelbe feinen Schreibtifch öff- 
nete, mehrere Geldſaͤcke herauslangte, genau betrachtete, einige 
derſelben Aberzählte und endlich Alles flehen ließ, um wieder in 
feine Träumereien zu verfallen. Aergerlih, daß er nicht mehr ſah, 
legte fi Müller ins Bett, fehr mißgeftimmt, nicht enträtbjeln zu 
fönnen, was das Alles heißen ſollte. 

Am andern Tage gleiches Verfahren von Seiten Müller’s, 
gleiches Benehmen von Herrn von Monterranville, nur daß er 
diesmal feinen Sekretär nicht berührte ; aber er ging wieder langſam 
auf und ab, blieb zuweilen ftehen, um fi an bie Stirne zu ſchlagen, 
ober wohl fich wie in ber heftigften Verzweiflung auf einen Seffel 
zu werfen. 

Am Ende wünfchte Müller feinen Wirth und deſſen geheim: 
nißvolle Simmerfpaziergänge zum Teufel und Iegte fi mit bem 
Gedanken nieder, Herr von Monterranville fei entweder ein Nacht: 
wanbler, oder Habe Anfälle von Tollheit. 





51 


Die Zeit verſtrich indeß, die Munde des Oberften heilte, jeboch 
nur langfam. Aergerlich, Feine Nachrichten von Heinrich zu be- 
fommen, und wohl einſehend, daß er ihm lange nicht nacheilen 
fönne, beſchloß er, Müller vorauszuſchicken, damit er endlich ers 
fahre, wie die Sachen flünden, und deßhalb Tieß er dieſen zu ſich 
fommen, um ihm fein Vorhaben mitzutheilen. 

„Müller,” fagte er zu ihm, als fle allein waren, „ich Tann 
meiner Ungeduld nicht widerfiehen, ich muß durchaus Miffen, was 
Heinrich gegenwärtig treibt. — Taufend Bomben, Oberft! glauben 
Sie, ich wuͤnſche es nicht eben fo fehnlich und fluche nicht, daß 
ih Sie da and Bett genagelt fehe, wie ein alter Achtundvierzig- 
pfünder ?... Aber was kann man machen, Oberft ? Muth gefaßt!... 
— Hör einmal, Müller! wenn Du wilft, fo warte ich meine Her: 
ftellung viel gebulbiger ab. — Wenn’d von mir abhängt, mein 
Oberft, fo dürfen Sie nur fprechen. — Gut, in diefem Fall, lieber 
Müller, mußt Du nach Straßburg reifen, und Heinrich nachſpüren. 
— Wie, mein Oberft, ich fol Sie in diefem alten, verfallenen 
Nefte allein Iafien?... — Warım niht? — Wo Sie zum ein- 
zigen Gefellfchafter einen Menfchen haben, der einem Orangutang 
ziemlich ähnlich flieht? — Bedenk doch, daß. ich bald hergeftellt 
fein werde und Dir alddann folge. — Nur mit Bedauern verlaffe 
ih Sie, Oberſt; weil Ste e8 aber wollen, muß ich gehorchen. — 
Vergiß nicht, Müller, daß die Augenblide Toftbar find! Du weißt, 
was man von Heinrich fagte! ... Ich zittere, er möchte ſchon 
verheirathet fein!... — Ah bah, Oberft! eine ſolche Dummheit 
wird er ſich nicht ohne Ihre Einwilligung erlauben... Wenn es 
überdies der Fall if... — Wenn es der Fall ift... — Sa, mein 
Oberft, was foll ich alddann machen? — Meiner Tren!... thu, 
was Dir gut dünft; wenn es aber, wie ich hoffe, nicht der Fall 
ift, fo bemühe Dich, den Gegenftand, der dad Herz unferes jungen 
Mannes feffelt, zu fehen, befonderd laß Dich nicht durch den 
Schein täufchen! ... Unbeforgt, mein Oberft ! mid führt man 


52 N 


nicht an, namentlich in Betreff der Weiber, und die ausgelerntefte, 
Kttfamfle Sprode würde mich nicht in ihre Netze bekommen.“ 

Da die Sache einmal abgemacht war, befchäftigte ſich Müller 
mit feiner Abreife: fchon längft hatte der Boftillon die verlangten 
Vferde zurüdgebracht; Müller beftieg eines derſelben, und nachdem 
ex feinen Oberſt dem alten Karl, welchen er mehr liebte, als den 
Seren des Hauſes, aufs Befte empfohlen und erfterem ein Lebe⸗ 
wohl gefaßt hatte, fchlug er im flarfen Galopp die Straße ein, 
welche ihn zu feinem Sögling führen follte. 

Wir Taffen den Oberſt bei Herrn von Monterranville und ſehen 
ein wenig, was Müller in Straßburg machte. 


Heuntes Kapitel. 


Abermals ein Heuboben. 


Begen neun Uhr Abends langte Müller in Straßburg an und 
flieg im „weißen Pferde”, dem erften auf feinem Wege befinplichen 
Gaſthofe, ab. „Geſchwind ein Nachteffen für mich und mein Pferd,“ 
fagte Müller, in das Gaſtzimmer tretend, wo mehrere Reifende 
um einen großen Tifch herum faßen. 

„Des Herr wird fogleich bedient werben,” erwiderte mit Flöten: 
fimme eine ſchmucke Dirne, welche allein alle Laften der Wirth⸗ 
ſchaft zu tragen ſchien. 

Müller trat zum Kamin, in Erwartung, daß man ihm auf: 
trage ; aber ploͤtzlich brechen die Neifenden und das Wirthegefinve 
beim Anbld des Neuangelommenen in ein fchallendes Gelächter 
ans. Diefer ließ nicht mit fich fpaßen und duldete nicht, daß man 
ihm, ohne zu wiffen warum, ind Geficht achte; er fing feinen 
Schnurrbart zu freien an und fragte mit martialifchem Geficht: 
„Bollet Ihr mir fagen, meine Herren, welches die Urfache Eures 
ſpottiſchen Gelaͤchters iſt? — Zum Henker! Ihr müßt wohl fehen, 


53 


baß Ihr es fein,” antwortete ein fehnurrbärtiger Kerl, mit einer 
großen, rofligen Klinge an der Seite, der fo ziemlich einem Werber 
gleich fah ober einem jener Leute, weldje gratis in der Welt durch⸗ 
zufommen fuchen, indem fie mit Kauft und Rippenftößen bezahlen ! 
— „Ha! id bin's,“ entgegnete Müller, ihn von Fuß bis zum 
Kopf mit den Augen mefjend. „Ei! was findeft Du denn Lächer: 
liches in meiner Phyfiognomie? — Schau nah dem Hintertheil 
Deiner Hofen und Du wirft fehen, daß wir nicht über Deine vor- 
dere Phyſiognomie Tachen.” 

Müller blickte fogleih Hin und fah, daß die Bewegung bed 
Pferdes und der ſchnelle, anhaltende Ritt feine. Hofen dergeftalt 
zerrifien Hatte, daß er fein Hinterquartier allen Blicken bloßftellte, 
was ex freilich hätte fühlen follen ; in der Hiße feines Ritts mochte 
ex es nicht bemerkt haben. „Wie! das macht Dich lachen?“ fragte 
er den Werber. „Beim Teufel! Du mußt noch niemals in Deinem 
Leben einen Hintern gefehen haben, um beim Anblick des meinigen 
fo zu laden! — Wahr, es ift nicht der Mühe werth,“ verfehte 
diefer. — „Nicht der Mühe werth!“ rief Müller mit einem Seiten- 
Bli auf ven Werber; „Du dürfteft, glaube ich, wohl zufrieden 
fein, wenn Du einen folchen Hätteft, und ich rathe Dir nicht, Dich 
über den meinigen luſtig zu machen.” 

Zungfer Hannchen, welche ſich wahrſcheinlich beffer auf dieſen 
Artikel verfiand, und den Müller’d ganz nad ihrem Geſchmacke 
fand, beeiferte ſich, zwifchen ven beiden immer mehr ſich erhigenden 
Parteien Frieden zu fliften, und z0g Müller mit fort an einen 
Tisch, auf welchem fein Abenveffen aufgetragen war, wobei fie ihm 
leife ins Ohr flüfterte, daß fle die Sorge für die Wiederherſtellung 
feiner Hofen auf fh nehme. Müller, wohl verflehend, was das 
fagen wollte, Tneipte fie ſchäkernd, blickte fie verftohlen an und fiel 
gierig über ein Stück Nehbraten her, um der Idee zu entſprechen, 
welche Jungfer Hannchen von ihm gefaßt Hatte, 

Ich weiß nicht, ob der Werber gleichfalls feine Augen auf 


54 


dad Kellermäpdhen warf, allein währen er feine Pfeife rauchte 
und fein Sammelsrippchen aß, fah er mit vielem Aerger die Auf: 
merkſamkeiten Gannchend für unfern Hufaren, und dieſer, ſtolz 
auf feine Eroberung, drehte fi zuweilen mit einer Miene um, 
welche fagen wollte: Du fiehft, mein Bopo macht mehr Ginprud, 
ald Deine verliebten Augen. 

Um die Stunde bed Schlafengehend trat Hannchen zu Müller, 
und nachdem fie ihm das für ihn beflimmte Zimmer bezeichnet hatte, 
fagte fie ihm in’s Ohr: „Laßt den Schlüffel an Eurer Thüre, bald 
werde ich bei Euch fein. — Fehlt ja nicht,” antwortete Müller, 
„sonft bringe ich das ganze Haus in Aufrufe.” Nun ergriff er 
ein Licht, und ven Werber, der bei feiner Flaſche eingefchlafen zu 
fein ſchien, zurüdlaffenn, flieg er nach dem ihm angewiefenen 
Zimmer hinauf. 

Seit mehr als einer Stunde war er hier, mit Ungebuld auf 
die Erfüllung des von Hannchen gegebenen Berfprechens harrend: 
doch die Zeit verfirich ; Iängft mußte Alles in ber Herberge zu 
Bette fein; pünktlich Hatte er den Rath Hannchens befolgt, aber 
fie erſchien nicht. Wer Eonnte fie zurüdhalten ?... Da er feinem 
Berlangen und feiner Ungeduld nicht mehr zu widerſtehen vermochte, 
erhob er fi, fchlüpfte nur in feine Hofen und beſchloß, Jungfer 
Hannchen in allen Theilen des Haufes aufzufuchen. 

Mit dem Lichte in der Hand durch lange Gänge unb mehrere 
leere Zimmer gelommen, geht er einen Stod höher und ſetzt feine 
Nachſuchungen fort. Schon fing er an, Die Hoffnung aufzugeben, 
als er, bei der Thüre des Speichers vorübergehend, Laute zu hören 
glaubt; er bleibt flehen, Iaufcht und zweifelt bald nicht mehr, 
daß Hannchen drinnen und im Begriff fei, eine Untreue an ihm 
zu begehen. Seiner Wuth nicht Herr, flößt er heftig an bie Thüre, 
biefe weicht und zum zweiten Male in feinem Leben befindet er fi 
auf einem Heuboden. 

Aber welch ein Anblick. Auf die Perjonen zutretend, an benen 








55 


er feinen Sorn auslaffen will, erfennt er ben Werber, wie er fi 
mit einer alten fechzigjährigen Magd, die ſchon lange keinen ſolchen 
Feſttag mehr gehabt hatte, vergnügt: 

Wie kam der Werber hieher? das. wird gut fein, dem Lefer 
mitzutheilen. Diefer Schurke, welchem die Reize Jungfer Hannchens 
fehr ind Auge flachen, war entſchloſſen, unferem Huſaren feine 
Eroberung vor der Nafe wegzufchnappen. Darum hatte er fich ges 
ſtellt, als ſchlafe er über feiner Klafche ein, und nachdem Müller 
und bie übrigen Reiſenden fort waren, bemächtigte er ſich Hann⸗ 
hend, welche alle nur erdenkliche Mühe aufwandte, um fich los⸗ 
zumadhen. j 

Aber Hannchen wollte nichts von dem Werber und brannte 
vor Berlangen, zu dem Hufaren zu kommen; es gelang ihr alfo, 
zu entrinnen; ihr aufbringlicher Liebhaber folgt ihr auf den Zehen ; 
um ihn irre zu führen, geht fie mehrere Treppen hinauf, aber er 
ift ſtets hinter ihr her, bis ihr bei der Biegung eines Ganges eine 
alte Magd vom Haufe, im Begriff zu Bette zu gehen, aufftößt ; 
Hannchen fchiebt diefe dem Werber entgegen und entfliebt. Der 
Ießtere padt die Magd bei ihren Kleidern, in der Meinung, den 
Gegenftand feiner Wünfche zu halten; die Alte will fchreien, ex 
läßt ihr Feine Zeit, eine Thüre nebenan wird aufgemacht; es if 
die des Heubobend, Der Werber zieht feine Schöne hinein und 
drängt fle auf das Stroh. 

„Tauſend Donnerwetter,“ ruft Müller aus, ald er Werbers 
Süßliebchen betrachtete, „ich traute Dir Keinen fo baroden Ge: 
ſchmack zu... Laß Dich nicht fisren, Freund! ... O! ich will 
Dir einen ſolchen Fund nicht entreißen!.. .“ 

Beim Anblick der Züge und Reize Derjenigen, die er für 
Hannchen gehalten, wird der Werber wüthend; Müller fchlägt ein 
helles Gelächter auf, was feinen Herger noch vermehrt. „Kreuz 
Millionen Donnerweiter!“ rief er aus, „muß ber Hundefott da 
immer feine Nafe in meine Sachen ſtecken?“ 


56 


Müller, ver ihm feit feiner Hofengefchichte noch gram war, 
gab ihm bei dem Titel Hundefott einen tüchtigen Fußtritt, der ihn 
auf den unglüdlicden Gegenfland feiner Verachtung nieberwarf. 
Der Werber rafft ſich wieder empor und fpringt, eine neben ihm 
liegende Heugabel ergreifend, auf Müller los; Müller läßt fein 
Licht fallen, um feinen Gegner feften Fußes zu erwarten, und bie 
Beiden Herren prügeln einander weiblich ab. Aber, o unerivartetes 
Unglül! während fie fih im Boren üben, bemerfen fie nicht, 
daß das Licht im Fallen einen Bund Stroh angezündet bat; biefer 
Bund if mit andern in Verbindung, und in einem Nu brennt der 
ganze Boden lichterloh. Die Alte, von den Streitenden auf dem 
Stroh liegen gelaffen, wird Bald von dem Rauche beinahe erftict 
und erfüllt den Gaſthof mit ihrem Wehegefchrei. Alles ſpringt 
and dem Bett; man kommt, gebt, rennt Hin und her, ohne zu 
wiffen warum; aber bald verfünbigen die zum Dache hinausfchla: 
genden Yeuerfäulen den Zufchauern die ihnen drohende Gefahr. 
Umfonft fucht der Wirth Hülfe zu fchaffen, das Feuer Hat ſchon 
fo um ſich gegriffen, daß es nicht zu Iöfchen ifl. In diefem Tu: 
mult Täßt Müller feinen Gegner los, um an feine Flucht zu benfen; 
er eilt Hinab in fein Zimmer, aber auch dort iſt dad Feuer fchon: 
er will ſich entfernen, ald er Schreien von borther vernimmt; er 
fehrt um und erblidt das arme Hannchen, welche ihn aufgefucht, 
und ihn erwartend, fich in fein Bett gelegt hatte, 

Unfer Hufar fleht Hannchen feinetwegen dem Verderben nahe, 
er flürzt fich daher mitten durch die Flammen, nimmt fie im Hembe 
halbtodt in feine Arme und eilt mit feiner koſtbaren Laſt aud tem 
Gafthofe Hinmeg. 





3 


en nt BR a De “ or 7 Fa 1. Vonıa 
er „Behutes Kapitel.. 
u: * mn "Hannsine Tante. tn 


fin wir. mein Freun gu fragte Samen ihten Retter, 
ala fie wieber zu ſich kam. — „Meiner Treu, das meiß ich nicht,“ 
enigegnete Müller, ſie auf rine Steinband;.nieverfepend. „Alles, 
was ich weiß, iſt, daf ich nur zerriffene. Hoſen anhahr, Du. im 
bloßen Hemde biſt, und daß wir, wenn es Tag waͤre, einen Theil 
son, Straßburga Bewohnern, uns begaffend, vez uns hätten. — 
Mich gelüftet nicht, fie zu erwarten,“ fagte Hanuchen, „Doch, wie! 
hätte dad. Feuer den ganzen Gaſthof verzehrt? — PBreilih .-. ». 
Nach der Art, wie.ed überhand, nahm, würke es ohne bie größte 
Vorſicht die ganze Stabt verbrennen. — Was ift zu machen? wir 
können nicht nackt auf Diefem Baba ..bleiben, — Nein, das hiefe 
zu viel riskict. — Ga, mir kommt ein Gedanke; ich habe eine 
Muhme, Feimmaͤſcherin, in dieſem Viertal; man muß fie aufſuchen, 
ſie iſt eine guke Fequ und wir und gerue aufnehmen. — Wohl, 
es ſei, gehen wir zu Deiner Tante,“ Und Müller und Hannchen 
machen ſich im Sei, in, Am, auf ben. Wes zu der Fein⸗ 
waſcherin, LT an 

Nach nemlich langem Umgerirren gelangen ie. in ‚eine kleine, 
enge und ſchmutzige Gaffe and bleiben vor ⸗inem Hausgenge flehen« 
bier ‚wohnte Hanuchens Tante, ‚Müller klopft viermal nacheinander, 
med aber die gute Freu. in ihrem .sierten Siode nicht hört. „Sie 
iR etmas harthoͤrig und- fchläft wie-eino-Rabe,” ſagte Hanxchen. 
— „3 dieſem⸗ alle,” erwidert Müller, „laufen wir feine Ge⸗ 
fahr, wenn wir durch das Wenfter einſteigen. Er klopft noch mehr; 
mals ohne beſſean Crfolg. Müller, ungebuldig, gemarht, war ber 
Anficht,. Sheime nach ven Fenſtern zu werfen,: ald. ein Bewohner 
bes erſten: Stocks, von dem Par aufgewedt, fein Fenſter oͤffnet 
un fragt, wer mitken in ben, Macht auf diafe Weife ei vs 

Paul de Kock. MI, 


⸗ 


56 


Müller, der ihm feit feiner Hofengefchichte noch gram war, 
gab ihm bei dem Titel Hundöfott einen tüchtigen Fußtritt, ber ihn 
auf den unglüdlichen Gegenftand feiner Verachtung nieberwarf. 
Der Werber rafft fh wieder empor und fpringt, eine neben ihm 
Hegende Heugabel ergreifend, auf Müller los; Müller Täßt fein 
Licht fallen, um feinen Gegner feften Fußes zu erwarten, und bie 
beiden Herren prüägeln einander weidlich ab. Aber, o unermwarteted 
Unglüd! während fie fih im Boxen üben, bemerken fie nicht, 
daß das Licht im Fallen einen Bund Stroh angezündet Hat; biefer 
Bund ift mit andern in Verbindung, und in einem Nu brennt ber 
ganze Boden lichterloh. Die Alte, von den Streitenden auf dem 
Stroh liegen gelaffen, wird bald von dem Rauche beinahe erftidt 
und erfüllt den Gaſthof mit ihrem Mehegefchrei. Alles fpringt 
aus dem Bett; man kommt, geht, rennt Hin und ber, ohne zu 
wiffen warum; aber Bald verfünbigen die zum Dache hinausfchla- 
genden Yeuerfäulen den Zufchauern die ihnen drohende Gefahr. 
Umfonft fucht der Wirth Hülfe zu fchaffen, das euer hat fchon 
fo um fich gegriffen, daß es nicht zu Löfchen ift. In diefem Tu: 
mult läßt Müller feinen Gegner los, um an feine Flucht zu denfen; 
er eilt hinab in fein Zimmer, aber auch dort iſt das Feuer fchon: 
er will fich entfernen, als er Schreien von borther vernimmt; er 
fehrt um und erblidt das arme Hannchen, weldhe ihn aufgefudt, 
und ihn erwartend, fi in fein Bett gelegt Batte. 

Unfer Hufar ſieht Hannchen feinetwegen dem Verderben nahe, 
er flürzt ſich naher mitten durch die Flammen, nimmt fie im Hemde 
halbtodt in feine Arme und eilt mit feiner foftbaren Laſt aus dem 
Gaſthofe hinweg. 


ber ſtalt zu entfliehen, ließ fie vorwäͤrts, um beſſer zu Tehen, 
Geh doch ind Bett, mein Taͤubchen,“ ſagte Herr Speckkratzer, „ich 
werde Dir. alles Vorgofallene erzaͤhlen.“ Aber feine Chehälfte, 
welche auch Hannchen im Hemde erblickte und fürchtete, deren friſche 
Reize "möchten: ihren. Gatten zu Vergleichungen veranlaſſen, xiß 
dieſen: fott nach ihrem Zimmer mit der Bemerkung, daß, da die 
Thüre geöffnet ſei, man feiner nicht mehr bedürfe. Haunxchen dankte 
‚Bern Spectreter and die botben Gegakten zogen wa in ihre Zimmer 
zuräd. 
Somit wären zun 1 Dlller und Hannchen vor der <hüne: * 
Mafcherin. Sie kopften beide jo, daß das ganze Haus erdrohnte; 
vie gute Frau erwacht, hommt zitternd herbei und fragt, wer da 
ſei? „Ich bin's, Liebe :Zante,* antwortet Hannchen; „oͤffnen Sie 
Schnell.” Die Alte macht anf: neue Ueberraſchung non ihrer Seita, 
als fie Hannchen im Hemd und eisen Dann in bemfelben Zußanbe 
bei Abe fieht, u. b. 3 
Uber Hannchen hat ‘fie bald über. dag Borgefallene belehru 
uud Madame Tapin (fo hieß die Tante) fällt Müller um. via 
Hals und küßt ihn dreimal für die Mettung Ihrer Nichte. Müdler 
Hatte ihr. Die umarmung ‚gerne erlafen, allein neh munte fich 
bequemen. 
Hannchen und älter bebneſten der —* man mar ſchnell 
auf Mittel bedacht, Bolten herzurichten. Die ganze Wohnung ber 
Madanıe Tapin beſtand nur in einem großen Zimmer, worin fie 
Sclief:, und einem Tleinen Kabinet nebenan, wo für Hannchen eis 
Bett zurecht gemacht wurde. Müller fagte, er bequeme fih mit 
einem Seffel als Nachtlager. Hiebei blickte er Haunchen an, bie 
tn Sehr gut verftand, und Madame Tapin willigte in jedes Begehren. 
Bald war das Bett bereit. Hannchen legte fich nieder, Mar 
dame Tapin vesgleichen, und fo wie fie eingefchlafen. war, theilte 
Mütter das Lager Dertenigen, für die er ein alted Weib bei Nacht 
Aberfallen ˖ ließ, ein Haus in Brand ſteckte, einen Menjchen prügelde, 


De Nachbarn ans dem Schlaf werte. und... Su Wahrheit, er 
Batte fie wohl erworben. 

Als am andern Morgen. Alles wieder auf den Beinen war, 
dachte Bühler, ein gutes Fruhſtück werde ſehr am Blage fein, um 
ſich von den Anftvengungen bed vorigen Tages zu. erholen; aber 
Saunchen hatte Leinen Heller, Mabame Tapin war nicht reich. und 
konnte ihnen nichts weiter ald Brod und Milch vorſetzen. Da fiel 
«6 Mäller wieder bei, daß er eine wohlgeſpickte Boͤrſe in feinen 
Hofen haben müffe, denn Oberfi Framberg befahl ihm, weder 
übe noch Geld zu fparen, um feinen Heinrich wieder zu finden. 
Nun Ichrte Freubde in Aller Herzen zurüd; Haunchen holte eiligſt 
das zum Frühſtück Nothige, fowie einen Schneider herbei, der 
Müller aufs Schuellfte wieder Beiden folte ; und Madame Tapin 
feßte Alles zut Bereitung bed Mahles in Bewegung. Während 
deſſen ſaun Müller darüber nach, was er zu thun habe: er dachte, 
er fei eben fo gut bei Madame Tapin ald im Gaſthof, feine Nach: 
forfchungen koͤnne er gleichfalls von Hier aus anflellen, und das 
Meſultat feiner Betrachtungen mar, daß er während feines ganzen 
Wafenthaltes im Straßburg bei Hanuchen wohne. 

FVroͤhlich ſetzte man ſich zu Tiſche: Hannchen war vor Freude 
außer fi, daß fie in Müller einen zugleich reichen und verliebten 
Mann gefunden habe Im Ganzen war fie ein. gutes Mäbchen, 
bie nur den Fehler Katie, daß fie bie Männer etwas zu ſehr lichte. 

Müller erzählte ihnen Eurz, was ihn nach Straßburg führe 
wub gab dad Derfprechen, bei ihnen zu. wohnen, jo lang er bier 
bleibe. Madame Tapin war ganz entgädt darüber; fie ſah, Daß 
Müler gern gut af und trank, und bachte, fie werbe, fo lange 
er im Hauſe bleibe, ſtets Hochzeitsgerichte bekommen, wie fie es 
nannte, u 

Nah dem Frühſtüch ging unfer Hufar aus, um feine Rach- 
forſchungen zu beginnen. Er durchſtreifte beinahe die ganze Stadt, 
ohne irgend eine Nachweiſung. aͤher Heinrich zu erhalten, uud am 


61 


Abend kam er zu feinem Hanndhen zurück, um die Müuͤhſeligkeiten 
des Tages zu vergeflen. & verging ein Tag um ben andern, und 
Jedes war zufrieden; nur begriff Madame Tapin nicht, wie ein 
Mann, wie Müller, der gerne gut lebte, fich jede Nacht mit einem 
Sefjel als Bett begnügen koͤnne. 

Nach Berlauf von etwa zehn Tagen kam er auf den Slauben, 
der Gegenfland feiner Streifereien fei nicht mehr in Straßburg ; 
denn obgleich er die ganze Stadt durchwandert, alle öffentlichen 
Orte befucht Hatte, war es ihm doch nicht gelungen, Heinrich zu 
begeguen. Bereits war er entfchloffen, dem Oberſt den geringen 
Erfolg feiner Schritte zu fehreiben und ihn zu fragen, was er 
thun folle, ald er eined Abends, beim Eintritt in ein Cafe, Frank, 
Heinrichs Diener, bei einer Flaſche Bier erkannte. Müller hütete 
fich fehr, denfelben anzureden, wohl erwägend, daß er ihn nur 
durch eine Tügenhafte Erzählung irre führen würde; dagegen ver: 
FHeß er alsbald das Cafe und harrte unfern der Thüre geduldig, 
bis Frank Herausfomme, um ihm unbemerkt zu folgen. 

Nicht‘ lange ſtand er auf der Lauer; nach wenigen Minuten 
erſchien Frank, und Müller fulgte ihm auf eine Weile, daß ex 
nicht wahrgenommen werben fonnte, denfelben aber doch nicht aus 
dem Geſichte verlor. Frank fchlug mehrere abgelegene Straßen ein, 
und Müller fah ihn zu feinem Erflannen aus der Stabt hinaus 
gehen. Er war fortwährend Hinter ihm drein. In geringer Ent: 
fernung von der Stadt hält Frank vor einem huͤbſchen, von anbern 
Wohnungen abgejonderien Häuschen fill. Er Flopft an, man öffnet, 
und er fritt ein. Müller betrachtet dad Haus, fo gut ed ihm bie 
Nacht erlauben Tann, und mit dem Gedanken, es fei zu fpät, um 
in Erklärungen einzugeben, zieht.er fich zurüd, feft entfchloffen, 
am andern Morgen wieder zu kommen. 

Ehe wir jedoch Deüller folgen, wollen wie wieber ein wenig 
za unfereni Helben zurüclehren, den wir ſchon ſo lange verlaſen 
haben. Le Be 





62 


Eiftes Aagpitel. 
Florenz. 
Bei ihrer Abreiſe vom Schloſſe Framberg hatten Heinrich und 
Frauk den Weg nach Offenburg eingeſchlagen. Heinrich dachte nur 
an feine theure Pauline und gab ſich der Hoffnung Hin, daß er 
im ber Nähe unn Offenburg, wo er ihre Bekanntſchaft gemacht 
batte, irgend etwas über ihr. Schickſal werde erfahren können. 

Da Heinrich ziemlich offenherzig war und überbied vor Ber: 
Iangen, fich von feiner Schönen za unterhalten, branute, war 
Frank bald fein Vertrauter ; außerbem mußte ex benfelben von ber 
Sache unterrichten, damit er beim Rachforfchen beffere Sülfe leiften 
fönne. 

Frauk war ein verfländiger, pfiffiger Burfche und geſchickter, 
eine Intrigue durchzuführen, ald die Alleen des Schloßparks von 
Framberg von Unkraut zu ſäubern. Dur dad Vertrauen feines 
Herrn geſchmeichelt, verſprach er ihm, fich deſſelben wärbig zu 
zeigen und Alles zu thun, was zur Wisderauffindung ſeiner An⸗ 
gebeteten beitragen boͤnnte. 

In Offenburg angelangt, forfehten gene und Diener auf jede 
mögliche Weife nach einem gewiſſen Ehriftiern und feiner Tochter; 
doch · Alles. umſonſt. Endlich befchloß Heinrich, des vergeblichen 
Suchend müde, zu feiner Zerftreuung fich unter einen fernen Him: 
melöftrich:zu begeben und dem Zufall die Sprge für das Wieder: 
finden feiner thenern PBanline anheimzuftellen. : 

s: & dachte, Stalien, deſſen Schönheiten .er rühmen gehört, 
kanne ihm eher als andere Länder Zerfireuung bieten. Sie begaben 
fi daher auf den Weg nad Neapel, zu Pferde veifend und fi 
an aflen Orten verweilend, die ihre: Aufmerkfamleit zu feſſeln ver: 
beiten. Bis Florenz, wo Heinrich einige Zeit zu bleiben wünfchte, 
"Ihnen nichts Befonderes auf. 


“ 03 

Die: reigende ‚Bagsi::biefer Stäht am ben:-Begenkampen Ufern 
bed Arno, die Schönheit ihrer Baudentmnde;: die Meiſterwerke chen 
Art, welche Tie uimfihließt, berauſchaen Heinrichs Sinne, der nur 
and Schloß. Framberg hernusgfouunenzum die Umngegendezu durch⸗ 
ſtreifen, ſich nicht träume. Tief, ma ee. auf der a eisen {9 
— Ort gͤbee. u 

. sei eines Abends auerheih. u Wient uutwandeite, hörte 
er aus einem eleganten Haufe am Wafler melodiſche Töne. „D, 
mein Freund! .. . ſiatiſtis! Merrift-flet... ‚A agte Heinrich zu 
feinem Diener; „es:ift dieſelbe Mufik, die: iedrbeit Offenhirg ger 
Yrih. „ur. @ie: landen, Gem? m Sch Binisugemiß! . .. Gi! 
welche / Andere als Pauline herueöchte:. ihren. Baute ſolche bezaubernde 
länge zu enkloden?... — Achmein Herr! es gibt ſo viela 
Frauenzimmer,,; welche biefes Inſtrument ſpielen. — Gleichviel, ich 
will bie Bewohnerin dieſes Haufes ‚kennen lernen. “ 
- Wein Heinrich ſich etwas ‚in: Kopf geſetzt hatte, mußte es 
ausgeführt: werden; darum fing er, um Axfnerkfunieht m er⸗ 
zogen, ukter den: Yenflern bes Haufss zu fingen an. Unfer Gelb: 
war nicht · muſtkaliſch; aber er. beſaß sine ſchoͤne Stimme, unk.ber 
Wunſch, zu’ gefallen, erſetzte bei. ihm den Mangel ra ABifiens.; 
alobald Yerfiammie vie Mufik, und man lauſchte dom neuen Sänger. 
„Du fiehft wohl, fie ift es,“ fagte Heinrich, „fle hat meine Stimme 
erkannt amd. ſchmeigt, um mich zu Hören. Mechumicht ſo Tücher, 
guäbiger Herr; "Bir wiſſen/ alſo nicht daf Linhea⸗Intriguen im 
Raliem nur auf: dieſa Weiſe eingefäͤdelt werdem; und datin, daß 
man Ihnen zuhoͤrt, nichts Erſtaunlicheq liegt ?, 

Dieſex Anſicht ungeathtet, fuhr Heinrich mit. Singen, fort, 
andy: zw: lauſchen ward nau nicht. müde, MR er geenbigt.batke, 
affnete· man. keife inen ‚Baden nun warf, mit einen, Kiefel gebunben;, 
ein Billet herab. „Bin. Brief!" rief Heintich, nachn dam Pakiar, 
greifend/ aus; „ich fagte Dir das Hefel@ti.iec. re March, Ifl’S 
nicht gewiß, gukbigen Gern,” zantgegugte: Branfı mis. Rankicdätteinn 


— „ben, beſte Freumdin, ich Babe Meinem Diener nichts gefagt 
und... — Gi was! follten wir aus Deined Dieners wegen fo 
kafb tzsumen und ich Dich allein mitten in der Nacht nach Florenz 
zuebllichunn Iafien?... O! nein, Du bleib hier, nicht wahr, 
mein ‚Biber... — Mu dviefen Worten ſchlang Felicia ihre 
ſchoͤnen AUrme * Sdarkh, uns biete. hatte wicht die Rift, zu 
—* 


Zelicla mug⸗lie sie Fan; welche HBeinrich eingeführt: hatte, 
— - „Reabia,“ redelo ihre Gebieterin fe an, „trag und ein 
Aechteſſen auf.!“ Danı trat fe. auf ihre Dienerin zu und flüfterte 
Ihe einige: Borte ;. pie Heiurich nicht verfinhen Tonnte, ins Ohr; 
Lesbin, meidyer folche Abentener nichts Nenes zu fein fchienen, 
that behend, was ihre Gebieterin ihr befahl, und bald ward unfern 
beiben Liebenden ein Wendbeſſen vorgefegt. 

Der Leſer erbennt :bexsitd, daß Heinrichs Eroberung eine jener 
galanten Faxen. war, an denen halten keinen Mangel bat. Felieia 
war lange Schaufpidlerin: geweſen una hatte ſich fpäter in das 
von ihr bewohnte hũbſche Laudhans bei. Jlarenz zurüdgegogen: Ihre 
zahtrrichen Eroberumpers hatten ihe reichliche Geſchenke eingetragen, 
and: Hũger alsı: viele ihrer@efähräinmen,;. lebte fie mit dem geſam⸗ 
melten glänzenden. Wermagen in: dem Augenblid; wo ver Zufall 
fie wit Heinrich zufaihmenführte, beinahe ald.chrbnre Frau. Seine 
Schönheit, feine anftlandevode Haltung: verfühtten fie; und fie bes 
ſchieß/ viefen :fehönen Frembllng an ihren/ Triumphwagen zu Fehlen. 
Göon: kängf folgte fie Heimtich überai:; auf Baͤllen und —— 
gaugen war fle:Reis hinter! Ihm, ohne daß erres vermuihele, und 
was Aufangsmur einb: wimößnäie Sanne gersejen war, wurde bald 
au: Beftigen Leibenſchaft: 

Aber Welle ſah⸗ ** fort Geinieh Soc Renling in der Liebe 
—** ronnnhaßſten Ehnvakten:ſei / halfo nicht durch gemähnlicke 
Bitiel: verfährk werden Fonne zubartem ſuchte fie feine Aufmerkſam⸗ 

Kae pe Baicie / molche ſis moiſiethaft et⸗ zu feel. Wir 


ku Zn Ze 


64, 


Haben gefehen, wie es ihr gelang; bie Ginbilbungskzaft unſeres 
jungen Reifenden zu entflammen; jetzt wollen wir ſehen, welches 
die Folgen dieſes Abenteuers waren. | 

Nach einer in den Armen feiner zärtlichen Freundin verbrachten 
Nacht dachte Heinrich über feine Lage nach; er hätte dieſe Keligia, 
die feine Siune gefeſſelt, näher Fennen mögen. Er machte ſich's 
fogar zum Borwurf, daß. er ſich zu leicht Habe hinreißen Laffen. 
Aber welcher Andere au feiner Stelle, einen Cato ausgenommen, 
wäre ſtandhafter gewefſen? Diefe vernunftgemäßen Betrachtungen, 
machten den füßen Eindrũcken des Vergnügens Plap. Heinrich war, 
zudem weber im Alter, fittfam I bleiben, noch von einem She 
rakter, es zu wollen. 

Nachdem er das Frühſtuͤck mit feiner Schönen eingenommen, 
erlaubte ihm dieſe endlich, für einen Augenblick in ſeinen Gaſthof 
zurückzukehren, um die Beſorgniſſe feines. Dieners zu beſchwichtigen. 

Heinrich ‚Ichtte nach Florenz zurück; abor unterwegs. war er, 
nicht mehr der Naͤmliche: was geſtern noch kaum feine Plicke anf, 
ſich gezogen, 'fefjelte Beute feine Aufmerkſamkeit, erfſchion ihm, 
reizend; er dachte an nichts und athmete nichts als Vergnügen. 
Seinen Frank fand er fehr wenig befümmert um ihn; denn da 
derfelbe das Abenteuer ‚feines Gebieterd fo ziemlich geahnt hafıag 
machte er ſich auch Feine Sorgen wegen feiner Abwejenheit : 

Nun eilte Heinrich, wieder zu Felicia zurüd, gerade wie fie 
ihre Toilette beendigte. „Wohin. gehen; wir, meine liebe Freundin 3. 
— Das Weiter ift prächtig; wir wollen auf dem Lande fpeifen, 
und auf den Abend wieder nach Florenz lommen, wo man, eig, 
habfches neues Stück aufführt, das wir beſuchen.“ 

Bald war Felicia bereit, und hie jungen Leute Begaben fi, 
unter taufend Schüfereien auf den Weg. Felicia Hatte nicht ger 
wollt, daß Lesbia fie begleite, und Heinrich Frank befohlen, in 
Florenz zu bleiben, weil man.huf dein Spaziergang mit dem ‚ger 
biebten Segenflaube: keiner. Dienkrſchaft bedarf. 


vn nn mn 


— „ben, befte Freundin, ich Babe meinen Diener nichts geſagt 
und... — Ei was! follten wir aus Deined Dieners wegen ſo 
Ialb tremen und ich Dich allein mitten in der Nacht nach Ylorenz 
zueülichuns Iafien ?... D! mein, Du bleibt Bier, nicht wahr, 
mein Biber? .." — DE hisfen Worten fchlang Felicia ihre 
figönen Arate mr: Hetarich, und Diefer hatte nicht die Kraft, zu 
wiberfichen. Fa tn oo . , 

1 > Bella Bingelte; bie Bonn, weiche Heinrich eiugeführl "hatte, 
afıhien. „Retbia,” redels ihre Bebieterin fie an, „trag.und ein 
Aechteſſen anf!" Dann went ſte auf ihre Dienerin zu und flüflerte 
5b einige. MBorte ;. bie Heintich nicht verfirhen. konute, ins Ohr: 
Seobin; meicher folche Abentener nichts Nenes zu fein ſchienen, 
that behend, was ihre Gebieterin ihr befahl, und bald warb unſern 
beiben Liobenden ein Wendeſſen vorgeſetgt. 

Der Leſer erennt hercits daß Heinrichs Eroberung eine jener 
aulanten Frauen: mar ; an benen Shalien feinen Mangel bat. Felicia 
war . lange Schaufielerin genefen una Hatte fich fpäter in das 
von ihr bewohnte Hübsche Laudhauns beij Florenz zusücdgesogen: Ihre 
zahtreidien Croberungen hatten: ide reichliche Geſchenke eingetragen, 
und: flũger alen viele ihrer Orfaͤhrtinnen, lebte fie mit dem geſam⸗ 
melten glänzenden. Bermögen in: dem Augenblick; wo ber Zufall 
fie mit Heinrich zufainmenfühete, beinahe ala.chrbure Fran, Seine 
Schoͤnheit, feine afftandsvodle Haltuug verfülnten fie; und fie be 
ſchleßz/ vieſen :fchönen Freubling an tem Shuniphtuagen zu Teklen. 
Ghon: biugfb folgte fie Heintich überail:; auf Bällen und. Spazier⸗ 
ohügen war fle:Rets hinter! Ihn, ohse bufi_erte® vermuthele, und 
was Aufangomuu eins — Panne getiejen ‘war, wurde bald 
zur Beftigen Leidenfdaft.:. 

AMber · Belicht ſah⸗ wohl, Aa Seinzteh no Meuling in der Liebe 
und van umnubaftet Ehnrakten ſei / halſo· wicht Durch gews huliche 
BRitkel; verfahrt erden. Sdune jr bar: ſuchte fie ſeine Aufmerkſam⸗ 
l murq cee Saute wolcha ſte moiſtethaft Fpieltez zu fehfeig. Mie 


67. 


haben gejehen, wie es ihr gelang; die Einbildungqkraft unferes 
jungen Reifenben zu eutflammen; jet wollen wir ſehen, welches 
die Folgen dieſes Abentenens waren. 

Nach einer in den Armen feiner zärtlichen Freundin verbrachten 
Nacht dachte Heinrich über ſeine Lage nach; er hätte dieſe Keligie, 
die feine Sinne gefeſſelt, näher Fennen mögen. Er machte ſich's 
fogar zum Vorwurf, daß. er fi zu leicht Habe hinreißen Laffen. 
Aber welcher Andere an feiner Stelle, einen Cato ausgenommen, 
wäre ſtandhafter gewejen ? Diefe vernunftgemäßen Betrachtungen 
machten den. füßen Eindrucken des Vergnügens Plap. Heinrich war. 
zudem weder im Alter, ſittſam La bleiben, noch von einem Che⸗ 
vakter, es zu wollen. 

Nachdem er das Fruhſtad mit feiner Schonen eingenommen, 
erlaubte ihm dieſe endlich, für einen Augenblick in feinen Gaſthof 
zurückzukehren, um die Beſorgniſſe feines. Dieners zu befegwichtigen, 

Heinrich kehrte nach Florenz zurüd ; ' aber. unterwegs war ex, 
nicht. mehr ‚der Nämliche ; was geftern noch Taum feine Blide anf; 
fich gezegen, fefjelte Heute feine Aufmerkſamkeit, erſchion ihm 
reizend; er dachte an nichts. und athmete nichts als Bergnügem, 
Seinen Frank fand er fehr wenig befümmert um ihn; denn da 
berfelbe dad Abenteuer ‚feines Gebieters fo ziemlich geahnt hafkay 
machte er fi auch Feine Sorgen wegen feiner Abweſenheit. 

Nun eilte Heinrich. wieder zu Felicia zurüd, gerade wie fie 
thre Toilette beenvigte. „Wohin gehen; wir, meine liebe Freundin 3 
— Das Wetter ift prächtig; wir wollen auf dem Laibe ſpeiſen 
und auf den Abend wieder nad) Florenz Tommen, wo man ein, 
bübfches neues Stück aufführt, dad wir befuchen.“ 

Bald war Felicia ‚bereit, und bie ungen Leute begaben Fr 
unter taufend Schäfereien auf den Weg. Felicia hatte nicht ger 
wollt, daß Lesbia fie begleite,. und Heinrich Frank befohlen, in 
Zlorenz zu bleiben, weil man.huf dein Spaziergang mit dem .ger 
Hebten Gegenflanbe Feiner. Dieneeſchaft. bedarf. 


— — 


68 


Sind wir glücklich, fo Anden wir bie Natur reizend ; jedes 
Bostet, jede hübfche Stelle fcheint und zum Vergnügen aufn: 
fordern ; des Laubgangs Stille, des Waldes Majeftät verbreiten 
über unfer ganzes Wefen eine Rührung, welche unfer Gemüth er: 
hebt und unfer Herz in ſüße Wallung bringt. Quält und im 
Gegentheil ein tiefer Kummer, dann ſtillt die Landluft unfern 
Schmerz nicht; die Stille-der Natur vermehrt nur unfere Melan- 
cholte; gleichgültig ſieht das Auge all die Schönheiten, die an 
unferem Blick vorübergehen, und das Dunfel der Wälder erzeugt 
in unferm Gehirn taufend finftere Sedanken, tauſend Plane der 
Zerſtoͤrung. 

An jedem Ort, der ihnen gefiel, hielten die beiden Liebenden 
an. Kamen fle zn einem dunkeln, buſchigen Bosfet, fo hatte Fe⸗ 
Acta ſtets Luft, auszuruhen; Heinrich hütete fih, anderer Meinung 
zu fein ; aber durch forfwährendes Sitzen und Auffichen waren fie 
ein Ende wirklich der Ruhe bebürftig. „Wahrhaftig, mein Her, 
ich Tann kaum gehen!... Eo tft mir unmöglich, nach dem zu 
unferein Mahl beſtimmten Drte zu fommen. — Iſt's aber meine 
Schuld, Madame? War ich nicht bereitwillig, zu fißen, fo oft 
ed Ihnen Bergnügen machte? — DO, freilich! mein Kreund... 
ber fieh, wir wollen nicht mehr flpen, weil... — Weil! — 
Beil Du... aber fo Höre voh!... Du fihl vb... O 
diesmal Tiegt die Schuld nicht an mir... Nun, mein He, 
mäffen wir aufſtehen. — Ja, meine Beſte! — Ad Gott! wie 
weh thun mir die Rippen! — Und mir bie Kniee! — Ich werde 
vor a4 Tagen nicht ausgehen: Finnen. Gin anveres Mal, mein 
Thenrer! nehme ich Lesbia mit. — Und ih Frank. — Recht fo, 
inzwiſchen ‚aber wollen wir zu Mittag effen. — O, gerne! denn 
ni babe einen Wolfshunger !. . — Und ich !“ 

Die jungen Leute gingen eiligft vorwärte, um ein Haus zu 
—* wo man ihnen zu eſſen guͤbe. 

„Ach, mein Freunb! ich glaube, wir haben und verirrt, benz 


9 


ich fee niegends ein Haus. — Ich fürchte auch, meine Beliebte! 
— AG! mein Gott! wenn und die Nacht an dieſem Ort übers 
file... — Bas ift zu machen? Das wäre ein, Unglüd, — ‚Aber, 
Thenerſier! ich bin ſehr furchtſam. — Nun, dann würde ich Dich 
gegen Angriffe vertheidigen. — Sauberer Tuof!.. ." - 

Nachdem fie lange umbergegangen waren, faman f endlich 
auf eine Straße und erblickten ein einzelnſtehendes Haus. Es war 
Zeit, denn die Nacht brach herein. Sie eilten auf die ‚Wohnung 
zu unb ſahen zu ihrer Freude, daß es gerade ein Wirthshaus war, 
zwar ziemlich unanfehnlich, aber für fie dad Manna bed Bolles 
Sirael. 

Der Wirth, wie es ſchien, nicht an Gaͤſte gewöhnt, empfing 
fie mit ausnehmender Artigkeit, indem er Ihnen zum Voraus Allee, 
was fie wünfchen konnten, anbot und fie verficherte, daß fle wit 
dem Nachteffen zufrieden fein würden. 

„Was werben Sie und aber geben?” fragte Hein. — 
„Macaroni, mein Herr. — Ich mag keine,“ ſagte Felicia ER 
dieſem verbammten Lande ißt man nichts anderes... — Nun, 
Madame, dann gebe ich Ihnen Käfe und Kuchen, ben Sie. lahen 
werden. — Wie!” ruft Heinrich aus, „Käfe und Kuchen, um ſich 
den Magen einzurichten, wenn man feit dem Morgen nichtd ger 
geflen hat? — Und orbentlich Appetit befommen,“ bemerkte er 
licia. — „Was iſt zu machen, Herr? ich Biete Ihnen, das ehe 
an, was ich habe. — Wie! Sie haben nichts Anderes im Haufe ?,.. 
— Berzeihen Sie, mein Herr, ich habe wohl etwas Geflügel, das 
ih ſchon feit vierzehn Tagen für eine Gelegenheit aufſparte. + 
Teufel, das muß zart fein!.,. — Köfllih, mein Herr! Eifl 
ih!... — Alsdann laffen Sie es fchnell auftragen. — Ach 
Herr! es hat einen Heinen Anftand... — Welchen? Es ift ſchon 
von zwei vor Ihnen angelommenen Offiziexen beftellt, welche in 
Erwartung ihres Nachteſſens oben Karten fpielen. — Ha! Teufel...“ 
fluchte Heinrich, „das if ärgerlich. — Mber, mein Freund,“ fagte 


68 


Sind wir glücklich, fo Minden wir die Natur reizend ; jedes 
Bodtet, jede hübſche Stelle fcheint uns zum Vergnügen aufzu- 
fordern ; des Laubgangs Stille, ves Waldes Majeflät verbreiten 
Über unfer ganzes Weſen eine Rührung, welche unfer Gemüth er- 
hebt und unfer Herz in füße Wallung bringt. Quält ms im 
Gegentheil ein tiefer Kummer, dann ftillt die Landluft unfern 
Schmerz nicht; die Stille-der Natur vermehrt nur unſere Melan- 
cholte; gleichgültig ſieht das Auge al die. Schönheiten, bie an 
utfetem Blick vorübergehen, und das Dunkel der Wälder erzeugt 
in unferm Gehirn taufend finſtere Gedanken, tauſend Plane der 
Zerſtoͤrung. 

An jedem Ort, der ihnen geſtel, hielten die beiden Liebenden 
ah. Kamen fle zn einem dunkeln, buſchigen Bosket, fo hatte Fe⸗ 
Nein ftets Luft, auszuruhen; Heinrich hütete fi, anderer Meinung 
zu fein ; aber durch forfwährendes Sitzen und Aufſtehen waren fie 
an Erde wirklich der Muffe bebürftig. „Wahrhaftig, mein Herr, 
ich kann kaum nehen!... @a th mir unmöglich, nach dem zu 
unfereih Mahl beftimmten Drte zu kommen. — Iſt's aber meine 
Schuld, Madame? War ich nicht bereitwillig, zu fügen, fo oft 
es Ihnen Vergnügen machte? — O, freilich! mein Freund... 
ber ſieh, wir wollen nicht mehr ſitzen, weil... — Weil? — 
Weil Du... aber fo höre doch! ... Du fiehſt doh.:. DO 
diesmal Tiegt. die Schuld nicht an mir... Nun, mein Her, 
müffen wir aufſtehen. — Ja, meine Befle! — Ad Gott! wie 
weh Hun mir die Rippen! — Und mir die Kniee! — Ich werde 
vor aiht Tagen nicht ausgehen Tünnen. Bin anderes Mal, mein 
Theurer! nehme ich Lesbia mit. — Und ich Frank. — Recht fo, 
inzwiſchen aber wollen wir gu Mittag effin. — O, geme! denn 
ich Habe’ einen Wolfähunger!”. . —. Uns ich !” 

"" ‚Die jungen Leute gingen eiligft vorwärtd, um ein Haus zu 
finden; wo man ihnen zu effen gäbe. 

„Ag, mein Freunb! ich glaube, wir Haken ung verirtt, benz 


:M 


ich fehe nirgendo ein. Haus. — Ich fſachte auch, meine Geliebte 
— Ach! mein Gott! wenn und die Nacht an dieſem Ort über 
file... — Was iſt zu machen? Das wäre ein, Unglück. — ‚Aber, 
Theuerſter! ich bin fehr furchtſam. — Nun, dann würde “ Dich 
gegen Angriffe vertheidigen. — Sauberer Troſt! ...“ 

Nachdem fie lange umbergegangen waren, famen fie ie endlich 
auf eine Straße und erblickten ein einzelnſtehendes Haus. Es war 
Zeit, denn die Nacht brach herein. Sie eilten auf die Wohnung 
zu und ſahen zu ihrer Freude, daß es gerade ein Wirthohaus war, 
zwar ziemlich unanfehnlich, aber für fie dad Manna des Bolles 
Sfrael. 

Der Wirth, wie es ſchien, nicht an Gaͤſte gewoͤhnt, empfing 
n. mit ausnehmenber Artigfeit, indem er Ihnen zum Boraus Allee, 

was fie wünfchen konnten, anbot und fie verficherte, daß fie wit 
vom Nachteſſen zufrieben fein würben. 

Bad werden Sie und aber geben?” fragte Heiurich — 

„Macaroni, mein Herr. — Ich mag keine,“ ſagte Felicia; ci 
diefem verbammten Lande ißt man nichts anderes... — Nun, 
Madame, dann gebe ich Ihnen Käfe und, Kuchen, den Sie lahen 
werden, — Wie!” ruft Heinrich ans, „Käfe und Kuchen, um fh 
den Magen einzurichten, wenn man feit dem Morgen nichtö ger 
geflen Hat? — Und ordentlich Appetit bekommen,“ bemerkte Fe⸗ 
licia. — „Was ift zu machen, Herr? ich biete Ihnen das Heſte 
an, was ich habe. — Wie! Sie haben nichts Anderes im Haufe?,.. 
— Berzeihen Sie, mein Herr, ich habe wohl etwas Geflügel, das 
ih ſchon feit vierzehn Tagen für eine Gelegenheit aufſparte. r 
Teufel, das muß zart fein!... — Koͤſtlich, mein Herr! koͤſt 
ih!... — Alsdann laſſen Sie es ſchnell auftragen. — Ah, 
Herr! es hat einen Kleinen Anftand... — Welchen? Es ift ſchon 
von zivei vor Ihnen angelommenen Offizieren beftellt, welche in 
Erwartung ihres Nachteſſens oben Karten fpielen. — Ha! Teufel...“ 
fuchte Heinrich, „das ift ärgerlich, — Aber, mein Freund,“ fagte 


” 


"Welleta, „Hefe Herten werben gewiß fo galant ſein, He Nachteſſen 
einer Dame abzutreten ; denn ficherlich Haben fie feinen fo entfetz⸗ 
Eichen Hunger wie wir... — AUG! Madame!“ enigegnete der 
Beftwirtb, „Site wiſſen, die jungen Leute thun ſich nicht mehr in 
der Balanterie hervor... Gleichviel, Herr Wirth,“ nimmt Heinrich 
wieber das Wort, „haben Sie vie &üte, mit den Serren zu fprechen, 
und machen Ste, daß dieſe einwilligen. — Ich gehe, mein Herr, 
und werde mein Moͤglichſtes thun.“ 

Der Wirth ging hinauf; unterbefien ließ Heinrich den Tifch 
dedden ; er war nicht minder ungebuldig als Felicia, das Reſultat 
der Sendung ihres Wirthes zu vernehmen. 

Sie begatinen an dem guten Erfolg zu zweifeln, als die Tritte 
mehrerer Perfonen die Treppe herab fie benarhrichtigten, daß bie 
Herren ſelbſt ihre Bitte Beantworten wollen. „Wir wollen einmal 
die Dame anfehen,“ fagte der eine. — „If fie Hübfch ?" der An⸗ 
dere. Heinrich blickte Felicia Tächelnd an und gewahrte voll Er- 
ſtaunen, daß fie die Farbe werhfelte. ' 

Die beiden Militärs traten Tachend in den Saal; zwei junge 
wohlgebaute Beute, die aber ſehr lockeren Zetfigen gleigfahen. „Ber: 
zeihung, Madame ‚“ fagte ber eine, näher'tretend, „wenn wir md 
die Freiheit nehmen, felbft Ihren anzubieten... Doch was feh’ 
ich! ich tänſche mich nicht... es iſt Felicia,“ rief er, fich an feinen 
Kameraden wendend, aus. — „3a! wahrlich, fie iſt's,“ verfehte 
der Andere. 

Heinrich warb roth vor Zorn, umfonft fnchte Felicia den Herren 
ihre Züge zu verbergen und wußte nicht, welches Benehmen fie 
brobachten ſolle: Giner der Militärd trat-auf fie zu und umſing 
fle ganz ungegwungen-mit feinen Armen: „Wie, meine Schöne!... 
Dich fehe ich wieder!“ fagte er und wollte einen Kuß rauben ; aber 
Beltein ftoͤßt ihn kraͤftig zurück „Was !” rieferaus, „Du machſt 
bie Spröbe! Doch als Du bie Königinnen auf dem großen Theater 
du Reapel fpielteft, warft Du nicht fo ſtrenge. — Was fol das 





7 


Beien, nun Here? ſagte Heinrich voll Wuth auf den Maicee 
zugehend. — Zum Henker! mein Herr, bad ſehen Sie wohl. — 
Der alfo iſt Dein neuer Liebhaber, Felicia? Fährt der zweite 
Offizier hoͤhniſch laͤchelnd fort; „ih wuͤnſche Dir. Glück; er if 
noch jung, Du wirft ihn bilden. — Unverſchaͤmter!“ ſchrie Heinrich, 
den jungen Mann mit zornfunkelunden Augen betrachtend; „ich will 
Dich lehren, daß ich Teiner Rektion bebarf, um Leute Deiner Art 
zu ‚züchtigen.” Damit werfeßte er bem Zunaͤchſtſtehenden ‚eine tüch⸗ 
tige Obrfeige. Diefer zieht wüthend feinen Säbel und. will damit 
über Heinrich herfallen, aber er parirt den Hieb mit einem Tiſch, 
deſſen er fich wie eines Schildes bedient. Der andere Offizier läßt 
angenblidlich Felicia Io, um fi mit jenem Kameraden zu ver- 
binden. Unterbefjen entflieht die Dame aus dem Zimmer. Die 
beiden Militärs find gleich ein paar Löwen wider Heinrich ; allein 
Viefex thut Wunder, und während er die ihm zugedachten Hiebe 
mit feinem Tiſche parirt/ ſchickt er ihnen noch zu, was ihm unter 
die Hände fallt: Schuͤſſeln, Flaſchen, Seffel, Krüge, Alles wird 
im Zimmer umher gegen einander geſchleudert. Der Wirth fucht 
den Frieden wieder Herzuftellen umd die Kampfenden zu trennems 
aber wie er fl unter fie mifcht, empfängt et einer für Heinrich 
beſtimmten Säbelhieb und rollt unter Banke und Tide, ſchreiend, 
er fei tobt. Unſer Held hat das Gluͤck, einen ver Offiziere mit 
einer Flaſche an den Kopf zu treffen; der Wurf betäubte ihn fo 
völlig, : daß er bewußtlos: neben dem Wirthe ‚niederfant. Sein 
Kamerad ward dadurch noch erbitterter gegen Heinrich, welcher feine 
Kraͤfte zu verlieren begann und vielleicht unterlegen waͤre, wäre 
nicht eine Menge Bauern, von der Wirthin berbeigerufen, zu feht 
gelegemer Zeit eingetreten und hätte dem Sthammüpel ein Enbe 
gemacht. Heinrich benutzte die Verwirrung, um die Thüre zu ge- 
winnen; zwei Pferde waren im Hofe; er beſties eines und langtie 
tn groͤßten Galopp Im Florenz an; 

„Wie, Ser, Sie find’? Ich glaubte, Sie würden - heut⸗ 


GE nicht hier ſchlafen:. — Mein, Frauk, wie ſchlafen auch nicht 
mehr hier. — Bas fell das heißen, Herr? — Zahle augenblicklich 
ben Wirth, ſattle Die Pferde und laß uns auf der Stelle abreiſen. 
— Wie! Herr! mitten in der Nacht? .. — Vorwärts! keine 
Bemerkungen, thu, was ich Dir ſage!“ 

Frank eilt zu gehorchen, bemn. er ſieht, daß fein Bebieter nicht 
in der Laune iſt, feine Worſtellungen anzuhören. Wie die Pferbe 
Bereit ſind, Reigen Gelmrich ud drank auf u vertaften Blgrenz 
weisten in ber Nacht. 


— — un 


Bmölftes Kapitel. 
Rom. Run 

„Man muß asfehen, Herr, 8. iſt ein närrifces Ding, m 
das Berhängniß!... Oftmals fcheiterk.man in feinen Planen gerade 
in dem Hngenblid, we man ‚glaubt, fie gelingen zu fehen... Ein 
gacklicher Zufall Tommi, wenn man jede Hoffnung: verloren hat; 
usb den, Vegriff, auf den Ball zu gehen, krak! bricht man, Aım 
oder Bein und hleibt ſechs Monate in. das Bett gebanut.... Zu 
Wahrheit, Herr, wenn man vernünftig wäre, würbe man: nie Plane 
für die Zukunft ſchmieden, fondern: ruhig abwarten, bie das Buch 
des Mechängnifies vor uns aufgefchlagen liegt.” - ., 

Frank, neben feinem Herrn zeitend,; verkieh fig, damit bie 
Zeit, daß ar biefem feine Betrarktuugen miitheilte. Obgleich um 
ein gewoͤhnlicher Diener, hatte er beohachtet, nachgedacht und theilte 
feige Betrakhaungen Heinrich mit. ‚Die Bernunftfchläffe mancher 
Bhtlojonhen ‚beruhen: häufig auf nichts weiter als dem Geſchehenen. 
 eBagu- all, dioſer Galimathias 3", fragte Heinrich, aus feinen 
Traͤumereien erwachend. — „Beil.mwir-ung Hier saufı.ger Shenfe 
nach Rom befinden, in dem Augenblick, mo ich am, wenigften baraz 
dachte. und Sie vielleicht auch nicht gnaͤdiger Heiz ? — Er hat 


% . 7 


N 





73 


Recht,“ dachte Heinrich Bei ſich felbft ; aber er mochte Krank ein 
Abenteuer nicht erzählen, das feine Eigenliebe verletzte und das er 
völlig aus feinem Gedaͤchtniß verwifchen wollte. — „Fühlen Sie 
ben Regen nicht, Herr ?" ſagte Frank nad) einftündigem Schweigen. 
— „Sa, aber was ift da zu machen? — Meiner Treu, ich fehe 
nicht ein, was uns hindern follte, Tieber unter ein Obdach zu gehen, 
als uns die Haut durchnetzen zu laſſen, denn. ich glaube, es zieht 
ein Gewitter heran. — Du haft Recht, nun fo laß uns denn einen 
Zufluchtsort fuchen, bis der Sturm vorüber ift. — Wohlgeiprochen, 
Herr, aber ich fehe keinen. — So reiten wir fort!“ 

Nach langem Suchen erblidite Heinrich ein altes, halbverfallenes 
Gebäude, bad völlig verlaffen ſchien. „Siehft Du piefe alten 
Mauern, Frank? Dort werden wir Zuflucht finden. — Ich zweifle 
fehr, denn dieſes Bauweſen Hat ein ziemlich fchlechtes Ausfchen, 
und dient vieleicht ſchon Iange nur noch Räubern zum Schlupfs 
winkel. — Hätteft Du Furcht davor ? — A! mein Gott! nein, 
Herr, denn wenn mein DVerhängniß will, daß ich dort ermorbet 
werbe, fo ift Alles umfonft, was ich thue, ich kann ihm nicht aus⸗ 
weichen. — Nun, ich fehe, Deine Philofophie ift zu etwas gut; 
doch wir wollen unfere Pferde antreiben und uns beeilen, benn 
der Sturm wirb heftiger.“ 

Endlich kamen fle vor das alte Gebäude, das ein ehemaliges 
Klofter zu fein ſchien: fie ſchritten über einen mit Schutt gefüllten 
Hof und traten unter einen geräumigen Kreuzgang, weldhen bie 
Zeit etwas mehr verfchont hatte. „Weißt Du wohl, Franf, daß 
diefer Ort etwas Nomantifches Hat, und ed mich nicht wunderte, 
wenn und bier irgend ein außergewöhnliche Abenteuer aufftieße? 
— Mich ebenfalls nicht, gnädiger Herr! man fagt überdies, fie 
feien in diefem Lande nicht fehr felten.“ 

Kaum hatten fie zu ſprechen aufgehört, als fich hinten in. dem 
Kreuzgang ein. bumpfer Laut vernehmen ließ. „Haft Du gehört, 
Frank? — Ja, gnädiger Herr, es belauſcht uns Jemand. — Gehen 

Baul de Kock. Ill. 6 


74 


wir darauf zu,” fagte Heinrich: „ich bin begierig, zu wiffen, wer 
es if.“ Frank und fein Gebieter fehten fi) alsbald in Mari; 
fe weiter fie aber kamen, um fo weiter ſchien fich Jemand vor Ihnen 
davon zu machen. Am Ende der Galerie fanden fie eine Treppe 
und fliegen, im Finſtern tappend, hinauf; die fliehende Perſon 
machte in der Eile einen Fehltritt, flel herab, und Heinrich packte 
fle am Kragen. „Ach! Gnade! bringt mich nicht um, Herr Räuber!“ 
tief der Feftgehaltene, vor Heinrich auf die Kniee ſinkend. — „Wer 
biſt Du?“ fragte ihn diefer. — „Sin armer Bebienter, der feinen 
Heller Hat. — Bil Du allein hier? — Nein, Herr Räuber, ich 
Bin mit meiner Herrſchaft, die mich auf Kundſchaft ausſchickte. — 
Führe mich zu ihr! — Ja, Herr Räuber, gerne.“ 

Heinrich hielt den Unbekannten, deffen Wahrhaftigkeit er be: 
zweifelte, noch immer fer; diefer führte fle in ein oberhalb dem 
Kreuzgang befindliches Gemach und rief unter der Thüre: „hier 
it der Räuberhauptmann !” 

Heinrich war fehr erflaunt, flch in einem Zimmer zu befinden, 
wo man ein gutes Feuer angemacht und mehrere Fadeln angezündet 
hatte, und in welchem eine Dame von etwa breißig Jahren mit 
einem andern viel jüngern Frauenzimmer und vier Männern in 
Livrée, die aufrecht Hinter ihr flanden, einguartirt war. Auf den 
Ausruf von Heinrichs Führer beim Eintritt machte die Dame eine 
Bewegung bed Entſeßens, und bie vier Männer fprangen nad 
ihren Feuergewehren. 

„Ohne Furcht, meine Herren!” fagte Heinrich lachend; „ich 
bin kein Räuber, fondern ein Neifender, und ber hier iſt mein 
Diener. Es war mir fehr lieb, zu fehen, wohin mich biefer Menſch 
führen würbe, und enblich zu erfahren, mit wem ich es zu thun habe.“ 

Hierauf trat Heinrich zu der Dame, indem er fle um Ent; 
ſchuldigung wegen bes verurfachten Schreckens bat und ihr gefland, 


baß er Keine fo große Befellfchaft an einem verlaffen ſcheinenden 
Orte zu finden glaubte, 


i: 








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Die Dame belehrte ihn, daß fle die Marquife voh Belloni 
fei, eine Reife nach einem ihrer Güter bei Florenz gemacht habe 
und nad) Rom zurüdfehre ; vor dem alten Gebäude von dem Ge⸗ 
witter überrafcht, fei fle Tieber hier eingetreten, um das Leben ihrer 
Dienerfchaft nicht aufs Spiel zu fegen. „Ich habe diefen Menſchen,“ 
fügte fie, auf Heinrich® Führer deutend, Hinzu, „auf Kundſchaft 
ausgefandt, und da ich feine Feigheit kenne, durfte ich mich wohl 
auf einige Mißgriffe gefaßt machen ; doch ich bin entzückt, mein 
Herr, daß er unfer Zufammentreffen veranlaßt hat.“ 

Heinrich erwiderte dieſes Compliment auf die galantefte Weife 
und unterrichtete die Marquifln gleichfalls von feinem Namen und 
dem Zwed feiner Reife. Als ſie Heinrichs Namen und Stand hörte, 
ſchien fle noch mehr zufrieden mit diefem Vorfall, und es entfpann 
fih ein fehr eifriges Geſpraͤch. Krank feinerfeits fuchte mit der 
jungen Perſon, wie es ſchien die Kammerfrau der Marquiſin, 
Bekanntſchaft anzufnüpfen, aber Sulie (fo hieß fle) hörte nicht fehr 
auf denfelben, fondern faßte Heinrich fcharf ind Auge. 

Die Marquifin und Heinrich vergaßen im Geſpraͤch, daß die 
Nacht vorübergehe; allein die Dienerſchaft, welche ſich wahrſcheinlich 
nicht ſo gut unterhielt als die Gebieterin, machte ihr bemerklich, 
daß der Tag zu grauen beginne. Die Marquiſin erkundigte ſich 
nach dem Wetter; man ſagte ihr, der Sturm ſei vorüber, aber 
der Regen falle immer noch in Strömen ; nun bat ſie Heinrich, 
einen Pla in ihrem Wagen anzunehnten, da er fich gleich ihr 
nach Rom begebe. Heinrich, dem Juliens Seitenblidte nicht unbe⸗ 
merkt geblieben, und ber bie Marquifin fehr ſchoͤn fand, Yütete fi 
wohl, e8 auszuſchlagen, und man madhte-fich wieder auf den Weg. 

„Aha!“ ſprach Franf bei fich felbft, „ich fehe wohl, dieſes 
Abentener, das einen fo romantifchen Anſtrich Hatte, wird ein 
eben fo profaifches Ende nehmen. wie andere.“ 

Heinrich war mit den beiden Damen im Wagen. Die Mar; 
quiftn wänjchte, er ſolle an ihrer Seite Platz nehmen ; Julie ſetzie 


76 


ſich Heinrich gegenüber, mit fchmollender Miene, die ihr indeß zum 
Sutzüden gut fland. Diefe Julie war ein ganz hübſches Maͤdchen: 
ihre Augen hatten einen wunberlieblichen Ausdruck, und gewöhnlid 
rahten fie auf Heinrich, wenn fich Julie von ihrer Gebieterin nicht 
beobachtet ſah. Die Margquifin war ein vollendet fchönes Weib: 
ihr edler, eleganter Wuchs wurde durch ein Geflcht von regelmäßiger 
Schönheit noch mehr gehoben ; ihre Haare waren von glänzendem 
Schwarz; und ihre Augen, voll Feuer und Lebhaftigkeit, verkün- 
beten ein heißes Gemüth und einen ungeflümen Charakter. 

Ohne weitern Unfall Iangten die Reifenden in Rom an; unb 
beim Abfchied Ind bie Marquifin unfern Helden ein, ihr oͤfters 
Gefellſchaft zu leiſten. Heinrich verſprach's mit einem Blid auf 
Julie, welche es nicht weniger jehnlich zu wünſchen fchien. 

„Mindeftens,“ fprach Heinrich bei ſich felbft, ald ex zur Auf: 
findung einer Wohnung die Straßen Roms burchflreifte, „ift diefe 
Frau wirklich eine Marguifin und hat auf feinem Theater bie 
Brinzeffinnen gefpielt.“ 

Nachdem Heinrich den eleganteften Gafthof der Stabt gewählt, 
ließ er Schneider und Kaufleute kommen, um fi} nach dem neueften 
Geſchmack und aufs Reichfte zu Eleiven. „Gnaͤdiger Herr,” fagte 
Frank, „wiflen Sie, daß diefe Marquifin da Sie zu Grunde richten 
wirb, wenn's fo forigeht ? — Dummkopf! glaubft Du, mein Bater 
werde ſich weigern, mir fo oft und fo viel Gelb zu fchiden, ale 
ih brauche? — Ei, gnädiger Herr! er dürfte nur Ihrer Reifen 
‚müde werben und Ihnen befehlen, nach Haufe zurückzukommen! — 
Run, alddann wird’S immer noch Zeik fein, und einzufchränfen.“ 

Gleich am Abend feiner Ankunft begab ſich Heinrich zur Mar: 
quifin von Belloni. Sie wohnte im fehönften Theile der Stadt; 
ihr Hötel war aͤußerſt prachtvoll, und Alles bei ihr athmete Luxus 
und Gleganz. 

Eine glänzende und zahlreiche Geſellſchaft war bei ihr ver- 
feumelt, Die Marquifin empfing Heinrich auf bie grazioͤſeſte Belle 





77 


und ftellte ihn ben auögezeichnetften Berfonen ver, welche ihn, auf 
diefe Empfehlung hin, mit Artigfeiten überhäuften und ihm alte 
Aufmerkſamkeit erwiefen. 

Sn einem jo glänzenden Eirfel war unfer Held noch nie geweſen. 
Bon reizenden Frauen umgeben, welche fih um feine Eroberung zu 
flreiten fchienen, und durch die. Zunorfommenheit der Marquifin 
gejchmeichelt, glaubte ex ſich auf der Höchften Stufe der Ehre. 

Da er fih inmitten fo vieler Leute nicht häufig mit der Mar- 
quifin unterhalten konnte, feßte er ſich, um die Zeit zu töblen, an 
einen Spieltiſch. Bald fleigerte das vor ihm fchimmernde Gold feine 
Einbildungskraft; und da er überdies den Mitfpielenden gleichthun 
wollte, verlor er in einem Nu Alles, was er bei fich hatte. 

Hierauf ging er ruhig im Salon umher, die verfchienenen Per: 
fonen der Berfammlung genauer betrachtend, als er am Gingang 
zu bemerken glaubte, daß ihm Jemand winkte. Der Gedanke an 
Julie, die er noch nicht gefehen,, trat augenbliclich vor feinen Geiſt, 
und mit der Abficht, fih von der Wahrbeit zu überzeugen, verab- 
ſchiedete er fich von der Marquiſin. Diefe fagte, fie erwarte ihn 
‚den andern Morgen beim Frühſtück: er verfprach zu kommen und 
verließ Tangfamen Schrittes den Salon, 

Kaum lag die Thürfchwelle Hinter ihm, als ihn eine Frau 
bei der Hand nahm und ihr zu folgen bat. Heinrich erfannte Julie 
nicht, doch Tieß er fich führen. Man wanderte mit ihm durch eine 
lange Reihe nicht erleuchteter Zimmer, fagte ihm hierauf in einem 
- Heineren Gemache, wo man anhielt, er möchte einen Augenblick 
warten, und ließ ihn in ver Dunkelheit allein. - 

„Bas will das heißen ?” dachte Heinrich, als er fich jelbft 
überlafjen war. „Diefed Abenteuer nimmt eine ganz pilante Wen- 
bung. Doch vergeffen wir nicht, daß wir in Stalien find, und 
Stalien dad Land der Wunder iſt.“ Auf alle Faͤlle gerüftet, fegte 
er ſich auf ein Sopha und fchlief in Erwartung der Fortfegung 
viefer Begebenheit ein. 


78 


„Wie, Sie ſchlafen I" fprach ein ſauftes Stimmchen, „wobei 
man Heinrich leicht rüttelte. — Du biſt's, reizende Julie!” ant- 
wortete Heinrich erwachenn. „Es fcheint mir, Du ließeſt mid 
ziemlich Lange fehlafen.” Julie (denn fie war es) befannte, ex fei 
ſchon länger ald eine Stunde da, und fie hätte fogar gefürchtet, 
er möchte fich entfernt Haben. — Ei! und wohin follte ich gegangen 
fein, da ich Die Kreuz: und Quergaͤnge dieſes Höteld nicht Tenne? 
Barum aber haft Du mich fo lange allein gelafien ? — Weil die 
Frau Marauifin mich rufen ließ, und ich nicht bälder abfommen 
konnte... Aber laſſen Sie mich doch, mein Herr... ich bitte Sie; 
ich habe Ihnen etwas fehr Wichtiges zu fagen. — Das ſagſt Du 
mir ein ander Mal. — Nein, mein Herr... Aber fo Hören Sie 
doch auf... Wenn die Frau Marquifin fäme.. .“ 

Der großen Anfttengungen Juliens ungeachtet, benüßte Heinrich 
die Dunkelheit, um feine Kühnheit zu verboppeln, und man überließ 
ihm einen Sieg, den man nie die Abſicht Hatte, flreitig zu machen. 

„Set werden Sie mich hoffentlich anhören, mein Herr! — 
DO ja, theure Julie; ich bin ganz Ohr. — So wiffen Sie denn, 
mein Herr, daß... Ach, großer Gott! ich glaube, da Tommt die, 
Frau Marquifin... — In der That, ich höre etwas. — O Himmel! 
muß fie gerade diefen Weg nehmen, um in ihr Schlafzimmer zn 
gelangen. — Nun, was läge denn daran, wenn fie mich fähe? — 
Ad, mein Herr! ich wäre unwiderbringlich verloren. — Ich fage, 
ih hätte mi im Weggehen im Höfel verirrt. — DO, Sie fennen 
den mißtrauifchen Charakter der Marguifin nicht ; fie würbe. Ver⸗ 
muthungen anftellen ; ich weiß gewiß, fie liebt Sie, und wir beide 
wären verloren. — Was ift nun zu machen ? — Sie fommt näher... 
Ih höre ihre Stimme; Sie müſſen ſich verbergen. — Aber wo ? 
— Hier, in diefem Schrank wird Raum genug für Sie fein. — 
Da drinnen werbe ich aber erflicden. — O nein, nein!... Rühren 
Sie ſich nicht, und ich befreie Sie, ſobald Madame zu Bette ifl.“ 

&8 war Zeit, daß Heinrich ſich verbarg, denn bald trat bie 


79 


Marquifin, eine Kerze in der Sand, in dad Kabinet. — „Ah, da 
bi Du, Julie! Wohin warf Du denn gegangen? Seit zwei 
Stunden fuche ich Dich überall. — Aber Madame... ich war in 
Ihren Gemaͤchern, zu fehen, ob nichts fehlte. — Wie? Du warft 
alfo ohne Lit? — Gnädige Frau, dad meinige verläfchte... — 
Schon recht; komm, kleide mich aus! — Madame geht fchon zu 
Bette! — Warum fchon ? es ift ja bald drei up, — Ach, Sie 
haben Recht, gnaͤdige Frau.“ 

Julie folgte der Marquifin, das Schidfal vertänfchenb, das 
fie von dem Gelichten trennte, und in einem Augenblide, wo er 
threr fo fehr bedurfte. Heinrich war in der That nicht im behag- 
lichſten Zuſtande in einem Schranke, der zwar zum Aufhängen der 
Kleider der Frau Marquiſin paßte, wo er aber feine Stellung nicht 
verändern Fonnte, und ber Mangel an frifcher Luft feine Qual noch 
erhößte. Umſonſt wollte er verfuchen, die Thüre feines Kaͤſigs zu 
öffnen ; Julie Hatte zu größerer Sicherheit den Schlüffel mitge- 
nommen und von innen ging das Schloß nicht auf. „Ad!“ ſprach 
Heinrich bei fich ſelbſt, „Müller, mein Lehrer, Hatte mir richtig 
gefagt, die Weiber werben mich zu dummen Streichen verleiten! ..“ 
Nach einer qualvollen halben Stunde befchloß Heinrich endlich, ſich 
um jeden Preis aus einer Lage zu befreien, die ihm unerträgli . 
warb. Ueberdies hätte er vergeblich auf Juliens Hülfe gewartet ; 
bie Marquiſin, die etwas zu argwohnen ſchien, führte Julie aus 
bem- an ihr Schlafzimmer foßenden Kabinet und z0g die Thüre 
hinter fih zu, fo daß fih das arme Kind genäthigt fah, ihren 
Belichten der Gnade eines andern Weibes preiszugeben ; boch hoffte 
fie, Heinrich werde, von der Abendgefellichaft ermübet, ruhig in 
feinem Berftede einfchlafen. 

„Meiner Treu, entfiehe daraus, was dem Himmel gefällt,“ 
fagte Heinrich, „allein Hier muß ich auf jenen Fall heraus.” Damit 
fing er an der Thüre des Schranfs zu rütteln an ; zu feiner Freude 
bemerkte ex, daß fie durch das Aufheben ein wenig aus ihren Angeln 


& 


trat ; ex benüpte diefe Entdeckung und war bald befreit; aber bad 
war noch nicht genug; man mußte aus dem Hötel herauskommen, 
und darin lag die Hauptſchwierigkeit. 

Heinrich befand fi, feinen Schlupfwinkel verlaſſend, in der: 
felben Finfterniß , wie früher. Wie follte er ven Weg wieder finden? ... 
Wie nicht irgend einen Mißgriff begehen ?... „Sehen wir nur 
gerade aus,“ ſprach er, „dad muß mich jedenfalls an einen Ort, 
führen.” Nach einigem Umbertappen auf den Zehen, fand er eine 
offene Thüre und trat in ein andered Gemach. „Suchen wir hier 
ein wenig nad einer Treppe,” fuhr er jetzt in feinem Selbfige- 
ſpraͤch fort. Und an der Wand fortfchleichenn, fühlte er flatt einer 
Treppe ein Bett vor fi. „Teufel,“ dachte er, „vielleicht das Bett 
der Marquiſin! ...“ Gin leichter Seufzer benachrichtigte ihn, daß 
es befept ſei; ba er feine Lu Hatte, die Perſon zu beunruhigen, 
entfernte er fich eilends, als beim Vorübergehen an einem Gueridon 
fein Frack an einem Porcelanfervice Hängen blieb, das beim Fallen 
auf den Stubenboben zerbradh. 

„Ber ift da?“ rief eine beflürzte Stimme, welche Heinrich 
für Die der Marguifin erkannte. „Was war zu thun ?... Wahrlich,“ 
dachte Heinrich, „beſſer, für einen Liebhaber zu gelten, als für 
einen Dieb ; überdies noch das einzige Mittel, dad mir bleibt, und 
ich will mid) aus der Sache ziehen, fo aut ich Tann.” Mit diefem 
Entſchluß trat Heinrich zu der Marquiſin und fagte: „Werben Sie 
meine Kühnheit entfchuldigen, Madame? Nur eine Liebe, wie bie 
meinige, kann Sie vermögen, meinen Schritt zu verzeihen.” 

„ie, Herr von Framberg, Sie find’s!... um diefe Stunde!... 
in meinem Zimmer! — Ja, Madame, es gelang mir, Ihre Dienerin 
Sulie zu gewinnen; von meiner flammenden Liebe für ihre Gebie⸗ 
terin gerührt, verbarg fle mich in Ihrem Gemad ... — Waͤr's 
möglich? ach, .jebt wundere ich mich nicht mehr über ihre Ber 
legenheit !... Aber das iſt abfcheulih!... etwas Entfepfiches!.... 
Die‘ Verwegenheit zu haben, zu... — Wie! Sie find gefähllos 


81 


fute die zaͤrtlichſte Liebe}... Run wohlan, dann entferne ich mich, 
gnädige Frau, ich fliehe Sie für immer... — Halten Sie ein!... 
Und wohin wollen Sie feßt gehen ? Sieht man Sie aus meinen 
Gemaͤchern Tommen, fo bin ich verloren! .... — Gut denn, gnä- 
dige Frau! was befehlen Ste? — Bleiben Sie alfo! es muß wohl 
fein, als einziges Mittel, meinen Ruf zu retten! .. .” Heinrich 
blieb und that fo wohl daran, daß Ihn die Marquiſin am andern 
Morgen aufforderte, fie noch nicht zu verlaffen. 


Dreizehntes Mapitel. 
Bortfenung des Borhergebenden. 


Am andern Morgen, bei Tagesanbruch, erlangte Heinrich bie 
Erlaubniß der Marguifin, fich nach Haufe zu begeben. Nachdem 
er auf's Zärtlichfte Abfchlen genommen, öffnete er leiſe die Thüre 
des Kabinets und ging die Treppe hinab; kaum hatte er einige 
Schritte gemacht, als Julie dicht vor ihm fand. „Wie! Sie ſind's, 
mein Herr ? — Sa, Julie, ich ſelbſt. — Und wie find Sie aus 
Ihrem Schranke herausgelommen ? — Ich that, fo gut ich konnte ; 
aber in Wahrheit, liebe Julie, ich bin jept zu mübe, um Dir's 
etzähblen zu können... — Wenn Sie jetzt, wo die Frau Marquiſin 
ſchlaͤft, in mein Zimmer berauflommen möchten... — Nein, Theuerfte, 
es ift Zeit, nach meinem Gaſthofe zuruͤckzukehren; dieſen Abend will 
ih Dir jagen, was Du wiffen willſt.“ Mit diefen Worten ging 
Heinrich Die Treppe hinab und verließ eilends das Hötelder Marguifin. 

„Bahrhaftig, ich begreife gar nicht,“ fprach Julie bei ſich 
ſelbſt; und voll Ungeduld erwartete fie ven Augenblid, wo fie ſich 
zu ihrer Gebieterin begeben mußte. Gegen die Mittagsftunde klingelte 
die Marquifin. Julie ging in größter Eile hinab, nicht wiſſend, 
ob fie fürchten oder hoffen follte ; aber wie angenehm warb fie über- 

rafcht, als fle ihre Gebieterin in der herrlichſten Laune ſah, und 


>) 
biefe fie nur ihre liebe, ante Iulie nannte. Da Julie nicht vente, 
was fie ans einem fo ſchmeichelhaften Cmpfang abnehmen follte, 
glanbie fie am Ende, die Maranifin jet mit Allem unbefaunt, und 
legtere blieb bei ihren Lichlofungen und ihrer Freundlichkeit, ohne 
ihr ein Mehreres über das fagen zu wollen, was fie von Julien 
ſchon errathen wähnte. 

Zu Haufe ſchrieb Heinrich an den Oberſt, ihn um Geld zu 
bitten, und ſchickte Frauk mit dem Brief nach der Poll. Nachdem 
Frank die Adreſſe gelefen, blickte er feinen Herrn Tächelnd und mit 
einer Diene an, welche fagen wollte: „Da find ja meine Vorher⸗ 
fagungen fchon in Erfüllung gegangen.“ Aber Heinrich warf ſich 
auf fein Bett, ohne ein Wort zu fprechen, und Frank fagte bei 
fih ſelbſt: „Wenn fein Berhängniß will, daß er fein Geld ver: 
lieren fol, fo iſt's nicht möglich, ihn davon abzubringen.“ 
Mehrere Monate verfloßen auf gleiche Weile. Heinrich theilte 
feine Zeit zwifchen der Marquifin, Iulien und dem Spiel. Der 
Oberſt Hatte ihm das erbeiene Geld gefchickt, und Heinrich fah ſich 
im Stande, biefe Lebensweife fortzufepen ; überbies war ihm das 
Gpielgläd, das ihn anfangs mißhandelte, günftig geworden, unb 
es ergab ſich mit Eifer einer Leidenſchaft, welche ihn zuweilen bie 
Marguifin und Julien vernacdkläfligen ließ. 

So ſtanden die Sachen, als eine junge neapolitanifche Sräfn 
in den Girkelu der Marquiſin erfchien. Heinrich Tonnte fie nicht 
fehen, ohne jene Liebe für fie zu fühlen, bie er ſchon für die letz⸗ 
tere empfunden hatte. Die junge Gräfin ihrerfeits ſah unfern 
Helden nicht mit Gleichgültigkeit ; aber die Marquifin, bis zum 
Uebermaß eiferfüchtig, las in Heinrich& Augen deſſen neue Leiden: 
ſchaft und befchloß, fich an dem Treuloſen zu rächen. 

Die Gelegenheit dazu blieb nicht lange aus. Heinrich empfing 
ein Billet, worin man ihn einlud, ſich vor bad Haus ber Gräfe 
zu begeben, und ihm fagle, er werde zu feiner Geliebten geführt 
werben. Nicht zweifelnd, dieſes Billet komme von ber Gräfin ſelbſt, 


83 


rüßete ſich Hrinrich, im Gochgefühl. echärter Wünfche, zu feinem 
Menbeguoud umb ließ der Dlarguifin, welche ihn biefen Abend er- 
wartete, jagen, er fei unwohl und könne ſich nicht bei ihr einſinden. 

Als die Stunde des Stellvicheins herankam und ſich Heinrich 
zum Gehen anfchidte, Elopfte man mehrmals an feiner Thüre. 
„Bielleicht die Marguifin,” fagte Heinrich zu Frank; „man muß 
ihr nicht öffnen.” Doc die Worte: „Oeffnen Sie, Hffuen Sie 
unbeforgt,“ mit ängfllicher Stimme ausgeſprochen, beflimmten ihn, 
zu fehen, wer es fein koͤnne; er fchloß auf und ſah Sulien in 
fein Gemach treten. 

„Sie find verwundert über meinen Beſuch, gnädiger Herr,“ 
redete Julie ihn an, „wenn Sie aber den Beweggrund beffelben 
fennen, werden Sie mir, hoffe ih, Dank dafür wien. — Was 
fol das heißen, Julie? — Das foll Heißen, mein Herr, daß bie 
Fran Marquifin Ihre neue Leidenſchaft für die junge neapolitauifche 
Gräfin, welche feit Kurzem in ihr Haus kommt, Eennt... — Wie, 
Zulie! ... Du kannſt denfen? ... — Ab!... mein Herr, mid 
fönnen Sie nicht täufchen, ich weiß in Ihrem Herzen zu lefen; 
aber ich Liebe Sie zu fehr, als daß ich mich rächen möchte, felbft 
wenn ich ed Zönnte! ... Ich will Sie im Gegentheil aud ber 
Schlinge reiten, in die Sie zu fallen im Begriff fliehen. — Was 
will Du damit fagen, Julie? — Sie haben diefen Morgen ein 
Billet erhalten. — Es ift wahr. — Man gibt Ihnen darin ein 
Rendezvous für die heutige Mitternachtöftunde vor dem Haufe, das 
bie Gräfin bewohnt. — Wer hat Dich aber von dem Allem unter 
richtet ? — Ei! wie follte ich's nicht wiffen, da bie Frau Marguifin 
Ihnen diefes Billei Schreiben ließ? — Die Marquifin? — Sie 
ſelbſt. — Und in welcher Abfiht? — Zu fehen, ob Sie treulos 
an ihr werben, indem Sie an den Ort bes Stelldicheins gehen. — 
Und wenn ich hingehe ? Sie ift eine Stalienerin ; damit baſta! — 
Biet Dun hältft fie für fähig, zu... — Die Eiferfucht macht 
fie wuthend gegen Sie, und wenn Sie mir glauben, fo gehen Sie 


nicht zu diefem Rendezvons. — Sei ruhig, Liebe Julie, wenn ich 
hingehe, werbe ich meine Vorſichtsmaßregeln ergreifen. — Uebrigens 
habe ich Sie gewarnt, jet laffe ih Sie allein: Ihr Schickſal 
legt in Ihren eigenen Händen. — Leb wohl, tbeure Julie, glaube 
mir, ich werde mein Lebenlang wicht vergefien, was Du für mich 

gethan.“ 

Mit dieſen Worten drückte ſie Heinrich zaͤrtlich an ſein Herz, 
und fie entfernte ſich ſchnell. 

„Bin gutes Mädchen, diefe Julie,“ fagte Frank zu feinem 
Herrn, als fie fort war; „ich Habe nicht gehört, was fie Ihnen - 
fagte, und doch bin ich ſicher, daß es zu Ihrem Beſten if... — 
Frauk! — Gnädiger Herr! — Halte zwei Pferde bereit und packe 
unfere Mantelfäde... — Wie? gnäbiger Herr!... reifen wir ab? 
— Thu, was ich Dir fage und erwarte mich; in einem Augen⸗ 
blicke bin ih zurück. — Ganz recht, gnäbiger Herr!“ 

Damit Kälte ſich Heinrich in feinen Mantel und eilte an ben 
“ zum Stelldichein bezeichneten Ort. Er wollte fich felbft überzeugen, 
wie weit die Marquifin ihre Mache treibe ; doch gebrauchte er bie 
Borfiht, einen Degen und ein Paar Biftolen unter ven Mantel 
zu nehmen. 

Mitternacht hatte fo eben gefchlagen, als Heinrich vor bem 
Haus der Sräflu anlangte. „Ich komme vielleicht zu ſpät,“ fagte 
er bei fich ſelbſt, „und der ausgefonnene Streich wird unterbleiben.” 
Er ging inzwifchen vor dem Haufe auf und ab, welches die Gde 
einer Heinen bunteln Straße bildete und durch feine vereinzelte Lage 
fih für die Abfichten ver Marquiſin eignete. 

Er wartete feit einigen Minuten, als ein Mann, in einen 
Mantel gehältt, mit einer Blendlaterne in ber Hand, aus ber 
Heinen Straße hervorkam und gerade auf Heinrich zuging. „Ihr 
feid pünktlich,“ fagte er zu dem letztern, „fo iſt's gut: folgt mir, 
ich führe Cuch zur Gräfin. — Und warum treten wir nicht buch 
dieſe Thüre ein?" fragte Heinrich ‚ven Unbefannten. — „Weil Ihr 


85 


von Jedermann gefehen würdet, und ba. eine geheime Pforte auf 
die Straße hier führt, Hat mir die Frau Gräfin aufgetragen, Cuch 
durch diefe einzuführen. — Boran alfo, ich folge Euch.“ 

Heinrich ftellte fi, ald folge ex feinem Führer ohne Miß- 
trauen ! aber er zog fachte feine Piftole unter feinem Mantel hervor 
und bielt ſich auf Alles gefaßt. Kaum waren fie um die Straßenede 
herum, als zwei andere Männer aud einem Hinterhalt hervorbradden 
und unverſehens auf Heinrich Loöftürzten. Unfer Held empfing fie 
mit ber Piflole in der Hand, und unverweilt auf fle abfeuernd, 
firedite er beide Ieblo8 zu Boden. 

Wie der Mann mit der Laterne feine Kameraden fallen fah, 
dachte er nur noch an feine Flucht. Heinrich Lief Hinter ihm Her, 
aber fein Meuchelmörber kannte die Schleichwege der Stadt beffer 
und entſchwand feinen Blicken ſchnell. Sich befinnend, daß, wenn 
er biefen verfolgen wolle, er auf eine noch größere Zahl floßen 
fönne, hielt e8 Heinrich für Elüger, in feinen Gaſthof zurückzu⸗ 
fehren, und nach vielen Umwegen fand er ihn endlich wieber. ‘ 

„Oh! oh! es fcheint, der Abend war hitzig,“ ſagte Frank, 
als er Heinrich die entladenen Piſtolen auf einen Tiſch legen ſah. 
— „Sa, lieber Frank: da lade fie wieder. — Will der gnädige 
Herr wieder von vorne anfangen ? — Nein, aber wir reifen. — 
Ah! es fcheint, Sie haben genug... Und wohin gehen wir, gnäs 
diger Herr? nach Neapel? — Nein, ich habe Italien ſatt. — 
Defto beffer, wahrlih, died Land langweilte mich auf, ih... — 
Mir gehen nach Frankreich, nad) Paris, vieleicht bin ich dort 
glüdlicher als bisher ... und finde Diejenige wieder, für: weldye 
ich mein Leben hingäbe! — Wie? Herr, Sie denken ihrer noch ? 
— Ob ich an fie denke! ... ach! ... Frank, glaubft Du, dieſe 
rauſchenden Vergnügungen, dieſe Leidenſchaften eines Augenblicks, 
welche ſeit meiner Abreiſe meinen Geiſt in Anſpruch nahmen, haͤtten 
das Andenken an meine theure Pauline aus meiner Seele verwiſchen 
koöͤnnen )... Nein; dieſe jo verführeriſchen Frauen haben meinen 


86 


Kopf eingenommen, meine Sinne verwirrt, aber keine ift bie zu 
meinem Herzen gebrungen. — Das fehe ich wohl, daß Ihr Gefühl 
für Ihre Unbekannte die wahre Liebe it... — DO ja!... die 
zärtlichfte, anfrichtigfte Liebe! — Aber die Pferde ftehen bereit, 
gnäbiger Herr! — Warum fagteft Du denn nichts? ...“ 

„Sonderbar,“ ſprach Frank, ald er Rom mit feinem Her 
verließ, „daß wir und immer mitten in der Nacht auf die Reife 
begeben: das ift das Verhängniß! ...“ 


dierzehntes Aapitel. 
Bari. 


Heinri und fein Diener trafen nach kurzem Aufenthalt in 
Turin und Lyon zu Paris ein, ohne daß ihnen etwas Bemerkens⸗ 
werthes begegnet wäre. 

„Wahrlich, gnädiger Herr,” ſprach Frank zu feinem Gebieter 
beim Gintritt in die Hanptflabt des Vergnügens und ber Heiterkeit, 
auf den erſten Anblid gefällt mir dieſe Stabt beſſer ald alle, durch 
bie wir bis jeßt gefommen find. Da fehen Sie einmal all diefe 
bins und herrennenden Leute; eine immerwährende Beivegung! ... 
Bei jedem Schritte finde ich Gegenflände, bie die Neugierde er: 
regen, wollte man hier auch traurig fein, koͤnnte man's doch nicht. 
Und die Frauen, Herr!... die find reizend ... Sagen Sie offen, 
haben Sie irgendwo welche gefehen, die ſolche Haltung, foldhe 
Anmuth, folche Eleganz hätten... welche bie Männer mit einem 
fo ſchmeichelhaften, ausprudsvollen Lächeln anbliden? ... . Ad, 
gnäbiger Herr! ih Bin ganz entzüdt! ... — Zum Teufel! ... 
Srant, Du wirft beredt! — Der Anblick begeiftert mich, Her... 
— Laß Deinen Anblick und Befchäftigen wir uns mit Auffuchung 
einee Hötels, wo ich anſtaͤndig wohnen Tann.“ 





87 


Heinrich quartirte fih im Viertel der Chaussee d’Antin ein, 
und noch denfelben Abend burchflreifte er die beſuchteſten Schaus 
ſpiel⸗ und Gaföhäufer ver Stadt. Bon Mattigkeit erſchopft, kam 
er um zwei Uhr Morgens in fein Hötel zurüäd und fand Frank, 
feiner wartend, mit etwas minder heiterer Miene ald am Morgen. 
„Bas haft Du denn, Frank?" fragte Heinrich; „langweilſt Du 
Dich ſchon in Bars? — D nein! Herr, das nit. — Nun! 
warum haft Du denn diefen Abend eine ganz andere Miene als 
biefen Morgen? — Ah, Herr! es ift mir ein kleines Abenteuer 
anfgeftoßen... — Ein Abenteuer!... laß hören, was es if; 
erzähl? mir's. — Gerne, gnäbiger Herr, wenn e8 Ihnen Ber: 
grügen macht. — Wiffen Sie alfo, daß ich mich, nachdem Sie 
fort waren, ins Palais-Royal begab, weil man mir diefen Ort 
als den merfwürbigften der Stabt gefchildert Hatte. Seit einer 
Stunde war ich hier in Bewunderung begriffen, über jeben neuen 
Gegenftand, der ſich mir zeigte, in Extafe gerathend, als ein fehr 
gut gelleiveter und fehr ehrbar ausfehender Mann auf mich zutrat 
und nach dem Weg nach der Straße von... von... kurz, einer 
Straße fragte. Wahrlich, mein Herr,” antwortete ich ihm, „ich 
tenne fle eben fo wenig als Sie, denn ich komme fo eben in hiefiger 
Stadt an und bin völlig fremd. — Ihr fein fremd?” fagte er zu 
mir, „ei! ih auch; und da der Zufall und zufammenführt, fo 
wollen wir den Abend mit einander zubringen. Ich nahm es an, 
erfreut, Jemand zu finden, mit dem ich plaudern Tonnte, in einer 
Stadt, wo ich Niemand kannte. Wir gingen daher nody etwas 
fpazieren und ſchwatzten, als ber Teufel over vielmehr das Geſchick 
wollte, daß er vom Billardfpielen ſprach... Sie wiffen, das ifl 
mein, Lieblingsfpiel, und ich Bin fogar darin etwas ftarf!... — 
Sa! Du fagteft mir's Schon... Nun gut! Du mwollteft gewiß 
ſpielen? — Richtig, Herr; das Heißt, mein Dann ſchlug mir 
eine Partie vor und ich verfehlte nicht, fie anzunehmen. Wir 
traten demnach in ein Cafehaus und gingen and Billard: ed war 





88 


befegt, da aber bie Partie ihrem Ende nahte, blieben wir und 
faben zu. Giner ber beiden Spieler war viel jchwächer als ber 
andere, unb mein Fremdét befpötielte ihn über fein Spiel. Ich 
wette zwei Louis, fagte er zu ihm, Ihr macht biefen Ball nicht 
anf einen Stoß (und der Ball war ziemlich ſchwer); die Perfon 
wettete und gewann. Mein Mann fchien ärgerlich, daß er verloren 
hatte und fagte, er werde feine Revanche nehmen ; bie Gelegenheit 
zeigte fih bald; an der Perfon, welche bie zwei Louis gewonnen, 
war bie Reihe zu fpielen. Sie durfte durchaus nur floßen, um 
einen Ball, der {on Halb im Loch war, hineinzubringen: gut! 
mein Mann war fo frei, zu fagen, ber Anbere werbe den Ball 
nicht mahen!... Ic enigegnete ihn, er werbe ihn machen. 
Berden Sie mir glauben, gnädiger Herr, daß er ed wagte, zwanzig 
Lonis für dad Gegentheil mit mir zu wetten?... Sch nahm es 
auf der Sielle an. Unglüdlicherweife Hatte ich all mein Geld bei 
mir! — Und Du gewannſt? — Im Gegentheil, gnäbiger Herr! 
Der Ungeſchickte, der ſchon einen hundertmal fchwierigeren Stoß 
gewonnen, nahm feinen Ball fo auf der entgegengefehten Seite, 
daß er, flatt ihn zu machen, felbft verlief!... Da gab ih, Ber: 
zweiflung im Herzen, Alles hin, was ich befaß; es beſtand in 
zwanzig Louisb’or, weniger ſechs Franken, Mein Gegner Hatte bie 
Süte, mir das Fehlende zu erlaffen, und ich ging aus dem Cafe, 
das Berhängniß verfluchenn, das mich niit dieſem Fremden zu 
fammengeführt.“ 

Heinrich Fonnte nicht umhin, über das Abenteuer des armen 
Frank zu lachen; ex entfchäpigte ihn indeß für feinen Verluft und 
forderte ihn auf, ein anderes Mal Elüger zu fein, und ſich bes 
fonders vor jenen vorgeblichen Fremden zu hüten, welche ſich nur 
für foldge ausgeben, um die wirklichen beſſer zu betrügen. 

Heinrich war fchon einige Tage in Paris, ald er eines Abends 
im Theater Hinter eine Dame zu figen Fam, welche feine Aufmerk⸗ 
ſamleit zu verdienen ſchien; fie war. in der That ſchlank, wohl 





& 


gefaltet, von angenehmer Haltung und fchien die Blicke, welche 
ihr Nachbar ihr zuwarf, nicht mit Gleihgültigkeit zu fehen. Hein- 
rich, entzückt über feine neue Groberung, hätte gerne mit ihr 
fprergen mögen : aber fie hatte einen bien, mit Koftbarfeiten und 
Diamanten überladenen Mann bei fich, der fo ziemlich einem in 
Ruhe lebenden Ochfenhänpler gleichjah, ebenfo verlegen über feine 
zwei Uhren wie über feinen dicken Bauch fchien, und für ſich allein 
drei Biertheile der Loge einnahm. Da. er wohl.einjah, daß er ihr 
feine Gefühle nicht erklären Eönne, fo lange fie diefen Menfchen 
bei ſich habe, befchränkte er ſich darauf, beim Weggehen aus dem 
Theater Frank ihrem Wagen nachzuſchicken und ihm aufzugeben, 
einige Nachrichten über dieſe Dame einzuziehen. 

Heinrich wartete voll Ungebuld auf die Rückkunft feines Dieners, 
und. wie er diefen von Weiten anflchtig ward, rief er ihm entgegen: 


Nun, Frank, bringft Du mir gute Nachrichten? — Ja, gnäbiger 


Her, vortreffliche. — Weißt Du die Wohnung der fraglichen Dame? 
— Sa, Herr, ein prächtiged Haus auf dem Boulevard des Italiens. 
— Gut! und haft Du etwas Weiteres erfahren? — Ja, guädiger 
Herr! der Pförtner des Haufes if juf ein großer Schwäger und 
machte feine Umftände, mit mir zu plaudern. — Bravo Frank! 
Nun wohlan! diefe Dame? — Iſt eine Operntänzerin. — Eine 
Tänzerin von der großen Oper!” fprach Heinrich bei fich felbft, 
„Teufel! mit folchen Srauenzimmern. ift viel zu gewinnen und viel 
zu verlieren! — Sch weiß noch mehr,“ fuhr Frank fort, „der dicke 
Mann, der bei ihr war, ift ein ehemaliger Lieferant, der fie wie 
eine Prinzefjin unterhält, weil, wie Sie wiflen, gnädiger Herr, 
ed zum guten Ton gehört, eine Operntängerin zu unterhalten. — 
Ah! es gehört zum guien Ton, Frank? — Sa, Herr, au hat 
die Ihrige ald Liebhaber ſchon zwei ruflifche Fürſten, vier Finanz⸗ 
männer, ſechs Engländer, zehn Seneralpächter, drei Banquiers 
gehabt und ift jept eben an ihrem neunten Lieferanten. — Du 
ſpaßeſt, Frank. — Nein, gnäbiger Herr, ich fage bie Wahrheit: ; 
Paul de Kod. in, 27 


n 


fle macht Auffehen, fie ift bie Dame ber Mobe, die Schönheit bed 
Tages; fo Iauten die eigenen Worte bes Pförtners. — Ah! fie 
it die Dame der Mode! Dann werbe ih, da ich der Mode folgen 
will, der Tänzerin anf den Zahn fühlen. — Sie Haben Hecht, 
gnädiger Herr, es iſt das befte Mittel, von Ihnen fprechen zu 
machen. Ich rathe Ihnen. indeß, fie nicht lange zu behalten, denn 
fo wie ſie's treibt, würden wir uns bald auf der Lifte ber Abge⸗ 
dankten befinden. — Sei ruhig, Frank; wenn biefe Frau mich 
liebt, wird fie mich nicht zu Grunde richten. — Ach! gmädiger 
Herr... Liebe fuchen bei einer Operntängerin ; das heißt zu viel 
verlangen.“ Mm folgenden Morgen fehrieb Heinrich einen Liebes: 
brief an feine Schöne und ließ ihn durch Frank beflellen. Diefer 
fam bald mit einer Antwort der Dame zurüd, welche Heinrich für 
den andern Morgen zum Cafo einlud. 

„Rum wohlen, Frank!“ fagte Heinrich, „Du fichft, ich Habe 
ihr Herz gerührt. — Möglich, gnaͤdiger Herr. — Sag mir aber, 
bat fie Dich etwas gefragt? — Gewiß, gnädiger Herr! fie fragte 
nah Ihrem Namen und Stand. Graf von Framberg!“ wie 
derholte fie, ala ich Sie genannt hatte, und augenblicklich ſchrieb 
fie dad Ihnen eingehändigte Billet. — Eine Fran, die nicht jeben 
° Hergelaufenen empfängt! .... — Eine Frau vom feinften Ge⸗ 
ſchmack! ...“ 

Um die Zeit bis zum andern Tage zu töbten, fing Heinrich 
feine Wanderungen vom vorigen Abend wieder an und befuchte alle 
Öffentlichen Orte. An ein Spielhaus kommend, trieb ihn der Wunſch, 
fein Geld zu vermehren, um in Paris glänzend auftreten zu koͤnnen, 
hinauf, Zitternd fept er einige Louis, in ber fihern Erwartung, 
zu verlieren, auf dad Rothe; aber er gewinnt; ex ſetzt fein Spiel 
fort, das Glück bleibt ihm günftig, er fieht, daß er im Zug if, 
ſpielt Höher und geht endlich nach Verlauf einer Stunde mit dreißig- 
taufend Franken mehr in ber Taſche weg. 

Auf dieſes hin will er gang nach der Mode fein und alle Zier— 


gl 


bengel des Tages überfirahlen. Wie ein Rafender laufend, kehrt 
er in fein Hötel zurüd. Frank erhält den Befehl, das fehönfte 
. Cabriolet zu miethen, ihm augenbliclich einen Juwelier, einen 
Pferdehaͤndler und einen Tanzmeifter zu ſchicken. Boll Verwunde⸗ 
rung lauft Frank da und dorthin, ohne zu wiffen, was er thun 
fol, aber das Berhängniß fegnend, das feinen Herrn zum Mil: 
lionär gemacht. 

In Paris kommt man jedoch mit dreißigtaufend Franken nicht 
weit; der Juwelier und der Pferbehändler hatten ihm bald für 
mehr als das Doppelte verkauft; Heinrich fah wohl, daß er nicht 
fo reich fei, al8 er glaubte; allein er dachte, auf die Roulette 
zurückkehrend, Eönne er noch mehr gewinnen. Mittlerweile begnügte 
er fih mit einem Pferd für fein Cabriolet und einer Brillantnadel 
für ſich; dann entließ er feine Kaufleute mit dem Berfprechen, fle 
bald wieder zu fehen. 

Endlich erfchien der andere Tag: Heinrich erwartete ihn voll 
Ungevuld, denn Reichthum ſchützt nicht vor Langeweile. Nach 
Vollendung feiner ausgefuchten Toilette flieg er in fein Cabriolet 
und ſchlug den Weg nach dem Boulevard des Italiens ein. | 

Es war nicht weit von zwölf Uhr; um dieſe Stunde find die 
Straßen von Paris mit Menfchen angefüllt, namentlich in einem 
fo befuchten Quartier wie das, wohin er fich begab. Brennend 
vor Begierde, bei feiner Schönen einzutreffen, trieb unfer junger 
Mann fein Pferd wie ein Tollhäusler an; ſchon mehrmald war 
er nahe daran, Jemand zu überfahren, und nur feiner Geſchick⸗ 
lichkeit verbanfte er vie Vermeidung von Unglücksfällen; als er 
aber um eine Ede bog, erblickte er den Wagen eined Kärrnerd 
nicht, der auf ihn zufam; der Fuhrmann, nach dem Gebrauch 
diefer Leute, weicht einem Gabriolet nicht aus; Heinrich ſtoͤßt ge- 
waltfem an die Mäder des Karren; fein leichtes Fuhrwerk war 
nicht flark genug, gegen einen foldhen Wagen in ben Kampf zu 
treten; es flürzt um und wirft im Fall ein altes Weib nieber, 





. 


9 


das gerade aus einem Laden trat, wo es Lunge für ihre Katze ge⸗ 
kauft hatte. 

Die Rufe: „3u Hülfe!... ich Bin tobt!...“ und bad um- 
geflürgte Cabriolet zogen Bald eine ungeheure Menge jener Pflafter- 
treter berbei, von denen Paris wimmelt. „Ein Weib von einem 
Gabriolet niebergerennt, welches ein junger Man: führt,” fagte 
der Eine. „Diefe Laffen richten lauter Unheil an... doch ift das 
Gabriolet zufammengebrocdhen. — Erſtaunlich,“ rief eiu Anderer, 
„daß diefe Frau die Kraft hatte, einen Wagen umzuwerfen... .“ 
Und während man fo disputirte, Hatte ber Kärner für Elug ge- 
halten, fi; mit feinem Wagen aus dem Staube zu machen, da⸗ 
mit er die Sache nicht ausbaden burfte. 

Heinrich flieg aus feinem Cabriolet, alle Fuhrleute und Maul: 
affen zum Teufel wünfchend. Frank, der hinten aufſaß, hätte bei- 
nahe das Leben verloren: doch Fam er noch mit einem gefchwollenen 
Auge und einigen Beulen an ber Stirne davon. Das alte Weib, 
bie mehr Furcht als Schaden genommen hatte, aber doch Nugen 
aus der Sache ziehen wollte, erfüllte die Luft mit Zetergejchrei 
und Gewinfel. 

Heinrich glaubte, ruhig wieder nach Haufe zurüdfahren zu 
bürfen, und hatte Frank aufgegeben, fein Cabriolet wieder aufzu⸗ 
richten, als die fle umfichende Menge ber Alten rieth, ihn zu dem 
Gommiffär zu führen. „Zu dem Commiſſaͤr!“ rief Heinrih, „und 
was fol ich dort thun? — Ah, fo! fchöner Herr: Ihr glaubt, 
man renne bie armen Leute nieder und bann fei won nichts mehr 
die Rede? — Aber, Dummkopf! ich bin fa felbft bad Opfer von 
dem Allem, da mein Gabriolet zerbrochen wurde. — D ja; und 
die arme Frau, die Ihr zufammengeführt habt, meint Ihr, man 
bürfe ihr nichts geben, ſich verbinden zu laſſen? — Wenn ſie todt 
iſt, was Teufels ſoll ich dann machen? — Gleichviel, ſie braucht 
einen Troſt.“ 


Heiunrich ſab wohl, daß, um aus der Sache zu kommen, Geld 


93 


nöthig fei. Er ging daher auf die Alte zu, drückte ihr ungefähr 
fünfzehn Goldſtücke in die Hand, und auf diefe Weife gelang ed 
ihm, dem Commifjär zu entfchlüpfen. „Schaut! wie glücklich bie 
alte Schreierin iſt!“ fagte ein Weib zu ihrer Nachbarin. „Für 
die Hälfte der Summe ließe ich mir alle Tage ein Gleiches wider: 
fahren. — Es gibt Leute mit unvernünftigem Glück,“ antwortete 
bie Zweite. „Diefe hat's ihrer Katze zu verdanken. — Darum wirb 
fle nicht reicher,“ bemerkte eine Dritte! „fie iſt eine alte Spielerin, 
die all dies Geld wieber in die Lotterie trägt.“ 

Beſchmutzt, ermattet und befonders- darüber in Verzweiflung, 
daß er fein Rendezvous verfehlt hatte, kam Heinrich nach Haufe 
zurüd. Gr kleidete ſich indeß wieder um, beftellte einen Wagen und 
wagte es, fich Bei: feiner Schönen anmelden zu lafjen. Angenehm 
ward er durch die Nachricht überrafcht, daß fle noch zu Haufe fei; 
er wußte nicht, daß ed zum guten Tone gehöre, überall zwei Stunben 
auf fi warten zu laſſen. Wie Jemand, den man feit ange Fennt, 
warb er empfangen. Er fah, daß Frank ihn nicht getäufcht hatte, 
als er die Gleganz und Pracht der Mohnung der fchönen Tänzerin 
rähmte. Nie Hatte er in Italien etwas gefehen, das fich mit dem 
Boudoir einer Dame von der großen Oper vergleichen ließe. 

Heinrichs Abentener war Gegenftand der Unterhaltung während 
des Frühſtücks. Die Dame lachte viel darüber und verfprach ihm, 
ed folle die Tageöneuigfeit werben. Heinrich war erflaunt, ebenjo 
viel Weltton als Geift an einer Theaterprinzeflin zu finden; was 
ihn aber am meiften überrafchte, war ihr zurüchaltendes Weſen 
und die Hinderniffe, welche man feinen Liebesaudbrüchen entgegens 
ſetzte. Heinrich wußte nicht, daß eine Frau, die ſich verkauft, 
föhwerer zu befiegen ift, ald eine Frau, die fi Hingibt: die eine 
folgt der Neigung ihres Herzens, während bie andere ihre Gunſt⸗ 
bezeigungen binauszielt, um fie theurer bezahlt zu machen. 

Heinrich und feine Schöne waren im Gefpräche begriffen, ale 
man ber Dame melbete, es wünfche fie Jemand zu fprechen. „Ich 


94 


babe ſchon gefagt, ich fei für Niemand zu Haufe,“ rief fle voll 
Ungebuld aus. Man erwibert ihr, es fei Jemand, der durchaus 
eintreten wolle. Da bat fie Heinxich, er möchte für einen Angens 
bli in ihren Salon gehen, mit dem Borgeben, es fei ihre Putz⸗ 
macherin, und fie wolle dieſelbe ſchnell abfertigen. 

Heinrich ſchien bereitwillig, ſich zu entfernen ; ba er aber, 
nm in den Salon zu gelangen, durch ein Kabinet mit Glasthüre 
gehen mußte, das and Boudoir der Dame fließ, Tam er, fowie er 
allein war, leife zurüd, um fich mit eigenen Augen zu überzeugen, 
was im Bonboir vorgehe. 

Statt der Putzmacherin fah er einen jungen Offizier eintreten, 
ber fi, unbefümmert um die Herrin des Haufes, in einen Lehns 
ſtuhl warf. „Wie! Ihr ſeid's Floricourt?“ fagte fie mit halb 
freundlicher, Halb verlegener Miene zu ihm. — „Sa, ich bin's, 
und ich finde es höchft wunderbar, daß Du mich fo in Deinem 
Borzimmer warten läffeft. — Konnte ich vermuthen, daß Ihr es 
ſeid, den ich feit acht Tagen nicht gefehen Habe? — Du glaubteft 
obne Zweifel, es fei Dein dicker Monbor und er werde ruhig ab: 
tollen, fo wie man Deine Abwefenheit melve?... Aber ich bin 
nicht von ſolchem Taig und ſchere mich den Teufel um Deine 
Befehle und Deine Geldſpender! — Was foll aber diefer Ton 
beveuten, mein Herr? ... Es flieht Cuch recht gut an, fo mit 
mir zu reden, Ihr, den ich mit Wohlthaten überhäuft, den ich 
von Kopf bis zu Fuß neu gelleivet Habe! Damals fchertet Ihr 
Euch nicht den Teufel um meine Eroberungen ... Barum war 
ih gut genug, Alles für ven Herrn aufzuopfern ? Wahrhaftig, die 
Frauen find fehr einfältig, wenn fie zuweilen Schwachheiten haben! 
Man verbindet ſtets nur Undankbare! — In der That, es handelt 
fd um Ihre Gefchente, Madame! Sie haben mir eind gemacht, 
das mir gar nicht gefällt. — Mein Herr, wenn man von einer 
Braun etwas empfängt, muß man bad Bute,” wie das Boͤſe an: 
nehmen, — Wahrhaftig!... num wohlen! fo will ich Dich Ichten, 








‘ 


9% 


mir Feine folche Streiche mehr zu fpielen, und Den, ber mit Dir 
frühſtückte, meinen Arzt bezahlen laſſen. — Du bift naͤrriſch, Flori⸗ 
court, ih war allein, ich verfichere Dich. — Ich gehe nicht auf 
ſolche Mähren... Da er fich verftedte, ift er Fein Zahler, und 
ih will ihm die Luft des Wiederkommens benehmen !” 

Damit beginnt der junge Mann überall umher zu bliden, 
mit dem Fuß unter alle Tifche zu floßen. Endlich erblickt er Hein⸗ 
rich, der hinter der Glasthüre unbeweglich geblieben war; er öffnet 


biefe ſchnell und gibt unferem Helden eine Ohrfeige, che er Zeit . 


gehabt Hatte, audzumeichen. Heinrich wollte gerade über feinen 
Gegner herfallen, als fich die Dame zwifchen beide warf, um fie 
andeinanber zu bringen. 

„Mein Herr,” fagte Heinrich zu dem Offizier, „wenn Sie 
ein Mann von Herz find, werden Sie mir Genugthnung für diefen 
Schimpf geben. — AH! der Herr ift nicht zufrieden!“ antwortete 
diefer, Höhnifch lachend; „nun wohlan! fo fol er noch eine derbere- 
Lektion haben. — Keine Schmähreben, mein Herr, ich liebe folche 
nit; Morgen früh um vier Uhr erwarte ich Sie in gyinem 
Haufe!” Mit diefen Worten verließ Heinrich dad Zimmer, ohn 
die neben ihm flebende Dame mehr eines Blickes zu würdigen. 

„Auch meine Schuld,“ fagte er bei fich felbft auf dem Rück⸗ 
weg nad) feinen Höfel, „ich hätte nicht zu dieſem Weibe gehen 
follen... Aber feit ich reife, mache ich nichts als dumme Streiche!... 
Ah, mein Vater! welchen Kummer würde Ihnen die Aufführung ” 
Ihres Sohnes machen, wenn Sie diefelbe fennten! Und du, guter 
Müller, chätte ich deinen Rath beffer befolgt, wäre ich nicht" fo 
weit, wie ich jegt Bin... Da mir aber das Schidfal immer ent- 
gegen ift und ich Diejenige nicht finde, welche das Glück meines 


Lebens gemacht hätte, fo ſchwoͤre ich, bald nach Framberg zurüde 
® 


zukehren.“ 
Der Offizier war pünktlich Beim Stelldichein, Heinrich griff 
zu feinen Waffen, und, ohne ein Wort zu verlieren, begaben fie 
® | 
2 


% 


ſich nad; dem Gehoͤlz von Bonlogne. Dort 309 Jeder feinen Rod 
aus und griff den Andern ungeflüm an. 

Heinrich war nit fo fertig im Fechten wie fein Gegner; 
aber er war kaltblütig und wußte alle feine Stöße geſchickt zu 
pariren. In Kurzem rannte der Offizier, indem er Heinrich Eins 
verfeßen wollte, in deſſen Degen und ſank Ieblos zu Boden. Mit 
ſchnellen Schritten ging Heinrich in fein Hotel zurüd ; ihm ſchien, 
es fei der Schatten feines unglüdlichen Opfers ihm auf den Ferſen. 
Es if wirklich etwas Eutfepliches, einen Nebenmenfchen wegen 
einer Fran zn töbten, bie man verachtet! ... Heinrich machte ſich 
taufend Gedanken, und feine Seele erlag unter der Laſt des von 
ihm vergoffenen Blutes. 

Frank erfchrad, wie er feinen Herm in dem Zufland unge: 
wöhnlicher Niedergeſchlagenheit ſah. „Was haben Sie denn, gnaͤ⸗ 
biger Herr?“ fragte er iin; „follte Ihnen ein Unglüd begegnet 
fein? — AG ja, Frank! ... ein Unglüd, das ih mir nie ver: 
zeihen werde!... — Bas foll das heißen, gnädiger Herr?! 
ſchreiſen Sie es dem Berhängniß zu! — Rüſte Alles zu unferer 

.Abreife, noch diefen Morgen verlaffen wir Paris. — Darf id 
wiffen, wohin wir gehen, gnäbiger Herr? — Nach Framberg zu 
rüd: es treibt mi, meinen Bater und ben guten Müller, der 
mich fo fehr liebte, wieder zu fehen — Meiner Treu, gnäbiger 
Herr ! ich freue mich gleichfalld darauf, denn nichts auf der Welt 

. tommt dem Baterhaufe gleich.“ j 


Fünfsehntes Aapitel. 
Ein Abenteuer andezer Art. 


Heinrich und Pranf ritten gemächlich auf dem Wege nah 
Deutſchland fürbaß; ber erfiere in Gedanken, über das traurige 
Ergebniß feiner Heifen. In der That, was gewinnt mar and) mit 


» > 


— — 


— — 








Band II. Seite @. 
Der Undefannte wäre unfeblbar unterlegen, hätte die plotzliche Etſcheinung 
Deinriche bie Mörder nicht jo jehr erichredt, baf fie die Flucht ergriffen. 





97- 


Umberflteichen in ber Welt? Die Heberzeugung der geringen Aehn⸗ 
lichteit zwifchen dem wahren Glück und dem von unferer @inbil- 
bungskraft gefchaffenen. Frank, obgleich minder trübfinmig In feinen 
Betrachtungen als fein Herr, fand, daß ein flilles, ruhiges Leben 
wohl das Vergnügen aufwiege, in der Welt umherzuſchwärmen, 
und er pried Diejenigen glüädlich, welche ihr Geſchick friedlich an 
den Orten ihrer Geburt leben Läßt. 

Cinige Meilen von Straßburg hielt Heinrich in dem nämlichen 
Walde an, wo einige Monate fpäter ver Oberfi Framberg und 
Müller eine Zufluchtsftätte fanden. Da er eine Welle im Schatten 
zu ruhen wünjchte, ſchickte er Krank mit dem Befehl voraus, ihn 
im erften Gaſthof zu Straßburg zu erwarten. Die Stille bes 
Orts fchien den Reiſenden zur Ruhe einzuladen; Heinrich, ber 
feit einigen Tagen ununterbrochen auf dem Wege war, fühlte das 
Bebürfniß, einen Augenblick der ihn „nieperbrüdenben Mattigkeit 
nachzugeben. Er fegt Tao } dichtty ‚Dre‘ eine majeſtaͤtiſchen 
Eiche befchattetes eh — ‚und vbmt Achlaß y Schlaf feine 
Augenlider. 

ALS er wieber ernfachte „. begann Br. Ing, fi? ‚zu neigen ; er 
wollte aufftehen, um fehnen Weg fortzuſetzeii Zug er von ber andern 
Seite des Gebüfches Sttmanen vernahm; er ſtreckte leiſe den Kopf 
„vorwärts und erblickte, nur einige Schritte entfernt, zwei Männer. 
Shre feinpfeligen Geſichter  beftimmten ihn, ſich nicht gleich zu 
zeigen ; und ba ſich Beide völlig allein glaubten, Tonnte er leicht 
folgendes Geſpraͤch vernehmen : 

„Du biſt alfo ganz ficher, daß er es it? — Ja, Herr, ih 
bin's gewiß; und obgleich ich ihn teufelmäßig lang nicht gefehen, 
iſt mir fein Geſicht doch zu gut im Gedaͤchtniß, als daß ich ihn 
nicht erkannt Hätte! Ueberdies Habe ih in dem Wirthshaus, wo 
er war, Greundigungen über ihn eingezogen, unb weiß gewiß, daß 
ich mich nicht irrie. — Und Du fagft, er werde durch diefen Walb 
fommen ? — Ja, Herr, er Tann feinen andern Weg nehmen, und 

® 


% 


ich fuchte Sie eiligſt auf, damit wir eine fo ſchoͤne Gelegenheit nit 
entſchlapfen Iaffen... — Was meinft Du denn, Stoffar, daß wir 
thun follen ? — Beim Teufel! es gibt nur einen Ausweg, nämlich 
fi feiner zu entledigen, damit er und nicht mehr beunruhigt.“ 

Hier fühlte Heinrich, wie ihm dad Blut in den Adern Tochte, 
uub er wollte auf bie beiden Schurken losſtürzen; aber et be: 
dachte, es möchte dies vielleicht nicht das rechte Mittel fein, ihr. 
Schlachtopfer zu reiten, und bemühte ſich daher, feinen Unwillen 
zu mäßigen. „Aber,“ nahm Derjenige das Wort, welcher der Herr 
zu fein fehlen, „wenn wir und darauf befchränkten, uns feiner 
Berfon zu verfidern und ihn eingefperrt zu halten, fo Tönnten wir 
ihn zu dem Belenniniß zwingen, was er mit... — Rein, He, 
fiel der Andere ein; „dad wäre zu nichts nüge!... Zudem, wo 
wollen Sie ihn einfpenen?!... In Ihrem Haufe?! Bon 
einem Augenblick zum andern önnte man ihn dort entdesten, ober 
er bürfte nur entkommen! ., Das wũrde und einen ſaubern Handel 
auf den Hals zichen! Glauben Sie mir, unter ſolchen Um⸗ 
flänben darf man feine halben Maßregeln ergreifen. Iſt er einmal 
tobt, fo find Sie ruhig, ‚denn ihn allein haben Sie zu fürchten... 
Du haft Recht, Stoffar, und ich bin entfehloffen, zu...” Der 
Suffchlag eines Pferdes unterbrach das Geſpraͤch. „Er iſt's, Herr,“ 
fagte einer der Maͤnner aufftchend ; „er kommt näher... : Halten 
wir und bereit, ihn gut zu empfangen !“ 

Beide ſtellten fich Hinter Bäumen anf. Auch Heinrich lub 
feine Piftolen, und dem Himmel dankend, daß er ihn zum Ber: 
theidiger eined Unglücklichen erforen hatte, war er auf jeden Fall 
geräflet. Nach einigen Minuten ſah er einen Mann auf einem 
Pferbe fi nahen. Noch war es nicht fo dunkel, daß er die Züge 
bes Reiſenden nicht hätte unterfcheiden koͤnnen. Es war ein Mann 
von etwa vierzig Jahren und edlem Wuchſe, beffen fanftes,. aber 
melancholiſches Geſicht eine unter ber Laſt tiefen Kummers ſeufzende 
Seele verrieth. 








\ 


99 


Se näher ber Unbelannte kam, deſto gewaltiger ſchlug Heins 
richs Herz, und er vergaß über der Betrachtung feiner Züge bie 
fein eben bedrohende Gefahr. Bald war er feboch aus dieſem 
Zuſtand geriffen. Die beiden Männer brachen plöplich mit gezücktem 
Säbel auf den Reiſenden los, der durch einen fo unerwarteten 
Angriff betäubt, nicht Zeit gehabt hatte, nach feinen Waffen zu ' 
greifen; er wäre unfehlbar unterlegen, hätte fich nicht Heinrich 
mit der Schnelle des Blikes den Moͤrdern entgegengeftellt. Diefe 
plögliche Gricheinung erfihredte fie fo fehr, daß fie ihre Beute los 
ließen und nur an ihre Flucht dachten. Heinrich feuerte feine Pis 
ftolen auf fie ab; einer ber beiden Schurken fiel tobt nieder, ber 
andere war nicht getroffen und enifloh durch das Dickicht des Waldes. 

Heinrich hielt Verfolgung für unklug und Tehrte fi zu dem 
Seretteten. Der Meifende wußte nicht, wie er feinem Befreier feine 
ganze Erkenntlichkeit bezeigen follte. „Sie find mir feinen Dank 
fhuldig, mein Herr,“ antwortete ihm Heinrich; „indem ich Ihnen 
zu Hülfe fam, erfüllte ih nur die Pflicht eined Ehrenmannes, 
und ich bin überzeugt, Sie hätten an meiner Stelle das Nämliche 
gethan. Wollen Sie aber meinem Rathe folgen, fo fputen wir ung, 
aus diefem Walde herauszukommen und eine befuchte Straße zu 
gewinnen : denn die Nacht wird finfter, und vielleicht wären wir 
nicht immer gleich glüdlih. — „Ich Bin Ihrer Anſicht,“ erwiderte 
der Unbelannte, „aber, wie e8 fcheint, find Sie zu Fuß? — Wahr, 
ih babe meinen Diener mit meinem Pferde vorausgeſchickt, denn 
ich gedachte, noch dieſen Abend in Straßburg einzutzeffen. — Run 
denn! fleigen Sie hinten auf, fo werben wir fchneller aus dem 
Walde fommen.” Heinrich nahm ven Borjchlag an, und im Galopp 
flogen fie davon. 

Unterwegs ſprachen fle von den auf diefen Borfall bezüglichen 
Einzelnheiten. „Ich glaubte nicht,” fagte der Reifenve, „daß Räuber 
diefen Bald unficher machen. — Sie ircen fi, mein Herr, wenn 
Sie die Leute, die Sie anflelen, für Räuber hielten ; ich Bin ge: 


100 


wiß, daß es Feine waren.“ Nun erzählte Seinrich, wie er Alle 
achört habe. Während der Erzählung betrachtete er feinen Ge: 
fährten genau und bemerkte, daß er feinen Worten die größte Auf: 
merkfamfeit fchenkte. „Wäre ed möglich 2” rief der Reiſende ans, 
als Heinrich geendet hatte. „Aber haben Sie fonft nichts gehört, 
mein Herr ? — Nichts weiter; doch vermuthe ich, das werde hin: 
reichend fein, Sie auf bie Fährte zu bringen. — Run denn! Sie 
irren ſich, mein Herr! denn ich verfldhere Sie, daß ich nicht von 
dem eben Befagten begreife; ich wüßte nicht, daß ich Feinde hätte, 
die einer ſolchen Schlechtigleit fähig wären. — Beim Hehler, das 
IR wunderbar!... — Ic Habe nie Jemanden gefchadet und fo 
viel Gutes gethan, ala ich Tonnte!... — Durch Gutesthun zieht 
man ſich Häufig ven Haß ber Schlechten zu!... — Ha! Sie 
haben Recht, mein Herr, und Sffnen mir die Augen!.. ..” Hier 
verfan? Heinriche Begleiter in tiefe Träumerei, und erfterer er: 
laubte fich Leine weiteren Fragen. 

Nicht Lange, fo betraten unſere beiden Reiſenden einen be: 
fuchten Meg, und da die Nacht ſinſter war, dachte Heinrich, er 
werbe wohl daran then, den andern Tag zu feiner Weiterreife nach 
Straßburg abzuwarten. Bor der erften Herberge machten fle Halt. 
„Sie gehen nad Straßburg und ich fomme dort her; weil wir 
demnach beide eine enigegengefeßte Richtung zu nehmen haben, 
will ich Ihnen Lebewohl fagen. — Wie? Sie Tehren hier nicht 
ein?“ entgegnete Heinrich. — „Nein, denn ih habe Eile, nad 
Paris zu kommen, wo ich eine wichtige Angelegenheit beendigen 
muß: ba ich Bald wieder nach Straßburg zurüdzufehren gedenke, 
werde ich hoffentlich das Vergnügen haben, Ste bort zu fehen und 
nähere Befanntfchaft mit dem Erhalter meines Dafeins zu malen.” 
Heinrich erwiderte ihm, fein bertiger Aufenthalt werbe nicht von 
langer Dauer fein: „Aber,“ fügte er Hinzu, „ba ich eben fo fehr 
wünfdhe, daß wir ums eined Tages wieber zuſammenſinden, Tabe 
ich Sie ein, wenn Sie ber Zufall in die Mähe meines Bohnortet 


101 


führt, nicht zu vergeffen, daß Sie in Heinrich von Framberg einen 
Freund baden, ver ſich glücklich fchäken würbe, Ihnen noch ein> 
mal nüglich fein zu können. — Heinrich von Framberg!...“ rief 
der Unbelannte aus; „wie? Sie wären der Sohn des Oberften 
Framberg? — Gewiß! Warum dieſe Ueberrafhung? Sollien Sie 
etwa meinen Bater kennen? — Ich habe viel von ihm gehoͤrt; 
der Ruf feiner Tapferkeit und feiner Thaten iſt zu mir gebrungen. 
— Run gut! ein Grund mehr, auf das Schloß zu kommen, ich 
bürge Ihnen für_gute Aufnahme.“ 

Der Brembling dankte Heinrich; der Name Framberg hatte 
eine Aufregung in ihm hervorgebracht, welche den Blidden unferes 
Helden nicht entging, aber er wagte nicht, ihn um bie Urfache zu 
fragen, und fle fchieden von einander mit wiederholten Meſiche⸗ 
rungen der aufrichtigfien Freundfchaft. 

Heinrich trat in die Herberge, wo er fich ein Zimmer anweifen 
ließ; bier dachte er über fein fonderbares Abenteuer und feine neue 
Bekanntſchaft nach. Der Altersungleichheit zwifchen Heinrich und 
dem Fremden ungeachtet, fühlte ſich jener doch. mit Bruderliebe zu 
ihm Hingezogen, und er bebauerte jehr, daß er vergeffen hatte, 
ihn um feinen Namen zu befragen. Unter ſolchen Betrachtungen 
fchlief er ein und reiste am Trühehen Morgen mit der Poſt nad 
Straßburg. 


— — — — 


Sechzehntes Kapitel. 
Wiederfinden. 


In dem bezeichneten Gaſthof fand Heinrich den vorausgeſchickten 
Diener, ſeiner harrend. Frank war in Unruhe über das Ausbleiben 
ſeines Herrn am geſtrigen Abend, und dieſer erzählte ihm ſein ge⸗ 
habtes Abenteuer. 

»Sie werden zugeben, gnädiger Herr, daß Sie auf einen 
ſolchen Vorfall nicht gefaßt waren! ... Ich bin überzeugt, der, 


108 


den Gie gerettet, hegt reges Danfgefähl für Sie... Aber gleid- 
viel, wit fein Berhängniß, daß er ermordet werde, fo wirb er 
ihm früher oder fpäter nicht entgehen.“ 

Heinrich verließ Frank und fein Verhängniß, um in der Stadt 
umberzuftreifen. Seit dem geftrigen Abenteuer waren feine büftern 
Gedanken völlig verflogen, und es blieb ihm von der Erinnerung 
an feine Reifen und tollen Streiche nur noch der fefte Entſchluß 
übrig, fih in Zukunft beffer aufzuführen. j 

Während er fo feine Tugendplane ſchmiedete, war er, anfangs 
ohne es zu getwahren, aus ver Stadt gefommen ; im Begriff aber, 
ben Rückweg einzufchlagen, Hört er hinter fi um Hülfe rufen; 
er dreht fih um und erblidt ein junges Frauenzimmer, fich gegen 
einen Soldaten firäubend, der fie wider ihren Willen mit fort: 
ziehen wollte. Er fpringt auf den Kriegäfnecht zu, der in feiner 
Truntenheit, beim Anrüden von Hülfe, feine Beute los Täßt; 
Heinrich will nun ber jungen Dame feine Dienfte anbieten: aber 
wie foll ich feine Ueberraſchung, fein Entzüden malen, ald er in 
der Befreiten feine geliebte Pauline erkennt! ‚ 

„Wie? Sie ſind's mein Fräulein ?... — Sie, mein Her?...“ 
war Alles, was fie fagen Eonnten, fo fehr waren Beide ergriffen. 
Heinrich bewunberte die Reize ver Geliebten, welche ſich feit ihrer 
Trennung noch mehr enifaltet hatten ; auch Paulinen konnte nicht 
umbin, Heinriche Freude und Berwirrung zu theilen. 

„Ad, mein Herr,“ fagte fie endlich, „wie fehr danke ich dem 
Simmel, daß er Sie zu fo gelegener Zeit herſandte, um mich von 
ber drohenden Gefahr zu befreien!" — „Mein Herr, mein 
Herr!“ wieberholte Heinrich feufzend... „ih bin alfo nicht mehr 
Heinrich für Sie?... Sonft nannten Sie mich fo; die Zeit hat 
Sie jene glüdlichen Tage vergeffen laſſen, bie ich an Ihrer Seite 
verlebte! Ach, Pauline! ... ach, mein Fräulein! ich babe alfo 
allein über eine fo lange Trennung gefeufzt, und fomit hätte ich 
wohl Sie, nicht aber dad Gluͤck wiebergefunden?,,. — Wie 





108 


ungerecht find Sie, Heinrih!... Aber.man Hatte mir fo oft 
wieberholt, daß Sie mich nicht liebten, mich vergeffen hätten!... 
Ihre lange Abwefenheit...... Ihr geringer Eifer, meinen Aufent: 
halt zu erfahren... — Was fagen Sie, Banline? Der 
Himmel ift mein Zeuge, daß ich feit unferer Trennung alles Er⸗ 
finnliche that, Ihren Wohnort zu erforfhen! — Iſt's wirklich 
wahr, Heintih?... Ach! diefer Glaube ift mir Benürfuiß! Ihre 
Worte machen mir zu viel Freude, ald daß ich daran zweifeln möchte.“ 

Unfere beiden Liebenden vergaßen über dem Wiederfehen, daß 
ed noch etwas Anderes auf der Welt gebe als ihre Liebe. Pau⸗ 
line gewahrte zuerft, daß man fich trennen müffe. 

„seht müflen wir und trennen, Heinrich: bei Ihnen vergefie 
ih, daß die gute Madame Reinhard meiner wartet und vielleicht 
beforgt ift wegen meiner langen Abweſenheit. — Wo wohnen Sie, 
Bauline? — In dem Haufe dort unten am Stabttfore. Ich war 
allein ausgegangen, einige Einkäufe zu machen, denn Mabanıe 
Reinhard ift Trank, und unfere alte Dienerin konnte nicht von ihr 
weichen. — Und Ihr Bater? — If in diefem Augenblide nicht 

‚in Straßburg; doch wird feine Abwefenheit nicht von langer Dauer 
fein. — Nun, wohlan ! was fleht im Wege, mich in Ihrem Haufe 
vorzuftellen ? — Diejen Abend nicht, mein Freund ; es ifl zu fpät, 
meine gute Mutter zu ſehen: kommen Sie morgen, ba haben wir 
Zeit, mit ihr zu reben.“ . 

Nur mit Mühe willigte Heinrich in die Trennung von feiner 
theuern Pauline; aber die Hoffnung auf den andern Tag flößte 
ibm wieber Muth ein. Er begleitete feine Angebetete bis vor bie 
Thüre ihrer Wohnung und fehle nur mit dem Berjprechen baldigen 
Wiederſehens. 

Glück im Herzen, kehrte Heinrich nach ſeinem Gaſthof zurück. 
Bon der Rückkehr zum Vater war Feine Rede mehr; feine Pau⸗ 
Iine befchäftigte all feine Gedanken, feine Liebe. Bei ber Nadhs 
sicht, fein Gebieter habe die Geliebte wiebergefunden, rief Frank: 


104 


„Run, da war's wohl der Mühe werth, gnädiger Herr, daß wir 
fo weit herumreiöten wegen einem Fräulein, dns fo nahe bei und 
war! Uber es fland ba oben .gejchrieben !“ 

Kaum graute ber folgende Morgen, ald Heinrich fchon unter 
den FJenſtern feiner Geliebten wartete. Man war im Monat No: 
vember, wo es Ealt zu werben. anfing. Er ging vor dem Kaufe 
auf.und ab, bis feine Schöne wach wäre; bald öffnete Pauline, 
bie wahrſcheinlich nicht viel gefchlafen Hatte, ihre SJaloufien. — 
„Wie! Sie find’s, mein Freund, fo füh!.... — Ad, theure 
Bauline ! Tonnte. ich fern von Ihnen Schlafen? — Auch ich ſchlief 
nicht, wie Sie wohl fehen ; doch gleichviel, es ift zu früh, Sie 
müſſen gehen. — Ah, Pauline! Sie lieben mich alfo nit? — 
ber, lieber Freund, Madame Reinhard fchlummert noch. — Uno 
ich flerbe beinahe vor Kälte. — Sie fünnen doch. nicht eintreten. 
— Sie laffen mich lieber unter Ihrem Fenſter erfrieren?. . . — 
Böfer!... Wohlan denn! warten Sie, ich komme herab.” 

Nicht lange, fo öffnete Pauline. Wie reizend erfchien fie in 
Heinrich Augen! Ein einfaches Morgenkleid bedeckte ihren eleganten 
Buche ; ihre nachlaͤſſig zurückgeſchlagenen Haare beſchatteten eine 
Stirne, den Sig der Schambaftigfeit ; ihre fügjchmachtenden Augen 
waren zu fehüchtern, um auf benen ihres Geliebten zu ruhen : Alles 
an ihr Hößte Liebe ein! Wie Hätte Heinrich fo viele Reize nicht 
verehrten follen ? Unbeweglich blieb er vor dem Gegenftand feiner 
Bewunderung ftehen; Pauline, die Urſache von Heinrichs Verwir⸗ 
rung wohl ahnend, erröthete vor Vergnügen. Wo ift dad Mädchen, 
dem es entginge, welches Gefühl fie einflößt ? 

Sie führte ihren Geliebten in ejn Heines Gejellfichaftszimmer 
mit der Ansficht auf den Garten; bort exwarteten fie das Erwachen 
ber Madame Reinhard. Die Zeit warb ihnen nicht lange; Liebente 
haben ſich fo vieles zu fagen! Heinrich erzählte Baulinen feine 
Reifen und bie. ihm aufgefioßenen Abenteuer, wobei er indeß über 
dad hinwegfchlüpfte, was für das Ohr feiner Geliebten nicht paßt. 








1085 


Gerne Hätte Heinrich wien mögen, wie «8 Banlinen mährend 
feiner Abweſenheit ergangen . . . wo ihr Bater und welches ber 
Grund feiner Meife wäre, fo wie tauſend andere Dinge, die ihn 
mit der Geburt feiner Geliebten und ihrer gegenwärtigen Lage 
Befannt gemacht hätten ; aber er wagte nicht, zu fragen, und harrte 
lieber, bis die Zeit ihm ihr Berirauen erwerben würbe, als daß 
er nengierig ober mißtrauiſch in ihren Augen hätte erfcheinen 
mögen. 

Endlich bemerkte Pauline, daß die Stunde gelommen fei, wo 
Diefenige, bie Mutterſtelle bei ihr vertrat, zum Fruͤhſtück aufzu⸗ 
Reden pflegte. Sie flog zu Madame Reinhard, mit bem Verſprechen, 
hHeinrich bald zn holen. Waͤhrend ihrer Abweſenheit beſchäftigte fich 
biefer mit genauer Betrachtung der Wohnung feiner Freundin; 
Alles war fo einfach ald möglich ausgeftattet und zeigte mehr guten 
Geſchmack, als Reichtkum an. - „Ha! fie iR nicht glücklich,“ ſprach 
Geinrich bei ſich ſelbſt, deſſen bin ich gewiß, und fie bat nicht 
genug Berirauen zu mir, um mir ihren Kummer mitzutheilen!... 
Aber ich werde fle zum Bertrauen zu nöthigen wiffen, ihre Leiden 
verfügen, und ohne ihren Stolz zu verletzen, bas Mittel finden, 
ven Reichthum mit ihr zu theilen, der nur darum einigen Werth 
in meinen Augen hat, weil er mir zur Bereitung einer forgens 
freieren Lage für fle fürderlich fein kann!“ 

Mas Heinrich feinen Reichtum wannte, war nichts Anderes, 
als das in Paris im Spiel gewonnene Geld, welches er, wie man 
fi erinnert, durchzubringen Feine Zeit mehr gehabt Hatte, weil 
er ben zweitfolgenden Tag abgereiöt war. 

Banline zog ihn aus feinen Betrachtungen burch bie Anzeige, 
dag ihn Madame Reinharb zum Frühſtück erwarte. Er folgte feiner 
Freundin und fand die gute Dame beim Feuer ſitzen. Heinrich 
warb durch die Meränderung, welche die Krankheit bei ihr hervor⸗ 
gebracht, ſehr betroffen ; die Bläffe ihres Geſichts und ihre beinahe 

Baui de Rod. Hi. 8 


106 


erloſchen⸗ / Stimme liefen ihn fürchten, fie möchte nicht mehr lange 
zu leben haben; allein er hütete fi wohl, feiner Bauline Gedanlen 
mitzutheilen, welche ihren Kummer nur verboppeln Tonnien. 

Madame Reiuhard empfing Heinrich aufs Schmeichelhafteſte 
unb voll Freunde, ihn wieberzufehen. Das Frühſtück war ziemlid 
heiter; Heinrich war bei feiner Pauline; was bedurfte er weiter 
zu feinem SA? Wenn zufällig fein Fuß den ihrigen berührte, 
feine Sand auf ber ihrigen ruhte, und er in ihren Augen bie 
Verwirrung lefen konnte, bie fie empfand, o! dann hätte er gegen 
alle Schhäpe der Welt die Wonne, bei feiner Geliebten zu fein, 
nicht vertaufcht! Leicht erlangte er von Madame Reinharb bie Er: 
laubaiß, zuweilen ihre Cinfamkeit zu theilen ; zuweilen! das hieß 
täglih, unfere Liebenden wenigftens verftanden es fo. Pauline 
geſtand Heinrich, daß fie feit feiner Abweſenheit die Muſik fehr 
vernachläffigt Habe, ex verfprach ihr, noch am Abend eine Samms 
Iung der neueften und fchönften Stüde zu überbringen; Banline 
dradte ihn fanft die Hand; Madame Reinhard dankte ihm zum 
Boraus für bie Freude, die er ihrer gellebten Tochter bereiten wollte, 
und Heinrich ging, um fein Verſprechen zu erfüllen. 

Ein Monat verfloß, während deſſen unfer Helb jenen Morgen 
und jeven Abend bei feiner Geliebten zubrachte. Man hatte ſich 
fo fehr daran gewöhnt, daß, wenn er zu feiner gewöhnlichen 
Stunde bei Madame Reinhard nicht erfhien, er feine Pauline in 
Unruhe fand, wie fle, traurig durch dad Fenſter blickend, feiner 
harrte. Heinrich ſchwamm in Seligfeit; von feiner Freundin war 
er geliebt, Pauline verfuchte nicht mehr, ihm ihre Liebe zu vers 
bergen, und wenn fie es auch gewollt Hätte, würbe nicht jedes 
Wort, jebe Bewegung verrathen haben, was in ihrem Herzen vors 
ing? Madame Heinhard felbft behandelte Heinrich tie ihren Sohn 
und fühlte die zärtlichfte Freundſchaft für in. Aber auch er war 
nit mehr jener ungeflüme, aufbranfente Züngling, jener Leicht: 
ſinn, Spieler und Saufewind; feine Liebe für Pauline Hatte alle 


107 


feine Gefühle verändert, denn eine tugenbhafle keidenſchaft allein 
vermag alle anderen Leidenſchaften zu bezähmen. 

Doch nicht lange, fo gewahrte er, daß feine Bauline an irgend 
einem geheimen Grame leide; Madame Reinhard felbft fchien oft 
traurig und nachdenklich. Heinrich fah mit Schmerz, wie die Ge⸗ 
funbheit diefer guten Dame von Tag zu Tag mehr dahinſchwand. 
Er erblidte für feine Pauline taufend Gefahren, taufend Verlegen: 
Beiten, wenn ihre Pflegemutter farb. Vergebens drang er in feine 
Geliebte, ihm ihren Kummer zu geftehen, ihre Sorgen und Uns 
ruhe anzuvertrauen ; ſtets vermieb fie es, eine Frage zu berühren, 
welche ihren Schmerz zu vermehren fehlen. 

Als fich Heinrich eines Tages, nach feiner Gewohnheit, zu 
der Geliebten begab, erfchrad er, wie er beim Deffnen bie alte 
Dienerin bitterlich weinen fah. „Was ift denn gefchehen ?“ rief 
er alsbald aus. — „Ah, Herr! meine gute Gebieterin iſt fehr 
übel auf und hat, wie ich glaube, nur noch wenige Augenblide 
zu leben.” | 

Heimich fliegt ungefäumt nad dem Kranfenzimmer, wo er 
feine theure Pauline am Bette der Madame Reinhard, in Thränen 
gebabet, fand. Diefe Iehtere, obgleich fchwach und am Rande des 
Grabes, empfängt Heinrich mit fanftem Lächeln und richtet mit 
beinahe erlofchener Stimme folgende Worte an ihn: 

„Ich erwartete Sie mit Ungeduld, mein lieber Heinrich; Ihnen 
übergebe ich meine geliebte Tochter, Ihnen trage ich auf, ihr Troſt 
zu fein. Ich Tas in Ihrer Seele, welches Gefühl Sie für dieſelbe 
hegen; Pauline erwidert es: feiet daher vereint und verlaſſet ein⸗ 
ander nie!“ 

Heinrich drückte Panline in ſeine Arme, gelobend, ſich nie 
von ihr zu trennen; ſeine Freundin hatte keine Kraft, zu ant⸗ 
worten, ſo ſehr war ſie vom Schmerz niedergebeugt. Madame 
Reinhard überwand ihre Schwäche und fuhr folgendermaßen fort: 
„Sie waren gewiß über das gehrimnißvolle Weſen verwundert, 


308 


Ueber Heinrich, welchhes alle Handlungen von Baulinens Vater zu 
nmbüllen fcheint ; Sie Tonnen biefen tugendhaften Mann nicht! ... 
Boun Sie feine Unglüdsfähe vernehmen, werben Gie fein Bes 
tungen nicht mehr verbammen. Ich habs meine Bauline beauftragt, 
Sie von Allem zu unterrichten : die Zeit ift nicht mehr, Ihnen 
irgend etwas zu verbergen, und in Sie allein foll fie ihre ganze 
Hoffnung fegen.“ | 

Hier verfiel Madame Reinhard nach folcher Anſtrengung in 
eine Schwaͤche, den Borboten ihres nahen Todes. Heinrich uud 
Benline umfingen fe mit ihren Armen; fle ſchlug die Augen noch 
einmal auf, ergriff die Hand ihrer Pflegetochter, legte fle in bie 
Heinrichs und entjchlief zum ewigen Frieden. 

Heinrich beeilte ich, feine Freundin dieſer Schmerzenöfcene zu 
eniteißen ; in feinen Armen trug er file nach ihrem Zimmer. Dort 
ſachte er nicht, ihren Schmerz zu mäßigen, fondern er beweinte 
wit ihr Die achtungöwerihe Verblichene — der befte Troſt, den er 
{fr bieten konnte. 

Als nach einigen Tagen Paulinend Schmerz in eiwas geſtilli 
war, wagte Heinrich die Bitte um die verfprochene Mittheilung. 
Bauline Fam feinen Wünfchen nad: fie unterrichtete ihn von ber 
Ueſache ber Abweſenheit ihres Vaters und ben Beweggründen feiner 
häufigen Reiſen. 

Da Heinrich Hieraus entnahm, daß dad lange Ausbleiben eis 
felben an ihrer Unruhe Schuld fei, entſchloß ex fi, nach Paris 
gu teilen, um Denjenigen dort auszukundfchaften, für den er fih 
fo lebhaft interefjirte. Er reiöte daher ab, mit Zurüdlaffung Frauk's, 
als Wächter für die Sicherheit feiner Freundin, und begleitet von 
ee Bünfchen Baulinens für den glüdlichen Erfolg feiner 

eife. 

Bir wien, daß um biefe Seit der Dherfi Framberg und 
Müller mid der Hoffnung in Straßburg eintrafen, Heinrich dert 
aufsußnven ; biefos war chen nad Barld abgereist, wohin fle ige 


109 


folgten. ber unfer junger Mann war nicht glücklich in feinen 
Nachforfchungen ; er burchftreifte die Hauptſtadt nach allen Rich: 
tungen, ohne eine Spur von dem Gefuchten entdecken zu koͤnnen. 
Des vielen vergeblichen Umherrennens endlich müde unb von bem 
Bunfche getrieben, feine Pauline wieberzufehen, kehrte er nach 
Straßburg zurück, ftetd verfolgt vom Oberſt und Müller, welche 
ihn, ohne ven ihnen im Walde zugefloßenen Unfall unfehlbar ein- 
geholt hätten. 

Heinrich fand feine Pauline mit der Iebhafteften Ungeduld feiner 
barrend. Sie eilte ihm entgegen, fo.wie fie ihn erblickte. „Nun 
denn, mein Freund! welche Nachricht? — Gar Feine, Thenerfte!... — 
Wie? mein Vater... — Ich Eonnte nichts über fein Schickſal 
erfahren. — Wie unglädlih bin ich!... Es iſt alfo ans! ich ſoll 
ihn nicht wiederfehen!... Ich Habe Niemand mehr auf Erden, der 
ſich einer unglücklichen Waiſe erbarmte!.... — Was fagft Du?" 
rief Heinrich mit Heftigkeit; „Du Haft Niemand mehr auf Erben ? 
Ha! bin ich nicht Dein Beliebter... Dein Batte?... — AG, 
Heinrich! feit Du fort warft, babe ich nachgedacht und gefunden, 
daß ich auf dieſes Glück Feinen Anſpruch machen varf!... Ich!... 
eine Waife, ohne Namen, ohne Vermögen, follte die Gemahlin 
des Grafen von Framberg werben! ... Ach! ich fehe nur zu gut, 
welche Kluft und trennt! ... — Bif wirklich Du es, Panline, 
die ich fo fprechen hoͤre? ... Mit einem einzigen Wort kann idy 
Dich Deines Irrthumsd überführen. Sage mir, wenn der Zufall 
Dich reicher gemacht Hätte als mich, würdeſt Du mich darum ver- 
laffen Haben? .... — Mein Freund, das tft ein großer Unter: 
fegten!...— Nein, Pauline! ich werbe nicht fo Abermäthig fein, 
Reichthümer der Tugend und Schönheit vorzuziehen. Du wirft 
meine Gattin ; die gute Madame Reinhard hat unfer Gelubde ge- 
fegnet, und Du Haft kein Recht mehr, Dich meinem Glück zu 
widerſetzen.“ 

Was konnte Pauline antworten? Sie betete Heinrich an; ſie 


110 


unterließ es, feinen Bitten zu widerſtehen und willigte endlich ein, 
feine Gattin zu werben. 

Sobald Heinrich dieſe Einwilligung erlangt hatte, dachte er 
auf Befchleunigung feiner Hochzeit. Er brannte vor Verlangen, 
feine Banline dem Oberfi vorzuftellen. „So wie Dich mein Bater 
fieht,“ ſprach ex zu ihr, „wird er meine Wahl nur billigen Fönnen. 
— Wenn es aber nicht der Fall wäre, mein Freund! Wenn ex 
unfere Bande braͤche!... — Nein, liebe Pauline! ... Dun kennſt 
meinen Bater nicht! ex iſt rauf, aber gut und gefühlvoll. Ueber: 
died braucht er Dich nur zu fehen, um Dich zu lieben...” Pau⸗ 
Iine laͤchelte und fing an zu hoffen. _ 

Heinrich machte alsbald die Vorbereitungen zu feiner Ver⸗ 
mählung. Frank warb aufgegeben, einen Notar und einen Priefter 
zu beftellen, und Heinrich erlangte von Baulinen die Erlaubniß, 
fie bis dahin nicht mehr verlaffen zu dürfen. Er ließ daher fein 
Gepäde aus feinem Gaſthof abholen und bezog die Gemaͤcher ber 
Madame Reinhard. 

Frank vollzog punktlich die Befehle feined Herrn, und ale 
diefer eines Abends neben feines Pauline faß, meldete er ihnen, 
baß ver Notar am andern Morgen ben Heirathscontract bringen 
werbe. Heinrich hüpfte vor Freude bei diefer Nachricht, Pauline 
theilte fein Entzücken und Frank war glüdlich in dem Glüd feines 


„Wahrlich, gnädiger Herr!" fprach er zu ihm, „ich war fo 
vergnügt, meine Aufgabe gelöst zu haben, daß ich in ein Café⸗ 
haus trat, um eine Zlafche zur Feier Ihrer bevorſtehenden Ber: 
mählung zu leeren,“ 

Heinrich umarmte Frank und die alte Dienerin ; er hätte im 
Ausbruch feines Entzücens die ganze Welt umarmt. Pauline theilte 
feine @lüdfeligkeit, und mit Gedanken an ben andern Tag trennte 
man fi. 

Arme Kinder!.,. Ihr überlaffet Euch dem Schlafe, indem 


111 


he Each tanſend Zrugbilber für die Zuluuft ſchaft! und Ihr 
bedenket nicht mit Frank, wie bizarr das Verhaͤngniß iſt, und daß 
es und im Augenblick, wo wir es am wenigſten vermuthen, bie 
härteften Schläge verfett, 


Siebenzehntes Alapitel. 
Ber Hätte das gebadht? 

Mit dem Tage war Heinrich fchon munter: Freude läßt nicht 
ſchlafen; da indeß feine Pauline noch fhlief, ging er bis zu ihrem 
Erwachen in den Garten hinab. Mit welcher Ungebuld zählte er 
bie Biertelftunden und Minuten! ... Es ſchien ibm, als müffe 
bie Zeit ihren Lauf verdoppeln, um feinen Wünfchen zu Hülfe zu 
kommen. Endlich erfhien Pauline, welche wahrfcheinlich eben fo 
wenig gefchlafen hatte, als er, mit der Einladung zum Frühſtück, 
in Erwartung des Rotard. Heinrich folgte ihr; traulich neben 
einander figend, ſchmiedeten fie Plane für die Zukunft; Heinrich 
gibt ihr fchon den Namen feiner Gattin... Man pocht flark an 
bie Thuͤre. „Er iſt's!“ ruft Heinrich, „Krank, mad ihm auf!" 
Frank eilt nach der Thüre, Heinrich Hört die Treppe heraufkommen, 
dad Herz fchlägt ihm vor Freunde. Die Thüre geht aufz er blick. 
bin ... D Wunder! flatt des Notars fieht er Müller in das Ges 
mach treten. „Ab! ah! finde ih Sie endlich, mein Kerr,“ fagte 
Müller, ohne auf Paulinen Acht zu geben. „Zaufend Bombenſaker⸗ 
ment!... Sie lafien fich teufelmäßig nadhjlaufen... — Wie? Da 
biſt's, Müller 3” erwidert Heinrich, indem er ſich zu faflen fucht. 
— „Ja, meinHerr, ich bin's; 0! mich erwartete man gewiß nicht!...“ 

„Ber ift diefer Menfch, Lieber Freund?“ fragte Pauline, Heinrich 
" beifeite nehmend. — „Ein braver Soldat, der mich ſehr liebt. — 
Ah! ah!" fagte Müller, als er fih umwandte und Pauline er- 
blickte, „das iſt fie alfo? ... Sie it meiner Treu hübſch! das 
muß ich gefießen.... .“ : 


118 


Banline warb roth Bis in's Veiße des Auges, und Helarich 
der diefem Auftritt ein Ende zu machen wünjchte, bat fie, einen 
Augenblid in ihr Zimmer zu gehen und ihn mit Müller allein zu 
laſſen. Bauline willigte ein und entfernte fih, noch ganz erfiaunt _ 
über die Manieren bed Mannes, den fie zum erftenmale ſah. 

„Seht, wo wir allein find, mein Herr,“ fagte Müller, „werben 
Sie mir hoffentlich Ihre neumodiſche Aufführung erklären! — Wie 
befindet ſich mein Vater? das vor Allem! — Sehr gut, fehr gut, 
nur hätte er beinahe ben Hals gebrochen, als er hinter Ihnen brein 
fuhr... — Wie fo denn? — Davon ift jetzt nicht Die Rede. Sagen 
Sie mir, mein Herr, was machen Sie in diefem Haufe? Wer if 
das Frauenzimmer, das ich fo eben bei Ihnen ſah? — Diefe Fran? 
iR die meinige. — Die Ihrige ?2.. — Oper wenigſtens beinahe, 
denn fie wird es bald fein. — Gut! ich fehe, fie iſt es noch nit! — 
Hätte Du im Sinn, Hinderniffe in den Weg zu legen, Müller? 
— Möglih, mein Herr! — Dann bemerke ih Dir, daß Du Did 
vergeblich bemühſt; nichts in der Welt vermag mich von ihr zu 
trennen. — Das iſt eine faubere Aufführung, mein Herr ? Sagen 
Sie mir, darf man fi in Ihrem Alter verheitatben, ohne daß 
man’s der Mühe werih Hält, feine Eltern um Rath zu fragen ? 
— ber fprich ſelbſt, ift meine Pauline nicht reizend — AB! 
was Schönheit betrifft, das ift wahr, da gebe ih zu: fie ift fehr 
habſch, aber es gibt fchäne Weiber, die darum nicht .beffer finb. 
— Hüte Dich, Müller, meine Geliebte zu beichimpfen ! fie if eben 
fo tugendhaft als ſchoͤn! — Nun wohl! wenn fie tugendhaft wäre, 
was zweifelhaft, aber nicht unmöglich tft: foll pas ein Grund fein, 
dag Sie die nächfte beſte Dahergelaufene heirathen!... ein Mädchen, 
befien Herkunft Sie nicht einmal Tennen? — Du irrſt Dig, Müller, 
ich kenne fie, fie theilte mir Alles mit... Ich Eenne ihren Vater, 
feine Unglüdsfälle!... — Pop Henker, Iauter Lgrifari, Herr! — 
Rein, Müller, meine Bauline Tennt keine Lüge; fie bat mir bie 
Wahrheit gefagt. — Nun gut! Iafien Sie voch biefe wunderbare 


113 


Exzahlang hören. — Ich will Die Alles mittheilen, was fie mir 
fagte. Der Bater meiner Pauline iſt ein Franzofe. — Ein Fran⸗ 
gofe?... Der Name Chriſtiern ift alfo nicht ber feinige ? — Nein, 
mein Freund, das iſt ein angenommener, welchen die Umflänbe 
ihm aufgedrungen hatten. — Und wie heißt er denn eigentlich? — 
D’Ormerille. — D’Ormerille ?* rief Müller vor Erſtaunen. — 
„Bas Haft Du denn?" fragte Heinrich. — „Nichts! fahren Ste 
nur fort, ich Höre!" 

Heinrich nahm feine Erzählung mit folgenden Worten wieder 
auf: „Da magſt alfo wiffen, daß der Vater meiner Geliebten in 
Militärdienfte getreten, fchon im Alter von zwanzig Jahren Streit 
mit einem andern Offizier feines Regiments bekam; er ſchlug ſich 
im Zweikampf und hatte das Unglüd, feinen Gegner zu töbten ; 
das war bie erfle Urfadhe all feines ferneren Ungemachs. Die Fa⸗ 
milie deö {ungen @ebliebenen war reich und mächtig: d'Ormeville 
fah fly gezwungen, ſein Baterland zu fliehen, um bem gegen ihn 
gefüllten Todesurtheil zu entgehen. Er Fam nach Deutſchland, in 
ber Mbficht, dort Dienfle zu nehmen, nachdem er ſich einige Zeit 
anf den Befluangen des Barons von Froburg aufgehalten Hatte... 
— Des Barons von Froburg?... — Ja, mein Freund! er Hat, 
wie man fagt, meine Mutter gefannt... — Ah! ab! — Gr Begab 
fi nach Wien und trat unter die Taiferlichen Truppen. Die Armee 
war im Begriff, einen Feldzug zu unternehmen; d’Ormeville kaͤmpfte 
wider die Ruſſen; aber beim erften Treffen erbielt er einen Schuß 
in den Unterleib und ward für tobt auf dem Schlachtfeld gelaſſen. 
Indeß gewahrte ein Mann, menfchlicher als die übrigen, daß er 
noch athmete. Es war ein armer Bauer, welchen der Zufall hieher 
geführt hatte. Er richtete d'Ormeville auf und trug ihn in feine 
Sätte, wo er ihn mit vieler Mühe in's Leben zurüdrief. Laͤnger 
als ein Jahr blieb er bei dem guten Bauer; erft nad Verlauf 
biefer Zeit erlaubten ihm feine nun völlig vernarbten Wunden, ſein 
fräheres Corps wierer aufzuſuchen; aber während feiner langen 





114 


Erankheit war das Rriegegläd den Defterzeichern ungünftig. geweſen; 
und im Augenblick, wo er zur Armee floßen wollte, waren bie Ruflen 
Meiſter des Heinen Dorfs, in welchem er fich verborgen hatte, fo 
daß er an Fein Fortgehen denken durfte, aus Furcht, ald Feind 
erfannt und von den Ruſſen, die feine Gefangene machten, nieber 
gemegelt zu werben. D’Ormenrille beſchloß, günfligere Umflänbe 
abzuwarten: er trug die Kleidung eined gewöhnlichen Bauerd und 
ſah ſich gendthigt, zur Friſtung feines traurigen Dafeins auf dem 
Feld zu arbeiten. Um biefe Zeit machte er die Belanutichaft ber 
Butter meiner theuern Pauline. D’Ormerille hat feiner Tochter 
weder mitgetheilt, wer fie war, noch wie er fie Tennen lernte ; Alles, 
was er fagte, war, daß feine Gemahlin flarb, als fle Paulinen das 
Leben gab, D'Ormeville erzog feine Tochter fo gut es ging, mit 
Ungebuld des Augenblicks harrend, wo er nach Defterreich zuräd- 
Tchren Eonnte ; endlich war ihm das Schiefal holder, die Ruffen 
wurben gefchlagen. D'Ormeville ſtieß wieder zum Heere ; doch war 
feine Tochter der Gegenſtand feinge ganzen Sorgfalt: er wußte 
nicht, wem er dies Toflbare Kleinod anvertrauen follte, als ihn ber 
Zufall mit Madame Reinhard bekannt machte. Diefe gute Dame 
hatte eben erft ihren Sohn bei der Armee verloren und war von 
Schmerz nievergebeugt. D'Ormeville machte ihr ven Antrag, Mutter: 
ſtelle bei feiner damals vier Jahre alten Pauline zu vertreten. Mit 
Freuden willigte Madame Reinhard ein, und da ber Kriegsſchau⸗ 
play fie unaufhoͤrlich an ihren Verluſt erinnerte, reiste fie mit bem 
Kinde ab, um ein ihr zugehöriges Händchen bei Offenburg zu be- 
wohnen, und d'Ormeville verfprach, daß er dort fich mit ihnen ver- 
einigen wolle, fo wie feine Pflicht es ihm erlaube. Dort, lieber 
Müller, in jenem hübſchen Haufe, wohin ich Dich einmal geführt, 
verbrachte Pauline ihre Jugend unter den Augen der Madame Rein: 
hard, welche fie wie ihre. Tochter liebte. D'Ormeville kam hie unb 
ba, bie. ihm vom Dienfle ‚freigelaffene Zeit bei ihr zu verleben. 
Seine Tapferkeit hatte ihm ven Brad eines Hauptmanns verſchafft 


115 


und da er ohne Chrgeiz war, verlangte er nichts weiter, Du weißt, 
lieber Müller, auf welche Art ich Paulinens Bekanntſchaft machte... 
— Sa, ja! id weiß e&, und wünfchte, der Teufel hätte mich an 
dem Tage geholt, wo ich fo Dumm war, Sie allein gehen zu laffen!!... 
Doch weiter! — Um diefe Zeit nun faßte d'Ormeville, von dem 
Berlangen gequält, fein Vaterland wiederzufehen, ven Blan, nad 
Frankreich zurüdzufcehren, Pauline wollte ihren Bater nicht vers 
laffen, und Madame Reinharb verftand ſich zur Begleitung. Sie 
reißten daher alle Drei nach Straßburg und quartirten fich in dieſem 
Haufe ein: hier lebten fie anderthalb Jahre ziemlich ruhig ; nach 
Ablauf diefer Zeit aber entfchloß ſich d'Ormeville, der feinen wahrs 
haften Namen wieder annehmen wollte, damit er feine Pauline aus 
ihrer Einſamkeit ziehen koͤnnte, zur Reife nach Paris, in der Hoff; 
nung, das ungerecht gegen ihn verhängte Topesurtheil ungültig zu 
malen. Seit feiner Abwejenheit nun Kat mich der Zufall: oder 
mein guter Stern... — Sagen Sie lieber: die Hölle!... — 
Meine Bauline anffinden laſſen; unfere Trennung hatte unfere 
Liebe vermehrt... — Da hat fie etwas Sauberes gemacht! — 
Die gute Madame Reinhard hat unfere Verbindung gefegnet! — 
Alte Weiber machen immer dummes Zeug! — Und wir gaben uns 
ohne Rüdhalt der und zu einander Hinziehenden Neigung hin!... 
Der Himmel nahm. indeß diefe gute Dame, welche Mutterftelle bei 
Baulinen vertrat, zu fih ; ſchon lange empfing biefe feine Nach⸗ 
richt mehr von ihrem Vater und wat in größter Unruhe über fein 
Schidfal. In der Hoffnung, ihn wienerzufinden, eilte ich nad 
Baris; aber alle von mir angeftellten nur erdenklichen Nachforſchun⸗ 
gen führten zu nichts! Und weil das Schickſal ihr dieſe letzte Stütze 
raubt, ift es an mir, lieber Müller, diefe Sorge zu übernehmen : 
ich werde ihr. Batte werben; meine Pauline gab mir ihr Wort: 
fie empfing meine Schwäre, und ich kann nicht glauben, daß mein 
fo gütiger, gefühlsoller Bater diefe Wahl tadeln koͤnnte.“ 
Müller blieb eine Weile in tiefe Gedanken verſunken. Ber 


116 


wundert über fein” langes Schweigen, wollte ihhn Heinrich um bie 
Urfache befragen, ald Müller begaun: „Es thut mir leid, beſter 
Heinrich, ich muß Gie betrüben ! aber es iſt unmöglich, zu capitu⸗ 
liren, Sie müſſen auf diefe Heirath verzichten! — Was fagft Du, 
Müller... auf viefe Heirat werzihten!... — Ja, wie ich fage, 
uud Sie verlaffen mit mir im Augenblick dieſes Haus!... — 
Und Du glaub, Müller, ich werde Dir gehorchen? — Sa, ih 
hoffe es! — Run, fo enttänfche Did. Was mid an Paulinen 
feffelt, ift kein vergänglicges Feuer, es ift die wahrhafte leiden⸗ 
fehaftliche Liebe, und keine Macht der Erde wäre im Stande, mich 
von ihr au Irennen. — Wohlan denn,“ ſprach Müller bei fich ſelbſt, 
„ich ſehe, daß das ſchwere Wort heraus muß!" Gr tritt näher, 
und feine Hand ergreifend, fagt er zu ihm: „Mein lieber Heinrich, 
waffnen Sie fi mit Muth, ich fehe wohl, daß ich Ihnen ein Bes 
heimniß entgüllen muß, das ich gerne für immer verborgen hätte!... 
— Bas fol das? — Bauline iR Ihre Schweſter! — Gwoßer 
Gott! wäre es möglih?... Ach nein, Da inf Dig, Weiler, 
willſt mich täufchen!.. .“ 
„Rein, Heinrich, id habe Ihnen die Wahrheit gejagt, die 
&ie lieben, if Ihre Schweiter; denn nicht der Oberſt Yramberg 
iR Ihr Bater, nein, d'Ormeville verdanken Sie das Leben !" 
Seinrich ſinkt vernichtet auf einen Stuhl und Müller erzählt 
ihm ausführlich, was er über feine Geburt und das edle unb großs 
müthige Benehmen des Oberflen Framberg weiß. Schweigenb hört 
Heinrich zu; ein ſtummer Schmerz, völlige Erichöpfung folgten 
auf feine heftigen Bemüthöbewegungen und Ansbrühe Müller 
leidet beinahe eben fo fehr, daß er ihn in ſolchem Zuftande fickt. 
„Brmannen Sie ſich, Tieber Heinrich,” ſprach er, „Iaffen Sie fü 
durch das Schieffal nicht darnieder beugen und zeigen Sie Gefühle, 
bie deſſen wärdiger find, ber Sie erzog. Xhränen bienen zu nichte 
unter ſolchen Umfländen ; hier bebarf es eined männlichen Charal⸗ 
terß. Jebt müffen Gie mir folgen und biefen Ort verlaffen.... 





ir 


— Das werd’ ih, Miller ; doch ſprich, was foll ans ihr werben? 
— Geien Sie unbeforgt! . . . ich kenne meine Pflicht. Glauben 
Sie denn, der Ober Framberg werde, nachdem er an Ihnen neum- 
zehn Jahre lang Baterfielle verfah, Ihre Schweiter allein ficken 
lafßen in der Welt, als einen Spielball der Zufälle?... Rein, 
mein Herr, feten Sie gerechter gegen ihn; er liebt Sie zu ſehr, 
als daß er nicht auch Paulinen lieben ſollte!... — Ad, Maller! 
Du belebſt meinen Muth wieder!... Wer wird es aber über ſich 
nehmen, meine theure Pauline zu belehren , welche Bande und ums 
flingen?... — Ber? nun zum Henker! ich, und zwar auf ber 
Stelle, denn je mehr man in ber Art Krifen zögert, um fo gifti⸗ 
ger macht man die Wunde. Doch, vor Allem, mein Herr, müſſen 
Sie and diefem Haufe... — Ohne fie zu fehen?... — Bob 
Henker! Zu was mödte das gut fein? Ihre Berzweiflung zu vers 
mehren, und das ift unnoͤthig. — Und wohin foll ich gehen, Müller ? 
— Gleichviel, überall werden Sie beffer fein als Hier. Ich will 
Sie begleiten, in diefem Zuſtande mag ich Sie nicht allein laſſen; 
alsdann komme ich hieher zurüd, und, taufend Donnerwetter! in 
zwei Stunden, hoffe ih, foll Alles abgethan fein.“ 

Müller zieht Heinrich mehr fort, ale daß er ihn führt. Noch 
einmal erhebt diefer die Augen nach ber Wohnung, bie fein Theuer⸗ 
ſtes in der Welt umfchließt, und bei jebem Schritte, ber ihn von 
ber Theuren entfernt, blutet ihm das Herz. Der gute Hufar ges 
leitet ihn zw Hannchens Tante und empfiehlt ibn ber Sorgfalt 
biefer Frau; aber Heinrich bemerkte nichtd von dem, was um ihn 
vorging. Nun fchlug Müller wieber den Weg nah Paulinens 
Wohnung ein, indem er mit Gewalt bie fein Herz bewegenden Ges 
fühle nieberfänpfte. 

Bol Unruhe erwartete Pauline Heinrichs Zurückkunft, welchen 
fie mit Müller immer noch im Hanfe glaubte. Gin geheimes Bors 
gefühl fchien fie von der Lage ber Dinge zu benachrichtigen, un» 
049 fie Mühen allein in ihr Zimmer treten fah, bongten ſich ihre 


118 


Knie, und Topienbläffe bedeckte ihr Geflcht. Langfam ſchritt 
Müller vorwärts, ohne zu wiffen, wie er ihr bie Abreife des Ges 
liebten kund thun follte. „Ich komme,“ begann er, „Ihnen Hein: 
richs Lebewohl zu bringen... — Was, mein Herr! er wär 
fort 9... — Ja, mein Fräulein! — Für lange? — Ich glaube. 
— Und ohne mich zu fehen ? — Es mußte fein. — Großer Bott!... 
Er liebt mich alſo nicht mehr!...“ Und Pauline fällt bewußtloe 
in Naller's Arme. Der gute Hufar legt fie fanft auf eine Dit: 
mane nieber. Nachdem fie wieder zu fi gekommen, floßen ihre 
Tränen reichlich, und mit dem Gefühl des lebendigſten Schmerzes 
tief fie aus: „Er liebt mich nicht mehr!. .. — Alle Wetter! 
freitich liebt er Sie, mein Bräulein!... Und gerade darum habe 
ich ihn zur Abreife gezivungen. — Wie, mein Herr, Sie find’s?... 
— Ya, mein Fräulein! Sie verabfchenen mid, nicht wahr ? 
Wohlen, Sie haben Unrecht; ich that nur meine Schuldigkeit. 
Ihre Heirath durfte nicht fattfinden!... — Warum nicht, mein 
Herr ? — Beil es nicht üblich if, daß ein Bruder feine Schwefter 
heirathet. — Was fagen Sie? Heinrich wäre mein Bruder? — Je, 
mein Fräulein! Heinrich iſt nicht der Sohn des Oberften Framberg, 
wie er bis jeht glaubte, fondern der des Hauptmanns d'Ormeville.“ 

Nun wiederholt Müller Baulinen, was er Heinrich ſchon er: 
zahlt Hatte. Diefe hoͤrt ihn fchweigend ; nur ihr Schluchzen unter: 
brach feine Worte. Nachdem Müller geenvigt, ging er mit ſtarken 
Schritten im Zimmer auf_und ab, wobei er zwifchen den Zähnen 
fluchte und fih Thränen aus dem Auge wifchte. Der Anblid von 
Baulinene Schmerz zerfchnitt ihm das Herz. „Ha! taufenb Bom: 
ben!“ ſprach er in abgeriffenen Worten, „wäre ich Pabſt! wie 
ſchnell wollte ih ihnen Difpenfation zum Hetrathen geben!... 
Aber ich bin's nicht, mein Oberft auch nicht, zum Henker alfe, 
nicht mehr geflennt, haben wir Tein Herz wie Apfelmuß, nnd ſuchen 
wir bie Sache beſtmoͤglichſt zu verändern " 

„Mein Fraulein,“ ſprach ex, auf Paulinen zutretend, „Sie 








119 


mühlen fit faffen; ich weiß wohl, dus iſt nicht fo leicht; worin 
läge aber dad Verdienſt, feine Leivenfchaften zu beflegen, wenn 
es nichts koſtete?... — Aber werde ich ihn nicht mehr fehen ? 
— D fa, mein Fräulein, Ste werben ihn wieber fehen, doch erfl, 
wenn die Zeit in euren Herzen eine Rrafbare Leidenſchaft getilgt 
Hat und Freundſchaft an die Stelle giner Hoffnungslofen Liebe ge: 
treten fein wird, — Sie Haben Recht, mein Herr; wir mußten 
uns trennen!... Aber ach! ... was foll ih ohne ihn werben ?... 
Ich Habe Teinen Freund... Eeinen Befchüger mehr!... — Sie 
iszen fh, mein Fräulein! Sie haben Jemand, der Ihnen Beides 
fein wird, — Wer denn ? Derjenige, der Ihren Bruder erzog, ber 
ihn wie feinen Sohn liebt. Glauben Sie, der Oberft Framberg 
werde Sie verlaſſen ?... — Rie, mein Herr, werbe ich bie Hälfe 
eines Menfchen erbetteln... — Das Heiße ich einmal einen fehr 
übel angebrachten Stolz ; ich fage, Sie reifen fogleich nach Schloß 
Framberg ab. — Ich, mein Herr? — Ya, Ste, mein Fräulein! 
— Und auf welchen Titel? — Haben Sie's ſchon vergeffen ? als 
Schwefter Heinrichs. Glauben Sie, mein Fräulein, wir werben 
Sie allein laſſen in der Welt, während Ihr Bruber Titel und Reichs 
thimer genießt, die er mit Ihnen theilen follte?... Nein; das 
it eine ausgemachte Sache, Sie reifen nach dem Schloß ; außer: 
dem wird's auch Ihrem Bruder die Ruhe wieder geben. — Aber, 
mein Herr! — Was, mein Fräulein? — Wenn der Oberft Fram⸗ 
berg... mich nicht liebt ? — O! er wirb Sie lieben, das weiß 
ih gewiß. — Aber wenn... ih nit... — Aha! ich verfiche; 
wenn Sie ihn nicht Tiebten! ... Teufel, ba wären Sie jehr kitz⸗ 
lich!... Ein Mann, der zwanzig Felbzüge ehrenvoll durchgemacht! 
ein Mann, vor deffen Namen ſchon die Feinde zittern... ein Mann 
enblih, der Ihren Bruder erzogen, an Kindesſtatt angenommen, 


wie einen Sohn geliebt hat... — Ah! ich werbe ihn lieben, 


mein Herr! ... — Ja, pop alle Welt! Sie werden ihn Lieben, 
und Alles wird gut gehen, dafür ſtehe ich Ihnen!“ 


\ 


100 

Bette Mäler einmal einen Entſchluß gefaßt, fo mußte vs 
feibe ſchleunig ausgeführt werben; er forderte daher Vaulinen auf, 
angenblidtlich ihre näthigften Sachen zuſammenzupacken und ſich in 
dust Stunde zur Abreife bereit zu Halten. — „Aber, mein Hear,“ 
antgegnete Pauline, „meine alte Dienerin?... — Die nehmen 
Cie wit. — Ich Tonne den Weg nad) dem Schloffe nicht. — Ei! 
gum Teufel! halten Sie mid für ein Kind, Fraͤulein ?... Glau⸗ 
ben Sie, ih werbe Sie allein hinſchicken ?... Frank wird Ele 
gelsiten. — Frank, ber Diener meines... . meined Bruberd? — 
Ya, der Diener Ihres Bruders. Run wären alfo alte Schwierig; 
Bolten befettigt. Ich will für ben Meifewagen forgen, und biefen 
Abend werden Sie fern yon Straßburg fein.“ — Und fern von 
Geinri, dachte Pauline, dem abgehenden Müller nachblickend. 
Sie fand indeß einen geheimen. Reiz darin, daß fie ben Ort be 
wohnen follte, au dem ihr Geliebter erzogen worben mar. Schloß 
Sramberg wäre ihr als ein himmliſcher Mufenihalt erjchienen, wenn 
fe mit ihm dort geweſen wärs. 

Bon Baulinen ging Müller zu Frank und fagte ihn, was er 
zu thun habe. Frank, ber vor Müller wie ein Schüler vor feinem 
Lehrer Hand, verſprach feinen Vorſchriften treulich nachzukommen. 
Nachdem Müller einen Reiſewagen beftellt Hatte, dachte er, es 
werde am Ort fein, dem Oberſt zu ſchreiben und ihm alles Bor: 
gefallene zu erzählen. Bis jetzt hatte er keine Zeit dazu gefunben; 
er ergeiff alfo bie Weber und fchrieb folgenden Brief: 

„Mein Oberſt! 

„Endlich Habe ich unfern jungen Maun auefinbig gemadht, und 
tch darf mich rühmen, nicht-oßne Mübe!... Aber ed war dringend 
nöthig, daß ich kam. Tauſend Granaten! eine Stunde fpäter war's 
nicht mehr Zeit und die Kleine wurde... Aber ich war auf dem 
Play, Oberſt, hab's auf's Beſte von ber Welt eingerichtet. Hein⸗ 
rich weiß Alles, Ober... er weiß Alles, ich mußte es ihm wohl 
fagen, denn die Meise iR feine Schweſter; und hätte ich ihm wicht 








1 


Alles erzählt, ich. verſichere Sie, Oberſt, ein Regiment Gufaren 
hätte fie nicht auseinander gebracht. Ich ſchicke die Kleine nach 
Schloß Framberg, und Heinrich führe ich Ihnen zu ; beide find in 
Berzweiflung und heulen, daß ed einen Achtundwierzigpfünder er⸗ 
barmen möchte!... Sie fehen Oberft, daß Alles gut geht, und 
ih Hoffe, Sie werben mit meinem Derfahren zufrieden fein. Ich, 
bin, mein Oberft, Ihr ireuer Soldat und Diener 
Müller.“ 

Müller verfiegelte bie Turge, aber energifche Epiftel und ſandte 
fie dem Oberſt zu, indem er dem Boten größte Eile befahl und 
aufgab, den Oberſt von feiner baldigen Ankunft in Kenntniß zu 
.fepen. Als diefe Sadye abgemacht war, Tehrte ex zu Paulinen 
zurüd, um ihre Abreife zu befchleunigen.. 

Mit ſchwerem Herzen erwartete Pauline den Augenblid, wo 
Müller fie von dem Theuerſten, das fie befaß, entfernen follte ; 
aber unfer Huſar hatte bereit fo viel Gewalt über fie, daß fie 
bei feiner Ankunft fchnell aufftand und ſich zur Abreife anſchickte. 
Müller führte fie mit ihrer alten Dienerin in ben Reifewagen, 
drückte ihr Mräftig die Hand und ſagte: „Muth! wer im Unglüd 
fo viel Ergebung zeigt, wird früher ober fpäter dafür belohnt.“ 
Sich hieranf an Frank wendend, befahl er dieſem, die Pferde tüchtig 
auzutreiben, und eilends rollte der Wagen davon. 


Achtzehntes Kapitel. 
Ein Romanlsfer hat es ſchon errathen. 
„Dweh!...“ rief Müller, Baulinens Reifewagen zachblickend, 
„müßte ich oft folche Intriguen durchführen, da möchte ih mich 
lieber dem Musketenfeuer meines Regiments bloßftellen!... Doch 
hoffe ich, mich ehrenvoll aus diefer Sache zu ziehen. Das Schwerfte 
iſt geſchehen! ... Ich Hatte geglaubt, Heinrich Kummer werde 
mix am meiften zu Schaffen machen! ... Aber beim Teufel! jept 
Paul de Rod. II, 9 


” 3 


fehe ich wohl, Weibertäränen wiffen ben Meg zu unferem Herzen 
am beiten zu finden! Ich Hätte mich nicht für fo weich gehalten!...“ 

Unter folchen Betrachtungen fchlug Müller den Weg nach Hann⸗ 
end Wohnung ein. Er begegnete ihr auf ber Treppe und redete 
fe an: „Run, Hannchen, was macht ber junge Menſch? — Er 
IR immer in dem nämlichen Zuſtande, wie Du ihn gebracht haſt. 
—D!... verfiudte Licbe!... — Sag mir doch, Müller, warum 
er fich fo abhärmt ? — Einun, eines Weibes Willen... — Liebt 
fie ihn nicht? Die wäre fehr wählig! — Pot tanfend! freilich 
liebt fie ihn! aber fie können einander nicht heirathen. — Das 
thut mir leid, denn der junge Menſch intereſſirt mich ... ex ſcheint 
fo gefüählooll!... — Ich Yabe ihn gebildet, er it mein Zögling. 
— Da made ich Dir mein Compliment.“ 

Müller ging ſchnell zu Heinrich Hinauf. Der junge Mann 
ſchien ganz feinem Schmerze Hingegeben ; fowie er aber ben An 
kommenden erblidte, fand er mit Lebhaftigkeit auf und warf fih 
in feine Arme, einen Strom von Thränen vergießend. „Wie kindiſch 
find Sie!“ fagte Müller. „Auf! Stand gehalten, beim Teufel! 
— 3 if fie? Sag, was haft Du aus ihr gemacht ? — Eie ifl 
fort, mein Herr, und hat bei dieſer Gelegenheit einen Muth be 
wiefen, ber über ihrem Befchlechte ik. Ahmen Sie ihr nach, mein 
lieber Heinrich, bleiben Sie nicht Hinter einem ſolchen Borbilb 
zuräd. Denken Sie an ben Kummer, ben Sie Demjenigen, der 
Ihnen Vater iſt, verurfachen würben, wenn Sie fich eiuem un: 
nügen Schmerze überließen! ... Sch fpreche nicht von dem alten 
Huſaren, ver Sie großgog, Sie wie feinen Sohn liebt, und den 
Ihre Verzweiflung ine Grab flürzen würde, AG! Ihre ungläd: 
felige Leidenſchaft erſtickt alle übrigen Gefühle in Ihrem Herzen; 
denn feit wir nach einer fo langen Trennung wieber beifammen 
find, haben Sie mir nicht einmal die Hanb gebrädtt!... mich nicht 
bed unbebentenbften Freundſchaftswortes gewärbigt . .. .“ 

Gier konnte Müller feine Thraͤnen nicht qurkekhalten, Heinrich 





123 


bemerkte ed; ex flog ihm an den Hals, küßte ihn, bat ihn um 
Verzeihung und verfpradh, vernünftiger zu werden. Mehr verlangte 
Müller nicht, und bald war der Friede geichloffen. 

„Bohlan, lieber Heinrich, jept wollen wir meinen Oberſt 
wieder auffuchen, ex erwartet und gewiß mit Ungebuld. — Warım 
ift er aber nicht mit Dir nach Straßburg gefommen ? — Weil ein 
täppifcher Poftillon uns ſechs Stunden von hier im Walde umge- 
worfen hat und der Oberft fo unglüdlich war, fih am Bein zu 
verlegen. — Und wo if er gegenwärtig? — In einem. Heinen, 
mitten im Walde vereinzelt gelegenen Haufe, bei einem Manne, 
deſſen Geſicht mir gar nicht Hinunter will; aber man mußte boch 
irgendwo unterfommen! ...“ 

Heinrich erinnerte fich an das im felben Walde ihm aufgeftoßene 
Abentener und erzählte es Müllen. „O! 0! wäre ich dabei ge: 
weien,“ fagte diefer, „jo follte der andere Schurfe auch nicht ent: 
kommen fein! Aber Sie haben fi 5 brav gehalten!... und ich Bin 
mit Ihnen zufrieden.“ 

Müller und Heinrich waren zur Abreife gerüftet, fie verließen 
daher dad Hans der Madame Tapin. Grfterer Hatte noch Hann: 
chend Thränen zu trocknen; allein er brüdte ihr einen Doppel: 
lonisd'or in die Hand mit dem Verfprechen, wieber zu fommen, 
ſobald die Umftände e8 erlaubten. 

Der Oberft Framberg, den wir fchon fo lange im Haufe des 
Herrn von Monterranville verlafien haben, war beinahe von feiner 
Verwundung geheilt und ſchickte fich an, wieder in Straßburg mit 
Müller zufammenzutreffen, als er von ihm den Brief empfing, 
weichen der Leſer bereits kennt. Leicht kann man fi eine Bor: 
ftelfung von feiner Weberrafchung und Unruhe machen, als er die 
ihm unbegreiflich vorkommenden Begebenheiten erfuhr. Aber Müllers 
Brieffiyl war fo verwirrt, daß er nicht wußte, was er zu denken 
Hatte; und in größter Aufregung erwartete er die Ankunft ver 
Beiven, welche feiner Ungewißheit ein Ende machen folkte. 


124 


Diefe trafen noch am nämlichen Tage im Haufe des Ken 
von Monterranoille ein. Garl öffnete ihnen die Thüre. Freund⸗ 
ſchaftlich klopfte ihm Müller auf die Achfel und fragte, ob fein 
Herr bei dem Oberſt fei. „In diefem Augenblide nicht,“ erwiberte 
Garl, „mein Gebieter iſt ausgegangen. — Um fo beſſer,“ fagte 
Müller zu Heinrich, „fo wollen wir diefen Umftand benützen. 
Gilfertig fliegen fie die Treppe hinan und fanden den Ober in 
großer Bewegung im Zimmer auf und ab gehen. So wie er Hein 
rich erblidte, breitete er feine Arme aus, und diefer flürzte an 
feine Brufl. 

„35 will Dir Feine Vorwürfe machen, lieber Sohn,“ fagte 
er, ihn küſſend, „wiewohl Deine leichifinnige Aufführung und Dein 
geringes Vertrauen in mich mir das Recht dazu geben ; aber nad 
. dem, wad Müller mir gefagt, bift Du unglüdlih, und ich will 
Deine Leiden nicht vermehren, — Und taveln Sie, Oberſt,“ ſprach 
Müller vortretend, „mein Berfahren? — Nein, mein Freund, wie: 
wohl mich Dein Brief nur wenig von dem Borgefallenen unter: 
richtete ; aber ihr werbet mir hoffentlich jegt Ausführlicheres mit: 
theilen.“ 

Um die Neugierde des Oberfien zu befriedigen, erzählte ihm 
Heinrich in gehöriger Reihenfolge alle feine Abenteuer feit feiner 
Abreife aus dem Schloffe, fowie die Gefchichte feiner Pauline und - 
die Art, wie er erfahren, daß er nicht fein Sohn fei. „Der Zufall 
bat Dich zum Herrn meines Geheimniffes gemacht, das ich Dir 
Dein ganzes Leben hindurch verborgen hatte,“ fagte ber Oberſt; 
„Du darfft baher überzeugt fein, baß ich nie aufhören werde, Vater⸗ 
ftelle bei Dir zu vertreten. Was Deine Schwefter betrifft, fo wird 
auch fie meine Tochter ; von dem Augenblide, wo ich fie an Kindes 
Ratt annehme, ſoll fie mich nicht mehr verlaffen. Hat die Zeit aus 
Deinem und ihrem Herzen eine Leidenfchaft verwifcht, welche nie 
entfianden wäre, wenn ihr bie euch umfehlingenden Bande gekannt 
hättet, fo lommſt Du, Theil an unferem Glüde zu nehmen und 





125 


es durch Deine Gegenwart zu vermehren. Bis dahin aber muß ich 
mich aufs Neue von Dir trennen, mein Sohn, um Dich der Jung: 
frau nicht nahe zu Bringen, welche Du fliehen mußt!... Du wirft 
Din abermals von Schloß Framberg für einige Zeit entfernen ; 
biesmal aber wird Müller Dich begleiten; nur ihm mag ich die 
Sorge für ein mir fo theures Wefen anvertrauen!... Während 
Deiner Abmefenheit werde ich die Thränen einer Tochter trodinen, 
bie ich ſchon liebe und die mich über dieſe neug Trennung tröften 
wird.” \ 

Heinrich Füßte den Oberft taufendmal und drückte ihm die ganze 
Dankbarkeit aus, welche ihm fein edles und großmüthiges Bes 
nehmen einflößte. Müller war mit ven Anorbnungen feines Oberften 
ganz zufrieden, und fein Plan wurbe von Jedem gut aufgenommen. 

Die Nacht rüdte vor, und da der Oberſt, durch die verſchiede⸗ 
nen aufregenden Gefühle angegriffen, der Ruhe bedurfte, dachten 
fie an die Trennung ; man fehte feft, am andern Morgen mit eins 
ander dad Haus im Walde zu verlaffen. 

Das Schlafzimmer des Oberften enthielt nur ein Bett, Müller 
forderte daher Heinrich auf, die Nacht in dem feinigen zuzubringen. 
Diefer willigte ein, und nachdem fie den Oberft umarmt hatten, 
ließen fie ihn allein, um der Ruhe zu pflegen. 

Als fie durch einen langen, zur Treppe führenden Gang da- 
hinſchritten, erblickten fle in der Ferne einen Mann mit einem Licht 
in der Hand. „Herr von Monterranville,” fagte Müller zu Hein: 
rich ; „vorüber, vorüber, ich liebe diefen Menfchen nicht.“ Aber 
Heinrich dachte, die Höflichkeit erlaube ihm nicht, die Nacht in 
feinem Haufe zuzubringen, ohne ihn vorher begrüßt zu haben ; auch 
fei er ihm außerdem Dankfagungen fchuldig für die dem Oberft 
gewährte großmüthige Gaftfreundfchaft. Dem zufolge. ging er auf 
denfelben zu, und Müller folgte ihm mit etwas ſaurer Miene unter 
Flüchen auf die Hoͤflichkeitsformeln. 

Herr von Monterranville blieb ftehen, wie er Heinrich beran- 


126 


fommen ſah: viefer redete ihn unter Berbeugungen au, fagte ihm 
bie ſchuldigen Worte des Dankes; aber die Augen zu feinem Wirthe 
erhebend, erkannte er in ihm einen ber beiden Meuchelmörber im 
Balve. 
Die Zunge erſtarrte unferem Helden, plößliche Blaͤſſe überzog 
fein Geſicht, kaum vermochte er einige unzufammenhängende Worte 
hervorzuſtammeln, er zog dann Müller, der die Urfache dieſer hef⸗ 
tigen Berwirrung nicht begriff, mit fich hinweg. Herr von Mon 
terranville konnte Heinrich nicht wiebererfennen, weil er auf ben 
erfien Waffenlaut enifloben war; wie aber Boſewichte immer Ber: 
rath befürchten, fo beſchloß auch Herr von Monterranville, über 
des jungen Mannes Verwirrung bei feinem Anblick höchlich erflaunt, 
bie Urfache derfelben zu erforfchen, damit er gegen alle Borfälle 
auf feiner Hut fein könnte. 

Erft in Müllers Zimmer fland Heinrih ſtill, um freier zu 
athmen; hierauf ergriff er Müllers Hand und ſprach mit halb ers 
ftidter Stimme: „Laß und forteilen, mein Freund, meinen Bater 
ſchnell aufweden, ich Tann die Nacht nicht unter dieſem Dache zus 
Bringen. — Ha, das noch! beim Teufel! Sie müſſen mir erklären, 
was das heißen fol, Woher diefe Verwirrung ... Died Entſetzen? 
— Ad! Müller!. died Entfegen ift fehr natürlich. — Sollten Sie 
etwas befürchten ? — Für mich fürdhte ich nicht; aber mich ſchau⸗ 
bert vor Abfcheu, wenn ich bebenfe, daß wir im Haufe eined Mär: 
vers find!... — Eines Mörder? — Ja, Müller, in Herrn von 
Monterranville Habe ich einen ber beiven Männer bed Waldes er⸗ 
kannt! — Waͤr's möglich? tauſend Granaten! Wie? diefer Schule 
wäre... — Einer von Denen, welche den Unbefannten, ben id 
aus ihren Händen gerettet, um's Leben bringen wollten! — Ha! 
dreifache Kanonade,“ rief Müller, indem er die Hand an feinen Säbel: 
griff Iegte, „fallen wir über diefen Schurken ber, alle Wetter! 
und üben wir Gerechtigkeit für fein Berbrechen !“ Bei diefen Worten 
machte fih Müller zur Ausführung feiner Abſicht bereit; doch 











2 va “z 


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197 


Seinrich hielt ihn beim Arme zurück. „Haltan, Müller, was wii 
Dn beginnen? — Ei, zum Heufer! die Erde von einem Böfes 
wicht befreien, fle behält deren noch genug übrig ! — Bedenke hoch, 
daß wir keinen Beweis feines Verbrechens liefern können und ſelbſt 
für eigenmächtige Juſtiz beſtraft werden würden! — Ha! beim 
Teufel! Sie haben Recht! Was tft aber nun zu machen? — 
Höre, ih hab's jept überbgt und denke, es wäre unflug, ein Ge⸗ 
ſchrei zu erregen, das zu nichts führte; laß ung bis morgen warten: 
mein Bater mag unfer Baiehmen lenken; wir haben von dieſem 
Menſchen nichts zu befürchen; denn ex kann mich nicht erkennen, 
und an ung will er nicht. — So ſei's denn... pop Henker, weil 
es fo fein muß, aber ich gflehe, nur ungern gebe ich nach ; denn 
ed hätte mir Freude gemadt, den Roft meines Säbeld an dem 
Körper dieſes Banditen abziwetzen!“ 

Nach dieſem Entſchluff warfen ſich beide völlig angekleidet 
auf ihr Bett; aber fie genfien feinen Augenblid des Schlafee ; 
der Gedanke, im Haufe eine: Meuchelmörbers zu fein, empoͤrte iht 
offenes, biederes Gemuͤth. 

Am früheſten Morgen achten ſie den Oberſt ſchon wecken zu 
können, ohne daß fie Verdaet erregten; aber dieſe Vorfichtomaß⸗ 
segeln waren überflüffig, den Monterranville wußte Alles, Man 
erinnert fi, daß Heinrichs 3erwirrung ihm Schrecken verurfachte, 
baher begab er fih, ſobald ih Müller und fein Schlaflamerab in 
ihr Zimmer eingefchloffen baten, in ein anſtoßendes Gemach, öffnete 
einen Schrank, ftellte ſich dyt an die Scheidewand und hörte da 
ihr ganzed Geſpraͤch. 

Man kann fich feinen Shreden vorftellen, als er fich erkannt 
wußte ; aber das Ende ihrerinterrebung beruhigte ihn ein wenig. 
Da er fah, daß fie zu Faſſug eines Entichluffes den andern Mor: 
gen abwarteten, hielt er ed ür klug, ſich eiligft aus dem Staube 
zu machen, unb mitten in di Nacht verließ er dad Haus. 

Verwundert, fo früh auzeweckt zu werden, ließ Oberfl Fram⸗ 


128 


berg feine Weifegefähtten ein; aber noch mehr war ex erſtaunt, 
ale er ſah, mit welcher Vorficht Müller die Zimmerthüre wieder 
Hinter fich zufchloß und welches geheimnißvolle Weſen über ihre 
Züge audgegoffen war. Abſchen und Antrüftung folgten bald auf 
das Staunen, wie er erfuhr, in weſſen Haufe er fo lange fi 
aufgehalten. Er befahl indeß den Beien, fich zu bezwingen und 
nichts von ihrer Aufregung bemerfer zu laſſen. „Wie? mein 
Oberſt,“ fagte Müller, „wir follen tefen Schurken da nicht er⸗ 
würgen? — Nein, Müller, unfere Pflcht fieht entgegen ; bedenke, 
daß ich faft einen Monat Gaſtfreunſſchaft in dieſem Haufe ges 
ieße: der Befiper iR ein Ungeheuer; aber nicht an uns if «6, 
die Gerechtigkeit gegen ihn zu waffnen fei überdies ruhig, Mäller, 
und glaube fiher, daß, wenn er ach einen Mugenblic der ihm 
gebührenden Strafe entgeht, ed nur zeſchieht, damit das Schwert 
bed Geſetzes etwas fpäter über ihn richte. — Sie wollen es, 
Oberft, ich gehorche. — Es muß feh, denn unter allen anderen 
Umfländen wäre ich der Erſte gewefer, der euch aufgeforbert hätte, 
meine Freunde, die Erde von dieſem Boͤſewicht zu fäubern ; doch 
wir wollen nicht länger in ber Höhle des Berbrechens bleiben ; 
mich drängt es, anberöwo eine Luf zu arhmen, hie nidgt durch 
Banbitenhauch verpeftet iſt.“ 

Mit diefen Worten ging Oberfl Sramberg aus feinem Zim⸗ 
mer; Heinrich und Müller folgten im. Im Hofe trafen fie auf 
Karl und vernahmen, daß fein Herrfchon vor Tagedandruch aus 
dem Haufe gewandert fei. „Daran!hat er wohl...“ murmelte 
Müller zwifchen den Zähnen; „ben: beim Teufel! hätte ich ihn 
gefehen, würde ich meine Entrüftung icht haben bemeiftern können.“ 

Unfere brei Meifenden fliegen u Pferbef und trabten eilig 
davon, um ſich fchneller von einemHaufe au entfernen, welches 
Entfegen in ihnen erregte. 


129 


Heunzehntes Kapitel. 
Noch ein Augenblid der Freude. 


Am beften Gafthofe zu Straßburg fliegen die drei Reiſenden 
ab, um einen Augenblic der Ruhe zu genießen, ehe fie fich aufs 
Mene trennten. 

„Mein lieber Heinrich,“ fagte ver Oberſt Framberg zu unferem 
Helden, als fie allein waren, „ich babe Dir Feine Dorfchrift für 
Dein Tünftiges Betragen zu geben, ich überlaffe Müller gänzlich 
die Sorge für Dein Wohlergehen. Wenn Du indeß das Maffen- 
handwerf, als beſtes Mittel, den Kummer raſch zu zerftrenen, er: 
greifen willſt, fo werde ich Deiner Neigung nicht hinderlich fein, 
im Gegentheil; doch Bitte ich Dich, mich von Deinem jebesmaligen 
Vorhaben zuvor in Kenntniß zu feßen.“ Heinrich verfpracdh, nichts 
zu thun, ohne den Oberſt vorher befragt zu haben, Der geheime 
Kummer, den er in feinem SInnerften barg und feinen Freunden 
zu verhehlen bemüht war, machte ihn unfähig, irgend einen Plan 
für feine Zukunft zu bilden... Nur ein Gegenftand nahm feine 
ganze Denkfähigkeit in Anſpruch, trotz all ſeinen Anſtrengungen, 
ihn aus dem Gedaͤchtniß zu verbannen. 

Müller wuͤnſchte fehnfüchtig, fein geliebter Zoͤgling möchte 
ſich dem Waffenhandwerk zuwenden. Ha!“ ſprach er zu Heinrich, 
„nach zwanzigjähriger Ruhe würde ich immer noch mit Freuden 
das Schlachtfelo und die alten Gefährten meines Ruhms wider 
fehen.“ Heinrich antwortete nicht, allein Müller Hoffte, die krie⸗ 
gerifchen Gemälbe, die er Häufig an ihm vorübergehen ließ, werben 
am Ende feine Seele bewegen, daß er fich feinen Wünfchen füge. 
In dieſer Hoffnung forberte er ihn auf, den Weg nach Wien eins 
zufchlagen, ‚und Heinrich willigte ein. | 

Der Oberſt verabfchievete ſich von feinem Sohne, und auf 
bie Frage beö leztern, warum er fie nicht nach Offenburg beglette, 


130 


antſchuldigte er fi unter dem Vorwand, daß ihn noch Geſchäfie 
in Frankreich zurüdhalten. 

Doch lag darin nicht der wahre Grund; aber er mochte Hein: 
rich fein gefaßted Vorhaben nicht mittheilen, aus Furcht, fein Bert 
löunte ohne Erfolg bleiben. Müller vertraute er inbe feine Ab⸗ 
fit, ihm das ſtrengſte Geheimniß anbefehlend. Des Oberflen 
Beginnen im Stillen bewundernd, verfprach er biefes. | 

Nach dem Abfchied von feinem Bater reiste Heinrich, mit 
dem Wunfche baldigen Wiederſehens, in Begleituug Müllers, uf | 
ber Straße nach Deutfchland ab. Ä 

Bir laffen den Oberſt Framberg fi in Ausführung feines 
edlen Vorhabens nach Paris begeben und machen und mit unjern 
beiden Reifenden auf den Weg, damit wir fehen, wie Müller es 
anftellie, Heinrich von dem ihn verzehrenden. Kummer zu heilen. 

Unfer Hufar und fein Zögling reisten zu Pferbe: „Dies if 
bie befte Art, Zerfiteuung zu ſinden,“ ſprach er; „fehen Sie ein 
mal, werfen Sie einen Blick auf diefe Herrliche, ſich nun vor unfern 
Augen auöbreitende Lanbfchaft!... ſehen Sie die ungeheuern Eins 
Sven des Schwarzwaldes, ber fich fernhin über Frendenſtadt er: 
ſtredt; Hier das hübſche Stäntchen Offenburg, das wir hinter und 
laffen, um uns in dieſe grünen Wiejentbäler zu vertiefen! ſehen 
Sie die Vögel, welche bie Wieberfehr des Frühlings fingen! bie 
Landleute, welche fich wieder an ihre Feldarbeiten madhen!... 
Das Alles erhebt das Gemüth und flattet mich mit einer Bere: 
famleit aus, deren ich mich nie fähig gehalten hätte!...” Hein 
rich lächelte, und Müller, erfreut, daß er benfelben für einen Augen: 
bli feinem vüftern Sinnen entriffen hatte, ſpann feine Rebe über 
die Schönheiten der Natur weiter aus. 

Während Heinrich diefen Vorftellungen Inufchte, gewahrte er, 
daß fie, ohne darauf Acht zu haben, auf die Straße nach Schloß 
Bramberg geriethen. Er hütete ſich wohl, es feinem Begleiter bes 
merklich zu machen; doch nicht Iange, fo nahm biefex es ebenfall⸗ 








131 - 


wahr. „Ho! Ho!” rief er, plöplich fein Pferd anhaltend, „ic 
fehe, daß ih Sie mit meinen Neben nicht den rechten Weg führe! 
Donuerweiter! Wir müffen wieder umkehren... — Barum denn, 
lieber Müller? — Weil meine Abſicht nicht if, Sie nach dem 
Schloß meines OÖberften zu geleiten. — Ah, Müller! es wieber: 
zuſehen hätte mir indeß große Freude gemacht! — Möglich, mein 
Herr; fpäter, jept kann's nicht fein. — Und Du willſt mich von 
meinem Kummer zerfireuen! Glaubſt Du denn, es gebe anges 
nehmere Zerſtreuungen, als bad Bergnügen bed Wiederſehens ber 
geliebten Stätte, wo ich meine Kindheit verlebt!... der Stätte, 
wo Du mich lehrteſt, ein Mann zu werden! ... ber Stätte enb- 
lich, die ich feit zwei Jahren nicht mehr gefehen!... .* 

Durch die Worte feines Heinrich erweicht, wußte Müller nicht, 
wie er ihm das mit fo vieler Herzlichkeit Berlangte abfchlagen 
ſollte. „Aber zum Tenfel! mein Herr!" fagte ex endlich mit bar; 
fhem, flrengem Tone, um Heinrich zu imponiren, „wiſſen Sie 
nicht, daß Ihre Schweſter jezt auf dem Schloſſe iſt, und daß es 
Thorheit wäre, wenn Sie dieſelbe ſehen wollten? — Ci! fo glaubſt 
Du denn, Müller, das ſei meine Abfiht... Nein, nur dem 
Schloffe nahe fein will ih, die Gegend durchſtreifen, jenen Bart, 
jene Gärten, die engen meiner erſten Freuden, wieberfehen, und 
mich bann entfernen, um in einer glüdlicheren Zeit wieberzulehren....” 

„Aber Sie könnten Ihrer Schwefter begegnen... — Nein, 
mein Breund ; der Zufall müßte fie mir denn gerade in den Meg 
führen, und das ift nicht wahrfcheinlih... Ich will ihr aus⸗ 
weichen, fag’ ih Dir, zudem bleibt Du bei mir. — Wohlen, 
Sie wollen ed... ich willige ein... Aber, beim Teufel! ich 
fage Ihnen, fowie fi ein Weib und nähert, führe ih Sie mit 
verbängtem Zügel davon... — Ic thue, was Du begehrfl. — 
Wahrhaftig, ich bin zu gefällig... Doch die Nacht rüdt heran; 
Sie werden zugeben, daß jeht nicht Zeit zum Beſuche bes Parks 
und der Bartenanlagen iſt, beſonders ba wir noch bei zwei Stunden 


zum Schloß Gaben. — Nun gut, Müller, fo wollen wir die Racht 
in der Umgegenb zubringen... ſieh, in dieſem Pachthof da unten; 
man wirb uns ficherlich ein Rachtlager nicht verweigern, und morgen 
früh, fo wie der Tag grant, machen wir und auf den Weg nal 
dem Shloß... — Wohlen, es fei, laß uns im Pachthof über 
nachten.“ 

Unfere Reiſenden ritten darauf zu, und Müller glaubte dad 
Hans zu erfennen, wo ihm, als er einft bei Nacht feinen Zögling 
fachte, ein fo ſpaßhaftes Abenteuer begegnet war; er beichloß, 
ſich zu überzeugen, ob feine Vermutungen gegründet feien. 

Die Nacht war noch nicht lange hereingebrochen; die Thüre 
des Gehoͤftes ſtand offen; Rüller trat zuerſt ein. Jeder Gegen: 
Rand, auf den feine Blicke fielen, beſtaͤtigte ſeine Vermuthung; 
bald trafen fie ben Pächter im Stalle beſchaͤftigt; fowie er fle 
aber erblickte, verließ er fein Gefchäft und Fam ihnen unter tiefen 
Bädlingen entgegen. 

„Bas wünfchen die Herren ? — Ein Nachtlager, mein Freund, 
wenn’s möglich if,“ fagte Heinrich zum Pächter. — „Ihr fehet 
bier, nahm Müller, näher tretend, das Wort, den Sohn bei 
Grafen von Framberg, Burgherrn des Schlofjes gleichen Namens, 
und den Feldwebel Müller, früher unter ven Eaiferlichen Hufaren 
dienend und jeßt Hofmeifter des Grafen...“ Der Pächter machte 
große Augen bei Anhörung aller dieſer Titel, wiewohl er nicht 
viel davon verfland; mit großem Belärme rief er feine Knechte 
herbei, damit man Alles für die Herren in Stand feke. 
„Hola, he! Großhans! ... Peter! herbei! mo fledt ihr 
denn, ihre Schlingel!“ Großhans kam fogleih. „Wo iſt denn 
Betr? — Wahrlid, Herr! das weiß ih nicht!... Vielleicht 
hilft er der Frau!“ Müller erinnerte fich wirklich, daß Peter ber 
mit den außerorbentlichen Arbeiten beauftragte Knecht fei, umt 
and ben Meben bes Großhans, daß bie Hausfrau noch ihren alten 
Gewohnheiten nachhange. 





183 , 


Indeß kamen auf des Pächters Geſchrei Frau Catharine und 
Beter von verjchievenen Seiten und beide roh wie gefottene Krebfe 
herbei. „Borwärts, liebes Weib, rühre Dich und bereite diefen 
Herren ein guted Rachieffen, während Peter die Betten rüſtet.“ 
Die Pächterin war behend und hatte bald ihr Nachteffen aufge: 
tragen. Neugierig betrachtete Müller Diejenige genauer, deren Bes 
fanntfchaft er nur im Finftern gemacht; mit Bergnügen fah er, 
daß fle wohl ihr Verbienft habe und, obgleich nicht mehr fo fung 
wie Hannchen, doch noch einen Gang auf den Heuboben werth fei. 

Gatbarine führte die Reiſenden in die Wohnftube, und während 
fie den Tiſch deckte und das Eſſen auftrug, bemerkte fie Müllers 
verfiohlene Blide wohl. Ein Hufar von fünfzig Jahren kommt 
einem Bauernknecht von zwanzig nicht gleih; Kat man aber ben 
Bauernfnecht alle Tage bei. der Hand, fo verfucht man's gerne 
einmal im Borbeigehen mit dem Hufaren, ohne Nachtheil für das 
Alltaͤgliche. 

Heinrich, der nur in der Hoffnung des andern Tags lebte, 
aß wenig und zog ſich in feine Schlafkammer zurück, um ſich baͤlder 
der Ruhe zu überlaſſen, aber Müller, begierig zu ſehen, was das 
werben ſollte, blieb am Tiſche und forderte den Pächter auf, Eins 
mit ihm zu trinken und einen Augenblid zu plaudern. 

Müller war, wie man weiß, Fein übler Zecher. Der Pächter 
wollte es ihm gleichthun und bald ward das Geſpraͤch Higiger. 
„Wißt Ihr, Herr Hufar, daß Euer Titel als Feldwebel des Grafen 
von Framberg mich an eine vor drei Jahren vorgefallene Begeben⸗ 
heit erinnert... Sag’ einmal, Weib, denkſt Du noch an dem 
Schurken, der ſich auch für einen Hufaren ausgeben wollte? ... 
— Ab! ja, ja, ich erinnere mich,” antwortete die Paͤchterin 
lächeln... — „Was ift denn das für eine Begebenheit?” fragt 
Müller feinen Wirth. — „Sa, mein Seel’! das will ih Euch 
erzählen... Stellt Cuch vor, da kommt mitten in ber Nacht ein 
Dieb und Eopft an unfere Thüre. Mein Weib lag im Bett, mein 


Auckhte fdhliefen, nur ich war noch in diefer Stube an meiner 
Tagesrechnung. Ich frage: wer Hopft? Sa feht, da hat ver Kerl 
De Frechheis und antwortet mir, er fei Feldwebel und Zögling 
des Grafen von Framberg, kurz, er gab fi für dad aus, was 
Ihr fein! — Wie?" fragte die Pächterin ihren Mann, „ber Hert 
führt bie nämlichen Titel wie der Dieb 1 — Ja, Gatharine; fchan, 
wie er log, der Lumpenhund!“ 

Die Paͤchterin ahnte das wahre Berhältnig, und ein leichter 
Stoß Müllers mit: dem Fuße zeigte ihr, daß fie errathen hatte. 
Ws der Bauer fah, wie fehr die Geſchichte feinen Gaſt ergöke, 
gefiel er fi, fie mit allen Einzelnheiten zu würzen. Müller hütete 
Rh, ihn zu unterbrechen, und begnügte fih damit, ihm jeden 
Ungenblid einzufchenten! und vie Wirthin warf in ber Voraus⸗ 
ſicht, wo das hinauswollte, ihrem Manne vor, daß er mäßiger 
als gewöhnlich fei und ihrem Gaſt mit feiner Zurädhaltang feine 
Ehre anthue. 

Run wollte der Pächter dem Hufaren die Stange halten, 
tonnte aber bald nicht mehr fehen, was um ihn her yorging; er 
ſchnarchte, vaß man glauben durfte, er werde nicht fo ſchnell wieber 
aufwachsen. Müller benüpte den günftigen Augenblid, Stau Ge- 
tharinen einen militärifchen Kuß zu geben, und ich weiß nicht, ob 
bie Gegenwart des Ehemanns feine Unternehmungen gehemmt hätte. 
ber indem bie Bächterin ſich ſtellte, als wehre fie ſich, entſchlüpfte 
fie ohne Licht, and Furcht, Peter möchte ihr begegnen, in iht 
Schlaflänmerlein, und der Hufar folgte ihr dahin, ohne baf fie 
wm Hulfe rief. 

Hit Tagesanbruch ging Müller von feiner Schönen und fehte 
Ra neben ben immer noch fchnarchenden Pächter. Nicht lange, fo 
ſchloß die Müdigkeit auch Ihm die Mugen und er leiftete feinem 
Wirth Geſellſchaft. 

Heinrich, mit Ungedulb des Augenblicks harrend, wo er Schloß 
ramberg wieder ſehen ſollte, ſtand mit ber-Morgenröthe auf, „Es 








_ 185 

in Bräter?“ fragte er einen Knecht, den er im Hofe traf. — „DO, 
Herr! der ſchnarcht, was das Zeug Hält!... neben unferem 
Meiſter. — Wie? er fchläft noch ? — Ja, Herr... Bop taufend: 
es fcheint, fie haben geftern nicht übel zu Nacht getrunken. — Ic 
mag ihn nicht aufweden. Sagt ihm, mein Freund, er folle im Schloß 
wieder mit mir zufammenfommen. — Ganz recht, mein Herr!“ 

Erfrent, daß ihm der Zufall erlaubte, nach feinen Wünfchen 
und Eingebungen umbherzuftreifen, flieg ex fogleich zu Pferbe und 
ſchlug eiligft den Weg zum Schloffe ein. Je näher er den Orte 
kam, wo er bie glüdlichfien Augenblide feines Lebens genoflen, 
um fo freubiger wurben die Schläge feines Herzens; ein neues 
Gefühl durchdrang fein Inneres, und fein Araber, der die Ge⸗ 
fühle feines Herrn zu errathen ſchien, trabte langfamer vorwärts, 
damit er biefen Augenblid des Glücks länger genießen könne. 

Beim Eingang in ben Park band Heinrich fein Pferd an 
einen Baum und beirat den Schauplag feiner erften Freuden. Mit 
welcher Wonne fah er nicht jedes Gebüſch, jeden Baumgang wieder, 
der ihm eine Zeit zurädrief, wo fein Glück darin beſtand, bie 
Beete zu verheeren und bed Bärtnerd Seglinge auszureißen!... 
Wie ſüß find die Brinnerungen an unfere Kinbheit!... Aber 
warum führen fie eine geheime Melancholie mit fih?... Weil 
man weiß, baß jene fchöne Zeit nimmer wieberfehrt.. 

An der Sinbiegung in eine Allee fließ er auf den Gärtner, 
Der gute Mann erkannte feinen jungen Herm und brach in ein 
Frendengefchrei aus. „Stille!" fagte Heinrich zu ihm, „ich will 
richt, daß die Bewohner von meiner Ankunft unterrichtet werben. 
— Ah! das ift was anders, gnädiger Herr; dann ſchweige ich. 
— Wo iR Dein Sohn? — Frank, gnäbiger Herr, iſt vermuth⸗ 
lich im Schloffe. — But, fuch’ ihn auf und fage, daß ich ihm 
bier erwarte. — Sa, gnäbiger Herr, ich gehe. — Aber fei vers 
ſchwiegen gegen bie übrige Dienerfchaft!... — Seien Sie uns 
beſorgt, verlaſſen Sie ſich uf min!" — --- - . 


180 


Eilends geht der Gärtner an die Beforgung feines Auftrags, 
und Heinrich ſieht ſehnlichſt Frank's Erſcheinen entgegen. Er bat 
ihn fo Vieles zu fragen, fo Manches aus feinem Munde zu ver: 
nehmen ! feine einzige Furcht iR, Müller möchte kommen und durch 
feine Gegenwart alle feine Blane durchkreuzen; doch endlich ficht 
er Frauk und fliegt ihm entgegen. 

„AB! da biſt Du ja, lieber Frank! ... wie freut mich's, 
Di wieder zu ſehen! — Und mid au, gnaͤdiger Herr! ih 
hehe, ich war nicht darauf gefaßt; aber das Berhängniß ift fo 
feltfam ! Seit unferer Trennung ift fo Vieles geſchehen! — Du 
haft Recht, Frank, und ich erwarte von Dir Grzählung alles Bors 
gefallenen. — Gerne, gnäbiger Herr,” fagte Frank mit einem 
Seufzer. Heinrich hörte dieſen Seufzer und fah Franke traurige, 
gezwungene Miene. „Großer Gott!” rief er, „was haft Du mir 
denn zu verlündigen? Sollte meiner Banline. .. meiner Schwefter 
etwas zugeſtoßen fein? — Es iſt ihr gerade nichts zugeftoßen, 
guäbiger Herr, und doch... — Nun! und doch... — In diefem 
Augenblide... — In diefem Augenblide... — Sf... if... 
fe... — ©ie... aber fo fprich doch, zum Henker! Du läßt mid 
vor Ungebuld fierben. — Wahrlich, guäpiger Herr, ich wage nicht, 
Ihnen zu fagen... — Sprich, verhehle mir nichts ; ich befehl 
ed Dir. — Nun wohl, gnädiger Herr! Fräulein Bauline if ſehr 
krank und in dieſem Augenblide fürchtet man fogar für ihr Leben. 
— Großer Bott!“ rief Heinrich mit den Tönen ber Verzweiflung: 
„ha!...iheile... ich fliege... — Halten Sie an, gnädiger Her,“ 
fagte Frank, ihn an feinem Kleive zurückhaltend, „wenn Sie fie 
nicht augenblidlich töbten wollen, denn in ihrem Zuſtande würde 
bie Gemüthsbewegung über Ihre unverhoffte Gegenwart nicht vers 
fehlen, fie ins Grab zu ſtürzen. — Ach, Frank! ich fol fie alio 
nicht ſehen? — Doch, guädiger Herr, Sie follen fie fehen: aber 
erft, wenn Sie Ihre Gegenwart ertragen Taun und ich fie auf Ihre 
Rädkunft vorbereitet habe. — Doch erzähle mir, warum ih fr 


. 





437 


in disfem- Zuſtand wieder finde. — Berne, gnädiger Herr, bas 
it bald gefrhehen. Ale wir Straßburg verließen, legte Fraͤu⸗ 
fein Bauline eine Beftigfeit, eine Grgebung an den Tag, bie mich 
felbR in Erftaunen ſetzte; denn ich dachte mir wohl, was fie in 
ihrem Innern leide; aber die Gegenwart und die Reden Müllers 
hatten ihr damals einen Muth ‚gegeben, ber nicht immer bauern 
fonnte ; unfere Reife war, wie Sie wohl glauben werben, fehr 
traurig. Umfonft fuchte ich fie durch meine Unterhaltung zu zer 
freuen ; fie beobachtete das tieffte Schweigen. Wie wir indeß nahe 
bei Schloß Framberg waren, fchien fie von einem neuen Gefühle 
bewegt; fie fragte mi, ob Sie da geboren wären, ob das Schloß 
viele Bewohner habe, und ob ſich der Herr Oberft in demſelben 
befinde. Als fie wußte, daß er nicht hier fei, fchien fie gefaßter 
und trat mit ziemlich ruhiger Miene in dad Schloß. Müllers Bes 
fehlen zufolge ließ ich ihr eined der angenehmften Gemädher ans 
weifen: ich führte fie in ven Park, in die Gärten, kurz, ich zeigte 
ihr alle Schönheiten des Schloſſes. Sie dankte mir für das, was 
fie meine ®efälligfeit nannte, mit jenem fanften Lächeln, das Sie 
an ihr fennen; aber alle dieſe Aufmerkſamkeiten konnten nicht ver: 
hindern, daß fie den Tag nach ihrer Ankunft in eine Krankheit 
verfiel. Bon da an ging ed täglich ſchlimmer, und beſonders feit 
geftern liegt fie in erſchreckendem ieberwahnfinn. — Im Fieber: 
wahnfiın!, Großer Gott! ... gib mir bie Kraft, fo viele 
Leiden zu ertragen! Aber fage mir, Frank, fpricht fie dabei einige 
Morte aus? — Pop Element! das glaub’ ich wohl!... Bald 
ruft fie laut nach Ihnen, indem fie Sie ihren Gatten ober auch 
ihren Bruder nennt; bald ift ihr Vater der Gegenftand ihrer Be- 
forgniffe und ihrer Binfce; aber am haͤufigſten find Sie es, 
gnädiger Herr, nach dem fie inbrünftig verlangt, und auf eine fo 
wehmüthige Weife, daß Einem ganz fehwer um's Herz wird.“ 
Durch Franks Erzählung niebergebeugt, bleibt Heinrich einen 
Augenblid unfähig, nur ein Wort hervorzubringen; aber nad 
Vaul de Rod. I. 10 


188 


einer Meile ficht er haftig von feiner Mafenbant auf und läuft 
and vollen Kräften auf das Schloß zu. „Ums Himmels willen, 
halten Sie an!” rief Frank, indem er ihm nacheilte und ihn am 
Kleide zurüchielt. — „Laß mich, Frank, laß mich, fog’ ich Dir, 
ich muß fie feben, ich will's. — Ha, taufend Donnerietter! Sie 
werben fie nicht fehen,* rief eine rauhe Stimme, bie Heinrid 
veranlaßte, ſich umzuwenden; er erblidte Müller, der ihm den 
Weg verfverrte und nicht in nachgiebiger Laune zu fein ſchien. 


Bwanzigfles Kapitel. 


Die Liebe führt niht immer zum Buten. 


Beim Erwachen war der Pächter gar nicht verwundert, daß 
\er Müller an feiner Seite eingefchlafen fah, als aber diefer bie 
Augen auffchlug und vernahm, Heinrich ſei fchon fort, da ſinchte 
er derb vor fih bin, daß in feinem Alter ihn die Weiber noch 
dumme Streiche begehen und feine Pflicht vergeffen Tießen ; dann 
ſchickte ex fi an, feinem Sögling anf den Ferſen zu folgen. 
„Wahrlich!“ fagte der Pächter, „es ift nicht zu verwundern, 
daß Ihr fo Lange geichlafen habt; geftern Abend haben wir Allee 
fauber ausgetrunken. — Wahr,“ antwortete Müller; „aber Ih 
habt auch einen Wein, ber teufelmäßig in den Kopf ſteigt.“ Die 
Pächterin kam herab, und Müller beeilte fi, aufs Pferd zu fleigen, 
and Furcht, ihr Anblick möchte ihm wieder den Teufel in den Leib 
jagen. Der Ehemann Iud ihn ein, öfters mit ihm zu fchmanfen 
und zu trinfen, und bie Pächterin vereinigte ihre Bitten mit denen 
ihres Mannes. 
Kurz nach Henri langte Müller im Bereich des Schloffet 
an unb wollte denfelben bereits in ber Gegend aufſuchen, als er 
ihn auf fih zulommen ſah. Wie er feine legten Worte hörte, wußte 





139 


er ſchon, um was e8 ſich Handle, ohne‘ indeß bie Urfache feiner 
Perzweiflung zu kennen. 

„Wohin wollen Sie, mein Herr?" fragte er, Heinrich auf: 
baltend. — „Ind Schloß, Müller! — Weßhalb? — Sie zu 
fehen. — Sie werben nicht hingehen, fage ih. — Ad, mein 
Freund, fie liegt in den legten Zügen! — In den legten Zügen? 
das ift etwas flark. SH’ wahr, Frank? — Sa, Herr Müller, die 
xeine Wahrheit. — Ich will mich felbft davon überzeugen; es ift 
aber unnöthig, daß Sie mitgehen. Iſt's, wie Sie mir fagen, fo 
können Sie das Fräulein nicht ind Leben zurüdrufen: ift fie im 
Gegentheil weniger übel auf, jo wird Ihr Anblid ihren Schmerz 
erneuern, ohne demfelben Linderung zu fchaffen. — Ah, Müller! 
lag mich mit Dir gehen! — Sie vergeflen, Herr, daß es fih um 
Ihre Schwefter Handelt und Ihr Benehmen nicht fo iſt, wie es 
fein follte! — AM Deiner Vorftelungen und Widerſprüche un: 
geachtet, werde ich mich von diefem Schloffe nicht eher entfernen, 
bis ich über ihr Schickſal Gewißheit habe. — Hum !” fprach Müller 
bei fich felbft, „dieſe Liebe muß ich um jeden Preis mit der Wurzel 
ausrotten. Gehen Sie, erwarten Sie mich bei dem Gärtner am 
Ende des Parks,“ fagte er dann zu Heinrich ; „ich werde Sie dort 
treffen und Ihnen mittheilen, was Sie durchaus wiffen wollen.“ 

Heinrich wagte feinen Widerſtand und lieg fih von Krank zum 
Häuschen feines Vaters führen, dad am entgegengefeßten äußerften 
Ende der Gartenanlagen, in ziemlicher Entfernung vom Schloffe, 
lag. Müller blickte Heinrich nach, die Schwäche bereuend, womit 
er benfelben nah Schloß Framberg gelaffen Hatte, und auf ein 
Mittel finnend, wie er ihn wieder wegbringen Eonnte. 

Dit unbefchreiblicher Angft harrte Heinrich der Rückkunft 
Müllers; doch Stunden verfloßen, der Hufar fam nicht. Als Hein- 
rich die Nacht hereinbrechen ſah, Tonnte er feiner Unruhe nicht mehe 
gebieten ; er ſchickte Frank nad) dem Schloſſe, um die Urſache biefer 
Verzögerung zu erfahren, 


140 


Kaum war diefer fort, ald er Jemand auf das Haäuschen zu: 
kommen ſah. Trog der Dunkelheit glaubte er Müller'n zu erfennen 
und flog ihm entgegen. Er täufchte fi nicht. „Nun, Mülle,“ 
redete Heinrich ihn an, „was haft Du beun fo lange im Schloſſe 
gethan? — Nichts!“ antwortete biefer mit düſterer Stimme, wo: 
bei er feinen Gang gegen das Bärtnerhand nicht unterbrach. — 
Ums Himmelswillen, unterrichte mich von Allem ! In weldyem Zu: 
ſtande haft Du Pauline gelafien ? — Sie hat nichts mehr zu fürd: 
ten. — Was will Du damit fagen? Sprich! Dein Schweigen 
macht mich ſtarr vor Entfegen! — Sie wollen ed... Run benn! 
So waffnen Sie fich mit Muth, Ihre Schwefter, Ihre Schwehtr ... 
ift nicht mehr!“ 

Heintich Härte nicht weiter: leblos fiel er zu Boben. „Run, 
die Krifis iſt ſtark,“ ſprach Müller; „doch um jo bälder wird fie 
vorüber fein!” Er verfuchte, Heinrich ind Leben zurückzurufen: 
mit Hülfe des auf fein Schreien herbeigelaufenen Gärtnerd trug 
er ihn in das Häuschen bed letztern und brachte ihn gu Bette. 
Hier ſchlug der junge Mann die Augen nur auf, um in einen noch 
beunrubigenberen Zuftand zu verfallen: ein hitziges Fieber hatte 
fich feiner Sinne bemädhtigt ; grauenvoller Wahnfinn war an bie 
Stelle der Bernunft. getreten, er ſah und erfannte Niemand mehr. 
Ueber Heinrichs Zuftand erfchreckt, zerfihlug ſich Müller ven Kopf, 
ranfte fi die Haare aus und ſchien nur ſich allein die Schul von 
feines Zöglingd Leiden beizumeſſen. 

Fünf Tage lang blieb unfer Held in ſolchem Zuflande, und 
Müller brachte diefe ganze Zeit an feinem Wette zu. Gublich rief 
ihn die Natur, welche ftärfer war als die Krankheit, wieder ind 
Leben zurüd, und am fechöten Tage erlangte er feine Bernunft unt 
mit ihr etwas Ruhe wieder. 

„Ach! ... nun ift die Kriſis vorbeit...“ fprach Müller, als 
er Heinrich etwas ruhiger fah. „Meiner Treu! fie war hart, und 
wären Sie unterlegen, fo wäre mir nichts ‚übrig geblieben, ale 





141 


den Fröfhen im Schloßgraben Gefellfchaft zu leiſten! Aber Sie 
genefen twieber, und ich fühle mich um einen Sechsunddreißigpfünder 
leiter, den ih da auf der Bruft liegen hatte. — Arıner Müller,“ 
ſprach Heinrich Iächelnd, „wie vielen Kummer verurfache ih Dir!.. 

— Erlangen Sie Gefundheit und Muth wieder, und ich bin für 
meine Sorgen binlänglich belohnt.” Heinrich verfprach Alles und 
Müller füßte ihn, vor Freude weinend. 

Erf nad vierzehn Tagen konnte Heinrich das Bett verlaffen.“ 
Müller verlor feinen Zögling nicht aus den Augen; allein dieſer 
fragte zumeilen, wo Frank fei und warum er ihn nicht Bei fi 
febe. Ich babe Frank aufgetragen, und einen guten Wagen anzu: 
ſchaffen, damit wir reifen Eönnen, fobald Sie fo weit. hergeftellt 
find : darum fehen Sie ihn nicht hier. Sind Sie etwa mit meiner 
Pflege nicht zufriehen, daß Sie nach Ihrem Diener fragen? -— 
Wie ungerecht Du bift, lieber Müller! Menn ich nach Frank frage, 
geſchieht ed nur, damit Du ebenfalls ber Dir fo fehr nöthigen 
Ruhe pflegen Tönneft. — Seien Sie unbeforgt, meine Ruhe ift 
Ihre Gefundheit, und wenn Sie ſich wohl befinden, bin ich nicht 
mehr krank. — Guter Müller! ...“ 

Wie Heinrich im Stande war, ein wenig auszugehen, führte 
ihn Müller durch eine Heine Pforte, nur einige Schritte vom Gaͤrt⸗ 
nerhaufe entfernt, ins Freie. „Warum verlaffen wir ben Umfang 
des Schloffes ?" fragte Heinrih. — „Weil ein Blick ind Freie 
Sie mehr zerfireuen wird, als ein Bart, den Sie hundertmal nad 
alfen Richtungen durchflreift haben. — Aber, Müller, ich hätte 
ihn fo gerne wieder gefehen!... — Nein, mein Herr, dad würde 
Sie angreifen und Sie werden nicht gehen !" Heinrich wagte feinen 
Wiverſpruch; doch fühlte er im tiefften Herzensgrunde ein fehn- 
liches Berlangen, die Orte wieverzufehen, bie er aufs Neue und 
vielleicht für lange Zeit verlaffen follte. 

Alamüͤller glaubte, Heinrich fei ſtark genug zur Reife, zeigte 
er ihm an, daß fle.in zwei Tagen fich auf den Weg begeben wuͤrden. 


% 


148 


„Frank iR alfo zurück? — Ja, und der Reifeiwagen wird und vor 
der Meinen Pforte hier neben, welche auf bie Hauptftraße führt, 
erwarten. — Wie? wir nehmen ven Weg’ nicht durch das Schloß? 
— Sie fehen, «3 if unnoͤthig.“ Heinrich wagte feine weiteren 
Cinwendungen: aber er nahm ſich vor, gewiß nicht abzureifen, ohne 
das Afyl feiner Kinpheit ein letztes Mal geſehen zu Haben. 

Am Abend vor dem zur Abreife beflimmten Tage forberte 
"Müller, der vor Müdigkeit niedergedrüdt war, Heinrich auf, fih 
bald niederzulegen, damit er am andern Morgen früher auf ben 
Beinen fei. Heinrich, mit feinem Plane bereits fertig, ſtellie ſich, 
ale komme er Müllers Begehren nach. Unfer Hufar ging zu Belte 
und lag bald im tiefſten Schlafe. Als Heinrich gewiß war, baf 
er nicht mehr an ihn denke, fand er vorſichtig auf, trat leiſe aus 
bet Hütte und ſchlug den Weg nach dem Schloffe ein. 

Der Abend war prächtig, herrlicher Mondſchein verbreitete über 
De ganze Natur einen bläulichen Schimmer, und wenn das Auge 
auf einem Bufche oder Strauche rubte, glaubte es einen unbeweg⸗ 
lidgen Schatten, eine ſeltſame Geftalt zu erkennen. Tauſend Ge⸗ 
genftände bieten fi dann unſerem Blide dar, verwirren unfere 
Sinbildungsfraft und noch danken fie ihr Entſtehen nur bem Biber: 
ſchein des Nachtgeſtirns. Unficheren Trittes wandelte Heintih 
weiter ; in feinem durch die Krankheit gefchwächten Gehirn Tpuften 
taufend Geſtalten, es erfchuf fi taufend Viſionen; bei jevem Ge: 
genſtand, der ihm auffließ, pochte fein Herz gewaltig; eine geheime 
Ahnung ſchien ihm anzubeuten, daß etwas Außerorventliches fih 
ihm zeigen werbe. 

Endlich gelangte er in den dem Schloffe näher liegenden Theil 
ber Bartenanlagen. Seiner Bewegung nicht mehr Herr, tritt er 
in eine Laube, fi einen Augenblick zu fegen.... aber hier fält 
ihm etwas in bie Mugen ; auf der Bank, bie er fich auderfor, bes 
merkt er eine weiße Schattengeflalt, welche regungsloq; ift und 
feine Gegenwart nicht zu gewahren fcheint, Heinrich fühlt ſich einer 


® 
* 








143 


Ohnmmacht nahe und ift genöthigt, fi an einen Baum zu Ichuen ; 
er ſucht feine Schwäche zu überwinden... aber der Schatten ers 
hebt fih und kommt Iangfam auf ihn zu; ein Strahl,ded Mondes 
Belenchtet fein Geſicht; er erkennt ed. „Schatten meiner Bauline!...“ 
rief er, auf die Kniee finfend, „haft Du den himmliſchen Aufent: 
Halt verlaffen, um Denjenigen heimzufuchen, der nicht mehr glück⸗ 
Lich fein Tann auf einer Erde, die Du nicht mehr mit ihm bes 
wohnſt? ...“ 

„Heinrich,“ ſprach eine ſchwache Stimme, und Pauline (denn 
ſie war es) fiel bewußtlos vor ihrem Geliebten nieder. „Großer 
Gott! ...“ rief Heinrich, „iſt's keine Taͤuſchung ?... Doch nein, 
fie iſt es wirklich.. meine Bauline!... Gerübrt von meiner 
Berzweiflung bat der Himmel mir fie zurückgegeben, um mich nicht 
mehr von ihr zu trennen.“ 

Schnell fpringt er feiner Geliebten bei; Pauline jhlägt die 
Augen wieder auf, erkennt Heinrich, lächelt ihm zärtlich zu und 
liegt Demjenigen in den Armen, von dem fie ſich für immer ge: 
trennt wähnte; Heinrich drückt fie in höchfter Freude an fein Herz, 
bedeckt fie mit Küffen, und fie, weit entfernt, ihn zurüdzufloßen, 
gibt fich feiner Zärtlichkeit gänzlich Hin, und beide vergeflen bie 
Bande, bie fie umfchlingen, um nur noch an bie Liebe zu benken, 
welche fie von der rechten Bahn ablenkt und in den Abgrund zieht, 
den zu vermeiden fie nicht ſtark genug waren. 

Die Reue folgte vem Vergehen auf dem Fuße nach; aber biefes 
Vergehen war Feines von denen, welche ein Liebhaber durch neue 
Lieblofungen vergefien macht! ... Entſetzt über die Größe feines 
Vorbrechens, wagt Heinrich nicht mehr, die Augen zu feinem Opfer 
aufzufchlagen. Pauline weint, ſchluchzt und bleibt bewußtlos auf 
dem Raſen, dem Zeugen ihrer Schuld, liegen. Under, ber fie in 
diefen Zuſtand gebracht, denkt nicht daran, ihr Hülfe zu leiften; 
eilfertig flieht er die unheilvolle Laube, vertieft ſich in den Park, 
gewinnt das Weite und verſchwindet, ehe die Sonne feine Frevel⸗ 
that beicheint. 


. 144 
J‘ 

Urme Baufine ! wer aber wirb jeht Deine Thränen trodinen... 
Deiner Berzweiflung Einhalt thun ? ... Der verläßt Dich, ber 
allein Deine Beiden findern konnte! er verläßt Dich mit dem Schwure, 
nie Dich wieberzufehen!.... Doch der Himmel wird fi Deine 
erbarmen, ..... wirb Dir einen Freund, einen Tröfter fchiden, in 
dem Augenblide, wo Du gegen bie Borfehung und die Härte Deine? 
Geſchickes murrſt. | 

Bor Allem möchte es gut fein, dem Lejer zu erklären, wie 
Pauline, die für tobt galt, mit Heinrich in der Laube zufantmieniraf. 

Wir haben gefehen, wie ärgerlich Müller war, daß fl Grin 
rich während der Krankheit feiner Schweſter nicht vom Schloß ut: 
fernen wollte. Der gute-Hufar foh wohl ein, daß det junge Mann 
im Innerſten feine® Herzens ſtets eine Liebe bewahren werte, welche 
dad Unglüd ſeines übrigen Lebens ausmachen müßte, darum be 
ſchloß er, fie durch irgend ein gewaltfames Mittel zu erſticken. Wie 
er von Baulinens Krankheit hörte, flieg fogleich der Gedanke in 
ihm auf, fie für todt ankzugeben. Deßhalb begab er ſich zu ber 
fimgen Kranten, fi) von ihrem Befinden felbfl zu überzeugen ; 
er fand fle feßr übel auf, und meinte, was er als eine Lüge er: 
fonnen, fönne wohl zur Wahrheit werden. Nichts deſto weniger wollte 
ex ben Lanf ver Begebenheiten nicht abwarten, und noch benfelben 
Abend Fam er wieder zu Heinrich. Wir wiſſen, wie er fein Bor 
haben ausführte. Obgleich er RB aber auf Ausbrüche des’ Schmerzes 
gefaßt machte, glaubte er doch nicht, daß feine Li eine fo Heftige 
Wirkung hervorbringen werde, und als er feinen geliebten Gehurih 
am Hande des Grabes ſah, da gereute' ihn das Mittel, das er 
angewenbet, ihn von feiner Liebe'zu heilen. Eudlich erlangte Seins 
rich die Geſundheit wieder und Müller athmete' neun auf. Bien 
beifeh Krankheit Hatte er durch Frank erfahten, daß Pauline bei⸗ 
nabe'völlig hergeſtellt fei: da aber bie Krifid voruber' war, weilte 
er Heinrich nichto davor mittheilen, fonbern ihn in’ einent Itrtheu 
belaffen, der ihm ie Rue wieber geben ſollte. Darm trug: er 








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Sorge Frank von feinem Herrn entfernt zu Halten und biefen am 
Spazierengehen im Schloffe zu verhindern. 

Müllers Plan war gut ausgedacht, aber das Derhänguig ließ 
deſſen Vollführung nicht zu. Pauline, welche feit einigen’ Tagen 
in dem Garten vie frifche Luft genoß, hatte ſich, durch die Schon⸗ 
heit des Abends angezogen, unter eine fchattige Laube gefopt un 
über ihrem Sinnen vergeffen, daß die Stunde des Schlafengrheus 
längft vorüder fei. Wir Haben gefehen, wie der Teufel e8 anfing, 
daß er die beiden Liebenden zuſammenbrachte und fo in einem Nu 
alfe Plane unferes Hufaren über den Haufen warf. 

Aber Mirlker konnte nicht immerwaͤhrend ſchlafen; der Gebuufe 
an die vorgehaßte Meife weckt ihr mit Anbruch des Tages auf; 
er fpringt aus dem Bette, kleidet fih an und ellt zu Heinrichs 
Schlafftätte, um zu hören, ob er eine gute Nacht gehabt. Wie 
groß ift fein Erſtaunen, feine Unruhe... als er venfelben nid 
mehr in ber Hütte fieht!... „Ho, ho!“ ſprach er, „mein junger 
Menſch Hat abermals feine Streiche gemacht! Wir wollen Reine _ 
Zeit verlieren und fehnell Hinter ihm her fein!...” Und vamitik 
Müller bereits im Park, den er nach Allen Richtungen burchflteift; 
enplich führt ihn der Zufall in das unheilvolle Bosket; er glaubt 
von Ferne etwas zu unterfcheiden, näher getreten flieht er Pauline. 
leblos am Boden liegen. 

Unfer Hufar gibt fich nicht lange Vermuthungen Hin. „Der 
Teufel miſcht füh ind Spiel,” fagte er, „fle haben einander ges 
ſehen, geſprochen umb es ging Higig Her, wie es ſcheint. Wo ift 
denn aber mein Zögling ?“ Müller lud Pauline auf feine Sihultern 
und ſchlug den Weg nach dem Schloffe ein. Dort lag man noch 
in tiefem Schlafe; aber auf fein Gepolter und Grfchrei ift bald 
Alles auf den Beinen ; die Diener fbringen im Sembe herbei, ums 
zu erfahren, was es gibt: „Vorwaͤrts, meine Yreunde, Bomber 
und Granaten! Ihr müßt Alle die Umgegend burchfireifer, ums 
zwar auf ber Stelle. @uer junger Herr bat ben Teufel im Leib; 


146 


id ſehe wohl, «6 iR umnäthig, Daß ich's Euch Länger verhehle; 
macht Euch binter ihm ber, Jeder febe ſich in Marſch, und man 
muß ihn zurückbringen, wäre er auch am Ende ber Welt. Id 
ſelbſt werde Cuch bald folgen.“ Bei diefen Worten fchiebt fie 
Müller fort ind Freie. Einige wollten fich widerſpenſtig zeigen unb 
machten die Bemerkung, daß fie doch nicht im Hemde fortgehen 
!anen ; Müller aber wirft fie zur Thüre hinaus, indem er ihnen 
einen Tritt vor den St... gibt, welchem Argumente Keiner 
wiberfleht. 

Nachdem Müller feine Geſandten ausgeſchickt hatte, Tehrte er 
eilig gu Pauline zuräd und leiftete ihr alle Hülfe, welche ihre 
Sage erheiſchte. Nach vielen Bemühungen von feiner Seite flug 
fie endlich die Augen wieder auf. Der Name Heinrich war ihr 
acſtes Wort; alsdann erblidte fie zu ihrer Verwunderung unfern 
Hufaren an ihrer Seite. Ja, ich ſehe wohl, Sie find erflaunt 
über meine Gegenwart,“ ſprach biefer, „und ich kann Sie eben: 
falls verſichern, ich wäre lieber hundert Meilen von Ihnen weg!... 
Ya, wahrhaftig! ... . Frank Hatte wohl recht, ald er von einem 
Berhängniß fprad!...” - 

Banline begriff nicht viel von diefer Rebe: Doch Müller ers 
Härte ihr, was das heißen wolle und auf welche Art er fie im 
Boslet gefunden habe. — „Und was iſt aus Heinrich geworben?“ 
fragte Banline, — „Sr wird meine Vorwürfe gefürchtet haben und 
Bat fi daher aus dem Staube gemadt!... doch follte ex wiſſen, 
daß ich irog meiner firengen Miene Tein Felſenherz habe! .. .“ 
ber Müller machte ſich noch Leine Borfiellung von der Größe bes 
Bergebent. “ 

Er verſuchte noch, Banline zu tröften, und verließ ihr Ges 
mach, um bem Flüchtigen nachzuſpüren. Als Pauline allein war, 
ließ ſie ihren Thraͤnen freien Lauf; fie fürdstete und wünfchte zu 
gleicher Zeit, es möchte Müller gelingen, Heinrich wieder zurüd: 
anführen ; zuweilen machten Bernunft- und Pflicht fie vor feiner 





147 


Wiederkunft erheben ; allein die Liebe, ſtaͤrker als alle Vernunft⸗ 
gründe, gewann field wieder die Oberhand und trug am Ende ben 
Sieg davon. ' 

Indeß waren Müller und ſaͤmmtliche Diener im Schloffe zurüd, 
ohne irgend eine Spur von Heinrich aufgefunden zu haben. Den 
folgenden Tag biefelben Nachforſchungen, ohne beffern Erfolg. 
Tage und Wochen vergingen, aber Heinrich erfchien nicht wieder. 
Müller ließ ven Muth nicht finfen und war Ifters acht Tage abs 
wefend, in ber Hoffnung, glüdlicher zu fein: nach zwei Monaten 
ging ihm die Geduld aus und er wünfchte Denfenigen laut zum 
Teufel, welchen wieberznfinden er im Grunde feines Herzens fo 
ſehnliches Berlangen trug. 

„Barım aber eigentlich diefe Flucht?“ fagte Müller, als er 
fich einft mit Pauline allein befand ; „ich hatte ihm zwar verboten, 
Sie zu fehen, nicht aber ein Narr zu werben.“ 

Bauline fchlug die Augen nieder und antwortete nichte, Die 
Müller fah, daß feine Fragen ihren Kummer nur vermehrten, 
ſprach er von etwas Anderem und bemühte fich, fie zu zerfireuen. 
Das arme Kind fhien in der That der Zerfireuung fehr zu bedürfen, 
Es war nicht mehr diefelbe Pauline, wie ein Jahr früher, fo 
frifch und lieblich, aus deren Augen Freude und Geſundheit leuchtete. 
Ihre Thränen hatten deren Glanz gebrochen, ihr bleiches welles 
Geſicht verrieih die Leiden ihrer Seele, und Alles in ihr verfüns 
digte ein Opfer ber Liebe. 

Se mehr bie Zeit verfloß, um fo größer ſchien Paulinens 
Kummer zu werben. Ganze Tage ſchloß fie fi in ihr Gemach 
ein, ober weinte fie in einer einfamen Laube. Müller dachte, es 
fei der Sram über Heinrichs Flucht. Unfer guter Huſar war nicht 
viel Heiterer als fie und fehr wenig geeignet, fie zu tröften. 

Eines Abends war. er aus dem Schloffe gegangen, um bie 
frifche Landluft zu genießen, als er von Werne ein Frauenzimmer 
gervahrte, deren etferige Bang irgend ein beſonderes Vorhaben 


180 


Vemuth, und vie Unglädlläge vergoß einen Strom von Thränen. 
Sobald Müller fie weinen fah, wich feine Strenge und er näherte 
ſich ihr, um fie zu tröften. . 

* „Run, ich verzeihe Ihnen,“ fprach er, fle bei der Hand faſſend; 
„aber unter einer Bedingung. — Unter welcher? — Daß Sie 
mir die Urfache Ihrer Verzweiflung fagen ; denn eine foldye muf 
doch da fein. — AS, zwingt mich nicht, durch Erzählung meiner 
Schande vor Euch zu erröthen. — Es muß fein, fage ich Ihnen: 
men, Donnerweiter! Muth gefaßt! — Ihr befehlt es ?... D, 
mein Bott! wie fehwer wird mir’s... Wohlan denn!... — Bor: 
wärts! — Ich Bin... — Sie find?... — Ich bin ſchwanger!“ 

Müller ift vernichtet. Pauline birgt dad Geſicht in ihren 
Händen. „Sie find ſchwanger! ...“ fagte Müller, endlich aus 
feiner Betäubung zurückkommend, „und Sie wollen ſich den Tot 
geben ! Unglücfelige! Sie wollen alfo auch das unfchuldige Opfer, 
das Ste unter Ihrem Herzen tragen, ermorben ? Ha! Sie fin 
Rrafbarer als ich ahnte! — IH fühle mein Verbrechen nur zu 
fehr! aber ach! ift nicht das unglüdliche Geſchöͤpf, das ich bee 
Lichte beraubt Hätte, fchon vor feiner Geburt der Schande und 
Beratung geweiht? Ein Kind des Verbrechens und des Unglück, 
wird es je wagen, die Urheber feiner Tage zu nennen? ... — 
Bas wollen Sie damit fagen? — Muß ich Euch noch belehren, 
wer fein Bater iſt? — Wie! Heinrich? mein Zögling ? Ha: 
dreifaches Donnerwetter! das bringt mich unter ben Boden! Sept 
bleibt mir nichts mehr übrig, ald mir von einem Achtundviergig- 
pfünder den Kopf wegnehmen zu laſſen.“ 

Paulinens Geſtändniß Hatte den Neft ihrer Kräfte vollende 
aufgerieben, und bewußtlos fiel fie auf ihr Bett zurück. Müllers 
ganzes Geiftesvermögen war burch das eben Gehoͤrte zu fehr be 
troffen, als daß er im Stande gewefen wäre, das um ihn her 
BVorgehenbe wahrzunehmen. Megungslos vor dem Kamin, ſtartte 
er, ohne zu fehen, träumte, ohne zu denfen, Titt, ohne zu fühlen, 


N 








151 


und die Nacht ging ihm worüber, ohne deß er von feiner Negungẽe⸗ 
Loſigkeit ſich echolt Hatte. 

Mehrfahe Schläge an das Thor bes Schloſſes riefen ihn 
wieder zu ſich; er rieb fich die Augen wie Einer, der aus einem 
Schweren Traume erwacht, fehaute verwundert umher und fah Pau⸗ 
Line noch in dem gleichen Zuftande. Diefer Anbli ruft ihm alles 
Morgefallene ins Gedaͤchtniß zurüd ; zwei große Thränen rollen aus 
feinen Augen ; jeufzend wifcht er fie ab, fchüttelt ven Kopf, fireicht 
feinen Schnurrbart und flürzt die Treppe Hinab. 

Man fuhr fort, gewaltig zu Flopfen; ber Pförtner kleidete 
ſich gemaͤchlich an; Müller, ungebulvig, öffnet ſelbſt. Ein Eil⸗ 
bote haͤndigt ihm ein Schreiben ein und entfernt ſich ſchnell wieder 
mit dem Bemerken, daß es keiner Antwort bedürfe. Müller hielt 
den Brief in der Hand, dachte an andere Dinge, als ihn zu Iefen, 
bis er, zufällig auf die Adreſſe ſehend, die Handſchrift feines 
Oberſten erkannte. „Ho! ho!“ ſprach er, ſich die Augen reibend, 
um ſich zu überzeugen, daß er nicht träume; „es iſt wirklich von 
meinem Oberſt und an mich gerichtet! Durch welchen Zufall weiß 
er, daß ich im Schloffe bin? ... Und das Thier von einem Boten 
flog wieder davon wie eine Bombe! Ich Hätte ihn ausfragen 
jollen: nun laß uns leſen ... Ich glaube, ich zittere zum erften 
Mal in meinem Lehen! Weiß mein Oberſt alles —— ſo 
iſt dieſer Brief meine Verdammung! Gleichviel, ich habe Strafe 
verdient und hätte ven Muth, mich ſelbſt abzuthun, wenn mein. 
Oberſt es beföhle !“ 

Mit viefen Worten reißt Müller den Brief ungeflüm auf und 
durchfliegt deffen Inhalt; bald geht eine merkliche Aenderung auf 

feinem @efichte vor, je weiter er liest; Thraͤnen entftrömen dem 
Augen bed wadern Hufaren, aber es find Thränen ber Freude, 
ver Luft, der Rührung. Kaum hat er autgelefen, als er wie wahn; 
finnig nach der Treppe flürgt, die zu Paulinens Gemächern hin: 
aufführt. „Vivat! Sieg!” fehrie Müller unter mächtigen Sägen 


I} 


158 


die Treppe hinauf. Enblich gelangt er in dad Zimmer Baulinend, 
welche ihre Kammerfrau wieber zu ſich gebracht hatte. Erſtaunt 
‚blidt fie Müller'n an; fie faßt nichts von dieſer außerorbentlichen 
Frende. „Da lejen Sie, lefen Sie ſelbſt,“ fagte Müller, ihr den 
eben erhaltenen Brief darreichend, „und Sie mögen ſehen, ob id 
Unzedt habe, wor Jubel außer mir zu fein.” She wir jedoch dem 
Lefer nen. Brund von Müllers plöglicher Freude .erflären, müſſen 
‚wir wieder den Oberfi Framberg aufſuchen, nen wir, im Begrifi 
nah Paris abzureifen, verlaſſen haben. 





Einundzwanzigfies Rapitel. 
sind 


Der Dberfi hatte Heinrichs Erzählung von d'Ormeville's 
Abenteuern aufmerkjam mit angehört. Seine edle und großmüthige 
Gisele faßte fogleich den Entfchluß, nach Paris zu gehen und dert 
alle noͤthigen Schritte zu thun, mwoburd er erfahren könnte, was 
an ‚dem Mater feines thenern Heinrichs geworben fei. Zwar hatte 
ber letztere bereits umfonft ſolche Nachforſchungen angeftellt; allein 
Heinrich kannte in Paris Niemanden; feine Jugend konnte über: 
bie ‚wenig. Vertrauen einflößen: ber Oberſt hingegen war vor 
einem Alter und einem Rang, hie Achtung und Ehrfurcht geboten. 
Gr ließ ſich Empfehlungsbriefe an die hohen Staatsbeamten geben 
und hoffte auf glüdlichern Erfolg in feinem Unternehmen. 

Oberft Framberg beeilte fich, und bei feiner Ankunft in Paris 
begann er augenblidlich feine Nachforſchungen. Seine Schritte 
wurden Schnell yom beften Erfolge gekrönt; der Minifter benad: 
tichtigge hen Oberft, daß der Geſuchte in der Force, einem ber 
bebeutenpften Gefaͤngniſſe der Hauptſtadt, hinter Schloß und Riegel 
füge. D’Prmenille war bei feiner Ankunft in Paris feftgenonmen 
und ‚bie über ihn qusgeiprochene-Tobeäfttafe in zehnjaͤhriges Ge 








138 


füngntb verwandelt worben, was er ſchon eine große Gunft nennen 
konnte, und ba feine Feinde nicht mehr am Leben waren, fo hoffte 
er bald feine Freiheit zu erlangen. Dazu aber war es nothwendig, 
bag füh Jemand in Frankreich für den Befangenen intereffirte, 
Unglüdlicherweife kannte er Niemanden hier und hätte wahrfcheins 
lich die feflgefeßte Zeit im Kerker verlebt, wenn nicht ber Zufall 
ihm einen mächtigen Befchüger in ber Berfon des Oberften zuge⸗ 
führt hätte. Diefer machte fi fogleih daran, die Freilaſſung 
d'Ormeville's zu erwirken, deſſen Vergehen nicht fo groß war, daß 
er fo befondere Strenge verdiente, unb ber durch eine Verbannung 
von zwanzig Jahren genug gelitten Hatte. 

Die Schritte, welche der Oberft zu thun gendthigt war, zogen 
fi mehr in vie Länge, als er geglaubt. Man hatte-ihm bereits 
die Erlanbniß ertheilt, d'Ormeville zu befuchen ; aber ex mochte 
fi nur als Weberbringer feiner Begnabigung bei ihm vorftellen. 
Welch ein großmüthiges. Benehmen gegen einen Mann, ber fein 
Nebenbuhler geweſen war... ber ihn der Liebe einer angebeteten 
Frau beraubt hatte, und von bem er fürchten mußte, daß er ihm 
auch Denjenigen werde .entreißen wollen, ven er als feinen Sohn 
liebte!.... Es gibt wenige Männer wie der Oberfl. 

Endlich, nach mehr ald brei in Umhergehen und Sollieitiren 
zugebrachten Monaten wirkte derſelbe bie Freilaſſung von Heinrichs 
Bater aus. Welcher Augenblid für fein edles Gemüth! Mit welch’ 
trunkener Freude begab er fih in das Gefängniß! Das Bewußt« 
fein einer guten That belohnte ihn reichlich für die angewandte 
Mühe! D'Ormeville hoffte nicht mehr auf Begnabigung: der Un- 
glückliche foß in einem Winkel feines Kerkers, dachte an feine 
Bauline, und der Kummer, ben fie empfinden mußte, vermehrte 
aur noch feine Traurigkeit. Da gehen ploͤtzlich die Thuͤren feines 
Gefängnifies auf: ein ihm unbelannter Mann, deſſen Geſicht je- 
boch Güte verfünbet, zeigt fich vor ſeinen Blicken (der Leſer hat 

Baul de Rod. U. . 41 


158 


(ton heraus, daß ed der Oberſt iii) und wirft ſich ohne Weiteres 
an feine Bruf ; ganz erſtaunt, weiß d'Ormeville gar nicht, was 
ex davon denken fol. „Zuerſt laßt und einander umarmen,“ ſprach 
der Ober zu ihm, „Belanntfgaft machen wir hernach; bier iR 
inzwiſchen Ihr Sreibrief ; ich Bin ber Oberfi Framberg und ich 
habe ihn ausgewirkt.“ 

D’Ormerille iR ungewiß, ob er wacht ober träumt; der Rame 
des Dberfien, das Wort Freiheit machen ihn fo fehr betroffen, 
daß er ganz erſtarrt; doch ber Oberſt, auf biefes Staunen gefaßt, 
zieht ibn fort aus dem Kerker, drängt ihn in feinen Wagen un 
last fich nach feinem Hötel führen. Unterwegs kommt dOrmeville 
wieder zu fih: „Es if Fein Traum!” ſprach er; „ich Bin in Frei⸗ 
heit und Ihnen, Herr Oberfl, habe ich fie zu banfn!... — 
Ich begreife Ihre Berwunderung, lieber d'Ormeville, und ich will 
ihr ein Ende machen ; ba aber meine Erzählung etwas lang wir, 
wollen wir warten, bis wir in meinem Hötel find ; bort können 
wir seden, ohme Unterbrechung zu fürchten.“ D'Ormeville wiligt 
en, und man langt an; ber Oberſt verbietet jede Störung und 
erzählt dem Befreiten, was dem Lefer ſchon befannt iſt. 

Ber vermödte d'Ormeville's Erſtaunen bei der Nachricht zu 
ſchildern, daß fein Sohn lebe und er ihn bald in feine Arme 
fließen werde! Seine Freude grenzt an Wahnfinn ; er wirft ſich 
an bie Bruſt des Oberſten und nennt biefen feinen Schutzengel. 
Ploͤſlich Hält er Inne und verfällt in tiefes Sinnen. „Was hab 
Sie denn I“ fragte ber Oberſt. „Woher dieſes Nachdenlken ? — 
Sollten Sie noch einen andern Sohn haben?“ fragt er nach einer 
Weile, ſtatt einer Erwiderung. — „Rein, ich Hatte nie einen 
andern ; nur Heinrich galt mir ale foldyer. — Heinrich!... Kein 
Zweifel mehrg er iſt's. — Was foll das heißen? — Ich kenr⸗ 
biefen theuern Sohn!... und ber Himmel Hat ihn zum Reiter 
meines Lebens auserloren! — Wär’ möglih?.. . Heinrich hat 
Ihnen das Leben gerettet? — In einem Walde, ſeche Gtunten 








‘155 


von Straßburg, wäre ich das Opfer zweier Menchtlmörder ge: 
worden, da fandte mir die Vorfehung meinen Sohn zur Mettung.” 

D'Ormeville war in ber That jener Heifende, ven Heinrich 
gerettet. Oberſt Framberg bewunderte die Rathſchlüſſe der göttlichen 
Vorſehung, welche den Sohn feinem Bater zu Hülfe gefandt hatte ; 
alddann fuhr er in feiner Erzählung fort, welche durch d'Orme⸗ 
ville's Ausrufe unterbrochen worden war. Als diefer letztere von 
ber Liebe Baulinend and Heinrichs, und dem Kummer, welche dem 
Oberſt viefe unheilvolle Leidenfchaft verurſachte, börte, unterbrach 
er diefen mit den Worten: „Trodnen Sie Ihre Thränen, mein 
Freund ; unfere Kinder follen dem Glücke und ber Liebe wieber: 
gegeben werben ; vernehmen Sie endlich, daß Pauline nicht meine 
Tochter if. — Sie iſt nicht Ihre Tochter ? ...“ rief der Oberft 
freubetrunfen ; „o! darüber verliere {ch noch ben Kopf! vie theuren 
Kinder! ... fle Hatten fo vielen Kummer! Noch wage ich nit, 
an dieſes Glück zu glauben!... — 88 ift bie reine Wahrheit ; 
aber ich fehe ein, daß fie @rläuterungen bedarf. Hören Sie mid 
an, und auch ich will Ihnen alle Begebenheiten erzählen, die mir 
von bem Augenblide an auffließen, wo ich mich von Derjenigen 
trennte, die ich meine Gattin zu nennen hoffte. 0 

D’Ormeville'8 Geſchichte. 

„Als ich meine theure Glementine verließ, begab ich mich 
nach Wien, dem Kaifer meine Dienfte anzubieten. Zwifchen Rußs 
land und Defterreich war der Krieg erflärt. Leicht warb ich auf: 
genömmen und in Betracht meiner Eigenſchaft als Breiwilliger 
unb meiner Geburt, wurbe ich bald Lieutenant in einem Huſaren⸗ 
regiment, das zu Feld z0g. Bei einem Dorfe zwifchen Nowogrobel 
und Wilna trafen wir auf den Feind. Das Treffen war blutig, 
und bie Ruſſen erlitten, wie ich in der Folge erfuhr, eine Nieder⸗ 
lage ; denn da ich gleich im Anfang bed Gandgemenges einen 
Schuß erhielt, fiel ih vom Pferd umd wurde für tobt auf bem 
Schlachtfeld gelaffen, 


156 


„Sin Bauer, welcher, Tange nachdem bie beiden Heere ent 
fernt waren, bei mir vorüber am, bemerkte, daß ich noch athmete; 
er war fo menfchenfreunblih, mich auf feinen Rüden zu laben 
und nach feiner Hütte zu tragen, um mir bort bie meiner Lage 
angemefjene Hülfe zu leiften. 

„Begen ein Jahr blieb ich bei dem guten Landmann, denn 
erſt nach Verlauf diefer Zeit erlaubten mir meine nun wieber völlig 
geheilten Wunden, an Kücklehr zu meiner Fahne zu denken. Aber 
während meiner langen Krankheit hatte dad wanbelbare Kriegs⸗ 
glaͤck vie Muffen zu Meiflern bes Ortes gemacht, in dem ich vers 
borgen war; fte hatten auf bem ganzen Wege nad) Oeſterreich 
Voſten aufgeſtellt, und ih ſah, daß ich dad Dorf nicht verlaffen 
könne, ohne. mich beinahe unansweichlichen Gefahren bloßzuftellen. 

MWas Tonnte ich thun ? ... Meine Lage war entjeglich, ich 
befaß nicht die geringfte Summe Geldes, und mochte dem wadern 
Manne, der mir dad Leben gefriftet, nicht Iänger zur Laſt fein. 

„Nur ein Ausweg blieb mir, nämlich zu arbeiten, um zu 
leben: und ſchnell war mein Entſchluß gefaßt. Der gute Bauer, 
der mich unterftüht Hatte, verjchaffte mir Arbeit bei einem Pächter 
in ber Gegend.. Ich zog die Kleidung an, die für meinen neuen 
Stand paßte, und begann bie Mutter Erde zu bearbeiten, welche 
niemals undankbar gegen Diejenigen ift, bie fle.mit ihrem Schweiße 
tränfen. 

„Ih lebte ziemlich ruhig; fehon Lange hatte ich mic) an mein 
neues Verhaͤltniß gewöhnt; überbied ließ mich bie Erinnerung an 
meine Clementine und die Hoffnung,® fle eined Tages wiederzu⸗ 
feben, bie lange Dauer meines Exils muthvoll ertragen. Gie 
wiffen, ih gab auf beutfchem Buben meinen Namen d'Ormeville 
auf, um ben Namen Chriftiern zu führen, und dieſen behielt id 
auch in meinem nunmehrigen Aufenthaltsorte bei. 

„Gine Halbe Stunde von dem Pachthofe lag ein kleines Schlof, 
daß einem gewiffen Drogluski gehörte, Diefer Drogluski war in 





157 


der Umgegend nicht fehr beliebt, und es liefen fogar verſchiedene 
Serüchte über ihn um, benen ih wenig Aufmerkfamfeit fchenkte. 
Da fein Schloß auf einer Anhöhe lag, von wo aus man eine 
weite Ausſicht genoß, lenkte ich, wenn bie Arbeiten es geftaiteten, 
meine Schritte nach diefer Seite und wandte meine Blicke nad 
der Gegend, die meine geliebte Glementine verfchänerte, und bat 
den Himmel, er möchte mir bald erlauben, die Angebetete wieder: 
zufehen. ' 

„Auf meinen einfamen Spagiergängen hatte ich einen Dienfchen 
bemerkt, der mir Häufig in ven Weg trat und mich aufmerkſam 
zu betrachten fchien. Anfangs gab ich nicht viel darauf Acht; aber 
ärgerlich geworben, daß ich ihn immer Hinter mir ber fehe, fragte ich 
ven Büchter, ob er ihn kenne. Auf meine Befchreibung deſſelben, 
fagte er mir, es könne Niemand anders ald der Vertraute und 
Diener des Herrn Drogluski fein, und er erinnere fi} fogar, daß 
derfelbe in den Pachthof gekommen fei und verfchiedene Fragen 
über mich angeftellt Habe. Begierig, zu wiſſen, was er von mir 
wolle, beſchloß ich, ihn anzureben, fowie ich ihn wieder träfe. 

„Die Gelegenheit Tieß nicht lange auf fich warten : kaum ein 
paar Tage waren verfirichen, als ich eined Abends in der Nähe 
des Schloffee meinen Mann nur wenige Schritte vor mir ſah. 
Ich redete ihn an und fagte, ich wundere mich fehr, daß ich ihn 
immer mir auf ven Ferſen fehe, und bat ihn, mir den Beweg⸗ 
grund anzugeben. — „Ihr follt ihn erfahren,‘ antwortete er mit 
däfterer Stimme; „da es aber jehr wichtig ift, was ich Euch zu 
fagen babe, fo findet Euch heute um Mitternacht auf diefer Stelle 
ein, wir haben danu keinen Ueberfall zu fürchten und Ihr werdet 
vernehmen, was Euch intereſſirt.“ — „Warum nicht augenblids 
lich 3°" fagte ich, überrafcht durch feinen Ton gegen mich. — „Nein,“ 
erwiderte er; „um Mitternacht follt Ihr Alles erfahren, fehlt 
aber nicht! Euer Leben flieht auf vem Spiel...‘ Mit diefen Worten 
entfernte er ſich und ließ mich in unbefchreiblichenm Erſtaunen zuräd. 


168 


„Sollte ich entdeckt fein?“ ſprach ich Bei mir ſelbſt, wie ich 
allein war; „ſoll ich mich einfinden?...” Lange war ich un: 
ſchlafſig; doch endlich bedachte ich, daß er mir gefagt, es hanble 
fh um mein Leben, und vermuthete, er wolle mich vertathen, 
wenn ich nicht Wort Halte, daher beichloß ich, zur bezeichneten 
Stunde pünktlich eingutreffen. 

„Um Mitternacht war ich am bemerften Orte, etwa hundert 
Schritte vom Schloß; bald fah ich meinen Mann auf mid zu 
kommen. Er führte mich auf eine Banf am Fuße eined Baumes 
und hielt folgende Rede an mi: „Ihr fein ein Defterreicher und 
demnach im Krieg mit ven Ruffen, Ihr Habt Keinen Heller un 
wartet nur auf eine günflige Gelegenheit zur Rückkehr in Euer 
Vaterland. Wenn Ihr erkannt würbet, müßtet Ihr auf ber Stelle 
erben ; ich Tann Euch Curen Feinden überliefern und zur Schledt: 
bank führen ; dies werbe ich auch thun, wenn Ihr nicht in meinen 
Vorſchlag einwilligt.‘“ 

„Ich fah, daß ich's mit einem Boͤſewicht zu thun Hatte; aber 

‚ mein 2eben war in feinen Händen, ich mußte mich daher verfellen. 
„Was fordert Ihr von mir!“ fagte ih. — „Hoͤrt,“ amtwortee 
er ; „hier in dieſem Schloffe lebt ein Kind von brei bis vier Jahren; 
fein Dafein ift verfchiebenen Perfonen im Wege: wir hätten es 
ſelbſt umbringen können ; aber ich babe die Augen auf Eu gr: 
worfen, weil dieſer Mord, im Schloffe vollbracht, vielleicht hate 
Verdacht erregen koͤnnen.“ 

„Ich ſchanderte bei dieſer Rebe, verbarg jedoch meinen Un: 
willen, und ber Boſewicht fuhr fort: „Ihr braucht die Beweg⸗ 
gründe dieſes Racheſchritts nicht zu kennen; ich rathe Euch fogar, 
End nie darnach zu erkundigen ; denn biefe Neugierde würde End 
dad Leben koſten, und wenn Ihr in einigen Jahren im Verſuchung 
geriethet, wieder in biefe Gegend zu kommen (dem ich vermulke, 
daß Ihr. gleich nach dem riedensfchluß nach Defterreid; zuräd: 
kebren werdet), fo wardet Ihe, das fage ich Cuch vorher, sinm 








189 


vergeblicgen Schritt thun: denn dieſes Schloß wird verlaffen fein, 
und Ihr werdet Niemand mehr finden. Entfchließt Euch alfo und 
fest zu, ob Ihr thun wollt, was ich von Euch begehre, Ihr follt 
dann reichlich belohnt werben ; weigert Ihr Euch Hingegen, fo gebe 
ich Euch den Rufen an, und ber Tod iſt Euch dann gewiß.” — 
„Ich Tann nicht ſchwanken,““ fagte ich gu ihm ; „ich willige ein.“ 
— „Sehr gut; fo folgt mir, ih will Euch das Kind ausliefern.‘“ 
— „Bie! auf der Stelle!‘“" — „Gewiß! je baͤlder, um fo beffer.‘“ 

„Schaudernd folgte ich dem Mieberträchtigen, ber mich ber 
Theilnahme an einer folgen Schandthat fähig hielt. Er führte 
mich in das Innere bed Schlofjes: tiefe Stille herrfchte ringe 
umher. In einem Gemach zu ebener Erbe hieß er mich feine Ruͤck⸗ 
Zunft erwarten und ging. Cinige Minuten blieb ich allein, Iaufchte 
forgfältig, ob ich nichts hörte, aber eine tiefe und ganz außer- 
gewöhnliche Stille führte mich auf den Gedanken, mein Führer 
wohne allein bier, umb ich geftehe, ich faßte damals den Eutfchluß, 
Die Erde von dieſem Ungeheuer zu befreien und fein unfchuldiges 
Schlachtopfer zu retten; doch ich warb in meiner Erwartung ge: 
tänfcht ; mein Dann kam mit einem Kind auf den Armen zurück; 
ihm folgte eine andere Perſon, die maskirt war, und mich ſprach⸗ 
108 anſtarrte. „Sieh, da if das Kind und eine volle Bolbbärfe,‘“ 
fprach der erfiere. „Du weißt, was Du zu thun haſt; geh, ver⸗ 
laß dieſes Schloß und bedenke wohl, daß, wenn Du unfere Bes 
fehle nicht vollzieht, der Tod Deinem Verrathe auf dem Fuße 
folgen wirb.‘“ 

„Ich erwiderte nichts; ich nahm das Kind und bie Wäre, 
und mein Mann begleiteie mich bis an dad Thor; nachdem er mir 
dort feine Drohungen noch einmal wiederholt hatte, verließ er mid, 
und ih befand mich mit dem Kinde allein, 

„Arme Kleine!" rief ich, fie genau betrachtend, denn ich fah, 
daß es ein Mädchen von hoͤchſtens vier Jahren war; „jollte ich 
aufs daß Leben vorüber verlieren, will ich Dich doch van ber Muth 


160. 


Deiner Feinde erretten!“ Bein Sutichluß war bald gefaßt: wenn 
ich im Dorfe blieb, mußte ich gewärtig fein, feſtgenommen zu 
werben ; ich befchloß daher, ein anderes Afyl aufzufuchen; zwar 
konnte id) auch auf ber Flucht ergriffen werben; aber ich dachte, 
der Himmel werde mein Beginnen fegnen, und dieſe Hoffnung gab 
mir Muth. Wirklich machte ich mehrere Neilen ohne die mindeſte 
Gefahr und gelangte eublich in einen ungeheuern Wald, wo id 
wobl zu thun meinte, wenn ich einige Zeit verborgen blieb. 

„Das arme, mir vom Himmel anveriraute Bfand war ber 
Gegenfland meiner zärtlihften Sorgfalt. Ah! am Allem Mangel 
leivend, war ich genöthigt, ihr jeden Abend aus Baumzweigen 
eine Wiege zu machen, und Morgens, ehe fie erwachte, ging ih 
gitternb in eine Bauernhätte und Taufte dort die zur Friſtung me 
ſeres Dafeins nothwendigen Lebensmittel. Durch ihre unſchuldigen 
Lieblofungen machte mich die Kleing meine Leiden vergefien; fe 
nannte mich Vater, und ich beſchloß, diefe Stelle bei ihr zu wer: 
treten. Ich nannte fie Pauline, und wuͤnſchte, es möchte ihr mit 
einem franzoſiſchen Ramen auch die Heiterkeit und Aumuih ber 
Frauen meines Baterlandes zu Theil: werben. 

„Die Belohnung, welche ſtets jeder guten That folgt, ward 
auch mir endlich: kaum waren vierzehn Tage feit unferem Aufent: 
halt im Walde verfirichen, als ich erfuhr, daß die Defterreicher in 
Eilmaͤrſchen gegen meinen Zufluchtovrt anrüdten ; die Muffen flohen 
vor ihren Siegern ber, und bald fah ich mich mitten unter meinen 
Baffenbrüdern. 

„Run nahm ich in ihren Reihen meinen früähern Grad wieder 
ein ; aber ich war fehr in Verlegenheit wegen meiner Kleinen Par: 
line, als mich der Zufall mit Mabame Reinhard befannt made: 
fie war ihrem Sohn zum Heere gefolgt: ex war gefallen und fe 
in der finfterfien Verzweiflung. Ich machte ihr ven Vorſchlag 
Baulinen, die ich für meine Tochter ausgab, als Butter zu dienen; 
mit Freude willigte fie ein und reiste nach Offenburg, da fie ihren 





161 


Sitz in der Gegend nehmen follte. Ich Hoffte, in kurzer Zeit pe 
ihr zu treffen, und auch meine Glementine wieberzufehen! ber 
ach! ein Öffizier, der beim Schloß Framberg vorübergelommen 
war, belehrie mi, daß meine Angebetete mich, wie Jedermann, 
für tobt: gehalten, den Grafen vou Yramberg geheirathet, einen 
Sohn von ihm gehabt hätte und nach Eurzer Ehe geftorben ſei. 

„Diele Nachricht ſchlug alle meine Plane künftigen Erden⸗ 
glücks gu Boden. Ich dachte nur daran, mich durch den Ton wieder 
mit zgeiner Clementine zu vereinigen. Mehrere Schlachten wurden 
geliefert; ich fuchte den Tod in, den feindlichen Reihen, aber er 
blieb taub für meine Sehnſucht, und ich fand nur Rahm. Ich 
wurde zum Sapitän gemacht, und die Zeit, fowie dad Andenken 
an meine Kleine Pauline vermochten endlich, meinen verzweiflungds 
sollen Schmerz zu ſtillen. Meine Winterguartiere brachte ich ſtets 
bei Derjenigen zu, die mich für ihren Bater hielt, und ich hütete 
mich wohl, fie vom @egentheil zu belehren, damit ich ihr einen 
Kummer 'erfparte, der nur einen düſtern Schimmer über die fchönen 
Tage ihrer Jugend verbreitet Kätte.“ 

„Ich war fo glücklich, als ich's fein konnte; Pauline bes 
trachtete ich als meine Tochter und nie kam mir der Gedanke, jener 
Heinrich von Framberg, ven Jever Ihren Sohn nannte, könnte 
die Frucht meiner Liebe zu Glementinen fein, 

„Sehnfucht nach meinem Baterlande trüßte.endlich meine Ruhe. 
Sie wiſſen bad Weitere, Herr Oberſt, und ich vermag nicht, Ihnen 
meine ganze Dankbarkeit auszubrüden.” 


Biweiundswanzigfies Kapitel. 
Benig interejfant, aber nothwenpig. 


Ber vermöchte die Freude des Oberften Framberg zu ſchildern, 
wie or vernahm, Pauline fei nicht Heinrichs Schweſter. „Sie 


Pöunen ſich alfo ohne Gewiffensbiffe ihrer Zärttichkeit hingehen? ...“ 
ſorech er zu VOrmenifle; „denn id) zweifle nicht, def Sie Ihe 
Liebe billigen. — Ach, Herr Oberſt!“ erwiberte der Iehiere, „glauben 
Cie, ich mölte meinen Sohn wieherfinten, um ihn unglädlid 
m machen ? Und Gaben Gie nicht überdies fortwährend die Nechte 
eines Waters über ibn, va Gie ihm fo Lange Bater waren? Sie 
behalten dieſe ehrwärbigen Kechte, und ich würbe Heinrich meiner 
Zartlichkeit wit wärbig erachten, wenn er für Sie nicht jet 
vie gleiche Liebe hegte.“ 

Die beiden Freunde umarmien fich herzlich, indem fie einh der 
zufcgworen® für Heinrich und Bauline immer bie Zärtlichkeit eines 
Baterö zu begen. „Uber,” fagte ver Ober, „haben Sie nie einen 
Berfud gemacht, zu entbecken, wer bie Eltern der armen Kleinen 
waren und woher die Uingehener kamen, welche ihren Tod wollten! 
— Ich geftche, ich Habe es nie zu entdecken gefucht. Erſtlich dachte 
ich, ich würde mir vergeblidde Mühe geben ; ich Kälte in ein Land 
zurückkehren mäffen, wo id Riemanb kannte, um Leute aufzu⸗ 
fuchen, vie ficherlich meine Rüdktunft bis zw ihrer Flucht nicht eb: 
gewartet haben werben, wie fie mir's auch vorher gejagt Hatten. 
Dann dachte ich über die Lage meiner theuern Pauline nach; bei 
mir war fie glacklich, ruhig, uud vielleicht ſtoͤrte ich ihre Nuke, 
erweckte Feinde gegen fle durch Rachforſchung nach ihren item, 
welche fig ohne Zweifel wenig um fie befümmerten, ba fie nicht 
für ihre Wiederauffindung thaten. — Hinfichtlich des erfien Punlti 
haben Sie Recht, Lieber d'Ormeville, in Betreff des zweiten bis 
ich jedoch nicht Ihrer Meinung ; denn jept, wo Pauline Befchüke, 
Freunde an und hat, die fie vor den Nachſtellungen ihrer nit: 
wärbigen Beinde zu bewahren willen, was follte fie fürchten, wen: 
wir ihre Herkunft zu Wievererlangung ihres Vermögens zu ms 
bedien fuchen? Denn Vermögen muß fie haben, baran zweifeln 
Sie nit, mein Freund! 06 gibt ſteto Beute, bie um Gele ve 
Größten Berbrechen fähig find. — Ya benke wie Sie; mie eb che 





163 


ngreifen? welche Mittel in Anwendung bringen? — Darüber 
jllen wir uns befinnen. Mir fällt ein... ja, die wir ſuchen, 
nd mir vielleicht nicht unbelannt. — Was wollen Sie damit 
agen ? — Denken Sie noch an Ihr Abenteuer im Walde bei 
Straßburg, wo Heinrich Ihnen das Leben rettete? — Ha! das 
verde ich nie vergeffen! — Haben Sie fich nicht befonnen‘, daß 
jiefe beiden Männer, welche Teine gewöhnlichen Mörber waren, 
Kbgefandte Derer fein Tonnten, die Ihnen das Kind übergaben, 
und Sie für Nichtbefolgung Ihrer Befehle beftrafen wollten? — 
Einen Augenblick habe ich es gedacht; wie fol ich aber annehmen, 
daß ich Leute in Frankreich und in meiner Nähe wiederſinde, welche 
fo vieles Intereffe Hatten, mich zu fliehen ? — Gewiß wurden Sie 
hier nicht gefucht ; allein wenn Sie dennoch erfannt worden wären ... 
Erinnern Sie fih, daß man Sie für einen Oeſterreicher yon Ges 
burt Hielt, nicht denkend, Sie in Frankreich zu finden, und es für 
einen Grund mehr anfah, fich hier anzufledeln. — Sie öffnen mir 
bie Augen, befter Oberſt, und ich zweifle jept nicht mehr, daß bie 
Schurken, die an mein Leben wollten, die nämlichen find, welche 
meiner Bauline den Tod gefchworen hatten. — So vernehmen 
Sie denn, wie ich fie zu entveden hoffe: Als Heinrich dad Ges 
ipräch der beiden Clenden hörte, hatte ex Zeit genug, ihr Geſicht 
genauer zu betrachten; flellen Sie ſich feine Ueberrafchung vor, 
als er in dem Herrn des Meinen Haufes im Walde, wo ich gaft- 
freundliche Aufnahme gefunden hatte, denjenigen Ihrer Mörder 
erkannte, ver bei Heinriche Annäherung der ihm gebuͤhrenden Strafs 
ſich durch die Flucht entzogen Hatte, — Wär’s möglih ?... Und 
dieſer Menſch? ... — Konnte Heinrich nicht wiedererkennen, weil 
bie Zeit zu genauer Betrachtung zu kurz gewefen war; allein «4 
mag fein, daß er Verdacht fchöpfte: in der Nacht vor unferer 
Abreiſe hatte er fein Haus verlaffen. — Ich bin überzeugt, er 
tönnte und von dem, was wir gerne wiſſen möchten, unterrichten; 
wo ihn ober jezt finden? — Das wirk und gelingen, bamım 


164 


zweifeln Ste nicht, Im erfien Augenblid, wo Heinrich mic) damit 
bekannt machte, weigerte ich mich, einen Menfchen zu beftrafen, 
der gaftfreunblich gegen mich geweien war; aber jetzt, wo ich von 
all feinen Verbrechen unterrichtet Bin, will ich ihn entdecken, und 
follte ich ihn am Ende der Welt fuchen muüffen. — Sch werte 
Ionen beiftehen, Oberfl, und es wirb uns gelingen, bem Gott⸗ 
lofen die Matfe abzureißen.“ 

Ueber diefen Punkt einig, dachten bie beiden Freunde, bad 
Dringendfte ſei, mit ihren Kindern zufammenzuireffen, und ber 
Oberſt, der in Erfahrung gebracht Hatte, daß Müller und Hein: 
sich auf bem Schloſſe ſeien, ſchrieb an den erſten und ſetzte ihm 
das Vorgefallene auseinander. Er trug ihm auf, feinen Kindern 
das Vergnügen einer fo glüdlichen Nachricht zu bereiten, und ba: 
mit Alle bälder vereinigt werben, follte Müller ihm und B’Orme- 
ville mit Heinrich und Pauline entgegenlommen. Nachdem biefer 
Brief einmal fort war, ſchickten fi der Oberfi und fein Fremd 
zur Reife nach Schloß Framberg an. Laffen wir fie reifen und 
Schren wir ins Schloß zurück. 

Als Bauline den Brief des Oberſten zu Ende gelefen Hatte, 
ſtimmte fie in Müllers Freudenausbrüche ein, und ihre Gemütke- 
bewegung war fo ſtark, daß fie ihr beinahe unheilbringend geworben 
wäre, und fie aufs Reue den Gebrauch ihrer Sinne verloren hätte. 

„Alle Wetter!...“ fagte Müller, Alles in Alarm fepend, „da 
habe ich mit meinem Teufelskopfe abermals dummes Zeug gemacht, 
und dafür, daß ich ihr zu viel Freude machen wollte, werde id 
fie ohne Laufpaß in die andere Welt befördern!... Seiner Be: 
fuͤrchtungen ungeachtet, kam Pauline wieder zu fih und befand fih 
beſſer als je. „Ha! Bomben und Granaten !” fprach unfer Hufar 
zu ihr, „bleiben Sie mir mit Ihren Ohnmachten vom Leibe, fonk 
verliere ih am Ende noch den Kopf darüber.“ 

Bauline wollte ſich fogleich anfleiven, um ihren Wohltgätern 
entgogenzugehen, „Ginen Augenblick!“ fagte Müller, „ih habe 





168 


Teine Luft, Sie unterwegs wieder in Ohnmacht zu fehen, und ba 
dies leicht vorkommen koͤnnte, reifen wir erft übermorgen, denn 
Sie find noch zu ſchwach.“ 

Trotz Allem, was Pauline über ihre Geſundheit jagen mochte, 
war Müller unerbittlich. „Es thut mir eben fo leid als Ihnen,” 
fagte er, „benn ich brenne, meinen Oberfi wieder zu fehen, aber 
ich bin durch Schaden Flug geworben und Sie müffen ſich gedulden.“ 

Nachdem ber erſte Freudentaumel vorüber war, feufzte Pans 
line und ſah traurig nad) dem Himmel; Müller feinerfeits ward 
nachdenklich und legte die Kauft and Ohr, wie er zu ihun pflegte, 
wenn etwas mit ihm umging. Nach halbftündigem Schweigen blick⸗ 
ten beide einander an. 

„Sch errathe, was Sie mir fagen wollen...” ſprach Müller 
zu Pauline ; „im erſten Augenblid unferer Freude hatten wir ihn 
vergeffen ; aber das konnte nicht Iange dauern. — Adh!... mo er 

fest fein mag ? — Er beweint fein Bergehen wie ein Yüßender!. ! 
D! hätte er ben Muth gehabt, feften Fußes bie Begebenheiten 
au erwarten, jo würde er und nicht in biefe Verlegenheit gebracht 
baben!... Denn was werben wir ohne ihn vor ben ung Erwar⸗ 
tenden thun?. . Was wird mein Oberſt fagen?... — Was 
wirb fein Water fagen, ber ihn bald in feine Arme zu brüden 
wähnt?... — Was werden wir fagen, wenn man und um. bie 
Urfache feiner Flucht fragt?... Ha! taufend. Schwadronen! ich 
glaube, ich fürchte mich jest eben fo fehr vor dem Anblid meines 
Oberſten, als ich vor einer Weile ungebulbig war, mich an feinen 
Hals zu werfen.” . 

Endlich bedachte er, daß er mit Hulfen des Oberſten und 
dOrmeville's Heinrich Leichter entdecken koͤnne, und ſie alsdann Alle 
vollkommen glücklich waͤren. Durch dieſe Betrachtungen beruhigt, 
verſuchte er auch Pauline zu troͤſten, was ihm ohne Mühe gelang. 
Der Glaube an feine Gründe machte ihr zu viel eranigen, ala 
daß fie ihn hätte befämpfen wollen ... i 


166 


Die zwei Tage verſtrichen, und Frank, von Müller mit den 
Surüftungen zur Refe beauftragt, meldete, daß der Reifawagen 
vorgefahren fei. 

„Run, fo reifen wir,“ fprad Müller und ſchickte nad Ban, 
line. Mittlerweile fudirte er eine Rede für feinen Ober ein, 
denn er fürdhtete den erfien Angenblid deö Zufammentreffens. Er 
ging im Hofe auf und ab, trat unter bad Thor, ſchante hinaus 
ins Freie und fprach bei fich ſelbſt: „Bo iſt jetzt Diefer boͤſe Seiſt?. 
was treibt er jegi? Ha! wenn er fein Glück Eennte!... Abe 
nein, er läuft lieber ind Weite und läßt mich finchen, als baf 
er zu wir zurädiommt...” Diefer Zögling hat mir ſchon manchen 
Knoten anfzulöfen gegeben.“ 

Bald kam Banline herab; fie warf wehmüthige Blicke auf 
Dad Schloß, wo ihr in fo kurzer Zeit fo Manches aufgefloßen war. 
Müller Half ihr in den Wagen, wobei ex fagte: „Sehen Sie, 
ich habe eine geheime Ahnung, daß wir bald und fröblicher hieher 
zurückkommen werben, ald wir auögegangen find. — Möchteft Du 
wahr ſprechen! ...“ erwiberte fie fenfzend. 

Müller ſetzte ſich neben fle, Frank flieg als Poftillon auf den 
Bol, und fo fahren fie ab. 

Mur einmal hielt der Reiſewagen zum Pferdewechſel bie Dia: 
mont an: dort fliegen unfere Reiſenden im Poſthaufe ab, um bie 
Nacht daſelbſt zugubringen. 





Dreiundzwanzigſtes Kapitel. 

ßrevelthat, Shidfalslanne. | 

Der Gaſthof war mit Reifenden angefüllt ; vie Leute vauntın 

hin und her, ohne zu wiffen, wem fie Rebe ſtehen follten. Mile 
und feine Begleiter Toftste es alle Nähe, bis zum Wirthe durch⸗ 
zabringen : endlich trafen fie im. | 
„Horr Wirth,“ redete Müller ihn an, ar nu ſchnel Bin 





167 


mer weil Beiten und sin Rachteſſen. — He. Hem.. Hu.. Kuf.. 
Onfar .. ed ge. . ge.. ed ge. . geſchähe mit vie.. mit viel... 
Ber . “ Bergnü.. grü.. gen, aber ed.. — Nun was denn ? 
bemüht Euch, deutlicher zu fprechen. — 3.. ih, id habe nur 
ei.. ein fehr ſchoͤ.. ſchoͤnes mit einem Be. Bett. — Nun, dae 
ſoll ja der Teufel holen! ...“ fagte Müller, „was machen wir 
va 3” Pauline war inbeß zu ermüdet, um weiter zu reifen; Müller 
bat fle daher, das noch übrige Zimmer zu nehmen, in der Hoff⸗ 
nung, er und Franf würben ſchon irgendwo eine Schlafftelle finden, 
unb wäre ed auch auf einem Dachboden. 

Er gab dem Wirth ein Zeichen, fie in das fragliche Zimmer 
zu führen, denn er wollte es vermeiden, mit ihm zu ſprechen, fo 
fehr ärgerte ihn fein Stottern. 

Bauline warb in ein hübfches Gemach geführt, deſſen Fenſter 
auf die Straße gingen, und da fie nichts genießen mochte, wünfchte 
fie Müller'n gute Racht, mit dem Bebenten, er folle morgen früh 
kommen und fie zur Reife abholen. 

Müller und Frank Hatten Teine Luft, ohne Nachteſſen ſich nie 
derzulegen, deßhalb fragten fie den Wirth, wo fie am ſchnellſten 
bedient fein würden. „We.. wenn.. die Herren a.. a.. an. 
bie.. bie.. — Bomben und Granaten ! werbei Ihr's einmal ha— 
ansbringen?... — A.. A.. An.. die.. bie Ta.. — Zum 
Teufel mit dem verdammten Stotterer mit feinen a, a, A, Die, 
Die, Die, Ta, Ta, Ta, und De, We, Ve; pop Schwerenoth ! 
ih glaube, er belufligt fi damit, uns bie Pſalmen bed Könige 
David vorzuabecediren!... — Je ungebuldiger Ihr werbet, Herr, 
um fo weniger bringt er heraus,“ fagte Frank. — „Das if fehr 
erfreulich! fo nimm Du ihm eine Erklärung ab, denn mid; wan⸗ 
delt die Luft an, ihm die Zunge mit Säbelhieben zu Töfen.“ 

Frank war geſchickter als Müller, der Wirth führte fie zur 
Table d’höte, wo man zu Macht fpeiöte „Run zu Nackt an die 
Tablo d'hote geſeſſen, nachher wollen wir an bie Beiten deuten.” 


Das Zimmer der MWendtafel war ſtark befept ; beim Cintreten 
bemerkte Müller indeß, daß ein Mann eiligſt von ber Tafel auf: 
Rand, fein Schnupftuch vor's Geſicht hielt und aus dem Zimmer 
ging ; unfer Hufar gab wenig darauf Acht und ſetzte fich an deſſen 
Stelle. 

Müller und Frank faßen eine Weile ruhig bei threm Eſſen, 
kammerten fi wenig um die übrigen Reiſenden, bie zuſammen 
ſchwatzten, al& zwei wie Yuhrleute gekleivete Männer ins Gemach 
traten und Müller und feinem Gefährten gegenüber Platz nahmen. 

Nicht Iange, fo entfpann fich ein Geſpräch zwifchen ihnen und 
den NRenangelommenen ; dieſe ſchienen Lebemänner zu fein, tranfen 
tüchtig und ſchwatzten viel. Sie brachten Müller auf das Kapitel 
von feinen Schlachten, und wenn berfelbe einmal im Zuge war, 
hörte er nicht fo bald wieder auf; fein Kopf erhigte * und et 
glaubte fich noch mitten im Tumult bed Gefechtes. Die beiden Reis 
fenden ſchienen feiner Erzählung viel Aufmerkſamkeit zu Schenfen 
und munterten ihn auf, fortzufahren ; während des Redens wart 
wader gezeiht und dad Geſpraäch z0g fich. vergeftalt in bie Länge, 
daß Müller die Nacht vielleicht unter dem Tiſche zugebracdht hätte, 
wenn er nicht Frank Schon fchnarchend neben fich gefunden hätte. 

„Seht zu Bette,” rief er, vom Tifche aufſtehend. Er wanie 
ein wenig, doch konnte er fich noch aufrecht erhalten. Die beiben 
Wanderer riefen den Wirth und gaben fich viele Mühe, für Müller 
und feinen Gefährten ein Zimmer zu finden. Zum Dank Elopfte 
ihnen unfer Sufar freundſchaftlich auf die Schultern und ſchwur, 
fle ſeien gute Kerls. 

Durch die Sorgfalt der beiben Unbeannten warb ihnen wird 
lich ein Zimmerchen zu Theil, Freilich nur in den Manfarben, aber 
fie hätten auf der Bühne gefhlafen... Man geleitete fie hinauf 
unb bald ſchnarchten fis .in Barmonifchem Berein. 

ben ſchlug es zehn Uhr, als Müller am andern Tage et: 
wachte. „Donnerweiter!“ rief er, „nad ift eins fanbere Kuffühs 





169 


ung ?!... Aber mir fällt auch ein, daß wir geſtern Nacht mit zwei 
rensfelöferld tranten, wie die Tempelritter. Taufend Bomben ! die 
verlorene Zeit muß eingebracht werben !* 

Damit rüttelte ex Frank, der noch Immer fchlief, und beide 
leideten fi eiligft an. „Ich Bin gewiß,“ ſprach Müller, „Sräu: 
ein Pauline wartet fchon mehr als zwei Stunden auf und! Mir 
vollen und fputen, damit fle nicht länger in Ungebuld if.“ 

In großen Sägen war er bie Treppe hinab und vor bem 
Zimmer, wo Pauline gefchlafen. Er Hlopft mehrmals, Teine Ant» 
wort. „Sie war bed Wartend überbrüffig und geht ohne Zweifel 
im Garten ſpazieren,“ dachte Müller; fchnell begibt er fih durch 
ben Hof nah dem Garten. Auf dem Wege trifft er den Wirth, 
der ihn anhält: „Wo.. wo... geht, gebt ber Herr Hin? — Zum . 
Henker, ich fuche die junge Dame, die in diefem Flügel da fchlief, 
und nicht mehr in ihrem Zimmer iſt; wahrfcheinlich ging fie in 
den Garten. — Du.. Durch .. Durchaus nicht; der Herr weiß 
wohl, baß.. daß fie abgereist if. — Was, abgereist!... nein, 
dreifaches Donnerwetter! das weiß ich nicht; aber das Tann nicht 
fein, fagt, wann ? wie? mit wen? — ©o.. fo.. fo eben! — 
Iſt's moͤglich? — Mit einem Mann, we.. we.. we.. we., — 
Geht zum Teufel mit Eurem We, We, We,” fchrie Müller, außer 
fih vor Wuth, und ftößt den Wirth unfanft von fi, der mit 
dem Hintertheil auf einen großen Hofhund fällt, welcher, durch 
diefen unverhofften Angriff erſchreckt, den Ruheſtoͤrer in ſein Sitz⸗ 
leder beißt. 

Müller zweifelt nicht, daß dahinter etwas Beſonderes ſtecken 
müſſe, und entſchließt ſich, ſchnell Paulinen nachzuſetzen. „Welchen 

Weg hat ſie eingeſchlagen?“ fragte er ein junges, vor der Thüre 
ſitzendes Dienſtmädchen. — „Die Straße nach Lüneville, Herr.“ 
Unfer Huſar ſpringt unverweilt auf das erſte Ihm unter bie Hand 
fallende Pferb und fagt Ipornftreiche auf der Straße nach Lines 
ville davon. 

Baul de Kod. Ill. 12 


170 


„Sie it fo eben erſt abgereist, Kat man mid verſichert, 
ſprach Müller bei ſich ſelbſt, „alfo kann fle noch nicht ſehr weit 
fein: ich Hätte auf Frank warten, ihn unterrichten follen!... 
aber ber vermalebeite Wirth Kat mich auch fo fehr geärgert!” 

Während biefer Betrachtungen fam es ihm vor, ald höre er 
Geſchrei in einiger Entfernung ; ex eilt auf ben Ort zu, woher es 
fam, und erblidt einen ſtillſtehenden Relfewagen: „Wir wollen 
einmal fehen, ob es if, was ich ſuche.“ Alsbald ſpornt er fein 
Bferd zu hoͤchſter Elle; er kommt näher und erfennt eine Frau, 
die aus dem Wagen fpringen will, aber burdh einen Mann baran 
verhindert wird. Diefe Frau iſt Pauline, und in dem Mann e: 
kennt Müller einen von Denen, welche ihm am vorigen Abend mit 
fo vielem Bergnügen zuhörten. „Ha! zweifacher Berräther! Du 
font mir's bezahlen,“ rief unfer Hufar und fprengte auf ven: 
felben los. Aber wie kommt's, daß der Wagen hält? das muf 
feinen Srund haben.” Degengeklirr lenkt Müllers Blicke auf eine 
andere Seite, und er fleht zwei Männer in hitzigem Kampfe mit 
eingnder. „Gut,“ fpricht er, „einer bavon iſt ber Vertheidiger 
Baulinens !* Aber unfer Hufar ift in Verlegenheit, er weiß nicht, 
wohin er ſich wenben foll; endlich denkt er, er müfje zuerſt Den: 
jenigen retten, der fein Leben zu Paulinens Schutz einfepte. Er 
- eilt daher auf die Fechtenden zu... Aber, o neue Ueberraſchung! 
ber Eine iſt Herr von Monterranville, dem er ſchon lange gem 
ben Garaus gemacht Hätte, und der Andere, o unverhofftes Glüchk 
fein theurer Heinrich, nad bem er fchon fo Lange ſeufzte! 

Durch welchen Zufall befand er ſich da und zu fo gelegene 
Zeit, um die Entführung feiner Bauline durch einen Boͤſewicht zu 
verhindern, ber fle verberben wollte? das wollen wir dem Lefer im 
folgenden Kapitel mittheilen ; dazu aber müffen wir zu bem Augen: 
F surüdgehen, wo fi unfer Held fo plöglih vom Schloß 
entfernte. 








171 


dierundzwanzigſtes Kapitel. 
Kurz und traurig. 


Man wird ſich erinnern, daß Heinrich fich mitten in der Nacht 
von dem Schloffe in einem Zuftand von Geiftedvermwirrung ents 
fernte, ber ihm weber erlaubte, fich zu befinnen, wohin er gehen, 
noch zu bedenken, was aus ihm werben follte. 

Die Erinnerung an fein Verbrechen trübte feine Vernunft und 
Iaftete fchwer auf feiner Seele. „D, mein Gott!” jammerte er, 
„der bu mir ein gefühlvoll Herz gegeben, um mit Leivenfchaft zu 
lieben, und eine Seele, die zu ſchwach ift, um eine verbrecherifche 
Zärtlichkeit zu überwinden, nimm mir bad Leben oder entferne aus 
meinem Gedächtniß das Bild Derjenigen, die meine Marter und 
meine Seligfeit ift, und die mein Vergehen vielleicht ind Grab ſtürzt!“ 

Nachdem Heinrich einen ganzen Tag über Stod und Stein 
gelaufen war, vermochte er "der Müdigkeit nicht mehr zu wider: 
fiehen und ſprach in einer Köhlerhütte ein. Er befand fih nun 
mitten im Schwarzwald, in ber Nähe von Freudenſtadt. Der arme 
Heinrich, erſt von einer langen Krankheit erflanden, war außer 
Stande, fo Herben Schmerz zu ertragen, und faum war er bei 
dem guten Landmann, ald er zum zweitenmal Frank barnieberfiel. 
Er Hatte indeß beim Bintritt feinem Wirth tiefed Schweigen über 
feinen Aufenthalt bei ihm auferlegt, und diefer dad Geheimniß 
gewiffenbaft bewahrt. Der wackere Hufar ließ es ſich gewiß nicht 
einfallen, daß fein geliebter Zögling fo nahe bei ihm fei, daß ein 
hitziges Fieber ihn verzehre und daß er, von Kummer und Leiden 
nievergebrüdt, als einzigen Beiftand nur einen armen Köhler habe, 
ber felb an Allem Mangel litt. Müller wäre zu ihm geflogen, 
um über feine Tage zu wachen, aber bad Schickfal hatte es anders 
verordnet. 

Nach ſechs Wochen war er endlich jo weit geneſen, daß er 


+ 


172 


den Schwarzwald verlaffen konnte. Er fagte feinem Wirthe Lebe: 
wohl und ging weg, ohne zu wiffen wohin. Da er ſich indeß vom 
Schloß Framberg entfernen wollte, ſchlug er die Straße nach Frank⸗ 
reich ein und verweilte einige Zeit in Straßburg. Er quartirte 
ſich in dem Haufe ein, wo er feine theure Bauline wiedergefunden, 
in fenem Hauſe, wo er bie glüdlichften Augenblide feines Lebens 
an der Seite Derjenigen genoffen hatte, bie er damals feine 
Gattin nannte. 

Zwei Monate blieb ex bier, dann beichloß ex, zu feiner Zer⸗ 
ſtreung nach Paris zu gehen. Auch war feine Abficht dabei, Hier 
He Nachforſchungen nach feinem Vater, ben er fo jehnlich zu Tennen 
und zu umarmen wänfchte, wieber aufzunehmen. Es war ihm uns 
befannt, daß fein edler Wohlthäter die Sache bereit über fi ge 
nommen und zu einem glüdlihen Ende geführt Hatte. 

Der Zufall wollte, daß Heinrich in demſelben Gafthofe in 
Blamont raftete, wo Müller und fein Begleiter abgeftiegen waren. 
Er faß an der Table d’höte, als diefe in den Saal traten. Hein: 
rich erfannte fie auf der Stelle, und da er von Müller nicht ge 
feben werben wollte, ging er, das Sacktuch vor's Geficht Haltenk, 
ſchnell hinaus. 

Er begab ſich in fein Zimmer und bier flel es ihm ein, Pau; 
line werbe vielleicht Müller begleiten. Seiner Neugierde nicht 
Meifter,, flieg er hinab in ven Hof, befragte eine Magd vom Haufe, 
bie ihn wirklich von der Ankunft einer jungen Dame, fo wie eı 
fie befchrieb, in Geſellſchaft des Hufaren, unterrichtete und ihm 
fagte, biefelbe habe in einem Zimmer bes erſten Stods ihr Nachts 
lager genommen. 

In ber Ueberzeugung, daß PBanline, Müller und Frank mit 
einander reiöten, fuchte er. ben Beweggrund ihrer Reife zu «rs 
gründen und konnte feinen andern auffinden, als daß fie noch in 
feiner Verfolgung begriffen feien. Bit dem feften Entfchluß, ſich 
wicht zu zeigen, ging er wieber in fein Zimmer, unter Beitach. 


mm — 
— — 








173 | 


tungen über dieſes Zufammentreffen ; aber der Gedanke, feine 
Pauline ruhe unter einem Dache mit ihm, gönnte ihm feinen 
Augenblid Ruhe, 

Sp wie der Tag graute, war Heinrich auf den Beinen. Das 
Verlangen, Pauline wieder zu fehen, trieb ihn fort und er flellte 
ſich vor dem Thore des Gaſthofs auf die Lauer, ungeduldig auf 
ihre Erſcheinung harrend. Nach ziemlich langem Warten fing fein- 
Muth zu finfen an, und er wollte gerade den Platz räumen, ala 
er die fo fehnlich Herbeigewünſchte an ſich vorüberfommen fah ; 
aber Müller und Frank waren nicht babei: ein einziger Mann, 
ein Mann, den Heinrich nicht kannte, fchien fie zu geleiten. Er⸗ 
ftaunt hierüber folgte ihnen unfer Held in ziemlicher Entfernung. 
Am Saume des Waldes fielen zwei Männer über Pauline her und 
trugen fie ein paar Schritte weit in einen Reifewagen ; vergebens 
ſträubt ſich Pauline und fehreit nach Hülfe, fie ift bald im Wagen, 
und ihr Führer fteigt auf den Bod und peitfcht auf die Pferde 
[08, die in rafchem Trabe davonfliegen. 

Heinrih war Paulinen zu Hülfe geeilt; aber er war zu ſehr 
entfernt, als daß er hoffen durfte, fie ihrem Entführer abfagen 
zu Tönnen. Doch Liebe und Wuth geben ihm Flügel, er läuft mit 
folcher Geſchwindigkeit, daß es ihm Bald gelingt, den Wagen ein: 
zuholen. Nun fchreit er dem Poftillon zu, er ſolle anhalten: da 
dieſer nicht auf ihn Hört, fondern feinen Meg fortfept, greift Hein: 
rich zu dem einzigen noch übrigen Mittel, feine Freundin zu retten: 
er feuert eine Piftole auf den Kutfcher ab, und biefer ſtürzt tobt 
nieder auf den Weg. 

Da hielt ver Wagen fogleich ftill ; ein Mann fteigt wie rafend 
heraus und fpringt mit dem Degen in ber Hand auf Heinrich (06 ; 
diefer erkennt ihn, es ift Herr von Monterranville, der Mörder im 
Walde. „Komm her, SIender !” rief er ihn zu; „Eomm her und 
empfange ben Lohn Deiner Schandthaten.“ 

Feften Fußes erwartet er feinen Gegner und beibe fallen ein: 


174 


ander mit gleicher Wuth an; in diefem Augenblid fand ſich unfer 
Hufar auf dem Kampfplape ein. 


Sünfundzwanzigfies Kapitel. 
Blüädlihes Zufammentreffen. 

„Sa! ba! ... Galgenſchwengel!“ fchrie Müller, auf die 
Kämpfenden zueilend, „Du wagſt, Dich mit meinem Zöglinge zu 
meſſen! Warte, warte, wir wollen Dir zeigen, ob unfere Klingen 
fharf find.“ 

Aber er kam zu fpät, um noch dad Vergnügen zu baben, 
ſelbſt drein zu fchlagen, denn während er fprach, erhielt Herr von 
Monterranvilfe von Heinrich einen Degenflich, der ihn zu den Füßen 
umfere® Huſaren nieberfitedte. 

„Bravo! braun! Lieber Heinrich,“ fagte Müller, feinen Zoͤg⸗ 
Unge um ben Hals fallend; „nun find Sie meiner ganz würbig, 
denn ber Schurke focht wie ein Rafender. Aber da ſehe ich noch 
Einen das Hafenpanier ergreifen. Ah! der ift für mich.” 

Mit diefen Worten galoppirt Müller dem Zliehenden nad, 
demfelben, ber Pauline währen bed Kampfes bewacht hatte, aber 
ducchgegangen war, fobald er feinen Herrn niebergeftredt ſah. Da 
ex einen ſtarken Vorſprung Hatte, wäre er ihm entfommen, hätte 
nicht unfer Huſar in der Ferne eine Poſtchaiſe von der Seite heran: 
rollen fehen, auf welche ver Fliehende zufprang. Verſperret ihm 
den Weg! Haltet den Schurken feſt! ...“ fchrie Müller ſogleich. 
Sei e8, daß man ihn verfland oder daß man errieth, was er fagen 
wollte‘, der Wagen hielt, zwei Männer fleigen aus und verfperren 
dem Ylüchtling den Weg. Cr ift bald gepackt: Müller geht auf 
bie Reifenden zu, ihnen feinen Dank abzuftatten und wirft fi 
bem Oberft Framberg und feinem Freunde, denn biele waren es, 
an bie Brufl. 

Der Ober und d'Ormeville, überrafcht durch biefes feltfame 





175 


Zufammentreffen, richten taufend Fragen an ihn. „Kommt,“ ſprach 
7, „folget mir, Ihr werdet fie fehen und faubere Geſchichten über 
ven Schurken von Monterramville hören! ... doch wollen wir den 
ba nicht entfommen laſſen!... Bon ihm wollen wir alle Um: 
fände der Entführung vernehmen.“. 

Die beiden Freunde verfiehen nichts von dem Allem, folgen 
aber Müller'n nichtödefloweniger .auf den Kampfplak, wo Heinrich 
den Schreien feiner geliebten Pauline ftillte. Dex arme Heinrich 
war außer fih vor Freude; ein Wort von ihr war hinreichend 
gewefen, ihn glüdlich zu machen; fi ihm in die Arme werfend, 
hatte fie aefagt: „Du bift nicht mein Bruder !* 

„Sieh, da iſt Dein Bater,” ſprach fie, als fie d'Ormeville 
erkannte. — „Wär’s möglich ? großer Gott! ... Sie find’s...“ 
Und fchon lag Heinrich in den Armen bed Urhebers feiner Tage. 

Die allgemeine Freude grenzt bi8 an den Wahnfinn ; ver Oberſt, 
v’Ormenville, Heinrih, Pauline, Müller herzen einander: nun find 
fie vereinigt! Sie dürfen ſich alfo Tieben, es ift fein Verbrechen 


mehr, nach fo vielem Kummer, jo vielen Wiberwärtigfeiten! Ihr _ 


gebeugtes Gemüth vermag biefed Uebermaß von Glück kaum zu 
ertragen, und Thränen der Rührung füllen ihre Augen. 

„Ah! ... taufend Millionen Patronen, wir find Sieger !“ 
rief Müller, indem ex feinen Tſchako hoch in die Lüfte warf, aber 
nicht ohne Mühe, denn der Plab Hat ſich lange gehalten.“ 

Als ſich die erſten Ausbrüche der Freude etwas gelegt hatten, 


dachte man an die Weiterreife nah Schloß Framberg; doch ein - 


klaͤgliches Stähnen erregte ihre Aufmerkfamleit : fie erblicten ven 
Herrn von Monterranville, der noch athmete und Durch Zeichen be⸗ 
deutete, man möchte ihm zu Hülfe kommen. 

„Man darf diefen Menfchen nicht liegen laffen,“ fagte der 
Oberſt; „feine Geſtaͤndniſſe koͤnnen und von großem Nutzen fein 
und und endlich über das Herkommen unjerer geliebten Pauline in’s 
Klare fegen.“ - 


178 


Alles ſtimmte dem Oberft bei, und man verfügte fidh zu bem 
Berwundeten. „Sch fühle,“ fprach er, „daß ich nur noch wenige 
Augenblicde zu leben habe; da aber meine Erklärungen die Ber 
mögenöverhältniffe diefes jungen, vielfältig von mir verfolgten 
Frauenzimmers begründen werben, fo führet mich an ben nächften 
Drt, und dort will ich Euch vor dem Notar die Geſchichte meines 
jämmerlichen Lebens erzählen, wenn mir noch die Kraft dazu bleibt.” 
Man that, was der Sterbende begehrte; Müller und Frank fers 
tigten eine Tragbahre, auf- welche man ihn legte. Der Boftillen 
war tobt und wurbe auf bem Platz gelaffen, bis die Gerechtigkeit 
ſelbſt an Ort und Stelle Unterfuchung anftellte ; den andern Spieß 

geſellen des Verwundeten führte man mit fich nach Blamont, von 
wo man nicht fehr entfernt war. 

In der Herberge angelangt, ließ der Oberft einen Kt, einen 
Notar und Zeugen kommen. Der Arzt erklärte nach Beftchtigung 
der Wunde des Herrn von Monterranville, daß verfelbe nur noch 
wenige Augenblicke zu leben habe, und daß man biefe benüken 
müffe, wenn man feiner Ausfagen bedürfe. Alles verfammelte fih 
fogleih im Zimmer bes Kranlen, ber nicht ohne Mühe folgende 
Grzählung lieferte: 


Geſchichte bes Seren von Monterrauville. 

„Jetzt, wo der Tod Über meinem Haupte fchwebt, wo mein 
Weſen feiner Auflöfung nahe ift, ſchaudere ich zurüd, wenn id 
mir all die Verbrechen wieder vorführe, zu welchen Reid und Hab: 
gier mich antrieben!... Die Binde vor meinen Augen iſt gefallen! ... 
Gewiſſensbiſſe zerfleifchen mein Inneres! ... und ich vermag mir 
feine Täuſchung mehr zu machen!... Ach! ... wie ſchrecklich find 
fie, vie letzten Augenblide des Verbrechers!... Tein Troft bleibt 
ihm mehr!... Die Welt, von der er fiheibet, blickt ihm mit Abs 
ſchen nah! ... und Fein Andenfen an eine gute That wildert 
feine Qual. 








177 


„D Du intereffantes Weib, das ich feit feiner Kindheit ver- 
folge! ... wie fehr wirft Du erröthen, wenn Du in dem Blenden, 
den Du vor Dir haft, Deinen Oheim erkennſt! ...“ 

„Meinen Obeim!.. .“ rief Bauline überrafcht. — „Ihr Oheim!“ 
wiederholen alle Anwesenden. Der Berwundete winkte, man möchte 
auf ihn Hören, und fuhr folgendermaßen fort: 

„Mein wahrer Name ift Droglusfi; ich bin in Smolenst ge 
boren ; der Palatin, mein Vater, war unermeßlich reich und hatte 
feine andern Kinder, als mich und meine Schwefter, die zwei Jahre 
jünger war. | 

„Don meiner zarteften Kindheit an nährte ich den tödtlichften 
Haß gegen dieſe Schwefter, weil ich vorausfah, daß ich bag reiche 
Erbe unfered Vaters, deffen alleinigen Befig mich meine Habgierbe 
wünfjchen ließ, mit ihr werde theilen müfjen. 

„Das Unglüd wollte, dag ich einen gewiffen Stoffar in meine 
Dienfte nahm, den nieberträchtigften Boͤſewicht, den je die Erde 
getragen. Da er meinen Haß gegen meine Schwefter gewahrte, 
fchmeichelte er meinen Leidenschaften, wußte mein Zutrauen zu ges 
winnen und warb bald mein innigfter Vertrauter. 

„Bellisfa, meine Schwefter, war täglich der Gegenftand meines 
Neides und meiner Bosheit; ohne Klage ertrug fie alle meine 
Quaͤlereien und Plagen. Allein fei es, daß mein Vater darum 
wußte, fei ed, daß er meinen heimtückiſchen Charakter durchſchaute, 
er fchrieb mir ein Drittel feiner Güter zu, gab das Uebrige meiner 
Schwefter und befahl mir, die Gegend zu verlaffen, die er bewohnte. 

„Ruth im Herzen, Rache brütend entfernte ich mich und kaufte 
unfern Bilna ein Meines, einfam ftehendes Schloß, wohin ich mich 
mit Stoffar zurückzog, um ungehindert über die Mittel nachzu> 
finnen, wie ich die Verabſcheute verderben Tönne. 

„Ungefähr ein Jahr war ich in dieſem Schloß, als ich ben 
Ton meines Vaters vernahm. Weit entfernt, mich über diefe Nach: 
richt zu betrüben, vermehrte folche nur meinen Haß für Belliska 


178 


und befärkte mich in meinen Racheplanen. Sie war damals eine 


der reichten Erbiunen Rußlands und ihr Vermögen der Gegenſtaud 
al meiner Hoffnungen, denn dad mir Zugefallene hatte ich ſchon 
größtentbeild verpraßt. 

„Während ich mit Stoffar über die Maßregeln berieih, die 
wir ergreifen follten, vermählte ſich meine Schwefler mit einem 
jungen, ruffifchen Offizier, den fie liebte. Diefe Nachricht verdop⸗ 
pelte meine Berzweiflung. „Wir haben zu lange gezögert, gu 
biger Herr,““ ſprach Stoffar, „„iept müfen Sie handeln und 
meinem Rathe folgen. Begeben Sie fich zuerft zu Ihrer Schwerter, 
Rellen Sie fi, als hätten Sie die obgewalteten Zwiftigfeiten ver: 
geſſen und begeigen Sie ihr bie zartefte Freundſchaft.““ 

„R befolgte diefen Rath, ohne gerade zu wiſſen, welches 
fein Plan war. Meine ſtets gütige Schwefter empfing mich mü 
offenen Armen und ſtellte mir ihren Gatten vor, der mich gleid: 
falls aufs Schmeichelhaftefte aufnahm. Sie Inden mich ein, einige 
Zeit bei ihnen zu bleiben ; ich fagte zu. 

„Bald wurden indeß unfere Plane noch weiter durchkreuzt durch 
die Geburt eines Toͤchterchens, welchem meine Schwefter das Leben 
gab und den Namen Glisfa beilegte. Du warft es, unglüdlide 
Bauline!... und mit Deinem Eintritt in die Welt ſchwur ich Dir 
unerbittlicden Haß. 

„Der Zufall, der meine Plane zu begünftigen fchien, wolle, 
daß der Graf Benjowsfi, Dein Vater, zur Armee berufen wurd, 
um an ber Spige feined Regiments gegen die Schweben zu Fämpfen. 
Mit bitteren Thränen ſchied meine Schwefler von ihrem Gemafl, 
der mich aufforderte, fie während feiner Abwefenheit nicht zu ver 
laffen und ihr Befchüger zu fein. Ich verſprach's... Ach! er mußte 
nicht, welchem Ungeheuer er fein Theuerſtes vertraute ! 

„Der Unftern, der über Belliska waltete, ließ ihren Gatten 
im erſten Treffen getöbtet werben. Die Nachricht hievon erfüllte 
mid mit Freude; ich fah mich dadurch eines Hinderniffes zu meinem 


| 





179 


Gluck entledigt; ich war ed mübe, eine Freundfchaft für meine 
Schmefter zu heucheln, die meinem Herzen fo ferne lag; überbiee 
wollte ic ihrer Reichthümer genießen, und Stoffard fagte, es fei 
nun Zeit zu handeln. 

„Jetzt werdet ihr vor Abfchen zurückſchaudern!... Doch ich kann 
das Belenntniß einer fürchterlihen Schandthat nicht länger verfchieben. 
Bernehmet alfo, daß ein vergifteter Trank mich für immer von der 
Verhaßten befreite... Ihr ſchaudert? ... Hört mich zu Ende! 

„Um jedem Verdacht auszumeichen, trug ich Sorge, nur ein 
Iangfam wirkendes Gift zu nehmen. Mein Opfer fchleppte fich 
daher gegen ſechs Monate herum, ehe es flarb. Während dieſer 
Zeit verdoppelte ich meine Aufmerkfamfeiten gegen fie, um ihr 
Bertrauen deſto beſſer zu gewinnen. 

„Als meine Schweiter ihr Ende heranuahen fühlte, hegte ſie 
die Ueberzeugung, daß der Gram über den Tod ihres Gatten fie 
ins Grab führe. Sie beſchied mich an ihr Sterbebett, empfahl mir 
ihre Tochter, ernannte mich zu deren Vormund und ftarb, ohne 
geahnt zu haben, daß ihr Bruder ihr Mörder fei. 

„Run binderte mich alfo nur noch das Dafein der kleinen 
Eliska, die Reichthümer meiner Schwefter zu erben. Ich nahm fie 
mit mir in mein einfames Schloß, um dort über ihr Schickſal zu 
befchließen. Stoffar rieth mir, fie umzubringen ; aber durch ein 
Uebermaß von Borficht, das mir unheilbringend ward, wollte ich 
irgend einen unglüdlichen Fremdling, deffen Schwaghaftigfeit wir 
nicht leicht zu fürchten hätten, mit diefem neuen Verbrechen belaften. 

„Sie erinnern ſich, mein Herr,” fagte Droglusfi, fih an 
d'Ormeville wendend, „mie Stoffar Sie entvedte und Sie für 
paſſend zur Ausführung unferes Vorhabens erachtete. Wir mußten, 
daß Sie in oͤſterreichiſchen Dienften fanden, wir hielten Sie für 
einen Oefterreicher. Bel meiner Abficht, nach Frankreich auszu⸗ 
wandern, fürchtete ich nicht, Sie je wieder zu treffen ; zudem fahen 
Sie mid bei Ueberlieferung des Kindes nur maslirt. 





180 


Nachdem die Sache einmal abgemacht war, gab ich meine 
Richte für todt aus und nahm die ganze Erbfchaft meiner Schwefler 
in Befig. Mein fehnlicäfter Wunfch war, ein Land zu verlaflen, 
dad mir all meine Miffetbaten ins Gebächtnig zurüdrief: ich ver 
äußerte: daher fchnell meine Güter und ging mit Stoffar nad 
Frankreich. 

„Unweit Straßburg kaufte ich das Fleine Händchen, bad ihr 
kennt; feine vereinzelte Lage fagte mir zu, und ich zog mich auf 
einige Zeit dahin zurüd, wenn ih mich an den Vergnügungen und 
Ausſchweifungen überfättigt hatte, denen ich mich in Paris mit 
meinem wärbigen Bertrauten unaufhörlidh hingab. 

- „Sept habe ich euch nur noch die Begebenheiten zu erzählen, 
an denen ihr Theil nahmet. Eines Tages erkannte Etoffar zu 
Straßburg in Herrn d'Ormeville Denjenigen, dem wir dad Kind 
meiner Schweſter anvertraut hatten. „„Den müflen wir und vom 
Salfe ſchaffen,““ fagte er aldbald zu mir; „„benn er Eönnte mid 
früher ober fpäter treffen und erfennen, dann wäre ich verloren.“ 
Bor diefer neuen Schandthat bebte ich zurück; aber ich fürchtete 
Stoffar zu fehr, um ihm zu wiberfiehen, und Ihr Tob warb 
beichloffen. | 

„Der Himmel ließ indeß die Vollſtreckung dieſes Verbrechens 
nicht zu; Sie wurben durch ben jungen Mann, den Sie Sohn 
nennen, gerettet, und Stoffar blieb auf dem Plage. Sch aber 
flüchtete mich in meine Wohnung, ziemlich vergnügt, ich geftehe 
eö, meinen Spießgefellen Io8 geworten zu fein. 

„Mehrere Monate nach diefer Begebenheit kamen Sie, mein 
Herr,” ſprach er zu Heinrich, „in mein Haus, um den Herrn Oberf 
abzuholen. Ihre Berwirrung, Ihre Aufregung bei meinem Anblid 
entgingen mir nicht; ich flellte mir vor, Sie werben mich fennen, 
und ich Taufchte Ihrem Geſpraͤch mit jenem tapfern Hufaren zu, 
um meine Bermuthungen zu beftätigen. Raum hatte ich euch gehört, 
‚ale ich den Kopf verlor und mitten in ber Nacht bie Flucht ergriff. 





181 


„Als ich von meinem Schreden wieber etwas zu mir gelommen 
ax, befchloß ich zu erforfchen, was Sie thun und ob Sie mir 
u fchaben fuchen. Demzufolge verfleidete ich mich ald Bauer und 
olgte Ihnen auf Ihrer Reife mit Ihrem Freunde Müller. 

„Sie begaben ſich ind Schloß Framberg und ich hielt mich 
nr der Umgegend ‘auf; bald erfuhr ich Ihre Liebe zu Derjenigen, 

jie Sie für Ihre Schwefter hielten, und als ich hörte, daß ber 
Bater ber jungen Berfon den Namen Chriftiern geführt, Offizier 
jet und fie aus Rußland mitgebracht Habe, da zweifelte ich nicht 
mehr, ed fei meine Nichte, 

„Bon nun an wurbeft Du, Pauline, der Gegenfland meiner 
ganzen Aufmerffamfeit, und ich ſchwur, Dich in meine Gewalt zu 
befommen, da ich zu fehr fürdhtete, daß, wenn Du Deinen Bes 
ſchützer wieder fändeft, ed ihm gelingen möchte, mich zu verberben. 

„Durch vieled Gold hatte ich zwei Elende für meine Abfichten 
gewonnen, aber ed war nicht leicht, Dich vom Schloffe zu ents 
führen; ich war indeß auf dem Punkte, ald Du mit Müller und 
Frank abreisteft. 

„Ih folgte euch auf dem Fuße, aber erſt in dieſem Gafthof 
fand ich Gelegenheit zu Ausführung meines Planed. Meine beiden 
PVertrauten übernahmen ed, Deine Gefährten, welche unfer Unter: 
nehmen vereiteln Tonnten, betrunfen zu machen.“ 

„Ha! bie Schurken !“ fiel Müller ein. „Wer hätte das ges 
dacht ?. 

‚Am andern Morgen Tlopfte ber eine von ihnen an Deiner 
Thüre; ed war fchon ſpaͤt und Du warteteft ſchon lange auf Deine 
Meifegefährten: er fagte Dir, fie hätten den etwas beſchaͤdigten 
Wagen rebariren laſſen und erwarten Dich einige Schritte von ba. 

Du glaubteft e8 und ließeſt Dich in die gelegte Falle führen, wos 
durch Alles gelungen wäre, wenn Dir der Himmel nicht, meiner 
Verbrechen müde, Befreier zugeſandt hätte !“ 





182 


Schoundzwanzigfies Kapitel. 
Schluß. 


Bier ſchloß Herr von Monterranville, oder vielmehr Drogluski, 
feine Erzählung, weldye bie Zuhörer lebhaft ergriffen Hatte. Der 
Rotar hatte fie Wort für Wort niebergefchrieben, der Verwundete 
unterzeichnete, indem er noch beifegen ließ, daß feine Nichte feine 
einzige Erbin fei und ben Meft feines ungeheuern Vermögens, vor 
dem er erſt drei Viertel verſchwendet habe, in bem Häuschen im 
Walde finde. 

Nachdem dieſe Angelegenheit zu Ende gebracht war, verließen 
unfere Freunde einen Menfchen, deſſen Anblie ihnen nur peinlih 
fein Tonnte, beſonders PBaulinen, bie er fo nahe anging. Kaum 
waren fle jeboch weg, als fle erfuhren, ex habe feinen Tegten 
Geufger audgeftoßen. 


„Bünfche gute Nacht,“ ſprach Müller, „ich hoffe, wir werden 


einander nicht mehr begegnen.” Pauline weihte feinem Gedaͤchtniß 
einige Seufzer, nicht daß fle Die geringfte Zuneigung für ihn haben 
fonnte, aber es war ber einzige Verwandte, den fie je gekannt 

Nun hielt unfere Freunde nichts mehr in Blamont zurüd, fi 
machten fi daher nach Schloß Framberg auf den Weg, wo fe 
ben andern Tag eintrafen. 

Mit welch’ trunkener Freude fahen fie die Orte wieber, -w 
Jedes von ihnen fo viele Erinnerungen fand! Der Oberft mt 
d'Ormeville vereinten die beiden Liebenden. Hymen bebedte hie 
Behltritte Amors. Heinrich und Pauline, enblih zum Glüde ge 
langt, verließen ihren Vater und ihren Wohlihäter nie; ber gut: 
Müller brachte fein Leben an ihrer Seite zu, betrank ſich öfter 
und fluchte viel; aber man muß Dem wohl einige Fehler vergeben, 
deſſen Seele fo ſchoͤne Tugenden beherbergt. 


nn — 


— — 


Inhalt. 





Erſtes Kapitel. Reife, Unfall, Abenteuer 
Zweites Kapitel. Die Grafen von Framberg 
„Dritted Kapitel. Elementine . . 

Bierted Kapitel. Der Mann, wie eb wenige sißt 
Fünfter Kapitel. Heinrichs Erziehung . 


GSechdted Kapitel. Dad Pachthaus und ber Heuboden 


Siebented Kapitel. Empfang des Oberften . 
Achtes Kapitel. Der Gcheimnißnolle. 
Neuntet Kapitel. Abermald ein Heuboden . 
Zehntes Kapitel. Hannchens Tante . . 
Elfted Kapitel. Florenz . oo. 
Zwölftes Kapitel. Rom . 


Dreigehntes Kapitel. Fortſetzung der Vorhergehenden 


Vierzehntes Kapitel. Paris 

Künfzehntes Kapitel. Ein Abenteuer anderer Art 
Sechzehntes Kapitel. Wiederfinden . . 
Siebenzehnted Kapitel. Wer hätte dab gebadht ? . 


Achtzehntes Kapitel. Ein Romanlefer bat ed ſchon errathen 
Reunzehnteb Kapitel. No ein Augenblid ber Freude 
Zwanzigſtet Kapitel. Die Liebe führt nicht Immer zum Guten 
Einundzwanzigfted Kapitel. Glück. — D'Ormeville's Geſchichte 
Zweiundzwanzigſted Kapitel. Wenig intereſſant, aber nothwendig 
Dreiundzwanzigſtes Kapitel. Frevelthat, Schickſaldlaune 


Bierundzwanzigfieß Kapitel. Kurz und traurig 


Fünfundzwanzigftes Kapitel. Glückliches Bufemmentsefen, — —D 


bed Herrn von Monterranville. 
Sechtundzwanzigſtes Kapitel. Schluß. 


— —