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Full text of "Pflügers Archiv für die gesamte Physiologie des Menschen und der Tiere"

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PFLÜGER' ARCHIV 


FÜR DIE GESAMTE 


PHYSIOLOGIE 


DES MENSCHEN UND DER TIERE 


HERAUSGEGEBEN 
VON 
E. ABDERHALDEN A. BETHE R. HÖBER 
HALLE A. S. FRANKFURT A. M. KIEL 
189. BAND 


MIT 80 TEXTABBILDUNGEN 


BERLIN 
VERLAG VON JULIUS SPRINGER 
1921 


Inhaltsverzeichnis. 


Honigmann, Hans. Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und Adap- 
tierung des Vogelauges. (Mit 9 Textabbildungen) . ... 2.2... 
Mangold, Ernst. Der Uiudrehreflex bei Seesternen und Schlangensternen 
— — Der Verlauf der Totenstarre am isolierten und am in situ belassenen 
Skelettmuskel von Säugern. (Mit 3 Textabbildungen) ....... 
Wiechmann, Ernst. Über die Durchlässigkeit der menschlichen roten 
Blnkörperchenefur Anionen 0 te ee Tee al 
Einthoven, W., und J. Roos. Über Widerstand und Potentialdifferenz bei 
dem psychogalvanischen Reflex. (Mit 11 Textabbildungen) ..... 
Kolm, Richard, und Ernst P. Piek. Über die Bedeutung des Calciums 
für die Erregbarkeit der sympathischen Herznervenendigungen. (Mit 
eNexitahbildungen)a na: 4 rm a el a shite 
Gellhorn, Ernst. Psychologische und physiologische Untersuchungen über 
Übung und Ermüdung. 1. Mitteilung. (Mit 4 Textabbildungen) . . 
— — Psychologische und physiologische Untersuchungen über Übung und 
Ermüdung. II. Mitteilung. Das Verhalten von Puls und Körper- 
temperatur im Zustande der Ermüdung. (Mit I Textabbildung) R 
Vorschütz, Joseph. Ruhestrom und Durchlässigkeit. I. Mitteilung. Unter- 
suchungen mit Farbstoffen. (Mit 7 Textabbildungen) . . .. 2... 
Fellner, Otfried ©. Über die Wirkung des Placentar- und Hodenlipoids 
auf die männlichen und weiblichen Sexualorgane. (Mit 12 Textabbil- 
ANmEEN) 2 ARTEN Re nel Re re A BEER Rue DENE KR EEE 
Gellhorn, Ernst. Untersuchungen zur Physiologie der räumlichen Tastempfin- 
dungen unter Berücksichtigung der Beziehungen des Tastraumes zum 
Sehraume. I. Mitteilung. Weitere Beiträge zum Studium der Übungs- 
zirkunsen. (Mit 15.Rextabbildungen), 7 zn. nen. 
Loewi, ©. Über humorale Übertragbarkeit der Herznervenwirkung.I.Mitteilung 
Jodlbauer, A., und F. Haffner. Über die Wirkung von Eosin und Rose 
bengale auf rote Blutkörperchen und den Zusammenhang von Aufnahme 
und biologischer Wirkung. (Mit 2 Textabbildungen) ........ 
Backmann, E. Louis. Die Erregung des überlebenden Uterus und Darmes 
durch Organextrakte und -dialysate (besonders aus dem Uterus). (Mit 
TONabinldungen)ac.t a, 8 
Thoma, R. Die mittlere Durchflußmenge- der Arterien des Menschen als 
Funktion des Gefäßradius. (Mit 2 Textabbildungen) ........ 
Abderhalden, Emil, und H. Kürten. Untersuchungen über die Aufnahme 
von Eiweißabkömmlingen (Peptone, Polypeptide und Aminosäuren) durch 
rote Blutkörperchen unter bestimmten Bedingungen. (Mit 1 Textabbildung) 
Autorenverzeichnis 


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Untersuchungen über Liehtempfindlichkeit und Adaptierung 


des Vogelauges. 


Von 
Dr. phil. et med. Hans Honigmann. 


(Ausdem Physikalischen und dem Physiologischen Institut der Universität Breslau.) 


Mit 9 Textabbildungen. 
(Eingegangen am 24. Januar 1921.) 


Inhalt. 


Vorwort (8. 2). 
Einleitung. Terminologie (8. 3). 


D 


I. Begrenzung der Aufgabe. 
Qualitative und quantitative Lichtwirkung (8. 5). 
Unmöglichkeit einer unmittelbaren Messung der Farbwirkung. 
Das Seebeck-Holmgrensche Prinzip. 
Notwendigkeit der Untersuchung der quantitativen Lichtwirkung. 
Ziele der Erforschung des Helligkeitssinnes (S. 8). 
Relative Helligkeitswerte. 
Relative Empfindlichkeitswerte. 
Absolute Empfindlichkeitswerte. 


I. Wege zur Lösung der Aufgabe. 
Messung von Äquivalenten der Empfindungsstärke (8. 10). 
Objektive Methoden. 
Handlungen des Tieres als Ausdruck der herrschenden Empfindungsstärke. 
Messung der Reizstärke (8. 13). 
Direkte Messung. 
Indirekte Messung. 


III. Physikalische Versuchstechnik. 
Kritische Besprechung der Versuchsanordnung (8. 14). 
Lichtquelle, Erzeugung von Licht verschiedener Brechbarkeit, Intensitäts- 
variation. 
Beschreibung der Apparatur (S. 18). 
Ermittelung der physikalischen Konstanten (S. 19). 
Die. Energieverteilung im Spektrum des Nernstlichtes. 
Ermittelung der Dispersion im objektiven Spektrum. 
Die selektive Absorption der Reiskörner. 


IV. Physiologische Versuchstechnik. 
Ausgestaltung der Technik (S. 25). 
Ausführung der Versuche (S. 27). 
Untersuchung der Lichtempfindlichkeit helladaptierter Tiere. 
Untersuchung der spezifischen Empfindlichkeitszunahme für Licht von ver- 
schiedener Wellenlänge während der Dunkeladaptierung. 


Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 189. 1 


(8) 


H. Honigmann: 


V. Die Versuchsergebnisse. 


1. Chronologische Übersicht ($. 33). 
2. Die graphische Darstellung der Versuchsergebnisse (S. 35). 
Schwellenwerte und Empfindlichkeitswerte. 
Graphische Darstellung der Adaptierung. 
3. Kritik der Versuchsergebnisse (S. 39). 
Vergleich der Lichtempfindlichkeit von Mensch und Huhn im Zustand der 
Helladaptation. 
Die Grenzen des (für das helladaptierte Huhn sichtbaren) Spektrums. (S. 46). 
Der Unterschied zwischen der Lichtempfindlichkeit junger und geschlechts- 
reifer Hähne (S. 47). 
Vergleich der Empfindlichkeit hell- und dunkeladaptierter Hühner (S. 49). 
Der Vorgang der Dunkeladaptierung (S. 51). 
Zur Theorie der Dunkeladaptierung (8. 57). 


Neue Aufgaben der Forschung (S. 59). 


VI. Zusammenfassung der Ergebnisse (S. 62). 
Tabellen (S. 63). 
Abbildungen (S. 67). 
Literatur (S. 70). 
Vorwort. 

Der ursprüngliche Plan der vorliegenden Arbeit war eine experimen- 
telle Untersuchung der Lichtempfindlichkeit von Vertretern aller Wirbel- 
tierklassen. Nach einigen Vorversuchen stellte sich heraus, daß mit den 
mir damals zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln nicht derjenige Grad 
von Genauigkeit zu erreichen war, den ich für nötig hielt. Die Versuche 
ruhten nun einige Zeit, bis mir Ostern 1913 Herr Professor Lu m mer einen 
Arbeitsraum im Physikalischen Institut überließ. Die Apparate, mit 
denen ich jetzt arbeitete, gehörten zum großen Teil zu dem Material, 
das in der Experimentalvorlesung verwendet wurde. Damit war die 
Dauer meiner Untersuchungen natürlich von vornherein beschränkt. 
Ich begann die Arbeit im Mai 1913 (der Aufbau der Apparatur und die 
Auswertung verschiedener physikalischer Konstanten dauerte etwa 
einen Monat) und mußte damit rechnen, sie im Januar 1914 abzubrechen. 
Deshalb verzichtete ich bald auf die Untersuchung verschiedener Tier- 
arten und beschränkte mich auf Hühner oder richtiger auf Hähne, da die 
von mir ganz jung gekauften Hühnchen sich später zufällig sämtlich 
als Hähne erwiesen. 

In dem relativ kurzen Zeitraum von 8 Monaten, in dem ich 
gleichzeitig noch mit einer anderen, sehr zeitraubenden Arbeit be- 
schäftigt war, konnte ich nicht alle Messungen so oft ausführen, 
wie es mir wünschenswert erschien. Immerhin gelangte die Arbeit 
zu einem gewissen Abschluß. Von einer Veröffentlichung sah ich 
zunächst ab, weil ich noch histologische Untersuchungen der Netzhaut 
in ganz bestimmter Richtung vornehmen wollte. Während ich noch mit 
dieser Arbeit beschäftigt war, brach der Krieg aus. In den ersten Kriegs- 


_ Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges.. 3 


wochen, ehe ich ins Feld rückte, habe ich die Teile I bis V, 1 schriftlich 
fixiert und abgesehen von geringfügigen Änderungen auch jetzt in der 
ursprünglichen Fassung wiedergegeben. Im Juli 1916 habe ich einen 
kurzen Bericht über die wichtigsten Ergebnisse veröffentlicht, fand jedoch 
keine Zeit zu einer ausführlichen Darstellung. 

In den folgenden Jahren erschienen einige Arbeiten von anderen Autoren, 
die sich zum Teil mit ähnlichen Fragen beschäftigten wie meine Untersuchung 
und die zur Klärung mancher Probleme beitrugen. Da nun aber gewisse, von mir 
gefundene Tatsachen von anderer Seite bisher anscheinend noch nicht entdeckt 
worden sind, sehe ich mich nun doch genötigt, mein ganzes Material zu ver- 
öffentlichen. 

Ich bin mir wohl bewußt, daß die große zeitliche Differenz von mehr als 
6 Jahren, die zwischen der Abfassung von Teil I-V,1 und V, 2--VI liegt, die 
Gleichmäßigkeit der Darstellung ungünstig beeinflußt. Aus äußeren Gründen 
habe ich jedoch von einer völligen Umarbeitung Abstand genommen und bitte, 
dies zu berücksichtigen, wenn die neuere Literatur ungleichmäßig zitiert worden ist 

Zum Schlusse muß ich noch bemerken, daß diese Untersuchung 
ohne das alle meine Hoffnungen übertreffende Entgegenkommen von 
Prof. Lummer, der meine Arbeit in jeder Weise unterstützte und 
förderte, niemals zustande gekommen wäre. Es ist mir ein Bedürfnis, 
Eerrn Prof. Lummer auch hier nochmals herzlichen Dank zu sagen. 

Zu großem Danke hat mich auch Herr Prof. R. F. Fuchs verpflichtet, 
der mir immer bereitwillig ratend und helfend zur Seite stand. 

Während meiner Arbeitszeit im physikalischen Institut wurde ich 
bei feineren, rein physikalischen Messungen von Damen und Herren, 
die im Institut arbeiteten, vielfach aufs freundlichste unterstützt. Ihnen 
allen sage ich auch hier nochmals meinen besten Dank. 


Einleitung. 

Am Anfang einer Untersuchung über die Lichtempfindlichkeit er- 
scheint es zweckmäßig, den Begriff der Empfindlichkeit eng zu begren- 
zen. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch dient der Begriff der Empfind- 
lichkeit vielfach zur Bezeichnung der Reaktionsfähigkeit eines physika- 
lischen, chemischen oder biologischen Komplexes. Andererseits versteht 
man darunter aber auch das Maß der Reaktionsfähigkeit. Um 
diese beiden verschiedenen Begriffe sprachlich voneinander zu trennen, 
wollen wir die Reaktionsfähigkeit an und für sich, soweit es sich dabei 
um Reaktionen biologischer Komplexe handelt, nur mit dem Namen 
Reizbarkeit oder Erregbarkeit bezeichnen und den Begriff der Empfind- 
lichkeit zur Bezeichnung des Maßes der Reizbarkeit aufsparen. 

Die Empfindlichkeit in diesem Sinne ist das Verhältnis der Reaktions- 
stärke zur Reizstärke. 

Wird bei gleichbleibendem Reiz die Reaktion stärker, so steigt die 
Empfindlichkeit. Sie steigt aber natürlich auch dann, wenn bei ab- 
nehmender Reizstärke die Reaktion unverändert bleibt. 


6 


4 H. Honigmann: 


Der Begriff der Empfindlichkeit sagt gar nichts darüber aus, ob der 
empfindliche Komplex auch eine Empfindung besitzt. Wenn wir näm- 
lich von der Empfindlichkeit einer Wage oder der Lichtempfindlichkeit 
einer photographischen Platte sprechen, so denken wir nicht daran, 
der Wage eine Druckempfindung oder der Platte eine "Lichtempfindung 
_ zuzuschreiben. 

Reagiert aber ein Tier auf einen Reiz, so nehmen wir in vielen Fällen 
an, daß dieser Reaktion auch eine Empfindung entspricht, die der be- 
treffende Reiz ausgelöst hat, weil auch bei uns selbst die durch äußere 
oder innere Reize ausgelösten Reaktionen unseres Körpers von ent- 
sprechenden Empfindungen begleitet werden. D’e Annahme einer 
Existenz von Empfindungen bei höheren Tieren können wir zwar nicht 
entbehren, dürfen aber nicht vergessen, daß sich diese Existenz mit den 
Methoden der Naturwissenschaft nicht beweisen läßt. 

Es ist also letzten Endes nicht ganz korrekt, wenn weiter unten von 
der Messung der Empfindungsstärke die Rede sein wird. Streng ge- 
nommen müßte man immer nur von der Messung solcher Reaktionen 
sprechen, denen — wie wir annehmen — die Stärke der Empfindung aus 
irgend welchen Gründen äquivalent ist. Ob diese Gründe auch wirklich 
überzeugend sind, ist natürlich von Fall zu Fall zu prüfen. Haben wir 
jedoch erst einmal geeignete Reaktionen gefunden, so können wir in 
unserer Definition der Empfindlichkeit den Begriff der Empfindunss- 

stärke für den der Reaktionsstärke einsetzen. Dann ist die Emp- 
findlichkeit eines Organismus für einen beliebigen Reiz das Ver- 
hältnis der Empfindungsstärke zur Reizstärke. 

Nächst dem Begriff der Empfindlichkeit wird uns der Begriff der 
Helligkeit am häufigsten beschäftigen. Ich wende ihn ausschließlich 
zur Bezeichnung der Größe der Lichtempfindung an, da eine ein- 
 deutige Bezeichnung dafür bisher fehlte. 

Helligkeit ist demnach die subjektive Quantität der 
Reizwirkung auf das lichtempfindliche Organ. 

Der von Helmholtz zuweilen angewandte Ausdruck ‚objektive 
Helligkeit‘ zur Bezeichnung der objektiven Energie der Strahlung ist 
hier nicht mehr gebraucht worden, da er nach unserer Definition eine 
contradictio in adjecto bedeuten würde. 

Der Begriff des ‚Lichtes‘ ist eigentlich auch rein subjektiv, hat 
sich aber zur Bezeichnung von objektiven Strahlungserscheinungen so 
eingebürgert, daß hier eine strenge Scheidung praktisch nicht mehr 
durchführbar ist. War eine solche Scheidung nötig, so ist hier stets 
die subjektive Helligkeit der objektiven Energie oder Inten- 
sität der Strahlung gegenübergestellt worden. Der Begriff der ‚‚Licht- 
stärke“, der von manchen in subjektiven, von anderen in objektivem 
Sinne gebraucht wird, ist entbehrlich und daher stets vermieden worden. 


Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges.. 5 


Der Begriff „Farbe“ ist ebenso wie „Helligkeit“ stets in subjektivem 
Sinne gebraucht worden. ‚Farbe‘“ bezeichnet also die Qualität der 
Lichtempfindung, während die objektive Verschiedenheit der Strahlun- 
gen durch Angabe ihrer Wellenlänge, Brechbarkeit oder Schwingungs- 
zahl gekennzeichnet wurde. Als ‚‚homogenes“ Licht sind hier stets Strah- 
lungen von nahezu gleicher Wellenlänge oder Brechbarkeit bezeichnet 
worden, also monochromatisches, nicht gleichmäßig verteiltes Licht. 

Mit dem Namen ‚Adaptation‘‘ wurde bisher sowohl der Vorgang 
der Empfindlichkeitszunahme des Sehorgans, wie auch der ge- 
rade vorhandene Zustand der Lichtempfindlichkeit bezeichnet. 
Um diese beiden Begriffe zu trennen, habe ich den Vorgang ‚Adap- 
tierung‘‘ genannt und den alten Namen nur zur Bezeichnung von be- 
stimmten Empfindlichkeitszuständen des Auges beibehalten. 


I. Begrenzung der Aufgabe. 


1. Qualitative und quantitative Lichtwirkung. 


Jede Wirkung einfachen Lichtes auf das normale menschliche Auge 
läßt sich in zwei Komponenten zerlegen, in eine quantitative (Hellig- 
keit) und in eine qualitative (Farbe). Erst die Untersuchung von Hellig- 
keitssinn und Farbensinn zusammen lehrt uns den gesamten Licht- 
sinn eines Organismus kennen. 

Die Erforschung des Helligkeitssinnes erfolgt in der Weise, daß 
man feststellt, wie hell Strahlungen von bestimmter Intensität unter 
verschiedenen Bedingungen erscheinen. Bekanntlich besteht nämlich 
zwischen subjektiver Helligkeit und objektiver Strahlungsintensität 
durchaus keine einfache Beziehung. Einmal ist die Helligkeit von der 
Wellenlänge des Lichts abhängig, d.h. zwei Lichter von gleicher ob- 
jektiver Intensität und verschiedener Brechbarkeit erscheinen meist 
ganz verschieden hell. Ferner ist die absolute Größe der Strahlung 
insofern von Einfluß auf die relative Stärke der Helliskeitsempfindung, 
als unser Auge die Fähigkeit hat, sich in weiten Grenzen der herrschen- 
den mittleren Helliskeit anzupassen. So kann bei einem bestimmten 
Stande der Adaptation, wie diese Anpassungserscheinung genannt 
wird, eine Strahlung von sehr geringer Intensität ebenso hell erscheinen 
wie eine viel intensivere, die das an größere Helligkeit adaptierte Auge 
wahrnimmt. Zu beachten ist hierbei natürlich, daß diese Anpassungs- 
erscheinungen Zeit brauchen und zwar die Anpassung an geringere 
Helligkeit im allgemeinen mehr als die an größere. Vernachlässigt 
wird leider meist die Tatsache, daß auch auf den zeitlichen Verlauf 
der Anpassung die Wellenlänge des Lichtes einen entscheidenden 
Einfluß ausübt, obgleich diese Tatsache schon in dem so bekannten 
Purkinjeschen Phänomen implieite enthalten ist. 


6 H. Honigmann: 


Eine Reihe weiterer Faktoren kann die Untersuchung des mensch- 
lichen Helliskeitssinnes erschweren. So kann zum Bespiel der Genuß 
von Reizmitteln (Santonin) oder auch Ermüdung usw. das Verhältnis 
von Helligkeit und Intensität beeinflussen. 

Alle diese Tatsachen sind natürlich in Betracht zu ziehen, wenn 
es sich darum handelt, Aufschluß über den tierischen Helligkeitssinn 
zu erhalten. Es ist freilich durchaus nicht ausgeschlossen, daß bei Tieren 
die Verhältnisse einfacher liegen — ebenso gut können wir hier aber auch 
noch weitere Schwierigkeiten finden. So ist es denkbar, daß bei irgend 
welchen Tieren die relative Stärke der Helligkeitsempfindung etwa 
rhythmischen Schwankungen unterliegt, die von der Tages- oder Jahres- 
zeit abhängen, oder es könnten auch Unterschiede zwischen alten und 
jungen, männlichen und weiblichen Tieren bestehen. Jedenfalls muß 
man aufalle derartigen Möglichkeiten gefaßtsein und durch 
entsprechende Kontrollmessungen ihre Existenz nach- 
prüfen. 

Ein Punkt von grundsätzlicher Wichtigkeit ist jetzt hervorzuheben. 
Bei der Untersuchung des Helligkeitssinnes stehen uns — später zu be- 
sprechende — Methoden zu Gebote, die uns gestatten, die rein quan- 
titative Wirkung verschiedener Strahlungen zu messen, ohne daß ihre 
qualitativ möglicherweise verschiedene Wirksamkeit (,‚Farbe‘‘) diese 
Messung störend beeinflußte. 

Wie steht es nun mit dem Farbensinn? Sind wir bei seiner 
Erforschung in der gleich glücklichen Lage, die hier allein in Frage 
kommende qualitative Wirkung von der quantitativen so zu 
trennen, wie es im Interesse einer eindeutigen Feststellung unbedingt 
nötig ist? a 

Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst der Begriff des Farben- 
sinns scharf zu begrenzen. Wir müssen hier alles Akzidentelle weglassen, 
wie etwa die Beziehung der Farben zueinander beim normalen mensch- 
lichen Farbensinne, oder den typischen (menschlichen) Helligkeitswert 
jeder Farbe bei bestimmter Intensität usw. A priori ist nämlich ein 
Organismus ohne weiteres denkbar, der echten Farbensinn besitzt und 
doch die Farben stets so hell sieht, wie sie einem total farbenblinden 
Menschen erscheinen würden. Das einzige wesentliche Kenn- 
zeichen eines Farbensinns ist die Fähigkeit eines Organis- 
mus, zwei Strahlungen abgesehen von ihrer subjektiven 
Quantität (Helligkeit),alsonurihrer Qualitätnach zu unter- 
scheiden. Haben wir zwei Strahlungen von verschiedener Brechbar- 
keit und wollen wir prüfen, ob sie qualitativ verschieden wirken, so 
müssen wir vorher unbedingt die eventuell verschiedene quantitative 
Wirkung ausschalten. | 

Diese Forderung ist nun meist durchaus vernachlässigt worden. 


Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges. 7 


Die alten, nunmehr beinahe historisch gewordenen Graberschen ‚‚Zwei- 
kammerversuche‘ (1884) zeigen, zu was für abenteuerlichen Resultaten man kommt, 
wenn man bei Beurteilung der Wirkung einer Strahlung immer nur das postulierte 
Quale und nie das wirklich vorhandene Quantum berücksichtigt. Auch in einer 
Reihe späterer Arbeiten (Bauer 1910, Babak 1913), die sich mit der Erforschung 
des tierischen Farbensinnes beschäftigen, findet sich der eben genannte Fehler. 
Da diese Arbeiten von einer falschen Voraussetzung ausgehen, so sind ihre Re- 
sultate meist wertlos. 

Einen großen Fortschritt in der experimentellen Behandlung des Problems 
stellen die Versuche von C. Hess dar. Dieser Forscher untersuchte den Farben- 
sinn von Tagvögeln nach dem Seebeck-Holmgrenschen Prinzip, indem er die Tiere 
etwaan das Nichtfressen von gelblich-roten Körnern gewöhnte und dann feststellte, 
daß diese Tiere später alle vorwiegend rötlichen Körner unter verschiedenen 
grünen und grauen liegen ließen, also eine Unterscheidung zuwege brachten, die 
ein sog. rotgrünblinder Mensch in einem Kontrollversuch nicht leisten konnte. 

„Für diesen Rotgrünblinden“, sagt Hess (1912, S. 575), ‚‚waren also ver- 
schieden gefärbte Körner ähnlich oder gleich, die das Huhn mit voller Sicherheit 
unterschied. Nur für ein Auge mit den Sehqualitäten eines normalen Menschen 
haben die verschieden roten Körner das gemeinsame Merkmal der Rötlichkeit.. .-.““ 

Während also bisher die Helliskeitswirkung der Strahlungen meist 
ganz vernachläßist wurde, finden wir sie hier insofern berücksichtigt, 
als die verschieden hellen rötlichen Körner von allen anderen, die offen- 
bar auch ganz verschieden hell erschienen, unterschieden werden mußten. 

Der große Vorteil dieser Methode, die zunächst einen völlig befrie- 
digenden Eindruck macht, liegt darin, daß sie gestattet, den Farben- 
sinn (oder genauer die spezifische Wirksamkeit von Licht bestimmter 
Brechbarkeit) eines Tieres zu untersuchen, ohne daß es nötig wäre, 
auch über seinen Helliskeitssinn genauere Messungen anzustellen. 

In einem nicht unwesentlichen Punkte ist aber auch dieses Verfahren 
noch unbefriedigend. Es setzt nämlich stillschweigend voraus, daß der 
Helliskeitssinn der zu untersuchenden Tiere dem des normalen Menschen 
zum mindesten sehr ähnlich sei. 

Nehmen wir nun einmal an, daß auf irgend ein Tier langwellige 
Strahlen ganz besonders stark einwirken oder kurz gesagt, daß es rote 
Farbtöne sehr hell sieht, und dressieren wir es nun auf Rot, so erreichen 
wir vielleicht nichts anderes, als eine Dressur auf die hellsten Strahlungen. 
Lassen wir jetzt auf das Tier rote, grüne und graue Lichter einwirken, 
so ist es ohne weiteres möglich, daß es die roten nur deshalb von allen 
anderen unterscheidet, weil sie ihm viel heller erscheinen. 

Zieht man diese Möglichkeit in Betracht, so verliert die genannte 
Untersuchungsmethode an Wert, und ich kann jetzt schon voraus- 
schicken, daß es sich nicht um eine Möglichkeit, sondern um eine Tat- 
sache handelt, wie die näheren Prüfungen ergeben haben. 

Wir kommen damit notwendig zu dem Schlusse, daß es unmöglich 
ist, über den Farbensinn eines Tieres befriedigenden Aufschluß zu er- 
halten, ehe wir seinen Helliskeitssinn kennen gelernt haben. 


8 H. Honigmann: 


2. Ziele der Erforschung des Helligkeitssinnes. 


Drei grundsätzlich verschiedene Wege stehen uns zur Verfügung, 
um den Helliskeitssinn eines fremden Organismus zu erforschen. Ein- 
mal können wir die Stärke seiner Helligskeitsempfindungen mit unseren 
Helligkeitswerten vergleichen; zweitens können wir die Beziehungen 
zwischen Helligkeitsgraden und Strahlungsintensitäten feststellen, oder 
einfacher: untersuchen, in welchem Intensitätsverhältnis je zwei für 
das Tier gleich helle Strahlungen stehen, und drittens können wir die 
bestimmten Helligkeitsgraden zugrunde liegenden Intensitätswerte in 
absolutem Maße messen. Im ersten Fall erhalten wir relative — auf 
den Menschen bezogene — Helligkeitswerte, im zweiten Fall relative 
Empfindlichkeitsweite, und im dritten absolute Empfindlichkeitswerte. 
Unter der Empfindlichkeit eines Organismus als Maß für einen beliebigen 
Reiz ist ja nichts anderes zu verstehen, als das Verhältnis der Empfin- 
dungsstärke zur Reizstärke, hier also der subjektiven Helligkeit zur 
objektiven Strahlungsintensität. 

Die erste Methode, also die Ermittelung relativer Helliskeitswerte 
ist die einfachste, aber unvollkommenste. 

Wir können mit ihrer Hilfe Aufschluß über die Empfindlichkeit eines 
Organismus erhalten, ohne daß es nötig wäre, unmittelbar Messungen 
seiner Empfindlichkeit selbst vorzunehmen. 

Wirkt etwa, um ein Beispiel zu geben, die Strahlung eines Spektrums 
zugleich auf das menschliche Auge und auf das eines Tieres und ergibt 
sich aus berechtigten Analogieschlüssen, daß ein bestimmter blauer 
Spektralbezirk auf das Tierauge einen schwächeren Reiz ausübt als auf 
das menschliche, so dürfen wir natürlich schließen, daß hier die Emp- 
findlichkeit des Tieres geringer ist als unsere, ohne daß wir auch nur 
eine der beiden Empfindlichkeiten selbst zu messen brauchten. 

Wir können mit der gleichen Methode, also ohne jede Bestimmung 
der objektiven Strahlungsintensität noch eine Reihe weiterer Auf- 
schlüsse erhalten. Wir können'nämlich z. B. eine rote und eine blaue 
Strahlung aussuchen, die einem Tiere beide gleich hell erscheinen und 
können nun feststellen, wieviel heller uns das Blau als das Rot erscheint. 
Man erhält auf diese Weise eine Reihe von Zahlenwerten für die tierische 
Eimpfindungsstärke, d.h. für die Helligkeit, die das Tier bei einer be- 
stimmten Strahlung empfindet. Ich betone nochmals, daß diese Werte 
relativ sind und sich auf menschliche Helliskeitswerte beziehen. 
Damit sind sie natürlich zugleich von der menschlichen 
Empfindlichkeit abhängig. 

Die genannte Methode ist durchaus geeignet, eine Übersicht über 
den Lichtsinn eines Tieres zu geben und gestattet auch unter gewissen 
Vorsichtsmaßregeln, wie eben angedeutet wurde, die Vornahme grö- 
berer Messungen. Handelt es sich jedoch um entscheidende Messungen, 


Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges. 9 


so darf man sich nicht mit ihr begnügen. Die Schwäche der Methode 
liest in ihrer Voraussetzung; sie nimmt nämlich stillschweigend an, 
daß die menschliche Lichtempfindlichkeit konstant ist. Dies ist be- 
kanntlich durchaus nicht der Fall, vielmehr schwankt gerade die mensch- 
liche Liehtempfindlickheit außerordentlich. Auch bei gleichen äußeren 
Bedingur gen lösen zwei Lichtreize von völlig gleicher Intensität und 
Qualität bei ein und demselben Beobachter oft zwei ganz verschieden 
starke Helligkeitsempfindungen aus. 

Der konstante Punkt, auf den wir die experimentell gefundenen 
relativen Helliskeitswerte beziehen, existiert also garnicht, oder ist 
zum mindesten so schwankend, daß wir eine kaum übersehbare Fehler- 
quelle in unsere Methode hineintragen. 

Selbst ganz abgesehen von diesem einen Grunde, der schon allein 
dafür spricht, bei feineren Messungen wenigstens nicht nur relative 
Helligkeitswerte, sondern Empfindlichkeitswerte zu bestimmen, macht 
ein zweiter Umstand dieses Vorgehen unbedingt erforderlich. Eine be- 
friedigende Analyse der adaptativen Vorgänge ist nämlich ohne die 
Berücksichtigung von Empfindlichkeitswerten unmöglich, wie im 
V. Abschnitt gezeigt werden wird. 

Der zweite Weg, die Ermittelung relativer Empfindlichkeitswerte, 
ist komplizierter, aber bedeutend exakter als die eben besprochene 
Methode. Gemäß der Definition der Lichtempfindlichkeit, die wir 
oben gaben, stellt deren Messung eine doppelte Aufgabe dar: erstens 
nämlich ist die objektiv vorhandene Stärke des Reizes zu messen — 
etwa als kinetische Energie oder als Wärmemenge — und zweitens 
ist die dadurch im Organismus ausgelöste Empfindung ihrer subjek- 
tiven Intensität nach zu bestimmen. Bei der Messung der Reizstärke 
begnügen wir uns mit relativen Werten, d. h. Größen, die sämtlich einen 
beliebigen unbekannten, aber stets gleichen Faktor enthalten. Oder 
mir anderen Worten: wir messen nicht Intensitäten in absolutem 
Maße, sondern Intensitätsverhältnisse.. Wenn wir unsere Werte nun 
relative Empfindlichkeitswerte nennen, so handelt es sich um die Be- 
ziehungen zu diesen einen unbekannten, aber konstanten Faktor, nicht 
aber etwa um eine Beziehung zu der inkonstanten menschlichen Emp- 
findlichkeit, wie bei der vorigen Methode. 

Der dritte Weg, die Ermittelung absoluter Empfindlichkeitswette, 
bietet, — um es gleich vorweg zu nehmen — im Vergleich zu der eben 
genannten Methode keinen prinzipiellen Vorteil, denn wenn wir außer 
den wahren Intensitätsverhältnissen die jeweiligen Intensitätswerte 
selbst absolut messen, so hat das u. a. den Vorteil, daß die Ergebnisse 
verschiedener Untersucher ohne Umrechnung miteinander verglichen 
werden können. Das ist aber ein Gesichtspunkt von durchaus unter- 
geordneter Bedeutung und das Wesentliche bleibt, daß die Unter- 


10 H. Honigmann: 


suchungsmethode selbst nicht verfeinert werden kann, wenn wir die 
Intensitäten der Strahlung in absolutem Maße messen. Äußerlich 
zeigt sich diese Tatsache sehr deutlich, wenn wir die mit Hilfe der zweiten 
und dritten Methode gewonnenen Resultate etwa graphisch darstellen 
und vergleichen: die Kurven haben zwar nicht gleiche Form, aber natür- 
lich gleiche Maxima und gleiche relative Steilzeit des An- und Abstiegs. 
Das ist aber das Wesentliche, worauf es ankommt. 

Wir fassen unsere bisherigen Erwägungen noch einmal kurz zu- 
sammen. 

1. Untersuchungen über die spezifische Wirksamkeit von farbigen 
Lichtern sind wertlos, wenn die Intensität der Strahlungen nicht auch 
berücksichtigt wird. 

2. Die Berücksichtigung der verschiedenen Helliskeitswirkung im 
Sinne der Seebeck-Holmsrenschen Methode ist zwar als Fortschritt 
zu betrachten, aber immer noch relativ ungenügend, da der Helliskeits- 
sinn des zu untersuchenden Tieres sich möglicherweise von dem uns- 
rigen so stark unterscheidet, daß die genannte Methode in der üblichen 
Anwendungsform versagen kann. 

3. Erst die vorhergehende genauere Untersuchung des Helligkeits- 
sinnes eines Tieres unter den verschiedensten Bedingungen liefert die 
Basis für die einwandfreie Erforschung seines etwa vorhandenen Farben- 
sinnes, der dann natürliche auch nach dem Seebeck-Holmgren schen 
Prinzip untersucht werden kann. 

Für die Erforschung der quantitativen Wirksamkeit verschiedener 
Lichter gelten wiederum drei Grundsätze: 

l. Zur ersten Orientierung über den Helliskeitssinn genügen Mes- 
sungen, bei denen relative, auf menschliche Empfindungsstärken be- 
zogene Helliskeitswerte festgestellt werden. 

2. Die Ermittelung der relativen Empfin:lichkeitswerte ermög- 
licht eine wesentliche Verfeinerung der Methode. Für das Verständnis 
der adaptiven Vorgänge sind solche Werte unerläßlich. 

3. Die Bestimmung der absoluten Empfindlichkeitswerte besitzt 
keinen prinzipiell neuen Wert, da die Genauigkeit der Methode dadurch 
nicht gesteigert werden kann. 


II. Wege zur Lösung der Aufgabe. 


l. Messung von Äquivalenten der Empfindunssstärke. 


Nachdem wir unsere Aufgabe nunmehr kennen gelernt haben, wollen 
wir uns nach Wegen umsehen. die zu ihrer Lösung führen. Wie schon 
oben angedeutet, zerfällt die Messung der Empfindlichkeit erstens in 
die Feststellung der Empfindungsstärke des Tieres und zweitens in die 
Messung der Intensitäten oder der Intensitätsverhältnisse der Reize. 


Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges. 11 


Wir beginnen mit der Frage, wie beim Tier die Empfindungsstärke, hier 
also der Helligkeitssgrad, zu messen ist. 

Wie erhalten wir nun vom Tier Aufschluß über die Stärke seiner 
Empfindung ? 

Es liegt am nächsten, nach solchen Reaktionen des Tierkörpers zu 
suchen, die als objektiv wahrnehmbare und damit unmittelbar meßbare 
Vorgänge in einer gewissen Propartionalität zur Empfindungsstärke 
stehen. Wir kennen eine ganze Reihe derartiger Reaktionen, von denen 
hier als für uns in Betracht kommend die Aktionsströme der Retina, 
ferner die sichtbaren Veränderungen des Netzhautgewebes und schließ- 
lich noch die Pupillarreaktion genannt seien. 

Leider sind alle diese Vorgänge messend nicht sehr genau zu ver- 
folgen und man erhält daher wenig detaillierte Resultate, wenn man sie 
als Maßstab der Empfindungsstärke benutzt. 


Aus der Fülle von Arbeiten, die auf diese Weise eine Analyse der Lichtemp- 
findlichkeit erstreben, sei nur eine ganz besonders klare und schöne Arbeit von 
Hertel erwähnt. Dieser Forscher untersuchte (1907) die Empfindlichkeit der 
Netzhaut des Menschen und einer Froschart und wählte als Maß für die beim 
Frosche anzunehmende Empfindungsstärke den Kontraktionszustand der Netz- 
hautzapfen. Obgleich nun Hertel den Begriff der Empfindlichkeit aufs schärfste 
definierte und die zu ihrer Messung erforderliche Intensitätsbestimmung der 
Strahlung sehr exakt durchführte, so konnte er doch nur zu wenig positiven Er- 
gebnissen gelangen, da eben die Messung der subjektiven Vorgänge mit einem viel 
zu groben Maßstabe vorgenommen wurde. Der Wert der auf diese Weise einmal 
gewonnenen Resultate wird dadurch natürlich nicht beeinträchtigt, aber ich bin 
überzeugt, daß man mit dem gleichen physikalischen und feineren „‚physiologi- 
schen‘ Meßmethoden bedeutend reichere Ergebnisse erhalten könnte. 

Ähnlich verhält es sich mit den :Netzhautströmen, die meist am enucleierten 
Auge untersucht wurden. Die vorhandenen Potentialdifferenzen lassen sich zwar 
sehr bequem und genau messen, aber die Ströme selbst konnten bisher nicht ge- 
nügend konstant gehalten werden, um eindeutige Versuchsreihen von längerer 
Dauer anzustellen. Bis vor kurzem gelang es nicht einmal, den Ruhe- oder Dunkel- 
strom auch nur länger als etwa eine Viertelstunde konstant zu erhalten, und die 
Aktionsströme selbst sanken bei gleichbleibendem Reiz schon nach wenigen 
Minuten beträchtlich ab. Erst im vorigen Jahre haben Kohlrausch und Brossa 
(1913), einer Anregung von v. Brücke und Garten (1907) folgend, die Methodik 
wesentlich vervollkommnet. Sie erhielten nämlich an intakten, in situ belassenen 
Augen von kuraresierten Fröschen (R. esculenta) nicht nur einen fast konstanten 
Ruhestrom, sondern konnten auch, falls nicht allzu starke Lichtreize vorzeitig 
ermüdeten, die Aktionsströme etwa zwei Stunden lang konstant erhalten. 

Trotz dieses schönen Fortschrittes weisen die Methoden der Aktionsstrom- 
untersuchung noch manche Mängel auf, die vielleicht nicht alle kompensiert 
werden können, da sie eben in der Methode selbst begründet sind. So dürfen wir 
schließlich nie vergessen, daß es sich hier doch um erhebliche Eingriffe in den 
lebenden Organismus handelt — andererseits ist zu hoffen, daß auf diesem Weg zwar 
nicht die feinere quantitative, dafür aber die qualitativ verschiedene Wirkung von 
Lichtreizen auf die Netzhaut der experimentellen Analyse zugänglich werden wird !). 


!) Diese Hoffnung ist inzwischen teilweise in Erfüllung gegangen, wie die 
Arbeiten von Kohlrausch und Brossa (1914) und Kohlrausch (1918) zeigen. 


12 H. Honigmann: 


Schließlich ist noch die Pupillarreaktion zu besprechen. Sie erscheint zu- 
nächst für unsere Zwecke wiederum sehr brauchbar, da Untersuchungen von 
Hess (1908) es sehr wahrscheinlich gemacht haben, daß die gleichen nervösen 
Elemente sowohl die optischen wie die pupillomotorischen Reize perzipieren und 
daß eine gewisse Proportionalität zwischen Helligkeitsempfindung und Iris- 
kontraktion besteht, worauf Sachs schon (1892, 1893) hingewiesen hatte. (Es 
handelt sich hier natürlich nur um Versuche an Tieren mit intakten Reilexen — 
von den direkten Wirkungen nach Opticusdurchschneidung [Hertel 1906] ist 
abzusehen, da anscheinend zwischen ihnen und der anzunehmenden Helligkeit 
keine unmittelbar proportionalen Beziehungen bestehen.) 

Mit der genannten Methode ist schon eine Reihe schöner Resultate erzielt 
worden. Die Pupillenreaktion ist aber doch ein in zu engen Grenzen oder mit- 
unter zu schwierig zu verfolgender Vorgang, als daß wir mit seiner Hilfe feinere 
messende Untersuchung anstellen können. 


Wir verlassen deshalb diese zuweilen unersetzlichen „objektiven“ 
Methoden und versuchen auf einem prinzipiell durchaus anderen und 
theoretisch komplizierterem Wege, uns der Lösung des Problemes zu 
nähern, indem wir das Tier veranlassen, uns vermittelst spontaner 
Handlungen Aufschluß über die Stärke seiner Empfindungen zu geben. 

Während wir also bisher den Organismus oder Teile davon als Objekt 
studierten, betrachten wir jetzt das Tier als Subjekt. 

Die Schwierigkeiten einer Methodik, der dieses Prinzip zugrunde liest, 
und die Beseitigung dieser Schwierigkeiten wird weiter unten ausführ- 
lich besprochen werden. Hinweisen möchte ich jedoch an dieser Stelle 
auf Gedanken v. Uexkülls (1912, S. 107), der die Notwendigkeit 
einer derartigen Auffassung öfters betonte. 

Es erhebt sich nun die Frage, auf welche Weise wir vom Tier als 
Subjekt Auskunft darüber erhalten können, wie stark bei ihm eine 
Empfindung ist, wie hell ihm eine Strahlung erscheint. 

Bekanntlich sind wir Menschen selbst meist ganz außerstande, 
quantitative Angaben über mittlere Helliskeiten zu machen. Von 
zwei zu vergleichenden Helliskeiten können wir nur eine als größer, 
die andere als kleiner bezeichnen, ohne indes auch nur annähernd ihr 
Größenverhältnis bestimmen zu können. Dagegen können wir mit 
ziemlicher Sicherheit zwei Helligkeiten bestimmen, die uns gleich 
erscheinen, und vermittelst Helligkeitsgleichungen wird ja auch die 
menschliche Lichtempfindlichkeit oft genug gemessen. 

Wie steht es nun bei den Tieren? Besteht bei ihnen die Neigung, 
sich an einen extrem hellen oder dunklen Aufenthalt zu begeben, so 
kann man derartige zwar nicht immer eindeutige Reaktionen zweck- 
mäßig zur Ermittelung von Helliskeitswerten benutzen, wobei dann 
freilich der Adaptationszustand der betreffenden Tiere sorgfältig be- 
rücksichtigt werden muß. 

Bei der Bewertung von phototaktischen Massenansammlungen von 
Larvenformen, Jungtieren usw. ist übrigens auch Vorsicht geboten, da 


Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges. 13 


diese durch ganz andere als die zu prüfenden Reize zustande kommen 
können, wenn es erst einmal zu einer Ansammlung von wenigen Exem- 
plaren gekommen ist. Jedenfalls ist auf die Zahl der reagierenden Tiere 
in solchen Fällen kein entscheidender Wert zu legen. 

Bei höheren Wirbeltieren finden wir keine ‚„Phototaxis° mehr und 
können also die eben genannte Methode nicht mehr anwenden. Für 
ganz unmöglich halte ich es auch, etwa Vögel oder selbst Säuger darauf 
zu dressieren, daß sie uns irgendwie mitteilen, welche von zwei ähn- 
lichen Strahlungen ihnen als die hellere erscheint. Hier lassen sich nur 
ganz grobe Helliskeitsdifferenzen feststellen, wie etwa in einer Arbeit 
von Laurens (1911). 

Da nun die direkte eindeutige Feststellung mittlerer Helligkeits- 
werte versagt, so wenden wir uns zu solchen Werten, die der unteren 
Grenze der Wahrnehmung entsprechen, also zu Schwellenwerten, wie 
sie Fechner (1860, I, S. 238) genannt hat. Wir setzen natürlich voraus, 
daß allen Schwellenwerten auch gleiche Helligkeitswerte entsprechen, 
mögen die sie hervorrufenden Strahlungsintensitäten auch noch so ver- 
schieden sein. 

Bei der Untersuchung der menschlichen Lichtempfindlichkeit er- 
freut sich die Schwellenwertmethode keiner besonderen Beliebtheit, 
und zwar mit vollem Recht, da die Schwellenwerte beim Menschen 
recht inkonstant sind: sie ‚wandern‘, oder richtiger gesagt: sie pendeln 
um einen Normalwert. Bei einigen Tieren und zwar anscheinend be- 
‚sonders bei Vögeln sind die Schwellenwerte der Helligkeit aus teilweise 
wohl rein anatomischen Gründen viel besser fixiert. Wenn wir nun 
dafür sorgen, daß diese Werte erstens einmal konstant bleiben und ferner 
einwandfrei unter Anwendung sorgfältiger und kritischer Kontrolle be- 
stimmt werden, so erhalten wir eine Methode, die für unsere Zwecke 
die genauesten Werte liefert. Und es gelingt wirklich, auf diesem Wege 
die Helliskeitsempfindungen eines Tieres genauer zu bestimmen, als 
dies bisher mit anderen Methoden geschehen konnte, wie weiter unten 
gezeigt werden wird. 


2. Messung der Reizstärke. 


Als zweite Hälfte der Aufgabe, eine Empfindlichkeit zu messen, 
hatten wir die exakte Messung der Reizstärke oder Reizintensität ge- 
nannt. Die Intensität oder Energie einer Strahlung ist aber nichts 
anderes alsihr Wärmeäquivalent, d. h. diejenige Wärmemenge (,, Körper- 
wärme“ im Sprachgebrauch des Physikers), die entsteht, wenn eine 
„schwarze‘‘ Oberfläche die gesamte Strahlung absorbiert. 

Ehe wir auf die spezielle Methode solcher Intensitätsmessungen ein- 
gehen, wollen wird die gerade im Hinblick auf diese Messungen praktisch 
sehr wichtige Frage erörtern, ob eine beliebige intensive, aber inkon- 


14 H. Honigemann: 


stante Lichtquelle einer konstanten, wenn auch schwächeren, vorzu- 
ziehen ist. 

Es handelt sich hier um zwei grundsätzlich verschiedene Wege der 
Intensitätsmessung. Erstens nämlich können wir gleichzeitig mit der 
Reizung die objektive Reizintensität unmittelbar bestimmen, z.B. 
thermoelektrisch, und haben dabei den Vorteil, daß wir jede beliebige 
Lichtquelle als Reizerzeuger wählen können. Braucht man etwa sehr 
hohe Intensitäten zur Erreichung von Schwellenwerten — was gar- 
nicht selten der Fall ist, obgleich es zunächst paradox klingt — so 
stehen uns als intensivste Lichtquellen die durch einen Heliostaten 
in gewünschte Richtung gebrachte Strahlung der Sonne oder allenfalls 
auch noch Bogen- oder Zirkonlicht zur Verfügung. Daß diese Licht- 
quellen sämtlich mit sehr wechselnder Intensität strahlen, ist natürlich 
gleichgültig, wenn wir jedesmal gleichzeitig mit der Empfindungsstärke 
des Tieres auch die Reizstärke messen. Wir können hier natürlich 
auch auf jede beliebige Weise die Lichtstärke abschwächen oder wieder 
verstärken, etwa durch Lochbleche, Blenden oder durch lichtabsor- 
bierende Medien, wobei wir die Gesetzlichkeit der angewandten Licht- 
schwächungsmethode durchaus vernachlässigen können. 

Der Nachteil dieses an sich einwandfreien Vorgehens ist freilich sehr 
groß: müssen wir doch fortwährend die meist ziemlich komplizierten 
und zeitraubenden Intensitätsmessungen wiederholen. Wenn es irgend 
möglich ist, so verzichten wir deshalb auf die hohen Intensitäten und 
sehen uns nach Lichtquellen um, die zwar weniger stark, dafür aber 
möglichst konstant strahlen. Wir können jetzt die Energie der Strah- 
lung ein für allemal messen — von etwaigen Kontrollmessungen ab- 
gesehen — und brauchen jetzt nur noch eine gut definierte und stets 
leicht zu übersehende Art der Intensitätsveränderung (Schwächung 
und Verstärkung) anzuwenden, um das energetische Äquivalent der 
gerade vorhandenen Strahlungsmenge stets indirekt feststellen zu können. 

Derartige Methoden sind leicht zu finden, wann es sich um Lichter 
von gleicher Farbe handelt. Neue Schwierigkeiten zeigen sich erst dann, 
wenn Licht von verschiedener Wellenlänge in Frage kommt, da eine 
für verschiedene Farben gleichmäßig wirkende Änderung der Intensität 
nicht immer leicht zu erzielen ist. Auf diesen Punkt soll jedoch erst 
später eingegangen werden. 


III. Physikalische Versuchstechnik. 


1. Kritische Besprechung der Versuchsanordnung. 


Die Frage, ob für unsere Analysen eine intensivere Strahlung einer konstanten 
schwächeren vorzuziehen sei, haben wir schon aus praktischen Gründen zugunsten 
der letzten beantwortet. Für unsere Zwecke steht uns in einer möglichst in- 
tensiven Nernstlampe eine ausgezeichnete Lichtquelle zur Verfügung, die an 


Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges. 15 


Konstanz nichts zu wünschen übrig läßt, zumal wenn die Stärke des Lampen- 
stromes durch einen Regulierwiderstand auf gleicher Höhe erhalten wird (Boehm 
1908, Golant 1909). Daß der Nernstbrenner kein sehr „weißes“ Licht aussendet, 
stört uns nicht, da wir ja die Strahlung doch wieder in ihre verschiedenen Kom- 
ponenten (Farben) zerlegen müssen. 

Diese Zerlegung kann auf ganz verschiedenen Wegen erreicht werden. Die 
Methoden der ungleichmäßigen Reflexion, also die Verwendung von farbigen 
Papieren, Stoffen usw. ist für unsere Zwecke deshalb wenig brauchbar, weil die 
Pigmentfarben meist viel zu unrein sind. 

Auch die Zerlegung durch Absorption, nämlich durch farbiges Glas oder 
farbige Flüssigkeiten, die bei vergleichend physiologisch-optischen Untersuchungen 
sehr beliebt ist, hat große Nachteile, die oft nicht genügend beachtet werden. 
Einmal nämlich ist auch hier die Reinheit, die „Homogenität‘‘ des gewünschten 
farbigen Lichtes meist sehr gering. Die in der Literatur angegebenen flüssigen 
Strahlenfilter lassen meist, wenn man sie spektroskopisch untersucht, so breite 
Bänder durch, daß man die so erzeugten Lichter auch nicht einmal als praktisch 
homogen ansehen kann. Das nach der Angabe von Nagel (1898) hergestellte 
Gelbfilter läßt z. B. gewöhnlich Licht von 620 bis 570 wu Wellenlänge durch, 
also außer Gelb noch Grüngelb und Rotgelb. Natürlich brauchen wir hier nicht 
so reine Farben, wie sie etwa bei physikalischen Untersuchungen oft nötig sind 
— andererseits glaube ich doch aber, daß wir für „Gelb“ eine Wellenlängen- 
differenz von etwa 10—15 wu. nicht überschreiten dürfen, d. h.: Licht von etwa 
585—595 uu können wir gerade noch als praktisch homogenes Gelb ansehen. 

Die Verwendung von Lichtfiltern bedingt aber noch einen anderen, viel 
größeren Übelstand. Läßt nämlich ein bestimmtes Filter (Glas oder Flüssigkeit) 
bei einer bestimmten Intensität nur Grün durch, so kann es vorkommen, daß 
es bei gesteigerter Energie der Strahlung — oder geringerer Dicke oder Kon- 
zentration des Filters, was praktisch auf das Gleiche hinausläuft — plötzlich auch 
noch etwas Rot durchläßt. 

Ich will den hier drohenden Fehler, der anscheinend nicht immer genügend 
berücksichtigt wurde, an einem Beispiel erläutern. Nehmen wir an, daß wir ein 
Tier untersuchen, das bei einem bestimmten Adaptationszustande für Rot relativ 
(d. h. im Vergleich zum Menschen) sehr stark, für Grün sehr schwach empfindlich 
ist; ein Fall, der natürlich vorkommt. Benutzen wir nun zunächst ein rotes Licht- 
filter, das etwa auch Spuren von Gelb durchläßt, so werden wir annähernd richtige 
Werte erhalten. Untersuchen wir jedoch dann mit dem grünen Filter, das auch 
Rot in Spuren durchläßt, so können diese Spuren das Ergebnis der Messung ab- 
solut fälschen, indem sie eine viel zu hohe Grünempfindlichkeit vortäuschen, die 
gar nicht vorhanden ist. Die Gefahr einer solchen Täuschung ist, wie angedeutet, 
gerade dann besonders groß, wenn die Intensität des filtrierten Lichtes geändert 
wird, ein Verfahren, auf das wir bei unseren Messungen doch gerade meist an- 
gewiesen sind. 

Als weitaus exakteste Methode der Herstellung farbigen Lichtes, kommt 
für unsere Zwecke spektrale Zerlegung in Betracht. 

Von der Besprechung solcher Spektren, die durch Beugungsgitter erzeugt 
sind, können wir hier absehen, da sie für uns meist zu lichtschwach sind, und 
wenden uns gleich den prismatischen Spektren zu. 

Von den zwei gebräuchlichen Prismenarten ist das Flüssigkeitsprisma nicht 
so sehr zu empfehlen, da seine Dispersion von der Temperatur abhängig ist. Ein 
gutes Glasprisma wird in den meisten Fällen die besten Dienste leisten. 

Wir sind, um das Gesagte ganz kurz zusammenzufassen, aus praktischen 
Gründen für die Anwendung von durch Dispersion spektral zerlegtem Nernst- 


16 H. Honigemann: 

lichte entschlossen, das wir in bekannter Weise erhalten, indem wir die Strahlung 
durch einen Spalt, eine Linse und das Prisma gehen lassen. Eine bestimmte Farbe 
erhalten wir höchst einfach, indem wir mit einem verschiebbaren Spalte das Ge- 
wünschte aus dem Spektrum herausblenden. } 

Wie erzielen wir aber jetzt eine Veränderung der Strahlungsintensität? Die 
Spaltbreite selbst zu variieren, ist nicht angängig, da wir damit gleichzeitig die 
relative Reinheit des Spektrums verändern. Wir würden damit denselben Fehler 
begehen, in den man bei der Verwendung von Farbfiltern so leicht verfällt. 

Eine Variation der Lichtstärke durch Veränderung des Abstandes der Licht- 
quelle vom Spalt oder des Versuchstieres vom Prisma usw. stößt natürlich sofort 
auf große praktische Schwierigkeiten. Es bleibt nur die Möglichkeit, im Strahlen- 
gange verstellbare Blenden so anzubringen, daß sie die einmal vorhandene Rein- 
heit des Spektrums nicht verändern. Wo wir sie aber auch anbringen, müssen 
wir unbedingt dafür sorgen, daß sie auch in der von uns gewünschten Weise wirken 
und in der Tat Licht proportional ihrer Fläche durchlassen. Das ist aber nur dann 
der Fall, wenn ihre ganze Fläche gleichmäßig beleuchtet ist, eine Bedingung, der 
meist nur unter sehr starken Intensitätsverlusten genügt werden kann. (Gleich- 
mäßig beleuchtete Mattscheibe vor der Blende usw.) 

Wenig geeignet für messende Untersuchungen erscheinen auch die sogenannten 
Rauchgläser, mit deren Hilfe eine schnelle und feine Abstufung der Intensität 
schwer zu erreichen ist. Für unsere Zwecke kommen sie schon deshalb nicht in 
Betracht, weil sie — in diekeren Schichten wohl alle — selektiv absorbieren. 
Wir würden also die vorhin besprochene Fehlerquelle wieder einführen. 

Schließlich bleiben uns noch zwei Methoden der Lichtschwächung von an- 
nähernd gleicher Brauchbarkeit. Die Verwendung eines rotierenden Sektors und 
als etwas prinzipiell ganz neues die Schwächung durch Polarisation. 

Da die Verwendung eines rotierenden Sektors eine Reihe neuer Nebenapparate 
bedingt, (Elektromotor, Tachometer, Widerstand), die den Aufbau sofort wesent- 
lich komplizieren, so entschloß ich mich zur Polarisationsmethode, bei der die 
Polarisationsebenen zweier Nicolscher Prismen meßbar gegeneinander ‚gedreht 
werden. Bilden diese Ebenen miteinander den < y, so wird theoretisch — ab- 
gesehen von einem stets gleichen reflektierten Bruchteil — bekanntlich der Bruch- 
teil Cos?» der gesamten Lichtmenge durchgelassen. 

Die Vorteile dieser Methode sind recht erheblich. Einmal nämlich können wir 
sehr bequem die Lichtstärke in den weitesten Grenzen abstufen, ohne daß wir 
auf eine gleichmäßige Beleuchtung der Nicolschen Prismen angewiesen wären, 
und andererseits ist natürlich keine störende selektive (farbige) Absorption zu 
. befürchten. 

Es fragt sich jetzt nur, wo wir die beiden Polarisatoren am besten unter- 
bringen. Ich möchte diese Frage etwas näher erörtern, weil sie einige praktische 
Schwierigkeiten enthält, die sich umgehen lassen. 

Zunächst konnte ich feststellen, daß es unmöglich war, die beiden recht 
langen und sehr vollständig polarisierenden Nicols, die mir zur Verfügung standen, 
unmittelbar hintereinander aufzustellen, da ein entsprechend schmales und par- 
alleles Lichtbündel ohne große Intensitätsverluste nicht zu erzielen war. Eine 
getrennte Aufstellung war also nötig. Am geeignetesten erschien die Anordnung, 
ein Polarisationsprisma zwischen Lichtquelle und Spalt, das andere zwischen 
Linse und Dispersionsprisma aufzustellen. 

Welches Prisma sollte nun aber feststehen und welches drehbar angebracht 
werden ? 

Zunächst versuchte ich eine Aufstellung, bei der das feste Nicolsche Prisma 
vor dem Spalt, das drehbare vor dem Dispersionsprisma stand. Diese Anordnung 


Untersuchungen über Liehtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges. 17 


gab ich jedoch bald auf, da doch anzunehmen war, daß das Dispersionprisma 
selbst etwas polarisierte. Wenn nun stets Licht von verschiedener Polarisations- 
richtung auf das Dispersionsprisma fiel, so war zu befürchten, daß es hier schon 
ohne das feststehende Nicolsche Prisma zu schlecht kontrollierbarenLichtverlusten 
kommen würde. Aus diesem Grunde wurde diese Anordnung prinzipiell verworfen 
und versucht, das zweite Nicolsche Prisma unbeweglich zu lassen und das erste, 
zwischen Lichtquelle und Spalt befindliche, zu drehen. 

Zunächst schien alles gut zu gehen. Bald aber zeigte sich ein neuer 
Übelstand. 

Um die nötige Intensität der Strahlung zu erzielen, mußte nämlich, wie sich 
herausstellte, der glühende vertikal stehende Nernstfaden selbst in der Spalt- 
ebene ziemlich scharf abgebildet werden. Vergrößerte man das Bild des Nernst- 
fadens, so wurde die Strahlungsintensität zu gering. Selbstverständlich wurde 
der Faden so abgebildet, daß er den Spalt vollständig ausfüllte. 

Die Schwierigkeit bestand nun in folgendem: War für irgendeine Stellung des 
drehbaren Nicols der Faden gut auf den Spalt eingestellt, und begann man jetzt 
den Nicol zu drehen, so fing das Fadenbild zu wandern an, da die beiden das 
Nicolsche Prisma begrenzenden parallelen Flächen (wie üblich) nicht senkrecht zur 
optischen Achse standen. Selbstverständlich wurde dadurch das Bild des Fadens 
parallel verschoben, so daß es nach einer Nicoldrehung von 90° den Spalt nur 
noch etwa zur Hälfte ausfüllte, zur anderen Hälfte jedoch rechts oder links neben 
den Spalt auf die Blende fiel. 

Auf diese Weise wurde natürlich eine exakte Berechnung der erzielten In- 
tensität unmöglich. Zu der vorhin erwähnten Anordnung mochte ich nicht zurück- 
kehren, da auch hier erhebliche Fehlerquellen zu erwarten waren. 

Die Aufgabe bestand nun darin, die parallele Verschiebung des Fadenbildes 
zu verhindern, ohne die einmal gewonnenen Vorteile der Versuchsanordnung 
aufzugeben. 

Zunächst kam ich auf den Gedanken, eine dicke planparallele Glasplatte in 
den Strahlengang (mit dem drehbaren Nicol fest verbunden) so einzuschalten, 
daß sie die Parallelverschiebung gerade wieder eliminierte. Theoretisch war dieses 
Vorgehen ohne weiteres einleuchtend: die Glasplatte mußte so angebracht werden, 
daß ihre Flächen einmal gegen die optische (Dreh)-Achse des Systems um einen 
ganz bestimmten Winkel geneigt war, der eben gerade die Verschiebung wieder 
ausglich, und andererseits mußte die hypothetische Schnittlinie von Glas- und 
Prismenfläche in einer zur optischen Achse senkrechten Ebene liegen, wie wohl 
ohne weiteres klar ist. 

Die praktische Ausführung dieses Gedankens stieß aber auch wieder auf 
Schwierigkeiten, da die exakte Justierung der Glasplatte nicht ohne weiteres 
gelang. 

Hier konnte also nur ein radikales Vorgehen helfen, das das Übel zugleich 
mit seiner Ursache beseitigte. Mit anderen Worten: es mußte als drehbarer Po- 
larisator ein Prisma gewählt werden, dessen Flächen senkrecht zur Drehachse 
standen. 

Da nun damals ein derartiger Polarisator von genügender Größe im 
Physikalischen Institut nicht vorhanden war, bat ich den Direktor, ein 
solches Prisma anzuschaffen, und schon nach wenigen Tagen erhielt ich das 
Gewünschte. 

Nunmehr war die Apparatur, soweit es sich um rein physikalische Bedingungen 
handelt, meinen Wünschen entsprechend. Ich lasse jetzt eine Beschreibung davon 
folgen, damit noch verborgene Mängel der kritischen Beurteilung zugänglich 
werden. 


Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 189. 2 


18 H. Henigmann: 


2. Beschreibung der Apparatur. (Vgl. Abk. 1.) 


Die Lichtquelle, eine automatisch zündende Nernstlampe (Modell H, 400 K) 
besaß zwei senkrechte Fäden, von denen aber natürlich nur der eine zur Pro- 
jektion benutzt wurde (s. o.). Die Kerzenzahl betrug demnach etwa 200. Auf 
den Brenner, dessen Fuß in einer breiten Schiene verschoben werden konnte, 
folgte zunächst eine dünne Glasscheibe, dann ein großer Doppelkondensator und 
in etwa ®/, m Entfernung das (Glansche) Prisma als drehbarer Polarisator. Da 
dieses Prisma etwa quadratischen Querschnitt hatte und, wie schon erwähnt, 
der vertikale glühende Nernstfaden selbst auf dem Spalte abgebildet wurde, so 
kam natürlich mehr Licht durch, wenn das Prisma auf der Kante stand. Diesem 
Fehler wurde durch Befestigung einer kleinen schwarzen Kartonblende am Prisma 
abgeholfen, die sich mitdrehte und deren rund ausgestanzte Öffnung von I cm 
Durchmesser konzentrisch zur optischen Achse lag. 

Da sich bei Beginn der Tierversuche bald herausstellte, daß eine Drehung des 
Prismas mit der Hand zu ungleichmäßig erfolgte, so wurde die Rotation durch 
ein Uhrwerk mit Windfangregulator betrieben, dessen Gang an Ruhe, Konstanz 


Abb. 1. Z Lichtquelle. K Kondensor. N, drehbares Nicolsches Polarisationsprisma. X, fest- 
stehendes Nicolsches Polarisationsprisma. Sp Spalt. Pr Dispersionsprisma. Sp Bl verschiebbare 
Spaltblende. Spg Spiegel. 


und Geräuschlosigkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Die Schnelligkeit der 
Drehungen konnte durch 3 Übersetzungen reguliert werden. Fast stets ließ ich 
den Polarisator sehr langsam laufen, so daß er sich in 7 Sekunden nur um 1° drehte. 

Auf das genannte Prisma folgte nach ca. 10 cm Abstand ein guter Spalt mit 
scharfen Schneiden, von denen die eine vermittelst einer feinen Schraube in 
üblicher Weise bewegt werden konnte. Die gewöhnliche Spaltbreite betrug 1,35 mm, 
mußte aber zu bestimmten Zwecken (spektrale Eichung) sehr verengt werden. 
Natürlich wurde nach jeder Verengung der Spalt wieder auf genau die gleiche 
Breite gebracht, die er vorher hatte. 

Dicht hinter dem Spalt befanden sich zwei bikonvexe Linsen und das fest- 
stehende Nicolsche Prisma, dann folgte wieder in einiger Entfernung ein gerad- 
sichtiges Dispersionsprisma. — Die bisher genannte Apparatur war so angeordnet, 
daß das scharfe Spaltbild in eine Ebene fiel, die etwa 125 cm vom Dispersions- 
prisma entfernt war. In dieser Ebene war ein Blech mit einem 8 mm breiten 
und 18 cm hohen vertikalen Spalt in Falzen verschiebbar und gestattete eine 
beliebige, praktisch homogene Farbe auszublenden und zur Untersuchung zu 
verwenden. Die relative Homogenität oder spektrale Einheit der ausgeblendeten 
Bezirke war natürlich verschieden: im stärker zerstreuten Blau war sie größer 
als im Rot; gekennzeichnet wird sie durch die Angabe, daß in der Ebene, wo die 
Ausblendung von 8mm breiten Bezirken erfolgte, der Abstand der farbigen 
Lichter von 720 und 440 uu Wellenlänge ca. 27cm betrug. So bedeutet 
z. B. ‚680 uu““ einen Streifen von 672—688 uu, aber „450 uu“ nur etwa 
447,5—451,5 uu. 


Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges. 19 


Die verschiedenen Grade der Homogenität etwa dadurch gleich zu machen, 
daß man im Blau entsprechend breitere Bezirke ausblendete, als im Rot, wäre 
natürlich ein vergebliches Bemühen gewesen, da das durchgelassene Licht zur 
diffusen Beleuchtung verwandt wurde. Die homogen beleuchtete Fläche hätte 
zwar an Ausdehnung gewonnen, aber die erzielte „Flächenhelligkeit‘‘ wäre na- 
türlich unverändert geblieben. Nur durch komplizierte Vorrichtungen hätte der 
genannte Erfolg erzielt werden können, der aber praktisch zu belanglos war, 
um seinetwegen die Apparatur noch weiter zu komplizieren. 

Vervollständigt wurde der Aufbau durch einen ebenen, mit Quecksilber be- 
legten Spiegel, der, im Mittel 85 cm von der verschiebbaren Spaltblende entfernt, 
den ausgeblendeten Lichtstreifen schräg nach unten auf eine Tischplatte reflek- 
tierte. Die Neigung der Spiegelebene gegen die Horizontale blieb immer kon- 
stant. Dagegen wurde der Spiegel nach jeder Verschiebung des davor befind- 
lichen Spaltes (also jedesmal, wenn eine andere Farbe zur Untersuchung benutzt 
wurde), um eine vertikale Achse so gedreht, daß das auffallende hohe und schmale 
Liehtbündel stets senkrecht reflektiert wurde. Auf diese Weise wurde erreicht, 
daß die Breite des auf die Tischplatte geworfenen Lichtstreifens für die verschie- 
denen Farben gleich blieb. Ohne diese Vorsichtsmaßregel wäre die Berechnung 
der relativen Flächenhelliskeiten sehr erschwert worden. 

Um möglichst alle unbeabsichtigten Veränderungen der einzelnen Teile des 
Apparates zu verhüten, waren diese alle entweder auf der Tischplatte oder an 
der Zimmerwand fest angekittet und angeschraubt und teilweise auf eine schwere 
optische Bank montiert. Überdies war der gesamte Aufbau — von der Lampe 
bis zum verschiebbaren Spalt — in einem lichtdichten, fast 3m langen Kasten 
(Holzgestell mit Pappverkleidung) eingeschlossen. Alle Stellen, wo Licht reflek- 
tiert werden konnte, waren matt geschwärzt. Besonderer Wert wurde auf die 
Ausmerzung des von der Vorderfläche des Dispersionsprismas reflektierten Lichte 
gelegt. Der Pappkasten hatte nur 3 Öffnungen. Die hintere Schmalseite konnte 
abgeschraubt werden, um die Lampe herauszunehmen, was nur sehr selten ge- 
schah. Seitlich vom drehbaren Nicol, dem Spalt usw. befand sich eine Tür im 
Kasten, die nach jedem Versuch geöffnet wurde, um die durch das Uhrwerk 
bewirkte Drehung des Glanschen Prismas abzulesen und es wieder in die ge- 
wünschte Lage zurückzubringen. Die dritte und letzte Öffnung war von dem 
verschiebbaren Spalt ausgeführt. — Zu bemerken ist noch, daß der Strahlengang 
sich durchschnittlich in einer Höhe von etwa 120 cm über dem Fußboden befand 
und daß die Tischplatte, auf die das zu untersuchende Tier gesetzt wurde, etwa 
l/, m tiefer lag. Somit kam das gewünschte Licht schräg von oben, was besondere 
Vorteile bietet. An diesem Versuchstisch befand sich auch ein Hebel, durch den 
das erwähnte Uhrwerk vermittels Schnurverbindung in Gang gesetzt und arretiert ' 
werden konnte und ferner Schalter für einige mit halber Spannung brennende 
Glühlampen, die das zur Ablesung der gefundenen Werte nötige Licht lieferten. 


3. Ermittelung der physikalischen Konstanten. 


Die Ermittelung derjenigen Energiemengen, die unter verschiedenen Be- 
dingungen von dem eben beschriebenen Apparat in Form von farbigem Licht 
- ausgesandt wurden, konnte auf zwei Wegen erfolgen. Erstens nämlich konnte 
man die „Endstrahlung‘“ d. h. die Strahlung, die zum Auge des zu untersuchen- 
den Tieres gelangte, unmittelbar messen. Ferner aber bestand die Möglichkeit, 
die Anfangsstrahlung zu bestimmen und dann festzustellen, wieviel Licht von 
jeder Wellenlänge auf dem Wege bis zum Auge verloren ginge. — Theoretisch 
verdient die erste Methode den Vorzug. Leider war sie aber trotz aller Bemühun- 
gen nicht anwendbar, da die als Endstrahlung austretende Lichtmenge zu gering 


IF 


>20 H. Honiemann: 

x 
war, um mit dem mir damals zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln gemessen 
werden zu können. 

Am nächsten lag natürlich der Versuch einer thermoelektrischen Messung, 
vermittels Thermosäule und Galvanometer. Da jedoch mit einem Drehspulen- 
galvanometer überhaupt keine konstanten Ausschläge erzielt werden konnten, 
so wurde von Versuchen mit einem empfindlicheren Galvanometer als voraus- 
sichtlich aussichtslos abgesehen. 

Die sehr heikle bolometrische Messung hätte vielleicht zum Ziele geführt, 
jedoch war die zur Verfügung stehende Zeit viel zu kurz, um die Messung korrekt 
auszuführen. 

Nur aus prinzipiellem Interesse erwähne ich den Versuch, die ‚„‚Endstrahlung‘“ 
mit einem Quecksilberthermometer zu messen. Das zu diesem Zwecke angefertigte 
Instrument besaß eine derartige Empfindlichkeit, daß z. B. die maximale Strah- 
lung eines roten Bezirkes stets ein deutliches Steigen des Quecksilbers bewirkte. 
Natürlich waren größere Zeiträume erforderlich, um einen vollständigen Wärme- 
ausgleich zu erzielen. Leider versagte das Thermometer schon im Grün, wo das 
Wärmeäquivalent der Strahlung nicht mehr genügte, um ein deutliches Steigen 
zu veranlassen, so daß an Messungen im Blau und Violett überhaupt nicht zu 
denken war. 

So blieb mir denn nichts anderes übrig, als zur indirekten Feststellung der 
Intensität der Endstrahlung überzugehen. 


Die Energieverteilung im Spektrum des Nernstlichtes. 


Unter den einzelnen Faktoren, welche die Intensität der verschiedenen Be- 
zirke der Endstrahlung bestimmen, steht die Lichtquelle an erster Stelle. 

Bekanntlich sind nun die Intensitätsverhältnisse einer Strahlung theoretisch 
dann ohne weiteres zu berechnen, wenn es sich um eine sogenannte „schwarze 
Strahlung‘ handelt, d. h. eine Strahlung, die von einem theoretisch schwarzen, 
alle auffallende Strahlungsenergie stets absorbierenden Körper ausgeht. Die 
Intensität und die Qualität (das ist das Verhältnis der Intensitäten des 
verschiedenen welligen Lichtes) einer solchen Strahlung hängt einzig und 
allein von der Temperatur desstrahlenden Körpers ab. 

Haben wir nun einen strahlenden Körper, der den Gesetzen der schwarzen 
Strahlung genügt, so können wir ohne weiteres mit diesem jede andere (,„grau‘ 
oder farbig strahlende) Lichtquelle durch Photometrie vergleichen und dessen 
Intensitätsverhältnis ermitteln, indem wir gleichfarbige und gleichbreite Spektral- 
bezirke der beiden Lichtquellen in einem Spektrophotometer durch meßbares 
Abschwächen der einen Strahlung für uns gleich hell machen. 

An dieser Stelle möchte ich auf einen prinzipiellen Irrtum aufmerksam 
machen, der sich übrigens auch in den besten Lehrbüchern der Physik findet. 
Es wird nämlich oft behauptet, daß für eine bestimmte Wellenlänge das Energie- 
verhältnis mit dem (menschlichen) Helligkeitsverhältnis identisch sei, und das ist 
natürlich durchaus nicht richtig. Jedenfalls gilt diese Beziehung nur innerhalb 
relativ enger Grenzen. 

Richtig ist nur das eine, daß ceteris paribus gleich hellen Strahlungen von 
gleicher Wellenlänge auch gleiche Intensitäten entsprechen, oder um es ganz 
deutlich zu machen: ist 4, = H,, so ist auch I, = I,, wenn wir mit H, die der 


H, 
Intensität 7, zugrunde liegende Helligkeitsempfindung bezeichnen; ist aber m 
Yy 


so braucht 7 durchaus nicht =c zu sein. Begründet sind diese Verhältnisse 


natürlich nur in der Funktion des Sehorganes. 


Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges. 21 


Eine Lichtquelle, die den von der Theorie geforderten Bedingungen der 
schwarzen Strahlung praktisch genügt, ist der von Lummer und Kurlbaum 
(1901) konstruierte elektrisch zu heizende schwarze Hohlkörper. Ist nun dessen 
Temperatur durch ein im Inneren des Hohlraumes befindliches Thermoelement 
als elektromotorisches Äquivalent bestimmt, so können wir die Energie- 
verteilung seiner Strahlung nach der Wien-Planckschen Formel berechnen. Aus 
dem einfachen spektrophotometrischen Vergleiche dieser Strahlung mit einer 
beliebigen anderen erhalten wir nun aber sofort die Energieverteilung der letzteren. 
Auf diese Weise kann also z. B. ein Nernstbrenner durch wenige photometrische, 
also sehr einfache Messungen, einwandfrei geeicht werden. Dabei erhalten wir 
Werte, die von der Dispersion der verwandten Prismensubstanz ganz unabhängig 
sind, da die Wien-Plancksche Formel sich auf Normalspektra bezieht. 

Hat man erst einmal eine geeichte Lichtquelle, so kann man damit natürlich 
durch einfache Spektrophotometrie wieder neue Lichtquellen eichen. Es hat 
sich übrigens herausgestellt, daß die Energieverteilung im Spektrum von Nernst- 
brennern — selbst ganz verschiedener Modelle — bei entsprechender Belastung 
praktisch gleich ist. Die Tabelle I gibt die interpolierten Werte einer Kurve 
wieder, die Fräulein Dr. Kohn (1913, Abb. 11) aufgenommen und mir freund- 
lichst zur Verfügung gestellt hatte. 

Der zu meinen Untersuchungen benutzte Nernstbrenner brannte bei 
der Eichung mit einer Spannung von 210 Volt. Auch bei den Tierversuchen wurde 
eine Reihe von Messungen mit konstant gehaltenem Strom angestellt. Da sich 
jedoch durch Kontrollversuche bald zeigte, daß die vorkommenden Schwankungen 
— im Laufe von Stunden nur 2 bis höchstens 4 Volt — keinen praktisch bemerk- 
baren Wechsel der Helligkeit verursachten, so wurde die dauernde Regulierung 
der Lampenstromstärke nach einiger Zeit wieder aufgegeben. 


Ermittelung der Dispersion im objektiven Spektrum. 


Haben wir die Energieverteilung einer Lichtquelle im Normalspektrum ge- 
messen, in einem Spektrum also, wo das Licht nicht nach der Brechbarkeit, sondern 
nach der Wellenlänge angeordnet ist so erhalten wir durch eine einfache Um- 
rechnung sofort die Energieverteilung für jedes Dispersionsspektrum dieser 
Lichtquelle. Wir brauchen nur die Dispersion des benutzten Prismas zu messen, 
und multiplizieren jetzt die Lichtmenge eines jeden kleinen ausgeblendeten 
Spektralbezirkes mit einem der Brechbarkeit der betreffenden Farbe proportionalen 
Faktor. Dadurch wird die relativ (d. h. im Verhältnis zum Normalspektrum) 
geringere Flächenhelligkeit oder Flächenintensität der breiter auseinander ge- 
brochenen kurzwelligen Lichter wieder entsprechend rechnerisch vergrößert. 

Die Dispersionsbestimmung stieß zunächst auf Schwierigkeiten. Als Methode 
wurde natürlich die Erzeugung von bekannten Spektrallinien in der Ebene des 
verschiebbaren Spaltes gewählt. Die gebräuchlichen Lichtquellen dafür (gefärbte 
Flammen oder Geisslersche Röhren) versagten aber vollständig, da ihre Intensität 
bei weitem nicht ausreichte. Ebensowenig gelang es, Absorptionsstreifen im kon- 
tinuierlichen Spektrum zu erzeugen. 

Erst mit Hilfe einer sehr intensiven Quecksilberdampflampe (von Heraeus) 
konnte ein Linienspektrum von genügender Helligkeit erzeugt werden.. Es handelte 
sich um eine Quarzlampe mit Quecksilberamalgam, die außer den Quecksilber- 
linien auch die von Cadmium und Zink aussandte. 

Die Eichung wurde nun in der Weise ausgeführt, daß an Stelle der Nernst- 
lampe die Quecksilberlampe gesetzt wurde, die zunächst mit (durch einen Regulier- 
widerstand) verringerter Spannung brannte und ein scharfes Linienspektrum 
auf einer Mattscheibe entwarf, die in der Ebene der verschiebbaren Spaltblende 


DD H. Honigmann: 
angebracht war. Nunmehr wurde der erste, zwischen Lichtquelle und Dispersions- 
prisma befindliche Spalt so verengt, daß die Linien auf der Mattscheibe ganz 
schmal und gerade noch sichtbar waren. Diese Linien (die drei hellsten Hg-Linien: 
die gelbe Doppellinie 577—579 uu, die grüne 546 uu, die violetten 435—436 un) 
konnten ohne Schwierigkeit markiert werden. Bei längerem Brennen (1/, bis 
>/, Stunden) mit allmählich erhöhter Spannung traten neue Linien auf, die jedoch 
nicht mehr ohne weiteres angezeichnet werden konnten. Deshalb wurden jetzt 
bei verschiedener Expositionsdauer Filmaufnahmen des Spektrums gemacht und 
da die Möglichkeit bestand, daß die Films beim Entwickeln oder Trocknen nicht 
die ursprüngliche Länge behielten, noch Kontrollaufnahmen auf besonders emp- 
findlichem Papier hergestellt, die jedoch dieselben Abstände der Linien ergaben. 
Auf diese Weise erhielt ich etwa 15 Linien, die genüsten, um eine ausreichende 
Interpolation vorzunehmen. 

Die Interpolation der einzelnen Wellenlängen wurde nicht direkt rechnerisch 
vorgenommen, sondern auf graphischem Wege mit Hilfe des Hartmannschen 
Dispersionsnetzes (zu beziehen von Schleicher & Schüll, Düren, Rheinland) er- 
mittelt, wodurch die Bestimmung außerordentlich einfach wurde. Die Abszissen- 
achse dieses Netzes ist nämlich so geteilt, daß eine Dispersionskurve eine gerade 
Linie wird. Als in die Ordinatenachse einzutragende Funktionswerte der Wellen- 
längen benutzt man natürlich einfach die Abstände der photographierten Spektral- 
linien von einem beliebigen Punkte (z. B. derjenigen Linie, welcher Licht von der 
geringsten Wellenlänge entspricht). Legt man nun diesen Punkt auf die Abszissen- 
achse, so erhält man durch weitere Eintragung eine fast geradlinige schwach 
gekrümmte Kurve. Die Krümmung beruht in unserem Falle darauf, daß das 
Spektrum nicht auf einer Kugelfläche, sondern in einer Ebene gemessen wurde. 

Diese Kurve genügte durchaus, um die von der Dispersion abhängigen Werte 
mit einer für unsere Zwecke vollständig ausreichenden Genauigkeit interpolieren 
zu können. (Tabelle II.) 


Die selektive Absorption der Reiskörner. 


Unsere bisherigen Ermittelungen ließen uns erstens die absolute, von der 
Art der Zerlegung unabhängige Energieverteilung unserer Lichtquelle bestimmen 
und haben dann gezeigt, wie intensiv die Strahlung von bestimmten stets gleich 
breiten Bezirken ist, die wir aus einem beliebigen Dispersionsspektrum ausblenden, 

Wir kennen also die Lichtmengen, die bei verschiedenen Stellungen der ver- 
schiebbaren Spaltblende aus dieser austreten, da wir wissen, daß die sonst noch 
benutzten im Strahlengang vor dem Dispersionsprisma liegenden Gläser (Prismen 
und Linsen) die verschiedenwelligen — hier noch nicht getrennten — Strah- 
lungen gleichmäßig durchlassen. Sie absorbieren natürlich etwas, aber von allen 
Farben praktisch gleiche Mengen, so daß an den Intensitätsverhältnissen nichts 
geändert wird, solange wir uns im siehtbaren Spektrum befinden. Wollten wir 
auch im Infrarot oder Ultraviolett Messungen ausführen, so müßte die für diese 
Strahlungen stark selektive Absorption gewöhnlicher Gläser natürlich berück- 
sichtigt werden. 

Nachdem die Strahlung die Spaltblende unseres Apparates passiert hat, 
tritt sie noch nicht unmittelbar ins Auge des zu untersuchenden Tieres ein, sondern 
erleidet noch zwei Reflexionen. Die eine reflektierende Fläche ist der schon er- 
wähnte Spiegel, der die Lichtstrahlen schräg nach unten zurückwirft. Die zweite 
und letzte reflektierende Fläche wurde bisher noch nicht genannt. Es handelt 
sich, wie hier im voraus bemerkt sei, um die Oberfläche von Reiskörnern, die mit 
den verschiedenen Farben bestrahlt wurden und die den Tieren als Sehobjekte 
dienten. 


Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges.. 23 


Es wurde eine Reissorte gewählt, deren Körner besonders groß und weiß 
waren (das bedeutet in diesem Fall wenig glasig und durchscheinend) und die 
stets in gleicher Qualität erhältlich war. Bei den Versuchen wurden, von wenigen 
Vorversuchen abgesehen, stets ungekochte Körner verwandt. 

Es war nicht zu befürchten, daß die Reflexion am Spiegel ungleichmäßige 
Lichtverluste verusachen würde, dagegen hielt ich es von vornherein nicht für 
ganz ausgeschlossen, — wenn auch für wenig wahrscheinlich — daß die Reis- 
körner selektiv reflektierten. Hätten sie als weißer Körper oder auch nur grau 
reflektiert, d. h. von allen Farben gleiche Bruchteile absorbiert, so wären unsere 
relativen Berechnungen natürlich unverändert geblieben. 

Zu meiner Überraschung stellte es sich aber heraus, daß die scheinbar durch- 
aus weißen Reiskörner gemischtes Licht recht ungleichmäßig reflektierten, und 
zwar wurden — um das Ergebnis der Messung vorweg zu nehmen — die Enden 
des sichtbaren Spektrums stark absorbiert, Grün dagegen besonders gut reflektiert. 

Als es sich darum handelte, diese Tatsachen zu ermitteln, hatte ich zuerst 
den Plan, eine Reisfläche mit einem Nernstbrenner zu bestrahlen und nun die 
Intensität der einzelnen reflektierten Spektralfarben mit denen eines bekannten 
Vergleichslichtes zu eichen. Hierbei hätte freilich die Berücksichtigung der Selek- 
tivität des Vergl>sichslichtes wiederum eine umfangreiche Rechnung bedingt, und 
um dies zu umgehen wählte ich einen Weg, der seiner relativen Einfachheit halber 
hier auch erwähnt werden soll. 

Im Prinzip handelte es sich darum, nur eine Lichtquelle zu benutzen und 
damit sowohl die zu prüfende Fläche (Reiskörner) wie auch zugleich eine weiße 
Fläche zu bestrahlen und das von diesen beiden reflektierte Licht unmittelbar 
spektrophotometrisch zu vergleichen. Der große Vorteil der Methode liegt darin, 
daß man natürlich sofort das Reflexionsvermögen für jede Farbe ohne weiteres, 
z. B. prozentuell, angeben kann, wenn man das der weißen Fläche gleich 100 setzt. 
Angenehm ist ferner, daß man von der Art der Lampenstrahlung in weiten Grenzen 
unabhängig ist, da doch beide Flächen stets im gleichen Momente miteinander 
verglichen werden und es hier nur darauf ankommt, wieviel die Reisoberfläche 
mehr absorbiert als die als Norm anzusehende weiße Fläche. Man kann also 
theoretisch jede beliebige Lichtquelle zu der Eichung benutzen. Freilich ist zu 
beachten, daß eine konstant brennende gewisse praktische Vorteile bietet. 

Die Messung wird in folgender Weise ausgeführt: die Lichtquelle (zunächst 
eine handregulierte Bogenlampe) beleuchtete zugleich eine matte Gipsplatte, wie 
sie als weiße Flächen in Photometern Verwendung finden, und ferner eine matt- 
schwarze Holztafel, auf deren Mitte ich eine Anzahl von Reiskörnern dicht neben- 
einander aufgeklebt hatte. Ein seitliches Hervortreten des glänzenden Kleb- 
stoffes vor den Reiskörnern, das eine Spiegelung hätte bewirken können, wurde 
vermieden. Beide Flächen — die Gipsfläche und die Tafel mit Reis — standen 
vertikal und nahe vor den Enden der beiden Spaltrohre eines Lummer-Brodhunschen 
Spektrophotometers, gegen deren Längsachsen sie um 45° geneigt waren. Etwa 
unter dem gleichen Winkel fielen auch auf beide die Strahlen der gemeinsamen 
Lichtquelle. (Abb. 2). Genau nachgemessen wurden diese Winkel nicht, da es 
sich ja um diffuse Reflexion handelte und schließlich auch die Stellung der beiden 
Flächen während der Messung unverändert blieb. 

Die Intensitätsänderung wurde hier — da die Anwendung eines sonst üblichen 
rotierenden Sektors unnötig schien — einfach dadurch erzielt, daß an einem Kolli- 
matorrohre die Breite des Spaltes geändert wurde. Die Berechtigung dieses Vor- 
gehens wurde noch geprüft, indem festgestellt wurde, bis zu welcher Spaltbreite 
bei sonst unveränderten Bedingungen Proportionalität zwischen den Messungen 
herrschte. Es zeigte sich, daß die Spalte etwa 0,15 mm breit gemacht werden 


24 H. Honigmann: 


konnte, ohne daß sich der Quotient der Ablesung änderte. Oder mit anderen 
Worten: ergab sich eine Helligkeitsgleichung mit den Werten 0,05 mm Breite 
für den einen und z. B. 0,06 mm für den zweiten (verstellbaren) Spalt, so ergab 
sich gleichfalls eine Helligkeitsgleichung, wenn der eine Spalt die Breite 0,10 mm, 
der zweite die von 0,12 mm besaß. Dagegen hörte 

2 diese Proportionalität auf, wenn eine Spaltbreite 
von 0,15 mm überschritten wurde. Bei den eigent- 

lichen Messungen wurde daher der feste Spalt meist 

auf 0,lmm, seltener auf 0,5 mm und nur im Not- 

| falle (Liehtschwäche im Violett) auf 0,15 mm Breite 

7 eingestellt. Diese Spaltbreite wurde nicht über- 
schritten. Der Abstand des Brenners von den 

Pa (ne: IE : beiden Flächen wurde so gewählt, daß sie im Mittel 


52 etwa gleiche Lichtmengen reflektierten. 
ER N Variiert wurde bei der Messung der Spalt 
vor der Gipsplatte. Da nun die Spaltbreite der 
A\ Helligkeit (und hier bei gleichen Farben auch der 
Intensität) umgekehrt proportional ist, so gaben 


die Einstellungen dieses Spaltes die von der Reis- 

Abb. 2. .. R : 
3 ? fläche reflektierte Lichtmenge prozentuell an, wenn 

L Lichtquelle. $S, S, Spaltrohre. E R 

F Fernrohr. GPI Gipsplatte. der Spalt vor der Reisfläche selbst konstant auf 
RPI Reisplatte. Ph Photometer- einer mit 100 bezeichneten Breite (0),lmm) erhal- 
würfel. Pr Prisma. ten wurde. Es gilt nämlich für jede einzelne Farbe 

folgende Gleichung: 


Breite des Spalt I (vor der Gipsfläche) vonder Reisfläche reflektierte Liehtmenge 
Breite des Spalt II (vor der Reisfläche) vonder Gipsflächereflektierte Liehtmenge 


oder, wenn die Breite des Spaltes II gleich 100, die von der Gipsplatte reflektierte 
Lichtmenge gleich 1 gesetzt wird: 


Breite des Spaltes I (vor der Gipsfläche) 


100 

Die zuerst verwandte Bogenlampe lieferte schwankende Werte — wahrschein- 
lich deshalb, weil der natürlich immer etwas bewegte Lichtbogen (abgesehen von 
der hier natürlich unschädlichen Inkonstanz seiner Intensität) bald die eine, bald die 
andere Fläche stärker beleuchtete. Die Verwendung einer Nernstlampe (Modell GA) 
half diesem Fehler ab und lieferte Werte von ausreichender Übereinstimmung. 

Die Frage, ob durch Umsetzung von kurzwelligem in längerwelliges Licht 
(Fluorescenz) eine weitere Änderung der Energieverhältnisse stattgefunden hätte, 
wurde geprüft, indem bei einigen Kontrollmessungen Glasscheiben zwischen Licht- 
quelle und Reisbrett gestellt wurden, die etwa fluorescenzerzeugendes kurz- 
welliges Licht absorbiert hätten. Es wurden jedoch innerhalb der mittleren Fehler 
keine abweichenden Werte gefunden. 

Die für 8 verschiedene Farben (700, 660, 620, 580, 540, 500, 480 und 465 u.) 
gewonnenen Werte ergaben eine Kurve, der die Interpolationen der Tabelle III 
zugrunde liegen. 


Von der Reisfläche refl. Liehtmenge — 


Wenn wir rückschauend noch einmal unsere Versuchsanordnung überblicken, 
so zeigt sich, daß der scheinbar so komplizierte Aufbau außerordentlich leicht 
zu handhaben ist. Nur zweier Bestimmungen bedarf es, um jederzeit die herr- 
schende relative Intensität genau zu ermitteln: der Ablesung der benutzten 
Wellenlänge und der Ablesung am Teilkreise des drehbaren Polarisationsprismas. 
Der Spalt vor dem Dispersionsprisma blieb bei den Versuchen selbst natürlich 
unverändert und deshalb außerhalb der Berechnungen. 


Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges. 25 


Die für jede einzelne Farbe geltende Grundintensität ergibt sich aus der 
Kombination von je 3 Werten. (Energieverteilung im Normalspektrum der Licht- 
quelle, Dispersion des Zerstreuungsprismas und selektive Reisabsorption. ) 

Die Tabelle IV gibt eine Übersicht über die Logarithmen dieser Werte. 
Multiplizieren wir nun einen dieser Grundwerte mit dem Cosinusquadrat des ab- 
selesenen Drehungswinkels, so erhalten wir den gewünschten Endwert der In- 
tensität. Aufs deutlichste zeigt die Tabelle die sehr starken Verschiedenheiten 
der Intensität in den einzelnen Abschnitten eines prismatischen Spektrums. Wir 
sehen z. B., daß die Energie einer roten Strahlung von 660 uu Wellenlänge etwa 
100 mal größer ist als die einer blauen von der Wellenlänge 450 uu. 


IV. Physiologische Versuchsteehnik. 
l. Ausgestaltung der Technik. 


Für die Ausgestaltung der Methodik des eigentlichen Tierversuches 
war der Grundsatz maßgebend, die Messung der Empfindungsstärke 
zunächst so fein als irgend möglich auszuführen und dann erst die- 
jenigen Faktoren der rein physikalischen Messung aufzugeben, die auf 
die erstere keinen Einfluß mehr hatten. So wurde z. B., wie schon er- 
wähnt, die Lampenstromstärke nicht mehr gemessen, nachdem sich 
herausgestellt hatte, daß die geringen Schwankungen des Stroms die 
Versuchsresultate nicht merklich beeinflußten. 


Prinzipiell hatten wir uns für die Anwendung einer Schwellenwertmethode 
entschieden, um die Empfindungsstärke zu messen, und zwar wollten wir Hand- 
lungen des Tieres als Merkmal dafür benützen, daß gerade ein Minimum der Hellig- 
keit für das zu untersuchende Tier bestünde. Das Ziel der Methode war die Er- 
reichung konstanter Werte. 

Da es sich bei unseren Versuchen um Warmblüter handelte, bei denen der 
Hunger eine ungleich wichtigere Rolle spielt, als bei Poikilothermen, so erschien 
es aussichtsvoll, die Sichtbarkeit von Futter als Maß der anzunehmenden Helligkeit 
zu wählen. Hühner waren ihrer Gefräßigkeit und relativen „Hemmungslosigkeit‘“ 
wegen ganz besonders gut geeignet. Ich beleuchtete eine mit Körnern oder dergl. 
bestreute Fläche niemals gleichzeitig mit einem ganzen Spektrum, wie dies Hess 
(1912) etwa tat. Man kann auf diese Weise mit Sicherheit nur das Helligkeits- 
maximum im Spektrum feststellen. Ist etwa alles Futter der Gegend des 
Helligkeitsmaximums — es sei z. B. Gelb — gefressen, und steigert man nun die 
Intensität, so werden jetzt die heller gewordenen Stellen rechts und links vom 
Maximum auch wahrgenommen, aber wahrscheinlich relativ zu spät, da das nun- 
mehr noch heller gewordene Gelb die Empfindlichkeit der Netzhaut inzwischen 
herabgedrückt hat. Ganz besonders gilt dies, wenn man schwarzes Futter auf 
weißem Grunde benutzt, was noch aus mehreren anderen Gründen zu verwerfen 
ist. So stört z. B. der Schatten des Tieres selbst sehr, und der Schatten der Futter- 
körner gibt Anlaß zu Täuschungen über deren Lage. Ich benutzte deshalb nur 
weißes Futter auf mattschwarzem Grunde. 

Als möglichst weißes Futter wählte ich, wie schon oben erwähnt wurde, 
Reiskörner und zwar eine recht weiße, großkörnige und undurchsichtige Sorte, 
die ungekocht verfüttert und sehr gern gefressen wurde. 

Beleuchtet wurde nun aus den eben erwähnten Gründen immer nur ein schmaler 
Streifen mit einer einzigen, praktisch homogenen Farbe. Fraßen die Hühner 
nun unter all den Körnern gerade den beleuchteten Streifen heraus, so war es 


26 H. Honigmann : 


zunächst einmal ganz sicher, daß bei dieser Leistung nur der Gesichts- 
sinn, nicht aber der Tast- oder gar Geruchssinn in Frage kam. 

Die Versuche begannen damit, daß eine Anzahl junger Hühner an die immer- 
hin etwas ungewöhnliche Arbeit gewöhnt wurde, im Dunkeln einen schmalen 
beleuchteten Streifen Körner zu fressen. Als dies gar nicht gelingen wollte, nahm 
ich schließlich den verschiebbaren Spalt einmal ganz weg, worauf dann die meisten 
Tiere sofort zu fressen begannen, da nunmehr die ganze breite Fläche — wenn 
auch verschiedenfarbig — beleuchtet war. Dann wurde die Öffnung wieder all- 
mählich verkleinert, bis das normale Maß von 8 mm Spaltbreite erreicht war. 

Jetzt fraßen also die Hühner den beleuchteten schmalen Streifen, aber die 
Resultate waren noch sehr schwankend. Sehr störend war nämlich, daß die Tiere 
binnen kurzer Zeit sich an die Versuche so gewöhnten, daß sie sofort zu picken 
begannen, sobald sie im Dunkeln auf den Versuchstisch gesetzt worden waren, 
da sie wohl gelernt hatten, mit den Füßen zu tasten und dann entsprechend zu 
picken. Es geschah also zuweilen, daß man das Tier im Dunkeln picken hörte, 
ehe noch an eine Kontrolle mit dem menschlichen Auge zu denken war, und 
machte man dann wieder hell, so hatte es entweder ganz regellos, bald hier, bald 
da, Körner aufgepickt oder freilich auch gar nichts getroffen. 

Unhaltbar wurde das Verfahren aber erst, als die Versuchsergebnisse ihre 
Eindeutigkeit dadurch verloren, daß die Hühner anfingen, im Dunkeln zu scharren, 
was sie zuerst nicht getan hatten. So war der Streifen vielleicht schon manchmal 
hell genug und sauber ausgefressen, und das Resultat wurde erst nachträglich 
wieder verwischt oder richtiger ‚verscharrt‘“. 

Dieser Übelstand mußte beseitigt werden. Der Versuch, durch jedesmalige 
sofortige Strafen nach einem Scharrversuche diese den Hühnern abzugewöhnen, 
blieb zwar nicht ganz ohne Erfolg, aber allmählich fielen die Tiere immer wieder 
in ihren Fehler zurück. Nunmehr versuchte ich, ihnen das Scharren unmöglich 
zu machen und setzte sie im Dunkeln auf eine Stange, von der aus sie picken 
sollten. Hatten sie sich jedoch erst einmal von der natürlich geringen Distanz 
zwischen Stange und Tischplatte überzeugt, so sprangen sie einfach — auch im 
absolut Dunklen, wo sie in der Regel still sitzen — von der Stange herunter. Auch 
die Maßnahme, die Tiere durch ein weitmaschiges Drahtnetz hindurch fressen zu 
lassen, bewährte sich nicht. 

Da sich nun die Unmöglichkeit herausstellte, die Tiere am Scharren zu hindern, 
so suchte ich ein Mittel, das zwar das unvermeidliche Scharren an sich nicht un- 
möglich machen, aber seine störende Wirkung aufheben sollte. Ich bohrte zu 
diesem Zweck in ein Holzbrett in ziemlich regelloser Anordnung halbkugelige 
Vertiefungen, in welche die Reiskörner einzeln gelegt wurden. Diese Löcher waren 


so tief, daß die Hühner beim Scharren die Körner nicht erreichten und so weit, . 


daß sie sie immerhin bequem herauspicken konnten (Abk. 3). 

Damit waren alle bisherigen Störungen beseitigt. 

Die Befürchtung, daß die Hühner auch jetzt mit Hilfe ihrer Füße oder des 
Schnabels die Vertiefung abtasten würden, erwies sich als völlig unbegründet. 
Im Dunkeln machte es den Tieren zunächst sogar Schwierigkeiten, die Körner 
aufzupicken. Da sie hier natürlich nur die Körner selbst beleuchtet sahen — das 
Brett war natürlich überall matt schwarz — ohne die halbkugeligen Vertiefungen 
wahrzunehmen, so öffneten sie den Schnabel meist zu zeitig, so daß nicht beide 
Schnabelspitzen in die Vertiefung gelangen konnten und das Picken erfolglos 
blieb. Erst nach einiger Übung im Hellen, wo ihnen.das Aufpicken keine Schwierig- 
keiten machte, lernten die Tiere, auch im Dunklen vom ‚Lochbrett“ zu fressen. 

Als die Hühner nunmehr allmählich merkten, daß das Scharren stets erfolglos 
blieb, stellten sie es jetzt ganz von selber ein. Jedenfalls zeigte es sich nur noch 


Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges. 27 


ganz vereinzelt, wenn die Tiere etwa aufgeregt oder zu hungrig waren. Die Ver- 
suchsresultate wurden jetzt freilich dadurch nicht mehr beeinflußt. 

Damit war ein Zustand erreicht, der die Vornahme exakter Versuchsreihen 
möglich machte, denn die sich ergebenden Werte zeigten nunmehr eine gute 
Übereinstimmung. 


2. Ausführung der Versuche. 


Die ersten systematischen Versuche, die ich vornahm, sollten die 
relative Empfindlichkeit von helladaptierten Hühnern für Licht 
von verschiedener Brechbarkeit ermitteln. 

Zu diesem Zwecke wurden meist je zwei Hühner abwechselnd unter- 
sucht. Während der Untersuchung des einen Tieres wurde das andere 
wieder der Wirkung des Tageslichts ausgesetzt. Damit wurde erstens 
"die Zeit gespart, die man, wenn immer nur ein Tier untersucht worden 
wäre, zu dessen Helladaptierung nach dem Versuche benötigt hätte. 
Dadurch, daß stets zwei verschiedene Individuen unmittelbar nach- 
einander untersucht wurden, ergab sich die auch Möglichkeit, etwaige 
rein individuelle Schwankungen der Empfindlichkeit festzustellen und 
ausschalten zu können. 

Die einzelnen Versuche wurden folgendermaßen ausgeführt: die 
Nernstlampe wurde angezündet, das Reisbrett gefüllt, d.h. in jede 
Vertiefung ein Reiskorn gelegt, die Spaltblende so eingestellt, daß die 
sewünschte Farbe erschien (zuerst stets Grün von 540 uu Wellenlänge) 
und das Uhrwerk aufgezogen, das zur Drehung des Polarisationsprisma 
diente. Dieses drehbare Prisma wurde jetzt auf den Nullpunkt eingestellt 
(die Ablesung erfolgte sehr bequem an einem großen Teilkreise von 
35 cm Durchmesser, auf dem nur die Grade angegeben waren), sodaß 
also das Maximum der Absorption erreicht war. Nunmehr wurde eins 
von den beiden Hühnern, mit denen gerade experimentiert wurde, 
nach einem Aufenthalt im Hellen von zunächst mindestens 5 Minuten 
Dauer in das absolut dunkle Versuchszimmer gebracht und auf den 
Versuchstisch gesetzt. Gleichzeitig wurde durch Bewegung des Hebels 
an diesem Tische das Uhrwerk in Bewegung gesetzt, worauf die Drehung 
des Prismas begann und die Intensität der Strahlung sich nun ganz 
allmählich steigerte. Da der Vorgang der Dunkeladaptierung (siehe 
unten) bei Hühnern weit langsamer verläuft, als bei uns, so sah der Beob- 
achter — wenn es sich etwa um Grün oder noch stärker brechbares 
Licht handelte — bald einen weißlichen Streifen, der allerdings zunächst 
nur beim indirekten, extrafovealen Sehen sichtbar war. Bald aber 
nahm die Helligkeit zu, und zwar immer schneller, da die Helligkeit 
einmal mit der objektiv wachsenden Intensität, ferner aber mit der 
im Dunkeln wachsenden Empfindlichkeit — also doppelt — zunahm. 
So wurden bald einzelne Körner sichtbar; der Farbton erschien und 
wurde immer ausgesprochener. Sobald jetzt das Huhn zu picken begann, 


238 H. Honigmann: 


wurde das Uhrwerk zum Stehen gebracht, so daß das Tier den ganzen 
Streifen bei derjenigen Lichtintensität ausfressen konnte, die als Reiz- 
schwelle auzusehen war. Wir wollen ganz exakt sein und müssen des- 
halb bekennen, daß während des Fressens die Helligkeit freilich noch 
insofern zunahm, als die Lichtempfindlichkeit im Dunkeln doch noch 
etwas größer wurde. Diese Zunahme ist aber sicher ganz unbedeutend, 
da das Fressen des Streifens kaum länger als etwa !/, Minute dauerte. 

War der Versuch beendet, so wurde vom Versuchstische aus eine 
der nur mit halber Spannung brennenden oder richtiger glimmenden 
Glühlampen entzündet und das Tier schnell wieder ins Helle gesetzt, 
nämlich in handliche aber durchaus genügend starke und große Karton- 
kästen, die oben mit sehr weitmaschigen Drahtgeflecht verschlossen 
waren. Diese Kästen wurden vor das Fenster auf einen Sims gestellt, 
wo die Hühner ausgiebig helladaptieren konnten, ohne jemals der di- 
rekten Sonnenstrahlung ausgesetzt zu sein. 

Notiert wurde vor jedem Versuch Datum und Tageszeit, die Nummer 
des Tieres, die benutzte Wellenlänge und die Dauer des vorangegangenen 
Hell- und Dunkelaufenthaltes. 

Nach dem Versuch wurde zunächst die Güte der Leistung geprüft 
und kurz mit den Bezeichnungen ‚‚deutlich‘, ‚gut‘, „fehlerlos‘“ bei po- 
sitivem, ‚„undeutlich‘ oder ‚nichts gefressen‘ bei negativem Ergebnisse 
gekennzeichnet. Auf diese Feststellungen ist insofern oft entscheiden- 
der Wert zu legen, als durch sie erst hervorgeht, ob die benutzte In- 
tensität auch wirklich einem Schwellenwerte der Helligkeit ent- 
sprach. Wenn nämlich durch irgend einen Umstand dieser Wert über- 
schritten wurde und das Tier zu spät zu fressen abfing, so dokumentierte 
sich diese Tatsache fast stets dadurch, daß die Tiere zu deutlich oder 
fehlerlos fraßen. Die Abb. 3 zeigt die Reistafel, auf der ein Streifen 
bei richtiger Helligkeit (Schwellenwert), ein zweiter Streifen bei über- 
schwelliger Helligkeit ausgefressen wurde. Im ersten Falle fehlen nur 
sieben Körner, die nicht einmal alle aufgepickt zu sein brauchen; einige 
scheinen nur zur Seite geschleudert. Immerhinist esganzdeutlich, 
daß dieleeren Löcher alle in einer Geraden liegen, und zwar 
auf der Geraden, auf die der Lichtstreifen hinfiel. — Im 
zweiten Falle sieht man sofort, daß die Helligkeit schon viel zu groß 
war und daß das Tier seine Aufgabe mühelos löste. 

Erst nachdem also die Qualität des Versuchsergebnisses, wenn 
ich so sagen darf, fixiert war, wurde die Seitentür des den Apparat 
umschließenden Kastens geöffnet und die Gradstellung des Polari- 
sationsprismas abgelesen und notiert. Damit war jede Selbsttäuschung 
oder Beeinflussung des Resultats unmöglich gemacht. Aufgeschrieben 
wurde übrigens nicht nur der Endwert der Prismastellung, sondern auch 
der Anfangswert, da sich aus diesen beiden Daten sofort genau die Frist 


Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges.. 29 


ergibt, die das Tier seit Beginn des Versuches bis zum Moment des ersten 
Pickens im Dunkeln zugebracht hat. So bedeutet die Bemerkung: von’ 
bis 29°, daß der Dunkelaufenthalt 29 - 7 Sekungen = etwa 3!/, Minuten 
gedauert hatte, da wie oben gesagt wurde, 1° in 7 Sekunden durchlaufen 
wurde. Waren übrigens, wie bei diesem Beispiele, die Tiere über 3 Mi- 
nuten im Dunkeln gewesen, so wurden die gefundenen Zahlen natürlich 
nicht mehr als Schwellenwerte für an mittlere Tageshelliskeit 
gewöhnte Tiere betrachtet. Am nächsten lag es wohl, als Schwellen- 
werte für helladaptierte Tiere diejenigen Helligkeiten anzusprechen, 
die bewirken, daß das ins Dunkle gesetzte Tier sofort zu fressen begann. 
Derartige Helliskeitswerte lassen sich natürlich ermitteln; sie sind 
aber schwankend und meines Erachtens auch relativ zu hoch, und die 
gefundene Empfind- 
lichkeit ist zu gering. 
Es ist nämlich sehr 
wahrscheinlich, daß — 
wie beim Menschen — 
der plötzliche Über- 
gang ins Dunkle stark 
wirkende rein subjek- 
tive Nebenerscheinun- 
gen auslöst, welche die 
gleichzeitig beginnen- 
de Empfindlichkeits- 
zunahme zwar nicht 
stören, aber äußerlich 
verdecken (z. B. Nach- - 
bilder). Es ergaben sich nämlich viel konstantere Werte, sobald etwa 
wenigstens eine Minute Dunkelaufenthalt bis zum Beginn der Messung 
eingeschaltet wurde. Wenn also nach der vorhergehenden Messung (z. B. 
0°—29°) der Schwellenwert annähernd bekannt war, so wurde als Aus- 
gangspunkt der Prismenstellung für die nächsten Versuche etwa die 
Stellung von 20° gewählt. Ergab sich dann als gültiges Resultat 
[20°—]31°, so wurde dieser Wert — der einen vorhergehenden Dunkel- 
aufenthalt von nur etwa einer Minute anzeigt — als Schwellenwert 
des helladaptierten Tieres angesehen. Die Berechtigung dieses Vorgehens 
ergibt sich aus den unten mitgeteilten Adaptierungskurven. 

Ich muß jetzt noch einige Tatsachen erwähnen, die vielleicht imstande 
sind, zur Verschleierung der Ergebnisse beizutragen. Erwähnt wurde 
schon, daß schließlich nach Ausschaltung der oben genannten Übel- 
stände die Resultate befriedigend übereinstimmten. Voraussetzung 
dafür war freilich einmal, daß die Tiere seit dem vorhergehenden Abend 
nichts zu fressen erhalten hatten. Waren die Tiere auch nur wenig 


Abb. 3. Teilansicht des Lochbrettes mit Reiskörnern. 


30 H. Honigmann: 


gefüttert, so sank die Empfindlichkeit scheinbar sehr stark. Es han- 
delt sich hier keineswegs etwa um völlig satte Tiere; im Gegenteil: 
im Hellen fraßen sie gierig, aber der Hunger war doch zu schwach, um 
die Leistung des Fressens im Dunkeln auszulösen, wobei doch schließ- 
lich starke Hemmungen überwunden werden müssen. 

Diese Fehlerquelle war natürlich, nachdem sie erkannt war, leicht 
zu beseitigen. 

_ Um eine wirkliche Abnahme der Empfindlichkeit handelte es sich 
hier sicher nicht, wie aus dem Folgenden noch hervorgehen wird. Man 
könnte hier von einem „peripheren“ und einem „zentralen“ Schwel- 
lenwerte sprechen, zwei Ausdrücke, die nichts präjudizieren, ‚sondern 
nur andeuten sollen, daß der Reiz für das Sinnesorgan überschwellig 
ist, ohne den vom Zentralorgan abhängigen komplizierten Vorgang 
auszulösen, der sonst bei gleicher Reizstärke auftritt. Insofern sind die 
beiden genannten termini freilich nicht ganz korrekt, als wir ja durch- 
aus gewohnt sind, gerade die Netzhaut anatomisch als Bestandteil des 
Zentralnervensystems anzusehen. Trotzdem glaube ich die beiden 
Ausdrücke ihrer Anschaulichkeit wegen beibehalten zu dürfen. | 

Eine weitere Fehlerquelle bestand darin, daß die Tiere keine guten 
Werte lieferten, wenn sie aufgeregt waren. Besonders reizbar waren 
die Hähne während der Geschlechtsreife. Eine befriedigende Versuchs- 
reihe mußte oft vorzeitig abgebrochen werden, weil etwa in der Nach- 
barschaft ein fremder Hahn krähte, ein Vorgang, der das Versuchstier - 
sofort zum Antworten veranlaßte und seine ganze Aufmerksamkeit in 
Anspruch nahm. Diesem Übelstand war nicht abzuhelfen, da die aku- 
stische Isolierung nie vollständig gelang. 

Endlich bestand noch eine dritte Möglichkeit der Schwellenverschie- 
bung. Hatte nämlich das Tier trotz aller Anstrengungen keinen Erfolg, 
so war es bei den nächsten Versuchen von vornherein entmutigt und 
zeigte eine scheinbar zu geringe Lichtempfindlichkeit. Dem Vor- 
wurfe, diese Vorgänge allzu anthropomorphistisch darzustellen, ist ent- 
gegenzuhalten, daß die normale Empfindlichkeit sofort wieder hergestellt 
werden konnte, wenn man in eine derartige schlechte Versuchsreihe 
eine „Ermunterungsfütterung‘ einschob. Diese Ermunterung bestand 
einfach darin, daß ich die Tiere (im Dunkeln) den Streifen Körner bei 
einer etwas — wenn auch nicht viel — überschwelligen Helligkeit 
fressen ließ. 

Da sich eine derartige Unsicherheit immer wieder bei den ersten 
Versuchen zeigte, die am Tage angestellt wurden, so begann ich später 
regelmäßig mit zwei Versuchen, bei denen der Körnerstreifen eine 
überschwellige Helligkeit zeigte. 

Es bleibt uns noch übrig die Versuchsreihen zu beschreiben, die zur 
Ermittelung des Verlaufs der Dunkeladaptierung angestellt 


Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges. 31 


wurden. Es erschien mit außerordentlich wichtig, den zeitlichen Ver- 
lauf der Empfindlichkeitszunahme nicht nur für gemischte Strahlungen 
(..farbloses Licht‘) sondern auch für homogene Strahlungen zu ermitteln. 
War es doch von vornherein mehr als wahrscheinlich, daß sich starke 
Verschiedenheiten für verschiedenfarbige Lichter ergeben würden. Ich 
betone nochmals die auffallende Tatsache, daß bisher systematische Unter- 
suchungen über die typische Verschiedenheit des Verlaufs der Empfindlich- 
keitszunahme für homogene Lichter verschiedener Wellenlänge nicht 
einmal beim Menschen, geschweige denn bei Tieren angestellt worden sind. 

Die Versuche wurden zunächst ganz ebenso angestellt, wie die bis- 
herigen. Nach zwei Ermunterungsversuchen wurde festgestellt, ob die 
normale „Zentral“empfindlichkeit für Licht von irgend einer Wellen- 
länge bestünde. War das, wie fast immer, der Fall, so wurde das Tier 
wieder 5 Minuten ins Helle gesetzt, dann aber, nachdem es wieder im 
absolut Dunkeln auf dem Versuchstische saß, noch z. B. 3 Minuten 
ohne jede Belichtung gelassen. Erst nach Ablauf dieser Frist wurde 
das Uhrwerk in Gang gesetzt und die Intensität der Beleuchtung all- 
mählich vergrößert. Alles übrige wurde ebenso gehandhabt wie bei 
den bisher beschriebenen Versuchen. Das Huhn wurde nun wieder 
5 Minuten ins Helle gesetzt, blieb dann z. B. 6 Minuten im Dunkeln, 
worauf wieder eine Messung erfolgte usw. Die Zeit vom Beginn der 
eigentlichen Messung bis zum ersten Picken des Tieres wurde hier natür- 
lich zu der Zeit des vorhergehenden Dunkelaufenthaltes hinzuaddiert. 

Der Nachteil dieses Vorgehens war die sehr lange Dauer jedes ein- 
zelnen Versuches. Um diesem Überstande abzuhelfen, versuchte ich 
die dazwischen liegenden Hellaufenthalte auszuschalten. Zu diesem 
Zwecke baute ich mir einen absolut lichtdichten Doppelkasten aus Holz, 
in dessen beiden Kammern 2 Hühner bequem sitzen konnten. Die 
Versuche gestalteten sich nunmehr folgendermaßen: nach den täg- 
lichen ersten Vorversuchen am helladaptierten Tiere wurde z.B. eine 
Messung mit 3 Minuten Dunkelaufenthalt angestellt. Der Versuch selbst 
dauerte nun ungefähr 1 Minute, darauf wurde das Tier im Dunkeln 
in den lichtdichten Kasten gesetzt und jetzt erst das Zimmer erleuchtet, 
um das Resultat zu kontrollieren. Damit und mit den Vorbereitungen 
zum nächsten Versuche (Aufschreiben des Ergebnisses, Verteilung 
neuer Körner auf das Reisbrett, Aufziehen des Uhrwerks usw.) waren 
wiederum 2 Min. vergangen. Bei Beginn des nächsten Versuches war 
also das Tier insgesamt 3+1+2=6Min. im Dunkeln. 4Min. 
später wurde z. B. wieder eine Messung gemacht, die die Empfind- 
lichkeit bei einem Dunkelaufenthalt von 10Min. zeigte usw. 
Der Versuch ergab innerhalb der Fehlergrenzen denselben 
Wert, wie wenn das Tier nach dem Hellaufenthalt ununter- 
brochen 6 bzw. 10 Min. lang im Dunkeln zugebracht hätte. 


32 H. Honiemann: 


Nachdem sich auf diese Weise gezeigt hatte, daß die minimale 
Helligkeit, die beim Versuche selbst auf das Tier einwirkt, dieim Dunkeln 
einmal gewonnene Empfindlichkeit nicht herabsetzte, war die Berech- 
tigung des eben beschriebenen Verfahrens nachgewiesen. Bei Adap- 
tationsmessungen wurde es nunmehr ausschließlich angewandt. 

Wollen wir z. B. die Empfindlichkeiten nach einem Dunkelaufenthalt von 
je 3, 6, 10, 20, 30, 45 und 60 Minuten messen, so brauchen wir bei Anwendung 
der ersten Methode und einem jedesmaligem Hellaufenthalt von 5 Minuten zu diesem 
7 Messungen mehr als 31/, Stunde, während wir jetzt nur noch 1 Stunde dazu 
benötigen. Schon im Interesse des Versuches selber ist diese Abkürzung dringend 
geboten. Die Leistungsfähigkeit gut eingewöhnterTiere ist zwar nach 8—10 Stunden 
noch durchaus befriedigend, aber größere Pausen in den Messungen bedingen 
eben meist ein Sinken der zentralen Schwelle, die dann erst durch Ermunterungs- 
fütterungen wieder auf ihre normale Höhe gebracht werden muß. 

Innerhalb der ersten Stunde wiederholten sich die Versuche oft genug, selbst 
wenn — wie es fast stets der Fall war — immer zwei Tiere abwechselnd unter- 
sucht wurden. Nach einem längeren Dunkelaufenthalte nahm die Empfindlich- 
keit für die meisten Lichter natürlich immer langsamer zu, so daß die Messungen 
auch in immer größeren Zwischenräumen erfolgten. War nun ein Versuch nach 
2 Stunden Dunkelaufenthalt gemacht, so ergab der nächste, z. B. nach 3 Stunden 
Dunkelaufenthalt, zunächst fast regelmäßig zu niedrige Empfindlichkeitswerte. 
Der Versuch wurde dann sofort wiederholt und ergab meist einen höheren Wert 


der Empfindlichkeit. (Natürlich wurden nur solche Resultate in Betracht ge- 
zogen, die sich bei einem bestimmten Dunkelaufenthalt als konstant und maximal 
ergaben.) Wir haben hier ein vollständiges Analogon zu der oben erwähnten 
Schwellenverschiebung. Auch hier ist Ermüdung als Ursache der Verschiebung 
natürlich ausgeschlossen. 

Schließlich sind noch einige Kontrollmessungen zu erwähnen, die 
zur Ermittlung menschlicher Schwellenwerte angestellt wurden, 
um einen Anhalt für die Vergleiche zwischen Tier und Mensch zu liefern. 
Ganz entsprechend den Tierversuchen wurde auch hier eine Kombi- 
nation von Schwellenwert- und Sehschärfemethode angewandt. Mehrere 
kleine schwarze Holztafeln, auf die je 3 Reiskörner in dieser Form I_ 
geklebt waren, lagen in der Lichtlinie. Als Schwellenwert wurde die- 
jenige Helligkeit angesehen, die nicht nur das Wahrnehmen der ein- 
zelnen Körner, sondern auch das Erkennen der Lage der Öffnung ge- 
stattete, die natürlich nach jedem Versuche variiert wurde. Eine 
Kopfstütze sorgte dafür, daß der Abstand des Auges von den Seh- 
proben konstant blieb. 

Für 2 Farben (620 und 540 au) wurde auch der Verlauf der Dunkel- 
adaptierung festgestellt. Auch hier wurden die Hellaufenthalte aus- 
geschaltet und nach jedem Versuche der Kopf des zu Untersuchenden 
bis zum Beginn des nächsten Versuches mit einem vollkommen licht- 
dichten schwarzen Tuche verhüllt. 

Alle diese Messungen hatten natürlich, wie gesagt, nur den Zweck, 
eine Vergleichsbasis für den Tierversuch zu schaffen. Für eine spe- 
zielle Untersuchung menschlicher Empfindlichkeitswerte ist ja die 


Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges.. 33 


Methode wenig geeignet und liefert deshalb auch nicht sehr konstante 
Werte. Aber es lag mir daran, unter genau den gleichen Bedingungen 
Messungen der tierischen und menschlichen Empfindlichkeit anzustellen, 
die einen unmittelbaren Vergleich der Ergebnisse gestatten. 


V. Die Versuchsergebnisse. 
l. Chronologische Übersicht. 


Die Ergebnisse der mehr als 2000 Messungen, die nach den bisher 
beschriebenen Methoden angestellt wurden, sind in den Tab. V—-XVIII 
- niedergelegt. Ihnen entsprechen die Kurven auf Abb. 4—9b. 

Ehe wir jedoch auf die Besprechung von Einzelheiten eingehen, 
möchte ich: chronologisch ganz kurz berichten, wie schon im Verlauf 
der Messungen einige überraschende Tatsachen festgestellt werden 
konnten. 

Gleich in den ersten Tagen der Untersuchung helladaptierter Tiere 
(Anfang Juni 1913) trat ein völlig unerwartetes Versuchsergebnis zutage. 
Bei den ersten Versuchen waren die Reiskörner mit grünem Licht be- 
leuchtet gewesen, daß uns Menschen — ceteris paribus — viel heller 
erscheint als Hühnern, wie dies ja schon bekannt war. Die nächste 
Farbe, deren Helligkeit untersucht wurde, war ein Rot (640 un). 
Der Versuch begann in gewohnter Weise; plötzlich aber, als für mich 
nech nicht das geringste zu erkennen war, begann das Tier schnell 
hintereinander zu picken. Ich glaubte bestimmt, das es sich um eine 
resultatlose Messung handelte, und war nicht wenig erstaunt, als sich 
zeigte, daß der Streifen völlig fehlerlos ausgefressen war. Häufige 
Wiederholungen des Versuches zeigten die Tatsache, das für 
(helladaptierte) Hühner Rot viel heller ist, als für 
(gleichfalls helladaptierte) Menschen, sodaß die Strahlung 
für das Tier schon erheblich überschwellig sein kann, wenn wir noch 
nicht das geringste sehen. 

Zunächst möchte es scheinen, als ob wir hier ein vollständiges Gegen- 
stück zu der schon bekannten Tatsache vor uns hätten, daß Tagvögeln 
der kurzwellige Teil des Spektrums relativ dunkler erscheint als uns. 
Aber es handelt sich doch bei unserer Feststellung um etwas prinzipiell 
Neues, worauf wir unten noch eingehen müssen. 

Eine weitere Überraschung zeigte sich bei der ersten Untersuchung 
von Tieren, die längere Zeit im Dunkeln zugebracht hatten (Sept. 1913). 
Während nämlich die Untersuchung helladaptierter Tiere leider schon 
im Blaugrün (500 uu) ihre Grenze erreichte, da selbst die maximale 
Intensität (d.h. Nicolstellung 90°) der noch mehr brechbaren Lichter 
zu gering war, um Schwellenwerte festzustellen, so zeigten dunkeladap- 
tierte Tiere eine (relativ) so außerordentlich hohe Empfindlichkeit 

Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 189. B3 


34 H. Honigmann: 


für blaugrüne und blaue Strahlungen, daß die Messungen bis tief ins 
Blau (450 uu) ausgedehnt werden konnten. Aus dieser einen Tatsache 
ergibt sich schon der enorme Unterschied in der Empfindlichkeitszu- 
nahme für lang- und kurzwelliges Licht, da für jede einzelne Farbe 
die Nicolstellungen allein den jeweiligen Intensitätsverhältnissen ent- 
sprechen. 

Eine ganz eigenartige Tatsache, die wohl bisher in der gesamten 
Sinnesphysiologie der Wirbeltiere ohne Beispiel dasteht!), konnte fest- 
gestellt werden, als die erste Serie von Hähnen, die zur Untersuchung 
dienten, geschlechtsreif geworden war. Die Ende Mai 1913 gekauften 
Tiere waren im Oktober 1913 ausgewachsen und lieferten seitdem . 
viel niedrigere Empfindlichkeitswerte als vorher. Sie waren 
jetzt auch — wie schon erwähnt wurde — oft sehr erregt, so daß die 
Empfindlichkeitsabnahme durch zentrale Hemmungen bedingt sein 
konnte. Freilich wurde es mir damals schon wahrscheinlich, daß mit 
der Geschlechtsreife eine Änderung der „peripheren“ Lichtempfindlich- 
keit einträte, und zwar um so mehr, als die Empfindlichkeit besonders 
für kurzwellige Lichter abzunehmen schien. 

Ende November brach nun eines Tages ganz plötzlich ein heftiger 
Kampf zwischen den beiden größten und kräftigsten Hähnen aus, mit 
denen ich bisher fast ausschließlich experimentiert hatte. Beide Tiere 
waren mit mehreren anderen Tieren zusammen aufgewachsen und hatten 
sich früher vorzüglich miteinander vertragen. Nach dem Zweikampf 
waren beide so zugerichtet, daß zunächst nicht daran zu denken war, 
sie zu weiteren Untersuchungen zu verwenden. 

Ich begann deshalb mit der Eingewöhnung von neu erworbenen 
jungen Hähnen. Schon nach etwa 14 Tagen lieferten diese gute Werte, 
die mit den Resultaten der früheren Versuche (mit den damals jungen, 
nunmehr ausgewachsenen Tieren) übereinstimmten. Damit war zunächst 
einmal ganz zweifellos festgestellt, daß sich an der Apparatur nichts 
geändert hatte, und daß diese Änderung der Werte durch den Organis- 
mus der geschlechtsreif gewordenen Hähne bedingt sein mußte. Immer- 
hin bestand noch immer die zwar wenig wahrscheinliche Möglichkeit 
einer vorübergehenden Abnahme der Empfindlichkeit älterer Hähne 
für gewisse Lichter. Um diese Frage klarzustellen, wurden zu den Ver- 
suchen später wieder die alten Tiere herangezogen, die inzwischen in 
Einzelhaft, von den übrigen Hühnern völlig getrennt, untergebracht 
gewesen waren. Es war nun bemerkenswert, daß die Tiere, obwohl 
seit 21/, Monaten mit ihnen kein einziger Versuch gemacht worden war, 


1) Die Vergrößerung der Augen bei Aalen nach Eintritt der Geschlechtsreife 
ist eine Tatsache, die ganz anders zu bewerten ist. Die reifen Aale wandern vom 
Fluß in die Tiefsee, kommen also in ein ganz neues biologisches Medium, was 
bei den Hühnern nicht der Fall ist. 


Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges. 35 


doch sofort wieder im Dunkeln fraßen. — Nur wenige Tage waren die 
Werte schwankend, was infolge der Aufregung beim Transport und beim 
Wiedersehen mit den anderen Hühnern nicht verwunderlich erschien, 
dann aber waren die Ergebnisse befriedigend, d.h. wenigstens einiger- 
maßen konstant. 

Wenn man jetzt je einen alten und einen jungen Hahn abwechselnd 
nacheinander unter genau den gleichen äußeren Bedingungen unter- 
suchte, so zeigte sich aufs allerdeutlichste die Abnahme der Empfind- 
lichkeit der älteren Tiere. Die Differenz beginnt etwa bei 640 uu und 
wird für kurzwellige Lichter immer bedeutender. 

Diese letzten Messungen gestalteten sich übrigens sehr schwierig 
und zeitraubend, da der ständige Wechsel von Hell und Dunkel die 
ausgewachsenen Tiere beunruhigte. Einige Versuchsreihen mit 
lange (3—10 Stunden) dunkeladaptierten jungen und alten Tieren 
gelangen ohne Schwierigkeit, da auch die ausgewachsenen Tiere, wenn 
sie ununterbrochen im Dunkel blieben, sich sehr ruhig verhielten. 


2. Die graphische Darstellung der Versuchsergebnisse. 


Wenn wir unsere Ergebnisse nicht nur zahlenmäßig, sondern auch 
graphisch darstellen wollen, so müssen wir Kurven konstruieren, deren 
Verlauf uns ein Bild von den wechselnden Beziehungen zwischen Emp- 
findungsstärke und Reizstärke gibt. Wir können dieses Ziel auf zwei 
Wegen erreichen: einmal nämlich können wir die gefundenen Schwellen- 
werte selbst (die Minima der Strahlungsintensität), andererseits aber 
auch die sich daraus ergebenden Empfindlichkeitswerte als Ordinaten 
in ein Koordinatensystem eintragen. Da nun bei gleichbleibender 
Empfindungssstärke die Reizempfindlichkeit der Reizstärke immer um- 
gekehrt proportional ist, so erhalten wir im letzten Falle Kurven der 
Lichtempfindlichkeit selbst, im ersten dagegen Kurven mit den rezi- 
proken Werten der Lichtempfindlichkeit. 

Zunächst könnte man denken, daß es gleichgültig ist, ob wir den 
einen oder den anderen Weg beschreiten, und es scheint so, als ob der 
Unterschied der beiden Kurvensysteme nur darin bestünde, daß das 
Empfindlichkeitsmaximum einmal unten liegt (niedrige Schwelle, ge- 
ringe objektive Strahlungsintensität), im anderen Falle oben (hohe 
Empfindlichkeit). Und doch besteht ein prinzipieller Unterschied zwi- 
schen beiden Arten der Darstellung, den wir uns jetzt ganz klar machen 
müssen. 

Betrachten wir zunächst einmal als Beispiele die Abb. 4 und 5. Abb. 4 
enthält in 3 Kurven die Schwellenwerte helladaptierter Hühner (junger und 
geschlechtsreifer Hahn) und des Menschen für Licht von 660-480 uu Wellen- 


länge Abb. 5 enthält entsprechend 3 Kurven der mit 1000 multiplizierten 
Empfindlichkeitswerte. 


Zr 


36 H. Honigmann: 


Die beiden Kurvensysteme stimmen nun natürlich in einer Reihe wesent- 
licher Momente überein. So geht schon aus der Definition der Reizempfindlichkeit 
hervor, daß man die (im Zustande der Helladaptation herrschende) maximale 
Empfindlichkeit für Licht von einer ganz bestimmten Wellenlänge aus beiden 
Kurvensystemen ohne weiteres ablesen kann. So erscheint z. B. bei gleicher 
objektiver Intensität der verschiedenwelligen Strahlungen dem hell- 
adaptierten Menschen Licht von 530 vu Wellenlänge am hellsten!), dem jungen 
Tiere Licht von 550 «u. und dem geschlechtsreifen Huhn Licht von 580 uu Wellen- 
länge. Die Maxima der 3 Empfindlichkeitskurven liegen nun natürlich genau 
bei denselben Wellenlängen wie die Minima der Schwellenwertskurven. 

Selbstverständlich können wir uns auch mit Hilfe beider Kurvensysteme 
über den Unterschied der Empfindlichkeit junger und alter Hühner orientieren. 
Die Kurven gabeln sich in beiden Abb. bei 640 zu Wellenlänge und entsprechend 
der niedrigeren Kurve der Schwellenwerte für das junge Huhn auf Abb. 4 finden 
wir eine höhere Empfindlichkeitskurve für das junge Tier auf Abb. 5. Ganz 
entsprechend beginnt die absolute Überlegenheit der Lichtempfindlichkeit von 
Hühnern gegenüber dem Menschen für langwellige Strahlungen in Abb. 4 wie auf 
Abb. 5 jedesmal bei einer Wellenlänge von 582 uu, wie ein Blick auf die Ab- 
bildungen zeigt. 

Etwas ganz anderes aber ergibt der Vergleich der Schwellenwerts- und Emp- 
findlichkeitswerte auf Abb. 6 und 7. Hier sind diejenigen Werte graphisch 
dargestellt, die sich bei der Untersuchung (junger und geschlechtsreifer) Hühner 
einerseits im Zustande der Helladaptation, andererzeitz nach einer Dunkeladap- 
tierung von 8 Stunden ergeben haben. 

Das Neue besteht hier darin, daß jetzt Werte miteinander verglichen werden, 
die ganz erheblich voneinander abweichen. Während nämlich die Schwellenwerte 
bzw. Empfindlichkeitswerte bisher höchstens um das 5fache voneinander diffe- 
rierten, finden wir hier Werte, die sich um das 150fache unterscheiden. Diese 
ungewöhnlich großen Differenzen beruhen eben auf den so enorm gesteigerten 
Empfindlichkeitswerten (bzw. den außerordentlich niedrigen Schwellenwerten der 
Strahlungsintensität), die nach einer langen Dunkeladaptierung auftreten. 

Betrachten wir Abb. 6 allein, so sehen wir, daß die Schwellenwerte 
für junge und ausgewachsene Tiere im Zustand der Helladaptation zwar erheblich 
voneinander abweichen, während die Kurven für die dunkeladaptierten Tiere fast 
zusammenfallen. 

Auf Abb. 7, wo die reziproken Werte der Kurven von Abb. 6, also die 
Empfindlichkeitswerte eingetragen sind, finden wir nun genau das Um- 
gekehrte: hier differieren die Kurven der dunkeladaptierten Tiere, während die 
der helladaptierten Hühner beinahe zusammenliegen. 

Diese zunächst so merkwürdig erscheinende Tatsache beruht einfach darauf, 
daß bei sehr geringen Strahlungsintensitäten auch relativ große Empfindlichkeits- 
differenzen praktisch kaum eine Rolle spielen. Verdoppelt sich nämlich 
unter solchen Umständen der Empfindlichkeitswert, so brauchen wir jetzt auch 
nur noch die Hälfte der Strahlungsintensität, aber diese Hälfte ist bei der so 
außerordentlich geringen Energie der Strahlung praktisch kaum von der zuerst 
gemessenen ganzen Strahlungsintensität zu unterscheiden. 

Gerade das Entgegengesetzte gilt, wie gesagt, für die Empfindlichkeits- 
kurve auf Abb. 7. Hier gehen die Kurven für die dunkeladaptierten Tiere 
(junges und ausgewachsenes) weit auseinander und sind außerordentlich spitz- 


1) Der Wert von 530 uu Wellenlänge als Maximum gilt beim Menschen erst 
nach ca. 30 Sekunden Dunkeladaptierung. Für den völlig „helladaptierten“ 
Menschen ist er gleich 540—550 uu Wellenlänge. (Bender 1913.) 


Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges. 37 


gipfelig, wobei noch zu berücksichtigen ist, daß auf Abb. 7 der Ordinatenmaßstab 
um !/,„ kleiner ist als auf Abb. 5, während die Kurven auf Abb. 4 und 6 in zwei 
identische Koordinatensysteme eingezeichnet sind. Ohne diese Verkleinerung des 
Ordinatenmaßstabes wären die Kurven der dunkeladaptierten Tiere auf Abb. 6 
noch 10 mal höher. 

Es bestehen also in der Tat ganz erhebliche Differenzen in der Lichtempfind- 
lichkeit junger und ausgewachsener Hühner im Zustand der Dunkeladaptation, 
aber diese starken Unterschiede verlieren praktisch sehr an Bedeutung, wenn wir 
uns klarmachen, daß sie nur ganz winzigen Intensitätsänderungen 
entsprechen. 

Das eine steht jedenfalls fest: weder die Schwellenwertskurven, noch die 
Empfindlichkeitskurven geben jede allein für sich ein deutliches Bild von den 
Beziehungen zwischen Reizstärke und Empfindungsstärke, sondern erst die ver- 
gleichende Betrachtung beider Kurvensysteme zusammen gibt genügenden Auf- 
schluß über die hier zu analysierenden Verhältnisse. 

‘An dieser Stelle sei es mir gestattet, noch etwas über die graphische Dar- 
stellung der Adaptierung zu sagen. Wir gehen von der alten Methode von 
Charpentier (1886) aus, nämlich der Eintragung der gefundenen Zahlenwerte 
als Kurve in ein Koordinatensystem, ‚wo als Abszissen die Zeit des Dunkelaufent- 
haltes, als Ordinaten die Schwellenwerte der Strahlungsintensität aufgetragen 
werden. 

Will man sich nur eine Übersicht über den Verlauf der Adaptierung bei Unter- 
suchung mit farblosem (gemischtem) Licht oder mit Licht von einer einzigen 
Farbe verschaffen, so genügen bei unserer Versuchsanordnung diejenigen Werte, 
die sich aus der Nicolstellung allein ergeben. Wir können also zunächst, wenn 
wir nur Licht von einer bestimmten Wellenlänge benutzen, die Tatsache ver- 
nachlässigen, daß gleiche ‚‚Nicolwerte‘ im Rot einer viel höheren Intensität ent- 
sprechen als im Blau. Konstruieren wir auf Grund dieser Werte Kurven, so können 
wir sagen, daß die Form jeder einzelnen Kurve für sich ein richtiges Bild 
von dem zeitlich verschieden starken Absinken der Schwellenwerte gibt. 

Sobald wir jedoch einen Vergleich der Schwellenwerte für Licht von ver-- 
schiedener Wellenlänge vornehmen wollen, so müssen wir das bisherige Ver- 
fahren unbedingt verlassen. Wir müssen nunmehr die Schwellenwerte, die sich 
für langwelliges Licht ergeben haben. mit entsprechend größeren Faktoren multi- 
plizieren, als die für kurzwelliges Licht erzielten; kurz, wir müssen die tatsächlich 
im Spektrum vorhandenen Energieverschiedenheiten rechnerisch ausgleichen — 
genau ebenso, wie wir das bei den einfachen Empfindlichkeitsmessungen von 
vornherein tun mußten (III, 3). Nehmen wir diese Umrechnung vor, so kommt 
es zu einigen Änderungen an den Kurven. Einmal wird natürlich die Lage der 
Kurven geändert, da ja die Schwellenwerte für kurzwelliges Licht nunmehr er- 
heblich kleiner werden, wenn dessen im Vergleich zn langwelligen Bezirken tat- 
sächlich viel geringere Intensität berücksichtigt wird. 

Auch die Form der Kurven ändert sich insofern, als zwar das gegenseitige 
Verhältnis der Anstiegssteilheit von Abschnitten einer Kurve nach wie vor 
unverändert bleibt, während sich das Verhältnis der Anstiegssteilheit zweier 
verschiedener Kurven (für verschiedene Wellenlängen) natürlich ändert. 
Nehmen wir z. B. der Einfachheit halber an, daß für je eine rote und eine blaue 
Strahlung (von verschiedener Intensität) die Kurven der absinkenden Schwellen- 
werte innerhalb der ersten beiden halben Stunden geradlinig und parallel verlaufen 
(beides ist in Wirklichkeit nicht der Fall) und haben wir nun, unseren Energie- 
messungen zufolge, alle Werte für „Rot‘‘ mit 2, alle Werte für „Blau“ mit 3 zu 
multiplizieren, so bleiben sich beide Kurven insofern gleich, als sie beide gerad- 


38 H. Honigmann: 


linig verbleiben, aber die Kurve für Blau wird jetzt natürlich rascher ansteigen, 
als die für Rot. Waren die beiden Kurven also bisher parallel, so konvergieren 
sie jetzt, d. h. es gibt nun einen vorher nicht vorhandenen Schnittpunkt. 
Das gleiche gilt natürlich mutatis mutandis für alle Kurven beliebiger Form. 


Macht man sich die eben besprochenen Tatsachen klar, so sieht man, daß 
eine vergleichende Analyse des Vorganges der Dunkeladaptierung nur möglich 
ist, wenn wir die wahren Intensitätsverhältnisse in Rechnung ziehen, die bei 
den betreffenden Versuchen geherrscht haben. Während des experimentellen 
Teiles der Untersuchung hatte ich auch nur jede ‚Farbe‘ einzeln für sich be- 
trachtet. Die sich ergebenden Adaptierungskurven, d. h. Kurven der Schwellen- 
werte für homogene Lichter, wurden zunächst alle in das gleiche Koordinaten- 
netz eingetragen, aber es zeigte sich keine Ordnung, kein System — die Kurve, 
liefen anscheinend regellos durcheinander. Erst nach Abschluß der Tierexperimente 
nahm ich die eben erwähnte Umrechnung vor, die sofort eine befriedigend har- 
monische Gruppierung der Kurven ergab. Die Gesetzmäßigkeit dieser Gruppierung 
wird im Abschnitt V, 3 besprochen werden. 

Auch hier bei der Darstellung der Adaptierung kann man statt der Schwellen- 
werte wieder die Empfindlichkeitswerte selbst in den Kreis der Betrachtung 
ziehen. In diesem Fall gilt natürlich auch all das, was eben erörtert wurde. Anderer- 
seits ist aber auch das zu berücksichtigen, was auf S. 36—37 über die Darstellung 
von Schwellenwerten und Empfindlichkeitswerten gesagt worden ist. Denn 
entwerfen wir Adaptierungskurven, die als Ordinaten die zunehmende Empfind- 
lichkeit selbst haben, so ergeben sich naturgemäß wieder prinzipiell die gleichen 
Unterschiede, wie wir sie oben besprochen haben. Hier ist es noch viel einleuch- 
tender, daß wir mit Hilfe der Empfindlichkeitskurven allein nur ein verzerrtes 
Bild der wirklichen Vorgänge erhalten. Denn wenn bei zunehmender Dunkel- 
adaptierung die Schwellenwerte der Intensität immer kleiner und kleiner werden, 
so ergeben sich für die geringsten Intensitätsänderungen wieder ungeheuer große 
Variationen der Empfindlichkeit. Die Folge davon ist ein enorm steiler Anstieg 
bei den Kurven für diejenigen Wellenlängen, für die eine hohe Empfindlichkeit 
besteht, und ein auffallend flacher Verlauf der Kurven im entgegengesetzten 
Falle. 

Auf Abb. 9a und b finden wir solche Adaptierungskurven, aus denen man 
ohne weiteres ablesen kann, wie groß die Empfindlichkeit für Licht von 7 ver- 
schiedenen Wellenlängen nach einer beliebig langen Dunkeladaptierung geworden 
ist. — Beim Vergleich der Kurven auf Abb. 9 mit denen auf Abb. 8 gilt natür- 
lich wieder ganz das entsprechende, was wir oben gesagt haben. Auch hier er- 
möglicht erst die gemeinsame vergleichende Betrachtung beider Kurvensysteme 
ein ausreichendes Verständnis des so verwickelten Vorgangs der Empfindlichkeits- 
zunahme. — 

In einer sehr lesenswerten Arbeit hat Best (1910) eine klare Kritik der früher 
üblichen Darstellungsmethoden der Adaptierung gegeben und kommt dabei zu 
dem Schluß, daß die graphische Darstellung der Empfindlichkeitswerte selbst, 
wie sie z. B. Piper (1903) veröffentlicht hat, ein falsches Bild von der ‚Variation 
der Empfindlichkeit“ gibt. Sie sei durch die Form der Kurve im Anfang zu gering, 
zum Schlusse übermäßig zum Ausdruck gebracht. Best schlägt daher vor, nicht 
die Empfindlichkeit selbst, sondern die jeweils im Laufe der Zeit aufgetretene 
Empfindlichkeitssteigerung darzustellen und rechnet die Pipersche Kurve ent- 
sprechend um. Einen ganz ähnlichen Gedanken findet man auch in Helmholtz’ 
Handbuch der Physiologischen Optik (1911, Bd. II, S. 270), wo bei der Darstellung 
der Adaptierung des Menschen in Abb. 60 die Empfindlichkeitswerte selbst, in 
Abb. 61 die Logarithmen dieser Werte als Ordinaten verwendet sind. Damit ist 


Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und-Adaptierung des Vogelauges. 39 


natürlich auch, genau so wie es Best vorschlug, der relative Empfindlichkeits- 
zuwachs zur Darstellung gebracht. 

Wenn auch die Darlegungen von Best durchaus zutreffend sind, so kann ich 
mich doch seinen praktischen Folgerungen nicht anschließen. Ich kann keinen 
Vorteil in der Darstellung des relativen Empfindlichkeitszuwachses (d. h. des 
Logarithmus der Empfindlichkeit) sehen, vielmehr finde ich, daß die tatsächlich 
verhandenen Verhältnisse dadurch eher verschleiert als geklärt werden. Denn 
eine bestimmte Energiemenge der Strahlung (die Schwellenwerte selbst) kann man 
sich ohne weiteres vorstellen,. schwerer schon deren reziproke Werte (also die 
Empfindlichkeitswerte) — der Logarithmus dieser reziproken Werte ist aber 
schließlich ein so komplizierter Begriff, daß ich in seiner Einführung als Ordinate 
keinen Fortschritt erblicken kann. Die graphische Darstellung ist aber 
meines Erachtens nicht dazu da, dem weniger Erfahrenen einen 
vagen bildmäßigen Begriff voneinem bestimmten Vorgangzugeben, 
sondern soll vor allem das experimentell gewonnene Zahlenmaterial 
interpolieren und dadurch unser Verständnis ergänzen. Zum Ver- 
ständnis einer Kurve gehört aber eine klare Vorstellung von der Bedeutung jedes 
einzelnen Kurvenpunktes. Es ist daher wünschenswert, möglichst einfache Be- 
griffe als Abszisse und Ordinate einzuführen. Wir haben oben nachgewiesen, daß 
wir sowohl den Begriff des Schwellenwertes, wie den Begriff der Empfindlichkeit 
für unsere Untersuchung unbedingt brauchen, haben aber auch gezeigt, daß man 
mit diesen beiden Begriffen vollkommen auskommen kann. Die Einführung 
neuer, noch komplizierterer Begriffe ist daher überflüssig. 


3. Kritik der Versuchsergebnisse. 


Vergleich der Lichtempfindlichkeit von Mensch und Huhn im Zustand der 
Helladaptation. 

Wir beginnen mit dem Vergleich der Empfindlichkeit des helladap- 
tierten Menschen und gleichfalls helladaptierter junger Hühner für 
Licht von verschiedener Wellenlänge (Tab. V und VII, Abb. 4und5). Es 
zeigt sich zunächst die schon von Hess und von A belsdorff (1900, 1907) 
entdeckte größere Empfindlichkeit des Menschen für kurz- 
welliges Licht. Wir finden, daß die Überlegenheit etwa bei Licht 
von 582 uu Wellenlänge beginnt. Hier ist sie zunächst unerheblich, aber 
für grünes Licht von 540 uu Wellenlänge ist der Mensch schon fünfmal 
empfindlicher, für blaugrünes Licht von 500 uu Wellenlänge fast sechs- 
mal empfindlicher als das junge Huhn. Im Vergleich zu ausgewachsenen 
Tieren ist die Empfindlickeit des Menschen noch größer, nämlich etwa 
siebenmal so groß für Licht von 540 uu Wellenlänge. Für blaue und 
violette Strahlungen ist der Unterschied sicher noch beträchtlicher. 
Ihrer geringen Energie wegen konnte jedoch ihre Reizwirkung hier leider 
nicht mehr mit untersucht werden. — Bei den eben genannten Werten 
ist zu berücksichtigen, daß wir die Empfindlichkeit des Menschen und 
des Huhns nicht ganz gleich beurteilen dürfen. Die Versuche erfolgten, 
wie oben beschrieben, zwar unter möglichst gleichen äußeren Be- 
dingungen — eine halbe Minute Dunkeladaptation — aber die halbe 
Minute, die Mensch und Huhn im Dunkeln zubrachten, bis die Körner 


40 H. Honigmann: 


erkannt wurden, verschaffte dem Menschen schon eine gewisse Empfind- 
lichkeitszunahme. Für das Huhn dagegen, das — wie unten gezeigt 
werden wird — ungleich langsamer adaptiert, ist die Empfindlichkeit 
nach einer halben Minute Dunkeladaptierung kaum merklich größer 
als im Zustand der Helladaptation. Wenn wir diesen Unterschied in 
Betracht ziehen, so wird die Überlegenheit des helladaptierten Menschen 
zwar etwas geringer, bleibt aber natürlich bestehen. 

Unsere Messungen zeigen aber noch eine zweite, bisher noch nicht 
entdeckte Tatsache, nämlich die Überlegenheit der Hühner bei der 
Wahrnehmung langwelliger Strahlungen (orangegelb und rot). Für 
diese Strahlungen ist das helladaptierte Huhn viel empfindlicher als 
der helladaptierte Mensch, nämlich schon doppelt so empfindlich für 
Licht von 620 «u, dreimal empfindlicher für Licht von 640 wu und 
viermal empfindlicher für Licht von 660 uu Wellenlänge. Ziehen wir 
hier wieder die halbe Minute Dunkeladaptierung in Betracht, während 
der (allerdings in geringerem Grade als bei kurzwelligen Strahlen) die 
menschliche Empfindlichkeit schon schneller zugenommen hat, als die 
des Huhns, so werden die Unterschiede zwischen Huhn und Mensch 
noch etwas größer. Mit anderen Worten können wir sagen: unter den 
Bedingungen des Tagessehens sehen Hühner das, was wir 
rote Farben nennen, bedeutend heller als wir. 

Es ist auffallend, daß diese Tatsache, von der sich jeder leicht überzeugen 
kann, bei den so zahlreichen optischen Versuchen mit Hühnern bisher noch nicht 
gefunden worden ist. Wenn wir uns aber die Versuchsanordnung in den früheren 
Arbeiten ansehen, so ergibt sich, daß sie mit ihrer Hilfe gar nicht gefunden werden 
konnte, da man offenbar an die Möglichkeit einer größeren Empfindlichkeit 
des Tieres für bestimmte Strahlungen kaum gedacht und sie deshalb auch nicht 
experimentell nachgeprüft hat. Merkwürdig erscheint es zunächst, daß Hess 
auch bei seinen pupilloskopischen Messungen die Überempfindlichkeit der Hühner 
für langwellige Strahlungen nicht gefunden hat, denn er schreibt noch 1915 
(5. 387): „Bei Tagvögeln sind die pupillomotorischen Reizwerte für Rot jenen 
beim normalen Menschen ähnlich oder gleich...‘ Aber das erklärt sich sofort, 
wenn wir hören, was Hess schon 1913 über die Untersuchung des Pupillenspiels 
sagte (8. 572): „Bei meinen photographischen Beobachtungen mußte ich mich 
auf dunkeladaptierte Tiere beschränken, da die Helladaptation das Pupillenspiel 
der von mir untersuchten Arten störend beeinflußte: Tagvögel wie Nachtvögel, die 
einige Stunden in einem genügend hellen Raum oder etwa im Freien gesessen hatten, 
zeigen, ins Dunkle gebracht, selbst in ziemlich lichtstarken Spektren zunächst keine 
Spur von Pupillenverengerung, die Pupille ist für solche Lichter weit und starr, die 
mit dem Lidschlag synergische Pupillenreaktion aber sehr deutlich vorhanden.‘ 

Es handelte sich also bei den früheren Hessschen Versuchen offenbar gar 
nicht um helladaptierte Tiere und Menschen, und wir werden weiter unten sehen, 
daß die Überlegenheit der Hühner bei gemeinsamer Dunkeladaptierung sich 
bald ins Gegenteil umkehrt. Denn für Licht von 620 «u. Wellenlänge sind zwar 
Hühner mehr als doppelt so empfindlich wie Menschen, wenn beide helladaptiert 
sind; nach 5 Minuten gemeinsamer Dunkeladaptierung ist die Empfindlichkeit 
des Menschen aber schon gleich der des Huhnes und wird bei noch längerem 
Dunkelaufenthalt sogar größer als jene. 


En 


u A a 


Untersuchungen über Liehtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges.. 41 


In seiner letzten Arbeit über den Farbensinn der Vögel (1917) hat Hess 
seine Angaben in diesem Punkt etwas geändert. Er schreibt diesmal (S. 395): 
„Die roten und gelben Lichter haben für die Tagvogelpupille ähnlichen (bzw. 
nur um ein geringes größeren) motorischen Wert als für die in gleichem Adaptations- 
zustand befindliche Menschenpupille.““ Hier finden wir also zum erstenmal eine 
Andeutung davon, daß rote (und gelbe) Strahlungen für das Tier größeren 
Reizwert haben als für den Menschen. 

Leider erfahren wir aber von Hess nichts über den Adaptationszustand, in 
welchem dieses Resultat erhalten wurde. Wir hören zwar, daß der Adaptations- 
zustand von Menschen- und Vogelauge gleich war, was offenbar bedeutet, daß 
sich beide eine gleich lange Zeit hindurch dunkeladaptiert hatten — aber wie 
lange diese Zeit gedauert hat, ist leider nicht zu ersehen, und gerade das ist nach 
dem oben Gesagten von größtem Interesse. Es ist möglich, daß es sich um 15 Mi- 
nuten Dunkelaufenthalt gehandelt hat, es können aber auch nur 3—4 Minuten 
gewesen sein, und in diesem letzten Falle würde das Hesssche Resultat mit den 
Ergebnissen unserer Messungen gut übereinstimmen. 


- Um sich von der Überlegenheit der Liehtempfindlichkeit der Hühner 
für rote Strahlungen zu überzeugen, braucht man gar keine kompli- 
zierte Apparatur. Man entwirft einfach ein genügend breites und 
reines objektives Spektrum und blendet aus diesem einen schmalen 
Streifen roten Lichtes heraus. Beleuchtet man nun — selbstverständlich 
unter peinlicher Vermeidung alles falschen Lichtes — mit diesem roten 
'Lichtstreifen ein Lochbrett mit Reis und verringert jetzt schnell die 
Intensität der Lichtquelle, so wird bald ein Zustand erreicht, bei dem 
der helladaptierte Mensch nichts mehr sieht, das Huhn aber noch ohne 
Schwierigkeit den beleuchteten Körnerstreifen auspickt. Ich habe 
diesen Versuch, dessen Ergebnis einen überzeugenden Beweis unserer 
" Behauptung darstellt, häufig vorgeführt und empfehle ihn seiner Ein- 
fachheit halber als Vorlesungsdemonstration. 


Die Tatsache, daß Hühner im Zustand der Helladaptation rotes Licht be- 
deutend heller sehen als wir, macht die Nachprüfung der Versuche nötig, durch 
die Hess beweisen wollte, daß Hühner rote Strahlungen ihrer Farbe wegen von 
anderen Strahlungen unterscheiden können. Hess wandte sich damals (1911) 
mit berechtigter Schärfe gegen die Versuche von Katz und Revesz (1908), die 
mit Hilfe einer an sich sehr geistvollen Methode den Farbensinn der Hühner 
beweisen wollten. Sie dressierten nämlich Hühner auf das Nichtfressen von Reis- 
körnern, die in einer bestimmten Sättigungsstufe gefärbt waren, indem sie gerade 
diese Körner festklebten, alle anderen aber lose aufstreuten. Die Hühner lernten 
nun bald, daß sie Körner gerade von dieser bestimmten Sättigung der Farbe 
nicht aufpicken konnten und ließen sie nun auch dann liegen, wenn sie lose auf- 
gestreut waren. 

Hess bemerkte dagegen (1911, S. 445) mit vollem Recht, daß bei dem hier 
festgestellten Unterscheidungsvermögen die Körner gar nicht ihrer Farbe, 
sondern ihrer Helligkeit nach unterschieden wurden, und daß infolgedessen 
von einer Prüfung des Farbensinnes gar nicht die Rede sein kann. 

Um nun zum gewünschten Ziele zu gelangen, verfuhr Hess folgendermaßen. 
Er färbte (nach dem Prinzip der Seebeck-Holmgrenschen Wollprobe) größere 
Mengen von Reiskörnern mit verschiedenen Pigmenten so, daß ihm ‚‚insbesondere 
gelblichrote, angenähert rein rote und bläulichrote, sowie gelblichgrüne, angenähert 


43 H. Honigmann: 


rein grüne und bläulichgrüne Körner teils in mehr oder weniger stark mit weiß, 
grau oder schwarz verhüllten Farben, ferner gelblichgraue, rein graue und bläulich- 
graue Körner reichlich zur Verfügung standen.‘ 

Hess klebte nun die leicht gelblichroten Körner fest, so daß nur die anderen 
Körner gefressen werden konnten, was das untersuchte Huhn bald lernte. Es 
piekte also nur die grauen und grünen Körner auf. Wurden später alle Körner- 
sorten, also auch die roten, lose aufgestreut, so wurden diese auch jetzt nicht 
gefressen, woraus hervorgeht, daß das Huhn sie von den andersfarbigen unter- 
scheiden konnte, was einem sogenannten rotgrünblinden Menschen nicht gelang. 

„Nur für ein Auge mit den Sehqualitäten eines normalen Menschenauges‘‘, 
schließt Hess (1911, S. 446) seine Ausführungen, ‚‚haben die verschieden roten 
Körner das gemeinsame Merkmal der vorwiegenden Rötlichkeit. Meine Ver- 
suche schließen die Möglichkeit einer Rotgrünblindheit bei den untersuchten 
Hühnern aus“ u.s. f. 

Demgegenüber ist jetzt zu betonen, daß der Hesssche Beweis nur gültig 
wäre, wenn die Hühner rote Strahlungen ebenso hell sähen, wie der 
Mensch. Da sie den Hühnern aber beim Tagessehen viel heller erscheinen als 
dem Menschen, so besteht die Möglichkeit, daß auch hier wieder nicht die Farbe, 
sondern die für Hühner größere Helligkeit ausschlaggebend war, wenn die roten, 
gelbroten und bläulichroten Körner von den anderen Körnern unterschieden 
wurden. Wir müssen also den Einwand, den Hess mit Recht gegen Katz und 
R evesz geltend machte, jetzt gegen ihn selbst erheben. 

Auch in seiner zusammenfassenden Arbeit über den Farbensinn der Vögel 
(1917) hat Hess wieder erklärt, daß die gelbroten, bläulichroten und rein roten 
Körner, d. h. die vorwiegend roten Körner für das Huhn das ‚gemeinsame Merk- 
mal der vorwiegenden Rötlichkeit““ haben müßten. — Das gemeinsame Merkmal 
kann aber, wie nochmals betont werden muß, für das Huhn in der vorwiegenden 
Helligkeit bestanden haben. 

Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen, will ich gleich von vornherein 
bemerken, daß ich nicht etwa der Meinung bin, die Hühner wären tatsächlich 
Rotgrünverwechsler. Dagegen muß festgestellt werden, daß das Gegen- 
teil experimentell noch nicht erwiesen ist, denn die Methode von 
Hess hat nach dem eben Gesagten nunmehr ihre Beweiskraft Ver- 
loren. 

Das gleiche gilt natürlich auch von den entsprechenden Versuchen, die Hess 
mit spektralen Lichtern angestellt hat. 

Soll der Versuch beweisend sein, so muß er folgendermaßen angestellt werden: 
man ermittelt zunächst eine „rote“ und eine „grüne“ Strahlung, die dem Huhn 
gleich hell erscheinen. Mit diesen beiden Strahlungen beleuchtet man nun weiße 
Körner. Kann das Tier nunmehr (nach vorheriger Dressur auf Körner von einer 
bestimmten ‚„Farbe‘‘) die beiden Strahlungen voneinander unterscheiden, so ist 
in der Tat bewiesen, daß jetzt nicht die Helligkeit, sondern die Farbe dabei aus- 
schlaggebend gewesen ist. Will man den entsprechenden Versuch bei Tageslicht 
mit buntgefärbten Körnern ausführen, so muß verlangt werden, daß das Huhn die 
roten Körner nicht nur von solchen grünen und grauen unterscheidet, die dem 
normalen farbentüchtigen Menschenauge ungefähr gleich hell erscheinen, sondern 
es muß auch hier berücksichtigt werden, daß das helladaptierte Huhn die kurz- 
welligen violetten, blauen und grünen Strahlungen zwar dunkler, die new 
gelbroten und roten aber heller sieht als der Mensch. — 


Um ein Bild vom Empfindlichkeitsunterschied zwischen Mensch und 
Tagvogel zu geben, gebraucht Hess wiederholt den anschaulichen Ver- 
gleich, Hühner sähen die Welt der Farben so wie ein normaler Mensch, 


Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges. 43 


der sich ein rötlich-gelbes Glas vors Auge hält. Der Vergleich ist voll- 
kommen richtig, soweit es sich um die Unterschiede der Empfindlich- 
keit für blaue und grüne Lichter handelt, die dem Menschen durch 
ein rötlichgelbes Glas gesehen dunkler und ungesättigter vorkommen 
als sonst. Aber der Vergleich ist insofern doch unvollkommen, da er 
die Überlegenheit des Vogelauges für langwellige Strahlen 
nicht zum Ausdruck bringst. Denn die rotgelbe Brille läßt im besten 
Falle diese Stralungen ungeschwächt passieren, so daß sie höchstens 
ebenso hell, aber niemals heller erscheinen können, als sie das unbewaff- 
nete menschliche Auge sieht. 

Die Frage, worauf die überlegene Empfindlichkeit der Hühner für 
langwelliges Licht beruht, ist vorläufig noch nicht mit Sicherheit zu 
beantworten. Es bestehen drei Möglichkeiten: entweder ist das helladap- 
tierte Sehorgan der Hühner an und für sich empfindlicher für alle Strah- 
lungen, aber die roten und gelben Ölkugeln der Netzhaut absorbieren so 
viel kurzwelliges Licht, daß dieses den Hühnern nicht nur nicht heller, 
sondern sogar dunkler erscheint als dem Menschen, so daß sich die 
Überlegenheit nur noch bei langwelligen Lichtern zeigt, die von den 
Ölkugeln wenig oder gar nicht absorbiert werden. Ob diese hypothe- 
tische Überlegenheit nun darauf beruht, daß jedes einzelne Netzhaut- 
element bei Hühnern empfindlicher ist als bei Menschen, oder ob die 
relativ größere Anzahl der Zapfen in der Vogelretina dabei eine Rolle 
spielt, läßt sich gleichfalls vorläufig nicht entscheiden. — 

Zweitens besteht die Möglichkeit, daß die Netzhaut der helladap- 
tierten Hühner in ihrer Gesamtheit zwar nicht lichtempfindlicher ist 
als die des helladaptierten Menschen, aber durch gewisse Einrichtungen 
gerade für die langwelligen Strahlungen erst empfindlicher gemacht 
wird. 

In ihrer Eigenschaft als Lichtfilter können die Ölkugeln diese 
Empfindlichkeitssteigerung natürlich nieht bewirken, aber die Öl- 
kugeln sind noch mehr als Lichtfilter: sie wirken nämlich auch als Sam- 
mellinsen, die den schmalen Zapfenaußengliedern eine vergrößerte Licht- 
menge zuführen. Den Nachweis dieser überaus wichtigen Tatsache ver- 
danken wir Hess, der sich (1917, S. 401) folgendermaßen darüber aus- 
apricht: „Dieses Bedürfnis‘ (nämlich das Bedürfnis nach Kompensation 
des Verlustes an kurzwelligen Lichtern) „muß sich um so mehr geltend 
machen, als die Zapfenaußenglieder bei den Tagvögeln außerordentlich 
dünn sind — ihr Durchmesser ist beträchtlich kleiner als jener der 
fovealen Zapfenaußenglieder des Menschen — so daß ohne besondere 
optische Hilfsmittel zu jedem einzelnen Außengliede nur eine verhält- 
nismäßig sehr kleine Lichtmenge gelangen kann. Die ihnen vorgelagerten 
stark lichtbrechenden Ölkugeln haben nun einen beträchtlich größeren 
Durchmesser als die Zapfenaußenglieder: sie sammeln nach Art einer 


44 H. Honigmann: 


Kugellinse das Licht so, daß annähernd die ganze auf sie auffallende 
Liehtmenge zu dem zugehörigen feinen Außengliede gelangen kann, 
das also auf diese Weise viel mehr Licht erhält, als ohne die Kugellinse 
möglich wäre.‘“ — Es ist ohne weiteres klar, daß die Empfindlichkeits- 
überlegenheit für langwellige Strahlen wenigstens zum Teil auf diesen von 
Hess angegebenen dioptrischen Verhältnissen beruhen kann. Denn be- 
kanntlich enthält zwar durchaus nicht jeder Zapfen eine rote oder gelbe Öl- 
kugel; ist aber eine solche vorhanden, so wird von den von ihr haupt- 
sächlich durchgelassenen langwelligen Strahlen nunmehr auch eine ganz 
besonders große Menge ins Zapfenaußenglied geleitet. 

Das ist eine zweite Hypothese, durch die wir die Überlegenheit des 
helladaptierten Vogelauges für langwellige Strahlungen (im Vergleich 
zum helladaptierten Menschen) erklären können. 

Drittens besteht die Möglichkeit, daß die Annahmen sowohl der 
ersten wie der zweiten Hypothese zu Recht bestehen, daß also die hell- 
adaptierte Hühnernetzhaut für Strahlungen aller Wellenlängen etwas 
empfindlicher ist als die helladaptierte menschliche Retina, und daß 
sie außerdem noch für langwellige Strahlen dadurch empfindlicher 
wird, daß die Ölkugeln gerade diese Strahlen besonders konzentriert 
in die Zapfenaußenglieder lenken. 

An dieser Stelle sei kurz einer Arbeit von Henning (1920) gedacht, der von 
einem ganz neuen Gesichtspunkt aus die Funktion der roten Olkugeln betrachtet. 
Er stellt nämlich die Behauptung auf, daß die Tagvögel und Schildkröten mit 
Hilfe der roten Ölkugeln besser als andere Tiere durch Dunst, trübe Medien, 
Nebel und Flüssigkeiten hindurchsehen können. Henning geht dabei von dem 
Gedanken aus, daß langwellige Strahlen am besten durch die neblige und dunstige 
Atmosphäre dringen. Das ist vollkommen richtig und übrigens eine längst be- 
kannte Tatsache. Die weitere Beweisführung von Henning ist nicht gerade 
glücklich. Er schreibt nämlich (1920, S. 101): „Wir betrachten mit unbewaffnetem 
Auge eine Landschaft im Nebel, der unseren Blick etwa 300 m tief dringen läßt. 
Nun halten wir rotes oder rotgelbes Glas vor unser Auge und jetzt werden 
nicht lediglich alle Einzelheiten in der Nähe viel deutlicher, als vorher, son- 
dern unser Blick geht etwa 2000 m weiter in die Tiefe. Das liegt nur daran, 
daß langwellige Strahlen den Nebel eher durchdringen.‘“ — Wie glücklich 
wäre jeder Seemann, wenn die Behauptung von Henning zutreffend wäre! 
Er brauchte nur, wenn ihn der Nebel überrascht, eine rote Brille aufzu- 
setzen und sähe dann sofort ungefähr 7 mal weiter durch den Nebel, als mit 
unbewaffnetem Auge. 

Eine einfache Überlegung wird uns aber zeigen, daß die Behauptung Hen- 
nings unmöglich richtig sein kann. Nach seiner eigenen Aussage gehen 
langwellige Strahlen besser durch Dunst und Nebel hindurch als kurzwellige. 
Infolgedessen gelangen an einem nebligen Tage schon an und für sich weniger 
kurzwellige Strahlen ins Auge, als an klaren Tagen. Setzen wir nun noch ein 
rotes oder rotgelbes Glas vor unser Auge, so gehen die langwelligen Strahlen besten- 
falls ungeschwächt hindurch, während die kurzwelligen noch mehr vermindert 
werden. Henning scheint jedoch zu meinen, daß nach dem Vorsetzen des roten 
Glases objektiv mehr rotes Licht vorhanden wäre, wovon natürlich nicht die 
Rede sein kann. 


Untersuchungen über Liehtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges. 45 


Man könnte nun einwenden, daß die rote Brille insofern ein besseres Sehen durch 
Nebel usw. ermögliche, als sie die durch ihre chromatische Aberration störenden kurz- 
welligen Strahlungen ausschaltet. Ein ähnlicher Gedanke ist auch von Garten (1908) 
ausgesprochen worden. Aber auch dieser Einwand läßt sich leicht widerlegen. Wäre 
nämlich wirklich die chromatische Aberration beim Sehen unter den genannten 
Bedingungen störend, so müßte sich diese Störung ja beiklarem Wetter — worelativ 
und absolut mehr kurzwellige Lichter zum Auge gelangen — noch viel unangenehmer 
bemerkbar machen, als an trüben, nebligen Tagen. Mit anderen Worten: man müßte 
durch dunstige, neblige Luft besser und schärfer sehen als durch klare! 

Die einfachsten physikalischen Überlegungen zeigen also die 
völlige Unhaltbarkeit der Henningschen Hypothese. Es erübrigt sich 
daher, auf die Arbeit dieses Autors ausführlich einzugehen. — 

Betrachten wir nun noch einmal die Werte der Lichtempfindlichkeit 
von Mensch und Huhn, wie sie Tab. V—VII und Abb. 5 zeigen, nicht nur 
vom Gesichtspunkt des Vergleichs von Mensch und Tier, sondern in 
Hinsicht auf die absolute Größe der Werte, so ergeben sich noch einige 
bemerkenswerte Tatsachen. Wir müssen dabei berücksichtigen, daß 
unsere Kurven in ein ideales Spektrum eingezeichnet sind, in dem 
nicht nur die Abstände von Licht verschiedenerer Wellenlänge gleich- 
mäßig sind, sondern in dem auch überall gleiche Energie herrscht. Ein 
solches Spektrum erleichtert aber besonders das Loskommen von einem 
hier nur störenden anthropozentrischen Standpunkt. 

So sehen wir (Abb. 5), daß die Empfindlichkeitswerte helladap- 
tierter Hühner für verschiedene Strahlungen viel gleichmäßiger im Spek- 
trum verteilt sind als die des Menschen. Sie sind nach unseren Messungen 
für rotgelbes Licht von 620 uu Wellenlänge fast genau so groß wie 
für blaugrünes von 500 u Wellenlänge. Die Empfindlichkeit für 
Licht von mittlerer Wellenlänge (orange, gelb, gelbgrün, grün) ist auch 
nur wenig, nämlich höchstens um die Hälfte größer als die für die beiden 
eben genannten Strahlen. 

Ganz anders ist es beim helladaptierten Menschen: innerhalb eines 
gleich großen Spektralbezirks variiert hier die Empfindlichkeit um das 
l4fache, denn für grüne und blaugrüne Strahlungen ist sie erheblich 
größer als für rote und gelbe. Dem Anschein nach ist also die Verteilung 
der Empfindlichkeitswerte der Hühner ‚natürlicher‘, d. h. in diesem 
Falle der Energieverteilung im Sonnenspektrum gleichmäßiger angepaßt. 

Berücksichtigt man aber, daß die im Vergleich zum Menschen geringe 
Empfindlichkeit des Vogelauges für kurzwellige Strahlungen offenbar 
lediglich auf der rein physikalischen Filterwirkung der Ölkugeln beruht 
und in letzter Linie nicht von der Lichtempfindlichkeit der Netzhaut 
abhängt, so kommt man doch notgedrungen zu dem Schluß, daß die 
Empfindlichkeitsverhältnisse des Vogelauges als eine sekundäre An- 
passung aufzufassen sind. — 

Auf die Frage, wie und warum diese Anpassung zustande gekommen 
ist, lassen sich zur Zeit kaum begründete Vermutungen äußern. 


46 H. Honigmann: 


Die Grenzen des (für das helladaptierte Huhn sichtbaren) Spektrums. 


Bei der Bestimmung der Grenzen der Sichtbarkeit des Spektrums 
für das helladaptierte Vogelauge war die geringe Energie der kurz- 
welligen Strahlungen natürlich sehr störend. Während das rote Ende 
des Spektrums praktisch genügend weit erforscht werden konnte, war 
dies für die violette Ende des Spektrums nicht möglich, da in unserer 
Versuchsanordnung die an und für sich schon wenig intensiven kurz- 
welligen Strahlungen infolge ihrer größeren Brechbarkeit bei der pris- 
matischen Zerlegung noch über eine viel größere Fläche ausgebreitet 
wurden, als die langwellisen Strahlungen, wodurch ihre Intensität 
noch mehr verringert wurde. 

Am roten Ende des Spektrums. konnte die Lichtempfindlichkeit 
der Hühner bis zur Wellenlänge A — 700 u gemessen werden. Aus 
der Form der Kurve auf Abb. 5 ergibt sich aber mit größter Wahrschein- 
lichkeit, daß die Hühner das rote Ende des Spektrums mindestens 
ebenso weit sehen wir farbentüchtige Menschen — wahrscheinlich 
sogar noch etwas weiter. Für die äußersten roten Strahlen, die dem Men- 
schen eben noch sichtbar sind, hat Helmholtz (1860, S. 231; 1911, II. Bd., 
S. 58) die Wellenlänge 4 = 810 uu gefunden. Wir können also schließen, 
daß Hühner solche Strahlungen gleichfalls noch wahrnehmen, dürfen 
jedoch dabei nicht vergessen, daß der experimentelle Beweis für diese 
Annahme noch nicht erbracht worden ist. — 

Wie steht es nun aber mit dem kurzwelligen Ende des Spektrums? 
Helladaptierte Tiere konnte ich nur mit Licht bis zur Wellenlänge 
/ = 500 uu untersuchen (ausgewachsene Hühner sogar nur bis zur 
Wellenlänge A = 520 u u), aber immerhin zeigt die Form unserer Kur- 
ven, daß die absolute Sichtbarkeitsgrenze am kurzwelligen Ende des 
Spektrums für Hühner sicher noch nicht bei Licht von den eben genann- 
ten Wellenlängen, sondern weiter violettwärts liegt. Es ist möglich, 
daß helladaptierte Hühner das kurzwellige Ende des Spektrums bei 
genügend hoher Intensität der Strahlung ebenso weit sehen wie der 
normale helladaptierte Mensch — freilich viel dunkler als dieser —, 
es ist aber andererseits auch möglich, daß das kurzwellige Ende des 
für uns sichtbaren Spektrums für helladaptierte Hühner völlig unsichtbar 
ist — so unsichtbar, wie für uns etwa ultrarote Wärmestrahlen. Bewiesen 
ist aber eine solche absolute Verkürzung des Spektrums am kurz- 
welligen Ende für Hühner bisher noch nicht, sondern lediglich eine 
relative Verkürzung im Vergleich zum Menschen bei bestimmten 
geringen Graden der Intensität. (Umgekehrt besteht für die helladap- 
tierten Hühner nach meinen Feststellungen eine relative Verlänge- 
rung am roten Ende des Spektrums). Unter diesen Umständen er- 
scheint es aber irreführend und zum mindesten verfrüht, ohne weiteres 
von einer Verkürzung des Spektrums am kurzweiligen Ende für das 


Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges. 47 


Sehen der Tagvögel zu sprechen, denn Hess hat wiederholt (schon 1907) 
darauf hingewiesen, daß kurzwellige blaue Glaslichter von den Hühnern 
ohne weiteres gesehen werden, wenn man sie nur genügend ‚‚lichtstark‘“ 
macht. Diese Angabe gilt nach meiner Erfahrung auch für homogene 
spektrale Strahlungen. 


Der Unterschied zwischen der Lichtempfindlichkeit junger und geschlechts- 
reifer Hähne. 

Wie oben mitgeteilt wurde, ergab sich bei unseren Messungen ein 
‘ Unterschied in der Lichtempfindlichkeit junger und ausgewachsener 
Hähne in dem Sinne, daß bald nach Eintritt der Geschlechtsreife zwar 
die Empfindlichkeit für langwellige Strahlungen sich kaum änderte, 
jedoch für kurzwellige erheblich abnahm. Von einer ‚Alterserscheinung‘“ 
kann hier natürlich nicht die Rede sein. Häufige Kontrollmessungen 
an mehreren jungen und ausgewachsenen Hähnen bewiesen die Gesetz- 
mäßigkeit dieser Empfindlichkeitsabnahme. Die Schwellenwerte für 
gelbe Strahlungen (4 — 580 uu) stiegen etwa um !/,, die für ‚grüne 
Strahlungen (4 = 540 uu) um mehr als die Hälfte der bisherigen Werte. 
Unter diesen Umständen war der Gedanke sehr naheliegend, daß auch 
hier wieder die Ölkugeln eine Rolle spielten. Am wahrscheinlichsten 
erschien mir, daß mit Eintritt der Geschlechtsreife die Anzahl der kurz- 
welliges Licht absorbierenden Ölkugeln vermehrt würde. Ich unter- 
suchte deshalb die Netzhäute von etwa 50 Hähnen, um zu sehen, ob 
sich hier ein Unterschied in der Zahl oder Anordnung der Ölkugeln 
zwischen jungen und ausgewachsenen Tieren feststellen ließe. Die 
Bulbi wurden wenige Minuten nach dem Tode der Tiere enucleiert, 
sofort in warme physiologische Kochsalzlösung gebracht und innerhalb 
1—2 Stunden nach dem Tode untersucht, da sich zeigte, daß es später 
mitunter zu Schrumpfungen der Retina kam. Nur völlig unverletzte 
Bulbi waren zur Untersuchung geeignet, da die geringste Verletzung, 
die Glaskörperausfluß zur Folge hatte, meist auch eine Ablösung und 
Faltung der Netzhaut verursachte. Die unverletzten Bulbi wurden durch 
vorsichtige Scherenschnitte äquatorial halbiert, worauf sich der Glas- 
körper meist im ganzen herausnehmen ließ. Nun wurde mit einem schar- 
fen Locheisen ein kreisförmiges Stück Netzhaut von 3 mm Durchmesser 
ausgestanzt und mit Kochsalzlösung vorsichtig auf einem Objektträger 
gespült. Da es sich nun darum handelte, die Ölkugeln zu zählen, mußte 
jeder Druck auf die Netzhaut unbedingt vermieden werden, um den 
Abstand der Ölkugeln voneinander nicht zu vergrößern. Ich unter- 
suchte sie daher mit einem Wasserimmersionssystem (ohne Deckglas) 
und führte die Zählung mit einem Okularnetz aus, da die Anwendung 
einer Zählkammer (nach Art der bei der Zählung von Blutkörperchen usw. 
üblichen) an der Undurchsichtigkeit der Retina scheiterte. 


48 H. Honigmann: 


Natürlich wurden bei jungen und alten Tieren möglichst gleich 
lokalisierte Netzhautstücke ausgestanzt, da die Zahl und Anordnung 
der Ölkugeln in verschiedenen Teilen der Netzhaut stark variiert, was 
schon Waelchi (1883) festgestellt hatte. Die ersten Zählungen er- 
gaben nun in der Tat eine größere Anzahl von Ölkugeln bei den aus- 
gewachsenen Tieren. Weitere Untersuchungen zeigten aber, daß diese 
Differenz nur zufällig und nicht konstant war. Dagegen fiel mir öfter 
auf, daß die Ölkugeln bei den ausgewachsenen Hähnen dunkler und 
anscheinend auch größer waren als bei jungen Tieren. Eine Bestimmung 
der Absorption der einzelnen Ölkugeln erschien aussichtslos; daher 
hielt ich es für das zweckmäßigste, genaue Größenmessungen VOorzu- 
nehmen, um festzustellen, ob der Durchmesser der Ölkugeln bei alten 
Tieren zunimmt. Da nun die Größe der Ölkugeln aber auch in ein und 
derselben Netzhaut erheblich schwankt, mußte ein relativ großes Netz- 
hautmaterial untersucht werden. 

Mitten in diese Untersuchung fiel der Ausbruch des Krieges, der 
mir ihre Weiterführung unmöglich machte. — 

So kann ich es nur als wahrscheinlich, nicht als sicher bezeichnen, 
daß das Größer- und damit auch Dunklerwerden der Ölkugeln die Emp- 
findlichkeitsabnahme der ausgewachsenen Hähne bedingt, indem die 
Ölkugeln jetzt natürlich noch mehr kurzwellige Strahlen absorbieren 
als vorher. Mit dieser Annahme ist auch ohne weiteres erklärt, daß 
die Empfindlichkeit für langwellige rote Strahlungen bei helladaptierten 
jungen und alten Tieren gleich bleibt. 

Ich betone nochmals, daß diese hier. gegebene Erklärung nur eine 
Hypothese ist, die noch weiterer Untersuchung bedarf, während die 
Tatsache der Empfindlichkeitsänderung nach Eintritt der 
Geschlechtsreife selbst feststeht. 


Spätere Untersuchungen werden zu entscheiden haben, ob die Empfindlich- 
keitsabnahme nicht nur bei geschlechtsreifen Hähnen, sondern auch bei aus- 
gewachsenen Hennen auftritt. Sollte die Empfindlichkeitsabnahme nur bei männ- 
lichen Tieren vorhanden sein, so erscheint es aussichtsvoll, die Netzhäute von 
gleich großen, ausgewachsenen Hähnen und Hennen miteinander zu vergleichen, 
da die vergleichende Untersuchung von verschieden großen Augäpfeln natur- 
gemäß immer gewisse Schwierigkeiten bietet. 

Die sorgfältigen histologischen Untersuchungen von Erna Hahn (1916), die 
sich vor allem mit der Entstehung der Ölkugeln während der Embryonalzeit 
beschäftigen, haben keine Geschlechts- oder Altersunterschiede ergeben. Die 
Verfasserin hat aber offenbar nur die Netzhäute von Embryonen mit denen von - 
jungen Hühnchen der ersten Lebensmonate verglichen, die sie dann als ‚„‚erwachsen“ 
den Embryonen und den eben ausgekrochenen Küken gegenübergestellt. Wirklich 
ausgewachsene, geschlechtsreife Tiere sind anscheinend gar nicht von ihr unter- 
sucht worden. Jedenfalls wird es von Interesse sein, das hier behandelte Problem, 
das sich aus physiologischen Tatsachen ergeben hat, durch anatomische Unter- 
suchungen weiter zu verfolgen. 


Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges. 49 


Vergleich der Empfindlichkeit hell- und dunkeladaptierter Hühner. 


Beim Vergleich der Empfindlichkeit hell- und dunkeladaptierter 
Hühner wollen wir uns nicht lange aufhalten, da es — wie wir zeigen 
werden — einen konstanten Zustand der Dunkeladaptation kaum gibt. 
Wir dürfen nicht vergessen, daß zwar im Zustand der Helladaptation 
(etwa bei Tageslicht) ziemlich konstante Lichtempfindlichkeitswerte 
vorhanden sind, daß diese Werte aber während der Dunkeladaptierung 
einer steten und für Licht verschiedenen Wellenlänge ungleichmäßigen 
Änderung unterworfen sind. Wir können nun zwar bestimmte Mo- 
mente der Dunkeladaptierung herausgreifen und die Empfindlich- 
keit etwa nach 1, 2 oder mehr Stunden Dunkelaufenthalt messen. Wir 
erhalten jedoch auf diese Weise (die bisher allein übliche) nur unvoll- 
kommenen Aufschluß über das Wesen der Empfindlichkeitszunahme. 
Es ist so — um ein modernes Bild zu gebrauchen — als ob wir aus einem 
Filmstreifen nur den Anfang und das Ende herausschnitten und betrach- 
teten. Wir können uns zwar aus diesen Stücken ein Bild von Anfang 
und Ende der dargestellten Handlung machen — es fehlt uns aber jeder 
Einblick in die Entwicklung der Handlung und wir wissen vor allem 
nicht, auf welche Weise sich das Ende aus dem Anfang ableiten läßt. 

Genau so ist es beim Vorgang der Adaptierung. Auch hier können 
wir den endlich erreichten Zustand nur verstehen, wenn wir den wech- 
selnden Vorgang der Adaptierung messend verfolgen, wie wir es im 
letzten Abschnitt tun werden. — 

Hier wollen wir uns lediglich darauf beschränken, die Empfind- 
lichkeitswerte zu betrachten, wie sie sich nach einer Dunkeladaptierung 
von 8 Stunden ergeben. Auf Abb.6 und 7 sind nun sowohl die Emp- 
findlichkeitswerte helladaptierter Hühner, als auch die Empfindlich- 
keitswerte 8 Stunden lang dunkeladaptierter Hühner dargestellt. 
Da die beiden Gruppen von Werten ganz erheblich differieren (bis um 
das 74fache), so ist eine gemeinsame Darstellung in einem Koordi- 
natennetz nur möglich, wenn man den Ordinatenmaßstab relativ klein 
wählt. Darauf beruht — wie immer wieder betont werden muß — die 
Flachheit der Schwellenwertskurven dunkeladaptierter Tiere auf Abb. 6 
und die Flachheit der Empfindlichkeitskurven helladaptierter Tiere 
auf Abb.7. Man muß dabei im Auge behalten, daß beide Tafeln von 
verschiedenen Gesichtspunkten aus dasselbe darstellen. 

Das Auffallendste an den Werten dunkeladaptierter Tiere ist die 
enorme Zunahme der Empfindlichkeit für kurzwellige 
Strahlen. Diese Empfindlichkeitszunahme gestattete erfreulicher- 
weise, die Messung diesmal bis tief ins Blau (A —=450 u) hinein auszu- 
dehnen. Ein weiteres Vordringen nach dem violetten Ende des Spek- 
trums wäre ohne weiteres mit den dunkeladaptierten Tieren möglich 


gewesen, doch sah ich von solchen Messungen ab, da die physikalischen 
Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 189. 4 


50 H. Honigmann: 


Konstanten der Strahlung nur bis zur Wellenlänge A = 450 u u gemessen 
waren und ich nicht extrapolieren wollte. Immerhin zeigt Abb. 6 
ohne weiteres schon den fundamentalen Unterschied zwischen ‚Hell- 
netzhaut“ und ‚„Dunkelnetzhaut‘‘ der Hühner. Wir sehen, daß die 
Empfindlichkeit für Licht von 660 u u Wellenlänge nach 8 Stunden 
Dunkelaufenthalt sich verdoppelt, für Licht von 640 uu Wellenlänge 
sich verdreifacht, für Licht von 620 wu Wellenlänge sich verfünffacht 
usw. Im einzelnen ergeben sich aus Tab. V und VIII folgende Werte der 
Empfindlichkeitszunahme: 


Für Licht von der Wellenlänge 680 wu 1,5 
- 660 „, 2 
640 3 
6207, 5 
600 „, 11 
DEU 
Kl 
540 „ 49 
(Maximum) 520 „, 74 
500 ,„  68fache Trnipfindiiehlieihsruneniiie 


nach 8 Std. Dunkelaufenthalt. 


Diese Werte gelten für junge Hühner. Für ausgewachsene sind sie etwas ge- 
ringer, wie ein Vergleich der Tabellen VI und IX ergibt. Das Maximum liegt 
für beide bei Licht von der Wellenlänge A = 520 uu. 

Betrachten wir jetzt noch einmal Abb. 6, um zu sehen, wie sich die 
Schwellenwerte junger und ausgewachsener Hühner zueinander ver- 
halten, wenn beide dunkeladaptiert sind, so ergibt sich im Vergleich 
zu helladaptierten Tieren ein bemerkenswerter Unterschied. Es zeigt 
sich nämlich, daß die beiden Kurven der dunkeladaptierten Tiere ein- 
ander sehr ähnlich sind; sie zeigen einigermaßen gleiche Form und 
vor allem haben beide ihr Maximum bei ein und derselben 
Wellenlänge, nämlich bei 520 au. Die Kurven der helladaptierten 
Tiere dagegen zeigen verschiedene Maxima der Empfindlichkeit, näm- 
lich das junge Tier bei 550 uu, das alte bei 580 uu Wellenlänge, wie 
Abb. 6 zeigt. Diese Tatsachen erklären sich ohne weiteres, wenn man 
annimmt, daß im helladaptierten Auge andere Reizempfänger vorhanden 
sind, als im dunkeladaptierten. Nach der vorhin von uns aufgestellten 
Hypothese zur Erklärung der Empfindlichkeitsabnahme nach der Ge- 
schlechtsreife müßten die qualitativen Unterschiede der Empfind- 
lichkeit zwischen jungen und alten Tieren aufhören, sobald der allein 
ölkugelbesitzende Zapfenapparat außer Funktion tritt. Wie wir jetzt 
sehen, ist das wirklich der Fall. 

Der Komplex Stäbchen und ee der jetzt vorherrscht, ist 
natürlich frei von der Einwirkung der (bei jungen und alten Tieren 
verschieden stark) absorbierenden Ölkugeln, so daß im Zustand der 


Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges. 51 


Dunkeladaptation junge und alte Tiere keine qualitativ verschiedene 
Empfindlichkeit mehr zeigen. 

Wenn wir also jetzt experimentell gefunden haben, daß sowohl 
für junge wie für alte Tiere — sobald sie dunkeladaptiert sind — Licht 
von gleicher Wellenlänge maximalen Reizwert besitzt, so dürfen wir 
dieses Ergebnis als einen neuen Beweis für die funktionelle Verschieden- 
heit von Zapfen und Stäbchen im Sinne der Duplizitätstheorie auf- 
fassen. 

Der Vorgang der Dunkeladaptierung. 


Die Analyse des Vorganges der Empfindlichkeitsänderung des Auges, 
den wir seit den Untersuchungen von Aubert (1861, 1865) Adaptation 
nennen, gehört mit zu den schwierigsten Problemen der physiologischen 
Optik. Einige theoretische Vorbemerkungen sind daher unerläßlich. 

Schon in der Einleitung habe ich darauf hingewiesen, daß mit dem 
Begriff der Adaptation sowohl der Vorgang der Empfindlichkeitsände- 
rung, als auch der jeweils bestehende Zustand der Empfindlichkeit be- 
zeichnet wird. Um diese verschiedenen Begriffe auch sprachlich zu 
trennen, habe ich den alten Begriff ‚Adaptation‘ nur auf den bestehen- 
den Zustand der Empfindlichkeit angewandt, den Vorgang der 
Empfindlichkeitsänderung aber ‚Adaptierung‘‘ genannt. 

Wenn wir jetzt weiter die beiden Richtungen der Adaptierung 
als Hell- und Dunkeladaptierung bezeichnen (was durchaus berechtigt 
ist, denn das Sehorgan paßt sich wirklich an Helligkeitsgrade an, nicht 
etwa an verschiedene Werte der Strahlungsenergie), so dürfen wir nicht 
vergessen, daß wir damit nicht 2, sondern 4 funktionell grundverschie- 
dene Vorgänge kennzeichnen. Wir müssen uns nämlich klar darüber 
sein, daß wir unter den Bedingungen des Tagessehens durch- 
ausanders adaptieren als unter den Bedingungen des Däm- 
merungssehens. Daß überhaupt beim Tagessehen erhebliche Schwan- 
kungen der Adaptation vorkommen, ergibt sich aus folgenden Betrach- 
tungen. Als Tagessehen im Gegensatz zum Dämmerungssehen be- 
zeichnen wir, dem herrschenden Sprachgebrauch folgend, diejenige Art 
des Sehens, bei der Farben unterschieden werden können. Nun unter- 
scheiden wir aber Farben nicht nur bei strahlendem Sonnenschein, 
sondern auch bei trübem Wetter, ferner aber auch sowohl bei Beleuch- 
tung mit einer hundertkerzigen Lampe, wie auch bei einfachem Kerzen- 
licht. Wir sehen also, daß die Bedingungen des ‚Tagessehens‘‘ — wenn 
auch nicht ganz rein — bei ungeheuer verschiedenen Größen der objek- 
tiven Strahlungsintensität bestehen, woraus folgt, daß auch dabei sehr 
erhebliche Änderungen der Empfindlichkeit vorkommen müssen. Diese 
Änderungen vollziehen sich im allgemeinen so schnell, daß wir meist 
kaum etwas von ihnen merken. Wir müssen sie aber in Betracht ziehen, 
wenn wir Adaptierungskurven betrachten, die scheinbar lediglich die 

4* 


52 H. Honigmann: 


Adaptierung während des Dämmerungssehens darstellen. Es ist nach 
dem eben Gesagten nur natürlich, daß der Tagesapparat durch seine 
Adaptierungsfähigkeit unter bestimmten Umständen mit dem Dämme- 
rungsapparat sich in Wettstreit befindet. 

Die Dauer dieses Wettstreits hängt nun offenbar ceteris paribus von 
der Schnelligkeit ab, mit welcher der Dämmerungsapparat über den 
Tagesapparat siegt und ist daher von dem Zahlenverhältnis von Stäb- 
chen und Zapfen in der Netzhaut abhängig. Darauf folgt weiter, daß 
beim Menschen die Überlegenheit der Stäbchen früher in der Peri- 
pherie als in zentralen Netzhautteilen auftreten muß und daß anderer- 
seits — wenn wir von lokalen Bedingungen der Netzhaut absehen — 
beim stäbehenarmen Tagvogelauge die Überlegenheit der Stäbchen viel 
später auftreten wird als beim menschlichen Sehorgan unter gleichen 
Bedingungen. 

Daß wir bei der Darstellung des Verlaufs der Adaptierung die bisher 
üblichen Methoden verlassen und aus theoretischen Gründen die Zu- 
nahme der Empfindlichkeit nicht für gemischtes Licht, sondern für 
verschiedene homogene Lichter bestimmt haben, wirde bereits mehr- 
fach hervorgehoben. Es ist ja ohne weiteres klar, daß die Empfind- 
lichkeitsänderung des Sehorgans nieht nur vom zeitlichen Ablauf der 
Adaptierung und der Intensität, sondern auch von der Brechbarkeit 
der verwandten Strahlung abhängt. Daraus ergibt sich die Notwendig- 
keit, die Empfindlichkeitszunahme für Lichter von verschiedener Qellen- 
länge gesondert zu untersuchen; eine Notwendigkeit, auf die ich 
(1916) zum ersten Male hingewiesen habe. 

Damals habe ich in der Literatur vergebens nach Messungen gesucht, die 
dieser Forderung entsprachen!). Inzwischen sind (1918) zwei Arbeiten von Best 
erschienen, in denen diese Forderung gleichfalls erhoben wird. Best untersuchte 
nämlich den Gang der Dunkeladaptierung beim Menschen nicht mit gemischtem 
Licht, sondern einmal mit den Strahlen, die von sogenannter ‚„Leuchtfarbe‘ aus- 
gingen (also vorzugsweise kurzwelligem Licht) und zum Vergleich mit lang- 
welligem roten Licht, um festzustellen, worin die Adaptierungsstörung bei He- 
meralopen besteht. ‚‚Unsere bisherigen Adaptometer‘‘, sagt Best (1918, 1, S. 168), 
„berücksichtigen nicht, daß die Anpassung im Bereiche verschiedener Wellen- 
längen ganz verschieden verläuft.‘ 

Leider hat Best nur diese beiden extrem lang- und kurzwelligen Strahlungen 
zur Untersuchung verwandt, deren Brechbarkeit noch dazu sich schwer in genauen 
Werten angeben läßt. Daß es erwünscht wäre, nicht nur zwei, sondern mehr ver- 
schiedenwellige Strahlungen zu verwenden, hat Best selbst mit folgenden Worten 
ausgedrückt: ‚‚Eine noch genauere Trennung der Anpassungskurven je nach 
Wellenlängen muß allerdings eine Forderung der Zukunft bleiben“. — Soweit es 


sich um die Untersuchung von Hühnern handelt, hatte ich diese sehr berechtigte 
Forderung schon 4 Jahre vorher erfüllt. 


1) Eine ältere Arbeit von Peschel (1880) ist für unsere Zwecke leider so gut 
wie wertlos, da weder die Dauer der Adaptierung, noch das Intensitätsverhältnis 
der farbigen Strahlungen gemessen wurde. 


Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges.. 53 


Ein Nachteil der Methode von Best besteht darin, daß die Intensitäten der 
angewandten Strahlungen keinen zahlenmäßigen Vergleich gestatten. So sind denn 
die beiden Kurven für lang- und kurzwellige Strahlungen an sich einwandfrei 
gemessen, können aber leider nicht miteinander verglichen werden oder mit an- 
deren Worten: wir kennen die Form der beiden Kurven, wissen aber nicht, wie 
sie zueinander liegen, ob sie sich schneiden usw. Über diese letzten sehr wichtigen 
Fragen können wir eben nur Aufschluß erhalten, wenn wir die wirklichen energe- 
tischen Verhältnisse der Strahlung in Rechnung ziehen, wie es bei unseren Messun- 
gen geschehen ist. 

Nach diesen Vorbemerkungen wenden wir uns jetzt zur Betrachtung 
unserer Adaptierungskurven. Auf Abb.8a und b und 9a und b 
sehen wir zunächst einmal, wie wechselnd die Empfindlichkeit für 
Licht von verschiedener Wellenlänge im Laufe mehrerer Stunden 
Dunkelaufenthalt zunimmt. Die maximale Empfindlichkeit besteht 
immer für grünes Licht von 540 uu Wellenlänge. Das absolute Ma- 
ximum liegt, wie die Abb. 6 und 7 zeigen, bei der Wellenlänge 
1 —= 520 uu. Diese Tatsache wurde erst nach Abschluß der Tierexpe- 
» rimente bei Berechnung der wahren Empfindlichkeitswerte festgestellt, 
als eine Messung der Adaptierung für Licht von dieser Wellenlänge 
nicht mehr möglich war. Die Kurve der Empfindlichkeit für diese Strah- 
lung würde also — abgesehen von den ersten Minuten der Dunkeladap- 
tierung — in Abb. 9a und b immer über allen anderen Kurven liegen. 

Betrachten wir jetzt zunächst Abb. 8a allein, so sehen wir, daß 
die Schwellenwerte verschiedenwelligen Lichts während der Dunkel- 
adaptierung mit vollkommener Gesetzmäßigkeit absinken. Am schnell- 
sten erreicht die Kurve für Licht von 540 u u Wellenlänge ihr Minimum, 
die für Licht von 560 uu Wellenlänge fällt flacher ab, noch flacher 
die für Licht von 580 wu und 620 u Wellenlänge. Noch viel lang- 
samer vollzieht sich das Absinken der Schwellenwerte für Licht von 
660 uu Wellenlänge. (Das starke Absinken dieser Kurve in ihrem 
Beginn darf uns nicht zu der Annahme führen, daß hier etwa eine starke 
Empfindlichkeitszunahme bestände; vgl. die entsprechende Kurve auf 
Abb. 9a). 

Ein praktisches Minimum erreichen diese Kurven also nach sehr 
verschiedener Zeit. Die Schwellenwerte für grünes Licht erreichen es 
etwa nach einer Stunde Dunkelaufenthalt, die für gelblichgrünes nur 
wenig später, die für gelbes erst nach 3°/, Stunden Dunkelaufenthalt. 
Für rotgelbes Licht (620 uu) und für rotes (660 uu) ist auch nach 
10 Stunden Dunkelaufenthalt kein ausgesprochenes Minimum feststellbar. 

Ganz anders verhalten sich die Kurven der Schwellenwerte kurz- 
welliger Strahlungen. Sie sinken schnell ab, wie wir es auf Abb. 8b 
sehen. Der Anfangsteil der Kurve für Licht von 460 uu Wellenlänge 
konnte aus den wiederholt genannten Gründen nicht gemessen werden 
und ist daher nur angedeutet worden, 


54 H. Honigmann: 


Auf den Abb. 9a und b sind nun nicht die Schwellenwerte, sondern 
die Empfindlichkeitswerte eingetragen, die sich für verschiedenwelliges 
Licht während der Dunkeladaptierung ergaben. Auck hier finden wir 
wieder das verschieden rasche Ansteigen: für rotes Licht (660 uu) 
nimmt die Empfindlichkeit ganz allmählich und sehr wenig zu, für 
rotgelbes Licht (620 vu) etwas schneller und mehr — und so fort, bis 
wieder für grünes Licht von 540 uu Wellenlänge das schnellste und 
stärkste Ansteigen der Empfindlichkeit erreicht wird (Abb. 9a). 
Andererseits finden wir bei Betrachtung der Empfindlichkeitszunahme 
für kurzwelliges Licht (Abb. 9b), daß die Empfindlichkeit zunächst 
langsam zunimmt, nachher aber um so rascher ansteigt. Prinzipiell 
finden wir also auf Abb.8a und 9a sowie 8b und 9b die gleichen 
Verhältnisse. (Das unaufhörliche Steigen der Empfindlichkeitskurven 
auf Abb. 9 ist natürlich praktisch bedeutungslos, da den hohen Emp- 
findlichkeitswerten nur minimale Intensitäten der Strahlungen ent- 
sprechen; vgl. Abb 8). 

Wir haben also bisher experimentell folgende Gesetzmäßigkeiten 
gefunden: 

I. Die Empfindlichkeit bleibt während der ganzen Dunkeladap- 
tierung maximal für Licht von einer bestimmten Wellenlänge 4, . 

II. Im ganzen zeitlichen Verlauf der Dunkeladaptierung ist die 
Empfindlichkeit E für Licht von größerer Wellenlänge als /,, also für 
Licht von der Wellenlänge A...) zwar geringer als die Empfindlich- 
keit für A, aber größer als die Empfindlichkeit für Licht von noch 
größerer Wellenlänge Am+az) , wobei a größer als 1 ist. 

Für Lichter, die noch stärker brechbar sind als das Licht von ma- 
ximaler Reizwirkung, gelten folgende Sätze: 

Die Empfindlichkeit EA „_z, ist auch kleiner als #4, , aber größer 
als EAnm-aa) , wie ein Blick auf die Abb.8b und 9b zeigt. 

Zusammenfassend können wir die hier vorliegende Gesetzmäßigkeit. 
folgendermaßen ausdrücken: 

Ei, > Eim+z) > N re) > 
ferner 
El, > E)m-a) — EAm-az) i 

Diese Formeln zeigen aber nur die gesetzmäßigen Beziehungen 
innerhalb der beiden Gruppen von Adaptierungskurven für kurz- und 
langwelliges Licht. 

Betrachten wir jetzt aber alle Kurven zusammen vergleichend, so 
zeigen sich nicht mehr so einfache Beziehungen. Wir sehen, daß die 
Empfindlichkeit für blaugrünes Licht von. 500 uu Wellenlänge, die zu- 
nächst geringer ist als die für rotgelbe, gelbe und gelbgrüne Strahlungen 
zwischen der 15. und 25. Minute der Dunkeladaptierung größer als diese 
wird. Und wir sehen ferner, daß auch die Empfindlichkeit für noch kürzer- 


Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges. 55 


welliges blaues Licht von 460 uu Wellenlänge größer wird, als die 
Empfindlichkeit für rotgelbes und gelbes Licht, allerdings erst nach 
einem Dunkelaufenthalt von etwa 45 Minuten. 

Wir können also ohne weiteres aus unseren Kurven das Helliskeits- 
verhältnis ablesen, das zu irgend einer beliebigen Zeit der Dunkeladap- 
tierung zwischen zwei bestimmten Strahlungen von gleicher Energie 
besteht. Betrachten wir etwa den Gang der Empfindlichkeitszunahme 
für Licht von 500 vu (Blaugrün) und 580 uu Wellenlänge (gelb), so 
ergibt sich, daß in den ersten 20 Minuten der Dunkeladaptierung eine 
gelbe Strahlung heller, nachher aber dunkler erscheint, als eine blau- 
grüne von gleicher Intensität. Nun bleibt das Helliskeitsverhältnis 
eine Zeit lang annähernd konstant, um sich dann wieder umzukehren: 
jetzt wird die gelbe Strahlung wieder relativ heller als die blaugrüne, 
bleibt aber natürlich absolut dunkler als diese. 

Unsere Kurvensysteme ermöglichen also aufs einfachste eine so- 
fortige zahlenmäßige Analyse dessen, was man Purkinjesches Phä- 
nomen nennt. Darunter ist ja nach Purkinjes eigener Definition 
(1825, S. 109) nichts anderes zu verstehen, als das wechselnde Hellig- 
keitsverhältnis zweier Farben bei wechselnder Intensität der Gesamt- 
beleuchtung. Ändert sich das Helligkeitsverhältnis so, daß bei ab- 
nehmender Gesamtbeleuchtung die zunächst hellere Farbe schneller 
an Helligkeit abnimmt, als die ursprünglich dunklere, so können wir 
von einem relativen Purkinejschen Phänomen reden, denn die Emp- 
findlichkeit für die ursprünglich dunklere Farbe wird jetzt relativ 
srößer. Wird dagegen die ursprünglich dunklere Farbe sogar heller 
als die zuerst hellere, so können wir das als ein absolutes Purkinjesches 
Phänomen bezeichnen. Nennen wir das Phänomen ‚‚normal‘, wenn 
(bei abnehmender Helliskeit) die kurzwellige Strahlung weniger an 
Helligkeit verliert als die langwellige und im entgegengesetzten Falle 
„umgekehrt“ — natürlich immer unter der Voraussetzung gleicher 
objektiver Intensitätsabnahmen beider Strahlungen — so können wir 
sagen, daß bei Hühnern für die obengenannten Strahlungen (580 und 
500 uu Wellenlänge) während der ersten halben Stunde der Dunkel- 
adaptierung ein absolutes normales, in den nächsten 10 Stunden aber 
ein relatives umgekehrtes Purkinjesches Phämonen auftritt. 

Eine Umkehrung des Purkinjeschen Phänomens bei langer Dauer 
des Dämmerungssehens hatte v. Kries (1900, 1901) auf Grund theore- 
tischer Erwägungen als wahrscheinlich bezeichnet. Die durch Steg- 
mann (1900) ausgeführte experimentelle Nachprüfung am Menschen 
ergab die Richtigkeit dieser Annahme, und die jetzt bei Hühnern ge- 
fundenen ganz entsprechenden Empfindlichkeitsänderungen im Laufe 
der Dunkeladaptierung können als ein weiterer Beweis für ihre Richtig- 
keit gelten, { 


56 H. Honigmann: 


An dieser Stelle muß ich noch einmal darauf hinweisen, daß man vom Purkinje- 
schen Phänomen und vom umgekehrten Purkinjeschen Phänomen natürlich nur dann 
reden’ kann, wenn das objektive Intensitätsverhältnis der beiden Farben, 
deren Helligskeitsverhältnis sich ändert, immer gleich bleibt. Das Wesentliche des 
Purkinjeschen Phänomens ist ja gerade sein rein subjektiver Charakter. Infolge- 
dessen muß es als eine vollständige Verkennung des Problems bezeichnet werden, 
wenn Henning (1920, S. 113) folgendes schreibt: ‚Setzen wir uns eine den Olkugeln 
des Schildkrötenauges entsprechende orangefarbene Brille auf, welche alles schäd- 
liche Seitenlicht abschließt, so erleben wir das umgekehrte Purkinjesche 
Phänomen: die langwelligen Lichter hellen sich auf, die kurzwelligen werden 
dunkler‘. — Hier haben wir also einen einfachen physikalischen Vorgang vor 
uns, da die kurzwelligen Lichter objektiv geschwächt werden. Es ist natürlich 
sinnlos, diesen Vorgang als „umgekehrtes Purkinjesches Phänomen‘ zu bezeichnen. — 

Unsere Kurven gestatten noch eine weitere Orientierung. Wir 
können aus ihnen ohne weiteres ablesen, nach welcher Zeit des Dunkel- 
aufenthaltes Licht von einer bestimmten Intensität und Wellenlänge 
für das Huhn überhaupt sichtbar wird. So entnehmen wir den Kurven 
auf Abb.8a und b beispielsweise, daß Licht von 50 Intensitätsein- 
heiten schon etwa nach 10 Minuten wahrgenommen wird, wenn es die 
Wellenlänge 540 uu hat, dagegen erst nach 22 Minuten, wenn es die 
Wellenlänge 500 u u hat — Licht von gleicher Intensität und der Wellen- 
länge 580 u u erst nach 55 Minuten und Licht nach 620 uu Wellenlänge 
sogar erst nach 6 Stunden. 

Ganz entsprechend können wir aus Abb. 9a und b sofort ablesen, 
nach wie langem Dunkelaufenthalt die Empfindlichkeit für Licht einer 
bestimmten Wellenlänge gleich der Empfindlichkeit für Licht einer 
anderen Wellenlänge geworden ist. Auch hier ergeben sich zahllose 
Möglichkeiten von verschiedenen Empfindlichkeitsverhältnissen, aber 
alle diese verwickelten Beziehungen lassen sich mit Hilfe unserer gra- 
phischen Darstellung leicht entwirren. 

Schließlich sind auf Abb. Sund 9 noch zum Vergleich 2 Kurven 
eingetragen, welche die Empfindlichkeitszunahme des Menschen für 
rotgelbes Licht von 620 uw und für grünes Licht von 540 uu Wellen- 
länge während der Dunkeladaptierung zum Ausdruck bringen (be- 
sonders deutlich auf Abb. 8). Wir sehen, daß die beim Tagessehen vor- 
handene Empfindlichkeitsüberlegenheit der Hühner für rotgelbes Licht 
schon in den ersten 4 Minuten des Dunkelaufenthaltes verloren geht. 
Von der 4. Minute ab wird die menschliche Empfindlichkeit für die- 
selbe Strahlung sogar größer als die des Huhns. Wir finden hier 
also eine völlige Umkehrung des Helligkeitsverhältnisses, 
in dem Mensch und Tier ein und dieselbe Strahlung unter 
jedesmal gleichen äußeren Bedingungen wahrnehmen — 
eine Tatsache von fundamentaler Bedeutung, die uns 
manchen Widerspruch in den Angaben der vergleichenden 
physiologisch - optischen Literatur erklärt. 


Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges. 57 


Für den Menschen ist nur noch die Empfindlichkeitszunahme für 
Licht von 540 u Wellenlänge gemessen worden. Hier ist die Emp- 
findlichkeit des Menschen immer — wie man sieht — weit größer 
als die des Huhns. Im übrigen zeigen aber schon diese zwei Adaptierungs- 
kurven des Menschen für verschiedenwellige Lichter, die lediglich zur 
vorläufigen Orientierung und zum Vergleich mit den Empfindlichkeits- 
verhältnissen der Hühner angestellt sind, daß beim Menschen prinzi- 
piell durchaus ähnliche Verhältnisse bestehen, wie beim Huhn. Auch 
hier vollzieht sich die Empfindlichkeitszunahme für Licht von verschie- 
dener Wellenlänge in ganz verschiedener, aber gesetzmäßiger Weise. 


Zur Theorie der Dunkeladaptierung. 


Die Tatsache, daß die stäbchen- und sehpurpurarmen Tagvögel im 
Dunkeln eine starke Zunahme der Lichtempfindlichkeit zeigen, hatte 
Hess (1907, 1913) als einen Beweis gegen die Duplizitätstheorie ange- 
sehen. Meine Messungen bestätigen die Angaben von Hess insofern, 
als auch ich eine erhebliche Empfindlichkeitszunahme bei Hühnern 
festgestellt habe, die allerdings nicht so schnell erfolgt, wie beim Men- 
schen, und die auch die hohen menschlichen Endwerte nie ganz erreicht. 
Aber gerade die qualitative Analsye des Vorganges der Empfindlich- 
keitszunahme, die hier zum erstenmal vorgenommen wurde, ergibt 
eine Reihe von Tatsachen, die sich meines Erachtens nur durch die 
Duplizitätstheorie erklären lassen. Die Annahme Pipers (1905, S. 176), 
daß die Stäbchen die alleinigen Träger der Adaptierungsfähigkeit wären, 
ist freilich heute nicht mehr haltbar, wie die Arbeiten von Nagel und 
Schäfer (1904), Hess (1907), Dittler und Koike (1912) zeigen. 
Aber ebenso unmöglich ist es, die Vorgänge bei der Adaptierung der 
Hühner allein aus der Funktion der Zapfen zu erklären. 

Wenn wir davon ausgehen, daß im Zustand der Helladaptation 
die Hühnerretina für langwelliges Licht (z. B. A = 620 uu) empfind- 
licher ist als für kurzwelliges (A — 500 uu) und wir diese Tatsache 
mit der selektiven Absorption der Ölkugeln erklären konnten, so ist 
ohne weiteres verständlich, wenn zunächst — etwa bis zur 16. Minute 
des Dunkelaufenthaltes — die Empfindlichkeit für beide Strahlungen 
in gleichem Maße ansteigt. Wir können diese Tatsache einfach durch 
die Zunahme der Zapfenempfindlichkeit erklären. 

Wir können aber nicht mehr erklären, warum jetzt auf einmal die 
Empfindlichkeit für die kurzwelligen Lichter viel größer wird und die 
für langwellige Lichter weit überflügelt. Denn die absolute Intensität 
der Strahlungen wird immer geringer, und in keiner Weise ist zu 
verstehen, wie jetzt plötzlich die Zapfen für kurzwellige Lichter emp- 
findlicher werden sollten als für langwellige, da doch geringere Mengen 
kurzwelligen Lichts von dem Ölkugelfilter relativ noch stärker ab- 


58 H. Honigmann: 


sorbiert werden, als größere Mengen. Denkbar wäre ja nun, daß 
die Wirkung der Ölkugeln während der Dunkeladaptierung in irgend 
einer Weise ausgeschaltet würde, aber wir haben nicht den geringsten 
Anhaltspunkt dafür, daß ein solcher Vorgang wirklich stattfindet. 

So bleibt denn vorläufig nur die Annahme übrig, daß sich im Laufe 
der Dunkeladaptierung auch bei Hühnern neue Reizempfänger einstellen. 
Von diesen müssen wir theoretisch — entsprechend den experimentell 
gefundenen Tatsachen — folgendes verlangen: sie müssen für mittel- 
welliges Licht maximal empfindlich sein, etwas weniger für kurzwelliges 
und fast gar nicht für langwelliges Licht. 

Einen solchen Reizempfänger stellt aber, nach allem, was wir bisher 
wissen, der Komplex Stäbchen + Sehpurpur dar. Die Untersuchungen 
von Köttgen und Abelsdorff (1895), König (1903), Trendelen- 
burg (1904) u. a. haben uns gezeigt, daß wir die Empfindlichkeit dieses 
Komplexes der von ihm absorbierten strahlenden Energie gleichsetzen 
dürfen, die natürlich wiederum von der Konzentration bzw. Schicht- 
dicke des Sehpurpurs abhängt. Nach allen bisher ausgeführten Unter- 
suchungen ist der Sehpurpur nun für langwellige Strahlungen so gut 
wie unempfindlich, sehr empfindlich für mittelwellige (grüne) Strahlen 
und etwas weniger für kurzwellige Lichter. 

Nehmen wir nun an, daß bei Hühnern sich bald nach Beginn des 
Dunkelaufenthaltes der Sehpurpur zu bilden beginnt. In seiner zuerst 
dünnen Schicht werden sicher nur geringe Mengen Licht absorbiert 
und zwar natürlich am ehesten Licht von der Komplementärfarbe des 
Purpurs, nämlich grünes Licht. Die dadurch entstehende Empfindlich- 
keit der Stäbchen addiert sich zu der gleichfalls noch wachsenden Emp- 
findlichkeit der Zapfen und bewirkt so das ganz besonders rapide An- 
steigen eben der Empfindlichkeit für grüne Strahlungen. Mit zunehmen- 
der Konzentration (bzw. Schichtdicke) werden jetzt nicht nur grüne, 
sondern auch blaugrüne und schließlich auch blaue Strahlungen vom 
Sehpurpur in steigendem Maße absorbiert. Da hier die hohe Anfangs- 
zapfenempfindlichkeit fehlt, so erreicht die Empfindlichkeit für diese 
Strahlungen erst später Werte, die denjenigen au langwellige Strah- 
Jungen gleichkommen. 

Sinkt nun aber die Intensität der Strahlungen immer weiter (bis 
unter die Zapfenschwelle), so gewinnt die Empfindlichkeit für kurz- 
wellige Strahlen sogar die Oberhand über die für langwellige, weil auch 
bei immer wachsender Konzentration des Sehpurpurs langwellige Strah- 
len bekanntlich nur sehr wenig, kurzwellige nunmehr aber stark ab- 
sorbiert werden. 

Es ist weiter leicht verständlich, daß bei noch weiterem Ansteigen 
der Konzentration des Sehpurpurs nun doch auch langwellige Strahlen 
etwas mehr absorbiert werden, vor allem gelbe und in geringerem Maße 


Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges. 59 


und mit bedeutender Verspätung auch gelbrote Lichter — allerdings 
dann erst, wenn die Absorption mittel- und kurzwelligen Lichtes längst 
ihr praktisches Maximum erreicht hat. 

Betrachten wir nun die absinkenden Schwellenwerte auf Abb. 8a 
und b, so finden wir hier in der Tat alles so, wie wir es nach der eben 
gegebenen theoretischen Auseinandersetzung zu erwarten haben. Ich 
stehe daher auch nicht an, die hier gegebene Analyse der Adaptierung 
bei Hühnern als einen neuen Beweis für die Richtigkeit der Duplizitäts- 
theorie zu bezeichnen. 


Aus den eben dargestellten Vorgängen können wir noch einen wei- 
teren Schluß ziehen. Wir haben nämlich gesehen, daß auch bei Hühnern 
im späteren Verlauf der Dunkeladaptierung — etwa in der 2.— 10. Stunde 
des Dunkelaufenthaltes — eine Änderung der Empfindlichkeit vor- 
kommt, die wir als (relatives) umgekehrtes Purkinjesches Phänomen 
bezeichnet haben. Diese Vorgänge sind nur erklärlich, wenn wir die 
Stärke der Lichtempfindung der Konzentration des Sehpurpurs im Stäb- 
chenaußengliede proportional setzen. Damit ist aber bewiesen, daß 
auch im stäbchen- und sehpurpurarmen Auge des Tagvogels der Ort 
der primären Erregung im Außenglied des Stäbchens gelegen ist. 

Durch den Nachweis der Filterwirkung der Ölkugeln — also auf 
Grund vollkommen anderer Überlegungen — hatte Hess (1907, II,S. 327) 
überzeugend bewiesen, daß für die Farbenwahrnehmung in den Augen 
der Tagvögel der Ort der primären Reizung gleichfalls im Außengliede 
des Zapfens gelegen ist. 

Wirkönnen jetzt also ganz allgemein sagen, daß als Emp- 
fänger für Lichtreize lediglich die Außenglieder des Neuro- 
epithels der Retina in Betracht kommen. 


Neue Aufgaben der Forschung. 


Am Ende unserer Untersuchung sei es gestattet, kurz auf die Ziele 
künftiger Forschungen auf dem Gebiet der vergleichenden physiolo- 
gischen Optik hinzudeuten. 

Wir haben uns hier lediglich mit der Untersuchung des Hellig- 
keitssinnes der Hühner beschäftigt und damit eine feste Grundlage 
für die Erforschung des Farbensinnes geschaffen. Ob zwei Strahlungen 
ihrer Farbe nach unterschieden werden, kann eben nur festgestellt 
werden, wenn eine Unterscheidung ihrer Helligkeit nach ausgeschlossen 
ist. Wir müssen also vorher ermitteln, wie hell ein Tier die beiden in 
Betracht kommenden Strahlungen unter allen möglichen Adaptations- 
bedingungen sieht. 

Dann erst kann man, wie schon oben gezeigt wurde, zwei verschieden- 
farbige Lichter gleich hell machen und feststellen, ob auch jetzt noch 


60 H. Honigmann: 


für das Tier ein Unterschied besteht, der nunmehr allerdings qualita- 
tiver Natur sein muß. ) 

Bei der Auswahl der beiden verschiedenfarbigen Lichter wird man 
sich aber nicht auf solche beschränken dürfen, die dem Menschen qua- 
litativ verschieden erscheinen, sondern unter anderem wird nötig sein, 
auch festzustellen, ob nicht dem Tiere vielleicht zwei Lichter 
verschiedenfarbigerscheinen, die der Menschin der gleichen 
Farbe sieht. Theoretisch ist das nämlich ohne weiteres möglich und 
experimentell wurde bisher in keiner Weise das Gegenteil bewiesen. 

Die uns Menschen qualitativ verschieden erscheinenden Strahlungen 
eines kontinuierlichen Spektrums, die wir als rote, gelbe, grüne, blaue 
und violette qualitativ voneinander trennen, unterscheiden sich ja ob- 
jektiv nur durch ihre Brechbarkeit bzw. Wellenlänge, also nur quan- 
titativ. Es ist also von vornherein nicht im geringsten bewiesen, daß 
sich bei anderen Organismen dieselben qualitativen Unterschiede fin- 
den müssen, sondern eher das Gegenteil wahrscheinlich. 

Theoretisch sind nun z. B. folgende Fälle möglich: Das Tier kann 
total farbenblind sein und es kann den gleichen Farbensinn wie ein 
normaler Mensch besitzen. Es kann aber auch weniger Farben unter- 
scheiden, als dieser: es kann z. B. nur vier, drei oder zwei verschiedene 
Farben sehen. Nehmen wir etwa an, ein Tier könne nur drei verschiedene 
Farben a, b und c unterscheiden, so kann dem Tier sowohl unser Rot wie 
unser Gelb a-farbig erscheinen, das Grün b-farbig und Blau und Violett 
c-farbig. Ferner besteht die Möglichkeit, daß das Tier Rot und Grün 
beide a-farbig, Gelb und Blau d-farbig siehtoder Rotund Rotgelb a-farbig, 
Gelbgrün und Grün b-farbig usw. Es ergeben sich schon so sehr zahl- 
reiche theoretische Möglichkeiten, deren experimentelle Erforschung 
nicht leicht sein wird. 

Damit sind aber durchaus nicht alle Möglichkeiten erschöpft. Denn 
das Tier kann — wie eben angedeutet wurde, auch zwei Strahlungen 
verschiedenfarbig sehen, die dem normalen farbentüchtigen Menschen 
nicht verschieden, sondern gleichfarbig erscheinen. 

Wie es einerseits möglich ist, daß Hühner Blau und Violett nicht 
mehr voneinander unterscheiden können — vielleicht nur deshalb, 
weil die beiden von uns so bezeichneten Lichter, für Hühner relativ 
sehr dunkel sind — so besteht andererseits die Möglichkeit, daß Hühner 
zwei verschiedene Farben a und b voneinander unterscheiden können, 
die wir beide als ‚rot‘ bezeichnen. 

Auch diese Möglichkeit wird nur schwer und natürlich nur mit Be- 
nutzung spektraler Lichter experimentell zu prüfen sein. Aber jedenfalls 
haben wir hier ein Problem von grundlegender Bedeutung vor uns, dessen 
Vorhandensein bei einer künftigen umfassenden Untersuchung des Farben- 
unterscheidungsvermögens der Tiere nicht vernachlässigt werden darf, — 


Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges. 61 


Der zweite Punkt, auf den ich noch hinweisen will, bezieht sich 
auf künftige Untersuchungen der Adaptierung, also des Vorgangs der 
Empfindlichkeitsänderung des Sehorgans. 

Wir haben gesehen, daß diese Änderung nicht eine einfache Funk- 
tion der Zeit (bzw. der objektiven Intensität) ist, sondern auch in 
gesetzmäßiger Weise von der Wellenlänge der benutzten Strah- 
lung abhängt. Künftige Untersuchungen werden deshalb gleichfalls 
die Änderung der Empfindlichkeit nicht nur für gemischets Licht, 
wie bisher üblich, sondern auch für verschiedene homogene Lichter 
festzustellen haben, wobei die Ermittlung der wahren objektiven Inten- 
sitätsverhältnisse dieser Lichter unbedingt nötig sein wird. 

Solche Messungen werden meines Erachtens eine Reihe von Pro- 
blemen ihrer Lösung zuführen. 

Einmal wird so entschieden werden können, ob die aus theoretischen 
Gründen so interessante Dunkeladaptierung der Schildkröten, deren 
Retina nach allen bisher vorliegenden Beobachtungen frei von Stäb- 
chen und Sehpurpur ist, sich wirklich qualitativ nicht von der Adap- 
tierungsweise solcher Tierarten unterscheidet, die sowohl Stäbchen wie 
Zapfen besitzen. 

Es ist ja immerhin denkbar, daß bei Schildkröten der Komplex 
Stäbehen + Sehpurpur anatomisch zwar fehlt, funktionell aber doch 
in irgend einer Weise ersetzt ist. 

Für wahrscheinlicher halte ich aber, daß bei Schildkröten eine 
reine Zapfenadaptierung vorkommt, und daß die Stäbchenadaptierung 
wirklich fehlt. In diesem Falle müßte die Empfindlichkeit für alle 
Farben während des Dunkelaufenthaltes in gleicher Weise ansteigen 
und sowohl das Purkinjesche Phänomen in der ersten Phase der Dunkel- 
adaptierung, wie auch das relative umgekehrte Purkinjesche Phänomen 
in der zweiten Phase müßte ausbleiben. Dann entspräche der anatomi- 
schen Sonderstellung des Schildkrötenauges auch eine funktionelle Be- 
sonderheit. 

Jedenfalls wird sich durch entsprechende Messungen der Adaptierung, 
wie wir sie an Hühnern vorgenommen haben, auch bei Schildkröten 
diese prinzipiell so wichtige Frage entscheiden lassen. — 

Schließlich muß jetzt noch die Forderung erhoben werden, auch 
bei der Untersuchung der menschlichen Empfindlichkeitsänderung von 
der bisher üblichen Untersuchungsmethode abzugehen. Statt der früher 
benutzten Adaptometer mit gemischtem Licht werden wir künftig zur 
wissenschaftlichen Analyse der Adaptierung Spektraladaptometer 
anwenden müssen. Es ist hier nicht der Ort, den Entwurf zu einem 
derartigen Apparat näher zu beschreiben, aber soviel können wir jetzt 
schon sagen, daß eine genaue Intensitätsmessung der zu benutzenden 
spektralen Lichter unumgänglich nötig sein wird. 


62 H. Honigmann: 


Ich vermute, daß wir durch Untersuchungen mit einem solchen 
Apparat ähnliche Gesetzmäßigkeiten im Verlauf der Adaptierung beim 
Menschen finden werden, wie wir sie beim Huhn festgestellt haben. 
Weiterhin hoffe ich aber, daß wir auf dem hier eingeschlagenen Wege 
zu einem tieferen Einblick in die Gesetze des Farbensinnes sowie in das 
Wesen der verschiedenen Arten von Farbenblindheit gelangen werden. 


Zusammenfassung der Ergebnisse. 


1. Durch eine kombinierte Schwellenwerts- und Sehschärfemethode, 
nämlich das Aufpicken eben sichtbarer Körner, wurde die Lichtempfind- 
lichkeit von Hühnern untersucht. Da die (der Empfindungsstärke 
äquivalente) Reaktion des Tieres immer gleich blieb, so war die Licht- 
empfindlichkeit stets gleich dem reziproken Wert der objektiven In- 
tensität der Strahlung. 

2. Die Anwendung eines Brettes mit Vertiefungen, aus denen die 
beleuchteten Körner herausgepickt werden mußten, gab eine Kontrolle 
dafür, daß die gemessene Intensität der Strahlung wirklich der Reiz- 
schwelle entsprach. Mit Hilfe dieser neuen Vorsichtsmaßregel ergaben 
sich sehr konstante Schwellenwerte. 

3. Helladaptierte junge Hühner sehen rotes Licht viel heller als gleich- 
falls helladaptierte Menschen. Licht von 660 wu Wellenlänge sehen 
Hühner mindestens 4 mal heller als wir. 

4. Während die von Hess gefundene relativ (im Vergleich zum Men- 
schen) geringe Empfindlichkeit der Hühner für kurzwellige Strahlungen 
durch die Filterwirkung der Ölkugeln ohne weiteres erklärt wird, ist die 
hier gefundene relative Überempfindlichkeit der Hühner für langwellige 
Strahlungen keinesfalls durch die Filterwirkung, möglicherweise. aber 
zum Teil durch die dioptrische Wirksamkeit der Ölkugeln zu erklären. 

5. Bald nach Eintreten der Geschlechtsreife ändert sich bei Hühnern 
die Lichtempfindlichkeit. Die Empfindlichkeit für langwellige Strahlen 
bleibt zwar bestehen, aber die für kurzwellige Strahlen sinkt erheblich — 
wahrscheinlich infolge stärkerer Absorption durch die roten Ölkugeln. 

6. Der Vorgang der Adaptierung wurde hier zum ersten Male so 
gemessen, daß die Empfindlichkeitszunahme nicht für gemischtes Licht, 
sondern für verschiedene homogene Strahlungen ermittelt wurde. 

7. Die Empfindlichkeit für alle verschiedenwelligen Strahlungen 
steigt in den ersten 15 Minuten der Dunkeladaptierung annähernd 
gleichmäßig an, von da ab nimmt jedoch die Empfindlichkeit für kurz- 
wellige Strahlungen eine Zeit lang so viel schneller zu, daß sie jetzt 
größer wird, als die für langwellige Strahlen (,‚absolutes‘“ Purkinjesches 
Phänomen). Diese Tatsache wird dadurch erklärt, daß nunmehr — 
bei Hühnern also viel später als beim Menschen — ein neuer optischer 
Reizempfänger auftritt, nämlich der Komplex Stäbchen + Sehpurpur. 


Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges. 63 


. 8. Das späte Einsetzen des Stäbchenapparates, anatomisch durch 
die bei Hühnern geringe Anzahl der Stäbchen bedingt, ermöglicht es, 
die Empfindlichkeitszunahme der Zapfen gesondert von der Empfind- 
lichkeitszunahme der Stäbchen zu untersuchen. Es ergaben sich dabei 
forgende empirische Gesetzmäßigkeiten: 

I. Die Empfindlichkeit bleibt während der ganzen Dunkeladap- 
tierung maximal für Licht von einer bestimmten Wellenlänge 4, . 

II. Die Empfindlichkeit E£ für Licht von anderer Wellenlänge ist 
durch folgenden Satz bestimmt: 

Ein > EAm+z) > Em taz) * 

9. Bei gleichzeitiger Dunkeladaptierung von Mensch und Huhn 
verschiebt sich das Helliskeitsverhältnis ein- und derselben Strahlung 
bei Abnahme ihrer objektiven Intensität nicht nur relativ, sondern 
auch absolut. Für Licht von 620 uu Wellenlänge z.B. ist das hell- 
adaptierte Huhn empfindlicher als der gleichfalls helladaptierte Mensch. 
Dagegen ist das 40 Minuten dunkeladaptierte Huhn für Licht von der- 
selben Wellenlänge weniger empfindlich als der eben so lange dunkel- 
adaptierte Mensch. Diese Tatsache zeigt, daß bei vergleichenden Mes- 
sungen zwischen Mensch und Tier der Adaptationszustand aufs genaueste 
berücksichtigt werden mub. 

10. Durch den Nachweis eines (relativen) umgekehrten Purkinje- 
schen Phänomens bei Hühnern während der 2. bis 10. Stunde der Dunkel- 
adaptierung wird bewiesen, daß der Ort der primären Reizung durch 
Licht im Außengliede des Stäbchens liegen muß. 


Tabelle I. Energieverteilung im Nor- Tabelle II. Übersicht über die Dis- 


malspektrum eines Nernstbrenners (Mo- persion Dim benutzten prismatischen 

dell H), der mit 210 Volt Spannung Spektrum. D = 15,0 bei A = 580 uu be- 

brennt: deutet z. B., daß der Abstand der Strah- 

lungen von 570 zu und 590 «u Wellen- 

Wellenlänge: Energie: länge in der „Ebene des scharfen 

A = 700 u, E — 276 Spaltbildes“ 15,0 mm betrug. 

eo) BE DS 2 = 70 uu D= 87 
60600: ea) „=680 , ne 08 
Fr GA 190 600 31020 
„= 620 „ „» — 162 „640 „ „= 11,4 
6005, 133 N 0200: 12H) 
„580 „ „ — 108 we. eihß 
2.00 » 28 5800 „— 15,0 
Pe 5A0.; 69 „=560 , Pe 311688 
„520 „ „= 5 „=540 „ „— 19,7 
se 5 se Aal 520, 022 
m" A1Ss0r;, a! sei 5 se 
„460 22 „=480 „ „= 34,1 
»— 450 „ „= 18 „—=460 , „— 444 
„450 „ es 


64 H. Honigmann: 


Tabelle III. Selektive Reflexion R Tabelle IV. Logarithmen der Inten- 


der Reisoberfläche. sität der „Endstrahlung“. (Kombina- 
1 = 700 un zo tion der Werte aus Tabelle I-IN; _ 
er 108025 = % E-:R 
„660 „ „= 101 ee 
„EN 2104 
ne , 17 ) = 700 uu log I = 3,45 563 
„=600 , Venlll Sl er 735416206 
nel -, ee er 176 
ve 5 eu ee eluee 
as), lm „=620 „ » » = 3,15 905 
sem). “Zn „=600 „ „= 3,03 884 
500% „= MB seh 2 5 er MN 
ran. eo „560, ara 
sel) R De rrili sei = ara ir 
De On = 2 ee RA 
„500... ..,.-0200834 
se 5 re LAN 285 
seN 5 ee 
see ne TR 


Tabelle V. Lichtempfindlichkeit helladaptierter junger Hähne. 


Wellenlänge Nicolgrad Intensität Empfindlichkeit - 1000 
700 au 90° 2800 0,4 
680 „, 45° 1290 0,8 
660 ,, 29° 520 1,9 
640 .. 210 223 4,5 
620 19° 153 6,5 
600 „,, 20° 128 7,8 
FI) 5 22° 114 8,8 
560 ‚„,, 250 108 9,3 
540 ,, 31° 108 9,2 
520, 42° 119 8,4 
500 ‚„,, 80° 157 6,4 


Tabelle VI. Lichtempfindlichkeit helladaptierter ausgewachsener Hähne. 


Wellenlänge Nicolgrad Intensität Empfindlichkeit - 1000 
700 un 90° 2800 0,4 
680 „, 45° 1290 0,8 
660 „, 29% 520 1,9 
640 „, al? 223 4,5 
620 ,, 20° 169 5,9 
600 „, 20° 154 6,5 
580 , In 145 6,9 Maximum 
560 ‚„, 30° 151 6,6 
540 ,, 40° 169 5,9 
DO 60° 200 5,0 


Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges.. 65 


Tabelle VII. Menschliche Schwellenwerts- und Empfindlichkeitswerte zum 


Vergleich. 


Wellenlänge 
660 u 
620 ., 
SU 
540 „, 
500 ,, 
480 „, 


Nicolgrad 
76° 
282 
al 
14° 
24° 
40° 


Intensität 


2080 
318 
105 

24 
27 
34 


Gemessen nach 30 Sekunden Dunkelaufenthalt. 
Empfindlichkeit » 1000 


0,5 
3,1 
9,6 
41,9 
37,4 
29,6 


Tabelle VIII. Lichtempfindlichkeit 8Stunden langdunkeladaptierter junger Hähne. 
Empfindlichkeit »- 1000 

0,5 

1,2 


Wellenlänge 


700 un 
680 „, 
660 „. 
640 „, 
620 , 
600 
580 
560 
540 
520 
500 
480 
460 
450 


Intensität 
1915 
850 
250 
75 
30 
12 

6,2 

3,5 

2 

1,6 

248 

2,9 

3,8 

7,3 


4 
15 
33 
54 

161 
284 
460 
610 
436 
340 
260 
137 


Tabelle IX. Lichtempfindlichkeit 8 Stunden lang dunkeladaptierter ausge- 
wachsener Hähne. 
Intensität 


Wellenlänge 


700 u 
680 „, 
660 , 
640 „, 
620 

600 

580 

560 

540 „, 
520 „, 
500 „, 
480 „, 
460 „. 
450 „, 


2800 
1290 
520 
148 
62 
21 
12 

5,6 

4,5 

4,0 

4,4 

5:0 

Tel 

8,8 


Empfindlichkeit » 1000 
0,4 
0,8 
1,9 
6,7 


16 

47 

83 
180 
224 
253 
227 
183 
130 
114 


Tabelle X. Zunahme der Empfindlichkeit des Huhnes für 


Wellenlänge während der Dunkeladaptierung. 


Dunkelaufenthalt 


0 

2005 
14797 
5h 44’ 
8h 00’ 


Nicolgrad 
292 
23° 
2° 
2072 
19° 


Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 189. 


Intensität 
520 
338 
284 
259 
250 


Licht von 660 un 


Empfindlichkeit » 1000 


1,9 
3,0 
3,5 
3,9 
4,0 


5 


66 H. Honigmann: 


Tabelle XI. Zunahme der Empfindlichkeit des Huhnes für Licht von 620 uu 
Wellenlänge während der Dunkeladaptierung. 


Dunkelaufenthalt Nicolgrad Intensität Empfindlichkeit - 1000 
(0 19° 153 6,5 
17° 16° 110 9 
28 15° 97 10 
53° 14° 34 12 
4h 17° 122 62 16 
sh 30’ 8° 28 36 


Tabelle XII. Zunahme der Empfindlichkeit des Huhnes für Licht von 580 uu 
Wellenlänge während der Dunkeladaptierung. 


Dunkelaufenthalt Nicolgrad Intensität Empfindlichkeit » 1000 
0 5 114 8,8 
118% 19° 86 12 
DD 16° 62 16 
1b 16° 112° 35 28 
3h 45’ Ze 12 83 
sh 00’ 5° 6 161 


Tabelle XIII. Zunahme der Empfindlichkeit des Huhnes für Licht von 560 uu 
Wellenlänge während der Dunkeladaptierung. 


Dunkelaufenthalt Nicolgrad Intensität Empfindlichkeit - 1000 
0’ 25° 108 9,3 
227 1152 40 25 
46° 95 15 68 
Ih 3 3 9 111 
23h 17° 6° 7 152 
10h 15’ 4° 3 340 


Tabelle XIV. Zunahme der Empfindlichkeit des Huhnes für Licht von 540 uu 
Wellenlänge während der Dunkeladaptierung. 


Dunkelaufenthalt Nicolgrad Intensität Empfindlichkeit - 1000 
0' als 108 9,2 
9 RS 57 17 
19’ 14° 24 42 
30° 10° 12 81 
57 Hl 6 165 
5h 00’ 5° 3 323 
9ı 00° 4° 2 504 


Tabelle XV. Zunahme der Empfindlichkeit des Huhnes für Licht von 500 wu 
Wellenlänge während der Dunkeladaptierung. 


Dunkelaufenthalt Nicolgrad Intensität Empfindlichkeit - 1000 
0’ 80° 157 6,4 
115) 60° Ill > 8 
20° 40° 67 15 
23° 30° 40 25 
32’ 212 21 48 


Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges. 67 


Tabelle XV. (Fortsetzung). 


Dunkelaufenthalt Nicolgrad Intensität Empfindlichkeit - 1000 
11 24’ 12° 7 143 
12 40° 111° 6 170 
5h 30°’ 8° 3 319 
9u 6 6.55 2 483 


Tabelle XVI. Zunahme der Empfindlich- Zen 
keit des Huhnes für Licht von 460 uu | 
Wellenlänge während der Dunkeladap- 300 
tierung. 
En ;  Neolgrad Intensität a | 
45’ 90° 35 29 
1& 10° 45° 17 58 
1h 25° 39° 14 73 250 
2h 9 30° 8,7 1115 
5h 53° 20° 4,1 246 
9h 40’ 19° 37 271 
Gr 
ann 
Tabelle XVII. Zunahme der Empfindlich- °% I 
keit des Menschen für Licht von 620 un 
Wellenlänge während der Dunkeladaptierung. 
a, Nicolerad Intensität Fubändhen- | 
0,5 28% 318 Sul 750 on 
A 20° Iezfzl DT, 
H% 18° 135 a 
1157 NS 97 10 
37° 18° 73 14 
47’ 122 62 16 
54’ 119° 62 16 700 in, 
Tabelle XVII. Zunahme der Empfind- 
lichkeit des Menschen für Licht von 
540 uu Wellenlänge während der Dunkel- Mensch 
adaptierung. 50 ; 
a Nieolgrad Intensität es 
0,5’ AS 24 41,9 
202 95 10 100 
5 7 6 165 9 
ro 5,8° 3,3 267 660 620 580 540 500 HOUR 
n n en en Abb. 4. Schwellenwerte der Intensität 
’ [o} . T nTENSITA 
16,5 4 2,0 504 für end geschlechts- 
26’ 3° 7,1 895 reife) Hühner und den gleichfalls hell- 
40’ 3° I, 895 adaptierten Menschen. 


5* 


H. Honigmann: 


68 


Sue uopungg 8 rl ganondapuat unatai 


ıloer 09% 


uyoy 


SOT2ISUPOSEL 


008 


{veudbpkjeyunp 
Vapun]s 9 


00% 


Lanassileönpss 


008 


Ua] 


009 


san: Sue] aaa Ei pun eier 
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Untersuchungen über Lichtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges. 69 


Abb. Sa. Absinken der Schwellenwerte der Intensität 
von Licht von 660, 620, 550 und 560 «u Wellenlänge 
während der Dunkeladaptierung von Hühnern. Zum 
Vergleich sind die absinkenden Schwellenwerte der Inten- 
sität von Licht von 620 vu Wellenlänge während der 
Dunkeladaptierung des Menschen beigefügt. 


300 


450 


Abb.Sb. (Rot). Absinken der Schwellenwerte der Inten- 
sität von Licht von 540, 500 uud 460 zu Wellenlänge 
während der Dunkeladaptierung von Hühnern. Zum 
Vergleich sind die absinkenden Schwellenwerte der Inten- 
sität von Licht von 540 u« Wellenlänge während der 
Dunkeladaptierung des Menschen beigefügt. 


400 


Um Raum zu sparen, ist hier (ebenso auf Abb. 9) der 
Abszissenmaßstab von der 2. Stunde ab auf die Hälfte 
verkleinert worden, was zu beachten ist. 


350 


250 


2004 


620 | | 


70 H. Honigmann: 


300 


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400 


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300 


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Abb. 9a. Zunahme der Empfindlichkeit für Licht von 660, 620, 580 und 560 «u Wellenlänge 
während der Dunkeladaptierung von Hühnern. 

Abb.9b.: (Rot). Zunahme der Empfindlichkeit für Licht von 540, 500 und 460 Wellenlänge während 

der Dunkeladaptierung von Hühnern. Zum Vergleich ist die Zunahme der Empfindlichkeit des 

Menschen für Licht von 540 u« Wellenlänge während der Dunkeladaptierung mit dargestellt. 


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72 H. Honigmann: Lichtempfindlichkeit und Adaptierung des Vogelauges. 


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Der Umdrehreflex bei Seesternen und Schlangensternen. 


Von 
Prof. Dr. Ernst Mangold. 


(Aus der Physiologischen Abteilung der Zoologischen Station Neapel und dem 
Physiologischen Institut der Universität Freiburg i. Br.) 


(Eingegangen am 4. März 1921.) 


Einleitung. 

Für die Aufrechterhaltung und Wiederherstellung ihrer normalen 
Körperlage hat die Natur die Organismen mit einer ganzen Reihe von 
Möglichkeiten ausgestattet. Vielfach erfolgt die Gleichgewichtserhaltung 
rein passiv als mechanische Folge der Verteilung spezifisch ungleich 
schwerer Körperteile, wie es bei manchen freischwimmenden einzelligen 
Pflanzen und Tieren der Fall ist und von Bethe!) an Wirbellosen und 
selbst noch an Fischen zur Zeit nach dem Ausschlüpfen nachgewiesen 
werden konnte. Bei festsitzenden Pflanzen ist es die wechselnde Lage 
von Inhaltskörpern mit größerem spezifischem Gewicht im Innern von 
Zellen, die hierdurch zu fakultativen statischen Sinnesorganen werden, 
welche die geotropische Reaktion auszulösen vermag, und ebenso ist 
es bei den Paramäcien?). In gleicher Weise hat man sich offenbar den 
Reizungsvorgang vorzustellen, der bei niederen Metazoen zu geotak- 
tischen Reaktionen führt, wie ich sie bei dem Seestern Asterina gibbosa 
untersuchen konnte?), deren isolierte Arme sogar noch die negative 
Geotaxis zeigten. Ebenso wirken die Schwerkraftreize auch bei den Tieren 
mit spezifischen statischen Sinnesorganen durch die Druckwirkung 
der in veränderte Lage gebrachten Inhaltskörper der Statolithenorgane 
auslösend auf die koordinierten Bewegungen, die reflektorisch die Lage- 
korrektionen vollziehen. Bei den höheren Tieren bis zum Menschen 
hinauf sind zugleich neben diesen spezifischen statischen Reizaufnahme- 
organen auch andere Sinnesorgane, besonders die des Gesichts- und 
Tastsinnes, an der Wiedergewinnung der normalen Lage beteiligt, deren 
Mitwirkung im einzelnen experimentell festgestellt werden muß. 

Es gibt auch Tiere, bei denen diese statische Funktion nicht spezi- 
fisch statischer Sinnesorgane allein in die Erscheinung tritt. Es sind 


1) Bethe, Biol. Centralbl. 14, 95 u. 563. 1894 und Festschrift f. R. Hertwig. 
Jena 1910. 3, 83. 

?2) Lyon, Amer. journ. of physiol. 14, 421. 1905. 

®2) Mangold, Zeitschr. f. allg. Physiol. 9, 145. 1909. 


74 E. Mangold: 


dies solche, die der spezifisch statischen Sinnesorgane entbehren. Bei 
ihnen ist im einzelnen zu untersuchen, wieweit sich Schwerkraftreize, 
optische und Berührungsreize an der Auslösung der Lagekorrektions- 
bewegungen beteiligen und durch welche nervösen Mechanismen diese 
erfolgen. Die vollständige experimentelle Analyse hat hier zum Ziele 
die Beantwortung der Frage nach: 

l. den auslösenden Reizen, 

2. den an der Reizaufnahme beteiligten Receptoren, 

3. den vermittelnden Nervenbahnen und Nervenzentren, 

4. den Effektoren und ihrer die Lageveränderung korrigierenden 
Funktion. 

Zu diesen Tieren ohne spezifisch statische Sinnesorgane gehören 
fast ausnahmslos die Echinodermen !). Bei ihnen ist eine besondere 
Art der Lagekorrektion, die Umdrehung oder Selbstwendung aus der 
Rückenlage, schon seit dem Altertum bekannt und hat durch die dabei 
zu beobachtenden höchst charakteristischen Bewegungskomplexe auch 
in neuerer Zeit wiederholt die Forscher angezogen. 

Im Hinblick auf die allgemeine Bedeutung dieses fast überall in der 
Tierwelt verbreiteten Umdrehreflexes aus Rückenlage, und besonders 
durch meine Studien über die tierische Hypnose und die dabei unter- 
bleibenden Lagereflexe auf den Gegenstand hingelenkt, habe ich im 
folgenden meine seinerzeit in Neapel gewonnenen Versuchsergebnisse 
über den Umdrehreflex bei Seesternen und Schlangensternen zusammen- 
gefaßt. Es ergibt sich daraus eine eingehende Analyse der von den bis- 
herigen Beobachtern meist unberücksichtigt gelassenen oder irrtümlich 
beantworteten Fragen 1 und 2 nach den auslösenden Reizen und den an 
der Reizaufnahme beteiligten Receptoren, wie auch mancherlei Er- 
gänzung und Berichtigung zu den Fragen 3 und 4 nach dem nervösen 
Mechanismus und den effektorischen Funktionen. 


I. Biologische (ökologische) Bedeutung des Umdrehreilexes. 


Wie fast alle vielzelligen Organismen, so zeigen auch die See- und 
Schlangensterne das Bestreben, eine bestimmte, für sie offenbar nor- 
male Lage ihres Körpers beizubehalten, d.h. eine Lage, die dem un- 
gehinderten Ablauf ihrer Lebensprozesse am günstigsten ist, wie wir 
mit Jennings?) die Normallage allgemein charakterisieren können. 
Viele dieser Tiere leben in der Litoralzone des Meeres an Felsen oder 
auf dem Sande, ihre vorwiegenden Bewegungsarten, deren Mechanismus 
und Abhängigkeit von ihren motorischen Organen und vom Nerven- 


1) Vgl. 8. 88. r 
®?) Jennings, Das Verhalten der niederen Organismen. Übersetztvon E. Man- 
gold. B. G. Teubner. Leipzig 1910, S. 297. 


Der Umdrehreflex bei Seesternen und Schlangensternen. 75 


system ich in früheren Arbeiten!) darstellen konnte, sind eine kriechende, 
laufende oder kletternde Fortbewegung und das Eingraben im Sande, 
das für sie offenbar die Bedeutung einer Fluchtbewegung und Schutz- 
stellung besitzt. 

Die lebenswichtige Bedeutung des Umdrehreflexes aus der Rücken- 
lage ergibt sich für diese Tiere aus ihren ökologischen Verhältnissen. 
So kann es sich bei den in der Brandungszone an und auf Tuffstein- 
felsen sitzenden Seesternen oder Schlangensternen leicht ereignen, 
daß sie durch anschlagende Wellen in ihrem Festhaften gelockert werden, 
die Ansaugung der Füßchen nachläßt und sie schließlich herabfallen. 
Da nun viele von ihnen stets die günstigste Sauerstoffversorgung auf- 
suchen, wozu z.B. bei Asterina noch die negative Geotaxis verhilft, 
so werden sie alsbald emporkriechen müssen, und hierfür ist die erste 
Bedingung, daß ihre ventralen Bewegungsorgane, die Ambulacral- 
füßchen, wieder mit dem Boden in Berührung kommen. Da sie nun 
aber beim Herabsinken im Wasser nicht ohne weiteres oder doch nur 
zufällig die normale dorsoventral orientierte Lage beibehalten und 
dabei oft auf den Rücken fallen, so werden sie noch während des Ab- 
sinkens oder nach Erreichen des Grundes zunächst wieder umdrehen 
müssen. 

Das Loslassen aus einer festsitzenden Stellung kann ferner durch 
das Gegeneinanderdrängen der zum Teil massenweise beieinander- 
sitzenden Tiere oder auch wohl beim Angriff eines größeren Seesternes, 
zu dessen Nahrungsbeute auch die kleinen Asteriden und Ophiuriden 
gehören, veranlaßt werden; und da eine ähnliche Gefahr auch auf dem 
Grunde wieder drohen kann, die eine Fluchtbewegung erforderlich 
macht, so ist auch hier der Umdrehreflex diejenige biologische An- 
passungsreaktion, die dem Tiere zunächst die für alle weiteren Reak- 
tionen notwendige Bewegungsfreiheit wiedergibt. Auch bei einfachen 
Kletterversuchen an größeren Steinen kann leicht ein Umfallen in die 
Rückenlage stattfinden. 

Hier setzt nun die Umdrehbewegung ein, zu deren Ausführung den 
See- und Schlangensternen als Bewegungsorgane die auch sonst zum 
kriechenden, kletternden oder grabenden Fortbewegen benutzten Am- 
bulacralfüßchen (Saugfüßchen) und ferner die in ihren wirbelartig 
verbundenen Teilen mit Längs- und Quermuskulatur ausgestatteten 
5 Arme (Radien) zur Verfügung stehen. Im allgemeinen überwiegt bei 
den Asteriden mit ihren plumper gebauten Armen die Tätigkeit der 
Füßchen, während die Ophiuriden mit ihren viel kleineren und weniger 
aktionsfähigen Füßchen sich leicht beweglich ihrer schlangenartigen 
Arme bedienen. 


1) E. Mangold, Arch. f. d. ges. Physiol. 122, 315; 123,1. 1908; 126, 371. 1909. 
Zentralbl. f. Physiol. %23, 141. 1908. Biol. Centralbl. 28, 169. 1908. 


76 E. Mangold: 


II. Bisherige Untersuchungen über den Umdrehreflex. 


Der Mechanismus des Umdrehreflexes am Boden ist schon mehrfach be- 
schrieben worden. So stellten u. a. Romanes und Ewart!) Versuche an mehreren 
Asteriden- und Ophiuraarten an und hoben bereits einige Verschiedenheiten in 
dem Verhalten der Arten dabei hervor. Besonders eingehende Untersuchungen 
widmete Preyer?) der Selbstwendung zahlreicher Arten von Echinodermen, 
wie sie dann auch wieder von Jennings?®) beschrieben wurde. An dem Schlangen- 
stern Ophioglypha lacertosa hat v. Uexküll?) einige Versuche über den Umdreh- 
reflex mitgeteilt. 

Bemerkenswert ist dabei die verschiedene Auffassung, die die einzelnen 
Forscher von diesem verwickelten Bewegungsvorgange bei den Fünfstrahlern 
gewannen. Während Romanes und Ewart ausdrücklich betonen, daß sie über- 
haupt alle Bewegungen der Echinodermen als reflexartige betrachten, kann sich 
Preyer eine derartige einfache Reflexmaschinerie kaum vorstellen, die die Be- 
wegungen eines Seesternes mit seinen mehr als tausend Füßchen und seine Um- 
drehungs- und Befreiungsversuche aus künstlichen Fesseln beherrschen solle. 
Er sieht darin vielmehr unzweideutige Beweise für selbständige psychische Funk- 
tionen und schreibt den Asteriden und ÖOphiuriden Empfindung, Willen und 
Verstand zu. Demgemäß sieht er die Selbstwendung aus rein zentralen Impulsen 
ohne äußere Reflexreize entspringen und schließt nach seinen eigenen mühevollen 
Versuchen die Möglichkeit einer reflektorischen Auslösung des Selbstwendungs- 
aktes durch äußere Reize aus (S. 118). Infolge dieser tierpsychologischen Auf- 
fassung konnte Preyer nicht zum Endziele der physiologischen Fragestellungen 
gelangen, zum Teil auch weil er seine Versuche durch die Herstellung von mancher- 
lei ganz unnatürlichen Bedingungen und äußeren Verhältnissen für seine Tiere 
wesentlich komplizierte und schon dadurch ihrer unvollständigen und irrtüm- 
lichen Deutung Vorschub leistete. Jennings°) ist im allgemeinen der Ansicht, daß 
das Beibehalten der normalen Lage nicht eigentlich von besonderen Reizquellen 
abhängig ist, vielmehr von dem Festhalten der natürlichen physiologischen Vor- 
gänge im Organismus. Hinsichtlich der Echinodermen 6) teilt er die Anschauung 
von Romanes von der Reflexnatur ihrer Bewegungen und hebt die Selbst- 
wendungsreaktion als ein bemerkenswertes Beispiel für ein nicht stereotypes, 
sondern mehr plastisches und veränderliches Verhalten hervor. In der Tat er- 
gaben seine Beobachtungen und Bestätigungen der Preyerschen Versuche, daß 
die See- und Schlangensterne nicht immer nach dem gleichen Modus die Um- 
drehung vollziehen, daß ihnen vielmehr dafür verschiedene Wege, wenn man die 
Einzelbewegungen und Etappen bei der Reaktion verfolgt, zur Verfügung 
stehen. Für Jennings lag entsprechend seiner erwähnten allgemeinen Auf- 
fassung von der Beibehaltung und Korrektion der Lage kein Anlaß zu weiterer 
Analyse vor. 

v. Uexküll berücksichtist ganz allgemein die äußeren Reize, die zur 
Umdrehung führen, und als erster die Bedeutung der Umdrehung während des 
Fallens im Wasser für die Analyse des Umdrehreflexes. 


!) Romanes und Ewart, Philos. Transact. Roy. soc. 1%2. London 1881. 

:2) Preyer, Mitt. a. d. zoologischen Station zu Neapel %, 27 u. 191. 1886. 

®) Jennings, The behavior of the starfish. University of California Publi- 
cations. Zoology 1907. 

2) v. Vexküll, Zeitschr. f. Biol. 46, 10. 1905. 

5) Jennings, Das Verhalten der niederen Organismen. Übersetzt von E.Man- 
gold. Leipzig 1910, S. 303. 

Ik oo, 5 Br, 


Der Umdrehreflex bei Seesternen und Schlangensternen. 77 


Moore!) führte die Selbstwendungsreaktion der Seesterne zunächst auf einen 
positiven Stereotropismus der Saugfüßchen zurück. Dies kann natürlich eine 
physiologische Analyse nicht ersetzen, solange es eine allgemeine Theorie der 
Tropismen nicht gibt und mangels einheitlicher Definitions- und Erklärungs- 
möglichkeit auch nicht geben kann und diese Bezeichnung eigentlich nur eine 
Orientierung bei asymmetrischer Reizung oder eine Reaktion auf einen Reiz be- 
deutet, die aber doch in jedem einzelnen Falle besonders untersucht werden muß 
[vgl. Mast?]. Auch in späteren Mitteilungen?) behält Moore die Deutung als 
 Stereotropismus noch bei, weist aber selbst darauf hin, daß ein Seestern auch 
nach Lähmung der Füßchen noch umdrehen kann. 

Diese verschiedenen Auffassungen über das Zustandekommen der Umdreh- 
reaktion bei See- und Schlangensternen lassen es wohl gerechtfertigt erscheinen, 
eigene Untersuchungen mitzuteilen, die wenn auch einige Jahre zurückliegend, 
neue Beiträge bringen zur Reflexnatur der Selbstwendung, und den Versuch einer 
Analyse derselben bis in die auslösenden Vorgänge. 


III. Mechanismus und nervenphysiologische Deutung des Umdrehreflexes. 


Die Umdrehung vollzieht sich bei den Seesternen und Schlangen- 
sternen in sehr verschiedener Weise, und zwischen den einzelnen Arten 
bestehen regelmäßige Unterschiede. Auch innerhalb der gleichen Art 
zeigt sich dabei nicht stets die gleiche Bewegungsfolge der Radien und 
ihrer Füßchen. Endlich dreht auch dasselbe Tier nicht immer in der 
gleichen Weise und mit gleichem zeitlichen Ablauf der Bewegungen um. 
Ganz allgemein läßt sich der Umdrehreflex auf ein Schema reduzieren, 
welches darin besteht, daß eine oder mehrere Armspitzen des auf dem 
Rücken liegenden Tieres untergeschlagen werden und der übrige Tier- 
körper über diese hinüberschlägt. Dies kann hauptsächlich in zweierlei 
Weise vor sich gehen. Wenn nämlich die ersten Armspitzen vermittelst 
ihrer Saugfüßchen am Boden Anheftung gewinnen und weiter kriechen, 
so erfolgt mehr ein Aufrollen oder Herüberziehen des Körpers über die 
unter ihm wegkriechenden führenden Arme. Sind aber weniger die 
Füßchen als die Arme selbst mit ihrer Muskulatur am Beginn der Um- 
drehung beteiligt, so vollzieht sich mehr ein Herüberfallen des auf- 
gerichteten Körpers über die als Stütz- und Drehpunkte gegen den Boden 
gestemmten Armspitzen. Ersteres ist mehr bei den Asteriden, letzteres 
bei den Ophiuriden der Fall. Als ein vermittelndes Verfahren kann 
dasjenige bezeichnet werden, das gelegentlich bei Seesternen zunächst 
zu einer Aufrichtung des Körpers mit schraubenförmiger Drehung der 
Armspitzen am Boden führt, wonach dann das Herüberschlagen erfolst, 
sobald die Arme einer Körperhälfte durch Überwiegen ihrer Aufrollung 
über die der anderen Arme die Führung für die Vollendung des Manövers 
erhalten. 


1) Moore, Biol. Bull. 19, 235. 1911. 

?2) Mast, What are Tropisms ? Arch. f. Entwicklungsmech. d. Org. 41, 251. 1914. 

®2) Moore, Journ. of gen. Physiol. %, 201 und 319. 1920, siehe Berichte über 
die ges. Physiol. 1, 351. 1920. 


78 E. Mangold: 


Es ist klar, daß es für eine schnelle und ungehinderte Ausführung 
der Umdrehung darauf ankommen muß, daß die einzelnen Arme nicht 
gegeneinander arbeiten und dadurch mit ungefähr gleichen Kräften 
den Körper nach verschiedenen Seiten herüberzuziehen versuchen; mit 
anderen Worten, daß sie von vornherein koordiniert arbeiten. Dies ist 
nun aber keineswegs immer der Fall, wie auch schon die früheren Au- 
toren hervorheben. Vielmehr rollen sich die einzelnen Arme eines See- 
sternes oft anfangs in entgegengesetztem Sinne auf, wobei sie sich auch 
in antagonistische Gruppen teilen. Hierdurch wird die Umdrehung 
natürlich erschwert und um beträchtliche Zeiten verlangsamt. Das 
ganze Umdrehungsverfahren kann, wie schon Preyer statistisch fest- 
stellte, je nach Größe und Gewand:heit der Seesterne einige Sekunden 
bis eine Stunde in Anspruch nehmen. Auch nach anfänglich antago- 
nistischer Bewegung einzelner Arme oder Armgruppen kommt es beim 
unverletzten Tiere durch die Vermittlung des zentralen Nerven- 
ringes, von dem.die einzelnen fünf Armnerven (Radialnerven) an 
der Basis der Arme (Nervenringecken) ausgehen, stets über kurz oder 
lang zur Koordination, indem die eine Gruppe die Führung übernimmt 
und die anderen Arme den schon gefaßten Boden loslassen und sich wie- 
der zurückdrehen. 

Diesen Ablauf des Umdrehreflexes mit anfänglich nicht bestehender 
und erst nachträglich eintretender Koordination habe ich bei den 
Asteriden Echinaster sepositus, Astropecten aurantiacus, pentacanthus, 
squamatus und bispinosus, Luidia ciliaris, Asterina gibbosa beobachten 
können neben anderen Fällen, in denen die Koordination von Anfang 
an zu bestehen schien. Letzteres trifft besonders dann zu, wenn anfangs 
ein oder zwei benachbarte Arme beginnen und die anderen sich erst 
später anschließen, wodurch dann die Koordination wesentlich erleich- 
tert wird; so übernimmt bei der langsamen Umdrehung des großen 
schwerfälligen Asterias glacialis meist eine Armspitze mit vorgestreckten 
Füßchen von vornherein die Leitung. Besonders erschwert fand ich 
die Koordination des Umdrehreflexes bei einer Asterina, die statt der 
5 Arme zufällig 6 besaß, da hier oft je 3 benachbarte Arme nach der 
einen, und 3 nach der anderen Seite mit der Umdrehung begannen und 
erst nach mehreren Fehlern die Vereinigung zu gemeinsamer Aktion 
eintrat. Aber auch die fünfarmige Asterina dreht fast stets erst mit 
je zwei Armspitzen anders herum, während der 5. hochgehalten wird, 
ohne den Boden zu berühren. Die Zahl der den U.-R. gleichzeitig be- 
ginnenden Arme kann sehr verschieden sein. Während sich bei dem 
großen Astropecten aurantiacus sehr oft alle 5 gleichzeitig regen, aber 
auch manchmal nur 1 oder 2 den anderen vorangehen, sind es bei den 
meisten Arten gewöhnlich 2 oder 3. Auch die Latenzzeit von der erfolgten 
Umdrehung in Rückenlage bis zum Beginn des U.-R. in einem oder 


Der Umdrehreflex bei Seesternen und Schlangensternen. 19 


mehreren Armen kann sehr verschieden sein; besonders groß fand ich 
sie bei Pentagonaster und Palmipes. 

Während die früheren Beobachter auf einenervenphysiologische 
Deutung dieser merkwürdigen Bewegungsform nicht näher eingingen, 
möchte ich dies hier ergänzend versuchen. Offenbar geht dieser kom- 
plizierte U.-R. beim unverletzten Tiere nicht von einer einzigen bestimm- 
ten Stelle aus und der oder die — später noch zu definierenden — 
Reize werden nicht immer erst beantwortet, wenn die zentripetalen 
Erresungen in dem höchstbeteiligten Zentrum, dem Nervenring mit 
seinen 5 Nervenecken, angelanst sind, und von hier aus koordiniert den 
Reflex nach einem bestimmten Plane auslösen. Vielmehr sind an ver- 
schiedenen Stellen des Körpers Receptoren vorhanden, von denen aus 
zunächst mehr oder minder gleichzeitige und unabhängige Reflex- 
bewegungen ausgelöst werden, die als lokale und kurze Reflexe in den 
einzelnen Armen mit verschiedener Latenz beginnen und erst nach dem 
Zusammentreffen der einzelnen Erregunssvorgänge im zentralen 
Nervenring durch Hemmung eines Teiles desselben und Förderung 
eines anderen zu einem koordinierten Gesamtreflexe kombiniert werden. 
Die Hemmung der antagonistischen Arme, die dann die Richtung ihrer 
Bewegung aufgeben, erfolgt nach meinen Beobachtungen ziemlich 
gleichzeitig und nicht der Reihe nach. Mit der hier geäußerten Auf- 
fassung steht auch in Einklang, daß die einzelnen Arme selbst nach funk- 
tioneller oder anatomischer Isolierung vom übrigen Körper noch den 
U.-R. zeigen. Hierauf werden wir noch zurückkommen. 


. IV. Gleichheit und Veränderlichkeit der Umdrehbewegung. 


Auch die schon berührte Tatsache, daß das Umdrehungsmanöver 
bei Tieren gleicher Art und selbst beim gleichen Individuum nicht 
stets in der gleichen Weise vor sich geht, bedarf der weiteren Beachtung. 
Preyer gibt an, daß sich kein Astropecten ganz genau nach demselben 
Schema zweimal hintereinander selbst wendet, und führt dies auf die 
jedesmal stattfindende Anpassung an die Haftfläche zurück, die nach 
Wölbung, Unebenheit und Rauhigkeit des Bodens die Umdrehreaktion 
modifiziert. 

Es erschien mir nun naheliegend, zu versuchen, ob nicht bei mög- 
lichst gleichen Bedingungen doch auch stets das gleiche Schema in der 
Umdrehungsweise befolgt wird, woraus dann zu schließen wäre, daß 
der Umdrehreflex in allen seinen Teilen von den Einzelheiten der Reizung 
nach Art, Ort und Stärke der Reizung bestimmt wird. 

So beobachtete v. Uexküll bereits bei dem Schlangenstern Ophio- 
slypha, daß die Richtung der Umdrehung durch den dabei vom Ex- 
perimentator gegebenen Reiz bestimmt wird, indem die dem Reizort 
gegenüberliegenden Arme die Umdrehung vollziehen. 


80 E. Mangold: 


Zugleich war zu beachten, ob individuelle Unterschiede zwischen 
einzelnen Tieren derselben Art beständen, die sich durch irgendwelche 
körperliche Verschiedenheiten auszeichneten. Als solche war besonders 
an die zahlreichen Fälle zu denken, in denen sich bei den fünfstrahligen 
Echinodermen Verschiedenheiten der Armlänge infolge von Autotomie 
und Regeneration vorfinden. Es war zu erwarten, daß die Tiere ihre 
dadurch verschieden langen Arme auch in verschiedener Weise be- 
nutzten. 


Zunächst sei von derartigen Versuchen an 5 Seesternen der Art Astro- 
pecten squamatus berichtet. Die Tiere wurden in Reihen von 7—14 Einzel- 
versuchen mit der Pinzette an einem Arm gefaßt und in Rückenlage herumgeworfen. 
Sodann wurde beobachtet, mit welchen Armen der Umdrehreflex begann, nach 
welcher Richtung die einzelnen Arme sich von ihrer Spitze aus am Boden auf- 
wanden und über welche Arme schließlich das Herüberschlagen in die normale 
Bauchlage erfolgte. 

Die 5 Arme seien zur Orientierung für die Versuche mit den Buchstaben 
a—e bezeichnet, der Reihe nach im Sinne des Uhrzeigers bei Rückenlage des Tieres, 
dann steht z. B. a dem Paar c d gegenüber, b dem Paar de, usf. 

In einem besonders charakteristischen Versuche handelte es sich um einen 
Astropecten (Nr. 5), der als einzige Unregelmäßigkeit an einem Arm (e) eine 
regenerierte Spitze besaß und nun 15 mal in Rückenlage gebracht wurde, indem er 
3mal mit dem Arm a und 4mal mit d, dann 6 mal mit eund noch 1 mal mit «a und 
1 mal mit d mittels der Pinzette gefaßt wurde, so daß der jeweils gefaßte Arm 
dadurch zugleich mechanisch gereizt wurde. Beiläufig sei hinzugefügt, daß die 
Echinodermen allgemein auf mechanischen Reiz meist mit Fluchtbewegungen 
vom Reizort weg reagieren. 

Dieses Tier führte nun in allen 9 Fällen, in denen es an den Armen «a oder 
d gefaßt und herumgeworfen wurde, die Umdrehung in die Normallage zurück 
ausnahmslos so aus, daß es schließlich über das dem Reizarm gegenüberliegende 
Armpaar (für a über cd, für d über a b) vollends herüberschlug. Die Umdrehung 
erfolgte also stets vom Reizort weg. Mehrfach wirkte auch nach der Umdrehung 
die Reizung des vorher mit der Pinzette erfaßten Armes noch nach, indem das Tier 
dann mit dem gegenüberliegenden Armpaare voran weglief. Diese normale Reiz- 
wirkung führte jetzt das Tier allerdings wieder nach dem ursprünglichen Reizorte 
hin, da die Reizung eben bei Rückenlage des Seesternes erfolgte und dieser nun 
wieder umgedreht war. Die Flucht erfolgte jetzt also nicht im biologisch rich- 
tigen Sinne; doch war eine entsprechende richtige Umstellung des Fluchtreflexes 
unter der durch die Reizung bei Rückenlage künstlich geschaffenen Situation 
auch nicht zu erwarten. 

Wurde dieses Tier statt mit a oder d mit dem regenerierten Arme e gefaßt, 
so erfolgte die Umdrehung 2 mal über a e und die übrigen 4 mal in uncharakteristi- 
scher Weise damit, daß sich je 2 Arme paarweise entgegengesetzt auf dem Boden 
aufzuwickeln begannen und der 5. Arm dabei untätig hochgehalten wurde. Offen- 
bar erfolgte die Ausbreitung der Erregung auf die anderen Arme bei Reizung 
des früher einmal verletzten oder autotomierten und jetzt an der Spitze wieder 
regenerierten e nicht in der gleichen gesetzmäßigen und prompten Weise wie 
beim Fassen an einem der anderen, normalen Arme. 

Ein anderer Astropecten squamatus (Nr. 4) besaß nur 2 normale (b und c) 
und 3 regenerierte Arme (a,d,e). Er wurde 7mal in die Rückenlage gebracht 
und zu diesem Zwecke 6mal mit a und lmal mit d gefaßt. Auch hier ergab sich 


Der Umdrehreflex bei Seesternen und Schlangensternen. s1 


wieder ein offenbar für dieses Tier individuell festgelegtes Gesetz, indem es von 
diesen 7mal 6mal über das Armpaar bc herüberdrehte und 1mal (bei a gefaßt) 
über ce und d. Es benutzte also für die Umdrehung in allen 7 Fällen c, in 6 Fällen 
auch b. Die beiden einzigen ganz unverletzt gebliebenen Arme wurden beim 
Umdrehreflex in hervorragender Weise bevorzugt. 

Bei diesem Tiere ergab die Beobachtung der einzelnen Arme bei der Um- 
drehung auch ein deutliches Überwiegen der Aufrollungsrichtung der Arme ent- 
gegen dem Sinne des Uhrzeigers, wie es auch bei 2 anderen (Nr. 2 und 3) unter den 
5 für diese Versuche verwendeten Seesternen festgestellt werden konnte. Eine 
größere Versuchsreihe, um dieser auffallenden Erscheinung nachzugehen und sie 
außerhalb des hier immerhin möglichen Einflusses des Zufalles sicher zu stellen, 
wurde leider unterlassen. 

An einem weiteren Versuchstier (Nr. 2), dessen einzige Asymmetrie in einem 
kurzen Arm (a) bestand, erfolgte die Umdrehung in 2 Fällen, in denen er mit 
diesem Arm herumgeworfen wurde, über die beiden nächsten Arme de, und in 
6 von 7 Einzelversuchen mit Erfassen von a oder e waren zweimal die beiden und 
6 mal mindestens einer der Arme des Gegenpaares vorwiegend an der Führung 
und Vollendung des Umdrehreflexes beteiligt, so daß hier wie bei Nr. 5, wenn 
auch nicht mit der gleichen gesetzmäßigen Übereinstimmung, die Umdrehung 
vom Reizort weg erfolgte. 

Wieder ein anderer Astropecten (Nr. 1), der zwei verkürzte Arme (a und b) 
hatte, drehte in 3 von 4 Fällen über @ e herum. 

Ein völlig normal erscheinendes Tier endlich ließ in einer Reihe von 9 Einzel- 
versuchen, in denen es stets mit dem gleichen Arme gefaßt wurde, keine so deut- 
liche Konstanz des Umdrehmechanismus erkennen; nur die in 5 Versuchen über- 
einstimmende vorwiegende Beteiligung des Nachbararmes b trat als auffallend 
hervor. 

Weitere Versuche wurden an Schlangensternen, Ophioglypha lacertosa 
und Ophioderma longicauda, angestellt, bei denen sich der Umdrehreflex mit viel 
größerer Gewandtheit als bei den Asteriden, allein durch das Aufstemmen zweier 
Arme und durch das Herüberschlagen der anderen vollzieht. Auch bei den Ophi- 
uriden bestätigte sich als weitaus überwiegendes Gesetz, daß die Umdrehung im 
Herüberwälzen über das Gegenpaar desjenigen Armes erfolgt, der zum Herum- 
werfen in die Rückenlage gefaßt war. Bei Ophioglypha, die ihre Arme nur in einem 
sroßen Bogen krümmt, im Gegensatze zu den schlangenartigen Windungen der 
Arme bei Ophioderma, zeigte sich die Umdrehung auch durch die Krümmungs- 
richtung der Arme beeinflußt. Wird das Tier am Arm a gefaßt, so erfolst der 
Umdrehreflex durch Aufstützen und Hinüberschlagen des Körpers über die beiden 
Arme c und d des Gegenpaares, und zwar am promptesten, wenn diese dabei aus- 
einanderschlagen, d. h. sich mit entgegengesetzter und nach außen gerichteter 
Krümmuns aufstützen. Dann kann das Tier auch ohne weiteres mit diesem 
Armpaar voran. weglaufen. Wenn indessen die Spitzen der beiden Arme cd, die 
für den Reizarm a das Gegenpaar bilden, mehr oder minder zufällig nicht aus- 
einander, sondern durch gleichsinnige Krümmung miteinander nach der gleichen 
Seite schlagen, so verlieren sie dadurch ihre Eignung, für das Herüberschlagen des 
Tieres als Stützpunkte zu dienen, wozu nur zwei auseinanderschlagende Arme 
gebraucht werden können. Dann schlägt aber jedenfalls der eine der beiden Arme c 
oder d mit seinem anderen Nachbar in entgegengesetzter Krümmung auseinander, 
und es wird dieses Paar dann als Stützpunkt für die Umdrehung benutzt. Diese 
erhält dann eine Veränderung ihrer Gesamtrichtung und bewegt sich nicht im 
Sinne geradeaus vom Reizort weg, sondern mit rechts- bzw. linksum, im rechten 
Winkel zu dieser Richtung. 


Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 189. 6 


82 E. Mangold: 


Im gleichen Sinne fielen die Versuche mit Ophioderma longicauda aus. So 
drehte ein Tier mit einem verkürzten Arme a, gleichgültig wie es in Rückenlage 
gebracht wurde, fast ausnahmslos unter Verwendung dieses Armstummels, der 
auch meist mit der Bewegung begann, als Stütz- und Drehpunkt, über die benach- 
barten b und e, so in einer Reihe von 20 Einzelversuchen 13mal. Bei derartig 
verstümmelten Tieren ergab sich aber auch häufig eine zweite Art der Umdrehung, 
bei der das Gegenpaar des Stummelarmes, c d, in der für Ophioglypha beschriebenen 
Weise das vorwiegende Drehpaar bildete. Dies war bei einer Ophioderma mit 
einem verkürzten Arm in 15 Einzelversuchen mit Umdrehung 9mal der Fall. 

Die angeführten Versuche zeigen, daß für die See- und Schlangen- 
sterne die Abwicklung des U.-R. nach beständig wechselndem Typus 
nicht verallgemeinert werden darf. Einmal spielt der Reizort und der 
gereizte Arm eine gewisse Rolle; wenn die Umdrehung in Rückenlage 
in den vorliegenden Versuchen mit dem verhältnismäßig starken Reize 
des Erfassens mit der Pinzette verbunden war, so muß doch auch für 
die biologisch ganz natürlichen Verhältnisse angenommen werden, daß 
beim Übergang in Rückenlage mit dem Herabfallen von Felsen oder 
Umgestoßenwerden stets eine ungleich starke mechanische Reizung 
der einzelnen Arme verbunden ist. Dies wird dann auch die Ausführung 
des U.-R. im Sinne der Flucht vom Reizort, entsprechend der jeweils 
stärksten Reizung eines der Arme, öder in anderer Weise durch Hem- 
mung gewisser Arme und Förderung der anderen beeinflussen. 

Anderseits ergab sich aus unseren Versuchen auch eine Beeinflussung 
durch individuelle Abweichungen vom normalen unverletzten Zustande. 
Es gibt hier verschiedene Möglichkeiten. Entweder bleibt in dem früher 
verletzten und dann regenerierten Armen eine Hypofunktion zurück, die 
den übrigen normalen Armen die vorwiegende Arbeit überläßt, oder 
es werden durch den teilweisen Wegfall der verstümmelten Arme die 
Bewegungen der anderen rein mechanisch erleichtert, oder es wird ein 
Arm auch selbst durch weitgehende Verkürzung mechanisch geeigneter, 
beim U.-R. als Stützpunkt zu dienen. 


V. Der Umdrehreflex nach Operationen am Nervensystem und bei 

isolierten Armen. 

Wieweit die Bewegung der Asteriden und Ophiuriden, und insbeson- 
dere der U.-R. durch künstliche Verstümmelungen und vor allem durch 
Operationen am zentralen Nervenring und den einzelnen Armnerven 
verändert und behindert werden, ist von den früheren Autoren und be- 
sonders ausführlich von Preyer durch weitgehend modifizierte Ver- 
suche dargetan worden. Auf diese zahlreichen Versuche will ich hier 
nur, soweit das Verständnis erfordert, und auf die eigenen umfassenden 
Nachprüfungen der von den einzelnen Forschern nicht widerspruchslos 
festgestellten Ergebnisse nur soweit, als ich zu abweichenden und er- 
gänzenden Feststellungen gelangte, eingehen. 


Der Umdrehreflex bei Seesternen und Schlangensternen. 53 


l. Seesterne. 


Wird ein Arm am Rande der Körperscheibe durch queren Schnitt 
abgetrennt, so verbleibt ihm als nervöses Zentrum nur der in der Mitte 
der Ambulacralfurche längs verlaufende gangliöse Radialnerv (Radial- 
mark, Armnerv), der für die Koordination der Bewegungen der Längs- 
und Quermuskulatur der Arme und der Füßchen beim Kriechen, Klet- 
tern oder Graben oder Mundwärtsführen der Nahrung, ebenso auch 
für die Fortleitung der Erregung bei der Lichtproduktion leuchtender 
Schlangensterne!) völlig ausreicht. Der zu jedem Armnerven gehörige 
Ganglienzellhaufen, am zentralen Armende in einer Ecke des ganz im 
Bereiche der Körperscheibe liegenden Nervenringes (Nervenringecke), 
vermittelt nur die Koordination mit den anderen Armen, ohne indessen 
als an sich übergeordnetes Zentrum die Armnervenfunktion zu be- 
herrschen. Andererseits unterbricht die Durchschneidung der Armnerven 
an irgend einer Stelle völlig die Koordination zwischen den beiden da- 
durch funktionell getrennten Hälften des Armes, ohne daß die Störung 
in irgend einem Falle durch ein Hautnervennetz ausgeglichen würde, 
das, wie ich nachweisen konnte?), funktionell nicht existiert. 

Da nun die bereits mitgeteilten Erfahrungen einen selbständigen 
Beginn des U.-R. in den einzelnen Armen erwiesen, wobei allerdings 
die Nervenringecke noch als leitendes Reflexzentrum funktionieren 
könnte, war zu erwarten, daß auch einzelne abgetrennte Arme noch 
allein die Umdrehung vollziehen können. Einen derartig isolierten 
Arm wollen wir mit Preyer als azentrisch, den im Zusammenhang 
mit seiner Nervenringecke abgetrennten als unizentrisch isoliert 
bezeichnen. Was nun die azentrisch isolierten Arme betrifft, so 
haben bereits Romanes und Ewart feststellen können, daß diese bei 
Uraster rubens ebenso schnell aus Rückenlage wieder umzuwenden ver- 
mögen, wie das intakte Tier, während die einzelnen Arme von Astro- 
pecten aurantiacus dazu nicht immer imstande seien. Preyer schreibt 
dagegen den isolierten Armen von Astrop. aurantiacus und pentacanthus 
diese Fähigkeit zu, die er ferner auch bei anderen Arten, so bei Asterias 
glacialis, bestätigen konnte. Auch nach meinen Versuchen drehen 
azentrisch isolierte Arme von Asterias glacialis ohne weiteres durch 
Aufwickeln von der Armspitze aus um, indem zuerst an dieser die aus- 
gestreckten Füßchen zum Boden Fühlung gewinnen und die dann voran- 
kriechende Armspitze den ganzen Arm zum Herumwälzen brinst. Sorgt 
man aber dafür, daß die Füßchen des zentralen Armendes zuerst den 
Boden gewinnen, so wird umgekehrt die Spitze nachgezogen. Manchmal 
biegt sich auch zuerst die Spitze ventral und aufwärts seitlich, oder der 
ganze Arm wälzt sich erst noch seitlich herum, so daß die Füßchen 

1) Mangold, Arch. f. d. ges. Physiol. 118, 613. 1907. 

®) Mangold, Arch. f. d. ges. Physiol. 123, 19. 1908. 

6* 


84 E. Mangold: 


erst später mit dem Boden Berührung finden. Wird nun der Radial- 
nerv etwa in der Mitte des Armes neurotomiert, so bleibt der Reflex 
meist unvollständig, oder die eine Armhälfte wird günstigenfalls passiv 
von der anderen, die den U.-R. begonnen hat, herumgezogen. Auch 
bei Astropecten aurantiacus sah ich das Manöver gelingen. Es beginnt . 
hier mit Dorsalwärtskrümmen der Armspitze noch ehe die Füßchen 
aus ihrer Ambulacralfurche hervorkommen, um sich im Gegensatze 
zur Angabe vonRomanes und Ewart undJennings doch auch hier 
zu beteiligen. Oder die Umdrehung beginnt mit der Dorsalwärtskrüm- 
mung des zentralen Armendes, wodurch dann der ganze Arm zum Um- 
kippen in der Normallage gebracht wird. Bei Astropecten pentacanthus 
beginnt der U.-R. isolierter Arme mit Einrollen der Spitze, wonach die 
Vollendung des Reflexes nicht immer gelingt und auch, wenn dies der 
Fall ist, vorher noch mehrfaches Hin- und Herdrehen in die Seitenlage 
und wieder zurück erfolgen kann. Oft wird aber die Seitenlage bei- 
behalten. Auch wenn das zu dem Arm gehörige Fünftel der Körper- 
scheibe mit der Nervenringecke im Zusammenhange mit dem Arme 
belassen wird, bleibt bei Astr. pent. die Umdrehung meist unvoll- 
ständig, indem sich die Spitze und der Arm nur ein Stück weit aufrollt. 
Bei Astrop. sgquamatus sah ich immer nur den Beginn der Umdrehung 
von der Armspitze aus ohne Vollendung. Zweifellos ist bei den 
Seesternen die Fähigkeit azentrisch isolierter Arme zum 
U.-R. grundsätzlich vorhanden, bei manchen kann derselbe aber 
nicht vollends zur Ausführung kommen. So bei dem großen Seestern 
Luidia ciliaris trotz der Länge seiner Arme und ihrer Füßchen; hier 
wird die Umdrehung in die Normallage dadurch verhindert, daß ein 
isolierter Arm stets in starke dorsale Krümmung bis zur Aufrollung gerät, 
so daß er in Seitenlage umkippt, ohne daraus trotz der den U.-R. einleiten- 
den Bewegungen der Füßchen aktiv in die Bauch- oder Rückenlage 
zurück zu können. Auch bei Einzelarmem der kleinen Asterina gibbosa 
sah ich meist keinen Erfolg der Umdrehung aus Rückenlage, und zwar 
wie ich glaube, auch hier wie bei Luidia vorwiegend aus rein mechani- 
schen Gründen, da bei Asterina ein abgeschnittener Arm ein fast gleich- 
seitiges Dreieck bildet, in dem für die Aufrollung in der Längsrichtung 
eine zu geringe Beweglichkelt und ein Mißverhältnis zwischen der füh- 
renden Längsachse und der ebenso langen Querachse besteht. Der 
positive Ausfall des U.-R, bei Abtrennung eines Armes mit daran ver- 
bleibender Nervenringecke ist dementsprechend wohl zum großen Teil 
auf die dadurch erfolgende Verlängerung des Präparates und nicht auf 
die bei den anderen Seesternen ja auch nicht für den U.-R. erforderliche 
Nervenringecke zurückzuführen. Nach Preyers Angaben sollten sich 
selbst derartige Arme von Asterina nicht dauernd in der Ventrallage 
halten können. 


Der Umdrehreflex bei Seesternen und Schlangensternen. S5 


2. Schlangensterne. 


Bei den Ophiuriden ist die Frage, ob auch hier der einzelne ab- 
getrennte Arm nur mit seinem Radialmark und azentrisch noch 
imstande ist, den U.-R. auszuführen, nicht leicht experimentell zu be- 
urteilen. Es kann bei diesen Tieren nämlich schon infolge von Durch- 
trennung des Nervenringes oder der Radialnerven eines oder mehrerer 
Arme oder durch Abschneiden eines oder mehrerer Arme eine außer- 
ordentliche Verlangsamung oder Verhinderung der Ausführung des U.-R. 
auftreten, während bei den Asteriden in solchen Fällen die noch funk- 
tionsfähigen Arme bei der Umdrehung meist die funktionsunfähigen 
passiv mitschleppen. Nach Preyer würden schon Ophioglyphen und 
Ophiodermen, die durch Abtrennung von 3 Armen zu Zweiarmtieren 
gemacht werden, nur noch selten zum Ziel der Umdrehung gelangen 
und sich sonst auf vergebliche Umdrehungsversuche beschränken; er 
zieht daraus den Schluß, daß bei den Ophiuriden die Erhaltung des 
zentralen Nervenringes für die Selbstwendung notwendig ist. Aber 
selbst bei Erhaltung desselben sollen einarmige Tiere die Selbstwendungs- 
versuche zwar energisch fortsetzen, dabei aber bald in die Bauch- und 
dann doch wieder in die Rückenlage zurückgelangen. Hiernach würden 
an solchen Tieren Versuche über den U.-R. von einzelnen mit oder ohne 
die Nervenringecke isolierten Armen eigentlich aussichtslos und über- 
flüssig erscheinen. Doch bin ich auf Grund zahlreicher Versuche an Ophio- 
dermen und Ophioglyphen, den gleichen Versuchstieren, wie sie Preyer 
verwandte, zu wesentlich anderen Ergebnissen gelangt, die auch mit 
den Beobachtungen an den hinsichtlich ihres Nervensystems ja gleich- 
artig organisierten Asteriden übereinstimmen. 

Zmuächst ergeben meine Versuchsprotokolle, daß ich in einer Reihe 
von 12 Versuchen bei Ophioglypha lacertosa, auch nach Abtrennung 
von 1, 2, 3 oder 4 Armen, also bei 4armigen, 3- ‚2- und larmigen Tieren, 
bei denen die Körperscheibe mit Nervenring erhalten war, ausnahmslos 
die Auslösung und Ausführung des U.-R. vollkommen erhalten fand. 
Ebenso bei zehn I- oder 2armigen Exemplaren von Ophioderma lon- 
sicauda. Ferner bei einer Ophiogl. mit 4 Armstummeln und dem 5. an 
seiner Basis neurotomierten, also funktionell isolierten Arm, bei einer 
2armigen Ophiod., deren einer Arm neurotomiert war und beim U.r. 
den anderen durch die mangelnde Koordination hindern mußte, ferner 
bei einer ganzen Ophiod. mit Neurotomie eines Armes. Selbst bei 
einarmigen Ophiodermen mit Neurotomie des Armes gelang der U.-R. 
noch stets, wenn die Durchschneidung des Radialnerven in einiger Ent- 
fernung von dem Rande der Körperscheibe ausgeführt war, während 
er nur noch gelegentlich gelang, wenn die Neurotomie im proximalen 
Armteil an seiner Basis bis diesseits des 12. Armwirbels lokalisiert war. 
Ebenso wurde der U.-R. noch ausgeführt von 3 Ophiodermen, die 


86 E. Mangold: 


noch aus zwei zusammenhängenden Armen mit den dazugehörigen 
Nervenringecken, also aus ?/, des ganzen Tieres bestanden. Wurde 
der eine Arm dann an der Basis neurotomiert, so hinderte er das Zu- 
standekommen des U.-R., der aber nach seiner völligen Abtrennung 
im übrigen Tiere, bestehend aus ?/, der Körperscheibe und einem Arm, 
wieder prompt ausgeführt wurde. In gleicher Weise kam der U.-R. bei 
einer 2armigen Oph. nicht zustande, nachdem die beiden Arme mittelst 
Durchschneidung des Nervenringes zwischen ihnen funktionell getrennt 
waren, weil die wechselnden Bemühungen das Tier bald rechts bald 
links hinüberzogen. Nach Abschneidung des einen Armes war dann das 
Umdrehen im übrigen 1-Arm-Tier unbehindert. Am ganzen Tier hin- 
derte die Durchschneidung des Nervenringes nicht die Umdreh- 
ung, obwohl die beiden dadurch funktionell getrennten Nachbararme 
nicht mehr koordiniert benutzt wurden. Es ergibt sich, daß der Umdreh- 
reflex der Ophiuriden auch durch viel weitgehendere Verstümmelungen 
als Preyer sie vornahm, im Gegensatz zu dem Ergebnis dieses For- 
schers keineswegs nachhaltig geschädigt und nur in gewissen Fällen durch 
funktionell abgetrennte, aber noch im anatomischen Zusammenhang be- 
findliche Arme mechanisch behindert wird. Vielleicht hat Preyer die 
Tiere bei seinen Versuchen im Wasserbecken mit glattem Glas- oder 
Metallboden gehalten und sie dadurch in mechanisch ungünstigere Be- 
dingungen für das Gelingen des U.-R. gebracht, als sie die Sandbecken 
boten, in denen ich meine Tiere untersuchte. 

Unizentrisch isolierte Radien von Ophioglypha können nach Preyer 
(S. 102] nach vielen ungeordneten Bewegungen noch selbst wenden, 
eine Erfahrung, mit der die oben erwähnte weitere Angabe von Preyer, 
daß einarmige Tiere mit erhaltenem Nervenring nicht richtig in die Nor- 
mallage zurückfinden, in Widerspruch steht. Im Gegensatz zu dieser 
schon im vorhergehenden widerlegten Angabe konnte ich die Erfahrung 
am unizentrischen Strahl im allgemeinen bestätigen. Der U.-R. kommt 
bei derartigen Armen von Ophioderma teils durch ein Herumwälzen des 
Körperrestes, teils durch die Bewegungen des schlangengleichen Armes 
zustande. Allerdings ist dabei ein bedeutende Unsicherheit zu beob- 
achten, die sich oft in unvollständiger Umdrehung oder perversem 
Weiterwälzen in die Rückenlage zurückäußert. Bei Ophioglypha gelingt 
die Umdrehung auf dem Sandboden gewöhnlich überhaupt nicht, wohl 
aber während des Falles im Wasser, worauf wir noch im Zusammen- 
hange zurückkommen. Dieses Verhalten des unizentrisch isolierten 
Armes in Rückenlage am Boden ist bei Ophioglypha ganz das gleiche 
wie bei einzelnen azentrisch isolierten Armen, ‚während diese nun auch 
beim Fall ins Wasser nicht mehr zur Umdrehung aus Rückenlage ge- 
langen. Die Ursache für das Versagen des U.-R. auf dem Boden liegt 
hier beim unizentrisch wie azentrisch isolierten Arme m. E. in der fast 


Der Umdrehreflex bei Seesternen und Schlangensternen. 87 


ausnahmslos eintretenden Ventralkrümmung, die solche Arme von 
Ophioglypha annehmen und mit einer gewissen Starre beibehalten, so 
daß sie dadurch schon rein mechanisch an der Umdrehung verhindert 
sind, auch wenn der nervöse Ablauf des Reflexes ungestört ist, worüber 
sich aber infolge mangelnder Reaktion kein sicheres Urteil gewinnen läßt. 

Auch bei Ophioderma longicauda tritt oft nach Autotomie oder 
. sonstiger Abtrennung eines Armes oder Erschütterung durch Hin- 
werfen eine nachhaltige Starre ein, die an die bei der tierischen Hypnose 
niederer Tiere vorkommende Katalepsie erinnert und wodurch dann 
die Ausführung des etwa auftretenden U.-R. verhindert wird. Ferner, 
kommt die auch schon von Preyer für die Asteriden und Ophiuriden 
hervorgehobene Erfahrung in Betracht, daß diese Tiere bei längerem 
Aufenthalt im Aquarium allmählich Schädigung und Verlust des Selbst- 
wendungsvermögens zeigen. Wenn ich nun aber die Versuche an ganz 
frischen Ophiodermen anstellte und an solchen Armen, die nichts von 
jener Starre zeigten, so konnte ich z. B. bei 7 von 8 azentrisch isolierten 
Armen zweier derartig zerteilter Tiere den U.-R. prompt erhalten finden 
und beobachten, wie diese Arme in völlig normaler Lage und Haltung 
mit der in typischer Weise etwas dorsal aufwärts gekrümmten Spitze 
und gespreizten Stacheln liegen blieben. 

Nach diesen und weiteren positiven Ergebnissen bin ich trotz einer 
Anzahl negativer Erfolge mit anderen isolierten Ophiodermaarmen, die 
den U.-R. unvollkommen ausführten oder aus der erreichten Bauchlage 
in die Rückenlage weiter drehten, zu dem Schlusse gekommen!), daß 
wie bei den Seesternen, so auch bei den Schlangensternen 
die Fähigkeit zum Umdrehreflex auch noch dem ohne die 
zugehörige Nervenringecke isolierten einzelnen Arme 
innewohnt, also wie bei den Asteriden so auch bei den Ophi- 
uriden das Zentrum für den U.-R. des einzelnen Armes im 
Radialnerven liegt. Der schon nach der sonst gleichartigen Gestal- 
tung und Funktionsverteilung des Nervensystems der See- und Schlan- 
gensterne unwahrscheinliche, von Preyer zwischen beiden aufgestellte 
grundsätzliche Gegensatz hinsichtlich des U.-R. darf als ausgeglichen 
gelten. 


VI. Die Receptoren für den Umdrehreilex. 


Die bis hierher wiedergegebenen Versuche an unverletzten See- und 
Schlangensternen wie an verschiedenartig operierten und verstümmelten 
Tieren und abgetrennten Einzelarmen zeigen, daß die Auslösung und 
Ausführung des U.-R. im einzelnen Arm vor sich geht. Das Reflex- 
zentrum liest im Radialnerv, während dessen Verbindungsstelle (Nerven- 
ringecke) mit dem zentralen Nervenring keine besondere Rolle dabei 


!) Siehe Mangold, Zeitschr. f. allg. Physiol. 9, 142. 1909. 


S8 E. Mangold: 


spielt. Der zentrale Nervenring stellt die Koordination der besonders 
bei den Seesternen oft einzeln oder gruppenweise unabhängig beginnen- 
den Umdrehbewegungen der Arme her. Als Effektoren sind die Füß- 
chen und die Armmuskulatur in ihrer verschiedenen Beteiligung leicht 
feststellbar. 

Weniger leicht ist die Frage nach den Receptoren für den U.-R. zu 
lösen. Offenbar müssen dieselben in den Armen selbst liegen. Dies 
schließt zunächst nicht aus, daß sich auch die zentrale Körperscheibe 
in irgendwelchen Teilen, z. B. ihrer dorsalen Hautbedeckung, an der 
‚sensiblen Rezeption der zum U.-R. erforderlichen Reize beteiligt. 


1. Optische und statische Sinnesorgane. 


An den Armspitzen befinden sich bei den Asteriden die augenähn- 
lichen Organe. , Daß diese nicht als Receptoren für den U.-R. not- 
wendig sind, konnten bereits Romanes und Ewart erweisen, da iso- 
lierte Arme von Echinaster sepositus auch nach Abschneiden der Arm- 
spitzen die Selbstwendung vollzogen. Das gleiche habe ich bei Einzel- 
armen von Asterias glacialis und bei Asteropecten pentacanthus nach 
Abschneiden der Armspitzen feststellen können. Daß irgendwelche 
sonstige sensible Endigungen an den Armspitzen auch bei den Ophiuriden 
nicht für die Rezeption des U.-R. erforderlich sind, zeigten die zahl- 
reichen Versuche an Ophiodermen und Ophioglyphen, die mit verstüm- 
melten Armen den U.-R. noch prompt vollziehen. Nun besteht ferner 
eine beträchtliche Liehtempfindlichkeitin der Hautder Schlangen- 
sterne!) 2) und Seesterne®)*) und nach C. von Hess?) auch in den 
Füßchen der Seesterne. Hiernach erschien es denkbar, daß auch die 
Belichtungsänderungen beim Übergang von normaler Bauch- in Rücken- 
lage an der Auslösung des Umdrehreflexes beteiligt sind. Doch wird 
im folgenden gezeigt werden, daß die Füßchen nicht als Rezeptoren 
für den U.-R. in Betracht kommen, und gegen die Beteiligung der Licht- 
empfindlichkeit der Haut spricht schon die Tatsache, daß bei Asterina 
der Umdrehreflex wie selbst die negative Geotaxis durch völligen Licht- 
abschluß nicht beeinträchtigt werden. 

Als spezifisch statische Sinnesorgane sind bei den Echino- 
dermen nur die Sphäridien der Seeigel beschrieben, die sich jedoch bei 
experimenteller Prüfung als entbehrlich für den U.-R. erwiesen‘), ferner 
die Statocysten der Synaptiden®). 

. Vexküll, Zeitschr. f. Biol. 46, 4. 1905. 


IN 

seele, Zeitschr. f. allg. Physiol. 9, 119. 1909. 
3) Ebenda 122. 
) 
) 


1 


4 


Plessner, Zool. Jahrb. f. allg. Zool. u. Physiol. 33, 361. 1913. 
C. v. Hess, Arch. f. d. ges. Physiol. 160, 1. 1914. 

6) Siehe Mangold, Gehörsinn und statischer Sinn. Winterstein, Handbuch 
d. vergl. Physiol. 4, 856 und 905. 1912. 


5 


Der Umdrehreflex bei Seesternen und Schlangensternen. sg 


Eine Reizwirkung der Lageveränderung als solche, etwa durch Ver- 
lagerung des Druckes von Inhaltskörpern in den Gewebezellen, wie sie 
offenbar bei der negativen Geotaxis von Asterina eine Rolle spielt, 
würde hier erst dann in Betracht gezogen werden dürfen, wenn sich 
sonst keinerlei Receptoren für die mit der Lageveränderung verbundenen 
Reize auffinden ließen; sie ist, wie aus den weiteren Ausführungen her- 
‚vorgehen wird, nicht nachweislich beteiligt. 


2. Mechanische Reizung der Rückenhaut. 


Nun ist mit der Verbringung in Rückenlage, falls ein Tier danach 
mit der Rückenseite auf eine feste Unterlage zu liegen kommt, ausnahms- 
los eine mechanische Reizung der in der Rückenhaut des gesamten 
Körpers gelegenen sensiblen Elemente verbunden. Diese Reizung er- 
folgt teils durch das mehr oder minder starke Aufprallen am Boden, 
teils durch die folgende Dauerberührung des Rückens mit demselben; 
sie kann erst aufhören, wenn das Tier durch Umdrehung in die normale 
Bauchlage die ganze Rückenseite wieder frei bekommen hat. 

Hiernach entsteht die Frage, ob diese mechanische Reizung es 
ist, die den U.-R. auslöst, und ob dementsprechend die Receptoren 
in sensiblen Elementen der Rückenhaut zu suchen sind. Zur 
Lösung dieser Frage habe ich die folgenden Untersuchungen angestellt. 


a) Der Dorsalreflex. 


Um die Reizwirkung der Berührung mit der Unterlage bei einem 
auf dem Rücken liegenden Tiere beurteilen zu können, müssen wir 
zunächst wissen, welche Reaktionen die mechanische Reizung der 
Rückenhaut bei normaler Lage der Tiere auslöst. Hier ist der ‚‚Dorsal- 
reflex‘“ zu nennen, den ich eingehend am Seestern Palmipes membrana- 
ceus!) untersucht habe, und der bei Asteriden und Ophiuriden weit 
verbreitet ist. Er besteht in der dorsalen Aufwärtskrümmung der Arme 
und kann verschiedenartig hervorgerufen werden, so durch mechanische 
oder elektrische Reizung der Rückenhaut. Auch starke chemische 
Reizung des ganzen Tieres löst diese Reaktion aus, wie ich z. B. bei 
Asterina gibbosa beim Einlegen in Formalinlösung, bei Palmipes durch 
Tabakrauch und bei Ophiopsila annulosa in starker Chloralhydrat- 
lösung beobachten konnte. Die mechanische Reizung kann im Er- 
greifen des Tieres (Astrop. pentac.), in einem Schnitt in die Rückenhaut 
der Körpermitte (Astrop. aurant.), in Stechen oder Beklopfen bestehen. 
Auch durch Autotomie eines Armes und durch Zerstörung des Radial- 
nerven eines Armes durch Auskratzen der Ambulacralfurche kann der 
Dorsalreflex, auch am übrigen Tiere ausgelöst werden. 


2) Mangold, Arch. f. d. ges. Physiol. 123, 9. 1908. 


90 E. Mangold: 


Besonders leicht und regelmäßig läßt sich der Dorsalreflex durch 
leises Beklopfen der Rückenhaut der Körpermitte oder der Arme her- 
vorrufen. Bei nicht zu schwacher Reizung erfolgt die Reflexausbreitung 
in allen Armen, bei schwächerer kann sie auf den gereizten Arm lokali- 
siert bleiben. 

Es scheint sich um einen Abwehrreflex zu handeln. Hierauf deutet, 
daß er bei Tieren wie Ophiothrix fragilis, die auf Reizung des Rückens 
hin schnell zu fliehen suchen, zunächst ausbleibt und erst allgemein 
auftritt, wenn das Tier an einem Arme festgehalten wird. Wenn man 
bei Ophioglypha, für die bereits v. Uexküll!) die Dorsalkrümmung 
der Arme bei Reizung der Oberseite erwähnt, den Scheibenrücken mit 
einem Glasstabe leise berührt, so erfolgt gewissermaßen ein Wegwischen 
desselben durch die hoch herüberschlagenden Arme. Wird Ophioderma 
an einem Arm gehalten, so hebt sich durch die Krümmung dieses Armes 
die Körperscheibe bis zur wagerechten Lage und besonders die beiden 
Nachbararme schlagen hoch herauf. 

Allgemein läßt sich beobachten, daß die Ausbreitung auch dieses 
Reflexes durch die Armnerven und den Nervenring vermittelt wird. 
Nach Neurotomie eines Radialnerven bleibt die Ausbreitung aus, wohl 
aber zeigt der neurotomierte Arm bei mechanischer Reizung seines 
Rückens noch allein prompt die reflektorische Dorsalkrümmung. Wird 
ein Arm degegen neurektomiert, so bleibt der Dorsalreflex dauernd in 
demselben aus. 

Der Dorsalreflex hat demnach genau wie der Umdreh- 
reflex sein Zentrum im Radialnerven und bedarf des zentralen 
Nervenringes nur für die Ausbreitung auf andere Arme, wie ich bereits 
am Palmipes zeigen konnte. 

Bei Ophiopsila habe ich noch besonders in einer Reihe von Ver- 
suchen nachweisen können, daß der. D-R. bei einzelnen unizentrisch 
isolierten Armen (mit Nervenringecke) auf Berühren des Armrückens 
oder des Scheibenrestes noch prompt erhalten ist. Dagegen habe ich 
ihn, in allerdings nur einigen wenigen Versuchen, an azentrisch isolierten 
Einzelarmen von Ophioglypha und Ophioderma nicht mehr gesehen. 

Ich will noch erwähnen, daß der D.-R. durch wiederholte Reizung 
auch auf eine gewisse Zeitdauer tonisch erhalten werden kann, und daß 
bei den meisten Schlangensternen schon in der Ruhe eine Aufwärts- 
krümmung der äußersten Armspitzen besteht, mit denen die im Sande 
eingegrabenen Tiere dann allein noch hervorschauen. Der D.-R. ist daher 
bei diesen sozusagen eine enorme en der im Beginn schon vor- 
handenen Armkrümmung. 

Eine außerordentliche Bedeutung hat nun dieser Dorsalreflex 
als Einleitung für den Umdrehreflex aus Rückenlage. Wir 


2) Ik & 


Der Umdrehreflex bei Seesternen und Schlangensternen. 91 


haben ja ausführlich davon gesprochen, daß der U.-R., sofern er nicht, 
wie z. B. meist bei Asterias glacialis, allein mit dem Vorstrecken und 
Bodenfassen der Armspitzenfüßchen beginnt, dem dann das Nach- 
ziehen und Herumwälzen des übrigen Tieres folgt, durch eine dorsale 
Krümmung der Arme eingeleitet wird, die, besonders bei den Schlangen- 
sternen in charakteristischer Weise auf den Boden aufgestemmt, dem 
Körper das Herumschlagen nach einer Seite ermöglichen. 

Der Dorsalreflex ist also ein Teil des gesamten Umdreh- 
reflexes. Hierdurch wird schon sehr wahrscheinlich, daß die Reize, 
die den Dorsalreflex in Normallage hervorrufen, auch die gleichen sind, 
die ihn bei Rückenlage auslösen und die somit auch als die auslösenden 
Reize für den U.-R. anzusprechen sind. Dies sind die mechanischen 
Reizungen der sensiblen Elemente der Rückenhaut durch die erste 
Berührung und weiter bestehenden Druck, der in der Rückenlage durch 
den Boden bedingt ist. 


b) Der Umdrehreflex beim Fall im Wasser. 


Daß tatsächlich die mechanische Reizung durch Berührung und 
Druck den zum weiteren U.-R. führenden D.-R. auslöst, läßt sich in be- 
sonders eindringlicher Weise zeigen, wenn beide während. des Falles 
im Wasser erfolgen. Zugleich läßt sich dabei durch entsprechende 
Versuche der Druck abstufen und bis zu einem gewissen Grade aus- 
schalten, so daß allein der etwaige Reiz der Lageänderung an sich 
übrigbleibt. 

Zu diesen Versuchen eignen sich besonders die Schlangensterne, da 
bei ihnen der U.-R. auch während des Absinkens im Wasser beobachtet 
werden kann und sich allein durch die flinken Armbewegungen voli- 
zieht, während die schwerfälligen Asteriden fast stets den U.-R., der bei 
ihnen ja im wesentlichen durch die Füßchenbewegung ausgeführt wird, 
erst beginnen, wenn sie am Boden angelangt sind; auch der D.-R. erfolgt 
bei ihnen ja viel weniger schnell und mühsamer als bei den Ophiuriden. 
Daher ist es meist Zufall, wenn ein zunächst in Rückenlage im Wasser 
zu Boden fallender Seestern durch Aufschlagen auf eine Kante mit 
Übergewicht nach einer Seite gleich in die Normallage hinübersinkt. 
Wenn man aber etwa einen durch das Ergreifen im Dorsalreflex der 
Arme befindlichen Astrop. pentac. in Rückenlage auf das Wasser bringt 
und durch eine genügende Tiefe von 40 cm fallen läßt, so dreht er sich 
rein mechanisch durch die Schwerpunktsverlagerung infolge der Dorsal- 
krümmung der Arme herum und kommt in Normallage zu Boden. 

Diese rein mechanische Wirkung des D.-R. im Sinne der Selbstwendung 
während des Falles im Wasser läßt sich nun viel prägnanter bei den 
Schlangensternen im einzelnen untersuchen. Wird eine Ophioderma 
oder Ophioglypha mit dem Rücken nach unten ins Wasser geworfen, 


92 E. Mangold: 


so sieht man prompt die Arme dorsal schlagen und in dieser Stellung 
verharren, wodurch die rein mechanische Umdrehung erfolgt und das 
Tier mit dem schwersten Teil, der Körperscheibe, mit der Mundseite 
zu unterst auf dem Boden anlangt, sich dadurch also hier gleich in der 
normalen Bauchlage befindet. Bei Ophioglypha konnte bereits v.Uex- 
küll beobachten, daß zum Umdrehen im Wasser das bloße Rück wärts- 
schlagen der Arme genügt, während am Boden noch eine Gehbewegung 
hinzukommen muß. Daß beim Fall im Wasser, wenn erst die Dorsal- 
krümmung der Arme vorhanden ist, für die weitere Umdrehung allein 
das mechanische Moment der Schwerpunktslage verantwortlich ist, 
läßt sich dadurch erweisen, daß auch eine tote Ophioglypha, der die 
Arme dorsal gebogen sind, während des Absinkens im Wasser umdreht 
und mit dem ventralen Mundfeld zu unterst auf dem Boden ankommt; 
dies hat v. Uexküll in einer chronophotographischen Aufnahme ab- 
gebildet. Wird dagegen eine lebende Ophioglypha vor dem Versuche 
durch Aufwerfen auf die Tischplatte in reflektorische Starre versetzt, 
so fällt das Tier, weil dann der D.-R. ausbleibt und die Arme in hori- 
zontaler Auslage verharren, auch in unveränderter Rückenlage im 
Wasser zu Boden. 

v. Uexküll konnte bereits aus Versuchen, bei denen sich Ophio- 
glypha in sonst reizfreier Rückenlage beruhigte, schließen, daß offenbar 
keine etwa noch unbekannten statischen Apparate für den Umdreh- 
reflex wirksam sind. Daß auch sonst tatsächlich nicht schon allein 
die Umdrehung in Rückenlage an sich den D.-R. auslöst, daß hierzu 
vielmehr ein mechanischer Reiz erforderlich ist, und daß dieser beim 
Fall im Wasser im Gegendruck desselben besteht, konnte ich an Ophio- 
slypha und Ophioderma nachweisen. Hält man das Tier vorsichtig 
mit Rücken nach unten durch seitliches Anfassen der Scheibe zwischen 
den Armen fest, so sinken die Arme der Schwere folgend etwas im Sinne 
der Dorsalkrümmung herab. Daß dies aber keine aktive Armkrümmung 
ist, geht daraus hervor, daß diese geringe Biegung sich zum Teil wieder 
ausgleicht, wenn man das Tier nun vorsichtig und langsam, ohne es 
loszulassen, ins Wasser eintaucht, so daß die Arme vom Wasser getragen 
sich wieder fast wagerecht zurückbiegen. Läßt man jetzt los, so sinkt 
das Tier hinab und es erfolgt gleich im Beginne dieses Absinkens ein 
kräftiger aktiver Dorsalreflex in den Armen, der den Schlangenstern 
während des weiteren Fallens zum Umdrehen bringt. 

Der Gegendruck des Wassers als auslösender Reiz für den 
Dorsalreflex beim Fall in Wasser läßt sich ferner zeigen, wenn 
Ophioglypha mit Rücken nach unten an einer Stecknadel festgehalten 
wird, die ihr durch die Mitte der Scheibenhaut und zur Mundöffnung 
wieder heraus durchgestochen wird. Senkt man dann das Tier im 
Wasser tiefer, so erfolgt, wie v. Uexküll zeigte, keine Reaktion. Senkte 


Der Umdrehreflex bei Seesternen und Schlangensternen. 93 


ich ein solches Tier dagegen mit schnellerer Handbewegung oder ließ 
es fallen, so erfolgte prompt Dorsalreflex. Während aber beim freien 
Fall der Dorsalreflex tonisch wird, bis das Tier, unten in Bauchlage an- 
gelangt, die Arme wieder senkt, besteht der D.-R. beim raschen, aber 
sofort wieder angehaltenen Senken des festgehaltenen Tieres nur in 
einmaligem Dorsal- und wieder Zurückschlagen der Arme. Auch hierin 
‘besteht also völlige Übereinstimmung mit dem Dorsalreflex bei Aus- 
lösung in Normallage durch läng r dauernden oder nur einmaligen 
mechanischen Reiz der Rückenhaut. 

Der U.-R. wird demnach nicht durch den Reiz der umge- 
kehrten Lage ausgelöst; er muß durch einen Dorsalreflex 
eingeleitet werden, zu dem beim Fall im Wasser keine 
weitere Bewegung eintritt. 

Den gleichen Verlauf zeigen die Versuche mit umgekehrt Festhalten 
. und Fallenlassen im Wasser auch bei Ophioderma. Nur bedarf bei 
dieser die mechanische Umdrehung infolge der längeren und niemals 
so gleichmäßig gekrümmten Arme einer etwas längeren Zeit bzw. einer 
längeren Wasserstrecke und das Tier kommt daher bei geringerer Fall- 
strecke meist noch nicht in völliger Normallage am Boden an, jedoch 
in der Regel so, daß es ohne weiteres auf die Bauchseite vollends herüber- 
sinkt. 

Je weniger gleichmäßig gekrümmt und je mehr unregelmäßig ge- 
wunden die langen Arme eines Schlangensternes sind, um so weniger 
prompt erfolgt die Umdrehung aus Rückenlage beim Fall im Wasser. 
Dies trifft u. a. für Amphiura filiformis zu, die sonst auch den Dorsal- 
reflex auf Berührung der Scheibe zeigt und auch durch wiederholte 
. Reizung im tonischen D.-R. gehalten werden kann. Und auch bei der 
leuchtfähigen Ophiopsila annulosa gelingt das Umdrehen aus Rücken- 
lage beim Absinken auf einer kurzen Strecke nur dann, wenn die langen, 
oft stark zusammengeknäuelten Arme sich beim Beginn des Falles in 
einigermaßen gleichmäßiger Ausbreitung befinden. Dagegen konnte 
ich bei der schnell beweglichen Amphiura squamata, die den Dorsal- 
reflex auf mechanische Reizung schon gleich nach dem Ausschlüpfen 
deutlich zeigt, auch beobachten, wie die Tiere, in Rückenlage aufs 
Wasser gelegt, zuerst mit ausgebreiteten Armen absinken, dann aber 
gleich ein prowpter Dorsalreflex in allen Armen einsetzt, durch den schon 
auf kurze Fallstrecke die Umdrehung zustande kommt. 

Bei Ophioglypha, die den U.-R. beim Fall im Wasser am schlag- 
fertigsten zeigt, wird diese Reaktion auch durch weitgehende Verstüm- 
melungen oder Nervenverletzungen nicht vernichtet. Tiere mit nur 
noch 3,2 oder 1 Arm vermögen durch den D.-R.der verbliebenen Arme, 
der auch hier deutlich durch den Gegendruck des Wassers ausgelöst 
wird, in Normallage herumzuschwingen. Ebenso gelingt dies noch den 


94 E. Mangold: 


Fünfteltieren, die nur aus einem Arm mit Nervenringecke bestehen; hier 
führt ein starker D.-R. sicher zum U.-R., der, wie wir sahen, von solchen 
unizentrischen Armen am Boden nicht mehr regelmäßig ausgeführt wird. 

Bei azentrisch isolierten Armen jedoch kommt infolge der in diesen 
meist bestehenden starken Ventralkrümmung der U.-R. auch beim 
Fallen im Wasser fast niemals zustande. 

Die Durchschneidung des zentralen Nervenringes kann bei Ophio- 
glypha an zwei Stellen erfolgen, ohne daß eine Störung des U.-R. im 
Wasser eintritt, da die hierbei in nervöser Verbindung bleibenden Arm- 
gruppen noch koordiniert einen wirksamen D.-R. ausführen. 

Einzelne neurotomierte Arme eines sonst unverletzten Tieres bleiben 
dagegen während des von den anderen ausgeführten D.-R. im Wasser 
und der dadurch erfolgenden Umdrehung meist in ventraler Krümmung 
- unbeteilist. 


3. Die Receptoren liegen in sensiblen Elementen der 
Rückenhaut. 


Aus allen angeführten Untersuchungen über den Umdrehreflex auf 
Sandboden oder beim Fallen im Wasser ergibt sich die physiologische 
und biologische Hauptbedeutung des Dorsalreflexes als 
Einleitung zum Umdrehreflex, als eine Bewegung, an die sich 
die weiteren Arm- und Füßchenbewegungen beim Umdrehen am Boden 
anschließen, während sie beim Absinken im Wasser allein schon als 
Vorbereitung der weiterhin rein mechanisch sich vollziehenden Um- 
drehung ausreicht. Hierdurch erwächst dem Tiere der Vorteil, wenn 
es vom Haften am aufrechten Tuffstein abgerissen auf einen tiefer 
liegenden Stein oder den litoralen Sandboden fällt, daß es hier bereits _ 
in normaler Lage ankommt und daher sofort sich eingraben oder vor 
neuer Gefahr weglaufen kann. 

Es ergibt sich weiter, daß sich die Frage nach der Auslösung des kom- 
plizierten Umdrehreflexes auf die nach der des einfacheren Dorsal- 
reflexes reduziert. Die Receptoren für den U.-R. sind offenbar die glei- 
chen, die den mechanischen Reiz aufnehmen, der zum D.-R. führt. Und 
auch die mechanischen Reize, die letzteren bewirken, müssen als aus- 
lösende Reize für den U.-R. angesehen werden, da dieser beim Absinken 
im Wasser allein aus dem D.-R. besteht und im Falle der Rückenlage 
am Boden nur als Fortsetzung desselben sich vollzieht. 

Da nun der D.-R. abgesehen von seiner Herbeiführung durch all- 
gemeine chemische Reizung, bei der die Angriffspunkte derselben nicht 
ohne weiteres ersichtlich waren, den adäquaten Reiz in der mechanischen 
Reizung der Rückenhaut, sei es durch Berührung oder Wasserdruck, 
besitzt, so liegt es nahe, auch seine Receptoren in der Rücken- 
haut zu suchen. 


Der Umdrehreflex bei Seesternen und Schlangensternen. 95 


In diesem Sinne wurden die weiteren Versuche angestellt, bei denen 
auch wieder zugleich auf die etwaige Beteiligung der Füßchen als Re- 
ceptoren für den U.-R. geachtet wurde. 

Auch hier wie bei den Umdrehversuchen beim Fallen im Wasser 
zeigte Ophioglypha ein eindeutiges Verhalten. 

Stellt man auf dem Sandboden eines Seewasserbeckens einen kleinen 
kegelförmigen Sandhaufen her und lest eine Ophioglypha, die vier be- 
trächtlich verkürzte und einen an der Armbasis neurotomierten Arm 
von normaler Länge besitzt, in Rückenlage mit der Körperscheibe auf 
den Sandkegel, so daß die vier normalen Armstummel den Boden nir- 
gends berühren, so beruhigen sich die Bewegungen derselben und das 
Tier bleibt liegen, ohne daß der U.-R. oder auch nur der Beginn dazu 
erfolgt. Zieht man das Tier dagegen vorsichtig an dem neurotomierten 
Arme auf den Sandboden herunter oder legt es von vornherein in Rücken- 
lage auf diesen, so treten sofort starke Dorsalkrümmungen der Arme 
ein und der U.-R. wird häufig trotz des hindernden neurotomierten 
Armes durchgeführt. Wird es wieder auf den Sandkegel heraufgezogen, 
so beruhigt es sich wieder in Rückenlage, sobald die normalen Arme 
der Bodenberührung entzogen sind. Wird nun aber die Rückseite eines 
Armes von unter her berührt, so erfolgt in normaler Weisein dem Armpaar 
gegenüber der Ansatz zum Fluchtreflex; und sobald hierdurch die Arme 
den Sand berühren, gibt es wieder intensivere Bewegungenund Umdreh- 
reflex. Das gleiche tritt ein, wenn die Arme durch mechaniche Reizung 
zum D.-R. gebracht werden und sie hierdurch selbst den Boden berühren. 

v. Uexküll beschreibt einen Versuch, in dem Ophioylypha nach 
langsamem Senken in Wasser bis zur Berührung des Bodens mit dem 
Rücken auch dann noch in Rückenlage verharrte. Hierbei handelte 
es sich offenbar um einen Fall von tierischer Hypnose, demzufolge der 
Lagekorrektionsreflex unterblieb, oder die Berührung war nur mit dem 
Rücken der Scheibe erfolgt, wobei auch in meinen Versuchen keine 
Umdrehung erfolgte. 

Aus diesen Versuchen geht hervor, daß 1. die Rückenlage 
an sich nicht denU.-R. auslöst, daß 2. dermangelndeKontakt 
der Füßchen, die dabei größtenteilsins Wasser vorgestreckt 
sind und sich wechselnd einziehen und ausstülpen, nicht 
den U.-R. durch Stereotropismus hervorrufen, daß 3. die 
Berührung der Unterlage allein mit der Rückenhaut der 
Körperscheibe nicht zur Auslösung des U.-R. genüst, daß 
4. die Berührung der Rückenhaut der Arme mit dem Boden 
den UÜ.-R. hervorruft, daß 5. hiernach die Receptoren für den 
U.-R.beiOphioglyphainderRückenhaut der Arme zu suchen 
sind, und daß 6. die Armspitzen hierbei nicht beteiligt zu 
sein brauchen. 


96 E. Mangold: 


Versuche mit Abtragung der Rückenhaut. 


Die ungenügende Wirksamkeit der Scheibenhaut (3.) erscheint aus 
biologischen Gründen durchaus verständlich. Jedenfalls war von vorn- 
herein zu erwarten, daß sie nicht wesentlich am U.-R. beteiligt sein konnte, 
da sie bei vielen Ophiuriden von dem mütterlichen Tiere völlig 
abgeworfen wird, sobald die darin entwickelten Jungen vollständig 
lebensfähig sind, und da dann während der ganzen Zeit der darauf 
folgenden Regeneration der Körperscheibe der U.-R. schwer geschädigt 
sein würde. Mit obigen Versuchen stimmt daher denn auch der weitere 
überein, bei dem man einer Ophioglypha die Rückenhaut der Körper- 
scheine mit der Schere abträgt, ohne daß dadurch der U.-R. am Boden 
oder beim Fall im Wasser geschädigt wird. 

Während die Rückenhaut der Arme sich somit für die Rezep- 
tion des U.-R. als notwendig erwies, zeigte sich durch Versuche mit 
teilweiser, nicht zu weit gehender Enthäutung der Arme, daß diese 
weder die Ausbreitung der Erregung durch den Radialnerven noch die 
Beteiligung derartiger Arme an den gemeinsamen koordinierten Be- 
wegungen des ganzen Tieres bei Fluchtbewegungen wie Dorsal- und 
Umdrehreflex wesentlich beeinträchtigt. 

Auch die Versuche an Seesternen sprechen für die integrierende 
Beteiligung der Rückenhaut an der Rezeption des U.-R. Daß die Ent- 
fernung der Rückenhaut bei Seesternen die Arme nicht der Fähigkeit 
beraubt, sich dorsal zu krümmen, konnte ich bereits früher!) mitteilen, 
woraus sich ergab, daß der Dorsalreflex nicht durch die Hautmuskulatur, 
sondern durch eine interskelettär die Armwirbel verbindende Längs- 
muskulatur zustande kommt. Doch wird bei Enthäutung des Rückens 
der. Dorsal- und Umdrehreflex meist so schwer geschädist, daß dieser 
Ausfall ganz vorwiegend auf die Receptoren für den Reflex bezogen 
werden muß. 

Azentrisch isolierte Einzelarme von Asterias glacialis, die sonst 
noch prompt umzudrehen vermögen, zeigen nach Abtragung der Rücken- 
haut meist keine oder nur unvollkommene Umdrehversuche aus Rücken- 
lage, bei denen auch die Füßchen nicht den Boden erreichen, wodurch 
sie den Arm herüberziehen könnten. Wenn ein solcher Arm aber um- 
dreht, so dreht er ebenso auch wieder weiter in die Rückenlage zurück. 
Der sensible Anteil des Lagekorrektionsreflexes erscheint gestört, und 
die Füßchen haben jedenfalls in dieser Hinsicht keine Bedeutung. 
Letzteres geht auch daraus hervor, daß ein Asteriasarm, der mit Ver- 
bleib der Rückenhaut isoliert wird, den U.-R. aus Rückenlage beginnen 
und vollenden kann, auch wenn man vorher die Füßchen sämtlich weg- 
geschnitten hat. 


1) Arch. f. d. ges. Physiol. 123, 10. 1908. 


Der Umdrehreflex bei Seesternen und Schlangensternen. 97 


Weitere Versuche habe ich noch an Astropecten pentac. angestellt. 
Wird die Rückenhaut von ein oder mehreren Armen und von der Körper- 
scheibe abgetragen, so erfolgt der U.-R. wenn auch stark verlangsamt 
und unter verringerter Beteiligung der geschädigten Arme selbst dann 
noch, wenn nur ein Arm noch die Rückenhaut besitzt. In diesem beginnt 
die Dorsalkrümmung, die seine Spitze mit dem Boden in Berührung 
bringt und so die Aufwicklung des ganzen Tiers in die Normallage her- 
über einleitet. Dabei helfen auch die abgehäuteten Arme durch Dor- 
salkrümmung, Aufstützen der Spitze und weiteres Aufrollen; sie be- 
teiligen sich also koordiniert, doch sieht man nie in ihnen den U.-R. 
beginnen, für diesen besitzen sie offenbar keine Receptoren mehr. 
Die Füßchen kommen als solche auch hiernach offenbar nicht in Be- 
tracht, obwohl sie sonst keineswegs durch die Entfernung der Rücken- 
haut schwer geschädigt oder motorisch inaktiviert zu sein brauchen, 
denn sie können noch an vier enthäuteten Armen eines Astrop. pentac. 
gleichzeitig miteinander und mit denjenigen des fünften unverletzten 
im Sande graben. Wenn die Füßchen oft nach Läsion der Rücken- 
haut längere Zeit eingezogen bleiben, so kann doch die sensible Erschwe- 
rung des U.-R. nach Enthäutung hiernach nicht auf einen Ausfall 
der Füßchen als Receptoren zurückgeführt werden. 

Es geht dies auch aus Versuchen hervor, die in ähnlicher Weise 
wie jene an Ophioglypha so ausgeführt wurden, daß ein vierarmig ent- 
häuteter Astrop. bei frei überhängendem Hautarm auf den Rücken 
gelegt wurde. Auch hierbei kam es erst dann zum Beginn des koordinier- 
ten U.-R., wenn der Hautarm mehr oder minder zufällig mit seiner herab- 
sinkenden Spitze den Boden berührte. Wäre die Auslösung von den 
Füßchen her erfolgt, die sich dabei von vornherein aktiv zeigten, so 
hätte es nicht erst der Bodenberührung mit der Rückenhaut der Arm- 
spitze bedurft. 

Nach vollständiger Entfernung der Rückenhaut von Armen und 
Zentralkörper unterblieb dann die Umdrehung aus Rückenlage. Da 
hierbei die Fähigkeit zur Dorsalkrümmung und zu koordinierten Kriech- 
und Grabbewegungen erhalten war, so konnte der Verlust des U.-R. 
nur auf den Ausfall seiner Receptoren, sensibler Elemente in der Rücken- 
haut zurückgeführt werden. 

Die Versuche führen bezüglich der Bedeutung der Rückenhaut 
für den Umdrehreflex demnach zu entgegengesetztem Ergebnis als 
diejenigen von Preyer, der aus dem Bestehenbleiben der Selbst- 
wendung nach teilweise Abtragung der Rückenhaut bei Astropecten 
sich zu dem Schluß berechtigt glaubte, daß es die etwa durch Berührung 
seitens des Bodens erregten, dorsalen peripheren Hautnerven nicht sein 
könnten, welche zur Selbstwendung Anlaß geben. 


Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 189. 


1 


98 E. Mangold: Der Umdrehreflex bei Seesternen und Schlangensternen. 


Zusammenfassung. 


Der. Umdrehreflex aus Rückenlage am Boden wie beim Fall im Wasser 
wurde als besondere Art der Lagekorrektion an Seesternen und Schlan- 
gensternen als Tieren ohne spezifische statische Sinnesorgane auf seine 
auslösenden Reize, Receptoren und Zentren hin analysiert. Nächst der 
ökologischen Bedeutung wurde nach Beobachtung an zahlreichen 
Arten der verschiedene Mechanismus der Umdrehung mit und ohne 
anfängliche Koordination, seine Gleichheit bzw. Veränderlichkeit beim 
einzelnen Tiere, seine Beziehung zum Reizort und seine Abhängigkeit 
von den häufig natürlich vorkommenden, wie auch operativ erzeugten 
Verstümmelungen der Arme und anderen Asymmetrien, sowie von Durch- 
schneidungen des zentralen Nervenrings und Zerteilung der Körper- 
scheibe untersucht. Der U.-R. kann unabhängig in den verschiedenen 
Armen beginnen und auch bei einzelnen isolierten Radien noch vor- 
handen sein. Der von anderer Seite aufgestellte Gegensatz zwischen See- 
und Schlangensternen hinsichtlich des Zentrums für die Umdrehreaktion 
besteht nicht. Bei beiden liegst das Reflexzentrum im Radialnerv, 
dessen zentrales Ende (Ganglienzellhaufen in der Nervenringecke) nur 
der Koordination mit den anderen Armen durch den zentralen Nerven- 
ring dient. Das Ausbleiben des U.-R. an isolierten Armen mancher 
Schlangensterne ist nicht durch fehlende Innervation, sondern durch 
mechanische Umstände oder reflektorische Starrezustände bedingt. 
Der Umdrehreflex wird weder durch die veränderte Lage als solche, 
noch den mangelnden Kontakt der Ambulacralfüßchen oder Stereo- 
tropismus hervorgerufen; als Receptoren können die Füßchen wie die 
augenähnlichen oder andere sensible Endorgane an den Armspitzen 
ausgeschlossen werden. Der auf verschiedenartige mechanische Reizung 
der Rückenhaut, so auch bei umgekehrtem Absinken im Wasser durch 
den Gegendruck desselben, erfolgende, in einer schnellen dorsal gerich- 
teten Krümmung der Arme bestehende Dorsalreflex hat ebenfalls sein 
Zentrum im Radialnerven und seine besondere Bedeutung in der Ein- 
leitung des Umdrehreflexes. Die Receptoren für die zu beiden Reflexen 
führenden mechanischen Reize liegen in sensiblen Elementen der Rücken- 
haut, wie aus Versuchen mit Abtragung der letzteren, hervorgeht. Dabei 
ist für den U.-R. bei Schlangensternen nur die Rückenhaut der Arme 
und nicht die der Körperscheibe von Wichtigkeit. 


Der Verlauf der Totenstarre am isolierten und am in situ 
belassenen Skelettmuskel von Säugern. 


Von 
Ernst Mangold. 


(Aus dem Physiologischen Institut der Universität Freiburg i. Br. 
Mit 3 Textabbildungen. 
(Eingegangen am 7. März 1921.) 


Die Versuche über die Totenstarre des Säugermagens!) ließen es 
wünschenswert erscheinen, an einer physiologisch schon näher bekannten 
Muskulatur die Frage zu untersuchen, wieweit der Ablauf der Totenstarre 
eines Muskels durch die Loslösung aus dem Zusammenhange des Körpers 
verändert wird und wieweit die zeitlichen Verhältnisse der Totenstarre 
am isoliert registrierten Organ Rückschlüsse auf den Verlauf in situ 
gestatten. Der Muskel wird ja durch die Isolierung unter veränderte 
Bedingungen gebracht und besonders dem die Totenstarre beschleu- 
nigenden Einfluß des zentralen Nervensystems entzogen, wie auch dem 
seiner normalen Spannungsverhältnisse zwischen Ursprung und Ansatz 
und zwischen den Nachbarmuskeln, die durch ihre eigene Starrever- 
kürzung einen mechanischen Einfluß auf ihn ausüben könnten. Ferner 
wird dabei durch Präparation, Anbringung am Registrierapparat, 
Schreibhebelbelastung, ferner durch den schneller eintretenden Wärme- 
ausgleich mit der Umgebung und durch den Aufenthalt in feuchter 
Kammer oder Ringerlösung, eine Reihe von Bedingungen mehr oder 
minder abgeändert. So wird allein schon durch die mechanische Läsion 
bei der Präparation nach Fletcher und Hopkins (s. v. Fürth?)) 
eine rapide Milchsäurebildung ausgelöst, durch die eine Beschleunigung 
der Totenstarre gegenüber dem in situ belassenen Muskel zu erwarten 
wäre. 


Die Versuche wurden an Mäusen und Ratten ausgeführt. Durch die Achilles- 
sehne des sofort nach der Tötung präparierten Gastrocnemius und den am Knie- 
ende belassenen Knochenstumpf wurde je ein doppelt gekrümmtes Häkchen 
eingestochen, und das Präparat dann in gleicher Weise wie die Magenstreifen?) 
für die Registrierung am langsamen Kymographion mittels der Suspensions- 
methode hergerichtet. Hierzu wurde das am Knochenstumpf befestigte Doppel- 


!) Mangold, Arch. f. d. ges. Physiol. 1921. 

2) v. Fürth, Ergebnisse der Physiol. 1919, S. 389. 

®) Siehe Hecht, Arch. f. d. ges. Physiol. 182, 180. 1920 und Mangold, 
Arch. f. d. ges. Physiol. 188, 303. 1921. 


7*+ 


100 E. Mangold: Der Verlauf der Totenstarre 


häkchen noch von unten her am Rande der Korkplatte eingestochen, die sich in 
dem als feuchte Kammer eingerichteten Becherglas befand, und das Häkchen 
in der Sehne durch einen Faden mit dem Schreibhebel verbunden. Die sonstige 
Methodik, die 13fache Vergrößerung und die Umdrehungsgeschwindigkeit des 
Kymographions, waren die gleichen wie in den Magenversuchen, bei deren Mit- 
teilung auch bereits eine gleichzeitig geschriebene Kurve vom Gastrocnemius 
wiedergegeben wurde (siehe Abb. 6 oben). 

Während so die Zeitpunkte von Beginn, Höhe und Lösung der ennn 
am isolierten Wadenmuskelpräparate registriert wurden, mußten die 
zum Vergleich zu beobachtenden Zeiten der allgemeinen Totenstarre am 
übrigen Tiere durch die wiederholte subjektive Prüfung des jeweiligen 
Starrezustandes durch Gegendruck der eigenen Finger beurteilt werden. 
Die Zuverlässigkeit dieses Untersuchungsverfahrens dürfte bei einiger 
Erfahrung des Beobachters für unsere Fragestellung wohl als zunächst 
ausreichend erachtet werden, wenn sich auch die einzelnen Zeitpunkte 
und Stadien der allgemeinen Totenstarre auf diese Weise nicht auf 
Minuten sondern höchstens auf halbe oder Viertelstunden genau be- 
stimmen lassen. Eine genauere Feststellung konnte in Anbetracht der 
langsamen Bewegung, um die es sich bei der Totenstarre handelt, und den 
bekannten individuellen zeitlichen Schwankungen, die eine völlige Über- 
einstimmung verschiedener Versuche auch bei anscheinend gleichen Be- 
dingungen vorerst ausschließen, auch kaum von größerer Bedeutung sein. 

Der Beginn der allgemeinen Totenstarre, beurteilt nach dem zuerst 
auftretenden Widerstande, den die Vorderbeine und das gegebenen- 
falls am Körper belassene Hinterbein und der Schwanz, ferner die der 
Wadenmuskulatur beraubten Hinterfüße, der passiven Bewegung dar- 
bieten, läßt sich naturgemäß erst nachweisen, wenn sich schon eine 
eben fühlbare Spannung entwickelt hat; die hierfür beobachteten 
Zeiten werden daher als etwas verspätet angesehen werden müssen. 
Umgekehrt schien der Höhepunkt der’ allgemeinen Starre öfters schon 
erreicht, während dann nach einiger Zeit doch noch deutliche Zunahme 
festzustellen war. Bei der Registrierung des isolierten Muskelpräpa- 
rates war der Starrebeginn aus der Kurve genau zu ersehen, die zeitliche 
Beurteilung des Höhepunktes jedoch oft dadurch erschwert, daß die 
Kurve nach einem steileren Anstieg bis zu einem relativen Höhepunkt 
noch langsam bis zu einem wenn auch nur unbedeutend höheren Gipfel 
weiter anstieg. Es kam auch vor, daß die Starrekontraktur nach einem 
solchen fast absoluten Höhepunkt während der ganzen Dauer des Ver- 
suchs über 24 oder 48 Stunden lang mit minimalem Anstiegswinkel 
weiterstieg (s. Abb. 1). In diesen Fällen wurden die beiden ersten Zeit- 
punkte festgelegt (Tab. I) und für die Durchschnittstabelle (Tab. II) 
ein Mittelwert genommen. In diese Vergleichstabelle wurden ferner in 
Reihe 4 und 5 Durchschnittswerte aus bisher unveröffentlichten Ver- 
suchen eingetragen, die 1913 im hiesigen Institut von Herrn cand. med. 


am isolierten und am in situ belassenen Skelettmuskel von Säugern. 101 


Harry Newcomer aus Baltimore unter meiner Leitung angestellt 
wurden. Die Untersuchungen hatten zum Ziele, den Einfluß ‚mäßiger 
Veränderungen in der Sauerstofiversorgung des Säugermuskels auf den 
Ablauf der Totenstarre zu verfolgen. Sie wurden in der Weise aus- 
geführt, daß die isolierten Gastrocnemien oder pectorales von weißen 
Mäusen an einem von Zeit zu Zeit weitergedrehten Kymographion 
treppenförmig ihre Starreverkürzung schrieben, wobei dieselben sich 


Abk.1. Maus. Gastrocnemius. Totenstarre. 


in Kochsalz- oder Ringerlösung befanden, die entweder in gewöhnlicher 
Weise verwendet oder vorher ausgekocht und dann mit einer flüssigen 
Paraffinschicht bedeckt oder aber dauernd mit Sauerstoff durchspült 
wurde, und wobei stets zwei gleichnamige Muskeln eines Tieres als 
gegenseitige Kontrollpräparate dienten. Während diese verschiedenen 
Bedingungen nicht zu eindeutigen Beeinflußungen des Starreablaufes 
führten, ergab sich aus den Versuchen ein größeres für unsere Frage- 
stellung verwertbares Material. 


Tabelle 1. 
| Allgemeine Totenstarre Totenstarre des Gastrocnemius 
Tier | Beginn Höhepunkt Beglnn Höhepunkt 
|| post mortem | post mortem N post mortem | post mortem 
Mur. 05215’ 5h En) A ln BR 
| ea 0500 02 5252 
Ense A. 0 2 | zh Ce 35 0502 su 
| Ca een 
Ratte 33 . . 14 30° 6N (NE | 4h 15° — 66 
Gans Anis, 
Ratte 39 . . 3 — | 9h G, 5% 15° 12% 
| | Em ne 


Endlich wurden in Reihe 3 Ergebnisse aus meinen früheren Unter- 
suchungen!) zum Vergleiche herangezogen. 

Es muß aus räumlichen Gründen hier darauf verzichtet werden, 
die Tabellen mit dem umfangreichen Zahlenmaterial wiederzugeben, 


!) Mangold, Arch. f. d. ges. Physiol. 96, 497. 1903. 


102 


E. Maneold: Der Verlauf der Totenstarre 


das den hier in der beigefügten Tabelle II eingetragenen Durchschnitts- 
werten zugrunde liegt und das allein über die Schwankungsbreite der 
einzelnen Zeitpunkte Aufschluß geben kann. Es wurde aber zu jeder 
Durchschnittszahl die Zahl der Beobachtungen, aus denen sie gewonnen 
wurde, hinzugefügt. Auch sind einige Versuche in der Tabelle I als 
Beispiele im einzelnen angeführt. Dieselben zeigen, daß die beiden 
Gastrocnemien wohl gelegentlich einen gleichzeitigen Beginn (M 4) 
und gleichzeitige Erreichung des Höhepunktes der Starre (M 2), in an- 
deren Fällen aber sehr beträchtliche zeitliche Unterschiede im Starre- 
verlauf aufweisen können (Abb. 2) und ferner, daß auch zwischen den 


Ratte33. 


Gastroen.. 
952 


Gastrocn.2 
957 


Abb.2. Ratte. Verschiedener Verlauf der Totenstarre am Wadenmuskelpräparat der beiden Seiten. 
isolierten und den in situ belassenen Muskeln eine annähernde zeitliche 
Übereinstimmung des Starrebeginnes (R 33,) und Höhepunktes (M 2), 
aber auch große Unterschiede bestehen können. 


Tabelle II. 

2 Besmn der | Arbenunit | nertın der surmlanun 
2) _ 
2 m am? MOT: En post mortem | ana? 
2 u Evers tem | Yers. Vers. 
1 |Maus| Tierkörper | trockene Auf- | | 

| |  bewahrung yı 7 |j4b45) 7 | später als 4 7 
2 „| Gastrocnemius | feuchte Kammer | 25 11 68 11 22— 480 11 
ll. Tierkörper enthäutet in | 

physiologischer 
Na0Cl-Lösung |1"40°7 6 ah 9 | Lösung in 26% 9) 

vollendet | 
4 | „ | Gastrocnemius | Ringerlösung |ca.35” 4 5545 4 43/,— 23 4 
5 | „  \ Pectoralis maj. Ringerlösung |ca.25| 20 ah 20 |5». Früher als20"| je 9 
6 |Rattee Tierkörper trockene Auf- | 3% 9 I 9 meist später ı 7 

| bewahrung als 24 oder 48% | 
7 | „ | Gastroenemius | feuchte Kammer [3425| 12 18%45/) 12 I1bismehr. Tage 7 


am isolierten und am in situ belassenen Skelettmuskel von Säugern. 103 


Um allgemeinen Gesetzmäßigkeiten in diesem Verhalten näher zu 
kommen, müssen daher als Ausgangspunkt für die Beurteilung Durch- 
schnittswerte von einem größeren Material herangezogen werden (Tab. II). 

Die Tabellen ergeben auch Unterschiede im Starreverlauf bei ver- 
schiedenen Tierarten. Bei Mäusen beginnt die Totenstarre früher als 

bei Ratten und erreicht auch früher ihren Höhepunkt. 


1. Der Starrebeginn in situ und isoliert. 


Die Vergleichung der einzelnen Versuchsreihen (Tab. II) zeigt bei 
Mäusen einen durchschnittlich früheren Beginn der Totenstarre am 
isolierten Muskelpräparat gegenüber der allgemeinen Starre des 
Tierkörpers (vgl. Reihe 1 und 2, 3 und 4 bzw. 5). Dies ist wohl zum 
Teil auf die oben erwähnte subjektive Schwierigkeit, den wirklich 
ersten Beginn der allgemeinen Starre rechtzeitig festzustellen, und damit 
auf eine nur scheinbare Verzögerung der allgemeinen Starre zurück- 
zuführen. Doch machen sich hier bei der 1—1!/,, in einzelnen Fällen 
selbst 2% betragenden Beschleunigung der Totenstarre des isolierten 
Skelettmuskels anscheinend auch gesetzmäßige Einflüsse geltend. 
Hierbei könnte die oben erwähnte Steigerung der Milchsäurebildung in- 
folge der Präparation beteiligt sein. 

Dagegen war der Starrebeginn in den einzelnen Reihen mit verschie- 
denen Versuchsbedingungen, feuchter Kammer, Kochsalz- und Ringer- 
lösung, sowohl für die allgemeine Totenstarre (1 und 3), wie für den 
isolierten Muskel (2, 4, 5) im Durchschnitt nicht wesentlich verschieden. 
Während bei der Ratte im Einzelfalle oft beträchtliche Unterschiede 
zwischen isolierten und in situ belassenen Muskeln bestanden (s. Tab. I, 
R. 39), ergab sich doch durchschnittlich eine sehr nahe Übereinstim- 
mung zwischen beiden (Tab. II, 6 und 7). 


2. Der Höhepunkt der Starrein situ und isoliert. 


Für den Höhepunkt der Starre ergibt sich umgekehrt wie für den 
Starrebeginn bei der Maus und diesmal gleichmäßig für Maus und Ratte 
eine beträchtliche Verzögerung am isolierten Präparat (vgl. ] 
und 2, 3 und 4, 6 und 7), die bei der Maus 1!/,—1?/,", bei der Ratte 21/," 
betrug und nur am Pectoralis der Maus in Ringerlösung (5) nicht 
hervortrat. Hierbei kommt jedenfalls in Betracht, daß ein weiterer 
und sehr geringer langsamer Anstieg der Starrekontraktion, wie er 
am isolierten Muskel noch sehr oft jenseits des erreichten relativen 
Höhepunktes der Starre registriert wird, der subjektiven gefühlsmäßigen 
Prüfung der Starre am ganzen Tiere entgeht, weil er bei derselben 
nicht mehr als Unterschied empfunden werden kann, nachdem eine 
gewisse anscheinend maximale Starre einmal erreicht ist. Bei diesen 


104 E. Mangold: Der Verlauf der Totenstarre 


Prüfungen ist es stets aber auffallend, wie lange sich dieser maximale 
Zustand im Gegensatze zum Ergebnis der Registrierung so völlig gleich 
erhält, und es liegt die Vermutung nahe, daß jenes Gleichbleiben der 
maximalen allgemeinen Starre nur ein scheinbares ist und der beob- 
achtete Zeitpunkt für das Erreichen der Höhe jeweils als verfrüht be- 
trachtet werden darf, während dieselbe langsam und in geringem Maße 
wohl auch hier noch weiter zunimmt. Hiervon abgesehen kann aber die 
Verzögerung am isolierten Muskel zum Teil auch vielleicht als Folge 
der veränderten Bedingungen angenommen werden, wobei in erster 
Linie die Entziehung vom Einflusse des zentralen Nervensystems, in 
einem unbeträchtlichen Maße vielleicht auch die schnellere Abkühlung 
beteiligtist. Den letzten Einfluß möchte ich nicht zu hoch veranschlagen, 
da sich innerhalb der von mir verwendeten Versuchstemperaturen von 
10—16°C keine regelmäßige Verschiedenheit im Starreablauf ergab 
und der Temperaturunterschied gegen den sich langsam abkühlenden 
Tierkörper für den bei Zimmertemperatur isolierten Muskel wohl kaum 
größer ist als die genannte Temperaturdifferenz. 

Ein. gewisser Unterschied ergab sich im Gegensatze zur zeitlichen 
Vergleichung des Starrebeginnes für den Höhepunkt der Starre nun 
auch bei den in Kochsalz- oder Ringerlösung aufbewahrten gegenüber 
den in feuchter Kammer registrierenden Muskeln. Derselbe tritt im 
Sinne einer Beschleunigung durch die Salzlösung beim Vergleich 
der Reihen 2 und 4 zwar nicht erheblich, sehr viel deutlicher aber zwi- 
schen 2 und 5 hervor, und ist ebenso auch bei der allgemeinen Totenstarre 
festzustellen, je nachdem diese an dem ohne weiteres liegen gebliebenen 
(R.1) oder dem abgehäutet in Kochsalzlösung (3) aufgehängten Tier- 
körper beobachtet wurde. 


3. Die Lösung der Totenstarre in situ und isoliert. 


Eine Vergleichung des Zeitpunktes für den Beginn der Lösung 
der Starre ist schwer durchzuführen, da derselbe sich bekanntlich 
bei der allgemeinen Totenstarre tagelang hinausziehen kann und da 
er auch am registrierenden Muskelpräparat meist nach 24 und selbst 
48" noch nicht beobachtet werden konnte. Es kann demnach hier zu- 
nächst kein erheblicher Unterschied angenommen werden, sofern der 
Lösungsbeginn der Starre am in gewöhnlicher Weise aufbewahrten 
Tierkörper und am in feuchter Kammer registrierenden Muskel ver- 
glichen wird. 

Noch stärker als für den Zeitpunkt der erreichten maximalen Starre 
tritt aber für die Lösung derselben die beschleunigende Wirkung von 
Kochsalz- oder Ringerlösung hervor. Dies gilt für den ganzen Tier- 
körper wie für das Muskelpräparat. Während die allgemeine Starre 
bei gewöhnlicher Aufbewahrung (Reihe 1) stets erst später als 24 und 


am isolierten und am in situ belassenen Skelettmuskel von Säugern. 105 


selbst 48" beginnt, sich zu lösen, war in einer Reihe meiner früheren 
Versuche (3), bei denen die enthäuteten Tierkörper in Kochsalzlösung 
aufbewahrt wurden und in denen auch die letzte elektrische Erregbar- 
keit erst nach durchschnittlich 32” schwand, die Starrelösung bereits 
nach 26h vollendet. Und im Gegensatz zu den in feuchter Kammer 
registrierenden Muskeln von Maus und Ratte, deren Starrelösung fast 
ausnahmslos erst später als nach 24—48h begann (6 und 7), trat dies 
bei den von Newcomer in ihrem Starreablauf ebenfalls graphisch 
verfolgten Pectorales (Reihe 5) in 9 Fällen bereits nach 5#, in 9 anderen 
früher als nach 20h, und bei seinen Gastrocnemien (4) in 43/, bis läng- 
stens 23h ein. Wenn hierbei auch eine frühere Lösung der Starre am 
isolierten gegenüber den in situ belassenen Muskeln deutlich hervor- 
tritt, so zeigt sich doch in der beschleunigenden Einwirkung der phy- 
siologischen Salzlösungen auf die Starrelösung auch wieder eine über- 
einstimmende gleichsinnige Beeinflussung des absterbenden Gesamt- 
körpers und der einzeln registrierenden Muskelpräparate. . 


4. Die Totenstarre bei späterem Beginn der Registrierung. 


Ein weiterer Beitrag zur Beantwortung der Frage, wieweit die Starre- 
registrierung eines isolierten Muskels dem allgemeinen Verlauf der 
Totenstarre entspricht, mußte sich aus Versuchen gewinnen lassen, in 
denen die Isolierung des Muskels erst längere Zeit nach der Tötung des 
Tieres erfolgte und auch die Registrierung entsprechend später begann. 
Die hierfür bestehenden Voraussetzungen wurden bereits in der Mit- 
teilung über die Versuche am Säugermagen besprochen. Hiernach 
durfte erwartet werden, daß ein Muskel im allgemeinen nur dann noch 
eine weitere registrierbare Verkürzungskurve lieferte, wenn die Re- 
gistrierung vor der Erreichung des sicheren Höhepunktes oder doch 
noch auf der Höhe der bereits in situ von ihm begonnenen Totenstarre 
einsetzte, dagegen nicht, wenn sie erst nach Überschreitung des Höhe- 
punktes angefangen wurde. 

Dies traf in der Tat zu, wie die in Tab. III wiedergegebenen Ver- 
suche zeigten. Wenn die Isolierung und Registrierung nach 5—7# p. m. 
(Tab. III, Nr. I, 2, 3) begann, ergab sich noch ein Anstieg der Kurve, 
ebenso auch nach 8% p. m. in einem Falle (Nr. 6), in dem auch der andere 
von Anfang an registrierte Gastrocnemius erst später als 9% p. m. den 
Höhepunkt der Totenstarre erreichte, während dies bei der allgemeinen 
Totenstarre dieses Tieres bereits 5!/," p.m. der Fall zu sein schien. 
In einem anderen Versuche (Nr. 4) trat dagegen nach 8% p. m. keine 
registrierbare Verkürzung mehr ein, und ebensowenig in einem weiteren 
(Nr. 3) nach 9% p. m. Die zeitliche Grenze, jenseits deren bei nachträg- 
lich begonnener Registrierung keine Starrekurve mehr auftritt, pendelt 
hiernach um den als Durchschnitt für die Erreichung des Höhepunktes 


106 E. Maneold: Der Verlauf der Totenstarre 


der Totenstarre beim isolierten Rattenmuskel nach sofort begonnener 
Registrierung festgestellten Durchschnittswert von 8" 45’ p.m. (s. Tab. II. 
Nr. 7). Sie überschreitet dagegen den Durchschnittswert für die Er- 
reichung des Höhepunktes der allgemeinen in situ beobachteten Toten- 
starre (s. Tab. II, Nr. 6); dies stimmt aber damit vollkommen überein, 
daß derselbe, wie wir oben hervorhoben, gegen denjenigen der isolierten 
Totenstarre verfrüht erscheint. 


Tabelle IH. 
| Allgemeine Gastrocnemius bei so- Gastrocnemius bei später 
|  Totenstarre fort begonnener Regi- __ begonnener Registrierung 
Tier | Höhepunkt | Strierung. Höhepunkt Registrierung | Höhepunkt der 

| nach p. m. der Starre erreicht |pegonnennach | Starre erreicht 

| nach p. m- p. m. nach p.m. 

I Std. Std. Std. Std. 
1. Ratte 34 | 6 _ CH5 10—15 

| 5 9— 14 
24, 9 al 6!/, .- 7 11!/, 
SS 8 8, 9 | keine Starre 
a || 9 8 2 
5. AN ca. 9 | (4)—8 625 (7)—10 
| 8 101, 


In drei weiteren derartigen Versuchen an Mäusen, bei denen die 
Isolierung und Registrierung des einen Gastrocnemius sofort, die des 
anderen aber erst 61/,—81/,h p. m. eingeleitet wurde, erfolgte bei letz- 
terem kein Anstieg mehr. Dies steht im Einklang dazu, daß bei der 
Maus die Höhe der Starre in situ schon in 4°/,, und am isolierten Muskel 
in 6h p. m. erreicht ist (s. Tab. II, Nr. 1 und 2.) 

Hiernach wird der Verlauf der Totenstarre offenbar durch eine später 
beginnende Registrierung nicht wesentlich verändert, die jedoch noch 
vor erreichtem Höhepunkt erfolgen muß. Nur eine gewisse Verspätung 
des Starrehöhepunktes wird anscheinend durch die veränderten Be- 
dingungen bei der später begonnenen Aufzeichnung im Vergleiche zu 
dem sofort p. m. registrierten Verlaufe hervorgebracht, während nach 
den obigen Erfahrungen (s. Tab. II, Nr. 6 und 7) eher zu erwarten ge- 
wesen wäre, daß die anfänglich in situ begonnene Totenstarre bis zur 
Isolierung des Muskels schon weiter fortgeschritten und daher auch 
zeitlich dem Höhepunkte der Starre näher wäre, als bei dem gleich 
anfangs isolierten Gastrocnemius. 

Es läßt sich aber wohl denken, daß der Eingriff der operativen 
Isolierung eines Muskels während der bereits ansteigenden Totenstarre 
einen erneuten nachhaltigen Anreiz für die zur Totenstarre führenden 
chemischen Umsetzungen gibt, so daß hierdurch die Totenstarre, die 
ja stets nur eine partielle, verschiedengradige, submaximale ist!), zu 


!) Mangold, Arch. f. d. ges. Physiol. 182, 212. 1920. 


am isolierten und am in situ belassenen Skelettmuskel von Säugern. 107 


einem höheren Grade fortschreitet, den sie jedoch dann erst später 
erreicht. Andererseits scheint aus den Kurven hervorzugehen, daß die 
verspätete Isolierung des Muskels und Vorbereitung zur Registrierung 
das weitere Ansteigen der Starre auf kurze Zeit auch unterbrochen 
oder verzögere kann; denn der Anstieg der Kurve setzte bei diesen Mus- 
keln nicht in allen Fällen sofort, sondern in einigen erst 15—30’ nach 
dem Beginn der Registrierung ein. Anscheinend ist dabei eine während 
der Präparation und der Anbringung am Schreibhebel erfolgende, wenn 
auch äußerst geringe Dehnung des Muskels im Spiele, die erst über- 
wunden werden muß. Eine solche primäre Verlängerung zu Anfang 
der graphischen Aufzeichnung selbst bei einer in Anbetracht des Gast- 
rocnemius der Ratte außerordentlich schwachen Belastung des Schreib- 
hebels läßt sich auch bei sogleich nach der Tötung erfolgender Regi- 
strierung beobachten, wie sie für den Skelettmuskel von Kaltblütern 
bereits von Nagel!) beschrieben und in der Arbeit über den Ratten- 
magen?) näher besprochen wurde. Als Beispiel hierfür möge die Abb. 3 


Gastrocn 1032 ER SEEN 


Abb. 3. Ratte. Gastrocnemius. Totenstarre. Mehrtägige Registrierung. „Anfängliche Verlänge- 
» rung“, gleichzeitig Zuckungen ohne besondere Reizung. 


dienen, die zugleich die während dieser Dehnung noch bestehende Er- 
regbarkeit erkennen läßt, wie sie durch die verzeichneten kleinen Zuk- 
kungen zum Ausdruck kommt, die ohne beabsichtigte Reizung wohl 
durch den Reiz der Abkühlung auftraten und in solchen Fällen auch 
direkt zu beobachten waren. 


Ergebnisse. 
Beim Vergleich des zeitlichen Ablaufes der Totenstarre an in situ 
beobachteten Skelettmuskeln von Säugern (Mäusen, Ratten) mit iso- 
lierten, graphisch registrierten Muskelpräparaten ergibt sich, aus den 


1) Nagel, Arch. f. d. ges. Physiol. 58, 279. 1894. 
?) Mangold, Arch. f. d. ges. Physiol. 188, 303. 1921. 


108 E. Mangold: Der Verlauf der Totenstarre 


Durchschnittswerten, für letztere bei der Maus ein früherer, bei der Ratte 
ein annähernd gleichzeitiger Beginn der Totenstarre, bei beiden ein 
späteres Erreichen des Höhepunktes der Starre. Diese Abweichungen 
können zum großen Teil auf die relative Unsicherheit der Beobachtung 
des allgemeinen Starreverlaufs im Gegensatze zur Einzelregistrierung 
bezogen werden, die sich im Sinne einer Verzögerung des Beginnes 
und einer Verfrühung des Höhepunktes der allgemeinen Totenstarre 
im Gegensatze zu der des isolierten Muskels geltend macht. Zum Teil 
sind dabei auch wohl gesetzmäßige Beeinflussungen durch die für den 
isoliert registrierenden Muskel veränderten Bedingungen, darunter be- 
sonders die operative Entfernung aus der natürlichen Lage und die 
Entziehung vom Einfluß des Zentralnervensystems, in Betracht zu ziehen. 

Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß die durchschnittlichen 
Abweichungen zwischen der isolierten und allgemeinen Totenstarre 
unter gleichen Bedingungen nicht größer sind als die Unterschiede 
zwischen den einzelnen gleichartigen Muskelpräparaten unter gleichen 
Bedingungen, ferner besonders der annähernd vollkommenen durch- 
schnittlichen Übereinstimmung des Starrebeginnes am isoliert regi- 
strierenden Muskel und der allgemeinen Totenstarre bei der Ratte, 
erscheint der Schluß gerechtfertigt, daß die Kurve der Totenstarre 
vom isolierten Skelettmuskel den Verlauf der allgemeinen Totenstarre 
der in situ belassenen Muskeln bis auf gewisse zeitliche Abweichungen 
richtig wiedergibt. 

Hierfür spricht auch die gleichsinnige Veränderung, die sowohl am 
isolierten Muskel wie am übrigen Tierkörper unter dem Einflusse von 
physiologischer Kochsalz- oder Ringerlösung in einer Beschleunigung 
der Erreichung des Höhepunktes und der Lösung der Totenstarre her- 
vortritt. 

Auch durch eine erst einige Stunden p. m. erfolgende Isolierung und 
Registrierung des Muskels wird der Ablauf seiner Totenstarre nicht 
wesentlich verändert und lediglich verzögert. Wenn die graphische 
Registrierung erst nach dem Zeitpunkt der erreichten Starrehöhe ein- 
setzt, bei der Ratte nach S—9, bei der Maus nach 6h p. m., so ergibt 
sich keine Starrekurve mehr. 


(Aus dem Physiologischen Institut der Universität Kiel.) 


‘Über die Durehlässigkeit der menschliehen roten Blutkörper- 
chen für Anionen. 


Von 
Dr. Ernst Wiechmann, 
Assistent am Institut. 


(Eingegangen am 4. Februar 1921.) 


I. Einleitung. 

Die Frage nach der Permeabilität der Zelle ist so alt wie die physi- 
kalische Chemie selbst. Zu ihrer Lösung waren von jeher die roten 
Blutkörperchen das beliebteste Untersuchungsobjekt, einmal, weil 
sie als freie Zellen und nicht in einem Zellverband vorhanden sind, 
und dann, weil sie ein leicht zu beschaffendes Objekt darstellen. Daß 
aus ihrem Verhalten ein Schluß auf viele andere Körperzellen gemacht 
werden kann, muß auch nach den bisherigen Kenntnissen angenommen 
werden. 

In ein kritisches Stadium war die Frage nach der Permeabilität 
der roten Blutkörperchen schon durch die Untersuchungen von Ronat), 
Masing?) und Kozawa?°) getreten. Durch die Untersuchungen von 
Falta und Richter-Quittner®) und von Siebeck°) ist sie neuerdings 
wieder in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt worden. Während 
Masing nachwies, daß dem Blut zugesetzter Traubenzucker in die 
Blutkörperchen von Schwein, Hammel, Kaninchen und Gans gar nicht, 
in die vom Rind auch nur wenig eintritt, daß jedoch die menschlichen 
Blutkörperchen Traubenzucker reichlich aufnehmen, zeigte Kozawa 
gleichzeitig in unserem Institut, zum Teil in Übereinstimmung mit 
Masing, daß die Blutkörperchen von Schwein, Hammel, Ziege, Pferd, 
Rind, Katze, Kaninchen und Meerschweinchen für Pentosen, Pentite, 
Hexosen, Hexite, methylierte Zucker, Disacharide, Aminosäuren, 
Salze organischer Säuren undurchlässig oder höchstens wenig durch- 
lässig sind; die Blutkörperchen vom Menschen, Affen und Hund sind 

1) Rona und Michaelis, Biochem. Zeitschr. 16, 60. 1909; 18, 375, 1909; 
18, 514. 1909. Rona und Döblin, ebenda 31, 215. 1911. 

2) E. Masing, Arch. f. d. ges. Physiol. 149, 227. 1913. 
3) Shuzo Kozawa, Biochem. Zeitschr. 60, 231. 1914. 


) 
2) W. Falta und M. Richter-Quittner, Biochem. Zeitschr. 100, 148. 1919. 
5) R. Siebeck, Arch. f. experim. Pathol. u. Pharmakol. 85, 214. 1919. 


110 E. Wiechmann: 


dagegen für die Monosacharide durchlässig, für die anderen genannten 
Verbindungen aber gerade so wenig durchlässig wie die der übrigen 
Säuger. Demgegenüber behaupten Falta und Richter-Quittner!), 
daß sich unter physiologischen Verhältnissen regelmäßig Zucker, Rest- 
N-Körper und Chloride ausschließlich im Plasma resp. Serum finden. 
Die Abweichung ihrer Untersuchungsergebnisse von denen fast aller 
übrigen Autoren führen sie auf ihre Methode der Plasma- und Serum- 
gewinnung zurück. Nach ihrer Behauptung schädigen Na-Fluorid, 
Na-Oxalat, Eiskühlung und Schlagen zum Defibrinieren die Blut- 
körperchen und machen sie permeabel. Das von ihnen verwandte 
Hirudin soll dagegen die Blutkörperchen in ihrer physiologischen 
Impermeabilität konservieren. Brinkman und van Dam?) bezeich- 
nen ebenfalls die Erythrocyten von Frosch und Mensch unter physio- 
logischen Verhältnissen, d. h. solange kein Gerinnungsanfang eingetreten 
ist, als impermeabel für Glucose. Für die menschlichen Blutkörper- 
chen haben sie den Nachweis indessen nur osmotisch geführt. Von den 
verschiedensten Seiten?) ist jedoch Falta und Richter-Quittner 
bereits widersprochen worden. Auch wenn die Angaben von Falta und 
Ricehter-Quittner ebenso wie die von Brinkman und van Dam 
zu Recht bestehen sollten, dann bleibt noch immer die Frage unbeant- 
wortet, warum nach Kozawa nur Permeabilität der menschlichen 
Erythrocyten für Monosacharide, nicht aber für Hexite, Disacharide, 
Aminosäuren besteht, und warum sich die menschlichen Blutkörperchen 
von denen von Schwein, Hammel, Ziege, Pferd, Rind, Katze, Kaninchen 
und Meerschweinchen so weitgehend unterscheiden. Siebeck*) be- 
leuchtet das Permeabilitätsproblem von einer ganz anderen Seite. 
Er stellte fest, daß im normalen menschlichen defibrinierten Blut das 
Chlor in fast konstantem Verhältnis — 1:2 — auf die Körperchen 
und das Serum verteilt ist. Wurde der größte Teil des Serums durch 
eine isotonische Natriumsulfatlösung ersetzt, so war das Chlor nachher 
genau im gleichen Verhältnis auf Zellen und Lösung verteilt, wie vorher 
auf Zellen und Serum. In gleicher Weise zeigte sich, daß die Zellen 
auch an eine isotonische Rohrzuckerlösung Chlor abgeben, jedoch in 
der gleichen Zeit nur etwa den vierten Teil der Menge, die sie an die 
Sulfatlösung abgeben. Durch mehrmaliges Auswaschen mit Natrium- 
sulfatlösung wurden die Blutkörperchen chlorfrei und zeigten dann 


1) Ioe. eit. 

®) Brinkman und van Dam, Arch. internat. de physiol. 15, 105. 1919. — 
Dieselben, Biochem. Zeitschr. 105, 93. 1920. 

®) Andresen, Biochem. Zeitschr. 10%, 251. 1920. — Ege, Biochem. Zeitschr. 
10%, 246. 1920. — Derselbe, Compt. rend. des Seances de la Soc. de Biologie 83, 697. 
1920. — Hagedorn, Biochem. Zeitschr. 10%, 248. 1920. — E. I. Warburg, 
Biochem. Zeitschr. 10%, 252. 1920. 

4) loc. cit. 


Über die Durchlässigkeit der menschlichen roten Blutkörperchen für Anionen. 111 


immer noch dieselben osmotischen Eigenschaften wie unveränderte: 
in hypotonischer NaCl-Lösung nahmen sie wie sonst an Volumen zu. 

Aus allem ergibt sich, daß die Frage nach der Permeabilität der 
roten Blutkörperchen eine brennende ist. Soll sie gelöst werden, so 
kann das nur durch Untersuchungen von den verschiedensten Seiten 
aus geschehen. Demgemäß können meine auf Anregung von Herrn 
Professor Dr. Höber angestellten Versuche, die die Durchlässigkeit 
der roten Blutkörperchen für Anionen behandeln, das Problem nur 
von einer Seite aus beleuchten. 


II. Eigene Untersuchungen. 


1. Die Durchlässigkeit der roten Blutkörperchen für das 
Sulfat-Anion. 


In allen Versuchen handelte es sich um Blut, das normalen mensch- 
lichen Individuen aus der Vena mediana cubiti entnommen war. Um 
die Gerinnung zu verhindern, wurde das Blut entweder in dem Zehntel- 
volumen einer 5proz. Natriumeitrat-Lösung aufgefangen oder mit in 
einigen Tropfen physiologischer Kochsalzlösung gelöstem Hirudin 
(E. Sachsse & Co.) versetzt. In anderen Fällen wurde das Blut durch 
Schütteln mit Glasperlen oder durch Schlagen defibriniert und durch 
Gaze filtriert. Da nach Hamburger!) unter dem Einfluß der Kohlen- 
säure Sulfat-Anionen in die Blutkörperchen eindringen, wurde prinzipiell 
sofort nach der Entnahme 30 Minuten lang ein kräftiger Sauerstoff- 
strom durch das Blut geleitet, um die Kohlensäure auszutreiben. Dann 
wurde das Blut zentrifugiert, das Plasma resp. Serum abpipettiert, 
und die Blutkörperchen zweimal mit isotonischer Kochsalzlösung ge- 
waschen. Von dem gewaschenen Blutkörperchenbrei und einer iso- 
tonischen Natriumsulfatlösung (1,63 proz.) wurden gleiche Volumina 
mit einander gemischt, und diese Suspension nach gutem Umschütteln 
für zwei Stunden in den Eisschrank (durchschnittliche "Temperatur 
+ 2bis +3 °C.) gestellt. Sedimentierung wurde nie beobachtet. Nach 
Ablauf der zwei Stunden wurde der Sulfatgehalt der Gesamtsuspension 
und der Zwischenflüssigkeit analytisch ermittelt, und mittelst Haema- 
tokriten der Sulfatgehalt der Körperchen dann durch Rechnung gefun- 
den. Mit dem Haematokritverfahren läßt sich, wie Ege?) neuerdings 
wieder gezeigt hat, das wahre Blutkörperchenvolumen genau ermitteln. 
Zur Analyse wurde die Gesamtsuspension resp. die Zwischenflüssigkeit 
nach Schenck enteiweißt, die Schwefelsäure in einem aliquoten Teil 
des Filtrats mit Chlorbarium gefällt und gravimetrisch als BaSO, 
bestimmt. Stets wurden Doppelanalysen ausgeführt. 

1) Hamburger, Osmotischer Druck und Ionenlehre. Wiesbaden 1902, I, 


S. 246. 
2) R. Ege, Biochem. Zeitschr. 109, 241. 1920. 


1 E. Wiechmann: 


Ich gelangte so zu folgenden Ergebnissen: 


Tabelle I. Die Verteilung des Sulfat-Anions. 


Ver- | Versuchs- BaS0,g in ; 
suchs- datum Art des Blutes 100 cem Zwi- | 100 eem Blut- a 
Nr. 1920 schenflüssigkeit | körperchen k 
1 26.11I. | Citrat 2,0611 0,2054 1: 10,0 
2 1. IV. | Citrat Bl 0,0632 153539 
3 13. IV. | Citrat 2,524 0,1749 1: 14,4 
4 28. IV. | Hirudin 2,428 0,2857 19:28:5 
5 3. V. | Defibriniert 2,454 0,177 1:13,9 
6.4 10. V. | Citzat 2,484 0,07 1:355 


Ein Blick auf die vorstehende Tabelle genügt, um zu zeigen, daß 
nach Austreibung der Kohlensäure die menschlichen roten Blutkörper- 
chen fast völlig impermeabel für Sulfat-Ionen sind. In Hinblick auf die 
Behauptungen von W. Falta und M. Richter-Quittner!) erscheint 
auch die Feststellung wichtig, daß das Verhalten der roten Blutkörper- 
chen gegen Sulfat-Ionen dasselbe ist, ganz gleich, ob es sich um durch 
Hirudin oder durch Natriumcitrat ungerinnbar gemachtes oder durch 
Schlagen defibriniertes Blut handelt. 


2. Die Durchlässigkeit der roten Blutkörperchen für das 
Chlor-Anion. 


Nachdem sich unter bestimmten Bedingungen eine fast völlige 
Impermeabilität der roten Blutkörperchen für Sulfat-Ionen ergeben 
hatte, war der gegebene Weg, festzustellen, wie sich die Blutkörper- 
chen gegenüber Chlor-Ionen verhalten. Methodisch habe ich mich 
hierbei an die oben angegebene Anordnung gehalten. Da nach Zuntz?), 
Hamburger?) und v. Limbeck®) bei Einleitung von CO, in Blut 
die Menge des titrierbaren Alkalis im Serum zu-, sein Chlorgehalt abnimmt, 
und da ferner nach Hamburger die durch die CO,-Zufuhr eingeleitete 
Verschiebung durch Austreibung der Kohlensäure wieder rückgängig 
gemacht werden kann, und diese Verschiebung sich auch im Leben 
fortwährend entsprechend dem periodischen Wechsel von höherem und 
niederem CO,-Gehalt des Blutes zwischen den Venen und Arterien ab- 
spielen soll’), habe ich auch bei diesen Versuchen die Kohlensäure durch 

1) Ioe. eit. 

2) Zuntz, Inaug.-Diss. Bonn 1868. 

®2) Hamburger, Zeitschr. f. Biol. 28, 405. 1892. — Derselbe, Arch. f. Physiol. 
1894. 419. — Derselbe, Osmotischer Druck und Ionenlehre I, Wiesbaden 1902. 

@) v. Limbeck, Arch. f. experim. Pathol. u. Pharmakol. 35, 309. 1895. 

5) Nach den neuen Untersuchungen von Friderieia (vgl. Berichte über die ges. 
Physiol. 3, 236. 1920) ist der Grund des Chloraustausches zwischen Plasma und 


Blutkörperchen in dem Hämoglobin zu suchen, das die in die Blutkörperchen 
gewanderten Anionen bindet. 


Über die Durchlässigkeit der menschlichen roten Blutkörperchen für Anionen. 113 


halbstündiges Durchleiten von Sauerstoff aus dem Blut auszutreiben 
versucht. 

Das Chlor wurde teils nach der von Siebeck angewendeten!), 
teils nach der von v. Koranyi?) angegebenen und von Falta und 
Richter-Quittner®) angewendeten Methode bestimmt. Beide Me- 
thoden bewährten sich gleich gut. Titriert wurde nach Volhard, 
 Doppelbestimmungen wurden stets ausgeführt. 

Im nativen Blut (nach Sauerstoffdurchleitung) ist die Verteilung 
des Chlors auf Blutkörperchen und Plasma resp. Serum folgende: 


Tabelle II. Die Verteilung des Chlors im nativen Blut. 


a, Versuchs- Cl mg in C1-Körperchen 

N. datum Art des Blutes | Methode Ian Ahkmmn | SD go ale C1-Plasma 
1920 resp. Serum körperchen (Serum) 

il 8. VI. | Citrat Siebeck 262,04 170,3 Ie-2165 

2 14. VI. | Defibriniert | Siebeck 301,42 209,3 1:14 

3 2. WE Hirudin Siebeck 388,0 138,5 16:3238 

A 29V: Hirudin Siebeck 350,0 210,1 1 2 Id 

5 | 10.VII. | Hirudin Koranyi 392,0 126,8 153,1 


Die Versuche zeigen, daß im nativen menschlichen Blut das Plasma 
resp. Serum immer etwa zweimal soviel Chlor enthält wie die Blut- 
körperchen. In den einzelnen Versuchen schwankt das Verhältnis des 
Chlorgehaltes der Blutkörperchen zu dem des Plasmas resp. Serums 
zwischen 1 :1,4 und 1: 3,1; der Mittelwert ist 1 :2,1. Meine Werte 
stimmen im wesentlichen mit denen von Siebeck überein, der als 
Mittelwert für das Verhältnis des Chlorgehalts der Blutkörperchen zu 
dem des Serums 1 : 2,0 fand; seine Werte schwanken jedoch in geringerer 
Breite als die meinigen, nämlich zwischen 1 :1,7 und 1: 2,3. Die Werte, 
die Snapper*) fand, liegen im ganzen etwas höher als die meinigen, 
nämlich zwischen 1 : 2,2 und 1 : 2,9. Obgleich ich genau den von Falta 
und Richter-Quittner’) gemachten Angaben gefolst bin, kann ich 
ihre Versuchsergebnisse, nach denen in Blut, das mit Hirudin inkoa- 
gulabel gemacht ist, alles Chlorid im Plasma vorhanden ist, nicht 
bestätigen. Meine Versuche zeigen, daß im Hirudinblut wie im Citrat- 
blut oder auch im defibrinierten Blut das Verhältnis des Chlorgehalts 
der Blutkörperchen zu dem des Plasmas oder Serums immer ungefähr 
dasselbe ist. Ich möchte hier auch nicht die Feststellung unterlassen, 
daß Richter-Quittner®) selbst im Jahre 1919 eine Arbeit veröffentlicht 


1 
2 


) loc. eit. 

) v. Koranyi, Zeitschr. f. klin. Med. 3%, 7. 1897. 

3) loc. cit. 

2) Snapper, Biochem. Zeitschr. 51, 53. 1913. 

5) Ioe. cit. 

6) M. Richter-Quittner, Biochem. Zeitschr. 95, 179. 1919. 


Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 189. 8 


ja! E. Wiechmann: 


hat, aus deren Protokollen hervorgeht, daß das Plasma dieselbe Menge 
Chlorid enthält, ob es nun aus Hirudinblut oder aus Natrium-Oxalat- 
Blut gewonnen wird. 

In einem weiteren Versuch wurde festzustellen versucht, wie sich 
der Chlorgehalt der Blutkörperchen verhält, wenn sie in chlorreicherer 
Lösung suspendiert sind. Dazu wurde das native Blut sofort nach der 
Sauerstoffdurchleitung in zwei Teile geteilt. Ein Teil (a) wurde sofort, 
wie oben beschrieben, analysiert; vom zweiten Teil wurde ein bestimmtes 
Volumen Blutkörperchenbrei mit dem gleichen Volumen isotonischer 
NaCl-Lösung gemischt, und diese Suspension (b) für zwei Stunden 
in den Eisschrank gestellt und dann analysiert. 


Versuch 1. 19. VII. 1920. Citratblut. Methode Koranyi. 


Cl mg in 


Vers. 100 ccm Plasma 
Tesp. 
Zwischenflüssigkeit 


C1l-Körperchen 


100 eem Blut- C1-Plasma resp. 
körperehen | Zwischenflüssigkeit 


223,9 
273,1 


a| 362,2 
| 542,6 


D 


1 
I@: 


A) 
‚0 

Es zeigt sich somit, daß eine erhebliche Menge Chlor aus der Zwischen- 
flüssigkeit in die Blutkörperchen übergetreten ist. Daß das Verhält- 
nis des Chlorgehaltes der Blutkörperchen zu dem des Plasmas, wie es 
im nativen Blut vorhanden war, nicht wiederhergestellt ist, mag sich 
daraus erklären, daß in den zwei Stunden bei Eisschranktemperatur 
noch kein vollkommener Ausgleich stattfinden konnte. Diese Erklärung 
erscheint umso wahrscheinlicher in Hinblick auf die von mir später 
(Seite 118) angeführten Versuche über den Einfluß der Temperatur und 
der Zeit auf die Verteilung des Phosphat-Anions zwischen Blutkörper- 
chen und Suspensionsflüssigkeit. 

Umgekehrt zeigt sich, daß, wenn die Blutkörperchen in chlorärmerer 
Lösung suspendiert werden, eine nicht unbeträchtliche Menge Chlor 
aus den Blutkörperchen in die Lösung übertritt. Die Versuchsanordnung 
war dieselbe wie bei dem vorhergehenden Versuch, nur daß an die Stelle 
der isotonischen Natriumchlorid-Lösung eine isotonische Natrium- 
sulfat-Lösung trat. Das Ergebnis zeigt folgende Tabelle: 


Versuch 2. 23. VII. 1920. Defibriniertes Blut. Methode Koranyıi. 


Cl mg in 
Versuchs C1-Körperchen 
(LO — 
nummer as 100 ceem Blut- C1-Serum tesp. 
To körperchen Zwischenflüssigkeit 
a 392,2 104,8 5 S7/ 
b 98,6 83,6 19:7162 


Über die Durchlässigkeit der menschlichen roten Blutkörperchen für Anionen. 115 


Auch hier ist offenbar der Ausgleich infolge zu kurzer Versuchs- 
dauer und zu niedriger Temperatur nicht vollkommen zustande gekom- 
men. Siebeck fand in einem ähnlichen Versuch, daß sich das Chlor 
nachher genau im gleichen Verhältnis auf Zellen und Lösung verteilte, 
wie vorher auf Zellen und Serum. Aber von ihm wurden die Blut- 
körperchen 4 Stunden lang bei Zimmertemperatur in Natriumsulfat- 
Lösung gemischt. 

Wie sich bei Suspension der Blutkörperchen in einer chlorärmeren 
Lösung der Übertritt des Chlors in die Lösung allmählich vollzieht, 
zeigt der folgende Versuch. Hierfür wurden gleiche Volumina Blut- 
körperchenbrei und isoton. Natriumsulfat-Lösung miteinander gemischt 
und a) der Chlorgehalt sofort, b) nach zweistündigem Verweilen der 
Suspension im Eisschrank bestimmt. 


Versuch 3. 29. VII. 1920. Defibriniertes Blut. Methode Koranyi. 


| Cl mg in 
Ver- “ 
ug 100 eem Zwi- an EN C1-Körperchen 
sc üssig- " | C1-Zwischenflüssigkeit 
Lummmet ee körperchen 
Fo] 
a Don Wr! 1: 0,56 
DES 833.000, 6 1: 1,14 


Zu den Ergebnissen von H. Straub und Klothilde Meier!) stehen 
die meinen in einem Widerspruch, da Chlor-Ionen nach der Deutung, 
die sie ihren Befunden geben, erst in die Blutkörperchen eintreten, 
wenn die Wasserstoffzahl den Wert ?, = 6,67 überschreitet. 


3. Die Durchlässigkeit der roten Blutkörperchen für das 
Brom-Anion. 


Die Versuche über die Durchlässigkeit der roten Blutkörperchen 
für Chlor-Ionen konnten — wenigstens, was die Untersuchungen im 
nativen Blut anlangt — kein eindeutiges Resultat liefern, da schon im 
nativen Blut Chlor-Ionen vorhanden sind. Es erschien daher inter- 
essant, festzustellen, wie sich die Blutkörperchen hinsichtlich ihrer 
Durchlässigkeit gegenüber einem anderen Anion verhalten würden, 
das in seinem sonstigen physiologischen Verhalten dem Chlor-Anion 
sehr nahe steht und sich im wesentlichen genau so wie das Chlor-Anion 
verhält. Als solches habe ich das Brom-Anion gewählt. Die Versuchs- 
anordnung war dieselbe, wie oben bei den Versuchen über die Sulfat- 
durchlässigkeit angegeben. Um die Gleichheit der Versuchsanordnung 
zu wahren, habe ich auch hier durch das Blut !/, Stunde einen starken 
Sauerstoffstrom hindurchgeleitet. Im übrigen wurden gleiche Volumina 
Blutkörperchenbrei und isoton. Natriumbromid-Lösung (1,678%) mit- 


ı)H. Straub und Klothilde Meier, 98, 205. 1919. 
8* 


116 E. Wiechmann: 


einander gemischt, und der Bromgehalt der Blutkörperchen aus 
dem Bromdefizit der Zwischenflüssigkeit berechnet. Die Bestim- 
mung des Broms geschah nach der von Hartwich!) angegebenen 
Methode. 


Tabelle III. Die Verteilung des Brom-Anions. 


EI NaBr g in „NaBr- 
=) 3 Versuchs- Körperchen ; 
EB: datum Art des Blutes] 100 cem 100 cem NaBr- Bemerkungen 
a = > Zwischen- Blut- Zwischen- 
ar 1920 flüssigkeit | körperchen flüssigkeit 
1 Me IE || One 1,19 0,45 1: 2,6 minimale 
Hämolyse 
2 2.XM. | Citrat 1,18 0,39 Il 3.20 
3 15. XII. | Defibriniert IT 0,36 16933 minimale 
Hämolyse 
4 20. XII. | Defibriniert 1525 0,36 1,2 8,9 minimale 
Hämolyse 


Die Zwischenflüssigkeit enthält also etwa dreimal soviel Brom wie 
die Blutkörperchen, gleichgültig, ob es sich um durch Natriumeitrat 
ungerinnbar gemachtes oder um defibriniertes Blut handelt. Die 
Erwartung, daß das Brom-Anion sich auch hier ähnlich wie das 
Chlor-Anion verhalten würde, hat sich also erfüllt. Dem Verhältnis 
1:2,1 des Chlorgehalts der Blutkörperchen zu dem des Plasmas 
resp. des Serums im nativen Blut entspricht gut das Verhältnis 1 : 3,1 
für Brom. 

Über die Durchlässigkeit der roten Blutkörperchen für Brom-Ionen 
liegen bereits Angaben in der Literatur vor. Nach von Wyss?) findet 
sich das Brom nach oraler Zufuhr fast ausschließlich im Blutserum. 
Bönniger?) fand, daß in den roten Blutkörperchen das Verhältnis 
Gesamt-Halogen zu Brom das gleiche ist wie im Serum, daß also, wie 
er sagt, die roten Blutkörperchen kein Unterscheidungsvermögen für 
Chlor und Brom besitzen. Neuerdings konnte Autenrieth*) in den 
dreimal mit physiologischer Kochsalzlösung gewaschenen Blutkörper- 
chen eines Nierenkranken, der längere Zeit Bromnatrium erhalten 
hatte, nicht einmal Spuren von Brom nachweisen. In allen diesen 
Fällen wurde die Bestimmung in der gewöhnlichen Weise an kohlen- 
säurehaltigem Blut vorgenommen. Was das Ergebnis von Auten- 
rieth anlangt, so ist es vollkommen dadurch erklärt, daß, wie bekannt 
ist, das Brom aus den Blutkörperchen durch Kochsalzlösung ausge- 
waschen werden kann. 

1) Hartwich, Biochem. Zeitschr. 10%, 202. 1920. 
2) v. Wyss, Arch. f. experim. Pathol. u. Pharmakol. 55, 263. 1906. 
3) Bönniger, Zeitschr. f. experim. Pathol. u. Ther. 4, 414. 1907; %, 2. 1909; 


14, 2. 1913. 
4“) Autenrieth, Münch. med. Wochenschr. 1918, Nr. 28, S. 749. 


Über die Durchlässigkeit der menschlichen roten Blutkörperchen für Anionen. 117 


4. Die Durchlässigkeit der roten Blutkörperchen für das 
Phosphat-Anion. 


Die bisherigen Versuche zeigten, daß die roten Blutkörperchen 
unter gleichen Versuchsbedingungen für das Sulfat weniger durchlässig 
sind als für Chlorid und Bromid. Ähnliche Permeabilitätsdifferenzen 
sind auch bei anderen Objekten beobachtet worden. Zunächst sei an 
‚die alten Experimente von Walden!) erinnert, nach denen in Gelatine 
eingelagerte Traubesche Niederschlagsmembranen für Alkalichlorid, 
-bromid, -jodid und -rhodanid durchlässig, für Sulfat, Oxalat und Phos- 
phat undurchlässig sind. Bei Pflanzenzellen fand Fitting?), daß 
Alkalisulfat weniger rasch eindringt als Chlorid, Bromid, Nitrat. Nach 
Overton?°) bleiben Frosch-Muskeln in isotonischen Kalisalzlösungen 
von Phosphat, Tartrat, Sulfat, Äthylsulfat und Acetat außerordentlich 
lange am Leben und behalten dabei ihr Gewicht bis zu 50 Stunden 
völlig unverändert; in den isotonischen Kalisalzlösungen von Chlorid, 
Bromid, Jodid und Nitrat dagegen bleibt das Muskelgewicht nur kurze 
Zeit konstant, um dann, während die Muskeln absterben, irreversibel 
zu wachsen. Siebeck*)fand, daß ausgeschnittene Froschnieren, solange 
die Struktur ihrer Zellen unversehrt ist, in isotonischer Kaliumchlorid- 
lösung in reversibler Weise schwellen, etwas weniger in der Bromid- 
lösung, noch weniger in der Nitratlösung, und daß das Gewicht in der 
Kaliumsulfatlösung sich überhaupt nicht merklich ändert. 

Diese und andere Beobachtungen lesten es nahe, auch das Phosphat 
in den Kreis der Untersuchungen zu ziehen. 

Von einer Bestimmung der Verteilung des Phosphat-Anions auf 
Blutkörperchen und Plasma im nativen Blut habe ich abgesehen, 
weil sich durch die Mitbestimmung der organisch gebundenen Phosphate 
kein eindeutiges Resultat ergeben hätte. Unter Beibehaltung der 
bisher angewandten Versuchsanordnung wurden gleiche Mengen von 
Blutkörperchenbrei und isotonischem Phosphatgemisch mit einander ge- 
mischt, und der Phosphatgehalt der Blutkörperchen aus dem Phosphat- 
defizit der Zwischenflüssigkeit errechnet. Um dem Einwand zu begegnen, 
daß durch das wiederholte Waschen der Blutkörperchen mit physiolo- 
gischer Kochsalzlösung Phosphat-Anionen aus den Blutkörperchen ausge- 
waschen würden, und so das analysierte Phosphatdefizit der Zwischen- 
flüssigkeit zu hoch sei, wurde bei jedem Versuch der Phosphatgehalt der 
zweiten Waschflüssigkeit bestimmt. Er erwies sich stets als so niedrig, 
daß er praktisch vernachlässigt werden konnte. Der Phosphatgehalt der 
Zwischenflüssigkeit wurde durch Titration mit Uranylacetat bestimmt. 


!) Walden, Zeitschr. f. physikal. Chemie 10, 699. 1892. 

2) Fitting, Jahrb. f. wissensch. Botanik 56, 1. 1915; 5%, 553. 1917. 
®2) Overton, Arch. f. d. ges. Physiol. 105, 176. 1904. 

*) Siebeck, Arch. f. d. ges. Physiol. 148, 443. 1912. 


ale E. Wiechmann: 


Das verwandte Phosphatgemisch wurde folgendermaßen hergestellt: 
1/, molekulare Lösungen von primärem und sekundärem Phosphat 
wurden soweit mit Wasser verdünnt, daß sie zu den Blutkörperchen 
ungefähr isotonisch waren; ihre Gefrierpunktserniedrigung betrug 
0,565°. Der Wasserstoffionenexponent des Gemisches wurde elektro- 
metrisch als 9, = 7,12 bestimmt. 


Tabelle IV. Die Verteilung der Phosphat-Anionen nach zweistündigem Ver- 
weilen der Suspension im Eisschrank. 


& | Ver- P,O; g in { 33% 

Zul Suche P,0;-Körperchen | ” = ä B 

5 | dat Art des Blutes| 100 cem 100 cem |"P,0,Zwischn- OE% e7 

| Zwischen- Blut- üssigkeit a; 5 | merkungen 

> || 1921 flüssigkeit | körperchen | 

1 || 10. I. | Defibriniert | 0,890 0,1001 1:39:20 0,025 | minimale 
Hämolyse 

2 3, 15 | Oma 0,8825 | 0,0877 1 3 O6 0,015 | minimale 
Hämolyse 

3 | 12.1. | Defibriniert | 0,8735 | 0,0744 1 ll 0,02 \ minimale 

h Hämolyse 
4 | 14.1]. | Citrat 0,380 | 0,1101 1: 8,0 0,01 


Unter den gewählten Bedingungen erscheinen danach die roten Blut- 
körperchen des Menschen im Verhältnis zu den anderen untersuchten 
Anionen als nur in sehr geringem Grade für Phosphat- Anionen durchlässig. 

Nachdem somit ein Unterschied in der Durchlässigkeit für Chlor- 
und Brom-Anion einerseits, Sulfat- und Phosphat-Anion andererseits 
konstatiert war, lag es nahe zu fragen, ob der Unterschied vielleicht 
nur ein quantitativer, von der geringeren Diffusibilität des Sulfat- 
und Phosphat-Anions abhängiger sei. Zur Entscheidung wurde die 
Versuchsdauer verlängert, und die Diffusibilität durch Wahl einer 
über Eisschranktemperatur gelegenen Temperatur erhöht. Dieser 
Gedankengang wurde u. a. nahegelest durch die Untersuchungen von 
van Rysselberghe!) an Pflanzenzellen, aus denen hervorgeht, daß die 
Geschwindiskeit des Durchtritts gelöster Substanzen durch die Plasma- 
haut durch Temperatursenkung stark verzögert, durch Temperatur- 
steigerung stark beschleunist werden kann, ferner auch durch die von 
Masing?), die zeigten, daß die Geschwindigkeit des Eindringens von 
Traubenzucker bei menschlichen Blutkörperchen in hohem Grade 
von der Temperatur abhängt. 

Methodisch bin ich bei den Versuchen genau so vorgegangen, wie 
oben angegeben; nur blieb die Suspension der Blutkörperchen in dem 
Phosphatgemisch nicht für 2 Stunden im Eisschrank (durchschnittliche 
Temperatur +2 bis +3°C) stehen, sondern wurde für 4 Stunden der 
Zimmertemperatur (+19° C) überlassen. 


!) van Rysselberghe, Bull. de l’Acad. roy. de Belgique 1903. 173. 
?2) Masing, Arch. f. d. ges. Physiol. 156, 401. 1914. 


Über die Durchlässigkeit der menschlichen roten Blutkörperchen für Anionen. 


119 


Tabelle V. Die Verteilung des Phosphat-Anions nach vierstündigem Verweilen 
der Suspension bei Zimmertemperatur. 


: Ver- P,O, gin 833 
= Es en, P,O,-Körperchen | x 2 a En 
& _ | Art des Blutes| 100 ccm 00Nceme |np>pe7 schen Sn = 
= | datum Zischen Bir "nüssigkeit r 3 | merkungen 
> || 1921 flüssigkeit | körperchen 9," 
: 
1 1176 16 || (Onmane 0,7625 | 0,2594 15289 0,03 | minimale 
| | Hämolyse 
| 2 E re = Be 
2 | 19.1. | Defibriniert | 0,755 0,2917 1: 2,6 0,02 | minimale 
Hämolyse 


Das Verhältnis des Phosphatgehalts der Blutkörperchen zu Cem 
der Zwischenflüssigkeit hat sich also von 1: 9,7 auf 1: 2,75 im Mittel 
erniedrist. Wenn auch im letzteren Fall die Blutkörperchen doppelt 
so lange — nämlich im ganzen 4 Stunden — mit dem Phosphatgemisch 
in Berührung waren als im ersteren, so muß doch wohl der Hauptein- 
fluß auf die erhöhte Durchlässigkeit der Blutkörperchen für das Phos- 
phat-Anion der Temperatursteigerung zugeschrieben werden. ‚Es liegt 
danach die Annahme nahe, daß auch die Durchlässigkeit der roten 
Blutkörperchen für das Sulfat-Anion in ähnlicher Weise durch Tem- 
peratursteigerung erhöht werden kann. Der experimentelle Nachweis 
wird noch zu liefern sein. 


5. Der Einfluß des Calciums auf die Durchlässigkeit der 
roten Blutkörperchen für das Brom-Anion. 


Die letzte Versuchsserie lehrte, daß man durch Variierung sehr 
einfacher äußerer Bedingungen zu recht verschiedenen Ergebnissen 
betreffs der Durchlässigkeit geführt werden kann. Mit aus diesem Ge- 
sichtspunkte heraus wurde weiter geprüft, ob nicht durch das Suspen- 
dieren der Blutkörperchen in den reinen Alkalisalzlösungen anormale 
Durchlässigkeitsverhältnisse künstlich geschaffen waren. Deswegen 
wurden die Blutkörperchen in einer isotonischen NaBr-Lösung aufge- 
schwemmt, die noch eine der Ringer-Lösung entsprechen’e Menge KCl 
und CaCl, enthielt. 

Im einzelnen wurden aus defibriniertem Blut abzentrifugierte, 
zweimal mit isotonischer Kochsalzlösung gewaschene Blutkörperchen 
und eine modifizierte Ringerlösung von der Zusammensetzung 1,678, 
NaBr + 0,03% KCl + 0,03% CaCl, zu gleichen Teilen miteinander 
gemischt. Im übrigen war die Versuchsanordnung nicht gegen früher 
geändert. 

Die Versuche zeigten, daß die Permeabilität der roten Blutkörperchen 
für Brom-Ionen tatsächlich unter diesen geänderten Bedingungen 
auch geändert wird, wie folgende Tabelle beweist: 


120 E. Wiechmann : 


Tabelle VI. Der Einfluß des Ca* * auf die Durchlässigkeit der roten Blutkörper- 
chen für das Brom-Anion. 


NaBr gi r 
Versuchs- | Versuchsdatum er NDBEerpErchen 
mamneR 100 ccm Zwi- | 100cem Blut- | NaBr-Zwischen- 
1920 schenflüssigkeit | körperchen flüssigkeit 
1 8. XI. 1,36 0,22 1682 
2 1lılo XIDE 1,29 0,18 762, 
3 21. XI. 1,34 0,15 1: 9,0 


Das Verhältnis des Bromgehalts der Blutkörperchen zu dem der 
Zwischenflüssigkeit ist somit von 1:3,1 auf 1:7,5 im Mittel ver- 
schoben. Diese Änderung muß nach den bisherigen Erfahrungen dem 
Ca** zugeschrieben werden, dessen Wirkung auf die Plasmahaut heute 
im allgemeinen als eine Kolloidverfestigung aufgefaßt wird. So vermag 
Ca** Streptokokken gegen baktericide Stoffe, durch die sie zur Auf- 
quellung gebracht werden, zu schützen (Loening); Ca** übt auf 
Seeigeleier einen Schutz gegen Alkalisalze aus, indem es den Pigment- 
austritt verhindert (Lillie);dieHaemolysedurch Saponin (Mac Callum), 
durch Narkotika und durch Hypotonie (Höber) wird durch Ca++ ge- 
hemmt; die verringerte Resistenz, die mit 0,9 proz. NaCl-Lösung aus- 
gewaschene Blutkörperchen gegen hypotonische NaCl-Lösungen im 
Gegensatz zu nicht ausgewaschenen Blutkörperchen haben, kann durch 
Zusatz von Ca** vermieden werden (Snapper); die Bildung entzünd- 
licher Exsudate wird durch Zufuhr von Ca*+* gehemmt (Chiari und 
Januschke); die Auflockerung der Zellwände von Pflanzenwurzeln, 
die in reinen Lösungen von Magnesium- und Kaliumsalzen statthat, 
wird durch Ca** beseitigt (Hansteen); die quellende Wirkung des 
Magnesiums, Kobalts und Nickels auf fein zerschnittene Frosch- 
muskulatur wird durch Ca* * antagonistisch beeinflußt (Wiechmann); 
die abnorm große Permeabilität, die Pflanzenzellen in einer reinen 
NaCl-Lösung aufweisen, sinkt nach Zusatz von Ca** (OÖsterhout) u.a. 


6. Die Durchlässigkeit der roten Blutkörperchen für die 
Anionen von Säurefarbstoffen. 


Zu den Methoden, die in den letzten drei Jahrzehnten zur Lösung der 
Frage nach der physiologischen Stoffaufnahme der Zellen herangezogen 
worden sind, gehört die Vitalfärbung mit in erster Linie. So liegt es 
nahe, für die uns beschäftigende Frage der Anionenpermeabilität der roten 
Blutkörperchen auch Versuche mit Farbstoffanionen heranzuziehen. . 

Die Auswahl hierzu geeigneter Farbstoffe wurde vor allem nach 
dem Gesichtspunkt der Vergleichbarkeit mit den vorher untersuchten 
anorganischen Anionen getroffen. Die Farbstoffe mußten deshalb 
erstens in Lipoiden und in dem nach Nirenstein!) mit den Zelllipoiden 


1) Nirenstein, Arch. f. d. ges. Physiol. 1%9, 233. 1920. 


Über die Durchlässigkeit der menschlichen roten Blutkörperchen für Anionen. 121 


vergleichbaren Gemisch von Diamylamin-Ölsäure-Öl unlöslich sein: 
zweitens mußten sie sich durch möglichst große Diffusibilität, also 
kleines Molekulargewicht und durch möglichst geringe Adsorbierbarkeit 
auszeichnen. Ferner sollten sie auch keine auffallenden Indikator- 
eigenschaften aufweisen, d. h. sie durften nicht zu störenden Farb- 
änderungen neigen. Diesen Bedingungen entsprechen ziemlich gut die 
Farbstoffe Cyanol extra (Cassella & Co.), Lichtgrün FS (Grübler 
& Co.), Ponceau 2 R (Höchst) und Setopalin (Geigy). 

Das Blut wurde, wie in den vorher beschriebenen Versuchen, in 
dem Zehntelvolumen einer 5proz. Natriumcitratlösung aufgefangen, 
nach halbstündiger Sauerstoffdurchleitung zentrifugiert, und die 
Blutkörperchen 2—4mal mit isotonischer Kochsalzlösung gewaschen, 
je nachdem die Waschflüssigkeit noch eine Eiweißreaktion gab oder nicht. 
Die Farbstoffe wurden in einer isotonischen Natriumsulfatlösung ge- 
löst. Von dieser Farbstoff-Natriumsulfatlösung und dem gewaschenen 
Blutkörperchenbrei wurden gleiche Volumina miteinander gemischt 
und diese Suspension nach gutem Umschütteln für 2 Stunden in den 
Eisschrank (durchschnittliche Temperatur +2° bis +3°C) gestellt. 
Nach Ablauf der 2 Stunden wurde zentrifugiert. Auf das sorgfältigste 
wurde darauf geachtet, daß das Zentrifugat absolut klar war. Um das 
zu erzielen, wurden zum Zentrifugieren enge Röhren benutzt. Die 
Farbstoffkonzentration der Zwischenflüssigkeit wurde mit einem 
Krüßschen Colorimeter ermittelt. Die Verdünnung, die durch die den 
Blutkörperchen anhaftende Flüssigkeit zustande gekommen war, 
wurde mittels Haematokriten bestimmt. In dem ersten Versuch wurde 
zur Kontrolle aus der wiedergefundenen Menge Na,SO, in der Zwischen- 
flüssigkeit der Haematokritwert berechnet. Als der so berechnete und 
der gefundene Haematokritwert gute Übereinstimmung zeigten, wurde 
weiterhin von gleichzeitigen Sulfatbestimmungen abgesehen. 


Tabelle VII. Die Durchlässigkeit der menschlichen roten Blutkörperchen für 


Säurefarbstoffe. 
| | Farbstoff g 
Versuchs- . 
7 -|| zugesetzt zum wiedergefunden 
Ne | datum Farbstoff Blutkörperchen- |in der Zwischen- 
| brei | flüssigkeit 
| 1®0 % % 
1 | 10. V. Cyanol 0,01 0,011 
BEN IT VE Cyanol 0,01 0,012 
3 | FINE Cyanol 0,005 0,0056 
4 | 2 IT Lichtgrün 0,05 0,056 
b) 21 Xe Setopalin 0,01 0,011 
ö 28. X. Ponceau 2 R 0,5 0,53 


122 E. Wiechmann: 


Die Tabelle lehrt, daß unter den hier innegehaltenen Bedingungen 
innerhalb der Versuchszeit von 2 Stunden nicht merklich Farbstoff 
in die Blutkörperchen eingedrungen ist. Daß die erhaltenen Werte 
sogar etwas höher sind als in maximo zu erwarten ist, dürfte auf ganz 
leichte Trübungen durch Eiweißspuren zurückzuführen sein. Die Farb- 
stoffe, welche sämtlich Sulfosäurefarbstoffe sind und als solche dem 
Natriumsulfatin chemischer Hinsicht ähneln, verhalten sich hier also auch 
gegenüber den Blutkörperchen etwa so wie das Natriumsulfat (s. S. 111). 

Dieses Ergebnis hat auch im Hinblick auf die gegenwärtig disku- 
tierten Auffassungen von dem Wesen der Vitalfärbung ein gewisses 
Interesse. Die zahlreichen Erfahrungen über die Vitalfärbung werden 
zurzeit ja hauptsächlich um drei Theorien gruppiert, um die Lipoid- 
theorie von Overton, die Ultrafiltertheorie von Ruhland und die 
Reaktionstheorie von Bethe. Nach der Lipoidtheorie entscheidet 
über die Aufnahme eines Farbstoffes und zum Teil auch über seine 
Speicherbarkeit die Lipoidlöslichkeit. Mit dieser Auffassung stehen die 
oben beschriebenen Resultate in Übereinstimmung; die verwandten 
Farbstoffe dringen entsprechend ihrer Lipoidunlöslichkeit nicht in die 
Zellen ein. Nach der Ultrafiltertheorie entscheidet die Dispersität der 
Farbstoffe über ihre Permeierfähigkeit; die hier benutzten relativ 
hochdispersen Farbstoffe sollten demnach eindringen, es ist aber nicht 
der Fall. Schwieriger ist die Stellungnahme zu der Theorie von Bethe. 
Bethe vertritt den Standpunkt, daß, abgesehen von den hochkolloi- 
dalen, alle Farbstoffe in die lebenden Zellen hineingehen können, daß 
aber das Maß der Speicherung im Zellinnern sehr verschieden und ab- 
hängig von der Reaktion des Innern ist; saure Reaktion begünstigt 
die Ansammlung von Säurefarbstoffen, alkalische Reaktion die von 

 Farbbasen. Daß dieses Prinzip von großer Tragweite für die Quantität 
der Zellfärbungen ist, ist durch die zahlreichen Versuche Bethes und 
seines Schülers Rohde überzeugend nachgewiesen!). Fraglich kann 
nur noch sein, ob eine anscheinend vorhandene Farblosigkeit einer Zelle, 
die von der Lösung eines Säurefarbstoffes umspült ist, nur vorgetäuscht 
ist, während in Wirklichkeit der Farbstoff eingedrungen .und nur zu 
wenig gespeichert ist, um im Mikroskop kenntlich zu sein, oder ob es 
wirkliche Impermeabilität für die Farbstoffe gibt. Bethe wurde näm- 
lich zu seiner Theorie durch Modellstudien über die Anfärbbarkeit 
von angesäuerter, neutraler und alkalischer Gelatine geführt, wobei 
er fand, daß, während die Gelatine bei saurer Reaktion reichlich Säure- 
farbstoff speichert, sie bei neutraler und alkalischer Reaktion so viel 
weniger aufnimmt, daß ihre Farbintensität hinter der der Farbflotte 
zurückbleibt. Die hier beschriebenen Versuche an den Blutkörperchen 


1) Siehe besonders: Bethe, Wien. med. Wochenschr. 1916, Nr. 14; K. Rohde, 
Arch. f. d. ges. Physiol. 168, 411. 1917 und 182, 114. 1920. 


Über die Durchlässigkeit der menschlichen roten Blutkörperchen für Anionen. 123 


sprechen nun für eine wahre Impermeabilität, es sei denn, daß der 
Blutkörpercheninhalt sich angenähert so verhält wie eine alkalisch 
reagierende Gelatinegallerte. Zu dieser Annahme liegt aber kein Grund 
vor. Eiweiß als Modellsubstanz an Stelle von Gelatine würde sogar 
wahrscheinlich in der Nähe des neutralen Punktes erheblich mehr 
Säurefarbstoff speichern als Gelatine, da der isoelektrische Punkt der 
_ Gelatine ziemlich weit nach der sauren Seite verschoben ist. Es sprechen 
übrigens auch andere Beobachtungen für eine wahre Impermeabilität 
mancher lebender Zellen für lipoidunlösliche Säurefarbstoffe; ich erwähne 
hier nur die Spirogyra, deren Zellsaftraum unter normalen Verhält- 
nissen tagelang von hochdispersen Säurefarbstoffen nicht merklich 
angefärbt wird. Wollte man hier auch das Bethesche Prinzip gelten 
lassen und annehmen, daß der dünne Protoplasmamantel infolge einer 
neutralen oder alkalischen Reaktion nicht befähigt ist, den Farbstoff 
zu speichern, so müßte sich doch auch der Zellsaft mit der umgebenden 
Lösung ins Gleichgewicht setzen, und da er nicht alkalisch reagiert 
und da er vor allem sicherlich nur wenig Kolloide enthält, die bei ge- 
eigsneter Reaktion den Farbstoff speichern könnten, so ist nicht einzu- 
sehen, warum er sich nicht deutlich färben sollte, wofern der Proto- 
plasmaschlauch an sich für den Farbstoff durchlässig ist. 

Eine andere Frage ist es, ob die Blutkörperchen sich so, wie hier be- 
schrieben, auch in Gegenwart von CO, verhalten, oder ob sie nicht, nach 
Analogie der Ergebnisse vonHamburger, dann das Anion der Sulfosäure- 
farbstoffe ähnlich aufnehmen wie das Sulfation. Dies wird noch zu prüfen 
sein, ebenso wie Versuchsdauer und Temperatur noch weiter variiert 
werden sollen. 

III. Diskussion der Ergebnisse. 

Die mitgeteilten Versuche über die Verteilung der Anionen nötigen 
zu einer erneuten Stellungnahme zu dem Problem der Durchlässigkeit 
der roten Blutkörperchen. Ich gehe dabei von den bekannten Versuchen 
von Zuntz, Hamburger und von Limbeck aus, in denen gezeigt 
wurde, daß bei Einleiten von CO, in Blut die Menge des titrierbaren 
Alkalis im Serum zu-, sein Chlorgehalt abnimmt. Dieser Einfluß 
der Kohlensäure auf die Verteilung der Blutbestandteile ist nach 
Hamburger auch bei Vergleichung des natürlichen arteriellen und 
venösen Blutes zu beobachten. Nachdem dann durch Gürber nachge- 
wiesen war, daß die Verteilung von K und Na auf Körperchen und Serum 
infolge der CO,-Durchleitung keine Änderung erfährt, wurde von 
Hamburger und Koeppe eine Erklärung für die Erscheinungen der- 
art gegeben, daß durch die Plasmahaut der Blutkörperchen hindurch 
per diffusionem ein Austausch von Kohlensäure- und von Chlor-Anionen 
stattfinde. Jedoch haben Spiro und Henderson!) sowie neuerdings 


1) Spiro und L. J. Henderson, Biochem. Zeitschr. 15, 114. 1908. 


124 E. Wiechmann: 


Rohonyi!) darauf aufmerksam gemacht, daß die Annahme einer 
semipermeablen Plasmahaut hierbei entbehrlich sei. Rohonyi hämo- 
Iysierte Blut mit Hilfe von Wasser, Saponin oder Äther. füllte es in 
einen Dialysator und versenkte diesen in Serum; nach CO,-Durchlei- 
tung kam es zu derselben Wanderung von Karbonat und Chlor wie bei 
den intakten Blutkörperchen. Dies ist wohl so zu verstehen, daß ober- 
halb einer gewissen H*-Konzentration die amphoteren Kolloidelektrolyte 
der Blutkörperchen als Kationen fungieren und als solche anorganische 
Anionen festhalten, welche nach elektrischen Äquivalenten gegen 
andere außen befindliche Anionen ausgetauscht werden können. Nach 
Rohonyi bedarf es jedoch gar nicht immer erst der Einleitung von 
CO,, um Anionen der Umgebung der Blutkörperchen gegen Anionen 
des Blutkörpercheninhalts (sei es des intakten, sei es des Inhalts aufge- 
löster Blutkörperchen) auszuwechseln. Suspendiert man Blutkörper- 
chen z. B. in einer Calziumnitritlösung, so dringt das NO,-Ion ein, 
und entsprechende Mengen Cl-Ion kommen heraus, während das Ca an 
seinem Platz verbleibt. Der von Rohonyi auf Grund seiner Versuche ver- 
tretene Standpunkt wird neuerdings auch von J. Loeb?2) eingenommen. 

Fügen sich nun auch meine Versuche in den Rahmen dieser Be- 
trachtungen? Dies ist im großen ganzen zu bejahen. Es wäre nur noch 
zu beachten, daß die Geschwindigkeit, mit der sich die Auswechselung 
der Anionen vollzieht, von speziellen Eigenschaften der Ionen bestimmt 
sein kann (Sulfat, Phosphat einerseits, Chlorid, Bromid andererseits), und 
daß die Durchlässigkeit der Blutkörperchen auch noch von der Anwesen- 
heit gewisser Kationen, wie dem Ca, in starkem Maß abhängen kann. 

Blickt man nun aber über die hier mitgeteilten Analysenergebnisse 
hinaus, so zeigt sich, daß die Frage der Blutkörperchenpermeabilität 
für die Elektrolyte bei weitem noch nicht gelöst ist. Erstens bleibt 
ganz unverständlich die Art und Weise, wie sich der früher (Seite 282) 
erwähnte, von Siebeck beobachtete Cl-Austritt in Rohrzuckerlösung 
vollzieht, der einerseits kein Austausch sein kann und andererseits auch 
kein Austritt von Anion + Kation, da nach Siebeck die osmotischen 
Eigenschaften der Blutkörperchen bei dem Cl-Auswaschen unverändert 
bleiben. Sodann erhebt sich die Frage, wie man sich die anorganischen 
Kationen im Innern der Blutkörperchen festgehalten denken soll. 
Wollte man annehmen, daß die Kolloide des Blutkörpercheninnern als 
Ampholyte nicht bloß Kationen, sondern auch Anionen bilden, 
von denen die anorganischen Kationen, gerade so wie die anorganischen 
Anionen, festgehalten werden, so würden mangels einer semipermeablen 
Plasmahaut anorganische Kationen und anorganische Anionen zusammen 
herausdiffundieren können, und der spezifische Bestand an Binnennsalzen 


1) Rohonyi, Kolloidchem. Beih. 8, 337. 1916. 
2) J. Loeb, Journ. of gen. physiol. 1, 39. 1918. 


Über die Durchlässigkeit der menschlichen roten Blutkörperchen für Anionen. 125 


wäre nicht möglich. Auch die bekannte sehr geringe elektrische Leitfähig- 
keit der normalen Blutkörperchen verträgt sich nicht mit dieser Annahme. 

Offenbar bedarf unsere gewöhnliche Auffassung von der Struktur 
der Blutkörperchen der Revision. Dazu drängen auch andere zum Teil 
schon länger zurückliegende, noch wenig genützte Erfahrungen!), die 
darauf hindeuten, daß das Blutkörperchen aus zwei verschiedenen 
einander durchsetzenden Phasen, einer einen großen Teil der Binnen- 
elektrolyte enthaltenden Stromaphase mit der Eigenschaft der Semiper- 
meabilität und einer die Elektrolyte lockerer bindenden Hämoslobin- 
phase besteht. 

IV. Zusammenfassung. 

1. Die Chlor-Ionen sind im nativen menschlichen Blut im Verhältnis 
1 :2,1 im Mittel auf Körperchen und Plasma resp. Serum verteilt. 
Entgegen den Angaben von Falta und Richter-Quittner ist dies 
sowohl bei durch Hirudin wie auch durch Natriumeitrat ungerinnbar 
gemachtem als auch bei defibriniertem Blut der Fall. 

2. Werden die Blutkörperchen in einer isotonischen Natrium- 
chlorid-Lösung aufgeschwemmt, so zeigen die Chlor-Ionen das Be- 
streben, sich im gleichen Verhältnis auf Blutkörperchen und Zwischen- 
flüssigkeit zu verteilen, wie esim nativen Blut vorhanden ist. Werden die 
Blutkörperchen in einer chlorärmeren Lösung (i. e. isoton. Natriumsulfat- 
Lösung) suspendiert, so treten Chlor-Ionen aus den Blutkörperchen aus. 

3. Unter den gleichen Versuchsbedingungen — halbstündige Durch- 
leitung eines kräftigen Sauerstoffstroms durch das Blut, zweistündiges 
Verweilen der Blutkörperchensuspension bei Eisschranktemperatur — 
sind die menschlichen roten Blutkörperchen in verschiedenem Maße 
für die verschiedenen Anionen durchlässig. Während das Verhältnis 
des Körperchengehaltes zu dem Gehalt der Zwischenflüssigkeit für 
Sulfat-Ionen im Mittel 1:19,7 (schwankend zwischen 1 : 8,5 und 1 : 35,5) 
und für Phosphat-Ionen 1 :9,7 beträgt, beträgt es für Brom-Ionen 
ähnlich wie für Chlor-Ionen 1 :3,1. Dieses differente Verhalten ist 
dasselbe, ob es sich um durch Natriumeitrat ungerinnbar gemachtes 
oder um defibriniertes Blut handelt. 

4. Durch höhere Temperatur wird die Geschwindigkeit des Ein- 
dringens von Phosphat-Ionen beschleunigt. 

5. Die Durchlässigkeit der roten Blutkörperchen für Brom-Ionen 
wird durch Ca** gehemmt. 

6. Cyanol, Lichtgrün FS, Setopalin und Ponceau 2 R werden während 
eines zweistündigen Aufenthalts bei Eisschranktemperatur von mensch- 
lichen Blutkörperchen, die in der Lösung suspendiert sind, nicht merk- 
lich aufgenommen. 


t) Siehez. B. Rollett, Arch. f. d. ges. Physiol. 82, 199. 1900; G. N. Stewart, 
Journ. of pharm. and exp. therapeut. 1, 49. 1909. 


Über Widerstand und Potentialdifferenz bei dem psychogalva- 
nischen Reflex. 


Von 
W. Einthoven und J. Roos. 


(Aus dem Physiologischen Laboratorium der Universität Leiden.) 
Mit 11 Textabbildungen. 
(Eingegangen am 10. März 1921.) 


Schon die Entdecker!) der psychogalvanischen Reflexerscheinung, von 
denen wir besonders Tarchanoff2) und Veraguth?) hervorheben, be- 
schäftigten sich mit der Frage, welche physikalischen Veränderungen im 
menschlichen Körper den elektrischen Strom hervorriefen, den sie in 
ihren Meßinstrumenten entstehen sahen. Spätere Forscher haben sich mit 
derselben Frage häufig beschäftigt. Während viele von ihnen glauben, 
daß sowohl die Schwankung der elektrischen Spannung als auch die 
Widerstandsänderung die Erscheinung hervorbringen kann, haben sie 
sich aber nicht damit befaßt, diese beiden Ursachen voneinander zu 
trennen und den Einfluß jeder einzelnen zu messen®). Am ausführlichsten 
sind Wertheim Salomonson’) und Gildemeister*), die aber zu 
entgegengesetzten Resultaten gelangen. 

Während Gildemeister hauptsächlich auf eine Abnahme der 
Polarisation schließt, glaubt Wertheim Salomonson, daß die 
Hauptursache eine Widerstandsänderung sei, die von einer Schwankung, 
und zwar besonders von einer Zunahme der Polarisation begleitet ist. 


!) Ein ausführliches Literaturverzeichnis, den psychogalvanischen Reflex im 
allgemeinen betreffend, findet man im Aufsatz von A. A. Grünbaun, Het psycho- 
galvanisch reflexverschijnsel en zijn psychodiagnostische waarde. Ned. Tijdschr. 
v. Geneesk. 1, 1044. 1920. 

2) J. Tarchanoff, Über die galvanischen Erscheinungen in der Haut des 
Menschen bei Reizungen der Sinnesorgane und bei verschiedenen Formen der 
psychischen Tätigkeit. Arch. f. d. ges. Physiol. 46. 1890. 

>) O. Veraguth, Das psychogalvanische Reflexphänomen. Monatsschr. f. 
Psych. u. Neurol. 31 und 33. 1907 und 1909. 

#) Siehe z. B. K. J. Bult, Inaug.-Diss. Groningen 1909. 

5) Wertheim Salomonson, Bijdrage tot de kennis van het Psychogalva- 
nisch reflexverschijnsel. Versl. Wis- en Natuurk. Afd. Kon. Akad. v. Wetensch. 
Amsterdam, DI. XXIV, 2, S. 997. 

6) M. Gildemeister, Der sogenannte psychogalvanische Reflex und seine 
physikalisch-chemische Deutung. Arch. f. d. ges. Physiol. 162%, 489. 1915. 


W. Einthoven und J. Roos: Über Widerstand und Potentialdifferenz usw. 127 


Wir haben versucht, zwei physikalische Ursachen oder besser gesagt, 
zwei Gruppen solcher, voneinander getrennt zu beobachten und zu messen. 
Einerseits die Entwicklung von Potentialunterschieden, wie wir sie 
beispielsweise bei der Nervenleitung, der Muskelkontraktion, der Retina- 
‚ funktion usw. kennen, und die im Ekg eine anerkannte klinische Be- 
deutung erhalten haben, andererseits eine Änderung des elektrischen 
Leitungswiderstandes, die von einer Polarisationsänderung begleitet 
wird. Die beiden letzteren Erscheinungen sind eng miteinander ver- 
bunden, denn Widerstands- und Polarisationsänderung sind die Folgen 
einer und derselben Ursache. 

Wir bemerken, daß beide sich immer in derselben Richtung bewegen. 
Eine Zunahme der Ionenkonzentration ruft eine Abnahme des Wider- 
standes und der Polarisation hervor, während umgekehrt beidezunehmen, 
wenn die Ionenkonzentration abnimmt. Für eine weitere Analyse 
des Widerstandes und der Polarisation weisen wir auf eine ausführliche 
Untersuchung hin, die im hiesigen Laboratorium vorgenommen wurde 
und binnen kurzem veröffentlicht werden wird. In diesem Aufsatz 
werden wir hingegen nicht versuchen, sie voneinander getrennt zu be- 
trachten, sondern immer ihren gesamten Einfluß messen. Den so er- 
haltenen Betrag stellen wir alsdann dem durch Potentialschwankung 
hervorgerufenen Einfluß gegenüber. 

Die Schwankung der elektromotorischen Kraft kann man leicht 
isoliert hervorbringen. Man braucht nur dafür zu sorgen, daß der 
meistens vorhandene Potentialunterschied zwischen den beiden mit 
dem Galvanometer verbundenen Ableitungsstellen der Versuchsperson 
genau kompensiert wird. Diese Methode, welche bereits Tarchanoff 
angewandt hat, ist in der elektrophysiologischen Technik und bei der 
klinischen. Elektrokardiographie allgemein üblich und braucht also 
nicht weiter beschrieben zu werden. Wir werden die dabei hervor- 
tretende Erscheinung die E-Erscheinung, und die bezüglichen Kurven 
E-Kurven nennen. 

Abb. 1 stellt ein Beispiel einer E-Kurve dar. 

Diese erhielt man bei J. v. D., dessen Daumen mit dem einen, und 
dessen kleiner und Ringfinger derselben Hand mit dem anderen Pol 
des Galvanometers in leitende Verbindung gebracht wurde. 7 ist der 
Sekundenschreiber, @ das Saitenbild und $ das Signal. Die Empfind- 
lichkeit des Galvanometers ist wie sie beim Registrieren des Ekg üblich 
ist, nämlich 1 Skalenteil Ausschlag stimmt mit 10 "* Volt Potentialschwan- 
kung überein. Bei P wird ein Gehörreiz angebracht, auf den die Versuchs- 
person mit einem Reflex reagiert: nach einer Latenzperiode von der 
Größenordnung von ein paar Sekunden wird der Daumen den beiden 
anderen Fingern gegenüber negativ, und zwar zum Betrage von 1,2 
Millivolt. 


128 W. Einthoven und J. Roos: N 


Die Kurven haben nicht immer die gleichmäßige Form wie in Abb. 1. 
Zuweilen beobachtet man einen negativen, ein anderes Mal einen posi- 
tiven Vorschlag. Ersterer ist in Abb. 2, letzterer in Abb. 3 abgebildet. 


Abb. 1. E-Kurve. Versuchsperson J. v.D. Eine Elektrode am Daumen, die andere am kleinen 

und am Ringfinger derselben Hand. Wird der Daumen negativ, so bewegt sich das Saitenbild 

aufwärts T = Zeitlinie, @ = Galvanometerkurve, S = Signal. Bei P wird ein Gehörreiz ge- 
geben !). Ordin. 1 Skalenteil = 10 -# Volt. 


In beiden Abb. ist die Empfindlichkeit des Galvanometers ebenso 
groß wie in Abb. 1. In Abb. 2, welche man beiB o. erhalten hat, sind 
die Ableitungsstellen dieselben wie in der vorigen Abb., während in 
Abb. 3, die man bei S. d. H. registrierte, von zwei Stellen eines selben 
Unterarmes abgeleitet wurde. Der aufwärts gerichtete Ausschlag des 
Saitenbildes entspricht hier 
einer Negativität der unteren 
Ableitungsstellehinsichtlich der 
oberen. 


Schwieriger ist es, Kurven 
zu registrieren, in welchen eine 
reine Änderung von Widerstand 
+ Polarisation ohne Schwan- 
Abb. 2. E-Kurve mit negativem Vorschlag. Ver- kung der elektromotorischen 

suchsperson Bo. Übrigens wie in Abb. 1. Kraft zutage tritt. Man kann 

aber doch annähernd das Ziel 
wohl erreichen, wenn man nur an die Genauigkeit der absoluten 
Werte keine allzu hohen Forderungen stellt. Diese Art von Kurven 
wollen wir mit W bezeichnen. 

Eine Stromquelle von 10 Volt wird mittels eines Extrawiderstandes 
von 100 000 Ohm mit den beiden Stellen des menschlichen Körpers 
verbunden, die zum Galvanometer abgeleitet sind. Der Strom durch 
das Galvanometer selbst wird in bekannter Weise kompensiert. 


1) Die Photogramme sind auf */, der ursprünglichen Größe verkleinert 
worden. Die Buchstaben haben in allen dieselbe Bedeutung. 


Über Widerstand und Potentialdifferenz bei dem psychogalvanischen Reflex. 129 


Das Schema in Abb. 4 erläutert die Schaltung. Der vom Haupt- 
strom eingeschlagene Weg, der in der Abb. durch eine starke Linie 
angegeben ist, geht von der 10 Voltbatterie durch R,, R, und den mensch- 
lichen Körper. AR, ist 
ein konstanter Widerstand N 
von 100000 Ohm, wäh- > Se 
rend R, regulierbar ist. — | 

Andie Punkte AundB 
wird eine Nebenleitung 
geschaltet, die außer dem 
Galvanometer eine rechts 
unten angegebene Vor- 
richtung enthält, womit Abb. 3. E-Kurve mit positivem Vorschlag. Versuchs- 
man aufübliche Weise den person S.d.H. Ableitung von zwei Stellen eines Unter- 
El nometerstrom kom- armes. Übrigens wie Abb. 1. 
pensieren kann. Solange 
dieser noch nicht kompensiert ist, kann er mittels eines Wider- 
standes in Serie, R,, und eines Nebenschlusses, N,, willkürlich 
abgeschwächt werden. AR, dient um den Einfluß einer Wider- 
standsänderung des menschlichen Körpers auf die Größe des Galvano- 
meterausschlages zu untersuchen. 8 ist ein Schalter und R, ein 


a: 100.0000. 
AH — oO ZB 


er! 
Jaccıu 


Abb. 4. Versuchsanordnung. Der Hauptstrom, der durch den Körper geführt wird, ist durch 
eine starke Linie angegeben. Während der Aufnahme einer Kurve wird R, auf o gestellt und 
sind N, und R, ausgeschaltet. 


Rheostat, der gebraucht wird, den Körperwiderstand mittels des Sub- 
stitutionsverfahrens zu messen. Bei einer derartigen Messung kann 


man N, benützen; während des Registrierens sind R, und N, jedoch 
ausgeschaltet und steht R, auf 0. 


Der ps.-g. Reflex ruft eine Widerstandsänderung hervor, welche in 
Vergleichung mit den 100000 Ohm von R, nur klein ist und eine Poten- 
tialschwankung, die gegen die elektromotorische Kraft der 10-Volt- 

Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 189. 9 


130 \W. Einthoven und J. Roos: 


batterie verschwindet. Dadurch ist er kaum imstande, die Hauptstrom- 
stärke durch den Körper zu beeinflussen. Wir wollen dies mit einigen 
Zahlen näher erläutern. 

Wir messen z.B. in der Hand einen Widerstand von 4400 Ohm, 
der durch den ps.-g. Reflex auf 4009 Ohm herabsinkt. Der durch die 
Hand geleitete Strom nimmt hierdurch im Verhältnis von 104 000 bis 
104 400, das ist also mit nur etwa 0,4%, zu. 

Entwickelt sich eine elektromotorische Kraft oder tritt infolge ver- 
änderter Polarisation eine Spannungsschwankung von ein par Millivolt 
hervor, so hat dies eine Änderung der Stromstärke von nur 0,02%, 
zur Folge. 

Selbstverständlich hätten wir eine noch größere Konstanz des Körper- 
stromes erreichen können, wenn wir die 10-Voltbatterie durch eine 
stärkere ersetzt hätten; für unseren Zweck war dies jedoch unnötig, 
da wir wohl annehmen dürfen, daß unter unseren Versuchsbedingungen 
der Körperstrom praktisch schon unveränderlich ist. 

Von einigen Forschern ist behauptet worden, das Saitengalvano- 
meter sei zum Messen des ps.-g. Reflexes ungeeignet. Aber diese An- 
nahme findet in der Anwendung einer unzweckmäßigen Anordnung, 
bei welcher die Änderung des Körperstromes direkt gemessen werden 
mußte, ihren Grund. Bedient man sich einer zweckmäßigen Schaltung, 
“so wird wohl kein Galvanometer den Reflex einfacher, sicherer und 
genauer messen können als eben das Saiteninstrument. Diesbezüglich 
weisen wir noch auf einige praktische Resultate hin, die schon früher 
Dr. van Iterson!) auf otologischem Gebiet und bei der Stellung von 
Simulanten erhalten hat. 

In Abb. 5 geben wir ein Beispiel einer W- Kurve, die bei derselben 
Person J. v. D. und am selben Tage wie Abb. 1 registriert wurde, während 
auch die Ableitungsstellen unverändert geblieben sind. Zwischen beiden 
Aufnahmen haben wir einige Minuten verstreichen lassen in der Ab- 
sicht, bei dem zweiten Experiment möglichst frei von einer eventuellen 
Nachwirkung des ersten zu sein. Auch hier wurde wieder akustisch 
gereizt. 

Der Widerstand der Hand betrug 4200 Ohm. Die Empfindlichkeit 
des Galvanometers war derart geregelt, daß 1 Skalenteil Ausschlag 
aufwärts mit 20 Ohm Widerstandsabnahme übereinstimmte, so daß 
der totale Ausschlag von 20,4 Skalenteilen, wenn er ganz auf Rech- 
nung der Widerstandsänderung gestellt werden darf, eine Abnahme 
von 408 Ohm dartut. 

Jedoch gibt die W-Kurve den W-Effekt nicht vollkommen rein 
wieder, denn dieser kann ja mit einer Schwankung der elektromotori- 


1) C.J. A. van Iterson, Psychic - Galvanic - Reflex - phenomenon in ear- 
examination. Acta Oto-Laryngologica. 2, 174. 1920. 


Über Widerstand und Potentialdifferenz bei dem psychogalvanischen Reflex. 131 


schen Kraft kombiniert sein. Ist dies der Fall, so entspricht 2 Millivolt 
Spannungsunterschied einem Ausschlag von 1 Sk. 

Die Eichung des von der Widerstandsänderung erzeugten Einflusses 
geschieht, wie oben schon erwähnt, mit Hilfe von R,, die Eichung des 
von einer Schwankung der elektromotorischen Kraft hervorgerufenen 
Einflusses mit Hilfe von N,. 

Nehmen wir an, daß tatsächlich gleichzeitig mit einer Widerstands- 
änderung eine Variation der elektromotorischen Kraft durch Entwick- 
lung eines E-Effektes stattgefunden hat, und daß der E-Effekt in beiden 
Versuchen bei dieser Person gleich groß war, so beträgt nach den An- 
gaben von Abb. 1 die Ungenauigkeit der W-Kurve 1,23 Millivolt ent- 
sprechend 0,61 Sk. oder etwa 3%. 

Verlangen wir für unsere Ergebnisse keine größere Genauigkeit als 
letztgenannten Betrag, so können wir also nicht nur in der #-Kurve 


Abb, 5. W-Kurve. Dieselbe Versuchsperson bei derselben Stromableitung wie in Abb. 1. Bei 
Abnahme des Körperwiderstandes schlägt das Saitenbild aufwärts aus. Ordin. 1 Sk. entspricht 
einer Widerstandsveränderung von 20 Ohm. 


den reinen E-Effekt, sondern auch in der W-Kurve den reinen W-Effekt 
kennen lernen. 

Die Abänderung, die in der Schaltung vorgenommen werden muß, 
um nachdem eine W-Kurve registriert worden ist, eine #-Kurve zu 
schreiben und umgekehrt, ist innerhalb weniger Sekunden ausgeführt. 
Zum Schreiben einer E-Kurve braucht man nur die Verbindung mit 
der 10-Voltbatterie und R, zu öffenen, während man den Galvanometer- 
ausschlag vergrößert, indem man R, auf 0 setzt. 

Der W-Effekt findet stets im selben Sinne statt. Er bedeutet eine 
Herabsetzung des Hautwiderstandes, wodurch das Saitenbild des 
Galvanometers immer in dieselbe Richtung — bei unseren Versuchen 
immer aufwärts — versetzt wird. Der E-Effekt hingegen nimmt je nach 
den Ableitungsstellen einmal diese, ein andermal wieder eine andere 
Richtung an. Will man also die W-Kurve von dem darin vorhandenen 
geringen E-Effekt freimachen, so muß man den Ausschlag bald etwas 
vergrößern, bald verkleinern. 


9* 


132 W. Einthoven und J. Roos: 


In den Abb. 6, 7 und 8 sieht man zwei W-Kurven und eine Z-Kurve 
abgebildet, welche mit je einigen wenigen Minuten Zwischenraum bei 
der Versuchsperson Be aufgenommen wurden. In den beiden W-Kur- 
ven von Abb.6 und 7 entspricht 1 Sk. Ordinat einer Widerstands- 
änderung von 20 Ohm, während derselbe Ausschlag des Saitenbildes 


Abb. 6. W-Kurve. Versuchsperson "Be. Übrigens wie in Abb, 5. Widerstandsabnahme und 
Potentialschwankung wirken in dieselbe Richtung, 


auch durch 2 Millivolt Spannungsunterschied hervorgerufen werden 
kann. In der E-Kurve von Abb.8 entspricht 1 Sk. Ordinat einem 
Spannungsunterschied von 0,1 Millivolt. 

Bei allen drei Abb. geschieht die Ableitung von Daumen und kleinem 
Finger einer selben Hand, aber in Abb. 7 ist der Strom durch den Kör- 
per anders gerichtet wie in den Abb. 6 und 8, oder — mit anderen Worten 


Abb. 7. Wie die vorige Abbildung. Die Stromrichtung durch den Körper ist aber umgekehrt. 
Widerstandsabnahme und Potentialschwankung wirken in entgegengesetzter Richtung. 


— bei Abb. 7 sind Daumen und kleiner Finger im Kreise miteinander 
verwechselt. Hierdurch muß die W-Kurve der Abb. 6 einen Ausschlag 
zeigen, der durch den EH-Effekt vergrößert wird, während dieser selbe 
Effekt den Ausschlag der Abb. 7 verkleinern muß. Tatsächlich ist der 
Ausschlag in Abb. 6 auch größer als in Abb. 7, aber der Unterschied 
stimmt nicht schön mit dem aus dem Ausschlag von Abb. 8zu berechnen- 
den Betrag überein. Der wirkliche Unterschied beträgt 3,5 Sk., während 
der berechnete Unterschied nur 0,55 Sk. hätte betragen sollen. Dies 


Über Widerstand und Potentialdifferenz bei dem psychogalvanischen Reflex. 133 


braucht uns aber nicht zu wundern, da ja der ps.-g. Reflex für genaue 
Messungen nicht konstant genug ist. Mit der Wiedergabe der drei letzten 
Kurven beabsichtigen wir denn auch nur,_ bequem darzulegen, auf 
welche Weise der E-Effekt die W-Kurven beeinträchtigen kann. 


Bei einer Anzahl von Versuchspersonen registrierten wir die E- 
sowie die W-Kurve, und gewöhnlich verhielten diese sich so, wie wir 
oben beschrieben haben, nämlich daß die Ungenauigkeit, die durch 
das Auftreten eines E-Effektes in der W-Kurve hervorgerufen wird, 
3 bis 5% beträgt. 

Es gibt jedoch Ausnahmen, die so schlagend sind, daß sie nicht 
durch die geringe Konstanz der Erscheinung im allgemeinen erklärt 
werden können. Wir verfügen doch über einige Beobachtungen, die 


Abb. 8. E-Kurve bei derselben Versuchsperson und bei derselben Stromableitung wie in den 
beiden vorigen Abbildungen. Wird der Daumen negativ, so schlägt das Saitenbild aufwärts 
aus. Ordin. 1 Sk. = 10-4 Volt. 


zweifellos darauf hinweisen, daß es Personen gibt, bei denen die E-Er- 
scheinung deutlicher hervortritt als der W-Effekt, ja bei denen letzterer 
sogar ganz fehlen kann. So wurden beim Patienten K. nacheinander 
E-, W-, E-, W-Aufnahmen gemacht, welche jedesmal die Z-Effekte 
als große Ausschläge hervortreten ließen, während die W-Ausschläge 
gar nicht oder kaum wahrnehmbar waren. 

Wenn auch nicht mit derselben Klarheit wie bei K., so wurde doch 
eine ähnliche Beobachtung bei noch einer anderen Versuchsperson ge- 
macht. Aus diesen Ergebnissen ist man geneigt, die Schlußfolgerung 
zu ziehen, daß die W- und E-Erscheinungen verschiedenen Ursprungs 
sind. Erstere könnte mit der Funktion bestimmter Organe, letztere 
vielleicht mit der anderer Organe in der Haut zusammenhängen. Außer 
an die Schweißdrüsen denken wir hierbei an die Talgdrüsen, die Haut- 
papillen, die Nervenendorgane usw. Wir wollen jedoch dabei darauf 
aufmerksam machen, daß die Erscheinungen, wie wir sie bei den Per- 
sonen K. und H. wahrgenommen haben, bei keiner der übrigen Ver- 
suchspersonen beobachtet wurden. 


134 : W. Einthoven und J. Roos: 


Unterscheiden sich die W- und die E-Kurven durch Form oder 
Latenzzeit voneinander? Diese Frage ist der geringen Konstanz der 
Erscheinung wegen nicht leicht zu beantworten. In einigen Kurven 
wird nach dem Ausschlag die Nulllinie zwar eher wieder erreicht als 
bei anderen, im allgemeinen jedoch stimmt die Form der verschiedenen 
Kurven ungefähr überein, während die Latenzzeiten, welche bei allen 
Kurven ausnahmslos eine oder mehrere Sekunden betragen, von uns 
nicht systematisch mit dererforderlichen Genauigkeit gemessen wurden. 

Außer den oben schon genannten Ursachen des Reflexes können 
noch andere im Spiel sein, und besonders muß die Möglichkeit erwogen 
werden, ob vielleicht eine Variation der Blutfüllung beim Zustande- 
kommen der Erscheinung eine Rolle spielt. Zu dieser Voraussetzung 
wurden wir durch einige Kurven veranlaßt, worin der Puls sichtbar 
war (s.z. B. Abb. 3). Schon bald aber stellte sich heraus, daß weder 
ein E- noch ein W-Effekt durch Veränderung der Blutfüllung an und 
für sich hervorgebracht wird. Die in den Kurven sichtbaren, mit dem 
Rhythmus des Pulses übereinstimmenden Zacken treten nämlich aus- 
schließlich dann hervor, wenn man unzweckmäßige Elektroden an- 
wendet. Sind diese ungeeignet, so können sie sich bei jedem Pulsschlag 
über die Haut bewegen, und auf den Berührungsstellen unmittelbar 
einen Spannungsunterschied und eine Widerstandsänderung hervorrufen. 

Die Abb. 9 und 10 zeigen zwei Kurven, die wir erhielten, indem wir 
feuchte Metallplatten mit zwei Stellen der Unterarmhaut verbunden 


Abb. 9. Der Puls ist sichtbar bei Aufnahme mit 
der W-Schaltung. Versuchsperson d.N. Ablei- 
tung mittels feuchter Metallplatten, welche Abb. 10. Aufnahme mit der E-Schaltung. 
direkt mit der Unterarmhaut verbunden sind. Übrigens wie Abb. 9. 


hatten, und zwar absichtlich so, daß sie von jedem Pulsschlag bedeutend 
verschoben wurden. Abb. 9 ist mit der W-, Abb. 10 mit der #-Schaltung 
aufgenommen. Beide Abb. zeigen den Puls. 
In Abb.3 wurden Bindeelektroden!) benutzt, die unzweckmäßig 
angelegt worden waren. Wenn man sie lege artis über größere Körper- 
!) P. Meerburg und J. Endtz, Über Bindeelektroden nebst einigen Be- 


merkungen über das Kinder-Ekg. Mitgeteilt von Prof. W. E. Wien. med. Wochen- 
schr. 1916, Nr. 14. 


Über Widerstand und Potentialdifferenz bei dem psychogalvanischen Reflex. 135 


flächen windet, so wie es bei elektrokardiographischen Aufnahmen 
üblich ist, werden die Kurven nicht mehr von den kleinen Pulsbewegun- 
gen entstellt. 

Bei unseren Untersuchungen fanden manchmal auch kleine Tauch- 
elektroden Verwendung. Sie bestanden aus einem mit Kochsalzlösung 
gefüllten Becherglas, in dem sich eine amalegamierte Zinkplatte befand. 
Der Daumen wurde in das eine, der kleine samt dem Ringfinger der- 
selben Hand in das andere Glas getaucht, während der Strom von den 
Zinkplatten zum Galvanometer abgeleitet wurde. Gelegentlich wurden 
als Elektroden auch gläserne Trichter verwandt, die mit der weiten 
Öffnung auf die Haut gesetzt und mit Kochsalzlösung gefüllt wurden. 
Bei keiner dieser beiden Elektrodenarten machte sich der Puls in der 
Kurve bemerkbar. 

Ableitungen von Stirn, Wangen und Schläfen, bei denen man die 
psychischen Reflexe schon direkt als ‚erröten‘‘ beobachten kann, er- 
gaben kaum merkbare oder gar keine W- und E-Eiffekte. 

Aber wenn wir auch aus den oben beschriebenen Beobachtungen mit 
genügender Sicherheit schließen dürfen, daß eine Variation der Blut- 
füllung nicht die unmittelbare Ursache der W- und E-Effekte ist, 
so ist doch dadurch noch nicht der Beweis herbeigeführt, daß ein grö- 
Berer oder ein geringerer Blutgehalt die Größe des Reflexes nicht beein- 
flüsse. Ein solcher Einfluß ist von vornherein wohl zu erwarten, da doch 
der Reflex sich in der Haut manifestiert und eine Veränderung, die in 
diesem Organe stattfindet, die Intensität seiner Reaktion vergrößern 
oder verringern kann. 

Die zur Lösung dieses Problems angestellten Versuche hatten ein 
negatives Resultat. So konnte beispielsweise kein Einfluß "von einer 
erhöhten Temperatur wahrgenommen werden. Die Kurven, welche 
während der Erwärmung der zum Galvanometer abgeleiteten Körper- 
teile erhalten wurden und auch die danach aufgezeichneten zeigten 
gar keinen oder einen überhaupt nur unbedeutenden Unterschied von 
den normalen. 

Dasselbe kann hinsichtlich abgekühlter Körperteile gesagt werden, 
während die Finger ebensowenig ihre Reaktion änderten, nachdem sie 
blutleer gemacht waren. Wir haben bei Stromableitung von Fingern, 
die durch Umschnüren blutleer gemacht waren, sowohl W- als auch 
E-Kurven schreiben können, deren Form und Zackenhöhe sich normal 
verhielten und die im großen und ganzen mit den bei denselben Per- 
sonen unter normalen Bedingungen erhaltenen Kurven übereinstimmten. 

Schließlich wollen wir noch darauf hinweisen, daß es bei der Unter- 
suchung der ps.-g. Reflexerscheinungen wünschenswert ist, zur Strom- 
ableitung zwei einander nahe liegende Hautstellen derselben Körper- 
seite zu wählen. Leitet man den Strom von zwei symmetrischen Stellen, 


136 W. Einthoven und J. Roos: Widerstand und Potentialdifferenz usw. 


z.B. von den beiden Händen ab und schreibt man eine Z-Kurve, so 
wird diese, wie zu erwarten ist, mit dem Ekg kombiniert. Abb. 11 
zeigt davon ein Beispiel. 


Abb. 11. E-Kurve mit Ekg kombiniert. Versuchsperson J. v. L. Ableitung I (von rechter und 
linker Hand). Ord. 1 Sk. = 10 - Volt. 


Zusammenfassung. 


Beim Studium des ps.-g. Reflexes kann mit gutem Erfolg das Saiten- 
galvanometer verwandt werden. 

Die physikalischen Ursachen des Reflexes stellen sich aus zwei 
Komponenten zusammen: einerseits einer Schwankung der Potential- 
differenz, die zwischen den zwei Ableitungsstellen vorhanden ist und die 
man den E-Effekt nennen kann, andererseits dem W-Effekt, der eine 
Änderung des Widerstandes und der Polarisation umfaßt. 

Widerstands- und Polarisationsänderung sind aufs innigste mit- 
einander verknüpft und treten immer im selben Sinne auf: jede Herab- 
setzung des Widerstandes ist von einer solchen der Polarisation begleitet, 
während auch eine Vergrößerung der beiden immer zu gleicher Zeit 
stattfindet. 

Es wurde eine Methode zur getrennten Untersuchung der W- und 
E-Effekte angegeben. Es gibt Personen ohne W-Effekte, die einen sehr 
deutlichen H-Effekt zeigen. Der W-Effekt entsteht wahrscheinlich in 
anderen Körperorganen als der E-Effekt. 

Änderung der Blutfüllung ist nicht die unmittelbare physikalische 
Ursache des ps.-g. Reflexes; denn dieser tritt bei Stromableitung von 
durch Umschnüren blutleer gemachten Körperteilen in nahezu unver- 
änderter Form und Größe auf. 


(Aus dem Pharmakologischen Institut der Universität Wien.) 


Über die Bedeutung des Caleiums für die Erregbarkeit der 
sympathischen Herznervenendigungen. 


Von 
Richard Kolm und Ernst P. Pick. 


(Ausgeführt mit Unterstützung der Fürst Liechtenstein-Spende.) 
Mit 4 Textabbildungen. 
(Eingegangen am 16. März 1921.) 


In einer früheren Arbeit!) konnte gezeigt werden, daß die Lehre 
von der Sympathikotropie des Adrenalins bloß für die physiologi- 
schen Verhältnisse gilt und daß durch Änderung der Versuchsbedin- 
gungen, in unserem Falle durch starke Erregung der vagalen Endappa- 
rate sich die Wirkung derart verändert, daß nunmehr vagotrope Wir- 
kungen, welche in der Norm durch die starken sympathikotropen ver- 
deckt werden, zutage treten. Diese unter normalen Bedingungen 
latent bleibenden, vagotropen Wirkungen des Adrenalins können, wie 
aus den Beobachtungen C. Amslers?) hervorgeht, auch dann einsetzen, 
wenn durch vorhergehende Lähmung der sympathischen Nerven- 
endigungen durch Nicotin und Ergotoxin das Adrenalin seines normalen 
Angriffspunktes beraubt wird. Diese inverse vagotrope Wirkung des 
Adrenalins zeigt sich am Herzen dadurch, daß ein diastolischer 
Stillstand eintritt, welcher durch Atropin sofort aufhebbar ist. 

Burridge?) beschreibt in seiner Arbeit über die Ionenwirkung auf 
das Froschherz eine ganz ähnliche paradoxe Wirkung des Adrenalins. 
Wenn er nämlich das Herz vorher mit Nartiumphosphat behandelt, also 
den Kalk vollständig entfernt hatte, konnte er durch Adrenalin einen 
diastolischen Herzstillstand hervorrufen. Es war für uns von Interesse 
festzustellen, ob sich nicht irgendein Zusammenhang zwischen den Be- 
funden Burridges und den unsrigen finden lasse und ob nicht irgend- 
welche Beziehungen zwischen Kalkgehalt des Herzmuskels und Erreg- 
barkeit der sympathischen Nervenendigungen bestehen. 


2) R. Kolm und E. P. Pick, Über Änderung der Adrenalinwirkung nach 
Erregung der vagalen Endapparate. Arch. f. d. ges. Physiol. 184, 79. 1920. 

2) C. Amsler, Über inverse Adrenalinwirkung. Arch. f. d. ges. Physiol. 185, 
86. 1920. 

®2) Burridge, W., Researches on the Perfused Heart: The Effects of In- 
organic Salts. Quarterly Journ. of Experim. Physiol. 5, Nr 4, S. 347. 1912. 


138 R. Kolm und E. P. Pick: Über die Bedeutung des Caleiums 


Zur Entscheidung dieser Frage war es zunächst nötig, festzustellen, 
worauf der bei Kalkmangel eintretende, diastolische Adrenalin-Herzstill- 
stand beruhe, ob erähnlich wie bei Amslers und unseren Beobachtungen 
als eine Folge der Erregung vagaler Endapparate aufzufassen sei. Die 
diesbezüglichen, sowie auch alle später zu beschreibenden Versuche wurden 
an Herzen von Rana esculenta, welche mittels der Straubschen Versuchs- 
anordnung suspendiert waren, im Sommer 1919 und 1920 ausgeführt. 


1. Versuche über Adrenalinwirkung bei Herabsetzung des 
Kalkgehaltes der Nährlösung. 


Wird einem Herzen an Stelle der normalen Ringerlösung eine Lösung 
zugesetzt, in welcher der Kalkgehalt etwa 1!/,—!/, desjenigen der 


N PR EN IIINHN Il] 
ses IN 


Abb. 1a. Esculentenherz nach Straub. Bei A Zusatz einer Ringerlösung, in welcher der 
Kalkgehalt auf '/, herabgesetzt worden war; bei B und C je ein 0,lccm Tonogen (Richter): 
langdauernde negative Inotropie. 


Ringerlösung beträgt, so wird die Inotropie des Herzens in negativem 
Sinne beeinflußt; Adrenalin in diesem Stadium zugesetzt erzeugt diasto- 
lischen Herzstillstand. Ist dieser Herzstillstand durch vagotrope Adrenalin- 
wirkung bedingt, so 
mußte eine kleine 
Menge Atropin im- 
stande sein, die Herz- 
tätigkeit wieder an- 
zuregen. In der Tat 
gelang es, wie aus 
Abb.lau.1bersicht- 
lich ist, durch Zu- 
satz von 0,1 ccm einer 
0,5 proz. Atropinlö- 


Abb. 1b. Fortsetzung von 1a: Vor D Wechsel der Nährlösung ; 
Herz schlägt in einer Winterringerlösung mit ‘/, Kalk; beiD. sung das Herz wieder 
Zusatz von 0,2ccm Tonogen: sofortiger Abfall der Exkursions- R 
größe, welche sich nach Zusatz von 0,1 ccm 5°/ „iger Atropin- ZUM Schlagen zu brin- 
lösung bei Z sofort wieder hebt; bei F eine geringe Erhöhung gen. Diese in einer 
des Kalkgehaltes durch Zuzatz von 0,2 ccm des normalen ‚Winter- { 

ringers“. (Die Kurven sind von rechts nach links zu lesen). Reihe von Versuchen 


für die Erregharkeit der sympathischen Herznervenendigungen. 139 


sich immer wieder bestätigende Beobachtung beweist demnach, daß 
das Caleium-Ion für die Erhaltung der Anspruchsfähigkeit der sym- 
pathischen Nervenendisungen notwendig ist und daß durch seine 
Abwesenheit die vagalen Nerven erregbarer werden. Mangel an freien 
Caleium-Ionen bedeutet für das Froschherz eine ähnliche Schädigung 
wie die Einwirkung des Ergotoxins, indem in beiden Fällen das sym- 
pathische Nervensystem seine normale Anspruchsfähigkeit einbüßt, 
während das vagale an Erregbarkeit zunimmt und sogar für Adrenalin 
empfindlich wird. 


2. Versuche über Adrenalinwirkung bei Erhöhung des Kalk- 
sehaltes der Nährlösung. 


Als weitere Stütze unserer Auffassung über den Zusammenhang 
zwischen Sympathicusempfindlichkeit und Calciumgehalt des Herzens 
wurden Versuche angestellt, welche zeigen sollten, wie sich ein Herz mit 
erhöhtem Kalkgehalt Adrenalin gegenüber verhält. Um zu vermeiden, 
daß das Calcium an sich eine Contractur verursache, haben wir nur eine 
relative Vermehrungdes Kalkgehaltes vorgenommen, indem eine Ringer- 
Lösung verwendet wurde, welche bedeutend ärmer an Kaliumchlorid 
und nur um weniges reicher am Caleiumchlorid war; denn sowohl andere 
als auch unsere früheren Versuche zeigten, daß für die Kalkcontractur- 
Bereitschaft das Verhältnis von CaCl, zu KCl und nicht der absolute 
Gehalt an Calcium-Ionen maßgebend ist. Wir verwendeten als kalk- 
arme Ringer-Lösung eine Lösung folgender Zusammensetzung: NaCl 
0,6%, KCI 0,03%, CaCl, 0,02% (ohne Krystallwasser), NaHCO, 0,02% 
(Winter-Ringer); als kalkreiche Ringer-Lösung verwendeten wir 
den von S. deBoer angegebenen Sommer-Ringer mit folgender 
Zusammensetzung: NaCl 0,65%, KCl 0,005%, CaCl, 0,025°% und 
NaHCO, 0,02%. Als Beispiel sei im folgenden ein Protokoll aus dieser 
Versuchsreihe angeführt. 

Versuch vom 23. VI. 1919. Rana esculenta. Herz nach Straub 
suspendiert. Schlägt unter kalkarmem Ringer in normalem Rhythmus, 
Zusatz von 0,3 ccm Tonogen Richter erzeugt infolge relativen Kalk- 
mangels eine deutliche Abnahme der Exkursionshöhe, welche sich nach 
einiger Zeit auf die frühere Größe einstellt. Nach Auswaschen und 
Ersatz der Nährlösung durch kalifreien und kalkreichen Ringer erzeugt 
die gleiche Menge Tonogen (0,3 ccm) eine maximale systolische Ein- 
stellung des Ventrikels mit Aufhören der Rhythmik, während die 
Vorhöfe kräftig weiterschlagen (siehe Abb. 2). 

Aus diesem Versuche geht hervor, daß Kalk imstande ist, in Dosen, 
welche an sich keine sichtbare Wirkung am Herzen zur Folge haben, 
die Adrenalinwirkung derart zu beeinflussen, daß die motorischen sym- 
pathischen Herzapparate in stärkste Erregung versetzt werden, was 


140 R. Kolm und E. P. Pick: Über die Bedeutung des Calciums 


sich in mächtigem Schlagen der Vorhöfe und in dauernder Contractur- 
stellung der Kammern äußert. Die Fähigkeit des Adrenalins, am ge- 
kalkten Herzen Contractur auszulösen!), erinnert an die gleiche Eigen- 
schaft der Kalisalze, über die von uns erst kürzlich berichtet wurde. 


KERN LIND keoowe 


C B 4 
Abb. 2. Esculentenherz nach Straub, schlägt im Winterringer; bei A Zusatz von (0,3 ccm 
Tonogen (Richter): Abnahme der Inotropie, welche sich nach einiger Zeit auf die frühere 
Höhe einstellt; bei 3 Ersätz der Nährlösung durch Sommerringer ; bei C abermals Zusatz von 
0,3 ccm Tonogen: Eintreten einer maximalen Ventrikelcontractur. (Kurve ist von rechts nach 
links zu lesen). 


Mn 


| . 


Als Angriffspunkt der Contractur auslösenden Kaliwirkung wurde 
Sinus und Vorhof erkannt. Bei der hier besprochenen Adrenalin- 
wirkung ist die Entscheidung des Angriffspunktes dadurch erschwert, 
daß Adrenalin, wie aus anderweitigen und eigenen Untersuchungen 
hervorgeht, sowohl Oberherz als auch Kammer erregt. Immerhin 
glauben wir annehmen zu können, daß bei der Contractur aus- 
lösenden Adrenalinwirkung dem Oberherzen (Sinus und Vorhöfen) 
eine wichtige Rolle zukommt, wie dies aus folgendem Versuch zu 
ersehen ist. 

Versuch vom 19. VIII. 1920. Rana esculenta. Herz suspendiert wie 
oben. Abschnürung des Sinus durch Ligatur (Stannius I). Herzauto- 
matie wird mit Bariumchlorid, welches nachher wieder entfernt wird, 
angeregt. Kalifreier Ringer. Ventrikel schlägt automatisch im regel- 
mäßigen Rhythmus. Zusatz von 0,1 cem Calciumchlorid 1 proz. ruft 
Contractur hervor, welche sich alsbald löst. 0,1 ccm Tonogen erzeugt 
keine Contractur, sondern nur eine mäßige Frequenzsteigerung. Zusatz 
von 0,1 ccm KCl 0,4 proz. macht diastolischen Stillstand (siehe Abb. 3). 

Obwohl durch die Ligatur nur der Sinus abgetrennt worden war, 
haben wir es hier auch mit dem Wegfall der Vorhofführung und mit 
reiner ventrikulärer Automatie zu tun, wie es schon der langsame 
Rhythmus, insbesondere aber die die Automatie lähmende Wirkung des 
Kaliums beweist. Aus der Tatsache, daß Adrenalin nach Wegfall der 
Sinus- und Vorhofführung keine Contractur mehr auszulösen vermag, 


1) Siehe auch die gleichsinnigen Beobachtungen von Fröhlich und Pick: 
Über Contractur des Froschherzens: Zentralbl. f. Physiol. 33, 225. 1919. 


für die Erregbarkeit der sympathischen Herznervenendigungen. 141 


m 


U 


4A B C 
Abb. 3. Esculentenherz nach Straub nach Ligatur an der Sinus-Vorhofgrenze (Stanniusl]): 
Ventrikelautomatie durch BaCl, angeregt; die Nährflüssigkeit besteht aus kaliumfreien „Sommer- 
ringer“. Bei A Zusatz von 0,1 CaCl, 1°/),ig: Contractur, welche sich spontan löst; 0,1 ccm 
Tonogen (Richter) bei B vermag keine Contractur auszulösen. Bei C Zusatz von 0,1 cem 
0,4°%/, iger KCI-Lösung:: diastolischer Stillstand. (Kurve ist von links nach rechts zu lesen). 


obwohl es positiv chromotrop wirkt, kann der Schluß gezogen werden, 
daß die Contractur auslösende Wirkung des Adrenalins 
ebenso wie die der Kalisalze an das Vorhandensein des Ober- 
herzens gebunden ist. 


3. Versuche über Adrenalin-Kalkwirkung nach Ergotoxin. 


Daß die Contracturstellung des Ventrikels als Ausdruck maximaler 
Erregung des Nervus sympathicus aufzufassen sei, wurde von uns bisher 
aus der Tatsache erschlossen, daß die Größe der positiv inotropen Adre- 
nalinwirkung abhängig ist vom Gehalt des Herzen an freien Calcium- 
Ionen. Zur weiteren experimentellen Sicherstellung dieses Schlusses war 
es notwendig, zu untersuchen, wie das Herz nach Lähmung der sympa- 
thischen Nervenendigungen auf Kalk-Adrenalin reagiert. Als Ergo- 
toxinpräparat wurde von uns das auch von Amsler benützte Ergot- 
amin der Firma Sandoz in Basel verwendet. In Mengen von 0,05 
bis 0,1 ccm ist dieses Präparat imstande, die Sympathicusendigungen 
des Ventrikels zu lähmen, ohne die Herztätigkeit sichtbar zu schädigen. 
Die eingetretene Sympathicuslähmung kann häufig bloß an der inversen 
Adrenalinwirkung erkannt werden. Sie gelingt auch an der vom 
Oberherzen abgeschnürten Herzkammer (Stannius II); es 
istdaher dieinverse Adrenalinwirkung nichtandas Vorhan- 
densein des Oberherzens gebunden. Der Versuch wurde derart 
angestellt, daß an einem Straub-Herzen diejenige Menge einer 1 proz. 
Caleiumchlorid-Lösung ermittelt wurde, welche eben noch eine nach 
kurzer Zeit abklingende Ventrikelcontractur hervorruft und genügt, 
das Herz für eine Adrenalin-Contractur empfindlich zu machen. Wird 
die gleiche Kalkmenge nach Vorbehandlung mit Ergotamin zugesetzt, 
so läßt sich auch trotz der vorausgegangenen Kalkzufuhr keine Adre- 
nalincontractur auslösen (siehe Abb. 4). Diese Beobachtungen ergeben, 
daß nach Lähmung der sympathischen Nervenendigungen Kalkmengen, 
welche in unterschwelligen Dosen die Adrenalincontractur vorzube- 


142 R. Kolm und E. P. Pick: Über die Bedeutung des Caleiums 


reiten imstande sind, völlig wirkungslos 
bleiben. Daraus ist zu ersehen, daß 
die löslichen Kalksalze !in der Tat 
für die normale Empfindlichkeit 
der sympathischen Herznerven ent- 
scheidende Bedeutung besitzen und 
daß die Adrenalin-Kalk-Contractur 
durch Sympathicuserregung ausge- 
löst wird. 


bei D 0,075 com „Egotamin“ (Sandoz) 


bringt vorübergehend den Ventrikel in Mittelstellung; nach völliger Erholung tritt nach gleicher Kalkdosis wie früher (0,05 cem */, proz. CaCl,-Lösung) in- 


4. Über die Beziehung der Adrena- 
lin-Kalk-Contractur zur Kali-Kalk- 
Contractur. 


Aus dem früher Ausgeführten geht her- 
vor, daß die Adrenalin-Kalk-Contractur nur 
bei kräftiger Aktion des Oberherzens aus- 
zulösen ist, während an der von Vorhöfen 
und Sinus abgetrennten, mit Kalk vorbe- 
handelten Kammer eine derartige Beein- 
flussung durch Adrenalin nicht gelingt. 
Auch die Kalium-Kalk-Contractur beruht, 
wie sich nachweisen ließ, auf einer Verstär- 
kung der Vorhofimpulse, welche die durch 
Kalk in Contrasturbereitschaft versetzte 
Kammer in Contracturstellung zwingen. In 
beiden Fällen also wird die mit Kalk über- 
empfindlich gemachte Kammer durch die 
gesteigerte Sinus- und Vorhofstätigkeit in 
einem Zustand mächtigster Tonisierung 


systolische Einstellung der Kammer unter Beibehaltung des 


Bei A Zusatz von 0,05 ccm einer !/,proz. CaC],-Lösung: Verstärkung des Tonus und Auf- 


(Kurve ist von links nach rechts zu lesen). 


drenalin (Parke-Davis) 1:1000 zugesetzt, 
bei € Ringerwechsel mit kaliumfreier Ringerlösung löst die Contracturstellung der Kammer: 


3 
= versetzt. 

® In früheren Versuchen!) konnte gezeigt 
S werden, daß Kalium in den verwendeten 
> Mengen im Oberherzen vorwiegend die pri- 
z mären Reizerzeugungszentren erregt und 
= hierdurch die durch den Kalk vorbereitete 
= Kammercontractur auslöst; da nach den 


bisherigen Erfahrungen das Ergotamin 
diese Zentren nicht beeinflußt, konnte er- 
wartet werden, daß durch Ergotaminvor- 
behandlung nur die Adrenalin-Kalk-Con- 


Esceulentenherz nach Straub in kaliarmem Ringer: 


1) R.Kolm und E.P. Pick, Über die Bedeu- 
tung des Kaliums für die Selbststeuerung des Her- 
zens. Arch. f. d. ges. Physiol. 185, 235. 1920. 


tropfen von 2proz. KCl-Lösung bei @ durch kräftiges Einsetzen der Vorhofs- und Ventrikeltätigkeit Contractur der Kammer, die sich allmählich löst. 


folge Kalimangels diastolischer Ventrikelstillstand mit -Vorhoispulsen (bei Z) ein; Zusatz von 0,1 Adrenalin (bei F) setzt auch die Vorhöfe stille; nach Auf- 


treten des Halbrhythmus ; 


Halbrhythmus ; 


Abb. 4. 


| 


OMAN 


für die Erregebarkeit der sympathischen Herznervenendigungen. 143 


tractur nicht aber die Kalium-Kalk-Contractur beeinflußt würde. 
Der Ausfall der einschlägigen Versuche hat diese Voraussetzung 
durchaus bestätigt. Ein in kaliarmem Ringer schlagendes Esculentenherz, 
welches auf Zusatz von Kalk und Adrenalin in Contracturstellung ver- 
setzt worden war, wird mit Ergotamin vergiftet; die abermals in gleicher 
Weise wie vorher <tattgefundene Behandlung des nunmehr in kalifreier 
Lösung schlagenden Herzen mit Kalk und Adrenalinlösung bewirkt Still- 
stand der Vorhöfe und der Kammer in Diastole; Befeuchten der Vorhöfe 
mit einem Tropfen 2proz. Kaliumchloridlösung genügt, um die Vorhöfe 
sofort zum Schlagen zu bringen und eine maximale Kammer-Contractur 
auszulösen (siehe Abb. 4). Damit ist der Beweis erbracht, daß 
sowohldieKalisalzealsauch Adrenalin beiihrerdieKammer- 
contraetur auslösenden Wirkung vom Öberherzen aus wir- 
ken, daß aber hierbei ihr Angriffspunkt verschieden ist; 
sympathische Nervenelemente scheinen im Falle von Adre- 
nalin, nicht aber in dem der Kaliumsalze beteiligt zu sein. 


Schlußsätze: 


1. Mangel an freien Calcium-Ionen der Nährlösung setzt 
die Anspruchsfähigkeit des sympathischen Herznerven- 
systems herab und steigert die des vagalen; Adrenalin wirkt 
an solchen Herzen negativ inotrop oder erzeugt an ihnen 
einen diastolischen, mit Atropin aufhebbaren Stillstand. 

2. Nach Vorbehandlung des Herzens mit Calciumchlorid 
ruft Adrenalin eine mächtige Ventrikelkontractur hervor, 
während die Vorhöfe kräftig weiter schlagen. 

3. Anderisoliertschlagenden Kammerist Adrenalinnicht 
imstande, trotz Kalkvorbehandlung eine Contractur aus- 
zulösen. 

4. Ergotaministimstande, die Adrenalin-Kalk-Kontrak- 
tur zuhemmen. 

5. Die Kalk-Kalium-Contractur kann durch Ergotamin 
nicht gehemmt werden. 

6. Sowohl die Kalk-Adrenalin-Contractur als auch die 
Kalk-Kalium-Contractur ist an das Vorhandensein des 
Oberherzens gebunden. Nur bei ersterer scheinen sympa- 
thische Nervenapparate beteiligt zu sein. 


(Aus dem physiologischen Institut der Universität Halle.) 


Psychologische und physiologische Untersuchungen über Übung 
und Ermüdung. 
I. Mitteilung. 


Von 
Privatdozent Dr. phil. et med. Ernst Gellhorn, 
Assistent am Institut. 


(Mit 4 Textabbildungen.) 
(Eingegangen am 7. März 1921.) 


Die Erforschung der Übung und Ermüdung ihres Wesens und ihrer 
Wirkung bildet ein wichtiges Problem der Physiologie und Psychologie. 
So ist denn schon seit langer Zeit aus beiden Forschungsgebieten eine 
Reihe von Arbeiten bekannt, die sich mit dem Studium der Übung be- 
fassen, und zwar war es hauptsächlich die Wirkung der Übung auf die 
Muskelarbeit, Untersuchungen, die mit den verschiedensten Ergographen 
und Dynamometern angestellt wurden, die die Forscher reizte, und nur 
verhältnismäßig wenige Arbeiten erstrecken sich auf die Wirkung der 
Übung im Bereiche des Tastsinnes. Die Psychologen erforschten be- 
sonders die Wirkung der Übung auf das Gedächtnis. Trotz dieser Unter- 
suchungen sind noch eine Reihe von Fragen ungelöst, an deren Beant- 
wortung nicht nur Physiologie und Psychologie, sondern auch die prak- 
tische Medizin, insbesondere die Psychiatrie wesentlich interessiert sind. 

Von großem physiologischen Interesse ist es, zu erfahren, zu welcher 
Leistungsfähigkeit die einzelnen Sinnesorgane durch Übung gebracht 
werden können, ob die so erhaltene Mehrleistung auch längere Zeit ohne 
weitere Übung bewahrt wird und ob hinsichtlich Übungsfähigkeit und 
Übungsfestigkeit Alters- und sexuelle Differenzen bestehen. Vereint 
man diese Studien mit der quantitativen Verfolgung der Übungsfähigkeit 
bei psychischen Vorgängen, so ist vielleicht ein näherer Einblick in das 
Wesen der Übung zu erhoffen; denn auch die Frage, ob die Übung zentral 
oder peripher bedingt ist, ist noch nicht endgültig entschieden, ebenso 
harrt noch die Frage der Mitübung, ihres Ausmaßes und ihrer Spezifität, 
der Lösung. 

Psychologie und Medizin aber, und zwar besonders Psychiatrie und 
Hygiene erwarten von der Erforschung der Ermüdung wichtige theore- 


E. Gellhorn : Psycholog. u. physiolog. Untersuchungen üb. Übung u. Ermüdung. 145 


tische und praktische Erkenntnisse. Ist es doch ebenso Aufgabe der 
pädagogischen Psychologie, wie der Schulhygiene, die Arbeitsdauer und 
die Pausenlänge in der Schule derart festzusetzen, daß Ermüdungs- 
erscheinungen bei gesunden Schulkindern möglichst hintangehalten 
werden und dadurch eine hohe Leistungsfähigkeit der Schüler gewähr- 
leistet wird. Und für die Psychiatrie erscheint die Ermüdungsforschung 
deshalb von großer Bedeutung, weil die Ermüdung nicht nur in der 
Ätiologie der Neurasthenie einen wichtigen Faktor bildet, sondern weil 
schweren Ermüdungszuständen auch bei anderen wesentlich durch here- 
 ditäre Anlage bedingten Psychosen wie z. B. bei dem manisch-depressiven 
Irresein die Rolle der die Erkrankung auslösenden Ursache zufallen 
kann. 

Zur Entscheidung der eben genannten Probleme soll in den folgenden 
Abhandlungen ein möglichst umfangreiches Material beigebracht wer- 
den, das sich sowohl auf psychologische wie auf sinnesphysiologische 
Versuche erstreckt. Dabei ist die Erforschung der Übung und der Er- 
müdung nicht nur getrennt behandelt, sondern in den psychologischen 
Versuchen über Übungsfähigkeit und Übungsfestigkeit bei geistiger 
Arbeit, in denen die Übung fördernd auf die Größe der Arbeitsleistung 
wirkt und die Ermüdung eine Hemmung hervorruft, so daß. von dem 
Ineinandergreifen beider Prozesse im wesentlichen die Arbeitsmenge 
und die Form der ‚Arbeitskurve‘ (Kraepelin) resultiert, ist auch die 
Abhängigkeit der Ermüdung von der Übungsstufe eingehend berück- 
sichtigt. 

Im folgenden werden zunächst die Einflüsse der Übung und die 
Größe der Übungsfestigkeit bei einfachen psychischen und sinnesphy- 
siologischen Prozessen dargelegt. Ferner werden Versuche über die 
Wirkung der Ermüdung auf Puls und Körpertemperatur mitgeteilt. 


I. Übungsfähigkeitund Übungsfestigkeit bei geistiger Arbeit. 

Die Übungsfähigkeit und Übungsfestigkeit ist für die Muskelarbeit 
in einem Selbstversuch von Peder!) studiert worden. Die Versuche 
führt der Verfasser täglich am Johannsonschen Ergographen in der 
Weise aus, daß jeder Versuch aus 20 Arbeitsperioden besteht. In jede 
dieser Perioden wird ein Gewicht von 30 kg im Zweisekundentempo so 
lange gehoben, bis die Hubhöhe infolge der Ermüdung minimal geworden 
ist. Nach einer Pause von 3 Minuten beginnt die nächste Periode und 
so fort. Aus diesen Versuchen ergibt sich, daß bei einer 52tägigen Ver- 
suchsdauerdie Arbeitsleistung von 4038 kg-m auf 27838kg-m zunimmt. Da- 
bei entfällt die Steigerung der Arbeitsleistung durch die Übung wesentlich 
auf die Zahl der Kontraktionen, die von 517 auf 3110 zunehmen, während 
die Vergrößerung der Hubhöhe unwesentlich ist. Die Zahl der Hubhöhen 

!) Skand. Archiv f. Physiol. %, 315. 1912. 
Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 189. 10 


146 E. Gellhorn: 


hängt nun nicht von der Muskulatur, sondern wesentlich vom Zentral- 
nervensystem ab, worauf schon Kraepelin hingewiesen hat. Dagegen 
wird die Vergrößerung der Muskelzuckung durch die Zunahme der Mus- 
kulatur bedingt. Wiederholte nun Peder 8 Tage nach Beendigung der 
Übungsperiode den Versuch, so blieb 50% der maximalen Arbeitsleistung 
erhalten. Bei l4tägiger Pause beträgt die Arbeitsmenge noch 37% und 
nach 4wöchentlicher Pause 29%, des Übungsmaximums. Da auch in 
diesen Zahlen die ziemlich hohe Festigkeit, mit der das Übungsmaximum 
zum großen Teil bewahrt wird, durch die Zahl der Kontraktionen und 
nicht durch ihre Höhe hervorgerufen ist, so ergibt sich, daß Übungs- 
fähigkeit und Übungsfestigkeit bei Muskelarbeit nach dem Versuch von 
Peder wesentlich durch die am Zentralnervensystem stattfindenden 
Übungsvorgänge bedingt ist. Dennoch spielt die Muskulatur insofern 
eine nicht unbedeutende Rolle, als neben der Beeinflussung der Hub- 
höhe, deren Größe von der Masse der Muskelsubstanz abhängig ist, in 
den die Muskulatur versorgenden sensiblen Nerven schmerzhafte Emp- 
findungen entstehen, die bei so exzessiver Muskelarbeit besonders im 
Anfange der Übungsperiode und vermutlich auch in den nach Abschluß 
der Übungsversuche in größeren Pausen vorgenommenen Experimenten, 
die der Ermittlung der Größe der Übungsfestigkeit dienen, die Übungs- 
phänomene des Zentralnervensystems in nicht näher kontrollierbarer 
Weise in ungünstigem Sinne beeinflussen. Bedenkt man ferner, daß 
gerade die Intensität dieser Schmerzempfindungen individuell sehr ver- 
schieden ist, so sieht man, daß zur exakten Erforschung der Übungs- 
phänomene die Untersuchung möglichst einfacher psychischer Vorgänge, 
in denen hemmende oder fördernde Einflüsse auf die zentralen Übungs- 
erscheinungen von seiten der Peripherie möglichst vollständig ausge- 
schlossen werden können, geeigneter sein dürfte als die Muskelarbeit. 

Hierzu sind aber die Übungserscheinungen des Gedächtnisses, die 
Ebert und Meumann!) zum Inhalt einer grundlegenden Studie ge- 
macht haben, auch nicht geeignet, da in ihnen bereits hohe psychische 
Spezialfunktionen zur Untersuchung kommen und sömit eine Ver- 
allgemeinerung ihrer Ergebnisse nicht zulässig erseheint. Deshalb wurde 
als Methode das Bourdonsche Verfahren gewählt?). 


Dieses besteht darin, daß in einem bestimmten Texte ein oder mehrere Buch- 
staben so schnell als möglich ausgestrichen werden. Für jeden Versuch wird die 
Dauer und Fehlerzahl bestimmt. Gelingt es, die Fehlerzahl bis dicht an die Null- 
grenze herabzudrücken, so daß sie keinen Einfluß auf die Dauer der Versuche 


!) Arch. für die ges. Psychol. 4. 1905. 

?) Hinsichtlich der genauen Methodik vgl. die ausführliche Arbeit: Ernst 
Gellhorn, Übungsfähigkeit und Übungsfestigkeit bei geistiger Arbeit, Leipzig 
1920 (zugleich Beiheft 23 der Zeitschr. f. angew. Psychologie). Daselbst finden sich 
auch die ausführlichen Tabellen sowie die genauere psychologische Analyse der 
Versuche. 


Psychologische u. physiologische Untersuchungen über Übung u. Ermüdung. I. 147 


hat, so ist die Zeitdauer des Versuches der Übungsstufe umgekehrt proportional. 
Denn die Dauer des Versuches nimmt mit zunehmender Übung ab. 

Zur Ausschaltung der Gedächtnisfunktion wird von dem Ausstreichen mehrerer 
Buchstaben abgesehen und lediglich das Ausstreichen eines Buchstabens (a) 
gefordert. 

Der Text wird in je 10 Reihen eingeteilt, und die für das Ausstreichen des 
Buchstabens a in diesen Zeilen erforderliche Zeit wird festgestellt. Die Fehler be- 
stehen fast ausschließlich im Übersehen des Buchstabens a, sind aber bei dieser 
Versuchsanordnung so gering an Zahl, daß sie nur bei den Versuchen des ersten 
Versuchstages in Rechnung gestellt werden müssen. 

Die Versuche über die Übungsfähigkeit, in denen durch die Übung die größte 
Arbeitsschnelliskeit erreicht wird, werden an 19 Versuchspersonen angestellt, 
die entsprechend ihrer Berufstätigkeit in die Gruppe der Kopfarbeiter (Gruppe I 
in Abb. 1) und in die der Handarbeiter (Gruppe II in Abb. 1a) gesondert werden. 
Für die Auswahl der Versuchspersonen ist lediglich das Bestreben maßgebend, 
gesunde Durchschnittsmenschen (im vulgären Sinne des Wortes) zu den Ver- 
suchen heranzuziehen, um so ein Bild von der Übungsfähigkeit und Übungsfestig- 
keit des Erwachsenen bei einer geistigen Arbeit zu erhalten. 

Als einheitliches Arbeitspensum wird, das Ausstreichen des Buchstabens 
a in 10 Zehnreihenversuchen bezeichnet. Die erste Versuchsreihe umfaßt 5 
bzw. 6 Tage. An jedem Tage muß die Versuchsperson 60 Zehnreihenversuche 
mit je 10 Sekunden Zwischenzeit ausführen.‘ Dann werden an den drei folgenden 
Tagen je 10 Zehnreihenversuche angestellt und auf diese Weise das Übungsmaximum 
erreicht. In den Abb. 1 und la sind die Resultate graphisch wiedergegeben!). 
Für jeden der ersten 5 bzw. 6 Versuchstage ist die durchschnittliche Arbeits- 
schnelligkeit bezeichnet, ebenso die durchschnittliche Schnelligkeit in den an den 
drei folgenden Tagen ausgeführten Versuchen (Spalte A der Abb. 1 und la). 


Zunächst seien bei der Betrachtung der Abbildungen die Kurven 
der Vp. 1 und g weggelassen, die von mehr als 45 Jahre alten Versuchs- 
personen herrühren und deshalb ebenso wie die Kurve der Vp. 5 aus 
weiter unten zu besprechenden Gründen erst später berücksichtigt wer- 
den sollen. 

Aus den Kurven der Abb. 1 und la geht hervor, daß bei beiden 
Gruppen die zwischen den verschiedenen Versuchspersonen jeder Gruppe 
am ersten Versuchstage bestehenden außerordentlich großen Differenzen 
in bezug auf die Dauer der Ausführung des Arbeitspensums allmählich 
geringer werden. Es zeigt also die Übung einen nivellierenden 
Einfluß auf die individuellen Differenzen. 

Bei der Erklärung dieser interessanten Tatsache könnte man daran 
denken, daß dieses Resultat nur dadurch vorgetäuscht werde, daß am 
ersten Versuchstage, an dem, wie erwähnt, die Fehlerzahl teilweise eine 
ziemlich große ist, die Fehlerzahl die Ursache der individuellen Differen- 
zen ist. Dies ist jedoch nicht der Fall, und auch die verschieden große 
Übungsfähigkeit der Versuchspersonen ist hierfür ohne Belang. Denn 
die Versuchspersonen, die am ersten Versuchstage eine sehr viel längere 

1) Der Übersichtlichkeit wegen sind nur von 5 Versuchspersonen jeder Gruppe 


die Kurven reproduziert, doch sind diese so ausgewählt, daß die Kurven der übrigen 
Versuchspersonen innerhalb dieser Grenzen liegen. 


102 


148 E. Gellhorn: 
Abb. 1. Abb. 1a. 


SEE memgA IZmm 7 uMmA 


850 
830 
870 
790 
770 
750 
730 
770 
690 
670 
650 
630 
670 
590 
570 
550 
530 
510 
490 
470 
450 \ “ DIN ms 
430 —/, 1 Me 


Arberfsmirmma 


. nt, 
410 2 


390 
370 en oe: | SEEN 1R 
350 \ EB nee: Ne 7, 7 
330 : 


370 
230 


. 
EN Bar EHRE 5m BENZIBRTUENSINECRRAOND: 
Abb. 1undla. Versuche über Übungsfähigkeit und Übungsfestigkeit bei Kopf- (Abb. 1) und Hand- 
arbeitern (Abb. 1a), Die Kurven geben die Dauer für die Ausführung des einheitlichen Arbeits- 
pensums in Sekunden an. 

Zeit für das gewählte Arbeitspensum gebrauchen als andere, unter- 
scheiden sich von diesen am Ende der Versuchsreihe oft nicht wesentlich. 

Vergleicht man nun die Variationsbreite der geringsten Arbeits- 
geschwindigkeiten der beiden Gruppen miteinander, so sieht man, daß 
sie bei beiden Gruppen sich teilweise deckt. Die Verteilung der Ver- 
suchspersonen auf diese gemeinsame Zone ergibt jedoch, daß ein 


Psychologische u. physiologische Untersuchungen über Übung u. Ermüdung. I. 149 


beträchtlicher quantitativer Unterschied hinsichtlich der Größe der 
geringsten Arbeitsschnelligkeit am Anfange der Versuchsreihe besteht, 
derart, daß Gruppe II mit einer einzigen Ausnahme eine geringere Ar- 
beitsschnelligkeit am ersten Versuchstage zeigt als Gruppe I. 

Die Vergleichung der Variationsbreite der größten Arbeitsschnelligkeit 
der beiden Gruppen am Ende der Versuchsreihe ergibt die gemeinsame 
Strecke von 394—361 Sekunden. Auch hier gehen wiederum die Ver- 
suchspersonen der ersten Gruppe über diese Strecke nach unten hinaus, 
zeigen also eine erhebliche höhere Arbeitsschnelligkeit als die Versuchs- 
personen der zweiten Gruppe, die die gemeinsame Zone nach oben ver- 
längern. Dennoch besteht hinsichtlich des durch die Übung erzielten 
Fortschrittes, der bei Gruppe I 22—43°%, bei Gruppe II 21—48% be- 
trägt, kein wesentlicher Unterschied. 

Das Alter hat bei den 18—43jährigen Versuchspersonen keinen Ein- 
fluß auf die Größe der Arbeitsschnelligkeit. Denn in jeder Gruppe 
finden sich Versuchspersonen von etwa gleichem Alter, die in bezug auf 
die Arbeitsschnelligkeit weit stärker untereinander differieren als mit 
jüngeren oder älteren Versuchspersonen derselben Gruppe. Ein erheb- 
licher Unterschied gegenüber den von diesen Versuchspersonen gewon- 
nenen Zahlen wird aber bei den mehr als 45jährigen Versuchspersonen 
festgestellt, die in beiden Gruppen hinsichtlich der geringsten und der 
größten Arbeitsschnelligkeit sehr erheblich hinter den jüngeren Ver- 
suchspersonen der gleichen Gruppe zurückstehen. Als Beispiel hierfür 
findet sich in Abb. 1 und 1a die Kurve der 47 Jahre alten Vp. g und der 
48 Jahre alten Vp. 1. An mehreren anderen Versuchspersonen gleichen 
Alters konnte dieses Verhalten bestätigt werden. Nur die Vp. 5 ergibt 
Werte, die sich von denen der mehr als 45 Jahre alten Versuchspersonen 
nicht wesentlich unterscheiden. Es zeigt sich aber, daß Vp. 5 stark 
neurasthenisch ist und infolgedessen an einem Mangel an Konzentrations- 
fähigkeit der Aufmerksamkeit leidet. Auch die an dieser Versuchsperson 
nachweisbare leichte Schwankung der Stimmung hat ungünstig auf die 
Arbeitsleistung eingewirkt. Die später vorgenommene neurologische 
Untersuchung wies lebhafte Reflexe, leichten Tremor der Hände, Dermo- 
graphie sowie einen schwach positiven, psychogen bedingten Romberg 
nach. 

Aus diesen Gründen dürfte es erlaubt sein, die Ergebnisse der Vp. 5 
auszuschalten und zu schließen, daß auch bei Gruppe II die Arbeits- 
schnelligkeit jenseits des 45. Lebensjahres erheblich geringer wird. 
Stellt man, je nach der Größe der Arbeitsschnelligkeit mit den besten 
beginnend, die Reihenfolge der verschiedenen untersuchten Gruppen 
fest, so ergibt sich, daß die Gruppe der 18—43jährigen Kopfarbeiter 
an der Spitze steht, dann folgt ihr die Gruppe der gleichaltrigen Hand- 
arbeiter, und erst nach dieser kommen die Gruppen der über 45 Jahre 


150 E. Gellhorr : 


alten Kopfarbeiter und darauf die Handarbeiter desselben Alters. Zu 
bemerken ist hierzu, daß die geringsten Arbeitsgeschwindigkeiten der 
dritten Gruppe noch innerhalb der Variationsbreite der geringsten 
Arbeitsschnelliskeit der zweiten Gruppe fallen, während ihre größten 
Arbeitsgeschwindigkeiten bereits bedeutend kleiner als die der zweiten 
Gruppe sind. 

Die Gesamtübungsfähigkeit der Versuchspersonen von mehr als 
45 Jahren ist in beiden Gruppen im wesentlichen gleich groß, scheint 
aber etwas geringer zu sein als die Gesamtübungsfähigkeit der Mehrzahl 
der 15—43 Jahre alten Versuchspersonen. Es sei an dieser Stelle be- 
merkt, daß die geringere Leistungsfähigkeit der über 45 Jahre alten 
Versuchspersonen nicht etwa die Folge der Abnahme der Akkommoda- 
tionsfähigkeit des Auges ist, da diese unter Zuhilfenahme der passenden 
Brille ausgeglichen war. 

Wie hat man sich nun die quantitativen Unterschiede in der Arbeits- 
schnelligkeit zwischen den Gruppen der sogenannten Kopf- und Hand- 
arbeiter zu erklären? Sicher ist, daß die Arbeitsschnelligkeit nicht etwa 
der Intelligenzgröße parallel geht. Dagegen dürfte die größere Leistungs- 
fähigkeit der Gruppe der sogenannten Kopfarbeiter durch die geistige 
Berufsarbeit im Sinne der Mitübung zu erklären sein. 

Für die erhebliche Herabsetzung der Arbeitsschnelligkeit der mehr 
als 45jährigen Versuchspersonen gegenüber den übrigen, die im Alter 
von 18—43 Jahren stehen, dürften wohl physiologische bzw. patho- 
logische Veränderungen maßgebend sein. Denn in diesem Alter pflegt 
ein hoher Prozentsatz der Individuen mehr oder minder starke degene- 
rative Veränderungen an den Hirnarterien, die atherosklerotischer 
Natur sind, zu besitzen. Da aber jedes tätige Organ gegenüber seinem 
Ruhezustande einen vermehrten Blutzufluß aufweist und dieser Zustand, 
der auch für das Gehirn in plethysmographischen Untersuchungen durch 
die Volumenzunahme des Gehirns während geistiger Arbeit nachgewiesen 
ist, von der Dilatationsfähigkeit der Hirngefäße abhängt, so folst, daß 
die Blutversorgung des Gehirns eines Arteriosklerotikers während der 
geistigen Arbeit mangelhafter sein wird als die eines von Atherosklerose 
freien jüngeren Individuums. Dadurch, daß nun dem arbeitenden 
Gehirn weniger Nährstoffe zugeführt werden, können sich auch die dem 
Übungsvorgang zusrunde liegenden physiologischen Vorgänge nicht 
in gleichem Maße entwickeln, sei es nun, daß man mit Verworn!) unter 
dem Einflusse sich häufig wiederholender dissimilatorischer Reize eine 
„Dubstanzvermehrung des Ganglienzellprotoplasmas‘ annimmt oder eher 
an einen veränderten (beschleunigten) Ablauf des Stoffwechsels der Zelle 
denkt, der durch Beeinflussung ihrer physikalisch-chemischen Be- 
schaffenheit bedingt sein kann. Auch bei negativem pathologisch-anato- 


1) Zeitschr. f. allg. Physiol. 6, 119. 1907. 


Psychologische u. physiologische Untersuchungen über Übung u. Ermüdung. I. 151 


mischen Befund an den Hirnarterien könnte man dennoch eine funk- 
tionelle Schädigung nicht ausschließen. Vielleicht spielen auch regres- 
sive Veränderungen der Ganglienzellen selbst eine Rolle. 

Nach der Vergleichung der Versuchspersonen in bezug auf die Größe 
der Arbeitsschnelligkeit sei im folgenden der individuelle Charakter der 
Arbeitskurve des näheren erörtert. Zum Studium dieser Frage mögen 
die in Abb. 2 wiedergegebenen arithmetischen Mittel der Dauer des 
ersten und zweiten, des dritten und vierten und endlich des fünften und 
sechsten einheitlichen Arbeitspensums eines jeden der 5 bzw. 6 Ver- 
suchstage dienen. 

Aus den Versuchen ergibt sich, daß bei fast sämtlichen Versuchs- 
personen der Übungsfortschritt von Tag zu Tag geringer wird, derart, 
daß er am letzten oder auch vorletzten Versuchstage teils sehr gering, 
teils Null, teils negativ wird. Von diesem Verhalten macht nur bisweilen 
der erste Versuchstag eine, wie sich zeigen läßt, scheinbare Ausnahme, 
da an diesem Tage nicht selten (vgl. die Kurve der Vp. 5) der Übungs- 
fortschritt Null bzw. negativ ist. Dies liegt jedoch daran, daß die 
Fehlerzahl bei dieser Versuchsperson am ersten Versuchstage nicht un- 
beträchtlich ist, und daß entsprechend dem Sinken der Fehlerzahl die 
für das gewählte Arbeitspensum gebrauchte Arbeitszeit zunimmt. 

Vergleicht man den gesamten Übungsfortschritt jedes einzelnen 
Versuchstages der verschiedenen Versuchspersonen untereinander, so 
ergeben sich große Unterschiede. So ist der Übungsfortschritt an einem 
Versuchstage bei der Vp. a niemals größer als 3%; an drei Versuchs- 
tagen ist er sogar stark negativ (— 9%, — 6%, — 10%), während der 
Übungsfortschritt der Vp. b niemals geringer als 11%, ist. Dennoch ist 
die geringste und die größte Arbeitsschnelligkeit der beiden Versuchs- 
personen fast gleich groß, da an den .3 letzten Arbeitstagen, deren Er- 
gebnis in der Abbildung nicht vermerkt ist, auch vonder Vp. anur 371 Se- 
kunden für das Arbeitspensum gebraucht werden. Obwohl also die Größe 
der Gesamtübungsfähigkeit der beiden Versuchspersonen übereinstimmt, 
sie ferner im Alter (a ist 23, b 18 Jahre alt) fast nicht differieren und auch 
derselben Gruppe angehören, so ist doch die Art des Übungsverlaufes 
eine völlig verschiedene. Denn während bei Vp. b der Übungsfortschritt 
hauptsächlich während des Versuches zustande kommt, fällt der Übungs- 
fortschritt bei Vp. a in die Pausen, in denen nicht gearbeitet wird. Dies 
wird besonders deutlich bei Betrachtung der Kurven der beiden Ver- 
suchspersonen in Abb. 2. Die Kurven der Vp. a sind anfangs wagerecht 
und steigen in den späteren Versuchen sogar immer mehr an, d.h. die 
Arbeitsschnelligkeit ist an den ersten beiden Tagen fast unverändert, 
an den späteren Versuchstagen nimmt sie sogar während des Versuches 
ab. Dagegen beginnt jede Kurve beträchtlich tiefer als die Kurve des 
vorhergehenden Tages, d. h. der Übungsfortschritt, der kenntlich ist 


152 E. Gellhom: 


an der zur Ausführung des Arbeitspensums notwendigen verminderten 
Zeit, ist stets in die Zeit der Pausen gefallen. Das entgegengesetzte Ver- 
halten zeigt Vp. b. Hier fällt der Übungsfortschritt wesentlich in die 
Zeit der Versuche, denn abgesehen von dem zweiten Versuchstage, der 


740 
700 
660 
620 7 
580 
540 
300 
460 
420 


380 


340 


Abb. 2. Die individuelle Form der Arbeitskurve auf verschiedenen Übungsstufen nach Ver- 
suchen mit dem Bourdonschen Verfahren. Die Kurven stammen von den Vp.a,b, c und 5 
(von links nach rechts). 


mit einer erheblich größeren Arbeitsschnelligkeit beginnt, als mit der 
der erste Versuchstag geendet hat, ist der Übungsfortschritt in den Pausen 
minimal, dagegen, wie der steile Abfall der Kurven zeigt, während der 
Arbeit sehr bedeutend. 

In Übereinstimmung mit den Forschungen Exners!) findet sich 
auch in den geschilderten Versuchen eine Zunahme der Arbeitsschnellig- 
keit in den Pausen, die zwischen den einzelnen Versuchstagen liegen. 
Ergänzend sei aber hinzugefügt, daß drei verschiedene Menschentypen 
nach der Art, in der die Zunahme der Arbeitsschnelligkeit erfolgt, unter- 
schieden werden können. Der erste Typus (vgl. Vp. a) zeigt eine be- 
deutende Zunahme der Leistungsfähigkeit in der Zeit der Pausen, wäh- 
rend in der Zeit der Versuche selbst ein nur unbedeutender oder kein 
Übungsfortschritt erzielt wird. Der zweite Typus (vgl. Vp. 5) zeigt im 
wesentlichen das umgekehrte Verhalten, indem der Übungsfortschritt 
hauptsächlich während der Versuche selbst und nicht in der Pause zu- 
stande kommt. Der dritte Typus (vgl. Vp.c), der sich bei den meisten 


1) Arch. f. d. ges. Physiol. %. 1873. 


Psychologische u. physiologische Untersuchungen über Übung u. Ermüdung. I. 153 


Versuchspersonen findet, zeigt in wechselndem Maße den Übungsfort- 
schritt teils in der Zeit der Übungsversuche, teils während der Pausen. 
Will man die verschiedenen individuellen Formen der Arbeitskurven 
und die Modifikationen, die jede Arbeitskurve erfährt, je mehr sich die 
Versuchsperson der größten Arbeitsschnelliskeit nähert, durch ein 
gleiches Prinzip erklären, so scheint die Grundlage hierfür in der indivi- 
duell verschieden großen Ermüdbarkeit der Versuchsperson einerseits, 
in der mit der Annäherung an die größte Arbeitsschnelligkeit stets ab- 
nehmenden Übungsfähigkeit andererseits zu beruhen. Danach sind die 
Arbeitskurven der Vp. b charakteristisch durch ihre minimale Ermüd- 
barkeit. Die Ermüdung scheint nur indirekt dadurch zum Ausdruck 
zu kommen, daß an den späteren Versuchstagen ein geringerer Übungs- 
fortschritt erreicht wird als am ersten und zweiten Versuchstage. Im 
Gegensatz hierzu muß man in der Vp. a ein sehr leicht ermüdbares Indi- 
viduum sehen. Denn hier zeigt sich an den späteren Versuchstagen die 
Zunahme der Ermüdkarbeit nicht etwa in einer Abschwächung des 
Übungsfortschrittes, sondern dieser wird vollkommen verdeckt, und 
es resultiert eine Ermüdungskurve, die immer stärker wird, je mehr 
sich die Versuchsperson der größten Arbeitsschnelligkeit nähert. Wäh- 
rend bei der Vp. b die größte Arbeitsschnelligkeit jedes Versuchstages 
stets am Ende der Kurve liegt und durch die Übung herbeigeführt ist, 
liest sie bei der Vp. a stets am Anfange. Zwischen diesen beiden Ex- 
tremen lassen sich nach dem Grade der Ermüdbarkeit mühelos die 
Arbeitskurven der übrigen Versuchspersonen einordnen. 

Es dürfte aber die durch ein bestimmtes Arbeitsguantum hervor- 
gerufene Ermüdung tatsächlich bei einer geübten Versuchsperson nicht 
größer sein als früher, da sie noch ungeübt war. Es ist vielmehr wahr- 
scheinlicher, daß die Ermüdbarkeit jeder Versuchsperson gleich bleibt 
auf allen Übungsstufen. Nur weil die Übungsfähigkeit allmählich ab- 
nimmt, um schließlich gleich Null zu werden, kommt die auf allen 
Übungsstufen gleich große Ermüdbarkeit um so mehr zur Geltung, je 
höher die erreichte Übungsstufe ist. Deshalb gibt die am letzten Ver- 
suchstage erhaltene Kurve am deutlichsten den Grad der Ermüdbarkeit 
an; denn diese bestimmt allein die Form der Kurve, da die Übungsfähig- 
keit Null oder fast Null geworden ist. Daher wird von nur schwer er- 
müdbaren Versuchspersonen eine fast horizontale Kurve auf der höchsten 
Übungsstufe erhalten, während bei den mittelschwer und leicht ermüd- 
baren Versuchspersonen die Kurve mehr oder weniger ansteigt, d. h. 
die Dauer für die Ausführung des gewählten Arbeitspensums im Ver- 
hältnis zu dem Anfangswert an demselben Versuchstage mehr oder 
minder zunimmt. 

Der Gegensatz zwischen diesen Ergebnissen und der vonKraepelin!) 


!) Kraepelin, Die Arbeitskurve. Leipzig 1902. 


154 E. Gellhorn: 


vertretenen Anschauung, daß auf höheren Übungsstufen die Ermüdbar- 
keit geringer sei als auf einer niedrigen Übungsstufe, ist vielleicht da- 
durch zu erklären, daß Kraepelin nur schwer ermüdbare Versuchs- 
personen untersucht hat, die auf der höchsten Übungsstufe eine an- 
nähernd horizontale Kurve ergeben und somit nur eine minimale Er- 
müdbarkeit zeigen. Das geschilderte umgekehrte Verhalten der leicht 
ermüdbaren Versuchspersonen, das z. B. die Vp. a zeigt, wurde deshalb 
von Kraepelin nicht berücksichtigt. 

Eine konstante Beziehung zwischen den oben dargestellten Formen 
des Übungsfortschrittes und den je nach dem Grade der Ermüdbarkeit 
zu unterscheidenden Typen besteht insofern, als bei dem am leichtesten 
ermüdbaren Typus der Übungsfortschritt fast nur in die Zeit der Pausen 
fällt. Der mittelschwer und schwer ermüdbare Typus zeigt den Übungs- 
fortschritt entweder nur während der Versuche oder in wechselndem 
Maße in der Zeit der Übungsversuche und der Pausen. 

Alter und Ermüdbarkeit zeigen keine konstanten Beziehungen zu- 
einander. Vielmehr dürfte der Grad der Ermüdbarkeit, sofern vorher- 
gehende Erkrankungen und Überanstrengungen ausgeschlossen werden 
können, durch die verschiedene Konstitution der Versuchspersonen be- 
dingt sein, ein Gedanke, dessen Richtigkeit von Friedrich Kraus!) 
schon 1897 durch experimentelle Untersuchungen bewiesen wurde. 

Da im vorstehenden die durch Übung erreichbare Vermehrung der 
Arbeitsschnelligkeit und die Form des Übungsfortschrittes näher er- 
örtert worden ist, so bleibt nun noch übrig, die Versuche zu schildern, 
die die Übungsfestigkeit ermitteln, d. h. angeben sollen, wieviel Prozente 
der durch Übung erreichten größten Arbeitsschnelligkeit für eine be- 
stimmte geistige Arbeit erhalten bleiben, wenn diese geistige Arbeit nicht 
mehr geübt wird. 

Zu diesem Zwecke führten 17 Versuchspersonen nach Erlangung der 
durch Übung erzielten größten Arbeitsschnelligkeit wöchentlich einmal 
unter sonst gleichen Umständen das gewählte Arbeitspensum aus. 

Aus der Abb. 1 und la ist ersichtlich, daß die meisten Versuchs- 
personen keine kontinuierlich ansteigenden Kurven aufweisen; vielmehr 
sind Kurven von mehr oder minder schwankendem Charakter vor- 
herrschend. Es ergibt sich nun, daß in 11 Fällen — 69% keine Ab- 
nahme der Arbeitsschnelligkeit innerhalb 6 Wochen zu verzeichnen ist. 
Legt man bei den Versuchspersonen, die eine geringere Übungsfestigkeit 
aufweisen, das arithmetische Mittel aus den Versuchszeiten der 4., 5. 
und 6. Woche der Berechnung der Übungsfestigkeit zugrunde, so 
ergibt sich, daß der Übungsverlust bei den verschiedenen Versuchs- 
personen zwischen 6 und 14%, schwankt. Er ist bei den Versuchsper- 


!) Kraus, Die Ermüdung als ein Maß der Konstitution. Bibliotheca me- 
dica. 1897. 


Psychologische u. physiologische Untersuchungen über Übung u. Ermüdung. I. 155 


sonen der Handarbeitergruppe deutlich geringer, als bei den Kopf- 
arbeitern, doch muß vorläufig noch unentschieden bleiben, ob dieses 
Ergebnis als zufällig zu bewerten ist oder nicht. Die Kurven der Ver- 
suchspersonen, die keinen Übungsverlust aufweisen, zeigen bald ge- 
ringere, bald größere Schwankungen. Die beträchtliche Zunahme der 
Versuchsdauer bei der Vp. 1 in der 4. Woche ist auf äußere Gründe 
(drückende Hitze) zurückzuführen. Der unbestimmte, schwankende 
Verlauf der Kurve der Vp. 5 scheint auf inneren Ursachen zu beruhen 
und dürfte durch den gerade für den Neurastheniker charakteristischen 
Stimmungswechsel und seine hochgradige Unfähigkeit zur Konzentra- 
tion der Aufmerksamkeit verursacht sein. Ein Einfluß des Alters, etwa 
in dem Sinne, daß die Übungsfestigkeit jenseits des 45. Lebensjahres 
abnähme, läßt sich nicht nachweisen. Da sich vielmehr auch Versuchs- 
personen gleichen Alters hinsichtlich der Übungsfestigkeit sehr ver- 
schieden verhalten, ist ein Zusammenhang zwischen Lebensalter und 
Größe der Übungsfestigkeit nicht festzustellen. 

Die Fortsetzung der Versuche über die Übungsfestigkeit ergibt, daß 
auch nach einer weiteren Pause von 28 Tagen der Übungsverlust nur in 
3 von 10 Fällen eine Zunahme erfährt. Die Größe des Übungsverlustes 
ist jedoch im allgemeinen innerhalb der ersten 4 Wochen bedeutender 
als innerhalb der 6.—10. Woche. Mithin besteht bei der Hälfte der 
Versuchspersonen auch 10 Wochen nach Erreichung der größten Ar- 
beitsschnelligkeit kein Übungsverlust; sie besitzen also für diesen Zeit- 
raum eine vollkommene Übungsfestigkeit. 

In Übereinstimmung mit den Untersuchungen von Bischoff!) und 
im Gegensatz zu den Anschauungen von Kraepelin ergibt sich auch 
aus den vorliegenden Untersuchungen, daß Übungsfähigkeit, Übungs- 
festiskeit und Ermüdbarkeit hinsichtlich ihrer Größenverhältnisse in 
keinem konstanten Verhältnis zueinander stehen. 

Die Aufgabe der folgenden Versuche ist es, zu ermitteln, von welchen 
Faktoren die Größe der Übungsfähigkeit und der Übungsfestigkeit ab- 
hängig ist. Zuerst wurde der Einfluß der Menge der geleisteten Arbeit 
in dieser Hinsicht untersucht. Sollten die Versuche mit verschiedenen 
Versuchspersonen in bezug auf die Erreichung des Arbeitsmaximums 
das gleiche Ergebnis zeitigen, so blieb die Aufgabe, zu ermitteln, bei 
welcher Verteilung von Arbeitsmenge und Pauserlänge im ökonomischen 
Sinne am zweckmäßigsten gearbeitet würde. 

Aus den bisher geschilderten Versuchen ist zu entnehmen, daß bei 
täglicher Ausführung von 6 Arbeitspensa (60 Zehnreihenversuchen) das 
Maximum am 6. Versuchstage stets erreicht wird. Als Beispiel hierfür 
findet sich in Abb. 3 die Kurve der Vp. b und f. Wird die tägliche Ar- 


!) Untersuchungen über Übungsfähigkeit und Ermüdbarkeit bei geistiger 
und körperlicher Arbeit. Archiv f. d. ges. Psychol. 22, 323. 1912. 


156 E. Gellhorn: 


beitsmenge auf zwei Arbeitspensa reduziert, so gelangen die Versuchs- 
personen, obwohl sie nur 38%, der Arbeitsmenge der Versuchsperso- 
nen b und f ausführen, dennoch ebenfalls am 6. Versuchstage zum 
Übungsmaximum (vgl. die Kurven der Vp. Ra. und Sch. in Abb. 3). 


N EI THE 


440 
420 
400 


380 NE ee 


360 


340 


320 


Abb. 3. Die Abhängigkeit der Übungsfähigkeit von der Arbeitsmenge. Ordinate = Dauer des 
Arbeitspensums in Sekunden. 
Die Vp. b und f führen 6 Arbeitspensen pro die aus 
Da RassundaScheee 2 9 2 > 
AO Pe. führt 1 Arbeitspensum „, Ren 
E) „ Fo. ” Ua „ » 2 
= „ Hem. u. Her. führen 1 ” jeden 


een Tag aus. 

Für die Gruppe der Handarbeiter konnte die gleiche Tatsache fest- 
gestellt werden, und ebenso ergeben auch die Versuche mit der 48jährigen 
Versuchsperson M. ein analoges Verhalten. Die von den Versuchs- 
personen für die größte Arbeitsschnelligkeit erhaltenen Werte liegen 
innerhalb der für die beiden Gruppen gefundenen Variationsbreiten der 
größten Arbeitsschnelligkeit. 

Es hat sich also übereinstimmend gezeigt, daß unab- 
hängig von Beruf und Lebensalter die Herabsetzung des 
täglichen Arbeitspensums auf fast !/, keine Verzögerung 
in der Erlangung der maximalen Arbeitsschnelligkeit ver- 
ursacht. 


Psychologische u. physiologische Untersuchungen über Übung u. Ermüdung. I. 157 


Um nun zu untersuchen, ob eine weitere Verkleinerung der Arbeits- 
menge statthaft ist, ohne daß die Erlangung der größten Arbeitsge- 
geschwindigkeit unökonomischer wird, führen mehrere Versuchsper- 
sonen (vgl. Pe. in Abb. 3) mit einem Zwischenraum von 24 Stunden 
zwischen den einzelnen Versuchen je ein Arbeitspensum aus. Die Ver- 
suche zeigen in völliger Übereinstimmung bei Kopf- und Handarbeitern, 
daß selbst nach 12 Tagen die größte Arbeitsschnelligkeit nicht erlangt 
werden kann, sondern daß hierzu der Versuch noch länger fortgesetzt 
werden muß. 

Während also die maximale Arbeitsschnelligkeit, wie die an den 
Vp. Ra. und Sch. ausgeführten Versuche beweisen, durch Absolvierung 
von 12—14 Arbeitspensa erlangt wird, wenn täglich je zwei Arbeitspensa 
ausgeführt werden, ist mit derselben Arbeitsmenge das gleiche Ziel nicht 
zu erreichen, wenn die Verteilung der Arbeitsmenge in dem Sinne ge- 
ändert wird, daß täglich nur ein Arbeitspensum erledigt wird. 

Vergrößert man nunmehr die Pause zwischen den einzelnen Ver- 
suchen auf 48 Stunden und läßt an jedem Versuchstage je ein Arbeits- 
pensum ausführen, so ergibt sich (vgl. die Kurven der Vp. Hem. und 
Her. in Abb. 3) das paradoxe Resultat, daß auf diese Weise das Arbeits- 
maximum schon nach 7—9 Arbeitspensis am 13., 15. oder 17. Versuchs- 
tage erreicht wird. Es ist mithin die eben geschilderte Arbeits- 
formim ökonomischen Sinne die beste. Auch dies gilt für Kopf- 
und Handarbeiter ohne Unterschied des Alters. 

Die weitere Verringerung des Arbeitspensums, so daß täglich nur 
ein halbes Arbeitspensum (5 Zehnreihenversuche) ausgeführt wird, gibt, 
wie aus der Kurve der Vp. Fo. ersichtlich ist, keine Resultate, die die 
letzte Arbeitsform in ökonomischer Hinsicht übertreffen. 

Die bemerkenswerte Tatsache, daß Versuchspersonen von verschie- 
denem Alter, geringer oder großer Ermüdbarkeit und ganz differenter 
Bildungsstufe (Kopf- und Handarbeiter) innerhalb der gefundenen Va- 
riationsbreiten einen von der Arbeitsmenge und Pausengröße völlig ab- 
hängigen und konstanten Verlauf der Arbeitsschnelliskeit zeigen, be- 
deutet, daß sowohl die günstigste wie die ungünstigste Pause bei einer 
jeweils genau bestimmten Arbeitsmenge für alle Versuchspersonen kon- 
stant ist. Lindley!) hatte dagegen gefunden, daß bei den einzelnen 
Versuchspersonen die günstigste Pause nicht unbedeutend variiert, und 
hatte die Ursache hierfür in der differenten Anregung und Ermüdbar- 
keit gesehen. Unsere abweichenden Ergebnisse dürften aber dadurch 
aufgeklärt werden, daß die kurzen Pausen von 15—60 Minuten in den 
Versuchen Lindleys die individuell verschiedenen Größen der Ermüd- 
barkeit und der Anregung hervortreten lassen, während diese bei den 
Pausen von 24 oder 48 Stunden, wie sie in den geschilderten Versuchen 


!) Kraepelin, Psychologische Arbeiten 3. 1900. 


158 E. Gellhorn : 


bestanden, völlig zurücktreten müssen. Es scheint deshalb der gesetz- 
mäßige Ablauf des Übungsvorganges, der daraus hervorgeht, daß z. B. 
alle Versuchspersonen mit einem täglichen einfachen Arbeitspensum die 
maximale Arbeitsschnelligkeit auch nach 12 Versuchstagen noch nicht 
erreichen, während die Versuchspersonen mit einer täglichen Arbeits- 
menge von 2 Arbeitspensa die größte Arbeitsschnelligkeit stets am 6. 
oder 7. Arbeitstage erlangen, darauf hinzuweisen, daßunabhängigvon 
den individuellen Faktoren der psychischen Persönlichkeit 
ein allen Versuchspersonen gemeinsames physiologisches 
Geschehen die relative Größe der Arbeitsschnelligkeit und 
ihre Vermehrung unter dem Einflusse der Übung be- 
stimmt. Denn trotz der gefundenen zwischen sog. Kopf- und 
Handarbeitern sowie zwischen mehr als 45 Jahre alten und jüngeren 
Versuchspersonen bestehenden absoluten Differenzen in der Größe 
der Arbeitsschnelligkeit ist die Erlangung der maximalen Arbeits- 
schnelligkeit bei allen Versuchspersonen stets an dieselben Bedin- 
gungen geknüpft. Dies scheinen die geschilderten Versuche eindeutig 
erwiesen zu haben. 

Die mit dem Bourdonschen Verfahren erhaltenen Ergebnisse er- 
innern in hohem Maße an die Erfahrungen des praktischen Lebens. Denn 
es ist bekannt, daß nicht nur für gewisse Gedächtnisleistungen (z. B. 
Auswendiglernen) die Verteilung von Arbeitsmenge und Pause für die 
Lösung der gestellten Aufgabe von hoher Bedeutung ist, sondern bei den 
verschiedensten geistigen Arbeiten erweist sich die Steigerung der Ar- 
beitsmenge über ein gewisses Quantum hinaus als unökonomisch, wäh- 
rend bei richtiger Verteilung der Arbeit die maximale Arbeitsleistung, 
die die gestellte Aufgabe in relativ kurzer Zeit bewältigt, ziemlich 
schnell herbeigeführt werden kann. Andererseits findet man auch im 
praktischen Leben, daß die allzustarke Verminderung des täglichen Ar- 
beitsquantums einer bestimmten geistigen Arbeit schädlich ist, da so 
die für die Ausführung der Arbeit erforderliche ‚Übungsstufe erst sehr 
spät erreicht wird. 

Diese Übereinstimmung der Übungsphänomene De der mit dem 
Bourdonschen Verfahren geleisteten Arbeit mit der Übung des Ge- 
dächtnisses und hochkomplizierter geistiger Tätigkeiten legt den Ge- 
danken nahe, daß mit dem Bourdonschen Verfahren ein typischer Be- 
standteil jeder geistigen Arbeit untersucht wird. Und dies scheint in 
der Tat der Fall zu sein. Denn die Mehrzahl der Autoren sieht in dem 
Bourdonschen Verfahren eine Methode zur Prüfung der Aufmerksamkeit. 
Wenn diese Anschauung richtig ist, so könnten die bei der Ausführung 
jeder geistigen Arbeit feststellbaren Übungsvorgänge in der Zunahme der 
Aufmerksamkeit und in ihrer Anpassung an die jeweilige geistige Arbeit 
begründet sein. Physiologisch gingen diesen psychischen Vorgängen 


Psychologische u. physiologische Untersuchungen über Übung u. Ermüdung. I. 159 


die durch die „Bahnung‘‘ wachsende Schnelligkeit des Ablaufes der Er- 
regungen im Zentralnervensystem parallel!). 

In einer weiteren Versuchsreihe wird die Frage der Abhängigkeit der 
Größe der Übungsfestigkeit von der bis zum Ende der Übungsperiode 
geleisteten Arbeitsmenge untersucht. Die soeben geschilderten Versuche 
hatten ergeben, daß hinsichtlich der Erreichung des Arbeitsmaximums 
zwischen der Ausführung von 2 und 6 Arbeitspensa pro die kein Unter- 
schied besteht. Es wäre nun denkbar, daß die Übungsfestigkeit der 
geleisteten Arbeitsmenge parallel ginge und somit die Versuchspersonen, 
die 6 Arbeitspensa pro die absolviert hatten, sich durch eine größere 
Übungsfestigkeit vor den anderen Versuchspersonen auszeichneten. 

Aus den Versuchen ergibt sich aber, daß die Verminderung der 
Arbeitsmengeeine Abnahmeder Übungsfestigkeitinkeinem 
Falle zur Folge hat; vielmehr bewegt sich die Größe des Übungsver- 
lustes derjenigen Versuchspersonen, die nur ein oder zwei Versuchspensa 
täglich ausführen, innerhalb der Grenzen des Übungsverlustes der Ver- 
suchspersonen mit einer täglichen Arbeitsmenge von 6 Arbeitspensa. 
Während aber in den erwähnten Versuchen trotz der verschiedenen 
Größe des täglichen Arbeitspensums die Übungsversuche stets bis zum 
Maximum fortgeführt worden sind, wurden in einer neuen Versuchsreihe 
diese nur 3 Tage hindurch während je 20 Minuten ausgeführt und des- 
halb auf einer ziemlich niedrigen Übungsstufe abgebrochen. Wird nun 
der Versuch nach 28tägiger Pause zur Feststellung der Größe der Übungs- 
festigkeit wiederholt, so ist im allgemeinen die relative Zahl der Versuchs- 
personen, die einen Übungsverlust aufweisen, größer und auch der 
Übungsverlust selbst beträchtlicher als in den bis zur Erlangung der 
größten Arbeitsschnelligkeit fortgesetzten Versuchen. An zwei Versuchs- 
personen wurde eine bedeutende Zunahme der Arbeitsschnelligkeit 
nach 28tägiger Pause festgestellt. Dies liegt jedoch daran, daß diese 
Versuchspersonen sich am Ende der Übungsversuche auf einer relativ 
sehr niedrigen Übungsstufe befinden. 

Zur Untersuchung der Frage, ob einerseits die Form des Übungs- 
fortschrittes, die, wie oben dargelegt wurde, zum Teil mit dem Grade 
der Ermüdbarkeit der Versuchspersonen im nahen Zusammenhang steht, 
andererseits der Verlauf des Übungsverlustes (die Übungsfestigkeit) 
eine allgemeine Bedeutung für die betreffende Versuchsperson dadurch 
besitzen, daß sie sich auch bei anderen geistigen Arbeiten in gleicher 
oder ähnlicher Weise wiederfinden, wurden an einer Reihe von Versuchs- 
personen neben den Versuchen mit dem Bourdonschen Verfahren auch 
Übungsversuche mit der Kraepelinschen Addiermethode ausgeführt. 


!) Über eine andere Erklärung der dem Bourdonschen Verfahren zugrunde 
liegenden psychischen Vorgänge vgl. Gellhorn, Ubungsfähigkeit und Ubungs- 
festigkeit bei geistiger Arbeit, S. 50, Anm. Leipzig 1920. 


160 E. Gellhorn:: 


Außerdem wurden noch Übungsversuche im Multiplizieren einstelliger 
Zahlen mit jeder Versuchsperson vorgenommen. Jede dieser 3 Methoden 
wird an drei aufeinanderfolgenden Versuchstagen je 20 Minuten geübt!). 

Die Ergebnisse lassen sich kurz dahin zusammenfassen, daß die Form 
des Übungsverlaufes im allgemeinen für jede Versuchsperson charakte- 
ristisch ist und trotz der verschieden großen Übungsfähigkeit, die für 
jede der zu leistenden Aufgaben besteht, keine wesentliche Änderung 
erfährt. Wurde nunmehr an den gleichen Versuchspersonen im An- 
schluß an diese Übungsversuche festgestellt, wie die Kurve der Übungs- 
festigkeit für jede der drei geistigen Tätigkeiten verläuft, so zeigte sich, 
daß die Größe der Übungsfestigkeit und ihr Verlauf für jede Versuchs- 
person charakteristisch ist. Nur in den Fällen, in denen die Übungs- 
versuche für eine bestimmte geistige Arbeit auf einer sehr niedrigen 
Übungsstufe abgebrochen werden, zeigte sich ein abweichender Ver- 
lauf der Übungsfestigkeit. 

Die bisher geschilderten Versuche über die Größe der Übungsfähig- 
keit und Übungsfestigkeit sind ausschließlich mit dem Bourdonschen 
Verfahren ausgeführt worden, — denn die zuletzt geschilderten Ver- 
suche, in denen zugleich mit dem Bourdonschen Verfahren auch die 
Additions- und Multiplikationsmethode zur Verwendung kommt, geben 
ja über die Größe der gesamtenÜbungsfähigkeit und der Übungsfestig- 
keit nur relative und nicht ablosute Werte, da diese Versuche nicht 
bis zum Maximum der Arbeitsschnelligkeit fortgeführt worden sind. 
Um aber den Schluß, die geschilderten Übungserscheinungen hätten für 
jede geistige Arbeit Geltung, da die Bourdonsche Methode eine typische 
geistige Arbeit einfachster Form zur Anwendung bringe?), auf eine 
möglichst sichere Basis zu stellen, wurden noch mit der Kraepelinschen 
Addiermethode an einem großen Versuchsmaterial, das Erwachsene 
und Kinder beiderlei Geschlechts umfaßt, weitere Versuche angestellt. 

Es sei vorweggenommen, daß auch an diesem Versuchsmaterial zahl- 
reiche Beispiele für die oben aufgestellten in bezug auf die Form ihres 
Übungsfortschrittes unterscheidbaren Typen gefunden wurden und daß 
die mit der Kraepelinschen Methode ausgeführten Versuche unsere Er- 
gebnisse bezüglich des Zusammenhanges zwischen der Größe der Er- 
müdbarkeit und der Übungsstufe bestätigte®). 

Es seien nunmehr die an Männern und Frauen ausgeführten Ver- 
suche besprochen t). Die Versuchspersonen addieren täglich 20 Minuten 
lang an 6 Versuchstagen in den Kraepelinschen Rechenheften und er- 

!) Näheres hierüber vgl. Gellhorn, a.a. O. 

2) Vgl. Gellhorn, a. a. O. S. 50, Anm. 
>) Zur Vermeidung von Wiederholungen wird deralh auf die Wiedergabe 
der diesbezüglichen Tabellen und Kurven in extenso verzichtet. 


*) Die folgenden Versuche wurden in den letzten zwei Jahren ausgeführt 
und sind in meiner mehrfach zitierten Arbeit nicht enthalten. 


Psychologische u. physiologische Untersuchungen über Übung u. Ermüdung. I. 161 


langen so das Übungsmaximum. Ebenso erweist sich für die Erreichung 
der maximalen Arbeitsgeschwindigkeit die Anordnung als zweckmäßig, 
daß die Versuchspersonen 10 bis 12 Tage hindurch je 10 Minuten addie- 
ren. Die in je 5 Minuten ausgeführte Zahl der Additionen ist der Tabelle I 
und Abb. 4!) zugrunde gelegt. Die Fehlerzahl ist so minimal, daß eine 
besondere Berücksichtigung nur ausnahmsweise am ersten Versuchs- 
tage erforderlich ist. Die männlichen Versuchspersonen sind wiederum 
in die Gruppe der Kopf- und Handarbeiter geteilt. Der Vergleich der 


Minim. Maxim. 4 5 6W. 8%. Minm. Maxım. 4Wo.  6Wo; Mirum. Maxım  4Wo 80 
Später 


450 


440 


Abb.4. Übungsversuche mit der Kraepelinschen Addiermethode. 

A. Kopfarbeiter B. Handarbeiter C. Frauen (Kopfarbeiter) 
Ausgezogene Kurve = Vp. Hem. Vp. H. Vp. Kes. 
Gestrichelte r =. at, . Krk a) 
Punktierte S 


BEN Mar De " En 
Variationsbreite der Arbeitsminima einerseits, der Arbeitsmaxima an- 
dererseits zeigt zwischen den beiden Gruppen so erhebliche Unterschiede, 
daß eine gemeinsame Zone, wie wir sie in den Bourdonschen Versuchen 
feststellen konnten, gar nicht existiert. Vielmehr entspricht ungefähr 
die Variationsbreite der Arbeitsmaxima der Handarbeiter der Varia- 
tionsbreite der Arbeitsminima bei den Kopfarbeitern. 

Diese beträchtliche Zunahme in den Differenzen der Variations- 
breiten der Arbeitsgeschwindiskeiten zwischen der Gruppe der Kopf- 


!) In der Abb. 4 sind nur die Extreme der Kurven der Kopf- und Hand- 
arbeiter wiedergegeben, um den Unterschied der Variationsbreiten der Gruppen 
zu veranschaulichen. 


Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 189. 11 


162 E. Gellhorn: 


und der der Handarbeiter gegenüber den Unterschieden, die zwischen 
beiden Gruppen bereits in den Versuchen mit den Bourdonschen Ver- 
fahren gefunden wurde, dürfte die bereits oben gegebene Erklärung, 
daß die Unterschiede durch die Mitübung zu erklären seien, die bei den 
Kopfarbeitern infolge ihrer Berufstätigkeit auch für eine andere bisher 
nicht geübte geistige Arbeit bestehe, noch mehr erhärten. Denn diese 
Mitübung muß um so größer sein, je ähnlicher die geprüfte geistige 
Arbeit der Berufsarbeit der Versuchsperson ist. Während aber in dem 
‘ Bourdonschen Verfahren nur die psychologische Analyse verdeutlicht, 
daß in ihm wichtige Partialfunktionen einer jeden geistigen Arbeit geübt 
werden, ist dies bei dem Addieren einstelliger Zahlen von vornherein 
klar und bedarf keines Beweises. So einfach die Aufgaben aber auch 
sind, so zeigt doch die Beobachtung, daß ihre möglichst schnelle und 
richtige Erledigung dem Handarbeiter ungleich mehr Schwierigßeiten 
bereitet als dem Kopfarbeiter. 

Der Gesamtfortschritt schwankt bei den Kopfarbeitern zwischen 
33 und 100%, bei den Handarbeitern zwischen 61 und 162%. Er ist 
also bei den letzteren im allgemeinen bedeutend größer, und zwar des- 
halb, weil die Kopfarbeiter den Versuch bereits auf einer relativ hohen 
Übungsstufe beginnen. 

Die an 9 Frauen durchgeführten Versuche, die mit Rücksicht auf 
ihren Beruf und ihre Schulbildung der Gruppe der Kopfarbeiter zuge- 
teilt werden mußten, zeigen in bezug auf Arbeitsminima und -maxima, 
gegenüber den von den männlichen Kopfarbeitern erhaltenen Zahlen 
sehr beträchtliche Differenzen. Denn die Arbeitsminima sind sämtlich 
kleiner als die der Kopfarbeiter und auch die Variationsbreite der Ar- 
beitsmaxima, die zwar in ihren Maximalwerten keine Unterschiede auf- 
weist, läßt erkennen, daß die Arbeitsmaxima von 7 Versuchspersonen 
(bei einer Gesamtzahl von 9) unterhalb der Variationsbreite der größten 
Arbeitsschnelligkeit der männlichen Kopfarbeiter gelegen sind. Sollten 
sich diese Ergebnisse im weiteren an einer möglichst umfangreichen 
Zahl von Frauen verschiedenen Alters und Berufs auszuführenden 
Versuchen bestätigen, so wäre damit erwiesen, daß auch die bis zum 
Übungsmaximum fortgesetzten Versuche das Zurückbleiben der weib- 
lichen Versuchspersonen in der Arbeitsschnelligkeit bei Ausführung 
einer einfachen geistigen Arbeit nicht zu ändern vermögen. 

In der Tabelle I sind ferner die Versuche enthalten, die an 50 Kindern!) 
mit der Kraepelinschen Methode vorgenommen wurden. Die Gruppen 
A und B führten diese Versuche bis zum Arbeitsmaximum aus, indem 
sie entweder 7 Tage hindurch täglich 20 Minuten oder 11-13 Tage 


!) Den Herren Rektoren und Lehrern der Talamtschule in Halle, insbesondere 
Herrn Rektor Saupe, möchte ich auch an dieser Stelle meinen besten Dank für 
die freundliche Überlassung des Versuchsmaterials aussprechen. 


Psychologische u. physiologische Untersuchungen über Übung u. Ermüdung. T. 63 


- Tabelle I. 
Kopfarbeiter. 

Name d. Mini- Maxi- 4Woch. 5Woch. 8 Woch. 
Vp. mum mum nach dem Maximum 
Pe 216 432 439 404 389 
Hem 228 421 404 404 
Hei 213 334 321 330 
Ma 240 322 309 2837 


K 245 445 


Handarbeiter. 


Kn 84 220 228 Die Versuchspersonen führen bis 
S 9 195 181 | zur Erlangung des Arbeitsmaxi- 
Sch 133. 246 228 | mums an sechs Versuchstagen 
139). ..259 Rechenversuche von je 20 Minuten 
I 
| 


H 161 260 238 Dauer aus. 


Frauen (Kopfarbeiter). 
Hel 149 251 
Al 186 305 
Kes ‚152 297 256 
Kr 1743057314 
D 102 214 172 


Sämtliche Zahlen der Tabelle geben 
die Summe der in fünf Minuten 
in den Kräpelinschen Rechen- 
| heften ausgeführten Additionenan. 


Eh 200 455 422 417 | Die Versuchspersonen führen zur 
Ba 174 440 441 432 \ Erlangung des Arbeitsmaximums 
E 122 296 268 266 | anzehn Versuchstagen Rechenver- 
Pie 126 292 264 261 ) suche von je 10 Min. Dauer aus. 
Knaben. Gruppe A. Mädchen. Gruppe A. 
Name Mini- Maxi- 11 Woch. 20 Woch. Name Mini- Maxi- il Woch. 20 Woch. 
d.Vp. mum mum nach d. Maximum d. Vp. mum mum nach d. Maximum 
R 109 220 BR 85 226 250 
L 150 270 263 257 F 102 284 279 288 
Schn 79 169 159 157 J 77 180 175 182 
St Se 331 322 310 D 99 212 215 
G 132 321 295 283 Kr sl 215 194 
J 101 205 197 B 99 183 186 189 
N 96 245 272 Z 107 189 198 
Ve 193 210 200 N 90 165 172 201 
B 73 142 
Gruppe B. Gruppe B. 
Name Mini- Maxi- 4Woch. 11 Woch. 20Woch. Name Mini- Maxi- 4 Woch.11 Woch. 20 Woch. 
d. Vp. mum mum nach dem Maximum d. Vp. mum mum nach dem Maximum 
Re 21107 231 223 Ww 124 260 232 227 
Era 96 232 204 H SIE IE ZEIT 
za 1087 252 297 Me eg 162 
A 129 265 263 Ss 69 202 181 
: M. 104 19 189 IL 147 314 315 336 
L 932 193 180 18i B 135. 327 313 
Gr 123 260 238 D Sl 175 186 
Kr 118 216 221 Sch 87° 175 184 
Ho 380 146 149 
Ka 122 331 


NE 


164 E. Gellhorn: 


Tabelle I. (Fortsetzung). 


Knaben. Gruppe C. Mädchen. Gruppe C. 

Name Mini- Maxi- 4Woch. 11 Woch. Name Mini- Maxi- 4 Woch. 11 Woch. 20 Woch. 
d.Vp. mum mum nach d. Maximum d. Vp. mıuım mum nach dem Maximum 

N 109 212 162 U 68 175 142 150 

Fr 109 198 Heim 83 156 144 

Schr 66 117 101 Her 117 216 209 

Ha 88 187 151 dp 6277922 131 

Ba 9 217 194 W 93 205 203 

Schö 108 237 235 B 153 336 294 

B 91 140 152 Sch 9 205 195 

M IT 72 155 159 


täglich 10 Minuten rechneten. Nur von einzelnen Versuchspersonen 
wird so das Übungsmaximum noch nicht vollständig erreicht, die 
Übungsstufe ist aber fast die maximale. Von der Gruppe C werden 
die Versuche auf einer niedrigeren Übungsstufe abgebrochen. Vergleicht 
man die Variationsbreiten der Arbeitsminima (79—157!) für Knaben, 
69—147 für Mädchen) und die der Arbeitsmaxima (169—337 für Kna- 
ben, 142—331 für Mädchen) der Gruppen A und B miteinander, so 
ergibt sich eine ziemlich gute Übereinstimmung. Bei näherer Betrach- 
tung zeigt sich jedoch, daß die Verteilung der Versuchspersonen inner- 
halb der angegebenen Grenzen derartig ist, daß erhebliche sexuelle 
Differenzen zuungunsten der Arbeitsschnelligkeit der Mädchen be- 
stehen. Von 16 Knaben nämlich löst nur eine Versuchsperson am ersten 
Versuchstage (Arbeitsminimum) weniger als 90 Aufgaben in 5 Minuten 
(unter Hinzufügung der Gruppe C, sind es 3 Knaben unter'23 Versuchs- 
personen); unter den Mädchen aber finden sich 10 von 19 Versuchs- 
personen und unter Berücksichtigung der Gruppe Ü sogar 14 von 24, 
d. h. also mehr als die Hälfte. Das gleiche ersieht man aus der Ver- 
teilung der Versuchspersonen innerhalb der Variationsbreite der Arbeits- 
maxima. Von den Knaben erreichen nur 2 unter 16 Versuchspersonen 
als Maximum weniger als 200; von den Mädchen dagegen bleiben von 
19 Versuchspersonen 10 unterhalb dieser Grenze. Es sind also die 
extremen Werte bei Knaben und Mädchen gleichen Alters und gleicher 
Schulklasse etwa gleich; der Durchschnitt zeigt aber ein deutliches 
Zurückbleiben der Mädchen sowohl in bezug auf arbeliemueinn wie 
-maxima. 

Die auch mit diesen Versuchspersonen nach größeren Pausen von 
4—20 Wochen wiederholten Versuche zeigen nun, wie groß die Übungs- 
festigkeit ist. Sie steht bei Kindern sicherlich nicht hinter der der Er- 
wachsenen zurück und scheint nach den vorliegenden Versuchen bei 
den Mädchen größer als bei den Knaben zu sein, ein Faktum, das viel- 
leicht damit in Bez/ehung stehen kann, daß die Mädchen im allgemeinen 


!) Die Zahlen geben die in 5 Minuten ausgeführte Zahl der Auen : an. 
Die Kinder besuchten die 3. Klasse. 


Psychologische u. physiologische Untersuchungen über Übung u. Ermüdung. I. 165 


langsamer, d. h. an späteren Versuchstagen das Übungsmaximum er- 
reichen als die Knaben. Von 11 Mädchen, die den Versuch nach einer 
Pause von 20 Wochen wiederholen, zeigen 9 keinen Übungsverlust, 
unter 7 Knaben dagegen nur 1. Aus der Tabelle ist ferner ersicht- 
lich, daß selbst nach 20 Wochen noch eine Zunahme der Arbeits- 
schnelligkeit gefunden werden kann, wenn die Versuchspersonen 
durch die Arbeitsversuche das Maximum noch nicht vollständig er- 
reicht hatten. 

Die an der Gruppe © durchgeführten Versuche, die, wie erwähnt, 
auf einer ziemlich niedrigen Übungsstufe abgebrochen wurden, scheinen 
ebenfalls die mit den Bourdonschen Verfahren gemachten Versuche zu 
bestätigen, daß, soweit überhaupt ein Übungsverlust eintritt, die 
Übungsfestigkeit geringer ist, wenn die Versuche nicht bis zum Übungs- 
maximum fortgeführt werden. | 

Die an einem umfangreichen Material mit dem Bourdonschen Ver- 
fahren und der Kraepelinschen Addiermethode gewonnenen Erfahrungen 
dürften auch aus methodologischen Gründen für das Studium der Be- 
einflussung psychischer Vorgänge durch verschiedene Arzneimittel von 
Bedeutung sein. Für diese Versuche muß in erster Linie eine an den 
verschiedenen Versuchstagen möglichst gleichartige Kurve der Ver- 
suchsperson erstrebt werden, damit aus der Änderung der Kurve, so- 
bald die Versuchsperson ein bestimmtes Pharmakon einnimmt, mit 
Sicherheit auf die Wirkung des jeweils verwendeten Arzneimittels ge- 
schlossen werden darf. Deshalb erscheint es notwendig, niemals Ver- 
suchspersonen, solange noch von einem Versuchstage zum anderen ein 
Übungsfortschritt.sich bemerkbar macht, zu pharmakopsychologischen 
Versuchen zu verwenden, wie dies z. B. Wedemeyert!) bei seinen 
Studien über die Gewöhnung psychischer Funktionen an das Coffein 
und Wahl?) in seinen Versuchen über die Wirkung von Nikotin auf 
psychische Vorgänge getan haben. Denn die Abhängigkeit der Form 
der Arbeitskurve von der Übungsstufe, die oben gelegentlich der Versuche 
mit dem Bourdonschen Verfahren erörtert wurde, gilt, wie erwähnt, in 
gleicher Weise für den Verlauf der Arbeitskurve in den Versuchen mit 
der Kraepelinschen Addiermethode. Und darum ist aus derartigen Ver- 
suchen nur selten mit Sicherheit die Wirkung irgendeines Pharmakons 
ersichtlich. Ferner ist es noch wichtig, daß, wenn Versuchspersonen erst 
Wochen oder Monate nach Erreichung des Arbeitsmaximums zu der- 
artigen Versuchen herangezogen werden, diese erst einige Übungstage 
absolvieren, bis der in der Zwischenzeit aufgetretene Übungsverlust aus- 
geglichen ist, eine Forderung, die Kraepelin?) in seinen klassischen 


!) Arch. f. experim. Pathol. u. Pharmakol. 1919. 
?) Zeitschr. f. d. ges. exp. Med. 1920. 
®) Die Beeinflussung psychischer Vorgänge durch Arzneimittel. Jena 1892. 


166 E. Gellhorn: 


Versuchen unbeachtet gelassen hat. Außerdem erscheint es notwendig, 
das täglich hintereinander ausgeführte Arbeitspensum auf nicht mehr 
als 20—30 Minuten Dauer festzusetzen, da sonst in der Hand Muskel- 
schmerzen entstehen, die in gleicher Weise störend auf die durch zentrale 
Vorgänge bedingte Form der Arbeitskurve einwirken, wie die Analyse 
der von Peder bei Muskelarbeit erzielten Übungskurven dargetan hat. 
Ausdiesen Gründen erscheint eine Nachprüfung der bisherigen pharmako- 
psychologischen Versuche unter Berücksichtigung der aufgestellten 
Grundsätze notwendig. 


II. Der Einfluß der Übung aufdie.Unterschiedsempfindlich- 
keit des optischen Raumsinnes und der Bewegungsempfin- 
dungen. 


Ausgehend von dem bereits in der Einleitung skizzierten Gesichts- 
punkt, daß es von großem sinnesphysiologischen Interesse sei, die 
Steigerung der Leistungsfähigkeit der verschiedenen Sinnesorgane unter 
dem Finflusse der Übung zu studieren und ferner festzustellen, in wel- 
chem Maße der Übungsfortschritt nach längeren Pausen sich erhalte!), 
wurden an 4 Versuchspersonen folgende Versuchsreihen ausgeführt. 
Nach dem Prinzip der Konstanzmethode wurden durch Vollreihen die 
Unterschiedsschwellen der Versuchspersonen für Sehstrecken ermittelt. 
Als Vergleichsstrecke wurde in der ersten Versuchsreihe eine 30 mm 
lange, in der zweiten Versuchsreihe eine 90 mm lange Strecke gewählt. 
Diese wurde der Versuchsperson in Augenhöhe in einer durch die Spitzen 
eines Tasterzirkels begrenzten Graden dargeboten, während die Ver- 
suchsperson etwa ®?/, m vor dem Zirkel sitzend, einen weißen Hinter- 
grund anblickt. Nach Darbietung der Vergleichsstrecke, die während 
des ganzen Versuches dieselbe bleibt, werden in völlig regelloser Folge 
kleinere, größere oder gleichgroße Strecken gezeigt, und die Versuchs- 
person hat jedesmal die Strecken zu vergleichen und dementsprechend 
ihr Urteil (kleiner, größer, gleich oder unbestimmt) anzugeben. Jede 
Strecke wird viermal gezeigt. Die Differenzen zwischen den verschiede- 
nen Strecken betragen 1 mm. Die Vollreihen umfassen für die Ver- 
gleichsstrecke von 30 mm die Strecken 26—34 mm, für die 90 mm große 
Vergleichsstrecke aber die Reizlinien von 86—94 mm. Die Versuchs- 


1) Über die Steigerung sinnesphysiologischer Unterfunktionen durch Übung 
liegen bereits im Gebiete der Farbensinnstörungen Untersuchungen vor. So ge- 
lang es Goldschmidt (Zeitschr. f. Sinnesphysiol. 50, 192. 1918), an einem durch 
Schußverletzung des Auges in seiner Farbentüchtigkeit stark beeinträchtigten 
Individuum durch systematische Übung eine erhebliche Steigerung seines Unter- 
scheidungsvermögens für Farben zu erzielen, das auch nach längerer (dreimonat- 
licher Pause im wesentlichen erhalten geblieben war. Über derartige Versuche 
an Gesunden scheinen bisher keine Ergebnisse, die auch die Übungsfestigkeit 
berücksichtigen, vorzuliegen, f 


Psychologische u. physiologische Untersuchungen über Übung u. Ermüdung. I. 167 


reihen mit den Vergleichsstrecken 30 bezw. 90 mm alternieren, so daß, 
da von jeder Versuchsreihe 5 Versuche und zwar täglich einer ausgeführt 
werden, die gesamte Versuchsreihe 10 Tage umfaßt. 

In völlig analoger Weise wurde dann an denselben Versuchspersonen 
die Unterschiedsempfindlichkeit des kinästhetischen Sinnes für die 
Größe verschiedener Strecken untersucht. Hierbei hat die Versuchs- 
person Daumen und Zeigefinger der rechten Hand derart auf die 3 mm 
voneinander entfernten Spitzen eines Ästhesiometers zu legen, daß diese 
nur einen Punkt der Volarflächen des Zeigefingers bzw. Daumens be- 
rühren. Sodann wurden von dem Versuchsleiter die Ästhesiometer- 
spitzen voneinander bis zur Länge der gewünschten Vergleichsstrecke 
(30 bzw. 90 mm) bei abgewandtem Blick der Versuchsperson entfernt. 
Hat die Versuchsperson ein Zeichen gegeben, daß sie die Größe des Ab- 
standes der Ästhesiometerspitzen erfaßt hat, so werden die Spitzen ein- 
ander wieder genähert (auf 3 mm) und sofort danach die mit der ersten 
Strecke zu vergleichende Strecke der Versuchsperson dargeboten. Das 
Urteil der Versuchsperson wird in der gleichen Weise wie bei den Ver- 
suchen über optische Unterschiedsempfindlichkeit registriert; die Reiz- 
strecken umfassen für die 30 mm große Vergleichsstrecke die Geraden 
von 25—35 mm mit je 1 mm Differenz zwischen den einzelnen Strecken, 
für die 90 mm große Vergleichsstrecke betragen sie 75—105 mm mit je 
2!/, mm Differenz. Die Versuchsdauer beträgt bei täglicher Ausführung 
von je einer Vollreihe für jede der beiden Gruppen 6 Tage. Auch in diesen 
Versuchen wird jede Reizstrecke 4mal gezeigt. 

Wie besondere hierüber durchgeführ’e Versuche zeigen), ist die 
Schnelligkeit, mit der die Spitzen des Ästhesiometers voneinander ent- 
fernt werden, für die Schätzung ihres Abstandes nicht gleichgültig. 
Bei diesen Versuchen wurden sie stets mit gleichmäßiger, beträchtlicher 
Schnelliskeit voneinander entfernt, so daß mit der Schnelligkeit der 
Darbietung in Zusammenhang stehende Täuschungen völlig ausgeschlos- 
sen werden können. 

Die Berechnung geschieht nach der Spearmann-Wirthschen Formel?), 
indem zunächst die obere und die untere Schwelle festgestellt wird und 
aus den Differenzen der beiden Schwellenwerte mit der Vergleichsstrecke 
das arithmetische Mittel gezogen wird. Die Formel für die obereSchwelleist 


8 : 
meh tn, 
n 2 
für die untere Schwelle lautet sie: 
Sk i 
ea 


!) Vgl. dieses Archiv 189, 215 ff. 1921. 
?”) Vgl. Fröbes, Lehrbuch der Psychologie, Bd. I, S. 454ff. Freiburg 1917. 


168 E. Gellhorn: 


Hierin bedeutet E, bezw. E, die Streckengröße, die in 100% der Fälle 
richtig erkannt wird, « das Intervall, in dem die Strecken von dem 
Vergleichsreiz ab- bzw. zunehmen, Sk bzw. Sg die Summe der „größer“ 
bzw. ‚‚kleiner‘‘ Urteile, die dann noch durch die Zahl n dividiert wird, 
jene konstante Zahl, in unserer Versuchsanordnung 4, die angibt, wie 
oft jede der verschiedenen Strecken dargeboten wird. 

Hervorgehoben sei ferner noch der Umstand, daß die Dauer der 
Darbietung der Reizstrecken der Versuchsperson anheimgestellt wurde. 
Entsprechend dem verschieden schnellen Auffassungsvermögen genüg- 
:ten der einen Versuchsperson wenige Sekunden, während andere Ver- 
suchspersonen besonders an den ersten Versuchstagen erst nach 20 bis 
30 Sekunden ihr Urteil abgaben. Durch diese Anordnung wird die 
gewünschte Herbeiführung von Versuchsbedingungen, die für jede Ver- 
suchsperson möglichst optimal sind, gefördert. 

In der Literatur finden sich über die Unterschiedsempfindlichkeit 
für Sehstrecken etwas verschiedene Werte. Während Fechner!) die 
relative Schnelle auf !/,, angibt, finden sich in den Versuchen Chodins!) 
für Strecken von 20-80 mm Größe Werte von Y,—N/,,. Endlich 
beträgt sie nach Bühler?) Y,,—Vey- 

Mit diesen Zahlen stimmen die Werte für die optische Unterschieds- 
schwelle, die sich aus dem arithmetischen Mittel der Schwellenwerte 
der ersten beiden Versuchstage ergeben und die in der Tabelle in der 
ersten Spalte angegeben sind, gut überein. Nur die Schwelle der 
Versuchsperson Sch. und Br. ist für kleine optische Strecken (30 mm) 
etwas geringer. Aber nur wenige Wiederholungen genügen, um eine 
ganz erhebliche Steigerung der Unterschiedsempfindlichkeit bei allen 
Versuchspersonen herbeizuführen. Die Schwelle hat sich durch 
an Zahl so geringe Versuche so erheblich verfeinert, daß sie für kleine 
Strecken (30 mm) bei den Versuchspersonen Br und H Null beträgt, 
d. h. daß ihr Wert so gering ist, daß er sich bei einem Intervall von 
i = 1 mm nicht mehr berechnen läßt. Zu seiner genauen Feststellung 
hätte man also i noch kleiner als 1 mm wählen müssen. Hier genüge 
die Angabe, daß die Schwelle dieser Versuchspersonen geringer als 
0,12 mm ist. In den meisten Versuchen hat sich die Unterschieds- 
schwelle um mehr als die Hälfte vermindert (vgl. die Tabelle II). 

Zur Entscheidung der Frage, ob der durch Übung so erheblich ver- 
feinerten Schwelle eine praktische Bedeutung dadurch zukomme, daß 
die vermehrte Leistungsfähigkeit auch nach Unterbrechung der Übungs- 
versuche in gewissem Grade erhalten bleibt, wurde nach 14 Tagen je 


‘) Zitiert nach Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie. 5. Aufl. 
Bd. II, S. 543. 1902. 

?) Vgl. Ebbinghaus, Lehrbuch der Psychologie, bearbeitet von Bühler, 
Bd. I, S. 506. Leipzig 1919. ’ 


Psychologische u. physiologische Untersuchungen über Übung u. Ermüdung. I. 169 


ein Versuch mit der 30 und 90 mm langen Vergleichsstrecke wiederholt. 
Die an diesen Versuchstagen erhaltenen Vollreihen ergeben nun bei 
allen Versuchspersonen, daß von der Übungswirkung nichts verloren- 
gegangen ist. Denn die Zunahme der Schwelle von 0,7 auf 0,8 mm hat 
natürlich keine Bedeutung. Die an zwei Versuchspersonen 4 Monate 
später festgestellte Unterschiedsschwelle zeigt sogar für die Versuchs- 
person Sch eine weitere Verfeinerung der Schwelle für große Strecken 
(90 mm). Die Festigkeit der Übungswirkung ist also für die Größen- 
schätzung optischer Strecken eine sehr hohe. 

Über die Unterschiedsschwelle des kinästhetischen Sinnes für passive 
Bewegungen liegen erst wenige Untersuchungen vor. Da die Dauer der 
aktiven Bewegung bei vielen Versuchspersonen einen großen Einfluß 
auf die Schätzung ihrer Größe hat, wie Jaensch!) nachweisen konnte, 
so daß die Beurteilung der Größe der ausgeführten Winkelbewegung 
zum großen Teil mittels des Zeitsinnes erschlossen wird, so ist es vorteil- 
hafter zum Studium der Unterschiedsschwelle passive Bewegungen zu 
verwenden. Da außerdem in unserer Versuchsanordnung das Aus- 
einanderziehen der Ästhesiometerspitzen möglichst "schnell geschieht, 
so dürfte dem Zeitsinn für die Erkenntnis der Größe der gegebenen 
Strecke keine wesentliche Bedeutung mehr zukommen und vielmehr 
der kinästhetische Sinn maßgebend sein. 

Für passive Bewegungen im Ellbogengelenk hat Erismann?) die 
relative Unterschiedsschwelle gleich !/,, gefunden. Zu Übungsversuchen 
erscheint es aber zweckmäßig, eine Bewegung in solchen Gelenken aus- 
führen zu lassen, die schon von vornherein eine größere Unterschieds- 
empfindlichkeit deshalb besitzen, weil sie im Leben fortwährend zur 
Abschätzung geringer Unterschiede gebraucht werden. Denn die weiter 
unten beschriebenen Versuche über den Ortssinn) zeigen ebenfalls, daß 
man in kurz dauernden Übungsversuchen nur an denjenigen Haut- 
stellen weitgehende Erfolge erzielt, die eine nicht zu geringe Feinheit 
des Lokalisationsvermögens aufweisen. Es soll damit natürlich nicht 
gesagt sein, daß Sinnesleistungen, die eine sehr hohe Schwelle zeigen, 
sich durch Übung nicht verfeinern lassen. Nur ist nach unseren bis- 
herigen Erfahrungen anzunehmen, daß erheblich längere Übungs- 
perioden hierzu erforderlich sind. Aus diesem Grunde wurde die Unter- 
schiedsschwelle für die durch Nähern und Entfernen des Daumens und 
Zeigefingers entstehenden Bewegungsempfindungen festgestellt. 

In der ersten Spalte der Tabelle II ist die Unterschiedsschwelle, die 
aus dem arithmetischen Mittel der Schwelle der ersten beiden Versuchs- 
tage erhalten wurde, angegeben. Danach ist die Schwelle für die 


1) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 41, 257. 1906. 


2) Erismann, Arch. f.d. ges. Psych. 24, 172. 1912. 
2) Vgl. dieses Archiv 189, 215 ff. 1921. 


170 E. Gellhorn: 


Tabelle 11. 


Optische Unterschiedsschwelle (Vergleichsstrecke 30 mm.) 


Schwelle v. a. Schwelle Schwelle 14Tage Schwelle 
Vp. Übungsperiode nach Übung n.d.Übungsmax. 4 Monate 


in mm ö in mm in mm später 
Br 0,12 0 0 
EIG: 0,75 0 0,12 0,25 
Schi 0,37 0,12 0,12 0 
- Sch 1,18 0,12 
Optische Unterschiedsschwelle (Vergleichsstrecke 90 mm). 
Br 1,6 0,7 BEOSzEE 
H 1,9 0,6 0,6 
Schi 2,0 1,2 1,5 0,25 
Sch 1%5 1,1 
Unterschiedsschwelle für Bewegungsempfindungen (Vergleichsstrecke 30 mm). 
Br 2 07 1,0 
H 2,2 0,6 1,8 1,5 
Schi 1,5 1,2 0,8 0,5 
Sch 2,6 1,2 
Unterschiedsschwelle für Bewegungsempfindungen (Vergleichsstrecke 90 mm). 
Br 3,6 0,9 0,3 
H 3,8 2,8 3,1 
Schi 553 1,2 2,8 2,8 
Sch 5,3 1,8 


geprüften Bewegungen erheblich feiner alsam Ellbogengelenk und beträgt 
für die 30 mm großen Vergleichsstrecken 1/,„—!/,,, für die 90 mm 
langen geraden !/,„—!/;,;. Und auch in dieser Versuchsreihe läßt sich 
durch wenige Versuchstage eine erhebliche Verfeinerung der Schwelle 
erzielen. Wie aus der Tabelle hervorgeht, hat auch hier bei sämtlichen 
Versuchspersonen die Unterschiedsschwelle erheblich abgenommen und 
beträgt z. B. bei den Versuchspersonen Br und Schi ein Viertel und 
noch weniger der ursprünglichen. 

Dennoch befinden sich die Versuchspersonen sicherlich noch erheb- 
lich von der maximalen Unterschiedsempfindlichkeit entfernt, zumal sie 
übereinstimmend subjektiv eine Steigerung des Sicherheitsgefühls in 
der Schätzung bekunden, die von Tag zu Tag zunimmt und während 
der Dauer der Übungsperiode noch nicht stationär wird. Aber auch 
in objektiver Weise läßt sich der Nachweis erbringen, daß die Versuchs- 
personen noch erheblich vom Übungsmaximum entfernt sind. Denn 
bei der Versuchsperson Schi hat für kleine Strecken, bei der Versuchs- 
person Br für große Strecken auch nach 14tägiger Unterbrechung der 
Versuche eine Zunahme des Übungsfortschrittes stattgefunden. Ja, 
sogar nach A monatlicher Unterbrechung wird bei der Versuchsperson 
Schi eine, wenn auch geringe, weitere Erniedrigung der Schwelle fest- 
gestellt. Damit wird in Übereinstimmung mit zahlreichen mit dem 


Psychologische u. physiologische Untersuchungen über Übung u. Ermüdung. I. 171 


Bourdonschen Verfahren und der Kraepelinschen Addiermethode aus- 
geführten Versuchen auch im Bereiche der Unterschiedsempfindlichkeit 
der Bewegungs- und der Gesichtsempfindungen die Tatsache nachge- 
wiesen, daß der in einer kurzen Übungsperiode gesetzte Reiz sich auch 
noch nach längerer Pause in einer Zunahme der Leistungsfähigkeit 
auswirken kann. Und zwar haben wir in den Versuchspersonen Schi 
und Br zwei Beispiele dafür, unter welchen Umständen die Zunahme 
des Übungsfortschrittes nach längerer Pause gefunden wird. Erstens 
dann nämlich, wenn die Übungswirkung sich besonders langsam 
entwickelt (Versuchsperson Schi) und zweitens in den Fällen, in denen 
eine exzessive Übungsfähigkeit der Versuchsperson wie bei Br vorliegt. 
Durch diese Versuche dürfte der Beweis erbracht sein, daß, so ver- 
schieden in quantitativer Hinsicht die Größe der Übungsfestigkeit bei 
den einzelnen Sinnesfunktionen sein mag, diese dennoch dieselben 
Gesetzmäßigkeiten zeigen, die bei der Untersuchung einfacher psychi- 
scher Vorgänge festgestellt werden konnten. 

Betrachten wir die übrigen Schwellenwerte, die 14 Tage nach Be- 
endigung der Übungsperiode sich ergeben, so fällt sofort auf, daß die 
Übungsfestigkeit im Bereiche der Bewegungsempfindungen nicht un- 
erheblich hinter der Festigkeit der optischen Unterschiedsschwelle 
zurücksteht. Dennoch ist auch in diesen Versuchen ein erheblicher 
Übungsrückstand festzustellen. Denn die Unterschiedsschwelle ist auch 
in den Fällen, in denen ein Übungsverlust eingetreten ist, erheblich 
niedriger, als an den ersten Versuchstagen. 

Zusammenfassend läßtsich also sagen, daß bei geeigneter 
Versuchsanordnung durch 5-6 Übungstage (die Versuchs- 
dauer beträgt täglich etwa 10 Minuten) eine bedeutende Ver- 
minderung der Unterschiedsschwelle für die Schätzung von 
Sehstrecken und durch Bewegungsempfindungen vermit- 
telten Taststrecken statt hat, und daß der so erzielte 
Übungsfortschritt in sehrhohem Maße erhalten bleibt, und 
zwar in höherem Grade für die Sehstrecken als für die 
Strecken, deren Größe durch Bewegungsempfindungen 
wahrgenommen wird. 


Ergebnisse. 

Überblicken wir die in vorstehendem geschilderten Versuche, so 
dürfen wir als Ergebnisse der psychologischen Versuche über die Übungs- 
phänomene bei geistiger Arbeit die Feststellung bestimmter Übungs- 
gesetze bezeichnen, die für jede geistige Arbeit Geltung haben dürften. 
Diese Gesetzmäßigkeiten erstrecken sich auf die Übungsfähigkeit und 
zeigen, daß die Mitübung die Kopfarbeiter schon bei einer ganz primi- 
tiven geistigen Arbeit, wie sie durch das Ausstreichen eines Buchstabens 


72 E. Gellhorn: 


_ 


in einem Texte gefordert wird, zu einer höheren Arbeitsleistung in quan- 
titativer Hinsicht befähigt, und daß, je ähnlicher die geistige Arbeit 
der Berufstätigkeit des Kopfarbeiters wird, die Differenzen zwischen 
Kopf- und Handarbeitern zuungunsten der letzteren desto mehr wach- 
sen. Ferner ergeben die Versuche, daß die Mädchen durchschnittlich 
gleichaltrigen Knaben sowohl hinsichtlich der Arbeitsminima wie der 
Maxima nachstehen. Übereinstimmend wird ferner sowohl mit der 
Bourdonschen wie mit der Kraepelinschen Methode festgestellt, daß die 
Versuchspersonen in bezug auf die Form ihres Übungsforstchrittes in 
drei Gruppen eingeteilt werden können. Leicht ermüdbare Versuchs- 
personen zeigen den Übungsfortschritt nur in den zwischen den einzelnen 
Versuchstagen gelegenen Pausen. Von den übrigen Versuchspersonen 
weist ein Teil den Fortschritt nur während der Arbeit auf, stellt also 
gegenüber dem ersten gerade den umgekehrten Typus dar. Bei einer 
dritten Gruppe von Versuchspersonen wächst endlich die Übung sowohl 
in der Pause wie auch während des Versuches. 

Die von mehreren Versuchspersonen in verschiedenen geistigen 
Tätigkeiten, zu deren Ausführung wir uns der Bourdonschen, der Addier- 
und der Multiplikationsmethode bedienten, vorgenommenen Übungs- 
versuche zeigen, daß die Übungsform für jede einzelne Versuchsperson 
charakteristisch ist und bei verschiedenen geistigen Arbeiten in gleicher 
Weise in Erscheinung tritt. 

Endlich geht noch aus den Versuchen hervor, daß die Ermüdung 
auf höheren Übungsstufen eine scheinbare Zunahme erfährt, die durch 
den Wegfall der fördernden Übungswirkung bedingt ist. 

Die bei Kopf- und Handarbeitern jenseits des 45. Jahres festgestellte 
Abnahme der Arbeitsminima und -maxima gegenüber den jüngeren 
Versuchspersonen wird durch die Störung der Zirkulationsverhältnisse 
im Gehirn infolge Arteriosklerose (es besteht dann eine verminderte 
Dilatationsfähigkeit der Arterien) oder durch regressive Veränderungen 
der Ganglienzellen erklärt, die verhindern, daß die dem Übungsvor- 
gange zugrunde liegenden materiellen Prozesse im Getriebe des Zell- 
stoffwechsels in gleichem Umfange eintreten können, wie bei den jüngeren 
Versuchspersonen. 

Die an Erwachsenen und Kindern über Wochen und Monate sich 
erstreckenden Versuche zur Feststellung der Größe der Übungsfestigkeit 
ergeben keine Alters- und sexuellen Unterschiede. Die Übungsfestig- 
keit ist individuell verschieden, — und auch diese individuelle Größe 
der Übungsfestigkeit ist für jede Versuchsperson charakteristisch, indem 
sie bei verschiedenen geistigen Tätigkeiten in gleicher Weise zum Aus- 
druck kommt —, im allgemeinen aber sehr groß, so daß sogar nach einer 
Unterbrechung der Versuche von 20 Wochen ein großer Teil der Ver- 
suchspersonen von der Übungswirkung nichts eingebüßt hat. Werden 


Psychologische u. physiologische Untersuchungen über Übung u. Ermüdung. I. 173 


die Übungsversuche nicht bis zum Maximum fortgeführt, so kann selbst 
nach einer großen Pause (20 Wochen) eine Zunahme der Arbeitsleistung 
beobachtet werden. 

In methodischer Hinsicht ergibt sich für das Studium der Beein- 
flussung psychischer Prozesse durch Arzneimittel die Forderung, daß 
derartige Versuche nur an Versuchspersonen, die das Übungsmaximum 
erreicht haben, ausgeführt werden sollen, und daß der einzelne Versuch 
zwecks Vermeidung von Nebenwirkungen nicht länger als 20—30 Mi- 
nuten dauern darf. 

Auch für sinnesphysiologische Funktionen (Unterschiedsschwelle‘ 
des optischen Raumsinnes und der Bewegungsempfindungen) läßt 
sich eine erhebliche Erniedrigung der Schwellen schon nach wenigen 
Übungsversuchen feststellen. In einigen Versuchen kann auch hier 
eine ziemlich große Übungsfestigkeit beobachtet werden, die für den 
optischen Raumsinn deshalb größer ist, weil die Versuche über die 
Unterschiedsschwelle der Bewegungsempfindungen auf einer bedeutend 
niedrigeren Übungsstufe abgebrochen werden. Bei einzelnen Versuchs- 
personen konnteauch nach 1l4tägiger bzw. 4 monatlicher Unterbrechung 
der Versuche eine weitere Verfeinerung der Schwelle konstatiert werden. 


(Aus dem Physiologischen Institut der Universität Halle.) 


Psychologische und physiologische Untersuchungen über 
Übung und Ermüdung. 


II. Mitteilung. 


Das andkelten von Puls und Körpertemperatur im Zustande der 
Ermüdung. 


Von 
Privatdozent Dr. phil. et med. Ernst Gellhorn, 
Assistent am Institut. 


(Mit 1 Textabbildung). 
(Eingegangen am 7. März 1921.) 


Durch die Verwendung der plethysmosraphischen Methode durch 
Berger!), Lehmann?) und Ernst Weber?) hat das Studium der 
Kreislaufsverhlätnisse bei geistiger und körperlicher Arbeit eine wesent- 
liche Klärung erfahren. Abgesehen von den Volumenschwankungen der 
verschiedenen Körperteile, die durch das verschiedene Verhalten der Ge- 
fäße bedingt werden, wurde auch durch eine von E. Weber?) angegebene 
Methode für fortlaufende Registrierung des Blutdruckes von Ernst 
Gellhorn und Hans Lewin?’) festgestellt, wie sich der Blutdruck 
während einer geistigen und körperlichen Arbeit verhält. Aus zahl- 
reichen Versuchen ergibt sich, daß bei geistiger Arbeit eine Abnahme 
des Volumens der Glieder und der äußeren Teile des Kopfes und eine 
Zunahme des Volumens des Gehirns und der Bauchorgane eintritt‘), 
während der Blutdruck steigt?) und aus der plethysmographischen 
Kurve des Armes ersichtlich ist, daß im Anfange der geistigen Arbeit 
eine Pulsverlangsamung, dann aber eine Beschleunigung sich zeigt. Im 
Zustand der Ermüdung tritt nun, wie Ernst Weber nachgewiesen hat, 


!) Berger, Körperliche Äußerungen psychischer Zustände, Bd. I u. I. 
Jena 1904. 

2) Lehmann, Körperliche Äußerungen psychischer Zustände, Bd. I—-IMI. 
Leipzig 1899—19035. 

®) Ernst Weber, Der Einfluß psychischer Vorgänge auf den Körper, ins- 
besondere auf die Blutverteilung. Berlin 1910. 

*) Ernst Weber, Arch. f. Anat. u. Physiol. Physiologische Abteilung 1913, 
S. 205ff. 

5) ErnstGellhorn und HansLewin, Ebenda, 1913, S. 225 und 1915, S. 28. 

6) Ernst Weber, Der Einfluß psychischer Vorgänge, S. 354. 


E. Gellhorn : Psychol. u. physiol. Untersuchungen über Übung u. Ermüdung. II. 175 


die umgekehrte Reaktion hinsichtlich des Verhaltens des Armvolumens 
ein; der Blutdruck am Gesunden dagegen steigt und sinkt nur in 
pathologischen Fällen!). Eine Änderung des Verhaltens des Pulses wurde 
in der Kurve nicht beobachtet. Bei körperlicher Arbeit dagegen kommt 
es zu einer Zunahme des Volumens der Extremitäten und zu Blutdruck- 
erhöhung. Der Puls ist stark beschleunigt. Im Ermüdungszustande 
aber wird ebenfalls im Verhalten der Gefäße eine völlige Umkehrung 
beobachtet, indem bei körperlicher Arbeit das Volumen der Extremi- 
täten eine Abnahme erfährt?). Doch tritt dies nur bei hochgradiger 
Ermüdung ein. Da somit aus diesen Untersuchungen hervorgeht, daß 
im Ermüdungszustande die Kreislaufsverhältnisse stark verändert sind, 
scheint es von Interesse, die Wirkung lang dauernder geistiger und 
körperlicher Arbeit auf die Pulszahl im Verlaufe des Ermüdungszustan- 
des zu studieren. Ebenso soll auch das Verhalten der Körpertempe- 
ratur besonders bei geistiger Arbeit untersucht werden, da die bisher 
vorliegenden Angaben sich stark widersprechen. Während Davy, Gley 
und Rumpf eine Temperaturerhöhung bei geistiger Arbeit feststellten, 
tritt nach Albutt keine Temperatursteigerung ein und Tigerstedt?) 
pfliehtet Speck) bei, daß die von einigen Autoren gefundene Tempe- 
ratursteigerung durch die bei geistiger Arbeit unwillkürlich infolge Auf- 
merksamkeitssteigerung eingetretenen Muskelbewegungen bedingt sei. 
Im Gegensatz zu den Versuchen dieser Autoren erstrecken sich aber die 
folgenden Versuche über mehrere Stunden, weil von der Anschauung 
ausgegangen wurde, daß entsprechend der völligen Umkehrung des 
Verhaltens der Gefäße im Ermüdungszustande, auch Puls und Körper- 
temperatur nach langdauernder Arbeit verändert sein würden. 

Die Versuche wurden in der Zeit von Dezember 1918 bis April 1919 
wöchentlich mehrmals mit stets gleichem Erfolge an mir durchgeführt. 
Der Puls wurde stets eine Minute hindurch jede halbe Stunde an der 
Radialarterie gezählt; die Temperatur ist in der Achselhöhle stündlich 
gemessen worden. Mein Cor zeigt keinerlei Anomalien. Ich war zur Zeit 
der Versuche 26 Jahre alt, Größe 1,70 m, Gewicht 65 kg. An zwei 
weiteren Versuchspersonen konnte ich, allerdings in nur wenigen Ver- 
suchen, die Ergebnisse bezüglich der Wirkung von geistiger Arbeit auf 
Puls und Temperatur bestätigen. 

Die Versuche wurden nachmittags und abends ausgeführt und nie- 
mals früher als 1!/,—2 Stunden nach der letzten Nahrungsaufnahme 
begonnen, um durch die im Anschluß hieran eintretende Pulsbeschleu- 


I) Ernst Gellhorn und Hans Lewin,|.c. 
Ernst Weber, Arch. f. Anat. u. Physiol., physiol. Abt. 1914, S. 290ff. 


Bd. I, S. 569. 
SBlere: 
?) Arch. f. experim. Pathol. u. Pharmakol. 15, 143. 1881. 


176 E. Gellhorn: 


nigung nicht getäuscht zu werden. Während des Versuches unterbleibt 
jede Nahrungsaufnahme. Die Zimmertemperatur zeigt während des 
Winters fast keine Schwankungen, die Versuche des Frühjahres ergeben 
das gleiche Resultat. Um Muskelbewegungen möglichst zu vermeiden, 
war die Haltung der Versuchsperson im Lehnstuhl eine möglichst be- 
queme. An den Ruhetagen verbringt die Versuchsperson die Zeit mit 
leichter Lektüre usw., während an den Arbeitstagen ein ihr besonders 
schwierig erscheinendes Gebiet durchgearbeitet wird. 

An dem Ruhetage (1. I. 19) (Abb. la) zeigt die Temperaturkurve 
keine Schwankungen und beträgt 36,3 (Abendversuch). Sie ist gegen 
die Nachmittagstemperatur um 0,3° gefallen. Die Pulskurve sinkt von 
72 auf 66 Schläge pro Minute. An zahlreichen anderen Kontrolltagen 
wurde eine stärkere Temperatursenkung bezw. eine geringere Pulsfrequenz 
niemals beobachtet. An dem Arbeitstag (4. I. 19) (Abb. Ib) ergibt sich 
dagegen eine allmähliche 'Temperatursenkung von 36,3° auf 36,1°, 
nach einer und auf 35,7 ° nach zwei Stunden. Gleichzeitig zeigt die Puls- 
kurve einen Abfall von 70 auf 54 Schläge pro Minute. Bereits um 10 Uhr 
war das subjektive Müdiskeitsgefühl stark ausgeprägt. Temperatur- 
abfall und Erniedrigung der Pulsfrequenz in einem so hohen Grade 
konnten in zahlreichen Abendversuchen im Ermüdungszustande nach 
geistiger Arbeit beobachet werden, während in den entsprechenden Nach- 
mittagsversuchen der Erfolg stets geringer war. Dies geht aus dem Ver- 
gleich zwischen dem Ruheversuch vom 29. XII. 18 (Abb. le) und dem 
Arbeitsversuch vom 30. XII. 18 (Abb. 1f) deutlich hervor. Denn die 
Temperaturkurve zeigt kein unterschiedliches Verhalten, während die 
Pulsfrequenz im Arbeitsversuche auf 59, im Kontrollversuche aber nur 
auf 66 herabgeht. Ist somit die Herabsetzung der Pulsfrequenz nicht so 
groß, wie in den Abendversuchen, so liegt sie doch weit unterhalb der 
an Ruhetagen gefundenen Pulszahl. Entsprechend dem subjektiv 
viel leichter eintretenden Ermüdungsgefühl der Versuchsperson am 
Abend sind die Pulsveränderungen in den Abendversuchen viel 
stärker. Eine deutliche Temperaturbeeinflussung konnte in den 
Nachmittagsversuchen niemals erzielt werden. Ebenso wurde auch in 
einigen Vormittagsversuchen die Pulsverlangsamung durch geistige Er- 
müdung, wenn auch in geringerem Grade, festgestellt, während die 
Temperaturkurve sich wie am Ruhetag verhielt. 

Es geht demnach aus diesen Versuchen hervor, daß im 
Ermüdungszustande Pulsfreguenz und Körpertemperatur 
vermindert sind, daß aber beide Erscheinungen einander 
nichtparallelgehen, sondern die Änderungder Pulsfrequenz 
schon beigeringeren Ermüdungszuständeneintritt,indenen 
eine Temperatursenkung noch nicht zur Beobachtung 
kommt. 


Psychologische u. physiologische Untersuchungen über Übung u. Ermildung. II. 177 


Da aber eine gewisse Proportionalität zwischen den Puls- und Tem- 
peraturveränderungen einerseits, dem Ermüdungszustande anderer- 
seits zu bestehen scheint, so wäre besonders die Feststellung interessant, 


80 
Terap. Puls 
N) 


36° 60 


BR) ie] 
7 ; mn? MR 


80 
Temp, Puls 
er Ho) 


on 760 


Bo 


gh oh mh 12h 


80 
Temp. Puls 
eu) 


36° 60 


35° 
an on mn BR oh gu Ch 7m OR 3m uk ar 


h) i) k) 


Abb. la—k. Ausgezogene Kurve: Pulskurve. Gestrichelte Kurve: Temperaturkurve. a) Abend- 
versuch. 1.1.19. Lectüre, b) Abendversuch. 4.1.19, Intensive geistige Arbeit. c) Abendversuch. 
7.11.19. Intensive geistige Arbeit. Um 9b und 10h je 0,1g Coffein.-natr.-salicyl. per os. d) Abend- 
versuch. 11. 111.19. Intensive geistige Arbeit. Um %9h 0,75 mg Atrop.-sulfat. per os. Um 10h 
0,5 mg Atropin.-sulfat. per os. e) Nachmittagversuch. 29. XII. 18. Lectüre. f) Nachmittagsversuch. 
30. XII. 18. Intensive Arbeit. g) Abendversuch. 19. II. 19. Intensive geistige Arbeit. Um 10h 
Coffein.-natr.-salicyl. per os. h) Abendversuch. 1. III. 19. Intensive geistige Arbeit. 10!/,h 
0,5 mg Atropin.-sulfat per os. i) 8. II. 19. Körperliche Arbeit (s. Text). k) 5. IV. 19. Körperliche 
Arbeit (s. Text). 


ob bei einer solchen Versuchsperson, die am Abend besser als am Morgen 

zu intensiver geistiger Arbeit sich geeignet fühlt, auch.die geschilderten 

physiologischen Ermüdungserscheinungen in analoger Weise auftreten. 

Leider stand eine derartige Versuchsperson nicht zur Verfügung. 
Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 189. 12 


178 i E. Gellhorn: 


Das Eintreten der Pulsverlangsamung im Zustande geistiger Er- 
müdung regte zwei weitere Fragen an. 1. Wie wird die Pulsfrequenz 
durch Analeptica, die das subjektive Ermüdungsgefühl zu beseitigen 
im stande sind, beeinflußt? 2. Beruht die Pulsverlangssamung auf Rei- 
zung des Nervus vagus? 

Zur Beantwortung der ersten Frage wurde in mehreren Selbstver- 
suchen Coffein, Natr.-salieyl. 0,2 g per os eingenommen. Über die 
Einwirkung von Coffein am Menschen lauten die Angaben der Autoren 
verschieden. Wagner!) fand nach 0,1 g Pulsverlangsamung; Leblond 
(0,3 g), Aubert (0,5 g), Frerichs (1,5 g) stellten dagegen Beschleuni- 
gung des Pulses fest. Triebel wiederum findet nach subkutaner Injek- 
tion (0,3—1 g) Verlangsamung des Pulses. Entsprechend also dem in 
Tierexperimenten ermittelten beiden Angriffspunkten der Coffein- 
wirkung hinsichtlich der Änderung der Pulsfrequenz, nämlich der 
Erhöhung des Tonus des Vaguszentrums einerseits, der Erregung der 
reizerzeugenden Apparate im Herzen andererseits, resultiert, je nachdem 
die zentrale oder die periphere Erregung die stärkere ist, Pulsbeschleu- 
nigung oder Verlangsamung. Hierauf scheinen die individuellen Diffe- 
renzen in der Coffeinwirkung am Menschen zu beruhen. Es wäre aber 
denkbar, daß Coffein bei Herabsetzung der Pulsfrequenz in der Ermü- 
dung eine intensivere Wirkung im Sinne der Pulsbeschleunigung hervor- 
bringen würde, um so wieder normale Kreislaufsverhältnisse zu schaffen, 
als dies bei Gesunden unter gewöhnlichen Verhältnissen beobachtet wird. 
Denn auch die Digitalis entfaltet am Kranken starke Änderungen der 
Pulsfrequenz und in der Blutverteilung in solchen Dosen, die am Ge- 
sunden, wenn die Kreislaufsverhältnisse bereits optimal sind, keire 
Wirkung haben. Die Versuche zeigten jedoch, daß auch bei verminderter 
Pulsfrequenz im Ermüdungszustande Coffein in den genannten Dosen 
ohne Einfluß auf den Puls bleibt. Dies geht aus den beiden Kurven 
(Versuch v. 7. II. 19 und 19. III. 19) (Abb. 1c und 1g) eindeutig hervor. 
Dabei sei betont, daß in beiden Versuchen das Müdigkeitsgefühl fast 
völlig behoben wurde. 

Die Temperaturkurye zeigt jedoch (Versuch vom 7. II. 19) nach der 
Coffeinmedikation eine geringe Erhöhung, eine Wirkung, die bereits 
Gottlieb?) in seinem Lehrbuche beschreibt. 

Die zweite Frage, ob die Pulsverlangsamung auf Vagusreizung be- 
ruhe, wurde in mehreren Selbstversuchen beantwortet, in denen Atro- 
pin. sulf. in Dosen von 0,5—1,25 mg per os eingenommen wurde. In 
dem Versuche vom 11. III. 19 (Abb. 1d) wurde zu Beginn der geistigen 


!) Ich verdanke diese Literaturangaben der Liebenswürdigkeit des Herrn 
Geheimrat Gottlieb-Heideiberg. 

2) Meyer-Gottlieb, Lehrbuch der experimentellen Pharmakologie. 3. Aufl. 
1914, S. 308. 


Psychologische u. physiologische Untersuchungen üb. Übung u. Ermüdung. II. 179 


Arbeit 0,75 mg per os genommen, nach einer weiteren Stunde noch 
0,5 mg. Nach der zweiten Medikation stellten sich bald sehr starke 
Trockenheit im Halse ein, dienoch während der Nacht anhielten. Andere 
Vergiftungssymptome wurden nicht beobachtet. Die Atropinwirkung 
kommt in der Pulskurve darin zum Ausdruck, daß nach der ersten 
Dosis (0,75 mg) die Pulsverlangsamung in vermindertem Maße eintritt 
und nur eine Pulsfrequenz von 61 Pulsen erreicht wird, daß aber nach 
der 2. Dosis (0,75 mg) die Pulsfrequenz erheblich beschleunigt und da- 
durch die zu Beginn des Versuches bestehende Frequenz erreicht, ja sogar 
etwas überschritten wird. In einem weiteren Versuche (Abb. Ih) wird 
Atropin erst im Ermüdungszustande, in dem die Pulsfrequenz bereits 
stark herabgesetzt ist (auf 55 Pulse pro Minute) genommen. Da die 
Dosis gering ist (0,5 mg) wird nur vorübergehend die Pulsfrequenz er- 
höht, ohne jedoch die ursprüngliche Pulszahl zu erreichen. Aus dem 
Atropinversuch geht demnach hervor, daß die Herabsetzung der Puls- 
freguenz auf Vagusreizung beruht. 

In einer weiteren Versuchsreihe wurde in Selbstversuchen die Wir- 
kung der Ermüdung nach körperlicher Arbeit auf Puls und Temperatur 
festgestellt. Zwei dieser Versuche sind in den Abbildungen wieder- 
gegeben. Am 8. II. 19 (Abb. li) wurde von 325,50" inten- 
sive körperliche Arbeit geleistet, indem ich im Schnee in möglichst 
schnellem Tempo auf Umwegen auf den Königsstuhl ging und nach 
20 Minuten Rast — 10 Minuten nach der Ankunft wurde eine Puls- 
frequenz von 83 Schlägen pro Minute festgestellt — wieder nach Heidel- 
berg zurückging. 10 Minuten nach der Ankunft in Heidelberg wurden 
68 Pulse gezählt und 36,1° Temperatur gemessen. Um 6 Uhr 30 Minuten 
war die Pulsfrequenz auf 59 Schläge pro Minute, die Temperatur auf 36° 
gesunken. 6 Uhr 35 Minuten bis 6 Uhr 50 Minuten Abendbrot. Danach 
steigt die Temperatur auf die normale Höhe von 36,5° und auch die 
Pulsfrequenz, die nach dem Essen auf 75 gestiegen war, hält sich zwischen 
69 und 66 Pulsen. Aus diesem Versuch geht also hervor, daß ebenso 
wie die geistige Arbeit auch die körperliche Arbeit einen Ermüdungs- 
zustand bewirkt, in dem die Pulsfregquenz und die Körpertemperatur 
unter die Norm herabgesetzt sind. Dabei ist bemerkenswert, daß der 
Temperaturabfall in den Versuchen nach geleisteter körperlicher Arbeit 
intensiver ist, da er in den Nachmittagsversuchen im Zustande der 
Ermüdung nach geistiger Arbeit fehlte, während in der durch geistige 
Arbeit bewirkten Ermüdung die Pulsverlangsamung vorherrscht. Es 
sei übrigens erwähnt, daß Benedict und Snell!) nach körperlicher 
Arbeit in einem Versuche ebenfalls einen Abfall der Temperatur fest- 
stellten, der um ein geringes unterhalb der Temperatur zu Beginn des 
Versuches lag. Und die Autoren sagen hierzu, daß es zweifelhaft sei, 


!) Arch. f. d. ges. Physiol. 90, 47. 1902. 
12% 


180 E.Gellhorn: Psychol. u. physiol. Untersuchungen über Übung u. Ermüdung. 


„ob das Sinken der Temperatur nicht noch bedeutend erheblicher 
gewesen wäre, wenn die Ruhepause weiter angedauert hätte.“ Daß 
übrigens die auch im Ermüdungszustande nach körperlicher Arbeit 
auftretende Pulsverlangsamung der Größe der körperlichen Arbeit 
etwa parallel geht, zeigt der Versuch vom 5. IV. 19 (Abb. Ik), in 
dem nach einem zweistündigen Spaziergange die Pulsfreguenz nur auf 
66 Schläge pro Minute herabging und eine Viertelstunde später bereits 
wieder die normale Zahl von 72 Schlägen pro Minute erreicht hatte. 
Während des Spazierganges hatte die nz 76 Pulse nicht 
überschritten. 


Zusammenfassung. 


l. Intensive geistige oder körperliche Arbeit führt einen Ermüdungs- 
zustand herbei, in dem die Pulsfrequenz und die Körpertemperatur be- 
deutend herabgesetzt sind. Diese Änderungen sind um so größer, je 
schwerer die Ermüdung durch die Arbeit gewesen war. Nach Muskel- 
arbeit ist die Verminderung der Temperatur, nach anstrengender geisti- 
ger Arbeit die Verlangsamung der Pulsfrequenz im Ermüdungszustande 
größer. 

2. Nach geringerer geistiger Arbeit ist die Verringerung der Puls- 
fregquenz schon deutlich vorhanden, wenn die Temperaturkurve noch 
unverändert bleibt. 

3. Die im Ermüdungszustande nach Muskelarbeit beobachtete Her- 
absetzung der Temperatur und Pulsfrequenz bildet sich nach mehr oder 
minder langer Zeit, die der Größe der geleisteten Arbeit parallel geht, 
spontan völlig zurück. 

4. Coffein natr.-salicyl. vermag das Ermüdungsgefühl nach geistiger 
Arbeit in günstigem Sinne zu beeinflussen, ohne jedoch eine Änderung 
in der Pulsfreguenz zu bewirken. Die Temperaturkurve zeigt unter 
der Coffeineinwirkung eine geringe Erhöhung. 

5. Dadurch, daß durch Atropin (per os) die im Ermüdungszustande 
nach geistiger Arbeit festgestellte Pulsverlangsamung völlig schwindet, 
erweist sich diese als durch Erhöhung des Vagustonus bedingt. 


Ruhestrom und Durchlässigkeit. 
I. Mitteilung. 


Untersuchungen mit Farbstoffen. 
Von 
Dr. Joseph Vorschütz. 
(Mit 7 Textabbildungen.) 
(Aus dem Physiologischen Institut der Universität Kiel.) 


(Eingegangen am 14. März 1921.) 


Von R. Beutner wurde kürzlich eine Monographie über ‚‚die Ent- 
stehung elektrischer Ströme in lebenden Geweben und ihre künstliche 
Nachahmung durch synthetische organische Substanzen‘ veröffentlicht!) 
in welcher er die durch Wilhelm Ostwald, Bernstein, Nernst, 
Cremer, Haber u. a. aufgerollte Frage nach der Natur der diphasi- 
schen Flüssigkeitsketten an Hand fein erdachter Experimente ihrer 
Lösung um ein bedeutendes Stück näher bringt, und in welcher die 
Physiologen durch eine Fülle von Modellversuchen die Anregung zu er- 
neuten bioelektrischen Messungen erhalten. Eine der vielen Folgerungen, 
welche aus den schönen Versuchen von Beutner zu ziehen sind, betrifft 
den Zusammenhang von Ruhestrom und Durchlässigkeit der lebenden 
Gewebe, und auf Vorschlag und unter Anleitung von Herrn Professor 
Höber habe ich daher den Versuch gemacht, das alte und immer noch 
beherrschende Thema der Zellpermeabilität von einer neuen Seite her 
anzugreifen. 

Die lebenden Zellen, welche nicht unerhebliche elektromotorische 
Kräfte entwickeln, unterscheiden sich bekanntlich von einer galvanischen 
Kette durch den Mangel an metallischen Elektroden, und da diese den 
Sitz der hauptsächlichen Potentialdifferenzen repräsentieren, so erhebt 
sich die Frage, was bei der lebenden Zelle an ihre Stelle tritt. Durch die 
den Beutnerschen Studien vorausgegangenen Experimente der vorher 
genannten Forscher ist bereits gezeigt worden, daß eine mit Wasser 
nicht mischbare Flüssigkeit (ein ‚„‚Öl“, wie Beutner sie nennt), welche 
zwischen zwei wässrige Elektrolytlösungen eingeschoben wird, und 
welche die Elektrolyte bezw. die Ionen mehr oder weniger zu lösen ver- 
mag, die Rolle von Elektroden übernehmen kann. Im Sinne solch einer 


!) Verlag Ferd.-Enke, Stuttgart 1920. 
Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 189. 13 


182 J. Vorschütz: 


zweiten Phase kann aber auch die lebende Zelle als Ganzes oder können 
die in der Oberfläche oder im Innern der Protoplasten enthaltenen 
Membranen fungieren. Baut man z. B. folgende drei Systeme auf: 


— konz. AgNO,-Lösung Ag | verd. AgNO,-Lösung + 
— konz. Salzlösung „ON“ | verd. Salzlösung + 
— konz. Salzlösung |lebendes unverletztes Gewebe | verd. Salzlösung + 


und leitet von den endständigen Lösungen mit Flüssigkeitselektroden 
ab, so erhält man (nach Beutner) bei Gleichheit der Konzentrations- 
unterschiede elektromotorische Kräfte von ungefähr derselben Größe 
und bei geeigneter Wahl des „‚Öls“ (z. B. Salieylaldehyd) auch von der 
gleichen Richtung. 

Auf die zahlreichen Versuche Beutners zur Theorie der ‚‚Ölketten‘““, 
namentlich zur Entscheidung der Frage, inwieweit die Gesamtkraft der 
Ketten auf Phasengrenzkräfte oder auf interphasische Potentialdiffe- 
renzen zurückzuführen ist, braucht hier nicht eingegangen zu werden. 
Nur eine Gruppe von Versuchen soll herausgegriffen werden, um daran 
weiter anzuknüpfen. 

Höber!) hat vor langer Zeit gefunden, daß, wenn man einen un- 
verletzten Froschmuskel an einer Stelle mit physiologischer Kochsalz- 
lösung, an einer zweiten mit einer anderen isotonischen Neutralsalz- 
lösung in Berührung bringt, ein Strom auftritt, dessen Größe und Rich- 
tung von der Art des gewählten Neutralsalzes abhängig ist; bedeutet 
ein Minuszeichen das Entstehen eines negativen, ein Pluszeichen das 
Entstehen eines positiven Pols und deutet die Anzahl der Zeichen die 
Größe der Wirkung an, so kann man die Ergebnisse Höbers etwa durch 
die folgende Tabelle I wiedergeben: 


Tabelle I. 
K NH, Na Li 
SO, . — en: 7 Tas 
Ola ar. = — 0 — 
Br = _ — Ze 
lan Fre == — + _ 
SCN = 0 4 ++ 


Die Anionen ordnen sich also nach ihrer Wirkung in eine Reihe SO, , 
Cl, Br, J, SCN, die Kationen in die Reihe: K, NH,, Na, Li. Höber 
erblickte in diesen Anordnungen der Ionen, die als die Hofmeisterschen 
Reihen bekannt waren, einen Ausdruck des Einflusses der Ionen auf 
den Quellungszustand der Plasmahautkolloide. 

Beutner vermochte nun diese Erscheinungen am Muskel weit- 
gehend nachzuahmen, wenn er den Muskel durch ein ‚Öl‘ ersetzte; in 
der folgenden Tabelle II gebe ich zwei Beispiele wieder: 


!) Höber, Arch. f. d. ges. Physiol. 106, 579. 1905. 


Ruhestrom und Durchlässigkeit. I. 183 


Tabelle II. 
+ NaCl Phenol Na580, 7 0. en — 0,035 Volt 
| 1 x NaCketsre 220 & 
a h, Nabe na 08 I ON 5 
— M Na a. — 0,008 „, 
an = NaSCN + ..... + 0,023 „, 
eh s AO A — 0,012 „ 
+ KCl Guajakol ISO — 0,023 Volt 
4, » ISO Se ee + 0,0 Er 
See % Kuren MOB 5 
— ,„ = Re een er + 0,082 „ 
— ,„ ” KUSENS ee. + 0,058 „ 


Die Konzentration der Salzlösungen war ”/.,. Wie die Muskelketten 
im allgemeinen, so sind auch die „Ölketten“ reversibel. 

Worauf ist nun der Einfluß der Salze zurückzuführen? Beutner 
kam für die Ölketten zu einer Antwort, als er auch Salze mit organischem 
Ion in den Kreis der Untersuchungen zog. Nämlich organische Anionen 
erzeugen größere Posivität, organische Kationen größere Negativität 
als die betreffenden anorganischen Ionen. Bei den Phenolketten wur- 
den z. B. folgende Werte gefunden: 


Tabelle III. 


INaLOleR 2... + 0,0 Volt KO else — 0,012 Volt 
Na SCN 7 120:023 75 NH,Cl N 
Na-Salieylat . . + 0,045 „, Anilin-HCl. . . . — 0,039 ,, 
Na-Benzoat . . + 0,045 „, Dimethylanilin-HC1 — 0,090 


- Dies läßt vermuten, daß es auf die ‚„Öllöslichkeit‘‘ der Salze an- 
kommt, und das trifft auch in der Tat zu, wie am einfachsten durch Be- 
stimmung der Leitfähigkeit der ‚‚Öle‘‘ festzustellen ist, nachdem sie mit 
den betreffenden. wässrigen Salzlösungen ausgeschüttelt wurden; die 
stromerzeugende Wirkung eines Salzes ist umso größer, je größer sein 
Eindringungsvermögen. Dies gilt aber nicht bloß für die organischen, 
sondern auch für die anorganischen Salze. Nach Ausschütteln von 
50 cem ""/,, Salzlösung mit 15 ccm Guajakol hat das spezifische Lei- 
tungsvermögen des letzteren z. B. die in Tabelle IV wiedergegebenen 
Werte: 


Tabelle IV. 
K,S0, . . . 0,6 rez. Megohm | NaCl 1,1 rez. Megohm 
Kerr 2 2.18: „ Ba | Na-Salicylat 5 >> 
KBr 200 ” Na-Olespere Sense = 
IKeBa .::.:, Ss in ;e | 
IISICh] VE ee 


Zum Unterschied von den Ölketten mit anorganischen Salzen sind die 
mit organischen Salzen schlecht reversibel. Dies hängt offenbar mit 
den hohen Verteilungsquotienten der organischen, den niedrigen der 


9 


184 J. Vorschütz: 


anorganischen Salze zusammen; die nur in kleiner Konzentration in das 
Öl übergehenden anorganischen Salze können leicht wieder ausgewaschen 
werden. 

So weit die Versuche von Beutner! Es ist danach klar, daß sich ein 
Weg eröffnet, die Verteilung von Elektrolyten auf lebende 
Gewebe, wie zum Beispiel den Muskel, auf elektrischem 
Wege zu messen. Dies ist im folgenden zunächst mit Farbstoffen 
versucht worden, weil über deren Eindringungsvermögen und seine 
Beziehungen zu dem relativen Lösungsvermögen in gewissen „Ölen“, 
den Lipoiden, bereits zahlreiche Erfahrungen vorliegen, die zum 
Vergleich ‘herangezogen werden können. Dazu sei noch bemerkt, 
daß der elektromotorische Einfluß der Ölphasen von Beutner beson- 
ders auch, in Anlehnung an die physiologischen Verhältnisse, für 
hochprozentige Auflösungen von Lecithin in m-Kresol festgestellt 
worden ist. 

An sich möchte es nicht praktisch erscheinen, gerade mit Farbstoffen 
als Elektrolyten diese Art Untersuchungen anzufangen, weil sie durch 
die Kompliziertheit der chemischen Struktur, durch ihren physiko- 
chemischen Charakter als Semikolloide, zum Teil durch hydrolytische 
Dissoziation und Ampholytnatur und endlich auch wegen der un- 
vollkommenen Reinheit der technischen Präparate die Versuchsbedin- 
gungen unübersichtlich machen; diese Nachteile schienen aber durch 
den Vorteil aufgewogen, daß die Ergebnisse der elektrischen Messungen 
den vielen Erfahrungen über Vitalfärbung gegenübergestellt und an 
ihnen geprüft werden können. 

Nach den Modellversuchen von Beutner hätte man nämlich etwa 
folgendes zu erwarten: Die Salze der Farbbasen sollten als Salze 
mit organischem Kation im Verhältnis zu Kochsalz Elek- 
tronegativität bewirken, die Salze der Farbsäuren als Salze 
mit organischem Anion Positivität, vorausgesetzt, daß eine 
entsprechend ausgiebige Verteilung auf die zweite Phase 
lebendes Gewebe statthat. Nun kann man aber nicht vom leben- 
den Gewebe, wie Beutner in seinen Versuchen, beiderseits mit der 
gleichen ”/ „-Elektrolytkonzentration ableiten, weil die meisten Farb- 
stoffe nicht genügend löslich sind ; ich benutzte im allgemeinen 0,5 proz. 
Lösungen, d. h. — das mittlere MG der Farbstoffe zu etwa 500 gesetzt — 
etwa ”/,., Lösungen. Die Farbstoffe wurden dabei in Ringer gelöst. 
Diese Zumischung anorganischer Salze kann dabei als irrelevant ange- 
sehen werden, da nach Beutner in einem Gemisch von Salzen das in 
.der Ölphase leichter lösliche elektromotorisch .den Ausschlag gibt. 
Aber der Umstand, daß die Farbstoffe in so kleiner molekularer Kon- 
zentration angewendet werden mußten, ist natürlich für die Größe des 
elektrischen Effektes ungünstig. 


Ruhestrom und Durchlässigkeit. 1. IS 


Das Untersuchungsobjekt waren Sartorien curarisierter Esculenten 
oder Temporarien. 

Methodik: Wie in den älteren Versuchen von Höber wurden die 
möglichst unverletzt herauspräparierten Sartorien an der Tibia auf- 
gehängt und das Beckenende in die verschiedenen Lösungen eingetaucht, 
zunächst in Ringerlösung von der Zusammensetzung 0,65% NaCl + 
0,03% KCl + 0,03% CaCl,, später in Ringer + Farbstoff, danach 
wieder in Ringer zwecks Prüfung der Reservibilität der Wirkung. Vom 
oberen Ende des Muskels wurde mit in Ringer getränktem Fließpapier- 
bausch zu einer Ringer-gefüllten Kalomelelektrode abgeleitet, ebenso 
aus der Lösung. Die EMK wurden nach dem Kompensationsverfahren 
mit einem Drehspulgalvanometer als Nullinstrument gemessen. 1 mm 
auf dem Gleitdraht entsprach 0,1 Millivolt. 

Auswahl der Farbstoffe: Die meisten Farbbasen sind Vital- 
färber, die meisten Säurefarbstoffe gegenüber den meisten tierischen 
Zellen Nichtvitalfärber. Die meisten Farbbasen sind ferner gut lipoid- 
löslich, die meisten Säurefarbstoffe lipoidunlöslich. Von besonderer 
Wichtigkeit sind natürlich für die Prüfung des vermuteten Zusammen- 
hangs die Ausnahmen von diesen Regeln, nämlich einerseits die vital- 
färbenden Säurefarbstoffe und andererseits die nicht oder mindestens 
schlecht vitalfärbenden basischen Farbstoffe; denn die ersteren sollten 
sich aus der großen Zahl der Nichtvitalfärber durch Erzeugung von 
Elektropositivität herausheben, die letzteren sollten nicht oder nur 
wenig negativierend wirken und dadurch einen Gegensatz zu den übrigen 
Farbbasen bilden. Die Auswahl der Farbstoffe nach diesen Gesichts- 
punkten würde noch vor kurzem angesichts der Kontroversen nament- 
lich zwischen Höber!) und Ruhland?) hinsichtlich des Eindringungs- 
vermögens und der Lipoidlöslichkeit der Farbstoffe ohne erneute 
Untersuchungen über diese Eigenschaften nicht leicht gewesen sein; 
jetzt sind wir aber im Besitz des großen Versuchsmaterials von Niren- 
stein°), durch das viele Einwendungen Ruhlands gegen die Lipoid- 
theorie gegenstandslos wurden, und durch das ein so intimer Zusammen- 
hang zwischen dem vitalen Färbevermögen (in bezug auf Paramäcien) 
und der Verteilung auf eine aus Ölsäure, Diamylamin und Öl zusammen- 
gesetzte Lipoidphase nachgewiesen wird, daß an der physiologischen 
Bedeutung dieser Beziehung nicht gut mehr gezweifelt werden kann 
und — was hier von Bedeutung ist — die Auswahl der Farbstoffe für 
unsere Zwecke ebenso gut nach dem physikochemischen Gesichtspunkt 
der relativen Löslichkeit in dem Lipoidgemisch von Nirenstein wie 

1) Höber, Biochem. Zeitschr. 20, 56. 1909; Höber u. Nast, ebenda, 50, 
418. 1913. 

®) Ruhland, Jahrb. f. wissensch. Botanik, 46, 1. 1908 u. 51, 376. 1912; 


Biochem. Zeitschr. 54, 59. 1913. 
®) Nirenstein, Arch. f. d. ges. Physiolog. 1%9, 233. 1920. 


186 J. Vorschütz: 


nach dem physiologischen Gesichtspunkt des vitalen Färbevermögens 
vorzunehmen ist. Freilich ist der enge Konnex zwischen physikoche- 
mischem und physiologischem Verhalten von Nirenstein nur für Para- 
mäcien nachgewiesen worden, aber gerade daß diese Aufweisung mit 
sämtlichen Einwänden aufräumt, die im Verlauf von Jahren auf Grund 
von Färbungsversuchen an verschiedenen Objekten gegen die Bedeutung 
der Lipoide für die Protoplasmadurchlässigkeit zusammengetragen 
worden sind, läßt vermuten, daß der Beziehung allgemeinere Geltung 
zukommt, so daß wir ihr Bestehen auch hier zu Grunde legen, obwohl über 
die Vitalfärbung der Muskeln nur wenige Erfahrungen gesammelt sind. 
Ergebnisse der Messungen: In den folgenden Tabellen V und VI 
werden nun zunächst die Ergebnisse der Kettenmessungen summarisch 
zusammengestellt und zwar getrennt für basische und Säurefarbstoffe. 
Hinter dem Namen der Farbstoffe ist in Klammern die Bezugsfirma 
angegeben, meist in den in den bekannten Farbstofftabellen von Schultz 
und Julius gebrauchten Abkürzungen. Der nächste Stab enthält An- 
gaben über Eintritt und Nichteintritt von Vitalfärbung (meist nach 
Nirenstein, zum Teil nach Angaben von Overton!), Höber, Ruh- 
land). Der folgende Zahlenstab gibt die Grenzkonzentration der Vital- 
färbung von Paramäcien nach Nirenstein, ausgedrückt in Teilen 
Wasser, welche 1 Teil Farbstoff gelöst enthalten. Darauf folgt die 
Größe der Verteilungsquotienten für das Lipoidgemisch von Niren- 
stein (mx — maximal). Endlich sind die nach Beutner zu erwarten- 
den und die tatsächlich gefundenen Richtungen der EMK einander 
gegenübergestellt. 


Tabelle V. Ruhestromwirkung und Färbevermögen der basischen 


Farbstoffe. 
Vital. | Grenzkonzentr. es PR 
Nr. Farbstoff färbung : nach 1 Diamyl. Öls. er- ge- 
Nirenstein “ Wasser } wartet | funden 

1 Methylviolett (M)...... ı + 250 000 mx — — 
2 || Neutralrot (Grübler) See 450 000 mx — — 
3|Rhodamin B(B)...... + 10 000 mx E = 
4 | Rhodamin 6G (S). .. . ... = — — — 
5||Malachitgrün (Merck)... .| — 600 000 mx — — 
6 | Methylenblau rect (Grübler). | — 30 000 mx — — 
7| Safranin (Kahlbaum) ....ı — 20 000 mx — — 
8 Thionin (Grübler). ..... — — mx — — 
9 |Methylengrün (Merck). ... | + 60 000 30 — —_ 
10|| Methylgrün N pulv. (A) ..| + 14 000 s0 — — 

11 | Methylgrün Cryst. T gelblich 
(By)eegen Kr. gu.gBR + 6 000 40 — — 


1) Overton, Jahrb. f. wissensch. Botanik, 34, 669. 1900. 


Ruhestrom und Durchlässigkeit. I. 187 


Tabelle VI. Ruhestromwirkung und Färbevermögen der Säurefarb- 


stoffe. 
Vital. Grenzkonzentr. a Fi A 
Nr. Karbsboff färbung Nir 2x3 A Diamyl.Öls.| er | ge- 
Wasser wartet | funden 
Al@hromerün, (By)... .%.-..% -- 1900 > 2. — 
2 Echtsäureviolett 10 B (By). 4 AND] + 0 
3 | Säureviolett 4 B extra (By). 1000 <ı + — 
4\| Tuchscharlach G (K). . . . + 40 000 mx En 0 
SlnBehtrot A(By) .. ..2.. -1 30 000 84 A ar 
6lfBlchtret Bi (B) N... : | = ? ? EL ar 
ZuBHehrot, 3. GA (A). ....:.. I + 18750 54 L -— 
8 Tuchrot 3 G extra (By). .| + ? | 7 a 
91 Metanilgelb (A). ..... + 15 000 20 — — 
10 Tropäolin 000 Nr. 2 (Merck) —+ 5 000 8,4 0 
11 Wollviolett S (B) . . . . . I ges. Lösung Sl — — 
12 |Eosin w (Kahlbaum). ... —- 1000 > un — 
13 |Erythrosin (Grübler). ... + 750 al - _ 
Ml&yanosin (S) .. . -........ | + 2000 >21 - 0 
15 ‚Rose bensale(S)- .» ..... I = — Sl == — 
16  Methylorange (Kahlbaum) . —(+)!) er 1 [0 bis+lObis-+- 
17 Rosindulin 2G (K)...., — — al +? 0 
19 Azorubin A(Cy. . .... — — 0 0 0 
19 | Nigrosin w. (Kahlbaum) . .| — — 0 0 0 
20 | Azofuchsin B (By)... : .| — — 0 0 0 
21 | Kongorot (Grübler) . . . . | _ - 0 0 0 
22 | Lichtgrün FS (Grübler). . . — — 0 0 — 
2a eyaneln (©)... 2001.20; Be — ? 0 0 
24|Fuchsin S (Kahlbaum). .. — — 0 0 _ 
25| Guineagrün B (Kahlbaum) ._  — _ 0 0 — 
26 Naphtholgelb S (Merck) .. — — ? 0 — 
Zi wEatentblauV. (M).. 2. 0...) — — 0 0) 0 
28 Naphthalingrün V (M). .. — — ? 0 0 
29 | Rotviolett 5 RS (B). . . u En 0) 0 0 
30 | Indigschwefels. Natron (Kahl. 

ITAIEET)) er I — _- ? 0 0 
3l| Trypanblau (Grübler) . . . | — 0 0 = 
32  Trisulfonblau B (S) . .. . — _- 0 0 0 
33 | Diaminreinblau (C). ... . = — ? 0 0 
34 | Indulin (Bender & Hobein).| — _ ? 0 0 


Einzelheiten über die Versuche sowie Diskussion der Er- 
gebnisse. 1. Die basischen Farbstoffe: Der erste Eindruck der Ta- 
belle V ist der einer Bestätigung der Voraussetzung, daß, wie bei Beut- 
ners „Ölketten“ die Grenze zwischen Ölphase und Lösung 
mit organischem Kation zu einem negativen Pol wird, so 


!) Wird nach Pfeffer (Unters. aus d. Bot. Institut zu Tübingen 2, 266. 1886) 
und Overton (Jahrb. f. wissensch. Botanik 34, 669. 1900) langsam aufgenommen. 


188 J. Vorschütz: 


auch die Grenze zwischen Muskel und Lösung mit Farb- 
basenkation, so daß also ein regulärer Ruhestrom nach Art 
etwa des Kalistroms auftritt. Aber es kann auch eine ganz andere 
Erklärung für die Wirkung der basischen Farbstoffe gegeben werden, näm- 
lich der Strom kann Verletzungsstrom, Demarkationsstrom im Sinne Her- 
manns sein, herrührend von einer Schädigung der mit der Farbbase 
in Berührung befindlichen Muskelpartie, und es ist zu fragen, ob sich 
zwischen diesen Möglichkeiten zugunsten der einen oder anderen ent- 
scheiden läßt. 

Da ist das erste, was zur Prüfung untersucht werden kann, die Re- 
versibilität der Farbenwirkung. In 0,5proz. Lösung (der meist 
benutzten Konzentration: siehe S. 184) ist die Stromerzeugung fast 
immer irreversibel, bei kleineren Konzentrationen in der Gegend der 
Wirkungsschwelle und bei kurzer Wirkungsdauer dagegen reversibel. 
Als Wirkungsschwellen wurden folgende Konzentrationen festgestellt: 


Tabelle VII. Wirkungsschwellen der basischen Farbstoffe. 


Neutealrotsa no 030% Methylgrün Cryst. I . 0,05% 
Methylenblau. . ... .. 0,1% Methylensrun . „ . 2. 0,02% 
Methylgrün N pulv. ... . 0,1% Methylviolett .... . 0,01% 
Ehod ann BB 0,05% Malachitgrün ..... < 0,002% 


Zwei Versuche mit Rhodamin B in 0,5 proz. und in 0,05 proz. Lösung 
verliefen z. B. so, wie Abb. 1 zeigt. 

Dies Verhalten ist zunächst vom Standpunkt der Ölkettenauffussune 
wohl zu verstehen; denn es wurde schon (S. 183) darauf hingewiesen, daß 
im Gegensatz zu der Wirkung 
der anorganischen Salze die 
der organischen Salze nach 
Beutner gewöhnlich irrever- 
sibel ist, weil die Salze, die 
sich einmal bei großen Vertei- 
lungsquotienten reichlich in 
die Ölphase begeben haben, 
schwer wieder daraus zu ent- 
fernensind ; man kannsich aber 
gut vorstellen, daß, wenn man 
kleine Konzentrationen nur 
kurze Zeit wirken läßt, der prin- 
zipiell reversible Verteilungs- 


ER BER. ER, vorgang auch wieder rück- 
Abb.1. Die beiden Sartorien hängen anfangs in Ringer. i EN? 
Bei der ersten Marke x werden sie in Rhodamin 0,1% gangıg gemacht werden kann. 


bzw. 0,5% übertragen; bei der zweiten Marke x 
Rückübertragung in Ringer. Bei Muskel 1 ist die Das Verhalten kann aber 


Farbenwirkung reversibel, bei Muskel 2 irreversibe. auch ganz anders gedeutet 


Ruhestrom und Durchlässigkeit. 1. 189 


werden. Z. B. Kaliumchlorid erzeugt ebenfalls in kleinen Kon- 
zentrationen einen reversiblen, in großen einen irreversiblen Ruhe- 
strom, und dieser letztere beruht sicherlich nicht auf der Unmög- 
lichkeit, das KCl durch Auswaschen zu entfernen, sondern auf 
Schädigung durch Strukturzerstörung!). Ferner bewirken nach den 
Untersuchungen von Höber?) und seinem Mitarbeiter Joel?) Nar- 
kotika, wie Isobutylurethan oder Chloralhydrat, welche in kleiner 
Konzentration elektromotorisch indifferent sind, in großer Konzen- 
tration Ruhestrom, der anfänglich noch reversibel, aber bei etwas 
längerer Einwirkung irreversibel ist. Auch die Narkotika sind 
fast immer leicht wegzuwaschen; sie wirken in Konzentrationen, die 
oberhalb der narkotischen Grenzkonzentration gelegen sind, offenbar 
ebenfalls durch Strukturschädigung; auch diese kann aber anfangs noch 
zurückgebildet werden (z. B. eine Kolloidflockung). Wir kommen also 
zu dem Schluß, daß die ruhestromerzeugende Wirkung der 
basischen Farbstoffe auch als Ausdruck einer mehr oder 
weniger umkehrbaren Giftwirkung aufgefaßt werdenkann, 
wobei das Beutnersche Prinzip gar nicht in Frage käme. 

Die eben angeführten KCI-Wirkungen haben ihre Parallele in den 
Einflüssen auf die Erregbarkeit des Muskels; in kleinen Dosen erzeugt 
KCl eine reversible, in großen oft eine irreversible Lähmung (Overton)?). 
Es ist von Interesse, auch den Einfluß der basischen Farbstoffe 
auf die Erregbarkeit des Muskels kennen zu lernen. Nicht bloß 
um der Ähnlichkeit mit dem KCl weiter nachzugehen! Sondern man 
wird sich auch zu fragen haben, wie sich die Theorie von Beutner 
zu dem Zusammenhang zwischen Ruhestrom und Erregbar- 
keit stellt. Bekanntlich hat Höber gezeigt, daß alle die Neutralsalze, 
welche die mit ihnen behandelte Stelle negativ machen, lähmen, und hat 
daraus die Vorstellung abgeleitet, daß die Erregung vermittelst einer 
Jonenreaktion innerhalb des tätigen Protoplasten eine Auflockerung und 
vergrößerte Durchlässigkeit der Plasmahaut hervorruft, eine Vorstel- 
lung, welche besonders durch die Leitfähigkeitsmessungen von Gilde- 
meister’) und A. Schwartz*) bestätigt worden ist. Wenn nun die 
basischen Farbstoffe ähnlich wie KCl wirken, so müssen sie die Erreg- 
barkeit des Muskels in vergleichbarer Weise aufheben. Aus der Beut- 
nerschen Theorie ist hingegen zunächst kein Schluß bezüglich des Ein- 
flusses auf die Erregbarkeit abzuleiten. 


!) Siehe dazu: Höber, Zentralkl. f. Physiol. 19, 12. 1905. 
:2) Höber, Arch. f. d. ges. Physiol. 166, 531. 1917. 

3) Joel, Arch. f. d. ges. Physiol. 161, 5. 1915. 

#2) Overton, Arch. f. d. ges. Physiol. 105, 176. 1904. 

®) Gildemeister, Arch. f. d. ges. Physiol. 162, 489. 1915. 
6) A. Schwartz, Arch. f. d. ges. Physiol. 162, 547. 1915. 


190 J. Vorschütz: 


Die Versuche wurden zunächst mit Sartorien in der üblichen An- 
ordnung von Bethet!) vorgenommen. Es ergab sich, daß in Konzen- 
trationen zwischen 0,5 und 0,05% in Ringer sämtliche Farbbasen 
lähmen. Erholung nach Rückübertragung in reine Ringerlösung 
wurde meistens nicht erreicht; sie glückte bei Methylgrün Cryst. I und 
bei Rhodamin B. Einen Versuch dieser Art gibt die Abb. 2 wieder. 

Diese relative Irreversibilität mag davon abhängen, daß es ziemlich 
lange dauert, bis der Farbstoff bis ins Muskelinnere vorgedrungen ist 
und bis alle Fasern gelähmt sind. Deshalb wurden weiter Versuche 
an spontanschlagenden Herzen an- 
gestellt, welche von der Straubschen Ka- 
nüle aus mit Farbstofflösung gefüllt wurden ; 
es erschien aussichtsreicher, aus dem dünn- 
wandigen Herzen die Farbe nach Eintritt 
der Wirkung wegzuwaschen als aus den 
Sartorien. Auch bei diesen Versuchen ergab 
sich, daß alle Farbbasen lähmen. 
Aber die Lähmung war bei einer 
größeren Anzahl von Farben durch 
Ausspülung mit Ringer zu beseiti- 
gen, nämlich bei Neutralrot (0,1%), Me- 
thylenblau (0,05%), Toluidinblau (0,025%,), 

Brillanteresylblau (0,06%), . Safranıin 
(< 0,05%), Methylgrün N pulv. (0,2%). 
Abb. 2. Lähmung eines Sartorius Dagegen gelang keine Erholung nach Mer: 
durch 0.2%, Methylgrün und Wie-  giftung mit Methylgrün Cryst. I, Malachit- 

Gererhelung in BÄNgBLISEnnE. grün (bis 0,008%, untersucht), Methylen- 
srün und Methylviolett. 

Die folgenden Abb. 3 und 4 geben zwei Beispiele für die reversible 
Wirkung des Toluidinblau und des Brillantcresylblau. 

Hieraus folgt nun für uns dasselbe, was vorher schon gefolgert wurde, 
nämlich daß die Wirkungen der basischen Farbstoffe auf die 
Muskelnteilsalsbeginnende, teilsals weiterfortgeschrittene 
Strukturschädigungen aufgefaßt werden können und des- 
halb nichts für, aber auch nichts gegen die aus Beutners Ver- 
suchen hergeleitete Auffassung des Ruhestroms beweisen. 
Die Versuche mit den basischen Farbstoffen geben außerdem ein neues 
Beispiel dafür, daß Hervorrufen von elektronegativem Verhalten und 
Aufhebung der Erregbarkeit Hand in Hand gehen. 

Die Annahme einer Strukturänderung durch die Farbbasenwirkung 
läßt sich aber auch direkter experimentell begründen. Höber?) hat 


!) Siehe dazu: Schwenker, Arch. f. d. ges. Physiol. 15%, 371. 1914. 
2) Höber, Biochem. Zeitschr. 67, 420. 1914. 


Ringer Meihylgrün «Ringe 
(By) 02% 


Ruhestrom und Durchlässigkeit. I. 191 


mitgeteilt, daß Blutkörperchen, welche für gewöhnlich negative Ladung 
führen, durch 0,02% Rhodamin B, durch 0,05% Malachitgrün, Methyl- 
violett, Vesuvin, Brillanteresylblau und Neutralrot und durch 0,1% Chry- 
soidin und Neutralviolett umgeladen werden können, so daß sie in dem 
Kataphoreseapparat von Höber zur Anode wandern. Danach ist zu er- 
warten, daß beim Passieren des isoelektrischen Punktes die Blutkörperchen 


Abb. 3. Froschherz zunächst in Ringer, dann in Ringer + 0,025% Toluidinblau. Nach Eintritt 
der Lähmung bei R Füllung mit Ringer. 


\ 


0.057. 


Brill antkres yl 


Abb.4. Froschherz zunächst in Ringer, dann in Ringer + 0,05% Brillantcresylblau. Nach Eintritt 
der Lähmung bei R Füllung mit Ringer. 


auch agglutinieren und infolgedessen beschleunigt sedimentieren werden. 
Dies ist von Höber in noch nicht veröffentlichten Versuchen auch festge- 
stellt worden. Ein Versuch mit Rhodamin S verlief z. B. folgendermaßen: 


Agglutination und Sedimentierung von Blutkörperchen 
durch Rhodamin 8. 


Blutkörperchen aus menschlichem Citratblut werden zweimal mit 1% NaCl 
gewaschen; 0,2 ccm Blutkörperchenbrei werden in 1 ccm Rhodamin (in 1% NaCl 
gelöst) eingetragen. Die Zahlen bedeuten die blutkörperchenfreie Schicht in mm. 


192 J. Verschütz: 


Min. nach Rhodamingehalt 
Versuchs- — 
beginn | 0,005 % 0,01% 0,02% 0,05 % 0.1% 03% 

% 0 0 0 1 (Aggl.) 20 (starke Aggl.) 5 
127 0 0 0 1?\ Grenze |24\ Grenze 11 
18’ 0 0 0 22? [unscharf| 27 f unscharf 21 
27’ 1 1 1 23 28 25 
90’ 5 4 4 25 3l 30 


Ein Versuch mit Malachitgrün hatte folgenden Verlauf: 


Asglutination und Sedimentierung von Blutkörperchen 
durch Malachitgrün. 


Min. nach Ver- SE Malachitgrüngehalt 
suchsbeginn 0.01 % | 0,02% | 0,15 % | Oo | 02%, 
40’ 0,5 1,5 3 18 — 
64’ 1,5 3 4 18 4 
90’ | 3 4,5 | 5 20 5 


Ähnlich war das Ergebnis bei Versuchen mit Brillanteresylblau und 
mit Methylengrün. Die basischen Farbstoffe werden also möglicher- 
weise dadurch die Muskeln schädigen, daß sie entweder eine Aggluti- 
nation histologischer Elemente oder eine dementsprechende Flockung 
von funktionell wichtigen Kolloiden herbeiführen. 

Wenn nun soweit ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Ruhestrom 
und Verteilung im Sinne der Beutnerschen Modellversuche nicht nach- 
gewiesen werden kann, so legt eine Durchsicht der Tabelle V (Stab 5) 
doch noch eine Prüfung nahe; nämlich der Verteilungsfaktor für Me- 
thylengrün, Methylgrün N pulv. und Methylgrün Cryst. I gelbl. ist 
deutlich kleiner als der der übrigen Basen, so daß man danach vielleicht 
eine schwächere elektronegativierende Wirkung von diesen Farbbasen 
erwarten könnte, so wie Kaliumchlorid schwächer wirkt als Dimethyl- 
anilin-HCl (siehe S. 183)!). Entsprechende Versuche gaben aber kein 
klares Resultat. Für die physiologische Wirkung der basischen Farb- 
stoffe wie überhaupt der Farbstoffe (siehe später S. 194) ist nämlich 
auch noch offenbar die Konstitution der Farbmoleküle von wesentlicher 
Bedeutung; Rhodamin B ist z. B. besonders wenig, Malachitgrün und 
Methylviolett dagegen sehr giftig, und von den drei eben genannten 
relativ wenig lipoidlöslichen Farben tötet Methylengrün, zu 0,05% in 
Wasser gelöst, Opalinen in wenigen Minuten, viel rascher als die beiden 
Methylgrün, als Methylenblau, Neutralrot und Rhodamin, und erzeugt, 
wie die folgende kleine Tabelle VIII zeigt, in 0,5proz. Lösung an ver- 
gleichbaren Sartorien eine besonders starke negative EMK: 


!) Basische Farbstoffe mit dem Verteilungsquotienten 0 scheint es leider nicht 
zu geben. 


Ruhestrom und Durchlässigkeit. I. 193. 


Tabelle VIII. EMK des Ruhestroms von Sartorien nach einstündiger 
Farbwirkung (0,5%). 


Methylengrün . . . 30 Millivolt Neutralrot . . . . 10 Millivolt 
Nhionngesrsu: ID 00 Rhodamin B...10 E 
Methylviolett ... 24 „ Methylozunener 2,265 
Methylenblau.. ...20 ,„ Methylgrün Oryst. I. 1,8 „, 


Die beiden Methylgrün dagegen fallen sowohl durch geringe Giftig- 
keit für die Opalinen als auch durch ihre geringe elektromotorische Wir- 
kung auf; ferner entwickelt sich unter ihrem Einfluß der Ruhestrom 
des Muskels langsamer als bei den übrigen Farbstoffen, was wohl auch 
als ein Ausdruck geringerer Lösungsaffinität zu der Muskelsubstanz 
angesehen werden kann. Die folgende Abb. 5 gibt dafür ein Beispiel. 

So sind also aus or 
Entwicklung und % 
Größe der elektro- % 
motorischen Wirkung 
doch gewisseAnhalts- 
punkte zugunsten der 
Auffassung der Ket- w 
ten als „Ölketten“ zu 
gewinnen. Andererseits 
ist aber darauf hinzuwei- 
sen, daß im Verhältnis zu # 
ihrer Lipoidlöslichkeit die 
Farbbasen dann jeden- 
ll Bare lat unwirksam LOS ET 
sind. Wenn man z. B. Abb. 5. Die beiden Sartorien werden bei der Zeitmarke x 
durch KClI- Zusatz zu aus Ringer in 0,05% Methylengrün und 0,1% Methylgrün 
Ringer on der Zen Cryst. I nam En Sa ü Ruhestrom 
mensetzung 0,65% NaCl 
+ 0,03% KCl-+ 0,03% CaCl, eine eben deutliche Elektronegativität 
hervorrufen will, so bedarf es eines Zusatzes von etwa 0,04%, also 
eines Zusatzes von etwa %/,,,, während Neutralrot bis zu etwa "%/,,,; 
Methylenblau zu ®%/,.,, Rhodamin B zu "/,,, zugesetzt werden müssen; 
dabei steht das KCl an Lipoidlöslichkeit doch sicherlich hinter den 
basischen Farbstoffen zurück. Es ist allerdings fraglich, ob man nach 
den bis jetzt vorliegenden Erfahrungen über die Verteilungsverhältnisse 
in den Ölketten, auf deren große Kompliziertheit Beutner selbst mit 
Recht immer wieder, zu neuen Untersuchungen einladend, aufmerksam 
macht, schon weitergehende Schlüsse aufbauen darf. 

2. Die Säurefarbstoffe: So deutlich die Zusammenstellung der 
Farbbasenversuche in der Tabelle V (auf S. 186) beim ersten Anblick die 
an den Anfang der Untersuchung gestellte Frage zu bejahen schien, so 


740 
120 


194 J. Vorschütz: 


deutlich scheint Tabelle VI (S. 187), welche die Farbsäurenversuche ver- 
einigt, sie zu verneinen; denn in etwa 50%, der Beobachtungen stimmt 
das Ergebnis nicht mit dem der ‚‚Theorie‘ überein, daß die Lösung 
eines lipoidlöslichen Säurefarbstoffes die damit in Berührung gekommene 
Muskelstelle elektropositiv macht, und daß die Lösung eines lipoid- 
unlöslichen Farbstoffes elektrisch indifferent ist. Aber auch hier ist der 
erste Eindruck der Übersichtstabelle trügerisch. Nämlich in den 
Fällen, in denen ein Säurefarbstoff unerwartetelektronega- 
tivmacht, läßtsichohne Ausnahmezeigen, daß der Farbstoff 
auch den Muskellähmt,d.h. wohl: beschädigt; denn in den Fällen, 
in denen der Farbstoff elektropositiv macht oder elektrisch unwirksam 
ist, Jähmt er nicht oder doch nur ausnahmsweise. Dies zeigt die Ta- 
belle IX. In dieser ist noch einmal in Stab 3 die nach Vitalfärbung und 
nach Verteilung auf das Diamylamin-Ölsäure-Gemisch zu erwartende 
Richtung der Potentialdifferenz angegeben, in Stab 4 das wirklich ge- 
fundene Ladungszeichen, in Stab 5 ist durch Pluszeichen markiert, 
wenn die Erregbarkeit des Muskels (der Farbstoff zumeist in 0,05 proz. 
Lösung angewendet) erhalten bleibt, durch Minuszeichen, wenn sie 
aufgehoben wird. 

Wo also der Farbstoff elektronegativ macht, wie bei Nr. 1—12, da 
hebt er die Erregbarkeit auf, und dieselbe lähmende Wirkung äußert sich 
auch in Parallelversuchen an Opalinen. Stab 6 der Tabelle IX macht 
darüber Angaben. Die Opalinen wurden in Lösungen der Farbstoffe in 
Ringer in derselben Konzentration, wie sie für die Muskelversuche an- 
gewendet wurde, übertragen; es zeigte sich, daß die in der Tabelle mit 
Minuszeichen versehenen Farbstoffe mehr oder weniger rasch die Opa- 
linen abtöten, während die mit Pluszeichen versehenen eine Zeit lang 
für die Opalinen unschädlich blieben. — Den Gründen, aus denen ein Teil 
der Säurefarbstoffe lähmt, wurde nicht weiter nachgegangen; zum Teil 
sind sie sicherlich in der chemischen Konstitution zu suchen, da z. B. 
fast alle Phthaleine, zu denen Eosin, Erythrosin, Rose bengale gehören, 
giftig sind. Die Tabelle IX zeigt ferner, daß die Farbstoffe, welche 
elektroneutral sind oder elektropositiv machen, wie Nr. 13—34, fast 
durchweg die Erregbarkeit fortbestehen lassen. Ausnahmen bilden nur 
Tropaeolin 000 Nr. 2, Patentblau V, Methylorange und vielleicht Ni- 
grosin w, welche lähmen, ohne zu negativieren. Worauf dies zurück- 
zuführen ist, ist schwer zu sagen. Ohne Analogie ist ein solches Ver- 
halten nicht; es sei etwa an die Narkotika oder an Mg(Ci, erinnert, welche 
ebenfalls bei gewissen Konzentrationen lähmen, ohne einen Ruhestrom 
zu erzeugen. 

Was nun die Beziehung dieser in Tabelle IX wiedergegebenen Ver- 
suche zu unserer Fragestellung nach dem Zusammenhang von Ruhe- 
strom und Verteilung anlangt, so sind dafür die einzig ausschlaggebenden 


Ruhestrom und Durchlässigkeit. I. 


195 


Tabelle IX. Färbevermögen der Säurefarbstoffe und ihr Einfluß auf 
Ruhestrom und Erregbarkeit von Muskeln und Opalinen. 


Farbstoff 


NachVitalfär- 
bung u. Tei- 
lungsk oeff. zu 
erwartendes 
Polzeichen 


Polzeichen 
gefunden 


Erregbar- 
keit der 
Muskeln 


Erregbar- 
keit der 
Opalinen 


SO IS mwN — 


die 


Metanilgelb ;. 9... .. 
| Wollviolett S...... 


wisypanblau®. 2... 


| Tuchscharlach G. . . . 


|| (Canal, 


Chramgrunı . .. 2... 2. 
Säureviolett 4 B extra. . 


Blosınsw so... RB 
Eryehrosin® „4.2 1. 20 - 
Rose bengale . . .. . . 
rehtgrun RS : ..... ... 
IBChSme Su. ec... u: 
Gumeagrun B.... .. 
Naphtholgelb S..... 


Eehtsäureviolett 10 B. 

Tuehrot 3 G extra. . . . 
Oyanosın „us 2.2... ; 
Bosindulin 2G ..... 
Ayzorubn A... ..0... 


IMon2or0b., ... . 8 


Naphthalingrün V.... 
Rotviolett 5 RS. 
Indigschwefels. Natron . . 
BrisulfonblauB.. . .. - 
Diaminreinblau ... . . 
Indulmeoı un su: | 
Tropaeolin 000 Nr. 2. . . 
Batentblau V ..... ...- | 
Iuerosmiw... 3 | 
Methylorange . ... . .-. | 
Behmow A... 2... | 
BehrolB . 4. .....: 


Versuche mit denjenigen Säurefarbstoffen, 


.o 


oO 
ee na nn 


—- 


schwach — |schwach — 


[e>) 
er 
> 
u 


Tererelelelelererererererererererere 


+ 


schwach — 


welche 


erstens vital färben bezw. lipoidlöslich sind und zweitens 
den Muskel nicht schädigen. Nach den Tabellen VI und IX er- 
füllen diese Bedingungen die Farbstoffe: Echtsäureviolett 10 B, Tuch- 
scharlach G, Tuchrot 3 G extra, Cyanosin, Echtrot A, Echtrot B und 
Tuchrot 3GA. Aber mit Ausnahme des Echtsäureviolett sind alle diese 
Farbstoffe leider in Ringer schwer löslich, Tuchrot 3GA und Tuch- 
scharlach fast unlöslich, so daß sie in einer für den elektrischen Effekt 
günstigen hohen Konzentration nicht zur Wirkung kommen können, und 


196 J. Vorschütz: 


Echtsäureviolett hat eine nur sehr geringe Lipoidlöslichkeit (s. Tab. VI). 
So waren also von vornherein die Aussichten, zu einer klaren Antwort auf 
die gestellte Frage zu kommen, auch bei den Versuchen mit Säurefarb- 
stoffen nicht günstig. Aber die Tabelle VI lehrt doch, daß Echtrot A, 


70° Voh- 


u a U Da eo SEO UT TEN) EI TE UDO 10) a ‚210 
UT. 


Abb. 6. Invers gerichtete Ruheströme durch Einwirkung von Echtrot A und Echtröt B. 


[0] 75 3 %# DO U TAN EN) 
Mu. 


Abb. 7. Invers gerichtete Ruheströme durch Einwirkung von Echtrot B und Tuchrot 3 GA. 


Ecehtrot B und Tuchrot 3GA, wohl zufolge ihrer großen Li- 
poidlöslichkeit, im Sinne der Theorie die Muskelsubstanz 
wirklich elektropositiv machen. 

Bei der Wichtigkeit gerade dieser Versuche, welche immerhin das 
stärkste der hier aufgefundenen Argumente zugunsten eines Zusammen- 
hangs zwischen Ruhestrom und Verteilung bilden, mag an ein paar 
Beispielen der Gang der Versuche erläutert werden (s. Abb. 6 u. 7). 


Ruhestrom und Durchlässigkeit. I. 197 


Schlußfolgerungen: Stellen wir nun, auf die mitgeteilten Ver- 
suche zurückblickend, nochmals die eingangs aufgeworfene Frage, ob 
sich die Verteilung. von Elektrolyten auf lebende Gewebe unter Zu- 
grundelegung der Messungen von Beutner an ‚„Ölketten‘“ auf elektri- 
schem Wege bestimmen läßt, so finden wir, daß die Ergebnisse unserer 
Farbstoffversuche noch nicht allzuviel besagen. Die Ergebnisse 
widersprechen der an Beutners Versuche angelehnten Hy- 
pothese keineswegs, aber sie können vielfach auch anders 
erklärt werden. Immerhin bleiben die Versuche mit einigen 
schwer lipoidlöslichen Farbbasen und mit einigen lipoid- 
löslichen Säurefarbstoffen übrig, die wirklich als ein Ana- 
logon zu den Ölketten aufzufassen sind. 

Daß die Farbstoffe kein besonders günstiges Versuchsmaterial dar- 
stellen, wurde schon anfangs ausgeführt. Es ist deshalb die nächste 
Aufgabe, mit einfacheren Elektrolyten, die ein organisches Anion oder 
ein organisches Kation haben, die Versuche fortzusetzen. Einige Er- 
fahrungen mit solchen Salzen liegen bereits vor, aber sie sprechen 
eigentlich nicht für die Anwendbarkeit der Beutnerschen Auffassung. 
So hat Höber!) schon vor längerer Zeit’den Einfluß organischer Natrium- 
salze auf den Ruhestrom des Muskels untersucht; er fand, daß Formiat, 
Acetat, Propionat, Butyrat und Valerianat die Muskelsubstanz ganz 
schwach negativ machen, und vor allem daß Benzoat und Saliceylat, die 
Beutner geprüft hat, und die nach seinen Messungen kräftig positiv 
machen sollten (s. S. 183), entweder elektrisch indifferent sind oder 
schwach negativ machen. 

Noch in einer anderen Richtung bedürfen die mitgeteilten Versuche 
einer Fortsetzung. Entsprechend der Vorstellung von Beutner erzeugen 
die basischen Farbstoffe, indem sie sich auf die zweite ‚‚ölige‘“ Phase ver- 
teilen, ein Potential der Art, wie es durch die Nernstsche Theorie zur 
Darstellung gebracht wird; die hier angeführten Versuche an Blut- 
körperchen (s. S. 191) verweisen darauf, daß die zweite Phase Protoplast, 
welche von einem basischen Farbstoff aus nach Beutner durch Ver- 
teilung zum Sitz einer positiven Ladung wird, auch noch auf andere 
Weise, nämlich durch Adsorption positiv geladen werden kann, 
und durch Freundlich und Rona?) haben wir kürzlich erfahren, daß 
diese beiden Arten der Aufladung — Freundlich und Rona unter- 
scheiden sie als thermodynamisches und als elektrokinetisches Poten- 
tial — von einander ganz verschieden sind. Es ist wohl interessant zu 
untersuchen, wie sich bei physiologischen Objekten die beiden Arten 
von Potentialen im Ruhestrom äußern. Dazu wäre es notwendig, Elek- 
trolyte zu vergleichen, die an einer zweiten Phase entweder nur ein 

!) Höber, Arch. f. d. ges. Physiol. 134, 311. 1910. 
®) Freundlich’und Rona, Sitzungsber. Preuß. Akad. d. Wiss. 1920. 
Pilügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 189. 14 


198 J. Vorschütz: Ruhestrom und Durchlässigkeit. 1. 


thermodynamisches oder nur ein elektrokinetisches Potential bewirken; 
ersteres dürfte z. B. für manche Alkaloidsalze, letzteres für die Salze 
seltener Erden zutreffen. 


Ergebnisse. 


Die Messungen von Beutner an diphasischen Flüssigkeitsketten 
mit „‚öliger‘‘ Phase lassen für Elektrolyte einen Zusammenhang zwischen 
Ruhestrom und Durchlässigkeit auf Grund von Verteilung in einer 
lipoiden Phase voraussehen. Zur Prüfung der Hypothese wird der Ein- 
fluß von basischen und Säurefarbstoffen auf den Ruhestrom des Muskels 
untersucht, da über deren Verteilungsquotienten und ihr Eindringungs- 
vermögen relativ viele Erfahrungen vorliegen. Es ergibt sich: 

1. Sämtliche geprüften basischen Farbstoffe, die sämtlich auch lipoid- 
löslich sind, rufen im Sinn der Beutnerschen Ölketten Elektronega- 
tivität des Muskels hervor. Es wird gezeigt, daß diese letztere aber auch 
so gedeutet werden kann, daß die Farbstoffe die Muskelsubstanz schä- 
digen. Ein Bild von der Art dieser Schädigung gewähren Versuche über 
Blutkörperchenagglutination durch die Farbstoffe. 

2. Im Sinn des Verhaltens nach Art der Beutnerschen Ölketten 
ist es, daß die relativ wenig lipoidlöslichen Farbbasen auf den Muskel 
auch nur schwach und langsam ruhestromentwickelnd wirken. 

3. Auch die basischen Farbstoffe heben, wie alle negativierenden 
Elektrolyte, die Erregbarkeit des Muskels auf. 

4. Die Säurefarbstoffe rufen teils Elektronegativität, teils Elektro- 
positivität hervor, teils sind sie elektroneutral. Soweit sie Elektro- 
negativität erzeugen, wirken sie — ob lipoidlöslich oder lipoidunlöslich 
— auch lähmend. Dies beruht auf irgendeiner nicht näher definierten 
Giftwirkung. Die wenigen Säurefarbstoffe, welche Elektropositivität 
erzeugen (unter 34 nur 3), sind auch lipoidlöslich. 


Herrn Professor Dr. Höber bin ich für die Anregung zu der Arbeit 
sowie für seine ständige Mithilfe, auch bei der Abfassung des Manu- 
skripts, zu größtem Danke verpflichtet. 


Über die Wirkung des Placentar- und Hodenlipoids auf die 
männlichen und weibliehen Sexualorgane. 


Von 
Dr. Otfried O. Fellner. 


(Aus dem Institut für allgemeine und experimentelle Pathologie in Wien. 
[Vorstand: Hofrat Prof. R. Paltauf].) 


(Mit 12 Textabbildungen.) 
(Eingegangen am 20. Februar 1921.) 


In einer früheren Arbeit!) konnte der Nachweis geliefert werden, 
daß sich aus der Placenta, den Eihäuten und den interstitiellen Zellen 
des Ovariums, insbesondere des Ovariums trächtiger Tiere?), ferner 
aus dem Corpus luteum ein Lipoid darstellen läßt, welches bei subeutaner 
oder intraperitonealer Injektion bedeutendes Wachstum der Mamma 
und Mamilla (auch bei männlichen Tieren), starke Vergrößerung des 
Uterus, Brunst- bzw. prämenstruelle Erscheinungen an der Schleimhaut 
des Uterus, Vergrößerung und Graviditätserscheinungen an der Vagina 
und Ausbleiben des Wachstums ausrasierter Haare hervorruft. Diese 
Eigenschaften des Ovarialplacentarlipoids sind für dieses spezifisch; 
denn wie ich schon seinerzeit nachgewiesen habe, fehlt diese Eigen- 
schaft allen anderen Organlipoiden (Gehirn, Leber, Muskel, Cholesterin, 
Leeithin). 

In dieser Arbeit wurde auch ausgeführt, daß das Ovarialplacentar- 
lipoid beim Männchen eine Vergrößerung der Mamilla und eine Ver- 
mehrung der Drüsen erzielt. Solche spontane Veränderungen der Sexual- 
merkmale auch nach der Pubertät sind beschrieben worden, und zwar 
von Zambini, Freund, Hesar, Wilson, Parhon und Gold- 
stein, Hammond, Djemil Pascha, Friedrich Grawitz (zit. 
nach Biedl). So hat auch Steinach bei kastrierten männlichen 
Meerschweinchen, denen er Ovarien implantierte, eine Entwicklung 
der Brustwarzen, des Warzenhofes und der Brustdrüse in der Form 
wie bei normalen Weibchen gesehen. 

Wachstum der Mamma beim Männchen nach Injektion von Ovarial- 
lipoid beschrieben nach mir auch Herrmann und Stein in einer 
vorläufigen Mitteilung?). Sie haben nebstdem Veränderungen in den 

1!) Arch. f. Gyn. 100. 


2) Gygnäk. Rundschau 1917 u. Monatsschr. f. Geb. 54. 
3) Wien. klin. Wochenschr. 6 u. 25. 1916. 


14* 


200 0. Fellner: Über die Wirkung des Placentar- und Hodenlipoids 


Hoden beobachtet. Auf den wachsenden Hoden wirke das Corpus 
luteum hemmend nicht nur in Beziehung auf seine Größe, sondern 
auch auf das Datum des Einsetzens der Spermatogenese. Bei weiterer 
Einwirkung komme es zu Rückbildungserscheinungen im generativen 
Apparat mit vollkommenem Mangel der Spermatogenese und zu Er- 
scheinungen, wie man sie bei dem mit Röntgenstrahlen geschädigten 
Hoden sehen kann. Hat die Spermatogenese bereits begonnen, so gehen 
durch den Einfluß des Hormons die schon gebildeten Samenzellen 
zugrunde. Ferner beschrieben sie Verkleinerung der Samenblase und der 
Prostata. Bis auf die letzten Folgeerscheinungen konnte ich in der 
Ansprache über diesen Vortrag die Beobachtungen zum größtenteil 
auf Grund eigener Versuche bestätigen und erweitern. 

Diese meine Versuche wurden in der Weise ausgeführt, daß ich zuerst 
einen Hoden entfernte, dann injizierte und schließlich das Tier tötete. 
Die Genitalorgane wurden herausgenommen, gehärtet und gefärbt, 
teils in gewöhnlicher Weise, teils nach Ciaccio. Injiziert wurde 
sowohl Ovarial- als auch Placentarlipoid. 

So erhielt Kaninchen 2059, das vor der Injektion einen geschlechts- 
reifen Hoden (2059d) aufwies, das Lipoid von elf Placenten. Der hernach 
herausgenommene Hoden war bedeutend verkleinert, die Kanäle 
waren enger, die bindegewebigen Septen verbreitert. Das desqua- 
mierte Epithel bildet im Lumen vielfach hyaline Körperchen oder 
detritusartige Massen. Zeichen einer Spermatogenese fehlen. Das 
Zwischengewebe ist beträchtlich verbreitert und enthält viele inter- 
stitielle Zellen. Kaninchen 2058 mit reifem Hoden erhielt das Lipoid 
von 6 Placenten. Die Septen waren unbeträchtlich verbreitert, die 
Hodenkanälchen enger, ihr Epithel vielfach desquamiert. Es liegt 
im Lumen in Form von Detritusmassen. Anzeichen einer Spermatogenese 
fehlen, während die Sertolischen Zellen erhalten sind. Das Epithel 
der Nebenhodenkanälchen ist vielfach abgeplattet, stellenweise fehlen 
die Zwischenwände der einzelnen Kanälchen, die dann zu größeren 
Räumen zusammenfließen. Die Lumina sind zumeist leer, mitunter 
von geronnenen Massen erfüllt. 

Ein drittes Kaninchen wies vor der Injektion (1158) einen reifen 
Hoden auf; es erhielt das Lipoid von 4 Placenten. Der dann heraus- 
genommene Hoden (1161) war kleiner. In den beträchtlich verengten 
Hodenkanälchen ist das Epithel vielfach desquamiert und zugrunde 
gegangen. Alle Zeichen einer Spermatogenese fehlen. Die Lumina 
sind zum Teil leer, zum Teil von zerfallenen Zellmassen erfüllt. Zwischen- 
gewebe und Septa weisen kaum einen Unterschied gegenüber der Norm 
auf. Nebenhodenkanälchen fast durchwegs kollabiert, zumeist leer, 
zum Teil von krümeligen Massen erfüllt. Ihr Flimmerepithel ist gut 
erhalten. 


auf die männlichen und weiblichen Sexualorgane. 201 


Kaninchen 1151 hatte einen reifen Hoden und erhielt das Lipoid 
von 8 Placenten. Der nach den Injektionen herausgenommene Hoden 
wies folgendes Bild auf: Hodenkanälchen beträchtlich verengt; von 
samenbildendem Epithel nur mehr spärliche Reste vorhanden. Die 
Septa verbreitert, reich an zelligen Elementen. Nebenhodenkanälchen 
tragen ein zumeist abgeplattetes Flimmerepithel, die Lumina sind 
stellenweise von desquamiertem Epithel erfüllt. 

Ferner seien die Versuche erwähnt, in welchen die Kaninchen das 
Lipoid des Corpus luteum injiziert erhielten. Das eine Nr. 2049 wies 
vor der Injektion einen reifen Hoden auf. Es erhielt (2050) das Lipoid 
von 150 gelben Körpern. Die Hodenkanälchen sind in ihrem Durch- 
messer beträchtlich reduziert, zeigen nur mehr Reste ihres Epithels, 
während die Sertolischen Zellen fast durchwegs erhalten sind. Das 
Zwischengewebe ist 
sehr locker und zell- 


reich. Auch die Av 
Nebenhodenkanäl- seh JAN \ ROTE 
chen sind verengt. Me eohhe, BR 
Ihr epithelialer Be- RL, 7) VE 
lag ist abgeplattet, ER 2 4 He 


das Lumen ist zu- ® wi uf { 
meist leer und ent- se 'E 

hält stellenweise hy- ee) Ne 
aline Körperchen. 


e 56 REN ATS PT. IL 

Kaninchen 1157 = FA f; 1 DES 1% 
erhielt das Lipoid N H WDR N 
von 70 Corpus lu- Dan / p- wi N 
teum-haltigen Ova- Re r GEHN AR 
rien (siehe Abb. 1). N FI, 
Die beträchtlich ver- “r ya 
engsten Hodenkanäl- Abb. 1. 
chen zeigen auch hier 


eine weitgehende Desquamation ihres Epithels, das als Detritus das 
Lumen erfüllt. Erhalten sind nun mehr vereinzelte Spermatogonien ; 
Sertolische Zellen gut erhalten. Das Interstitium hingegen ist beträcht- 
lich verbreitert und sehr zellreich. Der Nebenhoden zeigt neben einer 
Verengerung seiner Kanälchen auch eine Abplattung des auskleidenden 
Epithels. 

Fasse ich das Ergebnis dieser Versuche zusammen, so findet nach In- 
jektion von Placentar- und Ovariallipoid eine Verkleine- 
rung des Hodens statt, die vor allem auf Schrumpfung der Kanäle 
beruht. Bei den reifen Hoden hört die Spermatogenese auf 
und die Spermatogonien, mitunter selbst die Sertolischen 


202 ©. Fellner: Über die Wirkung des Placentar- und Hodonlipoids 


Zellen verfallen der Degeneration. Im Lumen bilden sich de- 
tritusartige Massen. Ferner sieht man häufig Riesenzellen, wie sie auch 
von Tandler und Gross, von Kyrle nach Röntgenbestrahlung, von 
Maximow nach Heilung von Hodenverletzungen, von Mazetti de 
norma bei der stetig vor sich gehenden Destruktion der Epithelien 
und Resorption der Zerstörungsprodukte beschrieben wurden. Es dege- 
nerieren auch die Zellen im nichtreifen Hoden. Das Zwischengewebe 
vermehrt sich, es scheint absolut genommen reichlicher zu sein 
und ist weit zellreicher. Auch im Nebenhoden sehen wir Zeichen der 
Degeneration im Epithel. Placentar- und Ovariallipoid wirken 


also degenerierend auf den Hoden und Nebenhoden. Doch 
ist diese Wirkung keine spezifische, da auch andere 
Lipoide diese Wirkung haben. 

Auf welchem Wege diese Degeneration zustande kommt, ob durch 
direkte Einwirkung auf die samenbildenden Zellen oder indirekt auf 
dem Wege der interstitiellen Zellen, läßt sich nicht ermitteln. Ich ver- 
suchte die Frage mittels der Färbemethode nach Ciaccio zu ent- 
scheiden, in der Annahme, daß dort, wo eine Vermehrung des Lipoids 
stattgefunden hat, die direkte Einwirkung des Lipoids zu suchen ist. Wir 
müssen hier zunächst auf die normalen Befunde etwas näher eingehen. 

Beim eben geworfenen Jungen (2000) findet sich (s. Abb. 2) das 
Lipoid meist in Form kleinster Tröpfehen besonders reichlich im 
Zwischengewebe. Das Epithel der Kanälchen hingegen und die Zwischen 
zellen enthält Lipoid in ganz unregelmäßiger Anordnung. Diese Befunde 
bei Meerschweinchen stehen im Widerspruch mit der Angabe von 
Brancea und Bassetat), welche fanden, daß beim neugeborenen Kinde 


1) Arch. gen. de Chir. 1917. 


auf die männlichen und weiblichen Sexualorgane. 203 


kaum eigentliche Zwischenzellen zu finden sind. Beim älteren Tiere 
finden wir bis zum Beginn der Reife die interstitielle Drüse wenig ent- 
wickelt. Die Darstellung der Lipoide mit Hilfe der Ciacciofärbung 
ergibt das Vorhandensein feinster Lipoidtröpfchen, insbesondere in 
den Sertolischen Zellen und in geringer Menge im Zwischengewebe, 
während es in den samenbildenden Zellen der Hodenkanälchen fast 
fehlt (s. Abb. 3). Im reifen Hoden 2039 enthalten die Zwischenzellen 


Abb. 3. 


reichlich Lipoid sowohl in Form von feinsten Tröpfchen als auch größerer 
Tropfen. In den Epithelien der Kanälchen hingegen sind, Lipoidstoffe 
nur sehr spärlich nachweisbar; ihr Vorkommen ist hier fast ausnahmslos 
auf die Sertolischen Zellen beschränkt. Bei dem mit Placentarlipoid in- 
jizierten Tieren z. B. Nr. 2037 sieht man sehr reichliches Lipoid sowohl 
in den Kanälchen wie im Zwischengewebe. 

Die Vermehrung des Lipoids ist also eine gleichmäßige und läßt 
keinen Schluß darauf zu, wo das Placentarlipoid angegriffen hat. Aber 
eine Tatsache drängt sich bei der Betrachtung der Ciaccio-Präparate 
besonders in den Vordergrund und das ist die große Ähnlichkeit der 
nach Placentarinjektion degenerierten Hoden mit dem Hoden bei der 
Geburt, oder richtiger gesagt, der Hoden des eben geworfenen 


204 ©. Fellner: Über die Wirkung des Placentar- und Hodenlipoids 


Jungen zeigt dieselben Erscheinungen wie der Hoden der 
Tiere, welche mit Placenta injiziert wurden, was uns übrigens 
heute, nach Kenntnis der inneren Sekretion des wirksamen Placentar- 
lipoids, nicht weiter wundernehmen kann. Die Veränderungen im 
Uterus und in den Hoden des Neugeborenen (ebenso die an der Mammae) 
gehören eben zu den Graviditätserscheinungen bei Mutter und Kind, 
und sind auf die Sekretion des Placentarlipoids zurückzuführen; sie 
gehören nicht zur fötalen Menstruation, wie seinerzeit behauptet wurde. 
(Siehe übrigens: Über physiologische Graviditätserscheinungen bei 
Mutter und Kind. Gyn. Rundsch. 3. Jahrg.) 


Hermann und Stein haben in einem Vortrag, nicht aber in der 
Arbeit selbst, auch der Samenblase und der Prostata Erwähnung 
getan. Sie geben an, daß makroskopisch Samenblase und Prostata 
nach Placentarninjektion verkleinert waren. Ich kann diese Befunde 
nicht bestätigen. Samenblase und Prostata schienen mir nach den 
Injektionen mindestens ebenso groß wie vorher. bei der Operation. 
Mikroskopisch ist in der Samenblase eine Neigung zu Cystenbildung 
zu beobachten. Was die Prostata betrifft, so muß man hier natürlich 
auf die Reife des Genitales Rücksicht nehmen. Bei noch nicht reifen 
Kaninchen sind normalerweise mäßig viele breitgezogene Epithel- 
haufen zu sehen, nur wenige Lumina mit sehr niedrigem Epithel. Beim 
reifen Tier bemerkt man zahlreiche Drüsen mit weiten Lumina und 
höherem Epithel (1178 s. Abb. 4, 3006 s. Abb. 5). Die Prostata der 


auf die männlichen und weiblichen Sexualorgane. 


injizierten Tiere zeigt 
gleichfalls reichlich 
Drüsenschläuche mit 
weitem Lumen und 
hohem Epithel. (Prot. 
2058; reif, 6 Placenten 
s. Abb. 6und 7). Ähn- 
liche Verhältnisse lie- 
sen bei 1161 (reif, 
4 Placenten) vor: Viel- 
fach cystisch erwei- 
terte Schläuche, die von körnig geronnenen 
Massen erfüllt sind. Das Epithel ist zum 
Teil etwas abgeplattet, zum Teil hoch 
zylindrisch mit deutlichen Papillen. Nichts- 
destoweniger wage ich es nicht den An- 
gaben von Herrmann und Stein zu 
widersprechen, denn die Zahl meiner 
Beobachtungen ist sehr gering, und es 
fehlt eine geeignete Kontrolle für die 
Wirkung der Injektionen, da die normalen 
Befunde bei den einzelnen Tieren mög- 
licherweise stark wechseln. 

Den Anschauungen L. Picks, Stei- 
nachs und Biedls folgend, die dahin- 
gehen, „daß in der sexualdifferenzierten 
Keimdrüse schon de norma mehr oder 
weniger ausgedehnte Reste hetero-sexueller 
innersekretorischer Gewebselemente vor- 
handen sind‘, habe ich nun auch weiter 
nachgesehen, ob in den Hoden eine 
ähnliche Substanz wie in der Pla- 
centa und im Ovarium vorhanden 
ist. Bereits in meiner ersten Arbeit ist 
ein Versuch mit Hodenextrakt erwähnt, 
der sehr ermunternd ausfiel. Ich habe nun 
in gleicher Weise wie aus den Ovarien und 
der Placenta, auch aus Stierhoden ein 
Lipoid. dargestellt, das dieselben Löslich- 


keitsverhältnisse besitzt wie jenes — es wurde ja ebenso gewonnen — 


und in Farbe und Geruch demselben vollkommen gleicht. 


Einem Weibchen (1159) wurde vor der Injektion ein Stück Uterus 
herausgenommen; derselbe zeigte sehr niedriges Epithel, sehr wenige 


206 ©. Fellner: Über die Wirkung des Placentar- und Hodenlipoids 


X Abb. 6. 5 


Drüsen, spärliche Muscularis. Das Tier erhielt das Lipoid, von 4 Hoden 
und wurde dann getötet. Der Uterus (1160) war auf das Doppelte 
vergrößert, das Epithel 
wesentlich höher, Drü- 
sen vielzahlreicher und 
tiefer reichend. Die 
Mammae wären ge- 
wachsen. Mikrosko- 
pisch sieht man stark 
erweiterte Gänge und 
beginnende Drüsenbil- 
dung. Ähnlich ist 
der Befund bei Tier 
Nr. 1144, das den 
Extrakt von 5 Hoden 
bekam. Epithel sehr 
hoch, Drüsen sehr zahl- 
reich und tiefreichend. 
Nr. 1146 (s. Abb. 8) wies vor der Injektion sehr niedriges Epithel und wenig 
Drüsen auf; nach der Injektion (s. Abb. 9) des Lipoids von 2 Hoden 


Abb. 7. 


auf die männlichen und weiblichen Sexualorgane. ’ 207 


(1147) war der Uterus viel größer, Epithel wesentlich höher, Drüsen 
zahlreicher und tiefer reichend. In allen Fällen war die Mammae 
sewachsen. Das Li- 
poid aus dem Hoden 
zeigte also bei Weib- 
chen dieselben phy- 
siologischen Eigen- 
schaften wiedaseben- 


Ir 
Be 
so hergestellte Lipoid DEM. 
f ee a ‚98 9° RT: 
aus Ovarien und Pla- 22T e8 Jo 2 drapee 8 
. =/ [) a, DR ® 
centen. Diese wachs- 20T UN 


\ 
a 


tumfördernde Wir- 
kung ist im Gegen- 
satz zur degenerie- 
renden eine spezi- 
fische, dasienurden 
hier angeführten Li- 
poiden zukommt. 
Nunmehr wurde das App. ei 

Hodenlipoid männlichen 

Kaninchen injiziert. Ein Hoden wurde vor der Injektion entfernt (2038d). 
Es waren vielfach Spermatiden zu sehen und auch Spermien. Zwischen- 


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208 0. Fellner: Über die Wirkung des Placentar- und Hodenlipoids 


gewebe ziemlich locker, wenig zellreich. Das Tier erhielt das Lipoid von 
71/, Hoden. Der nun exstirpierte Hoden (2038, s. Abb. 10) ist wesentlich 
kleiner. Die Hodenkanälchen schmal, nur die Sertolischen Zellen sind zu- 
meist erhalten, aber gegen das Lumen gerückt. Von den anderen zelligen 
Elementen finden sich ausschließlich spärliche Spermatogonien, zumeist 
frei im Innern liegend, mit unregelmäßigen stark gefärbten oder zerfal- 
lenen Kernen. Riesenzellen zeigen gleichfalls Kernzerfall. Zwischen- 
gsewebe beträchtlich vermehrt, sehr zellreich; die Nebenhodenkanälchen 
teils breiter, teils enger, das Epithel vielfach etwas abgeplattet, das 
Zwischengewebe locker und kernarm. 

Ein weiteres Tier (3017) hatte vor den Injektionen einen reifen 
Hoden mit deutlicher Spermatogenese; es erhielt das Lipoid von 10 


& 
8 
® 


Abb. 10. 


Hoden. Der nun heraussenommene Hoden (3005) war kleiner. Kanäle 
beträchtlich enger; an zelligen Elementen sind Spermatogonien mit 
vielfach vakuolisiertem Protoplasma, jedoch deutlichem Kern zu sehen. 
Spermatiden zerfallend. Im Lumen geronnene Massen. Keine Sperma- 
tocyten. Das Zwischengewebe ist wenig vermehrt. 

Auch Nr. 3044 hatte einen reifen Hoden vor den Injektionen. Das 
Tier bekam das Lipoid von 7 Hoden. Der nun herausgenommene Hoden 
(3053) war um die Hälfte kleiner. Hoden deutlich atrophisch, entspricht 
seinem histologischen Bilde nach vollkommen dem von 2038. Das 
Zwischengewebe ist auch hier beträchtlich vermehrt mit reichlichen 
Zellen. Im Nebenhoden deutliche Vermehrung des Zwischengewebes. 
Seine Kanälchen sind enger, sein Epithel niedriger. 

Nr. 1187 hatte gleichfalls einen reifen Hoden und erhielt das Lipoid. 
von 5 Hoden. Die Sertolischen Zellen vielfach gut erhalten, Sperma- 
togonien selten, Spermatiden kaum auffindbar. Im Lumen streifiges 
Gerinnsel, mitunter große Zellen mit großen oder zerfallenen Kernen. 
Zwischengewebe vermehrt. 


auf die männlichen und weiblichen Sexualorgane. 209 


_ 


Von nicht geschlechtsreifen Tieren wurde eines operiert (3054) 
und wies einen nicht ausgereiften Hoden auf. Nach Injektion des 
Lipoids von 5 Hoden ist der Hoden auf die Hälfte verkleinert. Die 
beträchtlich verengerten Kanälchen sind mit einem Belage von Serto- 
lischen Zellen ausgekleidet, während die übrigen zelligen Elemente 
fast vollkommen fehlen. Nur im Lumen, eingeschlossen in den geronne- 
nen Massen finden sich einzelne desquamierte große Zellen mit ziemlich 
großen Kernen. Das Zwischengewebe ist mächtig vermehrt und außer- 
ordentlich kernreich. Nebenhoden im allgemeinen verengt. Das aus- 
kleidende Epithel stark abgeplattet. 

Nr. 3039 erhielt das Lipoid von 8 Hoden. Kanäle eng; auch die 
Sertolischen Zellen vielfach abgefallen, Detritus im Lumen mit einge- 
streuten zerfallenen Zellen. Zwischengewebe vermehrt. 

Um dem Einwand zu begegnen, daß die Operation irgendwie Schuld 
an den Degenerationen träst, wurden nicht operierte Tiere injiziert, 
zur Kontrolle wurden Tiere des gleichen Wurfs genommen. Die folgen- 
den Tiere Nr. 1162, 1176, 1185 und 1163 sind vom gleichen Wurf. Nr. 
1162, das nicht injiziert wurde, wies einen noch nicht ausgereiften Hoden 
auf. Nr. 1176 erhielt das Lipoid von 8 Hoden; der Hoden ist sehr klein, 
die Kanäle sind beträchtlich reduziert. Sertolische Zellen gut erhalten, 
Spermatogonien spärlich mit deutlichen Zerfallserscheinungen. Im 
Lumen, aber auch zwischen den Sertolischen Zellen finden sich große 
protoplasmareiche Zellen mit gut färbbaren Kernen und fädig geronnene 
Massen. Interstitielles Gewebe} beträchtlich vermehrt, reichlicher als 
in Nr. 1162. Das Epithel des Nebenhodens etwas abgeplattet, die Ka- 
nälchen weit. In einigen Lumina Detritus und desquamierte Epithelien. 
Nebennierensubstanz im Nebenhoden. Nr. 1185 erhielt das Lipoid 
von 3 Hoden. Kanäle enger, von Zellen sind nur mehr Sertolische 
Zellen nachweisbar, diese vielfach zerfallend oder abgefallen. Im 
Lumen wenig geronnene Massen. Zwischengewebe ein wenig reichlicher. 
Nr. 1163 erhielt das Lipoid von 2!/, Hoden. Von Zellen nur Sperma- 
togonien erhalten. Lumina enger von Zelldetritus erfüllt. Zwischen- 
gewebe mäßig vermehrt, locker. 

Fassen wir die Ergebnisse dieser Versuche zusammen, so wirkt 
das aus den Hoden gewonnene Lipoid zerstörend auf den 
senerativen Anteil des Hodens, ebenso wie das Ovarialplacentar- 
lipoeid. Bei den so behandelten Tieren war auch die Mammila etwas 
gewachsen, doch war der Effekt ein mäßiger. 

Bei Färbung nach Ciaccio sieht man bei Nr. 2038 (reif, 7'/, Hoden. 
s. Abb. 11): Sehr reichliches Lipoid sowohl intra- als extracellulär. 
In den reichlichen Zwischenzellen viel Lipoid. Nr. 1187 (reif, 5 Hoden) 
weist mäßig reichliches Lipoid in den Kanälchen, reichlich in den 
Zwischenzellen auf. Nr. 2043 (nicht reif, 3 Hoden) zeigt etwas weniger 


210 0. Fellner: Über die Wirkung des Placentar- und Hodenlipoids 


Lipoid in den Kanälen sowohl intracellulär als auch frei. Sehr reichlich 
in den Zwischenzellen. Nr. 1185 (nicht reif, 3 Hoden): Reichliches 
Lipoid auch in größeren Tropfen in den Kanälen, insbesondere an der 
Basis der Sertolischen Zellen intracellulär. Das Lipoid ist auch in den 
Zwischenzellen vermehrt. Demnach zeigt auch das Zwischengewebe 
eine Vermehrung der interstitiellen Zellen und reichliche Anhäufung 
von Lipoid in den Zellen. 

Die Samenblasen (3017, 2038, 1187) weisen stellenweise Cysten- 
bildung mit niedrigem Epithel auf. An der Prostata (3017, reif, 10 Ho- 


den) lassen sich gleichmäßige Veränderungen nicht nachweisen, jedoch 
ist eine Atrophie derselben weder mikroskopisch noch makroskopisch 
nachweisbar. So zeigt Nr. 3015 (7 Hoden, s. Abb. 12) eine sehr stark 
entwickelte Prostata ebenso auch 3053 und 1185. 

Aus den Untersuchungen ergibt sich, daß ebenso wieinden Ovarien, 
u.zw. im Corpus luteum und in den interstitiellen Zellen, 
ferner in der Placenta auch im Hoden ein Lipoid nachweis- 
bar ist, welches Graviditätserscheinungen beim Weibchen, 
Degeneration des samenbildenden Gewebes beim Männchen 
mit gleichzeitiger Vermehrung des interstitiellen Gewebes 
des Hodens und des darin enthaltenen Lipoids erzeugt. Ob die beiden 
Substanzen chemisch identisch sind, darüber kann vielleicht die chemische 


auf die männlichen und weiblichen Sexualorgane. ai 


Untersuchung, die im Gange ist, Aufklärung geben. Da die Substanzen 
aber in gleicher Weise dargestellt sind und dieselbe Wirkung haben, 


ist die Identität wahr- 
scheinlich. Wir hätten also 
ein feminines Sexual- 
lipoid, das beim Weib- 
chen die Entwicklung des 
Genitales fördert und die 
weiblichen Sexualcharaktere 
zur Ausbildung brinst, beim 
Männchen die Entwicklung 
des Genitales hemmt und 
dort auch weibliche Sexual- 
charaktere in Erscheinung 
treten läßt. Es kann nun 
natürlich nicht die aus- 
schließliche Aufgabe der 
männlichen Keimdrüse sein, 
ein Lipoid zu bilden, welches 
dieses Organ zur Degenera- 
tion bringt; wir müssen viel- 
mehr an die Mösglichkeit 
denken, daß noch ein zwei- 
ter Sekretionsstoff vorhan- 
den ist, der beim Männchen 
normalerweise das Über- 
gewicht hat, die Entwick- 
lung der männlichen Keim- 
drüse fördert und die männ- 
lichen Sexualcharaktere zur 
Ausbildung bringt. Und es 
könnte per analogiam ange- 
nommen werden, daß sich 
dieser Stoff auch beim Weib- 
chen findet und dort die- 
selben Eigenschaften her- 
vorruft wie das feminine 
Sexuallipiid beim Männ- 
chen. Daß tatsächlich Reste 
heterosexueller Gewebsele- 
mente vorkommen, zeigen 


RLURE 


RER Rs) 
& 


ME 


nd 


Abb. 12, 


die Untersuchungen von L. Pick!), der 


manche Geschwülste aus versprensten Anteilen heterosexuellen Keim- 


X) Arch. f. Gyn. 64. Festschr. f. L. Landau. Arch. f. Gyn. %6. 


212 O. Fellner: Über die Wirkung des Placentar- und Hodenlipoids 


gewebes ableitete.e Auch Steinach!) meint, daß im differenzierten 
Ovarium männliche Pubertätszellen eingesprenst sind. Ebenso ist 
Biedl der Ansicht, daß in der sexuell differenzierten Keimdrüse schon 
de norma mehr oder weniger ausgedehnte Reste heterosexueller inner- 
sekretorischer Gewebselemente vorhanden sind. Es bedarf keiner weiteren 
Erwägung um darzutun, daß tatsächlich manche Eigentümlichkeiten 
der physiologischen und pathologischen Entwicklung restlos durch 
diesen Nachweis zweier Sexualstoffe erklärt werden können. Ich ver- 
weise diesbezüglich auf die Versuche von Steinach und die Aus- 
führungen von Biedl. | 

Es drängt sich nunmehr die Frage auf, wo das feminine Sexual- 
lipoid im Hoden erzeust wird: im generativen Anteil oder in den inter- 
stitiellen Zellen. Wie die vorhergehenden Untersuchungen gezeigt 
haben, ist Lipoid sowohl im generativen Anteil wie in den interstitiellen 
Zellen des reifen Hodens nachweisbar und ist wesentlich reduziert 
im nicht reifen Hoden. Nach der Injektion des Lipoids ist der Lipoid- 
gehalt da wie dort vermehrt. Der histologische Befund gibt also keine 
Aufklärung. Als innersekretorisches Organ wird seit langer Zeit die 
interstitielle Drüse aufgefaßt, (Leydig, Reinke, Regaud und Poli- 
card, Loisl, Mosslmann und Rubay, Bouin und Ancel, Tand- 
ler und Gross) aber natürlich nur in dem Sinne, daß ihr Sekret die 
Ausbildung der männlichen sekundären Geschlechtsmerkmale und die 
Reifung des generativen Anteils fördert. Dieses Sekret käme also dem 
maskulinen Sexualstoffe gleich. Es wäre nun denkbar, daß die inter- 
stitiellen Zellen beide Stoffe produzieren. Nach dieser Anschauung 
wäre der nicht reife Hoden vielleicht deshalb nicht reif, weil sich die 
interstitiellen Drüsen noch nicht entwickelt haben. Mit der Reife der 
interstitiellen Drüse wird der maskuline Reizstoff in größerer Menge 
produziert und es entwickelt sich der generative Anteil. Röntgenbe- 
strahlung des Hodens (Tandler und Gross, Selden, Buschke, 
Krause und Ziegler u. a.) läßt die Sertolischen Zellen und das inter- 
stitielle Gewebe nicht allein intakt, sondern nach Kyrle findet auch 
eine Massenzunahme des interstitiellen Gewebes statt. Also die gleichen 
Bilder wie nach Injektion des femininen Sexuallipoids. Die Zunahme 
des interstitiellen Gewebes kann nun nicht direkt auf die Wirkung der 
Röntgenstrahlen bezogen werden; es muß vielmehr angenommen werden, 
daß die Röntgenstrahlen direkt den generativen Anteil schädigen, und 
daß die Zunahme des interstitiellen Gewebes als konsekutive Hyper- 
trophie bzw. Hyperfunktion des interstitiellen Gewebes aufzufassen 
ist, vielleicht in demselben Sinn wie Tandler und Gross hinsichtlich 
des Saison-Dimorphismus des Maulwurfes (Rückbildung des generativen 
Anteils bei Zunahme des interstitiellen Gewebes, Spermatogenese bei 


1) Arch. f. d. ges. Phys. 1912. 


auf die männlichen und weiblichen Sexualorgane. =. 2153 


Rückbildung der Zwischenzellen) in der starken Entwicklung der Zwi- 
schenzellen im ruhenden Hoden die bedingende Ursache für die nächste 
Spermatogenese erblicken. Ähnlich wären die Veränderungen nach 
Unterbindung der Vasa deferentia, nach Intoxikationen [Joannovic!)] 
usw. zu deuten. Nimmt man nun an, daß das Lipoid aus den inter- 
stitiellen Zellen stammt, daß also beide Reizstoffe ih ihnen ihre Quelle 
haben, so wären die tatsächlichen Befunde in unseren Experimenten 
nur so zu erklären, daß das Lipoid, das nunmehr in vermehrtem Maße 
zugeführt wird, schädigend auf den generativen Anteil einwirkt und so 
sekundär zur Hwypertrophie der interstitiellen Zellen führt, wobei 
ausschließlich der maskuline Reizstoff produziert wird. Eine Annahme, 
die sich freilich weder beweisen noch entkräften läßt, obwohl die An- 
schauung, daß ein und dieselbe Zelle zwei ganz entgegengesetzt wir- 
kende Stoffe produziert, gerade nichts Bestechendes an sich hat. 
Doch könnte das Sekret ebensogut aus dem generativen Anteil 
stammen, u. zw. vielleicht aus den Sertolischen Zellen. Diese sind 
lipoidhaltig, bleiben bei Röntgenbestrahlung erhalten, ja proliferieren 
sogar nach den Angaben einzelner Autoren. Die Wirkung der Röntgen- 
strahlen wäre also direkt auf die Spermatogonien und ihre Entwicklungs- 
produkte gerichtet, wobei die Sertolischen Zellen zumindest erhalten 
bleiben als Träger des femininen Sexuallipoids, die interstitiellen Zellen 
aber als Träger des maskulinen Sekretionsstoffes hypertrophieren, 
wodurch der männliche sekundäre Geschlechtscharakter fortbesteht. 
In unseren Versuchen würde dann durch die Einwirkung des femi- 
ninen Sexuallipoids der generative Anteil zerstört, während die Serto- 
lischen Zellen zum größten Teil erhalten bleiben, und ebenso wie nach 
der Röntgenbestrahlung die interstitiellen Zellen hypertrophieren. 
Auch unter Zugrundelegung dieser Ansicht ließen sich alle Tatsachen 
beim reifen und nichtreifen Hoden und auch die pathologischen Vor- 
kommnisse restlos erklären. Selbst die Annahme, daß der generative 
Anteil das Lipoid, produziert, steht in keinem Widerspruch zu irgend- 
einer der bisher bekannt gewordenen Tatsachen. Aber auch dann könnte 
das Lipoid erst recht aus den interstitiellen Zellen stammen, denn nach 
Goldmann und Kyrle findet ein Eintritt von Substanzen aus den 
Zwischenzellen in die Kanäle statt. Welche dieser Anschauungen 
richtig ist, läßt sich nicht entscheiden und es bleibt daher die Frage, 
wo das feminine Sexuallipoid erzeugt wird, unentschieden. 
Dier hier angeführten Versuche haben insofern ein gewisses Inter- 
esse, als sie manche Erfahrungstatsache aufklären würden. Bekannt ist, 
daß sich die Chlorose vieler Mädchen in der Ehe bessert, daß Unter- 
entwicklung des Genitales auch ohne Konzeption in der Ehe schwindet, 
schließlich, daß Mädchen nach der Verheiratung starke Veränderungen 


1) Zit. nach Biedl. 
Pflügers Archiv f. d. ges. Physio). Bd. 189. 15 


914 0. Fellner: Über die Wirkung des Placentar- und Hodenlipoids usw. 


aufweisen, Veränderungen, die wir unter dem Begriff ‚frauenhaftes 
Aussehen‘ zusammenfassen. J. Bondi!) hat auf diesen Einfluß des 
Geschlechtsverkehrs hingewiesen, und tierexperimentell bemerkens- 
werte Veränderungen des Eierstocks nach Coitus ohne Gravidität 
beobachtet. Auf diesen Veränderungen des Eierstocks soll seiner Ansicht 
nach auch das beruhen, was die Frau im Geschlechtsleben von der 
alternden Jungfrau unterscheidet. Andere Autoren fassen diese Tatsache 
als Folge der Resorption des Sperma auf. Möglicherweise spielt hier 
das feminine Sexuallipoid, das mit dem Sperma zur Resorption gelangt, 
eine Rolle. Vielleicht sind auch die therapeutischen Resultate, die man 
mit manchem Spermapräparat erzielt, auf das feminine Sexuallipoid 
zurückzuführen. 

Ganz abgesehen von diesen theoretischen Erörterungen aber ergibt 
sich aus den Versuchen, daß das feminine Sexuallipoid auch in 
den Hoden erzeugt wird, möglicherweise in den interstitiellen Zellen 
desselben, möglicherweise aber auch in anderen Zellen. 


1) Zentralbl. f. Gyn. 14, 19. 


(Aus dem Physiologischen Institut der Universität Halle.) 


Untersuchungen zur Physiologie der räumlichen Tastempfin- 
dungen unter Berücksichtigung der Beziehungen des Tast- 
raumes zum Sehraume. 

I. Mitteilung. 

(Weitere Beiträge zum Studium der Übungswirkungen.) 


Von 
Privatdozent Dr. phil. et med. Ernst Gellhorn, 
Assistent am Institut. 


(Mit 15 Textabbildungen.) 
(Eingegangen am 7. März 1921.) 


I. Optische und kinästhetische Größenschätzung. 


Im Anschluß an die in einer vorhergehenden Mitteilung geschilderten 
Versuche, die eine Verfeinerung der Unterschiedsschwelle für den Raum- 
sinn des Auges und für bestimmte Bewegungsempfindungen durch 
Übung nachweisen, soll nunmehr die Größenschätzung durch das Auge 
und den kinästhetischen Sinn miteinander in Beziehung gesetzt werden 
und die Wirkung der Übung auf diesen Prozeß studiert werden. Diese 
Versuche schließen sich eng an die Experimente von Fitt!) an, der 
feststellte, welche optische Strecke der durch simultane Reizung zweier 
Hautpunkte gegebenen Taststrecke als gleich groß erscheint. Dabei 
zeigte es sich, daß Strecken auf Hautstellen mit sehr niedriger Raum- 
schwelle überschätzt, auf solchen dagegen mit hoher Schwelle unter- 
schätzt werden, und daß zwischen beiden Extremen Hautbezirke von 
mittlerer Schwelle gelegen sind, durch die eine richtige Schätzung der 
Sehstrecke erfolgt. Durch wiederholte Übung wird insofern eine Ände- 
rung herbeigeführt, als eine Verschiebung des Indifferenzpunktes be- 
obachtet wird, indem Hautbezirke, von denen ursprünglich eine Unter- 
schätzung der Taststrecken erfolgte, allmählich eine richtige Schätzung 
oder eine Überschätzung vermitteln, so daß also die Lage des Indifferenz- 
punktes auf Hautbezirke mit ursprünglieh höherer Raumschwelle über- 
geht. Ein Einfluß der Größe der Taststrecken hat sich in den Versuchen 
Fitts nicht gezeigt. Ein näheres Eingehen auf diese Versuche mag an 
dieser Stelle deshalb unterbleiben, weil über ihre genaue Nachprüfung und 
Erweiterung unter besonderer Berücksichtigung der Frage der Mit- 
übung später berichtet werden soll. 


!) Arch. f. d. ges. Psychol. 32, 420. 1914. 
152 


216 E. Gellhorn: 


Unsere Versuchsordnung besteht darin, daß die Versuchsperson die Volar- 
flächen der Endglieder des Daumens und des Zeigefingers der rechten Hand 
auf die Spitzen des Tasterzirkels legt und diese nun vom Versuchsleiter bei 
abgewandtem Blick der Versuchsperson bis zu einer bestimmten Distanz aus- 
einandergezogen werden. Hat die Versuchsperson auf diese Weise vermittels 
ihrer Bewegungsempfindungen Kenntnis von der Größe der Distanz erhalten, so 
werden die Spitzen des Ästhesiometers vor den Augen der Versuchsperson langsam 
auseinander gezogen, während der Versuchsleiter fortblickt, und diese selbst 
aufgefordert, Halt zu sagen, sobald der Asthesiometerabstand nach ihrem Emp- 
finden die gleiche Länge besitzt wie die Reizstrecke. 

Eine besondere Versuchsreihe, die zunächst besprochen werden soll, 
erstreckt sich auf den Einfluß, den die Schnelligkeit, mit der vom 
Versuchsleiter die Ästhesiometerspitzen auseinandergezogen werden, auf 
die optische Größenschätzung der durch Bewegungsempfindungen wahr- 
genommenen Strecke ausübt. Die Versuche werden in der Weise vorge- 
nommen, daß täglich ein- bis zweimal Strecken von gleicher Größe 
zuerst durch sehr schnelles, darauf durch sehr langsames Entfernen der 
Zirkelspitzen der Versuchsperson dargeboten werden. Dieselbe hat nun 
nach jeder Strecke die ihr gleich groß erscheinende optische Strecke 
anzugeben. Außerdem wird sie hinterher noch befragt, in welchem 
Größenverhältnis die beiden Strecken zueinander gestanden hätten. 
Versuchspersonen waren 8 Erwachsene (darunter 2 Frauen) und 6 Kinder 
(4 Knaben und 2 Mädchen im Alter von 12—13 Jahren). Die Er- 
gebnisse dieser Versuchsreihen sind in der Tabelle I enthalten. 
In ihr ist neben der Größe der taktil!) gegebenen Reizstrecke unter a 
die gleich groß geschätzte Sehstrecke verzeichnet, wenn die Reizstrecke 
durch sehr schnelles, unter b, wenn sie durch langsames Auseinander- 
ziehen der Zirkelspitzen gegeben wird. Die folgende Spalte enthält die 
Differenz von a und b, die nächste Rubrik bezieht sich auf das Urteil 
der Versuchsperson über das Größenverhältnis von a zu b. In der 
linken Hälfte der Tabelle finden sich die Versuchsergebnisse der ersten 
drei Versuchstage, in der rechten Hälfte die Ergebnisse der letzten 
Versuchstage (8.—12. Versuchstag), nachdem an jedem Versuchstag 
der beschriebene Versuch in gleicher Weise wiederholt worden war. 

Von den Erwachsenen zeigen die Versuchspersonen A, B, C schon 
an den ersten Versuchstagen nur sehr geringe Differenzen zwischen 
a und b. Dem entspricht auch das Urteil dieser Versuchspersonen, die 
die gleich großen, aber mit sehr verschiedener Schnelligkeit dargebotenen 
taktilen Strecken für gleich oder verschieden groß halten, letzteres aber 
nur mit der ausdrücklichen Versicherung, daß es sich um Unterschiede von 
etwa 2—3 mm handele. Bei diesen Versuchspersonen unterscheiden sich 
deshalb die am Ende der Versuchsreihe erhaltenen Zahlen hinsichtlich der 
Differenz von a und b nicht von den Werten der ersten Versuchstage. 


1) Es sei der Kürze halber gestattet, statt der durch Bewegungsempfindungen 
vermittelten Strecke kurz von „taktiler‘‘ Strecke zu sprechen. 


Untersuchungen zur Physiologie der räumlichen Tastempfindungen usw. I. 217 


In starkem Gegensatz hierzu steht die Gruppe der Versuchspersonen 
N-—R. Sie zeigen sämtlich, wenn auch in verschiedenem Grade, an den 
ersten 3 Versuchstagen sehr erhebliche Differenzen zwischen a und b. 
Und zwar bemerkt man, daß bei einzelnen Versuchspersonen, wie z.B. 
R, die Differenz bei großen Strecken sehr erheblich sein kann, während 
bei kleineren Strecken die Versuchsperson nicht der Täuschung unter- 
liegt, als seien die mit verschiedener Schnelligkeit gegebenen Strecken 
verschieden groß. Diese Erfahrung wurde noch an weiteren Versuchs- 
personen bestätigt, die in der Tabelle deshalb nicht angegeben sind, 
weil die Versuche aus äußeren Gründen sich nur über wenige Tage er- 
streckten. Dabei ist es auffallend, daß bei einer Versuchsperson (O) für 
die schnell dargebotene Strecke (a)!) eine größere optische Strecke für 
gleich erachtet wurde als für die langsam dargebotene taktile Strecke. 
Da aber die Versuchsperson regelmäßig angibt, es sei a = b, so kann 
die Bevorzugung der a-Strecke in der Größenschätzung nur durch die 
Unsicherheit der Versuchsperson, eine taktile Strecke von bestimmter 
Größe zweimal in eine optische Strecke umzuwandeln, bedingt sein. 
Hiermit stimmt auch gut überein, daß die Versuchsperson OÖ viel gerin- 
gere Differenzen zwischen den a- und b-Strecken aufweist als die 
übrigen Versuchspersonen dieser Gruppe. Die Abnahme der Differenz 
zwischen den a- und b-Strecken dürfte bei O nur in der durch die Übung 
vermehrten Sicherheit, eine taktile Strecke in eine optische zu über- 
setzen, verursacht sein. 

Von den übrigen Versuchspersonen dagegen zeigen N, Q, R für die 
b-Strecke fast regelmäßig eine erheblich größere Gerade als für die 
a-Strecke, und zwar werden hier oft ganz enorme Unterschiede ange- 
geben, die bei N einmal 36 mm betragen. Gleichzeitig geben die Ver- 
suchspersonen an, daß nach ihrer Empfindung die a-Strecke erheblich 
kleiner als die b-Strecke sei. Vergleicht man nun mit diesen Werten die 
Zahlen derselben Versuchsperson, die am Ende der Versuchsperiode 
erhalten werden, so ergibt sich, daß ausnahmslos unter dem Einflusse 
der Übung die Differenzen zwischen den a- und b-Strecken erheblich 
geringer werden und fast verschwinden, da Differenzen von 1-5 mm 
auch von geübten Versuchspersonen erhalten werden, wenn zu einer 
taktilen Strecke von bestimmter Größe zweimal die gleich große optische 
Strecke anzugeben ist. 

Nur die Versuchsperson P hält an den ersten Versuchstagen die 
a-Strecke für die größere, und zwar handelt es sich um ziemlich erheb- 
liche Differenzen, die nicht in gleicher Weise wie bei der Versuchsperson 
O erklärt werden können. Aber auch diese Differenzen verschwinden 
unter dem Einfluß der Übung. Als Ergebnis dieser Versuche ist 


!) Sie sei der Kürze halber als a-Strecke, die durch langsames Auseinander- 
ziehen der Zirkelspitzen gegebene Strecke als b-Strecke bezeichnet. 


218 E. Gellhorn: 


deshalb zu sagen, daß Erwachsene, soweitsie der durch die 
verschiedene Schnelligkeit, mit der dieselbe taktile Strecke 
dargeboten wird, bedingten Täuschung unterliegen, unter 
dem Einfluß der Übung in der Sicherheit der taktilen 
Größenschätzung eine Zunahme erfahren, so daß am Ende 
der Übungsperiode ein wesentlicher Unterschied in der 
Größenschätzung der mit verschiedener Schnelligkeit dar- 
gebotenen taktilen Strecke nicht vorhanden ist. Dabei 
wird von vornherein, soweit die Täuschung eintritt, die 
langsam dargebotene Strecke für die größere gehalten. Nur 
bei einer Versuchsperson wird die umgekehrte Wirkung 
festgestellt. 

Betrachten wir nun die von den 12—13jährigen Versuchspersonen 
erhaltenen Zahlen, so ergibt sich, daß alle Versuchspersonen die objektiv 
gleich große Strecke infolge der ungleichen Darbietungsart für ver- 
. schieden groß erachten. Bemerkenswerterweise wird aber von der 
überwiegenden Mehrzahl der Versuchspersonen die a-Strecke für die 
srößere gehalten und nur bei 2 Versuchspersonen die b-Strecke. Ob 
dieser auffallenden Differenz in dem Ergebnis der Versuche zwischen 
Erwachsenen und Kindern eine Gesetzmäßigkeit zugrunde liegt, werden 
erst weitere Versuche lehren, die an einer möglichst großen Zahl von 
Versuchspersonen angestellt werden sollen. 

Diese Versuchspersonen wiederholen nun in gleicher Weise die Ver- 
suche wie die Erwachsenen, und hierdurch wird bei H, I, K,M eine 
bedeutende Übungswirkung ausgelöst, die in der erheblichen Verkleine- 
rung der Differenz zwischen a- und b-Strecke zum Ausdruck kommt. 
Nur bei Versuchsperson L und G — bei L ist sogar bereits an den ersten 
Versuchstagen die Differenz zwischen a- und b-Strecken gering — ist 
eine Übungswirkung nicht zu erkennen. 

In welcher Weise hat man sich diese Ergebnisse zu erklären? Wird, 
wie dies bei den Erwachsenen fast regelmäßig geschieht und auch bei 
einem Teil der Kinder beobachtet wird, die b-Strecke für größer als 
die a-Strecke gehalten, so liegt dies wohl daran, daß die Versuchsperson 
bei ihrem unsicheren kinästhetischen Schätzungsvermögen den Zeit- 
sinn zu Hilfe nimmt, und aus der Tatsache, daß zur Darbietung der 
b-Strecke eine längere Zeit gebraucht wird als bei der a-Strecke, den 
Schluß zieht, die b-Strecke müsse deshalb auch die größere sein. Mit 
zunehmender Übung verfeinert sich aber, wie frühere Untersuchungen!) 
dargetan haben, die kinästhetische Unterschiedsempfindlichkeit für die 
Wahrnehmung von Distanzen, der Zeitsinn tritt deshalb an Bedeutung zu- 
rück und vermag nicht mehr entgegen den kinästhetischen Empfindungen 
eine wesentlich ungleiche Beurteilung der objektiv gleich großen Strecken 


!) Gellhorn. Arch. f. d. ges. Physiol. 189, 166 ff. 1921. 


Untersuchungen zur Physiologie der räumlichen Tastempfindungen usw. I. 219 


zu bewirken. Daß gerade der Zeitsinn bei der Abschätzung der Größe 
von Bewegungen eine große Rolle spielt, ist durch die Untersuchungen 
von Jaensch!) einwandfrei festgestellt. Dieser Autor fand nämlich in 
seinen im Anschluß an die Untersuchung von Loeb?) über den Fühl- 
raum der Hand erfolgten Experimenten, daß, wenn eine Versuchs- 
person die Aufgabe hat, bei verbundenen Augen eine Strecke zu zeichnen 
und im Anschluß an diese eine gleich große Strecke in derselben Rich- 
tung wiederzugeben, bald Über-, bald Unterschätzungen auftreten, 
daß aber die Zeit, die zur Ausführung der beiden Strecken benötigt 
wird, gleich ist. Daraus schließt Jaensch wohl mit Recht, daß der 
Zeitsinn für. die Versuchsperson maßgebend ist, wenn sie durch aktive 
Bewegungen zwei gleich große Strecken ausführen soll. Hinzu kommt 
noch, daß für die aktiven Bewegungen in den Versuchen Jaensch’ 
die Unterschiedsempfindlichkeit besonders des Ellbogengelenkes in 
Frage kommt. Und diese ist, wie sich aus den Versuchen Erismanns?) 
ergibt, erheblich geringer als die Unterschiedsempfindlichkeit der in 
unserer Versuchsanordnung beteiligten Fingergelenke*). Daß der Zeit- 
sinn auch bei Ausführung passiver Bewegungen eine Rolle spielt, dürften 
die geschilderten Versuche dartun. Infolge der leichten Übbarkeit der 
Unterschiedsempfindlichkeit der Phalangealgelenke wird der Zeitsinn 
auf einer höheren Übungsstufe nicht mehr benötigt, während in den 
Versuchen von Jaensch dies wohl deshalb nicht eintritt, weil das Ell- 
bogengelenk mit seiner hohen Unterschiedsschwelle erheblich schwerer 
auf Übungsreize im Sinne einer Schwellenwertsverminderung anspricht 
als z. B. die Fingergelenke. 

Dafür, daß bei Erwachsenen nur in einem Falle die a-Strecke für 
srößer als die b-Strecke gehalten wird, während dies bei vier jugend- 
liehen Versuchspersonen beobachtet wird, dürften physiologische 
Gründe kaum maßgebend sein. Am wahrscheinlichsten ist es wohl, 
daß unter der Einwirkung erhöhter Aufmerksamkeit die a-Strecke, 
als die zuerst vermittelte, gegenüber der b-Strecke überschätzt wird. 

Die zweite Frage, die mit der beschriebenen Versuchsanordnung be- 
antwortet werden sollte, war: 1. In welchem Größenverhältnis 
steht eine gegebene ‚„taktile“ Strecke zu der von der Ver- 
suchsperson als gleich groß erkannten optischen Strecke? 
2. Hatdie absolute Größe der taktilen Strecke eine besondere 
Bedeutung? 3. Treten durch systematische Wiederholung 
dieser Versuche Übungsphänomene auf? Die Versuche wurden 
insgesamt an 10 Erwachsenen und 7 Kindern durchgeführt. Sie müssen 


1) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 41, 257. 1906. 
2) Arch. f. d. ges. Physiol. 41, 107. 1887. 

2), Arch. f. d. ges. Psychol. 24, 122. 1912. 

*) Gellhorn. Arch. f. d. ges. Physiol. 189, 170. 1921. 


220 E. Gellhorn: 


aber in 3 Gruppen gesondert besprochen werden, weil in den einzelnen 
Gruppen noch verschiedene Sonderfragen einem experimentellen Stu- 
dium unterzogen wurden. 

Zunächst seien die Versuche an den 12— 13jährigen Versuchen 
-G, H,J, K, L,M besprochen. Wesentliche Differenzen zwischen Knaben 
und Mädchen, die etwa im Sinne von psychischen Geschlechtsunter- 
schieden!) gedeutet werden könnten, treten nicht hervor. Es werden 
der Versuchsperson täglich während 9—12 Tagen mit größter Gleich- 
mäßigkeit folgende taktile Strecken gegeben (Größe in mm: 18, 32, 20, 
35 (I), Summe = 105; 50, 41, 56 (II), Summe = 147; 70, 85, 90 (III), 
Summe = 247). Nach jeder einzelnen Strecke werden die Zirkelspitzen 
langsam vor den Augen der Versuchsperson auseinandergezogen, und 
diese gibt an, wann die Spitzen den richtigen Abstand besitzen. Die 
gegebenen Strecken zeigen ein langsames, aber nicht kontinuierliches 
Ansteigen und sind so gewählt, daß die Differenzen zwischen zwei auf- 
einanderfolgenden Strecken nicht mehr 'als 15 mm betragen, damit 
Kontrastwirkungen unterbleiben. In den Kurven sind die Ergebnisse so 
zusammengefaßt, daß die Summe der kleinen (I), der mittelgroßen (II) 
und der großen (III) Strecken für jeden Versuchstag berechnet wird. Es 
fallen dadurch kleine zufällige Schwankungen weniger stark ins Gewicht, 
als wenn jede einzelne Zahl berücksichtigt werden würde. In den Tafeln 
sind die Kurven, die an den einzelnen Versuchstagen als Antwort auf 
die taktilen Strecken erhalten wurden, so bezeichnet, daß die Gerade, 
die die konstante Größe der taktilen Strecken angibt (105 für die kleinen, 
147 für die mittelgroßen, 245 für die großen Strecken), dieselbe Zahl auf- 
weist wie die dazugehörige Kurve. 

Aus der Betrachtung der Kurven ergibt sich folgendes: Am ersten 
Versuchstage werden die kleinen taktilen Strecken von den Versuchs- 
personen G, H und J (Abb. la) überschätzt, von K, L, M (Abk. 1b) 
unterschätzt. Die mittleren Strecken werden von G und H um eine 
Spur überschätzt bzw. richtig geschätzt, bei allen übrigen unterschätzt. 
Die großen Strecken endlich werden von sämtlichen Versuchspersonen 
unterschätzt. Es ergibt sich mithin als ein allen Versuchsper- 
sonen gemeinsames Faktum, daß mit zunehmender Größe 
der taktilen Strecke die Unterschätzung eintritt bzw. zu- 
nimmt. Denn auch diejenigen, die die kleinen Strecken bereits unter- 
schätzen, zeigen eine bedeutende Vergrößerung des relativen und abso- 
luten Fehlers, je größer die gegebene taktile Strecke ist. Verfolgt man 
aber den Verlauf der Kurven, so läßt sich bei G, H, M eine starke, bei 
L eine geringe Änderung in bestimmter Richtung in den Kurven fest- 
stellen, während J und K eine deutliche Tendenz ihrer Kurven trotz 


!) Vgl. darüber Otto Lipmann, Psychische Geschlechtsunterschiede. 
to) P 
Leipzig 1917. 


Untersuchungen zur Physiologie der räumlichen Tastempfindungen usw. I. 221 


nicht unerheblicher Schwankungen vermissen lassen. Nur die mittlere 
Kurve der Versuchsperson J steigt etwas an. 


250 3 & 3 


Abb. 1a, 


3 


7 S b 
1 j 
Vak. ee Vm NDSEN 


Abb. 1b. 


Die nähere Analyse der Kurven der Vp. G, H und M ergibt nun das 
scheinbar paradoxe Resultat, daß, je länger die Versuchsreihe fort- 
geführt wird, je höher also die erreichte Übungsstufe sein müßte, um so 
srößer der Fehler der Versuchspersonen wird. Dabei tritt diese Ab- 
nahme in der Schätzung der gegebenen taktilen Strecken nicht sofort 


222 E. Gellhorn: 


ein, sondern es wird noch ein zweites Stadium beobachtet, das besonders 
bei der Vp. M für kleinere Strecken, bei der Vp. G für kleine und mittel- 
große Strecken nachweisbar ist. In diesem Stadium, das bei der Vp. G 
für die genannten Streckengrößen den Übergang aus der Über- in die 
Unterschätzung bildet, während bei der Vp. M die geringe Unterschät- 
zung beseitigt wird und erst später einer mit jedem Versuchstage wach- 
senden Unterschätzung weicht, werden von den Versuchspersonen die 
bezeichneten Strecken annähernd richtig geschätzt. Auf die Erklärung 
dieser interessanten Wirkung der systematischen Wiederholung des 
Versuches soll erst nach Besprechung der übrigen Versuchsgruppen ein- 
gegangen werden. 

Während der erste Teil des täglich ausgeführten Versuches, wie ge- 
schildert, ausdrücklich die Aufeinanderfolge von an Größe stark diffe- 
renten Reizstrecken vermeidet, wurden im zweiten Teile dieselben 
Strecken derart der Versuchsperson dargeboten, daß auf eine sehr kleine 
Strecke eine möglichst große folgte und umgekehrt. Es sollte dadurch 
entschieden werden, ob eine Beeinflussung der Schätzung der taktilen 
Strecken durch Kontrast stattfindet. Die Versuche hatten sämtlich 
ein negatives Ergebnis. Denn es wurden weder die kleinen Strecken 
kleiner noch die großen Strecken größer geschätzt, wenn an Größe stark 
differente taktile Strecken aufeinander folgten. Vielmehr stimmen die 
in den Kontrastversuchen erhaltenen Zahlen mit den Resultaten gut 
überein, die die gleich großen Reizstrecken bei absichtlicher Vermeidung 
von Kontrastwirkungen an demselben Versuchstage ergeben hatten. 

Bei der zweiten Versuchsgruppe, die die Vp. N, O, P, Q, R (Abb. 2) 
umfaßt, waren bei völlig gleicher Versuchsanordnung die dargebotenen 
Strecken 30, 35, 40; 90, 95, 100; 90, 85, 80; 30, 25, 20. Die kleinen 
Strecken (20—40 mm) ergeben als Summe 180 mm, die großen (80 bis 
100 mm) ergeben 540 mm. Die hierzugehörigen Summen der von der 
Versuchsperson gleich groß geschätzten optischen Strecken sind in 
Abb. 2 in analoger Weise wiedergegeben. Die Versuchspersonen sind 
. sämtlich Erwachsene im Alter von 19—30 Jahren, Vp. Q@ ist weiblichen 
Geschlechts. In dieser Versuchsreihe ist der Gegensatz zwischen der 
Schätzung der kleinen und der großen taktilen Strecken noch eklatanter 
als in den an Kindern durchgeführten Versuchen. Denn von 5 Versuchs- 
personen über schätzten 4 die kleinen Streckenerheblich, während alle 
Versuchspersonen die großen Strecken unterschätzen. Das bereits in 
der ersten Versuchsreihe festgestellte Ergebnis, daß mit zunehmender 
Zahl der Versuchstage die Unterschätzung wächst und außerdem der 
Fehler, der hierdurch entsteht, bei den großen Strecken um ein Vie!- 
faches höher ist als bei den kleinen, wird an diesen Versuchspersonen 
völlig bestätigt. Was die Schätzung der kleinen Strecken anlangt, so 
zeigt sich eine Abnahme der Fehlergröße innerhalb einiger Versuchs- 


Untersuchungen zur Physiologie der räumlichen Tastempfindungen usw. I. 223° 


tage bei einigen Versuchspersonen nicht nur dadurch, daß bei kleinen 
Strecken in dem Übergang aus der Überschätzung in die Unterschätzung 
eine Zone entsteht, in der die Schätzung der Strecke eine ziemlich 
richtige ist, sondern diese kommt auch dann zur Beobachtung, wenn 
der anfangs ziemlich starken Überschätzung eine nur ganz geringe 
Unterschätzung (vgl. Vp. N) folgt. Man kann deshalb sagen, daß zwar 
in Übereinstimmung mit den an Kindern ausgeführten Versuchen auch 
an den kleinen Strecken sich im Laufe der Versuche eine Unterschätzung 
entwickelt!). Es wird aber hier- 560 
durch im allgemeinen der Fehler 
nicht verstärkt, sondern vermin- 370 
dert, während bei den großen 
Strecken der entgegengesetzte 
Erfolg eintritt. 500 
Die dritte Gruppe von Versu- 
chen wurde an den Vp. A,B,C,D, 2 
E, F (Abb. 3a—f), die bis auf 


520 


460 k- B: 
4 2, 
260 : 1 
240 i 400 


Zum, \ 720 
200% Ä 360 
340 
320 
300 


280 


260 
Abb. 2. 


eine Versuchsperson Erwachsene im Alter von 20-35 Jahren sind, 
durchgeführt. Die Vp. C und E sind weiblichen, die Vp- N, BD 
sind männlichen Geschlechts. Vp. F ist ein 12jähriges Mädchen. 
Die erste Hälfte der an jedem Versuchstag ausgeführten Versuche 
enthält wiederum kleine (18, 32, 20, 35 mm; Summe — 105), mitt- 
lere (50, 40, 55, 43 mm; Summe —= 188 mm) und große (75, 85, 


E ) Daß dies bei der Vp. Q nicht beobachtet wird, dürfte wohl durch den aus 
äußeren Gründen erfolgten vorzeitigen Abbruch der Versuche verursacht sein. 


224 E. Gellhorn: 


[#7 


90, 832 mm; Summe = 332 mm) Strecken, die von den Versuchsper- 
sonen mittels der Bewegungsempfindungen des Daumens und Zeige- 


300 


480 


Abb. 3a. Vp. A. Abb. 3b. Vp.-B. Abb. 3c. Vp. C. 


fingers wahrgenommen werden. Die Versuchspersonen haben wieder- 
um die Aufgabe, die gleich großen optischen Strecken anzugeben, wenn 
der Versuchsleiter die Spitzen des Ästhesiometers auseinanderzieht. 


Untersuchungen zur Physiologie der räumlichen Tastempfindungen usw. 225 


Der zweite Teil des Versuches besteht in der genau umgekehrten An- 
ordnung. Die zuerst „taktil‘“ dargebotenen Strecken werden jetzt der 
Versuchsperson als optische Strecken gezeigt, während die Versuchs- 


400 


halbes 


Abb. dd. Vp.D. Abb. 3e. Vp.E. Abb. 3f. Vp.F. Abb. 3£. Vp. + 


40 280 


person bei abgewandtem Blick hiernach bezeichnen muß, wann die 
Ästhesiometerspitzen, die vom Versuchsleiter gleichmäßig voneinander 
entfernt werden, nach Maßgabe der Bewegungsempfindungen der Pha- 
langen die gleiche Distanz besitzen wie bei der zuvor erfolgten optischen 
Darbietung. 

Über den ersten Teil der Versuche (diese Kurven tragen arabische, 
die des zweiten Teiles römische Ziffern) können wir uns kurz fassen. 
Er entspricht auch in seinen Ergebnissen den bereits geschilderten 


2236 E. Gellhorn: 


Versuchen und zeigt, wie mit steigender Größe der taktilen Strecke ihre 
Unterschätzung bei Übertragung dieser Empfindung in die entspre- 
chende optische Vorstellung wächst. Im Laufe des Versuches tritt 
nur bei einem Teil der Versuchspersonen die oben geschilderte Zunahme 
der Unterschätzung deutlich zutage (z. B. bei Vp. D). Dies kann 
mit der gegenüber den bereits beschriebenen Versuchen verkürzten 
Versuchsdauer zusammenhängen. Dann aber darf auch nicht über- 
sehen werden, daß dieses scheinbare paradoxe Übungsphänomen nicht 
bei allen Versuchspersonen auftritt. Nicht unerwähnt mag noch die 
sonst niemals in nennenswertem Maße beobachtete Zunahme der ange- 
gebenen Streckengrößen im Verlaufe der Versuchsreihe bei der Vp. F 
bleiben. Diese Verminderung der Unterschätzung besteht in geringem 
Grade für die mittleren, in höherem Maße für die großen Strecken, 
während die Kurve der kleinen Strecken keine aufsteigende Tendenz 
zeigt. Dennoch bleibt auch in diesem Versuch eine sehr bedeutende 
Unterschätzung bestehen und ihre Verminderung im Laufe der Ver- 
suchstage ist wohl dadurch zu erklären, daß die an den beiden ersten 
Tagen erhaltenen Werte abnorm niedrig waren und in geringem Grade 
von der Versuchsperson ausgeglichen werden konnten. 

Wird nun der Versuch umgekehrt, indem der Versuchsperson die 
Aufgabe gestellt wird, eine gegebene Sehstrecke in eine gleich große 
taktile Strecke zu übersetzen, so sollte man von vornherein annehmen, 
daß, wie bei der ersten Anordnung mit steigender Größe der Reizlinie 
die Unterschätzung wächst, so hier eine entsprechende Überschätzung 
stattfindet. Dies wird aber nur bei einem Teil der Versuchspersonen 
beobachtet. Übereinstimmend mit der subjektiven Angabe, daß die 
Aufgabe in dieser Form wesentlich leichter sei, als wenn die taktile 
Strecke gegeben wird, werden nämlich von einem Teil der Versuchsper- 
sonen an dem ersten oder den beiden ersten Versuchstagen die Sehstrecken 
annähernd richtig geschätzt (vgl. Vp. A, B, C). Eine Unterschätzung 
der Sehstrecke wird nur bei einer Versuchsperson (Vp. D) beobachtet. 
Das erwartete, gegenüber den Ergebnissen der ersten Versuchsanord- 
nung reziproke Verhalten (steigende Überschätzen mit zunehmender 
Größe der Reizlinie) zeigt in ganz ausgesprochenem Maße die Vp. F, 
während eine etwa gleichmäßiges Überschätzen aller Reizlinien, ohne 
daß ihrer Größe eine spezifische Bedeutung zukäme, bei der Vp. E 
stattfindet. 

Betrachten wir aber, in welcher Weise in diesen Versuchen die 
tägliche Wiederholung desselben Versuches sich geltend macht, so 
finden wir bei einem Teil der Versuchspersonen zwar ÖOszillationen 
der Kurven, aber keine ausgesprochene Richtung. Hierher gehören die 
Versuchspersonen A, C, E. Bei den übrigen Vp. B, D, F findet sich 
eine starke ansteigende Tendenz in den Kurven. Bei der Vp. D, bei 


Untersuchungen zur Physiologie der räumlichen Tastempfindungen usw. I. 227 


der der Versuch nur an drei Versuchstagen vorgenommen werden konnte, 
entsteht zwar hierdurch noch keine wesentliche Überschätzung; nur 
die kleinen Reizstrecken werden deutlich überschätzt. Es liegt dies 
aber daran, daß Vp. D als einzige die mittleren und großen Strecken 
auch bei optischer Darbietung derselben zuerst unterschätzt. Bei den 
Vp. B und F entwickelt sich aber im Laufe der Versuchsreihe eine zu- 
nehmende Überschätzung der Größe — sie beträgt bei Vp. F zum Teil 
über 100%, bei Vp. B etwa 80% —, die den hochgradigen Unter- 
schätzungen, wie sie z. B. bei den Vp. G und H bei der ersten Versuchs- 
anordnung beobachtet wird, an die Seite gestellt werden kann. 

Die Tatsache, daß die häufige Ausführung der gleichen Versuche 
bei der ersten Versuchsanordnung in der eine Übertragung einer durch 
kinästhetische Empfindungen wahrgenommenen Strecke in die gleich- 
große Sehstrecke gefordert wird, bei einem Teil der Versuchspersonen 
zu einer hochgradigen Unterschätzung der Reizstrecken führt, während 
andere Versuchspersonen, die an den ersten beiden Versuchstagen in 
der Art ihrer Schätzung sich von den übrigen Versuchspersonen nicht 
unterscheiden, eine irgendwie wesentliche Änderung des ursprünglichen 
Fehlers vermissen lassen, der Umstand ferner, daß bei der umgekehrten 
Versuchsanordnung bei einigen Versuchspersonen durch die Wieder- 
holungsversuche das entgegengesetzte Phänomen (mit der Zahl der 
Versuchstage zunehmende Überschätzung) auftritt, erfordert eine 
gemeinsame Erklärung. Um Übungsphänomene kann es sich nicht 
handeln, denn es entspricht dem Wesen der Übung, sich in einer Besse- 
rung der Leistungsfähigkeit, sei es qualitativer oder quantitativer Natur 
zu äußern. Hier findet aber eine zunehmende Verschlechterung statt. 
Übungsphänomene können aber bei diesen Versuchen auch deshalb 
nicht in höherem Maße erwartet werden, weil trotz wachsender Unter- 
schiedsempfindlichkeit für taktile und Sehstrecken, deren Eintreten 
nach den Versuchen der vorigen Mitteilung angenommen werden muß, 
der Versuchsperson verboten ist, ihr Urteil durch die Erfahrung zu ver- 
bessern. Gestattet man einer Versuchsperson, sich einige Male von der 
„wahren“ Größe einer taktilen Strecke zu überzeugen, d. h. zu sehen, 
welcher optischen Strecke eine taktile Strecke entspricht, so hat dies 
sofort eine Beseitigung der Unterschätzung zur Folge und es ist an- 
"zunehmen, daß von Neuem sich eine Unterschätzung kaum entwickeln 
wird. Da aber bei dem in allen Versuchen angewandten streng un- 
wissentlichen Verfahren keine Erfahrung über das wirkliche Verhältnis 
von taktilen zu optischen Strecken erworben werden kann, so sind die 
Versuchspersonen der in der Versuchsanordnung liegenden Suggestions- 
wirkung besonders stark ausgesetzt. 

Die Suggestionswirkung dürfte aber wohl dadurch zustande kommen, 
daß die Versuchsperson infolge ihres von vornherein bestehenden fal- 


228 E. Gellhormn: 


schen Schätzungsvermögens den Eindruck erhält, als wüchsen die Reiz- 
strecken zwar, aber doch so, daß der Längenzuwachs immer geringer 
würde. Dieser Eindruck, der bei der ersten Versuchsanordnung täglich 
von Neuem entsteht — bei der zweiten Versuchsanordnung bildet sich 
natürlich die entgegengesetzte Vorstellung von dem immer stärker 
werdenden Wachsen der Reizstrecken — wird durch die gleichsinnigen 
Erinnerungen an die Reihenfolge der Reizstrecken an den vergangenen 
Versuchstagen immer mehr verstärkt und führt auf diese Weise die oft 
so paradoxen Ergebnisse herbei. 

Mit dieser Theorie stimmt überein, daß die Suggestionswirkung, bei 
Kindern stärker ist als bei Erwachsenen, ferner, daß im Zustande der 
Ermüdung, in der die Erinnerung an die Aufeinanderfolge der Reiz- 
strecken an den vorhergehenden Versuchstagen geschwächt ist, die 
Unterschätzung bei der ersten bzw. die Überschätzung bei der zweiten 
Versuchsanordnung wesentlich vermindert ist. Auf diese Weise läßt 
sich das paradoxe Resultat erklären, daß die Schätzung im ermüdeten 
Zustande wesentlich besser ausfällt, als bei geistiger Frische. 

Es sei noch hinzugefügt, daß die Suggestibilität, die in dem Verlaufe 
der Kurven zum Ausdruck kommt, mit der Charakterologie der Ver- 
suchspersonen in gutem Einklang steht. 

Weshalb aber von einem Teil der Versuchspersonen nur die erste, 
bei den anderen nur die zweite Versuchsanordnung den im Sinne einer 
Suggestionswirkung gedeuteten Erfolgzeigt, konntenichtermittelt werden. 


II. Die Wirkung der Übung auf den Ortssinn. 


Von den zahlreichen Methoden, die uns zur Untersuchung des Orts- 
sinnes der Haut zur Verfügung stehen!), wird zu den folgenden Ver- 
suchen die von E. H. Weber?) angegebene verwendet, die darin besteht, 
daß ein von dem Versuchsleiter bei geschlossenen Augen der Versuchs- 
person mit einer Spitze berührter Hautpunkt von dieser mit einem 
gleichen Instrument ohne Zuhilfenahme des Gesichtssinnes wieder- 
gefunden werden soll. Ferner wurde noch eine weitere von A. W. Volk- 
mann?) erfundene Methode benutzt, die in der Weise angewandt wird, 
daß ein bei geschlossenen Augen der Versuchsperson berührter Hautpunkt 
von dieser mit Hilfe des Gesichtssinnes wieder gezeigt werden soll, ohne 
daß die Versuchsperson die Haut berühren darf. Es wird also bei der ersten 
Methode das Tastgefühl zu dem richtigen Punkt führen. Bei der visuellen 
Methode Volkmanns werden hingegen die Beziehungen, die zwischen 
optischen Vorstellungen und taktilen Empfindungen bestehen, geprüft. 
Mit diesen Methoden sollten folgende Fragen beantwortet werden: 

1) Vgl. Viktor Henri, Über die Raumwahrnehmungen des Tastsinnes. 
Berlin 1898. 


2) Berichte der sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, S. 85—164. 1852. 
3) In Wagners Handwörterbuch der Physiologie, S. 570. 1844. 


Untersuchungen zur Physiologie der räumlichen Tastempfindungen usw. I. 229 


1. Mit welcher der beiden Methoden ist eine genauere Lokalisation 
möglich? Besteht ein Zusammenhang zwischen der Leistungsfähigkeit 
der Versuchsperson in der visuellen Methode mit dem Vorstellungstyp, 
den die betreffende Versuchsperson repräsentiert? Es wäre nämlich 
denkbar, daß gerade stark visuell veranlagte Menschen mit der Volk- 
mannschen Methode besonders gute Resultate erzielen, und daß Per- 
sonen, die mehr zu den akustisch-motorischen Vorstellungstypen!) ge- 
hören, der taktilen Methode E. H. Webers den Vorzug geben. 

2. Wie ändert sich das Lokalisationsvermögen unter dem Einflusse 
der Übung? 

3. Ist auch für den Ortssinn eine Mitübung nicht direkt geübter Haut- 
stellen nachweisbar, wie dies Volkmann?) bereits für den Raumsinn 
der Haut nachgewiesen hat? 

Eine Reihe von Versuchen wurde ohne besonderes Instrumentarium 
durchgeführt, indem ein Punkt der Haut mit der Kuppe einer Steck- 
nadel, die auf einem Holzgriff befestigt war, berührt und von der Ver- 
suchsperson mit einem gleichartigen Instrument lokalisiert werden muß, 
In diesen Versuchen wird ein ziemlich starker Druck ausgeübt, aber 
dennoch stets vermieden, daß eine Delle zurückbleibt, die der Versuchs- 
person das Auffinden erleichtern könnte. 

Die an 10 Kindern (12—13 Jahre alt) an der Volarfläche des distalen 
Drittels des Unterarms während 10—15 Tagen ausgeführten Versuche 
hatten bezüglich einer Übungswirkung ein völlig negatives Resultat. 
An einigen Versuchspersonen wird zwar innerhalb der ersten 3—4 Tage 
eine geringe Abnahme der Fehlerzahl festgestellt, diese ist jedoch nie- 
mals konstant. Es war nun möglich, daß der Mißerfolg dieser Versuchsreihe 
entweder an der ungenügenden Aufmerksamkeit der Versuchspersonen 
lag, deren Interesse an den Versuchen infolge der häufigen Wiederholung 
erlahmte, oder daß die gewählte Hautstelle, deren Ortssinn ja im prakti- 
schen Leben nicht geübt wird, nursehrlangsam auf Übungsreize anspricht. 
Deshalb wurden die übrigen Versuche stets an Erwachsenen ausgeführt, 
die mit großer Aufmerksamkeit sich den Versuchen unterzogen. 

Die erste Versuchsreihe enthält die Versuche mit den Vp. K, Sch, 
(Männer) und R, Pi, Ba (Frauen) (Abb. 4a—e). In sämtlichen Ver- 
suchen kommt zuerst die Volkmannsche Methode (kurz als ‚‚visuelle‘“ 
Methode bezeichnet) und im Anschluß hieran das W ebersche Verfahren 
(‚„‚taktiles“ Verfahren genannt) zur Anwendung. An jedem der 14 Ver- 
suchstage werden 20 Hautpunkte berührt, und zwar zur Hälfte mit 
der visuellen, zur Hälfte mit der taktilen Methode lokalisiert. Die 
Punkte liegen voneinander 5 Millimeter entfernt und werden mittels 


1) Vgl. Pfeiffer, Über Vorstellungstypen, 1907, sowie die Lehrbücher der 
Psychologie z. B. Froebes, Bd. I, S. 530ff. Freiburg 1917. 
2) Bericht der Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften 10, 38. 1858. 


Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 189. 16 


230 E. Gellhorn : 


eines Straminnetzes auf die Haut aufgetragen (10 Querreihen zu je 
8 Punkten). Die Querreihen erhalten die Buchstaben A—J, die 
Längsreihen die Zahlen 1—8. Das Verfahren ist streng unwissent- 
lich. Täglich werden dieselben Punkte berührt. Doch kann auch 


220 
200 
780 
760 


740 


A A 


Abb. 4a. - Abb. 4b. 
Abb. 4a—e. Die Kurven geben die Fehlerzahl bei den Versuchen über den Ortssinn in mm an. 
(Angezogene Linie: Taktile Methode; gestrichelte Kurve: Visuelle Methode.) A. Übungsver- 
suche aus der Volarfläche im distalen Drittel des 1. Unterarms 3.—12. Versuchstag. a bis d: Ver- 
suche über Mitübung. 
a Ortssinn der r. Hohlhand vor der Übung des Ortssinnes am Unterarm ( 1. Versuchstag). 


b H NH r nralcıhwer, En 6. 3 1 5 (13. Versuchstag). 
c ha des „ Handrückens vor MD 55 5 5 Ss 4 ( 2. Versuchstag). 
d i ee 5 nach „ ce = i£ “4 in (14. Versuchstag). 
Abb. 4a Kurve der Versuchsperson K 

„ 4b en 5 = = Sch 

„ 4 c er} „ &>) „ E 

&2) 4 d ei) E>) er) E>} Pi 

” 4 e „ &) Er} £2] Ba 


bei der visuellen Methode nicht das Gedächtnis der Versuchsperson 
zu Hilfe kommen, da sie über ihre Fehler nicht belehrt wird und somit 
nicht weiß, ob die gezeigten Punkte die richtigen sind oder nicht. Um 
eine etwa auftretende Mitübung an nicht direkt geübten Hautstellen 
zu studieren, werden, wie aus den Kurven hervorgeht, am ersten 
Versuchstage auf der Hohlhand, am zweiten auf dem Handrücken 
Versuche über den Ortssinn angestellt, und diese je einmal 10 Tage 
später wiederholt, nachdem an den dazwischenliegenden Tagen regel- 
mäßig auf dem distalen Drittel der Volarfläche des Unterarms Lokali- 
sationsversuche durchgeführt worden waren. 


Untersuchungen zur Physiologie der räumlichen Tastempfindungen usw. I. 231 


Was zunächst die Wirkung der direkten Übungsversuche auf die 
Schärfe des Ortssinnes am Unterarm anlangt, so seien zuerst an der 
Hand der Abb. 4a-4e, in denen die Summe der Fehler in Millimetern 


Abb. & cc. Abb. 4d. 


für jede Methode und jeden Versuchstag angegeben ist, die Ergebnisse 
besprochen, die wir mit der taktilen Methode erzielten. Dabei zeigt 
sich, daß die Vp. K, E, Pi, Ba eine mit mehr oder minder großen Schwan- 
kungen ausgestattete Kurvenform 220 
aufweisen, dagegen eine solche der 
Abnahme der Fehlergröße nicht 
erkennen lassen. Amerstenkönnte 399 
man dies noch von der Kurve der 

Vp.E behaupten, da hier an meh- 7%0 
reren Versuchstagen erheblich bes- 
sere Werte erhalten wurden als zu 
Beginn der Versuche. Eine deut- 720 
liche Übungswirkung zeigt dieVp. _’ 
Sch, denn hier fällt die Fehlergröße 
von 50 bis unter 20mm. Betrachtet 
man nun die Wirkung der Übung des Ortssinnes am Unterarm auf nicht 
geübte Hautstellen, so folgt aus dem Vergleich der Fehlerzahl, die die 
Versuche vor und nach der Übung des Lokalisationsvermögens am 
Unterarm ergeben hatten, daß bei der Vp. Sch Hohlhand und Hand- 
rücken eine bedeutende Abnahme der Fehlerzahl durch Mitübung 


162 


Abb. 4e. Vp. K. 


232 E. Gellhorn: 


zeigen. Die Vp. K und E weisen eine derartige Mitübung für den Hand- 
rücken, die Vp. Pi für die Hohlhand auf. Besonders interessant ist diese 
starke Besserung der Fehlerzahl am Handrücken der Vp. K, da eine 
direkte Übungswirkung am Unterarm nicht zustande gekommen ist. 
Man sieht hieraus, daß eine Besserung des Ortssinnes durch 
Mitübungauchdannbewirkt werdenkann, wenndie Übungs- 
versuche am Reizorte erfolglos geblieben waren. Nur muß 
die Hautstelle auf die sich die Mitübung erstrecken soll, 
einenfeineren Ortssinn besitzen, alsdiedirektegeübte Haut- 
stelle. 

Die nach der visuellen Methode ausgeführten Versuche zeigen bei 
‘ den Versuchspersonen E und K eine bedeutend höhere Fehlerzahl, als 
bei den Versuchen mit dem Weberschen Verfahren festgestellt werden 
konnte. Die übrigen Versuchspersonen zeigen hinsichtlich der Fehler- 
zahl keine wesentlichen Differenzen zwischen beiden Methoden. Eine 
sehr starke Abnahme der Fehlerzahl im Laufe des Versuches zeigen die 
Vp. E, Pi. Auch in den Kurven der Vp. K und Sch kommt eine deut- 
liche Übungswirkung zum Ausdruck, nur die letzten Versuchstage 
zeigen wieder ein Ansteigen der Fehlerzahl, das bei K an einem Tage 
so erheblich ist, daß selbst die ursprüngliche Fehlerzahl beträchtlich 
überschritten wird. Derartige Schwankungen, die zwar die Form der 
Übungskurve sehr stören, werden sich aber bei vielen Versuchspersonen 
niemals vermeiden lassen. Sie sind der Ausdruck einer veränderten 
psychischen Konstellation, sofern auf möglichst genaue Einhaltung 
gleichmäßiger äußerer Bedingungen geachtet wird, wie dies in unseren 
Versuchen stets geschah, und dürfen uns deshalb nicht hindern, den- 
noch von einer Übungskurve zu sprechen. Die Versuchsperson Ba 
zeigt nur eine geringe Übungswirkung und auch in diesen Versuchen wird 
eine bedeutende Mitübung erzeugt. Denn aus den Abbildungen geht 
hervor, daß der Ortssinn der Vp. K, E und Sch für die Hohlhand und 
den Handrücken bedeutend verfeinert wird, während die Mitübung 
sich bei der Vp. Pi auf den Handrücken, bei der Vp. Ba auf die Hohl- 
hand erstreckt. 

Acht Tage nach Beendigung der Versuche wird der gleiche Versuch 
einmal zur Feststellung der Größe der Übungsfestigkeit wiederholt. 
Er ergibt, daß nur die Vp. E einen Übungsverlust aufweist. Dieser 
scheint nicht allein ein vollständiger zu sein, sondern die Fehlerzahl ist 
in dem Versuch mit der taktilen Methode noch größer, als sie sonst je 
bei dieser Versuchsperson beobachtet wurde. Dies gibt uns einen 
sicheren Hinweis darauf, daß die Versuchsperson an diesem Tage (aus 
unbekannten Gründen) indisponiert war, und berechtigt deshalb nicht 
von einem Übungsverlust zu sprechen. Die übrigen Versuchspersonen 
zeigen nicht allein keinen Übungsverlust, sondern sogar zum Teil eine 


Untersuchungen zur Physiologie der räumlichen Tastempfindungen usw. I. 233 


nicht unerhebliche Zunahme in der Genauigkeit der Lokalisation. So wird 
also auch für den Ortssinn nachgewiesen, daß die Übungsfestigkeit im 
allgemeinen sehr groß ist. Weitere Versuche sollen hierüber noch folgen. 


Abb. 5a. Abb. 5b. Abb. 5c. 


Abb. 5a—d. Die Kurven geben die Fehlerzahl bei den Versuchen über den Ortssinn in mm an, 
(angezogene Linie: Taktile Methode; gestrichelte Kurve: Visuelle Methode). A. Übungsver- 
suche auf dem linken Handrücken (1., 4. bis 9. Versuchstag). a—d. Versuche über Mitübung. 
a Ortssinn d.reehten Handrückens vor d. Übung d. Ortssinnes a. I. Handrücken ( 2.Vers.-Tag). 


De R N d Anarchie R »» 5.»  (0.Vers.-Tag). 
[0 * „linken Hohlhand VIOLE ER 35 ss Fi » ( 3.Vers.-Tag). 
d Pe „linken » nach „ re: 5 ” „  (11.Vers.-Tag). 
Abb. 5a Kurve der Versuchsperson R 
„ 5b ” » ER) Schu 
Eh) 5 c „ „ EL} H 
Ei) 5 d E+} ei) b+} T 


In einer zweiten Versuchsreihe, die 
mit den Vp. R, Schu (weiblichen Ge- 
schlechts) und H und T (männlichen 
Geschlechts) (vgl. Abb. 5a—d) vorge- 
nommen wurde, dient zur Reizung eines 
Hautpunktes der von von Frey und 
Brückner!) angegebene elektromagne- 
tische Reizhebel. Dieser gestattet es, 
die verschiedenen Punkte der Haut mit 
stets gleicher Intensität und gleicher 
Zeitdauer zu berühren und so dieäußeren 
Versuchsbedingungen noch gleichmä- 
Biger zu gestalten. Mit Rücksicht darauf, 
daß auch in den an den Erwachsenen 
der vorigen Versuchsreihe durchgeführ- 
ten Experimenten die Übungsfähigkeit 
des Ortssinnes am Unterarm eine ge- 
ringe war, wird in diesen Versuchen der 
linke Handrücken für die 7— 10 Tage hindurch stattfindenden Übungsver- 
suche gewählt und auch hier wird durch Feststellung des Lokalisations- 


!) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. %6, 33. 1901. 


Abb. 5d. 


234 FE. Gellhom: 


vermögens am rechten Handrücken und in der linken Hohlhand die 
indirekte Wirkung der Übung, die man Mitübung nennt, untersucht. 
Im übrigen ist die Versuchsanordnung vollkommen gleich. Bemerkens- 
wert ist nun, daß bei Verwendung schwacher Druckreize, die jedoch 
deutlich oberhalb der Schwelle gelegen sind, diese an bestimmten Punk- 
ten der Haut nicht genügend wahrgenommen werden, um eine Be- 
zeichnung des gereizten Punktes zu ermöglichen. Daß es sich dabei 
nicht etwa um Aufmerksamkeitsschwankungen der Versuchsperson 
handelt, geht daraus hervor, daß diese Punkte während der ganzen 
Versuchsreihe stets dieselben bleiben. In methodischer Hinsicht 
erscheint es wichtig, bei den Versuchen zur Bestimmung 
der Feinheit des Ortssinnes die Berührung von Temperatur- 
punkten zu vermeiden, da an diesen die Lokalisation bei einzelnen 
Versuchspersonen ungleich ist !). 

Ausden Kurven der Versuchsperson ergibt sich nun, daß mit Ausnahme 
der Vp. Hin dieser Versuchsreihe von sämtlichen Versuchspersonen mehr 
Lokalisationsfehler mit der visuellen Methode gemacht werden, als mit dem 
taktilen Verfahren. In merkwürdigem Gegensatz hierzu steht die Angabe 
der Versuchspersonen, daß die mit der Volkmannschen Methode ge- 
stellten Aufgaben die leichteren seien. Nur die Vp.T, bei der der Unter- 
schied in der Feinheit des Ortssinnes zwischen den beiden Methoden 
besonders groß ist, hält dieW e ber sche Methode in Übereinstimmungmit 
den eigenen objektiven Leistungen für die leichtere. Bei allen Versuchs- 
personen findet sich nun in den Versuchen mit der taktilen Methode 
eine Abnahme der Fehlerzahl, besonders stark bei den Vp. R und T. 

Der gleichmäßige Fortschritt der ersten Versuchstage wird bei Vp. 
Schu durch die hohe Fehlerzahl der Versuche der beiden letzten Ver- 
suchstage plötzlich gehemmt. Doch liegen bei der zweifellos neurasthe- 
nischen Versuchsperson die Ursachen hierfür in ihrer mangelhaften 
Konzentration. Bei der Vp. H zeigt die Kurve ebenfalls große Schwan- 
kungen; ein mäßiger Übungsfortschritt ist aber nicht zu verkennen. In 
den Versuchen mitder Volkmannschen Methode ist eine starke Übungs- 
wirkung nur bei der Vp. H feststellbar; die Übungswirkung in der Kurve 
der Vp. R ist nicht so konstant und umfangreich, wie in den Versuchen 
derselben Vp. mit der Weberschen Methode. Bei den Vp. Schu und T 
fehlt endlich jede Abnahme der Fehlerzahl in den Versuchen mit dem 
visuellen Verfahren. 

Gemeinsam ist also in beiden Versuchsgruppen das Ergebnis, daß die 
visuelle Lokalisation bei der Mehrzahl der Versuchspersonen weniger 
fein ist, als die taktile, daß die Übung zwar ebenfalls bei einem Teil der 
Versuchspersonen zu einer Verfeinerung des Ortssinnes führt, die visuelle 


!) Das Studium des Ortssinnes an den Temperaturpunkten sei einer weiteren 
Untersuchung vorbehalten. 


Untersuchungen zur Physiologie der räumlichen Tastempfindungen usw. I. 235 


Lokalisation dennoch aber ungenauer als die taktile bleibt. Die Tat- 
sache, daß die Vp. H und Sch mit der visuellen Methode ebenso gute 
Resultate haben, wie mit der taktilen, ließ daran denken, daß wir es hier 
mit einem ausgesprochenen visuellen Menschentypus zu tun haben, 
während die übrigen Versuchspersonen, wie ja überhaupt die meisten 
Erwachsenen vorwiegend akustisch-motorisch veranlagt sind. Einige 
Versuche, in denen die Zeit für das Buchstabieren eines schwierigen 
Wortes vor- und rückwärts ermittelt wurde, ergeben nun entsprechend 
der Angabe der Vp. H, daß sie das Wort beim Rückwärtsbuchstabieren 
innerlich spreche und sich auch den Klang der einzelnen Silben vorstelle, 
eine bedeutende Verlangsamung des Rückwärtsbuchstabierens auf mehr 
als die dreifache Zeit, Werte, die auch an anderen akustisch-motorischen 
Vorstellungstypen beim Vergleich mit der für das gewöhnliche Buch- 
stabieren gebrauchten Zeit erhalten wurden. Für die auffallende Fein- 
heit der visuellen Lokalisation der Versuchsperson H ist also nicht etwa 
eine besonders ausgeprägte visuelle Veranlagung verantwortlich zu 
machen und umgekehrt scheint gerade die Vp.T, die in den Versuchen 
mit der Volkmannschen Methode keinen Übungsfortschritt zeigt, zu 
den visuellen Vorstellungstypsn zu gehören. 

Auch in diesen Versuchen ist eine deutliche Mitübung zu erkennen. 
So besonders am rechten Handrücken bei Vp. R und am rechten Hand- 
rücken und der rechten Hohlhand bei Vp. Tin beiden Methoden. Auch 
hier ist wiederum hervorzuheben, daß es einer direkten Übungswirkung 
gar nicht bedarf, um eine Mitübung zu bewerkstelligen. Denn die mit 
der visuellen Methode erhaltene Kurve der Vp. T zeigt keine Abnahme 
der Fehlerzahl im Verlaufe der Übungsversuche am linken Hand- 
rücken. Dennoch ist für den rechten Handrücken, an dem bei Rechts- 
händern der Ortssinn feiner zu sein scheint, und besonders für die Hohl- 
hand eine sehr starke Mitübung zu erkennen. 


Ergebnisse. 


Nimmt eineVersuchsperson mittelsihrer Bewegungsempfindungen eine 
bestimmte Strecke wahr, und wird sie aufgefordert, die nach ihrer Empfin- 
dung gleichgroße optische Strecke anzugeben, so hat die Schnelligkeit, mit 
der die Glieder der Versuchsperson bewegt werden, einen Einfluß auf die 
Größe der Schätzung insofern, als bei Erwachsenen durch Unterstützung 
der Schätzung mittels des Zeitsinnes die langsam dargebotene gegen- 
über der gleichgroßen aber schnell dargebotenen Strecke überschätzt wird. 
Bei Kindern findet man nicht selten auch das umgekehrte Ergebnis, 
vermutlich deshalb, weil auf die zuerst gezeigte ‚schnelle‘ Strecke die Auf- 
merksamkeit besonders stark konzentriert ist. Unter dem Einflusse der 
Übung schwindet jedoch durch die wachsende Feinheit der Größen- 
schätzung mittels der Bewegungsempfindungen diese Täuschung. 


236 E. Gellhorn: 


Versuche, bei denen Strecken verschiedener Größe mit gleichmäßiger 
Geschwindigkeit dargeboten werden, ergeben, daß ‚„taktile‘“ Strecken 
mit zunehmender Größe um so stärker unterschätzt werden. Dabei fällt 
die Schätzung im allgemeinen richtiger aus, wenn zu einer Sehstrecke 
die entsprechende ‚‚Taststrecke‘‘ angegeben werden soll, als umgekehrt. 

Bei häufiger Wiederholung des Versuches kommt es bei einem Teil 
der Versuchspersonen zu einer Vergrößerung des Fehlers, der auf Sug- 
gestionswirkung zu beruhen scheint. 

In einer Reihe von Versuchen über den Ortssinn wird nachgewiesen, 
daß die optische Vorstellung eines bestimmten Hautpunktes (Volkmann- 
sche Methode) im allgemeinen weniger fein ist als die Tastlokalisation 
(Webersches Verfahren). Mit beiden Methoden kommt eine erhebliche 

- Verfeinerung des Ortssinnes durch Übung zustande, die ebenfalls eine 
große Übungsfestigkeit aufweist. Ferner wird eine Mitübung auf homo- 
loge und heterologe Hautstellen nachgewiesen. 

Da die Temperaturpunkte bei einzelnen Versuchspersonen ein von den 
Druckpunkten verschiedenes Lokalisationsvermögen besitzen, so sind 
bei dem Studium des Ortssinnes nur Druckpunkte zu verwenden. 


Es ist mir eine angenehme Pflicht, allen meinen Versuchspersonen 
insbesondere den Herren Priv.-Doz. Dr. Fodor, Priv.-Doz. Dr. Weil, 
Dr. Handovsky, Dr. Brammertz, Dr. L. Schmidt, Frl. Dr. Schiffmann, 
sowie den Herren stud. med. Haring und Timmer und Frl. stud. med. 
Rohmeyer und Schulze für ihre Liebenswürdigkeit meinen aufrichtigen 
Dank auszusprechen. 


Tabelle]. 
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Untersuchungen zur Physiologie der räumlichen Tastempfindungen usw. I. 237 
Tabelle I(l. Fortsetzung). 
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Name der Ver- gE5E SsaE | se SSa,; SERE| SS52E |äe ee 
suchsperson oIas zAge =: u: ade u: 78 
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238 E.Gellhorn: Untersuchungen zur Physiologie der Tastempfindungen usw. I. 


Tabelle I (2. Fortsetzung). 


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| 40 b 34 15 a>b 69 aa 5 D, >= |) 
| 
| a 50 a 29 
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(Aus dem pharmakologischen Institut der Universität Graz.) 


Über humorale Übertragbarkeit der Herznervenwirkung. 
I. Mitteilung. 


Von 
O0. Loewi. 


(Ausgeführt mit Unterstützung der Fürst Liechtenstein-Spende.) 
(Mit 5 Textabbildungen.) 
(Eingegangen am 20. März 1921.) 


Der Mechanismus der Wirkung der Nervenreizung ist unbekannt. 
Mit Rücksicht darauf, daß gewisse Pharmaka fast identisch wirken 
wie die Reizung bestimmter Nerven, liegt die Möglichkeit vor, daß 
unter dem Einfluß der Nervreizung Stoffe gebildet werden, die ihrer- 
seits erst den Reizerfolg herbeiführen. Unter den Bedingungen, wie sie 
beim Arbeiten am ganzen Tier gegeben sind, ist es wohl aussichtslos, 
diese Frage zu entscheiden. Die einzige Möglichkeit gibt hier der Ver- 
such am isolierten Organ. Von Arbeiten in dieser Richtung liegt eigent- 
lich nur die von Howell vor, wonach die Vaguswirkung durch eine 
Abscheidung von Kalium während der Reizung bedingt sein soll, doch 
wurden seine Versuchsergebnisse widerlest. 


Methode. 


Ich wählte das Kaltblüterherz, weil hier bei entsprechender Versuchs- 
anordnung die Möglichkeit gegeben ist, infolge Reizung allenfalls ent- 
stehende Stoffe in einer geringen Menge von Füllflüssigkeit sich anrei- 
chern zu lassen und so nachweisbar zu machen. 

Als Methode wählte ich die bekannte Herzkanülenmethode nach 
Straub mit der Modifikation, daß der linke Vagus mit herauspräpariert 
am Sinus hängen gelassen und über eine Elektrode gebrückt wurde. 
Wird der Nerv feucht gehalten und die Reizung mitunter, wenn 
auch nur kurz unterbrochen, so bleibt er oft viele Stunden lang erregbar. 

Die Ringersche Flüssigkeit enthielt 0,6% NaCl, 0,01% KCl, 0,02% 
CaCl, +6 H,O, 0,05% NaHCO,. Es wurde dauernd Sauerstoff ein- 
geleitet. Die Versuche wurden an meist frischgefangenen Esculenten 
(10 Versuche), Temporarien (4 Versuche) und gemeinen Kröten (4 Ver- | 
suche) im Februar und März ausgeführt. 


240 O. Loewi: 


Versuche. 
Sämtliche Versuche fielen gleichsinnig aus. 


1. Versuche mit hemmendem Vagusreizerfolg. 


Nachdem das Herz zur Entfernung der Blutreste einigemale mit 
Ringer war ausgespült worden, wurde eine bestimmte Zeit ‚hindurch 
der Ringer nicht gewechselt und am Ende dieser Periode (Normal- 
periode) abpipettiert und aufbewahrt. Dann wurde während einer 
gleichlangen Periode der Vagus mit.kurzen Unterbrechungen faradisch 
gereizt. Der Erfolg war bei den Fröschen der bekannte negativ ino- 
und chronotrope. Auch die Füllung der Vagusreizperiode wurde ab- 
pipettiert und aufgehoben. Nachdem das Herz von der Vagusreizung 
sich wieder erholt hatte, wurde es abwechselnd mit den Füllungen der 
beiden Perioden beschickt: die Füllung der Normalperiode wirkte nicht 
anders als wie frischer Ringer, war.also ohne irgend einen Einfluß 
(s. Abb. 1). Wurde aber der Ringer der Vagusreizperiode eingefüllt, 


1%, 3. 2, 4. 
Abk. 1. Esculenta. 1. Ringer. 2. Ringer aus 15’ Vagusreizperiode. 3. Ringer aus 15° Normal- 
periode. 4. +0,1 mg Atropin. 


so trat regelmäßig eine deutliche negativ inotrope (Abb. 1 u. 2) mit- 
unter dazu noch eine negativ chronotrope (Abb. 2) Wirkung ein. Letztere 
war kaum zu erwarten gewesen, da der Sinus bei der gewählten Versuchs- 
anordnung mit der Füllflüssigkeit kaum in Berührung kommt. Abb. 1 
zeigt, daß die Wirkung durch Atropin prompt behoben wird. 


2. Versuche mit förderndem Vagusreizerfolg. 

Der naheliegende Gedanke, zu prüfen, ob etwa am atropinisierten 
Froschherzen Vagusreizung infolge der Beimischung von durch Atropin 
nicht lähmbaren Acceleransfasern zur Abscheidung von ‚Förderungs- 
substanz‘“ führe, konnte bislang mangels Froschmaterials nicht durch- 
geführt werden. So war ich auf die Verwendung von Kröten angewiesen. 
Diese reagieren in der jetzigen Jahreszeit von vorneherein auf Vagus- 
reizung mit hochgradiger Steigerung der Pulsgröße und -Frequenz 
(Abb. 3a). Die Versuche wurden ausgeführt wie die oben beschriebenen. 
Abb. 3b. zeigt, daß während der Inhalt der Normalperiode ganz ein- 
flußlos ist, der der Acceleransreizperiode zu einer hochgradigen Ver- 


Über humorale Übertragbarkeit der Herznervenwirkung. 241 


größerung des Pulsvolums führt. Dabei ist sehr erwähnenswert, daß der 
Inhalt der Acceleransreizperiode gewonnen wurde 3!/, Stunden nach 


Abb. 3a. Kröte I. 1. Ringer. 2. Vagusreizung. 


. Ringer. 


2 


{ex} 


1. 28 3. . 
Abb. 3b. 1. Ringer. 2. Ringer aus 25° Normalperiode. 
3. Ringer aus 25° Vagusreizperiode. 


1. Ringer aus 15’ Vagusreizperiode. 


Temporaria. 


6) 
= 


Abb. 


115 2. 
Abb.3c. Krötell. 1. Ringer aus 25’ Normalperiode von Krötel. 
2. Ringer aus 25° Vagusreizperiode von Kröte I, 


Versuchsbeginn, nachdem also das Herz unzählige 
Male ausgewaschen und der Accelerans 1 Stunde 
schon gereizt worden war. Mit Rücksicht auf diese 
lange Vorgeschichte des Herzens schien es wünschens- 
wert, den Inhalt auch an einem ganz frischen Krötenherz auf seine 
Wirksamkeit zu prüfen. Abb. 3c zeigt, daß sie beim frischen Herzen 
annähernd die gleiche ist, wie beim vorbehandelten. 


- 


x 


242 0. Loewi: Über humorale Übertragbarkeit der Herznervenwirkune. 


Besprechung der Ergebnisse. 


Die Versuche lehren, daß unter dem Einfluß der Reizung der 
herzhemmenden und -fördernden Nerven Stoffe vom gleichen Wirkungs- 
charakter, wie er der Nervreizung eignet, in der Füllflüssigkeit des 
Herzens nachweisbar werden. Es werden also unter dem Einfluß der 
Nervenreizung diese Stoffe gebildet oder abgespalten oder sie waren 
vorgebildet und die Zellen werden erst dafür durchgängig. Was die 
Bedeutung dieser Stoffe anbetrifft, so liegen zwei Möglichkeiten vor: 
einmal könnten sie unabhängig von der Art der mechanischen Herz- 
tätigkeit direkt unter dem Einfluß der Nervenreizung entstehen und 
ihrerseits die spezifische Reaktion des Herzens auf den Nervenreiz, der 
danach nur mittelbar wirksam wäre, auslösen. Wenn ihre Wirkung 
bei der gewählten Versuchsanordnung quantitativ hinter der der Nerven- 
reizung zurückbleibt, so darf das nicht, Wunder nehmen, da anzunehmen 
ist, daß nur ein geringfügiger Anteil der in oder an der Zelle gebildeten 
bez. abgespaltnen Stoffe in die Flüssigkeit übergeht, andererseits diese 
eine hochgradige Verdünnung bewirkt. Zum anderen liegt die Mög- 
lichkeit vor, daß die Stoffe nur Produkte der durch die Nervenreizung 
ausgelösten besonderen Art der Herztätigkeit sind; in diesem Fall 
würden sie also gewissermaßen nur zufällig identisch wirken wie die 
Nervenreizung. 

Was die Frage nach dem Charakter der Stoffe anbetrifft, so ist bis 
jetzt nur auszuschließen, daß es sich bei dem Vagusreizprodukt um 
Kalium handelt, da gesteigerte Kaliumwirkung durch das in unseren 
Versuchen wirksame Atropin sich nicht beheben läßt. 

Sobald ich über das entsprechende Tiermaterial verfüge, beab- 
sichtige ich sowohl die Frage nach der Art der Stoffe als andere, die 
sich im Anschluß an die mitgeteilten Versuche in großer Zahl aufdrängen, 
zu bearbeiten. 


Über die Wirkung von Eosin und Rose bengale auf rote Blut- 
körperchen und den Zusammenhang von Aufnahme und bio- 
logischer Wirkung. 


& Von 
A. Jodlbauer und F. Haffner. 


(Aus dem pharmakologischen Institut München.) 
(Mit 2 Textabbildungen.) 
(Eingegangen am 19. März 1921.) 


Die Giftigkeit der Fluoresceinderivate für Zellen im 
Dunkeln steigt mit der Art und der Anzahl der eingeführten Halogene, 
wobei J>>> Br > C] wirkt!). Tetrabromfluorescein-Natrium (Eosin) 
bewirkt bei 18° C in 1%, Blutkörperchensuspension von !/,, mol. Kon- 
zentration an vollständige Hämolyse, Tetrachlortetrajodfluorescein- 
Natrium (Rose bengale) bereits von !/,3400 mol. an. Rose bengale ist 
also in diesem Falle 100 mal stärker wirksam als Eosin. 

Diese Unterschiede in der Wirkung gaben die Veranlassung zu den 
folgenden Versuchen über den Zusammenhang von Wirkung und 
Aufnahmefähiskeit durch die Zellen. Eosin und Rose bengale standen 
uns in chemisch reiner Form zur Verfügung. Als Versuchsobjekte 
dienten rote Blutkörperchen vom Rinde. 


I. Wirkung von Eosin und Rose bengale auf rote Blutkörperchen bei 
verschiedenen H'-Konzentrationen. 


Ausgehend von früheren Versuchen?) über die Bedeutung der Reak- 
tion für das Verhalten roter Blutkörperchen wurde unter Mithilfe von 
M. Kerner?) die Wirkung der beiden Farbstoffe unter verschiedenen 
H'-Konzentrationen untersucht. 


l ccm einer 3% Suspension serumfrei gewaschener Blutkörperchen in 0,9% 
NaCl-Lösung wurde mit 1 ccm Phosphatpuffergemenge verschiedener H'-Konzen- 
tration versetzt, dazu kam lccm einer Farbstofflösung mit 0,9% NaCl. Die 
Mischungen wurden bei Zimmertemperatur (etwa 18° C) im Dunkeln gehalten. 


1) Literatur über die fast allgemein giltige Wirksamkeitserhöhung durch 
Halogeneinführung siehe Fränkel, Arzneimittelsynthese 4 A., S. 68ff. 1919, 
bez. der Fluorecseine siehe Jodlbauer und Busck, Arch. internat. de Pharma- 
codynamie et de Therap. 15, 265. 1905. 

2) Jodlbauer und Haffner, Arch. f. d. ges. Physiol. 1%9, 121. 1920. 

®) Dissertation München, Mai 1920. 


>44 A. Jodlbauer und F. Haffner: 


Die Phosphatpuffergemenge wurden in der Weise hergestellt, daß zu einer Mischung 
von 1,25ccm !/,n. primären und 1,25 ccm !/,n. sekundären Natriumphosphats 
!/on. NaOH beziehungsweise HCI in ansteigenden Mengen von 1—2—3 usw. 
cem zugegeben und mit Y/,,n. NaCl auf 10 ccm aufgefüllt wurde. Die daraus re- 
sultierenden von stark sauer bis stark alkalischer Reaktion abgestuften Puffer- 
gemenge sind im folgenden nach der Anzahl der zugesetzten cem HCl beziehungs- 
weise NaOH bezeichnet!). 

Ohne Farbstoffzusatz erfolgt bei 13° C nur in den Mischungen 
mit über 4ccm HCl und mit über 5cem NaOH Hämolyse. In den 
dazwischen liegenden Mischungen (4ccm HCl bis 5cem NaOH) tritt 
innerhalb 24 Stunden keine Hämolyse ein. ; 

Bei Farbstoffzusatz in bestimmten (niederen) Konzentrationen 
kommt es auch in diesem Bereiche zu Hämolyse. In der 4 HCl-Mischung 
bewirkt Rose bengale bereits in Konzentrationen von !/,oo00 mol. voll- 

ständigeHämolyse. Mit Abnahme 
Konzentration ’ . i R 5 
von Rose bengale: der H'-Konzentration sind immer 
höhere Farbstoffkonzentrationen 
hierzu nötig: so in der 2 HCI- 
Mischung T/,,000 mol., in der neu- 
tralen Mischung Y/3000 mol., in 
der 4 NaOH-Mischung !/sono Mol. 
(siehe Abb. 1). 

Das Resistenzmaximum der 

Blutkörperchen gegenüber Rose 
bengale liegt im Bereich der 4 und 

Pufer- -Mi j 2 
a BREI EN WERE DIEBE > al ERllseiung: 35% " ge 
Ha Too selben Alkalescenzbereich, in dem 

Abb. 1. Lytische Grenzkonzentrationen von das. Resistenzmaximum der roten 


Rose bengale bei verschiedener Reaktion (voll- Blutkörperchen gegen Hypoto- 
ständige Auflösung 1% Blutkörperchensuspen- ah 
sionen innerhalb %4 Std.). nie?) liegt. 


Mit Erhöhung der Farbstoff- 
menge nimmt nun auf der Säureseite die hämolysierende Wirkung 
der niederen Farbstoffkonzentrationen mehr und mehr ab und bleibt 
bei genügend hoher Farbstoffkonzentration schließlich ganz aus: in der 
4 HCl-Mischung von 1/j:o09 mol. an. Mit Abnahme der H-Konzentra- 
tion sind hierzu immer höhere Farbstoffkonzentrationen nötig, so in 
der 3 HCl-Mischung: !/z9oo mol., in der 2 HCl-Mischung: Yon mol. 


Y24000 mol 


772000mol 


Y6000 mol 


1) Die für die einzelnen HClI-, bzw. NaOH-Phosphatmischungen früher mittels 
Indikatoren gefundenen pH-Werte konnten neuerdings von F. Haffner mittels 
Gaskettenmessung im Wesentlichen bestätigt werden. Es ergaben sich folgende 
Werte: \ 


Puffermischungen | 5 HC] | 4 HCl | 3 HC1 2 HCl (0) |21aOH 3Na0H! 
pH 2,98 | 5,12 | 5,96 | 6,21 6,77 | 7,23 | 748 
2) Haffner, Arch. f. d. ges. Physiol. 199, 144. 1920. 


6Na0H 
10,78 


5NaOH 
10,26 


4Na0H 
8,25 


Über die Wirkung von Eosin und Rose bengale auf rote Blutkörperchen usw. 245 


Im Neutralpunkt und auf der alkalischen Seite gelingt selbst mit 
den höchsten Konzentrationen diese Umkehr der Wirkung nicht mehr. 

In den Mischungen über 4 HCl, die ohne Farbstoff in kurzer Zeit 
hämolysieren, hemmen höhere Farbstoffkonzentrationen ebenfalls die 
Hämolyse — und je höher die Farbstoffkonzentration ist, um so höhere 
H'-Konzentrationen sind nötig, um Säurehämolyse hervorzurufen. 

Diese Hemmung der Hämolyse auf der Säureseite durch hohe 
Farbstoffkonzentrationen beruht auf einer „Fixierung“ der roten 
Blutkörperchen; denn sie erweisen sich gegen destilliertes Wasser voll- 
ständig resistent. Im Fixierungsbereich ist außerdem Agglutination 
der Körperchen vorhanden. 

Eosin wirkt ganz gleichartig wie Rose bengale, sowohl Iysierend, 
wie bei saurer Reaktion fixierend, jedoch beides erst in wesentlich 
höherer Konzentration wie Rose bengale. Das Wirkungsverhältnis 
beider Stoffe ist jedoch keine konstante Größe; die Unterschiede sind 
z. B. bei saurer Reaktion geringer wie bei neutraler. So ist bei letzterer, 
wie schon erwähnt, die lytische Konzentration für Eosin mehr wie 
100 mal höher wie für Rose bengale, in der 3 HCl-Mischung dagegen 
(vgl. Tabelle II) ist die vollständig lysierende und ebenso die fixierende 
Konzentration für Eosin nur lO mal höher. 

Die früher schon gemachte Beobachtung!), daß Eosin und Rose 
bengale parallel der lysierenden Wirkung auch die Wärmeflockung der 
Blutkörperchenkolloide fördert, gab die Veranlassung, auch ihren 
Einfluß auf die Flockung der Blutkörperchenkolloide bei 
verschiedenen H-Konzentrationen zu prüfen. 

Es wurden hierzu vom Serum befreite, durch Wasser lysierte Blutkörperchen 
in derselben Anordnung wie oben die Blutkörperchensuspension mit Phosphat- 
puffergemengen verschiedener Reaktion und Farbstofflösungen versetzt und nun 
bei verschiedenen Temperaturen das Flockungsverhalten der Mischungen unter- 


sucht. Die Konzentration der Blutkörperchenauflösungen in der Mischung 
entsprach einer 1% Blutkörperchensuspension. 


‚Ohne Farbstoff zeigten Blutkörperchenauflösungen in der vor- 
liegenden Anordnung von etwa 58° ab in einem breiten, sich beider- 
seits des Neutralpunktes, von 4 HC] bis 5 NaOH-Zusatz, erstreckenden 
Bereich maximale Flockung. Die Mischungen mit über 4 HCl und über 
5 NaOH-Zusatz waren auch durch Kochen nicht mehr fällbar. Bei 
Zusatz der beiden Farbstoffe zeigte sich als erstes Zeichen einer 
Wirkung die schon erwähnte Förderung des Flockungseintritts 
und zwar zuerst und am stärksten in den Mischungen der saueren Seite 
(bei Rose bengale in der 4 HCl-Mischung bereits bei Y/ıooooo Mol.). 

Neben der Flockungsförderung trat aber auch eine weitere Wirkung 
in Erscheinung: Der ganze Flockungsbereich verschob sich 
entsprechend der Erhöhung des Farbstoffzusatzes immer 


!) Erscheint in der Biochem. Zeitschr. 
Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 189. 177 


246 A. Jodlbauer und F. Haffner: 


mehr nach der sauren Seite hin. Auf der alkalischen Seite rückte 
die Flockungsgrenze (normal in der Mischung von 5 NaOH) immer mehr 
nach dem Neutralpunkt zu und schließlich noch über ihn hinaus in die 
saure Seite hinein. Dadurch erklärt sich die ber. its früher beobachtete 
Aufhebung der Hitzekoagulierbarkeit der Blutkörperchen-Colloide bei 
neutraler Reaktion durch hohe Farbstoffzusätze. Der Einschränkung 
des Flockungsbereiches auf der alkalischen Seite entspricht eine Erwei- 
terung auf der sauren Seite, so daß z. B. bei !/,., mol. Rose bengale 
selbst in der 6 HCl-Mischung Flockung auftrat. 

Eosin wirkt auch hierbei vollständig gleichartig wie Rose bengale, 
nur daß von Eosin auch hier höhere Konzentrationen nötig sind. 

Schon Mathews und Heidenhain!) haben über die Fällbarkeit 
von Eiweiß durch saure Farbstoffe bei Zusatz von Säuren und H. 
Aron?) über die Aufhebung der Hitzekoagulierbarkeit von Serum 
durch Eosin berichtet. Neuerdings haben Michaelis und v. Szent- 
Györgyi?) eine flockungsfördernde und gleichzeitig eine die Flockung 
nach der sauren Seite hin verschiebende Wirkung des Eosins auf Casein 
beschrieben und sie den graduell abgestuften gleichartigen Wirkungen 
anderer organischer und anorganischer Anionen angereiht. 

Die Wirkung von Eosin und Rose bengale auf die Wärme- 
flockung 1ysierter Blutkörperchen stellt sich somit als 
typische Anionenwirkung auf Kolloide dar. 

Diese Beeinflussung des Kolloidzustandes der Blutkörperchen- 
kestandteile durch die Farbstoffe zeigt offensichtliche Zusammen- 
hänge mit ihrer Wirkung auf die Blutkörperchen als solche. Vergleicht 
man die beiderlei Wirkungen höherer Farbstoffkonzentrationen z. B. 
bei Rose bengale von !/,,oo mol. an, so ergibt sich (siehe Tabelle I): 
In dem Reaktionsbereich, in dem keine Lyse, sondern im 
Gegenteil Fixierung der Körperchen erfolgt, flocken die 
Körperchenkolloide aus, und zwar bereits bei Zimmertem- 
peratur; in dem Reaktionsbereich, in dem die Körperchen 
hämolysieren, ist die Hitzekoagulation aufgehoben. 

Die Aufhebung der Hitzekoagulation von Kolloiden ist 
als Ausdruck einer erheblichen Steigerung ihrer Hydratation an- 
zusehen. Die Hämolyse durch die beiden Farbstoffe kann 
daher als Folge dieser Hydrationssteigerung gewisser Blut- 
körperchenkolloide aufgefaßt werden. Derselbe Wirkungs- 
mechanismus dürfte auch bei anderen hämolytischen Vorgängen vor- 
liegen. So geht‘z. B. aus Tabelle 1 schon hervor, daß das Erhalten- 


!) Arch. f. d. ges. Physiol. 90, 130ff. 1902 und 96, 442. 1903, 


?) Biochem. Zeitschr. 5, 413. 1907. 
3) Biochem. Zeitschr. 103, 182. 1920, s. auch die weiteren Untersuchungen 


von Labes am denaturierten Serumalbumin. Arch. f. d. ges. Physiol. 186, 98. 1921. 


247 


chen usw. 


örper 


ber die Wirkung von Eosin und Rose bengale auf rote Blutk 


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248 A. Jodlbauer und F. Haffner: 


bleiben der Blutkörperchen in verschiedenen H'-Konzentrationen 
(ohne Zusatz eines anderen hämolysierenden Stoffes) ebenfalls an den 
Reaktionsbereich gebunden ist, in dem die Körperchenkolloide in der 
Wärme ausflocken (dieser Bereich erstreckt sich in unserer Anordnung 
von der 4 HCl-Mischung bis zur 5 NaOH-Mischung). Hämolyse erfolgt 
bei den Säure- und den Laugezusätzen, bei denen auch die Hitzekoa- 
gulation gehemmt, beziehungsweise aufgehoben ist. Unter anderen 
Haemolytica von anodischem Wirkungscharakter kommt ferner auch 
den Saponinen die Verschiebung des Flockungsbereichs der Blutkörper- 
chenkolloide nach der saueren Seite, bis zur Aufhebung der Hitzekoa- 
gulation im Neutralpunkte, zu. 


II. Aufnahme durch rote Blutkörperchen. 


Die folgenden Versuche befassen sich mit der Aufnahme von Eosin 
und Rose bengale durch rote Blutkörperchen. 


Über ihre Aufnahme durch Zellen liegen in der Literatur folgende Angaben 
vor. Höber!) fand, daß in Ringerlösung suspendierte rote Blutkörperchen vom 
Salamander durch Rose bengale sehr rasch intensive Kernfärbung erfahren, in 
einer Stärke, wie sie sonst nur bei abgetöteten Zellen einzutreten pflegt, daß dagegen 
das durch basische Farbstoffe sich färbende „chromatoide Kügelchen‘“ und 
ebenso auch das Protoplasma der Blutkörperchen nicht gefärbt wird; das Letztere 
wird aufgelöst, die gefärbten Kerne schwimmen frei umher. 

Nach Nirenstein?) wird durch die Farbstoffe der Fluoresceingruppe der 
Zellkörper von Paramaecien gefärbt, wobei mit der Färbung Vergiftungserschei- 
nungen Hand in Hand gehen. 

Auf den Zusammenhang von Färbung und Giftwirkung durch Fluoresceine 
bei Paramaecien haben schon früher Tappeiner und Jodlbauer?) hingewiesen. 

Nach von Möllendorffs*) Ergebnissen sind Eosin und Rose bengale zu den 
supravital diffus färbenden Stoffen zu rechnen. Im Vitalversuch war Färbung 
erst nachzuweisen, wenn die Tiere bereits starke Vergiftung zeigten. In Pflanzen- 
zellen dringt nach den übereinstimmenden Angaben von Ruhland?°) und 
Höber®) Rose bengale nicht oder höchstens minimal ein, Eosin dringt nach 
Ruhland dagegen ein. 


a) Aufnahme mit sichtbarer Färbung. 


Mit Eosin und Rose bengale in neutraler Lösung gelang es 
selbst bei Anwendung hoher Konzentrationen, die nach 
einiger Zeit hämolytisch wirkten, nie eine Färbung der Blutkörper- 
chen zu erreichen. Bei Verwendung von Phosphatpuffergemischen 
(Anordnung wie bisher), zeigte sich dagegen auf der sauren Seite 


1) Biochem. Zeitschr. 20, 71. 1909. Über Kernfärbung von Froscherythro- 
cyten durch Eosin siehe Rost, Arch. f. d. ges. Physiol. 13%, 378. 1911. 

2) Arch. f. d. ges. Physiol. 1%9, 280. 1920. 

3) Sensibilisierende Wirkung fluoresc. Stoffe. Leipzig 1907, 5. 3. 

*) Arch. f. mikr. Anat. 90, 514. 1918. 

5) Biochem. Zeitschr. 54, 65. 1913. 

6) Biochem. Zeitschr. 20, 66. 1909. 


Über die Wirkung von Eosin und Rose bengale auf rote Blutkörperchen usw. 249 


selbst bei relativ niederen Farbstoff-Konzentrationen aus- 
gesprochene Zellfärbung!); im Neutralpunkt, sowie auf der alka- 
lischen Seite blieb sie auch hier aus. Je höher die H'-Konzentration ist, 
(natürlich nur in so weit, als keine Säurehämolyse erfolgt) um so niedere 
Farbstoffkonzentrationen sind zur Färbung ausreichend. Färbung und 
Fixierung gehen somit Hand in Hand), Färbung ist jedoch bei Farbstoff- 
konzentrationen nachweisbar, die noch nicht fixieren. 


Tabelle II. Färbevermögen und Wirkung von Eosin und Rose bengale gegen- 
über Blutkörperchen (1 %) bei saurer Reaktion (3 HCl-Phosphatmischung). 


Molekulare Eosin Rose bengale 
Konzen- = 

tration der | Färbung der Lyse bzw. Färbung der Lyse bzw. 

Farbstoff- Körperchen Fixierung Körperchen Fixierung 
lösung nach 4 Std. nach 15 Std. nach 4 Std. nach 15 Std. 

= —— — le on er —— 

2/50 000 = | Ei T£ L ee) 
1/75 000 = | 5 57 | Billa) 
"as 000 = | 11 ) | 1b) SF 
"/30 000 == | B— Ar | IbiSr 
"/15 000 33 2 ar ee) 
"/7500 (+) I en) = Ib, <= 
a. 3000 on | IbiSr air | B 
no - \ 1b 3==>F “) +57 | F 
Y so u u ar F 
"/200 anar | E algeate | F 
so ++ F a 


L=Lyse, F = Fixierung, *) = Vollständige Lyse. 


In Tabelle II ist die Färbung der Körperchen durch verschiedene 
Eosin- und Rose bengale-Konzentrationen in der 3 HCl-Mischung 
wiedergegeben. Sie enthält zugleich Angaben über die (später eintreten- 
de) Lyse und über Fixierung. 

Aus der Tabelle ersieht man, daß in der 3 HCl-Mischung Rose 
bengalein 10fach niederer Konzentration wie Eosin deutlich 
sichtbare Zellfärbung bewirkt. (Rose bengale !/,,o00 mol., Eosin 
Us000 mol.). Dieselbe Verhältniszahl ergibt sich bei Vergleich 


1) Die Abhängigkeit der Zellfärbung von der Reaktion ist für fixierte Zellen 
seit Heidenhain u. a. bekannt, für lebende bzw. überlebende Zellen besonders 
von Bethe und seinen Mitarbeitern (Bethe, Wien. med. Wochenschr. 1916, 504, 
Rohde, Arch. f. d. ges. Physiol. 168, 411. 1917 u. 182, 114. 1920) untersucht wor- 
den mit dem Ergebnis: Die Aufnahme anodischer Farbstoffe durch Zellen wird 
mit Zunahme, die der kathodischen Farbstoffe mit Abnahme der H'-Konzentra- 
tion begünstigt. 

Diese Reaktionsregel der Stoffaufnahme ist wohl ganz allgemein giltig, ver- 
gleiche z. B. die Ergebnisse mit Alkaloiden (Traube, Biochem. Zeitschr. 42, 
470. 1912). 

2) Siehe hierzu den Vorschlag Heidenhains durch Säurezusatz zu saueren 
Farbstoffen gleichzeitig zu fixieren und zu färben, Arch. f. d. ges. Physiol. 90, 
135. 144. 

! 


250 A. Jodlbauer und F. Haffner: 


der Konzentrationen, die vollständig hämolysieren (Rose 
bengale Y/ 5000 mol., Eosin Y/,s., mol.). 

Entsprechend der Aufnahme des Farbstoffes durch die Zellen 
nimmt der Farbstoffgehalt der Suspensionslösung ab. Im Versuch 
mit der 3 HCl-Mischung unter Verwendung einer 1%, Blutkörperchen- 
suspension führt !/,,o00 mol. Rose bengale einerseits zu deutlicher Fär- 
bung der Körperchen, andererseits zu einer so gut wie vollständigen 
Entfärbung der Lösung. Daraus berechnet sich, daß für l ccm einer 
100% Blutkörperchensuspension um deutliche Zellfärbung herbei- 
zuführen 0,0033 M_ilimol Rose bengale nötig sind. 


Die gefärbten Blutkörperchen zeigen in den hohen (fixierenden) H'-Konzen- 
trationen (z. B. in der 4 HCl-Mischung) scharfrandige, runde, homogene Form; 
die Färbung betrifft hier stets gleichmäßig die ganze Zelle. In den weniger sauren 
Mischungen z. B. der 2 HCl-Mischung, die die-Grenze zwischen Fixierungs- und 
Lysewirkung darstellen und in denen das Lackfarbenwerden der Mischungen 
verspätet oder nur teilweise eintritt, zeigen dagegen die Körperchen merkwürdige 
Färbungsbilder. An Stelle einer homogenen Färbung erscheint hier zu Beginn der 
Farbstoffeinwirkung nur ein halbmond- bis sichelförmiger Teil der Blutscheibe, 
sehr häufig auch nur wenige in der Randzone liegende Granula gefärbt, in späteren 
Stadien sieht man nur noch farblose Bläschen, mit einem oder auch mehreren 
kleinen im Bläschenrand liegenden, starkrotgefärbten Granula. Diese erscheinen 
weiterhin außerhalb des Bläschens, wobei sie zunächst noch durch einen feinen 
Faden mit dem Bläschen verbunden sein können. Schließlich verschwinden die 
Bläschen ganz und es: bleiben die gefärbten ziemlich gleich großen rundlichen 
Körner übrig. Diese sind auch durch Wasser nicht mehr aufzulösen. 

Ähnliche Erscheinungen sind auch bei Einwirkung basischer Farbstoffe 
(z. B. Anilinblau!), Malachitgrün?), außerdem von Metallen und verschiedenen 
organischen Basen?) beobachtet worden. Neuerdings haben Bechhold undKrauß?) 
bei Ultramikroskopie des Hämolysevorgangs, besonders bei Lyse durch Sublimat 
in den Konzentrationen zwischen Iysierender und fixierender Wirkung, ebenfalls 
das Auftreten diskreter Gebilde innerhalb der Blutkörperchen beschrieben, die 
sich durch Kontraktion zu kleinen Kügelchen umwandeln und dann ebenfalls 
aus dem Körperchen austreten können. Es handelt sich in allen diesen Fällen 
offenbar um Ausfällung bestimmter Anteile aus der Gesamtheit der Körperchen- 
kolloide. 

Ihr Verhalten (Affinität zu Farbstoff und Resistenz gegen lösende Einflüsse) 
erinnert an das der Kernsubstanz, die nach Höber durch Rose bengale gefärbt 
und im Gegensatz zum Protoplasma nicht aufgelöst wird. 


b) Aufnahme ohne sichtbare Färbung. 


Um festzustellen, ob auch in den Fällen, in denen keine sichtbare 
Zellfärbung erfolgt, die Blutkörperchen Farbstoff aufnehmen, wurde 
versucht, die Abnahme zu bestimmen, die in Farbstofflösungen durch 
Zugabe von Körperchen eintritt. 


!) Schaffer, Vorlesungen über es u. Histogenese 1920, 8. 33. 

2) Höber, Biochän! Zeitschr. 20, 

3) Heinz, Handb. d. exp. Pathol. u. . olhanm, I, 1, 338ff. und Abbildung. 
) 


4 


Biochem. Zeitschr. 109, 233. 1920. 


Über die Wirkung von Eosin und Rose bengale auf rote Blutkörperchen usw. 251 


Bestimmte Farbstofflösungen wurden mit 50 beziehungsweise 100% Blut- 
körperchensuspensionen versetzt, die Körperchen nach einiger Zeit abzentrifugiert 
und die Farbstoffkonzentrationen in den Zentrifugaten bestimmt. Es konnten 
natürlich nur Farbstoffkonzentrationen hierzu benutzt werden, die noch nicht 
hämolysieren. Es zeigte sich nun, daß selbst in den Konzentrationen, die schlecht- 
weg als noch nicht hämolytisch wirkend bezeichnet werden konnten (z. B. Y/o0000 — 
Y/ 000000 mol. Rose bengale) nach einigen Stunden doch Hämoglobin in einer Menge 
austrat, die die kolorimetrische Messung der Farbstoffe sehr erschwerte. Die 
Körperchen ohne Farbstoff und nur mit Kochsalzlösung behandelt, gaben keine 
Spur von Hämoglobin ab. Die Farbstoffe üben selbst in diesen hohen Verdün- 
nungen einen gewissen schädigenden Einfluß auf die Körperchen aus. Wurden 
die Körperchen jedoch nur ganz kurze Zeit (höchstens 10 Minuten) in Kontakt 
mit den Farbstofflösungen gelassen, so war der Hämoglobinaustritt so gering, 
daß die kolorimetrische Messung der Farbstoffe mit einem Fehler von + 10% 
möglich war. 


Die Ergebnisse!) eines derartigen angestellten Versuches mit Eosin 
und Rose bengale in verschiedenen Konzentrationen finden sich in 
Tabelle III. 


Tabelle II. Aufnahme von Eosin und Rose bengale bei neutraler Reaktion 
(25 cem 50°), Blutkörperchen + 25 cem Farbstofflösung). 


| Verteilungs- 
| . 
quotient : 
Ursprüngliche Konzentration Konzentration | Blutkörperchen: and GE a 
der Außenlösung (a) | i. Zentrifugat (ce) Außenlösung aufgenommen (—) 


= 


| -0,00050 Millimol 


sooo mol. Rose bengale | /iooooo mol. 1 

"/100000 „ „ | "225 000 1,3 0,000280 „, 

"200000 | "/so0.000 3 0.000190 „, 

"/s00 000 n „ | 1/2000 000 5 0,000083 „, 

"/1 000 000 » n ie ı ea. 1/6 000. 000. . ca.5 0.000042 „, 
mol Hosin | Yorsom mol. 037 | 0.000068 Millimol 
"/aoo000 5 | 1250 000 0,87 | 0.000058 
"/a00 00 iE | "2500000 » 2,1 | 0,000043 „ 
la 000 000 " , ca. 1/6 000.000 ca. 2 0,000017 > 

/2000 000 » ” << "/io 000 000 »ı | BER | > 0,000008 ” 


Es trat somit durch den Kontakt mit Blutkörperchen 
eine Abnahme der Farbstoffkonzentration der Außen- 
lösung ein, und zwar bei Rose bengale stärker als bei Eosin. 
Die Unterschiede zwischen den beiden Farbstoffen waren um so größer, 
je höhere Konzentrationen verwendet wurden. 

Ist nun die aus den Lösungen verschwundene Farbstoffmenge als 
von den Körperchen aufgenommen anzusehen ? 

Es könnte sich auch um Veränderung des Farbstoffs unter dem Ein- 
fluß der roten Blutzellen handeln, z. B. um Oxydation. Es wurden 
daher die Versuche mit Blutkörperchen wiederholt, deren Hämoglobin 


!) Vgl. Hug, Dissert. München, Mai 1920. 


252 A. Jodlbauer und F. Haffner: 

durch 1stündiges Durchleiten von CO in CO-Hämoglobin verwandelt 
war. Unterschiede der CO-Körperchen gegenüber von O, beladenen 
fanden sich nicht. Eine Oxydation des Farbstoffs dürfte somit nicht 
in Frage kommen. 

Es gelang nun die Aufnahme der Farbstoffe durch die Körperchen un- 
mittelbar nachzuweisen: Blutkörperchen, die durch oftmaliges Waschen 
von derursprünglichen Farbstofflösung vollständig befreitwaren und dann 
auch nach vielstündigem Aufenthalte in NaCl-Lösung keine Spur von Farb- 
stoff mehr an diese abgaben, zeigten nach der Hämolysierung mit %/,,- 
NaOH die für die verwendeten Farbstoffe charakteristische Fluorescenz. 

Wie die Zellfärbung (siehe Abschnitt I) von der H'-Konzentration 
abhängt und mit ihr zunimmt, steigt auch bei der Verwendung 
sehr niederer, die Zellen kaum schädigender und jedenfalls noch 
nicht fixierender Konzentrationen von Eosin und Rose 
bengale die Aufnahme durch die Zellen mit der H'-Konzen- 
tration (Tabelle IV). 


Tabelle IV. Aufnahme von: Rose bengale und Eosin bei verschiedener H'- 
Konzentration — bei 10 Minuten dauernder Einwirkung der Farbstofflösungen 
(25 ccm 100°/, Blutkörperchen + 25 ccm Farbstoffphosphatmischung). 


er, Vertei- & 
Phosphat- et Konzentration Be Eee 
puffer anne (0) im Zentrifugat (c) |; en (=) aufgenommen ) 
4 NaOH | "/iooooo mol.Ros.beng. "/s50000 Mol. 165 0,00024 Millimol 
Neutral | "/100 000 ” ” "/eoo 00 | 5 0,00033 „ 
4 HOl : "/100 000 ” ” < Us 000 000 | > 60 — 0,00039 ” 
4 NaOH 100000 mol. Hosin don mol. 0,25 0,000029 Millimol 
Neutral | "/a00000  » iR) 4 600000 | 0,5 0,000042 en) 
4 HCl | aooooo 9 </g000000 » ‚> 20 > 0,000103 2 


Die Aufnahme des Farbstoffs durch die Zellen erfolgt sehr rasch 
und nach 10 Minuten dauerndem Kontakt dürfte das Gleichgewicht 
zwischen Außenlösung und Körperchen annähernd erreicht sein. Denn 
auch bei längerem, bis 2 Stunden dauernden Kontakte erfolgte keine 
weitere, wenigstens mit unserer Bestimmungsmethode nachweisbare 
Farbstoffaufnahme durch die Körperchen. 

Aus der Tabelle III geht weiter hervor, daß mit Zunahme der Farb- 
stoffkonzentration die Aufnahme in die Blutkörperchen steigt, jedoch 
weniger als es der Zunahme der Farbstoffkonzentration entspricht. 
Der Verteilungsquotient (aus der Lösung verschwundener Farbstoff: 
verbleibender Farbstoff) nimmt somit bei Zunahme der Farbstoff- 
konzentration ab. Dieses Verhalten erinnert an Adsorptionsvorgänge. 


Um zu entscheiden, ob die Farbstoffaufnahme durch die Adsorptionsformel 
darstellbar ist, war eine genauere Methode der Farbstoffbestimmung im Zentri- 


Über die Wirkung von Eosin und Rose bengale auf rote Blutkörperchen usw. 253 


fugat, wie die bisher angewendete, notwendig. Mit Hilfe des Spektroskops wurde 
die Farbstoffkonzentration ermittelt, deren Absorptionsstreifen dieselbe Breite 
und Dichte hatte wie der des Zentrifugats. Die kleinen Spuren von Hämoglobin, 
die bei Einwirkung selbst sehr verdünnter Farbstofflösungen auf die Blutkörper- 
chen aus diesen austraten, stören hier nicht, da der Absorptionsstreifen des Rose 
bengale zwischen den beiden Hämoglobinstreifen liest und nur mit dem zweiten 
Hämoglobinstreifen noch etwas zusammenfällt. Eine Verschiebung des Absorp- 
tionsgebiets des Rose bengale — wie sie durch Serum erfolgt!) — tritt durch kleine 
Hämoglobinmengen nicht ein. Auf diese Weise gelang die Bestimmung der Farb- 
stoffkonzentration bis zu einer Fehlergrenze von weniger als + 5%. 


In der folgenden Tabelle ist ein Versuch mit Rose bengale in ver- 
schiedenen Konzentrationen bei neutraler Reaktion wiedergegeben. 


Tabelle V. Aufnahme von Rose bengale bei neutraler Reaktion (25 cem 80°/, 
Blutkörperchen + 25 ccm Farbstofflösung). 


Ursprüng- Verteilungsquotient 
liche Kon- Konzentration Blutkörperchen: |Durch die Körperchen 1 
zentration des Zentrifu- Außenlösung R x — 
der Außen- gats (c) a-c en (>) ® 
lösung (a) | e ) 
Yen 000 mol. Eisen 000 mol. | 25) | 0.000357 Millimol Y 0 66 
an = | 3 0,000247 : 
150000 » 60000 3 ” } 0.59 | Mittel 
1) Y 3,5 ' -0,000195 : Be 
200 000 ») 90000 » 3 i) ” Y 0, 50 t 
/ 1) 5 ' -0,000138 BR 
300000 » 1800 000 » | h) ” 0144 0 54 
"/ao0 00 uf 000 000 6,5 | 0, 000109 a) | \0, 0, 53 : 
"/soo000 » | a. 1/6 000 000 » ca. 9 ea. 0,000075 2" 


& en B 
Gilt das Adsorptionsgesetz Sa k.c", so muß sich eine Gerade 


ergeben, wenn man die Logarithmen der zusammengehörenden Kon- 
zentrationen des Zentrifugats (c) und der durch die Körperchen aufge- 


3 
nommenen Farbstoffmenge — 
m 


in ein Koordinatensystem ein- 
trägt?). Die so erhaltene Kurve 
(Abb. 2) zeigt, daß dies in 
der Tat mit genügender Ge- 
nauigkeit der Fall ist. 

In Tabelle V sind noch die 


1 
Werte des Exponenten vn ein- 


getragen, wie sie sich aus je 
zwei aufeinander folgenden 
Konzentrationen berechnen). Sein Mittelwert ist 0,54, hat also eben- 
falls die bei Adsorptionen meist beobachtete Größe. 

l) Busck, Biochem. Zeitschr. 1, 516. 1906. 


®) Freundlich, Zeitschr. f. physikal. Chemie 57, 391. 1907. 
2) Vgl. S. Loewe, Biochem. Zeitschr. 42, 163. 1912. 


\ 


254 A. Jodlbauer und F. Haffner: 


Die Aufnahme der Farbstoffe durch Blutkörperchen 
folgt also innerhalb des untersuchten Konzentrations- 
bereichs dem Adsorptionsgesetz. 


III. Zusammenhang vor Aufnahme und Wirkung. 

Die nächste Frage war, ob die unter Farbstoffeinwirkung eintretende 
Hämolyse nur auf der durch die Körperchen aufgenommenen Farb- 
stoffmenge beruht!). 

Es wurden daher Farbstofflösungen in Konzentrationen, die erst 
nach mehreren Stunden zur Hämolyse führen, mit Körperchen versetzt. 
Nach 10 Minuten wurde ein Teil derselben der Lösung entnommen, 
durch Waschen von der Außenlösung befreit. Die Hämolyse trat in 
den farbfrei gewaschenen Proben nach der gleichen Zeit ein, wie in 
den farbstoffhaltigen Proben. Dasselbe konnte auch für die photo- 
dynamische Wirkung festgestellt werden. Die gewaschenen Körperchen 
wurden hier sogar früher lytisch als die in der Farbstofflösung befind- 
lichen, was auf der Abschwächung der Lichtwirkung infolge Absorption 
durch die Farbstofflösung beruhen dürfte. 

Von der Tatsache ausgehend, daß sowohl Farbstoffaufnahme wie 
lytische Wirkung von der H'-Konzentration abhängen, wurden Blut- 
körperchen in 3 HCl-Mischungen, teils mit, teils ohne Zusatz von !/zg o00 
mol. Rose bengale vorbehandelt (10 cem 3% Blutkörperchensuspension 
+ 10 cem 3HC]1-Phosphatmischung + 10 cem Y/;oo00 mol. Rose bengale, 
beziehungsweise NaCl-Lösung). Nach Abzentrifugieren kamen die mit 
Farbstoff vorbehandelten Körperchen in Phosphatmischungen ver- 
schiedener Reaktion (von 5 HCl bis 6 NaOH), die nicht mit Farbstoff 
vorbehandelten in die gleichen Phosphatmischungen, jedoch mit Zu- 
satz von Y/syonn mol. Rose bengale. Der Versuch (Tabelle VI) ergab, 


Tabelle VI. 
So Ber | sucı | 4Hcı | 3HcC1 | 2HCI 0  |2NaOH,3Na0H|4NaOH 5 NaOH | 6 NaOH 
In farbstofffreien | | 
Phosphatgemen- | Or | Oae | Oze | 8 — 6 6- 6- | 6+ 
gen nach Vorbe- |0,5+-+ | | | I Sp 48 
handlung mit Rose ZA DA Date 2A 1245 DEZ DI Den 
bengale | | | 
In Phosphatge- | m 7% | 2 0 per? Be; 
mengen + Rose Ösr | O- d- = 6 br 
bengale nach Vor- 0,5++ | | IS SF = 
behandlung ohne | 24 + 2447244741244 124 24 — 24 24 
Rose beneale | | | 


++ vollständige, + teilweise, — keine Hämolyse. 


1!) Über Zusammenhang von färbender und abtötender Wirkung auf Bakterien 


s. Eisenberg, Centralbl. f. Bakt. u. Parasitenk. 91, 445. 1913. 


Über die Wirkung von Eosin und Rose bengale auf rote Blutkörperchen usw. 255 


daß die Lyse bei den mit Farbstoff vorbehandelten und danach in 
farbstofffreies Medium gebrachten Körperchen rascher eintritt und selbst 
noch in Phosphatmischungen der alkalischen Seite, in d:nen die nicht 
mit Farbstoff vorbehandelten Körperchen selbst nach 24 Stunden 
noch keine Hämolyse zeigten. 

Für die biologische Wirkung der Farbstoffe ist somit nur 
dievonderZelleaufgenommeneFarbstoffmenge maßgebend. 
Da unter allen untersuchten Bedingungen Rose bengale durch die 
Zellen viel reichlicher aufgenommen wird als Eosin, so ist der Schluß 
berechtigt, daß die stärkere (lysierende, wie fixierende) Wir- 
kung des Rose bengale mit seiner Mehraufnahme ursächlich 
zusammenhängt. Dem widerspricht nicht, daß bei neutraler Reak- 
tion das Verhältnis der Wirkungsstärken von Rose bengale: Eosin 
betreff Hämolyse (100 : 1) ein wesentlich anderes ist, als das Verhältnis, 
das sich bei der Aufnahme der Farbstoffe in unseren Versuchen ergab 
(annähernd 4:1). Diese beiden Verhältniszahlen können nämlich 
nicht miteinander verglichen werden, da die lysierende Wirkung nur 
in hohen, die Aufnahme durch die Zellen nur in sehr niederen Konzen- 
trationen bestimmt werden konnte und — wie bereits erwähnt — die 
Unterschiede der Aufnahme mit der Zunahme der Farbstoffkonzentra- 
tion größer werden. 


IV. Die physikalisch-chemische Natur des Aufnahmevorganges. 

Es war zunächst zu erwägen, ob die gefundene Abhängigkeit der 
Aufnahme von der Reaktion und ihr Verlauf gemäß der Adsorptions- 
formel bestimmte Schlüsse auf die Art des Aufnahmevorganges zulassen. 

Die Förderung der Aufnahme saurer Farbstoffe bei Zunahme der 
Acidität findet sich auch bei einer Reihe nicht organisierter Systeme 
wie bei der Färbung von Tonplatten, der Adsorption an Kohle, dem 
Übergang aus Wasser in Butylalkohol, der Bindung an genuines und 
koaguliertes Eiweiß!), somit bei ganz verschiedenartigen che- 
misch-physikalischen Vorgängen. Ebenso vieldeutigistauch der Ver- 
lauf der Aufnahme nach der Adsorptionsformel, da durch sie sowohl 
gewisse rein physikalische Lösungsvorgänge, wie z. B. die Verteilung 
von Farbstoff zwischen Wasser und Butylalkohol, wie auch unter be- 
stimmten Bedingungen rein chemische Vorgänge darstellbar sind 2). 

Im folgenden wurde versucht, den Aufnahmevorgang durch Modell- 
versuche aufzuklären. In Betracht gezogen wurde: 


1. Bedeutung des Diffusionsvermögens. Das Diffusionsvermögen 
dürfte für die Aufnahme durch rote Blutkörperchen nicht maßgebend sein, da in 


1) Literatur s. Bethe, Wien. med. Wochenschr. S. 499, 1916, vgl. auch Höber, 
Physik. Chemie d. Zelle u. d. Gewebe, 4. Aufl. S. 245. 1914. 
2) Höber, loc. eit. S. 223f. u. 407. 


256 A. Jodlbauer und F. Haffner: 


bezug auf die Aufnahme durch Blutkörperchen Eosin <’ Rose bengale, in bezug 
auf Diffusion in Gelatine E. > R. b. ist!). (Durch Pflanzenzellen wird im Gegen- 
satz zu Blutkörperchen E. > R. b. aufgenommen.) 

2. Bedeutung der „Lipoid“-Löslichkeit. Beide Farbstoffe, die in 
Wasser weitgehend löslich sind — Eosin noch stärker als Rose bengale — sind 
in Neutralfett (Olivenöl), Paraffinum liquidum, Chloroform nicht merklich in 
Lösung zu bringen. Aus wässerigen Farbstofflösungen — in den Konzentrationen, 
aus denen die Blutkörperchen Farbstoff aufnehmen (T/,yo00 mol.) — geht selbst 
bei langdauernder Ausschüttelung mit gleichen Mengen Olivenöl, nichts in letzteres 
über. 

Dagegen findet ein Übergang in höhere Alkohole statt, wie Reinders:) 
unter anderen für Eosin zeigte. Auch hier ist der Verteilungsquotient um so größer, 
je niederer die Farbstoffkonzentration und je höher die H--Konzentration der 
wässerigen Lösung ist. Um Eosin und Rose bengale nach dieser Richtung ver- 
gleichen zu können, wurde eine Reihe von Farbstoffkonzentrationen mit gleichen 
Mengen Isobutylalkohol bis zum Gleichgewicht geschüttelt und colorimetrisch 
der Verteilungsquotient bestimmt (siehe Tabelle VII). 


Tabelle VII. Verteilung zwischen Wasser und Isobutylalkohol (wässerige 
Farbstofflösungen mit gleichen Mengen Butylalkohol */, Std. geschüttelt). 


Konzentration der wässerigen Lösung Verteilungs- 
quotient 
vor Ausschüttelung nach Ausschüttelung a-c 
a c ; e 
U/\00o mol. Rose bengale reon mol. Rose beng. | 5.5 
1 1 
/2000 „ „ „ /15 000 „ ” „ 6,5 
1 ıl 
/5000 65) ” „ [a5 000 „ bb) ” 8 
nl 1 
/1o 000 u) ” /100 000 „ ” ” 3) 
1 1 
/25 000 ” „ /300 000 „ ” „ 11 
1 
Uso 000 ” „ < la 000 000 ” ah) „ > 40 
1/1000 mol. Eosin Ca oo molsaRlosın ca.1 
al 
1/2000 ” „ /s000 „ oe)" 1,5 
1/5000 ER) ” !/ıs 008 „ „ 2,6 
Yo 000 „ | 1/60 000 ah) eb) 5 
1/ | 1 6 
/25 000 ») oh) Y125 000 ” ” 
1 | al 
/ 50 000 ” ” | zZ [2.000 000 6) > 40 


Die Löslichkeit in höheren Alkoholen relativ zu Wasser ist so- 
mit für Rose bengale größer alsfür Eosin. Der Unterschied macht sich um 
so mehr geltend, je höher die Farbstoffkonzentration ist. 

Auch in die Lipoide findet Übertritt statt, und zwar ebenfalls Rose bengale 
>> Eosin3). Die Aufnahme durch die Körperchen würde somit im Gegensatz 
zu der durch Pflanzenzellen nach der Lipoidtheorie erklärbar sein). Ob es sich 
aber bei der „Lipoidlöslichkeit‘‘ von Farbstoffen um einen rein physikalischen 
Lösungsvorgang handelt und nicht vielmehr um eine chemische Reaktion muß 
nach den Ergebnissen Nirensteins°) sehr bezweifelt werden. 


l) Ruhland, Biochem. Zeitschr. 54, 70. 1913. 

2) Kolloidzeitschr. 13, 96. 1913. 

3) Ruhland, loc. eit. S. 65. — Höber, Biochem. Zeitschr. 20, 74. 
4) S. auch v. Möllendorff loe. eit. S. 521. 

5) Loc. eit. S. 303. 


Über die Wirkung von Eosin und Rose bengale auf rote Blutkörperchen usw. 257 

3. Bedeutung von Adsorptionsvorgängen. Nach Michaelis und 
Rona!) muß unterschieden werden zwischen Adsorption von Nichtelektrolyten 
und Elektrolyten. Die Oberflächenaktivität ist nur für die Adsorption von 
Nichtelektrolyten von Bedeutung, kommt also für die Aufnahme von Eosin und 
Rose bengale durch die Blutkörperchen wohl nicht in Betracht. Dies ist auch 
schon aus den Versuchen von Traube und Köhler?) zu entnehmen, nach 
welchen Rose bengale eine geringere Oberflächenaktivität besitzt als Eosin und 
ganz allgemein die saueren Farbstoffe keine Parallelität zwischen ihrer Oberflächen- 
aktivität und ihrer biologischen Wirkung erkennen lassen. 

Die Adsorption der Elektrolyten verläuft bei dem elektroneutralen Adsorbens 
Kohle in Form einer äquivalenten Adsorption von Anion und Kation („apolare 
Ionenadsorption“), bei ionogenen Adsorbentien unter einer der Salzbildung 
vergleichbaren Anlagerung des entgegengesetzt geladenen Jons („polare Ad- 
sorption“). In Anlehnung an die Versuche von Michaelis und Rona, nach 
denen die Adsorption von Eosin an Kohle als apolare Ionenadsorption, die an 
Eisenhydroxyd als polare verläuft, wurde geprüft, bei welchem dieser beiden Ab- 
sorbentien die Reihenfolge der Adsorbierbarkeit von Eosin und Rose bengale 
dieselbe ist, wie bei ihrer Aufnahme durch die Blutkörperchen. 

Aus Tabelle VIII und IX ist die Anordnung der Versuche ohne weiteres zu er- 
sehen. Der Versuch mit Kohle würde bei verschiedener Reaktion angestellt, und 
zwar in Neutral-, in 5 NaOH- und in 3 HCl-Phosphatmischung. 


Tabelle VIII. Adsorption an Kohle 

(0,1 g Kohle !/, Std. mit 40 cem Farbstoff- 

Phosphatlösung verschiedener Reaktion 
geschüttelt, dann filtriert). 


Tabelle IX. Adsorption an Eisen- 

hydroxyd (1g Eisenhydroxyd [Kahlbaum] 

mit 40 ccm Farbstofflösung 1 Std. ge- 
schüttelt, dann filtriert). 


Ursprüngliche Reaktion Konzentration Ursprüngliche Konzen- Konzentration 
Konzentration | im Filtrat tration im Filtrat 
Uzoooo mol. | alkalisch | "/g5o000 mol. 1/0000 mol Rose beng. | !/ı1o000 mol. 
1 1 1 
Rose ben- neutral [350000 /100 000 „ „ /2a000 
; 1 1 1 
gale Sauer | *"/aooon /200 000 » 9 on /so0 000 
: IH 1 ; 1 
Yy ol alkalisch | !/300000 /so000 mol. Eosin /zo000 mol. 
30000 ° t 2 1 1 1/ 1/ 
Bosin neutra Ia5000 1000 a) 14000 » 
1 1 1 
sauer [600000 /200 000 „ 7 [280000 


An Kohle wird Eosin deutlich stärker adsorbiert als Rose bengale. 
Dieser Unterschied ist bei höherer Farbstoffkonzentration als der des mitgeteilten 
Versuchs, noch viel deutlicher; z. B:- sinkt bei Ausschüttelung von Y/jooo mol. 
neutraler Farbstofflösungen die Konzentration von Eosin auf !/;yooo mMol., die 
von Rose bengale auf !/,o00- 

Die Adsorption an Kohle verhält sich somit umgekehrt wie die 
Aufnahme durch die Körperchen, gleichsinnig dagegen verhält sich 
die Bindung durch das ionogene Adsorbens Eisenhydroxyd. 

4. Bindung an Biokolloide. Die Bindung der Farbstoffe an Biokolloide 
ist durch Heidenhain, Sörensen u. a. bewiesen, für Eosin und Rose bengale 
im besonderen auch durch Busck (loc. cit.) eingehend studiert worden. Nach 
unserem heutigen Wissen kann diese kolloidchemische Bindung als Salzbildung 
zwischen Farbstoff- und Kolloidionen aufgefaßt werden. 


1) Biochem. Zeitschr. 9%, 55. 1919 u. 102, 275. 1920. 
2) Internat. Zeitschr. f. Biologie 2, 197. 1915. 


258 A. Jodlbauer und F. Haffner: 


Vergleichende Untersuchungen über die Bindung von Eosin und Rose bengale 
an Kolloide wurden mit Gelatine!) und mit Serum angestellt. 

In der einen Versuchsreihe wurden 20 ccm Farbstoffgelatinelösung (T/;,o00 
mol. Farbstoff + 0,05% Gelatine) mit Il ccm 1% HCl versetzt und mit 20 cem 
Chloroform geschüttelt. Die Emulsion wurde durch Zentrifugieren getrennt, 
ein bestimmter Teil des Chloroforms entnommen und mit gleicher Menge schwacher 
Lauge ausgeschüttelt. Die colorimetrische Messung ergab, daß aus der Rose- 
bengale-Gelatinemischung Y/1s0000 mol., aus der Eosin-Gelatinemischung !/-y 000 
mol. Farbstoff mit Chloroform extrahierbar waren und somit von der ursprüng- 
lichen Konzentration des Rose bengale 58%, von der des Eosin 28% von der Gela- 
tine festgehalten waren. Analog wurde ein Versuch mit Serum angestellt, dessen 
Anordnung und Ergebnis in Tabelle X zu ersehen ist. 


Tabelle X. Bindung an Serum (25 ccm Farbstofflösungen mit verschiedenen 
Mengen Serum versetzt, mit Kochsalzlösung auf 36 cem aufgefüllt; nach Zusatz 
von 4 cem 10°/, HC] mit 40 cem ‚Chloroform ausgeschüttelt). 


Farbstoffkonzentration | Serumzusatz Nicht gebundener (extrahier- 
im Gemenge | cem | barer) Farbstoff 
! 1 
A 0,5 /s00'000 mol. 
/soo0o mol. Rose beng. ! | 2.0 En 
1 
10,0 /2.000000 » 
| 1 1 
a R | 0,5 | /s0000 —"/55 000 mol. 
/50 000 mol. Bosin | 2,0 | Dre 000 PR 
1 
10,0 | /z0000 


Gelatineund Serum binden somit, ebenso wiedie Bl utkörperchen, 
Rose bengalein vielgrößerer Mengeals Eosin. 

Aus den Modellversuchen geht hervor, daß für die Aufnahme von 
Eosin und Rose bengale durch die Blutkörperchen, weder die Diffusi- 
bilität im Sinne Ruhlands, noch eine Adsorption auf Grund von Ober- 
flächenaktivität, noch eine äquivalente Ionenadsorption (wie bei der 
Farbstoffadsorption an Kohle) maßgebend ist. Der Aufnahme 
durch Blutkörperchen analog verhalten sich dagegen die 
aufphysikalischenLösungsvorgängen beruhende Verteilung 
zwischen Wasser und höheren Alkoholen, wie auch die auf 
elektrochemischen Beziehungen beruhende Bindunganein 
ionogenes Adsorbens (Eisenhydroxyd) und an Biokolloide 
(Serum, Gelatine). 

Ob der physikalische oder der elektrochemische Vorgang für die 
Aufnahme der Farbstoffe durch Körperchen bestimmend ist, wird durch 
die Modellversuche nicht entschieden. 

Die elektrochemischen Beziehungen zwischen Farbstoffen und 
Protoplasma sind durch die neuen Arbeiten von Bethe, Czapek?), 


!) Über Eosinbindung an Gelatine und ihre Zunahme. durch Aciditäts- 
steigerung s. auch Michaelis u. Davidsohn, Biochem. Zeitschr. 54, 328. 1913. 

2) Jahrb. f. wissensch. : Botanik’ 56, 104. 1914; s. auch Endler, Biochem. 
Zeitschr. 45, 361. 1912. . : = 


Über die Wirkung von Eosin und Rose bengale auf rote Blutkörperchen usw. 259 


Nirenstein, v. Möllendorff u. a. ganz allgemein in den Mittel- 
punkt der Diskussion über die Farbstoffaufnahme durch Zellen getreten. 

Für Eosin und Rose bengale konnte nun in vorliegenden Versuchen 
(I. Abschnitt) gezeigt werden, daß beiden Farbstoffen schon in niederen 
Konzentrationen ganz charakteristische Wirkungen auf den Kolloid- . 
zustand der Blutkörperchenbestandteile eigen sind, wobei wie bei 
der Aufnahme durch die Körperchen Rose bengale > Eosin ist. 

Es dürfte deshalb vor allem die Bindung der Farbstoffe an 
die Blutkörperchenkolloide für ihre Aufnahme durch die 
Körperchen als maßgebend in Betracht kommen. 

Für die Farbstoffaufnahme durch fixierte Zellen ist heute die von 
Heidenhain begründete kolloid-chemische Auffassung wohl allgemein 
angenommen!). Betreffs des Aufnahmemechanismus von Eosin und Rose 
bengale durch rote Blutkörperchen dürfte nach den vorliegenden 
Versuchen — wenigstens in prinzipieller Beziehung — kein Unter- 
schied zwischen fixierten und überlebenden Zellen bestehen. 


Zusammenfassung. 

Die Wirkung von Eosin und Rose bengale auf rote Blutkörperchen 
im Dunkeln hängt wesentlich von der H'-Konzentration ab. Bei niederen 
Farbstoffkonzentrationen erfolgt Hämolyse am raschesten bei saurer 
Reaktion; mit Abnahme der H'-Konzentration ist hierzu immer mehr 
Farbstoff nötig. Bei höheren Farbstoffkonzentrationen kommt es auf 
der sauren Seite an Stelle der Lyse zu Fixierung. 

Der Wirkung auf die Körperchen entspricht eine als typische An- 
ionenwirkung anzusprechende Änderung des Kolloidzustandes der Kör- 
perchenbestandteile: Verstärkung ihrer Flockbarkeit in der Wärme — 
bei genügend hoher Konzentration auf der sauren Seite Flockung 
bereits bei Zimmertemperatur —, gleichzeitig aber Verschiebung des 
Flockungsbereichs nach der sauren Seite zu, so daß schließlich die Hitze- 
koagulation im Neutralpunkt aufgehoben ist. Bei den höheren Farb- 
stoffkonzentrationen deckt sich der Reaktionsbereich der Fixierung 
der Körperchen mit dem der Flockung ihrer Kolloide bei Zimmer- 
temperatur und ebenso der Bereich der Hämolyse mit dem, in welchem 
die Hitzekoagulation der Kolloide aufgehoben ist. Die Ursache der 
Hämolyse durch die beiden Farbstoffe wird daher in einer Hydratations- 
steigerung gewisser Blutkörperchenbestandteile erblickt, die ja auch 
der Aufhebung der Hitzekoagulierbarkeit zugrunde liegt. Rose bengale 
wirkt sowohl auf die Körperchen als solche wie auf ihre Kolloide in 
allen Fällen viel stärker als Eosin. 

Beide Farbstoffe werden durch überlebende Körperchen aufgenom- 
men, wie schon bei sehr niederen Konzentrationen nachzuweisen ist, 


1) Vgl. Michaelis, Arch. mikr. Anat. 94, 580. 1920. 


260 A. Jodlbauer u. F. Haffner: Wirkung von Eosin und Rose bengale usw. 


und zwar um so mehr, je höher die H-Konzentration und wiederum 
Rose bengale >> Eosin. Die Aufnahme durch die Körperchen folst 
dem Adsorptionsgesetz. Bei höheren Farbstoffkonzentrationen kommt 
es zu sichtbarer Färbung, jedoch nur auf der sauren Seite. 

Für die biologische Wirkung ist nur die von den Körperchen aufge- 
nommene Farbstoffmenge maßgebend; die stärkere Wirkung von Rose 
bengale steht in ursächlichem Zusammenhang mit seiner stärkeren 
Aufnahme. 

Der Aufnahmevorgang durch die Zelle könnte nach Modellversuchen 
sowohl im Sinne eines physikalischen Lösungsvorganges wie auch 
einer auf elektrochemischer Beziehung beruhenden Bindung an ein 
ionogenes Adsorbens beziehungsweise an Biokolloide erklärt werden. 
Auf Grund der festgestellten Wirkung der beiden Farbstoffe auf die 
Blutkörperchenkolloide wird die kolloidehemische Bindung als der 
maßgebende Faktor für die Aufnahme durch die überlebenden Blut- 
körperchen angenommen. 


(Aus dem Pharmakologischen Institut der Reichsuniversität Utrecht.) 


Die Erregung des überlebenden Uterus und Darmes durch 
Organextrakte und -dialysate (besonders aus dem Uterus). 


Von 
E. Louis Backmann. 


(Mit 21 Textabbildungen.) 
(Eingegangen am 29. März 1921.) 


Durch die Untersuchungen von Weiland!) wissen wir, daß der Darm 
einen Stoff produziert, welcher die Eigenschaft besitzt, die Darmbe- 
wegungen zu erregen. Le Heux?) führte dann den Nachweis, daß 
dieser Stoff Cholin ist. Ein Kaninchendünndarm kann innerhalb einer 
Stunde bis zu 3mg Cholin an die Außenflüssigkeit abgeben. Auf Grund 
seiner Versuche bezeichnet Le Heux das Cholin als ein Hormon der 
Darmbewegung. 

Es liegt also sehr nahe, auch in anderen automatisch wirksamen 
Organen nach Hormonen zu suchen, die diese Automatie wenigstens teil- 
weise bedingen und verstärken. Im Anschluß an die Versuche von 
Weiland, aber noch ohne Kenntnis der Ergebnisse von Le Heux, hat 
Engelhard?) in der Utrechter Frauenklinik Versuche darüber angestellt, 
ob auch im Uterus derartige Stoffe vorhanden sind. Uteri von schwan- 
geren und nichtschwangeren Kühen (in einzelnen Versuchen auch von 
Kaninchen, Katzen und Menschen) wurden 2—3 Stunden lang in 
Wasser von 38° C gelegt, die Außenflüssigkeit dann gekocht, filtriert, 
auf dem Wasserbade eingedampft, der Rückstand in absolutem Alkohol 
gelöst, filtriert, eingedampft und dann mit Äther ähnlich behandelt. 
Der Rückstand wurde dann in Wasser gelöst, etwas eingeengt und mit 
der gleichen Menge Ringerlösung von doppelter Konzentration ver- 
mischt. Die Wirkung der so erhaltenen Flüssigkeiten wurde am über- 
lebenden Kaninchenuterus in Tyrodelösung geprüft. Engelhard 
schließt aus seinen Versuchen, daß die untersuchten Flüssigkeiten die 
automatischen Bewegungen des überlebenden Kaninchenuterus ver- 
stärken. Aus seinen Kurven ergibt sich, daß diese Wirkung in den 


1) Weiland, Arch. f. d. ges. Physiol. 14%, 171. 1921. 
?2) Le Heux, Arch. f. d. ges. Physiol. 193, 8. 1918; 1%9, 177. 1920. 
2) Engelhard, Nederl. Tijdschr. v. Verloskunde en Gym. %%, 11. 1921. 


Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 189. 18 


262 E.L. Backmann: Die Erregung des überlebenden Uterus und Darmes 


Einzelversuchen mit verschieden großer Deutlichkeit hervortritt. So 
zeigen beispielsweise die Kurven 3, 6, 11 und 14 einen deutlichen, aber 
nicht sehr starken Effekt, während in anderen Versuchen z. B. den 
Kurven 1, 2, 18 und 19 der Ausschlag gering bzw. nicht überzeugend ist. 

Meine im nachfolgenden zu schildernden Versuche gingen von der 
Frage aus, ob die wirksame Substanz der Uterusextrakte ebenfalls 
Cholin ist wie am Darme. Dieses war allerdings schon von vornherein 
wenig wahrscheinlich, weil bekanntlich der Uterus verhältnismäßig un- 
empfindlich gegenüber dem Cholin ist!). 

Anhangsweise seien hier noch Versuche von Köhler?) erwähnt, welcher bei 
Menschen gefunden zu haben glaubte, daß Organextrakte, z. B. aus Schilddrüse, 
Thymus usw. die Wehentätigkeit des graviden Uterus verstärken, und im Anschluß 
daran eine erregende Wirkung der Organextrakte Luteoglandol, Ovoglandol 
und Thyreoglandol (Hoffmann-_La Roche) .am isolierten Meerschweinchen- 
uterus feststellen konnte. Dadie Herstellungsweise dieser Extrakte nicht bekannt 
ist, läßt sich nicht beurteilen, inwieweit die in ihnen enthaltenen wirksamen Stoffe 
in den Organen präformiert sind; auch ist von Köhler nicht geprüft, inwieweit 
irgendein Zusatz zu diesen käuflichen Extrakten die beobachtete Wirkung be- 
dingt hat. 

Wenn man nach Stoffen in automatisch arbeitenden Organen fahn- 
den will, welche die Automatie dieser Organe verursachen oder ver- 
stärken, kann man dieses auf zwei verschiedene Weisen versuchen. 

Erstens kann man, wie dies Weiland und Le Heux getan haben, 
das Organ in überlebendem Zustande in körperwarmer Salzlösung auf- 
bewahren und dann die pharmakologischen Eigenschaften dieser Salz- 
lösung untersuchen. Man erhält dann allerdings in der Außenflüssigkeit 
nur solche Stoffe, welche aus dem Organ heraus diffundieren können, hat 
aber den großen Vorteil: 1. einen großen Teil der Gewebsbestandteile 
dieser Organe nicht mit in Lösung zu bekommen, und 2. sicher zu sein, 
daß die gefundenen wirksamen Stoffe während des überlebenden Zu- 
standes frei in dem Organ vorhanden waren. Nur diesem Umstande ist 
es zu danken, daß Le Heux die Rolle des Cholins für die Darmbewe- 
gungen aufklären konnte. Man kann die so gewonnenen Flüssigkeiten 
als Dialysate bezeichnen, und falls das Organ dabei in überlebendem 
Zustande sich befand, als Biodialysate. 

Im Gegensatz hierzu stehen die Organextrakte, bei deren Her- 
stellung das Organ abgetötet, zerkleinert und mit irgendwelchen Ex- 
traktionsmitteln behandelt wird. Es ist selbstverständlich, daß man 
auf diese Weise ein außerordentlich verwickeltes Gemisch von Organ- 
bestandteilen bekommt und keine Sicherheit besitzt, daß die in Lösung 
gegangenen Stoffe in dem Organ präformiert waren. Sie können auch 


1) E. Berlin, Zeitschr. f. Biol. 68, 376. 1918. 
®?) Köhler, Monatshefte f. Geburtsk. u. Gyn. 52, 240. 1920; Zentralbl. 
Gynäkol. 1915, Nr. 51. 


durch Organextrakte und -dialysate (besonders aus dem Uterus). 263 


ebenso gut erst während der Extraktion aus irgendwelchen Vorstufen 
abgespalten worden sein. 

Als Prüfungsobjekt diente, außer dem überlebenden kanns, auch 
der Darm, welche nach der im hiesigen Institut gebräuchlichen Methode 
in 70 cem Tyrode- oder Ringerlösung von 38° unter Luftdurchleitung 
am Schreibhebel suspendiert waren. Die Einzelheiten der Methode sind 
von Neukirch!), Storm van Leeuwen?) und anderen genau ge- 
schildert worden. Vor jeder Prüfung wurde das Versuchsgefäß zwei- 
bis dreimal mit frischer Tyrode- oder Ringerlösung ausgewaschen, so 
daß sich das Organ vor jedem neuen Extraktzusatz in reiner Salz- 
lösung befand. Der Zusatz der zu prüfenden Lösungen geschah mit 
Pipette am Rande des Glasgefäßes. Sämtliche Lösungen wurden vor 
dem Zusatz auf 38° erwärmt. 

Die zu meinen Versuchen verwendeten Kuhorgane wurden aus dem 
hiesigen Schlachthaus unmittelbar nach dem Schlachten ins Laborato- 
rium gebracht und sofort weiter verarbeitet. 


I Versuche mit Biodialysaten. 


Versuch I. Ein nichtschwangerer Kaninchenuterus wurde dem frisch getöteten 
Tier entnommen, und in 10 ccm Tyrodelösung von 38° C unter Luftdurchleitung 
2 Stunden lang gehalten. Von dem so erhaltenen Dialysat wurde 1 ccm der Außen- 
flüssigkeit eines überlebenden Kaninchendünndarmes (in 70 ccm Tyrodelösung) 
zugesetzt. Die Wirkung des Uterusdialysates bestand in einer deutlichen Ver- 
größerung der Pendelbewegungen und Tonussteigerung. An einem 
Darmstück trat, nach Zusatz von 0,1 mg Atropin, 
eine kleine vorübergehende Hemmungswirkung 
auf, an einem anderen Darmstück war Atropin- 
zusatz ohne Einfluß?). 

Eine gleiche Wirkung wurde auch in 2 
anderen Versuchsreihen erhalten. Auch hier war 
der Kaninchenuterus 2 Stunden lang in 10 ccm 
Tyrodelösung überlebend gehalten worden. 2 ccm 


1) P. Neukirch, Arch. f. d. ges. Physiol. 
147, 153. 1912. 

2) W. Storm v. Leeuwen, Diss. Utrecht 
1919, S. 56. 

3) Seitdem Le Heux festgestellt hat, daß 
die Hemmungswirkung kleiner Atropindosen am Abb.1. Kaninchendarm in Tyrode- 


Darm durch das Vorhandensein von Cholin in sung. Bei a wird ccm eines 
Kaninchenuterusdialysates (2 Stun- 


der Darmwand bedingt ist, während am cholin- den in 10cem Tyrode) zugesetzt. 
freien oder am cholinarmen Darm Atropin nur Bei b 0,lmg Atropin. (Auf '/, ver- 
erregend wirkt, ist es nicht mehr erlaubt, zu _ kleinert.) 


schließen, daß jede Tonusverminderung, welche 

nach Atropinzusatz an einem durch ein anderes Gift erregten Darme eintritt, auf 
einem Antagonismus des Atropins gegenüber diesem erregenden Gifte beruht. Es 
kann sich auch um eine antagonistische Beeinflussung des Darmcholins handeln. 
Besondere Kontrollversuche müssen im Einzelfalle hierüber entscheiden. Dagegen ist 
esnach wie vor beweisend, wenn nach Atropinzusatz keine antagonistische Hemmung 
eintritt; aus einem derartigen Verhalten können sichere Schlüsse gezogen werden. 

18* 


264 E.L. Backmann: Die Erregung des überlebenden Uterus und Darmes 


dieses Uterusdialysates riefen eine deutliche Zunahme der Pendelbewegungen 
des isolierten überlebenden Kaninchendarmes hervor, die durch 0,1 mg Atropin 
nicht nennenswert beeinflußt wurde. 

Schon daraus, daß die erregende Wirkung des Uterusdialysates durch 
Atropin nicht antagonistisch aufgehoben wird, läßt sich schließen, daß 
dieselbe nicht, oder wenigstens nicht zum größten Teile 
durch Cholin bedingt sein kann. 

Dasselbe läßt sich durch den Acetylierungsversuch beweisen. Reid 
Hunt!), Dale?), Le Heux®) haben gezeigt, daß durch Acetylieren des 
Cholins die Wirksamkeit desselben auf den isolierten Darm mindestens 
500 mal gesteigert wird. 21/, ccm des Uterusdialysates wurde auf dem 
Wasserbade eingedampft, in Alkohol gelöst, filtriert, getrocknet, der so 
erhaltene Rest mit einigen Tropfen Essigsäure-anhydrid acetyliert und 
am Wasserbad eingedampft. Der Rückstand wurde in 5 ccm Tyrode- 
lösung gelöst, und dann die Wirkung an zwei überlebenden Kaninchen- 
därmen geprüft. Die Wirksamkeit des Dialysates war durch die Acety- 
lierung nur 4—8mal gesteigert. Hieraus ergibt sich, daß die erregende 
Wirkung des Dialysates nur zu einem ganz kleinen Bruchteil auf Cholin 
beruhen kann, und daß die Hauptwirksamkeit auf das Vor- 
handensein vonanderen erregenden Stoffen bezogen werden 
muß. 

In 2 weiteren Versuchen wurde der Kaninchenuterus 3 Stunden lang 
in 10 ccm körperwarmer Tyrodelösung der Biodialyse unterworfen. 
l ccm dieses Dialysates wirkte deutlich erregend auf den Darm. Diese 
Erregung ließ sich durch Zusatz von 2mal 0,1 mg Atropin nicht antago- 
nistisch aufheben. 


Versuch 2. Der nächste Versuch sollte die Frage entscheiden, ob man aus gra- 
viden Uteris stärker wirksame Dialysate erhalten kann. Ein frühgravider Kanin- 
chenuterus (Gewicht 5,5 g) wurde 4 Stunden lang in 20 ccm Tyrodelösung auf die 
vorher beschriebene Weise gehalten. Dann wurde die Wirksamkeit des Dialysatesan 
4 verschiedenen überlebenden Darmstücken dieses selben Kaninchens geprüft. 
An 2 Darmschlingen trat nach Zusatz von 1 ccm Dialysat eine sehr kräftige Tonus- 
steigerung auf. Nach dem Auswaschen bewirkte 1,3 mg Cholin Kontraktions- 
vergrößerung und geringe Tonussteigerung. Nach nochmaligem Auswaschen 
hatte dasselbe Uterusdialysat einen schwächeren Effekt. Die beiden anderen 
Darmschlingen desselben Tieres reagierten schwächer auf das Dialysat. Doch 
trat auf Zusatz von 1 ccm eine geringe, auf Zusatz eines weiteren Kubikzentimeters 
eine deutliche Kontraktions- und Tonussteigerung hervor (Abb. 2). In diesem 
Versuche ließ sich die erregende Wirkung des Dialysates durch Zusatz von 0,1 mg 
Atropin vorübergehend hemmen. Doch darf man hierauf kein Gewicht legen, 
da dieselben Darmschlingen auch ohne Zusatz des Dialysates auf Atropin mit 
Hemmung reagierten (Abb. 2). 


1) Reid Hunt, Bull. Publ. Health a. Mar. Hosp. serv. %3. 1911 
*) Dale, Journ. of pharmacol. a. exp. therapeut. 6, 146. 1914. 
3) Le Heux, Arch. f. d. ges. Physiol. 199, 177. 1920. 


durch Organextrakte und -dialysate (besonders aus dem Uterus. 265 


Aus den bisher geschilderten Versuchen ergibt sich also, daß der über- 
lebende Kaninchenuterus Stoffe an die‘ Außenflüssigkeit abgibt, die 
erregend auf den Kaninchendarm wirken, und daß diese Erregung wenig- 
stens in einem Teil der Versuche durch Atropin nicht aufgehoben werden 
kann. Durch Acetylieren läßt sich keine nennenswerte Steigerung der 
Wirksamkeit hervorrufen. Es kann also die erregende Wirkung dieser 
Dialysate nicht auf das Vorhandensein von Cholin zurückgeführt 
werden. 

Durch die Versuche von O’Connor!) u. a. wissen wir, daß im Blute 
bei der Gerinnung Stoffe entstehen, welche u. a. auch auf den über- 
lebenden Darm erregend wirken. Trotzdem die Tiere in meinem Ver- 
suche nach Nackenschlag verblutet worden sind, sieht man in der 
Uteruswand die Blutcapillaren stellenweise noch mit rotem Blut gefüllt. 


\ 


Abb. 2. Kaninchendarm. Bei a wird 1 ccm, bei db noch 1 ccm eines Dialysats von früh- 

gravidem Kaninchenuterus (4 Stunden in 20 ccm Tyrode) zugesetzt. Bei ce wird 0,1 mg Atropin 

zugefügt, bei x 3maliges Auswaschen. Bei d noch einmal Zusatz von 0,1 mg Atropin (auf !/, 
verkleinert). 


Es ist daher nicht ganz undenkbar, daß die Wirkung des Uterusdialy- 
sates nur von den eben genannten Blut- oder Serumstoffen bedingt sein 
könnte, welche während des überlebenden Zustandes des Organes [aus 
Blutplättchen ??)] entstehen könnten. Daß dieses aber nicht der Fall 
ist, ergibt sich aus einigen Versuchen, die durch folgendes Beispiel ver- 
anschaulicht werden. 


Versuch 3. Ein nichtgravider Kaninchenuterus (Gewicht 1,1g) wurde 4 Stun- 
den lang in 20 ccm Tyrodelösung gehalten. Die Wirksamkeit dieses Dialysates wurde 
an 4 überlebenden Kaninchendarmschlingen geprüft. Abb. 3a zeigt, daß nach 
Zusatz von 1 ccm (a) eine deutliche, bei Zusatz von weiteren 2cem des Dialysates 
(b) eine noch stärkere Erregung der Pendelbewegungen eintritt. Auf Abb. 3b 
sieht man, daß !/,, ccm Kaninchenserum (a) nach vorübergehender Hemmung 
eine schwache, und Zusatz von !/, ccm Kaninchenserum (5) eine deutliche Er- 
regung hervorruft. Die Wirksamkeit des Dialysates ließ sich durch Acetylieren 
nur etwa 20fach steigern, so daß mindestens 96% der Erregungswirkung unabhängig 
von Cholin sein müssen. Der Darm wird durch 1 ccm des Dialysates, entsprechend 


1) O’Connor, Arch. f. experim. Pathol. u. Pharmkol. 67, 202. 1912. 
®2) Freund, Arch. f. experim. Pathol. u. Pharmakol. 86, 278. 1920. 


266 E.L. Backmann: Die Erregung des überlebenden Uterus und Darmes 


0,055 gdes benutzten Uterus, ungefähr ebenso stark erregt wie durch 0,15 cem 
Serum. Die Wirksamkeit des Uterusdialysates kann also weder durch dessen 
Gehalt an Serumstoffen noch auch durch die Summe von Serumstoffen und Cholin 1) 
erklärt werden. 

Die erregende Wirkung des Serums auf den isolierten Kaninchendünndarm 
wird durch Atropin nicht antagonistisch aufgehoben, wie zahlreiche Versuche 
des hiesigen Laboratoriums ergaben. Trotzdem erfolgt auf Abb. 3b nach Zusatz 
von 0,05 mg Atropin (bei c) eine deutliche Hemmung. Es ist das einfach der Aus- 
druck dafür, daß an diesem Darme Atropin auch ohne sonstigen Zusatz hemmend 


Abb.3a. Kaninchendarm. Bei a wird 1 ccm, Abb. 3b. Kaninchendarm. Bei a wird !/,, ccm, 
bei b noch 2 cem eines Kaninchenuterus- bei 5 noch !/,, cem Kaninchenserum, bei ec 
dialysates (4 Stunden in 20 cem Tyrode) 0,05 mg Atropin zugesetzt. 


zugesetzt. Bei c 0,05 mg Atropin. 


wirkt. Das gleiche erfolgt auf Abb. 3a (bei c) nach vorherigem Zusatz von Uterus- 
dialysat; man darf aus derartigen Kurven also nicht schließen, daß die Wirkung 
des Dialysates durch Atropin antagonistisch aufgehoben wird. 

Aus diesem Versuche geht also hervor, daß die erregende Wirkung 
des Uterusdialysates zum größten Teile von anderen Stoffen bedingt 
sein muß als den bei der Gerinnung entstehenden Serumbestandteilen 
und dem Cholin. Macht man die unwahrscheinliche Annahme, daß der 
entblutete Uterus noch 10% seines Gewichtes an Blut enthielt, so 
kann die beobachtete Erregungswirkung doch nur zu 4% auf dem 
Serum und zu 4%, auf Cholin beruhen. Über 90%, der Wirkung wird 
durch andere, noch unbekannte Stoffe veranlaßt. 

Ehe ich diese quantitativen Verhältnisse übersehen konnte, habe ich 
noch auf eine andere Weise versucht, den Einfluß der Serumstoffe bei 
diesen Versuchen auszuschließen, wie folgendes Versuchsbeispiel zeigt: 

Versuch 4. Ein schwangeres Kaninchen- wurde getötet und verblutet, und 
ein Teil des Uterus in situ abgebunden. Von der Bauchaorta aus wurden nun der 
nicht abgebundene Teil des Uterus und die Därme 15 Minuten lang mit Tyrode- 
lösung durchspült. Das Gewicht des abgebundenen Uterushornes betrug 9g; 
dieses wurde 2 Stunden lang in 30 ccm Tyrodelösung dialysiert. Der durchspülte 
Teil des Uterus wog 15g und wurde ebensolange in 40 ccm Tyrodelösung gelegt. 
40cm Dünndarm lagen gleichzeitig in 40 ccm Tyrodelösung. Die 3 Dialysate 
wurden danach 24 Stunden lang im Eisschrank bewahrt und dann an 2 Kaninchen- 
dünndarmschlingen geprüft. Schon 2cem des Dialysates von dem durchgespülten 


!) Serum und Cholin zeigen am isolierten Darm keine Wirkungspotenzierung 
(s. u. S. 277)- 


durch Organextrakte und -dialysate (besonders aus dem Uterus). 267 


Uterushorn (entsprechend 0,75 g Ausgangsmaterial) riefen deutliche Kontraktiöns- 
steigerung hervor, die nach Zusatz von weiteren 4ccm noch stärker wurde und 
mit Tonussteigerung gepaart gings. Von dem Dialysat des nichtdurchgespülten 
Uterushornes bewirkten 2 ccm (entsprechend 0,6 g Ausgangsmaterial) Kontraktions- 
steigerung und weitere 4ccem Tonuszunahme. Il ccm des Darmdialysates bewirkte 
starke Tonussteigerung, welche durch 0.01 mg Atropin antagonistisch aufgehoben 
wurde. 

Wenn es natürlich bei einem schwangeren Uterus auch nicht möglich 
ist, bei der Durchspülung mit physiologischer Salzlösung alles Blut 
aus den Gefäßen, vor allem der Placenten, zu entfernen, so spricht die 
Feststellung, daß die Dialysate aus dem durchspülten und dem nicht 
durchspülten Horne ungefähr von gleicher Wirksamkeit waren, sehr 
stark dafür, daß auch in diesem Versuche die erregenden Eigen- 
schaften der Uterusdialysate nicht durch Serumbestandteile be- 
dingt sein können. 

Diesem positiven steht ein negativer Versuch gegenüber, in welchem ein früh- 
gravider Kaninchenuterus (Gewicht 7 g) 25 Minuten von der Aorta aus mit Tyrode- 
lösung durchspült und danach 4 Stunden lang in 30 cem Salzlösung dialysiert 
wurde. Das Dialysat erwies sich als wirkungslos. Da in diesem Falle nicht vorher 
zur Kontrolle das eine Uterushorn abgebunden worden war, läßt sich nicht be- 
urteilen, ob der Uterus vor der Durchspülung genügend erregende Stoffe enthielt. 
Auf letzteren Faktor muß geachtet werden, denn in einem anderen Versuche, 
in welchem ein Uterushorn vor der 15 Minuten dauernden Durchspülung abgebun- 
den war, zeigten sich die Dialysate beider Hörner unwirksam. Aus derartigen 
Experimenten lassen sich natürlich keine Schlüsse ziehen. 

In dem zuletzt erwähnten negativen Versuche erwies sich das Dialysat aus 
12,5 g mit Salzlösung von der Aorta aus durchgespültem Darm in 20 cem Tyrode- 
lösung als stark wirksam am isolierten Darm: 1 ccm bewirkte deutliche Erregung 
der Pendelbewegungen und Tonussteigerung, die durch 0,05 mg Atropin anta- 
gonistisch aufgehoben wurden. An diesen Darmschlingen rief 0,5—1,0 mg Cholin 
starke Erregung hervor. Der Versuch zeigt, wie zu erwarten war, daß die Wirk- 
samkeit des Darmdialysates (Cholinwirkung) durch vorherige Ausspülung der 
Blutgefäße nicht beeinträchtigt wird. 

Die bisher geschilderten Versuche haben gezeigt, daß der überlebende 
Kaninchenuterus bei der Biodialyse an physiologische Salzlösung Stoffe 
abgibt, welche den isolierten Darm erregen. Die Erregungswirkung dieser 
Lösungen läßt sich durch Atropin nicht antagonistisch aufheben und 
durch Azetylieren nicht wesentlich verstärken. Infolgedessen kann es 
sich nicht um Cholin handeln. Der Vergleich der Reizstärke der Dia- 
lysate mit der des Serums vom gleichen Tier, sowie der Dialysate der 
beiden Uterushörner des gleichen Tieres, von denen das eine von der 
Aorta aus mit Salzlösung durchspült worden war, zeigt, daß auch die 
bei der Gerinnung entstehenden Serumbestandteile den beobachteten 
Effekt nicht bedingen können. In einem Versuche, in welchem die 


_ quantitative Berechnung durchgeführt werden konnte, war über 90% 


der Erregungswirkung durch andere Stoffe als Cholin plus Serum ver- 
ursacht. 


268 E.L. Backmann: Die Erregung des überlebenden Uterus und Darmes 


‘Die Versuche sind bisher nicht sehr zahlreich und müssen daher 
noch an einem größeren Material nachgeprüft werden. 

Die bisher geschilderten Experimente mit Uterusdialysaten sind 
sämtlich am überlebenden Dünndarm als Testobjekt angestellt worden. 
Es war dieses durch die Fragestellung bedingt, von welcher meine Unter- 
suchung ausging, nämlich ob die Wirksamkeit der Uterusdialysate auf 
dem Vorhandensein von Cholin beruht. Denn die Empfindlichkeit des 
Darmes für Cholin war im hiesigen Institut aus den Versuchen von 
Le Heux besonders gut bekannt. Man muß natürlich aber an-die Mög- 
lichkeit denken, daß gewisse in der Uteruswand vorhandene Erregungs- 
substanzen nicht oder schwächer auf den Darm, dagegen spezifisch auf 
den Uterus wirken. Infolgedessen habe ich auch einige Versuche über 
die Wirksamkeit der Dialysate am Kaninchenuterus vorgenommen. 
Vom Kaninchenuterus wurden die beiden Hörner abgeschnitten und 
in Tyrodelösung suspendiert. In einer Versuchsreihe stellte sich heraus, 
daß nur das Dialysat des nicht durchgespülten Uterushornes eine ganz 
schwache Tonussteigerung am Uterus hervorrief, während das Dialysat 
des durchspülten Uterushornes wirkungslos wart). 


II. Versuche mit Extrakten. 


Weil die Dialysate vom Kaninchenuterus demnach in einigen Vor- 
versuchen nur eine schwache Wirkung auf den Kaninchenuterus zeigten, 
habe ich, ähnlich wie das Engelhard getan hat, den Kuhuterus als 
Ausgangsmaterial benutzt, und von diesem Extrakte und Dialysate 
hergestellt. Da die Uteri vom Schlachthaus geholt werden mußten, 
und also nicht mehr in deutlich lebendem Zustand im Laboratorium 
ankamen, können wir in den folgenden Versuchen nicht mehr von Bio- 
dialysaten reden. 


Versuch 5. Ein nichtschwangerer Kuhuterus wurde in 2 Teile geteilt, die 
eine Hälfte (330 g) in 300 cem Wasser von 38° C 2 Stunden lang extrahiert (= Dia- 
lysat A), der andere Teil (320g) zuerst mit der Fleischhackmaschine zerkleinert 
und dann ganz ähnlich behandelt (= Extrakt B). Beide Flüssigkeiten wurden 
dann abfiltriert, 5 Minuten lang gekocht, filtriert und 18 Stunden lang im Keller 
aufbewahrt. Darauf wurden sie auf dem Wasserbade getrocknet, der Rückstand 
mit absolutem Alkohol ausgezogen und filtriert, der Alkohol auf dem Wasserbade 
verjagt, der Rückstand mit Äther extrahiert, filtriert und der Äther vertrieben. 
Der trockene Rückstand wurde in 10 ccm Tyrodelösung aufgenommen. In gleicher 
Weise wurden 20 cem Blutserum mit Blutkuchen von der Kuh behandelt und der 
schließliche Rückstand in 10 ccm Tyrodelösung aufgenommen. Die Wirksamkeit 
dieser 3 Extrakte wurde an 2 Uterushörnern eines nicht graviden Kaninchens 
und 2 überlebenden Dünndarmschlingen desselben Tieres geprüft. Das Dialysat 
A zeigte deutliche Wirkung. Durch 1 ccm werden die automatischen Bewegungen 
des Uterushornes etwas vergrößert, auf Zusatz von weiteren 2ccm werden die 
Bewegungen wie auch der Tonus deutlich gesteigert (Abk. 4a). 


!) Derartige Versuche müssen noch an empfindlicheren Uteruspräparaten 
(vom Meerschweinchen) wiederholt werden. 


durch Organextrakte und -dialysate (besonders aus dem Uterus). 269 


Abb. 4a. Kaninchenuterus. Bei « wird 1 cem, bei b 2 ccm eines Dialysats von 300 g Kuh- 
uterus zugesetzt (2 Stunden in Wasser, dann gekocht, filtriert und mit Alkohol und Ather 
extrahiert und der Rückstand in 10 ccm Tyrodelösung gelöst). Bei x Wasserwechsel. 


Die Erregung wird durch Auswaschung beseitigt. Auf Zusatz von l ccm 
des Extraktes B tritt eine energische Tonussteigerung auf, später auch deutliche 
Automatie (Abb. 4b). 


Abb. 4b. Derselbe Kaninchenuterus. Bei ce wird 10 ccm eines Extraktes von 320 g zerhacktem 
Kuhuterus zugesetzt (2Stunden in Wasser, dann gekocht, filtriert, mit Alkohol und Äther extra- 
hiert, der Rückstand in 10 ccm Tyrode gelöst). Bei x Wasserwechsel. 


Nach dem Auswaschen tritt auf 0,2 ccm des Extraktes B etwa dieselbe Wirkung 
auf wienach 1 cem des Extraktes A (vgl. Abb. 4a). Das Extrakt B ist also mindestens 
5 mal wirksamer als Dialysat A (Abb. 4c). Schließlich wurde Blutextrakt zugesetzt, 
doch ohne deutiche Wirkung. Die Empfindlich- 
keit der Uterushörner war stark geschwächt. 

An den überlebenden Därmen ist lccm 
von Dialysat A ohne Wirkung, 1 ccm von Ex- 
trakt BruftdagegenstarkeTonussteigerung her- 
vor, diese Tonussteigerung wird durch 0,025 mg 
Atropin nur vorübergehend gehemmt (Abb. 4d). 

Bis zu 2cem des Blutextraktes war ohne 
deutliche Einwirkung auf den Darm. 


Abb. 4c. Derselbe Kaninchenuterus. Bei Abp. 4d. Kaninchendarm von dem- 


d wird 0,2 cem von demselben Extrakt selben Tier. Bei « wird 1 ccm des in 
zugesetzt, der in Abb. 4b verwendet Abb. 4b verwendeten Extraktes zu- 
wurde. gesetzt. Bei b 0,025 mg Atropin. (Auf 


?/; verkleinert.) 


270 E.L. Backmann: Die Erregung des überlebenden Uterus und Darmes 


Dieser Versuch zeigt, daß aus dem Kuhuterus sich sowohl bei 
der Dialyse wie bei der Extraktion Stoffe gewinnen lassen, die 
den Kaninchenuterus erregen, und die in Alkohol und Äther löslich 
sind. Die Wirksamkeit ist aber gering. Die zur Erregung nötige 
Menge entsprach beim Dialysat 33g, beim Extrakt 6,4g des Aus- 
gangsmateriales. 


Versuch 6. In einer ähnlichen Versuchsreihe wurden 300g Kuhmuskel 
und 700g Kuhuterus durch die Fleischmaschine getrieben, mit Wasser in der 
oben beschriebenen Weise extrahiert, filtiert, 5 Minuten lang gekocht und nochmals 
filtriert. Die Flüssigkeiten wurden 18 Stunden im Keller bewahrt, dann mit Alkohol 
und Äther behandelt, schließlich in 20 bzw. 30 ccm Tyrodelösung aufgenommen 
und noch 20 Stunden im Keller stehengelassen. Von diesen Extrakten war 1—3 cem 
Muskelextrakt am überlebenden Uterus wie am Darm wirkungslos. Nur das 
Uterusextrakt bewirkte eine geringe Erregung der Uterushörner, welche aber 
in diesem Versuche sehr wenig erregbar waren, da 5 mg Cholin wirkungslos waren, 
und Img Histamin nur eine schwache Erregung hervorrief. Am überlebenden 
Dünndarm war der Muskelextrakt wirkungslos, dagegen rief Iccm des Uterus- 
extraktes deutliche Erregung der Darmbewegungen hervor, welche durch 0,01 mg 
Atropin sofort beseitigt wurde. Dieselbe Atropindosis war an denselben Darm- 
schlingen, wenn sie nicht vorher mit Extrakt erregt waren, ohne Wirkung. Das 
Uterusextrakt wurde darauf acetyliert und nochmals am Darme geprüft, es war 
eine Wirkungssteigerung um das 600fache eingetreten. 


Dieser Versuch ist wegen der schlechten Erregbarkeit des Uterus 
zu Schlüssen über uteruswirksame Substanzen nicht zu verwenden, 
zeigt aber, daß nach den Ergebnissen am Darme in derartige Uterus- 
extrakte Cholin übergehen kann, welches wohl bei der Bereitung (aus 
Phosphatiden ?) abgespalten worden ist. 


Versuch 7. In der folgenden Versuchsreihe wurden Extrakte aus Uterus, 
Placenta maternalis und Blut einer spätgraviden Kuh bereitet. Aus dem Uterus 
wurden die fötalen Teile der Placenta so gut wie möglich entfernt, was tatsächlich 
ziemlich gut gelingt. Dann wurden 500 g der Uteruswand nach Herausschneiden 
der mütterlichen Teile der Placenta mit der Fleischmaschine zerkleinert, in gewöhn- 
licher Weise mit Wasser extrahiert, nach Filtrieren 5 Minuten auf dem kochenden 
Wasserbade erhitzt und dann mit Alkohol und Äther extrahiert. Der Rückstand 
wurde in 20 ccm Tyrodelösung aufgenommen (Uterusextrakt A). Weitere 650 g 
desselben Uterus nach Entfernung der Placenten wurden ohne Zerkleinerung 
dialysiert, die Flüssigkeit in der gleichen Weise behandelt und der Rückstand 
in 20 ccm Tyrode aufgenommen (Uterusextrakt B). Von den mütterlichen Pla- 
centen wurden 650 g in derselben Weise extrahiert, nachdem sie in der Fleischhack- 
maschine zerkleinert waren und das Extrakt in 20 ccm Tyrode gelöst. 100g des 
koagulierten Blutes (Serum und Blutkuchen) wurden ähnlich extrahiert und der 
Rückstand in 20 ccm Tyrode aufgenommen. Die Wirksamkeit der Extrakte 
wurde an 2 Uterushörnern und an 2 Darmschlingen eines nichtgraviden Kaninchens 
geprüft. Sämtliche Extrakte riefen an den Uterushörnern starke Wirkungen 
hervor. Ein genauer quantitativer Vergleich ist aber schwierig, da die Empfind- 
lichkeit der Hörner im Laufe der Versuchszeit abnahm, so daß das Unterusextrakt A, 
welches zuerst eine äußerst starke Erregung hervorrief, am Schluß des Versuches 
nur sehr wenig wirkte. Bereits 0,5—1,5 ccm des Uterusextraktes A verstärkte die 
Automatie und rief starke Tonussteigerung des Uterushornes hervor (Abb. 5a). 


durch Organextrakte und -dialysate (besonders aus dem Uterus). al 


Der Placentarextrakt wirkte in der gleichen Menge ebenfalls tonussteigernd, 
ebenso Blutextrakt in einer Dosis von 0,5 + 1,5ccm (Abb. 5b). 

Der Uterusextrakt B, welcher aus der unzerkleinerten Uteruswand gewonnen 
war, wirkte deutlich schwächer, erst 7,5 ccm riefen eine Verstärkung der Kon- 


Abb.5a. Kaninchenuterus. Bei a wird 0,5, bei b 1 cem eines Fxtraktes aus 500 g zerhacktem 
spätgravidem Kuhuterus zugesetzt (2 Stunden in Wasser, dann erhitzt, filtriert und mit Alkohol 
und Ather extrahiert, der Rückstand in 20 cem Tyrode gelöst). Auf ?/, verkleinert. 


traktionen ohne deutliche Tonussteigerung hervor. Während sich also am Uterus 
Extrakte aus den geprüften Organen sämtlich wirksam erwiesen, war die Wirkung 
an den Därmen geringer. 1,5ccm des Uteruextraktes A war ohne Wirkung, 
l ccm des Placentarextraktes rief nur eine kleine Steigerung hervor, und 1,5 ccm 
Blutextrakt bewirkte sowohl Zunahme der Pendelbewegungen als des Tonus, 


Abb.5b. Kaninchenuterus. Bei a wird 0,5, bei b noch 1,5 ccm eines Extraktes aus 100 g Kuh- 
serum und Blutkuchen zugesezt (2 Stunden in Wasser, dann erhitzt, filtriert und mit Alkohol 
und Äther extrahiert, der Rückstand in 20 ccm Tyrode gelöst). Auf 1/, verkleinert. 


welche Wirkung durch 0,025 mg Atropin nur wenig gehemmt wurde. lccm des 
Uterusextraktes B war wirkungslos, 1 mg Cholin rief dagegen an den untersuchten 
Darmschlingen eine starke Kontraktionsvergrößerung mit Tonussteigerng hervor. 


In der zuletzt geschilderten Versuchsreihe erwies sich Uterusextrakt, 
Placentaextrakt und Blutextrakt auf den überlebenden Kaninchen- 
uterus von ungefähr gleicher Wirksamkeit. Da der Uterusmuskel 
jedenfalls nicht ausschließlich aus Blut besteht, so kann man schon 
hieraus schließen, daß die Wirksamkeit der geprüften Extrakte nicht 


272 E.L. Backmann: Die Erregung des überlebenden Uterus und Darmes 


ausschließlich auf dem Bluteffekt beruht. Eine genaue quantitative 
Untersuchung ist aber am Kaninchenuterus nicht möglich, da die Uterus- 
hörner während der Versuchsdauer ihre Empfindlichkeit zu stark ändern. 

Die folgenden Versuche wurden daher alle am überlebenden Meer- 
schweinchenuterus angestellt, welcher in einer nach Dale!) zu- 
sammengesetzten Ringerlösung suspendiert war und sich als ein vor- 
zügliches Testobjekt erwies. Das Präparat zeigt keine Eigenbewegungen, 
nur ganz ausnahmsweise kommen solche vor, und seine Empfindlichkeit 
bleibt auch nach stundenlanger Versuchsdauer vortrefflich. Von einem 
Tier kann man je nach Bedarf 2 oder 3 Stücke des Uterus gewinnen, 
und diese gleichzeitig schreiben lassen. Die Zusammensetzung der 
Flüssigkeit war folgende: 


Nach. 000 LEMgeh 2 Nee 29 0.007502 
KO 10 0,04292 7 2, GINAHCO, a 201050 
Cala ee 22,0102497 | Dextroserin,:, 3 a LORD, 


Zwischen jedem Einzelversuche wurde 3mal ausgewaschen. 
Die Empfindlichkeit des Objektes ist so groß, daß Organextrakte 
ohne weitere Einengung deutliche Wirkung hervorrufen. 


Versuch 8. So wurden von einer nichtgraviden Kuh 450g Uterusgewebe 
zerkleinert, mit 300 cem Wasser von 38° 2 Stunden lang extrahiert und 24 Stunden 
im Keller bewahrt. 150g 
geronnenes Blut derselben 
Kuh wurden mit 300 ccm 
Wasser ähnlich extrahiert 
und aufbewahrt. Dann wur- 
den die Extraktlösungen 
mit Ringerscher Flüssigkeit 
von doppelter Stärke ver- 
dünnt. Es ergab sich, daß 
6 ccm Blutextrakt fast wir- 
kungslos waren und nur 
ganz minimale automati- 


A sche Kontraktionen hervor- 

IM a \er riefen (Abb. 6). Dagegen 
ar en Sa bewirkte 1 ccm des Ute- 
"a x " rusextraktes (= 0,75 g Aus- 


gangsmaterial) starke lang- 
dauernde und sich wieder- 


Abb.6. Meerschweinchenuterus. Bei a wird 6ccm wässeriges 
Extrakt aus geronnenem Kuhblut (150 g Blut in 300 cem R 
Wasser 2 Stunden bei 38°), dann filtriert und 24 Stunden holende Kontraktionen. Da- 
aufbewahrt) zugesetzt. — x Wasserwechsel. — Beib wird nach hatten 9 cem des 
l cem wässeriges Extrakt von zerhacktem Kuhuterus zuge- Blutextraktes keine merk- 


setzt (450 g Uterussubstanz in 300 H,O ebenso behandelt). . i 
Beide Extrakte mit gleicher Menge doppelter Ringerlösung bare Wirkung. Das Uterus 
verdünnt. (Auf !/, verkleinert.) extrakt war darauf in 


der Menge von (0,5 ccm 

wirkungslos, dagegen traten nach Zusatz von insgesamt 1,5 ccm eine Reihe 
starker Kontraktionen auf. 

Die Wirkungslosigkeit des Blutextraktes beruht auf dem Alter desselben. 

An demselben Testobjekt wurde ein frisches Extrakt aus Blutserum einer spät- 


!) Dale, Journ. of pharmacol. a. exp. therapeut. 4, 517. 1913. 


durch Organextrakte und -dialysate (besonders aus dem Uterus). 273 


graviden Kuh in der Stärke von 1 Teil Serum auf 2 Teile Wasser geprüft. Das 
Extrakt wurde mit der gleichen Menge doppeltkonzentrierter Tyrodelösung ver- 
dünnt, schon 2 ccm riefen starke Uterusbewegungen hervor. 


Bei der geschilderten Versuchsanordnung läßt sich also zeigen, daß 
die Wirkung der Uterusextrakte nicht auf ihren Gehalt an Blut beruhen 
kann, denn 9 ccm Blutextrakt (wirkungslos) entsprechen 2,25 ccm un- 
verdünntem Blut, und wenn man annähme, daß der ganze Uterus nur 
aus Blut bestände, könnte 1 ccm des Uterusextraktes (stark wirksam) 
höchstens 0,75 cem reinem Blut entsprechen. Es ist also hiermit be- 
wiesen, daß der größte Teil der erregenden Wirkung von Uterusextrakt 
nicht auf dessen Gehalt an Blut oder Blutserum beruht. Für derartige 
quantitative Vergleichsversuche am Uterus ist es wichtig, die Ex- 
trakte 24 Stunden stehenzulassen, da frisches Blutserumextrakt deut- 

‚liche erregende Wirkungen besitzt, welche vielfach stärker sind als bei 
24 Stunden altem Serum. 


Die Angaben von Dittler!) und Freund?), daß die erregende 
Wirkung des Blutserums beim Stehen eher zu- als abnimmt, sind offen- 
bar für den Uterus und derartig verdünntes Blut nicht gültig. 


Versuch 9: Diese selben Extrakte aus Blutserum und Uterus der nicht- 
graviden Kuh wurden, nachdem sie 48 Stunden alt waren, nochmals an 3 neuen 
Uteruspräparaten vom Meerschweinchen geprüft; auch jetzt zeigten sich bis 6 ccm 
des Serumextraktes (entsprechend 1 ccm des ursprünglichen Serums) vollständig 
unwirksam. Dagegen wurden die Uterushörner durch 0,5—1 ccm Uterusextrakt 
(= 0,37—0,75 g Ausgangsmaterial) zu starker Wehentätigkeit angeregt. Das 
Uterusextrakt behielt seine Wirksamkeit, nachdem es 15 Minuten lang in kochen- 
dem Wasserbade erwärmt und dann filtriert war, unverändert bei. 

An denselben Meerschweinchenuteruspräparaten wurde dann vergleichsweise 
die Wirkung von Uterus- und Blutextrakten einer spätgraviden Kuh untersucht. 
750g des Kuhuterus wurden nach möglichster Entfernung der fötalen Placenten 
mit der Fleischhackmaschine zerkleinert, in 300 ccm Wasser 2 Stunden lang 
extrahiert, filtriert und 24 Stunden im Keller bewahrt. 65 g Blutserum des gleichen 
Tieres wurden mit 130 ccm Wasser in derselben Weise behandelt. 0,5 ccm dieses 
Uterusextraktes (= 0,6g Ausgangsmaterial) riefen bei allmählichem Zusatz 
starke Wehentätigkeit und mächtige Tonussteigerung hervor. Diese Wirkung 
ist etwa von derselben Größenordnung wie die des Extraktes aus nichtgravidem 
Uterus. Das Blutextrakt war in einer Menge von 6ccm (= lccem Ausgangs- 
material) ohne jeden Einfluß, danach rief Zusatz von 0,5 ccm Üterusextrakt 
sofort eine tetanusähnliche Tonussteigerung hervor, die Testobjekte hatten also 
ihre volle Erregbarkeit behalten. 

Die Wirksamkeit der gleichen Extrakte wurde auch noch an 2 Kaninchen- 
darmschlingen geprüft. Das gekochte und filtrierte Uterusextrakt der nicht- 
graviden Kuh war in einer Menge von 0,5ccm wirkungslos, durch Zusatz eines 
weiteren Kubikzentimeters wurde eine starke Tonussteigerung hervorgerufen, 
die sich durch !/,, mg Atropin antagonistisch aufheben ließ. Auch gekochtes und 
filtriertes Blutextrakt desselben Tieres führt in einer Menge von l ccm zu Tonus- 


1) Dittler, Zeitschr. f. Biol. 68, 223. 1918. 


?2) Freund, Arch. f. experim. Pathol. u. Pharmakol. 86, 278. 1920 und 
88, 39. 1920. 


274 E.L. Backmann: Die Erregung des überlebenden Uterus und Darmes 


steigerung und Vergrößerung der Pendelbewegungen, die sich durch die gleiche 
Atropindosis aufheben ließ. l ccm des wässerigen Extraktes aus dem Uterus der 
graviden Kuh rief starke Tonussteigerung hervor, die durch Atropin aufgehoben 
wird (Abb. 7). Das wässerige Blutextrakt der 
graviden Kuh war in einer Menge von Iccm 
wirkungslos. 

Das Blutextrakt aus dem Serum der nicht- 
graviden Kuh hat also auf den Darm nach 
48 Stunden seine Wirksamkeit noch nicht ein- 
gebüßt. 

Wässerige Extrakte aus zerhacktem 
Kuhuterus erregen demnach den Meer- 
schweinchenuterus stark. Aus 1/,—3/, & 
Ausgangsmaterial läßt sich bereits soviel 
extrahieren, als zur Erregung eines Meer- . 
schweinchenuterus in 70 ccm Tyrode- 
flüssigkeit genügt. Ein deutlicher Unter- 
schied in der Stärke von Extrakten aus 
graviden und nichtgraviden Uteris ließ 
sich nicht feststellen. Blutextrakte sind 
viel schwächer wirksam. 


Abb. 7. Kaninchendarm. Beia wird Versuch 10: In der nächsten Versuchs- 
1 cem eines wässerigen Extraktes reihe habe ich die uteruserregende Wirkung 
aus dem Uterus einer spätgraviden 
Kuh zugesetzt (750g des zerhackten Von Blut-, Muskel-, Darm- und Uterusextrakten 
Uterus mit 300 cem Wasser 2Stunden einer nichtgraviden Kuh vergleichend geprüft. 
ne Be Br und Vom Serum wurden 50g mit 200 ccm Wasser, 
en en Menze vom Muskel 300g mit 300 ccm Wasser, vom 
doppeltkonzentrierter Ringerlösung Darm 300g mit 300 cem Wasser und vom Uterus 
verdünnt. Bei b 0,025 mg Atropin. 450g mit 300 ccm Wasser 2 Stunden lang bei 
38° extrahiert, nachdem vorher sämtliche Organe 
mit der Fleischmaschine zerkleinert worden waren. Nach dem Filtrieren 
wurden die Extrakte 24 Stunden im Keller bewahrt. Danach wurden sie mit 
der gleichen Menge doppeltkonzentrierter Ringerlösung verdünnt. 2 Uterushörner 
eines Meerschweinchens dienten als Prüfobjekte. Bis 10 ccm des Serumextraktes 
(= 1g Serum) waren bei allmählichem Zusatz ohne jede Wirkung. Das Muskel- 
extrakt rief in einer Menge von 0,5—0,8 ccm (= 0,25—0,4 g Muskel) starke Kon- 
traktionen hervor. Vom Darmextrakt wirkte 0,1—0,2 cem (= 0,05—0,1g Darm) 
stark erregend, und vom Uterusextrakt riefen 0,9—1,2 cem (= 0,7—0,9g Uterus) 
ähnlich starke Kontraktionen hervor. Das Darmextrakt wirkt also, wenn man 
es auf die Ausgangsmenge umrechnet, etwa 10 mal stärker als das Uterusextrakt, 
während das Serumextrakt sich auch hier wieder als unwirksam erwies. An dem- 
selben Testobjekte wurde das Uterusextrakt nach dem Acetylieren geprüft, die 
Wirksamkeit wurde hierdurch etwa 100fach gesteigert. Die Empfindlichkeit 
dieser beiden Uterushörner gegen Cholin war sehr gering. Es mußten bis 9 mg 
zugesetzt werden, um eine Kontraktion auszulösen, während 4mg wirkungslos 
waren, dagegen rief 0,01 mg Acetylcholin eine fast ebenso starke Kontraktion 
hervor wie 9 mg Cholin. Es wurde also die Wirkung des Cholins durch Acetylieren 
etwa 900 mal gesteigert. Aus dem Acetylierungsversuch läßt sich also berechnen, 
daß die Wirksamkeit des Uterusextraktes mindestens zu 85—90% nicht durch 
Cholin hervorgerufen sein kann. 


durch Organextrakte und -dialysate (besonders aus dem Uterus). 275 


Dieser Versuch bestätigt das Ergebnis des vorhergehenden. Wässe- 
riges Extrakt aus 0,7—0,9 g Kuhuterus erregt den Meerschweinchen- 
uterus. Macht man die unwahrscheinliche Annahme, daß der ent- 
blutete Kuhuterus noch 10% Blut enthalten habe, so läßt sich be- 
rechnen, daß das Serum sich an den beobachteten Erregungswirkungen 
höchstens zu 7%, Cholin höchstens zu 15% beteiligt. Wie bei den 
Dialysaten läßt sich also auch beim Wasserextrakte zerkleinerter Uteri 
zeigen, daß die Erregungswirkung zum größten Teile auf anderen Stoffen 
beruht. 

Die bei der Extraktion zerkleinerter Organe in Lösung 
gehenden uteruserregenden Stoffe sind wenigstens zu einem großen 
Teile nicht organspezifisch. Sie finden sich auch in anderen Or- 
ganen. 


Versuch 11. In der folgenden Versuchsreihe wurden einige Extrakte aus 
Kaninchenorganen an 3 Präparaten eines Meerschweinchenuterus geprüft. Teils 
wurden wässerige, teils alkoholische Extrakte hergestellt: 


Kanmmehenserum.,. . 2.2... 5g in 10Occm Wasser, 
en, EN 5,» „ Alkohol (96 proz.), 
Kaninchenmuskel (zerkleinert) ...... 50, ,„ 100 ccm Wasser, 
38 ee ne a re: 50 ,, „ Alkohol, 
Kaninchendarm (reingespült und zerkleinert) 25 ,, „ 50 ccm Wasser, 
le ei ” E 25, „ Alkohol, 
Kaninchenuterus (postgravide, zerkleinert) . 10,, „ 20 ccm Wasser, 
er 3 RR . 10,, „ Alkohol. 


Sämtliche Extrakte wurden dann bei Zimmertemperatur 48 Stunden bewahrt, 
die wässerigen Extrakte mit Zusatz von reinstem Chloroform im Überschuß. 
Sie wurden danach sämtlich filtriert, die Wasserextrakte 20 Minuten im kochenden 
Wasserbade erhitzt, dann filtriert und nochmals 20 Minuten lang erhitzt. Die 
Alkoholextrakte wurden auf dem Wasserbade getrocknet, der Rückstand in 10,40, 
30,20 ccm Wasser gelöst und filtriert, dann wurden sämtliche Extrakte mit der 
gleichen Menge doppeltkonzentrierter Ringerlösung verdünnt. 

Die Wirksamkeit der wässerigen Extrakte war folgende: Vom Serumextrakt 
riefen erst 4-5ccm minimale Kontraktionen und Tonussteigerung hervor, die 
durch weitere 3ccm kaum gesteigert wurden. Diese 5ccm entsprachen lccm 
des ursprünglichen Serums. Vom Muskelextrakt veranlassen 1,5 —4,5 ccm (= 0,37 
bis 1,1g Muskel) stärkere Kontraktionen, welche viel größer sind als die nach 
Serumzusatz. 0,5—1,5ccm Darmextrakt (= 0,12-0,37g Darm) veranlassen 
starke Tonussteigerung und kräftige Automatie. Dagegen bewirken erst 1,7 ccm 
Uterusextrakt (= 0,43g Uterus) bei allmählichem Zusatz eine kleine Tonus- 
steigerung, etwa so groß wie die nach dem Blutextrakt. Die wässerigen Muskel- 
und Darmextrakte wirken viel stärker als das Uterusextrakt, während auch in 
diesem Versuche das Blutextrakt kaum wirksam war. Die stark erregende Wirkung 
der Muskel- und Darmextrakte kann jedenfalls nicht auf dem Blutgehalt dieser 
Organe beruhen. 

Die Alkoholextrakte waren in dieser Versuchsreihe deutlich wirksam, aber 
auch hier erwies sich das Serumextrakt als fast unwirksam. An 2 Testobjekten 
waren 4,5—5,5 ccm (= 1,25ccm Serum) wirkungslos, am 3. Objekt ließ 4,5 ccm 
eine kleine Tonussteigerung und Zunahme der Bewegungen auftreten. Schon 
0,2 ccm des alkoholischen Muskelextraktes (= 0,125 g Muskel) riefen dagegen an 


276 E.L. Backmann: Die Erregung des überlebenden Uterus und Darmes 


einem Objekt bereits deutliche Wirkung hervor und Zusatz von weiteren 0,5 cem 
(zusammen — 0,44 g Muskel) steigerte den Tonus gewaltig (Abb. 8a). 

An den beiden übrigen Objekten 
mußten 2,2 ccm zugesetzt werden, ehe 
deutliche Tonussteigerung auftrat. Vom 
Darmextrakt wirkte 0,3—2,9 ccm 
(= 0,125—1,2g Darm) stark tonus- 

steigernd und automatieerregend 
(Abb. 8b). 

Vom Uterusextrakt erwies sich 
0,5—3,2 ccm (= 0,125—0,8g Uterus) 
von ähnlicher Wirksamkeit (Abb. $e). 

Vergleicht man die Wirksamkeit 
der wässerigen und alkoholischen Ex- 
trakte miteinander, unter Berücksichti- 
gung der quantitativen Verhältnisse 
zum Ausgangsmaterial, so erweist sich 
das alkoholische Uterusextrakt als et- 
was stärker wirksam als das Wasser- 
extrakt. Bei den Auszügen aus den 
Abb. 8a. Meerschweinchenuterus. Bei a wird übrigen Organen zeigt sich dagegen 
0,2, bei b 0,5 cem eines Alkoholextraktes aus kein deutlicher Unterschied zwischen 


50 g zerhacktem Kaninchenmuskel zugesetzt 
asser- : 
(48 Stunden in Alkohol extrahiert, Altriert, ge- \ ser- und Alkoholextrakten 


trocknet und in 80 ccm Ringer gelöst). Darauf wurde die Empfindlichkeit 

der Uterushörner für Cholin geprüft. 
Das eine Uterushorn blieb durch 2mg Cholin 
unbeeinflußt, durch Zusatz von weiteren 
5 mg kam es zu mächtiger Tonussteigerung 
und Automatie. Das zweite Uterushorn wurde 


Abb. 8b. Meerschweinchenuterus. Bei Abb. Sc. Meerschweinchenuterus. Bei a wird 0,1, 

a wird 0,1, bei b 0,2 cem eines Alkohol- bei db 0,2 und bei ce noch 0,3ccem eines Alkohol- 

extraktes von 25 g gehacktem Kaninchen- extraktes aus 10 g zerhacktem postgravidem Kanin- 

darm zugesetzt (48 Stunden in Alkohol chenuterus zugesetzt (48 Stunden in Alkohol extra- 

extrahiert, filtriert, getrocknet und in hiert, filtriert, getrocknet und in 40 ccm Ringer- 
60 ccm Ringerlösung gelöst). lösung gelöst). 


durch 7 mg Cholin nur minimal und vorübergehend gereizt, das dritte Objekt 
konnte selbst durch 10 mg Cholin nicht erregt werden. 

Darauf wurde ein Acetylierungsversuch mit dem wässerigen Darmextrakt 
vorgenommen mit dem Ergebnis, daß !/,—!/s, ccm der ursprünglichen Extrakt- 
menge Tonussteigerung und Automatie hervorrief. Die Wirkungsstärke des Darm- 
extraktes war also durch Acetylieren etwa 20-40 mal gesteigert worden!). 


!) Es liegt hierin kein Gegensatz zu den Feststellungen von Le Heux, denn 
in diesem Versuche wurden Extrakte aus zerhacktem Darm untersucht, 


durch Organextrakte und -dialysate (besonders aus dem Uterus). DIET 


Ein ähnlicher Acetylierungsversuch wurde auch mit dem Alkoholextrakt 
aus Uterus vorgenommen und hierbei eine Wirkungssteigerung um das 30fache 
festgestellt. Darauf wurde ausgewaschen und noch einmal das alkoholische Uterus- 
extrakt zugesetzt, welches in einer Menge von 1—2ccm Tonussteigerung mit 
Automatie hervorrief. Die Empfindlichkeit der Testobjekte war also bis zum 
Schluß erhalten geblieben. 


Diese Versuchsreihe beweist 1., daß die erregende Wirkung der ver- 
schiedenen Organextrakte auf den Uterus durch den Blut- oder Serum- 
gehalt dieser Extrakte nicht wesentlich bedingt wird, da Blut oder 
Serumextrakte selbst fast unwirksam auf den Uterus waren. 

2. Daß die Wirkung auch nicht durch bakterielle Zersetzung hervor- 
gerufen wird (Chloroformzusatz) und auch nicht durch postmortale 
autolytische Vorgänge entsteht (Untersuchung alkoholischer und ge- 
gekochter Extrakte). Die fraglichen erregenden Substanzen sind in 
Alkohol ebenso leicht löslich wie in Wasser, sie sind kochbeständig und 
von Cholin verschieden. Die Wirkung der Extrakte wird durch Acety- 
lieren nur in sehr geringem Grade verstärkt, entsprechend ihrem ver- 
hältnismäßig geringen Cholingehalt. 

Man könnte noch an die Möglichkeit denken, daß die Extrakt- 
wirkung nicht auf Cholin allein oder auf Blutserum allein, sondern durch 
die Summation dieser beiden verursacht werde. Berücksichtigt man 
jedoch einerseits die großen Serummengen, welche wirkungslos sind, 
und andererseits die verhältnismäßig geringe Empfindlichkeit des Uterus 
gegen Cholin im Vergleich mit der starken Wirksamkeit der Organ- 
extrakte, die schon in so kleinen Mengen wirksam sind, daß der Serum- 
und Cholingehalt dieser Lösungen nur ganz minimal sein kann, so er- 
scheint es kaum denkbar, daß die Wirkung der Organextrakte durch 
ein Zusammenwirken von Cholin und Serumsubstanzen bedingt sein 
könnte. Beispielsweise wirkte am Meerschweinschenuterus das Alkohol- 
extrakt aus 0,125 g Uterus stark erregend, während der Alkoholextrakt 
aus 1,25 ccm Serum unwirksam war, und Cholin erst in einer Menge 
von 7 mg erregend wirkte. Aus dem Acetylierungsversuch ergibt sich, 
daß nur etwa (!/,—!/,,) der erregenden Wirkung des Uterusextraktes 
durch Cholin bedingt ist. Selbst wenn man die Verhältnisse so un- 
günstig wie möglich nimmt, ergibt sich aus diesen Zahlen, daß über 
94%, der erregenden Wirkung des Uterusextraktes weder durch Serum 
noch durch Cholin hervorgerufen worden ist. Diese Berechnung ist 
allerdings nur dann gültig, wenn sich Cholin und Serum- 
substanzinihrer Wirkungaufden Uterusnicht potenzieren. 
Daß dieses tatsächlich nicht der Fall ist, ergibt sich aus einer besonders 
angestellten Versuchsreihe von Dr. Le Heux. Beispielsweise waren 
an ein und demselben Präparate von Meerschweinchenuterus zur 
während Le Heux stets mit dem Biodialysat gearbeitet hat, dessen erregende 
Wirksamkeit auf den Darm ausschließlich auf Cholin beruht. 

Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 189. 19 


278 E.L. Backmann: Die Erregung des überlebenden Uterus und Darmes 


Erzeugung einer minimalen Erregung erforderlich: 2mg Cholin oder 
0,15—0,2 ccm Serum oder 0,1 ccm Serum + 1 mg Cholin. Eine wesent- 
liche Potenzierung läßt sich also am Uterus mit Sicherheit ausschließen. 


Versuch 12. Der letzte Versuch wurde mit Alkoholextrakten aus zerhackten 
Kuhorganen angestellt. Der Alkohol wurde nach 24 Stunden abfiltriert, auf dem 
Wasserbade werjagt, der Rückstand in Wasser gelöst, filtriert und dann mit der 
gleichen Menge doppeltkonzentrierter Ringerlösung verdünnt. Die quantitativen 
Verhältnisse ergeben sich aus folgender Zusammenstellung: 70 g Serum in 30 cem 
Ringer gelöst; 90 g Muskel in 40 cem Ringer; 120g Darm in 60ccm Ringer; 
150g Uterus in 60 cem Ringer. Ferner wurden 150 g Uterus in derselben Weise 

behandelt, der Rückstand in Methyl- 

alkohol gelöst und filtriert. Dann 

wurde so lange Aceton zugesetzt als 

noch ein Niederschlag entstand und 

abfiltriert, das Filtrat mit einer 

Methylalkohol-Acetonmischung vom 

gleichen Verhältnis gewaschen. Der 

Filterrückstand wurde in 30 cem 

Abb. 9 a ee En 2 BE heißem Wasser gelöst und 15 Minuten 

1, bes b2 und bet emoen Becm eine ARNO Iang. gekocht; die Methylalkohol- 

den in Alkohol, dann filtriert, getrocknet, in Acetonlösung auf dem Wasserbade 

30 cem Ringerlösung gelöst). eingetrocknet, der-Rückstand in 60cem 

Ringer gelöst und filtriert. 90 g Muskel 

wurden in gleicher Weise behandelt: die Acetonmethylalkohollösung auf dem 

Wasserbade eingetrocknet und in 60 ccm Ringer gelöst, die Acetonfällung in 
60 ccm Ringer gelöst und 15 Minuten lang gekocht. 

Als Testobjekte wurden 2 Uterushörner eines Meerschweinchens verwendet. 

Das Serumextrakt war in einer Menge von 8ccm (entsprechend 16 ccm des 
ursprünglichen Serums) bei allmählichem Zusatz an einem Uterushorn ohne jede 
Wirkung, am anderen Horn traten schwache Kontraktionen hervor (Abb. 9a). 


Abb. 9c. Meerschweinchenuterus. Bei a wird 


Abb. 9b. Meerschweinchenuterus. Bei «a wird 


0,2, bei b 0,5 ccm eines Alkoholextraktes 

aus 90 g gehacktem Kuhmuskel zugesetzt 

(24 Stunden in Alkohol, filtriert, getrocknet, 
in 40 ccm Ringerlösung gelöst). 


0,1 ccm eines Alkoholextraktes aus 120g zer- 

hacktem Kubdarm zugesetzt (24 Stunden in 

Alkohol, filtriert, getrocknet, in 60 cem Ringer- 
lösung gelöst). 


Dagegen riefen schon 0,2 ccm des Muskelextraktes (= 0,45 g Muskel) starke 


Tonussteigerung mit automatischen Kontraktionen hervor. 


Nach Zusatz von 


weiteren 0,5 ccm wird die Wirkung noch stärker (Abb. 9b). 
Ganz ähnlich wirkt 0,1—0,2 ccm des Darmextraktes (Abb. 9c), entsprechend 


0,2—0,4 g Darm. 


* 


durch Organextrakte und -dialysate (besonders aus dem Uterus). 


279 


Vom Uterusextrakt wirkten 0,3—1 cem (= 0,75—2,5 g Uterus) in derselben 


Weise (Abb. 9d). 


Am stärksten wirksam ist das Darmextrakt, am schwächsten das 
Uterusextrakt, das Serum kann auch in dieser Versuchsreihe als 


praktisch unwirksam betrach- 
tet werden. 


Der acetonlösliche Teil des 
Uterusextraktes rief an einem 
Uterushorn in einer Menge von 
0,7 cem Tonussteigerung und Au- 
tomatie (= 1,75 g Uterus) hervor, 
auf Zusatz von einem weiteren 
Kubikzentimeter trat sehr starke 
Erregung (Abb. 9e) ein; an dem 
anderen Horne bewirkte 1,7 ccm 
schwache, 2,7 ccm stärkere Erre- 
gung. Die Wirksamkeit des 
Uterusextraktes ist also durch 
die Acetonfällung auf etwa !/, 
vermindert worden. 

Hiermit stimmt überein, 
daß auch die Acetonfällung 
des Uterusextraktes erregend 
wirkt. An dem einen Uterus- 
horn riefen 2,7 ccm deutliche 
und weitere 5ccm sehr starke 
Erregung hervor, während an 
dem anderen Objekt 7,7 ccm 
wirkungslos waren. Der Effekt 
von 2,7 ccm (= 6,75 g Uterus) 
entspricht ungefähr der Wir- 
kung von 0,3 ccm des ursprüng- 
lichen alkoholischen Uterus- 
extraktes. Die Wirkungsinten- 
sität der Acetonfällung stellt 
also ungefähr !/,, der ursprünglichen 
Wirkung dar (Abb. 9f). 

Auch für den Muskelextrakt ließ 
sich ähnliches feststellen. Der aceton- 
methylalkohollösliche Teil rief in einer 
Menge von 1,7—3,7 ccm starke Erregung 
hervor. Durch die Acetonfällung ist die 
Wirksamkeit des Muskelextraktes auf 
!/„ vermindert worden. Die Aceton- 
fällung des Muskelextraktes rief erst bei 
allmählichem Zusatz von 6,5 ccm Erre- 
gung hervor, am zweiten Testobjekt 
waren 7,5 ccm wirkungslos. Die Aceton- 
fällung des Muskelextraktes ist etwa !/,, 
so wirksam als das ursprüngliche Ex- 
trakt. In beiden Fällen sieht man, daß 


Abb. 9d. Meerschweinchenuterus. 
bei b 0,2ccm eines Alkoholextraktes aus 150g 
zerhacktem Kuhuterus zugesetzt (24 Stunden in 
Alkohol, filtriert, getrocknet, in 60 ccm Ringer- 


Abb. 9e. 
b 0,5und bei e noch 1cem eines Alkoholextraktes aus 150g 
Kuhuterus zugesetzt, und zwar nur der in Methylalkohol- 
Aceton lösliche Anteil (24 Stunden in Alkohol, filtriert, 
getrocknet, in Methylalkohol + Aceton gelöst, filtriert, 
getrocknet und in 60 ccm Ringerlösung aufgenommen). 


Bei a wird 0,1, 


lösung gelöst). 


Meerschweinchenuterus Bei «a wird 0,2, bei 


Abb. 9f. Meerschweinchenuterus. Bei a wird 0,2, 
bei 5 0,5. bei e2 und bei dnoch 5cem desin der 
Methylalkohol-Acetonmischung unlöslichen An- 
teils des Kuhuterusextraktes zugesetzt. Dieser 
Anteil wurde in 60 cem Ringerlösung gelöst. 


195 


280 E.L. Backmann: Die Erregung des überlebenden Uterus und Darmes 


durch die Behandlung mit Methylalkohol-Aceton ein Teil der Wirkung ver- 
loren geht. 

Nach diesen Versuchen wurde nochmals der ursprüngliche Uterusextrakt 
zugesetzt, und gefunden, daß jetzt 0,4—0,6ccm noch stark erregend wirkten. 
Die Empfindlichkeit des Testobjektes hatte sich also im Laufe des Experimentes 
nicht wesentlich geändert. Danach wurde acetylierter Uterusextrakt untersucht: 
U 00 Vs, ccm wirkten deutlich erregend. Die Wirkungsstärke des Uterusextraktes 
hat also durch Acetylieren 20—30 mal zugenommen. 

Muskelextrakt wirkte jetzt in einer Menge von 0,5—0,8 ccm stark erregend. 
Vom acetylierten Muskelextrakt war !/,—!/,, ccm nötig. um gleichstarke Er- 
regung hervorzurufen, es war also die Wirksamkeit des Muskelextraktes durch 
Acetylieren etwa 8—10 mal gesteigert worden. Darauf wurde Cholin zugesetzt. 
Weder 14 mg noch 18 mg riefen irgendwelche Erregung hervor, während auch 
jetzt noch Zusatz von 0,3 ccm Darmextrakt zu starker Kontraktion Anlaß gab. 
Die Erregbarkeit der Präparate war also bis zum Schluß erhalten geblieben. 

Diese Versuche beweisen deutlich, daß-man aus zerkleinertem Muskel, 
Darm und Uterus mit Alkohol Stoffe extrahieren kann, welche auf den 
Meerschweinchenuterus tonussteigernd und kontraktionserregend wirken. 
Auch die Daten dieses Versuches sind ausreichend, um eine angenäherte 
Berechnung durchführen zu können, wieviel von der beobachteten 
Wirksamkeit dieser Extrakte höchstens auf dem Vorhandensein von 
Cholin und von Serum beruhen kann. Die an den Uteruspräparaten 
minimal wirksamen Dosen betrugen für Serum 18 g, für Muskel weniger 
als 0,4 g, für Darm 0,2 g, für den Uterus 0,75 g. Die Wirksamkeit der 
Extrakte wurde durch Azetylieren am Muskel S—-10fach, am Uterus 
20—30fach gesteigert. 18 mg Cholin waren unwirksam auf die Uterus- 
präparate.. Nimmt man an, daß !/,, der ursprünglich verwendeten 
Organe aus Serum bestanden habe, eine Annahme, welche jedenfalls 
die Wirklichkeit weit übertrifft, so läßt sich hieraus berechnen, daß in 
dem Muskelextrakt die Wirksamkeit höchstens zu 1% auf Cholin und 
zu Y/,% auf Serumbestandteilen beruhen kann, so daß beinahe 99% 
der beobachteten Wirkung auf anderen Substanzen beruhen muß. 
Am Uterus kann die Wirksamkeit nur zu 1/,%, auf Serum, und zu 3% auf 
Cholin beruhen, so daß 96!/,%, der Wirkung auf anderen Substanzen 
beruhen muß als Cholin und Serumbestandteilen. Diese Bestandteile 
sind wenigstens teilweise löslich in Methylalkohol und werden in methyl- 
alkoholischer Lösung durch Acetonzusatz nur zu einem kleinen Teile 
gefällt. 


Zusammenfassung. 


1. Biodialysate vom Kaninchenuterus enthalten Stoffe, welche den 
Kaninchendarm erregen. Die Wirkung wird durch Atropin nicht anta- 
gonistisch aufgehoben und durch Azetylieren nur wenig verstärkt. Es 
kann sich also nicht um Cholin handeln. Das Serum des gleichen Tieres 
kann weniger wirksam sein als das Uterusbiodialysat. Quantitative 
Auswertung in einem Versuche ergab, daß über 90% der beobachteten 


durch Organextrakte und -dialysate (besonders aus dem Uterus). 281 


Erregungswirkung weder auf Cholin noch auf der bei Gerinnung ent- 
stehenden Serumstoffen beruhte. 

2. Dialysate vom Kuhuterus erregen, wie schon Engelhard zeigte, 
den überlebenden Uterus und Darm des Kaninchens. 

3. Wässerige und alkoholische Extrakte von zerkleinertem Kuh- 
uterus erregen den Kaninchen- und Meerschweinchenuterus und den 
Kaninchendarm. Die Extrakte enthalten meist geringe Mengen von 
Cholin, welche für die Wirkung quantitativ nicht in Betracht kommen. 
Auch etwaige Blut- und Serumbeimengungen spielen nur eine geringe 
Rolle. 90—96°%, der Wirkung beruht auf anderen Stoffen. Diese sind 
kochbeständig, alkohollöslich und entstehen weder durch bakterielle 
noch durch autolytische Zersetzungen. In welchem Ausmaße sie bei 
der Extraktbereitung (Kochen, Alkoholbehandlung usw.) aus Vor- 
stufen abgespalten oder in den Geweben präformiert sind, läßt sich noch 
nicht entscheiden. (Hierzu sind quantitative Vergleiche zwischen Ex- 
trakten und Biodialysaten erforderlich). 

4. Ein Unterschied in der Wirkungsstärke zwischen nichtgravidem, 
gravidem Uterus und mütterlicher Placenta hat sich bisher nicht fest- 
stellen lassen. Das kann erst mit Erfolg bearbeitet werden, wenn die 
wirksamen Stoffe isoliert sind. 

5. Frische wässerige Blutextrakte wirken stark erregend auf den 
Uterus, nach 24stündigem Stehen ist die Wirkung viel geringer. 

6. Extrakte aus zerkleinertem Darm und Muskel wirken ebenfalls 
stark erregend auf den Uterus. Auch hier läßt sich zeigen, daß außer 
Cholin und Serumbestandteilen andere wirksame Stoffe in großer Menge 
in Lösung gehen, welche kochbeständig und alkohollöslich sind. 

7. Der isolierte Kaninchen- und Meerschweinchenuterus zeigt wech- 
selnde Empfindlichkeit gegen Cholin, meist reagiert er sehr viel weniger 
als der Darm. 

8. Diese Versuche zeigen, daß das Cholin, welches nach den Fest- 
stellungen von Le Heux eine so große Rolle beim Entstehen der Darm- 
bewegungen spielt, für die automatischen Uterusbewegungen bedeu- 
tungslos ist. Auch am Herzen und an den Blutgefäßen kann es nicht als 
Erregungssubstanz wirken, da diese Organe durch Cholin gehemmt wer- 
den. Hieraus ergibt sich die organspezifische Bedeutung, welche das 
Cholin als „Hormon der Magen-Darmbewegungen‘“ besitzt. Die Funk- 
tion dieses Stoffes wird hierdurch enger umschrieben. 

9. Ob auch für die Uterusbewegungen ein derartiges spezifisches 
Hormon vorhanden ist, bedarf weiterer Untersuchung, für welche die 
hier geschilderten Experimente eine tatsächliche und kritische Grund- 
„ lage geschaffen haben. 


Die mittlere Durchflußmenge der Arterien des Menschen 
als Funktion des Gefäßradius. 


Von 
Prof. Dr. R. Thoma in Heidelberg. 


(Mit 2 Textabbildungen.) 


(Eingegangen am 1. April 1921.) 


Meine Untersuchungen über däs normale Wachstum und die patho- 
logischen Umgestaltungen der Arterien des Menschen haben zu dem 
Schlusse genötigt, daß das zirkuläre Wachstum der Arterienlichtung 
in Abhängigkeit steht von der Geschwindigkeit der Randzonen des Blut- 
stromes. Sodann führte die Prüfung der Stromgeschwindigkeiten 
in den Randzonen des Blutstromes zu bestimmten Ergebnissen bezüglich 
der mittleren Durchflußmengen und ihrer Beziehungen zu dem Mittel- 
wert des Radius der Gefäßlichtung. Diese Ergebnisse sollen hier eine 
Zusammenfassung und Vervollständigung finden. 

Die Durchflußmenge der Arterien ist veränderlich je nach dem 
Wechsel der Tätigkeit der Organe. Als mittlere Durchflußmenge aber 
kann man das für längere Zeiträume gebildete, arithmetische Mittel des 
Sekundenvolums bezeichnen, welches durch den Querschnitt einer 
Arterie strömt. Dagegen wäre ein arithmetisches Mittel für den Radius 
der lebenden Arterie schwer zu bilden, weil bereits bei der Bloßlegung 
die Lichtung der Arterie erhebliche Änderungen erfährt. Wenn man 
jedoch die Arterien unter den notwendigen Vorsichtsmaßregeln in situ 
der Leiche bei konstantem, den normalen Verhältnissen entsprechendem 
Drucke und bei annähernd normaler Temperatur mit Paraffin injiziert, 
so kann man mit bestimmten, früher besprochenen Hilfsmitteln!) die 
Radien der Gefäßlichtung verhältnismäßig genau messen und weiterhin 
annehmen, daß diese gemessenen Werte des Gefäßradius in einer be- 
stimmten, gesetzmäßigen Beziehung zu den mittleren Durchflußmengen 
stehen. Zugleich entsteht jedoch die Aufgabe, diese Beziehung auf 
empirischem Wege genauer zu prüfen. Dabei macht man allerdings 
einige Voraussetzungen und namentlich die, daß der Druck in der auf- 
steigenden Aorta konstant und dem normalen Mitteldrucke gleich sei. 


!) R. Thoma, Virchows Archiv 104. 1886; Beitr. z. pathol. Anat. u. z. alle. 
Pathol. 66. 1920. 


R. Thoma: Die mittlere Durchflußmenge der Arterien des Menschen usw. 283 


Solche Voraussetzungen erscheinen jedoch als unvermeidlich, wenigstens 
gegenwärtig, wo die Untersuchung noch in ihren Anfängen steht. 
Bezeichnet man den Radius der Gefäßlichtung mit R und die Breite 
der plasmatischen, zellfreien Randzone des Blutstromes mit f, so wird, 
wie ich!) vor einer Reihe von Jahren gezeigt habe, unter Voraussetzung 
einer linearen, lamellären Strömung die Durchflußmenge W einer Arterie 
in der Zeiteinheit gleich 


w—-"rtım per FH 


e 
ale) 
wenn man vorläufig der Einfachheit halber die Annahme macht, daß 
das Blut an der Gefäßwand adhäriert. Dabei bezeichnet 0 die Strom- 
geschwindigkeit an der Grenze des roten Axialstromes und der plasma- 
tischen Randzone, welche Grenze dem Abstand ß von der Gefäßwand 
entspricht. Diese Stromgeschwindigkeit o ist jedoch gleich 


1 B_(R RP 
ze oz (2) 


wenn Ö den Viscositätskoeffizienten des Blutplasmas und der Ausdruck 
— das Druckgefälle darstellt, welches gewöhnlich als Druck 9 geteilt 
durch die Strombahnlänge & bezeichnet wird. 

Sodann gibt in Gleichung 1 die Größe n das Verhältnis des Viscositäts- 
koeffizienten des roten Axialstromes zu dem Viscositätskoeffizienten ® 
des Blutplasmas, so daß der Viscositätskoeffizient desroten Axialstromes 
gleich nd wird. Die Größe n kann indessen nicht unmittelbar mit dem 
Viscosimeter gefunden werden. Wenn man jedoch mit dem Viscosi- 
meter den Viscositätskoeffizienten ® des Blutplasmas und den Visco- 
sitätskoeffizienten 7 des Blutes bestimmt hat, so findet man, wie ich 
damals gezeigt habe, den Wert der Größe n durch die Gleichung 


(RB! 
(2 -ı)Rı+ (Rp): (3) 


Solange nun die Koeffizienten d und n als konstante Größen zu 
betrachten sind, stimmt der Inhalt der Gleichungen 1 bis 3 vollständig 
mit dem Gesetze von Hagen?) überein, welches sehr zu Unrecht nach 
Poiseuille?) benannt wird und welches man schreiben kann 


(1) 


Min 


TU dp 
I NE —— 4 
8n dx S 
!) R. Thoma, Dtsch. Archiv f. klin. Med. 99. 1910. 
2) Hagen, Pogg. Annalen der Physik u. Chemie 46. 1839. 
>) Poiseuille, M&m. presentes par div. savants &trang. A l’acad. roy. des sc. 
de l’institut de France. Sc. math. et phys. Paris %. 1841; 9. 1846. 


84 R. Thoma: Die mittlere Durchflußmenge 


227 


Die Gleichungen 1—3 ermöglichen indessen, wie sich weiterhin 
zeigen wird, die Verfolgung einer großen Zahl von Beziehungen, welche 
durch die Gleichung 4 nicht aufgedeckt werden können !). Die oben ge- 
machte Voraussetzung einer linearen, lamellären, wirbelfreien Strömung 
aber darf für den Blutstrom in den Arterien des Menschen unter nor- 
malen Bedingungen als erfüllt gelten, wie ich?) wiederholt besprochen 
habe. Meine Beweisführung stützte sich auf drei Tatsachen: 

1. Die mittlere Stromgeschwindigkeit erreicht normalerweise in 
den Arterien des Menschen an keiner Stelle die Grenze, bei welcher nach 
den Untersuchungen von Hagenbach, Reynolds, Couette und 
Grüneisen der lineare, lamelläre Charakter der Strömung labil zu 
werden beginnt und die Entstehung von Stromwirbeln ermöglicht. 

2. An den Verzweigungsstellen der kleinen Arterien und Venen 
zeigt das Mikroskop eine lineare, lamelläre, durchaus wirbelfreie Strö- 
mung. Man ist daher zu der Annahme berechtigt, daß die Innenfläche 
dieser Verzweigungsstellen genau die Gestalt der äußersten Lamelle 
einer sich teilenden, linearen Strömung besitzt. Die Gestalt der Ver- 
zweigungsstellen der großen Arterien ist jedoch der Gestalt der Ver- 
zweigungsstellen der kleinen Arterien geometrisch ähnlich, so daß kein 
Grund vorliegt, welcher zu der Annahme von Stromwirbeln berechtigen 
würde. 

3. Die normale Blutströmung vollzieht sich in allen Arterien des 
lebenden Menschen geräuschlos. Unter pathologischen Bedingungen 
dagegen, bei welchen infolge abnorm geringer Viscosität oder abnorm 
großer Stromgeschwindigkeit des Blutes obige Grenze überschritten und 
Wirbelbildung ausgelöst wird, treten sofort Geräusche auf, welche mit 
dem Stethoskop hörbar sind. 

‚In der Folge haben sich Hess?) und Hürthle?) dieser Argumenta- 
tion angeschlossen. Sie führt zu dem Ergebnisse, daß der Blutstrom in 
den Arterien des normalen Menschen die Eigenschaften einer lamellären, 
linearen Strömung besitzt, linear genannt, weil die Widerstände des 
Stromes der ersten Potenz der Geschwindigkeit proportional sind. 

Zugleich erweist es sich, daß die vorstehenden Entwicklungen bei 
der Untersuchung des normalen Blutkreislaufes des Menschen genau 
zutreffen für alle Arterien, welche mehr als 1,0 bis 1,5 mm Radius 
besitzen. Denn für diese größeren Arterien sind die Viscositätskoeffi- 
zienten d des Blutplasma und 7 des Blutes normalerweise hinreichend 
genau konstant, vorausgesetzt, daß man gebührende Rücksicht nimmt 

!) Für den Fall, daß das Blut an der Gefäßwand gleitet, nehmen obige Glei- 
chungen eine Form an, welche ich an dem früher genannten Orte gegeben habe. 

?) R. Thoma, Dtsch. Archiv f. klin. Med. 99. 1910; Zeitschr. f. experim. 
Pathol. u. Ther. 11. 1912. 


®) W.R. Hess, Arch. f. d. ges. Physiol. 168, 474. 1917. 
*) K. Hürthle, Ebenda 173, 159. 1918. 


der Arterien des Menschen als Funktion des Gefäßradius. 285 


auf die Temperatur und den Zellgehalt des Blutes. Außerdem ergibt 
sich, daß bei diesen größeren Arterien die Größe n bei zunehmendem 
Radius der Gefäßlichtung nur eine geringe Abnahme erfährt, so daß 
für diese größeren Arterien n ohne allzu großen Fehler als konstant be- 
trachtet werden kann. Es hat dies seinen Grund in der geringen Größe 
des Wertes ß, der Breite der plasmatischen Randzone. 


1. Die Strömung des Blutes in engen und in weiten Röhren 
bei konstantem Druckgefälle. 


Indessen haben bereits im Jahre 1906 du Pre Denning und Wat- 
son!) durch eine große Untersuchungsreihe gezeigt, daß für Röhren 
von weniger als 1,5 mm Radius die Viscositätskoeffizienten ® des Blut- 
plasmas und des Blutes nicht mehr konstant sind. Sie ändern sich bei 
gleichbleibendem Druckgefälle mit der Abnahme der Rohrlichtung und 
sie ändern sich bei gleichbleibender Rohrlichtung mit der Höhe des 
Druckgefälles. Hess?) und Rothmann?°) haben diese Ergebnisse im 
wesentlichen bestätigt und zugleich von neuem gezeigt, daß unter den 
gleichen Bedingungen die Viscositätskoeffizienten nicht kolloider 
Flüssigkeiten, Wasser und verdünntes Glycerin konstant bleiben. Hess 
und Rothmann ziehen sodann aus ihren Ergebnissen den Schluß, daß 
das Gesetz von Hagen auf die Strömung von kolloiden Flüssigkeiten 
und Blut nicht anwendbar sei. 

Nachweislich geht jedoch auch in engen Röhren der lineare Charakter 
der Blutströmung nicht verloren. Ich habe daher seinerzeit den Ver- 
such gemacht, auf rein empirischem Wege Änderungen an obigen Glei- 
chungen anzubringen, durch welche diese Gleichungen auf den Blutstrom 
in engen und weiten Röhren anwendbar werden. In diesem Sinne soll 
hier zunächst die Blutströmung in engen und weiten Röhren bei kon- 
stantem Druckgefälle besprochen werden. 

Auf Grund der vorliegenden Beobachtungen kann man von der 
Vorstellung ausgehen, daß der Viscositätskoeffizient nd des roten 
Axialstromes für engere Röhren größer ist, weil die plasmatische Rand- 
zone in engeren Röhren einen verhältnismäßig größeren Teil des Quer- 
sehnittes der Rohrlichtung einnimmt, so daß die Blutzellen im Axial- 
strom dichter zusammengedrängt werden. Ein solches Verhältnis muß 
notwendigerweise den Viscositätskoeffizienten nd des roten Axial- 
stromes größer werden lassen, indem zugleich n eine Funktion des 
Radius R der Rohrlichtung wird. Damit steht man vor der Aufgabe, 
diese Funktion von R zunächst auf empirischem Wege zu prüfen. 

!) A. du Pr& Dennings und J. H. Watson, Proceedings of the Royal 
Society of London. Series B. 78, 328. 1906. 

?2) W.R. Hess, Arch. f. Physiol. 1912, S. 197; Arch. f. d. ges. Physiologie 162, 


187. 1915. 
2) M. Rothmann, Arch. f. d. ges. Physiol. 155, 318. 1914. 


286 R. Thoma: Die mittlere Durchflußmenge 


Bei einem konstanten Druckgefälle, welches der Größenordnung 
nach ungefähr dem Druckgefälle in den kleinen Arterien des Menschen 
gleichkommt!), haben du Pre Denning und Watson die Viscositäts- 
koeffizienten ® und 7 des Blutplasmas und des Blutes in Glasröhren 
verschiedenen Kalibers bestimmt. Aus ihrer Tabelle V findet man 
sodann, mit Hilfe der obigen Gleichung 3 und unter der Voraussetzung, 
daß die Breite ß der plasmatischen Randzone des Blutes unter diesen 
Bedingungen in Glasröhren 0,0035 mm betrage: 

für R=1,0 mm die Größe n = 2,0688 
für R=05 mm „ 5 n — 2,4949 
kurse 0,3, mn Sn) 13052 
für R= 0,15 mm „, = n = 5,4120. 

Man kann aus diesen Zahlen, welche bei einer Temperatur von 32° C 
für Pferdeblut mit 6 Mill. Zellen im Kubikmillimeter gelten, auf graphi- 
schem Wege eine Kurve?) gewinnen, welche diese Werte zum Ausdruck 
bringt unter der Voraussetzung, erstens daß n für Werte von R, welche 
srößer als 1 mm sind, nur noch eine geringe Abnahme erfährt, und 
zweitens daß n für sehr kleine Werte von R unendlich groß wird. Wenn 
die Lichtung des Rohres sehr enge wird, muß die Anwesenheit der roten 
Blutzellen bewirken, daß die verschiedenen Schichten des Axialstromes 
gleiche Geschwindigkeit annehmen, wobei n — x wird. Es ist voraus- 
zusehen, daß dieser Erfolg sicher erreicht wird, wenn der Durchmesser 
des roten Axialstromes nicht größer ist als der Druchmesser einer roten 
Blutzelle. In dem zellreichen Blute aber kann offenbar dieser Erfolg 
bereits in etwas weiteren Röhren eintreten. 

Die auf graphischem Wege gewonnene Kurve besaß, wie man bei den 
gegebenen Voraussetzungen leicht einsieht, ungefähr die Eigenschaften 
einer Hyperbel, deren Schenkel sich asymptotisch einer Abszisse und 
einer Ordinate näherten. Man kann jedoch auch auf rechnerischem 
Wege zu dem gleichen Ergebnisse gelangen, wenn man der Hyperbel 
die Form gibt: 


!) Nur ausnahnısweise findet man bei den Autoren zuverlässige Anhaltspunkte 
zur Ermittelung des von ihnen benutzten Druckgefälles. Zumeist erfährt man 
nur einiges über den benützten Druck. Die Capillaren von du Pre Denning 
und Watson hatten ungefähr eine Länge von 120 mm. In diesen Capillaren 
strömte das Blut unter dem Überdrucke einer Blutsäule, deren Höhe zu Anfang 
des Versuches ungefähr 109 mm und am Ende des Versuches ungefähr 9] mm 
betrug. Der mittlere Überdruck kann daher einer Blutsäule von 100mm gleich- 
gesetzt werden. In diesem Falle betrug nach der Umrechnung in Quecksilber- 
druck das Druckgefälle ungefähr 0,065. Für jeden Millimeter Strombahnlänge 
wurde der Druck von 0,065 mm hg verbraucht. Dies ist ein Druckgefälle, welches 
nach den später zu gebenden Gleichungen 15 und 16 in Arterien von ungefähr 
0,5—0,2 mm Radius zu erwarten ist. 

2) R. Thoma, Dtsch. Archiv f. klin. Med. 99, 586 und Kurve, Textabb. 2 auf 
S. 588. 1910. 


der Arterien des Menschen als Funktion des Gefäßradius. 287 


b 
3 — & 
In dieser Gleichung bezeichnen «a und b zwei Konstante, die aus 
den Beobachtungen bestimmt werden sollen, und c entspricht dem- 
jenigen Werte des Radius R, für welchen n unendlich groß wird. Auch 
dieser Wert ce kann aus den Beobachtungen berechnet werden. 


n=q47r 


Ich verfuhr dabei in der Weise, daß ich die oben zusammengestellten, mit Hilfe 
der Gleichung 3 gefundenen Werte von n als beobachtete Werte betrachtete, 
welche von den variablen Werten von R abhängig sind. Dann führt man in obiger 
Gleichung 5 zunächst für den Wert c, von dem man zufolge der Voraussetzungen, 
welche dieser Gleichung zugrunde liegen, wissen kann, daß er nicht sehr viel größer 
ist als der Durchmesser einer roten Blutzelle, zunächst eine ungefähr passende 
Größe, etwa 0,020 mm ein. Bezeichnet man sodann die variable Größe (R — 0,02) 


1 
mit der neuen Variablen z, so kann man weiterhin Se setzen, so daß 


obige Gleichung 5 die lineare Form 
n=a--bv 
annimmt. Nach Wittstein!) findet man in diesem Falle nach der Methode der 


kleinsten Fehlerquadrate die wahrscheinlichsten Werte der Konstanten a und b 
durch die Gleichungen: 


v) 
m > (v2) — [2 (v)] 
m >(vM) — &(v) 2(M) 

m (0) — [2(e)} 
wobei die einzelnen beobachteten Werte von n mit M bezeichnet werden und m 
der Anzahl der Beobachtungen entspricht. 

Das Ergebnis ist an die Voraussetzung geknüpft, daß ce = 0,02 mm sei. Aus 
den wahrscheinlichsten Werten von a und b kann man sodann unter dieser Vor- 
aussetzung für die verschiedenen Werte von R die zugehörigen Werte von n be- 
rechnen. Vergleicht man diese mit den beobachteten Werten von n, so ergeben 
sich die Beobachtungsfehler / und die Quadrate dieser Beobachtungsfehler führen 
endlich zu dem wahrscheinlichen Werte g dieser Fehler, gleich 


12! 2 
g = 0,6745 V ei) 


3(v2) E(M) — I(v) £(vM) 
A 


b= 


2 


Dieser wahrscheinliche Wert g der Beobachtungsfehler ist zunächst für 
c = 0,02 mm ziemlich groß und zwar gleich 0,07385. Wiederholt man jedoch die 
Rechnung für eine Reihe verschiedener kleinerer und größerer Werte von c, so 
findet man, daß diese wahrscheinlichen Beobachtungsfehler bei zunehmendem 
Werte von c stetig kleiner werden, bis sie ein tiefes Minimum mit 0.001434 er- 
reichen, wenn c = 0,052 mm gesetzt wird. Für jeden Wert von c, der kleiner 
oder größer als 0,052 mm ist, werden die wahrscheinlichen Beobachtungsfehler 
erheblich größer. Nimmt man c — 0,07 so erreicht der wahrscheinliche Fehler 
bereits wieder den Wert 0,05036. 

(Der wahrscheinliche Fehler g der gegebenen Beobachtungsreihe erscheint 
hier als eine Funktion von c, welche Funktion für c = 0,052 mm ein Minimum 
aufweist. Gleichzeitig erscheinen auch die Konstanten a und b als variable Werte, 


1) Th. Wittstein, Zusatz zu seiner deutschen Übersetzung von L. Navier, 
Lehrbuch der Differential- und Integralrechnung. Bd. 2. Hannover 1854. 


288 R. Thoma: Die mittlere Durchtlußmenge 


welche sich als Funktionen von c darstellen. Doch entbehrt sowohl a als b eines 
Minimums. Mit steigenden Werten von ce nimmt a stetig zu, während gleichzeitig b 
mit steigenden Werten von c stetig abnimmt.) 

Für c = 0,052 mm, welches dem Minimum des wahrscheinlichen Fehlers g 
entspricht, werden dabei die wahrscheinlichsten Werte von « = 1,6813 und von 
b = 0,36561 gefunden. Nach den Lehren der Wahrscheinlichkeitsrechnung lautet 
daher die gesuchte Gleichung der Hyperbel 

0,36561 
R — 0,052 mm 


Sodann stellen sich die beobachteten und die aus dieser Hyperbel berechneten 
Werte von n wie folet: 


n = 1,6813 + 


R n n Fehler Fehler 
mm beobachtet berechnet - + 
1,0 2,0688 2,0670 0,0018 _ 
0,5 2,4949 2,4973 oo 0,0024 
0,3 3,1553 3,1555 — 0,0002 
0,15 5,4120 5,4120 0,0000 _ 


und der wahrscheinliche Wert der Beobachtungsfehler wird, wie bereits oben 
bemerkt wurde, — 0,001434, womit zugleich der Sorgfalt und Genauigkeit der 
Viscositätsmessungen von du Pre Denning und Watson eine gewichtige An- 
erkennung gewährt wird. 

Aus der Hyperbelgleichung aber folst, daß n unendlich groß wird für 
c = 0,052 mım. In einer Arterie von 0,052 mm Radius und ebenso in allen klei- 
neren Arterien würde daher die Stromgeschwindigkeit in allen Zonen des roten 
Axialstromes gleichgroß sein. Eine gegenseitige Verschiebung der Flüssigkeits- 
schichten wäre in diesen sehr kleinen Arterien nur im Bereiche der plasmatischen, 
zellfreien Randzonen des Stromes anzunehmen. Die Hyperbelgleichung aber findet 
ihren graphischen Ausdruck in der Kurve I der später folgenden Textabb. 1. 

Die Untersuchungen von du Pr& Denning und Watson enthalten auf ihrer 
Tab. V noch eine zweite und dritte Beobachtungsreihe, welche der gleichen Be- 
handlung unterzogen werden können. Sie beziehen sich auf Pferdeblut, welches 
3,6 Millionen Zellen im Kubikmillimeter enthielt, jedoch bei verschiedener Tem- 
peratur strömte. 

Bei der zweiten Untersuchungsreihe betrug die Temperatur 40,4°C und 
die Rechnung nach der Methode der kleinsten Quadrate ergab für das 3,6 Millionen 
Zellen enthaltende Blut ein Minimum für den wahrscheinlichen Wert des Beob- 
achtungsfehlers, sowie c = 0,029 mm gesetzt wurde. In diesem Falle fand sich: 


0,17724 
R — 0,029 mm 
entsprechend der Kurve II auf Textabb. 1. Die beobachteten und die aus dieser 
Gleichung berechneten Werte von n aber waren: 


n — 1,4881 + 


R N n Fehler Fehler 
mm beobachtet berechnet = En 

1,0 1,6512 1,6706 = 0,0194 
0,5 1,9036 1,3644 0,0392 — 

0,3 2,1201 2,1421 — 0,0220 
0,15 2,9550 2,9529 0,0021 — 


der Arterien des Menschen als Funktion des Gefäßradius. 289 


Der wahrscheinliche Wert der Beobachtungsfehler ist hier beträchtlich größer 

— 0,02337, offenbar infolge der größeren Schwierigkeiten der Beobachtung. 
“ Größere Fehler sind hier zu erwarten, weil die Unterschiede der Viscositätskoeffi- 
zienten des Plasmas und des Blutes geringer sind. i 

Bemerkenswert aber ist, daß hier bei dem geringen Zellgehalte des Blutes nicht 
nur der Viscositätsfaktor n, sondern auch der Wert von c beträchtlich kleiner wird 
als in der ersten Becbachtungsreihe. Die Grenze, an welcher der Viscositätsfaktor n 
und folglich auch der Viscositätskoeffizient n® des roten Axialstromes unendlich 
groß wird, rückt hier in erheblich engere Arterien, in Arterien vom Radius 0,029 mm 
vor, ein Ergebnis, das von vornherein zu erwarten war. 

Die dritte Beobachtungsreihe von du Pr& Denning und Watson bezieht 
sich auf Pferdeblut mit 3,6 Millionen Zellen, welches bei 32,2° C strömte. Das Mini- 
mum für die wahrscheinlichen Beobachtungsfehler fand sich hier, als c = 0,021 mm 
gesetzt wurde und die Gleichung der Hyperbel wurde: 


0,18026 
R — 0,021 mm 


entsprechend der Kurve III auf Textabb. 1. Die beobachteten und die berech- 
neten Werte von n aber stellten sich wie folst: 


n = 1,3866 - 


R | n n Feh Fehler 
mm | beobachtet | berechnet _ 35 
1,0 1,5661 1,5707 = 0,0048 
0,5 1,7668 1,7629 0,0039 = 
0,3 2,0351 2,0328 0,0023 — 
0,15 2,1822 2,7839 — 0,0017 


Aus den Fehlerguadraten ergab sich sodann der wahrscheinliche Wert des 
Fehlers für die einzelnen Beobachtungen — 0,003184. 

Aus der zweiten und dritten Beobachtungsreihe wird man den Schluß ziehen, 
daß sowohl der Viscositätsfaktor n wie der Wert von c, bei welchem n unendlich 
groß wird, bei abnehmender Temperatur kleiner werden. Dies ist leicht verständ- 
lich, wenn man erwägt, daß bei abnehmender Temperatur der Viscositätskoeffizient 
® das Blutplasmas erheblich rascher zunimmt als der Viscositätskoeffizient 7 
des Blutes. 

Bei der Beurteilung der Zuverlässigkeit dieser Zahlen wolle man beachten, 
daß jeweils zur Bestimmung von 2 Konstanten vier analoge Gleichungen zur 
Verfügung standen, indem die dritte Konstante c durch Variation gefunden 
wurde. Die Zuverlässigkeit der Zahlen gewinnt jedoch weiterhin noch dadurch, 
daß die vorstehenden drei Beobachtungsreihen gut vergleichbare Werte von n 
und c ergeben, die durchaus den tatsächlichen Verhältnissen zu entsprechen 
scheinen. 

Die unvermeidlichen Fehler der Kalibrierung der Viscosimeterröhren haben 
indessen hier keine erschöpfende Berücksichtigung erfahren. Sie konnten aller- 
dings, namentlich wenn immer der gleiche Satz von Röhren Verwendung fand, 
die numerischen Ergebnisse in merklicher Weise beeinflussen. Doch scheint 
mir, hei sorgfältiger Erwägung aller Einzelheiten, eine wesentliche Änderung 
des Gesamtergebnisses ausgeschlossen zu sein. Spätere Untersuchungen werden 
jedenfalls diesen Punkt genauer zu berücksichtigen haben. 

Eine vierte Beobachtungsreihe von du Pre Denning und Watson bezieht 
sich auf Pferdeblut mit 9,6 Millionen Zellen im Kubikmillimeter und auf eine Tem- 
peratur von 32°C. Diese Beobachtungsreihe ergibt indessen nur drei Werte von n. 


290 R. Thoma: Die mittlere Durchflußmenge 


Für R=1,mm wird n = 3,786 
NUDE » nn = 4,423 
2.01 in, 2121,02 
Zur Bestimmung der drei Konstanten der Hyperbelgleichung 5 stehen somit 
nur 3 Gleichungen zur Verfügung, aus welchen man auf algebraischem Wege findet 
0,4280 
R — 0,1188 mm 


Diese Gleichung gibt selbstverständlich für die verschiedenen Werte von R 
fehlerfrei die beobachteten Werte von n. Leider gewinnt man jedoch keinen 
Anhaltspunkt über die Größe der Beobachtungsfehler. Aus den drei früheren 
Beobachtungsreihen allerdings darf man schließen, daß auch hier mit der wün- 
schenswerten Sorgfalt gearbeitet und ein annähernd richtiges Resultat erzielt 
wurde. Dem entspricht auch der Inhalt der Gleichung. Der Viscositätsfaktor n 
des roten Axialstromes ist hier etwa in dem Grade erhöht, wie es bei dem sehr 
hohen Zellgehalt und bei der gegebenen Temperatur zu erwarten war und auch 
der Wert von c hat eine entsprechende Erhöhung auf 0,119 mm erfahren. Man 
darf somit behaupten, daß auch diese vierte Beobachtungsreihe die oben gewon- 
nenen Ergebnisse bestätigt. 

Für manche Zwecke und namentlich für die Berechnung des Druckgefälles 
wird es jedoch notwendig, noch einige Vorstellungen über die Größe des Viscositäts- 
koeffizienten ® des Blutplasmas zu gewinnen. Ich versuche daher noch eine Aus- 
gleichung der Beobachtungsfehler von %. Wenn das Blutplasma als kolloide Sub- 
stanz, den gegenwärtigen Anschauungen entsprechend, aus festen und flüssigen 
Teilchen besteht, so erscheint es wahrscheinlich. daß auch für die Viscositäts- 
koeffizienten ® ähnliche Gesetze bestehen wie für das aus Zellen und Plasma be- 
stehende Blut. Man könnte in diesem Falle setzen 


n = 3,300 + 


= 


R-c 

mit dem allerdings sehr gewichtigen Unterschiede, daß c so klein ist, daß es gegen- 
über den Werten von R verschwindet. Damit vereinfacht sich die Gleichung und 
lautet jetzt 


b 
2 =(4 + R 
bei einem vorläufig ausreichenden Grade der Annäherung. Mit Hilfe der Methode 


der kleinsten Fehlerquadrate findet man sodann aus je vier zusammengehörigen 
Viscositätsmessungen der Tabelle V von du Pr& Denning und Watson. 


15 
für Pferdeblutplasma bei 32,2°C 9 = 0,01327 + 0,00015029 


mit einem wahrscheinlichen Werte der Beobachtungsfehler = 0,0002891 und 
0,00014886 
für Pferdeblutplasma bei 40,4° C ® = 0,01129 + —— — 
mit einem wahrscheinlichen Werte des Beobachtungsfehlers — 0,0003088. Dabei 
ergeben die numerischen Werte von Ö, welche aus diesen beiden Gleichungen 
hervorgehen, wenn R in Millimetern ausgedrückt wird, die numerischen Werte 
des Viscositätskoeffizienten des Blutplasmas in dem von du Pr& Denning und 
Watson benützten Maßsystem: Zentimeter, Gramm, Sekunde. Der oben behan- 
delte Viscositätsfaktor n dagegen ist, wie man leicht einsieht, unabhängig vom 
Maßsystem. 
Aus den Viscosimetermessungen von du Pre Denningund Watson 


kann man, wie vorstehende Untersuchung zeigt, den Schluß ziehen, daß 


der Arterien des Menschen als Funktion des Gefäßradius. 291 


der Viscositätsfaktor n des roten Axialstromes eine variable Größe dar- 
stellt, die abhängig ist von dem Radius der Rohrlichtung und von dem 
Zellgehalt und der 'Temperatur des Blutes. Dieses Abhängigkeitsver- 
hältnis ist für Pferdeblut, welches 6 Millionen Zellen im Kubikmillimeter 
enthält und bei einer Temperatur von 32° C durch Glasröhren strömt, 
gegeben durch die Hyperbelgleichung 
0,36561 
Be er R — 0,052 mm 

wenn auch AR in Millimetern ausgedrückt ist. Zugleich findet sich der 
wahrscheinliche Wert der Beobachtungsfehler gleich 0,001434. Die 
Eigenschaften dieser Hyperbel ergeben sich in übersichtlicher Weise 
aus der Kurve I der Abb. 1, in welcher der Radius der Rohrlichtung 


25 Abb.1. Diagramm. Die Abszissen geben den Radius 
der Rohrlichtung in Millimetern, die zugehörigen 
Ordinaten der Kurven den Viscositätsfaktor n. Kurve I 
für Pferdeblut von 6 Millionen Zellen im Kubikmilli- 
20 meter bei Temp. 32°C. Kurve II für Pferdeblut mit 
3,6 Millionen Zellen im Kubikmillimeter bei 40,4° C. 
Kurve III für Pferdeblut mit 3,6 Millionen Zellen 
75 
70 
5 
oO 01 02 03 04 05 06 07 08 09 710 


als Abszisse und der Viscositätsfaktor n als Ordinate erscheint!). Für 
weitere Röhren ändert sich der Viscositätsfaktor n nur in unerheblichem 
Maße. Sowie jedoch der Radius der Rohrlichtung unter den Wert von 
1 mm herabgeht, wird n rasch größer, um unendlich groß zu werden, 
wenn der Radius der Rohrlichtung gleich oder kleiner als c = 0,052 mm 
wird. In diesem Falle ist die Stromgeschwindigkeit in allen Zonen des 
roten Axialstromes gleich groß, und die Bewegung des strömenden 
Blutes vollzieht sich ausschließlich durch Verschiebungen der Flüssig- 
keitsschichten, welche die plasmatische Randzone des Blutes bilden. 
Es ist dies ein Ergebnis, welches hier rein empirisch, ohne weitere 
Voraussetzungen aus den Viscositätsmessungen hervorgeht. Die Aus- 


1) In Abb. 1 sind, wie früher (Dtsch. Arch. f. klin. Med. 99, 588. 1910), 
die Ordinaten, welche die Werte von n darstellen, der Raumersparnis halber in 
kleinerem Maßstabe gezeichnet als die Radien R der Rohrlichtung, welche als 
Abszissen dienen. 


292 R. Thoma: Die mittlere Durchflußmenge 


rechnung hat zunächst gezeigt, daß die beobachteten Werte des 
Viscositätsfaktors n mit großer Genauigkeit einer Hyperbelfunktion 
von R entsprechen. Weiterhin aber wurde bei der Rechnung nament- 
lich keine Voraussetzung über die Größe des Wertes von c gemacht. 
Diese Größe c wurde vielmehr ausschließlich durch die Anwendung 
der Methode der kleinsten Fehlerquadrate gefunden. Wäre c gleich 
Null oder negativ, so würde die Rechnung dies notwendigerweise er- 
geben haben. Die Rechnung dagegen führte nicht nur in dieser ersten 
Beobachtungsreihe, sondern auch in drei weiteren Beobachtungsreihen 
zu gut stimmenden, positiven Werten von c. Es kann somit kein Zweifel 
darüber bestehen, daß von einer bestimmten Grenze an, welche 
durch die Größe c angezeigt wird, in allen kleineren Arterien 
n unendlich groß und die Stromgeschwindigkeiten iin allen 
Teilen des roten Axialstromes unter sich gleich werden. 

Dieses Ergebnis steht zugleich in voller Übereinstimmung mit den 
Wahrnehmungen, welche man mit Hilfe des Mikroskopes an dem Blut- 
strom in den kleinen Gefäßen lebender Tiere macht. Hier dürften alle 
Zellen des roten Axialstromes mit gleicher Geschwindigkeit strömen, 
was allerdings in den Arterien erst deutlich erkennbar wird, wenn der 
Blutstrom durch lokale Störungen erheblich verzögert ist. 

Es wäre sehr wünschenswert, Viscositätsbestimmungen, wie sie von 
- du Pre Denning und Watson ausgeführt wurden, auch für mensch- 
liches Blutplasma und Blut von normaler Zusammensetzung und nor- 
maler Temperatur zu besitzen. Da jedoch solche Viscositätsmessungen 
nicht vorliegen, glaube ich vorläufig keinen allzu großen Fehler zu be- 
sehen, wenn ich für normal temperiertes und normal’zusammengesetztes 
menschliches Blut die Werte von n annehme, welche durch die Kurvel 
und die zugehörige Hyperbelgleichung zum Ausdrucke gebracht sind. 
Für normales menschliches Blut von normaler Körpertemperatur wäre 
demnach 

0,3656 (6) 

— 0.052 mm 

Das normale menschliche Blut enthält zwar in der Regel etwas 
weniger als 6 Millionen Zellen im Kubikmillimeter und strömt zumeist 
bei einer etwas höheren Temperatur als 32° C. Nach den Erörterungen 
des Kleintextes, welche sich auf den Einfluß des Zellgehaltes und der 
Temperatur beziehen, bedingt geringerer Zellgehalt eine Verkleinerung 
des Faktors n und höhere Temperatur eine Erhöhung dieses Faktors. 
Obige Annahme, welche in Gleichung 6 zum Ausdrucke gelangt, er- 
scheint daher als gerechtfertigt, wenn sie auch nur auf eine annähernde 
Richtigkeit Anspruch erheben kann. 

Die Vorstellung, welche man sich auf Grund dieser Untersuchung über 
die Stromgeschwindigkeiten in den verschiedenen Zonen eines Gefäß- 


n— 1,6813 + —, 


der Arterien des Menschen als Funktion des Gefäßradius. 293 


querschnittes bilden kann, gelangt in übersichtlicher Weise zum Aus- 
druck durch zwei sich durchschneidende Umdrehungsparaboloide 
(Abb. 2). Das eine länger ausgezogene Paraboloid, welches auf dem 
axialen, in der Textabbildung gegebenen WB 
Längsschnitt als eine schlanke Parabel 
erscheint, gibt für die Zeiteinheit die 
Stromgeschwindigkeiten im Bereiche der 
plasmatischen Randzone des Stromes. 
Die zweite, flacher gestaltete Parabel 
begrenzt dagegen die Stromgeschwindig- 
keiten in dem roten, hier grau getönten 
Axialstrom. Demgemäß gelangen die in 
einem gegebenen Zeitpunkt in der Ebene 
& — & befindlichen Teile des Stromes, wie 
die Pfeile versinnlichen, nach Ablauf 
einer Zeiteinheit bis zu der krummen 


Fläche, welche im Randstrom von dem &/ _ | 10 


ersten Paraboloid und im Axialstrom von | m 
dem zweiten Paraboloid gegeben ist. Die _ —_ 

7 = 6 Abb. 2. Schema der Stromgeschwindig- 
Krümmung des zweiten Paraboloides keiten in dem plasmatischen Randstrom 
aber wird mit zunehmendem Viscositäts- und in dem roten, hier grau dargestellten 
faktor n des Axialstromes flacher und om einer kleinen Arterie, 
flacher, bis sie für n = ® zu einer ebenen Fläche wird. Der Kubik- 
inhalt des von der Ebene x — & und den beiden Paraboloiden um- 
srenzten, hier mit Pfeilen ausgefüllten Raumes endlich gibt das Durch- 
flußvolum in der Zeiteinheit. 

Es sind dies theoretische Anschauungen, welche sich an die Glei- 
chungen 1, 2, 3, 5, 6 knüpfen. Gegen diese Anschauungen macht Hess 
seltend, daß eine ähnliche Änderung der Viscosität in engen Röhren 
auch bei der Strömung zellfreier, kolloider Flüssigkeiten nachweisbar 
wird. Doch darf man aus dieser Tatsache nicht schließen, daß die hier 
vertretenen, theoretischen Anschauungen irrige sind. Einerseits kann 
das Bestehen einer plasmatischen Randzone des Blutstromes nicht ge- 
leugnet werden und andererseits wäre es sehr wohl möglich, daß auch 
in strömenden, kolloiden, zellfreien Flüssigkeiten sich eine Randzone 
von geringer Viscosität bildet. Denn die kolloiden Flüssigkeiten werden, 
wenn sie auch homogen erscheinen, als eine Vereinigung flüssiger und 
fester Teilchen betrachtet, obgleich letztere nicht ohne besondere Hilfs- 
mittel demonstriert werden können. Diese Anschauung hat in der Tat 
bereits oben (im Kleintext) eine befriedigende Anwendung gefunden 
bei der Prüfung der Viscosität des reinen Blutplasmas. Was aber den 
Deformationswiderstand kolloider Flüssigkeiten anbetrifft, so sind wir 
über seine Größe noch keineswegs genügend informiert. In den 

Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 189. 20 


N 


N 


N 


RR 
N 


294 R. Thoma: Die mittlere Durchflußmenge 


Gleichungen I—6 sind aber offenbar auch die Wirkungen des Deforma- 
tionswiderstandes enthalten. 

Vor allem aber ist zu betonen, daß diese Gleichungen auf empirischem 
Wege entstanden sind. Sie geben daher ganz unabhängig von jeder 
Theorie bei sachgemäßer Anwendung auf rein rechnerischem Wege an- 
nähernd genaue Werte für die Durchflußmengen. Sorgfältige Bestim- 
mungen der Viscositätskoeffizienten ® des Blutplasmas und n des Blutes 
des Menschen werden aber zweifellos die Genauigkeit der hier gegebenen 
Werte von n noch erheblich zu steigern imstande sein. 

Die hier gewonnenen Ergebnisse sind zugleich auch von großer Be- 
deutung für die Technik der Viscosimetrie. Offenbar ist es ganz un- 
zulässig, die Zähigkeitskoeffizienten ® des Blutplasma, nd des roten 
Axialstromes und n des Blutes als konstante Werte zu behandeln und 
sie gleichmäßig auf große und kleine Blutgefäße und auf enge und weite 
Viscosimeterröhren anzuwenden. Die aus den Hyperbelgleichungen 
hervorgehenden Werte mögen mancherlei Ungenauigkeiten aufweisen, sie 
sind demungeachtet sehr viel näher der Wahrheit. 

Für die Viscosimetrie am Krankenbette muß man nennen 
sprechend für alle einzelnen Apparate gleiches und genau bekanntes 
Kaliber der Capillarröhren verlangen. Die beliebte Kontrolle der ärzt- 
lichen Viscosimeter mit Wasser hat nur dann einen Zweck, wenn zu- 
gleich das Kaliber der Viscosimeterröhre bekannt ist. Anderenfalls 
führt diese Kontrolle zu einer sehr gefährlichen, scheinbaren Exaktheit, 
zu unvergleichbaren Zahlen, wie sie in der Literatur vielfach hervor- 
treten. 


2. Die Strömung des Blutes in engen und weiten Röhren bei 
variablem Druckgefälle. 


Du Pre Denning und Watson, Hess und Rothmann haben 
gezeigt, daß bei der Strömung des Blutes in engen Röhren die Durch- 
flußmengen etwas rascher zunehmen als das Druckgefälle. Auch hier 
besteht somit eine Abweichung von dem Gesetze von Hagen. Man 
kann daher zunächst nach dem Grunde dieser Abweichung fragen. 

Meines Erachtens dürfte dieser Grund, wie ich!) früher ausführte, 
gegeben sein in dem Verhalten der plasmatischen Randzone des strömen- 
den Blutes. Bereits Poiseuille2) bemerkte, daß die Breite der plasma- 
tischen Randzone der Arterien bei abnehmender Stromgeschwindigkeit 
kleiner wird, um schließlich zu verschwinden, wenn der Blutstrom zum 
Stillstand gelangt. Ich kann diese Befunde für den Frosch wie für den 
Hund und das Kaninchen bestätigen, will jedoch hinzufügen, daß bei 


1) R. Thoma, Deutsches Arch. f. klin. Med. 99, 1910. 
?) Poiseuille, Mem. pres. par div. savants etrang. & V’acad. des sc. de l’in- 
stitut de France. Sc. math. et phys. %, 105. Paris 1841. 


der Arterien des Menschen als Funktion des Gefäßradius. 295 


abnehmender Stromgeschwindigkeit auch in den Arterien zunächst noch 
ein Zustand des Blutstromes eintritt, bei welchem die Leukocyten in 
größerer Zahl in die Randzone gelangen. Es ist dies die typische ‚„‚Rand- 
stellung‘ der Leukocyten, welche Waller und Cohnheim in den Venen 
und Capillaren vorangehen sahen der Emigration der Leukocyten. 
Wie ich!) nachweisen konnte, tritt diese Randstellung der Leukocyten 
bei genügender Verlangsamung des Stromes in Arterien, Venen und 
Capillaren auch dann ein, wenn infolge einer geringen Wasserverarmung 
des Blutes die Leukocyten ihre amöboiden Eigenschaften und damit 
die Fähigkeit der Emigration verlieren. Die Randstellung der Leuko- 
eyten ist somit ausschließlich Folge einer mäßigen Verzögerung des 
Blutstromes. Bei sehr hohen Stromgeschwindigkeiten endlich, welche. 
bei der Durchschneidung von Arterien und Venen eintreten ?), wird die 
plasmatische Randzone sehr viel breiter als normal. 

Die Breite der plasmatischen Randzone nimmt in jeder Arterie mit 
der Stromgeschwindigkeit zu, wenn auch sehr erhebliche Steigerungen 
der Stromgeschwindigkeit erforderlich sind, um eine auffällige, leicht 
erkennbare Verbreiterung der Randzone zu erzeugen. Die Strom- 
geschwindigkeit aber steigt mit dem Druckgefälle. Es ist daher anzu- 
nehmen, daß bei steigendem Druckgefälle die Breite der plasmatischen 
Randzone um ein geringes zunimmt. Für die Durchflußmenge großer 
Arterien und für Glasröhren von mehr als 1,0 mm Radius würde dies 
von keiner nennenswerten Bedeutung sein. Dagegen würden, wie ich 
früher gezeigt habe, in den engeren Röhren die Durchflußmengen 
in Übereinstimmung mit der Beobachtung rascher zunehmen als das 
Druckgefälle. 

Wenn man diese Frage weiter verfolgen will, kann man daher zu- 
nächst die Breite # der plasmatischen Randzone betrachten als eine 
Funktion der Randstromgeschwindiskeit oe, welche an der Grenze der 
plasmatischen Randzone und des roten Axialstromes besteht. Dies 
scheint berechtigt zu sein, weil offenbar die Entstehung der plasma- 
tischen Randzone abhängig ist von den Differenzen der Stromgeschwin- 
digkeit der verschiedenen Lamellen des Stromes. Denn die Differenzen 
der Geschwindigkeit der Stromlamellen nehmen zu, wenn die Rand- 
stromgeschwindigkeit o eine Zunahme erfährt. Zwischen der Rand- 
stromgeschwindigkeit o und dem Druckgefälle bestehen sodann die 


Beziehungen, welche in der Gleichung 2 ihren Ausdruck gefunden haben. 


!) R. Thoma, Der Einfluß des Wasser- und Salzgehaltes des Blutes und der 
Gewebssäfte auf die Auswanderung und auf die Form- und Ortsveränderungen 
farbloser Blutzellen. Virchows Archiv 62. 1874; %4. 1878. 

?) Über die Technik solcher Versuche vgl. R. Thoma. Virchows Archiv 65. 
1875. %4. 1878. 


20* 


296 R. Thoma: Die mittlere Durchflußmenge 

Wie ich bereits früher besprocken habe (Dtsch. Arch. f. klin. Med. 99. 1910), 
kann man auf Grund der Viscositätsmessungen der beiden englischen Autoren 
den störenden Einfluß des ungleichen Drucksefälles eliminieren, wenn man für 
ein sehr zellreiches Blut die Breite # der plasmatischen Randzone proportional 
der 7. bis 10. Wurzel der Randstromgeschwindigkeit 0 annimmt. Man könnte 
daher schätzungsweise für normales Menschenblut ? proportional der 10. Wurzel 
der Randstromgeschwindigkeit c setzen. 

Für konstante Randstromgeschwindigkeit e in dem konstanten Abstande P 
von der Gefäßwand würde in diesem Falle der störende Einfluß ungleichen Druck- 
gefälles in Wegsfall kommen. 

Es wird sich jedoch später zeigen, daß die Randstromgeschwindigkeit 0 
den kleinen Arterien des Menschen erheblich größer ist als in den großen Ar a 
und zwar in einem Verhältnisse, welches weiterhin durch die auf anischen Wege 
gewonnene Gleichung 14 gegeben wird. Wenn man sodann auf Grund der mikro- 
skopischen Untersuchungen für eine Arterie von 0,023 mm Radius die Breite 
der plasmatischen Randzone = 0,01 mm annimmt, so kann man unter der Vor- 
aussetzung, daß ? der 10. Wurzel der Randstromgeschwindigkeit @ proportional 
ist, ohne Schwierigkeit die Breite f der Randzone für die Arterien größeren und 
kleineren Kalibers ausrechnen. Sodann findet man auf graphischem Wege, daß 
diese Werte von ? annähernd auf einer Hyperbel liegen und auf rechnerischem 
Wege ergibt sich annähernd 


a 0,02190 DE R 
p = 0,006931 + R-+ 7,108 Millimeter. 
wobei auch R in Millimetern einzusetzen ist. Aus dieser Gleichung aber folst: 
für R= 11,2 mm (Aorta asc.) P = 0,00813 mm 
„h-=l|l > P = 0,00963 „, 
Da ONE P = 0,00997 ,, 
SR 50.0287, P = 0,01000 „, 
el 000 20.010018 


Hier macht sich eine Besonderheit bemerkbar, welche mit der Beobachtung 
sehr gut in Übereinstimmung steht. Die Breite f der plasmatischen Randzone 
ist in allen der mikroskopischen Untersuchung zugängigen Arterien annähernd 
genau gleich groß, obgleich bei den größten dieser der mikroskopischen Unter- 
suchung zugängigen Arterien der Radius der Lichtung ungefähr 20 mal so groß 
ist als bei den kleinsten derselben. Zugleich erkennt man jedoch, daß aus der 
annähernd konstanten Breite der plasmatischen Randzone in den kleinsten Arterien 
kein Schluß gezogen werden darf auf die Breite der Randzone in den mittleren 
und srößten Arterien. 

Die weitere Rechnung‘ aber zeigt, daß durch diese Annahme bezüglich des 
Wertes von f keine ntnzinsielllen Anglsasnasn des Gesamtresultates za werden, 
vorausgesetzt, daß man nunmehr diese Werte von f als annähernd zutreffend an- 
nimmt und dann von neuem aus den vorhandenen Beobachtungen eine Gleichung 
für 0 sucht in der Weise, wie dies später besprochen werden soll. Die Gleichung 
für 0 gewinnt dabei etwas andere Konstanten, behält jedoch ihre allgemeine 
Form einer Exponentialfunktion. Zugleich erfahren die numerischen Werte für 
die Durchflußmengen, für das Druckgefälle und für die Geschwindiskeiten auf 
den verschiedenen Teilen des Stromquerschnittes nur sehr geringe, kaum nennens- 
werte Verschiebungen. Ich werde auf diese Änderungen später zurückkommen. 


Eine Einführung dieser durch die ungleiche Randstromgeschwindig- 
keit bedingten Korrekturen wird erst gerechtfertigt sein, wenn eine aus- 
reichende Zahl systematisch für diesen Zweck, mit Röhren verschiedenen 


der Arterien des Menschen als Funktion des Gefäßradius. 297 


Kalibers angestellter Beobachtungen vorliegt. Gegenwärtig nimmt man 
dabei allerdings bei der Berechnung der mittleren Durchflußmengen 
der kleinen Arterien einen Fehler mit in den Kauf, der nicht ganz außer 
acht gelassen werden darf. Nach den Untersuchungen von du Pre 
Denning und Watson schien er 1% nicht merklich zu übersteigen. 
Nach den Untersuchungen von Rothmann ist er jedoch beträchtlich 
srößer. Hier liegen offenbar Beobachtungsfehler vor. Diese sind 
möglicherweise bei Rothmann zu suchen, der mit Strömen von stetig 
zunehmender Geschwindiskeit arbeitete, während die englischen Autoren 
an Strömungen von annähernd konstanter Geschwindigkeit beobachteten. 
Außerdem halte ich es für richtiger, mit senkrecht gestellten Capillaren 
zu untersuchen, weil in horizontal gestellten Capillaren immer eine 
Senkung der roten Zellen eintritt, welche die Zellen in ungleicher Weise 
auf dem Querschnitt des Stromes verteilt. Vorläufig möchten daher die 
Ergebnisse der englischen Autoren noch als maßgebend anzusehen sein. 

Wenn jedoch Hess und Rothmann der von mir gegebenen Er- 
klärung der Tatsachen entgegenhalten, daß in engen Röhren auch die 
Durchflußmengen zellfreier, kolloider Flüssigkeiten rascher wachsen als 
das Druckgefälle, so kann man diesem Einwand wiederum begegnen 
durch den Hinweis auf den Bau der kolloiden Flüssigkeiten. Wenn 
diese, wie man annimmt, aus festen und flüssigen Teilchen bestehen, 
so ist es sehr wohl denkbar, daß auch in kolloiden Flüssigkeiten bei der 
Strömung durch enge Röhren Randzonen geringerer Viscosität ent- 
stehen, welche bei höherem Druckgefälle breiter werden. 

Für das strömende Blut jedoch ist das Vorhandensein einer zell- 
freien Randzone von variabler Breite eine feststehende Tatsache, so 
daß ein Vergleich des Blutes mit Lösungen von Gelatine und Stärke 
mir keine große Erleuchtung zu bringen scheint. Eher könnte meines 
Erachtens das Verhalten des Blutes zur Erklärung dienen für das Ver- 
halten dieser zellfreien, kolloiden Flüssigkeiten. 


3. Die Strömung des Blutes in den Arterien des Menschen. 


Die obigen Gleichungen 1, 2, 3, 5, 6 gewähren mit einiger Genauig- 
keit vollständige Auskunft über die numerischen Werte der mittleren 
Durchflußmengen der verschiedenen Arterien des Menschen, deren 

A ; d 
Radius größer als 1 mm ist, sowie entweder das Druckgefälle En oder 
die Randstromgeschwindigkeit 0 in dem Abstande von der Gefäß- 
wand für die verschiedenen Arterien bekannt ist. Die Kenntnis eines 
dieser Werte genügt, da zwischen beiden die Beziehungen bestehen, 
welche in der Gleichung 2 ihren Ausdruck fanden. Jede Annahme, die 

d 
man entweder bezüglich des Druckgefälles _P oder der Randstrom- 


dz® 


298 R. Thoma: Die mittlere Durchflußmenge 


geschwindigkeit 0 macht, definiert daher einen bestimmten Bautypus des 
Arteriensystemes. Für die Arterien von weniger als 1 mm Radius 
werden dagegen mit Hilfe dieser Gleichungen die Durchflußmengen 
nur in mehr oder weniger annähernder Weise gefunden werden können. 

Meine langjährigen Untersuchungen!) über die Entstehung, das 
Wachstum und die Erkrankungen der Blutgefäße haben, zum Teil mit 
der Schärfe des willkürlich herbeigeführten Experimentes zu dem Er- 
gebnisse geführt, daß das Wachstum des Radius der Gefäßlichtung un- 
abhängig ist von dem Blutdrucke, jedoch abhängig von der Strom- 
geschwindigkeit des Blutes. Eine Beziehung zwischen der Stromge- 
schwindigkeit und dem zirkulär gerichteten Wachstum der Gefäßwand ist 
jedoch am einfachsten erklärlich, wenn man annimmt, daß die Gefäß- 
wand in irgendwelcher Weise die Geschwindigkeiten der Randzonen 
des Blutstromes empfindet und auf diese Empfindung in gesetzmäßiger 
Weise durch ein positives oder negatives Wachstum des Radius der 
Gefäßwand reagiert. 

Wie dieses Wachstum sich vollzieht, habe ich an anderen Orten aus- 
führlich besprochen, würde jedoch hier zu weit führen. Wenn aber 
die Gefäßwand die Geschwindigkeit der Randzonen des Blutstromes 
empfindet und auf diese Empfindung in gesetzmäßiger Weise reagiert, 
so ist es wiederum am einfachsten anzunehmen, daß dieses positive 
oder negative Wachstum zur Folge hat, daß die Randstromgeschwindis- 
keit o in dem konstanten Abstande ß von der Gefäßwand gleichfalls 
konstant ist. Ich untersuche daher zunächst, wie sich der Blutstrom 
in dem Arteriensystem des Menschen darstellt, wenn für einen kon- 
stanten Wert von ß auch die Randstromgeschwindiskeit 0 konstant ist. 

Daß durch eine solche Beziehung zwischen ß und o ein bestimmter 
Bautypus des Arteriensystems gegeben ist, geht bereits aus obigen 
Erörterungen hervor, die zeigen, daß damit das Druckgefälle und die 
Durchflußmengen für alle Arterien als Funktion von R bestimmt sind: 
Es kommt jedoch darauf an zu prüfen, ob dieser Bautypus wirklich 
gegeben ist, weil auch andere Annahmen für 0 und ß gemacht werden 
können. Erst wenn dieser Bautypus empirisch nachgewiesen ist, darf 


!) Die wichtigsten dieser Untersuchungen finden sich zusammengestellt in 
dem Dtsch. Arch. f. klin. Med. 99, 565. 1910. Seit jener Zeit kamen hinzu: 
R. Thoma, Über die Histomechanik des Gefäßsystems und die Pathogenese 
der Arteriosklerose. Virchows Archiv 204. 1911. — Die Strömung an den Ver- 
zweigungsstellen der Blutbahn. Zeitschr. f. experim. Pathol. u. Ther. 11. 1912. — 
Kontroverse mit Roux, siehe R. Thoma, Virchows Archiv 20%, 210. 1912. — 
Die Gestalt der Gefäßlichtung bei der diffusen und knotigen Arteriosklerose. 
Virchows Archiv 216. 1914. — Die Strömung des Blutes in der Gefäßbahn und 
die Spannung der Gefäßwand. Beitr. z. pathol. Anat. u. z. allg. Pathol. 66. 1920. 
— Über die Intima der Arterien. Virchows Archiv 230. 1921. — Von älteren 
Arbeiten sei nur erwähnt: R. Thoma, Untersuehungen über die Histogenese und 
Histomechanik des Gefäßsystems. Stuttgart 1893. 


der Arterien des Menschen als Funktion des Gefäßradius. 299 


man behaupten, daß die allgemeinen Ergebnisse dieser Untersuchungen 
auch in den Einzelheiten vollinhaltlich mit dem tatsächlichen Geschehen 
in Übereinstimmung stehen. 


4. Arteriensystem vom Typus: o = konstant und 
ß = konstant. 


Wenn bei dem normalen Wachstum ebenso wie bei den pathologischen 
Vorgängen der Radius der Gefäßlichtung größer oder kleiner wird, 
bis die Geschwindigkeit des Blutstroms in dem kleinen Abstande P von 
der Gefäßwand den Wert 0 erreicht hat, so gewinnt 0 die Bedeutung 
des kritischen Wertes der Randstromgeschwindigkeit, bei 
welchem das zirkuläre Wachstum der Gefäßwand zum Stillstande ge- 
lanst. Das zirkuläre Wachstum der Gefäßwand wird dagegen fort- 
schreiten, solange die Randstromgeschwindigkeit in dem Abstande Pf 
von der Gefäßwand größer als o ist. Während des Wachstums nimmt, 
wie meine histomechanischen Untersuchungen im einzelnen begründet 
haben, die mittlere Durchflußmenge der Arterien stetig zu, weil diese 
mittlere Durchflußmenge abhängig ist von dem Wachstum der Capillar- 
netze der Organe. Durch die Vermehrung der mittleren Durchfluß- 
menge aber wird die Stromgeschwindigkeit in dem Abstande ß von der 
Gefäßwand um ein geringes größer als der kritische Wert o. Damit ist 
sodann die Bedingung gegeben, welche in einer an anderem Orte!) 
näher besprochenen Weise ein positives zirkuläres Wachstum der Ge- 
fäßwand, eine Größenzunahme von R auslöst. Bei dem Schwund der 
Organe und bei vielen pathologischen Vorgängen dagegen wird die 
Randstromgeschwindiskeit in dem Abstande 5 von der Gefäßwand 
kleiner als o und löst in diesem Falle eine Größenabnahme von R, ein 
negatives zirkuläres Wachstum der Gefäßwand aus. Daß dabei unter 
normalen und pathologischen Bedingungen die histologischen Vorgänge 
scheinbar etwas verschieden sein können, soll hier nicht erörtert werden. 
Die Einzelheiten finden sich in meinen früheren Publikationen ohne 
Schwierigkeit. Sie dürften auch dem Physiologen und Embryologen 
vieles Interessante bieten. 

Mit Hilfe der früher gegebenen Gleichung 2 findet man sodann für 
ein solches Arteriensystem das Druckgefälle in den verschiedenen 
Arterien gleich 

dp 40 
de 2RB- pr° 

Da jedoch P nur eine sehr kleine Größe darstellt, kann man für alle 

Arterien, deren Radius größer als 1 mm ist, den Wert von ß? vernach- 


(7) 


!) R. Thoma, Beitr. z. pathol. Anat. u. z. allg. Pathol. 66. 1920. 


300 R. Thoma: Die mittlere Durchflußmenge 


lässigen gegenüber der Größe 2 RP. In diesem Falle geht die Gleichung 7 

über in 5 a 
p 

a on > (8) 

Für den gegebenen Typus des Arteriensystems ist jedoch o und ß 
konstant und für Arterien von mehr als 1 mm Radius kann man auch 
Ö als eine Konstante ansehen. Für diesen Fall folst aus Gleichung 8, 
daß bei dem in Rede stehenden Arterientypus das Druckgefälle 
umgekehrt proportional dem Radius der Gefäßlichtung ist. 
In Arterien von weniger als I mm Radius wird, wie die Gleichung 7 
zeigt, das Druckgefälle etwas höher sein. 

Nach den Gleichungen 7 und 8 steigt, wenn 0 und f konstante Werte 
darstellen, das Druckgefälle in den kleinen Arterien in erheblichem Maße. 
Es erhebt sich daher die Frage, ob ungeachtet dieser Zunahme des 
Druckgefälles die Gleichungen 1 und‘2 in Verbindung mit Gleichung 6 
richtige Werte für die Durchflußmengen ergeben. Ich habe bei der 
ersten Behandlung dieser Gleichungen im Jahre 1910 angenommen, 
daß diese Frage zu bejahen ist, weil bei konstanter Randstromgeschwin- 
digkeit in dem konstanten Abstande P von der Gefäßwand kein Anlaß 
gegeben scheint zu der Annahme, daß die Verschiedenheiten des Druck- 
gefälles Störungen bewirken könnten. Nach dem Inhalte des Abschnittes 2 
scheint dieser Schluß auch heute noch gerechtfertigt zu sein. Nicht 
das ungleiche Druckgefälle, sondern die ungleiche Randstromgeschwin- 
digkeit oder die ungleiche Breite der zellfreien Randzone dürfte bei den 
Viscosimeterversuchen die Störungen bewirken, welche Hess und Roth- 
mann als die Folge der Verschiedenheiten des Druckgefälles betrachten. 
Doch ist in Ermangelung systematischer, auf diesen Punkt bezüglicher 
Untersuchungen zuzugeben, daß obige Entscheidung noch keine end- 
gültige sein kann. Es wäre möglich, daß später noch kleine Korrekturen 
an den Durchflußmengen anzubringen sind. 

Indessen steht man hier vor der Aufgabe, die Durchflußmengen 
empirisch zu prüfen und auf empirischem Wege die Genauigkeit der 
gegebenen Stromgleichungen nachzuweisen. Zu diesem Zwecke kann 
man zunächst die Breite ö der plasmatischen Randzone mit 0,01 mm in 
Rechnung stellen. Damit begeht man jedoch, wie es scheint, eine Will- 
kürlichkeit und zwar aus verschiedenen Gründen. Erstens entzieht 
sich die Breite ß der plasmatischen Randzone in den größeren Arterien 
der direkten Beobachtung und zweitens stellt # = 0,01 mm den größten 
Wert dar, welcher in Übereinstimmung mit der Beobachtung für die 
kleineren Arterien gewählt werden kann. Er entspricht ungefähr dem 
Abstande des Schwerpunktes der äußersten Zellen des roten Axialstromes 
von der Gefäßwand. Würde man dagegen den Begriff der plasmatischen 
Randzone auf dasjenige Gebiet des Stromes beschränken, in welches 


der Arterien des Menschen als Funktion des Gefäßradius. 301 


bei der Beobachtung am lebenden Warmblüter in der Regel kein einzel- 
ner Teil der roten Zellen eintaucht, so würde P ungefähr gleich 0,0035 mm 
zu veranschlagen sein. Indessen ist diese Willkürlichkeit ohne nennens- 
werte Bedeutung für die Berechnung der Durchflußmengen in den 
Arterien von mehr,als 1,0 mm Radius. Es geht dies hervor aus 
dem Umstande, daß ß im Verhältnisse zu R eine sehr kleine Größe 
darstellt. Dies ist in einfacher Weise auch auf numerischem Wege zu 
bestätigen. 

Wenn man nach genauen Messungen den Radius der Lichtung der aufstei- 
senden Aorta des normalen Menschen am Schlusse des Wachstums gleich 11,2 mm 
annimmt und zugleich die Durchflußmenge W derselben nach den Untersuchungen 
der besten Autoren mit 382 500 cmm in der Sekunde in Rechnung stellt, so findet 
man mit Hilfe der Gleichung 1 


We = : R®+ (R— ß)° + ° 
2nplR 5) 


und wenn man zugleich ? = 0,01 mm und den entsprechenden Wert von n aus 
der Hyperbelgleichung 6 einstellt 


0 = 1,27776 mm in der Sekunde. 


Sodann ergibt sich mit Hilfe derselben Gleichungen 1 und 6 für diesen Wert 
von 0 die Durchflußmenge einer Arterie von 2,0 mm Radius gleich 438,1 cem in 
der Sekunde und die Durchflußmenge einer Arterie von 1,0 mm Radius gleich 
50,85 cemm in der Sekunde. 

Hätte man dagegen die Breite / der plasmatischen Randzone gleich 0,0035 mm 
angenommen, so würde man, wiederum unter der Voraussetzung, daß die Durch- 
flußmenge der Aorta ascendens 82500 cmm betrage, auf dem gleichen Wege 
den viel kleineren Wert 


o = 0,44808 mm in der Sekunde 
erhalten haben. Die Durchflußmenge in der Arterie von 2,0 mm Radius aber 
würde gleich 433,4 cmm in der Sekunde und in der Arterie von 1,0 mm Radius 
gleich 49,45 cmm in der Sekunde gefunden werden. Der sich ergebende Fehler ist 
jedoch von keiner großen Tragweite. Für R = 3,0 mm und mehr würde er noch 
erheblich kleiner ausfallen. 

Wenn es aber für die Berechnung der Durchflußmengen der großen 
Arterien bis herab zu Arterien von 1,0 mm Radius von keiner wesent- 
lichen Bedeutung ist, ob P etwas größer oder kleiner gewählt wird, so 
fällt zunächst das große Bedenken, welches sich an die Tatsache knüpft, 
daß die Breite der plasmatischen Randzone sich in den großen Arterien 
der direkten Beobachtung entzieht. Für die Arterien von weniger als 
1,0 mm Radius aber darf man ß nicht kleiner als 0,01 mm ansetzen, 
weil für kleinere Werte von # die Randstromgeschwindigkeit o in dem 
Abstande P von der Gefäßwand so klein wird, daß sie in den kleinen, 
der mikroskopischen Untersuchung zugängigen Arterien in einen auf- 
fallenden Widerspruch mit der Beobachtung gerät. Die Randstrom- 
geschwindigkeit o wird bei der mikroskopischen Untersuchung direkt 
an der Bewegung der Zellen erkennbar, welche die Oberfläche des roten 


302 R. Thoma: Die mittlere Durchflußmenge 


Axialstromes bilden. Dabei sei mir die Bemerkung gestattet, daß ich 
hier die Verhältnisse, wie sie beim Warmblüter zu beobachten sind!), 
im Auge habe. Die Randstromgeschwindigkeit ist in den Arterien des 
Frosches erheblich geringer als in den Arterien des Hundes und des 
Kaninchens, jedoch immer noch groß genug, um diese Bedenken zu 
rechtfertigen. 

Hier machen sich bereits Umstände bemerklich, welche es zweifel- 
haft erscheinen lassen, ob dieser Arterientypus (? — konstant und 0 — 
konstant) in dem menschlichen Arteriensystem verwirklicht ist. Diese 
Zweifel werden sich später als berechtigt erweisen. Vorläufig können 
sie noch nicht als ausschlaggebend betrachtet werden und außerdem 
erscheint es zweckmäßig, die Untersuchung eines Arteriensystems von 
dem gegebenen Typus zu Ende zu führen. 

Damit gelangt man dazu, zunächst die Werte #_—= 0,01 mm und 
0 = 1,278 mm/Sek. zur Grundlage der weiteren Untersuchung zu nehmen, 
indem man zugleich beachtet, daß entscheidende Schlußfolgerungen be- 
züglich der Durchflußmengen nur gezogen werden können aus der 
Untersuchung von Arterien von mehr als 1,0 mm Radius. In der Folge 
erscheint daher o = 1,278 mm/Sek. als der kritische Wert der Rand- 
stromgeschwindigkeit, weil den Voraussetzungen gemäß das positive 
oder negative, zirkuläre Wachstum der Arterienwandsolangefortschreitet, 
bis dieser kritische Wert in allen Arterien erreicht ist. Die Eigenschaften 
eines solchen Arteriensystemes, die Durchflußmengen, die axialen Ge- 
schwindigkeiten, das Druckgefälle und die Verzweigungsexponenten der 
verschiedenen Arterien habe ich früher tabellarisch zusammengestellt), 
allerdings unter Benützung nicht völlig mit Gleichung 6 übereinstim- 
mender Werte von n. Die Hyperbel, welche dieser Gleichung zugrunde 
liest, war damals nur auf graphischem Wege, somit etwas weniger 
genau gefunden worden. 

Diese Zusammenstellung geschah indessen damals durchaus nicht, 
um die Richtigkeit der von mir aufgestellten Stromgleichungen zu be- 
weisen. Diese stehen durchaus auf eigenen Füßen. Es war nur meine 
Absicht zu zeigen, daß die gegebenen Voraussetzungen (P — konstant, 
0 —= konstant) zu keinen durchaus unwahrscheinlichen Werten führen. 
Dieses Ziel glaube ich erreicht zu haben. Hess?) stimmt jedoch mit 
diesem Ergebnisse nicht überein, indem er, von anderen Gesichtspunkten 
ausgehend, einen scheinbar neuen Typus aufstellt. Dabei begegnet ihm 
allerdings das Mißgeschick, daß sein scheinbar neuer Typus mit dem 
hier besprochenen Typus bis auf Größen höherer Ordnung genau iden- 
tisch ist. 

1) R. Thoma, Virchows Archiv %4. 1878. 


?\ R. Thoma, Dtsch. Arch. f. klin. Med. 99. 616. 1910. Tabelle IX. 
®) W. R. Hess, Arch. f. d. ges. Physiol. 168. 1817. 


der Arterien des Menschen als Funktion des Gefäßradius. 303 


Offenbar unter dem Einfluß der Lehren von Roux sucht Hess zunächst 
nach einer Zweckmäßigkeit und findet dieselbe durch den Nachweis, daß bei gleich- 
bleibender Länge und gleichbleibendem Voluminhalt einer verzweigten Arterien- 
bahn die Widerstände für den Blutstrom ihren kleinsten Wert besitzen, wenn 
für die symmetrische Bifurkation der Arterien 


a 
In = 4a)? (9) 
Diese Gleichung stellt einen bestimmten Bautypus eines Arteriensystemes 
dar, der hier zu analysieren ist. In der Gleichung 9 bezeichnet g, den Quer- 
schnitt des Stammes einer Verzweigung, den man auch schreiben kann = R?, wenn 
der Radius des Stammes gleich R gesetzt wird. Sodann gibt q, die Summe der 
Querschnitte der beiden zugehörigen, unter sich gleichgroßen Zweige. Nimmt 
man den Radius dieser Zweige gleich r, so wird q, =2rr?. Dabei geht die Glei- 
chung 9 über in 
ie ln 2 (10) 
Die Größe, die ich früher als Verzweigungsexponent bezeichnet habe, ist gleich 3. 
Nach dem Gesetze von Hagen ist sodann die Durchflußmenge W des Stam- 
mes vom Radius R gleich 


mo 
der 8n 2 dX 
und die Durchflußmenge w jedes der beiden Zweige gleich 
I 
Fu n Az 


Sodann muß W = 2w sein, woraus folgt, wenn man zugleich die Gleichung 10 
berücksichtigt 


dP dp 
= ke 1 
EDGE: er 
oder, wenn k eine Konstante darstellt, 
dP k dp k 
re Er 12 
TIER und een (12) 


Die Bedingung, welche in der von Hess aufgestellten Gleichung 9 enthalten 
ist, findet somit Erfüllung, wenn das Druckgefälle im Stamm und in den 
zugehörigen Zweigen einer symmetrischen Bifurkation umgekehrt 
proportional dem Gefäßradius ist. 

Nach den Entwicklungen von Wiedemann kann man sodann die Strom- 
geschwindigkeiten U und u in dem konstanten Abstande x von der Wand schreiben 
für den Stamm 


1 dP 
EN 9) Hana 
U Ar (Re — 6) IX 
und für die Zweige 
1 dp 
— > 2 
# 4n ee) dz 


Setzt man sodann für das Druckgefälle die Werte aus den Gleichungen 12 


ein, so folgt 
2 
U=, (2a -&)% 


1 2) 
er DR 1. 
u | & E k 


Wenn nun « klein ist im Verhältnis zu den Radien der Gefäßlichtungen, so 
wird U und zu der Randstromgeschwindigkeit U, und u, in dem Abstande « 


304 R. Thoma: Die mittlere Durchflußmenge 


von der Wand und man erhält, da das zweite Glied unter der Klammer als ver- 
schwindend klein angesehen werden kann im Verhältnis zu 2x, das Ergebnis 


U, = u, = konstant und «& konstant. 


Hier wurde das Blut als eine homogene Flüssigkeit behandelt, wie dies auch 
von Hess geschah. Zu genau dem gleichen Ergebnisse gelanst man jedoch auch, 
wenn man zwischen dem plasmatischen Randstrom und dem roten Axialstrom 


d k 
unterscheidet. Sowie - = m gesetzt wird, folgt auch aus der zu Eingang ge- 


gebenen Gleichung 2, daß die Randstromgeschwindigkeit e konstant wird für alle 
Werte des Gefäßradius, denen gegenüber / sehr klein erscheint. Aus der Gleichung 8 
aber kann man den Wert der Konstanten % finden 


200 
k = —— 
ß 


Dieser Wert .ist konstant, solange 9 als Konstante betrachtet werden kann. 
Die Gültigkeit dieser Erörterungen erscheint somit beschränkt auf das Gebiet, 
für welches das Gesetz von Hagen als maßgebend angesehen werden kann, also 
auf Arterien, deren Radius 1 mm übersteigt. 

Innerhalb des Geltungsbereiches des Gesetzes von Hagen, welche 
Beschränkung auch von Hess vorausgesetzt wird, ist somit die von 
Hess aufgestellte Gleichung 9 gleichbedeutend mit der Bedingung 
(0 = konstant, f —= konstant). Hess ist durch seine Erwägungen zu 
dem von ihm verworfenen Arterientypus gelangt, welcher durch die Be- 
dinsung einer konstanten Randstromgeschwindigkeit gekennzeichnet 
wird. Zu einer Erklärung der Entwicklungsmechanik und der Wachs- 
tumsvorgänge dürfte jedoch die von ihm gemachte Voraussetzung einer 
Konstanz der Länge und des Voluminhaltes des Arteriensystemes 
wenig geeignet sein, während man sich in sehr einfacher Weise eine 
Vorstellung darüber bilden kann, daß die Arterienwand die Geschwindig- 
keit des strömenden Blutes empfindet und unter normalen wie unter 
pathologischen Bedingungen auf diese Empfindung durch ein positives 
oder negatives zirkuläres Wachstum reagiert, bis die Randstrom- 
geschwindigkeit o ihren kritischen Wert erreicht. 

Über die Einzelheiten dieses Vorganges, über seine Beziehungen 
zum Tonus der Gefäßwand und zu den Materialspannungen und über 
die zugehörigen Wachstumserscheinungen in den Geweben habe ich 
mich unlängst an anderen Orten!) genügend ausgesprochen. Die Reak- 
tion der Gefäßwand auf die Geschwindiskeit der Randzonen des Blut- 
stromes ist eine besondere vielleicht vom Parablasten herstammende 
Eigenschaft, welche die Gefäßwand von allen anderen Organen unter- 
scheidet. 

Begnüst man sich dagegen, mit Roux die Zweckmäßigkeit einer 
Einrichtung durch eine Anpassung und die Anpassung durch eine An- 
passungsfähigkeit der Gewebe und Organe zu erklären, ohne an dieser 


!) R. Thoma, Beitr. z. pathol. Anat. u. z. allg. Pathol. 66. 1920. — Virchows 


Archiv 230. 1921. 


der Arterien des Menschen als Funktion des Gefäßradius. 305 


Tautologie Anstoß zu nehmen, so wird man auch die Entwicklung und 
das Wachstum der Arterien in ihren allgemeinen Umrissen bequem zu 
erklären vermögen durch Schlußfolgerungen, welche von einer Konstanz 
der Länge und des Voluminhaltes der Arterien ausgehen. 

Es fragt sich jedoch, ob die Bedingung (0 = konstant, $ —= konstant) 
und damit auch die von Hess in Gleichung 9 aufgestellte Bedingung 
mit den tatsächlichen Verhältnissen einigermaßen genau übereinstimmt. 
Zu diesem Zwecke wende ich mich der Frage zu, in welcher Weise man 
diese Bedingung auf empirischem Wege genauer prüfen kann. 


5. Arteriensystem vom Typus: 
0 = 0,362 + 1,0191? - 9° und P = 0,01 mm. 

Die eingangs besprochene Gleichung 1 gibt die mittlere Durchfluß- 
menge W einer Arterie als Funktion des Radius R in Vielfachen der 
Randstromgeschwindigkeit 0 

w-2|e4r-94+ |. (1) 
. 


Zugleich ist es selbstverständlich, daß die Durchflußmenge W jedes 
Arterienstammes gleich ist der Summe der Durchflußmengen w, + wy 
+ w, + ... seiner Zweige, so daß 


W=wtw+tw-... (13) 
Wenn man sodann für eine größere Zahl von Arterienverzweigungen, 
welche zuvor unter der Wahrung der nötigen Vorsichtsmaßregeln, bei 
konstantem, dem Blutdrucke entsprechenden Drucke mit Paraffin 
injiziert wurden!), die Radien der Lichtung ausmißt, so ist man offen- 
bar in der Lage, mit Hilfe der Gleichung 1 für jeden Arterienstamm 
und für seine Zweige die Durchflußmengen in Vielfachen von 0 zu 
berechnen, um diese Werte sodann in die Gleichung 13 einzusetzen. 
‘ Damit findet man die Randstromgeschwindigkeit o, gleichviel ob diese 
eine konstante oder eine variable Größe ist. 


Obigen Erörterungen entsprechend gewinnt man zuverlässige Resultate nur, 
wenn .die Radien der Lichtung der gemessenen Arterien größer als 1 mm sind. 
Daß zugleich die Wahl der Größe f innerhalb der oben gegebenen Grenzen von 
keiner wesentlichen Bedeutung ist, wurde gleichfalls oben besprochen. Ich habe 
P = 0,01 mm angenommen. Es wäre jedoch auch denkbar, wenn man über eine 
große Zahl von Beobachtungen verfügt, den Wert von f aus diesen zu berechnen. 
Doch dürfte dies auf rechnerische Schwierigkeiten stoßen und außerdem wesent- 
lich genauere Beobachtungen voraussetzen. 

Die Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Resultate ist indessen größer, als man 
vielleicht anzunehmen geneigt ist, weil geringe aber proportionale Änderungen der 


!) Die etwas komplizierte Technik der Injektion und der Ausmessung der 
Arterien, sowie die gewonnenen Resultate finden sich ausführlich dargestellt in 
den Beitr. z. pathol. Anat. u. z. allg. Pathol. 66. 1920. 


306 R. Thoma: Die mittlere Durchflußmenge 


Radien des Stammes und der zugehörigen Zweige, wie sie bei manchen Teilen des 
technischen Verfahrens zu gewärtigen sind, zwar die Durchflußmengen in nicht 
unerheblicher Weise ändern, jedoch den Vergleich der Durchflußmengen des Stam- 
mes mit den Durchflußmengen seiner Zweige, wie er durch die Gleichung 13 her- 
beigeführt wird, nur in sehr geringem Grade stören. 

Für die Werte von n hatte ich bei dieser Untersuchung noch die früher auf 
graphischem Wege gewonnenen Zahlen benützt. Ich werde die dadurch bedingten 
Abweichungen erwähnen. Sie sind im ganzen unerheblich. 

Die weitere Untersuchung zeigte zunächst, daß es ganz ausgeschlossen 
ist, die Randstromgeschwindigkeit o als eine konstante Größe anzusehen. 
Die Summen der Durchflußmengen der Zweige werden für o = konstant 
immer viel kleiner gefunden als die Durchflußmenge des Stammes. Die 
Differenz als Fehler betrachtet betrug in der Mehrzahl der Fälle mehr 
als 27%, der Durchflußmenge des Stammes!). Die Durchflußmengen 
der Stämme wurden jedoch ziemlich genau gleich der Summe der Durch- 
flußmengen der zugehörigen Zweige, als ich 0 als eine Funktion von R 
betrachtete und durch ein’ Annäherungsverfahren fand: 


o = 0,362 + 1,019112 - 2%)” mm/Sek. (14) 


Bei dem Gebrauch dieser Gleichung erreichte der größte Fehler bei 
der Berechnung der Durchflußmengen nur 5,5% der Durchflußmenge 
des Stammes und die Fehler waren, wie dies bei zufälligen Fehlern 
immer der Fall ist, abwechselnd positiv und negativ. Die Gleichung 14 
scheint somit der Wahrheit ziemlich nahezukommen. 

Bei der Aufstellung der Gleichung 14 bin ich wieder ausgegangen 
von dem anderweitig gewonnenen Ergebnisse, daß die mittlere Durch- 
flußmenge der aufsteigenden Aorta (R = 11,2 mm) in der Sekunde 
832500 cmm beträgt. Aus dieser Annahme folgte mit Hilfe der Gleichung 1 
alsbald die Randstromgeschwindigkeit in der aufsteigenden Aorta 
gleich 1,362 mm, wobei die auf graphischem Wege gewonnenen Werte 
von n Verwendung fanden und ß = 0,01 mm angenommen war. Für die 
mittleren und kleineren Arterien aber ergab die Gleichung 14 allmählich 
größere Werte für die Randstromgeschwindigkeit. In den Arterien von : 
l mm Radius wurde oe annähernd gleich 7,4 mm in der Sekunde und 
in Arterien von 0,023 mm Radius gleich 10,5 mm in der Sekunde. 
Die Stromgeschwindigkeit in der Achse des roten Axialstromes aber 
betrug in der Aorta ascendens 418 mm in der Sekunde, nahm in 
den mittleren und kleinen Arterien allmählich ab und wurde in einer 
Arterie von 1 mm Radius gleich 201 mm/Sek. und in Arterien von 
0,023 mm Radius gleich 11,0 mm/Sek. 


1) Diese Fehler wären für (0 = konstant, f — konstant) noch etwas größer 
geworden, wenn statt der auf graphischem Wege gewonnenen Hyperbelwerte von n 
die aus der Hyperbelgleichung 6 hervorgehenden Werte von n Verwendung gefun- 
den hätten. 


der Arterien des Menschen als Funktion des Gefäßradius. 307 


Ich gehe an dieser Stelle auf die sehr kleinen Arterien ein, obgleich 
für diese die verwendeten Werte von n und manche andere Einzelheiten 
als weniger genau gelten müssen, weil die Stromgeschwindigkeiten nur 
in diesen sehr kleinen Arterien einer empirischen Nachprüfung durch 
das Mikroskop unterzogen werden können. Die unter der Leitung von 
Hürthle ausgeführten Stromuhrversuche, die ich gleichfalls berück- 
sichtist habe!), liefern allerdings annähernd stimmende Resultate. Sie 
sind jedoch nicht genau genug, um über die verschiedenen Bautypen 
des Arteriensystemes eine Entscheidung zu bringen. Dies beruht haupt- 
sächlich auf dem Umstande, daß bei diesen Stromuhrversuchen die 
Gefäßdurchmesser nicht hinreichend genau gemessen werden können. 
Die lichte Weite der bloßgelegten Teile der Arterien dürfte infolge von 
Störungen der Innervation immer abnorme Werte ergeben. 

Wenn man bei dem Schlage eines Metronoms oder eines Sekunden- 
pendels den Blutstrom in den kleinen Arterien des Netzes oder des 
Mesenterium des Hundes beobachtet?), so wird man sich davon über- 
zeugen können, daß die aus Gleichung 14 berechneten Geschwindig- 
keiten an der Oberfläche des roten Axialstromes annähernd wenigstens 
mit der Wirklichkeit in Übereinstimmung stehen. Ich war in der letzten 
Zeit nicht mehr in der Lage, diese Beobachtungen zu wiederholen. 
Nachdem ich mich jedoch früher jahrelang in aufmerksamster Weise 
mit dem Blutstrom der Säugetiere beschäftigt habe, glaube ich diese 
Behauptung verantworten zu können. Sie findet in gewissem Sinne eine 
Bestätigung durch die kinematographischen Untersuchungen von 
Hürthle®), welcher in einer Arterie von 0,015 mm Radius beim Frosch 
Stromgeschwindiskeiten von 5 mm in der Sekunde nachgewiesen hat. 
Denn es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die Stromgeschwindig- 
keiten in den kleinen Arterien des Frosches erheblich kleiner sind als 
in den kleinen Arterien der Säugetiere. 

Dabei erscheint es als unwesentlich, ob Hürthle die Stromge- 
“ schwindiskeiten in der Achse oder an der Oberfläche des roten Axial- 
stromes kinematographisch gemessen hat. Denn Rechnung und Be- 
obachtung ergeben in übereinstimmender Weise, daß in den verwende- 


1) R. Thoma, Virchows Archiv 204, 20. 1911. 

?2) Über die Technik solcher Versuche vgl. R. Thoma, Virchows Archiv %4. 
1878. Kaninchen sind zu diesen Versuchen wenig brauchbar, weil bei einigermaßen 
ausgiebiger Eröffnung der Bauchhöhle der Blutdruck erheblich absinkt, indem 
eine hochgradige Hyperämie der vorgelagerten Eingeweide eintritt. Diese Hyper- 
ämie ist mit einer starken Beschleunigung des arteriellen Stromes in den vorge- 
lagerten Teilen verbunden. Übrigens erfordert es auch längere Erfahrung, bis man 
beim Hunde unter solchen Bedingungen ein Urteil über die normale Stromgeschwin- 
digkeit in den Arterien gewinnt. Die vorgelagerten Teile sollten mit körperwarmer 
0,9 proz. Kochsalzlösung irrigiert werden und auf einem entsprechend erwärmten, 
durchsichtigen Objektträger liegen. 

2) K. Hürthle, Arch. f. d. ges. Physiol. 162. 1915. 


308 R. Thoma: Die mittlere Durchflußmenge 


ten, kleinen Arterien die Stromgeschwindigkeiten in der Achse und an 
der Oberfläche des roten Axialstromes annähernd genau gleich groß 
sind. Zugleich beweisen die großen Stromgeschwindigkeiten in den 
kleinen Arterien, daß die Bedingung (0 — konstant, ? = konstant), 
welche für den ersten Typus des Arteriensystems gilt, der Wirklichkeit 
nicht entspricht. Für diesen ersten Typus war die Randstromgeschwin- 
digkeit überall gleich 1,278 mm/sek., wenn # = 0,01 mm angenommen 
wird, also in den kleinen Arterien viel zu gering. An Hürthle jedoch, 
der über Hilfsarbeiter und über die nötigen Apparate verfügt, richte ich 
die Bitte, auch die Stromgeschwindigkeiten in den kleinen Arterien der 
Säugetiere kinematographisch festzustellen. Eine genauere Kenntnis 
. dieser Stromgeschwindigkeiten wäre, wie man bemerkt, von großer Be- 
deutung für die Beurteilung der Kreislaufsvorgänge beim Menschen. 

Aus der zu Eingang gegebenen Gleichung 2 folst sodann für den hier 
in Rede stehenden, zweiten Bautypus des Arteriensystemes das Druck- 
gefälle 


> (15) 


und für größere Arterien, für welche man ohne wesentliche Ungenauig- 
keit das zweite Glied des in der Klammer stehenden Ausdruckes weg- 
lassen kann 

UDE2 00 

en N 

Setzt man sodann aus der Gleichung 14 den variablen Wert von o 

ein, so überzeugt man sich leicht davon, daß in Übereinstimmung mit 
den Lehren der Physiologie das Druckgefälle in den großen und mittleren 
Arterien sehr gering ist, während esin den kleinen und kleinsten Arterien 
eine beträchtliche Höhe erreicht. In der Aorta ascendens (R = 11,2 mm) 
wird rechnungsgemäß auf jeden Millimeter Strombahnlänge 0,000225 mm : 
hg verbraucht. In einer Arterie von 1 mm Radius hat sich dieser Ver- 
brauch für jeden Millimeter der Strombahnlänge auf 0,0140 mm hg 
gesteigert und in einer Arterie von 0,023 mm Radius würde er für jeden 
Millimeter Strombahnlänge 1,246 mm hg betragen. 


d 
Bei der Berechnung des Druckgefälles = wurde hier berücksichtigt, daß 


der Viscositätskoeffizient ® des Blutplasmas in den kleinen Arterien zunimmt. 
Oben hatte ich für den Viscositätskoeffizienten des Blutplasmas des Pferdes zwei 
Gleichungen abgeleitet, welche sich auf die Temperaturen von 32,2° und 40,4° C 
bezogen. Wenn man annimmt, daß für normale Körpertemperatur die Werte 
von ® annähernd in der Mitte zwischen den Angaben dieser beiden Gleichungen 
liegen und wenn man sodann diese Mittelwerte, mangels genauerer Bestimmungen 
der Viscosität des menschlichen Blutplasmas auch für den Menschen gelten läßt, 
so kommt noch in Betracht, daß diese Werte im Zentimeter-, Gramm-, Sekunden- 


* 


der Arterien des Menschen als Funktion des Gefäßradius. 309 


system ausgedrückt sind. Wird, wie es hier geschieht, der Druck nicht in Dynen, 
sondern in Millimetern hg gegeben, so müssen die gewonnenen Zahlen noch durch 
1330 geteilt werden und man erhält 

1 
”# = 0,000 009 233 + OD UDL Tl] 


R 


wobei der Druck in Millimetern hg und der Radius R der Gefäßlichtung in Millimetern 
in Rechnung zu stellen ist. Diese Werte von ® haben hier Verwendung gefunden. 
Sie wurden vierstellig gegeben, damit die Rechnung keine weiteren Fehler in diese 
Erwägungen bringen kann. Doch wird man sich nicht täuschen lassen über die 
bestehenden Ungenauigkeiten. Vor allem fehlen uns genauere Viscositätsbestim- 
mungen des menschlichen Blutplasmas und des menschlichen Blutes für die ver- 
schiedenen Werte von R. Diesen Viscositätsbestimmungen sollte allerdings eine 
systematische Prüfung der im Abschnitt 2 besprochenen Fragen vorangehen. 

Die reziproken Werte der soeben im Haupttext für das Druckgefälle gegebenen 
Zahlen sind gleich den in Millimetern ausgedrückten Strombahnlängen, für welche 
jeweils 1 mm hg verbraucht wird. Sie betragen für die Aorta ascendens 4445 mm, 
für eine Arterie von Imm Radius annähernd 71,5 mm und für die Arterie von 
0,023 mm Radius annähernd 0,803 mm, in annähernder Übereinstimmung mit 
den früher (Beitr. z. pathol. Anat. u. z. alle. Pathol. 66. 1920) gegebenen Zahlen. 
Die Unterschiede sind nur in den kleinsten Arterien etwas beträchtlicher, infolge 
der etwas höheren, in den kleinen Arterien zunehmenden Werte von %, die hier 
benützt wurden. 


(17) 


Es gibt noch einen anderen Weg, um den Inhalt der Gleichung 14 
einer ziemlich strengen Prüfung zu unterziehen. Wenn man mit Hilfe 
der Gleichungen 1 und 14 die Durchflußmengen der zahlreichen größeren 
und kleineren Zweige der Aorta berechnet, so stimmt die Summe 
dieser Durchflußmengen in befriedigender Weise mit der 
Durchflußmenge der aufsteigenden Aorta überein, wie ich 
an einem anderen Orte!) ausführlich nachgewiesen habe. Diese Beweis- 
führung wäre meines Erachtens ausschlaggebend, wenn etwas genauere 
Zahlen für die Radien aller Zweige der Aorta vorliegen würden. 

Immerhin berechtigt das gewonnene Ergebnis zusammen mit der 
obigen Untersuchung der einzelnen Verzweigungsstellen zu dem Schlusse, 
daß die Gleichungen 1 und 14 

4 
m ee ee 
2nPß (R — | 


» 0 = 0.362 + 1,019112 - 8" mm/sek. (14) 


eine annähernd richtige Vorstellung über die mittleren 
Durchflußmengen der Arterien des erwachsenen Menschen 
gewähren, wenn man die seinerzeit aufgraphischem Wegegewonnenen 
und auch tabellarisch zusammengestellten ?2) Werte für den Viskositäts- 
faktor n benützt und zugleich $# = 0,01 mm annimmt. 


(1) 


!) R. Thoma, Beitr. z. pathol. Anat. u. z. allg. Pathol. 66. 1920. 
2) R. Thoma, Dtsch. Arch. f. klin. Med. 99, 588, 616. 1910. 


Pflügers Archiv f.d. ges. Physiol. Bd. 189. 21 


310 R. Thoma: Die mittlere Durchflußmenge der Arterien des Menschen usw. 


Die Zahl der Gefäßverzweigungen, auf deren Untersuchung dieses 
Ergebnis beruht, ist noch nicht sehr groß, was sich durch die große Um- 
ständlichkeit der Messung des Gefäßradius und durch die sehr zeit- 
raubenden Ausrechnungen erklärt. Ich habe daher noch eine weitere 
Reihe von Arterienverzweigungen des Menschen injiziert und bin mit 
der Ausmessung derselben beschäftigt. Dabei erscheinen, wie ich später 
berichten werde, die vorstehenden Untersuchungen im wesentlichen be- 
stätigt zu werden. 

Zum Schlusse sei mir noch gestattet, auf die bemerkenswerte Tat- 
sache hinzuweisen, daß sehr gegen mein Erwarten die Randstromge- 
schwindigkeit o nicht als eine Konstante, sondern als eine Exponential- 
funktion von R gefunden wurde. Dieses Ergebnis steht in einer bedeut- 
samen Beziehung zu den Gesichtspunkten, mit welchen ich an diese 
Untersuchung herantrat. Eine große Zahl anatomischer und experimen- 
teller Erfahrungen an gesunden und kranken Blutgefäßen des Menschen 
und der Tiere hatte zu dem Schlusse genötigt, daß die Gefäßwand in 
irgendwelcher Weise die Geschwindigkeit der Randzonen des Blut- 
stromes empfindet und auf diese Empfindung während des ganzen 
Lebens durch ein positives oder negatives Wachstum des Gefäßum- 
fanges und somit auch des Gefäßradius reagiert in der Weise, daß eine 
bestimmte Randstromgeschwindiskeit o gewährleistet wird. Daß das 
Längenwachstum der Arterien anderen Gesetzen gehorcht, will ich hier 
nur nebenbei erwähnen. Ich glaube die Gesetze des Längenwachstums 
der Arterien an einem anderen Orte!) mit vorläufig genügender Ge- 
nauigkeit festgestellt zu haben. 

Wenn jedoch eine unbewußt sich vollziehende Empfindung das 
Wachstum des Gefäßradius beherrscht, so scheint auch für diese un- 
bewußten Empfindungen das Gesetz von Fechner gültig zu sein. 
Durch einige Änderungen im Koordinatensystem, indem man den 
variablen Wert von (0 — 0,362) durch die neue Variable v und den 
variablen Wert (11,2 — R)? durch die neue Variable y ersetzt, geht, 
wenn zugleich die konstante Größe 1,019 mit b bezeichnet wird, die 
Gleichung 14 über in 

vb 

Dieses aber ist der einfachste Ausdruck des Gesetzes von Fechner, 
in welchem b eine empirisch zu bestimmende Konstante, v den variablen 
Wert des Reizes und y den Erfolg des Reizes, also das Maß der Empfin- 
dung darstellt. Ich will diese Anschauung hier nur flüchtig angedeutet 
haben. Sie findet sich an dem soeben genannten Orte ausführlicher be- 
sprochen für die Gewebe, welche die Gefäßwand bilden. 


!) R. Thoma, Beitr. z. pathol. u. z. allg. Pathol. 66. 1920. 


Untersuchungen über die Aufnahme von Eiweißabkömmlingen 
(Peptone, Polypeptide und Aminosäuren) durchrote Blutkörper- 
chen unter bestimmten Bedingungen. 


Von 
Emil Abderhalden und H. Kürten. 


(Aus dem physiologischen Institute der Universität Halle a. S.) 
Mit 1 Textabbildung. 
(Eingegangen am 2. April 1921.) 


Das Studium der Beziehungen der Proteine der Nahrung zu jenen 
der Gewebe hat von den verschiedensten Gesichtspunkten aus immer 
mehr zu der Vorstellung geführt, daß die Nahrungseiweißstoffe im Magen- 
darmkanal und insbesondere im Darme unter der Einwirkung be- 
stimmter Fermente einem weitgehenden Abbau unterliegen. Es spricht 
vieles dafür, daß im wesentlichen nur Eiweißbausteine, nämlich Amino- 
säuren, zur Aufnahme gelangen. Diese verwenden dann die Körper- 
zellen in mannigfacher Weise. Von ihnen aus kann der Aufbau zell- 
eigener Proteine erfolgen oder sie bilden das Ausgangsmaterial zur 
Bildung von Inkreten oder aber sie werden je nach ihrer Natur in Zucker 
übergeführt usw. Die Annahme, daß den Körperzellen Aminosäuren 
als Ausgangsmaterial zur Verfügung gestellt werden, setzt voraus, 
daß ihnen solche auf dem Wege der Blut- oder Lymphbahn zugeführt 
werden. Nun hat die Untersuchung der Lymphe, während kein Eiweiß 
verdaut wird und während des Proteinabbaues im Darmkanal keine 
in Betracht kommende Zunahme von Nichteiweißstickstoff in der 
Lymphe des Ductus thoracicus erkennen lassen). Die von dem einen von 
uns (Abderhalden) in neuerer Zeit in dieser Richtung ausgeführten 
Versuche sind noch unveröffentlicht. Dagegen ließ sich der Nachweis 
führen, daß während der Verdauung von Eiweiß mehr Aminosäuren im 
Blute anzutreffen sind, als im nüchternen Zustande. Neue Versuche 
haben gezeigt, daß alle bisher bekannten Aminosäuren sich durch 
Dialyse aus Blutplasma bzw. -serum entfernen und im Dialysat nach- 
weisen lassen?). Es unterliegt wohl kaum einem Zweifel, daß im 
Blutplasma Aminosäuren frei gelöst kreisen. Daneben 


1) Vgl. EmilAbderhalden, Arno Ed. Lampe und E. S. Loudon: 
Arch. f. physiol. Chemie 84, 213. 1913. 
2) Vgl. Emil Abderhalden, Zeitschr. f. physiol. Chemie 1921. 


DANS 


312 E. Abderhalden und H. Kürten: 


könnten jedoch auch solche zum Transport kommen, die 
von Formelementen des Blutes aufgenommen sind. Die 
Art dieser Aufnahme könnte eine verschiedene sein. Am naheliegendsten 
ist die Annahme einer Adsorption an kolloide Teilchen in der 
Oberfläche von roten und weißen Blutkörperchen und Blutplättchen. 

Neben dem Problem der möglichen Beteiligung von Blutzellen an 
der Überführung von Eiweißabbauprodukten vom Darm zu den -ein- 
zelnen Körperzellen lockte zu einer Untersuchung des Verhaltens von 
Blutzellen gegenüber Eiweißabkömmlingen vor allem auch der allgemeine 
Gesichtspunkt der Durchlässigkeit bestimmter Zellarten für die er- 
wähnten Verbindungen. 

Wir wählten zunächst zu unseren Untersuchungen rote Blut- 
körperchen und zwar erwiesen sich solche vom Rind als geeignet, 
während wir bei Pferdeblutkörperchen eine deutliche Aufnahme von 
Aminosäuren nicht immer feststellen konnten. Es sei gleich vorweg 
genommen, daß wir von der Vermutung ausgingen, daß Adsorptions- 
vorgänge an der Oberfläche der roten Blutkörperchen eine 
Rolle spielen. Daß kaum so einfache Verhältnisse und Gesetzmäßig- 
keiten sich auffinden lassen würden, wie sie von Abderhalden und 
Fodor!) bei Versuchen über die Adsorption von Aminosäuren und 
Polypeptiden durch Tierkohle festgestellt werden konnten, war von 
vorneherein sehr wahrscheinlich. Einmal haben wir es mit Zellen 
zu tun, in denen im Anschluß an den Adsorptionsvorgang 
weitere Prozesse eingreifen können. Die aufgenommenen Pro- 
dukte können durch die Zelltätigkeit verändert werden. Ohne Zweifel 
sind die von uns gefundenen Ergebnisse durch solche sekundär ein- 
setzenden Vorgänge beeinflußt. Ferner kommt ohne Zweifel nicht 
ein ganz bestimmter Zustand von Teilchen der Oberflächen- 
schicht der Blutkörperchen in Frage, vielmehr befinden 
sich in ihr solche von verschiedenem Verteilungsgrad, ver- 
schiedener elektrischer Ladung, verschiedenem Grad der 
Hydratation, von verschiedenem Quellungsgrad, kurz und 
gut Teilchen mit verschiedenen Eigenschaften. Leider fehlt 
uns noch die Sprache, um der Mannigfaltiskeit der Zustandsformen 
kolloider Teilchen Ausdruck zu verleihen. Nun ist der kolloide Zustand 
in all seinen Feinheiten vollständig von den vorhandenen Bedingungen 
abhängig. Es kann dies nicht genug betont werden! Daraus folgt, 
daß wir dievonunsgefundenen Resultatenichtohne weiteres 
als Ergebnisse aufzufassen haben, die für die Frage des Ver- 
haltens der roten Blutkörperchen gegenüber den geprüften 
Substanzen unter normalen Verhältnissen, d.h. in der Blut- 


1) Fermentforschung 2, 74, 151, 211, 225. 1917/18, und Kolloid-Zeitschr. 2%, 
49. 1920. 


Untersuchungen über die Aufnahme von Eiweißabkömmlingen usw. 313 


bahn maßgebend sein müssen. Schon der Zusatz des die Gerinnung 
verhindernden Mittels, dann das Abzentrifugieren der roten Blut- 
körperchen und dann vor allem ihr Waschen, all das kann tiefgehende 
Veränderungen im Zustand der kolloiden Teilchen der Oberflächen- 
schicht und auch von tiefer liegenden Teilchen zur Folge haben. Es 
darf auch nicht übersehen werden, daß die kolloiden Teilchen sich gegen- 
seitig in ihren Eigenschaften beeinflussen. Sie stehen in vieler Beziehung 
in einer Art von Wettbewerb gegenüber den Inhaltsstoffen des Dis- 
persionsmittels. Vor allem kommt auch ohne Zweifel der Grad der 
Quellung der einzelnen Teilchen für ihre Funktionen sehr in Betracht. 
Auch er ist von den vorhandenen Bedingungen abhängig. Wirbetonen 
diese Momente so sehr, weilwirmitaller Schärfehervorheben 
möchten,daßunsereBeobachtungenzunächstausschließlich 
für die von uns geschaffenen Bedingungen gelten. Eine 
Verallgemeinerung der Resultate ist so lange nicht angängig, als nicht 
bewiesen ist, daß sie auch unter normalen Verhältnissen Geltung haben. 
Auch wenn es noch so wahrscheinlich ist, daß ‚‚gleiche‘“ oder ähnliche 
Erscheinungen sich auch im normalen Blute, d. h. im kreisenden Blute 
vollziehen, müssen. wir vorsichtig sein und uns ganz an das, was wir 
wirklich wissen, halten. Es kommt noch hinzu, daß die Methoden, 
die uns zur Beobachtung des Verhaltens von Zellen usw. gegenüber 
von bestimmten Substraten zur Verfügung stehen, recht rohe sind. 
Es können uns infolgedessen Erscheinungen als gleiche entgegentreten, 
die es in Wirklichkeit gar nicht sind. Der Adsorptionsvorgang wird 
von uns zumeist in seinem Gleichgewichtsstadium verfolst. Was voraus- 
geht, d.h. z. B. die Geschwindigkeit der Adsorption usw., entzieht sich 
leider zumeist der Feststellung. Wenn wir auch in das Wesen der Ad- 
sorption in den letzten Jahren dank der Studien von Ostwald, Freund- 
lich, Bredig, Bechhold, Michaelis und Rona, Abderhalden 
und Fodor u. a. einen immer tieferen Einblick erhalten haben, ver- 
hehlen wir uns nicht, daß noch manche Vorstellungen hypothetischer 
Natur sind, und vor allem die Feinheiten der ganzen Vorgänge uns noch 
verborgen sind. Bei der Darstellung ‚rein chemischer Vorgänge 
gebrauchen wir Formeln. Wir wissen ganz genau, daß in Wirklichkeit 
der durch sie zur Darstellung kommende Vorgang viel verwickelter ist, 
ja daß wir nur Symbole vor uns haben, die höchstwahrscheinlich nur 
den Anfangs- und Endzustand einer Reaktion versinnbildlichen. Bei 
den Vorgängen, die sich an kolloiden Teilchen abspielen, fehlen uns noch 
jede Symbole, man darf vielleicht sagen, glücklicherweise, weil die For- 
schung noch im vollen Flusse ist und der Versuch, die ganzen Vorgänge 
zu schematisieren, leicht zu ganz unrichtigen Vorstellungen führen kann. 

Man wird stets, wenn vonirgend welchen Vorgängen an 
kolloiden Teilchen die Rede ist, besonders sorgfältig auf die 


314 E. Abderhalden und H. Kürten: 


geschaffenen Bedingungen achten und sie besonders hervor- 
heben müssen. Ergeben sich schon gewisse Schwierigkeiten, diese 
immer genau gleich zu halten, so steigern sie sich noch ganz besonders 
bei der Anwendung von roten Blutkörperchen. Sie zeigen leicht Hämo- 
Iyse. Ihr Eintreten mußte vermieden werden. Das hatte zur Folge, 
daß wir uns innerhalb enger Grenzen bezüglich der Konzentration der 
angewandten Substrate halten mußten. Die Folge davon war, daß die 
aufgenommenen Mengen an diesen nur gering sein konnten. Es war 
unsere Aufgabe, die Versuche so auszubauen, daß die Fehlerquellen 
der Bestimmung der aufgenommenen Substrate bzw. der aus der Sus- 
pensionsflüssigkeit verschwundenen keinen Anteil am Ergebnis haben 
konnten. Ferner war es notwendig, die Versuche so oft als nur möglich 
zu wiederholen, um nicht einen Einzelfall für das Versuchsergebnis 
unter den angewandten Bedingungen zu verallgemeinern. 


Versuche. 


Das Rinderblut von frisch geschlachteten, gesunden Tieren wurde durch 
Natriumoxalat in einer Konzentration von 1,0 g auf 11 Blut ungerinnbar gemacht 
und sofort verarbeitet, indem zunächst durch 20 Minuten langes Zentrifugieren 
bei 2500 Umdrehungen das Plasma abgetrennt wurde. Es wurde mit der Pipette 
abgehoben, die roten Blutkörperchen wurden so oft in 0,9proz. Kochsalzlösung 
gewaschen und jeweils 15 Minuten lang zentrifugiert, bis die Waschflüssigkeit 
mit Ninhydrin keine Blaufärbung mehr gab. Nun wurden die Erythrocyten noch 
einmal zentrifugiert und zwar solange, bis sie alle Waschflüssigkeit abgegeben 
hatten, was gewöhnlich nach weiteren 10 Minuten der Fall war. Der Körperchen- 
brei war dann in seiner Konsistenz noch immer so weit flüssig, daß er durch Pi- 
pettieren genau abgemessen und verteilt werden konnte. Selbstverständlich wurde 
innerhalb einer Versuchsreihe nur das Blut ein und desselben Tieres verwendet. 
Dabei ergab sich jedoch, daß auch hier noch Unterschiede bestanden: Es gelang 
nämlich keineswegs immer, eine Aufnahme der Eiweißbausteine durch die Blut- 
körperchen nachzuweisen. Diese Tatsache legte die Vermutung nahe, daß schon 
geringfügige Unterschiede in der Beschaffenheit der aufnehmenden Schicht die 
Ursache des verschiedenen Verhaltens sein könnte. Wie aber dann verschiedene 
Versuche, auf die wir noch zu sprechen kommen werden, ergaben, scheint die 
von uns gewählte Vorbehandlung der roten Blutkörperchen ohne Bedeutung für 
die Oberflächenwirkung der Blutkörperchen zu sein. Es machte auch keinen 
Unterschied, ob wir Ringersche Lösung, isotonische Rohrzuckerlösung oder Koch- 
salzlösung zum Waschen der Erythrocyten verwendeten. Wir benützten darum 
gleichmäßig die letztere. 

Die verwendeten Aminosäuren und Polypeptide lösten wir gleichfalls in 0,9 proz. 
Kochsalzlösung (gewöhnlich ca. 1,0 g auf 100,0 ccm) und stellten uns dann durch 
Verdünnung mit der Kochsalzlösung die gewünschte Konzentration her. Dadurch 
befanden sich die Blutkörperchen stets in einem hypertonischen Suspensions- 
mittel, was für die Versuche aber nur soweit in Frage kam, als wir jede Spur von 
Hämolyse vermeiden wollten. Das war nun durchaus nicht immer leicht und 
manche Versuchsserie fand durch sie ihren vorzeitigen Abschluß, ohne daß wir 
immer imstande gewesen wären, die Ursache dafür aufzufinden. 

Die eigentliche Versuchsanordnung trafen wir nun in der Weise, daß wir inner- 
halb einer Reihenuntersuchung gleiche Mengen der Blutkörperchen in der jeweils 


Untersuchungen über die Aufnahme von Eiweißabkömmlingen usw. 315 


etwa 3—4fachen Menge Flüssigkeit suspendierten und einzig die Konzentration 
der Aminosäuren variierten. Wir ließen die festverschlossenen Zentrifugiergläschen, 
in denen wir die Versuche, um ein Umfüllen zu vermeiden, stets ansetzten, bei 
Zimmertemperatur 45 Minuten stehen, zentrifugierten dann scharf ab und be- 
stimmten in einem aliquoten Teil der überstehenden Flüssigkeit den Aminostick- 
stoff nach Soerensen (c). Eine gleiche Menge einer gleichkonzentrierten Amino- 
säurenlösung bzw. Polypeptidlösung (a) zeigte uns an, wieviel Aminostickstoff 
(a—c = x) durch die Blutkörperchen gebunden war. 

Wir sahen im allgemeinen von einem Schütteln der Proben ab, da sich zeigte, 
daß wohl in der Folge der hohen Suspensionsstabilität der Rinderblutkörperchen 


auch in der Kochsalzlösung — nach einmaligem Vermischen — ein reversibles 
7 + 1 I! 
2 (ig m 
5 r | — | | - Ja + L 
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74 r + Fr + 
2 JR! | El 


AL | 
17274 ZEZSTE3ETISLUE5T 67891 1204 20 25037354455 678971214 2725 3735445567897 


Gleichgewicht sich einstellte. Doch gilt dies offenbar nur von den untersuchten 
Aminosäuren mit Ausnahme des Leucins, das ebenso, wie die untersuchten Poly- 
peptide, ein abweichendes Verhalten erkennen ließ, auf das wir noch näher zurück- 
kommen. Unsere Frage galt nun der Bindungsart der Eiweißbausteine. Handelte 
es sich um eine Verteilung nach dem Henry-Satz, so mußte in allen Versuchen 
einer Reihe von der gleichen Menge Blutkörperchen stets gleichviel von der Amino- 
säure bzw. dem Polypeptid gebunden werden. Es müßte die Beziehung gelten: 
a— 6 


——k. 


c 


Die von uns erhobenen Versuche ergaben jedoch, daß der Bruch sich in dem 
Sinne änderte, daß er mit geringerer Verdünnung höhere Werte annimmt. In die 
graphische Darstellung übertragen, ergibt sich somit auch nicht die lineare Kurve 
des Verteilungssatzes, sondern vielmehr eine Kurve, die im großen und ganzen 
einer Adsorptionsisotherme entspricht (vgl. Abb. 1). Wir haben schon in der Ein- 
leitung darauf hingeweisen, wie kompliziert die Verhältnisse bei Verwendung 
lebender Zellen liegen. Vor allem hat man mit weiteren Umsetzungen der auf- 


316 E. Abderhalden und H. Kürten: 


genommenen Substrate zu rechnen. Daß es sich jedoch unter den gegebenen Ver- 
suchsbedingungen ohne Zweifel um eine adsorptive Bindung von Aminosäuren 
und Polypeptiden durch die roten Blutkörperchen handelt, geht aus dem folgenden 
hervor: 1 

z=k.or 
ist die Gleichung der Adsorptionsisotherme. Es ist dann 

1 1 1 
n—= 10200. eier sehe: 


1 
Die Werte für 8 d. h. für den Tangens des. Neigungswinkels der Ad- 


sorptionsisotherme, lassen sich nach H. Freundlich, Capillarchemie, Akad. Ver- 
lagsbuchhandlung, Leipzig, 1909, und nach der auf seinem Beispiel fußenden Dar- 
stellung der Adsorptionsvorgänge bei Lipoiden von Loewe, Biochemische Zeit- 
schrift 42, 177; 1912, aus den für je 2 Konzentrationen gefundenen Werten von 
x; und &, bzw. c, und c, nach der folgenden Gleichung berechnen: 


1 lgx— log 


m Togle] = ooler 


Zieht man nun das Mittel aus den so gefundenen k-Werten und setzt dieses 
in die Adsorptionsgleichung ein, so berechnen sich daraus die Werte für die Kon- 
stante k. Die so berechneten k-Werte zeigen eine verhältnismäßig gute Überein- 
stimmung. Es ist hierbei noch in Betracht zu ziehen, daß die Variationsbreite für 
die Konzentrationen der Aminosäuren in zwei Richtungen beengt war. Nach 
unten durch die Grenzen der Methode zu ihrem Nachweis, nach oben durch: die 
Gefahr der Hämolyse. Ein Gehalt an Aminosäuren, der bei Zimmertemperatur 
noch keine Veränderungen der Blutkörperchen in diesem Sinne bewirkte, führte 
im Thermostaten bei 37°C bereits nach kurzer Zeit (ca. 15 Minuten) zu einem 
mehr oder minder vollständigen Austritt des Hämoglobins aus den roten 
Blutkörperchen. 

Ein weiteres Kennzeichen eines Adsorptionsvorganges ist die schnelle Ein- 
stellung eines umkehrbaren Gleichgewichts zwischen adsorbierender Oberfläche 
oder disperser Phase und dem Dispersionsmittel. Von den zu seiner Bestimmung 
möglichen Methoden wendeten wir die folgende an: Zu einem bestimmten Quan- 
tum Blutkörperchenbrei (3,0 cam) wurde eine etwas größere Menge Kochsalzlösung 
(4,0 ccm) und eine bestimmte Menge der Aminosäurenlösung (3,0 cem) gegeben. 
Dieser Versuch galt als Kontrolle für die beiden weiteren. Einmal wurde durch 
Fortlassen der Kochsalzlösung die Konzentration des -Adsorbens vermehrt, das 
andere Mal durch Weglassen der halben Blutkörperchenmenge die Oberfläche des 
Adsorbens verringert. Nach gewöhnlich 30 Minuten langem Stehen bei Zimmer- 
temperatur wurde dann sowohl die zweite Probe durch Hinzufügen der ent- 
sprechenden Menge Kochsalzlösung auf Volumen- und Konzentrationsverhältnis 
mit der ersten Kontrollprobe gebracht, als auch die dritte Probe durch Hinzugabe 
der zweiten Hälfte des Adsorbens. Es wurde einigemale umgeschüttelt und dann 
nach 15 Minuten abzentrifugiert. Die in der oben geschilderten Weise vorgenom- 
mene Bestimmung des Aminostickstoffs nach Soerensen ergab dann einen stets 
gleichen Gehalt der überstehenden Lösung. Daraus geht also hervor, daß wir es 
init einem reversiblen Gleichgewicht zu tun haben. Es wäre nun noch denkbar 
gewesen, daß (unter dem Einfluß der wechselnden Konzentrationen in der Außen- 
flüssigkeit) formoltitrierbarer Stickstoff anstatt von den Zellen aufgenommen zu 
werden, von dem Zellinneren an das Dispersionsmittel abgegeben worden wäre. 
Dieser möglichen Fehlerquelle suchten wir dadurch zu begegnen, daß wir in jedem 
Gleichgewichtsversuch noch eine weitere Kontrolle dadurch übten, daß wir eine 


Untersuchungen über die Aufnahme von Eiweißabkömmlingen usw. 


al 


7 


gleiche Menge Körperchenbrei (3,0 ccm) nur in dem Gesamtvolumen Kochsalz- 
lösung (7,0 ccm) aufschwemmten und dieses gleichfalls nach Abzentrifugieren 
nach Soerensen untersuchten. Fanden wir, was jedoch höchst selten vorkam, 
in der Kochsalzlösung formoltitrierbaren Stickstoff, wenn auch nur in kleinst- 
meßbarer Menge, so wurde der ganze Versuch verworfen. Wir haben genaue 
Prüfungen der Adsorptionsgeschwindigkeit nicht vorgenommen, konnten uns jedoch 
wiederholt davon überzeugen, daß ein Gleichgewicht unter dem Einfluß des Schüt- 
telns schon nach 10 Minuten bei Zimmertemperatur eingetreten war. Die an- 
gewendeten längeren Zeiten können somit als eine Vorsichtsmaßregel betrach- 


tet werden. 


Tabelle I. Glykokoll, C,H,NO,-Molekulargewicht 75,1 


Sm. gegen 240° C. 


Nr. a & ö == ee erh 
(a—z) | c n N 
1 0,672 0,126 0,546 0,23 0,9 0,21 
2 0,574 VTOIEz, 0,473 0,21 0,9 0,19 
3 0,504 0,084 0,420 | 0,20 0,18 
4 0,434 0,070 0,364 0,19 0,17 
b) 0,294 0,042 0,252 0,16 0,8 0,18 
6 0,252 . | 0,032 0,210 - 0,15 | 0,9 0,16 
Im Mittel: 0,9 0,18 
Tabelle II. Glykokoll, reversibles Gleichgewicht. 
Blutkörper- ae | Verbrauch an »/,, NaOH ak 
Nr. chenbrei ca. 1% ns vorher nachher 
ccm cem ccm ecm ccm 
1 3,0 3,0 4,0 1,80 | 0,25 
2 3,0 3,0 0,0 2,05 — — 
3 1,5 3,0 4,0 Br 2 
nach 30 Minuten Stehen bei Zimmertemperatur: 
2 00 200, 7.40 _ ae 0,20 
3 Mo] 0,0 | 0,0 _- 1,80 0,25 


Tabelle III. d-Alanin, C,H,NO, - Molekulargewicht 89,1. Sm. gegen 297° C. 


Nr. a Ze $ Zeit ee Innere 
| (aa) EO Ele n a 

1 | 0,795 0,235 0,560 0,42 (1u.3) 1,4 0,2 

2 | 0,556 0,122 0,434 0,28 (2u. 3) 1,1 0,2 

3 | 0,477 0,099 | 0,378 0,28 (3u.4) 1,1 0,19 

4 | 0,397 0,075 | 0,322 0,23 (4 u. 5) 1,2 0,18 

5 | 0,318 0,052 | 0,266 0,19 (3u.5) 14 0,16 
Im Mittel: 1,2 | 0,19 


318 E. Abderhalden und H. Kürten :- 
‚Tabelle IV. Alanin, reversibles Gleichgewicht. 
kö nt Rh 09% Nacı Verbrauch an n NaOH 
OTperchen- 5 2 1, S 
an: brei en | ' vorher nachher Der 
ccm ccm | cem ccm 
1 3,0 3,0 4,0 2,50 0,25 
2 3,0 3,0 0,0 2,75 — 2 
3 195 3,0 4,0 — — 
Nach 30 Minuten stehen bei Zimmertemperatur: 
2 0,0 0,0 4,0 | — 2,45 0,30 
3 1,5 0,0 0,0 — 2,45 0,30 
TabelleV. d-1-Valın. 
ER; 
Lk. SIE FREE N les 1 “Bi 
(a=x) | 8 berechnet aus |ür 'In = 0,8 
1 DrahlE7 0,3504 1,9614 . | 0,22 (1u.3) 0,7 0,19 
2 1,7602 0,2802 1,4711 0,19 (1u.2) 1,0 0,20 
3 |. 1,1909 0,1401 1,0508 0,13 | (2u.3) 0,7 0,13 
4 0,7005 0,0700 0,6305 011 | (3u4) 0,8 0,16 
Im Mittel: 0,8 0,17 
Tabelle VI. Valin, reversibles Gleichgewicht. 
e Een + a ("ae ; na Verbrauch an Br NaOH 
örperchen- alin ‚3% Na 3 UT ’ 
N brei ca. 1,0% | vorher nachher Din erEuz 
ccm ccm ccm ccm 
1 3,0 3,0 4,0 1,05 0,20 
2 ai) 3,0 0,0 | 1,25 — 
3 195 3,0 4,0 | _— 
Nach 30 Minuten Stehen bei Zimmertemperatur: 
2 | 0,0 0,0 4,0 — 1,05 0,20 
3 | 1,5 0,0 0,0 — 1,10 0,25 


Tabelle VIIla. d, l-Leucin. Versuch ohne Schütteln. Sm. gegen 293° C. 


| 


3 | 
RI 0 Cam 
NT. a& | % | a | E 

ı | 12610 | 0,1401 | 1,1208 | 912 

21720:9107 0,2102 0,7005 0,30 

3 0,6305 , 0,2802 | 0,3503 | 0,79 

Tabelle VIIb. d,l-Leucin, C,H,,NO,-Molekulargewicht 131,2. Sm. gegen 293° C. 
Schüttelversuch! 
— _ - — : 
| | a—c 1 
Nr. | [7 zT es weit = für 28 = 1,3 

| : | | n 
| Eh 0,560 250 022 0,16 
2 | 23,730 0,490 2)240.2.20.00,0 2 aa 0,17 
3 |. 2,240 0,320 1,920 | 0,16 | 1,29 0,13 
Im Mittel: 1,30 0,15 


Untersuchungen über die Aufnahme von Eiweißabkömmlingen usw. 319 
Tabelle VIII. d, 1- Leuein, reversibles Gleichgewicht. 
as En a 0,9%, Nacl | Verbrauch an n/,, NaOH | 
Örperchen- euzin ‚9% : 
ar. brei cas1oı vorher nachher Diierenz 
cm ccm ccm ccm 
1 3,0 3,0 4,0 0,70 0,15 
2 3,0 3,0 0,0 0,85 — — 
3 55 3,0 4,0 —_ — 
Nach 30 Minuten bei Zimmertemperatur unter häufigem Umschütteln: 
2 | 0,0 0,0 4,0 = 0,70 0,15 
3 155 0,0 0,0 | — 0,70 0,15 
Tabelle IX. 1-Tryptophan, C,,H,.0;N,-Molekulargewicht204. Sm. 289° C. 
| | jr 
c Bo 1 
Ss 2 n (ax) “o | n für 10,8 
| N 
1 1,400 0,210 1,190 | 0,18 | 0,71 0,18 
2 1,050 0,140 0,910 | 0,15 0,87 0,19 
3 0,630 0,070 056057720913 0,81 0,17 
Im Mittelwert: 0,8 0,18 
TabelleX. l- Tryptophan, reversibles Gleichgewicht. 
; I a Ba. | | Verbrauch an 2/,, NaOH 
örperchen- ryptophan ‚3% Na & : 
ar brei ca. 1% | 5 vorher nachher Differenz 
ccm | ccm ccm ccm 
1 3,0 300. 20020 0,65 0,15 
2 3,0 3,0 | 0,0 0,80 — — 
3 1,5 3,0 | 4,0 — — 
Nach 30 Minuten bei Zimmertemperatur und häufigem Umschütteln: 
2 0,0 0,0 4,0 — 0,65 0,15 
3 %5 0,0 0,0 — 0,70 0,10 


Tabelle XI. Glyceyl-d-isovalin, C,H,,0,N;-Molekulargewicht 174,13. 
Sm. bei 239° °C. 


| e M—(5 1 k 

NT. 4 | © | I — n Due 

| Gr x berechnet aus Sr n a 

1 2,1716 | 0,3503 1,8213 0,19 (lu. 2) 1,09 0,20 

2 1,4010 | 0,2102 1,1909 0,18 (2u. 3) 0,70 0,18 

3 0,9005 , 0,1401 0,5604 0,25 (1 u. 3) 0,80 0,31 
Im Mittel: 0,86 | 0,23 


320 E. Abderhalden und H. Kürten: 


= 


Tabelle XII. d, 1-Leucyl-Glycin, (C;H,,0;N,-Molekulargewicht 188,14. 


Sm. 235° C. 
T. ce a—tC 
NT a | % | ) | r 
1 1,470 0,350 | 1,120 0,30 
2 1,120 0,280 0,840 0,33 
3 0,70 | 0070 | 0,00 0,10 


Tabelle XIII d,l-Leucyl-glyeyl-glycin, C,oH1s0,4N;-Molekulargewicht 
245,17. Sm. 230° C. 


NT. | a x | £ 2 = E 
a) S berechnet aus 5 u 
1 1,4100 0,420 0,90 | 042 | (1u2)12 0,33 
2 1,050 | 0,280 0,70 | 036 | @uw3) Lı 0,30 
3 0,540, 0,210 0,650 0055 ae 0,28 
Im Mittel: 1,1 0,30 


Tabelle XIV. d, l-Leuzyl-glycyl-glycin, reversibles Gleichgewicht. 


A BN ernst Verbrauch an n/,, NaOH 

% körperchen- . ; ‚9% NaC ; 

Nr. brel Tripeptid Seaher Asehher Differenz 
ccm ccm cem ccm 

1 3,0 3,0 4,0 | 02 0,20 

2 3,0 3,0 0,0 0,95 _— _ 

3 1,5 3,0 4,0 A En 

Nach 30 Minuten bei Zimmertemperatur unter häufigem Umschütteln: 

2 | 0,0 0,0 4,0 a I. O0 0,20 

3 | 15 0,0 0,0 | 0,75 0,20 


Tabelle XVa. Pepton aus Seide. Versuch ohne Schütteln. 


4 | | | e a—c | 1 5 
SS | ® | K I ee! ee n ie = 2,5 
— un = — == ee = = ken — == == == ww — 
a | aan | seo | vo a 
2 1,1208 0,2102 0,9107 0,23 2,20 0,0813 
3 0,9107 0,3504 0,5605 VS O0 3 
Im Mittel: 2,5 0,08 
Tabelle XVb. Pepton aus Seide Schüttelversuch! 
© ; nl k 
NT. [7 | = @ das n SAT GEN 
| u) 2 | berechnet aus m: 
1 1,610 0,490 1.120 | 043 (lu. 2) 1,3 0,41 
2 1,120 0,280 0,840 0,33 | 2,0 — 
3 0,840 0,210 | 0,630 0,33 1,3 — 
4 ı 0,490 | 0,070 | 0,420 0,16 0,32 
Im Mittel: 1,5 0,36 


Untersuchungen über die Aufnahme von Eiweißabkömmlingen usw. 321 


Tabelle XVI. Konstanten. 


| — k Molekulargewicht 
eeryeokoi... 2... I: 09 0,18 75,1 
2 GB Alaname re Ne | 1,2 0,19 89,1 
De de Valınan wa na | 0,8 . 0,17 117,0 
4 V-Beuzanig ag as nn os | 1,30 0,15 12912 
3 kryptophan, :;... ..,. .,. 0,8 0,18 204 
6 CEyeyldvaln. . 2.2.2.2. | 0,86 0,23 174,13 
7 di-Eeueyl-glyein ......| 1,3 0,12 188,14 
8 dl-Leucyl-glyeyl-glyein . . . 1,1 0,30 245,17 
9 IBEDEOns 23. Se era el | 145 0,36 | (unbestimmt) 


Unter den untersuchten Aminosäuren, die in wiederholten Versuchen 
mit entsprechenden individuellen Schwankungen ein gleiches Verhalten 
aufwiesen, zeigt das Leucin eine Abweichung, und zwar in dem Sinne, daß 
mit zunehmender Konzentration die Menge der von den roten Blut- 
körperchen aufgenommenen Aminosäure sich verringert. Ein gleiches 
und ähnliches Verhalten zeigte sich auck bei den untersuchten Poly- 
peptiden und am ausgesprochensten beim Pepton (aus Seide). Dieses 
besondere Verhalten findet am besten eine Erklärung durch die Annahme, 
daß die adsorbierende Oberfläche sich nicht gleich bleibt, sondern 
kleiner wird, und zwar durch Zusammenballen der roten Blutkörperchen. 
Tatsächlich ist ein solches unter dem Mikroskop im hängenden Tropfen 
oder im Deckglaspräparat nachweisbar. Auch hat der eine von uns 
(Abderhalden!) schon früher die senkungsbeschleunigende Wirkung 
des Peptons auf die roten Blutkörperchen durch Agglutination gezeigt. 

Wir können uns somit vorstellen, daß den untersuchten Aminosäuren 
Glykokoll, Alanin, Valin und Tryptophan infolge der beträchtlichen Disper- 
sion der Rinderblutkörperchen in der Kochsalzlösung eine größere Gesamt- 
oberfläche zur Verfügung stand als den Polypeptiden und dem Pepton. 

Es handelt sich hier um eine für die Adsorption ganz allgemein noch 
viel zu wenig beachtete Erscheinung. Sie dürfte von biologischen Ge- 
sichtspunkten aus besonders bedeutungsvoll sein. 

Von besonderem Interesse ist nun noch die Tatsache, daß es gelingt, 
durch das Schütteln der Blutzellensuspensionen der oberflächenver- 
ringenden Wirkung des Leucins, der Polypeptide und Peptone entgegen- 
zuarbeiten und eine gleiche Adsorption auch dieser Substanzen zu er- 
zielen, wie sie für die oben genannten Aminosäuren die Regel ist. Dieser 
Umstand scheint uns dafür zu sprechen, daß nicht etwa eine spezifische 
Veränderung der adsorbierenden Oberfläche durch die erwähnten Ei- 
weißabkömmlinge in Betracht kommt. | 

Wir haben, um zu prüfen, ob die Art des in den roten Blutkörperchen 
vorhandenen Blutfarbstoffs den Adsorptionsvorgang beeinflußt, solche 


!) Fermentforschung 4, 230. 1921. 


322 E. Abderhalden und H. Kürten: Aufnahme von Eiweißabkömmlingen usw. 


verwendet, die Oxyhämoglobin, Hämoglobin oder Kohlenoxydhämo- 
globin enthielten. Ein Einfluß auf die aufgenommenen Mengen der an- 
gewandten Substrate war nicht feststellbar. 

Die Zusammenstellung der Konstanten !/, und %k (in Tabelle XVI) 
läßt erkennen, daß die !/„-Werte von den im allgemeinen gefundenen 
nach oben abweichen. Doch ist zu bemerken, daß solche Werte schon 
verschiedentlich bei Vorgängen gefunden worden sind, denen unzweifel- 
haft eine Adsorption zugrunde liegt. Namentlich ist dies der Fall bei 
Loewe!) in seinen Studien über Adsorption durch Lipoide. Herzog 
und Betzel2), die mit Hefezellen, lebenden sowohl als durch Aceton 
abgetöteten, gearbeitet haben, fanden für die Adsorption von Chloroform 
und Silbernitrat gleichfalls Werte, die um Eins herum und teilweise 
noch darüber lagen. 

Es sei in diesem Zusammenhange auch noch auf die Untersuchungen 
von 8. Loewe (l. c.), ferner auf die Beobachtungen von H. Freundlich 
(l. ce.) beim Studium der Adsorption von Strychninsalzen, durch Kohle 
oder Arsentrisulfid und endlich noch auf diejenigen von Bechhold 
(Z. f. physikal. Chemie 60, 257; 1907; G. Dreyer und J. Sholto (Pro- 
ceed. of the Royal Soc. 82, 168,185; 1910 und A. Lottermoser (Kol- 
loid-Zeitschrift 9, 135; 1911 hingewiesen. 


Zusammenfassung: 


1. Aminosäuren werden von in 0,9proz. Kochsalzlösung gewaschenen 
und suspendierten roten Blutkörperchen aufgenommen. 

2. Der Vorgang der Aufnahme ist ein adsorptiver, wie aus dem Zu- 
standekommen der Adsorptionsisotherme und eines reversiblen Gleich- 
gewichts hervorgeht. 

3. Ein besonderes Verhalten zeigen das Leucin, ferner die geprüften 
Polypeptide und besonders das Pepton (aus Seide). Die Aufnahme 
dieser Verbindungen durch die roten Blutkörperchen wird geringer 
bei zunehmender Konzentration. Durch Schütteln des Gemisches 
roter Blutkörperchen und zugesetzter Substrate wird diese Sonder- 
stellung aufgehoben. 

4. Diese Erscheinung wird mit einer Oberflächenverminderung 
der Blutkörperchensuspension erklärt, hervorgerufen durch die ‚„agglu-. 
tinierende‘‘ Wirkung des Leucins, der Polypeptide und besonders des 
Peptons, die durch Schütteln beseitigt, bzw. verringert werden kann. 

5. Die Anwendung von Hämoglobin-, Oxyhämoglobin- und Kohlen- 
oxydhämoglobin-Blutzellen war auf den Ausfall der Adsorption der 
verwendeten Substrate ohne Einfluß. 


!) S. Loewe, Biochem. Zeitschr. 42, 177. 1912. 


?2) V. Herzog und R. Betzel, Zeitschr. f. physiol. Chemie 6%, 309; 1910, 
und 74, 221. 1911. 


Autorenverzeichnis. 


Abderhalden, Emil. Untersuchun- 
gen über die Aufnahme von Eiweiß- 
abkömmlingen (Peptone, Polypeptide 
und Aminosäuren) durch rote Blut- 
körperchen unter bestimmten Bedin- 
gungen. 8. 311. 

Backmann, E. Louis. Die Erre- 
gung des überlebenden Uterus und 
Darmes durch Organextrakte und -dia- 
lysate (besonders aus dem Uterus). 
S. 261. 

Einthoven, W.und J. Roos. Über 
Widerstand und Potentialdifferenz 
bei dem psychogalvanischen Reflex. 
S. 126. 

Fellner, Otfried ©. Überdie Wir- 
kung der Placentar- und Hodenlipoids 
auf die männlichen und weiblichen 
Sexualorgane. S. 199. 

Gellhorn, Ernst. Psychologische 
und physiologische Untersuchungen 
über Übung und Ermüdung. 1. Mit- 
teilung. S. 144. 

— — Untersuchungen zurPhysiologie der 
räumlichen Tastempfindungen unter 
Berücksichtigung der 
des Tastraumes zum Sehraume. I.Mit- 
teilung. Weitere Beiträge zum Stu- 
dium der Übungswirkungen. S. 215. 

Haffner, F., siehe A. Jodlbauer 
und F. Haffner. 

Honigmann, Hans. Untersuchun- 
gen über Lichtempfindlichkeit und 
Adaptierung des Vogelauges. 8.1. 


Beziehungen 


Jodlbauer, A. und F. Haffner. 
Über die Wirkung von Eosin und 
Rose bengale auf rote Blutkörperchen 
und den Zusammenhang von Auf- 
nahme und biologischer Wirkung. 
S. 243. 

Kolm,RichardundErnstP.Pick. 
Über die Bedeutung des Caleiums 
für die Erregbarkeit der sympathi- 
schen Herznervenendigungen. S. 137. 

Kürten, H., siehe Emil Abder- 
halden und H. Kürten. 

Loewi, ©. Über humorale Übertrag- 
barkeit der Herznervenwirkung. I. Mit- 
teilung. S. 239. 

Mangold, Ernst. Der Umdreh- 
reflex bei Seesternen und Schlangen- 
sternen. 9. 73. 

— — Der Verlauf der Totenstarre am 
isolierten und am in situ belassenen 
Skelettmuskel von Säugern. S. 99. 

BilekesRunsus br esiehesirnichramd 
Kolm und Ernst P. Pick. 

Roos, J., siehe Einthofen, W. und 
J. Roos. 

Thoma, R. Die mittlere Durchfluß- 
menge der Arterien des Menschen 
als Funktion des Gefäßradius. S. 282. 

Vorschütz, Joseph. Ruhestrom 
und Durchlässiekeit. I. Mitteilung. Un- 
tersuchungen mit Farbstoffen. S. 181. 

Wiechmann, Ernst. Über die 
Durchlässigkeitdermenschlichen roten 
Blutkörperchen für Anionen. S. 109. 


RRRE 


ne, 


Anm 


BR 


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